Holz vom Helikon: Die Musen und ihre Landschaft in Kult, Mythos und Literatur. Dissertationsschrift 9783825346751, 3825346757

Parnass, Pierien und vor allem der Helikon - die Landschaften der Musen sind, wie die Göttinnen selbst, Topoi der europä

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German Pages 756 [758] Year 2020

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Danksagung
A.I Einleitung
1 Musen und Berge
1.1 Parnass
Exkurs. Kastalia und dichterische Inspiration
1.2 Olymp und Pierien
1.3 Helikon
2 Berge und Wasser
2.1 Berge
2.2 Wasser
3 Musen und Landschaft
3.1 Kultorte
3.2 Nymphen
3.2.1 Musen und Nymphen allgemein
3.2.2 Μοῦσαι Ἰλισιάδες
3.2.3 Μοῦσαι Λειβηθριάδες
3.2.4 Hymettos und Syrakus
3.2.5 Weitere Schnittbereiche
4 Plan der vorliegenden Studie
A.II Helikon
1 Helikon
2 Der Berg der Musen
2.1 Der Helikon bei Strabon und Pausanias
2.1.1 Strabon
2.1.2 Pausanias
2.2 Die Topographie der Dichterweihe
2.2.1 Der Altar
Exkurs. Funktion der Gebäudestruktur
2.2.2 Die Flüsse
2.2.3 Die Hippoukrene
2.2.4 Die Aganippe
2.3 Der Helikon und die Musen
3 Das Tal der Musen
3.1 Das Heiligtum
3.1.1 Archäologische Spuren
3.1.2 Die Entwicklung des Heiligtums
Exkurs. Statuendekor im Heiligtum: Spuren ins vierte Jh. v. Chr?
3.1.3 Die ‚Mouseia‘ von Thespiai
Exkurs I. Vor den Mouseia: Dithyrambische Agone zu Ehren der Musen
Exkurs II. Die Reorganisation der Mouseia: Streitfragen
3.2 Besucher im Heiligtum
3.2.1 Pausanias
3.2.1.1 ἄλσος
3.2.1.2 Pausanias’ Blick
3.2.1.3 Hesiod
3.2.1.4 Hippoukrene und erlebbare Landschaft
3.2.2 Plutarch
3.2.3 Kallistratos
4 Der Helikon: ‚charismatic landscape‘
B.I Eine Begegnung am Helikon: Das Prooimion von Hesidos ‚Theogonie‘
1 Einleitung
2 Das Prooimion
2.1 Text und Übersetzung
2.2 Aufbau und Inhalt
2.2.1 Die zwei Hymnen
2.2.1.1 Ein untypischer typischer Hymnos
2.2.1.2 Der Charakter der Hymnen
2.2.2 Der gemeinsame Schluss
2.2.2.1 Ein Schluss für den zweiten Hymnos
Exkurs. Vater, Mutter und eine Frage der Einheit
2.2.2.2 Ein Schluss für den ersten Hymnos
2.2.3 Der Musenanruf
2.2.3.1 Ein traditioneller Musenanruf
2.2.3.2 Dichterlied und Musenlied
2.3 Eine Begegnung am Helikon
3 Musen und Landschaft
3.1 Hesiods nymphische Musen
3.2 Die Landschaft der Musen
3.3 Raum und Zeit
3.3.1 Raum
3.3.2 Zeit
4 Verwandlung der Musen – Verwandlung der Landschaft
B.II Holz vom Helikon: Euripides’ ‚Herakles'
1 Einleitung
2 Die Themen
2.1 Heldentum
2.2 λόγος und ἔργον, Menschen und Götter
2.2.1 Lykos im Gegensatz zum Chor und zu Amphitryon
2.2.2 Zeus als Vater des Herakles im Verhältnis zu Amphitryon
2.2.3 Hera als Gegnerin des ‚mythischen‘ Herakles
3 Bildstränge
3.1 Opfer und Mord
3.2 Agon und ‚Athlos‘
3.2.1 Ἡρακλῆς καλλίνικος
3.2.2 Agon
3.3 Vögel
3.3.1 Greise Vögel: der Chor als Schwan
3.3.2 Junge Vögel und Flügeldinge
3.4 Dionysos
3.5 Mysterien
4 Musen
4.1 Die rituelle Dimension der Kultheroenerschaffung I: Das zweite Stasimon
4.1.1 Bilder im Gesamtverlauf des zweiten Stasimons
4.1.1.1 Mysterien – die zweite Jugend
4.1.1.2 Vögel – Musik als zweifache Lösung
4.1.1.3 Agon – das zweite Stasimon als Epinikion
4.1.2 Die Delischen Mädchen und die Macht der ‚Choreia‘
4.1.2.1 Die Delischen Mädchen im ‚homerischen Hymnos‘ an Apoll
4.1.2.2 Die Delischen Mädchen im zweiten Stasimon des ‚Herakles‘
4.1.3 Musen und Dionysos
4.1.3.1 Die zweite Strophe des zweiten Stasimons (‚HF‘ 673-86)
4.1.3.2 Selbstreferentialität und Ritual
4.1.3.3 Musen und Dionysos
4.2 Die rituelle Dimension der Kultheroenerschaffung II: Das dritte Stasimon
4.2.1 ‚Choral projection‘ und Heroenkult
4.2.2 „Giving the […] ‚choroi‘ to Dionysos“
4.2.3 Zwei Landschaften: Tanz und Mord
4.3 Die metapoetische Dimension der Kultheroenerschaffung: Prokne und Lykos
4.3.1 Prokne: Opfer an die Musen
4.3.1.1 Mythos und Bilder
4.3.1.2 Foleys Ansatz
4.3.2 Lykos: Holz vom Helikon
5 Musenlandschaft in Athen
B.III Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654
1 Einleitung
2 Der Text
2.1 Text und Übersetzung
2.2 Aufbau und Inhalt
2.2.1 Der Verlauf der Handlung
2.2.2 Die Gestaltung
3 Korinna in der Forschung
3.1 Datierung
3.1.1 Die problematische Sachlage
3.1.2 Die Argumente
3.1.2.1 Biographische Notizen
Exkurs. Korinnas Dichtung und die biographischen Notizen
3.1.2.2 Tatian, ‚ad Graecos‘ 33, 2f.
Exkurs. Kalkmann und Tatian
3.1.2.3 Stil und Sprache
Exkurs I. Der böotische Dialekt: die Frage des Kontexts
Exkurs II. Einzelne linguistische Argumente
Exkurs III. Metrenwechsel oder fehlerhafte Kolometrie?
3.1.2.4 Inhalt
3.2 Korinnas Dichtung
3.2.1 Moderne und antike Einschätzungen
Exkurs I. Properz
Exkurs II. Statius
3.2.2 Korinna – eine λιγουροκώτιλος βανά
Exkurs. PMG 664a: mögliche Einbettungen
3.3 Der Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon
4 Helikon und Kithairon in anderen Quellen
4.1 Aitia
4.1.1 Die Quellen
Exkurs. Pseudo-Plutarch, De fluviis
4.1.2 Die Bedeutung der aitiologischen Tradition für die Interpretation von Korinnas Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon
4.2 Helikon und Kithairon mit ihren Assoziationen in der Gegenüberstellung
4.2.1 Die Assoziationen
4.2.2 Himerios’ 66. Rede
4.2.3 Kallimachos’ ‚Bad der Pallas‘
4.2.3.1 Die Darstellung der Landschaft in Call. ‚Lav. Pall‘. 57-136
4.2.3.2 Die literarische ‚Vergangenheit‘ und ‚Zukunft‘ der Schauplätze
4.2.3.3 Aitiologie und Poetologie im ‚Bad der Pallas‘
4.2.3.4 Die Rolle der Landschaft im Gefüge von Aitiologie und Poetologie
5 Korinnas Wettstreitlied als ‚literaturgeschichtlicher Kommentar
5.1 Ein literaturgeschichtlicher Kommentar
5.2 Einzelne Elemente des Liedes vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Interpretation
5.2.1 Der Wahlvorgang (V. 19-26)
Exkurs I. Der Wahlvorgang in der Debatte um Korinnas Datierung
Exkurs II. Ein Attizismus in Korinnas Wettstreitlied? 644
5.2.2 Das Lied des Kithairon?
5.2.2.1 Lied des Helikon
5.2.2.2 Lied des Kithairon
6 Böotische Berge – böotische Dichtung
C Helikon und Musen – Musen und Helikon
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Index locorum
Rückumschlag
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Holz vom Helikon: Die Musen und ihre Landschaft in Kult, Mythos und Literatur. Dissertationsschrift
 9783825346751, 3825346757

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kleoniki rizou

Holz vom Helikon rizou Holz vom Helikon

rizou

Holz vom Helikon

arnass, Pierien und vor allem der Helikon – die Landschaften der Musen sind, wie die Göttinnen selbst, Topoi der europäischen Literatur von der Antike bis heute. Die vorliegende Studie unternimmt es erstmals, die Verbindung der Musen mit ihrer Landschaft nicht als illustratives Beiwerk, sondern als systematische Konzeptualisierung ihres Wirkens zu behandeln. Dazu erfolgt eine umfassende Bestandsaufnahme der verfügbaren Quellen, mit besonderem Fokus auf den Berg Helikon. Drei Schlüsseltexte aus drei Epochen geraten unter dieser Perspektive neu in den Blick: das Proömium zu Hesiods Theogonie, Euripides’ Herakles und Korinnas Lied vom Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon. Die eingehenden Interpretationen dieser Texte dienen einerseits dazu, die jeweils spezifische Funktion der Verbindung von Musen und Helikon zu verstehen, andererseits schafft dieses neu gewonnene systematische Verständnis wiederum den Ausgangspunkt für die frische Interpretation der scheinbar altbekannten Werke.

Die Musen und ihre Landschaft in Kult, Mythos und Literatur

Universitätsverlag

win t e r

Heidelberg

kalliope Studien zur griechischen und lateinischen Poesie Band 19

kleoniki rizou

Holz vom Helikon Die Musen und ihre Landschaft in Kult, Mythos und Literatur

Universitätsverlag

winter

Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zugl.: Kiel; Univ., Diss., 2018

umschlagbild Münchener Lekythos Nr. Sch80 Foto: Renate Kühling © Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek München

isbn 978-3-8253-4675-1 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2020 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier. Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de

Μούσαις αἵ µ’ ἐχόρευσαν

Inhalt Danksagung

13

A.I

15

EINLEITUNG 1 Musen und Berge 1.1 Parnass Exkurs. Kastalia und dichterische Inspiration 1.2 Olymp und Pierien 1.3 Helikon

15 19 25 27 33

2 Berge und Wasser 2.1 Berge 2.2 Wasser

35 35 38

3 Musen und Landschaft 3.1 Kultorte 3.2 Nymphen 3.2.1 Musen und Nymphen allgemein 3.2.2 Μοῦσαι Ἰλισιάδες 3.2.3 Μοῦσαι Λειβηθριάδες 3.2.4 Hymettos und Syrakus 3.2.5 Weitere Schnittbereiche

39 40 54 55 61 64 69 71

4 Plan der vorliegenden Studie

77

A.II

HELIKON

81

1 Helikon

81

2 Der Berg der Musen 2.1 Der Helikon bei Strabon und Pausanias 2.1.1 Strabon 2.1.2 Pausanias 2.2 Die Topographie der Dichterweihe 2.2.1 Der Altar

83 85 85 91 97 98

8

Inhalt

Exkurs. Funktion der Gebäudestruktur 2.2.2 Die Flüsse 2.2.3 Die Hippoukrene 2.2.4 Die Aganippe 2.3 Der Helikon und die Musen

B.I

102 104 106 119 123

3 Das Tal der Musen 3.1 Das Heiligtum 3.1.1 Archäologische Spuren 3.1.2 Die Entwicklung des Heiligtums Exkurs. Statuendekor im Heiligtum: Spuren ins vierte Jh. v. Chr? 3.1.3 Die Mouseia von Thespiai Exkurs I. Vor den Mouseia: Dithyrambische Agone zu Ehren der Musen Exkurs II. Die Reorganisation der Mouseia: Streitfragen 3.2 Besucher im Heiligtum 3.2.1 Pausanias 3.2.1.1 ἄλσος 3.2.1.2 Pausanias’ Blick 3.2.1.3 Hesiod 3.2.1.4 Hippoukrene und erlebbare Landschaft 3.2.2 Plutarch 3.2.3 Kallistratos

127 128 128 141

4 Der Helikon: ‚charismatic landscape‘

224

166 168 179 181 190 190 191 196 200 206 215 218

EINE BEGEGUNG AM HELIKON: DAS PROOIMION VON HESIODS THEOGONIE 229 1 Einleitung

229

2 Das Prooimion 2.1 Text und Übersetzung 2.2 Aufbau und Inhalt 2.2.1 Die zwei Hymnen 2.2.1.1 Ein untypischer typischer Hymnos 2.2.1.2 Der Charakter der Hymnen 2.2.2 Der gemeinsame Schluss

230 230 236 238 239 242 248

Inhalt

2.2.2.1 Ein Schluss für den zweiten Hymnos Exkurs. Vater, Mutter und eine Frage der Einheit 2.2.2.2 Ein Schluss für den ersten Hymnos 2.2.3 Der Musenanruf 2.2.3.1 Ein traditioneller Musenanruf 2.2.3.2 Dichterlied und Musenlied 2.3 Eine Begegnung am Helikon

9 250 257 259 264 265 267 272

3 Musen und Landschaft 3.1 Hesiods nymphische Musen 3.2 Die Landschaft der Musen 3.3 Raum und Zeit 3.3.1 Raum 3.3.2 Zeit

277 279 286 290 291 297

4 Verwandlung der Musen – Verwandlung der Landschaft

304

B.II

HOLZ VOM HELIKON: EURIPIDES’ HERAKLES

309

1 Einleitung

309

2 Die Themen 2.1 Heldentum 2.2 λόγος und ἔργον, Menschen und Götter 2.2.1 Lykos im Gegensatz zum Chor und zu Amphitryon 2.2.2 Zeus als Vater des Herakles im Verhältnis zu Amphitryon 2.2.3 Hera als Gegnerin des ‚mythischen‘ Herakles

313 315 321

3 Bildstränge 3.1 Opfer und Mord 3.2 Agon und Athlos 3.2.1 Ἡρακλῆς καλλίνικος 3.2.2 Agon 3.3 Vögel 3.3.1 Greise Vögel: der Chor als Schwan 3.3.2 Junge Vögel und Flügeldinge 3.4 Dionysos

333 334 339 340 345 351 352 358 370

323 325 330

10

Inhalt

3.5 Mysterien

376

4 Musen 4.1 Die rituelle Dimension der Kultheroenerschaffung I: Das zweite Stasimon 4.1.1 Bilder im Gesamtverlauf des zweiten Stasimons 4.1.1.1 Mysterien – die zweite Jugend 4.1.1.2 Vögel – Musik als zweifache Lösung 4.1.1.3 Agon – das zweite Stasimon als Epinikion 4.1.2 Die Delischen Mädchen und die Macht der Choreia 4.1.2.1 Die Delischen Mädchen im homerischen Hymnos an Apoll 4.1.2.2 Die Delischen Mädchen im zweiten Stasimon des Herakles 4.1.3 Musen und Dionysos 4.1.3.1 Die zweite Strophe des zweiten Stasimons (HF 673-86) 4.1.3.2 Selbstreferentialität und Ritual 4.1.3.3 Musen und Dionysos 4.2 Die rituelle Dimension der Kultheroenerschaffung II: Das dritte Stasimon 4.2.1 ‚Choral projection‘ und Heroenkult 4.2.2 „Giving the […] choroi to Dionysos“ 4.2.3 Zwei Landschaften: Tanz und Mord 4.3 Die metapoetische Dimension der Kultheroenerschaffung: Prokne und Lykos 4.3.1 Prokne: Opfer an die Musen 4.3.1.1 Mythos und Bilder 4.3.1.2 Foleys Ansatz 4.3.2 Lykos: Holz vom Helikon

396

5 Musenlandschaft in Athen

451

B.III BÖOTISCHE BERGE IM WERDEN: KORINNA PMG 654

396 397 397 400 403 408 408 412 415 416 417 420 426 427 432 438 442 443 445 448 449

457

1 Einleitung

457

2 Der Text

458

Inhalt

2.1 Text und Übersetzung 2.2 Aufbau und Inhalt 2.2.1 Der Verlauf der Handlung 2.2.2 Die Gestaltung

11 458 462 463 468

3 Korinna in der Forschung 3.1 Datierung 3.1.1 Die problematische Sachlage 3.1.2 Die Argumente 3.1.2.1 Biographische Notizen Exkurs. Korinnas Dichtung und die biographischen Notizen 3.1.2.2 Tatian, ad Graecos 33, 2f. Exkurs. Kalkmann und Tatian 3.1.2.3 Stil und Sprache Exkurs I. Der böotische Dialekt: die Frage des Kontexts Exkurs II. Einzelne linguistische Argumente Exkurs III. Metrenwechsel oder fehlerhafte Kolometrie? 3.1.2.4 Inhalt 3.2 Korinnas Dichtung 3.2.1 Moderne und antike Einschätzungen Exkurs I. Properz Exkurs II. Statius 3.2.2 Korinna – eine λιγουροκώτιλος βανά Exkurs. PMG 664a: mögliche Einbettungen 3.3 Der Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon

474 474 475 478 478

4 Helikon und Kithairon in anderen Quellen 4.1 Aitia 4.1.1 Die Quellen Exkurs. Pseudo-Plutarch, De fluviis 4.1.2 Die Bedeutung der aitiologischen Tradition für die Interpretation von Korinnas Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon 4.2 Helikon und Kithairon mit ihren Assoziationen in der Gegenüberstellung

556 558 558 563

480 483 491 503 506 508 514 517 526 526 531 532 533 541 544

568 578

12

Inhalt

4.2.1 Die Assoziationen 4.2.2 Himerios’ 66. Rede 4.2.3 Kallimachos’ Bad der Pallas 4.2.3.1 Die Darstellung der Landschaft in Call. Lav. Pall. 57-136 4.2.3.2 Die literarische ‚Vergangenheit‘ und ‚Zukunft‘der Schauplätze 4.2.3.3 Aitiologie und Poetologie im Bad der Pallas 4.2.3.4 Die Rolle der Landschaft im Gefüge von Aitiologie und Poetologie 5 Korinnas Wettstreitlied als ‚literaturgeschichtlicher Kommentar 5.1 Ein literaturgeschichtlicher Kommentar 5.2 Einzelne Elemente des Liedes vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Interpretation 5.2.1 Der Wahlvorgang (V. 19-26) Exkurs I. Der Wahlvorgang in der Debatte um Korinnas Datierung Exkurs II. Ein Attizismus in Korinnas Wettstreitlied? 5.2.2 Das Lied des Kithairon? 5.2.2.1 Lied des Helikon 5.2.2.2 Lied des Kithairon 6 Böotische Berge – böotische Dichtung C

HELIKON UND MUSEN – MUSEN UND HELIKON

Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis Index locorum

578 584 592 593 601 613 629 630 630 637 637 642 644 646 647 649 650 653 661 713 717

Danksagung Diese Arbeit nahm ihren Ursprung im Herbst 2012 im Tal der Musen am Fuße des Helikon. Damals noch ungeahnt fand etwas seinen Weg nach Kiel: Es nahm ein Jahr später die Gestalt eines Dissertationsprojekts über die Musen und ihre Landschaft an und kam als solches im Wintersemester 2018/19 an der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zum Abschluss. Hier ist nun Ort und Gelegenheit, den Musen die Chariten beizumischen. So danke ich der Graduiertenschule Human Development in Landscapes (2007-2019) der CAU Kiel, in deren Rahmen diese Arbeit entstehen durfte. Nicht nur hat ihr Profil überhaupt zur Formung des Themas beigetragen, sondern sie bot durch ihren interdisziplinären Ansatz auch während der Ausarbeitung stets inhaltlich-methodische Bereicherung – ebenso wie großzügige finanzielle Unterstützung, bis hin zur Förderung dieser Publikation. Ich danke Herrn Prof. Dr. Josef Wiesehöfer – von der Vorsehung zu einem Mitwanderer zum helikonischen Musenaltar erkoren –, der sich freundlich bereiterklärte, das Zweitgutachten zu übernehmen. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Lutz Käppel: Er hat den Musenaltar auf die Exkursionsliste gesetzt und das Werden und Wachsen dieser Arbeit durch Berg und Tal begleitet. Gewidmet sei sie meinen Eltern.

A.I Einleitung 1

Musen und Berge

Mit erhabenen Worten beginnt Walter F. Otto in seiner Monographie Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens den Abschnitt über die Kultstätten der Musen: „Dem Himmel nah, auf hohen Bergen wohnen die Musen, und die beiden ältesten und sagenberühmtesten Wohnsitze sind der Olymp und der Helikon.“1 Als dritter prominenter Ort, den Otto nicht nennt, der aber ebenfalls Assoziationen zu den Musen aufweist, reiht sich an die zwei genannten ein weiterer Berg: der Parnass mit Delphi. Eine auffällige Gemeinsamkeit wird sichtbar: Die Orte teilen eine analoge landschaftliche Struktur, die sich konstituiert über die Elemente Berg und Wasser. Die Musen, „purely Greek creatures“2, um diese Arbeit nicht ohne Wests vielzitierte Charakterisierung beginnen zu lassen, die Göttinnen der Musik, der Sänger und der dichterischen Inspiration, der Philosophie und Wissenschaften, erfahren in der gesamten griechischen und römischen Antike konstante Verehrung. Ihr Kult breitet sich im Laufe der Zeit stetig aus,3 ihre Landschaften werden zu Topoi. Die Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts konzentriert sich vor allem auf die Rekonstruktion des mythologischen und religiösen Musenbildes, wobei Aspekte wie Aussehen, Anzahl, Ursprung, Etymologie, Funktion und Beziehung der Musen zu anderen mythologischen Gestalten im Mittelpunkt stehen.4 Eine zentrale Frage der Diskussion ist die Art der Verwandtschaft zwischen Musen und Nymphen. Mayers REArtikel über die Musen von 1933 vereint im Grunde diese Forschungen; er stellt eine ausführliche und nach wie vor grundlegende Materialsammlung dar. 1 2 3 4

Otto 1961, S. 62. West 1997, S. 286. Vgl. D’Amore 2015; Caruso 2016, S. 370f. u. passim. Vgl. exemplarisch Deiters 1868; Decharme 1869.

16

A.I

Einleitung

Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiebt sich der Fokus in Richtung des Einflussbereiches der Musen, ihrem Verhältnis zum Dichter und der antiken Lebenswelt im Allgemeinen.5 So widmet sich Pierre Boyancé in Le culte des Muses chez les philosophes grecs (1937) dem Musenkult der Pythagoreer, und, davon ausgehend, dem Platons und Aristoteles’. Walter Ottos eingangs erwähnte Schrift Die Musen und der göttliche Ursprug des Singens und Sagens von 19556 stellt einen wesentlichen und vielzitierten Beitrag zur Debatte dar. Die Musen und Inspiration durch die Musen erfahren durch Otto eine ontologische Deutung. Seine zentrale Hypothese besagt, dass die Verehrung der Musen „Inbegriff der altgriechischen Religion und Weltanschauung“7 sei und Ausdruck der essentiellen Erfahrung, dass durch Musik und Sprache Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Welt ermöglicht werde.8 Auf diese Weise skizziert Otto ein einflussreiches neues Porträt der Göttinnen. Eike Barmeyer (Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie, 1968) begrüßt Ottos Ansatz, bemängelt jedoch, dass die Einordnung von Einzelphänomenen in den „ontologischen Entwurf“ nicht immer ausreichend begründet sei;9 diese Leerstelle sucht er selbst für das Phänomen der musischen Inspiration zu füllen.10 Insgesamt ist die Anzahl an den Musen gewidmeten Monographien verhältnismäßig gering. Außer den bereits erwähnten Arbeiten sind es folgende: Maria Teresa Camilloni befasst sich in Le Muse (1998) in erster Linie mit Fragen der Etymologie und Horaz’ Verwendung einzelner 5

6 7 8

9 10

S. etwa Falter 1934; Maehler 1963; Kambylis 1965. Alle drei Beiträge wählen einen rein philologischen Zugang und sind nicht allein auf die Musen ausgelegt. Hier Otto 1961. Ebd., S. 5. S. für eine vergleichbare These Koller 1963. – Franzen 2010 befasst sich mit Ottos charakteristischem Zugang zur Interpretation der griechischen Religion, seinem „auf die Spitze getriebene[n] Ästhetizismus“ (ebd., S. 32) und seiner Ablösung des „aktiv erkennende[n] Subjekt[s] durch ein sich aktiv offenbarendes »Objekt«“ (ebd.), in einer kritischen Würdigung. Vgl. Barmeyer 1968, S. 44; das Zitat ebd. Barmeyer 1968 ignoriert in seiner eigenen ontologischen Einordnung, die er dezidiert nur auf literarischen Quellen aufbaut (vgl. ebd., S. 52), bisweilen zu konsequent deren potenzielle Literarizität; auch sind sie nicht vollständig.

1

Musen und Berge

17

Musennamen und ihrer Attribute. Die Arbeit enthält zudem einen oberflächlichen Durchgang durch Erwähnungen der Musen in der griechischen und römischen Literatur bis zur augusteischen Zeit.11 Tomasz Mojsik setzt sich in seinen Arbeiten12 – darunter der 2011 erschienenen Monographie Antropologia metapoetyki. Muzy w kulturze greckiej od Homera do kónca V w. p.n.e.13 – sowohl mit dem Kult der Musen als auch mit ‚klassischen‘ Themen des 19. Jahrhunderts wie der Anzahl oder den Genealogien der Göttinnen auseinander, mit großem methodologischen Bewusstsein und einem dezidiert anthropologischen Ansatz. Er betont dabei stets die Fluidität des Musenbildes in der archaischen und klassischen Epoche und die für den Bereich der Dichtung und den einzelnen Dichter daraus resultierende Adaptivität ihres Konzeptes. Ada Caruso behandelt unter archäologischer Perspektive Mouseia – Musenheiligtümer im engeren wie im weiteren Sinne – von archaischer bis in hellenistische Zeit.14 Die jüngste relevante Monographie nähert sich den Musen wieder von rein philologischer Seite – Camille Semenzatos A l’écoute des Muses en Grèce archaïque von 2017 untersucht das Verhältnis von Dichter und Muse in der archaischen Dichtung in Textanalysen von Autor zu Autor. Erwähnung finden in diesem kurzen Überblick muss auch Alex Hardie, der kumulativ ein beachtliches Korpus an Artikeln zum Themenbereich der Musen hervorgebracht hat.15 Hardie behandelt sowohl Aspekte des Musenkultes als auch literarische Texte der griechisch-römischen Antike, für die er durch Beachtung des kulturellen Kontextes neue produktive Interpretationsansätze gewinnt.16 Diese bisher vorliegenden Arbeiten, die sich dezidiert mit den Musen beschäftigen, berühren naturgemäß in der Regel auch die Verbindung 11

12 13 14

15

16

Die Arbeit ermangelt jedoch, wie auch Murray 2000, S. 295 bemerkt, einer Bibliographie. S. Mojsik 2008a; 2008b; 2011a; 2011b; 2011c; 2011d; 2013; 2017; 2018. Mojsik 2011a. Der Titel der 2016 erschienenen Studie lautet entsprechend Mouseia. Tipologie, contesti, significati culturali di un’istituzione sacra (VII-I sec. a.C.). Vgl. zudem Caruso 2011; 2013; 2014a; 2014b. S. Hardie 1996; 2000; 2002; 2004; 2005; 2006; 2007; 2008; 2009; 2010a; 2010b; 2012; 2013a; 2013b; 2016a; 2016b. Keine Beachtung gefunden haben in diesem Überblick Beiträge zur Musik, die naturgemäß auch immer Berührungspunkte zu den Musen bieten, jedoch grundsätzlich andere Erkenntnisinteressen verfolgen.

18

A.I

Einleitung

der Göttinnen zur Landschaft. Parnass, Pierien, Helikon: Der Bezug der Musen insbesondere zu Bergen und Quellen ist in vielfältiger Weise ausgeprägt und stellt ein, wenn auch nicht in allen Kontexten obligatorisches, so dennoch sehr präsentes Merkmal dar. Sie bleiben nicht als bloße geographische Gegebenheiten von den Göttinnen getrennt; vielmehr existieren verschiedenartige Verbindungen zwischen Musen und Landschaft. In der Regel wird dieser Aspekt jedoch nur marginal behandelt – etwa, indem er schlicht konstatiert oder nur allgemein betrachtet wird.17 Auch ist hier weiterhin die von der Forschung des 19. Jahrhunderts so dominant aufgeworfene Frage bestimmend, wo der ‚Ursprung‘ dieser Verbindung zu suchen sei – ob etwa in einem eigentlichen Quellnymphentum der Musen. Die vorliegende Studie folgt einem anderen Weg: Nicht ein religiösmythologisches Bild der Göttinnen rekonstruieren will sie, sondern die Beschaffenheit und Funktionsweise der Verbindung zur Landschaft untersuchen. Es gilt zu klären, ob Landschaft – so prominent greifbar in Parnass, Olymp und Pierien, Helikon – einen essentiellen Bestandteil des Konzeptes ‚Muse‘ ausmacht. Dazu ist eine Bestandsaufnahme der verfügbaren Quellen unerlässlich, sodass zunächst auch hier eine allgemeine Sammlung und Auswertung der Zeugnisse erfolgt, die Aufschluss über das Zusammenspiel von Göttinnen und Landschaft geben können: Einer Vorstellung der drei traditionellen Orte der Musen (Abschnitte A.I.1.1-1.3) folgt eine kurze systematische Reflexion auf die antike Wahrnehmung der Landschaftselemente Berg und Wasser im Allgemeinen (Abschnitt A.I.2). Es schließt sich auf konkreterer Ebene eine Betrachtung belegter Kultplätze der Musen an (Abschnitt A.I.3.1) sowie kultischer, mythologischer und literarischer Überschneidungen mit den Nymphen (Abschnitt A.I.3.2). Auf dieser Grundlage kann im Anschluss der Ansatz dieser Arbeit präsentiert werden (Abschnitt A.I.4).

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Eine Ausnahme bilden die unten in Abschnitt A.I.4 aufgeführten Publikationen, die allerdings den Schwerpunkt ein wenig anders setzen.

1

1.1

Musen und Berge

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Parnass

Der Parnass18 mit seinem mächtigen Doppelgipfel und seinen Quellen avancierte vor allem in römischer Zeit, in höherem Maße dann für die Rezeption der Antike, zum Musenberg und symbolischen Ort dichterischer Inspiration, der Künste und Wissenschaften an sich. In der griechischen Literatur funktioniert die Assoziation der Musen mit dem Berg in erster Linie über ihre Verbindung zu Apoll in seiner Rolle als Musenführer, Μουσηγέτης.19

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Für eine morphologische, geologische und landschaftliche Beschreibung des Parnass mit der Umgebung von Delphi s. Philippson 1950, S. 389-413. Die Rolle des Μουσηγέτης ist eng mit Delphi verbunden (vgl. Hardie 1996, S. 238; Schmidt 1949, S. 1654; s. auch das delphische Ehrendekret für die Synodos der athenischen ἐποποιοί FD 3, 2 50 = SIG3 699, wo Apoll in der ersten Zeile unter anderem wohl als Mousagetas bezeichnet ist), außerdem Apoll mit dem Parnass (s. McInerney 1997). Dass auch Delphi selbst assoziativ eng an den Parnass geknüpft wird, tut sein Übriges (s. dazu Schmidt 1949, S. 1635-52; McInerney 1997). – Erstes Zeugnis für eine Verbindung der Musen zum Parnass (unabhängig von Apoll) ist wahrscheinlich Hes. fr. 26, 10-12 Merkelbach-West, das die drei Töchter des Porthaon und der Laothoe zum Gegenstand hat: τα]ὶ̣ δο̣.[.] Νυµφάων καλλιπ[λο]κάµ[ω]ν̣ συν̣ο̣πη̣ δο̣ὶ | .[.] . . [. . .] . . . Μο[υ]σέων τε̣ [κα]τ̣’ ο[ὔρεα] β̣η[σ]σ̣ήεντ̣α | . [. . . . . .] . [.] ἔσχο[ν Π]α ̣ ρ̣νη̣σσο̣ῦ̣ τ’ ἄκρ̣α ̣ κάρηνα / „die […] der schöngelockten Nymphen Gefährtinnen | […] und der Musen auf den waldigen Bergen […] | hatten sie inne und auch die äußersten Gipfel des Parnass“. Der fragmentarische Zustand der Verse lässt – abgesehen zumal von der nicht sicheren Lesart Π]α ̣ ρ̣νη̣σσο̣ῦ̣ – nicht mit Eindeutigkeit sagen, für welche der drei Gruppen weiblicher Figuren die Verortung gilt. Dass die Musen darunter zu fassen sind, ist aber wahrscheinlich: Das Verb ἔσχον in Kombination mit dem Akkusativobjekt Παρνησσοῦ ἄκρα κάρηνα lässt eher auf Gottheiten als Subjekt schließen; die Musen als vorangenannte (unter Umständen auch gemeinsam mit den Nymphen) liegen nahe. (Zwei weitere Möglichkeiten sind zwar allein wegen der relativ kleinen Zahl der verlorenen Zeichen weniger wahrscheinlich, aber nicht per se auszuschließen: 1. Zu Beginn von V. 12 kann ein anderes Subjekt zu ἔσχον gestanden haben. 2. Unter Umständen verbindet das τ’ in V. 12 nicht zwei Akkusativobjekte von ἔσχον, sondern zwei gleichwertige Sätze, sodass auch ein gänzlich neuer Gedanke möglich wird.) – Für den Parnass als ‚Musenberg‘ im Verhältnis zum Helikon s. Schmidt 1949, S. 1652-8.

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A.I

Einleitung

Delphis berühmteste Quelle ist die Kastalia. Zwei antike Brunnenanlagen sind erhalten, eine archaische und eine jüngere aus späthellenistischer oder frührömischer Zeit.20 In der Literatur tritt die Verbindung der Kastalia zu dichterischer Inspiration laut Parke zum ersten Mal bei Theokrit21 auf, sei aber dann vor allem – auch unter Einbezug der Musen – Sache der römischen Dichter des augusteischen und silbernen Zeitalters.22 Bisweilen entstehen dabei durch die Kombination von Elementen unterschiedlicher Musenlandschaften – von Parnass, Pierien, Helikon – geographische Adynata.23 Parke wertet die Etablierung und Elaboration des Motivs von der Assoziation der Kastalia mit Musen und Dichtung als eigenständige Entwicklung der römischen Literatur.24 Andererseits 20

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Für den archäologischen Befund s. Amandry 1977 und 1978; Bommelaer und Laroche 2015, S. 102-107. S. auch Parke 1978, S. 216-9 für geänderte funktionelle und rituelle Ansprüche als mögliche Gründe für den Wechsel von der alten zur neueren Struktur. Zur Kastalia im Zusammenhang mit dichterischer Inspiration bei Theokrit s. den Exkurs am Ende dieses Abschnitts. Vgl. Parke 1978, S. 204-8. Parke 1978 verfolgt die literarischen Erwähnungen der Kastalia sowohl in der Dichtung als auch in der Prosa von der Archaik bis in die Spätantike: Beim einzigen archaischen Zeugnis handelt es sich um die inhaltliche Wiedergabe von Versen des Alkaios durch Pausanias: In einem Prooimion an Apoll habe der Dichter gesagt, das Wasser der Kastalia sei ein Geschenk des Flusses Kephisos (vgl. Paus. 10, 8, 10 = Alc. fr. 307b Voigt [test.]). Die nächsten Zeugnisse stammen erst aus klassischer Zeit: Die Kastalia sei darin einerseits periphrastisch gebraucht, als geographische Einheit, die zur Benennung und Umschreibung Delphis diene; andererseits erscheine sie, allerdings zunächst nur bei Euripides, auch in ihrer Funktion als Ort der rituellen Reinigung vor der Befragung des delphischen Orakels. Auch die hellenistische Literatur nehme vor allem auf diese beiden Weisen auf die Kastalia Bezug. Theokrits Anrufung der kastalischen Nymphen komme der Einführung eines neuen Motivs gleich, das in der römischen Literatur zur Entfaltung gebracht und weiterentwickelt werde. Mantische Konnotationen der Quelle schließlich könnten erst ab dem zweiten Jahrhundert n. Chr. mit Sicherheit in der Literatur nachgewiesen werden. Dieses Bild erfahre im Laufe der Zeit eine Steigerung dahingehend, dass das Wasser der Kastalia nicht nur als inspirierendes Medium für Prophezeiungen gelte, sondern selbst als sprechender Gewährer von Weissagungen in Erscheinung trete. S. ebd., S. 206f.; vgl. Schmidt 1949, S. 1655f. Vgl. Parke 1978, S. 205: „Roman poetry, which took up the theme of Casta-

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Musen und Berge

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ist schon für die Referenz auf die Kastalia in Pindars sechstem Paian ein spezifisch delphischer Kontext plausibel, der, wenn auch indirekt, durch die Elemente Quelle, Wassernymphe, Muse und Seherkunst konstituiert wird.25 Zudem findet sich bei einem weiteren hellenistischen Dichter des dritten Jahrhunderts neben Theokrit, nämlich Poseidipp, ein Anruf an die Musen, in dem ihnen die Bezeichnung Κασταλίδες gilt.26 Das Be-

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lia at this point is linked with this notion of the fountain as concerned with poetry [...]. In a way a survey of the references in the Roman poets could be regarded as a digression, because clearly their acquaintance with Castalia was derivative, not direct. Their sources were the Greek poets from the archaic to the Hellenistic periods and many of the works on which they modelled themselves are now lost. But they were also capable of developing the themes imaginatively, and as they wrote for readers who with rare exceptions had no direct acquaintance with the place, they were not tied down by any need to observe accuracy or authenticity. For them Castalia would, if need be, become purely a poetic symbol.” S. Pi. Pae. 6, 7-9 (fr. 52f Snell-Maehler) mit der umfassenden Interpretation von Hardie 1996. Parke ordnet auch diese Stelle zu denjenigen Erwähnungen der Kastalia, die auf eine geograpische Umschreibung Delphis abzielen; vgl. Parke 1978, S. 201, dazu Hardie 1996, S. 221 und – mit anderem Ansatz und ähnlichem Ergebnis – Eckermann 2014, S. 35-42. Vgl. Posidipp. fr. 118, 7f. Austin-Bastianini: λιµπάνετε σκοπιὰς Ἑλικωνίδας, εἰς δὲ τὰ Θήβης | τείχεα Πιπ[λ]ε̣ί̣ης βαίνετε, Κασταλίδες. / „Verlasst die helikonischen Höhen und kommt zu den Mauern | des pimpleiischen Theben, ihr Kastaliden.“ Die Anrede richtet sich an die Musen, wie nicht nur aus diesen Versen selbst, sondern schon aus den vorausgehenden deutlich wird (vgl. dort insbes. die Anrede Μοῦσαι in V. 1). Notwendigerweise muss hier der Hinweis erfolgen, dass es sich bei Κασταλίδες um eine aus dem Buchstabenmaterial von Schubart hergestellte Version handelt, die Austin und Bastianini für ihre Edition aufnehmen, nicht aber beispielsweise Lloyd-Jones und Parsons im Supplementum Hellenisticum (fr. 705). Mojsiks Einwand gegen die Konjektur, dass es keine Belege gebe „that a connection between Castalia (or Mount Parnassus) and the Muses existed in the Hellenistic period“ (Mojsik 2018, S. 75 Anm. 45) ist nicht vollständig zutreffend: So stellt Posidipp selbst im gleichen Fragment die Verbindung zwischen den Musen und dem Parnass her – freilich über Apoll als Bindeglied (vgl. Posidipp. fr. 118, 1-3 A.-B.). S. darüber hinaus auch Hes. fr. 26, 10-12 Merkelbach-West. – Ebenfalls Erwähnung finden die kastalischen Musen – vorausgesetzt, die plausible Konjektur werde angenommen – in PVindob G 40611 col. v, Z. 2, dem Beginn eines Epigramms vielleicht von Poseidipp oder von

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A.I

Einleitung

zugsfeld für die römische Literatur ist also vermutlich bereits breiter ausgeformt als von Parke zunächst angenommen.27 Eine Verbindung der Musen zu einer weiteren delphischen Quelle wird bei Plutarch angedeutet; es handelt sich um einen kultischen Bezug. In De Pythiae oraculis erwähnt der Gesprächsteilnehmer Boëthos ein Heiligtum der Musen in Delphi, das zur Zeit des Besuchs der Dialogpartner bereits nicht mehr existiert.28 Er lokalisiert es gegenüber der Südseite des Apollontempels nahe dem Heiligtum der Ge bei einer zu Plutarchs Zeit noch existenten Wasserstelle. Der fragliche Brunnen wird in der Regel mit der Anlage an der Südmauer des Tempels identifiziert, deren Treppe heute sichtbar ist und die mit einem Kanal in den archaischen Fundamenten des Tempels in Verbindung steht; sie wurde vermutlich aus der Kassotisquelle gespeist.29 Über die genaue Anlage, die Gründungszeit und das Verschwinden des Heiligtums ist nichts bekannt,30 Plutarch – beziehungsweise Boëthos – stellt jedoch einen expli-

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Asklepiades; s. Angiò 2016. Gemäß Hardie 1996, S. 243 hat möglicherweise Philitas von Kos eine Schlüsselrolle in der Etablierung der Verbindung von Kastalia und Dichtung gespielt. Vgl. Plu. Mor. 402c (De Pythiae oraculis); die Bezeichnung lautet Μουσῶν [...] ἱερόν (ebd.). Für die Lage des Ge-Heiligtums selbst – wohl das archaische Apsisgebäude mit Nr. XXIX auf der Karte von Roux 1971 – das außer bei Plutarch (Mor. 402c-d; [De Pyth. or.]) nur in einer Bauinschrift des Tempels erwähnt wird, s. Schröder 1990, S. 308, Bommelaer und Laroche 2015, S. 275 Nr. 336. Caruso 2016, S. 146 folgt bei der Identifikation des Heiligtums La CosteMesselière 1969, S. 734f. u. 736f., der den Oikos mit Nr. XXVIII der Ge zuweist; vgl. so auch schon Pomtow 1924, S. 1341f. Nr. 82, der in dem Apsisgebäude wiederum den Musentempel vermutet (s. ebd., S. 1370f. Nr. 94). Dazu Bommelaer und Laroche 2015, S. 277: „[L]a restitution d’une «chapelle de Gâ n° XXVIII» […] est très problematique“. – Für die Brunnenanlage vgl. Nr. 27 auf der Karte von Roux 1971 u. ebd., S. 127-133; Schröder 1990, S. 309; Caruso 2016, S. 144-6; auch schon Pomtow 1924, S. 13426 Nr. 82 A. Für Einwände gegen diese Identifikation s. Amandry 1996, S. 91. – Für die möglichen Quellen der Wasserversorgung in unterschiedlichen Bauphasen des Apollontempels und des Heiligtums im Allgemeinen s. Pouilloux und Roux 1963, S. 79-101; Roux 1971, S. 127-133; Schröder 1990, S. 309f. Schröder referiert die These, dass das Heiligtum schon im 4. Jh. v. Chr.,

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Musen und Berge

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ziten Bezug zwischen den Musen und dem Wasser her: Die Musen erscheinen als seine Hüterinnen insbesondere für Libationen und rituelle Waschungen.31 Sie erhalten bei Plutarch aufgrund dieser Funktion und der Lokalisierung ihres Heiligtums bei dem Brunnen und dem Heiligtum der Ge die Charakterisierung als ‚Beisitzerinnen und Wächterinnen der Seherkunst‘.32 Die Verbindung der Musen zu eben jenem Wasser wird möglicherweise an der gleichen Stelle durch ein früheres Zeugnis bestätigt, denn Boëthos untermalt seine Worte mit zwei Simonideszitaten.33 Zwar ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob die Verse tatsächlich auf eine solche delphische ‚Musenquelle‘ Bezug nehmen, doch ist mit einiger Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen.34 Die Musen erfahren hier gewis-

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möglicherweise in Folge des großen Erdbebens 373 v. Chr., nicht mehr bestanden habe (vgl. Schröder 1990, S. 312; auch Hardie 1996, S. 232, Caruso 2016, S. 148f.). Denn Boëthus weist eine Interpretation des Eudoxos zurück, nach der es sich bei dem Wasser des besagten Brunnens um Wasser der Styx handle (vgl. Plu. Mor. 402d). Der zunächst plausible Schluss lautet daher, dass Eudoxos‘ ‚Irrtum‘ – beziehungsweise generell das Vorhandensein einer alternativen Auslegung – mit einem zu seinen Zeiten noch existierenden Musenheiligtum nicht vereinbar sei. Andererseits offenbart die knappe Zurückweisung bei Plutarch nicht den genauen Kontext von Eudoxos’ Äußerung; ein Schluss auf die delphischen Realia bleibt daher zumindest teilweise problematisch. – In jedem Fall ist anzunehmen, dass zu irgendeiner Zeit ein delphisches Musenheiligtum bestand: Plutarch, dem als zeitweiligem delphischen Priester die Örtlichkeiten geläufig gewesen sein dürften, kann als verlässliche Quelle für die tatsächliche – oder zumindest die überlieferte – Topographie und Geschichte des Apollon-Heiligtums gelten (vgl. Caruso 2016, S. 144). Vgl. Plu. Mor. 402c. Vgl. Plu. Mor. 402d: τὰς δὲ Μούσας ἱδρύσαντο παρέδρους τῆς µαντικῆς καὶ φύλακας αὐτοῦ παρὰ τὸ νᾶµα καὶ τὸ τῆς Γῆς ἱερόν [...]. Wie auch bei Plutarch zum Ausdruck kommt, galt Ge als ursprüngliche Inhaberin der Orakelstätte vor Apoll: S. Sourvinou-Inwood 1987, die Mythos und Kultrealität gleichermaßen prüft; vgl. Roux 1971, S. 25-38; Schröder 1990, S. 314. Vgl. Plu. Mor. 402c-d; Simon. fr. 264 Poltera. Das zweite Zitat ist korrupt und bislang noch nicht befriedigend restauriert worden. In beiden Zitaten, die sich von der Wortwahl her teilweise decken, stehen die Musen im Zusammenhang mit χέρνιβες und Wasser, das aus der Tiefe geschöpft wird. So favorisiert etwa Poltera 2008, S. 487f. eine rein poetologische Deutung, wobei nicht ausgeschlossen sei, dass in diesem Rahmen Bezug auf eine reale Quelle bestehe. (Bisweilen wurde die Kastalia vorgeschlagen; zur Zurück-

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A.I

Einleitung

sermaßen eine Gleichsetzung mit Quellnymphen,35 während die Verknüpfung mit dem Heiligtum der Ge sie mit der Mantik36 in Beziehung setzt. Plutarchs Zeugnis ist der einzige Hinweis für einen Musenkult in Delphi. Archäologische Nachweise gibt es in keiner Form – nur die Musenfiguren aus dem Ostgiebel des Apollontempels des vierten Jahrhunderts zeugen überhaupt von der Anwesenheit der Göttinnen.37 Sie sind um Apoll, Artemis und Leto herum gruppiert. Manche von ihnen sind sitzend auf felsigem Grund dargestellt, sodass auch an diesem so wichtigen Monument der Berg in seiner Landschaftlichkeit präsent ist.38

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weisung dieser These s. Poltera selbst, ebd.; auch Hardie 1996, S. 232f.). Von einigem Gewicht ist jedoch folgendes Argument von Schröder 1990, S. 312: „Das entscheidende Argument gegen die Erklärung des Eudoxos [sc. es handle sich bei der beschriebenen Quelle um Wasser der Styx] läßt der Autor seinen Sprecher jedenfalls aus den Simonides-Versen beziehen, die sich danach tatsächlich mit einer delphischen Musenquelle beschäftigt haben müssen und nicht einfach ohne Rücksicht auf ihren Zusammenhang willkürlich herangezogen sein können.“ S. Hardie 1996, S. 231-5 und 242f. S. auch Caruso 2016, S. 147f. Wie eng diese Beziehung war, ist aus den vorhandenen Informationen schwer zu evaluieren; vgl. Mayer 1933, S. 700-702. Vgl. Caruso 2016, S. 144: „La cessazione del culto delle dee trova riscontro sul piano archeologico, perché, se si escludono le statue del frontone est del tempio di Apollo die IV sec. a. C. di cui narra Pausania, non ci sono dati riferibili alle dee in nessuna parte del santuario e in nessuna forma: non nella documantazione epigrafica né nella plastica in pietra o in bronzo o in terracotta“. Caruso verweist zugleich auf eine Version der Äsop-Vita (vgl. ebd., S. 359 mit Anm. 894): Dort sucht Äsop in Delphi Zuflucht in einem Tempel der Musen (Handschrift G, 134), allerdings handelt es sich in der Parallelüberlieferung um einen Apollontempel (Handschrift W). – Pausanias erwähnt die Musen unter den Giebelfiguren in 10, 19, 4 (bei Caruso 2016, S. 200 Anm. 204 fälschlich 9, 19, 4): Τὰ δὲ ἐν τοῖς ἀετοῖς, ἔστιν Ἄρτεµις καὶ Λητὼ καὶ Ἀπόλλων καὶ Μοῦσαι δύσις τε Ἡλίου καὶ Διόνυσός τε καὶ αἱ γυναῖκες αἱ Θυιάδες. Zu den Fragmenten der Musenfiguren aus dem Ostgiebel s. Croissant 2003, S. 75-82. So ruhen auf felsigem Grund die Musen mit Croissants Bezifferung III (Croissant 2003, S. 77f., Fragmente Nr. 17-20), IV (ebd., S. 78f., Nr. 21-23), VII (ebd., S. 81, Nr. 28) und eventuell auch VI (ebd., S. 80f., Nr. 25-27). Auch der Westgiebel, der Dionysos im Typus des Kitharodos umringt von Thyiaden zeigt, weist eine solche landschaftliche Verortung auf: So stehen

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Musen und Berge

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Exkurs. Kastalia und dichterische Inspiration In Theokrits siebtem Idyll sind das Ich des Gedichtes, Simichidas, und zwei Gefährten auf dem Weg zu einem koischen Landgut, wo ein Erntefest zu Ehren Demeters abgehalten werden soll (V. 1-9). Dabei begegnen sie dem Ziegenhirten und Sänger Lykidas (V. 10-48); zwischen ihm und Simichidas entspinnt sich zunächst ein kleiner freundschaftlicher Sängerwettstreit (V. 49-127), dann trennen sich die Wege wieder (V. 128131). Am Ende (V. 131-157) folgen kleine Eindrücke von den Thalysien – des Ortes, der Früchte und schließlich: des guten, vierjährigen Weines. Hier wendet sich das Ich an die kastalischen Nymphen: Νύµφαι Κασταλίδες Παρνάσιον αἶπος ἔχοισαι, ἆρά γέ πᾳ τοιόνδε Φόλω κατὰ λάινον ἄντρον κρατῆρ’ Ἡρακλῆι γέρων ἐστάσατο Χίρων; ἆρά γέ πᾳ τῆνον τὸν ποιµένα τὸν ποτ’ Ἀνάπῳ, τὸν κρατερὸν Πολύφαµον, ὃς ὤρεσι νᾶας ἔβαλλε, τοῖον νέκταρ ἔπεισε κατ’ αὔλια ποσσὶ χορεῦσαι, οἷον δὴ τόκα πῶµα διεκρανάσατε, Νύµφαι, βωµῷ πὰρ Δάµατρος ἁλωίδος;

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Kastalische Nymphen, die ihr den parnassischen Gipfel innehabt, | hat der alte Chiron wohl einen solchen Becher dem Herakles in der Felsgrotte des Pholos vorgesetzt? | Hat ein solcher Nektar jenen Hirten beim Anapos39, | den starken Polyphem, der Schiffe mit Bergen bewarf, | überredet, die Hürden entlang mit den Füßen zu tanzen, | wie der Trunk, den ihr damals mit Quellwasser durchmischt habt, Nymphen, | beim Altar der Demeter der Tenne? Theoc. 7, 148-55 Diese Anfrage zeichnet die kastalischen Nymphen als Wissende aus, die wahrheitsgemäß von der ‚heroischen‘ Vergangenheit zu künden wissen. Sie kommen sehr unvermittelt ins Spiel: So wurde im Voraus die Thalysien-Szenerie auch mit einer Nymphengrotte ausgestattet.40 Von diesen

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mindestens die beiden Panther (ebd., S. 93-96, Nr. 49-54) auf Felsuntergrund. Abgesehen von den Fragmenten, die sich zuordnen lassen, sind noch weitere gefunden worden, die Felsen imitieren (ebd., S. 105-11, Nr. 78-105). Gemeint ist der sizilische Fluss Anapos. Vgl. Theoc. 7, 136f.: τὸ δ’ ἐγγύθεν ἱερὸν ὕδωρ | Νυµφᾶν ἐξ ἄντροιο κατειβόµενον κελάρυζε. / „In der Nähe murmelte das heilige Wasser, | das aus der

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Einleitung

lokalen, koischen Nymphen wäre eigentlich zu erwarten, dass sie in V. 154f. den Wein mit Wasser mischen für das Erntefest, denn das Wasser ihrer Quelle ist zur Hand.41 Sie erfahren offensichtlich eine Identifikation42 mit den kastalischen Nymphen vom Parnass – oder besser andersherum: Die kastalischen Nymphen werden mit diesen lokalen Nymphen verschränkt. Parke43 sieht in der Anfrage der Verse 148-55 explizit die Verbindung zu einem spielerischen Musenanruf „in the epic manner“44, in dem der Dichter die Göttinnen um Wahrheit und Inspiration für sein Lied bittet.45 Ein inspiratorischer Charakter des Anrufs bei Theokrit ist nicht ohne Weiteres gegeben, denn das übliche Schema wird nicht verfolgt: Der Wein ist nach der Frage nicht weiter Gegenstand, sondern es folgt ein abschließender Gedanke, welcher sich an das Stichwort Demeter knüpft (vgl. V. 155-7). Der ‚Anruf‘ initiiert also keinen neuen Liedabschnitt; Frage und Antwort sind vielmehr eins. Jedoch bedient sich die Thalysienszenerie insgesamt poetologischen Materials, die Beschreibung verknüpft ‚reale‘ Elemente mit einer höheren poetologischen Ebene.46 Auch das Mischen von Wein und heiligem Wasser durch die kastalischen Nymphen ist so von hohem symbolischen Wert.47 Die Verschränkung der kastalischen Nymphen – die, wenn vielleicht noch nicht zu den Musen, so doch mindestens einen Bezug zu Apoll aufweisen – mit den lokalen Nymphen erfüllt also eine Funktion in diesem Sinne. Nymphen und Musen nehmen darüber hinaus insgesamt im siebten Idyll austauschbare Positionen ein: So enthalten u. a. die Verse 92f. eine Parallelisierung der lokalen Bergnymphen mit Hesiods helikonischen Musen.48 Ähnlich eröffnet die Anspielung auf die Entstehung der Bourina-Quelle zu Beginn des Gedichtes – ein Fußschlag hat sie hervorgebracht (vgl. V. 6f.) – auch eine assoziative Verknüpfung

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Grotte der Nymphen herabfloss.“ Zur Bedeutung des Hapaxlegomenons διακρανάω (V. 154) s. Gow 1952, II, S. 168f. ad loc.; Hatzikosta 1982, S. 218. S. Gow 1952, II, S. 168 zu Theoc. 7, 148 für mögliche assoziative Ansatzpunkte dieser Identifikation. S. Parke 1978, S. 204f. Ebd., S. 204. Vgl. Hunter 1999, S. 196 ad loc. S. etwa Lawall 1967, S. 102-8. S. ebd., insbes. S. 105f. Vgl. Hardie 1996, S. 227; Hunter 1999, S. 158 zu Theoc. 7, 21; S. 163f. zu Theoc. 7, 44; S. 178f. zu Theoc. 7, 91f.

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Musen und Berge

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zur Hippoukrene, die durch den Hufschlag des Pegasos entstanden ist.49 Die Geographie der Insel Kos geht also an diesen Punkten eine Verbindung mit der inspiratorischen Landschaft von Helikon und – wie hier dargelegt – Parnass ein.

1.2

Olymp und Pierien

Für die griechische Antike weitaus unmittelbarer fassbar ist der Bezug der Musen zum Olymp, mit 2918 Metern der höchste Berg Griechenlands und von jeher als Göttersitz gedacht.50 Den Musen allein kommt neben Zeus – und abgesehen vom Kollektiv der olympischen Gottheiten – schon im frühen Epos das Epitheton ‚olympisch‘ zu.51 Der Olymp ist die Geburtsstätte der Göttinnen.52 Dort weilen sie zudem im Kreise der anderen olympischen Götter, üben Tanz und Gesang an Apolls Seite und zum Preis ihres Vaters Zeus.53 Die nordgriechische Musenlandschaft ist jedoch noch weiter aufgespannt: Der Landstrich Pieria, der sich nordöst49

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Vgl. Lawall 1967, S. 78 u. 106; Hunter 1999, S. 154 ad loc. Zur Hippoukrene s. auch unten Abschnitt A.II.2.2.3. Für eine morphologische, geologische und landschaftliche Beschreibung des Olymps s. Philippson 1951, S. 91-106. So heißen die Musen Ὀλυµπιάδες in Hom. Il. 2, 491; Hes. Th. 25; 52; 966; 1022; fr. 1, 2 Merkelbach-West; h. Merc. 450. S. darüber hinaus Alcm. 3 fr. 1, 1 PMGF; Sol. fr. 13, 51 West = Stob. 3, 9, 23, 52; Pi. P. 11, 1; Ar. Av. 782f.; Lobo fr. 520, 2 SH; Zenod. bei Ariston. ad Il. 2, 484 (= Schol. Hom. Il. 2, 484 Erbse), vgl. bei Ariston. ad Il. 18, 339 (= Schol. Hom. Il. 18, 339 Erbse) u. 24, 215 (= Schol. Hom. Il. 24, 215b Erbse); Anon. fr. 30, 98 GDRK; St. Byz. s. v. Φάσηλις, vgl. App. Anth. Epigrammata sepulcralia 45, 2; AP 9, 572, 7; vgl. auch Varro ling. 7, 20. – Daneben erscheinen die Musen – wiederum parallel zur Beschreibung der olympischen Götter insgesamt – als die, welche „die olympischen Hallen bewohnen“ (Ὀλύµπια δώµατ’ ἔχουσαι); vgl. Hom. Il. 2, 484; 11, 218; 14, 508; 16, 112; Hes. Th. 75; 114; Hermipp. fr. 63, 1 Kassel-Austin (Bd. 5, S. 591 PCG); Aristox. fr. inc. 4, 25 Kaiser. Vgl. auch Hsch. s. v. Πίµπλ(ε)ιαι (π 2339 Hansen). S. Hes. Th. 60-2 mit Schol. S. Hom. Il. 1, 601-4; Hes. Th. 36-52 u. 63-79; Aristid. Or. 43, 6 Keil; Jul. Or. 3, 106c (Εὐσεβείας τῆς βασιλίδος ἐγκώµιον). Darüber hinaus führt Stephanos von Byzanz unter dem Stichwort Μούσειον folgende Erläuterung: τόπος περὶ τὸν Ὄλυµπον τὸν ἐν Μακεδονίᾳ. Πολύβιος τριακοστῷ ἑβδόµῳ.

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A.I

Einleitung

lich des Olymps erstreckt, knüpft sich prominent an die Musen. Die enge Assoziation spiegelt sich sichtbar im häufigen Beinamen Πιερίδες.54 Pieria ist ebenfalls ein Aufenthaltsort der Musen;55 von dort rufen die Dichter die Musen zur Inspiration herbei oder denken sie sich daher kommend.56 Olymp und Pieria bilden eine assoziative Einheit oder sind zumindest sehr eng miteinander verknüpft.57 Auch Pieria selbst erhält in 54

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Die Musen heißen Πιερίδες bei Hes. Sc. 206; Sapph. fr. 103, 5 Voigt; Sol. fr. 13, 2 West (=Stob. 3, 26, 1, 2); Anacr. fr. 1, 11+3+6, V. 9 PMG; Pi. O. 10, 96; P. 1, 14; P. 6, 49; P. 10, 65; N. 6, 32; I. 1, 65; Pae. 6, 6 (fr. 52f SnellMaehler); fr. 215, 6 Snell-Maehler; B. 1, 3; 19, 3f.; 19, 35; fr. 63, 1 Maehler; S. fr. 568, 1 Radt (Bd. 4, S. 429 TrGF); E. IA 1041; Med. 833; Rh. 349; Pratinas fr. 3, 4 Snell (Bd. 1, S. 82 TrGF); Arist. fr. 8, 640, 5 Rose = App. Anth. Epigrammata sepulcralia 82, 2; Theoc. 10, 24; 11, 3; Crates Theb. fr. 359, 2 SH; A. R. 4, 1382; Cerc. fr. 7, 9 Powell; Limen. 3 (Pai. 46, 3 Käppel); Q. S. 3, 647; 3, 786; 6, 76; Ps.-Callisth. 1, 42, 6; Nonn. D. 1, 504; Olymp. Alch. Bd. 2, S. 85, Z. 10 Berthelot; AP 2, 1, 347 (Christodoros); 5, 107, 4 (Phld.); 6, 80, 3 (Agath.); 6, 295, 8 (Phan.); 7, 2b, 3 (Antip. Sid.); 7, 4, 1 (Paul. Sil.); 7, 10, 6; 7, 12, 6; 7, 14, 4 (Antip. Sid.); 7, 35, 2 (Leon.); 7, 42, 6; 7, 44, 6; 7, 352, 7 (Mel.?); 7, 377, 3 (Eryc.); 7, 409, 3 (Antip. Thess.); 9, 136, 4 (Cyrus); 9, 171, 3 (Pall.); 9, 192, 8 (Antiphil.); 9, 230, 4 (Honest.); 9, 581, 1; 10, 18, 2 (Argentarius); 14, 1, 9 (Socr.); 14, 3, 3; 15, 27, 12 (Simm.); 16, 71, 2; 16, 151, 9; 16, 310, 2 (Damoch.); App. Anth. Epigrammata dedicatoria 81, 2; 112, 6; Epigrammata sepulcralia 253, 2; 267, b2; 578, 8; Hsch. s. v. Πιερίδες (π 2258 Hansen); Chor. 11, 6; Synag. s. v. Πιερίδες (π 471 Cunningham); Phot. s. v. Πιερίδες (π 873 Theodoridis); Suid. s. v. Πιερία (π 1564 Adler); Zonar. s. v. Πιερίδες (π 1549, Z. 2 Tittmann); Orph. H. 76, 2; Vit. Hom. 7, Z. 12 Allen; Anon. fr. 938, 1 SH. Vgl. E. Ba. 409-11; Philod. Scarph. 53-62; Aristid. Or. 43, 6 Keil; Hippol. Haer. 1, 26, 2; Men. Rh. 442; Lib. Chr. 10, 5, 22; Schol. Hes. Op. 1. S. auch die vorangegangene und die folgende Anmerkung. S. Hes. Op. 1; E. Ba. 410; Anon. fr. 938, 4 SH; Him. Or. 48, 37; 62, 6; Chor. 11, 4. Vergleiche auch die folgenden Stellen, wo nicht die Musen selbst, sondern Lieder und Dichtung – auch mit entsprechenden metaphorischen Varianten – ihren Weg aus Pieria finden: Sapph. fr. 55, 2f. Voigt; B. 16, 2-4; E. IA 798; AP 4, 2, 1-4 (Phil.); AP 7, 407, 2-4 (Diosc.); AP 9, 26, 1f. (Antip. Thess.). Vgl. beispielsweise Hes. Th. 53f., wo es heißt, Mnemosyne habe die Musen dem Zeus in Pierien (ἐν Πιερίῃ) geboren, während in V. 62 die Spezifizierung „ein kleines Stück unterhalb des äußersten Gipfels des schneeigen Olymp“ (τυτθὸν ἀπ’ ἀκροτάτης κορυφῆς νιφόεντος Ὀλύµπου) gegeben

1

Musen und Berge

29

den antiken Quellen oft die Charakterisierung als Berg oder zumindest bergige Region.58 Zwei Orte innerhalb Pierias, Leibethra und Pimpleia,

58

wird. (Ohnehin wird neben dem Olymp auch Pieria allein als Geburtsort der Musen angegeben, vgl. Ant. Lib. 9, 1; Et. Gud. s. v. Πιερία; EM s. v. Πιερία; Moschop. Schol. Batr. 1; Tz. H. 6, 90, 935). Die Nähe wird offenbar auch in Hes. fr. 7, 3 Merkelbach-West (περὶ Πιερίην καὶ Ὄλυµπον δώµατ’ ἔναιον) und in E. Ba. 409-11 (ἁ καλλιστευοµένα | Πιερία, µούσειος ἕδρα, | σεµνὰ κλειτὺς Ὀλύµπου). Das genaue geographische Verhältnis von Olymp und Pieria ist nicht immer deutlich definiert. Bei Homer führt der Weg vom himmlischen Olymp hinab in die Welt der Sterblichen die Götter über Pierien: S. Il. 14, 225-8 von Hera, Od. 5, 50 von Hermes, insbesondere die analoge Formulierung Πιερίην δ’ ἐπιβᾶσα (Il. 14, 226) bzw. Πιερίην δ’ ἐπιβὰς (Od. 5, 50); vgl. auch h. Ap. 214-16. Die Iliasstelle zitiert Strabon 1, 2, 20 wohlwollend als Beispiel dafür, dass Homer die geographische Ordnung einhält, wo es nötig ist. Ein ähnliches Verhältnis lässt sich aus Schol. Hom. Il. 14, 226a Erbse ablesen, wo Pieria als Gipfel oder Bergkette (ἀκρώρεια) des Olymp erklärt wird, oder aus Schol. Hom. Il. 14, 226c Erbse, wo eine von zwei möglichen Zuordnungen Pieria als Teil des Olymp (µέρος Ὀλύµπου) wertet. Eine bloße räumliche Nähe zwischen Pieria und Olymp enthält Schol. Hes. Th. 62a Wendel (vgl. auch 62b Wendel). Die gänzliche Gleichsetzung wie bei Hippol. Haer. 1, 26, 2 scheint dagegen eher eine Ausnahme zu sein. Die Unschärfe bei der Bestimmung des geographischen Verhältnisses zwischen Pieria und Olymp hängt auch mit dem Spielraum in der Definition der geographischen Einheit Pieria zusammen – denn sie ist offenbar durchaus nicht fest umrissen, sondern changiert in den literarischen Quellen zwischen Berg, Landschaft und Stadt. S. die folgende Anmerkung. Als Berg bezeichnen oder charakterisieren Pieria folgende Quellen: Hdt. 7, 131; Anon. fr. 938, 4 SH; Hdn. Epim. S. 109, Z. 4 Boissonade; Paus. 9, 30, 7; 10, 13, 5; Men. Rh. 392; 442; Hsch. s. v. Πιερία (π 2257 Hansen); Hsch. s. v. Πιερίη (π 2259 Hansen); Phot. s. v. Πιερία (π 874 Theodoridis); Suid. s. v. Ὀρφεύς (ο 654 Adler); Tz. ad Hes. Op. 1 (Bd. 2, S. 32, Z. 17f. Gaisford); Tz. H. 6, 90, 927f.; Eust. ad Il. 14, 226 (Bd. 3, S. 623, Z. 23-5 van der Valk); Eust. ad. Od. 5, 50 (Bd. 1, S. 198, Z. 4-6 Stallbaum); Schol. Hom. Il. 14, 226a Erbse; Schol. Hom. Il. 14, 226c Erbse; Schol. Hom. Od. 5, 50b1 Pontani; Schol. Hom. Od. 5, 50b2 Pontani; Schol. Hes. Th. 53; Schol. A. R. 1, 31; Moschop. Schol. Batr. 1. Bergig ist Pieria bei h. Merc. 70 und AP 9, 26, 1f. (Antip. Thess.), ohne dass deutlich wäre, auf was für eine geographische Einheit der Name bezogen ist. – Gemeinhin ist Pierien aber als Landschaft oder Region innerhalb Makedoniens aufgefasst, so – ohne nähere topographische Bestimmung – bei Theagen. FGrH/BNJ 774 F1 = St. Byz.

30

A.I

Einleitung

beide wohl am Fuße des Olymps gelegen,59 weisen ihrerseits eine Verbindung zu den Musen auf: Sie gelten als ihnen heilig und auch ihre Namen tragen die Göttinnen als Epitheton.60 Beide Ortsnamen deuten auf

59

60

s. v. Ἀκεσαµεναί; D. Chr. 2, 2; Apollod. 1, 15; Hdn. Gr. Bd. 3, 1 S. 265, Z. 16 Lentz; Bd. 3, 1, S. 330, Z. 3 Lentz; Et. Gud. s. v. Πιερία; Eust. ad Il. 14, 226 (Bd. 3, S. 623, Z. 23-5 van der Valk); EM s. v. Πιερία; Schol. Hom. Il. 14, 226c Erbse; s. auch Schol. Hes. Th. 53, wo der Berg Pieria Ausdehnung bis zum Meer erfährt. Informationen zur näheren topographischen Eingrenzung – die allerdings variieren – können den folgenden Zeugnissen entnommen werden: Th. 2, 99, 3; 2, 100, 4; Plb. 4, 62, 1; Str. 7 fr. 11b, Z. 17 Radt; 7 fr. 11c, Z. 24-9 Radt; 7 fr. 17a u. c Radt; 9, 5, 22; Ptol. Geog. 3, 13, 15; 3, 13, 40. – Darüber hinaus erscheint Pieria in späten Zeugnissen als Stadt oder Stadt mit zugehöriger, gleichnamiger Chora, so bei Hdn. Gr. Bd. 3, 1, S. 299, Z. 32 Lentz; St. Byz. s. v. Πιερία; Suid. s. v. Κρίτων (κ 2453 Adler); Tz. ad Hes. Op. 1 (Bd. 2, S. 32, Z. 17f. Gaisford); Tz. H. 6, 90, 928 u. 934; Eust. ad. Il. 14, 226 (Bd. 3, S. 623, Z. 23-5 van der Valk). – Einige Scholiasten nennen mehrere Optionen: S. Tz. H. 6, 90 (Berg und Stadt); Tz. ad Hes. Op. 1 (Bd. 2, S. 32, Z. 17f. Gaisford) (Berg und Stadt); Eust. ad Il. 14, 226 (Bd. 3, S. 623, Z. 23-5 van der Valk) (Bergeshöhe, Region oder Stadt); Schol. Hom. Il. 14, 226c Erbse (Berg oder Region). S. auch Str. 10, 3, 17, wo zumindest offen bleibt, welche der aufgezählten Elemente – darunter Pieria – als Regionen (χωρία) und welche als Berge (ὄρη) zu fassen sind. Für die Lage von Pimpleia s. Talbert 2000, S. 50 mit Hatzopoulos u. Paschidis 2004, S. 797, für Leibethra ebd. mit Hatzopoulos u. Paschidis 2004, S. 803f. Dass Leibethra und Pimpleia den Musen heilig sind, bestätigt Strabon (vgl. 9, 2, 25 und 10, 3, 17); für Pimpleia vgl. auch Schol. Call. Del. 7. Die Assoziation der Musen mit Pimpleia und Leibethra wird außerdem deutlich aus Lyc. 273-5 und Tz. ad Lyc. 275 (Z. 31-3 u. Z. 16-23 Scheer), mit Pimpleia allein aus Call. Del. 7f.; Posidipp. fr. 118, 7f. Austin-Bastianini; auch Catull. 105; Hor. carm. 1, 26, 9; Acron. ad Hor. carm. 1, 26, 9; Stat. silv. 1, 4, 25; Stat. silv. 2, 2, 37; Fest. s. v. Pimpleides. – Die Musen heißen Λ(ε)ιβηθρίδες oder Λ(ε)ιβηθριάδες bei Euph. fr. 34, 2 Lightfoot (= fr. 416 SH); Anon. fr. 988, 1 SH; Anon. fr. 993, 7 SH; Max. 6, 141, vgl. Tz. H. 6, 92 = [Orph.] fr. 771a Bernabé; Verg. ecl. 7, 21; Varro ling. 7, 20. (Zu den leibethrischen Musen und Nymphen s. aber auch unten Abschnitt A.I.3.2.3). Πι(µ)πλειάδες, Πιµπληιάδες oder Πί(µ)πλειαι heißen sie bei AP 5, 206, 3 (Leon.); Max. prooim. 1 = [Orph.] fr. 771b Bernabé; Hsch. s. v. Πίπλιαι (π 2339 Hansen); Tz. ad Lyc. 275 (Z. 25f. Scheer); Hor. carm. 1, 26, 9; Varro ling. 7, 20;

1

Musen und Berge

31

einen Bezug zu Wasser – zu Wasserreichtum oder Fließen von Wasser; in beiden Fällen sind außerdem in literarischen Zeugnissen gleichnamige Quellen belegt.61 Dabei hat die Pimpleia vor allem in der römischen

61

Fest. s. v. Pimpleides; Porph. Hor. carm. 1, 26, 9; Schol. Hor. carm. 1, 26, 9. Die Schönheit seiner Heimat will Oppian mit einer Πιµπληΐ[ς] µολπ[ή] besingen (vgl. Opp. C. 2, 156f.). – Dass außerdem Orpheus mit beiden Orten in Verbindung steht, begünstigt in der Folge auch die Assoziation mit den Musen. Für Orpheus und Leibethra (auch kultisch) s. etwa A. (Bd. 3, S. 138 TrGF); Plu. Alex. 14, 8; Paus. 9, 30, 9-11; Iamb. VP 146, vgl. Pythag. S. 164 Thesleff; Him. Or. 46, 3-5; Orph. A. 50; Orph. A. 1373-6; Phot. Bibl. 140a; Suid. s. v. Ὀρφεύς (ο 654 Adler); Eust. ad Il. 21, 259 (Bd. 4, S. 498, Z. 7-9 van der Valk); Tz. H. 6, 92. Die ἀµουσία der Leibethrier, die den großen Sänger Orpheus zu Tode kommen ließen, ist sprichwörtlich geworden: S. Thugen. fr. 5 Kassel-Austin (Bd. 7, S. 751 PCG); Diogenian. 2, 26 LeutschSchneidewin, vgl. 1, 37 Leutsch; Diogenian. 7, 14 Leutsch-Schneidewin; Lib. Decl. 1, 182; Aristaenet. 1, 27; Zen. 1, 79, vgl. Arist. fr. 8, 552 Rose; Eust. ad Il. 21, 259 (Bd. 4, S. 498, Z. 7-9 van der Valk); Ps.-Zonar. s. v. Λειβήθριοι; Apostol. 2, 67; Apostol. 10, 50. Für Orpheus und Pimpleia s. etwa A. R. 1, 25; Str. 7, fr. 10a-c Radt; Nonn. D. 13, 428-31. – Einige Quellen kombinieren explizit die Musen, Orpheus und einen der beiden Orte: Bei Apollonios Rhodios bringt Kalliope Orpheus „nahe der pimpleischen Höhe“ (A. R. 1, 25: σκοπιῆς Πιµπληίδος ἄγχι) zur Welt; bei Nonnos lässt Oiagros Orpheus bei Kalliope in Pimpleia zurück (Nonn. D. 13, 428-31). Bei Aischylos sammeln die Musen die verstreuten Gliedmaße des Orpheus zusammen und begraben sie in Leibethra (vgl. A. [Bd. 3, S. 138 TrGF]). Im Falle Pimpleias handelt es sich um eine moderne Deutung, die das zugrunde liegende πίµπληµι mit dem Wasserreichtum der Region in Beziehung setzt; vgl. Schmidt 1950a, S. 1387 und 1950b, S. 1389; auch Mayer 1933, S. 709. Im Falle von Leibethra ist die Verbindung zu Wasser (über λείβω) auch aus antiken Quellen ablesbar; vgl. Hsch. s. v. λείβηθρον (λ 512 Latte); Synag. s. v. λίβηθρα (λ 118 Cunningham); Phot. s. v. λείβηθρον (λ 146 Theodoridis); Phot. s. v. λίβηθρα (λ 294 Theodoridis); Suid. s. v. Λείβηθρα (λ 359 Adler); Eust. ad Od. 3, 332 (Bd. 1, S. 131, Z. 41f. Stallbaum). Für Leibethra und Pimpleia im Zusammenhang mit Wasserreichtum allgemein s. auch Tz. ad. Lyc. 275 (Z. 16-19 Scheer). – Von einer Quelle Leibethra in Pierien zeugt Mela 2, 2, 36; ebenso Plin. nat. 4, 32 und Solin. 8, 7, die sie allerdings fälschlich in Thessalien verorten (vgl. Oberhummer 1925 und Stählin 1925). Eine Quelle Pimpleia – nicht zuletzt als Musenquelle weitaus prominenter – kennen Schol. A. R. 1, 25; Hsch. s. v. Πίπλιαι (π 2339 Hansen); Tz. ad. Lyc. 275 (Z. 22-26 Scheer); Catull. 105; Stat. silv. 1, 4, 26;

32

A.I

Einleitung

Literatur den Status einer Musenquelle inne.62 Auch Elemente der Berglandschaft werden im Zusammenhang mit Leibethra und Pimpleia thematisiert.63 Obwohl Pierien als „Urheimat der Musen“64 gelten darf, ist einzig der Musenkult von Dion auch durch archäologische Zeugnisse bestätigt.65 Die Grabungen von Leibethra – gemeinhin beim heutigen Leptokaryá angesiedelt – und gelegentliche Arbeiten im Gebiet des Olymp haben keine relevanten Ergebnisse hervorgebracht.66

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63

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Stat. silv. 2, 2, 37; Fest. s. v. Pimpleides; Porph. Hor. carm. 1, 26, 9; Schol. Hor. carm. 1, 26, 9. Epicharm macht die Musen zu Töchtern einer eponymen Nymphe Pimpleia und des Stammvaters Pieros: Vgl. Epich. fr. 39 KasselAustin (Bd. 1, S. 34 PCG) (= Tz. ad Hes. Op. 6 [Bd. 2, S. 25, Z. 13-15 Gaisford]). Wo Pimpleia als Quelle genannt ist, existiert immer – mit Ausnahme von Schol. A. R. 1, 25 – auch ein Bezug zu den Musen. Vgl. die in der vorausgehenden Anmerkung angegebenen Stellen. – Der Ansatz einer Systematisierung der zum Teil divergierenden Informationen über die geographische Einheit Pimpleia findet sich bei Mojsik 2018, S. 71-4, der die Vorteile einer diachronen Auswertung antiker Quellen aber unter Umständen zu rigoros zurückweist (vgl. ebd., S. 71f.). Bei Lyc. 275 (evtl. auch 409f.: δύσβατοι | Λειβήθριαι [...] πύλαι) und Orph. A. 50 ist im Zusammenhang mit Leibethra von Bergeshöhen die Rede. Explizit als Berg benennen Leibethra Paus. Gr. s. v. Λείβηθρα (λ 5 Erbse); Diogenian. 2, 26; Tz. H. 6, 92; Eust. ad Il. 21, 259 (Bd. 4, S. 498, Z. 7-9 van der Valk); Apostol. 2, 67; Paraphr. antiqu. zu Lyc. 275; Paraphr. rec. zu Lyc. 275; darüber hinaus evtl. auch Str. 10, 3, 17. – Pimpleia bringen A. R. 1, 25 und Ammon. 2 mit einem Berggipfel in Zusammenhang. Als Berg benannt ist es bei Tz. ad Lyc. 275 (Z. 22f. Scheer); Schol. Lyc. 275b u. 275c Leone; Schol. Call. Del. 7; Schol. A. R. 1, 25; darüber hinaus evtl. bei Str. 10, 3, 17. Mayer 1933, S. 706. Die Einführung dramatischer Agone zu Ehren des Zeus und der Musen wird auf Archelaos, der etwa 413-399 v. Chr. in Makedonien herrschte, zurückgeführt (vgl. D. S. 17, 16, 3f.). Die literarischen und archäologischen Zeugnisse sind zusammengestellt und besprochen bei Mojsik 2011a, S. 133-8; Caruso 2016, S. 160-6. – Für die mögliche Lokalisation eines Musenheiligtums in Aigai beim heutigen Vergína s. Saatsoglou-Paliadeli 2011, S. 277-9 (vgl. auch Caruso 2016, S. 166). Vgl. Caruso 2016, S. 164 mit Anm. 296.

1

1.3

Musen und Berge

33

Helikon

Und schließlich ist da der Helikon in Böotien, dessen Nähe zu den Musen eine überwältigende Fülle an Zeugnissen belegt.67 Deren frühestes und gewiss einflussreichstes ist das Prooimion von Hesiods Theogonie, das mit der Aufforderung einsetzt, das Lied bei den helikonischen Musen, den Μοῦσαι Ἑλικωνιάδες, zu beginnen. Hesiod nennt innerhalb der ersten sechs Verse des Prooimions neben dem Berg im Allgemeinen zwei Quellen – eine nicht weiter spezifizierte und die berühmte Hippoukrene – und zwei Flüsse – den Permessos und den Olmeios – als Aufenthalt der Musen. Am Fuße des Helikon verortet er seine Begegnung mit den Göttinnen und die daraus resultierende Weihung zum Dichter. Diese Verse wurden in der antiken Literatur vielfach rezipiert und auch zu eigenständigen Werken verarbeitet. Dabei steht in der Tat außer dem Motiv der Dichterweihe auch der Bezug der Musen zu Elementen der Helikon-Landschaft an prominenter Stelle. Am eindrücklichsten äußert sich dies im Falle der Hippoukrene, die zur Musenquelle schlechthin avanciert. Spätestens seit dem Hellenismus ist sie nicht mehr nur Aufenthaltsort der Göttinnen, sondern ihrem Wasser selbst werden inspiratorische Kräfte zugesprochen. Am Helikon treten die Musen in der Regel allein auf, auch losgelöst von Apoll; nach ihrem Berg heißen sie „helikonisch“. Die Musenlandschaft am Helikon birgt auch deshalb eine besondere Faszination, weil für sie – über die literarischen und ikonographischen Belege hinaus – auch ein im Verhältnis gut bezeugter Kult vorhanden ist. Das an die Polis Thespiai angeschlossene Musenheiligtum im sogenannten Tal der Musen florierte vor allem ab dem dritten Jahrhundert v. Chr. Mit seinen prestigeträchtigen musischen Agonen zog es Besucher und Investoren aus weiten Teilen des Mittelmeerraumes an und behielt seine Bedeutung bis in die Kaiserzeit. Es wird sich zeigen, dass die Ausgestaltung des Heiligtums in der Landschaft am Helikon und das Verhältnis der Musen zu ihrer Landschaft reziproken Einfluss aufeinander ausgeübt haben. Auch zwischen den einzelnen Musenlandschaften existieren Bezüge. Sie reichen von kleineren Nachrichten wie etwa, dass die erste Sibylle ihren Weg nach Delphi vom Helikon gefunden habe, wo sie von den 67

Die Informationen in diesem Abschnitt sind der ausführlichen Darstellung in Kapitel A.II entnommen.

34

A.I

Einleitung

Musen genährt worden sei,68 bis hin zu Theorien zum grundsätzlichen Verhältnis zwischen den beiden großen urgriechischen Musenstätten, Pierien mit Olymp und Helikon. Denn hier herrschen bei den Toponymen auffällige Parallelitäten: Dem makedonischen Leibethra entspricht vom Namen her die Grotte der leibethrischen Nymphen im Helikonzug, wo Pausanias nicht nur Nymphen- sondern auch Musenstatuen mit dieser Epiklesis verzeichnet.69 Der pierische Fluss Baphyras soll zudem, wie wiederum Pausanias berichtet, in seinem Oberlauf Helikon heißen, genau wie der böotische Berg.70 Unter anderem auf dieser Namensgleichheit scheint Strabons These zu beruhen, die Thraker hätten den Musenkult am Helikon eingeführt;71 auch Pausanias’ Ausführungen in seiner Beschreibung des Heiligtums im Tal der Musen scheint eine ähnliche Theorie zugrunde zu liegen.72 Freilich ist eine solche Herkunft des Kultes mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zu belegen.73 Darüber hinaus entstehen nicht nur in der römischen, sondern auch in der griechischen Dichtung ‚gemischte‘ Landschaften, in denen parnassi-

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Vgl. Plu. Mor. 398c-d (De Pythiae oraculis); Clem. Al. Strom. 1, 15, 70, 3. Für Leibethra und Leibethron genannte Ortschaften jeweils in Pierien und Böotien s. Magnelli 2010, S. 167f. mit Anm. 3. Vgl. zudem Paus. 9, 34, 4 und unten Abschnitte A.I.3.1 u. 3.2.3. Vgl. Paus. 9, 30, 8. Auch das böotische Gebirge Thourion bei Chaironeia kann unter Umständen seinen Platz in dieser Reihe behaupten: Plutarch erwähnt ein Musenheiligtum in seiner Umgebung (vgl. Plu. Sull. 17, 6 [463c]). Zugleich verzeichnet Hesych unter dem Lemma θούριδες (θ 664 Latte) die Bedeutungen „νύµφαι. Μοῦσαι. Μακεδόνες“. Larson 2001, S. 139 u. 169 nimmt daher eine pierische Ortschaft mit Namen Thourion und Musenheiligtum an, was allerdings Spekulation bleibt. Die relevanten Passagen in Hansen und Nielsen 2004 auf den Seiten 794-923 zeigen zumindest für die archaische und klassische Zeit im Bereich Makedoniens und Thrakiens keine Ortschaft mit entsprechendem Namen an (vgl. auch die Indices ebd.). S. auch Hardie 2006, S. 51 für die Doppelung von nordgriechischen Toponymen im böotischen Bereich. Vgl. Str. 9, 2, 25 u. 10, 3, 17; s. unten Abschnitte A.I.3.1; 3.2.3; A.II.2.1.1. Vgl. Paus. 9, 29, 1 mit Schachter 1986, S. 188 Anm. 2; Paus. 9, 29, 3f.; 9, 30, 8; 9, 30, 9-11. S. etwa die kritische Analyse der Belege bei Mojsik 2011a, S. 125-33; vgl. auch Schachter 1986, S. 187f.; weniger kritisch: Decharme 1869, S. 26-8; Larson 2001, S. 169; Caruso 2016, S. 114.

2

Berge und Wasser

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sche, pierische und helikonische Elemente nebeneinander genannt werden oder sogar miteinander in Kombination treten.74 2

Berge und Wasser

Die beiden Landschaftselemente, mit denen die Musen in Verbindung stehen, Berge und Wasser, erscheinen in unterschiedlichen Kontexten der griechischen Vorstellungswelt unter veschiedenen Aspekten. Die Ergebnisse von Richard Buxton werden im Wesentlichen durch eine kurze Präsentation beider Bestandteile leiten, die als Hintergrund für die weiteren Betrachtungen dienen soll. 2.1

Berge

Wiederholt hat sich Richard Buxton dem Thema Imaginary Greek Mountains gewidmet. Seine Absicht ist ein Ausloten der Wahrnehmung von Bergen aus verschiedenen Kontexten der antiken griechischen Kultur heraus.75 Schon die Defintion des Begriffs ὄρος, scheinbar einfach, birgt eine Hürde: Sie sei nicht möglich rein über „terms of physical height“76. Deshalb ergänzt Buxton sie durch eine Kontrastierung mit Eigenschaften, die nicht zu einem ὄρος gehören: An oros is not the plain (where you grow corn and fight in phalanx), nor is it the city or the village (where you live) […], neither is it an acropolis [...] within the city. An oros is a height outside inhabited and cultivated space [...].77

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S. etwa Posidipp. fr. 118, 1-8 Austin-Bastianini; Him. Or. 48, 37. S. Buxton 1990; 1992; 1994; 2013. Im Folgenden wird ausschließlich auf die aktuellste Version (2013) Bezug genommen. Buxton 2013, S. 10. Buxton belegt diese Aussage durch eine Liste von als ὄρος bezeichneten Orten und ihren Höhen, die von 113 m bis 2900 m rangieren (vgl. ebd.). Buxton 2013, S. 10f.

36

A.I

Einleitung

Aus den verschiedenen Arten der Nutzung des ὄρος im realen Alltagsleben lasse sich dieser Gegensatz erschließen. Die mit dem ὄρος als Raum für das Weiden und Hüten von Vieh und als Rohstoffquelle, vor allem für Holz, assoziierten Personengruppen – Hirten, Holzfäller, Köhler – seien, zumal sie längere Zeiträume in den Bergen verbrächten oder auch permanent dort wohnten, Außenseitergestalten in der Gemeinschaft der Städte und Dörfer.78 Weiterhin würden Berge zur Jagd, als Reiserouten und in der Kriegsführung genutzt – etwa als Rückzugsort der zivilen Bevölkerung in Zeiten der Bedrängnis oder auch als taktischer Standort für Heere.79 Auch hier macht sich also die polare Beziehung bemerkbar. Eine weitere wichtige Eigenschaft des ὄρος sei seine Funktion als Standort von Heiligtümern, des Zeus an erster Stelle, doch auch zahlreicher anderer Gottheiten.80 Der Berg zeigt sich somit als Ort, an dem man nicht lange weilt; man betritt ihn nur, um bald wieder in cultivated space zurückzukehren. Gleichzeitig sind die Berührungspunkte und realen Abhängigkeiten so vielfältig, dass ein scharfer Kontrast nicht angenommen werden kann.81 Für den Mythos nun unterscheidet Buxton zwei Mechanismen in der Wahrnehmung von Bergen: Zum einen spiegelten sich im Mythos die genannten Funktionen des ὄρος wider (‚reflecting‘): Auch in ihnen würden beispielsweise die Berge von Hirten bewohnt, sie dienten als Holzquelle, man jage auf ihnen, überquere sie auf Reisen, nutze sie als Rückzugsort. Das Pendant zu den Heiligtümern schließlich sei die ‚physische‘ Anwesenheit von Gottheiten auf Bergen im Mythos.82 Zum anderen würden aber auch bestimmte Eigenschaften des Berges hervortreten und eine Selektierung und Steigerung erfahren, die wiederum ein viel einheitlicheres Bild erschaffe, als es im alltäglichen Leben bestünde (‚refracting‘).83 Unter diesem Gesichtspunkt seien drei Hauptaspekte des ὄρος in der griechischen Mythologie zu nennen:

78 79 80 81 82

83

Vgl. ebd., S. 11f. Vgl. ebd., S. 12-14. Vgl. ebd., S. 15f. Vgl. ebd., passim. Vgl. zu diesem Absatz ebd., S. 16-18, auch für entsprechende Belege aus der Mythologie. Vgl. ebd., S. 18.

2

Berge und Wasser

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„First and most obvious: mountains were outside and wild.“84 Dieser Aspekt beinhalte das Bild, dass Berge bewohnt seien von wilden Geschöpfen, dass sie ein Ort von Gewaltausbrüchen sein könnten und ein angemessener Platz für Außenseiter; zudem seien sie geeignet zum Verlassen und Aussetzen von unerwünschtem Nachwuchs.85 „Secondly, mountains are before.“86 Im zweiten Aspekt fänden sich etwa die Vorstellungen von Bergen als ursprünglichen Siedlungsorten, als Geburtsort von Göttern und Heimatplatz der ersten Lebensjahre von Göttern und Heroen.87 „Thirdly, a mountain is a place for reversals.“88 Der dritte Aspekt bedeute eine Zusammenkunft von sonst getrennten Dingen und eine Aufhebung oder Verwischung von Grenzen – so die Begegnung von Mensch und Gott, Verwandlungen und die Umkehr sozialer Normen:89 To behave outside the norm, or outside oneself, is to belong on the oros, and in a way to belong to it. Here, as elsewhere, myth sharpens the boundary between oros and settlement, a boundary which in everyday life will have been blurred […].90

Buxton betont, dass die Vorstellungen aus Lebenswelt und Mythos nicht unabhängig voneinander seien, sondern eine gegenseitige Beeinflussung stattfinde. Im Ritual, wo Lebenswelt und Mythos sich begegneten, werde dies augenscheinlich. Im konkreten Fall zeige sich, dass die genannten mythologischen Aspekte des ὄρος in Ritualen, in die der Berg einbezogen sei – sich die Polis also zum Berg bewege – eine prominente Rolle spielten. Der wesentliche Unterschied liege aber in der Umkehrbarkeit und minderen Radikalität der rituellen Handlung oder Symbolik: Ein Ritual ende immer damit, dass die Kultgruppe den Ort, der ‚outside‘, ‚wild‘ und ‚before‘ sei, wieder verlasse und dass alle rituell 84 85 86 87

88 89 90

Ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 19f. Ebd., S. 20. Vgl. zu diesem Absatz ebd., S. 20f. Unterstrichen wird diese Aussage beispielsweise auch durch Hesiods Theogonie, in der Gaia an zweiter Stelle nach Ouranos die Berge hervorbringt (vgl. Hes. Th. 129). Buxton 2013, S. 21. Vgl. ebd., S. 21f. Ebd., S. 22.

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A.I

Einleitung

postulierten Umkehrungen und Verwandlungen wieder aufgehoben würden. Es finde also eine Rückkehr zur gewohnten Ordnung statt.91 2.2

Wasser

Nichts ist, dank seiner lebensspendenden Bedeutung, in seiner Symbolkraft für die Antike so stark und vielfältig ausgeprägt wie das Wasser.92 Es ist nicht verwunderlich, dass auch die dichterische Inspiration in späterer Zeit mit diesem Element, vorzugsweise aus Quellen gespeist, in enge Verbindung gesetzt wurde. Auch stellt es ein konstitutives Element des locus amoenus dar.93 Quellen waren sowohl in der Wildnis als auch in und um menschliche Siedlungen verortet.94 In letzterem Falle gehörte, wie Buxton vermerkt, die Quelle zu dem Raum, in dem Frauen sich außerhalb des Hauses bewegen durften: „A place of meeting, for free women as well as slave, the fountain constituted a space comparable with the men’s lesch!̅ .“95 Auch zum Umfeld großer Heiligtümer gehörte die Quelle – zur notwendigen Versorgung der Infrastruktur ebenso wie als Element ritueller Handlungen.96 Weiterhin konnte auch die Quelle – da als „religiously powerful“ wahrgenommen – selbst zum Mittelpunkt eines Kultes werden.97 Sie trug heilende und mantische Konnotationen und war von Bedeutung bei initiatorischen Riten.98 Wie die Berge, so unterliegen auch die Quellen, Buxton gemäß, im Mythos den Mechanismen des reflecting und refracting.99 So könne beispielsweise die Verbindung zum Lebensbereich der Frauen im Mythos 91

92 93

94 95 96 97 98 99

Vgl. zu diesem Absatz ebd., S. 22-25, wo die These exemplarisch anhand konkreter Rituale entwickelt wird. Für die unterschiedlichen Konnotationen s. auch Kambylis 1965, S. 23-30. Vgl. Buxton 1994, S. 109. Zum locus amoenus s. Parry 1957; Schönbeck 1962; Elliger 1975, S. 27-145; Thesleff 1981; Haß 1998; Schlapbach 2007. Vgl. Buxton 1994, S. 109. Ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 109f. Vgl. ebd., S. 110, auch für das Zitat. Vgl. ebd., S. 110f. Vgl. ebd., S. 111 und oben Abschnitt A.I.2.1.

3

Musen und Landschaft

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zur Konnotation der Gefahr einer Liebesbegegnung werden oder zur Gefahr des unerlaubten Erblickens einer badenden Göttin; Quellwasser habe zudem im Mythos meist eine positive, förderliche Wirkung.100 3

Musen und Landschaft

Die früheste literarische Darstellung, die die Musen nicht nur mit toponymischen Beinamen versieht, sondern sie auch in der Landschaft agierend zeigt, ist Hesiods Theogonie: In den ersten Versen des Prooimions erscheinen die helikonischen Musen, die Μοῦσαι Ἑλικωνιάδες, tanzend und badend an Flüssen und Quellen auf dem Gipfel des Helikon. Sie steigen auch von den Höhen herab, um am Fuße des Berges den Hirten Hesiod zum Dichter zu berufen.101 Während in archaischer und auch klassischer Zeit relevante Stellen in der Literatur noch verhältnismäßig gering sind – ein solches Agieren der Musen in der Landschaft ist den homerischen Epen sogar gänzlich unbekannt –, so nimmt ihre Zahl insbesondere ab hellenistischer Zeit beständig zu und gewinnt auch poetologische Relevanz.102 Ikonographisch sind der Berg und das ‚Draußen‘, angedeutet durch einen felsigen Unter- oder Hintergrund, schon in frühen Kunstwerken ein wichtiges, wenn auch nicht einziges Charakteristikum von Musen-Szenerien.103 Die Frage nach der Ausprägung die100 101 102

103

Vgl. ebd., S. 112f. S. Hes. Th. 1-35 und unten Abschnitt A.II.2.2 und Kapitel B.I. Neben den Prooimien der Epen und den Binnenanrufen der Ilias treten die Musen auf im Zusammenhang mit der Begabung des Demodokos, ohne Landschaftsbezug (vgl. Od. 8, 63; 73; 481; 488); als den übermütigen Thamyris Strafende (vgl. Il. 2, 594-600) und als Sängerinnen zur Totenfeier Achills (Od. 24, 60-62). In der Ilias singen sie auf dem Olymp zusammen mit Apoll zum Festmahl der Götter (vgl. Il. 1, 604); der Berg tritt dabei aber nicht als Berg, sondern rein als Göttersitz in Erscheinung. – Für frühe Zeugnisse mit Landschaftsbezug s. beispielsweise Hes. fr. 26, 10-12 MerkelbachWest (vgl. oben Anm. 19); Simon. fr. 265 Poltera; Pi. P. 3, 89-91; N. 5, 224; I. 6, 74f. – Das hellenistische Paradebeispiel ist Kallimachos’ Somnium (Call. Aet. fr. 2-2j Harder), das ihn zu den Musen auf den Helikon führt, wo sich ein Gespräch mit den Göttinnen entspinnt; s. unten Abschnitte A.II. 2.2.3 u. 2.2.4. Neben der Felsenlandschaft tritt auch Innenraumdekor auf, s. Queyrel 1992, S. 680f. Die Ikonographie der Musen ist mittlerweile umfassend in den kom-

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A.I

Einleitung

ser Verbindung zwischen Berglandschaft und Musen führt in den Bereich des Kultes (Abschnitt 3.1) ebenso wie zu einer anderen Gruppe weiblicher Gottheiten: den Nymphen (Abschnitt 3.2). 3.1

Kultorte

Die Verbindung der Musen zur Landschaft von Berg und Quelle, die literarisch nicht zuletzt mittels der geographischen Epitheta so ausführlich in Erscheinung tritt, findet sich nur andeutungsweise in den verfügbaren Informationen über Kulte der Musen wieder. Auffälligerweise weist von den drei in der antiken Literatur so prominent geführten Musenstätten nur der Helikon einen spätestens seit dem vierten Jahrhundert v. Chr. gut bezeugten Musenkult auf; im Falle von Delphi beschränken sich die Zeugnisse auf sekundäre Erwähnungen, im Falle von Pierien einzig auf die Stadt Dion, ohne dass über die genaue Lokalisierung eines Heiligtums mehr gesagt werden könnte.104 Die weiteren bekannten Kultorte zeigen, was ihre Lage betrifft, ein durchaus heterogenes Bild. Auf der einen Seite existierten Heiligtümer, die tatsächlich in der freien Natur eingerichtet waren und möglicherweise auch in Bezug zu ihr standen: Neben dem Tal der Musen am Helikon

104

plementären Artikeln des LIMC behandelt: S. Bonamici 1988; Queyrel 1992; Faedo 1994; Faedo und Lancha 1994; Simon 2009. Für den Helikon s. unten Abschnitt A.II.3, für Delphi und Pieria oben Abschnitte A.I.1.1 u. 1.2. – Mojsik 2017, S. 486 weist ausdrücklich darauf hin, dass der Schluss von literarischen Anführungen auf kultische Realitäten nicht erlaubt sei: „For example, the use of the epithet ‚Pierides‘ does not prove the existence of the cult in Pieria; the cases of the cult of the Muses with which we are familiar are not linked with poetical inspiration, either. The latter is not to be expected, of course; the phenomenon of inspiration is of significance in the metapoetic tradition, but it could not have been important from the point of view of the religiosity of the community in which the poet lived or for which he composed his works. […] In addition, the earliest cult places known to us have little to do with the metapoetic geography, e. g. with Pieria or Helikon: the earliest positive confirmation of the cult’s existence comes from Larisa, Athens, Dion, Amphipolis, Epidauros or Troezen, and also from Syracuse.” (Hier ist jedoch anzumerken, dass Mojsik bei der Entstehungszeit des Musenkultes am Helikon eher zu einer späteren Datierung ab dem 4. Jh. v. Chr. tendiert; s. dazu unten Abschnitt A.II.3.1.2).

3

Musen und Landschaft

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gilt dies etwa für einen Altar der Musen, der sich laut Pausanias bei Athen am Ufer des Flusses Ilissos befand; die Musen hießen sogar nach dem Fluss Ἰλισιάδες.105 Auch andere, späte Quellen bezeugen die Existenz eines solchen Kultes.106 Sein Alter ist schwer einzuschätzen; viel hängt davon ab, ob eine Äußerung des Sokrates in Platons Phaidros, die die Musen mit dem am Ilissos ansässigen Nymphenkult in Verbindung bringt, als Zeugnis geltend gemacht werden darf oder eher in übertragenem Sinne zu verstehen ist.107 105

106

107

Vgl. Paus. 1, 19, 5. Mögliche Verortungen des Altars diskutiert Caruso 2016, S. 154-160. Vgl. St. Byz. s. v. Ἰλισσός = Apollod. FGrH/BNJ 244 F 145. Himerios Or. 69, 9 und Nonnos D. 41, 223f. nennen zwar nicht explizit einen Kult, kennen aber die Verbindung der Musen zum Ilissos. Vgl. Pl. Phdr. 278b9 Νυµφῶν νᾶµά τε καὶ µουσεῖον, in Verbindung mit 230b8f. (Νυµφῶν τέ τινων καὶ Ἀχελῴου ἱερὸν ἀπὸ τῶν κορῶν τε καὶ ἀγαλµάτων ἔοικεν εἶναι. / „Das scheint das Heiligtum irgendwelcher Nymphen und des Acheloos zu sein, von den Koren und Statuen her zu urteilen.“) und dem Schlussgebet an „Pan und alle anderen Götter hier“ (vgl. insges. Phdr. 279b8-c3, insbes. c3: Ὦ φίλε Πάν τε καὶ ἄλλοι ὅσοι τῇδε θεοί). Kultische Verehrung der Nymphen, des Pan und des Acheloos am südöstlichen Ilissosufer ist durch den archäologischen Befund bestätigt und konnte ungefähr lokalisiert werden; s. Görgemanns 1993, S. 124; Caruso 2016, S. 158f. Caruso ebd., S. 154 u. 158f. nimmt Pl. Phdr. 278b9 ohne Weiteres als Zeugnis für einen Musenkult an (ebd., S. 154 L1.), ebenso wie Phdr. 262d2-5 (ebd. L2.), wo Sokrates die ἐντόπι[οι] θε[οί] oder die Μουσῶν προφῆται für sein begeistertes Reden verantwortlich macht. Der Wert dieser zweiten Stelle in dieser Frage ist jedoch begrenzt, handelt es sich bei den „Propheten der Musen“ doch um die Zikaden, von deren Beziehung zu den Musen vorher die Rede war, sodass ein Zusammenhang mit den „örtlichen Göttern“ im Sinne kultischer Präsenz zwar prinzipiell möglich wäre (die Zikaden als „Propheten“ nicht [nur] der Musen allgemein wie im Zikadenmythos 259b6-d8 bestimmt, sondern der lokalen, durch einen Kult repräsentierten Musen), aber doch viel abstrakter scheint als im Falle der ersten Stelle in Phdr. 278b9. Mojsik 2011a, S. 70-2 bleibt auch in Bezug auf diese skeptisch. Da die Konzepte von Musen und Nymphen im Dialog ohnehin vermischt werden und zum Teil verschmelzen (s. unten Abschnitt A.I.3.2.2), können Sokrates’ Worte die Musen in den vorhandenen Nymphenkult einschließen, ohne auf einen realen eigenen Kult zu weisen. So hält Mojsik es durchaus für denkbar, dass der Kult der Μοῦσαι Ἰλισιάδες spät und vielleicht sogar aus der Platon-Lektüre hervorgegangen sei. Zu beachten ist, dass neben der von

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A.I

Einleitung

Auf dem Berg Libethrion, vierzig Stadien von Koroneia entfernt, gab es Pausanias zufolge einen Ort mit zwei Quellen und mit Statuen der Musen und Nymphen, deren Beiname Λιβήθριαι sei.108 Bereits Strabon erwähnt eine Grotte der leibethrischen Nymphen auf dem Helikon;109 archäologische Funde in einer Grotte 2 km westlich des heutigen Ortes Agía Triáda haben ihre Existenz bestätigt und so die Identifikation von Pausanias’ ὄρος [...] τὸ Λιβήθριον110 mit dem Berg Megáli Loútsa bzw. Koryfí im nordöstlichen Teil des Helikonzuges ermöglicht.111 Die Rolle

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109 110 111

Burnet in seine Ausgabe übernommenen Lesart eine weitere weit häufiger in den Handschriften überliefert ist, nämlich Νυµφῶν νᾶµά τε καὶ Μουσῶν. S. Mojsik 2011a, S. 55-7 für eine Abwägung der beiden Lesarten und eine Untersuchung der jeweiligen Implikationen, unter Beachtung der Bedeutungen des Ausdrucks µουσεῖον in der historischen Entwicklung. Sowohl Mojsik ebd., S. 71f. als auch Caruso 2016, S. 155f. beziehen weitere Zeugnisse in ihre Betrachtungen mit ein – darunter eine Inschrift aus dem letzten Viertel des 5. Jhs. v. Chr. –, die zwar mit einem athenischen Musenkult, nicht aber ausdrücklich mit dem Ilissos in Verbindung stehen. Vgl. Paus. 9, 34, 4: ἀγάλµατα δὲ ἐν αὐτῶι Μουσῶν τε καὶ νυµφῶν ἐπίκλησίν ἐστι Λιβηθρίων· καὶ πηγαί – τὴν µὲν Λιβηθριάδα ὀνοµάζουσιν, ἡ δὲ ἑτέρα Πέτρα – γυναικὸς µαστοῖς εἰσιν εἰκασµέναι, καὶ ὅµοιον γάλακτι ὕδωρ ἀπ’ αὐτῶν ἄνεισιν. / „Darauf [sc. auf dem Berg Libethron] sind Statuen von Musen und Nymphen mit dem Beinamen ‚Libethrische‘. Und Quellen sind da – die eine nennen sie Libethrias, die andere heißt Petra (‚Stein‘) –, die den Brüsten einer Frau gleichen, und Wasser steigt gleich Milch aus ihnen auf.“ Vgl. Str. 9, 2, 25 u. 10, 3, 17; vgl. ferner unten Abschnitt A.II.3.2.1.1. Paus. 9, 34, 4. Die Grotte an der Ostseite des Berges Megáli Loútsa wird seit 1984 unter der Leitung von Vivi Vasilopoulou erforscht. Eine Inschrift über dem Eingang weist den Ort der Nymphe Koroneia zu. Darüber hinaus tragen unter den Votivgaben, die von archaischer bis in römische Zeit datieren, mehrere (auch archaische) Objekte Widmungen an die leibethrischen Nymphen; diese Funde haben frühere Erwägungen über mögliche andere Verortungen des Berges Libethrion und seiner Nymphengrotte hinfällig gemacht (s. Vasilopoulou 2000 u. 2013, S. 319f.; Moggi und Osanna 2010, S. 411 zu Paus. 9, 34, 4, auch für weiterführende Literaturangaben; vgl. Bonanno-Aravantinou 2009, S. 264). Manche der Weihinschriften zeugen von der frühen Variante Λειβησθρίαδες und Λειβηστριάδες als Epiklese der Nymphen; s. Vasilopoulou und Matthaiou 2013 sowie SEG 63 Nr. 340-2. Larson 2001, S. 138 u. 250 ist noch ohne Kenntnis dieser Weihinschriften. Mojsik 2011a, S. 91f.

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Musen und Landschaft

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der Musen im Rahmen dieses Kultes, dessen Funde eine Spanne von archaischer bis in römische Zeit abdecken,112 verbleibt unklar. Strabon scheint in seinen beiden Äußerungen zum thrakischen Ursprung der Musik und des böotischen Musenkultes auch einen inneren Zusammenhang zwischen den Kulten der Musen und der leibethrischen Nymphen zu suggerieren.113 Zwei weitere, sehr späte Zeugnisse machen eine böotische Quelle oder einen Berg dieses Namens zu einem heiligen Ort der Musen, bleiben jedoch vage; zudem ist das Verhältnis zu den gleichnamigen pierischen Orten darin nicht deutlich.114 In den Funden selbst – unter anderem auch Darstellungen verschiedener Gottheiten – konnten bislang trotz ihrer großen Anzahl keine Hinweise auf einen Musenkult ausgemacht werden.115 Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Gruppen weiblicher Gottheiten, den Musen und Nymphen, und ihre aus verschiedenen Quellen bekannte gelegentliche Verschmelzung116 lässt verschiedene Möglichkeiten zu: eine tatsächliche kultische Assoziierung – unbekannter Datierung – von Musen und Nymphen auf dem L(e)ibethron ebenso wie die nachträgliche Interpretation der Statuen in diesem Sinne.117

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behandelt nur die Schriftquellen ohne Verweis auf den archäologischen Befund. Vgl. Vasilopoulou 2000 und 2013, S. 319f.; Vasilopoulou und Matthaiou 2013. In prähistorischer Zeit war die Grotte bereits in (wohl profanem) Gebrauch: S. Vasilopoulou 2013, S. 319f. S. Str. 9, 2, 25 u. 10, 3, 17 sowie unten Abschnitt A.II.2.1.1. S. Serv. ecl. 7, 21; Schol. Bern. ecl. 7, 21. Anlass der Betrachtungen ist jeweils Vergils Ausdruck Nymphae Libethrides. Für die toponymischen Ähnlichkeiten in Böotien und Makedonien s. auch Abschnitte A.I.1.3 und 3.2.3. Vgl. Caruso 2016, S. 42f. mit Anm.; ferner Vasilopoulou 2013, S. 319-22. Sporn 2013b, S. 203 führt in einer Auswertung der Darstellungen auf Weihreliefs die Möglichkeit an, dass nicht alle abgebildeten Figuren Empfänger eines Kultes sein mussten: „Not all these figures received cult too but they rather determined the general ambience of the Nymphs, such as the animals which also figure on the frames of the reliefs.“ Unter Umständen muss diese Möglichkeit auch für Pausanias’ Musenstatuen in Erwägung gezogen werden. S. dazu ausführlicher unten Abschnitt A.I.3.2. Vgl. Mojsik 2011a, S. 92. Caruso 2016, S. 43 weist die Möglichkeit eines Musenkultes in der leibethrischen Grotte mangels handfester Beweise zurück.

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A.I

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Plutarch erwähnt ein Mouseion zwischen dem Berg Petrachos direkt bei Chaironeia und dem weiter entfernten Berg Thourion.118 Es liegt an einem Pass, den eine Truppe Sullas auf Rat zweier Ortskundiger zu einem taktischen Standortswechsel im Verborgenen nutzt – woraus mit Caruso geschlossen werden kann, dass es sich um eine einsame und abgelegene Route handeln dürfte.119 Mehr Informationen über die Lage des Mouseions, etwa bezüglich der jeweiligen Distanz zum Thouriongebirge und Petrachos bzw. Chaironeia, gibt es jedoch nicht. An anderer Stelle schildert Plutarch einen Ritus der lokalen Agrionia: Die Frauen suchen den entflohenen Dionysos und lassen von der Suche schließlich mit der Begründung ab, er habe sich zu den Musen geflüchtet und halte sich bei ihnen versteckt; daraufhin halten sie Festmahl und geben einander Rätsel auf.120 Es liegt nahe, die Musen mit denen des örtlichen Mouseions zu identifizieren, besonders, wenn auch die rituelle Suche bzw. Jagd wie bei den Agrionia anderer Poleis außerhalb der Stadt in der Berglandschaft zu denken ist.121 Plutarchs Äußerung von Dionysos’ Flucht πρὸς τὰς Μούσας (Plu. Mor. 717a) hätte so auch einen lokalen Sinn. Wenn auch für den eigenen Kult der Musen aufgrund der Quellenlage keine weiteren Hinweise verfügbar sind, so kann zumindest die Rolle der Musen im Dionysoskult von Chaironeia eine Deutung erfahren. Zwei Deutungsmöglichkeiten bietet Mojsik an: Einerseits kann die Tatsache, dass sie dem Dionysos Zuflucht bieten, auf eine kourotrophische Funktion hinweisen – den Nymphen ähnlich.122 Andererseits 118 119 120

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S. Plu. Sull. 17 (463c). Für die Lage der Höhe Petrachos vgl. Paus. 9, 41, 6. Vgl. Caruso 2016, S. 351. Vgl. Plu. Mor. 716f-717a (Quaestiones convivales): Οὐ φαύλως οὖν καὶ παρ’ ἡµῖν ἐν τοῖς Ἀγριωνίοις τὸν Διόνυσον αἱ γυναῖκες ὡς ἀποδεδρακότα ζητοῦσιν, εἶτα παύονται καὶ λέγουσιν ὅτι πρὸς τὰς Μούσας καταπέφευγεν καὶ κέκρυπται παρ’ ἐκείναις, µετ’ ὀλίγον δέ, τοῦ δείπνου τέλος ἔχοντος, αἰνίγµατα καὶ γρίφους ἀλλήλοις προβάλλουσιν […]. Vgl. Schachter 1986, S. 146; Mojsik 2011a, S. 92f.; Caruso 2016, S. 351. Vgl. Mojsik 2011a, S. 93. Auch Sourvinou-Inwood 2005, S. 348 sieht in dem Agrionia-Ritual eine Version nach dem an unterschiedlicher Stelle überlieferten Schema „‘Dionysos takes refuge with a society of divine women’“ (ebd., Anm. 123), wobei die weiblichen Gottheiten neben den hier genannten Musen sonst Thetis und die Nereiden oder die Nymphen von Nysa umfassen können, und schätzt die Rolle der Musen im Agrionia-Ritual daher als „significant“ (ebd., S. 348) ein. – In diesem Zusammenhang rele-

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Musen und Landschaft

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können die Musen, die an dem entscheidenden Wendepunkt des Festes zwischen rasender Suche und normierter Kommunikation stehen, auch als Hüterinnen der Ordnung fungieren, wobei die ordnende Funktion sich sowohl auf soziale als auch auf kosmische Strukturen erstreckte.123 Von weiteren Musenheiligtümern in der freien Natur erfährt man aus weniger sicheren Quellen. So enthalten die Scholien zu Euripides’ Phoinissen die etwas wunderliche Information, auf dem Kithairon seien „Musen[statuen] aufgestellt“ und „mit verschiedenen Bäumen geschmückt“.124 Schachter hält eine Verwechslung mit dem Helikon für denkbar, verweist aber zugleich auf die Verbindung der Musen zu Mnemosyne, die – wenn wiederum Wests Zuordnung des hesiodeischen Eleuther zu Eleutherai am Kithairon Gültigkeit hat – möglicherweise auf

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vant ist folgende Bemerkung des Eustathios: λέγονται δέ, φασι, καὶ Μοῦσαι Διονύσου τροφοὶ, νύµφαι τινὲς οὖσαι καὶ αὐταί […]. τοῦτο δέ, φασιν, αἴνιγµα ἦν εἰς τὸ ἔµµουσον καὶ ἐναρµόνιον τῶν µὴ ἀκρατοποτούντων, ἀλλὰ µετριαζόντων τῷ κεράσµατι. / „Man sagt, dass auch die Musen Ammen des Dionysos genannt werden, die ja selbst eine Art von Nymphen sind […]. Dies war, sagt man, ein Rätsel auf das Stimmige und das Harmonische derer, die keinen unverdünnten Wein trinken, sondern Maß halten in der Mischung“ (Eust. ad Od. 17, 205 [Bd. 2, S. 139, Z. 18 Stallbaum]). Vgl. Mojsik 2011a, S. 93. Mojsik beruft sich hier auf Burkert 1972, S. 197, der wiederum im Grunde Plutarchs eigene Auslegung des Rituals aufgreift (vgl. Plu. Mor. 717a). So schreibt Burkert zusammenfassend an der angegebenen Stelle: „Das Wilde, Rasende ist verschwunden; unruhiges Suchen, wie nach etwas Verlorenem, findet sein Ende, löst sich überraschend in einem ‚Mahl‘, einem Opferschmaus, in dem die drängende Angst umschlägt in heiteres Spiel. Wir wissen nicht, in welcher Weise andere Gruppen der Gesellschaft an diesem Fest beteiligt waren; doch schon die Momentaufnahme Plutarchs zeigt die vertraute Struktur von neuer ‚musischer‘ Ordnung nach der ‚Auflösung‘“. Vgl. Schol. E. Ph. 801: λέγονται γὰρ ἐν αὐτῷ [sc. Κιθαιρῶνι] ἱδρῦσθαι αἱ Μοῦσαι καῖ δένδροις διαφόροις κεκοσµῆσθαι. Die merkwürdig formulierte Zusammenstellung schließt sich an zwei vorher angebrachte alternative Interpretationen von ζαθέων πετάλων (E. Ph. 801) an, einem Ausdruck aus einer Anrede des Chores an den Kithairon (vgl. E. Ph. 801-5). Die Erklärung lautet: µεγάλων φύλλων, ἢ θείων, ὥσπερ φαµὲν θεῖον τόπον διὰ τὸν ἐν αὐτῷ θεόν. / „‚großer Blätter‘ oder ‚göttlicher‘ – wie wir sagen, dass ein Platz göttlich ist wegen des Gottes, der in ihm ist.“

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dem Kithairon einen Kult besaß.125 – Aelian setzt in seiner Version einer bekannten Episode aus der Platon-Vita eine Kulthandlung auf dem Hymettos mit den Musen in Beziehung: Nach der Geburt des kleinen Sohnes seien Platons Eltern mit ihm auf den Berg gestiegen, um „den Musen oder den Nymphen“ (Ael. VH 10, 21: ταῖς Μούσαις ἢ ταῖς νύµφαις) ein Opfer darzubringen. Sie hätten das Söhnchen in einem dichten Myrtenbusch abgelegt; bei dieser Gelegenheit hätten sich Bienen auf seinen Lippen niedergelassen und so auf sein künftiges Redegeschick vorausgewiesen.126 Andere Quellen, die dem Besuch der Bienen die Opferhandlung auf dem Hymettos als Rahmen geben, nennen als verehrte Gottheiten Pan, die Nymphen und Apollon Nomios.127 Mojsik verweist als möglichen realen Hintergrund auf die Grotte von Vári auf dem Hymettos, in der unter anderem eben diese Gottheiten verehrt wurden; das archäologische Material berge jedoch keinen Hinweis auf einen Musenkult.128 Aus Aelians Zeugnis einen realen Musenkult auf dem Hymettos abzuleiten, ist allein schon aufgrund seiner eigenen, eher offen gehaltenen Formulierung mit dem „ἤ“ fraglich. Verschiedene Faktoren können dazu beigetragen haben, dass die Göttinnen ihren Weg in die Rahmenhandlung der Erzählung gefunden haben: durch eine sich auch an anderer Stelle abzeichnende allgemeine Ähnlichkeit zwischen Musen und Nymphen; durch das Element von Bienen und Honig – poetologisches Symbol mit Nähe zu den Musen – und seine Rolle in der Erzählung; durch die Rolle der Musen in Platons Philosophie und in der Akademie.129 Es verbleibt jedoch, dass zumindest in Aelians Augen die an die Musen gerichtete Kulthandlung auf einem Berg nach der Geburt eines Kindes möglich scheint. Ebenfalls unsicher ist der Bezug des Musenkultes zur freien Natur in zwei weiteren Fällen, die vor allem auf archäologischen Zeugnissen 125

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Vgl. Schachter 1986, S. 146 u. 144; West 1966, S. 174f. zu Hes. Th. 54 (vgl. so auch schon Waser 1905, S. 2343f. und Eitrem 1932, S. 2266). S. auch Mojsik 2011a, S. 94; Caruso 2016, S. 354 Anm. 851. Vgl. Ael. VH 10, 21. Für weitere Versionen s. die Stellensammlung bei Mojsik 2011a, S. 74 Anm. 177. Vgl. Olymp. in Alc. 2, Z. 24-29 Westerink; Proll. 2, Z. 16-23 Westerink. Vgl. Mojsik 2011a, S. 75. Vgl. ebd., S. 75f. Für Musen und Nymphen im Allgemeinen s. auch unten Abschnitt A.I.3.2; für Musen und Nymphen in diesem Kontext s. unten Abschnitt A.I.3.2.4.

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gründen. So existieren Hinweise auf einen Musenkult in Syrakus. Im Gebiet des griechischen Theaters wurden Inschriften aus dem zweiten und ersten Jahrhundert v. Chr. gefunden, die das Mouseion und einen Priester der Musen erwähnen. Es handelt sich um zwei Ehrendekrete, die ein womöglich um Dionysos, Apoll und die Musen gruppierter Technitenverein beschließt; eines davon beinhaltet den Beschluss zur Gravur einer Ehreninschrift auf einer Stele, die zur Ausstellung im Mouseion bestimmt ist.130 Ebenfalls vom Gebiet des Theaters und aus hellenistischer Zeit – aus der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. – stammen drei Statuen weiblicher Figuren, die wahrscheinlich zu einer Gruppe gehören und als Musen gedeutet werden können.131 Zu diesen archäologischen Zeugnissen kommt ein literarisches hinzu, das auf ein Bestehen des Mouseions von Syrakus bereits im späten fünften oder frühen vierten Jahrhundert v. Chr. weist: Auf den Historiker Hermippos von Smyrna wird die Nachricht zurückgeführt, Dionysios von Syrakus – wohl der ältere Tyrann dieses Namens, an der Herrschaft 405367 v. Chr. – hätte nach Euripides’ Tod dessen Schreibgeräte erworben und sie im Musenheiligtum geweiht.132 Der Musenkult in Syrakus zeigt, den verfügbaren Zeugnissen nach, eine enge Assoziation mit dem Theater und steht möglicherweise in Beziehung zu einem aufkommenden Kult von Dichtern bzw. allgemeiner Intellektuellen.133 Als möglicher Standort des Mouseions nun wird von archäologischer Seite die Terrasse oberhalb des Theaters in Erwägung gezogen: Dort finden sich in einer Felswand zwei Grotten – die größere birgt eine Quelle, die aus dem Fels entspringt und mit einem dorischen, aus dem Fels gehauenen Fries verziert ist – sowie zahlreiche von Menschenhand geschaffene Nischen; parallel zur Felswand verläuft zudem der Stylobat einer L-förmigen Stoa.134 Sollte es sich bei den hier verehrten Gottheiten in der Tat um die Musen handeln, so befände sich ihr Heiligtum zwar nicht fern vom Kerngebiet der Stadt, doch es wiese durch die Einbeziehung der 130 131 132 133

134

S. Caruso 2016, S. 171-4; Mojsik 2017, S. 498f. S. Caruso 2016, S. 175f. mit Abb. 51-3; vgl. Mojsik 2017. Vgl. Hermipp. Hist. FGrH 1026 F84. S. Mojsik 2017, der ausgehend von einer Interpretation des Hermippos-Fragments und seines Hintergrunds auch den möglichen Kontext des Musenkultes von Syrakus beleuchtet. S. Caruso 2016, S. 174-8, auch für weitere Vorschläge der Verortung; Mojsik 2017, S. 499f.

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Felswand und der Grotten mit der ausgearbeiteten Quelle Merkmale auf, wie sie etwa für Kultorte der Nymphen charakteristisch sind.135 Im zweiten Fall ist die Verortung sicher, doch die Form des Kultes ungewiss: Von einer Toumbáki genannten Örtlichkeit etwa 8 km nordwestlich von Argos stammt ein grober, unregelmäßig geformter Kalksteinblock.136 Er ist nur im oberen Bereich bearbeitet, während der untere ganz das Aussehen eines natürlichen Felsblocks beibehält. Der obere Bereich ist zu einem Trapez ausgestaltet und trägt auf der einen Seite die Inschrift Νήτας | Μέσσας, auf der anderen Seite die Inschrift Ὑπάτας | πράτας; Kritzas datiert sie auf die Wende vom vierten zum dritten Jahrhundert v. Chr.137 Die teilweise argivischen Formen führen unweigerlich zu Plutarchs zweimal geäußerter Nachricht, in Delphi würden die Musen Ὑπάτη (die „Oberste), Μέση (die „Mittlere“) und Νεάτη (die „Untere“) genannt.138 Als spezifisch-delphisches Erklärungmodell erscheint dabei neben der auch sonst geläufigen Bezeichnung der Saiten oder Tonintervalle außerdem, dass jede dieser drei Musen Wächterin einer der drei Himmelssphären – jener der Fixsterne, der Planeten und der unterhalb des Mondes – sei.139 Die Kontextualisierung der argivischen Inschrift mit Plutarchs delphischen Musennamen drängt sich auf.140 Der schlichte Genitiv der Namen und die Beschaffenheit des Blocks leiten Kritzas – 135 136

137 138 139

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Vgl. unten Abschnitt A.I.3.2.1. S. Kritzas 1980; vgl. Caruso 2016, S. 356-8. In SEG 30 Nr. 382 wird irrtümlich der Fundort als nordöstlich von Argos liegend bestimmt. Vgl. Kritzas 1980, S. 195-7. S. Plu. Mor. 744c u. 745a-b (Quaestiones convivales); vgl. Ps. Cens. fr. 12,3. Vgl. Plu. Mor. 745a-b (Quaestiones convivales). Für die Benennung der Noten s. West 1992, S. 219-23. Anders urteilt Mojsik 2011b, S. 68 Anm. 42: „However, this interpretation is highly speculative“. Allerdings begründet er seine Einschätzung nicht. Er verweist jedoch auf eine Äußerung Wests, dass der Genitiv ΠΡΑΤΑΣ unter Umständen die lokale Benennung einer weiteren Note sei, also kein Attribut zu ΥΠΑΤΑΣ (vgl. West 1992, S. 224 Anm. 14 [bei Mojsik fälschlich 241 Anm. 4]; Mojsik 2011b, S. 68 Anm. 42 und 2011a, S. 199 Anm. 163). Diese Möglichkeit erwägt bereits Kritzas 1980 selbst und entscheidet nach Untersuchung der Argumente schließlich zugunsten der Auslegung als Attribut (s. ebd., S. 200f.). Ohnehin würde die Auslegung als weitere Note nicht die Identifikation der Namen mit lokalen Musen oder musenähnlichen Figuren untergraben – eher käme eine vierte hinzu (vgl. in diesem Sinne auch die genannte Äußerung Wests).

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unter Beachtung vergleichbarer Objekte – zu dem Schluss, dass er am ehesten der Markierung eines kleinen Heiligtums „de type agropastoral“ gedient habe und die Namen der darin verehrten Gottheiten anzeige.141 Dieses einfache Heiligtum lag dann am Weg, der zu den nördlichen Vororten von Argos führte, in unmittelbarer Nähe des Flusses Inachos in der Natur.142 Mehr noch: Ist der von Plutarch gelieferte Hintergrund ernst zu nehmen, so erscheint eine Deutung in Richtung der Ideen des pythagoreischen Musenkultes, in dem Zahl, Musik und Kosmosstruktur miteinander in Verbindung stehen, möglich.143 Über die aufgeführten Musenheiligtümer hinaus können auch die philosophischen Schulen Athens im weiteren Kontext von Landschaft und Natur ihren Platz finden: Platons Akademie war selbst ein Musenkultverein; der Peripatos beherbergte zumindest einen Musenkult.144 Sie waren zwar nicht gänzlich in der freien Natur, sondern im Vorstadtbereich angesiedelt, ihre Ausgestaltung zum κῆπος kann jedoch als Zitat

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S. Kritzas 1980, S. 203-5; das Zitat auf S. 205. – Caruso 2016, S. 358 sieht einen Widerspruch in einem solchen schlichten Kult mit der ‚Tiefe‘ des Konzeptes, das sich hinter den Namen verberge und in den Bereich der Bildung verweise. Es handelte sich aber weniger um einen Widerspruch als um die Eröffnung einer neuen Perspektive: Mangels eines Zeugnisses wie dem vorliegenden Block war vorher nur der philosophische Kontext, wie durch Plutarch eröffnet, sowie natürlich der zugehörige, aus verschiedenen Quellen erschlossene musikalische Hintergrund bekannt. Der Fund von Toumbáki legt nahe, dass das philosophische Konzept auf kultischen Realitäten gründet. Die Implikationen der Natur des Kultes für das philosophische Konzept wären zu untersuchen. – Relevant ist in diesem Zusammenhang zudem, dass offenbar auch andere delphische ‚Kultimporte‘ für die Umgebung von Argos belegt sind (s. Kritzas 1980, S. 206-8). Gleichwohl bleibt die Abwesenheit von archäologischen Belegen für einen Musenkult in Delphi selbst merkwürdig (vgl. ebd., S. 208). Vgl. ebd., S. 206. In der Nähe wurden zudem ein Fundament und ein Votivdepot gefunden, die auf ein Plouton-Heiligtum verweisen; weitere Heiligtümer oder andere Strukturen existieren nicht (s. ebd; vgl. Caruso 2016, S. 358). Grundlegend für den Musenkult der Pythagoreer ist nach wie vor Boyance 1937. Zur Platonischen Akademie als Mouseion s. Caruso 2013; 2016, S. 211-8 u. 267-76, zum Peripatos ebd., S. 276-80. S. auch Mojsik 2011a, S. 65-70.

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einer landschaftlichen Struktur aufgefasst werden.145 Caruso wertet auch jene Musenheiligtümer als in einem landschaftlichen Kontext verankert, die innerhalb größerer, abseits von Städten gelegener Kultzentren verortet sind – wie es etwa für einen delphischen Kult im Apollon-Heiligtum, will man die verfügbaren Zeugnisse als Belege für seine Existenz werten, gelten muss.146 Es reicht jedoch ein Blick auf die von Pausanias bezeugten Musenheiligtümer, um festzustellen, dass ihre Lage insgesamt sehr variabel war und einige auch innerhalb von Städten angesiedelt waren: Ein solches existierte etwa in Troizen in der Nähe der Agora, dabei ein Altar, auf dem den Musen zusammen mit Hypnos geopfert wurde.147 In Sparta gab es ein Heiligtum auf der Akropolis, wo man vor Kriegszügen opferte.148 In Megalopolis sah Pausanias in der Nähe von Theater und Bouleuterion die Überreste eines gemeinsamen Heiligtums der Musen, des Apoll und des Hermes.149 In Theben zeigte man auf der auf der Akropolis befindlichen Agora die Stelle, wo die Musen im Hause des Kadmos zur Hochzeit der Harmonia gesungen haben sollen.150 Ein Musentempel 145

146 147 148

149 150

Vgl. Caruso 2016, S. 366; s. auch Thommen 2015, S. 54-6. In De curiositate bemerkt Plutarch im Zusammenhang mit der Beobachtung, dass Sinneseindrücke bei intellektueller Betätigung ablenkend wirkten, Mouseia seien aus eben diesem Grund möglichst weit von Städten entfernt. Der Kontext macht deutlich, dass Plutarch bei seiner Aussage ebenfalls vor allem jene Mouseia im Sinn hat, die Orte intellektueller Betätigung sind. Vgl. Plu. Mor. 521d (De curiositate): τοῦτο µέντοι παντὸς µᾶλλον ἀληθές ἐστιν, ὅτι τὴν αἴσθησιν ὀλίγα κινοῦσιν οἱ πλεῖστα τῇ διανοίᾳ χρώµενοι. καὶ γὰρ τὰ µουσεῖα πορρωτάτω τῶν πόλεων ἱδρύσαντο, καὶ τὴν νύκτα προσεῖπον „εὐφρόνην“ µέγα πρὸς εὕρεσιν τῶν ζητουµένων καὶ σκέψιν ἡγούµενοι τὴν ἡσυχίαν καὶ τὸ ἀπερίσπαστον. / „Dies ist nämlich wahrer als alles andere, dass diejenigen die Sinne am wenigsten bewegen, die am meisten Gebrauch von ihrem Geist machen. Und in der Tat hat man die Mouseia sehr weit weg von Städten gegründet und die Nacht ‚freundlich‘ genannt, in der Meinung, dass ihre Stille und ihre Freiheit von Ablenkung in großem Maße der Lösung von Problemstellungen und ihrer Erforschung zuträglich seien.“ Vgl. Caruso 2016, S. 93f. Vgl. Paus. 2, 31, 3 mit Mojsik 2011a, S. 112-4 und Caruso 2016, S. 149-53. Vgl. Paus. 3, 17, 5 mit Mojsik 2011a, S. 95-105 u. 2011d und Caruso 2016, S. 139-43. Vgl. Paus. 8, 32, 2 mit Caruso 2016, S. 358. Vgl. Paus. 9, 12, 3 mit Mojsik 2011a, S. 94f.

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mit Statuen befand sich in Thespiai unweit des Marktes,151 wenn ihm auch wegen der Verbindung zum Heiligtum im Tal der Musen eine Sonderstellung zukommt. – Freilich ist die Umgebung dieser Städte landschaftlich überaus beeindruckend: Von Troizen, das am Hang einer Hügelkette liegt, weiß Frazer von einem „glorious prospect over plain and mountain“ zu berichten, und zwar über eine wasserreiche Ebene mit üppiger Vegetation.152 Den Beinamen, den die Musen hier tragen – Ardalides, von einem Stammvater Ardalos, der das Heiligtum gegründet und das Aulosspiel erfunden haben soll – kann man möglicherweise auf das Wort ἄρδειν zurückführen, das einen Hinweis auf Wasser bedeuten würde.153 In Spartas Rücken liegt der gewaltige Taygetos. Megalopolis durchfließt der Fluss Helisson; eine stets fließende Quelle befand sich im Theater, ein dem Dionysos heiliger Brunnen am Theater.154 Die Stadt selbst war jedoch mitten in einer Ebene angesiedelt. Theben liegt in fruchtbarem, quellenreichen Hügelland, umflossen von den Strömen Dirke und Ismenos; in der Ferne lassen sich im Süden der Kithairon, im Norden das Sphingiongebirge gewahren.155 Doch ist es schlicht eine Tatsache, dass Griechenland zu großen Teilen aus Bergen besteht, sodass sie immer zu finden sind, wenn nicht als Standort für ein Heiligtum, dann als Bestandteil der Aussicht von diesem Heiligtum aus. Und: „Zum Berg gehört [ohnehin] die Quelle.“156 Es bleibt dabei, dass die Kultorte der Musen nicht ausschließlich auf eine einzige konkrete Umgebung festzulegen sind: Neben Heiligtümern in der freien Natur sind auch – und vor allem – Heiligtümer an zentralen Orten der Stadt bezeugt; zudem wurden die Musen innerhalb großer Kultzentren, in Gymnasien und in Schulen verehrt.157 Was nun die Funktionsweise und den Kontext des Musenkultes angeht, so sind über eine mögliche Funktion landschaftlicher Elemente darin keine sicheren Aussagen möglich. Während die Forschung diesbe151 152 153

154

155 156 157

Vgl. Paus. 9, 27, 5; s. auch unten Abschnitt A.II.4 Anm. 824. Vgl. Frazer 1965, III, S. 273 zu Paus. 2, 31, 1; das Zitat ebd. Vgl. Paus. 2, 31, 3 und Decharme 1869, S. 28f. mit Anm. 4; Mayer 1933, S. 692. Vgl. für den Fluss Paus. 8, 30, 1 und 8, 32, 1; für die Quelle 8, 32, 1; für den Brunnen 8, 32, 2. Zu den geographischen Angaben vgl. Kühr 2006, S. 200. Otto 1955, S. 29. Vgl. Mojsik 2011a, S. 142-4; Caruso 2016, passim.

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züglich lange Zeit auf den 1933 erschienenen RE-Artikel von Maximilian Mayer angewiesen war – der nach wie vor eine wertvolle Quelle darstellt, jedoch in manchen Punkten etwa durch neue Funde überholt ist und auch Ungenauigkeiten enthält – sind in jüngerer Zeit gleich zwei Beiträge erschienen, die das Thema umfassend in Angriff nehmen: Tomasz Mojsik widmet einen großen Teil seiner Monographie über die Musen in archaischer und klassischer Zeit dem Kult der Göttinnen.158 Ada Caruso befasst sich mit Musenheiligtümern, Mouseia, von archaischer bis in hellenistische Zeit.159 Beide stellen die relevanten Zeugnisse zusammen und werten sie aus, wobei Mojsik vor allem eine anthropologisch, Caruso eine archäologisch geprägte Perspektive einnimmt.160 Mojsiks sehr kritischer Zugang insbesondere bezüglich der Verlässlichkeit literarischer Quellen führt ihn zu dem Ergebnis – er lässt im Grunde nur eindeutig positiv bestätigte Kulte gelten – dass ein Kult der Musen wahrscheinlich erst im fünften bis vierten Jahrhundert v. Chr. entstanden sei, wobei Athen, wenn auch nicht ausschließlich, so doch maßgeblicher Einfluss zukam.161 Die Zeugnisse bestätigten die Verehrung der Musen vor allem im Kontext der Bildung und Erziehung, wobei womöglich ein kourotrophischer Aspekt der Göttinnen im Vordergrund stünde. Auch die spätere Herausbildung der großen Mouseia als Zentren von Wissenschaft und Bildung – wie etwa prominent die Bibliothek von Alexandria – sei in diesem Kontext zu werten. Zugleich betont Mojsik sowohl die Fluidität des Musenbildes vor allem in archai158 159

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S. Mojsik 2011a, S. 35-160; vgl. auch ders. 2008b; 2011d; 2013; 2017. S. Caruso 2016; vgl. auch die früheren Arbeiten 2011; 2013; 2014a; und 2014b. Dabei ist Caruso 2016 ohne Kenntnis von Mojsik 2011a, Mojsik 2017 wiederum ohne Kenntnis von Carusos Arbeiten. Carusos Zusammenstellung der Zeugnisse ist insgesamt aktueller und vollständiger als die Mojsiks. Ihre Arbeit ist grundsätzlich von großem Wert für weitere Zugriffe auf das Thema, doch enthält sie eine so große Zahl von Ungenauigkeiten bis hin zu Fehlern, dass von einer Übernahme der einzelnen Daten ohne eigene Überprüfung abzuraten ist. Was die Auswertung der literarischen Zeugnisse betrifft, so ist Caruso bisweilen etwas unkritisch bezüglich der Verlässlichkeit der Quellen und oberflächlich in der Deutung; Mojsik auf der anderen Seite ist sehr gründlich, aber bisweilen zu relativierend und überkritisch. S. insbes. Mojsik 2011a, S. 142-60; 2017, S. 485f.; vgl. auch die englische Zusammenfassung bei Schrott 2014, S. 201-4.

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scher und frühklassischer Zeit als auch die grundsätzlich vorhandene lokale Variabilität von Kulten.162 Was die sicher oder weniger sicher bezeugten Heiligtümer in der freien Natur betreffe, so legten sie nahe, dass in manchen Zusammenhängen ein gewisser Bezug der Musen zur Landschaft und Liminalität bestehe; der genauere Funktionsbereich bleibe aber jeweils unklar.163 Caruso organisiert die Mouseia zunächst nach vier typologischen Kategorien: Mouseia ausschließlich als Orte der Ausübung von Kult; Mouseia innerhalb von der Erziehung gewidmeten Räumen (beispielsweise Gymnasien); Mouseia, in denen der Kult mit Studien- und Forschungsaktivitäten verbunden war; Mouseia innerhalb privater Vereine ohne Bezug zu wissenschaftlicher Tätigkeit.164 Allen vier Kategorien und insbesondere der ersten sind in der Ausstattung Caruso gemäß zwei Dinge gemein: So ist erstens ein Altar vorhanden, zweitens gibt es keinen Tempel.165 Caruso identifiziert die erste Kategorie als „il nucleo

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164 165

Vgl. Mojsik 2011a, S. 149-52; 155; 274-7; passim. S. ebd. Seine skeptische Haltung gewinnt Mojsik 2011a unter anderem aus der Tatsache, dass insbesondere für die archaische und klassische Zeit ein gewisses Ungleichgewicht in den vorhandenen Zeugnissen herrsche: Sie lieferten vor allem Informationen über das literarische Bild der Göttinnen, aber kaum über einen Kult (vgl. ebd., S. 151). Mojsiks Warnung, dass die so prominente Verbindung der Musen zur Landschaft in der Literatur nicht ohne Weiteres auf den kultischen Bereich oder das grundsätzliche Wesen der Göttinnen zu übertragen sei, ist gewiss richtig und auch wichtig: So hat durchaus die Forschung lange Zeit bezüglich eines alteingesessenen pierischen Musenkultes allzu schnelle Schlüsse aus der Dichtung gezogen. Was jedoch die Interpretation vorhandener Zeugnisse angeht – die Mojsik im Übrigen ja auch selbst unternimmt, vgl. etwa die Anmerkungen zu den oben vorgestellten Musenheiligtümern – ist sein oft nachträglich stark relativierendes Vorgehen bisweilen in der Sache hinderlich. Ein kritischer Zugang ist selbstverständlich ebenso unerlässlich wie die Berücksichtigung verschiedenster potenziell relevanter Faktoren – doch am Ende besteht notwendig jede Rekonstruktion eben aus der plausibelsten Interpretation der verfügbaren Indizien: Es kann immer alles ‚auch ganz anders‘ sein. Vgl. Caruso 2016, S. 19-37 u. passim. Vgl. ebd., S. 93, 368f. u. passim. Einzige Ausnahme von dieser Regel ist der von Pausanias bezeugte Musentempel im Zentrum von Thespiai (vgl. Paus. 9, 27, 5).

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principale e più articolato“166. Sie spürt Heiligtümer dieser Typologie bis ins 6. Jahrhundert v. Chr. zurück und wertet den Bezug zur freien Natur, die außerstädtische Lage „in un luogo il più possibile ameno“, durchaus als essentielles Merkmal.167 Der Kult äußere sich in Form von Opfern, musischen Agonen und der Aufstellung von Weihgaben.168 Innerhalb dieser Gruppe wertet Caruso jenes im Tal der Musen am Helikon mit seiner Verbindung von eigentlichem Kult und dichterischer Sphäre, das im Übrigen auch am umfangreichsten bezeugt ist, als prototypisch.169 Die unterschiedlichen Ergebnisse liegen sowohl im jeweiligen Erkenntnisinteresse als auch im schon angedeuteten Unterschied in der Herangehensweise begründet: Wo Mojsik kritisch und minutiös differenziert, ist Caruso bereit zu kategorisieren und zu generalisieren; beiden Ansätzen wohnen sowohl Stärken als auch Schwächen inne. Grundsätzlich festzuhalten bleibt, dass ein Bezug zur Natur bei Weitem kein fester Bestandteil der Musenheiligtümer und des Musenkultes ist, dass er aber gleichwohl auftritt und variierende Kontexte erzeugt. 3.2

Nymphen

Ein weiterer Ansatzpunkt zur Erforschung des Verhältnisses von Musen und Landschaft neben der Lage der Kultorte hat sich bereits angedeutet: Wie keine andere griechische Gottheit sind die Nymphen, „Repräsentantinnen der freien Natur“170, an die Landschaft gebunden und unabhängig von bestimmten Landschaftselementen nicht denkbar.171 Es existieren 166 167

168 169 170 171

Caruso 2016, S. 365. Vgl. ebd., S. 94; das Zitat ebd. Der Unterschied zwischen Mojsiks und Carusos Datierung erklärt sich dadurch, dass Caruso bestimmte in eine frühe Zeit weisende Belege für den Kult am Helikon akzeptiert, die Mojsik zurückweist. S. dazu unten Abschnitt A.II.3.1.2. Vgl. ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 365. Herter und Heichelheim 1937, S. 1531. Für eine ausführliche Behandlung der Nymphen s. ebd. und Larson 2001; vgl. auch Otto 1961, S. 9-20; Sourvinou-Inwood 2005, S. 103-16. – Herter und Heichelheim 1937, S. 1530 heben hervor, dass die Nymphen nicht immer als Göttinnen, sondern bisweilen auch als sterblich (wenn auch langlebig) gelten – insbesondere von Interesse ist in diesem Zusammenhang die

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Hinweise auf eine Verbindung der Musen zu ihnen – und so ähnelt die Frage nach der Ausprägung ihres Bezugs zur Landschaft der nach einer Verwandtschaft mit den Nymphen. 3.2.1 Musen und Nymphen allgemein Die bedeutendste Ausprägung in der Konzeption der Nymphen ist ihre Verbindung mit dem Landschaftselement Wasser – in erster Linie in Form von Quellen, aber auch von Flüssen, Seen und Gewässern jeder Art.172 Nymphen sind die Repräsentantinnen der Quellen. Sie sind gleichzeitig aber auch als Frauengestalt von ihnen lösbar, ohne dass die Verbindung aufgehoben würde.173 Als Spenderinnen und Hüterinnen von Wasser sind sie mit allen seinen praktischen Funktionen und symbolischen Eigenschaften assoziiert: Sie stehen der Heilkunst und der Mantik nahe und sind ebenso Göttinnen der Fruchtbarkeit; so lassen sie Früchte reifen, Herden gedeihen, sind im Hochzeitsritual zugegen und Wächterinnen über menschlichen Nachwuchs.174 Sie besitzen auch, verknüpft mit den mantischen Konnotationen von Wasser, inspiratorische Kraft.175 Die Nymphen sind jugendlich und schön, meist freundlich gesonnen; es umgibt sie zudem eine Aura der Sinnlichkeit und sinnlichen Erlebbarkeit.176 Zu ihren Beschäftigungen gehört als charakteristischste

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Klasse der Baumnymphen, der Dryaden und Hamadryaden (s. dazu ebd., S. 1541-3 und Larson 2001, S. 73-8). Larson nimmt zu Beginn ihrer Untersuchung eine Unterscheidung und Abgrenzung von Nymphen und Heroinen vor, s. ebd., S. 3-8. – Die Darstellung der Nymphen etwa in den homerischen Epen bezeugt, dass die Konzeption der Nymphen schon früh ihre wesentliche Gestalt angenommen hatte, welche relativ konstant blieb, wie die weitere motivische Entwicklung in der Dichtung bestätigt. S. dazu ebd., S. 20-60. S. Herter und Heichelheim 1937, S. 1533-6; Larson 2001, S. 8f. Auch in den Genealogien äußert sich die enge Verbindung zum Wasser, wenn etwa Acheloos oder Okeanos als Stammväter in Erscheinung treten: Vgl. Herter und Heichelheim 1937, S. 1528f. Vgl. ebd., S. 1537f. Vgl. ebd., S. 1551-3; 1536f.; 1548-50; Larson 2001, S. 8-10. Vgl. Herter und Heichelheim 1937, S. 1553; Larson 2001, S. 11-13. Vgl. für Jugend und Schönheit Herter und Heichelheim 1937, S. 1545; für Freundlichkeit (mit einigen Gegenbeispielen) ebd., S. 1553; für Sinnlichkeit ebd., S. 1547 und insbes. Larson 2001, S. 10, die den Nymphen „a sensual,

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das Singen und Tanzen.177 Sie treten in einer „unbestimmte[n] und gleichartige[n] Vielheit ohne Individualnamen“178 auf – ihre Anzahl wird durch das Vorhandensein etwa nur einer Quelle nicht zwangsläufig begrenzt –, es können sich jedoch auch einzelne mit Namen ausgestattete Gestalten, die sogar eigene Mythen besitzen, herauskristallisieren.179 Treten die Nymphen im Mythos als eigenständige Akteurinnen auf, so handelt es sich zumeist um Narrative, in denen die an das Wasser geknüpfte Fruchtbarkeitsvorstellung eine Rolle spielt; dies gilt für die Vielheit ebenso wie für die einzelne Göttin. Nymphen, von üppiger Jugend und Schönheit, werden Objekt erotischer Begierde oder erwählen und fangen sich selbst einen Liebhaber.180 Vielfältig ist ihre Verflechtung in unterschiedliche Genealogien, wobei Sterbliche ebenso als Partner fungieren wie Götter der freien Natur.181 Ihnen kommt auch eine kourotrophische Funktion zu: Sie erscheinen als Ammen und Erzieherinnen von Göttern und Heroen.182 Als Heimstatt der Nymphen werden auch andere Orte gedacht, die von üppiger Lebenskraft erfüllt sind – gegeben durch das Vorhandensein von Wasser und, daraus resultierend, von Vegetation: Wald und Wiesen, auch Gärten fallen in diese Kategorie und grundsätzlich jeder Platz, der die Züge eines locus amoenus trägt.183 Doch auch der Berg selbst – in der Wahrnehmung, wie oben gesehen,184 Ort der freien Natur, des ‚Außerhalb’ von der Zivilisation an sich – ist unlösbar mit den Nymphen verbunden: „The spring might be described as the microhabitat of the nymph; if this is so, the macrohabi-

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sexual aura shared by none of the Olympian goddesses except Aphrodite“ attestiert. Vgl. Herter und Heichelheim 1937, S. 1545f. Ebd., S. 1531. Ein prominentes Beispiel ist die Kalypso der Odyssee. Auch Kirke wird zuweilen als Nymphe bezeichnet, vgl. etwa Hom. Od. 10, 543. S. Herter und Heichelheim 1937, S. 1547f.; Larson 2001, S. 66-73; Sourvinou-Inwood 2005, S. 109f. Für weitere narrative Muster s. Larson 2001, S. 73-87. Vgl. Herter und Heichelheim 1937, S. 1547. Vgl. ebd., S. 1550f.; Larson 2001, S. 5; Sourvinou-Inwood 2005, S. 106-8. Vgl. Herter und Heichelheim 1937, S. 1538-41; Larson 2001, S. 9-11. Vgl. Abschnitt A.I.2.1.

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tat is the mountain […].“185 Alle menschlichen Aktivitäten, die in den Bergen ihren Platz haben – Viehhüten, Imkerei, Holzfällerei, Jagd – befinden sich im Wirkungsradius und Einflusskreis der Nymphen.186 Insbesondere Hirten erscheinen prominent als Personal in entsprechenden Mythen.187 Häufig sind Elemente der Bergtopographie wie Grotten, Höhlen und Gipfel Schauplätze von Mythen, deren Teil die Göttinnen sind, und ebenso Kultplätze für sie.188 In der Konsequenz finden sich die Nymphen im Gefolge oder in der Gesellschaft ganz unterschiedlicher Gottheiten. Larson unterscheidet im Wesentlichen zwei Gruppen: Hauptsächlich sind es diejenigen, welche ebenfalls einen starken Bezug zur freien Natur haben – so Pan und die Satyrn und Silene, Dionysos und Hermes, Artemis und Zeus.189 Über das Medium Wasser und seine mantischen und heilenden Qualitäten existiert zudem eine markante Verbindung zu Apoll. Die Nymphen treten aber auch im Umkreis von (zumeist weiblichen) Gottheiten auf, die dem ‚Female Life Circle‘ nahestehen oder mit denen sie Anmut und Liebreiz und die damit assoziierten Beschäftigungen, Tanz, Gesang und Baden, teilen – etwa Aphrodite oder die Chariten.190 – Grundsätzlich sind die Verbindungen und Kontexte jedoch noch weitaus vielfältiger.191 Hervorzuheben ist der lokale und ‚irdische‘ Charakter der Nymphen. Sowohl in Mythos und Literatur als auch im Kult bleiben sie unweigerlich mit einem bestimmten Ort, einem Fluss etwa, verbunden; im olympischen Götterhimmel verkehren sie in der Regel nicht.192 Dies, in Kombination mit ihrem Wesen als Verkörperung der greifbaren Natur, macht 185

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Vgl. Larson 2001, S. 8f., (das Zitat auf S. 8); Herter und Heichelheim 1937, S. 1539f. S. Larson 2001, S. 9; vgl. Herter und Heichelheim 1937, S. 1545 u. 1555f. S. Larson 2001, S. 78-87. Vgl. ebd., S. 9f. S. ebd., S. 91-100. S. ebd., S. 100-120. Vgl. die alphabetische, kommentierte Liste aller Gottheiten, mit denen die Nymphen in Beziehung stehen, bei Herter und Heichelheim 1937, S. 1572-5. S. ebd., S. 1543f.; vgl. Larson 2001, S. 11. Als Ausnahme nennt Herter die Götterversammlung auf dem Olymp am Ende der Ilias, der auch die Nymphen nicht fernbleiben (vgl. Hom. Il. 20, 7-9). – Die Verbundenheit mit einem bestimmten Ort äußert sich im Aspekt der Eponymie: S. Sourvinou-Inwood 2005, S. 112-5.

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sie zu erreichbaren, erlebbaren Göttinnen. Ihr Kult, der weit verbreitet ist, trägt weitestgehend – wenn auch nicht ausschließlich – ländlichen Charakter. Kultorte befinden sich dort, wo die Anwesenheit der Nymphen gedacht werden kann: meist in der freien Natur, an Quellen oder in Grotten, nur rudimentär architektonisch ausgestattet.193 Ihre Verehrung trägt eher private als öffentliche Züge.194 Sie sind die Göttinnen des einfachen Mannes – und der einfachen Frau: „With the ‘dear nymphs’, unlike the Olympian gods, one could feel an intimate bond […].“195 In mancherlei Hinsicht gleichen sich Musen und Nymphen: Grundsätzlich handelt es sich bei beiden um Gruppen weiblicher Gottheiten, die in mehr oder weniger unbestimmter Vielheit auftreten; die Mitglieder dieser Gruppen treten in der Regel nicht einzeln hervor, sie sind keine Individuen, sondern teilen die gleichen Eigenschaften. Beide Gruppen weisen eine gewisse Fluidität bezüglich Namen und Genealogie auf.196 Larson gemäß sind sie in erster Linie kultische Einheiten und nur in zweiter Linie mythologische.197 Charakteristische Gemeinsamkeiten 193

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Vgl. Herter und Heichelheim 1937, S. 1554f.; Larson 2001, S. 121-258 passim: So hätten Altäre meist grobe Formen, Tempel seien zumindest im griechischen Raum eher die Ausnahme, wenn auch Brunnenhäuser mitunter so kunstvoll ausgestaltet gewesen seien, dass sie diese Bezeichnung erhielten. An den Höhlen dienten oft Nischen zur Ausstellung und Bewahrung von Votiven. – Für die griechischen Kultorte s. Larson 2001, S. 121-258; vgl. für eine Übersicht über griechische und römische Kultorte Herter und Heichelheim 1937, S. 1558-72 u. 1581-99. Vgl. ebd., S. 1556. Es sind sowohl Tier- als auch unblutige Opfer, insbesondere Nephalia, zu Ehren der Nymphen belegt; Weihgaben nahmen oft die Form von Reliefs, Terrakottafiguren, Lampen, Gefäßen und anderen Gebrauchsgegenständen an: Vgl. ebd., S. 1556f.; Larson 2001, S. 229-31 u. 121-258 passim. Ebd., S. 10. Vgl. Herter und Heichelheim 1937, S. 1555f. Vgl. Mojsik 2011a, S. 161-221 u. 277; 2011b. Vgl. Larson 2001, S. 7f. Anders Mojsik 2011a, S. 276, der erwägt, dass die Musen ursprünglich der mythologisch-religiösen Vorstellungswelt entsprungen seien und sich erst sekundär Kulte herausgebildet hätten. – Eine ähnliche Struktur weisen zwei Mythen auf, die Antoninus Liberalis mit Referenz auf Nikandros überliefert: In Ant. Lib. 9 fordern die neun Pierostöchter die Musen zu einem Wettstreit in Gesang und Tanz heraus; sie verlieren, betragen sich ungehörig und werden in Vögel verwandelt (vgl. Ov. met. 5, 294678). Ähnlich fordern in Ant. Lib. 31, 3-5 junge Messapier die Nymphen im

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sind die jeweils in unterschiedlicher Intensität zu verzeichnende Affinität zu den Landschaftselementen Berg und Wasser sowie die ihnen zugedachte inspiratorische Kraft.198 Auch treten beide Gruppen in Chören auf, für sich oder im Gefolge anderer Gottheiten. Die Kulte von Musen wie Nymphen hätten zudem, wie Larson zusätzlich hervorhebt, lokalen Charakter, der sich schon früh auf panhellenischem Niveau verbreitet hätte.199 Abgesehen von diesen strukturellen Gemeinsamkeiten sind auf einer konkreteren Ebene Fälle zu verzeichnen, in denen Musen und Nymphen konvergieren, wenn nicht miteinander verschmelzen. Dabei erscheinen ebenso Nymphen, die spezifisch musische Züge annehmen, wie nymphenähnliche Musen. Ebenso gibt es Zeugnisse, die Musen und Nymphen entweder im Verbund auftreten lassen oder eine Austauschbarkeit der jeweils erscheinenden Gruppe durch die andere suggerieren.200 Eine direkte Gleichsetzung in Form einer explizit formulierten Aussage ist selten, tritt aber in späten Quellen bisweilen auf.201

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Tanz heraus; sie verlieren den Wettstreit und werden, auch zur Strafe für ihre Dreistigkeit, in Bäume verwandelt. Vgl. Larson 2001, S. 8: „The Muses’ function [...] as the catalysts of divine inspiration correlates with aspects of the more humble phenomenon of nympholepsy, and their associations with mountains, springs, and the pastoral milieu are definitely nymphlike.” Zum religiösen Konzept bzw. Phänomen der Nympholepsie s. Connor 1988; Larson 2001, S. 11-20 u. passim; Sourvinou-Inwood 2005, S. 111; Pache 2011. Vgl. Larson 2001, S. 8. S. für diese Zeugnisse unten Abschnitte A.I.3.2.2-3.2.5, unter Beachtung von Anm. 209. Vgl. Hsch. s. v. νύµφαι (ν 713 Latte): […] καὶ Μοῦσαι καὶ θεαὶ; s. v. νύµφη (ν 717 Latte):[…] καὶ ἡ Μοῦσα […]; Eust. ad Od. 17, 205 (Bd. 2, S. 139, Z. 18 Stallbaum): λέγονται δέ, φασι, καὶ Μοῦσαι Διονύσου τροφοί, νύµφαι τινὲς οὖσαι καὶ αὐταί. S. auch Aristid. Or. 53, 4 Keil: ἀνεµιµνησκόµην δὲ τῶν ποιητῶν, ὅτι Νύµφας καὶ Μούσας ἀεί πως συνάγουσι […]. / „Ich erinnerte mich an die Dichter, dass sie immer irgendwie Nymphen und Musen zusammenbringen“. – Eine Gleichsetzung ist zudem für den lydischen Raum überliefert, s. unten. Suggestiv ist auch die römische Karriere der Musen und ihre Assoziierung mit den dortigen Camenae (s. dazu etwa Hardie 2010b; 2016). – Schwer einzuordnen bleibt ein Eintrag unter dem Stichwort θούριδες bei Hesych: Verzeichnet sind die Bedeutungen „νύµφαι. Μοῦσαι. Μακεδόνες“ (θ 664 Latte). Vermutlich ist der Eintrag als Erklärung eines altmake-

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Für die Erforschung der Musen im 19. und frühen 20. Jahrhundert ergab sich aus dieser teilweisen Überschneidung die große Streitfrage, ob die Göttinnen als ursprüngliche Quellnymphen zu denken seien oder nicht – eine Frage, die meist grundsätzlich positiv beantwortet wurde.202 Dem widersetzte sich dennoch vehement etwa Hermann Deiters, zumindest hinsichtlich der archaischen Zeit: Die verfügbaren Zeugnisse und Quellen stammten insgesamt aus späterer Zeit oder seien lückenhaft und ließen keine fundierte Aussage über die frühen Jahre zu.203 Eine ‚mittlere‘ Position nimmt Decharme ein: Musen und Nymphen gehörten als ähnliche, aber geschiedene Gruppen zur größeren Familie der „divinités des eaux“.204 In der Forschung des 20. und 21. Jahrhunderts wird dieses Spektrum der Positionen ebenfalls abgedeckt. Deiters vergleichbar konstatiert Farnell: Naturally they entered into close relations with the nymphs and other goddesses of vegetation who loved the dance and song; but there is nothing in the general Hellenic legend about them, nor in the significance of the popular names occasionally attached to them that suggests any close or original association with any domain of nature.“205

Mayers einflussreicher RE-Artikel von 1933 setzt wieder die Identität der Musen als Quellnymphen voraus; Camilloni nimmt eine ursprüngliche Verbindung zwischen Musen und Quelle an und hält ‚Nymphe‘ und ‚Muse‘ für im Grunde austauschbare Namen für dieselben Kräfte.206

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donischen Wortes zu verstehen: Nach Hammond und Griffith 1979, S. 48 gehört θούριδες zu den wenigen Wörtern der Kategorie „confidently associated with the Macedones in the pre-classical period of their existence“. Larson 2001, S. 169 schließt: „It is probable that the early people of Pieria did not sharply distinguish between ‘Muse’ and ‘nymph.’“ S. oben Anm. 70. Vgl. den Forschungsrückblick bei Farnell 1909, S. 434. Beispielsweise ist Mayer 1933, dessen Musen-Artikel in der RE im Grunde in der Tradition des 19. Jahrhunderts stehend gedacht werden kann, ein vehementer Befürworter dieser These. S. Deiters 1868. S. Decharme 1869, insbes. S. 25-40 (das Zitat passim). Farnell 1909, S. 434f. S. Mayer 1933; Camilloni 1998, S. 25-38, insbes. S. 27. Vgl. Walde 2000, S. 512; Schindler 2012, S. 185.

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Eine Verwandtschaft ohne Identität legt Otto zugrunde, ähnlich Koller.207 Konkreter formuliert Larson: „There can be little doubt that the Muses and the Charites developed from the same ancestral stock as the nymphs and are in fact more specialized members of the same general group.“208 Eine endgültige Entscheidung in dieser Sache ist auf der Grundlage des verfügbaren Materials schwierig, wenn nicht unmöglich, und liegt auch, wie bereits gesagt, nicht im Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Relevant ist vielmehr der jeweilige Kontext der einzelnen Zeugnisse, die, abgesehen von den strukturellen Gemeinsamkeiten, eine Konvergenz oder Assoziation von Musen und Nymphen erzeugen. Sie sind im Folgenden zusammengestellt.209 Im vorangegangenen Abschnitt zum Kult der Musen und seiner Beziehung zur Landschaft waren vier Fälle bereits zur Sprache gekommen; sie sollen die Sammlung anführen. 3.2.2 Μοῦσαι Ἰλισιάδες So war erstens eine gewisse Überlappung beim Heiligtum der Musen am Ilissos sichtbar. Der stark lokale Charakter und die sehr enge Bindung an das Wasser, verdeutlicht durch den Beinamen Ἰλισιάδες, schafft zunächst ein sehr Nymphen-adäquates Bild der Musen. Darüber hinaus ist

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S. Otto 1961, S. 23-33 u. passim; Koller 1963, S. 25-7. Larson 2001, S. 7f. Die Berührungspunkte sind vor allem zusammengetragen bei Decharme 1869, S. 25-40; Mayer 1933, S. 692-6 u. passim; Otto 1961, S. 23-31; Koller 1963, S. 25-7 und passim; Camilloni 1998, S. 25-7; Larson 2001 passim; Caruso 2016, S. 41. Da die genannten Autoren die Indizien entweder nicht vollständig oder nicht zusammenhängend präsentieren, sollen sie hier im Folgenden noch einmal gesammelt erscheinen. Für die Vollständigkeit beachte man Anmerkung 201. – Die νυµφικαὶ Μοῦσαι (Pl. Lg. 6, 775b), die Mayer 1933, S. 702 anführt, sind allerdings keine Belegstelle, da das Adjektiv eindeutig auf Hochzeitsfeste abzielt, deren Sitten in der zugehörigen Passage verhandelt werden. – Auch die früher angenommene und als Argument vorgebrachte etymologische Verbindung zu einer Wurzel des lateinischen mons-, ‚Berg‘, ist nicht gültig: S. für eine Übersicht Barmeyer 1968, S. 53f. u. Camilloni 1998, S. 7f. (mit eigenem Vorschlag auf S. 36-8 ); s. Beekes und van Beek 2010, S. 972f. s. v. µοῦσα für die neueste Revision.

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mindestens eine räumliche Nähe zu einem Heiligtum der Nymphen und des Acheloos gegeben.210 In Platons Phaidros charakterisiert Sokrates den Ort als den Nymphen und den Musen heilig, wobei unentschieden bleiben muss, ob er auf ein bereits existentes Musenheiligtum verweist oder nur, der Metaphorik des Dialogs folgend, die Konzepte der Göttinnen miteinander verschmelzen lässt.211 Verbindendes Element ist hier vor allem das Phänomen der ‚Ergriffenheit‘ durch die Nymphen, der Nympholepsie, das die Rahmenhandlung des Dialogs prägt: Sokrates stellt sich in Bezug auf sein Sprechen als in wachsendem Grade νυµφόληπτος dar212 – ein Zustand, der sich in diesem Fall in Form von „elevated sensibility and power of expression“213 äußert. Er ist daher dem der Inspiration durch die Musen ähnlich und in der Tat spielen auch diese Göttinnen in dem Gespräch eine wichtige Rolle.214 Der Übergang 210 211 212

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Vgl. Pl. Phdr. 230b8f. Vgl. oben Abschnitt A.I.3.1 mit Anm. 107. Vgl. Pl. Phdr. 238c9-d3: τῷ ὄντι γὰρ θεῖος ἔοικεν ὁ τόπος εἶναι, ὥστε ἐὰν ἄρα πολλάκις νυµφόληπτος προϊόντος τοῦ λόγου γένωµαι, µὴ θαυµάσῃς / „Wahrhaftig, göttlich scheint der Platz zu sein, sodass du dich nicht wundern sollst, wenn ich im Laufe der Rede von den Nymphen ergriffen werde“; 241e3-5: ἆρ’ οἶσθ’ ὅτι ὑπὸ τῶν Νυµφῶν, αἷς µε σὺ προύβαλες ἐκ προνοίας, σαφῶς ἐνθουσιάσω; / „Du weißt ja wohl, dass ich durch die Nymphen, denen du mich mit Berechnung vorgeworfen hast, offensichtlich begeistert werde?“; 263d1-6. Vgl. auch 278b8-c1, wo Sokrates von Worten spricht, die er und Phaidros am Nymphenort gehört hätten, und Connor 1988, S. 160-2 sowie Larson 2001, S. 11-20 zur Verbindung von νυµφόληπτος und seherischer Kraft. Göttliche Begeisterung ohne expliziten Bezug auf die Nymphen wird thematisiert in 234d1-6 und 262d2-5. Connor 1988, S. 160. So beginnt Sokrates seine erste Rede – die zweite des Dialogs – mit einem Musenanruf (vgl. Pl. Phdr. 237a7-b1). Eine der vier göttlichen µανίαι ist die von den Musen kommende ποιητική (vgl. ebd. 245a u. 265b4). Ein ἀνήρ µουσικός gehört in die erste Kategorie, in welche jene Seelen verpflanzt werden, die am meisten von der Wahrheit geschaut haben (vgl. ebd. 248d24; daneben in 248e1f., vielbeachtet, der ποιητικὸς βίος erst in der sechsten Kategorie). An einer Schlüsselstelle des Dialogs befindet sich der Zikadenmythos (vgl. die Einleitung in 258e6-259b6 und den Mythos selbst in 259b6-d8, dazu den Rückverweis auf die Zikaden als „Μουσῶν προφῆται“ in 262d3-6), in dem die Musen entscheidend sind (s. Haupttext). Phdr. 278b8-c1 schließlich enthält die bereits besprochene Äußerung des Sokrates,

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von den Musen zu den Nymphen und vice versa wird – abgesehen von der Formulierung in Phdr. 278b9215 – insbesondere in zwei Punkten sichtbar. So beginnt Sokrates seine erste Rede mit einem Musenanruf, unterstellt sich also zunächst dem Einfluss dieser Göttinnen. Bei einer Unterbrechung inmitten der Rede und in ihrem Anschluss führt er seinen Redefluss jedoch auf die begeisternde Macht der Nymphen des Ortes zurück.216 So nehmen die beiden Gruppen von Göttinnen hier austauschbare Plätze ein.217 Die zweite Schnittstelle ist der Zikadenmythos.218 Essenziell für Sokrates’ Nympholepsie sind der Schauplatz und die Tageszeit: Die Szenerie am Ilissos mit ihrer Qualität eines locus amoenus, ihrem Außerhalb-Sein von der Stadt wird nicht nur mehrmals thematisiert, sondern ist zugleich konstitutiv für den Zustand der Ergriffenheit; Gleiches gilt für die Mittagszeit, die „Geisterstunde der Mächte des ‘Draußen’“.219 Das Motiv der Zikaden nun knüpft seinerseits die Musen an die Ilissos-Szenerie, stellt es doch einen expliziten Bezug zur Umgebung dar, in der Sokrates und Phaidros sich aufhalten – wiederum ebenso in Hinsicht auf den Ort wie auf die Tageszeit: Der Gesang der Zikaden erschallt aus der Platane, unter der die beiden Gesprächspartner ruhen.220 Er ist nicht nur tatsächlich zur Mittagszeit am lautesten, son-

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er und Phaidros hätten, hinabgestiegen „ἐς τὸ Νυµφῶν νᾶµά τε καὶ µουσεῖον“ oder „ἐς τὸ Νυµφῶν νᾶµά τε καὶ Μουσῶν“ Worte vernommen, die Phaidros nun an Lysias weitergeben solle (vgl. oben Anm. 107). – Zudem werden an mancher Stelle die Qualitäten eines ἀνὴρ µουσικός hervorgehoben: Neben der bereits genannten sind dies 243a5-b2 (Stesichoros) und 268d6-e6; den Phaidros bezeichnet Sokrates als φιλόµουσος (vgl. 259b5). S. oben Abschnitt A.I.3.1 Anm. 107. Vgl. Pl. Phdr. 237a7-b1 (Musenanruf) sowie 238c9-d3 und 241e3-5 (Nympholepsie). Vgl. auch Görgemanns 1993, S. 145. S. die Hinführung Phdr. 258e6-259b6 und den Mythos selbst in 259b6-d8. Der Ort wird thematisiert vor allem in Phdr. 229a1-c3 und 230a6-c5, vgl. auch 236d10-e1; 238c9-d1; 242a1f.; 259a5f.; 278b9; 279b-c. S. auch Görgemanns’ systematischen Durchgang durch die relevanten Passagen auf (1993, S. 124-132), ebenso Männlein-Robert 2012, S. 84-89. Für die essentielle Rolle des Ortes für Sokrates’ Nympholepsie s. Connor 1988, S. 159; Görgemanns 1993, S. 144f.; Larson 2001, S. 10. – Für die Mittagszeit vgl. Phdr. 229a4-6; 242a3-6; 258e6-259a6; 259d7f.; 279b4f. S. dazu Görgemanns 1993, S. 136f.; das Zitat ebd., S. 136; Larson 2001, S. 10. Vgl. Phdr. 258d7 ὑπὲρ κεφαλῆς ἡµῶν.

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dern wird auch von Sokrates mit ihr assoziiert.221 Von Seiten der Zikaden nun droht eine weitere Gefahr des ‚Draußen‘: Mit ihrem Gesang können sie den Unachtsamen einschläfern; wer hingegen wach bleibt und sich einer Musenkunst widmet, den melden sie lobend der jeweiligen Muse.222 In dem Rückverweis auf den Zikadenmythos in Phdr. 262d2-6 wird den Zikaden selbst als „Propheten der Musen“ (Phdr. 262d4: Μουσῶν προφῆται) inspiratorische Kraft zugesprochen: Sokrates glaubt, entweder von ihnen oder den „örtlichen Göttern“ (Phdr. 262d3: τοὺς ἐντοπίους θεούς) – dies sind, wie bereits gesehen, die Nymphen und Acheloos, auch Pan – mit der ungewöhnlichen Redegewandtheit beschenkt worden zu sein. Durch die strukturellen Parallelen zwischen der mittäglichen Nympholepsie am Ilissos und dem mittäglichen, Musenbedeutsamen Zikadenzirpen am Ilissos, zudem durch die Zusammenführung beider Konzepte im erwähnten Rückverweis, erscheint auch an dieser Stelle der Übergang zwischen Musen und Nymphen fließend.223 3.2.3 Μοῦσαι Λειβηθριάδες Eine zweite Überschneidung betraf Hinweise auf einen böotischen Kult. Böotien, nicht zuletzt seine Berge, beschreibt Larson als Heimatland einer großen Dichte von „cults of female pluralities“224. Zu diesen gehö221

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Vgl. Phdr. 258d7 ἐν τῷ πνίγει; 259a2 ἐν µεσηµβρίᾳ; 259a6 µεσηµβριάζοντα; 259d8 ἐν τῇ µεσηµβρίᾳ. S. Phdr. 258d6-259b2 und 259c5-d8 mit Görgemanns 1993, S. 131f., Männlein-Robert 2012, S. 87-9. Vgl. auch Görgemanns 1993, S. 132. Die Ineinanderführung der Konzepte erfüllt dabei keine rein dekorative Funktion: Dass vielmehr der Rahmen des Gesprächs – die Szenerie am Ilissos, auf die die Dialogpartner immer wieder scherzend und bisweilen auch ironisch verweisen – eine raumsymbolische Konzeption des Dialogs verrät, dass er auch für die tieferen philosophischen Inhalte des Phaidros bedeutsam ist, ist erkannt und vielfach untersucht worden. Eine besondere Rolle kommt hierbei dem Zikadenmythos zu, der als Gelenk zwischen dem ersten Teil mit den Reden über den Eros und dem zweiten Teil mit dem dialektischen Gespräch steht. S. etwa Görgemanns 1993, insbes. S. 141-7 und 122 Anm. 1 für weiterführende Literatur. Aus jüngerer Zeit seien Männlein-Robert 2012, Werner 2012, S. 133-152 und Capra 2014 genannt. Larson 2001, S. 138. Larson fährt ebd. fort: „The Boiotian nymphs were part

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ren die Musen ebenso wie die Chariten und verschiedene Gruppen von Nymphen. Bezüglich eines Kultes scheint auch hier eine Verschränkung oder Verschmelzung stattzufinden: Es handelt sich um den bereits erwähnten Kult der leibethrischen Nymphen in einer Grotte innerhalb des Helikonzuges, an deren Stätte Pausanias Statuen sowohl der Nymphen als auch der Musen sieht.225 Zudem kann die Epiklese ‚leibethrisch‘ in seiner Beschreibung beiden Gruppen von Göttinnen zugeordnet werden.226 Der Berührungspunkt von Nymphen und Musen in diesem Kontext beschränkt sich nicht allein auf Pausanias’ Beschreibung. Vielmehr ruft Euphorion von Chalkis als inspirierende Gottheiten die „παρθενικαὶ Λιβηθρίδες“ oder „γαίης παρθενικαὶ Λ[ι]βηθρίδος“ an und in Vergils siebter Ekloge bittet der Ziegenhirte Corydon die „Nymphae Libethrides“ um die Gewährung eines Liedes.227 Als Benennung der Musen nennt wiederum Varro auch den Beinamen „Libethrides“.228 Ebenso ruft Maximos in seinem astrologischen Lehrgedicht Περὶ καταρχῶν explizit die „Μοῦσα“ als „κούρη Λιβηθριάς“ an.229 In einem hellenistischen Fragment erscheint der Genitiv „Λειβηθριάδων“ im Umfeld von einer Quelle, Musen und Inspiration; ein solcher Kontext ist also naheliegend.230 An dieser Stelle offenbart sich wiederum die bemerkenswerte

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of a local tradition […] of female pluralities concerned, on the one hand, with springs and, on the other, with the inspiration of mantic and other poetic utterances. […] The tradition of divine female pluralities extends onto the realm of heroines and manifests itself in an unusual concentration of female sacrifical sisters in Boiotian and Attic myths.“ S. oben Abschnitt A.I.3.1; Paus. 9, 34, 4. Pausanias’ Formulierung in 9, 34, 4 lautet: ἀγάλµατα δὲ ἐν αὐτῶι Μουσῶν τε καὶ νυµφῶν ἐπίκλησίν ἐστι Λιβηθρίων. / „Darauf [sc. auf dem Berg Libethron] sind Statuen von Musen und Nymphen mit dem Beinamen ‚Libethrische‘“. Für Euphorion vgl. fr. 34, 2 Lightfoot (= fr. 416 SH): Der Papyrus führt die erste Version, die zweite ist eine Konjektur von Maas. Für Vergil vgl. ecl. 7, 21 mit Schachter 1986, S. 188 Anm. 3. Vgl. Varro ling. 7, 20. S. Max. 6, 141; vgl. Tz. H. 6, 92 = [Orph.] fr. 771a Bernabé. Vgl. Anon. fr. 993 SH, insbes. V. 6-9: ]τ̣ε κρήνη φιλοµουσ.[ | ]καλα Λειβηθ̣ριάδων .[ | ]εν̣επνεύσατε φωνη[ | ]ανελουσαι τὰ παλαι[; dazu V. 14 Μοῦσα. Über die ursprüngliche Länge der Verse ist den Herausgebern zufolge keine Aussage möglich (vgl. Lloyd-Jones und Parsons in SH,

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toponymische Verflechtung zwischen böotischen und makedonischen Kultorten. Denn das Attribut ‚leibethrisch‘ lässt sich, wie bereits geschildert,231 nicht nur auf den böotischen Berggipfel zurückführen, sondern auch – und vor allem – auf die pierische Ortschaft Leibethra. Strabons Argumentation, mit der er die thrakische Herkunft der Musik und des böotischen Musenkultes beweisen will, scheint unter anderem auf die Namensverwandtschaft entsprechender Kultorte abzuzielen.232 Das den Musen heilige, makedonische Leibethra fungiert dabei als Pendant zur böotischen Grotte der leibethrischen Nymphen, wobei durch Strabons beweisführende Absicht auch ein tieferer Zusammenhang zwischen makedonischem Musenkult und böotischem Nymphenkult suggeriert wird; mindestens aber muss eine gewisse Verwandtschaft von Musen und Nymphen vorausgesetzt sein.233 – Die Epiklesen der Dichter befinden sich in diesem Spannungsfeld. Bei Vergil lässt der Kontext keine weiteren Schlüsse auf die gedachte topographische Identität der Göttin-

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S. 513), daher ist das genaue Verhältnis von „Λειβηθριάδων“ (V. 7) zu den anderen erhaltenen Worten – etwa in Form einer „musenliebende[n] Quelle der Leibethriaden“ – nicht sicher zu bestimmen. Allerdings legt die Einrahmung des Wortes durch „φιλοµουσ“ in V. 6 und den spätestens ab V. 7 beginnenden Musenanruf nahe, dass sich hier zumindest, sei „Λειβηθριάδων“ adjektivisch oder als Epiklese von Nymphen oder Musen gebraucht, die leibethrische Sphäre mit der der Musen überschneidet und unter Umständen poetologische Relevanz gewinnt. Magnelli 2010, S. 171, der eine klare Unterscheidung zwischen (Euphorions) leibethrischen Musen und (Lykophrons) leibethrischen Nymphen postuliert, tut sie daher etwas zu schnell ab. S. oben Abschnitt A.I.1.3. Die Zusammenschau von Str. 9, 2, 25 und 10, 3, 17 legt diese Auslegung nahe. Die alternative Auslegung bedeutete eine Argumentation in dem Sinne, dass die Thraker‚ weil sie es waren, die anderswo (nämlich in Thrakien bzw. Makedonien) Berge und Orte den Musen geweiht haben, auch den Helikon den Musen geweiht haben müssen. Ein solcher Gedankengang schiene etwas beliebig. Vielmehr dient die leibethrische Namensdoppelung als Anker für Strabons Theorie. Zur Undurchsichtigkeit von Strabons Gedankengang vgl. auch Mayer 1933, S. 694: „Eine Kultstelle [sc. die Grotte der leibethrischen Nymphen], die den alten Geographen besonders eindringlich an die Übertragung des Pierischen M.-Kultes, die er den Thrakern zuschreibt, erinnert, – ohne daß wir uns gerade seinen Gedankengang aneignen können.“

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nen zu.234 Dass wiederum Euphorion, der Dichter des dritten Jahrhunderts v. Chr., mit seinen „παρθενικαί“ nicht auf den böotischen Berg, sondern auf die nordgriechische Stadt anspielt, legt der thrakische Inhalt des Gedichtfragments zunächst nahe.235 Ebenso offenbart das anonyme Fragment 993 SH einen makedonischen Kontext.236 Andererseits wird möglicherweise gerade die Polyvalenz produktiv genutzt, eine Annahme, die durch Strabons Bezeugung eines angenommenen Zusammenhanges zwischen den Kulten durchaus legitimiert ist. Deutlicher noch wird diese Möglichkeit in der Auseinandersetzung mit den etwas früheren Versen eines weiteren, ebenfalls aus dem dritten Jh. v. Chr. stammenden hellenistischen Dichters. Es heißt in Lykophrons Alexandra von Achill: κεκλαυσµένος νύµφαισιν, αἳ φίλαντο Βηφύρου γάνος, Λειβηθρίην θ’ ὕπερθε Πιµπλείας σκοπήν

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beweint | von den Nymphen, die das Wasser des Bephyros lieben | und die leibethrische Warte oberhalb von Pimpleia. Lyc. 273-5

Unter den hier genannten Nymphen sind, da sie den toten Achill beklagen, die Musen zu verstehen.237 Ein nymphischer Charakter wird aber 234

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Für eine Übersicht über die intertextuellen und poetologischen Bezüge des Verses samt Literaturangaben s. Magnelli 2010, S. 173-5. Vgl. ebd., S. 171f. Vgl. V. 2 Μακετησ[ und V. 5 Μακέτησ[. Vgl. Hornblower 2015, S. 181 zu Lyc. 273f. und 182 zu 275; so auch die Scholien (s. dazu im Einzelnen Magnelli 2010, S. 168f. mit Anm.). Der früheste Beleg für die Totenklage der Musen um Achill ist Hom. Od. 24, 60-2; s. darüber hinaus Magnelli 2010 S. 168f. Anm. 3. – Magnelli hingegen sieht aus drei Gründen nicht die Notwendigkeit, Lykophrons Nymphen mit den Musen zu identifizieren (vgl. ebd., S. 169f.): erstens, weil leibethrische Nymphen, wenn auch böotische, durch Pausanias und Strabon bezeugt seien; zweitens, weil auch Nymphen im Mythos tote Heroen beklagten; drittens, weil die Assoziation mit dem Wasser des Flusses (vgl. Lyc. 274) Nymphen besser zu Gesichte stünde als Musen. Lykophron könne sich also entweder auf eine vorhandene Mythosversion berufen, in der nur die Nereiden zur Totenklage Achills erschienen, oder die Innovation auf eigene Faust unter-

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über die Bezeichnung hinaus aufrechterhalten: Die Vorliebe für das Wasser eines Flusses, des Bephyros oder Baphyras, ist ohne Zweifel eine Eigenschaft, die in erster Linie Nymphen zukommt. Auf den zweiten Blick offenbart sich hier die Musentopographie, handelt es sich bei diesem Fluss doch um jenen, der auch im Orpheus-Mythos eine Rolle spielt und von dem Pausanias berichtet, er hieße im ersten oberirdischen Abschnitt seines Verlaufes Helikon, um dann, nach einem unterirdischen Abschnitt, beim neuerlichen Zutagetreten den genannten Namen anzunehmen.238 Dass die Göttinnen mit einer Bergeshöhe in Verbindung gebracht werden, entspricht zunächst gleichfalls, wenn auch nicht so drängend wie im Falle des Flusses, ihrer Charakterisierung als Nymphen. Mit der Quelle und Ortschaft Pimpleia ist jedoch ein deutlicher Verweis auf die Sphäre der Musen gegeben.239 Die „leibethrische Warte“ schließlich führt mitten hinein in die Dualität pierischer und böotischer Musenlandschaft. In den Scholien spiegelt sich in der Folge eine gewisse Unentschlossenheit: Denn während die Verankerung an Pimpleia eigentlich nur die Identifikation mit der makedonischen Ortschaft erlaubt, geben die unterschiedlichen Scholiasten zum Lemma sowohl die Erklärung, es handle sich um einen makedonischen Berg, als auch, es handle sich um einen Berggipfel im Helikonzug.240 Gerade hierin mag

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nommen haben: Es bestünde jedenfalls kein Grund, die Musen ins Spiel zu bringen (vgl. ebd., S. 170 und darüber hinaus Canetta 2008, S. 217, auf die Magnelli sich zum Teil bezieht). Dabei ignoriert Magnelli allerdings, dass hier zwei Elemente, die mit den Musen in Verbindung zu bringen sind, nicht unabhängig voneinander, sondern in Kombination vorliegen: Es sind eben nicht beliebige Nymphen (im Übrigen auch nicht die Nereiden!), die einen beliebigen Heroen beklagen, sondern pierische Nymphen (s. u.) in Trauer um Achill. – Nicht weiter spezifizierte Λιβηθρίδες, die möglicherweise um Phaëton klagen, finden sich darüber hinaus in einem nur lückenhaft erhaltenen hellenistischen Fragment (s. Anon. fr. 988, 1 SH; Magnelli 2010, S. 170f. Anm. 3). Vgl. Paus. 9, 30, 8 und unten Abschnitt A.II.3.2.1.2. Für die enge Assoziation der Musen mit Pimpleia bzw. Pipleia s. oben Abschnitt A.I.1.2. Für die Identifikation der Λειβηθρίη σκοπή als makedonischer Berg s. Schol. Lyc. 275, Z. 20 Scheer und die Paraphraseis zu V. 275 (gegeben von Leone 2002). Die Erklärung „ὄρος ἐν Ἑλικῶνι“ findet sich bei Schol. Lyc. 275a u. 275b Leone; vgl. auch die ausführlichere Erläuterung von Tzetzes (Tz. ad Lyc. 275, Z. 33 u. Z. 21f. Scheer).

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aber Lykophrons Spiel liegen: Die drei Örtlichkeiten Baphyras, Leibethra und Pimpleia spannen die Musenlandschaft Pierien auf, in welcher die Göttinnen als Nymphen – nicht zuletzt ‚leibethrische‘ Nymphen – präsentiert werden. Gleichzeitig verweisen der Helikon-Baphyras und die leibethrische Höhe aber auch nach Böotien. Dort gibt es helikonische Musen, die beispielsweise in Hesiods Theogonieprooimion dezidiert nymphischen Charakter zeigen,241 und vor allem auch leibethrische Nymphen, die unter Umständen sogar selbst musische Züge tragen. In Lykophrons Versen fangen sich diese Assoziationen wie Reflexe; ihre Ausdruckskraft besteht gerade im subtilen Changieren nicht nur zwischen Nymphen und Musen,242 sondern auch zwischen Helikon und Pierien. 3.2.4 Hymettos und Syrakus Eine dritte Überschneidung von Musen und Nymphen betraf den Hymettos: – Aelian erzählt in einer bekannten Episode aus der Platon-Vita, Platons Eltern seien nach der Geburt des Sohnes auf den Berg gestiegen, um „den Musen oder den Nymphen“ (Ael. VH 10, 21: ταῖς Μούσαις ἢ ταῖς νύµφαις) ein Opfer darzubringen. Eine solche rituelle Handlung als Dank für die Geburt eines Kindes ist aus dem Zusammenhang des Nymphenkultes bekannt.243 Das Element der Bienen und des Honigs wiederum, das in der Erzählung die künftige Redegewandtheit des kleinen

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Die Darstellung nymphischer Züge ist intendiert und sorgfältig komponiert: Dies zeigt sich vor allem in der Gegenüberstellung mit Hesiods andersartigem Porträt der Musen auf dem Olymp und wird ausführlich unten in Kapitel B.I thematisiert. Magnellis Trennung zwischen zwei unterschiedlichen Gruppen von Gottheiten, Lykophrons leibethrischen Nymphen und Euphorions leibethrischen Musen, erscheint hingegen gegenüber der Annahme einer Fluidität zwischen den Konzepten von Nymphen und Musen auch in diesem speziellen ‚leibethrischen‘ Fall eher künstlich. Vgl. auch Hornblower 2015, S. 182 zu Lyc. 275: „Magnelli 2010 exaggerates the difference between Lyk.’s nymphs and Euphorion’s Muses”. S. Larson 2001, S. 229 und 238, vgl. auch S. 5, 131-4, 138; Sporn 2013b, S. 208.

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Platon symbolisiert, gehört sowohl der Sphäre der Nymphen als auch der Sphäre der Musen an.244 Viertens bedeutete die – rein hypothetische – Lage des Musenheiligtums von Syrakus in der Grotte oberhalb des Theaters zwar keine explizite, aber doch eine starke Assoziierung mit den Nymphen: Denn die Grotte ist Kultort der Nymphen schlechthin.245 Allerdings hat der archäologische Befund bisher für keine der als Kultorte bekannten Grotten einen griechischen Musenkult bestätigen können, für Syrakus ebenso wenig wie für die Grotte der leibethrischen Nymphen auf dem Helikon.246 So weist Caruso die Möglichkeit einer Verehrung der Musen in Grotten mangels Beweisen bis auf Weiteres für den griechischen Raum zurück.247

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Nymphen sind mit Imkerei assoziiert, sie nähren zudem im Mythos andere Figuren mit Honig und empfangen darüber hinaus Honig als Opfergabe (vgl. Larson 2001, S. 9; 14; 24f.; 86; 116; 185f.; 223f.; 229). – Für Musen bzw. Dichtung und die Symbolik von Honig und Biene s. beispielsweise Waszink 1974; Pucci 1977, S. 19-21 u. 27-9; Nünlist 1998, S. 60-3 u. 300-6; Berrens 2018, S. 363-84. Für das Motiv der Honigwabe im Munde des Dichters im Besonderen s. auch Lefkowitz 22012, S. 62 mit 176 Anm. 5. Valerius Maximus, der selbst Platons Eltern und ihre Kulthandlung nicht erwähnt, stellt ausdrücklich einen solchen Bezugsrahmen her: Seiner Meinung nach hätten die besagten Bienen dem kleinen Platon Honig eingeflößt, nachdem sie nicht den nach Thymianblüten duftenden Hymettos (montem Hymettium tymi flore redolentem) abgeweidet hätten, sondern die helikonischen Anhöhen der Musen (Musarum Heliconios colles), die vom Wirken der Göttinnen ganz durchdrungen seien (vgl. Val. Max. 1, 6, ext. 3).Vgl. auch oben Abschnitt A.I.3.1. Nymphen sind die am häufigsten in Grotten verehrten Gottheiten: Vgl. Sporn 2013b, S. 203f., 216 und passim. Vgl. Caruso 2016, S. 42f.; s. auch die tabellarische Übersicht über die in Grotten verehrten Gottheiten bei Sporn 2013b, S. 216, in der die Musen abwesend sind. S. Caruso 2016, S. 40-43. Anders verhält es sich mit der römischen Welt, in der die Musen durchaus in Grotten kultische Verehrung erfahren (vgl. ebd., S. 43; Lavagne 1988, S. 266-284).

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3.2.5 Weitere Schnittbereiche Außer den bereits angerissenen Schnittbereichen zwischen Nymphen und Musen, die jeweils in kultischen Kontexten ihren Ausgang nahmen, gibt es weitere explizite oder zumindest suggestive Annäherungen. Sie stammen sowohl aus dem Bereich des Kultes als auch aus Mythos und Literatur. So sind im östlichen und zentralen Lykien, wo es einen weit verbreiteten Nymphenkult gab, Larson zufolge in vielen ländlichen Heiligtümern kleine Votivreliefs aus den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit gefunden worden, die Nymphen in musenähnlicher Manier zeigen: in Gruppen zu dreien oder neunen, unterschiedliche Instrumente spielend.248 Die Nähe von Musen und Nymphen zeigt in gewissem Sinne auch Apolls doppelte Funktion nicht nur als Musen-, sondern auch als Nymphenführer auf.249 Für den Gott in beiden Eigenschaften – jeweils unter der Epiklese „Μουσηγέτης/Μουσαγέτας“ oder „Νυµφηγέτης/ Νυµφαγέτης“ – sind Kulte in verschiedenen Regionen Griechenlands bezeugt.250 In literarischen Quellen hingegen erscheint für Apoll nur das 248 249

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S. Larson 2001, S. 210. Für Apoll und die Nymphen s. ebd., S. 17; 147; 152; 205; 209; 211; 222; 225. Aus dem vierten Jahrhundert stammt eine Weihinschrift für Apollon Mousagetes aus Larisa (vgl. SEG 47, Nr. 746, 2; Mojsik 2011a, S. 159f.). Die Mnesiepes-Inschrift von Paros aus der Mitte des 3. Jhs. v. Chr. enthält u. a. die Orakelweisung an Mnesiepes, er solle im künftigen Archilocheion auch für die Musen, Apollon Mousagetas und Mnemosyne einen Altar einrichten und ihnen darauf opfern (vgl. SEG 15 Nr. 517, col. 2, 1, Z. 1-4). Ein Gebet an Apoll von der Insel Tenos aus dem 3. o. 2. Jh. v. Chr. versieht Apoll unter anderem mit der Epiklesis ‚Mousegetes‘ (vgl. IG 12, 5 Nr. 893, V. 3). Als ‚Mousagetas‘ bezeichnet ist er mit großer Wahrscheinlichkeit in einem delphischen Ehrendekret für die Synodos der athenischen ἐποποιοί aus der Zeit um 200 v. Chr. (vgl. FD 3, 2 50 = SIG3 699, Z. 1). Aus dem Jahr 200/199 v. Chr. stammt das milesische Ehrendekret für Eudemos, Sohn des Thallion, den Stifter einer Schule, in dem Weihrauchdarbringungen für Hermes, die Musen und Apollon Mousegetes durch verschiedene Personen, darunter einem Priester des Hermes und einem Priester der Musen, die Rede ist (vgl. SEG 14 Nr. 742 u. 36 Nr. 1045). – Auch literarische Quellen enthalten kultische Informationen: Bei Pl. Lg. 653d3 sind Musen, Apollon Mousegetes und Dionysos als συνεορτασταί geführt. Die Symposionsteil-

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Epitheton ‚Mousagetes‘.251 Pausanias berichtet von einem Nymphenaltar in Olympia in direkter Nachbarschaft zu einem Altar der Musen; den beiden Gruppen würden beim Opferrundgang der Eleier nacheinander Opfer gebracht.252 Aus dem Bereich von Kult in weiterem Sinne im Zusammenspiel mit Mythos stammt auch das folgende Zeugnis: Bei Thourioi in Magna Graecia, der Neugründung von Sybaris von 444 v. Chr., ist aus verschiedenen Quellen ein Nymphenkult in einer Grotte bezeugt.253 Die Nymphen hießen nach dem nahen Fluss entweder Λουσιάδες oder Ἀλουσίαι.254 In den Scholien zu Theokrits siebtem Idyll nun sind zwei ähnliche Fassungen des gleichen Mythos überliefert: Ein Hirte habe dort

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nehmer in Plu. Mor. 743c (Quaestiones convivales) unterbrechen ihr Gespräch, um die Musen mit Trankspenden und den Mousegetes mit Paianen zu ehren. Bei Arr. Cyn. 35, 2 heißt es, Personen, die um den Bereich der Erziehung (παίδευσις) bemüht seien, opferten den Musen, Apoll Mousegetes, Mnemosyne und Hermes. – Eine Kultvorschrift auf einem Relief von der Insel Thasos aus dem frühen 5. Jh. v. Chr. besagt, dass den Nymphen und dem Apollon Nymphegetes nach Belieben ein weibliches oder männliches Tier, jedoch weder Schaf noch Schwein zu opfern seien; zudem sei er nicht mit Paianen zu ehren (vgl. IG 12, 8 Nr. 358). Auf Samos wurde ein Altar des Apollon Nymphegetes und der Nymphen aus dem 5. Jh. v. Chr. gefunden (vgl. IG 12, 6, 1 Nr. 527), ein weiterer nur für Apoll in dieser Funktion aus klassischer Zeit (vgl. IG 12, 6, 1 Nr. 528). Die lex sacra aus dem attischen Erchia von etwa 375-350 v. Chr. führt ein jährliches Ziegenopfer für Apollon Nymphegetes sowie ein weiteres für die Nymphen auf dem gleichen Altar (vgl. SEG 21 Nr. 541, col. 5, 1, Z. 40-7). Zudem ist auf einer weiteren – fragmentarischen – attischen Inschrift aus der ersten Hälfte des 4. Jhs. ein Ziegenopfer für einen Gott mit Epiklese ‚Nymphegetes‘ verzeichnet (vgl. IG 22 Nr. 1358, col. 1, 1, Z. 45). Die Erwähnungen sind zahlreich; sie beginnen bei Pi. fr. 94c, 1 Snell-Maehler. Vgl. Paus 5, 14, 10. Allerdings scheinen die Musen auch Spenden mit Wein erhalten zu haben – anders als die Nymphen, für die Pausanias dies ausdrücklich ausschließt (vgl. Paus. 5, 15, 10). S. Larson 2001, S. 223 mit Anm., auch für die mögliche Identifikation mit einem archäologisch bestätigten Kultort am Fuße des Monte Sellaro. Zwei lokale Historiker des vierten und dritten Jahrhunderts v. Chr., Timaios von Tauromenion und Lykos von Rhegion, geben Zeugnis: Λουσιάδες heißen die Nymphen bei Timae. FGrH/BNJ 566 F50 = Ath. 12, 17 (519c), Ἀλουσίαι bei Lykos FGrH/ BNJ 570 F7 = Schol. Theoc. 7, 78f. b Wendel.

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auf dem Berg die Herden seines Herren gehütet und häufig den Musen geopfert. Verärgert habe ihn sein Herr in eine Kiste gesperrt, um zu schauen, ob die Göttinnen ihrem Schützling wohl helfen würden. Und in der Tat: Nach zwei Monaten fand man den jungen Mann lebendig in der Kiste, die ganz mit Honigwaben angefüllt war.255 Bemerkenswert ist, dass in der ersten Fassung, für die Lykos von Rhegion als Quelle angegeben ist, der Bezug zu den Nymphen und ihrer Grotte auf dem Berg Thalamos bei Thourioi hergestellt wird, um den Schauplatz des Geschehens zu bestimmen, der Hirte aber in der Folge etwas abrupt nicht den alousischen Nymphen, sondern eben den Musen opfert.256 Die zweite Fassung ermangelt dieser Spezifizierung – das Geschehen wird schlicht „auf Sizilien auf dem Berg von Thouria“ (Schol. Theoc. 78f. c Wendel: ἐν Σικελίᾳ ἐν τῷ ὄρει τῆς Θουρίας) lokalisiert, wobei Sizilien eine allzu großzügige oder Thourioi eine falsche Deutung erfährt. Es ist ungewiss, ob im Falle der ersten Fassung eine produktive bzw. bedeutungsvolle Verbindung zwischen Musen und Nymphen besteht – verschiedene Erklärungen können auch eine nur oberflächliche Verknüpfung plausibel erscheinen lassen.257 Auffällig ist aber, dass die Zusammenstellung wie255

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Vgl. Schol. Theoc. 7, 78f. b Wendel = Lykos FGrH/BNJ 570 F7 und Schol. Theoc. 7, 78f. c Wendel. Vgl. Schol. Theoc. 7, 78f. b Wendel = Lykos FGrH/BNJ 570 F7. Aus diesem Grund werden auch die Emendationen Λουσίαις (Müller) und Ἀλουσίαις (Schwartz) anstelle von Μούσαις als Empfängerinnen der Opfer vorgeschlagen. Smith 2013 zu BNJ 570 F7 nennt als möglichen Grund für die prominente Einführung des Nymphenkultes in der ersten Fassung, dass einfach die Herkunft des Hirten die Nennung der alousischen Nymphen und ihrer Grotte provoziert haben könnte (In jedem Fall sei eine Korruption des Textes auszuschließen). Gow 1952, II, S. 152 (zu Theoc. 7, 78) auf der anderen Seite bezieht die Ortsangabe ἐν τούτῳ für das Opfer an die Musen nicht auf den Berg, sondern auf die Nymphengrotte selbst, und setzt so einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der einleitenden topographischen Bemerkung und dem Schauplatz der Sage voraus. Der zugehörige Satz lässt beides zu: Λύκος φησὶ τῆς Θουρίας ὄρος Θάλαµον, ὑφ’ ὃ ἄντρον τῶν Νυµφῶν [...] (Lykos FGrH/BNJ 570 F7 = Schol. Theoc. 7, 78f. b Wendel). Mayer 1933, S. 693 und Otto 1961, S. 67 vermuten hinter dem Mythos der Scholien sogar ein Aition für einen Musenkult bei Thourioi. – Larson 2001, S. 224 zieht in Erwägung, Theokrit selbst gebe möglicherweise das Stichwort für die Einführung der Musen in die Geschichte, denn in seiner angedeuteten Version

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derum im Zusammenhang mit dem Motiv vom Nähren mit Honig ihren Platz findet wie in der Platon-Legende.258 Laut Smith kann eine Erklärung für das Auftreten der Musen in der Wiedergabe des Mythos lauten, dass Theokrits Konzept von Musen und Nymphen – und in der Folge unter Umständen auch das seiner Scholiasten – im siebten Idyll ohnehin in beide Richtungen durchlässig sei.259 Dies führt zum nächsten Berührungspunkt zwischen den Göttinnen: Denn in der Tat gibt es in diesem Gedicht beispielsweise eine Anrufung der kastalischen Nymphen vom Parnass in poetologischem Zusammenhang.260 Die Verse 92f. und 95 lassen im Zusammenspiel Nymphen und Musen äquivalent erscheinen.261 Die Stelle V. 92f. spielt dabei noch einmal eine eigene Rolle: Simichidas gibt an, die Nymphen hätten auch ihn beim Rinderhüten im Gebirge manch Gutes – gemeint sind Lieder – gelehrt.262 Das Setting ebenso wie das Verb δίδαξαν parallelisieren hier die lokalen Bergnymphen mit den helikonischen Musen aus Hesiods Dichterweihe, ein Bezug, der auch an anderer Stelle im siebten Idyll herge-

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(Theoc. 7, 78-89), die die Scholien zu erklären suchen, heißt es, die Bienen hätten den Hirten gefüttert, „weil die Muse süßen Nektar seinen Mund hinabgoss“ (Theoc. 7, 82: οὕνεκα οἱ γλυκὺ Μοῖσα κατὰ στόµατος χέε νέκταρ), er also ein Dichter bzw. Sänger sei. Der zugrundeliegende Gedanke ist dann, wie Gow 1952, II, S. 153 zu Theoc. 7, 82 schreibt, „that the bees feed Comatas because he is, like themselves, a source of sweetness, and poets are not infrequently compared to bees elsewhere“ (vgl. ähnlich Lawall 1967, S. 93; Hunter 1999, S. 177 ad loc.). Es ist nicht möglich zu entscheiden, in welchem Grade sich der Scholiast der Version des von ihm zitierten Lykos zu Treue verpflichtet fühlte und ob eine solche Manipulation angenommen werden darf. – Für eine weitere mögliche Erklärung s. Haupttext. Vgl. Larson 2001, S. 224. S. auch oben Abschnitte A.I.3.1 und 3.2.4. Vgl. Smith 2013 zu BNJ 570 F7. Auch hier müsste in der Konsequenz – ähnlich wie im Falle der Erklärung, die Musen erschienen auf ein Stichwort aus dem Text – ggf. eine Abweichung des Scholiasten von der zitierten Version des Lykos angenommen werden. S. Theoc. 7, 148-55 und den Exkurs in Anschluss an Abschnitt A.I.1.1. Vgl. Gow 1952 II, S. 155 und Hatzikosta 1982, S. 142f. zu Theoc. 7, 92. Vgl. Theoc. 7, 91-3: Λυκίδα φίλε, πολλὰ µὲν ἄλλα | Νύµφαι κἠµὲ δίδαξαν ἀν’ ὤρεα βουκολέοντα | ἐσθλά […]. „Mein lieber Lykidas, viel anderes Gutes haben die Nymphen auch mich gelehrt, als ich in den Bergen Rinder hütete.“

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stellt wird.263 Dazu ist zu bemerken, dass Hesiods helikonische Musen in Th. 1-35 wiederum dezidiert nymphische Züge tragen – was besonders im Vergleich mit der olympischen Ausprägung der Göttinnen in Th. 3652 deutlich wird.264 Musik lehrende Nymphen erscheinen auch in anderen Zusammenhängen: So machen Hamadryaden in einer Verwandlungssage des Nikandros das Mädchen Dryope zu ihrer Gespielin und lehren sie, die Götter in Preisliedern zu ehren und zu tanzen.265 Ebenso soll der Lyderkönig Torrhebos nach einem Zeugnis, das auf den Historiker Xanthos des fünften Jahrhunderts v. Chr. zurückgeht, die Musik von den Nymphen gelernt haben.266 Bei dieser Gelegenheit wird – wie auch an anderer Stelle – von den Lydern berichtet, bei ihnen hießen die Nymphen auch Musen.267 Auch in Genealogien stehen Musen bisweilen mit Nymphen in Verbindung. Epicharm lässt die Musen in seinem in einigen Fragmenten überlieferten Stück Die Hochzeit der Hebe (Ἥβης Γάµος) als Töchter der eponymen Quellnymphe Pimpleia und des Stammvaters Pieros auftreten; sie sind darin sieben an der Zahl und tragen – wie es ebenfalls Nymphen zukommt– Namen, die auf Flüsse rekurrieren.268 In einer Pa263

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S. Hardie 1996, S. 227; Hunter 1999, S. 149f.; ferner Lawall 1967, S. 78 u. 106. S. auch den Exkurs in Anschluss an Abschnitt A.I.1.1. Larson 2001 nennt Theokrits Nymphen „rustic counterparts of the Muses“ (ebd., S. 52). Diese Ausgestaltung ist bedeutsam, wie in Kapitel B.I deutlich werden wird. Vgl. auch S. OT 1108 Νυµφᾶν Ἑλικωνίδων; zur Verteidigung dieser Lesart s. unten Abschnitt B.II.4.2.2 Anm. 421. Vgl. Ant. Lib. 32, 1 (nach Nikandros): […] ἐδίδαξαν ὑµνεῖν θεοὺς καὶ χορεύειν. S. Xanth. BNJ 765 F 16a = Nic. Dam. FGrH 90 F 15 = St. Byz. s. v. Τόρρηβος. Für die Argumentation, nach der der Inhalt des Fragments auf Xanthos zurückzuführen sei – Stephanos von Byzanz nennt lediglich Nikolaos von Damaskos als seine Quelle –, s. Annalisa Paradiso 2018 zu BNJ 765 F 16a. S. ebd. für weitere Stellen, die Torrhebos/Toroibos als Finder und Erfinder im Bereich der Musik zeigen. Vgl. auch Larson 2001, S. 200. Vgl. Nic. Dam. FGrH 90 F 15 = St. Byz. s. v. Τόρρηβος; Schol. Theoc. 7, 92; auch Hsch. s. v. νύµφαι (ν 713 Latte), dort jedoch allgemein, ohne Hinweis auf einen lydischen Kontext. Dass andersherum die Musen bei den Lydern auch Nymphen hießen, steht bei Phot. s. v. νύµφαι (ν 286 Theodor.) und Suid. s. v. νύµφαι (ν 588 Adler) Vgl. auch Larson 2001, S.200 mit Anm. Vgl. Epich. fr. 39 Kassel-Austin (Bd. 1, S. 34 PCG) (= Tz. ad Hes. Op. 6 [Bd. 2, S. 25, Z. 13-15 Gaisford]): Ἐπίχαρµος δὲ ἐν τῶι τῆς Ἥβης γάµωι

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rade der Hochzeitsgäste bringen sie, soweit lässt sich rekonstruieren, wie auch Poseidon Fisch als Gabe für das Hochzeitsmahl.269 Die passend gewählten Musennamen gewinnen in diesem Kontext ebenso eine komische Pointe wie die Namen der Eltern.270 Larson äußert ferner die These, dass in ursprünglich-thrakischem Kontext die Musen in Genealogien an die Stelle von Nymphen treten könnten – als „mothers of primordial heroes“271. Sie knüpft dies an die Beobachtung, dass die berühmten Musensöhne – Linos, Orpheus, Thamyris, Rhesos – thrakische Helden sind, in deren genealogischen Mythen zudem in manchen Varianten auch Nymphen und Flussgötter auftreten.272 Der Fall des Musensohnes Rhesos fördere diese These besonders, da dieser ein Krieger und König, nicht aber ein Dichter oder Sänger sei.273 Darüber hinaus gibt es im frühen Epos einige namentliche Überschneidungen zwischen den beiden Gruppen von Göttinnen.274 Nymphen und Musen erscheinen bei manchen Autoren auch im Verbund: So sind die Töchter des Porthaon und der Laothoe – Eurythemiste, Stratonike und Sterope – in Hesiods Frauenkatalog sowohl Gefährtinnen der Nymphen als auch der Musen; dies schafft zwischen den beiden

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ἑπτὰ λέγει, θυγατέρας Πιέρου καὶ Πιµπληΐδος νύµφης, Νειλοῦν Τριτώνην Ἀσωποῦν Ἑπταπόλην Ἀχελωΐδα †Τιτόπλουν† καὶ Ῥοδίαν. Das EpicharmFragment ist somit das früheste Zeugnis für die besonders ab hellenistischer Zeit so prominente Verbindung zwischen den Musen und der pierischen Quelle Pimpleia (vgl. Mojsik 2011a, S. 187; 2011b, S. 51; oben Abschnitt A.I.1.2). – Bezüge zu Flüssen weisen auch zwei der drei Musennamen in Eumel. fr. 17 Bernabé = Tz. ad Hes. Op. 1 (Bd. 2, S. 25, Z. 14f. Gaisford) auf; vgl. Decharme 1869, S. 29; Mayer 1933, S. 689; Mojsik 2011a, S. 197 u. 2011b, S. 65. S. auch Hermann 1827. Vgl. Olson 2007, S. 42 zu Epich. A2-A5; Mojsik 2011a, S. 186 u. 2011b, S. 49. Die Pointe besteht in der Verbindung von Flüssen und Fisch und darin, dass Pieros und Pimpleia – eponymer Held bzw. eponyme Nymphe der Musenlandschaft Pieria – über die Etymologie als „Fat and Fullness“ ihr Übriges dazutun (s. Olson 2007, S. 42 zu Epich. A2-A5, das Zitat ebd.; vgl. Mojsik 2011a, S. 187 u. 189; 2011b, S. 49 u. 53; 2018, S. 73). Larson 2001, S. 174. Vgl. ebd., S. 173f. Vgl. ebd., S. 174. S. Otto 1961, S. 20; Camilloni 1998, S. 25f.

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Gruppen eine Zusammengehörigkeit.275 Schon in der Odyssee beklagen die Musen zusammen mit den Nereiden den toten Achill, ein Motiv, das auch in anderen Werken wiederkehrt.276 Ailios Aristides lässt Musen und Nymphen gemeinsam in und um Smyrna singen und tanzen.277 Himerios imaginiert die Musen, die er anruft, gemeinsam mit den kastalischen Nymphen im Tanz um die delphische Kastalia begriffen.278 4

Plan der vorliegenden Studie

Die Funktionsweise und Beschaffenheit der Verbindung zwischen Musen und Landschaft untersuchen, abseits von der bloßen Rekonstruktion eines religiös-mythologischen Bildes – dies ist das ausgegebene Ziel dieser Studie. Die in den vorausgehenden Abschnitten zusammengetragenen Zeugnisse illustrieren, in wie verschiedenartiger und produktiver Weise sich diese Verbindung vollziehen kann. Es haben sich mögliche Kontexte angedeutet: so zum Beispiel Inspiration unter 275

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Vgl. Hes. fr. 26, 10-12 Merkelbach-West: τα]ὶ̣ δο̣.[.] Νυµφάων καλλιπ[λο]κάµ[ω]ν̣ συν̣ο̣π̣ηδο̣ὶ | .[.] . . [. . .] . . . Μο[υ]σέων τε̣ [κα]τ̣’ ο[ὔρεα] β̣η[σ]σ̣ήεντ̣α | . [. . . . . .] . [.] ἔσχο[ν Π]α ̣ ρ̣νη̣σσο̣ῦ̣ τ’ ἄκρ̣α ̣ κάρηνα / „die […] der schöngelockten Nymphen Gefährtinnen | […] und der Musen auf den waldigen Bergen […] | hatten sie inne und auch die äußersten Gipfel des Parnass“. Vgl. Hom. Od. 24, 58-62; Aethiopis S. 69, Z. 20f. Bernabé; Q. S. 3, 58296. – Die Musen treten auch allein in der Klage um Achill auf: S. Pi. I. 8, 56a-58; [E.] Rh. 974-7; Lyc. 273-5; Arist. fr. 8, 640, 5 Rose = App. Anth. Epigrammata sepulcralia 82, 2. Vgl. Aristid. Or. 20, 21 Keil: χοροὶ δὲ Νυµφῶν καὶ Μουσῶν ἐν αὐτῇ τε καὶ περὶ αὐτὴν χορεύουσιν. Vgl. Him. Or. 48, 37: ὦ Διὸς παῖδες, ἴτε, ἴτε Μοῦσαι χρυσοπτέρυγοι […], εἴτε καθ’ Ἑλικῶνα καὶ Πιερίαν ἅµα Ἀπόλλωνι τὸν χορὸν ἐξελίττετε, γλυκύ τι καὶ θεῖον µέλος ἐπηχοῦσαι τῇ φόρµιγγι, εἴτε περὶ Δελφοὺς καὶ Κασταλίαν ὁµοῦ νύµφαις ἐκεῖ Κασταλίσιν ἀθύρετε, ἢ κατὰ τοὺς Ἀττικοὺς λειµῶνας ἱπτάµεναι στεφάνους τῷ Μουσηγέτῃ συµπλέκετε· / „Kinder des Zeus, kommt, kommt, ihr goldgeflügelten Musen, ob ihr längs des Helikons und Pierias mit Apoll den Tanz entfaltet, ein süßes und göttliches Lied zur Phorminx tönend, oder um Delphi und die Kastalia euch dort gemeinsam mit den Nymphen, den kastalischen, versammelt, oder auf den attischen Wiesen fliegend dem Musenführer Kränze zusammenflechtet!“

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A.I

Einleitung

Einfluss der Natur in Platons Phaidros, Wahrung der kosmischen Ordnung bei den Agrionia von Chaironeia und im kleinen ländlichen Heiligtum bei Argos, Spiel mit der Identität von Gottheiten durch Spiel mit den zugehörigen Landschaften im Falle der leibethrischen Musen bzw. Nymphen, etwa in der dichterischen Umsetzung. Diese Ansätze zeigen, dass es lohnenswert ist, unter Änderung der Perspektive das Konzept ‚Muse‘ von der Landschaft aus zu denken. Zugleich haben sich aber auch die Probleme offenbart, die das Material birgt: Die Zeugnisse lassen sich einerseits in ihrer Vielfalt nur schwer systematisieren. Andererseits bewirkt ihre große Disparatheit, dass definitive, konkrete Erkenntnisse im Großen nicht leicht zu erlangen sind – denn die vereinzelten oder nur vagen Indizien lassen eine tiefere odere sichere Interpretation einer bestimmten Erscheinungsform der Verbindung nur bedingt zu. In der Konsequenz erfolgt hier eine Verengung des Fokusses, die zugleich zu einer Öffnung in die Tiefe führt. Denn am fruchtbarsten, so das Ergebnis aus dem Überblick über das Material, muss die Erforschung der Verbindung von Musen und Landschaft dort gelingen, wo sie am ausführlichsten und vielschichtigsten bezeugt ist – am Helikon. Einige Forschungsarbeiten weisen bereits in diese Richtung. Der 1996 erschienene Sammelband Le montagne des Muses279 zeigt im Ganzen einen umfassenden kulturwissenschaftlichen Ansatz: Er enthält einzelne Beiträge zu Mythos, Literatur, Geschichte und Archäologie des Helikons. So verortet er letztendlich die Musen als literarische ebenso wie als mythologisch-religiöse Gestalten in ihrer konkreten Landschaft – zumindest, indem er die unterschiedlichen Aspekte zwischen zwei Buchdeckeln vereint. Die Arbeiten von Betsey A. Robinson sind gleichermaßen von Interesse:280 Sie befasst sich mit bestimmten griechischen Landschaften – etwa Quellen wie der korinthischen Peirene und Bergen wie dem Helikon oder dem Parnass – mit vornehmlich archäolo279 280

Hurst und Schachter 1996. Im Rahmen dieser Arbeit besonders relevant ist Robinsons Artikel zum Helikon und dem Tal der Musen von 2012; ebenso Robinson 2013 zu Helikon u. Parnass und 2016 zu ‚charismatic landscapes‘. Sie sind Vorarbeiten zu einer Monographie mit dem Titel Divine Prospects: Mounts Helicon and Parnassus in Ancient Experience and Imagination, deren Fertigstellung für die nächste Zeit angekündigt ist (vgl. https://as.vanderbilt.edu; letzter Zugriff am 15.10.2019).

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Plan der vorliegenden Studie

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gisch-anthropologischem Zugang, doch unter Verarbeitung literarischer und historischer Quellen. Sie untersucht dabei die vieldimensionale gegenseitige Einflussnahme der einzelnen Faktoren zur Wahrnehmung und Gestaltung der Landschaft. Diese von diesen beiden Beiträgen vorgegebene grundsätzliche Linie281 nimmt die vorliegende Arbeit auf, systematisiert, vervollständigt und erweitert sie jedoch an unterschiedlichen Stellen. So erfolgt zunächst eine systematische Verortung der Musen auf ihrem Berg, dem Helikon (Kap. A.II.). Dazu gerät sowohl die Rezeption in literarischen Quellen in den Blick als auch die ganz konkrete, materielle Ausprägung der Verbindung im Heiligtum am Fuße des Berges. Vor dieser Folie erfolgt im zweiten Teil der Arbeit anhand von drei Literaturinterpretationen eine ausführliche Ergründung der unterschiedlichen Facetten, in denen sich die Verbindung von Musen und Helikon ausprägen kann. Naturgemäß beginnt diese Ergründung in der Archaik bei Hesiods Theogonieprooimion (Kap. B.I.), in dem zum ersten Mal und mit großer Nachwirkung die helikonischen Musen in ihrer Landschaft agierend erscheinen. Sie setzt sich fort in der Klassik mit Euripides’ Herakles (Kap. B.II.), in dem die Göttinnen und ihr Berg zu einem weit über das Stück gespannten, sinnstiftenden Metaphernnetz gehören. Sie endet schließlich im Hellenismus – wo die Verbindung sich allmählich zum poetologischen Topos zu festigen beginnt – bei der böotischen

281

Auch Raoul Schrott (2000 u. 2014) kontextualisiert die Musen mit ihrer Landschaft am Helikon. Dies geschieht jedoch in spärlich fundierter und bisweilen assoziativer Weise, sodass die Beiträge nur am Rande berücksichtigt werden können. – Ein durchaus relevantes Forschungsprojekt deutet auch Tomasz Mojsik an: Er betätige sich im Rahmen „of the ‘geography of inspiration’ project, i.e. analyses of spatial references to the Muses as found throughout ancient culture“ (Mojsik 2018, S. 72). Sein 2018 erschienener Artikel zum Poseidipp-Fragment 118 Austin-Bastianini erlaubt einen ersten kleinen Einblick in diese Arbeit. – Ein weiteres aktuelles Projekt reiht sich ein: Auf der Mitteilungsseite des Center for Hellenic Studies in Harvard beschreibt Yannis Kalliontzis sein Vorhaben, philologische, epigraphische und archäologische Zeugnisse zum Musenheiligtum am Helikon zu sammeln und neu zu untersuchen (s. https://kleos.chs.harvard.edu; letzter Zugriff am 15.10.2019) – ganz im Sinne des ersten Teils der vorliegenden Studie also. In seiner ersten Phase arbeitet das Projekt offenbar noch mit archäologischem Schwerpunkt (vgl. unten Abschnitt A.II.3.1.1 Anm. 164).

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A.I

Einleitung

Dichterin Korinna, die in ihrem Lied vom Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon der Beziehung der Musen und ihres Berges eine neue Pointe verleiht (Kap. B.III.).

A.II Helikon 1

Helikon Hell schien die Märzsonne, hell blinkte der Schneegipfel; der Junge, der uns führte, entsetzte sich bei dem Gedanken, in den Schnee zu gehen. Das hätte uns nicht geschreckt, aber es war zu verlockend, nach der Wanderung unter den Lorbeerbüschen auf dem Grase zu rasten und den köstlichen Rotwein zu trinken, den die Nachfahren der Thespier bereiten. So ward es zu spät.1

So schildert Wilamowitz in der Rückschau seinen Besuch im thespischen Tal der Musen und zugleich das große Versäumnis: Hinauf auf den Helikon zur Musenquelle, der Hippoukrene, hat er es niemals geschafft; sein Bedauern ist groß.2 Manch anderen Reisenden der vergangenen Jahrhunderte zog es zum Helikon und mancher hat auch den Aufstieg gewagt – zu Fuß oder gar zu Esel.3 Man trinkt dankbar vom kühlen Wasser,4 lobt die Lieblich1 2

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Wilamowitz 1925, S. 110. Wilamowitz nennt das Versäumnis „eine Unterlassungssünde, die durch […] wiederholtes reuiges Bekenntnis nicht gesühnt werden kann“ (Wilamowitz 1928, S. 212); vgl. auch ders. 1925, S. 110. Zu Esel reitet Vischer 1857, S. 555f., und zwar todesmutig: „Da mein Courrier den Weg dorthin nicht kannte und er für Pferde nicht wohl zu machen ist, hatten wir unterwegs einen Bauern als Führer genommen, der seinen Esel mitbrachte, und während nun die Pferde mit dem Courrier beim Kloster zurückblieben, ritt ich nur von dem Bauern begleitet auf den Berg. Der Zagaraberg stand damals und steht vermuthlich noch jetzt in einem etwas schlechten Rufe hinsichtlich der Sicherheit, und ich hatte auf verschiedene Mahnungen hin den Morgen einen Gendarmen nach Erimokastro bestellt, um mich zu begleiten, aber auf die sehr beruhigenden Nachrichten, die ich dort erhielt, ihn gleich wieder entlassen, und ohne Bedenken vertraute ich mich, obgleich ganz unbewaffnet, dem unbekannten Führer an, ohne daß ich Ursache fand, es zu bereuen.“ Dies tun alle (z. B. Bursian 1862, S. 240; Ulrichs 1863, S. 99; Welcker 1865,

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A.II

Helikon

keit5 des Ortes – wenn auch nicht jedem die Flora gefällt6 –und preist die schöne Aussicht. Der Reisende hat gern das folgende Honestus-Epigramm parat,7 um es sich nach dem mühsamen Aufstieg zur Erquickung vorzusagen: Ἀµβαίνων Ἑλικῶνα µέγαν κάµες, ἀλλ’ ἐκορέσθης Πηγασίδος κρήνης νεκταρέων λιβάδων· οὕτως καὶ σοφίης πόρος ὄρθιος· ἢν δ’ ἄρ’ἐπ’ ἄκρον τέρµα µόλῃς, ἀρύσῃ Πιερίδων χάριτας. Beim Aufstieg auf den großen Helikon bist du ermüdet, aber du hast dich gesättigt | an den Nektarströmen der Pegasos-Quelle. | So auch ist der Weg der Weisheit steil; wenn du aber ans äußerste | Ende gelangst, schöpfst du die Freuden der Pieriden. AP 9, 230 (Honest.)

Dem Leser dieser Studie wird der Aufstieg erspart – oder: er wird um ihn gebracht. Denn dieses Kapitel beginnt beim Helikon als Berg der Musen.8 Der Helikon wird zunächst für sich, dann in Verbindung mit den Musen im Spiegel der literarischen Rezeption betrachtet.9 Im An-

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S. 39; Aravantinos 1996, S. 186; Robinson 2012, S. 247) ohne Klagen, außer Wallace 1974, S. 18: „When I climbed to the fountain in May 1973 the water was indeed exceedingly cold; its taste, however, was so foul that we drank it only because nothing else was available.“ Vgl. etwa Wallace 1974, S. 18: „Hippokrene is a delightful place and well worth the effort it takes to visit it. Situated just below the brow of the mountain in a coppice of fir trees […], the fountain is far from the bustle and noise of humanity.“ Vgl. Welcker 1865, S. 38f.: „Ein ovaler, grüner Platz, aber nicht grün von schönem Rasen, sondern von häßlich großen Blättern einer gelben Blume, dabei steinig und uneben, eröffnet sich, an welchem unten die Quelle.“ Man will es Welcker nicht übelnehmen, denn er hatte auch Pech mit dem Wetter: „Naß, im tiefsten Nebel, mühsam den Schirm durch die Fichten schleppend, welche die obere Region des Berges bedecken und den schmalen Pfad einfassen, diese felsigen Pfade hinab“ (vgl. ebd.). Vgl. so z. B. Ulrichs 1863, S. 99; Wallace 1974, S. 18; Lolling 1989, S. 626; Aravantinos 1996, S. 186f. S. dazu unten Abschnitt A.II.3.2.1.4. S. unten Abschnitt A.II.2. An dieser Stelle stehe auch ein Hinweis auf relevante bildliche Darstellungen: Die Münchener Lekythos Nr. Sch80 von der Hand des Achilles-Malers

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Der Berg der Musen

83

schluss geht es hinab ins Tal der Musen,10 wo das thespische Musenheiligtum liegt: Hier werden die materiellen Zeugnisse des Kultes in den Blick geraten und mit anderen verfügbaren Quellen kontextualisiert. So soll ergänzend ein Bild von der Verbindung aus Musen und Helikon entstehen. 2

Der Berg der Musen

Das Helikongebirge,11 das in seiner Gesamtheit eine Fläche von etwa 800 km2 einnimmt, bildet im Westen die Fortsetzung des südlichen Parnassgebietes. Es erstreckt sich in mehreren parallelen, von Furchen und Tälern durchzogenen Ketten bis hin zu der Linie im Osten, die durch die modernen Ortschaften Mási (am Ausläufer der nördlichen Kette) und Neochóri (am Ausläufer der südlichen Kette) gebildet wird. Geologisch grenzt der Helikon im Osten an die Tertiärtafel von Theben – Philippson spricht von einem „allmähliche[n] Untertauchen des Gebirges“12 darin. Im Norden reicht das Gebirge bis ans Becken des ehemaligen Kopaissees, im Süden trennt ein Streifen Land es vom Korinthischen Golf. Eine nord-südlich verlaufende Furche – markiert durch die Orte Ágios Geórgios im Norden und Domvréna im Süden – teilt das Gebirge in einen westlichen und einen kleineren östlichen Teil. Die höchste Erhebung insgesamt ist mit 1747 m die Paliovoúna im West-Helikon; die höchste Erhebung des östlichen Teils bemisst 1525 m.13 Diese Daten veran-

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12 13

(ca. 440 v. Chr.) mit sitzender Muse und ΗΛΙΚΟΝ-Inschrift wird unten in Abschnitt C zur Sprache kommen; für die Weihstele aus dem Tal der Musen, die eine Figur zeigt, die aufgrund der Weihinschriften als personifizierter Helikon gedeutet werden muss, s. unten Abschnitt A.II.3.2.1.4; für das Archelaos-Relief, dessen Berg-Szenerie u. a. mit Musen auch auf dem Helikon angesiedelt sein kann, s. Robinson 2013, S. 184-7; Caruso 2016, S. 120-5. S. Abschnitt A.II.3. Vgl. für diesen Abschnitt insbes. Philippson 1951, S. 434f.; für eine detaillierte Beschreibung der geographischen und geologischen Beschaffenheit des gesamten Helikongebietes s. ebd., S. 434-466; Farinetti 2011, Appendix II, S. 4f.; auch Bölte 1912. Philippson 1951, S. 454. Die Höhenangaben folgen der 2005 herausgegebenen Helikon-Wanderkarte des Anavasi-Verlags. Philippson 1951 gibt 1748 m (vgl. ebd., S. 442) bzw.

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A.II

Helikon

schaulichen die prägende Rolle des Helikons für Böotien – ebenso landschaftlich wie sozio-ökonomisch. Was nun die Musen betrifft, so ist es der östliche14 Helikon, der ins Blickfeld rückt. Seine hauptsächlich aus Schiefer und Kalkstein bestehende Hauptkette, der Zagarás im Süden, kann als Helikon im engeren Sinne gelten: Denn hier sind die Göttinnen angesiedelt. Der bereits erwähnte höchste Gipfel, die Motsára oder das Diakópi (1525 m),15 hat die Form eines nach Ostsüdost verlaufenden Kammes. Sein eindrucksvolles Profil thront pyramidenförmig über dem sogenannten Tal der Musen und der gesamten Ebene von Theben: „Der Hauptkamm ist ‚eine imposante, scharf geschnittene Berggestalt, besonders im Profil gesehen, wie er von der Thebanischen Ebene aus erscheint, deren Landschaftsbild nur durch ihn einen Zug von Großartigkeit erhält [...].“16 In diesem Abschnitt soll der Helikon als Berg im Spiegel antiker Zeugnisse betrachtet werden. Dazu erfolgt zunächst ein Durchgang durch die im weiteren Sinne geographischen Schilderungen des Strabon und des Pausanias (Abschnitt 2.1). Anschließend öffnet sich der Blick in die Dichtung, die die helikonische Landschaft, Hesiods Dichterweihe rezipierend, aufnimmt und gestaltet (Abschnitt 2.2). Es folgt ein Überblick über die literarische Verarbeitung der Verbindung von Musen und Helikon, die zumindest vordergründig nicht auf die Dichterweihe rekurriert (Abschnitt 2.3).

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1526 m (vgl. ebd., S. 452) an. S. dazu, insbesondere zu den Angaben dieses Abschnittes, Philippson 1951, S. 450-4. Die Nennung dieser verschiedenen Bezeichnungen erfolgt hier zum besseren Verständnis unterschiedlicher Forschungsbeiträge und zur Orientierung auf Landkarten. Dennoch sei erwähnt, dass sowohl die Bezeichnung Zagarás (Ζαγαράς) für den östlichen Helikon als auch die Bezeichnungen Motsára (Μοτσάρα) oder Diakópi (Διακόπι) für seinen höchsten Gipfel den Einwohnern der umliegenden Dörfer nicht geläufig sind: Sie sprechen mindestens seit sieben Jahrzehnten vom Elikónas (also „Helikon“) mit seinem östlichen Gipfel Siméa (Σηµαία, „Fahne“): Vgl. den Beitrag von „ΙΛΠ“ in der 14. Ausgabe des Lokalblattes Η Φωνή της Άσκρης („Die Stimme von Áskri“) vom zweiten Quartal 2016, S. 12. Philippson 1951, S. 452, eine frühere eigene Schrift zitierend. Vgl. ähnlich Bölte 1912, S. 1.

2

2.1

Der Berg der Musen

85

Der Helikon bei Strabon und Pausanias

Antike Quellen geben in unterschiedlicher Weise Auskunft über den Helikon. In diesem Abschnitt sollen jene im Vordergrund stehen, die in erster Linie den Berg für sich, unabhängig von den Musen, erwähnen oder betrachten. Die bezeugten Arten der Nutzung des Helikons im Alltagsleben entsprechen ganz den von Buxton angezeigten.17 So wird er als Weideland für Vieh ebenso genutzt wie als Jagdgebiet und Holzquelle; seine Pässe dienen als Reiserouten, er ist einbezogen in taktische Bewegungen in der Kriegsführung und zudem Standort von Heiligtümern.18 Insbesondere Strabon und Pausanias geben auch Beschreibungen geographischer und geologischer Merkmale des Helikongebirges. Ihre Darstellungen sollen im Folgenden vorgestellt werden. 2.1.1 Strabon Der erste Blick auf den Helikon selbst erfolgt von erhöhter Warte aus: Anlässlich der Beschreibung Akrokorinths gibt Strabon auch Auskunft über die Aussicht in verschiedene Himmelsrichtungen. Der Blick gen Norden zeigt Folgendes: ἀπὸ δὲ τῆς κορυφῆς πρὸς ἄρκτον µὲν ἀφορᾶται ὅ τε Παρνασσὸς καὶ ὁ Ἑλικών, ὄρη ὑψηλὰ καὶ νιφόβολα, καὶ ὁ Κρισαῖος κόλπος ὑποπεπτωκὼς

17 18

S. oben Abschnitt A.I.2.1. Vgl. die folgenden Stellen: Weideland: Paus. 9, 28, 1. Jagdgebiet: IThesp 270. Holzquelle: (Hes. Th. 427-36); (E. HF 240-2); Schol. Clem. Al. Protr. 1, 10, 2; Phot. Bibl. 321b. Heiligtümer: Str. 9, 2, 25; 10, 3, 17; Paus. 9, 29, 131, 6; 9, 34, 4; s. auch Veneri 1990 für den ‚Sonderfall‘ des Poseidon Helikonios. Für Routen und Kriegsführung s. Burn 1949 und Buckler 1996. – Darüber hinaus wird der Helikon in der Dichtung auch, gewiss teilweise konventionell, als wasserreich (Arat. 218f.; Hegesin. FGrH/BNJ F1, 4; Nonn. D. 13, 71f.; IG 12,7, 95, V. 9), waldig bzw. pflanzenreich (Call. Del. 81f.; Pae. Delph. 1, 1; AP 7, 407, 3 [Diosc.]; Schol. Hes. Th. 30) und blühend (AP 9, 523; Coluth. 23) bezeichnet. Außer Str. 8, 6, 21 u. 9, 2, 25 weiß auch Limen. 3 (Pai. 46, 3 Käppel) von schneeigen Gipfeln. – Eine Auswahl an literarischen Zeugnissen zum Helikon allg. präsentiert auch Argoud 1996.

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A.II

Helikon

ἄµφοτέροις, περιεχόµενος ὑπὸ τῆς Φωκίδος καὶ τῆς Βοιωτίας καὶ τῆς Μεγαρίδος καὶ τῆς ἀντιπόρθµου τῇ Φωκίδι Κορινθίας καὶ Σικυωνίας· Vom Gipfel aus sind Richtung Norden der Parnass und der Helikon zu sehen, hohe und schneebedeckte Berge, und der Krisäische Golf, wie er beiden zu Füßen erstreckt, umgeben von Phokis, Böotien, Megaris und dem Teil von Korinthia und Sikyonien, der der Phokis an der Bucht gegenüber liegt. Str. 8, 6, 21

Laut König, der sich mit der Behandlung von Bergen in Strabons Gesamtwerk befasst,19 entspricht diese Art der Beschreibung – vom Gipfel eines Berges aus zum einen, auf Berge als Landmarken zum anderen – Konventionen der geographischen Tradition: „Strabo is also typical in using the idea of viewing from a mountain-top as an image for this kind of cartographical gaze, with its implications of authorial control.“20 In die vorausgehende Beschreibung Akrokorinths ist ebenfalls ein Verweis auf den Helikon eingebunden. Strabon führt einen kleinen Aphrodite-Tempel, die Quelle Peirene und das Sisypheion unterhalb davon an. Bezüglich der Peirene nennt er nicht nur die Eigenschaften ihres Wassers, sondern gibt auch Auskunft über eine mythologische Tra19

20

König 2016 nimmt an, dass viele antike Texte – insbesondere geographische und historiographische – von „landscape narratives“ (ebd., S. 47) durchzogen seien, die sichtbar würden bei der Verfolgung entsprechender Motive durch ein ganzes Werk hindurch: „ [I]f […] we read from end to end, we can often see that successive moments of landscape depiction have a very complex intratextual relation with each other, and that they tell between them a developing story as each text goes on. In some cases these successive images complement each other, building cumulatively towards a coherent vision. In others we find provocative inconsistencies and contradictions which frustrate any simplistic generalizations about the role of mountains in ancient culture” (ebd., S. 47). Strabons Berge folgten so hauptsächlich, wenn auch nicht vollständig kohärent, zwei verschiedenen ‚narrativen‘ Strängen: „the first one links mountains with wild, uncivilized peoples; the second stresses the domestication of mountains. That contrast is part of an overarching division between civilized and uncivilized territory within Strabo’s work. […] In that sense the state of a territory’s mountains is one of the measures Strabo uses to define its position on the spectrum from savage to civilized.” (ebd., S. 48f.). König 2016, S. 52.

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Der Berg der Musen

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dition: An dieser Quelle habe Bellerophon den Pegasos gefangen, als der gerade daraus trank. Die Erwähnung des Pegasos nun bringt die Hippoukrene auf dem Helikon ins Spiel: Dieser habe die Hippoukrene auf dem Helikon durch einen Hufschlag entspringen lassen.21 König stellt den kartographischen vor dem hier anklingenden lokalhistorischen Impetus in den Vordergund: The references here to religious culture and mythical stories and their place in the landscape brings Strabo in line with the traditions of local history we find in Pausanias a century and a half later. But it is mapping above all that interests him here. The passage suggests that climbing mountains could have been a practical help to geographical writers like Strabo. But surely more important than the data he can gather when he is standing on the summit is the fact that it gives him a way of imagining the world, spread out before him, and particularly the other mountains, which are so prominent and so helpful as boundary markers and regional landmarks.22

Es ist zu bemerken, dass beide Interessen in dieser Passage eine interessante Verbindung eingehen: Denn Pegasos, der erst an der Peirene auf Akrokorinth imaginiert wird und gleich darauf hufschlagend auf dem Helikon, nimmt gewissermaßen den schweifenden Blick des Kartographen voraus: Aus der Sicht auf den Helikon in Vogelfluglinie wird eine Sicht in Pegasosfluglinie. Für die zweite Beschreibung des Helikon gibt die Auseinandersetzung mit Thespiai Anlass:23 Zunächst bestimmt Strabon die Lage der Stadt in Bezug auf den Helikon und den Krisäischen Golf, um dann über einige Orte innerhalb der Chora von Thespiai Auskunft zu geben. Daraufhin gerät der Helikon selbst in den Blick, zunächst bezüglich seiner geographischen Lage: Seine nördlichen Teile schlössen sich an die Phokis an, ebenso zum Teil sein Westen, der dem letzten phokischen Hafen – dem nicht ohne Widersprüche zu identifizierenden Mychos24 – 21

22 23 24

Vgl. insgesamt Str. 8, 6, 21. Für den Mythos um die Entstehung der Hippoukrene s. unten Abschnitt A.II.2.2.3. König 2016, S. 53. S. Str. 9, 2, 25. Vgl. Wallace 1979, S. 102 zu Str. 9, 2, 25: „In this passage and in 9.3.13 Strabo certainly seems to be speaking of the harbor now called Ormos Zelitsas (Zaltsas), for it is the last harbor of Phokis and is the next harbor

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A.II

Helikon

gegenüber läge. Gerade oberhalb gegenüber diesem Hafen des Krisäischen Golfes lägen der Helikon und Askra, dazu Thespiai und sein Hafen Kreousa. Die nicht in allen Punkten nachvollziehbare Ortsbestimmung zeigt gleichwohl, dass Strabon unter dem Namen Helikon das gesamte Gebirge fasste.25 Eines von mehreren unpräzisen Momenten besteht darin, dass ausgerechnet eines der östlichsten Gebiete am Helikon – die Thespike – oberhalb des östlichsten phokischen Hafens angesiedelt wird.26 Der Gedankengang ist unter Umständen jedoch auch so aufzufassen, dass die Formulierung eine Verortung des Helikongebirges ermöglichen soll und die aufgeführten Orte in gewisser Weise als dem Helikon insgesamt zugehörig beziehungsweise als seine prägendsten Landmarken verstanden werden. Dass ausgerechnet Thespiai den Anlass für den kleinen Helikon-Exkurs gibt, offenbart dann einen assoziativen Zusammenhang zwischen dem Berg und der Stadt mit ihrer Chora. Dass wiederum der Musenkult mit seiner engen Bindung an den Berg und dem Patronat der Stadt diesen Zusammenhang generiert, ist wahrscheinlich: So kommt Strabon später auf ihn zu sprechen, ohne allerdings ausdrücklich die Rolle von Thespiai bezüglich des Heiligtums im Tal der Musen zu benennen.27

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after Antikyra, Marathos, and Pharygion Promontory. On the other hand it is very difficult to understand some of Strabo’s description. […]” Einige unvereinbare Elemente innerhalb von Strabons Beschreibung führt Wallace ebd., S. 102 zu Str. 9, 2, 25 auf. Für das unter dem Namen „Helikon“ gefasste Gebiet vgl. Bölte 1912, S. 1, der auch weitere Erwähnungen des Helikon bei Strabon für diesen Schluss einbezieht. Strabons Formulierung lautet: ὑπέρκειται γὰρ κατὰ τοῦτον µάλιστα τὸν λιµένα τοῦ Κρισαίου κόλπου [sc. das vorher erwähnte Mychos] καὶ ὁ Ἑλικὼν καὶ ἡ Ἄσκρη (καὶ ἔτι αἱ Θεσπιαὶ καὶ τὸ ἐπίνειον αὐτῆς ἡ Κρέουσα). Vgl. den bereits behandelten Abschnitt (s. oben Abschnitte A.I.1.3, 3.1 u. 3.2.3) in Str. 9, 2, 25, in dem Strabon die thrakische Herkunft des Musenkultes postuliert. Er beginnt mit folgenden Worten: ἐνταῦθα δ’ ἐστὶ τό τε τῶν Μουσῶν ἱερὸν καὶ ἡ Ἵππου κρήνη καὶ τὸ τῶν Λειβηθρίδων νυµφῶν ἄντρον· / „Dort [sc. auf dem Helikon] sind das Heiligtum der Musen, die Hippoukrene und die Grotte der Leibethrischen Nymphen“. Zwei der drei genannten Orte – das Musenheiligtum und die Hippoukrene – sind unmittelbar mit Thespiai assoziiert. Nach diesem Abschnitt zum Musenkult wendet sich Strabon wieder Thespiai zu – im Einzelnen dem berühmten Eros des Praxiteles und dem Zustand vom Thespiai seiner Zeit in Vergleich zu ande-

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Der Berg der Musen

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Doch zunächst kehrt Strabon nach einigen Bemerkungen zu Orten an der Küstenlinie des Krisäischen Golfes zum Helikon selbst zurück: ὁ µὲν οὖν Ἑλικὼν οὐ πολὺ διεστηκὼς τοῦ Παρνασσοῦ ἐνάµιλλός ἐστιν ἐκείνῳ κατά τε ὕψος καὶ περίµετρον: ἄµφω γὰρ χιονόβολα τὰ ὄρη καὶ πετρώδη, περιγράφεται δ’ οὐ πολλῇ χώρᾳ. Der Helikon nun, der nicht weit weg ist vom Parnass, ist jenem in Bezug auf Höhe und Umfang ebenbürtig: Beide Berge nämlich sind schneebedeckt und felsig und werden von nicht viel Land umschrieben. Str. 9, 2, 25

Strabons Vergleich von Helikon und Parnass erinnert an den ersten Blick auf die beiden Berge von Akrokorinth aus. Die Höhe der Berge sowie ihre schneebedeckten Gipfel bilden zu beiden Gelegenheiten Elemente des Vergleichs. Zudem wird in beiden Fällen die räumliche Nähe – in 8, 6, 21 induziert dadurch, dass sie gemeinsam Teil der Aussicht sind; in 9, 2, 25 ausdrücklich – als Anlass für die gemeinsame Betrachtung der Berge präsentiert. Auch führt im Voraus erneut die Betrachtung des Helikon zu Bemerkungen über den Krisäischen Golf. Der Blick des Kartographen leitet also auch hier die Beschreibung.28 Strabons direkter Vergleich in der vorliegenden Passage jedoch erweist sich, zumindest was die Höhe betrifft, als nicht korrekt: Der höchste Gipfel des Helikongebirges kann, wie schon häufig festgestellt, mit seinen 1747 Metern kaum mit dem 2457 m hohen Parnass in Konkurrenz treten.29 Hinter

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ren böotischen Städten. Als Landmarke zur Orientierung des Kartographen erscheint der Helikon auch bei der Verortung weiterer Ortschaften, deren Lage Strabon in Bezug auf den Berg beschreibt; s. Str. 9, 2, 14 (Nysa); 9, 2, 25 (Thespiai, Kreousa, Askre, Mychos); 9, 2, 28 (Thisbe); 9, 2, 29 (Koroneia), 9, 2, 33 (Onchestos); 9, 2, 38 (Lebadeia); 9, 3, 13 (erneut Mychos). Ähnlich verhält es sich mit Abschnitt 9, 2, 19, wo Strabon unter den Flüssen, die in den Kopaissee münden, auch zwei nennt, die auf dem Helikon entspringen. Es handelt sich – allerdings wohl irrtümlich – um den Permessos und den Olmeios; s. Wallace 1974, S. 18-21 und 1979, S. 80 zu Str. 9, 2, 19. Vgl. etwa Schmidt 1949, S. 1653, Wallace 1979, S. 203 zu Str. 9, 2, 25. Der Umfang der beiden Gebirge ist schon eher vergleichbar: Vgl. die Angaben von Philippson 1951, S. 390f. zum Parnass: „Im Ganzen kann man als Durchmesser des eigentlichen Parnaß 25-27 km von W nach O, etwa 20 km

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A.II

Helikon

Strabons geographisch geprägter Sicht mag sich daher hier eine von anderen Konventionen geprägte Vorstellung ihren Weg gebahnt haben: Schmidt stellt Strabons Vergleich in eine Reihe mit anderen Zeugnissen, in denen eine „der geographischen Vorstellung nach weit über die wirklichen Verhältnisse hinausgreifende Annäherung der beiden Berge“ zu beobachten sei, die einhergehe mit „einer ebenso engen ideenmäßigen Verknüpfung“:30 Der Musenberg Helikon und der Parnass, zunehmend in römischer Zeit nicht nur Berg Apolls, Dionysos’ und der Nymphen, sondern ebenfalls Musenberg, erfahren in ihrer Eigenschaft als heilige Berge eine reziproke Steigerung. Wie bereits gesehen, nimmt Strabon zweimal Bezug auf den Musenkult am Helikon; in beiden Fällen äußert er die Ansicht, dass es Thraker gewesen seien, die den Berg den Musen geweiht hätten sowie die leibethrische Grotte den Nymphen.31 Diese Aussagen können im Kontext dessen gesehen werden, was König „the […] narrative of the domestication of mountain landscape“32 nennt. Dieses Narrativ bildeten zusammen in Strabons Werk insbesondere die Passagen über die Berge Italiens und Griechenlands:33 „[H]ere mountains are characteristically associated with cities, and often enclosed within city walls; they are also associated with economic advantage and with local religious traditions.”34 Nicht nur nimmt Strabon mit seiner Theorie zur Herkunft des Musenkultes Bezug auf im und am Helikongebirge angesiedelte Kulte, sondern die

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34

von N nach S angeben, die Fläche zu etwa 500 qkm. […] Der Süden des Parnaß-Gebietes, einschließlich der Furche von Delphi, hat 20 km größte Breite und eine N-S-Erstreckung derselben Länge, eine Fläche von ungefähr 280 qkm; das ganze Parnaß-Gebiet demnach etwa 780 qkm.“ Der Helikon erstrecke sich über eine Länge von 40 km bei einer Breite von 18-20 km im westlichen und 11-15 km im östlichen Teil; der Flächeninhalt betrage etwa 800 km2 (vgl. ebd., S. 434f.). Vgl. Wallace 1979, S. 102 zu Str. 9, 2, 25. Vgl. Schmidt 1949, S. 1653-5; die Zitate ebd., S. 1654f. S. Str. 9, 2, 25 und 10, 3, 17 sowie oben Abschnitte A.I.1.3, 3.1 u. 3.2.3. König 2016, S. 61 und passim. S. König 2016, S. 49 u. 59-65. Das andere Narrativ konzentriert sich auf andere Regionen: „In the first category, for example in Spain or the Alps, he is interested in the standard ethnographic association between mountains and lack of civilzation; he is also interested in the way in which mountains can be brought under political and military control (ebd., S. 48f.). König 2016, S. 49.

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kultische Erschließung des Geländes wird zusätzlich einer fernen Vergangenheit zugeordnet.35 Auch die Erwähnung der Hippoukrene in 9, 2, 25 als berühmter Ort auf dem Helikon gehört zu diesem Narrativ. Die Stelle macht es sogar als solches sichtbar, da die zugehörige mythologische Tradition – die Entstehung der Quelle durch den Hufschlag des Pegasos – bereits an einer anderen Stelle des Stranges, beim ersten Blick auf den Helikon von Akrokorinth aus in 8, 6, 21, aufgeführt wurde. Darüber hinaus nennt Strabon den Helikon zusammen mit drei anderen Gebirgen – dem Kithairon, dem Parnassos und dem Pelion – und weiteren Regionen Griechenlands als Schauplatz von Mythen.36 2.1.2 Pausanias Pausanias’ Beschreibung des Helikon ist ähnlich wie die Strabons durch die geographische Lage motiviert: Sie schließt sich an die Auseinandersetzung mit Thespiai an und geht der Schilderung des Musenheiligtums voraus.37 Allerdings erfolgt Pausanias’ Annäherung auf der gewohnten 35

36 37

Vgl. allgemeiner ebd., S. 64f.: “In Greece, the pacification of the mountains lies in the very distant past: this territory is firmly separated from the rough zones of the world where the process of integration is either very recent or ongoing.” – Mojsik 2011a, S. 129-33 zeigt mögliche Mechanismen auf, die den griechischen Vorstellungen über die Rolle der Thraker in der Entwicklung der griechischen Kultur zugrunde liegen können: So sei es denkbar, dass, gemäß einer der von Paul Goetsch herausgestellten Funktionen des Bildes des Anderen oder Fremden, die Griechen auf die Thraker Elemente übertragen hätten, die eigentlich zum Frühstadium ihrer eigenen Zivilisation gehörten. Das Frühstadium der eigenen Kultur werde so übertragen auf eine als weniger zivilisiert angesehene Volksgruppe, der aber gleichwohl, nach der Logik des ‚power of the weak‘, besondere religiöse und magische Eigenschaften zugedacht seien. Es könne also eine Transformation der Vorstellungen stattgefunden haben, die die Griechen über ihre eigenen Vorfahren hatten, eine Ausstattung des Bildes mit Elementen des magischen Märchenlandes und anschließende Übertragung auf die ethnische Gruppe, die den Griechen in historischer Zeit zur Verfügung stand: die Thraker. – In jedem Fall deuten die Thraker hier also auf eine ferne, unter Umständen auch mythisierte Vergangenheit. Vgl. Str. 1, 2, 19. Thespiai ist beschrieben in Paus. 9, 29, 6 – 9, 27, 8, das Heiligtum im Tal

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Ebene, nämlich „the resolutely road-level, traveler’s vision“38: Die Bewegung führt aus der Stadt hinaus zum Musenheiligtum im Tal; doch die ersten Worte gelten dem eindrücklich präsenten Berg, der am hintersten Ende des Tals der Musen darüber thront. Ebenso wie für Strabon scheint auch für Pausanias eine unmittelbare Assoziation zwischen dem Helikon und Thespiai zu bestehen, denn er erscheint nur in diesem sehr begrenzten Ausschnitt des Werkes, den zudem Thespiai als strukturierende Einheit dominiert.39 Es liegt nahe, dass Pausanias unter dem Namen Helikon den Zagarás-Zug im östlichen Abschnitt des Gebirges fasst, den Helikon im engeren Sinne also. Pausanias charakterisiert den Helikon mit folgenden Worten: Ὁ δὲ Ἑλικὼν ὀρῶν τῶν ἐν τῆι Ἑλλάδι ἐν τοῖς µάλιστά ἐστιν εὔγεως καὶ δένδρων ἡµέρων ἀνάπλεως· καὶ οἱ τῆς ἀνδράχνου θάµνοι παρέχονται τῶν πανταχοῦ καρπὸν αἰξὶν ἥδιστον. λέγουσι δὲ οἱ περὶ τὸν Ἑλικῶνα οἰκοῦντες καὶ ἁπάσας ἐν τῷ ὄρει τὰς πόας καὶ τὰς ῥίζας ἥκιστα ἐπὶ ἀνθρώπου θανάτῳ φύεσθαι. καὶ δὴ καὶ τοῖς ὄφεσι τὸν ἰὸν ποιοῦσιν ἐνταῦθα ἀσθενέστερον αἱ νοµαί, ὥστε καὶ διαφεύγουσι τὰ πολλὰ οἱ δηχθέντες, ἢν ἀνδρὶ Λίβυι γένους τοῦ Ψύλλων ἢ καὶ ἄλλως προσφόροις ἐπιτύχωσι τοῖς φαρµάκοις.

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der Musen samt Hippoukrene in 9, 29, 1- 9, 31, 6. Pausanias’ Beschreibung des Heiligtums kommt an dieser Stelle nicht zur Sprache; sie wird unten in Abschnitt A.II.3.2.1 ausführlich behandelt. König 2016, S. 50. Der Gegensatz zu Strabons hauptsächlich kartographischer, auktorialer Sichtweise wird auch deutlich darin, dass Pausanias den Helikon nicht als strukturierende Landmarke verwendet: Er bestimmt einzig die Lage von Thespiai – keiner anderen Stadt – in Relation zu dem Berg (vgl. Paus. 9, 26, 6: τραποµένωι δὲ ἀπὸ τοῦ Καβειρίου τὴν ἐν ἀριστερᾶι καὶ προελθόντι ὡς πεντήκοντα σταδίους Θέσπια ὑπὸ τὸ ὄρος τὸν Ἑλικῶνα ὤικισται.). Strabon auf der anderen Seite lokalisiert zehn Ortschaften auf diese Weise (s. oben Anm. 28). Der erwähnten Beschreibung des Musenheiligtums und der Hippoukrene folgt ein kurzer Abschnitt über den Narkissos-Mythos (s. Paus. 9, 31, 7-9). Anlass dazu geben ein kleiner Fluss und die Narkissos-Quelle auf dem Gipfel des Helikon (vgl. 9, 31, 7). Es wird deutlich, dass damit die Auseinandersetzung mit dem Helikon abgeschlossen ist, denn ab 9, 32 wendet sich Pausanias anderen Städten zu, deren Lage er wiederum in Abhängigkeit von Thespiai angibt. Das Musenheiligtum erhält somit einen helikonischen, der Helikon einen thespischen Rahmen.

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Unter den Bergen Griechenlands gehört der Helikon zu jenen, die am fruchtbarsten und am meisten voll von fruchttragenden Bäumen sind; und die Sträucher des Östlichen Erdbeerbaums bieten den Ziegen die süßeste Frucht überhaupt. Die Leute, die um den Helikon wohnen, sagen, dass sogar alle Kräuter und Wurzeln auf dem Berg kaum zum Tode des Menschen gedeihen. Insbesondere machen die Weideflächen dort den Schlangen das Gift schwächer, sodass die Gebissenen in den meisten Fällen davonkommen, wenn sie einem Libyer vom Geschlecht der Psyller begegnen oder auch sonst an die zuträglichen Mittel gelangen. Paus. 9, 28, 1

Pausanias’ Beschreibung entspricht in seinen Hauptpunkten den Gegebenheiten: In der Tat ist das Helikongebirge durch seine langgestreckten Täler, die Kalksteinplateaus und zudem die Quellen, die an den Schnittstellen von Kalk und Schiefer entspringen, von großen Bereichen mit guten, urbaren Böden durchzogen; dies gilt insbesondere für den nordöstlichen Abschnitt und die Thespike mit dem Tal der Musen am Fuße des Helikon.40 Dort werden in heutiger Zeit vor allem Olivenbäume und Wein angebaut, das Land ist zum Teil zu Terrassen gestaltet;41 Jahrhunderte vor Pausanias mögen Hesiods Erga als Zeugnis für die landwirtschaftliche Nutzung des Tals gelten. Mit dem Wort ἥµερος bezeichnet Pausanias gemeinhein sowohl kultivierte Pflanzen als auch allgemein solche, die essbare Früchte tragen.42 40

41 42

Vgl. Farinetti 2011, App. II, S. 2: „The long wide valleys and the limestone plateaus, as well as the numerous springs forming where limestone and schist meet, create more or less wide fertile areas in the mountains’ interior.“ Für die Thespike s. ebd., S. 157. Vgl. auch Bölte 1912, S. 5. – Das Tal der Musen bzw. das darin befindliche Heiligtum wird in antiken Quellen oft mittels der Formulierung „ἐν Ἑλικῶνι“ oder „ἐν τῷ Ἑλικῶνι“ lokalisiert, also dem Bereich des Gebirges zugeordnet, vgl. IThesp 156, Z. 15-17; Nikokrates FGrH/BNJ 376 F1, Z. 3 u. F3a; Amphion FGrH/BNJ 387 F1 = Ath. 14, 26; Plu. Mor. 748f (Amatorius); Paus. 9, 29, 5; 9, 30, 1; 9, 31, 1; 9, 31, 3; Philostr. VA 4, 24; Callistr. Stat. 7, 1; Zos. 5, 24, 6; Schol. Hes. Th. 1. S. ferner Str. 9, 2, 25; Plu. Mor. 749c (Amatorius); Schol. Hes. Th. 64. Vgl. Rackham 1983, S. 295f.; Robinson 2012, S. 252. Als Gegenteil zu ἥµερος in Bezug auf Bäume erscheint bei Pausanias sowohl ἄκαρπος (vgl. 1, 21, 7; 8, 35, 8) als auch ἄγριος (vgl. 9, 19, 2). Er unterscheidet πίτυς ἀγρία (vgl. 5, 6, 4), die Aleppo-Kiefer Pinus halepensis, und πίτυς ἥµερος (vgl. 2, 10, 3; 6, 9, 1; 10, 13, 3), die Pinie Pinus pinea mit

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Zwar spricht Bölte dem Helikon des frühen 20. Jahrhunderts einen Reichtum an solchen Bäumen ab,43 und ἥµερα δένδρα im strengeren Sinne können in so großer Fülle wohl in der Tat nicht erwartet werden. Doch sieht Rackham etwa das weite Myrtendickicht um das frühere Kloster des Ágios Nikólaos im Musental – außergewöhnlich für Böotien und Zeichen von Wasserreichtum – als möglichen Nachfolger antiker ἄλση.44 Auch Walnussbäume, dazu „the largest and oldest olive-trees in inland Boeotia“ verzeichnet er dort.45 Am Nordhang des Zagarás am oberen Ende des Tals der Musen finde sich ein Ableger zentraleuropäischer Laubwälder mit Linden, Eichen, Manna-Eschen, Hainbuchen und Ahorn.46 Ιnsbesondere tritt auch der seltene, oft mit dem verwandten, weitaus häufigeren Westlichen Erdbeerbaum (Arbutus unedo, gr. κόµαρος) verwechselte Östliche Erdbeerbaum (Arbutus andrachne, gr. ἄνδραχνος u. ἀνδράχλη) nach wie vor am Helikon auf, vor allem in Macchienform in 500-900 m Höhe.47 Er bietet, wie das Gras-

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47

ihren essbaren Samen (s. auch LSJ s. v. πίτυς). Ausdrücklich zur Kategorie der ἥµερα δένδρα zählt er zudem Granatapfelbaum (vgl. 8, 37, 7) und Myrte (vgl. 8, 26, 1). Ausdrücklich nicht in diese Kategorie fällt hingegen die Kermes-Eiche πρῖνος (vgl. 9, 24, 5). Die Früchte von ἥµερα δένδρα dienen auch als Opfergaben (vgl. 7, 18, 3; 8, 37, 7; 8, 42, 11). Darüber hinaus ist das Getreide, das Triptolemos empfängt und aussät, als ἥµερος καρπός bezeichnet (vgl. 1, 14, 3; 7, 18, 2; 8, 4, 1). S. auch Rocchi 1996, S. 17. Vgl. Bölte 1912, S. 5: „Der Preis, den Pausanias IX 28, 1 dem H. spendet, ὀρῶν τῶν ἐν τῇ Ἑλλάδι µάλιστά ἐστιν εὔγεως […], gilt nur für den nordöstlichen Abschnitt zwischen Koroneia und Thespiai, und δένδρων ἡµέρων ἀνάπλεως ist gerade dieser heute durchaus nicht.“ Vgl. Rackham 1983, S. 303; 312; 315; 328; 333. Darüber hinaus ist auch Lorbeer, „curiously rare in Boeotia“ (ebd., S. 321) am und auf dem Helikon anzutreffen; vgl. ebd. 321. Ihn nennt schon Hesiod als Baumaterial für einen guten Pflug – neben Kermes-Eiche, Eiche und Ulme (vgl. Op. 427-36). Dazu Rackham ebd., S. 328: „[A]ll these still grow together there, uniquely in Boeotia.“ Vgl. Robinson 2012, S. 252. Vgl. Rackham 1983, S. 333; das Zitat ebd. Vgl. ebd., S. 320f. Dieser Ableger sei „of immense importance in the prehistory of Central and North-West Europe” (ebd., S. 321). Vgl. ebd., S. 303 u. 328 mit Anm. 101, auch S. 318 u. 324; Robinson 2012, S. 252f.

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land und andere Sträucher der helikonischen Macchie, auch den neugriechischen Ziegen wohl willkommene Nahrung.48 Die guten helikonischen Kräuter sind nicht nur aus Pausanias’ Bericht bekannt: Theophrast lobt sie ebenfalls und insbesondere – wie in der Folge auch andere antike Autoren – die Kreisblättrige Nieswurz (Helleborus cyclophyllus, gr. ἑλλέβορος µέλας).49 Ιmmer noch wächst sie hier neben anderen, auch endemischen Arten verschiedener Kräuter und Blumen.50 Auf der einen Seite also scheint Pausanias nur den Tatsachen gerecht zu werden, er präsentiert sogar Spezialwissen in Form des östlichen Erdbeerbaumes. Zugleich aber offenbart er einen einseitigen Blick, der keinesfalls den östlichen Helikon und das Tal der Musen in seiner Gesamtheit umfasst: Beispielsweise wechseln in den höheren Lagen einander Geröllhalden von hellem Kalkstein mit dunklen Tannenwäldern ab.51 Hier ist der Berg also durchaus nicht als „εὔγεως“ (Paus. 9, 28, 1) zu bezeichnen, im Gegenteil trifft Strabons Charakterisierung als „πετρώδη[ς]“ (Str. 9, 2, 25) zu.52 Auch werden schon zu Pausanias’ Zeiten etwa die allgegenwärtigen Sträucher der stacheligen KermesEiche einen Teil der unteren Lagen dominiert haben.53 Die Mildheit der 48 49

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Vgl. Rackham 1983, passim. S. Thphr. HP 9, 10, 3: Φύεται δὲ ὁ µὲν µέλας [sc. ἑλλέβορος] πανταχοῦ· καὶ γὰρ ἐν τῇ Βοιωτίᾳ καὶ ἐν Εὐβοίᾳ καὶ παρ’ ἄλλοις πολλοῖς· ἄριστος δὲ ὁ ἐκ τοῦ Ἑλικῶνος, καὶ ὅλως τὸ ὄρος εὐφάρµακον. / „Die Kreisblättrige Nieswurz wächst überall, sowohl in Böotien als auch auf Euböa und bei vielen anderen. Die beste ist aber die vom Helikon; der Berg ist auch insgesamt reich an Heilkräutern.“ Vgl. Dsc. 4, 162, 2; Orib. Syn. 2, 56, 11; Aët. 2, 196; auch Plin. nat. 25, 49. Vgl. Rackham 1983, S. 318f.; 322; 328; Robinson 2012, S. 252. Vgl. Rackham 1983, S. 318-20; Robinson 2012, S. 252. Gemäß Bölte 1912, S. 5 ist „πετρώδης“ als Gegenteil zu „εὔγεως“ aufzufassen. – Zur Ausgewogenheit der Darstellung vgl. auch eine gemäßigte moderne (wenn auch nunmehr veraltete) Beschreibung, allerdings mehr zum Tal der Musen: „Diese Gegend, so reich an Erinnerungen an den Musenkult und an HESIOD, den großen Künder der griechischen Götterwelt, ist heute, nüchtern betrachtet, keineswegs anziehend; die Berge sind einfach geformt, der obere Teil des Tales steinige Weide, der untere Ackerland, nur wenige Einzelbäume sind von den gepriesenen Hainen übrig.“ (Philippson 1951, S. 453). Zur Verbreitung der Quercus coccifera am Helikon s. Rackham 1983, S. 302

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helikonischen Kräuter schließlich, die die Mildheit des helikonischen Schlangengiftes bedinge, zeigt endgültig die rein-positive Perspektive auf. In der Folge lässt Pausanias sich, bevor er zur Beschreibung des Musenheiligtums54 schreitet, zu einem Exkurs über die Auswirkung der jeweiligen Nahrung auf das Gift von Schlangen ein und führt jeweils ein Extrembeispiel von den beiden Enden der Skala an (Paus. 28, 2-4): Unweigerlich geraten das phönizische Bergland – dort die wildesten Schlangen und das tödlichste Gift (Paus. 9, 28, 2)55– und das Araberland mit seinen Balsamsträuchern und heiligen Schlangen (Paus. 9, 28, 3f.) zu Vergleichsgrößen für den Helikon. Zu Recht erkennt daher Rocchi in Pausanias’ Darstellung mythisierende Elemente:56 Der Verweis auf die Fruchtbarkeit des Berges und die große Fülle fruchttragender Bäume wecke Assoziationen zum mythi-

54 55 56

u. 320. Sie gehört zu den oben in Anm. 44 erwähnten Hölzern, die Hesiod für den Bau eines Pfluges anrät (Hes. Op. 436). Die πρῖνος zählt Pausanias selbst, daran sei erinnert, zu den Bäumen, die nicht als ἥµερος zu bezeichnen sind (Paus. 9, 24, 5). Bei diesen Gegenüberstellungen sei gleichwohl auch immer auf ihre bedingte Gültigkeit hingewiesen: Vgl. Rackhams wiederholt (1990; 1996) geäußerte Warnung vor voreiligen Schlüssen auf die Gestalt antiker Landschaften. S. dazu unten Abschnitt A.II.3.2.1. Vgl. Paus. 9, 28, 2. S. Rocchi 1996; vgl. Robinson 2012, S. 253. Pausanias’ Helikonbeschreibung ist außerdem auch insofern bemerkenswert, als er selten natürliche Begebenheiten der Landschaft beschreibt, die keinen Bezug zu einer mythologischen Tradition oder allgemein zu Kultur aufweisen; s. Birge 1994, S. 233; vgl. ähnlich Jacob 1993, S. 33f. Andererseits steht die Helikonbeschreibung in 9, 28, 1-4 wiederum in Einklang mit den wenigen so gearteten Beschreibungen, die in Pausanias’ Werk zu finden sind: „Those that he includes mainly involve locations of sources of water, areas with good hunting, sitings of towns and shrines, and the like. Such descriptions concern aspects of the countryside that are as significant and consequential to local inhabitants as they are to the travelling author of a descriptive geography“ (Birge 1994, S. 233). Die Fruchtbarkeit der helikonischen Erde, die Fülle von Bäumen mit essbaren Früchten, das gute Weideland für Kleinvieh sind in der Tat Elemente, die dem Lebensunterhalt der Umwohner dienen. Die Potenzierung positiver Eigenschaften (inklusive der Milde des Giftes helikonischer Schlangen) weist aber über eine nüchterne Bestandsaufnahme hinaus.

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schen Motiv vom goldenen Zeitalter, in dem die Erde von sich aus Nahrung hervorbringe.57 In das gleiche Schema passe der Erdbeerbaum, der hier die „süßeste Frucht“ (Paus. 9, 28, 1: καρπὸν […] ἥδιστον) hervorbringe: Dem eigentlich wilden Strauch komme das sonst mit ἥµερος gepaarte Adjektiv ἡδύς an sich nicht zu.58 Die Abwesenheit von Giftpflanzen schließlich mache den Berg zu einem mythisch anmutenden „lieu salutaire“59, die Schlangen wiesen auf Eigenschaften von ‚εὐδαίµονες χώραι‘.60 So erscheint der Helikon insgesamt als „un espace ayant des prérogatives que la géographie sacrée des Grecs attribue aux régions qui touchent au ciel, et par leur position liminale dans le cosmos et par la visite irrégulière des dieux“61 im Hier und Jetzt: nicht nach Buxton ‚outside‘ und ‚wild‘,62 sondern im Gegenteil ἥµερος in jeder Hinsicht.63 2.2

Die Topographie der Dichterweihe

Mit am Anfang der griechischen Literatur steht Hesiods Theogonie. Der archaische Dichter beginnt sie mit einem Hymnos – einem Hymnos an die Musen (Hes. Th. 1-115). Darin schildert er nicht nur das Tun der Göttinnen auf dem Helikon (Th. 1-21), sondern auch seine ‚eigene‘ Begegnung mit ihnen: Als er am Fuße des Berges seine Schafe hütete, erschienen sie ihm und machten ihn zum Dichter (Th. 22-35). Hesiods berühmte Dichterweihe ist in der Folge vielfach rezipiert worden, ebenso die einzelnen Örtlichkeiten seiner helikonischen Musenlandschaft. Während dem Prooimion im Ganzen ein eigenes Kapitel dieser Arbeit gewidmet ist,64 soll es hier um die Topographie von Hesiods Dichterweihe in der literarischen Rezeption gehen. Die folgenden Verse sind dafür relevant: 57

58 59 60 61 62 63

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Vgl. Rocchi 1996, S. 19, mit Anm. 21f. für die entsprechenden Darstellungen in der antiken Literatur. Vgl. ebd., S. 19f. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 21f. Ebd., S. 22. Vgl. oben Abschnitt A.I.2.1. Vgl. Rocchi 1996, S. 23. ἥµερος ist der Helikon auch in AP 7, 71, 3 (Gaet.) genannt. S. unten Kapitel B.I.

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Μουσάων Ἑλικωνιάδων ἀρχώµεθ’ ἀείδειν, αἵ θ’ Ἑλικῶνος ἔχουσιν ὄρος µέγα τε ζάθεόν τε καί τε περὶ κρήνην ἰοειδέα πόσσ’ ἁπαλοῖσιν ὀρχεῦνται καὶ βωµὸν ἐρισθενέος Κρονίωνος· καί τε λοεσσάµεναι τέρενα χρόα Περµησσοῖο ἢ Ἵππου κρήνης ἢ Ὀλµειοῦ ζαθέοιο ἀκροτάτῳ Ἑλικῶνι χοροὺς ἐνεποιήσαντο καλοὺς ἱµερόεντας, ἐπερρώσαντο δὲ ποσσίν. [...] Αἵ νύ ποθ’ Ἡσίοδον καλὴν ἐδίδαξαν ἀοιδήν, ἄρνας ποιµαίνονθ’ Ἑλικῶνος ὑπὸ ζαθέοιο.

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Mit den helikonischen Musen lasst uns das Lied beginnen, | die den großen und durchgötterten Berg des Helikon innehaben | und um die veilchendunkle Quelle und den Altar des großmächtigen Kronossohnes tanzen mit sanften Füßen. | Und erst waschen sie ihre zarte Haut im Permessos | oder der Hippoukrene oder im durchgötterten Olmeios | und veranstalten dann schöne liebreizende Tänze ganz oben auf dem Helikon, | sie schwingen sich herum mit ihren Füßen. [...] (22) Die haben Hesiod einmal schönen Gesang gelehrt, | als er seine Schafe hütete am Fuße des durchgötterten Helikon. Hes. Th. 1-8 u. 22f.

Zeusaltar, Permessos, Hippoukrene, Olmeios – dies sind die Komponenten, aus denen sich Hesiods Helikon, der Helikon der Musen, zusammensetzt. Sie sollen im Folgenden jeweils zunächst eine Verortung in der realen Landschaft erfahren und dann im Spiegel der Rezeption betrachtet werden. 2.2.1 Der Altar Der „Altar des großmächtigen Kronossohnes“ (Hes. Th. 4: βωµὸν ἐρισθενέος Κρονίωνος) ist die unscheinbarste Größe in Hesiods Helikon-Landschaft; er hat das leiseste Echo hervorgerufen.65 Gleichwohl ist eine Verortung möglich – hatte Hesiod denn einen konkreten Altar im Sinn: Vom höchsten Gipfel des Zagarás erstreckt sich ein Kamm auf einer Länge von 1,6 km in Richtung Osten. Auf dem östlichsten Punkt 65

Im Grunde verweisen nur die Hesiod-Scholien auf ihn.

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dieses Grats finden sich die Überreste eines antiken Gebäudes,66 das in späterer Zeit zu einer dem Propheten Elias geweihten Kapelle umfunktioniert wurde (Abb. 1).67 Aravantinos68 rekonstruiert ein Gebäude mit rechteckigem Grundriss von zehn Metern Länge und fünf Metern Breite, annähernd auf einer 66

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Irrtümlich gibt Aravantinos 1994, S. 283 an (und ebenso 1996, S. 188), die Struktur befinde sich genau auf dem höchsten Gipfel und damit folglich am westlichen Ende des besagten Bergkammes. Dazu stehen zahlreiche Beschreibungen im Widerspruch, die offensichtlich dieselbe Stätte meinen. Am präzisesten verortet sie Vischer 1857, S. 557: „Auf dem nordöstlichen Vorsprunge des Gipfels, der zwar nicht der höchste Punkt ist, aber die freieste Umschau gegen Norden und Osten gewährt“. Die korrekte Lage ergibt sich zumeist aus den Angaben relativ zur Lage der Hippoukrene (des heutigen Krío pigádi, vgl. dazu unten Abschnitt A.II.2.2.3). Diese befindet sich am Nordhang des Kammes, leicht westlich unterhalb der antiken Gebäudestruktur: Vgl. Vischer 1857, S. 557; Bursian 1862, S. 239; Hitzig und Blümner 1907, S. 487; Frazer 1965, V, S. 158; Sittig und Bölte 1913, S. 1853 u. 1857; Burn 1949, S. 323; Wallace 1974, S. 16 u. 23f.; Lolling 1989, S 136; Schrott 2000, S. 160 u. 167. Dies entspricht auch der Karte 2 bei Wallace 1974, S. 13 und der 2005 herausgegebenen Helikon-Wanderkarte des AnavasiVerlags, zudem der ebenfalls sehr genauen Verortung auf der Homepage des „Vereins der Fortschrittler von Askri“ (Σύλλογος Φιλοπροόδων Άσκρης: vgl. www.hsiodos.gr; letzter Zugriff am 20.10.2017); auch die Verfasserin kann die Richtigkeit durch Autopsie bestätigen. Demnach liegt das antike Gebäude in etwa 1400 m Höhe, nahe bei dem durch eine Säule markierten Trigonometrischen Punkt (1401 m) des Hellenic Military Geographical Service (Γεωγραφική Υπηρεσία Στρατού = ΓΥΣ), den Anwohnern unter dem Namen Ekklisía oder Profítis Ilías bekannt. Aravantinos hält ihn fälschlich für die 1525 m hohe Motsára. – In jedem Fall nicht korrekt ist Carusos Beschreibung, die Struktur sei „a nord della fonte Ippocrene“ (Caruso 2016, S. 107) zu finden. Auch von der Kapelle zeigen sich dem modernen Wanderer nunmehr nur Ruinen. Aravantinos 1994, S. 283 gibt sogar an, dass sich von einer Nutzung als Kapelle bei den archäologischen Arbeiten im Jahr 1994 keinerlei Spuren finden lassen konnten. Die Bezeichnung entspringt der lokalen Tradition und war auch den Griechenlandreisenden des 19. und 20. Jahrhunderts bekannt. Systematische archäologische Arbeiten erfolgten zum ersten Mal im Jahre 1994 unter der Leitung von Vassilios Aravantinos, nachdem die Nachrichten von Raubgrabungen die neunte Ephorie erreicht hatten. Die Ergebnisse präsentiert Aravantinos knapp zunächst in seinem Bericht im Archaiologikon

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Nord-Süd-Achse ausgerichtet. Sein Fundament passe sich weitgehend den Linien des teilweise bearbeiteten Kalksteingrunds an. Es sei in lesbischem Polygonalstil gefügt, wie auch der relativ gut erhaltene Eingangsbereich nahe der südwestlichen Ekke des Gebäudes; nicht erhalten sei die Nordmauer. Das Gebäude sei in zwei Räume unterteilt, durch eine Türöffnung in der Trennmauer verbunden.

Abb. 1: Ansicht der Gebäudestruktur oberhalb der Hippoukrene von Westen aus; im Hintergrund die ΓΥΣ-Säule (September 2018)

Im hinteren, nördlichen Raum wurden unter anderem in einer spaltähnlichen Öffnung zahlreiche Scherben mit Graffiti gefunden. Zudem sei eine große Zahl Dachziegel aus archaischer und klassischer Zeit zu Tage gefördert worden. Aravantinos plädiert für eine archaische Datierung des Gebäudes; Grundriss und Lage legten zudem die Interpretation als Wachturm nahe.69

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Deltion 49 B’1 1994, S. 283f. und zusätzlich in seinem Artikel im Band Le montagne des Muses 1996, insbes. S. 188f.; s. dazu auch den Exkurs am Ende dieses Abschnitts. Die Informationen für die folgende Beschreibung sind diesen beiden teilweise komplementären Artikeln entnommen. Auch Caruso 2016, S. 107f. gibt eine nicht in jedem Detail korrekte Beschreibung. Aravantinos kündigt 1996, S. 192 neuerliche Arbeiten an; Hinweise auf solche lassen sich jedoch in der Forschungsliteratur nicht finden. S. insbes. Aravantinos 1994, S. 283 und 1996, S. 189f.; ferner Wallace 1974,

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Eine kultische Bedeutung und Nutzung in archaischer Zeit zumindest des Ortes ist aber dennoch erwiesen. Unter den gefundenen Scherben befindet sich das Fragment eines korinthischen Aryballos aus dem 6. Jh. v. Chr. sowie eine Scherbe mit dem Graffito ΙΑΡΟΝ ΤΟΙ ΔΙ[Ι].70 Letztere belegt somit eine Verehrung des Zeus auf dem höchsten Punkt des östlichen Bergkamms. Aus dem Bereich der Gebäudestruktur stammt außerdem das Fragment vom Rand eines Bronzekessels.71 Es trägt eine Weihinschrift, deren Buchstabenformen auf das späte siebte Jh. v. Chr.

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S. 24. Bonanno-Aravantinou 2009, S. 261 unterstützt die These von einem für militärische Zwecke genutzten Gebäude, gibt aber als Datierung des Gebäudes das vierte Jahrhundert v. Chr. an; die Quelle ist nicht ersichtlich. S. dazu den Exkurs am Ende dieses Abschnitts. S. Aravantinos 1996, S. 188 für den Aryballos (und auch die Scherbe?), 1994, S. 283 für die Scherbe (= SEG 47 [1994] Nr. 484). Die oben erwähnten weiteren Scherben mit Graffiti und anderen Keramikfunde aus dem Hohlraum im Inneren des hinteren Zimmers werden nicht näher beschrieben: „A study of them will show if they are of secular or religious character“ (Aravantinos 1996, S. 19). Die Ergebnisse einer solchen Untersuchung sind bisher nicht veröffentlicht. Möglicherweise entstammen Carusos Informationen, es seien „numerosi“ korinthische Aryballoi gefunden worden und die Scherbe mit der besagten Inschrift sei auf das 6. Jh. zu datieren (s. Caruso 2016, S. 108 u. 118), Kenntnissen über eine Analyse: Denn bei Aravantinos 1996, S. 188 scheint sich diese Datierung nur auf das (eine!) Aryballosfragment und nicht auch auf das nicht näher spezifizierte „one piece with graffiti“ (ebd.) zu beziehen; im ersten Bericht 1994, S. 283 ist etwas allgemeiner nur von der archaischen Zeit die Rede. Es handelt sich um das Stück mit der Inventarnummer 10850 im Nationalmuseum Athen; vgl. Plassart 1926, S. 385-7 Nr. 1, IThesp 273. Plassart verzeichnet in der Veröffentlichung des Fundes „trouvé [...] au sommet du Mont Sagara (Hélicon), près de Kryo-Pigadi (Source Hippocrène)“ (1926, S. 385). Diese Angabe könnte zu der Annahme führen, das Fundstück stamme von der Lichtung der Hippoukrene (vgl. etwa Schrott 2000, S. 166f.; Robinson 2012, S. 250f.), während es aber tatsächlich in den Kontext des Gipfels oberhalb der Hippoukrene, dem Umfeld der Gebäudestruktur also, gehört: In seinen unveröffentlichten Notizen berichtet Jamot, das Fragment sei ihm während der Arbeiten im Tal der Musen von einem „paysan“ gebracht worden, der es seiner Versicherung nach „tout au sommet de l’Hélicon, dans le voisinage d’Hagios Hilias“ gefunden habe; vgl. die unter IThesp 273 abgedruckte Passage aus Jamots Manuskript.

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A.II

Helikon

schließen lassen.72 Sie lautet [⊢ιαρον ε]µι το Ελιϙο#ν[ιο - - -], wobei die genaue Identität der verehrten Gottheit – wenn auch Zeus nicht ausgeschlossen ist – letztendlich ein Rätsel bleiben muss.73 Diese Funde lassen eine kultische Funktion auch des Gebäudes, ist seine archaische Datierung denn korrekt, möglich erscheinen.74 Exkurs. Funktion der Gebäudestruktur Ein präzises Abwägen der Möglichkeiten wird dadurch erschwert, dass die Daten und Ergebnisse der archäologischen Arbeiten im Jahr 1994 nicht ausführlich publiziert worden sind. Zudem finden sich in den beiden Publikationen aus Aravantinos’ Feder auch voneinander abweichende Informationen. So ist in dem Bericht im Archaiologikon Deltion von 199475 – Erscheinungsjahr 1999 – davon die Rede, dass Dachziegel aus klassischer Zeit gefunden worden seien. Dort scheint, wenn auch die entsprechende Formulierung nicht ganz eindeutig ist, die Ansicht vertreten zu sein, dass es in archaischer Zeit einen Zeuskult auf dem Gipfel gegeben habe und das Gebäude später in klassischer Zeit zum Wachturm umfunktioniert worden sei. In Aravantinos’ 1996 erschienenem Artikel hingegen wird das Gebäude schon in seiner ursprünglichen Funktion und Konzeption als Wachturm aufgefasst. Zudem stammten die gefundenen Dachziegel sowohl aus archaischer als auch aus klassischer Zeit, Zeichen für eine kontinuierliche Nutzung; auch das Mauerwerk bestätige 72 73

74 75

Vgl. Jeffery 1999, S. 90 und 94 Nr. 6. Die Konjektur, die die übliche Weihformel bedient, stammt von Jeffery ebd., S. 90; vgl. auch IThesp 273. Es sei bemerkt, dass der erste, nicht eindeutig lesbare Buchstabe auf dem Fragment eigentlich schwerlich mit einem Μ vereinbar scheint – soweit die verfügbaren Abbildungen ein solches Urteil zulassen (Es handelt sich um Zeichnungen, s. etwa Plassart 1926, S. 385; Jeffery 1999, Tafel 8 Nr. 6; Tzanimis 2012, S. 142). In diesem Sinne gibt auch Plassart 1926, S. 385 die Umschrift „- - - ει το$ Ἐλιϙο#ν[ίο#“ [sic] an. – Zur Identität der Gottheit vgl. Schachter 1981, S. 236: „If this is the epithet Helikonios, it might be that of Poseidon or Zeus.“ Schachter erwägt ebd. auch die Möglichkeit einer Konjektur Ελιϙο#ν̣[ος - - -], (abgedruckt als Ελικϙο#ν[ος - - -], von Roesch in IThesp 273 korrigiert) die den Berg Helikon selbst zum Adressaten machte. In beiden Fällen überrascht jedoch, wie schon Plassart 1926, S. 387 bemerkt, die Abwesenheit des Digammas im Anlaut (vgl. auch Schachter 1981, S. 236; SEG 31 Nr. 525; IThesp 273). S. dazu auch den folgenden Exkurs. S. AD 49, Β’1 (1994) 283f. = Aravantinos 1994.

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eine archaische Datierung.76 Auf die unterschiedlichen Deutungen macht auch Farinetti77 aufmerksam, allerdings ohne Hinweis darauf, dass Aravantinos der Autor beider Artikel ist. Hier stellt sich nun die Frage, in welchem Verhältnis ein solcher Wachturm zu dem Kult gestanden haben kann, der durch die GraffitiScherben und das im 19. Jh. aufgefundene – von Aravantinos nicht erwähnte – Bronzekesselfragment bestätigt ist. Die Existenz des Kultes leugnet Aravantinos nicht, er bestätigt im Gegenteil die schon früher aufgestellte Bemerkung von Wallace, dass das Gebäude eine militärische Funktion innegehabt haben könne und andererseits, dass „Hesiod’s bomos was perhaps only an ash altar“78. An dieser Stelle zeigt sich, wie elementar eine genauere Datierung des Gebäudes – und auch eine Bestimmung der Keramikfunde – für eine Klärung wäre. Denn schwer kann eine Kultstätte in so exakter örtlicher Übereinstimmung mit einem Wachturm gedacht werden, wenn auch von zeitlicher Übereinstimmung auszugehen ist. Als möglichen konkreten Anlass der Nutzung nennt Aravantinos die Schlacht bei Keressos um 520 v. Chr.,79 also das späte 6. Jh. v. Chr. Dies ließe einen gewissen Spielraum für einen vorausgehenden Kult, solange für die Scherbe mit Weihinschrift mit Caruso80 das sechste Jahrhundert allgemein veranschlagt wird. Caruso wiederum bemerkt für den Fall, dass auch die Keramikfunde aus dem Hohlraum im westlichen Teil des hinteren Zimmers kultischen Charakter tragen: „esso sembrerebbe l’esito di una pratica rituale (deposito votivo?), che escluderebbe ogni funzione secolare dell’edificio“81. Für eine Entscheidung sind also Informationen darüber unabdingbar, ob sich die „cavity resembling a chasm“82 in die architektonischen Gegebenheiten einfügt oder unabhängig von ihnen zu betrachten ist. Solche Informationen scheinen der Darstellung bei Bonanno-Aravantinou zugrunde zu liegen – allerdings ohne Benennung der Quelle: 76

77 78 79 80 81 82

S. insbesondere Aravantinos 1996, S. 189. Darüber hinaus setzt Aravantinos für die Einfassung des Hippoukrene-Brunnens aufgrund des ähnlichen Mauerwerks die gleiche (archaische) Entstehungszeit fest, zieht hier aber die kultische Deutung vor: S. ebd., S. 191; vgl. Farinetti 2011, S. 339. S. dazu auch unten Abschnitt A.II.2.2.3. S. Farinetti 2011, S. 339. Wallace 1974, S. 24, angeführt bei Aravantinos 1996, S. 189. Vgl. Aravantinos 1996, S. 190. S. Caruso 2016, S. 108 und 118. S. jedoch oben Anm. 70. Ebd., S. 118. Aravantinos 1996, S. 189.

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Dort wird die Gebäudestruktur ebenfalls als Wachturm gedeutet, jedoch – und ebenso die ‚Hippoukrene‘-Brunnenstruktur – auf das vierte Jahrhundert datiert; so gerät sie mit dem archaischen Kult nicht in Konflikt.83 Zudem gibt Bonanno-Aravantinou als Funde nicht nur „sherds with incised inscriptions […] dedicated to Zeus“ sondern auch „ash“ an – als Fundort wiederum „the disturbed thin soil cover of the foundations of the building“.84 Dies deutet darauf, dass die kultischen Funde unabhängig von der architektonischen Struktur zu denken seien. Allerdings steht die zeitliche Einordnung im Widerspruch zu Aravantinos’85 1996 veröffentlichten Angaben über Mauerwerk und Dachziegel. Auf Grundlage der bislang publizierten Ergebnisse ist somit keine tragfähige Einschätzung möglich.

2.2.2 Die Flüsse Die topographische Zuordnung der beiden Flüsse, in denen die Musen baden, Permessos und Olmeios (Hes. Th. 5f.), ist aufgrund der teilweise widersprüchlichen Angaben antiker Geographen nicht unanfechtbar möglich. Dennoch wird Wallace’ Zuordnung für den Permessos grundsätzlich akzeptiert:86 Er identifiziert den Fluss, den auch Pausanias bei seinem Besuch im Heiligtum im Tal der Musen erwähnt,87 mit dem Strom, der zwischenzeitlich Archondítsa genannt wurde und nun die Bezeichnung Áskris réma oder bisweilen wieder seinen antiken Namen trägt. Er durchmisst das Tal der Musen von West nach Ost, beschreibt bei Ellopía einen Bogen und fließt dann in westlicher Richtung parallel zum Helikonzug bis ins Domvréna-Becken.88 Kallimachos nimmt in seinem Somnium auf den Permessos Bezug, er etabliert eine genealogische Beziehung zur helikonischen Quelle Aga-

83

84 85 86 87 88

S. Bonanno-Aravantinou 2009, S. 261f. Vgl. insbes. die Bildunterschrift zu Abb. 427 (S. 261): „[…] a tower-phryctory (for transmitting signals by bonfire), probably of the 4th century BC, built upon remnants of an altar of Zeus.“ S. – auch für die Zitate – ebd., S. 261. Vgl. oben. Vgl. Wallace 1974, S. 19f. Vgl. Paus. 9, 29, 5, wo die Variante Τερµησσός überliefert ist. Vgl. Farinetti 2011, S. 5f.

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nippe;89 Nikander imaginiert Hesiod an seinen Ufern rezitierend.90 Die römische Dichtung macht sich den Permessos zu eigen: Er ist Teil ihrer programmatisch-poetologischen Konnotierung von helikonischen Quellen und Gewässern.91 Für den Olmeios kommen mehrere kleinere Ströme infrage.92 Er hat keinen prominenten Platz in der Rezeption von Hesiods Helikon. Bisweilen wird er in Kombination mit der Hippoukrene erwähnt, mit der er in V. 6 der Theogonie zusammensteht.93 So bei Nonnos in D. 7, 233-6: Semele badet im Asopos und Zeus lässt alles funkeln; da fragt sich eine Naiade, wer die unbekannte Schönheit sein mag. Sie zieht auch eine Muse in Erwägung: Μὴ µία Μουσάων τις ἐµὸν πατρώιον ὕδωρ γείτονος ἐξ Ἑλικῶνος ἐδύσατο; Καὶ τίνι πηγῆς Πηγασίδος προλέλοιπε µελισταγὲς ἵππιον ὕδωρ ἢ ῥόον Ὀλµειοῖο;

235

Ob etwa eine der Musen vom benachbarten Helikon | in mein väterliches Wasser getaucht ist? Und wozu hat sie der pegasischen | Quelle honigträufelndes Ross-Wasser oder den Strom des Olmeios verlassen?

Nonnos greift nicht nur die hesiodeische Zusammenstellung von Hippoukrene und Olmeios auf, er zitiert auch das Motiv der darin badenden Muse.94 89 90

91 92

93

94

S. unten Abschnitt A.II.2.2.4. Vgl. Nic. Th. 10-12: […] εἰ ἐτεόν περ | Ἀσκραῖος µυχάτοιο Μελισσήεντος ἐπ’ ὄχθαις | Ἡσίοδος κατέλεξε παρ’ ὕδασι Περµησσοῖο. Nikander beruft sich in seinem Prooimion mit diesen Versen wohl nicht nur auf Hesiod, sondern auch auf Kallimachos: S. Overduin 2015, S. 186 ad loc.; vgl. Livrea 1998, S. 30. S. Verg. ecl. 6, 64; Prop. 2, 10, 26. Vgl. unten Abschnitt A.II.2.2.4. S. für verschiedene Vorschläge Wallace 1974, S. 16 u. 20f.; Aravantinos 1996, S. 187. S. Luc. Ind. 3; Callistr. Stat. 7, 1; für Nonnos s. oben. Unabhängig von der Topographie der Dichterweihe erscheint der Olmeios nur – abgesehen von seinen Erwähnungen durch Geographen – in den Theogonie-Scholien, die seinen Namen auf Olmos, einen Sohn des Sisyphos, zurückführen; vgl. Schol. Hes. Th. 6. Wenn auch nicht in erster Linie Teil von Hesiods Dichterweihentopographie

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2.2.3 Die Hippoukrene Von allen topographischen Elementen, die Hesiod nennt, kommt der Hippoukrene gewiss die größte literarische Einflusskraft zu. Sie ist jedoch nicht allein eine literarische Größe: Strabon nennt sie unter den

Abb. 2: Hippoukrene: Ansicht der Stätte (September 2018)

charakteristischen Lokalitäten des Helikons und auch Pausanias stattet ihr im Zuge seiner Besichtigung des Heiligtums im Tal der Musen einen Besuch ab.95

95

(Th. 1-35), soll hier ein Verweis auf einen weiteren bedeutsamen Ort nicht fehlen: Askra, Hesiods von ihm geschmähtes Heimatstädtchen (vgl. Hes. Op. 639f.). Es wird, durch Funde nunmehr sicher belegt, beim Pirgáki genannten Hügel an der Nordseite des Tals lokalisiert. S. Roux 1954, S. 45-8; Wallace 1974, S. 5-11; Snodgrass 1985; Fossey 1988, S. 142-5; Bintliff 1996; Vroom 1999a u. 1999b. In Teiresias 45,2 (2015) 3 (= Bintliff 2015) kündigt Bintliff für die Zukunft als vierten Band des Boeotia Project eine umfassende Monographie mit Titel „Askra and the Valley of the Muses“ an, in dem alle Daten und Funde der 1980er Jahre neu untersucht werden. Für Strabon s. oben Abschnitt A.II.2.1.1, für Pausanias unten Abschnitt A.II.3.2.1.4. Bei Philostr. VA 7, 16 dient die Berühmtheit der Hippoukrene

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Der Berg der Musen

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An der Nordseite des Kammes, leicht westlich unterhalb der Stätte mit den Überresten der antiken Gebäudestruktur und späteren Kapelle des Profítis Ilías, öffnet sich im Tannengehölz eine Lichtung – früher baumlos, heute mit vereinzelten Bäumen bestanden.96 Dort befindet sich eine Quelle in einer Felsspalte mit ausgemauertem Schacht (Abb. 2).97 Sie heißt mit modernem Namen Krío pigádi (Κρύο πηγάδι, „Kalter Brunnen“) und ihre Gleichsetzung mit der antiken Hippoukrene erfährt allgemeine Akzeptanz.98 Der Wasserstand variiert je nach Jahreszeit; er wird

96

97

98

als Vergleichsgröße für die Berühmtheit, die die Quelle erlangt, welche Musonius auf der ariden Verbannungsinsel Gyaros entdeckt. Für die Lage s. oben Abschnitt A.II.2.2.1 mit Anm. 66; s. auch Roesch 1992, S. 268; Schrott 2000, S. 160. Auf der 2005 herausgegeben Helikon-Wanderkarte des Anavasi-Verlags scheinen im Übrigen die Höhenlinienbezeichnungen zwischen 38°19' N und 38°20' N in der Breite und 23°02' O und 23°03' O in der Länge durcheinandergeraten zu sein (jeweils 100 m zu viel). Die Quelle mit ihrer zweifellos antiken Fassung wurde zum ersten und einzigen Mal im Jahr 1994 einer systematischen archäologischen Untersuchung unterzogen, unter der Leitung von Vassilios Aravantinos und der Ägide der neunten Ephorie. Die wesentlichen Ergebnisse werden in Aravantinos 1996 präsentiert. Da dies auf sehr knappe Weise geschieht, wird hier im Folgenden auch auf die Beschreibungen kundiger Reisender des 19. und 20. Jahrhunderts zurückgegriffen. Einmütigkeit herrscht spätestens, seit im Jahre 1882 mit der Auffindung der Fundamente des Musenaltars unterhalb der Ruine der Agía-Triás-Kapelle und den späteren Ausgrabungen der Stoa und des Theaters über die genaue Lage des Musenheiligtums kein Zweifel mehr bestehen konnte. Denn wichtiges Kriterium bei der Identifikation von Hippoukrene-Anwärtern war neben der Lage in der Nähe des Gipfels auch die Kompatibilität mit Pausanias’ Beschreibung des Geländes, insbesondere der angegebenen Distanz von 20 Stadien oberhalb des Musenheiligtums (vgl. Paus. 9, 31, 3: ἐπαναβάντι δὲ στάδια ἀπὸ τοῦ ἄλσους τούτου ὡς εἴκοσιν). Die Pionierschaft in der Zuschreibung Krío pigádi – Hippoukrene wird in der Regel Ulrichs zuerkannt (vgl. Ulrichs 1863, S. 97-9). S. für die zeitgenössische Debatte Leake 1835, S. 493f.; Vischer 1857, S. 556f.; Conze 1863, S. 184f.; Welcker 1865, S. 38f.; Lolling 1989, S. 624; vgl. Wallace 1974, S. 16 mit Anm. Die antike, verhältnismäßig aufwändige Einfassung des Krío pigádi stellt natürlich ein starkes Indiz zugunsten dieser Annahme dar. Dennoch bleibt ein Teil der Zustimmung gewiss auch dem Umstand geschuldet, dass der Versuchung, die Dichterquelle Hippoukrene konkret zu lokalisieren, schwer zu widerstehen ist; vgl. so auch Caruso 2016, S. 117.

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jedoch im Schnitt als drei Meter unter dem oberen Rand der Fassung angegeben.99 Die Struktur ist aus großen, behauenen Blöcken in lesbischem Polygonalstil gemauert und weist eine Öffnung in Form eines gleichschenkli-

Abb. 3: Hippoukrene: die Brunnenfassung (September 2018)

gen Trapezes auf (Abb. 3).100 Seine Maße betragen laut Aravantinos zwei Meter an den längeren Seiten im Norden und Süden und 1,0 bis 99

100

S. Lolling 1989, S. 626; Hitzig und Blümner 1907, S. 487. Mit acht Fuß unter dem Rand – und damit mit einer im deutschen Sprachgebrauch relativ uneinheitlichen Maßeinheit – bemessen Vischer 1857, S. 557, Bursian 1862, S. 240, Ulrichs 1863, S. 98 und Sittig und Bölte 1913, S. 1857 den Wasserstand. Diese Angabe ist mit dem Wert 3 m kompatibel, ebenso wie Frazers „10 feet“ (Frazer 1965, V, S. 158). Der Wasserstand gibt zugleich Aufschluss über die ungefähre Tiefe des Brunnens an sich. So lautet Bursians 1862, S. 240 Angabe, während andere Autoren nur den Stand anzeigen, genauer, dass das Wasser „in einer Tiefe von etwa 8 Fuss der Erde entquillt“. – Zweifellos zu hoch (und auch mit den angegebenen Quellen nicht vereinbar) ist Carusos Information, das Wasser quelle „dieci metri sotto la copertura“ (Caruso 2016, S. 107) hervor. Als „isoskeles trapezion“ bezeichnet Aravantinos 1996, S. 191 die Form, während frühere Besucher des Ortes einhellig von einer dreieckigen Mündung zu berichten wissen: so Vischer 1857, S. 557; Bursian 1862, S. 240; Ulrichs 1863, S. 98; Lolling 1989, S. 626 (vgl. Frazer 1965, V, S. 158; Sittig

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1,30 Meter an den kürzeren im Osten und Westen.101 Manche Quellen berichten auch von Vertiefungen in der Wand des Schachtes, die das Hinabsteigen ermöglichen und erleichtern sollen.102 Zu datieren sei die Brunnenfassung in archaische Zeit, was auch die starke bauliche Ähnlichkeit zu dem Gebäuderest auf dem Gipfelkamm des Zagarás nahelege.103 Die monumentale, aufwendige Bauweise lege eine kultische Funktion nahe.104

101 102

103

104

und Bölte 1913, S. 1857; Caruso 2016, S. 107). Auch Wallace 1974, S. 1618, ebenfalls Autopt, zitiert als ‚gültige‘ Beschreibung die Frazers, ohne Einwände gegen dessen „triangular opening“ (Frazer 1965, V, S. 158) zu erheben. Eine mögliche Lösung findet sich bei Robinson 2012, S. 247. Ihre Beschreibung, die auf eigener Ansicht der Stätte beruht, lautet: „[T]he shaft has a triangular mouth that expands to a roughly rectangular plan“. In der Tat ergibt sich aus Aravantinos’ Seitenmaßen (s. o.) für die beiden stumpfen Winkel des Trapezes ein Wert von etwa 94,3°, für die spitzen Winkel ein Wert von etwa 85,7°. In leichtem Konflikt zu dieser Lösung stünde Aravantinos’ Angabe, die Seitenlängen seien „up to 2 m under the water level“ (Aravantinos 1996, S. 191) – maßgeblich sei der Wasserstand am 24. Juni 1994 – gemessen worden. Die auch sonst verzeichneten Proportionen des Schachtes legen nahe, dass es sich um eine Verwechslung handelt und zwei Meter über dem Wasserspiegel gemeint sind. Insgesamt gilt aber Aravantinos’ Angaben der Vorrang, da er im Mai und Juni 1994 im Auftrag der neunten Ephorie eine kleine Expedition mit explizit archäologischem Impetus zum Gipfel des Zagarás und zum Krío pigádi unternahm und den Schacht in diesem Rahmen vermessen hat. Die Verfasserin der vorliegenden Arbeit würde nach eigener Inaugenscheinnahme die Form der Öffnung als die eines annähernd gleichschenkligen Trapezes (vgl. Aravantinos) beschreiben, das sich nach oben zu einem unregelmäßigen Fünfeck erweitert. Vgl. Aravantinos 1996, S. 191. S. Lolling 1989, S. 136: „Die Brunnenwände sind [...] mit Löchern für den Fuss der Einsteigenden versehen“. Vgl. ferner Hitzig und Blümner 1907, S. 487; Frazer 1965, V, S. 158. S. Aravantinos 1996, S. 191. Zu bemerken ist, dass Aravantinos 1994, S. 284 zunächst in seinem kurzen Bericht über die Arbeiten in AD 49 B’1 eine klassische Entstehungszeit in Erwägung zieht; vgl. so auch Bonanno-Aravantinou 2009, S. 261. Vgl. dazu den Exkurs in Anschluss an Abschnitt A.II 2.2.1. – Einige Probegrabungen auf dem Gelände der Hippoukrene lieferten keine datierbare Keramik (s. Aravantinos 1994, S. 283f. und 1996, S. 191). Vgl. Aravantinos 1996, S. 191: „I find the arrangement of this spring extremely sophisticated and monumental; this fact can hardly be justified by

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Der Hippoukrene – sie erreicht ihren höchsten Wasserstand im April und führt den ganzen Sommer über ihr kaltes Wasser105 –verschafft die Verbindung mit den Musen Prominenz. Sie erscheint in der Regel in zwei Zusammenhängen. Dies ist zum einen ihr Entstehungsmythos: der Hufschlag eines Pferdes, spätestens ab hellenistischer Zeit des Pegasos, soll sie haben hervorsprudeln lassen.106 In jedem Fall ist das Vorkom-

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the use of the water solely by soldiers and shepherds. Its importance lay [sic] in the cult functions unanimously attributed to it by ancient tradition.“ – Möglicherweise war die Brunnenanlage noch monumentaler gestaltet als für heutige Augen sichtbar. So verzeichnet Lolling auf seiner Reise 1876/7 weiteres Baumaterial, das jüngere Forschungsbeiträge nicht erwähnen: „In der Nähe liegen einige rechtwinklich [sic] behauene Blöcke“ (Lolling 1989, S. 136). – Zu Pausanias’ Zeiten wird die Hippoukrene dem Besucher des Musenheiligtums im Tal als Sehenswürdigkeit gezeigt; man stellt dort eine Bleitafel mit Hesiods Erga aus (vgl. Paus. 9, 31, 3f.). S. dazu unten Abschnitt A.II.3.2.1.4. Vgl. Aravantinos 1996, S. 191; auch Lolling 1989, S. 626; Roesch 1992, S. 268. Vgl. Arat. 216-224 mit Scholien, die teilweise zwischen Pegasos und Arats Ἵππος, der zum Sternzeichen wird, unterscheiden, ebenso wie Eratosth. Cat. 18; Str. 8, 6, 21; AP 9, 64 (Asclep. o. Arch.); AP 9, 225 (Honest.); Paus. 9, 31, 3; Ant. Lib. 9, 2; Lib. Or. 11, 97; Nonn. D. 44, 6f.; Hsch. s. v. Ἵππουκρήνης (ι 858 Latte); Schol. Hes. Th. 3a di Gregorio; Schol. Call. Lav. Pall. 71; Schol. Lyc. 835. Angedeutet ist das Aition auch in Call. Aet. fr. 2 Harder, V. 1 und fr. 112 Harder, V. 6 (παρ’ ἴχνιον ὀξέος ἵππου). Auch lateinische Autoren nehmen Bezug auf das Aition, s. etwa Ov. fast. 3, 456; fast. 5, 7f.; met. 5, 256-263; Prop. 3, 3, 2. – Ιn Ps.-Nonn. Scholia mythologica 43, 8 sind die Kausalitäten umgestellt: Pegasos ist hier ein geflügeltes Pferd, dem Wasser von den Hufen tropft (ohne Hinweis auf eine konkrete Quelle). Durch Pegasos’ Hufschlag entstandene Quellen werden auch für Korinth (vgl. E. El. 475; Paus. 2, 3, 5; D. Chr. 36, 46; Stat. Theb. 4, 60) und Troizen (vgl. Paus. 2, 31, 9) bezeugt. – In Nennungen der Hippoukrene ohne expliziten Verweis auf den Mythos wird bisweilen namentlich auf Pegasos angespielt: Vgl. [Mosch.] 3, 77 Παγασίδος κράνας; AP 11, 24, V. 6 (Antip. Thess.) Πηγασίδος; AP 9, 230, V. 2 (Honest.) Πηγασίδος κρήνης; Callistr. Stat. 7, 1 τὴν ἰοειδέα Πηγάσου κρήνην; Nonn. D. 7, 234f. πηγής | Πηγασίδος […] ἵππιον ὕδωρ (und D. 41, 227 ἵππιον ὕδωρ). In der lateinischen Dichtung wird die Hippoukrene mit Ausnahme von Ov. fast. 5, 7 und Germanicus 221 nicht explizit beim Namen genannt, sondern umschrieben: S. Loehr 1996, S. 228 mit Anm. 134. – Vgl. auch Sittig und Bölte 1913, S. 1853-6.

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men einer solchen brunnenartigen Quelle am Gipfel eines Berges, zumal im Kalkgestein, „Wunders genug“.107 Zum anderen gewinnt die Quelle selbst an Symbolkraft. Hesiod weist im Prooimion der Theogonie die Quelle zunächst nur als Bade-, vielleicht auch Tanzplatz der Musen aus,108 seine Begegnung mit ihnen verlegt er ins Tal. Auch Nonnos greift das Motiv der badenden Musen auf.109 Darüber hinaus erscheinen nach dem Vorbild der Musen in der Hippoukrene badend auch Athene und ihre Freundin, die Nymphe Chariklo, in Kallimachos’ Bad der Pallas.110 Wilamowitz erhebt Zweifel an der Angemessenheit des Ambientes111 und bemerkt zudem, wohl angesichts der Maße und Beschaffenheit der als Hippoukrene identifizierten Quelle: „Man kann auch gar nicht in ihr baden.“112 An Ambiente und Brunnenform hat Roesch nichts auszusetzen, er hält aber für diese bei107

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Vgl. Sittig und Bölte 1913, S. 1857, das Zitat ebd.; vgl. auch Wilamowitz 1925, S. 111; Lib. Or. 11, 97, wo ihre Entstehung als θαῦµα bezeichnet ist. Die „veilchendunkle Quelle“ in V. 2 (κρήνην ἰοειδέα), um die die Musen tanzen, und die Hippoukrene in V. 6 (Ἵππου κρήνης), in welcher sie sich waschen, identifiziert zumindest Kallistratos miteinander: Er nennt sie die „veilchendunkle Pegasosquelle“ (Callistr. Stat. 7, 1: τὴν ἰοειδέα Πηγάσου κρήνην) und versieht so die Hippoukrene mit dem hesiodeischen Adjektiv aus V. 2. Auch die Hesiod-Scholien deuten die unbenannte Quelle als die Hippoukrene (vgl. Schol. Hes. Th. 3a di Gregorio). Lib. Or. 64, 12 u. 14 greift die ‚veilchendunkle Quelle‘ ohne Spezifizierung als Tanzplatz der Musen auf. – Moderne Interpreten suchten bisweilen die Identifikation mit der Aganippe unten im Tal (vgl. etwa Von der Mühll 1970, S. 196f.). Dagegen argumentiert von Fritz 1956=1966, S. 300f. überzeugend mit sprachlichen Argumenten und fügt außerdem eine Beobachtung zur Beschaffenheit der Hippoukrene hinzu: „Damit [sc. dass die ‚veilchendunkle Quelle‘ mit der Hippoukrene, nicht mit der Aganippe zu identifizieren sei] stimmt aufs beste überein, daß der noch heute nicht weit von den Überresten eines alten Altars dicht unter dem Gipfel zu findende Brunnen ein stehender Brunnen mit dunklem Wasser und nicht eine helle, fließende Quelle ist“ (ebd., S. 301). Vgl. oben Abschnitt A.II.2.2.2. Vgl. Call. Lav. Pall. 70-74. S. dazu unten Abschnitt B.III.4.2.3. Vgl. Wilamowitz 1924, S. 20: „[D]ie Quelle empfahl sich durch ihre Berühmtheit, aber nur dem, der nicht wußte, daß sie sich dicht unter dem Gipfel des Helikon befindet, in einer baumlosen Höhe, die sich auch eine Göttin zum Bade nicht aussuchen wird.“ Wilamowitz 1924, S. 20.

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A.II

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den Göttinnen das Wasser für zu kalt; im Falle der Musen bringt er jedoch keine diesbezüglichen Einwände vor.113 In diesen kleinen, amüsanten Beobachtungen zur Diskrepanz zwischen literarischer Darstellung und tatsächlicher Form der Quelle deutet sich die allmähliche Entwicklung der Hippoukrene zum Topos an. In dieselbe Kategorie gehören Beschreibungen, die die üppig fließenden Ströme der Quelle preisen, wie etwa Arats Verse über die Entstehung des Sternzeichens Ἵππος: κεῖνον δὴ καί φασι καθ’ ὑψηλοῦ Ἑλικῶνος καλὸν ὕδωρ ἀγαγεῖν εὐαλδέος Ἱππου κρήνης. οὐ γάρ πω Ἑλικὼν ἄκρος κατελείβετο πηγαῖς, ἀλλ’ Ἵππος µιν ἔτυψε, τὸ δ’ ἀθρόον αὐτόθεν ὕδωρ ἐξέχυτο πληγῇ προτέρου ποδός· οἱ δὲ νοµῆες πρῶτοι κεῖνο ποτὸν διεφήµισαν Ἱππου κρήνην. Ἀλλὰ τὸ µὲν πέτρης ἀπολείβεται, οὐδέ ποτ’ αὐτὸ Θεσπιέων ἀνδρῶν ἑκὰς ὄψεαι· αὐτὰρ ὅ γ’ Ἵππος ἐν Διὸς εἰλεῖται καί τοι πάρα θηήσασθαι.

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Von jenem [sc. dem vorher genannten Pferd (Ἵππος)] sagt man auch, dass es vom hohen Helikon | das gute Wasser der fruchtbarmachenden Hippoukrene hinabgeleitet hätte. | Denn noch war der Gipfel des Helikon nicht von Quellen beflossen, | sondern das Pferd trat ihn: Da wurde auf der Stelle eine Flut von Wasser | verströmt durch den Schlag des Vorderfußes. Und die Hirten | benannten als erste jenen Trunk Hippoukrene, d. h. Pferdequelle. | Der eine aber fließt hervor aus dem Fels – und | fern von den Thespiern wirst du ihn niemals erblicken; jedoch das Pferd selbst | kreist im Haus des Zeus und kann von dir betrachtet werden. Arat. 216-224

In diesen Versen wird das Bild von großem Wasserreichtum geweckt. Die hohe Dichte von Worten, die das Quellen und Fließen von Wasser bezeichnen – insbesondere in den Versen 216-220 –,114 erzeugt den Ein113

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Vgl. Roesch 1992, S. 268: „Mais l’eau de cette fontaine est si froide qu’on imagine mal Athéna et la nymphe Chariclô se baignant dans cette eau glacée.” Folgende Hervorhebungen im vollständigen Text der Verse 216-220 sollen zugleich die relevanten Worte anzeigen und ihre hohe Dichte sichtbar machen: κεῖνον δὴ καί φασι καθ’ ὑψηλοῦ Ἑλικῶνος | καλὸν ὕδωρ ἀγαγεῖν εὐαλδέος Ἱππου κρήνης. | οὐ γάρ πω Ἑλικὼν ἄκρος κατελείβετο πηγαῖς, | ἀλλ’ Ἵππος µιν ἔτυψε, τὸ δ’ ἀθρόον αὐτόθεν ὕδωρ | ἐξέχυτο πληγῇ προτέρου

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Der Berg der Musen

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druck, die Hippoukrene sei weit üppiger strömend als die tatsächliche Quelle, die aus einer Felsspalte am Grunde eines Brunnenschachtes hervorquillt. So ist in den Ausdrücken „καθ’ ὑψηλοῦ Ἑλικῶνος [...] ἀγαγεῖν“ (V. 216f.) und „κατελείβετο“ (V. 218) die Bewegung von oben herab inbegriffen.115 Die Beschreibung erhält Gültigkeitsanspruch durch die Verankerung im Hier und Jetzt mittels der Verben des Sehens in den Versen 222-4: Die Quelle ist nur bei Thespiai zu besichtigen, während ihr Erzeuger, das Pferd, von überallher sichtbar als Sternbild am Himmel steht.116 Die Entwicklung zum Topos ist natürlich der Assoziation mit den Musen geschuldet. Ist die Hippoukrene zunächst, wie oben geschildert, nur ihr Aufenthaltsort, so wird ihr Wasser im Laufe der Zeit selbst zum Medium musischer Inspiration. Insbesondere erfährt auch Hesiods Dichterweihe diese Deutung, dass also die Musen ihm Wasser aus der Hippoukrene zu trinken gegeben hätten.117 Eine entsprechende Andeutung

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ποδός. Dazu kommen ποτόν in V. 221 und ἀπολείβεται in V. 222. Die Scholien verstehen, möglicherweise durch diese Ausdrücke ermuntert, V. 222 sogar so, dass das Wasser der Hippoukrene von der Quelle an den Hängen des Helikon nach Thespiai hinein fließe, und deshalb niemals fern von ihnen sei. Die Stadt liegt, wie erinnert werden muss, etwa 10 km entfernt. Zu dieser Auslegung der Verse 222-4 vgl. Erren 1967, S. 131. Das „Haus des Zeus“ (vgl. V. 224: ἐν Διὸς) meint die Himmelskuppel, s. ebd., S. 236 Anm. 2. Es steht zur Debatte, ob Kallimachos Urheber dieser Version sei. Ausgangspunkt ist der programmatische Rahmen, den er zumindest den ersten beiden Büchern der Aitia gibt – das sog. Somnium – und der die Dichterweihe Hesiods aufgreift: ‚Kallimachos‘ wird im Traum auf den böotischen Helikon entrückt, begegnet dort den Musen und führt mit ihnen ein gleichberechtigtes, gelehrtes Gespräch über verschiedene (aitiologische) Themen (für die Rekonstruktion s. etwa Kambylis 1965, S. 93-118; Pretagostini 1995; Ambühl 2005, S. 365-85; Sistakou 2009, S. 222-7; Harder 2012, II, S. 93-6). Dieses Narrativ, selbst nur in Fragmenten erhalten (Call. Aet. fr. 2-2j Harder), ist über seine Rezeption gleichwohl greifbar. Sicher belegt ist (u. a.) das Motiv des Traumes und dass Kallimachos Hesiods Dichterweihe aus dem Tal an die Hippoukrene verlegt (s. unten Abschnitt A.II.2.2.4). Ausgehend von diesen beiden Elementen versuchte man nun rückwärts, weitere Elemente der kallimacheischen Darstellung zu rekonstruieren. Für das Motiv des Trinkens aus einer Quelle zur dichterischen Inspiration beispielweise standen die rö-

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ist möglicherweise schon bei Arat enhalten: Die oben zitierte Passage spielt mit den Hirten, die als erste die neu entsprungene Quelle unter dem Namen „Hippoukrene“ bekannt gemacht hätten, gewiss auch auf Hesiod an.118 Das Wort ποτόν (V. 221) impliziert das Trinken des Wassers; allerdings kann dies ebenso der Bildebene des ‚einfachen‘ Hirten angehören ohne sich zwangsläufig auf eine Inspiration des Dichter-Hirten zu beziehen. Am deutlichsten geht die Vorstellung von Hesiods Dichterweihe mittels Hippoukrene-Wasser aus einem Epigramm des Asklepiades oder des Archias hervor: Αὐταὶ ποιµαίνοντα µεσαµβρινὰ µῆλά σε Μοῦσαι ἔδρακον ἐν κραναοῖς οὔρεσιν, Ἡσίοδε, καί σοι καλλιπέτηλον, ἐρυσσάµεναι περὶ πᾶσαι, ὤρεξαν δάφνας ἱερὸν ἀκρεµόνα, δῶκαν δὲ κράνας Ἑλικωνίδος ἔνθεον ὕδωρ, τὸ πτανοῦ πώλου πρόσθεν ἔκοψεν ὄνυξ· οὗ σὺ κορεσσάµενος µακάρων γένος ἔργα τε µολπαῖς καὶ γένος ἀρχαίων ἔγραφες ἡµιθέων.

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mischen Dichter Pate, die das Traummotiv aufgreifen und auch einen Trunk aus helikonischen Gewässern kennen (insbes. Ennius und Prop. 2, 10, 25; 2, 34, 2; 3, 1, 6; 3, 3; 4, 6, 4); zudem die auch hier im Weiteren aufgeführten Epigramme AP 7, 55 und 9, 64 (Asclep. o. Arch.) sowie 11, 24 (Antip. Thess.), die Hesiods Dichterweihe wie Kallimachos mit der Hippoukrene in Verbindung bringen und dann ebenfalls das Trinken aus der Quelle zu deren Element machen. Als gemeinsames Vorbild wurde daher auf Kallimachos geschlossen (vgl. so etwa Kambylis 1965, S. 98-102; Pretagostini 1995, S. 167 mit Anm. 34; Livrea 1998, S. 29). Die Somnium-Fragmente selbst lassen, ebensowenig wie das wichtige Testimonium Call. Aet. T 6 Harder (=AP 7, 42), keinen Hinweis darauf erkennen, dass Kallimachos sein alter ego oder aber Hesiod aus einer Musenquelle habe trinken lassen; daher behandeln viele Forschungsbeiträge den vorgestellten Zusammenhang mit Skepsis (vgl. etwa Wimmel 1960, S. 225; Crowther 1979, S. 2-5 u. 10; Ambühl 2005, S. 367 Anm. 9; Cameron 1995, S. 364f.; Harder 2012, II, S. 95 zu Call. Aet. fr. 2-2j). Vgl. Arat. 220f. mit Erren 1967, S. 36: „Selbstredend ist in diesem Mythos vom Roß wieder die Dichtung als dem Gott angehörig verehrt. Pegasos hat die Quelle geschlagen, aus der die Dichter ihre Inspiration schöpfen. Die Erwähnung der Hirten, die als erste die Kunde davon unter die Menschen brachten, ist eine Reverenz vor Hesiod (vgl. Th. 22-35).“

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Die Musen haben dich selbst beobachtet, als du zur Mittagszeit | Schafe hütetest auf felsigen Bergeshöhen, Hesiod, | und reichten dir, dich alle umringend, | den schönblättrigen heiligen Lorbeerzweig, | sie gaben dir das gottbegeisterte Wasser der helikonischen Quelle, | das der Huf des geflügelten Fohlens vorher geschlagen hatte; | daran sättigtest du dich und schriebst in Liedern über die Abstammung der Seligen, die Werke | und die Abstammung der alten Halbgötter. AP 9, 64 (Asclep. oder Arch.)

Der Zusammenhang zwischen Trinken und Dichten ist hier durch die relativische Überleitung „οὗ σὺ κορεσσάµενος“ (V. 7) eindeutig hergestellt, die inspiratorische Kraft des Wassers durch das Attribut „ἔνθεον“ (V. 5) zusätzlich herausgestellt. Die Formulierung „auf felsigen Bergeshöhen“ (V. 2 ἐν κραναοῖς οὔρεσιν) gleich zu Beginn impliziert zudem, dass hier der Ort der Dichterweihe durchaus nicht, wie von Hesiod in der Theogonie bestimmt, „am Fuße des hochheiligen Helikon“ (Th. 23: Ἑλικῶνος ὑπὸ ζαθέοιο) zu suchen ist, sondern auf dem Berg gedacht wird. Nicht sicher zu erschließen ist jedoch, ob sie etwa sogar an der Hippoukrene selbst stattfindet oder die Musen das Wasser nur ‚mitbringen‘. Doch die wohl hellenistische Verlegung der Dichterweihe soll später Thema sein.119 Zunächst seien weitere Belege für die Auffassung ihres Wassers als Medium der Inspiration vorgestellt. Aus augusteischer Zeit stammt folgendes Epigramm von Antipater von Thessalonike: Ὦ Ἑλικὼν Βοιωτέ, σὺ µέν ποτε πολλάκις ὕδωρ εὐεπὲς ἐκ πηγέων ἔβλυσας Ἡσιόδῳ· νῦν δ’ ἡµῖν ἔθ’ ὁ κοῦρος ὁµώνυµος Αὔσονα Βάκχον οἰνοχοεῖ κρήνης ἐξ ἀµεριµνοτέρης. βουλοίµην δ’ ἂν ἔγωγε πιεῖν παρὰ τοῦδε κύπελλον ἓν µόνον ἢ παρὰ σεῦ χίλια Πηγασίδος.

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O böotischer Helikon, einst hast du oft das wortgewandte | Wasser aus deinen Quellen hervorsprudeln lassen für Hesiod; | nunmehr schenkt uns der gleichnamige Junge Wein, ausonischen Bakchos, | aus unbeschwerterer Quelle aus. | Wahrlich, ich möchte lieber einen einzigen Becher | davon als tausend von deiner Pegasosquelle trinken. AP 11, 24 (Antip. Thess.) 119

S. unten Abschnitt A.II.2.2.4.

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A.II

Helikon

Der Zusammenhang von Trinken aus der Quelle und Dichten wird auch hier deutlich: Dies erwirkt zum einen die Charakterisierung des Wassers der helikonischen Quelle(n) – in V. 6 als Hippoukrene spezifiziert – als εὐεπές (V. 2). Dazu tritt das Bekenntnis des Sprechers in V. 5f., wo ausdrücklich vom Trinken die Rede ist, in offensichtlicher Parallelisierung – und Gegenüberstellung – des Weintrinkers mit dem Wassertrinker Hesiod. Diese Gegenüberstellung birgt poetologische Implikationen.120 Der Trank aus der Hippoukrene bleibt nicht Hesiod allein vorbehalten. Neben dem Wanderer, der sich im Epigramm des Honestus nach beschwerlichem Aufstieg daran laben darf, und so zugleich seinen Durst löschen und symbolisch aus dem Quell der Weisheit schöpfen kann,121 steht auch für Dichter außer Hesiod der Trank aus der Hippoukrene für die Inspiration.122 Hier löst sich also das (nachträglich geschaffene) Bild aus dem begrenzten Kontext der hesiodeischen Dichterweihe. 120

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S. etwa Kambylis 1965, S. 100-102; Crowther 1979, S. 4f. u. 9f.; Müller 1987, S. 41-5; Asper 1997, S. 109-34. Ein weiteres Epigramm (AP 7, 55 [Alc. Mess.]) schreibt Hesiod den Trank aus Musenströmen zu, wenn auch ohne Benennung der Hippoukrene: τοίην γὰρ καὶ γῆρυν ἀπέπνεεν ἐννέα Μουσέων | ὁ πρέσβυς καθαρῶν γευσάµενος λιβάδων. / „Ein solches [sc. süßes, wie die Mischung aus Milch und Honig, die die Ziegenhirten in V. 3f. auf sein Grab gießen] Lied hauchte ja der Greis [sc. Hesiod] vor, nachdem er von den reinen Strömen der neun Musen gekostet hatte“ (AP 7, 55, 5f.). Vgl. AP 9, 230 (Honest.); s. oben Abschnitt A.II.1 und unten A.II.3.2.1.4. S., neben den im Weiteren aufgeführten Stellen, auch diese: Bei Nonnos erhält die kleine Beroë, eponyme Nymphe von Beirut, neben anderer symbolträchtiger Nahrung auch „das von den neun Musen umsorgte Ross-Wasser aus der klugen Quelle“ (Nonn. D. 41, 226f.: µεµεληµένον ἐννέα Μούσαις | ἐκ κρήνης […] νοήµονος ἵππιον ὕδωρ; zu Nonnos’ Ausgestaltung des Mythos s. Faulkner 2017). – Nicht explizit auf die Hippoukrene bezogen, aber aus der Kombination von Helikon und Quelle auf sie schließen lassend – wenn auch in einer Verquickung von Quelle und Musenmund – ist ein Epigramm von Nestor von Laranda (2./3. Jh. n. Chr.): Σπείσατέ µοι, Μοῦσαι, λιγυρὴν εὐτερπέα φωνήν, | ἡδὺν ἀπὸ στοµάτων Ἑλικωνίδος ὄµβρον ἀοιδῆς· | ὅσσοι γὰρ ῥοφέουσιν ἀοιδοτόκου πόµα πηγῆς, | ὑµετέρων ἐπέων λιγυρῇ τέρπονται ἀοιδῇ. / „Gießt mir, Musen, die helltönende, ergötzende Stimme ein, | den süßen Tau helikonischen Sanges von euren Mündern; | denn alle, die schlürfen von dem Trunk der sangzeugenden Quelle, | erfreuen sich eurer Worte mit helltönendem Sang.“ (AP 9, 364). – Als vagere Kombination der relevanten Motive kann auch das Epigramm AP 9, 162 gelten: Darin spricht

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Der Berg der Musen

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Der anonyme Verfasser des Epitaphs auf Bion aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. etwa stellt den smyrneischen Fluss Meles im Zustand der Trauer dar – nach Homer nun auch Bion beklagend.123 Es heißt von ihnen: ἀµφότεροι παγαῖς πεφιλαµένοι, ὂς µὲν ἔπινε Παγασίδος κράνας, ὃ δ’ ἔχεν πόµα τᾶς Ἀρεθοίσας. Beide sind Lieblinge der Quellen; der eine trank | aus dem PegasosBrunnen, der andere hatte den Trunk von der Arethusa inne. [Mosch.] 3, 76f.124

Hier trinkt Homer aus der Hippoukrene, Bion hingegen aus der Arethusa. Die Zuordnungen beziehen sich offensichtlich auf die jeweilige Art der Dichtung: So ist der Verweis auf den sizilischen Raum wie auch an anderer Stelle im Epitaph Zeichen für die Bukolik;125 die Hippoukrene hingegen wird mit dem Epos assoziiert. Die unmittelbar folgenden Verse bestätigen diese Aufteilung, wird doch das Genre der jeweiligen Werke umrissen.126 Ähnliche Muster erscheinen vor allem in der römischen

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ein Schreibrohr: Es sei, früher nutz-, weil fruchtloses Schilfrohr (V. 1f.), von einem Mann durch Schnitzen einer Mündung und eines Kanals zur Ἑλικωνίς geweiht worden (V. 3f.). Die letzten beiden Verse setzen das Saugen aus dem Tintenfass mit dem inspirierenden Trank aus einer Quelle gleich: ἐκ δὲ τοῦ εὖτε πίοιµι µέλαν ποτόν, ἔνθεος οἷα | πᾶν ἔπος ἀφθέγκτῳ τῷδε λαλῶ στόµατι. / „Seitdem spreche ich, wann immer ich den dunklen Trank trinke, so gottbegeistert | jedes Wort mit diesem stimmlosen Mund.“ Das Epigramm enthält freilich auch mystische Konnotationen. Vgl. [Mosch.] 3, 70-5. Bion wird so zum Landsmann Homers gemacht, vgl. Reed 1997, S. 1. – Für den Verfasser des Werkes gilt als terminus ante quem Catulls Wirkungszeit, „set by the quasi-translation of lines 103-4 in Catull. 5.5-6“ (ebd., S. 59f.; vgl. ebd., S. 2f. Anm. 7). Den terminus post quem stellt die Lebenszeit des bukolischen Dichters Bion dar – selbst problematisch, aber wohl zwischen der Mitte des zweiten Jahrhunderts und der Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. anzusetzen (s. ebd., S. 2f.; vgl. Palumbo Stracca 2010, S. 121f.). Der griechische Text ist Palumbo Stracca 2010, S. 141-44 entnommen. S. etwa Reed 1997, S.1 Anm. 2: „Bion’s connexion with Sicily in [Moschus] 3 is of course a fiction generically marking his poetry as bucolic“. Vgl. [Mosch.] 3, 78-84.

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Dichtung, die mit poetologisch-programmatischen Zuordnungen der Gewässer des Helikons (Permessos, Hippoukrene, Aganippe) spielt.127 In Form einer Parodie präsentiert Lukian die Szenerie der Dichterweihe in großer Vollständigkeit. In seiner Schrift Gegen den Ungebildeten und Käufer vieler Bücher (Πρὸς τὸν ἀπαίδευτον καὶ πολλὰ βιβλία ὠνούµενον) wird dem Angeredeten vorgeworfen, er lege sich Unmengen von Büchern zu, ohne ihren wahren Wert erfassen zu können – mangels intellektueller Fähigkeiten. Der Sprecher äußert die Meinung (Luc. Ind. 3), die Musen würden, obwohl sie auch einem rauhen, sonnenverbrannten Hirten wie Hesiod die Gunst erwiesen hätten, den leidenschaftlichen Bücherkäufer nicht so freundlich empfangen, sollte er sich jemals dem Helikon nähern: οὐδὲ ἐγγὺς γενέσθαι ποτ’ ἂν εὖ οἶδ’ ὅτι ἠξίωσαν, ἀλλ’ ἀντὶ τῆς δάφνης µυρρίνῃ ἂν ἢ καὶ µαλάχης φύλλοις µαστιγοῦσαι ἀπήλλαξαν ἂν τῶν τοιούτων, ὡς µὴ µιᾶναι µήτε τὸν Ὀλµειὸν µήτε τὴν τοῦ Ἵππου κρήνην, ἅπερ ἢ ποιµνίοις διψῶσιν ἢ ποιµένων στόµασι καθαροῖς πότιµα. Ich weiß genau, dass sie dich nicht einmal für würdig erachten würden, in die Nähe [sc. des Helikon] zu kommen, sondern dich von solcherlei Örtlichkeiten entfernten, indem sie dich – anstelle von Lorbeer – mit Myrtenzweigen und Malvenblättern davonpeitschten, damit du weder den Olmeios noch die Pferdequelle beschmutzt, die für durstige Herden oder die reinen Münder von Hirten zum Trinken da sind. Luc. Ind. 3

Das Bild funktioniert als Gegensatz zum Dichter-Hirten Hesiod: Der Bücherfreund wird keinen Lorbeerzweig erhalten – stattdessen Peitschenhiebe mit Myrte und Malve von um ihre Heimstatt besorgten Musen.128 Auch das Motiv des Trinkens ist aufgenommen und wird 127

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S. unten Abschnitt A.II.2.2.4. Hier seien gleichwohl die HippoukrenewasserTrinker genannt: Es sind Ennius (vgl. Prop. 3, 3, 1-12; zu einer Rekonstruktion von Ennius’ [selbst verfasstem] Traum s. Kambylis 1965, S. 191-204) und Properz (vgl. Prop. 3, 3, 51f. mit V. 32); Persius hingegen sagt ausdrücklich von sich, er habe nicht aus der Hippoukrene getrunken (vgl. Pers. prol. 1). Den Lorbeerzweig erhält ‚Hesiod‘ in Th. 30f. Man denke auch an die ähnlich rabiaten, mit Mistgabeln bewehrten Musen in Catulls Epigramm (Catull. 105), die dort ihre andere Heimstatt, den Pipleius mons, gegen einen unbe-

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Der Berg der Musen

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parodistisch negiert; doch auch hier ist, ähnlich wie bei Arat, nicht einzusehen, ob der „reine Mund“ nur dem einfachen oder auch dem nunmehr zum Dichter gewordenen Hirten gilt, ob also ein inspiratorischer Akt mitgedacht ist.129 2.2.4 Die Aganippe Zur helikonischen Topographie tritt im Laufe der Zeit ein weiteres Element hinzu, das Hesiod nicht nennt – die Quelle Aganippe. Pausanias ist sie eine Erwähnung wert: Auf seinem Weg von Thespiai durch das Tal der Musen hin zum Heiligtum verzeichnet er sie linker Hand; man sage, sie sei eine Tochter des Termessos bzw. Permessos.130 Identifiziert wird sie heute mit einer kühlen, üppigen Quelle in der Umgebung der Kapelle des Ágios Nikólaos im Südosten des Tals, die nunmehr mit Beton ausgekleidet ist.131 In den erhaltenen Werken der griechischen Dichtung und Literatur allgemein erscheint die Aganippe kaum; umso häufiger binden lateinische Autoren sie in die helikonische Musenlandschaft ein.132 Einflussreiches Vorbild dafür mag Kallimachos’ Somnium gewesen sein – einzige griechische Erwähnung der Quelle neben Pausanias und dem akrostichischen hexametrischen Papyrusfragment eines Dichters des 3./4. Jhs. n. Chr.133 Die Scholien verraten, dass die Aganippe im

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fugten Eindringling zu verteidigen wissen; s. Hartz 2007, S. 83-91. S. zu dieser Passage auch Angeli Bernardini 1996. Sie verweist u. a. darauf, dass Lukian für die Ausgestaltung allein Hesiod als Vorlage gebrauche – nicht etwa Kallimachos’ Somnium oder andere Rezeptionen der hesiodeischen Dichterweihe (vgl. ebd., S. 90-2). Vgl. Paus. 9, 29, 5. Für diese Genealogie vgl. schon Call. Aet. fr. 2b, 1-4 (vgl. fr. 2f, 16-41) Harder. Vgl. Wallace 1974, S. 15; Roesch 1992, S. 271; Schrott 2000, S. 182-4. Für die drei griechischen Nennungen s. unten. Direkte Nennungen in der lateinischen Dichtung finden sich bei Catull. 61, 26-35; Verg. ecl. 10, 12; Ov. fast. 5, 7f.; met. 5, 312; Iuv. 7, 6f.; Auson. Mos. 445-7; Claud. 17, 272f.; carm. min. 31, 59-62. S. auch Prop. 2, 3, 20. Für (lat.) Nennungen in geographischem Kontext s. Plin. nat. 4, 25; Solin. 7, 22; Vib. Seq. geogr. 163 (vgl. 235); Mart. Cap. 6, 653. Den Namen Aganippe tragen gleichwohl die zu opfernde Tochter des Königs Aigyptos (Namensgeber eines Flusses) in Ps.-Plu. Fluv. 16, 1 sowie eine Teilhaberin an der Nussernte im mathematischen Rätsel AP 14, 120. –

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Somnium – dem Rahmen, den der Dichter zumindest den ersten beiden Büchern der Aitia gibt134 – vorkommt; ihre genealogische Abstammung vom Fluss Permessos ist thematisiert.135 Das von Kallimachos zugrunde gelegte oder postulierte Verhältnis dieser Quelle zur anderen helikonischen Quelle, der berühmten Hippoukrene, muss letztendlich ungeklärt bleiben. Der alexandrinische Dichter erwähnt nämlich auch diese – er ist es, der Hesiods Dichterweihe vom „Fuße des Helikon“ (Hes. Th. 23: Ἑλικῶνος ὑπὸ ζαθέοιο) dort hinauf verlegt:136 ποιµ⸥ένι µῆλα νέμ̣⸤οντι παρ’ ἴχνιον ὀξέος ἴππου Ἡσιόδ⸥ωι Μουσέων ἑσµὸ⸤ς ὅτ’ ἠντίασεν

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Der Dichter von P. Oxy. 3537, fr. 1 recto (s. Livrea 1998, S. 28-31) lässt Hesiod in erster Person von seiner Berufung zum Dichter sprechen. Die Aganippe erscheint – hinsichtlich der Schilderung in Hes. Th. 22-35 in überraschendem Kontext – in V. 13f.: Μοῦ̣σα̣ ̣ι̣ [θείην µ’ ἐδ]ίδαξαν ἀοιδήν, | Ἐκ δ’ ἑλόµην πολὺ [χεῦµα θεοπν]εύστου Ἀγανίππης. / „Die Musen lehrten [mich göttlichen] Gesang | und ich nahm viel [Flut aus der götter]behauchten Aganippe.“ Zur Rekonstruktion dieses Hesiods Dichterweihe aufgreifenden, programmatischen Rahmens – Kallimachos wird im Traum auf den böotischen Helikon entrückt, begegnet dort den Musen und führt mit ihnen ein gleichberechtigtes, gelehrtes Gespräch über verschiedene (aitiologische) Themen – s. Kambylis 1965, S. 93-118; Pretagostini 1995; Ambühl 2005, S. 365-85; Sistakou 2009, S. 222-7; Harder 2012, II, S. 93-6. Vgl. Abschnitt A.II.2.2.3. Anhand der Lemmata aus den Scholien rekonstruiert Pfeiffer Ἀγανίππη | − ∪ ∪ Περµησσοῦ παρθένος Ἀονίου („Aganippe […], Tochter des aonischen Permessos“); s. Harder 2012, II, S. 108 zu Call. Aet. fr. 2b, 1-3. – Es ist zudem ersichtlich, dass das Aition zur Entstehung der Hippoukrene eine Rolle spielt (vgl. Call. Aet. fr. 2, 4 Harder: ]ἐπὶ πτέρν̣ης ὑδα[ und dass die Aganippe auch im Zusammenhang mit der Hippoukrene Erwähnung findet – zumindest schließen die Scholien sie in ihre Erklärung des Lemmas ‚Aganippe‘ ein (vgl. Call. Aet. fr. 2f, 18 Harder). Ambühl 2005, S. 380 schließt auf ein „komplexe[s] etymologische[s] Wortspiel“ (ebd.) um die Beziehungen zwischen Pegasos, Aganippe und Hippoukrene (s. auch ebd., Anm. 64 u. S. 382). Dichterische Rezeptionen dieser Verlegung wurden im vorangegangenen Abschnitt vorgestellt.

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als dem Hirten, der Schafe hütete bei der Hufspur des schnellen Pferdes, | Hesiod, ein Schwarm von Musen begegnete Call. Aet. fr. 2, 1f. Harder

Im Epilog erscheint erneut eine Anspielung auf Hesiod, die seine Begegnung mit den Musen „παρ’ ἴχν[ι]ον ὀξέος ἴππου“ lokalisiert.137 Die strittige Frage ist nun, ob die Aganippe in der Topographie von ‚Kallimachos’‘ eigener, im Traum erfolgter Begegnung mit den Musen eine Rolle spielt – und wenn, welche. Ausgangspunkt und Auslöser der Frage ist die römische Dichtung, die ihrerseits, Hesiods Dichterweihe und Kallimachos’ Somnium rezipierend, eine poetologische ‚Hierarchie‘ zwischen den Gewässern des Helikons herstellt; genutzte (nicht notwendig den realen Gegebenheiten entsprechende) Merkmale sind die Lokalisierung in höheren/tieferen Lagen und die Üppigkeit des Strömens.138 Verschiedene Szenarien sind denkbar und wurden in der Forschung diskutiert:139 1. Kallimachos bezieht die Aganippe nicht örtlich in ‚seine‘ Begegnung mit den Musen ein und/oder stellt kein programmatisch-hierarchisches Verhältnis zwischen den beiden helikonischen Quellen her. In diesem Fall wäre die differenzierende poetologische Besetzung der Quellen eine eigene Erfindung der römischen Dichtung.140 137

138

139

140

Vgl. Call. Aet. fr. 112, 5f. Harder: τῶι Μοῦσαι πολλὰ νέµοντι βοτὰ | σὺν̣ µύθους ἐβάλοντο παρ’ ἴχν[ι]ον ὀξέος ἴππου· / „für den die Musen, als er viel Weidevieh hütete, Geschichten beitrugen bei der Hufspur des schnellen Pferdes“. S. auch Ambühls (2005, S. 369f.) überzeugende Zurückweisung von Camerons (1995, S. 371) These, es sei im Epilog nicht von Hesiod, sondern von ‚Kallimachos‘ die Rede. Dabei existiert keine einheitlich-konsistente Zuordnung der einzelnen Gewässer (Hippoukrene, Aganippe, Permessos) zu bestimmten Arten der Dichtung. S. im Einzelnen Crowther 1979, S. 6-9; Loehr 1996, S. 228f.; Harder 2012, II, S. 100f. zu Call. Aet. fr. 2, 1; Robinson 2012, S. 248-50. Für einen Überblick über die Forschungsmeinungen s. auch Loehr 1996, S. 227-9; Harder 2012, II, S. 109 zu Call. Aet. fr. 2b, 1. An dieser Stelle gilt, wie im Falle des Motivs des Musentrunkes (vgl. oben Abschnitt A.II.2.2.3), die grundsätzliche Frage, ob vom in der Rezeption vorhandenen Motiv der Quellenhierarchie auch auf sein Vorhandensein in Kallimachos’ Aitia geschlossen werden darf. Zugunsten dieses Schlusses äußern sich etwa Wimmel 1960, S. 233-8; Loehr 1996, S. 228f.; Livrea 1998, S. 30. Kritisch sind Crowther 1979; Cameron 1995, S. 365; Harder 2012, II,

122

A.II

Helikon

2. ‚Kallimachos‘ wird zunächst an die Aganippe versetzt und anschließend von den Musen hinauf zur Hippoukrene geführt, dem Ort, wo er auch Hesiods Dichterweihe ansetzt. Die Pointe könnte hier im Sinne Wimmels darin liegen, dass Kallimachos mit den Aitia innerhalb des eigenen Werkes den Schritt von ‚verspielteren‘ Arten der Dichtung hin zu ernsterer, größerer Literatur gehe. Der Gegensatz der Quellen sei bezeichnend „für die Sonderart der Aitia, und geeignet, auf die seltsame Verwandtschaft zu Hesiod Licht zu werfen“.141 3. Kallimachos lässt Hesiods Begegnung mit den Musen an der Hippoukrene stattfinden, ‚seine‘ eigene im Tal an der Aganippe. Die Pointe bestünde hier in einer poetologischen Abgrenzung der eigenen Dichtung von anderen Arten der Dichtung oder in einer programmatischen Selbstbehauptung und Selbstpositionierung innerhalb der literarischen Tradition.142 Eine abschließende Klärung ist aus den vorhandenen Zeugnissen nicht möglich. Nicht unerheblich ist gleichwohl ein rein innertextliches Argument, das Harder zugunsten der Hippoukrene vorbringt: Die wörtliche Wiederaufnahme der Hippoukrene-Umschreibung im Epilog schaffe einen Rahmen, der die Bedeutsamkeit des Ortes für das Setting der Aitia suggeriere.143 Zwar lassen sich eventuelle programmatische Nuancen der Quellenwahl nicht fixieren – aber dennoch sind Aussagen über Kallimachos’ grundsätzlichen Umgang mit dem hesiodeischen Vorbild und den daraus folgenden Implikationen möglich. So hält Ambühl fest, dass das Rekurrieren auf die hesiodeische Dichterweihe als Prätext und ihre Umgestaltung in Form von ‚Kallimachos’‘ eigener Musenbegegnung unweigerlich, fern von poetologischen Spekulationen, eine kommentierende Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition ist:

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S. 109 zu Call. Aet. fr. 2b, 1. Vgl. Wimmel 1960, S. 237f.; das Zitat auf S. 238. Ohne das Element von der Aganippe als Startposition, aber gleichwohl zugunsten einer Musenbegegnung des Kallimachos an der Hippoukrene äußert sich Kambylis 1965, S. 102 u. 122f. Zu dieser Ansicht tendieren Loehr 1996, S. 230; Livrea 1998, S. 30. Hier zeigt sich der Kern des Problems: Denn sollte Kallimachos in der Tat in programmatischer Absicht die Aganippe gewählt haben, so ist noch lange nicht klar, ob dahinter beispielsweise eher eine polemische oder eine devote Haltung stünde; die Diskussion bleibt in sich selbst gefangen. Vgl. Harder 2012, II, S. 109 ad loc.

2

Der Berg der Musen

123

Kallimachos kann sich der Konvention in einer unkonventionellen Weise bedienen, ohne sie deshalb ganz verwerfen zu müssen, ja er geht sogar noch einen Schritt weiter: Statt seine Neuerungen radikal von der Tradition [sc. Hesiods Werke als Vorläufer aitiologischen Dichtens] abzusetzen, modelliert er die Tradition um, um sie an seine eigene Gestaltung anzunähern und als deren Vorläuferin erscheinen zu lassen.144

Insbesondere macht Kallimachos sich auf diese Weise die Tradition zu eigen: Der Helikon wird zu ‚seinem‘ Helikon – zugleich alt und neu. 2.3

Der Helikon und die Musen

Neben den Stellen, die direkt auf Hesiod und seine Dichterweihe Bezug nehmen oder die von ihm aufgegliederte helikonische Landschaft rezipieren, stehen literarische Belege in sehr großer Zahl, die die Verbindung der Musen zum Helikon – und vice versa – auf sonstige Weise zum Ausdruck bringen. Am häufigsten äußert sich die Verbindung in der Bezeichnung der Musen als „helikonisch“: Ἑλικωνιάδες werden die Musen zum ersten Mal im ersten Vers von Hesiods Theogonie genannt; im Anschluss ist das Epitheton in verschiedenen Varianten kontinuierlich von der Archaik bis in die Spätantike belegt.145 Der Helikon ist Heimstatt der Musen: Dort singen und tanzen sie, von dort kommen und dorthin gehen sie.146 144

145

Ambühl 2005, S. 371; s. ebd., S. 365-85 für eine Deutung der einzelnen Elemente. Ambühl wendet sich – überzeugend – auch dezidiert gegen die kritische Haltung Camerons (1995), der den Bezügen auf Hesiod in Kallimachos’ Werk ihren jeweils substanziellen (Modell-)Charakter absprechen will. Vgl. ebenso Harder 2012, II, S. 96. – Die Anmerkung in eckigen Klammern stammt von K. R. Vgl. die folgenden Stellen: a) Ἑλικωνίς: Alex. Aet. fr. 9, 5 CA (= AP 7, 709, 5); Alcid. fr. 5, 155 Avezzù = Certamen 213 (vgl. D. Chr. 2, 11; Procl. Chr. Z. 55 Severyns = S. 101, Z. 10 Allen), ähnlich AP 7, 53, 1; AP 7, 612, 1 (Agath.); App. Anth. Epigrammata dedicatoria 291, 13; E. HF 791; Eus. Vita Constantini 3, 54, 2; Him. Or. 64, 5; Ibyc. fr. S151, 23f. PMGF; Jo. Gaz. 13 Ciccolella; S. OT 1108 Νυµφᾶν Ἑλικωνίδων (zitiert im Lex. Vind. s. v. ὅτῳ, jedoch mit Ἑλικωνιάδων; zur Lesart s. auch Abschnitt B.II. 4.2.2 Anm. 421). – S. ferner Posidipp. fr. 118, 7 Austin-Bastianini σκοπιὰς Ἑλικωνίδας: Es handelt sich um eine Konjektur von Schubart aus ελικωλιδες, möglicher-

124

A.II

Helikon

Bei einigen Autoren ist eine Interaktion der Musen mit dem Helikon als Landschaft verzeichnet, die über eine bloße Verortung hinausgeht. Dies ist der Fall vor allem in Hesiods Theogonieprooimion, in dem Göttinnen und Landschaft ganz essentiell korrespondieren, und wird in einem späteren Kapitel ausführlich beleuchtet.147 Herausgegriffen sei an dieser Stelle nur die wiederkehrende Formulierung ὄσσαν ἱεῖσαι (Hes. Th. 10; 43; 65; 67), „ihre Stimme fahren lassend“, mit der Hesiod das Singen der Göttinnen einleitet. Es gewinnt so eine räumliche Deckungskraft, die auch den Helikon umfasst (Th. 10). Ähnliches findet sich bei einem weiteren archaischen Dichter: Himerios gibt an, Simonides habe gedichtet, wie die Musen beim Anblick Apolls noch mehr als zuvor „das Lied hinausschleudernd einen ganz und gar harmonischen Laut den Helikon herab aussenden“ (Simon. fr. 265 Poltera:148 τὸ µέλος ἐκτείνασαι ἦχόν τινα παναρµόνιον καθ’ Ἑλικῶνος ἐκπέµπουσιν). Die Formulierung

146

147 148

weise den Κασταλίδες aus dem Folgevers (V. 8) geschuldet; Lloyd-Jones und Parsons entscheiden sich im SH für Ἑλικωνίδες, dann bezogen auf die Musen. b) Ἑλικωνιάς: AP 6, 336, 2 (Theoc.) (= Theoc. Ep. 1, 2 Gow); AP 7, 14, 8 (Antip. Sid.); AP 12, 1, 4 (Strat.); Hes. Th. 1 (zitiert bei AP 9, 572, 1 [Lucill.]; Anon. Fig. 3, 149, 17 Spengel) mit Schol.; Hes. Op. 658 mit Schol.; Pi. I. 2, 34 mit Schol.; Pae. 7b, 19 (fr. 52h, 19 Snell-Maehler); Soz. 3, 5, 4. c) Ἑλικωνία: Pi. I. 8, 57. – Den Beinamen Ἑλικωνιάδες tragen die Musen nicht zuletzt auch als Kultepitheton im Musenheiligtum von Thespiai: Vgl. IThesp 58, 5-7; 59, 4-6; 153, 3 (?); 206, 3; 288; 418, 6; 424, 3. Die Musen singend und/oder tanzend auf dem Helikon: Simon. fr. 265 Poltera (bei Him. Or. 62, 7); Aristid. Or. 43, 6 Keil; Max. Tyr. 38, 2; Porph. in Harm. 157; Men. Rh. 390; 442; Coluth. 23f.; Him. Or. 22; 46, 6; 47, 9; Schol. Hes. Op. 1 Pertusi; Schol. Pi. O. 2, 44; vom Helikon gerufen/kommend: B. 29, 1-4; Anon. fr. 938, 5 SH; Batr. 1f. mit Schol.; Max. Tyr. 37, 4; Q. S. 3, 594; Him. Or. 12, 25; 48, 3; 48, 37; dorthin gehend: Vit. Aesop. G 8; Q. S. 3, 785. – Darüber hinaus halten sich die Musen, ohne weitere Spezifizierung ihrer Tätigkeit, auf dem Helikon auf bei E. HF 791; Call. Aet. fr. 22j Harder; Limen. 3 (Pai. 46, 3 Käppel); Vit. Aesop. G 36; Plu. Mor. 1094a (Non posse suaviter vivi secundum Epicurum); Luc. Ind. 3; JTr. 26; AP 7, 612, 5f.; AP 14, 3; Procl. in R. Bd. 2, S. 204 Krol; Schol. Hom. Il. 2, 484; Schol. Pi. O. 2, 48. – Badend, tanzend und singend auf dem Helikon sind die Musen natürlich auch bei Hes. Th. 1-21 anzutreffen. Vgl. ohnehin auch die in den Abschnitten A.II.2.2.1-2.2.4 vorgestellten Stellen. S. unten Kapitel B.I. Vgl. Him. Or. 62, 7.

2

Der Berg der Musen

125

„ἦχόν […] ἐκπέµπουσιν“ ähnelt Hesiods „ὄσσαν ἱεῖσαι“; das Attribut παναρµόνιον wiederum findet seine Entsprechung in Hesiods „φωνῇ ὁµηρεῦσαι“ (Th. 39). Der Musengesang breitet sich über ihren ganzen Berg aus. Der Gesang der Musen zeigt auf den Helikon eine ganz besondere Wirkung in einer von Nikandros’ Metamorphosen, die Antoninus Liberalis nacherzählt (Ant. Lib. 9). Es wird vom Wettstreit zwischen den neun Pierostöchtern und den herausgeforderten Musen berichtet. Der Agon wird auf dem Helikon ausgetragen; bei seiner ersten Nennung scheint er nichts als ein Berg zu sein: καὶ ἀγὼν ἐγένετο µουσικῆς ἐν τῷ Ἑλικῶνι. Und es fand ein Musikwettstreit [sc. zwischen ihnen] auf dem Helikon statt. Ant. Lib. 9, 1

Es bleibt jedoch nicht dabei: Denn beim Auftritt der Pieriden lärmt alles und achtet nicht auf Tanz und Gesang (Ant. Lib. 9, 2). Beim Auftritt der Musen aber hält die ganze Natur inne (Ant. Lib. 9, 2). Auf seine Weise reagiert auch der Helikon: ὁ δ’ Ἑλικὼν ηὔξετο κηλούµενος ὑφ’ ἡδονῆς εἰς τὸν οὐρανόν, ἄχρις αὐτὸν βουλῇ Ποσειδῶνος ἔπαυσεν ὁ Πήγασος τῇ ὁπλῇ τὴν κορυφὴν πατάξας. Der Helikon aber wuchs bezaubert von Wonne in den Himmel, bis ihn Pegasos auf Geheiß des Poseidon aufhielt, indem er mit seinem Huf den Gipfel trat. Ant. Lib. 9, 2

Der Berg wird hier also zu einem gewissen Grad personifiziert, er wird mit Emotionen ausgestattet. Sie rufen jedoch eine Reaktion hervor, die sich innerhalb seiner Landschaftlichkeit abspielt: Der Berg wächst entzückt zu einem noch höheren Berg empor. Wie nebenbei, zumindest in Antoninus’ Version nicht expliziert, ist auch das Hippoukrene-Aition149 – der Hufschlag des Pegasos – in einen neuen Zusammenhang gestellt. Gewissermaßen mit vertauschten Rollen treten die Musen und der Helikon in einem Fragment der böotischen Dichterin Korinna auf. War 149

Vgl. oben Abschnitt A.II.2.2.3.

126

A.II

Helikon

es bei Nikandros der Helikon, der durch seine Reaktion – wie auch die ganze Natur – ein Votum im Wettstreit abgab, so sind es hier die Musen, die Mitglieder der Jury sind. Der Helikon aber tritt gegen den zweiten wichtigen böotischen Berg, den Kithairon, an. Diese besondere Konstellation wird in einem eigenen Kapitel behandelt.150 Zuletzt sei ein Epigramm aus der Anthologia Palatina vorgestellt, das zwar nicht in strengem Sinne eine echte Interaktion zwischen Musen und Helikon enthält, aber die Göttinnen in bukolischer Leichtigkeit in ihrem Zuhause zeigt. Es handelt sich um ein mathematisches Rätsel: Ἁ Κύπρις τὸν Ἔρωτα κατηφιόωντα προσηύδα· „Τίπτε τοι, ὦ τέκος, ἄλγος ἐπέχραεν;“ ὃς δ’ ἀπάµειπτο· „Πιερίδες µοι µῆλα διήρπασαν ἄλλυδις ἄλλη αἰνύµεναι κόλποιο, τὰ δὴ φέρον ἐξ Ἑλικῶνος. Κλειὼ µὲν µήλων πέµπτον λάβε, δωδέκατον δὲ Εὐτέρπη· ἀτὰρ ὀγδοάτην λάχε δῖα Θάλεια· Μελποµένη δ’ εἰκοστὸν ἀπαίνυτο, Τερψιχόρη δὲ τέτρατον· ἑβδοµάτην δ’ Ἐρατὼ µετεκίαθε µοίρην· ἡ δὲ τριηκόντων µε Πολύµνια νόσφισε µήλων, Οὐρανίη δ’ ἑκατόν τε καὶ εἴκοσι· Καλλιόπη δὲ βριθοµένη µήλοισι τριηκοσίοισι βέβηκε. σοὶ δ’ ἄρα κουφοτέρῃσιν ἐγὼ σὺν χερσὶν ἱκάνω πεντήκοντα φέρων τάδε λείψανα µῆλα θεάων.“

5

10

Kypris fragte Eros, der den Kopf hängen ließ: | „Was für ein Kummer, mein Kind, hat dich berührt?“ Und er antwortete: | „Die Pieriden haben mir meine Äpfel entrissen eine jede woandershin, | sie greifend aus meinen Armen, die Äpfel, die ich doch vom Helikon gebracht hatte. | Kleio nahm von den Äpfeln ein Fünftel, ein Zwölftel Euterpe; ein Achtel jedoch bekam die göttliche Thaleia; | Melpomene entriss mit ein Zwanzigstel, Terpsichore | ein Viertel; den siebten Teil erbeutete Erato; | Polymnia beraubte mich dreißig Äpfel, | Ourania hundertzwanzig; Kalliope schließlich | ging beladen mit dreihundert Äpfeln davon. | Ich aber komme mit ziemlich leeren Händen zu dir, | diese fünfzig Äpfel nämlich trage ich als Reste von den Göttinnen.“ AP 14, 3

150

Es handelt sich um das Fragment Corinn. PMG 654 col. i, 1 - col. ii, 11. S. unten Kapitel B.III.

3

Das Tal der Musen

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Die Musen tragen in diesem kleinen Stück ihre hesiodeischen Namen; der Verfasser hat sie sogar in hesiodeischer Reihenfolge in seinen Versen untergebracht.151 Sicher nicht von ungefähr ist es auch, dass sie ausgerechnet dem Eros die Äpfel stehlen, der der zweite große Kultgott von Thespiai ist.152 Die Rechnung hat übrigens Argoud gewissenhaft ausgeführt: 3360 helikonische Äpfel waren im Spiel.153 3

Das Tal der Musen

Das sogenannte Tal der Musen liegt östlich unterhalb des Gipfelkammes der Zagarás-Kette154 – dem Helikon im engeren Sinne. Es liegt an seinen tiefsten Punkten 400 m über dem Meeresspiegel und erreicht Lagen bis zu 800 m Höhe.155 Im Süden wird es begrenzt durch den Ausläufer Marandáli, im Norden durch die Gipfel bzw. Hügel Koursára, Pirgáki und Paliovorós. Ist sein westliches Ende noch schmal, so öffnet es sich nach Osten hin in Richtung der heutigen Ortschaften Áskri156 und Neochóri, hin zur „sanfte[n] Tertiärlandschaft“157 der thebanischen Ebene. Das Tal ist quellenreich und von mehreren Bächen durchzogen, deren prominentester der Permessos ist.158 151

152 153 154 155

156

157 158

Vgl. Hes. Th. 77-9: Κλειώ τ’ Εὐτέρπη τε Θάλειά τε Μελποµένη τε | Τερψιχόρη τ’ Ἐράτω τε Πολύµνιά τ’ Οὐρανίη τε | Καλλιόπη θ’. Vgl. unten Abschnitt A.II.3.1.2 Anm. 256. Vgl. Argoud 1996, S. 41f. Die Verfasserin hat nachgerechnet: Es stimmt. Vgl. oben Abschnitt A.II.2. Vgl. Rackham 1983, S. 294 und die 2005 herausgegebene Helikon-Wanderkarte des Anavasi-Verlags. Zum Verständnis auch älterer Forschungsbeiträge sei darauf hingewiesen, dass die Benennung der Ortschaft sich mehrmals geändert hat. Die hilfreiche Website PANDEKTIS (ΠΑΝΔΕΚΤΗΣ) der National Hellenic Foundation for Research (Εθνικό Ίδρυµα Ερευνών), vorgestellt als „A Digital Thesaurus of Primary Sources for Greek History and Culture“, enthält unter anderem auch einen Katalog der in den Jahren 1913-1996 vorgenommenen Umbenennungen griechischer Ortschaften. Das heutige Áskri hieß bis 1953 Paläopanagiá (Παλαιοπαναγιά) und wurde dann in Panagía (Παναγία) umbenannt, 1970 erfolgte die Umbenennung in Askräa (Ασκραία), 1973 schließlich in Áskri (Άσκρη; vgl. www.pandektis.ekt.gr; letzter Zugriff am 19.09.2017). Philippson 1951, S. 453. S. Bölte 1912, S. 4; Rackham 1983, S. 315; Farinetti 2011, App. II, S. 4f.;

128

A.II

Helikon

Das Musenheiligtum, das sich über die Reste einiger Gebäude lokalisieren lässt, liegt ganz im Westen dieses Tals am Fuße des Zagarás, etwa 10 km vom antiken Thespiai entfernt. 3.1

Das Heiligtum

3.1.1 Archäologische Spuren Die maßgeblichen Grabungen im Heiligtum der Musen fanden unter der Leitung von Stamatakis (1882159) und Paul Jamot (1888, 1889 und 1890) statt.160 Während die figuralen und inschriftlichen Funde in den Folgejahren nach und nach veröffentlicht wurden,161 blieb eine ansatzweise systematische Publikation der Gebäudestrukturen im Tal der Musen bis zu Rouxs um eigene Angaben erweiterte Auswertung von Jamots Aufzeichnungen im Jahr 1954 aus.162 Dieser Artikel musste lange Zeit

159

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Robinson 2012, S. 252. Irrtümlich gibt Caruso 2016, S. 116 das Jahr 1878 an. Die Arbeiten im Tal der Musen, die zu einem großen Teil aus einer versuchsweisen Grabung an und unter der Agía-Triás-Kapelle bestanden, fanden jedoch im Jahr 1882 statt. Stamatakis schreibt lediglich in seinem Bericht, dass am gleichen Ort bereits im Jahr 1878 vier Basen von Musenstatuen mit den Epigrammen des Honestus gefunden worden seien (s. Stamatakis 1882/3, S. 66). Dies dient ihm zusammen mit anderen Indizien zur Identifikation des Gebietes als das aus den Quellen bekannte Musenheiligtum (vgl. ebd., S. 67). Nicht ganz präzise ist auch die doppelte Aufzählung eines von Stamatakis gefundenen „crepidoma di un monumento“ und der „resti dell’altare“ (Caruso 2016, S. 116): Es handelt sich bei der unter den Ruinen der Agía-Triás-Kapelle aufgefundenen Struktur nämlich gerade um Fundament und Krepis des Gebäudes, das von Jamot zunächst als Tempel, von Roux später plausibel als Altar gedeutet wird (s. unten zum Altar). Eine ausführliche Darstellung der Grabungsgeschichte im Tal der Musen geben Müller 1996, S. 171-6 und Tzanimis 2012, S. 19-44; vgl. Roux 1954, S. 22-4; Moggi und Osanna 2010, S. 380f.; Caruso 2016, S. 116f.; Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 699-703. S. Jamot 1890; 1891; 1894; 1895; 1902a; 1902b; 1902c; 1903; De Ridder 1922; Plassart 1926. Die Lücke wird lang beklagt, so etwa von Frazer in seinem 1896 abgefassten

3

Das Tal der Musen

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als „définitive“163 verstanden werden – seit jüngster Zeit stehen die Monumente des Musenheiligtums jedoch wieder im Fokus archäologischer Forschungen.164 Darüber hinaus sind sowohl das Tal der Musen im All-

163 164

Pausanias-Kommentar (vgl. Frazer 1965, V, S. 152 zu Paus. 9, 29, 5) oder von Wilamowitz 1925, S. 109 und ähnlich 1928, S. 212f. Roux 1954, S. 23 erklärt das Ausbleiben einer Veröffentlichung mit Jamots Mangel an einem kompetenten Architekten, der eine solche hätte mit Illustrationen versehen können. Seinen eigenen Artikel will er nicht als Publikation der architektonischen Funde sehen – eine solche erforderte seiner Ansicht nach neuerliche Arbeiten und eine sorgfältige Recherche im Magazin des Museums von Thíva – sondern nur als bescheidenen Versuch einer Beschreibung der Gebäude im Tal der Musen (s. ebd., S. 23f.). Rouxs Begehr erfüllt sich nun: S. unten Anm. 164. – Eine nicht in jedem Punkt exakte Beschreibung der Monumente des Musenheiligtums, die sich im Wesentlichen auf Roux 1954 gründet, findet sich auch in Ada Carusos 2016 erschienenem Werk über Mouseia, s. S. 108-11 M3.-M5. Vgl. auch Tzanimis 2012, S. 106-120. Müller 1996, S. 175. Dies betraf zunächst nur das Theater: Offenbar fanden im vierten Quartal 2016 archäologische Arbeiten statt, die allerdings rasch wieder eingestellt wurden. Wie es scheint, ist dieses neue archäologische Interesse einer Initiative des „Vereins der Fortschrittler von Askri“ (Σύλλογος Φιλοπροόδων Άσκρης) zu verdanken: Die Entwicklungen können im Lokalblatt Η Φωνή της Άσκρης („Die Stimme von Áskri“) verfolgt werden; vgl. ΦτΑ 4 (2013), S. 12; 7 (2014), S. 12; 9 (2015), S. 13; 11 (2015), S. 11; 12 (2015), S. 13; 15 (2016), S. 13; 16 (2016), S. 6; 17 (2017), S. 13; 18 (2017), S. 13; 19 (2017), S. 13; 20 (2017), S. 13; 24 (2018), S. 13. Eine Veröffentlichung der Ergebnisse steht noch aus. – Weitaus spektakulärer ist jedoch ein junges, bereits laufendes Projekt, das schon erste Früchte getragen hat: In den Sommern 2018 und 2019 wurde der Altar unter der Leitung von Yannis Kalliontzis (Center for Hellenic Studies, Harvard) neu ergraben, als Startschuss für eine systematische Neuuntersuchung aller Monumente und Funde des Heiligtums. Das Projekt ist eine Zusammenarbeit der École française d’Athènes und der Ephorie der Altertümer Böotiens. Während die Publikation der Ergebnisse rund um den Altar noch aussteht, ist an anderer Stelle der reiche Ertrag dokumentiert: Biard, Kalliontzis und Charami 2017 geben erstmals eine vollständige Analyse und Beschreibung der Blöcke der großen Musenbasis (befindlich im Museum von Thíva; s. unten Abschnitte A.II.3.1.2, 3.2.1.3 u. 3.2.1.4) heraus. Für eine allgemeine Beschreibung des Projekts s. die Mitteilungsseite des CHS unter kleos.chs.harvard.edu (letzter Zugriff am 15.10.2019).

130

A.II

Helikon

gemeinen als auch das Musenheiligtum im Besonderen Gegenstand topographischer Untersuchungen geworden.165 Auch das Boeotia Survey Project bzw. Ancient Cities of Boeotia Project unter der Leitung von John Bintliff und Anthony Snodgrass, später auch Margherita BonannoAravantinou und Božidar Slapšak, war in der Gegend aktiv.166 In dem Gebiet, das das eigentliche Heiligtum umfasst, fand man die Reste vierer steinerner Gebäude: Es handelt sich um einen Altar, eine Stoa, ein Theater und eine weitere nur spärlich erhaltene Struktur. Die nahen Ruinen der drei Kapellen Agía Äkateríni, Ágios Konstantínos und Agía Triás, die im Zuge der Grabungen abgetragen wurden, bargen zudem eine große Zahl an wiederverwendeten Blöcken, Basen, Plinthen und anderen architektonischen Elementen.

165

166

So beschäftigt sich Fossey 1988 mit dem Gebiet, s. ebd., S. 134-165 über die Thespike und insbes. S. 141 für das Musenheiligtum. S. auch Wallace 1974. Für die Geschichte des Projekts vgl. die Homepage www.boeotiaproject.org (letzter Zugriff am 14.08.2018). Das Projekt untersucht die Entwicklung der Landschaftsnutzung und Bevölkerungsgeschichte mit ihren verschiedenen Aspekten und deren Vernetzung, indem die Scherbendichte und -art an verschiedenen Orten flächendeckend mittels ‚intensive field-walking‘ ermittelt und so verschieden beschaffene Aktivitäts-Fokusse bestimmt werden; diese wiederum werden mit Informationen über bekannte Stätten sowie mit literarischen und epigraphischen Quellen in Beziehung gesetzt. Auf diese Weise entsteht ein komplexes Bild Böotiens von prähistorischer bis in nachmittelalterliche Zeit. Für eine Bibliographie des Projektes bis zum Jahr 2007 s. Bintliff, Howard und Snodgrass 2007, S. 313-6, für eine Übersicht über die Ergebnisse der Folgejahre s. jeweils die zweite Ausgabe eines Jahres von Teiresias. Die Feldstudien im Tal der Musen fanden in den 1980er Jahren statt; in der Folge sind einige Artikel erschienen, s. insbes. Snodgrass 1985; Bintliff 1996; Vroom 1999a und 1999b. In Teiresias 45,2 (2015) 3 (= Bintliff 2015) kündigt Bintliff für die Zukunft als vierten Band des Boeotia Project eine umfassende Monographie mit Titel „Askra and the Valley of the Muses“ an, in dem alle Daten und Funde der 1980er Jahre neu untersucht werden. Die Daten und Ergebnisse sind teilweise bereits eingespeist in die GIS-Studie von Farinetti 2011; s. für die Thespike mit Tal der Musen und Musenheiligtum ebd. S. 155-165 und 335-345 (insbes. S. 338f. Nr. 13-15). Der zweite Band des Boeotia Project über das Stadtgebiet des antiken Thespiai ist 2017 erschienen – auch hier sind passim einige Ergebnisse zum Heiligtum verarbeitet.

3

Das Tal der Musen

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Der monumentale Altar167 weist eine rechteckige Grundfläche von 9,80 m Länge und 5,80 m Breite auf, deren Längsseite auf einer NordSüd-Achse ausgerichtet ist. Über dem Fundament, bestehend aus zwei Schichten Porosgestein und einer Euthynteria aus Konglomerat, erhebt sich die zweistufige Krepis aus Kalkstein. Die Art, in der die Blöcke der oberen Stufe bearbeitet sind, zeigt, dass die Ostseite offenbar eine dritte Stufe trug, während die Westseite zu ihr eine etwa zwei Meter breite, tiefer liegende Plattform bildete.168 Die erhabene Opferfläche begrenzten an den Seiten möglicherweise Giebeldreiecke mit Palmettenakroteren.169 167

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Die folgende Beschreibung des Altars gründet sich auf die detailliertere Darstellung bei Roux 1954, S. 25-7 u. 28f. (mit Abb. 4-10); vgl. Caruso 2016, S. 108f. (mit Abb. 13 und 14, übernommen von Roux). Robinson 2012, S. 237 präsentiert zusätzliche Abbildungen (Abb. 7 und 8). Ein aktueller Steinplan findet sich bei Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 746 (Abb. 36). Im Lokalblatt Η Φωνή της Άσκρης 27 (2019) 13 präsentiert man die Skizze einer Rekonstruktion. S. Roux 1954, S. 25; Caruso 2016, S. 109. Diese Zweiteilung der Grundfläche durch die unterschiedlichen Höhen stellt das wesentliche Argument gegen die ursprüngliche Interpretation der Struktur als kleiner Tempel der Musen und für die Deutung als Altar dar, wie Roux darlegt (s. S. 25 und 27; vgl. auch Müller 1996, S. 173 und 175; Caruso 2016, S. 119). Die tiefer liegende Westseite sei in diesem Fall als Prothysis aufzufassen. – Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 744-7 untersuchen die Struktur auf ihre Eignung als offene Nische für die große Musenexhedra (s. dazu unten Abschnitte A.II.3.1.2 und 3.2.1.4) hin, kommen aber zu dem Ergebnis, dass sie als solche aufgrund der zu geringen Länge nicht in Frage komme; die Interpretation als Altar bleibe somit – beim derzeitigen, defizitären Stand der Forschungen – die plausibelste Auslegung. So lautet Rouxs plausible Interpretation des Fragments eines kleinen Giebeldreiecks mit erhaltenem Seitenakroter, das, zusammen mit anderen zum Altar gehörigen Blöcken, in den Mauern der Agía-Triás-Kapelle gefunden wurde. Der Fund ist nur in Form einer von Jamot angefertigten Skizze erhalten (vgl. wiederum Bonnards Zeichnung davon bei Roux 1954, S. 29 Abb. 9, ebenfalls abgedruckt bei Caruso 2016, S. 109 Abb. 14). Für eine Übersicht über verschiedene Altarformen s. Hellmann 2006, S. 122-144, insbes. 137141 für die seitliche Einfassung mit Giebeldreiecken und ähnlichen Elementen. – Robinson 2012, S. 236 erwägt eine Ummauerung des Altars: „Two limestone steps remain in situ upon the foundation courses, once surmounted by walls (one block has been identified)“ (ebd.). Es handelt sich möglicherweise um ein Missverständnis mit Roux, auf den Robinson verweist, ohne

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Die Kombination der Materialien und die Bauweise des Altars deuten auf eine hellenistische Entstehungszeit, frühestens im dritten Jahrhundert v. Chr.170 Die Stoa171 misst 96,70 m172 in der Länge und 10 m in der Breite. Sie ist mit ihrer Längsseite grob nord-südlich ausgerichtet, mit leichter Abweichung in Richtung einer Nordwest-Südost-Achse. Über dem Fundament aus zwei Schichten Porosgestein liegen zwei Stufen aus Konglomerat, die heute weitgehend mit dem Bodenniveau abschließen. Die teilweise erhaltenen Mauern bestanden aus Konglomerat. Sie umfassten nicht nur Seiten und Rückwand des Gebäudes, sondern verliefen auch um die Ecken herum bis zu einer Länge von 6,40 m an den beiden äuße-

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die erhöhte Opferfläche zu erwähnen. S. Roux 1954, S. 27; vgl. Caruso 2016, S. 109. Roux beklagt die vage Natur und Spärlichkeit der Anhaltspunkte, die in unterschiedlichem Maße für alle Gebäude des Heiligtums gilt. Aufgrund der archäologischen Praxis des späten 19. Jahrhunderts sind auch keine stratographischen Untersuchungen zur Datierung der Gebäude möglich, wie Müller 1996, S. 175f. konstatiert. Die Ergebnisse der Arbeiten Kalliontzis’ (vgl. oben Anmerkung 164) bleiben zu erwarten. Die folgende Beschreibung der Stoa gründet sich auf die detailliertere Darstellung bei Roux 1954, S. 27 u. 28-36 (mit Abb. 10-15 und 17). Vgl. Coulton 1976, S. 294 (mit Abb. 120) und auch Caruso 2016, S. 110 (mit Abb. 15 u. 16, übernommen von Roux), die allerdings nicht in allen Punkten präzise ist. Abweichungen werden in den folgenden Anmerkungen dargelegt. Bezüglich der Länge finden sich bei Roux 1954 leicht voneinander abweichende Angaben: Im Fließtext (S. 27) nennt er die Maße 40,60 m + 38,0 m + 18,10 m = 96,70 m (so etwa zitiert von Schachter 1986, S. 151 und Caruso 2016, S. 110). Auf der Abbildung 10 (S. 30) hingegen ist die Stoa mit den Maßen 40,60 m + 38,0 m + 18,00 m = 96,60 m bezeichnet (so etwa zitiert von Coulton 1976, S. 294; Hellmann 2006, S. 124; Robinson 2012, S. 235). Sowohl die Angaben im Text als auch die Angaben in der Skizze gründen sich aber laut Roux eigentlich auf Jamot (vgl. die allgemeine Bemerkung zu den im Artikel genannten Maßangaben auf S. 25, Anm. 1 sowie die Bildunterschrift zu Abb. 10 auf S. 30). Ohne Einsicht in Jamots Aufzeichnungen kann schwerlich eine Angabe präferiert werden. – Die Dreiteilung der Maße ergibt sich aus dem Umstand, dass ein Erdrutsch den Mittelteil der Stoa entlang einer Länge von etwa 38 Metern mit sich gerissen hat, während die Enden in unterschiedlich gutem Zustand erhalten geblieben sind; die erhaltenen Abschnitte sind an den Rändern zur abgerutschten Mitte hin in östlicher Richtung verschoben (s. Roux 1954, S. 27 mit Abb. 10 u. 11).

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ren Enden der Vorderseite, wo sie jeweils mit einer Ante aus Porosgestein abschlossen.173 Zwischen den Anten befanden sich insgesamt 36 aus Porosgestein gefertigte ionische Säulen mit monolithischem, von einer weißen Stuckschicht überzogenem Schaft. Das Gebälk bestand, der ionischen Ordnung folgend, aus einem Architrav mit drei Faszien, einem aus einem Block gefertigten Fries, dem auf einem Zahnschnitt gelagerten Geison und einer Terrakotta-Sima mit Löwenkopf-Wasserspeiern zwischen Akanthusranken-Ornamenten, gekrönt von PalmettenAntefixa. Roux hebt die markante Profilierung des Gebälks hervor.174 Im Inneren der Stoa verlief zum Zeitpunkt der Grabungen der Länge nach mittig eine Mauer, durchbrochen von einem Türeingang im südlichen Bereich; mehrere der Breite nach verlaufende Mauern kreuzten sie und formten so eine Anzahl von Räumen. Ursprünglich ging diesen späten, auch aus wiederverwendeten Blöcken bestehenden Mauern jedoch eine mittige Säulenreihe mit korinthischen Kapitellen voraus, die den Wandelgang in zwei Schiffe unterteilte. Roux datiert die Stoa in ihrem originalen Zustand ins 3. Jh. v. Chr.175 173

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Dieser Stoa-Typus mit den umlaufenden Wänden war laut Coulton 1976, S. 81 in Nordwestgriechenland ebenso wie im nördlichen Kleinasien verbreitet. – Wohl irrtümlich gibt Caruso 2016, S. 110, die sich eigentlich auf Roux 1954 beruft, an, nicht nur die Antenpfeiler selbst, sondern auch die Mauern an der Vorderseite bestünden aus Porosgestein. Fehlerhaft ist auch die Angabe, die Mauern erstreckten sich an den Enden der Vorderseite über eine Länge von jeweils 6,10 m (s. ebd.): Rouxs Maß ist 6,40 m (vgl. Roux 1954, S. 27 und 42). S. Roux 1954, S. 34: „L’importance accordée aux moulures est surprenante: elles ne sont point traitées comme de simples motifs de transition entre l’architrave, la frise, le larmier, mais comme des éléments constitutifs de l’entablement dont elles alourdissent sensiblement l’aspect et les proportions.“ Dieser Eindruck beruht, wie Roux ebd. fortfährt, im Wesentlichen auf den Maßangaben und Skizzen Jamots; er könne nicht mehr am Objekt selbst überprüft werden. Diese Einschätzung entspringt einer Beurteilung und Abwägung verschiedener stilistischer Merkmale: Die Basen der äußeren, ionischen Säulen bezeichnet Roux 1954, S. 32 als „type habituel à l’époque hellénistique“. Die hellenistischen Merkmale der ionischen Kapitelle seien in solchem Maße ausgeprägt, dass sie nicht vor das dritte Jahrhundert zu datieren seien (s. ebd., S. 34). Das Sima entspreche einem vom 4. Jh. v. Chr. an gebräuchlichen Typus, mit bestimmten Merkmalen, die im 4. und 3. Jh. v. Chr. zu fin-

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Das Theater176 ist in eine natürliche halbkreisförmige Senke gebettet, wobei für die kreisrunde Orchestra und das Bühnengebäude teilweise

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den seien (s. ebd.). Die korinthischen Kapitelle aus dem Inneren wiederum könnten eigentlich ohne Hindernis ins 3. Jh. v. Chr. eingeordnet werden (s. ebd., S. 36). Das dritte Jahrhundert v. Chr. ergibt sich somit als Schnittmenge der einzelnen Erwägungen. – Caruso 2016, S. 110, die nur Roux als Quelle angibt, unterläuft offenbar ein Irrtum: Sie konstatiert für das Gebäude zwei Phasen, deren erste sie ins 4. Jh. v. Chr. legt. Dieser Phase entstamme „il primo colonnato interno“ (ebd.). Die zweite Phase sei nach dem Jahr 303 v. Chr. anzusetzen; gemäß Roux verwiesen auf diese die Kapitelle. Es ist davon auszugehen, dass Caruso hier die ionischen Kapitelle der äußeren Säulenreihe meint, auch wenn keine Spezifizierung vorliegt. Eine solche zeitliche Disparatheit der inneren und äußeren Säulenreihe erscheint nicht einleuchtend und ist bei Roux in dieser Form auch nicht zu finden. Im Gegenteil, bei der Zuordnung vierer Fragmente korinthischer Kapitelle zur Stoa (befindlich im Museum von Thíva), die Jamot zwar bei der Stoa gefunden, aber einem unbekannten Gebäude zugeordnet hatte, verwendet Roux 1954, S. 34f. ausdrücklich die ionischen Säulen als Bezugsgrößen hinsichtlich des Materials, des Stils und der Maße. Das Missverständnis gründet sich möglicherweise auf die tatsächlich einer späteren Phase entstammenden inneren Mauern, die die korinthische Säulenreihe irgendwann ersetzen, aber keinesfalls zeitlich mit der ionischen Säulenreihe gleichzusetzen sind. Roux gibt keinen konkreten Zeitraum an; er spricht von „murs tardifs“, die mit „blocs remployés“ (ebd., S. 34) gefüllt seien. Zu beachten ist darüber hinaus auch der später folgende Gedankengang (s. ebd., S. 43), dessen Pointe gerade darin besteht, dass keine Spuren von steinernen Gebäuden existieren, die früher als im 3. Jh. anzusiedeln sind. – In diesem Zusammenhang sei auch auf die fehlerhafte Darstellung auf der Homepage des griechischen Ministeriums für Kultur und Sport (Υπουργείο Πολιτισµού και Αθλητισµού) hingewiesen: Sowohl in der griechischen als auch in der englischen Version heißt es dort, die korinthische Säulenreihe habe später die (ursprüngliche) Mauer ersetzt (vgl. www.odysseus.culture.gr; letzter Zugriff am 15.10.2019); die Rollen müssen vertauscht werden. Die folgende Beschreibung des Theaters gründet sich auf die detailliertere Darstellung bei Roux 1954, S. 36-8 (mit Abb. 16 und 18f.). Vgl. auch Caruso 2016, S. 111, die allerdings nicht in allen Punkten präzise ist. Abweichungen werden in den folgenden Anmerkungen dargelegt. – Hingewiesen sei hier erneut auf die bereits oben in Anm. 164 erwähnten jüngsten archäologischen Arbeiten am Theater (Oktober-Dezember 2016), deren noch zu erwartenden Ergebnisse die verfügbaren Beschreibungen wohl erweitern oder

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künstlich eine Terrasse geschaffen wurde. Die Cavea weist keine steinernen Sitzbänke auf; einzig die Prohedrie-Sitze bestanden möglicherweise aus Marmor.177 Das Bühnengebäude vom Typus einer Proskenion-Skene maß 22,20 m in der Länge und 10,50 m in der Breite; davon betrug die Breite des Proskenions 2,60 m. Der Stylobat des Proskenions, 18,30 m lang, bestand aus Kalkstein und trug an der Frontseite zwölf monolithische dorische Halbsäulen von 2,06 m Höhe, welche an Pfeilern von weitgehend178 rechteckiger Grundfläche saßen. Die Säulen- bzw. Pfeilerreihe war an den beiden Enden eingefasst von Mauern von jeweils 1,95 m Länge, die zwei kleine Kammern im Inneren des Proskenions nach außen hin abschlossen.179 Die teilweise erhaltene Rückwand des Proskenions bestand aus Konglomerat. – Der einzige180 Anhalts-

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ergänzen werden. Das Bruchstück eines marmornen Sitzes, der dem Theater entstammen könnte, wurde in den Mauern der Agía-Triás-Kapelle gefunden: S. De Ridder 1922, S. 221 Nr. 5; Roux 1954, S. 36 mit Anm. 2. Die Pfeiler weisen an den beiden hinteren Ecken einen vertikalen Falz auf; s. Roux 1954, S. 36 und Abb. 19 (ebd., S. 37). Irrtümlich erwähnt Caruso 2016, S. 111 zwei Arten von Säulen: „Sullo stilobate di calcare (l. 18.30 m) sono dodici semicolonne doriche tra muri pieni. Altre colonne doriche, monolitiche (h [sic] 2.06 m), erano comprese tra pilastri.“ Korrekt ist jedoch obige Beschreibung: Vgl. Roux (1954) 36 sowie die erhellenden Abbildungen 18 und 19 (s. ebd., S. 37: Fotografie des Proskenions zum Zeitpunkt der Grabungen, Grundriss der Skene mit Proskenion). S. Roux 1954, S. 36. Der Grund ist der schlechte Erhaltungszustand des Theaters. Roux zufolge fand Jamot das Proskenion in recht gutem Zustand vor, während die Skene bereits der Erosion zum Opfer gefallen war. Stilistische Erwägungen das Proskenion betreffend sind jedoch nicht möglich, da die Kapitelle der Säulen (bis auf kleinteilige Fragmente) ebensowenig erhalten sind wie das Gebälk (bis auf einige Teile des Geisons). – Carusos die Datierung betreffende Angabe in der Übersicht zum Theater „dopo il 303 a.C.“ (2016, S. 111) ist zwar nicht falsch, aber doch unpräzise, insbesondere im Vergleich mit der von Feyel übernommenen späteren Angabe zum Steinmetzzeichen im Text („datata tra la fine del III e l’inizio del II sec. a.C.“, ebd.). Auch, warum ausgerechnet das Jahr 303 v. Chr. genannt wird (ebenso auf S. 108 im Zusammenhang mit dem Altar und auf S. 110 im Zusammenhang mit der Stoa), bleibt ohne erkennbaren Grund, zumal, da eigentlich immer Roux 1954 als Quelle angezeigt ist. Möglicherweise handelt es sich um

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punkt für die Datierung des Theaters ist eines von drei Steinmetzzeichen, die Jamot auf der Rückseite dreier Pfeiler fand. Zum ersten Mal weist eine thespische Inschrift um die Wende vom dritten zum zweiten Jahrhundert v. Chr. ein entsprechend charakteristisch ausgeformtes Alpha auf.181 Mit ihr wäre also möglicherweise ein terminus post quem für das Theater gegeben. Eine weitere Struktur kann möglicherweise als Stoa identifiziert werden.182 Von ihr verbleiben lediglich zwei Lagen der Frontmauer – eine aus Poros, eine aus Konglomerat – auf einer Länge von 48 Metern. Die Mauerreste umfassen auch die südöstliche Ecke des Gebäudes.183 In der Nähe dieser Struktur hat man zudem einen Brunnen mit eingefasstem Becken von mindestens zwei Metern Länge gefunden.184 Die Lage der Gebäude im Tal und zueinander verhält sich folgendermaßen: Das Theater liegt etwas abseits von Altar und Stoa ganz im Westen des Tals in einer natürlichen Senke am Fuße des Zagarás. Etwa einen Kilometer weiter östlich185 befindet sich die Stoa, etwa 10 m vom

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einen wiederholten Druckfehler für das Jahr 323 v. Chr., das immerhin einen möglichen Epochenbeginn des Hellenismus markiert. S. Feyel 1942, S. 123-132.; vgl. Roux 1954, S. 36 und 38. So lautet Rouxs Interpretation (1954, S. 36) der von Jamot verzeichneten Struktur. S. ebd., S. 36. Die Struktur, die noch nicht ergraben ist, beschreibt Roesch 1992, S. 270f. (vgl. Robinson 2012, S. 235). Sie befindet sich in der Nähe des Permessos. Eine moderne Einfassung, aus antiken Elementen zusammengesetzt, sammle das Wasser: Es sei „très fraîche et très douce, et elle coule en toute saison“ (ebd., S. 271). Die Reste der antiken Brunneneinfassung seien etwa drei Meter flussabwärts zu finden, überwuchert und nahezu in der Erde versunken. Die aus groben Felsblöcken gefügte Brüstung sei auf etwas mehr als zwei Metern Länge erhalten; weitere zugehörige Blöcke befänden sich in der näheren Umgebung. Bearbeitungsspuren am Inneren der Einfassung deuteten an, dass das Becken ursprünglich mit Steinplatten ausgekleidet war. Roesch trifft keine Aussage zu einer möglichen Datierung des Brunnens. Rouxs Angabe (1954, S. 36), das Theater befinde sich etwa 300 m südwestlich der Stoa (vgl. Robinson 2012, S. 235; Caruso 2016, S. 111) entspricht weder hinsichtlich der Himmelsrichtung noch hinsichtlich der Entfernung der Karte, die in seinem eigenen Artikel abgedruckt ist (S. 23, Abb. 1), und auch nicht der Karte von Wallace 1974, S. 13 (Karte 2; auch abgedruckt bei Caruso 2016, S. 117 als Abb. 20).

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Südufer des Permessos entfernt und grob an einer Nord-Süd-Achse ausgerichtet. Der Altar wiederum mit seiner nahezu exakten Nord-SüdAusrichtung liegt in etwa 40 m Entfernung im Osten der Stoa; er ist seinerseits vom Permessos um die 52 m entfernt. Die Stoa war in östlicher Richtung, also zum Altar hin geöffnet. Die Struktur, für die eine Identifikation als zweite Stoa erwogen wird, befindet sich nördlich des Altars am jenseitigen, nördlichen Ufer des Permessos. Die Stoai könnten jeweils die westliche und nördliche Begrenzung eines Gebietes bilden, in dessen Zentrum der Altar liegt:186 „the sacred center of the Mouseion“187. Robinson betont, dass in diesem Falle auch der Fluss Permessos in den Kern des Heiligtums mit einbezogen sei, eine Tatsache, die „its integral rôle in the rituals“ hervorhebe.188 Der Brunnen, der sich ebenfalls am jenseitigen Ufer des Permessos etwa auf Höhe des Altars befindet, bestärkt diesen Eindruck.189 Neben den Gebäuden gehören zu den Funden des Tals auch kleinere Objekte etwa aus Keramik und Bronze, vor allem aber zahlreiche inschriftliche Stelen und Basen von Weihstatuen.190 Die zugehörigen Skulpturen sind – bis auf wenige Fragmente191 – nunmehr verloren; 186 187 188 189

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Vgl. Roux 1954, S. 36 und Robinson 2012, S. 235f. Robinson 2012, S. 235. S. ebd., auch für das Zitat. Für die Lage vgl. Roesch 1992, S. 270. Roesch bezeichnet die Struktur als „une fontaine à bassin de quelque importance“ (ebd., S. 271). Eine gewissenhafte Zusammenstellung aller Funde aus dem Tal der Musen – nicht nur den Musenkult betreffend – präsentiert Tzanimis 2012, S. 45-146, wenn auch ohne Verweis auf aktuelle Forschungsbeiträge. Für Keramik aus dem Heiligtum s. unten (Abschnitt A.II.3.1.2, für kleinere bronzene Objekte s. Jamot 1891, S. 402f., vgl. De Ridder 1922, S. 292 Nr. 160-72; Tzanimis 2012, S. 138f. Auch einige Bleigewichte und Reste von Glas gehören zu den Funden des Heiligtums (s. De Ridder 1922, S. 295 Nr. 192, 193 u. 195; vgl. Tzanimis 2012, S. 139). – Im Folgenden wird ein knapper Überblick über die Weihstatuen gegeben, nach Kategorien. Viele Objekte werden in den folgenden Abschnitten A.II.3.1.2, 3.1.3 und 3.2.1 im Einzelnen besprochen. Bei der Agía-Triás-Kapelle wurden folgende Fragmente von Plastiken gefunden: die Hand einer marmornen Statuette (s. De Ridder 1922, S. 239 Nr. 38) und die Basis mit den ausgestreckten Pfoten eines liegenden Hundes, ebenfalls aus Marmor (s. ebd., S. 259 Nr. 82); darüber hinaus auch eine Basis mit kuppelförmigem Gebilde, möglicherweise einem Omphalos (s. ebd., S. 222 Nr. 10); vgl. Tzanimis 2012, S. 121. Eine Reihe von bronzenen Frag-

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doch geben die Inschriften einen lebendigen Eindruck von der Ausstattung des Heiligtums. Einen solchen vermittelt auch Pausanias’ Beschreibung, wobei auffällt, dass sich die Funde kaum mit seiner Aufzählung von Weihgaben decken.192 Die Funde umfassen Inschriften, die hindeuten auf: Weihungen von Siegern der Mouseia;193 Statuen oder Reliefstelen von Musen und assoziierten mythologischen Figuren, geweiht von Einzelpersonen oder der Stadt Thespiai;194 Ehrenstatuen von Wohltätern der Stadt und/oder Funktionären der Mouseia oder bedeutenden – vor allem römischen – politischen Persönlichkeiten, zumeist von der Stadt Thespiai den Musen geweiht;195 eine weitere Statue einer Einzelperson, den Musen geweiht von ihren Verwandten;196 einen Dreifuß, den Musen geweiht vom Böoti-

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menten – auch kleineren Objekten – stammt zudem aus einem Depot an der Südmauer der Stoa, darunter Teile der knapp über-lebensgroßen Statue einer männlichen Figur, ein Blech mit drei aufgesetzten Theatermasken, Vorderbein und Schweif eines behuften Tieres (vlt. eines Rehs) und Reste eines Bronzekranzes: s. Jamot 1891; vgl. De Ridder 1922, S. 291f. Nr. 158 u. Nr. 160-72, Tzanimis 2012, S. 133-9 (mit den Abb. von Jamot). Robinson verweist auf die im Vergleich bedeutend größere Fülle von erhaltenen fragmentarischen oder vollständigen Skulpturen aus dem Umfeld des antiken Thespiai (vgl. Robinson 2012, S. 233f. Anm. 45). Vgl. Paus. 9, 29, 5 - 9, 31, 6. S. dazu unten Abschnitt A.II.3.2.1.2. Vgl. IThesp 204 und 206. Von Einzelpersonen geweiht sind die Votivstele des Euthykles mit HelikonAbbildung IThesp 274 und die Stele mit Thamyris IThesp 303 mit 312. Von der Stadt Thespiai geweiht ist die große Musengruppe IThesp 288-97, möglicherweise auch die Mnemosyne IThesp 301. Unklar ist, wer die drei Musenstatuen mit Basen IThesp 298-300 weihte, die möglicherweise Teil mindestens einer weiteren Musengruppe waren; in Analogie zur großen Musenexhedra ist auch hier die Stadt Thespiai denkbar. Des Weiteren ist in IThesp 275, Z. 1 das Wort Ἑλικῶνος erkennbar, ein Bezug zu den Musen also denkbar. Auch hier ist keine Angabe zum Weihenden möglich, ebensowenig zur Figur, die die Basis trug. Die Stadt weiht die Statuen mit Inschriften IThesp 306; 377; 387; 397 (u. evtl. 398); 400-2; 404; 405; 410; 421-3; 429; sehr wahrscheinlich auch IThesp 414 und 424. Eine Statue des Prokonsuls Cervonius weihen ein Thespiades und ein Eustephios im 4. Jh. n. Chr. (vgl. IThesp 419). Es handelt sich um die Basis mit der Inschrift IThesp 305 (datiert in IThesp auf das 3. Jh. v. Chr.): Eine Μου[ρτί]χα und ein Σάων Ἀγά[θωνος] weihen

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schen Bund;197 weitere Weihungen an die Musen, ohne Hinweis, was dargestellt war.198 Auch Siegerlisten der Mouseia wurden im Umfeld des Heiligtums gefunden,199 darüber hinaus ein Dekret, das die Reorganisation der Mouseia im letzten Drittel des dritten Jahrhunderts v. Chr. betrifft.200 Bei allen diesen Zeugnissen, die einen direkten Bezug zum Musenkult aufweisen, erscheint der Schluss vom Fundort auf die Zugehörigkeit zum Heiligtum sehr plausibel. Die überwältigende Mehrheit stammt – als Baumaterial wiederverwendet – aus den Mauern der Agía-Triás-Kapelle, die ja auf dem Fundament des Musenaltars errichtet wurde, oder aus ihrer unmittelbaren Umgebung: Dieser Fundort entspricht dem Kerngebiet des antiken Heiligtums. Vereinzelt stammen die Blöcke auch aus anderen Kapellen der Gegend – von den sehr nahen Kapellen der Agía Äkateríni und des Ágios Konstantínos über die schon weiter entfernten Kapellen der Episkopí und des Ágios Nikólaos bis hin zu Kapellen in der Nachbarschaft der modernen Ortschaften Áskri und Neochóri.201 Mit zunehmender Entfernung vom Kerngebiet des Heiligtums und gleichzeitig wachsender Nähe zum Stadtgebiet von Thespiai (und nicht zuletzt anderer antiker Siedlungen des Gebietes) verringert sich die Sicherheit, mit der als Ursprungsort der Fundstücke das Heiligtum festgesetzt werden kann. Andersherum existieren auch Funde, die unmittelbar auf dem Gelände des Heiligtums oder in nächster Nähe gefunden wurden, deren Bezug zum Musenkult aber nicht offensichtlich ist. Robinson, die ihren Fokus vor allem auf die Ehrenstatuen römischer

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den Agathon den Musen. Vgl. IThesp 287. Vgl. IThesp 304, geweiht von einer Einzelperson, ebenso vermutlich IThesp 307. Auch IThesp 308 ist eine Weihung an die Musen, der Urheber (Einzelperson oder Kollektiv?) aber nicht rekonstruierbar. IThesp 302 enthält zwar nur die Inschrift Νέων Ἐρωτίονος, da der Name aber im Mouseia-Siegerkatalog IThesp 167 aus dem 2. Jh v. Chr. als Priester der Musen geführt ist, ist eine Weihung an diese Göttinnen sehr wahrscheinlich. Die Inschrift stammt von einem korinthischen Kapitell, „soit comme monument isolé, soit comme partie d’un édifice“ (Roesch in IThesp). Vgl. IThesp 161; 168; 180; 194. Vgl. IThesp 158. Eine Karte mit den Kapellen (gleichzeitig Fundorten) des Musentals präsentiert Roux 1954, Abb. 1 (ebenfalls abgedruckt bei Tzanimis 2012, S. 92).

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Persönlichkeiten richtet, legitimiert ihre Auswahl folgendermaßen: „While blocks found in and near the mediaeval and modern settlements at Thespiai may have migrated there at any time, movement in the opposite direction, uphill, into the rural valley seems less likely.“202 In der Tat lässt sich so – nicht zuletzt aus Gründen der Analogie und der chronologischen Entwicklung der gesamten Region – der Kreis der im Musenheiligtum aufgestellten Weihstatuen bedeutend erweitern.203 Darüber 202

203

Robinson 2012, S. 234 Anm. 46. Als guter Gradmesser für das Zutreffen dieser These mag die Verteilung antiker Grabsteine als Baumaterial für die unterschiedlichen Kapellen des Musentales dienen: Von den zahlreichen Blöcken mit Grabinschriften (IThesp 404-1303) war ein großer Teil in die Kapellen Ágios Geórgios und Ágios Loukás verbaut (ungefähr auf der gleichen Nord-Süd-Achse liegend, ca. 2 km östlich vom Musenheiligtum). Diese bilden ein Art ‚Grenze‘: Von den dem Heiligtum näheren Kapellen barg die Agía Äkateríni keinen, der Ágios Konstantínos zwei entsprechende Steine (IThesp 742 u. 1077). Auch die Agía-Triás-Kapelle selbst barg zwei Blöcke (IThesp 847 u. 1119). Eine Wanderung in die andere Richtung, aus dem Tal heraus, ist dagegen gut bezeugt. Folgende Ehrenstatuen, bei denen die adressierte Gottheit nicht ersichtlich ist, stammen von der Agía-Triás-Kapelle: geweiht von Thespiai IThesp 210, 211, 364, 395, 428, 433, 438, wahrscheinlich auch 431; geweiht von Einzelpersonen IThesp 365 u. 372; mit unklarem Weihenden IThesp 349, 362, 408. Von der Agía-Äkateríni-Kapelle stammt IThesp 366, wahrscheinlich von der Stadt Thespiai geweiht. – Darüber hinaus gibt es – ebenfalls mit Fundort bei der Agía-Triás-Kapelle – eine Reihe von Weihungen mit Adressierung τοῖς θεοῖς, so von der Stadt Thespiai (IThesp 411 und 420). Ebenso existieren Zeugnisse für Statuen von Privatpersonen, den Göttern geweiht von ihren Verwandten: In IThesp 342 weiht eine Frau die Statue ihres Bruders, in IThesp 350 die Eltern ihren Sohn, in IThesp 353 die Eltern ihre Tochter zum Anlass ihrer Priesterschaft. Ebenfalls den Göttern geweiht, unklar von wem, ist die Ehrenstatue IThesp 474. – Die Adressierung τοῖς θεοῖς im Rahmen eines Musenheiligtums bedarf unter Umständen einer Erklärung. Allerdings gibt es ein deutliches, wenn auch spätes, aus dem 1. Jh. n. Chr. stammendes Indiz für diese Praxis im Musenheiligtum am Helikon: So befinden sich beim Altar in situ eine Basis mit einer Inschrift, die die Weihgabe als Statue des Titus Statilius Quintus, den Göttern aufgestellt von den Thespiern, auszeichnet (vgl. IThesp 411). IThesp 414, ebenfalls in situ beim Altar, gehört wiederum zu einer Statue des Titus Statilius Quintus, die den Musen geweiht ist.– Unklar ist, wie Weihungen an andere Gottheiten einzuschätzen sind, deren Zugehörigkeit zum Umfeld der Musen nicht auf der Hand liegt. So stam-

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hinaus kann auch für mindestens zwei thespische Proxeniedekrete das Musenheiligtum als Aufstellungsort angenommen werden.204 Von der Vielzahl der gefundenen Blöcke mit Inschriften stammen die frühesten aus dem dritten Jahrhundert vor, die spätestesten aus dem vierten Jahrhundert nach Christus. Sie offenbaren eine dichte Ausstattung des Heiligtums mit Statuen, im Gegensatz zu der spärlichen Ausstattung mit Gebäuden. 3.1.2 Die Entwicklung des Heiligtums Während keine Spuren von Gebäudestrukturen oder Inschriften aus der Zeit vor dem dritten Jahrhundert v. Chr. zu verzeichnen sind, beginnt die Geschichte des Musenheiligtums am Helikon schon weitaus früher.205

204

205

men IThesp 262 mit einer Weihinschrift an Demeter und Hermes und IThesp 314 an Iphimedes von der Agía-Triás-Kapelle. Möglicherweise muss hier eine Wanderung der Objekte angenommen werden. – Zu Weihgaben gehörten möglicherweise auch die Fragmente mit den Inschriften IThesp 454, 472 und 473 (alle aus dem ersten Jahrhundert vor oder nach Chr. und gefunden bei der Agía Triás, sonst nicht näher zu bestimmen) sowie IThesp 479 (von der südwestlichen Ecke der Stoa). Zwei Basen mit Künstlerinschriften – IThesp 456 von der Agía-Triás-Kapelle und IThesp 460, 20 m nördlich des Musenaltars in situ – trugen ebenfalls Weihstatuen oder Kultbilder. Vgl. IThesp 2 und 19, beide von der Agía-Triás-Kapelle. Die meisten thespischen Proxeniedekrete wurden in größerer Nähe zur antiken Polis gefunden (vgl. IThesp 1-28). Des Weiteren stammt aus den Überresten der Stoa ein nicht näher zu bestimmender Katalog mit Namen (IThesp 123). Die Entwicklung des Heiligtums beschreibt ausführlich Schachter 1986, S. 147-179; vgl. knapper Roux 1954, S. 38-45; Robinson 2012, S. 230-233, auch S. 237-242 (die Entwicklung im Spiegel der Weihinschriften); ferner Mojsik 2011a, S. 77-86; Caruso 2016, S. 114-9. Das Material ist bei Schachter gesammelt. Eine Auswahl führt auch Caruso 2016, S. 94-111 u. 126-136 auf. Zu ihrer Zusammenstellung von Inschriften (E1-E25 unter „(1) Monte Elicona e Valle delle Muse“ [S. 94-126] und E1-E8 unter „(2) Tespie“ [S. 126-139]) beachte man folgende Ergänzungen und Korrekturen: Bei E18 (S. 105) handelt es sich um IThesp 405 = Thes. 41 Manieri, bei E19 (S. 105f.) um IThesp 206 = Thes. 9 Manieri, bei E20 (S. 106) um IThesp 205 = Thes. 20 Manieri, bei E22 (S. 107) um IThesp 294, bei E8 (S. 134) um IThesp 418 (jeweils nicht angegeben). – Zu E2 (S. 97; entspricht IThesp

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A.II

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Strabon und Pausanias berichten von Traditionen, die den Musenkult am Helikon frühzeitlichen oder mythischen Stiftern zuschreiben; ein solches hohes Alter des Musenkultes am Helikon lässt sich heute schwer verifizieren oder falsifizieren.206

206

303) vermerkt Caruso: „Secondo Roesch la base venne riutilizzata per il carme die Onesto (E13)“. Unter E13 (S. 101-3) wiederum führt Caruso die inschriftlich erhaltenen Epigramme des Honestus auf, die zur großen Musenbasis gehören. Roesch meint aber das Thamyris-Epigramm des Honestus in IThesp 312. – Unter E20 (S. 106) ist die Angabe „IG VII 1820“ durch „IG VII 1819“ zu ersetzen. – Carusos E22 (S. 107), dort als undatierte Weihinschrift an Euterpe geführt, rechnet Roesch unter IThesp 294 mit zur großen Musenbasis, die die neun Epigramme des Honestus – jedes zu Ehren einer anderen Muse –, trug. In ihrer eigenen Beschreibung dieser Basis (S. 101-3: E13) gibt Caruso für Euterpe ohne expliziten Hinweis das Epigramm IThesp 298 an, das ebenfalls dieser Muse gewidmet ist. Die beiden Verweise auf IThesp sind demnach zu ergänzen. Zur Frage der Zugehörigkeit s. unten Anm. 279. – Die bibliographischen Angaben unter E24 (S. 107) gehören nicht zur angegebenen „Base di statua (h 0.20; lungh. 0.53 m), proveniente da Agia Triada“ (ebd.), sondern zum „Frammento di una base rettangolare [...] proveniente dal castrum“ unter E7 (ebd., S. 133f.), wo sie noch einmal – in diesem Fall an der richtigen Stelle – aufgeführt werden. Offen bleibt, um welche Inschrift es sich bei E24 („[- -]Μούσα[ις]“) handeln soll: Sie ist E7 („[- - -]Μούσα[ις]“), welche IThesp 309 („- - - - Μούσα[ις/ vac.“) entspricht, sehr ähnlich. – Auf S. 127 schickt Caruso der zweiten Gruppe von Inschriften eine kurze Übersicht über die verschiedenen Arten von Informationen über den Musenkult voraus, die diese beinhalten sollen. Allerdings weisen einige der aufgezählten Inschriften keinen Bezug zu den Musen auf, so IThesp 61 und alle, die in Anm. 132-4 (S. 196) genannt sind. So schreibt Strabon in 9, 2, 25 und 10, 3, 17 dem helikonischen Kult einen thrakischen Ursprung zu (vgl. oben Abschnitte A.I.1.3; 3.2.3; A.II.2.1.1); Pausanias berichtet von der wohl lokalen Tradition, dass die Aloaden sowohl Askra gegründet als auch als erste auf dem Helikon den Musen geopfert hätten; sie hätten eine Dreizahl der Musen mit Namen Mneme, Melete und Aoide eingeführt (vgl. Paus. 9, 29, 1f.), die Neunzahl dann später der Makedone [sic] Pieros (vgl. Paus. 9, 29, 3f.). Hardie 2006 zeigt sich zuversichtlich, dass hier alte Traditionen auch auf eine frühe Einführung relevanter Kulte weisen; kritisch zeigt sich Mojsik 2011a, S. 125-33 u. 2018, S. 72f. mit Anm. 29. S. auch van Groningen 1948; Vox 1980; Schachter 1986, S. 187f.; Manieri 2009, S. 316f.

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Das Tal der Musen

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Die älteste bekannte kultische Handlung im Tal der Musen ist die Weihung des Dreifußes, die Hesiod in den Werken und Tagen schildert: ἔνθα δ’ ἐγὼν ἐπ’ ἄεθλα δαΐφρονος Ἀµφιδάµαντος Χαλκίδα [τ]’ εἰσεπέρησα· τὰ δὲ προπεφραδµένα πολλὰ ἄεθλ’ ἔθεσαν παῖδες µεγαλήτορες· ἔνθα µέ φηµι ὕµνῳ νικήσαντα φέρειν τρίποδ’ ὠτώεντα. τὸν µὲν ἐγὼ Μούσῃσ’ Ἑλικωνιάδεσσ’ ἀνέθηκα ἔνθα µε τὸ πρῶτον λιγυρῆς ἐπέβησαν ἀοιδῆς.

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Dort [sc. in Aulis] setzte ich über nach Chalkis, zu den Spielen für den streitbaren207 Amphidamas; | die im Voraus vielverkündeten Preise stifteten seine beherzten Söhne. Dort rühme ich mich | im Gesang siegreich gewesen zu sein und einen Dreifuß mit Henkeln davongetragen zu haben. | Den habe ich den helikonischen Musen als Weihgabe aufgestellt | an dem Ort, wo sie mich zum ersten Mal zum helltönenden Sang gebracht haben. Hes. Op. 654-9

‚Hesiod‘ gewinnt bei den Leichenspielen des Amphidamas in Chalkis als Sänger einen Dreifuß, eine gängige Preisform. Seinen Siegpreis widmet er den Göttinnen, die ursächlich sind für seinen Erfolg: den Musen.208 Und dies geschieht ebendort, wo sie ihn einst in die Sangeskunst 207

208

Vgl. West 1978, S. 320 zu Hes. Op. 654: „Amphidamas’ epithet, taken as ‘warlike’ rather than ‘clever’, implies that he has proved himself in battle”. West (1978, S. 321 zu Hes. Op. 656) ist sich sicher, dass es sich um die Wiedergabe realer Ereignisse handelt: „[N]o one will suppose Hesiod’s Amphidamas to be a fiction“. Dies ist selbstverständlich nicht ohne Weiteres vorauszusetzen, s. etwa Mojsik 2011a, S. 43-5 für eine kritische Auseinandersetzung mit einer solchen selbstbewusst biographischen Lesart. Für die Frage, ob für eine Dreifußweihung ein Heiligtum bereits vorhanden sein muss oder nicht, ist es allerdings irrelevant, ob Hesiod oder ‚Hesiod‘ als Weihender in Erscheinung tritt. – Voraussetzung ist aber, dass die Autorschaft Hesiods akzeptiert wird: Lamberton 1988 etwa verwirft die Verse 651-60 (und ebenso unter Umständen das Prooimion der Theogonie), ausgehend von Plutarchs Athetese der Passage (vgl. Plu. fr. 84 Sandbach = Procl. ad Hes. Op. 650-9 und, zum Umfang von Plutarchs Athetese, West 1978, S. 319 zu Hes. Op. 650-62 sowie Lamberton 1988, S. 500 Anm. 29); er hält sie für ein interpoliertes Aition aus hellenistischer Zeit, das zusammen mit dem ausgestellten Dreifuß den archaischen Ursprung des Musenkultes am Helikon

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eingewiesen haben. Es handelt sich selbstverständlich um eine Anspielung auf das Prooimion der Theogonie mit der berühmten Szene von ‚Hesiods‘ Dichterweihe in den Versen 22-35. Darin ist der Ort der Begegnung mit den Musen und folglich der Ort der Weihung genannt: „Am Fuße des durchgötterten Helikon“ (Hes. Th. 23: Ἑλικῶνος ὑπὸ ζαθέοιο) findet sie statt, im Tal der Musen also. Ob zu diesem Zeitpunkt bereits eine Struktur existiert, die einem Heiligtum – gar inklusive institutionalisiertem Kult – gleichkommt, muss wohl eine der großen unbeantworteten Fragen bleiben. Papalexandrou sieht in Hesiods Weiheakt eine Handlung, die über die Symbolik einer üblichen Weihung hinausgeht: On the one hand, it was a material affirmation of the poet’s divinely inspired capacity for articulating his political and poetic wisdom in the authoritative medium of the hexameter. On the other hand, it is clear from Hesiod’s account that the establishment of a tripod at the site of the Muses’ revelation to him was tantamount to the foundation rite of a famous and important sanctuary. Hesiod’s tripod became the sanctuary’s cornerstone, a sign that was to mark the site forever as a context of and for miraculous happenings. Hesiod’s gesture thus expanded the expressive range of a symbol that had previously served as a token of victory and the special status emanating from it.209

In diesem Fall hätte also Hesiod durch seine Gabe bewusst einen neuen heiligen Raum geschaffen. Dafür mag sprechen, dass es sich um die erste erwiesene Weihung eines Dreifußes von einer Einzelperson innerhalb Böotiens handelt, möglicherweise also ohnehin um eine außergewöhnliche Handlung.210 Andererseits bleibt die Darbringung von Votiv-

209 210

untermauern sollte. Allerdings bestärkt ein Ibykosfragment (S151 PMGF) die Authentizität der Verse: Nicht nur nennt Ibykos die „helikonischen Musen“ (Ibyc. fr. S151 PMGF, V. 23f.: Μοίσαι [...] Ἑλικωνίδ[ες]) in seiner Polykrates-Ode, sondern die Passage S151 PMGF, V. 23-31 stellt sogar ein bewusstes Spiel mit Homers Einleitung des Schiffskatalogs in Il. 2, 484-93 und eben Hesiods Nautilia in Op. 648-62 dar, wie Hardie 2013 in einer detaillierten und komplexen Deutung zeigt. Eine Interpolation in hellenistischer Zeit ist somit ausgeschlossen. Papalexandrou 2008, S. 256. S. ebd., S. 256 u. 257. Zu beachten sind jedoch auch die Dreifüße im Heiligtum des Apollon Ismenios in Theben, von denen Herodot berichtet (vgl. Hdt.

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gaben außerhalb von schon existierenden heiligen Orten ungewöhnlich,211 und die zumindest näherliegende Annahme muss sein, dass ein Musenkult am Helikon in irgendeiner Form bereits vorhanden war. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. jedenfalls – und wohl schon früher – präsentiert man dem Besucher des Heiligtums tatsächlich einen entsprechenden von Hesiod geweihten Dreifuß, zusammen mit anderen.212 Dieser

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212

5, 59-61): Sie sind mit Weihepigrammen versehen – gesetzt in ‚kadmeischer‘ Schrift –, die als Weihende die Heroen Amphitryon, Skaios und Laodamas präsentieren. Die attribuierte Urheberschaft der Heroen kann zusammen mit der frühgriechischen (= ‚kadmeischen‘) Schrift in eine frühere Zeit verweisen, in der Dreifußweihungen von Einzelpersonen auch in böotischen Heiligtümern bereits eine geläufige Option waren. Vgl. Boardman, Mannack und Wagner 2004, S. 303: „The tripods may have been 8th-cent., inscribed soon after manufacture in early script, attributed to the heroic age.“ S. auch Papalexandrou 2008, S. 256-9. Vgl. Parker 2004a, S. 270f. Parker nennt ebd. jedoch auch Ausnahmen von der Regel. Insbesondere seien Hermen und Altare Monumente, die von Einzelpersonen auch außerhalb von Heiligtümern geweiht wurden: „Herms and altars could be dedicated away from sanctuaries because they brought, as it were, their own gods with them.“ Hesiods Dreifuß fällt offensichtlich nicht in diese Kategorien, es sei denn, man wollte, wie Papalexandrou oben, Hesiods spezifischem Dreifuß eine entsprechende Symbolkraft zuerkennen. Beachtung in diesem Zusammenhang sollte auch Parkers folgender Hinweis finden: „[W]hen hunters dedicated memorials of their catch on trees (Diod. 4, 22, 3 [...]), they were probably neither using existing sacred places nor creating new ones“ (ebd.). Als ein mögliches ‚Beutestück‘ könnte auch Hesiods Preis gelten. Allerdings ist auch hier die Analogie schwächer als die Unterschiede: Denn Hesiod weiht seine ‚Beute‘ ja nicht am Ort der ‚Jagd‘, sondern kehrt an einen Ort zurück, den er selbst als heiligen Aufenthalt der Musen präsentiert; darüber hinaus ist der Dreifuß – gesamtgriechisch betrachtet – eine sehr gängige Form der Weihgabe in etabliertem Rahmen. Eindeutig gegen die Möglichkeit einer Weihung in der freien Natur ohne bereits bestehenden Kult spricht sich Von der Mühll 1970 aus. Vgl. Pausanias in 9, 31, 3: Ἐν δὲ τῶι Ἑλικῶνι καὶ ἄλλοι τρίποδες κεῖνται καὶ ἀρχαιότατος, ὃν ἐν Χαλκίδι λαβεῖν τῆι ἐπ’ Εὐρίπωι λέγουσιν Ἡσίοδον νικήσαντα ὠιδῆι. / „Auf dem Helikon sind sowohl andere Dreifüße als auch als ältester der, den, sagt man, Hesiod in Chalkis am Euripos errungen habe als Sieger im Gesang.“ Schachter hält es sogar für möglich, dass der originale Dreifuß ausgestellt war: „It, or a facsimile, was pointed out to Pausanias in the grove“ (Schachter 1986, S. 152 Anm. 1; vgl. auch Boardman, Mannack

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erste kultische Akt wird somit gewissermaßen in die Geschichte des Heiligtums inkorporiert.213 Die Sammlung von Dreifüßen, die Pausanias sieht, darunter immerhin ein Exemplar solchen Alters, dass es auf Hesiods Geberschaft Anspruch erheben kann, könnte durchaus ein zusätzlicher Hinweis auf kultische Aktivität schon in archaischer Zeit sein.214 Spuren von Zivilisation lassen sich bereits für die frühhelladische Zeit nachweisen;215 die ersten materiellen Zeugnisse kultischer Aktivität im Gebiet des Heiligtums stammen jedoch aus dem 6. Jh. v. Chr. Die Objekte – zwei korinthische Aryballoi, drei schwarzfigurige Skyphoi, ein schwarzfiguriges Alabastron – tragen zwar keine Spezifizierung bezüglich der verehrten Gottheit, doch ihr Fundort beim späteren Altar lässt die Musen in Frage kommen.216

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216

und Wagner 2004, S. 303). S. auch unten Abschnitt A.II.3.2.1.3. Vgl. Paus. 9, 31, 3 und Bintliff et al. 2017, S. 204: „[W]hether or not there was a genuine association with Hesiod, the ancient practice of tripod dedication would be enough to hint that cult here began a century or more before 600 BC.“ Zu dieser Praxis insbesondere in Böotien s. Jeffery 1999, S. 90; Papalexandrou 2008. S. Fossey 1988, S. 141: „Long before the establishment of the sanctuary, however, like many other religious sites, it appears to have been a settlement for I have found here surface sherds of EH [sc. Early Helladic] date together with some obsidian flakes.“ Vgl. ebd., S. 532 Nr. 59; Farinetti 2011, S. 339. Die Objekte wurden bei der Agía-Triás-Kapelle gefunden, die auf dem antiken Altar errichtet war, s. De Ridder 1922, S. 288f. Nr. 145-9; vgl. Roux 1954, S. 43; Schachter 1986, S. 151 u. 156; Fossey 1988, S. 141 Anm. 14; Tzanimis 2012, S. 131f. Die Reste eines Graffitos auf einer ebenfalls dort aufgefundenen schwarzglasierten Scherbe unterstreichen den Votivcharakter: HIC ist zu lesen, „sans doute ἱερόν“ (De Ridder 1922, S. 290 Nr. 151; vgl. Schachter 1986, S. 151: „Ηιε̣[ρός/ν]“). Zum Fundort als Hinweis auf die Verehrung der Musen vgl. Schachter 1986, S. 156: „The objects [...] show that there was some kind of cult activity at the site in the archaic and classical periods, and, given the location, it would be perverse to deny that this was directed at the Muses.” – Mojsik 2011a sieht in den Scherben – ohne auf die Inschrift zu verweisen – keinen Beleg: Er verweist auf eine im Rahmen des Boeotia Projects entdeckte große Siedlung, in deren Aktivitätsbereich mit größerer Wahrscheinlichkeit auch die Scherben fielen. Allerdings ist eine solche Siedlung in der Lage des späteren Musenheiligtums nicht belegt: Etwas weiter entfernt, am Fuße des Pirgáki genannten Hügels,

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Für das vierte Jahrhundert v. Chr. verdichten sich erstmals Hinweise auf eine mögliche Institutionalisierung des Musenkults am Helikon. Schachter trägt eine Reihe von Indizien zusammen:217 So deuteten zwei der von Pausanias erwähnten Statuengruppen von Musen auf die Existenz eines öffentlichen Kultes „with an administrative organization which had the resources to commission a set of statues from at least one of the major sculptors of the period“218 bereits im frühen vierten Jahrhundert vor Christus.219 Weiterhin könne ein historischer Ausgangspunkt dem Abschnitt in Plutarchs De Genio Socratis zugrunde liegen, in dem der spartanische König Agesilaos II. nach Ägypten schickt, um eine Tafel entziffern zu lassen, die er im Grab der Alkmene in Haliartos gefunden hatte.220 Die ägyptische Antwort lautet, die Tafel enthalte die Weisung, einen Agon für die Musen abzuhalten (vgl. 579a: Μούσαις ἀγῶνα συντελεῖσθαι). Die Episode spielt zu einer Zeit, als Thespiai unter spartanischem Einfluss steht (382-373 v. Chr.).221 Zudem sei der Frauenkopf auf den thespischen Münzen dieser Zeit möglicherweise als Muse oder Mnemosyne zu interpretieren.222 Aus der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts stammt auch eine Inschrift, die auf erste Kultgruppen im Musenheiligtum deuten könnte, mit Thamyris im Zentrum der Ver-

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reichen die mit Askra identifizierten Siedlungsspuren von protogeometrischer bis in spätrömische Zeit. Vgl. die Übersicht über Funde, Datierungen und Orte des Boeotia Project bei Farinetti 2011, S. 336-8. S. zudem Snodgrass 1985; Bintliff 1996. Caruso 2016, S. 94-126 bezieht die Gebäudestruktur auf dem Kamm des Zagarás und den mit der Hippoukrene identifizierten Brunnen (s. oben Abschnitte A.II.2.2.1 u. 2.2.3) in die Entwicklung des Heiligtums mit ein und erhält so eine erste, archaisch-klassische Phase des Kultes auf dem Berg und in der Folge eine zweite, hellenistisch-kaiserzeitliche im Tal. Eine solche Zuordnung muss hypothetisch bleiben. S. Schachter 1986, S. 157-9; vgl. Manieri 2009, S. 348f. Schachter 1986, S. 157. S. dazu den Exkurs am Ende dieses Abschnitts. Vgl. Plu. Mor. 578f-579a (De Genio Socratis). S. Schachter 1986, S. 157; vgl. Manieri 2009, S. 347-9. Die Episode gewinnt ihre Relevanz in der Tat gewiss nur vor dem Hintergrund möglicher anderer Hinweise auf organisierte kultische Aktivität im Tal der Musen; die Verbindung bleibt spekulativ. Für das Vehältnis zwischen Thespiai und Sparta in dieser Zeit s. Bintliff et al. 2017, S. 210. Vgl. Schachter 1986, S. 157f.

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ehrung.223 Ein Weihepigramm, das Amphion von Thespiai in seinem Werk „Über das Musenheiligtum am Helikon“ (Περὶ τοῦ ἐν Ἑλικῶνι 223

Die Inschrift IThesp 313 steht auf dem Rumpf einer zylindrischen Basis, gefunden beim Varváka genannten Brunnen im Zentrum der antiken Stadt Thespiai (Zum Namen Varváka bemerkt Roesch 1992, S. 271: „On ignore son nom antique“; vgl. Bintliff et al. 2017, S. 159). Die Inschrift führt unter der Bezeichnung ἱα[ρ]αρχίοντος (Z. 1) einen Namen (wohl zu Zwecken der Datierung, vgl. Roesch 1982, S. 139; Osborne 2017, S. 221), unter θαµυριδδόντων (Z. 2) zwei, unter ἁγιοµένων (Z. 5) neunzehn. Nach Roesch 1982, S. 139 weist der Hierarch auf einen religiösen Kontext, in den dann auch die θαµυρίδδοντες fielen (vgl. Schachter 1994, S. 41; für die Bedeutung von ἁγιοµένων s. Roesch 1982, S. 142, Schachter 1994, S. 41). Das Wesen der bezeichneten Gruppe kann nicht eindeutig bestimmt werden. Der Fundort an sich weist zunächst nur auf eine Involvierung der Polis Thespiai, nicht aber automatisch auf eine Verbindung zum Musenheiligtum. Dennoch spricht Osborne 2017, S. 221 sehr entschieden von der Inschrift als „the earliest of what will be a series of documents attesting to cultic groups in the Sanctuary of the Muses“ und ebenso entschieden von „a cult group for Thamyris“. Auch Roesch präferiert diese Auslegung, wobei er die Verbindung zum Musenheiligtum in erster Linie aus der mythologischen Verbindung der Figuren herstellt (s. Roesch 1982, S. 138-142, insbes. S. 140, und Schachter 1986, S. 158 Anm. 1 und 1994, S. 41; vgl. Manieri 2009, S. 317). Für eine mögliche Auslegung in nicht-religiösem Kontext auf Basis von Hsch. s. v. θαµυρίζει (θ 91 Latte) s. Roesch 1982, S. 139f. und Schachter 1994, S. 41; die Interpretation als Kultgruppe des Thamyris scheint aber näher zu liegen. – Thamyris ist im Musenheiligtum präsent: Pausanias sieht ein Bildnis des geblendeten Sängers (vgl. Paus. 9, 30, 2), möglicherweise jenes von der Hand des Kaphisias (vgl. IThesp 303), dessen Basis im Tal der Musen bei Episkopí gefunden wurde (s. unten). Vgl. Roesch 1982, S. 140f.; Schachter 1994, S. 41. – Mit einer ähnlichen Argumentation wie im Falle des Thamyris könnte ein Kult der Mnemosyne mit dem Heiligtum am Helikon assoziiert werden. Von der Kirche des Dorfes Áskri in der Nähe des Musenheiligtums stammt eine (nunmehr kopflose) Herme mit Aufschrift Μναµοσύνας (IThesp 311), für Schachter Hinweis „that there was a special enclosure sacred to Mnemosyne“ (Schachter 1986, S. 145). Roesch datiert sie in IThesp in das 5. Jh. v. Chr. Später wird Mnemosyne erwiesenermaßen zusammen mit den Musen am Helikon verehrt: Im 1. Jh. v. Chr. weihen die Thespier der Mnemosyne und den Helikonischen Musen eine Statue der Mnemosyne, deren Basis erhalten ist; sie trägt ein Epigramm (vgl. IThesp 301). Darüber hinaus führt ein kaiserzeitlicher Siegerkatalog der Mouseia einen [ἐνκωµιογρ]άφος

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Μουσείου) überliefert, könnte ebenfalls aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. stammen.224 Schachter erkennt zwar den eher vagen Charakter dieser Indizien an, wertet sie jedoch als „cumulatively not unimpressive“225. Aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. schließlich ist eine Fülle von direkten Zeugnissen erhalten, die nicht nur die Schirmherrschaft der Stadt Thespiai, sondern auch einen großen Zuwachs an Aktivität im Musenheiligtum am Helikon belegen. Als bestes Indiz für einen organisierten Kult auch schon im vierten Jahrhundert v. Chr. kann also gelten, dass das Entstehen so regen Interesses gepaart mit beachtlichen Investitionen ‚aus dem Nichts‘ weniger plausibel erschiene.226 So hatte der Kult im Tal der Musen offensichtlich die Aufmerksamkeit hellenistischer Könige auf sich gezogen: In den ersten Jahrzehnten des dritten Jahrhunderts stiftet Philhetairos von Pergamon, Sohn des Attalos von Tios, den Musen Land.227 Ein weiterer Philhetairos, Sohn des Eumenes, weiht den Musen ein Thamyrisbildnis.228 In den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts wiederum sind die Ptolemäer präsent: Ptolemaios III. und Berenike sind möglicherweise an der Begründung der

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εἰς Σεβαστὴν Ἰουλίαν Μνηµο|σύνην (IThesp 174 = Thes. 36 Manieri, Z. 7f.). Vgl. Amphion FGrH/BNJ 387 F1 = Ath. 14, 26 = Thes. 2 Manieri; vgl. ferner Ath. Epit. Bd. 2, 2 S. 133 Peppink. Für Einzelheiten s. u. Abschnitt A.II.3.1.3 Anm. 319 sowie den Exkurs in Anschluss an Abschnitt A.II.3.1.3. Schachter 1986, S. 157. Ein ähnlicher Gedanke liegt Osborne 2017, S. 227 zugrunde. Drei Horossteine sind erhalten (vgl. IThesp 58-60). Philhetairos weihte auch dem Hermes Land (vgl. IThesp 61). Vgl. die Weihinschrift IThesp 303 auf der erhaltenen Basis. Eine Künstlersignatur offenbart Kaphisias als Schöpfer des Werkes; in späterer Zeit wurde ein Epigramm des augusteischen Dichters Honestus (vgl. IThesp 312) hinzugefügt. Die Identität dieses Philhetairos ist nicht eindeutig zu klären (vgl. Preuner 1920, S. 393-403; Schachter 1986, S. 159f.; Mehl 2000, S. 788 unter „Philetairos [3]“), nicht zuletzt, da auch der Künstler schwer zu fassen bleibt (vgl. Koutoussaki 2001). Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 705-7 halten es nach neuerlicher Untersuchung des Objekts für möglich, dass die Stele keine skulpturale Darstellung, sondern ein Gemälde des Thamyris trug. – Auch für die Telephos-Plastik, die Pausanias in 9, 31, 2 nennt, liegt ein attalidischer Kontext nah: Sie ist „almost certainly a Hellenistic Pergamene dedication, given that the hero, son of Herakles, would grow up to found that city“ (Robinson 2012, S. 246).

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Mouseia beteiligt, Ptolemaios IV. und Arsinoe III. unterstützen sie nach ihrer Erhebung zu stephanitischem Status unter anderem mit Geldspenden.229 Im Heiligtum wird die Verbindung sichtbar gemacht: Pausanias sieht eine Statue der Arsinoe, auf einem Strauß reitend.230 Eine andere Quelle verrät, sie sei dort sogar als zehnte Muse verehrt worden.231 Schachter vermutet außerdem hinter dem Frauenkopf auf zeitgenössischen thespischen Münzen „‘a muse’ in the person of Arsinoe III“.232 Im Zusammenhang mit der Stiftung des Philhetairos treten in Thespiai erstmals Synthytai (συνθύται) in Erscheinung. Die Formulierung auf einem der drei Horossteine unterscheidet sich von den anderen beiden: Philhetairos habe das Landstück nicht nur den Musen vermacht,

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Wesentliche Zeugnisse sind die Königsbriefe IThesp 152-4 sowie das Dekret IThesp 62. S. dazu unten Abschnitt A.II.3.1.3 mit Exkurs II. Vgl. Paus. 9, 31, 1. Pausanias versieht Arsinoe mit der Spezifizierung „die Ptolemaios als ihr Bruder geheiratet hat“ (ἣν Πτολεµαῖος ἔγηµεν ἀδελφὸς ὤν). Es kommt daher grundsätzlich auch Arsinoe II., Gemahlin ihres Bruders Ptolemaios II. (Philadelphos), in Frage. Doch die besonderen Beziehungen zwischen Thespiai und Ptolemaios IV. und Arsinoe III. legen, insbesondere da sie den Musenkult betreffen, Arsinoe III. als Dargestellte nahe (vgl. Schachter 1986, S. 162 Anm. 4, Preuner 1920, S. 420; anders Robinson 2012, S. 246). Vgl. Call Aet. fr. 2f, 10-15 Harder. Offenbar erläutern die Scholien das Lemma δεκάς, das im Zusammenhang mit den Musen fällt. Unter den drei Erklärungen, die sie anbieten, ist auch die, dass der Dichter möglicherweise Arsinoe zu den Neunen hinzuzähle, „weil sie mit den Ehren der Musen geehrt wird und mit ihnen zusammen im Musenheiligtum aufgestellt ist“ (Z. 12-15: [ὅτι] τετίµηται ταῖς | [τῶν] Μουσῶν τιµαῖ[ς] | καὶ σ̣υ̣νίδρυται αὐ|[ταῖ]ς̣ ἐν τῶι Μουσείῶι). Dazu Schachter 1986, S. 167 Anm. 4: „Of course, Kallimachos will have been writing about an earlier Arsinoe, but the commentator may be referring to ours“. – Arsinoe III. könnte auch im Fragment 959 SH (= PHeid 189 = 11 Schachter) gemeint sein, das unter Umständen Bezug sowohl auf die Mouseia von Thespiai als auch auf die Charitesia von Orchomenos nimmt, s. V. 3 für den Namen „Arsinoe“, V. 13 für das Adjektiv „helikonisch“, V. 14 für eine Erwähnung der „Thespiaden“, V. 16 für die „Chariten“ und V. 17 für „Orchomenos“; vgl. für die Zuordnung als Arsinoe III. Barbantani 2000, S. 137-44 und Schachter 2016=2012, S. 351. Vgl. Schachter 1961; 1986, S. 166f. mit Anm. 4 (das Zitat ebd.); 2016=2012, S. 352 Anm. 22. Anders Grandjean 2017, S. 382 mit Guittet 2012.

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sondern auch „den Philhetairischen Synthytai“.233 Ein weiterer Zusammenschluss von Synthytai findet ebenfalls auf einem Horosstein Erwähnung. Er ist etwas jünger als die genannten drei und weist das entsprechende Land aus als heiliges Land „der hesiodeischen Synthytai der Musen“ (IThesp 65, Z. 3-6: τῶν σ[υν]|θυτάων τᾶµ | Μωσάων Εἱ|σιοδείων).234 Roesch schließt auf eine zweifache Rolle der thespischen Synthytai:235 Einerseits hätten sie – gemäß der Bezeichnung, die sie schließlich als Opfergemeinschaft ausweise – eine kultische Funktion inne, andererseits umfasse ihr Aufgabenbereich auch die Verwaltung von den Musen geweihten Gütern.236 Eine besondere Gruppe innerhalb des epigraphischen Korpus von Thespiai bilden die Verpachtungen; die erhaltenen Inschriften stammen aus der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts v. Chr.237 Die Praxis besteht darin, Gottheiten geweihtes Land an Einzelpersonen zu verpachten und die Pacht als jährlichen Ertrag für kultische Zwecke zu nutzen. Viele der entsprechenden Dekrete und Verträge betreffen den Musen heiliges Land.238 Es zeigen sich unterschiedliche Mechanismen: So sind eini233

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Vgl. IThesp 60, Z. 5f.: τῆς Μ[ώ]|σης κὴ τῦς συνθύτης τοῖ(ς) | Φιλετηρείεσσι. Die Formulierung in IThesp 58 und 59 lautet gleichermaßen: „Φιλέτηρος Ἀττάλω Περγαµεὺς ἀνέθεικε τὰν γᾶν τῆς Μώσης τῆς Ἑλικωνιάδεσσι ἱαρὰν εἶµεν τὸν πάντα χρόνον“. Roesch 1982 nennt IThesp 65 „légèrement postérieure“ als IThesp 60; Vottéro datiert den Stein in IThesp auf das Ende des 3. Jhs. v. Chr., ebenso Schachter 1986, S. 160. – Das Adjektiv Εἱσιοδείων (Genitiv masculinum) ist auf συνθυτάων, nicht auf Μωσάων zu beziehen: Vgl. Roesch 1982, S. 164 Anm. 119. S. ebd., S. 163-6; vgl. Schachter 1986, S. 159. Auch für die Synthytai von Anthedon lasse sich diese Doppelrolle nachweisen, sie sei aber sonst einzigartig (vgl. Roesch 1982, S. 166). Innerhalb Böotiens sind Synthytai außer für Thespiai und Anthedon auch für Theben und Tanagra bezeugt (s. ebd., S. 162). Es handelt sich um IThesp 44-57 und IThesp 62. Für eine übersichtliche Darstellung s. Osborne 2017, S. 225-8; ausführlich Sosin 2000; Pernin 2014, S. 101-142 (s. außerdem ebd., S. 493 u. passim für die Verpachtung von heiligem Land allgemein). Neben den Musen erscheinen auch Herakles und Hermes in den Dekreten; zudem ist von einem Nymphaion die Rede (vgl. Pernin 2014, S. 136; Osborne 2017, S. 226). Osborne betont, dass die Praxis der Verpachtung in Thespiai ausschließlich den kutlischen Bereich betreffe: „We can safely con-

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ge der verpachteten Landstücke vorher von verschiedenen Personen den Göttinnen geweiht worden; auch werden Geldgaben an die Musen in Land investiert, zur Erzeugung von regelmäßigen Einkünften.239 In die Verpachtungen sind sowohl ein ταµίας der Musen als auch die Hierarchen involviert.240

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clude that there is no evidence that the people of Thespiai leased land other than to raise money for cult expenses. [...] Thespiai’s land rental, or at least its epigraphically recorded land rental, is a direct product of its prominent cults, particularly the cult of the Helikonian Muses” (ebd, S. 226). Vgl. ebd., S. 226. Zum ersten Schema gehören die Landstücke, die Gorgythos, Sohn des Kleisthenes, den Musen vermacht (vgl. IThesp 54, 29-36) oder der Garten, den ein Sostratos ihnen geweiht hat (vgl. IThesp 55, 10f.). Möglicherweise stehen auch Philhetairos’ Weihungen in Zusammenhang mit dieser Praxis (vgl. Schachter 1986, S. 159). Ein Indiz enthält etwa IThesp 54, Z. 37 u. 58: Es werden die Landstücke verpachtet, „τ[ὰ]ς ἱαρὰς τῶ Ἕρµαο τὰς ἐν τὸ ἐληοχρίστιον“; der Horosstein IThesp 61 wiederum begrenzt die Weihung des Philhetairos „τοῖ | Ἑρµῆ ἐν τὸ ἐ|ληοχρίστιον“ (Z. 4-6). Generell waren Weihungen von Land an die Musen offenbar kein Einzelfall, auch abgesehen von den genannten konkreten Zeugnissen: In IThesp 54, Z. 29-36 fordert ein Damon, Sohn des Mnasarchos anlässlich der Weihung von Gorgythos gerade, dass dieser auf einer Stele beim Prytaneion festgehalten werde, „wo auch die übrigen aufgeführt sind, die den Musen Land geweiht haben“ (Z. 33f.: ὅπ[ω] | κὴ τὺ λυπὺ τὺ ἀντεθέοντες γ[ᾶς] τ[ῆς] Μώ[σ]ης). Auch die genutzte Formulierung, identisch mit den attalidischen Horossteinen, spricht in ihrer Formelhaftigkeit für eine gängige Praxis (vgl. IThesp 54, Z. 35f.: τὰν [...] γᾶν [...] τῆς [Μ]ώσης τῆς Ἑ|λικωνιάδεσσι ἱαρὰν εἶµεν ἐν τ[ὸν π]άντα χρόνον = IThesp 58, Z. 4-9 = IThesp 59, Z. 4-8) – Zeugnis für das zweite Schema ist das Dekret IThesp 62, in dem explizit eine Geldspende von Ptolemaios IV. in heiliges Land umgesetzt und dieses wiederum verpachtet wird (s. dazu auch Exkurs II nach Abschnitt A.II.3.1.3). Ein weiteres Beispiel könnte die Spende von Louson, Sohn des Kapon in IThesp 54, Z. 24-8 sein: Auch er gibt Geld und es heißt, von den Einkünften aus dieser Geldsumme (IThesp 54, 26f.: ἀπὸ δὲ τᾶς ποθόδω | τᾶς ἀφ’ οὕτω τῶ ἀργυρίω γινυµένας) solle eine Rind für das Opfer bei den vierjährlichen Mouseia geopfert werden. Zwar ist die Art der Einkünfte nicht weiter spezifiziert, doch die Tatsache, dass beide Seiten der Stele (IThesp 54 und 55) sonst nur Dokumente beinhalten, die von der Verpachtung (und, in einem Fall, auch Weihung) von heiligem Land handeln, macht es sehr wahrscheinlich, dass hier ebenso verfahren werden sollte wie mit Ptolemaios’ Geschenk in IThesp 62. Ein eigener Schatzmeister der Musen ist in IThesp 55 bezeugt (vgl. Z. 14

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Der größte Teil der erhaltenen Zeugnisse betrifft jedoch die Mouseia, die im Laufe der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts v. Chr. allmählich ihre definitive Gestalt annehmen.241 Die Zeugnisse umfassen unterschiedliche Bereiche, so die Organisation und Finanzierung des Festes, Siegerkataloge und Weihungen von Siegern. Im letzten Drittel des Jahrhunderts bemüht sich die Stadt Thespiai mit Unterstützung des Böotischen Bundes und mindestens eines Technitenvereins erfolgreich um die Aufwertung ihres thymelischen Agons zum prestigeträchtigen stephanitischen Status.242 In der Folge – und bis ins dritte Jahrhundert n. Chr. hinein – wird das Fest mit seinen musischen Agonen Anziehungspunkt für Wettstreiter und Besucher aus weiten Teilen des Mittelmeerraumes. Auch die Disziplinen erfahren im Laufe der Zeit eine Erweiterung. Insgesamt offenbart das dritte Jahhundert v. Chr. ein gesteigertes Interesse am Musenheiligtum am Helikon, das mit beachtlichen Investitionen einhergeht. Die thespischen Inschriften können nicht nur dazu dienen, Licht auf verschiedene Details der Maßnahmen und Prozesse um die Förderung des Musenkultes zu werfen, sie zeigen auch, dass das Bedürfnis nach einer öffentlich sichtbaren Dokumentation bestand.243 Ein

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u. 21); s. Roesch 1982, S. 203f. zu seiner Funktion und ebd., S. 204f. für die Hierarchen. S. im Einzelnen (auch zum Folgenden) unten Abschnitt A.II.3.1.3. Aus der Zeit der Reorganisation stammen auch die frühesten Münzen, die im Tal der Musen gefunden wurden; vgl. Grandjean 2017, S. 384. Neben den Militärkatalogen scheinen überhaupt erst kultische Angelegenheiten, insbesondere die der Musen, die Notwendigkeit zur Veröffentlichung erzeugt zu haben, gegenüber einer sehr geringen Zahl von Zeugnissen innerthespischer Verwaltung und Politik. S. Osborne 2017, insbes. S. 224: „What propelled Thespiai into the epigraphic limelight (apart from the expectation of the confederacy that troops would be provided and trained), was above all her religious resources. The Muses of Helikon, responsible for Boeotia’s emergence into literature in the poems of Hesiod, created an interest outside Thespiai to which Thespiai was expected, certainly by the Boeotian confederacy as a whole but in some senses also by a wider community, to respond.” Es ist, als würde die Weihung eines thespischen, bei den Mouseia siegreichen Aulodos aus dem dritten Jh. v. Chr. dieser Einschätzung Rechnung tragen: „Thespiai scheint nicht nur Krieger hervorzubringen, sondern auch Männer, die hervorragend sind in den Dingen der Musen“ / Ἁ Θεσπία δ’ ἔοικεν οὐ µόνοµ φέρειν | ἄνδρας µα[χ]ητάς, ἀλλὰ καὶ ἐµ Μούσαις ἄκρους (IThesp 204 = Thes. 8 Manieri, V. 10f.).

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Teil des Prozesses ist auch die sukzessive Ausstattung des Heiligtums mit Gebäuden, bei der man sich offenbar auch architektonische Besonderheiten leistet.244 Als Ort der Opfer zu Ehren der Musen – nicht nur während der Mouseia245 – muss fortan der monumentale steinerne Altar gelten, während das Theater sicherlich Austragungsort mindestens für den dramatischen Agon war.246 Die Stoa, möglicherweise auch deren zwei, konnte zur Ausstellung von ausgewählten Weihgaben dienen, wobei die durch die umlaufenden Mauern gebildeten geschlossenen Kammern an den beiden Enden vielleicht – in Abwesenheit von Schatzhäusern – für die wertvolleren Objekte vorgesehen waren.247 Auch administrativ scheint das Heiligtum voll ausgestattet.248 244

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Für eine Beschreibung der Gebäude s. oben Abschnitt A.II.3.1.1. Architektonische Besonderheiten können zumindest im Falle der Stoa verzeichnet werden. Roux betont die markante Profilierung des Gebälks (Roux 1954, S. 34). Vor allem aber weist Coulton 1976, S. 102 darauf hin, dass die Verwendung der korinthischen Ordnung in Stoai vor der Kaiserzeit äußerst selten sei. Die Stoa im Tal der Musen sei sogar zusammen mit der auf das 4. Jh. v. Chr. zurückgehenden Süd-Stoa in Olympia (ebenfalls mit korinthischer Säulenreihe im Inneren) das einzige Beispiel. Auch die Verwendung der ionischen Ordnung für die äußere Säulenreihe sei durchaus nicht selbstverständlich: “It is difficult to see any special reason for this unusual choice of Ionic; neither stoa [sc. das Abaton in Epidauros und die besagte Stoa im Tal der Musen] is in a predominantly Ionic site, so that there is no question of making them harmonize with the surrounding buildings. The most one can say is that Peloponnesian architects were experimenting with the forms of the Ionic order on the fourth and third centuries; they must also have been experimenting with the position of it“ (ebd.). Dieses Experimentieren mit dem Standort, darf hinzugefügt werden, kann schwerlich allein Sache der Architekten gewesen sein: Der Auftraggeber wird mit ihrem Engagement eine bewusste Entscheidung getroffen haben. Bei Pausanias heißt es im Rahmen der Beschreibung des Musenheiligtums am Helikon von Linos: τούτωι κατὰ ἔτος ἕκαστον πρὸ τῆς θυσίας τῶν Μουσῶν ἐναγίζουσι. / „Diesem bringen sie jährlich vor dem Opfer für die Musen ein Opfer dar“ (Paus. 9, 29, 6). Roux erwägt als Austragungsort des thymelischen Agons auch nach Errichtung des Theaters den Platz vor dem Altar (vgl. Roux 1954, S. 42; Manieri 2009, S. 314). Vgl. Roux 1954, S. 42; Manieri 2009, S. 314f. – Zwei Inventare vom Beginn des zweiten Jahrhunderts v. Chr. verzeichnen die paradosis von wertvollen Objekten und vlt. auch Silbergeld zwischen Agonotheten (IThesp 159 u. 160

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Den regen Betrieb des Heiligtums attestieren auch die Weihgaben an die Musen, die ebenfalls spätestens im dritten Jahrhundert v. Chr. beginnen. Von besonderer Prominenz ist hier neben den attalidischen und ptolemäischen Weihungen der Dreifuß des Böotischen Bundes.249 Er ist Teil einer Reihe von Dreifüßen, die der Bund im Laufe des Jahrhunderts in verschiedenen böotischen Heiligtümern aufstellt;250 als Motivation dienten wahrscheinlich Orakelsprüche des Apollon Ptoios, dem offiziellen Bundesorakel im Hellenismus.251 Papalexandrou legt die Geste als eine symbolisch-restriktive aus, die gedeihenden lokalen Zentren die Autorität des Böotischen Bundes auch in religiösen Angelegenheiten vor Augen führe.252 – Auch die ersten bezeugten Weihungen von Einzel-

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= Thes. 22 Manieri); s. Grandjean 1995 für das bei den Wertangaben angewandte monetäre System, Fröhlich 2011, S. 194-205 für eine umfassende Analyse unter dem Gesichtspunkt der paradosis; vgl. Manieri 2009, S. 382f. Dies ist der Fall zumindest, was die Finanzierung des Kultes (s. o.) und die Organisation der Mouseia (s. unten Abschnitt A.II.3.1.3) betrifft. Was den Betrieb des Heiligtums selbst angeht, so ist neben einem Priester (vielfach erwähnt in den Siegerkatalogen, aber auch in den Dekreten IThesp 54, Z. 24 u. IThesp 156, Z. 2f.) auch – allerdings erst im zweiten Jahrhundert n. Chr. – ein ζακόρος bezeugt: In einem Grabepigramm wird der Verlust seiner Tochter beklagt, von dem ihn die Musen trotz seiner Gebete und seines heiligen Amtes nicht verschont hätten (vgl. IThesp 1247 u. 1248). Die ganz konkreten Aufgaben bleiben unklar; vgl. Schachter 1986, S. 152f. Die Basis wurde bei der Agia-Trias-Kapelle gefunden; sie ist mit einer entsprechenden Inschrift versehen (vgl. IThesp 287). Es sei daran erinnert, dass Pausanias eine größere Anzahl von Dreifüßen im Heiligtum sieht (vgl. Paus. 9, 31, 3). In die Reihe gehören zwölf Dreifüße für Apollon Ptoios in seinem Heiligtum bei Akraiphia, drei für Zeus Eleutherios in Plataia und je einer für die Chariten in Orchomenos und für die Helikonischen Musen im Heiligtum bei Thespiai (vgl. Guillon 1943, S. 161; Roesch 1965, S. 284; Papalexandrou 2008, S. 270). Vgl. Guillon 1943, S. 160f.; Papalexandrou 2008, S. 270. Papalexandrou greift die Interpretation von Guillon 1943, S. 161-3 auf: „Guillon has suggested that these oracles sanctioned the resuscitated agonistic movement in places like Orchomenos, Plataiai, and Thespiae, and placed it under the auspices of the Boiotian Confederacy. According to this reasoning, the Confederacy checked the growth of local particularism and strengthened the federal cause“ (Papalexandrou 2008, S. 270f.). Stimmt die Verknüpfung insbesondere mit Agonen, so stellt möglicherweise der Dreifuß

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personen stammen aus dem dritten Jahrundert v. Chr. Weihende sind ebenso Sieger der Mouseia wie nicht näher zu bestimmende Privatpersonen.253 Es ist denkbar, dass ins dritte Jahrhundert zudem die Werke des anderweitig nicht bekannten Amphion von Thespiai Über das Musenheiligtum am Helikon (Περὶ τοῦ ἐν Ἑλικῶνι Μουσείου) und des Nikokrates Über den Agon am Helikon (Περὶ τοῦ ἐν Ἑλικῶνι ἀγῶνος) und/ bzw. Über das Mouseion (De Musio) gehören, möglicherweise als Teil einer Kampagne zur ‚Anwerbung‘ von Investoren und Wohltätern.254 Dies ist zudem die Zeit, in der die böotische Dichterin Korinna singt:255 Θέσπια καλλιγένεθλε φιλόξενε µωσοφίλειτε Du mit schöner Nachkommenschaft gesegnetes, gastfreundliches, von den Musen geliebtes Thespia. Corinn. PMG 674

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ein weiteres Zeugnis für Mouseia um die Mitte des dritten Jahrhunderts dar (s. unten Abschnitt A.II.3.1.3); er wird in IThesp (unter der Nr. 287) zweifach auf 245-240 v. Chr. datiert. Folgende Weihungen von Siegern stammen aus dem 3. Jh. v. Chr. (nur der Sockel erhalten): IThesp 204 = Thes. 8 Manieri (der Aulodos Straton aus Thespiai; mit Epigramm); IThesp 205 = Thes. 20 Manieri (der ἐπῶν ποιητής Aristides, Sohn des Euklees); IThesp 206 = Thes. 9 Manieri (der ἐπῶν ποιητής Epainetos, Sohn des Paroitas); IThesp 207 = Thes. 21 Manieri (Name und Disziplin nicht erhalten). Aus dem dritten Jahrhundert stammt auch die Votivstele des Euthykles (vgl. IThesp 274), die bei der Agía-TriásKapelle gefunden wurde, s. unten Abschnitte A.II.3.2.1.3 u. 3.2.1.4; evtl. auch IThesp 304 und 305. Amphion von Thespiai wird von Athenaios zitiert, vgl. Ath. 14, 26 (und Ath. Epit. Bd. 2,2 S. 133 Peppink) = Amphion FGrH/BNJ 387 F1 = Thes. 2 Manieri. Nikokrates erscheint mehrmals sowohl in Zitaten als auch auf einem Papyrusfragment (s. im Einzelnen BNJ/FGrH 376) und zeigt „a particularly close familiarity with the eastern seabord of Boiotia and Euboia“ (Schachter 2011 in BNJ 376 unter „Biographical Essay“). Das Werk „Περὶ τοῦ ἐν Ἑλικῶνι Μουσείου“ wird in den Scholien T zu Hom. Il. 13, 21 (= FGrH/BNJ 376 F3a) und ebenfalls im Papyrus P. Mich. 4913 III, Z. 3 (= FGrH/BNJ 376 F1) erwähnt, das Werk De Musio von dem unbekannten Autor in post Censorinum 10 (= FGrH/BNJ 376 F4). Die Theorie der ‚Werbekampagne‘ vertritt Schachter 2011 in BNJ 376 unter „Biographical Essay“; 2012 in BNJ 387; 2016=2012, S. 351. S. auch Manieri 2009, S. 349-51. Für die (umstrittene) Datierung Korinnas s. unten Abschnitt B.III.3.1.

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Das Musenheiligtum diente der Stadt Thespiai in der Folgezeit intensiv als Projektionsfläche und Repräsentationsraum politischer Beziehungen.256 Dies spiegelt sich insbesondere in den Weihgaben und Ehrenstatuen wider, die in ihrer Vielzahl als wesentlicher Faktor den Charakter des Heiligtums bestimmen. Was im Falle der hellenistischen Könige schon angedeutet war, wird in Auseinandersetzung mit der stetig an Einfluss gewinnenden römischen Welt noch deutlicher.257 Robinson beschreibt die grundsätzliche thespische Strategie charakteristisch: „The Thespians seem to have been willing to entrust their fate to the likely victors, an unusual but effective strategy“258. Am Helikon wird dies sichtbar. So scheinen der Dritte Makedonische Krieg (171-168 v. Chr.), in dem Thespiai gegenüber Rom eine freundliche oder neutrale Position einnimmt,259 und insbesondere die Auflösung des Böotischen Bundes 171 v. Chr der kontinuierlichen Blüte der Mouseia nichts anzuhaben.260 Gleiches gilt für den Achaischen Krieg 146 v. Chr., bei dem allerdings die Haltung von Thespiai ebenso wie die Folgen daraus nicht eindeutig bestimmt werden können.261 Im Mithradatischen Krieg stellt sich Thes256

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An dieser Stelle sei bemerkt, um die Gefahr einer allzu einseitigen Darstellung zu meiden, dass nicht allein die Musen in Thespiai verehrt wurden: Neben anderen Kulten war vor allem der Eros-Kult der Stadt berühmt; Pausanias beschreibt ihn als den ältesten und wichtigsten der Stadt (9, 27, 1-5). Für die wohl ab dem zweiten Jh. v. Chr. abgehaltenen Erotideia s. Manieri 2009, S. 341-6 u. 424-34. S. Schachter 1986, S. 161; Robinson 2012, S. 232f. u. 236-242; Müller 2017, S. 233. Ähnliches ist auch für das Stadtgebiet zu beobachten. Robinson 2012, S. 232. Vgl. das Fazit von Müller 2017, S. 232: „Overall, the Thespians are at this time rather favourable to Rome, or display at least a benevolent neutrality.“ S. dazu unten Abschnitt A.II.3.1.3. Die Informationen über die Rolle von Thespiai im Achaiischen Krieg sind spärlich: Lucius Mummius Achaicus, so berichtet Cicero, habe aus der Stadt alle Statuen entfernen lassen, die keine Kultbilder gewesen seien (profana [...] signa), auf welche Weise auch der berühmte Eros des Praxiteles verschont geblieben sei (vgl. Cic. Verr. 2, 4, 4; auch D. Chr. 37, 42). Andererseits weihte Mummius auch, ebenso wie in anderen Städten, mindestens eine Statue wieder ‚zurück‘ (vgl. die im Stadtgebiet des antiken Thespiai gefundene Basis mit der ursprünglichen Weihinschrift eines Agonotheten [IThesp 328] und Mummius’ hinzugesetzter [IThesp 396]). Es ist allerdings, wie Müller 2017, S. 232f. darstellt, schwierig, aus diesen Gesten konkrete

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piai als einzige böotische Stadt auf die römische Seite.262 In der Folge empfängt Quintus Braetius Sura, Legat pro quaestore des Gaius Sententius Saturnius in Makedonien und siegreich in Böotien gegen Mithradates’ Feldherrn Archelaos, eine Statue und Ehren am Helikon.263 Die Thespier weihen den Musen auch eine Statue Sullas mit dem pikanten Titel αὐτοκράτωρ, nach seinem Sieg bei Chaironeia 86 v. Chr.264 Die Ehrbezeugung ist gegenseitig: Pausanias sieht im Heiligtum einen meisterlichen Dionysos von der Hand des Myron, den Sulla, wie er berichtet, aus Orchomenos entwendet und dort geweiht habe.265 Müller sieht Sulla zudem als Initiator hinter der Gewährung des Status als liberum oppidum (Plin. nat. 4, 25) an Thespiai.266 Auch Caesar, dessen Interesse sich insbesondere 46-44 v. Chr. nach Achaia richtet,267 ehren die Thespier im Musenheiligtum anlässlich seiner dritten Diktatur mit einer Statue.268 Es ist die augusteische Zeit, in der Thespiai, anders als die meisten anderen böotischen Städte, eine weitere Blüte verzeichnet und auch die Weihungen im Musenheiligtum am Helikon ihre größte Dichte erreichen.269 Strabons bekannter Satz, dass zu seiner Zeit Thespiai neben Tanagra als einzige Stadt Böotiens noch Bestand hätte, von den anderen aber nur Trümmer und Namen übrig seien,270 beschreibt diese hervorra-

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Schlüsse zu ziehen: Statuenraub könne nicht grundsätzlich als strafender Gestus angesehen werden; ebenso unklar sei der Unterton der ‚Rückweihung‘. S. auch Knoepfler 1991, S. 269-276. – Zu den Mouseia in dieser Zeit s. unten Abschnitt A.II.3.1.3. Vgl. Appian, Mithridateios 29, 5. Vgl. das thespische Dekret IThesp 34 (= Thes. 32 Manieri; etwa 87/86 v. Chr.), in dem die Ehren für Quintus Braetius Sura erlassen werden; s. Manieri 2009, S. 325 u. 400-2; Robinson 2012, S. 237 Anm. 64; Müller 2017, S. 233. Die Basis, gefunden bei der Agia-Trias-Kapelle, ist nunmehr verschollen (vgl. IThesp 397). Vom gleichen Fundort stammt ein Fragment mit der Aufschrift Σύλλ[α - - - - (IThesp 398). Vgl. auch Robinson 2012, S. 232. Vgl. Paus. 9, 30, 1. Pausanias nimmt dies zum Anlass, ein griechisches Sprichwort anzubringen: Man nenne dies „mit fremdem Weihrauch das Göttliche ehren“ (Paus. 9, 30, 1: θυµιάµασιν ἀλλοτρίοις τὸ θεῖον σέβεσθαι). Vgl. die kurze Diskussion bei Müller 2017, S. 233. S. Müller 2017, S. 234. Vgl. IThesp 420. Fundort ist die Agía-Triás-Kapelle. Vgl. Robinson 2012, S. 239; Müller 2017, S. 236. Vgl. Str. 9, 2, 25: νυνὶ δὲ µόνη συνέστηκε τῶν Βοιωτιακῶν πόλεων καὶ

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gende Position in prägnanter Weise. Die Stadt unterhält sehr gute Beziehungen zur römischen Welt, ist geradezu „the most ‘Romanized’ of all Boeotian cities“271. Die Struktur der lokalen Elite ab der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. zeugt von einer gut integrierten Gemeinschaft römischer und italischer negotiatores; gleichzeitig existieren wohlhabende Thespier, die in die civitas Romana eingegliedert sind.272 Im Musenheiligtum werden in dieser Zeit Statuen für römische Magistrate und ihre Familien ebenso wie für lokale Wohltäter aufgestellt.273 Vor allem aber beginnt mit Augustus die Reihe der Kaiserportäts, die – nimmt man das Gebiet des Heiligtums und das der Stadt zusammen – erstaunlich geschlossen bis ins vierte Jahrhundert nach Christus reicht.274

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Τάναγρα· τῶν δ’ ἄλλων ἐρείπια καὶ ὀνόµατα λέλειπται. Müller 2017, S. 234. So spricht Robinson 2012, S. 232f. von „Romanized Hellenes“ und „Hellenized Romaioi“, Müller 2017, S. 236 von „Greek Romans and Roman Greeks“. Zu den negotiatores s. Roesch 1965, S. 171-7 und Müller 2017, S. 236f., auch für weitere Literaturverweise; zu Thespiern mit römischer Staatsbürgerschaft s. ebd., S. 237f., ebenfalls mit weiteren Literaturverweisen. Vgl. insgesamt auch Alcock 1997, S. 293f. Noch aus spätrepublikanischer Zeit stammen ein großes und ein kleines Monument zu Ehren des Markus Junius Silanus (und seiner Familie), 34/33 v. Chr. als Quaestor pro consule in Griechenland, 25 v. Chr. dann Konsul unter Augustus (vgl. IThesp 400-402; s. Robinson 2012, S. 238). Eine besondere Rolle spielt Titus Statilius Taurus (ebenso seine Familie), der 31 v. Chr. Augustus’ Landtruppen bei Aktium führte: Er ist in Thespiai sogar – einzigartig für einen römischen Magistraten in Böotien – Empfänger eines Kultes, s. ebd., S. 238f.; Marchand 2013; Müller 2017, S. 234f. Im Musenheiligtum waren zwei Porträts errichtet (vgl. IThesp 410 u. 411), während sich in einem Siegerkatalog der Mouseia aus der Zeit zwischen 14 und 29 n. Chr. die Disziplin des ἐνκωµιογράφος εἰς Ταῦρον (IThesp 174 = Thes. 36 Manieri, Z. 10) findet. – Unter den lokalen Wohltätern, die im Musenheiligtum präsent sind, sind Agonotheten (vgl. IThesp 377= Thes. 39 Manieri: Ariston, Sohn des Phileinos; IThesp 405 = Thes. 41 Manieri: Lucius Fufius Rufus); es gibt aber auch Porträts ohne diesen Bezug (vgl. IThesp 372: Mondon, Sohn des Anthemion; IThesp 404: Publius Sextius Calvinus; IThesp 408: Lucius [Fufius Rufus?]). Augustus selbst erhält von den Thespiern eine Ehrenstatue im Musenheiligtum (vgl. IThesp 421), darüber hinaus sind auch Teile einer großen halbrunden Basis aufgefunden worden, die eine Statuengruppe von Agrippa, seiner Familie (die Tochter Agrippina, die Gemahlin und Tochter des Augustus

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Der Kaiserkult schlägt sich nicht nur in den Titeln nieder, die den Dargestellten mit den Weihinschriften beigegeben sind, er findet auch seine Ausformung in den neuen Disziplinen und der neuen Benennung der Mouseia.275 Ebenfalls in der frühen Kaiserzeit ist ein Mann, dessen Name als Ὀνέστης oder Ὄνεστος begegnet, in bemerkenswerter Weise an der Ausgestaltung des Heiligtums beteiligt: Nicht weniger als dreizehn seiner Epigramme, wahrscheinlich sogar fünfzehn, sind inschriftlich auf verschiedenen Blöcken erhalten und tragen – eine Seltenheit – seine Unterschrift.276 Alle diese Blöcke wurden im Kerngebiet des Heiligtums bei der Agía-Triás-Kapelle gefunden. Am prominentesten ist hier sicherlich die große, etwa 12 m lange, bogenförmig gekrümmte Exhedra mit den neun bronzenen Musenstatuen.277 Sie bestand aus mindestens zehn

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Iulia, die beiden Söhne Lucius Caesar und Gaius Caesar) und Livia trug (vgl. IThesp 422-3); s. Robinson 2012, S. 239f., Müller 2017, S. 235f. Eine weitere Basis gehörte wahrscheinlich zu einer Statue der Livia (vgl. IThesp 424); s. unten für die Identifikation der Geehrten. – Zu der Weihung von Kaiserporträts bemerkt Müller ebd., S. 235: „It should be noted that 40 per cent of the documents concerning Emperors in Boeotia come from Thespiai. They cover a huge time-span, from Augustus to Valentinian at the very end of the fourth century AD [...]. Such a concentration of documents gives us some idea of the spatial renewal of the place from the Imperial period onwards. Judging by the find-spots of all these inscriptions, the two main places in which they were put up were the Sanctuary of the Muses, the Mouseion, and the agora of the city: we have to imagine these locations crowded with statues.” Für die Porträts der späteren Kaiser am Helikon s. auch Robinson 2012, S. 240-2. Müller bezeichnet die Thespier charakteristisch als „the champions in Boeotia of the cult of Rome, and, later on, of the civic version of the imperial cult in Boeotia“ (Müller 2017, S. 235). Für die Mouseia s. unten Abschnitt A.II.3.1.3. S. Jamot 1902a; Preuner 1920; Peek 1953, S. 619-31; Gow und Page 1968, I, S. 269-279 u. II, S. 301-9; Höschele 2014, S. 173-187; Biard, Kalliontzis und Charami 2017; auch Robinson 2012, S. 243-5. Zur Seltenheit der Signatur des Dichters unter inschriftlichen Epigrammen vgl. Gutzwiller 2004, S. 392; Höschele 2014, S. 172 Anm. 8; Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 751. Eine erstmalige vollständige Veröffentlichung des Materials samt Deutung erfolgte erst jüngst durch Biard, Kalliontzis und Charami 2017. Für frühere,

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Blöcken, von denen neun je drei Buchstaben der Weihinschrift Θει|σπι|έες | Μώσ|ης Ἑ|[λικ]|ωνι|άδε|[σ]σι278 tragen. Die Statuen sind vollständig verloren, von den Blöcken sind neun in unterschiedlich gutem Zustand erhalten. Auf fast jedem Block steht oberhalb der Weihinschrift der weitgehend böotisch gehaltene Name der jeweiligen Muse und unterhalb ein signiertes Distichon des Ὀνέστης/Ὄνεστος,279 in dem die Dargestellte ihre Vorzüge oder Eigenschaften nennt; bisweilen wird auch der Betrachter selbst angesprochen.280 Die Epigramme, die auch

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weniger umfassende Beschreibungen des Monuments s. auch Peek 1953; Höschele 2014, S. 176-80; IThesp 288. – Das Werk beschreibt nicht, wie üblicher, einen vollständigen Halbkreis, sondern einen Kreisbogen (vgl. Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 741). Es war mit großer Wahrscheinlichkeit in einer offenen Nische aufgestellt, die es an den Seiten und hinten umschloss (s. ebd., S. 741f. u. 744-7). IThesp 288. S. Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 709-39. Vgl. auch IThesp 289297 bzw. 298; Gow und Page 1968, I, S. 273-277 (Nr. 10-18); Vottéro 2002, S. 104-8 (Nr. 43); Höschele 2014, S. 180-187. – Der Block mit der Buchstabenfolge ΛΙΚ aus der großen Weihinschrift ist nicht erhalten. Er trug das Ende des Kalliope- und den Beginn des Kleio-Epigrammes; letzterer ist jedoch aus dem Abklatsch eines mittlerweile ebenfalls verschollenen Fragments bekannt (vgl. Biard, Kalliontzis und Charami 2007, S. 729-31). In IThesp spricht Roesch sich gegen die Zugehörigkeit des Blockes mit dem Euterpe-Epigramm aus, das eine Dichtersignatur, aber keinen Ausschnitt aus der großen Weihinschrift trägt (vgl. den Kommentar zu IThesp 298), und ordnet stattdessen ein Fragment, das den Beginn eines weiteren Euterpe-Epigramms enthält (IThesp 294), dem Monument zu (vgl. so schon Peek 1953, S. 616-9). Biard, Kalliontzis und Charami 2017 hingegen plädieren – leider, ohne auf Roeschs und Peeks alternativen Vorschlag Bezug zu nehmen – dafür, den Block mit der Inschrift IThesp 298 trotz seiner leicht abweichenden Beschaffenheit und Gestaltung der großen Musenexhedra zuzurechnen (s. ebd., S. 736-9 u. 748; vgl. Höschele 2014, S. 178-80). Sie geben ihm die Position rechts außen und verorten auf dem fehlenden Block die KleioStatue. So ergibt sich für die Einzelbasen die Mindestanzahl zehn. Sie erklärt sich zusätzlich aus dem Umstand, dass die Bearbeitung des Blocks mit dem Ende des Kleio-Epigrammes (IThesp 295) darauf hinweist, dass zumindest zuletzt keine Statue, sondern ein zylindrisches Objekt, etwa ein kleiner Altar, darauf befestigt war (vgl. ebd., S. 730f.). Für die Variation in Aussageform und Anrede s. im Einzelnen Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 749.

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deiktische Ausdrücke enthalten, sind ohne Zweifel ekphrastischer Natur und lassen Rückschlüsse auf dargestellte Haltungen, Attribute und Typen zu.281 Drei weitere Basen mit Musenepigrammen des Dichters könnten auf mindestens eine zusätzliche Musengruppe hindeuten.282 Außerdem sind die Basis eines Mnemosyne- und die eines Thamyris-Bildnisses mit entsprechenden Epigrammen versehen; ebenso die einer Σεβαστή, einer Augusta also.283 Insbesondere im Falle der großen Musenexhedra ist nicht ohne Weiteres zu bestimmen, ob die Statuengruppe zu der Zeit aufgestellt wurde, aus der die Epigramme stammen, oder ob diese nachträglich einer früheren Weihung, etwa aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr., hinzugefügt wurden. Prinzipiell ist beides möglich und als Praxis am gleichen Ort belegt: Die Thamyris-Stele beispielsweise enthält oberhalb des Epigramms eine alte Weihinschrift sowie eine Künstlersignatur: Philhetairos, Sohn des Eumenes war der Stifter im dritten Jahrhundert v. Chr., Kaphisias der Bildhauer.284 Hier handelt es sich also sicher um eine nachträgliche Weitergestaltung von vorhandenem Material. Aber auch die andere Praxis ist belegt: Denn die Signatur des Dichters trägt auch das Epigramm auf der Statuenbasis einer Σεβαστή – 281

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Eine umfassende Rekonstruktion, die sich sowohl auf den Inhalt der Epigramme als auch auf das neu untersuchte archäologische Material gründet, unternehmen Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 709-44. Vgl. auch die früheren Ansätze bei Preuner 1920, S. 404-7; Peek 1953, S. 619-27; Höschele 2014, S. 182-7. Vgl. IThesp 298 o. 294 (Euterpe), IThesp 299 (Polymnia) und IThesp 300 (Terpsichore). IThesp 299 trägt nicht den Zusatz Ὀνέστου, es handelt sich aber sehr wahrscheinlich um Verse aus der Feder dieses Dichters (vgl. Preuner 1920, S. 407; Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 707f.). Vgl. IThesp 301 für Mnemosyne (vgl. Gow und Page 1968, II, S. 309 D3; Vottéro 2002, S. 108f. Nr. 44), IThesp 312 für Thamyris (vgl. Gow und Page 1968, I, S. 277 Nr. 20). Die Inschrift IThesp 301 – eine Weihung an Mnemosyne und die Musen (vgl. Z. 1f.) – nennt keinen Dichter, doch die Zuschreibung an Honestus ist plausibel (vgl. Preuner 1920, S. 407f.; Peek 1953, S. 630f.; Jones 2004, S. 94; Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 707; anders Gow und Page 1968, II, S. 309). Möglicherweise war die Mnemosyne-Statue Bestandteil der zweiten Musengruppe (vgl. Preuner 1920, S. 408f.). Für die Σεβαστή (IThesp 424) s. im Folgenden. Vgl. IThesp 303 für Weihinschrift und Künstlersignatur, IThesp 312 für das Epigramm.

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wahrscheinlich der Livia –, das neben der Position der Epigramme in der Anthologia Palatina als Ankerpunkt für seine zeitliche Einordnung ins frühe erste Jahrhundert n. Chr. dient.285 Hier ist eine gleichzeitige Errichtung des Monuments mit Abfassung und Gravur des Epigramms wahrscheinlich. Bei der großen Musenexhedra wiederum scheinen die Argumente für eine nachträgliche Anbringung auch nach der neuerlichen Untersuchung des Monuments durch Biard, Kalliontzis und Charami schwerer zu wiegen.286 285

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Vgl. IThesp 424. Die beiden plausibelsten Kandidatinnen sind Livia, Gattin des Augustus, und Iulia, seine Tochter. Jones 2004, S. 94f. argumentiert überzeugend, wenn auch ohne Verweis auf die Statuengruppe um Agrippa (vgl. IThesp 422-3 u. oben Anm. 274), für Livia; vgl. Gow und Page 1968, II, S. 308f.; Robinson 2012, S. 240 mit Anm. 84. Für Iulia hingegen plädiert Preuner 1920, S. 388-393; vgl. Höschele 2014, S. 190f.; Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 705. Das schlagende Gegenargument, dass die beiden Söhne der Livia Tiberius Claudius Nero und Nero Claudius Drusus kaum als δοι[οὶ] θε[οὶ] Καίσαρ[ες] (vgl. IThesp 424, V. 1f.) bezeichnet sein dürften, entfällt mit Jones’ gut begründeter Identifikation der Καίσαρες mit Livias Gatten Augustus und ihrem Sohn Tiberius (vgl. so auch schon Gow und Page 1968, II, S. 308f., jedoch ohne Begründung). In Tiberius’ Herrschaftszeit (14-37 n. Chr.) müsse dann auch das Epigramm (und die Dichterschaft des Honestus) fallen, „perhaps soon after Livia became ‘Augusta’ [sc. 14 n. Chr. mit dem Tod des Augustus], or perhaps soon after her death in A.D. 29“ (ebd., S. 309; vgl. Robinson 2012, S. 240). – Für die Honestus-Epigramme der Anthologia Palatina als Teil des Kranzes des Philipp s. Gow und Page 1968, I, S. xlvi-xlxi; vgl. Höschele 2014, S. 176. Die Diskussion dreht sich im Wesentlichen um die relative Chronologie zwischen den Musen-Epigrammen und -Namen auf der einen und der Weihinschrift der Thespier auf der anderen Seite. So plädiert Peek 1953, S. 612-14 für eine Zeitgleichheit von Statuen und (allen) Inschriften: Die Form der großen Weihinschrift sei, ebenso wie die böotisierenden Musennamen, ein Archaismus. Früher, auf weniger umfassender Informationsgrundlage, argumentiert Preuner 1920, S. 409-18 für eine nachträgliche Anbringung und also eine frühere Errichtung des Musenmonuments im 3./2. Jh., auch Schachter 1985, S. 161 scheint dieser Ansicht zuzuneigen. Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 744 u. 749 legen sich ebenfalls auf diese relative Chronologie fest, betonen aber, dass eine absolute Datierung der Weihinschrift der Thespier schwierig bleibt: Sie schlagen, auch auf Grundlage der rekonstruierten charakteristisch hellenistischen Statuentypen, eine Einordnung ins 2. Jh. v. Chr. vor, vielleicht um 150 v. Chr.

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Im Zuge der thespischen Verbindung und der zeitlichen Einordnung wird nun die Identität des Dichters, der einzig von den thespischen Inschriften sowie aus der Anthologia Graeca bekannt ist,287 als Mitglied der römischen Bürgerkolonie von Korinth – neu begründet 44 v. Chr. unter Caesar – bestimmt.288 Der überlieferte griechische Genitiv Ὀνέστου gehöre demnach zum lateinischen Cognomen Honestus, sein Träger war vermutlich ein gebildetes Mitglied der römischen Elite, dessen Mutterprache nicht das Griechische war.289 Zur korinthischen Colonia unterhält Thespiai in dieser und der folgenden Zeit gute Beziehungen.290 Die Ausgestaltung des thespischen Musenheiligtums unter Beteiligung eines korinthischen Dichters ist daher alles andere als abwegig, wobei als Initiator oder Stifter sowohl die Stadt Thespiai selbst als auch ein privater Wohltäter in Frage kommen.291 287

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Folgende Epigramme erscheinen in der Anthologia Graeca unter dem Namen des Honestus: AP 5, 20; 7, 66; 7, 274; 9, 216; 9, 225; 9, 230; 9, 250; 9, 292; 11, 32; 11, 45. Zweimal ist dem Namen das Ethnikon Κορίνθιος, einmal Βυζάντιος beigegeben (vgl. Gow und Page 1968, II, S. 301; Jones 2004, S. 93). Einen Bezug zu Böotien weisen vier der zehn Epigramme auf: AP 9, 216 (Theben); 9, 225 (Helikon/Hippoukrene); 9, 230 (Helikon/Hippoukrene); 9, 250 (Theben). Vgl. Jones 2004, S. 93-5 (gegen die Bestimmung von Gow und Page 1968, II, S. 301 als „one of those who sought or enjoyed patronage in the imperial court“); Gutzwiller 2004, S. 393f.; Robinson 2012, S. 245; Müller 2017, S. 237. S. Jones 2004, S. 93; vgl. Robinson 2012, S. 245. Für das lateinische Cognomen s. auch schon Gow und Page 1968, II, S. 301 Anm. 2. – Zu Honestus’ Sprache bemerkt Preuner 1920, S. 426: „Man wird den Eindruck nicht los, daß Honestos seine Distichen recht sauer geworden sind, mehr noch bei den thespischen Epigrammen als bei denen der Anthologie; und ebensowenig den, daß die Sprache, in der er dichtete, wohl nicht seine Muttersprache war.“ Vgl. Jones 2004, S. 93. S. Alcock 1997, S. 293; Müller 2017, S. 237. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. seien außerdem in den Siegerlisten der thespischen Mouseia und Erotideia vermehrt römische Bürger aus Korinth verzeichnet, teilweise mit einer bemerkenswerten Eigenschaft: „Some of the victors even have a double ethnic: they are said to be Corinthian and Thespian“ (ebd.). Vgl. Robinson 2012, S. 245. Die Verbindung zwischen den beiden Poleis unterstreicht nicht zuletzt Honestus selbst in einem seiner Epigramme: Ἀσωπὶς κρήνη καὶ Πηγασίς, ὕδατ’ ἀδελφά, | ἵππου καὶ ποταµοῦ δῶρα

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In Bezug auf die Geschichte des Musenheiligtums bleibt festzuhalten, dass im ersten Jh. n. Chr. unter Mitwirkung des Honestus eine Neugestaltung stattfindet: Mehrere Kunstwerke werden mit ekphrastischen Epigrammen versehen, es entsteht ein betretbarer ‚libellus‘.292 Auch eine Umorganisation in der Anordnung der Weihgaben wird vermutlich im gleichen Zuge durchgeführt: Zumindest für die große Musenbasis – immerhin einem stattlichen Werk von etwa zehn Metern Länge – ist eine Demontage und Verlegung an einen neuen Platz nachweisbar.293 Im späten ersten und im zweiten Jahrhundert nach Christus erleben Plutarch und Pausanias noch ein florierendes Musenheiligtum am Helikon, in dem weiterhin die Mouseia gefeiert werden.294 Die Zeugnisse für die Mouseia schwinden mit dem dritten,295 die für das Heiligtum mit dem vierten Jahrhundert nach Christus. Von Konstantin dem Großen wird berichtet, er habe mindestens eine Musengruppe aus dem Heiligtum nach Konstantinopel gebracht, wo sie später in einem Feuer zerstört wurde;296 einige Weihungen aus dem Tal der Musen scheinen aber noch etwas jünger zu sein.297

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ποδορραγέα· | χὠ µὲν ἔκοψ’ Ἑλικῶνος, ὁ δὲ φλέβας Ἀκροκορίνθου | ἔπληξ’. ὢ πτέρνης εἰς ἴσον εὐστοχίη. / „Quelle Asopis und Pegasis, ihr verschwisterten Wasser, | eines Pferdes und eines Flusses fußgestampfte Geschenke! | Das eine trat Helikons, Akrokorinths Adern schlug der andere. | O welch gleichermaßen gutes Zielen der Ferse!“ (AP 9, 225). – Für Hinweise auf eine mögliche ähnliche Praxis in Theben s. Preuner 1920, S. 424; für ein weiteres thespisches Beispiel s. Gutzwiller 2004 insgesamt und insbes. S. 392f. Dies untersucht ausführlich Höschele 2014. S. dazu auch unten Abschnitt A.II.3.2.1.4. Vgl. die Interpretation der gravierten Versatzmarken bei Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 747f. Am plausibelsten sei eine gleichzeitige Verlegung, Neuweihung und Beschriftung mit den Musennamen und HonestusEpigrammen. Die Autoren halten auch für möglich, dass bei der Verlegung das Monument erweitert wurde, nämlich um die Σεβαστή-Statue, die in Honestus’ Epigramm als σύνχορος der Musen beschrieben ist (IThesp 424, 4). Vgl. Plu. Mor. 748e-749c (Amatorius); Paus. 9, 29, 1 - 9, 31, 6. S. unten Abschnitt A.II.3.1.3. Vgl. Eus. Vita Constantini 3, 54, 2f.; Soz. 3, 5, 3f.; Zos. 5, 24, 6; auch Them. Or. 355a-c. Ein Basenfragment mit Weihepigramm wurde bei der Agía-Triás-Kapelle auf dem Gebiet des Heiligtums gefunden (vgl. IThesp 419); dargestellt war Cervonius, Prokonsul von Achaia Anfang oder Mitte des 4. Jhs. v. Chr. (vgl.

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Exkurs. Statuendekor im Heiligtum: Spuren ins vierte Jh. v. Chr? Zwei der Musengruppen, die Pausanias erwähnt, sind – laut Schachter298– prinzipiell ein mögliches Indiz auf die Existenz eines öffentlichen Musenkultes schon im vierten Jahrhundert v. Chr. Pausanias verzeichnet: Ταῖς Μούσαις δὲ ἀγάλµατα µὲν πρῶτά ἐστι Κηφισοδότου τέχνη πάσαις, προελθόντι δὲ οὐ πολὺ τρεῖς µέν εἰσιν αὖθις Κηφισοδότου, Στρογγυλίωνος δὲ ἕτερα τοσαῦτα [...]· τὰς δὲ ὑπολοίπους τρεῖς ἐποίησεν Ὀλυµπιοσθένης. An Statuen für die Musen sind die ersten ein Werk des Kephisodotos, und zwar alle; wenn man nicht viel weitergeht, sind wieder drei von Kephisodotos, von Strongylion noch einmal so viele [...]; die übrigen drei hat Olympiosthenes gemacht. Paus. 9, 30, 1 Entscheidend sind die genannten Künstler: Die Schaffenszeit des Strongylion – Ankerpunkt für Schachters These – ist bekannt; sie liegt im späten fünften bzw. frühen vierten Jh. v. Chr. Für Kephisodot kommen in beiden Fällen zunächst sowohl der ältere Bildhauer dieses Namens (tätig ca. 375-340 v. Chr.) als auch der jüngere, Sohn des Praxiteles und Bruder des Timarchos, in Frage (tätig ca. 330-280 v. Chr.). Olympiosthenes ist sonst unbekannt, die Namenbildung zudem einzigartig; Knoepfler plädiert deshalb für eine Verballhornung in der Überlieferung aus „Ὀλύνθιος Σθέννις“, einem auch anderweitig bekannten Künstler, der in der zweiten Hälfte des vierten Jhs. v. Chr. tätig war.299 Obwohl Pausa-

298 299

Schachter 1986, S. 162f. Anm. 5). Nicht vom Gebiet des Heiligtums, sondern von dem der antiken Stadt Thespiai stammt eine Basis, die eine Statue des Vettius Agorius Praetextatus trug, Prokonsul von Achaia unter Julian in den Jahren 362-4 n. Chr. Ein Epigramm weiht sie den Helikonischen Musen (vgl. IThesp 418). – Die jüngsten Münzen, die im Tal der Musen gefunden wurden, „two billon coins of Constantine II (c. 345-347) and of Julian (361363)“ (Grandjean 2017, S. 384) aus der Nähe des Heiligtums, stammen ebenfalls aus der Zeit nach Konstantin. Grandjean vermutet sogar einen Zusammenhang zwischen der Präsenz der Münzen und dem Abhalten der Mouseia (vgl. ebd.; s. aber auch Lykke 2017 für den ritualistierten Gebrauch von Münzen in griechischen Heiligtümern). Vgl. oben Abschnitt A.II.3.1.3. S. Knoepfler 2005; vgl. Kansteiner 2014b zu DNO 1445.

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nias eine große Zahl von Statuen im Musenheiligtum aufzählt und beschreibt,300 nennt er nur in wenigen Fällen die zugehörigen Bildhauer. Neben den beiden Musengruppen sind dies ein Dionysos des Lysipp und ein Dionysos des Myron:301 alles also Werke sehr früher Künstler und daher besonders bemerkenswert – entsprechende Hinweise an den Skulpturen selbst dürfen vorausgesetzt werden. Selbstverständlich ist nicht garantiert, dass die Werke, die Pausanias im zweiten Jh. n. Chr. sieht, alle ungefähr zur Zeit ihrer Entstehung ihren Weg ins Heiligtum gefunden hätten: Das beste Beispiel ist der erwähnte Dionysos von der Hand des Myron (tätig ca. 480-430 v. Chr.), den Sulla, wie Pausanias selbst berichtet, aus Orchomenos entfernte und am Helikon weihte.302 Als Konsequenz aus Knoepflers These folgt, dass es sich bei der zweiten Musengruppe nicht um ein Gemeinschaftswerk dreier zeitgenössischer Künstler, sondern höchstens um ein sukzessive entstandenes Werk handeln kann:303 Denn schon die Schaffenszeit Kephisodots – sowohl des Älteren als auch des Jüngeren – ist schwer mit Strongylions vereinbar, die Schaffenszeiten von Strongylion und Sthennis aber überschneiden sich gar nicht.304 Knoepfler selbst argumentiert daher für eine Auftragsarbeit, die von Strongylion begonnen und dann – aufgrund verschiedener widriger Umstände – nacheinander von Sthennis und Kephisodot (d. J.) weitergeführt wurde.305 In diesem Fall also wäre eine Einheit intendiert, und zwar für das thespische Musenheiligtum. Dagegen bringt Robinson folgenden Einwand vor: „Yet such a composite group 300 301

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Vgl. Paus. 9, 29, 5f.; 9, 30, 1-4; 9, 31, 1f. S. auch unten Abschnitt A.II.3.2.1. Vgl. Paus. 9, 30, 1: […] καὶ Διόνυσος ὁ µὲν Λυσίππου, τὸ δὲ ἄγαλµα ἀνέθηκε Σύλλας τοῦ Διονύσου τὸ ὀρθόν, ἔργον τῶν Μύρωνος θέας µάλιστα ἄξιον µετά γε τὸν Ἀθήνηισιν Ἐρεχθέα· ἀνέθηκε δὲ οὐκ οἴκοθεν, Ὀρχοµενίους δὲ ἀφελόµενος τοὺς Μινύας […]. / „[…] und Dionysos – der eine von Lysipp; die andere, aufrechte Statue des Dionysos hat Sulla geweiht, sehenswertestes von Myrons Werken nach dem Erechtheus in Athen; er hatte sie nicht ursprünglich geweiht, sondern nachdem er sie den Minyern von Orchomenos weggenommen hatte […].“ Vgl. die vorausgehende Anmerkung. S. so Knoepfler 2005, S. 666; vgl. Filges und Hallof 2014, S. zu DNO 1164; Kansteiner 2014b zu DNO 1445; Hallof, Kansteiner und Lehmann 2014a zu DNO 1840. S. aber Moggi und Osanna 2010, S. 381f. zu Paus. 9, 30, 1-12, die zwar Knoepflers Identifikation des Olympiosthenes als Sthennis aus Olynth annehmen, aber dennoch eine Zusammenarbeit aller drei Bildhauer voraussetzen. Vgl. Knoepfler 2005, S. 666-8.

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would be extraordinary: is it not just as conceivable that the group was a later assemblage, acquired and installed during the valley’s Hellenistic growth-spurt or Early Imperial prime?”306 In jedem Falle sei, so Robinson weiter, eine solch ungewöhnliche Gruppe ein unsicheres Argument für Aktivitäten im Heiligtum im 4. Jh. v. Chr.307 Die Problematik von der Einheit der Gruppe betrifft nicht die zuerst genannte Neunergruppe von der Hand des Kephisodotos (vgl. Paus. 9, 30, 1). Freilich landete man im Falle des jüngeren Kephisodot ‚nur‘ an der Wende vom vierten ins dritte Jahrhundert; Knoepfler hält hier jedoch den älteren Kephisodot als Urheber für wahrscheinlicher.308 Die Möglichkeit einer späteren Weihung ist dennoch auch hier nicht ausgeschlossen: Die Neunzahl der Statuen schützt nicht vor ihrer Verschleppung, wie ja später etwa Konstantin d. Gr. in umgekehrter Richtung sogar am Beispiel einer Musengruppe vom Helikon beweist.309 Es folgt: Als Indiz können Pausanias’ Musengruppen in der Tat dienen – Sicherheit bieten sie nicht.

3.1.3 Die Mouseia von Thespiai Die Mouseia von Thespiai zu Ehren der helikonischen Musen wurden im Heiligtum im Tal der Musen abgehalten.310 Sicher bezeugt sind sie

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Robinson 2012, S. 243. Pausanias’ Beschreibung freilich spricht eher, wenn auch nicht zwingend, für eine Präsentation der Gruppe als Einheit: Darauf deutet neben der Zahl von 3x3=9 Musen auch die Formulierung „ὑπολοίπους τρεῖς“. Vgl. ebd. Anm. 113. Mojsik 2011a, S. 78-86 akzeptiert die Statuengruppen als Beleg für ein Patronat der Stadt Thespiai im vierten Jh. v. Chr. Vgl. Knoepfler 2005, S. 667f. Dies steht im Zusammenhang mit seiner Präferenz des jüngeren Kephisodot für die zweite, zusammengesetzte Gruppe. Vgl. Eus. Vita Constantini 3, 54, 2f.; Soz. 3, 5, 3f.; Zos. 5, 24, 6; auch Them. Or. 355a-c. Pausanias gibt keine Auskunft darüber, ob es sich um Kult- oder Votivbilder handelt – eine Information, die unter Umständen einen Ausschlag in dieser Frage geben könnte: Vgl. auch Moggi und Osanna 2010, S. 381 zu Paus. 9, 30, 1-12. – Zum Verhältnis der erwähnten Musengruppen zur großen Musenexhedra, deren mit Inschriften versehenen Basen erhalten sind, s. unten Abschnitt A.II.3.2.1.2 Anm. 452. Vgl. IThesp 156 = Thes. 10 Manieri, Z. 15-17; Nikokrates FGrH/BNJ 376 F1, Z. 3 u. F3a; Paus. 9, 31, 3.

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vom dritten Jahrhundert vor bis ins dritte Jahrhundert nach Christus.311 Sie hatten ihren Platz im böotischen Festkalender im elften Monat des Jahres (Oktober/November).312 Neben dem musischen Agon, der im 311

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Über die Mouseia von Thespiai geben vor allem die erhaltenen Inschriften Kunde. Die meisten stammen aus der Thespike und sind in IThesp versammelt; doch auch außerhalb der Region sind bisweilen relevante Zeugnisse gefunden worden. Sie umfassen verschiedene Bereiche, so die Organisation und Finanzierung der Mouseia (IThesp 54, Z. 24-8; IThesp 152-160; SEG 32, 456 = Thes. 14 Manieri, Z. 17-20; auch IThesp 62 und 84; IG 11,4, 1061 = Thes. 25 Manieri), Siegerkataloge (IThesp 161-185; Schachter und Marchand 2013, S. 287-292), Weihungen von Siegern (IThesp 204-7; IG 4, 682 = SEG 27, 115 = Thes. 7 Manieri = App. Anth. Epigrammata dedicatoria 291), Ehreninschriften für Agonotheten (IThesp 358; 359; 361; 376; 377; 392; 405), Choregen (IThesp 387) und einen Theoros (IG 22, 971 = Thes. 26 Manieri), ferner ein Dekret über die öffentliche Ehrung eines römischen Feldherren bei den Mouseia (IThesp 34). Auch einige literarische Quellen erwähnen die Mouseia, so Plu. Mor. 748e-f (Amatorius); Paus. 9, 31, 3; Nikokrates FGrH/BNJ 376 F3a; Poll. 1, 37. Die Zeugnisse sind gesammelt und einzeln kommentiert bei Manieri 2009, S. 347-423; vgl. auch die frühere Zusammenstellung von Schachter 1986, S. 148f. u. 167-179. Entwicklung und Organisation der Mouseia besprechen Jamot 1895, S. 311-366; Feyel 1942, S. 88-132; Roesch 1965, S. 225-9; Schachter 1986, S. 163-179; Bonnet 2001; Manieri 2009, S. 313-340. Knoepfler 1996 und Schachter 2016=2012 legen den Schwerpunkt auf die Reorganisation der Mouseia in den letzten Jahrzehnten des 3. Jhs. v. Chr. Der einzige Hinweis dieser Art findet sich in einem Siegerkatalog aus der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. (IThesp 177 = Thes. 43 Manieri), in Z. 3: µηνὶ Δαµατρίῳ. Für die Zuweisung s. Roesch 1982, S. 41f.; Manieri 2009, S. 419. Schachter 2016=2012 bemerkt zugunsten der Übertragbarkeit der späten Angabe auch auf frühere Phasen der Mouseia Folgendes: „Admittedly, this is a long time after the period under discussion here [i.e. das letzte Viertel des dritten Jahrhunderts v. Chr.], but given the remarkable degree of conservatism that can be observed in the victor’s lists from the Hellenistic periods into the second and and [sic] third centuries AD, it is not unlikely that the date of the agon would also have remained unaltered throughout that time“ (ebd., S. 358 Anm. 40). Es ergäbe sich eine relativ gleichmäßige Verteilung der Feste mit musischen Agonen in Böotien auf die einzelnen Monate vom Frühjahr bis zum Herbst; vgl. Manieri 2009, S. 43 mit Anm. S. darüber hinaus ebd., S. 33-58 für die organisatorischen und personellen Verknüpfungen zwischen den böotischen Festen im Allgemeinen.

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Laufe seiner Entwicklung verschiedene Formen annahm, wurden zu den Mouseia auch Opfer dargebracht.313 Dem Opfer wiederum wird, als weiterer typischer Bestandteil von Festen, eine Prozession vorausgegangen sein.314 Unterschiedliche Ämter waren in die Organisation und Durchführung involviert;315 auch Technitenvereine waren beteiligt.316 Das große Prestige, das mit den Mouseia verbunden war – vor allem ab dem zweiten Jahrhundert v. Chr.–, zeigt sich nicht zuletzt am großen Einzugsradius der Künstler, der sich mit der Zeit erweiterte.317 Im Folgenden wird ein Überblick über die Entwicklung des Agons gegeben. Ein Prozess der Institutionalisierung des Musenheiligtums am Helikon kann bereits im vierten Jahrhundert v. Chr. begonnen haben; auch die Etablierung eines Agons in dieser Zeit ist nicht auszuschließen.318 Erste direktere Hinweise auf musische Agone stammen spätestens aus der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts v. Chr.: Ein literarisch und ein inschriftlich überliefertes Epigramm deuten auf dithyrambische Aufführungen; nicht notwendig, doch mit einiger Wahrscheinlichkeit waren die Musen selbst Adressatinnen dieser Agone.319 Die inschriftlichen 313

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Vgl. IThesp 54 = Thes. 16 Manieri, Z. 24-8; IThesp 155 = Thes. 12 Manieri, Z. 13; IThesp 156bis = Thes. 11 Manieri, Z. 4f.; SEG 32, 456 = Thes. 14 Manieri, Z. 17-20. Geopfert wurden Rinder, vgl. IThesp 54, Z. 24-8; SEG 32, 456, Z. 17-20. Die übliche Reihenfolge lässt auf die Pompe das Opfer, auf dieses schließlich – nach einer Verteilung des Opferfleisches an die Festgemeinschaft – die Agone folgen. S. True, Daehner, Grossmann und Lapatin 2004, insbes. S. 2, für die Pompe als Bestandteil griechischer Feste im Allgemeinen, Chaniotis 1995 für den Festzug als Bestandteil hellenistischer Feste; vgl. Manieri 2009, S. 314 für die Mouseia. So führen die Inschriften im Zusammenhang mit den Mouseia nicht nur sakrale Ämter wie Priester und Pyrphoroi oder unmittelbar mit der Organisation beauftragte wie Agonotheten und Athloteten an, sondern auch Sekretäre, Schatzmeister und Theoroi; vgl. Roesch 1965, S. 195-206 (passim) u. 226-9; Manieri 2009, S. 329-331. Vgl. insbes. die beiden Dekrete IThesp 156 = Thes. 10 Manieri (isthmischnemeische Techniten) und IG 11,4 1136 u. 1061 = Thes. 25 Manieri (ionisch-hellespontische Techniten). S. auch unten. Vgl. Manieri 2009, S. 339f. für eine Übersicht, aufgeschlüsselt nach den Herkunftsorten der verzeichneten Sieger. S. auch unten. Vgl. oben Abschnitt A.II.3.1.2. Vgl. Schachter 2016=2012, S. 369f. (Appendix 3). Laut Athenaios (Ath.

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Zeugnisse für die Mouseia als solche beginnen im letzten Drittel des dritten Jahrhunderts v. Chr. und weisen auf bedeutende Veränderungen hin.

14, 26 = Amphion FGrH/BNJ 387 F1 = Thes. 2 Manieri; vgl. Ath. Epit. Bd. 2,2, S. 133 Peppink) habe Amphion von Thespiai im zweiten Buch seines Werkes „Über das Musenheiligtum am Helikon“ (Περὶ τοῦ ἐν Ἑλικῶνι Μουσείου) von Aufführungen von Knabenchören (παίδων ὀρχήσεις) im Heiligtum am Helikon berichtet und ein „altes“ Weihepigramm (ἀρχαῖον ἐπίγραµµα) angeführt; dieses zitiert Athenaios. Die übliche Datierung des Epigramms ins 4. Jh. v. Chr. hält Schachter für beliebig: Es sei im Grunde „any time before the organization of the thymelic agon“ (ebd., S. 369) denkbar (vgl. ähnlich Lewis 1984, S. 180; ratlos auch Page 1981, S. 493). Es lautet: ἀµφότερ’, ὠρχεύµην τε καὶ ἐν Μώσαις ἐδίδασκον | ἄνδρας· ὁ δ’ αὐλήτας ἦν Ἄνακος Φιαλεύς. | εἰµὶ δὲ Βακχιάδας Σικυώνιος. ἦ ῥα θεοῖσι | ταῖς Σικυῶνι καλὸν τοῦτ’ ἀπέκειτο γέρας. „Ich habe beides getan, getanzt und Männer bei den Musen [oder: in der Kunst der Musen] angeleitet; Flötenspieler war Anakos von Phigaleia. Ich bin Bakchiadas aus Sikyon. Ja, für die Göttinnen in Sikyon ist diese schöne Gabe hier abgelegt.“ Lewis’ bestimmte Charakterisierung lautet: „[T]his is clearly a dithyrambic victory dedication“ (Lewis 1984, S. 180; vgl. Manieri 2009, S. 350; Schachter 2016=2012, S. 369). – Das zweite Epigramm, zu datieren auf 265-255 v. Chr. (vgl. Nachtergael 1977, S. 322f.), wurde auf einer Statuenbasis in Hermione gefunden (IG 4, 682 = SEG 27,115 = Thes. 7 Manieri = App. Anth. Epigrammata dedicatoria 291; vgl. Nachtergael 1977, S. 429f.). Die Statue wurde, so verrät das Epigramm, zu Ehren des vielfachen Siegers Pythokles von Hermione, Sohn des Aristarchos, von seinem Bruder Pantakles aufgestellt (vgl. Z. 1f.). Pythokles ist auch anderweitig inschriftlich bezeugt, als von den Techniten entsandter Priester bei den delphischen Soteria und siegreicher Chorführer (vgl. Nachtergael 1977, S. 317; Le Guen 2001, II, S. 57; Aneziri 2003, S. 276f. mit Anm. 47; Manieri 2009, S. 355; Schachter 2016=2012, S. 369 mit Anm. 56). Das Epigramm spielt auf verschiedene Siege und Ehrungen zu unterschiedlichen Gelegenheiten an (vgl. V. 3-14) und schließt damit, dass auch Könige den Sänger (V. 15 ἀοιδόν) mit Geschenken geehrt hätten (vgl. V. 15f.). In Vers 14 ist ein Kranz in Zusammenhang mit den Helikonischen Musen und dem Kadmeischen Dionysos genannt, während in V. 9f. die Felder aufgezählt werden, in denen Pythokles erfolgreich war: als Aulodos(?) (V. 9 [αὐλωι]δός), Rhapsode(?) (V. 10 [ῥαψωι]δός ) und, sicher lesbar, in den „kreisförmigen Chortänzen“ (V. 9 ἐγκυκλίοισι χοροῖσιν). – Für die Musen als potenzielle Adressatinnen s. unten Exkurs I.

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Die Entwicklung in dieser Zeit zeichnet Albert Schachter folgendermaßen nach:320 Sie seien wahrscheinlich im Zeitraum 230-225 v. Chr., vielleicht von Ptolemaios III. und Berenike gefördert, als trieterischer Agon ins Leben gerufen worden und bestanden zunächst aus thymelischen Disziplinen.321 Fünf davon – nämlich die der αὐληταί, αὐλωιδοί, κιθαρισταί, κιθαρωιδοί und ἐπῶν ποιηταί – erhielten um 225 v. Chr. stephanitischen und zum

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S. Schachter 2016=2012. Für eine Gegenüberstellung mit Knoepflers Rekonstruktion (1996) s. unten Exkurs II. Auf diese erste Phase der Mouseia bezieht Schachter 2016=2012, S. 346f. das von Rigsby 1987 auf die Zeit vor der Reorganisation datierte Dekret SEG 32, 456 (= Thes. 14 Manieri) aus Haliartos, Hinweise in den späteren Dekreten IThesp 155 (= Thes. 12 Manieri = 2 Schachter) und IThesp 156 (= Thes. 10 Manieri = 3 Schachter), die jeweils auf einen früheren Zeitpunkt in der Geschichte des Festes verweisen, sowie den Königsbrief IThesp 154. IThesp 155, 8-10 erwähnt dabei die vorangegangene Korrespondenz mit einer Königin und, wie man annehmen muss, mit einem König, geht aber inhaltlich der Statusänderung zu einem stephanitischen Agon voraus. Die späteren Sponsoren Ptolemaios IV. und Arsinoe III. scheiden deshalb, wie Schachter anders als Knoepfler 1996, S. 162 plausibel schließt, aus. Er plädiert in der Folge für das Paar Ptolemaios III. und Berenike (s. Schachter 2016=2012, S. 355-7 und auch 368f. für die Argumente im Einzelnen). Auch der Königsbrief IThesp 154, der zusammen mit zwei Briefen von Ptolemaios IV. und Arsinoe III., IThesp 152 und IThesp 153 (alle drei zus. = Thes. 15 Manieri = 1 Schachter), einem einzigen Marmorblock entstammt, sei ihrer Autorschaft zuzuschreiben (s. ebd.; vgl. Paschidis 2008, S. 316f.). Mit Paschidis 2008, S. 315-9 fasst Schachter die drei Briefe als ein thespisches „Ptolemaic dossier on the Mouseia“ (Paschidis 2008, S. 317, vgl. Schachter 2016=2012, S. 356 Anm. 36); IThesp 154 sei zwar zur gleichen Zeit wie die anderen beiden Inschriften auf Stein festgehalten worden, der Inhalt an sich aber früher zu datieren. (Anders als Schachter bezieht Paschidis jedoch die Unterstützung von Ptolemaios III. und Berenike nicht auf die Begründung, sondern auf die Reorganisation der Mouseia in Knoepflers Sinne; Schachters Theorie kann jedoch auch die scheinbare Widersprüchlichkeit bzgl. IThesp 155 – s. dazu Paschidis 2008, S. 318 Anm. 1 – weit besser aus dem Weg räumen als Paschidis’ eigene Verweise auf den unsicheren Textbefund, gesetzt man nehme eine Art Neubegründung an, die die früheren dithyrambischen Agone ersetzte.)

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Teil auch isopythischen Status.322 In den späten 210er Jahren v. Chr. seien zudem, unterstützt durch Zuwendungen von Ptolemaios IV. und 322

Die Inschriften geben einen Eindruck von dem formalen Ablauf einer solchen Reorganisation. Zentral ist die gut erhaltene Inschrift IThesp 156 (= Thes. 10 Manieri = 3 Schachter) mit 156bis (= Thes. 11A Manieri = 4a Schachter): Sie enthält das Dekret der isthmisch-nemeischen Technitai, mit dem sie einem diesbezüglichen Antrag der Stadt Thespiai (gestützt auch vom Boiotischen Koinon) zustimmen, welcher ihnen offenbar zuvor von dem Agonotheten Hierokles überbracht worden war, zusammen mit dem Hinweis auf die frühere gute Zusammenarbeit bei der Durchführung der Mouseia. Die Technitai erkennen die genannten fünf thymelischen Kategorien als stephanitisch an und versichern ihre künftige Unterstützung. – IThesp 157 (= Thes. 11B Manieri = 4b Schachter) enthält ein Dekret der Polis Athen mit der Annahme des thespischen Antrags. Darin wird nicht nur der stephanitische, sondern auch der isopythische Status gewährt, explizit für drei der thymelischen Disziplinen (für die ἐπῶν ποιηταί, αὐλωιδοί und αὐληταί, vgl. IThesp 157, 8f.). Hierin liegt ein Hinweis dafür, dass tatsächlich die Polis Athen, nicht etwa ihr Technitenverein Autorin des Dekrets ist: Denn die Gewährung des isopythischen Status betrifft die Ehrung der Sieger mit Preisen und Sonderrechten durch ihre Heimatstadt, und damit öffentliche Gelder (s. Aneziri 2003, S. 274f. und 2007, S. 69 Anm. 11; Slater und Summa 2006, S. 281; Slater 2010, S. 268 u. 273; Schachter 2016=2012, S. 348; vgl. ferner Manieri 2009, S. 365f.). Gleichzeitig erklärt dies, warum im Dekret der Technitai (IThesp 156 u. 156bis) nur die Rede von stephanitischem Status ist: „The technitai […], in agreeing to accept five thymelic categories as stephanitic, were concerned only with the status of the agon, not the cost of the prizes“ (Schachter 2016=2012, S. 350 Anm. 16; vgl. Slater 2010, S. 273f.). Die Anerkennung von nur drei Disziplinen als isopythisch durch die Stadt Athen zeigt zudem, dass verschiedene Poleis offenbar individuelle Abkommen mit der ausrichtenden Stadt schließen konnten (s. Slater und Summa 2004, S. 280-2; Slater 2010, S. 273f.; Remijsen 2011, S. 105). – Die Zustimmung einer weiteren Stadt, inklusive Beschluss zur Entsendung zweier Theoroi zu den Mouseia und Festlegung der Höhe eines finanziellen Beitrags, muss hinter der stark fragmentarischen Inschrift IThesp 158 (= Thes. 13 Manieri = 5 Schachter) gedacht werden; mehrere Argumente sprechen für Oropos (s. Feyel 1942, S. 97-100; vgl. Manieri 2009, S. 369f.) – Die ebenfalls nur in Bruchstücken erhaltene Inschrift IThesp 155 (= Thes. 12 Manieri = 2 Schachter) interpretiert Schachter als Dekret entweder der Stadt Thespiai selbst oder des Böotischen Koinons, mit dem erst der zu entsendende Antrag zur Reorganisation der Mouseia im oben beschriebenen Sinne verabschiedet

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Arsinoe III., die Spiele um einen dramatischen Agon erweitert und der Rhythmus auf vier Jahre erhöht worden;323 die Mouseia hätten in dieser erweiterten Form frühestens 204 v. Chr. zum ersten Mal stattgefunden. Das Dekret der isthmisch-nemeischen Technitai aus der Zeit der Verleihung des stephanitischen Status (IThesp 156)324 gibt darüber Auskunft, welche Rolle sie bei der Organisation der Mouseia von Thespiai spielten:325 So war die Mitwirkung des Vereins an dem Fest entscheidend.326 Die Techniten beteiligten sich an Opfern (Z. 21: συνθύοντες), bestimmten einen Priester aus ihrer Mitte (Z. 22: ἱερέα ἐξ αὑτῶν αἱρούµενοι), entsandten Theoroi (Z. 23: θεωροὺς ἀποστέλλοντες), brachten Anträge ein (Z. 24: ψηφίσµατα γράφοντες) und beteiligten sich an den

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wird (s. Schachter 2016=2012, S. 346 u. 348, vgl. so auch schon Manieri 2009, S. 367f.; anders Knoepfler 1996, S. 162). – Für den Zeitraum, in dem die Umstrukturierung des thymelischen Agons stattfand, s. insbes. Knoepfler 1996, S. 157-160; auch Schachter 2016=2012, S. 358; vgl. unten Exkurs II. Zu dieser Phase gehören die beiden Königsbriefe IThesp 152 von Arsinoe III. und IThesp 153 von Ptolemaios IV. (zusammen mit IThesp 154 Thes. 15 Manieri = 1 Schachter entsprechend), die, trotz des fragmentarischen Zustands erkennbar, Schenkungen für einen vierjährlichen dramatischen Agon (vgl. IThesp 152, 1: αὐλητῶν κ[α]ὶ τραγωιδ[ῶν] κα[ὶ] κωµωδῶ[ν] [sic]) zu Ehren der helikonischen Musen zum Gegenstand haben (vgl. insbes. IThesp 152, 1f. u. 153, 2-4); Schachter wertet sie als positives Echo auf einen Antrag der Stadt Thespiai an das Königspaar, einen solchen Agon anzunehmen. Möglicher Teil einer zugehörigen ‚Werbekampagne‘ könne auch das Fragment einer Elegie fr. 959 SH (= PHeid 189 = 11 Schachter) sein, (s. Schachter 2016=2012, S. 351 und die ausführliche Untersuchung von Barbantani 2000): Vgl. oben Abschnitt A.II.3.1.2 mit Anm. 231 und 254. Über die Schenkung eines Geldbetrags von König Ptolemaios und Königin Arsinoe für einen heiligen Zweck – ohne Zweifel im Zusammenhang mit dem Musenkult – gibt die Inschrift IThesp 62 (= 6 Schachter) Auskunft. Sie beinhaltet Beschlüsse der Stadt Thespiai zur Verwendung des Geldes (Kauf von heiligem Land und dessen Verpachtung, mit einem Jahresertrag von ca. 1701 Drachmen). In der Regel wird die Spende von IThesp 62 mit den Schenkungen identifiziert, die in den Königsbriefen IThesp 152 und 153 angedeutet sind; vgl. Paschidis 2008, S. 318; s. auch A.II.3.1.3, Exkurs II. S. auch oben Anm. 322. Vgl. insbes. IThesp 156, Z. 17-28 der zweiten Spalte. Vgl. Z. 17-20: κοινὸν [...] | εἶναι τὸν ἀγῶνα τῶν Μουσῶν | τῆι τε πόλει Θεσπιὲων καὶ αὑ|τοῖς.

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Gesandtschaften, die die Mouseia in ganz Griechenland bekanntgaben (Z. 25-8: συµπρεσβεύοντες περὶ τοῦ | ἀγῶνος καὶ πρὸς τοὺς λοιποὺς | Ἕλληνας).327 Der Zuwachs an Prestige, den die Verleihung des stephanitischen Status bedeutet, manifestiert sich im zweiten Jahrhundert v. Chr.328 Die Mouseia von Thespiai erfahren in dieser Zeit eine große Blüte, der auch die sich verschiebenden politischen Machtverhältnisse nichts anzuhaben scheinen;329 der Agon wird sogar innerhalb der ersten Jahrzehnte des zweiten Jahrhunderts für alle Disziplinen – thymelisch wie dramatisch –

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Die Beteiligung auch anderer Technitenvereine in dieser Zeit ist, so Manieri 2009, S. 361, nicht ausgeschlossen, doch muss dem isthmisch-nemeischen Koinon in jedem Falle eine prominente Rolle zugekommen sein. Für das Wesen der Technitenvereine allgemein s. Le Guen 2001; Aneziri 2003. Für ihre Rolle bei der Organisation hellenistischer Feste s. ebd., S. 267-289 und Aneziri 2007. Für die Entwicklung stephanitischer Agone auch als hellenistisches Phänomen und die Merkmale der Kategorie ‚stephanitisch‘ s. etwa Robert 1936, S. 21f.; 1977, S. 209; 1984; Pleket 1975, S. 56-71; Parker 2004b; Slater und Summa 2006, S. 279-282 u. 291-9; Manieri 2009, S. 22-5; Remijsen 2011 mit der Antwort von Slater 2012. S. im Einzelnen Manieri 2009, S. 323f. Ein wichtiges Zeugnis für das Prestige der thespischen Mouseia ist das Ehrendekret IG 11, 4, 1136 u. 1061 = Thes. 25 Manieri der ionisch-hellespontischen Techniten für Kraton, Sohn des Zotichos, aus Chalkedon etwa aus dem Jahr 170 v. Chr. Geehrt wird er für seine Verdienste (s. dazu Le Guen 2007). Im Dekret wird auch der Ruhm der Techniten beschrieben. So werde ihnen von Göttern, Königen und allen Griechen gemäß den Orakelsprüchen des Apoll ἀσυλία und ἀσφάλεια gewährt (vgl. Z. 16-18). Aufgrund von apollinischen Orakeln würden auch die Feste für Apoll Pythios, die helikonischen Musen und Dionysos gefeiert (vgl. Z. 18f.: τοῦ | Ἀπόλλωνος τοῦ Πυθίου καὶ τῶν Μουσῶν τῶν Ἑλικωνιάδων καὶ τοῦ Διονύ[σου]), und zwar die delphischen Pythia und Soteria, die thespischen Mouseia und die thebanischen Agrionia (vgl. Z. 19f.: [ἐν Δελφοῖς µὲν τοῖς] | Πυθίοις καὶ Σωτηρίοις, ἐν Θεσπιαῖς δὲ τοῖς Μουσείοις, ἐν Θήβαις δὲ τοῖς Ἀγρ[ιωνίοις]). Hier werden also die Mouseia zusammen mit den Festen genannt, die als „una sorta di circuito dei più frequentati agoni musicali dell’epoca“ (Manieri 2009, S. 389; vgl. Le Guen 2001, I, S. 238) verstanden werden müssen. Zu beachten ist auch die Rückführung auf ein Orakel nicht nur für die Asylie, sondern auch für die Begründung des Festes selbst.

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stephanitisch.330 Einige Veränderungen lassen sich dennoch attestieren: Die Auflösung des Böotischen Bundes im Jahre 171 v. Chr. in Folge des dritten Makedonischen Krieges bewirkt zwangsläufig, dass der Bund als Mitträger und -organisator der Mouseia ausfällt.331 Entscheidend bleibt zunächst die Beteiligung des isthmischen Technitenvereins. Er gründet einen Zweigverein, der sich möglicherweise zugleich für die thebanischen Agrionia und die thespischen Mouseia zuständig zeigt.332 Ein 330

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Dies folgt aus der Auflistung der Mouseia im Ehrendekret IG 11, 4, 1136 u. 1061 = Thes. 25 Manieri (vgl. die vorausgehende Anmerkung). Zu diesem Zeitpunkt, so Manieri, müsste bereits allen Disziplinen der stephanitische Status verliehen sein (s. Manieri 2009, S. 323 u. 389f.; vgl. Knoepfler 1996, S. 165; Le Guen 2001, I, S. 145 u. 235. Dies wird sichtbar in den Siegerkatalogen (vgl. Manieri 2009, S. 323): Böotische Sieger tragen nicht mehr das Ethnikon Βοιώτιος wie vorher (vgl. die Siegerkataloge IThesp 161 = Thes. 17 Manieri; IThesp 163 = Thes. 18 Manieri; IThesp 205 = Thes. 20 Manieri), sondern das ihrer jeweiligen Herkunftsstadt (vgl. IThesp 167 = Thes. 27 Manieri; IThesp 169 = Thes. 29 Manieri; IThesp 170 = Thes. 30 Manieri; IThesp 171 = Thes. 31 Manieri; IThesp 172 = Thes. 33 Manieri; IThesp 174 = Thes. 36 Manieri; IThesp 177 = Thes. 43 Manieri; IThesp 178 = Thes. 42 Manieri; IThesp 179 = Thes. 44 Manieri; IThesp 180 = Thes. 49 Manieri; IThesp 182 = Thes. 35B Manieri). Auch erscheint, als logische Konsequenz, der böotische Bundesarchon nicht mehr unter den relevanten Amtsträgern im ersten Teil der Kataloge. – S. aber auch Müller 2014, die in der Organisation mindestens dreier böotischer Feste – der Ptoia von Akraiphia, der Delia von Tanagra und der Basileia von Lebadeia – „a sort of federal memory“ (ebd., S. 133; vgl. dies. 2017, S. 232) nachweist, auch unter Beteiligung von Thesipiai, bis zur Revitalisierung des Böotischen Koinons im späten ersten Jh. v. Chr. (Müller diskutiert den Zeitpunkt der Wiedereinführung ebd.). S. Manieri 2009, S. 323 u. 384. Der Zweigverein tritt in den Inschriften unter der Bezeichnung „die Techniten, die am Helikon zusammen Feste abhalten“ in Erscheinung (οἱ τεχνῖται οἱ συντελοῦντες εἰς Ἑλικῶνα, vgl. IThesp 165 = Thes. 23 Manieri, Z. 8-11; IThesp 170 = Thes. 30 Manieri; s. auch Marchand 2016). Die (Mouseia-)Siegerkataloge IThesp 23 und IThesp 30 führen unter den Amtsträgern sowohl einen Priester bzw. Fackelträger der Musen als auch einen des Dionysos; vgl. Manieris Kommentar S. 384 u. 398. Die Verbindung zu den thebanischen Agrionia stellt Manieri über die Ehreninschrift IG 22, 971 = Thes. 26 Manieri für Telesias von Troizen her (s. Manieris Kommentar S. 393 Anm. 1, vgl. ebd., S. 323 u. 384). Aneziri hingegen geht von zwei getrennten Zweigvereinen aus, einem thebanischen und

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Wandel kristallisiert sich nach dem Achaiischen Krieg 146 v. Chr. heraus: Der Einfluss des isthmischen Technitenvereins schwindet; die athenische Synodos, im Konflikt mit dem isthmischen Technitenverein und erstarkt nicht zuletzt durch die Parteinahme Roms, gewinnt im Gegenzug an Bedeutung.333 Im Zuge des Mithradatischen Krieges offenbart sich die Bindung, die Thespiai mit Rom eingeht, auch hinsichtlich der Mouseia. So wird für Quintus Braetius Sura, Legat pro quaestore des Gaius Sententius Saturnius in Makedonien und siegreich in Böotien gegen Mithradates’ Feldherrn Archelaos, nicht nur eine Statue im Heiligtum geweiht: Ihm wird zudem eine öffentliche Ehrung im Theater während der Mouseia zuteil und er erhält das Vorrecht der Prohedrie für sich und seine Nachkommen.334 Die Einführung eines Agons im Darbieten von ἐπινίκια – zur Feier der römischen Siege –, wie er auch für andere böotische Feste im ersten Jahrhundert v. Chr. zu verzeichnen ist, kann Folge sullanischer Kulturpolitik sein.335 Sullas Zeit erweist sich insgesamt als förderlich für

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einem helikonisch-thespischen (vgl. Aneziri 2003, S. 56-9); Pyrphoros und Priester des Dionysos hätten dann auch nur lokale Relevanz (vgl. ebd., S. 135 mit Anm. 55). S. auch Le Guen 2001, II, S. 22f. Vgl. Manieri 2009, S. 324f. für die epigraphischen Manifestationen. Den Konflikt zwischen den beiden Technitenvereinen einschließlich der Rolle Roms behandeln Le Guen 2001, I, S. 98-113 u. II, S. 102-5; Aneziri 2003, S. 306-16. Außerdem stellt der Siegerkatalog IThesp 170 = Thes. 30 Manieri, in dem einmalig keine Vertreter des isthmischen Technitenvereines, aber durchaus des lokalen Zweigvereins verzeichnet sind, möglicherweise ein Indiz für die innere Spaltung des isthmischen Koinon dar: Vgl. Aneziri 2003, S. 315; Manieri 2009, S. 398. Vgl. das thespische Dekret IThesp 34 (= Thes. 32 Manieri; etwa 87/86 v. Chr.), in dem die Ehren für Quintus Braetius Sura erlassen werden; s. Manieri 2009, S. 325 u. 400-2; Robinson 2012, S. 237 Anm. 64; Müller 2017, S. 233. S. Manieri 2006, insbes. S. 350-7; 2009, S. 325 u. 405 Anm. 1; vgl. ferner Gossage 1975, S. 117f. Diese Disziplin ist verzeichnet im Siegerkatalog IThesp 173 (= Thes. 34 Manieri) aus der Mitte des ersten Jhs. v. Chr.; vgl. aber auch schon den Siegerkatalog IThesp 163 (= Thes. 18 Manieri) etwa aus dem Jahre 209 v. Chr. Manieri vermutet eine größere Reform aller böotischen Agone durch Sulla nach dem Mithradatischen Krieg. Die Ehrenstatue für Sulla, die die Thespier den Musen weihen (vgl. IThesp 397; s. oben Abschnitt A.II.3.1.2 mit Anm. 264), könne dazu in Zusammenhang stehen (vgl.

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das Fest, auch im Vergleich zu anderen griechischen Festen unmittelbar nach dem Mithradatischen Krieg.336 Nach einem möglichen zeitweiligen Niedergang337 in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. erleben die Mouseia von Thespiai in der Kaiserzeit einen erneuten Aufschwung. Das Amt des Agonotheten gewinnt Bedeutung und Ansehen unter der lokalen Elite.338 Der Charakter des Festes ändert sich: Zumindest formal verblasst der ursprüngliche religiöse Rahmen der Mouseia, der Kaiserkult tritt in den Vordergrund.339

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Manieri [2006] 355 mit Anm. 88). Gossage zieht eine finanzielle Förderung in Betracht (vgl. Gossage 1975, S. 134 mit Anm. 50). Vgl. ebd., S. 117 Anm. 1, S. 121f. u. 134; Manieri 2009, S. 325f.; Robinson 2012, S. 232; Müller 2017, S. 233. Einen solchen zieht Manieri 2009, S. 326 in Analogie zu anderen bekannten Fällen aus dem böotischen Festkalender in Erwägung, weil Zeugnisse aus den letzten Jahrzehnten des 1. Jhs. v. Chr. fehlen, die speziell die Mouseia betreffen. Andererseits werden im Heiligtum rege Ehrenstatuen verschiedener römischer Persönlichkeiten den Musen geweiht: Vgl. Robinson 2012, S. 237-240; Müller 2017, S. 236. S. Manieri 2009, S. 326. Drei Indizien nennt Manieri 2009, S. 326f.: So werde in den Siegerlisten ab dem zweiten Jh. n. Chr. der amtierende Priester nicht mehr genannt. Manifest werde diese Entwicklung zudem schon im ersten Jh. n. Chr. in der Umbenennung des Festes in Μουσῆα Σεβαστῆα oder Καισαρῆα Σεβαστῆα Μουσεῖα (vgl. IThesp 176 = Thes. 47 Manieri, Z. 2f. (?); IThesp 180 = Thes. 49 Manieri, Z. 3f.; IThesp 184 = Thes. 48 Manieri, Z. 1f. (?); IThesp 358 = Thes. 40 Manieri, Z. 3f.; vgl. auch IThesp 177 = Thes. 43 Manieri, Z. 4f.; IThesp 376 = Thes. 38 Manieri, Z. 5-7; IThesp 377 = Thes. 39 Manieri, Z. 3f.). Schließlich zeuge davon auch die Einführung von verschiedenen ἐγκώµιον-Disziplinen im ersten und zweiten Jh. n. Chr. (vgl. die Siegerkataloge IThesp 174 = Thes. 36 Manieri, u. a. mit der Kategorie [ἐνκωµιογρ]άφος εἰς Σεβαστὴν Ἰουλίαν Μνηµο|σύνην in Z. 7f.; IThesp 177 = Thes. 43 Manieri; IThesp 178 = Thes. 42 Manieri, IThesp 179 = Thes. 44 Manieri), ebenso die gleichzeitige Gründung eines Vereins der ἐγκωµιασταί (vgl. die beiden Ehreninschriften IThesp 382 und 383). S. auch Roesch 1982, S. 17782. Es sei bemerkt, dass Pausanias dennoch im zweiten Jh. n. Chr. in seiner knappen Formulierung nur die ursprünglichen Gottheiten ins Spiel bringt: „Und die Thespier halten dort ein Fest und einen Wettkampf ab, die Mouseia; sie halten auch für Eros einen ab [...]“ (Paus. 9, 31, 3: καὶ ἑορτήν τε ἐνταῦθα οἱ Θεσπιεῖς καὶ ἀγῶνα ἄγουσι Μουσεῖα· ἄγουσι δὲ καὶ τῶι Ἔρωτι

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Der letzte erhaltene Siegerkatalog – zugleich letztes erhaltenes Zeugnis für die Mouseia – stammt aus dem 3. Jh. n. Chr.340 Exkurs I. Vor den Mouseia: Dithyrambische Agone zu Ehren der Musen Die zwei oben erwähnten Epigramme, die auf dithyrambische Aufführungen im Tal der Musen spätestens in der ersten Hälfte des dritten Jhs. v. Chr. deuten,341 lassen den Rückschluss auf die Adressaten der Agone nicht eindeutig zu. So sieht Schachter eher Dionysos als typischen Empfänger von Dithyramben im Fokus.342 Ein grundsätzlich vergleichbarer Fall seien die über Inschriften erfassbaren Dithyrambos-Wettbewerbe zu seinen Ehren in Orchomenos vom späten vierten bis zur Wende vom dritten ins zweite Jahrhundert v. Chr.: At Helikon the Muses, and at Orchomenos the Charites, provided the setting for these performances. If this reading is correct, the local goddesses were not honoured with agons of their own until late in the third century for the Muses, and a little later for the Charites343 Irreleitend an dieser Aussage ist jedoch, dass Schachter den eigenen, alten Kult des Dionysos in Orchomenos, der neben dem der Chariten bestand, in diesem Zusammenhang nicht erwähnt;344 echte Vergleichbarkeit ist also nicht gegeben. Allerdings ist im Falle des Weihepigramms für Pythokles der Wortlaut genauer zu prüfen. Von Interesse in diesem Zusammenhang sind die Verse 13f., die gemeinhin als Anspielung auf Siege bei Festen der Mu-

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[...]). Für die Entwicklung griechischer Agone in der Kaiserzeit im Allgemeinen – auch unter dem Aspekt ihrer ‚Greekness‘ – s. etwa Spawforth 1989 u. 2007; Aneziri 2014, auch für weitere bibliographische Verweise; ferner Slater 2013. Es handelt sich um IThesp 180 = Thes. 49 Manieri. Für die Datierung (nach 212 n. Chr.) vgl. den Kommentar bei Manieri 2009, S. 423. Amphion FGrH/BNJ 387 F1 = Thes. 2 Manieri (bei Ath. 14, 26; vgl. Ath. Epit. Bd. 2,2 S. 133 Peppink); IG 4, 682 = SEG 27,115 = Thes. 7 Manieri = App. Anth. Epigrammata dedicatoria 291 (vgl. Nachtergael 1977, S. 429f.). S. oben Anm. 254 u. 319. S. Schachter 2016=2012, S. 370. Ebd. S. zu dem Kult Schachter selbst 1981, S. 179-181; Manieri 2009, S. 175-9.

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sen in Thespiai (den Mouseia?) und des Dionysos in Theben (den Agrionia) angesehen werden:345 [χὡ] στέφανος Μούσαις Ἑλι[κω]νίσι καὶ Διονύσ[ωι] [Κ]αδµείωι, τρίτατ’ ἦν κῦδος ἐµοῖς γενέταις· Und der Kranz, Ruhm den Helikonischen Musen und dem Kadmeischen | Dionysos, war es an dritter Stelle für meine Eltern. Die vorangehenden Verse 7-12 geben den Zusammenhang. Wenn auch die Versanfänge verloren sind, transportieren die plausiblen Konjekturen verschiedener Editoren ungefähr den anzunehmenden Sinn:346 Die vielen verschiedenen Arten von Siegeskränzen, die Pythokles errungen habe, seien unzählbar (V. 7f.), verzeichnet seien aber jene, die er in drei(?) Feldern errungen habe, nämlich als Aulodos(?), Rhapsode(?) und in den ‚kreisförmigen Chortänzen‘ (V. 9f.). Denn(?) eine Festversammlung, die der Böoter(?), habe ihn bekränzt (vgl. V. 11: Βωιωτῶν] µε [π]αν[ήγυ]ρι[ς] ἐστεφάνωσεν), zum Anlass einer erstmaligen Leistung oder des Davontragens eines Sieges (vgl. V. 12: πρῶτ’ ἀ[π]ε[ν]εγ[κά]µεν[ον]). Ist dies der Kranz, von dem in V. 13f. die Rede ist? Der Zusatz „τρίτατ’ ἦν κῦδος ἐµοῖς γενέταις“ schließt eigentlich einen generischen Charakter von „[χὡ] στέφανος“, der sich gleichermaßen auf einen Sieg bei den Mouseia und einen weiteren bei den Agrionia bezöge, aus.347 Es scheint sich vielmehr ganz konkret um eine Art Ehrung für wiederholte Verdienste zu handeln. Denkbar ist dann zunächst durchaus, dass Pythokles als das Ich des Epigramms seinen Erfolg mit böotischen Ausformungen von Gottheiten in Verbindung bringt, die dem musischen Künstler grundsätzlich nahestehen: mit den thespischen helikonischen Musen und dem thebanischen kadmeischen Dionysos, ohne Bezug zu konkreten Festen. Diese Spezifizierung könnte dann einfach auf den böotischen Rahmen der Ehrung zurückzuführen sein.348 Andererseits ist die Paarung ausgerechnet der Gottheiten, deren Feste später als die beiden großen böotischen musi345

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Vgl. etwa Robert 1935, S. 196; Nachtergael 1977, S. 321; Manieri 2009, S. 355; Schachter 2016=2012, S. 369. S. im Einzelnen Nachtergael 1977, S. 318-322 u. 429f. Robert 1935, S. 196 umgeht das Problem, indem er das Distichon nur bis [Κ]αδµείωι zitiert und den letzten Teil mit „κτλ.“ zusammenfasst. So vermutet Nachtergael 1977, S. 321f. in Pythokles trotz seiner Herkunft aus Hermione ein Mitglied der böotischen Abteilung des isthmisch-nemeischen Technitenvereins.

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schen Agone gelten,349 doch sehr auffällig: Vielleicht stellen sie zwei der Gelegenheiten dar, bei denen Pythokles in Boiotien sein Können unter Beweis stellte und später – z. B. als eine Art böotischer Periodonikes? – die Ehrung, den besagten Kranz, erhält. Eine Loslösung der musischen Agone von den Gottheiten, die den Festrahmen geben, erscheint auch hier wenig plausibel, gerade weil Dionysos in V. 13 durch das Epitheton Καδµεῖος eigens die thebanische Färbung erhält und für eine Assoziation mit thespischem Bezug quasi nicht zur Verfügung steht. Exkurs II. Die Reorganisation der Mouseia: Streitfragen Als jüngste Auseinandersetzung mit der Thematik der Entwicklung und Reorganisation der thespischen Mouseia wurde oben Schachters350 Darstellung präsentiert. Schachter greift Knoepflers351 Auslegung der relevanten Inschriften352 auf und modifiziert sie an unterschiedlichen Punkten. Dessen Interpretation des Materials galt bislang als maßgeblich. Knoepfler, der seinerseits Feyels353 umfassende Interpretation einer Revision unterzieht, rekonstruiert folgende Entwicklung: Die Reorganisation der Mouseia habe nicht erst zwischen 215 und 208 v. Chr. – so Feyels Schluss –, sondern bereits um 225 v. Chr. stattgefunden. Der ursprünglich jährliche Agon mit thymelischen und dramatischen Disziplinen sei in diesem Zuge im Bereich der thymelischen Disziplinen zu stephanitischem Status erhoben und der Rhythmus auf vier Jahre festgelegt worden. Ein jährlicher – im Wesentlichen dramatischer – Agon sei fortgelaufen, sodass er alle vier Jahre mit dem großen stephanitischen (thymelischen) Agon koinzidiert habe. Später, um 210-208 v. Chr., hätten Ptolemaios IV. und Arsinoe III. der Bitte der Thespier nach Unterstützung in Form u. a. von Preisstiftungen stattgegeben. Diese seien dezidiert für den dramatischen Agon bestimmt gewesen, und zwar für die Gelegenheiten, bei denen er mit dem ‚großen‘ stephanitischen Agon zusammen gefeiert worden sei, in jedem vierten Jahr also). Im Zuge der 349

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Vgl. den ‚Kanon‘ von Festen in IG 11,4 1136 u. 1061 = Thes. 25 Manieri, um 170 v. Chr.; s. oben Anm. 329. S. Schachter 2016=2012. S. Knoepfler 1996. S. im Wesentlichen IThesp 54; 62; 84; 152-154; 155; 156; 156bis; 157; 161; 163; SEG 32, 456 = Thes. 14 Manieri; darüber hinaus IThesp 99bis; 160; 172; 178; 180; IG 11,4, 1061 = Thes. 25 Manieri und BCH 23 (1899) 200f. Nr. 8. Zusätzliche zentrale Zeugnisse bei Schachter sind IThesp 158; 159-60; 162; fr. 959 SH. S. Feyel 1942, S. 88-132.

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positiven Reaktion des Königspaares hätte Thespiai zudem gebeten, die Reorganisation zum stephanitischen Agon nachträglich anzuerkennen.354 Die Unterschiede zwischen Knoepflers und Schachters Darstellungen und die jeweils zu Grunde liegenden Streitpunkte werden im Folgenden herausgestellt und zum Teil kommentiert, um den Einstieg in die Debatte zu erleichtern.355 Diese zu führen muss letztendlich aber Sache der dezidierten Experten und Kenner der komplexen Materie bleiben.356 Schachters Darstellung weicht in drei Punkten wesentlich von Knoepflers Interpretation ab:357 1) Vor Einrichtung des penteterischen Agons hätten die Spiele in zweijährlichem, nicht in jährlichem Rhythmus stattgefunden. 2) Der Vierjahresrhythmus sei nicht bereits Bestandteil der früheren Umstrukturierung des thymelischen Agons, sondern werde erst im Zusammenhang mit dem Herantreten an das ptolemäische Königspaar eingeführt. 3) Ein dramatischer Agon werde überhaupt erst im Zusammenhang mit dem Herantreten an Ptolemaios und Arsinoe etabliert. Zu 1): Der zweijährliche Rhythmus der ‚ursprünglichen‘ Spiele vor ihrer Umgestaltung zu einem penteterischen Agon im Gegensatz zu Knoepflers358 These vom jährlichen Agon ergibt sich im Wesentlichen aus Schachters Auslegung von IThesp 84 (= 13 Schachter)359, einer vollständigen Beamtenliste der Stadt Thespiai für zwei aufeinanderfolgende Jahre aus der zehnten Dekade des 3. Jhs. v. Chr. Diese beinhaltet für das erste Jahr sowohl den Posten eines ἀεθλοθέτας Μώσης (Z. 8), als auch eines ἀγων[ο]θέτας Μωσ|είων (Z. 13f.), wobei letzterer nicht mit einem Namen versehen ist; für das zweite Jahr wiederum nur den Posten eines [ἀ]γωνοθέτας Μ[ω]σεί[ω]ν (Z. 74). Schachter unterstützt – in weiten 354

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Vgl. Knoepfler 1996. Unter SEG 46, Nr. 536 ist der Inhalt von Knoepflers Artikel nicht vollständig richtig wiedergegeben. S. aber auch oben Anm. 321. In einer Zusammenfassung von Schachters Artikel im Bulletin épigraphique der REG 127 (= Knoepfler 2014, S. 451f. Nr. 201) deutet Knoepfler seinen Dissens in wesentlichen Punkten an. In seiner Rezension des Bandes ausgewählter Schriften Schachters (2016) in REG 130 (= Knoepfler 2017 unter I.) wird dieser Artikel jedoch nur erwähnt, nicht ausführlicher diskutiert (s. ebd., S. 236), mit dem Hinweis allerdings, dass Schachter 2016=2012 selbst auf die Kritikpunkte Knoepflers 2014 zu sprechen komme. Für einzelne weitere Streitpunkte s. beispielsweise oben Anm. 321. S. insbes. Knoepfler 1996, S. 161-6. Vgl. Manieri 2009, S. 331.

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Teilen Roesch360 folgend – die These, dass die Aufgabe des Athlotheten sei, im Jahr vor der Abhaltung der Mouseia die Preise vorzubereiten.361 Die Lücke hinter dem Amt des Agonotheten sei dadurch zu erklären, dass die Wahl zum Zeitpunkt der Inschrift noch nicht erfolgt gewesen sei: Sie habe erst spät im Jahr nach der Abhaltung der Mouseia stattgefunden, nach Ablauf der Amtszeit des aktuellen Agonotheten also. Das „Year Zero“362, in das die Entstehung der Inschrift zu denken ist, sei demnach ein Mouseia-Jahr gewesen, „Year One“363, für das der Athlothetes vorgesehen sei, die Position des Agonotheten jedoch nicht nachgetragen wurde, ein Jahr ohne Mouseia, „Year Two“364 wiederum, für das der Athlothetes aus ‚Year One‘ die Preise vorbereitete und als Agonothetes Ktesikles, der Sohn des Saon365 verzeichnet ist, ein Jahr mit Mouseia. Es ergäbe sich so ein trieterischer Rhythmus.366 Diese Interpretation und in der Folge auch die Überlegungen zum ursprünglichen Festrhythmus bieten in der Tat eine plausible Erklärung des Befundes im Rahmen von Schachters Theorie. Im Grunde ebenso plausibel innerhalb ihrer Theorie sind jedoch die Thesen von Knoepfler und Manieri,367 denen Knoepflers Annahme vom jährlichen Agon und dem parallelen vierjährlichen Agon zu Grunde liegt.368 Ohne weitere Anhaltspunkte über das Aufgabenfeld eines ἀεθλοθέτας Μώσης bleibt die Entscheidung unmöglich und muss bei einem „annual or bi-ennial [...] Mouseia“369 als Ergebnis verharren.370

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S. Roesch 1965, S. 226-9. Vgl. Schachter 2016=2012, S. 354. Ebd., S. 355. Ebd., S. 354f. Ebd. Vgl. IThesp 84, 75. Zudem sei in der Folge auch die Lücke für den Agonotheten in ‚Year One‘ ebenfalls um Ktesikles, den Sohn des Saon, zu ‚ergänzen‘: Vgl. Schachter 2016=2012, S. 354f. S. Knoepfler 1996, S. 163f. und Manieri 2009, S. 331 (im Grunde der früheren Auslegung von Schachter 1986, S. 152, mit Anm. 1, ähnlich). S. dazu unten unter 2). Slater 2010, S. 276. Für die Frage, ob zu diesem Zeitpunkt schon von einem penteterischen Rhythmus auszugehen ist – den Schachter ja explizit losgelöst von der bereits erfolgten Verleihung des stephanitischen Status sieht – und ‚große‘ und ‚kleine‘ Mouseia zumindest in der Anfangszeit nach der Reorganisation parallel existiert haben müssen, s. unten unter 2).

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Zu 2): a) Die These stützt sich zum einen auf die Auslegung des Ausdrucks „dass das Jahr verlegt werde, in dem der Agon stattfindet“ (IThesp 156, 21-3: καὶ ὅπως | ἂν ὁ ἐνιαυτὸς371 µετατεθῆι ἐν | ὧι ὁ ἀγὼν γίνεται) im Dekret der nemeisch-isthmischen Technitai. Knoepfler vertritt die Ansicht, dass an dieser Stelle die Änderung des Festrhythmus verhandelt werde.372 Schachters Einwand lautet: „[I]n Thespian inscriptions, as elsewhere, ἐνιαυτός means no more than ‘calendar year’. The technitai were asked to approve the change of date in order to give the organizers – themselves included – time to circulate the request and collect acceptances“373. Tatsächlich kann das Wort ἐνιαυτός in dieser Frage kaum ausschlaggebend sein.374 Vielmehr deutet der sehr allgemein gehaltene Nebensatz mit dem Präsens und dem unspezifischen „ὁ ἀγών“ eher auf eine allgemeine oder abstrakte Ebene als auf eine einmalige, konkrete Situation. Auf ein weiteres, wichtiges Argument, das Knoepfler für die gleichzeitige Änderung sowohl des Status als auch des Rhythmus der Mouseia nennt, geht Schachter nicht ein. Die Verleihung des ‚heiligen‘ Status stephanitischer Spiele sei in hellenistischer Zeit grundsätzlich mit einem penteterischen Rhythmus verknüpft.375 Der Ausdruck im Dekret der Techniten – ein zugleich mit der Statusänderung beantragter Punkt (vgl. IThesp 156, 15-21) – wäre dann mehr allgemein geläufige Formsache als ein individueller Wunsch der Stadt Thespiai. Von der Regel scheint es zwar durchaus Ausnahmen zu geben – auch abgesehen von den Isthmischen und Nemeischen Spielen (beide trieterisch und zusammen mit den anderen beiden Agonen der Periodos Modelle für die vielen stephanitischen Agone der hellenistischen Zeit), denen in der Diskussion ein Sonderstatus376 zuerkannt werden muss; dennoch zeigt sich Knoepflers Interpetation in ihrer Gesamtheit überzeugender. b) Zum anderen stützt sich die These auf die Annahme, dass die Königsbriefe IThesp 152 (vgl. Z. 1) und 153 (vgl. Z. 2) die ersten Zeugnisse überhaupt für einen penteterischen Agon seien. Die Penteteris findet außer in IThesp 152 und 153 auch Erwähnung in IThesp 54, Z. 28 und bei Plu. Mor. 748e-f (Amatorius). Die Annahme resultiert aus 371 372

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In IThesp steht ἐνιαυτός mit Akut statt Gravis. S. Knoepfler 1996, S. 151f. mit Anm. 33; vgl. auch Rigsby 1987, S. 736; Manieri 2009, S. 360. Schachter 2016=2012, S. 348; vgl. Feyel 1942, S. 116. Vgl. Wilhelm 1900 zu seiner unspezifischen Bedeutung. S. Knoepfler 1996, S. 156 u. 157; vgl. auch Robert 1984, S. 37 passim; Le Guen 2001, I, S. 144 Anm. 419; Parker 2004b, S. 12; van Bremen 2007, S. 345f. Anm. 4.; Manieri 2009, S. 23; Slater 2010, S. 263 u. 268. Vgl. Manieri 2009, S. 23f. Anm. 12; Slater 2010, S. 263.

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Schachters Datierung von IThesp 54, 24-8 (= 16 Manieri = 12 Schachter). Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem thespischen Dossier, bestehend aus IThesp 54 (Seite A) und 55 (Seite B), das hauptsächlich Verpachtungen von heiligem Land und die daraus resultierenden Einnahmen verzeichnet. Der betreffende Ausschnitt besagt, dass Louson, Sohn des Kapon, bei seinem Amtsantritt als Priester der Musen der Stadt Thespiai eine Geldsumme vermacht habe, von deren Erlös ein Stier „beim Opfer der vierjährlichen Mouseia“ (IThesp 54, 27f.: ἐν τῆ θυσίη | τῶν πεντεϝετείρων Μωσείων) zu opfern sei. Das Archontat des Eudamos377 dient zur zeitlichen Einordnung. Knoepfler nimmt eine Einordnung für die Inschrift IThesp 54 u. 55 insgesamt vor: Das mehrfach darin erwähnte (Bundes-)Archontat des Charopinos378 müsse dem Archontat des Theodotos, erwähnt im späteren Dekret IThesp 56,379 um mindestens sechs Jahre vorausgehen; IThesp 56 wiederum sei als Konsequenz aus prosopographischen Verknüpfungen mit dem wichtigen Militärkatalog IThesp 99bis (= SEG 37, 385) auf 210205 v. Chr. zu datieren. Für IThesp 54 und 55 ergäbe sich also der Zeitraum von – spätestens – 215-210 v. Chr.380 Schachter hingegen betrachtet den Ausschnitt IThesp 54, Z. 24-8 unabhängig vom Archontat des Charopinos. Die Legitimation dazu bezieht er aus der Charakterisierung der Inschrift als Dossier, das Vorgänge aus unterschiedlichen Zeiten bündele.381 Schachter zieht die beiden Inventare IThesp 159 und 160 (= Thes. 22 Manieri = 8 Schachter) heran, in denen der Archon Eudamos genannt wird.382 Der von Roesch in IThesp 160A, 6 wiederhergestellte Archon Agon, als Vorgänger von Eudamos zu fassen und um 190 v. Chr. zu verorten,383 impliziere somit für das Archontat des Eudamos selbst einen noch späteren Zeitpunkt.384 In der Folge sei auch Lousons Spende für das Opfer bei den Mouseia und zugleich die Erwähnung von deren vierjährlichem Rhythmus später anzusetzen als die Königsbriefe von Ptolemaios IV. und Arsinoe III. Zwei Einsprüche sind zu erheben: Erstens muss die Verwertbarkeit von IThesp 160 als chronologische Referenz als sehr unsicher gelten: 377 378 379 380 381 382 383

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Vgl. IThesp 54, 24: Εὐδάµω ἄρχοντος. Vgl. IThesp 54, Z. 13; 15; 19; IThesp 55, Z. 4. Vgl. IThesp 56, Z. 1; 10; 14. S. Knoepfler 1996, S. 156f. S. Schachter 2016=2012, S. 344f. Anm. 25; vgl. Sosin 2000, S. 48. Vgl. IThesp 159C, Z. 6; 160B, Z. 9. Für die Datierung von Agon s. Habicht 1987; vgl. Grandjean 1995, S. 13f.; Fröhlich 2011, S. 199; Schachter 2016=2012, S. 353 mit Anm. 26. S. Schachter 2016=2012, S. 352f.

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Fröhlichs Interpretation der beiden Inventare IThesp 159 und 160 führt fast zwangsläufig zu der Konsequenz, dass sich aus ihnen bis auf wenige Ausnahmen keine Schlüsse für die relative Chronologie der darin genannten Agonotheten ziehen lassen.385 Schachters Lösung, die Inschriften als voneinander unabhängige Inventare ganz unterschiedlicher Objektgruppen anzusehen,386 ist angesichts der großen Konsistenz von Fröhlichs Auslegung weniger wahrscheinlich. Zweitens erscheint Schachters unabhängige Datierung der unterschiedlichen Abschnitte von IThesp 54 zwar zunächst plausibel – es ist jedoch überaus zweifelhaft, ob eine gänzlich unabhängige Datierung möglich ist: Der Archont Charopinos erscheint sowohl oberhalb387 des Louson-Abschnitts als auch unterhalb388, zudem auf der Rückseite389 des Blocks. Der Archont Nikon erscheint auf der Vorderseite390 unterhalb des Louson-Abschnitts und auf der Rückseite391. Ihr Archontat wird jeweils als Startjahr für die Pachtverträge genannt.392 Pernin bemerkt in der Folge zur Datierung von IThesp 54 und 55: „La présence des archontes Nikôn et Charopinos sur chacune des deux faces induit que les deux inscriptions sont à peu près contemporaines“393. Noch stärker wird dieser Eindruck, da eine Formulierung auf der Rückseite nahelegt, dass zum Zeitpunkt der Inschrift Nikons Nachfolger noch nicht bekannt war.394 Für IThesp 55 – und gleichzeitig die Abschnitte mit Pachtverträgen in IThesp 54 – ist aber durch die erwähnte Verknüpfung mit IThesp 56 ein relativ deutlicher terminus ante quem gegeben. Was für Vorder- und Rückseite gilt, muss umso mehr für die beiden Abschnitte innerhalb von IThesp 54 gelten. Es ist schwer denkbar, dass ein signifikant späteres Zeugnis zwischen diese beiden eingefügt wurde, ob die Inschrift nun sukzessive oder einmalig (nachträglich) erstellt wurde. Schachters Herabsetzung der Datierung von Lousons Spende auf eine Zeit nach der Korrespondenz mit Ptolemaios IV. und Arsinoe III. ist also nicht überzeugend.

385 386 387 388 389 390 391 392 393 394

Vgl. Fröhlich 2011, S. 194-205, insbes. 202-4. S. Schachter 2016=2012, S. 353 Anm. 2. Vgl. IThesp 54, Z. 13, 15 u. 19. Vgl. IThesp 54, Z. 48 u. 49. Vgl. IThesp 55, Z. 4. Vgl. IThesp 54, Z. 52. Vgl. IThesp 55, Z. 12 u. 31. Etwas abweichend IThesp 55, Z. 12. Pernin 2014, S. 120. Vgl. IThesp 55, Z. 12; s. dazu Osborne 2017, S. 225.

3

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Beide Argumente, mit denen Schachter seine These stützt, überzeugen somit nicht. In der Konsequenz muss nicht nur angenommen werden, dass der Festrhythmus der stephanitischen Mouseia zugleich mit der Statusänderung zum stephanitischen Status auf vierjährlich festgelegt wurde, sondern auch, dass zumindest in der Anfangszeit parallel zum prestigereichen penteterischen Fest jährlich oder395 zweijährlich ein weiteres, ‚kleineres‘ Fest abgehalten wurde: Die Formulierung „beim Opfer der vierjährlichen Mouseia“ (IThesp 54, 27f.: ἐν τῆ θυσίη | τῶν πεντεϝετείρων Μωσείων) als Ziel von Lousons Spende erschiene ohne nicht-vierjährliche Mouseia im Hintergrund befremdlich.396 Zu 3): Als positives Indiz für die These, dass ein dramatischer Agon überhaupt erst im Zusammenhang mit dem Herantreten an Ptolemaios und Arsinoe etabliert werde, sieht Schachter die Siegerlisten IThesp 161 (= Thes. 17 Manieri = 7a Schachter) und IThesp 163 (= Thes. 18 Manieri = 7b Schachter) an, die etwa auf das Jahr 209 v. Chr.397 zu datieren sind. Beide Listen beziehen sich auf die Mouseia desselben Jahres: Dies wird, wenn auch in IThesp 163 die einleitende Nennung der Beamten nicht mehr erhalten ist, durch die übereinstimmenden Siegernamen in entsprechenden Disziplinen deutlich. Dabei enthält die intakte Inschrift IThesp 161 als Exzerpt der vollständigen Liste IThesp 163 nur die Sieger der stephanitischen Disziplinen. IThesp 163 liefere einen wichtigen Hinweis: „The categories listed are all for solo artistes, that is, they are strictly speaking thymelic. The absence of any dramatic victors suggests that the Mouseia in its first and second stages contained only solo competitions, and that the dramatic categories – dithyramb, tragedy, comedy – were added only later“398. An dieser Stelle lässt Schachter eine Ungenauigkeit zu: Zwar handelt es sich bei dem Ausschnitt nahezu sicher um das Ende der Liste – darauf lassen sowohl die freie Fläche hinter dem letzten Namen als auch die letztgenannte Disziplin399 schließen. Doch damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass dem Ausschnitt eine Auflistung der Sieger in den dramatischen Disziplinen vorausging. So folgt auch in der Siegerliste IThesp 167 (= Thes. 27 Manieri; 146-95 v. Chr.) der siegreiche ποιητὴς σατύ395 396 397

398 399

S. oben unter 1). Vgl. Knoepfler 1996, S. 162. Die Datierung erfolgt in Abhängigkeit von der Datierung des Archontats des Lykinos; s. dazu Knoepfler 1992, S. 426-7, Nr. 32; 1996, S. 158f. Schachter 2016=2012, S. 350f. Es handelt sich um die Disziplin der ἐπινίκια (IThesp 163, 14). S. dazu Manieri 2009, S. 377f.

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ρων gleich an vierter Stelle hinter dem ποιητὴς προσοδίου, dem σαλπιστής und dem κῆρυξ.400 Die Reihenfolgen auf Siegerlisten späterer Jahre zeigen gleichwohl, dass dies viel weniger wahrscheinlich ist.401 Trotz dieser kleinen Einschränkung zeigt sich somit Schachters Deutung der beiden Siegerkataloge konsistent und die These, dass dramatische Disziplinen erst später zu den penteterischen Mouseia hinzugefügt wurden, plausibel. Die These muss freilich um den Zusatz des parallel in kleineren Intervallen stattfindenden Agons, der alle vier Jahre mit den großen Mouseia zusammenfalle, erweitert werden.402 Auch für diesen scheint die Annahme wahrscheinlicher, dass er gerade nicht „essentiellement scénique“403 sei: Schachter argumentiert, freilich unter der Auffassung, ‚kleine‘ Mouseia hätte es überhaupt nicht gegeben, dies sei für Thespiai schlicht zu teuer.404 Das Jahr 204 v. Chr. als frühestmöglichen Zeitpunkt405 für die Abhaltung der Mouseia inklusive dramatischer Wettbewerbe gewinnt Schachter aus einer kleinen Rechnung:406 Das Dekret IThesp 62 (= 6 Schachter) hat die Verwendung der Schenkung von Ptolemaios IV. und Arsinoe III. zum Kauf von heiligem Land und dessen Verpachtung zum Inhalt. Als jährlicher Ertrag, der, wie man schließen muss, dem Musenheiligtum zu Gute kommt, wird darin eine Summe von ca. 1700 Drachmen genannt. Schachter bezieht die Schenkung aus IThesp 62 auf die Andeutungen in den Königsbriefen IThesp 152 und 153, setzt sie also explizit mit dem dramatischen Agon in Beziehung. Als Startjahr für die Verpachtungen ist das (lokale) Archontat des Philon genannt,407 das gleichzeitig408 mit dem Bundesarchontat des Lykinos anzusetzen ist; also etwa im Jahr 209 v. Chr.409 Nach vier Jahren, so Schachters Rechnung, sei eine Summe erreicht, mit der ein dramatischer Wettbewerb bestritten 400 401

402 403 404 405 406 407 408 409

Vgl. ebd., S. 378. Vgl. die Siegerlisten IThesp 165 = Thes. 23 Manieri; IThesp 170 = Thes. 30 Manieri; IThesp 171 = Thes. 31 Manieri; IThesp 172 = Thes. 33 Manieri; IThesp 177 = Thes. 43 Manieri; IThesp 178 = Thes. 42 Manieri; IThesp 179 = Thes. 44 Manieri; IThesp 180 = Thes. 49 Manieri; s. auch die hilfreiche Übersicht bei Manieri 2009, S. 333-8. Vgl. oben unter 1). Knoepfler 1996, S. 164. S. Schachter 2016=2012, S. 353f., auch mit Anm. 27. Vgl. den vorausgehenden Abschnitt. S. Schachter 2016=2012, S. 351f. Vgl. IThesp 62, 26f. Vgl. IThesp 161, 6f.: ἄρχοντος | Φίλωνος, ἐν δὲ Ὀγχειστῶι Λυκίνο[υ]. Vgl. oben Anm. 397.

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werden könne. Dabei bezieht er die Kostensumme von 6000 Drachmen für das Engagement dionysischer Künstler bei Festen dieses Typus aus einer Kalkulation von Slater.410 Wenn auch die Rechnung selbst hypothetisch bleiben muss, so ist grundsätzlich anzunehmen, dass in der Tat vom Beschluss einer Umgestaltung bis zu ihrer Umsetzung einige Zeit verstrichen sein wird. Für Schachters Theorie ist dies nicht unerheblich: Sonst wäre eine radikal andere Deutung der beiden Siegerkataloge IThesp 161 und 163 erforderlich, die etwa ins Jahr 209 v. Chr., also später als die Königsbriefe IThesp 152 und 153 zu datieren sind. Sie sind aber gerade eines von Schachters wichtigsten Argumenten für die erst spätere Hinzufügung eines dramatischen Agons zu den Mouseia, denn er fasst sie ja als Zeugnisse für einen Agon, der – noch – nur thymelische Disziplinen umfasst.411 Einige Sicherheit bietet hier die vorgestellte zeitliche Einordnung von IThesp 62.412 Denn ist man bereit, die relativ wahrscheinliche Hypothese zu akzeptieren, dass in der Tat die Spende aus IThesp 62 mit den Andeutungen einer Schenkung in den Königsbriefen IThesp 152 und 153 zu identifizieren ist413 – und also mit dem ebenfalls in den Königsbriefen erwähnten vierjährlichen dramatischen Agon in Verbindung steht – so ist die nötige Voraussetzung für Schachters Theorie schon geschaffen: Die Siegerkataloge stammen ja aus dem gleichen Jahr, das auch den Startpunkt für die Verpachtungen darstellt. Dass aber eine erste Durchführung der erweiterten Mouseia erst nach geraumer Weile stattgefunden habe, ist plausibel. In der Zusammenschau ergibt sich folgender (möglicher) Ablauf: Die Mouseia wurden im Zeitraum 230-225 v. Chr., vielleicht von Ptolemaios III. und Berenike gefördert, als jährlicher oder zweijährlicher Agon ins Leben gerufen und bestanden zunächst aus thymelischen Disziplinen. Um 225 v. Chr. erhielten fünf davon stephanitischen und zum Teil auch isopythischen Status. Der stephanitische thymelische Agon fand vierjährlich parallel zum ‚einfachen‘ – jährlichen oder zweijährlichen – Agon statt. In den späten 210er Jahren v. Chr. wurden die ‚großen‘ vierjährlichen Mouseia um einen dramatischen Agon erweitert, unterstützt durch Zuwendungen von Ptolemaios IV. und Arsinoe III.; sie 410 411 412 413

S. Slater 2010, S. 250-263. Vgl. dazu oben unter 3). S. oben. Vgl. oben Anm. 323. Es sei erneut auf Paschidis 2008, S. 318 verwiesen, der sich auch mit der möglichen Problematik einer solchen Identifikation knapp auseinandersetzt.

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fanden in dieser erweiterten Form frühestens 204 v. Chr. zum ersten Mal statt.

3.2

Besucher im Heiligtum

Drei antike Autoren reflektieren reale oder fiktive Besuche im Musenheiligtum von Thespiai: Pausanias liefert in typischer Manier Ortsbeschreibung, Kunstwerke-Katalog und kulturelles Wissen (Abschnitt 3.2.1); Plutarch lässt im Erotikos seinen Sohn ein Gespräch über die Liebe nacherzählen, das im Musen-Heiligtum stattgefunden haben soll (Abschnitt 3.2.2); Kallistratos schließlich siedelt dort eine seiner Ekphraseis an – die Beschreibung einer Orpheusstatue (Abschnitt 3.2.3). Die Schilderungen sind von unterschiedlichem Charakter und geben in der Folge auch unterschiedliche Einblicke in Wahrnehmung und Gestaltung des Mouseions. 3.2.1 Pausanias Pausanias nähert sich dem Musenheiligtum am Helikon von Thespiai aus.414 Seiner Beschreibung gehen allgemeinere Bemerkungen voran. Die ersten betreffen den Helikon: So scheint der Fokus sich unweigerlich auf den Berg selbst zu richten, der das Tal mit seinen Ausläufern einfasst und dessen Gipfel über dem Heiligtum in der Tiefe ganz im Westen des Tals thront (9, 28, 1-4). Die zweiten allgemeineren Bemerkungen beziehen sich schon viel konkreter auf das Heiligtum: Denn nun geht es darum, wie der Musenkult überhaupt seinen Weg zum Helikon gefunden hat; Pausanias referiert zwei unterschiedliche Traditionen und schließt einige genealogische Betrachtungen über die Musen an (9, 29, 1-4). Nun beginnt die eigentliche Beschreibung der Sehenswürdigkeiten des Heiligtums. Zunächst Statuen und Bildnisse: Pausanias sieht eine Eupheme, die Amme der Musen (9, 29, 5) und einen Linos (9, 29, 6-9), beide noch außerhalb des Temenos; eine Musengruppe von der Hand

414

Pausanias beschreibt Thespiai in 9, 26, 6 - 9, 27, 8. Die antike Stadt ist (in Luftlinie) knapp 10 km vom Heiligtum entfernt.

3

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des Kephisodot und eine weitere je zu einem Drittel von Kephisodot, Strongylion und Sthennis von Olynth alias ‚Olympiosthenes‘ erschaffene (9, 30, 1);415 eine Gruppe mit Apoll und Hermes im Streit um eine Lyra, einen Dionysos des Lysipp und einen weiteren des Myron (9, 30, 1); einen Thamyris, blind mit zerbrochener Lyra, Arion auf dem Delphin und den berühmten Aulosspieler Sakadas von Argos (9, 30, 2); einen sitzenden Hesiod mit Kithara (9, 30, 3); einen Orpheus mit Telete und lauschenden Tieren (9, 30, 4-12); Arsinoe auf einem Strauß (9, 31, 1); schließlich Telephos, von einer Hindin gesäugt, ein Rind und einen Priapos (9, 31, 2). Des Weiteren sieht Pausanias Dreifüße, darunter auch den von Hesiod geweihten (9, 31, 3). Nach einer kurzen Bemerkung über das Fest, das die Thespier für die Musen im Heiligtum abhalten, die Mouseia,416 folgt der Aufstieg zur Hippoukrene. Dort zeigt man Pausanias eine Bleitafel, in die Hesiods Erga eingraviert sind (9, 31, 3-6). Vier Punkte an Pausanias’ Beschreibung sind hervorzuheben und ziehen Schlüsse über die Gestaltung und Wahrnehmung des Heiligtums mit sich. So ist erstens417 ἄλσος die Bezeichnung, die Pausanias für das Heiligtum wählt. Zweitens418 weist die Auswahl der von ihm vorgestellten Werke eine bemerkenswerte Diskrepanz zum archäologischen Befund auf. Drittens419 wurde Hesiod offenbar im Heiligtum präsent gehalten, ebenso wie viertens420 die Hippoukrene in dessen Topographie eingebunden war. 3.2.1.1

ἄλσος

Pausanias bezeichnet das Musenheiligtum am Helikon grundsätzlich als ἄλσος.421 Dieser Begriff begegnet in der Regel als griechisches Pendant zum lateinischen lucus.422 Er bezeichnet einen heiligen Hain und setzt 415 416 417 418 419 420 421 422

Zu ‚Olympiosthenes‘ s. den Exkurs nach Abschnitt A.II.3.1.2. Vgl. ebd. S. unten Abschnitt A.II.3.2.1.1. S. unten Abschnitt A.II.3.2.1.2. S. unten Abschnitt A.II.3.2.1.3. S. unten Abschnitt A.II.3.2.1.4. Vgl. Paus. 9, 29, 5 (zweimal) und 9, 31, 3 (zweimal). Vgl. de Cazanove 1993, passim; Montepaone 1993; Scheid 1993; s. aber auch die Einschränkung bei Jacob 1993, S. 39. Plinius’ Bezeichnung lautet

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die Existenz von Bäumen im Heiligtum voraus. Viel spezifischere Informationen über das Musenheiligtum am Helikon lassen sich zunächst aus Pausanias’ Verwendung des Wortes nicht ableiten: Die über vierzig Heiligtümer, die er innerhalb des gesamten Werkes damit belegt, umfassen die verschiedensten Merkmale; ihre Lage, der Grad der Ausstattung mit Gebäuden, das Wesen der dort verehrten Gottheiten und ihrer Kulte rangieren im ganzen Spektrum der Skala.423 Er nimmt außerdem nicht explizit Bezug auf eine etwaige Funktion oder Symbolhaftigkeit von Natur und Landschaft innerhalb der in ἄλση beheimateten Kulte.424 Folglich deckt sich Pausanias’ Verwendung des Begriffes insgesamt mit dem allgemeinen Gebrauch.425 Der Begriff bezeichnet weniger eine bestimmte Klasse von Heiligtümern mit bestimmten Kulten als „une composante de la topographie des sanctuaires“426. So lassen sich auch in Pausanias’ Beschreibungen eher strukturelle Tendenzen erkennen: Oft schafft ein in

423

424

425 426

nemus, wenn auch seine Formulierung offen lässt, ob er eine bloße Örtlichkeit oder tatsächlich das an diesem Ort entstandene Heiligtum meint: [...] Thebae, duorum numinum Liberi atque Herculis, ut volunt, patria. et Musis natale in nemore Heliconis adsignant. / „[...] Theben, Heimat, wie man sagt, zweier Gottheiten, des Dionysos und des Herakles. Und für die Musen weist man den Geburtsort in einem Hain des Helikon an.“ (nat. 4, 25). S. Scheid 1993 zum Begriff nemus im Verhältnis zu lucus und silua, unter Berücksichtigung von ἄλσος; vgl. auch Montepaone 1993. – Weitere Bezeichnungen sind Folgende: Im Dekret der isthmisch-nemeischen Techniten und bei Strabon ist von ἱερόν die Rede (vgl. IThesp 156, 43; Str. 9, 2, 25); ebenso Schol. Hes. Th. 1 (u. 64). Die Bezeichnung Μουσεῖον verwenden Amphion FGrH/ BNJ 387 F1 = Ath. 14, 26 (vgl. Ath. Epit. Bd. 2,2 S. 133 Peppink) = Thes. 2 Manieri; Call. Aet. fr. 2f, Z. 15 Harder; Nikokrates FGrH/BNJ 376 F4; Plu. fr. 82 Sandbach; Philostr. VA 4, 24 (dort als eines von mehreren griechischen ἱερά); evtl. auch Hsch. s. v. Ἑλικώνια µουσεῖα (ε 2089 Latte). Außerdem findet sich τέµενος bei Callistr. Stat. 7, 1. S. Birge 1994, S. 238-245; vgl. Jacob 1993, S. 34-8. Die in einem ἄλσος verehrten Gottheiten seien jedoch allgemein keine Heroen, sondern vor allem olympische Götter (vgl. Jacob 1993, S. 34-6; Birge 1994, S. 236f. u. 240). Vgl. Birge 1994, S. 244; ähnlich Jacob 1993, S. 35. Ein Beispiel für eine solche Funktion wäre etwa die Existenz eines ‚Baumkultes‘, den die Forschung des 19. Jahrhunderts irrigerweise annahm; s. Scheid 1993 und de Cazanove 1993. Vgl. etwa de Cazanove 1993, S. 112. Ebd., S. 112.

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einem ἄλσος angesiedelter Kult eine Verbindung zwischen einer Polis und ihrer Chora; in vielen Fällen sogar in der Form, dass in der Stadt selbst als Pendant ein Kult existiert, der der gleichen Gottheit gewidmet ist.427 Zugleich bezeichnet ἄλσος einen in irgendeiner Weise – nicht notwendig materiell – begrenzten Raum.428 Zudem ist neben Bäumen auch Wasser ein wiederkehrendes Element in der Beschreibung von ἄλση.429 Diese Eigenschaften treffen auch auf das Musenheiligtum am Helikon zu: Nicht nur steht es unter thespischer Schirmherrschaft und hält die Stadt dort die Mouseia ab, in Thespiai selbst sieht Pausanias auch einen kleinen Musentempel mit Statuen.430 Das ἄλσος der Musen offenbart sich in der Form als begrenzt, dass man es betreten und verlassen kann, dass Menschen darum herum wohnen können; der Hain ist eine eigene räumliche Einheit in der Hügellandschaft der östlichen HelikonAusläufer.431 Pausanias nimmt auch Bezug auf den Wasserreichtum des 427 428 429

430

431

Vgl. Birge 1994, S. 241f. u. 244. Jacob 1993, S. 37f. Vgl. Jacob 1993, S. 43; Birge 1994, S. 240. S. Thommen 2015 zur Entwicklung des heiligen Haines in der griechischen und römischen Antike insgesamt. Vgl. Paus. 9, 27, 5: τῆς ἀγορᾶς δὲ οὐ πόρρω [...] ναός Μουσῶν ἐστιν οὐ µέγας· ἀγάλµατα δὲ ἐν αὐτῶι µικρὰ λίθου πεποιηµένα. / „Nicht weit von der Agora ist ein Tempel der Musen, nicht groß; darin sind kleine aus Stein gefertigte Statuen.“ Das Betreten des Haines ist bei Pausanias nicht direkt thematisiert, jedoch das Bewegen darauf zu und das darin implizite Erreichen (vgl. Paus. 9, 29, 5: ἐν Ἑλικῶνι δὲ πρὸς τὸ ἄλσος ἰόντι τῶν Μουσῶν / „am Helikon, wenn man auf den Hain der Musen zugeht“; τὴν δὲ εὐθεῖαν ἐρχοµένωι πρὸς τὸ ἄλσος / „wenn man den geraden Weg zum Hain geht“). Die Möglichkeit des Verlassens ist implizit enthalten in der Angabe zur Lage der Hippoukrene: ἐπαναβάντι δὲ στάδια ἀπὸ τοῦ ἄλσους τούτου ὡς εἴκοσιν ἔστιν ἡ τοῦ Ἵππου καλουµένη κρήνη· / „Wenn man von diesem Hain etwa zwanzig Stadien hinaufsteigt, ist da die sogenannte Pferde-Quelle“ (Paus. 9, 31, 3). In 9, 31, 3 schließlich erwähnt Pausanias Umwohner: περιοικοῦσι δὲ καὶ ἄνδρες τὸ ἄλσος [...]. / „Es wohnen auch Menschen um den Hain herum.“ Ob materielle Signale gesetzt waren, ist nicht bekannt: So sind weder HorosSteine für das Heiligtum an sich noch Reste etwa einer Peribolos-Mauer erhalten. – Der größere räumliche Kontext, in den Pausanias den Musenhain einordnet, ist der Helikon: Mit dem Ausdruck ἐν Ἑλικῶνι lokalisiert er nicht nur den Hain (vgl. Paus. 9, 29, 5), sondern auch Ausstellungsstücke inner-

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Musentals, ohne ihn allerdings ausdrücklich mit dem Heiligtum in Verbindung zu setzen.432 Jacob betont jedoch, dass Pausanias’ Beschreibungen und Erwähnungen von ἄλση nicht losgelöst von den zeitgenössischen Konnotationen des Begriffes zu betrachten seien: Neben touristischer Sehenswürdigkeit und Bestandteil sakraler Topographie sei ein ἄλσος zugleich auch literarischer Topos.433 In der Literatur aber trete – seit dem Hellenismus und immer noch zu Pausanias’ Zeiten – der heilige Hain vor allem in seiner Qualität als locus amoenus in Erscheinung.434 Die Grundbedingungen für einen solchen – Wasserreichtum, Kühle und üppige Vegetation – trägt ein heiliger Hain schon mit sich. Bisweilen trete in der Literatur sogar die sakrale Konnotation des ἄλσος hinter dem Moment der landschaftlichen Gefälligkeit zurück.435 Die folgende Umschreibung des Begriffes umfasst beide Bereiche: L’ἄλσος est un mélange de nature (arbres, eau) et d’artifices (édifice, statues, mur, autel). Il est un lieu de culte, mais le terme se rencontre aussi dans des contextes qui ne sont pas directement religieux. [....] Un ἄλσος peut être un ‘bois d’agrément’ comme un ‘bois sacré’, dans certains cas les deux à la fois.436

Wie nun steht es mit Pausanias’ Beschreibung des Musenhaines am Helikon? Ist es legitim, in seiner so nüchtern und sachlich gehaltenen Beschreibung Anzeichen für Anklänge an einen locus amoenus zu suchen? Die Grundvoraussetzungen, das ist bereits erwähnt worden, sind gegeben und von Pausanias sogar genannt. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass einerseits Pausanias’ Perspektive durchaus vom literari-

432

433 434 435 436

halb des Haines (vgl. Paus. 9, 30, 1; 9, 31, 1; 9, 31, 3). Pausanias erwähnt die Quelle Aganippe, die linker Hand des Weges zum Musenhain liege, und ebenso den Fluss Termessos bzw. Permessos, dessen Tochter sie sei (vgl. Paus. 9, 29, 5). Auch die Hippoukrene oberhalb des Heiligtums nennt er (vgl. Paus. 9, 31, 3f.). Sowohl der Permessos als auch eine weitere, unbenannte Quelle sind in den durch die Gebäude markierten Kern des Heiligtums strukturell einbezogen: S. oben Abschnitt A.II.3.1.1. Vgl. Jacob 1993, S. 44. S. ebd., S. 40-44. Vgl. ebd., S. 43f. Ebd., S. 32.

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schen Topos geprägt ist, der das ἄλσος im Allgemeinen und die Landschaft der Musen im Besonderen mit bestimmten Assoziationen versieht, und ebenfalls, dass er auf den Topos rekurriert. Andersherum evoziert aber auch die Gestaltung des Heiligtums bewusst diese Assoziationen. Ein Hinweis auf ein Mehr findet sich bereits in der ‚Einleitung‘ zur Beschreibung des Musenheiligtums, der allgemeinen Beschreibung des Helikons nämlich (Paus. 9, 28, 1-4): Dort steht die Vegetation des Berges mit ihrer Wirkung im Vordergrund und erweckt durchaus, wie bereits gezeigt,437 Assoziationen eines locus amoenus. Die Beschreibung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der folgenden Auseinandersetzung mit dem Heiligtum selbst: Ist doch auch der ganze Berg den Musen heilig, wie der nächste Abschnitt, der die Herkunft des Kultes behandelt, gleich zu Beginn aussagt.438 Mehr noch, die Fülle von fruchttragenden Bäumen, die Pausanias erwähnt, wäre schon für ein ἄλσος allein eine Besonderheit,439 ist es aber für einen ganzen Berg – inklusive ἄλσος der Musen – umso mehr.440 Vor diesem Hintergrund beginnt die Darstellung des heiligen Haines.

437 438

439

440

Vgl. oben Abschnitt A.II.2.1.2. Nach einer Art Abbruchformel, mit der Pausanias den Exkurs in 9, 28, 2-4 zum Einfluss der Nahrung von Schlangen auf die Stärke ihres Giftes beendet (vgl. Paus. 9, 29, 1: Ταῦτα µὲν δὴ ἔχοντά ἐστιν οὕτω, sinngemäß zu übersetzen etwa mit „wie dem auch sei“), folgt die Anbindung des nächsten Themas auf eine Weise, die deutlich macht, dass der Helikon den roten Faden darstellt: Ταῦτα µὲν δὴ ἔχοντά ἐστιν οὕτω, θῦσαι δὲ ἐν Ἑλικῶνι Μούσαις πρώτους καὶ ἐπονοµάσαι τὸ ὄρος ἱερὸν εἶναι Μουσῶν Ἐφιάλτην καὶ Ὦτον λέγουσιν [...]. / „Wie dem auch sei, auf dem Helikon den Musen als erste geopfert und benannt, dass der Berg heiliger Berg der Musen sei, hätten, sagt man, Ephialtes und Otos [...]“ (Paus. 9, 29, 1). In beiden Gliedern der AcIKonstruktion steht der Berg, sogar in unterschiedlicher grammatikalischer Funktion (als adverbiale Bestimmung: ἐν Ἑλικῶνι; als Subjekt eines untergeordneten AcI: τὸ ὄρος) jeweils unmittelbar nach dem Verb an zweiter Stelle. Vgl. Jacob 1993, S. 42: Ein ἄλσος nur mit ἥµερα δένδρα sei bei Pausanias eher die Ausnahme; häufiger sei eine Mischung aus wilden und Kulturpflanzen oder auch eine Zusammensetzung nur aus wilden Bäumen. Vgl. Rocchi 1996, S. 17f.

196 3.2.1.2

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Pausanias’ Blick

Der zweite zu betrachtende Punkt liefert bereits Erkenntnisse bezüglich der Art, auf welche Pausanias’ Perspektive geprägt ist: Es fällt der geringe Grad an Überschneidungen auf, den seine Beschreibung des Heiligtums und insbesondere der Weihgaben mit den materiellen Zeugnissen aufweist.441 So nennt er keine der archäologisch bezeugten architektonischen Strukturen, weder die Stoa noch den Altar noch das Theater. Ebensowenig stimmen – bis auf eine, höchstens zwei Ausnahmen – die beschriebenen Anathemata mit denen überein, die mittels der gefundenen inschriftlichen Basen rekonstruiert werden können.442 Keinesfalls 441

442

Vgl. Robinson 2012, S. 234: „The two data-sets [...] remain almost entirely separate.” – Robinson behandelt die von Pausanias gelisteten Kunstwerke mit ihren Hintergründen ausführlich: s. ebd., S. 242-7. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann Pausanias’ Thamyrisbildnis (vgl. Paus. 9, 30, 2) jene Stele von der Hand des Kaphisias sein, die Philhetairos von Pergamon weihte (vgl. IThesp 303) und deren Weihinschrift später um das Honestus-Epigramm erweitert wurde (vgl. IThesp 312); s. dazu auch oben Abschnitt A.II.3.1.2 mit Anm. 223 u. 228. – Die mindestens zwei Musengruppen, die über die erhaltenen Basen belegt sind (vgl. IThesp 288-300), zeigen zwar immerhin das gleiche Motiv wie die zwei Musengruppen, die Pausanias sieht (vgl. Paus. 9, 30, 1), eine Übereinstimmung scheint hier jedoch wenig wahrscheinlich: Wenn man im Falle, dass die Honestus-Epigramme nachträglich einer früheren Weihung hinzugefügt wurden (s. dazu oben Abschnitt A.II.3.1.2), „mit der Hoffnung rechnete, daß auf dem großen Postamente einst eines der beiden von Pausanias (IX 30,1) erwähnten Musendenkmäler, also das des Kephisodot oder das Dreimännerwerk von Kephisodot, Strongylion, Olympiosthenes, gestanden habe, so ließe sich diese schon wegen der Steinmetzzeichen [...] nur unter der Voraussetzung der späteren Übersiedlung einer der beiden Gruppen auf eine neue Basis aufrecht erhalten. Dafür könnte zunächst das Fehlen irgend einer Künstlersignatur zu sprechen scheinen; aber gerade diese berühmtesten Namen hätten die Thespier schwerlich mit Stillschweigen gestraft und fortgelassen, und Pausanias wird sie doch wohl noch selber gelesen haben. So hat schon Jamot den Gedanken an diese alten Musengruppen mit Recht ausgeschaltet [...], wenn auch ohne weitere Begründung.“ (Preuner 1920, S. 409; anders Knoepfler 2005, passim). – Des Weiteren schlägt Jamot vor, einige der bronzenen Skulpturenfragmente, die an der Südseite der Stoa gefunden wurden, der Gruppe um Hermes und Apoll (vgl. Paus. 9, 30, 1) zuzurechnen, zu der er aufgrund einer irrigen Auslegung des Pausaniastextes auch einen Dionysos

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folgt nun notwendig der Schluss, dass Pausanias das Tal der Musen gar nicht selbst besucht habe. Vielmehr zeigt sich, dass ein bestimmtes Interesse seinen Blick auf das Heiligtum leitet: Er nennt in erster Linie Kunstwerke, die in Bezug auf die Musen und ihren Kult von Relevanz sind. So beginnt die Aufzählung der Kunstwerke mit Eupheme, der Amme der Musen, und dem Sänger Linos: Hier, noch außerhalb des Heiligtums, kann die Auswahl schlicht dadurch bestimmt sein, dass dies die ersten und möglicherweise auch einzigen Werke sind, die dem Besucher begegnen. Dass eine absichtsvolle Reduktion stattfindet, zeigt aber die Einführung von Kategorien durch die entsprechenden Formulierungen in 9, 30, 1 und 9, 30, 2.443 An die erste Kategorie – Statuen von Musen – werden locker444 und folgerichtig Plastiken von Gottheiten angeschlossen, die ebenfalls mit Musik in Verbindung stehen. Hier zeigt sich spätestens, dass Pausanias’ Aufzählung nicht notwendig der räumlichen Ordnung der Aufstellung im Heiligtum, in jedem Fall aber einem inneren System folgt. Auf die zweite Kategorie, berühmte Dichter und Musiker, folgt – nach einem langen Exkurs über Orpheus – wiederum eine losere445 Aufzählung von weiteren Werken. Hier weicht Pausanias zunächst in der Tat von seinem Schema ab, denn „[i]n a rare brush with

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zählt und sie insgesamt als ein Werk des Lysipp auffasst; eine solche Auslegung muss aber bei dem so fragmentarischen Erhaltungszustand der Zeugnisse hypothetisch bleiben (s. Jamot 1891, S. 390-401; vgl. Tzanimis 2012, S. 137f.). Ebenso erwägt Jamot für das bronzene Beinfragment eines Huftieres und den wohl zugehörigen Schweif eine Zuordnung zu der Gruppe um Telephos, der von einer Hirschkuh gesäugt wird (vgl. Paus. 9, 31, 2; s. Jamot 1891, S. 402; vgl. Tzanimis 2012, S. 138). Die Formulierungen lauten: 1) Paus. 9, 30, 1: Ταῖς Μούσαις δὲ ἀγάλµατα µὲν πρῶτά ἐστι Κηφισοδότου τέχνη πάσαις, […] / „An Statuen für die Musen sind die ersten ein Werk des Kephisodotos, und zwar alle […]“ – 2) Paus. 9, 30, 2: Ποιητὰς δὲ ἢ καὶ ἄλλως ἐπιφανεῖς ἐπὶ µουσικῆι, τοσῶν εἰκόνας ἀνέθεσαν· […] / „An Dichtern oder auf andere Weise in der Musik berühmten Persönlichkeiten haben sie von den folgenden allen Bildnisse aufgestellt: […]“ Dies geschieht schlicht mittels eines καί und der Ortsangabe ἐν Ἑλικῶνι: καὶ Ἀπόλλων χαλκοῦς ἐστιν ἐν Ἑλικῶνι καὶ […] / „Auch ein bronzener Apoll ist am Helikon und […].“ (Paus. 9, 30, 1). Diese Aufzählug ist wiederum mit καί angeschlossen und durch ἐν Ἑλικῶνι verortet, s. Paus. 9, 31, 3; vgl. die vorausgehende Anmerkung.

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recent history“446 nennt er die Statue der Arsinoe auf einem Strauß. Zwar gibt es für ihre Anwesenheit im Musental durchaus Gründe, sogar unter Umständen mit engen Verbindungen zu den Musen selbst,447 doch geht Pausanias darauf nicht ein. Die Nennung der Statue mag eher der außergewöhnlichen Darstellung geschuldet sein. Bei den nächsten drei Statuen – einem Telephos, einem Rind und einem Priapos – ist die Anbindung an die Musen nicht über deren direkten Einflussbereich gegeben. Doch offenbart sich hier ein Anschluss an den Topos des locus amoenus, der einem ἄλσος im Allgemeinen und der von inspiratorischen Kräften durchwirkten Landschaft im Besonderen zukommt: Denn der ausgesetzte, von der Hindin genährte Telephos oder vielmehr die Hindin, die den Telephos nährt,448 ist ein bukolisches Motiv; auch das Rind lässt sich unter Umständen so einordnen. Ebenso spielt der mit Dionysos eng verbundene Fruchtbarkeitsgott Priapos in bukolischem Kontext – sowohl in Kunst als auch in Literatur – sowie als Schutzgottheit ländlicher Heiligtümer eine Rolle.449 Die Dreifüße und die Bleitafel bei der Hippoukrene wiederum erklären sich im Kontext der Verehrung der helikonischen Musen von selbst. Nicht nur die Auswahl der beschriebenen Werke selbst in Gegenüberstellung zu der archäologisch bezeugten Fülle von Statuen römischer Persönlichkeiten zeugt von Pausanias’ klar konturierter Perspektive. Bedeutend in diesem Zusammenhang ist auch, dass ihn die beschriebenen Skulpturen außerdem zu im gleichen Sinne ‚relevanten‘ Exkursen 446

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Robinson 2012, S. 246. Aber auch „recent“ ist ein relativer Begriff bei einem Zeitraum von über vier Jahrhunderten. S. oben Abschnitt A.II.3.1.2, insbes. mit Anm. 229-231. Vgl. Pausanias’ Formulierung: Ἐνταῦθα καὶ Τηλέφωι τῶι Ἡρακλέους γάλα ἐστὶν ἔλαφος παιδὶ µικρῶι διδοῦσα / „Dort ist auch eine Hirschkuh, die dem Telephos, dem Sohn des Herakles, Milch gibt“ (Paus. 9, 31, 2). Vgl. Robinson 2012, S. 246 mit Anm. 140. Dies ist auch der Kontext, in den Pausanias selbst die Gottheit stellt: τούτωι τιµαὶ τῶι θεῶι δέδονται µὲν καὶ ἄλλως, ἔνθα εἰσὶν αἰγῶν νοµαὶ καὶ προβάτων ἢ καὶ ἑσµοὶ µελισσῶν· Λαµψακηνοὶ δὲ ἐς πλέον ἢ θεοὺς τοὺς ἄλλους νοµίζουσι, Διονύσου τε αὐτὸν παῖδα εἶναι καὶ Ἀφροδίτης λέγοντες. / „Diesem Gott werden auch anderweitig Ehren erwiesen, dort, wo die Weiden von Ziegen und Schafen oder auch Bienenschwärme sind; die Lampsakener verehren ihn mehr als die anderen Götter, wobei sie sagen, er sei ein Sohn des Dionysos und der Aphrodite“ (Paus. 9, 31, 2). Zu Priapos s. auch Heinze 2001.

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bewegen: einem recht knappen über Linos, einem umfangreichen über Orpheus und einem wiederum kürzeren über Hesiods Werk und Tod.450 Innerhalb der Exkurse bleiben Verbindungen zum Heiligtum als Raum präsent.451 Der Blick, der aus Pausanias’ Augen auf das Heiligtum im 450

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Vgl. Paus. 9, 29, 6-9 für Linos; 9, 30, 4-12 für Orpheus; 9, 31, 4-6 für Hesiod. So verweisen im Orpheus-Exkurs analoge Toponyme auf den böotischen Raum: Pausanias berichtet über verschiedene Überlieferungen zum Tod des Orpheus (vgl. Paus. 9, 30, 5f.) und zu seinem Grab. So gebe es bei Dion eine Säule mit steinerner Hydria, die die Gebeine des Orpheus enthalte. Recht unwillkürlich schließt Pausanias an: „Es fließt da auch ein Fluss Helikon“ (Paus. 9, 30, 8: ῥεῖ δὲ καὶ ποταµὸς Ἑλικών). Es folgt eine Beschreibung seines Laufes. Die Besonderheit bestehe darin, dass er auf einer bestimmten Strecke unteriridisch verlaufe und dann wieder an die Erdoberfläche trete; ab da trage er den Namen Baphyras (vgl. ebd.). Erst jetzt erklärt sich der Zusammenhang zum Tod des Orpheus: Die Sage ginge den Einwohnern von Dion gemäß, so Pausanias weiter, dass der Fluss ursprünglich vollständig oberirdisch verlaufen sei. Als jedoch die Frauen, die den Orpheus getötet hätten, sich das Blut des Gemordeten in dem Fluss hätten abwaschen wollen, sei er abgetaucht (vgl. Paus. 9, 30, 8). Ein Gewässer Helikon in Pierien wird auch im Gnomologicum Vaticanum 339 erwähnt. – In Larissa wiederum hat Pausanias, so berichtet er im Anschluss, noch von einer anderen Sage gehört. Sie erzählt, wie die Stadt Libethra am Berg Pieria, die zunächst die sterblichen Überreste des Orpheus beherbergt habe, aufgrund eines Frevels gegen die Gebeine untergegangen sei; so hätten diese ihren Weg nach Dion gefunden (vgl. Paus. 9, 30, 9-11). Möglicherweise spielt hier auch die Assoziation zu den leibethrischen Nymphen und Musen auf dem Helikon eine Rolle, die Pausanias selbst in 9, 34, 4 nennt: Zur bei Strabon explizit und bei Pausanias womöglich implizit enthaltenen Theorie, dass die Ähnlichkeiten in den Toponymen auf die Einführung des Musenkultes durch die Thraker bzw. Makedonen zurückzuführen sei, s. oben Abschnitte A.I.1.3, 2.1.1, 3.2.3. – Im Exkurs zu Hesiods Werken – assoziativ angeknüpft an die Nennung der berühmten Hippoukrene – referiert Pausanias zunächst eine der Meinungen, die über Hesiods Werk unter den umwohnenden Böotern existieren: Hesiod habe nichts anderes als die Erga gedichtet und diese reduziert um das Prooimion (vgl. Paus. 9, 31, 4). In diesen Gedankengang ist der Hinweis auf die Bleitafel mit den Erga, die bei der Hippoukrene ausgestellt ist, aufgenommen: Er schließt sich unmittelbar daran an, während gleich darauf die Wiedergabe der zweiten, unabhängigen Meinung folgt, dass Hesiod nämlich der Verfasser einer großen Anzahl ganz verschiedener Werke sei

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Tal der Musen fällt und es so strukturiert, ist der des gelehrten griechischen Reisenden in einer – zu leugnenden – römischen Welt.452 Er sieht, was er sehen muss und will: das, was zu den Musen und einer inspiratorischen Landschaft gehört. 3.2.1.3

Hesiod

Pausanias’ Beschreibung macht deutlich, dass Hesiod, diese so wichtige Figur für die helikonischen Musen, im Musenheiligtum am Helikon präsent gehalten wird: Ein Bildwerk zeigt ihn sitzend mit Kithara auf den Knien, eine ungewöhnliche Darstellung, wie Pausanias meint, da er doch eigentlich zum Lorbeerstab gedichtet habe – deutlich zu lesen aus seinen eigenen Werken.453 Unter den Dreifüßen, die im Heiligtum ausgestellt sind, präsentiert man auch denjenigen, den Hesiod selbst nach seinem Sieg in Chalkis geweiht haben soll.454 Und schließlich ist da die Bleitafel mit Hesiods Erga bei der Hippoukrene, die ja selbst schon eine enge Verknüpfung zu dem Dichter aufweist, nicht zuletzt durch ihre Einbeziehung in seine Dichterweihe durch spätere Dichter.455 Zu dieser

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(vgl. Paus. 9, 31, 5). Auf diese Weise sind Führung durchs Gelände und musenrelevanter Exkurs ineinander integriert. Für die verschiedenen Faktoren, die Pausanias’ Perspektive formen, s. etwa Elsner 1992; Hutton 2005; ferner Galli 2005. Vgl. Paus. 9, 30, 3; die Anspielung zielt auf Hes. Th. 30f. Des Weiteren informiert Pausanias den Leser, dass er sich mit der alten Streitfrage um das relative Alter von Homer und Hesiod zwar aufs Genaueste auseinandergesetzt habe, an dieser Stelle aber eine Stellungnahme lieber meiden wolle, da er die Streitlust insbesondere der zeitgenössischen Eposexperten kenne (vgl. ebd.). Einmal mehr offenbart sich so das Selbstverständnis des gebildeten Reisenden: Er kann nicht von Hesiod sprechen, ohne die vieldiskutierte Frage seines Verhältnisses zu Homer zumindest zu erwähnen. Gleichzeitig setzt er bei seinem Publikum den gleichen Bildungshorizont voraus. Vgl. Paus. 9, 31, 3: Ἐν δὲ τῶι Ἑλικῶνι καὶ ἄλλοι τρίποδες κεῖνται καὶ ἀρχαιότατος, ὃν ἐν Χαλκίδι λαβεῖν τῆι ἐπ’ Εὐρίπωι λέγουσιν Ἡσίοδον νικήσαντα ὠιδῆι. / „Auf dem Helikon sind sowohl andere Dreifüße als auch als ältester der, den, sagt man, Hesiod in Chalkis am Euripos errungen habe als Sieger im Gesang.“ – S. auch oben Abschnitt A.II.3.1.2. S. dazu genauer unten Abschnitt A.II.3.2.1.4. Die Hippoukrene scheint für Pausanias auch assoziativ der passende Ort, sich mit Hesiods Leben und

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Das Tal der Musen

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kleinen Liste, gewonnen aus dem Bericht des Pausanias, treten drei archäologische Zeugnisse hinzu: So wies, wie bereits gesehen, ein Horosstein aus dem späten dritten Jahrhundert v. Chr. ein Stück Land als heiliges Land „der hesiodeischen Synthytai der Musen“ (IThesp 65, Z. 3-6: τῶν σ[υν]|θυτάων τᾶµ | Μωσάων Εἱ|σιοδείων) aus.456 Aus dem dritten Jahrhundert stammt auch die von Euthykles, Sohn des Amphikritos, geweihte Stele, auf der Hesiod zum einen in einem Orakelspruch des personifizierten Helikon eine beträchtliche Bedeutung zukommt und er zum anderen als Lobpreisobjekt des Euthykles selbst erscheint.457 Zudem findet der Dichter in dem Honestus-Epigramm für die Muse Klio Erwähnung, deren Statue Teil der großen Exhedra war: [Ἡσ]ιόδου β[ύβλοισι πέλει] χάρις· αἷς ἐνορῶσα [Κ]λειὼ τοὔ[νοµά µου πολλὰ] δέδορκα καλά. Hesiods B[üchern wohnt] Anmut [inne]; darin erblicke ich | meinen [Namen], Klio, und schaue [viel] Schönes. IThesp 295458

Das Epigramm legt nahe, dass die Muse mit Buchrolle in der Hand dargestellt war.459 Der Dichter, so Gutzwiller, verschränke darin nach hellenistischer Manier „Clio’s roles as deity of inspiration, a subject in He-

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Werk auseinanderzusetzen: S. Paus. 9, 31, 3-6. Vgl. oben Abschnitt A.II.3.1.2 mit Anm. 233f.; s. auch unten. Vgl. IThesp 274. In der zweiten der drei Inschriften sagt der personifizierte Helikon allen, die Hesiods Weisungen Folge leisten, ein gedeihliches Leben voraus; u. a. die Erga dürften als Schablone gemeint sein (vgl. Peek 1977, S. 175). Das dritte Gedicht ist nur teilweise erhalten. Im lesbaren Teil wird Hesiod als Dichter von Liedern zu Ehren der Musen und des Helikons dargestellt; im fast vollständig verlorenen zweiten Teil setzt sich womöglich Euthykles als Dichter mit ihm gleich und bestimmt ihn als Objekt seiner Lieder (nach Peeks Konjekturvorschlägen ebd., S. 174). S. auch unten Abschnitt A.II.3.2.1.4. Vgl. Gow und Page 1968, I, S. 274f. Nr. 16 (mit schlechter erhaltenem Text) und Peek 1953, S. 624 Nr. 6. Vgl. Gutzwiller 2004, S. 394; Höschele 2014, S. 185. Vgl. so auch schon, wenngleich auf der Basis eines schlechter erhaltenen Textes, Preuner 1920, S. 406.

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siods poetry (Th. 77), and reader of that poetry“460. Dies geschieht dazu an dem Ort, an dem die Begegnung zwischen Hesiod und Musen gedacht wird.461 Diese Bestandsaufnahme bestätigt, dass der Bezug zu Hesiod im Musenheiligtum sichtbar gemacht und auch genutzt wurde. In zweierlei Hinsicht sind für Hesiods Präsenz am Helikon noch tiefere Konturen denkbar: bezüglich einer möglichen aitiologischen Instrumentalisierung und einer kultischen Verehrung des Dichters. Der erste Punkt wurde bereits angerissen.462 Abgesehen jedoch von der ganz basalen Problematik, ob für Hesiods in Op. 654-9 geschilderte Dreifußweihung – eingebettet in den Kommentar zur Seefahrt Op. 65062 – ein bereits existierender Musenkult vorausgesetzt werden muss oder nicht, hat dieser Akt offenbar bereits in der Antike ein munteres Eigenleben entwickelt. So ist bekannt, dass sich aus Hesiods Sieg bei den Leichenspielen des Amphidamas in Chalkis mit der Zeit die Tradition herausgebildet, dass kein geringerer in jenem Wettstreit unterlegen gewesen sei als Homer persönlich;463 eine Tradition übrigens, über die Pausanias, ganz seinem Vorsatz getreu, die Streitfrage um das relative Alter von Homer und Hesiod in diesem Rahmen nicht anzurühren, kein Wort verliert.464 Zu dieser Gelegenheit wird auch ein Weihepigramm zitiert, das den Dreifuß geziert haben soll: Ἡσίοδος Μούσαις Ἑλικωνίσι τόνδ’ ἀνέθηκεν ὕµνῳ νικήσας ἐν Χαλκίδι θεῖον Ὅµηρον.

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Gutzwiller 2004, S. 394. Implizit ist Hesiod auch in Honestus’ Kalliope-Epigramm (IThesp 293) präsent, da es an die Darstellung der Muse in Hes. Th. 79-93 angelehnt ist: Vgl. Höschele 2014, S. 185. Die explizite Nennung des Dichters im Klio-Epigramm innerhalb derselben Statuengruppe sei bezüglich des Kalliope-Epigramms „implicitly functioning as an Alexandrian footnote“ (ebd.). Vgl. Höschele 2014, S. 185. S. oben Abschnitt A.II.3.1.2. S. West 1967; Heldmann 1982. Diesen Vorsatz formuliert Pausanias angesichts der Hesiod-Skulptur, vgl. Paus. 9, 30, 3 und oben Anm. 453. Seine Charakterisierung des besagten Dreifußes enthält keine Informationen, die über die Passage aus den Erga hinausgingen: Es sei angeblich derjenige, den Hesiod in Chalkis im Gesang gewonnen habe (vgl. Paus. 9, 31, 3).

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Das Tal der Musen

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Diesen hier hat Hesiod als Weihgabe für die Helikonischen Musen aufgestellt, | nachdem er in Chalkis den göttlichen Homer im Gesang besiegte.465

Es ist wahrscheinlich, dass dieses Epigramm auch auf dem ausgestellten Dreifuß zu lesen war.466 Plutarch und in der Folge auch Proklos und Tzetzes charakterisieren das Epigramm als Erfindung.467 Plutarch zieht sogar die Authentizität der Passage aus den Werken und Tagen in Zweifel, in der Hesiod von seinem Sieg und seiner Weihung berichtet. Aus der Tatsache, dass der Dreifuß am Helikon ausgestellt war – zu Pausanias’ und somit sicher auch schon zu Plutarchs Zeit –, zusammen mit Plutarchs Zurückweisung der entscheidenden Erga-Passage und des Weih465

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Certamen 213f. = Alcid. fr. 5, 155f. Avvezù; D. Chr. 2, 11; Procl. Chr. Z. 55 Severyns = S. 101, Z. 10f. Allen; vgl. AP 7, 53: dort mit erster Person ἀνέθηκα. Vgl. darüber hinaus Plu. fr. 84 Sandbach = Procl. ad Hes. Op. 650-9, Varro frg. Gell. 3, 11, 3 und Tz. ad Hes. Op. 652 (Bd. 2, S. 368, Z. 16-18 Gaisford), die das Epigramm erwähnen, ohne es zu zitieren. Dass Pausanias sich eine Erwähnung des Zitats entgehen lässt, spricht nicht dagegen, dass es vor Ort zu lesen war. Denn er hat ausdrücklich den Vorsatz formuliert, nichts zum Thema Hesiod und Homer verlauten zu lassen (s. o.). Varro etwa scheint die Existenz des Epigramms als Argument für die Gleichzeitigkeit der Dichter zu nutzen (vgl. Varro frg. Gell. 3, 11, 3). Dem Zitat des Epigramms geht bei Dion Chrysostomos folgende Frage voraus: ἢ οὐκ ἀκήκοας τὸ ἐπίγραµµα τὸ ἐν Ἑλικῶνι ἐπὶ τοῦ τρίποδος [...]; / „Oder hast du noch nichts von dem Epigramm gehört, das am Helikon auf dem Dreifuß ist?“ Diese Verortung wirkt sehr zielstrebig und konkret, kann aber selbstverständlich dennoch einzig auf den hesiodeischen Versen samt zugehöriger Tradition gründen. Ähnliches gilt für Varro frg. Gell. 3, 11, 3 und auch für Plu. fr. 84 Sandbach = Procl. ad Hes. Op. 650-9. Insbesondere die Erwähnung des Epigramms auch durch den Böoter Plutarch, der das Musenheiligtum, wie man aus seinem Amatorius schließen darf, kannte, legt jedoch nahe, dass die Präsentation von Hesiods Dreifuß nicht losgelöst von der Tradition des Epigramms stattfand. – Die nachträgliche Anbringung eines solchen Epigramms an Hesiods Dreifuß – sei er authentisch oder nicht – kann verglichen werden mit den viel früheren ‚Heroen‘-Dreifüßen im Heiligtum des Apollon Ismenios in Theben, von denen Hdt. 5, 59-61 berichtet; s. oben Abschnitt A.II.3.1.2 Anm. 210. Vgl. Plu. fr. 84 Sandbach = Procl. ad Hes. Op. 650-9; Procl. Chr. Z. 55 Severyns = S. 101, Z. 9-13 Allen; Tz. ad Hes. Op. 652 (Bd. 2, S. 368, Z. 16 Gaisford).

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epigramms folgert Lamberton zwei Punkte: erstens, dass Objekt und ‚hesiodeische‘ Verse im Zusammenspiel genutzt wurden, um den erst ab dem dritten Jahrhundert v. Chr. sicher bezeugten Kult mit archaischen Wurzeln zu versehen; zweitens, dass Plutarch wusste, dass es sich um ein ‚gefälschtes‘ Ausstellungsstück handelte und seine Verwerfung der Erga-Passage gleichzeitig diese Fälschung entlarve und die Verse als interpoliertes Aition für das Objekt charakterisiere.468 Während der zweite Punkt nicht notwendig den realen Fakten entspricht,469 ist unabhängig vom tatsächlichen Alter des Kultes eine starke Einbeziehung Hesiods und des Dreifußes – möglicherweise auch aitiologisch – in die propagierte Geschichte des Heiligtums nicht zuletzt auch in Anbetracht der oben genannten Zeugnisse sehr plausibel. Insbesondere für die musischen Agone der Mouseia mag ein von Hesiod ebenso in einem musischen Agon errungener Dreifuß von besonderer Relevanz gewesen sein.470 Auf die Frage, ob Hesiod im Musenheiligtum auch kultisch verehrt wurde, gibt es keine sichere Antwort. In Orchomenos, wo Hesiods Grab gezeigt wurde, ist ein Heroenkult, der dem Dichter galt, wahrscheinlich.471 Im Falle des Musentals weist die Sachlage nicht eindeutig in 468 469

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Vgl. Lamberton 1988, insbes. S. 500-504. Es ist ebenso möglich, dass sich Plutarchs Zurückweisung nicht primär auf das Ausstellungsstück und in der Folge (sekundär) auf die Erga-Passage richtet, sondern dass sie – in der Tradition einer schon bestehenden Meinung – primär auf den Wettstreit zwischen Homer und Hesiod abzielt, unter die (sekundär) auch der ausgestellte Dreifuß zu fassen ist. Vgl. Höschele 2014, S. 173: „Be it authentic or not, the presence of this famous artifact and its connection with a victory by one of Hellas’ most revered poets in all likelihood gave a special flair to the poetic agones held in the Valley of the Muses, inspiring contestants to follow in Hesiod’s footsteps and vie for similar success.” – Möglicherweise lässt sich der abrupt erscheinende Übergang in Paus. 9, 31, 3 von der Erwähnung der Dreifüße, insbesondere desjenigen Hesiods, zur Erwähnung der Mouseia als assoziative Verbindung erklären, die zwischen materiellem Zeugnis und kultischem Ergebnis derselben aitiologischen Tradition besteht (vgl. Manieri 2009, S. 316). Es existieren Indizien in literarischen Quellen, jedoch keine direkten literarischen oder materiellen Zeugnisse: Vgl. Clay 2004, S. 5 und 75f.; Beaulieu 2004, S. 108-11. Beaulieu verweist aber auf der Grundlage von AP 7, 55 (vgl. ebd., S. 116f.) auch auf die grundsätzliche Möglichkeit, dass der Heros Hesiod etwa durch die Spende von Nephalia – die keine Spuren hinter-

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Das Tal der Musen

205

diese Richtung.472 Pausanias berichtet von jährlichen, einen Heroenkult bestätigenden Opfern für Linos – und auch für Thamyris, der durch ein Bildnis repräsentiert ist, ist unter Umständen eine Kultvereinigung anzunehmen.473 Ein Hesiodkult ist also grundsätzlich denkbar. Als mögliche Zeugnisse kommen die Bleitafel mit den Erga an der Hippoukrene als ‚Reliquie‘ eines solchen Kultes und die Vereinigung der „hesiodeischen Synthytai“, deren Existenz der Horosstein aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. bezeugt, in Betracht.474

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lassen – geehrt worden sei. Verhältnismäßig entschieden zugunsten eines Hesiodkultes am Helikon äußern sich Calame 1996; Manieri 2009, S. 315-7; eher positiv ist auch Caruso 2016, S. 125f.; skeptischer sind Clay 2004, S. 75f. und Beaulieu 2004, S. 111-13. Für Linos, dessen Bildnis vor dem eigentlichen Musentemenos platziert ist, vgl. Paus. 9, 29, 6: τούτωι κατὰ ἔτος ἕκαστον πρὸ τῆς θυσίας τῶν Μουσῶν ἐναγίζουσι. / „Diesem bringen sie jährlich vor dem Opfer für die Musen ein Opfer dar“. Das Verb ἐναγίζειν bezeichnet dabei folgerichtig das Opfern spezifisch an Heroen (vgl. Buraselis 2004, S. 127; Hermary und Leguilloux 2004, S. 62; auch Calame 1996, S. 45). Für Thamyris s. oben Abschnitt A.II.3.1.2 mit Anm. 223. Vgl. insges. Calame 1996, S. 54; Beaulieu 2004, S. 111; Manieri 2009, S. 317; Caruso 2016, S. 125. Calame 1996, S. 54-6 wertet die Bleitafel als Indiz für kultische Verehrung Hesiods an der Hippoukrene, in Anlehnung zu Weihungen von Tafeln mit Werken anderer heroisierter Dichter in griechischen Heiligtümern im Zusammenhang mit ihren Kulten (vgl. Beaulieu 2004, S. 112; auch Clay 2004, S. 82). Gemäß Caruso 2016, S. 126 verleiht das dauerhafte Material Blei zumindest der Dichtung „il valore di reliquia“, dem Dichter „il tributo della memoria“. Beaulieu 2004, S. 112 wendet ein, dass es sich auch schlicht um Weihgaben an die Musen handeln könnte (für Beispiele von literarischen Texten als Weihgabe s. Clay 2004, S. 88). – Für die Kultvereinigung der „hesiodeischen Synthytai“ vgl. IThesp 65 und oben Abschnitt A.II.3.1.2 mit Anm. 233-36. Manieri 2009, S. 317 zählt sie als Beleg für einen Hesiodkult (vgl. Caruso 2016, S. 126). Beaulieu 2004, S. 112f. schränkt die Beweiskraft ein: Es existierten keine Hinweise auf die Rolle Hesiods für diese Kultvereinigung, zumal die Opfer den Musen und nicht Hesiod gölten. Sie referiert die nüchterne Auffassung von Roesch 1982, S. 165f., der die Funktion der thespischen Synthytai als eine zweifache benennt: die der Verwaltung des den Musen heiligen Landes einerseits, die der kultischen Verehrung der Göttinnen andererseits. Er deutet eine schlichte Namensgebung nach dem berühmten Sohn des Musentals an, ohne nähere Funktion als die der allge-

206 3.2.1.4

A.II

Helikon

Hippoukrene und erlebbare Landschaft

In Pausanias’ Darstellung zeigt sich, dass der Aufstieg zur Hippoukrene Teil eines Besuchs im Musenheiligtum war und integriert in die Führung475 durch die Örtlichkeiten. Die bereits beschriebene476 Struktur hatte ja Bestand und führte damals wie heute ihr kaltes Wasser. Doch die Quelle präsentierte sich dem Besucher als Ziel nicht nur als solche, vielmehr war die Bedeutung des Ortes auch durch die Ausstellung von Objekten betont: Eine Bleitafel mit Hesiods Erga wird dem Pausanias gezeigt. In seinen Augen wirkt sie alt und könnte also auf ein längeres Vorleben hinweisen.477 Die Ausstellung von weiteren Objekten ist nicht ausgeschlossen. Wie stark und in welcher Kontinuität die Hippoukrene in kultische Aktivitäten einbezogen war, muss in Ermangelung von Funden offen bleiben. In jedem Fall ist sie, wie Pausanias’ Bericht zeigt, in die Topographie des Heiligtums mit einbezogen. Auch abgesehen von den Ausstellungsstücken, die zu besichtigen waren, erzielte der Aufstieg zur Hippoukrene gewiss eine tiefere Wirkung als der bloße Rundgang im Heiligtum unten im Tal: The spatial shift reinforces the mythical geography; the visitor cannot help but merge the heroic narratives of place with his own experience.

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476 477

meinen Ehrung, analog zur Namenswahl der „Philhetairischen Synthytai“ (vgl. IThesp 60) nach dem Stifter des von ihnen zu verwaltenden Landes (vgl. Roesch 1982, S. 164f.). – Beaulieu schließt auch die Stele des Euthykles als Argument aus, da sie den Musen dediziert sei; Hesiods Nennung spiegele nur seine große Bedeutung für den Ort (vgl. Beaulieu 2004, S. 113). Schachter 1986, S. 160f. auf der anderen Seite zieht in Erwägung, dass es sich bei Euthykles gerade um einen hesiodeischen Synthytes handle (dessen Vereinigung dann einen tieferen Bezug zu Hesiod aufwiese). Caruso 2016, S. 125f. betont die mantischen Konnotationen im zweiten Gedicht. Den zeigenden Gestus eines oder mehrerer Führer erwähnt Pausanias bezüglich der an der Quelle ausgestellten Tafel (vgl. Paus. 9, 31, 4: καί µοι µόλυβδον ἐδείκνυσαν). Vgl. oben Abschnitt A.II.2.2.3. Paus. 9, 31, 4: καί µοι µόλυβδον ἐδείκνυσαν, ἔνθα ἡ πηγή, τὰ πολλὰ ὑπὸ τοῦ χρόνου λελυµασµένον· ἐγγέγραπται δὲ αὐτῶι τὰ Ἔργα. / „Und man zeigte mir eine Bleitafel dort, wo die Quelle ist, schon sehr von der Zeit zerfressen; darauf stehen die Erga geschrieben.“

3

Das Tal der Musen

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The ascent mimicked the phenomenon of inspiration as the visitor struggled from the realm of humanity to that of the gods.478

Hier sei die Verlockung groß, so Robinson weiter, sich am Ende des Aufstiegs „a final epigram“ des Honestus in Stein geschrieben zu denken; nämlich das bereits erwähnte479 Epigramm AP 9, 230, das auch der moderne Wanderer so gern als Proviant in seiner Tasche trägt: Ἀµβαίνων Ἑλικῶνα µέγαν κάµες, ἀλλ’ ἐκορέσθης Πηγασίδος κρήνης νεκταρέων λιβάδων· οὕτως καὶ σοφίης πόρος ὄρθιος· ἢν δ’ ἄρ’ἐπ’ ἄκρον τέρµα µόλῃς, ἀρύσῃ Πιερίδων χάριτας. Beim Aufstieg auf den großen Helikon bist du ermüdet, aber du hast dich gesättigt | an den Nektarströmen der Pegasos-Quelle. | So auch ist der Weg der Weisheit steil; wenn du aber ans äußerste | Ende gelangst, schöpfst du die Freuden der Pieriden. AP 9, 230 (Honest.)

Sprachlich entsteht in der Tat der Eindruck, Adressat des Epigramms sei eine konkrete Person und der Aufstieg zum Helikon sei als ebenso konkretes Erlebnis geschildert.480 Nahe liegt es da, den jeweiligen Besucher der Hippoukrene – gleichzeitig Leser der Verse vor Ort – hinter dieser konkreten Person zu vermuten. Der Mechanismus würde durchaus der Ausgestaltung des Heiligtums im Tal mit den ekphrastischen Epigrammen des Honestus entsprechen: Dort bewirkt ihre Beigabe, dass der Ort zum Besucher zu sprechen beginnt, und zwar aus dem Munde der dargestellten Figuren. Gewiss gilt Preuners Satz, dass „[d]ie Epigramme des Honestos [...] die Kunstwerke des Musentales dem Beschauer erklären [wollen]“481. Darüber hinaus aber erzeugt die explizit gemachte Präsenz relevanter Gestalten – der Musen als Gottheiten des Helikon an erster Stelle, doch auch assoziierter Figuren –, die zudem in einen Dialog untereinander und mit dem Be478 479 480

481

Robinson 2012, S. 250. Vgl. oben Abschnitt A.II.1. Vgl. Gow und Page 1968, II, S. 303: „[T]his epigram sounds as though it was addressed to a particular person. [...] The effect of the aorist tenses in vv. 1-2 is to represent the climbing of Mt Helicon as an actual experience.” Preuner 1920, S. 424.

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A.II

Helikon

trachter treten, einen belebten und erlebbaren Raum.482 Höschele beschreibt diese ‚Interaktionen‘.483 Die Kunstwerke seien über Honestus’ Epigramme miteinander verwoben wie die Epigramme einer Buchsammlung: Honestus, [...] has, I think, created a lapidary mini-libellus, which ties in with both epigraphic and literary tradition. [...] Like the reader of a libellus, the visitor strolling through the grove is invited to perceive the inter482

483

Ob außer den durch Funden bezeugten (vgl. oben Abschnitt A.II.3.1.2) noch mehr Kunstwerke des Musenheiligtums mit Epigrammen des Honestus ausgestattet waren, ist selbstverständlich nicht festzustellen. In jedem Fall scheint aber eine geplante Auswahl der zu beschriftenden Monumente plausibler als eine willkürliche. – Zu den Musen bemerkt Robinson 2012, S. 244 im Sinne der Belebung und Erlebbarkeit: „The installation of the Muses in their valley recalls the dedication of Nymphs in the numinous places they were thought to inhabit. The goddesses bore witness to the events around them and, through their inscribed bases, added a part of their own.” Vgl. Höschele 2014, S. 182-7 für Interaktionen der Musenstatuen der großen Exhedra und S. 189f. für die anderen Musenstatuen. Das Spiel setzt sich fort bei den Darstellungen von mit den Musen assoziierten Figuren (s. insbes. ebd., S. 187-92), so dem Thamyris mit dem Honestus-Epigramm IThesp 312 (s. ebd., S. 175) oder der Mnemosyne mit IThesp 301 (s. ebd., S. 188f.). Hier ist neben der assoziativen und möglicherweise visuellen sogar eine intertextuelle Verbindung zwischen Mnemosynestatue und Musengruppe gegeben: „The phrase µητέρι ... τίνει χάριτας picks up Polymnia’s πατρὶ τίνουσα χάριν [IThesp 289, V. 2], creating a clear verbal link between the two monuments, which thus honor the Muses as daughters of Zeus and Mnemosyne respectively“ (Höschele 2014, S. 183f.; vgl. IThesp 301, 8). – Livia wird ebenfalls mit den Musen in Verbindung gesetzt. Während die ersten beiden Verse des Epigramms auf reale Ehren der Livia anspielen, lauten die letzten beiden Verse: ἐπρεψεν δὲ σοφαῖς Ἑλικωνιάσιν πινυτόφρων | σύνχορος, ἧς γε νόος κόσµον ἔσωσεν ὅλον. / „Für die weisen Helikoniaden ist sie eine würdige, kluggesonnene | Mittänzerin, deren Verstand ja die ganze Welt errettet hat“ (IThesp 424, Z. 3f.; dort irrtümlich πινυτρόφων). Das Wort σύνχορος kann dabei eine zweifache Bedeutung tragen: einerseits die gänzlich übertragene (nach dem allgemeinen Topos der ‚zehnten Muse‘), andererseits wiederum die konkretere, die auf die Aufstellung der Liviastatue im Musenheiligtum – mit Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 739f. vielleicht sogar als Teil der großen Musenexhedra – weist (vgl. Gow und Page 1968, II, S. 309; Höschele 2014, S. 191f.).

3

Das Tal der Musen

209

textual links between individual components, whose semantic potential is significantly enlarged by the surrounding context.484

Was nun im Speziellen die helikonische Landschaft betrifft, ist neben dem schriftlich überlieferten Hippoukrene-Epigramm AP 9, 230 vor allem eine der inschriftlich erhaltenenen Dichtungen des Honestus samt zugehörigem Kunstwerk hervorzuheben. Es handelt sich um die Verse, die den Sockel der Erato zieren: [Ζηνὸς δώµ]αθ’ ὑγροῖς [κἀγ]ὼ λίπον· ἀλλὰ χορεύσω [τῆιδ’ Ἐρατ]ὼ µαλακ̣ὴν̣ ἀνθοβατεῦσα πόη[ν]. Die [Häuser des Zeus] habe [auch ich] mit geschmeidigen Füßen verlassen; aber [hier] will ich tanzen, | ich, [Erato], das weiche Gras blütentretend. IThesp 297, 3f.

Das Epigramm hält eine räumliche Bewegung fest: Die Sprecherin, die mit großer Sicherheit als Erato zu identifizieren ist,485 hat einen Ort verlassen (V. 1: λίπον), um an einem anderen den Tanz zu beginnen. Während die Emendation [δώµ]αθ’ (V. 1) mit Zuversicht aus dem vorhandenen Material zu gewinnen ist, sind für die vorangehende Lücke verschiedene Varianten denkbar. Peeks Ergänzung Ζηνός,486 die weitgehend übernommen wurde, ist eine davon. Stünde sie, so wäre eine große Bewegung zu denken: Die Muse Erato hätte dann den Olymp verlassen, um ins Tal der Musen am Helikon kommen. Diese Konstruktion wirkt zunächst sperrig: Warum sollten einer Muse ausgerechnet an einem Ort, der als ihr typischer Aufenthaltsort gedacht und auch propagiert wird, Worte in den Mund gelegt werden, die diesen erst als Endpunkt einer Reise von einer anderen, primären Heimstatt kennzeichnen? Auf den zweiten Blick erzeugte aber genau dieser Verweis auf das zugleich olympische Wesen der helikonischen Musen eine subtile Anspielung auf Hesiods Theogonieprooimion und damit auf ein prägendes Dokument für ihre Konzeptualisierung.487 484 485 486 487

Höschele 2014, S. 186f. Vgl. Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 734. Vgl. Peek 1953, S. 626. Das bedeutungsvoll doppelte Wesen der helikonischen Musen in Hes. Th. 1-

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A.II

Helikon

Peek selbst nennt als weitere denkbare Variante ein adjektivisches Attribut zu δώµατα, etwa χρύσεα.488 In diesem Fall wäre eine andere Bewegung möglich: Anfangspunkt der Reise könnte dann auch der Berg Helikon selbst sein und Endpunkt das Tal an seinem Fuße; Erato bliebe ganz im helikonischen Kontext. Beschrieben sind in jedem Fall Vorhaben und erreichter Zielort: Erato gedenkt zu tanzen (V. 1: χορεύσω) und zwar auf einer Wiese, die einerseits durch die direkte Bezeichnung µαλακ̣ὴν̣ […] πόη[ν] (V. 2), „weiches Gras“, als solche charakterisiert ist, andererseits indirekt durch die Neuschöpfung ἀνθοβατέω (V. 2), „walk on flowers“489. Blumen und Gras, diese Zutaten für einen locus amoenus, gehen mit der vorigen Kennzeichnung von Eratos Schritten490 mittels des Adjektivs ὑγροῖς (V. 1) – in erster Linie „flüssig“, „feucht“ und erst in übertragenem Sinn auch „flink“ oder „geschmeidig“491 – eine assoziative Einheit ein. Im Zusammenhang mit dem zugehörigen Kunstwerk betrachtet sind zwei Punkte von besonderem Interesse. Erstens lässt das Epigramm durchaus einen tanzenden Typus erwarten; das erhaltene Material, wenn auch fragmentarisch, ist mit einem solchen grundsätzlich kompatibel.492 Aber im Epigramm äußert Erato eine Absicht, sie gebraucht das Futur χορεύσω (V. 1) und suggeriert also ein Noch-nicht-Tanzen. Dem Betrachter präsentiert sich somit beim Lesen des Epigramms eine erstarrte

488

489 490 491

492

115 wird ausführlich unten in Kapitel B.I behandelt. In Honestus’ Hippoukrene-Epigramm AP 9, 230 liegt übrigens Ähnliches vor: Helikonische Elemente (V. 1: Ἑλικῶνα; V. 2: Πηγασίδος κρήνης) werden mit olympischen bzw. hier pierischen (V. 4: Πιερίδων χάριτας) kombiniert. Höschele 2014, S. 186 macht außerdem auf eine mögliche Anknüpfung im Gesamtensemble der Musenstatuen und -epigramme aufmerksam: Die „geographic transition from heaven to earth“ (ebd.) fände insbesondere statt ausgehend von Ourania, die in der Gruppe der Erato-Statue vorausgeht und im Epigramm (IThesp 296) auf ihre Verbindung zum ‚Himmlischen‘ und zum Vater Zeus verweist. Peeks Kommentar (1953, S. 626) lautet vollständig: „Im Anfang hat man die Wahl zwischen πατρός, Ζηνός und einem Epitheton zu δώµατα wie χρύσεα, das mir P. Maas vorschlug.“ LSJ Suppl. u. Montanari s. v. ἀνθοβατέω. Für die Entbehrlichkeit eines expliziten ποσσίν s. Peek 1953, S. 626. Vgl. LSJ u. Montanari s. v. ὑγρός. S. auch Peek 1953, S. 626 für genaue Parallelen. Vgl. Biard, Kalliontzis und Charami 2017, S. 734f.

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Das Tal der Musen

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Figur, die jederzeit aus ihrer Erstarrung erwachen könnte. Oder aber es handelt sich um ein performatives Futur, bei dem Sprechhandlung und physische Handlung in Eins fallen: In diesem Fall fordert das Epigramm für die ‚Bewegungen‘ der Statue eine unmittelbare Lebendigkeit ein. In beiden Fällen erzeugten die Verse also eine Belebung der dargestellten Figur mittels des Lesers und Betrachters. Zweitens deuten Biard, Kalliontzis und Charami eine auffällige Struktur von kleinen Zapfenlöchern, die sich mit einer Unterbrechung gleichmäßig über alle Blöcke der großen Musenbasis verbreitet, als Befestigungssystem für einen besonderen Dekor: eine bronzene Blumenwiese.493 Ausgangspunkt für die spektakuläre Deutung ist das vorliegende Epigramm für die Muse Erato. Insbesondere werten die Autoren den Neologismus ἀνθοβατέω als Signal für den ekphrastischen Charakter des Verses und der Epigramme insgesamt.494 Gewinnt die Musenstatue durch das Epigramm an Leben, so auch die bronzene Wiese, die unter dem ‚lebendigen‘ Fuß der tanzenden Erato zur µαλακὴ πόη werden kann. Zugleich fände sich hier ein Element der wirklichen Landschaft im Kunstwerk gespiegelt und zwar an genau dem Ort, an dem das Urbild angesiedelt ist. Der Spiegeleffekt zeigt in beide Richtungen Wirkung: Kann die Eingliederung in die tatsächliche helikonische Landschaft der bronzenen Wiese zusätzlich Leben verleihen, so gewinnt in die andere Richtung die wirkliche Landschaft auch – durch die ausschnitthafte Darstellung aus ‚unvergänglichem‘ Material wie Bronze und Sprache – etwas vom immerwährenden, exemplarischen Charakter des Kunstwerks. Bindeglied ist auch hier der Betrachter und Leser, für den das Epigramm die Bezüge herstellt. Auch andere durch Funde bezeugte Weihgaben treten in Interaktion mit ihrer landschaftlichen Umgebung und ihrem Betrachter. So wurde

493

494

S. ebd., S. 742f. Die Autoren wägen diese gewagte These sorgfältig gegen die Besonderheiten des Materials und alternative Deutungen ab. – Einige größere runde Vertiefungen – darunter eine auf dem Sockel der Erato – seien zudem als Verankerungen von marmornen Bäumen denkbar; vgl. ebd., S. 743 u. passim. „Cette création poétique confirme le caractère ecphrastique des épigrammes: l’originalité du groupe sculpté nécessitait de recourir à un vocabulaire rare et choisi“ (ebd., S. 734).

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A.II

Helikon

bei der Agía-Triás-Kapelle die von einem Euthykles, Sohn des Amphikritos, geweihte Stele gefunden, datiert auf das 3. Jh. v. Chr (Abb. 4).495 Sie zeigt in der oberen Hälfte in einem Relief eine bärtige Männergestalt mit strahlenförmig angeordnetem Haar, dreieckigem Mal auf der Stirn und nacktem Oberkörper, die zwischen zwei Berggipfeln emportaucht. Eines der auf der Stele angebrachten hexametrischen Gedichte – das zweite – weist sie als Personifikation des Helikon aus. Der erste Dreizeiler steht oberhalb des Reliefs.496 Er verrät den Namen des Weihenden und offensichtlich Dichters der Verse, die Adressatinnen der Gabe – die Musen – und die Hoffnung, sie mögen dem Gebenden ewigen Ruhm gewähren. Das erwähnte zweite Gedicht, ein Vierzeiler, steht unterhalb des Reliefs. Es lautet folgendermaßen:

Abb. 4: Votivstele mit personifiziertem Helikon 495

496

497

οὕτ̣ως̣ ἀ̣ν̣τω̣π̣οῖς ἀριγηρα[λ]έος βροτῶι ἶσα οὐκ ἀδ[α]ὴς Ἑλικὼν Μου[σ]άων χρησµὸν ἰαχέω «πειθοµένοισι βροτοῖς ὑποθήκαις Ἡσιόδοιο εὐνοµία χώρα τ’ ἔσται καρποῖσι βρύουσα».497

S. Jamot 1890; Peek 1977; Hurst 1996; Veneri 1996; Hardie 2006, S. 63f.; Sporn 2013a, S. 469f.; Robinson 2012, S. 182-4; vgl. IThesp 274. Das Objekt befindet sich im Nationalmuseum Athen (Inventarnummer 1455). Der untere Teil der Stele ist nicht erhalten. Die Verse lauten: Ε̣ὐ̣θ̣υ̣[κλ]ῆς παῖς Ἀµφικρίτο̣υ̣ Μούσαις ἀνέθηκε | κοσµήσ̣[α]ς ἔπεσιν, τῶν ἁ χάρις εἴη ἀείνως | καὶ γένεος τὸ τέλος κείνου καὶ τοὔνοµα σώιζοι. / „Euthykles, Sohn des Amphikritos hat dies den Musen aufgestellt, | es mit Worten schmückend, ihnen, deren charis ewig währen | und Gedeihen seines Geschlechtes und seinen Namen bewahren möge.“ Für den griechischen Text vgl. Peek 1977, S. 174, 1-3 (= Hurst 1996, S. 57, A) ≈ IThesp 274, 1-3). Für den griechischen Text vgl. Peek 1977, S. 174, 4-7 (= Hurst 1996, S. 60, B. ≈ IThesp 274, 4-7).

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Das Tal der Musen

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So rufe ich für die, die mir von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen, ich, der uralte | Helikon, einem Sterblichen gleich nicht unkundig der Musen, einen Orakelspruch aus: | ‚Für die Menschen, die Hesiods Unterweisungen Folge leisten, | wird es Wohlgeordnetheit geben und ein Land, das vor Früchten strotzt.‘

Der Sprecher des Gedichts, der Helikon, präsentiert sich hier als „nicht unkundig der Musen“ (V. 2: οὐκ ἀδ[α]ὴς Ἑλικὼν Μου[σ]άων). Dies trifft in zweierlei Weise zu: Zum einen beweist er es selbst, als ‚Dichter‘ des Vierzeilers. Zum anderen ist ja der Berg Helikon als Wohnort der Musen in der Tat mit den Göttinnen vertraut. Analog dazu entfaltet auch ἀ̣ν̣τω̣π̣οῖς (V. 1) eine doppelte Wirkung: Denn der angesprochene Betrachter sieht sich nicht nur der bärtigen Personifikation auf der Stele gegenüber, sondern eben auch dem über dem Heiligtum thronenden Berg selbst; der Sprecher des Gedichtes spricht zu ihm mit doppelter Stimme. Das Adjektiv hilft so, Darstellung und Worte im umgebenden Raum zu verankern und mit ihm in Beziehung zu setzen: Die Helikonlandschaft als Ort der Musen wird dem Betrachter präsent gehalten.498 498

Der auffällige Ausdruck εὐνοµία (V. 4) findet sich auch in Honestus’ Epigramm für Euterpe wieder, in dem die Muse angesprochen wird: Ε̣[ὐ]νο̣μ̣ίη̣ Μουσῶ̣ν κ̣α̣ὶ σ̣οὶ νόµος / „Die Wohlordnung der Musen ist auch für dich Gesetz“ (IThesp 298, 1). Auch hier ist ein nachträglich – nämlich durch Honestus – hergestellter ‚intertextueller‘ Bezug zwischen den Kunstwerken also denkbar. Dabei kann die ältere Inschrift durch die jüngere eine Interpretation erfahren haben. So ist im Gedicht des Amphikritos offen, in welchem Sinne der Helikon als Sprecher εὐνοµία gebraucht: Das Wort kann ebenso auf νόµος wie auf νοµός zurückgeführt werden, der Helikon damit sowohl „good order, good legislation“ als auch „good pasture“ prophezeien (s. Montanari s. v. εὐνοµία A bzw. B; vgl LSJ s. v. ἐ. I bzw. II). Beides ist im Kontext des Orakelspruchs denkbar. In Honestus’ Epigramm für Euterpe wiederum ist nur das erste Bedeutungsspektrum möglich. – Auf der Helikon-Stele ist unter dem zweiten Gedicht ein weiterer Dreizeiler eingraviert. Sein Buchstabenverlauf folgt der runden Form des Lorbeerkranzes, der darunter abgebildet ist. Die Verse lauten: Ἡσίοδος Δίου Μούσας Ἑλικῶνά τε θεῖον | καλλίστοις ὕµνοις [κύδην’, ὁ δ’ ἄρ’ Ἀµφικρίτοιο] | [υἱὸς τιµᾶι κεῖνον ἀοίδιµο]ν̣ α ̣ [ἴσ]ιον ἄνδ̣ρ̣α ̣ . / „Hesiod, der Sohn des Dios, hat die Musen und den göttlichen Helikon | mit schönsten Liedern [gepriesen, der Sohn des Amphikritos | aber ehrt jenen gefeierten], glücklichen Mann.“ Für diese Auslegung des Genitivs Δίου s. Hurst 1996, S. 61. Für den griechischen Text vgl. ebd.,

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A.II

Helikon

Ein weiteres in diesem Rahmen relevantes Basenfragment mit Weihepigramm wurde in den Mauern der Agía-Triás-Kapelle gefunden.499 Dargestellt war Cervonius, Prokonsul von Achaia Anfang oder Mitte des vierten Jahrhunderts n. Chr. Geweiht ist die Statue von einem Thespiades und einem Eustephios: Ἄνδρα φίλον Μούσαισι καὶ − ∪ ∪ − ∪ ∪ − ∪ Ἑλλάδος ἀνθύπατον Κερ̣βώ ̣ νιον − ∪ ∪ − ∪ Θεσπιάδης τε καὶ Εὐστέφιος Μουσ[ῶν παρὰ βωµὸν] στῆσαν, Περµησσοῖο πέλας ζαθέου [θ’ Ἑλικῶνος]. Den den Musen lieben Mann und […],| den Prokonsul von Griechenland Cervonius […], | haben Thespiades und Eustephios [beim Altar] der Musen | aufgestellt, nahe dem Permessos [und] dem durchgötterten [Helikon]. IThesp 419

Diese Weihinschrift zu einer Statue aus der späten Phase des Heiligtums zeigt ein Bewusstsein für den topographischen Kontext. Zwar ist nur die Nennung des Permessos sicher erhalten, doch ist dies schon Verweis genug: Denn der Fundort macht eine Aufstellung im Kern des Heiligtums, im durch Altar und Stoai eingegrenzten Raum, wahrscheinlich. In diesen strukturell eingebunden aber war, das zeigte die Anordnung der erhaltenen Strukturen,500 auch der Fluss. Auch hier also weist der Inhalt der Weihinschrift auf die Umgebung. Pausanias’ Bericht, der einen Besuch bei der Hippoukrene einschließt, führte als Ausgangspunkt zu vier verschiedenen Zeugnissen, die einen Einbezug der Helikonlandschaft in die Gestaltung des Musenheiligtums andeuten. So zunächst zwei Epigramme des Honestus aus dem 1. Jh. n. Chr., das eine schriftlich, das andere als Inschrift überliefert: Im Falle des Hippoukrene-Epigramms liegt – war es tatsächlich bei der Quelle als Inschrift präsent – eine Explikation des ‚musischen‘ Erlebnisses vor, das dem Besucher prinzipiell in der Musenlandschaft bei seinem Aufstieg aus dem Tal auf den Berg möglich ist. Das zweite betrachtete Epigramm des Honestus, Teil der großen Musenbasis, be-

499 500

S. 60, C); Hurst übernimmt im Wesentlichen Peeks Text (1977, S. 174 ≈ IThesp 274, 8-10) bis auf einige Modifikationen. Vgl. IThesp 419; Schachter 1986, S. 162f. Anm. 5. Vgl. oben Abschnitt A.II.3.1.1.

3

Das Tal der Musen

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wirkt eine unendliche Spiegelung und reziproke Sinnbehaftung von Kunstwerk und Landschaft mittels des Rezipienten. Ähnlich wirkt, wenn auch subtiler, da das Moment der Personifikation zwischengeschaltet wird, die Stele des Euthykles aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. Das jüngste Werk schließlich, die Inschrift auf der Basis einer Magistratenstatue, enthält einen einfachen topographischen Verweis. 3.2.2 Plutarch Den Rahmen von Plutarchs Erotikos bildet ein Gespräch zwischen Flavian und Plutarchs Sohn Autoboulos. Flavian fordert Autoboulos auf, den Anwesenden ein Gespräch über die Liebe wiederzugeben, an dem Plutarch teilgenommen hatte. Das Gespräch hat, so der Text, vor Autoboulos’ Geburt stattgefunden und er ist nur in der Lage, davon zu berichten, weil sein Vater so oft davon erzählt habe. Den Anlass des referierten Gespräches bildet eine aufsehenerregende Liebesgeschichte inklusive Entführung eines jungen Mannes in Thespiai, in der Partei zu ergreifen Plutarch und seine Freunde gebeten werden. Nach einem Wortgefecht zwischen Verfechtern und Gegnern der Knabenliebe entfernen sich bald – fortgelockt durch aktuelle Entwicklungen in besagter Liebesgeschichte – die hitzigeren Gemüter aus der Gruppe und es kann sich in ruhigeren Tönen ein Gespräch über Göttlichkeit und Vorzüge des Eros selbst und über das Lob der Ehe entfalten. Der Dialog wird eingeleitet durch die Frage Flavians, ob es nicht am Helikon gewesen sei, wo jenes Gespräch über die Liebe501 stattgefunden habe. Autoboulos bestätigt: „Am Helikon bei den Musen“ (Plu. Mor. 748f: Ἐν Ἑλικῶνι παρὰ ταῖς Μούσαις) und zwar zur Zeit, als man in Thespiai gerade die Erotideia abgehalten habe, ebenso wie die Mouseia ein vierjährliches Fest.502 Diese Bestätigung nun veranlasst Flavian, im Namen der Anwesenden folgende Bitte vorzutragen: Ἄφελε τοῦ λόγου τὸ νῦν ἔχον ἐποποιῶν τε λειµῶνας καὶ σκιὰς καὶ ἄµα κιττοῦ τε καὶ σµιλάκων διαδροµὰς καὶ ὅσ’ ἄλλα τοιούτων τόπων ἐπιλαβόµενοι γλίχονται τὸν Πλάτωνος Ἱλισσὸν καὶ τὸν ἄγνον ἐκεῖνον καὶ

501 502

Vgl. Plu. Mor. 748e (Amatorius): τοὺς περὶ Ἔρωτος λόγους. Vgl. Plu. Mor. 748e-f.

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Helikon

τὴν ἡρέµα προσάντη πόαν πεφυκυῖαν προθυµότερον ἢ κάλλιον ἐπιγράφεσθαι. Entferne auf der Stelle aus deiner Rede der Dichter Wiesen, schattige Plätzchen und auch das Ranken von Efeu und Stechwinden und alles andere, was Leute, solche Gemeinplätze aufgreifend, heiß begehren, um sich Platons Ilissos und jenen Keuschlamm und den sanften, mit Gras bewachsenen Hang mehr eifrig als schön zu eigen zu machen.503 Plu. Mor. 749a (Amatorius)

Die Ausrichtung von Frage und Antwort am Ort des Gesprächs suggeriert, dass nicht nur das Thema, sondern auch das helikonische Musenheiligtum als Setting Flavians Befürchtung weckt. Sie besteht darin, dass Autoboulos sich in dichterischen Gemeinplätzen über einen locus amoenus verlieren könnte – zu dem Wiesen, Schatten und rankende Gewächse sich unweigerlich vereinen. Als offensichtlich auch von Stümpern gern kopiertes Beispiel zitiert Flavius Platons Ilissosbeschreibung aus dem Phaidros.504 Es bestehen somit zwei Anknüpfungspunkte: Zum einen wirkt die Liebe als Dialogthema verbindend,505 zum anderen gerät unweigerlich auch der Gedanke der inspiratorischen Kraft der Natur mit den sie bevölkernden Gottheiten ins Spiel.506 Dieser Faktor wird ja im 503

504

505

506

Der Satz ist syntaktisch problematisch: Das Verhältnis der relativischen Anknüpfung durch den Ausdruck „ὅσ’ ἄλλα“ und der Infinitivkonstruktion „τὸν Πλάτωνος […] ἐπιγράφεσθαι“ zum Prädikat γλίχονται ist unklar, die Verschränkung scheint kaum aufzulösen. An dieser Stelle wurde die angreifbare Lösung gewählt, die Infinitivkonstruktion nicht als Objekt zu γλίχονται aufzufassen, sondern mit einem finalen Sinn zu versehen. Görgemanns et al. 2006, S. 133 Anm. 6 wählen den Weg der Ergänzung: [...] καὶ ὅσ’ ἄλλα τοιούτων τόπων ἐπιλαβόµενοι γλίχονται [...]. S. dazu oben Abschnitt A.I.3.2.2. Die Passage enthält auch wörtliche Anklänge an Pl. Phdr. 230b3 (τοῦ τε ἄγνου τὸ ὕψος καὶ τὸ σύσκιον πάγκαλον) und 230c3-5 (πάντων δὲ κοµψότατον τὸ τῆς πόας, ὅτι ἐν ἠρέµα προσάντει ἱκανὴ πέφυκε κατακλινέντι τὴν κεφαλὴν παγκάλως ἔχειν). S. Rist 2001 zum Verhältnis von Platons’ Phaidros und Plutarchs Erotikos im Einzelnen. Vgl. Robinson 2016, S. 234f.: „By recalling Plato’s Ilissus and Socrates’ nympholepsy, Plutarch uses the power of suggestion to bring the charismatic qualities of the Attic valley to the Vale of the Muses“. Vgl. dies. 2012, S. 253.

3

Das Tal der Musen

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Phaidros kontinuierlich betont und ist für den Helikon durch die Musen mit gegeben. Dass diese Assoziation mitschwingt, bestätigt ex negativo Autoboulos’ Beschwichtigung der Befürchtung Flavians: Er verzichtet auf ‚dichterische‘ Inspiration und ruft nicht die Musen, sondern nur Mnemosyne um Unterstützung an:507 µόνον εὐχώµεθα τῇ µητρὶ τῶν Μουσῶν ἵλεω παρεῖναι καὶ συνανασῴζειν τὸν µῦθον. Lasst uns nur zur Mutter der Musen beten, uns freundlich beizustehen und die Geschichte mitzubergen. Plu. Mor. 749 a-b (Amatorius)

An späterer Stelle im Dialog ist davon die Rede, wie es zu dem örtlichen Rahmen für das Gespräch kam, das Autoboulos referieren soll. Plutarch und seine Freunde hatten sich offenbar zunächst zum Anlass der Erotideia in Thespiai zusammengefunden und „verbrachten recht in Ruhe Zeit miteinander mit philosophischen Gesprächen“ (Plu. Mor. 749c [Amatorius]: ἡσυχῆ πως φιλοσοφοῦντες [...] ἀλλήλοις συνῆσαν). Doch dann wird dort der Trubel zu groß für ihren Geschmack: ἔπειτα φεύγοντες ἀργαλέον ἀγῶνα κιθαρῳδῶν, ἐντεύξεσι καὶ σπουδαῖς προειληµµένον, ἀνέζευξαν οἱ πλείους ὥσπερ ἐκ πολεµίας εἰς τὸν Ἑλικῶνα καὶ κατηυλίσαντο παρὰ ταῖς Μούσαις. Dann brachen die meisten, auf der Flucht vor einem anstrengenden Streit zwischen den Kitharoden, dem Versammlungen und Dispute vorausgegangen waren, wie aus feindlichem Gebiet zum Helikon auf und schlugen ihr Lager bei den Musen auf. Plu. Mor. 749c (Amatorius)

Das Musenheiligtum am Helikon wird somit als ein Ort der Ruhe präsentiert, an dem die vorher unterbrochene Tätigkeit, das φιλοσοφεῖν, ohne Umstände wieder aufgenommen werden kann.508 Dies mag zum einen in seiner Lage außerhalb der Stadt begründet liegen. Der vorher 507

508

Autoboulos gibt zudem an, die zu berichtenden Geschehnisse forderten ohnehin eher eine dramatische Aufführung mit Chor und Bühne (vgl. Plu. Mor. 749a). Vgl. auch Manieri 2009, S. 314.

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A.II

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erweckte, durch die ausdrückliche Zurückweisung gerade bestätigte509 Assoziationsrahmen des locus amoenus lässt aber auch plausibel erscheinen, dass das Hervorrufen dieser Assoziation im Konzept zur Gestaltung des Heiligtums mit beinhaltet war. Insgesamt ergibt sich: Für Plutarch bestand offenbar ein Zusammenhang zwischen den tradierten Konnotationen einer inspiratorischen, idyllischen Musenlandschaft und dem realen Heiligtum am Fuße des Helikon in der Thespike. 3.2.3 Kallistratos Als weiterer ‚Besucher‘ des Musenheiligtums am Helikon gibt sich der spätantike Autor Kallistratos.510 Seine siebte Ekphrasis gilt einem Standbild des Orpheus. Sie beginnt folgendermaßen: Ἐν τῷ Ἑλικῶνι – τέµενος δὲ τῶν Μουσῶν σκιερὸν ὁ χῶρος – παρὰ τοὺς Ὀλµειοῦ τοῦ ποταµοῦ ῥύακας καὶ τὴν ἰοειδέα Πηγάσου κρήνην Ὀρφέως ἄγαλµα τοῦ τῆς Καλλιόπης παρὰ τὰς Μούσας εἱστήκει, ἰδεῖν µὲν κάλλιστον – ὁ γὰρ χαλκὸς τῇ τέχνῃ συναπέτικτε τὸ κάλλος –, τῇ δὲ τοῦ σώµατος ἀγλαίᾳ τὸ µουσικὸν ἐπισηµαῖνον τῆς ψυχῆς· Auf dem Helikon – ein schattiger heiliger Bezirk der Musen ist der Platz – bei den Strömen des Flusses Olmeios und der veilchendunklen Pegasos-Quelle stand eine Skulptur des Orpheus, Sohnes der Kalliope, bei den Musen, wunderschön anzuschauen – die Bronze nämlich brachte zusammen mit der Kunstfertigkeit solche Schönheit hervor –, die durch den Glanz des Körpers das Musische der Seele aufzeigte. Callistr. Stat. 7, 1

Kallistratos bedient sich hesiodeischer Topographie: Die Kombination von Olmeios und Hippoukrene erscheint in Hes. Th. 6, das Adjektiv ἰοειδής zur Charakterisierung der Quelle ist eine klare Wiederaufnahme 509

510

Vgl. Robinson 2012, S. 253: „Plutarch employs recusatio to fill in the scenery […]. With th[e] request that Autoboulos forego common landscape details and tropes, Plutarch both evokes the sanctuary and invokes the topos of the poetic or philosophical landscape.“ Kallistratos ist nicht vor dem 4. Jh. n. Chr. anzusetzen, vgl. Bäbler und Nesselrath 2006, S. 1-5.

3

Das Tal der Musen

219

von Hes. Th. 3.511 Die Bezeichnung des Aufstellungsortes als τέµενος δὲ τῶν Μουσῶν σκιερὸν zeichnet zum einen durch die Kombination aus dem Adjektiv „schattig“ und der Präsenz von Quelle und Fluss das Bild eines locus amoenus.512 Da zum anderen in dem Einschub das Subjekt ὁ χῶρος durch das Prädikativum τέµενος τῶν Μουσῶν σκιερὸν näher bestimmt wird und nicht etwa ein „Heiligtum der Musen“ als „schattiger Platz“, wird im Effekt zugleich auf das tatsächlich existierende Heiligtum am Helikon513 angespielt und die Interpretation als im weiteren Sinne heiliger Ort zugelassen, den mehr die Anwesenheit von Gottheiten bestimmt als ihre institutionalisierte kultische Verehrung. Ebenso changiert die Ortsangabe παρὰ τὰς Μούσας zwischen den Göttinnen an ihrem Aufenthalt und Statuen der Göttinnen in ihrem Heiligtum. An die zitierten einleitenden Worte schließt sich die Beschreibung des Kunstwerkes an. Zunächst steht die Figur des Orpheus selbst im Mittelpunkt, so seine Kleidung, sein Haar, seine Lyra (Stat. 7, 1f.). Es folgt eine Beschreibung der ihm lauschenden Tiere (Stat. 7, 3) und schließlich auch anderer von der Musik bezauberter Naturelemente wie Wasser, Steine und Pflanzen (Stat. 7, 4). Als wiederkehrendes Motiv zieht sich durch die Ekphrasis der Gedanke von der Belebtheit des eigentlich leblosen Materials. Dies deutet sich bereits zu Beginn an, wo in den oben zitierten Zeilen davon die Rede ist, dass die äußere Schönheit der Bronzeskulptur auf „das Musische der Seele“, τὸ µουσικὸν [...] τῆς ψυχῆς, schließen lasse, womit nicht zuletzt die Existenz einer ψυχή vorausgesetzt wird. Von Orpheus’ Haar sagt Kallistratos in Stat. 7, 2, es sei so lebendig dargestellt, dass man meinen könnte, ein Wehen des Zephyr würde es in Bewegung versetzen.514 Die Lyra des Sängers sei ausgestattet mit Saiten „in gleicher Zahl wie die Anzahl der Musen“ (ἰσαρίθµους ταῖς Μούσαις) und die Bronze forme sie so gehorsam nach, 511 512 513

514

Vgl. auch ebd., S. 79 Anm. 1. Vgl. ebd., S. 79. Eine Differenzierung zwischen dem eigentlichen Heiligtum im Tal und dem ganzen den Musen heiligen Berg findet in diesem Falle nicht statt und wäre unter Umständen auch künstlich. Die Beschreibung lautet folgendermaßen: κόµη δὲ οὕτως ἦν εὐανθὴς καὶ ζωτικὸν ἐπισηµαίνουσα καὶ ἔµπνουν, ὡς ἀπατᾶν τὴν αἴσθησιν, ὅτι καὶ πρὸς τὰς ζεφύρου πνοὰς σειοµένη δονεῖται. Das Motiv von der Lebendigkeit des Haares ist ein Topos in Kallistratos’ Kunstbeschreibungen: Vgl. für entsprechende Passagen Callistr. Stat. 2, 3; 3, 4; 5, 4; 6, 1; 10, 3; 11, 3.

220

A.II

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dass sie gleichsam Töne von sich zu geben scheine.515 Nach der Beschreibung, wie in der Darstellung die belebte und unbelebte Natur dem orphischen Lied bezaubert entgegenstrebt, bildet den Abschluss der Ekphrasis der Gedanke, dass zwar kein echter Klang zu hören sei, die τέχνη aber gleichwohl die Empfindungen der Tiere in der Bronze sichtbar mache.516 Von archäologischer Seite bestehen Zweifel an der Existenz eines einheitlichen Urbildes für die Beschreibung, die ein grundsätzlich beliebtes und weit verbreitetes Motiv der antiken Kunst – ‚Orpheus unter den Tieren‘ – zum Inhalt hat.517 Dies betrifft erstens die Art des Kunstwerks. So erscheint die beschriebene Tierwelt allzu ausladend für eine Plastik, denn Kallistratos will „das gesamte Geschlecht der Vögel, [...] alle Tiere des Gebirges und alles, was in den Tiefen des Meeres lebt“518 abgebildet sehen, zudem Flüsse, Meereswogen, Felsen. Nesselrath schlägt daher zunächst vor, das Kunstwerk als Relief zu verstehen.519 Kallistratos täusche in der ersten Hälfte gewissermaßen den Leser, da sowohl die Beschreibung der Orpheusfigur, entsprechend den sechs vorausgehenden Ekphraseis, als auch der Terminus ἄγαλµα eher, wenn auch nicht zwangsläufig,520 an eine Statue denken lasse. Zudem ergebe sich bei einem Relief eine symmetrische Struktur im Aufbau des Werkes, da dann die siebte (Orpheus) und vierzehnte – und letzte – Ekphrasis (Athamas) einem zweidimensionalen Bild gölten.521 Zweitens betref515

516 517 518

519 520

521

Vgl. Callistr. Stat. 7, 2: ὁ γὰρ χαλκὸς καὶ νευρὰς ὑπεκρίνετο καὶ πρὸς τὴν ἑκάστου µίµησιν ἀλλαττόµενος πειθηνίως ὑπήγετο, µικροῦ καὶ πρὸς αὐτὴν τὴν ἠχὴν τῶν φθόγγων φωνήεις γενόµενος. Vgl. Callistr. Stat. 7, 4. S. Bäbler und Nesselrath 2006, S. 82-6. Callistr. Stat. 7, 3: πᾶν µὲν τὸ ὀρνίθων γένος [...], πάντες δὲ ὄρειοι θῆρες καὶ ὅσον ἐν θαλάττης µυχοῖς νέµεται. Im Anschluss sind einzeln ein Pferd, ein Rind und Löwen genannt. Vgl. Bäbler und Nesselrath 2006, S. 80. Vgl. ebd.: „Doch scheint spätestens seit dem 2. Jh. n. Chr. ἄγαλµα auch als zweidimensionales Bild verstanden worden zu sein, und diese Möglichkeit macht sich unser Autor offenbar zunutze [...].“ Vgl. ebd., S. 80. In der vierzehnten Kunstbeschreibung sind explizite Hinweise auf die (enkaustische) Maltechnik enthalten, die Identifizierung als Gemälde ist also deutlich. Zudem verwendet Kallistratos hier den Terminus εἰκών; diesen gebraucht er jedoch an anderer Stelle auch für Statuen (vgl. ebd., S. 80 u. 132).

3

Das Tal der Musen

221

fen die Zweifel die Ikonographie: So stellt der beschriebene Typus eine ungewöhnliche Mischung aus ‚phrygischem‘ und ‚griechischem‘ Orpheus dar.522 Im Ergebnis sei eher davon auszugehen, dass Kallistratos eine Art Genrebild beschreibe, dass von verschiedenen zeitgenössischen Darstellungen, etwa Mosaiken, inspiriert sei, nicht aber ein reales Kunstwerk.523 Daraus sollte weniger folgen, etwa hinsichtlich der existierenden Orpheustypen, „dass Kallistratos zwar beide Varianten gesehen hatte, sich beim Niederschreiben aber nicht mehr genau erinnerte“524, sondern vielmehr, dass es auch nicht Intention des Textes ist, die akkurate und kunstgeschichtlich korrekte Beschreibung eines realistischen, wenn auch möglicherweise erdachten Kunstwerkes zu liefern. Dann besteht aber auch kein Grund, nicht doch von einer Statuengruppe auszugehen anstatt von einem Bronzerelief,525 zumal Kallistratos selbst ja, abgesehen von der Unmöglichkeit der gestalterischen Umsetzung, keinen Hinweis darauf gibt, dass es sich um ein zweidimensionales Bild handeln soll – anders als in der erwähnten vierzehnten Ekphrasis. Die Beschreibung der Orpheus-Figur endet mit der Beschreibung seiner Lyra. Hierauf erst erfolgt das unerwartete Öffnen in einer „Technik der Überraschung“526 hin zu der Bronzewelt, die sich zu Orpheus’ Füßen erstreckt. Diese Stelle dient als Gelenk: An die Beschreibung der Lyra fügt sich die Beschreibung des dargestellten Kosmos, der unter der Wirkung ihres Klanges steht. Und ebenso, wie das bronzene Instrument gleichsam Töne von sich zu geben scheint, strebt die bronzene belebte und unbelebte Natur in gleichsam echter Verzückung auf den Sänger zu. Das Motiv von der überwältigenden Lebendigkeit der Darstellung bestimmt jede der vierzehn Ekphraseis des Kallistratos. Es nimmt für jedes Kunstwerk eine eigene, charakteristische Ausformung an, die es – durch τέχνη ermöglicht – jeweils als vollendete Verkörperung einer bestimmten Idee erscheinen lässt. Im Falle der Orpheusgruppe ist das bestim522 523 524 525

526

Vgl. so ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 85f. Ebd., S. 85. Dies scheint Bäbler in ihrem archäologischen Kommentar zu Callistr. Stat. 7, anders als Nesselrath in seiner zugehörigen, oben zitierten Einführung, auch so vorauszusetzen, vgl. Bäbler und Nesslrath 2006, S. 86 (Bäbler) und S. 80 (Nesselrath). Ebd., S. 79.

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mende Charakteristikum „das Musische der Seele“ (Stat. 7, 1: τὸ µουσικὸν [...] τῆς ψυχῆς). Der Übergang zur bronzenen Naturwelt erfolgt auf beachtenswerte Weise: Denn bevor Kallistratos sich dem Dargestellten zuwendet, reiht er zunächst auf, was nicht durch die Skulptur dargestellt ist: ὑπὸ δὲ τῶν ποδῶν τὴν βάσιν οὐκ οὐρανὸς ἦν τυπωθεὶς οὐδὲ Πλειάδες τὸν αἰθέρα τέµνουσαι οὐδὲ Ἄρκτου περιστροφαὶ τῶν Ὠκεανοῦ λουτρῶν ἄµοιροι· ἀλλ’ ἦν πᾶν µὲν τὸ ὀρνίθων γένος […]. Unter der Basis der Füße war nicht der Himmel geformt, auch nicht die Pleiaden, wie sie den Äther durchschneiden und auch nicht die Kreisbewegungen des Bären, die ohne Anteil an den Bädern des Okeanos sind; sondern da war das ganze Geschlecht der Vögel etc. Callistr. Stat. 7, 3

Dieser Satz erscheint doch mehr als ungewöhnlich in der Beschreibung einer Plastik: Warum sollte der Rezipient einen Sternenhimmel zu Füßen des Orpheus erwarten,527 sodass er explizit ausgeschlossen werden muss? Weit eher zu erwarten ist doch, was Kallistratos schließlich tatsächlich beschreibt: ‚Orpheus unter den Tieren‘ ist, wie oben geschildert, ein verbreitetes Motiv der griechisch-römischen Kunst. Gerade deshalb kann dieser Satz als Signal verstanden werden, das den Übergang von einer realistischen zu einer fiktionalen, mythisierenden Statuenbeschreibung markiert. Dabei ist der Bezug auf Himmel und Sternbilder nicht völlig aus der Luft gegriffen: Vielmehr liefert die vorausgehende Beschreibung von Orpheus’ Lyra das nötige Stichwort. Denn die Lyra ist selbst ein Sternbild. Die Bennenung der Saitenzahl mittels der Anzahl der Musen (Stat. 7, 2) stellt unter Umständen eine direkte Anspielung auf Eratosthenes’ entsprechende Sternsage dar, in der die ebenfalls genannten Pleiaden ebenso ihren Auftritt haben wie Orpheus: Denn der erhaltenen Epitome gemäß heißt es darin, Hermes hätte die Lyra bei der Erfindung mit sieben Saiten ausgestattet, gleich der Anzahl der Atlastöchter, d. h. der

527

Eine solche Ikonographie ist für Orpheus zumindest nicht überliefert: Vgl. die Zusammenstellung von Garezou 1994 in LIMC 7,1.

3

Das Tal der Musen

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Pleiaden; Apoll habe sie später an den Musensohn Orpheus weitergegeben, welcher die Saitenzahl auf die Musenzahl Neun erhöht habe.528 Die in dieser Form geäußerte Anspielung auf die literarische Tradition529 eröffnet eine weitere Ebene: Denn mit dem Hinweis darauf, was nicht zu sehen ist – etwas, das bei der Beschreibung einer wirklichen, nicht-literarischen Statue auch nicht erwartet würde –, verweist Kallistratos gewissermaßen auf die Möglichkeiten, die ihm potentiell zur Verfügung stehen – und damit auf die Grunddispositionen seiner eigenen τέχνη, der Schreibkunst, und die Literarizität seiner Ekphrasis. In diesem Sinne erhält schon die einleitende Beschreibung des Standortes (Stat. 7, 1530) einen programmatischen Charakter. Kallistratos greift zunächst auf den realen Ort, das Musenheiligtum am Helikon, zurück, und setzt darin die Beschreibung einer Orpheus-Statue an.531 Hier greift nun eine mehrfache Verschachtelung: Wie auf der Textebene die Kunst der Bronzegießerei in der Skulptur das „Musische der Seele“ 528

529

530 531

Vgl. Eratosth. Cat. 24. S. Hübner 1998 zur komplexen Beziehung zwischen den beiden Sternbildern, der Saitenzahl und der Reihenfolge der Katasterismen bei Eratosthenes. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch, dass Eratosthenes offenbar auch auf die Zaubermacht von Orpheus’ Musik über Tiere (die Fragmenta Vaticana schreiben: θηρία ἐκήλει διὰ τῆς ᾠδῆς) bzw. über Tiere und Steine (die Epitome schreibt: καὶ τὰς πέτρας καὶ τὰ θηρία ἐκήλει διὰ τῆς ᾠδῆς) verwies. Vgl. die Edition von Pàmias und Geus 2007. Vgl. oben. Bäbler zieht in Betracht, dass die Lektüre des Pausanias (vgl. die Erwähnung einer Orpheusstatue im Musenheiligtum bei Paus. 9, 30, 4) den Ausschlag für diese Verortung gegeben haben könnte, ebenso wie im Falle zweier weiterer Ekphraseis: Vgl. Bäbler und Nesselrath 2006, S. 86. – Eine Verortung der beschriebenen Kunstwerke unter Verwendung von Toponymen nimmt Kallistratos in sechs seiner vierzehn Ekphraseis vor: Vgl. Bäbler und Nesselrath 2006, S. 10, wo die genannten Orte in ‚exotische‘ (Stat. 1: das ägyptische Theben; Stat. 9: Äthiopien; Stat. 14: Skythien) und griechische Lokalitäten (Stat. 6: Sikyon; Stat. 7: Helikon; Stat. 13: Makedonien) unterteilt werden. Neben diesen unterschiedlich präzise mit Namen bezeichneten Orten gibt Kallistratos auch allgemeinere Ortsangaben: so nennt er als Standorte ebenfalls eine Quelle (Stat. 4), eine Quelle in einem Hain (Stat. 5), einen Hain (Stat. 8), eine Akropolis (Stat. 11) und die Propyläen eines Heiligtums (Stat. 12). Drei Werkbeschreibungen bleiben ganz ohne Ortsangabe (Stat. 2; 3; 10). Hier wären die jeweiligen Implikationen zu prüfen.

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A.II

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(Stat. 7, 1: τὸ µουσικὸν [...] τῆς ψυχῆς) zum Leben erweckt – einer Skulptur übrigens, die eine Szene darstellt, in der wiederum Orpheus mit seiner (Musen-)Kunst das ‚Musische‘ in der Natur weckt – so erschafft Kallistratos mit den Mitteln seiner eigenen Kunst eine Skulptur, die ins Mythisierende gerät und zugleich zu ‚literarischer Wirklichkeit‘ wird. Einen besseren Standort als den Musenhain am Helikon, der zwischen wirklichem Heiligtum und literarischem Topos changiert,532 in dem zudem die Musen ebenso in Form von Statuen wie ‚in persona‘ zugegen sind, kann es dafür nicht geben. In der Konsequenz ist es auch irrelevant, ob das Heiligtum zu Kallistratos’ Zeiten noch Bestand hatte oder nicht:533 Denn der Autor ‚literarisiert‘ auch den realen Ort. 4

Der Helikon: ‚charismatic landscape‘

Das Musenheiligtum am Helikon ist spätestens ab dem dritten Jahrhundert v. Chr. als feste Einrichtung mit institutionalisiertem Kult fassbar und eng mit seiner Schirmherrin, der Stadt Thespiai, verbunden.534 Der 532

533

534

Dies zeigt Kallistratos im Übrigen ja auch selbst an: Vgl. oben die Bemerkungen zu seiner kurzen Beschreibung des Standortes in Stat. 7, 1. Kallistratos wird nicht vor dem 4. Jh. n. Chr. angesetzt (vgl. oben Anm. 510). Die Spuren des Heiligtums wiederum verlieren sich im Laufe des 4. Jhs. (vgl. oben Abschnitt A.II.3.1.2). Die ‚dynamische‘ Verbindung zwischen der Polis und ihrem ländlichen Heiligtum illustriert auch die Tatsache, dass der Kult in kleiner Form im Stadtgebiet ‚gespiegelt‘ war: So berichtet Pausanias von einem „nicht großen“ Tempel der Musen unweit der Agora mit kleinen steinernen Statuen darin (Paus. 9, 27, 5: τῆς ἀγορᾶς δὲ οὐ πόρρω […] ναὸς Μουσῶν ἐστιν οὐ µέγας; ἀγάλµατα δὲ ἐν αὐτῶι µικρὰ λίθου πεποιηµένα); die von Jamot als Musentempel interpretierte Struktur ist jedoch nicht als solcher zu werten, s. Müller 1996, S. 176-83; eine Musensatue wurde im Stadtgebiet von Thespiai gefunden, s. Caruso 2016, S. 135f. Weiterhin ist auf der Agora auch eine Bronzestatue Hesiods aufgestellt, der im Tal der Musen ebenfalls präsent ist (vgl. Paus. 9, 27, 5: ἐνταῦθα Ἡσίοδος ἀνάκειται χαλκοῦς; zu Hesiod im Tal der Musen vgl. Abschnitt A.II.3.2.1.3). Auch ein Theater gibt es, vgl. Paus. 9, 27, 5. Dieses wohl hellenistische Stadttheater von Thespiai ist durch archäologische Arbeiten ans Licht gekommen: S. Slapšak 2007, S. 17-20; Kirn 2017. Eine solche Beziehung zwischen Polis und einem ἄλσος in ihrer Chora ist, wie Birge 1994, S. 241f. u. 244 vermerkt, nicht ungewöhnlich. S.

4

Der Helikon: ‚charismatic landscape‘

225

archäologische Befund bestätigt für die Dauer seines Bestehens eifrige Förderung und Investitionen von lokaler und ‚internationaler‘ Seite, zudem in den Mouseia zu Ehren der Musen eine Einrichtung von großem Renommee und ungewöhnlicher Beständigkeit. Die zahlreichen aufgefundenen Weihinschriften zeugen davon, dass das Heiligtum als Repräsentationsraum sowohl der Stadt als auch einzelner Persönlichkeiten von Bedeutung war.535 Im Gegensatz dazu scheint zunächst die im Laufe des dritten Jahrhunderts v. Chr. entstandene Ausstattung des Heiligtums zu stehen: Ein monumentaler Altar, eine oder wahrscheinlich vielmehr zwei Stoai, ein Theater mit unbefestigten Sitzreihen, Brunnen.536 Aber: kein Tempel und keine weitere Infrastruktur. Robinson argumentiert vor dem Hintergrund des florierenden Betriebs für eine ganz absichtsvolle Gestaltung dieser Art: Sie diene dazu, dem Ort seinen Charakter als locus amoenus zu erhalten bzw. diesen auch gezielt zu fördern.537 Auch sichtbar zu bestätigen scheint dies die strukturelle Einbindung von Permessos und Brunnen in den Kern des Heiligtums.538 Mit der starken Investition und Förderung im Musental in Hellenismus und Kaiserzeit koinzidiert auch das vermehrte literarische Interesse an den helikonischen Musen und ihrer Landschaft. Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von ‚wirklicher‘ Landschaft, literarischer Land-

535 536 537

538

auch Caruso 2016, S. 136-9. Vgl. insgesamt oben Abschnitt A.II.3.1. Vgl. oben Abschnitt A.II.3.1.1. Vgl. Robinson 2012, S. 254: „Evolution of the Valley of the Muses seems to have been constrained, not for lack of interest or lack of funding, but for a purpose, so that it remained an ideal, pleasant place, a locus amoenus, an homage to the Muses and the heroized Hesiod, and for the benefit of festival spectators and performers, always in very contemporary terms. In light of the popularity of the site, the continuing minimalism of the architecture is quite remarkable. Some other rural sanctuaries function as long as (or longer than) this place while remaining as lightly developed, but rarely do we find such a level of international involvement through patronage and participation in a sanctuary that remains so rustic.“ Vgl. auch Robinson 2016, S. 232f.; Manieri 2009, S. 314. Dass diese Form der Gestaltung, zumindest aber die Abwesenheit eines Tempels, dem Musenkult genuin war, legen Carusos Ergebnisse bezüglich Mouseia nahe: Vgl. oben Abschnitt A.I.3.1. Vgl. oben Abschnitt A.II.3.1.1.

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schaft und Kultbetrieb.539 Direkte Responsionen dürften in den wenigsten Fällen nachzuweisen sein;540 doch deuten die erhaltenen Zeugnisse auf die Bestätigung von Robinsons These: At the Mouseion I would argue for a […] dynamic relationship between legend, topography, monumental structures, ritual, and literary works. The result was the production of a highly charged, affective landscape.541

An anderer Stelle etabliert Robinson für eine solche Landschaft, die Perspektive zwischen Empfänger und Aussender/Erzeuger wechselnd, den Begriff der ‚charismatic landscape‘.542 Prägend für diese Eigenschaft ist im Falle des Helikon natürlich die Verbindung zu den Musen. Beredte, wenn auch späte Zeugen sind Pausanias, dessen Wahrnehmung des Heiligtums sowohl davon zeugt, dass bestimmte Vorstellungen seinen Blick leiten, als auch, dass die Ausgestaltung des Heiligtums diese bedient; Plutarch, der explizit an den Topos einer bukolisch ausgeprägten, inspiratorischen Landschaft anknüpft, als Projektionsfläche aber das Heiligtum benutzt; Kallistratos, der, gleichsam von hesiodeischer Topographie 539

540

541

542

Diese formuliert Robinson 2012, S. 250 folgendermaßen: „Thus evolved concentric circles of engagement with the landscape of Helikon, the Greek scenic and musical events staged at the Mouseion, and an imaginative topography created and re-created by Alexandrian and Roman poets of the highest order, who peopled it with glorious forebears in order to explain their craft and to incorporate themselves into an élite genealogy. Did the circles ever intersect?“ Ausnahmen sind Pausanias und Plutarch, die ja gerade explizit vom Heiligtum sprechen; in gewisser Weise auch Kallistratos (s. unten). Robinson 2012, S. 249f. versucht das Gedankenspiel, dass die schwierigen Verse Verg. ecl. 6, 64-71 im Grunde eine Ekphrasis des Mouseions von Thespiai seien. Es muss hypothetisch bleiben; zudem behagt aus philologischer Sicht eine Deutung nicht, die den Sinn nur außerhalb des Textes sucht. Robinson 2012, S. 251. S. ebd., insbes. S. 251-4, für die Fundierung dieser These. Robinsons Ergebnisse sind an den entsprechenden Stellen auch in diese Arbeit eingeflossen. Erneut sei hier auf das größere Projekt hingewiesen, dem ihre Artikel (2012; 2013; 2016) angehören und dessen zeitnahe Fertigstellung angekündigt ist (vgl. https://as.vanderbilt.edu; letzter Zugriff am 15.10.2019). Es lässt wertvolle Ergebnisse erwarten. Vgl. Robinson 2016, passim.

4

Der Helikon: ‚charismatic landscape‘

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geleitet, die Ausstattung des Heiligtums und in der Konsequenz das Heiligtum selbst – exemplarisch an der Orpheus-Skulptur – literarisiert und mythisiert.543 Für die Zeit vor dem dritten Jahrhundert, wo die Hinweise auf einen Kult sehr vage sind und kaum materielle Zeugnisse existieren,544 sind solche Wechselbeziehungen selbstverständlich kaum zu greifen. Dichter und Autoren der archaischen und klassischen Zeit kennen gleichwohl die helikonischen Musen und kennen auch den Helikon545 – ob dabei auch im Kontext eines unter Umständen kleinen, lokalen Kultes oder allein als aus Hesiods einflussreicher Dichterweihe entstandener Tradition, muss unbekannt bleiben. Hesiod selbst, der Ausgangpunkt und wichtiger Faktor für die lange Reihe literarischer und nicht-literarischer Rezeptionen ist, macht nicht nur die Musen als helikonische Musen bekannt – er zeichnet in diesem Zuge auch Landschaft und Topographie des Berges nach.546 Sie findet ihr Echo in der Literatur547 und wird auch im späteren Heiligtum präsent gehalten; ebenso geht seine Dreifußweihung, ob real oder fiktiv, in die Tradition ein und wird sogar materiell in Form eines Ausstellungsstückes im Heiligtum greifbar.548 Intention dieses ersten Teils war es vor allem, die Zeugnisse zur Verbindung von Musen und Helikon in größtmöglicher Vollständigkeit an einem Ort zusammenzutragen und sie jeweils im Kontext aktueller Forschung zu verorten. Die Verbindung ist hier daher, nach den verfügbaren Kategorien von Zeugnissen geordnet, gleichsam im Panorama in den Blick getreten. Entsprechend kursorisch muss auch das Fazit sein: Es lautet, wie oben bedeutet, dass der Helikon sich im Laufe der Zeit in Robinsons Sinne zu ‚charismatic landscape‘ entwickelt, und dass es die Assoziation mit den Musen ist, die dies bewirkt. Nicht zuletzt ist dabei 543

544 545 546 547 548

Vgl. oben Abschnitt A.II.3.2. Insbesondere die vor allem in augusteischer Zeit erfolgte Ausgestaltung des Heiligtums zum mittels inschriftlicher Epigramme ‚kommunizierenden‘ Raum ist ein anschauliches Beispiel für ein Produkt gegenseitiger Bezugnahmen von „legend, topography, monumental structures, ritual, and literary works“ (vgl. oben Abschnitt A.II.3.2.1.4; das Zitat bei Robinson 2012, S. 251). Vgl. oben Abschnitt A.II.3.1.2. Vgl. oben Abschnitte A.II.2.2 u. 2.3, passim. Vgl. oben Abschnitt A.II.2.2; s. auch unten Kapitel B.I. Vgl. oben Abschnitt A.II.2.2. Vgl. oben Abschnitte A.II.3.1.2 u. 3.2.1.3.

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auch die banal scheinende Tatsache, dass die Musen eben die Göttinnen der Musik und Dichtung sind – und damit eines wesentlichen Mediums der Gestaltung, Reflexion und Reduplikation ihrer Assoziation mit dem Helikon – dabei ein wichtiger Faktor. Vor diesem Hintergrund nun sollen im zweiten Teil der Studie drei Nahaufnahmen Licht auf die Natur dieser Verbindung werfen. Dies ist grundsätzlich für Zeugnisse jeder Kategorie möglich und erfolgt hier, gemäß dem zugrunde liegenden Fach, für den philologischen Bereich.

B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie 1

Einleitung

Das Prooimion von Hesiods Theogonie (Th. 1-115) steht am Anfang einer langen Tradition – von literarischen Berufungserlebnissen einerseits, von der dichterischen Verarbeitung des Helikon als Musenberg andererseits. In einem kühnen Akt des Hervortretens des archaischen Sängers aus der Anonymität seines Standes beschreibt ‚Hesiod‘, wie ihm die Musen in seiner Heimat am Helikon begegnen und ihn zum Dichter weihen. Die Verse sind sowohl in ihrer Gesamtheit als auch passagenweise in großer Fülle unter unterschiedlichen Fragestellungen behandelt worden.1 Noch nicht systematisch im Fokus einer Untersuchung stand bisher die Landschaft, in der die Begegnung sich abspielt: Denn die Musen, die im ersten Teil des Prooimions entgegen der homerischen Tradition als Μοῦσαι Ἑλικωνιάδες auftreten, stellt Hesiod in der Bergwelt des Helikon agierend dar.2 In diesem Kapitel soll daher seine Dichter1

2

Fragestellungen betreffen beispielsweise die Einheit, Kohäsion und Struktur des Prooimions, die Natur der geschilderten Begegnung mit den Musen, den Inhalt der Musenrede, die Symbolik der Dichterweihe, die Auffassung der Rolle des Sängers, das Selbstverständnis des archaischen Dichters, den Bezug des Prooimions zur Theogonie oder zur Dichtung Hesiods insgesamt, auch sprachliche und grammatikalische Probleme. Die relevante Literatur ist so umfangreich, dass eine systematische Aufführung an dieser Stelle nicht ihren Platz haben kann. Es sei vielmehr auf die folgende Untersuchung und die begleitenden Anmerkungen verwiesen, wo entsprechende Fragestellungen und Probleme im Einzelnen aufgegriffen und vor dem Hintergrund der bisherigen Forschung behandelt werden. Die jüngste umfassende Auseinandersetzung mit dem Prooimion der Theogonie sei dennoch erwähnt: Sie findet sich bei Semenzato 2017, S. 56-109 unter dem Aspekt der musischen Inspiration, nimmt sich jedoch weniger als Zusammenhänge stiftende Interpretation denn als passagenweiser Kommentar aus. Vgl. oben Abschnitt A.II.2.2.

230 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie weihe als mögliches Landschaftserlebnis untersucht werden. Unerlässlich dafür ist eine genaue Analyse von Struktur und Inhalt des Theogonie-Prooimions. 2

Das Prooimion

Hesiod beginnt seine Theogonie, das Werk vom Werden der Herrschaft und Ordnung des Zeus, mit einem Hymnos an die Musen. Die Schilderung seiner Dichterweihe – bzw. der ‚Hesiods‘3 – ist darin eingebettet. Da die folgende Untersuchung eng am Text entlangführt, seien hier zur besseren Orientierung das griechische Original mit einer Übersetzung vorangestellt. 2.1

Text und Übersetzung4 Μουσάων Ἑλικωνιάδων ἀρχώµεθ’ ἀείδειν, αἵ θ’ Ἑλικῶνος ἔχουσιν ὄρος µέγα τε ζάθεόν τε καί τε περὶ κρήνην ἰοειδέα πόσσ’ ἁπαλοῖσιν ὀρχεῦνται καὶ βωµὸν ἐρισθενέος Κρονίωνος· καί τε λοεσσάµεναι τέρενα χρόα Περµησσοῖο ἢ Ἵππου κρήνης ἢ Ὀλµειοῦ ζαθέοιο ἀκροτάτῳ Ἑλικῶνι χοροὺς ἐνεποιήσαντο καλοὺς ἱµερόεντας, ἐπερρώσαντο δὲ ποσσίν. ἔνθεν ἀπορνύµεναι, κεκαλυµµέναι ἠέρι πολλῷ, ἐννύχιαι στεῖχον περικαλλέα ὄσσαν ἱεῖσαι,

3

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Diese Notation ist auch im Folgenden gewählt, um den Erzähler bzw. die persona Hesiod vom realen Dichter Hesiod zu unterscheiden. Einen systematisch narratologischen Zugriff auf Hesiods Theogonie in Abgrenzung vor allem zu einer autobiographischen Lesart nimmt Stoddard 2004 vor; s. insbesondere die theoretische Motivierung des Ansatzes ebd., S. 1-59. Der griechische Text ist bis auf zwei Abweichungen der Edition von Solmsen entnommen. Die erste Abweichung betrifft V. 30f.: Statt δρέψασαι ist hier die Lesart δρέψασθαι (Th. 31) gewählt; in der Folge steht zwischen ἔδον und δάφνης (Th. 30) kein Komma. Die Begründung dieser Entscheidung erfolgt unten in Abschnitt B.I.2.2.1.2 mit Anm. 29. Die zweite Abweichung betrifft V. 67: Die Wendung „ἐπήρατον ὄσσαν ἱεῖσαι“ wird hier akzeptiert und erscheint daher nicht in Cruces. S. dazu unten B.I.3.3.1, Anm. 170.

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Das Prooimion

ὑµνεῦσαι Δία τ’ αἰγίοχον καὶ πότνιαν Ἥρην Ἀργείην, χρυσέοισι πεδίλοις ἐµβεβαυῖαν, κούρην τ’ αἰγιόχοιο Διὸς γλαυκῶπιν Ἀθήνην Φοῖβόν τ’ Ἀπόλλωνα καὶ Ἄρτεµιν ἰοχέαιραν ἠδὲ Ποσειδάωνα γαιήοχον ἐννοσίγαιον, καὶ Θέµιν αἰδοίην ἑλικοβλέφαρόν τ’ Ἀφροδίτην [Ἥβην τε χρυσοστέφανον καλήν τε Διώνην Ἠῶ τ’ Ἠέλιόν τε µέγαν λαµπράν τε Σελήνην] Λητώ τ’ Ἰαπετόν τε ἰδὲ Κρόνον ἀγκυλοµήτην Γαῖάν τ’ Ὠκεανόν τε µέγαν καὶ Νύκτα µέλαιναν ἄλλων τ’ ἀθανάτων ἱερὸν γένος αἰὲν ἐόντων. Αἵ νύ ποθ’ Ἡσίοδον καλὴν ἐδίδαξαν ἀοιδήν, ἄρνας ποιµαίνονθ’ Ἑλικῶνος ὑπὸ ζαθέοιο. τόνδε δέ µε πρώτιστα θεαὶ πρὸς µῦθον ἔειπον, Μοῦσαι Ὀλυµπιάδες, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο· “ποιµένες ἄγραυλοι, κάκ’ ἐλέγχεα, γαστέρες οἶον, ἴδµεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύµοισιν ὁµοῖα, ἴδµεν δ’, εὖτ’ ἐθέλωµεν, ἀληθέα γηρύσασθαι.” ὣς ἔφασαν κοῦραι µεγάλου Διὸς ἀρτιέπειαι· καί µοι σκῆπτρον ἔδον δάφνης ἐριθηλέος ὄζον δρέψασθαι θηητόν· ἐνέπνευσαν δέ µοι αὐδὴν θέσπιν, ἵνα κλείοιµι τά τ’ ἐσσόµενα πρό τ’ ἐόντα, καί µε κέλονθ’ ὑµνεῖν µακάρων γένος αἰὲν ἐόντων, σφᾶς δ’ αὐτὰς πρῶτόν τε καὶ ὕστατον αἰὲν ἀείδειν. ἀλλὰ τίη µοι ταῦτα περὶ δρῦν ἢ περὶ πέτρην; Τύνη, Μουσάων ἀρχώµεθα, ταὶ Διὶ πατρὶ ὑµνεῦσαι τέρπουσι µέγαν νόον ἐντὸς Ὀλύµπου, εἰρεῦσαι τά τ’ ἐόντα τά τ’ ἐσσόµενα πρό τ’ ἐόντα, φωνῇ ὁµηρεῦσαι· τῶν δ’ ἀκάµατος ῥέει αὐδὴ ἐκ στοµάτων ἡδεῖα· γελᾷ δέ τε δώµατα πατρὸς Ζηνὸς ἐριγδούποιο θεᾶν ὀπὶ λειριοέσσῃ σκιδναµένῃ· ἠχεῖ δὲ κάρη νιφόεντος Ὀλύµπου δώµατά τ’ ἀθανάτων. αἳ δ’ ἄµβροτον ὄσσαν ἱεῖσαι θεῶν γένος αἰδοῖον πρῶτον κλείουσιν ἀοιδῇ ἐξ ἀρχῆς οὓς Γαῖα καὶ Οὐρανὸς εὐρὺς ἔτικτεν οἵ τ’ ἐκ τῶν ἐγένοντο θεοὶ δωτῆρες ἐάων· δεύτερον αὖτε Ζῆνα, θεῶν πατέρ’ ἠδὲ καὶ ἀνδρῶν, [ἀρχόµεναί θ’ ὑµνεῦσι θεαὶ λήγουσαί τ’ ἀοιδῆς,] ὅσσον φέρτατός ἐστι θεῶν κάρτει τε µέγιστος· αὖτις δ’ ἀνθρώπων τε γένος κρατερῶν τε Γιγάντων ὑµνεῦσαι τέρπουσι Διὸς νόον ἐντὸς Ὀλύµπου Μοῦσαι Ὀλυµπιάδες, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο.

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232 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie Τὰς ἐν Πιερίῃ Κρονίδῃ τέκε πατρὶ µιγεῖσα Μνηµοσύνη, γουνοῖσιν Ἐλευθῆρος µεδέουσα, λησµοσύνην τε κακῶν ἄµπαυµά τε µερµηράων. ἐννέα γάρ οἱ νύκτας ἐµίσγετο µητίετα Ζεὺς νόσφιν ἀπ’ ἀθανάτων ἱερὸν λέχος εἰσαναβαίνων· ἀλλ’ ὅτε δή ῥ’ ἐνιαυτὸς ἔην, περὶ δ’ ἔτραπον ὧραι, µηνῶν φθινόντων, περὶ δ’ ἤµατα πόλλ’ ἐτελέσθη, ἣ δ’ ἔτεκ’ ἐννέα κούρας ὁµόφρονας, ᾗσιν ἀοιδὴ µέµβλεται ἐν στήθεσσιν ἀκηδέα θυµὸν ἐχούσαις, τυτθὸν ἀπ’ ἀκροτάτης κορυφῆς νιφόεντος Ὀλύµπου· ἔνθα σφιν λιπαροί τε χοροὶ καὶ δώµατα καλά· πὰρ δ’ αὐτῇς Χάριτές τε καὶ Ἵµερος οἰκί’ ἔχουσιν ἐν θαλίῃς· ἐρατὴν δὲ διὰ στόµα ὄσσαν ἱεῖσαι µέλπονται, πάντων τε νόµους καὶ ἤθεα κεδνὰ ἀθανάτων κλείουσιν, ἐπήρατον ὄσσαν ἱεῖσαι. Αἳ τότ’ ἴσαν πρὸς Ὄλυµπον ἀγαλλόµεναι ὀπὶ καλῇ, ἀµβροσίῃ µολπῇ· περὶ δ’ ἴαχε γαῖα µέλαινα ὑµνεύσαις, ἐρατὸς δὲ ποδῶν ὕπο δοῦπος ὀρώρει νισοµένων πατέρ’ εἰς ὅν· ὃ δ’ οὐρανῷ ἐµβασιλεύει, αὐτὸς ἔχων βροντὴν ἠδ’ αἰθαλόεντα κεραυνόν, κάρτει νικήσας πατέρα Κρόνον· εὖ δὲ ἕκαστα ἀθανάτοις διέταξεν ὁµῶς καὶ ἐπέφραδε τιµάς. ταῦτ’ ἄρα Μοῦσαι ἄειδον Ὀλύµπια δώµατ’ ἔχουσαι, ἐννέα θυγατέρες µεγάλου Διὸς ἐκγεγαυῖαι, Κλειώ τ’ Εὐτέρπη τε Θάλειά τε Μελποµένη τε Τερψιχόρη τ’ Ἐράτω τε Πολύµνιά τ’ Οὐρανίη τε Καλλιόπη θ’· ἣ δὲ προφερεστάτη ἐστὶν ἁπασέων. ἣ γὰρ καὶ βασιλεῦσιν ἅµ’ αἰδοίοισιν ὀπηδεῖ· ὅντινα τιµήσουσι Διὸς κοῦραι µεγάλοιο γεινόµενόν τ’ ἐσίδωσι διοτρεφέων βασιλήων, τῷ µὲν ἐπὶ γλώσσῃ γλυκερὴν χείουσιν ἐέρσην, τοῦ δ’ ἔπε’ ἐκ στόµατος ῥεῖ µείλιχα· οἱ δέ τε λαοὶ πάντες ἐς αὐτὸν ὁρῶσι διακρίνοντα θέµιστας ἰθείῃσι δίκῃσιν· ὃ δ’ ἀσφαλέως ἀγορεύων αἶψά τε καὶ µέγα νεῖκος ἐπισταµένως κατέπαυσεν. τοὔνεκα γὰρ βασιλῆες ἐχέφρονες, οὕνεκα λαοῖς βλαπτοµένοις ἀγορῆφι µετάτροπα ἔργα τελεῦσι ῥηιδίως, µαλακοῖσι παραιφάµενοι ἐπέεσσιν. ἐρχόµενον δ’ ἀν’ ἀγῶνα θεὸν ὣς ἱλάσκονται αἰδοῖ µειλιχίῃ, µετὰ δὲ πρέπει ἀγροµένοισιν· τοίη Μουσάων ἱερὴ δόσις ἀνθρώποισιν. Ἐκ γάρ τοι Μουσέων καὶ ἑκηβόλου Ἀπόλλωνος

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ἄνδρες ἀοιδοὶ ἔασιν ἐπὶ χθόνα καὶ κιθαρισταί, ἐκ δὲ Διὸς βασιλῆες· ὃ δ’ ὄλβιος, ὅντινα Μοῦσαι φίλωνται· γλυκερή οἱ ἀπὸ στόµατος ῥέει αὐδή. εἰ γάρ τις καὶ πένθος ἔχων νεοκηδέι θυµῷ ἄζηται κραδίην ἀκαχήµενος, αὐτὰρ ἀοιδὸς Μουσάων θεράπων κλεῖα προτέρων ἀνθρώπων ὑµνήσει µάκαράς τε θεοὺς οἳ Ὄλυµπον ἔχουσιν, αἶψ’ ὅ γε δυσφροσυνέων ἐπιλήθεται οὐδέ τι κηδέων µέµνηται· ταχέως δὲ παρέτραπε δῶρα θεάων. Χαίρετε, τέκνα Διός, δότε δ’ ἱµερόεσσαν ἀοιδήν· κλείετε δ’ ἀθανάτων ἱερὸν γένος αἰὲν ἐόντων, οἳ Γῆς ἐξεγένοντο καὶ Οὐρανοῦ ἀστερόεντος, Νυκτός τε δνοφερῆς, οὕς θ’ ἁλµυρὸς ἔτρεφε Πόντος, [εἴπατε δ’ ὡς τὰ πρῶτα θεοὶ καὶ γαῖα γένοντο καὶ ποταµοὶ καὶ πόντος ἀπείριτος, οἴδµατι θυίων, ἄστρα τε λαµπετόωντα καὶ οὐρανὸς εὐρὺς ὕπερθεν.] οἵ τ’ ἐκ τῶν ἐγένοντο θεοὶ δωτῆρες ἐάων, ὥς τ’ ἄφενος δάσσαντο καὶ ὡς τιµὰς διέλοντο ἠδὲ καὶ ὡς τὰ πρῶτα πολύπτυχον ἔσχον Ὄλυµπον. ταῦτά µοι ἔσπετε Μοῦσαι Ὀλύµπια δώµατ’ ἔχουσαι ἐξ ἀρχῆς, καὶ εἴπαθ’ ὅτι πρῶτον γένετ’ αὐτῶν.

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Mit den helikonischen Musen lasst uns das Lied beginnen, die den großen und durchgötterten Berg des Helikon innehaben und um die veilchendunkle Quelle und den Altar des großmächtigen Kronossohnes tanzen mit sanften Füßen. (5) Und erst waschen sie ihre zarte Haut im Permessos oder in der Hippoukrene oder im durchgötterten Olmeios und veranstalten dann schöne liebreizende Tänze ganz oben auf dem Helikon, sie schwingen sich herum mit ihren Füßen. Von dort fortdrängend, umhüllt von viel Nebel, (10) schritten sie immer in der Nacht, ihre wunderschöne Stimme fahren lassend, preisend Zeus den Aigishalter und die erhabene argivische Hera, die mit goldenen Sandalen beschuht ist, und die Tochter des Aigishalters Zeus, die strahläugige Athene, und Phoibos Apollon und die pfeileausschüttende Artemis (15) und auch Poseidon, den der Erde mächtigen, erderschütternden, und die ehrenwerte Themis, die flatterlidrige Aphrodite [die goldbekränzte Hebe, die schöne Dione, Eos, den großen Helios, die strahlende Selene], Leto, Iapetos und den Krummes sinnenden Kronos, (20) Gaia, den großen Okeanos, die dunkle Nacht und das heilige Geschlecht der übrigen Unsterblichen, die immer sind. Die haben Hesiod einmal schönen Gesang gelehrt, als er Schafe hütete am Fuße des durchgötterten Helikon. Diese Rede sprachen die Göt-

234 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie tinnen zuallererst zu mir, (25) die olympischen Musen, Töchter des Aigishalters Zeus: „Hirten vom Feld, elendes Gesindel, nichts als Bäuche, wie wissen viele Lügen zu sagen, die dem Wirklichen gleichen, wir wissen aber auch, wenn wir wollen, Wahres zu singen.“ So sprachen die wortgewandten Töchter des großen Zeus. (30) Und sie gaben mir als Stab einen wunderbaren Zweig vom üppigen Lorbeer zu pflücken; göttliche Stimme hauchten sie mir ein, dass ich rühme das, was sein wird und was vorher war, und trugen mir auf das Geschlecht der Seligen zu preisen, die immer sind, sie selbst aber immer zu Beginn und zuletzt zu besingen. (35) Aber was soll mir das um Eiche oder um Fels? Du, bei den Musen wollen wir beginnen, die ihrem Vater Zeus mit ihren Preisliedern den großen Sinn erfreuen im Olymp, sagend, was ist, was sein wird und was vorher war, mit einheitlicher Stimme; unermüdlich fließt ihnen die Stimme (40) süß aus den Mündern; und es lacht das Haus ihres Vaters Zeus, des lautdonnernden, wenn die Lilienstimme der Göttinnen sich verbreitet; es hallen wider die Gipfel des schneeigen Olymp und die Häuser der Unsterblichen. Ihre göttliche Stimme fahren lassend rühmen sie (45) zuerst in ihrem Lied das ehrwürdige Geschlecht der Götter, von Anfang an, wen Gaia und der weite Ouranos zeugten und welche Götter aus ihnen entstanden, Geber von guten Dingen; als zweites dann Zeus, Vater der Götter und auch Menschen, [ihn preisen die Göttinnen, wenn sie ihr Lied beginnen und beenden,] wie sehr er der stärkste ist von den Göttern und der größte an Macht; (50) dann wiederum das Geschlecht der Menschen preisend und das der starken Giganten erfreuen sie den Sinn des Zeus im Olymp, die olympischen Musen, Töchter des Aigishalters Zeus. Die gebar, mit dem Kronossohn, dem Vater sich mischend, in Pierien Mnemosyne, die über die Höhen von Eleuther waltet, (55) als Vergessen der Übel und Linderung der Sorgen. Neun Nächte nämlich vereinte sich mit ihr der weise Zeus, fernab von den Unsterblichen das heilige Bett besteigend. Als aber ein Jahr vergangen war und die Jahreszeiten herumgelaufen waren, da die Monate schwanden, und viele Tage sich vollendet hatten, (60) da gebar sie neun gleichgesinnte Töchter, denen der Gesang am Herzen liegt und die ein sorgenfreies Gemüt haben, ein kleines Stück unterhalb des äußersten Gipfels des schneeigen Olymp; dort haben sie glänzende Tanzplätze und schöne Wohnstätten; und bei ihnen haben die Chariten und Himeros ihre Wohnungen (65) in Festesfreude. Und durch ihren Mund ihre liebliche Stimme fahren lassend singen und tanzen sie, sie rühmen die Verfügungen und die trauten Gebräuche von allen Unsterblichen, ihre liebreizende Stimme fahren lassend.

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Das Prooimion

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Damals also zogen sie zum Olymp, schwelgend mit ihrer schönen Stimme, mit göttlichem Gesang; die dunkle Erde hallte rings wider (70) von ihren Preisliedern, ein lieblicher Schall stieg unter ihren Füßen auf, als sie zu ihrem Vater gingen; der ist König im Himmel, selbst den Donner beherrschend und den gleißenden Blitz, und hat mit seiner Stärke seinen Vater Kronos besiegt; gut hat er alles den Unsterblichen zu gleichen Teilen zugeteilt und die Ehren zugewiesen. (75) Dies also sangen die Musen, die die olympischen Häuser bewohnen, die neun dem großen Zeus entsprungenen Töchter, Kleio und Euterpe und Thaleia und Melpomene und Terpsichore und Erato und Polymnia und Ourania und Kalliope; die aber ist die hervorragendste von allen. (80) Denn sie steht auch ehrwürdigen Königen zur Seite; wen die Töchter des großen Zeus ehren und bei seiner Geburt anschauen von den zeusgenährten Königen, dem gießen sie süßen Tau auf die Zunge, und die Worte fließen ihm honigsüß aus dem Mund; (85) und alle Leute schauen auf ihn, wenn er Richtsprüche fällt mit geraden Urteilen. Er aber kann mit sicheren Worten rasch auch einen großen Streit kundig schlichten. Deshalb nämlich gibt es Könige, kluge, weil sie für Leute, denen Unrecht geschehen ist, in der Versammlung leicht Wiedergutmachung erreichen, (90) indem sie zureden mit weichen Worten. Wenn er durch eine Menge schreitet, besänftigen sie ihn wie einen Gott mit honigsüßer Ehrerbietung, er sticht hervor unter den Versammelten. Eine solche ist die heilige Gabe der Musen für die Menschen. Denn von den Musen her und dem Ferntreffer Apoll (95) stammen die Sänger und Kitharaspieler auf der Erde, von Zeus her aber die Könige; und glücklich ist, wen die Musen lieben; süß fließt ihm die Stimme vom Munde. Sogar nämlich wenn jemand Trauer hat im von frischem Kummer besetzten Gemüt und ausgedörrt wird, im Herzen betrübt, doch ein Sänger, (100) Diener der Musen, die Ruhmestaten früherer Menschen besingt und die seligen Götter, die den Olymp innehaben, dann vergisst er sogleich seine Sorgen und erinnert sich gar nicht an seinen Kummer. Schnell haben ihn die Geschenke der Göttinnen abgelenkt. Seid gegrüßt, Kinder des Zeus, gebt ein liebreizendes Lied; (105) rühmt das heilige Geschlecht der Unsterblichen, die immer sind, die der Ge entsprungen sind und dem gestirnten Ouranos, und der düsteren Nyx, die der salzige Pontos genährt hat; [sagt, wie zu Anfang Götter und Erde entstanden, und die Flüsse und das grenzenlose Meer, brausend vor Wogen, (110) die leuchtenden Sterne und der weite Himmel darüber.] Auch die Götter, die aus ihnen entstanden, Geber von guten Dingen, wie sie den Reichtum untereinander aufteilten und die Ehren verteilten und auch, wie sie zum ersten Mal den schluchtenreichen Olymp in Besitz

236 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie nahmen. Das sagt mir, ihr Musen, die ihr die olympischen Häuser bewohnt, (115) von Anfang an, und sagt, was davon als erstes entstand.

2.2

Aufbau und Inhalt

Die Problematik, die das Prooimion der Theogonie auf den ersten Blick birgt, schildert Friedländer 1914 folgendermaßen: Das Proömium der Theogonie gehört zu den umstrittensten Stücken altertümlicher Dichtung. Die Widersprüche, die Unordnung, das zwei- und dreifache Vorkommen derselben Motive scheinen es zu verbieten, daß man hier die einheitliche Schöpferidee eines Verfassers erkenne. Zweimal erklingt der Aufruf Μουσάων ἀρχώµεθα (1. 36), zuerst sind es die helikonischen, das zweite Mal die olympischen Musen, an die er sich wendet; viermal singen sie (10. 43. 65. 68), und als ob das noch nicht genug wäre, so werden sie ein fünftes Mal zum Singen aufgefordert (104); jetzt tanzen sie auf dem Olymp, dann scheinen sie erst dorthin zu ziehen (62ff. 68); von der Gegenwart springt die Rede unvermittelt in die Vergangenheit über (2. 7) – um nur einige Hauptgrößen zu nennen.5

In der Folge dieses ersten Eindrucks, der in der Tat leicht zu gewinnen ist, stellten frühere Positionen die Einheit des Theogonieprooimions in Frage: Die Erklärung, es müsse sich um eine Kompilation von der Hand verschiedener Autoren handeln, schien der einzige Ausweg aus der Aporie.6 Erst Friedländer selbst konnte mit seinem Vergleich mit den homerischen Hymnen und der Analyse typischer Hymnoselemente einen produktiven Ansatz bieten, indem er vorschlug, zumindest die Verse 36-115 der Theogonie als traditionellen Hymnos an die Musen zu begreifen. Seitdem ist die Struktur des Theogonieprooimions vielfach und differenziert unter diesem Gesichtspunkt untersucht worden; inbesondere stellten weitere Forschungsbeiträge ihre Dreiteilung heraus.7 Minton schließ5 6

7

Friedländer 1966=1914, S. 277. Walcot 1957, S. 38f. gibt einen kurzen Abriss über die verschiedenen Vertreter dieser Position und ihrer frühen Gegner; vgl. auch Friedländer 1966=1914, S. 277f. mit Anm. 1. Für den hymnischen Charakter s. die von Clay 2003, S. 50 Anm. 3 zusammengestellten Forschungbeträge; dazu Siegmann 1966=1958. Für die Dreiteilung s. exemplarisch Walcot 1957 und Schwabl 1963.

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Das Prooimion

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lich gelang es, Friedländers Ansatz mit der Beobachtung der dreigeteilten Struktur zu einem kohärenten Gesamtbild zu vereinen.8 Demgemäß9 sind drei Hauptabschnitte auszumachen, bevor der eigentliche Musenanruf, wie er von den homerischen Epen bekannt ist, in den Versen 104-115 folgt. Die Verse 1-35 handeln von den Musen, wie sie auf dem Helikon erscheinen, die Verse 36-79 von den Musen auf dem Olymp. Der dritte Hauptabschnitt schließlich – die Verse 80-103 – hat die Gaben der Musen an die Menschen zum Inhalt. Auch die Verse 1-35 sind als Hymnos zu begreifen, sodass nicht nur einer, sondern vielmehr zwei kunstvoll ineinander gewirkte Musenhymnen vorliegen, die beide den dritten Hauptabschnitt zum Schlussteil haben. Sie werden jeweils durch deutliche Gliederungselemente in Form von Aufforderungen in der ersten Person Plural, das Lied bei den Musen zu beginnen, eingeleitet.10 In diesem Abschnitt sollen vor allem die Komposition des Prooimions und die daraus folgenden Schlüsse auf den Inhalt im Mittelpunkt stehen. Folgende Gliederung des Textes liegt den weiteren Ausführungen zugrunde: I. Th. 1-35 Erster Hymnos: Die Musen auf dem Helikon (1) Th. 1-21 Walten der Musen auf dem Helikon (a) Th. 1-10 typische Aktivitäten (b) Th. 11-21 Inhalt ihres Liedes (2) Th. 22-35 Hesiods Begegnung mit den Musen II. Th. 36-103 Zweiter Hymnos: Die olympischen Musen (1) Th. 36-52 Walten der Musen auf dem Olymp (a) Th. 36-44 typische Aktivitäten (b) Th. 45-52 Inhalt ihres Liedes (2) Th. 53-79 Entstehung der Musen (a) Th. 53-67 Geburt (b) Th. 68-79 Einzug in den Olymp III. Th. 80-103 Gaben der Musen an die Menschen (1) Th. 80-93 Gaben an/durch die ‚Könige‘ 8 9

10

S. Minton 1970. Der folgende Abschnitt enthält die Pointe von Mintons Analyse, die er selbst ebd., S. 357f. knapp zusammenfasst. Vgl. im Folgenden. Vgl. Th. 1 (Μουσάων Ἑλικωνιάδων ἀρχώµεθ’ ἀείδειν) und Th. 36 (Τύνη, Μουσάων ἀρχώµεθα).

238 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie (2) Th. 94-103 Gaben an/durch die Sänger IV. Th. 104-115 Musenanruf

2.2.1 Die zwei Hymnen Die Verse 36-79 stellen einen Hymnos an die Musen dar, wie sie aus der olympischen Götterwelt bekannt sind. Nach dem einleitenden Aufruf zum Singen schließen sich einem allgemeinen Teil über das Sein der Göttinnen auf dem Olymp zwei Episodenerzählungen an, die charakteristisch für ihr Wesen sind, die Geburtsgeschichte (Th. 53-67) und die Schilderung vom Einzug in den Olymp (Th. 68-79). Minton sieht darin eine Verschmelzung zweier Hymnenformen: Die anfängliche Beschreibung der typischen Aktivitäten und des Wesens der olympischen Musen gehöre dem Typus des ‚descriptive hymn‘ an, die beiden Erzählungen identifiziert er als traditionelle Elemente eines ‚theogonic hymn‘.11 Der erste Hymnos an die Musen, mit dem das Prooimion beginnt, ist in auffälliger Weise parallel zum zweiten, traditionellen Hymnos gebaut.12 Der ähnlich formulierten Aufforderung zum Singen folgt auch hier der deskriptive Part über die typischen Aktivitäten der Musen – freilich in diesem Falle auf dem Helikon.13 Er zerfällt in beiden Fällen in zwei Teile: Der Beschreibung des Tuns und Seins der Göttinnen folgt eine recht ausführliche14 Darlegung des Inhalts ihres Lobpreises. Sie wird jeweils durch die Wendung ὄσσαν ἱεῖσαι (Th. 10; 43) eingeleitet. Den Episodenerzählungen des olympischen Hymnos entsprechend schließlich ist auch im helikonischen Teil der Bericht von ‚Hesiods‘ Begegnung mit den Musen durch einen relativen Anschluss angebunden.15 11 12

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Vgl. Minton 1970, S. 359f. und passim. Auf den ersten Blick sichtbar ist die parallele Struktur in der Gliederung, s. oben Abschnitt B.I.2.2. Dieser Part ist jeweils relativisch angeschlossen durch αἵ in V. 2 und ταί in V. 36, wie für den Hymnos typisch (vgl. Minton 1970, S. 360; Friedländer 1914=1966, S. 281). Elf bzw. neun Verse sind es im helikonischen, sieben bzw. sechs im olympischen Falle. Im olympischen Teil leiten die Relativa τάς (Th. 53) und αἵ (Th. 68) die relativischen Sätze ein, im helikonischen Teil αἵ (Th. 22); sie markieren so den Beginn eines neuen Hymnos-Elementes. Vgl. Minton 1970, S. 365 mit Anm.

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2.2.1.1

Das Prooimion

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Ein untypischer typischer Hymnos

Friedländer vertrat die Ansicht, es handle sich bei den Versen 1-35 nicht um einen Hymnos, zumindest aber bei der Schilderung des Inspirationserlebnisses nicht um einen hymnischen Part.16 Vielmehr seien die Verse eine Unterbrechung des Preisliedes für die Musen; dies rechtfertige den wiederholten Anruf in Vers 36 nach der Abbruchformel in V. 35. Als Hauptargument gilt ihm dabei die Schilderung eines persönlichen Erlebnisses mit der so untypischen Hervorhebung der Individualität des Dichters, die bis zur Nennung seines Namens und zum Umschwung in die erste Person führt. Friedländer präsentiert Hesiod als Dichter, der von seiner Dichterweihe künden will, aber die konventionelle Dichterhaut nicht ganz abstreifen kann.17 Besonders der deutlich parallele Aufbau zur offenkundig nach einem traditionellen Hymnosschema18 gefügten Passage Th. 36-79 legt jedoch nahe, dass auch hier sehr wohl ein Hymnos vorliegt.19 Dabei sind die ty-

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15 u. 367; auch Friedländer 1914=1966, S. 282f. – Die Wendung „Αἳ τότ’ ἴσαν“ (Th. 68), die den Zug zum Olymp einleitet, wertet Rijksbaron 2009, S. 252-5 als Rückbezug zur Dichterweihe-Szene: Der beschriebene Musenzug sei dann nicht als der Geburtsgeschichte Th. 53-67 gleichwertige Episode zu verstehen, die sich durch τότε zeitlich an diese anschließe – als erster Zug der jungen Musen zum Olymp also –, sondern er setze die Dichterweihe-Szene fort, die durch die hymnische Partie Th. 36-67 an die olympischen Musen unterbrochen worden sei: Nach der Begegnung mit Hesiods kehrten die Göttinnen zum Olymp zurück. Als wichtiges Argument nennt Rijksbaron die Angabe „πρὸς Ὄλυµπον“ (Th. 68): Sie ergebe im Zusammenhang mit der Geburtsepisode keinen Sinn, da die Musen sich bereits auf dem Olymp befänden (vgl. die Ortsangabe τυτθὸν ἀπ’ ἀκροτάτης κορυφῆς[…] Ὀλύµπου in V. 62). Dieses Argument ist jedoch nicht zwingend, da der Olymp als Götterresidenz, der das Ziel der Bewegung ist, noch einmal eine eigene Qualität besitzt, die sich unterscheidet von einem Platz „kurz unterhalb des höchsten Gipfels“ einer geographischen Einheit; s auch Abschnitt B.I.3.2. Vgl. Friedländer 1914=1966, S. 290f. u. 293f. Vgl. insbes. ebd., S. 293f. Ein festes traditionelles Schema in dem Sinne existiert nicht, wohl aber traditionelle Elemente, die nach bestimmten Regeln miteinander verknüpft werden: Vgl. ebd., S. 289; Minton 1970, S. 359. Auch Siegmann 1958=1966 kommt nach einer Analyse der Struktur des Prooimions zu dem Ergebnis, dass es sich auch bei der Schilderung der Dichter-

240 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie pischen, wohlbekannten Elemente verwendet, allerdings auf eine ganz eigene, individuelle Weise. Man betrachte zunächst die eben erwähnten Verse 22-35 mit der Dichterweihe. So ungewöhnlich sie auch gestaltet sein mögen, es handelt sich doch um einen legitimen Hymnosbestandteil: Die Epiphanie einer Gottheit – und um nichts anderes handelt es sich ja hier – verbunden mit dem „bestowal of divine grace“ ist, wie Minton hervorhebt, durchaus ein bekannter Topos in dieser Gattung.20 Dass ‚Hesiod‘ sein persönliches Erlebnis zum Bestandteil eines Hymnos macht – das zudem durch die parallele Struktur zum olympischen Hymnos auf eine Stufe gestellt wird mit der Geburt der Musen und ihrem Einzug in den Olymp21 – trägt dazu bei, dass es objektiviert wird. Die Einbindung in die traditionelle Form, die ewige Wahrheiten kündet, enthebt auch die Dichterweihe ihres subjektiven Charakters.22 Gleich in zweierlei Hinsicht ungewöhnlich ist auch der erste Vers: Μουσάων Ἑλικωνιάδων ἀρχώµεθ’ ἀείδειν Mit den helikonischen Musen lasst uns das Lied beginnen Hes. Th. 1

Denn diese Worte muten zwar auf den ersten Blick durchaus wie ein gewohnter Hymnosanfang an, sind es aber bei näherer Betrachtung nicht:

20 21

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weihe in Th. 22-35 um einen hymnischen Part handeln muss. Vgl. oben. Vgl. Minton 1970, S. 366-8, das Zitat auf S. 368. Ein innerer Zusammenhang zwischen diesen Abschnitten kann darin gesehen werden, dass einerseits die Dichterweihe auch als Schöpfung und Geburt des Dichters verstanden werden kann (vgl. Arthur 1983, S. 107), andererseits der Zug zum Olymp als eine Art erste Epiphanie der Musen (vgl. Wilamowitz 1916, S. 468). Vgl. ähnlich Siegmann 1958=1966, S. 322: „Das Ereignis auf dem Helikon, durch das Hesiod Dichter geworden ist, wird also hier im Theogonieproömium nicht als Erzählung eines persönlichen Erlebnisses ausgesprochen, sondern als Hymnus auf ein Tun der Musen.“ Natürlich ist nicht zu vergessen, dass die Dichterweihe dennoch von den Episodenerzählungen im olympischen Part verschieden bleibt: „Sicherlich manifestiert sich in dieser Dichterweihe das Wesen der Musen ebenso wie das Wesen des Hermes in dem Diebstahl der Rinder des Apollon. Aber die Dichterweihe, von der Hesiod hier erzählt, ist nicht durch die Tradition definiert als die exemplarische Tat der Musen, die zu ihrem hymnischen Preis gehörte“ (Lenz 1980, S. 148). Vielmehr ist es eben Hesiod, der sie dazu macht.

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Zahlreiche homerische Hymnen beginnen mit einer ähnlichen Wendung, nämlich der Gruppe ἄρχοµ’ ἀείδειν zusammen mit der zu besingenden Gottheit im Akkusativ.23 Die Wendung bedeutet dann: ‚Lasst uns beginnen, XY zu besingen.‘ Der Rezipient des hesiodeischen Prooimions gewinnt unter Umständen zunächst den Eindruck, eben diese Worte vernommen zu haben. So kann sich ohne Anstoß der doppelte Hymnos entspinnen. Was er jedoch tatsächlich wahrgenommen hat, ist nicht der typische Hymnosanfang, sondern eine individuelle Version davon: nämlich die Aufforderung, die Theogonie mit einem Musenhymnos zu beginnen.24 Die Begründung für dieses Vorgehen gibt Hesiod nachträglich selbst: καί µε κέλονθ’ [...] σφᾶς δ’ αὐτὰς πρῶτόν τε καὶ ὕστατον αἰὲν ἀείδειν. und sie trugen mir auf […], | sie selbst immer zu Beginn und zuletzt zu besingen Hes. Th. 34f.

Die zweite Besonderheit, die der erste Vers enthält, ist das Attribut Ἑλικωνίαδες. Im homerischen Epos sind die Musen ausschließlich als 23

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Die homerischen Hymnen 2, 11, 13, 16, 22, 26 und 28 beginnen auf diese Weise. Eine Form von ἀείδειν mit der gepriesenen Gottheit im Akkusativ findet sich zudem in den Hymnen 6, 10, 12, 15, 17, 18, 20, 21, 23, 27 und 30. Die einzige Ausnahme bildet der Hymnos 25 an die Musen, Apoll und Zeus. Er hebt an mit der Formulierung „Μουσάων ἄρχωµαι Ἀπόλλωνός τε Διός τε“. Da der Hymnos aber ohnehin größtenteils Hesiods Theogonieproömium entlehnt ist – die Verse h. Hom. 25, 2-5 sind identisch mit Hes. Th. 94-7 – ist diesem Umstand nicht viel Gewicht beizumessen. Es heißt tatsächlich „bei den Musen anfangen“ und nicht „zu singen anfangen“ wie in den oben genannten Hymnosanfängen (vgl. etwa West 1966, S. 150f. zu Hes. Th. 1). Ein Indiz dafür ist Vers 34, in dem ἀείδειν mit dem Akkusativ auftritt. Wenn man diesen Hinweis auch unter Vorschiebung metrischer Notwendigkeiten ignorieren kann, so unterstützt doch der Vers 36 diese Auslegung deutlich: Denn bei der Erneuerung des Aufrufs kann hier das ἀείδειν ohne Umschweife wegfallen (So bemerkt West ebd., S. 169 ad loc.: „an abbreviated repetition of 1)“. Vgl. auch Clay 2003, S. 53. – Ebenfalls ungewöhnlich im Vergleich mit den homerischen Hymnen ist, wie Rijksbaron 2009, S. 242f. Anm. 4 ad loc. bemerkt, der Adhortativ anstelle eines Indikativs.

242 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie olympische Göttinnen – wie im zweiten Hymnos, Th. 36-79, – bekannt.25 Hesiod etabliert sie auch als Göttinnen des Helikon26 oder, präziser formuliert, er macht zunächst den Helikon als potentiellen Aufenthalt der Musen begreiflich. So mutet es an, wenn die Topographie in den Versen 2-7 so minutiös verhandelt wird: Es gibt schöne Quellen und Flüsse, die zum Tanzen und Baden einladen; es gibt auch einen Zeusaltar, entsprechend den von Zeus beherrschten δώµατα auf dem Olymp, um den sie tanzen können. Der Helikon, der zwar ein durchaus beeindruckendes Bergmassiv, aber nicht annähernd so gewaltig wie der Olymp ist, erhält die Attribute µέγας (Th. 2) und ζάθεος (Th. 2; 23). An die Formulierung ἀκροτάτῳ Ἑλικῶνι (Th. 7) klingt die Wendung ἀκροτάτης κορυφῆς […] Ὀλύµπου (Th. 62) an. Auch insgesamt kreiert die parallele Struktur der beiden Hymnen ein Verhältnis der Analogie, sodass die Vorgänge auf dem Helikon und auf dem Olymp in Beziehung zueinander treten, die Eigenschaften der helikonischen Musen mit denen der olympischen eine Verbindung eingehen. 2.2.1.2

Der Charakter der Hymnen

Grundsätzlich wohnt dem olympischen Hymnos ein ‚göttlicher‘ Charakter inne: In den Versen 36-79 bewegen sich die Musen ausschließlich auf dem Olymp oder unter Göttern. Der helikonische Teil hingegen bleibt immer das, was Minton als „earthbound“27 bezeichnet. Dies zeigt sich zunächst vor allem in der Episodenerzählung von der Begegnung des Menschen ‚Hesiod‘ mit den Göttinnen, zumal im Alltag menschlicher Verrichtungen, namentlich dem Schafehüten. Und wie geht diese Begegnung von statten? Latte bemerkt richtig, dass die Musen streng genommen immer unsichtbar bleiben.28 ‚Hesiod‘ behauptet nie, er habe sie 25

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Vgl. Hom. Il. 2, 484; 2, 491; 11, 218; 14, 508; 16, 112; auch h. Merc. 450. Auch Hesiod selbst ordnet sie in der Regel so ein, vgl. Th. 25; 52; 75; 966; 1022; fr. 1, 2 Merkelbach-West; ferner Op. 1; Sc. 206. Dabei spielt es im Grunde keine Rolle, ob diese lokalen Musen zu Hesiods Zeiten bereits existierten oder nicht, ob der Dichter also eine vorhandene – lokale – Vorstellung weiter streut oder eine nicht bestehende neu kreiert. S. zu dieser Fragestellung auch oben Abschnitt A.II.3.1.2. Minton 1970, S. 369 und passim. Vgl. Latte 1945, S. 157.

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tatsächlich gesehen. Er vernimmt ihre Stimmen – und zwar sehr konkret in ihrer Scheltrede – und sie hauchen ihm die „göttliche Stimme“ (Th. 31f.: αὐδὴν | θέσπιν) ein; beides ist möglich ohne eine direkte Berührung visueller oder haptischer Art. Auch der Punkt, an dem auf den ersten Blick der unvermittelte Kontakt unumgänglich scheint, ist so gestaltet, dass er grundsätzlich erlebbar bleibt: „Sogar den Stab des Rhapsoden reichen sie ihm nicht selbst, sondern ‹lassen ihn den Lorbeerstab pflücken›.“29 29

Ebd. Es wird Bezug genommen auf den medialen Infinitiv δρέψασθαι (Th. 31): Es ist die Frage, ob diese Version oder das Partizip δρέψασαι vorzuziehen sei. Beide Varianten sind antik (vgl. West 1966, S. 165 ad loc.); West bevorzugt in seiner Ausgabe δρέψασαι. Zu den dort referierten drei Argumenten schreibt Verdenius 1972, S. 237 richtig: „His first argument (there is no parallel for ἔδον δρέψασαι ‘they permit me to pluck‘) is valid, his other arguments (we expect that Hesiod will be a passive recipient; with δρέψασαι the order of thoughts is more natural) are not.“ Er fügt zwei weitere Argumente hinzu: Das Attribut θηητόν charakterisire den Stab als Geschenk und durch die Darreichung durch die Musen erhalte er erst seine Heiligkeit (vgl. ebd.). Dazu ist zu bemerken, dass die Symbolik in den beiden angeführten Aspekten auch durch ein Pflückenlassen gewahrt bleibt. Sie erhält nur die Färbung einer stärkeren Eingebundenheit des Dichters als Individuum (s. dazu Kambylis 1965, S. 65f.). Wests erste Aussage – der Mangel an Parallelstellen – kann die von Pucci beispielhaft angegebene Stelle Il. 15, 532f. (ξεῖνος γάρ οἱ ἔδωκεν ἄναξ ἀνδρῶν Εὐφήτης | ἐς πόλεµον φορέειν [sc. θώρηκα], δηίων ἀνδρῶν ἀλεωρήν) nicht außer Kraft setzen, da sie nur bedingt vergleichbar ist: Denn das ἔδωκεν beinhaltet eine tatsächliche Übergabe, während der Infinitiv Zweck und Absicht des Geschenkes erklärt. Von gleichem Gewicht wie der Mangel an Parallelstellen ist aber die Tatsache, dass δρέψασθαι der Vorzug der lectio difficilior und der sichereren Quelle zukommt (s. von Fritz 1966=1956, S. 299). Durchaus sonderbar würde es zudem anmuten, wenn ‚Hesiod‘ den Musen leibhaftig begegnet wäre ohne ein konventionelles preisendes Wort über ihr Aussehen oder zumindest ihre Beschaffenheit zu verlieren (vgl. so Pucci 2007, S. 71 ad loc. unter Vergleichung anderer Epiphanieszenen). – Im Übrigen ist es nicht nötig, für ein tatsächlich reales Erlebnis Hesiods zu argumentieren, wie etwa Latte 1945, S. 152f. u. 157 und von Fritz 1966=1956, insbes. S. 298f., es tun: An von Fritz’ Argument, „wenn Hesiod die Musen den Lorbeerzweig hätte abbrechen lassen, hätte er eine erfundene Geschichte erzählt“ (ebd., S. 299), nimmt West 1966, S. 165 ad loc. mit folgenden Worten Anstoß: „However, this would have no force, if it was fiction […]“. Das Argument besitzt aber

244 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie Die grundsätzliche Erlebbarkeit wird auch deutlich in den Versen 9f.: ἔνθεν ἀπορνύµεναι, κεκαλυµµέναι ἠέρι πολλῷ, ἐννύχιαι στεῖχον περικαλλέα ὄσσαν ἱεῖσαι Von dort fortdrängend, umhüllt von viel Nebel, | schritten sie immer in der Nacht, ihre wunderschöne Stimme fahren lassend.

Hier verlassen die Musen ihren geschlossenen Kreis des Badens und Tanzens auf dem Gipfel des Helikon und ergießen sich in die Welt. Sie bleiben jedoch doppelt unsichtbar: Die Nacht einerseits und der ἀήρ andererseits schirmen sie ab von menschlichen Blicken. Wahrnehmbar bleibt wiederum nur ihre Stimme, die einen Hymnos auf die Götter singt. Diese Verse bergen zusammen mit der vorangehenden Passage einige Besonderheiten, die zu Tage treten in der scheinbar inkonsistenten Verwendung der Tempora. Ihre Wechselhaftigkeit gehört zu den Problemen der Deutung, die Friedländer aufführt.30 Ein so unvermittelter Sprung zwischen den Zeiten ist jedoch nicht ungewöhnlich für hymnische Partien, in denen typische Aktivitäten von Göttern dargestellt werden.31 Auffällig ist aber dennoch, dass im parallel gebauten olympischen Hymnos an den entsprechenden32 Stellen nur das Präsens verwendet wird. Nun zum Text selbst: Das Imperfekt στεῖχον (Th. 10) folgt auf die

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durchaus Gültigkeit in der textimmanenten Logik: Es reicht, wenn die Gestaltung des Textes ein reales Erlebnis ‚Hesiods‘ suggerieren soll. Dies ist plausibel und erfüllt eine Funktion, wie sich im Folgenden zeigen wird. S. Friedländer 1914=1966, S. 277 u. 291f. In der Folge sind die Tempuswechsel der Passage vielfach thematisiert worden, s. unten. Man vergleiche – neben h. Pan. 19, 10-15 u. 27-29; ferner h. Ven. 260f. – nur das extreme Beispiel h. Ap. 1-13, auf das im Übrigen auch Friedländer 1914=1966, S. 291f. Anm. 23 selbst hinweist: Die Schilderung von Apolls Ankunft im „Haus des Zeus“ (h. Ap. 2: δῶµα Διός) beginnt mit präsentischen Formen (vgl. h. Ap. 3f.) und geht dann – mit einem Imperfekt in V. 5 – über in Aoriste (vgl. h. Ap. 6 bzw. 7 bis 11). In den Versen 11-13 stehen wieder präsentische Formen; s. auch West 1966, S. 155 zu Hes. Th. 7. Bakker 2002 bietet eine Deutung an, auch in Auseinandersetzung mit früheren Positionen. – Rijksbaron 2009, S. 247 Anm. 14 zu Hes. Th. 10 plädiert für eine unabhängige Betrachtung des Theogonieprooimions „sui generis“. Es handelt sich um die Verse 36-52; auch Th. 63-67.

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Aoriste ἐπερρώσαντο (Th. 8) und ἐνεποιήσαντο (Th. 7), diese wiederum auf die Präsensformen ὀρχεῦνται (Th. 4) und ἔχουσιν (Th. 2). West bezeichnet die Aoristformen unterschiedlichen Beispielen aus den homerischen Hymnen gemäß als „timeless“33. Dies trifft insbesondere auf die vorliegende Stelle jedoch nur bedingt zu: Vorzuziehen ist die präzisere Charakterisierung ‚omnitemporal‘, die auch für die Präsensformen in den Versen 2-4 Gültigkeit besitzt.34 Was diese Passage von anderen, die typischen Aktivitäten von Göttern beschreibenden Hymnospassagen unterscheidet,35 äußert sich in den Versen 5f.: καί τε λοεσσάµεναι τέρενα χρόα Περµησσοῖο ἢ Ἵππου κρήνης ἢ Ὀλµειοῦ ζαθέοιο Und sie waschen ihre zarte Haut im Permessos | oder in der Hippoukrene oder im durchgötterten Olmeios

Hier wird keine Szene aus dem Dasein der Göttinnen geschildert von ewiger Unveränderlichkeit allezeit – jedenfalls nicht in vollem Umfang. Durch die zweimalige Einfügung des ἤ (Th. 6) entsteht der Eindruck der Veränderlichkeit: Die Allgemeingültigkeit bleibt bestehen, doch sie wird gebrochen in ein Spektrum äquivalenter Möglichkeiten – ins ‚Jeweilige‘, welches auf die folgenden Aoriste ἐνεποιήσαντο (Th. 7) und ἐπερρώσαντο (Th. 8) – Prädikate des Satzes – fortwirkt.36 Ohne Zweifel wird kein Menschenauge den badenden und tanzenden Musen, die sich an einem Ort aufhalten, der ζάθεος (Th. 6) ist, zumal auf dem äußersten Gipfel des Helikon, ἀκροτάτῳ Ἑλικῶνι (Th. 7), zugeschaut haben.37 Das ‚Jeweilige‘ aber kreiert dennoch eine stärkere Atmosphäre der Erlebbarkeit, als es die präsentische Beschreibung im olympischen Hymnos je 33

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West 1966, S. 155 zu Hes. Th. 7. Er nennt die in der vorangegangenen Anmerkung aufgeführten Stellen. S. so vor allem Rijksbaron 2009, S. 243f. zu Hes. Th. 2 u. 4; vgl. SternGillet 2014, S. 34f., auch Anm. 32; Nünlist 2007. Vgl. Clay 2003, S. 54 Anm. 16. Auf diese Weise erklärt sich auch die scheinbare Doppelung vom Tanzen um die Quelle in den Versen 3f. und dem Baden und Tanzen in den Versen 5-8. Vgl. Clay 2003, S. 54. Clay wertet Hesiods durch das ἤ suggerierte „uncertainty concerning the bathing-places of the Muses“ (ebd.) ebenfalls als Zeichen für die Isoliertheit der Göttinnen auf dem Gipfel des Helikon.

246 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie zulassen könnte: Denn das Göttliche erscheint nicht vollständig erhaben und unantastbar, sondern für den menschlichen Geist zu erfassen eben dadurch, dass ein ewiges, typisches Tun sich abspielt in Szenen, die mit einem „oder“ voneinander unterschieden werden können. Auch in dieser Hinsicht also wirken die Musen im helikonischen Hymnos erreichbarer und erdverbunden. Rijksbaron legt in seiner Auseinandersetzung mit zeitlichen und örtlichen grammatikalischen Komponenten des Theogonieprooimions einen besonderen Fokus auf das Imperfekt στεῖχον (Th. 10).38 Er deutet es, vor allem entgegen Wests erster Auslegung als „typifying“39 und in der Konsequenz ebenfalls zeitloser Form, als ‚fokalisierendes‘ Imperfekt: „that is, an imperfect which presents a certain state of affairs from the point of view of a character rather than that of a narrator“40. Die betreffende die Musen wahrnehmende Figur stelle sich in V. 22 als ‚Hesiod‘ heraus: Die Erzählung von seiner Dichterweihe beginne also bereits in V. 9f.; die Aoriste davor trügen sowohl Eigenschaften des vorausgehenden omnitemporalen sowie des folgenden narrativen Abschnitts – sie seien „‘gnomic-cum-past’ aorist indicatives“ – und bildeten so einen graduellen Übergang zwischen den Abschnitten.41 Es ist nicht notwendig, die Struktur des Prooimions so radikal umzudeuten, den Anfangspunkt der Dichterweihe-Episode also von V. 22 auf V. 9f. zu verlegen oder gar die vorgestellte hymnische Struktur in Frage zu stellen. Die Anbindung an den ersten hymnischen Part ist eng: Durch die Wiederaufnahme des καί τε am Versbeginn (Th. 5, vgl. 3) wird die Aoristpassage deutlich mit der präsentischen parallelisiert und identifiziert als Teil der Relativkonstruktion, die in Vers 2 beginnt.42 Die Ver38 39 40 41

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S. Rijksbaron 2009, S. 245-7 und passim. West 1966, S. 156 ad loc. Rijksbaron 2009, S. 245 ad loc. Vgl. ebd., S. 244, 245 u. 247; das Zitat auf S. 245; Stern-Gillet 2014, S. 34f. S. auch Clay 2003, S. 54; vgl. Stoddard 2004, S. 130f. Vergleichbare Deutungen, wenn auch ohne entsprechende grammatikalische Fundierung, schlagen im Grunde auch Friedländer 1914=1966, S. 291f. und von Fritz 1966=1956, S. 300 vor; vgl. Verdenius 1972, S. 227 zu Hes. Th. 5; Lenz 1980, S. 143f. u. 147. Kambylis’ Pointe (1965, S. 50-2) scheint in eine ähnliche Richtung zu gehen; seine Deutung der Tempuswechsel ist jedoch, wie Verdenius 1972, S. 227 Anm. 5 bemerkt, „quite confusing“. Als Markierung zweier gleichwertiger Konstruktionen fasst Verdenius 1972

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se 9-21 wiederum schließen sich mittels des ἔνθεν unmittelbar an die vorangehende Beschreibung; eine relativische Überleitung, wie sie einen neuen Hymnosteil einzuleiten pflegt und auch im Theogonieprooimion selbst auftritt, fehlt. Die Phrase „Αἵ νύ ποθ’“ (Th. 22) hingegen markiert deutlich den Beginn einer neuen Partie. Rijksbaron selbst begreift στεῖχον und den zugehörigen Satz Th. 9-21 iterativ als „habitual activity of the Muses in the past, in Hesiod’s past, that is, as witnessed (aurally) by Hesiod“.43 Weniger, als durch das Imperfekt den ‚eigentlichen‘ Startpunkt der Episodenerzählung zu markieren, gelingt es Hesiod vielmehr, durch den Wechsel der narrativen Perspektive andersherum die Figur ‚Hesiod‘ bereits in die erste hymnische Partie vom allgemeinen Walten der Musen auf dem Helikon einzuschleusen: Diese subjektive Färbung der eigentlich objektiven Beschreibung unterstreicht umso mehr die prinzipielle Erlebbarkeit der helikonischen Musen.44

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den Ausdruck auf (vgl. ebd., S. 226f. zu Th. 3 und S. 227 zu Th. 5); so auch Rijksbaron 2009 zu Hes. Th. 5-9. Anders urteilt Kambylis 1965, S. 49: „καί τε [ist] nicht wie in V. 3 aufzufassen [...]. Dort verbindet es zwei Sätze miteinander, von denen der zweite für eine Fortsetzung des vorangehenden gehalten werden darf, während mit καί τε Vers 5 eine neue Partie einsetzt, die syntaktisch nicht unbedingt mit den vorangehenden, ebenso mit καί τε eingeleiteten Versen verbunden sein muß.“ Das zweite τε sei nicht verbindend, sondern hervorhebend gemeint (vgl. ebd.). Die auffällige, Parallelität evozierende Positionierung des Ausdrucks jeweils am Versbeginn macht diese Sichtweise jedoch weniger wahrscheinlich. Vgl. Rijksbaron 2009, S. 247 ad loc.; das Zitat ebd. Eine alternative plausible Deutung der Tempuswechsel – allerdings ohne eigene Erklärung des Imperfekts στεῖχον (Th. 10) – stellt Bakkers 2001 und 2002, insbes. S. 73-77 geäußerte These dar, augmentierte Aoriste hätten im homerischen Epos deiktischen Charakter und stellten immer auch eine Verbindung zum Hier und Jetzt etwa der Aufführungssituation her: „[I]mmediacy in time and space is the pertinent factor in the use of the augment in its original function“ (Bakker 2001, S. 14f.). Diese These greift Pucci 2007, S. 40f. zu Hes. Th. 5-8 auch für Hesiods Theogonie-Prooimion auf; ebenso Stoddard 2004, S. 135f., allerdings nur für die Aoristformen im Dichterweihenabschnitt Th. 22-35, ohne Hinweis auf die vorgestellte Problematik der Verse 1-21. – Auch im Falle dieser Deutung betonte der helikonische Hymnos durch den Ausdruck der ‚Aktualität‘ sowohl des Tuns der Musen auf dem Helikon als auch von ‚Hesiods‘ Begegnung mit ihnen die unmittelbare Präsenz der Göttinnen für den Erzähler-Sänger, der sich als ‚Hesiod‘ zu

248 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie Es bleibt die Frage, ob die Musen des Helikon identisch seien mit den Musen des Olymp. Sie ist leicht zu beantworten: Hesiod selbst nennt die Göttinnen, denen er in Boötien beim Schafehüten begegnet, Μοῦσαι Ὀλυµπιάδες (Th. 25). Der parallele Aufbau der zwei Hymnen bewirkt zusätzlich, dass die helikonischen Musen mit den erhaben-göttlichen olympischen implizit auf eine Ebene gestellt werden – freilich nachträglich. Es liegt also kein Widerspruch vor,45 sondern vielmehr fügt sich alles wohl zusammen: Hesiod ist erlebbaren Göttinnen auf erlebbare Weise begegnet, an einem erlebbaren Ort, wie später noch gezeigt werden wird; und diese erlebbaren Göttinnen sind tatsächlich niemand Geringeres als die Musen, wie sie als olympische Gottheiten bekannt sind, selbst. 2.2.2 Der gemeinsame Schluss In kunstvoller Weise führt Hesiod die beiden Hymnosstränge, die er nebeneinnder entspinnt, in den Versen 80-103 zusammen. Denn dieser Abschnitt ist zugleich ein adäquater Schluss für den zweiten Hymnos, an den er unmittelbar anschließt, wie für den durch die Abbruchformel in V. 35 ganz augenscheinlich unvollendet gebliebenen ersten Hymnos.46 Der Abschnitt gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil (Th. 80-93) beschreibt die Wirkungsmacht der Musen hinsichtlich der ‚Könige‘47, der zweite Teil (Th. 94-103) ihre Beziehung zu den ἀοιδοί und κιθαρισταί (vgl. Th. 95). Die beiden Teile entsprechen einander in der Ge-

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erkennen gibt. Vgl. dazu auch von Fritz 1966=1956, S. 299, der sehr nachdrücklich formuliert: „Dies ist, wenn es erlaubt ist, hier einmal Heidnisches mit Christlichem zu vergleichen, ebensowenig ein Widerspruch, wie daß die heilige Maria von Lourdes die Himmelskönigin Maria ist.“ S. auch Minton 1970, S. 368; Marquardt 1982, S. 4. S. Minton 1970, S. 373-5, der inhaltlich-formale, aber keine kompositorischen Merkmale betrachtet. Diese Notation soll der Tatsache Rechnung tragen, dass Hesiods βασιλῆες nicht die umfassenden monarchischen Konnotationen der Übersetzung „König“ innehaben, sondern wohl, wie etwa die Erga nahelegen, weit eher mit beschränkterem Radius rechtsprechende Funktionen ausübten: S. etwa Roth 1976, S. 332f.; Stoddard 2003, S. 7f.

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staltung: Dem „ὅντινα τιµήσουσι Διὸς κοῦραι µεγάλοιο“ (Th. 81) der ‚Könige‘ entspricht das „ὅντινα Μοῦσαι φίλωνται“ (Th. 95f.) der Dichtersänger. Auffallend ähnlich sind auch die Verse 84 – τοῦ δ’ ἔπε’ ἐκ στόµατος ῥεῖ µείλιχα – und 97 – γλυκερή οἱ ἀπὸ στόµατος ῥέει αὐδή. Ganz offensichtlich sollen die beiden Gruppen also als auf analoge Art von den Musen begünstigt erscheinen.48 Auch im weiteren Verlauf bleibt dies deutlich, denn in beiden Fällen wird durch die Musengabe ein schlechter Zustand in einen entgegengesetzten, guten verwandelt: ‚Könige‘ schlichten mit sanften Worten Streit, man beachte vor allem die Formulierung „µετάτροπα ἔργα τελεῦσι ῥηιδίως“ (Th. 89); Sänger machen Kummer und Sorgen vergessen und lenken ab vom Schmerz, „ταχέως δὲ παρέτραπε δῶρα θεάων“ (Th. 103).49 Beide Teile schließen mit einer Bemerkung über die Musengaben, Μουσάων ἱερὴ δόσις (Th. 93) bzw. δῶρα θεάων (Th. 103).50 Den Beschreibungen gemein ist außerdem die Tatsache, dass gewissermaßen zwei Geschenkesebenen existieren: die unmittelbare Begünstigung einer auserwählten Gruppe von Menschen einerseits, die indirekte Beschenkung der Menschheit allgemein durch das von der auserwählten Gruppe ausgehende Gut andererseits.51

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Anders urteilt Blößner 2005, S. 27f., der aufgrund dieser Parallelen vom Eindruck einer „Dublette“ (ebd., S. 27) spricht und sie als eines von fünf Indizien dafür wertet, dass die Passagen über die ‚Könige‘ (Th. 80-93) und die Sänger (Th. 94-103) ursprünglich als alternative Versionen gedacht waren und erst in der Textüberlieferung ihren Platz nebeneinander erhalten hätten (vgl. ebd., S. 33-43; s. dazu den Exkurs nach Abschnitt B.I.2.2.2.1). Duban 1980 stellt auf der anderen Seite ausgehend von dieser Passage die reziproke Beziehung von Dichter und Sänger in Hesiods Zeit und Dichtung heraus; Stoddards 2003 textimmanente Deutung der Passage insbes. in Hinsicht auf die Dichterweihe in V. 22-35 belegt ebenfalls die textliche Kohärenz. Erwähnenswert ist auch die Entsprechung von ῥηιδίως (Th. 90) und ταχέως (Th. 103) sowie die Doppelung αἶψα (Th. 87) und αἶψ’ (Th. 102). Die aufgelisteten Parallelen sind vielfach verzeichnet worden, s. etwa Verdenius 1972, S. 257 zu Hes. Th. 96; Duban 1980, S. 13; Stoddard 2003, S. 9; Blößner 2005, S. 27f. Deshalb kann auch von einer umfassenden δόσις ἀνθρώποισιν (Th. 93) die Rede sein.

250 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie 2.2.2.1

Ein Schluss für den zweiten Hymnos

Zunächst gilt es zu betrachten, inwieweit beim olympischen Hymnos überhaupt die Notwendigkeit für eine Abrundung besteht. In seinem Aufbau sind drei Teile – oder auch zwei, dies wird später genauer ausgeführt werden – auszumachen. Es handelt sich, wie bereits geschildert, um die Verse 36-52 mit der Beschreibung der typischen Aktivitäten der Musen und der ausführlichen Darlegung ihres Preisgesanges, die Geburtsgeschichte in den Versen 53-67 und die Darstellung des Einzugs der Musen in den Olymp in den Versen 68-79. Auf den ersten Blick wirkt der olympische Hymnos abgerundet. Der Abschnitt endet nach der durch das demonstrative ταῦτ’ (Th. 75) eingeleiteten abschließenden Bemerkung mit einem Katalog der Musennamen (Th. 77-9). Es entsteht Minton gemäß der Eindruck auch eines formal gesehen typischen Schlusses.52 Die Musennamen können dabei als Pendant zu der Aufzählung charakterisierender Epitheta gelten, die oft Bestandteil der Schlussformel von Hymnen ist.53 Dies ist möglich, da Hesiods Namen die Musen nicht als individuelle, voneinander verschiedene Gestalten auszeichnen, sondern vielmehr Eigenschaften beschreiben, die für alle Musen charakteristisch sind: Sie erwachsen direkt aus den Begriffen, die Hesiod im Laufe des Hymnos verwendet hat, um ihre Tätigkeiten und ihr Wesen zu beschreiben.54 Auch Kalliope, die als „hervorragendste“ (Th. 79: προφερεστάτη) der Musen nach hesiodeischer Art55 am Ende des Kataloges steht, erhält 52 53

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Vgl. Minton 1970, S. 371f. Vgl. ebd., S. 372f. Die Struktur des Musenkatalogs als ‚anaphorische Ringkomposition‘ untersucht Humar 2016, S. 396f. Bezüge und Funktion untersuchen ausführlich etwa Deichgräber 1965, S. 176-89; Senis 1983; Mojsik 2011b, S. 57-65; Vergados 2014. Eine kompakte Darstellung bieten West 1966, S. 180f. zu Hes. Th. 76-79 mit den Ergänzungen von Verdenius 1972, S. 250 ad. loc.; Pucci 2007, S. 102f. ad loc.; Hardie 2009, S. 11f., Semenzato 2017, S. 100-103. Hardie 2009 untersucht das Phänomen des etymologischen Spiels mit den hesiodeischen Musennamen in der griechischen Dichtung allgemein. – Auch in der Kunst, etwa auf Vasenbildern, erscheinen die hesiodeischen Musennamen, in variabler Zusammensetzung; s. Cohon 1991-2; Simon 2000. Vgl. Deichgräber 1965, S. 184: „[D]aß Hesiod in Götter- und Göttinnenkatalogen die letzte Stelle der bedeutendsten Gestalt zu geben pflegt und dies be-

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zwar eine besondere Stellung, verschmilzt aber gleich darauf wieder mit ihren Schwestern als Eigenschaft, die ihnen allen innewohnt bzw. die sie alle gemeinsam schenken: Sie ist die vorzüglichste, weil sie ‚Königen‘ zur Seite steht.56 Doch es sind wieder die Musen im Verbund, die den Begünstigten den süßen Tau auf die Zunge gießen,57 worauf sich das Innehaben der schönen Stimme gründet. Somit können Hesiods Musennamen also als Äquivalente für Epitheta gelten. An das suggerierte Ende schließt sich noch die Partie mit den Gaben der Musen an die Menschen an – Hymnos-typisch mit dem Relativum ἥ (Th. 80) als Anzeiger für einen neuen Abschnitt. Diese Timai58 sind gerade das Element, das noch fehlt für einen nach den Regeln der Kunst gebauten Hymnos.59 Wie eng nicht nur auf formaler, sondern auch auf

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gründet, trifft auch hier zu [...]“. Faraone 2013 untersucht die Form solcher „catalogue[s] with a superlative cap“ (ebd., S. 295 u. passim); s. insbes. S. 298-301, 313f. u. 316 für den Musenkatalog in Th. 77-9. Weil am Ende des Katalogs Kalliope als die „hervorragendste von allen“ (Th. 79: προφερεστάτη […] ἁπασέων) hervorgehoben wird – eine Äußerung, die als Überleitung zu den Gaben an die ‚Könige‘ in V. 80-93 dient – und die Musen im Theogonieprooimion sonst als Kollektiv auftreten, vermutet Faraone die Existenz zweier unterschiedlicher narrativer Traditionen: „Here the text of the Theogony seems to preserve traces of at least two competing compositional schemes, an earlier one that stresses the collective action of the Muses as patrons of political speech and a later one that assigns the same role to a single, albeit superlative, member of the group“ (ebd., S. 300f.). Zu diesem Eindruck trage die folgende, scheinbar abrupt eingefügte Passage über die Gabe der ‚Könige‘ bei (s. ebd., S. 300 Anm. 15 und S. 301, auch für weiterführende Literatur). Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist sie jedoch kompositorisch eng mit dem restlichen Prooimion verbunden und erfüllt auch eine entsprechende Funktion. Vgl. Th. 80: ἣ γὰρ καὶ βασιλεῦσιν ἅµ᾽ αἰδοίοισιν ὀπηδεῖ. / „Denn sie steht auch ehrwürdigen Königen zur Seite.“ Vgl. Th. 83: τῷ µὲν ἐπὶ γλώσσῃ γλυκερὴν χείουσιν ἐέρσην / „dem gießen sie süßen Tau auf die Zunge“. Der Begriff sei hier verwendet im Sinne von Minton 1970, S. 362: „The concluding section, Powers or Timai, since it […] embraces a broad, but integrally related range of elements, from divine honors, prerogatives in heaven and earth, to powers or benefits to mankind, will henceforth be referred to generally by the word that covers them all, namely Timai.“ Vgl. Minton 1970, S. 373-5. Wenn dennoch durch den Namenskatalog – den

252 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie kompositorischer Ebene die Verse 80-103 mit dem Hymnos verknüpft sind, soll eine genauere Analyse der Struktur desselben zeigen. Innerhalb des Hymnos an die olympischen Musen stellt der Abschnitt Th. 36-52 über das Walten der Musen auf dem Olymp wiederum einen in sich geschlossenen Baustein dar. Seine Eigenschaft als eigenständiges Element unterstreicht die doppelte Rahmung, in die er eingebettet ist: Einen äußeren Rahmen bilden die Verse 36 und 52, worin die Musen genannt und als Töchter des Zeus gekennzeichnet werden,60 einen inneren Rahmen die fast identischen61 Verse 37 und 51. Die beiden folgenden Abschnitte nun nehmen auf diesen ersten Teil Bezug in Form eines gewissermaßen aitiologischen Pendants zu den darin dargelegten Aussagen über das Sein der Musen auf dem Olymp. Die drei Aspekte, deren Ursache auf diese Weise erklärt wird, sind zum einen die bloße Existenz der Musen, dann ihr Wesen und ihr daraus resultierender Zeitvertreib sowie ihr Platz in der olympischen Ordnung. Ein deutlicher Hinweis auf diesen Rückbezug sind die Wendungen und Bilder in den Episodenerzählungen, die sich an die Verse 36-52 anlehnen: In der Geburtsgeschichte (Th. 53-67) liegt der Schwerpunkt auf der Existenz und dem Wesen der Musen. Sie werden von Mnemosyne geboren als mit einem bestimmten Charakter ausgestattete Gottheiten. Gesang liegt ihnen am Herzen – ᾗσιν ἀοιδὴ | µέµβλεται ἐν στήθεσσιν (Th. 60f.) – und so nimmt es sich nicht überraschend aus, dass sie in Vers 39f. unaufhörlich singen: τῶν δ’ ἀκάµατος ῥέει αὐδὴ ἐκ στοµάτων ἡδεῖα·

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Minton im Übrigen als Hinweis auf die Timai der Musen auffasst (vgl. ebd., S. 373f.) – der Eindruck eines Abschlusses entsteht, so sorgt dies für die Betonung des thematischen und gestalterischen Einschnitts nach Vers 79. Die Passage Th. 80-103 erhält dadurch trotz ihrer Verbindung zum vorausgehenden Abschnitt eine größere Unabhängigkeit; diese lässt Rückbezüge auch zum ersten Teil des Prooimions legitim erscheinen. Dies geschieht explizit in V. 52 (κοῦραι Διός), implizit in V. 36 (ταὶ Διὶ πατρί etc.). Einziger Unterschied sind die zwei Silben auf der zweiten Kürze des dritten Fußes und der ersten Länge des vierten Fußes: µέγαν in Th. 37, Διός in Th. 51.

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Das Prooimion

253

unermüdlich fließt ihnen die Stimme süß aus den Mündern

Sie sind zur Welt gekommen als „gleichgesinnte“ (Th. 60: ὁµόφρονας) und können so ihre Stimmen im Einklang erheben: φωνῇ ὁµηρεῦσαι (Th. 39). An die Erzählung von der Geburt der Musen schließt sich als Resultat daraus eine kleine Sequenz über ihre Aufenthaltsorte und typischen Aktivitäten an. Hier ist der Bezug zum ersten Absatz besonders deutlich durch die parallelen Formulierungen „αἳ δ’ ἄµβροτον ὄσσαν ἱεῖσαι“ (Th. 43) und „ἐρατὴν δὲ διὰ στόµα ὄσσαν ἱεῖσαι“ (Th. 65). Beide Abschnitte enthalten im Anschluss eine Passage über den Inhalt des Lobpreises.62 Waren die Musen in der Geburtsgeschichte (Th. 53-67) Töchter der Mutter, so sind sie bei der Schilderung ihres Einzugs in den Olymp (Th. 68-79) ganz Töchter ihres Vaters. Diese beiden Schwerpunkte setzt Hesiod explizit: Im Mnemosyne-Teil heißt es: ἣ δ’ ἔτεκ’ἐννέα κούρας ὁµόφρονας und sie gebar neun gleichgesinnte Töchter

Hes. Th. 60

Im Zeus-Teil heißt es analog dazu: ἐννέα θυγατέρες µεγάλου Διὸς ἐκγεγαυῖαι neun dem großen Zeus entsprungene Töchter Hes. Th. 76

Und als zweite Geburt lässt sich der Zug zum Olymp auch begreifen: Die Göttinnen betreten die olympische Götterwelt als Töchter des Zeus, um ihren Platz darin einzunehmen. Die Funktionsweise des Rückbezugs zum ersten Abschnitt unterscheidet sich von der des zweiten Abschnitts. Dieser erste Zug, der den ihnen zugeteilten Aufgabenbereich, das Preisen des Zeus und seiner Schöpfung nämlich, schon enthält, ist praktisch das Vorbild für alle anderen Züge und Preislieder, wie sie im ersten Abschnitt des Hymnos zur Sprache kommen. Wie die Erde beim ersten Mal von ihren Lobgesängen widerhallt, so die Götterhallen und der Gipfel 62

Vgl. Th. 44-50 im ersten Teil über das Sein der Musen auf dem Olymp und die kürzere Passage Th. 66f. im Abschnitt mit der Geburtsgeschichte.

254 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie des Olymp auch fürderhin bei ihrem Sang.63 Wie sie ihren Vater beim ersten Mal besingen, so erfreuen sie ihm mit ihren Hymnen für alle Zeit den Sinn. Die Episode mag also nicht nur als Begründung, sondern als Urbild des Preisens des Zeus und der Götter gelten. Die beiden Teile des Timai-Abschnitts nun lassen sich nicht nur unter den Aspekten der Musengaben an die ‚Könige‘ im Falle der Verse 80-93 und der Gaben an die ἀοιδοί im Falle der Verse 94-103 ordnen. Es finden sich auch Anklänge an die doppelte Geburtsgeschichte mit den Schwerpunkten ‚Mutter‘ und ‚Vater‘. Bei den Timai liegen sie genau entgegengesetzt, sodass sich insgesamt eine chiastische Anordnung ergibt: Die Musen treten zunächst als Töchter des Zeus auf, Διὸς κοῦραι µεγάλοιο (Th. 81).64 Es werden die Ehren verhandelt, die sie denjenigen Menschen zukommen lassen, welche dem Zeus am nächsten sind: den ‚Königen‘, die „zeusgenährt“ (Th. 82: διοτρεφέων) sind. Man kann sie sogar als menschliches Pendant des Göttervaters auf Erden sehen: In Vers 71 heißt es von Zeus, er sei König im Himmel;65 die Massen wiederum verehren einen (freilich musenbegabten) ‚König‘ „wie einen Gott“ (Th. 91: θεὸν ὣς ἱλάσκονται). Beide herrschen auf vergleichbar gerechte und weise Art.66 Die Musen machen, dass die von ihnen geehr63

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Dem Ausdruck „περὶ δ’ ἴαχε γαῖα µέλαινα“ (Th. 69) im Abschnitt über den Zug zum Olymp entsprechen die Formulierungen „γελᾷ δέ τε δώµατα πατρός | Ζηνὸς ἐριγδούποιο“ (Th. 40f.) und „ἠχεῖ δὲ κάρη νιφόεντος Ὀλύµπου | δώµατά τ’ ἀθανάτων“ (Th. 42f.) im Teil über das Walten der Musen auf dem Olymp. Man beachte den Anklang an den Zeusteil in der doppelten Geburt: θυγατέρες µεγάλου Διός (Th. 76). Obwohl im gesamten Prooimion mit Formulierungen, die die Musen als Töchter des Zeus ausweisen, nicht gespart wird (vgl. Th. 25; 29; 36; 40f.; 52; 53; 76; 81; 104), finden sich solche auffälligerweise nicht im Mnemosyne-Abschnitt Th. 53-67 – die einzige Ausnahme ist „Κρονίδῃ [...] πατρί“ (Th. 53), was sich allerdings aus der Notwendigkeit ergibt, den Vater der Musen in der Erzählung von ihrer Entstehung zu benennen – und auch nicht im Timai-Abschnitt Th. 94-103, der daran anklingt. Vgl. Th. 71: ὃ δ’ οὐρανῷ ἐµβασιλεύει. Es ist möglich, dass es sich um eine spezifisch hesiodeische Gestaltung handelt, die nicht nur die Komposition, sondern auch den Inhalt betifft: In den homerischen Epen tritt Zeus nicht als βασιλεύς in Erscheinung (s. Pucci 2007, S. 99 ad loc.). Zeus hat den anderen Göttern die Ehren „εὖ“ (Th. 73) und „ὁµῶς“ (Th. 74) zugewiesen; die ‚Könige‘ richten unter den Menschen „mit geraden Urtei-

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Das Prooimion

255

ten βασιλεῖς ihre Aufgaben in besonders guter Weise erfüllen können. Sie erhalten keine zusätzliche besondere Fähigkeit; vielmehr wird ihr Königsein gesteigert zum vollendeten Königsein. Dies wird deutlich an der Beschreibung des königlichen Waltens (Th. 84-93): Erscheinen die Verse 84-87 noch als direkte Folge aus der von den Musen taubegossenen Königszunge in V. 84f., so wirken die Verse 88-90 mit der geschlossenen τοὔνεκα-οὕνεκα-Sequenz wie eine Aussage über das Königtum allgemein. Vers 93 freilich spannt darüber wieder den Schirm der Musengabe, die ohnehin durch die „honigsüßen“ (Th. 84: ἔπε’ […] µείλιχα)67 beziehungsweise „weichen“ Königsworte (Th. 90: µαλακοῖσι […] ἐπέεσσιν) nicht ganz in den Hintergrund geraten ist. Auf diese Weise bleibt deutlich, dass die ‚Könige‘ unabhängig von den Musen ‚Könige‘ sind. Die Musen als Töchter des Zeus preisen, wie in ihrem ersten Zug zum Olymp, indirekt ihren Vater durch die Ehrung der ihm auf besondere Weise verbundenen βασιλεῖς.68 In den Versen 94-103 treten die Musen unabhängig von Zeus auf. So wie er Ausgangspunkt der Existenz von ‚Königen‘ auf Erden ist, so sind sie – und Apoll – Ausgangspunkt für die ἀοιδοί und κιθαρισταί (Th. 95). Sie geben ihnen das Gleiche wie den ‚Königen‘ – dass ihnen nämlich die Stimme süß von der Zunge fließt69 – doch die Wirkung ist eine andere: Denn im Falle des Sängers wird der normale Mensch erhoben zum „Diener der Musen“ (Th. 100: Μουσάων θεράπων). Die Musengabe greift massiv in das Sein des Begünstigten ein. Es ist deutlich, dass diese Art der Gewährung von Timai die ist, die von den Musen als mit ihrem spezifischen Wesen ausgestatteten Gottheiten ausgeht. Ihr Wesen aber ist auf der textimmanenten Ebene, wie oben gezeigt, vor allem Resultat der ersten Geburt durch Mnemosyne. Dieser zweite Timai-Abschnitt erhält dadurch die Prägung der Musen als Töchter ihrer Mutter und folglich einen Verweis auf die Verse 53-67. Dass diese Struktur nicht von

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len“ (Th. 85: ἰθείῃσι δίκῃσιν). S. auch Duban 1980, S. 18f. für weitere ‚göttliche‘ Aspekte in der Darstellung der ‚Könige‘. Mit einem Adjektiv des gleichen Stammes, µειλίχιος, ist auch die Ehrerbietung (αἰδώς) bezeichnet, die dem ‚König‘ gezollt wird (vgl. Th. 92: αἰδοῖ µειλιχίῃ). Vgl auch Minton 1970, S. 374. Vgl. Th. 96f.: ὃ δ᾽ ὄλβιος, ὅντινα Μοῦσαι | φίλωνται· γλυκερή οἱ ἀπὸ στόµατος ῥέει αὐδή. / „Und glücklich ist, wen die Musen lieben; süß fließt ihm die Stimme vom Munde.“

256 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie außen konstruiert ist, lässt sich wiederum anhand einer konkreten Formulierung belegen. In der Darstellung der Wirkungsmacht des ἀοιδός heißt es in Vers 102f.: αἶψ’ ὅ γε δυσφροσυνέων ἐπιλήθεται οὐδέ τι κηδέων µέµνηται· sogleich vergisst er seine Sorgen und erinnert sich gar nicht an seinen Kummer

Deutlich ist der inhaltliche Rückverweis auf Vers 55: λησµοσύνην τε κακῶν ἄµπαυµά τε µερµηράων [Mnemosyne gebar die Musen] als Vergessen der Übel und Linderung der Sorgen.

Vergleichbar sind auch die Konstruktionen mit der zweigliedrigen Reihung: Im ersten Fall regiert jeweils ein Verb, im zweiten Fall ein Substantiv einen Genitiv Plural, der aus inhaltlich verwandten Wörtern gebildet ist. Eine etymologische Verbindung existiert zudem zwischen ἐπιλήθεται (Th. 102) und λησµοσύνην (Th. 55); ein weiteres Pendant bilden µέµνηται (Th. 103) und Μνηµοσύνη (Th. 54).70 – Insgesamt ist also die Rückbindung der beiden Timai-Abschnitte jeweils an einen der beiden Abschnitte zur Geburt der Musen – als Töchter der Mnemosyne einerseits, als Töchter des Zeus andererseits – deutlich. Darüber hinaus schaffen die Phrasen „τοῦ δ’ ἔπε’ ἐκ στόµατος ῥεῖ µείλιχα“ (Th. 84) aus dem ‚Königs‘-Abschnitt und „γλυκερή οἱ ἀπὸ στόµατος ῥέει αὐδή“ (Th. 97) aus dem Sänger-Abschnitt eine weitere Verbindung von der Timai-Passage Th. 80-103 zum olympischen Hymnos. Denn dort heißt es im ersten, allgemeinen Teil ganz ähnlich von den Musen:

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Dass auch in V. 54f. das Spiel mit dem Gegensatzpaar Erinnerung/Vergessen bewusst angelegt ist, zeigt die Stellung jeweils am Anfang zweier aufeinanderfolgender Verse. S. dazu auch unten Abschnitt B.I. 3.3.2. – Auf eine weitere Verbindung weist Duban 1980, S. 17 hin: „[I]n remembering ‘nothing of cares’ (Τh. 102: οὐδέ τι κηδέων), the once-troubled hearer of the poet’s song, (πένθος) ἔχων νεοκηδέι θυµῷ (98), partakes of an aspect of the Muses, ἀκηδέα θυµὸν ἐχούσαις (61), whose troubles are none.“

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Das Prooimion

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τῶν δ’ ἀκάµατος ῥέει αὐδὴ ἐκ στοµάτων ἡδεῖα· unermüdlich fließt ihnen die Stimme | süß aus den Mündern Hes. Th. 39f.

Die drei Stellen teilen ein Bild, das Strömen süßer Laute vom Mund. Die Wendung in V. 39f. stellt dabei eine Kombination aus Elementen der Verse 84 und 97 dar.71 So erweist sich also der Timai-Abschnitt als aufs engste mit dem olympischen Hymnos verknüpft. Es besteht nicht nur eine lose Verbindung, die Kalliope als Brücke zu den ‚Königen‘ nutzt, sondern ein innerer Zusammenhang inhaltlicher und kompositorischer Art. Exkurs. Vater, Mutter und eine Frage der Einheit Die hier hervorgehobene Vater-Mutter-Struktur zeigt, dass sowohl der Abschnitt über die ‚Könige‘ (Th. 80-93) als auch der Abschnitt über die Sänger (Th. 94-103) für die Gesamtkomposition des Prooimions unentbehrlich sind. Blößners72 Versuch, sie zu Alternativversionen zu erklären, von denen der Sängerteil der ursprüngliche, die Passage von den ‚Königen‘ einem bestimmten Anlass geschuldet sei, erscheint damit hinfällig. Zudem sind seine Argumente nicht zwingend: Zwischen Kalliope (Th. 79f.) und dem Königspart besteht sehr wohl eine nachvollziehbare Verbindung, da eine schöne Stimme durchaus mit Eloquenz und gewandten ἔπεα in Verbindung gebracht werden kann – man vergleiche nur die Beschreibung Nestors in Il. 1, 247-9.73 In Hinblick auf die Prä-

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Mit Vers 84 hat die Wendung in V. 39f. den Genitiv τῶν (Th. 39) bzw. τοῦ (Th. 84) und den Ausdruck ἐκ στοµάτων (Th. 40) bzw. ἐκ στόµατος (Th. 84) gemeinsam – in V. 97 steht die Variante ἀπὸ στόµατος. Mit Vers 97 teilt V. 39f. die αὐδή, wo in V. 84 ἔπε’ zu finden sind. Alle drei Verse klingen überein im Prädikat (vgl. Th. 39 u. 97: ῥέει; Th. 84: ῥεῖ) und im „Mund“ (Th. 40: στοµάτων; Th. 84 u. 97: στόµατος). Hingegen ist jeweils ein eigenes Wort mit der Bedeutung ‚süß‘ gewählt (vgl. Th. 40: ἡδεῖα; Th. 84: µείλιχα; Th. 97: γλυκερή). S. Blößner 2005. Die Beschreibung lautet: τοῖσι δὲ Νέστωρ | ἡδυεπὴς ἀνόρουσε λιγὺς Πυλίων ἀγορήτης, | τοῦ καὶ ἀπὸ γλώσσης µέλιτος γλυκίων ῥέεν αὐδή. S. dazu auch Pucci 2007, S. 106f. zu Hes. Th. 83f.

258 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie senz des Zeus im vorausgegangenen Abschnitt und in der gesamten Theogonie, auch unter dem Aspekt seines Königtums, erscheinen auch die ‚Könige‘ zwar ungewöhnlich, jedoch grundsätzlich keineswegs unvereinbar mit dem Kontext74 Die Erklärung in Th. 80, markiert durch die Partikel γάρ, ist überraschend, aber nicht unverständlich: Kalliope ist die vorzüglichste unter den Musen, weil sie die ‚Könige‘ geleitet, die ja unter den Menschen gerade die sind, die in einer besonderen Beziehung zu Zeus stehen. Es kann dann nicht von einer „Umkehrung der sonst gültigen Hierarchie“75 aufgrund einer „Ableitung göttlichen Rangs aus menschlichem Rang“76 die Rede sein, da Kalliope bzw. den Musen ihr Rang durch Zeus verliehen wird. Die Gunsterweisung den ‚Königen‘ gegenüber ist dann ihrerseits eine Ehrung des Zeus. Als einzige Schwierigkeit verbleibt in Vers 94 die Anbindung durch das kausale ἐκ γάρ τοι, wo auf den ersten Blick kein kausales Verhältnis auszumachen ist. Blößners Einwände gegen bestehende Interpretationsversuche sind berechtigt;77 sie erzeugen entweder Unstimmigkeiten an anderer Stelle oder legen eine Färbung in die Sätze, die schlicht nicht vorhanden ist.78 Blößner wertet die Erklärung von Verdenius, das γάρ (Th. 94) motiviere ἀνθρώποισιν (Th. 93), als beste Erfassung der Schwierigkeit des Textes:79 Diese „unerwartete Ausweitung“80 begründe laut Verdenius der folgende mit γάρ angeschlossene Satz: „the Muses favour not only kings but also other men“81. Blößner führt folgende Einwände an: Im griechischen Text fehlt freilich das entscheidende Wort ‘auch’; und wenn die Sänger, wie der Text suggeriert, in analoger Weise ἐκ Μουσέων sind wie die ‘Könige’ ἐκ Διός (94-6), so 74

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S. zudem Duban 1980 für eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Dichter und ‚König‘; auch Roth 1976 für die im Vergleich mit anderen indoeuropäische Kulturen gewonnene These, dass die Musen möglicherweise nicht nur Patroninnen der Dichtung, sondern auch der Rechtsprechung gewesen seien – mit µνήµη bzw. µνηµοσύνη und der möglichen Versform früher Gesetzestexte als verbindendem Element. Blößner 2005, S. 30f. Ebd. S. ebd., S. 30-3. Vgl. etwa den konzessiven Sinn bei West 1966, S. 186 ad loc.; s. gleichwohl ebd. die Bemerkungen zur Gedankenführung in archaischer Dichtung. S. Blößner 2005, S. 32f. zu Verdenius 1972, S. 256 ad loc. Blößner 2005, S. 32. Verdenius 1972, S. 256 ad loc.

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Das Prooimion

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kann der Ausdruck mit ἐκ nicht, wie Verdenius meint, den Geber (oder Begabenden) benennen […]: Denn andernfalls wäre ja analog die Gabe an die ‚Könige‘ keine Gabe der Musen, sondern (im Widerspruch zu 80-93!) eine Gabe des Zeus.82 Die Lösung liegt darin, die bereits angedeuteten zwei Ebenen der Musengabe zu beachten: Die Göttinnen beschenken eine bestimmte Gruppe von Menschen und durch deren musenbegabtes Handeln wiederum die gesamte Menschheit; es besteht nicht die Notwendigkeit, die Ausweitung (Th. 93) in Richtung der Sänger als ‚anderer Menschen‘ zu begreifen. Das γάρ kann zur Einleitung einer Explizierung der doppelten Musengabe dienen, die im ganzen Abschnitt Th. 94-103 angelegt ist und mittels eines analogen Falles – dem der Sänger – illustriert wird.83 Die Verse 94f. dienen dann dazu, diesen einzuführen und zugleich seine Verschiedenheit zum ersten Fall, dem der βασιλεῖς, herauszustellen: An der Gabe an und durch die Sänger sind die Musen in viel umfassenderer Weise beteiligt als an der Gabe an und durch die ‚Könige‘, weil deren Existenz als ‚Könige‘ eben von Zeus und nicht von den Musen bestimmt ist. Diese Nuance entgeht Blößner bei seiner (Nicht-)Deutung des ἐκ. Bezeichnend ist, dass der zweite Abschnitt mit der Phrase „ταχέως δὲ παρέτραπε δῶρα θεάων“ (Th. 103) endet: Hier werden die Gaben explizit auch mit der Allgemeinheit der Menschen in Beziehung gesetzt, während in V. 94 trotz des Dativobjekts ἀνθρώποισιν zunächst auch die engere Deutung möglich bleibt.84

2.2.2.2

Ein Schluss für den ersten Hymnos

Der erste Hymnos an die helikonischen Musen entbehrt eines Schlusses: Die Abbruchformel in Vers 35 lässt ihn jäh enden. Die genaue Bedeutung der idiomatischen Wendung ἀλλὰ τίη µοι ταῦτα περὶ δρῦν ἢ περὶ πέτρην; Aber was soll mir das um Eiche oder um Fels? Hes. Th. 35

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Blößner 2005, S. 32. Das τοίη in V. 93 deutet ebenfalls in diese Richtung. Für weitere Deutungen des Übergangs von Th. 93 zu Th. 94 s. Stoddard 2003, S. 20f.

260 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie bleibt dabei für den modernen Rezipienten rätselhaft.85 Verständlich ist aber die übergeordnete Funktion: Der Erzähler beschließt, die Episode 85

West 1966, S. 167-169 ad loc. gibt eine Übersicht über die unterschiedlichen Verwendungen des Paares δρῦς und πέτρα in der griechischen Literatur mitsamt verschiedener antiker sowie moderner Deutungen, schließt jedoch negativ: „It is best to acknowledge that the truth is lost in antiquity“ (ebd., S. 169). Bradleys unwahrscheinlich erscheinende Deutung (1969) lautet, dass Baum und Fels hier mit einem religiösen Stadium des auch für spätere Zeiten bezeugten Baum- und Stein-Kultes assoziiert seien und der Dichter die Musen, wie bisher in dieser primitiven Weise lokal in einem Heiligtum am Helikon verehrt, nicht mit den (anthropomorphen) Göttinnen seines religiösen Erweckungserlebnisses vereinbaren könne (vgl. insbes. S. 19-22): „Thus, Theogony 35 stands as a dramatic assessment by the poet of the dichotomy between the new character of the gods […] and the old. […] Yet it is not easy to abandon traditional attitudes. Before making his complete commitment to the charges of the Muses, Hesiod asks, in effect, ‘What is the meaning of these new concepts of the universe and the gods in contrast to the obscure, older beliefs? Which do I choose?’ His answer is an emphatic acceptance of the new scheme of the universe announced by the epiphany of the Muses” (ebd., S. 22). – Ο’Bryhim 1996, López-Ruiz 2010, S. 56-83 und Forte 2015 öffnen den Blick auf Erwähnungen des Paares Baum/Fels in ihrem Kontext in den Literaturen des Nahen Orients. Sie heben vor allem die mantischen Konnotationen des Paares und der vorausgehenden Verse 26-34 hervor. O’Bryhims Paraphrase lautet entsprechend: „To express his bewilderment at this sudden and unsolicited gift of prophecy, Hesiod asks the rhetorical question ‘what business have I with these things that happen around oak or rock.’ Thus, Hesiod protests that he is not an inspired prophet […], but that he is exactly what the Muses had labeled him: an undistinguished shepherd. In spite of his doubts, Hesiod calls upon the Muses for aid and, with their help, he is able to speak of events that occurred before the genesis of mankind, information to which only a god or a prophet is privy” (a. a. O., S. 133f.). O’Bryhim deutet dabei die Konstruktion von περί mit Akkusativ im Sinne Wests 1966, S. 169 ad loc. lokal und versteht Baum und Fels konkret als Marker von Orakelstätten. López-Ruiz wählt einen (auch sprachlich plausibel begründeten, s. a. a. O., S. 81) abstrakteren Zugang. Sie fasst, anders als O’Bryhim und wohl treffender, Th. 35 nicht als Bescheidenheitsgestus auf. Ihre Paraphrase lautet vielmehr: „‘Why am I digressing about these mysterious/arcane and divine things, that is, about where my special knowledge of the origin of the world and the gods came from?’ [Hesiod] could now immediately proceed with his intended task, to talk about the

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Das Prooimion

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von der Weihung durch die Musen abzubrechen, um den olympischen Hymnos zu beginnen.86 Dies geschieht durch die emphatische Selbstaufforderung in V. 36, die sowohl eine Anrede (τύνη) als auch einen adhortativen Konjunktiv (ἀρχώµεθα) enthält. Auch im helikonischen Teil bleiben die Τimai zur Vollendung des Hymnos offen. Diese Leerstelle füllen die Verse 80-103 ebenfalls angemessen: Denn die Darstellung der Gunst, die die Musen den Menschen entgegenbringen, ergänzt den greifbaren, erdverbundenen Charakter des helikonischen Hymnos, die geschilderte Begegnung von Göttinnen und Schäfer eingeschlossen.87 Besonders die Gaben an die ἀοιδοί (Th. 94103) schaffen eine Verbindung zur Dichterweihe (Th. 22-35), mit einer

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origins of the gods. In other words, the apparently odd expression in verse 35 captures in a nutshell the whole content of the proem, with the legitimization of Hesiod’s account, and rhetorically serves as a stop and start-afresh point for the poet’s theogonía” (ebd., S. 82f.). Forte 2015, insbes. S. 8-10, folgt im Wesentlichen López-Ruiz’ Deutung und bettet sie ein in umfassende neue Erkenntnisse zur semantischen Vorgeschichte der Wendung in nahöstlichen Literaturen. – Von großem Interesse ist Mintons Interpretation (1970, S. 369 mit Anm. 23). Er deutet die Konstruktion von περί mit Akkusativ wie O‘Bryhim lokal, dazu sehr konkret, wobei er die Wendung auf den unterschiedlichen Charakter der beiden Hymnen bezieht. Hesiod suche demnach die vorher dargelegte Weisung der Musen (Th. 33f.) zu erfüllen: „The Olympian affinities of these deities can only be brought out through a theogonic hymn; they have no place in the ‘earthbound’ type of hymn he is using. Hence the abrupt […] ‘But how can I do this in a setting of tree and rock?’, followed by the immediate and emphatic plunge into the ‘dramatic’ hymn” (ebd.). Diese Deutung wird am ehesten der Gestaltung des Prooimions gerecht. Als Gegenargument mag sprechen, dass eine so vordergründige Auffassung von δρῦς und πέτρα den zwar schwer fassbaren, aber doch existierenden semantischen Hintergrund außer Acht ließe. – Für weitere Deutungen s. Hofmann 1971 und Schmoll 1994. Vgl. West 1966, S. 169 ad loc.; López-Ruiz 2010, S. 57. Unterschiedlich werden die Implikationen dieses Abbruchs gewertet: So lässt er laut Bradley 1969, S. 7 die Schilderung der Dichterweihe wie eine Abschweifung erscheinen – eine Auffassung, der etwa O’Bryhim 1996, S. 131f. und Forte 2015, S. 8f. dezidiert widersprechen (nicht aber, anders als Forte ebd. annimmt, López-Ruiz). Vgl. Minton 1970, S. 374f. zu diesen “earthly timai” der Musen und ebd., S. 362f. für ihren systematischen Ort in der Komposition eines Hymnos.

262 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie direkteren assoziativen Verknüpfung beispielsweise auch zwischen dem Lorbeerzweig in Vers 30 und Apoll in Vers 94.88 ‚Hesiods‘ persönliches Erlebnis, seine eigene, besondere Berufung zum ἀοιδός, wird in den großen Zusammenhang allgemeiner Gunsterweisung gestellt. Der Sänger, von den erlebbaren Musen berufen, ist auch ein Sänger in der göttlichen Ordnung der Welt.89 Das Prooimion der Theogonie beginnt mit einem Hymnos auf die helikonischen Musen. Wer singt es? Es ist der Dichter, der in der Passage von der Dichterweihe zum ersten Mal „ich“90 sagt und in V. 22 seinen 88

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Stoddard 2003 deutet beide Abschnitte – den der ‚Könige‘ und den der Sänger – als programmatisch für die Rolle, in der Hesiod sich als Erzähler sehe. Die entscheidende Verbindung zur Schilderung der Dichterweihe induzierten die beiden Gaben der Musen (s. inbes. S. 6-11): Das Lorbeer-σκῆπτρον (Th. 30) verweise dabei auf die ‚Könige‘, die „göttliche Stimme“ (Th. 31f.: αὐδὴν | θέσπιν) auf die Sänger; verbindendes Element sei, Hesiods Gestaltung nach, „the Muses‘ common gift of eloquence“ (ebd., S. 5). Die programmatische Aussage ergebe sich aus der Kombination dieser Gaben: „If the σκῆπτρον […] signifies ‘authority to speak in judgment’ and the αὐδὴ θέσπις […] a ‘voice with godlike powers of persuasion,’ the association of βασιλῆες with ἀοιδοί so prominent in the ‘Kings and Singers’ passage is already established in the Dichterweihe, and this association is embodied in the person of the narrator himself. In effect, Hesiod claims for himself by this association the right to compose authoritative poetry, a song that not only pleases, but also persuades (or instructs […]) its audience” (ebd., S. 9). Stoddard untersucht zudem zwei Passagen, in denen dieses Programm zur Anwendung gebracht wird (s. ebd., S. 13f.). Vgl. auch dies. 2004, S. 176188. – Einen vergleichbaren Gedanken äußert in verkürzter Form auch Clay 1988, S. 333: „Symbol of royal authority, the scepter derives ultimately from Zeus. Kings, as Hesiod tells us, come from Zeus, but those whom the Muses honor enjoy their special gift of eloquence. Aoidoi, on the other hand, spring from the Muses and Apollo. The scepter of laurel, given to Hesiod by the Muses, unites the authority of Zeus with the tree sacred to Apollo. By its triple patronage, Hesiod distinguishes his sovereign poetry.” S. auch Mojsiks 2011a, S. 224-255 vergleichbare Auslegung von Dichterweihen aus anthropologischer Perspektive. Vgl. µε (Th. 24; 33); weiterhin µοι (Th. 30; 31; 35), dazu die Verbformen in der ersten Person. Homers erste Person Singular und Plural hingegen verkörpert nicht das ‚ich‘ eines Individuums, sondern das des typischen Sängers als Vertreter seines Standes, ein generisches ‚ich‘: S. Lenz 1980, S. 199-201; ferner Pucci 1977, S. 33; s. darüber hinaus den Vergleich des homerischen

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Das Prooimion

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Namen nennt: ‚Hesiod‘, der einst am Helikon seine Schafe weidete.91 In Vers 36 hebt der Hymnos auf die olympischen Musen an. Wer ist der Sänger dieses Liedes? Es ist ein von den Musen begabter Dichter, der sie seiner Bestimmung gemäß am Beginn seiner Dichtung preist; einer, „den die Musen lieben“ (Th. 96f.: ὅντινα Μοῦσαι | φίλωνται). ‚Hesiod‘ hat für den olympischen Hymnos bereits die Rolle angenommen, die ihm im helikonischen Hymnos zugewiesen wurde und deren Bedeutung erst im Schlussteil 94-103 vollends ans Licht tritt.92 So begegnet dem

91

92

und hesiodeischen Erzählers aus narratologischer Perspektive in Stoddard 2004, S. 34-59. – Rijksbaron 2009 argumentiert fundiert dagegen, das Demonstrativum τόνδε (Th. 24) auf µε anstatt auf µῦθον zu beziehen, wie es bisweilen vorgeschlagen wurde (s. ebd., S. 249 ad loc.); neben den von Rijksbaron Genannten gehört z. B. auch Stoddard 2004, S. 69 u. 135 zu den Vertretern der zitierten Position. Die Komplexität dieser Identifikation in narratologischer Hinsicht beschreibt Stoddard 2004, S. 92f. folgendermaßen: „In this section the primary external narrator-focalizer suddenly makes himself a character in his own story, briefly becoming a primary internal narrator-focalizer. As such he then proceeds to embed the character-text (and the focalization it contains) of the Muses [sc. Th. 26-8], causing them to become internal secondary narratorfocalizers. For the brief space of lines 22-34, Hesiod has the double narrative identity of primary internal narrator-focalizer (the teller of the story) and secondary internal narratee-focalizee (the character who is addressed by the Muses). We the audience are thus receiving the poet’s narration of the Muses’ focalization of Hesiod the character, leaving us vaguely confused about who is actually telling us the story.” Stoddard sieht ebd., S. 93 in V. 35f. den Übergang zurück zum traditionellen epischen Erzählen wie zu Beginn des Prooimions: „With this mysterious ‘oak and rock’ comment […] the primary narrator-focalizer removes himself from the unusual situation of being simultaneously both primary focalizer and secondary focalizee, narrator and narratee, external and internal to the plot, and returns to being the primary external narrator-focalizer, as is traditional for the epic narrator.“ Der Wechsel auf diese übergeordnete Ebene ist aber nicht ganz eindeutig vollzogen: So bezeichnet Minton 1970 den olympischen Hymnos als eingefügten ‚dramatischen‘ Hymnos, (s. ebd., S. 369f.; S. 373; passim). Unter Umständen vollzieht also auch auf der Ebene des Erzählens – nicht nur inhaltlich – eine analoge Figur. – In jedem Fall ist in der Selbstaufforderung zu Beginn des olympischen Hymnos, wie Stoddard 2004, S. 93f. bemerkt, ein Rückverweis auf die Episode der Dichterweihe enthalten: „It is interesting to note that the ‘peremptory or con-

264 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie Rezipienten ganz ähnlich der Darstellung der Musen ein zweifacher Hesiod – der menschliche, der ‚sein‘ persönliches Erlebnis schildert und die erlebbaren Göttinnen preist, und der ‚göttliche‘, beseelte, der die erhabenen, fernen Göttinnen zum Gegenstand seines Liedes macht, um anschließend die Götterordnung zu singen, wie es immerdar die Aufgabe der ἀοιδοί ist. Der gemeinsame Schluss fügt die beiden Hymnen zusammen: Die Parallelisierung bzw. Identifikation von helikonischen und olympischen Musen erfährt auf diese Weise ihre Vollendung. Doch die Ineinanderführung der Hymnen bewirkt auch, dass der konkrete, fassbare Dichter über den göttlichen Sänger gelegt wird. Was inhaltlich geschehen ist – die Einordnung des individuellen, ‚menschlichen‘ Dichters in den großen Zusammenhang göttlicher Ordnung über die Gleichsetzung mit dem allgemeinen musenbegabten Typus des ἀοιδός aus der Passage Th. 94103 – wird auf einer gestalterischen Metaebene nachgezeichnet. 2.2.3

Der Musenanruf

Das Prooimion endet mit einem Musenanruf. Dem Vers 104 Χαίρετε, τέκνα Διός, δότε δ’ ἱµερόεσσαν ἀοιδήν· Seid gegrüßt, Kinder des Zeus, gebt ein liebreizendes Lied temptuous tone’ [Stoddard zitiert hier West 1966, S. 169 zu τύνη in Th. 36] in which Hesiod addresses himself is reminiscent of the tone of the Muses’ address to him. The Muses, too, speak to Hesiod in a scornful and imperious way, and they, too, treat him as if he were a plural entity” (ebd., S. 94). Auch Rijksbaron 2009, S. 250 ad loc. deutet die Anrede als an einen Adressaten in zweifachem Sinne gerichtet: „[T]he use of a second-person pronoun with a first person plural hortative subjunctive is, as fas as I could see, unique, and understandably so. For what we have here is a speaker who is giving an order to himself as if he is somebody else: ‘You , let us start singing (…).’ This very daring construction, which is the more remarkable because in the previous line µοι is present, must suggest that Hesiod is adressing himself both as the Hesiod of lines 5-34, so to speak, the Hesiod who was favoured by, and got orders from, the Muses on Helicon, and as the accomplished singer he is now: the Hesiod of the earlier lines should stop talking about how the Muses inspired him, and finally start singing his hymn to them.“

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Das Prooimion

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kommt dabei eine doppelte Funktion zu: Er bildet einerseits mit dem für einen Hymnos typischen Schlussgruß χαίρετε und der ebenfalls typischen Schlussbitte den Schluss des vorausgehenden Hymnenkomplexes, ist aber gleichzeitig Einleitung des nun folgenden eigentlichen Musenanrufs 105-115.93 Dieser Musenanruf entspricht einem traditionellen Schema, weist jedoch auch, wie schon die Hymnen zuvor, individuelle Züge auf. 2.2.3.1

Ein traditioneller Musenanruf

Die traditionelle Bauweise des hesiodeischen Musenanrufs bringt ein Vergleich mit den homerischen Musenanrufen ans Licht.94 Mit der Bitte an die Gottheit ist bei allen drei Werken zunächst die Nennung des Themas verknüpft: die µῆνις des Achill im Falle der Ilias, der ἀνὴρ πολύτροπος im Falle der Odyssee,95 das ἀθανάτων ἱερὸν γένος αἰὲν ἐόντων heilige Geschlecht der Unsterblichen, die immer sind Hes. Th. 105

im Falle der Theogonie. Es schließt sich in einer Relativkonstruktion jeweils eine genauere Beschreibung des Inhalts an.96 In der Theogonie 93

94

95 96

Vgl. Gruß (und Bitte) in h. Ap. 545; h. Merc. 579; h. Ven. 292; h. Bacch. 58; h. Pan. 48; h. Hom. 6, 19f.; 9, 7; 10, 4f.; 11, 5; 13, 3; 14, 6; 15, 9; 16, 5; 17, 5; 18, 10 u. 12; 20, 8; 21, 5; 22, 6f.; 25, 6f.; 26, 11-13; 27, 21f.; 28, 17; 29, 13f.; 30, 17f.; 31, 17; 32, 17f.; 33, 18. S. dazu Friedländer 1914=1966, S. 279f. Minton 1970, S. 375 weist darauf hin, dass dieser Übergang zu einem Musenanruf, den homerischen Musenanrufen vergleichbar, sich auf der anderen Seite stark von den homerischen Hymnen unterscheidet: Diese stellten in der Regel nur Gruß und Gebet von der Länge eines Verses dem Übergang zum (implizit) folgenden Gesang voran. Für die hier zusammengestellten Elemente vgl. auch. Lenz 1980, S. 131-41. Einen allgemeinen Überblick über die Bauform früher Prooimien gibt Wheeler 2002, S. 35f. u. 41 innerhalb seiner Betrachtung der historischen Entwicklung des griechischen „introit“. Vgl. Hom. Il. 1, 1; Od. 1, 1. Die Relativkonstruktion wird in der Ilias eingeleitet durch ἥ (Il. 1, 2), in der

266 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie folgt nun, ebenso wie in der Odyssee, eine erneute Anrede an die Musen.97 Die Wendungen sind aus den gleichen Elementen zusammengesetzt: In beiden Prooimien findet sich ein Rückverweis auf die soeben beschriebenen Inhalte; dem demonstrativen ταῦτα (Th. 114) der Theogonie entspricht dabei das τῶν (Od. 1, 10) der Odyssee. Auch die Aufforderung zum ‚Sagen‘ ist ähnlich formuliert: „µοι ἔσπετε“ (Th. 114) heißt es in der Theogonie, in der Odyssee „εἰπὲ καὶ ἡµῖν“ (Od. 1, 10). Die Muse selbst wird in der Odyssee im ersten Vers bei ihrer Bezeichnung, Μοῦσα, gerufen, im letzten Prooimionvers bei einer Umschreibung genealogischen Charakters, θύγατερ Διός (Od. 1, 10). Im Musenanruf der Theogonie verhält es sich genau entgegengesetzt.98 In ihrer Funktion analog zum ἁµόθεν (Od. 1, 10) ist die Angabe ἐξ ἀρχῆς (Th. 115) zu verstehen, wobei die beiden Begriffe grundverschiedene Herangehensweisen offenbaren: So ungenau das ἁµόθεν ist, so präzise ist das ἐξ ἀρχῆς.99 Im Theogonieprooimion schließt sich nun an die zweite Anrede der Musen noch eine weitere Aufforderung an: καὶ εἴπαθ’ ὅτι πρῶτον γένετ’ αὐτῶν und sagt, was davon als erstes entstand

Hes. Th. 115

Der Vers ist eindeutig auf den folgenden Beginn der ‚eigentlichen‘ Theogonie hin konzipiert: Ἤτοι µὲν πρώτιστα Χάος γένετ’ Wahrlich, zu allererst entstand das Klaffen Hes. Th. 116

97 98

99

Odyssee durch ὅς (Od. 1, 1), im Theogonieprooimion durch οἵ (Th. 106). Für die Inhaltsbeschreibung s. Hom. Il. 1, 2-7; Od. 1, 1-9; Hes. Th. 106-113. S. Hes. Th. 114f.; Hom. Od. 1, 10. Vgl. Μοῦσαι Ὀλύµπια δώµατ’ ἔχουσαι in Vers 114 und τέκνα Διός in Vers 104. Grund für diese verschiedenen Ansätze ist Lenz 1980, S. 135f. gemäß die unterschiedliche Struktur der Darstellungsweise von Theogonie und Odyssee: Während die Theogonie dem Ordnungsprinzip der Aufzählung folge, das ein Beginnen am Anfang erfordere, werde in der Odyssee Handlung erzählt, bei der um jeden Punkt dieser Handlung ein kausales Gefüge von Vorher und Nachher geschart sei; so sei kein bestimmter Anfang verlangt.

2

Das Prooimion

267

Denn die unmittelbar vorangehende Inhaltsbeschreibung, in der die θεοί (Th. 111) Subjekt sind, lässt eigentlich ein nicht-neutrales, vorzugsweise maskulines Relativum erwarten. Stattdessen erscheint das Relativpronomen ὅτι (Th. 115), das somit Χάος im Folgevers bereits vorwegnimmt. Damit gewinnt diese Stelle die Struktur der Binnenanrufe der Ilias, als ein solcher – in einer Sonderform – auch der Abschluss des Iliasprooimions zu verstehen ist.100 Insgesamt sind die Verse 104-115 der Theogonie also eine Kombination aus den Bausteinen der Prooimien beider homerischer Epen. 2.2.3.2

Dichterlied und Musenlied

Dieser traditionelle Musenanruf bildet die eigentliche Überleitung zur Theogonie. Das Verhältnis von Dichter und Muse folgt dabei dem bekannten Schema: Der Dichter bittet um das Kundtun eines Liedes bestimmten Inhaltes, und das gewünschte Lied schließt sich an: Der ἀοιδός erscheint als „Sprachrohr der Musen“101. Dem hesiodeischen Musenanruf sind jedoch noch 103 Verse vorausgegangen, die ihm nun eine besondere Prägung verleihen. Denn was die Göttinnen am Helikon dem Hirten auftragen,

100

101

Vgl. West 1966, S. 191f. zu Hes. Th. 114f.; Lenz 1980, S. 131-3. Diese Binnenanrufe beginnen alle mit der gleichen formelhaften Wendung ἔσπετε νῦν µοι, Μοῦσαι Ὁλύµπια δώµατ’ ἔχουσαι (Il. 2, 484; 11, 218; 14, 508; 16, 112). Auf die angeschlossene indirekte Frage nach bestimmten Geschehnissen folgt jeweils eine direkte ‚Antwort‘. Die gleiche Struktur weist die Stelle Il. 2, 761-3 auf, wenn auch unter Modifikation der genannten Formel. Auf das Prooimion der Ilias hingegen – hier kann natürlich nicht von einem Binnenanruf die Rede sein – folgt eine direkte Frage mit direkter ‚Antwort‘ (vgl. Il. 1, 8f.: τίς τάρ σφωε θεῶν ἔριδι ξυνέηκε µάχεσθαι; Λητοῦς καὶ Διὸς υἱός· […] / „Welcher der Götter hat sie denn in Zwietracht zum Streiten zusammengebracht? Letos und Zeus’ Sohn; […]“). Die Muse ist offenbar aus dem Prooimion noch so präsent, dass eine erneute Anrede nicht nötig erscheint. Puelma 1989, S. 73. Stoddard 2004, S. 61-3 gibt eine Übersicht über verschiedene Nuancen bezüglich des durch diese Form implizierten Verhältnisses zwischen Dichter bzw. Erzähler und Muse.

268 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie ὑµνεῖν µακάρων γένος αἰὲν ἐόντων das Geschlecht der Seligen zu preisen, die immer sind Hes. Th. 33

das ist, fast in der gleichen Formulierung, auch das, was der Sprecher nun seinerseits von den Musen verlangt: κλείετε δ’ ἀθανάτων ἱερὸν γένος αἰὲν ἐόντων Rühmt das heilige Geschlecht der Unsterblichen, die immer sind! Hes. Th. 105

Der Inhalt des Liedes, das der Sprecher sich erbittet (Th. 105-113), stimmt, wie auch Hamilton zeigt, in großen Teilen mit dem Gesang der Musen auf dem Olymp (Th. 44-50) überein, „with the addition of Night and Pontos“:102 Die Nachkommenschaft von Ouranos und Gaia soll besungen werden, dann die sich anschließende Generation von Göttern; hierbei verwendet Hesiod exakt dieselbe Formulierung.103 Wie die Musen auf dem Olymp alles „von Anfang an“ (Th. 45 u. 115: ἐξ ἀρχῆς) besingen, so sollen sie es auch jetzt tun. Und schließlich sind die Aufteilung der Timai und der Einzug der Götter in den Olymp in V. 112f. Hamilton gemäß auf eine Stufe zu stellen mit dem Preisen der Stärke und der Herrschaft des Zeus in den Versen 47f.: „Since Zeus is the leader in the conquest of Olympus and is the one who distributes timai, the equation of the two songs is complete.“104 Die ganze Zeit aber ist deutlich, dass das Lied, um das ‚Hesiod‘ als implizierter Autor bittet – das Lied, welches, wie sich gezeigt hat, das 102 103

104

S. Hamilton 1989, S. 13; das Zitat ebd. Vgl. Th. 45 (οὓς Γαῖα καὶ Οὐρανὸς εὐρὺς ἔτικτεν) und Th. 106 (οἳ Γῆς ἐξεγένοντο καὶ Οὐρανοῦ ἀστερόεντος); dazu Th. 46 =111: οἵ τ’ ἐκ τῶν ἐγένοντο θεοὶ δωτῆρες ἐάων. Hamilton 1989, S. 13. Klarer wird diese Gleichsetzung unter Berücksichtigung der Verse 71-74, wo von der Herrschaft des Zeus im Himmel (also dem Olymp) und der durch ihn erfolgten erwähnten Aufteilung der Τimai die Rede ist. – Vgl. auch Clay 1988, S. 332f. mit 329, die allerdings vor allem den Unterschied betont, dass die olympischen Musen auch Menschen und Giganten besingen (vgl. Th. 50), während das erbetene Lied der Verse 105113 ebenso wie die folgende Theogonie selbst die Entstehung der Menschen nicht thematisiert.

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Das Prooimion

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Lied der Musen ist105 – eines ist, das er bereits selbst singt. Schließlich haben es die Göttinnen so von ihm verlangt und er hat es selbst ihren Weisungen nach in Eigenregie mit dem Musenhymnos begonnen. Auf diese Weise wird eine viel engere und endgültigere Verschmelzung von Dichter und Muse erreicht, als es in der homerischen Dichtung der Fall sein kann: Denn hier werden Dichter und Muse eins, nachdem sie zunächst als voneinander getrennte Entitäten vorgestellt wurden. Durch analoge Formulierungen miteinander verknüpft werden auch, wie bereits gesehen,106 die Musen des olympischen Hymnos mit den ‚göttlichen‘ Dichtern aus dem Schlussteil. Der ἀοιδός als „Diener der Musen“ (Th. 100: Μουσάων θεράπων) übernimmt vollkommen die Eigenschaften seiner Schutzgottheit, bis hin zum Inhalt der zu singenden Lieder.107 Am Helikon wiederum hauchen die Musen ‚Hesiod‘ die göttliche Stimme ein, damit er rühme „was sein wird und was vorher war“ (Hes. Th. 32: τά τ’ ἐσσόµενα πρό τ’ ἐόντα). Dies ist eine Kurzformel108 für das, was sie selbst von sich geben als Bewohnerinnen des Olymp: 105

106 107

108

Vgl. auch Siegmann 1958, S. 319: „Das Lied, das Hesiod die Musen singen läßt, ist das Lied, das er selbst singen wird.“ Vgl. oben Abschnitt B.I.2.2.2.1. Für die süße Stimme und die Fähigkeit, Sorgen vergessen zu machen, vgl. oben Abschnitt B.I.2.2.2.1. Der ‚göttliche‘ Sänger im Schlussteil besingt „die Ruhmestaten früherer Menschen“ und „die seligen Götter, die den Olymp innehaben“ (Th. 100f.: κλεῖα προτέρων ἀνθρώπων […] µάκαράς τε θεοὺς οἳ Ὄλυµπον ἔχουσιν), die olympischen Musen besingen die Götter und auch das Geschlecht der Menschen (vgl. Th. 44-50). Vgl. Hamilton 1989, S. 14. Für diese Deutung vgl. etwa West 1966, S. 166 ad loc; Siegmann 1958= 1966, S. 316 mit Anm.1. Anders interpretiert Clay 1988, S. 330f. mit Anm. 31 (vgl. dies. 2003, S. 65f.), Neitzel 1980, S. 396-8 folgend, die Wendungen (vgl. ebenso Stoddard 2004, S. 80f.; Kloss 2010, S. 249). Sie fasst, da der Artikel innerhalb der Phrase nicht wiederholt wird, τά τ’ ἐσσόµενα πρό τ’ ἐόντα als zusammengehörige Umschreibung einer Sache – „the things that will be and were before, i. e., the eternal things“ (ebd., S. 330) – während τὰ ἐόντα als Gegenstück die ephemere Welt der Menschen, „the mortal things“ (ebd., S. 332), bezeichne. Clay nimmt diese und andere Stellen zum Anlass, die Unterschiede zwischen Hesiods Lied – der Theogonie – und den Liedern der Musen herauszustellen. Gerade darin setze der Dichter sein Werk bewusst gegen andere Dichtungsinhalte und -formen ab – wie etwa auch gegen die Themen des traditionellen ἀοιδός aus dem Schlussteil, der ebenfalls so-

270 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie τά τ’ ἐόντα τά τ’ ἐσσόµενα πρό τ’ ἐόντα was ist, was sein wird und was vorher war Hes. Th. 38

Durch ein Netz assoziativer Verknüpfungen, bestimmt durch analoge Formulierungen, verschwinden also auf subtile Weise die Grenzen zwiwohl „die Ruhmestaten früherer Menschen“ als auch „die seligen Götter, die den Olymp innehaben“ (vgl. Th. 100: κλεῖα προτέρων ἀνθρώπων | […] µάκαράς τε θεοὺς οἳ Ὄλυµπον ἔχουσιν) besinge; die Besonderheiten seiner eigenen Dichtung träten gerade vor dem Hintergrund anderer Formen und Inhalte deutlicher hervor (vgl. insbes. die Zusammenfassung ebd., S. 333). Die Unterschiede zwischen den Liedern der Musen und der Theogonie betont auch Stoddard 2004, S. 63-7. – Es ist fraglich, ob diesen Abweichungen innerhalb der unterschiedlichen ‚Themenkataloge‘ ein so großes Gewicht beigemessen werden darf, vor allem vor dem Hintergrund der Gemeinsamkeiten. So ist beispielsweise auch Clays Deutung der Wendungen in V. 32 und insbes. V. 38 nicht gänzlich kohärent. Wie sie selbst vermerkt – jedoch akzeptiert – müsste ein „drastic ontological shift“ (ebd., S. 331) in der Auffassung angenommen werden: „This equation between τὰ ἐόντα and ephemeral human things will strike students of Greek philosophy as most peculiar. In subsequent philosophical thought, that which is eternal becomes τὸ ἐόν, Being, while the Hesiodic ἐόντα corresponds to Becoming“ (ebd.). Die übliche Deutung als ‚Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges‘ mit ihren mantischen Konnotationen erfährt hier daher Vorzug (Erwähnt sei dennoch, dass Clay ebd., S. 330 Anm. 31 auch für die Beschreibung des seherischen Wissens des Kalchas in Hom. Il. 1, 70 mit der gleichen Formel eine neue Auslegung fordert; vgl. dies. 2003, S. 177). Auch Velardi 2014 fasst den Ausdruck als dreiteilig, unterscheidet jedoch zwischen dem mantischen, die „tre fasi chronologice“ (ebd., S. 39) betreffenden Wissen des homerischen Kalchas und dem des hesiodeischen Sängers: Dieses sei „conoscenza della realtà eterna, anche se non immutabile, che comprende insieme le divinità, la natura e il genere umano“ (ebd.). Diese beiden Auslegungen sind jedoch nicht zwangsläufig so verschieden, wie von Velardi angezeigt: Eine interpretatorische Einbindung erfolgt unten in Abschnitt B.I.3.3.2. – Ferner erscheinen die Unterschiede zwischen olympischem Musenlied (Th. 44-51) und Programm (Th. 105-113) nicht signifikant. Eine mögliche Funktion der Unterschiede zwischen helikonischem und olympischem Musenlied (Th. 1121 bzw. 44-51) wird unten in Abschnitt B.I.3.1 vorgestellt. Es besteht nicht die Notwendigkeit, auch das helikonische Lied mit Hesiods Programm direkt in Beziehung zu setzen.

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Das Prooimion

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schen Musen und Dichter, und zwar über alle Ebenen hinweg – der der olympischen und helikonischen Musen, des fassbar-aktuellen und typisiert-‚göttlichen‘ Sängers.109 In dieser Hinsicht zentral sind auch die Verse 71-74: ὃ δ’ οὐρανῷ ἐµβασιλεύει, αὐτὸς ἔχων βροντὴν ἠδ’ αἰθαλόεντα κεραυνόν, κάρτει νικήσας πατέρα Κρόνον· εὖ δὲ ἕκαστα ἀθανάτοις διέταξεν ὁµῶς καὶ ἐπέφραδε τιµάς. Der ist König im Himmel, | selbst den Donner beherrschend und den gleißenden Blitz, | und hat mit seiner Stärke seinen Vater Kronos besiegt; gut hat er alles | den Unsterblichen zu gleichen Teilen zugeteilt und die Ehren zugewiesen.

Diese Worte stellen einen Lobpreis des Zeus dar, eine Würdigung der von ihm geschaffenen Ordnung. Auffällig ist zunächst einmal nicht ihr Inhalt, sondern die Einbettung in die textliche Umgebung: Denn diese Passage schließt ganz unmittelbar an die Beschreibung an, wie die Musen singend und ihren Vater preisend zum Olymp ziehen. So jäh ist der Übergang, dass es zunächst scheint, als handle es sich um Worte, die der Erzähler selbst spricht, praktisch durch ein Stichwort, das er sich selbst mit der Nennung des Vaters der Musen gegeben hat,110 dazu bewegt. Direkt im Anschluss an die Passage heißt es jedoch: ταῦτ’ ἄρα Μοῦσαι ἄειδον Ὀλύµπια δώµατ’ ἔχουσαι Dies also sangen die Musen, die die olympischen Häuser bewohnen. Hes. Th. 75

Die Worte werden also im Nachhinein als Inhalt des Preisens der Musen identifiziert.111 So verschmelzen an dieser Stelle einmal mehr Dichter 109

110

111

Nagy 2013, S. 235-40 sieht hierin ein System wechselseitiger Mimesis des Musenchores bzw. der Musenchöre und des Dichters in einem „looping effect“ (ebd., S. 239). Zeus ist selbst Ziel des Zugs der Musen: Sie gehen „zu ihrem Vater“ (Th. 71: πατέρ’ εἰς ὅν). An diese Worte schließt sich unmittelbar die oben angeführte Passage an. Vgl. auch West 1966, S. 179 zu Hes. Th. 71; Hamilton 1989, S. 13f.; Clay 2003, S. 68f.; Pucci 2007, S. 99 zu Hes. Th. 71b.

272 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie und Muse. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass dies auf einer neuen Ebene geschieht: Es handelt sich um den Erzähler, den implizierten Autor des aktuellen Liedes, und die erzählten Göttinnen der zweiten Episode im olympischen Hymnos.112 2.3

Eine Begegnung am Helikon

Nachdem nun die Grundprinzipien der Komposition des Theogonieprooimions und ihre Implikationen für den Inhalt dargelegt sind, kann das zentrale Ereignis zur Sprache kommen: die Szene von ‚Hesiods‘ Begegnung mit den Musen. Die Schilderung der Dichterweihe beginnt mit folgenden Worten: Αἵ νύ ποθ’ Ἡσίοδον καλὴν ἐδίδαξαν ἀοιδήν, ἄρνας ποιµαίνονθ’ Ἑλικῶνος ὑπὸ ζαθέοιο.

112

Vgl. Hamilton 1989, S. 14: „That is, what appeared to be part of Hesiod’s present song was in fact the past song of the Muses.“ – Diese auch in narratologischer Hinsicht entscheidende Stelle spart Stoddard 2004, S. 60-97 in ihrer Analyse und Interpretation aus. Dies ist insofern von größtem Belang, da die Pointe ihrer Deutung vor allem dahin geht, dass Hesiod, auch über erzähltechnische Methoden, menschliches und göttliches Erzählen bewusst trennend gegenüberstelle und die Position des menschlichen Erzählers – auch im Gegensatz zum homerischen Epos und zu ‚musischem‘ Erzählen – für sich behaupte. Vor allem im Prooimion der Theogonie etabliere Hesiod diese Rolle, etwa durch die verschiedenen referierten Liedinhalte und die Betonung von Hesiods Menschlichkeit gegenüber der Göttlichkeit der Musen in der Dichterweihe. Eine so bestimmte Trennung kann aber, wie vor allem obige Verse zeigen, nicht angenommen werden; das Unterfangen einer Identifikation von Muse und Dichter steht im Vordergrund. Gleichwohl geschieht dies, wie viele von Stoddards Beobachtungen zutreffend zeigen, in einer von einem selbstbewussten Erzähler gelenkten, zuweilen autoritativen Weise. (S. auch Laird 2002, S. 136, der darauf hinweist, dass Hesiod durch die Verwendung der ersten Person und die Nennung ‚seines‘ Namens sich selbst als subjektiven Vermittler des Geschehens am Helikon kenntlich macht; er sei „an authority in every sense“.) Im Lichte der Verse 71-5 und der vorausgegangenen Ausüfhrungen ist folgende Formulierung möglich: Der Sänger / implizierte Autor ‚nimmt‘ die Musen für sich ‚in Besitz‘.

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Das Prooimion

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Die haben Hesiod einmal schönen Gesang gelehrt, | als er Schafe hütete am Fuße des durchgötterten Helikon. Hes. Th. 22f.

Die Musen haben ‚Hesiod‘ den schönen Gesang „gelehrt“ (Th. 22: ἐδίδαξαν) – dieser homerische113 Ausdruck bezeichnet, was im Folgenden geschieht:114 die Herstellung einer Verbindung zwischen Schäfer und Musen. Sie beginnt mit der direkten Anrede in V. 26-8 und wird sichtbar im σκῆπτρον (Th. 30), das Hesiod fortan als Μουσάων θεράπων (Th. 100) tragen wird; die Göttinnen hauchen ihm eine „göttliche Stimme“ (Th. 31f.: αὐδὴν | θέσπιν) ein, die ihn befähigt, von vergangenen und zukünftigen Dingen zu berichten, wie sie es selbst zur τέρψις des Zeus tun.115 Diese quasi-mantische Fähigkeit setzt eine besondere Beziehung zwischen Gott und Mensch voraus, welche die καλὴ ἀοιδή als mit Wahrheit erfüllt garantiert.116 Zu beachten ist, dass die einmalig geschaffene Verbindung für alles weitere Singen und Dichten Bestand hat, die erste Zuwendung der Musen bedeutet eine Zuwendung für alle Zeit;117 113

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Vgl. Hom. Od. 8, 481 u. 488; dazu Hes. Op. 662; auch Theoc. 7, 92, der wohl auf Hesiods Dichterweihe anspielt (vgl. den Exkurs in Anschluss an Abschnitt A.I.1.1 und Abschnitt A.I.3.2.5). Für diese Deutung des Aorists als ‚komplexiv‘ bzw. ‚konzentrierend‘ (vgl. KG I, S. 155) s. Rijksbaron 2009, S. 248f. ad loc. und Stern-Gillet 2014, S. 35f.; ferner Kambylis 1965, S. 61. Vgl. Th. 32 u. 38 und oben Abschnitt B.I.2.2.3.2 für diese Auslegung der Wendungen. Für die Symbolik der zu Hesiods Dichterweihe gehörigen Elemente s. Kambylis 1965, S. 61-8; Stoddard 2003; Semenzato 2017, S. 88-91. Zu der ambivalenten oder scheinbar ambivalenten, vieldiskutierten Aussage der Musen bezüglich ψεύδεα, ἔτυµα und ἀληθέα in den Versen 27f. fasst Stoddard 2004, S. 68 (mit Anm.) die wichtigsten Positionen zusammen; s. außer den dort genannten Beiträgen auch Heiden 2007; Pucci 2009, S. 42f.; Kloss 2010; Semenzato 2017, S. 84-7; dazu Stoddard 2004, S. 79-87 selbst. Für die Inspiration Hesiods stellt sich auch Pucci 2009, S. 42f. gemäß die Frage nach Wahrheit oder Lüge jedoch nicht: „Hesiod, of course, does not articulate this situation: he knows that the Muses know and can sing the full truth, and moreover he recounts […] the act of investiture through which the Muses made him their minister […]: accordingly he and his audience may feel assured that they will tell him the truth” (ebd., S. 43). Vgl. ebenso u. a. Kannicht 1996, S. 193f.; Wheeler 2002, S. 34f.; Kloss 2010, S. 250f. u. 259; anders Clay 2003, S. 58f. Stern-Gillet 2014, S. 29-38 setzt sich ausführlich mit der Frage auseinander,

274 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie dies wird im Prooimion der Theogonie fassbar in der mehrdimensionalen ‚Verschmelzung‘ von Muse und ἀοιδός. In den Werken und Tagen berichtet ‚Hesiod‘ von seiner Fahrt nach Chalkis – der einzigen Schiffspassage seines Lebens – und der Teilnahme am dortigen Sängerwettstreit. Er kehrt nicht mit leeren Händen nach Askra zurück: ἔνθα µέ φηµι ὕµνῳ νικήσαντα φέρειν τρίποδ’ ὠτώεντα. τὸν µὲν ἐγὼ Μούσῃσ’ Ἑλικωνιάδεσσ’ ἀνέθηκα ἔνθα µε τὸ πρῶτον λιγυρῆς ἐπέβησαν ἀοιδῆς. τόσσον τοι νηῶν γε πεπείρηµαι πολυγόµφων· ἀλλὰ καὶ ὣς ἐρέω Ζηνὸς νόον αἰγιόχοιο· Μοῦσαι γάρ µ’ ἐδίδαξαν ἀθέσφατον ὕµνον ἀείδειν.

660

Dort rühme ich mich | im Gesang siegreich gewesen zu sein und einen Dreifuß mit Henkeln davongetragen zu haben. | Den habe ich den helikonischen Musen als Weihgabe aufgestellt | an dem Ort, wo sie mich zum ersten Mal zum helltönenden Sang gebracht haben. | So viel Erfahrung habe ich also mit festgefügten Schiffen. | Aber auch so werde ich die Gesinnung des Aigishalters Zeus künden; | denn die Musen haben mich gelehrt, einen sagenhaften Hymnos zu singen. Hes. Op. 656-62

ob das Lehren der καλὴ ἀοιδή (Th. 22) generisch als Verleihung einer Fähigkeit (der des Gesanges) oder spezifisch als Eingabe eines konkreten Liedes (der Theogonie) zu verstehen sei. Sie kommt – auch im Vergleich mit Homers Gebrauch des Ausdrucks und der Passage Hes. Op. 658-62 – zu dem Ergebnis, dass die Musen bei dem Hirten die allgemeinen Grundvoraussetzungen schüfen, die zum Singen und Dichten nötig seien, dies aber dann auf eine spezifisches Lied – die Theogonie (und später die Erga) – abziele (vgl. ähnlich Barmeyer 1968, S. 93f.). Es ist aber durchaus möglich, alle Schritte und auch die allgemeine Einleitung in V. 22 generisch aufzufassen. Insbesondere beeinflusst die unnötige Annahme, dass sich Hes. Op. 661f. spezifisch auf den Inhalt der Erga und die Schiffahrtspassage beziehe, SternGillets Auslegung (s. ebd., S. 333 u. 336f.). Doch der νόος des Zeus (Op. 661) prägt die Theogonie als τέλος der Weltentstehung ebenso wie die Erga insgesamt als den menschlichen Verrichtungen zugrunde liegendes Ordnungsprinzip; s. auch unten Abschnitt B.I.3.3.1.

2

Das Prooimion

275

Der intertextuelle Bezug zur Dichterweihe in der Theogonie ist deutlich: Dies zeigen die inhaltlichen Anspielungen ebenso wie wörtliche118 Anklänge. Es ist daher legitim, die Passagen miteinander in Beziehung zu setzen. In den Versen aus den Erga wird deutlich, dass Hesiod ‚seine‘ Begegnung mit den Musen innerhalb des Textes bzw. der Texte als reales Erlebnis konzipiert hat:119 Wenn sie sogar ein Weihgeschenk am kritischen Ort nach sich zieht, so soll die Dichterweihe als tatsächlich geschehen verstanden werden. 118

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Beachtenswert sind hier die analogen Formulierungen καλὴν ὲδίδαξαν ἀοιδήν (Th. 22) und ἐδίδαξαν ἀθέσφατον ὕµνον ἀείδειν (Op. 662). Kambylis 1965, S. 52-61 diskutiert ausführlich drei mögliche Ausdeutungen der Dichterweihe als literarische Fiktion, Traum oder reales Erlebnis und landet durch Ausschluss der beiden erstgenannten Möglichkeiten bei der dritten. Eine lange Reihe weiterer Philologen lesen Hesiods Dichterweihe (auto)biographisch, darunter konsequent etwa Latte 1945; von Fritz 1966= 1956, S. 298f. u. passim; Otto 1961, S. 32f.; Marquardt 1982, S. 4f. und passim; Stein 1990, S. 8-13. S. auch Stoddard 2004, S. 6f. u. 34f. für eine Zusammenfassung solcher Positionen. Den ‚Gefahren‘ der autobiographischen Lesart – etwa durch Voreingenommenheit gegenüber dem archaischen Dichter – widmet sich ausführlich Stoddard 2004, S. 1-59 in der Vorstellung ihres narratologischen Ansatzes. – Für das Verständnis des Textes spielt es aber selbstverständlich keine Rolle, ob Hesiod den Göttinnen wirklich begegnet zu sein meint oder nicht (vgl. Kloss 2010, S. 245f.): Entscheidend ist, dass der Erzähler das Treffen als reale Begebenheit darstellt, was unzweifelhaft der Fall ist – Anzeichen etwa für eine Traumvision finden sich, trotz späterer Ausdeutungen in diese Richtung, innerhalb des Textes nicht (s. Kambylis 1965, S. 55-59), auch gibt es keine Indizien für unzuverlässiges Erzählen; ebensowenig hat die von West 1966), S. 159f. ad loc. vorgestellte Möglichkeit der literarischen Konvention Einfluss auf den beigegebenen Charakter des ‚realen‘ Erlebnisses. Die Ebenen, auf denen sich die Frage nach der Fiktionalität abspielen kann, sind dabei durchaus komplex, wie Kloss 2010 zeigt. So formuliert er das ‚Dilemma‘ des epischen Dichters: „Every epic poet, as well as every attentive listener knows that the Muses are objects of fictional texts. Nevertheless, everyone pretends that they are the subjects of factual texts” (ebd., S. 259). ‚Hesiods‘ Helikon-Erlebnis sei „from within the ‘rhetoric of the Muses’ (that is, the traditional locus of epic discourse)“ (ebd., S. 260) als „factual text“ (ebd.) zu verstehen, während zugleich die Rede der Musen (Th. 26-8) auf einer höheren Ebene mittels eines intertextuellen Dialogs mit der Odyssee eben doch implizit auf den fiktionalen Charakter der Dichterweihe verwiese (vgl. ebd., insbes. S. 257-60).

276 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie Ereignet hat sie sich am Helikon. Auch diese Tatsache scheint bedeutungsvoll und nicht beliebig zu sein: Deutlich geworden ist dies durch die sorgfältige Ausgestaltung des helikonischen Hymnos, worin die Göttinnen immer erlebbar bleiben. Nicht umsonst sind der erste Vers der Theogonie und Vers 658 der Erga die einzigen Stellen in Hesiods Werk, an denen die Musen das Epitheton Ἑλικωνιάδες erhalten. Der lokale Beiname dient offenbar dazu, bestimmte Eigenschaften der Göttinnen, die ja mit den bekannten olympischen Musen identisch sind, in den Vordergrund rücken; Eigenschaften, die für die Begegnung mit Hesiod entscheidend sind.120 Abgesehen davon, dass die Musen im helikonischen Hymnos als greifbare Göttinnen dargestellt werden, ist die Begegnung, wie sich gezeigt hat, auch so konzipiert, dass sie außerhalb der Dichtung ebenfalls als real gelten kann: Dies äußerte sich in der behutsamen Vermeidung aller Hinweise auf einen direkten Kontakt haptischer oder visueller Art.121 Wenn nun der Dichter so explizit die Begebenheit in Beziehung zu einer konkreten Lokalität setzt und diese zudem auch genauer beschrieben wird,122 so ist es legitim zu fragen, einerseits, in welcher Art diese Lokalität für das Ereignis und seine Folgen entscheidend ist; andererseits aber auch, welcher Natur das Ereignis ist – konkret, für welche Art von ‚Erlebnis‘ in der Landschaft die Dichterweihe stehen kann. Der Ansatz folgt dabei keineswegs historisch-biographischen Pfaden, sondern zielt darauf ab zu ermitteln, welches Wahrnehmungskonzept von Landschaft die hesiodeische Dichterweihe-Szene impliziert. Dieses Konzept kann dabei selbst schon dichterischer – soll heißen gestalteter – Natur sein. Eine weitere Frage wird sein, ob über die gewonnenen Erkenntnisse wiederum Rückschlüsse auf das Konzept der Musen und ihr Verhältnis zum Dichter möglich sind.

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Vgl. Lenz 1980, S. 148; Marquardt 1982, S. 3. Bemerkenswert ist, dass hier gerade dadurch, dass Hesiod nicht behauptet, die Musen gesehen zu haben, von einer wahren Begebenheit die Rede sein kann, während eigentlich in der archaischen Vorstellungswelt Wahrheit mit Augenzeugentum verknüpft ist (vgl. Puelma 1989, S. 67). Vgl. Th. 2-7.

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Musen und Landschaft

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Musen und Landschaft

Die ersten beiden Kapitel der vorliegenden Studie haben bereits eine grundsätzliche Nähe der Musen zur landschaftlichen Struktur von Berg und Quelle offengelegt. Die Göttinnen erscheinen immer wieder, wenn auch bei weitem nicht ausschließlich, im Zusammenhang mit der freien Natur. Dies geschieht prominent in literarischen Texten – insbesondere ab dem Hellenismus – aber auch im Kult. Besonders das Heiligtum im Tal der Musen betont durch seine Lage und Gestaltung diesen Aspekt der Göttinnen. Auch eine Ähnlichkeit zu den Nymphen tritt in Zeugnissen verschiedenen Charakters immer wieder implizit oder explizit zu Tage.123 Ohne dass über die Voraussetzungen dieses Verhätlnisses in archaischer Zeit genaue Aussagen möglich wären, ist zu konstatieren: Hesiod gibt ‚seiner‘ Begegnung mit den Musen einen bestimmten topographischen Rahmen, in dem die Göttinnen agieren, und die Landschaftselemente Berg und Wasser sind Teil seiner Schilderung. So nennt er in den Versen 2-6 den Helikon allgemein, eine zunächst nicht weiter spezifizierte Quelle, den Permessos, die Hippoukrene und den Olmeios als Aufenthalt der Musen.124 Eine im weiteren Sinne landschaftliche Aussage verbirgt sich auch in den Worten „umhüllt von viel Nebel“ (Th. 9: κεκαλυµµέναι ἠέρι πολλῷ), die den nächlichen Zug der Musen fort vom Gipfel des Helikon näher beschreiben. Immerhin bewegt der Ausdruck Schachter zu folgender begeisterten Äußerung: Anybody who has been to Mount Helikon more than once will be struck by the accuracy of the imagery. It can be an eerie place; or, it can be a

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Offen muss die Frage bleiben, wann und wie diese Verbindung zu den Nymphen und zur freien Natur entstanden ist und welche Funktionen genau sie im Kultzusammenhang erfüllt, vgl. oben Abschnitt A.I.3.2. Auf der anderen Seite ist die exemplarische Erforschung der Funktion in literarischen Texten Thema dieses Kapitels. Den Versuch einer Verortung der genannten Orte in der heute bestehenden Landschaft unternimmt u. a. Wallace 1974; s. auch Aravantinos 1996. Vgl. oben Abschnitt A.II.2.2.

278 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie delightful one. In short, it is a perfect home for goddesses who may smile or frown at one as they please and without warning.125 125

Schachter 1986, S. 154 Anm. 2. Diese vergnügliche Bemerkung gibt der Verfasserin die Gelegenheit zu bemerken, dass der Helikon mit seinem „eerie“ Gesicht ihr den Weg zur Hippoukrene beim ersten Versuch verwehrte, die Musen aber beim zweiten Versuch durchaus ein Lächeln schenkten. – Die eigentliche Frage besteht natürlich darin, ob ἀήρ hier etwas ist, das man sieht – also Nebel und somit tatsächlich ein im weiteren Sinne ‚landschaftliches‘ Element – oder ob er nur das ist, was macht, dass man die Musen nicht sieht. Letzteres unterstützt West 1966, S. 155 ad loc.: „[...] the regular epic way of saying ‚invisible‘. It is misleading to translate ἀήρ ‚mist‘ in such contexts: mist is something visible, and ἀήρ is the very stuff of invisibility.“ Dagegen Verdenius 1972, S. 228 ad loc.: „It is wrong to say that ‘ἀήρ is the very stuff of invisibility’ (West). Hom. P 649 ἠέρα µὲν σκέδασεν καὶ ἀπῶσεν ὀµίχλην and θ 562 [...] show that it is something visible.“ Die angegebenen Stellen belegen jedoch lediglich, dass ἀήρ ohne Frage in einigen Kontexten durchaus etwas Sichtbares bezeichnen kann: Wenn Zeus in Il. 17, 649 den Nebel zerstreut, der das Schlachtfeld bedeckte, und zwar um αἴθρη (vgl. Il. 17, 646) herzustellen, dann war der Zweck des ἀήρ nicht, jemanden unbemerkt an einen anderen Ort gelangen zu lassen, sondern die allgemeine Sicht zu behindern. Wenn Alkinoos in Od. 8, 557-63 stolz erzählt, wie sicher die Schiffe seines Volkes „ἠέρι καὶ νεφέληι κεκαλυµµέναι“ (Od. 8, 562) jeden Hafen erreichen, so ist die Pointe seiner Rede nicht, dass sie ungesehen die Meere befahren, sondern eben, dass widrige Umstände wie schlechte Sicht den Navigationskünsten der Phäaken keinen Einhalt gebieten können. Man kann hier also nicht mit Recht von einem vergleichbaren Kontext sprechen. Die Paradestelle für Unsichtbarkeit mittels ἀήρ ist natürlich Od. 7, 14-17 u. 139-145, wo Odysseus mithilfe von Athenes Künsten im Verborgenen den Palast des Alkinoos betritt. Ob ἀήρ dort ein sichtbarer Stoff ist oder nicht, lässt sich nicht entscheiden. Das schlagende Argument für die zweite Variante ist freilich, dass eine wandelnde Nebelwolke gewiss einiges an Aufsehen erregt hätte; es ist aber fraglich, ob es erlaubt ist, das Bild so weit zu hinterfragen. Ebenfalls keinen Aufschluss gibt der von West zitierte Vers 223 aus Hesiods Erga. Für die vorliegende Stelle ergibt sich also keine eindeutige Lösung. Da es sich jedoch bei Nebel um ein Phänomen handelt, das in den Bergen durchaus zu beobachten ist (was Schachters Aussage auch für die kritische Örtlichkeit bestätigt), ist es vielleicht am naheliegendsten – auch in Hinblick auf den eher nüchternen Ton, den Hesiod in den ersten Versen des Prooimions anschlägt (s. dazu im Folgenden), ἀήρ als sichtbares Element zu begreifen, das die Sicht auf die Göttinnen verhindert. Zu vergleichen wäre in diesem Fall etwa Il. 17, 551, wo Athene sich in eine

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Musen und Landschaft

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Es ergibt sich die Frage, inwieweit diese Elemente dabei über das Bilden einer angemessenen Kulisse hinaus eine Rolle spielen und ob sie mit der ‚Wirksamkeit‘ der Musen in Verbindung stehen. Eine genaue Betrachtung von Hesiods Darstellung sowohl der Göttinnen als auch der zugehörigen Landschaft wird Aufschluss bringen. 3.1

Hesiods nymphische Musen

Die Musen des helikonischen Hymnos (Th. 1-35) werden anders dargestellt als die des olympischen Hymnos (Th. 36-79). So tragen erstere – anders als letztere – dezidiert nymphenhafte Züge, wie schon Marquardt herausstellt.126 Hesiod hebt im ersten Vers des Prooimions an, von den Μοῦσαι Ἑλικωνιάδες zu singen; und er beschreibt in den Folgeversen Wesen und typische Beschäftigungen dieser Gottheiten genauer. In den Versen 2-10, und insbesondere in den Versen 3-8, zeigen sie auffällige Parallelen zu den Eigenschaften der Nymphen. Die Musen werden vom Rezipienten beim Tanz angetroffen: Das ist für die Göttinnen des Sanges durchaus nicht ungewöhnlich;127 aber hier tanzen sie um eine Quelle herum, das heißt, ihr Tun wird mit ihrer Umgebung in Verbindung gesetzt.128 Sie baden zudem in Quellen und Flüssen, die ausdrücklich mit Namen bezeichnet werden. So entsteht der Eindruck einer örtlichen Gebundenheit,

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purpurne Wolke gehüllt (πορφυρέηι νεφέληι πυκάσασα ἕ’ αὐτήν) ins Lager der Achaier mischt. Ausdrücklich verglichen wird sie mit einem Regenbogen, also auch einem sichtbaren Naturphänomen (vgl. Il. 17, 547-50). S. Marquardt 1982. Den nymphischen Charakter von Hesiods helikonischen Musen heben auch Latte 1945, S. 155-8 und Kambylis 1965, S. 38-47 hervor, wenn auch weniger aus dem Text selbst heraus als mit Bezug zur ‚außerhalb‘ denkbaren Nähe von Musen und Nymphen in Hesiods Zeiten. S. ferner auch die allgemeine Bemerkung bei Minton 1970, S. 366. Zur Bestätigung reicht bereits ein Blick in den olympischen Hymnos Th. 3679. Vgl. etwa den homerischen Hymnos auf Pan, wo von den νύµφαι ὀρεστιάδες (h. Pan. 19) gesagt wird: „ἐπὶ κρήνῃ µελανύδρῳ | µέλπονται“ (h. Pan. 20f.). Zur engen Verbindung von Nymphe und Quelle vgl. oben Abschnitt A.I. 3.2.1.

280 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie wie sie zwar auch bisweilen für die Musen attestiert ist, vor allem aber die Nymphen charakterisiert. Die Beschreibung der Szene ist so gestaltet, dass die Göttinnen auch physisch präsent werden.129 Die „zarten Füße“ (Th. 3: πόσσ’ ἁπαλοῖσιν), das Baden der „feinen Haut“ (Th. 5: λοεσσάµεναι τέρενα χρόα) erfüllen den erzählten Raum mit greifbarer Körperlichkeit. Dazu sind ihre Tänze „schön“ und „liebreizend“ (Th. 8: καλοὺς ἱµερόεντας).130 Die Musen erhalten auf diese Weise „a sensual, sexual aura“131, die sonst die Nymphen umgibt. Auch der Ausdruck, mit der die Art des Tanzes beschrieben wird – „sie schwangen sich herum mit ihren Füßen“ (Th. 8: ἐπερρώσαντο δὲ ποσσίν) – gibt ihrem Tun eine den Nymphen eigene Ungebundenheit und Wildheit: Dem Verb wohnt in der vorliegenden sowie in der einfachen Form ῥώοµαι eine Konnotation von lustvoller, ungestümer Bewegung inne.132 Tritt es in den frühen Texten als Bezeichnung für Tanzbewegungen auf, so sind es, wie Marquardt vermerkt, immer Tänze der Nymphen, die beschrieben werden.133

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Vgl. zu diesem Absatz auch Marquardt 1982, S. 1f. – S. ferner Semenzato 2017, S. 76f. ἱµερόεις tritt in Verbindung mit χορός zweimal bei Homer auf (vgl. West 1966, S. 155 ad loc.). In Il. 18, 603 wird so der Reigen von Jünglingen und Mädchen bezeichnet, den Hephaistos in den Schild des Achilles treibt. Nicht zuletzt dadurch, dass die Mädchen „viele Rinder wert“ (Il. 18, 593: ἀλφεσίβοιαι) sind, ist ein erotischer Charakter nicht zu leugnen. Die zweite Stelle ist Od. 18, 194: Athene macht Penelope schön und salbt sie mit ambrosischem Öl von der gleichen Art, wie Aphrodite persönlich es verwendet, wenn sie zum „liebreizenden Tanz“ (χορὸν ἱµερόεντα) der Chariten gehen will. Auch hier also schwingt, wie es nicht anders sein kann, wenn Aphrodite die Bühne betritt, das konkret-Sinnliche mit. – Für weitere Anwendungsgebiete des Wortes im frühen Epos s. Pucci 2007, S. 43 ad loc. Larson 2001, S. 10. Vgl. oben Abschnitt A.I.3.2.1. Die etymologische Herkunft rekurriert entweder auf ῥώµη oder auf ῥέω: Vgl. Pucci 2007, S. 43 ad loc. Verdenius 1972, S. 228 ad loc. plädiert gegen LSJ für die zweite Möglichkeit; vgl. ebenso Montanari s. v. ῥώοµαι und ἐπιρρώοµαι. S. Marquardt 1982, S. 12 Anm. 16; ferner ebd., S. 6f.: „It is tempting to see this verb as a vox propria which describes the distinctive qualities of the dancing of mountain nymphs.“

3

Musen und Landschaft

281

Die helikonischen Musen treten, Nymphen gleich, in unbestimmter Vielzahl auf. Bezeichnenderweise wird die Neunzahl, zusammen mit ihren Namen, erst im olympischen Hymnos genannt, wenn Wille und Ordnung des Zeus im Vordergrund stehen, nicht das persönliche Erleben ‚Hesiods‘ am Helikon.134 Die Begegnung zwischen Dichter und Musen selbst findet zunächst ebenfalls unter ‚nymphischen‘ Bedingungen statt.135 Da ist der Hirte ‚Hesiod‘, den der Rezipient bei seinen Herden antrifft, nicht etwa, was die Erga ja durchaus als möglich erscheinen lassen, einen Bauern auf seinem Acker.136 Die Zusammenstellung von Schäfer und Nymphe ist eine der typischsten Formen im Aufeinandertreffen von Menschen mit den Naturgottheiten.137 Aus der Eigenschaft des Hirten folgt zwangsläufig die Ferne seines Aufenthaltsortes von menschlicher Behausung und Zivilisation; die Wildheit des Berges liegt, auch wenn Hesiod sich „am Fuße des Helikon“ (Th. 23: Ἑλικῶνος ὑπὸ ζαθέοιο) befindet, über der Szene.138 Die Musen bestätigen es selbst, wenn sie die Anrede „Hirten vom Feld“ (Th. 26: ποιµένες ἄγραυλοι) wählen. Auch der derbe Ton der Scheltrede kann als Anlehnung an die konkrete Erlebbarkeit der Göttinnen gelten. 134

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138

Vgl. hierzu Marquardt 1982, S. 4: „It is not surprising that he refers to them only as a vague plurality since he is recounting a personal, religious experience and not delineating a divine hierarchy. It is in the second proem, where they are exclusively Olympian Muses, that Hesiod proceeds to define their number, assigning them individual names (77-79) and stressing their relationship to Zeus.“ Vgl. ebd., S. 2. Vgl. Th. 23: ἄρνας ποιµαίνονθ’. Diesen Vergleich mit der Hesiod-persona der Erga erlaubt Hesiods eigener intertextueller Verweis in Op. 656-62 (vgl. oben Abschnitt B.I.2.3). Vgl. für entsprechende Hinweis im frühen Epos Hom. Il. 6, 21-26 und 14, 444f.; außerdem h. Pan. 19, 5, wo die Nymphen sich um Pan als νόµιος θεός scharen; ferner Hom. Od. 14, 434-36, wo der Hirte Eumaios vor dem Mahl dem Hermes und den Nymphen als den ureigenen Schutzgöttern seiner Zunft opfert. S. allgemein auch oben Abschnitt A.I.3.2.1. – Stoddard 2004, S. 75-9 sieht sogar in der Wahl der persona des Hirten eine allegorische Anspielung auf die Begegnung von Gott und Mensch schlechthin. Der Helikon entspricht in Hesiods Darstellung daher zweien der von Buxton angezeigten Aspekte: Die Umgebung erweist sich als „outside and wild“ ebenso wie als „place for reversals“; vgl. dazu oben Abschnitt A.I.2.1.

282 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie In den Worten der Musen spiegelt sich aber gleichzeitig ihre Verschiedenheit von den Nymphen wider: Sie bleiben eben doch Musen. Denn in dem tadelnden Ton und der derben Beschimpfung „elendes Gesindel, nichts als Bäuche“ (Th. 26: κάκ’ ἐλέγχεα, γαστέρες οἶον) zeigt sich ihre Abgrenzung vom ländlichen, primitiven Charakter der Hirten: Sie sind nicht ἀγρονόµοι wie etwa die Nymphen Homers,139 sondern die Göttinnen, die Hesiod zum erhabenen ἀοιδός weihen: Μοῦσαι Ὀλυµπιάδες (Th. 25).140 Dass die Göttinnen auf dem Helikon trotz nymphischen Auftretens ihren Charakter als Musen nicht verlieren, zeigt – neben ihrer Macht, einen Hirten zum Dichter und Sänger zu machen – nicht zuletzt auch die ausführliche Darstellung des besungenen Stoffes in den Versen 11-21. Symptomatisch für Hesiods helikonische Musen ist, dass sie eben nicht einfach singen, wie es Nymphen normalerweise tun, sondern dass sie, wie es ihre Aufgabe ist, das Geschlecht der Götter in ihren Liedern preisen. Sie verlassen dazu den Ort des sinnlichen Badens und Tanzens.141 Dennoch besteht ein Unterschied zwischen dem Gesang auf dem Helikon und dem Gesang auf dem Olymp: Die Musen des Olymps geben ein klar strukturiertes Lied von sich: πρῶτον (Th. 44) besingen sie die Götter, die Gaia und Ouranos gezeugt haben, und deren Nachkommen, und zwar ἐξ ἀρχῆς (Th. 45); δεύτερον (Th. 47) Zeus und seine Stärke; αὖτις

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Hom. Od. 6, 106. Diesen doppelten Charakter von ἄγραυλος betont auch Arthur 1983, S. 101: [...] Hesiod’s phrase, poimenes agrauloi, has as its referent the horizontal opposition between the city and the wild and the vertical opposition between gods and men“. Beide Gegensätze werden durch die Dichterweihe überwunden: Es entsteht einerseits eine besondere Verbindung des ehemaligen Hirten zu den Musen; andererseits erhält der ἀοιδός eine besondere Funktion im Kreise der Gesellschaft einer Stadt (vgl. Th. 98-103). – Stoddard 2004, S. 71-9 betont vor allem den vertikalen Gegensatz zwischen Menschen und Göttern, der sich in der direkten Rede der Musen offenbare; vgl. auch Clay 2003, S. 57. – Für eine Deutung der Anrede der Musen (Th. 26) in ihren Bestandteilen s. etwa Latte 1945, S. 158f.; West 1966, S. 161f. ad loc.; Marquardt 1983, S. 100-104; Katz und Volk 2000; Furley 2004; Stoddard 2004, S. 71-9. S. Th. 9f. Diesen Umstand betont auch Marquardt 1982, S. 7: „[T]heir dancing is noticeable separated from the song they sing honoring Zeus and the Olympian gods“.

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Musen und Landschaft

283

(Th. 50) dann das Geschlecht der Menschen und Giganten.142 Die Verse sind eindeutig auf Zeus hin ausgerichtet: Zunächst muss seine Herkunft geklärt werden, bevor er selbst Thema sein kann; Menschen und Giganten sind weitere Gruppen, über die er König ist.143 Der Zweck, nämlich Zeus zu erfreuen, tritt deutlich hervor und wird auch expliziert.144 An erster Stelle wird Zeus auch in der Aufzählung im helikonischen Hymnos genannt; sonst lässt sich für dieses Lied der Musen allerdings kein absichtsvolles kohärentes Schema ermitteln, weder chronologischer noch hierarchischer Art.145 Die Beliebigkeit, die den Versen innewohnt, kann als dem ungebundeneren Charakter der helikonischen Musen entsprechend aufgefasst werden. Hier wie dort rühmen sie zwar das Göttergeschlecht, doch trägt diese Tätigkeit im olympischen Hymnos mehr die Färbung einer Ausübung der – göttlich – zugewiesenen Timai.146 142

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S. Th. 44-50; vgl. auch Hamilton 1989, S. 12f.; Stoddard 2004, S. 131; Nünlist 2007, S. 47. Dass Zeus unter den Göttern die größte Macht besitzt, wird in V. 49 erwähnt. Unter diesem Gesichtspunkt scheint auch die Nennung der Giganten in V. 50 nicht verwunderlich, die bei einer chronologischen Auffassung aus dem Rahmen fiele. Vgl. Th. 51 (ὑµνεῦσαι τέρπουσι Διὸς νόον ἐντὸς Ὀλύµπου) und Th. 36f. (ταὶ Διὶ πατρὶ | ὑµνεῦσαι τέρπουσι µέγαν νόον ἐντὸς Ὀλύµπου). Vgl. dazu Hamilton 1989, S. 12: Die Passage sei „chaotic no matter how one juggles the lines, and it is probably meant to be chaotic. It is a simple list; it begins with Zeus and Hera (11f) [...]. The list moves back in time through the children of Zeus (Athena, Apollo, Artemis, 13f) to his brother Poseidon (15) and then the generation of Ouranides (Leto, Iapetos, Kronos, 18) and finally the primeval powers (Gaia, Oceanus, Night, 20), but mixed in are the strange combination of Themis, Aphrodite, Hebe and Dione (16f) before the Ouranids and Dawn, Sun and Moon (19) after them.“ Hinzugefügt werden muss noch das angehängte, ebenso beliebig wirkende „ἄλλων τ’ ἀθανάτων ἱερὸν γένος αἰὲν ἐόντων“ (Th. 21). S. auch Clay 1988, S. 324-7; Nünlist 2007, S. 47f. Vgl. Siegmann 1958=1966, S. 319: „Dieses Lied ist identisch mit dem früheren, aber sein gewaltiger Inhalt wird nicht durch eine bloße Herzählung der Götternamen angedeutet, wie im ersten hymnischen Teil. Sondern der Ton liegt hier darauf, daß in dieser von den Musen besungenen Göttervielheit gewisse Ordnungen stecken, Ordnungen nach Rang und Zeit, und daß diese Ordnungen in ihrem Liede sichtbar werden.“ – Über die Verschiedenheit der beiden Lieder rätselt Nünlist 2007, S. 47: „The difference would

284 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie Es ist signifikant, dass die Musen im olympischen Hymnos nicht den nymphischen Charakter tragen. Zwar treten sie auch dort singend und tanzend auf, doch ihr Gesang und Tanz ist immer der der Musen; seine „Weltbedeutung“147 äußert sich in der Reaktion des Zeus und dem Widerhall der Erde. Die Musen erfüllen mit ihren Liedern eine Aufgabe im Rahmen der von Zeus gegebenen Ordnung.148 Grundsätzlich liegt der Schwerpunkt im olympischen Hymnos (Th. 36-79) mehr auf dem Gesang und seiner Wirkung.149 Von Tanz ist in den Versen 63 und 66 die Rede, im ersten Fall in Form einer Erwähnung der Tanzplätze: ἔνθα σφιν λιπαροί τε χοροὶ καὶ δώµατα καλά· dort haben sie glänzende Tanzplätze und schöne Wohnstätten150 Hes. Th. 63

Im zweiten Fall erscheint ein entsprechender Begriff nur als ergänzendes Beiwerk zum Preisgesang:

147

148 149 150

perhaps not bother us too much, were it not for the fact that both passages are ‘omnitemporal’. How can the Muses be imagined as permanently singing a song that is both chronological and in reverse order?“ Hierin verbirgt sich jedoch ebensowenig eine Problematik (oder: genau dieselbe), wie die gleichzeitige Existenz helikonischer und olympischer Musen ein Widerspruch ist (vgl. oben Abschnitt B.I.2.2.1.2). Otto 1961, S. 29: „Auch die Nymphen singen [...]. Aber das ist nur ein schwacher Nachklang des Musengesanges und nicht zu vergleichen mit seiner Weltbedeutung.“ Diesen Aspekt betont auch Marquardt 1982, passim. Vgl. Siegmann 1958=1966, S. 318; Marquardt 1982, S. 7f. Diese Stelle birgt zugleich einen Anklang an den helikonischen Hymnos, da neben den Chariten auch Himeros – typische Begleiter der Aphrodite (vgl. Marquardt 1982, S. 2) – als Nachbar der Musen erscheint. Es entsteht eine assoziative Verknüpfung zu den χοροὶ ἱµερόεντες (vgl. Th. 7f.) auf dem Gipfel des Helikon. Gleichwohl trägt diese Stelle einen ‚zivilisierteren‘ Charakter, da von δώµατα (Th. 63) und οἰκία (Th. 64) die Rede ist (vgl. auch Marquardt 1982, S. 8). Durch die Personifikationen – die göttliche Nachbarschaft – besteht ein abstrakteres Verhältnis, während in V. 7f. das Adjektiv direkt auf den Tanz der Musen angewandt wird.

3

Musen und Landschaft

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ἐρατὴν δὲ διὰ στόµα ὄσσαν ἱεῖσαι µέλπονται, πάντων τε νόµους καὶ ἤθεα κεδνὰ ἀθανάτων κλείουσιν, ἐπήρατον ὄσσαν ἱεῖσαι. Und durch ihren Mund ihre liebliche Stimme fahren lassend | singen und tanzen sie, sie rühmen die Verfügungen und die trauten Gebräuche | von allen Unsterblichen, ihre liebreizende Stimme fahren lassend. Hes. Th. 65-7

µέλπονται bildet in der Konstruktion zwar den Kern des Hauptsatzes, er besteht aber nur aus diesem einen Wort und ist eingeschlossen von Ausdrücken, die verhältnismäßig ausführlich das Singen beschreiben. Ohnehin bedeutet der Begriff nur in zweiter Linie ‚tanzen‘, zumeist aber ‚singen‘.151 Das Tanzen ist dann als nicht zu trennender Bestandteil des Singens gedacht. Ein ähnlicher Fall liegt auch in der Episode vom Zug zum Olymp vor: περὶ δ’ ἴαχε γαῖα µέλαινα ὑµνεύσαις, ἐρατὸς δὲ ποδῶν ὕπο δοῦπος ὀρώρει νισοµένων πατέρ’ εἰς ὅν· Die dunkle Erde hallte rings wider | von ihren Preisliedern, ein lieblicher Schall stieg unter ihren Füßen auf, | als sie zu ihrem Vater gingen. Hes. Th. 69-71

Dies ist die einzige breitere Schilderung vom Tanz der Musen im olympischen Hymnos. Im Fokus befindet sich auch hier nicht die Tätigkeit an sich, sondern ihre Wirkung auf die Welt im Zusammenhang mit dem Gesang. Bezeichnenderweise ist der Aspekt, der aus den Konnotationen des Tanzes gewählt wird, wieder der des Schalls. Zudem ist hier von den ungestümen Bewegungen des helikonischen Teils keine Spur: „The dancing […] is more structured and appears to be a procession accompanied by chanting […].“152 Es entspricht dem erdverbundenen Charakter des helikonischen Hymnos, dass die Musen dort mit den Nymphen verschmelzen, ohne freilich die vollständige Identifikation einzugehen.153 Beachtet man die 151 152 153

Vgl. LSJ s. v. µέλποµαι und s. v. µολπή. Marquardt 1982, S. 7 unter Einbeziehung von Th. 68. Vgl. Kambylis 1965, S. 39; Marquardt 1982, S. 8f.

286 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie Tatsache, dass beispielsweise Homers Musen keine nymphenhaften Züge tragen und dass Hesiod eben nur den Musen auf dem Helikon, nicht denen auf dem Olymp diese Züge verleiht, so ist daraus zu schließen, dass es sich um eine ganz absichtsvolle Ausgestaltung handelt. Die Darstellung der Szenerie in dieser Art bestätigt, dass das als real dargestellte Erlebnis – eine Begegnung mit nymphischen Musen – ein Erlebnis in und mit der Landschaft ist. Wenn nun diese nymphenhaften Wesen gleichgesetzt154 werden mit den olympischen Musen in Zeus’ Ordnung und ihren Eigenschaften, so ist zu fragen, welche Implikationen diese Tatsache für das Landschaftserlebnis in sich birgt.155 Dazu soll zunächst Hesiods Darstellung der Landschaft in den Blick geraten. 3.2

Die Landschaft der Musen

Die Landschaften in den beiden Hymnen sind von unterschiedlicher Qualität, entsprechend ihrem jeweiligen Charakter. So begegnet der Olymp dem Rezipienten durchgehend als unerreichbarer, mythisch-göttlicher Ort, während der Helikon konkrete, greifbare Züge annimmt. Dies äußert sich auf verschiedene Weise. Auffällig ist zunächst, dass Hesiod die Örtlichkeiten auf dem Helikon genau benennt. Die Musen baden in Flüssen und Quellen mit konkreten Namen:

154 155

Dass dies der Fall ist, hat Abschnitt B.I.2 erwiesen. Marquardt 1982 hingegen richtet eine entsprechend anders ausfallende Frage eher an den Autor als an den Text. Denn sie schließt in diesem Sinne, dass die Musen in den unterschiedlich ausgestalteten Hymnen einem inneren Impetus Hesiods entsprechend jeweils in der lokal verehrten und in der ‚neueren‘ olympischen Variante erschienen: „Since Hesiod’s village of Ascra lay on the slopes of Mt. Helicon […] and since he is the earliest poet to call the Muses Heliconian, it is not unreasonable to suppose that he was familiar with their worship, perhaps as a devotee, and that even after he aligned himself intellectually with Olympian religion, he still retained a lingering affection for the old cult and the local goddesses“ (ebd., S. 5; vgl. S. 8f.). Diese Herangehensweise wird dem Text jedoch nicht gerecht.

3

Musen und Landschaft

287

καί τε λοεσσάµεναι τέρενα χρόα Περµησσοῖο ἢ Ἵππου κρήνης ἢ Ὀλµειοῦ ζαθέοιο und sie waschen ihre zarte Haut im Permessos | oder in der Hippoukrene oder im durchgötterten Olmeios Hes. Th. 5f.

Diese Topographie der Dichterweihe wurde, wie bereits gesehen,156 in der Folge vielfach aufgegriffen und in der sukzessiven Ausgestaltung des Musenheiligtums am Helikon berücksichtigt. Die als Hippoukrene identifizierte Brunnenstruktur stammt wohl aus archaischer Zeit. Als Tanzplatz ist zuvor neben der zunächst unbenannten Quelle auch ein Altar des Zeus angegeben: καί τε περὶ κρήνην ἰοειδέα πόσσ’ ἁπαλοῖσιν ὀρχεῦνται καὶ βωµὸν ἐρισθενέος Κρονίωνος· und um die veilchendunkle Quelle und den Altar des großmächtigen Kronossohnes tanzen sie mit sanften Füßen Hes. Th. 3f.

Eine Korrespondenz mit tatsächlichen Gegebenheiten ist auch hier möglich, barg doch der Kamm des Zagaras unter der späteren Gebäudestruktur Asche und Scherben, die einen Kultort des Zeus bezeugen.157 Die Musen erhalten also einen Tanzplatz an einem ihrem Vater heiligen Ort. Dies ist zum einen ihrem göttlichen Wesen angemessen. Die landschaftlich-topographischen Gegebenheiten des Helikon – das gilt für den Altar ebenso wie für die Gewässer – werden als passender Musenaufenthalt identifiziert. Zum anderen aber ist ein Altar, ein von Menschenhand geschaffenes Heiligtum – sei es, wie wohl eher anzunehmen ist, als zur Zeit von Abfassung und Aufführung der Theogonie tatsächlich existente Struktur, sei es als nur textimmanent als real existent propagierte Landmarke – eben für die Menschen erreichbar; auch eine Quelle, deren Namen man nennen kann, denn damit geht das Wissen von ihrer Existenz einher. Aus den geographischen Angaben muss folglich die Erkenntnis

156 157

Vgl. oben Abschnitt A.II. 2.2. Vgl. oben Abschnitt A.II.2.2.1.

288 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie erwachsen, dass es für jeden Menschenfuß möglich ist, alle Stellen zu berühren, die ein helikonischer Musenfuß je betreten hat.158 Anders ist es im olympischen Teil des Prooimions. Hier ist die einzige konkrete Angabe die Bezeichnung ‚Olymp‘159. Die Musen halten sich stets in unerreichbaren Gefilden auf. Schneebedeckt und menschenfern ist der höchste Gipfel;160 Zeus, den die Musen auf dem Olymp aufsuchen, ist König im „Himmel“ (Th. 71: οὐρανῷ ἐµβασιλεύει). Die Göttinnen sind nicht auf einem Berg in Nordgriechenland, dessen Gipfel theoretisch ersteigbar ist, sondern „ἐντός Ὀλύµπου“ (Th. 37; 51):161 Der Olymp ist als Göttersitz gedacht.162 Es ist von „δώµατα […] ἀθανάτων“ (Th. 43) die Rede, die Musen erscheinen als „Ὀλύµπια δώµατα ἔχουσαι“ (Th. 75). Sie haben auf dem Olymp ihre Wohnungen und Tanzplätze in Nachbarschaft von Chariten und Himeros, Zeus selbst ist da – nicht nur sein Altar – und die anderen Unsterblichen.163 Der Olymp scheint von Göttern und Göttlichkeit nur so zu wimmeln – die Göttlichkeit des Helikon hingegen ist einzig in dem Wort ζάθεος, „durch-

158

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In der textimmanenten Logik bleiben Musen- und Menschensphäre dennoch voneinander getrennt. Die Musen verlassen die Höhen des Helikon und treffen Hesiod an seinem Fuße. Vgl. Hes. Th. 37; 42; 51; 62; 68. Vgl. Hes. Th. 42: κάρη νιφόεντος Ὀλύµπου; Th. 62: τυτθὸν ἀπ’ ἀκροτάτης κορυφῆς νιφόεντος Ὀλύµπου. Pucci 2007, S. 80 vermerkt ad loc., die Wendung erscheine „quattro volte in Theog. 42, 62, 118, 794, sempre nello stesso contesto – le residenze degli immortali, athanatoi (le loro case, le loro sedi, il loro abitarvi). L’epiteto [...] suggerisce la totale diversità e distanza degli dèi dalle norme umane.“ Anders nimmt sich im Vergleich der Dativ ἀκροτάτῳ Ἑλικῶνι in Vers 7 aus. Viel schwächer und von anderer Qualität ist auch Verdenius’ (1972) Odysseevers 6, 46 „τῷ ἔνι τέρπονται µάκαρες θεοί“, den er anführt als homerischen Anklang an die hesiodeische Wendung (vgl. ebd., S. 242 ad loc.). Bei Hesiod selbst heißt es, ebenfalls vom Göttersitz, ἐν Οὐλύµπῳ νιφόεντι (Th. 953). Die Wendung, wie sie hier steht, führt aber viel stärker die Assoziation von Exklusivität herbei, da das ἐντός auch die Existenz eines ἐκτός impliziert. Vgl. West 1966, S. 170 ad loc.: „‘Olympus’ is here the gods’ settlement at the top of the mountain, not the mountain itself.“ Für die Wohnungen der Götter und Musen s. Th. 63-5, für Zeus Th. 36; 40f.; 51; 71-4.

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Musen und Landschaft

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göttert“164, ausgedrückt, dafür allerdings gleich dreifach in den Versen 2 und 23 (vom Helikon selbst) und in Vers 6 (vom Olmeios). Die Qualitäten des Olymps als Berg bleiben dennoch präsent: Sie verbergen sich in dem Adjektiv νιφόεις in V. 42 und 62; es gibt κάρη (Th. 42), κορυφή (Th. 62) und γαῖα (Th. 69). So bleibt die Vergleichbarkeit mit dem Helikon erhalten.165 Auch in der Interaktion der Musen mit der Landschaft zeigen sich Unterschiede. Im helikonischen Hymnos ist sie rein passiv, Berg und Gewässer sind nur das Bühnenbild für das Treiben im Vordergrund: Die neun Schwestern baden, tanzen, lassen ihre Stimme erschallen.166 Im olympischen Hymnos dagegen ist die Landschaft auf bemerkenswerte Weise in das Tun der Musen einbezogen als lebendiger, aktiv korrespondierender Part, sichtbar in den Versen 40-43: γελᾷ δέ τε δώµατα πατρὸς Ζηνὸς ἐριγδούποιο θεᾶν ὀπὶ λειριοέσσῃ σκιδναµένῃ· ἠχεῖ δὲ κάρη νιφόεντος Ὀλύµπου δώµατά τ’ ἀθανάτων.

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Und es lacht das Haus ihres Vaters | Zeus, des lautdonnernden, wenn die Lilienstimme der Göttinnen | sich verbreitet; es hallen wider die Gipfel des schneeigen Olymp | und die Häuser der Unsterblichen.

Gleiches zeigt sich in der Episode vom Zug der Musen zum Olymp: περὶ δ’ ἴαχε γαῖα µέλαινα ὑµνεύσαις, ἐρατὸς δὲ ποδῶν ὕπο δοῦπος ὀρώρει νισοµένων πατέρ’ εἰς ὅν·

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die dunkle Erde hallte rings wider | von ihren Preisliedern, ein lieblicher Schall stieg unter ihren Füßen auf, | als sie zu ihrem Vater gingen. Hes. Th. 69-71 164

165

166

Von der Mühll 1970, S. 195; vgl. auch Latte 1945, S. 157 („von Göttern erfüllt[]“) und West 1966, S. 152: „The adjective properly means not ‚holy‘ merely, but ‚numinous‘, πλήρης θεῶν.“ Die Anwesenheit der nymphischen Musen rechtfertigt diesen Ausdruck natürlich. Vgl. Barmeyer 1968, S. 59. Nur in diesem Sinne kann auch beim Olymp von ‚Landschaft‘ die Rede sein. Vgl. Th. 3-10.

290 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie γελάω, ἠχέω, ἰάχω: Die Umgebung wird vom Lied der Musen durchdrungen und gibt praktisch eine Antwort auf seinen Klang; sie wird selbst ganz Lied. Pucci weist auf die synästhetischen Qualitäten der ersten Beschreibung hin: Denn γελᾶν beinhalte Konnotationen des strahlenden Glanzes, die auch in der Lilienstimme der Musen wiederzufinden seien.167 Auch der Klang ihrer Schritte steigt aktiv auf, wie um sich zum allgemeinen Widerhall dazuzugesellen. Lohnend ist der vergleichende Blick in den helikonischen Hymnos, wo der gleiche Vorgang viel nüchterner abgehandelt wird. Es heißt dort einfach: ἐπερρώσαντο δὲ ποσσίν sie schwangen sich herum mit ihren Füßen Hes. Th. 8

An der Stelle des allumfassenden Klangerlebnisses steht also die objektive, sachliche äußere Beschreibung ohne Bezug zum Erleben durch einen Dritten. Die Erde dient als eine Kulisse, ein Requisit, das benutzt wird. Damit ist die Landschaft des Helikon im Gegensatz zu der des Olymp nicht nur erreichbar, sondern auch erlebbar und in jeder – auch geistiger – Hinsicht für den Menschen zugänglich: Sie ist konkret. Umso bemerkenswerter ist es, wenn diese konkrete Landschaft nun von nymphenhaften Musen mit Leben gefüllt wird: Die in metaphorischem Sinne erlebbaren Nymphenmusen treten auf in einer auch real erlebbaren Landschaft. Und schließlich wird die Bedeutung der helikonischen Landschaft gesteigert durch die über die Musen und ihr Lied geschaffene Verbindung zur olympischen Landschaft – verstärkt durch den Analogie schaffenden parallelen Aufbau der Hymnen. Das Klangerlebnis des Olymp wird zum Erlebnis auf dem Helikon. 3.3

Raum und Zeit

Hesiod inszeniert, so viel ist deutlich geworden, seine Dichterweihe als Landschaftserlebnis. Es ist die Landschaft, in der sich die beiden Di167

Vgl. Th. 41 (ὀπὶ λειριοέσσῃ) und Pucci 2007, S. 79f. zu Hes. Th. 40. S. auch Verdenius 1972, S. 243 ad loc.; Semenzato 2017, S. 71f.

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Musen und Landschaft

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mensionen kristallisieren, in denen sich menschliches Dasein realisiert: Raum und Zeit.168 In der Begegnung mit den Musen erfahren diese Dimensionen eine Steigerung; oder, andersherum betrachtet, die Begegnung mit den Musen ist auch eine Metapher für gesteigert wahrgenommene Landschaft. 3.3.1 Raum Die Landschaft des Helikon stellt Hesiod, wie sich gezeigt hat, als grundsätzlich erreichbar hin mit ihren konkreten, benennbaren Örtlichkeiten. Sie dient als Kulisse für das Tun von Göttinnen nymphischen Charakters: die Μοῦσαι Ἑλικωνιάδες. Der böotische Berg, das äußert sich in dem Attribut ζάθεος, ist von ihnen ‚durchgöttert‘.169 Die Landschaft erhält durch das Vorhandensein nymphischer Gottheiten die Prägung der unmittelbaren Erfahrbarkeit und Erlebbarkeit. Nymphen sind als Repräsentantinnen der Natur Göttinnen, die jedem, auch dem Hirten ‚Hesiod‘, nahe stehen können. Dass Hesiod in der dichterischen Imagination die ganz konkrete Anwesenheit der Μοῦσαι Ἑλικωνιάδες am Helikon vorschwebt, ist auch daran zu sehen, dass er offensichtlich bemüht ist, eine Erklärung dafür zu geben, warum man sie – trotz ihrer Anwesenheit – nicht sehen kann: Wenn sie ihren geschlossenen Kreis des Badens und Tanzens verlassen, sind sie „in dichten Nebel gehüllt“ (Th. 9: κεκαλυµµέναι ἠέρι πολλῷ), sie wandeln „in der Nacht“ (Th. 10: ἐννύχιαι). Bis zu diesem Punkt entspricht alles der allgemeinen Vorstellungswelt. Eine Steigerung erfährt die Landschaft durch das Lied der Musen, dessen ganze Tragweite durch die Parallelisierung mit der Landschaft und den Liedern des olympischen Hymnos kenntlich wird. Es sind eben, das ist der entscheidende Unterschied, Musen und keine Nymphen, die Hesiod auf dem Helikon walten lässt.

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Die ontologische Perspektive auf den Inspirationsakt – eingenommen vor allem von Otto 1961 und Barmeyer 1968 – rechtfertigt sich durch die Darstellung der Dichterweihe als reales Erlebnis und den massiven Eingriff in die Existenzform ‚Hesiods‘. Vgl. oben Abschnitt B.I.3.2.

292 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie Das Lied der Musen wird jeweils eingeleitet durch die Wendung ὄσσαν ἱεῖσαι (Th. 10; 43; 65; 67170), „ihre Stimme fahren lassend“. ὄσσα ist ein Begriff, der, wie Collins zeigt, ausschließlich göttlichen Klängen vorbehalten bleibt.171 Die Wahrnehmung durch einen Menschen sei nicht 170

171

Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob „ἐπήρατον ὄσσαν ἱεῖσαι“ (Th. 67) gehalten werden sollte oder nicht. Die schwer zu ertragende Doppelung mit Vers 65 hat Solmsen dazu bewegt, die Ursprünglichkeit der Worte anzuzweifeln. West 1966 und Pucci 2007 haben sie aufgrund der Überlieferung in ihre Ausgaben aufgenommen. West kommt in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen sehr konstruierten Konjekturen und dem Hinweis auf ähnliche Doppelungen in Th. 143/5 und Th. 450/52 zu dem Schluss: „The simplest explanation is that Hesiod’s invention failed him“ (a. a. O., S. 179 ad loc.). Dies ist eine nicht sehr befriedigende Erklärung. Gleichwohl ist sie nicht unberechtigt, da „ἐρατὴν δὲ διὰ στόµα ὄσσαν ἱεῖσαι“ (Th. 65) auf µέλπονται (Th. 66) abzielt, für das κλείουσιν in Vers 67 also noch eine Ergänzung möglich ist, die den Klang, das Stimmliche in den Vordergrund rückt (vgl. Th. 43f.). Pucci 2007, S. 95f. ad loc. gibt der Konstruktion den Namen der Ringkomposition und der Doppelung eine Berechtigung mit dem Hinweis, dass die so bedeutungsvolle und im Prooimion prominente schöne Stimme der Musen auf diese Weise einen Rahmen bilde für die (ebenfalls wichtigen) typischen Aktivitäten der Göttinnen: Gesang und Tanz und das Preisen der Götterordnung (vgl. Th. 66f.). Pucci macht dennoch, gewissermaßen als Trost für die verletze „acribia filologica“ (a. a. O., S. 95), einen Vorschlag für die Umgehung der Doppelung: Die Verse 65-67 könnten gelesen werden als „ἐν θαλίῃς· πάντων τε νόµους καὶ ἤθεα κεδνὰ | ἀθανάτων κλείουσιν, ἐπήρατον ὄσσαν ἱεῖσαι“, unter Tilgung von „ἐρατὴν δὲ διὰ στόµα ὄσσαν ἱεῖσαι | µέλπονται“ (vgl. ebd., S. 96). Der inhaltliche Übergang von Tanzplätzen und Nachbarschaft der Musen (vgl. Th. 63f.) zum sachlichen und wenig bildlichen κλείουσιν (Th. 67) erscheint dabei allerdings allzu harsch. Die Doppelung wird daher hier unter Vorbehalt akzeptiert. Vgl. Collins 1999, der die Verwendung des Begriffs in der homerischen Dichtung, bei Hesiod und bei Pindar untersucht. Zu bemerken ist, dass Hesiod eine göttliche αὐδή, keine ὄσσα, eingehaucht bekommt (vgl. Th. 31f.); auch bei den ἀοιδοί in Vers 97 ist von αὐδή die Rede; andererseits fließt auch den Musen im olympischen Hymnos die süße αὐδή vom Mund (vgl. Th. 39f.): Dieser Begriff kann menschlichen und göttlichen Wesen gleichermaßen zu Eigen sein (vgl. auch Collins 1999, S. 243; anders Stoddard 2003, S. 5f., die αὐδή mit Clay 1974 und Ford 1992, S. 174-189 ausschließlich auf menschliche Wesen bezieht). Die einzige für den Gebrauch von ὄσσα als Ausnahme zu betrachtende Stelle, nämlich Vers 832 der Theogonie, erweist

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Musen und Landschaft

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selbstverständlich gegeben, sondern setze zumeist ein besonderes Verhältnis zur Götterwelt voraus.172 So begleitet Hesiod das Wort in Vers 43 – im olympischen Hymnos, wohlgemerkt – mit dem Attribut ἄµβροτος; überhaupt ist es im Prooimion der Theogonie durchweg positiv konnotiert.173 ὄσσα bezeichnet zunächst den unartikulierten Klang, die Stimme. Die Musen lassen ihre göttliche Stimme fahren; in der Formulierung ἱεῖσαι schwingt die Assoziation großer räumlicher Deckungskraft mit, ähnlich wie im Wort σκιδναµένῃ in Vers 42, das von der „Lilienstimme“ der Musen gesagt wird.174 Die Umgebung wird von diesem Klang ganz

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sich schnell als regelkonform: ὄσσα wird dort zwar für das Brüllen eines Stiers verwendet, dieses dient jedoch als Beschreibung der Laute, die die Köpfe des Typhoeus von sich geben; vgl. Collins 1999, S. 244f.; Pucci 2007, S. 45 zu Hes. Th. 10. Vgl. Collins 1999, S. 246 und passim. Collins betont vor allem den Unterschied zwischen der göttlichen ὄσσα der Musen und der auch für Menschen verständlichen αὐδή, die sie ‚Hesiod‘ einhauchen (vgl. Th. 31f. und oben Anm. 171). Der Sänger erhalte eine vermittelnde Rolle zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre: „The Muses communicate in a medium (ossa) that is unintelligible to mortals and is accessible to them only after it has been converted into audê and then into a medium (e.g., kleos) that they can understand” (ebd., S. 254). Vgl. ähnlich Stoddard 2003, S. 5f., die aber αὐδή zu exklusiv auf die menschliche Sphäre beschränkt und somit in der Formulierung „αὐδὴν | θέσπιν“ (Th. 31f.) mit Ford 1992, S. 173 Qualitäten eines Oxymorons liest – was, wie die Verse 39f. zeigen, nicht korrekt ist. Vgl. weiterhin περικαλλέα (Th. 10), ἐρατήν (Th. 65), ἐπήρατον (Th. 67). Dass ὄσσα nicht per se angenehm sein muss, zeigt Collins 1999, S. 244f. Eine vergleichbare Darstellung findet sich in einem Simonidesfragment. Himerios berichtet von ihm, er habe gedichtet, wie die Musen beim Anblick Apolls noch mehr als zuvor „das Lied hinausschleudernd einen ganz und gar harmonischen Laut den Helikon herab aussenden“ (Simon. fr. 265 Poltera: τὸ µέλος ἐκτείνασαι ἦχόν τινα παναρµόνιον καθ’ Ἑλικῶνος ἐκπέµπουσιν; vgl. Him. Or. 62, 7). Die Formulierung „ἦχόν […] ἐκπέµπουσιν“ ähnelt Hesiods „ὄσσαν ἱεῖσαι“; das Attribut παναρµόνιον wiederum kann als Parallele zu „φωνῇ ὁµηρεῦσαι“ (Th. 39) angesehen werden. Insbesondere tritt auch in dieser Darstellung, induziert durch die Präposition καθ’, der Helikon räumlich in Erscheinung. – Der originale simonideische Wortlaut jedoch ist aus Himerios’ Zusammenfassung – er leitet sie mit den Worten „Denn jener sagt ungefähr Folgendes“ (Simon. fr. 265 Poltera, vgl. Him. Or. 62, 7): φησὶ γὰρ δήπου τοῦτο ἐκεῖνος) ein – nicht zu erschließen: vgl. Poltera 2008, S. 491 ad

294 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie und gar erfüllt. Augenscheinlich wird dies im ersten, allgemein-typischen Teil des olympischen Parts (Th. 36-52) auch durch das auffällig gehäufte Auftreten von Wörtern, welche die Stimme bezeichnen: neben ὄσσα (Th. 43) sind da außerdem φωνή (Th. 39), αὐδή (Th. 39) und ὄψ (Th. 41) – die gesamte Bandbreite an Bezeichnungen.175 In einem geradezu synästhetischen Klangerlebnis vereint sich diese Stimme der Musen mit der umliegenden Landschaft, sowohl im exemplarisch-ewigen Preisen als auch im prototypischen ersten Zug zum Olymp.176 Musenlied und olympische Gipfel werden Eins, sie durchdringen einander vollkommen. Aber nicht irgendein Lied ist es, das diese Wirkung hervorrufen kann, sondern: das Preisen des Zeus und der von ihm geschaffenen Ordnung. Der Inhalt des Liedes spiegelt die „Kosmosstruktur“ der Welt wider.177 Mehr noch: Es lässt diese Struktur laut, vernehmbar werden.178

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loc. Vgl. oben Abschnitt A.II.3.2. Für eine Untersuchung der verschiedenen Begriffe im frühen Epos s. Ford 1992, S. 174-89. Vgl. oben Abschnitt B.I.3.2. Vgl. Barmeyer 1968, S. 124-8, das Zitat ebd., passim. – Die Bedeutung des Liedes findet sich in Pindars erster Pythie in ähnlicher Weise ausgedrückt: ὅσσα δὲ µὴ πεφίληκε Ζεύς, ἀτύζονται βοάν | Πιερίδων ἀίοντα, γᾶν τε καὶ πόντον κατ’ ἀµαιµάκετον, | ὅς τ’ ἐν αἰνᾷ Ταρτάρῳ κεῖται, θεῶν πολέµιος, Τυφὼς ἑκατοντακάρανος· / „Was aber Zeus nicht lieb ist, das schrickt zusammen, wenn es den Ruf der Pieriden hört, auf der Erde und auf dem unbezwinglichen Meer, und auch, der im schrecklichen Tartaros liegt, der Gegner der Götter, der hundertköpfige Typhos“ (Pi. P. 1, 13-15f.). Der Musengesang ist Ausdruck der alles ordnenden Herrschaft des Zeus; was sich der Ordnung nicht fügt, ist unfähig, den harmonischen kosmischen Klang zu ertragen; insbesondere Typhoeus, Feind der Ordnung des Zeus nicht zuletzt in Hesiods Theogonie selbst (s. Th. 820-85). S. auch Barmeyer 1968, S. 131. In Pindars nur fragmentarisch überliefertem Zeushymnos (Pi. fr. 29-35 Snell-Maehler) findet sich dafür eine beachtenswerte Parallele: Als die Herrschaft erlangt ist, fragt Zeus die bei seiner Hochzeit versammelten Götter, „ob sie noch Mangel hätten an etwas“ (εἴ του δέοιντο). Sie antworten, er solle noch Götter schaffen, „die diese großen Werke und seine gesamte Konstruktion ordnend preisen mit Worten und Musik“ (οἵτινες τὰ µεγάλα ταῦτ’ ἔργα καὶ πᾶσάν γε τὴν ἐκείνου κατασκευὴν κατακοσµήσουσι λόγοις καὶ µουσικῇ); vgl. Pi. fr. 31 Snell-Maehler (= Aristid. Or. 45, 106), s. ebd. für die Zitate; vgl. auch die Paraphrase bei Chor. 13, 1f.; ferner Ph. De planta-

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Musen und Landschaft

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Die Begegnung mit den Musen nun trägt den Charakter einer Erweckung aus dem dumpfen Hirtendasein,179 das dem Kosmos der Seinsordnung taub gegenübersteht. Die Musen lehren ‚Hesiod‘ den schönen Sang, sie hauchen ihm die göttliche Stimme ein und tragen ihm auf, eben das zu besingen, was sie auch selbst besingen: die Ordnung der Welt. Ein Blick in die Erga kann dies wiederum verdeutlichen. Es heißt dort an der Stelle, an der ‚Hesiod‘ von seinem Sieg im Sängerwettstreit und der Weihung des Dreifußes berichtet: ἀλλὰ καὶ ὣς ἐρέω Ζηνὸς νόον αἰγιόχοιο· Μοῦσαι γάρ µ’ ἐδίδαξαν ἀθέσφατον ὕµνον ἀείδειν. Aber auch so werde ich die Gesinnung des Aigishalters Zeus künden; | denn die Musen haben mich gelehrt, einen sagenhaften Hymnos zu singen. Hes. Op. 662f.

179

tione 127-9, worauf Hardie 2000, S. 33f. verweist. Zwar machen weder Aristides noch Chorikios in ihren Inhaltsangaben eine entsprechende Bemerkung, doch ist es sehr wahrscheinlich, dass hier die Entstehung der Musen verhandelt wird (vgl. Maehlers kritischen Apparat; Pucci 1980, S. 165; Hardie 2000, S. 33). Das Verb κατακοσµέω – hier in der Lesart von Wilamowitz, anders als Maehlers Version {κατα} κοσµήσουσι – „‘I set in order’ rather than ‘I praise‘“ (Pucci 1980, S. 164), weist den Musen eine besondere Aufgabe zu: „Ist die eigentliche Schöpfung durch die Erschaffung der Musen zum Ziel gekommen, so verlangt sie danach, zur Sprache gebracht zu werden. [...] Aufgabe der Musen ist es, durch das Wort (vgl. λόγοις) und den Gesang bzw. die Musiké (vgl. µουσικῆι) das Sein als vollendete Ordnung zum Vorschein zu bringen (vgl. κατακοσµήσουσιν) [...]“ (Barmeyer 1968, S. 66f.). Vgl. Pucci 1980, S. 165: „[T]he gods need an interpreter, a seer as it were, who will bring to light the order, the kosmos, of things.“ – Hardie 2000, S. 32-5 zieht die Verbindung zu pythagoreischem Gedankengut und Musenkult. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang die mögliche analog ‚ordnende‘ Funktion der Musen bei den Agrionia von Chaironeia und im kleinen Heiligtum bei Argos, wo sie die Namen der Saiten tragen (vgl. oben Abschnitt A.I.3.1). – Dass Hesiod seine Theogonie – das Lied von der Ordnung der Welt – ausgerechnet mit einem Hymnos an die Musen beginnt, die nötig sind, um diese vernehmbar zu machen, birgt eine bemerkenswerte Pointe, wie von Clay 2003, S. 65 formuliert: „Zeus’s disposition of the cosmos is evidently not complete until it can be celebrated in song. That song can only be sung after the theogonic process has been completed; and its singing, in turn, brings it to completion.” Vgl. auch Arthur 1983, S. 97. Vgl. Otto 1961, S. 32; Kambylis 1965, S. 62.

296 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie Die καλὴ ἀοιδή der Theogonie beziehungsweise den ἀθέσφατος ὕµνος der Erga180 gelehrt bekommen zu haben heißt also nichts anderes, als den νόος des Zeus zu kennen und davon künden zu können. Dass ‚Hesiod‘ von der göttlichen ὄσσα der Musen auf dem Helikon zu berichten weiß, die gleichgesetzt wird mit dem alles durchdringenden und im Kosmos der Welt aufgehenden Lied des Olymps, ist Folge seiner Begegnung mit ihnen. Die Begegnung mit den Musen aber ist, das belegt ihr nymphischer Charakter, zugleich eine Begegnung mit der Landschaft. Sie offenbaren ihm also die göttliche Struktur seiner Umgebung. Denn das greifbare Ergebnis der von den Musen besungenen Götterwelt ist nichts anderes als die Welt in ihrem aktuellen Zustand; die Landschaft als der Raum, in dem menschliches Leben sich verwirklicht, ist die Manifestation von Zeus’ olympischer Ordnung.181 Bildlich fassbar wird dieser Vorgang in dem σκῆπτρον (Th. 30), das die Musen den Dichter in spe pflücken lassen. Dieser Stab nämlich ist zunächst ganz und gar Natur: Der Lorbeerbaum, von dem er stammt, wird als „üppig blühend“ (Th. 30: ἐριθηλέος) bezeichnet, das Zepter selbst in seinem Zustand vor dem Zepterwerden explizit als „Zweig“ (Th. 30: ὂζον).182 Für ‚Hesiod‘, dem sich die göttliche Ordnung in der Landschaft des Helikon offenbart, gewinnt der Zweig, gewissermaßen selbst ein Stück Landschaft, eine ordnende bedeutungsvolle Funktion, die ihm selbst seinen Platz in der Welt des Zeus zuweist. Die Steigerung, die der Raum erfährt, ist somit folgende: Der Helikon als der Ort, in dem sich ‚Hesiods‘ Leben vollzieht, der also für ihn konkret bestimmend ist, wird für ihn vom Hintergrund für die Verrichtung menschlicher Tätigkeit, so etwa des Schafehütens – einem Ort also, der bestenfalls als von göttlichen Wesen bevölkert (ζάθεος) wahrgenommen wird, – zu einem göttlich geordneten Raum. Wenn der Dichter gar 180

181

182

Vgl. Hes. Th. 22 bzw. Op. 662. Zur Bedeutung von ἀθέσφατος – „immense, illimité, merveilloux, inconcevable” – s. Semenzato 2017, S. 79 mit Anm. 111 (das Zitat ebd.). Vgl. ähnlich Barmeyer 1968, S. 68. S. auch Latte 1945, S. 161 zum Inhalt der Theogonie: „Aber das Besondere bei ihm [sc. Hesiod] ist der Versuch, die ganze Wirklichkeit seiner Welt in einem Netz von Beziehungen göttlicher Personen einzufangen und in der Erzählung von ihrem Werden zugleich eine Weltordnung zu geben.“ Vgl. Pucci 2007, S. 71 ad loc.: „[...] ci dice che il ramo è naturale, ancora fresco“.

3

Musen und Landschaft

297

im Folgenden in das Lied einstimmt, und zwar so absolut, dass die Grenzen zu den Musen verschwinden, so bedeutet dies ein Gefühl des Einsseins mit und Aufgehens in der göttlichen Ordnung, die sichtbar wird in der Landschaft.183 3.3.2 Zeit Auch die zweite Komponente, nach der die Position menschlichen Daseins bestimmt werden kann, soll nun ins Blickfeld geraten: Die Zeit gewinnt durch die Begegnung mit den Musen ebenfalls eine neue Qualität. Als Ausgangspunkt der Betrachtungen soll die markante Formel dienen, mit der Hesiod in Vers 38 den Inhalt der gesanglichen Äußerungen der Göttinnen auf dem Olymp angibt: τά τ’ ἐόντα τά τ’ ἐσσόµενα πρό τ’ ἐόντα was ist, was sein wird und was vorher war

Es ist offenbar, dass diese Formel den Gegenstand des Musenliedes als den gleichen anzeigen soll wie auch sonst, als die durch Zeus geschaffene Ordnung der Welt also. Dies wird erstens deutlich durch die Verse 44-50, die den Inhalt des Musenliedes wiedergeben und zu dem Vers ὑµνεῦσαι τέρπουσι Διὸς νόον ἐντὸς Ὀλύµπου preisend erfreuen sie den Sinn des Zeus im Olymp

Hes. Th. 51

im gleichen logischen Verhältnis stehen wie der oben genannte Ausdruck zum fast identischen Vers 37. Zweitens weist auch die Verwen183

Der Dichter erscheint im Kreise der Menschen wie in V. 98-103 beschrieben als Vermittler und Vernehmbarmacher der göttlichen Ordnung auch an die Menschen: Was eigentlich nicht ausgedrückt werden kann (der ἀθέσφατος ὕµνος der Erga) und sich im Normalfall menschlicher Wahrnehmung entzieht (die göttliche ὄσσα) wird von ihm in ein wahrnehmbares Medium übersetzt, (mithilfe der ihm gegebenen αὐδὴ θέσπις); vgl. dazu Collins 1999 und Stoddard 2003, S. 5f. u. 13. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist auch, dass Hesiod den Inhalt der Musenlieder immer referiert, nie in direkter Rede zitiert (mit dem Sonderfall Th. 71-4 als Ausnahme, s. dazu oben Abschnitt B.I.2.2.3.2); vgl. Clay 2003, S. 68.

298 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie dung der verkürzten Formel im helikonischen Hymnos darauf hin.184 Denn die Musen hauchen Hesiod die göttliche Stimme ein, damit er eben dies besinge; gleichzeitig tragen sie ihm auf, das Göttergeschlecht – µακάρων γένος αἰὲν ἐόντων (Th. 33) – zu preisen. Der Vergleich mit den Versen aus den Erga hat zusätzlich die Erkenntnis verstärkt, dass es sich bei dem, was ‚Hesiod‘ zu besingen befähigt wird, um den Willen und die Ordnung des Zeus handelt.185 Betrachtet man die Theogonie als erste Erfüllung des Auftrags der Musen, so wird zunächst auffallen, dass darin scheinbar von der Gegenwart nicht die Rede ist, geschweige denn von der Zukunft.186 Und auch 184

185

186

Vgl. Th. 32: τά τ’ ἐσσόµενα πρὸ τ’ ἐόντα. Vgl. zu dieser Auffassung der Formel oben Abschnitt B.I.2.2.3.2 mit Anm. 108. In diesem Zusammenhang erscheint es als bedeutsam, dass „the two dimensions of time that are included [sc. in der verkürzten Formel Th. 32] [...] are precisely those dimensions which are inaccessible to Hesiod’s senses“ (Collins 1999, S. 255). S. oben Abschnitt B.I.3.3.1. Hierin liegt ein Unterschied zu dem Wissen der Musen Homers: Es ist dort in erster Linie eine Art Augenzeugenwissen; das äußert sich in den Binnenanrufen der Ilias allgemein, ganz besonders aber in Il. 2, 485f.: ὑµεῖς γὰρ θεαί ἐστε, πάρεστέ τε, ἴστέ τε πάντα, ἡµεῖς δὲ κλέος οἶον ἀκούοµεν, οὐδέ τι ἴδµεν / „Denn ihr seid Göttinnen, ihr seid dabei und wisst alles, wir aber hören nur den Ruhm, wir wissen nichts.“ Auch in der Odyssee ist dieser Gedanke zu finden: Odysseus lobt Demodokos, ob ihn nun die Muse gelehrt habe oder Apoll (vgl. Od. 8, 488). Er singe vom Schicksal der Achaier so sehr κατὰ κόσµον (Od. 8, 489), als wäre er persönlich dabei gewesen oder als hätte er von einem anderen davon gehört (Od. 8, 491: ὥς τέ που ἣ αὐτὸς παρεὼν ἤ ἄλλου ἀκούσας); hierbei ist deutlich, dass ein „anderer“ gemeint ist, der seinerseits selbst dabei war. Vgl. auch Puelma 1989, S. 67-9; Kloss 2010, S. 251f. – Dies ist bei Hesiod nicht der Fall, schon aus dem ganz banalen Grund, dass die Musen als Töchter des Zeus und der Mnemosyne bei der Entstehung der Welt und der ersten Göttergenerationen nicht dabei gewesen sein können (S. neben Th. 53-67 auch Th. 915-7, wo die Geburt der Musen an ihrem systematischen Platz steht). Vgl. Lenz 1980, S. 196: „Die Musen sind Töchter von Zeus und Mnemosyne, die erst geboren werden nach der Konstituierung der Zeusherrschaft. [...] Wir dürfen daraus wohl entnehmen, daß das Wissen beginnt, sich vom Sehen zu lösen, Wahrheit zum Prinzip wird.“ Bisweilen wurde daher der Vers als nicht eingelöstes Versprechen Hesiods angesehen und war unter anderem Anlass für die in Abschnitt B.I.2.2.3.2 (mit Anm. 108) vorgestellte alternative Ausdeutung der Formel (vgl. etwa Neitzel 1980, S. 397, auch mit weiteren Verweisen).

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die entsprechenden Verse 106-113 und die ähnliche Passage Th. 44-50 sowie die kleine hymnische Partie auf Zeus in Th. 71-74 reichen höchstens bis in die Gegenwart, bis zum Menschengeschlecht oder zum zweiten Etablieren der Macht des Zeus. Hierin aber liegt genau der entscheidende Punkt: Denn von der Ordnung des Zeus zu singen kann gerade heißen, die Anlage des Großen zu besingen, in der alles schon enthalten ist. Lenz fasst es folgendermaßen: Vom ersten Werden der Theogonie bis hin zu ihrem letzten spannt sich innerhalb des Bereiches der Vergangenheit die Linie der Zeit, die die Gesamtheit des Werdens nach dem Ordnungsprinzip des Nacheinander organisiert. Dieses Nacheinander des Werdens mündet in seiner Gesamtheit ein in das Ganze des gleichzeitigen Seins, das demzufolge nicht als zeitlos neben dem Zeitlichen zu denken ist, sondern als Ergebnis des Werdens selbst mit in die Dimension des Zeitlichen eingespannt ist. Die Darstellung des Werdens des ganzen Göttergeschlechtes ist in der Tat gleichbedeutend mit der Darstellung seines Seins, das sich somit als Folge dieses Werdens und zugleich von ihm durch seine Dauer geschieden von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft erstreckt und das Ganze der Zeit umfaßt.187

Was ist, was sein wird und was war: Es sind Terme der Modalzeit, in denen das Musenlied beschrieben wird. Dieser Begriff geht, ebenso wie sein Gegenstück, die Lagezeit, auf Hermann Schmitz zurück.188 Letztere

187

188

Lenz 1980, S. 189. Das Zitat entstammt einer allgemeinen Beschreibung der Theogonie, ohne direkte Anbindung an die Verse 32 u. 38. Auch Velardis (2014) unterschiedliche Auffassungen der Formel hinsichtlich des Wissens des Sehers Kalchas in Hom. Il. 1, 70 einerseits und hinsichtlich des Wissens des Sängers in Hes. Th. 32 andererseits (vgl. oben Abschnitt B.I.2.2.3.2) können auf diese Weise miteinander vereinbart werden. – Nünlist 2007, S. 39-46 deckt gleichwohl einige „chronological ‘inconsistencies’“ in der Theogonie auf. Vernant 2016, S. 121 fasst aufgrund der Organisation des Stoffes die Zeit nicht als eine einzige übergeordnete, sondern als immanente Einheit: „Die Genese der Welt […] kennt Vorher und Nachher, doch läuft sie nicht in einer homogenen Dauer, einer einzigen Zeit ab. Es gibt nicht eine Chronologie, die diese Vergangenheit rhythmisierte, sondern Genealogien. Die Zeit ist in die Filiationsverhältnisse gleichsam eingeschlossen.“ Vgl. Waschkies 1990, S. 88 Anm. 6. S. ebd., S. 88-90 auch für die folgenden, seiner Darstellung entsprechenden Ausführungen.

300 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie erfasst die Zeit in den Beziehungen ‚früher als – gleichzeitig mit – später als‘, entsprechend einer objektiven Datierung wie durch eine Uhr oder einen Kalender. Sie erfordert den Standpunkt eines neutralen, unbeteiligten Beobachters; Ereignisse werden isoliert, aufgereiht in der Zeit betrachtet.189 Die mit diesem Begriff unvereinbare190 Modalzeit mit ihren Beziehungen ‚vergangen – gegenwärtig – zukünftig‘ hingegen beschreibt die Struktur der „zum zeitlichen Erleben des Menschen gehörigen Phänomene“191. Im Mittelpunkt steht ein Subjekt, das „affektiv betroffen ist“192. Nur in Hinblick auf dieses Subjekt sind die Beschreibungskategorien überhaupt sinnvoll. Es ist zudem deutlich, dass zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine klaren Grenzen, sondern fließende Übergänge bestehen: [...] I perceive, at this moment, a particular vista of past and a future; but it is a vista that is available from this moment and no other [...]. As such it constitutes my present, conferring upon it a unique character. Thus the present is not marked off from a past that it has replaced or a future that will, in turn, replace it; it rather gathers the past and future into itself, like refractions in a crystal ball.193

Dass Zukunft und Vergangenheit sich in der Gegenwart vereinigen und diese dadurch praktisch aufheben, ist auch in der Landschaft, die ja das sichtbare Ergebnis des νόος des Zeus ist, unmittelbar erlebbar. So sind in der Blüte, um beim Lorbeer und einem kleinen Beispiel im Großen zu bleiben, Knospe und Beere gleichermaßen angelegt. Freilich kann der Vorgang auch in Termen der Lagezeit beschrieben werden: Erst erscheint die Knospe, die sich dann zur Blüte öffnet; daraus entsteht danach die Frucht. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Zeitbegriffen ist jedoch, dass die Lagezeit die jeweilige Person als unbeteiligten Beobachter, die Modalzeit hingegen als Teilhaber an den Vorgängen voraussetzt. Der modalzeitliche Betrachter der Blüte erfasst die

189 190

191 192 193

Vgl. Waschkies 1990, S. 88-90; Ingold 2000, S. 194. Die Unvereinbarkeit der beiden Zeitbegriffe hat Waschkies 1990, S. 88f. gemäß als erster Heidegger erkannt. Ebd., S. 88. Ebd., S. 88. Ingold 2000, S. 196.

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Blüte mit den ihr innewohnenden Potenzialen im unmittelbaren Jetzt; ihr Sein und sein Sein gehen im Jetzt eine Verbindung ein. Natürlich kann für Hesiod ein reflektiertes Bewusstsein für die unterschiedlichen Zeitbegriffe nicht vorausgesetzt werden;194 ein intuitives, unartikuliertes Erfassen ist aber doch möglich. Wenn ‚Hesiod‘ zum Sänger von ἐόντα, ἐσσόµενα und πρὸ ἐόντα wird, so sicherlich nicht in der Weise, dass er als Menschlein nun das Zentrum der Gegenwart bildet, an dem sich Vergangenheit und Zukunft messen. Vielmehr ist es der im schon zum göttlichen Raum gesteigerten Raum Seiende, der sein Jetzt im Einklang mit dem Jetzt der göttlichen Ordnung erfährt, in dem sich alles versammelt. Die Steigerung, die die Zeit erfährt, ist also eine zur Einheit hin; sie vereinigt die verschiedenen Dimensionen in der Gegenwart und hebt diese dadurch praktisch auf.195 Dies spiegelt sich auf einer anderen Ebene auch in der Rolle der Mnemosyne wider. Die Musen sind Töchter der ‚Erinnerung‘196 und dadurch vereinen sie auch in ihrem Wirken im Kreise der Menschen – das Theogonieprooimion als in sich geschlossener Text wird hier zunächst verlassen – die drei Zeitaspekte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich. Denn Erinnerung wirkt, auch in der griechischen Vorstellung, in zwei Richtungen. In Termen der Musenkunst gesprochen heißt dies, dass ein Lied einerseits Rückerinnerung etwa an die κλέα besungener vergangener Helden bedeutet; dass es aber andererseits auch dafür sorgt, dass sie oder jeder andere Gegenstand des Gesanges in Zukunft nicht vergessen werden.197 194

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197

Waschkies 1990 zeigt, dass noch später die Widersprüche in Aristoteles’ Zeittheorie eben daher rühren, dass Termini der Lage- und Modalzeit miteinander in Konflikt geraten. Und auch die Theogonie selbst ist ja nach dem der Lagezeit entsprechenden Prinzip des Nacheinander aufgebaut. Vgl. ähnlich, wenn auch im Zusammenhang mit dem Inspirationsakt im Allgemeinen, Barmeyer 1968, S. 112: Der Dichter werde „aus seiner sonstigen Dimensionsgebundenheit befreit“. Für diese genealogische Verknüpfung auch außerhalb von Hesiod sowie andere Musenmütter s. Mojsik 2011a, S. 169-73 u. passim; vgl. 2011b, S. 23-8 u. passim. Ein rückgewandtes Erinnern birgt zum Beispiel die Ilias in 2, 492, wo der Dichter sein Unvermögen zum Ausdruck bringt, die Schiffe der Achaier aufzuzählen, würden ihn nicht die Musen daran erinnern. Die in die Zukunft gerichtete Erinnerung bzw. das Nicht-Vergessen im Zusammenhang mit der

302 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie Auch in der konkreten Bedeutung der Musik für die Menschheit löst Hesiod die Gegenwart in besonderer Weise auf: Ganz pointiert198 lässt er Mnemosyne die Musen als λησµοσύνην τε κακῶν ἄµπαυµά τε µερµηράων Vergessen der Übel und Linderung der Sorgen Hes. Th. 55

zur Welt bringen, ein Gedanke, der in der Passage, die die Gaben der Musen an die Menschen behandelt (Th. 80-103), noch einmal aufgegriffen wird.199 Das Konzept der Erinnerung der archaischen Zeit umfasst nicht etwa lediglich den Abruf von gespeicherten Fakten, sondern einen tieferen Vorgang.200 Bakker zitiert zunächst Vernants Beschreibung bezüglich des Erinnerns des epischen Dichters: Die so enthüllte Vergangenheit ist viel mehr als das der Gegenwart Vorangehende: Sie ist dessen Quelle. Mit dem Rückgang bis auf sie sucht die Wiedererinnerung nicht die Ereignisse in einem zeitlichen Rahmen anzusiedeln, sondern den Grund des Seins zu erreichen, das Ursprüngliche zu entdecken, die grundlegende Wirklichkeit, aus der der Kosmos

198

199

200

Dichtung erscheint ganz prominent bei Pindar, vgl. beispielsweise O. 10, 913; N. 6, 29f.; N. 7, 14-16 u. 31f.; I. 8, 59f. Der Gegensatz µνηµοσύνη – λησµοσύνη wird zusätzlich besonders betont dadurch, dass beide Wörter die gleiche Position am Anfang zweier aufeinanderfolgender Verse mit genauer Entsprechung auch im metrischen Schema erhalten: vgl. oben Abschnitt B.I.2.2.2.1; Pucci 1977, S. 22f.; Stoddard 2004, S. 82. S. auch oben Abschnitt B.I.2.2.2.1. Diese Zaubermacht der Musik spiegelt sich wider in dem Wort θελκτήρια, mit dem Penelope die Gesänge des Phemios bezeichnet (Od. 1, 337). Die Wirkung von Lyraklängen und Liedern beschreibt Pindar in der ersten Pythie, V. 5-16, allerdings in Hinblick auf die Götter, wo sie alles Mächtige milde und sanft stimmen. Entsprechend lässt sich womöglich auch die Erwähnung des Pausanias auslegen, Hypnos sei den Musen der liebste Gott (vgl. Paus. 2, 31, 3). S. Barmeyer 1968, S. 137140. S. Bakker 2002, S. 67f. für das Konzept von Erinnerung der modernen westlichen Zivilisation im Unterschied zur Erinnerung der griechischen Archaik.

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303

hervorgegangen ist und die das Werden im ganzen zu verstehen erlaubt.201

Vernants Konzept, so Bakker, fasse somit die Erinnerung nicht zeitlich, sondern ontologisch: The past in this experience does not simply precede the moment of speaking; it still exists, elsewhere, in another time and place. The poet’s remembering is not the recall of things stored but an access to this ‘other’ reality.202

Bakker fügt zu dieser Darstellung einen bedeutenden Aspekt hinzu: Erinnerung bedeute nicht nur das Erschließen einer sonst verborgenen Realitätsstruktur, sondern auch das Präsentmachen dieser Realität, „the actual experience of the thing ‘remembered’“.203 In diesem Sinne kann ‚Hesiods‘ Wahrnehmung der Landschaft als göttlich gesteigerter Raum, dem die Ordnung des Zeus immanent ist und in dem sich Vergangenheit und Zukunft im Jetzt ballen, als Akt der Erinnerung aufgefasst werden. Und so setzt er auch Mnemosyne, die er im Verlauf der Theogonie als Tochter von Ouranos und Gaia ohne weitere Spezifizierung204 auf die Welt kommen lässt, im olympischen Hymnos mit seiner böotischen Heimat in Verbindung, sogar mit direktem Bezug zur Landschaft: Er be-

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Vernant 2016, S. 120f.; vgl. Bakker 2002, S. 68 mit Anm. 9, der eine eigene Übersetzung des französischen Originals aufführt. Bakker 2002, S. 68; s. auch Vernant 2016, S. 115-142 insgesamt, wo dieses Konzept vom epischen Dichten auch auf andere Bereiche übertragen wird. Vgl. Bakker 2002, S. 68f. und passim, das Zitat ebd., S. 69. Der Wortstamm -λαθ bezeichne im Gegensatz zum Wortstamm -µνη dann die Abwesenheit dieses Erlebnisses: „In other words, ‘remembering’ and ‘forgetting’ […] are states of mind in the present“ (ebd., S. 69). Vgl. auch Stoddard 2003, S. 1113 u. 2004, S. 135f. – An dieser Stelle kommt auch der Begriff der Mimesis – „vergegenwärtigende Nachahmungstechnik“ (Puelma 1989, S. 70), – ins Spiel, der zuerst in h. Ap. 162-4 erscheint und im Verlauf der Zeit auch eine philosophische Prägung erhält. S. Puelma 1989, S. 69-71; Calame 2009b, insbes. S. 2-24; Peponi 2009; Nagy 2013, auch für weitere Literaturverweise. S. zudem unten Abschnitt B.II.4.1.2. Vgl. Th. 135, wo Mnemosyne im Katalog der Titanen nur bei ihrem Namen aufgezählt ist.

304 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie schreibt sie als „über die Höhen von Eleuther Waltende“ (Th. 54: γουνοῖσιν Ἐλευθῆρος µεδέουσα).205 Eine letzte Beobachtung soll notiert werden: Die Zeitdarstellung erfährt in den Versen 58f. eine auffällige Ausschmückung: Ausführlich, in variierenden Ausdrücken, die doch im Grunde den immer gleichen Zeitraum von der Empfängnis bis zur Geburt der Musen beschreiben, heißt es dort: ἀλλ ὅτε δή ῥ’ ἐνιαυτὸς ἔην, περὶ δ’ ἔτραπον ὧραι µηνῶν φθινόντων, περὶ δ’ ἤµατα πόλλ’ ἐτελέσθη, ἡ δ’ ἔτεκ’ ἐννέα κούρας ὁµόφρονας Als aber ein Jahr vergangen war und die Jahreszeiten herumgelaufen waren, | da die Monate schwanden, und viele Tage sich vollendet hatten, | da gebar sie neun gleichgesinnte Töchter Hes. Th. 58-60

Es ist auffällig, dass die Schwangerschaftszeit206 der Mnemosyne so ausführlich in Lagezeittermen vergehen muss, damit die Musen geboren werden können, die, auch in ihrer Aktualisierung der Erinnerung, den Weg bereiten hin zur Modalzeit. 4

Verwandlung der Musen – Verwandlung der Landschaft

Hesiods Theogonieprooimion birgt, so hat sich gezeigt, in seiner so kunstvollen und vielschichtigen Gestaltung Implikationen zur Natur des Inspirationserlebens, die über die Oberflächenstruktur nicht ersichtlich sind.

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So identifizieren Waser 1905, S. 2343f., Eitrem 1932, S. 2266 und West 1966, S. 174f. ad loc. Eleuther mit Eleutherai am Kithairon; s. auch Schachter 1986, S. 144 u. 146; Mojsik 2011a, S. 94; Caruso 2016, S. 354 Anm. 851. Vgl. zudem oben Abschnitt A.I.3.1 mit Anm. 125. Es ist nicht nötig, die genaue Zeitangabe allzu streng zu betrachten: „Daß die Schwangerschaft der Mnemosyne rund auf ein Jahr berechnet wird, werden wir dem Dichter doch wohl erlauben, oder weiß es jemand besser? Sie trug neun Kinder“ (Wilamowitz 1916, S. 59).

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Verwandlung der Musen – Verwandlung der Landschaft

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Für die Struktur des Textes hat sich in Anlehnung an Mintons Analyse ergeben, dass er aus zwei aufeinander folgenden Hymnen besteht, die in einem dritten Teil ineinander überführt werden – worauf ein traditioneller Musenanruf folgt. Die Hymnen stellen die Musen jeweils in unterschiedlichen Kontexten unter besonderen Gesichtspunkten dar; sie erscheinen im ersten, helikonischen Teil greifbar, erhaben dagegen im olympischen Teil im Kreise der Götter als Inhaberinnen ihres Platzes in der Ordnung des Zeus. Die Struktur des Textes induziert eine Gleichsetzung von olympischen und helikonischen Musen mit den zugehörigen Vorgängen und Beschreibungen. Auch Dichter und Muse verschmelzen auf unterschiedlichen Ebenen – kompositorisch, strukturell und sprachlich – unzertrennlich miteinander. Die Dichterweihe als erste Herstellung einer Verbindung zwischen Dichter und Muse wird als reales, erfahrbares Erlebnis dargestellt; sein von Natur aus subjektiver Charakter erfährt durch die Einbindung in den Hymnos eine Objektivierung. Die Einbindung der Landschaftlichkeit des Helikon in die Schilderung führte zu der Frage, ob es sich bei der Dichterweihe um ein Erlebnis in und mit der Landschaft handle – eine Frage, die bejaht werden muss: Insbesondere die Tatsache, dass nur die helikonischen Musen, nicht aber die Musen des olympischen Hymnos nymphenhafte Züge tragen, bestätigt dies. Siginifikant ist auch die Ausgestaltung der Landschaften von Helikon und Olymp: Konkret und prinzipiell zugänglich ist der Helikon, er dient als Kulisse für das Treiben der Göttinnen; menschenfern und abstrakt ist der Olymp, Tanz und vor allem Gesang der Musen steigern sich darin zu einem allumfassenden, alles durchwirkenden Klanggeschehen. Auch hier bewirkt die Analogie schaffende Struktur des Prooimions eine Gleichsetzung: Das olympische Klanggeschehen wird zu einem Erlebnis auf dem Helikon, das ‚Hesiod‘ erfahren kann in einer ‚Kettenreaktion‘ der Analogie; so erlebt er die olympische Klanglandschaft über die erhabenen olympischen Musen über die in übertragenem Sinne erfahrbaren helikonischen Musen über die in wörtlichem Sinne erfahrbare Landschaft des Helikon. Das Klanggeschehen auf dem Olymp aber bedeutet das Vernehmbarwerden der göttlichen Ordnung des Zeus, der ‚Kosmosstruktur‘. Dass der geweihte Dichter nicht nur in der Lage ist, dies in Form des Liedes der Musen zu ‚hören‘, sondern auch selbst, wie gesehen, auf verschiedenen Ebenen in dieses Lied mit einstimmt, lässt ihn in dieser Ordnung aufgehen und eins mit ihr werden: Der Raum wird gesteigert zu einem

306 B.I Eine Begegung am Helikon: Das Prooimion von Hesiods Theogonie göttlich geordneten Raum; die Zeit zum modalzeitlichen Jetzt, in dem sich Vergangenheit und Zukunft bündeln. Der Dichter wird, um noch einmal Barmeyers Worte zu benutzen, von seiner Dimensionsgebundenheit entbunden.207 Eine Frage ist bisher offen geblieben: Worin besteht der Berührungspunkt zwischen der Landschaft und der Musik, Dichtung und Inspiration? Denn am Helikon kann die ὄσσα der Musen nicht für einen tatsächlichen Klang stehen – zum echten Klangerlebnis verbreitet sie sich nur in der mythischen olympischen Landschaft – sondern für eine Eigenschaft der Landschaft, die dazu äquivalent ist. Die Antwort mag das sein, was später auch in der Philosophie den Namen ἁρµονία erhalten wird. Der Zustand der Inspiration zur Dichtung, ein Zustand des Einklangs mit der Welt, wie Hesiod zeigt, kann aus der Wahrnehmung eines Berges mit seinen Quellen und Fluren erwachsen.208 Was sich in 207 208

Vgl. oben Abschnitt B.I.3.3.2 mit Anm. 195. Ein Zustand des Ergriffenseins von der Natur oder eine Empfänglichkeit für bzw. Berührbarkeit durch landschaftliche Schönheit ist der Archaik nicht unbekannt. Ein Zeugnis findet sich im fünften Buch der Odyssee. Darin wird eine Beschreibung der Insel der Kalypso gegeben, die mit ihrer üppigen Vegetation, der Grotte, den vier Quellen, den weichen Wiesen (vgl. Od. 5, 6373) die Vorstellung eines locus amoenus wachruft: „Mit Grotte, Wald, Wiesen und Quellen erscheint hier – in dieser Vollständigkeit zum ersten Mal – der Typus der schönen Landschaft, und in ihrer Darstellung sind Anklänge an die Lyrik unüberhörbar“ (Elliger 1975, S. 130). Die liebliche Landschaft bleibt nicht ohne Betrachter: ἔνθα κ’ ἔπειτα καὶ ἀθάνατός περ ἐπελθὼν | θηήσαιτο ἰδὼν καἰ τερφθείη φρεσὶν ᾗσιν. | ἔνθα στὰς θηεῖτο διάκτορος Ἀργειφόντης. | αὐτὰρ ἐπεὶ δὴ πάντα ἑῷ θηήσατο θυµῷ | αὐτίκ’ ἄρ’ εἰς εὐρὺ σπέος ἤλυθεν. / „Da wäre auch ein Unsterblicher, wenn er dorthin käme, | wohl voller Bewunderung bei dem Anblick und freute sich in seinem Sinn. | Dort stand auch der Argostöter, der Bote, in Bewunderung. | Und nachdem er alles in seinem Gemüt bewundert hatte, | ging er sogleich in die geräumige Grotte.“ (Hom. Od. 5, 73-77). In Hermes also schlägt die Lieblichkeit der Landschaft eine Saite an; seine Reaktion: θηέεσθαι. Dieses Wort, das in seiner Grundbedeutung „betrachten“ heißt, trägt in sich die Färbung des Staunens (vgl. LSJ s. v. θεάοµαι). Nicht eine oberflächliche Verwunderung ist es, sondern ein Gefühl, das der Gott ἑῷ θυµῷ (Od. 5, 76) spürt, das ihn innehalten lässt. Auch die dreifache Wiederholung des Wortes trägt zur Illustration des Ausmaßes dieser Regung bei: „Der Tempuswechsel bezeichnet die drei Phasen des Staunens: das Erstaunen beim Anblick der herrlichen Landschaft (ἰδὼν) – das Versunkensein – das Sichlosreißen.“ (Elliger 1975, S. 130

4

Verwandlung der Musen – Verwandlung der Landschaft

307

Musik und Dichtung als Klang äußert, ist in der Landschaft visuell erfassbar; und so bleiben die Musen, Vermittlerinnen des Zustands der ἁρµονία, eben doch nicht unsichtbar auf dem Helikon: Sie sind in jedem Fels und jedem Baum enthalten.

Anm. 84). Das erste Erscheinen des Wortes, θηήσαιτο in Vers 74, gehört streng genommen noch nicht zur Schilderung der Reaktion des Hermes dazu. Da er aber ein eben solcher Unsterblicher ist, wie die allgemeine Beschreibung der Wirkung der Landschaft anführt (Od. 5, 73), behält Elligers Beobachtung ihre Gültigkeit.

B.II Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles 1

Einleitung

Euripides’ Herakles verdient in einer Untersuchung über die Musen und ihre Landschaft besondere Aufmerksamkeit: In kaum einem anderen Stück spielen die Musen – verdeckt und offen – eine so prominente Rolle wie hier. Nicht nur die Worte des Chores οὐ παύσοµαι τὰς Χάριτας ταῖς Μούσαισιν συγκαταµειγνύς, ἡδίσταν συζυγίαν

675

Ich werde nicht aufhören, die Chariten | mit den Musen zu mischen, | süßeste Verbindung E. HF 673-5

von Wilamowitz als Lebensmotto geführt,1 sind hier einschlägig, auch sonst sind Beziehungen auf die Musen und die Musik in größerer Dichte festzustellen.2 Die Forschung hat diesen Sachverhalt allerdings nie systematisch untersucht.3 Stattdessen standen andere Fragen im Mittelpunkt: die umstrittene Struktur, die Zeichnung der Figuren – banal und ohne 1

2 3

Vgl. Calder 1971, S. 570f. Anm. 60 (= Wilamowitz 1974, S. 24f. Anm. 51) für die Aufführungen in Wilamowitz’ Werk. Zum ersten Mal beschließt der achtzehnjährige Wilamowitz die kurze Autobiographie, die er seiner Valediktionsarbeit beim Abgang von der Schule voranstellt, mit diesen Versen (vgl. Calder 1971, S. 571 = Wilamowitz 1974, S. 25). Nicht zuletzt trägt auch der erster Band seiner dreibändigen Studien zur griechischen Tragödie im Allgemeinen und zu Euripides’ Herakles im Besonderen (erschienen in erster Fassung 1889; in zweiter Bearbeitung 1895, hier verwendet der Nachdruck von 1959) die Verse als Motto auf dem Widmungsblatt. S. unten Abschnitt B.II.4. Vgl. den Forschungsüberblick bei Schriefl 2005 und Löffler 2005, S. 718f., sowie Marshall 2017.

310

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Tiefe oder im Gegenteil in höchstem Maße subtil und von klügster Kompositionskunst?4 Ein weiteres auffälliges Gestaltungsmerkmal dieses Dramas, das näher untersucht wurde, ist sein Chor, der mehr als in anderen Tragödien nicht nur selbstreferenziell auf sein eigenes Singen und Tanzen Bezug nimmt, sondern auch die voranschreitende Handlung in Begriffen des Singens und Tanzens bewertet.5 Die sprachlichen Mittel, die der Chor dafür verwendet, stammen zu einem großen Teil aus dem Bildbereich der Musik und ihrer Gottheiten, der Musen – ihre hohe Präsenz erzwingt geradezu die Frage nach ihrer Bedeutung. Dass diese nun aber nicht allein mit einer Untersuchung des Chores und nicht allein in einem Zuge mit der Präsenz des Dionysos – darauf hat sich die Forschung bislang im Wesentlichen konzentriert6 – zu beantworten ist, zeigen einige rätselhafte Verse aus dem ersten Teil der Handlung. Lykos, der die Herrschaft in Theben in Abwesenheit des Herakles usurpiert hat, schickt darin seine Diener los, um Brennholz für den Scheiterhaufen zu sammeln, auf dem die zurückgebliebene Familie des Herakles verbrannt werden soll: ἄγ’, οἱ µὲν Ἑλικῶν’, οἱ δὲ Παρνασοῦ πτυχὰς τέµνειν ἄνωχθ’ ἐλθόντες ὑλουργοὺς δρυὸς κορµούς·

240

Auf, zieht los, die einen zum Helikon, die anderen zu den Schluchten des Parnass, | und tragt den Holzfällern auf, Eichenstämme | zu hauen! E. HF 240-2

Lykos schickt nicht in irgendwelche Berge, um irgendwelches Holz zu holen; der Theben so nahe Kithairon wäre da das rechte Ziel. Nein: Zum 4

5 6

Zur Struktur s. Arrowsmith 1954; Kamerbeek 1966; Schwinge 1972; Shelton 1979; Barlow 1982; Foley 1985, S. 200-4; Porter 1987, S. 85-107; Dunn 1997; Kraus 1998; Griffiths 2006, S. 42-64. Zur Figurencharakerisierung, insbes. des Herakles, s. z. B. Wilamowitz 1959, II, S. 113-127; Foley 1985, S. 177-192; Silk 1985; Michelini 1987, S. 242-66; Fitzgerald 1991; Papadopoulou 2005; Giuseppetti 2017; s. auch Schriefl 2005, S. 338-43. Umfassendere Gesamtinterpretationen unter verschiedenen Gesichtspunkten bieten Foley 1985, S. 147-204; Michelini 1987, S. 231-276; Papadopoulou 2005. S. unten Abschnitte B.II.3.3.1 und B.II.4. Zum Chor des Herakles s. etwa Hose 1990, S. 87-92 u. passim; 1991, S. 3644; 120-2; 123-6; passim; Assaël 1996; Henrichs 1996a, S. 54-62. Zu dionysischen Elementen im Herakles s. unten Abschnitte B.II.3.4; 4.1.3; 4.2.

1

Einleitung

311

Helikon soll es gehen und gar zum noch weiter entfernten Parnass, beides eindeutig Landschaften der Musen und Apolls.7 Warum aber braucht Lykos einen Scheiterhaufen aus ‚Musenholz‘? Nicht nur der Chor verweist also auf die Musen, wenn er tanzt und singt – was ja in der Natur der Sache angelegt ist–, auch Figuren des Stückes beziehen sich in ihrem Tun – das prima facie gar nichts mit den Musen zu tun hat – auf diese Göttinnen. Welche Beziehung aber besteht zwischen den Musen, die den Chor zu Gesang und Tanz befeuern, und den Musen, aus deren ‚Lebensbereich‘ Lykos das Material für sein ruchloses Tun bezieht? Als Hypothese für die Untersuchung dieser Frage sei im Folgenden vorausgesetzt, dass die Erwähnung der Musen – wie manch anderes Moment – an den verschiedenen Stellen zu einem ‚System‘ von Bildersprache gehört, das es zu beschreiben und zu verstehen gilt. Wenn dies gelingt, löst sich auch die Frage nach den unterschiedlichen Kontexten. Und dass Euripides mit ‚systems of imagery‘ operiert, das hat die Forschung in der Tat bereits klar gesehen und herausgearbeitet: „One of the strongest structural features of the play which is apparent to readers as well as viewers of the play is the extent to which systems of imagery are used.“8 Diese Feststellung leitet Griffiths’ Auseinandersetzung mit der Bildersprache in ihrer Behandlung von Euripides’ Herakles ein.9 Die systems of imagery ziehen sich in unterschiedlichen Strängen durch das ganze Stück. Am offensivsten gebraucht ist das Bild des Vogels, das in verschiedenen Kontexten und Bedeutungsnuancen zum Vorschein kommt. So ist der alte Vogel Sinnbild für den Chor der thebanischen Männer, die nunmehr keinen physischen Beistand mehr zu leisten in der Lage sind und nur noch in Worten handeln können. Die schutzlosen Kinder des Herakles werden als Jungvögel bezeichnet und auch Flügel- und Flugmetaphorik findet vielfach Anwendung.10 Weitere Beispiele sind etwa die vielfach unter-

7

8 9 10

Dass tatsächlich die Paarung dieser beiden Berge als Paarung zweier Orte der Musen (und Apolls) gedacht ist, belegen textimmanent auch die Verse 790f., in denen sie als „des Pythiers waldiger Fels“ (E. HF 790: Πυθίου δεδνρῶτι πέτρα) und die „Häuser der helikonischen Musen“ (E. HF 791: Μουσᾶν θ’ Ἑλικωνίδων δώµατα) aufgefordert werden, ins Lob Thebens miteinzufallen. Vgl. unten Abschnitt B.II.4.3.2. Griffiths 2006, S. 57. Vgl. ebd., S. 57-9. S. auch unten Abschnitt B.II.3.3.

312

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

suchte dionysische Bildersprache, Opfer, Agon, Mysterien.11 Die Begriffe um die Musik im Allgemeinen, eingeschlossen insbesondere der Musen selbst, sind bislang, wie oben bemerkt, eher mit Fokus auf die Chorpartien aufgearbeitet worden, bezogen auf den Kontext dionysischer Musik. Griffiths selbst beschränkt sich auf die Nennung zweier Elemente – ornithologischer und nautischer Bildersprache – und einer beschreibenden Auflistung der Stellen, an denen sie zu finden sind.12 Sie hebt das strukturierende Moment der durchgängigen Bildersprache hervor: „The combination of ornithological and nautical imagery creates a framework of ideas which guides the audience through the confusing, violent narrative of the story.“13 Diese Aussage, wenn auch bei Griffiths im Vorfeld nicht näher expliziert, soll auch der folgenden Untersuchung einen entscheidenden Impuls geben: Denn die systems of imagery laufen nicht einfach als parallele Stränge nebeneinander her; sie treffen und überschneiden sich an mehreren Stellen auf variierende Weise und bilden so ein metaphorisches Netz. Und so ist es die Kombination der Bilder, die einen lohnenden Ansatzpunkt für eine Untersuchung darstellt: In welcher Weise wirkt das Metapherngeflecht strukturierend auf das Drama? Was ist es, das von ihm strukturiert wird? Und vor allem: Welche Funktion gewinnen die Einzelelemente im Rahmen dieses Geflechtes? Von besonderem Interesse ist hierbei natürlich die Rolle der Musen innerhalb des sprachlichen Netzes der Bilder und Motive: Es wird sich zeigen, dass sie nicht willkürlich verteilt sind, sondern an den Knotenpunkten des Geflechts erscheinen, wo mehrere Stränge sich überschneiden. Zu betrachten ist, welche Bedeutungslinien in ihnen zusammengeführt und welche Themen auf diesen Linien verhandelt werden. In der Forschung ist die Bedeutung der Musen und ihrer Landschaft in Euripides’ Herakles unter dieser Fragestellung bislang nicht untersucht worden. Es finden sich Beiträge, die einzelne Sprachbilder genauer untersuchen;14 andere wenden sich eher den im Stück verhandelten Themen

11 12 13 14

S. im Einzelnen unten Abschnitt B.II.3. Vgl. Griffiths 2006, S. 57-9. Ebd., S. 59. Zur Forschung zu den einzelnen Bildern s. jeweils unten Abschnitte B.II.3.13.5. Neben Griffiths lenken auch andere Beiträge die Aufmerksamkeit auf das umfangreiche System der Bildersprache. So stellt Delulle 1911 in einer Text-

2

Die Themen

313

zu.15 Das verfolgte Ziel besteht darin – wo die Beiträge nicht einzelnen Motiven, Bildern oder Themen für sich gelten –, über ihren verbindenden Charakter die Einheit und Kohärenz des Stückes nachzuweisen.16 Ein Ansatz zu einer produktiven Synthese findet sich bei Helene Foley, die Themen des Stückes mithilfe eines der Bild-Knotenpunkte fruchtbar miteinander in Beziehung setzt, aber die Relevanz des noch weiter tragenden sprachlichen Netzes und vor allem der Rolle der Musen und ihrer Landschaft darin verkennt.17 Durch folgendes Vorgehen soll diese klarer umrissen werden: Zunächst gilt es, Euripides’ Herakles kompositorisch und inhaltlich zu erfassen. Zu diesem Zwecke soll das Stück in Hinsicht auf die darin verhandelten Themen betrachtet werden (Abschnitt B.II.2). Aufbauend auf dieser Grundlage kann sich der Fokus auf die unterschiedlichen sprachlichen Bilder und ihre Entwicklung innerhalb des Dramas richten (Abschnitt B.II.3). Ihre Vernetzung und Interaktion findet in der Untersuchung der Überschneidungspunkte mit der Musenmetaphorik Berücksichtigung (Abschnitt B.II.4). Dazu sollen die expliziten Erwähnungen der Musen analysiert werden – als eigenständiges metaphorisches System einerseits, hinsichtlich der Knotenpunkteigenschaft im gesamten metaphorischen Netz und der stückinternen Themen andererseits. Diese Herangehensweise wird am Ende auch eine Antwort auf die Frage zeitigen, warum Lykos für seinen Scheiterhaufen Holz von den Bergen der Musen braucht. 2

Die Themen

Euripides’ Herakles verhandelt verschiedene Themen, die im Laufe des Stückes immer wieder in unterschiedlichen formalen, inhaltlichen und gestalterischen Ausdrucksformen zur Sprache kommen und so in mehreren

15 16 17

sammlung zunächst Stellen aus verschiedenen euripideischen Tragödien zusammen, die (nur) dem Vogel-Bild angehören (S. 1-21, mit Erläuterungen). In einem Interpretationsteil nutzt er sie dann zu einer allgemeineren Reflexion über Euripides’ Bildersprache, die vor allem um die Wirkungsästhetik von wiederholt verwendeten Bildern mit vergleichbaren Konnotationen kreist (S. 22-51). S. unten Abschnitt B.II.2. S. so etwa Hangard 1976; Shelton 1979; Assaël 1994. S. Foley 1985, S. 147-204; vgl. unten Abschnitt B.II.4.3.1.

314

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Facetten verhandelt werden. Sie sind gebettet in ein Stück, das so einschneidend von unerwarteten Umschwüngen gezeichnet ist, dass die Einheit der einzelnen Teile in der Forschung ausführlich zur Debatte stand.18 Im ersten Teil der Handlung (HF 1-513) herrscht folgende Ausgangssituation: In Herakles’ Abwesenheit hat Lykos in Theben den Herrscher Kreon gestürzt und selbst die Macht ergriffen. Herakles’ Familie – seine Frau Megara (zugleich Tochter Kreons), sein sterblicher Vater Amphitryon und seine drei Kinder – wurde aus dem Palast vertrieben und sucht Schutz am Altar des Zeus Soter. Lykos beschließt, den Status der Schutzflehenden zu missachten und sie trotzdem zu töten. Der zweite Teil (HF 514-814) beginnt mit der unerwarteten Rückkehr des Herakles als Retter in letzter Minute. Er tötet Lykos; die Gefahr scheint abgewandt. Im dritten Teil (HF 815-1088) erscheinen Iris und Lyssa, von Hera gesandt, auf dem Dach des Palastes. Auf Heras Befehl hin belegt Lyssa Herakles mit Wahnsinn, woraufhin dieser seine Frau und seine Kinder tötet. Erst ein Eingriff Athenes hält ihn auf und versetzt ihn in einen Schlaf. Der vierte Teil (HF 1089-1428) zeigt Herakles, wie er zu sich kommt und das Ausmaß seiner Raserei begreift. Er spielt mit Selbstmordgedanken. Da erscheint Theseus, der ihn in einem langen Gespräch von seinem Vorhaben abbringt und ihn zudem überreden kann, ihn nach Athen zu begleiten. – Der Chor des Stückes besteht aus den alten Männern Thebens, die Herakles’ Familie Beistand leisten wollen, aber nunmehr zu schwach sind. In den drei Stasima (HF 348-450; 637-700; 735 bzw. 763-814) präsentieren sie sich vor allem als Lobpreisende des Herakles. Die prominenteren der im Herakles verhandelten Themen – Heldentum, λόγος und ἔργον – zeichnen sich durch eine dichotome Struktur aus: Vorstellungen und Erwartungen der Rezipienten werden einerseits aufgegriffen und zitiert, andererseits systematisch, so lässt sich sagen, unerfüllt gelassen und verkehrt. Die Themen deuten auf diese Weise immer auch über das Stück selbst hinaus, da sie ein Stück der Rezipientenwelt aufgreifen und verwandeln. Das ‚Leben‘ des ‚Sitzes im Leben‘ wird so wiederum ein Teil des Stückes.

18

Vgl. die oben in Abschnitt B.II.1 zitierte Forschungsliteratur, die in der Regel mit unterschiedlichen Herangehensweisen die Einheit zu erweisen sucht. S. ebd. (insbes. Anm. 4) auch für verschiedene Auffassungen zur Einteilung der dramatischen Handlung und zur Anzahl ihrer Teile, die ggf. von der hier vorgestellten groben Gliederung abweichen.

2

Die Themen

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Das dem Publikum bekannte Bild – Herakles als strahlender Heros des Mythos – zeichnet das Drama nicht: Er tritt zunächst als gemäßigter, familiärer Charakter auf und wird durch den grausigen Mord zu einer gebrochenen, gänzlich menschlich-elenden Figur. Hier ist ein besonderer Bogen zur Wirklichkeit des athenischen Publikums geschlagen, denn er führt in diese zurück: Die neu geschaffene, menschliche Figur wird schließlich der Ausgangspunkt für ein neues Heldentum durch Theseus’ Eingreifen, das seinen Platz samt eigenem Kult im demokratischen Athen einnehmen kann. Gewissermaßen ersetzt so der neue Held auch in der ‚wirklichen‘ athenischen Welt die alte Vorstellung des mythischen Übermenschen.19 Nach dem Schema des Gegensatzes von λόγος und ἔργον20 – sowohl als Gegensatz von Wort und Tat als auch als Gegensatz zwischen Wort und Wirklichkeit – findet etwa die Auseinandersetzung der Figuren mit der Götterwelt statt. Das Schema äußert sich zudem im eben genannten Gegensatz zwischen der durch Chor und andere Charaktere gepriesenen Figur des Herakles und ihrem innerhalb der stückinternen Realiät tatsächlich auftretenden Pendant. 2.1

Heldentum

Ein Thema, das zentral das Stück prägt, ist das des Heldentums und der zugehörigen Werte.21 Es rankt sich prominent um die Gestalt des Herakles. So hat bereits die Exposition einige Abweichungen von der Tradition zu bieten: Das Publikum erfährt im Prolog (HF 1-106) zunächst aus Amphitryons Mund, dass der Held in die Unterwelt gegangen sei, um die letzte seiner Arbeiten zu vollführen: Den Kerberos gilt es in die Welt der Lebenden hinaufzuführen (HF 22-5). Doch nicht, um eine eigene blutige Schuld zu sühnen, hat er die Arbeiten auf sich genommen, sondern um seinem sterblichen Vater Amphitryon, seinerseits mit einer Blutschuld beladen, die Rückkehr nach Argos bzw. Mykene22 zu ermöglichen (HF 1419 20 21

22

S. im Einzelnen unten Abschnitt B.II.2.1. S. unten Abschnitt B.II.2.2. Mit diesem Thema beschäftigen sich eingehender Chalk 1962; Foley 1985, S. 167-92; Michelini 1987, S. 242-67; Padilla 1994; Papadopoulou 2005, S. 129-51; Giuseppetti 2017. Zur nicht differenzierenden Nennung von Mykene und Argos bei den Tragikern s. Bond 1981, S. 66f. zu E. HF 15.

316

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

20). Diese Version des Mythos entspricht nicht den geläufigen Versionen und darf mit einigem Recht als Erfindung des Euripides aufgefasst werden.23 In Entsprechung zu dieser frommen Mission ist Herakles, wie er zu Beginn des Stückes dann in persona auftritt, ein moderater Held, der keinen Hang zur Hybris in sich zu tragen scheint.24 Insgesamt unterscheidet Foley in ihrer Untersuchung drei Erscheinungsformen des Herakles, die miteinander in Beziehung treten und konkurrieren. Die erste Erscheinungsform sei die des Heros Herakles, wie sie etwa aus der epinikischen und enkomiastischen Tradition bekannt sei.25 In dieser Form nähmen Amphitryon, Megara und der Chor vor seiner Ankunft Bezug auf ihn und so werde Herakles in den drei Standliedern des Chores dargestellt:26 als großer panhellenischer Held und Vernichter von bedrohlichen Ungeheuern, als Zivilisationsbringer und rein positive Figur. Doch früh werde deutlich, dass diese Version keinen Platz finde in der Welt der Ausgangssituation: So halte man den Helden für tot;27 Megara wähle sich diese Heraklesfigur als Rollenvorbild, doch als ein Vorbild zum Sterben (HF 278-311). Zugleich zeige die Stadt Theben, wie von Amphitryon (HF 55-9; 217-28) und später Megara im Gespräch mit Herakles (HF 23

24 25 26

27

Gewöhnlich sind die Arbeiten Sühne für den durch Herakles selbst begangenen Mord an seiner Frau Megara und/oder seinen Kindern – die, wie das Publikum feststellen muss, noch am Leben sind (vgl. HF 9-12, wo Amphitryon Megara ‚vorstellt‘; sie ergreift selbst das Wort ab HF 60; vgl. auch HF 44 für den ersten deiktischen Verweis auf die ebenfalls anwesenden Kinder): S. für die Unterschiede zwischen Euripides’ Version und der verbreiteteren Fassung des Mythos Wilamowitz 1959, II, 108-13, insbesondere S. 109f.; Bond 1981, S. xxvi-xxx, insbes. xxviii-xxx; Griffiths 2006, S. 19-21; Marshall 2017, S. 184. Weitere grundlegende Neuerungen bestehen in der Einführung der Figur des Lykos (vgl. Wilamowitz 1959, II, S. 112; Bond 1981, S. xxviii; Foley 1985, S. 181; Michelini 1987, S. 241; Griffiths 2006, S. 49f.; Giuseppetti 2017, S. 25) und dem Auftritt des Theseus in der Geschichte (vgl. Wilamowitz 1959, II, S. 110-12; Bond 1981, S. xxx). Dies wird im Folgenden ausgeführt. Vgl. zu diesem Abschnitt im Einzelnen Foley 1985, S. 177-188. Den epinikischen bzw. enkomiastischen Charakter aller drei Stasima (HF 348-450; 637-700; 763-814) – die zugleich auch mit anderen Formen spielen – betonen neben Foley 1985, S. 178 u. 183-6 vor allem Parry 1965; Bond 1981, S. 146f. zu HF 348ff.; 224f. zu HF 637-700; 263f. zu HF 763814; Michelini 1987, S. 238f.; Swift 2010, S. 124-33. S. unten Abschnitt B.II.3.5.

2

Die Themen

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558-61) beklagt, kaum Bereitschaft, diesem Helden (in Form seiner Familie) Beistand zu leisten. Lykos stelle gar den Wert seiner Arbeiten und seine Integrität in Frage (HF 145-64).28 Seine Argumente gegen die Heldenhaftigkeit des Herakles unterstütze er mit seinem radikalen Aktionismus, der in krassem Gegensatz stehe zu den reinen Worten, mit denen Amphitryon und der Chor ihn zu verteidigen suchten.29 Die zweite Erscheinungsform des Herakles sei die gemäßigte, häusliche, als welche Herakles, wie eingangs bemerkt, nach seiner Heimkehr tatsächlich auftrete.30 Eine solche mit menschlichem Empfinden ausgestattete Figur sei in der Überlieferung vorher schwerlich anzutreffen.31 Er stelle das Wohlbefinden seiner Familie über Arbeiten und Ruhm, und sei bereit beides aufzugeben, um seinen Lieben Beistand zu leisten.32 Er erscheine als ein Mann, der seine Pflichten gegenüber den Göttern kenne 28

29 30 31

32

Eine entsprechende Debatte entspinnt sich pointiert um den Bogen, den Herakles als Waffe trägt: Während Lykos im Kampf mit dem Bogen ein Zeichen von Feigheit sieht (insbes. HF 159-164), sucht Amphitryon die Eigenschaften des Bogenschützen in seiner Entgegnung (170-235) zu verteidigen. S. dazu Taragna Novo 1973; Foley 1985, S. 169-75; Hamilton 1985; Michelini 1987, S. 242-6; Padilla 1992; Papadopoulou 2005, S. 137-51; Griffiths 2006, S. 79f. S. zu diesem letzten Punkt auch unten Abschnitt B.II.2.2.1. Vgl. zu diesem Abschnitt im Einzelnen Foley 1985, S. 188-90. Foley verweist ebd., S. 188 gleichwohl auf Bakchylides’ fünfte Ode: „Bacchylides’ fifth ode offers the first example of Heracles as a heroic figure capable of pity, learning, and mature suffering, a figure subsequently made popular by tragedy, the Sophist Prodicus, and the later Stoic tradition.“ Am deutlichsten wird diese Haltung in den Versen 574-82: τῶι γάρ µ’ ἀµύνειν µᾶλλον ἢ δάµαρτι χρὴ | καὶ παισὶ καὶ γέροντι; χαιρόντων πόνοι· | µάτην γὰρ αὐτοὺς τῶνδε µᾶλλον ἤνυσα. | […] (578) ἢ τί φήσοµεν καλὸν | ὕδραι µὲν ἐλθεῖν ἐς µάχην λέοντί τε | Εὐρυσθέως ποµπαῖσι, τῶν δ’ ἐµῶν τέκνων | οὐκ ἐκπονήσω θάνατον; οὐκ ἄρ’ Ἡρακλῆς | ὁ καλλίνικος ὡς πάροιθε λέξοµαι. / „Wen muss ich eher beschützen als meine Frau, | meine Kinder und den Alten? Ade, Arbeiten! | Denn geradezu vergeblich habe ich sie ausgeführt angesichts dieser Arbeiten hier. | […] (578) Oder was sollen wir schon gut daran nennen, | mit der Hydra in ein Gefecht getreten zu sein und mit einem Löwen | auf Geheiß des Eurystheus – werde ich nicht den Tod meiner Kinder | herausringen? Dann will ich nicht mehr Herakles | ‚von schönem Sieg‘ heißen wie früher.“ S. zu diesen Versen auch unten Abschnitt B.II.3.2.1. Eine geradezu ‚demokratische‘ Haltung erkennt Foley 1985, S. 189 in Herakles’ Bekenntnis HF 631-6: καὶ γὰρ οὐκ ἀναίνοµαι | θεράπευµα τέκνων. πάντα τἀνθρώπων

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

(HF 607-9), durchaus auch die Grenze zwischen Menschsein und Göttlichkeit.33 Diese ‚normale‘, bürgerliche Version des Herakles sei „curiously disappointing“34, da aus einem Leben im Privaten kein κλέος erwachsen könne, wie es der Chor in seinen Liedern evoziere. Als geradezu programmatisch für die Wahrnehmung und Wertung dieser Version kann Amphitryons ungläubige Frage in Vers 610 gelten:35 ἦλθες γὰρ ὄντως δώµατ’ εἰς Ἅιδου, τέκνον; Bist du wirklich in die Häuser des Hades gegangen, Sohn?36

33 34 35 36

ἴσα· | φιλοῦσι παῖδας οἵ τ’ ἀµείνονες βροτῶν | οἵ τ’ οὐδὲν ὄντες· χρήµασιν δὲ διάφοροι· | ἔχουσιν, οἱ δ’ οὔ· πᾶν δὲ φιλότεκνον γένος. / „Ich verweigere nicht die Betreuung meiner Kinder. Alles Menschliche ist gleich: | Es lieben ihre Kinder die edelsten der Sterblichen | und die, die nichts sind; im Geld unterscheiden sie sich: | Die einen haben davon, die anderen nicht. Aber das ganze Geschlecht liebt seine Kinder.“ Vgl. Bond 1981, S. 224 ad loc. für eine ähnliche Deutung. – Zu Herakles als ‚family man‘ s. auch Michelini 1987, S. 252-4; Papadopoulou 2005, S. 77-80; Griffiths 2006, S. 72-4. Vgl. für eine ähnliche Charakterisierung Gregory 1977, S. 267f.; Mikalson 1986, S. 96. Foley 1985, S. 190. Foley charakterisiert ebd. das Stellen dieser Frage als „almost comically“. Papadopoulou 2005 erhebt Einwände gegen Foleys eindeutige Charakterisierung des auftretenden Herakles als eines Mannes „who surprises only by his mildness“ (Foley 1985, S. 189): Sie sucht nachzuweisen, dass Herakles während des ganzen Stückes – insbesondere auch bereits im Teil vor dem Auftritt von Iris und Lyssa, vor seinem Wahnsinn also – eine ambivalente Figur sei. Als deutliches Zeichen wertet sie die Verse 565-73, in denen der heimgekehrte Herakles Lykos und den thebanischen Überläufern blutige Rache schwört: ἐγὼ δέ, νῦν γὰρ τῆς ἐµῆς ἔργον χερός, | πρῶτον µὲν εἶµι καὶ κατασκάψω δόµους | καινῶν τυράννων, κρᾶτα δ’ ἀνόσιον τεµὼν | ῥίψω κυνῶν ἕλκηµα· Καδµείων δ’ ὅσους | κακοὺς ἐφῆυρον εὖ παθόντας ἐξ ἐµοῦ | τῶι καλλινίκωι τῶιδ’ ὅπλωι χειρώσοµαι, | τοὺς δὲ πτερωτοῖς διαφορῶν τοξεύµασιν | νεκρῶν ἅπαντ’ Ἰσµηνὸν ἐµπλήσω φόνου, | Δίρκης τε νᾶµα λευκὸν αἱµαχθήσεται. / „Ich aber will gleich jetzt als Werk meiner eigenen Hand gehen und die Häuser der neuen Könige | dem Erdboden gleich machen, dann das ruchlose Haupt abschlagen | und es hinwerfen zur Beute der Hunde. Alle aber von den Kadmeiern, die | ich als schlecht entlarvt habe, obwohl es ihnen gut ergangen ist durch mich, | werde ich mit dieser Waffe von schönem Sieg überwältigen; | die anderen mit gefiederten Pfeilen vernichtend | werde ich mit der Toten

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Die Szene mit dem Auftritt von Iris und Lyssa nun erzeuge den Eindruck, dieser Herakles werde von den Göttern – namentlich Hera und Iris – nicht anerkannt: „The impression remains that the gods wish to blame and destroy the pious Heracles, while Madness alone wishes to praise him.“37 Heras Motiven entspreche mehr der im zweiten und dritten Stasimon überschwänglich zum Gott gesteigerte epinikische Herakles – wie er nicht als wirkliche Figur in diesem Stück auftrete. Der Befall mit Wahnsinn, resultierend aus Lyssas Walten, fördere die dritte Erscheinungsform des Herakles zu Tage: eine gewalttätige, wie sie aus Epos und Mythos eher bekannt sei.38 Dieser Herakles mordet – im Wahn freilich – seine Frau und seine Kinder (HF 884-1015) und macht auch vor seinem Vater nur dank eines äußeren, übergeordneten Eingriffs – in diesem Falle in Form eines von Athene geworfenen Felsblocks – Halt (HF 1001-6). Diese Figur entspreche am ehesten der mythischen Tradition des jähzornigen, lüsternen, in der komischen Übertreibung auch verfressenen Helden, der oft mit einem Fuße jenseits der Grenze zur Hybris stehe: „a figure belonging to one of the earliest generations of Greek myth, extraordinarily prone to violence and never quite part of civilized life“ 39. Diese Figur bilde das Gegenstück zum strahlenden epinikischen Helden: […] Lyssa and Iris in fact restore Heracles to the world in which the chorus and his family originally located him. He reenters saga, though now as the god’s victim rather than as the favorite. It is the intervening Heracles, the family man, who does not fit. An ordinary Heracles is in some sense no Heracles at all.40

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Mordblut den ganzen Ismenos füllen | und der helle Quell der Dirke wird mit Blut durchtränkt sein“ (HF 565-73). S. Papadopoulou 2005, passim für ihre Zeichnung eines ambivalenten Herakles und insbes. S. 34-48 für die hier zitierten Verse im Rahmen der Untersuchung der Themen von ‚revenge and transgression‘. In der Tat bemüht sich Foley 1985, S. 189f. etwas gezwungen, für diese Verse eine Erklärung unter dem Titel der Anpassungsfähigkeit des Bogenschützen zu finden. Dennoch besitzen die von ihr ausgemachten Tendenzen als solche ihre Gültigkeit. Foley 1985, S. 192. Freilich beugt sich schließlich auch Lyssa der Hoheit der Hera (HF 854-61). S. zu diesem Abschnitt im Einzelnen ebd., S. 190-2. Ebd., S. 191. Ebd., S. 192.

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B.II

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Die drei angebotenen Versionen treten Foley gemäß auf verschiedenen Ebenen in Widerspruch zueinander. Insbesondere der Familienmord in der zentralen Szene des Stückes unterlaufe die anfangs evozierten Vorstellungen von ἀρετή, nicht zuletzt, da er auch selbst als ein Athlos des Herakles dargestellt sei.41 Nach der Peripetie, als Herakles wieder zu sich gekommen ist und sich des Ausmaßes seines Wahnsinns bewusst geworden ist, erlebt das Publikum eine geschlagene Figur, die den vergangenen Ruhm fortwehen lassen will und mit Selbstmordgedanken spielt.42 In diesen Szenen, argumentiert Foley, würden die Widersprüche zwischen den drei Versionen repariert werden, zum Zwecke der Schaffung eines neuen Helden.43 Entscheidend ist dabei das Erscheinen des Theseus und die Kraft seiner Freundschaft:44 Er ignoriert Herakles’ µίασµα, erinnert ihn an seinen Ruhm und überzeugt ihn schließlich, am Leben zu bleiben und ihn nach Athen zu begleiten.45 Die Erschaffung eines athenischen, ‚demokratischen‘ Helden ist perfekt: „He retains his past glory, yet by his crime and suffering he has been reduced to equality with other men, and in this sense becomes a true participant in a democratic society.“46 Die ausgesprochen positiv gezeichnete Rolle Athens in der Anteilnahme an Herakles’ Schicksal, nicht zuletzt vertreten durch seinen propagierten Nationalhelden47 Theseus, ist unübersehbar mit politischen Nuancen versehen.48 Nicht nur wird aber Herakles ein neuer athenischer Held 41 42

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S. dazu unten Abschnitt B.II.3.2.2. Zur Bedeutung von Herakles’ Selbstmordabsichten und ihrer schließlichen Aufgabe – auch im Vergleich mit Sophokles’ Aias – s. Yoshitake 1994; Papadopoulou 2005, S. 166-89; Griffiths 2006, S. 92-5. Vgl. Foley 1985, S. 176f.; 192-4. Das Konzept der φιλία – welche als φίλοι sowohl Freunde als auch Verwandte umfasst – ist ein weiteres wichtiges Thema des Stückes, s. Padilla 1994; Johnson 2002; Papadopoulou 2005, S. 157-65; Griffiths 2006, S. 100-113. Das lange Gespräch zwischen Herakles und Theseus entspinnt sich über die Verse 1214-1418. Foley 1985, S. 176. Vgl. ebd., S. 192-4, wo die Merkmale dieses ‚neuen‘ Heldentums ausgeführt sind. Die Verwandlung des Herakles durch das Leiden und die daraus folgende Entstehung eines Helden für Athen beschreiben auch Burzacchini 1999; Mikellidou 2015, S. 348-51; Marshall 2017, S. 190-3. Zu der ‚Erschaffung‘ dieses Helden s. die grundlegende Arbeit von Calame 1990. S. Tarkow 1977; Mills 1997, S. 136-59; Papadopoulou 2005, S. 151-65, auch für weitere Literaturverweise; Griffiths 2006, S. 102-4; Giuseppetti 2017,

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durch seine Übersiedlung nach Athen im Rahmen der mythologischen Wirklichkeit der dramatischen Handlung: Theseus’ Versprechen, er werde ihm selbst zu Lebzeiten von seinem Land und seinem Besitz abgeben (HF 1324-31), nach seinem Tod aber werde ihn die Stadt Athen mit Opfern und steinernen Monumenten ehren (HF 1331-3), stellt ein Aition für den athenischen Herakleskult dar.49 Das Publikum im Dionysos-Theater erlebt so die Stiftung eines Heroenkultes mit, der längst Teil seiner Wirklichkeit ist. 2.2

λόγος und ἔργον, Menschen und Götter

Ein weiteres wichtiges Thema im Herakles ist der Gegensatz zwischen Wort und Tat bzw. Wort und Wirklichkeit. Da auch dieses für die Rekonstruktion des semantischen Netzes, in dem am Ende die Musen eine zentrale Rolle spielen, von Bedeutung ist, soll hier am Leitfaden der Ergebnisse der bisherigen Forschung, insbesondere der Arrowsmiths, die sogenannte λόγος-ἔργον-Antithese skizzenhaft vorgestellt werden. Auch die schon vorgestellte Auseinandersetzung mit Heldentum und ἀρετή funktioniert teilweise nach diesem Schema. Arrowsmith identifiziert das griechische Theater als ein „theater of ideas“50, in welchem der Schwerpunkt auf den Ideen liege, nicht auf den Figuren, auf Problemen, nicht der Entwicklung von Figuren, und auf Gedanken anstelle der Ästhetik. Anliegen sei eine Diagnose und Dramatisierung einer kulturellen Krise. Die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts, eine Zeit heftiger politischer Umschwünge und Kriege und daraus resultierender kultureller Krisen, scharf analysiert etwa von Thukydides, schlage sich bei Euripides stark in jedem Stück, sowohl implizit als auch

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S. 39-53. Euripides bietet nicht nur ein Aition für den Herakleskult in Athen: Zugleich liefert er mit der Landschenkung an Herakles eine Erklärung für die verhältnismäßig geringe Anzahl an Theseus-Temene; vgl. Giuseppetti 2017, W45. Der Dank der Verfasserin für den Hinweis auf diesen Zusammenhang gilt Jessica Krause. S. Arrowsmith 1963. Unter dem Begiff versteht er „a theater of dramatists whose medium of thought was the stage, who used the whole machinery of the theater as a way of thinking, critically and constructively, about their world“ (ebd., S. 32).

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explizit, nieder. Angenommen und vorausgesetzt sei dabei „a universe devoid of rational order, or of an order incomprehensible to men“51. Im Gegenzug dafür stünden geschaffenes Chaos, Gewalt, Umschwung, Disparität. Diese Dissonanz äußere sich in unterschiedlichen Formen, am häufigsten aber im Konflikt zwischen Mythos (vermittelter Realität) und Tatsache (erlebter Realität), beziehungsweise zwischen angenommenen Werten und tatsächlichen Werten, kurz im Gegensatzpaar λόγῳ µέν… ἔργῳ δέ.52 Systematisch werde das traditionelle mythisch-hehre Heroentum in einer Art Technik des Realismus ins attische fünfte Jahrhundert übersetzt, mit dem Ergebnis, dass es darin seinen Platz eingebüßt habe.53 Arrowsmith betont, dass nicht schlichter Realismus aus Prinzip oder etwa Freude am Skandal Beweggründe des Euripides seien, sondern vielmehr der Abfall von traditionellen Vorstellungen in diesem fünften Jahrhundert der Umschwünge ein Vorgang sei, der in der Gesellschaft selbst von statten gehe. Euripides sei dabei, ähnlich wie Thukydides, ein Analyst; seine Dichtung sei „a radical and revolutionary attempt to record, analyze and assess that reality in relation to the new view of human nature which crisis revealed“54. Ferner bezeuge auch die Tatsache, dass in einigen Ausnahmen das Schema genau ins Entgegengesetzte gekehrt werde – also in einem Gedankengang des ἔργῳ µέν… λόγῳ δέ55 der Mythos benutzt werde, um Kritik an der Realität zu üben – dass Euripides’ λόγος-ἔργον-Realismus hinausgehe über schlichten Anti-Traditionalismus: Er sei gewis-

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Ebd., S. 36. Schon bei den Vorsokratikern spielte di Antithese λόγῳ – ἔργῳ eine wichtige Rolle: S. z. B. Democr. B 55 u. B 82 Diels-Kranz; Anaxag. B 7 Diels-Kranz; s. jedoch auch Democr. B 145 Diels-Kranz λόγος ἔργου σκιή. Auch in der Tragödie vor Euripides tritt der Gegensatz auf: S. S. El. 59; OC 782; [A.] Pr. 338; auch Hdt. 4, 8 etc. Insgesamt s. LSJ s. v. λόγος VI. 1. c. Arrowsmith 1963, S. 40 benennt selbst den Herakles als Ausnahme zur Rigidität dieses Musters, als „Euripides’ one attempt to define a new heroism“; vgl. oben Abschnitt B.II.2.1. Arrowsmith 1963, S. 38. Aus diesem Grund, so Arrowsmith im Folgenden, beginne auch fast jedes euripideische Drama mit einer Kritik der (auch literarischen) Überlieferung. Auch der Herakles öffnet ja, wie bereits bemerkt wurde (s. oben Abschnitt B.II.2.1), mit einigen Modifikationen des Mythos. Vgl. Gorg. 82 B 11 (II, 288, 11; 290, 17) Diels-Kranz, besonders 11a (II, 302, 23; 302, 31) Diels-Kranz.

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sermaßen vielmehr „consistent dramatic technique“56. Nicht die Anklage der Tradition sei das Anliegen des Dichters, sondern die dramatische Konfrontation mit der Spaltung seiner Kultur.57 – Das λόγος-ἔργονSchema erscheint auch als Schablone im Herakles. Es ist in unterschiedlichen Erscheinungsformen ausgeprägt. So scheint die Konfrontation der Gegenpole in der religiösen Erkenntnis zu münden, dass die Weltordnung, manifestiert in den Göttern, entweder keinen Regeln folgt oder dem menschlichen Begreifen unzugänglich bleiben muss. Dieser Prozess, der Diskurs über das Götttliche und die Beziehung zwischen Menschlichem und Göttlichem, verhandelt den Gegensatz zwischen λόγος und ἔργον zumeist auf einer theoretischen Ebene.58 Es existiert im ersten Teil des Herakles aber auch eine viel konkretere Manifestation des Konflikts. Denn er ist auch und gerade auf der Handlungsebene in den Konstellationen der Figuren und den Deutungen, die diese sich selbst oder einander gegenseitig oder gegenüber Dritten geben, präsent.59 2.2.1 Lykos im Gegensatz zum Chor und zu Amphitryon In drei Figuren wird der Gegensatz von λόγος und ἔργον besonders virulent: Denn die beiden Pole gerinnen in den Figuren des Lykos und der alten Männer des Chores geradezu zu Personifikationen. Der Chor ist das Wort in Person, Lykos ist Aktion in Person. So treten die alten Männer Thebens in der Parodos auf, gestützt auf ihre Stöcke und nur ein trauriger Rest ihrer einstigen Jugendkraft, und sagen explizit, sie seien ἰηλέµων γέρων ἀοιδὸς ὥστε πολιὸς ὄρνις, ἔπεα µόνον καὶ δόκηµα νυκτερωπὸν ἐννύχων ὀνείρων, 56

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Arrowsmith 1963, S. 39. Im Lichte dieser Technik, so Arrowsmith, ließen sich auch typische Kritikpunkte an der Dichtkunst des Euripides besser begreifen, nämlich als funktional in dieses Schema eingebettete Elemente. So sei etwa jeder (von Euripides so extensiv eingesetzter) deus ex machina „the sign of logos making its epiphany, counterpointing ergon“ (ebd., S. 39). Vgl. zu diesem Abschnitt insbes. ebd., S. 32-40. S. Abschnitte B.II.2.2.2 und 2.2.3. S. Abschnitt B.II.2.2.1.

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ein alter Sänger von Klageliedern | wie ein grauweißer Vogel, | Worte nur und nächtliche Phantasie | von Träumen in der Nacht. E. HF 110-13

Die alten Thebaner beklagen weiterhin, dass sie Lykos nicht mit physischer Gewalt in die Flucht schlagen können (HF 268f.; 312-14); Worte sind das einzige Wehrmittel, das sie noch besitzen.60 Auch Amphitryon, seinerseits ein „nutzloser alter Mann“ (HF 42: γέροντ’ ἀχρεῖον) in der Stadt Theben, wünscht sich die Kraft seiner jungen Jahre zurück, um Lykos zu töten. Auch er beschreibt die Ausführung der erträumten Tat lebendig (HF 232-5), wie um die Qualitäten von Aktion, von ἔργον, hervorzuheben; doch auch er ist nichts weiter als „Geräusch der Zunge“ (HF 229: οὐδὲν […] πλὴν γλώσσης ψόφον), nichts weiter also als purer λόγος. Deutlicher als in dieser Formulierung könnte der Gegensatz nicht zu Tage treten. Lykos, der im Vorfeld bereits die Arbeiten des Herakles als Gerücht, zumindest als übertriebene Geschichte abgetan hatte (HF 145-164), reagiert auf das müde Aufbäumen der Alten mit folgenden Worten: σὺ µὲν λέγ’ ἡµᾶς οἷς πεπύργωσαι λόγοις, ἐγὼ δὲ δράσω σ’ ἀντὶ τῶν λόγων κακῶς. Sprich du übel61 von mir in Worten, mit denen du großtust, | ich aber werde dir im Gegenzug für die Worte Übles antun. E. HF 238f.

Im Anschluss gibt Lykos seinen Befehl für das Errichten des Scheiterhaufens, auf dem er die Schutzsuchenden verbrennen lassen will (HF 24046); die Schutzsuchenden, die nur Worte zu ihrer Verteidigung haben: Radikaler könnte er sein Tat-Sein nicht zum Ausdruck bringen.

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Besonders radikal äußert sich dies in V. 314, wo der Chor nach dem Herbeisehnen seiner Jugendkraft zur Wehr (HF 312f.) schließt: νῦν δ’ οὐδέν ἐσµεν. / „Jetzt aber sind wir ein Nichts.“ (HF 314). Diese Übersetzung folgt Bond 1981, S. 215 ad loc.: „The construction is surely λέγ’ ἡµᾶς κακῶς, the word κακῶς being taken ἀπὸ κοινοῦ with both λέγε and the contrasted δράσω. This has more force and gives better contrast than the alternative λέγ’ ἡµᾶς λόγους.“ Vgl. ebenso Wilamowitz 1959, III, S. 62 ad loc.

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In den Figuren des Lykos und des Chores äußert sich der λόγος-ἔργονKonflikt in erster Linie in einem Konflikt von Wort und Tat. Doch er verläuft auch auf der Ebene von Wort und Wirklichkeit im Sinne Arrowsmiths. Denn der Chor steht mit seinen Gesängen epinikischen und lobenden Charakters ebenso wie Amphitryon und Megara mit ihren Erwartungen für ein Heldentum, das in der Welt Thebens, repräsentiert durch Lykos, keinen Platz findet.62 2.2.2 Zeus als Vater des Herakles im Verhältnis zu Amphitryon Ein Thema, das nach dem Schema λόγῳ µέν – ἔργῳ δέ (Wort – Wirklichkeit) verhandelt wird, ist die Vaterschaft des Zeus.63 Das Motiv vom Göttervater, der sich in Gestalt des Amphitryon im Wechsel mit dem wahren Ehemann in Alkmenes Bett stiehlt und schließlich seinen Teil zur Geburt des Herakles beiträgt, ist es, das Amphitryon gleich zu Beginn des Dramas wählt, um sich vorzustellen: Sein Herausstellungsmerkmal ist seine Eigenschaft als „Bettgefährte des Zeus“ (HF 1: Διός σύλλεκτρον) und (Mit-)Vater des Herakles. Amphitryons Vorstellung seiner Person lautet vollständig: Τίς τὸν Διὸς σύλλεκτρον οὐκ οἶδεν βροτῶν, Ἀργεῖον Ἀµφιτρύων’, ὃν Ἀλκαῖός ποτε ἔτιχθ’ ὁ Περσέως, πατέρα τόνδ’ Ἡρακλέους; Welcher der Sterblichen kennt nicht den Bettgefährten des Zeus, | Amphitryon von Argos, den einst Alkaios | zeugte, der Sohn des Perseus, ihn hier, den Vater des Herakles? E. HF 1-3

Alle essentiellen Elemente einer Vorstellung sind enthalten: Name, Vatersname, Heimatort. Die Nennung des berühmten Sohnes fügt sich wohl in diese Reihe; die Selbstbezeichnung als Bettgefährte des Zeus allerdings 62 63

Vgl. oben Abschnitt B.II.2.1. Mikalson 1986 befasst sich mit diesem Thema und vergleicht seine Behandlung in Euripides’ Herakles und Sophokles’ Trachinierinnen. S. auch Gregory 1977, die das Thema der zweifachen Vaterschaft vor allem hinsichtlich der Struktur des Herakles betrachtet; auch Michelini 1987, S. 254-8.

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gewinnt im Rahmen der formelhaften Aufzählung eine ganz besondere, bedeutsame Färbung, zumal im allerersten Vers, noch vor Amphitryons eigenem Namen. Und tatsächlich ist diese Frage um die Vaterschaft des Zeus und um die daraus erwachsende Verantwortung für das Schicksal des Sohnes ein wiederkehrendes Motiv im Verlauf des Stückes, an dem sich die Diskrepanz zwischen λόγος und ἔργον im euripideischen Kosmos ermessen lässt. Die ersten offenen Zweifel äußert Lykos, der Vertreter von ἔργον par excellence, bei seinem ersten Auftritt: „Leere Prahlerei“ (HF 148: κόµπους κενοὺς) sei Amphitryons Behauptung, Zeus habe sein Ehebett geteilt (HF 148f.); es folgt die Schmähung des Herakles (HF 151-64). Amphitryon reagiert auf diesen Angriff mit folgenden Worten: τῶι τοῦ Διὸς µὲν Ζεὺς ἀµυνέτω µέρει παιδός× τὸ δ’ εἰς ἔµ’, Ἡράκλεις, ἐµοὶ µέλει λόγοισι τὴν τοῦδ’ ἀµαθίαν ὑπὲρ σέθεν δεῖξαι·

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Für Zeus’ Anteil am Sohn möge Zeus | einstehen; was aber mich betrifft, Herakles, mir obliegt es, | mit Worten das Unwissen dieses Mannes hier über dich | zu zeigen. E. HF 170-3

Der µέν-δέ-Gegensatz zwischen Zeus auf der einen und Amphitryon auf der anderen Seite impliziert leise einen weiteren Gegensatz, hervorgerufen durch den Zusatz λόγοισι in V. 172. Denn Amphitryon scheint, indem er die Art der Verteidigung hervorbringt, zu der er im Stande ist, nicht nur zu fordern, dass Zeus überhaupt seinen Teil der Verteidigung übernimmt, sondern auch, dass er es auf die ihm zu Gebote stehende Weise tue: mit ἔργα. So erscheint an der Oberfläche also auch hier der Gegensatz zwischen Wort und Tat: Vater Amphitryon, Vertreter des Wortes, steht Vater Zeus gegenüber, potenziellem Vertreter der Tat. Doch viel essentieller ist natürlich der Gegensatz, der sich bereits in Lykos’ Unterstellung angekündigt hat: Angeblich ist Zeus Herakles’ Vater, doch wird er es auch in der Tat, in der Wirklichkeit unter Beweis stellen in dieser Notsituation? Die Antwort scheint zunächst zu lauten: nein. Die Götterwelt gehorcht offenbar Gesetzen, die sich menschlichem Zugang entziehen, die nicht gebieten, der in Not geratenen Familie des Sohnes Beistand zu leisten. Die Vaterschaft des Zeus bleibt λόγος, sie wird ἔργῳ nicht

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bestätigt. Und so klagt denn auch Amphitryon, nachdem Megara und er beschlossen haben aufzugeben und in den Tod zu gehen: ὦ Ζεῦ, µάτην ἄρ’ ὁµόγαµόν σ’ ἐκτησάµην, µάτην δὲ παιδὸς κοινεῶν’ ἐκλήιζοµεν· σὺ δ’ ἦσθ’ ἄρ’ ἧσσον ἢ ’δόκεις εἶναι φίλος. ἀρετῆι σε νικῶ θνητὸς ὢν θεὸν µέγαν· παῖδας γὰρ οὐ προύδωκα τοὺς Ἡρακλέους. σὺ δ’ ἐς µὲν εὐνὰς κρύφιος ἠπίστω µολεῖν, τἀλλότρια λέκτρα δόντος οὐδενὸς λαβών, σώιζειν δὲ τοὺς σοὺς οὐκ ἐπίστασαι φίλους. ἀµαθής τις εἶ θεὸς ἢ δίκαιος οὐκ ἔφυς.

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Zeus, vergeblich habe ich dich zum Mitehemann bekommen, | vergeblich nannte ich dich Teilhaber am Sohne; | du aber warst ja wohl weniger ein Freund, als du es schienst zu sein. | Ich, der Sterbliche, übertreffe an Tugend dich, den großen Gott: | Denn ich habe die Kinder des Herakles nicht verraten. | Du aber wusstest, heimlich zum Bett zu kommen, | die fremden Lager einnehmend ohne etwas zu geben – | deine Freunde zu beschützen aber weißt du nicht. | Ein einfältiger64 Gott bist du entweder oder du bist von Natur aus nicht gerecht.“ E. HF 339-47

Im Vorwurf des Amphitryon wird deutlich, wie dieser – gleichsam auf der Ebene der Theodizee – den λόγος-ἔργον-Gegensatz fasst: Zeus sollte durch die rettende Tat (ἔργον) seine Vaterschaft zeigen, die ohne die Hilfe bloßer λόγος bleibt. Umso pointierter ist diese Forderung vor dem Hintergrund, dass Zeus ja gerade als Zeus Soter etabliert wurde: Euripides isolates one cultic aspect of the deity, Zeus Soter (Zeus the Savior), and combines that, and that alone, with the epic Olympian Zeus. This Zeus Soter is a deity whose altar (and hence cult) on the stage itself has been established by Heracles (48-50; cf. 54 and 521-22). […] By assigning him the epithet Soter, Euripides points explicitly to a cultic

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Bond 1981, S. 145 ad loc. plädiert dafür, ἀµαθής eher als intellektuelle als als moralisch-ethische Größe (so Wilamowitz 1959, III, S. 79f. ad loc.) zu fassen. Mikalson 1986, S. 93 Anm. 9 sieht nicht die Notwendigkeit, eine der Bedeutungsnuancen auszuschließen: Sie könnten beide zugleich inbegriffen sein.

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function of Zeus and to his moral and, as it were, professional responsibilities to ‘save’ his son and grandchildren.65

Als Herakles schließlich, Retter in letzter Minute, erscheint, konstatiert der Chor in seinem Preislied: „Von Zeus stammt der Sohn“ (HF 696: Διὸς ὁ παῖς). Dies verherrlicht sicherlich einerseits den Helden als Helden: Er hat in seiner Großartigkeit seine Abstammung von Zeus bewiesen.66 Doch andererseits kann die Äußerung auch im Zusammenhang der λόγοςἔργον-Debatte aus anderer Perspektive verstanden werden: Zeus hat seine Vaterschaft bewiesen, indem er Herakles hat erscheinen lassen. Im exzessiven Jubellied (HF 763-814), das der Tötung des Lykos nachfolgt, ist zwar ein sterblicher Vater (ohne Namen) erwähnt, doch der Schwerpunkt liegt auf Zeus’ Anteil.67 Die Diskrepanz λόγῳ µέν … ἔργῳ δέ ist hier für einige Augenblicke überbrückt. Doch dies sind nur, wie sich zeigt, Momente süßen Truges. Ironischerweise wird ausgerechnet die gerade mit so viel Glück festgestellte Abstammung von Zeus Herakles zum Verhängnis: Denn sie ist ein Grund für 65 66 67

Mikalson 1986, S. 90. Vgl. Gregory 1977, S. 266. Vgl. HF 798-814: ὦ λέκτρων δύο συγγενεῖς | εὐναί, θνατογενοῦς τε καὶ | Διός, ὃς ἦλθεν ἐς εὐνὰν | νύµφας τᾶς Περσηίδος· ὡς | πιστόν µοι τὸ παλαιὸν ἤ|δη λέχος, ὦ Ζεῦ, σὸν ἐπ’ οὐκ ἐλπίδι φάνθη. | λαµπρὰν δ’ ἔδειξ’ ὁ χρόνος | τὰν Ἡρακλέος ἀλκάν· | ὃς γᾶς ἐξέβας θαλάµων | Πλούτωνος δῶµα λιπὼν νέρτερον. | κρείσσων µοι τύραννος ἔφυς | ἢ δυσγένει’ ἀνάκτων, | ἃ νῦν ἐσορῶντι φαίνει | ξιφηφόρων ἐς ἀγώνων | ἅµιλλαν εἰ τὸ δίκαιον | θεοῖς ἔτ’ ἀρέσκει. / „O ihr zwei zusammen zeugenden Lager von Betten, eines Menschengeborenen und | des Zeus, der kam zum Lager | der jungen Perseusnachkommin. Wie | glaubwürdig ist deine schon alte | Vereinigung, Zeus, für mich ans Licht getreten in Zeiten ohne Hoffnung. | Als strahlende hat die Zeit die Kraft des Herakles aufgezeigt; | der du Ploutons Kammern der Erde | entstiegen bist, das unterirdische Haus verlassend. | Ein mächtigerer König bist du mir | als das Herrscherpack, | das nun dem, der auf den Wettstreit schwertbewehrter Kämpfe blickt, offenbart, ob das Gerechte den Göttern noch gefällt.“ Sinngemäß heißt es in diesen Versen, dass Zeus seine Vaterschaft bewiesen habe, indem Herakles sein Sohnsein bewiesen hat. – Im ersten Stasimon (HF 348-450) unmittelbar vor der Ankunft des Herakles, in dem die Arbeiten des Totgeglaubten aufgezählt werden, hatte der Chor die Entscheidung der Frage noch neutral in der Schwebe gelassen: εἴτε Διός νιν εἴπω | εἴτ’ Ἀµφιτρύωνος ἶνιν / „ob ich ihn nun Spross des Zeus oder des Amphitryon nennen soll“ (HF 353f.).

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die Feindschaft der Hera und den Auftritt von Iris und Lyssa. Wenn Iris also über Herakles sagt, man sage sich, er stamme von Zeus und Alkmene ab, ohne ein Wort über Amphitryon zu verlieren,68 so ist dies sicher in diesem Kontext zu lesen.69 Doch auch im Folgenden, unmittelbar vor und während Herakles’ Schauertat, ist ausschließlich Zeus als Vater genannt. Neben dem Chor (HF 876) spricht auch Amphitryon selbst (HF 886) vom Sohn des Zeus, nicht von seinem eigenen. In dieser Bezeichnung steckt potenziell eine Anklage an den Göttervater, der solch schreckliche Ereignisse zulässt; und in dieser Anklage enthalten ist wiederum der alte Kontrast von λόγος und ἔργον.70 Am Ende steht die Abkehr von den unzugänglichen Göttern; nicht ihre Verurteilung, aber doch das Fügen in die Erkenntnis, dass sie einer anderen Sphäre angehören, aus der nur ein λόγῳ, aber kein ἔργῳ zu erwarten ist. Schon andeutungsweise enthalten ist diese Resignation in Amphitryons Entgegnung auf Theseus’ Frage, wer es sei, der da verhüllt neben den Leichen sitze: ἐµὸς ἐµὸς ὅδε γόνος ὁ πολύπονος mein Sohn, mein Sohn ist dies, der vieles erlitten hat E. HF 1190

Man beachte, wie das verdoppelte ἐµός gewissermaßen die Stelle des Zeus mit einnimmt. In seiner langen Auseinandersetzung mit Theseus über die Natur der Götter, Selbstmord und ἀρετή (HF 1242-1394) trifft Herakles bezüglich Zeus schließlich folgende Aussage: Ζεὺς δ’, ὅστις ὁ Ζεύς, πολέµιόν µ’ ἐγείνατο Ἥραι (σὺ µέντοι µηδὲν ἀχθεσθῆις, γέρον· πατέρα γὰρ ἀντὶ Ζηνὸς ἡγοῦµαι σ’ ἐγώ) 68

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Vgl. HF 825f.: ἑνὸς δ’ ἐπ’ ἄνδρὸς δώµατα στρατεύοµεν, | ὅν φασιν εἶναι Ζηνὸς Ἀλκµήνης τ’ ἄπο. / „Wir ziehen gegen das Haus eines Mannes zu Felde, | von dem man sagt, er stamme von Zeus und von Alkmene.“ Vgl. Gregory 1977, S. 267. Den gleichen Vorwurf expliziert der Chor, als Herakles, noch schlafend, umringt von seiner getöteten Familie, auf dem Ekkyklema dem Publikum präsentiert wird: ὦ Ζεῦ, τί παῖδ’ ἤχθηρας ὧδ’ ὑπερκότως | τὸν σόν, κακῶν δὲ πέλαγος ἐς τόδ’ ἤγαγες; / „O Zeus, warum hasst du deinen Sohn mit einem solchen Übermaß an Zorn, | dass du ihn in ein solches Meer von Unglück geführt hast?“ (HF 1087f.).

330

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Zeus, wer auch immer Zeus ist, hat mich gezeugt zum Feind | der Hera (du aber sei nicht böse, alter Mann; | denn ich sehe dich anstelle von Zeus als meinen Vater an) E. HF 1263-65

Das generalisierende ὅστις ὁ Ζεύς71 verbannt den Göttervater in die besagte unzugängliche Sphäre. Der Beschluss, nun einzig Amphitryon als Vater anzuerkennen, besiegelt endgültig das Fügen in eine Ordnung, in der höchstens auf die sterblichen Mitstreiter, gewiss nicht aber auf die Götter Verlass ist.72 Schwang, solange noch Zeus als Vater angerufen und genannt wurde, immerhin die Hoffnung mit im Raume, auf das λόγῳ würde noch ein ἔργῳ folgen, so führt sein Ausbleiben letztendlich zur Revidierung der λόγοι. 2.2.3 Hera als Gegnerin des ‚mythischen‘ Herakles Dem umgekehrten Schema ἔργῳ µέν – λόγῳ δέ folgt die Zeichnung der Motivationen und Handlungen Heras, wenn auch auf rein struktureller Ebene ohne ausdrückliche textliche Hinweise. Herakles erscheint in den Augen der Figuren des Stückes durchgängig als Opfer des Zorns der

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Bond 1981, S. 383 ad loc. macht auf die kultische Bedeutung des Ausdrucks aufmerksam: „ὅστις ὁ Ζεύς is meant to shock. In bitter scepticism Heracles is using the traditional liturgical formula we find at the beginning of Aeschylus’ ‘hymn to Zeus’, Ag. 160”. Der weitere Zusammenhang, in den diese Aussage gestellt ist, besteht in einer Auseinandersetzung mit der Natur der Götter und ihrem Verhältnis zu den Menschen, innerhalb derer Herakles eine stark skeptizistische Position einnimmt. Auch Amphitryons Anklage (HF 339-47, s. o.) gehört dazu. Zentral sind die Verse 1341-46, in denen Herakles Theseus gegenüber das traditionelle Götterbild nicht anerkennen will und es zu „elenden Geschichten von Dichtern“ (HF 1346: ἀοιδῶν […] δύστηνοι λόγοι) erklärt. S. dazu die von Schriefl 2005, S. 334-8 zitierte Forschungsliteratur; Gregory 1977, S. 273f.; Mikalson 1986, S. 96f.; Michelini 1987, S. 267-76; Papadopoulou 2005, S. 85-116; Griffiths 2006, S. 95-7; Marshall 2017, S. 189f. Zugleich ist die Anerkennung allein des sterblichen Vaters Teil der Hervorbildung des neuen Heldentums: „Heracles’ deliberative act at lines 1264-65 presents a positive, humanistic act of heroism.“ (Marshall 2017, S. 192).

2

Die Themen

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Hera.73 Gründe für ihren Zorn werden nicht offen genannt; doch zwei werden evoziert. Da ist zum einen die allgemein bekannte Eifersucht des Mythos: die Eifersucht der Zeusgattin auf das uneheliche Kind.74 Zum anderen sind da die Worte, die Iris zum Ende ihrer ersten Rede spricht, als Aufforderung an Lyssa, Herakles heimzusuchen: γνῶι µὲν τὸν Ἥρας οἷός ἐστ’ αὐτῶι χόλος, µάθηι δὲ τὸν ἐµόν· ἢ θεοὶ µὲν οὐδαµοῦ, τὰ θνητὰ δ’ ἔσται µεγάλα, µὴ δόντος δίκην.

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[auf dass] er erkenne, welcher Art Heras Zorn gegen ihn ist | und er auch meinen kennenlernt; sonst werden die Götter nichtig sein, | das Sterbliche aber groß, wenn er nicht büßt E. HF 840-2

Es ist bemerkenswert, dass Iris nicht am Anfang, als sie den Zweck ihres Erscheinens verkündet, eine Begründung äußert, sondern nur sagt, nach Beendigung der Arbeiten sei nun die Schonfrist für Herakles vergangen (HF 827-32).75 Erst abschließend lässt sie einen Grund erahnen: In den Versen 841f. scheint sich die Frage um die Kraft und Macht des Herakles zu verbergen, die sich in mancher mythischen Tradition auch schon gegen die olympischen Götter gewandt hat.76 Dieser Herakles aber, der Herakles 73

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Vgl. auch Papadopoulou 2005, S. 120. An folgenden Stellen sprechen unterschiedliche Figuren stärker oder schwächer von Hera als Urheberin von Herakles’ Leid: HF 827-32; 840-42; 858-61; 1127; 1253; 1263-8; 1303; 1311f.; 1393. Am deutlichsten wird diese formuliert in Herakles’ schon zitierter Abkehr von Zeus als seinem Vater: Ζεὺς δ’, ὅστις ὁ Ζεύς, πολέµιον µ’ ἐγείνατο | Ἥραι / „Zeus, wer auch immer Zeus ist, hat mich gezeugt zum Feind | der Hera“ (HF 1263f.). Freilich liegt in dieser Formulierung nicht eindeutig und ausdrücklich Heras Eifersucht wegen des Ehebruchs; Herakles kann ebenso meinen, sein Leben sei bestimmt von ihrer Gegnerschaft, ohne notwendigen Verweis auf die Ursache. Vgl. zur schwer fassbaren Motivation der Hera Papadopoulou 2005, S. 1202. S. auch Gregory 1977, S. 267f., die ebd., S. 267 schließt: „Heracles’ madness must be understood in terms not of his own guilt but of Hera’s will, a will offended by his very begetting.” Vgl. Papadopoulou 2005, S. 121; für Herakles’ Theomachie s. Gantz 1993, S. 454-6. Als weiteres Indiz für eine Debatte um die Dynamis des Herakles

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

des gefährlichen Übermaßes und der Hybris, gehört in den Bereich des λόγος, wie auch ein rechtmäßiger Zorn der Hera. Denn der Herakles, der im Stück auftritt, ist, wie bereits beschrieben, eine gemäßigte Figur; mit seinen Arbeiten sühnt er keine eigene Schuld, sondern die seines Vaters (HF 13-20); er kennt seine Pflichten gegenüber den Göttern (etwa HF 608f.) und liebt seine Kinder mehr als den Ruhm (HF 574-82).77 Und so sucht Lyssa auch ihn zu verteidigen und Iris’ und Heras Meinung zu ändern: ἁνὴρ ὅδ’ οὐκ ἄσηµος οὔτ’ ἐπὶ χθονὶ οὔτ’ ἐν θεοῖσιν, οὗ σύ µ’ ἐσπέµπεις δόµους· ἄβατον δὲ χώραν καὶ θάλασσαν ἀγρίαν ἐξηµερώσας θεῶν ἀνέστησεν µόνος τιµὰς πιτνούσας ἀνοσίων ἀνδρῶν ὕπο.

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Dieser Mann ist nicht unbedeutend auf der Erde | und unter den Göttern, in dessen Haus du mich schickst; | unzugängliches Land und das wilde Meer | hat er bezähmt und so allein die Ehren der Götter wiederhergestellt, | die gefallen waren durch verworfene Menschen.78 E. HF 849-53

Lyssas Worte entsprechen der frommen Version des Herakles, wie er ἔργῳ auf der Bühne erscheint. Heras Zorn, der möglicherweise, wie in den Versen 841f. angedeutet, der Sorge um ein Rühren des Helden an die Souveränität der Götter entspringt, hat eigentlich auf der Bühne des Ge-

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nennt Papadopoulou 2005, S. 120f. unter anderem die Motivation der Iris, die explizit auch eine innere, nicht nur durch Hera übertragene sei. Vgl. HF 832: συνθέλω δ’ ἐγώ / „und ich will es [sc. Herakles zum Kindsmord treiben] mit ihr [sc. Hera]; 841f. (s. o.); 855: µὴ σὺ νουθέτει τά θ’ Ἥρας κἀµὰ µηχανήµατα / „Mahne du nicht Heras und meine Pläne ab“; auch 847f., wo Lyssa Hera und Iris von ihrem Vorhaben abbringen will (παραινέσαι δέ, […] | Ἡρᾶι θέλω σοί τ’). Vgl. oben Abschnitt B.II.2.1. Was die Identität dieser „Menschen“ betrifft, so wendet sich Bond 1981, S. 287 ad loc. überzeugend gegen Meinungen, die in ihnen die Giganten lesen wollen. Dennoch bleibt auch die alternative Antwort unbefriedigend: „We must fall back with Wilamowitz [sc. Wilamowitz 1959, III, S. 184f. ad loc.] on the evil and lawless men whom Heracles slew – Kyknos, Diomedes, Busiris; but they are more notorious for the harm thy did to men“ (ebd., S. 287f.).

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Bildstränge

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schehens keine Berechtigung. In Iris’ Entgegnungen (HF 855; 857) spiegelt sich diese Tatsache indirekt wider, denn sie lässt nicht nur Lyssas Einwände nicht gelten, sondern drängt sie gar mit einer unwirschen Abmahnung und einer Erinnerung an Heras Auftrag zur Tat, ohne auf ihre Worte mit echten Gegenargumenten einzugehen. Und so wird wiederum der Abstand von Menschen und Göttern schmerzlich deutlich, dieses Mal in Umkehrung des Schemas: Der Herakles der Bühnenhandlung handelt maßvoll, gerecht und innerhalb der Grenzen des Menschseins (ἔργῳ µέν), doch von Hera wird diese Wirklichkeit nicht anerkannt, sie handelt unbeirrt nach den Vorgaben der mythischen Tradition (λόγῳ δέ). 3

Bildstränge

Was hier mit dem Begriff des ‚Bildstranges‘ bezeichnet wurde,79 um die Möglichkeit der Verflechtung auch auf der Wortebene sichtbar zu halten, führt Eveline Krummen unter der Bezeichnung ‚Bilderreihe‘. Ihre Definition und Beschreibung sollen auch der folgenden Untersuchung zugrunde liegen: Eine Bilderreihe liegt dann vor, wenn ein Bild oder eine bestimmte bildhafte Vorstellung in einem Stück mehrfach verwendet wird, oft in der Weise, daß ein weiteres Bild gegenüber dem (oder den) vorangehenden eine gewisse Erweiterung und Fortsetzung des Bildgehalts bringt, so daß sich durch das Nacheinander der Bildinhalte eine Art fortlaufende, gedankliche Entwicklung oder Handlung ergibt. Die Bilder schließen sich auf diese Weise hinter dem vordergründigen Geschehensablauf zu einem eigenen Bezugs- und Handlungsgefüge zusammen, das in einer dramatischen Spannung zur aktuell erzählten oder sich abspielenden Handlung steht. Die Bilder verstärken also dort, wo sie auftreten, nicht nur den unmittelbaren Eindruck der Ereignisse, sondern haben darüberhinaus eine interpretierende, häufig auch prophetische Funktion.80

Nach diesen Gesichtspunkten – und unter der Annahme, dass Bildstränge auch eine eigene Dynamik entwickeln, die untersucht werden kann –

79 80

Vgl. oben Abschnitt B.II.1. Krummen 1998, S. 300.

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

sollen im Folgenden die prominentesten Bilder des Herakles betrachtet werden: Opfer, Agon, Vogel, Dionysos, Mysterien. 3.1

Opfer und Mord

Ein zentrales Moment des Herakles, wie auch vieler anderer Tragödien, ist das der kultischen Rituale, insbesondere des Opferrituals. Es wird immer wieder aufgegriffen, vor allem auf sprachlicher, aber auch auf der Handlungsebene, in so hoher Dichte, dass man – entgegen Lloyd-Jones – durchaus von einer Durchtränkung des Stückes mit Ritual sprechen kann.81 Foley nennt drei wesentliche Funktionen von Ritualen: „All of these ritual forms function to unite men in a community, to define man’s relation to the gods, and to control and contain violence internal to a community”82. Der Kult, normaler Bestandteil des attischen öffentlichen Lebens, erscheint hier jedoch entweder in entstellter Form oder in absurden Kontexten, sodass eine neue, ungewohnte Bedeutungsebene entsteht. Die Rituale werden, so lässt sich sagen, systematisch entstellt und verkehrt.83 81

82 83

Vgl. Lloyd-Jones 1998, S. 295 über die griechische Tragödie im Allgemeinen, in Reaktion auf eine These Burkerts: „To sum up, sacrificial ritual, and other rituals, play an important part in tragedy, and in some tragedies they loom large; but I would prefer not to say that they pervaded tragedy … What does pervade tragedy is religion, and ritual is an important element in religion, and indeed in human life in general.” Das Ritual als handlungstragendes und sprachliches Konzept erscheint in Euripides’ Herakles so prominent, dass durchaus von einer Eigenständigkeit gegenüber dem Konzept der Religion die Rede sein darf. Vgl. etwa Sourvinou-Inwood 2003, S. 374, die explizit „dense ritual skeleton“ und „nonritual religious framework“ voneinander abhebt. Foley 1985, S. 47. Dieses Phänomen ist vielfach, auch für Dramen der Attischen Tragödie im Einzelnen, untersucht worden. Zwei wesentliche Beiträge, die sich diesem Thema widmen, sind Seaford 1994, insbes. S. 235-405, für die Tragödie im Allgemeinen und Foley 1985 für das Euripideische Drama. Beiden ist die These gemein, dass in der Tragödie Ritual systematisch entstellt und verkehrt werde, damit schließlich eine rituelle Normalität wiederhergestellt werden könne. Seaford stellt dies in den dionysischen Kontext. Für Foley ist das Ritual das zentrale Moment, um das alle Themen und Diskurse des Euripideischen Dramas gruppiert sind und in welchem sie gegebenenfalls ihre Auflösung finden.

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Bildstränge

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Das entscheidende Beispiel ist die Entstellung des Reinigungsrituals nach Herakles’ Tötung des Lykos, die die Peripetie des Dramas darstellt.84 Von der Vorbereitung des Rituals berichtet ausführlich der Bote in den Versen 922-30. Es ist somit das einzige, das in dieser Tragödie als explizit intendiertes vollzogen wird. Als alle Vorbereitungen getroffen sind und die Familie feierlich bereitsteht, wird Herakles vom Wahnsinn übermannt (HF 930-35) und die geplante Reinigung ins Gegenteil verkehrt. Denn kein Tier85 ist es, das Herakles schlachtet, sondern seine eigenen Kinder samt Megara (HF 969-1000). Sprachlich wird dieser Mord mit einer Opferung gleichgesetzt: So ist davon die Rede, dass Herakles dem letzten lebenden Sohn nachstelle, „um ein drittes Opfertier zu den zweien dazu zu schlachten“ (HF 995: τρίτον θῦµ’ ὡς ἐπισφάξων δυοῖν).86 Auch der Altar bleibt weiterhin präsent, als Versteck des zweiten Sohnes und Ort seiner Tötung.87 Es findet jedoch keine Verwechslung dahingehend statt, dass der Heros etwa in seinem Wahn seine Kinder für das eigentlich darzubringende Opfer hielte; vielmehr ist noch eine weitere Stufe zwischengeschaltet, die das Geschehen zu einem hochkomplexen Aktionsbündel macht. So verschiebt Herakles im Wahn den Vollzug des Reinigungsrituals, um sich zuerst an Eurystheus zu rächen und dann anschließend mit einer einzigen generellen Reinigung gleichsam zwei Fliegen auf einen Streich zu schlagen.88 In seinem Wahn hält er seine eigenen Söhne für die Söhne des Eu-

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Eine wichtige Rolle spiele dabei immer die Auseinandersetzung des Dichters mit der poetischen und mythologischen Tradition; dichterische Krisen knüpften sich an die rituellen Krisen. – S. für einen allgemeineren Zugang auch Burkert 1966; Rehm 1994; Krummen 1998; Henrichs 2000 u. 2004; Fletcher 2017, S. 488-92. – Für Euripides’ Herakles s. insbes. Foley 1985, S. 147-204; Papadopoulou 2005, S. 9-57. S. dazu Foley 1985, S. 152-62; Papadopoulou 2005, S. 10-12 u. 28-30. Foley 1985, S. 153 Anm. 1 diskutiert Formen der rituellen Reinigung im Allgemeinen; im vorliegenden Fall argumentiert sie für ein Ritual mit Opfertier. Vgl. Papadopoulou 2005, S. 11. S. Henrichs 2000, S. 179f. für die Opferritual-Terminologie, die sich um die Verben θύειν und σφάζειν gruppiert. Vgl. Bond 1981, S. 318 ad loc.; Foley 1985, S. 154; Papadopoulou 2005, S. 28f. Eine sprachliche Gleichsetzung mit einem Opfer erfährt der Mord auch im Nachhinein durch den Prokne-Vergleich in den Versen 1021-4; s. dazu unten Abschnitt B.II.4.3.1. Vgl. HF 974; 984f. Vgl. HF 936-40: Πάτερ, τί θύω πρὶν κτανεῖν Εὐρυσθέα | καθάρσιον πῦρ καὶ

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rystheus und tötet sie im Zuge seiner Rache (HF 969-1000). Sie werden also letztendlich getötet wie das Opfertier des ursprünglich geplanten Opferrituals, aber aus Beweggründen, die zu Opfer und Ritual keine Verbindung haben. Da über die sprachlichen Mittel die Tötung am Ende mit dem Ritual am Anfang dieser zentralen Szene in Beziehung tritt, entsteht die paradoxe Situation, dass Herakles gewissermaßen seine eigenen Kinder als reinigende Opfer tötet und damit ganz im Gegenteil eine untragbare Schuld und Befleckung auf sich lädt. Es ist deutlich, dass auf diese Weise die eigentlichen Funktionen von Ritual in ihr Gegenteil verkehrt werden.89 Die Szene ist Teil einer weiter über das Stück verteilten Bilderreihe von Opfer und Ritual.90 Sie wird gleich zu Beginn über die Ausgangslage des Stückes offenbar, die Herakles’ Familie als Schutzflehende am Altar des Zeus zeigt.91 Einen in dieser Hinsicht grotesken Zug gewinnt die Handlung um den Altar durch Lykos’ Beschluss, Herakles’ Familie auf einem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen (HF 238-46). Denn auch hier werden bekannte Ritualschemata entstellt. Dies geschieht zunächst einmal auf ganz prosaischer Ebene durch die Anordnung des Lykos: Er miss-

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πόνους διπλοῦς ἔχω; | ἔργον µιᾶς µοι χειρὸς εὖ θέσθαι τάδε. | ὅταν δ’ ἐνέγκω δεῦρο κρᾶτ’ Εὐρυσθέως| ἐπὶ τοῖσι νῦν θανοῦσιν ἁγνιῶ χέρας. / „Vater, warum bringe ich, bevor ich Eurystheus getötet habe, reinigendes Feuer dar und habe so doppelte Mühe? Es ist das Werk eines einzigen Handstreichs, das hier ordentlich zu richten. Sobald ich das Haupt des Eurystheus hierher gebracht habe, will ich für die gerade Gestorbenen meine Hände reinigen.“ S. Foley 1985, S. 155-62 für die einzelnen Aspekte. Das Themenfeld wird ebenso über Handlungselemente wie über sprachliche Signale evoziert, konkret ebenso wie metaphorisch. S. etwa für das Schutzflehen HF 44-54; 715f.; 968; 974; 986f.; 1206-10; für das Opfern HF 242-6; 451; 453; 602; 995; 1022; für Totenfeier und Bestattung HF 329; 333-5; 442f.; 525f.; 548f.; 562; 702f.; 1054; 1064-6; 1360-4; 1390-2; 1419-21; für Hochzeit: HF 10f.; 481-4; 834; für die Verehrung der Hausgötter HF 599, 608f; für Entsühnung/Reinigung HF 922-30; 936f.; 940f.; 1145; 1324; s. ferner HF 1283f.; 1328-33. Für die Metaphorik der Mysterien s. unten Abschnitt B.II.3.5, für bakchische Bilder, auch solche bakchischen Rituals, Abschnitte B.II.3.4, 3.5, 4.1.3 und 4.2, für verschiedene kultische Kontexte der Chorlieder Abschnitte B.II.4.1 und 4.2. – Für einen Durchgang durch religiöse und rituelle Bezüge des Stückes im Überblick s. auch Sourvinou-Inwood 2003, S. 361-77. Für eine ausführlichere Behandlung s. Papadopoulou 2005, S. 9-57. Vgl. die vorausgehende Anmerkung für die entsprechenden Stellen im Text.

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achtet damit die Immunität der Schutzflehenden zum einen Teil – schließlich will er sie töten, – respektiert aber ihre Unberührbarkeit dahingehend, dass er sie nicht mit Gewalt von dem sakrosankten Ort fortzerren, sondern an Ort und Stelle verbrennen lassen will:92 eine durchaus paradoxe Kombination. Da der Altar Mittelpunkt des zu errichtenden Scheiterhaufens bleibt, wird der Mord auf diese Weise zu einem absurden rituellen Opfer stilisiert.93 Auch sprachlich erscheint die bevorstehende Hinrichtung als Opferritual, besonders deutlich in Megaras Ausspruch in V. 451-3: εἶἑν· τίς ἱερεύς, τίς σφαγεὺς τῶν δυσπότµων; [ἢ τῆς ταλαίνης τῆς ἐµῆς ψυχῆς φονεύς;] ἔτοιµ’ ἄγειν τὰ θύµατ’ εἰς Ἅιδου τάδε. So! Wer ist der Priester, wer der Opferschlächter der Unglücklichen? | [Wer Mörder meines eigenen armen Lebens?] | Die Opfertiere sind bereit aufzubrechen ins Haus des Hades.

Auch hier verweisen die Begriffe σφαγεύς und θῦµα, wie im Botenbericht nach Herakles’ Tat, zusammen mit ἱερεύς in die sakrale Sphäre.94 Ein Unterschied zur zentralen Krise in der Peripetie besteht darin, dass an dieser das Ritual als Folie erscheint, vor der sich die eigentliche Handlung abspielt: Hier wird eine Hinrichtung, ein Mord zu einem – freilich unvollendeten – Opferritual, dort wird ein geplantes Opfer durch den ungeahnten Ausgang der begonnenen rituellen Handlung zu einem Mord. Ähnlich wie in der Peripetie wird auch in der Szene am Zeus-Altar die Verwebung von Opferritual und eigentlicher Handlung um zusätzliche Elemente erwei92 93

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Vgl. Sourvinou-Inwood 2003, S. 362. Griffiths 2006, S. 50 sieht in dem Altar noch eine mögliche tiefere symbolische Bedeutung: „When Lycus sends his men off the stage (240ff.), the altar acquires a different symbolic meaning – no longer a place of refuge, it will become a pyre […]. It is not far-fetched, therefore, to suggest that the altar is a physical symbol of what Heracles himself will be to the family – a source first of protection, and then of destruction”. S. auch Bond 1981, S. 180f. ad loc.; Papadopoulou 2005, S. 26f. Dieselbe Terminologie greift Amphitryon später auf, als es nach Herakles’ Rückkehr gilt, Lykos in einen Hinterhalt zu locken. So sagt er: ἥξει γὰρ αὐτὸς σὴν δάµαρτα καὶ τέκνα | ἕλξων φονεύσων κἄµ’ ἐπισφάξων ἄναξ. / „Er wird nämlich von selbst kommen, der Herrscher, um deine Frau und deine Kinder fortzuzerren, zu morden und mich selbst dazu zu schlachten“ (HF 601f.).

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tert: Die bevorstehende Hinrichtung erscheint auch als absurde Hochzeit einerseits, als absurdes Begräbnisritual andererseits.95 Zwischen den beiden vorgestellten Szenen besteht auch eine dramaturgische Verbindung: Denn was Lykos nicht gelingt, wird schließlich durch Herakles’ eigene Hände zu Ende geführt.96 Die Auflösung bringt Theseus. Er leugnet zwar Herakles’ furchtbare Tat nicht, erkennt aber seine Schuld nicht an und fürchtet auch keine Be95

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Megara bittet Lykos in V. 329f. darum, ihren Kindern – die ja noch am Leben sind – Totengewänder anlegen zu dürfen; vgl. HF 333-5; 442f.; 525f.; 548f.; 562; 702f. – Als entstellte Hochzeit ihrer Kinder stellt Megara die bevorstehende Tötung explizit dar in V. 480-4, nachdem sie vorher ihre ursprünglichen Pläne und Wünsche – Vermählungen mit den besten Töchtern Athens, Spartas und Thebens (HF 476-9) – geäußert hat: µεταβαλοῦσα δ’ ἡ τύχη | νύµφας µὲν ὑµῖν Κῆρας ἀντέδωκ’ ἔχειν, | ἐµοὶ δὲ δάκρυα λουτρὰ δυστήνωι φέρειν. | πατὴρ δὲ πατρὸς ἑστιᾶι γάµους ὅδε, | Ἅιδην νοµίζων πενθερόν, κῆδος πικρόν. / „Das Schicksal aber hat sich gewandelt | und euch stattdessen die Keren als Bräute zu haben gegeben, | mir aber, Tränen als Badewasser zu bringen, mir Unglücklichen. | Der Vater eures Vaters hier richtet das Hochzeitsmahl aus, | den Hades als Schwiegervater anerkennend, bittere Verbindung.“ S. Rehm 1994 für das Motiv von ‚marriage to death‘ in der griechischen Tragödie allgemein und insbesondere S. 32 für die hier vorgestellte Stelle. Vgl. auch Bond 1981, S. 191 zu HF 481-4; Papadopoulou 2005, S. 27f. Vgl. Papadopoulou 2005, S. 26-30, die nicht nur die beiden Situationen des ‚perverted sacrifice‘ einander gegenüberstellt, sondern Indizien sammelt für eine Parallelisierung der jeweils ganzen Figur des Herakles und des Lykos, welche sie als Hinweis für das Aufheben der Grenze zwischen den Polen von Gut und Böse sieht. – Sourvinou-Inwood 2003, S. 373f. bemerkt, dass im Zusammenhang mit dem Begräbnisritual Herakles’ Erscheinen als Retter nur eine Unterbrechung sei; die Totengewänder, die die Kinder schon angezogen hatten, und die Herakles ihnen fortzuwerfen aufträgt, behielten ihre symbolische Gültigkeit. Sie sterben doch und werden nach den Regeln der Kunst von ihrem Vater, der gleichzeitig ihr Mörder ist, betrauert. – Zudem setzt sich auch die Linie um das Schutzflehen verbindend fort: Denn einer der Söhne sucht sich beim häuslichen Altar zu verstecken (vgl. HF 974; 984f.); ein anderer Sohn und Amphitryon nähern sich dem rasenden Herakles jeweils im Gestus des ἱκέτης (vgl. HF 968; 986f.). Foley 1985, S. 158 beschreibt einen funktionalen Zusammenhang: „[T]he combination of a suppliant plot and sacrificial imagery must be seen as proleptic of a later plot development also involving ritual […]; sacrifice and suppliancy share the presence of the altar and the threat of imminent death.“

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fleckung durch die Berührung des Mörders.97 Stattdessen bittet und überzeugt er den Freund, ihn nach Athen zu begleiten. Dort soll er entsühnt werden und Land erhalten (HF 1324-31); nach seinem Tode soll er mit Opfern und steinernen Monumenten verehrt werden (HF 1331-3). Diese letzten, zukünftigen Rituale, die Stiftung eines Heroenkultes zu Ehren des Herakles, sind es, die eine rituelle Normalität wiederherstellen: In ihrer Fallstudie des Herakles macht Foley das Ritual als das Mittel aus, über das das traditionelle, aristokratisch geprägte gewalttätige Heldentum aus Epen- und Epinikiendichtung, wie es im Herakles der Peripetie ausbricht, seinen Weg der Verwandlung hin zu einem Platz im demokratischen Athen der Tragödienaufführungen finden kann.98 Die athenische Polisgemeinschaft erkenne einen Helden an, der eine quasi ‚menschliche‘ Göttlichkeit verkörpere, auch geprägt von Leid, und damit wie eine Brücke zwischen der Polis und den unberechenbaren Kräften der olympischen Götterwelt stehe:99 Here the community creates its own divinity and ritualizes its relation to the hero through sacrifice. […] This resolution of Heracles’ sacrificial crisis restores the relations among hero, god, and community shattered in the peripety. Ritual remains necessary for the ordering of human experience, but the superstructure by which it is rationalized is transformed.100

3.2

Agon und Athlos

Ein weiteres Bild, das das Stück durchmisst, ist das des Agons.101 Es hat seinen Platz, zunächst inhaltlich, natürlicherweise in einem Narrativ, das sich um den Helden Herakles entspannt: Sind doch die Athloi konstituierender Teil seines Mythos. So enthält das Stück viele direkte Verweise auf die ganz konkreten Arbeiten des Herakles, darunter am prominen-

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S. insbes. HF 1186; 1218-20; 1232-4; 1399f. Vgl. oben Abschnitt B.II.2.1. Vgl. insgesamt Foley 1985, S. 162-7. S. auch Seaford 1994, S. 123-39. Foley 1985, S. 166f. Auf ähnliche Strukturen – unter dem Aspekt der epinikischen Sprache – untersucht Swift 2010, S. 121-56 das Stück. Auch Padilla 1994, S. 286-90 vermerkt die Sportmetaphorik.

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testen das erste Stasimon des Chores (HF 348-450).102 Agon und Athlos erscheinen dabei sowohl in allgemeinerer Ausprägung als auch bildlich im Bereich der Sportmetaphorik. 3.2.1 Ἡρακλῆς καλλίνικος Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielt das Wort καλλίνικος. Εs ist, neben ἀλεξίκακος, eines der geläufigsten Kultepitheta des Herakles:103 Er ist der καλλίνικος schlechthin.104 Das Epitheton bezieht sich dabei nicht nur auf den Bereich des Kampfes in der Schlacht oder des Bezwingens von Ungeheuern, sondern auch auf den Erfolg in athletischen Agonen; präziser auch auf Herakles als den Schutzherrn athletischer Agone.105 Früh findet sich dieser Zusammenhang in Pi. O. 9, 1-4. Dort heißt es, dass dem siegreichen Athleten zu Ehren das Lied des Archilochos, τὸ [...] Ἀρχιλόχου µέλος (Pi. O. 9, 1), gesungen werde. Die Scholien geben als besagtes Lied eine Siegeshymne für Herakles an, mit dem berühmten Vers τήνελλα καλλίνικε, nach dem ein solches Siegeslied schlicht καλλίνικος heißen kann.106 Im Herakles des Euripides erscheint das Wort insgesamt an acht Stellen in unterschiedlichen Ausführungen des Assoziationsspektrums.107 Die (kultische) Verbindung zum Titelhelden selbst verschafft ihm eine Si102

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107

S. außerdem HF 19-25; 37; 45f.; 49f.; 151-4; 177-83; 220f.; 225f.; 265; 296f.; 348-429; 465f.; 470-3; 490-5; 516; 524; 560; 575; 578-80; 607-21; 698-700; 717-9; 735f.; 770; 807f.; 827; 830; 851-3; 1101-4; 1169f.; 1187f.; 1190-2; 1221f.; 1235; 1247; 1269-78; 1353-5; 1382f.; 1386f.; 1410; 1415f. Vgl. Stafford 2012, S. 176; Farnell 1921, S. 147. Für eine Besprechung der Kultnamen des Herakles allgemein s. ebd., S. 146-54. Vgl. Bond 1981, S. 242 zu HF 681: „Heracles is virtually καλλίνικος by profession […].“ Vgl. ebd., S. 333 zu HF 1046 τὸ καλλίνικον κάρα: „the grand formula for Heracles“. Vgl. Farnell 1921, S. 147-9; Swift 2010, S. 132f.; Stafford 2012, S. 176. Der von den Scholien wiedergegebene Teil des Liedes lautet: τήνελλα καλλίνικε | χαῖρε ἄναξ Ἡράκλεις, | αὐτός τε καἰόλαος, αἰχµητὰ δύω (Archil. fr. 324 West). Der erste Vers wird beispielsweise von Aristophanes aufgegriffen, s. Ar. Av. 1764 und Ach. 1227-34. – Zur Verwendungsweise und zum Genus von καλλίνικος im Sinne von ‚Siegeslied‘ s. Bond 1981, S. 115 zu HF 180. Vgl. Swift 2010, S. 145-7.

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gnalwirkung. So begleitet und betont es „Herakles’ fall from glory to disaster“108. Zum ersten Mal erscheint das Adjektiv in der Exposition, aus dem Munde Amphitryons: σὺν µητρί, τέκνα µὴ θάνωσ’ Ἡρακλέους, βωµὸν καθίζω τόνδε σωτῆρος Διός, ὃν καλλινίκου δορὸς ἄγαλµ’ ἱδρύσατο Μινύας κρατήσας οὑµὸς εὐγενὴς τόκος.

50

Ich sitze zusammen mit der Mutter, damit die Kinder des Herakles nicht sterben, | an diesem Altar des Zeus Soter, | den als Weihgabe für seinen Speer von schönem Sieg mein edler | Sohn stiftete, nachdem er die Minyer bezwungen hatte. E. HF 47-50

Hier ist καλλίνικος als Attribut für Herakles’ Waffen gebraucht. Die Verwendung ist an der Oberfläche durch den ganz konkreten Sieg gegen die Minyer, Erzfeinde Thebens,109 begründet. Mit seinem Potenzial zur Sinnausprägung in Richtung Ritual und Kult erscheint der Begriff, da es um die Weihung eines Altars geht, auf ganz besondere Weise treffend und angemessen. Bond weist darauf hin, dass gerade in der Kombination aus σωτήρ und καλλίνικος eine Pointe liegt, da sie genau das bezeichnet, was die Schutzsuchenden in ihrer Situation so bitter entbehren; Megara wird Herakles bei seiner Ankunft mit Zeus Soter vergeichen.110 Im Streitgespräch über Herakles’ Heldentum zwischen Amphitryon und Lykos (HF 140-235) erscheint das Wort zum zweiten Mal, wiederum in einer Rede Amphitryons. Auf Lykos’ Vorwurf der Feigheit hin verteidigt der Vater seinen Sohn, indem er unter anderem Zeus’ Donnerschlag und Vierspänner als Zeugen anruft (HF 177). Darin sei Herakles mit folgender Wirkung gefahren:

108 109 110

Vgl. Shelton 1979, S. 109f.; das Zitat ebd., S. 109. Zu dieser Schlacht, die in Herakles’ Jünglingszeit fällt, s. Stafford 2012, S. 54. Vgl. HF 220f.; 560. Vgl. Bond 1981, S. 74 zu HF 48f. Megara fordert in V. 520-2 ihre Kinder auf, den Vater fest beim Gewand zu packen und nicht loszulassen, da er für sie einem Zeus Soter in nichts nachstehen werde (vgl. HF 521f.: ἐπεὶ Διὸς | σωτῆρος ὑµῖν οὐδὲν ἐσθ’ ὅδ’ ὕστερος).

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B.II

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τοῖσι γῆς βλαστήµασιν Γίγασι πλευροῖς πτήν’ ἐναρµόσας βέλη τὸν καλλίνικον µετὰ θεῶν ἐκώµασεν· Den Sprossen der Erde, | den Giganten, passte er erst geflügelte Pfeile in die Seiten ein | und sang und tanzte dann mit den Göttern das Siegeslied. E. HF 178-80

Hier also bezeichnet καλλίνικος das nach siegreicher Schlacht in der Feier angestimmte Siegeslied. Mit der vorangegangenen Stelle hat diese gemein, dass sie konkret auf vergangene glorreiche Taten des Herakles verweist: Dort war es der Sieg über die Feinde Thebens, hier jedoch ist es Herakles’ aus dem Mythos bekannter – und mit der Lebenswelt der Figuren des Stückes notwendig nicht kongruenter – Beistand für die Götter in ihrem Kampf gegen die Giganten.111 Der Held erscheint geradezu in weite Ferne entrückt. Nach seiner Rückkehr verwendet Herakles selbst das Wort, ebenso wie Amphitryon in V. 49, für seine Waffen. Als er erfährt, was sich während seiner Abwesenheit zugetragen hat, schwört er denjenigen Thebanern Rache, die seiner Familie keinen Beistand geleistet haben: Καδµείων δ’ ὅσους κακοὺς ἐφηῦρον εὖ παθόντας ἐξ ἐµοῦ τῶι καλλινίκωι τῶιδ’ ὅπλωι χειρώσοµαι Alle von den Kadmeiern, die | ich als schlecht entlarvt habe, obwohl es ihnen gut ergangen ist durch mich, | werde ich mit dieser Waffe von schönem Sieg überwältigen. E. HF 568-70

Es ist – besonders in Vergleich zu HF 49 – deutlich, dass an dieser Stelle das Adjektiv καλλίνικος keine unmittelbar sinnstiftende Funktion erfüllt. Vielmehr bezeichnet es eine Eigenschaft, die der Waffe von jeher innewohnt, ebenso, wie sie Herakles selbst innewohnt. Er scheint zu sagen: „Ich werde die Treulosen qua meines Heraklesseins mit meinen eigenen Händen töten.“ Diese Zuschreibung findet ihr Echo in der Rolle, die Herakles’ Waffen in der Debatte um sein Heldentum spielen, sowohl in der 111

S. Pi. N. 1, 67-72 für die erste, Apollod. 1, 6, 1f. für eine ausführliche Darstellung des Mythos. S. ferner Stafford 2012, S. 63-5.

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Auseinandersetzung zwischen Lykos und Amphitryon (HF 140-235) als auch im späteren Ringen des Helden mit sich selbst, ob er das mit dem Blut seiner Kinder besudelte Kampfgerät behalten soll oder nicht (HF 1377-85). Bezeichnend ist die konkrete und unfehlbare Wirksamkeit, die den Waffen auf diese Weise zugeschrieben wird, umso mehr, da nun, da Herakles anwesend und kein glorreicher Held der Ferne mehr ist, die Umsetzung unmittelbar bevorsteht. Auf der gleichen Linie bewegt sich die nächste Erwähnung von καλλίνικος einige Verse später. Herakles erachtet den Ruhm seiner geleisteten Arbeiten und Taten als wertlos, sollte er nicht auch in der Lage sein, seiner Familie zu helfen (HF 574-81). Er schließt die längere Rede mit folgenden Worten: οὐκ ἄρ’ Ἡρακλῆς ὁ καλλίνικος ὡς πάροιθε λέξοµαι. Dann will ich nicht mehr ‚Herakles von schönem Sieg‘ heißen wie früher. E. HF 581f.

Diese Stelle markiert einen wichtigen Punkt, ist sie doch Beginn des eigentlichen Agon-Stranges, der sich im Laufe des Stückes zu einem unheilvollen Bild verkehren wird: Das Töten des Lykos, das Töten der eigenen Kinder werden als Arbeiten des glorreichen Helden dargestellt;112 er tritt sie an als der Herakles kallinikos, der er ist. Gleichzeitig kann besonders hier, wo der Begriff so unmittelbar auf den Namen angewandt ist, gemäß Sourvinou-Inwood mit einer ‚activation‘ des Publikums gerechnet werden: Er rufe das Wissen wach, dass es sich auch um eine Kultepiklese des Herakles in der athenischen Wirklichkeit handle.113 Die zwei folgenden Verwendungen des Adjektivs fallen dem Chor zu. Sie feiern den Helden überschwänglich. So folgt das zweite Stasimon (HF 637-700) der Vorbereitung des Hinterhalts für Lykos. Das Lied nimmt Bezug auf Herakles’ Rückkehr aus dem Hades, die sein Heroen112 113

S. unten Abschnitt B.II.3.2.2. S. Sourvinou-Inwood 2003, S. 363. Vgl. auch Swift 2010, S. 145: „The use here almost seems to be metapoetic, for the phraseology suggests Heracles knows the phrase as a formulaic one associated with him. It is as though he uses the epithet to denote his awareness of his own status as a cult hero, and the expectations that are therefore laid upon him.”

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tum und seine göttliche Herkunft bestätigt; es nimmt die Form eines Epinikions und Paians zu seinen Ehren an. So charakterisiert der Chor sein Lied unter anderem als „Siegeslied des Herakles“ (HF 680f.: Ἡρακλέους | καλλίνικον). Man beachte hier die Ausprägung der Bedeutung hin zu ‚Lied‘, die auch auf Vers 180 rekurriert, wo vom festlichen Komos der olympischen Götter und des Herakles nach dem Sieg über die Giganten die Rede war. Das dritte Stasimon schließlich folgt auf die Ermordung des Lykos, die sogar selbst als Agon dargestellt ist.114 In euphorischer Stimmung ruft der Chor die Landschaft der Stadt und der Umgebung dazu auf, „Herakles’ Agon von schönem Sieg“ (HF 788f.: τὸν Ἡρακλέους | καλλίνικον ἀγῶνα) mit Tanz und Gesang zu feiern. Das dritte Stasimon ist kaum geendet, da schlägt die Euphorie des Chores in Schrecken um (HF 815-21): Iris und Lyssa haben ihren Auftritt (HF 822-73). Der Botenbericht wird darlegen, was zunächst nur in Form von Ausrufen aus dem Inneren des Palastes im Wechsel mit kommentierenden Versen des Chores zum Publikum dringt (HF 875-909): Herakles hat seinen letzten großen ‚Agon‘ verrichtet. Der Bote beschreibt, wie sich Herakles im Wahn innerhalb des Palastes wie in einer Landschaft bewegt, die er auf dem Weg nach Mykene durchreist. Er macht Halt am ‚Isthmos‘: κἀνταῦθα γυµνὸν σῶµα θεὶς πορπαµάτων πρὸς οὐδέν’ ἡµιλλᾶτο κἀκηρύσσετο αὐτὸς πρὸς αὑτοῦ καλλίνικος οὐδενός, ἀκοὴν ὑπειπών.

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Und dort entblößte er seinen Leib von seinen Kleidern, | kämpfte gegen niemanden und rief sich | zu sich selbst als von schönem Sieg über niemanden aus, | nachdem er erst um Aufmerksamkeit gebeten hatte. E. HF 959-62

Hier erhält das Adjektiv eine ironische Färbung: Herakles kämpft in einer Schattenlandschaft seiner Heldentaten mit einem Schattengegner und reklamiert das Epitheton für sich, das ihm auch normalerweise zukommt. Der Bote hat zwar in seiner Schilderung noch nicht den Moment von der Tötung der Kinder und Megaras erreicht, aber dennoch wissen Chor und Zuschauer zumindest im Falle der Kinder schon, dass sie ermordet wur-

114

S. unten Abschnitt B.II.3.2.2.

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den.115 Die Selbstcharakterisierung der Verse 581f. – Herakles’ Aussage, er wolle beim Attribut καλλίνικος nicht mehr genannt werden, wenn er nicht seine Familie vor dem Tod bewahren könne – klingen hier bitter nach,116 das Epitheton wird geradezu unterminiert – ebenso wie Herakles’ Heldentum117. Auch die letzte Erwähnung des Adjektivs trägt einen bitteren Ton. Der Chor spricht zu Amphitryon, nachdem auch für das Publikum die grausige Szene mittels des Ekkyklemas sichtbar geworden ist: κατὰ σὲ δακρύοις στένω, πρέσβυ, καὶ τέκεα καὶ τὸ καλλίνικον κάρα. Ich beseufze dich mit Tränen, alter Mann, und | die Kinder und das Haupt von schönem Sieg. E. HF 1045f.

Der tiefe Fall des großen Helden könnte nicht prägnanter beschrieben sein: „[T]he grand formula for Heracles […] is used in pity“118. 3.2.2 Agon Das Bild des Agons erscheint, wie sich bereits in der Verwendung des Adjektivs καλλίνικος angedeutet hat, im Laufe des Stückes in unterschiedlichen Ausführungen. Zentral ist die Darstellung der Tötung der eigenen Familie als ungeheuerlicher Agon,119 die, wie schon gesehen, in den Versen 580-2 ihren Anfang nimmt. Dem schon zitierten Satz mit Herakles’ Selbstcharakterisierung geht eine in bedeutsamer Weise doppeldeutig formulierte Frage voraus: 115

116 117 118 119

Der Bote hat diese Nachricht gleich zu Beginn seines Auftritts verkündet: Vgl. HF 913: τεθνᾶσι παῖδες. / „Die Kinder sind tot.“ Zudem hatte auch Iris schon den Zweck des Wahnsinns genannt: Ἥρα προσάψαι κοινὸν αἷµ’ θέλει | παῖδας κατακτείναντι / „Hera will ihn mit eigenem Blut behaften, indem er seine Kinder tötet“ (HF 831f.). Vgl. auch Lyssas Vorhersage ihrer Wirkung in V. 865f. S. aber auch unten Abschnitt B.II.3.2.2 zur Doppeldeutigkeit der Verse 581f. S. dazu oben Abschnitt B.II.2.1. Bond 1981, S. 333 ad loc. Vgl. Foley 1985, S. 154.

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ἢ τί φήσοµεν καλὸν ὕδραι µὲν ἐλθεῖν ἐς µάχην λέοντί τε Εὐρυσθέως ποµπαῖσι, τῶν δ’ ἐµῶν τέκνων οὐκ ἐκπονήσω θάνατον; οὐκ ἄρ’ Ἡρακλῆς ὁ καλλίνικος ὡς πάροιθε λέξοµαι.

580

Oder was sollen wir schon gut daran nennen, | mit der Hydra in ein Gefecht getreten zu sein und mit einem Löwen | auf Geheiß des Eurystheus – werde ich nicht den Tod meiner Kinder | herausringen? Dann will ich nicht mehr ‚Herakles | von schönem Sieg‘ heißen wie früher. E. HF 578-82

Es ist die Formulierung des Anakoluths in V. 580f., die eine Doppeldeutigkeit birgt. Denn die gängige Bedeutung von ἐκπονέω mit Akkusativobjekt ist, wie Bremer120 in seiner Untersuchung der Stelle zeigt, eigentlich ‚ausführen, vollbringen, erringen‘: „The common feature of all instances of ἐκπονεῖν examined so far […] is that the element ἐκ- never denotes removal, always completion. One might put this observation in a more abstract formula: ἐκπονεῖν + X = to inject πόνος into X so that X is realized.“121 Diese Bedeutung ist es aber ohne Zweifel nicht, die Herakles im Kontext der konkreten Situation verstanden wissen will: Seine Aussage zielt auf die sprachlich mögliche, aber nicht übliche Bedeutung ‚den Tod der Kinder fortringen, durch Anstrengung verhindern‘.122 Bremer nimmt hier eine ganz bewusstes, bedeutungsvolles Spiel des Euripides an, das den weiteren Verlauf der Handlung unheilvoll andeute: [Euripides] wants to bring the public into a momentary state of being puzzled; presently they are helped out of this perplexity by the immediate context (‘of course ἐκπονήσω must mean πόνῳ κωλύσω’), but subconsciously their first understanding preseveres, and so their mind is prepared for what is to follow: that Heracles, by exerting himself, realizes the

120 121 122

S. Bremer 1972. Ebd., S. 237. Vgl. ebd., S. 240: „The most one can say is that in ἐκ- the notion of removal is latent, potential; and that in Heracles 581 Euripides actualizes this potentiality.“

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killing of his own children, unwittingly: ἐξεπόνησε τῶν τέκνων θάνατον. And this ‘verbal trick’ is part of the overall design of the play.123

Die Gültigkeit dieser Deutung für den Text – auch unter Aussparung der psychologischen Wirkung auf den Rezipienten – bestätigt die Fortentwicklung des Bildes ‚Agon‘, das von einer positiven Konnotation langsam zu einer negativen übergeht. Höhepunkt ist schließlich, wie nun schon mehrfach zur Sprache kam, die Gestaltung des Kindsmordes als letzter, grausiger Agon: Herakles kennt, wie es scheint, als Ἡρακλῆς καλλίνικος nur diesen einen Modus des Handelns. Diese Ausgestaltung findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. So wird die Tat zunächst einmal in der Imagination des wahnsinnigen Herakles in einem entsprechenden Kontext angesiedelt. Er wähnt sich innerhalb seines Hauses in einer Landschaft, die zur grausigen Karikatur der ‚Märchenlandschaft‘ seiner Athloi verkommt, wie sie der Chor im ersten Stasimon beschworen hatte:124 Ausgangspunkt seiner ‚Reise‘ ist zunächst der Ort, an dem er sich tatsächlich befindet.125 Mit dem erklärten 123 124

125

Ebd., S. 240. Vgl. Bond 1981, S. 210f. ad loc.; Papadopoulou 2005, S. 79; Mikellidou 2015, S. 345. Vgl. Barlow 1971, S. 37: „The chorus describe the labours of Heracles in terms of the far-away places he visited. Every scene is invested with a colourful glamour which appears to have little to do either with the grim confines of Lycus’ palace, or with any serious strength or purpose on the part of Heracles himself. What the chorus depict is a pretty, idealised fairyland, whose descriptive strength consists almost exclusively in decorative adjectives. […] The absence of verbs in this ode in comparison to adjectives, reduces action to a minimum, and gives the ode a static kind of pictorialism […].“ Nicht nur inhaltlich besteht ein Gegensatz zur Landschaft von Herakles’ Wahnsinn, sondern auch in der Gestaltung: In den Versen 947-63 überwiegen die Verbformen gegenüber den Adjektiven, die Beschreibung ist auf die Handlung ausgerichtet. Barlow liest hierin – ohne hier schon eine Beziehung zum ersten Stasimon herzustellen – eine Reihe von Momentaufnahmen: „Heracles is described in a succession of poses each caught and held in one brief image“ (ebd., S. 75; vgl. Giuseppetti 2017, S. 29f., der an einen Fries denkt). S. für eine solche vergleichende Gegenüberstellung von erstem Stasimon und Botenbericht Barlow 1982, insbes. S. 117-24. – Swift 2010, S. 144f. liest auch diese Verse als Anspielungen auf sportliche Agone. Vgl. den ‚weichen‘ Übergang von der Opferhandlung am Altar, die Herakles

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Ziel Mykene (HF 942-6) besteigt er dann einen imaginären Wagen und treibt mit einer imaginären Peitsche die imaginären Pferde an (HF 94749); darauf fährt er nach ‚Nisaia‘ und hält ein Festmahl ab (HF 953-7); weiter geht es zum ‚Isthmos‘, wo er mit einem unsichtbaren Gegner ringt und sich selbst als Sieger ausruft, wobei das signifikante Adjektiv καλλίνικος erscheint (HF 957-62); schließlich erreicht er ‚Mykene‘. wo er an Eurystheus Rache nehmen will (HF 962f.).126 Der Botenbericht, aus der Position des Beobachters beschrieben, hält gleichwohl die ‚doppelte‘ Landschaft – die von Herakles imaginierte ebenso wie die Örtlichkeiten des Hauses – präsent.127 In diesem Rahmen dann tötet Herakles seine Kinder und Megara, sie für die Familie seines Gegners haltend (HF 9691000). Jeder Mord ist mit einer gewissen Ausführlichkeit in Szene gesetzt, sodass das Schema ‚Held Herakles gegen Gegner‘ mit Nachdruck zum Tragen kommt. Im Nachhinein charakterisieren verschiedene Figuren des Stücks die Tötung der Söhne als Agon oder Athlos des Herakles. Die Verwendung der Formel καλλίνικον κάρα (HF 1046) durch den Chor im Anschluss an die Tat wurde bereits thematisiert.128 Die umfassendste Gleichsetzung mit den Arbeiten erhält sie aus dem Munde des Herakles selbst, innerhalb einer bitteren Rede, mit der er Theseus darzulegen sucht, warum sein Leben nichts mehr wert sei (HF 1255-310).129 Nachdem er viele seiner Taten im Einzelnen aufgezählt hat (HF 1271-8), fügt er in V. 1279f. an: τὸν λοίσθιον δὲ τόνδ’ ἔτλην τάλας πόνον, παιδοκτονήσας δῶµα θριγκῶσαι κακοῖς. Als letzte nahm ich Elender diese Arbeit hier auf mich, | um durch das Töten meiner Kinder dem Haus den Schlussstein aufzusetzen.

126 127 128 129

auch im Wahn zunächst noch als solche erkennt, hin zur vollkommen losgelösten imaginierten Durchmessung des Weges von Theben nach Mykene. Denn Herakles gebietet, schon vom Wahnsinn befallen (HF 930-5), das Ritual zu unterbrechen; er wolle erst Eurystheus töten, um dann eine einzige Reinigung für beide Morde zu vollziehen (HF 936-41). Vgl. auch Foley 1985, S. 154. S. dazu Barlow 1971, S. 75f. Vgl. oben Abschnitt B.II.3.2.1. Mit einem Agon bzw. einem Athlos werden die schrecklichen Geschehnisse zudem gleichgesetzt in HF 1133; 1189; 1229; 1311f.; 1353-6; 1410f.

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Einige Male erscheint zudem das ebenfalls relevante Bild des Kranzes:130 So verkündet der Chor im ersten Stasimon, er wolle Herakles „als Kranz seiner Arbeiten durch Loblieder preisen“ (HF 355f.: ὑµνῆσαι στεφάνωµα µό|χθων δι’ εὐλογίας θέλω).131 Im epinikischen zweiten Stasimon äußert er in einem Kontext von Sportmetaphorik den Wunsch, er möge „immer in Kränzen sein“ (HF 677: αἰεὶ δ’ ἐν στεφάνοισιν εἴην)132 und fordert im dritten Stasimon wiederum den Fluss Ismenos auf sich zu bekränzen (HF 781), um mit der ganzen Landschaft der Thebais „Herakles’ Agon von schönem Sieg“ (HF 788f.: τὸν Ἡρακλέους | καλλίνικον ἀγῶνα) zu besingen. Iris wiederum stachelt Lyssa an, Herakles in den Wahnsinn zu treiben, auf dass er eigenhändig „the victorious crown of his life, his children“133 – so lautet Foleys Umschreibung des Ausdrucks „τὸν καλλίπαιδα στέφανον“ (HF 839) – in den Hades verfrachte (HF 837-9). Auch Theseus bedient sich dieser Metaphorik, als er Herakles den Vorschlag unterbreitet, ihn nach Athen zu begleiten, wo er vor und nach seinem Tod Ehren empfangen soll: καλὸς γὰρ ἀστοῖς στέφανος Ἑλλήνων ὕπο ἄνδρ’ ἐσθλὸν ὠφελοῦντας εὐκλείας τυχεῖν. Ein schöner Kranz für die Bürger wird es sein, von den Griechen | Ruhm zu erlangen, weil sie einem edlen Mann geholfen haben. E. HF 1334f.

Im zweiten Stasimon, in dem der Chor die Haltung eines Epinikien-Sängers einnimmt, erscheint Herakles ebenso wie an anderer Stelle zudem als Athlet, der den sportlichen Agon des Doppellaufes in den Hades siegreich besteht.134 Die Sportmetaphorik erstreckt sich auf weitere Bereiche: So setzt der Chor im dritten Stasimon nach der Tötung des Lykos das Los des Tyrannen mit einer unglücklich endenden Wagenfahrt gleich.135 Zwar 130 131 132 133 134 135

S. auch Padilla 1994, S. 288f. Swift 2010, S. 124-9 liest das erste Stasimon, ausgehend von der oben zitierten Wendung, als epinikisch geprägt. Zum epinikischen Charakter des zweiten Stasimons s. Abschnitt B.II.4.1.1.3. Foley 1985, S. 154. Vgl. HF 662; 1102; s. dazu unten Abschnitt B.II.4.1.1.3. Vgl. HF 779f.: νόµον παρέµενος ἀνοµίαι χάριν διδοὺς | ἔθραυσεν ὄλβου κελαινὸν ἅρµα. / „Das Gesetz missachtend, der Gesetzlosigkeit willfahrend | hat

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ist hier der sportliche Wettkampf keine zwingende Assoziation, doch folgt in der nächsten Strophe die bereits betrachtete Aufforderung an Stadt und Umgebung, „Herakles’ Agon von schönem Sieg“ (HF 788f.: τὸν Ἡρακλέους | καλλίνικον ἀγῶνα) zu preisen. Eindeutig als Athletin präsentiert sich wiederum Lyssa:136 οὔτε πόντος οὕτω κύµασι στένων λάβρος οὔτε γῆς σεισµὸς κεραυνοῦ τ’ οἶστρος ὠδῖνας πνέων οἷ’ ἐγὼ στάδια δραµοῦµαι στέρνον εἰς Ἡρακλέους· Weder das Meer, stöhnend vor Wogen, das tosende, | noch das Beben der Erde und der Stich des Blitzes, der Schmerz verströmt, | laufen so ein Rennen, wie ich es in die Brust des Herakles laufen werde. E. HF 861-3

In der Folge verwendet Lyssa das Bild des Läufers auch für Herakles, denn sie bezeichnet das Beginnen seines Wahnsinns als Starten von der Startvorrichtung auf Laufbahnen.137 Hier findet somit eine Parallelisierung zwischen den beiden Figuren statt, die sich auch auf der Bildebene bakchischer Musik fortsetzt.138 Zudem beginnt mit dem Wahnsinn in der Tat Herakles’ zweiter ‚Doppellauf‘ in den Hades – dies wird in der Folge noch ausführlicher zur Sprache kommen.139 Das Bild des sportlichen Wettkampfes bestätigt indirekt der Chor in seiner Reaktion auf die verzweifelten Rufe Amphitryons aus dem Inneren des Hauses, wo sich die Mordszene abspielt:

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138 139

er den dunklen Wagen seines Glückes zerschmettert.“ Vgl. Foley 1985, S. 154. Swift 2010, S. 143f. wertet auch die Verse 880-3, in denen der Chor Lyssa als Wagenlenkerin beschreibt, als dem Bereich der Sportmetaphorik angehörig. Die Voraussetzung dafür – die Swift anerkennt – ist, dass es sich wirklich um eine Metapher handelt, Lyssa also die Bühne nicht mithilfe der Mechane tatsächlich auf einem Wagen verlässt. Vgl. Swift 2010, S. 144. Die Formulierung lautet: καὶ δὴ τινάσσει κρᾶτα βαλβίδων ἄπο / „Schon schüttelt er sein Haupt an den Startposten“ (HF 867). Vgl. LSJ s. v. βαλβίς: „rope drawn across the race-course at the starting and finishing-point: mostly in pl., posts to which this rope was attached […]: hence, any starting-point […].“ S. unten Abschnitt B.II.3.4. S. unten Abschnitte B.II.4.1.1.3; 4.2.3.

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ἰὼ Ζεῦ, τὸ σὸν γένος ἄγονον αὐτίκα λυσσάδες ὠµοβρῶτες ἄδικοι Ποιναὶ κακοῖσιν ἐκπετάσουσιν. Weh, Zeus, deinen Spross werden sogleich zum kinderlosen | rasende, rohes Fleisch verschlingende, ungerechte Rachegöttinnen | mit Unglück hinstrecken. E. HF 886-8

Denn ἐκπετάσουσιν, „hinstrecken“, ist, wie Wilamowitz vermerkt, „[o]ffenbar ein technischer Ausdruck der Ringerschule“140. Das Aufrechterhalten der Sportmetaphorik und des Bildes des Agons im Allgemeinen auch zur Beschreibung von Herakles’ Wahnsinn und Mord bewirken eine sorgfältige Demontage des epinikischen Heldentums. Auch hier kommt die Auflösung mit Theseus, der Athens zukünftige Unterstützung für den geschlagenen Helden als ‚Kranz‘ für die Stadt bezeichnet (HF 1334f.141). So betrachtet Swift die oben in Abschnitt B.II.2.1 beschriebene Entwicklung eines ‚neuen‘ Heldentums im Sinne Foleys gewissermaßen auf der Linie der Modifizierung und Reintegration ‚epinikischer‘ Werte ins demokratische Athen: The glory that Heracles can confer is portrayed in athletic terms once more, and understood as equivalent to an athletic crown. […] As in epinikion, there is a connection between the greatness of the successful individual and the eukleia he can bring to the community. However, the relationship is changed: it is now the community that wins eukleia in its own right, rather than merely by the reflected glory of the individual’s deeds. Part of the eukleia to be gained comes from Heracles’ greatness, part of it comes from the ability of the polis to protect and support the individual. Above all, it is now the ordinary citizens, not Heracles, who are in a position to achieve this eukleia.142

3.3

Vögel

Ein prägendes und wiederkehrendes Bild in Euripides’ Herakles ist das des Vogels. Es erscheint in zwei unterschiedlichen Kontexten, die sich 140 141 142

Wilamowitz 1959, III, S. 200 ad loc. S. oben. Swift 2010, S. 153f.

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Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

bisweilen berühren: Zum einen nimmt der Chor die persona des ‚alten Vogels‘ an, die zwischen nutzlosem Greisenalter und göttlichem Sänger changiert. Zum anderen wird das Bild des schutzbedürftigen Kükens für die Kinder des Herakles etabliert; in diesem Zusammenhang erscheint auch das Bild der Vogelmutter.143 Der Strang unterläuft im Laufe des Stückes eine Entwicklung, die den Verlauf der Handlung sinnstiftend begleitet und strukturiert. 3.3.1 Greise Vögel: der Chor als Schwan Der Chor des Herakles besteht aus den aufgrund ihres Alters hilf- und wehrlosen Greisen Thebens. In der Parodos präsentiert er sich – zunächst nur in Umschreibung, aber doch klar begreiflich – als Schwan: ὑψόροφα µέλαθρα καὶ γεραιὰ δέµνι’ ἀµφὶ βάκτροις ἔρεισµα θέµενος ἐστάλην ἰηλέµων γέρων ἀοιδὸς ὥστε πολιὸς ὄρνις, ἔπεα µόνον καὶ δόκηµα νυκτερωπὸν ἐννύχων ὀνείρων, τροµερὰ µὲν ἀλλ’ ὅµως πρόθυµ’

110

Zu den Hallen mit hohen Decken und zur Greisen-|Bettstatt144 ward ich gesandt, | um den Stock zur Stütze gelegt, | als ein alter Sänger von Klageliedern| wie ein grauweißer Vogel, | Worte nur und nächtliche Phantasie | von Träumen in der Nacht, | tatterig zwar aber doch bereitwillig E. HF 107-14

143

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Griffiths 2006, S. 57f. vermerkt in ihrer kurzen Zusammenschau des VogelBildes im Herakles nur diesen zweiten Aspekt. Delulle 1911, S. 1-21, der Ausführungen des Vogel-Bildes aus verschiedenen Tragödien des Euripides zusammenstellt, führt auch einige der im Weiteren besprochenen Stellen auf. Dieser Ausdruck bedarf Erläuterung: Wie Bond 1981, S. 94 ad loc. bemerkt, handelt es sich bei γεραιὰ δέµνια wohl um „an obscure way of saying ‘the bed-ridden Amphitryon’“. Es ist anzunehmen, dass für Amphitryon, auch zur Illustrierung seines Alters, in der Tat eine Liege auf der Bühne zu sehen war (vgl. ebd.).

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Der Chor greift hier das traditionelle Bild des Schwans auf: Sein weißes Gefieder entspricht – insbesondere durch das Attribut πολιός (HF 111) – dem weißen Haar der Greise,145 sein Gesang ist dann am schönsten, wenn er am Ende seines Lebens, dem Tode nahe, seinen sprichwörtlichen ‚Schwanengesang‘146 anstimmt. Als singender Vogel ist er besonders mit Apollon verbunden, und zwar sowohl mit Apollon Mousagetes als auch mit Apollon als orakelgebendem Künder der Wahrheit.147 Im πολιὸς ὄρνις sind somit die beiden Aspekte des Singens und des Alters schon potentiell enthalten; die Zusammenstellung mit dem γέρων ἀοιδός (HF 110f.) macht sie explizit. Der Chor tritt in dieser persona148 zunächst unter negativem Vorzeichen auf: Er kommentiert sein beschwerliches Alter (HF 108f.; 114) und seine Unfähigkeit, der in Not geratenen Familie des Herakles zu helfen. Nur Worte und Schatten ist er (HF 112f.), nicht in der Lage, physisch folgenreich zu agieren. Den verkörperten Gegensatz zu diesem Nur-Worte-Sein bildet Lykos mit seinem radikalen Aktionismus.149 Im zweiten Stasimon (HF 637-700) jedoch gewinnt der ‚alte Vogel‘ eine neue Qualität. Herakles ist als Retter heimgekehrt, es herrscht große Freude. Prompt singt der Chor einen Lobpreis des Helden, in dem das Alter zunächst als Last präsentiert und verdammt wird, die Jugend dagegen hoch gelobt (HF 637-72). Dann aber erscheint die Choreia als Lö-

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Das Adjektiv πολιός (HF 111), das eine so spezifische Beschreibungskategorie für das Haar von Greisen darstellt (vgl. LSJ s. v. πολιός I. 2.: „most frequently of human hair“), dient auch an anderer Stelle zur Beschreibung des Schwanengefieders, so E. Ba. 1365; Ar. V. 1064f.; Opp. C. 4, 392. Vgl. für diese Vorstellung in der griechischen Antike Aesop. 247 u. 277 Hausrath und Hunger; A. Ag. 1444f.; Pl. Phd. 84e3-85a5; Chrysipp. Stoic. fr. 8 (Bd. 3, S. 199 SVF, ap. Ath. 14, 6 [616b]); A. R. 4, 1300-2; Plb. 30, 4, 7; 31, 12,1; Plu. Mor. 161c7f. (Septem sapientium convivium); D. Chr. 12, 4; 37, 2; Ael. NA 10, 36; 11, 1; VH 1, 14; Opp. C. 2, 547f. S. auch Chalatsi 2000. Vgl. h. Hom. 21; Sapph. fr. 208 Voigt ap. Him. Or. 46, 6; Ar. Av. 769-72; 869f.; Call. Ap. 5; Del. 249-55; Luc. Electr. 4; Ael. NA 11, 1; Him. Or. 20, 1; Nonn. D. 38, 206; AP 2, 1, 382-5 (Christodoros); Eust. ad Il. 1, 206 (Bd. 1, S. 137, Z. 29f. van der Valk). Vgl. Hardie 2016a, S. 107f. Assaël 1996 nimmt in dieser persona des alten Schwans den Ausgangsspunkt für eine parodistische Lesart an: Durch Parodie des Chores der Alten in Aischylos’ Agamemnon entwickle Euripides eine eigene poetologische Haltung. Vgl. oben Abschnitt B.II.2.2.1.

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sung für das ‚Problem‘ des Alters.150 Im Bild des πολιὸς ὄρνις tritt es in den Hintergrund, die Fähigkeit zum Gesang rückt hervor – als positive Qualität. Der γέρων ἀοιδός erscheint im Laufe des zweiten Stasimons zweimal. So heißt es in V. 679f.: ἔτι τοι γέρων ἀοιδὸς κελαδῶ Mναµοσύναν Wahrlich, noch als alter Sänger | besinge ich laut Mnemosyne

In dieser zweiten Strophe (HF 673-86) findet der entscheidende Wechsel statt: Vom Verdammen und Fortwünschen des Alters in der ersten Strophe und Gegenstrophe geht der Chor hier dazu über, seine Absicht kundzutun: nämlich die Lieder niemals verstummen zu lassen.151 Sie gewinnen also eine positive Konnotation. In der zweiten Gegenstrophe schließlich erreicht der alte Vogel-Sänger seine Bestimmung: παιᾶνας δ’ ἐπὶ σοῖς µελάθροις κύκνος ὣς γέρων ἀοιδὸς πολιᾶν ἐκ γενύων κελαδήσω·

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S. ausführlich unten Abschnitt B.II.4.1.1. Dieses Bekenntnis zur Musik ist noch weitaus umfangreicher als hier angedeutet. Die zweite Strophe (HF 673-86) lautet im Ganzen: οὐ παύσοµαι τὰς Χάριτας | ταῖς Μούσαισιν συγκαταµει|γνύς, ἡδίσταν συζυγίαν | µὴ ζώιην µετ’ ἀµουσίας, | αἰεὶ ’ ἐν στεφάνοισιν εἴην· | ἔτι τοι γέρων ἀοιδὸς | κελαδῶ Μναµοσύναν, | ἔτι τὰν Ἡρακλέους | καλλίνικον ἀείδω | παρά τε Βρόµιον οἰνοδόταν | παρά τε χέλυος ἑπτατόνου | µολπὰν καὶ Λίβυν αὐλόν. | οὔπω καταπαύσοµεν | Μούσας, αἵ µ’ ἐχόρευσαν. / „Ich werde nicht aufhören, die Chariten | mit den Musen zu mischen, | süßeste Verbindung. | Möge ich nicht leben ohne Musenkunst, | möge ich immer in Kränzen sein; | Wahrlich, noch als greiser Sänger | besinge ich laut Mnemosyne, | ich singe noch das Siegeslied | des Herakles | bei Bromios, dem Weinspender | und bei der siebentönigen Lyra | Weise und beim libyschen Aulos. | Ich werde nicht ablassen | von den Musen, die mich zum Tanzen gebracht haben.“ Diese in vielerlei Hinsicht für das Stück zentrale Schlüsselstelle wird ausführlich unten in Abschnitt B.II.4.1.3 behandelt.

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Paiane werde ich dir auf deinen Dächern | als alter Sänger wie ein Schwan | aus grauweißen Kinnbacken | singen. E. HF 691-4

Aus dem nutzlosen alten Vogel der Parodos ist also endgültig ein Schwan geworden.152 Dies zeigt in besonderer Weise die Parallelität der Formulierungen:153 Dem „ἰηλέµων γέρων ἀοι|δὸς ὥστε πολιὸς ὄρνις“ (HF 110f.) der Parodos entspricht hier der Chor, der singen will „κύκνος | ὣς γέρων ἀοιδὸς | πολιᾶν ἐκ γενύων“ (HF 692-4). Die vollkommene Gleichsetzung äußert sich auch dadurch, dass die Stellung von πολιᾶν ἐκ γενύων (HF 693) keine eindeutige Zuordnung zum Sänger oder Schwan erlaubt154 – oder eben auf beide zugleich bezogen sein kann. Wie sehr der Chor Apolls Schwan geworden ist, zeigt sich auch in der Art seines Liedes, das er gegen die ἰήλεµα der Parodos tauscht: Wie die Delischen Mädchen einen Paian zu Ehren Apolls singen (HF 687-91), so singt der Chor einen Paian auf Herakles. Das Alter scheint gänzlich vergessen und überwunden, wie die Parallelisierung mit den jungen Delischen Mädchen in den Versen 687-94 impliziert: Wenn der Chor erklärt, gleich ihnen, die „in schönem Tanz wirbeln“ (HF 690: εἰλίσσουσαι καλλίχοροι), singen zu wollen, so ist von Gehstütze und Zittern des alten Vogels der Parodos nichts mehr übrig. Der Chor bleibt der Vogel Apolls bis zum nächsten Umschwung: Das dritte Stasimon (HF 763-814), gesungen unmittelbar nach der Tötung des Lykos, ist noch ganz ekstatischer Jubel; die ganze Thebais wird eingeladen, in Sang und Tanz mit einzufallen.155 Eine direkte Bezugnahme auf das Bild des Vogels findet allerdings nicht statt.156 Doch beim Erscheinen der Iris und der Lyssa im direkten Anschluss kleidet der Chor sein Εrschrecken in folgenden Ausruf: 152 153 154

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Vgl. Wilamowitz 1959, III, S. 158 zu HF 692; Bond 1981, S. 246 ad loc. Vgl. Bond 1981, S. 239f. zu HF 678. Vgl. Wilamowitz 1959, III, S. 159 ad loc.: „πολιᾶν ἐκ γενύων ist so gestellt, daß man schwanken mag, ob die Kehle des Schwanes oder Greises gemeint ist. […]“ Vgl. insbes. HF 781-97 und auch die Selbstaufforderung im Voraus: πρὸς χοροὺς τραπώµεθα. / „Lasst uns uns zum Tanzen wenden!“ (HF 761). Gleichwohl bauen die Formulierungen κελαδῶ (HF 679) und κελαδήσω (HF 694) im zweiten Stasimon eine ‚Brücke‘ zu εὐγαθεῖ κελάδωι (HF 792) im dritten Stasimon.

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B.II –

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ἔα ἔα· ἆρ’ ἐς τὸν αὐτὸν πίτυλον ἥκοµεν φόβου, γέροντες, οἷον φάσµ’ ὑπὲρ δόµων ὁρῶ; φυγῆι φυγῆι νωθὲς πέδαιρε κῶλον, ἐκποδὼν ἔλα. ὦναξ Παιάν, ἀπότροπος γένοιό µοι πηµάτων.

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Ah! | Sind wir in den gleichen Schwung von Angst geraten, | ihr Alten, dass ich eine Erscheinung über den Häusern sehe? | Flieh, flieh, beweg das träge Glied, zieh aus dem Weg. | Herr Paian, sei für mich ein Abwehrer der Übel! E. HF 815-21

Zum einen ist zu bemerken, dass das Alter wieder in den Fokus gerückt ist: Es ist von γέροντες die Rede; die Glieder, die eben noch ganz Theben zum Tanz gebeten haben, sind nun wieder träge und schwerfällig.157 Der Anruf des Apoll Paian als Abwehrer und Heiler von Übel ist einerseits ganz natürlich, denn eben dieser ist es, der eine Lyssa vertreiben kann.158 Aber doch erinnert die Wahl eben dieses Gottes und dieses Beinamens unweigerlich daran, dass es Apolls Schwäne sind, die um Hilfe rufen, nun womöglich, um das Positive des Gesanges vermindert, wieder auf die Alten, die ‚nur Worte‘ sind, zurückgeworfen. Im weiteren Verlauf des Stückes tritt das Bild des Vogels für den Chor zunächst in den Hintergrund. Die Musik bleibt jedoch für den γέρων ἀοιδός Bezugspunkt des Denkens und Beurteilens. So kommentiert er die Rufe des Amphitryon aus dem Palast während des rasenden Mordens des Herakles in Metaphern bakchischer Musik.159 Das Singen ist dem Chor 157

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Mit „Greise, der gottlose Mann ist nicht mehr“ (HF 760: γέροντες, οὐκέτ’ ἔστι δυσσεβὴς ἀνήρ) kommentiert der Chor zwar auch die plötzlich einsetzende Stille nach der Tötung des Lykos, doch im nächsten Vers folgt, ohne Hinweis auf die Schwere der Glieder, die Selbstaufforderung zum Tanzen (und im Anschluss das dritte Stasimon). Der Chor legt also die angenommene persona nicht ab; er lässt aber eine der beiden konstituierenden Eigenschaften in den Hintergrund treten. S. Käppel 1992, S. 32f. u. passim für ‚Paian‘ als Epiklese Apolls. Vgl. Bond 1981, S. 281 ad loc.: „In time of trouble Apollo Paian, the healer, is invoked“. S. HF 886-98 und Abschnitt B.II.3.4. Auch Lykos’ Todesschreie hat der Chor in diesem Sinne kommentiert, jedoch noch ohne ausdrücklichen Verweis auf

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der Greise ‚angeboren‘ und seine einzige Äußerungsmöglichkeit. Nach dem Bericht des Boten mit allen Einzelheiten des Geschehens ringt der Chor um angemessene Worte – erfolglos (HF 1016-24).160 Am Ende des Ringens heißt es: αἰαῖ, τίνα στεναγµὸν ἢ γόον ἢ φθιτῶν ὠιδὰν ἢ τίν’ Ἅιδα χορὸν ἀχήσω; Weh, welches Seufzen, | welche Klage, welches Totenlied oder welchen Tanz | in den Hades soll ich singen? E. HF 1025-7

Hier ist somit der Chor von einer seiner beiden prägenden Eigenschaften, der Fähigkeit zum Singen, im Stich gelassen. Im Anschluss erscheint der schlafende Herakles, umringt von seinen toten Kindern und der toten Megara, mithilfe des Ekkyklemas auf der Bühne; der Chor deutet in seiner Funktion als Kommentator der Handlung auf ihn und den Schrecken (HF 1028-38). Von Amphitryon sagt er: ὁ δ’ ὥς τις ὄρνις ἄπτερον καταστένων ὠδῖνα τέκνων πρέσβυς ὑστέρωι ποδὶ πικρὰν διώκων ἤλυσιν πάρεσθ’ ὅδε. Wie ein Vogel, der die flügellose | Wehenbrut seiner Kinder beseufzt, kommt der Alte mit lahmem Fuß | dem bitteren Gang folgend hierher. E. HF 1039-41

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Dionysos: τόδε κατάρχεται µέλος ἐµοὶ κλύειν | φίλιον ἐν δόµοις· θάνατος οὐ πόρσω. | βοᾶι | φόνου φροίµιον στενάζων ἄναξ. / „Da beginnt ein Lied im Haus, das mir überaus willkommen zu hören ist. Der Tod ist nicht weit. Das Vorspiel des Mordes schreit der Herrscher unter Stöhnen.“ (HF 751-3). Bierl 1991, S. 146 Anm. 97 sieht darin auch eine Vorausdeutung: „[D]er […] Ausdruck ist in seiner ‘metatragischen’ Dimension auch als Vorbereitung zum dramatischen Umbruch anzusehen, da der Mord an Lykos wahrlich ein ‘Proöm des Mordens’ für Herakles werden soll, der kurze Zeit später Frau und Kinder tötet.“ Im Kontext der Vogelmetaphorik von Bedeutung ist die Ausgestaltung des Vergleichs mit Prokne, die ihren Sohn tötet und in eine Nachtigall verwandelt wird (HF 1021-4). S. dazu Abschnitte B.II.3.3.2 und 4.3.1.

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In diesem Bild ist noch einmal in bemerkenswerter Weise das hilflose Alter mit dem nutzlosen Singen vereint, ganz so, wie es dem Zustand des Chores entspricht, der diesen nun selbstreflexiv auf Amphitryon überträgt. Denn das Gleichnis operiert auf unabhängigen Ebenen: Der Vogel beklagt seine Brut; Amphitryon (gleich dem Chor) tut es auch. Doch nicht dieses Element wird hervorgehoben, sondern das des Alters. Das Beklagenswerte des vergeblichen Singens und das Beklagenswerte des Alters werden miteinander in Verbindung gebracht im neuen Bild des alten Vogels Amphitryon. Sie werden so zu einem subtil verwobenen Ausdruck für den verzweifelten Zustand des Chores selbst. Der ἰήλέµων γέρων ἀοιδὸς und πολιὸς ὄρνις (HF 110f.) der Parodos ist endgültig zurück. Ein letztes, fast komödiantisch anmutendes Aufbäumen gibt es, in dem der alte Vogel einfach nicht zu verstummen vermag, obwohl Amphitryon darum bittet:161 Der Chor kann nichts anderes tun als singen, und so sehr ist es seine Natur, dass er nicht davon lassen kann. Schließlich jedoch schweigt er, ganz und gar von den Liedern verlassen, fast vollständig bis zum Ende des Stückes.162 3.3.2 Junge Vögel und Flügeldinge Die zweite Ausführung des Vogel-Bildes besteht im Bild der hilflosen Küken.163 Zum ersten Mal kommen Worte solcher Art aus dem Munde der Megara. In der Einführungsszene konstatiert sie, die glücklichen Zeiten seien vorbei (HF 63-9), und sieht einem unglücklichen Los entgegen: ἐγὼ δὲ καὶ σὺ µέλλοµεν θνήισκειν, γέρον, οἵ θ’ Ἡράκλειοι παῖδες, οὓς ὑπὸ πτεροῖς σώιζω νεοσσοὺς ὄρνις ὣς ὑφειµένους. 161

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Vgl. die Verse 1042-63, in denen Amphitryon dem Chor Schweigen gebietet, damit Herakles nicht erwacht, was unter Umständen unabsehbare Folgen hätte, der Chor jedoch nicht schweigt. Dieses Amoibaion mündet in einen ebenfalls im Wechsel vorgetragenen kleinen Threnos (HF 1064-7); vgl. Bond 1981, S. 332 zu HF 1042-87 u. S. 337f. zu 1064-7. Zur Signifikanz dieses Schweigens s. etwa Foley 1985, S. 187; Rehm 1996; Griffiths 2006, S. 64 u. 111; Marshall 2017, S. 188. Vgl. auch unten Abschnitt B.II.4.3.1 mit Anm. 438. Vgl. Griffiths 2006, S. 57f. für eine Zusammenschau.

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Ich und du, wir werden sterben, alter Mann, | und auch Herakles’ Kinder, die ich unter den Flügeln | berge wie ein Vogel die kauernden Küken. E. HF 70-2

Die Vogelmutter mit den Jungvögeln ist ein geläufiges Bild der Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit in der Tragödie, vor allem bei Euripides.164 Auch im Herakles bleibt es nicht bei Megaras Worten. So fordert auch Amphitryon im ersten Epeisodion, Griechenland sollte eigentlich mit allen Mitteln „diesen Küken hier“ (HF 224: νεοσσοῖς τοῖσδε) beistehen.165 Ein Vergleich der beiden Stellen und ihrer Kontexte mit Bezugnahme auf die Parodos des Chores zeigt, dass das Bild hier weit mehr beinhaltet als nur eine oberflächliche sprachliche Verzierung. So erlaubt in beiden Fällen der Kontext zwei gleiche Implikationen: Erstens ist der Schutz, der den Jungvögeln in ihrer Hilflosigkeit gewährt wird, trügerisch oder unzulänglich.166 Megara spricht es explizit aus: Der Vogelmetapher geht, Megaras Hoffnungslosigkeit entsprechend, schon die Feststellung voran, sie werden alle sterben (HF 70). Im Anschuss an das Bild beschreibt sie, wie sie ihre Kinder, die nach dem Vater verlangen, mit Worten zu beschwichtigen und abzulenken sucht (HF 73-77). In dieser Hinsicht also ist der Schutz, den sie als Vogelmutter gewährt, trügerisch: Das Verderben ist vorbestimmt, das Bergen unter den Flügeln

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S. A. Eu. 1001f.; E. Alc. 402f.; Andr. 441; 504f.; Heracl. 10f.; IA 1248; Tr. 751; Vgl. Barlow 1971, S. 105; 1998, S. 128 ad loc.; Bond 1981, ad loc.; Griffiths 2006, S. 58. Der Kontext lautet: οὐδ’ Ἑλλάδ’ ἤινεσ’ (οὐδ’ ἀνέξοµαί ποτε | σιγῶν) κακίστην λαµβάνων ἐς παῖδ’ ἐµόν, | ἣν χρῆν νεοσσοῖς τοῖσδε πῦρ λόγχας ὅπλα | φέρουσαν ἐλθεῖν, ποντίων καθαρµάτων | χέρσου τ’ ἀµοιβὰς ὧν †ἐµόχθησας χάριν†. / „Auch lobe ich es nicht (und werde niemals schweigen | können), dass ich Hellas als schändlichst gegen meinen Sohn erfahre, | das diesen Küken hier mit Fackeln, Lanzen, Schilden | zur Hilfe eilen müsste, im Gegenzug für dessen Reinigung von Meer | und Land, um derentwillen †du dich mühtest.†“ (HF 222-6). Vgl. Griffiths 2006, S. 58, die den auch im Allgemeinen unheilvollen Charakter des Bildes herausstellt: „The word for baby bird, neossos, occurs twice in Homer. In both cases, the word is used in the context of danger and suffering which suggests its use in tragedy […]. The image in tragedy, therefore, is loaded with fear, as the word appears not to be common outside tragedy, and is likely to be a specialised piece of theatrical vocabulary.“

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besteht nur aus Worten, das zwar Ablenkung, aber keine reale Sicherheit bietet.167 Auf die gleiche Weise beschreibt Amphitryon angesichts Lykos im Zusammenhang mit der Bezeichnung der Kinder als Küken, was in seinem Vermögen steht. Er klagt, dass die Stadt Theben und ganz Griechenland eigentlich mit Feuer und Lanze zur Stelle sein müssten, es aber nicht seien (HF 218-28). Daran schließt sich eine Beschreibung seiner selbst als schwacher Beistand, ἀσθενῆ φίλον (HF 228), dem alle Kraft im Alter aus den Gliedern gewichen sei (HF 228-31). Seine Verteidigung beschränkt sich auf nicht realisierbare Drohungen gegen Lykos (HF 232-5). Er ist nichts als leere Worte – οὐδὲν ὄντα πλὴν γλώσσης ψόφον (HF 229). Die beiden Passagen aus den Reden der Megara und des Amphitryon weisen damit eine parallele Struktur auf: In beiden wird zunächst die Hoffnungs- und Ausweglosigkeit der Situation konstatiert, in Megaras direkter Erwartung des Todes einerseits (HF 69-72), in Amphitryons Klage gegen das untätige Theben und Griechenland andererseits (HF 218-28). In diesen ersten Teil eingebunden ist jeweils die Bezeichnung νεοσσοί (HF 72 bzw. 224). Es folgt die Beschreibung des trügerischen Schutzes, der nur aus Worten besteht. Megaras leere Worte richten sich direkt an ihre Kinder, die sie auf diese Weise zu trösten sucht (HF 73-7); Amphitryons leere Worte richten sich gegen den Feind Lykos, dem er sagt, was er ihm am liebsten antäte (HF 228-35).168 167

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Das Trügerische an Megaras Beschwichtigungen wird deutlich hervorgehoben in Amphitryons nachfolgender Aufforderung in den Versen 98-100: ἀλλ’ ἡσύχαζε καὶ δακρυρρόους τέκνων | πηγὰς ἀφαίρει καὶ παρευκήλει λόγοις, | κλέπτουσα µύθοις ἀθλίους κλοπὰς ὅµως. / „Aber beruhige und nimm fort die tränenverströmenden Quellen | deiner Kinder und besänftige sie mit Worten, | erbärmlichen Schwindel erschwindelnd mit Geschichten, gleichwohl.“ Amphitrons Verteidigung der Kinder des Herakles ist ein Teil der Verteidigung des Herakles selbst. Auch diese kann nur, wie direkt im Vorfeld im Streit zwischen Lykos und Amphitryon um das Heldentum des Herakles (vgl. Lykos’ Anklage in HF 140-69 und Amphitryons Verteidigung in HF 170216) gezeigt, nur aus Worten bestehen. Der Gedanke wird sogar explizit ausgesprochen: τῶι τοῦ Διὸς µὲν Ζεὺς ἀµυνέτω µέρει | παιδός· τό δ’ εἰς ἔµ’, Ἡράκλεις, ἐµοὶ µέλει | λόγοισι τὴν τοῦδ’ ἀµαθίαν ὑπὲρ σέθεν | δεῖξαι· / „Für Zeus’ Teil am Sohn möge Zeus | einstehen; was aber mich betrifft, Herakles, mir obliegt es, | mit Worten das Unwissen dieses Mannes hier über dich | zu zeigen.“ (HF 170-3). S. auch oben Abschnitt B.II.2.2.2.

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Zwischen diesen beiden Passagen steht die Parodos des Chores (HF 10737), in der er, wie gerade geschildert, auftritt als ἰηλέµων γέρων ἀοιδὸς ὥστε πολιὸς ὄρνις, ἔπεα µόνον καὶ δόκηµα νυκτερωπὸν ἐννύχων ὀνείρων

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ein alter Sänger von Klageliedern | wie ein grauweißer Vogel, | Worte nur und nächtliche Phantasie | von Träumen in der Nacht E. HF 110-3

der er das Stück hindurch bleiben wird. Auch der Chor beschreibt, ebenso wie kurz darauf Amphitryon, seine ehemalige Stärke, die nun dem Alter gewichen ist (HF 119-30), und richtet seine Klage an Griechenland, wenn auch in diesem Fall wegen des zu erwartenden Verlustes großer zukünftiger Verbündeter, der Kinder des Herakles (HF 131-7). Die Parallelen169 in diesen Passagen, insbesondere die beiden zentralen Eigenschaften des Alters und des Nur-Worte-Seins weisen Amphitryon im Nachhinein als ein Mitglied der Gruppe der alten Vögel aus. Dadurch treten die drei Passagen – HF 70-7 (Megara); 107-14 (Chor); 218-35 (Amphitryon) – in Beziehung zueinander, ebenso wie die alten Vögel mit den jungen; das Bild gewinnt so an Tiefe. Die Linie verläuft dabei folgendermaßen: Megaras Worte deuten auf die Parodos voraus, Amphitryons weisen auf 169

Die Parodos und Amphitryons Rede greifen die unterschiedlichen Themen und Motive ungefähr in gegenläufiger Reihenfolge auf. Sie lautet für den Chor: 1) Schwäche, Nutzlosigkeit und Nur-Worte-Sein (HF 112: ἔπεα µόνον) in V. 107-14, mit Anrede an die Kinder, Megara und Amphitryon (HF 1157). 2) jetziges Alter (HF 119-26), frühere Jugend (HF 127-130). 3) Klage an Griechenland wegen Verlustes zukünftiger Verbündeter (HF 131-7, unter Beachtung vom „Gorgonenglanz ihrer Augen“ [HF 131f.: γοργῶπες […] ὀµµάτων αὐγαί], der dem ihres Vaters gleiche). – Für Amphitryon lautet die Reihenfolge: 1) Klage an Theben und Griechenland wegen Unterlassung der Unterstützung eines früheren Verbündeten in Form seiner Kinder (unter Beachtung vom „freien Blick“, [HF 221: ὄµµ’ ἐλεύθερον], den Herakles dem Land verschafft habe). 2.a) Schwäche und Nur-Worte-Sein (HF 229: οὐδὲν ὄντα πλὴν γλώσσης ψόφον, 229) in V. 227-9, mit Anrede an die Kinder (HF 227f.); 3) frühere Jugend (HF 230), jetziges Alter (HF 231). 4. (= 2.b) Drohung an Lykos, gleichkommend einer Demonstration der Nutzlosigkeit (HF 232-35).

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sie zurück. Das Bild von den schutzlosen Küken mit der schützenden Vogelmutter ist bei Megara voll ausgeführt (HF 71f.); der trügerische Schutz, den sie in Form tröstender Worte gewährt (HF 76f.), gehört jedoch noch nicht zur Ebene des Bildes. In der Parodos nun werden die nutzlosen Worte mit dem Alter zum Bild des alten Vogels verknüpft, der eben nichts weiter ist als Worte (HF 110-2). Amphitryon seinerseits wird einmal zum alten Vogel, da er diese beiden Eigenschaften mit dem Chor teilt, dann aber auch, weil er die Kinder, wie Megara in ihrer vollständigen Metapher, als Jungvögel bezeichnet. Die zweite Implikation bei der Verwendung der Küken-Metapher durch Megara und Amphitryon besteht in der Vorstellung, dass allein Herakles in der Lage wäre, Rettung und Schutz zu bringen. Für Megara ist dies ein irrealer Wunsch, für Amphitryon eine reale Hoffnung.170 Es ist bemerkenswert, dass auch Herakles zumindest assoziativ in das Bild des Vogels mit eingeschlossen wird. Zwei Verse machen dies deutlich. Erst im Zusammenhang mit den anderen Stellen des Vogel-Stranges gewinnen sie eine Lebendigkeit zurück, die den jeweiligen Ausdrücken für sich genommen nicht unbedingt mehr innewohnt.171 Die erste Stelle ist der Vers 69, direkt vor der Einführung des Bildes durch Megara. Die Gattin des Herakles beschreibt die einst glücklichen Zeiten, die nun Vergangenheit sind und kühnster Kontrast zur aktuellen Situation: καὶ νῦν ἐκεῖνα µὲν θανόντ’ ἀνέπτατο Und nun ist jenes tot und davongeflogen! E. HF 69

Es ist legitim, den Vers direkt mit dem Bild des Vogels in Zusammenhang zu bringen, da zum einen die beiden Gedanken äußerlich durch eine µένδέ-Struktur miteinander verknüpft sind, zum anderen in beiden jeweils potenzielle oder ausdrückliche Vogelassoziationen mit der Idee des Todes 170 171

Die beiden unterschiedlichen Einstellungen werden besonders deutlich im Dialog zwischen Amphitryon und Megara in den Versen 80-106. Beide Stellen – HF 69 und HF 506-10 – beinhalten das Bild von Dingen, die sich verflüchtigen, die dahinfliegen. Wilamowitz 1959, III, S. 122 zu HF 510 zeigt sich skeptisch bezüglich der Lebendigkeit der Metapher: „ἀναπτῆναι für ‚vernichtet werden‘ ist so gewöhnlich, daß man darin kaum noch die Metapher spürt, θανόντ’ ἀνέπτατο oben 69.“ Bond 1981, S. 80 zu HF 69 u. 197 zu HF 510 zeigt sich hingegen unentschieden in dieser Frage.

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in Verbindung treten.172 Es ist deutlich, dass Herakles, der den letzten Punkt in Megaras Aufzählung der entflohenen Glückesbestandteile einnimmt,173 auch ihr wesentlicher ist: Denn alles Unglück konnte nur wegen seiner Abwesenheit entstehen. Vor allem entspricht sein Aufenthalt in der Unterwelt ja in der Tat einem mehr oder minder ‚realen‘ Tod.174 Der Gedanke vom Guten, das dahingeflogen ist, kehrt noch einmal wieder. Im zweiten Epeisodion verleiht Amphitryon an den Chor gewandt der unglücklichen Lage mit der gleichen175 Metapher Ausdruck: ὡς ἐλπίδας µὲν ὁ χρόνος οὐκ ἐπίσταται σώιζειν, τὸ δ’ αὑτοῦ σπουδάσας διέπτατο. ὁρᾶτ’ ἔµ’ ὅσπερ ἦ περίβλεπτος βροτοῖς ὀνοµαστὰ πράσσων, καί µ’ ἀφείλεθ’ ἡ τύχη ὥσπερ πτερὸν πρὸς αἰθέρ’ ἡµέραι µιᾶι.

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Denn die Zeit weiß nicht die Hoffnungen | zu wahren, sondern fliegt dahin, sich mit ihrer eigenen Sache beschäftigend. | Schaut mich an, der ich doch angesehen war unter den Sterblichen, | da ich Bemerkenswertes tat, und doch hat mich das Schicksal schwinden lassen | wie eine Feder gen Himmel an einem einzigen Tag. E. HF 506-10

Wie ein positives Echo erscheint deshalb der Vers 628, in dem der zurückgekehrte Herakles scherzend176 seine Kinder auffordert, keine Angst mehr zu haben und sich nicht so sehr an ihn zu klammern (HF 624-8): 172

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Vgl. θανόντ’ (HF 69) mit „ἐγὼ δὲ καὶ σὺ µέλλοµεν θνήισκειν, γέρον, | οἵ θ’ Ἡράκλειοι παῖδες“ (HF 70f.) sowie ἀνέπτατο (HF 69) mit „οὓς ὑπὸ πτεροῖς | σώιζω νεοσσοὺς ὄρνις ὣς ὑφειµένους“ (HF 71f.). Vgl. HF 67f.: κἄµ’ ἔδωκε παιδὶ σῶι, | ἐπίσηµον εὐνὴν Ἡρακλεῖ συνοικίσας. / „Und er [sc. Kreon] gab mich deinem Sohn | – eine angesehene Ehestatt –, mich dem Herakles beigesellend.“ – Zu dieser Deutung der Satzstruktur s. Wilamowitz 1959, III, S. 21 ad loc.: „ἐπίσηµον εὐνήν ist nicht Apposition zu ἐµέ, sondern zu dem Verbalbegriff […]. Denn die Berühmtheit des Eidams erhöht das Glück des Kreon.“ Vgl. Bond 1981, S. 80 ad loc. S. dazu unten Abschnitt B.II.3.5. Das Bild der davonfliegenden Feder in HF 510 tritt unweigerlich mit διέπτατο aus HF 507 in Beziehung. Vgl. Bond 1981, S. 197 ad loc.: „The close parallel at Tro. 1320 suggests that the phrase is not dependent for its meaning on διέπτατο, though it can hardly avoid being coloured by διέπτατο.“ Zum Scherzcharakter der Stelle s. Bond 1981, S. 222 ad loc. im Anschluss an

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

οὐ γὰρ πτερωτὸς οὐδὲ φευξείω φίλους. Ich bin nicht geflügelt und will auch meinen Lieben nicht entfliehen. E. HF 628

Dieser Vers greift in doppelter Weise das Bild des Vogels mit den unterschiedlichen Konnotationen auf. Zum einen reiht sich Herakles mit seinem Kinderscherz – in negativer Kontrastierung – in die geflügelten Dinge, die davonfliegen, wie die glücklichen Zeiten der Megara und die ruhmvolle Vergangenheit des Amphitryon. Hier wird mit dem Vogel das Flüchtige assoziiert, auf das nicht sicher Verlass ist. Diese Lesart ist die auf den ersten Blick sichtbare. Die beiden Teile des Satzes bedeuten dann im Kern dasselbe und führen es auf unterschiedliche Weise aus.177 Es ist aber auch eine weitere Lesart möglich. Herakles’ Worten mag dann die Bedeutung beiliegen, er sei kein Vogel wie die bisher vorgestellten, er gehöre also weder zur Gruppe des Chores, noch sei er wie Megara; beiden ist, wie geschildert, gemein, dass sie keinen wahren Schutz, nur trügerische oder nutzlose Worte zu bieten haben. Herakles gehört nicht zu dieser Welt der Worte, er kommt als wahrer Retter. Nicht nur distanzieren ihn seine Worte von den mit dem Bild des Vogels assoziierten Eigenschaften, sie sind auch eine Weigerung, ein Teil des unheilvollen Bildes zu sein, das die Wehrlosen, zum Unglück Bestimmten miteinander vereint. Die beiden Teile des Satzes beschreiben dann zwei unterschiedliche Dinge, welche wiederum den verschiedenen VogelAssoziationen entsprechen: Herakles will zum einen kein wehrloser Vogel sein, wie es Megara, Amphitryon und der Chor sind, zum anderen wird er auch nicht seine Lieben im Stich lassen (wie das Glück vergangener Tage oder wie die Stadt Theben und ganz Griechenland). Beide vorgestellten Interpretationen sind möglich und schillern potenziell in dieser knappen, scherzhaft zu den Kindern gesprochenen Aussage. Sie erhält damit im Rahmen der Vogelmetaphorik eine neue Tiefe. Gerade weil Herakles sich weigert, Teil des unheilvollen Bildes zu sein, kann er als (vorläufiger) Retter der ‚Mitglieder‘ des Bildes erscheinen.

177

Vahlen 1908, S. 69. Wilamowitz 1959, III, S. 141 ad loc. übrigens wertet den Vers als „halb ärgerliche[n] Zwischenruf“ des Herakles wegen der Ungezogenheit seiner Kinder. Vgl. etwa die Paraphrase von Wilamowitz ebd., S. 141 ad loc.: „Ich habe weder die Möglichkeit noch den Willen mich euch zu entziehen.“

3

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Die Wendung folgt in der Peripetie; hier kommt das Küken-Bild wieder zum Gebrauch. Im Botenbericht erscheint es gleich zweimal, in V. 974 und V. 982f. Der Bote beschreibt, wie die drei Söhne jeweils vor ihrem Vater fliehen, der sie in dem Glauben, es seien die Söhne des Eurystheus, aus Rache töten will. Sie suchen an unterschiedlichen Orten Schutz: οἱ δὲ ταρβοῦντες φόβωι ὤρουον ἄλλος ἄλλοσ’, ἐς πέπλους ὁ µὲν µητρὸς ταλαίνης, ὁ δ’ ὑπὸ κίονος σκιάν, ἄλλος δὲ βωµὸν ὄρνις ὣς ἔπτηξ’ ὕπο. Von ihnen aber stürzte bange | vor Angst jeder anderswohin, der eine in die Gewänder | der armen Mutter, der andere in den Schatten einer Säule, | der dritte kauerte sich unter den Altar wie ein Vogel. E. HF 971-4

Das Bild des kauernden Vogels, wenn auch nur auf den dritten Sohn angewandt, lässt sich auch auf die anderen beiden Söhne ausweiten.178 Zum Fuß der Säule, der dem Altar ähnelt, passt es ohnehin, die Gewänder der Mutter werden ein Zufluchtsort für Vögel auch durch die Erinnerung an die erste Ausführung des Bildes, in denen Megara sich selbst einem Vogel gleichsetzt, der die Jungen unter den Flügeln birgt. Diese Verse bieten also das Potential, das volle Bild, wie auch in den Versen 70-2 ausgestaltet, heraufzubeschwören. Umso grausamer erscheinen dann die Worte des 178

Bond 1981, S. 315 bemerkt zu HF 974: „ἔπτηξ’, though applied to the third child, is applicable to all three.“ Dies ist zum einen in grammatikalischem, nämlich syntaktischem Sinne möglich, da der Singular aufgefasst werden kann als jeweils zu den einzelnen Gliedern der µέν-δέ-δέ-Aufzählung gehörig, einzig mit οἱ δέ (HF 971) als Subjekt zu ὤρουον und den ersten beiden Teilen der Aufzählung nicht als Apposition dazu (bzw. zu ἄλλος). Die Verben der Flucht, jeweils an Beginn und Ende des Satzes positioniert, bilden dann allen drei Söhnen einen gemeinsamen Rahmen. Von beiden Seiten sickert ihre Bedeutung in die Aufzählung. Wilamowitz 1959, III, S. 214 ad loc., wohl durch das parallele ὑπὸ ... σκιάν (HF 973) und βωµὸν ... ὕπο (HF 974) bewegt, bezieht das ἔπτηξ’ ohnehin auf die beiden letzteren Kinder und in Konsequenz auch den Vergleich mit dem Vogel, da πτήσσω „vom Ducken des Vogels“ (ebd.) gebraucht wird. Zum anderen aber ohne Frage legitim ist das Ausweiten des Bildes auf assoziativer Ebene wie oben beschrieben. – ἔπτηξε wird in HF 985 noch einmal aufgenommen.

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Herakles, gesprochen, als er den ersten Sohn – den, der sich an der Säule verbarg – getötet hat: Εἷς µὲν νεοσσὸς ὅδε θανὼν Εὐρυσθέως ἔχθραν πατρώιαν ἐκτίνων πέπτωκέ µοι. Dieses eine Küken des Eurystheus hier liegt mir tot da, bezahlend für die Feindschaft seines Vaters. E. HF 982f.

Zum dritten Mal – nach V. 72 und V. 224 – erscheint das Wort νεοσσός in diesem Stück. Es gewinnt einerseits Fülle über die abgegriffene Version hinaus durch die Anlehnung an die früheren Stellen, insbesondere durch die Vorbereitung in den Versen 971-4, doch auch durch die Ausgestaltung in genau diesen Versen. Denn das Prädikat πέπτωκε lässt sich durchaus im Sinne des Bildes lesen: Gefallen ist der junge Vogel, aus dem Nest heraus, wehrlos ohne Flügel.179 Herakles spricht diese Worte im Triumph, er hat zuvor einen Kampfschrei ausgestoßen (HF 981: ἠλάλαξε). Die Wehrlosigkeit der Kinder, von Megara und Amphitryon in das Bild des Vogeljungen gekleidet, um Mitleid zu erregen, macht er sich gerade für seine Rache zu Nutze. Er tötet die vermeintlichen Kinder des Eurystheus ausgerechnet in dem Gewand, in dem die Abhängigkeit seiner eigenen Kinder von ihm selbst als echtem Schutz zum Ausdruck gebracht wurde. Eine weitere Pointe liegt darin, dass er gerade als Nicht-Vogel, als Verweigerer des Bildes, der ideale Retter hätte sein können, nun aber, selbst auf das Bild zurückgreifend, das Verderben besiegelt. Deshalb kann mit Bond noch weit über dessen intendierte Aussage hinaus gesagt werden: „Heracles’ use of the word is therefore deliberately grotesque and horrifying.“180 In den bereits erwähnten Versen 1039-41 findet das Bild des Vogels mit seinen Jungen einen ersten großen Abschluss.181 Amphitryon übernimmt Megaras Rolle der Vogelmutter: Die Jungen, die sie mit ihren Flügeln zu schützen suchte, sind nun tot und sie beklagt sie. Das Wort ὠδίς, das die Geburtswehen bezeichnet, „welche den Vogel nichts angehen“182, 179 180 181 182

Das Bild der jungen Vögel auf der Flucht vor dem rasenden Herakles wird noch fortgesetzt in HF 985 ἔπτηξε. Bond 1981, S. 317 ad loc. Vgl. oben Abschnitt B.II.3.3.1. Wilamowitz 1959, III, S. 223 ad loc. Wilamowitz hält den Ausdruck ἄπτερος

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wie Wilamowitz vermerkt, macht die Mutter in diesem Bild präsent. Das Adjektiv ἄπτερον (HF 1039) für die noch nicht flüggen Küken gemahnt düster an Herakles grausam freudigen Ausruf mit dem fallenden Jungvogel in V. 982f. Die jungen Vögel sind tot, die alten noch am Leben. Es folgen einige Stellen, die darauf hindeuten, dass Herakles durch seine grausame Tat aufgenommen wird in den Reigen der unglücklichen Vögel, dem er sich eigentlich verweigert hatte. Herakles’ Auseinandersetzung mit dem Vogel-Bild ist noch nicht vorbei. Der Chor hatte in den Versen 1016-1024 nach mythologischen Parallelen zu dem schrecklichen Mord gesucht und war dabei nach eigener Aussage erfolglos geblieben: Nichts konnte ihn an Schrecken übertreffen. Das zweite Beispiel, das der Chor wählt, ist das der Prokne (HF 1021-24), die ihren Sohn Itys tötet, um für ihre Schwester Rache an ihrem Mann zu üben, der sie misshandelt hatte. Prokne wird in eine Nachtigall verwandelt und beklagt auf ewig in ihren Liedern ihren Sohn.183 Wenn auch die Pointe der Erwähnung gerade darin liegt, dass sie nicht zum Vergleich herangezogen werden kann, so wird doch Prokne unweigerlich zu einer Folie für Herakles.184 Auch er wird nun den von

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184

ὠδὶς τέκνων (vgl. HF 1039f.) daher für geschmacklos, verkennt aber das Zusammenhang und Sinn stiftende Potenzial im größeren Rahmen der bildsprachlichen Verknüpfungen. Die Geschichte wird nur angedeutet, nicht ausgeführt: µονότεκνον Πρόκνης φόνον ἔχω λέξαι | θυόµενον Μούσαις· σὺ δὲ τέκνα τρίγον’, ὦ | δάιε, τεκόµενος | λυσσάδι συγκατειργάσω µοίραι. / „Von dem einkindrigen Mord der Prokne weiß ich zu sagen, | den Musen als Opfer dargebracht; Aber du hattest drei Kinder, | Unseliger, gezeugt und hast sie zusammen vernichtet in deinem Wahneslos“ (HF 1021-4). Eine genauere Interpretation der Stelle erfolgt unten in Abschnitt B.II.4.3.1. Dies geschieht auch durch die unterschiedliche Handhabung der beiden genannten Beispiele aus der Mythologie. Beide Stellen folgen dem gleichen Muster: Zunächst wird jeweils der Mythos genannt (HF 1016-18 bzw. 1021f.), dann wird ein Bezug zur gegenwärtigen Situation hergestellt (HF 1019f. bzw. 1022-4), angeschlossen durch ein δέ. Von der erstgenannten Tat der Danaiden heißt es ausdrücklich, sie werde durch die des Herakles übertroffen (HF 1019: ὑπερέβαλεν παρέδραµεν). Im zweiten Fall werden eher Analogien hergestellt. Proknes µονότεκνο[ς] …φόνο[ς] (HF 1021) stehen Herakles’ τέκνα τρίγον’ (HF 1023) entgegen. Das Partizip τεκόµενος (HF 1023) verweist explizit auf seine Vaterrolle und stellt ihn neben die Mutter Prokne. S. auch unten Abschnitt B.II.4.3.1.

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B.II

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ihm verschuldeten Tod seiner Kinder beklagen185 wie die Nachtigall Prokne und wie der alte Vogel Amphitryon. Das Bild des Vogels legt sich schemenhaft über die Figur des Helden. In Vers 1158 schließlich manifestiert es sich in den Worten des Herakles. Der Held sieht Theseus nahen und fürchtet, den aufrechten Freund anzustecken mit der Befleckung des Mordblutes. Er spricht: οἴµοι, τί δράσω; ποῖ κακῶν ἐρηµίαν εὕρω, πτερωτὸς ἢ κατὰ χθονὸς µολών; Weh mir, was soll ich tun? Wo soll ich Abgeschiedenheit von meinem Unglück | finden – mit Flügeln fortgehend oder unter die Erde? E. HF 1157f.

Eskapistische Visionen dieser Art sind nicht ungewöhnlich bei Euripides.186 Die Worte schaffen sich dennoch ihren eigenen Platz im Zusammenspiel der Vogel-Bilder: Sie erinnern an Herakles’ Beschwichtigung seiner Familie in Vers 628,187 wo er ihnen mit der gleichen Vokabel versicherte, er werde sie nicht im Stich lassen. Sie können auch einen Anklang bilden an Megaras Klage in Vers 69, in dem ebenfalls, wenn auch auf komplexere Weise, das Bild des Vogels mit dem Motiv des Sterbens verbunden war. Besonders aber wirken sie wie ein Eingeständnis nach der Weigerung, ein Teil des Vogel-Bildes zu sein, als welche der Vers 628 auch zu lesen war. Nun also wünscht sich Herakles Flügel, um davonzuziehen: Er ist aufgenommen in den Kreis der unglücklichen Vögel.188 Das Ende dieses Prozesses wird besiegelt durch Amphitryons Ausruf etwa dreißig Verse später, gesprochen im Zusammenhang mit Theseus’ Reaktion auf die schrecklichen Vorkommnisse:

185 186 187 188

S. etwa HF 1366-70. Vgl Bond 1981, S. 360. S. E. Hec. 1099-1106; Hipp. 732-4; 1290-3; Ion 1238f.; Med. 1296f.; Phaëth. fr. 781, 61-4 Kannicht (Bd. 5, 2, S. 820 TrGF). Vgl. so auch Delulle 1911, S. 45; anders Bond 1981, S. 360 ad loc. Der Schwerpunkt wird schon im Voraus deutlich von der Unterwelt auf die erträumte Alternative des Davonfliegens verlagert, da Herakles seine düsteren Selbstmordvisionen (HF 1148-52) bei Theseus’ Anblick zunächst beiseite schiebt: ἀλλ’ ἐµποδών µοι θανασίµων βουλευµάτων | Θησεὑς ὅδ’ ἕρπει συγγενὴς φίλος τ’ ἐµός / „Aber dort kommt Theseus, mein naher Freund, mir als Hindernis meiner tödlichen Pläne“ (HF 1153f.).

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οἰχόµεθ’ οἰχόµεθα πτανοί. Wir sind dahin, dahin entschwebt wie mit Flügeln! E. HF 1186

Die erste Person Plural scheint alle Beteiligten mit einzubeziehen – Tote ebenso wie Überlebende. Hier steht der gängige Ausdruck nicht für ein (positives) Entschwinden, mit dem ein Entkommen vom Unglück einhergeht, sondern um ein schon (negatives) Verlorensein. Amphitryon, Herakles, Megara, die Kinder – sie alle in ihrer ursprünglichen Form haben sich verflüchtigt. Im Zusammenhang der Entwicklung des Vogel-Bildes wird nun endgültig auch Herakles, seiner eigenen Andeutung folgend, als Vogel identifiziert.189 Eine bisher unerwähnt gelassene Stelle im Stück verweist darauf, dass der Vogel seither in der Wahrsagekunst als Zeichen zur Deutung der Zukunft gesehen wurde, und zwar keineswegs als Metapher, sondern als reales Vogelzeichen – im Guten wie im Schlechten. Er erscheint ganz explizit als Unglücksbote in den Versen 596-8: ὄρνιν δ’ ἰδών τιν’ οὐκ ἐν αἰσίοις ἕδραις ἔγνων πόνον τιν’ ἐς δόµους πεπτωκότα, ὥστ’ ἐκ προνοίας κρύφιος εἰσῆλθον χθόνα. Doch sah ich einen Vogel an einem Ort, der mir kein Glück verhieß, | und erkannte, dass eine Not aufs Haus gefallen war, | sodass ich mit Vorbedacht heimlich ins Land kam.

189

Eine Äußerung des Herakles in V. 1303f. fügt sich konsistent in dieses Bild. Herakles gesteht bitter Hera den Sieg zu. Ihren Triumph über seine Person imaginiert er folgendermaßen: χορευέτω δὴ Ζηνὸς ἡ κλεινὴ δάµαρ | †κρόουσ’ Ὀλυµπίου Ζηνὸς ἀρβύληι πόδα.† / „Soll Zeus’ berühmte Gattin doch tanzen, | die des Olympischen Zeus, aufstampfend den Fuß mit dem Stiefel.“ (Den in mehrfacher Hinsicht problematischen Vers 1304 athetiert Diggle vollständig, Murray nur seine ersten beiden Wörter.) Wie der Chor als ‚Vogel‘ stets die Choreia als Bezugsgröße zur Beurteilung und Beschreibung des Geschehens nutzt (vgl. oben Abschnitt B.II.3.3.1), so stellt sich der ‚Vogel‘ Herakles seine Gegnerin beim Auskosten ihres Sieges just tanzend vor. S. auch Hardie 2007, S. 554, der diese Stelle unter der Perspektive der Musik als möglicher Ausdrucksform für den zerstörerischen Aspekt Heras betrachtet und die Göttin ebenfalls als ‚Anti-Muse‘ auffasst (s. dazu unten Abschnitt B.II.3.4).

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Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Symbolische Kraft gewinnt auch diese Stelle: Ein Vogel an einem Unglück verheißenden Ort verrät symbolisch die Gefahr, die über Theben ‚schwebt‘ – eine Gefahr, die nicht direkt zu bekämpfen ist. Das semantische Feld ‚Vogel‘, ‚geflügelt‘, ‚fliegen‘ hat somit über das ganze Stück hinweg ein Netz gespannt, das im Wesentlichen vier Linien entwickelt – die des Alters, des Singens, des Schutzes und des Glückes bzw. Unglücks – und diese auch auf subtile Weise miteinander verknüpft.190 3.4

Dionysos

Ein weiteres wichtiges Element des Bilder- und Metaphernnetzes, das über das Stück gespannt ist, ist Dionysos – ebenso wie das mit diesem Gott verbundene ‚Rasen‘, das auch in den Gestalten von Iris und besonders Lyssa in Erscheinung tritt (HF 822-73). Dabei wird hier zunächst die innerdramatische Funktion der Erwähnungen des Gottes im Vordergrund stehen. Dass mit Dionysos stets auch ein Verweis auf die Aufführungssituation des Stückes im Dionysosritual, d. h. dem Tragödienagon der Großen Dionysien in Athen, gegeben ist, also mit jeder Nennung des Gottes auch die metatheatralische Ebene anklingt, soll weiter unten in den Blick genommen werden.191 Bakchische Metaphern erscheinen an mehreren Stellen des Stückes,192 in größter Dichte während und nach Lyssas Auftritt: Denn Herakles’ Wahnsinn wird als bakchischer Chortanz stilisiert;193 bakchisches Erken190

191

192 193

Insbesondere gilt auch Griffiths’ Ergebnis (2006, S. 58), hat sich auch hier erst die ganze Tragweite ihrer Beobachtung entfaltet: „The ornithological imagery is, therefore, an important structural element in the play as a whole, indicating the relative vulnerability of the different characters at various points in the action.“ S. unten Abschnitte B.II.4.1.3 und 4.2. Zu neueren Tendenzen in der Dionysosforschung im Allgemeinen s. Carpenter und Faraone 1993; Schlesier 2011; Bernabé et al. 2013. S. zur Einführung zudem Seaford 2006; Schlesier und Schwarzmaier 2008. Diese Elemente sind zusammengestellt und teilweise ausgewertet vor allem bei Bierl 1991, S. 79-89 u. 140-46; Papadopoulou 2005, S. 48-54. S. Segal 1982, S. 18; Bierl 1991, S. 85-7; Henrichs 1996a, S. 61; Wilson 1999-2000, S. 433-9; Papadopoulou 2005, S. 50f.

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nungsmerkmal ist der Aulos, Instrument des Dionysos par excellence.194 So verkündet Lyssa: τάχα σ’ ἐγὼ µᾶλλον χορεύσω καὶ καταυλήσω φόβωι. Schnell werde ich dich noch mehr zum Tanzen bringen und niederflöten mit Schrecken. E. HF 871

Der Chor übernimmt dieses Bild im Anschluss exakt195 und bestätigt es in seinem Aufruf zur Klage um den schon verloren gewussten Helden (HF 875-9): Er sieht ihn darin „von flötenspielbegleitetem rasenden Wahn zum Tanzen gebracht“ (HF 878f.: µανιάσιν λύσσαις | χορευθέντ’ ἐναύλοις).Vom folgenden Wahn und Blutrausch des Herakles im Haus dringen nur verzweifelte Rufe des Amphitryon nach draußen zu Chor und Zuschauern. Der Chor, noch ganz gefangen vom Erscheinen der beiden Göttinnen, gießt seine Reaktion in Worte bakchischer Musik: (ἔσωθεν) ἰώ µοι µέλεος. Χο. ἰὼ Ζεῦ, τὸ σὸν γένος ἄγονον αὐτίκα λυσσάδες ὠµοβρῶτες ἄδικοι Ποιναὶ κακοῖσιν ἐκπετάσουσιν. Αµ. ἰὼ στέγαι. Χο. κατάρχεται χορεύµατ’ ἄτερ τυπάνων οὐ Βροµίου κεχαρισµένα θύρσωι Αµ. ἰὼ δόµοι. Χο. πρὸς αἵµατ’, οὐχὶ τᾶς Διονυσιάδος βοτρύων ἐπὶ χεύµασι λοιβᾶς. φυγῆι, τέκν’, ἐξορµᾶτε. δάιον τόδε δάιον µέλος ἐπαυλεῖται. κυναγετεῖ τέκνων διωγµόν· οὔποτ’ ἄκραντα δόµοισι Λύσσα βακχεύσει.

890

895

(von drinnen:) Weh mir, ich Unglücklicher! Ch.: Weh, Zeus, deinen Spross werden sogleich zum kinderlosen rasende, rohes Fleisch verschlingende, ungerechte Rachegöttinnen mit Unglück hinstrecken. Am.: Weh, Dächer. 194 195

S. Bierl 1991, S. 83 mit Anm. 121; Wilson 1999-2000, S. 433f. u. passim. Vgl. Bond 1981, S. 299.

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B.II

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Ch.:

Der Tanz beginnt, ohne Tamburine, nicht gewidmet dem Thyrsos des Bromios. Am.: Weh, Haus. Ch.: Für Blut, nicht zum Guss der dionysischen Spende von Trauben.

Zur Flucht, Kinder, stürmt hinaus! Ch.: Zerstörerisch, zerstörerisch ist dies Lied, das gespielt wird auf dem Aulos. Er führt die Jagd auf seine Kinder; nicht umsonst wird Lyssa im Haus bakchisch rasen. E. HF 886-98

Das Besondere der Beschreibung besteht darin, dass der Chor sich bemüht zeigt, den dionysischen Kult von den Vorkommnissen abzugrenzen.196 So bezeichnet er die Vorgänge als Tänze ohne Tamburine, nicht gewidmet dem Thyrsos des Bromios (HF 889f.), bei denen Blut vergossen wird statt Weinspenden für Dionysos (HF 892f.). Der Chor ringt danach, das Unfassliche mit dem ihm Fasslichen zu beschreiben. Dabei entsteht ein flimmerndes Hin und Her zwischen dionysischem Beschreibungsvokabular und nicht-dionysischer Realität.197 Herakles erscheint dabei zugleich als Opfer der rasenden „Anti-Mänade“198 Lyssa wie auch – qua Mörder – als rasende Mänade selbst.199 Die Jagd auf die Kinder wird als dionysischer Tanz beschrieben, der keiner ist.200 Dabei behält der Chor stets im Auge, dass das anstehende ‚Opfer‘ nicht dem üblichen (athenischen) Dionysoskult entspricht (HF 892f.). Dafür steht das ‚schreckliche Dionysoslied‘ (HF 894f.), das im thebanischen Mythos allenthalben – prominent im Pentheus-Mythos – zu Hause ist.201 – Schrecklicher Dionysos – milder 196 197 198 199

200 201

Vgl. Bierl 1991, S. 85; Wilson 1999-2000, S. 436f. S. auch Bierl 1991, S. 86f. Ebd., S. 86. So fungiert ja die bakchische Raserei der Lyssa im Haus (HF 897f.) als Metapher für das Wüten des Herakles selbst. Bierl 1991 spricht von Herakles als einem „Anti-Dionysos“ unter Vergleich mit E. Ph. 784-800. Vgl. auch Henrichs 1996a, S. 61f. – Bierl 1991, S. 84f. vermerkt zudem, dass auch die von Lyssa selbst beschriebenen Anzeichen von Herakles’ Wahn (HF 867-70) – das Schütteln des Kopfes, das Verdrehen der Augen, das schwere Atmen – dem „Erscheinungsbild der sich in Trance versetzenden Mänade“ (ebd., S. 84) nahekomme. Vgl. Wilson 1999-2000, S. 436. Für Mänaden als ‚tragic models‘ im Allgemeinen s. Schlesier 1993 u. insbes. S. 98 für Euripides’ Herakles. Vgl. die obigen Verse zusammen mit den vorher besprochenen Versen 871 und 875-9. S. Segal 1982, S. 70-77; Bierl 1991, S. 87; Henrichs 1996a, S. 61f.

3

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Dionysos: Dieser Gegensatz beherrscht die gesamte Mordszene als zwischen Innen und Außen, dramatis personae und Chor, Handlungsrealität und sprachlicher Metaphorik oszillierender Gegensatz. Beherrschend dabei ist die grausame Macht des wütenden Dionysos, der in der Gestalt der bakchischen Mänade Lyssa herangebrochen ist – eine Macht, deren Handeln in die Metaphorik aggressiv-rasender Aulosmusik gekleidet ist. Der positive Gegenentwurf zu dieser zerstörerischen Art von dionysischer Musik ist bereits im zweiten Stasimon erschienen. Dort heißt es in der zweiten Strophe: ἔτι τοι γέρων ἀοιδὸς κελαδῶ Μναµοσύναν, ἔτι τὰν Ἡρακλέους καλλίνικον ἀείδω παρά τε Βρόµιον οἰνοδόταν παρά τε χέλυος ἑπτατόνου µολπὰν καὶ Λίβυν αὐλόν. οὔπω καταπαύσοµεν Μούσας αἵ µ’ ἐχόρευσαν.

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685

Wahrlich, noch als greiser Sänger | besinge ich laut Mnemosyne, | ich singe noch das Siegeslied | des Herakles | bei Bromios, dem Weinspender | und bei der siebentönigen Lyra | Weise und beim libyschen Aulos. | Ich werde nicht ablassen | von den Musen, die mich zum Tanzen gebracht haben. E. HF 678-86

Auch hier erscheinen Dionysos in seiner Eigenschaft als Weinspender wie in V. 892f. und sein Instrument, der Aulos, wie in den Versen 871, 879 und 895. Doch sind ihnen Apoll in Form der Lyra, Gegenstück zum Aulos, und die Musen zur Seite gestellt;202 das Lied, das gesungen wird, ist ein Freudenlied. Das zweite Stasimon trägt den Charakter eines Epinikions für Herakles,203 der gerade als verzweifelt ersehnter Retter heimgekehrt ist. Der Chor preist die Jugend und verdammt das Alter (HF 63754); er bedauert, dass die Götter nicht die Umsichtigkeit besitzen, guten Menschen eine zweite Jugend zu schenken und so ein sichtbares Zeichen für ihre ἀρετή zu schaffen (HF 655-72). Die Musik nun erscheint als ein 202 203

Eine genauere Analyse dieser Verse und der Bedeutung Apolls und der Musen folgt unten in den Abschnitten B.II.4.1.3 und 4.2. S. unten Abschnitt B.II.4.1.1.3.

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Mittel, durch das die ἀρετή doch sichtbar gemacht werden kann und ewig lebendig bleibt in der Erinnerung (HF 673-700).204 Sie stiftet Einheit im Lobpreis und bildet insbesondere darin einen Gegensatz zur zerstörerischen Musik der Lyssa-Episode.205 Eine besondere Pointe verbirgt sich in HF 685f. Denn das transitiv gebrauchte ἐχόρευσαν tritt nachträglich in Beziehung zu Lyssas Ausspruch in HF 871: τάχα σ’ ἐγὼ µᾶλλον χορεύσω καὶ καταυλήσω.206 Lyssa erscheint somit nicht nur als Anti-Mänade, sondern in gewisser Weise auch als Anti-Muse. Der rasende Herakles, der zu ihrer zerstörerischen Musik tanzt, steht im Gegensatz zum Chor und seiner harmonieerzeugenden Musik zum Zeitpunkt großer Freude. Die zentrale Mordszene (HF 875-909) erinnert außerdem an die Gestaltung der Ermordung des Lykos (HF 734-762). Es gibt zum einen Parallelen in der Struktur:207 In den Versen 734-49 und 875-85 singt jeweils der Chor allein in Erwartung des ausstehenden Mordes. Dieser wird umgesetzt in einem Amoibaion von Chor und Schreien aus dem Inneren in den Versen 750-62 und 886-909. Zum anderen betrachtet der Chor beide Vorgänge vom Standpunkt des alten Vogels aus, dessen Maß zum Begreifen der Welt Tanz und Lied sind.208 Dem willkommenen Lied der Tötung des Lykos steht das zerstörerische Lied des Mordes an Megara und den Kindern gegenüber,209 wobei der hörbare Teil des ‚Liedes‘ in den Schreien aus dem Palast besteht. Zu beiden Gelegenheiten verwendet der Chor zudem das Verb κατάρχεται (HF 751; 889) – jeweils mit den vergleichbaren Subjekten210 µέλος (HF 751) bzw. χορεύµατ’ (HF 889) – das 204 205 206 207 208 209

210

S. unten Abschnitt B.II.4.1.1. Vgl. Bierl 1991, S. 83f.; 85; 142-5; Wilson 1999-2000, S. 435; Papadopoulou 2005, S. 50f. Vgl. auch das noch stärkere später gebrauchte βακχεύειν in den Versen 966, 1086 und ggf. 1142 (intransitiv in 899 und 1122). S. Bond 1981, S. 295 zu HF 875-921. Zur Identität des Chores s. oben Abschnitt B.II.3.3.1. Vgl. auch Bond 1981, S. 300f. zu HF 886-909 für die nun folgenden wörtlichen Anklänge. Der Chor kommentiert Lykos’ Todesschreie folgendermaßen: τόδε κατάρχεται µέλος ἐµοὶ κλύειν | φίλιον ἐν δόµοις· / „Da beginnt ein Lied im Haus, das mir überaus willkommen zu hören ist“ (HF 751f.). Auf Amphitryons Rufe aus dem Palast hingegen reagiert er mit den oben zitierten Versen 894f.: δάιον τόδε / δάιον µέλος ἐπαυλεῖται. / „Zerstörerisch, zerstörerisch ist dies Lied, das gespielt wird auf dem Aulos.“ Vgl. Bond 1981, S. 260 zu HF 751: „κατάρχεται is best taken absolutely as

3

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den Szenen durch seine Gebräuchlichkeit in religiösen Kontexten211 den Charakter des rituellen Opfers verleiht. Werden auch innerhalb der Tötungsszene des Lykos keine Bezüge zu Dionysos hergestellt, so wird bzw. bleibt doch im Nachhinein das Bild für beide Morde die bakchische Raserei, wenn auch die musikalischen Elemente in den Hintergrund rücken: Der Bote berichtet, dass Amphitryon Herakles während dessen imaginärer Reise nach Mykene durch sein eigenes Haus (HF 947-1000) nach dem Grund für seine Verwirrung fragt: οὔ τί που φόνος σ’ ἐβάκχευσεν νεκρῶν οὓς ἄρτι καίνεις; Es hat dich doch nicht das Blut der Toten in bakchische Raserei versetzt, | die du gerade getötet hast? E. HF 966f.

Diese Frage erhält eine besondere Färbung dadurch, dass sie in der Abfolge des Geschehens fast zeitgleich liegt mit Lyssas Ankündigung und der Reaktion des Chores. Bond bemerkt, dass das Wort βακχεύειν für das rechtmäßig vergossene Blut von Feinden eigentlich zu stark sei.212 In seiner Arglosigkeit enthält es aber eine unheilvolle Andeutung, die Zuschauer und Chor schon bestätigt wissen, handelt es sich doch um die nachträgliche Beschreibung des vorher nur ‚akustisch‘ dargestellten Geschehens. Wie treffend ausgerechnet dieser Begriff ist, hat sich also bereits offenbart.213 – Eine Weile später ist es wieder Amphitryon, der den Chor auffordert, still zu sein, damit Herakles nicht erwache und die Stadt Theben, Mord an Mord reihend, „bakchisch durchrase“ oder „zu bakchischem Wahn aufstöre“ (HF 1086: ἀν’ αὖ βακχεύσει Καδµείων πόλιν). ἀναβακχεύειν ist an dieser Stelle am besten zu verstehen im Sinne von 211 212 213

‘begins’ here and at 892.“ Vgl. LSJ s. v. κατάρχω II. 2. und Henrichs 1996a, S. 61 Anm. 50. Vgl. Bond 1981, S. 315 ad loc. Wilson 1999-2000, S. 438 lenkt auch die Aufmerksamkeit auf die unmittelbar vorausgehende Frage: τίς ὁ τρόπος ξενώσεως | τῆσδ’; / „Was ist das für eine Art von Verfremdung?“ (HF 965f.). Im Begriff der xenosis im Kontext der folgenden Frage sieht Wilson wiederum einen Verweis auf Dionysos: „Under the agency of madness, and the intervention of the aulos, the instrument of the xenos god and the enabler of ‘alien’ states, Herakles has experienced a terrible intrusion of the alien“ (ebd.).

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B.II

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„zu einem Ort bakchischen Rasens machen“.214 Wiederum sind die Elemente φόνος und βακχεύειν miteinander verknüpft. Diese Verknüpfung kann aufgefasst werden als Vorstufe zu Amphitryons Bezeichnung seines Sohnes als Ἅιδου βάκχος (HF 1119).215 Über die genannten Stellen hinaus ist dem Bereich des Dionysos auch die Mysterienthematik zu eigen.216 Sie äußert sich einerseits, wie im nächsten Abschnitt behandelt werden wird, in sprachlichen Bildern und in der Handlungsstruktur; sie wohnt aber auch den Ideen von µεταβολή und ἐλπίς inne, die Bierl insbesondere für die erste Hälfte des Stückes als Leitmotive ausmacht.217 3.5

Mysterien

Ein weiterer Bildstrang, der das Stück auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlich ausgeprägter Form durchzieht, ist der der Katabasis in den und Anodos aus dem Hades; in diesem Zusammenhang werden auch Assoziationen zum Mysterienkult hergestellt.218 Die Thematik spinnt sich dabei insbesondere und natürlicherweise um Herakles, der für seine letzte Arbeit die Katabasis in den Hades inklusive Rückkehr unternimmt. Im Stück lassen sich vor allem zwei zugehörige Komplexe erkennen: Der eine ist direkt mit Herakles’ letzter Arbeit verbunden; der zweite entwickelt 214

215

216 217 218

Dieses Verständnis bietet einen Kompromiss zwischen dem nicht ganz passgenauen „infect all Thebes with madness” (Bond 1981, S. 340 ad loc.; vgl. ähnlich LSJ s. v. ἀναβακχεύω: „rouse to Bacchic frenzy, madden“) und dem das signifikante Bedeutungselement nicht wiedergebenden „rage throughout the city” (Bond 1981, S. 340). Amphitryon spricht zum gerade erwachten Herakles, der zu erfahren sucht, was geschehen ist: εἰ µηκέθ’ Ἅιδου βάκχος εἶ, φράσαιµεν ἄν. / „Ich will es dir wohl sagen, wenn du nicht länger ein Bakchant des Hades bist“ (HF 1119). Zur Relevanz dieses Ausdrucks auch im Rahmen der Mysterienmetaphorik s. Abschnitt B.II.3.5. Herakles reagiert in HF 1122 auf diesen Satz seines Vaters mit folgenden Worten: οὐ γάρ τι βακχεύσας γε µέµνηµαι φρένας. / „Ich kann mich nicht erinnern, im Geiste bakchisch gerast zu haben.“ Vgl. Bierl 1991, S. 140-6; Papadopoulou 2005, S. 48-54. Vgl. Bierl 1991, S. 140-6. S. – in variabler Ausführlichkeit – Seaford 1994, S. 378-81; Papadopoulou 2005, S. 51-4; Kowalzig 2007a, S. 239-41; Mikellidou 2015; auch Bierl 1991, S. 140-6.

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sich subtil um den gebrochenen Helden nach der Ermordung seiner Kinder im Wahn. Die beiden Komplexe weisen eine parallele Struktur auf, die in sich verkehrt wird: Im ersten Teil, während Herakles’ tatsächlicher Katabasis in den Hades, erlebt seine Familie eine bildliche Katabasis auf der Bühne; als Retter in der Not und mystischer Epoptes erscheint Herakles, der mit seiner tatsächlichen Anodos auch die bildliche Anodos seiner Familie ermöglicht. Im zweiten Teil entspricht die Tötung der Familie einer tatsächlichen Katabasis, während Herakles selbst die bildliche Katabasis durchläuft. Die Rolle des Epoptes bei Herakles’ anschließender bildlicher Anodos übernimmt hier Theseus. Erkannt und ausführlich behandelt sind das Bild und seine Struktur von Katerina Mikellidou.219 Das Muster von Katabasis und Anodos, das mehrfach wiederkehrt, wird von Herakles selbst in den Horizont der Mysterienerfahrung gestellt. Nachdem Amphitryon und Megara Herakles nach seiner Rückkehr über die Situation in Theben aufgeklärt haben, ist es an Amphitryon, seinerseits den Sohn nach seinen Erlebnissen zu fragen. Herakles bestätigt, wahrhaftig im Hades gewesen zu sein und den Kerberos heraufgeholt zu haben. Amphitryon fragt nach: Αµ. Ηρ.

µάχηι κρατήσας ἢ θεᾶς δωρήµασιν; µάχηι· τὰ µυστῶν δ’ ὄργι’ εὐτύχησ’ ἰδών.

Am.:

Indem du ihn im Kampf besiegt hast oder durch eine Schenkung der Göttin? Im Kampf; ich hatte das Glück, die heiligen Handlungen der Mysten zu schauen. E. HF 612f.

Her.:

Herakles’ Antwort auf die Frage seines Vaters besteht aus verdichteter Mysterienterminologie.220 Seine Angabe, er sei in die Mysterien eingeweiht worden, ist natürlich in gewisser Weise ‚anachronistisch‘. Dennoch ist sie nicht eine Erfindung des Euripides, sondern entspricht einer möglicherweise zur Zeit der Abfassung des Stückes populären Version der Unterweltfahrt zum Fassen des Kerberos. Greifbar ist diese Version über 219 220

S. Mikellidou 2015. Zum Mysterienkontext von ὄργια, εὐτύχησ’ und ἰδών in diesem Vers s. Bond 1981, S. 218 zu HF 613. Zur Begrifflichkeit von µύστης und ὄργια für Mysterien allgemein s. Burkert 1990, S. 15f.

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B.II

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die Darstellung Apollodors, für die eine archaische Vorlage221 vermutet wird: Δωδέκατον ἆθλον ἐπετάγη Κέρβερον ἐξ Ἅιδου κοµίζειν. […] Μέλλων οὖν ἐπὶ τοῦτον ἀπιέναι ἦλθε πρὸς Εὔµολπον εἰς Ἐλευσῖνα, βουλόµενος µυηθῆναι· ἦν δὲ οὐκ ἐξὸν ξένοις τότε µυεῖσθαι, ἐπειδήπερ Θέστιος Πυλίου παῖς γενόµενος ἐµυεῖτο. Μὴ δυνάµενος δὲ ἰδεῖν τὰ µυστήρια, ἐπείπερ οὐκ ἦν ἡγνισµένος τοῦ Κενταύρων φόνου, ἁγνισθεὶς ὑπὸ Εὐµόλπου τότε ἐµυήθη. Καὶ παραγενόµενος ἐπὶ Ταίναρον τῆς Λακωνικῆς, οὗ τῆς 221

Vgl. Apollod. 2, 5, 12. Norden 1995 vermutet für Aristophanes’ Frösche, Bakchylides’ fünften Dithyrambos (B. 19) und das sechste Buch von Vergils Aeneis aufgrund gemeinsamer motivischer Bausteine eine gemeinsame epische Vorlage mit dem Thema der Katabasis des Herakles, eine Zusammenfassung derer Apollodors Version darstelle (vgl. Norden 1995, S. 5 und zu Verg. Aen. 6, 131f.; 6, 260; 6, 309-12; 6, 384-416; 6, 477-93; 6, 548-627; 6, 66678). Die gleiche Vorlage ermittelt Lloyd-Jones 1967 für Pindar in seiner Behandlung der Fragmente P. Oxy. 2622 und P.S.I. 1391 (= Pi. fr. 346 SnellMaehler), die auf ein pindarisches Lied über die Unterweltsfahrt des Herakles hindeuten. In ihr wird Herakles’ Einweihung in Eleusis als fester Bestandteil dieser Vorlage nahegelegt; Lloyd-Jones datiert sie etwa auf die Mitte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. (vgl. ebd., S. 226). Ein früheres Entstehungsdatum verficht Robertson 1980; zu den Argumenten im Einzelnen s. ebd., S. 276 mit Anm. 6. Er unternimmt den Versuch einer Rekonstruktion der archaischen Katabasis; als möglichen Autor dieses epischen Gedichtes erwägt er Kerkops von Milet. Die Einweihung des Herakles in Eleusis, bisweilen auch bei den Kleinen Mysterien in Agrai, wird außer bei den genannten auch von weiteren Autoren erwähnt, so etwa X. HG 6, 3, 6; Pl. Ax. 371e; Schol. Ar. Pl. 845 u. 1013; D. S. 4, 14, 3; 4, 25, 1; Plu. Thes. 30, 5; 33, 1f.; vgl. auch Tz. H. 2, 36, 397. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Papyrus Mil. Vogl. I 20, Z. 18-32, der ein Fragment eines unbekannten Rhetoriklehrers des zweiten oder dritten Jahrhunderts n. Chr. enthält mit dem Titel [λόγοι Ἡρ]ακλέους κ̣ωλ̣ ̣υ̣ο̣μ̣έ|̣ [νου µυ]εῖσθαι τὰ Ἐλευσίνια / „Worte des Herakles, gehindert, in die Eleusinischen Mysterien eingeweiht zu werden“ (ausführlich behandelt und kommentiert von Colomo 2004). – Auch auf bildlichen Darstellungen ist die Einweihung des Herakles bezeugt (vgl. Boardman 1975; 1988, S. 805-8 in LIMC 4,1 s. v. Herakles II. E.). Frühestes Zeugnis ist das in Reggio gefundene Fragment einer schwarzfigurigen Bauchamphora im Stile des Exekias aus der Zeit um 540 v. Chr. (=LIMC 4,1 s. v. Herakles 1405), welche sowohl eine Eleusinische Szene mit Herakles zeigt als auch in einem Fries Athene, Iolaos und Herakles mit dem Kerberos (vgl. Boardman 1975, S. 7).

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Ἅιδου καταβάσεως τὸ στόµιoν ἦν, διὰ τούτου ἐπῄει. […] Πλησίον δὲ τῶν Ἅιδου πυλῶν γενόµενος ὁρᾷ Θησέα καὶ Πειρίθουν τὸν Περσεφόνης µνηστευόµενον γάµον καὶ διὰ τοῦτο δεθέντα. Θεασάµενοι δὲ Ἡρακλέα τὰς χεῖρας ὤρεγον ὡς ἀναστησόµενοι διὰ τῆς ἐκείνου βίας. Ὁ δὲ Θησέα µὲν λαβόµενος τῆς χειρὸς ἤγειρε, Πειρίθουν δὲ ἀναστῆσαι βουλόµενος τῆς γῆς κινουµένης ἀφῆκεν. […] Αἰτοῦντος δὲ Ἡρακλέους Πλούτωνα τὸν Κέρβερον, ἐπέταξεν ὁ Πλούτων ἄγειν χωρὶς ὧν εἶχεν ὅπλων κρατοῦντα. […] Συλλαβὼν οὖν αὐτὸν ἧκε διὰ Τροιζῆνος ποιησάµενος τὴν ἀνάβασιν. Als zwölfte Arbeit wurde ihm aufgetragen, den Kerberos aus dem Hades zu bringen. […] In der Absicht, dorthin aufzubrechen, kam er zu Eumolpos nach Eleusis, in dem Wunsch, eingeweiht zu werden; es war aber damals Fremden nicht möglich, eingeweiht zu werden, er wurde eingeweiht, nachdem Thestios [sc. Herakles]222 ein Sohn des Pylios geworden war. Nicht in der Lage, die Mysterien zu schauen, da er nicht gereinigt war vom Mordblut der Kentauren, ließ er sich von Eumolpos reinigen und wurde dann eingeweiht. Er fand sich beim Tainaros in Lakonien ein, wo der Eingang zum Abstieg in den Hades ist, und ging durch diesen hin. […]Als er in der Nähe der Tore des Hades war, sah er Theseus und Peirithoos, der um eine Hochzeit mit Persephone geworben hatte und deshalb gefesselt worden war. Als sie Herakles sahen, streckten sie die Hände aus, um durch seine Kraft auf die Beine gebracht zu werden. Und er nahm Theseus bei der Hand und richtete ihn auf, als er aber Peirithoos aufstellen wollte, bewegte sich die Erde und er ließ ihn los. […] Als Herakles dort von Plouton den Kerberos forderte, trug ihm Plouton auf, den Kerberos fortzuführen, indem er ihn ohne die Waffen überwältigte, die er trug. […] Er fasste ihn und ging, den Aufstieg durch Troizen unternehmend. Apollod. 2, 5, 12

Um seine letzte Arbeit auszuführen, kommt Herakles also nach Eleusis und lässt sich dort von Eumolpos, dem mythischen ersten Hierophanten,223 einweihen, nach einem Reinigungsritual aufgrund der Tötung der Zentauren und nachdem er von einem Pylios adoptiert worden ist. Nach unterschiedlichen Erlebnissen in der Unterwelt, unter anderen der Befreiung des Theseus, geht es schließlich an die eigentliche Arbeit. Apollodors Version lässt Plouton Herakles auferlegen, den Kerberos ohne seine Waffen zu überwinden, was dem Helden durch beharrliches Würgen gelingt.

222 223

Vgl. den kritischen Apparat von Papathomopoulos 2010 ad loc. Vgl. Clinton 1998.

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B.II

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Andere Versionen der Geschichte lassen Persephone Herakles bei seiner Aufgabe behilflich sein.224 Wenn also Herakles in V. 613 scheinbar unerwartet angibt, in die Eleusinischen Mysterien eingeweiht worden zu sein, und damit die Grenzen der dramatischen Fiktion strapaziert, so ist dies zunächst als Anstoß einer offenbar traditionellen Assoziationskette zu begreifen, die Herakles’ 224

Vgl. so D. S. 4, 26, 1. Auch auf bildlichen Darstellungen finden sich beide Versionen der Geschichte. Die allseits friedvolle Version der Geschichte erscheint ausschließlich auf Athenischen Vasen ab 530 v. Chr. parallel zur älteren Strömung ab dem frühen sechsten Jahrhundert, die Varianten mit verschiedenen Szenen der Gewaltsamkeit zeigt, inklusive aktiven Widerstandes der Unterweltsgottheiten (vgl. Boardman 1975, S. 7-9): „[...] the change in mood is unmistakable and most readily associated with Herakles’ new role as an Athenian-sponsored initiate who could secure the support of Persephone herself in completing what was otherwise regarded as the most dire of his labours“ (ebd., S. 9). Im Falle des durch Apollod. 2, 5, 12 zusammengefassten Epos sieht Robertson 1980 dagegen keinen Zusammenhang zwischen Einweihung des Herakles und Einstellung der Unterweltsgottheiten: „The suggestion sounds logical, and some later sources do seem to have regarded Heracles’ initiation in this light, and also as a moral tonic; but it is not demonstrable or likely that these sources depend on our poem“ (ebd., S. 296). Was HF 612f. angeht, so mag Amphitryons zweigeteilte Frage auf eben die unterschiedlichen mythologischen Traditionen hindeuten; Bond 1981 sieht in ihr ein Beispiel für Euripides’ „scholarly interest in mythology“ (ebd., S. 217 ad loc.). In Herakles’ Antwort wiederum werden das Gelingen seiner Arbeit und seine Einweihung in die Mysterien eindeutig miteinander in Verbindung gesetzt. Das εὐτύχησ’, das zugleich ein Begriff aus Mysterienzusammenhängen ist – es klingt an den makarismos der Mysten an, vgl. ebd., S. 218 ad loc. und Seaford 1994, S. 378 Anm. 6 –, enthält die positive Wertung. Das µάχηι entspricht dabei Apollodors Version; es schließt aber das θεᾶς δωρήµασιν zunächst aus, sodass eine Mischform zwischen Apollodors gänzlich neutraler Variante und einem durch die Initiation bedingten ergebenen Entgegenkommen von Persephone und Plouton besteht. Bond 1981 deutet den Charakter des δέ adversativ, „implying that Heracles did have some divine help, as an initiate“ (ebd., S. 218 ad loc.). Auch Wilamowitz 1959, III vermutet bei Euripides eine mittelnde Position zwischen den Versionen der ursprünglich gewaltsamen Überwindung des Kerberos und der ganz und gar friedvollen Übergabe an den Initianden Herakles: „[D]ie Weihung nimmt er an, aber sie hat dem Her. nur die Kraft zu siegen gegeben, kämpfen hat er trotzdem gemußt“ (ebd., S. 137 zu HF 612).

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mythologische Unterweltsabenteuer an einen rituell-religiösen Rahmen knüpft.225 Von der „‘Eleusinised’ version of the episode“ spricht in diesem Zusammenhang Mikellidou.226 Vor allem aber bedeutet Herakles’ Angabe dem Rezipienten, dass Katabasis und Anodos in diesem Stück eben vor der Folie der Mysterienerfahrung zu verstehen seien. Im Konstrukt der Katabaseis und Anodoi in Euripides’ Herakles ist die Unterweltsfahrt des Titelhelden im Rahmen seiner letzten Arbeit zentral. Der gesamte erste Teil des Stückes ist im Wesentlichen von Herakles’ Abwesenheit geprägt. Seine Katabasis in den Hades ist zweierlei: Voraussetzung für die Handlung des Stückes auf dramaturgischer Ebene, Prüfstein für Herakles’ Heroentum auf inhaltlicher Ebene. Pate für die zentrale Bedeutung stehen ihre zahlreichen Erwähnungen.227 Zunächst zum ersten Punkt: Offensichtlich basiert die Exposition des Dramas auf der Katabasis des Herakles. Seine lange Abwesenheit macht Lykos’ Machtübernahme in Theben erst möglich und im gleichen Zuge die Pläne zur Ermordung von Herakles’ Familie. Denn es handelt sich nicht um eine Abwesenheit beliebiger Qualität. Nicht zu den Amazonen ist er unterwegs und auch nicht zu den Hesperiden oder einem anderen der Abenteuer, die der Chor im ersten Stasimon in seiner langen Aufzählung von Herakles’ Taten nennt;228 nein, der Hades ist der Ort seines Aufenthaltes und verleiht seiner Abwesenheit ihre spezifische Färbung: Denn Herakles’ Status erhält so die Konnotation des Unklaren, Zweifelhaften.229 Was bedeutet es, im Hades zu sein? Ist Herakles tot oder lebendig? Wird er zurückkehren oder nicht? Ein anderer Ort ließe diese Zweifel nicht in diesem Maße zu; eine Rückkehr wäre immer zu befürchten bzw. zu erhoffen. Und so kann Lykos in kühler Rationalität schließen, ein Mensch, der sich so lange Zeit im Totenreich aufhalte, müsse tot sein.230 225 226 227

228 229 230

Zum aitiologischen Potenzial der Traditionen um Herakles in Eleusis s. etwa Robertson 1980, S. 296-99. Mikellidou 2015, S. 341. Vgl. HF 22-5; 37; 45f.; 117f.; 145f.; 262f.; 266f.; 296f.; 352-8; 426-35; 4905; 516-8; 524; 607-21; 717-9; 735f.; 769f.; 807f.; 1101-4; 1169f.; 1221f.; 1235; 1247; 1276-8; 1386f.; 1415f. Vgl. HF 348-429. Vgl. Mikellidou 2015, S. 332: „[A]s long as he is in the Underworld, the Euripidean Heracles experiences spatial as well as ontological liminality.“ Lykos spricht von Herakles wie von einem Toten: Vgl. HF 145f.: ἦ τὸν παρ’ Ἅιδηι πατέρα τῶνδε κείµενον | πιστεύεθ’ ἥξειν; / „Glaubt ihr etwa, dass der

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Auf dieser Gewissheit bauen seine Pläne auf. Der gleichen Überzeugung ist Megara,231 und so kann sie auch Amphitryon davon überzeugen, sich dem Schicksal zu fügen; so wird die Situation zugespitzt, die Dramatik des Augenblicks erzeugt. Den Gegenpol zu Lykos und Megara bildet zunächst Amphitryon, der die Hoffnung nicht aufgeben will.232 Nicht ganz eindeutig ist die Position des Chores; er erweckt aber zumeist den Anschein, als sei Herakles in seinen Augen bereits tot.233

231

232 233

Vater von diesen hier kommen wird, der im Hades liegt?“ Dazu Bond 1981, S. 103 ad loc.: „But κείµενον is certainly emphatic: it turns Heracles’ visit to Hades into certain death.“ Vgl. ebenso HF 718: ὁ δ’ οὐ πάρεστιν οὐδὲ µὴ µόληι ποτέ / „Er ist nicht da und wird auch niemals kommen.“ Megaras Haltung wird deutlich in ihrer ersten Rede in den Versen 69-85, insbesondere mit E. HF 92 δοκεῖν δὲ τἀδόκητ’ οὐ χρή, γέρον. / „Das Unglaubliche soll man nicht glauben, alter Mann.“ S. ebenso HF 296f. (ἥξειν νοµίζεις παῖδα σὸν γαίας ὕπο; | καὶ τίς θανόντων ἦλθεν ἐξ Ἅιδου πάλιν; / „Glaubst Du, dass dein Sohn kommen wird von unter der Erde? | Welcher Tote ist denn aus dem Hades zurückgekehrt?“) und HF 462 (ὁ κατθανὼν πατήρ / „der tote Vater“). Herakles gegenüber nennt Megara später auch einen äußeren Grund für diese Ansicht: Eurystheus’ Boten hätten Herakles’ Tod gemeldet (vgl. HF 551-3). – Mikellidou 2015, S. 333f. lenkt die Aufmerksamkeit zudem auf die Verse 490-6, in denen Megara eine Art Totenbeschwörung durchführt: Sie ruft zur Unterstützung den Schatten, die Seele des Herakles aus dem Hades herbei. Am explizitesten ist dies in HF 97: ἔλθοι τ’ ἔτ’ ἂν παῖς οὑµός, εὐνήτωρ δὲ σός. / „Mein Sohn, dein Gatte, kann noch kommen.“ So wird es suggeriert in HF 117 in der Anrede and Megara: ἁ τόν Ἀίδα δόµοις | πόσιν ἀναστενάζεις / „die du den Gatten im Haus des Hades beseufzt“. Ganz explizit äußert sich der Chor in diesem Sinne in HF 266f. (φίλους ἐµοὺς | θανόντας / „meine toten Freunde“; dazu Bonds kurzer Kommentar 1981, S. 123: „Heracles“). Das erste Stasimon, eine preisende Aufreihung der Arbeiten, setzt der Chor in der ersten Strophe einem Threnos gleich (vgl. HF 348-56 mit Bond 1981, S. 146 ad loc.) und schließt diese Gleichsetzung mit folgender Bemerkung: γενναίων δ’ ἀρεταὶ πόνων | τοῖς θανοῦσιν ἄγαλµα. / „Der Ruhm edler Taten | ist eine Zierde für die Verstorbenen“ (HF 357f.). In der dritten Gegenstrophe wird Herakles’ Leben für beendet erklärt (vgl. HF 426-9), im Anschluss an das Lied wird er erwähnt wie ein Verblichener (vgl. HF 444f.). Und dennoch spricht der Chor in den Versen 262f. drohend zu Lykos: οὐ τοσόνδε γῆς | ἔνερθ’ ἐκεῖνος κρύπτεται λιπὼν τέκνα / „So weit unter der Erde verbirgt er sich nicht, seine Kinder im Stich lassend.“ Schon einige Verse später geht der Chor wieder vom Gegenteil aus

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Während Herakles tatsächlich im Hades weilt, erlebt seine Familie in Theben ebenfalls eine Katabasis, wenn auch eine bildliche:234 Die Einkleidung der Kinder mit Leichengewändern schafft zunächst auf der visuellen Ebene den Eindruck, sie seien schon gestorben.235 Megara unterstützt diesen Eindruck mit ihren Worten in den Versen 454f.: ὦ τέκν’, ἀγόµεθα ζεῦγος οὐ καλὸν νεκρῶν, ὁµοῦ γέροντες καὶ νέοι καὶ µητέρες. Kinder, wir werden fortgeführt, kein schönes Gespann von Toten, | Alte und Junge und Mütter zugleich.

So stellt die Situation der Familie ein Spiegelbild von Herakles’ Situation dar. Auch sie durchläuft eine Art von Katabasis, Megara sagt es unverhohlen: Sie alle, Mutter, Kinder, Greis, sind Tote, νεκροί. Die Parallelität der Situationen ist sogar noch frappanter: Zwar sind sie νεκροί, aber doch sind sie gleichzeitig noch lebendig. Ebenso ist Herakles als jemand, der im Hades weilt, tot; aber auch er ist gleichzeitig ein Lebendiger – mag dies auch jenseits von Megaras Hoffnungen liegen. Wie die Katabasis des Herakles und die Katabasis der Familie auf diesen beiden Ebenen, einer realen und einer bildlichen, verlaufen, so verläuft analog die jeweilige Anodos: Herakles kehrt aus dem Hades zurück, Megara, Amphitryon und die Kinder werden der Attribute des Todes entledigt.236 Dabei tritt die echte Anodos des Herakles mit der evozierten Anodos seiner Familie in einem Wortspiel in den Versen 524 und 531 in Beziehung. Es ist der Moment von Herakles’ Rückkehr: Amphitryon, Megara und die Kinder sind aus dem Palast getreten, gehüllt in Leichengewänder, um ihrem scheinbar unentrinnbaren Schicksal entgegenzugehen.237 Just

234

235 236 237

(vgl. oben, HF 266f.). Vgl. zu diesem Absatz auch Mikellidou 2015, S. 333. Vgl. Mikellidou 2015, S. 338-40. Mikellidou interpretiert ebd., S. 338f. schon den Schutzflehenden-Status am Altar, „with no food, drink, clothing, or friends“ (ebd., S. 338) zudem in der räumlichen Isolierung, als Aufenthalt in einer „virtual Underworld“ (ebd.). Die Leichengewänder werden mehrfach thematisiert: Vgl. HF 329; 442f.; 525f.; 548f.; 562; 703. S. auch Mikellidou 2015, S. 339. Vgl. Mikellidou 2015, S. 340-42. Vgl. HF 442-7.

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da erscheint Herakles in der Ferne. Er nähert sich, noch ahnungslos von der Situation seiner Familie, und grüßt Hof und Herd: ὦ χαῖρε µέλαθρον πρόπυλά θ’ ἑστίας ἐµῆς, ὡς ἄσµενός σ’ εἰσεῖδον ἐς φάος µολών. Sei gegrüßt Dach und Tor meines Herdes, | wie froh erblickte ich dich, ans Licht gekommen. E. HF 523f.

Obwohl der Held immerhin schon die Reise von Hermion238 bis nach Theben hinter sich gebracht hat, das Verlassen der Unterwelt also bereits eine Weile zurückliegt, kehrt er nach Hause zurück als Wiederkehrer aus dem Hades; dies ist seine bestimmende Eigenschaft. Beim Näherkommen bemerkt er das Ungewöhnliche der vor ihm liegenden Szene, er sieht seine Kinder mit Leichenschmuck bekränzt, seine Frau umgeben von Männern, seinen Vater in Tränen aufgelöst.239 Auf seine Frage, was geschehen sei, überstürzen sich Megara und Amphitryon in freudiger Erleichterung:240 Με.

ὦ φίλτατ’ ἀνδρῶν

ὦ φάος µολὼν πατρί

Me.:

Du liebster Mann!

Du dem Vater als Licht Gekommener! E. HF 531

Mit dem Verweis auf das Licht und insbesondere der impliziten Verknüpfung von Licht und Rettung, σωτηρία, wird der Horizont der Eleusinischen Mysterien evoziert: Wenn Herakles sich freut, ans Licht gekommen zu sein, so entspricht dies zunächst ganz faktisch dem Umstand, dass im Hades Dunkelheit herrscht, die einen Gegensatz zum Tageslicht der Welt bildet. Da er aber als Myste hinabgestiegen ist, kommt er auch als Myste wieder herauf und das Licht gewinnt gleichzeitig seinen mit Assoziatio238 239

240

Vgl. HF 615. Vgl. HF 525-8. Zur Außerordentlichkeit einer verheirateten Frau außerhalb des Hauses, zumal umringt von fremden Männern, s. Bond 1981, S. 200 zu HF 527. S. ebd., S. 201 zu HF 531f., auch ebd. zu 534f., dem die Edition von Diggle zugrunde liegt, zur Aufteilung dieses und des nächsten Verses unter Megara und Amphitryon (nach dem Vorschlag von Frey).

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nen an Mysterien-Terminologie behafteten Charakter. Der besondere Reiz an dem Spiel nun liegt darin, dass der mystische Lichtbegriff wiederum seine metaphorische Kraft gerade aus dem Gegensatz zwischen Unterweltsdunkelheit und Welthelligkeit gewinnt. In Anlehnung an die Katabaseis wirft Amphitryons Aufgreifen von Herakles’ Worten ein besonderes Licht auch auf die Anodos der Familie: Beide Anodoi erscheinen als Anodoi von Mysten. Wie der Aufstieg des Eingeweihten Herakles ein Aufstieg ans Licht ist, so auch der bildliche Aufstieg seiner Familie. In diesen Versen gewinnt so Herakles’ besondere Rolle Gestalt: In Amphitryons φάος µολών (HF 531) wird Herakles’ ἐς φάος µολών (HF 524) aufgenommen. Er ist ein Myste, hat die Mysterien geschaut; er weiß den Weg zum Licht. Und als solcher kann er auch, wie der erfahrene Epopte den Initianden, seine Familie zurück zum Licht führen.241 Er kommt ans Licht und als Licht – wie die bildliche Katabasis, so ist nun auch die bildliche Anodos seiner Familie im Wesentlichen von ihm abhängig. Der Bezug zu den Mysterien und Herakles’ Rolle als Epoptes werden noch deutlicher in den Versen 562-4. Herakles hat von Megara alle Informationen zum Entstehen ihrer Lage erhalten. Seinen Rachegedanken geht eine Aufforderung an die Kinder242 voraus: οὐ ῥίψεθ’ Ἅιδου τάσδε περιβολὰς κόµης καὶ φῶς ἀναβλέψεσθε, τοῦ κάτω σκότου φίλας ἀµοιβὰς ὄµµασιν δεδορκότες; Wollt ihr nicht diese Haartücher des Hades fortwerfen | und aufschauen zum Licht, liebe Entlohnung | für das Dunkel von unten erblickend? E. HF 562-4

Diese Verse beinhalten ein Muster, das das Spiel der Verse 524 und 531 wieder aufgreift. Denn einerseits kann der Gegensatz von φῶς (HF 563) und σκότος (HF 564) der buchstäbliche Gegensatz von Tageslicht und 241

242

Für Eleusis sind zwei Stufen der Einweihung bezeugt: Ein neuer Initiand wird mystes genannt, ein bereits in den Vorjahren Eingeweihter epoptes. Letzterer ist zur vollen Mysterienschau zugelassen. Für eine Rekonstruktion der Abläufe s. Burkert 1972, S. 283-323; Clinton 2003; Bowden 2010, S. 26-48; Bremmer 2014, S. 1-20. Bond 1981 vermutet für die ganze Familie Leichengewänder, den Kopfschmuck nur für die Kinder (vgl. ebd., S. 204 zu HF 549, mit Anm.1).

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Unterweltsdunkelheit sein.243 Durch das Adverb κάτω und das Präfix ἀναwird zudem eine Bewegung von unten nach oben suggeriert. Herakles fordert seine Kinder auf, wieder ans Licht zu kommen, ebenso wie er in Vers 524 wieder ans Licht gekommen ist. Die Aufwärtsbewegung bleibt freilich im Bildlichen verhaftet, ebenso wie die Katabasis eine bildliche war. Die Dunkelheit, die das Tageslicht von den Augen der Kinder fernhält, rührt von dem Leichenschmuck her, den sie um den Kopf geschlungen tragen. Und es ist bezeichnend, dass Herakles sie, ganz im Sinne ihrer Symbolhaftigkeit und ihres Assoziationspotentials, „Ἅιδου […] περιβολὰς κόµης“ und nicht etwa „νεκρῶν περιβολάς“ nennt.244 Es sind nicht nur Kopftücher für den Hades oder dem Hades zugehörige,245 sondern Hadeskopftücher, die einen Hades ‚erzeugen‘. Andererseits wiederum ist φῶς (HF 563) im Sinne von σωτηρία ein Hinweis auf Vers 531 und die Worte Amphitryons.246 Herakles fordert seine Familie auf, dem Licht der Rettung entgegenzusehen – dies funktioniert auf einer abstrakten Ebene ebenso wie auf einer ganz konkreten: Das Licht der Rettung ist er selbst. Und im gleichen Sinne, wie φῶς an dieser Stelle gemäß V. 524 (mit der Familie als Aufsteigerin, analog zu Herakles) und V. 531 verstanden werden kann, so auch der Ausdruck φίλας ἀµοιβάς, wobei wiederum eine Verschränkung mehr geschaffen wird: Das willkommene Gegenpfand ist das Tageslicht im Tausch gegen die Dunkelheit des Hades, beides auf einer rein bildlichen Ebene; es ist das Licht der Rettung im Tausch gegen die Dunkelheit der drohenden Todeserfahrung, wobei Herakles ganz konkret als Verkörperung dieses Lichtes gelten kann. Zugleich ist Herakles, das Licht der Rettung, aber auch etwas – hierin liegt die neue Verschränkung –, das die wirkliche Dunkelheit des Hades (also der Hades selbst) wieder hergegeben hat. Hier entsteht eine Verbindung zwischen der echten Katabasis des Herakles und der 243 244

245 246

Zur Symbolik von Licht und Dunkel im Herakles s. auch Assaël 1994. Immerhin wäre auch νεκρῶν metrisch möglich. Von den anderen Stellen, an denen die Leichengewänder erwähnt werden, haben νεκρῶν die Verse 329, 526 u. 703; HF 442 hat φθιµένων, HF 548 νερτέροις πρέπων. HF 549 (θανάτου [...] περιβόλαι’) nimmt eine mittlere Position zwischen diesen Formulierungen und Ἅιδου[...] περιβολάς (HF 562, s. o.) ein. Vgl. Bond 1981, S. 207 ad loc.: „‘hellish’“. Für φάος als σωτηρία vgl. ebd., S. 201 zu HF 531 und S. 207 zu HF 563. Zur ganz unabhängigen, dem Wort auch selbst innewohnenden Metaphorik s. LSJ s. v. φάος II.1.

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virtuellen der Familie über ein bloßes Analogieverhältnis hinaus, in einer Metaphorik, die sich produktiv verselbstständigt: Denn die Dunkelheit des bildlichen Hades, den die Familie kennenlernt, legt sich über die Dunkelheit des echten Hades, den Herakles gesehen hat. Und so kann die Familie das Licht Herakles als ἀµοιβή aus dem wirklichen Hades erhalten, obwohl sie selbst eigentlich ‚nur‘ die bildliche Dunkelheit gesehen hat. Der scheinbare Widerspruch erweist sich als subtile Verschränkung unterschiedlicher Wirklichkeiten.247 Das Paar von φῶς und σωτηρία ist dabei naturgemäß ein potenzieller Träger von Mysterienassoziationen, die verstärkt werden durch die allgemeine Lesart, die Herakles’ vermeldete Initiation für die entsprechenden Stellen nahelegt. Somit wird auch an dieser Stelle die Anodos der Familie mit der des Herakles verknüpft. Die spezifische Rolle des Herakles darin tritt nun in den vorgestellten Versen zutage: Er ist es, der seinen Kindern die verhüllten Häupter enthüllt, zumindest als Veranlasser dafür gelten darf. Diese Handlung, das Enthüllen der Häupter, kann dem rituellen Kontext der Eleusinischen Mysterien zugeordnet werden.248 Der Initiand wird dabei von einem schon Eingeweihten, einem Epoptes, begleitet.249 Es ist bezeichnend, wie sehr in diesen Versen das Sehen, das ἰδεῖν, betont wird.250 Auch waren die

247

248 249

250

Dieser scheinbare Widerspruch ist es wohl auch, der Wilamowitz und mit ihm Bond dazu bewegt, φῶς und damit auch φίλας ἀµοιβάς als inneren Akkusativ zu lesen: „φῶς ἀναβλέπειν kann nicht bedeuten zum Licht aufschauen, sondern in die Augen, deren Blick sich aufrichtet, ist das Licht, ist also auch der Todesschatten gewesen, dessen φίλας ἀµοιβάς sie jetzt im Blicke tragen. [...] Der uns zunächst befremdliche Sinn erhält eine hohe Schönheit“ (Wilamowitz 1959, III, S. 130 zu HF 563). Bond folgt ihm darin und fügt hinzu: „The force of ἀνα- does not entail the meaning ‘look up at’“ (Bond 1981, S. 207 zu HF 563). Dieses Verständnis verkennt jedoch das Potential, das die Verknüpfung mit dem Spiel in den Versen 524 und 531 birgt, ebenso wie die assoziative Ebene der Mysterien (vgl. zu Letzterem Seaford 1994, S. 378f. mit Anm. 47). S. Petridou 2013, S. 320f.; Clinton 2003, S. 50 u. 66f.; Burkert 1972, S. 29497. Ab dem ersten Jh. v. Chr. ist auch der Begriff des Mystagogos für die Eleusinischen Mysterien bezeugt, vgl. Bowden 2010, S. 32; für weitere Literatur s. Bremmer 2014, S. 3 mit Anm. 16-18. Zur Bedeutung des Sehens im Rahmen der Eleusinischen Mysterien s. Petridou 2013.

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Kleider der Mysten möglicherweise Leichengewänder.251 Damit ist auch hier ein Bezug zum Mysterienritus sichtbar. Die Rolle des Herakles bei der bildlichen, rituellen mysterienhaften Anodos seiner Familie ist demnach die des begleitenden Epoptes.252 Überaus passend ist diese Rolle für den bereits eingeweihten Helden. Wozu aber hat die Initiation Herakles gemacht? Deutlich mit der Frage nach Herakles’ Status vor seiner Rückkehr – ist er tot oder lebendig? – verbunden ist auch die Bewertung seiner Heldenhaftigkeit. Die erfolgreiche, d. h. mit anschließender Anodos versehene Katabasis in den Hades erweist sich schließlich als Beweis für Herakles’ Außerordentlichkeit.253 So gibt es zu der formalen neuen Qualität, die Herakles durch das Ritual gewinnt – er ist nun ein eingeweihter Myste, zugelassen zur Εpopteia – noch ein Pendant auf der inhaltlichen bzw. charakterlichen Ebene: Herakles kehrt zurück als erwiesener Held, und als solcher ist er in der Lage, strahlend seine Familie zu retten. Im zweiten Teil des Stückes wiederholt sich die Struktur des ersten Teiles, sie wird jedoch umgekehrt: Es ist nun Herakles’ Familie, die – durch ihre Tötung – eine echte Katabasis in den Hades erlebt, und Herakles selbst, der eine bildliche Katabasis durchläuft.254 Wiederum entsteht ein Kreis von Mysterienassoziationen, der jedoch weitaus diffuser zu fassen ist als etwa die konkrete Erwähnung der Eleusinischen Mysterien im ersten Teil. Im Zentrum dieses Kreises steht die Begegnung von Herakles und Theseus. Ähnlich wie Herakles für die bildliche Anodos seiner Familie, so übernimmt hier Theseus die Rolle des leitenden Epoptes für Herakles. Die Katabasis der Familie im zweiten Teil wird, wie Mikellidou zeigt, vorbereitet durch die Schaffung einer Hades-geladenen Atmosphäre, die Herakles umgibt. Sie werde erzeugt vor allem durch das Porträtieren der Lyssa als Verkörperung infernalischer Mächte und nicht zuletzt durch die Tötung der Familie.255

251 252 253 254 255

Vgl. Seaford 1994, S. 378f.; Mikellidou 2015, S. 339 mit Anm. 25. Vgl. Mikellidou 2015, S. 341, die auch auf die kultische Funktion des Herakles in initiatorischen Ritualen verweist. Eingehend behandelt wird dieser Aspekt ebd., S. 332-7. S. auch ebd., S. 346-8. Vgl. ebd., S. 342-6.

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In Iris’ Aufforderung an Lyssa, den Helden in Raserei zu versetzen, erkennt Seaford einen möglichen Bezug zum Mysterienritual. Die relevanten Verse lauten: φόνιον ἐξίει κάλων, ὡς ἂν πορεύσας δι’ Ἀχερούσιον πόρον τὸν καλλίπαιδα στέφανον αὐθέντηι φόνωι γνῶι µὲν τὸν Ἥρας οἷος ἐστ’ αὐτῶι χόλος

840

Setz die Mord-Segel, | damit er, verfrachtend über den Acheron-Weg | den Kranz von schönen Kindern durch eigenhändigen Mord, | wisse, was für ein Zorn der Zorn der Hera gegen ihn ist E. HF 837-40

Der στέφανος, so Seaford, erzeuge möglicherweise die Assoziation zu den Kränzen, die die Mysten nach überstandener und vollbrachter Initiation trügen,256 καλλίπαις trete bei Euripides ein einziges weiteres Mal auf,257 und zwar im Zusammenhang mit Persephone: [...] so the phrase καλλίπαιδα στέφανον evokes the role played in that transition by the return of Kore from underworld. Its main reference though is of course Herakles’ children, a reference that follows naturally on the earlier applicatoin of mystic terminology to their salvation. But here the mystic transition is put into reverse: they are now to go down to the underworld, from which Herakles, assisted by his own mystic initiation (613), has just returned.258

Herakles’ analoge bildliche Katabasis wird auch auf der Bühne visualisiert: Nach dem Botenbericht, angezeigt durch einen Hinweis des Chores, wird das Ekkyklema auf die Bühne gerollt. Darauf zu sehen ist Herakles, umringt von seinen toten Kindern.259 Nach seinem Erwachen bemüht er 256 257 258 259

Vgl. Seaford 1994, S. 380; zum Bekränzen nach den teletai s. Bremmer 2014, S. 16 mit Anm. 110. Es handelt sich um die Stelle E. Or. 96; vgl. Seaford 1994, S. 380. Seaford 1994, S. 380f. Der Chor richtet zunächst die Aufmerksamkeit auf das Ekkyklema (HF 102830) und beschreibt dann, was darauf zu sehen ist, nämlich die toten Kinder und der gefesselte, schlafende Vater (HF 1031-8). Mikellidou 2015, S. 346 spricht von der Erzeugung eines „virtual Hades“ auf der Bühne. Sie weist ebd.

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sich, seine Situation zu erfassen. Er vergewissert sich zunächst, dass er am Leben ist. Als Kriterien hierfür dienen sein Atem (HF 1089: ἔµπνους µέν εἰµι) und dass er sieht, „was er sehen sollte“ (HF 1089: δέδορχ’ ἅπερ µε δεῖ), nämlich die Zeichen der Oberwelt: Himmel, Erde, Sonne (HF 1090). Nach einer vagen Rekapitulation des seltsamen Seelenzustandes, in dem er sich kurz zuvor befunden hatte,260 wird die erste Feststellung des Lebendigseins wieder in Zweifel gezogen. Herakles bemerkt seine Fesseln, die Leichen, die verstreuten Pfeile (HF 1094-100) und fragt sich: οὔ που κατῆλθον αὖθις εἰς Ἅιδου πάλιν, Εὐρυσθέως δίαυλον ἐξ Ἅιδου µολών; ἀλλ’ οὔτε Σισύφειον εἰσορῶ πέτρον Πλούτωνά τ’ οὐδὲ σκῆπτρα Δήµητρος κόρης. Ich bin doch nicht etwa wieder zurück in den Hades hinabgelangt, | wo ich gerade den Doppellauf für Eurystheus aus dem Hades gelaufen bin? | Aber ich erblicke weder den Sisyphosfels | noch Pluto und auch nicht die Zepter von Demeters Tochter. E. HF 1101-4

Die Leichen und die Unordnung rufen in Herakles – und spätestens durch seine Worte auch beim Zuschauer – Assoziationen zum Hades hervor.261 Bemerkenswert ist auch hier, auf welche Weise das Bild gestaltet wird: Denn befände sich Herakles tatsächlich im Hades, bekäme er ja keinesfalls leblose tote Körper zu Gesicht, sondern vielmehr schattenhafte Gestalten wie etwa in der homerischen Nekyia.262 Herakles’ große Nähe zum Tod im zweiten Teil des Stückes äußert sich zusätzlich durch seinen

260

261 262

auch darauf hin, dass Herakles vom Chor und Amphitryon wie ein Toter zusammen mit seinen Kindern beklagt werde (vgl. HF 1045f. u. 1064-6). Vgl. HF 1091-3: ὡς ἐν κλύδωνι καὶ φρενῶν ταράγµατι | πέπτωκα δεινῶι καὶ πνοὰς θερµὰς πνέω | µετάρσι’, οὐ βέβαια πλευµόνων ἄπο. / „Wie bin ich in einen gewaltigen Sturm und Aufruhr des Geistes geraten und atme noch heiße Atemzüge keuchend, unstet aus meinen Lungen!“ Der Zustand der Verwirrung hält noch weiter an: Erst durch Amphitryons Deuten erkennt der Unglückliche die toten Körper als die seiner Kinder (vgl. HF 1131f.). Vgl. Mikellidou 2015, S. 346f. S. Hom. Od. 11.

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mehrfach explizit verlauteten Wunsch nach Selbstmord,263 den erst Theseus durch seinen Eingriff zu entkräften vermag.264 Am greifbarsten wird Herakles’ virtuelle Katabasis jedoch in der Szene bei der Ankunft des Theseus: Als er ihn nahen sieht, verhüllt er sein Haupt aus Scham und aus Furcht, ihn mit seiner Unreinheit zu beflecken (HF 1154-62). In der Beschreibung dieser Geste spielt das Paar von Licht und Dunkelheit eine Rolle. So sagt Herakles: οἴµοι, τί δράσω; ποῖ κακὼν ἐρηµίαν εὕρω, πτερωτὸς ἢ κατὰ χθονὸς µολών; φέρ’, ἀµφὶ κρατὶ περιβάλω σκότον < >. Weh mir, was soll ich tun? Wo kann ich Abgeschiedenheit von meinem Unglück | finden, mit Flügeln fortgehend oder unter die Erde? | Auf, ich will Dunkelheit < > um mein Haupt hüllen. E. HF 1157-9

Da der Wunsch nach Flügeln ein irrealer bleiben muss, erscheint das Verhüllen des Hauptes der schnellste Weg, um dem Unter-die-Erde-Gehen möglichst nahe zu kommen, zumal Herakles sein Haupt mit „Dunkelheit“, σκότος (HF 1159), zu umgeben gedenkt.265 Die beiden Bilder rücken 263 264

265

Vgl. HF 1146-53; 1154; 1241; 1247; 1257; 1301f. S. auch Mikellidou 2015, S. 347. Theseus’ Worte zielen auf Herakles’ frühere Errungenschaften als außerordentlicher Held, er bringt auch den Vorwurf der Feigheit vor (vgl. HF 1227f., 1248-52, 1412-4). Herakles’Entschluss, Theseus zu folgen, beruht zum Teil auf dem Wunsch, nicht als Feigling gelten zu wollen (vgl. HF 1347-51). Die Metrik fordert in diesem Vers ein weiteres Wort. Der Ausfall von (Pflugk) erscheint im Vergleich mit ähnlichen Stellen wahrscheinlich; vgl. Bond 1981, S. 360 ad loc., der mit Diggle die Reihenfolge σκότον vorzieht: „πέπλων is most likely to have dropped out after περιβάλω.“ Wilamowitz 1959, III, S. 240 ad loc. hegt Zweifel an der Ergänzung die er „früher für sicher hielt“ (ebd.), da „die Nennung des Mantels nicht nötig ist; der Gestus begleitete ja den Vers, so daß ‚Dunkel um das Haupt verbreiten‘ völlig ausreichend war“ (ebd.). Theseus greift das Bild in Zusammenhang mit Herakles’ eskapistischem Wunsch später auf: οὐδεὶς σκότος γὰρ ὧδ’ ἒχει µέλαν νέφος | ὅστις κακῶν σῶν συµφορὰν κρύψειεν ἄν. / „Keine Finsternis hat eine so schwarze Wolke, dass sie das Verhängnis deines Unglücks verbergen könnte“ (HF 1216f.)

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durch ihre direkte Aufeinanderfolge näher zueinander; es entsteht, wie schon vorher, die Assoziation Dunkelheit – Tod/Hades.266 Den Gegensatz zur Dunkelheit bildet das Sonnenlicht: Auf Theseus’ Aufforderung „Enthülle ihn!“ (HF 1202: ἐκκάλυπτέ νιν) bittet Amphitryon: ὦ τέκνον, πάρες ἀπ’ ὀµµάτων πέπλον, ἀπόδικε, ῥέθος ἀελίωι δεῖξον. Mein Kind, nimm das Gewand von den Augen, | wirf es ab, zeig dein Antlitz der Sonne. E. HF 1203f.

Herakles’ Situation ähnelt dabei auffällig der seiner Kinder im ersten Teil des Stückes: Sein um den Kopf geschlungenes, die Dunkelheit des Hades symbolisierendes Gewand entspricht ihren Leichentüchern, die ebenfalls als Kopfschmuck angegeben sind und ebenso die Dunkelheit des Hades spiegeln. Die Worte Amphitryons erinnern stark an Herakles’ eigene Worte in den Versen 562-4 mit der Aufforderung zur Entschleierung und dem Herausstellen des Gegensatzes zwischen Licht und Dunkelheit.267 Es zeigt sich also, dass auch hier die bildliche Katabasis – mit Anodos – als Ritual um den Mysten gestaltet ist.268 Es ist Theseus, der schließlich Herakles’ Haupt enthüllt, zumindest als Urheber der Enthüllung gedacht wird. In den Versen 1226f. wiederholt er Amphitryons Aufforderung.269 So fragt ihn auch Herakles nach erfolgter Enthüllung: τί δῆτά µου κρᾶτ’ ἀνεκάλυψας ἡλίωι; Warum hast du mir dann das Haupt der Sonne enthüllt? E. HF 1231

Auch hier spielt also das Sonnenlicht eine Rolle. Dieses Paar aus Schatten bzw. Dunkelheit und Sonnen- bzw. Tageslicht ist eng mit dem Gegensatzpaar von Welt und Unterwelt, Leben und Tod verbunden; wie bereits ge266 267 268 269

S. auch Mikellidou 2015, S. 347; 349. S. auch ebd., S. 349. Vgl. Papadopoulou 2005, S. 53; Mikellidou 2015, S. 347. Die Verse lauten: ἀνίστασ’, ἐκκάλυψον ἄθλιον κάρα, | βλέψον πρὸς ἡµᾶς. / „Steh auf, enthülle dein elendes Haupt, | sieh uns an.“

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sehen, rankt es sich im Herakles selbst um diese Thematik.270 In Kombination mit dem Ver- und Enthüllen des Hauptes evoziert es den bereits erwähnten ritualähnlichen Kontext der Mysterien. Burkert beschreibt die psychologische Wirkung folgendermaßen: Unmittelbar verständlich ist auch die psychische Wirkung – nicht umsonst kommt das Verbinden oder Verhüllen der Augen bei Initiationen immer wieder vor –: blind, hilflos, preisgegeben muß der Initiand das Unbekannte über sich ergehen lassen, der Unterlegene, Nicht-Wissende umgeben von den Aktiven ‘Wissenden’; auf sich selbst zurückgeworfen, verunsichert, geängstigt, muß er die folgende Enthüllung, das neue Sehen als beseligende Befreiung erleben; im neuen Kontakt zur Wirklichkeit ist er bereit, Göttliches zu schauen.271

Theseus als Enthüller des Herakles übernimmt in dem folgenden Gespräch die Leitung; er weigert sich, eine Befleckung des Herakles anzuerkennen und erscheint in seinen Worten als der Aufgeklärtere.272 Er übernimmt die Rolle des aktiv Wissenden, des Epoptes, parallel zur Rolle des Herakles bei der Rettung seiner Familie. Dazu fügen sich auf der anderen Seite Herakles’ allgemein desolater Zustand, wie auch etwa die Unsicherheit unmittelbar nach seinem Erwachen darüber, ob er tot oder lebendig sei.273 Sie erzeugt einen ähnlichen Schwebezustand wie er zu Beginn des Stückes vor Herakles’ Ankunft herrschte, wo ebenfalls kontinuierlich sein Status in Frage gestellt wurde – wenn auch von der Außenwelt. Hinzu tritt die besondere Pointe, dass Theseus einen durchaus geeigneten Epoptes darstellt, denn er ist selbst von dem Eingeweihten Herakles aus der Unterwelt ans Licht geführt worden: οὐδὲν µέλει µοι σύν γε σοὶ πράσσειν κακῶς· καὶ γάρ ποτ’ εὐτύχησ· ἐκεῖσ’ ἀνοιστέον ὅτ’ ἐξέσωσάς µ’ ἐς φάος νεκρῶν πάρα. 270

271 272 273

φῶς für die Welt im Gegensatz zum Hades steht in HF 25; 524; 563; 611; 1222; 1277; ἥλιος in HF 661. Dagegen steht die Dunkelheit des Hades in HF 45f. χθονὸς | µέλαιναν ὄρφνην; 353 ἐς ὄρφναν µολόντα; 563 τοῦ κάτω σκότου; 607f. ἐξ ἀνηλίων µυχῶν | Ἅιδου Κόρης. Burkert 1972, S. 295f. Zu Theseus als „a more enlightened figure than Heracles“ s. Papadopoulou 2005, S. 163-5.; Kowalzig 2007, S. 241. Vgl. die schon untersuchten Verse 1101-4.

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Es macht mir nichts aus, mit dir schlechte Zeiten zu verbringen, | denn ich habe ja auch einmal glückliche erlebt; darauf muss man zurückverweisen, | als du mich von den Toten errettet hast ans Licht. E. HF 1220-2

Theseus als Enthüller führt Herakles zurück ans Licht, aus einem Zustand, der dem Tod ähnlich war. Er schenkt ihm ein neues Leben zunächst nach seinem virtuellen Tod auf der Bühne ebenso wie nach seinem tatsächlichen Tod, in einer neuen, verwandelten Form: als zukünftiger Kultheld der Athener.274 Mikellidou betont, unter welch unterschiedlichen Umständen diese zweite Anodos des Herakles ablaufe: „This symbolic rebirth […] is not achieved by Heracles’ extraordinary physical power, but rather by the mediation of the reciprocal bonds of philia that he establishes with Theseus.“275 Die Erwähnung der eleusinischen Mysterien im ersten Teil des Stükkes bereitet so das spätere freundschaftliche Eingreifen des Theseus vor. Seine Verbundenheit entspringt dabei natürlich der Tatsache, dass Herakles ihn im Zuge seiner Reise aus dem Hades befreit hat.276 Aber durch die Erwähnung der Mysterien wird ein besonderer Aspekt der Hilfe des Theseus vorbereitet, vielleicht auch hervorgehoben: Dass Theseus nicht als beliebiger alter Freund des Herakles in der Stunde der Not auftaucht, ist offensichtlich. Er steht vielmehr, wie bereits hervorgehoben,277 für die ganze Polis Athen in all ihrer positiven Pracht und Macht. Herakles wird von Athen – und nur von Athen – gerettet.278 Die zu Euripides’ Zeiten

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277 278

S. Mikellidou 2015, S. 348-51. Ebd., S. 349. Auch diese Episode ist Teil des Berichtes, der in Herakles’ Dialog mit Amphitryon enthalten ist (vgl. HF 619-21). Herakles erwähnt auch, dass Theseus nun in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist und zwar in ausdrücklich (und natürlicherweise) positiver Stimmung: βέβηκ’ Ἀθήνας νέρθεν ἂσµενος φυγών (HF 621). „Er ist nach Athen gegangen, froh, von unten entkommen zu sein.“ Theseus selbst bezieht sich zweimal auf diesen Freundschaftsdienst zurück, und nennt ihn als Grund für seine Unterstützung (vgl. HF 1169-71 und 122022). Auch in den Versen 1234-6 wird das Band, das die Rettung des Theseus durch Herakles zwischen den beiden Heroen geschmiedet hat, deutlich. S. oben Abschnitt B.II.2.1. Im Lichte des aitiologischen Ausgangs, der aus den Katabasis-Anabasis-Bewegungen einen Kulthelden für Athen hervorgehen lässt, kann auch Theseus’

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bereits enge Verbindung der Eleusinischen Mysterien zur Stadt Athen steht in diesem Sinne für eine erste Hervorhebung der positiven und hilfreichen Beziehung, die zwischen ihr und Herakles besteht.279 Das positivAthenische der Mysterien stärkt das positiv-Athenische an Theseus. Auf der anderen Seite zeigt die Einweihung in die Mysterien andeutungsweise einen Herakles, der im Grunde schon zu Athen gehört. Insgesamt ergibt sich folgendes Muster: Zu Beginn ist Herakles, der Held des Mythos, hinabgestiegen in die Unterwelt, um den Kerberos zu holen. Befähigt wurde er dazu von einem konkreten, maßgeblich athenischen Kult – den Eleusinischen Mysterien – der durch den evidenten, wenn auch traditionsreichen Anachronismus der Einweihung auch einen Fokus auf den zeithistorischen Kontext, auf das Athen der Tragödienaufführung wirft. In der Handlung des Stückes durchläuft Herakles einen bildlichen Prozess, der den Mysterienriten entspricht; Ergebnis ist ein konkreter Heros für den athenischen Kult. Eine weitere, bisher nicht angesprochende Facette der Mysterienmetaphorik liegt in Stellen, die den mystischen Aspekt mit dem Bereich des Dionysischen in Verbindung bringen.280 Vor allem relevant sind hier das zweite und dritte Stasimon, die in diesem Abschnitt bislang ausgespart wurden.281 Zudem ist ein Zusammenhang mit Mysterien potenziell auch für Begriffe der bakchischen Ekstase möglich.282 Vor dem hier aufgespannten Hintergrund ist die Assoziation mit Mysteriensprache zumindest

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280 281

282

oben angedeuteter ‚Wissensvorsprung‘ neu betrachet werden. So unterscheidet Kowalzig 2007a, S. 241 zwei Klassen von Wissen: „Theseus’ and Heracles’ argument seems to be nothing less than a discourse between the human level of the myth in the play and the level of the heroic ritual which will be established in the (Athenian) polis.“ Vgl. Papadopoulou 2005, S. 163. Diese positive Beziehung ist wechselseitig: Nach seiner Initiation rettet Herakles Theseus; und er wird nach seiner eigenen Rettung durch Theseus und Aufnahme in Athen der Stadt als Heros von großem Gewinn sein (vgl. Theseus’ Worte in HF 1334f.). S. hierzu Bierl 1991, S. 140-6; Papadopoulou 2005, S. 51. S. dazu jedoch unten Abschnitt B.II.4. Dass der Chor dabei ebenfalls bildliche Bewegungen unter mystischen Vorzeichen vollführt, die parallel zu denen des Herakles und seiner Familie verlaufen, ist dabei mehr als ein bloßes Sympathisieren (vgl. so Mikellidou 2015, S. 342: „[T]he chorus sympathises with the family and participates in its deathlike experience and subsequent rebirth“); es wird sich als in hohem Maße sinnstiftend erweisen. Vgl. für Wörter mit Stamm βακχ- HF 897; 966; 1086; 1119; 1122; (1142).

396

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

in einem Fall auch deutlich: Amphitryon sagt zum gerade erwachten Herakles, der zu erfahren sucht, was geschehen ist: εἰ µηκέθ’ Ἅιδου βάκχος εἶ, φράσαιµεν ἄν. Ich will es dir wohl sagen, wenn du nicht länger ein Bakchant283 des Hades bist. E. HF 1119

Die Verbindung des Bakchischen mit dem Hades, zumal in Verbindung der gerade bildlich erfolgten Katabasis des Herakles und den mystischen Assoziationen im Allgemeinen, legt nahe, auch diesen Ausdruck als Teil des Bildstranges der Mysterien zu lesen.284 Im Folgenden wird sich zeigen, dass in der Verknüpfung aus Dionysos, Mysterien und aitiologischem Ausgang unter dem Patronat der Musen die Tragödie ihre eigene Wirkweise offenlegt und selbstbewusst behauptet. Das aufgespannte metaphorische Netz stiftet dabei Sinn zwischen den einzelnen Größen. 4

Musen

Ein weiteres wiederkehrendes sprachliches und inhaltliches Element in Euripides’ Herakles stellen die Musen dar. Sie erscheinen an Schlüsselstellen und erzeugen, wie sich zeigen wird, einen Deutungsrahmen, der das gesamte Stück umspannt. 4.1

Die rituelle Dimension der Kultheroenerschaffung I: Das zweite Stasimon

Das zweite Stasimon (HF 637-700) ist in der dramatischen Handlung an dem Zeitpunkt verortet, wo Herakles’ Rückkehr aus dem Hades sich vollzogen hat und die Bestrafung des Bedrohers seiner Familie, Lykos, kurz bevorsteht. Ein Bezug zu den Musen wird explizit in der zweiten Strophe (HF 673-86) hergestellt. Doch auch andere wichtige Bildstränge des 283 284

Zur Bezeichnung Βάκχος bzw. βάκχος sowohl für den Gott als auch für seinen kultischen Verehrer s. Santamaría 2013. Vgl. Papadopoulou 2005, S. 51.

4

Musen

397

Stückes – Mysterien, Dionysos, Vögel, Agon – laufen in diesem Chorlied zusammen und treten miteinander in eine ertragreiche Beziehung.285 4.1.1

Bilder im Gesamtverlauf des zweiten Stasimons

4.1.1.1

Mysterien – die zweite Jugend

Das zweite Stasimon enthält zunächst insbesondere Bezüge zu den Mysterien und verwandter Metaphorik und Thematik.286 Die Ankunft des Helden, Inbegriffs jugendlicher Kraft, inspiriert den Chor, Inbegriff greiser Schwäche, zu Reflexionen über Jugend und Alter: ἁ νεότας µοι φίλον· ἄχθος δὲ τὸ γῆρας αἰεὶ βαρύτερον Αἴτνας σκοπέλων ἐπὶ κρατὶ κεῖται, βλεφάρων σκοτεινὸν φάος ἐπικαλύψαν.

640

Die Jugend ist mir lieb; aber | das Alter liegt immer als Last | schwerer als die Felsen des Ätnas | auf meinem Haupt, dunkel | der Lider Licht verdeckend. E. HF 637-41

Das Alter ist den Greisen des Chores eine Last. Es liegt ihnen jedoch nicht etwa auf dem Rücken, dem Nacken, auf den Schultern oder auf der Brust, sondern auf dem Haupt.287 So schwer lastet es darauf, dass es Dunkelheit 285

286 287

Vgl. Krummens Bemerkung (1998, S. 323) zu lyrischen und chorlyrischen Partien der Tragödie im Allgemeinen: „Diese [sc. lyrische und chorlyrische Partien] tendieren generell dazu, zu thematischen Knotenpunkten zu werden, die Katastrophe bildhaft anzudeuten, auszudeuten, aufzudecken und die Zusammenhänge in poetisch dichtester Form herzustellen.“ Diese stellt vor allem Scodel 1980, S. 308-16 heraus; vgl. auch Hardie 2004, S. 30-2. Eine Last ist nicht notwendigerweise auf dem Haupt zu tragen; es handelt sich also durchaus um ein von Euripides gewähltes Bild. Für die Last etwa, die Atlas zu tragen hat, sind in altgriechischer Vorstellung unterschiedliche Stellen denkbar: Kopf und Hände (Hes. Th. 519), Schultern (A. Pr. 348-50), Rükken (E. Ion 1). Das Joch trägt man in der Regel im Nacken, αὐχήν, vgl. die

398

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

auf die Lider senkt. Dieses Bild hat seinen Platz der auf der Bühne erzeugten Bilder von verhüllten Häuptern und der damit zusammenhängenden, durch den Gegensatz von Licht und Dunkel, von Sehen und Nicht-Sehen evozierten Mysterienmetaphorik.288 Diese Andeutung, die von ihrer Assoziation zu dem vorangegangenen System an Mysterienthematik lebt, wird in der ersten Gegenstrophe weitergesponnen: Hatte der Chor in der ersten Strophe noch das Alter verflucht, die Jugend und ihren Wert schwärmerisch gelobt, so schließt sich nun ein utopischer Wunsch an: εἰ δὲ θεοῖς ἦν ξύνεσις καὶ σοφία κατ’ ἄνδρας, δίδυµον ἂν ἥβαν ἔφερον, φανερὸν χαρακτῆρ’ ἀρετᾶς ὅσοισιν µέτα, καὶ θανόντες εἰς αὐγὰς πάλιν ἁλίου δισσοὺς ἂν ἔβαν διαύλους, ἁ δυσγένεια δ’ ἁπλοῦν ἂν εἶχεν ζόας βίοτον,

288

655

660

Formulierungen LSJ s. v. ζυγόν I. Für Lasten auf dem Haupt vgl. indes Bond 1981 zu HF 638-40. Vgl. oben Abschnitt B.II.3.5. Der direkte Bezug zu vorangegangenen und nachfolgenden Verhüllungen von Häuptern ist möglicherweise noch stärker: Überliefert ist βλεφάρων…φάρος, was die beiden sinnvollen Varianten (a) βλεφάρων […] φάος (Stiblinus, übernommen von Diggle) mit prädikativem σκοτεινόν oder (b) βλεφάρωι […] φάρος (Reiske) zulässt. Beide Bilder sind denkbar, sowohl inhaltlich-sachlich als auch sprachlich (vgl. Bond 1981, S. 228 zu HF 640f.), eine Entscheidung durch objektive Abwägung ist eigentlich nicht möglich: „The metaphor of the robe in (b) is an easy one […]. It may be thought to come too close to the metaphorical load, but judgements on mixed metaphors are very subjective. Palaeographical probability does not help us: φάρος is perhaps lectio difficilior, but it could be due to the nearby (βλε)φάρων. Decision is difficult; the more vivid metaphor (b) is perhaps preferable“ (ebd., S. 228f.). – Auch aus der Perspektive der Mysterienthematik kommt beiden Varianten ein ähnliches Gewicht zu: Das Signalwort φάος knüpft stärker an das sprachliche Spiel der Gegensätze von Licht und Dunkel, Sehen und Nicht-Sehen der Verse 524, 531, 562-4 (s. Abschnitt B.II.3.5), während sich die Version mit φάρος, wenn auch in diesen Versen rein bildlich gebraucht, an das tatsächliche Verhüllen der Kinder und später des Herakles anlehnt, das die metaphorische Ebene erst erzeugt.

4 καὶ τῶιδ’ ἂν τούς τε κακοὺς ἦν γνῶναι καὶ τοὺς ἀγαθούς

Musen

399 665

Wenn die Götter Einsicht besäßen | und Weisheit den Menschen gemäß, | bekämen die Menschen eine doppelte Jugend | als sichtbares Zeichen der Tugend für | alle mit Tugend, und nach ihrem Tod | würden sie wieder zum Licht der Sonne| den zweifachen Doppellauf laufen, | aber das gemeine Volk hätte einen | einfachen Lebenslauf, | und auf diese Weise wäre es möglich, die Schlechten | zu erkennen und die Guten E. HF 655-66

Der Inhalt dieser Verse ist in irreale Ausdrücke gekleidet – dies betrifft sowohl Protasis als auch Apodosis des Konditionalgefüges. Besäßen die Götter Einsicht nach Menschenmaßstäben, so verliehen sie ein sichtbares Zeichen für ἀρετή-Inhaber, an dem man sie von schlechten Menschen unterscheiden könnte: nämlich eine zweite Jugend, wie vom Chor so sehr ersehnt.289 Der Wunsch nach einer zweiten Jugend ist zum Wunsch nach einem zweiten Leben äquivalent:290 Dies zeigt auch Euripides’ Formulierung selbst, in der die δίδυµος ἥβη in den zweiten von zwei Lebens-Doppelläufen291 eingebettet erscheint (HF 660-2). Dieser eschatologische Wunschtraum gewinnt die Qualität einer echten Hoffnung, betrachtet man den Kontext des Liedes: Denn Herakles, Inbegriff der Jugend, ist gerade aus dem Hades zurückgekehrt und hat somit ein quasi-zweites Leben gewonnen.292 Zwar kann man bei Herakles, der als junger Mann in den Hades hinabgestiegen ist und als ebensolcher wieder heraufkommt, nicht im strengeren Sinne vom Erlangen einer zweiten Jugend sprechen, doch sind in Mythos und Kult sein Tod mit seiner Apotheose und ewigen Jugend eng verknüpft; attische Vorstellungen stellen dies zudem in den Kontext des Mysterienkultes.293 Dass aber doch Herakles dem Rezipienten bei den 289

290 291 292 293

Der Wunschgedanke vom erkennbaren Zeichen zur Unterscheidung von Guten und Schlechten, insbesondere in den folgenden Versen 669-72 mit der resignierten Feststellung, dass einzig Reichtum nach außen hin wahrnehmbar wachse, findet sich auch an anderen Stellen in Euripides’ Werk, etwa Med. 516-9; ähnlich Hipp. 925-7. Ausführlicher behandelt ist das Verhältnis von zweiter Jugend und zweitem Leben in der Dichtung bei Scodel 1980, S. 307-9 und passim. S. unten Abschnitt B.II.4.1.1.3 mit Bond 1981, S. 233 ad loc. Vgl. Scodel 1980, S. 309. Vgl. ebd., S. 309f.; Bond 1981, S. 232 zu HF 655-72; oben Abschnitt B.II.3.5.

400

B.II

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Versen der ersten Gegenstrophe unweigerlich vor Augen stehen muss, bewerkstelligt, wenn der Umweg über tatsächliche Kultvorstellungen und den weiteren mythologischen Kontext zu weit sein mag, die Art der Beschreibung: Sie lässt die Grenzen verschwimmen. Denn einen Doppellauf „zurück ans Sonnenlicht“ (HF 661: εἰς αὐγὰς πάλιν ἁλίου), hat der Held durchaus absolviert.294 Auf diese Weise werden also spätestens hier direkte Bezüge zwischen Herakles und den Mysterien-Ideen des Chores hergestellt. Sie gewinnen, wie Scodel klar formuliert, im Laufe des Stükkes an Relevanz: Thus, what the chorus presents as an unreal condition becomes […] a real hope. At this point in the play, the gods’ wisdom is, by implication, vindicated. And despite the grimness of the intervening scenes, the drama ends with the establishment of the Attic worship of Heracles (1328-33).295

4.1.1.2

Vögel – Musik als zweifache Lösung

Der zweite Teil des Chorliedes, bestehend aus zweiter Strophe und Gegenstrophe (HF 673-700), behandelt ein scheinbar neues Thema: Der Chor bekennt sich zu den Musen und zur Musik, von denen er erklärt niemals ablassen zu wollen.296 Dieses Bekenntnis mündet in der zweiten Gegenstrophe (HF 687-700) in einen Lobpreis des Herakles. Der oberflächliche Eindruck, ein unzusammenhängender Sprung von einem Gedanken zum anderen werde vollzogen, verstärkt sich durch die Asyndese zwischen erster Gegenstrophe und zweiter Strophe (HF 673). Dennoch besteht eine Verbindung:297 Denn das Bekenntnis zur Musik ist eine dop-

294

295 296 297

Scodel 1980, S. 311 bemerkt zudem treffend: „The exact doctrine imagined by the chorus is not clear, and doubtless was not intended to be. The mixture of themes is not fully logical.“ Als solchen bezeichnet Herakles selbst seine Reise später (vgl. HF 1101f.). Bond 1981, S. 233f. ad loc. vermutet eine sprichwörtliche Wendung. Dies hindert nicht die Annahme einer produktiven Nutzung der Wendung im Zusammenhang der Agon- und Mysterienmetaphorik durch Euripides. Scodel 1980, S. 310f. S. ausführlicher unten Abschnitt B.II.4.1.3. Die scheinbare Inkohärenz ist einer der Ausgangspunkte von Parrys Deutung des Liedes (1965): Er zeigt die Einheit und Kohärenz des zweiten Stasimons

4

Musen

401

pelte Antwort auf den als utopisch dargestellten Traum von der zweiten Jugend. Es löst zunächst einmal das Problem von dem Sichtbarmachen der ἀρετή an guten Menschen: In epinikischer Manier übernimmt diesen Part der Chor, zumindest im Falle des Herakles; im preisenden Lied wird die ἀρετή des Helden deutlich.298 Doch auch auf der persönlichen Ebene, für den sein Alter verabscheuenden Chor, stellt die Musik eine Lösung dar: „When the chorus turns from fantasy to an attainable, optative wish, it speaks of remaining in this role [sc. des Sängers]. Inevitably, poetry and song function as a consolation, a second-best to the recovery of youth.“299 Doch der Chor geht – implizit – über den bloßen Gedanken des Trostes und des zweiten Platzes noch hinaus: Er verjüngt sich im Laufe des Chorliedes. Der Ausdruck γέρων ἀοιδός steht zweimal, in der zweiten Strophe und Gegenstrophe jeweils an äquivalenter Stelle, am Ende der Verse 678 und 692.300 In V. 678 ist er Teil der Absichtserklärung – auch als alter Sänger will der Chor nicht aufhören zu singen. Dieser alte Sänger gewinnt jedoch in der Gegenstrophe eine neue Qualität: παιᾶνα µὲν Δηλιάδες ὑµνοῦσ’ ἀµφὶ πύλας τὸν Λατοῦς εὔπαιδα γόνον, εἱλίσσουσαι καλλίχοροι· παιᾶνας δ’ ἐπὶ σοῖς µελάθροις κύκνος ὣς γέρων ἀοιδὸς πολιᾶν ἐκ γενύων κελαδήσω· τὸ γὰρ εὖ τοῖς ὕµνοισιν ὑπάρχει.

690

Einen Paian singen die Deliaden | vor den Toren der | für den wohlgeratenen Spross der Leto | wirbelnd in schönem Tanz; | Paiane

298

299

300

im Lichte der epinikischen Tradition. S. auch unten Abschnitt B.II.4.1.1.3. S. Parry 1965, insbes. S. 369-72, und unten Abschnitt B.II.4.1.1.3. Vgl. auch die Ankündigung in V. 680f.: ἔτι τὰν Ἡρακλέους | καλλίνικον ἀείδω / „Ich singe noch | das Siegeslied des Herakles.“ Es folgt die konkrete Umsetzung der Ankündigung in der zweiten Gegenstrophe (HF 687-700). Scodel 1980, S. 315. Vgl. ähnlich Parry 1965, S. 372: „Herein lies the compensation for old age.“ Vgl. Henrichs 1996a, S. 55; Wilson 1999-2000, S. 435. Halliwell 2012, S. 22-6 betrachtet den Zustand der ἀµουσία, den der Chor in HF 676 für sich zurückweist, ebenso wie sein Gegenteil als existenziell. Vgl. Scodel 1980, S. 315.

402

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

werde ich dir auf deinen Dächern | wie ein Schwan als alter Sänger | aus grauweißen Kinnbacken | singen. Denn das Gute | ist den Liedern zuteil. E. HF 687-694

Wie bereits gezeigt301 spielt die Vogelmetaphorik in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Vom nutzlosen πολιὸς ὄρνις (HF 111) der Parodos, der nichts ist als Worte und Stimme, ist der Chor nun zum κύκνος, zum Schwan Apolls geworden. Zwar steht auch hier der γέρων ἀοιδός, noch immer sind die Kinnbacken, wie ja auch das Gefieder des Schwans, grauweiß. Doch es geht eine Parallelisierung voraus: Der Chor der alten Thebaner vergleicht sich – ohne dass der Vergleich als solcher sprachlich expliziert wäre302 –mit dem Chor der jungen Delischen Mädchen, die auf Delos zu Ehren des Apoll singen und tanzen. Wie sie Paiane singen (HF 687), so will auch er es tun (HF 692-4); wie sie zu Ehren des Apoll (HF 689), so er zu Ehren des Herakles (HF 691); wie sie vor den Tempeltoren auf Delos (HF 688), so er beim Haus des Herakles in Theben (HF 691). Die Delischen Mädchen, zum ersten Mal bezeugt im homerischen Hymnos an Apoll,303 sind fester Bestandteil der Delia zu Ehren Apolls; sie bilden einen Chor, der, anders als die von vielen Poleis nach Delos entsandten nicht-professionellen Theoria-Chöre, aus professionellen – sehr jungen – Choreutinnen besteht.304 Er ist in der griechischen Welt weithin bekannt und gilt als idealer Chor, als Inbegriff von χορεία.305 Mit dieser bemerkenswerten Gruppe also vergleicht sich der Chor der thebanischen Alten und gegensätzlicher könnte sie nicht sein: Die einen sind

301 302

303

304

305

Vgl. oben Abschnitt B.II.3.3. Es fehlt ein explizites ‚wie‘-Äquivalent. Die Parallelstruktur ist vielmehr als µέν-δέ-Konstruktion mit Anaphora umgesetzt (vgl. HF 687 u. 691; Bond 1981, S. 243 zu HF 687). Vgl. h. Ap. 156-64. Der homerische Hymnos an Apoll enthält auch die älteste ‚Darstellung‘ der Delia, deren Höhepunkt die Darbietung der Delischen Mädchen bildet (vgl. Calame 2001, S. 104). S. auch unten Abschnitt B.II.4.1.2.1. Vgl. Calame 2001, S. 107 u. 110. Kowalzig 2007b, S. 56-128 rekonstruiert ausführlich die historische Entwicklung und Bedeutung dieser Chöre ebenso wie ihren mythologischen Kern. Vgl. Henrichs 1996a, S. 56; Calame 2001, S. 109; Kowalzig 2007b, S. 66; Peponi 2009, S. 66; Nagy 2013, S. 233 u. passim.

4

Musen

403

der Inbegriff blühendster Jugend, die anderen gebrechlichsten Alters. Die einen sind weiblich, die anderen männlich. Wie bereits angedeutet, bedeutet diese Parallelisierung innerhalb der Gedankenlinie des zweiten Stasimons die Verwirklichung der ersehnten Verjüngung. Die besondere Pointe liegt darin, dass es nicht bei einer Gleichsetzung in Worten bleibt: Denn der Chor singt und tanzt in den Versen 696-700, die sich unmittelbar asyndetisch an den ‚Vergleich‘ anschließen, tatsächlich einen ‚Paian‘ für Herakles. Er erfüllt somit die Voraussetzung der Parallelisierung hin zu ihrer Aktualisierung. Dies wird in der Folge noch ausführlicher thematisiert werden.306 4.1.1.3

Agon – das zweite Stasimon als Epinikion

In einem einflussreichen Artikel zur Interpretation des zweiten Stasimons hat Parry gezeigt, dass es den Charakter eines Epinikions trägt.307 Deutlich fassbar wird der epinikische Charakter durch die Ankündigung des Chores in den Versen 680f.: ἔτι τὰν Ἡρακλέους καλλίνικον ἀείδω. Ich singe noch das Siegeslied des Herakles.

Die zweite Strophe bildet für dieses Siegeslied das Kernstück: In ihr wird das Epinikion zum Epinikion, indem die Beziehung zwischen laudator und laudandus zum Ausdruck kommt und der Zusammenhang zu den vorhergehenden Strophen deutlich wird.308 Es handelt sich, wie bereits geschildert, um den Übergang von der Jugend-Alter-Thematik (HF 637-72) hin zum expliziten Lobpreis des Herakles (HF 687-700 bzw. 696-700).309 Denn der utopische Wunsch der 306 307 308

309

S. Abschnitte B.II.4.1.2 u. 4.1.3. S. Parry 1965; vgl. Swift 2010, S. 129-31. Parry 1965 zeigt in trefflicher Weise den epinikischen Mustern folgenden Gedankengang und verteidigt damit vor allem die Einheit des zweiten Stasimons gegen frühere Stimmen (s. etwa Wilamowitz 1959, III, S. 148f.), die in der zweiten Strophe abseits der dramatischen Handlung eine die Illusion durchbrechende Selbstaussage des Euripides vernahmen. Zugleich zeigt Parry 1965, S. 364-9, dass schon die Thematik von Jugend

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Alten nach einer zweiten Jugend als sichtbares Zeichen für ἀρετή-Inhaber findet in der zweiten Strophe seine Aufösung: Musik ist die zweifache Lösung. Hierin zeigt sich die insbesondere für das pindarische Epinikion typische gegenseitige Abhängigkeit von laudator und laudandus:310 Der Gelobte ist auf den Lobenden angewiesen eben zur Sichtbarmachung seiner ἀρετή, die sonst, da die Götter keine zweite Jugend zu diesem Zwecke bereitstellen, unsichtbar, ungehört bliebe. Der Lobende wiederum ist auf den Gelobten angewiesen als Materiallieferanten für sein Lied, durch welches er selbst in seiner Kunstfertigkeit sichtbar wird. Musen und Chariten, die der Chor in den ersten Versen so nachdrücklich immerdar in Verbindung zu bringen erklärt (HF 673-5), sind die Gottheiten, die für diese Beziehung die Schirmherrschaft leisten – was Parry folgendermaßen zum Ausdruck bringt: The Muses […] are the source of inspiration enabling the poet to do full justice to the excellence of the laudandus which he must perpetuate through song. […] The Graces can perform a role which is similar to that of the Muses; but, rather than inspire the song, they endow it with a beauty and charm which make it acceptable to the listener – an important contribution if arete is to be perpetuated through song.311

Die beiden Gruppen von Gottheiten treten oft zusammen auf, insbesondere in Kontexten des Preisens;312 und auch das Bild des „Mischens“ (HF 674f.: συγκαταµει|γνύς) von Musen und Chariten in diesem Zusammenhang ist durchaus pindarisch.313 Ebenso hat Mnemosyne (HF 679) im Rahmen eines Epinikions ihren Platz.

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(verbunden mit der körperlichen Kraft des Athleten) und Alter – vgl. HF 63772 – sowie das Ausloten des Verhältnisses zwischen Jugend und Wohlstand – vgl. insbes. HF 642-54 – ihren Platz in epinikischer Dichtung haben. Vgl. Swift 2010, S. 129f. Vgl. Parry 1965, S. 369f., der allerdings nicht ausdrücklich auf die Wechselseitigkeit des Verhältnisses hinweist. Er belegt zwar die Bedeutung der Musen und Chariten sowohl für laudator als auch für laudandus, jedoch effektiv immer mit dem laudandus als Profiteur. Ebd., S. 370. Die Wechselseitigkeit der Beziehung ist ganz eigentlich in den Chariten verkörpert, ein Aspekt, den Parry nicht voll ausführt. Vgl. ebd., S. 371. Vgl. Bond 1981, S. 239 ad loc.: „an appropriate Pindaric metaphor“.

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Der Fortgang der Gedanken bewegt sich, folgt man Parrys Linie, vom Allgemeinen ins Konkrete, von den allgemeinen enkomiastischen Qualitäten des Chores (HF 673-5) über den als retardierendes Moment fungierenden Wunsch, niemals in ἀµουσία,314 immer in Kränzen zu sein (HF 676f.), hin zum konkreten Objekt des Preisens in der Person des Herakles (HF 680f.), gewählt aus dem Spektrum aller möglichen Objekte. In der dritten Strophe folgt schließlich das direkte Lob mit den typischen315 Elementen der edlen Abstammung und der edlen Taten des Gepriesenen (HF 696-700). Das zweite Stasimon ist auf einer weiteren Ebene, die Parry ausspart, in ganz besonderer Weise pindarisch gefügt: Denn der Lobende inszeniert sein Loben, seine Musik als sportliche Leistung, die der des Gelobten entspricht.316 Vers 677 kann als Teil dieser Inszenierung gewertet werden: Der Chor wünscht sich, immer bekränzt zu sein, wie es auch einem siegreichen Athleten angemessen ist.317 Um welche Disziplin aber handelt es sich? – Es ist die des Hades-Doppellaufes,318 wie ihn der Chor in der ersten Gegenstrophe beschreibt:

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Parry vergleicht Pi. P. 9, 87 κωφὸς ἀνήρ τις, ὃς Ἡρακλεῖ στόµα µὴ περιβάλλει / „Stumm muss der Mann sein, der nicht seinen Mund mit Herakles umgibt.“ Ein κωφὸς ἀνήρ sei in diesem Sinne gleich einem Mann µετ’ ἀµουσίας „incapable of praise or appreciation“ (Parry 1965, S. 372), wobei im ersten Fall ein konkreter Begriff gebraucht ist, im zweiten Falle ein abstrakterer. In diesem Verständnis ist die laudator-laudandus-Beziehung mitgedacht, anders als in dem Vorschlag „want of harmony“ (LSJ s. v. ἀµουσία II.), der nur den Part des Sängers berücksichtigt. Bond 1981, S. 239 ad loc. stellt die gängige Bedeutung „lack of refinement“, die auch Parrys Deutung zugrunde liegt, zurück zugunsten einer engeren: „Here the word takes its colouring from Μούσαισιν (674); Euripides has ‘re-etymologized’ it: µετ’ ἀµουσίας means ‘without the Muses’ gifts’ (music, singing, dancing and feasting).“ S. auch unten Abschnitt B.II.4.1.3.3 mit Anm. 378. Vgl. Parry 1965, S. 372f. Zur Metaphorik bei Pindar – insbesondere der Sportmetaphorik – und ihrem hohen sinnstiftenden Potenzial in der Verknüpfung von laudator und laudandus s. Lattmann 2010. Vgl. Swift 2010, S. 130f. Auch Padilla 1994, S. 286-8 vermerkt den sportmetaphorischen Charakter des Ausdrucks.

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εἰ δὲ θεοῖς ἦν ξύνεσις καὶ σοφία κατ’ ἄνδρας, δίδυµον ἂν ἥβαν ἔφερον, φανερὸν χαρακτῆρ’ ἀρετᾶς ὅσοισιν µέτα, καὶ θανόντες εἰς αὐγὰς πάλιν ἁλίου δισσοὺς ἂν ἔβαν διαύλους

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Wenn die Götter Einsicht besäßen | und Weisheit den Menschen gemäß, | bekämen die Menschen eine doppelte Jugend | als sichtbares Zeichen der Tugend für | alle mit Tugend, und nach ihrem Tod | würden sie wieder zum Licht der Sonne | den zweifachen Doppellauf laufen E. HF 655-62

Bond löst das Bild treffend auf: [T]he track has two κῶλα to and from the post, and the runner returns to the start. The outward κῶλον is birth/rebirth and youth; the return κῶλον is age and death. The race starts and finishes in Hades, and the track to and from the light forms a part of each κῶλον.319

Herakles nun hat, wie seine Rückkehr glorreich beweist, diesen Lauf zumindest in seinem entscheidenden Teil bis zur Absolvierung des dritten Kolons erfolgreich gemeistert. Dass er tatsächlich in den als allgemeinem Wunsch formulierten Versen der ersten Gegenstrophe als Folie dient, seine Hades-Reise also als ein solcher Doppellauf charakterisiert wird, ist deutlich.320 Und auch Herakles selbst wird diese athletische Terminologie im letzten Teil des Stückes aufgreifen. Als er nach der schrecklichen Blut-

319 320

Bond 1981, S. 233 zu HF 662. S. gleichwohl die genaue Betrachtung von Bond 1981 zu HF 655-72: „Stanza 2 also has a particular relevance [...]. Heracles, although not mentioned, is very much in the mind of the chorus. Heracles pre-eminently possesses ἀρετή, and ἀρετᾶς ὅσοισιν µέτα (659) are people like Heracles; he has returned from the dead: εἰς αὐγὰς πάλιν ἁλίου (661) is applicable to his return (cf. 297 καὶ τίς θανόντων ἦλθεν ἐξ Ἅιδου πάλιν;); he will have another period of life; cf. 662 δισσοὺς ἂν ἔβαν διαύλους. δίδυµον ἥβαν (657) is not inappropriate, and we know that he will eventually marry Hebe. The chorus, mindful of Heracles as an exemplum, are in fact asking why all good people (like themselves) should not receive the distinction of a second life.“

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tat benommen erwacht und die um ihn herum gruppierten toten Körper wahrzunehmen beginnt, fragt er sich selbst: οὔ που κατῆλθον αὖθις εἰς Ἅιδου πάλιν, Εὐρυσθέως δίαυλον ἐξ Ἅιδου µολών; Ich bin doch nicht etwa wieder zurück in den Hades hinabgelangt, | wo ich gerade den Doppellauf für Eurystheus aus dem Hades gelaufen bin? E. HF 1101f.

Es hat sich ferner gezeigt, dass auch der Doppellauf des Chores erfolgreich war: Seine Verjüngung, seine Anabasis in der Musik ist gelungen.321 Auch der in der zweiten Strophe formulierte Wunsch, „immer in Kränzen“ zu sein (HF 677: ἀεὶ δ’ ἐν στεφάνοισιν εἴην), entfaltet im Rahmen der Sportmetaphorik eine doppelte Wirkung: Denn der Kranz ist nicht nur adäquates Bild für den Bereich der Dichtung und des athletischen Sieges, sondern zugleich spezifisches Element der relevanten ‚Sportart‘: Auch die Hades-Doppelläufer des Kultes, die Mysten, bekränzen ihre Häupter, nachdem sie das Licht wiedererblickt haben.322 Das Chorlied hat in einem virtuellen Hades, verdunkelt durch die Last des Alters, begonnen und endet in der Jugend universeller, zeitloser Choreia.323 Das Mittel der Verjüngung und gleichzeitig ihr Vollzug ist die Musik selbst, hier: die lobpreisende Musik. Mittel und Vollzug: Dies führt in den zweiten Teil der Tragödie. Denn wie bereits gesehen wird der Athlet Herakles ein weiteres Mal ‚καλλίνικος‘ sein: Sein letzter Agon ist die Ermordung seiner Kinder. Diese aber erzeugt wiederum eine virtuelle Katabasis des Herakles in den Hades, initiiert also einen erneuten Doppellauf, wie er im oben zitierten Vers indirekt selbst konstatiert. Auf diese Katabasis wird dann die virtuelle Anabasis kraft Theseus’ φιλία folgen und das Ergebnis dieser ‚Initiation‘ ist, so stellt sich heraus, der ‚verwandelte‘ Herakles: ein Kultheros für das demokratische Athen. Mittel und Vollzug: Ist es im Falle des Chores das epinikische Stasimon, das die Anabasis und Verjüngung zugleich bewirkt wie überhaupt erst darstellt, so wird sich im Folgenden herausstellen, dass 321 322 323

Vgl. oben Abschnitt B.II.4.1.1.2. S. Seaford 1994, S. 380; Bremmer 2014, S. 16 mit Anm. 110. Vgl. auch oben Abschnitt B.II.3.5. S. dazu auch unten Abschnitt B.II.4.1.2.

408

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

im Falle des Herakles die Tragödie selbst dieses ‚Lied‘ ist. Um diesen Zusammenhang zu präzisieren, wird im Folgenden zunächst eine Beleuchtung des Wesens der Choreia und des Verhältnisses von Ritual und Drama erfolgen. 4.1.2

Die Delischen Mädchen und die Macht der Choreia

Von ‚universeller, zeitloser Choreia‘, in der der Chor der Alten sich verjünge, ist die Rede gewesen:324 Ausgangspunkt zur Erläuterung und Annäherung an dieses Konzept sollen die in V. 687 erwähnten Delischen Mädchen sein. 4.1.2.1

Die Delischen Mädchen im homerischen Hymnos an Apoll

Es handelt sich bei den Delischen Mädchen, wie bereits vermerkt, um einen als ideal und vollkommen geltenden Chor. Die berühmte Schilderung im homerischen Hymnos an Apoll gibt Einblicke in wesentliche Züge dieser Idealisierung: πρὸς δὲ τόδε µέγα θαῦµα, ὅου κλέος οὔποτ ὀλεῖται, κοῦραι Δηλιάδες Ἑκατηβελέταο θεράπναι· αἵ τ’ ἐπεὶ ἂρ πρῶτον µὲν Ἀπόλλων’ ὑµνήσωσιν, αὖτις δ’ αὖ Λητώ τε καὶ Ἄρτεµιν ἰοχέαιραν, µνησάµεναι ἀνδρῶν τε παλαιῶν ἠδὲ γυναικῶν ὕµνον ἀείδουσιν, θέλγουσι δὲ φῦλ’ ἀνθρώπων. πάντων δ’ ἀνθρώπων φωνὰς καὶ κρεµβαλιαστὺν µιµεῖσθ’ ἴσασιν· φαίη δέ κεν αὐτὸς ἕκαστος φθέγγεσθ’· οὕτω σφιν καλὴ συνάρηρεν ἀοιδή.

160

Und dazu gibt es folgendes großes Wunder, dessen Ruhm niemals vergehen wird: | die Delischen Mädchen, Dienerinnen des Ferntreffers, | die, nachdem sie zuerst Apoll preisen, | sogleich auch Leto und die Pfeile ausschüttende Artemis | im Hymnos besingen, gedenkend an die Männer und Frauen von früher; | und sie bezaubern die Geschlechter der Menschen. | Stimmen und rhythmisches Klappern aller Menschen | wissen sie zu re-

324

Vgl. oben Abschnitt B.II.4.1.1.3.

4

Musen

409

präsentieren; jeder könnte sagen, | er töne selbst; so schön ist ihr Lied gefügt. h. Ap. 156-164

Die entscheidende Stelle dieser Schilderung liegt in den Versen 162-4, in denen um das Schlüsselwort µιµεῖσθ’ (h. Ap. 163) herum die Einzigartigkeit der Vorführung der Deliaden expliziert wird. Peponi argumentiert im Bedeutungsspektrum des Wortes, das schon früh, abgesehen von seiner späteren Karriere als philosophischer Begriff, von ‚mimicking‘ bis ‚representation‘ reiche, für das letztere Ende, und zwar in ganz dezidiertem Sinne:325 Whereas ‘mimicking’ requires all attention drawn to the factual and formal details of an ‘original’, by representation I here mean the recreation or evocation of the essence of an entity, not necessarily involving the reproduction of its formal details.326 325 326

Vgl. Peponi 2009, S. 62-4. Ebd., S. 63f. Der Gedankengang, der zu dieser These führt, beginnt bei einer sorgfältigen Abwägung der beiden möglichen Varianten βαµβαλιαστύν und κρεµβαλιαστύν in V. 162 zugunsten der letzteren (s. ebd., S. 41-60). Peponi wendet sich gegen gängige Erklärungsmuster, die in dem, was die Deliaden mimetisch wiederzugeben wüssten – in solcher Vollendung, dass der Zuschauer meine, er sei es selbst –, bloße „traditional local idioms in both linguistic and musical/dancing terms“ (ebd., S. 60) ausmachen. Die κρεµβαλιαστύς – rhythmische Geräusche, die den κρόταλα-ähnlichen κρέµβαλα zu entlocken sind – markiere den Tanz-Part der Choreia und ergäbe so zusammen mit den φωνάς (ebenfalls h. Ap. 162) als Sanges-Part die Choreia in ihrer Gesamtheit (vgl. ebd., S. 55; anders z. B. Henrichs 1996a, S. 57f., der keinen ausdrücklichen Hinweis auf Tanz sieht). Für das folgende φθέγγεσθαι (h. Ap. 164) bestünde nicht die Gefahr eines inhaltlichen Anakoluths: „[I]n the complex choral act dancing is so inextricably connected to vocal activity that it is ultimately considered part of the same expressive mechanism. Consequently, ‘everybody feels that he himself is speaking’ in lines 163-64, ultimately means: everybody feels that he himself is joining the Deliades’ choreia“ (vgl. Peponi 2009, S. 57-60; das Zitat auf S. 60). Gegen die frühere Interpretation als Nachahmung der „traditional local idioms in […] musical/dancing terms“ (s. o.) werden sowohl praktische als auch textliche Einwände angeführt (vgl. ebd., S. 60-2]: Besonders der letzte Teilsatz des Verses 164 mit dem erklärenden οὕτω zeige, dass diese so erstaunliche Beziehung zwischen Publikum und Chor einzig durch die Schönheit der Choreia erzeugt werde (vgl. ebd., S. 62).

410

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Dem lokalen Deliadenchor des politischen und kulturellen Zentrums Delos werde die Macht zugesprochen, in seiner Choreia gewissermaßen ein Urbild von allen möglichen Formen der Choreia, repräsentiert etwa durch die bei den Delia anwesenden Theoria-Chöre, zu erzeugen.327 Seine Idealisierung, nicht zuletzt durch den Ausdruck µέγα θαῦµα (h. Ap. 156), mache den Chor der Deliaden zu einem göttlich anmutenden, archetypischen Chor, der einen besonderen Zauber auszuüben im Stande sei:328 Ultimately, this enchantment [sc. h. Ap. 161: θέλγουσι δὲ φῦλ’ ἀνθρώπων] should be understood as a deep immersion into an ideal world of mousikê, where the line separating the act of performing from the act of attending tends to disappear. What we have here, then, is a system of intense reciprocity, where choral performance, on the one hand, and spectatorship, on the other, are conceptualized not only as interactive but as essentially mutually empathetic: through their excellence the choral performers achieve a holistic representation of the audience; in turn, the enchanted audience empathizes to such a degree that they attend as virtual performers […].329

Durch die Perfektion und Schönheit ihrer Choreia erzeugen also die Delischen Mädchen einen Zustand so absoluter gegenseitiger Empathie, dass die Grenzen zwischen Aufführenden und Zuschauern aufgehoben werden; ein Vorgang, den Peponi mit „aesthetics of empathy“330 betitelt. Auf einer weiteren Ebene ist in der Darstellung der Delischen Mädchen eine Aufhebung von Grenzen angelegt. Denn sie changieren zwischen dem lokalen Mädchenchor, der tatsächlich Teil des Delia-Kultes ist, und dem quasi-göttlichen archetypischen Chor, wie ihn die Idealisierung im homerischen Hymnos an Apoll evoziert:331 327 328 329

330 331

Vgl. ebd., S. 64f. Vgl. ebd., S. 66f. Ebd., S. 67. Dieses Aufheben der Grenzen finde in zwei Bereichen statt: […] not only the local becomes universal, but, also, […] the personal transcends its borders and approaches the sublime“ (ebd.). Peponi vergleicht auch Luc. Salt. 81, wo sie dieses Konzept ausformuliert sieht. Ebd., S. 60 u. passim. Die Bezeichnung als quasi-göttlichen archetypischen Chor erlaubt der Vergleich mit göttlichen archetypischen Chören wie den Musen. Ein solcher Vergleich ist auf unterschiedlichen Ebenen möglich. Zunächst einmal innertextlich: „[T]hrough a mechanism of multiple symmetrical reflections between the musical festivities described on Delos and those described on Olympus,

4

Musen

411

[They] are presented in the Hymn as archetypes meant to be reenacted in the local ritual context of real choral performances at Delos – in which context the choral participants would be equated, for the ritual moment, with the archetypal Maidens.332

Auf diese Weise werden zwei zeitliche Sphären – mythische Vergangenheit und Gegenwart des Aufführungskontextes – miteinander verschmolzen.333

332 333

the chorus of the Delian maidens is essentially rendered as the paradigmatic earthly instantation of the Muses’ archetypal chorus“ (Peponi 2009, S. 54). Peponi vergleicht zudem außertextlich die idealisierte Darstellung der Delischen Mädchen h. Ap. 156-4 mit Beschreibungen der Musen und Sirenen in Ilias und Odyssee als allwissend, um folgenden Anstoß zu formulieren: „One is perhaps allowed to ponder whether the Deliades’ unique knowledge of representing all peoples’ voices and rhythmical movements […] can be interpreted as an adaptation of the same concept, now applied to a mortal – yet still archetypal – musical ensemble and transferred from the realm of divine universal knowledge to the realm of human artistry that can reach universality with its exceptional virtuosity“ (ebd., S. 66). – Auch Nagy 2013 zieht einen außertextlichen Vergleich herbei. Seine Analyse bezieht auch die Verse h. Ap. 165-176 mit ein, in denen der aoidos mit den Delischen Mädchen in eine Art Dialog tritt. Sie werden in einem Atemzug mit Apoll angerufen, im Kern steht die Beziehung zwischen Dichter und idealisiertem Frauenchor. Diese Beziehung gleiche frappant der zwischen Dichter und Musen im Prooimion zu Hesiods Theogonie, insbesondere den zu lokalen Gottheiten gemachten helikonischen Musen, sodass sich die Bezeichnung „local Delian Muses“ (ebd., S. 237) für die archetypischen Delischen Mädchen des homerischen Hymnos erlaube. Zentral in Nagys Vergleich zwischen Deliaden und hesiodeischen Musen ist die Strukturierung der Lieder auf unterschiedlichen, ineinandergreifenden Ebenen von erzählter und Aufführungs-Situation, deren wesentliches Charakteristikum ein „looping effect“ (ebd., S. 239) wechselseitiger Mimesis sei; er bewirke einen ewigen Zyklus gegenseitiger Autorisierung (vgl. insges. ebd., S. 235-9).– Vgl. auch Henrichs’ relevante, wiederum innertextliche Beobachtung: „[T]he epic voice that speaks to us in the Homeric Hymn assumes the role of Musegétes as well as khorodidáskalos“ (1996a, S. 58). Nagy 2013, S. 233 u. 254; vgl. ders. 1996, S. 56; Henrichs 1996a, S. 58 Anm. 35. S. Kowalzig 2007b, S. 67, die weitere literarische Quellen neben dem homerischen Hymnos an Apoll untersucht: „It is crucial to realize that the same Δαλίων θύγατρες simultaneously perform in both time spheres, as companions

412 4.1.2.2

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Die Delischen Mädchen im zweiten Stasimon des Herakles

Auch durch den Bezug des alten Chores auf die Deliaden werden Gegensätze übereinander gelagert und ineinander verschränkt. In der Analogien implizierenden µέν-δέ-Struktur der Verse 687-94 war dies deutlich geworden.334 Die besondere Pointe in der Aufhebung bzw. Überwindung von Jugend und Alter, die in der zuvor geäußerten Verjüngungssehnsucht der Greise gründet, ist bereits erläutert worden. Ein weiterer, zunächst sehr harsch anmutender Gegensatz ist der Gegensatz der Geschlechter: Größer könnte man ihn scheinbar nicht wählen als in der Spanne zwischen alten Männern und jungen Mädchen. Auch im Voraus schon haben sich die Greise ihre alte Jugendkraft zurückersehnt;335 doch ging es da immer um die körperliche Jünglingsstärke, um den Arm, kräftig genug, eine Waffe zu ergreifen und sie gegen den Frevler Lykos zu erheben. Das Gegenbild dazu war das des πολιὸς ὄρνις (HF 111), der eben nicht tatkräftig kämpfen, sondern nur Worte machen kann. Doch dieser Vogel gewinnt an dieser Stelle neue Konnotationen, er wird zum notwendigen laudator, der die ἀρετή seines laudandus sichtbar macht.336 Und so ist die Jugend, die der Chor nun zurückerhält, auch nicht mehr die eines Waffen tragenden Jünglings, sondern eine durch die Musik modifizierte: die eines idealen Chores – der in der Regel weiblich337 ist. Die Überlagerung der Geschlechter wird durch ein weiteres Moment entschärft. Denn eine Verbindung zwischen den Delischen Mädchen und dem Chor des Herakles wird gezogen über die Art der Lieder, die sie aufführen: Es sind Paiane. Bei Paianen handelt es sich jedoch in der Regel

334 335 336 337

of the female deities in the mythical tale, and as the chorus of women in the current festival. They are at once narrators of, and actors in, the story, performing in ritual what they are narrating in myth. In this double role, the chorus of the Δαλίων θύγατρες bridges the time gap, linking the mythical past to the present ritual; the two spheres smoothly blend into one another, so that mythical time and present time are no longer clearly separate. For the spectator or singer, there is no longer a distinction between the ‘local women’ in myth and those in ritual.“ Vgl. oben Abschnitt B.II.4.1.1.2. S. Abschnitte B.II.2.2.1. Vgl. oben Abschnitt B.II.4.1.1.2. Vgl. Peponi 2009, S. 66.

4

Musen

413

um von männlichen Chören gesungene Lieder.338 Möglicherweise lässt also diese Gestaltung bewusst nicht nur den Chor näher an die Deliaden rücken – er singt und tanzt, was sie singen und tanzen –, sondern auch die Deliaden näher an den Chor – sie singen und tanzen, was eigentlich Sache eines männlichen Chores ist.339 Die Objekte der jeweiligen Lieder der beiden Chöre erfahren durch die Parallelisierung ebenfalls eine Wandlung: Die Deliaden singen für Apoll, zusammen mit Artemis typischstem Adressaten340 von Paianen im kultischen Kontext. Der Chor aber singt Paiane für Herakles, der dadurch gewissermaßen zur göttlichen Figur gemacht wird, zu einem zweiten Apoll. Nicht umsonst präsentiert der Chor ihn in den Versen 696-700, die die Umsetzung der zuvor verkündeten Absicht darstellen, als Abwehrer von Übeln in Form von Ungeheuern: Διὸς ὁ παῖς· τᾶς δ’ εὐγενίας πλέον ὑπερβάλλων µοχθήσας τὸν ἄκυµον 338

339

340

S. Käppel 1992, S. 81. Vgl. auch Calame 2001 S. 77: „These two enactments [sc. E. HF 687-90 und E. IA 1467-9] of the paean by a chorus of young women represent exceptions, however. The paean was usually sung by a male chorus, but the occasions for which adolescent girls performed it nevertheless correspond exactly to its intended purpose.“ Paiane singende Frauenchöre treten auch in anderen Tragödien auf, etwa A. Th. 268, Ag. 245-7, Ch. 150f., in Situationen, „where the inversion of gender roles signals a tragic reversal in the action“ (Henrichs 1996a, S. 59, vgl. auch ebd., Anm. 42). Frauen begleiten aber von Männerchören gesungene Paiane mit ololyge-Rufen (vgl. Käppel 1992, S. 81f.; Calame 2001, S. 77f.). Über die Art der Lieder, die die Delischen Mädchen singen, gibt es – bis auf diese Stelle – keine Zeugnisse (vgl. Henrichs 1996, S. 59; s. aber in diesem Zusammenhang auch Calames 2001, S. 75f. Reflexionen über ‚ὕµνος‘ als mögliche Genre-Bezeichnung). Es ergeben sich also zwei Möglichkeiten: Entweder waren Paiane tatsächlich das Genre der Delischen Mädchen – als Beleg dafür werten die Verse HF 687-90 etwa Käppel 1992, S. 56f.; Calame 2001, S. 76f.; Kowalzig 2007b, S. 57; Peponi 2009, S. 56; Nagy 2013, S. 253 – oder aber es handelt sich in der Tat um eine bewusste Gestaltung des Euripides – wozu beispielsweise Henrichs 1996, S. 59f. tendiert: „a poetic construct [...] in order to faciliate comparison with the male chorus of Theban elders in the orchestra“. Vgl. Käppel 1992, S. 54-62; Calame 2001, S. 77.

414

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

θῆκεν βίοτον βροτοῖς πέρσας δείµατα θηρῶν.

700

Von Zeus stammt der Sohn. Seine edle Herkunft | noch übertreffend | hat er durch Mühen das wogenlose Leben | den Sterblichen gegeben, | indem er die Schrecknisse von Ungeheuern vernichtete.

Die Situation, in der der Chor das zweite Stasimon singt, ist dem Aufführungskontext eines Paians angemessen: Herakles ist heimgekehrt und hat die Rettung gebracht. In den oben zitierten Versen – einer kleinen eigenen ‚paianischen‘ Einheit innerhalb des größeren ‚Paians‘ des zweiten Stasimons – wird eine allgemeinere Ebene angespielt: Sie beinhalten als Lob formulierten Dank für die Restitution eines ruhigen Lebens ohne Furcht vor Ungeheuern.341 Eine weiteres verbindendes Moment zwischen den Deliadenliedern für Apoll und den Liedern der thebanischen Alten für Herakles ist das Bild des Schwans. Die Parallelisierung von Chor und Deliaden erhält durch das κύκνος ὣς (HF 692) eine weitere Vergleichsebene, die auf den ersten Blick die Gedankenfolge komplizierter erscheinen lässt. Doch tatsächlich kann sie als Brücke zwischen den so unterschiedlichen Parteien dienen. Denn ebenso wie die Delischen Mädchen ein Chor im Gefolge Apolls sind, Dienerinnen des Gottes, sind es auch die Schwäne.342 Der 341

342

Käppel 1992, S. 63 beschreibt den ‚sozio-psychologisch‘ gefassten Sitz im Leben des Paians folgendermaßen: „Von all den […] Situationen gilt, daß sie von denen, die in ihnen den Paian anstimmten, offenbar so als drohende, gegenwärtige oder überstandene Gefahr im weitesten Sinne empfunden wurden, daß eine Gottheit als die Instanz ihrer Überwindung und damit des Erwerbs oder der Bewahrung von Unversehrtheit/Heil angerufen werden mußte – sei es in angstvollem Bitten, sei es in erleichtertem Dank.“ Vgl. Calame 2001, S. 77. Allerdings umfasst der vom Chor zu einem solchen erklärte Paian nicht die typischen formalen Strukturelemente der Gattung: So ist weder ein Epiphtegma enthalten noch wird die Heil bringende Gottheit direkt (im Vokativ) angerufen. Es entsteht also nicht die für einen Paian übliche Kommunikationsstruktur (s. zu dieser und zu den formalen Elementen der Gattung Käppel 1992, S. 62-74). – Als Paian verstehen das gesamte zweite Stasimon etwa Wilamowitz 1959, III, S. 158 zu HF 692; Bond 1981, S. 243 zu HF 687. Vgl. oben Abschnitt B.II.3.3.1 mit Anm. 147. Insbesondere mit Delos in Verbindung gebracht sind Schwäne zudem bei E. IT 1103-5; Call. Ap. 4f.; Del. 249-52.

4

Musen

415

Schwan aber ist innerhalb der dramatischen Handlung und der Rolle des Chores ein etabliertes Bild: In Gestalt des πολιὸς ὄρνις hat sich der Chor zu Herakles und seiner Familie bekannt.343 Und so werden die Deliadenlieder für Apoll zu Schwanenliedern für Apoll, und diese wiederum zu Schwanenliedern für Herakles. Auf dem Weg aber gewinnen die Schwanenlieder für Herakles eine göttlichere Färbung. In der Parallelisierung mit den Deliaden, Modellen für die vollkommene, alle Grenzen aufhebende Mimesis, durch die selbst der Zuschauer wägt, Teil der Choreia zu sein, setzt der Chor sein eigenes Singen und Tanzen zudem in einen neuen, übergeordneten Zusammenhang. Wie bereits geschildert ist im Wesen der Delischen Mädchen schon eine doppelter Kontext inbegriffen: Sie sind gleichzeitig Teil des aktuellen DeliaKultes und, als archetypischer Chor Apolls, Teil der mythischen Vergangenheit; für die Dauer der Aufführung werden die Grenzen zwischen den zeitlichen Sphären aufgehoben. Teil einer mythischen Vergangenheit, in welche die dramatische Handlung des Herakles gebettet ist, ist auch die Gruppe der Greise in Theben. In Analogie zu den Choreutinnen des DeliaKultes steht wiederum der Chor der Dramenaufführung bei den Großen Dionysien, bestehend aus athenischen Bürgern. Die ‚Verjüngung‘ mittels des Lobpreises des Herakles findet nicht nur in der Mimesis des mythischen Deliadenchores durch die mythischen greisen Sänger Thebens statt: Sie ist vielmehr ein Aufgehen in der Universalität von Choreia, die die unterschiedlichen Sphären von Gegenwart und Vergangenheit, Kult und Mythos umfasst und zum Zeitpunkt der Aufführung in ein einziges Moment destilliert. 4.1.3

Musen und Dionysos

Das Erheben des Tanzes und Singens des Chores zu einer universellen Choreia, die sich auch auf die Aufführungssituation erstreckt, bliebe, gründete es sich nur auf die Erwähnung der Delischen Mädchen in V. 687-700, ein zweifelhaftes Konstrukt. Doch steht dieser Erwähnung in der dritten Strophe die zweite Strophe voran.

343

Vgl. oben Abschnitt B.II.3.3.1.

416 4.1.3.1

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Die zweite Strophe des zweiten Stasimons (HF 673-86)

Die zweite Strophe bildet innerhalb des zweiten Stasimons den auffälligsten Komplex, sowohl inhaltlich als auch kompositorisch: οὐ παύσοµαι τὰς Χάριτας ταῖς Μούσαισιν συγκαταµειγνύς, ἡδίσταν συζυγίαν. µὴ ζώιην µετ’ ἀµουσίας, αἰεὶ ’ ἐν στεφάνοισιν εἴην· ἔτι τοι γέρων ἀοιδὸς κελαδῶ Μναµοσύναν, ἔτι τὰν Ἡρακλέους καλλίνικον ἀείδω παρά τε Βρόµιον οἰνοδόταν παρά τε χέλυος ἑπτατόνου µολπὰν καὶ Λίβυν αὐλόν. οὔπω καταπαύσοµεν Μούσας, αἵ µ’ ἐχόρευσαν.

675

680

685

Ich werde nicht aufhören, die Chariten | mit den Musen zu mischen, | süßeste Verbindung. | Möge ich nicht leben ohne Musenkunst, | möge ich immer in Kränzen sein; | Wahrlich, noch als greiser Sänger | besinge ich laut Mnemosyne, | ich singe noch das Siegeslied | des Herakles | bei Bromios, dem Weinspender | und bei der siebentönigen Lyra | Weise und beim libyschen Aulos. | Ich werde nicht ablassen | von den Musen, die mich zum Tanzen gebracht haben. E. HF 673-86

Die Strophe ist in Form eines Ringes komponiert. Dessen äußeren Rahmen bilden die Verse 673-5 und 685f. mit der dringlichen Versicherung, niemals von den Musen abzulassen. Neben Μούσαισιν (HF 674) und Μούσας (HF 686) schafft auch das jeweilige Prädikat παύσοµεν (HF 673) bzw. καταπαύσοµεν (HF 685) Parallelität. Im Kern gruppieren sich die beiden Verspaare 678f. und 680f., jeweils mit gleichem Beginn ἔτι (HF 678 bzw. 680) und den analogen Verben κελαδῶ (HF 679) und ἀείδω (HF 681). Den mittleren Rahmen bilden die Verse 676f. und 682-4: Hier sind die Bezüge nicht so deutlich sichtbar wie in den anderen beiden

4

Musen

417

Fällen: Gleichwohl beschreiben beide Passagen einen Kontext für Choreia, der durch Präpositionen markiert ist.344 Auf die auffällige Asyndese dieser Verse zur vorangegangenen Strophe ist schon hingewiesen worden. Aber auch die nächste Strophe bleibt unverbunden.345 Wie bereits gezeigt wurde, hat die zweite Strophe in der Gedankenfolge des Stasimons ihren fest gefügten Platz. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass sie, durch die Asyndesen ebenso wie durch die in sich geschlossene Ringkomposition, eine Sonderstellung erhält, die auch über die Grenzen dieser Gedankenfolge hinausweist. Der Inhalt dieser Verse ist die Musik; an ihrem Anfang und Ende stehen die Musen. 4.1.3.2

Selbstreferentialität und Ritual οὔπω καταπαύσοµεν Μούσας, αἵ µ’ ἐχόρευσαν. Ich werde nicht ablassen | von den Musen, die mich zum Tanzen gebracht haben. E. HF 685f.

Insbesondere diese Verse der zweiten Strophe sind bemerkenswert: Denn hier erweitert der Chor der Greise die Rolle des γέρων ἀοιδός um die Dimension des Tanzes, die im Verb χορεύειν ebenso wie das Singen gleichermaßen angelegt ist. In diesem Zusammenhang ist der von Albert Henrichs geprägte Begriff der Selbstbezüglichkeit des Chores bzw. der choral self-referentiality von Bedeutung.346 Er definiert den Begriff als „the selfdescription of the tragic chorus as performer of khoreia“347. Choreia fasst Henrichs explizit als die Einheit aus Gesang und Tanz; für das Phänomen der Selbstbezüglichkeit seien aber vornehmlich die Chöre relevant, die Bezug auf ihr Tanzen nähmen.348 Selbstbezügliche Chöre seien unweigerlich Teil des größeren Feldes von Selbstreflexivität, ja Metatheatralität des Attischen Dramas: Das Betonen ihrer rituellen kollektiven Identität 344 345 346 347 348

Vgl. HF 676 µετ’ ἀµουσίας; 677 ἐν στεφάνοισιν; 682 παρά τε etc.; 683 παρά τε etc. Dies gilt unter Annahme der Konjektur (HF 687). S. Henrichs 1994/5; vgl. ders. 1996a; 1996b. Henrichs 1994/5, S. 58. Vgl. ebd.

418

B.II

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als tatsächliche Ausführer der Choreia verankere sie auch in der konkreten Aufführungssituation, im äußeren rituellen Rahmen des Stückes.349 Henrichs betont, dass selbstreferentielle Äußerungen durchaus nicht auf die dramatische Rolle der Chöre beschränkt blieben, andererseits aber die dramatische Illusion nicht gebrochen werde.350 Die dramatische Rolle werde vielmehr kurzfristig erweitert. Als Figuren der Dramenhandlung fasse der Chor seine Choreia als emotionale Reaktion auf die Geschehnisse, sodass Selbstbezüglichkeit organisch in die Fiktion eingebettet werde. Neben den ganz direkten Formen von rituellem Selbstbezug, der Anrufung etwa von mit der Choreia assoziierten Gottheiten, vollführten viele Chöre aber auch andere Rituale. Hier nun argumentiert Henrichs, dass diese Rituale ebenfalls nicht auf die dramatische Handlung beschränkt blieben, sondern mittels der Aktualität der Choreia – die ja immer im Kontext der rituellen Verehrung einer Gottheit stehe – gleichzeitig ihren Weg in Raum und Zeit der konkreten Aufführungssituation fänden. So stelle ein selbstbezüglicher Chor eine Verbindung dar zwischen der realen Kultwelt der Dionysien und der virtuellen religiösen Welt der Tragödien: „Ritual as dramatized in tragedy thus creates its own space, its own temporality, whether it is performed in the past or in the present“351. Henrichs’ Ansatz gehört in ein weiteres theoretisches Feld, das den dramatischen und insbesondere den tragischen Chortanz – dazu in der weiteren Konsequenz das Drama selbst – dezidiert als Ritual auffasst und die Funktion des Chores als eine zwischen dem rituellen Rahmen des dionysischen Aufführungskontextes und dem Mythos der dramatischen Welt mittelnde.352 Die Selbstreferenzen des Chores zeigen den Vollzug des Rituals im Hier und Jetzt an und dienen zugleich dazu, „das rituelle Tun, 349 350 351

352

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 58f. Vgl. ebd., S. 59; das Zitat ebd. Die Nicht-Gebundenheit des Chores an nur eine einzige zeitliche und räumliche Sphäre, sein Oszillieren zwischen ihnen, wird insbesondere deutlich in Henrichs’ zentraler Analyse von Sophokles’ Oedipus Tyrannus ausgehend von dem vieldiskutierten Vers 896 des Chores; τί δεῖ µε χορεύειν; / „Warum soll ich denn tanzen?“ S. ebd., S. 65-73. S. für Forschungen in diesem Sinne die Literaturangaben bei Bierl 2001, S. 37 Anm. 62 sowie Bierl 2001 u. 2011 selbst; darüber hinaus exemplarisch die Beiträge der Sammelbände Csapo u. Miller 2007 und Gagné u. Hopman 2013 sowie die jüngst erschienene Monographie von Calame 2017. Für die Gegenposition s. etwa Scullion 2002. Für die assoziierte Frage nach der Relevanz

4

Musen

419

nämlich das Tanzen zu Ehren des Dionysos in der Orchestra, ins Spiel zu integrieren“353. In der zweiten Strophe des zweiten Stasimons des Herakles sind die selbstreferentiellen Äußerungen einerseits inhaltlich durch die Bezugnahme auf die eigene Choreia markiert,354 andererseits durch die Verben in der ersten Person355. Insbesondere die beiden Verbformen im äußeren Rahmen der Partie – παύσοµαι (HF 673) und καταπαύσοµεν (HF 685) – sind dabei von Bedeutung: Denn das Futur kann als ‚performatives Futur‘ aufgefasst werden, das einen Sprechakt bezeichnet, in dem Ankündigung und Vollzug der Handlung in Eins fallen, und das der rituellen Sprache eigen ist.356 Als solches ist in jedem Fall die Form κελαδήσω (HF 694) in der Gegenstrophe zu bezeichnen, die inhaltlich eindeutig auf den Gesang bezogen ist.357 Performativen Charakter kann auch τοι (HF 679) tragen, da das Wort ein Publikum voraussetzt.358 Eine zusammenfassende Äußerung Bierls zeigt, wie auch die Zuschauer potenziell in diesen performativen Akt mit einbezogen werden, sodass gewissermaßen die vollständige Mimesis, wie anlässlich der Erwähnung der Delischen Mädchen beschrieben, erreicht werden kann:

353

354

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des Dionysos in der Tragödie s. auch unten Abschnitt B.II.4.1.3.3. Bierl 2001, S. 64. Bierl nimmt ebd., S. 11-64 eine systematische Verortung des performativen Charakters der Selbstreferentialität des dramatischen Chores vor, zum einen ritualtheoretisch, zum anderen sprachwissenschaftlich im Rahmen von Austins Sprechakttheorie. Dies betrifft nicht nur die Bezüge auf das Singen und Tanzen sowie die damit assoziierten Gottheiten, sondern auch konkreter die Kränze (HF 677: στεφάνοισιν) und Aulos (HF 684: Λίβυν αὐλόν), die Elemente der Dramenaufführung sind, vgl. Henrichs 1996a, S. 55: „The wreath and the pipe (aulós) constitute conspicuous attributes of choral performance. Indeed, all dramatic choruses […] were normally accompanied by the aulós-player while dancing in the orchestra. For this reason, tragic choruses, like this one, employ the aulós as a symbol of their own dancing […].“ Vgl. HF 673 παύσοµαι; 676 ζώιην; 677 εἴην; 679 κελαδῶ; 681 ἀείδω; 685 καταπαύσοµεν. S. auch in der Gegenstrophe κελαδήσω (HF 694). Zum ‚performativen Futur‘ s. Henrichs 1994/5, S. 80; Bierl 2001, S. 59f. Zur hier behandelten Stelle im Besonderen s. Henrichs 1996a, S. 55 mit Anm. 19. Vgl. Henrichs 1996a, S. 55 Anm. 19. S. Denniston 21950, S. 537: „τοι […] implies an audience“. Vgl. Bond 1981, S. 239 ad loc.

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Insgesamt ist also das Performative […] vom ‘Ich’ des Sprechers der Äußerung,[sic] durch eine Reihe von deiktischen […] und selbstreferentiellen Hinweisen und Dringlichkeitssignalen […] gestützt, wodurch der reale Äußerungsrahmen des hic et nunc (énonciation) hervorgehoben wird. Je weiter der Prozeß der narrativen Entpragmatisierung voranschreitet, desto komplexer wird vor allem die Identifizierung und Zuordnung dieser Signale. Gerade das für den Sprechakt so wichtige chorische ‘Ich’ kann dann in ein und demselben […] Dramenabschnitt unterschiedlichste Funktionen annehmen. So kann das ‘Ich’/‘Wir’ des singenden Chores in seiner Natur als Scharnier (shifter) die Instanz der Performer, der Gemeinde, fiktionaler dramatischer Charaktere oder gar des Dichters bedeuten und laufend zwischen diesen Rollen fluktuieren.359

Innerhalb des Gedankenverlaufs des zweiten Stasimons liegt hierin, das ist bereits gesagt worden, die besondere Pointe: Denn der performative Aspekt der Selbstreferenzen des Chores bewirkt, dass die Choreia nicht nur inhaltlich als Heilmittel für das Alter präsentiert wird. Vielmehr wird der Augenblick der Aufführung zum Kristallisationpunkt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von allen Orten der Welt und jeder möglichen Ausführung von Gesang und Tanz; insbesondere von den am Geschehen unmittelbar Beteiligten – den Choreuten als Figuren des Stückes und athenischen Bürgern und der Zuschauerschaft – sowie den verglichenen Delischen Mädchen der Gegenstrophe als Choreutinnen zugleich des Mythos und des zeitgenössichen delischen Kultes.360 So vollzieht sich die ‚Verjüngung‘ der thebanischen Greise tatsächlich – als ein Aufgehen in der Universalität von Choreia. 4.1.3.3

Musen und Dionysos

Henrichs hebt hervor, dass selbstbezügliche Äußerungen des Chores häufig in dionysischen Begriffen ihren Ausdruck fänden.361 Er nimmt dabei Bezug auf die von Bierl 1991 vorgelegte umfassende Untersuchung zu 359 360 361

Bierl 2001, S. 61f. Vgl. Henrichs 1996a, S. 58; Nagy 2013, S. 254. S. Henrichs 1994/5, S. 57f. u. 60, der ebd., S. 60 bzw. 94 eine bisher nicht erschienene Arbeit mit dem Titel Dancing for Dionysos: Choral Performance and Dionysiac Ritual in Euripides zu dieser Thematik ankündigt; vgl. Bierl 2001, S. 42.

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Musen

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metatheatralischen und metatragischen Aspekten der Erwähnungen von Dionysos und dionysischer Elemente in der Tragödie. Diese leistet einen entscheidenden Beitrag für eine systematische ‚Rehabilitierung‘ des Gottes für die Gattungsform über Euripides’ Bakchen, die explizit einen Ausschnitt aus dem Dionysos-Mythos behandeln, hinaus. Ausgangspunkt einer langen Debatte in der Forschung ist die schon in der Antike sprichwörtlich gewordene Frage, was die im Kontext des Dionysoskultes angesiedelte Tragödie eigentlich mit ihrem Gott zu tun habe.362 In der aktuellen Forschung wird die Antwort – von der man weitestgehend einig ist, dass sie nicht „Nichts!“ laute – auf verschiedenen Ebenen gesucht.363 So können etwa auf inhaltlicher Ebene bestimmte Muster, die dem Dionysosmythos entstammen oder das Wesen des Gottes betreffen, auf Figuren oder die Entwicklung der Handlung übertragen werden – beispielsweise wird das Polare364 in Dionysos bisweilen innerhalb der Handlung oder im Zusammenspiel von dramatischer Handlung und Chorliedern ausgelotet.365 Auf metatragischer Ebene kann sich Dionysos als dramaturgisches

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S. für einen übersichtlichen Abriss der Forschungsgeschichte, für einen welchen sich „the fashionable way to begin its portrayal […] with a recusatio of the Cambridge Ritualists“ herausgebildet hat, etwa Kowalzig 2007a, S. 2216 (das Zitat ebd.); Bierl 2011, S. 319f. S. für einen Überblick Kowalzig 2007a, S. 225f.; Bierl 2011. Die Gegenposition vertritt Scullion 2002, von Bierl 2011, S. 320 als „völlig überzeichnete und unzutreffende Einzelstimme, die einen Rückfall in positivistische Positionen bedeutet“ bewertet. Bierl 2011, S. 316 nennt – neben den den orphischen Knochenplättchen von Olbia entstammenden Paaren „Leben – Tod – Leben“, „Frieden – Krieg“, „Wahrheit – Lüge“ – die Gegensatzpaare „Frau – Mann, Gott – Mensch/Tier, Licht – Dunkel, Polis – Land, Drinnen – Draußen, Fremde/Ausland – Heimat, Grieche – Barbar, Zivilisation – wilde Natur, Kosmos – Chaos, Idylle – Gewalt, Freude – Leid, Lachen – Destruktion, Ruhe und Wohlgeordnetheit – Gewalt und Wahnsinn, heitere Festlichkeit – Ekstase.“ Er führt ebd. weiter aus: „Dionysos bedeutet allerdings weder die reine Antithese noch die viel zitierte coincidentia oppositorum. Vielmehr berühren sich die beiden Seiten in gegenstrebiger Spannung, wobei die Pole fast als energetische Vitalkräfte zu verstehen sind, die sich in permanentem Austausch und in dynamischer Wechselwirkung befinden.“ S. beispielsweise ebd., S. 321f. u. passim; Schlesier 1993; vgl. Kowalzig 2007a, S. 225.

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Prinzip in der Struktur der Handlung bemerkbar machen.366 Nicht zuletzt können, wie eingangs bemerkt, neben Selbstreferenzen des Chores auch direkte Nennungen des Dionysos und dionysischer Elemente auf den Aufführungskontext verweisen.367 So bildet Dionysos – nicht notwendig explizit – Rahmen und Bezugspunkt des Geschehens. Hinsichtlich des zuletzt genannten Punktes fungiert Dionysos Bierl gemäß ebenso wie die Selbstreferenz als shifter zwischen den beiden kommunikativen Handlungssystemen – der Handlung des Stücks sowie dem rituellen Rahmen der Aufführung.368 In der hier betrachteten zweiten 366

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So vertritt Bierl 1991 die These, „daß Dionysos in zunehmendem Maße als ‘metatragisches’ Zeichen verstanden wurde, mit dessen Hilfe die Tragödie auf sich selbst zurückverweist. Trotz individuell unterschiedlicher Vorlieben, von diesem Zeichen Gebrauch zu machen, […] kann man bei den drei Tragikern insgesamt von einem wachsenden Bewußtsein dafür sprechen, Dionysos und das Dionysische neben den kultischen Implikationen als Inkarnation der Dramaturgie zu begreifen und entsprechend in den tragischen Texten einzusetzen“ (ebd., S. 223; vgl. ders. 2011, S. 321-8). Er überträgt also die metatragische Lesart, die für die Bakchen spätestens mit Segal 1982 ihren Weg gemacht hat, auf die griechische Tragödie insgesamt. S. für eine solche Lesart der Bakchen auch Foley 1985, S. 205-58; Goldhill 1986, S. 259-86; Schwartz 2013; gegen eine solche Lesart äußert sich Radke 2003. S. Bierl 1991, passim; Henrichs 1994-5; 1996a; 1996b; Bierl 2001, S. 42; 2011, S. 321f.; 2013, S. 367; vgl. Kowalzig 2007a, S. 225. Bierl 2001, S. 44 weist auch in Hinsicht auf Nennungen des Dionysos (dazu speziell ebd., Anm. 79) darauf hin, dass die hier relevanten Begriffe ‚metatheatralisch‘ und ‚selbstreferenziell‘ nicht per se äquivalent seien: „Selbstreferentialität sollte von Metatheater begrifflich noch weiter abgegrenzt werden, als es bisher geschah. Während wir dramatische Selbstbezüglichkeit als Sprechweise verstehen, in der man auf das eigene Tun der sich im Hier und Jetzt vollziehenden Performance, beziehungsweise der rituellen Handlung, verweist, hat Metatheater mit problematisierendem, reflektierendem Sprechen über das ästhetische Phänomen des Theaters im Theater zu tun. Da die Grenzen zwischen Ritual und Theater fließend sind, überlappen sich beide Begriffe. Je nachdem, ob man auf den Chortanz, die Maske und das Kostüm eher von der Perspektive des Rituals und des Aufführungsvollzugs oder vom Blickwinkel des Theaters als ästhetisches Eriegnis schaut, ist der Terminus Selbstbezüglichkeit oder Metatheater angebrachter.“ Den Begriff „shifter“ etabliert Bierl 2001, S. 20: „Die Scharnierstelle zwischen den kommunikativen Handlungssystemen bildet das Performative, das die fiktionale, mit allen theatralischen Zeichen hergestellte Bühnenaktion, die

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Musen

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Strophe des zweiten Stasimons (HF 673-86) erscheint, wie bereits gesehen, zum ersten Mal ein direkter Verweis auf Dionysos und die ihm zugeordneten Bereiche: ἔτι τοι γέρων ἀοιδὸς κελαδῶ Μναµοσύναν, ἔτι τὰν Ἡρακλέους καλλίνικον ἀείδω παρά τε Βρόµιον οἰνοδόταν παρά τε χέλυος ἑπτατόνου µολπὰν καὶ Λίβυν αὐλόν.

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Wahrlich, noch als greiser Sänger | besinge ich laut Mnemosyne, | ich singe noch das Siegeslied | des Herakles | bei Bromios, dem Weinspender | und bei der siebentönigen Lyra | Weise und beim libyschen Aulos. E. HF 678-84

Innerhalb der dramatischen Handlung ist Dionysos mit seinen Gaben Teil der Feststimmung, die die alten thebanischen Sänger im Jubel um Herakles’ Rückkehr erzeugen wollen.369 Musik und Wein dienen zugleich der Linderung der Sorgen und so auch des Alters:370 So zeigt es das ἔτι (HF 678; 680), das mit dem γέρων ἀοιδός (HF 678) kommuniziert.371 Auch

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Sprach- und die Ritualhandlung zum emotional wirksamen Spektakel vermengt. Das von Roman Jakobson entwickelte linguistische Modell von shifters – dies ist eine Kategorie doppelt strukturierter Wörter, die als konventionelle Symbole gleichzeitig eine indexikalisch-deiktische Komponente mit sich führen und somit auf das zu repräsentierende Objekt, das heißt die äußere Kommunikationssituation, auf die eigentliche Äußerung oder énonciation real verweisen – wird dabei auf den Bereich des Performativen übertragen. Denn auch hier wird sowohl auf das erzählte oder fiktionale Geschehen (procès de l’énoncé) als auch auf das Äußerungsereignis (procès de l’énonciation) Bezug genommen.“ Zu Dionysos als shifter s. ebd. In Bierl 1991 ist dieser Begriff noch nicht verwendet, das zugehörige Phänomen wird nur umschrieben; vgl. ebd., passim. Vgl. Bierl 1991, S. 83 u. 142 und Abschnitt B.II.3.4. Vgl. Bierl 1991, S. 83f.; Wilson 1999-2000, S. 434f.; Henrichs 1996a, S. 60. Scodel 1980, S. 315 weist darauf hin, dass die so bedeutende Selbstcharakterisierung des Chores als γέρων ἀοιδός (HF 679; 692) in der zweiten Strophe und Gegenstrophe jeweils an der gleichen Position steht. Eine weitere Verbindung schafft das Verb κελαδῶ (HF 680) bzw. κελαδήσω (HF 694). Vgl. auch

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als Mysteriengott, der die Verheißungen einer zweiten Jugend oder eines zweiten Lebens gewährt, hat Dionysos seinen Platz in der inneren Gedankenlinie des epinikischen Liedes.372 Zugleich trägt insbesondere der Verweis auf das Instrument des Gottes, den Aulos, zu dessen Klängen sich der Chor ja tatsächlich in der Orchestra bewegt, auch selbstreferentiellen Charakter.373 Und der Polisgott Dionysos schafft mit seinem Kult Einigkeit nicht zuletzt auch bei dem Fest, in dessen Rahmen die Tragödie aufgeführt wird: den Großen Dionysien.374 So ertönt das Bekenntnis, mit Dionysos als shifter, zugleich aus dem Munde der thebanischen Alten und in besonderem Maße auch aus dem der attischen Bürger, die als Choreuten auftreten. Inhaltlich werden auch die Musen – ebenso wie Dionysos – sowohl den Ansprüchen epinikischer Dichtung an sich als auch der vorliegenden spezifischen Ausführung zur Sportart des Hades-Doppellaufs gerecht. So sind die Göttinnnen im Epinikion Bezugspunkt des Lobpreisenden im Allgemeinen; insbesondere die in V. 673-5 geäußerte Verbindung zu den Chariten verleiht seinem Tun in Beziehung zum Gelobten Ausdruck.375 Darüber hinaus sind die Musen auch selbst – als Göttinnen sowie über

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Bond 1981, S. 241f. zu E. HF 679. Die beiden Passagen, die im Falle der zweiten Strophe die Präsentation der Choreia als Mittel zu Verjüngung beinhalten, im Falle der Gegenstrophe deren eigentlichen Vollzug in der Parallelisierung mit den Delischen Mädchen, sind auf diese Weise auch über wörtliche Übereinstimmungen miteinander in Beziehung gesetzt. Für bakchische Mysterien, die schon ab dem 5. Jh. v. Chr. bezeugt sind, s. zur Übersicht die Einführung von Seaford 2006, S. 49-86 zu Dionysos als Mysteriengott sowie die Zusammenfassung bei Burkert 2011a, S. 19 mit den dortigen Literaturverweisen. Auch das Trinken von Wein ist Teil des Mysterienritus, s. Bernabé und Jiménez San Cristóbal 2011, S. 82-4. Zum selbstreferentiellen Charakter des „libyschen Aulos“ (HF 684: Λίβυν αὐλόν) sowie der in HF 677 genannten Kränze s. Henrichs 1996a, S. 55 und oben Abschnitt B.II.4.1.3.2. Vgl. Bierl 1991, S. 84: „[D]as Lied erzeugt im dionysischen Kultzusammenhang Einigkeit der Polis. Diese Form der kultischen Dionysosverehrung entspricht auch ganz derjenigen in Athen zur Zeit der dramatischen Aufführungen. Und so tritt der Chor in gewisser Weise auch aus seiner mimetischen Rolle in Theben heraus und gewinnt dank seiner Zusammensetzung aus attischen Bürgern mit ihren besonderen kultischen Vorstellungen zusätzlich an Kontur.“ Vgl. ferner ebd., S. 142. Vgl. oben Abschnitt B.II.4.1.1.3.

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Musen

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den ihnen zugeordneten Bereich der Musik – im Kultzusammenhang der Mysterien präsent.376 Dies gilt auch für weitere der in der zweiten Strophe genannten, der Sphäre der Musen angehörige Elemente: Von den mehreren Kontexten zugehörigen Kränzen (HF 677) war bereits die Rede.377 Auch der erste Teil des Verspaares – „Möge ich nicht leben ohne Musenkunst“ (HF 676: µὴ ζώιην µετ’ ἀµουσίας) – ist neben einem Bekenntnis zur Musenkunst im Allgemeinen auch in der Mysterienthematik verhaftet, in der Wissende Unwissenden gegenüberstehen.378 Im Rahmen der dionysischen Mysterien stellt darüber hinaus die Choreia einen elementaren Bestandteil des Ritus dar.379 Die vom Chor präsentierte und absolvierte Verjüngung mittels Choreia ist damit nicht nur eine eigens von den thebanischen Alten anlässlich Herakles’ Rückkehr konstruierte, dem epinikischen Schema angepasste Idee, sondern durchaus auch kultische Wirklichkeit für Athen.380 Ein Verbindungsglied zwischen Musen und Mysterien bildet zudem die in V. 679 genannte Musenmutter Mnemosyne, die sowohl für die Dichtung als auch im Mysterienritus eine entscheidende Rolle spielt.381 So wird laut Hardie im zweiten Stasimon wie auch in anderen ab dem 5. Jh. v. Chr. bekannten Zusammenhängen ein „conceptual nexus embracing memorialization in poetry, heroization, and the mysteries“382 fassbar.

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S. Hardie 2004. Vers 677 lautet: ἀεὶ δ’ ἐν στεφάνοισιν εἴην· / „Möge ich immer in Kränzen sein.“ Vgl. oben Abschnitte B.II.4.1.1.3 u. 4.1.3.2. S. Hardie 2004, S. 21-23 für den Zusammenhang von Musen, Bildung bzw. Wissen und Mysterien. Für die existentielle Dimension des hier zurückgewiesenen Zustands der ἀµουσία – ohne Verknüpfung zu den Mysterien – s. Halliwell 2012, insbes. S. 22-6 für die Passage HF 673-86. Vgl. auch oben Anm. 314. S. Hardie 2004, S. 19-21 und passim. Vgl. ebd., S. 30: „The ode plainly articulates the idea of initiation through choric mousikē […].“ Vgl. ebd., S. 30-2. Hardie liest mit Scodel das zweite Stasimon des Herakles angesiedelt „at the intersection of ideas of eschatological hope and immortality in poetry“ (ebd., S. 30); Euripides schaffe eine Verbindung „of eschatological and poetic ‘memory’“ (ebd., S. 31). Vgl. Scodel 1980, S. 315. Mnemosyne erscheint dabei prominent in den sog. ‚orphischen‘ Goldblättchen; s. für eine Zusammenstellung jüngerer Forschungen Edmonds 2011. Hardie 2004, S. 31.

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Euripides macht sich diese Verbindung zu eigen, wobei zwei Punkte Beachtung verdienen: Erstens bleibt sie nicht auf das zweite Stasimon beschränkt, sondern färbt das gesamte Stück. Dafür sorgen die Bildstränge, die in diesem Chorlied zusammentreffen, in beschriebener Weise in Beziehung zueinander treten und von hier aus nach beiden Richtungen ins Stück hinein strahlen. Den Kern des Liedes, der die entscheidenenden Assoziationen miteinander verknüpft, bildet die zweite Strophe. Auf die besondere kompositorische Stellung, die den Musen darin zukommt, ist bereits verwiesen worden.383 Sie hat zur Wirkung, dass die Göttinnen den unterschiedlichen Bildsträngen gleichsam präsidieren. Zweitens bewirken Selbstreferentialität und Dionysos als shifter, dass der benannte ‚konzeptuelle Nexus‘ nicht auf einer sprachlich-bildlichen Ebene verharrt, sondern in die Realität aktual vollzogenen Rituals hineingehoben wird. Dies betrifft zunächst vor allem den Chor selbst, zeigt aber ebenso Auswirkungen auf die programmatische Entwicklung des Herakles zum athenischen Kultheros. Die im zweiten Stasimon erstmals präsentierte Kombination von Gottheiten aus Musen (mit Apoll) und Dionysos umschreibt hierfür den erforderlichen Rahmen. Beides wird im Folgenden noch ausführlicher zur Sprache kommen. 4.2

Die rituelle Dimension der Kultheroenerschaffung II: Das dritte Stasimon

Das dritte Stasimon (HF 763-814) ist angesiedelt unmittelbar nach der Tötung des Lykos (HF 701-61) und vor dem Auftritt von Iris und Lyssa (HF 815-85), in dessen Folge Herakles von Wahnsinn befallen wird. Nach der Tötung des Lykos, die der Chor auch mit Ausdrücken der Musik kommentiert,384 leitet er mit einer selbstreferentiellen Äußerung, begründet aus der Freude über den Tod des Feindes,385 das dritte Stasimon ein: πρὸς χοροὺς τραπώµεθα Lasst uns uns zum Tanzen wenden! E. HF 761

383 384 385

S. oben Abschnitt B.II.4.1.3.1. S. oben Abschnitt B.II.3.3.1. Vgl. Henrichs 1996a, S. 60.

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Musen

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Das Lied feiert jubelnd die Wendung des Schicksals, die sich ereignet hat. Durchaus sind in dieser überschwänglich hymnischen Partie auch epinikische Elemente enthalten – ebenso wie Schlagworte, die Mysterienterminologie evozieren.386 Auch hier zeigt sich der Chor in ganz besonderer Weise als laudator und Verehrer des Herakles. Bond konstatiert zum Charakter des Liedes: „This ode is evidently accompanied by vigorous dancing […].“387 Zugleich schüfen die Wortwiederholungen in den ersten beiden Strophen eine rituelle Atmosphäre.388 4.2.1 ‚Choral projection‘ und Heroenkult In den Versen 781-9 fordert der Chor die Landschaft in und um Theben auf, in den jubelnden Tanz und Gesang einzustimmen.389 Ein hier relevantes Phänomen, das Henrichs benennt,390 ist das der ‚choral projection‘: Choral projection occurs when Sophoklean and Euripidean choruses locate their own dancing in the past or the future, in contrast to the here and now of their immediate performance, or when choruses project their collective identity onto groups of dancers distant from the concrete space of the orchestra and dancing in the allusive realm of the dramatic imagination.391 386

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Swift 2010, S. 131-3 liest das dritte Stasimon unter epinikischen Aspekten. – Den Raum der Mysterien berühren vor allem die Verse 765-71, in denen µεταλλαγαί (HF 765; 766; vgl. 734 µεταβολὰ κακῶν, 739 παλίρρους πότµος) und ἐλπίς (HF 771; vgl. 797 ἱερὸν φῶς) bestimmend sind, und ebenso die direkten Anspielungen auf Herakles’ Anabasis in HF 770 und 807f.; s. auch oben Abschnitt B.II.3.5. Bierl 1991, S. 140-6 liest die genannten Begrifflichkeiten metatragisch; Dionysos werde darin als angewandtes dramaturgisches Prinzip des Stückes offenbart, dessen Handlung von unerwarteten, schicksalhaften Umschwüngen bestimmt sei. Bond 1981, S. 263 zu HF 763-814. Vgl. HF 763 χοροὶ χοροὶ; 765f. µεταλλαγαὶ γὰρ δακρύων | µεταλλαγαὶ συντυχίας; 772 θεοὶ θεοὶ; dazu Bond 1981, S. 265f. zu HF 763ff. S. ausführlicher unten Abschnitt B.II.4.2.2. S. Henrichs 1996a; vgl. ders. 1994-5, S. 74-85. Henrichs 1996a, S. 49. Choral projection fasst Henrichs als „less emphatic corollary“ (ebd., S. 55) von choral self-referentiality.

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Für Henrichs ist choral projection immer Zeichen für einen Chor, der tragisch die unheilvollen Konsequenzen der gegenwärtigen Situation verkennt und sich immer weiter entfernt von der Realität der dramatischen Handlung.392 Im Herakles beginne diese Entwicklung bereits bei der Projektion auf die Delischen Mädchen im zweiten Stasimon (HF 687-94), setze sich fort im dritten Stasimon unmittelbar vor der Katastrophe mit der übersteigerten Einladung an die Landschaft Thebens, mit einzufallen in Sang und Tanz (HF 781-97);393 sie erreiche einen vorläufigen Höhepunkt bei der Beschreibung des rasenden Herakles, „the victim rather than the beneficiary of choral projection“394, als eines anti-dionysischen Choreuten.395 Der eigentliche Höhepunkt, „the climax of the pattern of perverted khoreía“396, werde erreicht nicht durch eine Äußerung des Chores, sondern des Boten, der in seinem Bericht der schrecklichen Ereignisse die Kinder als zum Reinigungsritual um den Altar gruppierten „χορὸς […] καλλίµορφος […] τέκνων“ (HF 925) bezeichnet.397 Doch die scheinbare ironische ‚Entfernung‘ des Chores vom dramatischen Geschehen kann noch einen Schritt weiter gedacht werden. Denn die Reaktionen der thebanischen Greise, die auf den ersten Blick – nämlich hinsichtlich der vorangegangenen Ereignisse in der dramatischen Handlung – angemessen scheinen und sich auf den zweiten Blick – nämlich hinsichtlich der folgenden Ereignisse in der dramatischen Handlung – 392

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394 395 396 397

Vgl. ebd., S. 54: „In the plays of Sophokles, the exuberance of choral selfreference invariably signals a chorus out of touch with the tragic events on stage and with the approaching fate of the principal characters. In play after play […] Euripides, too, exploits this sort of choral irony with increasing frequency. In particular, he magnifies the conflict between the cultic reality and the tragic dramatization of ritual performance by undercutting the normalcy of choral dancing in the orchestra. He achieves this by means of choral projection, through which the chorus may establish an ironic distance between its own collective character and the action of the play.“ Vgl. auch ebd., passim. Rutherford 2001, S. 114f. fasst das zweite ebenso wie das dritte Stasimon in der Folge unter die Kategorie „joyful ode that precedes a disaster“ (ebd., S. 115). Henrichs 1996a, S. 61. Vgl. ebd., S. 62. S. zur Darstellung von Herakles’ Wahn als zugleich dionysischem und nicht-dionysischem Tanz Abschnitt B.II.3.4. Henrichs 1996a, S. 62. Vgl. ebd. Zur Signifikanz des Bildes vom „Chor“ der Kinder in HF 925 s. auch Wilson 1999-2000, S. 437f.

4

Musen

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als vorschnell erweisen, sind beim dritten Hinsehen wieder durchaus richtig: Auf der Ebene athenischen Kultes, d. h. außerhalb der dramatischen Handlung in der Jetzt-Zeit des Publikums, in die auch die Aufführung des Dramas selbst fällt und in die seine Handlung mittels des aitiologischen Ausgangs münden wird, ist ein überschäumend freudiges Preisen des Kultheros Herakles adäquat. Als ein shifter dieser beiden Sphären, um den von Bierl etablierten Begriff in leicht abweichendem Zusammenhang zu verwenden, fungiert im zweiten Stasimon nicht zuletzt der Ausdruck „τὰν Ἡρακλέους | καλλίνικον“ (HF 681) mit seinem Signalwortcharakter in Bezug auf den Herakleskult auf der einen und dem zum aus der Handlung heraus begründbaren epinikischen Charakter auf der anderen Seite. Gleiches gilt für „τὸν Ἡρακλέους | καλλίνικον ἀγῶνα“ (HF 788f.) im dritten Stasimon.398 Zudem wird Herakles ein geradezu göttlicher Status verliehen. Dies folgt zugleich aus der allgemeinen Linie des zweiten Stasimons wie aus der impliziten Parallelisierung mit Apoll in V. 68795 zusammen mit der Konfirmierung der göttlichen Herkunft in V. 696. Auch im dritten Stasimon ist Herakles’ göttliche Herkunft Thema (HF 798-814); die Aufforderung an Theben, Helikon und Parnass zum Lobpreis (HF 781-97) wirkt auf den ersten Blick übersteigert. Innerhalb der Handlung birgt dies in der Tat Gefahren: Heracles is lauded with an extravagance which suggests a hymn in honour of a god, and we note in particular the absence of the frequent Pindaric warning that mortal victors are not gods. […] For the chorus elevate their hero to so dangerous a height that his fall becomes almost inevitable.399

Für den Kultzusammenhang jedoch – den heros-theos400 Herakles – ist diese Erhöhung angemessen; der Chor bestreitet beide Ebenen.401 Die

398 399 400 401

Vgl. auch oben Abschnitt B.II.3.2.1. Parry 1965, S. 364, zum zweiten Stasimon. Vgl. Bierl 1991, S. 144; Rutherford 2001, S. 115. Zu Herakles als heros-theos s. Burkert 2011b, S. 319-24; Stafford 2012, S. 171-4. Vgl. insges. Sourvinou-Inwood 2003, S. 363 zum zweiten Stasimon: „The second strophe and the second antistrophe take the form of a hymn to Heracles, and involve, above all the second strophe, strong choral-self-referentiality, which activates the persona of the chorus in the present, in which Heracles is

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B.II

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Ambiguität von Herakles’ Identität wird auch an anderer Stelle im Stück verhandelt und erzeugt dort eine Spannung zwischen dem ‚inneren‘ Wissen um den Status der Figur innerhalb des narrativen Systems und dem ‚äußeren‘ Wissen um seinen kultischen Status.402 Aufgrund der ersten obigen Feststellung, dass auch innerhalb der Handlung die Reaktion des Chores durchaus den Geschehnissen angemessen sei, stellt Barbara Kowalzig den Begriff choral projection insgesamt in Frage. Sie verknüpft dies mit der Beobachtung, dass Tragödienchöre, wie ja auch Henrichs’ Betrachtungen zu choral self-referentiality und choral projection zeigten, immer ‚dionysischer‘ würden – gerade je mehr sie emotional in die dramatische Handlung involviert würden:403 Indeed, even to speak of ‘choral projection’ is perhaps misleading: choral projection is not an exceptional state for the choros to be in but what the tragic ritual is really about. One might think that, while myth and ritual, play and polis, converge in their performance, regardless of time and space […], passages of choral self-referentiality do not project the choros into a distant realm of Dionysiac revel but rather project the audience into the orchestra and make it part of the ‘ritual’ occurring on stage. The tragic choroi exploit the fundamental strategy of Dionysiac ritual, integrating the participants in a ritual that merges the ritual present of the polis with the mythical past of the play. This means that the audience, just like the performing choros, can also become more or less Dionysiac; passages of choral self-referentialiy seem to emerge as a way of moving to and away from the god and […] to and away from the – perhaps also ritual – action on stage.404

Kowalzig betrachtet ‚choral projection‘ – der Begriff sei hier zur Bezeichnung des angewandten Schemas dennoch genannt – somit weniger als ironisierendes Mittel denn als Mittel zur Erschaffung einer zeitlosen, allum-

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a god, and the recipient of hymns. It is in this context of choral self-referentiality, which situated the statement in the present, that the audience would have understood the chorus’ view that Heracles is worthy of paeans in the same way that Apollo is worthy of paeans […].“ Vgl. Kowalzig 2007a, S. 241. S. auch oben Abschnitt B.II.3.2.1. Vgl. ebd., S. 236. Kowalzig fasst dieses Ergebnis ebd. prägend in folgende Bemerkung: „The more the choros participates in the dramatic illusion, the more they are ritually overwhelmed by Dionysus.“ Ebd., S. 236f.

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fassenden rituellen Sphäre. Gleiches gelte für Selbstreferentialität, die nicht nur dazu diene, eine verbindenende ‚Brücke‘ zwischen mythischer Vergangenheit der Dramenhandlung und Aufführungssituation zu erschaffen, sondern eben beide Sphären ganz eigentlich im Ritual miteinander zu verschmelzen. Sie bemerkt ferner, dass die Entwicklung zu einem immer ‚dionysischeren‘ Chor oft mit mystischer Metaphorik einherginge405 und deutet die Funktion solcher Chöre – nicht zuletzt anhand des Herakles – insbesondere in Stücken, die mit einem Aition zur Stiftung eines Heroenkultes enden. Wie bereits umfassend zur Sprache gekommen ist,406 findet Herakles’ ‚Verwandlung‘ in einen athenischen Kultheros unter mystischen Vorzeichen statt, im letzten Schritt durch seine virtuelle Katabasis und die virtuelle Anabasis mittels Theseus’ athenischer Freundschaft.407 Dieser Vorgang nun wird, wie Kowalzig feststellt, begleitet von dem immer dionysischeren Chor: „The play shows better than others how heroic death and Dionysiac frenzied choroi are carefully intertwined, as if the dying of heroes were consistently enacted under the auspices of mystic gods.“408 Die Chöre aber bestünden oft aus den rituellen ‚chorischen‘ Verehrern des heroisierten bzw. zu heroisierenden Charakters409 – wie sich ja auch im Herakles nicht zuletzt im zweiten Stasimon gezeigt hat, aber auch in den anderen Oden des Stückes sichtbar wird. In erster Linie handle es sich aber doch – auf pragmatischer Ebene gemäß dem Aufführungskontext, im Drama gemäß der dionysischen, von selbstreferentiellen Äußerungen begleiteten Fortentwicklung – um einen Chor des Dionysos.410 Hier nun, in der durch die Selbstreferentialität des Chores geschaffenen zeitlosen Ritual-Sphäre, finde in ganz eigener Weise eine athenische Aneignung des

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S. ebd., S. 237-41. S. oben Abschnitt B.II.3.5. Auch Kowalzig 2007a, S. 239-41 erkennt die sprachlichen Verweise auf den Bereich (dionysischer) Mysterien, jedoch nicht in der vollen Tragweite der durch den Bildstrang kreierten Struktur. Sie verweist ebd., S. 236-9 auch auf andere Tragödien mit aitiologischem Ausgang, in denen die Mysterienthematik eine vergleichbare Rolle spielt. Ebd., S. 241. Vgl. ebd., S. 243. Vgl. ebd.

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Kulthelden statt: „By giving the heroes’ choroi to Dionysus, the plays are, as it were, cunningly turning non-Athenian myth into Athenian ritual.“411 ‚Giving the heroes’ choroi to Dionysos‘ – im Folgenden soll dieser Vorgang ausgehend vom dritten Stasimon eingehender untersucht werden. 4.2.2 „Giving the […] choroi to Dionysos“ Zu Beginn des dritten Stasimons bestimmt der Chor die Tötung des Tyrannen zum Freudenanlass für die ganze Stadt: χοροὶ χοροὶ καὶ θαλίαι µέλουσι Θήβας ἱερὸν κατ’ ἄστυ. µεταλλαγαὶ γὰρ δακρύων, µεταλλαγαὶ συντυχίας < > ἔτεκον ἀοιδάς.

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Tänze, Tänze | und Festesfreuden liegen an in der | heiligen Stadt Theben. | Der Wandel der Tränen, | der Wandel des Glückes […]412 haben Lieder hervorgebracht. E. HF 763-7

Nach einigen Versen, die sich mit dem Wechsel vom unrechtmäßigen zum rechtmäßigen Herrscher mit konkretem Bezug auf Lykos und Herakles (HF 768-70), dann gnomisch mit den Göttern, Recht und Unrecht befassen (HF 772-80), wendet sich der Chor direkt an diese Stadt: 411

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Ebd., S. 244. Wichtig sind die Implikationen dieses Schlusses, die Kowalzig ebd. folgendermaßen abwägt: „It is difficult not to conclude that tragedy as a ‘new’ choral form presents a ‘new’ way of performing heroic ritual, but what exactly this ‘new’ form of heroic ritual does for the Athenians, and how, will need further scrutiny. […] It is less important to decide whether tragedy itself was perceived as a form of heroic ritual than to acknowledge that it seems to behave as if it were, exploiting traditional forms of choral ritual and making them accessible to the watching democratic citizenry.“ Zur – metrisch notwendigen – angenommenen Lücke bemerkt Bond 1981, S. 266 ad loc.: „A word […] has dropped out here; an epithet which would strengthen ἀοιδάς is likely […].“

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Ἰσµήν’ ὦ στεφανοφόρει ξεσταὶ θ’ ἑπταπύλου πόλεως ἀναχορεύσατ’ ἀγυιαὶ Δίρκα θ’ ἁ καλλιρέεθρος, σύν τ’ Ἀσωπιάδες κόραι πατρὸς ὕδωρ βᾶτε λιποῦσαι συναοιδοὶ Νύµφαι τὸν Ἡρακλέους καλλίνικον ἀγῶνα.

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Ismenos, o trage einen Kranz | und ihr, geglättete Straßen | der siebentorigen | Stadt, tanzt auf | und du, Dirke mit schönem Strom; | und zugleich kommt, ihr Mädchen, Töchter des Asopos, | das Wasser eures Vaters verlassend, als Mitsängerinnen, | ihr Nymphen, im Lied über des Herakles | Agon von schönem Sieg. E. HF 781-9

Hier wird die Landschaft der Thebais aufgespannt: Der Fluss Ismenos, die Straßen der Stadt, die Quelle Dirke, die Nymphen des Flusses Asopos – sie alle werden aufgerufen, in den Lobpreis des Herakles singend und tanzend mit einzufallen. Wie im vorausgehenden Abschnitt schon bedeutet wurde, fasst Henrichs diese Passage unter das Muster der ‚choral projection‘ das sich hier, kurz vor der dramatischen Wendung, zu einem ersten Höhepunkt aufspiele: „the overjoyed khoreutaí succumb to the pathetic fallacy […].“413 Kowalzigs Vorbehalten gegenüber Henrichs’ Begriff gemäß sollte in diesem Aufruf jedoch weniger ein ‚Abheben‘ des Chores als vielmehr die schon erwähnte Erzeugung einer rituellen Sphäre gesehen werden, die das Hier und Jetzt der Aufführung ebenso umfasst wie die mythische Vergangenheit und in der dionysischer Festrahmen und Freudentaumel innerhalb der Handlung zu einer Einheit verschmelzen. In Kowalzigs eigener Beschreibung des immer ‚dionysischer‘ werdenden Chores des Herakles allerdings erzeugt das dritte Stasimon gewissermaßen eine Leerstelle: „Dionysus is absent from the […] flurry of victorious choral dancing celebrating the death of Lycus […].“414 Im Gegenteil aber ist – ganz abgesehen schon von den mystischen Ausdrücken und dem ekstatischen Charakter des Jubels im Allgemeinen – das

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Vgl. Henrichs 1996a, S. 60f.; das Zitat ebd., S. 60. Kowalzig 2007a, S. 240.

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Bild von der singenden, tanzenden Landschaft ein ganz eigentlich dionysisches,415 mag auch der Name des Gottes nicht ausgesprochen sein. Das betrachtete Bild der im Jubel begriffenen Landschaft (HF 781-9) wird in der gleichen Strophe fortgeführt: Πυθίου δενδρῶτι πέτρα Μουσᾶν θ’ Ἑλικωνίδων δώµατα, αὔξετ’ εὐγαθεῖ κελάδωι ἐµὰν πόλιν, ἐµὰ τείχη, σπαρτῶν ἵνα γένος ἐφάνθη, χαλκασπίδων λόχος, ὃς γᾶν τέκνων τέκνοις µεταµείβει, Θήβαις ἱερὸν φῶς.

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Waldiger Fels des Pythiers | und ihr, Heime der helikonischen Musen, | macht groß mit freudigem Klang | meine Stadt, meine Mauern, | wo das Geschlecht der Gesäten erschien, | die Schar der Männer mit den Bronzeschilden, die das Land | den Kindern ihrer Kinder im Wechsel weitergibt, | heiliges Licht für Theben. E. HF 790-7

Der Chor erweitert den Ruf nach Unterstützung in seinem Lied. Es sind wiederum zwei Landschaften, die er anruft, die Berge Parnass (mit Delphi) und Helikon. Sie werden identifiziert über die mit ihnen im Besonderen verbundenen Gottheiten – den „Pythier“ Apoll (HF 790) und die helikonischen Musen (HF 791). Das Verb αὔξετ’ (HF 792) erscheint in besonderer Weise passend: Denn sein übertragener Sinn – ‚vergrößern durch Lobpreis‘, d. h. ‚lobpreisen‘, ‚verherrlichen‘ – trifft den Anlass der Einladung. Sein wörtlicher Sinn mit der potenziell räumlichen Komponente – ‚vergrößern‘, ‚vermehren‘, ‚erweitern‘ – erzeugt ein zwar gewagtes, aber doch treffendes Bild: Die Landschaften der Musik und Dichtung werden gebeten, die Landschaft Thebens „mit freudigem

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Vgl. Cole 2015, S. 62f.; Henrichs 1996a, S. 61 Anm. 49. S. für solche tanzenden oder in anderer Weise ‚agierenden‘ Landschaften in Erwartung des oder in Reaktion auf Dionysos etwa E. Ba. 114; 726; 791; 1295; IT 1242f.; Philod. Scarph. 14-20 mit Käppel 1992, S. 233-6; Philostr. Im. 1, 14, 3; Nonn. D. 44, 6-10. Zum ekstatischen Charakter der Ode als dionysischem Moment s. Bierl 1991, S. 144f.

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Klang“ (HF 792: εὐγαθεῖ κελάδωι) räumlich zu erweitern und so einen umfassenden Raum der Choreia zu erschaffen.416 Die von Kowalzig417 konstatierte ‚Abwesenheit‘ des Dionysos erweist sich auch hier als oberflächlich. Entscheidend ist die Bezeichnung der Landschaften über ihre zugehörigen Gottheiten. Denn gerade dadurch, dass in dem Zuweisungsschema Apoll∼Parnass/Delphi, helikonische Musen~Helikon die Gottheiten benannt sind, gerät für das dritte Element, das explizit benannte Theben, der zugehörige Dionysos als auszufüllende ‚Leerstelle‘ unvermittelt ins Spiel. Auch so zeigt sich der Gott also überaus präsent. Ebenso wie im zweiten Stasimon erscheinen somit auch im dritten Stasimon die Musen und Apoll sowie Dionysos zu einer positiven Dreiheit verbunden. Dieser Verbindung wohnt Bedeutsamkeit bei: So hebt Wilson beispielsweise im Falle der zweiten Strophe des zweiten Stasimons des Herakles die ungewöhnliche Paarung von Dionysos’ Aulos und der Lyra,418 Apolls Instrument par excellence, hervor. Die Lyra habe, wie auch Apoll in der Funktion als Gott der Musik, in der Tragödie sonst selten ihren Auftritt, auch im genreeigenen Diskurs präsentiere sich diese sonst als ἄλυρος.419 Die Anrufung von Apolls Delphi zur Unterstützung in Gesang und Tanz im dritten Stasimon ist demnach ebenfalls als Beson-

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Hier muss bemerkt werden, dass es sich bei αὔξετ’ um eine Konjektur von Fix handelt. Die Handschriften überliefern sogar ἥξετ’, „ihr werdet kommen“. Dazu Bond 1981, S. 275 ad loc.: „ἥξετ’ (L) must be corrupt. We do not want a future and there is a limit to what the rock of Delphi and the Muses’ houses can be asked to do, even for an encomium.“ Die Bemerkung zum Futur ist in der Tat treffend. Was aber Bonds zweiten Einwand angeht, so kann er nicht mit vollem Recht geltend gemacht werden: Bond verkennt den dionysischen Charakter der ganzen Szene (s. etwa seine Anm. 1 ebd.). Unter Umständen ist also als Konjektur auch ein Aorist Imperativ ἥξατ’ in Erwägung zu ziehen, korrespondierend zwar nicht mit dem Präsens στεφανοφόρει (HF 781) aber mit dem sich daran anschließenden Aorist βᾶτε (HF 786). Wilamowitz präferiert Fix’ zweiten Vorschlag ἀχεῖτ’(1843, S. lxii ad loc.), der aber doch vom überlieferten ἥξετ’ sehr verschieden ist. Vgl. Kowalzig 2007a, S. 240 und oben. Vgl. HF 683f.: παρά τε χέλυος ἑπτατόνου | µολπὰν καὶ Λίβυν αὐλόν / „bei der siebentönigen Lyra | Weise und beim libyschen Aulos“. Vgl. Wilson 1999-2000, S. 433-5, insbes. S. 435 zur zweiten Strophe des zweiten Stasimons.

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derheit zu werten. Eine ‚Apollonisierung‘ des Dionysos etwa als Mousagetes, bisweilen auch in Form einer ‚Mänadisierung‘ der Musen, ist ebenso für kultische wie für andere literarische Kontexte verzeichnet – am prominentesten im delphischen Philodamos-Paian für Dionysos.420 Die entsprechenden Stellen in der Tragödie bleiben auf ihren jeweiligen Kontext zu prüfen;421 Jiménez San Cristóbal nimmt für die sophokleischen Zusammenstellungen von Dionysos mit den Musen, auch in Auseinandersetzung mit den Zeugnissen aus anderen Kontexten, eine ‚mildernde‘ Wirkung der Göttinnen auf das Dionysosbild an – mit dem Zweck „to tone down the most savage elements and pernicious effects of the Dionysiac religion“.422 Im Lichte der Tatsache, dass Dionysos das Polare umfasst und beiderseits in sich vereint, ist es wohl treffender zu formulieren, dass die Beigesellung der Musen und Annäherung an Apoll dazu dienen, 420

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Den Begriff ‚Apollonisierung‘ verwendet Käppel 1992, S. 284 in Auseinandersetzung mit Stewart 1982; vgl. auch Jiménez San Cristóbal 2013, S. 285 bezüglich Philod. Scarph. 58-62 (‚apollonisation‘). Den delphischen Philodamos-Paian an Dionysos, in dem in komplexer Weise Apoll und Dionysos sowie Paian und Dithyrambos in Beziehung zueinander gesetzt werden, behandelt in voller Breite Käppel 1992, S. 207-84. Für eine Zusammenstellung von Zeugnissen, in denen Dionysos und die Musen im Verbund auftreten, s. Bierl 1991, S. 99 mit Anm. 180-2; Hardie 2012, S. 163-9; Jiménez San Cristóbal 2013, S. 285-8. Vgl. auch die folgende Anmerkung. Für Dionysos und die Musen in der Tragödie s. A. fr. 60 Radt (Bd. 3, S. 181 TrGF), wo sich µουσόµαντις möglicherweise auf Dionysos bezieht (s. Burges Watson 2015, S. 460 Anm. 24 für die verschiedenen Zuordnungsmöglichkeiten); S. Ant. 965, wo dem üblicherweise notierten Μούσας gegenüber LloydJones’ und Wilsons µούσας der Vorzug zu geben ist (vgl. Henrichs 1994/5, S. 103 Anm. 87; s. jedoch auch Hardie 2012, S. 151f. zur Nähe von metonymischem und direktem Gebrauch von µοῦσα bzw. Μοῦσα in der Tragödie); OC 668-93, insbes. V. 692f.; OT 1105-9 (mit der zu präferierenden überlieferten Lesart Ἑλικωνιάδων bzw. Ἑλικωνίδων in V. 108 anstelle von Wilamowitz’ vor dem hier aufgespannten Hintergrund als überflüssig zu wertenden, von Lloyd-Jones und Wilson gleichwohl übernommenen Konjektur ἑλικωπίδων; vgl. so z. B. auch Schachter 1986, S. 156 Anm. 4; Bierl 1991, S. 133f.; Jiménez San Cristóbal 2013, S. 275); E. Ba. 409-16; HF 673-86. Für Euripides’ nur in einigen Fragmenten erhaltene Hypsipyle s. Hardie 2012. S. ferner E. Ba. 825; Ph. 785. – Bierl 1991, passim sieht in der Zusammenstellung von Dionysos und Musen die für die Tragödie übliche Kombination. Vgl. Jiménez San Cristóbal 2013, S. 282-8; das Zitat ebd., S. 288.

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den positiven, gedeihlichen Pol hervorzuheben.423 Darüber hinaus bedienen sich die betreffenden Tragödien ebenso wie Euripides’ Herakles alle auch der Mysterienmetaphorik.424 Davon unabhängig erkennt Bierl in Erwähnungen des Dionysos neben der Funktion als shifter zwischen Auführungssituation und Handlung zugleich eine metatragische Funktion – welche durch die Begleitung der Musen verdeutlicht bzw. verstärkt werde.425 Im Herakles äußert sich eine subtile ‚Apollonisierung‘ des Dionysos abgesehen von der Assoziierung mit den Musen auch darin, dass der Chor jeweils in den drei Stasima für sein eigenes Tun neben den Musen auf Apoll Bezug nimmt,426 jedoch implizit – mit Ausnahme der Verse 682-4 des zweiten Stasimons, wo eine explizite Erwähnung des Dionysos im Zusammenhang mit Choreia stattfindet und seinem libyschen Aulos ja die Lyra beigesellt ist – kontinuierlich ‚dionysischer‘ wird.427 Die Ver-

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Vgl. hierzu auch Bierls 1991, S. 227 Schema zur Ambivalenz des Dionysos und ebd., passim. Für Mysterienmetaphorik in Aischylos’ Bassarai, woraus fr. 60 Radt (Bd. 3, S. 181 TrGF) stammt, s. Seaford 2005 und Burges Watson 2015; für Sophokles’ Antigone s. Bierl 1991, S. 128-32; für Ödipus auf Kolonos s. Calame 1998; für König Ödipus s. Kowalzig 2007a, S. 233f.; für Euripides’ Bakchen s. etwa Seaford 1981 u. 2010; für die Hyspipyle s. Hardie 2012, S. 169-177. Eine genaue Untersuchung der Bezüge zwischen Mysterien, Dionysos und Musen in den aufgeführten Dramen steht dabei natürlich aus; Hardie 2012, S. 167-9 u. passim nimmt Bezug auf die Verflechtung dieser Größen in der Tragödie, auch in Hinblick auf den möglichen kultischen Hintergrund (im athenischen Kult des Dionysos als Gott der Musik). Auch Bierl 1991 bezieht sie punktuell in seine Interpretationen ein. Vgl. Bierl 1991, passim, wo aus den Einzelinterpretationen eine solche Auffassung der Rolle der Musen im Umfeld des Dionysos ersichtlich wird. Vgl. auch Hardie 2012, S. 168. Vgl. für ausdrückliche Erwähnungen Apolls durch den Chor im Kontext ihrer Choreia HF 348-51 (erstes Stasimon); 687-90 (zweites Stasimon); 790 (drittes Stasimon). Darüber hinaus erfolgt in HF 820 der Paian-Anruf. Vgl. Abschitt B.II.4.2.1. Dionysos wird keinesfalls vollständig der Gestalt Apolls angeglichen. So bleibt er in ‚Reinform‘ erhalten beispielseweise in der Iris-Lyssa-Szene (HF 822-909), in der nicht nur Lyssa, sondern auch der Chor das ‚bakchische‘ Tun von Lyssa und Herakles explizit gleichzeitig mit Bezug auf und in Abgrenzung von Dionysos beschreiben. S. auch unten B.II.4.2.3.

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flechtung mit der hingegen rein dionysisch beschriebenen Iris-Lyssa-Szene428 wird sich als wesentlich erweisen. 4.2.3 Zwei Landschaften: Tanz und Mord War im zweiten Stasimon mittels der Verbindung aus Musen, Apoll und Dionysos die Art der Musik beschrieben, in deren Rahmen sich Lobpreis des Herakles und Anabasis in der Choreia vollziehen, so ist mit dem dritten Stasimon der Raum aufgespannt, in dem sie sich ereignet: Die athenische Orchestra umfasst Dionysos’ Theben zusammen mit Apolls Delphi und dem Helikon der Musen. Die tanzende thebanische Landschaft, die der Chor durch seinen Aufruf im dritten Stasimon evoziert, knüpft sich schon an Assoziationen zu einer anderen thebanischen Landschaft – der von Mord. Denn nach seiner Rückkehr hatte Herakles nicht nur Lykos (HF 565-8), sondern auch der ganzen unloyalen Stadt Rache geschworen: Καδµείων δ’ ὅσους κακοὺς ἐφῆυρον εὖ παθόντας ἐξ ἐµοῦ τῶι καλλινίκωι τῶιδ’ ὅπλωι χειρώσοµαι, τοὺς δὲ πτερωτοῖς διαφορῶν τοξεύµασιν νεκρῶν ἅπαντ’ Ἰσµηνὸν ἐµπλήσω φόνου, Δίρκης τε νᾶµα λευκὸν αἱµαχθήσεται.

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Alle von den Kadmeiern, die | ich als schlecht entlarvt habe, obwohl es ihnen gut ergangen ist durch mich, | werde ich mit dieser Waffe von schönem Sieg überwältigen; | die anderen mit gefiederten Pfeilen vernichtend | werde ich mit der Toten Mordblut den ganzen Ismenos füllen | und der helle Quell der Dirke wird mit Blut durchtränkt sein. E. HF 568-73

Ismenos und Dirke erscheinen hier wie in den Versen 781-4 zusammen – und dieses unheilvolle, gewaltsame Bild429 tritt mit dem freudigen Bild

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Vgl. oben Abschnitt B.II.3.4. Das synekdochische Potential von ‚Dirke und Ismenos‘ scheint Lykos im letzten Vers vor seinem Tod aufzunehmen: ὦ πᾶσα Κάδµου γαῖ’, ἀπόλλυµαι δόλωι. / „O ganzes Land des Kadmos, ich gehe zugrunde durch eine List.“

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des dritten Stasimons in einen Dialog. Eine dritte Stelle steht mit diesen ersten beiden in Beziehung. Als Herakles nach seiner grausamen Tat schlafend gezeigt wird, mahnt Amphitryon den Chor zur Ruhe, denn die Folgen eines Erwachens seien nicht abzusehen: τάχα φόνον ἕτερον ἐπὶ φόνωι βαλὼν ἀν’ αὖ βακχεύσει Καδµείων πόλιν. er wird schnell, einen Mord auf den anderen werfend, | wieder die Stadt der Kadmeier zu einem Ort bakchischen Rasens machen. E. HF 1085f.

Hier ist φόνος aus Herakles’ Worten in V. 572f. aufgenommen und wiederum mit der Stadt in Verbindung gebracht. Das Verb ἀναβακχεύειν greift sowohl – und vor allem – den bakchischen Mordtanz des Herakles und der Lyssa auf (HF 871-98) als auch – wiederum als negative Folie – die positive bakchische Ekstase der Stadt im dritten Stasimon. Tanzt der Chor im zweiten Stasimon zu einer positiven Musik, in der Dionysos, Apoll und die Musen sich in Harmonie schaffender Weise begegnen (HF 673-86), so ist die bakchische Musik, zu der Herakles ‚tanzt‘, eine zerstörerische (HF 871-98). Evoziert der Chor im dritten Stasimon ein um Helikon und Parnass im dionysischen Tanz und Gesang positiv erweitertes Theben (HF 781-97), so gibt es für Herakles nur ein Theben des destruktiven bakchischen Rasens mit Strömen voller Mordblut. Hier werden also zwei Pole eines Aspektes des Dionysos ausgelotet: Bierl liest dies metatragisch und stellt in diesem Sinne den Gott vor allem als dramaturgisches Prinzip des Herakles heraus.430

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(HF 754). Den Zusammenhang zwischen den Versen 568-73 und 781-9 vermerkt auch Papadopoulou 2005, S. 42. Vgl. Bierl 1991, S. 140-6 u. zusammenfassend S. 145f.: „Neu ist bei Euripides, daß nicht nur der Jubel, sondern hier vor allem das eigentlich ‘Tragische’, der Wahnsinn, der den Helden zum rasenden Mörder macht, dionysisch konnotiert ist. […] Die Tragik des Helden wird hier vor allem dadurch gesteigert, daß er nach der Sichtweise des Dichters beide Seiten des Gottes der Tragödie in sich vereinigt. Zum Zwecke der Dramaturgie wird das Dionysische im Helden besonders auf der interpretierenden Ebende des Chores für das Publikum in einen positiv-kultischen und in einen negativ-mythischen Teil aufgespalten, die nacheinander das Geschehen auf der Bühne bestimmen. […] Damit wird

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Doch die Polarität greift auch im Zusammenspiel mit der Mysterienmetaphorik auf einer weiteren metatragischen Ebene, die mit dem aitiologischen Ausgang des Stückes in Verbindung steht. Denn folgende Linie durchzieht das Stück: Wie sich in der Untersuchung des zweiten Stasimons gezeigt hat, sind darin in epinikischer Manier laudator und laudandus zu einem wechselseitigen Verhältnis verknüpft, verstärkt durch die in ihm zusammenlaufenden verschiedenen Bildstränge des Stückes. Durch seinen Lobpreis macht der Chor die ἀρετή des Hades-Doppelläufers sichtbar. Zugleich inszeniert er sich in seinem Preisen selbst als ‚Doppelläufer‘, der vom πολιὸς ὄρνις der Parodos zum κύκνος, zum Schwan Apolls, wird und in der preisenden Choreia die verjüngende ‚Anabasis‘ durchläuft. Das reziproke Verhältnis von laudator und laudandus setzt sich jedoch im Stück über das zweite Stasimon hinaus fort: Die ‚Verjüngung‘ des Chores erreicht im dritten Stasimon mit seinen lebhaften Rhythmen und dem rituellen Charakter seinen Höhepunkt – einen Höhepunkt, der auch dem laudandus Herakles geschuldet ist, hat er doch mit der Tötung des Lykos sein schon durch die Anabasis bestätigtes Heldentum mit Taten umso mehr bekräftigt.431 Und so kann seine Tat auch mit dem Maß der Musik gemessen werden: Die glückliche Wendung „hat Lieder hervorgebracht“ (HF 767: ἔτεκον ἀοιδάς). Doch es bleibt nicht dabei: Herakles nimmt mit der Tötung seiner Kinder Anlauf zu einem zweiten Doppellauf;432 sie versetzt ihn in einen bildlichen Hades. In der Folge aber

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der Gott der Tragödie, speziell für den Chortanz und die Flötenmusik zuständig, letzlich für die Choreuten zum Prinzip der tragischen Dichtung, das sowohl über der Freude als auch über dem Leid steht, ja sogar beide miteinder verbindet.“ Dies ist ganz eigentlichThema des dritten Stasimons – wie Herakles als Rückkehrer aus dem Hades Lykos getötet und seine göttliche Abstammung erwiesen hat. Vgl. HF 768-71 (βέβακ’ ἄναξ ὁ καινός, ὁ δὲ παλαίτερος | κρατεῖ, λιµένα λιπών γε τὸν Ἀχερόντιον. | δοκηµάτων ἐκτὸς ἦλθεν ἐλπίς. / „Der neue Herrscher ist fort und der frühere | hat die Oberhand, nachdem er den Acheron-Hafen verlassen hat. | Entgegen der Erwartungen ist er gekommen als Hoffnung.“) und die gesamte letzte Gegenstrophe HF 798-814 (vgl. dazu oben Abschnitt B.II.2.2.2 mit Anm. 67). Unter diesem Gesichtspunkt kann das dritte Stasimon als direkte Anknüpfung an das zweite gelten, das mit der Bekräftigung der göttlichen Herkunft des Herakles und der damit verbundenen Exzellenz endete (vgl. HF 696-700). Hier sei wiederum auf einen Zusammenhang von Sport, Musik und Mord hingewiesen: Lyssa präsentiert sich selbst als Läuferin und stellt auch Herakles

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durchläuft auch der Chor eine solche Katabasis, wie die Entwicklung des Vogel-Bildes zeigt. Denn der Chor wird über den Schrecken der Ereignisse wieder zum ‚alten Vogel‘, er landet am Ausgangspunkt, im ‚Hades‘ des nutzlosen Alters;433 in diesem Zustand verfällt er schließlich ganz in Schweigen. Dies ist ganz folgerichtig: Ein zweiter Aufstieg kann ihm nicht gelingen, denn Herakles ist als laudandus nicht mehr haltbar;434 das konstituierende Objekt seiner Choreia, des Mittels der Verjüngung, ist durch die grausame Tat eliminiert. Anders steht es mit Herakles: Er erfährt durchaus nach seiner bildlichen Katabasis auch eine bildliche Anabasis. Treibende Kraft dabei ist Theseus’ athenische φιλία, Ergebnis der athenische Kultheros Herakles.435 Doch nicht nur zeigt sich der Chor im zweiten Stasimon in seiner Choreia als Doppelläufer – andersherum wird auch Herakles im Laufe des Stückes zum ‚Choreuten‘ assimiliert. Dies erfolgt zum einen mehr oder minder explizit etwa in der Beschreibung seines Rasens als destruktiver bakchischer Tanz436 – zugleich auf der anderen Seite aber mehr implizit über das Vogel-Bild. Denn auch Herakles ist am Ende, wie gesehen, im Kreise der traurigen alten Vögel aufgenommen und somit eine zum Chor analoge Figur. Er kann deshalb als ‚Choreut‘ der dramatischen Handlung gelten. Wie oben beschrieben bewegen sich die Choreuten in jeweils unterschiedlichen Räumen: Herakles im bakchischen, mordenden

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im Anfang der Raserei als Läufer am Startposten dar – ein überaus passendes Bild für den Hades-Doppelläufer (s. oben Abschnitt B.II.3.2.2 mit Anm. 137). Die Parallelisierung der Figuren erfolgt also sowohl über die Metaphorik von Agon als auch über die der (bakchischen) Musik. Vgl. oben Abschnitt B.II.3.3. Vgl. Foley 1985, S. 187. Vgl. oben Abschnitte B.II.2.1 und 3.5. In diesen Zusammenhang gehört auch der von Henrichs 1996a, S. 62 hervorgehobene Ausdruck des Boten „χορὸς […] καλλίµορφος […] τέκνων“ (HF 925) in dessen Beschreibung der Reinigungsritual-Szene kurz vor Herakles’ Wahnsinn (vgl. oben Abschnitt B.II.4.2.1 mit Anm. 397). Diese Bezeichnung geht zwar chronologisch der Lyssa-Szene voraus, erscheint aber dem Verlauf des Stückes nach nachträglich zur Beschreibung der Raserei des Herakles und der Lyssa mit Begriffen bakchischer Musik durch den Chor. Umso mehr erzeugt die Darstellung des Boten das Bild vom ‚Choreuten‘ Herakles im Kreise des ‚Chores‘ seiner Kinder, unmittelbar vor dem Beginn der verhängnisvollen bakchischen Flötenweise des Wahnsinns.

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Rasen durch die Stadt Theben, der Chor in einem Theben, das gemeinsam mit Helikon und Parnass im Tanzen begriffen ist. Diese Parallelisierung – als solche nämlich ist die gegenseitige Assimilation von Chor und Herakles zu begreifen – legt den Mechanismus offen, mittels dessen Herakles’ Transformation zum athenischen Kulthelden von statten geht. Denn ‚given to Dionysos‘ im Sinne Kowalzigs ist nicht nur der Chor seiner kultischen Verehrer, der sich zugleich in der Welt der mythischen Vergangenheit und im zeitgenössischen Athen der Tragödienaufführungen bewegt, sondern auch der Held selbst. Nicht nur erzählt die Tragödie von der Entstehung eines Kulthelden, sie offenbart sich ganz eigentlich als Mittel zu seiner Erschaffung: Wie die Anabasis des Chores selbstreferentiell im rituellen Kontext der Dionysosverehrung angesiedelt wird, so zeigt sich auch die transformierende Anabasis des Herakles als diesem Kontext zugehörig. Die Tragödie ist das ‚Lied‘, in dem und durch das sie stattfinden kann.437 Der negative und positive Pol des Dionysoskonzeptes offenbaren sich in der Konsequenz hier nicht als unüberbrückbare Gegensätze, sondern vielmehr als zwei Seiten einer Medaille. 4.3

Die metapoetische Dimension der Kultheroenerschaffung: Prokne und Lykos

Zwei weitere Erwähnungen der Musen – eine direkt, eine indirekt – sind im Herakles zu finden. Sie eröffnen eine metapoetische Dimension, die das Ergebnis des vorangegangenen Abschnitts schärft. 437

Ganz folgerichtig ist es auch, wenn der Chor diese Anabasis des Herakles nicht begleiten kann: Denn die aitiologische Transformation markiert den Übergang von der Welt der dramatischen Handlung in die Welt des kulturellen Kontextes der Tragödie. Dies ist ein Weg, den der Chor nicht beschreiten kann: Er ist in seiner Verhaftung im Ritual bereits Teil beider Welten. – Die gegenseitige Assimilierung begleitet dabei nicht nur illustrierend den Fortgang des Geschehens, sondern wirkt produktiv: Denn der Chor gewinnt im zweiten Stasimon die Zuversicht für das Gelingen seiner Anabasis aus der Angleichung an den Hades-Doppelläufer Herakles, der erfolgreich seinen ersten Aufstieg gemeistert hat; in der Folge ‚garantiert‘ die bereits gelungene Verjüngung des Chores durch die Choreia wiederum das Gelingen von Herakles’ zweiter Anabasis als Choreut der Tragödienhandlung.

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Musen

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4.3.1 Prokne: Opfer an die Musen Die letzte direkte Referenz des Stückes auf die Musen findet ihren Platz in unmittelbarem Anschluss an Herakles’ Ermordung seiner Familie im Wahn. Nachdem der Chor durch den Botenbericht (HF 922-1015) über die Geschehnisse im Palast in Kenntnis gesetzt ist, scheint er, der in vorigen Liedern noch in so überladenden Worten von Herakles’ Exzellenz singen konnte, ja, dessen einzige Fähigkeit gewissermaßen im Singen und Wortefinden bestand, von allen Ausdruckskünsten verlassen. Es ist bezeichnend, dass er sich, wie vielfach verzeichnet wurde, für den letzten Teil des Stückes schließlich sogar in fast gänzliches Schweigen hüllt – zumindest nicht mehr singt.438 Sein Unvermögen, dem Schmerz und der Fassungslosigkeit in der entsprechenden Liedform Ausdruck zu verleihen, äußert er zunächst noch in einer hilflosen Frage: αἰαῖ, τίνα στεναγµὸν ἢ γόον ἢ φθιτῶν ὠιδὰν ἢ τίν’ Ἅιδα χορὸν ἀχήσω; Weh, welches Seufzen, welche Klage, welches Totenlied oder welchen Tanz in den Hades soll ich singen? E. HF 1025-7

Dieser Frage geht in den Versen 1016-24 das Ringen um eine mythische Parallele für die Tat des Herakles voraus. Der Chor befindet den Kollektivmord der fünfzig Danaiden an ihren Ehemännern, bis dato schlimmste nur denkbare Tat in Griechenland, als weniger fürchterlich als das Un438

Vgl. exemplarisch Foley 1985, S. 187; Rehm 1996; Griffiths 2006, S. 64 u. 111; Marshall 2017, S. 188. Folgende Partien kommen in diesem letzten Teil des Stückes noch dem Chor zu: Die oben zitierte Passage ist Teil einer Klage des Chores, die sich bis HF 1041 erstreckt und auch das Herausrollen des Ekkyklemas begleitet; darauf folgt ein lyrischer Dialog mit Amphitryon in HF 1042-88; in HF 1110 versichert der Chor in einem Sprechvers Amphitryon seines Beistandes; HF 1311f., ebenfalls Sprechverse, haben kommentierenden Charakter, ihre Attribuierung an den Chor ist jedoch ein spätere Emendation (Die Textüberlieferung, welche von Foley 1985, S. 187 Anm. 67 verteidigt wird, schreibt sie Theseus zu); ein „brief anapaestic tag“ (Bond 1981, S. 416 zu HF 1427f.) des Chores beschließt das Stück.

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

glück, welches über Herakles gekommen ist.439 Als zweites – und hier nun folgt die in diesem Zusammenhang entscheidende Stelle – wird Proknes Ermordung des Itys zum Vergleich herangezogen: µονότεκνον Πρόκνης φόνον ἔχω λέξαι θυόµενον Μούσαις· σὺ δὲ τέκνα τρίγον’, ὦ δάιε, τεκόµενος λυσσάδι συγκατειργάσω µοίραι. Von dem einkindrigen Mord der Prokne weiß ich zu sagen, | den Musen als Opfer dargebracht; Aber du hattest drei Kinder, | Unseliger, gezeugt und hast sie zusammen vernichtet in deinem Wahneslos. E. HF 1021-4

Auf diese Worte folgt die eingangs zitierte hilflose Frage, die den Beginn des Verstummens des Chores markiert. Auch Proknes Tötung des eigenen Kindes setzt er das aktuelle Unglück entgegen440: So wird die höhere Anzahl von Herakles’ Kindern prominent ihrem einen Sohn gegenübergestellt, was sich in den außergewöhnlichen Formulierungen „µονότεκνον […] φόνον“ und „τέκνα τρίγον’“ ausdrückt. Auch scheinen die Umstände – die λυσσὰς µοίρα des Herakles, die sich vom intentionalen Handeln sowohl der Danaiden als auch der Prokne unterscheidet – einen Anteil in die Waagschale zu werfen.441 Der kritische Punkt für diese Untersuchung liegt jedoch, dies wird offenbar werden, im ‚Opfer an die Musen‘.

439

Vgl. HF 1016-20: ὁ φόνος ἦν ὃν Ἀργολὶς ἔχει πέτρα | τότε µὲν περισαµότατος καὶ ἄπιστος Ἑλλάδι | τῶν Δαναοῦ παίδων· | τάδε δ’ ὑπερέβαλεν παρέδραµεν τὰ τότε | κακὰ τάλανι διογενεῖ κόρωι. / „Der Mord, den der argivische Fels zu verzeichnen hat, | war damals der berüchtigste und unglaublichste in Griechenland, | der Mord der Töchter des Danaos; | das hier aber hat übertroffen, überschritten das Übel | von damals dem unglücklichen, zeusgeborenen Sohn.“ 440 Vgl. den Anschluss σύ δέ (HF 1022). 441 Für die Vergleichsmomente zwischen den Delikten vgl. auch Papadopoulou 2005, S. 61-3.

4

4.3.1.1

Musen

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Mythos und Bilder

Der Mythos ist bekannt:442 Prokne, Tochter Pandions, heiratet den Thraker Tereus; sie haben einen Sohn, Itys. Prokne sehnt sich nach ihrer Schwester Philomela. Da macht sich Tereus auf nach Athen, um sie für einen Besuch abzuholen. Sie weckt jedoch seine Begierde: Er vergewaltigt sie und schneidet ihre Zunge heraus, um sie von der Bekanntmachung seiner Tat abzuhalten. Philomela jedoch webt ihre Geschichte in ein Gewand. Prokne entschlüsselt ihre Nachricht und befreit sie. Die Schwestern ersinnen folgenden Racheakt: Sie töten den kleinen Itys und tischen seine Überreste dem nichtsahnenden Tereus zum Mahle auf. Als der von dem Gräuel erfährt, will er die Mörderinnen töten. Auf der Jagd wird Tereus in einen Wiedehopf verwandelt, Philomela in eine Schwalbe und Prokne selbst in eine Nachtigall. Als solche beklagt sie ewig mit ihren Liedern den Tod ihres Kindes. In den Versen HF 1021-4 kommen also drei der größeren Bildstränge des Stückes zusammen: Opfer und Mord, Musen und Musik sowie, erwachsend aus dem mythologischen Hintergrund, das Vogel-Bild. Von den drei prinzipiell möglichen Kombinationen ist eine – nämlich die von Opfer/Mord und Musen – explizit verwirklicht; die anderen sind implizit durch Assoziationen nicht zuletzt zum metaphorischen Netz des Stückes fassbar. So besteht die Verbindung zwischen ‚Musen/Musik und ‚Vögeln‘ nicht nur oberflächlich aus der Beobachtung, dass die Nachtigall alias Prokne auch der antiken Wahrnehmung gemäß besonders melodiös zu singen vermag.443 Vielmehr ist der Gesang der Nachtigall Modell und

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443

Die Schilderung des Mythos folgt der Darstellung von Gantz 1993, S. 239-41. Sie enthält den Kern des Mythos, der mehrere Abwandlungen kennt. Eine zusammenhängende frühe Darstellung ist nicht erhalten – mit Ausnahme möglicherweise des verlorenen sophokleischen Tereus, der vermutlich in Form einer Hypothesis überliefert ist (vgl. ebd., S. 240) –, jedoch erscheinen Anklänge und Anspielungen bei zahlreichen Autoren, so beispielsweise schon bei Hes. Op. 568 u. fr. 312 Merkelbach-West. In der lateinischen Literatur treten Prokne und Philomela meist mit vertauschten Rollen auf; so wird Prokne zur Schwalbe, Philomela zur Nachtigall (vgl. ebd., S. 241 und Thompson 1966, S. 22). S. Thompson 1966, S. 19-21.

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B.II

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„Inbegriff der vollkommen schönen Klage“;444 sie erscheint sogar in manchen Kontexten geradezu selbst als Muse.445 Das Klagen der Nachtigall Prokne um Itys, auf das auch die Fomulierung des Opfers an die Musen unter anderem anspielt,446 wird einige Verse später im Bild des um seine Jungen klagenden Vogels, angewendet auf Amphitryon, aufgenommen und ausgeführt. Dieses Bild reiht sich, wie sich gezeigt hat, ebenso in den Bildstrang um die schutzlosen Jungvögel wie in den um die greisen singenden Vögel.447 Beides findet sich in der Referenz auf den Prokne-Mythos angedeutet. Die Verbindung zwischen den Bildern ‚Vögel‘ und ‚Opfer/Mord‘ führt wiederum in die beiden Handlungskomplexe, in denen sich zentral Opfer und Mord begegnen. Beachtenswert ist, dass in den Versen 1021f. durch die attributive Ergänzung θυόµενον Μούσαις (HF 1022) zu φόνον (HF 1021) ein Mord sprachlich explizit als Opfer stilisiert wird. Herakles’ Tötung Megaras und seiner Kinder auf der anderen Seite ist, so wurde bereits gezeigt, als pervertiertes Opferritual ausgestaltet, da sich das anfangs geplante Reinigungsopfer eben in einen Mord verwandelt; vergleichbar gewinnt Lykos’ beabsichtigter Mord an Herakles’ Familie andersherum Züge eines Opfers am Altar.448 Die Verknüpfung mit dem Vogel-Bild ist bei Proknes Tat auf Seiten der Mutter, bei der Tat des Herakles auf Seiten der Kinder realisiert, wodurch aber die jeweils andere Seite dennoch präsent gemacht wird: Die spätere Nachtigall Prokne tötet ihr 444 445

446 447 448

Vgl. Kannicht 1969, S. 281-3 zu E. Hel. 1107-12, das Zitat ebd., S. 281; Ford 2010, S. 291-3 u. 298f. So ruft der Chor der euripideischen Helena in der ersten Strophe des ersten Stasimons (E. Hel. 1107-12) die Nachtigall als θρήνων […] ξυνεργός (Hel. 1112) herbei, um die Leiden des Trojanischen Krieges zu beklagen. Die Strophe folgt dem Schema der Gebetsepiklese (vgl. Kannicht 1969, S. 281 zu Hel. 1107-12) und kann als Musenanruf verstanden werden (vgl. ebd, S. 283). Als Vorbild dieser Epiklese dient laut Kannicht Ar. Av. 211-4, wo der Wiedehopf Epops die Nachtigall zweideutig als seine σύννοµος herbeiruft (vgl. ebd., S. 281 Anm. 8 u. S. 282f.; Dunbar 1995, S. 205 ad loc.; Ford 2010, S. 290 mit Anm. 30); im weiteren Verlauf der Vögel wird die Nachtigall als Μοῦσα λοχµαία (Ar. Av. 737) angerufen (vgl. Dunbar 1995, S. 462f. ad loc., wo allerdings auch andere Identifizierungen angeboten sind, von denen die hier genannte jedoch am plausibelsten erscheint; Kannicht 1969, S. 281f.). S. dazu unten. Vgl. oben Abschnitt B.II.3.3.2. Vgl. oben Abschnitt B.II.3.1.

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Musen

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innerhalb der Geschichte menschliches Junges; der Mensch Herakles, der freilich im Verlauf des Bildstranges schließlich selbst als Vogel erscheint,449 tötet seine mit Jungvögeln gleichgesetzten Kinder. Das Bild der Jungvögel spielt auch im Handlungskomplex um Lykos eine Rolle.450 Die Verbindung zwischen den Elementen ‚Opfer/Mord‘ und ‚Musen‘ schließlich ist durch die Verse 1021f. ganz ausdrücklich gezogen. Inwiefern aber ist der Mord an Itys ein Opfer für die Musen? Die übliche Interpretation lautet, dass Itys durch seinen Tod zum Objekt kommender Lieder werde, in diesem Sinne also den Musen als Opfer dargebracht sei.451 Zu bemerken ist, dass darin unterschiedliche Facetten enthalten sind: So wird Itys wie auch Prokne selbst im Allgemeinen zum Gegenstand künftiger Dichtungen, die sein und ihr Schicksal beschreiben. Er wird aber auch im Besonderen Gegenstand der Klagelieder seiner Mutter, sie ihre Sängerin. Somit ist sein Tod Voraussetzung für die Entstehung ihrer modellhaften Klage und zugleich: für die Entstehung einer Muse.452

449 450 451

452

Vgl. oben Abschnitt B.II.3.3.2. Vgl. ebd. Bond 1981, S. 327 ad loc. ist diese Erklärung „too cynical“ und so zeigt er sich geneigt, Wunders Emendation θρεόµενον Μούσαις („beklagt von den Musen“) – „‘a popular theme’ (for Procne and for poets)“ – anzunehmen (Zugleich notiert Bond ebd., Anm. 4 einen wesentlichen sprachlichen Kritikpunkt an dieser Emendation: Das Verb erscheine sonst nur im Medium, nicht im Passiv). Vgl. Barlow 1998, S. 169 ad loc. Auch Wilamowitz 1959, III, S. 222 ad loc. zeigt sich skeptisch: „Weshalb der Mord, den Prokne an ihrem Sohne Itys beging, den Musen geopfert heißt, ist unbekannt, denn daß die Nachtigall ihn ewig besingt, rechtfertigt den seltsamen Ausdruck nicht.“ S. jedoch Foley 1985, S. 196 mit Anm. 81 für vergleichbare Gedankengänge etwa bei Hom. Il. 6, 355-8 und. E. Tr. 1242-5. Die gleichwohl außergewöhnliche Formulierung mit dem explizit benannten Opfer erweist sich gerade – dieser kleine hermeneutische Zirkel ist erlaubt – im Lichte der bildsprachlichen Verknüpfungen des Stückes als fruchtbarer Knotenpunkt: S. unten Abschnitt B.II.4.3.1.2. Das Leid als Ursprung der Musik bzw. einer neuen Musikgattung ist ganz eigentlich Thema von Pindars Pythie 12. S. dazu Segal 1994; Steiner 2013; auch Clay 1992 und Segal 1995 für eine textkritische Auseinandersetzung mit den relevanten Versen.

448 4.3.1.2

B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Foleys Ansatz

Helene Foley setzt die Verse 1021-4 mit der zentralen Mordszene in Verbindung: Die Gegenüberstellung von Proknes Mord und Herakles’ Mord sowie die im Botenbericht für die zentrale Mordszene etablierte Opfermetaphorik erlaubten es, auch Herakles’ Tötung seiner Kinder als ‚Opfer an die Musen‘ aufzufassen.453 Es werde so die Verbindung zu einem auch poetischen Diskurs gezogen, der das Stück durchlaufe und in der Mordszene seinen Höhepunkt finde.454 Dieser poetische Diskurs entspinne sich um drei konkurrierende und miteinander in Konflikt geratende Versionen des Helden, die im Stück ihren Auftritt hätten: die epinikische Version des Herakles, wie aus enkomiastischer Dichtung bekannt und vom Chor in seinen Stasima evoziert; die häusliche bzw. bürgerliche Version, in der der Held schließlich (überraschend) als Figur auftrete, eher um seine Familie als um Kleos besorgt; zuletzt die gewalttätige Version, der Grenzüberschreiter, Vergewaltiger und Jähzornige des Epos und der Mythologie, als welcher Herakles unter Einfluss des Wahnsinns agiere.455 Herakles’ ‚Opfer‘ seiner Familie bewirke, wie im Ritual angelegt, die Wiederherstellung der Ordnung durch Gewalt. Denn Ergebnis dieses Opfers sei, bedingt nicht zuletzt durch Theseus’ Intervention von athenischer Seite, auf der einen Seite der Kultheld für Athen, der in gewisser Weise alle drei vorgestellten Versionen in sich vereine;456 Ergebnis des Opfers als Opfer an die Musen aber sei der tragische Held Herakles, die Tragödie selbst die neue Form seines ‚Lobpreises‘.457 Wie in Proknes Fall entstehen

453 454 455 456 457

Vgl. Foley 1985, S. 195-8. Vgl. ebd., S. 175-200. S. ebd., S. 177-92; vgl. oben Abschnitt B.II.2.1, wo Foleys Charakterisierung bereits thematisiert wurde. Vgl. Foley 1985, S. 192-5 und oben Abschnitt B.II.2.1. Vgl. Foley 1985, S. 195-8. S. insbes. S. 195: „The Heracles simultaneously confronts the difficulties posed by Heracles’ heroism for an Athenian polis and the contradictions posed by Heracles’ tradition for a tragic poet. The play makes it clear how tragedy is a descendant, as Aristotle suggested, of encomium through epic: that is, how tragedy makes heroes through sacrifice and creates a new poetry of praise.” – Swift 2010, S. 121-56, die die ‚epinikische‘ Sprache im Herakles untersucht und auch eine metapoetische Lesart anwendet, kommt im Grunde zu einem vergleichbaren Ergebnis – nur steht in ihrem

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Musen

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also hier durch das ‚Opfer‘ zugleich der Gegenstand der Dichtung und die mit ihm verknüpfte Form der Dichtung selbst. Diese metapoetische Lesart, resultierend aus der Assoziierung der Prokne-Verse mit der zentralen Mordszene, erscheint umso plausibler vor dem Hintergrund, dass nicht nur die Opfermetaphorik eine entscheidende Verbindung schafft, sondern auch das Vogel-Bild. 4.3.2 Lykos: Holz vom Helikon Diese Untersuchung findet hier zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Er lag in den Worten, mit denen Lykos dem Streitgespräch mit Amphitryon und dem Chor über das Heldentum des Herakles ein Ende setzt: ἄγ’, οἱ µὲν Ἑλικῶν’, οἱ δὲ Παρνασοῦ πτυχὰς τέµνειν ἄνωχθ’ ἐλθόντες ὑλουργοὺς δρυὸς κορµούς· ἐπειδὰν δ’ ἐσκοµισθῶσιν πόλει βωµὸν πέριξ νήσαντες ἀµφήρη ξύλα ἐµπίµπρατ’ αὐτῶν κἀκπυροῦτε σώµατα πάντων, ἵν’ εἰδῶσ’ οὕνεκ’ οὐχ ὁ κατθανὼν κρατεῖ χθονὸς τῆσδ’ ἀλλ’ ἐγὼ τὰ νῦν τάδε.

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Auf, zieht los, die einen zum Helikon, die anderen zu den Schluchten des Parnass, | und tragt den Holzfällern auf, Eichenstämme | zu hauen! Sobald sie in die Stadt gebracht worden sind, | schichtet das Holz rings um den Altar,| zündet welches an und verbrennt die Körper | aller, damit sie sehen, dass nicht der Tote | über dieses Land hier herrscht, sondern nunmehr ich. E. HF 240-6

Holz vom Helikon und vom Parnass schickt also Lykos seine Männer aus für den Scheiterhaufen zu holen. Das ist bemerkenswert: Denn befindet sich der böotische Helikon immerhin noch in vertretbarer Nähe zu Theben, so ist der phokische Parnass doch gänzlich aus der Reihe. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass ein weiterer Berg, der mit Theben im Mythos ganz wesentlich verbundene Kithairon, in unmittelbarer Reichweite wäre.458 So äußert sich auch Wilamowitz verwundert: „Der

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Fokus nicht Herakles als neu definierter Tragödien-Held, sondern das Epinikion als neu definiertes Genre innerhalb der Tragödiendichtung. Im Übrigen ist der Kithairon als Holzquelle auch in antiken Quellen belegt,

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Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

Parnassos […] ist weit entlegen, und ein Thebaner würde eher an den Kithairon gedacht haben […].“459 Vergleichbar lautet Bonds Kommentar: „From a realistic point of view it is ridiculous; the preparations are excessive, and Parnassus is much too far from Thebes.“460 Umso mehr drängt sich der Eindruck auf, dass es sich bei der Verbindung von Helikon und Parnass nicht um eine Beliebigkeit handeln kann. Dies bestärkt insbesondere die Erwähnung exakt derselben Kombination von Landschaften im dritten Stasimon: Dort werden Helikon und Parnass gerufen, um das jubelnde Theben in Lied und Tanz zu begleiten, und der Bezug zu den Musen und Apoll ist explizit hergestellt:461 Nicht nur legt der Kontext im dritten Stasimon die Gottheiten der Musik und Dichtung nahe, auch erfolgt die Identifizierung der Landschaften dort gerade über diese. Anders als der Chor, der naturgemäß von den Schutzgottheiten der Musik sprechen kann, macht Lykos als Figur der reinen Handlung solche Assoziationen nicht sichtbar: Für ihn sind Helikon und Parnass schlicht Ἑλικών und Παρνασός – Berge, deren πτυχαί als Holzquelle dienen. Und doch weist die auffällige Aussparung des Kithairons auf eine Semantisierung der Landschaft und des Holzes hin. Lykos’ Worte bilden somit in dieser Lesart im Bildernetz des Stückes – was von der Forschung bisher noch nicht registriert wurde – die erste Anspielung auf die Musen mit Apoll. Es stellt sich in der Folge die Frage, inwieweit auch hier eine metapoetische Ebene angesprochen ist. Warum braucht Lykos einen Scheiterhaufen aus Musenholz für die Familie des Herakles? Foleys Interpretation der Prokne-Verse 1021-4 bietet einen Anhaltspunkt. In beiden Fällen treten die Musen in Kombination mit einem

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s. Th. 2, 75, 2; Paus. 9, 3, 7. Vgl. Rackham 1983, S. 328. Wilamowitz 1959, III, S. 63 zu HF 240.Vgl. auch ebd., S. 61 zu HF 236, anlässlich einer Charakterisierung des Lykos: „Fast lächerlich wirkt es, daß in Theben nicht Holz genug für einen Scheiterhaufen vorhanden sein soll, sondern eine Expedition in die Berge gemacht werden muß, […] und man wird versucht, den Opfern zu zürnen, daß sie den notwendigen Aufschub mehrerer Tage nicht benutzen.“ Bond 1981, S. 126 ad loc. S. HF 790-3: Πυθίου δενδρῶτι πέτρα | Μουσᾶν θ’ Ἑλικωνίδων δώµατα, | αὔξετ’ εὐγαθεῖ κελάδωι | ἐµὰν πόλιν, ἐµὰ τείχη / „Waldiger Fels des Pythiers | und ihr, Heime der helikonischen Musen, | macht groß mit freudigem Klang | meine Stadt, meine Mauern.“ Vgl. oben Abschnitt B.II.4.2.2.

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Musenlandschaft in Athen

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Mord auf, der zum Opfer erklärt oder ausgestaltet ist.462 Die Verknüpfung mit Herakles’ Tötung seiner Familie ergab die Deutung, dass auch er durch den Mord den Musen ein Opfer bringe. Das Ergebnis: der tragische Held und die Tragödiendichtung. Hier wirkte zugleich das Bild des Vogels verbindend, welches auch in der Handlung um die Schutzflehenden am Altar eine Rolle spielt.463 In Lykos’ Fall kann auf der Oberfläche als Einwand gegen eine entsprechende Deutung hervorgebracht werden, dass sein ‚Opfer‘ nicht tatsächlich vollzogen werde – schließlich kommt Herakles ihm zuvor, indem er ihn tötet. Hierin aber liegt genau die Pointe: Lykos’ Auftrag an seine Männer läutet den Beginn der eigentlichen Handlung ein, die Exposition (HF 1-237) endet just bei diesen Worten. Denn mit der Erklärung, die Schutzsuchenden töten zu wollen, beginnt die Zeit zu laufen; Megara und Amphitryon willigen ein zu sterben, ein Retter wird benötigt. Ohne Aussendung zum Holzholen, deutliches Zeichen für Lykos’ Entschlossenheit und Tatkraft, gäbe es keine Geschichte: keinen Retter Herakles, keine Tötung des Lykos, keinen Wahnsinn und keine Ermordung der Familie – aber ebensowenig im Ausgang einen athenischen Kulthelden und tragischen Helden für die Tragödiendichtung. Das Holz vom Helikon und vom Parnass erreicht das Theben der dramatischen Handlung somit unmittelbar – nicht als Holz, sondern vielmehr als Plot der Tragödie selbst. Oder andersherum: Die ‚Dampfmaschine‘ des Tragödienplots erhält ihr Feuerholz vom Helikon. Diese metapoetische Lesart lässt in der Konsequenz folgen, dass Herakles’ Familie nicht nur im Sinne Foleys für die Tragödie geopfert werde, sondern auch mittels der Tragödie – und mittels der Tragödie entsteht der athenische Kultheld und tragische Held Herakles. 5

Musenlandschaft in Athen

Diese Untersuchung hat gezeigt, dass Euripides’ Herakles von einem metaphorischen Netz umspannt ist, das die Handlung bedeutungsvoll begleitet. Die einzelnen Bildstränge entwickeln im Verlauf eine eigene Dynamik, die für das Geschehen Bilder schafft und es zugleich assoziativ er462 463

Für Lykos’ intendierten Mord als Opfer vgl. oben Abschnitt B.II.3.1. Vgl. Abschnitte B.II.3.3 und 4.3.1.

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B.II

Holz vom Helikon: Euripides’ Herakles

weitert. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die ‚Knotenpunkte‘, an denen sich die Stränge überschneiden: Die Bilder treten hier miteinander in Beziehung. An entscheidenden Punkte aber stehen, so hat sich gezeigt, die Musen. 1. Im zweiten und dritten Stasimon, beide nach Herakles’ Rückkehr gesungen, erscheinen die Musen im Zusammenhang von Choreia und – explizit im zweiten, implizit im dritten Stasimon – Dionysos. Es findet eine Rückbindung an den rituellen Kontext der Tragödienaufführung statt: Der Chor der thebanischen Alten, zugleich Chor aus attischen Bürgern, erschafft mittels seiner rituell zu fassenden Choreia eine zeitlose, ortsunabhängige Sphäre, in der die Verehrung des Dionysos stattfinden kann. Die Musen stehen hier in der Verbindung mit dem Gott gleichzeitig als Verweis auf diese Sphäre und zu ihrer Charakterisierung. Innerhalb dieser Sphäre vollzieht sich in der Tat ein Ritual: Entscheidend ist im zweiten Stasimon die Aufnahme des Mysterien-Bildes und seine Verknüpfung mit Choreia, Dionysos und den Musen. Dem Chor gelingt innerhalb der beschriebenen rituellen Sphäre die Verjüngung mittels Choreia. Dieser positive Zusammenhang setzt sich im dritten Stasimon fort. Die positiv besetzte, verjüngende dionysische Musik hat ihr negatives Pendant in der ‚Musik‘, zu der Herakles durch Lyssa gezwungen wird zu ‚tanzen‘. Es findet jedoch keine einfache, das Dionysische als übergeordnetes Prinzip illustrierende Gegenüberstellung der beiden Pole statt. Vielmehr wird eine Parallelisierung erwirkt, die sich durch die zusätzliche gegenseitige Assimilierung des Chores und des Herakles über die Bilder des Agons und des Vogels noch verstärkt. Innerhalb der dramatischen Handlung durchläuft auch Herakles Bewegungen von Katabasis und Anabasis, die mystisch konnotiert sind; sie hängen mit den Bewegungen des Chores reziprok zusammen. Im Falle des Herakles liefern sie jedoch ein konkretes Ergebnis, das über den aitiologischen Ausgang des Stückes auch für die Welt der Aufführungssituation relevant wird: den athenischen Kulthelden Herakles. Der Chor preist Herakles in überschwänglicher Weise, eher dem Kulthelden angemessen als der Figur der Handlung, und scheint zugleich ebenso immer mehr von Dionysos ergriffen wie der Held selbst – ist mit Kowalzig gesprochen also ‚given to Dionysos‘. Dies verortet, im aufgezeigten Kontext betrachtet, auch die Entstehung dieses Kulthelden im Bezugsrahmen des Dionysoskultes und offenbart so die rituellen Züge

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Musenlandschaft in Athen

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der dramatischen Handlung selbst.464 Zu Vollführern dieses Rituals aber wird auch das athenische Publikum, das der Chor in die geschaffene Sphäre einbezieht. 2. Im Prokne-Vergleich des Chores zwischen dem Botenbericht und dem Erscheinen des Theseus ebenso wie in Lykos’ Äußerung im ersten Teil des Stückes erscheinen die Musen unabhängig von Dionysos, beide Male jedoch im Zusammenhang von Opfer und Mord. Diese Nennungen festigen obiges Ergebnis und erweitern die konstatierte rituelle Dimension der Kultheroenerzeugung um eine metapoetische Dimension. Die Verbindung aus Opfer und Mord setzt Foley mit der zentralen Mordszene, da sie dort ebenfalls auftritt, in Beziehung und erhält so die Deutung auch von Herakles’ Familienmord als eines Opfers an die Musen. Der Bildstrang des Vogels, der ebenfalls beide Stellen durchläuft, bestärkt diese Auslegung. Mit dem so erkannten ‚Opfer an die Musen‘ ist eine metapoetische Ebene beschritten, die die Tragödiendichtung, nicht zuletzt die darin durchlaufene Handlung, als Mittel zur Erschaffung eines zugleich tragischen und athenischen Kult- Helden kenntlich macht. Dies bestätigt sich umso mehr in dem weitaus direkteren, ebenfalls metapoetisch zu deutenden Befehl des Lykos – einer reinen Figur der Handlung ohne inhärenten Bezug zu Musen oder Musik –, Holz vom Helikon und vom Parnass herbeizuschaffen, mit dem letztendlich die Handlung erst ‚angefeuert‘, das ‚Opfer‘ dargebracht werden kann. Bemerkenswert ist hier, dass die Musen in den zwei Stasima gerade den positiven Aspekt des Dionysischen hervorheben, während die rein bakchische Musik, zu der sich Herakles bewegt, ebenso wie das nicht um Helikon und Parnass erweiterte Theben, in dem er sich in bakchischem Rasen bewegt, den negativen, destruktiven Aspekt herausstellen. Im Prokne-Vergleich und in Lykos’ Äußerung wiederum, wo die Musen außerhalb des dionysischen Kontextes genannt sind, stehen sie mit Mord in Form verkehrter Opfer in Verbindung, also auch mit einem negativen Konzept. Umso mehr besagt die metapoetische Botschaft, dass das in der späteren Handlung bezüglich des Famillienmordes evozierte, dort nicht 464

Hier ist weiterhin Kowalzigs folgende, in vergleichbarem Kontext vorgebrachte Bemerkung relevant: „It is less important to decide whether tragedy itself was perceived as a form of heroic ritual than to acknowledge that it seems to behave as if it were, exploiting traditional forms of choral ritual and making them accessible to the watching democratic citizenry“ (2007a, S. 244). Vgl. auch schon oben Abschnitt B.II.4.2.2 mit Anm. 411.

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B.II

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um die Musen erweiterte negativ-Dionysische notwendig der Erschaffung des Kulthelden dient. Insgesamt präsentiert sich somit die Tragödie – der Zusammenschluss aus Musen und Dionysos – selbstbewusst als Raum und Instrument, mittels dessen Mythos zu Ritual und schließlich zu Wirklichkeit wird.465 3. Schließen soll dieses Kapitel, wie es dem Interesse der vorliegenden Studie entspricht, mit einer Bemerkung über die Landschaft der Musen. Von den Verweisen auf die Göttinnen im Herakles nennen zwei – das zweite Stasimon und der Prokne-Vergleich – sie direkt, während zwei – das dritte Stasimon und Lykos’ Äußerung – sie über ihren Berg, den Helikon, vergegenwärtigen.466 Der Musenberg erscheint damit einerseits 465

466

Vor dem Hintergrund der Verbindung, die Musen und Herakles auf diese Weise in Euripides’ Drama erfahren, ist der Blick auf ein Phänomen, auf das sowohl Bond als auch Foley verweisen (vgl. Bond 1981, S. 238 zu HF 674; Foley 1985, S. 196 mit Anm. 82) unerlässlich: So erscheine Herakles bereits auf Vasenbildern des frühen fünften Jahrhunderts musizierend, auf hellenistischen dann auch im Kreise der Musen als Mousagetes; in dieser Zeit verstärke sich zudem die kultische Verbindung zwischen Heros und Göttinnen – nicht nur im griechischen Raum: In Rom erhält der Held um 200 v. Chr. als Hercules Musarum seinen eigenen Tempel und Kult (s. dazu etwa Cancik 1969; Sciarrino 2004; Hardie 2007 u. 2016). Während einerseits Gymnasien einen ‚natürlichen‘ Kontext für die Überschneidung der Sphären des Herakles und der Musen bieten (für den Musenkult in Gymnasien s. Caruso 2016, S. 211265, vgl. oben Abschnitt A.I.3.1; insbes. zu Musen und Herakles im Gymnasion – etwa auf Chios – s. Caruso 2016, S. 244-6; vgl. auch Mojsik 2011a, S. 118 mit Anm. 357), stellt Hardie 2007 den römischen Kult in einen anderen Kontext: Er betont das produktive Bewegen zwischen den Polen Eintracht und Zwietracht bzw. Feindschaft, das sich kultisch anhand der Rolle der Juno/Hera entfalte und insbesondere unter dem Aspekt destruktiver Musik auf der einen und harmoniestiftender Musik auf der anderen Seite seinen Ausdruck fände. Dem Umstand, dass in Euripides’ Herakles eben diese Faktoren zum Tragen kommen – Hardie verweist darauf ebd. im kleinen Rahmen auch selbst (vgl. oben Anm. 189) – muss insbesondere auch wegen des aitiologischen Anspruchs des Stückes Beachtung geschenkt werden. Es erzeugt einen Kulthelden, einen Hercules Musarum in ganz eigenem Sinne. In diesem Zusammenhang kann auch der Hinweis bedeutend sein, dass der athenische Kultheld Herakles sogar musische Agone empfing (in Marathon), anders als etwa der athenische Apoll; vgl. Wilson 2004, S. 281. In beiden Fällen sind, wie gesehen, auch der Musenführer Apoll mit dem Parnass miteinbezogen.

5

Musenlandschaft in Athen

455

innerhalb der Stasima, wo die rituelle Sphäre geschaffen wird, innerhalb derer sich die ‚Verwandlung‘ des Herakles vollziehen kann: In der athenischen Orchestra entsteht ein Raum, der neben dem athenischen Boden selbst zugleich Theben, Helikon und Parnass umfasst; in ihm hat die durch Musen, Apoll und Dionysos geprägte Choreia ihren Platz, die den Chor zur Verjüngung und letztendlich auch Herakles zu seiner ‚Verwandlung‘ führt. Andererseits erscheint der Helikon in metapoetischem Kontext aus dem Munde des Lykos. Hier ist erneut der Bezug zum aitiologischen Ende des Herakles von Interesse. Es bedeutet das Hervorgehen eines tatsächlichen athenischen Kulthelden aus dem Mythos: So verwandelt die Tragödiendichtung einerseits Mythos in Wirklichkeit (die Wirklichkeit eines athenischen Heroenkultes), andererseits aber auch Wirklichkeit in Mythos, dadurch dass diese, der Natur eines Aitions gemäß, bereits in ihn eingeschrieben ist. Helikon und Parnass nun verkörpern in Lykos’ Befehl ein vergleichbares System von wechselseitiger Reflexivität: Denn sie sind über die Verbindung zu ihren Gottheiten semantisiert und gestalten den Plot auf metapoetischer Ebene. Zugleich aber ist dieser semantische Raum innerhalb der dramatischen Handlung als reale Landschaft realisiert: als Berge nämlich, in denen man Bäume schlagen kann. In beiden Fällen macht Euripides so die bestehende Verbindung zwischen den Musen und ihrem Berg nutzbar als ‚erlebbaren‘ Ausdruck für die Wirkweise seiner Tragödie.

B.III Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654 1

Einleitung

In einer besonderen Konstellation erscheinen die Musen zusammen mit ihrem Berg Helikon in einem nur fragmentarisch erhaltenen Lied der böotischen Dichterin Korinna. Das Fragment (PMG 654 col. i, 1 - col. ii, 11) lässt erkennen, dass zwei Figuren mit Namen Helikon und Kithairon – gleich dem zweiten markanten Berg Böotiens also – in einem musischen Agon gegeneinander antreten: Erhalten sind die letzten Verse des Liedes eines der Kontrahenten. Als Jury tritt die Götterschaft auf; diese kürt in einem demokratischen Abstimmungsverfahren den Kithairon zum Sieger. Die Musen haben in diesem Gefüge die Rolle der neutralen Vorsitzenden inne. Als leitende Frage der Interpretation ergibt sich folglich die nach dem Grund für die Niederlage des Helikon: Warum verliert ausgerechnet der Sitz der Musen in einem Sängerwettstreit und warum verhalten sich gerade die Musen in dem Prozess neutral? Begleitend steht die Frage, welche Implikationen für die Funktionen des Gefüges zwischen den Musen und ihrer Landschaft in der Konsequenz folgen. Die Interpretation wird erschwert durch den fragmentarischen Zustand des Textes, der über die Bedingungen des Wettstreits und über den Ausgang der Erzählung keine Auskunft gibt. Eine sorgfältige Untersuchung des erhaltenen Ausschnitts sowie der Versuch einer Rekonstruktion des Handlungsverlaufs mittels des Abgleichs mit verfügbaren Quellen werden der eigentlichen Deutung daher vorausgehen. Ein weiteres Kapitel muss sich mit der nicht minder relevanten – und ungeklärten – Frage nach der Datierung Korinnas befassen: Die möglichen Zeiträume zu ihrer Einordnung erstrecken sich über drei Jahrhunderte von 500 bis 200 v. Chr.; jeder schließt manche Interpretationsansätze aus und lässt andere zu. Bei der Interpretation wird schließlich, neben ihrer zeitlichen Einordnung, auch die Einschätzung der Dichterin und der Qualität ihrer

458

B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

Dichtung eine Rolle spielen – eine nicht minder umstrittene und mit der Datierung verknüpfte Frage. Die Grundannahmen, die hier entwickelt werden, sehen Korinna als eine hellenistische Dichterin des dritten Jahrhunderts, die mit ihrer böotischen Ausrichtung eine durchaus nicht naive poetische Strategie verfolge; eine konsistente, komplexe Deutung ihrer Dichtungen wird also grundsätzlich als möglich erachtet. Die Rekonstruktion des Handlungsverlaufs wird in der Folge einen aitiologischen Ausgang nahelegen, an dessen Ende der Helikon als Sitz der Musen steht. Die beiden Kontrahenten repräsentieren im Wettstreit jeweils unterschiedliche Arten der Dichtung. Das Lied ist im Ganzen als ‚literaturgeschichtlicher‘ Kommentar zu lesen, der im Sieg der Figur Kithairon die zeitweilige Dominanz und Blüte der attischen Tragödie symbolisiert. Die Rolle des Helikon als symbolischer Ort der Dichtung wird umso mehr bestärkt. 2

Der Text

2.1

Text und Übersetzung1 col. i _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ __ε]ὐστέφανον _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ ]γῶγ’ ἐπὶδῆ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ ]ἐπ’ ἄκρυ

1

Der griechische Text ist übernommen aus Page (1963; PMG 654 col. i, 1-52 und col. ii, 1-11) und entspricht weitgehend dem Text in seiner KorinnaAusgabe von 1953. Die Version, die Page präsentiert, basiert auf früheren Ausgaben und auf einer Fotografie des Papyrus P. Berol. 13284 (2. Jh. n. Chr.), die ihm Lobel zur Verfügung gestellt hatte (vgl. Page 1953, S. 9). Die im Folgenden angegebenen Abweichungen vom PMG folgen vor allem West 1996 und Ebert 1978, welche den Papyrus im Original untersucht haben, sowie Burzacchini 1991, dem die von Page verwendete Fotografie vorlag („un’ ottima fotografia“ Burzacchini 1991, S. 68; hingegen Page 1953, S. 10: „[…] the evidence of the photograph [...] is fading; numerous alleged letters are illegible in it“). Verzichtet wurde im Wesentlichen auf Änderungen, die zuvor als sicher dargestellte Lesarten von Buchstaben in unsichere verwandeln, in Vertrauen auf eine bessere Materiallage für frühere Herausgeber.

2

Der Text

_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _]χ̣ορδά̣ς _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ ἱ]α̣ρῶν τ’ ὀρίων _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _].ν φοῦλον ορνι ____________] ____________] _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ ]ηί ̣ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ γ]ενέθλα· _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ ]δα _ _ _ _ ]ε̣υ.̣ [. . . . .] Κώρ̣ει̣ -̣ τες ἔκρου]ψ̣αν δαθίο̣[ι θι]ᾶς βρέφο]ς ἄντροι, λαθρά[δα]ν ἀγκο]υλοµείταο Κρόνω, τανίκά νιν κλέψε µάκηρα Ῥεία (_____) µεγ]άλαν τ’ [ἀ]θανάτων ἔσς] ἕλε τιµάν· τάδ’ ἔµελψεµ· µάκαρας δ’ αὐτίκα Μώση φ]ερέµεν ψᾶφον ἔ[τ]αττον κρ]ουφίαν κάλπιδας ἐν χρουσοφαῖς· τὺ δ’ ἅµα πάντε[ς] ὦρθεν· (_____) πλίονας δ’ εἷλε Κιθηρών· τάχα δ’ Ἑρµᾶς ἀνέφαν[έν νι]ν ἀούσας ἐρατὰν ὡς ἕ]λε νίκαν· στεφ[ά]νυσιν δὲ κ]ά̣ρα̣ τῶ γ̣’ ἀνεκόσµιον µάκα]ρες· τῶ δὲ ν[ό]ος γεγάθι· (_____) ὁ δὲ λο]ύπησι κά[θ]εκτος χαλεπ]ῆσιν ϝελι[κ]ὼν ἔστιχ’ ἐπὶ] λιττάδα [π]έτραν . . . . .]κ̣εν δ’ ὄ[ρο]ς· ὐκτρῶς δὲ βοά]ων οὑψ[ό]θεν εἴρισέ [ϝε σοὺ]µ µου[ρι]άδεσσι λάυς· (_____) . . . . . . .]επ[̣. . .]νεγ[. . .].[.] ἀµ]β̣ροσίας[.]. _ _ _ _ _ _ _ _ ]τριχα.[.]ς _ _ _ _ _ _ _ _ ]ο̣ς µελ[ί]ων _ _ _ _ _ _ _ _ _]. . .[. .] _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ ]σόρουσεν _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ ].

459 5

10

15

20

25

30

35

40

460

B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

]ν.ως _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _]σ̣ων ]ι̣ω φεγγµα]κάρων τῦ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _]νϊοντασάσα̣[ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _]α̣ρεο̣σιν·εῖσ ̣ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _]α Διὸς Μνα[µοσούνας τ’ _ _ __ _ ]κώρη. _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _]νὴ. _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _]υ̣σκαλε[̣ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ __ _ _]προ̣[

45

50

col. ii .[ .[ ϝε[λικὼν ω̣δ. .ρα[ δετ’ ὄρο[ς ρωνκυ̣[ κρο̣υ[ .[ τ’α̣[ ερα̣[ θ’α[ ⊗

]υ̣ῖ ] ]σ̣υ 5

10

Schol. marg. dext.: col. i, V. 5 θηραν; 11 χι̣ονα; 21 ες; 37 εκ; 40 εις; 45 εσ εαι[; 50 απο του[; col. ii, V. 2 επικληθησε|σθαι2 2

Abweichungen von PMG: a) col. i, V. 1: ε]ὐστέφανον statt ]υστεφανον: Schubart und Wilamowitz 1907, S. 26; vgl. auch Page 1953, S. 11: „ε] suppl. veri sim.“ | V. 3: ] ἐπ’ ἄκρυ statt ]επ’ άκρυ: Vgl. Schubart und Wilamowitz 1907, S. 26. | V. 5: West liest ]α̣ρῶντ’ statt ].ρῶ̣ντ’ und macht so Schachters Vorschlag (2005, S. 276) ἱ]α̣ρῶν τ’ ὀρίων möglich. | V. 6: ].ν φοῦλον ορνι statt ].νφο$υλονο͘ρνι. Auch Wilamowitz und Schubart stellen φοῦλον heraus. Zu dem problematischen Fleck bzw. Punkt über dem ρ vgl. West 1996, S. 22 gegen Burzacchini 1991, S. 69 Anm. 79: „The spot above ρ seems to me not to be ink.“ | V. 10: γ]ενέθλα statt γ]ενεθλα: Vgl. Schubart und Wilamowitz 1907, S. 27. | V. 13: δαθίοι satt δάθιον: West sieht über dem α ein ζα anstelle eines Akuts, was den erwünschten Dativ möglich macht. Vgl. schon Page 1953, S. 18 zu V. 13: „δαθίο[ι dative singular might

2 col. i

1 2 3 4 5 6 10

Der Text

461

den schönbekränzten da auf dem Gipfel die Saiten … Jagd … der [heiligen] Berge die Rasse [der Vögel] Geburt

seem preferable, for ζάθεος in early poetry describes places, not persons; but the accent rules it out“. Dagegen Burzacchini 1991, S. 70 Anm. 86: „nel papiro, in effetti, si legge chiaramente ά.“ | V. 21f.: χρου|σοφαῖς statt χρου|οσφαῖς: Es handelt sich um einen Druckfehler im PMG; Pages Korinna-Ausgabe von 1953 enthält in allen Fällen die erste Version (vgl. Page 1953, S. 10; 19; 55). Im Nachdruck von 1967 korrigiert. | V. 26: Der Hochpunkt hinter νίκαν ist eingefügt im Sinne von Ebert 1978, S. 6. | V. 27: [δὲ κ]ά̣ρ̣α τῶ γ‘̣ ἀνεκόσµιον statt . . .].(.)ατώ.ανεκόσµιον: plausible Konjektur von Ebert 1978, S. 6f. Entscheidend ist die Deutung des Zeichens über dem ω als Rest eines Zirkumflex, nicht als Akut. Dazu West 1996, S. 22: „Compatible with Ebert’s δὲ κ]άρα τῶ γ’, except that I saw the accent on the omega as an acute, like previous editors, though I confess I did not look carefully at this particular detail“. | V. 28: ν[ό]ος statt νόος: Vgl. Ebert 1978, S. 7. | V. 30f.: Die Konjektur ἔ-|[στιχ’ ἐπὶ] (ebd., S. 10) steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Interpretation der Verse 33f.; vgl. dazu Abschnitt B.III.4.1.2. | V. 33: δὲ βοά͜]ων statt . . . . .]ων: Ebert 1978, S. 10f. | V. 33f.: εἴρι-|σέ [ϝὲ σοὺ]µ statt εἴρι-|[σέ νιν ἐ]µ. Vgl. zum vorderen Teil ebd., S. 7 Anm. 7: „Aus den Texteditionen wird z.T. nicht ersichtlich, dass im Papyrus versehentlich am Ende von Z.33 εἴρισε (statt εἴρι-|σε) geschrieben worden ist. Am Anfang von Z.34 ist also nur [νιν ἐ], und nicht etwa [σε νιν ἐ] ergänzt worden.“ Für die Konjektur s. ebd., S. 7-10 und unten B.III.4.1.2. | V. 35: ]επ̣[. . .]νεγ [. . .].[.] statt ]εγ[. . .]νεγ.̣ .[. .].[.]: West 1996, S. 22. | V. 36: ἀµ]β̣ροσίας[.]. statt ].ροσίασ[.]: Campbell 1992, S. 28; vgl. Page 1953, S. 12: „fort. ἀµ]βροσίας“. Auch West 1996, S. 22 liest β̣. | V. 38: ]ο̣ς µελ[ί]ων statt ]ο̣ςµελ[.]ων: Crönert 1908, S. 169; vgl. Burzacchini 1991, S. 79. | V. 44f.: ]ι̣ω φεγ-|[γ-] statt ]ι̣ωφεγ|[]: Schubart und Wilamowitz 1907, S. 2; vgl. Burzacchini 1991, S. 79. | V. 45: µα]κάρων τῦ statt ]καρωντῦ: Schubart und Wilamowitz 1907, S. 29. | V. 47: ]α̣ρεο̣σιν·εῖσ̣ statt ]δ̣ρεο̣σινεῖσ̣: α̣ statt δ̣ und Hochpunkt liest West 1996, S. 22. Anstelle des σ̣ hat West zudem [ ] und hält statt des ο̣ auch ein σ̣ für möglich. | V. 48f.: ]α̣ Δι[ὸ]ς Μνα[-|[µοσούνας τ’ ---]κ̣ωρη statt ]α̣διο̣σµνα[|[---]κωρη: Crönert 1908, S. 169; vgl. Burzacchini 1991, S. 79; Campbell 1992, S. 28. | b) col. ii, V. 3: ϝε[λικων statt ϝε[: Schubart und Wilamowitz 1907, S. 29. | V. 5: δετ’ ὄρο[ς statt δετ’ ορο[: Schubart und Wilamowitz 1907, S. 29. | V. 9: τ’α̣[ statt τ’[: West 1996, S. 22.

462

B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

(11) Schnee [...] Die [Kureten verbargen das Kind der Göttin] in der heiligen Höhle, heimlich vor dem (15) krummsinnenden Kronos; zu der Zeit täuschte ihn nämlich die selige Rhea und erlangte große Ehre von den Unsterblichen.“ Das sang er. Und sogleich trugen die Musen den Seligen auf, (20) ihre geheime Stimme abzugeben in goldprangende Urnen; die aber erhoben sich alle zugleich. Mehr Stimmen erlangte Kithairon; unverzüglich gab Hermes ihn bekannt [sc. als Sieger], (25) ausrufend, dass er den ersehnten Sieg erlangt habe. Die Seligen schmückten ihm das Haupt mit Kränzen; und ihm freute sich der Sinn. Helikon aber [stieg], ergriffen (30) von schmerzlichem Gram, [auf] einen ragenden Fels; und es [erschauderte3] der Berg; und kläglich aufschreiend stürzte er [sich] von oben hinab mit tausenden Steinen. 36 die ambrosischen 37 Haar 38 der Glieder4 40 stürzte zu auf 44f. licht45 der Seligen 48f. die Töchter des Zeus und der Mnemosyne col. ii 2 3 5

2.2

(in Zukunft) benannt werden Helikon der Berg

Aufbau und Inhalt

Der erhaltene Text ist im Grunde leserlich von col. i, 12f. bis 34. Wenn auch Anfang und Ende des Liedes fehlen, so bleibt der Kern der Handlung nachvollziehbar: In einem Sängerwettstreit treten Helikon und Kithairon gegeneinander an. Die Götter stimmen unter der Schirmherrschaft der Musen zugunsten des Kithairon ab. Er wird gebührend geehrt und freut sich; der Verlierer Helikon reagiert heftig. Folgendermaßen lässt sich der Text gliedern:

3

4

Vgl. für diesen Vorschlag auch Campbell 1992, S. 29, der die Lücke in der englischen Übersetzung mit „(shuddered?)“ füllt. Möglich sind auch „Lieder“; vgl. unten Abschnitt B.III.4.1.2.

2

Der Text

463

V. 12-18 Lied eines Kontrahenten: Zeus’ Geburt und Rheas List V. 19-23 Abstimmungsprozess der Götter V. 24-28 Bekanntgabe und Ehrung des Siegers Kithairon V. 29-34 Reaktion des Helikon.

2.2.1 Der Verlauf der Handlung Der Anfang5 des Liedes ist bis auf einige erkennbare Wörter nicht erhalten, doch lassen sich über seinen Inhalt begründete Vermutungen anstellen: So ist zu erwarten, dass zunächst der Rahmen des Wettbewerbs abgesteckt worden ist – vielleicht in Form einer Herausforderung (dazu V. 1 ε]ὐστέφανον und V. 2 ]γῶγ’ ἐπὶδῆ ?). Dann kann das Lied des ersten Kontrahenten gefolgt sein. V. 4 χορδάς kann sowohl noch zur äußeren Schilderung gehören – die Sänger begleiten ihre Lieder, wie es angemessen ist, auf einem Saiteninstrument – oder auch schon Teil des ersten Wettbewerbbeitrags sein.6 Über seinen Inhalt kann nicht viel ausgesagt werden, nur soviel, dass unter anderem von Bergen und Jagd (V. 5 . ἱ]α̣ρῶ̣ν τ’ ὀρίων mit Marginalie θηραν) die Rede war.7 Es besteht 5

6

7

Hier wird angenommen, dass die ersten Verse von col. i trotz des auffälligen und problematischen Schriftbildes von V. 1-6 (vgl. Lobel 1930, S. 357f.; Page 1953, S. 87f.; Harvey 1955; Burzacchini 1991, S. 67-9) in jedem Falle einen Teil des Wettstreitliedes darstellen und nicht etwa zu einem anderen Lied Korinnas gehören. Als Erklärung für das Schriftbild sind einem liedinternen Metrenwechsel (so tendenziell Page) oder fehlerhafter Kolometrie (Harvey und Burzacchini) vor der Annahme zweier unterschiedlicher Lieder (Lobel) der Vorzug zu geben. S. ausführlicher unten Exkurs III nach Abschnitt B.III.3.1.2.3. Ist V. 4 χορδάς Teil der äußeren Schilderung, so gibt V. 3 ]ἐπ ἄκρυ vielleicht den Wettbewerbsort an. Für χορδάς als Liedbestandteil s. unten Abschnitt B.III.5.2.2.1 Anm. 753. Für die mögliche Rekonstruktion bis zu diesem Punkt vgl. auch Weiler 1974, S. 82f.: „Aller Wahrscheinlichkeit nach kam es zu einer Herausforderung zum Agon, worauf gleich Helikons Lied erfolgt sein dürfte. [...] Zeile 4 ist χορδάς erkennbar, was einerseits ein Fingerzeig dafür ist, daß die Sänger ihr Lied, wie es ja üblich war, auf einer Kithara (Kithairon!) begleiteten, anderseits auch dafür, daß Helikon hier seinen Vortrag begonnen haben könnte.“ Schachter 2005, S. 276f. ergänzt zudem für V. 6 φοῦλον ὀρνί[θων]. Für diese ohnehin metrisch schwierige Stelle s. Harvey 1955, S. 178f.; Burzacchini

464

B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

auch die oft übersehene Möglichkeit, dass das Wettstreitlied unter Umständen gar nicht mit col. i begann, sondern auf einem verlorenen Teil des Papyrus:8 In diesem Falle könnten auch die Anfangsverse von col. i ganz oder teilweise zum Lied des zweiten Kontrahenten gehören, das mit V. 18 endet.9 Das Ende des zweiten Wettbewerbsbeitrags ist erhalten. Der Text gibt keinen Aufschluss über die Identität des Kontrahenten: In V. 18 steht ein schlichtes „τάδ’ ἔµελψεµ·“ ohne Namen. Dennoch wird das Lied in der Regel dem Kithairon zugeschrieben, nicht dem Helikon – aus zwar plausiblen Gründen, die aber gleichwohl zu hinterfragen sind.10

8

9

10

1991, S. 69 Anm. 79 und unten Exkurs III nach Abschnitt B.III.3.1.2; für den Inhalt s. auch unten Anm. 15. Für ausführlichere Betrachtungen zu möglichen Liedinhalten s. unten Abschnitt B.III.5.2.2. Insofern ist Weilers Rechnung müßig (vgl. 1974, S. 84: „Bedenkt man, daß die Inhaltswiedergabe des überlieferten Kithaironvortrages sieben Zeilen umfaßt und auf alle Fälle noch länger gewesen sein muß, da der lesbare Text mitten im Satz anhebt, so kann Korinna die Angabe des Motivs nur in aller Kürze erwähnt haben, auch wenn eine Schilderung des Helikonliedes bloß wenige Verse umfaßt haben sollte.“). Vgl. Schachter 2005, der präzise für col. i, 1- col. ii, 11 von den „final 64 lines of a poem“ (ebd., S. 275) spricht. Er skizziert in diesem Sinne die ersten elf Verse folgendermaßen: „I (deserve) the crown (στέφανον, ἔγωγε [man beachte aber ἱώνγ’ und ἱώνει in PMG 664]), because (ἐπιδὴ)… (when I was) at the very top (of the mountain) hunting (ἐπ’ ἄκρυ, marg.: θήραν … [sic] (I struck the) chords (of my lyre) (χορδὰς) (and sang of) … and sacred mountains (ἱ]αρῶν τ ὀρίων)… (and drew beasts and) birds (φοῦλον ὀρνί[θων) (by my singing… (and I sang of the birth) (γενέθλα) (of Zeus, how in) the snow (marg.: χιόνα),…“ (ebd., S. 276). Es folgt eine Übersetzung des erhaltenen Teils. Es spricht zunächst in der Tat einiges dafür, den Sänger des Liedes als den späteren Sieger Kithairon zu identifizieren: Die Forschungstradition fordert es gewissermaßen, an dieser Stelle Page 1953, S. 20 Anm. 3 zu zitieren – „Wilamowitz chose Cithaeron [sc. als den Sänger des erhaltenen Liedes], and posterity repeats it; I do not know why“ –, um darauf mit Weiler 1974, S. 82 Anm. 189 zu entgegnen, dass in der Darstellung eines Agons üblicherweise der Sieger als Zweiter seinen Auftritt hat. Vgl. etwa, auch für weitere Gründe, ebd. sowie Bolling 1956, S. 283 Anm. 1; Burzacchini 1990, S. 33 mit Anm. 7; Larmour 2005, S. 28f. mit Anm.; Collins 2006, S. 26 Anm. 69; Vergados 2012, S. 102 mit Anm. 5; 107 Anm. 35. Die Gründe für die Hinterfragung dieser Zuweisung werden sich unten in B.III.5.2.2 auftun.

2

Der Text

465

Es handelt von Zeus’ früher Kindheit: Ein möglicher11 Bestandteil der Geschichte ist die Bewachung des jungen Gottes in einer Höhle durch 11

Burzacchini 1991, S. 70, zu col. i, 12-14, stellt unter anderem Lobels Konjektur Κώρ̣ει|[τες ἔκρου]ψ̣αν (Lobel 1930, S. 360 Anm. 2), die weithin in die Textausgaben aufgenommen ist, in Frage: Sie könne höchstens „una proposta exempli gratia“ sein; man müsse sich vielleicht mit einem spärlicheren, dafür aber sichereren Text begnügen. Burzacchini weist darauf hin, dass einzig κώ sicher zu lesen sei, der Akzent zudem mit der Konjektur nicht vereinbar: Diese erfordere einen Zirkumflex über dem ι (Κωρεῖτες). Dies stellt jedoch keinen schwerwiegenden Einwand dar, vgl. LSJ s. v. κούρητες II: „as pr[oper] n[ame], Κουρῆτες (Hdn. Gr. 1.63, al.)“. Von dem Buchstaben zwischen κώ und ει sind in der Tat keine eindeutig identifizierbaren Spuren erhalten. Für das ει bemerkt Burzacchini ebd.: „[L]a lettera successiva è quasi certamente un η (ma il Crönert [1908, 168] lo sospettava ricavato dalla correzione di un ει: di qui il dittongo adotatto da Lobel, Maas, Page ed altri, con cui dunque si ripristinerebbe una presunta lezione originaria)“. Das –τες in der Folgezeile schließlich sei reine Ergänzung. Es ist zu vermerken, dass im Papyrus wohl in der Tat eine Korrektur vorgenommen wurde: In Burzacchinis Darstellung wirkt dieses Detail nicht vollständig an den Befund gebunden. Doch dieser wird in gewisser Weise durch West 1996, S. 22 bestätigt, der bei der Begutachtung des Originals κώ.ει̣ liest. Hier bleibt zu klären, in welchem Verhältnis diese Lesart zu dem η der ersten Herausgeber steht: Ist die korrigierte Version im Laufe der Zeit ‚verblasst‘? – Vergados 2012, der seine Interpretation des Gedichtes auf den Kureten aufbaut, verteidigt die Konjektur: „To my knowledge, only Burzacchini (1991, 70) has questioned the reading Κώρειτες at lines 12-13. But Κώ is legible in the papyrus, as is η (corrected from ει), while traces of a ρ are visible; -ψαν in the following line requires a plural subject, and in the context of Zeus’ birth the Curetes are the most likely candidates [...]“ (S. 109 Anm. 42). Wenn auch das –ψαν in V. 13 in der Tat die Suche nach einem Subjekt im Plural rechtfertigt und es ebenso legitim ist, diese Suche auf die noch vorhandenen Buchstaben der vorhergehenden Zeile zu konzentrieren, so ist hingegen nicht richtig, dass es sich bei den Kureten um die „most likely candidates“ handle: Denn auch von Nymphen als den Nährerinnen des Zeus ist die Rede (s. beispielsweise Apollod. 1, 1, 6f. oder D. S. 5, 70, 2f., wo sogar Kureten und Nymphen auftreten), und κώρη (vgl. PMG 654 col. i, 49 κωρη, col. iii, 21 κώρας; dazu Page 1953, S. 49) ist daher nicht weniger wahrscheinlich (vgl. LSJ s. v. κόρη I.1 für den Gebrauch von κ. im Zusammenhang mit Nymphen). Diese Lesart erwägt schon Sitzler: beispielsweise κώρη | [γὰρ ἔκρου]ψαν bzw. ἔθρε]ψαν (vgl. Burzacchini 1991, S. 70). Eine Entscheidung zwischen den beiden

466

B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

die Kureten, offensichtlich und ausdrücklich im Rahmen der Erzählung von Rheas List gegen Kronos. 12 Insofern ist es denkbar, dass auch γ]ενέθλα in V. 10 mit diesem Lied in Verbindung steht, entweder als

12

Möglichkeiten könnte ausgehen von einer Auswertung der unterschiedlichen Szenarien, die zu der Korrektur (ει zu η) geführt haben können. Als vorläufiges Ergebnis ist festzuhalten, dass Burzacchinis Skepsis gegenüber der Konjektur zu groß ist, während Vergados’ Befürwortung nicht uneingeschränkt Bestand haben kann. – Die Ergänzungen [ἔκρου]ψαν oder wahlweise ἔθρε]ψαν (vgl. Page 1953, S. 18 und 19) in V. 13 und [βρέφο]ς in V. 14 sind leichter anzunehmen, da aus ihnen nicht wie aus den Kureten Implikationen etwa für die Datierungsfrage oder Korinnas Umgang mit panhellenischen und epichorischen Elementen erwachsen (s. unten Abschnitt B.III. 3.1.2.4, Anm. 276). An dieser Stelle seien einige Anmerkungen zur Übersetzung der Verse 1416 vorgebracht, die auch inhaltlich für ‚Rheas List‘ von Bedeutung sind.: V. 16 νιν κλέψε kann, was Aktion und Objekt angeht, auf zweierlei Weise gedeutet werden: entweder im Sinne von LSJ s. v. κλέπτω II, „cozen, cheat“, in welchem Falle das νιν auf Kronos verwiese; oder im Sinne von LSJ s. v. κλέπτω I, „steal“, oder III „conceal, keep secret“, in welchem Falle Zeus das Objekt der Handlung wäre. Gerber 1970, S. 396 zu V. 16, spricht sich für die Bedeutung ‚stehlen‘ aus: „[…] but the former [sc. ‚stole him‘] is undoubtedly right, since the latter [sc. ‚deceived him‘] would be merely a rather flat explanation of λαθράδαν“. Dagegen ist einzuwenden, dass das λαθράδαν (V. 14) die Aktivität der Kureten beschreibt, während ‚κλέψε‘ Rheas Handlung bezeichnet: Es wären also mit der Bedeutung ‚täuschen‘ zwei einander ergänzende Aspekte der Geheimhaltung vor Kronos ausgestaltet. Collins 2006, S. 28f., der Gerbers Plädoyer für die Bedeutung ‚stehlen‘ übernimmt, interpretiert Vers 16 gänzlich abwegig offenbar so, dass Rhea Zeus von den Kureten stiehlt. Die Pointe dieser Version wäre dann, dass Korinna hier, wie auch an anderer Stelle, alternative Mythenstränge zur panhellenischen Version aufgreife (Collins verweist ebd., S. 29 auf eine mögliche Tradition, in der die Kureten negativ dargestellt werden). Vergados 2012, S. 115 Anm. 81 widerspricht zwar, bringt jedoch nur inhaltliche Einwände vor. Collins’ Missverständnis scheint sich aber auf eine zu enge Deutung von τανίκα (V. 15f.) zu gründen. Er übersetzt „then“ und versteht darunter eine strenge zeitliche Abfolge, im Sinne von „Erst versteckten die Kureten, dann stahl Rhea“. In der Tat ist zu τανίκα noch etwas zu bemerken: Die meisten Übersetzer geben eine unterordnende Bedeutung wieder (vgl. z. B. Vergados 2012, S. 102: „when“; Schachter 2005, S. 276: „when“; Vivante 1979, S. 83: „when“; Rayor 1993, S. 225 und 227: „when“; Snyder 1984, S. 127: „at that

2

Der Text

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Teil davon oder als Ankündigung nach dem Muster ‚X aber besang die Geburt des Zeus‘.13 Über die Bedingungen und den Rahmen des Wettbewerbs können schwerlich Schlüsse gezogen werden. 14 Wie und warum kommt der Wettbewerb zustande? Was ist der Modus: Variation über das gleiche Thema, Aufgreifen des Themas des Vorgängers, eigene Themenwahl, Genre, ‚Gattung‘ gar?15 Wurde der Agon in einer oder in mehreren Runden ausgetragen? 16 Ohne das erste Lied ist keine Entscheidung zu treffen.17

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14 15

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time when“ etc.). West 1970 vermerkt zu V. 15: „τανίκα for ἁνίκα by analogy with relative τάν, τόν, etc. Only here?“ Vgl. auch Gerber 1970, S. 396 zu Vers 16; Vergados 2017, S. 252. Tatsächlich weisen alle 53 (per TLG) ermittelten Stellen mit τανίκα bzw. τηνίκα eine beiordnende Verwendung auf, sodass eine unterordnende Funktion an dieser Stelle in der Tat einzigartig wäre – zu überprüfen blieben jedoch die nahezu 8000 Stellen mit den weit gängigeren Form τηνικαῦτα oder auch τηνικάδε. Es bestehen jedoch keine schwerwiegenden Einwände dagegen, mit Burzacchini 1991, S. 72 zu V. 15f. (vgl. zustimmend Ortolá Guixot 2005, S. 82) in τανίκα das (beiordnende) Demonstrativum zu lesen (Allerdings hält er Jurenkas 1908, S. 392 Übersetzung „…Da insgeheim vor dem verschlagenen Kronos ihn gestohlen hatte die selige Rhea“, dessen Text im Übrigen erst in Vers 14 – für ihn also Vers 1 – mit λαθράδαν beginnt, irrtümlich für eine Formulierung in diesem Sinne). Eine echte Asyndese ist wegen des demonstrativen Charakters, den man explikatorisch auffassen kann, nicht zu befürchten. Ein möglicher Einwand gegen die zweite Möglichkeit kann sich aus dem im Papyrus notierten Hochpunkt hinter γ]ενέθλα ergeben, für den der Übergang zwischen Inhaltsbezeichnung und eigentlichem Lied vielleicht einen nicht ausreichend starken Sinneinschnitt darstellte. Vgl. auch Burzacchini 1991, S. 66. Wilamowitz erwägt sogar, was wohl nicht zu erwarten ist, unterschiedliche Disziplinen: „Auf das Lied des Helikon mag man die „Schafe“ oder „Esel“ und das „Kaufen“ Vers 7. 8 [sic; Wil. liest V. 5 ]ρῶν τ ὀίων und V. 6 ]ι φοῦλον ὤνι] beziehen ‒ wenn nicht gar der Kithairon mit Gesang auftrat, Helikon mit einer Probe irgendeiner anderen Kunst“ (Schubart und Wilamowitz 1907, S. 47). Weiler 1974 untersucht den (musischen sowie athletischen) Agon im Mythos und behandelt auch die möglichen Schemata und Abläufe. Für verschiedene Runden etwa s. das Register (ebd., S. 339) unter „Runde im Wettkampf“. Einige Gedankenspiele zu diesem Thema erfolgen dennoch unten in Ab-

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B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

Der Teil, der an den zweiten Wettkampfbeitrag anschließt, ist zunächst gut nachzuvollziehen: Die Götter stimmen in einer geheimen Wahl unter dem Vorsitz der Musen zugunsten des Kithairon ab. Es folgen die Bekanntgabe durch Hermes, die Ehrung durch die Götter und die Freude des Siegers. Der Verlierer Helikon reagiert mit Gram auf seine Niederlage. Die Art, in der sich dieser Gram äußert, ist auf unterschiedliche Weise ausgelegt worden: Stürzt er sich selbst in Begleitung eines Steinschauers von einem Felsen in die Tiefe oder den Felsblock, der in unzählige Steine zerspringt? Die Offenheit, die hier zunächst gegeben ist, hängt unter anderem mit dem Zustand des Textes und den möglichen Konjekturen insbesondere in Vers 34 zusammen. Hier wird der ersten Variante – der des Selbstmords – der Vorzug gegeben.18 Das Ende des Liedes schließlich, das noch aus etwa fünf Strophen besteht – also länger ist als der erhaltene Teil – ist fast gänzlich unleserlich. Eine genaue Rekonstruktion ist nicht möglich, doch gibt es Hinweise, die begründete Vermutungen über den ungefähren Ausgang des Liedes zulassen.19 2.2.2 Die Gestaltung Das Lied besteht aus Strophen zu sechs Versen; auf fünf Verse mit akatalektischen iambischen Dimetern folgt eine synkopierte ionische clau-

18

19

schnitt B.III.5.2.2. Was zumindest unter Vorbehalt gesagt werden kann – unter der Bedingung nämlich, dass das zweite Lied erst etwa bei V. 10 begann und die vorhergehenden Verse eventuell zum Lied des ersten Kontrahenten gehören –, ist, dass wohl in beiden Liedern Berge eine gewisse Rolle spielen: Vgl. für das erste(?) Lied V. 5 ἱ]α̣ρῶν τ’ ορίων mit der Marginalie θηραν. Im zweiten(?) Lied denkt man sich das Setting von Zeus’ Verbergung ohnehin im Gebirge; es ist aber auch im Text präsent, vgl. V. 12 die Marginalie χι̣ονα und V. 14 ἄντροι. Es ist aber ebenso gut möglich, dass allein das Lied des zweiten Kontrahenten das Thema verfolgt. Die Argumentation für diese Version mit Darlegung der unterschiedlichen Möglichkeiten erfolgt unten in Abschnitt B.III.4.1.2. S. unten Abschnitt B.III.4.1.2. Das Lied kann auch direkt mit dem Ende des Mythos abschließen, ohne Schlusspartie: Diese Variante findet sich in den Fragmenten Korinnas, vgl. West 1970, S. 283.

2

Der Text

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sula.20 Die Syntax ist schlicht und hauptsächlich parataktisch.21 Der erhaltene Ausschnitt hat narrativen Charakter. Die Handlung des Mythos entwickelt sich linear; sie wird neutral und unkommentiert wiedergegeben. Auch stilistisch zeigt sich das Fragment schlicht: So gibt es keine Metaphern oder Vergleiche, keine sprachlichen Bilder, nur wenig schmückende Adjektive. Auf den ersten Blick scheint die Erzählung also nichts zu verbergen. Einige Merkmale der Komposition, die auf ein sorgfältiges Arrangement hinweisen, sind jedoch hervorzuheben. Auffällig ist die Wiederholung verschiedener Formen von αἱρέω: ἕλε (col. i, V. 18), εἷλε (V. 23), ἕλε (V. 26).22 Sie muss keine stumpfe Repetition bedeuten, sondern kann die Funktion erfüllen, den Mythos aus dem Wettstreitbeitrag mit der restlichen Handlung zu verknüpfen: So, wie Rhea große Ehre (V. 17f. µεγάλαν [...] τιµάν) von den Unsterblichen erhält, bekommt Kithairon mehr Stimmen (V. 23 πλίονας [sc. ψάφως]) und den Sieg (V. 25f. ἐρατὰν [...] νίκαν);23 und dieser wird ihm ja ebenfalls durch die Götter zuteil. Von ihnen erhält er auch als äußeres Zeichen der Ehre den Siegerkranz (vgl. V. 26-8). Als weiteres Motiv, das die Anführung von Rheas List mit der Handlung des Liedes verknüpfe, hat man das der Geheimhaltung und Verborgenheit erkannt:24 So steht der Verbergung des kleinen Zeus (vgl. V. 14

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22 23 24

Vgl. Page 1953, S. 61: „Ionics a minore acatalectic, arranged in stanzas of six lines, each stanza consisting of five dimetres + clausula ∪ ∪ – – ∪ ∪ – ∪ – –. [...] Anaclasis, irregular responsion (including substitution of two short for one long or of one long for two short syllables) and syllaba brevis in elemento longo, do not occur. [...] The last syllable of each stanza is long, not brevis in longo. There is no certain example of hiatus between stanzas.“ Zu einem möglichen Metrenwechsel innerhalb von col. i s. Lobel 1930, S. 357f.; Page 1953, S. 87f.; Harvey 1955 und unten Exkurs III nach Abschnitt B.III.3.1.2. Untergeordnete Sätze finden sich nur in col. i, V. 2ff. (vgl. V. 2 ἐπὶδῆ), V. 25f. (ὡς...νίκαν); ggf. auch V. 15-18 (τανίκα... τιµάν), s. dazu oben. Der Anschluss der Hauptsätze erfolgt zumeist durch δέ (vgl. col. i, V. 19; 22; 23; 24; 28; 32), bisweilen auch durch τε (vgl. [V. 5]; V. 17). Vgl. Snyder 1982, S. 128; Larmour 2005, S. 29. Vgl. Snyder 1984, S. 128; Larmour 2005, S. 29. Vgl. Snyder 1984, S. 128; Larmour 2005, S. 29.

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B.III

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λαθρά[δα]ν; V. 16 κλέψε; ggf. auch V. 13 [ἔκρου]ψαν) der geheime Wahlvorgang (V. 20f. ψᾶφον [...] κρουφίαν) gegenüber. Larmour nimmt in die Reihe der Motive, die den Wettstreitbeitrag mit dem Rest des Liedes verbinden, zwei weitere auf:25 Die Täuschung des Kronos durch Rhea (V. 16 κλέψε) finde möglicherweise ein Echo im Auftritt des Hermes in V. 24, der ebenfalls eng mit „trickery“26 assoziiert sei und vielleicht eine Unregelmäßigkeit bei der Ermittlung des Siegers impliziere.27 Der Wahl des Verbs ἀναφαίνω (vgl. V. 24 ἀνέφαν[έν]) komme in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu: [T]he suggestion of uncovering something hidden or throwing light upon something hitherto unremarkable is particularly significant here. The uncovering of the pebbles in the contest parallels the eventual uncovering of Rhea’s stone and the emergence of Zeus from the cave in the myth;28

Als weiteres Motiv sei so auch Rheas Stein29 mit den Stimmsteinen verknüpft, die Kithairons Sieg bedeuten (V. 23 πλίονας [sc. ψάφως]), und mit den unzähligen Steinen, die Helikons Katakremnismos begleiten (V. 34 µου[ρι]άδεσσι λάυς).30 25 26 27

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30

Vgl. ebd., S. 29f. Ebd., S. 29. Auf der anderen Seite überrascht Hermes’ Auftritt innerhalb der Szene natürlich keineswegs, vgl. etwa Vergados 2017, S. 254: „Hermes performs his usual role of herald.“ Aber er ist doch der einzige Gott, der (innerhalb des erhaltenen Teils des Liedes) namentlich herausgestellt wird. Larmour 2005, S. 30. Das Aufdecken von Rheas List (das Erbrechen des Steines, das Erscheinen des Zeus), so Larmour ebd., sei zwar nicht auserzählt, aber doch klar als Assoziation vorhanden durch die Verse 16f., in denen die Götter Rhea Ehren erweisen: Dies deute auf die erfolgreiche Ablösung des Kronos durch Zeus. Die List selbst kann ausführlicher in den verlorenen Versen des Wettstreitbeitrags Thema gewesen sein. Möglicherweise ist aber auch sie nur implizit in den Versen 15f. enthalten. Dennoch darf die Assoziation wohl als stark genug gewertet werden. Vgl. Larmour 2005, S. 30, der allerdings nicht von einem Selbstmord, sondern von dem wütenden Schleudern eines Felsblocks ausgeht. Er erhält somit eine weitere Verknüpfung zwischen Rheas Stein und dem Felsblock, der dann in der λισσάς πέτρα in V. 31 zu sehen ist; s. aber zum Ausgang des Liedes Abschnitt B.III.4.1.2. Die Verbindung zwischen den Stimmsteinen in

2

Der Text

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In der dritten erhaltenen Strophe (col. i, 23-28), die ganz dem Kithairon gewidmet ist, und der vierten (V. 29-34), die dem Helikon gehört, ist eine gegenläufige Anordnung von Motiven erkennbar. Den äußeren Ring bilden wiederum die schicksalsschweren kleinen Steine: die Stimmsteine in V. 23, der Steinschauer in V. 34. Der nächste Ring trägt das Motiv des Rufes: Hermes verkündet laut den Sieg (V. 24f. ἀνέφαν[έν...] ἀούσας), Helikon stürzt sich unter Rufen in die Tiefe (V. 32f. ὐκτρῶς | [δὲ βοά]ων). Den ‚Kern‘ bildet die jeweilige Reaktion der Kontrahenten: Freude auf Seiten des Kithairon (V. 28 τῶ δὲ ν[ό]ος γεγάθι·) steht Gram auf Seiten des Helikon (V. 29f. ὁ δὲ λο]ύπησι κά[θ]εκτος | [χαλεπ]ῆσιν) gegenüber.31 Die Schicksale der Kontrahenten, von Sieger und Verlierer, werden auf diese Weise aufs Engste miteinander verknüpft. Ein weiteres Merkmal der Gestaltung liegt in dem hervorgerufenen Eindruck von der Unaufhaltsamkeit des Geschehens. Der Eindruck entsteht einerseits durch die lineare, knappe Schilderung des Ablaufs, der vielleicht am augenfälligsten wird im Übergang zwischen der zweiten und dritten erhaltenen Strophe: Denn es sind nur der Anfangspunkt – alle Götter erheben sich (vgl. V. 22) – und der Endpunkt – der Kithairon erhält mehr Stimmen (vgl. V. 23) – des Skriptes ‚Abstimmungsprozess‘ angegeben. Zwar ist der Punkt ‚Stimmabgabe‘ durch die Aufforderung der Musen schon vorweggenommen (vgl. V. 20-2), doch ist ja auch etwa das Zählen der Stimmen ausgespart; den direkt aufeinander folgenden Versen 22 und 23 wird durch das Vorangehende an Stringenz nichts genommen. Der Eindruck der Unaufhaltsamkeit wird ferner unterstützt durch zwei Adverbien, die unvermittelte Schnelligkeit implizieren: Sie begleiten das Einleiten des Abstimmungsprozesses durch die Musen gleich nach dem Ende des Wettstreitbeitrags (V. 19 αὐτίκα) und die Bekanntgabe des Siegers durch Hermes (V. 24 τάχα).32 Die verdichtete Beschreibung der Abstimmung selbst liegt eingebettet wie eine Schaltstelle

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32

V. 23 und den „tausenden Steinen“ in V. 34, ohne Bezug zu Rheas Stein, stellt schon Snyder 1984, S. 128 her. Ob und wie sich die Verse 26-8 bzw. 30-2 ebenfalls in diese Struktur einfügen ließen, bleibt zu bedenken. Vgl. dazu auch Snyder 1984, S. 128: „Finally, the recurrence of an adverb of speed (αὐτίκα, line 19, followed by τάχα, line 24), emphasizing the swiftness of the Muses’ administering of the voting process and of Hermes’ announcement of the result, creates a sense of swift-paced, decisive action [...].“ Vgl. auch Larmour 2005, S. 31; 55 Anm. 30.

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zwischen diesen beiden. Der ganze Vorgang führt somit entschieden auf die Reaktion des Helikon zu.33 Vielfach ist die Ähnlichkeit registriert worden, die zwischen Korinnas Darstellung der List der Rhea und der hesiodeischen Fassung in der Theogonie besteht.34 Dass sich der Ton des Wettstreitbeitrags grundsätzlich von dem der agonalen Rahmenhandlung unterscheidet – und dies wohl absichtsvoll –, wird auch aus den wenigen erhaltenen Versen deutlich. So tragen auf engstem Raume sowohl Kronos als auch Rhea ein episches Epitheton ornans (V. 14f. ἀγ|[κο]υλοµείταο Κρόνω; V. 16 µάκηρα Ῥεία), Kronos sogar sein markantestes. Die restliche Handlung hingegen kommt ganz ohne solche Charakterisierungen aus: Die Musen, Hermes, Helikon und Kithairon, auch die Götter unter der Bezeichnung µάκαρες, werden einzig bei ihrem Namen genannt.35 Es wird für das Lied, das der Sänger singt, also offenbar bewusst ein eigener, epischer Ton angeschlagen. 33

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35

Der Eindruck des vorläufigen Endpunkts entsteht zunächst natürlich nur durch den Zustand des Fragments: Der Text bricht ja mit Helikons Reaktion ab. Aber auch unabhängig davon ist es wohl legitim, einen inhaltlichen Einschnitt anzunehmen: Der Bogen, den der Wettstreitrahmen schlägt, kann mit der Bekanntgabe des Ergebnisses und der Reaktion der Kontrahenten als abgeschlossen gelten. Was folgt, wird sich an diese Reaktionen (vor allem natürlich die des Helikon) anschließen und somit einen neuen Bogen eröffnen. S. Vergados 2012, S. 108, sowie beispielsweise Page 1953, S. 20, Anm. 5; Burzacchini 1991, S. 71 zu V. 12-14, 72 zu V. 14f.; Collins 2006, S. 27. So wird verglichen Corinn. PMG 654 col. i, 13f. mit Hes. Th. 482f. κρύψεν δέ ἑ χερσὶ λαβοῦσα | ἄντρῳ ἐν ἠλιβάτῳ, ζαθέης ὑπὸ κεύθεσι γαίης; ferner V. 17f. mit Hes. Th. 463 ἐν ἀθανάτοισιν ἔχοι βασιληίδα τιµήν; zudem beachte man das epische Epitheton ἀγ|[κο]υλοµείταο (V. 14f.). Für mögliche Anklänge auch an die Parodos von Euripides’ Bakchen s. unten Abschnitt B.III.5.2.2.2 Anm. 755. Harvey 1957, der den Gebrauch homerischer Epitheta in der archaischen Lyrik untersucht, setzt sich auch mit Korinna auseinander (vgl. ebd., S. 223). Im Lied vom Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon registriert er außer den genannten Gottheiten mit Beiwörtern keine weiteren Adjektiv-Substantiv-Komplexe, die den gleichen Kontext aufweisen wie in den Epen. Allerdings muss auch δαθίο[ι] ἄντροι in V. 13f. – also ebenfalls innerhalb des Liedes von Zeus’ Geburt – noch hinzugezählt werden. Harvey lag wahrscheinlich die Page’sche Fassung mit dem Akkusativ δάθιον vor (vgl. dazu Anm. 2 oben in Abschnitt B.III.2.1).

2

Der Text

473

Auch im restlichen Lied ist die Verteilung der Ausschmückungen beachtenswert. Während im Wettstreitlied fast jedes sichtbare Substantiv einschließlich Eigennamen mit einem Adjektiv versehen wird, 36 ist die Schilderung des Handlungsverlaufs zunächst karger ausgestattet. In der Aufforderung der Musen erscheint das seltene37 und, mit seiner Prunk anzeigenden Bedeutung, sehr auffällige Adjektiv χρυσοφαής als Beschreibung der Wahlurnen;38 Kithairon, so gibt Hermes mit einer wiederum sehr gängigen39 Formulierung bekannt, habe den „ersehnten Sieg“ (V. 25f. ἐρατὰν [...] νίκαν) errungen. Damit erschöpft sich im Grunde bereits die beschreibende Ausgestaltung.40 Die zwei schon erwähnten Adverbien αὐτίκα (V. 19) und τάχα (V. 24) bestärken die Nüchternheit eher, als dass sie sie verringerten. – Anders stellt sich wiederum die vierte erhaltene Strophe dar. Dem Gemütszustand des Helikon (V. 29f. [λο]ύπησι [...] | [χαλεπ]ῆσιν)41 wird Raum gegeben; er wird sogar in dem Adverb ὐκτρῶς (V. 32) noch einmal aufgegriffen. Der schicksalsträchtige Fels wird mit dem Beiwort λισσάς (V. 31 λιττάδα [π]έτραν) zum „hervorstechende[n] Merkmal einer Örtlichkeit“42, steil und glatt. Der Ausdruck kann tragische Konnotationen wecken, die die Stimmung

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Vgl. V. 13f. δαθίο[ι] ἄντροι; V. 14f. ἀγ|[κο]υλοµείταο Κρόνω; V. 16 µάκηρα Ῥεία; V. 17f. [µεγ]άλαν τιµάν. Die Kureten (V. 12f. Κώρει|[τες]) können ggf. vorher ein Epitheton erhalten haben. Über V. 13f. [θι]ᾶς [βρέφο]ς ist selbstverständlich keine Aussage möglich. Das einfache [ἀ]θανάτων in V. 17 ist die einzige sichere Ausnahme. Vgl. Page 1953, S. 76 Anm. 3. Der ungewöhnliche Ausdruck wird unten in Abschnitt B.III.5.2.1 noch einmal thematisiert; s. auch Exkurs II nach Abschnitt B.III.5.2.1. Vgl. etwa Harvey 1957, S. 217, der ἐρατός als eines der Lieblings-„Lieblingswörter“ der griechischen Lyrik bezeichnet. (Harvey verwendet den deutschen Ausdruck im Sinne von ‚den Liebling [Personen wie Dinge] bezeichnende Wörter‘: „words of affection and appraisal“ [ebd.]). Ebenfalls in der Aufforderung der Musen erscheint ψᾶφον [κρ]ουφίαν (V. 20f.). [κρ]ουφίαν stellt jedoch weniger eine Beschreibung als eine Definition von ψᾶφον dar; s. unten Abschnitt B.III.5.2.1. Unabhängig von der konkreten (und sehr plausiblen) Konjektur [χαλεπ]ῆσιν deutet auch die erhaltene Endung -ῆσιν mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein Adjektiv hin, das [λο]ύπησι näher qualifiziert. Ebert 1978, S. 9, Anm. 16. Der Ausdruck erscheint in der Kombination mehrfach; s. für Stellen ebd. und ergänzend Burzacchini 1991, S. 76.

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des Helikon aufnehmen und auf seinen Selbstmord vorausweisen.43 Die Strophe endet schließlich mit dem großzügigen Bild der „tausenden Steine“ (V. 34 µου[ρι]άδεσσι λάυς)44 des Sturzes. Wie viel knapper wird im Vergleich in der dritten Strophe die Reaktion des Siegers beschrieben! Dabei bieten der Moment der Bekränzung und auch die Freude des Siegers in den Versen 26-8 ja durchaus Ansatzpunkte für größere Ausschmückung. Die Reaktion im engeren Sinne besteht jedoch nur aus den Worten „und ihm freute sich der Sinn“ (V. 28 τῶ δὲ ν[ό]ος γεγάθι). Es verstärkt sich der Eindruck, dass der Fokus der Erzählung auf dem Schicksal des Helikon liegt. 3

Korinna in der Forschung

3.1

Datierung

„Given the meagre state of the evidence, [...] scholarly opinion is guaranteed to remain divided on this issue for the indefinite future.“45 Diese 43

44

45

Vgl. Ebert 1978, S. 9: Der Katakremnismos scheine „eine geläufige Form des Selbstmords“ zu sein. Vgl. auch Burzacchini 1991, S. 76. In A. Supp. 792-9 wird die λισσάς πέτρα zum Bild für die Todessehnsucht des Chores; in E. HF 1148 erwägt Herakles, nachdem er wieder zur Besinnung gekommen ist, den Sprung von der λισσάς πέτρα als eine Möglichkeit, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Eine solche Deutung der λισσάς πέτρα ist natürlich in hohem Maße verbunden mit der Auslegung der Verse 33f., s. unten Abschnitt B.III.4.1.2. Die Konjektur µου[ρι]άδεσσι ist nicht unproblematisch, weil ein adjektivischer Gebrauch von µυριάς nur einmal belegt ist, und zwar nur in Kombination mit einem ebenfalls weiblichen Substantiv ([E.] Rh. 913 µυριάδας πόλεις); vgl. Page 1953, S. 58; West 1970, S. 284; ausführlich Burzacchini 1991, S. 77f. Im normalen Gebrauch würde das Substantiv im Genitiv hinzugefügt. Es besteht aber keine echte Alternative: Vgl. Page 1953, S. 58, Burzacchini 1991, S. 78. Somit muss der Ausdruck angenommen werden – als ungewöhnliche Formulierung. Collins 2006, S. 19. Die folgende Zusammenstellung sei als exemplarische Übersicht über die umfangreiche Debatte um die Datierung Korinnas verstanden: Für eine späte Lebenszeit der Korinna im 3. Jh. v. Chr. plädieren vor allem Lobel 1930, Guillon 1958 u. 1959 und West 1970 u. 1990; ebenso tendenziell Segal 1975/1998, Skinner 1983, Campbell 1992, S. 1-3, Clay-

3

Korinna in der Forschung

475

Aussage zur Frage nach Korinnas Datierung kann durchaus wie ein Motto diesem Abschnitt voranstehen. Die mögliche Lebenszeit der Dichterin fällt in einen Zeitraum vom fünften Jh. v. Chr. bis um 200 v. Chr. Kriterien, die unanfechtbar auf eine bestimmte Zeit verwiesen, gibt es nicht. Im Folgenden sollen sowohl die Sachlage, auf der die hohe Divergenz beruht, als auch die wesentlichen Argumente vorgestellt werden.46 3.1.1 Die problematische Sachlage West fasst die Grundlage für Korinnas Datierung, die als sicher angenommen werden darf, in folgenden drei Punkten zusammen: 1. An edition was made in Boeotia about the end of the third or beginning of the second century B.C. 2. The texts of Corinna current in the late Hellenistic and Roman periods were all descended from that Boeotian edition. 3. Before its dissemination, Corinna was unknown in Greece at large. If she wrote at an earlier period, she must have been remembered only locally.47

Der erste Punkt gründet sich auf die Orthographie des Papyrus, der den größten Teil an zusammenhängendem Text gibt.48 Ein Abgleich mit den

46

47

man 1993, Plant 2004, S. 92, Kousoulini 2016, S. 107-10. Page 1953, S. 6588 wägt ausführlich die Argumente gegeneinander ab und zeigt sich schließlich ebenfalls eher einer späten Datierung zugeneigt. Eine frühe Lebenszeit der Korinna im 5. Jh. v. Chr. verteidigen Bowra 1931; Latte 1956; Gerber 1970, S. 394f.; Allen und Frel 1972; Vivante 1973; Kirkwood 1974, S. 185f; Palumbo Stracca 1993; Gentili und Lomiento 2001, S. 16-20; Larson 2002 unter Vorbehalt; Ortolá Guixot 2005, S. 86-90; Bagordo 2011, S. 246f.; auch Burzacchini 2011, passim, vgl. S. 19 Anm. 15. Davies 1988 argumentiert gegen die Beweiskraft der Indizien für eine hellenistische Zeit, zeigt sich aber selbst unentschlossen. Für eine mittlere Datierung im 4. Jh. v. Chr. sprechen sich Schachter 2005, Berman 2010, S. 58-62 und Vergados 2012, S. 112-6 und 2017, S. 243f. aus. Die folgende ausführliche Zusammenstellung rechtfertigt sich dadurch, dass manches Argument darin einer Revision unterzogen wird. West 1970, S. 277.

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Böotischen Inschriften, „the only available evidence“, ergibt für die Schreibweise einen Zeitraum von 225-175 v. Chr.49 Der dritte Punkt hängt mit dem Umstand zusammen, dass die frühesten erhaltenen Testimonien, in denen Korinna erwähnt wird, aus dem 1. Jh. v. Chr. stammen und dass die Dichterin zudem nicht ursprünglich zum alexandrinischen Kanon der neun Lyriker gehört.50 Als frühester Zeitraum für die mögliche Lebenszeit der Korinna wird, der antiken, verhältnismäßig späten Tradition gemäß, sie sei eine Zeitgenossin Pindars gewesen,51 das fünfte Jahrhundert v. Chr. veranschlagt. Aufgrund der graduell kleinen Unterschiede in der böotischen Orthographie vom vierten zum dritten Jahrhundert v. Chr., vom dritten zum zweiten und selbst vom vierten zum zweiten gegenüber dem relativ großen Sprung zwischen dem fünften und vierten Jahrhundert folgert Page, dass eine Anpassung der Schreibweise an die der Zeit um 200 v. Chr. (wie im Papyrus verwendet) nur anzunehmen sei für eine Korinna des fünften Jahrhunderts v. Chr. So er48

49 50

51

Es handelt sich um P. Berol. 13284 aus dem 2. Jh. n. Chr. (vgl. Page 1953, S. 9, der auch das Wettstreitlied enthält (PMG 654 in Pages Ausgabe). Vgl. Page 1953, S. 66f.; das Zitat auf S. 66. Die ersten Quellen, die Korinna erwähnen, sind Antipatros von Thessalonike (AP 9, 26) und Properz (2, 3, 21), ohne jedoch, dass aus den Erwähnungen eindeutige Rückschlüsse auf ihre Lebenszeit möglich wären; vgl. Page 1953, S. 69f. Ein möglicher ‚Zeuge‘ aus der gleichen Zeit ist Ovid: „The Corinna of Ovid, if indeed her name was borrowed from our poetess, adds nothing to our knowledge“ (ebd.; Heath 2013 zeichnet die Debatte um die Identität von Ovids Corinna nach und argumentiert für eine poetologische Anspielung auf die böotische Dichterin). Auch Zitate in Zusammenhang mit anderen Autoren führen nicht in eine frühere Zeit, vgl. Page 1953, S. 70f. Die Nachricht, Alexandros Polyhistor (1. Jh. v. Chr.) habe einen Korinna-Kommentar verfasst (vgl. Schol. A. R. 1, 551 S. 47 Wendel = PMG 670), was für eine ältere Korinna sprechen könnte, da die Kommentierung alexandrinischer Dichtung erst in augusteischer Zeit einsetzte (vgl. Latte 1956, S. 66 Anm. 1), ist überaus unsicher: Der Laurentianische Kodex übermittelt ἐν τῶι ᾱ τῶν Κορίννης ὑποµνηµάτων, der Pariser ἐν τῶι ᾱ τῶν Καρικῶν ὑποµνηµάτων, „and it is tenable that a history of Caria is a likelier theme than a commentary on Corinna for the author in question“ (Page 1953, S. 71; anders Burzacchini 1996). Zum Kanon der Lyriker, auch Korinnas späterer Hinzufügung, s. Page 1953, S. 68f. Die ersten Testimonien dieser Art stammen aus dem ersten bzw. zweiten Jahrhundert n. Chr., vgl. unten Abschnitt B.III.3.1.2.1.

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Korinna in der Forschung

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geben sich ihm zufolge zwei Möglichkeiten: dass nämlich Korinna entweder im fünften Jahrhundert oder um 200 gelebt habe, der Zeitraum dazwischen hingegen auszuschließen sei.52 Dieser Polarisierung widerspricht West mit der Anmerkung, dass das Ziel einer Umschrift kaum die bessere Verständlichkeit für ein böotisches Publikum sein dürfte: „If Corinna was rewritten on the Boeotian system, it was because she was a Boeotian apparently writing in her own dialect, and not because she was obscure.“53 Wenn also die Möglichkeit von Metagrammatismos grundsätzlich eingeräumt werde, so bestehe sie auch für den mittleren Zeitraum.54 Es ist daher der gesamte Zeitraum zwischen 500 und 200 v. Chr. zu beachten. 52

53 54

Vgl. Page 1953, S. 74f. mit weiteren Argumenten auf S. 78. Diese Voraussetzung hat die Debatte um Korinnas Datierung lange Zeit bestimmt. West 1970, S. 278. Vgl. West ebd., der selbst 1970 und 1990 für eine spätere Korinna argumentiert. Allen [und Frel] 1972, S. 26 Anm. 2 bestätigt die Gültigkeit der Bemerkung: „West [...] places metagrammatism in proper perspective“. Page 1953, S. 75 hatte Einwände in der Art des von West vorgebrachten schon vorbeugend abgewehrt: „This argument will make no appeal to those who believe that the spelling of Corinna, unlike that of any other author, was steadily, or from time to time, brought up to date in detail throughout the fourth and third centuries; but I am not among their number, and say no more on a point which has no fundamental importance for the principle, though it obviously has some bearing on the detail, of this inquiry.“ – Die Orthographie des Papyrus an sich bietet, abgesehen von dem durch sie gegebenen sicheren terminus ante quem und der Plausibilitätsfrage der Metagrammatismos-Hypothese, keine weiteren Anhaltspunkte für die Datierungsfrage. Lobel 1920 argumentiert als erster für eine spätere Korinna ohne Metagrammatismos, zu seinem Stand noch im Zeitraum 350-250 v. Chr., vor Pages Revi-sion der Datierung der Schreibweise (1953, S. 66f.). Ihm entgegnet Bowra 1931 unter anderem: „The papyrus gives us I. [21] κρουφίαν, [IΙΙ. 15] δουῖν, [20] κρουφάδαν, [30] ἀδούτων, [35] Οὑριεύς, in accordance with the revised Boeotian spelling. But these forms are all unmetrical, and the metre can only be restored if we read κρυφίαν, δυεῖν or δυοῖν, κρυφάδαν, ἀδύτων, Ὑριεύς. The conclusion can only be that Corinna wrote a language more akin to the standardised language of Greek poetry than the spelling of the papyrus would at first lead us to think. She wrote before the new spelling was introduced; it distorted her quantities and no argument can be drawn from it to fix her date after its introduction“ (ebd., S. 5). Natürlich kann der Grad der orthographischen Übereinstimmung mit Korinnas ‚Original‘ für keinen der möglichen

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B.III

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3.1.2 Die Argumente Die Argumente, die in eine frühere oder in eine späte Zeit deuten, sind jeweils nicht von uneingeschränkter Gültigkeit. Ihre Auswertung und Abwägung kann eine Tendenz, nicht aber ein sicheres Ergebnis für die Datierung Korinnas erbringen. Auf eine frühe Lebenszeit der Korinna im fünften oder vierten Jahrhundert v. Chr. weisen äußere Zeugnisse, während die Argumente für eine hellenistische Zeit hauptsächlich der erhaltenen Dichtung selbst entspringen. 3.1.2.1 Biographische Notizen Die spärlichen biographischen Notizen zu Korinna – die erste dieser Art findet sich erst bei Plutarch im ersten bzw. zweiten Jh. n. Chr. – beinhalten im Wesentlichen zwei Informationen, die für die Datierungsfrage relevant sein können: Einerseits berichten sie, dass Korinna Schülerin der Myrtis gewesen sei. Andererseits wissen sie von einer Rivalität mit Pindar, die entweder im musischen Agon, in dem Pindar stets der Unterlegene ist, ihren Ausdruck findet, oder in seitens Korinnas geäußerter Kritik an Pindars Dichtung.55

55

Zeiträume mit Sicherheit bestimmt werden (s. etwa Colvin 2007, S. 55f. u. 62 mit Anm. zur problematischen Überlieferung dialektaler Texte). Bowras Einwand besitzt jedoch keine Gültigkeit: Die Orthographie des Papyrus zeigt höchstens auf, dass die böotische Aussprache ου für langes wie für kurzes υ, die durch die Reform der Schreibweise auch im Schriftbild abgebildet werden soll und wohl einer Korinna jeder Zeit zu eigen gewesen sein muss, offensichtlich keinen Einfluss auf die Metrik hat. Vgl. die Zusammenfassung der erhaltenen Informationen bei Clayman 1993, S. 633: „The ancient testimonia [...] tell us that Corinna was the daughter of Acheloödorus and Hippocrateia, who lived in Thebes or Tanagra, where she was a pupil of Myrtis (Suda κ 2087 Adler), or Myrtis’ fellow teacher (Metr. Vit. Pind.), and had a literary dispute or contest with Pindar (Plut. Mor. 347f [sc. 347f-348a, De Ath. glor.]; Ael. VH 13.25; Paus. 9.22.3; Suda κ 2087 Adler; Σ Ar. Ach. 720 [erg. auch Eust. ad Il. 2, 711-15, (Bd. 1, S. 509, Z. 31S. 510, Z. 2 van der Valk), wo allerdings nicht der Name, sondern einzig die böotische Herkunft der betreffenden Dichterin genannt wird]), whose father she called Scopelinus (P. Oxy. 2438). Although the accounts of the contest differ in detail, Corinna is in every case the plaintiff, and her objections are

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Wie Page darlegt, ist die Verbindung mit der böotischen Dichterin Myrtis auf das Korinna-Fragment PMG 664a – in dem Korinna die Dichterin Myrtis dafür tadelt, dass sie mit Pindar in Wettstreit trete – zurückzuführen und daher nicht weiter verwertbar.56 Eine unabhängige Datierung für Myrtis selbst ist nicht möglich. So sind auch die Notizen in der Suda, in denen neben Korinna auch Pindar als Schüler der Myrtis bezeichnet wird,57 als sekundäre Derivate aus dem Lied um PMG 664a zu begreifen. Die anderen Erwähnungen58 der Dichterin aus Anthedon lassen keine Rückschlüsse auf ihre Lebenszeit zu. Die Debatte um die relative Datierung von Myrtis, Pindar und Korinna ist dementsprechend auf das Korinnafragment begrenzt und dreht sich um die Fragen, ob die Formulierung „ἔβα [...] πὸτ ἔριν“ eine Auseinandersetzung unter Zeitgenossen beschreibt und ob Korinnas Tadel einer Zeitgenossin gilt.59 Hier wird mit Guillon und West der Auffassung der Vorzug gegeben, es handle sich bei Myrtis am ehesten um eine ungefähre Zeitgenossin der Korinna, nicht aber notwendig auch Pindars.60 Was die Rivalität mit dem ebenfalls aus Böotien stammenden Pindar angeht, so ist die entscheidende Frage, ob für die Entstehung der ohne

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aimed not at Pindar himself but at his poetry.“ Etwas missverständlich ist die Aussage, in der metrischen Pindar-Vita sei Korinna als „Myrtis’ fellow teacher“ erwähnt: An der betreffenden Stelle ist einzig Korinna genannt, und zwar als Pindars erste Lehrerin (vgl. V. 14-16 S. 8f. Drachmann). Myrtis tritt in den Viten insgesamt nicht auf (allerdings heißt Pindars Mutter dort bisweilen Μυρτώ, vgl. S. 4 Drachmann). Einzig in der Suda wird auch Pindar als Schüler der Myrtis bezeichnet, aber wiederum ohne Verweis auf Korinna (vgl. Suid. s. v. Πίνδαρος = π 1617 Adler). Vgl. Page 1953, S. 72; so auch schon Lobel 1930, S. 356. Die Verse lauten: µέµφοµη δὲ κὴ λιγουρὰν | Μουρτίδ’ ἱώνγ’ ὅτι βανὰ φοῦ|σ’ ἔβα Πινδάροι πὸτ ἔριν. / „Ich jedenfalls tadle auch die klartönende | Myrtis, dass sie, obwohl sie eine Fru ist, | mit Pindar in Wettstreit trat.“ – S. auch den Exkurs am Ende dieses Abschnitts. S. Suid. s. v. Πίνδαρος (π 1617 Adler) u. s. v. Κόριννα (κ 2087 Adler). AP 9, 26, 7 (Antip. Thess.); Plu. Mor. 300d-f (Aetia Romana et Graeca) = PMG 716; Tatian, ad Graecos 33, 2. Für die unterschiedlichen Positionen s. Lobel 1930, S. 356; Page 1953, S. 31 mit Anm. 1 u. S. 72; Guillon 1958, S. 53f. und 1959, S. 161-7; Allen [und Frel] 1972, S. 28 Anm. 4.; West 1990, S. 554; Burzacchini 1991, S. 41-3 und 1993, S. 399-401. S. dazu unten Abschnitt B.III.3.1.2.4.

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B.III

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Zweifel anekdotischen Notizen, in denen persönliche Begegnungen von Dichter und Dichterin geschildert werden, als ‚wahrer Kern‘ ihre Zeitgenossenschaft oder annähernde Zeitgenossenschaft vorausgesetzt werden muss. Umso mehr erstaunte – trotz eingeschränkter Beweiskraft eines argumentum ex silentio – die lange Stille um eine Dichterin, der man einen theoretischen Sieg über Pindar offenbar zutrauen konnte.61 Als Ursprung ist aber wiederum die Dichtung selbst denkbar, und wieder kann PMG 664a in entscheidender Weise mitgewirkt haben.62 Exkurs. Korinnas Dichtung und die biographischen Notizen Die Bezüge zwischen dem Inhalt der biographischen Zeugnisse und Korinnas eigenen Dichtungen sind in einem Fall sehr deutlich. So ist der Zusatz, den Aelian VH 13, 25 dem Agonmotiv anfügt, auf einen Vers von Pindar zurückzuführen: Aelian weiß von einem fünffachen Sieg Korinnas über Pindar, schiebt die Verantwortung einem ungebildeten Publikum zu und lässt den Verlierer deshalb eine Beschwerde gegen seine Zuhörer richten und die siegreiche Korinna als „Sau“ beschimpfen.63 Dies klingt, wie Page64 darlegt, verdächtig an Pi. O. 6, 87-90 an, wo der Dichter die Zuversicht äußert, mittels eines Liedes der „alten Schande“ (ἀρχαῖον ὄνειδος) der Βοιωτί[α] ὕ[ς] zu entfliehen. Pindar nimmt dort Bezug auf die sprichwörtlich65 gewordene diffamierende Bezeichnung 61

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Gerber 1970, S. 394 nennt jedoch Telesilla, die wohl im fünften Jahrhundert v. Chr. anzusiedeln ist und ebenfalls zum ersten Mal in AP 9, 26, 5 (Antip. Thess.) Erwähnung findet, als Beispiel für eben so eine Stille. Allerdings ist Telesillas Reputation durchaus nicht mit der Korinnas vergleichbar, die man als Zehnte dem Kanon der neun Lyriker anfügt (s. Page 1953, S. 68f.). Im Gegenzug verweist Skinner 1983, S. 18, Anm. 7 die Verfechter der Notwendigkeit des ‚wahren Kerns‘ an die Dichterinnen Erinna (wohl 4. Jh. v. Chr.) und Nossis (3. Jh. v. Chr.), die in der Tradition bisweilen zu Zeitgenossinnen Sapphos gemacht wurden. – Weniger problematisch stellte sich die Spärlichkeit der biographischen Informationen für eine hellenistische Korin-na dar: „We must recognise that little or nothing survived from the Hellenistic era into the later world concerning the lives and characters of much more famous and widely read persons than Corinna“ (Page 1953, S. 79 Anm. 1). Für die mögliche Rolle von PMG 664a s. Guillon 1959, S. 161-7 und den folgenden Exkurs. Vgl. Ael. VH 13, 25: [...] ὁ Πίνδαρος σῦν ἐκάλει τὴν Κόρινναν. S. Page 1953, S. 73. S. dazu Burzacchini 2002.

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„böotische Sau“ für die Böotier, was jedoch in der Tradition, der Aelian folgt, offenbar zu einer Anspielung auf die vermeintliche persönliche Niederlage gegen Korinna umgemünzt worden ist. Page lokalisiert den Kern der Tradition um die Konkurrenz zwischen den beiden böotischen Dichtern in einer Wechselwirkung von Fragment PMG 664a, aus dem leicht der Schluss einer Gleichzeitigkeit der drei beteiligten Personen erfolgen konnte, und Pindars vermeintlicher Anspielung auf seine Niederlage.66 Harvey67 akzeptiert diese Erklärung für Plutarch, Aelian und Suidas, verlangt aber für Pausanias 9, 22, 3 „a different, and more ingenuos, explanation“68. Pausanias sieht in Korinnas Heimatstadt Tanagra ein Gemälde, das die Dichterin zeigt, wie sie sich bekränzt „des Sieges wegen, den sie über Pindar im Singen errang in Theben“ (τῆς νίκης ἕνεκα ἣν Πίνδαρον ἄισµατι ἐνίκησεν ἐν Θήβαις). Er fährt fort mit Erwägungen über die Gründe ihres Sieges und ermittelt diese zwei: Im Gegensatz zu Pindars Dorisch konnte das Publikum ihren Dialekt verstehen; und sie war, dem Bild nach zu urteilen, sehr schön. Harvey sieht für dieses Bild Erklärungsbedarf von Seiten der Unterstützer einer späten Datierung: Did the painter also draw a ‘very bad inference’ from Corinna’s poem, and if so, why was he allowed to perpetuate his error on the walls of a public building? Were the memories of the natives of Tanagra so short that they could not remember to the nearest two or three centuries the date of their only famous poet?69 Auf die erste Frage antwortet treffend Page,70 dass der Maler nur mit der bestehenden Tradition bekannt sein musste, um den Wettstreit darzustellen; und dass, davon abgesehen, Pausanias’ Formulierung keineswegs zwangsläufig bedeute, dass Pindar und die Wettstreitsituation auf dem Gemälde ebenfalls abgebildet seien – eher im Gegenteil.71 Die zweite Frage beantwortet im Grunde West:72 Die biographische Tradition könne auch außerhalb von Böotien entstanden sein, „anywhere where her book, but no further information, was available.“73 In Tanagra selbst würde 66 67 68 69 70 71 72 73

Vgl. Page 1953, S. 73f.; Lefkowitz 22012, S. 67. S. Harvey 1955, S. 180. Ebd. Ebd. Vgl. ähnlich Allen [und Frel] 1972, S. 28. S. Page 1957, S. 111f. Vgl. auch Guillon 1959, S. 155-161. S. West 1990, S. 557. Ebd.

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man diese dann bereitwillig aufgenommen und gestreut haben: „This was just the sort of thing that gave a Hellenistic town prestige“74. Kirkwood75 wiederum sieht es als unwahrscheinlich an, dass „a learned Boeotian like Plutarch“76 diese Tradition unterstützen würde. Plutarch schildert in Mor. 347f-348a (De Ath. glor.) eine Begebenheit, in der Korinna den jungen Pindar über den richtigen Gebrauch des Mythos in der Dichtung belehrt. Denn ihm komme die Priorität zu: Sprache, Figuren und Tropen, Metrik etc., denen Pindar seine Hauptaufmerksamkeit schenke, seien hingegen sekundär. Der Fortlauf trägt Wettstreitzüge: Pindar verfasst und präsentiert sogleich vier Verse, in denen gleich sechs Mythen aufgezählt werden.77 Korinna lacht: Man solle mit der Hand säen, nicht mit dem ganzen Beutel. So behält sie das letzte Wort. – Kirkwood fordert von einem Plutarch keine Authentizität für den Inhalt der Anekdote: Sie ist gut eingebettet in eine Passage, in der es um den wesentlichen Gegenstand der Dichtung und im größeren Rahmen um das Verhältnis von Taten und (nach-)gedichteten Taten geht. Doch glaubt er nicht, dass Plutarch diese Ankedote weitertragen würde, wenn sie auf einer „manifest absurdity“78 beruhte. Auch hier ist schwer abzusehen, was für eine Eigendynamik eine Tradition von Korinna-und-Pindar-Geschichten entwickelt haben kann. – Plutarchs Anekdote zeigt zusätzlich, wie ähnlich prinzipiell ein Lehrer-Schüler- oder Kritiker-KritisiertenVerhältnis dem Verhältnis zweier Kontrahenten im Agon sein kann, wie nah sich also die erhaltenen biographischen Anekdoten sind. Clayman79 versucht alle Elemente der Tradition um die Rivalität mit Pindar ganz konkret in Korinnas Dichtung zu verorten, und zwar im auch hier behandelten Lied vom Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon (PMG 654 col. i, 1-col. ii, 11). Sie hält es für möglich, dass dieses in einem Rahmen eine relativ explizite Benennung Pindars enthielt und der Wettstreit zwischen den Bergen darin als Allegorie mit deutlicher Zuordnung Helikon~Korinna, Kithairon~Pindar eingebettet gewesen sei. Ein solches Setting könne den Kontext für eine poetologische Auseinandersetzung geboten haben, deren Elemente dann in den biographischen Notizen sichtbar würden, z. B. die Kritik an Pindars Mythengebrauch in Plu. Mor. 347f-348a (De Ath. glor.) und die Kritik an Pindars Gebrauch des attischen Wortes ἀγοράζειν in Schol. Ar. Ach. 720 (PMG 74 75 76 77 78 79

Ebd. S. Kirkwood 1974, S. 186. Ebd. Vgl. Pi. fr. 29 Snell-Maehler. S. auch unten 3.2.2 mit Anm. 366f. Kirkwood 1974, S. 186. S. Clayman 1993.

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688). Während gewiss – gemäß Lefkowitz’ Ansatz80 – der Ursprung der Tradition in Korinnas Liedern angenommen werden muss, so bleibt doch fraglich, ob man für jede einzelne Variante den Anstoß im Text selbst zu suchen hat: So kann beispielsweise die Attizismus-Kritik aus den Aristophanes-Scholien durchaus schlicht aus der Beobachtung von Korinnas konsequent böotischer Textoberfläche entstanden sein, insbesondere, wenn die Tradition von der Rivalität schon bestand. Auch bleiben Vorbehalte gegen die Identifikation des Helikon-Kithairon-Liedes insgesamt als Quelle der biographischen Tradition.81 Wahrscheinlicher erscheint es, dass der Myrtis-Tadel aus PMG 664a von weiteren, poetologischen Versen begleitet war, die die Konstellation begünstigten.82

3.1.2.2

Tatian, ad Graecos 33, 2f.

Das mittlerweile wohl stärkste83 Argument für eine frühere Lebenszeit der Korinna ist die bei Tatian, Oratio ad Graecos 33, 2f. gegebene Liste von Bildnissen griechischer Dichterinnen inklusive ihrer Bildhauer, die der Autor selbst in Rom gesehen zu haben angibt.84 Darin nennt er eine von dem Bronzebildner Silanion geschaffene Korinna-Statue. Dessen

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S. Lefkowitz 22012. S. auch unten Abschnitt B.III.3.3, wo Claymans Ansatz (1993) noch einmal thematisiert wird. S. unten Abschnitte B.III.3.1.2.4 und 3.2.2. Vgl. so Kousoulini 2016, S. 107 Anm. 77. Tatians (2. Jh. n. Chr.) Katalog von Kunstwerken in ad Graecos 33, 2 35, 1, eine Art Exkurs innerhalb des ‚Altersbeweises‘ der christlichen Lehren (31-41, s. zum Aufbau der Rede Nesselrath 2016, S. 9-14) dient zur Illustrierung der sittlichen Minderwertigkeit der griechischen Kultur, die zweifelhaften Persönlichkeiten und mythologischen Figuren (insbesondere weiblichen Geschlechts, darunter u. a. Dichterinnen, Hetären, mythologische Gestalten) Denkmäler schaffe. Der Katalog soll zugleich belegen, dass auch in der griechischen Gesellschaft ‚philosophierende‘ Frauen auftreten und also die Ἕλληνες kaum Grund hätten, über das Recht der Frauen und jungen Mädchen zur Mitdiskussion der Lehren innerhalb der christlichen Gemeinschaft zu spotten. In 35, 1 versichert Tatian, dass seine Ansichten und Beispiele nicht aus zweiter Hand stammten (οὐ παρ’ ἄλλου µαθών), sondern dass er selbst in Rom die dort ausgestellten griechischen Statuen gesehen habe.

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Wirkungszeit in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr.85 stellte, nimmt man die Attribuierung an, einen terminus ante quem für Korinnas Lebenszeit dar. Pages radikale Skepsis gegenüber der Verwertbarkeit von Tatians Liste, in seinen Augen „a medley of impudence and fraud concocted by malice and bigotry“86, muss im Lichte jüngerer archäologischer Funde mindestens teilweise revidiert werden. Der für diesen Zusammenhang zentrale Fund ist eine Basis, die die Inschrift „Μύστις [---] | Ἀριστοδοτ[---]“87 trägt. Sie wurde mit einigen weiteren Teilen von Inschriftenbasen in Rom gefunden und gehörte wohl zum Figurenschmuck der Portikus des Pompeius-Theaters. In seiner Veröffentlichung der Fundstücke bringt Coarelli sie mit Tatians Liste in Verbindung:88 Denn unter dessen in ad Graecos 33, 2f. genannten Dichterinnenporträts befindet sich auch eine von einem Aristodotos geschaffene Mystis.89 Sowohl Porträtierte als auch Bildhauer waren bis auf Tatians Zeugnis bis zu diesem Zeitpunkt vollkommen unbekannt und hatten zusammen mit weiteren fünf unbekannten Dichterinnen und zwei unbekannten Bildhauern in der Liste unter anderem Kalkmanns Verdacht der teilweisen Fälschung erregt.90 Die Möglichkeit der Autopsie in Rom weist er explizit zurück.91 Die gefundene Statuenbasis widerlegt jedoch eine grundsätzliche Unglaubwürdigkeit von Tatians Angaben.92 85

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Dieser Zeitraum ergibt sich aus der floruit-Angabe bei Plin. nat. 34, 51 (113. Olympiade, ca. 328-25 v. Chr.), vgl. Stewart 1998, S. 278 mit Anm. 31; Hallof, Lehmann und Papini 2014 zu DNO 2069. Page 1953, S. 73f. Anm. 6. Page widmet Tatians Liste nur diese eine Fußnote, die er mit den Worten einleitet: „the less said about this the better“ (ebd.; vgl. bestätigend West 1970, S. 280 und 1990, S. 557). Er verweist insbesondere auf Kalkmanns kritische Beschäftigung (1887) mit dem Statuenkatalog, die im Verlauf dieses Abschnitts und im folgenden Exkurs thematisiert wird. Coarelli 1971/2, S. 100 mit Fig. 1. S. Coarelli 1971/2; auch 1969. Vgl. Tat. ad Graecos 33, 3: τί γάρ µοι περὶ Ἀνύτης λέγειν Τελεσίλλης τε καὶ Μυστίδος; τῆς µὲν γὰρ Εὐθυκράτης τε καὶ Κηφισόδοτος, τῆς δὲ Νικήρατος, τῆς δὲ Ἀριστόδοτός εἰσιν δηµιουργοί [...]. S. im Einzelnen den Exkurs am Ende dieses Abschnitts, insbes. unter I. Kalkmann 1887, S. 517-9 wertet Tatians Autopsie-Behauptung als Topos spät-sophistischer Rhetorik, der den Verdacht eher befeuern als lindern sollte. Er bezweifelt stark, dass alle genannten Statuen in Rom ausgestellt – wenn überhaupt grundsätzlich existent – gewesen seien und weist explizit die Annahme einer „geschlossenen Sammlung“ von Dichterinnenporträts

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Eine neue Signifikanz gewann vor diesem Hintergrund zunächst auch eine römische Marmorstatuette aus dem Musée Vivenel in Compiègne, die die Inschrift ΚΟΡΙΝΝΑ trägt. Haartracht und Kleidung lassen darauf schließen, dass sie nach einem Original aus dem späten vierten Jh. v. Chr. gebildet worden ist.93 Schon früher ist als dieses die bei Tatian genannte Korinna-Statue des Silanion vermutet worden, auch wenn die Kombination aus Inschrift und Werk an sich noch keinen ursprünglichen Zusammenhang bedeuten muss.94 Die Statuenbasis aus der Portikus des Pompeiustheaters und die Statuette aus Compiègne entwickelten als „two mutually reinforcing facts“95 eine neue argumentative Dynamik. Durch Stewarts 1998 erschienenen Artikel fanden sie ihren Weg auch in die literaturwissenschaftliche Debatte um Korinnas Datierung.96

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etwa als Dekor des Theaters des Pompeius zurück (vgl. ebd., S. 502f.). Er verweist im Zusammenhang rhetorischer Figuren auch auf Tatians Beteuerung, er würde sich keine fremden Ansichten aneignen (vgl. ad Graecos 35, 1: οὐ γὰρ [...] ἀλλοτρίαις δόξαις τἀµαυτοῦ κρατύνειν πειρῶµαι), obwohl der Inhalt der Rede zu großen Teilen auf christlich-apologetisches Allgemeingut bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen mit dem von Tatian verehrten Justin zurückzuführen sei; vgl. ebd., S. 519f. Zu den literarischen Vorlagen und Kompilationen für die einzelnen Elemente von Tatians Kulturkritik, etwa weitere Kataloge oder den aus jüdischer Tradition stammenden Altersbeweis über Moses, s. auch Trelenberg 2012, S. 78f.; s. ebd., S. 195203 für eine Gegenüberstellung mit Justin. Für die für Rom als Aufstellungsort auch durch andere Quellen bestätigten Kunstwerke s. den folgenden Exkurs unter II. Vgl. Stewart 1998, S. 279f.; Fuchs 2010, S. 13f. Die Zugehörigkeit des Kopfes ist durchaus nicht sicher, die Inschrift ist retuschiert: S. [Allen und] Frel 1972, S. 29f. mit Anm. 10 zum Kopf, S. 30 zur Inschrift; dagegen Fuchs 2010, S. 13 Anm. 21-3 zum Kopf, S. 14 zur Inschrift. Die Korinna-Statue des Silanion als Urbild der Statuette legt zuletzt Fuchs 2010, S. 13f. nahe; vgl. auch Stewart 1998, S. 280. Den ursprünglichen Zusammenhang von Figur und Inschrift ficht vor allem West 1970, S. 280 und 1990, S. 557 an. Stewart 1998, S. 29. S. aber auch schon Palumbo Stracca 1993, S. 411f. Den terminus ante quem übernimmt etwa Schachter 2005, S. 277: „If we accept Tatian’s account, as we must, then it follows that Korinna flourished before or during the lifetime of Silanion.“ Er nutzt zunächst Anklänge an unterschiedliche Tragödien als Ermittlung eines groben terminus post quem (Ergebnis ist das dritte Viertel

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B.III

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Mit der Bestätigung der Mystis des Aristodotos ist jedoch nicht jeder Vorbehalt gegen die Zuweisung ausgeräumt, obwohl dies oft so suggeriert wird.97 Zunächst einmal muss wohl die Statuette aus Compiègne als Indiz wieder ausscheiden: Es steht nicht nur – negativ – die ursprüngliche (intentionale) Zusammengehörigkeit von Inschrift und Werk in Zweifel,98 sondern die Statuette ist wohl auch – positiv – als Umdeutung einer Hygieia aus dem späten vierten Jahrhundert in die idealplastische Darstellung einer Muse oder Dichterin anzusehen; folglich waren so-

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des fünften Jahrhunderts), um dann nach einem möglichen Auftraggeber (Theben, durch seine Verbindung zum Kithairon und zu Zeus) und einem engeren Zeitraum zu suchen, in dem mögliche Interessen des Auftraggebers mit dem Inhalt des Liedes korrespondierten. Da die Stadt Thespiai eng mit dem (Verlierer) Helikon und seinen Göttern verbunden ist, legt Schachter nahe, „that the most probable time for the performance of Korinna’s poem was after the suppression of Thespiai and Plataia, probably during the Theban hegemony [also um 371 v. Chr.]“ (ebd., S. 280; s. S. 277-80 für die gesamte Behandlung der Datierungsfrage). Man beachte zur Beurteilung der Plausibilität einer solchen Argumentation jedoch auch Corinn. 674 PMG mit der positiven Attribuierung der Stadt Thespiai. – Berman 2010, S. 58-61 plädiert, ausgehend von Tanagra als Heimatort der Korinna und den in den Hellenismus (voraus)weisenden Elementen ihrer Dichtung, für eine Situierung in dem Zeitraum zwischen der Zerstörung Thebens 335 v. Chr. und 320 v. Chr., in einem „vacuum of traditional Theban authority in Boiotia“ (ebd., S. 62). In diesem Falle müsste aber ihr Ὀρέστας (PMG 690; von West 1970, S. 278-80 zu den Fragmenten Korinnas gerechnet) folglich noch in die Zeit davor fallen, denn die wenigen erhaltenen Anfangsverse suggerieren Theben als Aufführungsort (vgl. Page 1953, S. 28 und West 1970, S. 280). Vergados 2012, S. 114 (vgl. ders. 2017, S. 243f.) folgt Schachter und Berman in der Annahme eines ‚mittleren‘ Zeitraums für die Lebensspanne der Korinna. – Vom fünften Jahrhundert gehen Larson 2002, S. 47-9 und Collins 2006, S. 19f. aus; Plant 2004, S. 92 und Kousoulini 2016, S. 107-9 tendieren weiterhin zur hellenistischen Zeit, allerdings ohne differenzierte Auseinandersetzung mit der aktualisierten archäologischen Sachlage. So formuliert etwa Schachter 2005, S. 277: „The discovery in Rome of a statue base [...] has nullified Kalkmann’s argument [...]. If we accept Tatian’s account, as we must [...]“. Ebenso Bernard 1985, S. 110: „[...] la découverte à Rome [...] de la base [...] ruine la construction de Kalkmann.“ Vgl. auch Fuchs 2010, S. 13: „Da nun die Authentizität von Tatians Angaben ausser Zweifel steht [...]“. Vgl. oben.

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wohl das Vorbild als auch die Figur selbst nicht als Korinna intendiert und die – in ihrer vorliegenden Form ohnehin nicht authentische – Inschrift eine nachträgliche Anbringung.99 Von den ‚two mutually reinforcing facts‘, die auf Silanion als den Erschaffer einer Korinna-Statue hindeuten, entfällt also das eine Element. Es bleibt Tatians Liste, der die römische Inschriftenbasis zwar größeren Nachdruck verleiht, die durch den Fund allerdings keineswegs bereinigt ist. Es finden sich darin weiterhin problematische Stellen ganz unterschiedlicher Natur, die sowohl Datierung als auch Zuweisungen und Gegenstände der Kunstwerke berühren.100 Kalkmanns radikale Kritik,101 99

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101

Vgl. so Hallof, Lehmann und Papini 2014 im Kommentar zu DNO 2076, in Berufung auf Filges 1997, S. 118-21: „Filges hat [...] zeigen können, dass die Statuette in Compiègne zu einem kleinformatigen statuarischen Typus zu zählen ist, den er auf ein Vorbild aus der Zeit um 320/10 v. Chr. zurückführt. Das Vorbild zeigte Hygieia, sodass die Statuette in Compiègne als Umdeutung anzusehen wäre. Handelt es sich aber um eine Umdeutung, so wird in der Figur ein idealplastisches Werk, eine Muse, zu erkennen sein; die Angabe „Korinna“, so Filges, könne nur sekundären Ursprungs sein, was angesichts der merkwürdig großen und unsorgfältigen Buchstaben einleuchtet.“ Eine weitreichende Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist, dass die Statuette auch als Bezugsgröße für eine Korinna-Ikonographie ausscheidet. Für einige der von Kalkmann benannten Probleme konnten schon Erklärungsmodelle oder Bestätigungen gefunden werden, etwa für das scheinbare chronologische Adynaton um ein Erinnabildnis von der Hand des Naukydes: Zwei unterschiedliche, anderweitig bestätigte Patronyme legen zwei Bildhauer dieses Namens nahe, s. etwa Bernard 1985, S. 102; Bol 2004; Hallof, Kansteiner und Lehmann 2014c im Resümee; Kansteiner 2014a zu DNO 1337, der sich ebd. zu DNO 1338 dennoch gegen eine Zuweisung der Erinna an den jüngeren Naukydes ausspricht. Auch sind manche von Kalkmanns Kritikpunkten in der Tat zu streng gefasst, so seine Vorbehalte gegen die vielen retrospektiven Dichterinnenporträts (s. Kalkmann 1887, S. 502-4): Sie seien, so Bernard 1985, S. 102f. in seiner „réhabilitation“ von Tatians Katalog, durchaus denkbar für eine Zeit, in der sich hellenistische Städte auf ihre Geschichte, Genealogie und gefeierten Persönlichkeiten besännen. – Die verbleibenden problematischen Punkte fordern aber, wenn schon keine Rechenschaft vom Autor, so zumindest ein Erklärungsmodell vom modernen Rezipienten; auch ist mindestens eine Kombination von Informationen mit großer Wahrscheinlichkeit falsch. S. dazu den Exkurs V am Ende dieses Abschnitts. Stewart 1998, S. 278f. nennt Kalkmanns Haltung „ultra-skeptical“ und

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die im Falle des Dichterinnenkatalogs zu der Auffassung führt, er sei im Grunde als freie Variation über das Thema ‚Sapphobildnis von der Hand des Silanion‘ zu begreifen, ist, wie die Mystis des Aristodotos belegt, in der Tat zurückzuweisen. Dennoch zeigen viele der von ihm aufgeworfenen Fragen, dass zumindest die Genauigkeit der Angaben im Einzelnen durchaus in Frage gestellt werden kann.102 So ist es im Rahmen des

102

„hypercritical“; sie sei dem Zeitgeist der deutschen Altphilologie des 19. Jahrhunderts entsprungen (vgl. ähnlich Coarelli 1971/72, S. 122; Bernard 1985, S. 114). In der Tat reicht Kalkmanns Kritik an dem Landsmann aus „Syrien, d[er] Pflanzstätte der Lügenschriftstellerei“ (Kalkmann 1887, S. 514) bisweilen bis zur Empörung und schießt mitunter über das Ziel hinaus; zur problematischen Rezeption und Rezeptionsgeschichte sog. Schwindelliteratur s. Hose 2008. Ein treffliches Beispiel für solch ein Übermaß an Verdächtigung ist etwa Kalkmanns Unterfangen, aus Tatians Nike auf einem Kalb von der Hand des Mikon (vgl. ad Graecos 33, 8) – in der Tat einer problematischen Zuweisung – Myrons Kuh zu machen, der Tatian ohne Weiteres die Nike angedichtet habe (vgl. Kalkmann 1887, S. 515 und dagegen Nesselrath 2016, S. 174 Anm. 527). Vgl. auch Hinz 2001, S. 45f., der davor warnt, nach der Bestätigung der Mystis „nun in das andere Extrem zu verfallen und das Problem der Glaubwürdigkeit Tatians damit für gelöst zu halten, so daß man seinen Ausführungen ungeprüft Glauben schenken dürfte. Dennoch können auch sonst nicht bezeugte Angaben nicht einfach mehr für erfunden erklärt werden. Eine kritische Prüfung im Einzelfall ist nötig.“ Ausgehend von der Mystis und den anderen für Rom bestätigten Statuen übernimmt beispielsweise Coarelli 1971/2 in seinem einflussreichen Artikel Tatians Liste in ihrer Form, gefolgt von vielen. Thorsen 2012, S. 700-3 reduziert auf der anderen Seite Kalkmanns Kritikpunkte unangemessen, sodass sie gleichsam durch die Mystis widerlegt scheinen. Eine umfangreichere „réhabilitation“ des Katalogs, die aber nicht jede Frage lösen kann, unternimmt Bernard 1985, S. 97-118. – Wieviel Akkuratesse im Einzelnen von Tatian zu erwarten ist, hängt ebenso wie die Beurteilung der Autopsie-Behauptung sicherlich auch mit der – durchaus noch nicht geklärten – Frage nach der Gattung und dem Kontext der Rede zusammen. Handelt es sich um eine tatsächlich gehaltene Rede, die sich an ein aus ‚Griechen‘ zusammengesetztes Auditorium richtet? Oder ist sie vielmehr an Gleichgesinnte gerichtet? Ist sie Apologie, „‚Spott- oder Schmähschrift‘, ‚Lehrschrift‘ [oder] ‚Protreptikos‘“ (Nesselrath 2016, S. 17)? Oder ein rhetorisches Übungs- oder Schaustück, eine Deklamation? Mit der Frage befassen sich etwa Trelenberg 2012, S. 230-40 und Nesselrath 2016, S. 17-9.

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Möglichen, dass Tatian – oder seiner Quelle – bei der Zuweisung einer Korinnastatue an Silanion ein Fehler unterlaufen ist. Für den Fall, dass Tatian – oder eine entsprechende auf Autopsie fußende Quelle – in der Tat in Rom eine Statue der Korinna gesehen hat, die als Werk Silanions ausgezeichnet war, so ist zu beachten, dass eben dies der gegebene Kontext ist: Die Statue befindet sich nicht an ihrem ursprünglichen Aufstellungsort, sondern in Rom, dem Ort der Zweitaufstellung. Tatian oder seine Quelle lesen die Inschrift einer Zweit-, wenn nicht gar einer Drittbasis.103 Ein großer Teil der griechischen Kunstwerke in Rom war ab dem 2. Jh. v. Chr. als Kriegsbeute dorthin gelangt und an öffentlichen Plätzen ausgestellt oder in Tempeln geweiht worden;104 andere Werke hatten auch als Handelsobjekte ihren Weg dorthin gefunden. Dass im Zuge der Überführung oder im Laufe der Zeit Informationen verlorengehen oder verfälscht werden können – sogar mutwillig–, ist bezeugt.105 So ist vielleicht weniger denkbar, dass eine spätere (aus103

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105

Auch die Basis der Mystis des Aristodotos stammt wohl nicht aus originaler Zeit. Vielmehr weisen die Buchstabenformen ebenso wie bei den anderen Funden der Gruppe in die frühe Kaiserzeit (vgl. Coarelli 1971/2, S. 102). Coarelli, der annimmt, Aristodotos sei ein Zeitgenosse des Pompeius gewesen und seine Mystis habe zur ursprünglichen Ausstattung des Theaters gehört, vermutet, die Erneuerung bzw. Ersetzung der Basen sei im Zuge der Renovierungsarbeiten am Gebäudekomplex unter Augustus und unter Tiberius geschehen (vgl. ebd.); er selbst tendiert zur augusteischen Zeit. Wenn eine geschlossene Sammlung im Falle der Dichterinnen angenommen werden soll, so liegt nahe, dass auch die Basis der Korinna erneuert wurde; in diesem Fall wäre mit einer Drittbasis zu rechnen. Von anderem Wert sind etwa die Angaben des Pausanias, der auch Kunstwerke an ihrem originalen Aufstellungsort beschreibt. Für eine Auswertung der Schriftquellen zu diesem Thema unter rechtlichen, praktischen und historischen Gesichtspunkten s. Pape 1975. Die Art, wie sich das römische Selbstverständnis in Bezug auf das Zusammentragen griechischer Kunst bei Plinius d. Ä. – einer der Hauptquellen für griechische Kunstwerke in Rom – äußert, beschreibt Carey 2003, S. 75-101. So nennt etwa Plinius in Rom ausgestellte griechische Marmorskulpturen, deren Künstler strittig oder überhaupt nicht mehr bekannt sind (vgl. nat. 36, 27-9). Statius lobt Novius Vindex für seine Kennerschaft, wenn es darum geht, die Künstler unsignierter Statuen zu rekonstruieren (vgl. silv. 4, 6, 2230, insbes. V. 24: non inscriptis auctorem reddere signis); beispielhaft aufgeführt werden die großen griechischen Namen Myron, Praxiteles, Phidias,

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gewiesene) Korinnastatue nachträglich dem Silanion zugeschrieben wurde, da ein gewisses ‚kunsthistorisches‘ und stilistisches Interesse und Wissen in römischen Kreisen vorausgesetzt werden kann.106 Wohl denkbar ist es aber, dass eine Statue des Silanion, die eine entsprechende Frauenfigur zeigte, nachträglich als Korinna etikettiert wurde – umso mehr, da kaum ikonographische Eindeutigkeit für eine Korinna zu erwarten ist, wo sich nicht einmal für das Dichterinnenporträt allgemein ein fester Typus fassen lässt.107 Dies kann sehr wohl in einer Zeit geschehen sein, in der Korinna als Rivalin und Zeitgenossin Pindars gilt und vielleicht der Bedarf nach einer entsprechenden Statue entsteht. So leuchtet auch an der Korinna-Statuette des Musée Vivenel eine neue Nuance auf: Denn auch sie könnte in gewisser Weise das Bedürfnis nach

106 107

Polyklet und auch Apelles. Bei erbeuteten Siegerstatuen interessierte man sich in der Regel nicht mehr für den Namen des Athleten als vielmehr einzig für den des Bildhauers (vgl. Hallof, Kansteiner, Lehmann und Seidensticker 2014 im archäologischen Kommentar zu Nr. 40). – Fehlzuweisungen und Fehldeutungen finden sich, wenn auch nicht in Stein gemeißelt, so doch wenigstens in Wort und Schrift etwa bei Plinius – z. B. in nat. 34, 70 die Fehlzuweisung der Gruppe der Tyrannenmörder an Praxiteles statt Antenor (vgl. Söldner, Hallof, Krumeich und Seidensticker 2014 zu DNO 2000) oder in nat. 35, 101, wo von dem Paralos-Gemälde des Protogenes in Athen die Rede ist, auf dem die Figur der Hammonias von manchen als Nausikaa fehlgedeutet werde (Hammoniada, quam quidam Nausicaan vocant; vgl. Mielsch und Lehmann 2014 im archäologischen Kommentar zu Nr. 5) – oder bei Pausanias, z. B. in 5, 10, 8 die bekannte Fehldeutung der Mittelfigur im Westgiebel des Zeustempels von Olympia als Peirithoos (s. exemplarisch Walter 1951 für eine ausführliche, Marconi 2014/15, S. 193 für eine knappe Darstellung). – Mutwilliges Umdeklarieren von erbeuteten Statuen wird Lucius Mummius Achaicus (2. Jh. v. Chr.) nachgesagt: Vgl. D. Chr. 31, 9; 37, 42. Vgl. Kreikenbom 2013, S. 65. Vgl. Fuchs 2010, S. 13 Anm. 13, auch für weiterführende Literatur. Eine dem Werk beigegebene Information scheint aus diesem Grund eine notwendige Voraussetzung für die Identifizierug der dargestellten Figur. Eine solche wäre aufgrund der Schaffenszeit des Silanion und der Tatsache, dass es sich wohl um eine Bronzestatue gehandelt haben muss, für die Basis zu erwarten (s. Kreikenbom 2013, S. 66-70 für die Platzierung von Signaturen und Inschriften im Laufe der Zeit) und wird daher eher nicht in ihrer ursprünglichen Form nach Rom gelangt sein.

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einem früheren künstlerischen Urbild spiegeln, das aus der zeitgenössischen biographischen Tradition um die Dichterin erwächst. Es zeigt sich, dass Tatians Zeugnis nicht stark genug ist, die Waage in Richtung einer früheren Lebenszeit der Korinna zu senken, solange berechtigte Indizien auch auf eine hellenistische Zeit deuten.108 Weiterhin müssen beide Seiten betrachtet werden. Den Ausgangspunkt für die prinzipielle Erwägung einer späteren Datierung der Korinna bildet die auffallend dünne Basis der biographischen Tradition – „three variations on one basic anecdote“109 – und die Konsequenzen, die aus ihrer Annahme folgten.110 Positive Argumente für eine spätere Datierung Korinnas gründen sich vornehmlich auf interne Merkmale der erhaltenen Fragmente ihrer Dichtung. Ihnen wird der Vorzug gewährt werden. Exkurs. Kalkmann und Tatian In der Regel wird auf Kalkmanns Artikel von 1887 verwiesen, wenn es gilt, die Glaubwürdigkeit von Tatians Angaben zur Debatte zu stellen. Selten aber findet eine echte Auseinandersetzung mit seinem Inhalt statt. Dies soll daher an dieser Stelle eingehend geschehen, in Ergänzung zum vorangehenden Abschnitt. I

Inhalt

Kalkmanns Misstrauen gegenüber Tatians speist sich aus mehreren Beobachtungen. Da ist zunächst der Umstand, dass von den 37 aufgezähl108

109 110

Nur am Rande sei bemerkt, dass eine Korinnastatue von der Hand des athenischen Bildhauers Silanion voraussetzte, dass die Dichterin zumindest in begrenztem Rahmen über böotische Kreise bekannt gewesen sein musste – diese Annahme darf wohl auch im Falle eines Auftrags aus Böotien nach Athen Gültigkeit besitzen. Warum also das Ausbleiben von Nachrichten bis zu Antipaters Epigramm im ersten Jahrhundert v. Chr.? Das Argument verbleibt selbstverständlich ein argumentum ex silentio und ist als solches von Natur aus von eingeschränkter Kraft – doch gewinnt es immer mehr an Lautstärke. Page 1953, S. 74. Vgl. oben Abschnitt B.III.3.1.2.1 mit Exkurs. Der erste, der die Verlässlichkeit der Anekdoten in Frage stellt und zugleich die entsprechenden Konsequenzen zieht, indem er die Debatte um die Datierung Korinnas eröffnet, ist Lobel 1930, S. 356f. Die Annahme einer frühen Korinna zieht als Konsequenz die schwer zu erklärende Stille über vier Jahrhunderte mit sich, s. West 1970, S. 286 und unten passim.

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ten Kunstwerken nur sechs (bzw. neun nach aktueller Zählung111) auch aus anderer Quelle bekannt seien; dass nur neun oder zehn der genannten Gegenstände in Malerei und Plastik nachgewiesen seien; dass von den Kunstwerken namhafter Bildhauer nur solche genannt seien, die etwa Plinius für die gleichen Künstler nicht aufführe, und vice versa.112 Er befindet zudem die Zusammenstellung der Gegenstände insbesondere in ad Graecos 33, 6 - 34, 8 als auffällig, eine „Blüthenlese an Wunderlichkeiten“113, die den zeitgenössischen Geschmack, wie er sich auch in den literarischen mirabilia-Sammlungen – zum Beispiel mit dem Thema der absonderlichen Geburt – spiegele, wiedergebe:114 „[M]an muss staunen, mit welchem Interesse für Paradoxa der Meissel gearbeitet haben soll. Die Künstler lehnen sich denn auch gegen diese Zumuthung auf: sie selbst sind vorchristlich, die Gegenstände nachchristlich“115. Kalkmann vermutet daher literarische Quellen für diese Kunstwerke, die Tatian undifferenziert ausgeschöpft und möglicherweise auch nach Bedarf modifiziert und erweitert habe. Für andere Teile von Tatians Rede, auch Kataloge unterschiedlicher Art, lassen sich solche Vorbilder nachweisen.116 Im Falle der Dichterinnen-Bildnisse – darunter anderweitig bekannt nur Silanions Sappho117 – sei die große Zahl retrospektiver Porträts auffällig, obwohl abgesehen von Sappho „[e]ine literarische Persönlichkeit [...], welche zur Erfindung von ‘Charakterportraits’ den Anlass hätte geben können“ nicht unter ihnen sei;118 auch sei generell außer Silanions Sappho kein Dichterinnenporträt in Kombination mit einem konkreten Bildhauer bekannt.119 Der Großteil der Liste sei zurückzuführen auf die in Antipatros’ Epigramm (AP 9, 26) aufgereihte Neunzahl von Dichterinnen, wobei Kalkmann für Tatian, dem Epigramm gemäß, Brunns Konjektur Nossis für Mystis annimmt.120 Sogar die Reihenfolge sei ähn111 112 113 114 115 116 117 118

119 120

Vgl. unten Exkurs II. Vgl. Kalkmann 1887, S. 492-4. Ebd., S. 494. Vgl. ebd., S. 494-502. Ebd., S. 500. S. oben Anm. 91. Vgl. Cic. Verr. 2, 4, 126f. und unten Exkurs II. Vgl. Kalkmann 1887, S. 503f.; das Zitat ebd. Zu Einwänden gegen diesen Kritikpunkt s. oben Anm. 100. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 490 mit Anm. 1. Es handelt sich um eine weithin akzeptierte, mittlerweile jedoch durch den römischen Basenfund (s. o.) als falsch erwiesene Konjektur, die erst Nesselrath 2016 erstmalig wieder aus dem griechischen Text entfernt.

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lich: „Praxilla geht hier voran, und richtig fängt auch Tatian mit dieser an, statt, wie sachgemäss war, Sappho voranzustellen, die ihn allein interessirt und als γύναιον πορνικὸν ἐρωτοµανές nach seiner Anschauung das Prototyp für die ganze Gesellschaft ist. Auch folgt hier wie dort Erinna auf Sappho, die bei Tatian an dritter, bei Antipater an vierter Stelle steht“121. Fünf unbekannte Namen, Mystis aus oben genanntem Grund nicht mitgezählt, blieben übrig. Davon gehörten, der Schaffenszeit ihrer Bildhauer gemäß, mindestens Kleito (geschaffen von Amphistratos; um 300 v. Chr.), Mnesarchis und Thaliarchis (beide geschaffen von Euthykrates; letztes Drittel des 4. Jhs. v. Chr.) „in sehr gute Zeit“, sodass ihre Unbekanntheit umso mehr erstaune.122 Die Namen Learchis (ad Graec. 33, 2), Mnesarchis und Thaliarchis (beide 33, 3), alle drei Hapaxlegomena, seien auffällig analog aus dem jeweils entsprechenden gängigen Männervornamen gebildet.123 Und auch im Namen des zu dem Zeitpunkt unbekannten Bildhauers Aristodotos erkennt Kalkmann – zu Unrecht, wie sich herausgestellt hat – einen verdächtigen Gleichklang: Κηφισόδοτος, τῆς δὲ Νικήρατος, τῆς δὲ Ἀριστόδοτος (ad Graec. 33, 3).124 Auch der Katalog der Dichterinnen erklärte sich, wie die anderen dargestellten Gegenstände der Kunst, aus der Literatur der Zeit, in der eine Vorliebe für dichtende und musizierende Frauengestalten zu verzeichnen sei.125 Kalkmann zieht als Parallele Tatians Liste vorhomerischer Autoren (ad Graec. 41, 1) heran.126 Sie dienen im Altersbeweis zur Generierung einer Chronologie, nach der Moses als πάσης βαρβάρου σοφίας ἀρχηγό[ς] früher anzusetzen sei als der griechische Homer, ποιητῶν καὶ ἱστορικῶν [...] πρεσβύτατο[ς] (ad Graec. 31, 1). Das Finden und Erfinden vorhomerischer Dichter wie z. B. Ptolemaios Chennos’ ‚Astyanassa‘127 sei ein auch bei anderen späten Autoren zu beobachtendes Phänomen. Tatians „Sammeleifer“ aber, dem ganze siebzehn solcher Dichter zu verdanken seien, könne man „nicht ohne Misstrauen begegnen“.128 Von den siebzehn genannten Dichtern sind vierzehn auch aus anderer Quelle bekannt, davon habe wiederum einige Tatian eigenmächtig zu vorhomerischen Dichtern gemacht; die drei übrigen (Isatis, Drymon, Horos der Samier) seien wohl als Erfindung Tatians anzusehen. Seine Liste und 121 122 123 124 125 126 127 128

Kalkmann 1887, S. 506. S. dazu auch unten Exkurs III mit Anm. 151. Kalkmann 1887, S. 505f., das Zitat ebd., S. 505. Vgl. ebd., S. 521f. mit Anm. 3. S. auch unten Exkurs IV. Vgl. Kalkmann 1887, S. 517 u. 521. S. ebd., S. 506-8. S. ebd., S. 508-11. S. zu dieser Cohn 1896. Kalkmann 1887, S. 509; die Zitate ebd.

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auch die daraus erwachsenden Schlüsse zur Chronologie bergen in der Tat einige Unstimmigkeiten und Ungenauigkeiten.129. Es erhärte sich der Verdacht, dass Tatian auch an anderer Stelle – nämlich bei den Kunstwerken – fingierte Fakten übernommen oder einige selbst fingiert habe: „Weiter soll nichts gesagt sein, als dass Tatian Manches aus anderen Autoren entlehnt haben kann; auch mag er Nachrichten, die andere zum Schmuck ihrer Geschichten ersonnen, im guten Glauben für authentisch gehalten haben. Tatian prunkt gern mit den Früchten seines Sammeleifers. Doch die an der Hand belangreicher Parallelen geführte Untersuchung über seine vorhomerischen Schriftsteller hat zu dem Schluss geführt, dass er ein ganz unzuverlässiger Sammler ist, der sich nicht scheut, unter fremdem Gut eigene Fälschungen anzubringen.“130 II Anderweitig bekannte Kunstwerke aus Tatians Liste Für Rom entweder aus einer weiteren literarischen Quelle oder archäologisch bestätigt sind außer der Mystis des Aristodotos folgende Werke: 1.

2.

3.

129

130

131 132

die Statue des „Frauenzimmers, das dreißig Kinder austrug“ (Tat. ad Graec. 34, 3: τὸ γύναιον, ὅπερ ἐκύησε τριάκοντα παῖδας), laut Tatian von der Hand des Periklymenos, die Plinius unter dem Namen Eutychis ohne Nennung des Bildhauers als Ausstattung des Pompeius-Theaters nennt (Plin. nat. 7, 34); ebenso das Bildnis der Glaukippe, die einen Elefanten gebar – bei Plinius unter dem Namen Alkippe (Plin. nat. 7, 34) – laut Tatian von der Hand des Nikeratos aus Athen, Sohn des Euktemon (ad Graec. 33, 6);131 der bekannte Ganymed des Leochares (ad Graec. 34, 8), den Juvenal in Verbindung mit Vespasians Pax-Tempel nennt (Sat. 9, 22f.; ohne Erwähnung des Bildhauers); dies wird bestätigt durch eine in Rom gefundene inschriftliche (Dritt-)Basis, die auf Aufstellung der Gruppe im Pax-Tempel hindeutet;132

S. ebd., S. 509f. und Nesselraths 2016, S. 186-9 Anmerkungen zu Tat. ad Graec. 41. Kalkmann 1887, S. 521. Für die kritische Prüfung der Voraussetzungen einer solchen These s. oben, passim; vgl. auch unten den Exkurs in Anschluss an Abschnitt B.III.4.1.1. S. aber unten Exkurs V für die mit dieser Statue verbundene Problematik. Vgl. Hallof, Kansteiner und Lehmann 2014b zu DNO 2045 und den dortigen archäologischen Kommentar zu Nr. 8.

3 4.

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eine Hetäre von der Hand des Herodotos: Tatian schreibt dem sonst unbekannten Herodotos, den er bei der zweiten Erwähnung mit dem Ethnikon Ὀλύνθιος versieht, drei Bildnisse zu: das der Hetäre Phryne (ad Graec. 33, 7), das der Hetäre Glykera und das der (unbekannten) Kitharaspielerin Argeia (beide ad Graec. 33, 9). Auch hier äußert Kalkmann Zweifel an der Existenz eines nicht weiter überlieferten Hetärenbildners, der gemäß der Lebenszeit der bekannten Hetären Phryne und Glykera für die Mitte des vierten Jahrhunderts v. Chr. anzusetzen wäre – die Möglichkeit eines retrospektiven Porträts weist er grundsätzlich zurück.133 Jedoch trug eine nun verschollene Basis von der Porta Latina in Rom die Inschrift „ἑταίρα. Ἡρόδο[τος ....ν]ε̣ώτ̣ ερος“, 134 sodass Sujet und Künstler für Rom als Aufstellungsort bestätigt sind. Die Inschrift stammt, „falls man den überlieferten Buchstabenformen Vertrauen schenken darf, [...] aus späthellenistischer Zeit oder aus der frühen Kaiserzeit“135. Die Ergänzungen [Φρύνη] ἑταίρα oder [Γλυκέρα] ἑταίρα sind gleichermaßen wahrscheinlich, ebenso ein ganz anderer Name.136 Unter anderem wegen des Ethnikons Ὀλύνθιος ist bei Tatian auch eine fehlerhafte Überlieferung Ἡρόδοτος für Ἡρόδωρος den Jüngeren aus Athen, etwa 250-180 v. Chr., angenommen worden.137 Die Inschrift macht die Existenz eines Bildhauers (oder Kopisten) Herodotos möglich, wobei unklar ist, in welche Zeit dieser einzuordnen wäre;138 allerdings kann sie in der überlieferten Form keine zwingende Entscheidung liefern.139

Für Silanions Sappho (ad Graec. 33, 2), deren Raub aus dem Prytaneion von Syrakus um 70 v. Chr. durch Verres Cicero beklagt,140 ist Rom als Aufstellungsort zu Tatians Zeit sehr gut denkbar.141 Pythagoras’ Europa auf dem Stier (ad Graec. 33, 8) bezeugen Cicero (Verr. 2, 4, 135) und Varro (ling. 5, 31f.) im ersten Jahrhundert v. Chr. noch für Tarent; es existieren Theorien, die ausgehend von Tatians Zeugnis eine Überfüh133 134 135 136 137

138 139 140 141

S. Kalkmann 1887, S. 511f. Vgl. Bernard 1985, S. 107; Hallof und Kansteiner 2014a zu DNO 3098. Ebd. Vgl. Bernard 1985, S. 107. Vgl. Hallof und Kansteiner 2014a zu DNO 3098; ähnlich auch schon Kalkmann 1887, S. 511. Vgl. Vollkommner 2001, S. 314. Vgl. so Hallof und Kansteiner 2014a zu DNO 3098. Vgl. Cic. Verr. 2, 4, 126f. Vgl. so auch schon Kalkmann 1887, S. 494.

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rung nach Rom und mögliche Aufstellung in der Portikus Vipsiana unterstützen,142 ohne Bestätigung jedoch durch weitere Quellen. Die beiden praxitelischen Phryne-Bildnisse – ein marmornes in Thespiai, das berühmte vergoldete Bronzebildnis in Delphi – sind zu Pausanias’ und somit auch zu Tatians Zeiten noch an ihren ursprünglichen Aufstellungsorten zu sehen.143 Hier kann also im besten Falle mit einer Kopie gerechnet werden; es sei denn, man wolle die bei Plin. nat. 34, 70 genannte meretr[ix] gaude[ns], die zusammen mit einer matron[a] fle[ns] wohl in Rom zu sehen war (gemäß dem Ausdruck „spectantur“) mit Tatians Phryne identifizieren. Denn Plinius gibt an, manche hielten sie für die berühmte Hetäre.144 Für das einzige weitere bekannte Werk, die sog. ψελιουµένη des Praxiteles (ad Graec. 34, 8), lässt sich aus der Erwähnung bei Plin. nat. 34, 70 kein Aufstellungsort erschließen.145 III Möglicher Aufstellungskontext der Statuen Die Mystis des Aristodotos hat die von Kalkmann angefochtene Möglichkeit der Autopsie durch Tatian oder eine zugrunde liegende Quelle mit Nachdruck wieder ins Spiel gebracht. Aus Plinius’ Zuweisung der Statue der kinderreichen Eutychis aus Tralleis zum Dekor des Pompeiustheaters (nat. 7, 34) war schon früher die Vermutung erwachsen, dass es sich bei Tatians Katalog um die Beschreibung einer geschlossenen Sammlung handeln könnte, die ebendort anzusiedeln wäre.146 Dies kann, wie mindestens der Ganymed des Leochares zeigt, mit Sicherheit nicht für die gesamte Liste gelten. Coarelli vermutet allerdings eine gestaltete Sammlung, die thematische Bezüge zum Bereich des Theaters und der Venus Victrix erkennen lässt; dieser hatte Pompeius oberhalb seines Theaters einen Tempel errichtet. Bildnisse von Hetären, Dichterinnen und Frauen mit Wundergeburten fügten sich dementsprechend gut in diesen Rahmen. 147 Neben der von Plinius für das Pompeius-Theater bestätigten Eutychis und evtl. Alk-/Glaukippe148 und der archäologisch bestätigten Mystis des Aristodotos können wohl auch die Überreste einer 142 143 144 145

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S. etwa Coarelli 1971/2, S. 104 Anm. 21; Bernard 1985, S. 110. Vgl. Paus. 9, 27, 5 für Thespiai; 10, 15, 1 für Delphi. Vgl. Plin. nat. 34, 70: hanc putant Phrynen fuisse. Vgl. Söldner, Hallof, Krumeich und Seidensticker 2014 DNO 1977 u. 1978 im archäologischen Kommentar zu Nr. 55-7. Diese These wird fassbar in Kalkmanns Zurückweisung derselben (1887, S. 502f.). S. Coarelli 1971/2, S. 104-6; vgl. zustimmend Fuchs 2010, S. 12. S. dazu unten Exkurs V.

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monumentalen Frauenfigur, die typologisch mit der Darstellung einer Muse oder Dichterin kompatibel wäre, zur Ausstattung der Portikus gezählt werden.149 Bernard gemäß lasse sich die kompakte, geordnete Auflistung der Dichterinnen am Anfang des Katalogs150 gegenüber den ungeordneter zusammengestellten folgenden Kunstwerken am besten erklären aus einer geschlossenen Aufstellung in einer Galerie des pompeianischen Gebäudekomplexes. Die Art, wie mit Regelmäßigkeit Kunstwerk und Bildhauer zusammen genannt seien, passe zu den Notizen eines Flaneurs, der Baseninschriften lesend promeniere.151 Aus diesen Notizen seien ferner die Kunstwerke zu erklären, die sich weniger gut in den Argumentationszusammenhang fügen: Tatian erkläre das Gesehene gewissermaßen für seine Liste zurecht.152 Diese Annahme kann zwar naturgemäß nur Spekulation sein, ist aber durchaus plausibel. Auf der anderen Seite ist Bernards Annahme einer böotischen Dichterinnenexedra allerdings zurückzuweisen, wie Fuchs zeigt.153 149

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153

S. Fuchs 2010, S. 13, Coarelli 1971/2, S. 106-110; Coarelli bespricht ebd. 110-121 mögliche weitere Zuweisungen. Vgl. Tat. ad Graec. 33, 2f. mit dem Resümee inklusive exemplarischen Sapphourteils in 33, 4f. Vgl. Bernard 1985, S. 110f. Dabei sind von den vier von Bernard genannten Ausnahmen zwei auf korrupte Textstellen zurückzuführen: Vgl. Nesselrath 2016, S. 176 Anm. 540 u. 177 Anm. 546. Die am Ende angeführten pornographischen Dichterinnen Philainis und Elephantis wiederum sind wohl gar nicht als Bildnisse zu verstehen, sondern schließen vielmehr den Bogen zur ursprünglichen zu belegenden Aussage. – Thorsen 2012, S. 701f. erwägt, auch Antipater von Thessalonike könnte sich für sein Dichterinnen-Epigramm (AP 9, 26) von der Statuengruppe haben inspirieren lassen, zumal da dieses neben Tatians Katalog die einzige erhaltene Liste von Dichterinnen biete. Ebenso vermutet sie ikonographische Reflexe der Bildnisse der Korinna und der Sappho bei Properz 2, 3, 19-21 (vgl. ebd., S. 708-10) und Reflexe einer möglichen Baseninschrift derselben in der Verwendung des seltenen Wortes poetria bzw. ποιήτρια in der römischen Literatur (vgl. ebd., S. 71013). Für Nesselrath 2016, S. 173 Anm. 517 ist die Nennung der fünf weiteren unbekannten Dichterinnen ohnehin schon Zeichen, „dass es keineswegs zwingend erscheint, dass Tatian sich hier an Antipaters Katalog gehalten haben sollte“ – was ja die aufgefundene Mystis ohnehin indirekt bestätigt. Vgl. Bernard 1985, S. 111f. mit Anm. 46, etwa für die in Anspielung auf die euripideische Tragödie so genannte Μελανίππη [...] σοφή (ad Graec. 33, 10) und die Nike auf dem Kalb (ad Graec. 33, 8). S. Bernard 1985, S. 25-96. Die Annahme beruht auf der Interpretation eines

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IV Identität der Dichterinnen Die Identität der Mystis und auch der übrigen unbekannten Dichterinnen bleibt ein Rätsel. Explizit als Dichterin gekennzeichnet wird innerhalb der Aufzählung in ad Graecos 33, 2f. nur die zuerst genannte Praxilla;154 Sappho erhält zunächst die Bezeichung ἑταίρα (ad Graec. 33, 2). Dass die genannten – und womöglich auch gesehenen – Statuen zumindest nach Tatians Auffassung Dichterinnen darstellen, geht implizit aus ad Graec. 33, 4f. hervor, wo die Intention ihrer Aufzählung verdeutlicht wird: Sie dienen erstens als Beleg, dass es auch unter den Griechen φιλοσοφοῦσ[αι] gebe,155 zweitens dafür, dass diese den christlichen Frauen in Sittlichkeit und Ernsthaftigkeit unterlegen seien.156 Sappho wird dabei in ad Graec. 33, 5 in der Tat als „Prototyp für die ganze Gesellschaft“157 behandelt, dieses Mal jedoch nicht schlicht als ἑταίρα wie zuerst, sondern in der Rolle der liebestollen zügellosen Dichterin. Der gleiche Absatz enthält auch eine Anspielung auf Erinna und eines ihrer Gedichte,158 die ebenfalls für die Gegenüberstellung mit Frauen der christlichen Gemeinde genutzt wird. So festigt sich der Eindruck, dass ad Graec. 33, 2f. in der Tat zumindest Tatians Ansicht nach Dichterinnen beinhalte und er sich später159 in diesem Sinne auf die geschlossene Aufzählung am Anfang seines Katalogs zurückbezieht. Coarelli160 nimmt an, es handle sich bei Mystis, deren Name für die Titelheldin zweier attischer Komödien von Philemon und von Antiphanes bekannt ist, um eine Hetäre, in Anlehnung an andere berühmte Hetären, die ebenfalls zu komischen Heldinnen geworden sind. Diese Doppelrolle füge sich umso besser in das ‚Programm‘ des Aufstellungsortes. In der Tat sind alle von Tatian als ἑταίρα bezeichneten Porträtierten inklusive Sappho auch als Figuren der Komödie bekannt.161

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Figurenfrieses auf dem Rand eines Elfenbeinrhytons aus Nisa, auch in ikonographischer Abhängigkeit von der Korinna-Statuette aus Compiègne. Die Gültigkeit dieser Interpretation widerlegt Fuchs 2010, S. 15-20. Vgl. Tat. ad Graec. 33, 2: Πράξιλλαν […] µηδὲν εἰποῦσαν διὰ τῶν ποιηµάτων χρήσιµον. Vgl. Tat. ad Graec. 33, 4. Vgl. Tat. ad Graec. 33, 5. Kalkmann 1887, S. 506. Vgl. Nesselrath 2016, S. 173 Anm. 521. Vgl. Tat. ad Graec. 34, 6: τοσαύτας [...] ποιητρίας οὐκ ἐπί τι χρήσιµον. S. Coarelli 1971/2, S. 103-5. Vgl. Thorsen 2012, S. 704-7 in kritischer Auseinandersetzung mit DeRose Evans 2009. Eine andere Hypothese formuliert Bernard 1985, S. 59-67: Er

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Auch wenn die Bestätigung der Mystis des Aristodotos einmal mehr erwiesen hat, dass Unbekanntheit noch keinen hinreichenden Grund für das Infragestellen der Authentizität bietet, so ist die geheimnisvolle Trias der Hapaxlegomena Learchis, Mnesarchis und Thaliarchis (vgl. ad Graec. 33, 2f.) dennoch ganz eigener Natur.162 Die zugewiesenen Bildhauer zeichnen sie als spätestens (spät-)klassische Persönlichkeiten aus; sie scheinen zudem nichts – etwa als Figuren eines Dramas, einem möglichen Kontext für eine Erklärung – miteinander zu tun zu haben: Mnesarchis nennt Tatian eine Ἐφεσία, Thaliarchis eine Ἀργεία; Learchis wiederum ist das Werk eines anderen Bildhauers (Menestratos) als die ersten beiden (Euthykrates). V Ein Fehler in Tatians Katalog Zu den weiterhin problematischen Zuweisungen in Tatians Katalog gehört – neben den eben genannten163 Figuren Mnesarchis, Learchis und Thaliarchis – in der in ad Graecos gegebenen Form zum Beispiel die Nike auf dem Kalb von der Hand des Mikon (vgl. ad Graec. 33, 8).164 Als schwierigster Bestandteil in Tatians Katalog darf aber wohl die in ad Graec. 33, 6 genannte Glaukippe, die einen Elefanten zur Welt gebracht haben soll, gelten. Tatians Glaukippe wird gemeinhein mit Plinius’ Alkippe, von der in nat. 7, 34 dasselbe berichtet wird, gleichgesetzt. Laut Tatian hat Nikeratos aus Athen, Sohn des Euktemon, ein Bildnis von ihr geschaffen, das auch das monströse Kind zeigt. Kalkmanns Ansicht nach ist Alkippe bei Plinius nat. 7, 34 gar nicht zusammen mit der kinderreichen Eutychis unter die Werke zu fassen, die Pompeius für sein Theater anfertigen ließ, sondern einfach der auf die bildhauerisch verewigte fruchtbare Mutter folgende Punkt in der Aufzählung wunderlicher Geburten.165 Hier wäre also Tatian auf frischer Tat bei der unpräzisen Extraktion von Informationen aus fremden Werken ertappt. In der Tat lässt die Stelle sprachlich keine eindeutige Klärung

162 163

164

165

vermutet hinter Mystis, ausgehend von der bei Nonnos in Erscheinung tretenden gleichnamigen Erzieherin des Dionysos, den Namen oder die Epiklesis einer Dichterin dionysischer Hymnen. Vgl. oben Exkurs I. Vgl. oben Exkurs IV. Für die Skepsis gegenüber den Zuweisungen s. Hallof und Kansteiner 2014b zu DNO 2462; Kansteiner, Lehmann und Prignitz 2014 zu DNO 2498. Siehe Hallof, Kansteiner, Krumeich und Lehmann 2014 im archäologischen Kommentar zu Nr. 9. S. Kalkmann 1887, S. 498f.

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zu.166 Selbst wenn man die Alkippe bei Plinius als Figurenschmuck gelten ließe, ergäbe sich laut Kalkmann eine Unmöglichkeit: Er verweist auf einen Eintrag im Chronikon Paschale, der das Wunder für das Jahr 76 n. Chr. ansetzt, also weit nach Pompeius’ Zeit.167 Aber ohnehin kann Tatians Nikeratos mit seiner Schaffenszeit ca. 220-180 v. Chr.168 keine Statue für Pompeius’ Theater angefertigt haben, was aber wiederum durch die Formulierung bei Plinius suggeriert wäre: Pompeius Magnus in ornamentis theatri mirabiles fama posuit effigies, ob id diligentius artificum ingeniis elaboratas (nat. 7, 34).169 Es existieren auch Hypothesen zu einer Fehlinterpretation der angenommenen Statue durch Tatian und gegebenenfalls Plinius.170 So stützt sich eine Hypothese auf das Auftreten einer Alkippe in einem bei Ps.Plu. Fluv. 21 angeführten Aition, das die erste Benennung (Astraios) des mysischen Flusses Kaikos erklärt. Die Statue zeige demnach eine lokale mysische bzw. pergamenische Heroine; der Elefant in ihrem Arm schaffe entweder eine Verknüpfung zur Dynastie der Attaliden und Seleukiden171 oder verweise auf eine topographische Auffälligkeit der Gegend, etwa einen Berg172. Becatti bringt Einwände gegen eine solche Deutung vor und vermutet selbst eine Darstellung der auch anderweitig erwähn166 167

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Vgl. Hallof, Kansteiner und Lehmann 2014d zu DNO 3139. Vgl. Kalkmann 1887, S. 499. S. Chronikon Paschale Bd. 1, S. 464 Dindorf: Ἀλκίππη γυνὴ ἐν Ῥώµῃ ἐλέφαντα ἐγέννησεν, ἐν ᾡ καιρῷ φθορὰ ἀνθρώπων ἐγένετο. Vgl. Hallof, Kansteiner und Lehmann 2014d und im Folgenden. S. dazu Kalkmann 1887, S. 502 Anm. 3, wenn auch seine Ansicht, die exklusive Anfertigung müsse nun neben der Eutychis und ggf. der Alk-/Glaukippe für den gesamten Figurenschmuck des Theaters gelten, nicht gültig sein kann. So unterscheidet Coarelli 1971/2, S. 106 für den Figurenschmuck des Theaterkomplexes zwischen Statuen, die aus der Kriegsbeute zusammengetragen und ausgewählt worden seien, etwa Werke in Tatians Liste von bekannten älteren Künstlern; und zwischen Statuen die, wie bei Plinius formuliert, eigens für den Bau geschaffen wurden, und fasst unter diese auch jene bei Tatian genannten Werke, deren Bildhauer unbekannt sind: Diese Künstler seien als Zeitgenossen des Pompeius anzusehen. Bernards Auslegung (1985, S. 109f.), die durch „ob id“ eingeleitete Erklärung beziehe sich auf „la nature même de ces statues que définit le qualificatif mirabiles fama“ und generiere daher keine relative Zeitangabe, überzeugt nicht. Vgl. Hallof, Kansteiner und Lehmann 2014d im archäologischen Kommentar zu Nr. 8. Vgl. so Mahler 1905; s. auch Becatti 1973/4, S. 47f. Vgl. so Bernard 1985, S. 103-7.

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ten, Elephantis genannten Verfasserin erotischer Dichtung, die einen kleinen Elefanten als „un emblema parlante“ in einer Weise im Arm halte, die ikonographisch an Mutter und Kind erinnere.173 In seinem Anhang zu Becattis Artikel plädiert Cazzaniga für Glaukippe – nicht Alkippe – als die korrekte Version des Namens und dafür, Elephantis als Epiklesis der eigentlich Glaukippe genannten Dichterin aufzufassen. 174 Ausgehend von der Beobachtung, dass Nikeratos zweimal in Tatians Katalog erscheint, zuerst als Bildner der Telesilla (ad Graec. 33, 3), dann als Bildner der Glaukippe, Patronym und Ethnikon aber erst bei der zweiten Erwähnung genannt werden, postuliert Becatti zwei verschiedene Bildhauer dieses Namens.175 Der Erschaffer der Telesilla sei dann eher identisch mit dem aus Plin. nat. 34, 80 und 34, 88 sowie inschriftlich bekannten Nikeratos – Nikeratos dem Athener also, tätig in Pergamon etwa 220-180 v. Chr.176 –, während man sich unter dem Sohn des Euktemon einen jüngeren Künstler vorzustellen habe. Becatti unterbreitet einen Zeitgenossen des Tiberius, bei dem der Kaiser, ausgewiesener Anhänger der Dichterin Elephantis,177 möglicherweise anlässlich der Erneuerung von Theater und Portikus ihr Bildnis in Auftrag gegeben haben könnte. Allerdings erscheint das Patronym Euktemon zusammen mit dem Ethnikon Ἀθ[ηνα]ῖος auch als Teil einer pergamenischen Künstlerinschrift der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts v. Chr.178 Der Kontext (Pergamon) und die Zeit lassen, nimmt man Tatians Zeugnis an dieser Stelle ernst, eigentlich keinen Zweifel an der Ergänzung des Namens Nikeratos.179 Folglich müsste doch der bekannte Nikeratos Erschaffer der Glaukippe-Elephantis sein, es sei denn, ein jüngerer Bildhauer von gleicher Herkunft und gleichem Vatersnamen sollte postuliert werden. Die Lebenszeit der Elephantis ist nicht bekannt. Sie findet ab dem ersten Jahrhundert n. Chr. Erwähnung. Plinius zitiert Elephantis in nat. 28, 81 – mit entsprechender Nennung als Quellenautorin auch im ersten Buch – als unglaubwürdige Quelle in Hinsicht auf Abtreibungsmittel; Galen180 kennt sie als Quelle für Mittel gegen kreisrunden Haarausfall. 173

174 175 176 177 178 179 180

S. Becatti 1973/4, S. 47-53, das Zitat ebd., S. 49; vgl. zustimmend Fuchs 2010, S. 12. S. Cazzaniga 1973/4, S. 53-7. Vgl. Becatti 1973/4, S. 52f. Vgl. Hallof, Kansteiner und Lehmann 2014d. Vgl. Suet. Tib. 43. Vgl. Hallof, Kansteiner und Lehmann 2014d zu DNO 3135. Vgl. ebd. S. Gal. Bd. 12, S. 416 Kühn, dort allerdings Ἐλεφαντίδῃ, gemäß Crusius 1905, S. 2324 „wohl eine Miß- und Mischbildung aus Ἐλεφαντίδι -ίνῃ, er-

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In erster Linie scheint ihre Bekanntheit sich jedoch auf pornographische Inhalte zu gründen. So wird sie in Suid. s. v. Ἀστυάννασα (α 4261 Adler) gemeinsam mit der bekannteren Philainis als Verfasserin von Schriften περὶ σχηµάτων συνουσιαστικῶν erwähnt.181 Als solche, und ebenfalls zusammen mit Philainis, nennt sie auch Tatian selbst (ad Graec. 34, 9). Dass man sich diese Schriften als „ein richtiges antikes KâmaSutra“182 bebildert denken muss, geht hervor aus der Anführung von gewissen Elephantidos libelli in römischer Literatur.183 Becatti setzt Elephantis in die Folgezeit zu Philainis ins dritte Jahrhundert v. Chr., Crusius sieht in ihren Werken „ein Produkt spätalexandrinischer Débauche“;184 doch wird sie auch bisweilen ins erste Jahrhundert n. Chr. datiert,185 in die Zeit also, in der sie und ihr Genre sich, wie es scheint, in Rom großer Beliebtheit erfreuen. Von einer Elephantis des dritten Jahrhunderts kann also rein rechnerisch auch der in Pergamon tätige Nikeratos aus Athen, Sohn des Euktemon, ein Bildnis geschaffen haben; doch scheint dies sehr unwahrscheinlich, wie ja auch Becatti selbst lieber einen jüngeren Namensvetter annehmen möchte. Bei einer späteren Lebenszeit der Elephantis entstünden zwei in der bei Tatian vorliegenden Form unvereinbare Informationen. Bei später Elephantis und spätem Bildhauer müsste man sich fragen, ob die Dissoziation von Epiklesis und nomen proprium so rasant vorangeschritten sein konnte: Denn dem Bildhauer muss – wenn der Name Alk-/Glaukippe seinen Weg auf die Basis findet – der eigentliche Name der Dichterin sowie ihre Epiklesis bekannt sein, während Tatian und Plinius(!), die wiederum beide die Elephantis kennen, die Verbindung zwischen ihr und ihrem eigentlichen Namen schon abhanden gekommen ist. Fraglich ist auch, ob die Fehlinterpretation einer Statue ein solches Eigenleben entwickeln kann, wie es in der Konsequenz der Eintrag im Chronikon Paschale abzubilden schiene. War hingegen gar nicht Elephantis dargestellt, so ist wieder ein neues Erklärungsmodell gefordert.

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184 185

leichtert durch das vorhergehende Ἡρακλείδῃ.“ Dort ist sie allerdings als Ἐλεφαντίνη bezeichnet. Dennoch kann kaum Zweifel an der Identität der Genannten bestehen; vgl. auch die Fehlbildung bei Galen in der vorausgehenden Anmerkung. Crusius 1905, S. 2325. S. Mart. 12, 43; Priap. 4; Suet. Tib. 43; dazu Becatti 1973/4, S. 49-51; Herrero Ingelmo und Montero Cartelle 1990. Vgl. Becatti 1973/4, S. 52; Crusius 1905, S. 2325, das Zitat ebd. Vgl. so Parker 1992, S. 94; Söldner, Hallof, Krumeich und Seidensticker 2014 zu DNO 1978.

3

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In jedem Fall scheinen hier also Informationen in Zusammenhang gebracht worden zu sein (Glaukippe; Elefantengeburt; Nikeratos der Athener, Sohn des Euktemon), die nicht ursprünglich zueinander gehören, sodass – nimmt man die Existenz einer entsprechenden Statue an – erwiesenermaßen entweder eine Fehlzuweisung oder eine Fehldeutung ihren Weg in Tatians Katalog gefunden hat.

3.1.2.3

Stil und Sprache

Allgemeine stilistische Erwägungen sind in der Datierungsfrage nicht weiterführend. Korinnas Stil wird in seinen Grundzügen gemeinhin einhellig als tendenziell schlicht, parataktisch, direkt und klar beschrieben, 186 wenn auch die qualitative Bewertung dieses Befunds unterschiedlich ausfällt. Ob es sich bei den Dichtungen um das Werk von einer (in weiterem Sinne) archaischen oder einer zuweilen archaisierenden Feder handelt, ist dabei per se nicht zu entscheiden.187 Wie schon 186

187

Vgl. exemplarisch Maas 1922, S. 1396; Page 1953, S. 75f.; Skinner 1983, S. 9; Snyder 1984, S. 133f.; Clayman 1993, S. 640f.; Ortolá Guixot 2005, S. 82f.; Bagordo 2011, S. 248. Vgl. für eine kurze Übersicht über die verschiedenen Positionen Clayman 1993, S. 640 Anm. 32: „The quality of Corinna’s style has been much discussed yielding widely ranging assessments: early naïveté (M. Davies 1988, 188-89; Latte 1955, 67); late genuine naïveté (West 1990, 555); late pseudonaïveté (Segal 1975, 7); early refreshing simplicity (Snyder 1984, 133).“ Bisweilen wird das Klischee von Korinnas Provinzialität für die Gewichtung hinzugezogen, s. etwa Latte 1956, S. 64.: „Man müsste [sc. für eine späte Korinna] schon eine bewusste Reprimitivierung der Syntax annehmen, die der Klassizismus erst in der Zeit des Severus anstrebt. Sie setzt eine gelehrte Arbeit, [sic] voraus, die man Korinna nicht zutrauen wird. [...] Ohne ein intensive [sic] Studium war das archaische Kolorit, das die Gedichte Korinnas zeigen, damals nicht mehr zu erreichen.“ Vgl. ähnlich Harveys Ergebnis (1957, S. 223) aus der Auswertung des Gebrauchs homerischer Epitheta, jedoch mit explizitem Verzicht auf den Anspruch einer neuen Erkenntnis in der Datierungsfrage: „[...] That is to say, if her language is in fact not archaic but archaizing, the work has been done by a singularly delicate and well-trained hand“ (ebd.). Dass Properz’ antiqu[a] Corinn[a] (2, 3, 21) zudem nicht notwendigerweise etwas mit einer zeitlichen Einordnung zu tun haben muss, sondern auch stilistischer Natur sein kann, zeigt Clayman 1993, S. 640f.; anders etwa Burzacchini 1992, S. 54. Der Kontext selbst erschließt

504

B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

Page bemerkt, findet jede Partei Argumente, um ihre eigene Überzeugung zu stützen, jedoch schwerlich starke Argumente, um die der Gegenseite zu widerlegen – ein Umstand, der, wie ja in der Datierungsfrage insgesamt, vor allem der beschränkten Materiallage sowie der Einzigartigkeit von Korinnas Dichtungen geschuldet ist.188 Auch die Erscheinungsform von Korinnas Sprache insgesamt entlässt Page als Kriterium – von anderen wird sie allerdings durchaus in die Waagschale geworfen. An der Oberfläche präsentieren sich die Verse vor allem orthographisch, aber auch morphologisch, als prägnant böotisch; sie enthalten jedoch auch epische Formen und Epizismen verschiedener Art.189 Wenn auch über das genaue Verhältnis zwischen genuin böotischer Mundart und epischer Kunstsprache in Korinnas Sprache keine Einigkeit herrscht,190 so kann doch mit West gesagt werden,

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190

nicht, ob eher eine stilistische oder eine zeitliche Charakterisierung der Dichterin gemeint ist. Vgl. Page 1953, S. 76. Vgl. u. a. Maas 1922, S. 1395; Page 1953, S. 65f.; Latte 1956, S. 57-61; Berman 2010, S. 54f. Die Anteile von spezifisch böotischen Formen und Ausdrücken (abgesehen von der in der Tat überaus böotischen Orthographie) auf der einen Seite und von ‚homerischen‘ Elementen auf der anderen Seite werden für das Gesamtbild von Korinnas Sprache unterschiedlich bewertet. Pages Abwägung ergibt folgendes Urteil: „The dialect of Corinna may therefore be summarily defined as a literary dialect, pronounced and spelt in the Boeotian manner, and admitting sporadically features of Boeotian vernacular“ (1953, S. 65; vgl. ebd., S. 79; auch Maas 1922, S. 1395). Latte 1956, S. 57-61 scheint jedoch den Befund ins rechte Licht zu rücken. Aus seiner Prüfung ergibt sich, „dass man die Formulierung von Page (64 [sic; gemeint ist das obige Zitat]) [...] ungefähr umkehren muss, um dem tatsächlichen Befund näher zu kommen“ (ebd., S. 61); vgl. zustimmend West 1970, S. 278 Anm. 2 und im Grunde auch Berman 2010, S. 53-8 und 59. – Bei der Abwägung spielt auch die Frage eine Rolle, wie viele und welche (scheinbaren) Epizismen und epischen Formen dem Sujet, welche dem Dialekt selbst geschuldet sind. In diesem Zusammenhang wird oft auf den äolischen Ursprung des böotischen Dialektes verwiesen, denn die äolische Gruppe zeige ohnehin eine hohe Affinität zur epischen Diktion; vgl. so z. B. Latte 1956, S. 60; Larson 2007, S. 115126; Berman 2010, S. 54. Gegen einen äolischen Ursprung des Böotischen s. aber die beiden voneinander unabhängigen Studien von Vottéro 2006 und Parker 2008, vor allem ab S. 443, insbes. S. 455; anders Scarborough 2017.

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Korinna in der Forschung

505

dass sie in jedem Fall als „most Boeotian of poets“191 gelten muss. Die Verwendung des lokalen Dialekts findet nach seiner Ansicht in einem hellenistischen Kontext besser Platz und ist in der Tat literaturhistorisch plausibler dort einzuordnen.192 Einzelne linguistische Argumente bezeichnet Vergados als „notoriously slippery“193. Zumindest einige der insbesondere von West angeführten Indizien, die in eine spätere Zeit deuten, sind aber nicht ohne Weiteres mittels dieser Charakterisierung von der Hand zu weisen.194 Sie können in der Tat nicht als unumstößliche Beweise dienen, doch geben sie eine Richtung – nämlich die einer späteren Datierung – vor.195 Ähnliches gilt für metrische Argumente.196 191

192

193 194 195

196

West 1970, S. 278. Dies gelte „even when allowance is made for metagrammatism“ (ebd.). Vgl. West 1970, S. 286: „The use of a conspicuously Boeotian dialect, against classical precedent, suits the self-conscious regionalism of the later period.“ Vgl. ders. 1990, S. 555; Guillon 1959, S. 163f. S. auch den Exkurs I am Ende dieses Abschnitts. Vergados 2012, S. 112. Eine Revision von Wests Hauptargumenten erfolgt unten in Exkurs II. Vgl. auch West 1990, S. 556 in vergleichbarem Zusammenhang: „[...] Nor is it a matter of being ‘very sure’, but of being prepared to give due recognition to a pointer, one that happens to point in the same direction as a number of others.“ Das Ergebnis von Wests Analyse (1970, S. 280-2) von Korinnas glykoneischen Strophen kann, wie Davies 1988 anmerkt, „hardly a very strong argument for lateness tout court“ (ebd., S. 189; vgl. Allen [und Frel] 1972, S. 27 Anm. 2; Vivante 1979, S. 83) sein, doch zeichnet es wiederum eine Tendenz ab: Das „general principle“ (West 1970, S. 281) finde sich schon in archaischer und dramatischer Dichtung, die größere Ähnlichkeit in der konkreten Umsetzung sei allerdings zu Dichtungen der postklassischen und hellenistischen Zeit gegeben (vgl. ebd., S. 281f.; 1982, S. 141f.; 1990, S. 555; Gentili und Lomiento 2001, S. 11f.). – Die Gestaltung des Papyrus wirft ebenfalls Fragen zur Metrik auf, die die Datierung betreffen. Sie sind im Exkurs III im Anschluss an diesen Abschnitt dargestellt. Ebenfalls die Metrik betrifft folgender – für die Datierung letztendlich nicht aussagekräftiger – Punkt: Lobel 1930, S. 362-5 wertet die Tatsache, dass muta cum liquida bei Korinna nach Bedarf positionsbildend wirke oder nicht, als Zeichen gegen eine frühe Datierung. Die Gültigkeit dieser Beobachtung als Argument widerlegt Bowra 1931. Page 1953, S. 50 zieht für Korinnas freien Umgang dialektale Besonderheiten in Erwägung; vgl. West 1970, S. 282.

506

B.III

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Exkurs I. Der böotische Dialekt: die Frage des Kontexts In der Frage, in welchem zeitlichen und räumlichen Kontext die konsequente Verwendung des böotischen Dialekts am plausibelsten anzusiedeln ist, spielt natürlich eine Rolle, wer als vergleichbare Bezugsgröße fungieren könnte. Page197 prüft Lobels Aussage, es sei „nothing peculiarly archaic about Corinna’s language or versification“198, und zeichnet dafür die Entwicklung der Kunstsprache der Chorlyrik nach. In ihrem eigenen Dialekt, in unterschiedlichem Grad durchsetzt von epischen Elementen, dichteten Alkman (Lakonisch; Ende 7. Jh. v. Chr.), Sappho (Lesbisch; 7./6. Jh. v. Chr.), Alkaios (Lesbisch; um 600 v. Chr.) und Anakreon (reines Ionisch; Mitte 6. Jh. v. Chr.).199 Von diesen zu vergleichen seien allerdings am ehesten Alkman und möglicherweise Alkaios, da sie, wie auch Korinna und anders als etwa Sappho und Anakreon, nicht-persönliche Lyrik verfassten. Vergleichbarer sei von der Sache eigentlich die Linie, die (von Alkman) über Stesichoros (7./6. Jh. v. Chr.) führte. Auch seine Themen seien ‚heroisch‘; er schreibe als ‚dorischer Muttersprachler‘ ein oberflächlich dorisiertes Episch. 200 Weiter führe diese Linie über Ibykos (6. Jh. v. Chr.), der in seiner ebenfalls dorisierten epischen Sprache zusätzlich vereinzelt Äolismen zulasse, hin zu Simonides (ebenfalls 6. Jh. v. Chr.), der ‚Dorismen‘ verwendet, ohne selbst ‚Dorer‘ zu sein, also schon einer Konvention entspreche, die sich spätestens bei Pindar klar als solche abzeichne:201 die Verwendung einer chorlyrischen Sprache, „the Epic dialect pronounced and spelt in ‘Doric’ fashion, admitting Aeolic features at discretion, and even features of the vernacular of the poet himself – but these in very small measure“202. Ab dem Ende des sechsten Jahrhunderts sei diese Kunstsprache eigentlich für jede Form von nicht persönlicher Lyrik zu erwarten – und also auch für die Dichtungen Korinnas, sollte sie eine Zeitgenossin Pindars gewesen sein.203 Page sieht, ausgehend von seiner Charakterisierung von Korinnas Sprache als „literary dialect in a vernacular dress“204, in Stesichoros die engste Parallele zu der böotischen Dichterin. Als mögliches Erklärungsmodell für die Form ihrer Sprache im Kontext des 5. Jahr197 198 199 200 201 202 203 204

S. Page 1953, S. 79-83. Lobel 1930, S. 365. S. Page 1953, S. 80f.; s. ferner Colvin 2007, S. 53-6; Berman 2010, S. 55f. Vgl. Page 1953, S. 80f. Vgl. ebd., S. 81f.; s. auch Colvin 2007, S. 54f. Page 1953; S. 82; vgl. Colvin 2007, S. 55; Berman 2010, S. 56. Vgl. Page 1953, S. 82. Ebd., S. 79.

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hunderts bietet er ihre (angenommene) Provinzialität und die ihres Publikums an: The narrow range of her interest, and the limitation of her audience, are fully sufficient to explain the superficial vernacular element; the broad Epic basis is just as fully explained by the force of a convention grounded in a hundred years of history. Compared with Pindar, Corinna is seen to be reactionary, or at least behind the times: and it is her provincialism which explains her divergence from the Choral norm205 Pages Betrachtungen stellen kein Plädoyer für eine frühe Datierung dar: Er prüft lediglich die Belastbarkeit der Erscheinungsform von Korinnas Sprache als eindeutiges Kriterium für ihre Datierung und kommt zu einem negativen Ergebnis. In der Tat kann aus dem episch-böotischen oder böotisch-epischen Dialekt keine absolute Gewissheit gewonnen werden, zumal ja auch das verfügbare Bild von der Lyrik dieser frühen Zeit lückenhaft ist.206 Doch erscheint ein hellenistischer Kontext wiederum plausibler: So geht Berman207 in seiner Abwägung zunächst ähnlich vor wie Page. Er zieht in der Konsequenz zwei Fälle in Betracht. 1) „If Korinna is a contemporary of Pindar, she is thus strongly archaizing in the sense that she aligns her literary language with her own vernacular“208. 2) Korinna ist später anzusetzen und hätte in diesem Fall „company in the practice of some of the Hellenistic poets, especially Theokritos“209. Die Abwägung wurde in der Forschung entscheidend beeinflusst durch die Beurteilung der Qualität von Korinnas Dichtung. Das Klischee der Provinzialität, das sowohl den thematischen als auch den geistigen Horizont der Dichterin sowie ihre Reichweite und ihren Anspruch umfasst, hat lange Zeit ihr Bild geprägt,210 wird in der aktuellen Forschung jedoch zunehmend in Frage gestellt211. In der Tat wäre das Abweichen von der sprachlichen 205 206 207 208 209 210

211

Ebd., S. 83. Dieser Einwand erscheint auch bei Page 1953, S. 83f. S. Berman 2010, S. 55f. Ebd., S. 56. Vgl. die oben genannten Erwägungen von Page. Ebd., auch mit weiteren Ausführungen. S. exemplarisch die Einschätzung der ersten Herausgeber Schubart und Wilamowitz 1907, S. 37-55 und die einflussreiche Arbeit von Page 1953, passim. S. auch unten Abschnitt B.III.3.2.1. S. etwa Clayman 1993; Rayor 1993; Schachter 2005; Collins 2006; Berman 2010; Vergados 2012; Kousoulini 2016; vgl. auch schon Skinner 1983.

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Konvention für die öffentliche Lyrik der Zeit, das sprachliche ‚Archaisieren‘ einer Korinna des fünften Jahrhunderts also, kaum anders zu erklären als durch einen beschränkten lokalen Wirkradius ihrer selbst und ihrer Dichtung: „poetry merely for Boiotians, by a Boiotian“212. Die jüngeren Tendenzen der Forschung identifizieren jedoch einen panhellenischen Anspruch in der bewussten Auseinandersetzung mit der panhellenischen Tradition durch eine durchaus nicht naive Dichterin. So erkennt Berman213 hinter Korinnas Versen, die er neben ihrer Behandlung topographischer und landschaftlicher Elemente auch hinsichtlich der Sprache untersucht,214 vielmehr eine poetische Strategie: These verses represent an attempt to use ‘literary Boiotian’ instead of ‘literary Doric’ just as they treat predominantly Boiotian spaces in the process of integrating them within a system of myth that extends outside the region. Korinna’s literary Boiotian is thus simultaneously parochial and cosmopolitan: parochial because it is Boiotian, and cosmopolitan because it couches itself in the panhellenic literary koine of epic […].215 Parallelen zu den Strategien hellenistischer Dichtung seien demnach leichter zu ziehen.216 Exkurs II. Einzelne linguistische Argumente Lattes217 Untersuchung der Sprache Korinnas ergab eine frühe Datierung. In seiner Betrachtung linguistischer Elemente behandelt West auch Formen, die Latte als Anzeichen für eine exklusiv frühe Zeit ausgemacht hatte.218 Sie müssen als Indizien zurückgewiesen werden.219 West selbst gibt an gleicher Stelle eine Reihe von Formen und Wörtern an, die ande212 213 214

215

216

217 218 219

Berman 2010, S. 58. S. Berman 2010. Für die Landschaft s. ebd., S. 44-53, für die Sprache ebd., S. 53-8; vgl. unten Abschnitte B.III.3.1.2.4 und 3.2.1. Berman 2010, S. 59. Vgl. auch den Abgleich mit der Relation von panhellenischen und epichorischen Elementen in der hesiodeischen Aspis ebd., S. 57f. Vgl. so im Übrigen ja auch schon, wie im Haupttext beschrieben, West 1970, S. 286 und 1990; auch Guillon 1959, S. 163f. S. Latte 1956. S. West 1970, S. 284-6. Vgl. zustimmend Davies 1988, S. 190.

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rerseits in eine späte Zeit wiesen. Die Gültigkeit dieser Liste stellen Allen, der selbst für eine frühe Datierung plädiert, und Davies, der nur die grundsätzliche Aussagekraft linguistischer Argumente in der Debatte in Zweifel ziehen will, in Frage.220 West selbst gibt eine Antwort, „because, while they are left unrebutted, it is too easy for anyone who is attached to the idea of a fifth-century Corinna, but does not feel up to fighting for it, to dispense himself by means of a note in the form ‘West’s arguments… have been countered by …’.“221 Diejenigen unter den von ihm geäußerten sprachlichen Anmerkungen, die für eine Datierung Korinnas besonders relevant sind, nennt West zusammenfassend am Ende seines ersten Artikels: „Details of linguistic usage such as δάθιον βρέφος, τάδ’ ἔµελψεν, κάθεκτος, ἀγείρω τρίποδος, ἀτρέκια χρεισµολόγος, λιγουροκωτίλος, and, if genuine, χρουσοφαῖς and δουῖν, greatly strengthen the case for a later dating.“222 Die Argumente seien hier einer Revision unterzogen: 1.

2.

220 221 222 223 224 225 226

227

δάθιο[ν ...] | [βρέφο]ς (PMG 654 col. i, 13f.) muss als Argument zurückgezogen werden: West selbst223 liest bei einer erneuten Untersuchung des Papyrus über dem α keinen Akut, sondern die Erklärung ζα. Somit ist dem nun möglichen Dativ δαθίο[ι der Vorzug zu geben, mit neuem Bezugswort ἄντροι (col. i, 14). „As the application of ζάθεος to persons is not found before Philodamus Scarpheus, I included this among the linguistic arguments for dating Corinna to the Hellenistic period [...]; it must now be discarded as evidence“224. τάδ’ ἔµελψεµ (PMG 654 col. i, 18) ist in dieser redeabschließenden Form das wohl stärkste linguistische Argument für eine hellenistische Korinna,225 was sowohl Allen als auch Davies anerkennen.226 Die von Burzacchini und Ortolá Guixot vorgebrachten vermeintlichen Belege im frühen Epos – Hom. Il. 9, 688; Od. 2, 373; Od. 4, 738; Od. 4, 829 – verfehlen die Pointe.227 Allen und Davies

S. Allen [und Frel] 1972, S. 26f. Anm. 2; Davies 1988, S. 190-4. S. West 1990, S. 555-7; das Zitat ebd., S. 553. West 1970, S. 286. Vgl. West 1996, S. 22. Ebd. Vgl. West 1970, S. 284. Vgl. Allen [und Frel] 1972, S. 26 Anm. 2: „τάδε, so used, is Hellenistic“; Davies 1988, S. 191: „Here the assumption of lateness is unmistakeable“. S. Burzacchini 1991, S. 73; Ortolá Guixot 2005, S. 89 Anm. 63.

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berufen sich auf die von Bolling228 vorgeschlagene alternative Lesart τὰ δὲ µέλψεµ oder τὰ δ’ ἔµελψεµ (der Apostroph ist im Papyrus verzeichnet), für West zu Recht „extremely unnatural and without advantage“ 229 . Davies vergleicht dazu Hom. Od. 19, 413 (τῶν ἕνεκ’ ἦλθ’ Ὀδυσεύς, ἵνα οἱ πόροι ἀγλαὰ δῶρα) und Pi. O. 6, 17f. (τὸ καὶ | ἀνδρὶ κώµου δεσπόται πάρεστι Συρακωσίωι), als „two early ways of resuming after a speech“230. Dazu richtig West: „No real analogy here for τὰ ἔµελψε, and even if τά is possible, I do not see how the same can be said of δέ. It is supposed to be a case of δέ ‘ἀντὶ τοῦ γάρ’, but it is a mystery to me why anyone should think γάρ conceivable here.“231 In der Tat ist die „nice instance of δέ ἀντὶ τοῦ γάρ“232, die Davies mit unpräzisem Kommentar und Allen gänzlich ohne von Bolling übernehmen, Produkt einer unwahrscheinlichen Interpretation der Verse col. i, 16f. Denn Bolling sieht µεγ]άλαν τ’ [ἀ]θανάτων ἔσ|[ς] ἕλε τιµάν nicht als Teil des gesungenen Liedes (mit Rhea oder auch Zeus als Subjekt), sondern als Teil der fortlaufenden Handlung (mit Kithairon als Subjekt): I should render the opening of the second stanza: ‘Great was the honor he (Cithaeron) won from the Immortals. For that was what he sang of’. [...] I understand the sentence to be an explanation of Cithaeron’s success – the cleverness of his choice of a subject that would appeal to all the gods, the founding of their dynasty.233 Dass diese Konstruktion in höchstem Maße unnatürlich ist, legt nicht nur der Schreiber nahe, der hinter τιµάν (und vor τάδ’) einen Hochpunkt setzt: Die Anbindung durch τε234 lässt diese kaum zu.235 An der Lesart τάδ’ ἔµελψεµ mit den Konsequenzen für die Datierungsfrage ist also bis auf Weiteres festzuhalten.236 228 229 230 231 232 233 234

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S. Bolling 1956, S. 283f. West 1990, S. 556. Davies 1988, S. 191. West 1990, S. 556. Davies 1988, S. 191. Für das Phänomen vgl. Denniston 21950, S. 169. Bolling 1956, S. 283f. Vgl. col. i, 15-18: τα|νίκά νιν κλέψε µάκηρα Ῥεία | [µεγ]άλαν τ’ [ἀ]θανάτων ἔσ|[ς] ἕλε τιµάν. S. auch Kirkwood 1974, S. 189f. für weitere Einwände gegen Bollings Interpretation. Davies’ zusätzlicher Einwand (1988, S. 191) gegen die vom Kontext isolier-

3 3.

4.

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κά[θ]εκτος (PMG 654 col. i, 29) „first appears in Demosthenes and is common in late prose“237. Man ergänze X. Mem. 4, 1, 3 und 4, 1, 4 für δυσκάθεκτος und Cyr. 7, 5, 69 für εὐκάθεκτος. Allen und Davies verweisen auf die Möglichkeit einer Analogiebildung nach dem bei Homer geläufigen ἀνεκτός.238 Dazu West: „That only shows that κάθεκτος is a possible formation for the fifth century. The fact remains that it is not found in use so early“239. ἀγείρω [...] τρίποδος (PMG 654 col. iii, 25f.): West240 interpretiert ἀγείρω entgegen Page nicht als Nominativ Plural, sondern als Genitiv Singular, in Davies’ Augen „convincingly“241. Das Adjektiv bezieht sich dann nicht auf die vorher genannten Heroen (col. iii, 22f.)242, sondern auf den Dreifuß im Folgenden (col. iii, 26). Als Parallele bringt West den Paian des Philodamos – aufgeführt 340/339 v. Chr. in Delphi – vor: ἀγή|ρων [...] | ναὸ[ν ἄ]νακ[τι] Φοίβῳ (Philod. Scarph. 119-21). Allen und Davies setzen Hom. Il. 2, 447 (αἰγίδ’ [...] ἀγήρων) entgegen als frühes Beispiel für den Gebrauch von ἀγήραος in Bezug auf Dinge.243 Dazu West: [I]t is one thing to use it of a miraculous object carried by a goddess, never seen by human eyes, and as imperishable as she is herself; quite another to use it of structures at a Greek cult centre. Corinna’s use is far closer to Philodamus’ than to Homer’s.244 Diese Argumentation erscheint zunächst durchaus stichhaltig. Doch ist zu beachten, dass Philodamos nicht als erster Repräsentant einer langen Reihe von ähnlichen Nutzungen des Wortes steht.

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239 240 241 242 243 244

te Betrachtung der Wendung τάδ’ ἔµελψεµ – sie wäre, wenn früh, eine Wendung ohne frühe Parallele in einem frühen Sängerwettstreit, der ebenfalls in seiner Zeit ohne Parallele wäre – ist artifiziell; West 1990, S. 556 weist ihn zu Recht knapp zurück. West 1970, S. 284; s. ebd. auch für den Gebrauch in später Dichtung. Vgl. Allen [und Frel] 1972, S. 26 Anm. 2; Davies 1988, S. 192. Das Wort ἀνεκτός erscheint etwa in Il. 1, 573; Od. 20, 83. West 1990, S. 556. Vgl. West 1970, S. 385, in Bezug auf Page 1953, S. 60. Davies 1988, S. 193. S. col. iii, 22f.: εἱρώων γενέθλαν | ἐσγεννάσονθ’ εἱµ[ιθί]ων. Vgl. Allen [und Frel] 1972, S. 27 Anm. 2; Davies 1988, S. 193. West 1990, S. 556.

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Vielmehr sind sowohl Il. 2, 447 als auch Philod. Scarph. 119-21 und Corinn. PMG 654 col. iii, 25f. mit ihrer Anwendung auf concreta – die einen gewissen Grad der metaphorischen Abstraktheit erhalten – jeweils singulär. Mindestens bis ins vierte Jh. n. Chr. hinein beschränkt sich die Verwendung von ἀγήραος (und ähnlich die von αγήρατος) für ‚Dinge‘ gleichmäßig auf ‚reine‘ abstracta wie τιµή (z. B. Paus. 1, 37, 2), κῦδος (z. B. Pi. P. 2, 52), ἔπαινος (z. B. Th. 2, 43, 2), πάθος (z. B. Pl. Phlb. 15d 8), χάρις (z. B. E. Supp. 1178) etc.; auch κόσµος (z. B. E. fr. 910, 6 Kannicht [Bd. 5,2, S. 917 TrGF]), ψυχή (z. B. Plu. Per. 13, 5) etc.245 Korinnas Verwendung ist also in der Tat näher an der des Philodamos im späten vierten Jh. v. Chr., doch kann diese nicht für eine zeitliche Entwicklung oder Verschiebung des Anwendungsbereichs von ἀγήραος bürgen. ἀτ[ρ]έκ[ιαν χρει]σµολόγον (PMG 654 col. iii, 43) scheint nach West „a late type of expression“246, doch kann er selbst das spezifisch Späte daran nicht benennen. Auch Allen bescheinigt dem Ausdruck „a late ring“247, ähnlich Davies.248 Es geht wohlgemerkt nicht um die einzelnen Wörter, die beide für eine frühe Zeit belegt sind,249 sondern um deren Kombination. Als belastbares Indiz für eine späte Datierung muss der Ausdruck ausscheiden. An dem Kompositum λιγουροκωτίλυς (vgl. PMG 655, 5 mit App.), „an overweight adjective that smacks of the dithyramb“250, stellt West die Art seiner Bildung heraus: „I would like to know where else, before Philox. Leuc. 836.41 χλιεροθαλπές [Anfang des 4. Jhs. v. Chr.], an adjective with the formative suffix -ρο- is compounded with a verbal second element“251. Für eine Zeitgenossin von Pindar sei eher λιγυκωτίλος zu erwarten. In seinem zweiten

Es handelt sich bei dieser Aufzählung um eine Auswahl aus den weitaus zahlreicheren, per TLG ermittelten Stellen. Einzige Ausnahme ist die Verwendung des Adjektivs als Fachbegriff für die Charakterisierung mancher Pflanzen, s. etwa Plu. Mor. 649d (Quaestiones convivales). Sie ist spezifisch genug, um in dieser Frage nicht ins Gewicht zu fallen. West 1970; S. 285. Allen [und Frel] 1972, S. 27 Anm. 2. S. Davies 1988, S. 190. Vgl. Allen [und Frel] 1972, S. 27 Anm. 2; Davies 1988, S. 190 mit Anm. West 1970, S. 285. Ebd. West hebt ebd. die „verbal force“ des zweiten Elements, des Adjektivs κωτίλος, hervor: „ [T]he compound represents λιγυρὰ κωτίλλων rather than a blatant portmanteau of λιγυρὸς καὶ κωτίλος“.

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Artikel nennt er selbst ein solches Adjektiv, nämlich E. Ph. 826 χλοεροτρόφον: „Late Euripides, however, does not take us out of the orbit of dithyrambic diction“ 252 . Allerdings verweist Burzacchini253 zusätzlich auf Pi. Pae. 12, 6f. (fr. 52m Snell-Maehler): λιπαροτρόφων [...] [µή]λων. Für χρουσοφαῖς (PMG 654 col. i, 21f.), das in dieser Form „indicative of lateness“254 wäre, aber vom Textbefund durchaus nicht sicher ist, s. unten Abschnitt B.III.5.2.1 mit Exkurs II. δουῖν (PMG 654 col. iii, 15) stünde in dieser Form für δυεῖν, „an Attic innovation of the late fourth century [...]“255. West zieht jedoch auch Wilamowitz’ Konjektur δουῦν – die dem Papyrus orthographisch entsprechende böotische Schreibweise für δυοῖν– in Betracht,256 auf die auch Allen257 ohne weiteren Kommentar verweist. Anders als bei χρουσοφαῖς, wo der Papyrus selbst keine klare Lesart ermöglicht, ist δουῖν in dieser Form jedoch in jedem Fall intendiert und in der Vorlage so geschrieben: Denn der Scholiast erklärt sie zusätzlich mit einem kleinen ε schräg über dem ῖ. Selbstverständlich sind Fehler in der Überlieferung niemals auszuschließen, doch, wie West an anderer Stelle bemerkt, „[...] since [...] we are in no position to prove it mistaken, we ought to respect its evidence“258.

Das Ergebnis dieser Revision ist folgendes: 1) und 6) sind als Argument ungültig, ebenso 5), es sei denn, die Intuition von Kennern dürfte zu einem gewissen Anteil auch ins Gewicht fallen. 7) muss wegen der textlichen Unsicherheit zunächst aus der Abwägung ausgeschlossen werden. 4) bleibt unspezifisch, mit möglicher größerer Affinität in Richtung der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts. 3) deutet auf eine Zeit außerhalb des fünften Jahrhunderts. 8) weist unter Vorbehalt, 2) ohne Vorbehalt relativ klar in eine hellenistische Zeit. Wenn dieses Ergebnis zunächst wenig gewichtig erscheinen mag, so sei mit Lobel gesagt: „[I]t is to be remembered that one indication of lateness outweighs any number of indications of earliness“259. 252 253 254 255 256 257 258 259

West 1990, S. 556. Vgl. Burzacchini 1991, S. 58. West 1970, S. 284. Ebd.; vgl. Latte 1956, S. 61. Vgl. West 1970, S. 284. Vgl. Allen [und Frel] 1972, S. 27 Anm. 2. West 1990, S. 555. Lobel 1930, S. 364. Lobel bringt dies allerdings in Zusammenhang mit ei-

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Exkurs III. Metrenwechsel oder fehlerhafte Kolometrie? Page zieht die „inevitable and astonishing conclusions“ 260 aus dem schon von Lobel261 angemerkten Umstand, dass die ersten sechs Verse von PMG 654 col. i, die metrisch nicht mit dem Rest des Wettstreitgedichtes übereinstimmen und zudem weit nach links überstehen, entweder Teil eines anderen Gedichtes sein müssten oder einen Wechsel des Metrums innerhalb des Gedichtes markierten. Da im ersten Falle ganz offensichtlich nicht genug Platz bliebe, um von col. i, 10 oder col. i, 11 an eine Einleitung in das Geschehen, das ganze Lied des ersten Kontrahenten sowie einen Teil des zweiten Liedes unterzubringen, ergeben sich zwei klare Alternativen: Either the metre of the poem changed between 9 and 12, a conclusion which might be thought to speak in favour of the later date; or the opening of the Ionic poem in our Papyrus (v. 10) is not the original beginning of the poem – the copyist must have begun to write the second poem not at its beginning but somewhere in the midst of its course […].262 Ein Verfechter einer frühen Lebenszeit der Korinna könne diesen Umstand darauf zurückführen, dass ihre Gedichte vergessen und erst spät in einem unvollständigen Zustand wiederentdeckt worden seien. Page jedoch sieht die schon vorher angedeutete Tendenz zu einer späten Lebenszeit nun endgültig bestätigt: „But it is now perhaps time to admit that the champion of the earlier date is at this point, as at one ore two others, driven to a degree of special pleading from which the champion of the later date is exempt“263. Eine dritte Möglichkeit, dass nämlich die Kolometrie in den ersten Versen gestört sei, schließt Page ausdrücklich aus: „I think it highly improbable: there are one or two minor slips elsewhere in Π [sc. P. Berol. 284], but nothing remotely resembling the chaos postulated here by such a theory. And why do the lines extend so far toward the right?“264 Harvey hingegen verteidigt, gefolgt von Burzacchini, die Plausibilität einer

260 261 262 263 264

nem ungültigen Argument an. S. Page 1953, S. 87f., das Zitat ebd., S. 87. S. Lobel 1930, S. 357f. Page 1953, S. 88. Ebd. Ebd., Anm. 1.

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fehlerhaft kolometrischen Einteilung von Seiten des Schreibers.265 Ausgangspunkt sind die – bis auf zwei Buchstaben in col. i, 9 – ganz verlorenen Verse 7-9, die ganz offensichtlich nicht so weit nach rechts reichten wie die Verse 1-6, die aber Page und Lobel mit zu den hypothetisch metrisch abweichenden ersten Versen rechnen.266 An dieser Stelle müsste also in der Konsequenz ein weiterer Metrenwechsel stattgefunden haben, und Harvey fragt: „[H]ow many changes of metre are we prepared to postulate in order to explain these phenomena?“267 Die Annahme hingegen, dass der Schreiber erst im Laufe des Gedichtes das Metrum entschlüsselt habe, sei eine einfache Erklärung des Problems und zudem vereinbar mit dem Befund: One of the main arguments of those who believe in a change of metre is that the syllables which survive in 1-6 could not stand as the ends of ionic lines. Yet it must be observed that all of them could stand in some part of an ionic line (except 6, [...] which is difficult to scan on any theory, and is in any case a doubtful reading) and that what we have at the top of the column may be, not a stanza or stanzas in a different metre, but one in the same metre with the lines misdivided and allowed to run on over the correct metrical division. That the copyist was weak in his colometry is suggested by the other minor slips in the papyrus (i. 15, 33)268 and by the fact that he apparently did not have the confidence to put in any paragraphi; and it is surely not an entirely improbable supposition that he failed to make sense of the metre when he started on his transcription […].269 Das Ende des Liedes, col i, 47 - col. ii, 11, wo eine Zeile zu wenig Platz findet für drei Strophen, und mindestens col. ii, 6 ρωνκυ̣[ mit einer Länge statt einer Kürze beginnt, könnte ebenfalls der kolometrischen Schwäche des Schreibers zu verdanken sein. 265 266

267 268

269

Vgl. Harvey 1955; Burzacchini 1991, S. 66-9 ad loc. Eine dem Metrum des Restliedes entsprechende Strophe müsste, rückwärts gezählt, mit den Versen col. i, 5 und 6 beginnen; diese sind aber metrisch als Versenden nicht kompatibel. Harvey 1955, S. 178. Man füge V. 11 hinzu, der auf ]δα endet, mit ausdrücklich vermerktem kurzem α, obwohl an dieser Position eigentlich eine Länge erforderlich wäre: Es scheint auch hier eine Verwirrung gegeben zu haben, die möglicherweise mit dem noch unerklärten weiten Überstehen von V. 12 zusammenhängt. Harvey 1955, S. 178.

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Burzacchini, der Harveys These annimmt, unternimmt einen Versuch, den in jedem Fall problematisch verbleibenden Vers 6 zu bereinigen:270 Wie Crönert271 sieht er eine Epistigme über dem ρ, eine Lesart, die Page unter Vorbehalt in seine Ausgabe übernimmt. Das expungierte ρ erlaubte eine kurze Silbe ον statt langem ορν und somit mit ].ν φοῦλον ονι ([–] – ∪ ∪ –) einen in ein ionisches Versmaß integrierbaren Bestandteil. West hingegen, der nicht nur (wie Burzacchini) die Fotografie, sondern den Papyrus im Original begutachten konnte, urteilt anders: „The spot about ρ seems to me not to be ink.“272 Harveys Verteidigung der von Page ausgeschlossenen dritten Möglichkeit kann die Datierungsfrage wieder austarieren: „If it is accepted the champions of the earlier date for Corinna are rescued from at any rate one of their predicaments, and the question can remain open as before.“273 Page nimmt Harveys Erklärung zunächst an und prüft auf ihrer Grundlage einen Punkt, den dieser zu einer Bedingung für seine Erklärung macht:274 Die mögliche kolometrische Verwirrung müsse auf ein Original zurückzuführen sein, das die Texte in Prosaform präsentiere – was, wie Harvey zeigt, zwar keine zwingenden Konsequenzen für die Datierung trägt, aber doch tendenziell auf eine frühere Edition als die durch die Orthographie für um 200 v. Chr. festgelegte verwiese. Page zeigt, dass für den Befund ein Original mit fehlerhafter Kolometrie wahrscheinlicher ist. Unter der Bedingung, dass man Harveys Auslegung akzeptiere, verbliebe aber ein problematisches Element: „something we would rather do without, a colometrist-copyist“275 mit ungewöhnlichen Freiheiten, entweder in Gestalt des Schreibers des vorliegenden Papyrus aus dem 2. Jh. n. Chr. oder irgendwo in der Reihe seiner Vorgänger. Ein solcher wäre für ein Original mit fehlerhafter Kolometrie noch erstaunlicher als für ein Original mit Prosadarstellung. Eine Entscheidung in der Frage ‚Metrenwechsel oder fehlerhafte Kolometrie?‘ mit all ihren Konsequenzen für die Datierungsfrage bleibt also auf der Grundlage der verfügbaren Informationen weiterhin unmöglich.

270 271 272 273 274 275

S. Burzacchini 1991, S. 69 Anm. 79. Vgl. Crönert 1908, S. 167. West 1996, S. 22. Harvey 1955, S. 179. S. Page 1957; Harvey 1955, S. 179f. Page 1957, S. 111.

3

3.1.2.4

Korinna in der Forschung

517

Inhalt

Was den Inhalt von Korinnas Versen betrifft, so erweist sich, während der Versuch einer zeitlichen Verortung einzelner Mythen und Motive grundsätzlich problematisch ist,276 die Art ihrer Behandlung als aufschlussreicher. So fügt sich Korinnas Umgang mit Topographie und Landschaft – einem auffälligen Element in einem Großteil der Fragmente277 – eher in 276

277

Dies gilt etwa für die mögliche Anwesenheit der Kureten in Korinnas Version der Geburtsgeschichte des Zeus im zweiten Wettstreitbeitrag (vgl. PMG 654 col. i, 12f. und oben Abschnitt B.III.2.2.1, Anm. 11 für den problematischen Textbefund). Wie West 1970, S. 283 und 1990, S. 555 betont, ist diese Version im Hellenismus besonders verbreitet. Ihre Entstehung sei um 430 v. Chr. zu verorten, im Zusammenhang mit einer Theogonie unter dem Namen des Epimenides und einer etwas späteren unter dem Namen des Orpheus (vgl. ebd.; ders. 1983, S. 49-52; 131-3; 174f.); evident wird sie in Euripides’ Bakchen V. 120-9. Unklar ist, inwieweit ein Eumelos-Fragment den so gewonnenen terminus post quem noch um unbestimmte Zeit nach vorn verschieben könnte (s. Vergados 2012, S. 109f. u. 114; 2017, S. 243f.): In Lyd. Mens. 4, 71 (Eumel. fr. 18 Bernabé) wird klar Eumelos von Korinth die Aussage zugeordnet, Zeus sei in Lydien geboren worden. Nicht eindeutig zu bestimmen ist jedoch, ob Ioannes Lydus’ spätere Bemerkung, die Kureten seien die Wächter gewesen, ebenfalls noch Eumelos zugedacht ist (s. zu dieser Problematik auch Vergados 2012, S. 109f. mit Anm. 45 sowie den Schlagabtausch von West 1970, S. 283, Allen [und Frel] 1972, S. 27 Anm. 1, Davies 1988, S. 189 Anm. 11 und wieder West 1990, S. 555). Gelten lassen muss man auch Davies’ Einwand, eine Zeitgenossenschaft mit Pindar schließe auch eine noch über das Jahr 450 v Chr. hinaus dichtende Korinna nicht aus (vgl. Davies’ Verweis [1988, S. 189] auf Harvey 1955, S. 176 Anm. 2). Gleichzeitig erscheint es problematisch, dem Kuretenmotiv in der Datierungsfrage eine andere Rolle als die eines vagen terminus post quem zuzugestehen, solange es nicht exklusiv einer bestimmten Zeit angehört: Anders als bei sprachlichen Entwicklungen, die von zwingenderem Charakter sind, ist es fraglich, ob die spätere Beliebtheit dieser Mythosversion das frühere Auftreten weniger wahrscheinlich macht. – Für die Asopiden-Genealogie in PMG 654 col. iii, 12-51 findet Guillon 1958 einen passenden historischen Kontext für die zweite Hälfte des 3. Jhs., Larson 2002 für das 5. Jh. v. Chr. – Für den Wahlvorgang im Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon in PMG 654 col. i, 19-26 s. unten Abschnitt B.III.5.2.1 mit Exkurs I. Vgl. Berman 2010, S. 44-6.

518

B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

einen hellenistischen Rahmen: Berman untersucht insbesondere das Fragment vom Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon (PMG 654 col. i, 1 - col. ii, 11) und das Asopidenfragment (PMG 654 col. ii, 12 col. iv, 52; lesbar im Grunde col. iii, 12-51) – beide zeigen, was das Element der Landschaft angeht, einen aitiologischen Ansatz.278 Ein solcher ist zwar für die frühe Dichtung nicht grundsätzlich ausgeschlossen,279 doch bei Weitem prominenter im Kontext alexandrinischer Literatur zu finden.280 Berman erkennt zudem in Korinnas Umsetzung des Ansatzes eine differenzierte poetische Strategie: Der starke lokale Bezug ihrer Lieder zeuge demnach nicht von einem provinziellen, engen Horizont. 278

279

280

Vgl. insgesamt, auch für die folgenden Ausführungen, Berman 2010, S. 4453. Für den mit hoher Wahrscheinlichkeit aitiologischen Ausgang des Wettstreitliedes s. ausführlich unten Abschnitt B.III.4.1.2. S. etwa die bei Berman 2010, S. 47 Anm. 13 selbst und Vergados 2012, S. 114 angeführten Beispiele aus der archaischen und klassischen Dichtung. Die aitiologische Struktur beinhaltet wohlgemerkt nicht das (schon früh gängige) bloße Personifizieren von Landschaftselementen, sondern Metamorphosen von distinkten personae in diese Landschaftselemente (vgl. für diese Klarstellung auch Berman 2010, S. 46f. und Vergados 2012, S. 113f.). Als Metamorphose im weiteren Sinne kann dabei auch die Benennung eines Landschaftselements nach einer persona aufgefasst werden, sofern sie durch einen entsprechenden Mythos zueinander in Verbindung stehen. Aus dem vor allem durch Eberts 1978 Konjekturen nahegelegten aitiologischen Ausgang zieht als einer der Ersten Segal 1975/1998 in seinem Addendum S. 320-3 die Konsequenzen für die Datierungsfrage, wenn auch viel allgemeiner als Berman. – Wie unterschiedlich die Konsequenzen sein können, die aus Korinnas Umgang mit der Landschaft gezogen werden, je nach Interpretation der für die Frage „Personifikation oder persona?“ besonders entscheidenden Verse PMG 654 col. i, 29-34, bezeugt auf der anderen Seite Vivante 1979: Er nimmt in den beiden Kontrahenten die personifizierten Berge an und kann so für Korinnas und Pindars Wahrnehmung der Landschaft „the same mythical approach“ ausmachen, „in the way of conceiving places as animate presences, in the tendency to see the legends as embodied in the place itself and not forming a separate story running its own course“ (ebd., S. 85). Im Folgenden schließt er exakt eine (hellenistisch-)aitiologisch geprägte Sichtweise für Korinna (und Pindar) aus: „There seems to be no room in this kind of poetry for a tale of metamorphosis in the Ovidian sense. Nor do we have the idea of an eponymous hero simply giving his name [...]“ (ebd.). In der Konsequenz erscheint Vivante eine Zeitgenossenschaft der beiden böotischen Dichter durchaus möglich, vgl. ebd.

3

Korinna in der Forschung

519

Vielmehr finde ein „focusing of a broader tradition through a Boiotian [...] lens“281 Anwendung, mittels dessen lokale, epichorische Traditionen eingebettet würden ins ‚panhellenische‘ Feld und auch ihren Platz darin behaupteten. Als Ausdruck der gleichen Strategie sieht Berman neben Korinnas Umgang mit der Landschaft auch ihre Sprache an.282 Diese spezifische Art, ‚epichorische‘ und ‚panhellenische‘ Elemente zueinander in Beziehung zu setzen, wertet er zu Recht als tendenziell einer späteren Zeit zugehörig.283 Auch Kousoulinis Untersuchung der katalogartigen Passagen bei Korinna setzt bei dem Konzept des Paares ‚panhellenisch – epichorisch‘ an.284 Sie betrachtet diese Passagen vor dem Hintergrund hesiodeischer Katalogdichtung. Kousoulini kommt zu dem Schluss, dass Korinna ihre an der Oberfläche epichorischen, lyrischen Partheneia285 mit einer weiteren Gattung – der quasi panhellenischen, im Ursprung epischen Katalogdichtung – ‚kreuze‘. Sie adressiere auf diese Weise bewusst auch ein panhellenisches Publikum. Korinnas freier Umgang mit der vor allem 281 282

283

284

285

Berman 2010, S. 52. Die quasi ‚thematische‘ Untersuchung von Korinnas Sprache erfolgt bei Berman 2010, S. 53-58. Vgl. oben Exkurs I nach Abschnitt B.III.3.1.2.3. Vgl. Berman 2010, S. 53; 58; 61f. Berman selbst akzeptiert Tatians Zeugnis und platziert Korinnas Dichtung daher – möglichst spät – in den Jahren 335320 v. Chr. (vgl. ebd., S. 59-61). Aus seiner Untersuchung erhält er so das Bild einer innovativen Dichterin, die ihrer Zeit voraus ist: „In sum, we would understand a Tanagran Korinna whose poetic height came in the first years of the Hellenistic kingdoms, who anticipated the mannered regionalism of the Alexandrians, a poetess with a panhellenic worldview couched in a regional mode of expression. We have a type of Boiotian lens coloring what seems to be predominantly post-classical strategies of poetic discourse, both thematic and formal [...]. She uses established mythopoetic techniques alongside innovation, and is a slavish imitator of neither Hesiod nor the lyric tradition. In this sense she is both before her time and connected to her past“ (ebd., S. 61f.). Da aber, wie oben dargelegt, nicht zwingend ein Korinnabildnis von der Hand des Silanion existiert haben muss, wird auch eine Korinna möglich, die zeitlich ‚genau richtig‘ angesiedelt war. S. Kousoulini 2016. Eine kurze theoretische Auseinandersetzung mit dem Konzept, auch als Instrument zur Analyse griechischer Dichtung im Allgemeinen, erfolgt dort zu Beginn (S. 82-4); es gründet sich im Wesentlichen auf Nagy 1990. S. dazu unten Abschnitt B.III.3.2.2.

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B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

hesiodeischen Form der Gattung und die Verwebung mit einer lyrischen Form gleiche dabei eher der Praxis hellenistischer Katalogdichtung.286 Ebenfalls das Verhältnis von epichorischen zu panhellenischen Aspekten betrachtet Collins, und zwar in Korinnas Umgang mit Mythen.287 Er attestiert ihr einen hohen Grad an Innovationskraft: Sie adaptiere in ähnlicher Weise wie Stesichoros, Pindar und Bakchylides bewusst und kunstvoll bestehende Traditionen für den jeweiligen Kontext und die jeweilige Absicht, sei es durch Veränderung gängiger Versionen, durch Wahl alternativer Mythenstränge oder durch Hervorhebung gegebenenfalls sekundärer Aspekte der Mythen, und zeige sich somit alles andere als in der Provinz verhaftet.288 Von den benannten archaischen und frühklassischen Dichtern unterscheidet Korinna jedoch die auffällige Fokussierung auf fast ausschließlich böotische Mythen.289 Wie auch bei der 286

287 288

289

Vgl. Kousoulini 2016, S. 109: „Although it is far from certain that Corinna lived during the Hellenistic age, her engagement with the Catalogue of Women bears similarities to the way Hellenistic poets were inspired by the Hesiodic prototype. Hellenistic poets seem to use different meter, to alter or to omit the opening formulae of their catalogues, to make limited use of Hesiodic features, to isolate myths, and to add details suppressed in the Hesiodic Catalogue. Their works have different generic affiliations and they were free to mix Panhellenic with epichoric elements.“ S. ebd., S. 107 Anm. 75 für weitere Literatur. Dass die genannten Merkmale auf die katalogartigen Passagen bei Korinna zutreffen, zeigt Kousoulini in ihrem Artikel. – Das für Kousoulinis Artikel zentrale Asopidenfragment (PMG 654 col. ii, 12 - col. iv, 52) untersucht auch Larson 2002, die nicht explizit für eine frühe Datierung Korinnas plädiert, jedoch ihre Verse unter dieser Voraussetzung betrachtet. Auch sie untersucht das Verhältnis von panhellenischen und epichorischen Elementen darin – ebenfalls mit Bezug auf Nagy 1990 – und bezieht ebenfalls Hesiods Ehoien mit ein. Sie ermittelt einen möglichen literarischen und historischen Kontext für das fünfte Jahrhundert v. Chr., ohne jedoch (wie Kousoulini) die äußere Form der Lieder ebenfalls zu berücksichtigen. S. Collins 2006. S. insbesondere ebd., S. 30-2. Auch Rayor 1993, S. 220f. charakterisiert Korinnas Behandlung von Mythen als innovativ und vergleicht sie sowohl stilistisch als auch inhaltlich mit Stesichoros. Vgl. so auch Collins 2006, S. 31. Die einzige bekannte Ausnahme von der böotischen Regel stellt ein Lied mit Titel Orest dar (PMG 690), das West 1970, S. 278f. zusammen mit anderen in die Fragmente Korinnas einschließt

3

Korinna in der Forschung

521

Sprache und der Topographie stellt sich hier die Frage nach dem Rahmen für die konsequent regionale Ausrichtung. Die gleichzeitige aktive Bezugnahme auf den panhellenischen Kontext legt ein weiteres Mal nahe, dass eher mit einer poetischen Strategie zu rechnen ist, wie sie für die hellenistische Dichtung erwartet werden kann, als mit einem Anhaften an vergangenen poetischen Traditionen durch eine Korinna des fünften oder vierten Jahrhunderts.290 Werden die einzelnen Aspekte der bö-

290

(anders Burzacchini 1993, S. 398). Page 1953, S. 28 bietet allerdings als mögliche Erklärung einen rituellen Kontext in Theben, das wohl als (realer oder virtueller) Aufführungsort zu denken ist (vgl. PMG 690, V. 12 mit West 1970, S. 280). Als ‚Ausnahme‘ mag ebenfalls die in den Helikon-Kithairon-Wettstreit eingebettete Geburtsgeschichte des Zeus gewertet werden (dies tut West ebd., S. 283). Collins 2006 selbst legt seinen Betrachtungen eine frühe Datierung Korinnas zugrunde (s. insbes. S. 19f.). Er stellt jedoch auch mehr Korinnas prinzipielle Auseinandersetzung mit panhellenischen Mythenströmungen in den Vordergrund, welche er dann literaturgeschichtlich verortet, und weniger die konsequente, spezifisch böotische Ausrichtung. Diese stellt er zwar fest – er diagnostiziert der Dichterin „Boeotian patriotism“ (ebd., S. 31) mit bisweilen politischer Dimension – doch positioniert er sie allgemein „against the backdrop of local lyric competitions in which the poetry performed, as far as we can tell, virtually always engaged with Panhellenic tradition even when it diverged from it“ (ebd., S. 32). Larson 2002 unternimmt eine solche literaturgeschichtliche Verortung, ebenfalls unter der Voraussetzung einer frühen Datierung: „Nagy [sc. Nagy 1990, insbes. S. 52-115 und, zu Korinna, S. 83 Anm. 3] has noted the importance of Panhellenization as a criterion for her evolutionary process of canon formation, suggesting that if we suppose an early date for Corinna, we should also expect that the transmission of her poetry long took place at a localized, Boeotian level. The texts selected for canonization were primarily those that eschewed epichoric traditions and styles in favor of more widely diffused ones. What is most remarkable about Corinna, if her date is early, is that in her we have an author who appears to resist the strong pressure toward the Panhellenic ideal, in contrast to Pindar, who embraces it. One could take this as an evidence that Corinna’s date is post-classical, but it is also consistent with Nagy’s description of the many early works that did not enter the canon because of their epichoric nature“ (ebd., S. 56f.). Die Unterschiede, die sich zwischen Korinnas Dichtung und vergleichbarer von „regional favoritism“ (ebd., S. 58; diesen Ausdruck bevorzugt Larson vor „parochialism“) geprägter Dichtung aufzeigten – entsprechende Dichter sind zeitlich vor Pindar anzusiedeln, Larson nennt auf-

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B.III

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otischen Ausrichtung – Sprache, Mythos, Topographie – zusammen betrachtet, so fallen sie in ihrer Gesamtheit umso mehr ins Gewicht. Einzelne Elemente in den erhaltenen Fragmenten Korinnas erklären sich zusätzlich besser im Kontext hellenistischer Dichtung. So wertet West Corinn. PMG 674291 als stilistisch-inhaltliches Indiz: Auschlaggebend sei dabei nicht die Häufung der Epitheta, sondern the density of meaning packed into the series, the bestowal of this hymnlike treatment on a town, and the light in which the town is seen. It suggests to me a Thespia that has become a self-conscious tourist centre, trading on its association with Hesiod [...]. This certainly suits the Hellenistic town, where the ‘Hesiodic Muses’ were honoured and the Mouseia were an important festival. We can imagine such activity in the fourth century, at least after 350, but it is much less plausible in the fifth. [...]

291

grund des genealogischen Interesses etwa Eumelos von Korinth und Asios von Samos –, seien möglicherweise als Konsequenzen ihres Geschlechts (samt sozialen Implikationen) zu denken, das ihren Radius und ihre Bildungsmöglichkeiten reduziert und ihr Verharren in älteren poetischen Traditionen begünstigt haben könne (vgl. ebd., S. 58f.). Der so aufgespannte Kontext stellt selbstverständlich eine mögliche Erklärung dar und zeigt einmal mehr, dass Gewissheit in der Datierungsfrage von keinem der betrachteten Kriterien zu erwarten ist. Schwerer scheint jedoch auch hier erstens zu wiegen, dass Larsons Feststellung, es sei „not clear that Corinna’s intention was to speak to anyone other than Boeotians“ (ebd., S. 59) keine Gültigkeit besitzt, wie nicht zuletzt Collins’ Untersuchung ihres Umgangs mit Mythen zeigt (vgl. auch oben zur Sprache, Topographie und Form bzw. Katalogdichtung) – der begrenzte Horizont, etwa aufgrund sozialer Einschränkungen für die weibliche Dichterin, als Erklärung für eine vermeintliche Rückständigkeit bezüglich poetischer Entwicklungen also eher ausscheiden muss. Zweitens müsste, wie schon erwähnt, zusammen mit der Theorie der Nicht-Aufnahme in die kanonische Literatur eine „intrinsic implausibility“ akzeptiert werden „in the hypothesis that Corinna’s poetry survived underground for something over two centuries, finally to emerge and become a bestseller“ (West 1970, S. 286). Das Fragment lautet: Θέσπια καλλιγένεθλε φιλόξενε µωσοφίλειτε / „Du mit schöner Nachkommenschaft gesegnetes, gastfreundliches, von den Musen geliebtes Thespia.“ Für diese Auslegung des seltenen Adjektivs καλλιγένεθλος vgl. LSJ s. v. κ. II, Montanari s. v. κ.; zudem Page 1953, S. 38.

3

Korinna in der Forschung

523

And, incidentally, the form Θέσπια, with the second syllable shortened, is not metrically guaranteed before the mid fourth century (CEG 788).292

Wests vorsichtiger Abgleich des Fragments mit den verfügbaren Informationen zum Musenheiligutm bei Thespiai, der im Ergebnis einen terminus post quem um 350 v. Chr. mit Tendenz in spätere Zeit erbringt, deckt sich auch mit dem aktuellen Stand der Forschung.293 Als weiteres, sehr starkes Argument für eine eher hellenistische Schaffenszeit führt West an, dass PMG 655294 programmatische Merkmale aufweise, die den Eindruck erweckten, das Gedicht sei als Prolog zu einer Buchedition konzipiert:295 Das ‚Ich‘296 charakterisiert darin Art 292

293 294 295

296

West 1990, S. 556f., in Erwiderung auf Davies 1989, S. 193. Vgl. auch schon West 1970, S. 285. Vgl. oben Abschnitt A.II.3.1.2. S. dazu unten Abschnitt B.III.3.2.2. S. West 1970, S. 283f. und 1990, S. 553f.; vgl. ferner Skinner 1983, S. 10f. u. 16f.; Clayman 1993, S. 639-41, Rayor 1993, S. 223f.; Giosi 1997, S. 175; dagegen Davies 1988, S. 186f., vgl. Palumbo Stracca 1993, S. 404-7. Davies bestätigt den programmatischen Charakter des Fragments, wirft jedoch die Möglichkeit ein, dass ein Herausgeber es aus eben diesem Grund – seinem scheinbar programmatischen Gehalt – am Anfang der Edition platziert haben könnte. Auf Davies’ Einwände reagiert West in seinem (oben genannten) zweiten Artikel. Das Ich wäre in diesem Fall als das der (inszenierten) Dichterin ‚Korinna‘ zu verstehen und nicht als das konventionelle Ich des Chores oder der Chorführerin, wie es etwa Calame 2001, S. 255-8 für die entsprechenden Kontexte charakterisiert. Palumbo Stracca 1993, S. 404-9 stellt in verschiedenen Fragmenten Formulierungen heraus, die auf Aufführung der Lieder durch einen Chor in rituellem Kontext deuten (vgl. im Übrigen so auch schon West 1970, S. 280). Von einer (mindestens teilweise) chorlyrischen Korinna schließt sie auf einen archaisch-frühklassischen Kontext, in dem auch die Begegnung mit Pindar möglich gewesen sei (vgl. Palumbo Stracca 1993, S. 403f. u. 409-12). Hier besteht jedoch keineswegs ein notwendiger Zusammenhang, endet doch mit der archaischen oder klassischen Zeit nicht die Verehrung von Gottheiten im ausgeführten Kultlied; s. nur etwa West 1982, S. 138-49. Im Übrigen bedeutet Bezugnahme auf einen rituellen Kontext oder die Aufführungssituation im Lied nicht notwendig, dass diese tatsächlich gegeben sein müssen: vgl. unten Abschnitt B.III.3.2.2 mit Anm. 357. – In diesem Zusammenhang mag auch das Fragment PMG 657 (ἦ διανεκῶς εὕδεις; οὐ µὰν πάρος ἦσθα, Κόριννα / „Schläfst du etwa immerzu? Früher

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und Inhalt der Lieder und nennt dabei den Begriff, unter dem die Sammlung offenbar bekannt wurde,297 und eine Liste von Liedthemen298, die mit verschiedenen Fragmenten und Testimonien korrespondieren.299 Die nicht-strophische Komposition, im Gegensatz zur Komposition anderer Fragmente, sei zusätzlich ein möglicher Hinweis darauf, dass das Lied nicht zur Aufführung, sondern zum Lesen bestimmt war.300 Auch äußere

297

298

299 300

warst du bestimmt nicht , Korinna“) zur Erwähnung kommen, bei dem ebenfalls die Identität des Sprechers Konsequenzen für Interpretation und Datierungsfrage bergen könnte. Der hexametrische Vers wird von Heph. 2, 3 zitiert und dort im fünften Buch der Korinna-Ausgabe verortet. Aufgrund des Metrums und der Abwesenheit von Böotismen ist die Echtheit in Frage gestellt worden, was jedoch nicht zwingend ist (s. Burzacchini 1995, S. 375f.; auch West 1970, S. 279). Als metrisch problematisch wird zudem die Form διανεκῶς und ihre Interpretation durch Hephaistion angesehen (s. Page 1953, S. 29; Burzacchini 1995, S. 379-381). Auffällig ist die Anrede in der zweiten Person unter Nennung des Namens. Page 1953, S. 29 bemerkt: „No other early lyrical poet addresses himself or herself by name“. Der fehlende Kontext verbietet selbstverständlich entschiedene Schlüsse auf die Lebenszeit Korinnas. Page fügt ebd. selbst hinzu, dass eine Anrede etwa durch eine Gottheit denkbar sei. Burzacchini 1995, S. 377-9 zieht für einen möglichen Kontext homerische Traumszenen zum Vergleich heran und nennt Parallelen aus archaischer Epik und Lyrik für die direkte Anrede an den Dichter durch einen Gott. Es handelt sich um das Wort ϝεροῖα (vgl. PMG 655, V. 2: καλὰ ϝεροῖ’ ἀισοµ[έναν]; als Titel zitiert bei Ant. Lib. 25, vgl. PMG 656). Zu seiner problematischen Überlieferung und möglichen Bedeutung s. Clayman 1978; Snyder 1984, S. 126 u. 132 mit Anm. 9; Hansen 1989; Burzacchini 1991, S. 535; Ortolá Guixot 2005, S. 74f. mit Anm. 18. Clayman 1978 leitet ausgehend von εἴρω bzw. ἐρέω die Bedeutung „The Narratives“ (ebd., S. 397 her; Hansen 1989 legt für „something like Heroic Poems“ (ebd., S. 70; vgl. ähnlich Snyder 1984, S. 132) das sanskritische vīrayú zu Grunde. Beide Lösungen unterstützen eine eher pluralische Bedeutung, die über das vorliegende Lied in seiner Einzahl hinaus weisen kann – etwa auf eine Sammlung von Liedern. Vgl. West 1970, S. 283f. und 1990, S. 553, wo diese Erwägungen eine Rolle spielen. Vgl. PMG 655 ab V. 9. Auf Davies’ Einwand (1988, S. 187), es könne sich auch um eine Aufreihung nach dem Muster einer Priamel handeln, antwortet West 1990, S. 553f. S. dazu etwa Collins 2006, S. 23f. Vgl. West 1970, S. 284 und ausführlicher 1990, S. 554.

3

Korinna in der Forschung

525

Indizien weisen darauf hin, dass das Gedicht am Beginn der Sammlung gestanden hat.301 Das Verfassen von Prologen für eine Liedsammlung ist, wie West bemerkt, erst ab der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts bezeugt.302 Die Dreiecks-Konstellation in PMG 664a303 schließlich – Korinna304 tadelt Myrtis dafür, dass diese mit Pindar in Konkurrenz tritt – erklärt sich ebenfalls weitaus eher als dichterische Auseinandersetzung des Hellenismus, in welcher der Tadel einer ungefähren Zeitgenossin gilt, die einen großen Meister der Vergangenheit imitieren will.305 Ein solcher poetologischer Kern bietet auch einen möglichen Ansatzpunkt für die Tradition der Rivalität zwischen Korinna und Pindar: Möglicherweise war der Tadel der Myrtis von weiteren poetologischen Versen begleitet, in denen Korinnas eigenes Konzept, im Gegensatz zur Dichtung Pindars 301 302

303 304

305

S. West 1970, S. 283; anders Gentili und Lomiento 2001, S. 16-18. Vgl. West 1970, S. 284 und 1990, S. 553, wo die Ungültigkeit des von Allen [und Frel] 1972, S. 27 Anm. 2 eingeworfenen „so-called Seal of Theognis“ (so West 1990, S. 553) ausgeführt ist. S. dazu auch oben Abschnitt B.III.3.1.2.1 mit Exkurs und unten B.III.3.2.2. Es stellt sich wiederum die Frage nach der Identität des ‚Ich‘, wie schon bei PMG 655. So bemerkt etwa Lefkowitz 1981, S. 63: „The citation [sc. PMG 664a] give no indication of the context of these lines, but only in partheneia does the ‘I’ involve herself so directly in the judgement of other people“. Allerdings erscheint die Entscheidung zwischen konventionellem Chor-Ich und dem ‚Ich‘ der Dichterin in PMG 664a weniger ausschlaggebend, da die Nennung Pindars in jedem Fall auf eine allgemeinere Ebene verweist. So sind auch die bei Lefkowitz ebd. angeführten Beispiele nicht wirklich vergleichbar, da sie den Partheneia-Kontext nicht verlassen. Vgl. Guillon 1958, S. 53f. und 1959, S. 161-7, der als treffende Parallele Theoc. 7, 47f. ins Feld führt; ferner West 1970, S. 284 und 1990, S. 554 und Clayman 1993, S. 639-641. Der springende Punkt liegt, wie West 1990, S. 554 mit Guillon gegen Davies 1988, S. 187f. (vgl. ebenso abermals Collins 2006, S. 21) präzisiert, nicht im Kritisieren eines Dichterrivalen oder Vorgängers – dafür lassen sich in der Tat weitaus frühere Parallelen finden – sondern eben in der Dreieckskonstellation, die sich im oben beschriebenen Setting am plausibelsten ansiedeln lässt: „The presupposition that the most famous poets are in a class of their own, not to be competed with on their own terms, is typically Hellenistic and not fifth-century“ (West 1990, S. 554). – Für die unterschiedlichen Positionen zur relativen Datierung vgl. oben Abschnitt B.III.3.1.2.1.

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oder eher noch im Stile Pindars, zum Ausdruck kam; aus ihnen kann leicht auf eine Konkurrenz von Dichterin und Dichter geschlossen worden sein.306 Wenn sich auch im Einzelnen für die Indizien in den erhaltenen Fragmenten Korinnas, die auf eine hellenistische Entstehungszeit schließen lassen, jeweils in unterschiedlichem Maße künstliche Erklärungen konstruieren lassen, die dennoch die Positionierung in früherer Zeit möglich machen, so erforderte doch die Zurückweisung ihrer Gesamtheit einen ungleich größeren Aufwand.307 So soll dieser Interpretation die Annahme zugrunde liegen, dass Korinna eine hellenistische Dichterin des dritten Jahrhunderts gewesen ist. 3.2

Korinnas Dichtung

3.2.1 Moderne und antike Einschätzungen Neben der Datierungsfrage – und durchaus auch mit ihr verknüpft – steht die bereits angedeutete Kontroverse um die qualitative Bewertung von Korinnas Dichtung. Das Bild, das sich lange Zeit gehalten hat, ist das von der simpel gestrickten, provinzlerischen Poetin mit engem (nämlich böotischem) Horizont; es ist maßgeblich durch Page geprägt.308 Der Ruf der Provinzialität und des engen Horizonts gründet 306 307

308

S. unten Abschnitt B.III.3.2.2. Auf der anderen Seite hingegen gilt es nur zu akzeptieren, dass irgendwann in römischer Zeit die biographische Tradition um die Zeitgenossenschaft mit Pindar entstanden ist, die unterschiedliche Blüten trieb. Vgl. zudem Wests wiederholten Hinweis auf „the essential point that Corinna’s poetry, in all these respects [sc. Metrik, Stil, Inhalt], is wholly unlike what we know of choral lyric in Greece (including Boeotia) in Pindar’s time“ (1990, S. 555; vgl. 1970, S. 283). Vgl. Page 1953, passim zur Provinzialität, S. 75f. zum Stil. Berman 2010, S. 44 fasst Pages Urteil über Korinna treffend zusammen als „a minorleaguer, playing in a local park“. Page selbst entschärft sein eigenes Urteil zunächst mit dem Aufruf, auch Korinnas Stärken nicht zu vergessen ‒ „her talents for clarity, conciseness, and perfect control of such language as is requisite to express her simple meaning“ (Page 1953, S. 76) ‒ allerdings, um es mit folgender Erklärung wieder zu bekräftigen: „She seems faultless, be-

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sich dabei im Wesentlichen auf den verwendeten böotischen Dialekt, der Vorwurf des engen Horizonts speist sich aus Korinnas Themenwahl; der des schlichten Charakters von Dichterin wie Dichtung ist ein Ergebnis sowohl des lokalen Bezuges von Sprache und Inhalt als auch von diversen Betrachtungen der Struktur und des Stils ihrer Lieder. Der erste vehemente Einspruch gegen dieses Bild ist von gendertheoretischer Seite zu verzeichnen. Exemplarisch für diese Perspektive darf Diane Rayor stehen.309 Sie führt das allgemein negative Korinna-Bild auf verfehlte geschlechterrollentypische Erwartungen der modernen Rezipienten an die weibliche Dichterin zurück.310 Die Kritik richtet sich dabei vor allem gegen Marilyn Skinners negativ ausfallenden Vergleich mit Sappho – dem vermeintlichen Urbild weiblicher Dichtung.311 Aber

309

310

311

cause featureless“ (ebd.). Page kann als Stellvertreter für eine lange Reihe negativer Beurteilungen Korinnas stehen. S. Rayor 1993. Eine positive Bewertung findet sich auch schon bei Snyder 1984. Vgl. Rayor 1993, S. 219f. Dass in der Tat gewisse stereotype Vorstellungen vorhanden sind, bezeugt indirekt der häufige Vergleich mit Sappho (s. z. B. Kirkwood 1974, S. 192f.). Direkt fassbar ist ihre Existenz zudem etwa bei Wilamowitz, der, ausgehend von einer frühen Datierung Korinnas, eine Art Geschichte der ‚böotischen Frauendichtung‘ entwirft, wohlgemerkt mit großem Wohlwollen für ihre angenommene Schlichtheit des Geistes: S. Schubart und Wilamowitz 1907, S. 54f. Skinner 1983 ihrerseits richtet sich gegen die Tendenzen von „feminist literary historians“ (ebd., S. 9), Korinna als Vertreterin von griechischer „women’s poetry“ zu begreifen; wobei „women’s poetry“ hier nicht in dem negativen Sinne gemeint ist, in dem ihn Rayor 1993, S. 219 zitiert. Es handle sich um eine Auffassung, die sich im Wesentlichen auf das programmatische Fragment PMG 655, 1-11 gründe, in dem Korinna die jungen Mädchen von Tanagra als Publikum oder Aufführerinnen ihrer Lieder benennt. Im Zusammenspiel mit PMG 664a (dem Tadel der Myrtis) reihe sich Korinna durchaus selbst ein in die Tradition von „women’s poetry“ nach dem Modell der Sappho – ihre eigentlichen Dichtungen hielten aber diesem Anspruch nicht stand. Skinner überprüft ihn anhand der beiden längeren Fragmente in PMG 654 und befindet, dass Korinna ein Frauenbild vermittle, das ganz konform gehe mit den Konventionen der patriarchalen Gesellschaft: „We have observed the earlier poet [nämlich Sappho] setting up the public culture and its competitive values as a negative foil to her own private world of emotional intensity. Women’s poetry thus provides a corrective counterstate-

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Korinnas Dichtung trage den Charakter narrativer Lyrik und sei auch als solche zu bewerten;312 sie sei zudem gekennzeichnet durch eine innovative, alternative Behandlung mythischer Motive. Rayor erkennt diese Innovationen vor allem in der Perspektive, aus der Korinna Mythen erzähle: Sie sei als „women-identified“ zu bezeichnen.313 Obwohl sich die Frage, ob die Charakterisierung ‚keine „women’s poetry“‘ (Skinner) oder „women-identified poetry“ (Rayor) zutreffe, wohl schwer entscheiden ließe,314 ist doch Rayors Ansatz, angemessene Bezugsgrößen für Korinna zu finden und sie in diesem Zusammenhang neu zu beurteilen, wichtig: Zeigt er doch in jedem Fall, dass eine neue Perspektive auch ein neues, mehrschichtiges Korinna-Bild möglich macht.

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ment to the dominant literary tradition. Corinna, on the other hand, has fully internalized male values“ (Skinner 1983, S. 15). Skinner zeichnet Korinna als Frau, die auch in ihrer Dichtung innerhalb der gesellschaftlich auferlegten Grenzen bliebe – aber dieses limitierte Potenzial immerhin ganz ordentlich ausschöpfe: „Altogether, Corinna’s weroia are pretty poems – only we must not call them ‘women’s poetry’“. Ein gewisses erzählerisches Geschick wird Korinna auch gemeinhin zuerkannt – aber selten führt es am Ende zu einer positiven Gesamtbewertung ihres schlichten und recht schmucklosen Stils (s. beispielsweise Page 1953, S. 75f., Kirkwood 1974, S. 189). Und so wendet auch Rayor 1993, S. 220 ein: „Her narrative skills can be dismissed only by readers who expect something other than an effective story.“ Larmour 2005, S. 28 bemerkt zudem zum ‚Vorwurf‘ der Schmucklosigkeit: „But this is to misunderstand the way a deliberately spare narrative of this kind contrives its effects: because of the generally uncluttered mode of expression, any particularly descriptive or polyvalent word draws attention to itself.“ Als Gegenbeispiel, das zeige, dass Korinna durchaus auch andere Register ziehen könne, verweist Larmour auf PMG 674, wo die Stadt Thespia mit gleich drei zusammengesetzten Adjektiven versehen sei (zwei davon selten: vgl. Page 1953, S. 76 Anm. 3); s. oben Abschnitt B.III.3.1.2.4 mit Anm. 291. S. Rayor 1993, S. 221f. für eine Definition der Kategorien „non-feminist“, „feminist“ und „women-identified“. Vgl. Collins 2006, S. 20, der mit Recht bemerkt, eine Interpretation in beide Richtungen sei möglich und hänge davon ab, auf welche der wenigen zusammenhängenden Textpassagen man den Fokus lege: Das vorhandene Material sei also zu dürftig für eine solche Charakterisierung. Larmour 2005 hingegen folgt Rayors Einschätzung und erweitert sie auch.

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Und so haben, wie im vorangegangenen Abschnitt bereits zum Ausdruck kam, jüngere Untersuchungen der drei genannten Bereiche ‒ Sprache, Themenwahl, Stil ‒ zu anderen Ergebnissen geführt, die das Urteil von der lokalen, simplen Dichterin in Frage stellen. So sieht Berman in Korinnas Umgang mit der böotischen Landschaft und Topographie und in ihrer dialektal gefärbten, mit epischen Elementen versetzten Sprache eine elaborierte poetische Strategie, mittels derer böotische Traditionen in die panhellenischen eingebettet würden und vice versa.315 Collins erkennt in Korinnas Umgang mit Mythen eine produktive Auseinandersetzung mit panhellenischen Strömungen, der ein hoher Grad an Innovationskraft innewohne.316 Ein panhellenisches Zielpublikum vermutet Kousoulini hinter Korinnas Spiel mit unterschiedlichen Formen und Gattungen.317 Clayman schließlich verortet ihren schlichten, kraftvoll narrativen Stil im Kontext kallimacheisch-alexandrinischer Stilistik.318 Welche Früchte eine geänderte Grundperspektive auf die böotische Dichterin und ihre Werk tragen kann, zeigt nicht zuletzt Vergados’ Interpretation des Wettstreitliedes: Das Lied erscheint darin als mehrschichtiger, selbstbewusster Dialog mit der literarischen Tradition konzipiert.319 Vergados entdeckt – wenn auch gegen seine Auslegung im Einzelnen Einwände bestehen – hinter der einfachen Oberflächenstruktur von Korinnas Versen mehr Tiefe. Dies geschieht, weil er es wagt, damit zu rechnen. Wenn auch die Gefahr der ‚Überinterpretation‘ bei dem fragmentarischen Zustand der Texte niemals ganz gebannt werden kann, so ist ein solches komplexeres Bild nicht allein beschränkt auf die subjektive Auslegung des geneigten Korinna-Verehrers. Es deckt sich vielmehr auch mit dem antiken Urteil; denn sowohl in griechischen als auch in römischen Kreisen war Korinna offenbar hochgeschätzt.320 Dies bezeugt ihre Aufnahme in den lyrischen Kanon,321 ebenso wie direkte positive Er315 316 317 318 319

320 321

S. Berman 2010 und oben Abschnitt B.III.3.1.2.4. S. Collins 2006 und oben Abschnitt B.III.3.1.2.4. S. Kousoulini 2016 und oben Abschnitt B.III.3.1.2.4. S. Clayman 1993 und unten Abschnitt B.III.3.2.2. S. Vergados 2012 und unten Abschnitt B.III.3.3. Auch Schachter 2005, S. 277 u. 280 erkennt Zitate und Anspielungen auf frühere Dichter im Wettstreitlied und wertet sie als Zeichen für Korinnas ausführliche Bildung. Vgl. Vergados 2012, S. 103f. und 2017, S. 245; Snyder 1984, S. 133f. S. dazu Page 1953, S. 69f. mit Anm.

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wähnungen.322 Bei Properz etwa erscheint Korinna als Exemplum für die weibliche Dichterin.323 Auch Ovids ‚Corinna‘ der Amores zeugt von Wertschätzung.324 Statius listet Korinna unter den schwierigen Autoren, die sein verstorbener Vater auszulegen verstand.325 Darüber hinaus belegen die Tradition von der Konkurrenz mit Pindar und Korinnas siegreiche Rolle darin indirekt, dass man der Dichterin einen solchen Sieg offenbar zutrauen konnte. Die Anekdoten, in denen sie als Lehrerin Pindars bzw. als seine Kritikerin in Fragen der Dichtung auftritt, verleihen ihr die Aura einer poetria docta.326 322

323 324

325 326

Neben den im Folgenden genannten Stellen seien auch diese beiden besonders erwähnt: Themistios nennt im vierten Jahrhundert n. Chr. Korinna zusammen mit Pindar und Hesiod zum Beweis, dass das pauschalisierende Urteil gegen die Böotier, sie seien ungebildet (fassbar geworden in der sprichwörtlichen Bezeichnung ‚böotisches Schwein‘), nicht zutreffe (vgl. Them. Or. 334b-c; dazu Burzacchini 2002). – Naturgemäß enkomiastisch ist Antipaters Zusammenstellung von neun irdischen Musen in AP 9, 26. Innerhalb dieses Rahmens kommt Korinna, ebenso wie Sappho, noch einmal ein besonderer Rang zu: Beiden sind jeweils die zwei letzten Metren eines Hexameters und der ganze folgende Pentameter eingeräumt, während die übrigen sieben Dichterinnen insgesamt auf weniger als drei hexametrischen Versen untergebracht werden (vgl. Burzacchini 1997, S. 129). Korinna ist zudem als einzige direkt angesprochen (vgl. V. 5: καὶ σέ, Κόριννα); die übrigen stehen im einfachen Akkusativ (im Zuge von ἔθρεψε, V. 1). S. Exkurs I im Anschluss an diesen Abschnitt. Vgl. Vergados 2012, S. 103. Die Debatte um die Identität von Ovids Corinna fasst Heath 2013, S. 155-7 zusammen. Er plädiert für eine zweifache Deutung: Einerseits verweise die Benennung der Geliebten als Wortspiel mit der Bedeutung des Namens (‚Mädchen‘) auf die generische, quasi austauschbare Geliebte der Liebesdichtung (vgl. ebd., S. 156f. u. 167). Andererseits sei darin auch eine Anspielung auf die böotische Dichterin enthalten, die bekannt sei für ihren innovativen Umgang mit Mythen im Sinne Collins’ (2006). Ovid habe sie, das „model of mythical allusion“ (Heath 2013, S. 167), aus poetologischen Gründen zum treffenden Symbol seiner Dichtung gemacht (s. ebd., S. 163-7). Vgl. Stat. silv. 5, 3, 156-8; s. dazu unten Exkurs II. So fasst es Giosi 1997, S. 175-8, insbes. 178, unter besonderer Berücksichtigung von Plu. Mor. 347f-348a (De Ath. glor.) und Schol. Ar. Ach. 720 (= PMG 688) in Kombination mit Corinn. fr. 664a PMG. Ein allgemeines positives Bild, ohne den besonderen Charakter des poeta doctus, vermittelt ferner die metrische Pindar-Vita, vgl. die Verse 14-16 (S. 8f. Drachmann): τῷ

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Exkurs I. Properz Mit Korinnas Liedern werden in Prop. 2, 3, 19-22 die der besungenen Geliebten –‚Cynthia‘, wie man wohl annehmen darf, wenn auch in dieser Elegie der Name nicht genannt wird – verglichen: et quantum Aeolio cum temptat carmina plectro, par Aganippeae ludere docta lyrae; et sua cum antiquae committit scripta Corinnae, †carmina quae quivis non putat aequa suis†.

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[Inhalt V. 9-18: Nicht so sehr hat mich ihre Schönheit gefangen genommen, wie es mich gefangen nimmt, wenn sie tanzt] und wenn sie Lieder versucht mit äolischem Anschlag, | gewandt, spielerisch Lieder zu komponieren, die denen der aganippeischen Lyra gleichkommen, | und ihre eigenen Schriften mit denen der altertümlichen Korinna zum Vergleich stellt, | Lieder, †die nicht jedermann für den seinen ebenbürtig hält† [sc. sondern für besser?].327 Korinnas Dichtung dient offensichtlich als positive Bezugsgröße für Cynthias Können. Es geht eine Anspielung auf Sappho voraus328 und auf die Musen, die sich hinter der agganipeischen Lyra – bezeichnet nach der Quelle auf dem Helikon – verbergen (V. 20). Für Vers 21, insbesondere das Prädikat committit, ist grundsätzlich sowohl denkbar, dass Cynthia selbst den Korinna-Vergleich unternimmt, als auch, dass sie ihn durch ihren Vortrag beim bewundernden Hörer provoziert. Vielleicht ist der zweiten Version der Vorzug zu geben, da auch in den vorausgehenden Versen 9-20 die Vergleiche beschreibenden Charakter haben. Andererseits dürfte die Aussage selbst kaum variieren, da auch das ‚Referieren‘ von Cynthias (subjektiver) ‚Selbsteinschätzung‘ deren Inhalt wohl

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δὲ λιγυφθόγγων ἐπέων µελέων θ’ ὑποθήµων | ἔπλετο δῖα Κόριννα· θεµείλια δ’ ὤπασε µύθων | τὸ πρῶτον· / „Ihm [sc. Pindar] war Ratgeberin helltönender Lieder und Weisen | die treffliche Korinna: sie gab ihm zuerst den Grundstein der Geschichten.“ – Larmour 2005 untersucht ausführlich, inwiefern sich Korinnas Dichtung unterscheidet und möglicherweise auch bewusst abgrenzt von „the epinikian mode of Pindar’s poetry“ (ebd., S. 40). Für die der Übersetzung zugrunde gelegte Auslegung von Vers 20 s. Fedeli 2005, S. 135 ad loc. Vgl. Prop. 2, 3, 19: Aeolio plectro; s. Burzacchini 1992, S. 48; Fedeli 2005, S. 135 ad loc.

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eher bestätigen als einschränken dürfte. Die genaue Auslegung hängt auch mit dem folgenden Pentameter zusammen und der Frage, ob er inhaltlich mit dem Korinna-Vergleich in Verbindung steht oder einen neuen Punkt darstellt. Daran angebunden ist etwa die Frage nach dem Subjekt zum Prädikat putat. Die hier präsentierte Version entspricht zwar dem consensus codicum, ist aber problematisch.329 Unabhängig von der präzisen Fassung von Vers 22 kann man aber voraussetzen, dass auch Properz Korinnas Dichtung einen hohen Stellenwert beimisst. Denn ein Lob (oder Eigenlob) funktioniert in jedem Fall nur, wenn auch die Qualität des Verglichenen als hoch angesehen wird – egal, wer den Vergleich vorbringt und ob die jeweiligen Lieder als gleich gut oder unterschiedlich gut eingestuft werden. Exkurs II. Statius In Silvae 5, 3, 156-8 wendet sich Statius an seinen Vater: tu pandere doctus carmina Battiadae latebrasque Lycophronis atri Sophronaque implicitum tenuisque arcana Corinnae. Du besaßest die Bildung, | die Lieder des Battus-Sohnes, die Schlupfwinkel des dunklen Lykophron, | den verschlungenen Sophron und die Geheimnisse der feinen Korinna zu eröffnen. Die Verse beschreiben die letzte von vier Kategorien der Literaturkunde, in denen der Verstorbene gewandt gewesen war und die er seinen Schülern zu vermitteln vermocht hatte: Auf „knowledge of a works’ plot“, „the study of how an author achieves his effects“ und „metre“ folgt schließlich mit den hier zitierten Versen „exegesis“. 330 Unklarheit herrscht darüber, worin die „arcana“ Korinnas bestehen. So ist schlicht die schwere Verständlichkeit ihres Dialektes erwogen worden, wie auch womöglich für den aus Syrakus stammenden „verschlungenen Sophron“.331 Allerdings deutet „implicitum“ (V. 158) eher auf Komplexität 329

330 331

Die Cruces setzt Fedeli 2005. S. zu diesem Vers, auch für die unterschiedlichen Lösungsvorschläge, Burzacchini 1992, S. 48-53; Fedeli 2005, S. 137-9 ad loc. Vgl. Gibson 2006, S. 321 zu Stat. silv. 5, 3, 148-58, die Zitate ebd. Vgl. Gibson 2006, S. 327 ad loc.; vgl. auch Snyder 1984, S. 134; Burzacchini 1992, S. 56; Clayman 1993, S. 640; Collins 2006, S. 22; Heath 2013, S. 161.

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in der Gestaltung hin als auf oberflächlich-sprachliche Hindernisse: „the image is of an object folded about itself“332. Auch die anderen beiden Mitglieder der Gesellschaft deuten in diese Richtung: Der „Battossohn“ Kallimachos, der den Anfang der Liste bildet, ist natürlich Meister und Paradebeispiel für die – inhaltliche und stilistische – subtile Komplexität des „learned style“333; er galt auch den Römern als solcher. Die Charakterisierung von Lykophrons Dichtung muss mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als „reference to the obscurity of the poet’s style“ verstanden werden.334 Es liegt also die Folgerung nahe, dass auch in Korinnas Fall nicht allein ihr Dialekt sie für die Aufnahme in die Liste schwieriger Autoren qualifiziert. Da ihr Stil, soweit fassbar, an der Oberfläche eher von großer Reinheit und Schlichtheit zeugt,335 muss eine inhaltliche Mehrschichtigkeit erwogen werden: „arcana [...] implies the presence of hidden meanings in her verses“336. So deutet Clayman arcana als Anspielung auf „Corinna’s allegories“,337 Heath338 als Anspielung auf ihre innovative Behandlung von Mythen im Sinne Collins’. In jedem Fall wurde die Dichtung Korinnas als wert empfunden, im ersten Jahrhundert in römischen Kreisen unterrichtet zu werden – zumindest in der Schule von Statius’ Vater. Ihre Deutung, so der mindeste Schluss aus Silvae 156-8, erforderte einen gewissen Grad an Bildung.339

3.2.2 Korinna – eine λιγουροκώτιλος βανά Die Annahme einer hellenistischen Dichterin mehrschichtiger Lieder soll somit Grundlage für diese Untersuchung sein. Den Charakter ihrer Dichtung und ihr poetisches Selbstverständnis erhellt ein Blick in das hier mit West als programmatisch gefasste340 Fragment PMG 655:341 332

333 334 335 336 337 338

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Gibson 2006, S. 327 ad loc.; s. ebd. auch für Beispiele, bei denen das Adjektiv zur Charakterisierung von Texten verwendet wird. Ebd., S. 326. Vgl. ebd., S. 326f.; das Zitat auf S. 326. Vgl. so auch Heath 2013, S. 160. Vergados 2012, S. 104. S. Clayman 1993, S. 640; das Zitat ebd. S. Heath 2013, S. 161-3 mit Bezug auf Collins; vgl. zu letzterem auch oben Abschnitt B.III.3.1.2.4. Vgl. darüber hinaus auch Larmour 2005, S. 36f. Zu der Charakterisierung tenuis (silv. 156-8) s. unten Anm. 379. Vgl. oben Abschnitt B.III.3.1.2.4 mit Anm. 295. Abweichungen von PMG im griechischen Text werden im Folgenden ange-

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⊗342 ἐπί µε Τερψιχόρα [καλῖ343 καλὰ ϝεροῖ’ ἀισοµ⸤έναν Ταναγρίδεσσι λε⸤υκοπέπλυς µέγα δ’ ἐµῆς γέγ⸤αθε πόλις λιγουροκω⸤τί⸥λυ⸤ς ἐνοπῆς.344 ὅττι γὰρ µεγαλ.[ ψευδ[.]σ̣. [.]αδομ̣ε[ . [.] . . ω γῆαν εὐρού[χορον λόγια δ’ ἐπ πατέρω[ν κοσµείσασα ϝιδιο[ παρθ[έ]νυσι κατά[ρχοµη·345 πο]λλὰ µὲν Κα̣φ̣[ισὸν ἱώνγ’ ἀρχ]αγὸν κόσµ[εισα λόγυ]ς, πολλὰ δ’ Ὠρί[ωνα] µέγαν κὴ πεντεί⸤κοντ’⸥346 οὑψιβίας πῆδα[ς οὓς νού]µφησι µιγ[ί]ς τέκετο, κὴ ]Λιβούαν κ[αλάν347 .] . [. .] θ̣ησ[ ϝιρίω κόραν.[ καλὰ̣ ϝιδεῖν αρ[ γ]ῆαν ἃ̣ν τίκτ[348 . ].τέκετο τυ[ ] . [. .] . . [

5

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Terpsichore [ruft] mich auf, | schöne Sagen349 zu singen | für die Tanagräerinnen in den weißen Gewändern | und große Freude hat die Stadt an meiner | (5) klarzwitschernden Stimme. | Denn alles, was [...] groß [...] |

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346 347 348

349

geben. Dass es sich um den Anfang eines Liedes handelt, legen die vorangehenden Reste von Prosa nahe, vgl. West 1970, S. 283. V. 1 καλῖ ergänzt West 1970, S. 282. Die Verse 2-5 sind in PMG ergänzt nach dem Zitat bei Heph. 16, 3. V. 11 κατά[ρχοµη] ergänzt Lobel in der editio princeps; vgl. den kritischen Apparat in PMG. V. 15 πεντεί⸤κοντ’⸥ ist in PMG ergänzt nach dem Zitat bei Heph. 16, 3. V. 17 ergänzt Campbell 1992, S. 36f. nach West. V. 21 ergänzt Campbell 1992, S. 36; vgl. auch den kritischen Apparat in PMG und Burzacchini 1991, S. 64. Zu den möglichen Bedeutungen von ϝεροῖα (V. 2) s. oben Anm. 297.

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Lügen [...] | die weit[räumige] Erde; | und die Orakel im Land350 unserer Väter, | (10) die ich geschmückt habe [...]351, | [beginne] ich für die jungen Frauen. | Oft [habe ich] Keph[isos, | den Stammvater], [mit Worten] geschmückt, | oft auch den großen Orion | (15) und seine fünfzig hochmachtvollen | Söhne, [die er zeugte,] indem er sich mit Nymphen | mischte, [auch] die [schöne] Libya | [...] | ich werde künden[?]352 von dem Mädchen [...] | (20) [Dinge,] schön anzusehen[...] | die [Erde], welche353 [...] gebar | [...] zeugte [...]

Korinna kennzeichnet ihre Lieder als Partheneia, sofern die gröbste – und wohl treffendste – Definition Anwendung findet: „a poem written for a chorus of young girls in honor of other young girls“354. Darauf 350

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ἐπ πατέρω[ν ist im Verständnis problematisch. Der Papyrus gibt im griechischen Text εν mit π über dem ν (vgl. den Apparat in PMG). Dies ermöglicht zwei Auslegungen (vgl. zum Folgenden Burzacchini 1991, S. 61): Entweder handelt es sich um eine Wiederherstellung der eigentlich erforderlichen Assimilation (ἐπ für ἐν vor πα-) oder um eine Korrektur des Schreibers von ἐν zur Apokope ἐπ für ἐπί vor π- (durchaus für das Böotische belegt, s. ebd. Anm. 70). Die erste Version impliziert eine lokale, die zweite eine temporale Bedeutung des Ausdrucks; beide fügen sich nicht ganz glatt in den Kontext. West 1970, S. 282 und Campbell 1992, S. 36 setzen Cruces, Lobel emendiert in der editio princeps ἐς (= ἐκ), sodass er in etwa den Sinn „aus der Zeit unserer Väter“ erhält. In dieser Übersetzung wird der Version Treue geleistet, die die höchste Übereinstimmung mit dem Befund aufweist (ἐπ = ἐν). Denn alle drei Versionen – und auch die gewählte – kreisen im Grunde unterschiedlich präzise um die Bedeutung „die Orakel unserer Väter“. Nicht zu vergessen ist auch, dass auf πατέρων noch zwei Silben folgten (vgl. das metrische Schema bei West 1970, S. 280f.), die der Schreiber vor Augen hatte. ϝιδιο[ (bzw. ϝ·ιδιο[, wie im Papyrus gegeben) in V. 10 ist in dieser Form nicht zu verstehen, vollständig überzeugende Lösungen sind noch nicht gefunden. S. dazu Burzacchini 1991, S. 61f. und sein treffendes Fazit: „Allo stato dei fatti, conviene forse rassegnarsi al non liquet“ (ebd., S. 62). Die Bedeutung von ϝιρίω (bzw. ϝιρίων, wie die Form im Papyrus lautet) ist unklar; vgl. Burzacchini 1991, S. 63 zur Stelle. Page zieht „εἰρέω = dicam“ in Erwägung (vgl. den kritischen Apparat zu PMG 655). Die Erde ist Objekt, nicht Subjekt dieses Satzes. Calame 2001, S. 88. Zur problematischen Definition der ‚Gattung‘ s. ebd. u. 1977, S. 147-176. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass Korinnas Dichtungen ausschließlich aus Partheneia bestanden: Die Suda (s. v. Κορίννα = κ 2087 Adler) verzeichnet beispielsweise auch Epigramme.

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weist neben der Wahl der angerufenen Muse, Terpsichore, die Erwähnung der weiß gewandeten Tanagräerinnen in V. 3 und der jungen Frauen in V. 11.355 Auf den öffentlichen Raum deutet zudem die sich an den Liedern erfreuende Stadt in V. 4.356 Eine solche Verankerung muss nicht zwangsläufig die tatsächliche Aufführung in rituellem Kontext bedeuten: Beispiele für vergleichbare ‚literarische‘ Formen aus hellenistischer Zeit lassen sich – bei aller nötigen Vorsicht – finden.357 Ab Vers 9 legt Korinna die inhaltliche Ausrichtung auf böotische Mythen offen. Dies äußert sich allgemein im Ausdruck ἐπ πατέρω[ν und wird konkret sichtbar in den ab V. 12 aufgezählten behandelten Themen: böotische Helden und Gottheiten wie Kephisos, Orion und ihre Nachkommen. Collins lenkt die Aufmerksamkeit auf die ungewöhnliche Formulierung λόγια [...] κοσµείσασα (V. 9f.): Während κοσµέω in der Lyrik ein üblicher Begriff für die dichterische Auseinandersetzung mit einem Objekt sei,358 meine der Begriff λόγιον in der Regel einen Orakelspruch; die Kombination sei einzigartig.359 Korinna stilisiere sich also, vergleichbar mit Pindar in fr. 150 Maehler360, als Seherin, deren Eingabequelle aber – anders als seine – aus böotischen Traditionen bestehe.361 355 356

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361

S. West 1970, S. 280; Burzacchini 1991, S. 51f.; Henderson 1995, S. 31. Burzacchini 1991, S. 56 erwägt, dass auch das seltene Kompositum λευκόπεπλος möglicherweise auf Kleidung verweist, die einem bestimmten rituellen oder festlichen Kontext angehört. Die sich erfreuende Stadt lässt im Übrigen auch ein ausschließlich weibliches Publikum, wie es mancherorts angenommen wurde (s. etwa Palumbo Stracca 1993, S. 406; Rayor 1993, S. 223f.; 229), sehr unwahrscheinlich erscheinen: Vgl. Burzacchini 1991, S. 52; Henderson 1995, S. 31. S. etwa Stephens 2015, S. 11f. zu den Hymnen des Kallimachos und Philitas’ Demeter. Als notwendig sehen die Aufführung der Lieder hingegen Burzacchini 1991, S. 52 und Palumbo Stracca 1993 an. Rayor 1993, S. 222f. weist darauf hin, dass in κοσµεῖν zugleich das reziproke Verhältnis von Dichter und Objekt der Dichtung im Erlangen von κλέος ausgedrückt sei. Vgl. Collins 2006, S. 22f.; ferner Burzacchini 1991, S. 60f. µαντεύεο, Μοῖσα, προφατεύσω δ’ ἐγώ. / „Weissage du, Muse, und ich werde deinen Spruch ausdeuten.“ Vgl. auch Pi. Pae. 6, 5f. (fr. 52f Snell-Maehler) und möglicherweise Parth. 1, 5f. (fr. 94a Snell-Maehler). Vgl. Collins 2006, S. 23: „From all this it appears that Corinna, like Pindar, is constructing herself as a poet whose task is to elaborate prophetic statements made about her world in the time of her ancestors. Where Corinna dif-

3

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Das Bild beinhaltet sowohl die Vorstellung des Berufenseins als auch die der Elaboration von gegebenem Material.362 Der starke thematische Fokus auf den (Helden-)Mythos und der narrative Charakter der Lieder ist möglicherweise im Begriff ϝεροῖα (V. 2) enthalten.363 Er offenbart sich nicht nur in PMG 655, in den beiden längeren zusammenhängenden Fragmenten in PMG 654 – dem Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon, dem Schicksal der Asopiden – oder den zahlreichen weiteren Fragmenten und Testimonien, die Korinnas Auseinandersetzung mit Mythen bezeugen,364 sondern auch in Plutarchs

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fers rather strikingly from Pindar is that she chooses to elaborate past oracles from her Boeotian ancestors [...], whereas Pindar takes the Panhellenic path of establishing the Muse, as a geographically free entity, for his oracle. [...] Corinna makes her oracular inspiration more exclusively local [...].“ Collins 2006 scheint sich nicht vollständig von einer ‚gegenständlichen‘ Auffassung von λόγια lösen zu wollen; so nimmt er wie zur Sicherheit Bezug auf Fragmente Korinnas, die tatsächlich mythische Weissagungen und Seher zum Inhalt haben (vgl. ebd., S. 23 u. 25). Es hindert aber durchaus nichts daran, die Formulierung im Ganzen als Metapher zu begreifen, die Korinna dazu berufen zeigt, böotischen Mythen für die ‚Welt‘ eine Form zu geben. Ebenso metaphorisch ist ja Pindars Äußerung aufzufassen. Vgl. oben Anm. 297 zu möglichen Bedeutungen. In der Suda heißt es, Korinna habe βιβλία ε’, καὶ ἐπιγράµµατα καὶ νόµους λυρικούς (Suid. s. v. Κορίννα = κ 2087 Adler) verfasst. West 1970, S. 282 Anm. 3 bemerkt: „‘Lyric nomes’ (Suda) means no more than lyric narrative poems.“ Burzacchini 1991, S. 50f. und 55 sieht sich geneigt, die Epigramme und Nomoi nicht als Explikation des Inhalts der zuvor genannten fünf Bücher zu begreifen, sondern möglicherweise als gleichwertige Elemente einer dreiteiligen Reihung: „fünf Bücher und Epigramme und lyrische Nomoi“. Der Grund dafür ist, dass er die (tatsächliche oder virtuelle) Aufführung durch einen Mädchenchor, wie sie in PMG 655 und anderen Fragmenten evoziert wird, nicht mit der Gattung der Nomoi vereinbar sieht (und selbstverständlich auch nicht mit den Epigrammen); vgl. ebd., S. 51. Sie ist es aber durchaus: S. Calame 2001, S. 80-2. Neben den Fragmenten, die Hinweise auf Korinnas Auseinandersetzung mit ganz konkreten Mythen enthalten, sei auch PMG 664b hervorgehoben: ἱώνει δ’ εἱρώων ἀρετὰς | χεἰρωάδων – „Ich aber [will] die edlen Taten von Heroen | und Heroinnen [besingen]“. West 1970, S. 282 bemerkt zur Art von Korinnas Dichtung: „Corinna’s songs were narrative, dealing with local Boeotian legends. This was sufficiently clear from the fragments before her own description appeared, 655 fr. 1.9 ff.“ Vgl. auch Page 1953, S. 45.

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B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

Anekdote365. Darin tadelt Korinna den jungen Pindar ja gerade dafür als ἄµουσο[ς], dass er seinen Schwerpunkt eben nicht auf das wesentliche Anliegen der Dichtung, den Mythos, setze, sondern auf die bloße Würze oder Garnitur (ἡδύσµατα), bestehend aus der sprachlichen und formalen Gestaltung. Korinnas lachende Antwort auf seine Präsentation der vier Verse, die Anspielungen auf gleich sechs mythologische Figuren enthalten, ist ebenfalls aufschlussreich. Denn sie lautet, man solle mit der Hand säen, nicht mit dem ganzen Sack.366 Das mutet an ein Plädoyer für die zusammenhängende Behandlung nur eines Gegenstandes an, dem der narrative Ansatz entspricht.367 Unter der Prämisse einer programmatischen Ausrichtung des Textes und, daraus resultierend, eines ‚Ichs‘ der Dichterin Korinna, beschreibt λιγουροκω⸤τί⸥λυ⸤ς ἐνοπῆς (PMG 655, 5) nicht den Gesang eines weibli365

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367

S. Plu. Mor. 347f-348a (De Ath. glor.). Vgl. oben den Exkurs nach Abschnitt B.III.3.1.2.1. Vgl. Plu. Mor. 348a (De Ath. glor.): δειξαµένου δὲ τῇ Κορίννῃ γελάσασα ἐκείνη τῇ χειρὶ δεῖν ἔφη σπείρειν ἀλλὰ µὴ ὅλῳ τῷ θυλάκῳ. / „Als er [sc. Pindar] es [sc. das Lied, fr. 29 Snell-Maehler] Korinna zeigte, lachte sie und sagte, man müsse mit der Hand säen, nicht aber mit dem ganzen Beutel.“ Plutarch fügt bestätigend hinzu, Pindar habe ja in der Tat eine ganze πανσπερµί[α] [...] µύθων in sein Lied hineingeschüttet. Wenn auch dem Priamelcharakter der zitierten Verse nicht die gebührende Behandlung zukommt (s. dazu auch Lefkowitz 22012, S. 67), beschreibt die Anekdote doch, ob in einer tatsächlichen Äußerung Korinnas über ihre eigene Dichtung oder die Pindars begründet oder nicht, treffend einen Unterschied zwischen den beiden böotischen Dichtern. Denn trotz auch längerer zusammenhängender mythischer Passagen würde man Pindars Lieder kaum als narrative Lyrik bezeichnen in der Art, wie sie etwa die Fragmente PMG 654 erkennen lassen. Vgl. Larmour 2005, S. 47: „In contrast to Pindar’s complicated and allusive epinikian mode, her poems were straightforward narratives, her expression spare but effective, and her tone teasingly ironic or subtly humorous, all at the expense of Pindaric complexity, density, and seriousness.“ – Clayman 1993, S. 638 hingegen vermutet eine absichtliche, scherzhafte Fehldeutung der Priamelform unter Vernachlässigung der zusammenhängenden mythischen Passagen bei Pindar. Dass diese vorhanden sind, wertet sie also als grundsätzliche Gemeinsamkeit der beiden Dichter. Vgl. ähnlich Collins 2006, S. 26, der darauf hinweist, dass die Anekdote in Pindars jungen Jahren angesiedelt ist, „so perhaps he learned his lesson“ (ebd.).

3

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chen Chores, sondern ihre eigene Dichtung.368 Das Hapaxlegomenon λιγουροκώτιλος enthält in der ersten Komponente die Assoziation der feinen Klarheit eines Tones. 369 Die zweite Komponente beinhaltet „some verbal force“ 370 und beschreibt die zwitschernden Laute der Schwalbe, die begleitet sind von „un’ idea di piacevole loquacità“371. Gewiss beinhaltet diese Selbstbeschreibung auch eine Spur Humor,372 und sie wird mit Selbstbewusstsein vorgebracht: Das Perfekt γέγαθε (V. 4) macht die Formulierung zu einer Aussage über Korinnas „established standing“373. Segal hebt in der zweiten Komponente vor allem die Konnotation des ‚süßen Beredens‘ hervor.374 Das Kompositum repräsen-

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S. oben Abschnitt B.III.3.1.2.4 Anm. 196; vgl. auch Henderson 1995, S. 31f. Auf der Bildebene liegt beides im Grunde nah beieinander. Diese positive Eigenschaft gilt, wie bei dem Adjektiv λιγύς, insbesondere im Zusammenhang mit Gesang und Dichtung, vgl. LSJ s. v. λιγυρός. Burzacchini 1991, S. 57 Anm. 61 verweist auf die aufschlussreiche Beschreibung und Definition des Wortes in Bezug auf Stimmen bei [Arist.] Aud. 804a. West 1970, S. 285: „The second element, though formally the simple adjective κωτίλος, is no doubt felt to have some verbal force, so that the compound represents λιγυρὰ κωτίλλων rather than a blatant portmanteau of λιγυρὸς καὶ κωτίλος.“ Burzacchini 1991, S. 57. Burzacchini fasst die Bezeichnung der Schwalbenlaute als vordergründige Bedeutung, die im LSJ s. v. κωτίλλω hervorgehobenen Bedeutungen im Umfeld von ‚schwatzen, plappern, schnattern‘ als sekundär. In jedem Fall sind die Assoziationen des Verbs (und auch des Adjektivs κωτίλος, η, ον) mit Schwalbenlauten eng (s. ebd. für Belege, auch ebd., S. 59 Anm. 66); in Böotien diente zudem das Wort κωτιλάς als Bezeichnung für die Schwalbe (vgl. ebd., S. 57; LSJ s. v. κωτιλάς; West 1970, S. 285). Eine solche ist wohl auch zu sehen in Alkmans Äußerung, er habe sein Lied nach dem – nicht besonders melodiösen – Ruf der Rebhühner verfasst und komponiert (vgl. Alcm. fr. 39 PMGF). West 1970, S. 553. Vgl. Segal 1975/1998, S. 5: „[T]he verb clearly implies a quality of teasing, intelligence, trickery, and one wonders whether Corinna has that aspect of her verse in mind as well.“ Der LSJ gibt s. v. κωτίλλω „prattle, chatter, usu. with collat. notion of coaxing, wheedling“. Vgl. auch ebd. unter II: „cajole, beguile with fair words“.

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B.III

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tiere so eine Spannung „between surface simplicity and complexities not immediately evident“375. Zum Prolog gehört dann mit einiger Wahrscheinlichkeit auch das Fragment PMG 664a:376 µέµφοµη δὲ κὴ λιγουρὰν Μουρτίδ’ ἱώνγ’ ὅτι βανὰ φοῦσ’ ἔβα Πινδάροι πὸτ ἔριν. Ich jedenfalls tadle auch die klartönende | Myrtis, dass sie, obwohl sie eine Fru ist, | mit Pindar in Wettstreit trat.

Wie bereits gesehen, erscheint die plausibelste Auslegung, dass Korinna darin ihre Zeitgenossin Myrtis für die Nachahmung von Pindar tadelte.377 Ist die Zuordnung richtig, so würde der Prolog um einen poetologischen Teil erweitert. Clayman interpretiert die Verse im Sinne alexandrinisch-kallimacheischer Stilideale: 378 Das Adjektiv λιγουρά kennzeichne Myrtis als Vertreterin des ‚slight style‘, als welche Korinna auch sich selbst begreife, sichtbar in der Bezeichnung λιγουροκώτιλος (PMG 655, 5).379 Ihr Tadel richte sich darauf, dass Myrtis, obwohl eigentlich

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Segal 1975/1998, S. 6. Larmour 2005 verweist auf „incongruity“ und „irony“ als subtile Momente von Korinnas Dichtung (in Gegenüberstellung mit Pindars epinikischer Dichtung); s. insbes. S. 26; 47; 52; auch passim. S. so West 1970, S. 282 und 1990, S. 554; Skinner 1983, S. 11. Der zweite Vers ist metrisch problematisch, vgl. Page 1953, S. 31; Clayman 1993, S. 635; Ortolá Guixot 2005, S. 84 mit Anm. 46. Eine mögliche Lösung präsentiert West 1970, S. 282 mit Anm. 5. Vgl. oben Abschnitte B.III.3.1.2.1 und 3.1.2.4 mit Anm. 305. S. Clayman 1993, S. 639-41. Vgl. ebd., S. 640. Als Entsprechung wertet Clayman ebd. die Beschreibung des Statius (silv. 5, 3, 158; vgl. oben Exkurs II nach Abschnitt B.III.3.2.1): „Statius echoes her self-assessment when he speaks of revealing the tenuisque arcana Corinnae (Silv. 5.158). Tenuis is the Latin equivalent of λεπτός, the stylistic quality of slenderness, another characteristic of the slight style“ (ebd.). Vgl. auch Snyder 1984, S. 133f. und Burzacchini 1992, S. 57 zur Bedeutung des Wortes im Kontext des Stils. Auch Vergados 2012, S. 104 stellt die Verbindung zum hellenistischen Stilideal her: „[T]he term tenuis“ sei „a catchword hinting at Hellenistic leptotês.“

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Korinna in der Forschung

541

λιγουρά, Pindars ‚grand style‘ nachahme.380 Korinnas Begründung für die Unangemessenheit von Myrtis’ Unterfangen lautet βανὰ φοῦ|σ’. Der Ausdruck βανά, „a pointedly Boeotian word“381, verweise zugleich auf den böotischen Fokus und auf eine genderspezifische Stilistik.382 Das Fragment lese sich so geradezu als poetologisches Manifest.383 Die Annahme einer solchen Dichterin – hellenistisch, selbstbewusst, der leptotes verpflichtet, die böotische Ausrichtung als subtiles Instrument nutzend – soll hier die Interpretation eines ihrer Lieder leiten.384 Exkurs. PMG 664a: mögliche Einbettungen Das κή in PMG 664a, V. 2 und das betonte ἱώνγ’ in V. 3 lassen für das kurze Fragment mehr zugehörigen Kontext erwarten, und zwar einen, in dem ein Gegensatz ausgedrückt wird.385 380

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Vgl. Clayman 1993, S. 641. Guillon 1959, S. 164 fasst λιγουρά anders: Das Epitheton, „traditionelle des héros de l’épopée“ (ebd.) rufe gerade „le ton solennel de l’émule de Pindare“ (ebd.) wach. Dies erscheint jedoch in Zusammenhang mit Korinnas Selbstbeschreibung als λιγουροκώτιλος nicht plausibel, zumal auch λιγυρός in Hinsicht auf Gesang und Dichtung eher positiv besetzt ist (vgl. LSJ und Montanari s. v. λιγυρός; vgl. auch oben). Dass nicht Gestaltung oder Stil, sondern die Themen der Dichtung gemeint seien, scheint ebenfalls unwahrscheinlich vor dem Hintergrund von Korinnas eigener Dichtung (vgl. auch Henderson 1995, S. 38 Anm. 30): Nicht nur beschreibt PMG 664b (ἱώνει δ’ εἱρώων ἀρετὰς | χεἰρωάδων: „Ich aber [will] die edlen Taten von Heroen | und Heroinnen [besingen]“) die Inhalte ihrer Lieder als „heroic myth“ (ebd., S. 29), sondern dies bestätigt sich, wie oben in Abschnitt B.III.3.1.2.4 gesehen, auch in den erhaltenen Fragmenten. Clayman 1993, S. 641; vgl. den Exkurs in Anschluss an diesen Abschnitt. Um den starken dialektalen Charakter sichtbar zu machen, wird βανά in der hier präsentierten Übersetzung mit „Fru“ wiedergegeben. Vgl. Clayman 1993, S. 641. Zur Frage der genderspezifischen Stilistik s. auch den Exkurs in Anschluss an diesen Abschnitt. Vgl. Clayman 1993, S. 641: „In this one key passage, then, Corinna links the three major elements of her critical position: (1) an extremist interpretation of the slight style, marked by an almost total lack of ornament; (2) a nationalistic perspective that determines both subject matter and dialect; and (3) an emergent awareness of the relationship between gender and art.“ Ausgespart sei in diesem Bild das schwer fassbare Bewusstsein für eine genderspezifische Stilistik: S. dazu den folgenden Exkurs. Vgl. auch Henderson 1995; S. 32.

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B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

Guillon386 nimmt das Fragment für sich als Ausgangspunkt für die Annahme unterschiedlicher Strömungen der Dichtung im hellenistischen Böotien. Diese stellt er sich als konkret ausgeformte ‚Schulen‘ vor, zwischen denen dichterische Auseinandersetzungen entbrannten. In deren Rahmen könne Korinna Kritik an Nacheiferern Pindars geäußert haben, woraus dann die Tradition der Rivalität mit Pindar selbst entstanden sei. Eine solche Vorstellung von ‚institutionalisierten‘ Strömungen der Dichtung bleibt Spekulation. Viel spricht indes dafür, das Fragment selbst in einem Lied zu verorten, in dem ein dichterisches Konzept zum Ausdruck gebracht wird, das sich von pindarischen Prinzipien der Dichtung abgrenzt. Ist die Zuordnung zum angenommenen Prolog PMG 655 richtig, so würde dessen ‚Programm‘ also um einen poetologischen Teil erweitert. Es bestehen weitere Möglichkeiten. So ist Lefkowitz’ Vorschlag nicht in erster Linie poetologisch: „[…] Corinna may have simply been criticizing Myrtis for writing for the same kinds of occasions that Pindar did.“387 Man hat außerdem in Erwägung gezogen, es stehe Myrtis Korinnas Meinung nach grundsätzlich als Frau nicht zu, mit Pindar in Wettstreit zu treten.388 Dies bildete jedoch ein Paradox zur Tradition von Korinnas eigener Eris mit Pindar,389 ausgerechnet erzeugt durch das Gedicht, das offensichtlich eine so zentrale Quelle für die Entstehung der biographischen Anekdoten darstellt. Zentral ist in dieser Sache natürlich der Ausdruck βανὰ φοῦ|σ’ (V. 2f.), meist konzessiv verstanden, in dem der Grund für Korinnas Tadel mindestens zum Teil ausgedrückt ist. Für die Bezeichnung als Frau wählt Korinna mit βανά „a pointedly Boeotian word“390; es ist nicht sicher, welche Färbung dieses Wort trägt.391 Collins392 bietet, ausgehend von den möglichen Konnotationen, zwei weitere Alternativen zu einer poetologischen Auslegung von Fragment PMG 664a an: Sei βανά „a point of [...] disdain“393, so richte sich die Kritik gegen Myrtis: 386 387 388 389

390

391 392 393

S. Guillon 1959, S. 161-7. Lefkowitz 22012, S. 67. S. so Henderson 1995, S. 32. S. Guillon 1958, S. 53f. und 1959, S. 162f.; Skinner 1983, S. 11f.; Clayman 1993, S. 639f.; Collins 2006, S. 20 Anm. 17. Clayman 1993, S. 641; vgl. Collins 2006, S. 21; Maas 1922, S. 1395; ferner Hdn. Gr. Bd. 3,1, S. 328, Z. 8f. Lentz u. Bd. 3,2, S. 924, Z. 25f. Lentz. Vgl. Guillon 1959, S. 162 Anm. 2; Collins 2006, S. 20 Anm. 16; ebd., S. 21. S. ebd., S. 21. Ebd.

3

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543

With regard to Myrtis, if she is the main target of the attack in PMG 664a, instead of competition between men and women or the matter of poetic style, Corinna could be saying that Myrtis is a ‘provincial’ βανά unworthy to compete with the cosmopolitan and socially élite Pindar394 Gegen eine Herabsetzung der Myrtis insgesamt kann jedoch sprechen, dass Korinna ihr das Adjektiv λιγουράν (V. 1) beigibt, das im Zusammenhang mit Gesang und Dichtung in der Regel eine postitive Eigenschaft bezeichnet.395 Zudem räumt die soweit erhaltene biographische Tradition einer ‚Verteidigung‘ Pindars seitens Korinnas keinen Platz ein.396 Sei βανά hingegen „a point of local pride“397, so richte sich die Kritik gegen Pindar. Collins erwägt hier eine politische Dimension, bezogen auf Pindars „notoriously flexible loyalties to his homeland“398: Die Aussage könne lauten, Pindar sei „not worthy to compete with a loyal Boeotian βανά like Myrtis“399. Angesichts des starken böotischen Bezuges von Korinnas eigener Dichtung in Hinsicht auf Sprache, Themen und Motive ist es jedoch nicht angebracht, eine solche Aussage wiederum gänzlich losgelöst von poetologischen Fragen zu verstehen. So sieht Clayman400 einen Zusammenhang zwischen Geschlechterrolle und Stil: „For Corinna, the grand style is appropriate only for men, while the slight style is better suited to women“401. Diese poetologische Beschränkung für das weibliche Geschlecht ist ein möglicher, aber kein notwendiger Gedanke, sieht man Collins’ „point of local pride“402 im Vordergrund – aber anders als er erwägt, mehr mit poetologischem als mit politischem Impetus. Von den Dichtungen der Myrtis ist nur der Inhalt eines Liedes durch eine Nacherzählung bei Plutarch bekannt.403 Es befasst sich bezeichnenderweise ebenfalls mit einem lokalen böotischen Mythos: In Eunostos, Sohn des Kephisos-Sohnes Elieus, verliebt sich seine Cousine Ochne. Als er sie zurückweist, erzählt sie ihren drei Brü394 395 396 397 398 399 400 401 402 403

Ebd. Vgl. LSJ und Montanari s. v. λιγυρός. Dies ist freilich teilweise ein argumentum ex silentio. Collins 2006, S. 21. Ebd. Ebd. S. Clayman 1993, S. 641. Ebd.; s. auch oben. Collins 2006, S. 21; vgl. oben. S. Plu. Mor. 300d-f (Aetia Romana et Graeca) = PMG 716.

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B.III

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dern, er habe sie vergewaltigt; daraufhin töten sie ihn. Als Elieus die Brüder gefangen nehmen lässt, beichtet Ochne ihm alles. Sie werden verbannt, Ochne aber stürzt sich von einem Felsen. Der Mythos erklärt bei Plutarch zum einen die Frage nach der Identität des Heros Eunostos aus Tanagra, zum anderen die Frage, warum es Frauen nicht erlaubt ist, sein Heiligtum zu betreten.404 Von diesem einzigen, zudem indirekten Zeugnis auf das gesamte dichterische Werk der Myrtis zu schließen, ist natürlich problematisch. Doch liegt eine Ausrichtung auf lokale böotische Mythen auch bei der Dichterin aus Anthedon nahe, möglicherweise mit einer ähnlich ‚böotischen‘ Gestaltung der Oberfläche der Texte wie bei Korinna. Mit der böotischen Glosse βανά erinnert Korinna ihre ‚Schwester der Dichtung‘ also unter Umständen nur an dieses eigentlich geteilte dichterische Prinzip, das von den Dichtungen Pindars abweicht. Im Übrigen ist die Strenge von Collins’ Schlussfolgerungen nicht zwingend: Die Verse PMG 664a müssen weder eine Herabsetzung Pindars noch eine Herabsetzung der Myrtis enthalten, wenn ihnen, um Wests Formulierung noch einmal zu wiederholen, der Gedanke zugrunde liegt „that the most famous poets are in a class of their own, not to be competed with on their own terms“405. Wenn in der Tat in den Begriffen λιγουρά und βανά der von Korinna favorisierte Stil zu lesen ist, so trügen die Verse eher den Charakter eines Appells als den einer Abstrafung; wie polemisch sich dieser gegen Pindar gibt, bleibt dabei offen.

3.3

Der Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon

Das Lied vom Sängerwettstreit zwischen Helikon und Kithairon ist Gegenstand von zweierlei Betrachtungen. Es dient einerseits, als eines der wenigen längeren zusammenhängenden Fragmente von Korinnas Hand, als Folie für die Behandlung allgemeinerer Fragen, etwa stilistischer oder gendertheoretischer Natur. Andererseits, jedoch weit weniger konsequent und ausführlich, bildet es auch selbst den Fokus der Untersuchung. Die wesentliche inhaltliche Frage, die sich bei einer solchen Gesamtinterpretation des Liedes stellt, ist folgende: Warum unterliegt der Helikon, Sitz der Musen und symbolhafter Ort der Dichtung schlechthin, 404

405

Dabei wird nicht deutlich, ob der aitiologische Gedanke ebenfalls zu Myrtis’ Lied gehört oder nicht. West 1990, S. 554.

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Korinna in der Forschung

545

dem Kithairon ausgerechnet in einem musischen Agon?406 Auch die Musen selbst spielen eine außergewöhnliche Rolle, denn sie nehmen als Vorsteherinnen der Jury eine unparteiische Position ein.407 Ein plausibler interpretatorischer Ansatz besteht darin, die Kontrahenten mit Dichtern oder Arten von Dichtung zu identifizieren: Denn die einzigartige408 Ausgestaltung der Rivalität zwischen Helikon und Kithairon als Sängerwettstreit, zumal mit den Musen als Vorsitz der Jury, legt eine Verknüpfung mit der Dichtungsthematik sehr nahe. Es existieren unterschiedliche Deutungen dieser Art. So erwägt etwa Kirkwood: „Perhaps Cithaeron over Helicon is meant to symbolize local over national poetry“409. Doch einer solchen Deutung, wie Burzacchini 406

407

408 409

Diese Frage ist sogar unabhängig von der Datierung der Dichterin, da zumindest literarisch die Verbindung zwischen Helikon und Musen mustergültig und einflussreich durch Hesiod geschaffen ist. Außergewöhnlich ist diese Position in zweierlei Hinsicht: Erstens natürlich, weil diese Rolle eine gewisse Distanz vom Helikon suggeriert, der eigentlich Sitz der Musen ist. Zweitens, weil die Musen auch an anderer Stelle an mythischen musischen Agonen beteiligt sind, niemals jedoch als neutraler Vorsitz: So treten sie als Agonistriai auf, im Wettstreit mit den Pierostöchtern (vgl. Ant. Lib. 9 nach Nikandros von Kolophon; Ov. met. 5, 294-678), den Sirenen (vgl. EM s. v. ΠΤΕΡΟΕΝΤΑ; Jul. Ep. 41; Schol. Lyc. 653, Bd. 2, S. 218, Z. 15-19 Scheer; Paus. 9, 34, 3; Porph. Abst. 3, 16, 4; St. Byz. s. v. Ἄπτερα; für Darstellungen in der Kunst s. Faedo [und Lancha] 1994 in LIMC s. v. „Musae“ Nr. 219, Hofstetter 1997 in LIMC s. v. „Seirenes“ Nr. 119), dem Thamyris (Apollod. 1, 3, 3; Hypothesis 4 zu Ar. Ra.; [E.] Rh. 9215; Hom. Il. 2, 594-600; Paus. 4, 33, 3; 4, 33, 7; Phot. Bibl. 186, 7 [Konon]; Plu. Mor. 1132a-b. [De musica]; Suid. s. v. Θάµυρις = θ 41 Adler; für Darstellungen in der Kunst s. Nercessian 1994 in LIMC s. v. „Thamyris, Thamyras“, dazu Weiler 1974, S. 68f. u. 71) und auch dem Marsyas (Palaeph. 47). Sie agieren auch als (teilweise recht parteiische) Schiedsrichterinnen im Wettkampf zwischen Apoll und Marsyas (vgl. Apul. Flor. 3, 7; Hyg. fab. 165, 4; für Darstellungen in der Kunst s. Queyrel 1992 in LIMC s. v. „Mousa, Mousai“ Nr. 101-119 und Faedo 1994 in LIMC s. v. „Mousa, Mousai“ Nr. 265, dazu Weiler 1974, S. 47f.; auch Vergados 2012, S. 108) und, auf Vasendarstellungen, auch in anderen Mythen (vgl. Weiler [1974], S. 84). Vergados 2012, S. 108 verweist zusätzlich auf Ar. Ra. 875-81, wo der Chor die Musen auffordert, als Schiedsrichterinnen zwischen Aischylos und Euripides zu fungieren; diese Position nimmt schließlich Dionysos ein. Vgl. unten Abschnitt B.III.4. Kirkwood 1974, S. 188. Es ergäbe sich, so Kirkwood, eine Analogie zu Pau-

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treffend einwendet, liegt zum einen das anzufechtende Klischee von Korinnas Provinzialität zu Grunde; zum anderen ist die Identifikation des Kithairon als Symbol für lokale Dichtung nicht gerechtfertigt.410 Burzacchini411 selbst schlägt einen Perspektivwechsel vor: Statt ausgehend von der Dichterin nach einem Grund für die Bevorzugung des Kithairon gegenüber dem Helikon zu suchen, solle man sich vielmehr mit der Frage beschäftigen, welchem Publikum ein Sieg des Kithairon zusagen würde. Kurz gesagt: Der mögliche Kontext soll bei der Interpretation behilflich sein. Burzacchini weist auf die enge Verbindung zwischen dem Kithairon und der an seinem Fuße gelegenen Stadt Plataia hin; eine Verbindung, die sich abzeichne in dem Zeus- und Hera-Kult der Stadt.412 Den Plataiern also könne ein Sieg ‚ihres‘ Berges über den so vielgerühmten Helikon gefallen haben und in ihrem Auftrag413 könne Korinnas Lied entstanden sein. Doch ein solcher Ansatz scheint zu kurz zu greifen. Denn er bringt zwar eine Erklärung für den Sieg des Kithairon ein, bleibt jedoch in Hinblick auf eine Gesamtinterpretation des Fragments ebenfalls unzureichend: Die so bemerkenswerte Form des musischen Agon bleibt unbeachtet oder ist bestenfalls zum rein dekorativen, im Grunde funktionslosen Gestaltungsmerkmal degradiert.414 Wests

410

411 412

413

414

sanias’ Erklärung (Paus. 9, 22, 3), Korinna habe über Pindar gesiegt, weil sie in einem Dialekt gesprochen habe, den das Publikum verstand. Vgl. Burzacchini 1990, S. 33f.; Vergados 2012, S. 106 Anm. 29 und 107f. Burzacchini bemerkt weiter, dass auch der Helikon eher als Symbol für eine „poesia tout court“ stehe als für „national poetry“. Sicherlich sind aber mit Hesiod, der als Repräsentant einer panhellenischen Tradition stehen kann, „poesia tout court“ und panhellenische (zumindest hesiodeische) Dichtung gleichermaßen an den Helikon geknüpft. S. Burzacchini 1990. Vgl. ebd., S. 34f. Es handelt sich um die sog. Daidala mit zugehörigem Aition, s. unten Abschnitt B.III.4.2.1 mit Anm. 533f. Ob für Korinna überhaupt ein ‚Auftraggeber‘ gedacht werden muss, insbesondere, wenn wie hier die hellenistische Dichterin zu Grunde gelegt wird, ist wieder eine andere Frage. Ein Bezug auf kultische Kontexte ist jedoch, ob real oder virtuell, auch für eine Autorin von Buchlyrik möglich. Schachter 2005, S. 278 bringt auch Zweifel in der Sache selbst vor: „I think it is unlikely that the Plataians, who seized any and every opportunity to distance themselves from the rest of the Boiotians, would have commissioned a Boiotian poetess to write a poem for them in the Boiotian dialect.“ Schachter selbst folgt aber Burzacchinis Ansatz in der Ermittlung einer Zielgruppe: In

3

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547

Annahme zweier rivalisierender Musenkulte auf bzw. an den beiden Bergen böte in dieser Hinsicht mehr Potenzial;415 sie ist jedoch sehr unsicher und stark hypothetisch.416 Mehr verspricht daher die Rückkehr zur schon ausgelegten Spur von Dichtern und Arten der Dichtung. Eine weitere Interpretation in diesem Sinne bietet Clayman.417 Ausgehend von der Beobachtung, dass antike Dichterbiographien ihren Ursprung meist in den dichterischen Werken selbst nehmen,418 formuliert sie die Hypothese, das Lied vom Wettstreit zwischen Kithairon und Helikon sei die Quelle für die Tradition von der Rivalität zwischen Korinna und Pindar.419 Clayman vermutet, dass die Zuordnung von Korinna zum Kithairon und von Pindar zum Helikon, die allegorische Grundstruktur also, im Lied selbst relativ explizit gemacht sei.420 Ihrem Ansatz entsprechend rekonstruiert sie ausgehend von

415

416 417 418 419

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Abhängigkeit von seiner Datierung der Dichterin hält er aus historischer Sicht die Thebaner, deren Stadt aufs Engste mit dem Kithairon verbunden ist, für wahrscheinliche Auftragsgeber bzw. Adressaten; es bestünde sogar Anlass für ein gewisses politisches Interesse an der Herabsetzung der Stadt Thespiai in Gestalt ihres Berges Helikon (vgl. ebd., S. 278-280 und oben Abschnitt B.III.3.1.2.2 Anm. 96). West 1966, S. 174f. knüpft seine Vermutung an Hesiods Beschreibung der Mnemosyne als γουνοῖσιν Ἐλευθῆρος µεδέουσα (Hes. Th. 54): „Ἐλευθῆρος: to be identified with Eleutherae on Cithaeron [...]. Hesiod’s words mean that Mnemosyne had a cult there; and as she was primarily a goddess of singers, it is not unlikely that a ‘school’ of poets existed there in Hesiod’s time. It is possible that the existence of rival Muse-cults on Helicon and Cithaeron may have some connexion with the legend of the singing-contest between the two mountains described by Corinna.“ Vgl. dazu auch Vergados 2012, S. 107. Vgl. Schachter 1986, S. 144. S. Clayman 1993. S. grundlegend Lefkowitz 1981 u. 22012. Vgl. insbes. die zuversichtliche Formulierung der These: „Everything we hear from antiquity about the conflict of Pindar and Corinna can be fit into this framework.“ (Clayman 1993, S. 636). Clayman entwickelt ihre Interpretation ausgehend von Kallimachos’ viertem Iambos, in dem auf eine Einleitung mit konkreter Anrede eines Adressaten allegorisch ein Wortgefecht zwischen einem Lorbeer- und einem Olivenbaum folgt; ein Brombeerstrauch versucht am Ende zu vermitteln, doch wird er von den beiden Streitparteien als unbefugter Dritter zurückgewiesen (s. Clayman 1993, S. 635f. und, für einen ausführlichen Durchgang durch den

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den biographischen Notizen weitere inhaltliche Punkte.421 Korinna verhandle dabei nicht eine historische Eris mit Pindar als seine Zeitgenos-

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Text, Kerkhecker 1999, S. 83-115). Die allegorische Deutung als Auseinandersetzung des Dichters mit Konkurrenten, die auch in der antiken Diegesis gegeben wird, scheint auf konkrete Anhaltspunkte im Text zurückzugehen (vgl. Clayman 1993, S. 636; Kerkhecker 1999, S. 83-5; doch s. ebd., S. 111115 für eine subtilere Interpretation der Konstellation, die zudem nicht notgedrungen eine Konkurrenz bezüglich der Dichtung darstelle). Eine ähnliche Form vermutet Clayman 1993 für Korinnas Wettstreitlied: „If Corinna’s poem was an allegory like Callimachus’, it would begin in a similar fashion, with a brief challenge to Pindar’s supremacy in Boeotian poetry and some mocking humor in the form of a fictitious patronymic. This would be followed by an Aesopic debate, in which Helicon takes the part of Pindar and victorious Cithaeron is Corinna. At the conclusion, Corinna, like Cithaeron, crowns herself victor, and Pindar, like Helicon, is enraged at the sight“ (ebd., S. 636). Das allegorische Potenzial sei dabei nicht implizit geblieben: „[...] Corinna, like Callimachus, apparently set her fable in an explanatory frame and used a programmatic prologue to set out her crititcal positions“ (ebd., S. 639). – Als Indiz für die Offenlegung der Zuordnungen im Lied selbst wertet Clayman beispielsweise die Nachricht, dass Korinna und anderen gemäß Pindar der Sohn eines gewissen Σκοπελῖνος gewesen sei (PMG 695A = P. Oxy. 2438 col. ii, 1-4; der Name Skopelinos als möglicher Name von Pindars Vater erscheint mehrmals in den Viten, vgl. Clayman 1993, S. 636 Anm. 13): „Corinna’s name for Pindar’s father [...] Scopelinus, or the ‘Man from the Mountaintop,’ is certainly a humorous patronymic she invented for this context. Although Pindar’s biographers failed to understand Corinna’s point and soberly listed Scopelinus among Pindar’s possible forebearers, their certainty about the Pindar/Scopelinus connection indicates that Corinna’s little joke was very explicit“ (ebd., S. 636). Allerdings tritt Skopelinos nicht ausschließlich als Vater Pindars in Erscheinung (vgl. auch ebd. Anm. 13; Lefkowitz 22012, S. 61), was die ganz explizite Verbindung ausschließt: „If the names Scopelinus and Pindar were linked in a poem by a Boeotian poetess like Corinna or Myrtis, it was in a manner sufficiently ambiguous to suggest a variety of interpretations“ (Lefkowitz 1981, S. 62; vgl. ähnlich dies. 22012, S. 62). Für die Bezeichnung Pindars als Sohn des Skopelinos vgl. die vorangehende Anmerkung. – Aus Pausanias’ Vermutung, Korinna habe den Sieg über Pindar davongetragen, weil sie im Gegensatz zu ihm in einem Dialekt gedichtet habe, der den Αἰολεῖς („an easy inaccuracy“: Page 1953, S. 73) verständlich gewesen sei (vgl. Paus. 9, 22, 3), und der davon unabhängigen Notiz, Korin-

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sin – auch Clayman nimmt eine hellenistische Lebenszeit der Dichterin an – sondern setze nach alexandrinischem Vorbild ihre eigene von leptotes geprägte Dichtung dem pindarischen „‘grand’ style“ entgegen.422 Ein Hindernis für eine solche Deutung, die Berge und Dichterpersönlichkeiten einander so direkt zuordnet, stellt das wohl zu erwartende aitiologische Ende dar.423 Zudem wird sie auch dadurch gehindert, dass die aus-

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na habe Pindar für seinen Gebrauch des attischen Wortes αγοράζειν getadelt (PMG 688 = Schol. Ar. Ach. 729; vgl. Pi. fr. 94d Snell-Maehler) schließt Clayman 1993, S. 637, der Dialekt müsse von Korinna im Wettstreitlied thematisiert worden sein. „Given the poem’s Tanagran setting and Boeotian subject matter, she must have been arguing for consistency and authenticity in all aspects of style, including dialect, under the banner of a self-serving patriotism. Her argument, in short, is that she is more ‘Boeotian than thou’“ (ebd.). – Aelians Anekdote, Pindar habe Korinna nach seiner fünffachen Niederlage eine ‚Sau‘ genannt (vgl. Ael. VH 13,25 und den Exkurs nach Abschnitt B.III.3.1.2.1) führt Clayman ebd. auf eine entsprechende Anspielung auf Pi. O. 6, 89f. oder fr. 83 Snell-Maehler im Wettstreitlied selbst zurück. Es ist allerdings nicht ersichtlich, warum eine direkte Übertragung wahrscheinlicher sein sollte, wie Clayman will, als der sonst angenommene, indirekte Weg, dass ausgehend von einer möglicherweise schon bestehenden Tradition einer Korinna-Pindar-Eris der pindarische Vers nachträglich auf Korinna gemünzt worden sei (vgl. den Exkurs nach B.III.3.1.2.1). Auch Plutarchs Pindarzitat (fr. 29 Snell-Maehler, wohl aus einem Hymnos an Zeus) müsse in einem Bezug zu einer im Wettstreitlied geäußerten, unter Umständen auch bewusst nicht ganz sachgemäßen Kritik stehen – möglicherweise sei der erhaltene Beitrag Teil davon: „Though only the last few lines are extant, it is not unconceivable that Cithaeron’s ‘Zeus hymn’ provided scope for allusion to Pindar’s. Alternatively, the reference to Pindar might have been in a previous ‘hymn’ sung by Helicon and intended to contrast with Cithaeron’s [...]“ (ebd., S. 638). – Das Bild von dem Wettstreit, das Pausanias in Tanagra gesehen haben will, sei in diesem Sinne als „straightforward illustration of a major poem by the town’s only important poet“ (ebd., S. 637) zu verstehen. Hier ist anzumerken, dass das Bild wahrscheinlich gar nicht eine Szene aus einem Agon zeigte, sondern nur die sich bekränzende Korinna; vgl. abermals den Exkurs nach Abschnitt B.III.3.1.2.1, mit Paus. 9, 22, 3. Vgl. Clayman 1993, S. 640-2, das Zitat auf S. 641; vgl. auch oben Abschnitt B.III.3.2. Für den mit großer Wahrscheinlichkeit aitiologischen Charakter des Liedes s. unten Abschnitt B.III.4.1.2. Ein Handlungsverlauf, bei dem zwei anthropomorphe Figuren Helikon und Kithairon schließlich in die beiden gleichna-

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führliche polemische Allegorie – zumal mit explizitem Rahmen – nicht einem Zeitgenossen, sondern einem früheren Klassiker gölte.424 Während der Ansatz überzeugt, Elemente der Tradition von der Rivalität mit Pindar in Korinnas Dichtung selbst zu verorten, so ist doch weniger

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migen Berge verwandelt werden, schränkt zunächst einmal die Vergleichbarkeit mit Kallimachos’ viertem Iambos ein. „The conceit of articulate landscape has an Aesopic flavor“ – auf diese Weise stellt Clayman den Bezug (Clayman 1993, S. 635) zum vierten Iambos her. Sie geht von zwei singenden Bergen aus und von einem Helikon, der nach seiner Niederlage wütend einen Felsbrocken schleudert (dies als Ausdruck von „conceit“). Diese beiden Elemente sind aber höchstwahrscheinlich gar nicht Teil von Korinnas Ausgestaltung; selbst eine ‚echte‘ Niederlage des Helikon ist fraglich (s. unten Abschnitt B.III.4.1.2). Zudem ist fragwürdig, ob tatsächlich ein Vergleich mit einer nach so eigenen Gesetzen wirkenden Gattung wie dem Iambos gestattet ist. Doch auch unabhängig von der Vergleichbarkeit mit Kallimachos fügt sich die Wendung der aitiologisch geprägten Metamorphose (durch wirkliche Verwandlung in Berge oder, eher, Benennung vorhandener Berge) nicht einwandfrei in das Schema einer direkten Zuordnung der konkreten historischen zu den mythischen Figuren. Vgl. auch Weiler 1974, S. 89. – Vergados 2012, S. 105 bringt außerdem folgenden Einwand gegen Claymans Deutung vor: „[I]t is hard to see the reason for identifying Helicon with Pindar’s poetry. Pindar was Boeotian, to be sure, but does his poetry have any particularly strong connection to Helicon apart from the fact that the poet often refers to the Heliconian Muses?“ Trotz bestehender Skepsis gegenüber Claymans Ansatz ist es nicht gerechtfertigt, an dieser Stelle Kritik anzusetzen: Denn Clayman geht davon aus, dass zwei böotische Dichter die Gestalt zweier böotischer Berge annehmen, und die Zuordnung im Gedicht selbst deutlich gemacht wird: Jeder muss eben einer sein. Auch der Olivenbaum des vierten Iambos hat gegenüber dem Lorbeer ja nichts speziell Kallimacheisches an sich; er erhält – will man die Deutung als Dichterstreit zulassen – die nötigen Eigenschaften erst innerhalb und mittels seines Auftritts im Gedicht. Problematisch daran ist nicht das grundsätzliche Kritisieren eines großen Dichters der Vergangenheit (s. für Beispiele Davies 1988, S. 187f.; Collins 2006) – dass Korinna an irgendeiner Stelle ihre Dichtung explizit von der Pindars abgrenzt, darf, wie bereits erwähnt, als überaus wahrscheinlich gelten. Aber die von Clayman vermutete Form harmoniert eher mit einer Auseinandersetzung unter Zeitgenossen (vgl. abermals Kallimachos’ vierten Iambos).

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überzeugend, als (sogar einzige) Quelle dieser Tradition das Wettstreitlied aufzufassen.425 Die letzte umfassende Beschäftigung mit dem Gedicht stammt von Athanassios Vergados.426 Auch seine Interpretation wird von der Leitfrage bestimmt, warum der Helikon gegen die Erwartung im musischen Agon verliert. Ausgangspunkt und entscheidende Grundlage seiner Auslegung sind die erhaltenen Verse vom Wettbewerbsbeitrag des zweiten Kontrahenten (col. i, 12?-18). Vergados weist sie, der gängigen Auffas425

426

Larmour 2005 greift Claymans Interpretation auf und erweitert sie um einige Aspekte. Mit Rayor 1993, S. 224-8 liest er den Wettstreitbeitrag des Kithairon (so seine Annahme) als eine Version von Zeus’ Geburtsgeschichte, die als ‚women-identified‘ (s. dazu oben Abschnitt 3.2.1) zu fassen sei: Der Fokus liege auf Rhea, die den männlichen, immerhin ‚krummsinnenden‘ Kronos mittels ihrer eigenen geistigen Fähigkeiten überliste. Die Motive der Geburtsgeschichte durchwirkten auch, wie in Abschnitt B.III.2.2.2 gezeigt, den Rest des Wettstreits zwischen Helikon und Kithairon und bestimmten zudem das im Papyrus folgende Asopidenfragment; sie seien mit den Prinzipien von Korinnas Dichtung zu identifizieren: „The motifs of secrecy, deception, and revelation she deploys become a metaphor for her own poetic activity, for this is, in itself, an act of uncovering, of revealing truths that are ‘hidden’ within the standard versions. The same activity is required of the audience of the poems: to appreciate the startling juxtapositions, the unexpected details, the subtle reworkings within what appear to be straightforward narratives of old stories. Behind the surface – as is the case with Rhea – lies complex manipulation“ (ebd., S. 36). Im Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon, so Larmour, würde Korinna einige zentrale Ideale der Welt des Agons – und damit auch des pindarischen Epinikions – unterlaufen (vgl. ebd., S. 44f.). Diese Beobachtung stützt sich in erster Linie auf die Reaktion des Verlierers, die Larmour ebenfalls als trotzigen Steinwurf liest (s. jedoch dagegen Abschnitt B.III.4.1.2). Für eine im Wettstreitlied intendierte Gegenüberstellung von Pindar und Korinna liege hierin eine pikante Pointe: „If Helicon represents Pindar and his poetry, and Cithaeron stands for Corinna and hers, then the way Helicon reacts turns the epinikian code against Pindar himself, for a violent outburst against the judges’ decision is highly inappropriate. Helicon becomes an embodiment of hubris and lack of sophrosyne, opposed to the proper Olympian dike symbolized by the orderly voting in the urns.“ (S. 45f.). Larmour reflektiert zudem über poetologische Implikationen von Rheas (Korinnas) zur rechten Zeit enthüllten Stein gegenüber Helikons (Pindars) in tausend Steinchen zerschmetterten Felsblock (s. ebd., S. 46f. u. 52). S. Vergados 2012.

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sung427 folgend, dem Kithairon zu.428 Dabei vermerkt er die schon vielfach registrierte Ähnlichkeit der entsprechenden Verse Korinnas mit Hesiods Version von Zeus’ Geburt und Rheas List in der Theogonie.429 Ein Element, das den Mythos bei Korinna jedoch markant von der hesiodeischen Fassung unterscheide, seien die Kureten (V. 12f. Κώρ̣ει|[τες]).430 Auch die Dissoziierung von Musen und Helikon stelle eine grundlegende Abweichung von hesiodeischem Stoff dar.431 Korinna, so Vergados’ These, reihe sich mit ihrem zugleich hesiodeischen und distinktiv nicht-hesiodeischen Lied ein in die bestehende Tradition „of revising, adapting, or commenting on Hesiod“432 und behaupte selbstbewusst ihren Platz darin. Als Vertreter dieser Tradition und Parallelen zu Korinnas Dichtung zieht Vergados vor allem Epimenides von Kreta (bzw. den Autor der unter seinem Namen verfasste Theogonie) und Pindar heran.433 Der Sieg des Kithairon über den Helikon symbolisiere den selbstbewussten Anspruch dieser ‚neuen‘, ihrer Wurzeln bewussten Dichtung im produktiven Dialog mit den Autoritäten der (panhellenischen) Tradition.434 427 428 429 430

431 432 433

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Vgl. dazu oben Abschnitt B.III.2.2.1 mit Anm. 10. Vgl. Vergados 2012, S. 102 mit Anm. 5; 107 Anm. 35; auch passim. Vgl. oben Abschnitt B.III.2.2.2 mit Anm. 34. Vgl. Vergados 2012, S. 109. Zu den Kureten und ihrem Auftreten in der Geburtsgeschichte des Zeus (sicher fassbar spätestens mit E. Ba. 120-9) vgl. oben Abschnitt B.III.2.2.1 Anm. 11 und Abschnitt B.III.3.1.2.4 Anm. 276. Vgl. Vergados 2012, S. 108. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 109-12. Für besonders instruktiv hält er die erhaltenen Fragmente und Testimonien zur Theogonie des ‚Epimenides‘, denn sie enthalten deutliche, mit bewussten Abweichungen versehene Anspielungen auf Hesiods’ Theogonie; gleichzeitig spielen auch die kretischen Kureten eine Rolle. Vergados’ kurze Diskussion der Datierung Korinnas (s. ebd., S. 112-4) ist daher von der Frage geleitet, ob die böotische Dichterin die Theogonie des Epimenides gekannt haben und davon inspiriert worden sein kann. Ein vorausgehendes Lied des Helikon könne demgemäß eine rein hesiodeische Version von Zeus’ Geburt zum Thema gehabt haben (vgl. Vergados 2012, S. 115). Vergados knüpft auch an die Arbeiten von Collins 2006 und Berman 2010 an und deren Auseinandersetzung mit Korinnas innovativem Umgang mit Mythen und ihrer Strategie des Einbettens böotischer oder lokaler Traditionen in panhellenische Kontexte bzw. der ‚Aneignung‘ panhellenischer Traditionen für den böotischen Kontext (vgl. oben Abschnitt

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An zwei Stellen dieser kunstvollen Interpretation ist Kritik anzusetzen. Nur am Rande sei dabei auch bemerkt, dass die Kureten in den Versen col. i, 12f. weitaus weniger sicher auftreten,435 als Vergados suggerieren möchte, und daher als ausschlaggebendes Element der Interpretation eine wankende Grundlage bilden; dass zudem nicht sicher sein kann, ob die Spur, die die Kureten für den Charakter des Wettstreitbeitrags legen, sich tatsächlich über den ganzen Beitrag erstreckte 436 : Anfechtbare Voraussetzungen können unter das ‚Berufsrisiko‘ bei der Interpretation fragmentarisch erhaltener Texte gefasst werden. Zentraler erscheint da zum einen die Schieflage, die bei der Verteilung der Rollen entsteht: Der Kithairon als Kontrahent des Helikon erhält durch Vergados’ Interpretation eine gewisse Beliebigkeit. Vergados sieht den Kithairon als Stätte von „local Theban lore“, dazu ausdrücklich nicht als Symbol für „local poetry“.437 Er verweist auf die Aufnahme der kretischen Kureten in bakchische Kultzusammenhänge und ihre Verschmelzung mit anderen bakchischen Kultfiguren ähnlich den phrygischen Korybanten, wie sie auch in der Parodos von Euripides’ Bakchen präsent sei.438 Auf diese Weise könne auch eine Verbindung zum Kithairon entstanden sein: „This conflation or identification of the Curetes with the followers of Dionysus provide a link between the Curetes and Cithaeron and may have inspired Corinna to introduce the Cretan Curetes into Cithaeron’s song.“439

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B.III.3.1.2.4; Vergados 2012, S. 111f.; 115f.). Korinna sei, so auch sein Ergebnis, alles andere als „a second-rate poetess composing for the Greek backwaters“ (ebd., S. 116). Vgl. oben Abschnitt B.III.2.2.1 Anm. 11. Ebenfalls nicht sicher ist die Zuweisung des Liedes von Zeus’ Geburt an den Kithairon (vgl. oben Abschnitt B.III.2.2.1 mit Anm. 10 und unten Abschnitt B.III.5.2.2). Erhalten sind schließlich nur fünfeinhalb Verse, wie lang der ganze Wettstreitbeitrag war, ist ungewiss (vgl. oben Abschnitt B.III.2.2.1). Vgl. Vergados 2012, S. 106 mit Anm. 29; die Zitate ebd. Schließlich seien diese Mythen vielfach zum Gegenstand der Attischen Tragödie geworden (s. dazu auch unten Abschnitt B.III.4.2.1). Vgl. Vergados 2012, S. 109; Dodds 1960, S. 83f. zu E. Ba. 120-34 und ebd., S. 76f. zu Ba. 78f. Vergados 2012, S. 109.

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Vergados schließt zudem: „With PMG 654 Corinna poetically rehabilitates Cithaeron [...]“440. Der Kithairon gewinnt nach Vergados’ Deutung seine Symbolkraft über seine Rolle in Korinnas Darstellung: Das Lied, das er singt, macht ihn zu einem Symbol für die Dichtung, die dieses Lied repräsentieren soll.441 Das Lied hat jedoch, will man es mit Vergados als ‚Hesiodrevision‘ fassen, keine essentielle Verbindung zu seinen literarischen und kultischen Konnotationen. Der Kithairon ist in dieser Auslegung schlicht ‚der andere böotische Berg‘; sein Sieg bedeutet im Grunde nur die Niederlage des Helikon. Von einer ‚dichterischen Rehabilitation‘ des Kithairon – zumal als Stätte von „Boeotian lore“442, wie Vergados will – kann daher nicht recht die Rede sein. Gewiss, das ausschlaggebende Element für die Charakterisierung seines Wettbewerbsbeitrags stellen die Kureten dar – „another epichoric mythological element, a detail of Zeus’ birth story omitted from what had become the panhellenic version“443 – und Vergados zeichnet, wie oben beschrieben, eine mögliche Verbindung zum Kithairon nach. Die auf diese Weise ausgelegte Spur würde aber durch die Deutung wiederum ins Leere führen: Sie riefe eine Assoziation hervor – bakchischer Kult, Dionysos, Tragödie, weitaus mehr als „local Theban lore“ also – die gar nicht bedient würde. Stattdessen soll das Element der Kureten (im Zusammenspiel mit der hesiodeischen Zeusgeburt) den Kithairon mit einer neuen Bedeutung belegen – die des hesiodeisch nicht-Hesiodeischen. Es ist zu440

441

442 443

Ebd., S. 116. Einen ähnlichen Gedanken formuliert auch Vivante 1979, S. 84: „To Korinna’s eyes Kithairon apeared steeped in its legends no less than Helikon in the religion of Apollo, the Muses, Eros. [...] An inexhaustible store of Boiotian lore lay concealed in the mountain [sc. Kithairon]. It is as if Korinna wished to vindicate the religion of the place by giving the victory to Kithairon rather than to world-famed Helikon.“ Es sei jedoch angemerkt, dass hier Vivantes zu Grunde liegender Auffassung, Helikon und Kithairon seien in Korinnas Lied die Berge selbst, gleichzeitig „the spot where it happens and the agent that makes it happen“ (ebd., S. 84), nicht zugestimmt werden kann (s. unten Abschnitt B.III.4.1.2). Methodisch ist an dieser Erschließung des Textes aus dem Text selbst heraus erst einmal nichts auszusetzen. Doch ist fraglich, ob die Interpretation dem Abgleich mit den außertextlichen Bezügen tatsächlich standhält. Vergados 2012, S. 106 Anm. 29. Ebd., S. 115. Dabei ist selbstverständlich nicht zu vergessen, dass lediglich das Ende des – mit Sicherheit umfassenderen – zweiten Wettbewerbsbeitrags erhalten ist.

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mindest fraglich, ob diese stark genug sein kann, zumal beim Gegner des Kithairon, dem Helikon, die assoziative Verknüpfung mit Hesiod, panhellenischer Dichtung oder „poesia tout court“444 viel direkter funktioniert. Es herrscht also innerhalb von Vergados’ Deutung in jedem Fall ein Ungleichgewicht zwischen den beiden Kontrahenten mit ihrer jeweils repräsentierten Art der Dichtung: Auf der einen Seite stünde immer der Helikon mit seiner ‚natürlichen‘ Verbindung zu Hesiod, auf der anderen Seite entweder ein Kithairon gänzlich ohne innere Verbindung zur durch ihn repräsentierten Dichtung oder mit einer indirekten, auch irreleitenden Anknüpfung. Zum anderen ist zu bedenken, dass den vier mehr oder minder erhaltenen Strophen von Korinnas Wettstreitlied noch etwa fünf folgten und eine unbestimmte Anzahl vorausging.445 Eine genaue Rekonstruktion ihres Inhalts ist zwar nicht möglich, doch enthalten die Bruchstücke der entsprechenden Verse und die Marginalien wertvolle Hinweise auf den Verlauf der Handlung.446 Sie sind auch für die Gesamtinterpretation von Bedeutung. Der daran angeschlossenen Frage, ob es sich um eine aitiologische Erzählung handelt, in der Helikon und Kithairon menschliche oder halbmenschliche eponyme Helden darstellen, oder ob der Wettstreit zwischen den Bergen bzw. den zugehörigen Gottheiten stattfindet, misst Vergados keine große Bedeutung zu.447 Eine Entscheidung dieser Frage kann aber unterschiedliche narrative Muster implizieren. Den hier vorgestellten Ansätzen liegt das gleiche, einfache Muster zugrunde: Jeder Berg bzw. jede Streitpartei repräsentiert einen Dichter oder eine Art der Dichtung; der Kithairon gewinnt und ist also ‚besser‘. Nicht nur verliert der natürliche Favorit Helikon, sondern die Musen, die eigentlich für ihn Partei ergreifen sollten, schauen als neutraler Vorsitz auch noch tatenlos 444 445 446 447

Burzacchini 1990, S. 34. Vgl. oben Abschnitt B.III.2.2.1. Vgl. Schachters mahnenden Hinweis (2005, S. 275f.). S. Vergados 2012, S. 113: „For the original audience, however, the names Helicon and Cithaeron would evoke both the homonymous heroes and the stories related to them, as well as the mountains, permanent and imposing features of the Boeotian landscape, which they associated with certain types of poetry or stories. In the final analysis, the choice between personified mountains or humans transformed into mountains does not greatly affect the interpretation presented here.“ – Diese Frage ist Thema des Abschnittes B.III.4.1.2.

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dabei zu. Das liest sich als doppelt gehässige, etwas flache Metapher und bleibt unbefriedigend. Durch dieses Urteil allein ist selbstverständlich noch keinesfalls ausgeschlossen, dass es sich genauso verhält. Es wird sich jedoch zeigen, dass der Kithairon unter Umständen gar keinen so absoluten Sieg erringt und auch die Abwendung der Musen vom Helikon nicht bedingungslos ist.448 Vor diesem Hintergrund soll hier eine Deutung versucht werden, die einerseits eine Antwort auf die leitende Frage nach dem Grund für die Niederlage des Helikon gibt, andererseits aber auch alle weiteren erhaltenen Elemente von Korinnas Lied berücksichtigt und zusammenführt. Eine neue Zuordnung der beiden böotischen Berge beziehungsweise der mit ihnen gleichnamigen Figuren zu Arten der Dichtung wird unter diesen Gesichtspunkten unterbreitet werden.449 Bestimmen wird diese Deutung gemäß den vorausgegangenen Abschnitten das Bild von einer selbstbewussten, durchaus nicht naiven oder provinziellen, hellenistischen450 Dichterin aus Böotien, die fähig war, kohärente und mehrschichtige Werke zu produzieren. 4

Helikon und Kithairon in anderen Quellen

Helikon und Kithairon ‒ die beiden prominenten Berge Böotiens bilden nicht nur geographisch,451 ihrer Lage wegen, ein Gefüge, sondern werden auch als ein solches wahrgenommen. Dies bezeugen unterschiedliche Quellen, in denen ihre Namen undifferenziert zusammen genannt werden, etwa, um die Region Böotien zu bezeichnen.452 – „[T]wo moun448 449 450

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S. unten Abschnitt B.III.4.1.2. S. unten Abschnitte B.III.4.2 und 5. Diese zeitliche Voraussetzung wird die Interpretation entscheidend bestimmen. Auch die in diesem Abschnitt vorgestellten Deutungen sind unterschiedlich stark von der Datierungsfrage beeinflusst. So funktioniert z. B. Claymans Interpretation (1993) nur in einem hellenistischen Rahmen, während Vergados’ Auslegung (2012) relativ unabhängig von einer bestimmten Zeit scheint. Die geographische Nähe zeigt neben einem Blick auf die Landkarte auch Dion. Calliph. 83-85. Vgl. etwa Aristid. Or. 36, 113 Keil, wo die Ignoranz der Dichter bezüglich ägyptischer Geographie beklagt wird, so am Beispiel Pindars, der kurzer-

4

Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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tains facing each other are natural rivals.“453 Vor dem Hintergrund dieser natürlich erscheinenden Wahrheit mag es überraschen, dass Quellen, die eine Rivalität zwischen den beiden böotischen Bergen zum Thema haben, sehr spärlich gesät sind. Korinnas Lied gar von einem Sängerwettstreit zwischen Helikon und Kithairon scheint in seiner Form einzigartig zu sein.454 In diesem Abschnitt sollen die Traditionen und Motive in den Blick geraten, die, wenn auch rar, dennoch einen Beitrag zum Verständnis und zur Interpretation des Gedichtes leisten können. Dazu

453 454

hand die Stadt Mendes ans Meer verlege, weil er „erfüllt von Kithairon und Helikon“ (Κιθαιρῶνος καὶ Ἑλικῶνος πλέως ὢν) einfach von dem ihm Gewohnten und Geläufigen ausginge; Vitae Pindari Bd. 1, S. 2 Drachmann, wo von Pan die Rede ist, der „zwischen dem Kithairon und dem Helikon“ (µεταξὺ τοῦ Κιθαιρῶνος καὶ τοῦ Ἑλικῶνος) dabei gesichtet wurde, wie er einen pindarischen Paian sang; Nonn. D. 5, 61, wo zum Bau der Stadt Theben unter Kadmos Stein verwendet wird, „den Helikon gedeihen ließ und mit dem Kithairon in Wehen lag“: (πέτρην [...], ἣν Ἑλικὼν βλάστησε καὶ ἣν ὤδινε Κιθαιρών); Clem. Al. Protr. 1, 2, 1-3 mit Scholien, wo Helikon und Kithairon in einem Zuge als Stätte und Symbol von paganen Mythen, Kulten und Dichtung genannt werden; implizit Schol. S. OT 1105-9 (und S. OT 1105-9 selbst). – In Str. 1, 2, 19 stehen Kithairon und Helikon in einer Aufzählung von Mythenstätten in Griechenland hintereinander. – Ein weiteres Indiz für die assoziative Nähe von Helikon und Kithairon ist ihre mehrfache Paarung als grammatikalische Exempla, vgl. Anon. compendium catholicae Herodiani P. Ant. 2, 67, Z. 20f.; Hdn. Gr. Bd. 3,1, S. 40, Z. 3-13 Lentz; Bd. 3,2, S. 442, Z. 21-23 Lentz; Hdn. Epim. S. 199, Z. 6 Boissonade; Theodos. S. 22, Z. 7 Hilgard; Theognost. Can. 298. Die gemeinsame Nennung ist im Wesentlichen ihrer gleichlautenden Endung auf -ών und den gemeinsamen grammatikalischen Eigenschaften geschuldet. Dennoch zeigt sich hier: Die Nennung des einen Berges scheint die des anderen fast automatisch mit sich zu ziehen. Vivante 1979, S. 84. Die entsprechenden Quellen stehen im Fokus der folgenden Abschnitte. Vgl. Vergados 2012, S. 105: „While the eris between the two characters is known from other sources, nowhere else does it assume the form of a singing contest.“ Vgl. auch Collins 2006, S. 21: „Her version of the dispute between Helicon and Cithaeron (PMG 654, col. i) [...] is transformed into a singing contest that is unparalleled elsewhere [...].“ Eine mögliche Ausnahme stellt dennoch ein Scholion zu Hom. Od. 3, 267 dar: Dort ist von einem Epos die Rede, das die „ἔρις“ zwischen Helikon und Kithairon zum Thema hat, eine Bezeichnung, die prinzipiell einen musikalischen Wettstreit nicht ausschließt (vgl. Weiler 1974, S. 83, auch S. 96, und unten Abschnitt B.III.4.1.1).

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gehören zum einen Ansätze von aitiologischen Mythen zur Entstehung der Berge, zum anderen Gegenüberstellungen, die die jeweils mit den Bergen verbundenen Assoziationen nutzen.455 4.1

Aitia

4.1.1 Die Quellen Es existieren Spuren einer aitiologischen Tradition, in der die Rivalität zwischen den beiden böotischen Bergen eine Rolle spielt. So kennt Ioannes Tzetzes einen Streit zwischen zwei Brüdern namens Kithairon und Helikon aus der Feder eines Lysimachos von Kyrene, welchen er explizit aitiologisch konnotiert.456 Eine ähnliche Erwähnung findet sich auch in den Scholien EHMQR zu Odyssee 3, 267: Ein Automedes von Mykene soll der erste gewesen sein, der ein Epos über den Streit zwischen Kithairon und Helikon schrieb. Auch hier wird ausdrücklich auf ein aitiologisches Verhältnis zwischen den Figuren und den gleichnamigen Bergen hingewiesen.457 455

456

457

Neben Korinnas Lied treten der Helikon und der Kithairon einzig an den in obigen Anmerkungen genannten Stellen sowie in den im Folgenden behandelten Texten in Verbindung miteinander auf. Der Streit findet zweimal bei Tzetzes Erwähnung, unter Nennung des Lysimachos von Kyrene als Autor: In Tzetzes’ Hesiodkommentar ist von einem Kampf oder Streit die Rede (Tz. ad Hes. Op. 1, Bd. 2, S. 33, Z. 4-7 Gaisford πρὸς ἀλλήλους ἐπολέµησαν), in den Chiliades heißt es, die Brüder hätten einander getötet wie die Söhne des Ödipus (Tz. H. 915 ἀλλήλους ἔκτειναν, ὡς οἱ Οἰδίπου παῖδες). In beiden Fällen wird die Benennung der Berge auf das Brüderpaar zurückgeführt (vgl. Tz. ad Hes. Op. 1, S. 33, Z. 4f. Gaisford: Ἑλικὼν δὲ καὶ Κιθαιρὼν ἀπὸ Ἑλικῶνος καὶ Κιθαιρῶνος τῶν ἀδελφῶν ἐκλήθησαν; Tz. H. 913f.: Ὁ Ἑλικὼν καὶ Κιθαιρὼν ὄρη τῆς Βοιωτίας, / ἐξ Ἑλικῶνος ἀδελφῶν ὄντων καὶ Κιθαιρῶνος). ‒ Die Identität des Lysimachos von Kyrene ist ungeklärt, s. Gudeman 1927, S. 2509-2511 und 1928, S. 33-35 (auch für den Versuch einer Rekonstruktion); vgl. auch Page 1953, S. 21f. Vgl. Schol. Hom. Od. 3, 267e Pontani = Eust. ad Od. 3, 267 (Bd. 1, S. 125, Z. 30 Stallbaum) (= Dem. Phal. FGrH/BNJ 228 F32a = fr. 144 SOD): „[...] Δηµόδοκος Λάκων µαθητὴς Αὐτοµήδους τοῦ Μυκηναίου, ὃς ἦν πρῶτος δι’ ἐπῶν γράψας [...] τὴν ἔριν Κιθαιρῶνός τε καὶ Ἑλικῶνος, ἀφ’ ὧν δὴ καὶ τὰ ἐν

4

Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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Die einzige ausführlichere Version dieser Erzählung ‒ oder zumindest einer Erzählung dieser Natur ‒ bietet der Verfasser von De fluviis. Ausgehend vom Fluss Ismenos kommt er auf den neben ihm liegenden Berg Kithairon zu sprechen. Insgesamt drei Aitia werden erzählt: Das erste (Ps.-Plu. Fluv. 2, 2) beschreibt, auf welche Weise der Berg seinen ‚ersten‘ Namen (Ἀστέριον) bekam. Das zweite (ebenfalls Ps.-Plu. Fluv. 2, 2) erklärt die Umbenennung in Kithairon.458 In dieser Geschichte ist Kithairon ein junger Hirte, der auf dem Berg Asterion seine Schafe hütet. Die Erinye Tisiphone verliebt sich in ihn. Da er aber ihren Avancen nicht stattgibt, tötet sie ihn und der Berg wird nach ihm benannt. Das zweite Aition ‒ oder auch beide ‒ schreibt Pseudo-Plutarch Leon von Byzanz zu.459 Das hier relevante dritte Aition, das den Streit zwischen zwei Figuren mit Namen Helikon und Kithairon zum Inhalt hat, stellt eine Alternative zum zweiten Aition dar, in dem die Person Kithairon allein auftritt. Es lautet folgendermaßen:

458

459

Βοιωτίᾳ ὄρη προσαγορεύεται.“ / „[…] Demodokos der Lakonier, Schüler von Automedes aus Mykene, welcher der erste war, der in Eposform […] über den Streit von Kithairon und Helikon schrieb, nach denen ja auch die Berge in Böotien benannt sind.“ Die Scholien nennen Demetrios von Phaleron als Quelle für diese Information. Demodokos aus Lakonien, dessen Lehrer der besagte Automedes von Mykene gewesen sein soll, soll der Sänger gewesen sein, in dessen Obhut Agamemnon Klytaimnestra bei seinem Aufbruch nach Troja zurückließ (In Hom. Od. 3, 267 ist nur von einem „ἀοιδὸς ἀνήρ“ die Rede). Automedes von Mykene ist aus keinem anderen Zusammenhang bekannt, vgl. Crusius 1903, S. 232. Dieses Schema von Benennung und Umbenennung durchzieht das ganze Werk, vgl. Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 16; 19f.; 54; Delattre 2011, S. 45-7 u. passim. Es handelt sich um das Fragment Leon von Byzanz FGrH/BNJ 132 F2. Am Ende des zweiten Aitions heißt es lediglich: κατὰ δὲ πρόνοιαν θεῶν τὸ ὄρος ἀπ᾽ αὐτοῦ µετωνοµάσθη Κιθαιρών· καθὼς ἱστορεῖ Λέων ὁ Βυζάντιος ἐν τοῖς Βοιωτιακοῖς. / „Nach der Vorsehung der Götter wurde der Berg nach ihm in Kithairon umbenannt, wie Leon von Byzanz in den Boiotika berichtet.“ Es ist nicht deutlich, ob Leon von Byzanz nur die zweite Erzählung zugeschrieben wird, die die Umbenennung von Asterion in Kithairon behandelt, oder auch die erste Erzählung als eine Art Vorgeschichte oder ‚erstes Kapitel‘ zu der zweiten.

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Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

῾Ερµησιάναξ δὲ ὁ Κύπριος ἱστορίας µέµνηται τοιαύτης· ῾Ελικὼν καὶ Κιθαιρών, ἀδελφοὶ τυγχάνοντες, διαφόρους ἔσχον τῶν τρόπων τὰς διαθέσεις· ὁ µὲν γὰρ ῾Ελικών460, πραότερος ὑπάρχων καὶ προσηνής, συµπαθῶς γηροβοσκεῖ τοὺς γονεῖς· ὁ δὲ Κιθαιρών, πλεονέκτης τυγχάνων καὶ θέλων εἰς ἑαυτὸν µεταστῆσαι τὴν οὐσίαν, πρῶτον µὲν ἐφόνευσεν τὸν γεννήσαντα, τὸν δὲ ἀδελφὸν ἐξ ἐνέδρας κατακρηµνίζων καὶ αὐτὸς συγκατηνέχθη· κατὰ δὲ θεῶν πρόνοιαν εἰς ὁµώνυµα ὄρη µεταµορφωθέντες ἐγένοντο Κιθαιρὼν µὲν διὰ τὴν ἀσέβειαν ᾽Ερινύων µυχός, ῾Ελικὼν δὲ διὰ φιλοστοργίαν Μουσῶν ἐνδιαίτηµα. Hermesianax von Zypern aber erwähnt eine solche Geschichte: Helikon und Kithairon waren Brüder und hatten unterschiedliche Charakteranlagen. Helikon, der sanftmütiger und freundlich war, pflegte teilnahmsvoll die alten Eltern. Kithairon aber, der habgierig war und das Vermögen in seinen Besitz bringen wollte, tötete zuerst seinen Erzeuger und wurde, als er dann seinen Bruder aus dem Hinterhalt in den Abgrund stürzte, auch selbst mit hinuntergerissen. Nach der Vorsehung der Götter wurden sie in die gleichnamigen Berge verwandelt und Kithairon wurde wegen seines Frevelmuts der Winkel der Erinyen, Helikon aber wegen seiner Liebenswürdigkeit Sitz der Musen. Ps.-Plu. Fluv. 2, 3 (= Hermesianax von Kypros FGrH/BNJ 797 F2)

Das Aition folgt grundsätzlich einem relativ schlichten Muster: Zwei menschliche Figuren sterben, zwei Berge erhalten ihre Namen. Dennoch gilt es, zwei Punkte herauszustellen: Da ist zunächst einmal der Umstand, dass die Berge nicht vorher schon als Landschaftselemente existieren, sondern erst durch die Verwandlung der Personen entstehen.461 460

461

In der Ausgabe von Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, aus der der hier präsentierte griechische Text entnommen ist, steht fälschlich Ἑλικών vor dem Komma mit Gravis (ebenso Delattre 2011). Als naheliegenden Vergleich betrachte man nur einmal die beiden Aitia, die Pseudo-Plutarch vorher referiert (vgl. Ps.-Plu. Fluv. 2, 2): Asterion wird ein schon existierender, bis dato unbenannter Berg genannt, weil auf eben diesem (ἐν ταῖς ἀκρωρείαις λόφου τινὸς ἀνωνύµου) eine Sternschnuppe dem Poseidon-Sohn Boiotos die rechte Braut weist. Umbenannt in Kithairon wird eben dieser Berg, weil ein Jüngling namens Kithairon auf ihm den Tod findet. Auch im Gesamtvergleich mit den im Ganzen 32 Aitia in De fluviis, die sich mit der Benennung von Bergen befassen, zeigt sich dieses Muster als ungewöhnlich (vgl. auch Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 218 Anm. 23): Nur in drei weiteren Fällen wird nicht einfach eine schon

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Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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Es wird also nicht nur ihre Benennung, sondern auch ihre Existenz erklärt. Der zweite Punkt ist eng mit dem ersten verknüpft: Pseudo-Plutarch weist den Bergen mythologisch-kultische Implikationen zu, die den Charaktereigenschaften der ehemaligen menschlichen Figuren entsprechen. Der freundliche Helikon wird zum Musen-, der schlechte Kithairon zum Erinyenberg. Es besteht also zwischen den Akteuren der Erzählung und den Bergen nicht nur ein äußerer, namentlicher Zusammenhang, sondern auch ein innerer:462 Das Resultat des Aitions sind nicht die Namen zweier Berge, sondern ein Musenberg namens Helikon und

462

benannte Erhebung mit einem Namen belegt, sondern der Berg entsteht erst durch die Verwandlung des jeweiligen heros eponymos: Fluv. 11, 3; 23, 4; 25, 4; s. dazu den Exkurs am Ende dieses Abschnitts. – Die Schemata aitiologischer Verwandlungen von menschlichen Figuren in Landschaftselemente im Allgemeinen beschreibt Buxton 2009, S. 191-209; s. ebd., S. 200-2 insbes. für Berge. Zur Gegenüberstellung eignet sich auch hier Ps.-Plu. Fluv. 2, 2: Das Ereignis des fallenden Sterns weist keine tiefere Verknüpfung zum späteren Berg Asterion auf, abgesehen davon, dass es auf ihm stattfindet. In ‚Kithairon‘ wird der Berg umbenannt, weil ein Kithairon auf ihm stirbt, auch hier ohne erkennbare tiefere Pointe. Denkbar ist allerdings, dass die unglücklich verliebte Erinye Tisiphone eine weitere Ebene eröffnet: Denn schließlich trägt der Berg, auf dem sie sich umtreibt, am Ende den Namen ihres Geliebten, „ist“ also quasi ihr Geliebter. – Tatsächlich ist, abgesehen von diesem möglichen Beispiel, Fluv. 2, 3 mit der Entstehung von Helikon und Kithairon die einzige Stelle innerhalb des ganzen Werkes, an der ein innerer Zusammenhang zwischen heros eponymos und Berg bzw. Fluss über die bloße Benennung hinaus hergestellt wird. Manchmal – aber durchaus nicht immer! – tragen die Pflanzen und Steine, die laut Pseudo-Plutarch in den Flüssen oder auf den Bergen zu finden sind, Eigenschaften, die mit dem vorher erzählten Landschafts-Aition in Verbindung stehen: So findet man am Fluss Marsyas eine Pflanze namens αὐλός, die eine Melodie spielt, wenn der Wind durch sie fährt (vgl. Fluv. 10, 3); auf den Bergen Rhodope und Haimos, die aus einem ineinander verliebten Geschwisterpaar entstanden sind, gibt es Steine, die φιλάδελφοι genannt werden und zerfallen, wenn man sie getrennt voneinander aufbewahrt (vgl. Fluv. 11, 4). Möglicherweise ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, dass Fluv. 2, 3 zudem das einzige Kapitel ist (außer dem unvollständig überlieferten Kapitel 15), in dem nicht mindestens ein Stein oder eine Pflanze beschrieben wird: eine relativ prägnante Abweichung also vom eigentlichen Schema (s. für dieses Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 19f.; Delattre 2011, S. 30f.; 42-54).

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Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

ein Erinyenberg namens Kithairon; durch die in die Konnotationen der zugehörigen Mythen und Kulte463 umgewandelten Charaktereigenschaften der ursprünglich menschlichen Namensträger bleibt ihnen gewissermaßen ein personifizierter Teil erhalten. Die Bewertung dieser Quellen nach ihrem Wert für die Interpretation von Korinnas Helikon-Kithairon-Wettstreit fällt in der Regel negativ aus.464 Grund dafür ist einerseits ihr spätes Datum, andererseits die vage Natur der zitierten Autoritäten.465 Und auch inhaltlich wird ihr Beitrag gering bemessen. So urteilt Page über die Odyssee-Scholien: „This would not teach us much, even if we believed in ‘Automedes of Mycenae’“466. Zu Tzetzes bemerkt er: „This is obviously not consistent with so much of Corinna’s story as we can decipher.“467 Die Aitia in De fluviis 2, 2 und 2, 3 bezeichnet er schlichtweg als „rigmaroles“468. Das Gesamturteil lautet: „These late fables would teach us nothing about Corinna’s poem (in which Helicon is certainly not better-mannered than Cithaeron), even if we believed in their authorities.“469 Die genannten Quellen sind aber insofern überaus bedeutsam, als sie zunächst einmal die Existenz von (aitiologischen) Mythen bezeugen, 463 464 465

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467

468 469

S. dazu ausführlicher unten Abschnitt B.III.4.2.1. Vgl. exemplarisch Page 1953, S. 21. Tzetzes (12. Jh. n. Chr.) zitiert einen unbekannten Lysimachos von Kyrene, vgl. oben Anm. 456. – Die Scholien zu Od. 3, 267 benennen Demetrios von Phaleron als Quelle für die Information, Automedes von Mykene sei der erste gewesen, der ein Epos über den Helikon-Kithairon-Streit gedichtet habe. Vertraut man den Scholien, so führt die Spur immerhin zurück ins 4./3. Jh. v. Chr. bis zu Demetrios von Phaleron – von dem auch ein Werk Περὶ Ὀδυσσείας in vier Büchern bekannt ist (vgl. D. L. 5, 81) – und verliert sich dann. – Hermesianax von Kypros wiederum, auf den Pseudo-Plutarch sich beruft, erscheint einzig in zwei weiteren seiner Zitate: Fluv. 12, 4 (als Verfasser von Phrygiaka) und 24, 1; vgl. Jacoby 1912, S. 828, Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 83. Für Jacoby 1912 fällt er unter die Kategorie „Schwindelautor in Ps.- Plut. de fluviis“ (ebd., S. 828). Page 1953, S. 21. Vgl. auch Vergados 2012, S. 105: Die Notiz sei „of doubtful value“. Page 1953, S. 21. Vgl. die Folgerung bei Wilamowitz und Schubart 1907, S. 48 Anm. 2: „Wenn Tzetzes Chil. VI, 917 die Brüder durch ΑΛΛΗΛΟΚΤΟΝΙΑ enden läßt, so wird das eine seiner Schwindeleien sein.“ Page 1953, S. 22. Ebd.

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Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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deren Plot die Rivalität von Helikon und Kithairon bestimmt. Diese aitiologische Tradition ist zudem weiter gefächert: Die knappen Informationen, die die Erwähnungen bei Tzetzes und in den Odyssee-Scholien bieten, deuten auf andere aitiologische Versionen hin als die in De fluviis wiedergegebene oder stellen unterscheidbare Varianten von ihr dar.470 Zudem ist sie mindestens bis ins 4. Jh. v. Chr. zurückzuverfolgen, denn ist auch Automedes von Mykene eine dunkle Figur, so kannte doch Demetrios von Phaleron einen entsprechenden Mythos, dessen dichterische Ausgestaltung er ihm – in einem uns unbekannten Kontext– zuschreiben konnte.471 Exkurs. Pseudo-Plutarch, De fluviis Das ‚Misstrauen‘ gegen Pseudo-Plutarchs Aitia hängt auch mit der besonderen Natur der Schrift zusammen. Der Autor von De fluviis ist etwa ins 2. Jh. n. Chr. zu datieren; einiges spricht dafür, dass er mit dem Verfasser der Parallela minora identisch ist.472 Damit erschöpft sich jedoch das Wissen über seine Person. Nicht minder rätselhaft zeigt sich das un470

471 472

Auch bei Tzetzes sind Helikon und Kithairon Brüder, in den Odyssee-Scholien bleibt dieser Punkt offen (für den griechischen Wortlaut s. oben Anm. 456f.). Tzetzes spricht in den Chiliades von einer gegenseitigen Tötung, in seinem Hesiodkommentar von einem Kampf ‒ der tödliche Ausgang darf, da beide Male ‚Lysimachos von Kyrene‘ zitiert wird, vorausgesetzt werden. Es ist durchaus möglich, einen Handlungsverlauf wie in De fluviis auf diese Weise zusammenzufassen ‒ man denke sich ein kurzes Ringen nach Kithairons Anschlag und den gemeinsamen Sturz in die Tiefe. Doch insbesondere der Vergleich mit Eteokles und Polyneikes (Tz. H. 6, 915: ἀλλήλους ἔκτειναν, ὡς οἱ Οἰδίπου παῖδες) deutet eher auf zwei gleichrangige Kontrahenten hin als auf ein Täter-Opfer-Verhältnis und möglicherweise auch auf einen größeren Wirkungsradius ihres Streits (dennoch wären auch hier Unstimmigkeiten bei der Erbfolge als Ausgangspunkt möglich). Die ἔρις der Odyssee-Scholien lässt kaum Rückschlüsse auf Inhalt und Ausgestaltung der Auseinandersetzung oder Rivalität zu. Dennoch spricht auch dieses Wort eher für gleiche Ausgangsbedingungen für beide Beteiligten als für eine einseitig gelagerte Feindschaft. Die bei Tzetzes und in den Odyssee-Scholien angedeuteten Mythen stellen also entweder unterscheidbare Varianten der Erzählung in De fluviis dar oder sind von gänzlich verschiedenem Inhalt. Vgl. oben Anm. 465. Vgl. Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 30-44; Delattre 2011, S. 8-11.

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ter dem Titel Περὶ ποταµῶν καὶ ὀρῶν ἐπωνυµίας καὶ τῶν ἐν αὐτοῖς εὑρισκοµένων überlieferte Werk selbst, das in seiner Form einzigartig ist.473 Die eigentliche Gattung bleibt unbestimmt: Es besteht eine große Affinität zur Paradoxographie, zudem entspricht das Interesse an Metonomasiai, an aitiologischen, botanischen, geologischen und weiteren Themen literarischen Strömungen, die man insbesondere ab alexandrinischer Zeit verfolgen kann.474 Die Art, wie die Inhalte präsentiert werden, ist auffällig: Neben ihrer schematischen Strukturierung475 und der stark verknappten Beschreibung von Handlungsverläufen gibt es zudem eine Anzahl formelhafter476 Formulierungen, die wie Bausteine an entsprechenden Stellen eingesetzt sind. Die aitiologischen Erzählungen verlaufen zum Großteil nach Varianten über einander gleichende Muster;477 besonders auffällig ist dies etwa bei Aitia für die Benennung von Flüssen, die nahezu immer mit dem Katapontismos der Hauptfigur enden, deren Namen die Fluten fortan tragen.478 Die Helden der Geschichten sind oft – aber doch nicht immer – weniger zentrale oder gänzlich unbekannte Gestalten.479 Der wesentliche Unterschied etwa zu paradoxographischen Werken liegt im Umgang mit Quellen: Nach kallimacheischem Prinzip belegt der Autor sorgfältig die Quellen seiner Informationen – doch muss wohl nicht nur ein Großteil (aber eben nicht die Gesamtheit) der zitierten Autoren als fiktiv gelten, auch die genannten Werktitel sind im Grunde Variationen über einige Stereotype.480 Geradezu ein unmögliches Unterfangen erscheint es hier, ‚gefälschtes‘ von authentischem Material zu trennen. Und so hat die Philologie des 19. und 20. Jahrhunderts die Schrift De fluviis mit einer gewissen vorwurfsvollen Haltung unter der sog. ‚Schwindelliteratur‘ eingeordnet. Hose481 weist in Auseinandersetzung mit der Rezeption von Ptolemaios Chennos’ Kαινὴ ἱστορία darauf hin, dass ein solcher Vorwurf der Fälschung zum Zwecke der 473 474

475 476

477 478 479 480

481

Vgl. Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 7-14. S. Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 44-60; vgl. Delattre 2011, S. 37-42. S. im Einzelnen Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 19-23. S. ebd., S. 23-30; vgl. Delattre 2011, S. 32. Ders., S. 33-7 hebt gleichwohl auch stilistische Besonderheiten hervor. Vgl. Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 16f. Vgl. ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 17. S. ebd., S. 60-91, insbes. 60-3; vgl. auch Ziegler 1951, S. 870, der unter anderem „13 περὶ ποταµῶν, 9 περὶ λίθων, 3 περὶ ὀρῶν [...], 6 Φρυγιακά, 3 Θρᾳκικά, 3 Ἰνδικά“ zählt; Delattre 2011, S. 24-30. S. Hose 2008.

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Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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Täuschung im Laufe der Rezeptionsgeschichte dort entsteht, wo die Rezipienten den ursprünglichen Kontext des Werkes nicht mehr kennen und mögliche Hinweise zur Rezeption nicht mehr verstehen; so können Ansprüche zur Verwertbarkeit der Inhalte entstehen, die notgedrungen enttäuscht werden. In diesem Sinne versucht Delattre482 eine neue Herangehensweise, indem er nicht die Kategorien ‚wahr‘ und ‚falsch/gefälscht‘ auf den Text anwendet, sondern ihn – als seltenes Schaustück einer „tradition ‹pseudoparadoxographique›“483 – unter dem Aspekt der Fiktionalität betrachtet. Weitaus bedeutsamer als die Frage, ob ein Hermesianax von Zypern einen Mythos von der Entstehung zweier böotischer Berge erzählt oder ob er je existiert hat, ist im vorliegenden Zusammenhang – abseits einer angemessenen Gesamtdeutung und -würdigung des Werkes –, ob der Mythos selbst in vergleichbarer Form in der Tradition existierte oder ob Pseudo-Plutarch ihn, mit Helikon und Kithairon in der neuen Hauptrolle, nach einem bekannten Muster gebildet hat. Für beides finden sich Beispiele in De fluviis.484 Bekannte Motive der Mythologie, die auch in De fluviis mehrfach vorkommen, sind das rivalisierende Brüderpaar, der Verwandtenmord, Katakremnismos (wenn auch in der Regel als bewusster Selbstmord, nicht als Mord oder unfreiwilliger Sturz).485 Insofern erscheint Fluv. 2, 3 also recht austauschbar. In zwei Punkten sticht das Aition von Helikon und Kithairon jedoch hervor. Es handelt sich, wie bereits erwähnt, einerseits um das Element der Entstehung durch Verwandlung, das das der bloßen Benennung ersetzt; andererseits um die gänzlich vom sonstigen Schema in De fluviis abweichende Tatsache, dass neben dem Namen der Berge zusätzlich ihre kultischen bzw. mythologischen Assoziationen begründet werden, ohne dass zudem ein Stein oder eine Pflanze im gleichen Kapitel Erwähnung finden.486 Für die Metamorphose in einen Berg gibt es in De fluviis, wie bereits erwähnt, drei weitere Beispiele. In Fluv. 11, 3 wird die Entstehung der beiden thrakischen Gebrigszüge Rhodope und Haimos erklärt: Sie sind Schwester und Bruder, die sich, ineinander verliebt, gegenseitig ‚Zeus‘ und ‚Hera‘ rufen. Dieser Akt der Hybris wird von den Göttern durch Verwandlung in die gleichnamigen Berge bestraft. In Fluv. 23, 4 zeugt der Frauenfeind Mithras mit einem Stein einen Sohn, Diorphos. Der fordert Ares heraus und wird getötet; die Götter verwandeln ihn in den 482 483 484 485 486

S. Delattre 2011, S. 54-68. Ebd., S. 57. Vgl. Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 18 und 50-3. S. ebd., S. 16-18; vgl. Delattre 2011, S. 32. Vgl. oben, auch Anm. 462.

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gleichnamigen Berg. In Fluv. 25, 4 ist Lilaios ein Hirte, der einzig Selene verehrt und ihre Mysterien feiert. Die übrigen Götter schicken gekränkt zwei Löwen, die ihn fressen; Selene verwandelt ihn in den gleichnamigen Berg. Die Verwandlung in einen Berg kann folglich entweder eine Strafe sein, wie im Falle von Haimos und Rhodope, oder eine Ehre: Selene, so heißt es, verwandelt ihren Wohltäter (Fluv. 25, 4 εὐεργέτην) in einen Berg; es liegt also eine positive Verknüpfung vor. Die Mythen von Helikon und Kithairon und Diorphos lassen keine Schlüsse über die Implikationen der Metamorphose zu. Es fällt weiterhin auf, dass die Verwandlung sowohl vor dem Tod (Rhodope und Haimos) als auch danach (Helikon und Kithairon; Diorphos; Lilaios) geschehen kann. Die Frage nach der Authentizität dieser Mythen muss in allen drei Fällen ganz unterschiedlich beantwortet werden: Im Falle von Fluv. 25, 4 (Lilaion) ist nicht nur der Mythos unbekannt,487 es gibt auch kein anderes Zeugnis, das von einem Berg Lilaion weiß.488 Fluv. 23, 4 (Diorphos) wiederum hat sich als Variante eines kleinasiatischen Mythos (wo ihn auch Pseudo-Plutarch selbst ansiedelt) erwiesen, der – mit anders benannten Hauptpersonen und leichten Abänderungen mancher Motive – als „erstaunlich fest geformte[s] und beständige[s] Gebilde“489 mehr als drei Jahrtausende überdauert hat: Die erste fassbare Fassung findet sich auf hethitischen Keilschrifttafeln, ihr Held heißt Ullikummi.490 487

488

489 490

Bekannt ist allerdings auch hier das bestimmende Motiv von der Hybris, nur einen einzigen Gott zu ehren: Vgl. Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 263 Anm. 241. Diesen Berg Lilaion verortet Pseudo-Plutarch in der Nähe des Flusses Indos. In Aischylos’ Persern trägt ein persischer Fürst diesen Namen (A. Pers. 208 u. 969), Plinius kennt einen bithynischen Fluss am Schwarzen Meer dieses Namens (nat. 5, 43, 149); vgl. Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 263 Anm. 240. Auch ein wohl mit diesem identischer Fluss Λιλεός wird erwähnt ([Arr.] Peripl. M. Eux. 9). Die Quellenangabe erfolgt in De fluviis nicht gleich im Anschluss an das Aition, sondern an den folgenden Abschnitt. Darin werden die Eigenschaften eines Steins beschrieben, der auf diesem Berg zu finden sein soll. Bezeichnenderweise wir als Quelle eine Schrift Περὶ Ποταµῶν (mit Aristoteles als Autor) angegeben. Möglicherweise besteht darin ein solcher (indirekter) Rezeptionshinweis für ein gelehrtes Publikum, wie sie Hose (2008; vgl. oben) für die sog. ‚Schwindelliteratur‘ annimmt. Vgl. ähnlich Delattre 2011, S. 225 Anm. 8 ad loc. Burkert 1979, S. 261. S. Burkert 1979 für eine detaillierte Analyse, der zudem zu Pseudo-Plutarch bemerkt: „Auch der kritische Philologe muß in diesem Fall wohl zur Kenntnis nehmen, daß selbst bei einem überführten Fälscher auf die Falschheit der

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Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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Das Haimos-und-Rhodope-Aition in Fluv. 11, 3 scheint zunächst überaus instruktiv für die Einordnung des Helikon-Kithairon-Aitions: Dem liebenden Geschwisterpaar steht wie ein Gegenstück das rivalisierende gegenüber. Die in beiden Aitia angebrachte, in De fluviis so seltene Metamorphose wirkt wie eine Notwendigkeit des Plots: Das übliche Schema kann kaum Anwendung finden, denn ein Berg, auf dem etwa zwei Figuren sterben, kann doch nur nach einer benannt werden; eine Geschichte wiederum, in der die Hauptfiguren an zwei unterschiedlichen Orten das Leben verlieren, bringt ganz andere dramaturgische Probleme mit sich. Es mag also durchaus scheinen, als habe der Autor diese zwei Mythen aus diesem Grund auf diese Weise gestaltet. Jedoch erweist sich das Rhodope-Haimos-Aition gar nicht als seine Erfindung: Denn auch Ovid kennt es und muss es für seine Rezipienten nur in den wesentlichen Punkten andeuten.491 Nach wie vor besteht die Möglichkeit, dass der Mythos von Helikon und Kithairon für die Schrift nach dem Vorbild von Rhodope und Haimos gestaltet sei. Doch weisen zwei Indizien darauf, dass der Mythos als bekanntes Aition seinen Weg in die Sammlung gefunden hat. Dafür spricht einerseits, dass Fluv. 2, 3 nicht in das reguläre Schema eingepasst ist: Die Stelle steht als Alternative zu einem vorher erzählten Aition zur Benennung des Berges Kithairon, nämlich zu Fluv. 2, 2 mit der unglücklich in den Hirten Kithairon verliebten Erinye Tisiphone.492 Der Helikon kommt von außen als weiteres aitiologisiertes Landschaftselement hinzu. Der auffällige Ausgang schließlich, der – einzigartig in De fluviis – den Bergen nicht nur zu einem Namen, sondern auch zu kultischen Assoziationen verhilft, macht es noch wahrscheinlicher, dass Pseudo-Plutarch hier in der Tat ein existierendes Aition referiert – und um Belege für seine Existenz muss man, wie Tzetzes und die Odysse-Scholien zeigen, ja in der Tat nicht verlegen sein.

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Fälschung kein Verlaß ist“ (ebd., S. 261). S. Ov. met. 6, 87-9. Unklar bleibt, ob es sich auch bei Ovid um liebende Geschwister handelt. Das Motiv der Hybris durch das kosende Rufen mit Götternamen samt anschließender Bestrafung erscheint auch im Zusammenhang mit anderen Figuren: S. Delattre 2011, S. 139 Anm. 8 zu Fluv. 11, 3. An nur vier weiteren Stellen werden solche Alternativen gegeben: S. Fluv. 6, 1 (Fluss Arar); 9, 1 (Fluss Maiandros); 18, 6f. (Berg Mykenai); 24, 1 (Fluss Tigris).

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B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

4.1.2 Die Bedeutung der aitiologischen Tradition für die Interpretation von Korinnas Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon Die Frage, die sich nun für Korinna stellt, ist, ob sich die Aitia fruchtbringend mit ihrem Lied vom Sängerwettstreit vereinbaren lassen. Pages negatives Urteil ist dabei zu einem großen Teil auf seine Version des griechischen Textes zurückzuführen. Entscheidend sind hierbei die Verse 32-4, welche bei Page lauten: ὐκτρῶς . . . . .]ων οὑψ[ό]θεν εἴρισέ νιν ἐ]µ µου[ρι]άδεσσι λάυς·493

So ergibt sich für die gesamte Strophe (V. 29-34) folgende Übersetzung: But he, possessed with cruel grief, Helicon, tore out a bare rock: the mountain shuddered: he pitiously groaning dashed it from on high into a myriad stones.494

Der Helikon verhält sich vollkommen unangemessen: Er schleudert als beleidigter Verlierer Steine um sich und zeigt sich also tatsächlich „certainly not better-mannered than Cithaeron“495, wie es der Autor von De fluviis will. Auch ist ein Sängerwettstreit mit trotzigem Verlierer keine tödliche Fehde zwischen Brüdern im Stil der Ödipussöhne; einzig das Element der Rivalität ist erhalten. Diese Version beruht im Wesentlichen auf der Konjektur [496νιν ἐ]µ in Vers 34. Denn das ergänzte νιν nimmt den „ragenden Fels“, (V. 31 λιττάδα [π]έτραν), als Akkusativobjekt zu εἴρισε (V. 33f.) wieder auf. Page selbst sieht in den Gestalten „the eponymous heroes of two celebrated mountains [...], whom we suppose to be powerful and august members of the backward pantheon of Boeotia“497. Manche fassen Helikon und Kithairon jedoch auch ‒ wie es ohne Blick auf die aitiologischen Mythen zunächst auch naheliegen

493 494 495 496 497

Die Konjektur übernimmt Page von Wilamowitz und Schubart 1907, S. 28. Page 1953, S. 20. Ebd., S. 22. Für den Übergang von V. 33 zu V. 34 vgl. oben Abschnitt B.III.2.1 Anm. 2. Page 1953, S. 20.

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Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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mag ‒ als die personifizierten Berge selbst.498 In der Folge wirft dann der Helikon Teile seiner selbst von sich, in Gestalt entweder des tatsächlichen Landschaftselements ‚Berg‘ oder der zugehörigen Berggottheit.499 Diese Version ist von den aitiologischen Varianten noch weiter entfernt. Ebert nähert sich von der anderen Seite:500 Er gebraucht die Aitia, und insbesondere De fluviis 2, 3, als Anstoß für seine überzeugenden alternativen Konjekturen, deren Ausgangspunkt wiederum Vers 34 ist. Ebert ergänzt [ϝε σοὺ]µ,501 mit dem reflexiven ϝε als Objekt zu εἴρισε und mit σοὺ]µ, das die „tausenden Steine“ (V. 34 µου[ρι]άδεσσι λάυς) vom zerschmetterten Produkt des herabgeworfenen Felsens zum Steinschauer macht, der den Sturz begleitet. Das inhaltliche Ergebnis von Eberts Konjekturen insgesamt ist ein trauriger (menschlicher) Verlierer, der sich im Gram den Fels herabstürzt, sodass „Korinnas Version – bei allen Unterschieden – [...] in zwei Hauptelementen (Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon / Tod Helikons) mit der sonstigen Überlieferung überein[stimmt]“502. Und in der Tat ist dieser Version inhaltlich im Vergleich der Vorzug zu geben.503 Denn so viel Willen zur mythischen Innovation man Korin498

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Vgl. etwa Vivante 1979; Snyder 1984, S. 127f.; Clayman 1993, S. 635; Rayor 1993, S. 224-6; Veneri 1996, S. 74-7; Kanavou 2007; Klinck 2008, S. 153-5. Unentschlossen zeigen sich Larmour 2005, S. 26-31 u. 33, Vergados 2012. Der Schritt vom personifizierten Berg zur anthropomorphen Gottheit ist, wie Kanavou 2007, S. 46-50 betont, nicht weit: Die Übergänge sind fließend. In der Kunst existieren jeweils eigene Darstellungen beider böotischer Berge in Gestalt eines anthropomorphen genius loci, s. unten Abschnitt B.III.4.2.1 Anm. 532 u. 544. S. Ebert 1978, S. 7-11. Vgl. ebd., S. 7f. Ebd., S. 9. Vgl. dazu noch folgenden ebd. genannten Punkt: „Und obgleich in der Erzählung Korinnas eine Schuld Kithairons nicht erkennbar ist, so ist es doch immerhin der Sieg Kithairons, der den Anlass zu Helikons Tod gibt.“ Eberts weitere Ergänzungen in der vierten erhaltenen Strophe (vgl. dazu den griechischen Text oben in Abschnitt B.III.2.1 mit Anm. 2) bauen rückwärts auf der hier erwähnten Konjektur und den daraus erwachsenden inhaltlichen Konsequenzen auf. Der bewusste Selbstmord schließt gleichzeitig auch anthropomorphe Berggottheiten aus. Inhaltlich plausibler erscheint diese Version, da bekannte Motive darin vorkommen: Selbstmord durch Katakremnismos, auch von einem „ragenden

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na auch zuschreiben mag, ein (Berg) Helikon, der erstens der Fürsprache der Musen entbehrt und zweitens als trotziger Verlierer ein unwürdiges Verhalten an den Tag legt,504 scheint doch um einiges weniger plausibel als ein Wettstreit zwischen menschlichen Kontrahenten, in dem bekann-

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Fels“; Selbstmord im Gram nach Niederlage im Agon; tragischer Ausgang der Rivalität von Helikon und Kithairon wie in den Aitia (vgl. Ebert 1978, S. 8-10 u. 12 sowie oben). Zudem wird die inkonsistent wirkende Zusammenstellung von col. i, V. 29f. λο]ύπησι κά[θ]εκτος | [χαλεπ]ῆσιν und V. 32 ὑκτρῶς (beides eher Ausdruck von leidvollem und bemitleidenswertem Gram) und dem trotzigen Zorn (ausgedrückt durch das Werfen des Felses) vermieden (vgl. ebd., S. 9). Vgl. auch Pseudo-Plutarchs De fluviis, wo die Formulierung ‚διὰ λύπης ὑπερβολήν‘ standardmäßig den Katapontismos oder Katakremnismos des Helden begleitet (s. Calderón Dorda, De Lazzer und Pellizer 2003, S. 23-30). Als trotzige Verliererinnen geben sich, das ist einzuräumen, aber die PierosTöchter, die die Musen zum Wettstreit auf dem Helikon herausfordern, in den Darstellungen bei Ant. Lib. 9 und Ov. met. 5, 294-678, die wohl beide Nikandros’ Heteroioumena zur Vorlage haben (Antoninus verweist selbst auf ihn; für Ovid vgl. Weiler 1974, S. 73 Anm. 150 u. S. 75; Papathomopoulos 1968, S. 87 Anm. 2). Bei Ovid sprechen die Nymphen des Helikon das Urteil zugunsten der Musen (5, 663f.), woraufhin die Besiegten ‚Schmähungen schleudern‘ (vgl. V. 664f. convicia victae | cum iacerent) und von den Musen zur Strafe, dass sie zur Kühnheit der Herausforderung noch die Kühnheit der Schmähung fügen, in Vögel verwandelt werden (vgl. V. 665678). – Bei Antoninus Liberalis reagiert die Natur auf die Darbietung der Pieros-Töchter mit Gleichgültigkeit und Abwendung, während das Lied der Musen die Welt verzaubert (vgl. Ant. Lib. 9, 2). Auf diese Schilderung folgt die Verwandlung: Ἐπεὶ δὲ νεῖκος ἤραντο θνηταὶ θεαῖς, µετέβαλον αὐτὰς αἱ Μοῦσαι καὶ ἐποίησαν ὄρνιθας ἐννέα (Ant. Lib. 9, 3). / „Weil die Sterblichen Streit suchten mit den Göttinnen, verwandelten die Musen sie und machten sie zu neun Vögeln.“ Weiler 1974, S. 75 interpretiert als den Grund für die Verwandlung νεῖκος nicht als die Herausforderung zum Wettstreit selbst, sondern, wie in Ovids Fassung, als Zank nach dem Urteil (dazu passender vielleicht auch das Imperfekt ἤραντο). Dieses sei gefällt durch die merkwürdige Reaktion der Natur, „was in der Bildersprache des Mythographen einem Schiedsspruch über Sieg und Niederlage gleichkommt“ (ebd., S. 75f.). – Und auch ‚Pindar‘ gibt sich in Aelians Version seiner Rivalität mit ‚Korinna‘ nicht als würdevoller Verlierer: Er bezichtigt nach fünffacher Niederlage die Zuhörerschaft der ἀµουσία und nennt Korinna eine Sau (vgl. Ael. VH 13, 25 und oben Abschnitt B.III.3.1.2.1 mit Exkurs).

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Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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te Motive aufgenommen und zugleich einige wenige Elemente erneuert werden.505 Dagegen verfolgt Kanavou506, jedoch ohne konkrete Auseinandersetzung mit dem griechischen Text des Fragments, eine mögliche alternative Tradition: Sie verweist auf moderne griechische Volkslieder aus unterschiedlichen Regionen, die den Streit zwischen Bergen zum Thema haben.507 Die Konkurrenten – in der Tat die personifizierten Berge – preisen darin in der Regel ihre eigenen Vorzüge oder schmähen die minderen Qualitäten ihrer Gegner;508 in manchen Versionen erklären die Berge einander auch den Krieg.509 Die frühesten Fassungen gehen auf das 16. oder 17. Jahrhundert zurück.510 Kanavou schließt auf die Existenz des Motivs der streitenden Berge auch in der antiken griechischen Folklore und wirbt für eine Auffassung der Figuren in Korinnas Lied als personifizierte Berge oder Berggottheiten.511 Nicht einfach zu entschei505

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So eröffnet sich auch die Möglichkeit, dass es sich bei den beiden Sängern um Brüder handelt; dies ist aus den erhaltenen Versen weder sicher zu bestätigen noch auszuschließen. S. Kanavou 2007. S. für eine Zusammenstellung Bees 1944, S. 50-6 u. 242-4. Die prominenteste Paarung in einem solchen Streit ist sicherlich die von Olymp und Kissavos (dem antiken Ossa). Der Helikon und der Kithairon selbst sind nicht unter den streitenden Bergen der verschiedenen Lieder. Es geht dabei entweder um geographische und meteorologische Gegebenheiten, Flora und Fauna oder um die Eigenschaften der auf den Bergen befindlichen Gruppen von Menschen. Vgl. Bees 1944, S. 242-4. Vgl. Kanavou 2007, S. 45. Dabei ist sich Kanavou – anders als etwa Bees 1944, S. 335-41 – durchaus dessen bewusst, dass eine direkte Übertragung von der modernen in die antike griechische Volksdichtung nur eingeschränkt möglich ist (vgl. Kanavou 2007, S. 47). Dennoch gebe es bestimmte gemeinsame Motive, auch Ähnlichkeiten in der Auffassung der Natur (vgl. ebd.). Kanavou erwägt auch den Einfluss der folkloristischen Literatur des (antiken) Nahen Ostens, die streitende Naturelemente – wenn auch keine Berge – durchaus kenne. Stets gehe es dabei – wie in den modernen griechischen Volksliedern – darum, welche der Streitparteien die bessere oder wichtigere sei. Einflüsse dieser nahöstlichen Motive auf die antike griechische Literatur seien erwiesen (beispielsweise in Kallimachos’ viertem Iambos mit seinem Streit zwischen Lorbeer und Olivenbaum); s. ebd., S. 48f. u. 49f. für die daraus resultierende Lesart von Korinnas Wettstreitlied.

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den ist, ob die formale Wettstreitsituation mit Götter-Jury und Wettstreitbeiträgen, die eben nicht die jeweiligen Vorzüge der Gegner, sondern offenbar mythologische Themen zum Inhalt haben,512 näher an der aitiologischen Brüderrivalität oder an der mit etwas einfältigem Stolz versehenen Auseinandersetzung zweier Landschaftselemente liege. Der unleugbare Vorteil, der bei der Identifikation mit der aitiologischen Tradition verbleibt, ist, dass von ihr Spuren – und seien sie noch so gering – aus der Antike erhalten sind und dass Helikon und Kithairon namentlich darin auftreten. Für eine auserzählte Fehde zwischen den beiden konkreten Bergen kann weder die antike noch die moderne Folklore eine Parallele aufweisen.513 Zudem lässt Kanavou den Eindruck entstehen, es handle sich bei der Entscheidung einzig um eine Frage der Präferenz des jeweiligen Motivs.514 Dies ist aber nicht der Fall, auch textliche Erwägungen spielen eine Rolle. So ist die ausschlaggebende Konjektur [ϝε σοὺ]µ auch vor dem Hintergrund des sprachlichen und papyrologischen Befunds weitaus plausibler als das eigentlich nicht annehmbare [νιν ἐ]µ.515 Und selbst unabhängig von Eberts Konjekturen oder inhaltlichen 512 513

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Diese Abweichungen registriert auch Kanavou 2007, S. 46. Kanavou 2007, S. 49 vermutet jedoch, es könne sich bei der aitiologischen Tradition auch um eine spätere Rationalisierung des Streits zwischen den Bergen handeln. – Ein möglicher Anklang an einen solchen Streit, der Kanavou offenbar entgangen ist, findet sich in Him. Or. 66. Dort spricht der Helikon personifiziert zu den Nymphen: Er will sie zur Besinnung bringen, indem er ihnen die Vorteile eines Aufenthaltes auf ihm selbst und die Nachteile eines Aufenthaltes auf dem Kithairon darlegt. Der Kithairon selbst tritt in der Fabel nicht auf. Die narrative Struktur, in die diese Rede eingebettet ist, ist nicht die eines Streits oder Wettkampfes. – Während hier die aitiologischen Mythen genutzt werden, um Hinweise auf den Inhalt und Handlungsverlauf des Liedes zu erhalten, wird Him. Or. 66 (unter anderem) als Ansatzpunkt für seine Deutung dienen; s. unten Abschnitt B.III.4.2.2. Vgl. Kanavou 2007, S. 41f. und auch 45, wo es heißt: „The above should serve as adequate support of the view that Korinna’s mountains need not be seen as human heroes“. Es geht folgerichtig eine Übersicht über Personifikationen von Bergen in der griechischen Mythologie und Kunst voraus (s. ebd., S. 42-5). Dies erläutert Ebert 1978, S. 7-10 detailliert. Umso mehr erstaunt es, dass diese Version nicht uneingeschränkt in der Forschung Verbreitung gefunden hat: Der Konjektur der editio princeps (s. Schubart und Wilamowitz 1907, S. 28) und ihren inhaltlichen Konsequenzen scheint aus Tradition der Vor-

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Erwägungen lässt der reine Textbefund von den Bergen losgelöste Figuren wahrscheinlicher erscheinen.516 Der Charakter des Liedes freilich ändert sich beträchtlich, wenn an die Stelle personifizierter Berge menschliche Figuren treten.517 Denn menschliche Figuren, die die Namen von Bergen tragen – deren eine sich zudem in den Tod stürzt – deuten eigentlich unumgänglich auch auf einen aitiologischen Ausgang des Liedes.518 Für einen solchen Ausgang

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zug gegeben zu werden. So halten folgende nach Eberts Artikel erschienenen Publikationen an ihr fest: Vivante 1979; Skinner 1983, S. 14; Snyder 1984, S. 127f.; Campbell 1992, S. 28f.; Clayman 1993; Rayor 1993, S. 2246; Henderson 1995, S. 33-5; Larmour 2005, S. 26-31; Kanavou 2007; Klinck 2008, S. 153-5. Burzacchini 1991, S. 65 und 78f. belässt die Frage offen (und im griechischen Text die Lacuna), Vergados 2012 u. 2017 druckt Eberts Konjekturen. Entschieden für diese spricht sich Segal 1975/1998 in seinem Addendum aus. Dies führt Berman 2010, S. 47f. vor: „While it is possible that ὄρος in 32 refers to the same entity as ϝελικών in 30, it is far more likely that the δέ preceding ὄρος indicates a change of subject. Use of δέ in this manner is Korinna’s normal practice in this poem. Thus we should, I suggest, understand the name ‘Helikon’ and the mountain, the ὄρος, as separate, or at least somehow delineated, entities. Of course, there is some danger in making such suggestions – if for no other reason, both the name Helikon and the word ὄρος might be questioned here on textual grounds, especially ὄρος. Still, if we do take the δέ as indicating that a translation such as ‘Helikon, possessed with cruel grief, [-ed] a bare rock, and the mountain [-ed],’ [die Satzstruktur sic] we have a distinction between Helikon and mountain that points towards an etiological relationship. That is, that a persona of some type – a man – is meant by ‘Helikon’ here, and, if we follow the natural pattern, the mountain, at this point in the narrative, is yet unnamed, to become the carrier of the defeated singer’s name at some later point in time.“ Ergänzend s. ebd., S. 48 Anm. 17: „Though it is possible that the changed grammatical subject still refers to the same entity, first with a proper name, then with a generic noun, this seems awkward and less probable than the interpretation I suggest.“ – Nicht nur von außen auf den Text zu, sondern auch von innen aus dem Text heraus spricht somit vieles für ein aitiologisches Verhältnis zwischen Figur und Berg. Ist ein solches aber gegeben, ist der Selbstmord gegenüber dem Steinwurf das plausiblere Motiv. Dies spielt im Übrigen auch eine Rolle bei der Datierung Korinnas, vgl. oben Abschnitt B.III.3.1.2.4 mit Anm. 279f. Vgl. Berman 2010, S. 46-48, Ebert 1978, S. 12 und auch schon (wenngleich

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gibt es ein weiteres Indiz: In col. ii, 2 findet sich am rechten Rand die Marginalie επικληθησε|σθαι. Da die Marginalien dieses Papyrus in der Regel eine Art ‚Normierung‘ oder ‚Übersetzung‘ böotischer Formen betreiben,519 ist also mit einer entsprechenden Form im Text zu rechnen. Die mögliche Bedeutung „ge-/benannt werden (werden)“, die einem aitiologischen Ausgang entspräche, erscheint besonders in Kombination mit der Konjektur ϝε[λικὼν für die Folgezeile (col. ii, 3) und ὄρο[ς (col. ii, 5) reizvoll.520 Es erscheint, als würde hier das Aition auserzählt werden mit der Benennung des Berges nach dem an seinem Fuße zerschellten Verlierer. Entsprechendes darf für den Kithairon erwartet werden.521

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unter anderen Voraussetzungen) Schubart und Wilamowitz 1907, S. 48f. – Umgekehrt liegt nun die Vermutung nahe, dass Korinna in der Tat für ihr Lied nicht eine ganz neue Geschichte erfindet, sondern auf einen bestehenden (aitiologischen) Mythos zurückgreift und ihn gegebenfalls umgestaltet. Dies würde ihrer Praxis, soweit sie aus den wenigen Zeugnissen zu ermitteln ist, auch eher entsprechen; s. dazu Collins 2006. – Womöglich in einem Anflug überambitioniert aitiologisierenden Lesens bemerkt Schachter 2005, S. 276 Anm. 6 zu col. i, 34 µου[ρι]άδεσσι λάυς: „This is a remarkably accurate description of the slopes of Mount Helikon, which are covered with scree [...].“ Die Verfasserin führt dieses Zitat nur an, um von ihrer Bekanntschaft mit eben jenem helikonischen „scree“ an einem eisigen Märztag 2015 zu künden, an dem ihr und ihren Gefährtinnen der Weg zur Hippoukrene versagt blieb; und von der Neuerung der Bekanntschaft im September 2018 in anderer Begleitung, die vom Erreichen des Ziels gekrönt war. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Spielarten dieser Normierung präsentiert Vessella 2012. Eine Edition der Marginalien dieses Liedes samt Kommentierung findet sich bei McNamee 2007, S. 237f. Die möglichen Bedeutungen für ἐπικληθήσεσθαι entstammen den Feldern um ‚in Zukunft angerufen, angeklagt, ge-/benannt werden‘, von denen keine per se auszuschließen ist. Sehr entschieden ist Burzacchini 1991, S. 80: „Il senso dello scolio marginale ἐπικληθήσεσθαι non sarà ‚will be invoked‘ (Edmonds 1927, 31), bensì ‚essere denominato in futuro‘“; vgl. so schon Ebert 1978, S. 12; Schubart und Wilamowitz 1907, S. 29 zu V. 55 = col. ii, 2. McNamee 2007 hingegen zieht nur die Bedeutungen „To be ?summoned, ?accused“ (ebd., S. 238) in Betracht. Das Dreieck aus ἐπικληθήσεσθαι, ϝε[λικὼν und ὄρο[ς wird erstmals bei Wilamowitz und Schubart 1907, S. 48f. zu einer aitiologischen Deutung des Liedendes vereint; vgl. auch Ebert 1978, S. 12 mit Anm. 22. So auch Schachter 2005, S. 276; Ebert 1978, S. 12 Anm. 22. Dort wird in

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Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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Eine Deutung in diesem Sinne zieht eine weitere Konsequenz nach sich: Schwer vorstellbar ist es nämlich, dass ein Aition für die Entstehung oder Benennung der Berge Helikon und Kithairon, in dem Dichtung und Musen eine Rolle spielen, endet, ohne dass am Ende der Helikon der Musenberg wird, der er gängigerweise ist.522 Es ist anzunehmen, dass die Musen, die in den Versen col. i., 48f. als „Töchter des Zeus und der Mnemosyne“ (Διὸς Μνα[µοσούνας τ’ ...]κώρη)523 noch einmal in Erscheinung treten, am Ende ihre Zugehörigkeit zum Verlierer oder Berg Helikon zum Ausdruck bringen; ob aus Mitleid oder aus Überzeugung,524 sei erst einmal dahingestellt. So würde – und hieraus ergeben sich für die Deutung weitreichende Konsequenzen – dem Helikon in gewisser Weise nachträglich doch der Vorrang eingeräumt werden; der Sieg Kithairons wäre gar kein uneingeschränkter Sieg mehr.525 Die Dis-

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diesem Sinne für col. ii, 5f. die Ergänzung [Κιθη]|ρὼν κυ[ angeregt. Metrische Einwände können schwerlich erhoben werden, da die Kolometrie innerhalb der letzten Verse durch die Anordnung im Papyrus ohnehin gestört ist, vgl. Burzacchini 1991, S. 80 zu V. 53-63, Harvey 1955, S. 179; s. auch oben Exkurs III nach Abschnitt B.III.3.1.2.3. Dies liegt quasi in der Natur der Sache: Ein Aition erklärt ja gerade (in der Regel) ein Phänomen in der Welt, wie es sich zur Zeit des Dichters vorstellt. Und darin ist der Helikon nun einmal unanfechtbar der Berg der Musen. (Dem schon bestehenden Berg oder Beggott Helikon hingegen könnte man – und wäre es auch plump – seine Verbindung zu den Musen wieder aberkennen.) Die mögliche aitiologische Alternative zu diesem Ausgang wäre, dass am Ende schlicht die zwei Berge als Elemente der böotischen Landschaft stehen, gänzlich ohne irgendwelche Assoziationen. Dies scheint aber doch, angesichts des dichterischen Aufwands, der um die Ausgestaltung der Szene zum musischen Agon betrieben wird, weniger wahrscheinlich als die erste Möglichkeit. – Weniger zwingend als das Produkt ‚Musenberg Helikon‘ ist eine analoge Charakterisierung des Kithairon. Vgl. den griechischen Text in Abschnitt B.III.2.1 mit Crönerts Ergänzung (1908, S. 169; dazu auch Burzacchini 1991, S. 79 zu V. 48f.). Für Mitleid plädiert etwa Skinner 1983, S. 14: „In the missing part of the papyrus, the Muses, who have presided over the contest, may well have consoled the defeated party by making his own mountain the site of their principal shrine.“ Allerdings legt Skinner die Version mit dem Wutanfall und Steinwurf des Verlierers in Berggestalt zu Grunde, nicht etwa jene mit dem unglücklichen Selbstmord der menschlichen Figur. Dieser mögliche Liedverlauf ist bisher in der Forschung noch nicht erwogen

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soziierung von den Musen wiederum erwiese sich als eine scheinbare: Denn die Verbindung wäre in der Tat erst das Ergebnis des Aitions. Die folgende Skizze des Liedendes sei als freies, unverbindliches Gedankenspiel auf Basis der vorangegangenen Betrachtungen verstanden: Möglich ist, dass auf den Sturz des Helikon mit begleitendem Steinschauer (col. i, V. 29-34) zunächst eine Reaktion der Götter (V. 36 ἀµ]β̣ροσίας) folgt, die von dem Zerschmetterten, seinen Gliedern (V. 38 µελ[ί]ων, unter diesen Umständen wohl eher nicht „Liedern“), Kenntnis nehmen. In V. 40 ist eine stürmische Bewegung auf etwas zu notiert (]σόρουσεν und Marginalie εισ):526 Vielleicht stürzt hier einer der Zeugen zum Unglücklichen hin? Oder eher, aus irgendeinem Grund, Kithairon ihm hinterher in die Tiefe?527 In V. 45 geraten wieder die Götter ins

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worden. – Auch in anderen Erzählungen werden Schiedsrichterurteile revidiert: Es existieren Versionen des Wettstreits zwischen Apoll und Marsyas (oder auch Pan), in denen Apoll dem Midas Eselsohren verleiht, weil dieser als Schiedsrichter eine Entscheidung gegen den Gott fällt, der selbstverständlich schließlich als ‚Sieger‘ hervorgeht (vgl. Weiler 1974, S. 42; 48; 61f.; 259). Freilich ist der Mythos nicht uneingeschränkt mit Korinnas Lied vergleichbar, da die Musen nicht selbst (wie Apoll) Teilnehmerinnen des Wettstreits sind. Der musische Agon zwischen Helikon und Kithairon ist auch nicht vom Hybrismotiv bestimmt wie der zwischen Apoll und Marsyas (s. ebd., S. 88f.); Weiler vermutet stattdessen in Hinblick auf die aitiologische Tradition das Thompson’sche Motiv „‘Culture hero fights with his elder brother’“ (ebd., S. 89). Auf der anderen Seite besteht aber auch zwischen den Musen und der Jury, welche die übrigen Götter bilden, ein Autoritätsgefälle bezüglich des Fachgebiets ‚Musik und Dichtung‘, ebenso wie zwischen Apoll und dem Schiedsrichter Midas. ἐ]σόρουσεν oder προ]σόρουσεν kommen nicht in Frage, da das Metrum bei der viertletzten Silbe des Verses eine Länge erfordert (vgl. Burzacchini 1991, S. 79 zu V. 40). ἐσ]σόρουσεν ist möglich, wenn auch für diesen Fall eine Erklärung des Marginalienschreibers zu erwarten wäre (böotisch ἐσσfür ἐξ-); andererseits scheint er eine ähnliche Bemerkung gerade drei Verse zuvor gemacht zu haben (Marginalie εκ in V. 37, die auf böotisches ἐς im Text schließen lässt; vgl. Page 1953, S. 52). Burzacchini 1991, S. 79 zu V. 40 favorisiert das Simplex ὄρουσεν; die Bedeutungen sind sich ohnehin sehr nah. Für die Bewegung ‚auf etwas zu‘ vgl. den Kommentar zur Marginalie εις (ebd.): „Lo scolio a margine εισ fa ipotizzare la presenza di un εν + acc. nel testo.“ Immerhin würde ein ‚vollständiges‘ Aition auch die Entstehung bzw. Benen-

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Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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Spiel (µα]κάρων, vgl. V. 16 µάκηρα Ῥεία, V. 19 µάκαρας, V. 28 µάκα]ρες), zu denen auch das Licht oder der Schein, präsent als Verb, Adjektiv oder Substantiv in φεγ|[γ- (V. 44f.), passen kann.528 Entscheidend aber ist, dass in V. 48f. die Musen als Subjekt eines Satzes auftreten (Διὸς Μνα[µοσούνας τ’ ...]κώρη); vielleicht offenbaren sie hier oder in den Folgeversen, wie oben bereits vermutet, gemäß einem aitiologischen Lauf der Dinge ihre Zugehörigkeit zum Helikon. Denkbar ist auch, dass sie, immer noch in Folge ihrer Eigenschaft als Aufseherinnen über den Wettstreit, die Götter zu einer Aktion auffordern. In den Versen col. ii, 1-11 kann dann die Umwandlung oder Benennung der Berge in Helikon und Kithairon geschehen sein,529 mit einem Abschluss des Liedes.530

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nung des Berges Kithairon erfordern. Er müsste also ein ähnliches Schicksal erleiden wie der Helikon. Eine sehr spekulative Variante wäre zudem eine Klage im Stil einer Totenklage, wie sie Crönerts Konjektur ]ἰὼ φέγ|[γος (1908, S. 169) zur Folge hätte (Burzacchini 1991, S. 79 zu V. 44f. zitiert S. Aj. 859 und S. Tr. 1143), gar durch die Musen für den einen oder die zwei Toten, wie um Achill, Rhesos oder Orpheus (s. dazu Magnelli 2010, S. 168f.). – Ein Demonstrativum (Dat. Pl. m) τῦ|[σι, zu dem sich τῦ (V. 45, Wortanfang, im Papyrus mit Zirkumflex) wohl ergänzen lassen muss (vgl. Page 1953, S. 54), auch in Hinsicht auf den Dativ Singular τῶ in col. i, V. 27 und 28, kann entweder Helikon und Kithairon zusammen (also zwei Tote?) oder die Götter meinen. Dies ergibt sich, wie oben beschrieben, aus der Marginalie ἐπικληθήσεσθαι (col. ii, 2), V. 3 ϝε[λικὼν und V. 5 ὄρο[ς, auch mit V. 5f. [Κιθη]|ρὼν (?). Vgl. auch Schachters Skizze exempli gratia: „…ambrosian (ἀµ]βροσίας)…hair (τρίχα) …limbs or songs (µελ[.]ων)…(possibly Kithairon) rushed (at him) (ἐ]σόρουσεν]…(or he joined Helikon in death, but at any rate they were both killed)…light? (φεγ[γ)…(something involving) the gods (µα]κάρων, and perhaps µακ]άρεσσιν)…the daughters of Zeus and Mnemosyne (Δι[ὸ]ς Μναµοσούνας… κῶρη)…(the gods proclaimed that the mountains) were to be named after (them) (marg.: ἐπικληθήσεσθαι), Helikon (ϝε[λικὼν)…(and) Kithairon (Κιθη]ρών), (where Zeus had been) concealed (]κρου[)…“. Schachter sieht demnach bei einem aitiologischen Ausgang eine Erklärung des Helikon zum Musensitz nicht als zwingend. Er schließt vielmehr: „On this reading what began as rivalry ends on a note of reconciliation“ (2005, S. 276).

578 4.2

B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

Helikon und Kithairon mit ihren Assoziationen in der Gegenüberstellung

Während bei Tzetzes und in den Odyssee-Scholien der Brüderstreit neutral und knapp erwähnt wird, findet in De fluviis eine Charakterisierung und Wertung der beiden Kontrahenten statt. Die Charaktereigenschaften der menschlichen Figuren werden übersetzt in Assoziationen der Orte: Der freundliche Helikon wird Musen-, der unangenehme Kithairon Erinyenberg. Auch an anderer Stelle werden die Berge und die sie begleitenden Konnotationen einander gegenübergestellt, ohne jedoch, dass eine aitiologische Motivation oder eine Handlungsstruktur erkennbar wären. Eine ἔρις zwischen Helikon und Kithairon kann sich also auch auf anderer Ebene äußern. Während die aitiologischen Mythen dazu genutzt wurden, einen möglichen Handlungsverlauf des Wettstreitliedes zu rekonstruieren, sollen die in diesem Abschnitt behandelten Gegenüberstellungen Hinweise zu seiner Interpretation liefern. 4.2.1 Die Assoziationen Zunächst gilt es, die Assoziationen der beiden Berge herauszustellen. Der Helikon ist, wie gesehen, kultisch und literarisch vor allem Berg der Musen, der hesiodeischen Dichtung und der Dichtung schlechthin.531 In dieser Funktion tritt er bisweilen auch personifiziert auf.532 Er erweist sich als Μουσῶν ἐνδιαίτηµα (Ps.-Plu. Fluv. 2, 3) in jeglicher Hinsicht. 531

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Vgl. oben Kap. A.II. Auch Poseidon, der in Onchestos am Fuße des Helikon einen Kult hatte, ist mit dem Berg verbunden; s. Schachter 1986, S. 206-21. Der Grad der Personifikation ist dabei unterschiedlich ausgeprägt. In der Zusammenfassung des Wettstreits zwischen Pieros-Töchtern und Musen bei Ant. Lib. 9, 2 (nach Nikandros) ist der Helikon, auf dem der Agon ausgetragen wird, zunächst ganz Landschaftselement. Er wird in der Folge mit Emotionen ausgestattet; sie rufen eine Reaktion hervor, die sich innerhalb seiner Landschaftlichkeit abspielt: Der Berg wächst entzückt zu einem noch höheren Berg. Vgl. oben Abschnitt A.II.2.3. – In Kallimachos’ Delos-Hymnos erbleicht die Baumnymphe Melia in Angst um ihren Baum, „als sie sah, wie die Mähne des Helikon erbebte“ (Call. Del. 81f.: ὡς ἴδε χαίτην | σειοµένην Ἑλικῶνος). Das Beben der „Mähne“ – als welche man sich den Baumbestand vorzustellen hat (s. für dieses Motiv in der griechischen Dichtung Ste-

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Der Kithairon weist eine starke kultische Verbindung zu Zeus und Hera auf, denen das für Plataia und ganz Böotien bedeutsame Fest der sogenannten Daidala gilt.533 Im zugehörigen Aition tritt zudem in der Ver-

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phens 2015, S. 127 zu Call. Dian. 41), woher dann auch die Sorge der Nymphe rührt – könnte entweder auf eine abwehrende Geste des Berges zurückzuführen sein oder auf den Umstand, dass auch er flieht (vgl. ebd., S. 194 zu Call. Del. 82); naheliegender scheint aber doch die zweite Möglichkeit, in Analogie zu den fliehenden Landstrichen, Gebirgen, Flüssen und Quellen in den vorausgehenden Versen 70-78. Die beiden Möglichkeiten ergeben notwendig unterschiedliche Implikationen für das Maß an Berg-Sein (vgl. auch Segal 1975/1998 in seinem Addendum, S. 322), doch ähnelt das Bild vom Schütteln der Mähne (hervorgerufen durch ein Beben der Erde) prinzipiell dem bezaubert wachsenden Helikon in Ant. Lib. 9, 2. Es ist Teil einer ganzen Reihe von Personifikationen der Orte und Stätten, die sich aus Furcht vor Heras Zorn weigern, Leto Rast und Raum für die Niederkunft zu gewähren (darunter auch weitere Berge; daneben aber auch personae wie eponyme Nymphen etc.; vgl. Call. Del. 70-196). Die Verbindung zwischen Helikon und Musen wird implizit hergestellt, denn es folgt eine Frage des Ichs an ‚seine‘ Göttinnen, die Musen (vgl. Call. Del. 82 ἐµαὶ θεαὶ εἴπατε Μοῦσαι), über die Natur von Baumnymphen, als würde die Nennung des Helikon sie assoziativ bedingen (vgl. auch Stephens 2015, S. 194f.; Hardie 2016, S. 6874). – Für den sprechenden (Berg) Helikon in Him. Or. 66, 6f., der sich selbst – im Gegensatz zum Kithairon – als Musenstätte präsentiert, samt vorausgehender Kommentierung der Personifikation durch Himerios selbst, s. unten Abschnitt B.III.4.2.2. – Auf der im Tal der Musen aufgefundenen Stele erscheint der Helikon in bildlicher Darstellung als bärtiger Berggott. Zusätzlich gibt er sich als Sprecher in einem der inschriftlichen Epigramme (IThesp 274, 4-7) als „nicht unkundig der Musen“ (V. 5: οὐκ ἀδ[α]ὴς Ἑλικὼν Μου[σ]άων) aus und spricht eine Prophezeiung: Das Land werde wohl gedeihen, wenn die Menschen den Weisungen Hesiods gehorchten (V. 6f.). Vgl. oben Abschnitt A.II.3.2.1.4. – Shapiro 2000, S. 644 (und mit ihm Kanavou 2007, S. 45) verweist in DNP s. v. „Personifikation“ wohl irrtümlich auf die Darstellung des personifizierten Berges Helikon auf einer in München befindlichen weißgrundigen Lekythos. Es handelt sich vermutlich um eine Verwechslung mit der berühmten Lekythos von der Hand des AchilleusMalers: Darauf ist eine Muse dargestellt, die auf einem mit ΗΛΙΚΟΝ bezeichneten Fels sitzt; s. Palagia 1988, S. 573 und unten Kapitel C. Hera trägt unter anderem auch den Beinamen Kithaironia; vgl. Schachter 1981, S. 242f. Für die Kleinen und Großen Daidala – die letzteren „eine Art Hauptfest des Boiotischen Bundes“ (Olshausen und Sauer 2009, S. 223) – s.

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sion, die Pausanias vorstellt, unter dem Namen Kithairon der weise König von Plataiai auf.534 Er erteilt Zeus Ratschläge zur Besänftigung der eingeschnappten Hera. Auch die Nymphen und Pan – typische Berggottheiten – werden auf dem Kithairon verehrt.535 Er ist, ebenso wie der Helikon, ‚ζάθεος‘.536 Entscheidender prägen die Wahrnehmung des Kithairon jedoch, soweit im Spiegel der Literatur lesbar, Mythos und Kult des Dionysos.537 Der Berg ist Ort von rituellen und mythischen Thiasoi und bakchischem Treiben. Heil- und unheilbringende Aspekte des Gottes können gleichsam auf die Landschaft übertragen werden. Anschauliches und einflussreiches Beispiel sind Euripides’ Bakchen mit dem Pentheusmythos, in denen dem Kithairon inhaltlich und strukturell eine entscheidende Rolle zukommt.538 Schachter deutet das Stück als Ausgestaltung eines Aitions der dionysischen Agrionia; die thebanischen AgrioniaThiasoi verortet er auf dem Kithairon.539 Der Kithairon wird im Mythos einheitlich und als Einheit Theben, der Geburtsstadt des Dionysos, zugeordnet.540 So ist er Schauplatz düs-

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Burzacchini 1990, S. 98 Anm. 13, sowie darüber hinaus Schachter 1981, S. 242-250 und 1994, S. 102f.; Rocchi 1989; Knoepfler 2001; Chaniotis 2002; Strasser 2004; Iversen 2007; vgl. auch die kurze Darstellung bei Olshausen und Sauer 2009, S. 222-4. – Zeus hatte unter dem Beinamen Eleutherios zudem einen eigenen großen Kult in Plataia; s. Schachter 1994, S. 125143. Vgl. Paus. 9, 3; ferner Paus. 9, 1, 2, wo erwähnt ist, dass der Berg seinen Namen von jenem König Kithairon von Plataia erhalten habe. S. für die Nymphen, die die Beinamen Sphragitides und Kithaironides tragen, Schachter 1986, S. 185-7, für Pan ebd., S. 195; vgl. ferner Olshausen und Sauer 2009, S. 225f. Mythologische Verbindungen bestehen außerdem auch zu Artemis und Apoll; s. ebd., S. 226f. Vgl. Olshauen und Sauer 2009; S. 228f. für entsprechende Stellen aus der griechischen und römischen Literatur. Vgl. ebd., S. 226 u. 228; Maull und Pieske 1924, S. 906. S. unten Abschnitt B.III.4.2.3.2. Vgl. Schachter 1981, S. 185-192. Vgl. Olshausen und Sauer 2009, S. 227: „Es ist in den Mythen grundsätzlich von ›dem‹ Kithairon die Rede, nicht von den Bereichen, die einzelnen Poleis gehören. Der Kithairon wird als landschaftliche Einheit präsentiert, die grundsätzlich Theben zugeordnet ist – von den Polisstrukturen historischer Zeit ist – chronologisch ›korrekt‹ – nichts zu merken.“ Anschaulich bezeugen dies die Scholien zu Kallimachos’ Delos-Hymnos, die zum Helikon die

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terer und blutiger Mythen des Thebanischen Sagenkreises, deren bekannteste sicherlich die um Pentheus, Aktaion, Ödipus oder Niobe sind.541 Aufgrund dieser Mythen erscheint der Kithairon in der Literatur bisweilen als befleckter, unreiner Ort.542 In der Tragödie wird er mehrmals als Schuldiger an dem Leid dargestellt, dessen Schauplatz er ist,543 und so in gewisser Weise personifiziert.544 Die Charakterisierung als

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Erläuterung ὄρος Βοιωτίας (Schol. Call. Del. 82), zum Kithairon die Erläuterung ὄρος Θηβῶν (Schol. Call. Del. 97) geben. Vgl. Maull und Pieske 1924, S. 907; Olshausen und Sauer 2009, S. 226f. Für antike Aufzählungen s. Luc. Salt. 41; Paus. 9, 2, 3f.; Sen. Oed. 13ff. Olshausen und Sauer 2009, S. 227 charakterisieren die Rolle des Kithairon im Mythos zusätzlich als Ort „Zuflucht [...], der besonderen Götterkompetenz [...] und der Metamorphose“. S. beispielsweise Euripides’ Bakchen, wo es am Ende der schrecklichen Ereignisse heißt: Κιθαιρὼν [...] µιαρός (Ba. 1384). – In Call. Del. 88-98 wendet sich Apoll aus dem Mutterleib an das (vor Leto) fliehende Theben. Er sagt ihm das Blutbad der Niobekinder voraus und schließt, dass weder Theben noch Kithairon seine Amme sein sollen: Denn sie sind nicht rein (vgl. V. 97f.: οὐ σύ γ’ ἐµεῖο φίλη τροφὸς οὐδὲ Κιθαιρών | ἔσσεται· εὐαγέων δὲ καὶ εὐαγέεσσι µελοίµην). – Bei Philostr. VA 4, 22 heißt es von Apollonios von Tyana, er habe die Athener, die in ihrem Theater Spiele mit tödlichem Ausgang für die eingesetzten Verurteilten abhielten, getadelt: Er wundere sich, dass Athene die Akropolis noch nicht verlassen habe. Er wendet sich auch an den Theatergott: µετάστηθι καὶ σύ, Διόνυσε· Κιθαιρὼν καθαρώτερος. / „Zieh auch du um, Dionysos! Der Kithairon ist reiner [sc. als das Theater in Athen mit seinen blutigen Schauspielen].“ Vgl. E. Ba. 1176-8 (Kithairon als Mörder/Erleger des Pentheus); Ba. 1383-7 (Agaue wünscht sich an einen Ort, wo sie den Kithairon nicht sehen kann); Ph. 801-5 (Der Kithairon hätte Ödipus niemals nähren sollen, so der Chor); Ph. 1605-7 (Der Kithairon hätte im Tartaros versinken sollen, so Ödipus); S. OT 1391-3 (Klage des Ödipus an den Kithairon, warum er ihn empfangen und nicht gleich getötet habe). Vgl. auch S. OT 1086-95: Kurz bevor die schreckliche Wahrheit über Ödipus’ Abstammung offenbar wird, prophezeit der Chor dem Kithairon einen ruhmvollen Ruf als Heimstatt des Ödipus. Das so überschwänglich gezeichnete Lob wird durch die folgende Enthüllung ins Gegenteil verkehrt. S. die vorausgehende Anmerkung. Weiter gedacht ist das Verhältnis vom Kithairon zu den mit ihm verbundenen Mythen bei Philostratos: Er beschreibt unter dem Titel „Semele“ ein Gemälde (Im. 1, 14), das eine Empfängnis- und Geburtsszene des Dionysos zeigt. Der Kithairon erscheint da-

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„Winkel der Erinyen“, Ἐρινύων µυχός (Ps.-Plu. Fluv. 2, 3), erweist sich somit als treffende Zusammenfassung dieser Aspekte.545

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rauf sowohl als Berg als auch als anthropomorpher genius loci, vgl. Philostr. Im. 1, 14, 4: ἄκουε τοῦ Πανός, ὡς τὸν Διόνυσον ᾄδειν ἔοικεν ἐν κορυφαῖς τοῦ Κιθαιρῶνος ὑποσκιρτῶν τι εὔιον. ὁ Κιθαιρὼν δὲ ὀλοφύρεται ἐν εἴδει ἀνθρώπου τὰ µικρὸν ὕστερον ἐν αὐτῷ ἄχη καὶ κιττοῦ φέρει στέφανον ἀποκλίνοντα τῆς κεφαλῆς – στεφανοῦται γὰρ δὴ αὐτῷ σφόδρα ἄκων – ἐλάτην τε αὐτῷ παραφυτεύει Μέγαιρα καὶ πηγὴν ἀναφαίνει ὓδατος ἐπὶ τῷ Ἀκταίωνος οἶµαι καὶ Πενθέως αἵµατι. / „Höre Pan, wie er Dionysos zu besingen scheint auf den Gipfeln des Kithairon mit irgendwie bakchischen Sprüngen. Der Kithairon aber wehklagt in Menschengestalt über das Leid, das wenig später auf ihm geschehen wird, und trägt einen Efeukranz, der ihm vom Kopf rutscht – er wurde nämlich sehr unfreiwillig mit ihm bekränzt – und Megaira pflanzt neben ihm eine Tanne und lässt eine Wasserquelle entstehen aus dem Blut von Aktaion und Pentheus, wie ich meine.“ – Für (weitere) bildliche Darstellungen des Kithairon in menschlicher Gestalt als Beobachter von Aktaions Schicksal s. Baziotopoulou-Valavani 1992; Vergados 2012, S. 106 mit Anm. 33. Von einem Kult der Erinyen auf dem Kithairon, wie er durch die Charakterisierung Ἐρινύων µυχός in Ps.-Plu. Fluv. 2, 3 durchaus suggeriert wird, existieren keine archäologischen Spuren; er ist auch sonst nicht direkt überliefert (vgl. Dietrich 1965, S. 108; Schachter 1981, S. 215). Zu beachten sind das vorangehende Aition zur Umbenennung des Berges Asterion in Kithairon in Ps.-Plu. Fluv. 2, 2 (vgl. oben Abschnitt B.III.4.1.1), in dem die Erinye Tisiphone als unglücklich Verliebte eine entscheidende Rolle spielt: Ihre Anwesenheit auf dem späteren Kithairon scheint dabei ganz selbstverständlich und unabhängig von einer konkreten Aufgabe oder Situation. Bei Philostratos Im. 1, 14, 4 ist die Erinye Megaira auf dem Kithairon am Werk; vgl. die vorausgehende Anmerkung. – Die Verwebungen der Erinyen mit Mythen des Thebanischen Sagenkreises (und somit sekundär auch mit dem Kithairon als Schauplatz) freilich sind eng, nicht zuletzt wegen der verschiedenen Verwandtenmorde (vgl. Eitrem 1921, S. 527). So existieren unterschiedlichste Verknüpfungen mit Ödipus und seiner Nachkommenschaft; s. Wüst 1956, S. 108f. Pausanias erwähnt in anderem Zusammenhang die „Erinyen des Laios und des Ödipus“ (9, 5, 15: τῶν δὲ Ἐρινύων τῶν Λαΐου καὶ Οἰδίποδος;), denen man laut Hdt. 4, 149 in Sparta ein Heiligtum gestiftet hatte (s. dazu Dietrich 1965, S. 109; Schachter 1981, S. 215). Der Erinyenkult ist allgemein entscheidend mit dem Ödipusmythos assoziiert (ähnlich stark mit dem Orestmythos), wenn auch nicht ausschließlich; s. ausführlich Dietrich 1965, S. 91-156; auch Wüst 1956. Auch die Tötung des Sohnes durch die

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Der Umstand, dass Dionysos auch Gott des Theaters ist, dass die thebanischen Mythen wiederum als Stoff für die Tragödiendichtung fungieren und zudem Dionysos auch in den thebanischen Mythen eine Rolle spielt – Verwebungen, die viel substanzieller546 sind, als hier nur oberflächlich angedeutet ist –wirken sich auch auf die mit dem Kithairon verbundenen Assoziationen aus: Sie fließen ineinander und führen bis zu seiner Identifizierung nicht nur als Ort des Dionysos oder Ort tragischer Ereig-

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Mutter im Pentheus-Mythos oder die Hybris des Pentheus gegen den neuen Gott erklärten die Anwesenheit von Erinyen. Die bei Philostr. Im. 1, 14, 4 von Megaira gepflanzte Tanne wird manchmal als der Baum interpretiert, auf den Pentheus in Euripides’ Bakchen steigt, um die Bakchen zu beobachten, die ihn so entdecken und zerreißen (vgl. E. Ba. 1063-1113); vgl. so Eitrem 1921, S. 527; Pucci und Lombardo 2010, S. 95 Anm. 79 (Allerdings entbehrt die ebd., Anm. 77 gemachte Angabe, Megaira besitze einen Kult auf dem Kithairon, einer breiteren Grundlage; sie wäre aus den genannten Gründen allenfalls als Interpretation der Textstelle möglich). – Die Frage, ob die Charakterisierung Ἐρινύων µυχός für den Kithairon bei Ps.-Plu. Fluv. 2, 3 sich auf einen tatsächlichen Erinyenkult bezieht oder in übertragenem Sinne zu verstehen ist, ist demnach nicht ohne Weiteres zu beantworten. Dietrich 1965, S. 153f. Anm. 3 hält es für möglich, dass die Bezeichnung aus der Assoziierung von Erinyen und Ödipusmythos erwachsen ist – dann also nicht auf einen existenten Kult hinwiese, sondern als Metapher fungierte. An anderer Stelle (s. ebd., S. 108) wiederum zeigt er sich geneigt, Wüsts These (1956, S. 130) anzunehmen, der die in der Nähe des Kithairon verehrten, Melainai genannten Gottheiten mit den Erinyen gleichsetzt und die Bezeichnung Ἐρινύων µυχός von ihnen ableitet. Eine Gegenüberstellung mit dem Helikon, der im gleichen Aition Sitz der Musen wird (vgl. Ps.-Plu. Fluv. 2, 3: Μουσῶν ἐνδιαίτηµα), scheint zunächst ebenfalls die Existenz eines Kultes zu bestärken. Allerdings ist hier wiederum zu beachten, dass auch die Symbolkraft des Helikon einen gewissen Grad der Unabhängigkeit von der kultischen Musenverehrung innehatte. Zudem ist nicht sicher, ob vom Autor von De fluviis überhaupt eine reine Analogie gefordert werden darf. Anzunehmen ist aber, dass, wenn es einen Erinyenkult auf dem Kithairon gab, wohl auch eine aitiologische Verbindung zum thebanischen Sagenkreis existierte. Unabhängig von seiner tatsächlichen Existenz kann also der Kithairon als „Winkel der Erinyen“ in Zusammenhang mit den entsprechenden düsteren Mythen gedacht werden. Als besonders einflussreich sind in diesem Dreieck Euripides’ Bakchen anzusehen.

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nisse, die Inhalt von Tragödien sind, sondern sogar als Ort und Symbol tragischer Dichtung an sich.547 Die mit den beiden Bergen verbundenen Assoziationen werden, wie bereits gesehen, in De fluviis 2, 3 einander gegenübergestellt, eingebettet in einen aitiologischen Kontext. Eine Gegenüberstellung ohne narrativen Kontext548 findet sich in der 66. Rede des Himerios, Rhetoriker in Athen im vierten Jahrhundert nach Christus,549 und in Kallimachos’ Hymnos550 auf das Bad der Pallas. 4.2.2 Himerios’ 66. Rede In seiner 66. Rede, die an eine Schar aufsässiger Schüler gerichtet ist, gibt Himerios eine äsopische551 Fabel wieder: Wenn Apoll anhebe, seine Lyra zu stimmen, versammelten sich um ihn die Musen zum Tanze. Aber auch eine zweite Publikumsschar finde sich zusammen: Bergnymphen aller Art. Diese wünschten, zusammen mit den Musen zu tanzen, brächten aber nur derbe, unharmonische Hüpfer zustande. Die kränkten den feinsinnigen Gott. Er greife jedoch nicht zu gewaltsamen Mitteln, sondern stimme seine Lyra um zu einer raueren Tonart und schlage die Saiten hart mit dem Plektron anstatt weich mit den Fingern. Dies nun habe zur Folge, dass die ganze Natur aufgewühlt aufbegehre gegen die

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Ein Beispiel dieser Verschmelzung findet sich in Him. Or. 66, 6 und, wenn auch subtiler, in Kallimachos’ Hymnos auf das Bad der Pallas; s. dazu die folgenden Abschnitte. „Ohne narrativen Kontext“ soll nicht bedeuten, dass überhaupt kein erzählerischer Rahmen gegeben ist, sondern, dass die Opposition oder Rivalität der beiden Berge nicht den Handlungsverlauf bestimmt. S. unten Abschnitt B.III.4.2.2. Zu Leben und Werk des Himerios s. Völker 2003, S. 1-78. S. unten Abschnitt B.III.4.2.3. Abgesehen vom Bad der Pallas verbirgt sich eine solche Opposition möglicherweise auch im Delos-Hymnos: Vgl. Ambühls Bemerkung zu den Versen 79-98 (2005, S. 150, Anm. 225). Vgl. Himerios’ eigene Ankündigung im ersten Abschnitt der Rede, er werde sich Äsop als Gehilfen für seine Rede heranziehen und eine Geschichte erzählen, die er unter den äsopischen Fabeln gefunden habe. Die Rede selbst ist nur in Codex R überliefert; auch innerhalb des äsopischen Korpus ist Him. Or. 66, 2-7 = Fab. gr. 432 Perry einzigartig.

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Nymphen, die Ursache der harschen Musik des Gekränkten sind.552 So weit reiche die Empörung, dass der Helikon selbst beginne zu sprechen und seine Rede an die Nymphen wende: Ποῖ φέρεσθε, ὦ Νύµφαι; τίς οὗτος ὑµᾶς πονηρὸς οἶστρος ἐξέµηνε; τί δὲ ἀφεῖσαι τὸν Ἑλικῶνα, τὸ τῶν Μουσῶν ἐργαστήριον, ἐπὶ τὸν Κιθαιρῶνα σπεύδετε; συµφοραὶ ἐκεῖ καὶ πάθη καὶ τραγῳδίας πηγὴ τὰ Κιθαιρῶνος ἐγκώµια. ἐγὼ ποιητὰς ἐκ ποιµένων, ὁ δὲ ἄφρονας ἐκ σωφρονούντων ἐργάζεται· ἐκεῖ µήτηρ κατὰ παιδὸς µαίνεται, καὶ πολεµεῖ τὸ γένος τῷ γένει· ἐνταῦθα Μουσῶν γοναὶ καὶ Μνηµοσύνης κῆποι καὶ αἱ τῶν γεννηθέντων τροφαί. Ἀπόλλωνι µὲν οὖν συγχορευταὶ καὶ ξυµπαίστριαι νῦν τε εἰσὶ καὶ ἀεὶ πάντως µελωδοῦντι παρέπονται· τὸ δὲ ὑµέτερον πάθος δέδοικα, µὴ σκηνῆς τι µέρος καί σκυθρωπῆς ὑµῖν προοίµιον τραγῳδίας γένηται. (7) ἀλλὰ τί ταῦτα; φθάνουσι δήπου τάχα τῆς ἐµῆς δηµηγορίας τὸ πέρας αἱ Νύµφαι· ἡ µὲν ἐκεῖ που πρὸς τὸν θεὸν τῶν Νυµφῶν, ἡ δὲ µέλλει, ἡ δὲ ὅσον οὔπω τῷ χορῷ τούτῳ προσπείσεται. δειναὶ γὰρ αἱ τής Ἀπόλλωνος λύρας ἴυγγες καὶ πάντα κεστὸν Ἀφροδίτης παριοῦσαι ταῖς χάρισι. Wohin treibt es euch, ihr Nymphen? Was für ein übler Stachel hat euch rasend gemacht? Warum verlasst ihr den Helikon, die Werkstatt der Musen, und eilt zum Kithairon? Dort gibt es Unglück und Leid und die Loblieder des Kithairon sind Quelle von Tragödie. Ich schaffe Dichter aus Hirten, er aber Unbesonnene aus Besonnenen! Dort rast die Mutter gegen das Kind, und Geschlecht kämpft gegen eigenes Geschlecht; hier aber sind die Sprosse der Musen und die Gärten der Mnemosyne und Nahrung für die Geborenen. Ja, sie sind jetzt dem Apoll Tanzgefährtinnen und Gespielinnen und begleiten ihn auch auf jeden Fall immer, 552

Vergleichbar ist die gewissermaßen umgekehrte Reaktion der Natur beim Wettstreit zwischen Musen und Pierostöchtern, vgl. Ant. Lib. 9, 2: Ὅτε µὲν οὖν αἱ θυγατέρες ᾄδοιεν τοῦ Πιέρου, ἐπήχλυεν πάντα καὶ οὐδὲν ὑπήκουεν πρὸς τὴν χορείαν, ὑπὸ δὲ Μουσῶν ἵστατο µὲν οὐρανὸς καὶ ἄστρα καὶ θάλαςσα καὶ ποταµοί, ὁ δ’ Ἑλικὼν ηὔξετο κηλούµενος ὑφ’ ἡδονῆς εἰς τὸν οὐρανόν, ἄχρις αὐτὸν βουλῇ Ποσειδῶνος ἔπαυσεν ὁ Πήγασος τῇ ὁπλῇ τὴν κορυφὴν πατάξας. / „Als nun die Töchter des Pieros sangen, wurde alles dunkel und hörte nicht auf Gesang und Tanz, unter dem Gesang der Musen aber hielten Himmel, Sterne, Meer und Flüsse ein, der Helikon [auf dem der Wettbewerb stattfindet] aber wuchs bezaubert von Wonne in den Himmel, bis ihn Pegasos auf Geheiß des Poseidon aufhielt, indem er mit seinem Huf den Gipfel trat.“

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wenn er singt; aber bezüglich eures unguten Zustandes bin ich in Furcht, dass er für euch Αkt eines Bühnenstücks und Vorspiel einer düsteren Tragödie wird. (7) Aber was ist das? Die Nymphen kommen wohl rasch dem Ende meiner Rede zuvor! Die eine von den Nymphen ist dort, nah beim Gott, jene ist kurz davor, und die da wird sehr bald diesem Chor hingegeben sein. Sagenhaft nämlich ist der Bann von Apolls Lyra und er übertrifft jeden Gürtel der Aphrodite an Charme. Him. Or. 66, 6f.

Die Botschaft, die Himerios an seine Schüler sendet und die er sie auch selbst zu suchen auffordert,553 wird deutlich: Analog zum Musen- (und Nymphen-)554 Lehrer Apoll wird auch Himerios, zeigen sich seine Schüler aufsässig, nicht mit Gewalt reagieren.555 Vielmehr wird er möglicher553

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Er beendet seine Rede mit folgender indirekten Aufforderung zum Auffinden von Parallelen: „Es ist wohl an euch, zu erraten, ob die Fabel etwas beizutragen hat zur gegenwärtigen Situation“ (Him. Or. 66, 7: εἰ δέ τι φέρει πρὸς τὸν παρόντα ὁ µῦθος, ὑµέτερον ἄν εἴη στοχάζεσθαι). Eine glattere Zuordnung der Rollen ermöglicht folgender Satz, der auf den ersten Blick überflüssig wirkt: „Diese [sc. die Nymphen] scheinen, wenn sie mit den Musen tanzen und singen wollen, Göttinnen zu sein und werden wie Musen angesehen“ (Him. Or. 66, 2: αἱ δὲ ὅταν µὲν ἅµα ταῖς Μοῦσαις χορεύειν βούλωνται, θεαί τε εἶναι δοκοῦσι καὶ ὡσπερεὶ Μοῦσαι νοµίζονται). Denn während die Analogie Apoll=Lehrer, Musen=Schüler ohne Hindernis aufgestellt werden kann, kann Himerios, mit oder ohne Äsop, schlecht eine Geschichte von aufmüpfigen Musen erzählen – ein solcher Wesenszug ist den Göttinnen allzu fremd. Andererseits funktioniert die Zuordnung NymphenAufsässigkeit einwandfrei, aber die Nymphen gehören nicht automatisch zum Gefolge des Apoll – womit das Lehrer-Schüler-Verhältnis vakant bliebe. Der zitierte Satz konstruiert also die Akteure in Äsops(?) Fabel so zurecht, dass sie auf die vorliegende Situation übertragen werden können. Die neu erklärten Nymphen-Musen erzürnen Apoll im Übrigen, indem sie sich im Tanz ganz „unmusisch“ aufführen (vgl. Him. Or. 66, 2 [ὁ Ἀπόλλων] ἀµουσοτάτου χοροῦ πηδῶντος αἰσθάνεται,). Der Verzicht auf körperliche Züchtigung ist offenbar eine pädagogische Überzeugung des Himerios: Vgl. Him. Or. 54, 2; s. auch Penella 2007, S. 71. Dass dieser Aspekt auch hier einen nicht unwesentlichen Teil seines Anliegens ausmacht, zeigt der Umfang, der ihm eingeräumt wird: Denn Himerios verweilt länger bei dem Gedanken der Gewalt und Gewaltfreiheit, in Form eines Tadels des Homer (der in der Ilias einen Apoll zeigt, der gekränkt Pestpfeile verschießt) und eines Lobes des Äsop (der in der referier-

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weise eine rauere Tonart anschlagen – anders als Apoll im übertragenen Sinne. Er kann zuversichtlich sein, dass am Ende die Schüler wie die Nymphen von sich aus, vom unwiderstehlichen Unterrichtsgegenstand bezaubert, wieder zur Besinnung kommen.556 In diesem Zusammenhang von Interesse ist jedoch die Art, wie die Ermahnung formuliert wird. Dem Berg Helikon werden Stimme und Sprache verliehen. Er will die abtrünnigen Nymphen zurückhalten, indem er ihnen die ihm entgegengesetzte Natur des Kithairon, zu dem ihr Weg sie anscheinend führt, vor Augen hält. Bemerkenswert ist hier zunächst das zugrunde gelegte Konzept von Örtlichkeit. Denn die Nymphen sind in der Fabel gar nicht auf dem Weg zum Kithairon – sie tanzen vielmehr zu Apolls Musik und führen sich dabei ungebührlich auf. Das ‚Gehen zum Kithairon‘ hat also metaphorischen Charakter und markiert das Tanzen gegen die Lyra. Dieser metaphorische Charakter mag überraschen, da auch die topographische Präsenz der Berge sehr ausgeprägt ist. Die Grenze zwischen metaphorischer und tatsächlicher räumlicher Bewegung ist aber unter Umständen gar nicht so scharf gezogen: Der Helikon mag im ungebändigten Tanz der Nymphen, der besser zu bakchischen Thiasoi auf dem Kithairon passt, ihre drohende Abtrünnigkeit sehen, die sich in der nächsten Zukunft sowohl inhaltlich als auch räumlich realisieren kann. Möglich ist auch, dass der Helikon selbst das Verhalten der Nymphen in ‚Bergmetaphern‘ kommentiert, ohne dass überhaupt ein räumlicher Zusammenhang besteht; denn vom Helikon als Schauplatz ist nirgends ausdrücklich die Rede.557 Für die Gegenüberstel-

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ten Fabel eben Apoll andere Erziehungsmethoden nutzen lässt); vgl. Him. Or. 66, 3f. Die Metaphorik von der Rhetorik, deren Lehrer Himerios ist, als Musenkunst findet sich in vielen seiner Reden; s. Penella 2007, S. 12; Völker 2003, S. 54-61 und 2006, passim (s. darüber hinaus ebd. für das Motiv der Musen und Musik in Himerios’ Reden insgesamt). In der vorliegenden Rede sagt Himerios von Apoll, er sei einzig „λύρα καὶ λόγος“ (Or. 66, 2). Der ‚Versuchsaufbau‘ in Him. Or. 66, 2 beinhaltet keine Ortsangabe. Die Anwesenheit der verschiedenen Nymphen, zusammenfassend bezeichnet als ὄρειοι δαίµονες (ebd.), legt eine Berglandschaft nahe. Das Aufbegehren der Natur in Or. 66, 5 umfasst „Berge, waldige Täler, Flüsse und Vögel“ (ὄρη καὶ νάπαι καὶ ποταµοὶ καὶ ὄρνιθες). Dass der Helikon Schauplatz des Geschehens ist – und dies mag Zeichen genug sein – wird durch den Umstand suggeriert, dass ausgerechnet er anhebt zu sprechen (und zwar ausdrücklich

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lung von Helikon und Kithairon ist diese Frage nicht von entscheidender Bedeutung. Die Gegenüberstellung der beiden Berge in Him. Or. 66, 6 verläuft parallel. Die Opposition schlägt sich konsequent sprachlich nieder.558 Der Helikon ist mit den zugehörigen Eigenschaften und Assoziationen positiv dargestellt, während der Kithairon durchweg negativ konnotiert wird.559 Die Assoziationen entsprechen dabei den im vorigen Abschnitt benannten: Der Helikon stilisiert sich selbst als Ort von Dichterweihen,560 Einflussbereich und Aufenthalt der Musen561 und Apolls562, als

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Ἑλικὼν αὐτός [Him. Or. 66, 5]), und durch seine eigenen Worte (vgl. Him. Or. 66,6: „τί δὲ ἀφεῖσαι τὸν Ἑλικῶνα [...] ἐπὶ τὸν Κιθαιρῶνα σπεύδετε“; „ἐκεῖ [...] ἐνταῦθα“ etc.; auch 66, 7, wo das Sich-Besinnen der Nymphen als Bewegung zu Apoll hin gezeichnet ist). So strukturieren nach einer anfänglichen, gleichsam einleitenden Charakterisierung der beiden Berge Gegensatzpaare von Pronomina, Adverbien und Partikeln den Text (vgl. die folgenden Paare in Him. Or. 66, 6: ἐγώ – ὁ δέ; ἐκεῖ – ἐνταῦθα; Ἀπόλλωνι µέν – τὸ δὲ ὑµέτερον). Eine vergleichbare Figur findet sich bei Klemens von Alexandria. Er stellt dem Kithairon mit seinen Eigenschaften, die die gleichen Felder abdecken wie in der Darstellung des Himerios, den göttlichen Λόγος als Berg gegenüber, auf dem die reineren Weihen zu empfangen seien (vgl. Clem. Al. Protr. 12, 119, 1f.). Zuvor fordert er, sozusagen aus der Gegenperspektive zu Himerios’ Helikon, dazu auf, Helikon und Kithairon (für ihn in gleicher Weise Stätten heidnischen Glaubens) zu verlassen und zum Berg Zion (von dem sich eben jener Λόγος Gottes verbreite) zu ziehen (vgl. Protr. 1, 2, 2f.). Vgl. die Anspielung auf Hesiods nunmehr zum Topos gewordene Dichterweihe (Hes. Th. 22-35; s. oben Abschnitt A.II.2.2 u. Kap. B.I): ἐγὼ ποιητὰς ἐκ ποιµένων [sc. ἐργάζοµαι]. Vgl. die Phrasen „τὸ τῶν Μουσῶν ἐργαστήριον“, „ἐνταῦθα Μουσῶν γοναὶ καὶ Μνηµοσύνης κῆποι καὶ αἱ τῶν γεννηθέντων τροφαί“ und den Folgesatz „Ἀπόλλωνι µὲν οὖν συγχορευταὶ καὶ ξυµπαίστριαι νῦν τε εἰσὶ καὶ ἀεὶ πάντως µελωδοῦντι παρέπονται“. Völker 2003, S. 344 Anm. 26 und Penella 2007, S. 96 Anm. 77 verstehen unter τῶν γεννηθέντων die Musen (als Kinder der Mnemosyne). Völker vermutet zudem einen Bezug zum vorherigen Satz, wo die entsprechende entgegengesetzte Beschreibung des Kithairon lautet: ἐκεῖ µήτηρ κατὰ παιδὸς µαίνεται, καὶ πολεµεῖ τὸ γένος τῷ γένει. Neben den Mythen um Pentheus und Agaue und um Eteokles und Polyneikes könnten auch Mythen mitschwingen, in denen Mütter ihre Kinder aussetzen (Iokaste den Ödipus, Antiope den Amphion und Zethos; vgl. Völker ebd. Anm. 22 u. 23).

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Ort der Dichtung und Musik allgemein.563 Der Kithairon erscheint als Ort unheilbringender (bakchischer) Raserei,564 von πάθη und tragischen Ereignissen,565 aber auch von Theater und Tragödiendichtung566 . Die 562

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Vgl. den Satz „Ἀπόλλωνι µὲν οὖν συγχορευταὶ καὶ ξυµπαίστριαι νῦν τε εἰσὶ καὶ ἀεὶ πάντως µελωδοῦντι παρέπονται“. Der etwas technische Ausdruck „τὸ τῶν Μουσῶν ἐργαστήριον“ lässt die Erwägung zu, dass auch das Dichten als Prozess oder Tätigkeit in die Charakterisierung des Helikon einbezogen wird. Penella 2007, S. 96 Anm. 77 interpretiert die Μουσῶν γοναὶ „in a metaphorical sense (song, dance, etc.)“, gegen Völkers „Heimstatt der Musen“ (2003, S. 344). Vgl. die Anspielungen auf µανία, die sowohl rituell als auch ‚real‘ (im Mythos) ausgedeutet werden kann: „τίς οὗτος ὑµᾶς πονηρὸς οἶστρος ἐξέµηνε“; „ὁ δὲ ἄφρονας ἐκ σωφρονούντων ἐργάζεται“; „ἐκεῖ µήτηρ κατὰ παιδὸς µαίνεται“. Der Name des Dionysos bleibt unausgesprochen, obwohl er die ganze Beschreibung des Kithairon beherrscht. Dionysos erscheint oft, auch namentlich, in Himerios’ Reden, bakchische Rituale und Mysterien durchziehen seine Bildsprache: S. Völker 2003, S. 63-8 und 2006, S. 607f. Möglicherweise soll keine direkte Opposition zwischen Musen und Apoll auf der einen Seite und Dionysos auf der anderen erzeugt werden, zumal die Gegenüberstellung für den Kithairon so negativ ausfällt. Vgl. die Formulierungen „συµφοραὶ ἐκεῖ καὶ πάθη“; „ἐκεῖ µήτηρ κατὰ παιδὸς µαίνεται, καὶ πολεµεῖ τὸ γένος τῷ γένει“ (vgl. Völker 2003, S. 344 Anm. 22 u. 23 und Penella 2007, S. 96 Anm. 77 für die entsprechenden Mythen); „τὸ δὲ ὑµέτερον πάθος δέδοικα“. Der erste entsprechende Hinweis findet sich in der einleitenden Charakterisierung des Kithairon, die wohl als Gegenstück zur Bezeichnung des Helikon als „τὸ τῶν Μουσῶν ἐργαστήριον“ zu verstehen ist: συµφοραὶ ἐκεῖ καὶ πάθη καὶ τραγῳδίας πηγὴ τὰ Κιθαιρῶνος ἐγκώµια. Der Satz kann grundsätzlich auf zwei Weisen gelesen werden: Entweder man fasst „συµφοραὶ ἐκεῖ καὶ πάθη καὶ τραγῳδίας πηγὴ“ als Prädikatsnomen und „τὰ Κιθαιρῶνος ἐγκώµια“ als Subjekt in nur einer elliptischen Phrase (vgl. Völkers Übersetzung [2003, S. 344]), oder man sieht zwei elliptische Sätze, verbunden durch das zweite καὶ (vgl. Penellas [2007, S. 96] sowie obige Übersetzung). Für letztere Möglichkeit spricht, dass durch diese Lesart die Verdoppelung ἐκεῖ/ Κιθαιρῶνος vermieden wird. Gleichzeitig erschiene sonst die prädikative Aufzählung sperrig und inhomogen, da an das konsistente συµφοραὶ [...] καὶ πάθη das eher ungewöhnliche τραγῳδίας πηγὴ angefügt wäre. – Der erste Teilsatz bedarf keiner näheren Erklärung. Der zweite Teilsatz hingegen erschließt sich nicht auf Anhieb. Er ist wohl aber so zu verstehen, dass das, wofür der Kithairon gepriesen werden kann, gleichzeitig das ist, was Tragö-

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Mahnrede des empörten Berges vermittelt also den Eindruck einer Rivalität zwischen Helikon und Kithairon. Die jeweiligen Assoziationen werden vorgetragen und gegeneinander abgewogen. Dies trägt durchaus agonale Züge, wenn auch kein entsprechender Rahmen für einen Wettstreit – geschweige denn einen formalen Wettstreit – gegeben ist. Schließlich fehlt der Gegner: Es spricht nur der Helikon. Andererseits kann wiederum die ‚Rückkehr‘ der Nymphen zu Apoll als Sieg des Helikon gewertet werden. Die (einseitige) Auseinandersetzung ist dabei nicht poetischer Art, der Helikon tritt nicht als Dichter oder Sänger auf. Doch Anlass und Thema seines Plädoyers sind Musik und Tanz und die referierten Assoziationen entstammen diesem Bereich. Vergados bezeichnet Korinnas Ausgestaltung der Rivalität zwischen Helikon und Kithairon als Sängerwettstreit als „understandable“567 und „not an inappropriate representation“568. Beide Berge hätten schließlich – wie auch hier referiert – etwas mit Dichtung und Musik zu tun, der Helikon als Ort der Musen und Hesiods, der Kithairon als Schauplatz von Mythen, die Tragödienmaterial seien. 569 In seiner Interpretation identifiziert Vergados aber, seiner Auslegung des erhaltenen Wettstreit-

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dien mit Inhalt speist – die unglücklichen Mythen nämlich, für die er bekannt ist. Der Begriff ἐγκώµια erhält also einen ironischen Ton (vgl. Völker 2003, S. 344, der interpretierend „‚Ruhm‘ des Kithairon“ übersetzt). Es sei bemerkt, dass ἐγκώµια zudem als Bild einen Bezug zur Dichtung herstellt und auch die vorausgegangene τραγῳδί[α] mit diesem Charakter versieht. – Das Motiv von Theater und Tragödiendichtung findet sich auch in folgendem Satz: τὸ δὲ ὑµέτερον πάθος δέδοικα, µὴ σκηνῆς τι µέρος καί σκυθρωπῆς ὑµῖν προοίµιον τραγῳδίας γένηται. Das Wort προοίµιον und in gewisser Weise auch σκηνή verweisen auf formale Elemente der Tragödie. – Bei beiden aufgeführten Sätzen kann der Einwand vorgebracht werden, dass der Kithairon selbst nicht in erster Linie tatsächlich mit den Aspekten der Tragödiendichtung assoziiert werde. Vielmehr fungierten die entsprechenden Begriffe selbst ja als Metaphern, die mehr auf die Inhalte der Tragödie verwiesen als auf die dichterische Gattung an sich. Doch eine so scharfe Trennung ist wohl nicht notwendig: Denn auch der metaphorische Gebrauch assoziiert die Tragödie mit dem Kithairon, als die zu ihm gehörige Ausdrucksform. Vergados 2012, S. 106. Ebd., S. 107. Vgl. ebd., S. 106f. Vgl. ähnlich Rocchi 1989, S. 310f., die jedoch ebenfalls keine Konsequenzen für die Interpretation zieht.

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beitrags folgend, den Helikon als Repräsentanten für hesiodeische Dichtung und den Kithairon für die Tradition der Hesiodrevision. Der Gedankengang muss aber doch eher aus der anderen Richtung geführt werden: Korinna wählt offenbar bewusst die Gestaltung der Rivalität als Sängerwettstreit.570 Also ist deshalb in der Interpretation eine Identifizierung mit Dichtern oder Arten von Dichtung vielversprechend. Beim Helikon sind die Musen, Hesiod, die große Dichtung allgemein geradezu unvermeidlich. Und für den Fall des Kithairon haben sich eine Art dionysischer Poetik und Tragödiendichtung – erst einmal ganz unabhängig von Korinna betrachtet – als plausible Möglichkeit erwiesen. In Himerios’ 66. Rede schließlich findet sich wie eine Bestätigung nicht nur eine Zuordnung dieser Konnotationen an die beiden Berge, sondern sogar eine explizite Gegenüberstellung in diesem Sinne, dazu in vergleichbarem Kontext.571 570

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Dies ist freilich im Grunde eine Konsequenz aus der Annahme einer aitiologischen Tradition wie oben in Abschnitt B.III.4.1.2 geschildert. Die Aussage hätte aber auch Gültigkeit, wenn als Urform ein Streit zwischen Bergen anzunehmen wäre, wie er von Kanavou 2007 vermutet wird (vgl. dazu oben Abschnitt B.III.4.1.2). Himerios, dessen Lebenszeit in das 4. Jh. n. Chr. fällt, ist freilich ein sehr später Autor und es ist zumindest anfechtbar, ob man seine Gegenüberstellung von Helikon und Kithairon als Teil einer auch schon früher verbreiteten Vorstellung annehmen darf. Dies zeigt sich aber ja sowohl in den aitiologischen Mythen (insbes. Ps.-Plu. Fluv. 2, 3) als auch bei Kallimachos, der im Bad der Pallas, möglicherweise auch im Delos-Hymnos, in diesem Sinne operiert. Der Verweis auf Äsop bei Himerios selbst schließlich gebietet ebenfalls eine frühere Einordnung der Fabel, wenn auch nicht mit Sicherheit zu bestimmen ist, in welchem Zeitabschnitt der äsopischen Tradition sie gedacht werden muss. Es stellt sich auch die Frage, wie die ursprüngliche Fassung der Geschichte lautete. Die Personifikation des Helikon ist mit großer Sicherheit nicht Himerios’ eigenes Gestaltungsmittel, sondern in der Tat übernommen: Denn er thematisiert sie explizit und erklärend als erzählerische Figur ‚Äsops‘ (vgl. Or. 66, 5). Dass der Helikon also auch in der äsopischen Fabel spricht, muss angenommen werden. Was er aber sagt, ist weniger sicher. Himerios schließt die Rede des Helikon zwar mit den Worten „ταῦτα ὁ Ἑλικὼν παρὰ Αἰσώπῳ δηµηγορεῖ“ (Or. 66, 7), doch ist kaum zu erwarten, dass sich im äsopischen Korpus eine Fabel fand, die so einwandfrei auf die Situation gemünzt werden konnte (von der Mündlichkeit ganz zu schweigen). Himerios wird wohl entsprechende Modifikationen vorgenom-

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Eine Deutung nach diesem Schema entfernt sich bedeutend aus dem lokal-böotischen Raum. Sie betrachtet die Berge Helikon und Kithairon nicht eng aus der böotischen Perspektive – hier läge für den Berg Kithairon als Lieferant für Assoziationen der Zeus- oder Herakult näher – sondern bezieht eine panhellenische Sichtweise mit ein. Dass dies durchaus mit der gewandten Korinna des dritten Jahrhunderts vereinbar wäre, hat sich gezeigt. Selbstverständlich bleibt zu zeigen, ob sich das Fragment als Ganzes mit dieser Zuordnung in Einklang bringen lässt und auch, ob sich eine solche Deutung überhaupt als tragfähig und produktiv erweisen kann. Bevor dies geschieht,572 soll ein weiterer Text in den Blick geraten, in dem sich ebenfalls, jedoch weitaus subtiler, eine Gegenüberstellung von Helikon und Kithairon findet: Kallimachos’ Bad der Pallas wird sich als wertvolles Instrument für die Interpretation von Korinnas Wettstreit der ‚Berge‘ erweisen. 4.2.3 Kallimachos’ Bad der Pallas Auf eine weitere implizite Gegenüberstellung des unterschiedlichen Charakters von Helikon und Kithairon verweist Vergados573: In Kallimachos’ Hymnos auf das Bad der Pallas werden die Schicksale des Teiresias und des Aktaion parallelisiert (V. 57-136). In dem in den Hymnos eingebetteten Mythos nimmt Athene zusammen mit ihrer Gefährtin Chariklo ein Bad in der Hippoukrene auf dem Helikon (V. 70-74). Teiresias, Sohn der Chariklo, kommt auf einem Jagdzug durstig des Weges und erhascht ungewollt einen Blick auf die nackte Göttin; Athene nimmt ihm deshalb das Augenlicht (V. 75-84). Als Chariklo anhebt zu klagen (V. 85-95), folgt Athenes Trostrede

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men haben. Die Gegenüberstellung mit dem Kithairon wiederum scheint für die Botschaft, die Himerios vermitteln will, kein notwendiges Element zu sein. Dies könnte als Hinweis darauf gewertet werden, dass der Berg ein – in irgendeiner Form ausgestaltetes – Element der ursprünglichen Fassung war. Andererseits zeigt Himerios aber auch an anderer Stelle große Vorliebe für Metaphern aus dem dionysischen Bereich (sowohl Kult als auch Dichtung, vgl. Völker 2003, S. 63-8 und 2006, S. 607f). Auch der Kithairon tritt in Erscheinung, vgl. Him. Or. 8, 8 und 8, 17. S. unten Abschnitt B.III.5. S. Vergados 2012, S. 107.

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Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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(V. 96-130). Sie gliedert sich in den Verweis auf äußere Notwendigkeiten (V. 97-106), die Schilderung des zukünftigen, weit unglücklicheren Schicksals des Aktaion (V. 107-118) und die Gewährung von Gaben an Teiresias (V. 119-130). Der paradigmatische Gebrauch des Aktaion-Mythos in tröstender Funktion574 zielt auf das Aufzeigen von Parallelen ab.575 Der springende Punkt dabei ist, dass Aktaion für das gleiche Vergehen wie Teiresias ‒ auch er wird eine badende Göttin schauen, nämlich Artemis ‒ eine weit härtere Strafe ereilen wird: Seine Hunde werden ihn zerreißen. Die beiden Geschichten haben also einen signifikant unterschiedlichen Ausgang, insbesondere wenn man zusätzlich den segensreichen Gaben Beachtung schenkt, mit denen Athene Teiresias bedenkt. Der Schauplatz von Aktaions schrecklichem Ende ist dabei traditionellerweise der Kithairon:576 „Thus the outcome of two almost identical stories seems to be predicated by the character of the mountain that functions as the stage where these stories unfold.“577 4.2.3.1

Die Darstellung der Landschaft in Call. Lav. Pall. 57-136

Die Gegenüberstellung von Helikon und Kithairon mit ihren unterschiedlichen Assoziationen ist nicht nur ein zufälliges oder oberflächliches Merkmal, sondern ein wichtiges Gestaltungselement der TeiresiasEpisode.578 So ist der Berg die Perspektive, von der aus sich die Erzäh574

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Zu diesem Gebrauch vgl. Bulloch 1985, S. 218 zu V. 107-18: „This use of mythological exemplum to offer consolation was standard practice in all periods […].“ Auffällig ist die hellenistische Verlagerung in die Zukunft, vgl. Ambühl 2005, S. 132-4. Dabei sind die beiden Mythen bewusst so ausgestaltet, dass sich diese Parallelen ergeben, vgl. McKay 1962, S. 100; Bulloch 1985, S. 218f. zu V. 10718; Heath 1988, S. 78-80; Lacy 1990, S. 31f.; Ambühl 2005, S. 134-9. Dabei ist umstritten, welcher Mythos dem anderen angepasst wurde (vgl. Ambühl 2005, S. 133f. mit Anm. 159). Zu Kallimachos’ Verwendung der Mythen vor dem Hintergrund ihrer Traditionen s. Ambühl 2005, S. 99-101 für Teiresias, Lacy 1990 für Aktaion, jeweils auch mit weiteren Literaturverweisen. Vgl. Lacy 1990, S. 32 mit Anm. 39; s. auch Vergados 2012, S. 107. Vergados 2012, S. 107. Die Kontrastierung der beiden Berge erweist sich somit als viel essenzieller

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lung entfaltet. – Die eigentliche Handlung beginnt an der Hippoukrene auf dem Helikon: δή ποκα γὰρ πέπλων λυσαµένα περόνας ἵππω ἐπὶ κράναι Ἑλικωνίδι καλὰ ῥεοίσαι λῶντο· µεσαµβρινὰ δ’ εἶχ’ ὄρος ἁσυχία. ἀµφότεραι λώοντο, µεσαµβριναὶ δ’ ἔσαν ὧραι, πολλὰ δ’ ἁσυχία τῆνο κατεῖχεν ὄρος.

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Einmal lösten sie die Spangen von ihren Kleidern | bei der schön strömenden helikonischen Pferde-Quelle | und badeten; die mittägliche Stille beherrschte den Berg. | Sie badeten beide, mittäglich waren die Stunden, | große Stille hielt jenen Berg beherrscht. Call. Lav. Pall. 70-74

Kallimachos nimmt sich Raum für die Beschreibung des Settings: Die geographische Lokalisierung des Geschehens, die zunächst erfolgt, umfasst den gesamten Vers 71; in den Versen 72-74 wird der so bestimmte Ort aufgeladen mit einer statischen, spannungsvollen Atmosphäre. Sie wird durch die gemächlichen, leicht variierenden Wortwiederholungen hervorgerufen.579 Die beiden entscheidenden Elemente zur Erzeugung der Atmosphäre ‒ die Mittagszeit, die Stille580 ‒ werden dabei an die

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als bei Vergados 2012, S. 107 ersichtlich. Vgl. Bulloch 1985, S. 177f. zu V. 70-84: „The passage consists almost entirely in the creation of atmosphere with a minimum of movement and action […]. The tension is built up by formal means: first, in order of presentation which places the naked bathing unemotionally (with emphasis on geographical detail) at the beginning, separate from the description of the menacing stillness, which follows in a second stage acting as atmospheric preparation for the third stage, the intrusion; secondly, in the expression, which enacts the monotony of the sultriness, vv. 73f. restating v. 72, with slight variants extending each point: λῶντο → ἀµφότεραι λώοντο, µεσαµβρινά → µεσαµβριναί… ἔσαν ὧραι, εἶχ’ → κατεῖχεν, ὄρος → τῆνο ὄρος, ἁσυχία → πολλά… ἁσυχία.“ Es handelt sich um die erwartungsvolle Atmosphäre einer schwanenden göttlichen Begegnung. Der Mittag (vgl. V. 72 µεσαµβρινὰ […] ἁσυχία; V. 73 µεσαµβριναὶ […] ὧραι) ist traditionellerweise „a critical time, when gods might appear and when to encounter or disturb them would mean severe danger“ (Bulloch 1985, S. 179 zu V. 72; vgl. auch Stephens 2015, S. 256 ad loc. und Heath 1988, S. 76f.). Neben den bei Bulloch 1985, S. 180

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Landschaft geknüpft: Der Berg, ὄρος (V. 72; 74), ist von ihnen eingenommen, möglicherweise sogar im Sinne eines Gemütszustands.581 Die so erzeugte, an den Ort gebundene Spannung bleibt auch während Teiresias’ Auftritt in der Geschichte erhalten,582 der Schauplatz

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genannten Stellen, die das Erscheinen (bzw. Nicht-Erscheinen) von Gottheiten zur Mittagszeit zum Inhalt haben (Hom. Od. 4, 400-6; A. R. 4, 1308-16; Theoc. 1, 15-18; Call. Cer. 38), beachte man auch Platons Phaidros, wo sich Sokrates in Bezug auf sein Sprechen als νυµφόληπτος darstellt. Sowohl der Ort ‒ Sokrates und Phaidros haben für ihr Gespräch die Stadt verlassen ‒ als auch die Tageszeit ‒ es ist Mittag ‒ spielen dabei eine entscheidende Rolle (vgl. oben Abschnitt A.I.3.2.2). – Die Stille (vgl. V. 72 µεσαµβρινὰ […] ἁσυχία; V. 74 πολλὰ δ’ ἁσυχία) ist „the traditional response of nature to a divine epiphany“ (Dodds 21960, S. 213 zu E. Ba. 1084f.; vgl. Bulloch 1985, S. 181 zu Call. Lav. Pall. 72). Vgl. Bulloch 1985, S. 180f. zu V. 72 εἶχ’: „The simple verb is unusual of ‘natural’ phenomena, for which κατέχειν is normally used. […] [T]he effect is perhaps emotive, suggesting that the stillness was almost a personal state or condition[…] V. 74 picks up εἶχ’ with the verb which prompted it, κατεῖχεν […].“ Vgl. ebd., S. 177f. zu V. 70-84: „[…] Tiresias’ appearance is expressed simply and neutrally (v. 76 ἀνεστρέφετο, v. 77 ἤλυθε). This confining of the dramatic action to a minimum and the concentration on atmosphere and individual reactions is typical of Callimachus and many of the later Hellenistic writers influenced by him. […] Most important of all, the scene is not interpreted until the moment when Tiresias appears, and then as economically as possible (v. 76 ἱερόν, v. 78 τὰ µὴ θεµιτά). Even the blinding is presented in terms which are spectatorial (vv. 80f.) and neutrally ‘factual’ (v. 82); the tension is not released until vv. 85ff. with a cry of protest, not from Tiresias but from Chariclo. The fatal event itself is momentary […].“ – Teiresias selbst ist für die in den Versen 70-74 erzeugte Atmosphäre kaum ein Fremdkörper, er dringt nicht wirklich gewaltsam in sie ein; seine Anwesenheit ist schlicht nicht der Themis entsprechend. Zu diesem Eindruck trägt auch seine Sprachlosigkeit bei ‒ er spricht im ganzen Hymnos kein Wort, nach der Blendung raubt ihm der Schreck ohnehin die Sprache (ausführlich beschrieben in den Versen 83f.), und selbst sein Durst, der ihn überhaupt erst an die Quelle gelockt hatte, war schon ἄφατόν τι (V. 77). Auch die Beschreibung seiner Jugend durch den attributiven Zusatz „gerade dunkelnd am Bart“ (V. 75f. ἄρτι γένεια | περκάζων) mit dem Verb, das eigentlich den mit dem Reifeprozess zusammenhängenden Farbwechsel von Weintrauben und Oliven bezeichnet (vgl. LSJ s. v. περκάζω; differenzierter Bulloch 1985, S. 183 ad loc.), ver-

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bleibt als Ort präsent und führt die Handlung. So erscheint Teiresias am „heiligen Ort“ (V. 76 ἱερὸν χῶρον ἀνεστρέφετο), wodurch der von Stille und Mittagsstunde mit Göttlichkeit geladenen Atmsophäre der Verse 7374 eine direktere Bezeichnung entgegengestellt wird. Und er fühlt sich durch seinen Durst angezogen von dem „Strom der Quelle“ (V. 77 ποτὶ ῥόον ἤλυθε κράνας), einer Wiederaufnahme von V. 71 (ἵππω ἐπὶ κράναι Ἑλικωνίδι καλὰ ῥεοίσαι). Die Spannung löst sich erst mit Chariklos klagendem Aufschrei nach der Blendung. Auch er enthält Bezüge zur Landschaft. Er richtet sich zunächst an Athene (V. 85-7), dann an Teiresias (V. 87-89) und schließlich an Chariklo selbst. Dieser dritte, letzte Teil ist der ausführlichste: ὢ ἐµὲ δειλάν, ὢ ὄρος, ὢ Ἑλικὼν οὐκέτι µοι παριτέ, ἦ µεγάλ’ ἀντ’ ὀλίγων ἐπράξαο· δόρκας ὀλέσσας καὶ πρόκας οὐ πολλὰς φάεα παιδὸς ἔχεις.

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Ach ich Unglückliche, | ach Berg, o Helikon, du, den ich nicht mehr betreten kann, | wahrlich, einen hohen Preis hast du erhoben für so Geringes; Rehe hast du verloren | und Hirsche, nicht viele, und besitzt dafür das Augenlicht meines Sohnes. Call. Lav. Pall. 89-92

Chariklos wehklagender Anruf an ihre eigene Person geht über in ein Adressieren des Schauplatzes der Blendung (vgl. V. 89f.).583 Der Zusatz οὐκέτι µοι παριτέ (V. 90) schafft die Verbindung zwischen den beiden Adressaten. Der Helikon bleibt dabei zunächst Landschaft ‒ ein Ort der schrecklichen Erinnerung, den Chariklo nicht mehr betreten kann. In den darauffolgenden Versen 91f. wird aber die durch den Anruf schon angedeutete Personifizierung des Helikon perfekt: Der schematische584 Ausdruck µεγάλ’ ἀντ’ ὀλίγων ἐπράξαο (V. 91) macht die Nymphe und den Berg zu Handelspartnern: Der Helikon zeigt sich nicht fair; der Preis, den er einfordert, ist zu hoch. Im Folgenden wird dies expliziert: Er

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sieht ihn mit einer passiven, vegetativen Nuance (für mögliche dionysische Anklänge s. Hunter 2008=1992; Ambühl 2005, S. 150). Zu Struktur und formalem Gehalt des Trikolons s. Bulloch 1985, S. 199f. zu V. 89f. Vgl. LSJ s. v. πράσσω VI; Bulloch 1985, S. 201 ad loc.

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musste ein wenig Wild, offenbar Jagdbeute des Teiresias,585 hergeben, und hat dafür dessen Augenlicht einbehalten (vgl. V. 91f.).586 So wird dem Berg als Schauplatz eine aktive Rolle im Geschehen zugesprochen. In der Schilderung von Aktaions Schicksal, die Athene entgegnet, findet sich diese Ausrichtung auf die Landschaft gespiegelt: Der Berg ist einerseits präsent in der eigentlichen Geschichte: Drei Verse (V. 110-12) kennzeichnen Aktaion als Jagdgefährten der Artemis, den aber diese Verbindung und die gemeinsamen Jagdzüge in den Bergen, ἐν ὄρεσσι (V. 111), nicht schützen werden. Nachdem sein Schicksal benannt worden ist ‒ seine Hunde werden ihn stattdessen fressen (vgl. V. 114f.) ‒ tritt der Berg neben der einfachen Ortsbestimmung in V. 111 noch einmal in Erscheinung, dieses Mal in seiner Landschaftlichkeit: τὰ δ’ υἱέος ὀστέα µάτηρ λεξεῖται δρυµὼς πάντας ἐπερχοµένα· Und die Knochen des Sohnes wird die Mutter | auflesen, alles Dickicht durchstreifend. Call. Lav. Pall. 115f.

Der Berg wächst sich hier empor zu quälender Räumlichkeit. Das Objekt zu ἐπερχοµένα (V. 116), das das Durchmessen von Raum in jeglicher Art bezeichnet,587 ist δρυµὼς, für sich genommen schon Inbegriff 585

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Dass Teiresias auf dem Helikon jagt, als er auf Athene und Chariklo trifft, ist nirgends direkt gesagt. Die Hunde in V. 75 (ἁµᾶι κυσίν) und Chariklos ‚Rechnung‘ an dieser Stelle deuten an, was die Parallelisierung mit dem jungen Jäger Aktaion (V. 107-118) gewiss macht (vgl. auch Ambühl 2005, S. 116). Die Darstellung des Teiresias als Jäger ist mit fast voller Sicherheit eine kallimacheische Umgestaltung des Mythos (s. Heath 1988, S. 79). Der LSJ zitiert Call. Lav. Pall. 91 s. v. πράσσω VI als Beispiel unter dem Zusatz „metaph. of exacting punishment“. Besonders die Rechnung „Rotwild gegen Sehkraft“ der Verse 91f. legt aber nahe, dass hier nicht ἐπράξαο (V. 91) schon in diesem metaphorischen Sinne zu verstehen ist, sondern dass vielmehr die gesamten Verse 91-3 eine solche Metapher erst erzeugen. Für weitere Metaphern aus dem Bereich der Schulden und finanziellen Transaktionen im Bad der Pallas s. Hunter 2008=1992, S. 137f. Er weist auch auf das mögliche Wortspiel δόρκας – δέρκοµαι hin (vgl. auch schon Bulloch 1985, S. 202 zu V. 91f.). Vgl. LSJ s. v. ἐπέρχοµαι III. Eine gewisse Vorstellung von Raum und Distanz lag auch schon in der Beschreibung der Verbindung von Aktaion und

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von Unwegsamkeit und wilder Natur588. Der Zusatz πάντας aber steigert Autonoes589 Suchen nach den sterblichen Überresten ihres Sohnes zu einem geradezu unmöglichen Unterfangen: Das Grauen nimmt Gestalt an in dieser verdichteten Formulierung, die einem Menschen, der Mutter, den Berg in den Ausmaßen seiner Landschaftlichkeit entgegenstellt. Andererseits, und dies ist nun der eigentliche Bezug auf Chariklos Klage, erscheint der Berg auch in dem Rahmen, den Athene der Aktaion-Erzählung gibt. Sie beginnt und beendet die Geschichte mit der Reaktion der Eltern des Unglücklichen. Der Anfang der Erzählung lautet folgendermaßen: πόσσα µὲν ἁ Καδµηὶς ἐς ὕστερον ἔµπυρα καυσεῖ, πόσσα δ’ Ἀρισταῖος, τὸν µόνον εὐχόµενοι παῖδα, τὸν ἡβατὰν Ἀκταίονα, τυφλὸν ἰδέσθαι. Wie viele Feueropfer wird die Kadmostochter später verbrennen, | wie viele Aristaios, betend, den einzigen | Sohn, den blühend jungen Aktaion, blind zu sehen! Call. Lav. Pall. 107-9

Auf folgende Weise schließt die Erzählung: ὀλβίσταν δ’ ἐρέει σε καὶ εὐαίωνα γενέσθαι ἐξ ὀρέων ἀλαὸν παῖδ’ ὑποδεξαµέναν. Die Gesegnetste wird sie dich heißen und glücklich, | dass du von den Bergen einen blinden Sohn empfangen hast. Call. Lav. Pall. 117f.

Als Rahmen markiert diese Verse der Rückbezug auf die vorliegende Situation; sie erhalten so eine kommentierende Funktion. Athene schildert nicht nur Chariklo zum Trost ein analoges, weit größeres (zukünftiges) Unglück, sondern proklamiert auch ein Bewusstsein für die Analogie der Situation bei den Figuren der Zukunft. Aristaios und Autonoe werden sich verzweifelt ‒ und rückwirkend ‒ für Aktaion dieselbe Strafe

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Artemis (V. 110 σύνδροµος, V. 111 δρόµος, V. 112 ἑκαβολίαι). Vgl. Bulloch 1985, S. 226 ad loc. Autonoe ist nicht namentlich genannt: Sie wird bezeichnet als ‚Kadmostochter‘ (ἁ Καδµηίς, V. 107) und ‚Mutter‘ (µάτηρ, V. 115).

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wünschen, die auch Teiresias empfangen hat; ein blinder Sohn – vgl. die Parallele παῖδα […] τυφλὸν (V. 109) und ἀλαὸν παῖδ’ (V. 118) – ist ein Segen gegen einen toten. Innerhalb dieses Rahmens nun findet eine Verschiebung statt. Die anfängliche Beschreibung der Reaktion beider Elternteile (vgl. V. 107f. πόσσα µὲν ἁ Καδµηὶς […], πόσσα δ’ Ἀρισταῖος) fokussiert sich am Ende auf die der Mutter (vgl. V. 117 ἐρέει [sc. µάτηρ (V. 115)]). Aus den ‚allgemeinen‘ Gebeten und Opfern, deren Ankerpunkt zum Geschehen um Teiresias das Motiv des blinden Sohns darstellt, wird das konkrete Glücklichpreisen der Chariklo, weil sie vom Berg einen blinden Sohn empfangen habe (vgl. V. 118). Hier sind also neben dem Motiv des blinden Sohnes auch das des Berges und das einer Geber-Nehmer-Beziehung aufgenommen. Athene bezieht sich somit ganz direkt auf Chariklos Klage zurück: Dort war Chariklos wehklagender Anruf ihrer eigenen Person übergegangen in die Anrede an den Berg und den Vorwurf des unfairen Handels. Hier wird das Aktaion-Exemplum durch den Rahmen direkt auf den Schmerz der Mutter bzw. der Eltern ausgerichtet, dem Vorwurf an den Helikon wiederum entspricht die zukünftige Einschätzung der Autonoe, dass Chariklo im Gegensatz zu ihr ein gutes ‚Geschäft‘ mit dem Berg gemacht habe. Einen Übergang bzw. eine Verbindung zwischen ‚Mutter‘ und ‚Berg‘ bildet auch hier, entsprechend Chariklos οὐκέτι µοι παριτέ (V. 90), die Schilderung von Autonoes Knochensuche im Dickicht (vgl. V. 115f.). Es ist bezeichnend, dass die Mutter, deren Sohn ‚nur‘ geblendet wurde, das Gefühl hat, den Berg, auf dem es geschah, niemals wieder betreten zu können, während jene, deren Sohn auf grausamste Weise sterben musste, im Gegenteil den ganzen Berg sorgfältig durchkämmt.590 590

Nicht nur in diesem Teil nimmt Athene direkt auf Chariklos Rede Bezug. Es lassen sich vielmehr folgende Entsprechungen ausmachen: Chariklos Anrede an Athene (V. 85-7) ‒ Athenes ‚Rechtfertigung‘ (V. 98-105); Chariklos Anrede an Teiresias (V. 87-89) ‒ Athenes Anrede an Teiresias (V. 105f.); Chariklos Anruf ihrer selbst und des Helikon (V. 89-92) ‒ Athenes AktaionExemplum (V. 107-118). Dieses ‚Programm‘ folgt somit ganz konkret Athenes einleitendem Satz in V. 97f.: δῖα γύναι, µετὰ πάντα βαλεῦ πάλιν ὅσσα δι’ ὀργάν | εἶπας· / „Edle Frau, überdenke noch einmal alles, was du im Grimm | gesagt hast.“ Der letzte Teil von Athenes Rede (V. 120-130) beinhaltet ihre aktive Reaktion auf den Kummer ihrer Gefährtin, nämlich die Gewährung der Gaben an Teiresias. Neben dieser kleinen Parallelität in der

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Es zeigt sich also, dass der Landschaft in der Ausgestaltung der Teiresias-Episode eine wesentliche Rolle zukommt.591 Zudem findet zugleich mit der Kontrastierung der parallelen Geschichten auch eine Kontrastierung der Schauplätze statt. Der Schicksalsort des Teiresias und der des Aktaion werden durchaus unterschiedlich dargestellt. So wird zunächst einmal der Kithairon im Gegensatz zum Helikon nicht namentlich erwähnt. 592 Auffällig ist ebenfalls, dass das Wort ὄρος in den Geschehnissen um Teiresias im Singular erscheint (vgl. V. 72; 74; 90), während es im Aktaionabschnitt beide Male im Plural steht (vgl. V. 111; 118). Der Plural bedeutet an dieser Stelle nicht eine Mehrzahl von Bergen, sondern hat eine verallgemeinernde Funktion, die in der Regel die Konnotation von wilder, ungebändigter und gefährlicher Natur mit sich führt; auf ähnliche Weise besetzt ist δρυµώς (V. 116).593 Die Beschreibung der Landschaft entspricht somit dem Grauen von Aktaions Schicksal.594 Der Helikon hingegen ‒ konkret benannt, durch den Singular fassbar gehalten ‒ ist von göttlicher Präsenz und Vorahnung gezeichnet. Darin kann zwar auch eine Gefahr liegen, doch gibt sie sich weniger gewaltsam und unbegrenzt.595 Zudem verleiht auch die Quelle dem Bild einen lieblichen Ton.596 Chariklos negativen Worte gegen den Helikon,

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Struktur der Reden der Chariklo und Athene liegt auch eine Analogie in der Struktur von Athenes Rede (V. 97-130) und der Komposition der TeiresiasEpisode insgesamt (V. 57-136) vor, s. Bulloch (1985) 208 zu V. 96-106 und passim; vgl. auch die Analyse der Struktur der Teiresias-Episode im Ganzen als Ringkomposition (ebd., S. 163 zu V. 57-136). Auch Ambühl 2005, S. 149 erkennt zwar die Existenz eines „ὄρος-Motiv[s]“, jedoch nicht die Entwicklung darin; s. auch unten B.III.4.2.3.2. Für den Helikon vgl. V. 71 (κράναι Ἑλικωνίδι) und V. 90 (Ἑλικών). In der Schilderung der Aktaionepisode ist hingegen nur von „Bergen“ die Rede, vgl. V. 111 (ἐν ὄρεσσι) und V. 118 (ἐξ ὀρέων). Zu der Signifikanz des Plurals und den Assoziationen von δρυµοί s. Bulloch 1985 zu V. 116 δρυµώς, 228 zu V. 118 ἐξ ὀρέων; man beachte auch ebd., S. 222 zu V. 111 und die gegenseitigen Verweise. Dass ἐξ ὀρέων (V. 118) sich äußerlich auf den Helikon bezieht ‒ Chariklos Situation wird bewertet ‒, tut dem keinen Abbruch: Denn die Sicht ist die der Autonoe, die ihre eigene Situation modifizierend auf Chariklo überträgt. Vielmehr erwirkt die Beschreibung der Verse 70-74 die Kennzeichnung als ἱερὸ[ς] χῶρο[ς], wie in Vers 76 expliziert. Hunter 2008=1992, S. 140 spricht von einem „locus amoenus“. Die χαρίεντα λοετρά (V. 113) der Artemis hingegen beschreiben hier eher

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den Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit, weist Athene durch ihre Gegenüberstellung zurück. 4.2.3.2 Die literarische ‚Vergangenheit‘ und ‚Zukunft‘ der Schauplätze Auch zwischen den zahlreichen literarischen Bezügen und der Darstellung der beiden Berge besteht ein wechselseitiger Zusammenhang. Helikon So ist natürlich die Lokalisierung des Geschehens auf dem Helikon, dazu noch an der Hippoukrene, eine deutliche Reminiszenz an das Prooimion von Hesiods Theogonie: „Helikon und Hippoukrene ‒ keineswegs von der Sache her gebotene Lokalitäten ‒ legen […] den Teiresiasmythos des Kallimachos von vornherein auf Parallelisierung mit der berühmtesten Dichterweihe der griechischen Literatur fest.“ 597 Dies spiegelt sich nicht nur in Athenes Bad in der „Musenquelle par excellence“598 , mittels dessen die Göttin die Rolle der Musen über-

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die Tätigkeit als den Ort, vgl. Bulloch 1985, S. 224 zu V. 113: „The noun usually refers to the place or the water, but is occasionally extended as here to the activity […]: ‘the beauties of the goddess at her bath’.“ Müller 1987, S. 58. Vgl. Ambühl 2005, S. 114f.; auch Heath 1988, S. 82: „Neither Actaeon nor Tiresias has any traditional connection with Helicon, as far as we know.“ Ambühl 2005, S. 115. S. dazu oben Abschnitt A.II.2.2.3. Eine besondere Verbindung zu den Musen lässt auch das Attribut Ἑλικωνίδι (V. 71) für die Hippoukrene erkennen. Denn die weibliche Form der von Ἑλικών abgeleiteten Adjektive wird in der Regel im Zusammenhang mit den Musen gebraucht. Im Folgenden sei eine Übersicht über die Stellen gegeben: Für Ἑλικωνίς, Ἑλικωνιάς und Ἑλικωνία 1) als Bezeichnung oder Attribut der Musen: S. oben Abschnitt A.II.2.3 Anm. 145. 2) im Zusammenhang mit Musik und Dichtkunst (nur Ἑλικωνίς), auch metaphorisch: AP 9, 162, 3; AP 9, 364, 2; GDRK 31, 39; Georg. Gramm. 8, 18 Ciccolella. 3) in sonstigem Gebrauch: a) topographisch (mit oder ohne Bezug zur Musenlandschaft): AP 9, 64, 5 (Asclep. o. Arch.): κράνας Ἑλικωνίδος (!); App. Anth. Epigrammata dedicatoria 242, 2: Θεσπιαῖς Ἑλικωνίαισι; Ath. 13, 71, 23 Kaibel (597d) (= Hermesian. fr. 7, 23 CA): Ἀσκραίων […] Ἑλικωνίδα κώµην; Limen. 3 (Pai. 46, 3 Käppel): νιφοβόλους πέτρας […] [Ἑλι]κωνίδ[ας]; Posidipp. fr.

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nimmt,599 sondern auch in der Verleihung der Sehergabe: Teiresias’ Berufung zum Seher kommt einer Dichterweihe gleich; er übernimmt die

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118, 7 Austin-Bastianini: σκοπιὰς Ἑλικωνίδας (Es handelt sich um eine Konjektur von Schubart aus ελικωλιδες, möglicherweise den Κασταλίδες aus dem Folgevers (V. 8) geschuldet; Lloyd-Jones und Parsons entscheiden sich im SH für Ἑλικωνίδες, dann bezogen auf die Musen); b) als Eigenname: Ἑλικωνίς als Name einer Tochter des Thespios in Apollod. 2, 7, 8; Ἑλικωνιάς als Name einer Bakche in AP 6, 134 (Anacr.), als Bezeichnung für die Hyazinthe bei Dsc. 4, 62. – Neben Ἑλικωνίς, Ἑλικωνιάς und Ἑλικωνία erscheint später auch die Form Ἑλικωνῖτις. Sie findet sich bei Tzetzes einmal als Epitheton der Musen (Tz. ad Hes. Op. 652, Bd. 2, S. 368, Z. 17 Gaisford ταῖς Ἑλικωνίτισι Μούσαις) und erscheint sonst im Kontext einer δαφνηφαγία[] (Tz. ad Hes. Op. proem. S. 16, Z. 9 Gaisford) des Hesiod, die Proklos kommentierend referiert (vgl. Procl. ad Hes. Op. proem. S. 5f. Gaisford); Tzetzes nimmt auf Proklos Bezug (vgl. Tz. ad Hes. Op. proem. S. 1416 Gaisford). Aus Hesiods Musenbegegnung mit Überreichung des Lorbeerzweigs als Stab (Hes. Th. 30f.) werden neun Frauen, die dem zukünftigen Dichter „helikonischen Lorbeer“ (Procl. ad Hes. Op. proem. S. 5, Z. 30 und S. 6, Z. 14 Gaisford δάφνης Ἑλικωνίτιδος, δάφνας λάλους Ἑλικωνίτιδος; Tz. ad Hes. Op. proem. S. 16, Z. 7f. Gaisford δάφνας ἀµαράντους ἑλικωνίτιδας) zu speisen geben, was von Proklos allegorisch ausgedeutet, von Tzetzes ironisch aufgenommen wird. Den Zusammenhang zwischen Hes. Th. 30f. und dem Verzehr des Lorbeers, wie er offenbar im Kontext der Mantik geschah, stellen schon die Scholiasten her (vgl. Schol. Hes. Th. 30). Auch Gregorios Palamas kennt die Geschichte, mit dem gleichen Vokabular (vgl. Greg. Pal. Triade 1, 1, 15 δάφνης φαγὼν ἑλικωνίτιδος). Bei Theokrit finden sich in einigen Handschriften nach Eidyllion 18 bzw. 14 Verse, die sich als Nachwort des Zusammenstellers der Sammlung geben (bei Wendel S. 333, Z. 6-13 verzeichnet nach den Scholien zu 18). Es ist darin von Musen oder Liedern (βωκολικὰς Μοίσας, V. 6) des Theokrit die Rede, die präsentiert werden als seine Schaf- und Ziegenherde, genährt von helikonischen Kräutern, eben Ἑλικωνίτιδες βοτάναι (V. 3). Es ist auffällig, dass die (zugegebenermaßen wenigen und zeitlich divergenten) Belege für Ἑλικωνῖτις so auf den Bereich der Pflanzenwelt fokussiert scheinen – freilich immer mit Musen-Kontext. ‒ Insgesamt zeigt sich eine Beschränkung der weiblichen Helikon-Adjektive auf die Funktion des Musen-Attributs oder -Epithetons mit wenigen Ausnahmen (aufgeführt unter 3.). Vor diesem Hintergrund ist allein von der Wortwahl in der „helikonischen Pferde-Quelle“ (V. 71 ἵππω ἐπὶ κράναι Ἑλικωνίδι) assoziativ die „Helikoniden-Pferde-Quelle“ inbegriffen. Vgl. Ambühl 2005, S. 117; Call. Lav. Pall. 70-4. Athene ist funktional inner-

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Rolle des zu weihenden Dichters.600 Mit der Dichterweihe des Hesiod hat sie äußerlich die Gabe des Stabs und der Fähigkeit, Zukünftiges zu äußern, gemein.601 Die Parallelen gehen aber noch weiter: Sie reichen über die Struktur der beiden Texte hin zu Bezügen zum Kult im Tal der Musen und auf dem Helikon ‒ sowohl um die Musen als auch um Hesiod selbst ‒ und zur biographischen Tradition um Hesiod.602 Auf der textlichen Ebene ist zudem die sorgsame geographische Etablierung des Begegnungsortes von Athene und Teiresias hervorzuheben ‒ sie lässt

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halb der Dichter-/Seherweihe die Weihende, wie die Musen im Prooimion der Theogonie. Sie erhält aber auch, dem Nymphencharakter von Hesiods helikonischen Musen entsprechend, nymphische Elemente: Sie teilt die Gesellschaft der Nymphe Chariklo, mit der sie nicht nur in der Quelle badet (wie die Musen in Hes. Th. 5f.), sondern auch tanzt (wie die Musen in Hes. Th. 3f.; 7f.), zusammen mit weiteren Nymphen (vgl. Call. Lav. Pall. 66f.). Ambühl 2005, S. 116f. erwägt in der Weihung des Teiresias auch eine implizite Umdeutung von Hesiods Dichterweihe in der Theogonie durch Kallimachos: Er suggeriere möglicherweise eine „kausale Verbindung zwischen dem Bad der Musen im Prooimion der Theogonie (5-6) und der unmittelbar darauf folgenden Dichterweihe Hesiods […]“, dass nämlich „Hesiod […] auf dem Helikon die in der Hippukrene badenden Musen gesehen [habe], ebenso wie Teiresias am selben Ort Athene im Bade erblickt“. Vgl. ebd., S. 115. Dichter und Seher sind ohnehin verwandte Figuren, Dichtkunst und Sehergabe eng miteinander verknüpft, s. Barmeyer 1963, S. 10711; Müller 1987, S. 59f.; Ambühl 2005, S. 115 Anm.; ein oft geteiltes Merkmal ist unter anderen ‒ wie hier ‒ die Blindheit. Als Folie für Kallimachos’ Teiresias ermittelt Ambühl 2005, S. 115 neben Hesiod den homerischen Demodokos, dem die Musen das Augenlicht nahmen und im Gegenzug die Sangesgabe verliehen (vgl. Hom. Od. 8, 63f.). Sie verweist nicht nur auf die archetypischen Parallelen (so z. B. auch Müller 1987, S. 60), sondern identifiziert die Odysseeverse auch konkret als weiteren Prätext der kallimacheischen Darstellung. Athene verkündet, sie werde Teiresias einen Stab geben (vgl. Call. Lav. Pall. 127), Hesiod erhält einen Lorbeerzweig als Stab von den Musen (vgl. Hes. Th. 30f.); Teiresias erhält mantische Fähigkeiten (vgl. Call. Lav. Pall. 121-126), Hesiod soll Vergangenes und Zukünftiges besingen (vgl. Hes. Th. 31f.). Vgl. dazu etwa Müller 1987; S. 58f.; Heath 1988, S. 83-5; Ambühl 2005, S. 116; Sistakou 2009, S. 246f. Für die strukturellen Parallelen zwischen dem Prooimion der Theogonie und Kallimachos’ fünftem Hymnos s. Ambühl 2005, S. 117f., für Kult und Hesiodlegende ebd., S. 118-20.

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sich analog zur bedeutsamen Rolle begreifen, die der Landschaft in Hesiods Theogonieprooimion zukommt. Insgesamt entspricht die tendenziell positive Darstellung des Helikon bei Kallimachos als mit Göttlichkeit geladener Ort, als ἱερὸ[ς] χῶρο[ς] (Call. Lav. Pall. 76), somit seinen ‒ positiven! ‒ literarischen und kultischen Konnotationen als Stätte der hesiodeischen Dichterweihe und heiliger Ort der Dichtung. Kithairon Der Kithairon hingegen wird von anderen Konnotationen begleitet. Dass er allgemein ein Ort unglücklicher Mythen ist, die den Stoff der attischen Tragödie ausmachen, wurde bereits gezeigt. Kallimachos’ Bad der Pallas nimmt aber auch selbst Bezug auf die Tragödie. Aus dem „weitverzweigten literarischen Stammbaum“603 sowohl des Aktaion als auch des Teiresias stellt Ambühl insbesondere Euripides’ Bakchen heraus. Sie figurieren in vielerlei Hinsicht als Prätext der Teiresias-Episode.604 So ist bedeutsam, dass in dem Drama die Mythen des Teiresias und des Aktaion schon miteinander in Verbindung gebracht werden: Teiresias tritt als Figur auf, Aktaions Mythos wird als warnendes Exemplum vorgebracht. Dies geschieht durch den Mund des Kadmos, der seinen Enkel Pentheus überzeugen will, Teiresias’ Rat zu befolgen und dem neuen Gott Ehrerbietung zu zeigen, auf dass es ihm nicht ebenso ergehe wie dem – in den Bakchen frevelmütigen – Aktaion.605 Diese Warnung erweist sich im Rückblick als Vorausschau auf Pentheus’ Schicksal, und zwar sehr bildlich: Denn Pentheus wird zerrissen werden, zwar nicht von seinen Jagdhunden, doch von seiner eigenen Mutter und ihrer Schar der Bakchen. Somit dient der Aktaionmythos ebenso wie im Bad der Pallas als Folie für das Schicksal einer Hauptfigur.606 603 604

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Ambühl 2005, S. 141. S. ebd., S. 145-160, wo die vielschichtigen Verknüpfungen und Wechselwirkungen differenziert dargestellt sind. Vgl. auch Manakidou 2015, die auf Ambühls Untersuchung keinen Bezug nimmt, sowie Hunter 2008=1992, S. 140-6. Im Folgenden werden einige der intertextuellen Verflechtungen vorgestellt. Vgl. E. Ba. 337-340. An zwei oder drei weiteren signifikanten Stellen wird auf den Aktaion-My-

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Im Zusammenspiel von Euripides Bakchen und Kallimachos’ Bad der Pallas erweist sich Pentheus so als „der unsichtbare Dritte“607 im Gefüge zwischen Aktaion und Teiresias. Neben der gleichsam nebeneinander laufenden analogen Verwendung des Aktaion-Mythos als Folie werden auch deutliche Querverbindungen zwischen den Texten geknüpft, bis hin zu wörtlichen Anklängen. So ist der kallimacheische Teiresias eng nach dem Vorbild des euripideischen Pentheus gestaltet, was wiederum die entscheidenden Unterschiede zwischen den Figuren deutlich hervorhebt. 608 Weiterhin prägt die Beziehung von Mutter-und-SohnPaaren (Chariklo/Teiresias, Autonoe/Aktaion) Kallimachos’ Hymnos in hohem Grade ‒ wie auch die Bakchen des Euripides in Form der unheilvollen Konstellation von Agaue und Pentheus.609 Die genretypische Frage nach dem Verhältnis von Gott und Mensch, das sich in den Bakchen um die Figur des Dionysos entspinnt, wird im Bad der Pallas aufgenommen und neu bearbeitet; die kallimacheische Athene vollzieht dabei vor der Folie des euripideischen Dionysos „die Wandlung von einer unerbittlich strafenden zu einer mitleidvollen Gottheit“610. Der Bezug zur Tragödie, der sich in der Verwebung mit den Bakchen als Prätext offen-

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thos explizit Bezug genommen (s. E. Ba. 1227f. und 1291; vermutlich auch 1371, vgl. Seaford 1997, S. 256 ad loc.; Ba. 230 ist wahrscheinlich eine Interpolation, vgl. ebd., S. 172 zu E. Ba. 229f.); für die weiteren (impliziten) Bezüge s. Ambühl 2005, S. 147. Kallimachos ändert freilich den Charakter des Exemplums, das Zitat auf die Bakchen bleibt aber erhalten: „[…] Kallimachos [hat] das Aktaion-Exemplum von der Vergangenheit in die Zukunft verlegt, an den Kontext adaptiert und zugleich von einem warnenden in ein tröstendes Beispiel umfunktioniert. Dennoch stellt die Verbindung desselben Mythos in derselben Funktion, der einer Folie zur Hauptfigur, ein deutliches Signal für die intertextuelle Beziehung zu den Bakchen dar“ (ebd., S. 147f.; vgl. Hunter 2008=1992, S. 141; auch Heyworth 2004, S. 157). Ambühl 2005, S. 146. Für die Parallelen, so etwa die Umstände ihres Schicksals, die ausdrückliche Jugend beider Figuren, dionysische Signale, s. Ambühl 2005, S. 148-151; für die Gegensätze, insbesondere bezüglich des Leitmotivs des Sehens, s. ebd., S. 151f. Vgl. auch Hunter 2008=1992, S. 140f.; Manakidou 2015, S. 125f. Vgl. Ambühl 2005, S. 152f. Ebd., S. 155f. Für die Bezüge s. ebd., S. 153-156; auch Manakidou 2015, S. 127f.

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bart, äußert sich auch sprachlich und formal im Bad der Pallas.611 So kommt die Teiresias-Erzählung – sowohl typologisch als auch intertextuell –612 geradezu als „elegiac miniature-drama“613 daher. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Motiv des ὄρος im Bad der Pallas eine neue Dimension. Denn der Kithairon spielt in den Bakchen eine entscheidende Rolle. Dies ist allein schon ablesbar an seiner häufigen namentlichen Erwähnung,614 ganz abgesehen von den zahlreichen weiteren Beschreibungen und Nennungen der Berglandschaft. Sie haben innerhalb des Stückes eine Funktion inne: Haus und Stadt als Symbol für zivile Ordnung auf der einen Seite und der Berg als Symbol für die unberechenbare Wildnis und die Macht des Dionysos auf der anderen markieren die beiden Endpunkte einer „horizontal axis“615, an der ent611

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Vgl. Ambühl 2005, S. 156: „Dieser Eindruck findet seine Bestätigung auf der formalen Ebene. Der hohe Anteil von direkten Reden, der ‘Redeagon’ zwischen Chariklo und Athene sowie die Klage der Chariklo, die mit der einer Nachtigall verglichen wird, verleihen der Teiresias-Erzählung einen tragischen Charakter, der sich mit dem elegischen Versmass des fünften Hymnos zu einer Einheit verbindet.“ Vgl. auch Manakidou 2015, S. 118f. mit Anm. 33 und Stephens 2015, S. 254 zu Call. Lav. Pall. 57-130. Dies betont Ambühl 2005, S. 147 noch einmal ausdrücklich. Manakidou 2015, S. 118. Vgl. Ambühl 2005, S. 156: „Die Tragödie ist gewissermassen in den Hymnos eingeschrieben.“ S. auch Sistakou 2016, S. 935. Heyworth 2004, S. 156f. sieht in den zusammengehörigen Hymnen 5 (Bad der Pallas) und 6 (Demeter), in deren beider Hintergrund er jeweils Sophokles’ König Ödipus und Euripides’ Bakchen liest, sogar einen Hinweis auf die Anordnung von Dramen zu dreien oder vieren im Kontext der Aufführung: „One effect of reading this pair [sc. bestehend aus fünftem und sechstem Hymnos] is to enjoy in miniature the experience of attending a dramatic festival.“ Es bestehen auch Anspielungen auf weitere Tragödien, s. Manakidou 2015, S. 118-126. Wenn auch die Attische Tragödie – oder auch das Epos – nicht den einzigen Referenzrahmen zum Bad der Pallas bildet, so ist sie doch ein sehr prominenter (vgl. ebd., S. 119 Anm. 33). Der Kithairon wird dreizehnmal namentlich genannt, nämlich in E. Ba. 62; 661; 751; 797; 945; 1045; 1142; 1177 (zweimal); 1219; 1292; 1384; 1385. „The Horizontal Axis: House, City, Mountain“ lautet der Titel von Segals viertem Kapitel (1982, S. 78-124), in dem die Motive ‚Berg‘ und ‚Stadt/ Haus‘ in den Bakchen in ihrem Verhältnis zueinander und in ihrer strukturbildenden Eigenschaft untersucht werden (vgl. auch Buxton 1991, S. 49; Ambühl 2005, S. 149f.). Die Bewegung an dieser Achse entlang wird an der

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lang sich die Handlung vollzieht. Dies geschieht einerseits tatsächlich räumlich: Im ersten Teil der Bakchen agiert Pentheus von Theben aus in Richtung der thebanischen Frauen, die sich – als von Dionysos bewegte Mänaden – auf dem Kithairon aufhalten; im zweiten Teil begibt er sich selbst auf den Berg und erleidet dort durch ihre Hand sein grausiges Schicksal. Andererseits reicht die Symbolkraft der Berglandschaft im Gegensatz zur Stadt noch viel tiefer in die Struktur des Dramas, was sich durch kunstvolle motivische Verflechtungen und die Entwicklung der Bildsprache über das Stück hinweg zeigt.616 Sie gewinnt geradezu psychologische617 Qualitäten. So gilt in jeder Hinsicht: „The accumulating references to Mt. Cithaeron throughout the play show, in effect, the gradual encroachment of the wild upon the city.“618 Dabei ist die Wildnis des Berges nicht von vornherein negativ besetzt. Im Gegenteil, zu Beginn zeigt sich ihr ambivalenter Charakter, der das Potenzial zu einer positiven ebenso wie zu einer negativen Ausformung birgt:619 „Mountains are both the location and the symbol for the

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Oberfläche sichtbar durch die Häufigkeit von Ausdrücken die eine Richtung „zum Berg“ (vgl. E. Ba. 116 εἰς ὄρος εἰς ὄρος; 140 εἰς ὄρεα; 163 εἰς ὄρος εἰς ὄρος; 191 εἰς ὄρος; 977 εἰς ὄρος; 986 ἐς ὄρος ἐς ὄρος; 1225 εἰς ὄρος; auch Ba. 62 ἐς Κιθαιρῶνος πτυχάς; (445 πρὸς ὀργάδας;) 1045 λέπας Κιθαιρώνειον εἰσεβάλλοµεν; 1292 ἐς Κιθαιρῶν’) und „vom Berg“ (vgl. Ba. 51 ἐξ ὄρους; 86 ἐξ ὀρέων; 228 ἐξ ὄρους; 658 ἐξ ὄρους; 791 ὀρῶν ἄπο; 1169 ἐξ ὀρέων; auch Ba. 661 ἥκω Κιθαιρῶν’ ἐκλιπών) kennzeichnen; vgl. Segal 1982, S. 112 mit Anm. 44. Man beachte zudem Angaben zur Verortung auf dem Berg: Ba. 76 ἐν ὄρεσσι; 135 ἐν ὄρεσσιν; 218f. ἐν δὲ δασκίοις | ὄρεσι; 811 ἐν ὄρεσι; 797 ἐν Κιθαιρῶνος πτυχαῖς; 1219 ἐν Κιθαιρῶνος πτυχαῖς; ähnlich 1142 διὰ Κιθαιρῶνος µέσου. Die Entwicklung des Motivs verfolgt Segal 1982, insbesondere auf den Seiten 106-118. S. ebd., S. 106-9 und passim. Ebd., S. 117; vgl. Buxton 1992, S. 12f. und 2013, S. 26f. So wird etwa die Seligkeit des Mänadentums ebenfalls mit der Berglandschaft verknüpft. Dies zeigt sich in den Chorliedern der kleinasiatischen Mänaden, die verschiedene Berge in ihre Imaginationen bakchantischer Prozessionszüge miteinbeziehen (im Übrigen auch den Olymp als Musensitz, vgl. E. Ba. 409-16, auch 560-8), vgl. Segal 1982, S. 118. Es zeigt sich ebenso im Augenzeugenbericht des Boten über das ‚bukolische‘ Treiben der verzückten thebanischen Frauen auf dem Kithairon (vgl. ebd., S. 114f.). Die Landschaft selbst wird in diesem Zusammenhang beschrieben wie „a beneficient

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mysterious otherness of the god, the place where the god has unchecked power to bring ecstasy or madness, happiness or pain […].“620 In den Bakchen wird schließlich die dunkle Seite realisiert, in einer schrecklichen Bestrafung durch den zornigen Gott Dionysos, die die Berglandschaft mit einbezieht. 621 Der Kithairon ist am Ende „Κιθαιρὼν [...] µιαρός“ (Ba. 1384). Die Rolle, die der Kithairon in Kallimachos’ Hymnos als Schauplatz von Aktaions Tod spielt, klingt – über die Figur des Pentheus als Mittlerin – an den Kithairon der Bakchen an. Dort wird Aktaions Tod auf dem Kithairon verortet, worin eine der Parallelen zum Tod des Pentheus liegt.622 Bei Kallimachos wird Autonoe Aktaions Knochen in den δρυµοί zusammensuchen müssen. Auch die Gliedmaßen des Pentheus sind über den Berg verstreut und müssen mühsam gesammelt werden, wenn es auch sein Großvater Kadmos ist, der dies tut, und nicht Agaue selbst.623

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Golden-Age landscape“ (ebd., S. 112, bezogen auf Ba. 142f. und 704-11). Die Ambivalenz ist ebenso mit dem Wesen des Dionysos verknüpft wie mit der Einstellung und seelischen Verfasstheit des Erlebenden: „They [sc. the mountains] are also a place where man confronts the ultimate reality of self, his most hidden impulses“ (ebd., S. 113). So nimmt Pentheus die Berge als düsteren Ort wahr, während er für die Mänaden eine Stätte der Freude ist (vgl. ebd., S. 113 mit Anm. 49). Ebd., S. 112f. Vgl. auch Buxtons Kategorien oben in Abschnitt A.I.2.1. S. ebd., S. 116f., auch 113 zur Identifikation von der Berglandschaft mit der Macht des Gottes; vgl. Buxton 2013, S. 27. Die angelegten positiven Elemente verkehren sich ins Gegenteil, so wird beispielsweise das selige Mänadendasein zu verblendeter Mordlust und Sparagmos. Buxton 1991 verfolgt das Treiben der Mänaden auf dem Kithairon – auch in seiner Entwicklung – im Spiegel der individuellen Berichte unterschiedlicher Figuren. Auf Agaues Frage nach dem Ort von Pentheus’ Tod antwortet Kadmos: οὗπερ πρὶν Ἀκταίωνα διέλαχον κύνες / „Wo vorher die Hunde Aktaion zerteilten“ (E. Ba. 1291). Aus Agaues Gegenfrage wird ersichtlich, dass sie sofort weiß, dass es sich um den Kithairon handelt: τί δ’ ἐς Κιθαιρῶν’ ἦλθε δυσδαίµων ὅδε; / „Warum ging er zum Kithairon, dieser Unglückselige?“ (E. Ba. 1292). Dies wird aus unterschiedlichem Mund geschildert. So heißt es im zweiten Botenbericht, in dem der Sparagmos auf dem Kithairon geschildert wird: κεῖται δὲ χωρὶς σῶµα, τὸ µὲν ὑπὸ στύφλοις | πέτραις, τὸ δ’ ὕλης ἐν βαθυξύλωι φόβηι, | οὐ ῥάιδιον ζήτηµα· / „Zerteilt liegt der Körper, ein Teil unter den rauen | Felsen, ein anderer im dichtbeholzten Gezweig des Waldes, |

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Die trägt in ihrer Verblendung nur den vermeintlichen Löwenkopf als Jagdtrophäe heim, und zwar „mitten durch den Kithairon“ (Ba. 1142 διὰ Κιθαιρῶνος µέσου); aber sie ist es wohl, die die Glieder ihres Sohnes auf der Bühne einzeln beweint und wieder zusammensetzt, nachdem sie wieder zur Besinnung gekommen ist.624 So dient gewissermaßen der euripideische Pentheus, der nach dem mythischen Vorbild des Aktaion gestaltet ist, wiederum als Folie für den kallimacheischen Aktaion.625 Die

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nicht leicht zu finden“ (E. Ba. 1137-9). Die so vorausgesehene Mühsal der Suche auf dem Berg wird von Kadmos nach seiner Rückkehr nach Theben bestätigt: οὗ σῶµα µοχθῶν µυρίοις ζητήµασιν | φέρω τόδ’, εὑρὼν ἐν Κιθαιρῶνος πτυχαῖς | διασπαρακτὸν κοὐδὲν ἐν ταὐτῶι πέδου | [λαβών, ἐν ὕληι κείµενον δυσευρέτωι] / „[Pentheus,] dessen Körper ich hier bringe, nachdem ich mich gemüht habe mit tausendfachem Suchen | und ihn gefunden habe in Stücke gerissen in den Schluchten des Kithairon, | wobei ich nichts am selben Fleck Erde [bekam, weil es im schwer zu durchdringenden Wald lag]“ (Ba. 1218-1221). Und auch zu Agaue sagt er, nachdem er vorher als Ort der Tötung den Platz angegeben hat, „wo vorher die Hunde Aktaion zerteilten“ (Ba. 1291: οὗπερ πρὶν Ἀκταίωνα διέλαχον κύνες), auf ihre Frage, wo die Leiche ihres Sohnes sei: ἐγὼ µόλις τόδ’ ἐξερευνήσας φέρω / „Ich habe ihn mit Mühen aufgespürt und bringe ihn hier“ (Ba. 1299:). Vgl. auch Ambühl 2005, S. 146 mit Anm. 211, wo als wörtliche Übereinstimmungen zwischen Euripides’ Bakchen und Kallimachos’ Bad der Pallas außerdem Ba. 1169 ἐξ ὀρέων (= Call. Lav. Pall. 118) und Ba. 1229 δρυµούς (vgl. Lav. Pall. 116 δρυµώς) zitiert werden. S. für diese Rekonstruktion Seaford 1997, S. 249f. zu V. 1300-1. Ambühl 2005, S. 146f. wertet als starkes intertextuelles Signal zudem die Ambivalenz des Patronymikons Καδµηίς (Call. Lav. Pall. 107) zu Beginn des Aktaion-Exemplums, das erst durch die Nennung des Aristaios im nächsten Vers und dann eindeutig durch die Erwähnung des Aktaion in V. 109 die Identität der Autonoe preisgibt. Agaue ist auf diese Weise assoziativ im Spiel. Die Schwesternschaft der Kadmostöchter ist auch in den Bakchen ein Thema. Auch Ino und Autonoe werden, von Dionysos in Raserei versetzt, Teil der Jagd und des Sparagmos des Pentheus, da sie wie Agaue dem Sohn ihrer Schwester Semele nicht die nötigen Ehren erweisen wollten (vgl. Ambühl 2005, S. 146 Anm. 212). Seinen tragischen Höhepunkt erreicht das Καδµηίς-Sein in der Begegnung von Kadmos und Agaue in Theben, nachdem beide ihrerseits vom Kithairon heimgekehrt sind – Kadmos vom Sammeln der Überreste des Pentheus, Agaue von der vermeintlich glücklichen Jagd. Kadmos fasst Anbahnung und Hergang der Suche zusammen und benennt dabei die schreckliche Tat seiner Töchter und ihren Zustand (vgl.

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Kulisse, im Bad der Pallas nicht benannt, sondern schlicht als ὄρη bezeichnet,626 erhält durch die Parallelisierung Konnotationen der psychologischen Struktur und düsteren Symbolkraft des euripideischen Kithairon. Die Pluralformen unterstreichen dieses Bild: Der Berg des kallimacheischen Aktaion-Exemplums ist der Kithairon der Bakchen, der Kithairon der Tragödie. Helikon und Kithairon Auch Kallimachos’ Helikon weist Gemeinsamkeiten mit dem Kithairon der Bakchen auf. Gleichsam an der benannten horizontalen Achse entlang begeben sich auch Athene und Chariklo von der Stadt – und zwar der Stadt Theben als Ausgangspunkt – auf den Berg, von der menschli-

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Ba. 1215-31, insbesondere V. 1222: ἤκουσα γάρ του θυγατέρων τολµήµατα / „Ich hörte von jemandem von den schamlosen Taten meiner Töchter“). Da grüßt ihn Agaue, noch verklärten Sinnes, mit den Worten: πάτερ, µέγιστον κοµπάσαι πάρεστί σοι, | πάντων ἀρίστας θυγατέρας σπεῖραι µακρῶι | θνητῶν· / „Vater, es steht dir an, dich aufs Höchste zu rühmen, | dass du nämlich bei Weitem unter den Sterblichen die besten Töchter gezeugt hast“ (Ba. 1232-4:). – Eine weiterer Anknüpfungspunkt besteht im Jagdmotiv, das eng mit dem Berg verbunden ist und die Bakchen, auch rückbezogen auf den Aktaionmythos, bedeutungsvoll durchzieht (s. Ambühl 2005, S. 147 mit Anm. 216; Segal 1982, S. 32f.). Es nimmt im Bad der Pallas bei der Bestimmung des Verhältnisses von Aktaion zu Artemis immerhin drei der zwölf Verse des Aktaion-Exemplums ein. Vgl. Call. Lav. Pall. 111 ἐν ὄρεσσι; V. 118 ἐξ ὀρέων; auch V. 116 δρυµώς; vgl. oben Abschnitt B.III.4.2.3.1. Dass es sich trotz Vermeidung einer konkreten Benennung dennoch um den Kithairon handelt und nicht etwa eine Verlegung des Aktaion-Mythos auf den Helikon stattgefunden hat, ist vor dem Hintergrund des Bakchen-Prätextes ersichtlich. Ambühl 2005, S. 149 ist diesbezüglich etwas unklar, wenn sie sagt: „Der Ort, wo Aktaion sein Schicksal erleiden wird, ist hingegen im Bad der Pallas im Unterschied zu den Bakchen, wo er mit dem Kithairon identifiziert wird, unbestimmt gelassen, wird aber durch das ‘ὄρος’-Motiv zum Helikon in Parallele gesetzt [...].“. Es lässt sich vielmehr sagen: Gerade weil kein Name genannt wird, muss der im Prätext so prominente Kithairon gemeint sein. Das zeigt sich auch in der bedeutungsvollen Gegenüberstellung der beiden Örtlichkeiten mit poetologischer Funktion; s. unten Abschnitt B.III.4.2.3.4.

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chen Zivilisation zum Ort göttlicher Begegnung.627 Sowohl Pentheus als auch Teiresias erleben dort eine absolute, schicksalsträchtige Stille; sie werden in unterschiedlich ausdrücklicher Weise von einem göttlichen Wesen dorthin geführt.628 Wie aber in der Parallelisierung von Teiresias und Pentheus mit Aktaion als Bindeglied der unterschiedliche Ausgang 627

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Vgl. Ambühl 2005, S. 149: „Athene und Chariklo bewegen sich im Lauf des Textes von Theben (H. 5.57) durch die Landschaft Boiotiens (60-4) in die Bergeinsamkeit des Helikon (70-4), wo dann die fatale Begegnung mit Teiresias stattfindet.“ Auch die Tätigkeiten wandeln sich entsprechend: Von der grundsätzlich öffentlichen Fahrt mit dem Wagen zwischen den böotischen Städten (Call. Lav. Pall. 60-65) gehen sie über zu den schon exklusiver weiblichen Nymphenreigen (Lav. Pall. 66f.) hin zur privaten Atmosphäre des Badens in der Quelle (Lav. Pall. 70-4). Zur Stille im Bad der Pallas vgl. die Verse 70-4 und oben Abschnitt B.III. 4.2.3.1. Sie begleitet dort schon das Bad in der Quelle und ist damit auch für die Begegnung mit Teiresias vorausgesetzt. In den Bakchen ist absolute Stille die Reaktion der Natur auf Dionysos’ Stimme, vgl. Ba. 1084f.: σίγησε δ’ αἰθήρ, σῖγα δ’ ὕλιµος νάπη | φύλλ’ εἶχε, θηρῶν δ’ οὐκ ἂν ἤκουσας βοήν. / „Die Luft wurde still, still hielt der waldige Grund | seine Blätter und keinen Tierlaut hättest du hören können.“ An der Oberfläche lässt sich die Wiederaufnahme „σίγησε“ – „σῖγα […] εἶχε“ mit Kallimachos’ Doppelungen vergleichen (vgl. oben Abschnitt B.III.4.2.3.1). Die Stille wird in beiden Fällen von einem Ruf durchbrochen: „Dem Ruf des Dionysos (Ba. 1079: ἀνεβόησεν), auf den die Natur mit ehrfürchtigem Schweigen reagiert (1085: θηρῶν δ’ οὐκ ἂν ἤκουσας βοήν), antwortet in den Bakchen der kollektive Schrei der Mänaden, die sich auf ihr Opfer stürzen (1131: ἦν δὲ πᾶσ’ ὁµοῦ βοή), während im Bad der Pallas Chariklo […] aufschreit (H. 5.85: ἐβόασε) […]“ (Ambühl 2005, S. 149). – Was die Leitung durch ein göttliches Wesen angeht, so wird Pentheus von Dionysos auf den Kithairon geführt (vgl. E. Ba. 819; 841; 920; 961; 965; 1047; 1080f.). Athene impliziert Entsprechendes, wenn sie Teiresias fragt: „Welcher Gott hat dich diesen schwierigen Weg geführt? (Call. Lav. Pall. 80f. τίς σε […] χαλεπὰν ὁδὸν ἄγαγε δαίµων;). Vgl. Ambühl 2005, S. 148 Anm. 218, die außerdem Agaues Frage in E. Ba. 1292 in die Reihe aufnimmt (τί δ’ ἐς Κιθαιρῶν’ ἦλθε δυσδαίµων ὅδε;). – Als weitere Gemeinsamkeit zwischen Kallimachos’ Helikon und Euripides’ Kithairon nennt Ambühl ebd., S. 149, dass es sich bei beiden Bergen um heilige, (den Nymphen) geweihte Orte handle (vgl. dazu E. Ba. 340; 445; 945-52). Ob tatsächlich davon die Rede sein kann, dass Kallimachos diese Eigenschaft des euripideischen Kithairon auf seinen Helikon „übertragen“ (ebd.) habe, ist jedoch fraglich.

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der Geschichten entscheidend ist, so übertragen sich hier jeweils die positiven und negativen Konnotationen auch auf die Landschaft: Es besteht „ein fundamentaler Unterschied, da der Kithairon zum Schauplatz blutiger Szenen wird, während der Musenberg Helikon seine Reinheit bewahrt. Die Blendung des Teiresias verläuft ohne äussere Gewalteinwirkung und wandelt sich von einer Strafe zu einer Begabung.“629 Ambühl erkennt zwar den grundsätzlich verschiedenen Charakter von Helikon und Kithairon,630 scheint aber zu verkennen, dass die Gegenüberstellung gleichsam in den kallimacheischen Hymnos eingeschrieben und darin thematisiert ist. Die Ambivalenz, die in den Bakchen schon für die Berglandschaft angelegt ist und die dort schließlich im Negativen realisiert wird, findet sich in Kallimachos’ Hymnos gespiegelt und ausgeformt. Der Helikon, Ort der hesiodeischen Dichterweihe, steht für die positive Ausformung und die segensreiche göttliche Begegnung, während der Kithairon, Ort der Tragödie und insbesondere der Bakchen, ein ‚unheilvollerer‘ Berg göttlicher Bestrafung ist. Die Kontrastierung äußert sich, wie auf intratextueller Ebene bereits vorgestellt,631 in Chariklos Ausruf mit Adressierung des Helikon in V. 90-2 und Athenes daran orientierter Antwort mit dem Aktaion-Exemplum, ganz besonders V. 117f. Auch hier ist eine Anknüpfung an den Prätext der Bakchen vorhanden, was einmal mehr bestätigt, dass die Übertragung der Assoziationen legitim ist. Denn Agaue wünscht sich am Ende der Tragödie, an einen Ort zu gehen, wo es keinen Kithairon gibt und wo sie ihn nicht einmal mehr mit ihren Augen sehen muss.632 Mit diesem Wunsch lässt sich Chariklos „οὐκέτι µοι παριτέ“ (V. 90) durchaus vergleichen, besonders, 629

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Ambühl 2005, S. 149. Teiresias wird keine Verletzung zugefügt. Es heißt lediglich nach Athenes Anrede an Teiresias: „Sie sprach, die Augen des Jünglings aber ergriff Nacht.“ (Call. Lav. Pall. 82 ἁ µὲν ἔφα, παιδὸς δ’ ὄµµατα νὺξ ἔλαβεν). S. dazu auch ebd., S. 112f.; Bulloch 1985, S. 189 ad loc.; Heath 1988, S. 77. Vgl. Ambühl 2005, S. 149. S. oben Abschnitt B.III.4.2.3.1. Vgl. E. Ba. 1383-5: ἔλθοιµι δ’ ὅπου | µήτε Κιθαιρὼν < ∪ ∪ – >µιαρὸς µήτε Κιθαιρῶν’ ὄσσοισιν ἐγώ. Die Lücke kann Kirchhoffs Emendation ausfüllen, vgl. Seaford 1997, S. 257 und Dodds 21960, S. 242 ad loc.: „Mag ich doch an einen Ort kommen, wo | weder der befleckte Kithairon , noch ich den Kithairon mit meinen Augen “.

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Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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wenn man berücksichtigt, dass Agaue und Chariklo die Mütter der parallelisierten Figuren Pentheus und Teiresias sind.633 Athenes Zurechtweisung, die über das Aktaion-Exemplum auf Chariklos Klage antwortet, lautet damit nicht nur „Der Helikon ist nicht der Kithairon!“ oder spezifischer: „Wir sind hier nicht auf dem Kithairon!“ Mehr noch scheint sie zu meinen: „Wir sind hier nicht in der Tragödie!“ Und in der Tat: Man befindet sich auf einem Berg, auf dem aus Hirten Seher-Dichter und aus jungen Jägern Dichter-Seher werden. 4.2.3.3

Aitiologie und Poetologie im Bad der Pallas

Um die Rolle von Helikon und Kithairon im Bad der Pallas ganz zu erfassen, sind zwei weitere von Ambühl untersuchte Aspekte des Hymnos von Interesse: Sein aitiologischer sowie sein poetologischer Gehalt, die einander auch gegenseitig bedingen. Aitiologie Zunächst einmal stellt die Teiresias-Erzählung im Bad der Pallas innermythologisch ein typisches Aition dar.634 Es erzählt, wie Teiresias als

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Vgl. Bulloch 1985, S. 200f. zu Call. Lav. Pall. 90 und Ambühl 2005, S. 153, die die beiden Stellen zitiert und anschließt: „Dies ist zugleich ein weiteres Indiz für die poetische Verwandtschaft zwischen dem Kithairon und dem Helikon.“ Auch hier wird deutlich, dass Ambühl die Pointe in der Rolle der Berglandschaft, die gerade in der Kontrastierung der beiden Schauplätze liegt, nicht erkennt. – Einen weiteren Bezugsrahmen bildet Sophokles’ König Ödipus. In den Versen 1391f. richtet Ödipus das Wort an den Kithairon. Wie in Chariklos Rede folgt auf den klagenden Anruf des Berges ein Vorwurf, der bei Sophokles die Form einer Frage annimmt: Ödipus fragt den Berg, warum er ihn aufgenommen und nicht gleich getötet habe. Wie Chariklo personifiziert er ihn auf diese Weise zu einem gewissen Grad. Zu diesem und den vielfachen weiteren intertextuellen Bezügen zwischen Kallimachos’ Bad der Pallas und Sophokles’ König Ödipus s. Heyworth 2004, S. 157; Ambühl 2005, S. 111-3. Mit Ambühl 2005, S. 28 wird der Aition-Begriff hier in erweitertem Sinne gebraucht.

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junger Mann in Folge einer ungewollten Begegnung zu dem Seher wurde, als welcher er in Mythos und Literatur bekannt ist. Im Zusammenhang alexandrinischer und – ganz besonders – kallimacheischer Dichtung erweist sich das Aition aber als weit mehr, nämlich als Teil einer konkreten literarischen bzw. poetischen Strategie, die die literarische Tradition innovativ ausdeutet und auch gestaltet.635 Entscheidend hierbei ist, auf welche Weise die Tradition in den Text eingebettet wird: Wenn die literarische Tradition nicht nur implizit als Referenzsystem im Hintergrund steht, sondern der spätere Text explizit auf frühere Texte verweist, die seine ‘zukünftige’ Fortsetzung bilden, lässt sich dies als eine selbstreferentielle, metaliterarische Form der Anspielung identifizieren, für die Barchiesi den Begriff ‘future reflexive’ geprägt hat.636

Ambühls umfassende und differenzierte Untersuchung befasst sich mit der aitiologisch motivierten Methode der ‚Verjüngung‘ von aus der literarischen Tradition bekannten Götter- und Heldenfiguren bei Kallimachos, die sie als Ausdruck dieser Strategie wertet.637 Das Innovationspotenzial ergebe sich aus dem Spiel zwischen der „in der Tradition festgeschriebenen Rolle und den potentiell noch vorhandenen Möglichkeiten einer ganz anderen Entwicklung“638. Das häufige kallimacheische Stil635

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Zur Funktion von Aitiologie in der alexandrinischen Dichtung in diesem Sinne s. ebd., S. 27f. mit Anm. 110 für mehr Literaturhinweise. Ebd., S. 23. Für den Begriff des „future reflexive“ s. Barchiesi 2001=1993, S. 105 u. passim, dort eingeführt hinsichtlich Ovids Heroides. Ambühl 2005 überträgt dabei diesen Interpretationsansatz erstmalig systematisch auf Kallimachos’ Dichtung, während für die römische Dichtung und andere hellenistische Dichter entsprechende Untersuchungen bereits existieren (vgl. ebd., S. 1-30, wo sie ihr Vorhaben ausbreitet), was sich als überaus fruchtbar erweist. Für Vorstufen dieser Erzähltechnik etwa bei Homer und Euripides s. ebd., S. 24-26. Ebd., S. 24. Vgl. auch Barchiesi 2001=1993, S. 106, den Ambühl ebd. zitiert: „Our concept of literature as a logically cohesive continuum of texts undergoes an identity crisis, caused by the fact that traditional characters are to be seen in a new light: this lovable young Cyclops comes ‘before’ Homer’s solitary monster, but at the same time hints at the prospect of a parallel world, still open to different possibilities and deaf to the claims of the tradition. [...] The Alexandrians have a preference for children and young people, which is often discussed in terms of realism, or of anti-heroism, but could be

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mittel der Prophezeiung sei in diesem Zusammenhang als notwendiges Gegenstück zur aitiologischen Verjüngung zu sehen, das der Verortung auf der Zeitachse diene, die sich bis in die Gegenwart der aktuellen Mythos-Version und mitunter auch in die ‚historische‘ oder aktuelle Gegenwart des Dichters erstrecke.639 So findet sich auch im Bad der Pallas dieses Muster. Athene blendet Teiresias und schafft dadurch die nötigen Voraussetzungen für seine ja schon vollzogene literarische und mythologische Karriere – ohne Blendung keine Sehergabe, und ohne Sehergabe nicht die wichtige Position in der Mythologie und den zugehörigen literarischen Ausgestaltungen. Und doch befindet sich dies im eingefangenen Moment der Begegnung mit Athene in der Schwebe, da die Göttin sich ebensogut von den Bitten ihrer Gefährtin umstimmen lassen und das Augenlicht zurückgeben oder aber auch, wie Artemis – die andere Göttin im angeführten Exemplum – nicht die erhöhende Gabe der Seherkunst gewähren, sondern bei einer harten Bestrafung bleiben könnte.640 Treffend bezeichnet Ambühl somit

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seen also in this light: the characters are caught in the process of becoming ‘themselves’, of becoming traditional; their innocence provokes a reading which is absolutely not innocent. [...] When this strategy is successful, the narrator is free to combine independence and allusivity.“ Für Kallimachos und das Motiv des Kindes mit seiner Funktion fasst Ambühl ebd., S. 29f. folgendermaßen zusammen: „Das Motiv des Kindes und des jungen Helden bei Kallimachos entfaltet ein besonders innovatives Potential. Es blickt in der Tat zurück zu den ‘Ursprüngen’, weniger im Sinn romantischer Nostalgie als vielmehr im Sinn einer bewussten literarischen Methode, die hinter die bereits fixierte Tradition zurückgreift, um ein Stadium ‘vor’ deren Kanonisierung zu entdecken. Die Tradition wird nicht einfach an ihrem Ende fortgeführt oder in ihren Lücken durch Interpolationen oder ‘Fussnoten’ ergänzt, sondern von ihrem Beginn her ‘aufgebrochen’; sie wird daher wieder offen für Neuinterpretationen, für eine Aus- oder Um-Schreibung der bekannten Geschichten. Die ‘Verjüngung’ der ‘alten’ Helden erweist sich somit als eine raffinierte poetische Strategie des Kallimachos zur Erneuerung der literarischen Tradition.“ Vgl. Ambühl 2005, S. 28f., insbesondere 29: „Die Kallimacheischen Stilmittel der Aitiologie und der Prophezeiung erweisen sich folglich nicht als funktionslose gelehrte Manierismen, sondern als essentielle und einander wechselseitig ergänzende Instrumente seiner poetischen Technik.“ Vgl. ebd., S. 100f.

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die Geschehnisse im Bad der Pallas als „‘literarische’ Initiation“641 des Teiresias. Seine literarische Karriere bleibt aber nicht implizit: Im Text selbst wird auf sie verwiesen, relativ ausdrücklich in Athenes Prophezeiung.642 Ihre Aussage, sie werde ihn zu einem Seher machen, der „songworthy for generations to come“ (V. 121 ἀοίδιµον ἐσσοµένοισιν) sein werde, findet seine Entsprechung in der ‚Wirklichkeit‘, zu der neben den entsprechenden Werken in Epos und Tragödie ja auch Kallimachos’ Hymnos selbst zählt; er erhält so seinen Platz in der Tradition, durch die aitiologische Schleife geradezu als ihr Anfangspunkt.643 Doch der Bezug auf die bestehenden Werke bleibt nicht auf diesem allgemeinen Niveau stehen: Denn die Fähigkeiten und Eigenschaften, die Athene Teiresias verleiht, entsprechen denen, die er in der literarischen Tradition, in Tragödie und Epos, besitzt.644 Es wird also auch eine Verbindung zu konkreten Werken hergestellt. Der Dialog mit der literarischen Tradition beschränkt sich nicht nur auf Athenes Prophezeiung: Den gesamten Hymnos durchziehen Anspielungen, Zitate, Motive aus 641 642

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Ebd., S. 101. Vgl. Heath 1988, S. 84f. Inhaltliche und formale Aspekte von Athenes Prophezeiung, auch bezüglich der aitiologischen Funktion, untersucht Ambühl 2005, S. 103-108. Vgl. Heath 1988, S. 84f. und Ambühls metaliterarische Deutung (2005, S. 107f.), die sich auf Hom. Il. 6, 358 gründet. Dort verwendet Helena den Ausdruck in Bezug auf ihr und Paris’ Schicksal (ἀοίδιµοι ἐσσοµένοισιν, vgl. Bulloch 1985, S. 231f. zu Lav. Pall. 121): „Der Ruhm des Teiresias wird sich im Lied, in der (Kallimacheischen) Dichtung erfüllen und dem Ruhm gleichkommen, den Paris und Helena dank Homer erreicht haben, doch wird ihm im Gegensatz dazu kein negativer Beigeschmack anhaften. Athenes Prophezeiung erfüllt sich zum Zeitpunkt ihrer Äusserung vor den Augen der Rezipienten gerade selbst, ist doch das Bad der Pallas das aktuellste Zeugnis in einer langen Reihe von literarischen Werken, die vom Ruhm des Teiresias künden. Kallimachos’ Text verweist demnach [...] auch auf sich selbst und seine Position in einer Traditionslinie. Obwohl er chronologisch am (vorläufigen) Endpunkt der Traditionskette steht, projiziert er sich durch den Kunstgriff der Prophezeiung an den imaginären Ursprung dieser Tradition zurück und reklamiert damit paradoxerweise für sich die Anfangsposition. Dies lässt sich als eine typisch Kallimacheische Strategie im Umgang mit der literarischen Tradition deuten.“ (Ambühl 2005, S. 107f.) – Die englische Übersetzung stammt aus Montanari, der s. v. ἀοίδιµος den Iliasvers übersetzt. S. ausführlich Ambühl 2005, S. 108-113.

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Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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anderen Werken. Übereinander geblendet und in Beziehung gesetzt, zudem durch den Hymnos selbst kommentiert, lassen sie ein komplexes Kunstwerk entstehten. Dies wurde hier ansatzweise am Beispiel von Euripides’ Bakchen nachvollzogen, die für die aitiologische Erzählstrategie noch einmal eine besondere Position innehaben, weil „die intertextuelle Beziehung sich gewissermassen selbst reflektiert, da Teiresias eine Rolle in eben der Tragödie spielt, die als Prätext der Kallimacheischen Teiresias-Erzählung zugrundeliegt“645. Poetologie Kallimachos’ Bad der Pallas besitzt auch eine poetologische Dimension, für die die aitiologische Strategie ebenfalls von Bedeutung ist. Sie deutet sich in der auffälligen Verlagerung der Blendungsszene auf den Helikon an und in der Ähnlichkeit zwischen Seher- und Dichterweihe.646 Neben den bereits erwähnten Sängern und Dichtern der literarischen Tradition gerät auch Kallimachos selbst ins Spiel: Denn er platziert seine eigene Musenbegegnung und Berufung zum Dichter im Somnium der Aitien – beziehungsweise die des literarisierten ‚Kallimachos‘ –, ebenfalls auf dem Helikon an der Hippoukrene. Eine Verbindung zwischen dem fünften Hymnos und den Aitien, Kallimachos’ ganz eigentlich eigenem Werk, liegt daher nahe und wurde schon gezogen, zumal beide im so kallimacheischen Versmaß des elegischen Distichons verfasst sind.647 645

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Ebd., S. 147. Die Auseinandersetzung mit Euripides’ Bakchen im Kontext mit Kallimachos’ Bad der Pallas umfasst die Seiten 145-160 und 208-214 in Ambühls Untersuchung, vgl. oben Abschnitt B.III.4.2.3.2. Als Spiegel für diese Reflexion, so mag man hinzufügen, dient das Aktaion-Exemplum, das für das Bad der Pallas in der innermythischen Zukunft, für die Bakchen in der Vergangenheit liegt. Vgl. oben Abschnitt B.III.4.2.3.2. Vgl. Müller 1987, S. 59 u. 64; Ambühl 2005, S. 116; 120 mit Anm. 105 u. 106, wo auch die relative Chronologie zwischen beiden Werken thematisiert ist. Ambühl liest ebd., S. 116 Teiresias als „Doppelgänger des alexandrinischen Dichters selbst, oder genauer von dessen fiktivem alter ego aus dem Somnium“. Vgl. auch Heath 1988, S. 82f., der zudem darauf hinweist, dass sich Kallimachos, wie aus den Scholien zum Somnium zu lesen ist, zum Zeitpunkt seiner Dichterweihe als ἀ]ρτιγένειος ὤν (fr. 2d, 4 Harder = Schol.

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Vor diesem Hintergrund erscheint eine poetologische Deutung umso mehr legitim.648 Ein Aspekt, der in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt, ist wiederum Kallimachos’ Umgang mit den Bakchen. Die euripideische Tragödie liegt, das ist bereits gezeigt worden, der Teiresias-Erzählung als Modell zugrunde und scheint immer wieder an ihre Oberfläche durch. Der Teiresias-Mythos ist auch sprachlich und formal so sehr an die Tragödie angelehnt, dass sie selbst gewissermaßen als Miniaturdrama erscheint. Entscheidend ist aber, dass Kallimachos eben in wesentlichen Punkten abweicht. So werden (dramatische) Erwartungen aufgebaut und gebrochen oder gewendet.649 Die göttliche Begegnung endet für Teiresias nicht in der vernichtenden Katastrophe, wie sie es für Pentheus (oder auch Aktaion) in den Bakchen tut, sondern mit guten Verheißungen für die Zukunft. Die Teiresiaserzählung ist am Ende eben keine Tragödie, sondern Teil eines kallimacheischen, in elegischen Distichen abgefassten Hymnos. Zunächst einmal ist diese Art, Stoffe und Werke der literarischen Tradition aufzugreifen und umzugestalten, zumal mit versteckten oder offenen Anspielungen auf das ‚Original‘, in der gesamten Literaturgeschichte, besonders aber in der Literatur des Hellenismus und ganz besonders natürlich bei Kallimachos kein überraschender Vorgang. Im Bad der Pallas wird dieser Vorgang jedoch reflektiert – nicht nur bezüglich

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Flor. 18 [1, p. 11 Pfeiffer]) darstellt, entprechend Teiresias, der als ἄρτι γένεια | περκάζων (Call. Lav. Pall. 75f.) beschrieben wird (dazu auch Ambühl 2005, S. 410). Selbstverständlich ist eine poetologische Lesweise, wie die vielfältigen Interpretationen des fünften Hymnos bezeugen, nicht die einzig mögliche. Ein illustratives Beispiel in kleinerem Rahmen ist folgende Anspielung auf Sophokles’ König Ödipus: „Wenn die beiden Göttinnen zur Vorbereitung auf das Bad die Spangen ihrer Kleider lösen (H. 5.70: πέπλων λυσαµένα περόνας), evoziert die Assoziation an die Spangen der Iokaste, die der Sophokleische Oidipus vom Gewand der Erhängten reisst, um sich damit zu blenden (OT 1268-70 [mit περόνας in V. 1269]), die Vorstellung einer grausamen Athene, die mit den griffbereiten Nadeln dem wehrlosen Knaben Teiresias die Augen ausstechen wird. In Wirklichkeit vollzieht sich die Blendung ohne direkte physische Einwirkung [...]. Vor der Folie der potentiellen Blutrünstigkeit heben sich die Macht von Athenes Wort und die sich in ihren Gaben manifestierende Gnade um so stärker ab“ (Ambühl 2005, S. 112; vgl. Stephens 2015, S. 256 zu Call. Lav. Pall. 70).

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des Inhalts,650 sondern auch bezüglich der Form. Hierin genau liegt der poetologische Aspekt. Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen soll eine Äußerung der Athene sein, die selbst die Frage der Form beziehungsweise der Gattung zu kommentieren scheint. Sie entlehnt die Argumentationsstruktur ihrer Rede der des Dionysos in den Bakchen, fügt ihr aber durch die Verleihung der Gaben eine ganz eigene Pointe und deutliche Wende hinzu.651 Die Verleihung der Gaben (V. 119-30) wird eingeleitet mit einer Aufforderung an Chariklo: ὦ ἑτάρα, τῶι µή τι µινύρεο· Daher weine nicht, liebe Freundin. Call. Lav. Pall. 119

Diese Wendung, platziert an einer so entscheidenden652 Stelle, kann geradezu als ein das Genre betreffender Kommentar der Athene aufgefasst werden. Denn Chariklos der Tragödie so verwandte Klage (V. 85-92), quasi das tragische Kernstück des Hymnos,653 auf die er sich bezieht, war als γοερᾶν οἶτο[ς] ἀηδονίδων (V. 94) bezeichnet worden. Das Bild von der klagenden Nachtigall ist ebenfalls in hohem Maße ein tragisches.654 Das von Athene verwendete Verb µινύρεο wiederum schließt 650 651 652

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Vgl. dazu oben zur Aitiologie. S. im Einzelnen Ambühl 2005, S. 154-6. Vorausgegangen war das Aktaion-Exemplum, dieser starke intertextuelle Hinweis auf die Bakchen, und es folgt die Verleihung der Gaben, die die nicht-tragische Wendung bedeuten. Zum tragischen Gehalt vgl. Ambühl 2005, S. 156; Bulloch 1985, S. 194 zu V. 85-95; Hunter 2008=1992, S. 137f. Die Klage der Chariklo kann gewissermaßen als ‚tragischter‘ Teil des Hymnos angesehen werden, weil darin Versmaß und Inhalt übereinkommen. Vgl. Hunters Überlegungen zum elegischen Versmaß (ebd., S. 136-140), der auf seine Absichtserklärung (ebd., S. 137: „My concern will be [...] whether any particular part of the poem exploits the elegiacs for particular effects.“) am Ende folgendes Fazit folgen lässt: „[...] Chariclo’s lament in an appropriate metre is seen to be a quasidramatic mimesis which evokes earlier threnodic poetry, particularly the threnoi of Attic tragedy“ (ebd., S. 140). Vgl. Bulloch 1985, S. 205f. zu V. 94f., insbesondere die Stellensammlung S. 206, Anm. 2; Ambühl 2005, S. 156; Hunter 2008=1992, S. 139; Ford 2010; auch oben Abschnitt B.II.4.3.1.1.

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genau an dieses Bild an.655 So scheint sie zu sagen: „Benimm dich nicht wie in einer Tragödie, denn es ist ja keine – wie sich sogleich zeigen wird!“656 Diese Lesart wird unterstützt durch Implikationen, die sich aus der Verlegung der Blendungsszene auf den Helikon ergeben und aus der Deutung des Dreiecks Helikon–Hippoukrene–Initiation als poetologisches bzw. metaliterarisches Signal. Wenn nun Teiresias, entweder zunächst als allgemeiner Typus oder möglicherweise sogar als alter ego des ‚Kallimachos‘, in der Position des zu weihenden Sehers/Dichters auftritt, so ist von mindestens ebenso großer Bedeutung, dass Athene den Platz der Musen als inspirierende Gottheit einnimmt. Über die Bakchen, die so deutlich im Hintergrund der Erzählung stehen, gerät Dionysos ins Spiel, von dem sich Athene als Inspirationsquelle abhebt.657 Un655

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Vgl. Bulloch 1985, S. 230 zu V. 119: „The word is very suitable of someone whose lament was earlier compared to that of the nightingale [...].“ Eine ähnliche Pointe liegt in der Gegenüberstellung von Helikon und Kithairon, die eingebettet ist in die Gegenüberstellung von Chariklos Klage mit dem Aktaion-Exemplum; s. dazu unten. Vgl. Ambühl 2005, S. 159: „Die Quelle von Teiresias’ Mantik ist dementsprechend nicht die dionysische ‘µανία’ (Ba. 298-301), sondern der Logos Athenes, der direkt aus dem Haupt des Zeus entsprungen ist (H. 5.135).“ Der Logos der Athene und sein Ursprung bei Zeus werden besonders betont und dienen als Garantie und Legitimation für die Gewährung der Gaben (vgl. Call. Lav. Pall. 131-6; dazu Ambühl 2005, S. 105 u. 159). Auch die Motivation für die Handlung der Bakchen gründet sich gerade darauf, dass (vor allem) Pentheus und mit ihm fast ganz Theben (mit Ausnahme von Kadmos und Teiresias) Dionysos’ göttliche Abstammung von Zeus und die damit einhergehenden Rechte nicht anerkennen wollen (worauf Dionysos im Prolog, Ba. 1-63, und in seiner strafenden Rede am Ende, Ba. 1340-3, Bezug nimmt). – Der unterschiedliche Charakter der ‚Inspiration‘ durch Dionysos im Falle des Pentheus und durch Athene im Falle des Teiresias äußert sich zum Beispiel über das Wortfeld ‚Sehen‘ bzw. ‚Licht – Dunkel‘, das sowohl die Bakchen als auch das Bad der Pallas durchzieht (vgl. Ambühl 2005, S. 151f., das folgende Zitat auf S. 152): „Das Dunkel des dionysischen Wahns ([E. Ba.] 1122-3, 1267) und die Nacht, die Teiresias’ Augen erfasst (H. 5.82), verleihen beide eine übernatürliche Fähigkeit der Wahrnehmung, deren Qualität jedoch diametral entgegengesetzt ist: todbringende Geistesverwirrung auf der einen, mantische Klarsicht auf der anderen Seite. Die Schicksale des Pentheus und des Teiresias spiegeln somit den unterschiedli-

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Helikon und Kithairon in anderen Quellen

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ter dionysischem Einfluss entfaltet sich rauschhaft das Unglück des Pentheus auf dem Kithairon und die Tragödie Bakchen, während unter dem Einfluss des palladischen Logos Teiresias zum Seher geweiht wird und der kallimacheische Hymnos entsteht. Auf diese Weise eignet sich Kallimachos das Genre der Tragödie gewissermaßen an und erfindet es, gemäß seinem innovativen Dichtungsanspruch, neu: Unter kallimacheisch-palladischem Wirken entsteht – in großen Zügen gesprochen – als Antwort auf die (attische) Tragödie ein elegisches Miniatur-Drama, das zudem selbst diesen Vorgang reflektiert. Die aitiologische Wirkung der Verbindung aus Verjüngung des Teiresias und Prophezeiung der Athene, die Kallimachos’ Version zunächst inhaltlich an den Anfang der literarischen Tradition projizierten, verleiht nun auch der mit leptotes gewirkten Form eine exklusive Stellung.658 Exkurs. Bei Ambühl ist der Gedanke, dass Kallimachos das Bad der Pallas mit der Teiresias-Erzählung nicht nur vor der Folie der Bakchen gestaltet, sondern es ganz ausdrücklich mit poetologischem Impetus als

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chen Charakter des Dionysos und der Athene wider: Athene Oxyderkes, die Göttin des klaren Blicks, steht in Kontrast zu Dionysos, dem Gott des Rausches und der ‘µανία’.“ Zudem grenzt sich Athene vom Dionysos der Bakchen auch über ihre Rede ab, vgl. ebd., S. 154-6. Manakidou 2015, S. 127-9 betrachtet zusätzlich das Verhältnis zu Geschlecht und Geschlechterrollen: „[U]nrestrained frenzy combined with uncontrolled sex reversal“ im Falle des Dionysos stünde „a controlled manipulation of sex roles that leads to a new order“ im Falle der Athene gegenüber (die Zitate ebd., S. 129). Dies geschieht durch Athenes ausdrückliche Abgrenzung von der Tragödienform, während sie zugleich durch ihre Gaben Teiresias exakt zum Objekt von Tragödie (und Epos) macht. Die „auffällige Häufung von quantifizierenden Adjektiven in Athenes Prophezeiung“, die „auf die ‘grossen’ Gattungen des Epos und der Tragödie, in denen Teiresias eine prominente Rolle spielt,“ verweisen (Ambühl 2005, S. 109; vgl. Heath 1988, S. 85), kann insofern also tatsächlich gelten als Gegenüberstellung dieser „epic treatments of Tiresias and his own smaller, slightly esoteric, more self-referential treatment“ (Heath 1988, S. 85 Anm. 47, von Ambühl 2005, S. 109 Anm. 46 nur vorsichtig übernommen). – Keinesfalls soll diese Gegenüberstellung hier als grundsätzliche Ablehnung ganzer Gattungen – etwa der attischen Tragödie – verstanden werden; vielmehr als Selbstpositionierung des alexandrinischen Dichters in der literarischen Tradition im Bewusstsein seiner Möglichkeiten.

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neoterisches Gegenstück dazu anbietet, nicht in dieser Deutlichkeit zu finden.659 Sie will den Gegensatz zwischen einer dionysischen und einer kallimacheisch-palladischen Poetik vielmehr relativieren,660 und zwar vor der Folie des Teiresias der Bakchen einerseits, der „apollinische und dionysische Mantik verbindet“661, und andererseits hinsichtlich der Gaben der Athene, denn der junge Teiresias erhalte „die Fähigkeit sowohl zur spontanen Prophezeiung als auch zur Vogelschau, also zur natürlichen und zur künstlichen Divination (123-6)“662. Ihr Schluss: „Kallimachos deutet damit auch eine Kombination von (dionysischer) Inspirationspoetik und (apollinisch-‘palladischem’) ‘τέχνη’-Bewusstsein an, das seine Dichtung generell charakterisiert“663. Eine solche Einschränkung ist jedoch nicht nötig, solange der Gegensatz nicht verallgemeinert wird, sondern, wie es auch naheliegender ist, auf die Tragödie und Kallimachos’ innovativen Umgang mit ihr beschränkt bleibt. Eine Inkonsequenz liegt darin, den euripideischen Teiresias als poetologisches Vergleichsmoment für den kallimacheischen heranzuziehen, dessen Folie Pentheus und eben nicht seine ältere euripideische Version war. Diese ist vielmehr ‚Ergebnis‘ von Athenes Gaben, die ja ganz sorgfältig und konsequent die Zukunft des jungen Teiresias an die älteren ‚Vorgänger‘ in Epos und Tragödie knüpfen.664 Insofern erscheint ein poetologisches ‚Sortieren‘ dieser aitiologischen Gaben nicht legitim. Umso sinnhafter wird die hier präsentierte Auslegung, wenn man beachtet, dass auch die Bakchen, diese ‚dionysischte‘ Tragödie, einen metatragischen Charakter haben, die Rolle des Dionysos also entsprechend der der Athene zugleich eine innermythische und eine metaliterarische ist.665 659

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Hingegen sind die einzelnen Elemente, die zu dieser Deutung führen, ausführlich behandelt (inkl. dem Hinweis auf den metatragischen Charakter der Bakchen, vgl. Ambühl 2005, S. 158f.): S. die Abschnitte III.1.3.1., III.1.3.2., III.1.6.5., III.1.6.6., und III.3. in ihrer Untersuchung, die für die Formulierung oder den Ansatz einer solchen Deutung in Frage kommen. S. Ambühl 2005, S. 159f. Ebd., S. 159; vgl. dazu ganz richtig ebd., S. 157f., wo die entsprechenden Stellen aus den Bakchen genannt werden. Ebd., S. 159. Ebd., S. 160. S. dazu oben und Ambühl 2005, S. 108-13; vgl. auch Manakidou 2015, S. 122, die betont, dass Kallimachos’ Teiresias genau entgegengesetzt zu den Teiresias-Versionen der attischen Tragödie ausgestaltet sei. Dionysos fungiert darin allerdings weniger als inspirierende Kraft für den

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Zu einem ähnlichen Ergebnis wie dem hier vorgestellten kommt, wenn auch unter anderen Prämissen, Manakidou:666 Ihr Ausgangspunkt ist die Frage, wie und warum ein Hymnos an Athene vollkommen ohne Erwähnung ihrer ‚ionischen‘, vor allem ihrer athenischen, Seite auskommen kann. 667 Die „systematic ‚doricization‘“668 der Athene – auch sprachlich – deutet sie als Lob des Ptolemäerreiches. Sie liest den Hymnos zunächst vor dem Hintergrund dreier Labdakidentragödien (A. Th.; E. Ph.; E. Supp.) als Reflex auf die auch in Literatur und Kunst präsente Strategie des klassischen Athens, über genealogische und mythologische Verankerung in den Sagenkreisen von Theben und Argos eine Legitimation für seine Vorherrschaft zu etablieren:669 „Callimachus omits the city that in the Athenian literary past of the tragic genre intruded in the Doric world, and in doing so, he reestablishes Doric priority in a world without Athens“670. Die Frage, was ausgerechnet die Bakchen, die ja gemeinhin als die dionysischte Tragödie überhaupt gelten, in einem Hymnos an Athene zu suchen haben, führt Manakidou zu einem Vergleich der Athene mit Dionysos vor allem hinsichtlich ihrer Beziehung zu Geschlechterrollen – welche sie zu der neuen Rolle der Frau in der ptolemäischen Ordnung in Beziehung setzt:671 In a nutshell, Callimachus makes his Athena a symbol of the new world-order that while acknowledging the necessity of the previous tragic world in theatrical, cultic and cultural space, is totally alien to it. [...] Athena is one of the divinities he used as a divine foil for his queens [...]. With her Athenian background the goddess offered Callimachus a first-hand opportunity to put Alexandria in the place Athens previously occupied thanks to the tragedies that rewrote old un-Athenian tales in an Athenian man-

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Tragödiendichter, als vielmehr als (metatheatralischer) ‚Regisseur‘ des Bühnengeschehens (was dann in gewisser Weise beides wieder zusammenfällt). Zum metatragischen Charakter der Bakchen s. Bierl 1991, S. 113-9 u. 177218; Goldhill 1986, S. 259-86; Foley 1985, S. 205-58; Segal 1982, S. 215-71 u. 339-47. Kritisch gegenüber einer solchen Auslegung äußert sich Radke 2003. S. Manakidou 2015. Vgl. ebd., S. 113-7. Ebd., S. 113. S. ebd., S. 118-22 und, für eine detailliertere Untersuchung dieser Strategie, Giordano 2016. Manakidou 2015, S. 122. S. ebd., S. 122-129.

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ner – and in this the new metropolis undoubtedly surpassed its Macedonian past […].672 Manakidous Deutung ist somit quasi das ‚politische‘ Gegenstück zur oben angebotenen poetologischen Deutung. Nicht die ‚neue‘ alexandrinische Dichtung, sondern die neue alexandrinische Welt steht darin im Mittelpunkt. Die Gegenüberstellung der Geschlechterrollen und die daraus gezogenen Schlüsse sind dabei etwas zu schematisch geraten, was aber dem grundsätzlichen Ergebnis nicht im Wege steht. Die metapoetischen Signale von Helikon und Hippoukrene – von Manakidou als Anspielung auf Hesiod zur Kenntnis genommen,673 aber nicht weiter beachtet – und auch die oben vorgestellte Äußerung der Athene (Lav. Pall. 119) lassen den literarisch-poetologischen Umgang mit der Tragödie als den vordergründigen erscheinen. Die politische Aussage kann dabei aber durchaus erweiternd im Hintergrund stehen.

Eine weitere poetologische Deutung, die hier von Bedeutung sein kann, entwickelt Ambühl überzeugend aus dem Zusammenspiel von Kallimachos’ fünftem und sechstem Hymnos – dem Hymnos an Demeter –, die nicht zufällig als Diptychon gestaltet sind.674 Sie greift damit Müllers Ansatz auf und erweitert ihn ihrerseits um die ermittelten Prätexte, insbesondere die Bakchen.675 Müller deutet den Teiresias-Mythos im fünften und den Erisychthon-Mythos im sechsten Hymnos als zueinander komplementäre „narrative Metaphern“676 mit poetologischer Botschaft: Alles spricht dafür, daß Kallimachos den Mythos von der Blendung und Berufung des Teiresias zum Seher als Metapher der Berufung des Dichters und als Gegenstück zur poetologischen Ausgrenzungsmetaphorik 672 673 674

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Ebd., S. 129. Vgl. ebd., S. 119. Dies gilt insbesondere auch für die eingelegten Mythen des Teiresias und des Erisychthon, s. Hopkinson 1984, S. 13-17; Müller 1987, S. 53-55; Ambühl 2005, S. 206-8; auch Heyworth 2004, S. 153-7. Von einem „Diptychon“ spricht Ambühl 2005, S. 204 und passim; vgl. Manakidou 2015, S. 115 Anm. 15. Für andere, nicht poetologische Deutungen des Hymnenpaares sowie die Gefahren einer Über- oder Unterinterpretation s. Ambühl 2005, S. 204f. S. ebd., S. 204-223, insbesondere 204-6 zu ihrem Ansatz, und Müller 1987, S. 46-64. Den Begriff erläutert Müller ebd., S. 5-7.

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des Erisychthonmythos verstanden wissen wollte, so daß die beiden Gedichte am Ende der Hymnensammlung wie eine große antithetisch angelegte Sphragis des alexandrinischen Dichters erscheinen.677

Teiresias versinnbildliche dabei den „apollinisch-‘palladisch[]’“ inspirierten Vertreter einer von kallimacheischem „‘τέχνη’-Bewusstsein“ geprägten Dichtung im Gegensatz zum als Kontrastfigur gestalteten Erisychthon, Verkörperung eines anti-kallimacheischen Stilideals.678 Vor dem Hintergund der Bakchen schärfen sich die Konturen: Der Pentheus der Bakchen erscheine auch als Folie für Erisychthon, mit dem Unterschied zu Teiresias jedoch, dass jener dem euripideischen Vorbild mit seinem Frevelmut zu Genüge Folge leiste.679 Eine Funktion des motivischen und sprachlichen Kreises von Mysterien und Initiation, der im Bad der Pallas ebenso wie in den Bakchen und im Demeter-Hymnos präsent ist, sei, in alexandrinischer Manier die Zugehörigkeit zu den un677 678

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Ebd., S. 58 (zur Anordnung der Hymnen vgl ebd., S. 46f.). Für Teiresias vgl. Ambühl 2005, S. 159f. (dort auch die Zitate), die allerdings diese Aussage einschränkt, (s. oben); Müller 1987, S. 61-4. – Eine poetologische Deutung der Figur des Erisychthon, zunächst unabhängig vom Bad der Pallas, knüpft Ambühl 2005, S. 191-204 an Philitas’ Demeter und Theokrits Thalysien (= Theoc. 7). Erisychthon wird folgendermaßen charakterisiert: „Im Sinne eines Gedankenspiels liesse sich Erisychthon [...] nicht nur als Gegner Demeters, sondern auch als Opponent des von Demeter verkörperten alexandrinischen Dichtungsprogramms lesen, das Kallimachos und Theokrit von Philitas übernommen haben. Erysichthon erscheint demnach als Anti-Kallimacheer, der auf den grössten Baum losstürzt und den der Demeter geweihten poetischen Hain zerstören will. Die himmelragende Pappel, das Ziel von Erisychthons Angriff, mag dabei je nach Interpretation das von Kallimachos verworfene Qualitätskriterium der epischen Länge oder das ‘schlanke’ Ideal seiner eigenen Poetik repräsentieren. Erisychthons Vorliebe für ausgiebige Gelage und ungemischten Wein stempelt ihn ebenfalls zum Anhänger eines anti-kallimacheischen Stilideals“ (ebd., S. 202f.; vgl. Müller 1987, S. 27-45, der sich ausführlich mit Kallimachos’ poetologischer Symbolsprache auseinandersetzt). Für die Gegenüberstellung von Erisychthon und Teiresias in poetologischem Sinne s. ebd., passim. Vgl. Ambühl 2005, S. 208-11, auch für weitere Parallelen zwischen sechstem Hymnos und Bakchen; auch Heyworth 2004, S. 155-7. Dies bekräftigt die Nähe der beiden Hymnen und zudem die Funktion des Erisychthon und wechselweise des Pentheus als poetologischem Gegenpart zur Teiresiaserzählung.

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terschiedlichen poetisch-stilistischen Kreisen beziehungsweise die Ausgrenzung davon zu symbolisieren und ihr ein religiöses Gewicht zu verleihen.680 Diese beiden poetologischen Aussagen – die erste ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen Position gegenüber der literarischen Tradition, die zweite gegenüber (zeitgenössischen) Stilidealen – lassen sich in freiem Spiel zueinander in Beziehung setzen. In diesem Sinne sind die von Ambühl und Müller herausgearbeiteten ‚narrativen Metaphern’ nicht nur als Auseinandersetzung mit Stilgegnern allgemein anzusehen, sondern ganz konkret im Zusammenhang mit der vorliegenden Probe kallimacheischer Dichtkunst, dem Bad der Pallas, zu betrachten – in diesem Falle einer Auseinandersetzung mit der Tragödie.681 Wenn auch mit einer grundsätzlichen Ablehnung der Gattung des Dramas, zumal des klassischen, durch Kallimachos kaum zu rechnen ist,682 so kann doch angenommen werden, dass er zumindest dem zeitgenössischen 680

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Vgl. das Fazit bei Ambühl 2005, S. 221-3: „Die ‘Mysteriensprache’ und das Konzept der ‘Initiation’, die sowohl die Rahmenpartien als auch die darin eingelegten Erzählungen des fünften und des sechsten Hymnos prägen, müssen nicht notwendigerweise einen unmittelbaren rituellen Hintergrund dieser Texte reflektieren, da sich diese Elemente auch als poetologische Stilmittel verstehen lassen. Das Motiv der rituellen Reinheit von Kindern, die Betonung der persönlichen Frömmigkeit und die scharfe Abgrenzung zwischen ‘Eingeweihten’ und ‘Uneingeweihten’, die typische Merkmale der alexandrinischen [...] Dichtung darstellen, können nicht nur als religiöses Bekenntnis eines Kreises von Anhängern eines Mysterienkultes, sondern auch als programmatische Abgrenzungsstrategie von Anhängern eines literarischen Stilideals gegen reale oder fiktive Opponenten dienen. [...] [D]as Motiv des Kindes und des Jugendlichen [erhält] im Kontext von Mysterien und Initiation eine religiöse Konnotation, was sich jedoch auf einer weiteren Bedeutungsebene wiederum als eine poetologische Aussage lesen lässt, die auf den selbsterklärten exklusiven Charakter von Kallimachos’ poetischem Projekt verweist.“ Dies bestätige sich auch vor dem Hintergrund der Prätexte des fünften und sechsten Hymnos, insbesondere der euripideischen Bakchen, des homerischen Demeter-Hymnos, Theokrits Thalysien (= Theoc. 7) und seines 26. Eidyllions (vgl. ebd., S. 215-223). Auch der Demeter-Hymnos ist zwar von dramatischem Charakter (vgl. Heyworth 2004, S. 156), doch müsste hier die genaue poetologische Pointe noch geprüft werden. Vgl. Manakidou 2015, S. 111f. mit Anm.; Cameron 1995, S. 59-62.

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Theaterbetrieb gegenüber tendenziell negativ eingestellt war.683 In zweien seiner Epigramme (AP 9, 565 und 9, 566) verbindet sich eine ablehnende Haltung gegenüber dem dramatischen Betrieb mit einer andeutungsweisen Entgegensetzung seiner eigenen Poetik, die so unvereinbar miteinander erscheinen.684 Kallimachos zeigt der zeitgenössischen Tragödiendichtung, inklusive Neufassungen und -bearbeitungen klassischer Dramen,685 mit dem Bad der Pallas, wie es ‚richtig‘ geht, und reflektiert so auf der metapoetischen Ebene zweifach: wie er sich nämlich die Gattung der Tragödie aneignet, indem er sie in eine neue Form überführt (Bad der Pallas / kallimacheische Dichtung vs Bakchen / literarische

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Dieser Eindruck lässt sich zumindest aus den fünf Epigrammen des Kallimachos gewinnen, die sich mit diesem Thema beschäftigen (AP 6, 310; AP 6, 311; AP 9, 565; AP 9, 566; AP 11, 362), vgl. Fantuzzi 2007, S. 479-87 mit dem Fazit: „Neither Callimachus the epigrammatist nor Asclepiades utters a word on the glory of the theater of the past, and contemporary theater in general is little valued in third century epigram. They rather evoked an image of contemporary dramatic activity that highlighted its most reductive and negative aspects“ (ebd., S. 495). Für AP 9, 565 s. Fantuzzi 2007, S. 484f., insbes. den abschließenden Gedanken: „If other epigrammatists glorified those who won the crown of ivy, Callimachus asserts that the true glory was possessed by Theaetetus: as a loser in the theater, he did not possess the Dionysian ivy, but nevertheless knew his own ‘pure‘ road, one not often traveled and thus in harmony with the aesthetic expressed in Callimachus 2.1-4 GP (= AP 12.43.1-4) or fr. 1.25-28 Pf.“ Auch in diesem Epigramm wird, ähnlich der ‚narrativen Metaphern’ in Ambühls Sinne, mit der Sprache von (bakchischen) Mysterien und Initiation operiert, um eine poetologische Aussage zu kreieren (vgl. ebd.; Asper 1997, S. 53-6). – Für AP 9, 566 s. Fantuzzi 2007, S. 486f. (und den abschließenden Gedanken ebd., S. 487): „In the last line Callimachus as passionate champion of his personal poetics consciously supplants the Callimachus who seems concerned about the fortune of one of his plays: although the epigram is largely about dramatic victory and defeat, at the end we may wonder whether brachysyllabia was actually, from beginning to end, the true heart of the epigram.“ Eine in eine solche Richtung abzielende Kritik seitens des Kallimachos verbirgt sich vermutlich hinter AP 11, 362, vgl. Fantuzzi 2007, S. 485f. und seine Anmerkung (S. 486, Anm. 25): „Our epigram [sc. AP 11,362] may therefore enter into the same line of criticism of reworkings of classical theater to which, e.g., Archimedes (sive Archimelos) 1 FGE (= AP 7.50) belonged“.

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Tradition),686 und wie er zugleich, anders als andere, auf seiner καθαρή ὁδός687 bleibt, indem er dabei eine seinen poetologischen Überzeugungen – und seiner Zeit – entsprechende Form findet (Bad der Pallas / kallimacheische Poetik vs zeitgenössiche Dramatik / nicht-kallimacheische Poetik).688

686

687 688

Noch einmal sei ausdrücklich betont, dass hier keine Zurückweisung oder Kritik an der Gattung der Tragödie an sich postuliert werden soll – sondern dass vielmehr, um es noch einmal mit Wests Worten zu sagen, „[t]he presupposition that the most famous poets are in a class of their own, not to be competed with on their own terms“ (West 1990, S. 554) zugrunde liege. Vgl. AP 9, 565, 1: καθαρὴν ὁδόν. Diese Deutung lässt sich auch mit Heaths Interpretation (1988) verbinden. Heath liest den Hymnos enkomiastisch und untersucht das reziproke Verhältnis von laudator und laudandus. Sein dritter Durchgang durch den Text, „in praise of the poet“ (vgl. S. 86-90), enthält eine Auslegung des abrupten Endes des eingebetteten Mythos und dann des Hymnos selbst. Dort wird das Kommen der Athene angekündigt (vgl. Call. Lav. Pall. 137-42): „At the end, when the goddess is now coming (ἀτρεκές), for real, the hymn must end. Leaving the scene and leaving-off the poem have become synonymous. [...] A tale of her [sc. Athena’s] epiphany reveals the importance of poetry as the medium of immortality for mortals and goddesses alike. And her imminent cultic epiphany provides a necessary closure to the hymn while glorifying the powers of the successful hymnist“ (ebd., S. 90). Der Erfolg, kann man nun in Hinsicht auf obige Deutung sagen, sei nicht auf das Wirken irgendeines Hymnendichters zurückzuführen, sondern auf einen Meister kallimacheischer Poetologie, deren Wirksamkeit auf diese Weise bewiesen ist. (S. zu den Rahmenpartien des Hymnos auch Ambühl 2005, S. 121-32 und besonders 212-4, wo sie die Mittel zur Evozierung der Epiphanie einer Gottheit in Euripides’ Bakchen mit denen der Rahmenpartien des fünften und sechsten kallimacheischen Hymnos vergleicht.) – Von „Anxiety of Influence“ kann also nicht die Rede sein. Vgl. zu dem Begriff oder besser zu dem Klischee, das er beschreibt, Ambühl 2005, S. 407: „Das Leiden der jüngeren Dichter unter der Macht der Tradition und ihre Rebellion gegen ihre poetischen Vorgänger scheint jedoch in erster Linie ein modernes Konzept zu sein, dass sich mit dem Bloomschen Begriff der ‘Anxiety of Influence’ umschreiben lässt und das nicht vorbehaltlos auf die antiken Texte angewendet werden sollte. Kallimachos fürchtet die Tradition nicht als Bedrohung seiner Schaffenskraft, sondern nutzt sie im Gegenteil als Ausgangsbasis für seine kreativen Experimente.“

4

4.2.3.4

Helikon und Kithairon in anderen Quellen

629

Die Rolle der Landschaft im Gefüge von Aitiologie und Poetologie

Gemäß der zugrunde liegenden Fragestellung bleibt zu klären, in welcher Weise sich die Landschaft in diesem Gefüge von Aition und Poetologie wiederfindet. Wie bereits gezeigt wurde, erscheint die Landschaft an signifikanten Stellen der Erzählung: Der Helikon mit Hippoukrene wird als Begegnungsort von Athene und Teiresias sorgfältig etabliert; er erscheint in Chariklos ohnehin ‚tragischer‘ Klage in einer Wendung, die der Tragödie entlehnt ist; das Aktaion-Exemplum, Spiegel in die Bakchen unmittelbar vor der Verleihung der Gaben, ist auf das ὄρος-Motiv ausgerichtet, sodass Athene auf Chariklos Helikon-Klage mit einer Gegenüberstellung des Kithairon689 antwortet. Vor dem Hintergrund der Betrachtungen des vorangegangenen Abschnitts wird der Eindruck bestärkt, dass die Assoziationen der Berge für die poetologische Aussage genutzt werden; dass also in der Tat Athene Chariklos tragisches Gebaren mit dem Hinweis zurückweist, dass man sich gerade nicht in einer Tragödie, sondern in einem dem Helikon entsprechenden Werk befinde. Die Berge erscheinen nach dieser Lesart geradezu als Materialisierung der unterschiedlichen Dichtungskonzepte: der Kithairon für die traditionelle Tragödiendichtung, der Helikon für kallimacheisch-palladisches Dichten. Es ist zu beachten, dass Letzterer eine doppelte Signifikanz trägt: Hinter dem ‚neuen‘ Helikon, auf dem Athene als inspirierende Kraft zu finden ist und junge Männer zu Dichter-Sehern werden, scheint zugleich der ‚alte‘ Helikon der hesiodeischen Dichterweihe durch die Musen hindurch.690 So wie im tragischen Sujet der Helikon Kallimachos’ Antwort auf den Kithairon ist, so ist in der Dichtung im Allgemeinen der ‚neue‘ Helikon seine Antwort auf den ‚alten‘.691 In dieser Überlagerung findet auch die literarische Strategie 689

690

691

Dass die unbenannten Berge tatsächlich den Kithairon meinen, gewinnt vor dem Hintergrund der Bakchen und dem Dionysos als Folie für die kallimacheische Athene als Inspirationsquelle noch mehr Gewissheit. Denn auch Dionysos ist gerade durch seine Abwesenheit im Bad der Pallas anwesend. Zur Abwesenheit des Dionysos im fünften Hymnos s. Ambühl 2005, S. 208f.; Manakidou 2015, S. 127. Calame 2009a, S. 220f. grenzt Athene als inspirierende Kraft gegen die hesiodeischen Musen ab. Dies ist weniger in der Art einer gefühlten poetologischen Verwandtschaft

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Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

der Aitiologie – und das mit ihr einhergehende selbstbewusste Selbstverständnis kallimacheischer Poetik – ihr Bild. Denn Athene weist auf die Tragödien- und epische Dichtung bzw. den Kithairon in der ‚Zukunft‘ von Kallimachos’ Dichtung, dem neuen Helikon aus, was ihn wiederum an den Anfang der Dichtung, auf den ‚alten‘ Helikon zurückprojiziert. Sie kommen übereinander zum Liegen. 5

Korinnas Wettstreitlied als ‚literaturgeschichtlicher Kommentar‘

Mit den zwei Hypothesen des vorangegangenen Kapitels soll nun eine neue Interpretation von Korinnas Wettstreitlied versucht werden. Die Hypothesen lauten: Zum Ersten: Es handelt sich um eine Geschichte mit aitiologischem Muster, in der sich zunächst zwei anthropomorphe Figuren gegenüberstehen und an deren Ende trotz seiner vorherigen Niederlage der Helikon als Musenberg steht. Zum Zweiten: Da es sich um einen Sängerwettstreit handelt, muss die Dichtung darin eine Rolle spielen; der Kithairon symbolisiert dabei, seinen gängigen Assoziationen gemäß, die Tragödiendichtung. 5.1

Ein literaturgeschichtlicher Kommentar

Die beiden Annahmen ergeben zusammengefügt folgenden Ablauf: Es treten Kithairon bzw. Tragödiendichtung und Helikon gegeneinander an. Zunächst wird der Tragödiendichtung die Überlegenheit zugesprochen, doch am Ende wird doch der durch den Helikon symbolisierten Dichtung der Vorzug eingeräumt. Welcher Sinn lässt sich aus diesem Ablauf gewinnen? Die Deutung, die hier angeboten werden soll, versteht das Lied im Sinne eines ‚literaturgeschichtlichen Kommentars‘: Der Sieg des Kithairon beschreibt die historisch korrekte zeitweilige ‚Dominanz‘ und Blütezeit der Tragödiendichtung als eine der herausragenden literarischen Gattungen des klassischen Athens im fünften Jahrhundert v.

mit hesiodeischer Dichtung gemeint als mehr in der Art einer selbstbewussten Beanspruchung der Urstätte der Dichtung mit Bewusstsein für die literarische Tradition und die eigene Position darin. S. auch oben Abschnitt A.II. 2.2.4.

5

Korinnas Wettstreitlied als ‚literaturgeschichtlicher Kommentar‘ 631

Chr.692 Der Helikon symbolisiert dabei weniger eine hesiodeische oder panhellenische Dichtung, als vielmehr eine „poesia tout court“693, als deren Stätte sich der Helikon, ausgehend von der Verbindung zu Hesiod und den Musen, etabliert hat.694 Dem Kithairon wird vorübergehend der Vorrang als Ort der Dichtung eingeräumt – doch, so mag man das hier vorausgesetzte abschließende Bekenntnis695 der Musen zu ihrem angestammten Sitz in Worte fassen: Helikon bleibt Helikon! Zu klären ist, ob das hier für die Deutung abstrahierte Schema mit dem konkreten Text tatsächlich in Einklang gebracht werden kann. Zum Vergleich: In dem in De Fluviis 2, 3 gegebenen Aition erscheinen Helikon und Kithairon als gegensätzliches Brüderpaar. Sie werden nach ih-

692

693 694

695

Für die tragende Bedeutung der Tragödie zur Konstruktion und Manifestierung einer athenischen Identität im 5. Jh. s. etwa Giordano 2016. Der Einfluss der Tragödie auf die Literaturproduktion der Zeit ist groß: „Given that the Homeric poems and language had got rid of any taste for ‘local’ production, to a point that a non-marked language and flavour was a precondition for circulation outside the regional milieu, it is all the more significant that Athenian products became Panhellenic while enhancing their Athenian character [...]. Once the hallmark of ‘Athens’ had become tantamount to ‘Panhellenic’, a text had greater chance of circulation the more it carried an Athenian flavour: from the 470s onwards, texts became Panhellenic qua Athenian.“ (ebd., S. 57; vgl. Anm. 15 für weiterführende Literatur). Trotz Fortlebens der Gattung in den folgenden Jahrhunderten behält doch die attische Tragödie der klassischen Zeit einen besonderen Stellenwert bei, wie er etwa in der frühen Kanonbildung (Aischylos, Sophokles, Euripides) und der späteren Wiederaufführung ihrer Stücke bezeugt ist (vgl. Zimmermann 2002, S. 738f.; Easterling 1997). Burzacchini 1990, S. 34. Nicht zu vergessen ist neben dem ‚literarischen‘ Ort auch der kultische, der zudem durch die Reorganisation der Mouseia in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts v. Chr. einen Aufschwung erlebt; vgl. oben die Abschnitte A.II.3.1.2 u. A.II.3.1.3. In welcher Form dieses Bekenntnis zum Ausdruck gebracht wird, spielt im Grunde keine Rolle. Selbst eine Mitleidsäußerung für den Verlierer (wie sie für ein Gottheit in hellenistischer Dichtung durchaus denkbar ist, man vergleiche die Athene des Teiresiasmythos in Kallimachos’ Bad der Pallas) würde den gleichen Vorzug bedeuten wie ein explizites Lob seines Liedes vor dem des Kithairon, da das praktische Ergebnis dasselbe bleibt: Der Helikon wird Stätte der Musen.

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rem Tod in Berge verwandelt, die ihrem früheren menschlichen Charakter entsprechende Konnotationen tragen: Der liebenswürdige Helikon wird Musensitz, der bösartige Kithairon Erinyensitz. Der aitiologische Mechanismus bedient sich hier also eines sehr direkten und linearen Übertragungsmusters, bei dem sich die zwei Sphären – die Sphäre ‚Mensch‘ vor und die Sphäre ‚Berg‘ nach der Metamorphose – nicht überschneiden.696 In Korinnas Wettstreitlied scheinen die Verhältnisse nach der vorgeschlagenen Interpretation zunächst etwas diffiziler: Denn in der Deutung sind die Bergeigenschaften – Tragödiensitz bzw. ‚poesia tout court‘-Sitz – bereits für die personae Helikon und Kithairon vorweggenommen, entsprechend dem heuristischen Verfahren zu ihrer Entwicklung. 697 Beim Verlauf des Wettstreits spielen die Assoziationen schon eine Rolle, die eigentlich, nach aitiologischer Logik, erst verliehen werden sollen. Kann von „Helikon bleibt Helikon!“ die Rede sein, wenn der Helikon erst zum Helikon wird, die Verbindung mit den Musen erst entsteht? Der scheinbare Widersinn lässt sich bei genauerer Betrachtung leicht lösen, wenn man zwischen Form und Aussage differenziert: Das Lied stellt einerseits ein Aition zur Entstehung von Helikon und Kithairon dar, von denen mindestens der Sänger Helikon zum Musenberg, unter Umständen auch der Sänger Kithairon zu einem entsprechend konnotierten Berg698 wird. Korinna übersetzt, sollte sie denn, wie hier vermutet, auf einen bestehenden Mythos zurückgreifen, die Rivali696

Folgende Übersicht veranschaulicht das Übertragungsschema in Ps.-Plu. Fluv. 2, 3: Entität Eigenschaft

697

698

‚Vorher‘: Sphäre Mensch Mann Helikon Mann Kithairon Liebenswürdigkeit Bösartigkeit

→ → → → →

‚Nachher‘: Sphäre Berg Berg Helikon Berg Kithairon Musensitz Erinyensitz

Die Deutung wurde ja aus der Frage heraus entwickelt, welche Konnotationen, insbesondere Literatur und Dichtung betreffend, die Berge Helikon und Kithairon tragen. Für den Kithairon scheint eine entsprechende Belegung mit Assoziationen nicht so zwingend wie für den Helikon. Dass der Kithairon zum Berg der Erinyen wird wie in Ps.-Plu. Fluv. 2, 3, ist wohl nach dem erhaltenen Ausschnitt aus der Handlung eher unwahrscheinlich. Möglicherweise gerät Dionysos ins Spiel.

5

Korinnas Wettstreitlied als ‚literaturgeschichtlicher Kommentar‘ 633

tät etwa eines Bruderpaares in einen Sängerwettstreit.699 Es ist durchaus denkbar, dass die unterschiedlichen Dichtungsarten nicht allein mittels der durch die Namen ‚Helikon‘ und ‚Kithairon‘ hervorgerufenen Assoziationen präsent sind, sondern beispielsweise auch in irgendeiner Weise durch die Lieder repräsentiert werden, welche die Kontrahenten singen.700 – Andererseits dient wiederum das Aition in seiner Form als Träger des ‚literaturgeschichtlichen‘ Kommentars, der sich über den besonderen Wettbewerbsverlauf offenbart. Und so ist es möglich, auf dieser übergeordneten Ebene die bestehenden Assoziationen bereits an die Figuren zu knüpfen und zueinander in Beziehung zu setzen,701 sodass sich, wie oben beschrieben, die Abfolge (Helikon / ‚helikonische‘ Dichtung) – Kithairon / Tragödiendichtung – Helikon / ‚helikonische‘ Dichtung ergibt. Dass ein solches Muster für die hellenistische Dichtung prinzipiell denkbar ist, hat die Auseinandersetzung mit Kallimachos’ Bad der Pallas gezeigt.702 Auch dort steht der Kithairon als Ort und Symbol der Tragödiendichtung dem Helikon gegenüber: Athene verweist auf ihn im Rahmen des Aktaion-Exemplums, das sich als so wichtiges intertextuelles Signal in die Bakchen und auf Pentheus erwiesen hat und über das die Abgrenzung zur Tragödie erfolgt: Anstatt, dass die göttliche Begegnung in einer Katastrophe bzw. tödlichen bakchischen Initiation endet, spielt sich am gleichen Ort, wo die Initiation Hesiods zum Dichter erfolgt ist, auch die ‚literarische Initiation‘ des Teiresias zum Objekt der Dichtung ab. Die sorgfältige Verknüpfung von Anspielung auf die Tragödie und gleichzeitiger Kontrastierung entwickelt metapoetisches Po699 700

701

702

Vgl. oben Abschnitt B.III.4.1. Auf eine solche Annahme, die bei der Textlage nicht mehr sein kann als das, stützt sich im Grunde auch Vergados’ Interpretation (2012); s. auch unten Abschnitt B.III.5.2.2. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass eine Verbindung über die nunmehr verlorene Handlung am Ende hergestellt wird. Für die Rezipienten indes sollten ohnehin alle Assoziationen präsent sein: „For the original audience [...] the names Helicon and Cithaeron would evoke both the homonymous heroes and the stories related to them, as well as the mountains, permanent and imposing features of the Boeotian landscape, which they associated with certain types of poetry or stories“ (Vergados 2012, S. 113, in leicht abweichendem Zusammenhang). Vgl. oben Abschnitt B.III.4.2.3, auch für die folgende Zusammenschau der Ergebnisse.

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tenzial, das sich über die Gegenüberstellung der Inspirationsquellen – Athene einerseits und ‚unsichtbarem‘ Dionysos andererseits – sowie den ‚Orten‘ der Dichtung – dem Helikon auf der einen und dem unbenannten Kithairon auf der anderen Seite – seinen Weg bahnt. Dies ist zunächst eine Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition, in der Kallimachos seine eigene Dichtung positioniert. Es gilt nun: „‚Tragödie‘ geht jetzt anders! Helikon statt Kithairon!“ Eine Dimension der Zeitlichkeit gewinnt diese zunächst poetologische Gegenüberstellung durch das aitiologische Gegenstück zur Verjüngung des Teiresias, die Prophezeiung. Athene verkündet Teiresias’ Ruhm für die große Dichtung der Zukunft; sie verweist über die Gabenliste auch implizit auf die Tragödie. Gleichzeitig muss auch Kallimachos’ ‚helikonisches‘ Lied selbst in dieser Reihe gedacht werden; die literarische Verjüngungsstrategie projiziert es jedoch an den Beginn der literarischen Tradition zurück, sodass es gleichzeitig als sein Anfangsund als sein (vorläufiger) Endpunkt erscheint. Im Aktaionmythos, der aus der Handlungsperspektive der Teiresiaserzählung ebenfalls in der Zukunft liegt, überkreuzen sich der poetologische und der ‚zeitliche‘ Strang. Sehr subtil verflechten sich diese Stränge zu dem gleichen Muster, wie es auch bei Korinna präsent ist: Denn die Tragödie erscheint auf diese Weise eingerahmt. Eine große Zeit in der ‚Zukunft‘ wird ihr zuerkannt, doch zugleich markiert der vorliegende Hymnos mit seinem neuen poetologischen Konzept auch das Vergangensein ihrer Blüte. Inhaltlich wiederum steht er ihr voran; auch dies gewinnt einen metapoetischen Aspekt.703 Die symbolhafte Verknüpfung der Dichtungskonzepte mit den beiden böotischen Bergen, wie sie dem Bad der Pallas innewohnt, läuft auf die gleiche Abfolge hinaus wie in Korinnas Wettstreitlied: Helikon, Kithairon, Helikon! – Selbstverständlich soll hier kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Korinnas sehr direkter Wettstreitform und Kallimachos’ implizitem und subtilem Gefüge aus Anspielungen postuliert werden. Was aber deutlich werden konnte, ist, dass die Zuordnung von jeweiliger Dichtung und jeweiligem Berg, zumal in abwechselnder Überlegenheit, strukturell und gedanklich möglich ist. 703

Dieser wird fassbar, wenn man Aitiologie, insbesondere die komplementäre Verbindung aus Verjüngung und Prophezeiung, im Sinne Ambühls (2005) als literarische Strategie begreift, vgl. oben B.III.4.2.3.3 zur Aitiologie.

5

Korinnas Wettstreitlied als ‚literaturgeschichtlicher Kommentar‘ 635

Ein weiterer Aspekt, der hier bisher nur andeutungsweise berührt wurde, kann, gegen den Hintergrund von Kallimachos’ Bad der Pallas betrachtet, mehr Klarheit gewinnen. Wie ist der hier verwendete Ausdruck ‚literaturgeschichtlicher Kommentar‘ zu verstehen? Und, damit einhergehend: Was ist ‚helikonische‘ Dichtung? Kallimachos’ Gegenüberstellung der Berge ist, das hat sich gezeigt, in erster Linie poetologisch motiviert: Was das tragische Genre betrifft, so steht kallimacheischpalladisches Dichten der ‚dionysisch‘ inspirierten traditionellen Tragödiendichtung als alexandrinische Fortsetzung gegenüber; auch eine Abgrenzung gegen entsprechende zeitgenössische dichterische Tendenzen704 mag mitschwingen. Eine zeitliche Dimension, die ebenfalls in letzter Konsequenz einen poetologischen Effekt erzeugt, gesellt sich dazu. Ob bei Korinna ein direkter poetologischer Zusammenhang, eine Abgrenzung also ihrer eigenen Dichtung gegen die Tragödie (symbolisiert durch den letztendlichen ‚Sieg‘ des Helikon über den Sieger Kithairon) zu erwarten ist, ist mehr als fraglich. Auch Kallimachos’ poetologische Aussage ist ja eher als eine Promotion seiner dichterischen Ideale exemplarisch am Objekt der Tragödie zu verstehen, nicht als grundsätzliche Zurückweisung der ganzen Gattung mit ihrer literarischen Tradition.705 – Andererseits scheint es auch verfehlt zu sein, ein rein literatur704

705

Vgl. oben Abschnitt B.III.4.2.3.3 zur Poetologie, insbesondere zu Ambühls auf Müller 1987 fußender kombinierender Untersuchung von Bad der Pallas und Demeter-Hymnos (2005). Korinnas Dichtungen umfassen durchaus auch Werke um Mythen, die zum Inhalt von Tragödien geworden sind, so Sieben gegen Theben (PMG 659) und einen Orest (PMG 690). Beachtung verdienen in diesem Zusammenhang auch die Minyades, deren Mythos Antoninus Liberalis erzählt; er nennt Nikandros und Korinna als Autoritäten (vgl. Ant. Lib. 10). Der Mythos gleicht dem Hergang in Euripides’ Bakchen; doch ist aus Antoninus’ Notiz nicht auszumachen, was und wieviel davon bei Korinna zu finden war, vgl. Page 1953, S. 38; Kousoulini 2016, S. 90f. Zu Korinnas Interesse etwa an thebanischen Mythen s. Collins 2006, S. 29f. Dies erlaubt selbstverständlich keinerlei Rückschlüsse über eine Einstellung zu dieser Gattung insgesamt, ob also zum Beispiel ein nach ihren Maßstäben gefertigter Orest dem euripideischen oder der aischyleischen Trilogie vorzuziehen sei. – Auch muss nicht notwendig ein adäquater historischer oder politischer Hintergrund gegeben sein (ohnehin problematisch für das disparate Böotien und grundsätzlich sorgfältig zu ermitteln wegen der Gefahr pauschalisierender Urteile), vor dem sich eine Gegenüberstellung der athenischen Tragödie mit

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historisches Interesse zu Grunde zu legen, wenn das ‚Ende‘ des Sieges, den der Sänger Kithairon in Menschengestalt erringt, durch die so überdauernde Transformation des Helikon in den Sitz der Musen markiert ist. Dieser Eintritt in eine radikal andere Daseinsform verbildlicht in markanter Weise die Konstanz helikonischer Überlegenheit – der Kithairon ist ja ebenfalls auf der Landkarte vorhanden.706 Hier verbindet sich die Frage nach der Art des ‚literaturgeschichtlichen‘ Gehalts mit der nach der Natur ‚helikonischer‘ Dichtung. Dass Korinna etwa ohne Weiteres das hesiodeische Epos gegen die attische

706

einer – wie auch immer gearteten – anderen Dichtung entfalten könnte: Es reicht, insbesondere natürlich für eine wie hier angenommene hellenistische Zeit – das Selbstverständnis und Bewusstsein der Dichterin für ihren Platz innerhalb der literarischen Tradition. Den gleichen Gedanken entwickelt Vergados 2012, S. 115 in Reaktion auf Collins 2006, S. 2f. Collins wertet Korinnas Ersetzen des athenischen Kephalos durch den böotischen Ödipus im Mythos um den Teumessischen Fuchs (PMG 672) als Beispiel für eine „political awareness“ (ebd., S. 30) der Dichterin, die er im fünften Jahrhundert v. Chr. ansiedelt, in einer Zeit spannungsreicher Beziehungen zwischen athenischer und böotischer Seite. Dazu Vergados (ebd.): „Her purpose is not simply to show Boeotian superiority at the expense of another polis’ traditions [...], but to comment on her poetic heritage and thereby establish her place within this tradition. In other words, we need not always look for a political reason for Corinna’s innovative traits.“ – Aber eine Figur wie bei Kallimachos, die den Anbruch einer neuen Zeit auch in der Dichtung markiert, bleibt möglich: dass also ein nach dem Prinzip der leptotes komponiertes Lied, auch über Themen der attischen Tragödie, dem Dichter (und der Dichterin) in seiner Zeit angemessener sei als eine (imitierende) Fassung in der ursprünglichen (dramatischen) Form. Hier gewinnt die Form Aition als Träger der Aussage also eine besondere Relevanz, vor allem vor dem Hintergrund der aitiologischen Perspektive von der ‚fertigen‘ Welt aus. Vgl. Buxtons verdichtete Charakterisierung zu Beginn des Kapitels „The Human Aetiology of Landscape“: „[A]nother type of metamorphosis represents a unique and pivotal moment within a linear narrative about genesis and aetiology, a moment which radically demarcates After from Before. Such a narrative describes how a mortal’s existence can be indefinitely prolonged through transformation, becoming literally reincorporated into what, from the perspective of ancient myth-tellers, is the present. According to this perspective, it is not that the world has ‘evolved’; rather, the world owes certain aspects of its present condition to a series of one-off transitions which took place in the mythical past“ (2009, S. 191).

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Tragödie antreten lässt und die Transformation in die jeweiligen Berge schließlich bedeuten soll, dass für einen begrenzten Zeitraum zwar die Tragödie ihren Höhenflug hatte (durchaus auch zeitlich auf jenes folgend), eigentlich aber doch immer und ewig Hesiod per Musenbeglaubigung der größere Dichter ist, scheint unwahrscheinlich. Im Bad der Pallas entsteht die Klammer um die Tragödiendichtung nicht nur durch die Projektion kallimacheischer Dichtung an den Anfang der Tradition bei gleichzeitigem Innehaben der Endposition. Im Helikon sind gleichermaßen das ‚neue‘ kallimacheisch-palladische Dichten und die ‚alte‘ Stätte der hesiodeischen Dichterweihe, präsent. Ort kallimacheisch-palladischen Dichtens kann der Helikon nur durch die hesiodeische Sinngebung sein, wie er ja auch für die hellenistische Dichtung insgesamt eben als Ur-Ort der Dichtung symbolische Signifikanz besitzt. Für Korinna mag dies Folgendes bedeuten: Ihr Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon ist ein literaturgeschichtlicher Kommentar insofern, als die zeitweilige Blüte der Tragödiendichtung darin dargestellt wird; poetologisch ist er nicht unbedingt durch eine direkte Abgrenzung von der Tragödiendichtung, sondern insofern, als andersherum eine Zugehörigkeit zum Helikon darin ihren Ausdruck findet: Helikon bleibt Helikon. Und warum wird diese Zugehörigkeit ausgerechnet gegen den Hintergrund der Tragödiendichtung geäußert? Weil Helikon und Kithairon mit ihren Assoziationen, so mag man sagen, eben die beiden markantesten böotischen Berge sind. 5.2

Einzelne Elemente des Liedes vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Interpretation

5.2.1 Der Wahlvorgang (V. 19-26) Ein Element, das sich gut in die vorgestellte Interpretation fügt und ein Indiz zu ihren Gunsten darstellt, ist der in den Versen 19-26 beschriebene Wahlvorgang zur Bestimmung des Siegers. Er erinnert in hohem Maße an Gerichtsverfahren, wie sie sich im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. entwickelten: The familiarity with the atmosphere and mechanics of judicial procedure is striking. The expression for placing the pebbles in the urn, ψῆφον

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φέρειν, is the terminus technicus of fifth- and fourth-century Athens (Andoc. De Myst. 2, Demosth. 57.61707 ). ‘Secret vote’ (ψᾶφον κρουφίαν) [...] is also a technical expression (Aristotle, Rhet. ad Alex. 1424 b2, κρυπτὴ ψῆφος), although the more common expression among political writers seems to have favored the adverb κρύβδην (e.g. Demosth. 58.89, Aristotle, Rhet. ad Alex. 1433 a23). Even the simple statement that ‘Cithaeron got more (votes)’ (23) has a technical look about it; compare Aristotle, Ath. Pol. 69.1: ὁποτέρῳ δ ἂν πλείων γένηται, οὗτος νικᾷ … The function of Hermes as herald in 24-26 also reflects dicaeastic procedure: ἀναγορεύει ὁ κῆρυξ τὸν ἀριθµὸν τῶν ψήφων (Ath. Pol. 69.1). The official looking verb ἔταττον in 20 and the rising of all the onlookers in 22 also contribute to the specific juristic atmosphere.708

Korinnas Beschreibung des Wahlvorgangs hat bisher vor allem in Hinblick auf ihre Datierung eine Rolle gespielt.709 Zwar hat man durchaus in 707

708

709

S. darüber hinaus auch die bei Weiler 1974, S. 87 Anm. 206 u. 207 aufgeführten Stellen. Segal 1975/1998, S. 1f.; vgl. Page 1953, S. 76f.; Weiler 1974, S. 86f.; Giosi 1997, S. 172. Für die Funktionsweise und Entwicklung der geheimen Wahl in Athen im 5. und 4. Jahrhundert s. Boegehold 1963; Staveley 1972, S. 93100. S. dazu unten Exkurs I. Hier ist vor allem von Bedeutung, ob für Korinna der Prozess der geheimen Abstimmung als Errungenschaft bzw. Merkmal des demokratischen Athens gelten konnte, vgl. auch im Folgenden. An Abstimmungsprozessen sind aus Sparta die Abstimmung durch Auseinandertreten oder Akklamation bekannt, aus Athen zudem, neben der geheimen Wahl in Gerichtsprozessen, die Abstimmung per cheirotonia und der Ostrakismos in der Ekklesia, zusätzlich die ekphyllophoria mit beschrifteten Olivenblättern und die offene Wahl mit Stimmsteinen im Rat der 500, außerdem (auch geheime) Verfahren der römischen Zeit (s. Staveley 1972). Über Abstimmungsprozesse in anderen demokratischen Poleis außer Athen ist wenig bekannt. Über die Gerichte, die Institutionen des im 4. Jh. nach athenischem Vorbild demokratisch organisierten Böotischen Bundes waren – sie befassten sich mit Verstößen gegen seine Richtlinien, die Strafgerichtsbarkeit oblag weiterhin den einzelnen Poleis –, bemerkt Buckler 1980, S. 32: „The federal courts were composed of citizens presumably chosen by lot, as at Athens. After the jurors had heard the case, each member rendered his verdict by dropping a pebble into a voting urn.“ Wie bei der Inschrift aus Opous (s. unten Exkurs I) bedeutet dies jedoch noch nicht automatisch auch einen geheimen Wahlvorgang. Die geheime Wahl als Grundprinzip der De-

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der technischen, verknappten Darstellung auch eine Spur Humor und möglicherweise sogar Ironie festgestellt,710 doch dienten auch diese stilistischen Aspekte vornehmlich als Indizien für eine zeitliche Einordnung der Dichterin.711 Innerhalb der vorgeschlagenen Interpretation hätte diese Art der Ausgestaltung selbst eine Funktion, die über den rein inhaltlichen Beitrag zum Handlungsverlauf – die Götter stimmen ab und Kithairon gewinnt – oder das kurze Amüsement eines kleinen humorvollen Einschubs um seiner selbst willen hinausgeht: Kithairon, der die Tragödie symbolisiert, das repräsentative Genre des demokratischen Athen schlechthin,712 siegt über den Helikon ausgerechnet durch ein demokratisch-athenisch anmutendes Gerichtsverfahren, wie es im Übrigen in

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mokratie ist wohl eher eine moderne Auffassung (vgl. Hall 1990); daher muss nicht notwendig jede demokratische Struktur der Antike sie mit einschließen. Ohnehin ist der Böotische Bund in seiner hellenistischen Form dezentraler und weniger demokratisch organisiert, vgl. Buck 1985, S. 295. Die Einschreibung des Verfahrens der geheimen Wahl in Aischylos’ Eumeniden (vgl. im Folgenden) – dazu evtl. die verschiedenen Darstellungen auf attischen Vasenbildern (s. Segals Addendum 1975/1998, S. 319) – darf aber als Garant dafür gelten, dass das Verfahren mit Athen assoziativ verknüpft blieb, unabhängig von seiner möglichen späteren Karriere im griechischen Raum. Page 1953 nennt Korinnas Ausgestaltung des Wahlvorgangs als Gerichtsverfahren ihren „one flight of fancy“ (ebd., S. 76). Segal 1975/1998, S. 2 konstatiert: „Clearly there is humor in this precise dicaeastic particularity.“ Vgl. ebd., S. 5; Giosi 1997, S. 173. Segal 1975/1998, S. 6-8 etwa lotet aus, inwieweit Korinnas ψᾶφος κρουφία (vgl. V. 20f.) möglicherweise eine gewitzte Anspielung auf Pindars achte Nemee sein könnte (N. 8, 26: κρυφίαισι γὰρ ἐν ψάφοις Ὀδυσσῆ Δαναοί). Pindars Ausdruck „κρυφίαισι [...] ἐν ψάφοις“ bezeichne nicht den technischen Prozess des „secret balloting“, sondern „a process of decision which is kept secret from Ajax“, und somit „a highly condensed way of saying that the meeting and its atmosphere are pervaded by secrecy and underhand dealing“ (ebd., S. 6; anders Burzacchini 1990, S. 32 Anm. 3 und Weiler 1974, S. 86 Anm. 201). Eine späte Korinna könne diesen metaphorisch verdichteten Ausdruck in archaisierender Pseudo-Naivität verwandelt haben in „a literal and detailed description of actual procedural details“ (Segal 1975/ 1998, S. 7). S. die differenzierte Darstellung der unterschiedlichen Möglichkeiten ebd., S. 6-8, ebenso wie den Zusatz 1998, S. 320. Vgl. Giordano 2016, S. 55; 57; 65f.

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analoger Form in Aischylos’ Eumeniden713 präsent ist.714 Sein Sieg ist somit gewissermaßen bedingt durch das Verfahren, mit dem er ermittelt 713

714

Vgl. Weiler 1974, S. 86; Schubart und Wilamowitz 1907, S. 47. Zu den bei Weiler aufgezählten Parallelen ist hinzuzufügen, dass auch Athene die Richter auffordert, sich zu erheben (A. Eu. 708 ὀρθοῦσθαι δὲ χρή), wie sich bei Korinna die Götter auf den Aufruf der Musen zur Stimmsteinabgabe (V. 1822) alle zugleich erheben (V. 19 τὺ δ’ ἅµα πάντε[ς] ὦρθεν·). Abweichend gibt in den Eumeniden auch Athene selbst eine Stimme ab, und zwar, wie es scheint, offen (A. Eu. 734f.). Dies ist allerdings eine überraschende Geste und entspricht keinesfalls der Rolle des nur vorsitzenden Archon Basileus in einem analogen realen Gerichtsverfahren auf dem Areopag (vgl. Braun 1998, S. 101) und auch nicht dem Prozedere in einem anderen Gericht (vgl. Sommerstein 2010, S. 25). Die jeweiligen Argumente bezüglich des umstrittenen Modus von Athenes Abstimmung sind bei Sommerstein 1989, S. 2226 zu A. Eu. 711-53 zusammengefasst. – Im Gegensatz zur Athene der Eumeniden scheinen die Musen bei Korinna tatsächlich neutral zu bleiben, soweit sich dies aus der sehr verdichteten Beschreibung des Ablaufs erfassen lässt. Der Eindruck entsteht durch die über das τὺ δ’ in V. 22 evozierte Trennung zwischen den Musen, die zur Stimmabgabe aufrufen, und den Göttern, die sich daraufhin gemeinschaftlich erheben. Auf das Erheben der Götter in V. 22 folgt sogleich das Ergebnis (V. 23: πλίονας δ’ εἷλε Κιθηρών), sodass es ganz unmittelbar als dessen Folge angesehen werden kann. Weiler 1974, S. 87f. sieht andersherum Korinnas Darstellung als Indiz dafür, dass die aus dem Gerichtswesen bekannten Systeme auch bei musischen Agonen angewandt wurden, „so daß darin weniger eine Projektion der Verhältnisse, wie sie bei Gericht vorherrschten, in den Bereich des Mythos gesehen werden muß, sondern eine solche von der Wettkampfsphäre selbst“ (ebd., S. 88). Über die Verfahren zur Ermittlung des Siegers bei musischen Agonen ist wenig bekannt; im sportlichen Agon liegt eine größere Eindeutigkeit und Objektivität in der Natur der Sache (vgl. ebd., S. 87). In jedem Fall unterscheidet sich der skizzierte Vorgang von dem bei den Großen Dionysien in Athen angewandten Verfahren: Dort wurde aus den zehn Phylen jeweils ein Richter gelost, die ihr Votum auf einem Täfelchen (γραµµατεῖον, Lys. 4, 3) notierten und in eine Urne abgaben, woraus wiederum fünf Stimmen gelost wurden, die das Ergebnis bestimmten; vgl. Pickard-Cambridge 1988, S. 97. Offenbar verlief die Abstimmung so, dass man wusste, wie welcher Kampfrichter gestimmt hatte (vgl. ebd., S. 97f.). Das laute Verkünden des Urteilsspruches bzw. Siegers durch den Herold entspricht sowohl dem Gerichtsverfahren als auch der agonalen Sphäre (vgl. Weiler 1974, S. 84 Anm. 195 u. S. 87).

5

Korinnas Wettstreitlied als ‚literaturgeschichtlicher Kommentar‘ 641

wurde. So werden die Gebundenheit der Tragödie an das System, das sie hervorgebracht und groß gemacht hat, und die zeitliche Begrenzung ihrer ‚Dominanz‘ versinnbildlicht. Dass ausgerechnet die Musen, die ja eigentlich, neben Apoll vielleicht, ganz unzweifelhaft das sachverständigste Urteil abgeben könnten, in neutraler Position einer gerichtlichen demokratischen Abstimmung aller anderen Götter vorstehen, verdeutlicht die eingeschränkte Gültigkeit des Ergebnisses. Und wenn sie sich, wie hier vermutet, am Ende zum Verlierer bekennen, so wird gewiss niemand die Legitimität und die Richtigkeit ihres Urteils anfechten. Eine weitere Pointe gewinnt die Darstellung durch das prachtvolle Adjektiv χρου|σοφαῖς (V. 21f.), „goldprangend“715, das zur Beschreibung der Wahlurnen dient. Es durchbricht die technisch-trockene Fachsprache der Schilderung und verknüpft die nüchterne, der Menschensphäre entstammende Prozedur mit der Sphäre des Göttlichen. In dem Bild der „goldprangenden Urnen“ verdichtet sich die Spannung, die zwischen den beiden so ungleichen Bereichen entsteht.716 Eine besondere Pikanterie nun kann darin liegen, dass es sich bei χρουσοφαῖς eigentlich um eine attische Form handelt, die böotisch geschrieben ist.717 Dieser „Boeotianized Atticism“718 an so prägnanter719 Stelle würde der Span715

716

717 718 719

Vgl. Montanari s. v. χρυσοφαής: „resplendent with gold“; LSJ s. v. χρυσοφαής: „gold-shining“. Vgl. Segal 1975/1998, S. 5: „The golden urns epitomize the incongruity [sc. „between the technicalities of secret balloting and a setting involving the ‘Blessed Gods’“ (ebd.)], for on the one hand they are part of the technical apparatus of the law-court, but on the other hand they are ‘brilliant with gold’ [...]: their material is the magical gold which characterizes the gods and their beautiful, timeless, radiant world.“ Für Gold als Element der Götter s. auch Burzacchini 1991, S. 74 zu col. i, 21f. (der allerdings, wie es scheint, Segal missversteht: Denn der sieht nicht in der Verwendung des Adjektivs an sich ein Zeichen von „literary sophistication“ [Segal 1975, S. 5], sondern in der Spannung, die die Inkongruenz zwischen göttlicher Sphäre und Gerichtssaaljargon hervorruft). Zum problematischen Textbefund s. unten Exkurs II. West 1970, S. 284. Prägnant ist das Adjektiv nicht nur, weil es die nüchterne Beschreibung der Abläufe (bzw. die indirekt wiedergegebene Aufforderung der Musen) durchbricht, sondern auch, weil Korinna solche schmückenden Epitheta ohnehin sparsam einsetzt. Vgl. Larmours Erinnerung (2005, S. 28): „[B]ecause of the generally uncluttered mode of expression, any particularly descriptive or po-

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B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

nung zwischen den Sphären eine weitere Spitze hinzufügen: Die Götter führen einen demokratisch-athenischen Abstimmungsprozess durch; sie benutzen dazu, wie es ihnen gebührt, selbstverständlich goldene Gefäße; die aber wiederum sind in ‚attischer Weise‘ golden. Der Ausdruck unterstriche so mit einem gewissen Unernst die ‚attische‘ Konstituiertheit des ganzen Verfahrens.720 Der Sieg, der dem Kithairon verliehen wird, trägt somit besondere Züge: Er ist rechtsgültig herbeigeführt durch einen gerichtlichen, demokratisch durchgeführten Abstimmungsprozess der Götter. Mit gutem Recht darf sich der Sieger also freuen über die Ehren, die ihm zuteil werden. Die Art der Abstimmung verhaftet den Sieg aber in der Menschensphäre und bindet ihn an das System, dem die mit dem Kithairon assoziierte Art der Dichtung, die Tragödie, entsprungen ist. Seine der Vergänglichkeit unterworfene Konstitution wird dadurch unterstrichen. Das spätere Bekenntnis oder Urteil der Musen hingegen wird, muss man sich vorstellen, qua göttlicher, überzeitlicher Autorität getroffen.721 Es gilt dem Berg und offenbart so symbolhaft seinen dauernden Charakter. Exkurs I. Der Wahlvorgang in der Debatte um Korinnas Datierung Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellte, ist, ob eine frühe Korinna, deren Lebenszeit im 5. Jh. v. Chr. anzusiedeln ist, mit einem solchen Verfahren der geheimen Wahl, „a democratic legal procedure [...] alien in form and spirit to anything practised in Boeotia at the end of sixth century“722, vertraut gewesen sein und es für die Ausgestaltung ihres Wettstreitliedes genutzt haben kann. Laut Page weist dieses Indiz eher auf eine spätere Lebenszeit der Korinna;723 allerdings wäre auch

720

721

722 723

lyvalent word draws attention to itself.“ Entgegen Burzacchini 1991, S. 73f. zu V. 21f. („Difficile giustificare nel testo corinniano la presenza di un simile «Boeotianized Atticism» [...]“) hätte die attische Form also durchaus eine Funktion im Lied. Dies sei als vorsichtiges Indiz zu Gunsten der üblichen Lesart (nämlich χρου|σοφαῖς, wie auch hier angegeben) gewertet. In gewisser Weise wäre die spätere ‚Intervention‘ der Musen so mit Athenes – wohl entscheidendem (s. zu dieser Frage Sommerstein 1989, S. 222-6 zu A. Eu. 711-753) – Eingriff in den Eumeniden vergleichbar, nur dass diese außerhalb des angesetzten Verfahrens agieren, jene hingegen innerhalb. Page 1953, S. 77. Vgl. ebd.

5

Korinnas Wettstreitlied als ‚literaturgeschichtlicher Kommentar‘ 643 hier zu prüfen, wie stark und mit welcher Berechtigung seine Vorannahme von der böotischen Provinzdichterin dabei ins Gewicht fällt.724 Page selbst relativiert die Aussagekraft dieses Indizes jedoch mit dem Hinweis auf eine Inschrift aus Opous (IG 9,1, 334): Here, in Opuntian Locris in the first half of the fifth century, is a legal procedure which repeats the most significant features of Corinna’s description: supreme law-officer, ὁ ἀρχός, whom we can readily imagine presiding over the court; and, above all, a jury recording their verdict by dropping pebbles secretly into an urn, ἐν ὑδρίαν τὰν ψάφιξξιν εἶµεν725 Korinna hätte also den Blick nicht bis nach Athen richten müssen; zudem könne man nicht sagen, ob nicht auch in Tanagra ein ähnliches System herrschte wie im lokrischen Opous. Weiler wirft ein: „Bei aller ‘parochiality’ der Korinna [...] darf [...] das Prinzip und die Technik der geheimen Abstimmung im Großteil Griechenlands als bekannt vorausgesetzt werden.“726 Zudem liege Tanagra viel näher an Athen als an Opous, „und wenn schon der athenische Einfluß abgelehnt wird, so [kann] doch der Thebens in Kalkül gezogen werden [...] Hinzu kommt, daß die Dichterin aus Tanagra zumindest genauso gut wie das Gesetz von 460 v. Chr. die >Eumeniden< der aischyleischen Tetralogie kennen konnte, mit welcher der Dichter zur gleichen Zeit in Athen siegte“727. Segal wendet mit Berufung auf Boegehold gegen die Beweiskraft der Lokrischen Inschrift zudem ein, dass die Verwendung der Urne darin nicht notwendigerweise auf eine geheime Wahl schließen lasse,728 die aber sei gerade „the crucial point for the value of Corinna’s juristic detail as evidence for a post-Pindaric date“729. Ein weiteres Argument könne Korinnas Plural κάλπιδας730 sein (gegen den Singular ὑδρίαν in IG 9,1, 334): entweder nur poetischer Plural oder Hinweis auf „the two urns of the developed procedure of secret ballotting in fifth- and fourth-century Athens“731. Allerdings verweist Segal in seinem Addendum von 1997 (er-

724 725 726 727 728

729 730 731

S. dazu unten die Einwände von Weiler 1974. Page 1953, S. 78. Weiler 1974, S. 86. Ebd., S. 85f. Vgl. oben. S. Segal 1975/1998, S. 4f.; Boegehold 1963, S. 368 Anm. 6. Vgl. so auch schon Bolling 1956, S. 285. Segal 1975/1998, S. 4. Für die Bezeichnung κάλπις s. Segals Addendum 1998, S. 320. Segal 1975/1998, S. 4; s. etwa Arist. Ath. 68, 3.

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schienen 1998)732 auf attische Vasendarstellungen einer geheimen Abstimmung (in der Szene abgebildet zwei Hydrien) von 470-460 v. Chr.: Given the existence of such representations, it is not impossible that an early fifth-century Corinna could have known about the process of secret voting and physical details like metal urns or hydrias. [...] I no longer believe that the detail of the urns and secret voting is conclusive for the later date733 Wenn es auch fraglich ist, ob eine frühe Korinna auf diese Form der Verbreitung überhaupt angewiesen gewesen wäre – man beachte Weilers Bemerkungen oben zu Korinnas angenommener ‚parochiality‘ –, so bleibt doch das Ergebnis bestehen: Ihre Kenntnis des genauen Ablaufs einer geheimen Wahl lässt keinen Schluss auf ihre Lebenszeit zu. Exkurs II. Ein Attizismus in Korinnas Wettstreitlied? χρουσοφαῖς (col. i, 21f.) ist die böotische Schreibweise für das attische χρουσοφαεῖς; die entsprechende böotische Form lautet χρουσοφαίας.734 Der Papyrus bietet an dieser Stelle keine Eindeutigkeit, da der Schreiber offenbar eine Korrektur vorgenommen hat. Page liest χρουσοφαινας mit expungiertem ν und α in der letzten Silbe, sowie ει über dem ι: „χρουσο)φα +ι̅να .ς, which is one syllable too long for the metre, is being corrected [...] to χρουσο)φα +ι̅ς, and that in turn is being interpreted as χρουσο)φα +ει .ς.“735 Zwei weitere Möglichkeiten seien jedoch vor der Annahme der attischen Form zu beachten: „[F]irst, that the original text had χρυσο)φα +ι̅α .ς [χρυ- sic]“736 – mit dem Einwand jedoch, dass bei Korinna zwar Synizese von Vokalen vor einem Konsonanten, nicht aber, wie in diesem Fall, vor einem Vokal belegt sei. „[S]econdly, that the true reading underlying the MS.’ χρουσοφαινας was χρουσοφα +νια . ς, acc. pl. of χρυσοφανής“737. Für die Möglichkeit einer attischen Form im originalen Text folgert Page: „The alleged Attic form may therefore be discharged from the court for want of sufficient evidence; but it leaves with a noticeable stain on its character“738. 732 733 734 735 736 737 738

S. Segals Addendum 1998, S. 319f. Ebd., S. 320. Vgl. Page 1953, S. 55. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Korinnas Wettstreitlied als ‚literaturgeschichtlicher Kommentar‘ 645 Burzacchini plädiert stark für die böotische Form χρουσοφαίας: Er sieht lediglich über dem ν eine Epistigme, über dem α hingegen, entgegen Page, Crönert und Schubart und Wilamowitz und mit Lobel, die Spur eines Längenstriches, der (wie auch an anderen Stellen im Papyrus) das Metrum verdeutliche.739 Statt ει liest er über dem ι nur ε. Das bedeute für die Form folgende Entwicklung: „χρουσοφαίνας corretto in χρουσοφαίας, e questo chiosato come χρυσοφαέας“740. Prinzipiell ist diese Lesart möglich: Denn ει kann entweder bedeuten „that the ι is long and stands for (Attic) ει [...] or, more rarely and only before a vowel, that the ι is short and stands for (Attic) ε“741. Die problematische Synizese vor dem Vokal sei möglicherweise durch den noch präsenten Einfluss eines Digammas zu erklären. West742 scheint gar keine Epistigmai zu lesen; er sieht einen Längenstrich über dem α, zudem das ι akzentuiert mit Akut, – dies würde sich mit Burzacchinis Lesart decken –, außerdem aber über dem ί ein ει, was wiederum auf eine nicht ganz glatte Erklärung der böotischen mit der attischen Form hinauslaufen würde: attisches χρυσοφαεῖς für böotisches χρυσοφαίας, jedoch mit überzähligem α. Problemtisch bleibt zudem das in jedem Fall überflüssige ν. Es zeigt sich, dass es schwer zu entscheiden ist, welcher Lesart zu folgen sei. Die Argumente geben sich die Waage, man könnte jedes mit gleichem Recht hervorheben: Ist es unwahrscheinlicher, dass der Scholiast möglicherweise bei der Notation einer Erklärung etwas inkonsequent gewesen ist, oder dass er tatsächlich eine böotisch geschriebene attische Grundform angenommen hat? Das jeweilige Interesse des Papyrus-Betrachters scheint sein Auge in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen. Zu dem inkonsistenten Bild, dass die unterschiedlichen Herausgeber und Kommentatoren von dem Text des Papyrus (also der Deutung des Scholiasten oder Schreibers) liefern, gesellt sich die Frage hinzu, ob der Scholiast überhaupt die richtige Variante hergestellt hat.743 Ob ein „Boeotianized Atticism“744 im Text zu finden sei oder nicht, war

739

740

741 742 743 744

S. Burzacchini 1991, S. 74 ad loc.; Page 1953; Crönert 1908; Schubart und Wilamowitz 1907; Lobel 1930, S. 364. Burzacchini 1991, S. 74 ad loc. Zu letzterem Punkt gibt er den Hinweis, dass die Glossen im Papyrus nicht ausschließlich mit rein attischen Formen operierten; die Vergleichbarkeit des angeführten Beispiels lässt sich aber anfechten. Lobel 1930, S. 357 Anm. 1; vgl. Page 1953, S. 9f. S. West 1996, S. 22. Vgl. oben Pages zweite Möglichkeit. West 1970, S. 284.

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bisher vor allem in Hinsicht auf Korinnas Datierung von Interesse; denn er wäre „indicative of lateness“745. Gerade wegen der klaren Tendenz, die sein Auftreten für die Beantwortung der Datierungsfrage bedeuten würde, scheint man auf der anderen Seite aber allzu vorsichtig damit zu sein, ihn selbstbewusster zu verteidigen. Losgelöst vom schwierigen Papyrusbefund kann die hier vorgestellte Deutung ein vorsichtiges Indiz zu Gunsten der üblichen, attischen Lesart darstellen: Denn sie verleiht ihr eine Funktion innerhalb des Liedes.

5.2.2 Das Lied des Kithairon? Der hier angenommene Ausgang des Liedes, dass nämlich der Helikon am Ende zum Berg der Musen wird und ihm dadurch, entgegen der Abstimmung durch die Götter, gegenüber dem Kithairon der Vorzug als Ort der Dichtung eingeräumt wird, trägt eine weitere bedenkenswerte Konsequenz mit sich: Bislang bestand der weitestgehend akzeptierte Konsens darin, dass das teilweise erhaltene Wettstreitlied von der Geburt des Zeus und der List der Rhea (col. i, 12?-18) dem üblichen Muster gemäß dem Sieger Kithairon zuzuordnen sei.746 Da nun aber der eigentliche Sieger der Geschichte möglicherweise der Helikon ist, gerät diese ohnehin unsichere Annahme ins Wanken: Warum sollte nicht durch die Reihenfolge des Antritts (zuerst Kithairon, dann Helikon) zunächst eine Erwartung aufgebaut (Helikon wird Sieger sein) und dann gezielt gebrochen werden (Kithairon gewinnt), um sie schließlich doch in abgewandelter Form zu bestätigen (Helikon wird trotzdem Musenberg)? Im Folgenden sollen beide Möglichkeiten nach dem Muster einer Fallunterscheidung in Betracht gezogen und die jeweiligen Implikationen für die Interpretation beleuchtet werden. Leiten wird den Gedankengang die durchaus nicht sichere Annahme, dass die Lieder der Kontrahenten mit der jeweils durch sie repräsentierten Dichtung in Zusammenhang stehen.747 745 746 747

Ebd. Vgl. oben Abschnitt B.III.2.2.1 mit Anm. 10. Andernfalls ist kaum eine weiterführende Betrachtung möglich, einzig folgende Bemerkung: Da nach Weiler 1974, S. 82 Anm. 189 der Sieger eines Agons „meist ‘gottgefälligere’ Themen für seinen Vortrag wählt und daher die Gunst der Juroren gewinnt“, so könnte spekuliert werden, ob sich ein ‚gottgefälligeres‘ Thema denken lässt als die Geburt des Zeus. Dann ist je-

5

5.2.2.1

Korinnas Wettstreitlied als ‚literaturgeschichtlicher Kommentar‘ 647

Lied des Helikon

Sollten die erhaltenen Verse zu einem Lied des Helikon gehören, so wäre eine Deutung im Sinne Vergados’ durchaus am Platze – freilich unter geändertem Vorzeichen. Vergados748 fasst die Verse von der Geburt des Zeus und List der Rhea als Teil von Kithairons Lied. Ausgehend von dem Wettkampfbeitrag als „essentially Hesiodic song“749 mit markanten Abweichungen sieht er eine Korinna, die sich mit ihrem Lied einreihe in die bestehende Tradition der literarischen Hesiod-Kommentierung und -variierung und selbstbewusst ihren Platz darin behaupte. Dies zeige sich in der Dissoziierung von Musen und Helikon durch den Sieg Kithairons unter Musenaufsicht und, im Wettkampfbeitrag selbst, vor allem im nicht-hesiodeischen Element der Kureten innerhalb der hesiodeischen Geburtsgeschichte des Zeus. Ein Kritikpunkt an dieser Auslegung lag in der Folge dieser Zuordnung des Liedes: Dem Helikon mit seiner sehr starken Verbindung zu Hesiod stünde ein Kithairon gegenüber, der entweder überhaupt keine Verbindung aufzuweisen hätte zu seinem Lied, oder aber es bestünde zwar eine inhaltliche Verbindung, diese führe aber in die Irre, weil sie nicht auf die Art der Dichtung verwiese, die das Lied repräsentieren soll.750 Dies ändert sich, wenn man die Verse col. i, 12-18 als Lied des Helikon betrachtet. Vergados’ Deutung des Wettkampfbeitrags kann auch innerhalb der hier vorgeschlagenen Interpretation ihre Gültigkeit behalten.751 Die zu ändernde Prämisse wäre die Natur des Verhältnisses der

748 749 750

751

doch immer noch nicht sicher, ob die Götterschaft oder die Musen die ‚richtige‘ Entscheidung treffen: Wem die Verse zuzuordnen sind, bleibt weiter unsicher. Vgl. oben Abschnitt B.III.3.3. Vergados 2012, S. 107. Der erste Fall träte ein, wenn die Kureten überhaupt nicht in bakchischem Zusammenhang zu lesen wären. Der zweite Fall träte ein, wenn der bakchische Zusammenhang in der Tat mitzudenken wäre: Denn dann führte dieser fast unweigerlich auch zur Tragödie, die gar nicht gemeint wäre. Vgl. oben Abschnitt B.III.3.3. Vergados 2012 selbst äußert folgende Bedenken gegen eine Zuordnung des Liedes an den Helikon: „For the reasons indicated [...] above, I am assuming

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Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

beiden Dichtungskonzepte: Hesiodeische Dichtung und Hesiodadaption treten nicht als Kontrahenten gegeneinander an, sondern werden gleichermaßen durch den Helikon repräsentiert, als zwei Facetten einer als zusammenhängend aufgefassten Tradition. Wie in Kallimachos’ Bad der Pallas, wo der Helikon zugleich Stätte von Hesiods Dichterweihe und Ort palladisch inspirierten Dichtens ist, begegnen sich ‚alter‘ und ‚neuer‘ Helikon auch in dem Lied, das den alten Mythos von der Geburt des Zeus um einen neuen oder weniger zentralen Aspekt erweitert. Was für ein Lied kann dann, um das Gedankenspiel fortzuspinnen, der Kithairon gesungen haben? Wie sowohl für mythische Agone als auch für die historische Situation belegt ist, verliefen viele musische Wettkämpfe nach einer Regel, der gemäß ein Wettkämpfer die Verse seines Vorgängers thematisch aufgreifen musste.752 Eine solche Regelung kann man selbstverständlich für Korinnas Wettstreit nicht mit Sicherheit voraussetzen. Dennoch erlaubt sie eine gezieltere Spekulation: Vielleicht setzt der Helikon seine Zeusgeburt einer Dionysosgeburt des Kithairon entgegen? Oder der Kithairon singt einen Stoff, der viel eigentlicher Tragödieninhalt ist,753 woraufhin der Helikon mit einem um ein bakchisches Element erweiterten hesiodeischen Lied antwortet?754

752 753

throughout this paper that the second song in Corinna’s contest-poem (i.e., the part of a theogonic poem with Hesiodic references) is Cithaeron’s. On the basis of Corinna’s mythological innovations, one might conceiveably argue that she departed from the usual arrangement of an ἀγὼν λόγων, in which the winner delivers his song or speech second. In that case, the preserved song would belong to Helicon. Such a procedure might make sense in view of the expectation that a theogonic song containing Hesiodic allusions would be performed by Helicon, but this would not be without problems. For instead of a Corinna who creatively elaborates on (or modifies) the Hesiodic tradition of theogonic song, we would have a poetess who outright rejects that tradition, since its exponent not only loses in the song contest, but does not even take his defeat well“ (ebd., S. 107 Anm. 35). Mit dem hier vorgeschlagenen Ausgang des Wettstreits sind freilich die Gründe für diese Bedenken ausgeräumt: Keine Tradition wird „outright“ zurückgewiesen. Denn Helikon und Kithairon tragen gewissermaßen beide einen Sieg davon – nur ist er jeweils von ganz verschiedener Art. S. Weiler 1974, S. 95 u. 98f.; vgl. auch Vergados 2012, S. 115 mit Anm. 79. Ein möglicher Kandidat in diesem gänzlich spekulativen Rahmen könnte der Antiope-Stoff sein, in dem die Vorgeschichte um Amphion und Zethos eine Rolle spielt. Die Zwillingssöhne der Antiope und des Zeus werden als Kin-

5

5.2.2.2

Korinnas Wettstreitlied als ‚literaturgeschichtlicher Kommentar‘ 649

Lied des Kithairon

Sollte das Lied über die Geburt des Zeus und die List der Rhea, wie weithin angenommen, der Wettkampfbeitrag des Kithairon sein, so erscheinen die vielfach registrierten755 Anklänge an die Parodos von Euripides’ Bakchen, insbesondere an die Verse 120-9, im Rahmen der hier

754

755

der zusammen im Gebirge (vgl. col. i, 3 ]επ’ άκρυ) ausgesetzt und von Hirten großgezogen. In Euripides’ Antiope, die in nur wenigen Fragmenten erhalten ist (E. fr. 179-227 Kannicht [Bd. 5,1, S. 274-312 TrGF]); vgl. auch die vorausgehenden Testimonien i-vii), zudem über die ebenfalls nur fragmentarisch überlieferte römische Fassung des Pacuvius, spielt auch die gegensätzliche Lebensauffassung der Zwillingsbrüder eine Rolle: Amphion, Vertreter eines bios theoretikos, ist der Musik und dem Leierspiel zugewandt (vgl. V. 4 ]χ̣ορδά̣ς), während Zethos, Verfechter eines bios praktikos, ein Jäger ist (vgl. V. 5 ἱ]α̣ρῶ̣ν τ’ ορίων mit Marginalie θηραν); vgl. Nickel 2014 s. v. Antiópe und s. v. Antiopa. – Man beachte aber auch Schachter 2005, der V. 6 φοῦλον ὀρνί[θων] ergänzt und dies zusammen mit der Marginalie θηραν (V. 5) als „direct quotation, both in words and context (that of hunting) from Sophokles, Antigone 342“ (ebd., S. 277) sieht. Seine Skizze der ersten elf Verse exempli gratia (s. ebd., S. 276 und oben Abschnitt B.III. 4.1.2 Anm. 530) entwirft eine Art Selbstbeschreibung des Sängers: „The image here is perhaps of Orpheus“ (a. a. O., Anm. 5). – Bei diesen Überlegungen sollte im Bewusstsein bleiben, dass die ersten Verse von col. i ebenfalls ganz oder teilweise zum zweiten Wettkampfbeitrag gehören können, vgl. oben Abschnitt B.III.2.2.1. Im Falle der zweiten Variante wären wiederum die Interdependenzen mit E. Ba. 120-9 zu betrachten, vielleicht im Sinne einer Rückverlagerung der im Drama ‚bakchisch‘ belegten Zeusgeburt (Der Schwerpunkt liegt auf den Instrumenten, die die Kureten/Korybanten erfinden und Rhea geben, damit diese mit Geräuschen die Laute des Kindes übertönen kann, und die auch in bakchischen Umzügen benutzt werden; s. Dodds 1960, S. 83f. zu den kultischen und aitiologischen Bezügen) in nicht-dramatische bzw. nicht-dionysische Dichtungskontexte (durch die Fokussierung auf den eigentlichen Mythos mit der List der Rhea und nicht zentral auftretenden Kureten). Vgl. zuerst Page 1953, S. 20f. Anm. 5, der angibt, von Dodds auf die Ähnlichkeiten aufmerksam gemacht worden zu sein; vgl. auch Collins 2006, S. 27f. und Vergados 2012, S. 109 mit Anm. 46. Die auffälligsten Parallelen sind E. Ba. 120f. Κουρή|των – Corinn. PMG 654 col. i, 12f. Κώρ̣ει|[τες]; E. Ba. 121 ζάθεοι – Corinn. PMG 654 col. i, 13 δαθίο̣[ι; Ba. 123 ἄντροις – Corinn. PMG 654 col. i, 14 ἄντροι.

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B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

vorgeschlagenen Interpretation besonders bedeutungsvoll. Doch selbst, wenn das Lied Kithairons keine direkte Anspielung auf die euripideische Tragödie wäre,756 könnten die Kureten unabhängig von ihr den Bezug zu einem bakchischen, dionysischen Rahmen bilden.757 Das Lied des Helikon könnte in diesem Fall eine rein hesiodeische Fassung des gleichen Mythos oder einer vorangehenden Episode gewesen sein.758 Nach diesen Betrachtungen kann – und muss – keiner der Möglichkeiten für die Zuordnung des Wettbewerbsliedes der Vorzug gegeben werden: Sie finden beide innerhalb der vorgeschlagenen Interpretation einen plausiblen Platz.759 6

Böotische Berge – böotische Dichtung

Es bleibt zu betrachten, wie sich die vorgestellte Deutung des Wettstreitliedes in das Bild der Dichterin Korinna fügt. Indem sie einen böotischen Mythos – den Streit des Bruderpaares Helikon und Kithairon – als Träger für ihre Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition 756

757

758

759

Überaus auffällig bleiben ja weiterhin die Ähnlichkeiten zu Hesiods Darstellung des gleichen Mythos. Die Kureten könnten auch dieser Darstellung hinzugefügt sein, unabhängig von der konkreten Passage in Euripides’ Bakchen (welche wiederum ebenfalls auf Hesiods Theogonie zurückgehen könnte, s. dazu Collins 2006, S. 28 und Vergados 2012, S. 109). S. oben Abschnitt B.III.3.3 zu der allmählichen Verschmelzung von Kureten, Korybanten und bakchischen Kultgestalten. Vgl. ähnlich, wenn auch unter anderen Bedingungen, Vergados 2012, S. 115 mit Anm. 79. Dies ist das Ergebnis einer rein inhaltlichen Betrachtung. Zwei weitere Punkte sind zu beachten: Erstens ist das Element der Kureten, auf das sich im Grunde eine Zugehörigkeit des Liedes zum Kithairon stützt, das aber für ein Helikonlied nicht zwingend notwendig ist, textlich sehr unsicher, wie beschrieben (vgl. oben Abschnitt B.III.2.2.1, Anm. 11). Zweitens ist auch zu beachten, dass der Beginn von col. i, der auch das Lied des ersten Kontrahenten enthalten haben kann, möglicherweise in einem anderen Metrum geschrieben war (vgl. oben Exkurs III nach Abschnitt B.III.3.1.2.3). Es ist möglich zu erwägen, ob nicht der ‚ewige‘ Sieger, der Helikon, im gleichen Metrum singt, in dem auch die Handlung beschrieben und also der Großteil von Korinnas Gedicht verfasst ist: So ergäbe sich auch ein äußeres Zeichen der Zugehörigkeit von Korinnas Dichtung zum Helikon.

6

Böotische Berge – böotische Dichtung

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wählt, macht sie griechische ‚Literaturgeschichte‘ zu einer inner-böotischen Angelegenheit. Auf der Bildfläche erscheint ein Kithairon, der sich im musischen Agon als Sänger geriert und so Anspruch erhebt, im Dichtungsdiskurs gehört zu werden. Die Befähigung zum Singen erteilt ihm die assoziative Verbindung zur Tragödie; diese wiederum entsteht aus dem athenischen, quasi-panhellenischen760 Blick auf den böotischen Norden des Kithairon vom Süden, jenseits der böotischen Grenze her.761 Sein Sieg in Menschengestalt bedeutet die Blüte der Tragödie in klassischer Zeit. Dennoch bleibt die böotische Landschaft so, wie sie ist: Sitz der Musen ist weiterhin der Helikon. Die aitiologische Form der Handlung verleiht dem besonderen Nachdruck. Denn gleichzeitig erhält auch der böotische Mythos eine neue Form, die es ihm erlaubt, auf diese Weise über seinen eigentlichen Gehalt hinauszuwachsen und mit einer übergeordneten Ebene in Beziehung zu treten. Die beiden eponymen Heroen verwandeln sich als Sänger in Landschaft. Dadurch wird die böotische Landschaft in den beiden musisch besetzten Bergen Kithairon und Helikon gleichsam ‚poetisiert‘. In ihr wird – in mythischer Form – ein dichtungsgeschichtlicher Diskurs geführt: Er entfaltet sich zwischen den Aspekten der Temporalität (Tragödie/Kithairon) und des Wesenskerns (Musen/Helikon). Es ist der reziproke Mechanismus aitiologischen Erzählens, der hier in besonderer Weise greift: Denn Aitiologie nimmt ihren Ursprung in der Wirklichkeit, hier also in der böotischen Landschaft als Landschaft. Sie bildet in ihrem aktuellen Zustand – als Tragödienberg Kithairon und Musenberg Helikon – den Ausgangspunkt für den Mythos, der diese Beschaffenheit zu erklären sucht. Zugleich formt und gestaltet der Mythos aber auch die Landschaft, da in ihm ihr aktueller Zustand eine Erklärung erhält und in einen Sinnzusammenhang gestellt wird; diese Erklärung wiederum ist 760 761

Vgl. Giordano 2016, S. 57f. Vgl. Olshausen und Sauer 2009, S. 228: „Der Blick auf den Kithairon erfolgt im Mythos – und da handelt es sich vornehmlich um den Thebanischen Sagenkreis – vor allem von Norden. [...] So könnte der Eindruck entstehen, der Kithairon habe zwei Seiten, den gewissermaßen mythischen Norden und den ganz prosaischen, vor allem unter machtpolitischen und militärischen Aspekten betrachteten Süden. Man sollte darüber aber nicht vergessen, daß beispielsweise mit Euripides und seinem Publikum die Gestalter und die Rezipienten der >mythischen< Nordseite ganz wesentlich im Süden, in Athen lebten.“

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B.III

Böotische Berge im Werden: Korinna PMG 654

durch ihr Resultat – den aktuellen Zustand – per se bereits verifiziert. So lässt Korinnas aitiologisches Wettstreitlied in Wechselwirkung mit der böotischen Landschaft ‚auf ewig‘ den Tragödienberg Kithairon für die Vergänglichkeit temporärer Blüte stehen, den Musenberg Helikon für die allzeitige Universalität des Musischen. Eine solche Deutung ist am plausibelsten im Rahmen von ‚Buchliteratur‘ anzusiedeln. Warum dann aber die gewählte Form, warum tanzbare Strophen in einfachen, regelmäßigen Metren und – außerhalb der Fragmente in PMG 654 – die Hinweise auf Aufführung durch einen Mädchenchor, die Verortung innerhalb der Gattung der Partheneia also? Die Antwort liegt wohl nicht nur in dem starken lokalen Charakter, der der Gattung natürlicherweise anhaftet: Die dichterischen Prinzipien einer böotischen, der leptotes verhafteten βανά finden darin ihre perfekte äußere Form. Der Leser erlebt im tanzenden Mädchenchor die die Kontrahenten umringenden Musen lesend mit. Auch Korinna selbst dürfte ihrer Heimat und sich selbst als dezidiert böotischer Lyrikerin nach Pindar ein literarisches Denkmal gesetzt haben.

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Helikon und Musen – Musen und Helikon

Die vorliegende Untersuchung zum Verhältnis von Musen und Landschaft näherte sich von Beginn an in Kreisen ihrem eigentlichen Gegenstand: Der ausführliche einleitende Teil konstatierte den nicht zuletzt rezeptionsgeschichtlich gültigen Umstand, dass die Musen, Göttinnen der Musik, der Sänger und der dichterischen Inspiration, der Philosophie und Wissenschaften, mit drei griechischen Bergen – Olymp, Helikon, Parnass – assoziiert sind; dass zudem immer auch das landschaftliche Element der Quelle in dieser Verbindung präsent ist. Als nächster, weiterer Kreis gerieten die Assoziationen der Musen zur Landschaft im Allgemeinen in den Fokus. Dies geschah mittels einer Schau der literarisch überlieferten wie der archäologisch greifbaren in der Natur angesiedelten Kultorte einerseits, über eine Durchsicht der Zeugnisse zum Verhältnis der Musen zu Nymphen andererseits. Hier ergab sich zugleich, dass eine Verbindung zwischen freier Natur und Musen zwar durchaus auf verschiedene Weise existent ist, aber bei Weitem nicht die einzige Erscheinungsform der Göttinnen. Insbesondere ist die Ermittlung eines ‚Urwesens‘ der Musen – etwa als Quellnymphen – nicht möglich. Weitaus einträglicher als die Frage nach dem ‚Was‘ der Beziehung von Musen und Landschaft musste daher die Frage nach dem ‚Wie‘ erscheinen. Und nun war das Zentrum erreicht: Denn das ‚Wie‘ lässt sich am besten dort erforschen, wo möglichst viele Zeugnisse vorhanden sind – wie es für den Helikon der Fall ist. Grundlegend ist dabei die Perspektive, die Musen nicht als bloße literarische Chiffren für poetische Inspiration, als Personifikationen des Poetischen zu interpretieren, sondern sie eben als Göttinnen in ihrem ‚natürlichen Lebensraum‘ in den Blick zu nehmen – und unter diesem Aspekt ebendiesen Lebensraum zu erforschen. Der Helikon, mindestens seit Hesiods Zeiten Berg der Musen, weist nicht nur mythologische oder literarische Bezüge zu den Göttinnen auf: In ihm manifestiert sich diese Verbindung im Laufe der Zeit auch materiell in Form eines Musenheiligtums in einem seiner Täler. Vor diesem Hintergrund spannt sich der Bezugsrahmen der vorliegenden Untersuchung auf. Die vielfältigen Zeugnisse aus den Bereichen der Literatur,

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Helikon und Musen – Musen und Helikon

des Kultes, der Kunst, der Architektur und auch der Politik ergeben in ihren wechselseitigen Bezugnahmen am Helikon mit Robinson eine ‚charismatic landscape‘, die ihre Strahlkraft im Wesentlichen aus der Verbindung zu den Musen gewinnt.1 Auf eine einfache Formel gebracht, die banal klingt, es aber durchaus nicht ist, bedeutet dies: Die Musen gehören zum Helikon. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt im zweiten Teil dieser Arbeit. Stand im ersten, systematischen Teil mehr der Berg im Zentrum, so liegt der Fokus im zweiten Teil bei den Musen. Drei ‚Nahaufnahmen‘ zeigen, unter welchen Aspekten und mit welchen Mechanismen sich die Beziehung von Musen und Helikon äußern kann. Exemplarisch bilden die untersuchten Zeugnisse verschiedene Kategorien ab: Es handelt sich um Dichtung dreier Genres aus drei Epochen. Hesiods Theogonieprooimion2 (Th. 1-115) in Form eines Hymnos an die Musen steht nicht nur mit am Anfang der griechischen Literatur, sondern auch am Anfang der traditionellen Assoziierung von Musen und Helikon: Es beginnt mit dem Aufruf, die ‚helikonischen‘ Musen zu besingen, und verortet sie erstmals greifbar in der konkreten Landschaft des böotischen Berges. Die Ausgestaltung dieser Assoziierung – die helikonischen Musen werden als Nymphen, prinzipiell erlebbare Naturgottheiten, dargestellt – spielt eine zentrale Rolle für die Deutung der Verse. Der Hymnos an die Musen gliedert sich in einen helikonischen und einen olympischen Teil, die strukturell und inhaltlich parallelisiert und schließlich in einem dritten Abschnitt zu einem gemeinsamen Schluss zusammengeführt werden. Die Landschaft fungiert in diesem Konzept, so die Essenz der vorgestellten Interpretation, als wechselseitige Schwelle zum Transzendenten: Einerseits übt sie Einfluss auf den Charakter der transzendenten Musen aus. Durch Hesiods (oder ‚Hesiods‘3) Wahrnehmung 1

2 3

Diese Charakterisierung wird vor allem in Hellenismus und Kaiserzeit greifbar, als das Heiligtum floriert und helikonische Musenlandschaft ganz wesentlich gestaltet wird. Für Archaik und Klassik könnten die neueren Bemühungen auf dem Feld der Erfoschung von Naturheiligtümern weiterführend sein: S. etwa Bradley 2000; Conan 2007; Mylonopoulos 2008; Horster 2010; Sporn 2010; 2013a; Sporn, Ladstätter und Kerschner 2015; Feldt 2012; für den theoretischen Ansatz s. auch Alcock 1994. Vgl. für die folgenden Ausführungen auch die nebenstehende Grafik (Abb. 5). Die Anführungsstriche markieren den Unterschied zwischen Erzählinstanz und empirischem Dichter: Vgl. oben Kapitel B.I.

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Helikon und Musen – Musen und Helikon

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Abb. 5: Musen und Landschaft in Hes. Th. 1-115

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Helikon und Musen – Musen und Helikon

des Helikon4 werden die Musen zu (helikonischen) Nymphen und so, einen Schritt weiter, gewissermaßen selbst zu Landschaft. Andererseits übt das Konzept der Musen Einfluss auf die Landschaft des Helikon aus: Denn mittels der Musen und ihres Liedes wird sie in Hesiods Versen zu erlebbar göttlich geordnetem Raum, äquivalent zum transzendenten Olymp des allumfassenden, Zeus’ Ordnung hörbar machenden Klanggeschehens. Das dichte metaphorische Netz, das Euripides’ Herakles5 umspannt, versieht die Tragödienhandlung nicht nur mit bildlichen Assoziationen, sondern gestaltet ihren Rahmen entscheidend mit: Die dramatische Handlung wird zum Ritual, aus dem ein Kultheld für Athen hervorgeht. Zugleich wird auf metatragischer Ebene dieser Vorgang reflektiert, sodass sich die Tragödie als Mittel zur Erschaffung von Wirklichkeit präsentiert: Nur ihr tragischer Held kann in den athenischen Poliskult eingehen. Im Kern des metaphorischen Netzes stehen die vier expliziten Erwähnungen der Musen selbst beziehungsweise des Helikon (zusammen mit Apolls Parnass). Sie weisen eine Symmetrie auf: So folgt auf die Kombination aus Musenlandschaft und Opfer/Mord in Lykos’ Äußerung (V. 240-2) die Verbindung aus Musen, Choreia und Dionysos im zweiten Stasimon (V. 637-700). Musenlandschaft, Choreia und (implizit) Dionysos prägen das dritte Stasimon (V. 763-814), Musen und Opfer/Mord den Prokne-Vergleich des Chores (V. 1021-4). Die beiden auf eine metapoetische Ebene verweisenden Stellen – Lykos’ Äußerung und der ProkneVergleich – rahmen die beiden Stasima, die mehr die Ritualhaftigkeit vergegenwärtigen. Vom zweiten Stasimon aus (Musen, Choreia, Dionysos) weist eine Linie zum Motiv der bakchischen Mord-Musik, vom dritten Stasimon aus (Musenlandschaft, Choreia, [Dionysos]) zum Motiv der bakchisch durchrasten Mord-Landschaft von Theben. Hier entsteht also auch eine Verbindung zur Opfer/Mord-Thematik der rahmenden metapoetischen Äußerungen. Diese strukturelle Betrachtung, die in Kapitel B.II. an den Inhalt rückgeschlossen wurde und deren aufgezeigte Bezüge zudem durch weitere 4

5

Unter Umständen ist es hier geboten, ‚Helikon‘ zu notieren, um anzuzeigen, dass es sich natürlich bei dem Berg ebenfalls um ein Objekt der dichterischen Imagination handelt, um eine Konzeptualisierung – über den Einfluss des ganz realen Berges Helikon auf den ganz realen Dichter Hesiod ist selbstverständlich keine Aussage möglich. Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch die nebenstehende Grafik (Abb. 6).

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Opfer/Mord Musen Musen

Opfer/Mord

Abb. 2: Musen und Musenlandschaft in E. HF

Abb. 6: Musen und Musenlandschaft in E. HF

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Bildstränge verstärkt sind, offenbart ein zugleich komplementäres und wechselseitig-reflexives Verhältnis zwischen Musen und Musenberg. Helikon und Parnass dienen dabei einerseits (ausgehend vom dritten Stasimon) der Erzeugung des rituellen Raumes, innerhalb dessen die Tragödie – und damit letzten Endes die ‚Muse‘ – den Helden des Mythos zum Helden eines athenischen Kultes macht. Andererseits ist (ausgehend von Lykos’ Äußerung) das ‚Musenholz‘ im übertragenen Sinne, das die Handlung befeuert und den Helden zu einem tragischen Helden werden lässt, auf der Ebene der Handlung als ‚reale‘ physische Landschaft umgesetzt: Die Wirkweise der Musen konkretisiert sich in ihrer Landschaft. Neben der musisch-rituellen Dynamik findet sich hier so auch – modifiziert – die hesiodeische landschaftlich-musische Inspiration wieder. Korinna gibt in ihrem Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon ein Aition für die zwei prominenten böotischen Berge. Sie übersetzt den womöglich böotischen Mythos von der Rivalität zweier eponymer Helden in einen Sängerwettstreit, in dem der Kithairon zwar den Sieg erringt, dem Helikon aber letztendlich, zugleich mit dem aitiologischen Ausgang und der Transformation in den Berg, die dauerhafte Zuwendung der Musen sicher ist. Die bestehenden Konnotationen der beiden Berge – Tragödie im Falle des Kithairon, musisches Wirken allgemein im Falle des Helikon – werden auf diese Weise im Sinne eines ‚literaturgeschichtlichen Kommentars‘ zueinander in Beziehung gesetzt: Der zeitweiligen Blüte der attischen Tragödie – dem Sieg des menschlichen Sängers Kithairon – tritt die Dauerhaftigkeit musischen Wirkens – der Musen-Gunst für den Berg Helikon – gegenüber. Insbesondere werden mittels des Mechanismus aitiologischen Erzählens diese Aspekte als der Landschaft inhärent etabliert. Diese literarische Beobachtung weist eine bemerkenswerte Verbindung zur außertextlichen Realität auf: Die Prävalenz des Helikons als Musenberg äußert sich zu Korinnas Lebzeiten im dritten Jahrhundert v. Chr. in besonderer Weise, da das Heiligtum im Tal der Musen gerade seine Ausgestaltung und erste große Blüte erfährt.6 Die drei vorgestellten Interpretationen scheinbar disparater literarischer Werke offenbaren, dass die Verbindung von Helikon und Musen keine rein schmückende, leere Hülle ist. Vielmehr ist sie funktionalisiert, die Landschaft trägt wesentlich zur jeweiligen Ausformung der Musen bei. Dies beweisen die hier untersuchten Autoren unter unterschiedlichen 6

Vgl. oben Abschnitt A.II.3.

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Aspekten: Hesiod konzeptuell, indem er musische Inspiration als Erlebnis in und mit der helikonischen Landschaft realisiert; Euripides strukturell, indem er innertragische und metatragische Ebene gerade im Wechselspiel von Musenlandschaft und Musen miteinander verschränkt; Korinna auf narrativer Ebene, indem sie im Rahmen eines Mythos den Helikon schon in seinem Ursprung mit den Musen in Verbindung bringt und diese Verbindung somit gleichsam in die böotische Landschaft selbst einschreibt. Die Musen als Göttinnen dichterischer Inspiration schlechthin beziehen somit in den untersuchten Fällen ihr wesentliches Potenzial aus der konkreten Landschaft, die ihren ‚Lebensraum‘ bildet: ihre jeweilige Semantisierung erfolgt über das Moment des Landschaftlichen. Es ist zu erwarten, dass weitere Untersuchungen einzelner Zeugnisse – seien sie literarischer oder materieller Art – mehr Facetten des Zusammenwirkens von Göttinnen und Berg ans Licht bringen können. Seinen reinsten Ausdruck findet das reziproke Verhältnis zwischen Musen und Helikon auf einer attischen weißgrundigen Lekythos des Achilleus-Malers aus dem 5. Jh. v. Chr.7 Sie zeigt zwei weibliche Gestalten; davon ist die hier relevante sitzend und auf einer Kithara spielend dargestellt. Sie sitzt auf einer Geländelinie, unterhalb derer eine Inschrift aufgetragen ist: ΗΛΙΚΟΝ. Eine solche Ortsbezeichnung ist – abgesehen von der Bezeichnung von Personifikationen oder eponymen Figuren – in der attischen Vasenmalerei einzigartig.8 So wird auf der einen Seite die sitzende Kitharaspielerin als Muse identifiziert, nicht mittels eines Eigennamens oder einer Kollektivbezeichnung, sondern mittels der ihr verbundenen Landschaft.9 Andersherum ist die Inschrift, wie Dietrich bemerkt, nun keinesfalls so zu verstehen, dass der von der Geländelinie markierte Bereich im Bildfeld den Berg Helikon darstellte.10 Vielmehr sei hier wiederum die Anwesenheit der Muse entscheidend:

7

8 9 10

Es handelt sich um die Vase mit Inventarnummer Sch80 aus der Münchener Antikensammlung (Abb. 7); vgl. Queyrel 1992, S. 660 in LIMC 6,1 s. v. „Mousa, Mousai“ Nr. 6; Palagia 1988, S. 573 in LIMC 4,1 s. v. „Helikon I“. Vgl. Dietrich 2010, S. 300. Vgl. ebd., S. 300f. S. ebd., S. 300-2; Dietrich zieht seine Schlüsse auf der Grundlage einer vorher erfolgten, umfangreichen Untersuchung des Gebrauchs von Geländelinien.

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Helikon und Musen – Musen und Helikon

So wie Geländelinien allgemein zu Felsen nur durch eine Figur werden, die ihren Fuß darauf setzt, und zum Hügel nur durch die Figur werden, die hinter ihr erscheint, werden auch auf der Münchner Lekythos die Geländelinien nur durch die Muse zum Berg Helikon und werden auch nur in ihrer Verbindung mit dieser als solcher benannt. Der Ort hat Substanz nur in der Figur.11

So kann man im Lichte der vorliegenden Untersuchung zu den Musen und ihrem Berg ganz substanziell sagen: Nicht nur gehören die Musen zum Helikon – auch der Helikon gehört zu den Musen.

Abb. 7: ‚Muse‘ und ‚Helikon‘ auf der Münchener Lekythos Nr. Sch80 11

Ebd., S. 300.

Literaturverzeichnis Griechische Autoren und Werke sind nach den Vorgaben des LSJ abgekürzt, lateinische nach dem Index1 des Thesaurus linguae latinae.2 Abkürzungen für Zeitschriften entsprechen den Vorgaben der Année philologique. 1

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1 (S. 100)

„Ansicht der Gebäudestruktur oberhalb der Hippoukrene von Westen aus; im Hintergrund die ΓΥΣ-Säule (September 2018)“ Foto der Verfasserin Rechtsinhaber an der abgebildeten Stätte (‚Altar des Zeus‘, Helikon) ist das Ministerium für Kultur und Sport Griechenlands. Die Stätte liegt im Zuständigkeitsbereich der Ephorie für Altertümer Böotiens (ΕΦΑ Βοιωτίας). All rights over the site depicted (‘Altar of Zeus’, Helicon) reserved to the Hellenic Ministry of Culture and Sports. The site falls into the area of responsibility of the Ephorate of Antiquities of Boeotia (ΕΦΑ Βοιωτίας). © Υπουργείο Πολιτισµού και Αθλητισµού – Ταµείο Αρχαιολογικών Πόρων (Hellenic Ministry of Culture and Sports / Archaeological Resources Fund)

Abb. 2 (S. 106)

„Hippoukrene: Ansicht der Stätte (September 2018)“ Foto der Verfasserin Rechtsinhaber an der abgebildeten Stätte (Hippoukrene, Helikon) ist das Ministerium für Kultur und Sport Griechenlands. Die Stätte liegt im Zuständigkeitsbereich der Ephorie für Altertümer Böotiens (ΕΦΑ Βοιωτίας). All rights over the site depicted (Hippocrene, Helicon) reserved to the Hellenic Ministry of Culture and Sports. The site falls into the area of responsibility of the Ephorate of Antiquities of Boeotia (ΕΦΑ Βοιωτίας).

714

Abbildungsverzeichnis © Υπουργείο Πολιτισµού και Αθλητισµού – Ταµείο Αρχαιολογικών Πόρων (Hellenic Ministry of Culture and Sports / Archaeological Resources Fund)

Abb. 3 (S. 108)

„Hippoukrene: die Brunnenfassung (September 2018)“ Foto der Verfasserin Rechtsinhaber an der abgebildeten Stätte (Hippoukrene, Helikon) ist das Ministerium für Kultur und Sport Griechenlands. Die Stätte liegt im Zuständigkeitsbereich der Ephorie für Altertümer Böotiens (ΕΦΑ Βοιωτίας). All rights over the site depicted (Hippocrene, Helicon) reserved to the Hellenic Ministry of Culture and Sports. The site falls into the area of responsibility of the Ephorate of Antiquities of Boeotia (ΕΦΑ Βοιωτίας). © Υπουργείο Πολιτισµού και Αθλητισµού – Ταµείο Αρχαιολογικών Πόρων (Hellenic Ministry of Culture and Sports / Archaeological Resources Fund)

Abb. 4 (S. 212)

„Votivstele mit personifiziertem Helikon“ Foto: Ε. Γαλανόπουλος Stele (Inv. Nr. EAM 1455) aus dem ‚Tal der Musen‘ (3. Jh. v. Chr.), Archäologisches Nationalmuseum Athen Εθνικό Αρχαιολογικό Μουσείο/ National Archaeological Museum, Athens © Υπουργείο Πολιτισµού και Αθλητισµού – Ταµείο Αρχαιολογικών Πόρων (Hellenic Ministry of Culture and Sports / Archaeological Receipts Fund)

Abb. 5 (S. 655)

„Musen und Landschaft in Hes. Th. 1-115“ Graphik der Verfasserin

715

Abbildungsverzeichnis

Abb. 6 (S. 657)

„Musen und Musenlandschaft in E. HF“ Graphik der Verfasserin

Abb. 7 (S. 660)

„‚Muse‘ und ‚Helikon‘ auf der Münchener Lekythos Nr. Sch80“ Foto: Renate Kühling Die abgebildete Lekythos (Inv. Nr. Sch80) ist Eigentum der Staatlichen Antikensammlungen und Glypothek München.

Die Verfasserin dankt der Ephorie Böotiens, dem Nationalmuseum Athen und den Staatlichen Antikensammlungen München für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung der Bilder und ebenso – im Falle von Abb. 4 und Abb. 7 – für deren Bereitstellung.

Index locorum Die Seitenangaben sind recte gedruckt bei bloßer Erwähnung der Stellen; kursiv gedruckt, wenn der griechische Text im Original, in Übersetzung oder in Paraphrase wiedergegeben ist; fett gedruckt bei Kommentierung oder Interpretation der Stellen.

ACRON Schol Hor. carm. 1, 26, 9 30 Anm. 60 AELIAN (AEL.) NA 10, 36 NA 11, 1 VH 1, 14 VH 10, 21 VH 13, 25

353 Anm. 146 353 Anm. 146; 353 Anm. 147 353 Anm. 146 46; 69f. 478 Anm. 55; 480f.; 549 Anm. 421; 570 Anm. 504

ÄSOP UND AESOPICA (AESOP.) 247 Hausrath und Hunger 353 Anm. 146 277 Hausrath und Hunger 353 Anm. 146 Fab. graec. 432 Perry s. Him. Or. 66, 2-7 AETHIOPIS S. 69, Z. 20f. Bernabé 77 Anm. 276 AËTIUS (AËT.) 2, 196

95 Anm. 49

AISCHYLOS (A.) Ag. 353 Anm. 148 Ag. 245-7 413 Anm. 338 Ag. 1444f. 353 Anm. 146 Ch. 150f. 413 Anm. 338 Eu. 639 Anm. 709; 641 Eu. 708 640 Anm. 713 Eu. 711-53 640 Anm. 713; 642 Anm. 721 Eu. 734f. 640 Anm. 713 Eu. 1001f. 359 Anm. 164 Pers. 208 566 Anm. 488 Pers. 969 566 Anm. 488 Pr. 338 322 Anm. 52 Pr. 348-50 397 Anm. 287 Supp. 792-9 474 Anm. 43 Th. 623 Th. 268 413 Anm. 338 Bd. 3, S. 138 TrGF 31 Anm. 60 fr. 60 Radt (Bd. 3, S. 181 TrGF) 436 Anm. 421; 437 Anm. 424 ALEXANDER AITOLOS (ALEX. AET.) fr. 9, 5 CA = AP 7, 709, 5 123 Anm. 145 ALKAIOS (ALC.) fr. 307b Voigt [test.]

20 Anm. 22

718

Index locorum

ALKIDAMAS (ALCID.) fr. 5, 155 Avezzù = Certamen 213 123 Anm. 145 fr. 5, 155f. Avvezù = Certamen 213f. 202f. ALKMAN (ALCM.) 3 fr. 1, 1 PMGF fr. 39 PMGF

27 Anm. 51 539 Anm. 372

AMMONIOS (AMMON.) 2 32 Anm. 63 AMPHION VON THESPIAI FGrH/BNJ 387 F1 93 Anm. 40; 147-9; 156 Anm. 254; 170f. Anm. 319; 179; 192 Anm. 422 ANAKREON (ANACR.) fr. 1, 11+3+6, 9 PMG 28 Anm. 54 AP 6, 134 (Anacr.) 602 Anm. 599 ANAXAGORAS (ANAXAG.) B 7 Diels-Kranz 322 Anm. 52 ANDOKIDES (AND.) De Myst. 2

638

ANONYMUS (ANON.) Fig. 3, 149, 17 Spengel 124 Anm. 145 fr. 30, 98 GDRK 27 Anm. 51 fr. 31, 39 GDRK 601 Anm. 598 fr. 938, 1 SH 28 Anm. 54 fr. 938, 4 SH 28 Anm. 56; 29 Anm. 58 fr. 938, 5 SH 124 Anm. 146 fr. 959 SH 150 Anm. 231; 174 Anm. 323; 181 Anm. 352 fr. 988, 1 SH 30 Anm. 60;

fr. 993 SH fr. 993, 6-9 SH fr. 993, 7 SH

68 Anm. 237 65; 66f. 65f. Anm. 230 30 Anm. 60

ANTHOLOGIA PALATINA (AP) 2, 1, 347 (Christodoros) 28 Anm. 54 2, 1, 382-5 (Christodoros) 353 Anm. 147 4, 2, 1-4 (Phil.) 28 Anm. 56 5, 20 (Honest.) 164 Anm. 287 5, 107, 4 (Phld.) 28 Anm. 54 5, 206, 3 (Leon.) 30 Anm. 60 6, 80, 3 (Agath.) 28 Anm. 54 6, 134 (Anacr.) 602 Anm. 598 6, 295, 8 (Phan.) 28 Anm. 54 6, 310 (Call.) 627 Anm. 683 6, 311 (Call.) 627 Anm. 683 6, 336, 2 (Theoc.) 124 Anm. 145 7, 2b, 3 (Antip. Sid.) 28 Anm. 54 7, 4, 1 (Paul. Sil.) 28 Anm. 54 7, 10, 6 28 Anm. 54 7, 12, 6 28 Anm. 54 7, 14, 4 (Antip. Sid.) 28 Anm. 54 7, 14, 8 (Antip. Sid.) 124 Anm. 145 7, 35, 2 (Leon.) 28 Anm. 54 7, 42 114 Anm. 117 7, 42, 6 28 Anm. 54 7, 44, 6 28 Anm. 54 7, 50 (Archimel.) 627 Anm. 685 7, 53 203 Anm. 465 7, 53, 1 123 Anm. 145 7, 55 114 Anm. 117; 116 Anm. 120; 204 Anm. 471 7, 66 (Honest.) 164 Anm. 287 7, 71, 3 (Gaet.) 97 Anm. 63 7, 274 (Honest.) 164 Anm. 287 7, 352, 7 (Mel.?) 28 Anm. 54 7, 377, 3 (Eryc.) 28 Anm. 54 7, 407, 2-4 (Diosc.) 28 Anm. 56;

Index locorum 85 Anm. 18 7, 409, 3 (Antip. Thess.) 28 Anm. 54 7, 612, 1 (Agath.) 123 Anm. 145 7, 612, 5f. 124 Anm. 146 7, 709, 5 (Alex. Aet.) 123 Anm. 145 9, 26 (Antip. Thess.) 476 Anm. 50; 492f.; 497 Anm. 151; 530 Anm. 322 9, 26, 1f. (Antip. Thess.) 28 Anm. 56; 29 Anm. 58 9, 26, 5 (Antip. Thess.) 480 Anm. 61 9, 26, 7 (Antip. Thess.) 479 Anm. 58 9, 64 (Asclep. o. Arch.) 110 Anm. 106; 114 Anm. 117; 114f. 9, 64, 5 (Asclep. o. Arch.) 601 Anm. 598 9, 136, 4 (Cyrus) 28 Anm. 54 9, 162 116f. Anm. 122 9, 162, 3 601 Anm. 598 9, 171, 3 (Pall.) 28 Anm. 54 9, 192, 8 (Antiphil.) 28 Anm. 54 9, 216 (Honest.) 164 Anm. 287 9, 225 (Honest.) 110 Anm. 106; 164 Anm. 287; 164f. Anm. 291 9, 230 (Honest.) 82; 116; 164 Anm. 287; 207; 208; 209f. Anm. 487 9, 230, 2 (Honest.) 110 Anm. 106 9, 230, 4 (Honest.) 28 Anm. 54 9, 250 (Honest.) 164 Anm. 287 9, 292 (Honest.) 164 Anm. 287 9, 364 (Nestor) 116 Anm. 122 9, 364, 2 601 Anm. 598 9, 523 85 Anm. 18 9, 565 (Call.) 627f. 9, 566 (Call.) 627 9, 572, 1 (Lucill.) 124 Anm. 145

719

9, 581, 1 28 Anm. 54 10, 18, 2 (Argentarius) 28 Anm. 54 11, 24, V. 6 (Antip. Thess.) 110 Anm. 106; 114 Anm. 117; 115f. 11, 32 (Honest.) 164 Anm. 287 11, 45 (Honest.) 164 Anm. 287 11, 362 (Call.) 627 Anm. 683; 627 Anm. 685 12, 1, 4 (Strat.) 123 Anm. 145 12, 43, 1-4 (Call.) 627 Anm. 684 14, 1, 9 (Socr.) 28 Anm. 54 14, 3 124 Anm. 146; 126f. 14, 3, 3 28 Anm. 54 14, 120 119 Anm. 133 15, 27, 12 (Simm.) 28 Anm. 54 16, 71, 2 28 Anm. 54 16, 151, 9 28 Anm. 54 16, 310, 2 (Damoch.) 28 Anm. 54 ANTHOLOGIAE GRAECAE APPENDIX (APP. ANTH.) Epigrammata dedicatoria 81, 2 28 Anm. 54 Epigrammata dedicatoria 112, 6 28 Anm. 54 Epigrammata dedicatoria 242, 2 601 Anm. 598 Epigrammata dedicatoria 291 169 Anm. 311; 179-81 Epigrammata dedicatoria 291, 13 123 Anm. 145 Epigrammata sepulcralia 45, 2 27 Anm. 51 Epigrammata sepulcralia 82, 2 s. Arist. fr. 8, 640, 5 Rose Epigrammata sepulcralia 253, 2 28 Anm. 54 Epigrammata sepulcralia 267, b2 28 Anm. 54 Epigrammata sepulcralia 578, 8 28 Anm. 54

720

Index locorum

ANTIPATROS VON THESSALONIKE (ANTIP. THESS.) AP 7, 409, 3 28 Anm. 54 AP 9, 26 476 Anm. 50; 492f.; 497 Anm. 151; 530 Anm. 322 AP 9, 26, 1f. 28 Anm. 56 29 Anm. 58 AP 9, 26, 5 480 Anm. 61 AP 9, 26, 7 479 Anm. 58 AP 11, 24, 6 110 Anm. 106; 114 Anm. 117; 115f.

4, 1308-16 4, 1382

ANTONINUS LIBERALIS (ANT. LIB.) 9 58 Anm. 197; 125; 545 Anm. 407; 570 Anm. 504 9, 1 29 Anm. 57; 125 9, 2 110 Anm. 106; 125; 578 Anm. 532; 585 Anm. 552 10 635 Anm. 705 31, 3-5 58f. Anm. 197 32, 1 75

ARAT (ARAT.) 216-224

APOLLODOR (APOLLOD.) 1, 1, 6f. 465 Anm. 11 1, 3, 3 545 Anm. 407 1, 6, 1f. 342 Anm. 111 1, 15 30 Anm. 58 2, 5, 12 378-80; 380 Anm. 224 2, 7, 8 602 Anm. 598 APOLLODOR VON ATHEN (APOLLOD.) FGrH/BNJ 244 F 145 41 Anm. 106 APOLLONIOS RHODIOS (A. R.) 1, 25 31 Anm. 60; 32 Anm. 62; 32 Anm. 63 1, 31 29 Anm. 58 4, 1300-2 353 Anm. 146

595 Anm. 580 28 Anm. 54

APOSTOLIOS (APOSTOL.) 2, 67 31 Anm. 60; 32 Anm. 63 10, 50 31 Anm. 60 APPIAN Mithridateios 29, 5 158 Anm. 262 APULEIUS (APUL.) Flor. 3, 7

218f.

545 Anm. 407 110 Anm. 106; 112f.; 114f. 85 Anm. 18

ARCHILOCHOS (ARCHIL.) fr. 324 West 340 Anm. 106 ARCHYTAS (ARCH.) AP 9, 64 (Asclep. o. Arch.) 110 Anm. 106; 114 Anm. 117; 114f. AP 9, 64, 5 (Asclep. o. Arch.) 601 Anm. 598 ARISTAINETOS (ARISTAENET.) 1, 27 31 Anm. 60 AILIOS ARISTEIDES (ARISTID.) Or. 20, 21 Keil 77 Or. 36, 113 Keil 556f. Anm. 452 Or. 43, 6 Keil 27 Anm. 53; 28 Anm. 55; 124 Anm. 146 Or. 45, 106 (1, 277 Lenz-Behr) s. Pi. fr. 31 Snell-Maehler Or. 53, 4 Keil 59 Anm. 201 ARISTONIKOS (ARISTON.) ad Il. 2, 484

Index locorum s. Schol. Hom. Il. 2, 484 Erbse ad Il. 18, 339 s. Schol. Hom. Il. 18, 339 Erbse ad Il. 24, 215 s. Schol. Hom. Il. 24, 215b Erbse ARISTOPHANES (AR.) Ach. 1227-34 340 Anm. 106 Av. 211-4 448 Anm. 445 Av. 737 448 Anm. 445 Av. 769-72 353 Anm. 147 Av. 782f. 27 Anm. 51 Av. 869f. 353 Anm. 147 Av. 1764 340 Anm. 106 Ra. Hypoth. 4 545 Anm. 407 Ra. 378 Anm. 221 Ra. 875-81 545 Anm. 407 V. 1064f. 353 Anm. 145 ARISTOTELES (ARIST.) Ath. 68, 3 643 Anm. 731 Ath. 69, 1 638 Aud. 804a 539 Anm. 369 Rh. Al. 1424b2 638 Rh. Al. 1433a23 638 fr. 8, 552 Rose 31 Anm. 60 fr. 8, 640, 5 Rose 28 Anm. 54; 77 Anm. 276 ARISTOXENOS (ARISTOX.) fr. inc. 4, 25 Kaiser 27 Anm. 51 ARRIAN (ARR.) Cyn. 35, 2 Peripl. M. Eux. 9

72 Anm. 250 566 Anm. 488

ASKLEPIADES (ASCLEP.) AP 9, 64 (Asclep. o. Arch.) 110 Anm. 106; 114 Anm. 117; 114f. AP 9, 64, 5 (Asclep. o. Arch.) 601 Anm. 598

721

PVindob G 40611 col. v, 2 (Asclep. o. Posidipp.) 21 Anm. 26 ATHENAIOS (ATH.) 12, 17 (519c) 72 Anm. 254 13, 71 (597d) s. Hermesian. fr. 7, 2 14, 6 (616b) s. Chrysipp. Stoic. fr. 8 14, 26 s. Amphion FGrH/ BNJ 387 F1 Epit. Bd. 2, 2, S. 133 Peppink s. Amphion FGrH/ BNJ 387 F1 AUSONIUS (AUSON.) Mos. 445-7 119 Anm. 132 BAKCHYLIDES (B.) 1, 3 28 Anm. 54 16, 2-4 28 Anm. 56 19 (Dith. 5) 378 Anm. 221 19, 3f. 28 Anm. 54 19, 35 28 Anm. 54 29, 1-4 124 Anm. 146 fr. 63, 1 Maehler 28 Anm. 54 BATRACHOMYOMACHIA (BATR.) 1f. 124 Anm. 146 BCH 23 (1899), S. 200f. Nr. 8 181 Anm. 352 46 (1922), S. 290 Nr. 151 (vgl. Schachter 1986, S. 151) 146 Anm. 216 CATULL (CATULL.) 61, 26-35 119 Anm. 132 105 30 Anm. 60; 31 Anm. 61; 118f. Anm. 128

722

Index locorum

PSEUDO-CENSORINUS (PS.-CENS.) fr. 10 156 Anm. 254 fr. 12, 3 48 Anm. 138 CERTAMEN 213 213f.

123 Anm. 145 202f.

CHORIKIOS (CHOR.) 11, 4 28 Anm. 56 11, 6 28 Anm. 54 13, 1f. 294 Anm. 178 CHRONICON PASCHALE Bd. 1, S. 464 Dindorf

500

CHRYSIPP (CHRYSIPP. STOIC.) fr. 8 (Bd. 3, S. 199 SVF) 353 Anm. 146 CICERO (CIC.) Verr. 2, 4, 4 Verr. 2, 4, 126f. Verr. 2, 4, 135

157 Anm. 261 492 Anm. 117; 495 Anm. 140 495

CLAUDIANUS (CLAUD.) 17, 272f. 119 Anm. 132 carm. min. 31, 59-62 119 Anm. 132 CLEMENS VON ALEXANDRIA (CLEM. AL.) Protr. 1, 2, 1-3 557 Anm. 452 Protr. 1, 2, 2f. 588 Anm. 559 Protr. 12, 119, 1f. 588 Anm. 559 Strom. 1, 15, 70, 3 34 Anm. 68 DEMETRIOS VON PHALERON (DEM. PHAL.) FGrH/ BNJ 228 F32a = fr. 144 SOD 558f. Anm. 457

DEMOKRIT (DEMOCR.) B 55 Diels-Kranz 322 Anm. 52 B 82 Diels-Kranz 322 Anm. 52 B 145 Diels-Kranz 322 Anm. 52 DEMOSTHENES (D.) 57, 61 58, 89 DIODOR (D. S.) 4, 14, 3 4, 22, 3 4, 25, 1 4, 26, 1 5, 70, 2f. 17, 16, 3f.

638 638

378 Anm. 221 145 Anm. 211 378 Anm. 221 380 Anm. 224 465 Anm. 11 32 Anm. 63

DIOGENES LAERTIOS (D. L.) 5, 81 562 Anm. 465 DIOGENIAN (DIOGENIAN.) 1, 37 Leutsch 31 Anm. 60; 32 Anm. 63 2, 26 Leutsch-Schneidewin 31 Anm. 60; 32 Anm. 63 7, 14 Leutsch-Schneidewin 31 Anm. 60 DION CHRYSOSTOMOS (D. CHR.) 2, 2 30 Anm. 58 2, 11 123 Anm. 145; 202f.; 203 Anm. 466 12, 4 353 Anm. 146 31, 9 490 Anm. 105 36, 46 110 Anm. 106 37, 2 353 Anm. 146 37, 42 157 Anm. 261; 490 Anm. 105 DIONYSIOS (DION. CALLIPH.) 83-85 556 Anm. 451

Index locorum DIOSKURIDES (DSC.) 4, 62 602 Anm. 598 4, 162, 2 95 Anm. 49 ENNIUS 114 Anm. 117; 118 Anm. 127 EPICHARM (EPICH.) fr. 39 Kassel-Austin (Bd. 1, S. 34 PCG) 32 Anm. 61; 75f. ERATOSTHENES (ERATOSTH.) Cat. 18 110 Anm. 106 Cat. 24 222f. ETYMOLOGICUM GUDIANUM (ET. GUD.) s. v. Πιερία 29 Anm. 57; 30 Anm. 58 ETYMOLOGICUM MAGNUM (EM) s. v. Πιερία 29 Anm. 57; 30 Anm. 58 s. v. Πτερόεντα 545 Anm. 407 EUMELOS (EUMEL.) fr. 17 Bernabé 76 Anm. 268 fr. 18 Bernabé 517 Anm. 276 EUPHORION (EUPH.) fr. 34, 2 Lightfoot (= fr. 416 SH) 30 Anm. 60; 65; 66f. EURIPIDES (E.) Alc. 402f. 359 Anm. 164 Andr. 441 359 Anm. 164 Andr. 504f. 359 Anm. 164 Ba. 604-13; 617-28; 629; 631; 635 Anm. 705 Ba. 1-63 620 Anm. 657 Ba. 51 607 Anm. 615 Ba. 62 606 Anm. 614;

723

607 Anm. 615 Ba. 76 607 Anm. 615 Ba. 86 607 Anm. 615 Ba. 114 434 Anm. 415 Ba. 116 607 Anm. 615; Ba. 120-9 517 Anm. 276; 552 Anm. 430; 553; 649f. Ba. 135 607 Anm. 615 Ba. 140 607 Anm. 615 Ba. 142f. 607f. Anm. 619 Ba. 163 607 Anm. 615 Ba. 191 607 Anm. 615 Ba. 218f. 607 Anm. 615 Ba. 228 607 Anm. 615 Ba. 230 605 Anm. 606 Ba. 298-301 620 Anm. 657 Ba. 337-340 604f. Ba. 340 611 Anm. 628 Ba. 409-16 436 Anm. 421; 607 Anm. 619 Ba. 409-11 28 Anm. 55; 29 Anm. 57 Ba. 410 28 Anm. 56 Ba. 445 607 Anm. 615; 611 Anm. 628 Ba. 560-8 607 Anm. 619 Ba. 658 607 Anm. 615 Ba. 661 606 Anm. 614; 607 Anm. 615 Ba. 704-11 607f. Anm. 619 Ba. 726 434 Anm. 415 Ba. 751 606 Anm. 614 Ba. 791 434 Anm. 415; 607 Anm. 615 Ba. 797 606 Anm. 614; 607 Anm. 615 Ba. 811 607 Anm. 615 Ba. 819 611 Anm. 628 Ba. 825 436 Anm. 421 Ba. 841 611 Anm. 628 Ba. 920 611 Anm. 628 Ba. 945 606 Anm. 614

724 Ba. 945-52 Ba. 961 Ba. 965 Ba. 977 Ba. 986 Ba. 1045

Index locorum

611 Anm. 628 611 Anm. 628 611 Anm. 628 607 Anm. 615 607 Anm. 615 606 Anm. 614; 608 Anm. 615 Ba. 1047 611 Anm. 628 Ba. 1063-1113 583 Anm. 545 Ba. 1079 611 Anm. 628 Ba. 1080f. 611 Anm. 628 Ba. 1084f. 595 Anm. 580; 611 Anm. 628 Ba. 1085 611 Anm. 628 Ba. 1122f. 620f. Anm. 657 Ba. 1131 611 Anm. 628 Ba. 1137-9 608f. Anm. 623 Ba. 1142 606 Anm. 614; 607 Anm. 615; 609 Ba. 1169 607 Anm. 615; 609 Anm. 623 Ba. 1176-8 581 Anm. 1383 Ba. 1177 606 Anm. 614 Ba. 1215-1231 609f. Anm. 625 Ba. 1218-1221 609 Anm. 623 Ba. 1219 606 Anm. 614; 607 Anm. 615 Ba. 1225 607 Anm. 615 Ba. 1227f. 604f. Anm. 606 Ba. 1229 609 Anm. 623 Ba. 1232-4 610 Anm. 625 Ba. 1267 620f. Anm. 657 Ba. 1291 604f. Anm. 606; 608 Anm. 622; 609 Anm. 623 Ba. 1292 606 Anm. 614; 608 Anm. 615; 608 Anm. 622; 611 Anm. 628 Ba. 1295 434 Anm. 415 Ba. 1299 609 Anm. 623 Ba. 1340-3 620 Anm. 657 Ba. 1365 353 Anm. 145 Ba. 1371 605 Anm. 606

Ba. 1383-7 Ba. 1383-5 Ba. 1384

581 Anm. 543 612 Anm. 632 581 Anm. 542; 606 Anm. 614; 608 Ba. 1385 606 Anm. 614 El. 475 106 Anm. 110 Hec. 1099-1106 368 Anm. 186 Hel. 1107-12 446 Anm. 444; 446 Anm. 445 HF 309-455; 314; 656-9 HF 1-237 451 HF 1-106 315f. HF 1-3 325f. HF 9-12 316 Anm. 23 HF 10f. 336 Anm. 90 HF 13-20 332 HF 14-20 315f. HF 15 315 Anm. 22 HF 19-25 340 Anm. 102 HF 22-5 315; 381 Anm. 227 HF 25 393 Anm. 270 HF 37 340 Anm. 102; 381 Anm. 227 HF 42 324 HF 44 316 Anm. 23 HF 44-54 336 Anm. 90 HF 45f. 340 Anm. 102; 381 Anm. 227; 393 Anm. 270 HF 47-50 341 HF 49 342 HF 49f. 340 Anm. 102 HF 55-9 316 HF 60 316 Anm. 23 HF 63-9 358 HF 67f. 363 Anm. 173 HF 69 362f.; 368 HF 69-85 382 Anm. 231 HF 69-72 360 HF 70f. 363 Anm. 172 HF 70-7 358-62 HF 70-2 365 HF 71f. 363 Anm. 172

Index locorum HF 72 HF 80-106 HF 92 HF 97 HF 98-100 HF 107-37 HF 107-14 HF 110-13 HF 110f. HF 111 HF 117 HF 117f. HF 140-235 HF 140-69 HF 145-64 HF 145f.

366 362 Anm. 170 382 Anm. 231 382 Anm. 232 360 Anm. 167 361f. 352f. 323-5; 361 355; 358 402; 412 382 Anm. 233 381 Anm. 227 341; 343 360 Anm. 168 317; 324 381 Anm. 227; 381f. Anm. 230 HF 148f. 326 HF 151-64 326 HF 151-4 340 Anm. 102 HF 159-64 317 Anm. 28 HF 170-235 317 Anm. 28 HF 170-216 360 Anm. 168 HF 170-3 326f.; 360 Anm. 168 HF 177-83 340 Anm. 102 HF 177 341 HF 178-80 342 HF 180 340 Anm. 106; 344 HF 217-28 316 HF 218-35 361f. HF 218-28 360 HF 220f. 340 Anm. 102; 341 Anm. 109 HF 222-6 359 Anm. 165 HF 224 359f.; 366 HF 225f. 340 Anm. 102 HF 228-35 360 HF 229 324 HF 232-5 324 HF 236 450 Anm. 459 HF 238-46 336-8 HF 238f. 323-5

HF 240-6 HF 240-2 HF 242-6 HF 262f.

725

324; 449-51 85 Anm. 18; 310f. 336 Anm. 90 381 Anm. 227; 382 Anm. 233 HF 265 340 Anm. 102 HF 266f. 381 Anm. 227; 382f. Anm. 233 HF 268f. 324 HF 278-311 316 HF 296f. 340 Anm. 102; 381 Anm. 227; 382 Anm. 231 HF 312-14 323-5 HF 323-25 324 HF 329 336 Anm. 90; 383 Anm. 235; 386 Anm. 244 HF 329f. 338 Anm. 95 HF 333-5 336 Anm. 90; 338 Anm. 95 HF 339-47 327f.; 330 Anm. 72 HF 348-450 314; 316 Anm. 26; 328 Anm. 67; 340; 347 HF 348-429 340 Anm. 102; 381 Anm. 228 HF 348-56 382 Anm. 233 HF 348-51 437 Anm. 426 HF 352-8 381 Anm. 227 HF 353 393 Anm. 270 HF 353f. 328 Anm. 67 HF 355f. 349 HF 357f. 382 Anm. 233 HF 426-35 381 Anm. 227 HF 426-9 382 Anm. 322 HF 442 386 Anm. 244 HF 442-7 383 Anm. 236 HF 442f. 336 Anm. 90; 338 Anm. 95; 383 Anm. 235 HF 444f. 382 Anm. 233 HF 451-3 337f. HF 451 336 Anm. 90 HF 453 336 Anm. 90 HF 454f. 383

726 HF 462 HF 465f. HF 470-3 HF 476-9 HF 480-4 HF 481-4 HF 490-6 HF 490-5

Index locorum

382 Anm. 231 340 Anm. 102 340 Anm. 102 338 Anm. 95 338 Anm. 95 336 Anm. 90 382 Anm. 231 340 Anm. 102; 381 Anm. 227 HF 506-10 362 Anm. 171; 363 HF 516-8 381 Anm. 227 HF 516 340 Anm. 102 HF 520-2 341 Anm. 110 HF 523f. 384 HF 524 340 Anm. 102; 381 Anm. 227; 383-7; 393 Anm. 270; 398 Anm. 288 HF 525-8 384 Anm. 239 HF 525f. 336 Anm. 90; 338 Anm. 95; 383 Anm. 235 HF 526 386 Anm. 244 HF 531 383-7; 398 Anm. 288 HF 531f. 384 Anm. 240 HF 534f. 384 Anm. 240 HF 548f. 336 Anm. 90; 338 Anm. 95; 383 Anm. 235; 386 Anm. 244 HF 549 385 Anm. 242 HF 551-3 382 Anm. 231 HF 558-61 316f. HF 560 340 Anm. 102; 341 Anm. 109 HF 562-4 385-8; 392; 398 Anm. 288 HF 562 336 Anm. 90; 338 Anm. 95; 383 Anm. 235 HF 563 393 Anm. 270; 393 Anm. 270 HF 565-73 318f. Anm. 36 HF 565-8 438 HF 568-73 438-41 HF 568-70 342f.

HF 574-82

317 Anm. 32; 332; 343 HF 575 340 Anm. 102 HF 578-82 345-7 HF 578-80 340 Anm. 102 HF 581f. 345 HF 596-8 369f. HF 599 336 Anm. 90 HF 601f. 337 Anm. 94 HF 602 336 Anm. 90 HF 607-21 340 Anm. 102; 381 Anm. 227 HF 607-9 318 HF 607f. 393 Anm. 270 HF 608f. 332; 336 Anm. 90 HF 610 318 HF 611 393 Anm. 270 HF 612f. 377-81 HF 615 384 Anm. 238 HF 619-21 394 Anm. 276 HF 621 394 Anm. 276 HF 624-8 363 HF 628 363f.; 368 HF 631-6 317f. Anm. 32 HF 637-700 314; 316 Anm. 26; 319; 343f.; 349; 353; 373f.; 395; 396-426 HF 637-72 353; 396-400; 403; 403f. Anm. 309 HF 637-54 373 HF 637-41 397f. HF 655-72 373; 399 Anm. 293 HF 655-66 398-400 HF 655-62 406f. HF 661 393 Anm. 270 HF 662 349 Anm. 134 HF 669-72 399 Anm. 289 HF 673-700 400-3 HF 673-86 354; 416f.; 419f.; 422-6; 436 Anm. 421; 439-41 HF 673-5 309; 404; 405 HF 674 454 Anm. 465

Index locorum HF 676f. HF 677 HF 678-86 HF 678 HF 679 HF 679f. HF 680f.

405 349; 407 373f.; 435 401 404 354; 355 Anm. 156; 344; 401 Anm. 298; 403; 405 HF 681 340 Anm. 104; 429 HF 685f. 417-20 HF 687-700 403; 412-415 HF 687-95 429 HF 687-94 401-403; 412f.; 428 HF 687-91 355 HF 687-90 437 Anm. 426 HF 687 408 HF 691-4 354f. HF 692 414f.; 423f. Anm. 371 HF 694 419; 423f. Anm. 371 HF 696-700 403; 405; 413f.; 440 Anm. 431 HF 696 327f.; 429 HF 698-700 340 Anm. 102 HF 701-61 426 HF 702f. 336 Anm. 90; 338 Anm. 95 HF 703 383 Anm. 235; 386 Anm. 244 HF 715f. 336 Anm. 90 HF 717-9 340 Anm. 102; 381 Anm. 227 HF 718 382 Anm. 230 HF 734-62 374f. HF 734 427 Anm. 386 HF 735-814 314 HF 735f. 340 Anm. 102; 381 Anm. 227 HF 739 427 Anm. 386 HF 751-3 357 Anm. 159 HF 751 374f. HF 754 438f. Anm. 429 HF 760 356 Anm. 157

727

HF 761 355 Anm. 155; 426 HF 763-814 314; 316 Anm. 26; 319; 328; 344; 355; 395; 426-42 HF 763-7 432 HF 767 440 HF 768-71 440 Anm. 431 HF 768-70 432 HF 769f. 381 Anm. 227 HF 770 340 Anm. 102 HF 772-80 432 HF 779f. 349f. Anm. 135 HF 781-97 428; 429 HF 781-9 427; 432-4; 438-40 HF 781 349; 435 Anm. 416 HF 786 435 Anm. 416; HF 788f. 344; 350; 429 HF 790-7 434-6 HF 790-3 450 HF 790 437 Anm. 426 HF 790f. 311 Anm. 7 HF 791 123 Anm. 145; 124 Anm. 146 HF 792 355 Anm. 156 HF 798-814 328 Anm. 67; 429; 440 Anm. 431 HF 807f. 340 Anm. 102; 381 Anm. 227 HF 815-85 426 HF 815-21 344; 356 HF 820 437 Anm. 426 HF 822-90 437 Anm. 427 HF 822-73 344; 355f.; 370 HF 825f. 328f. HF 827-32 331 Anm. 73; 331 HF 827 340 Anm. 102 HF 830 340 Anm. 102 HF 831f. 345 Anm. 115 HF 832 332 Anm. 76 HF 834 336 Anm. 90 HF 837-40 389 HF 837-9 349 HF 840-42 331 Anm. 73; 331-3

728 HF 847f. HF 849-53 HF 851-3 HF 854-61 HF 855 HF 857 HF 858-61 HF 861-3 HF 865f. HF 867-70 HF 867 HF 871 HF 871-98 HF 875-909 HF 875-9 HF 876 HF 878f. HF 879 HF 880-3 HF 884-1015 HF 886-98 HF 886-91 HF 886-8 HF 886 HF 889 HF 897 HF 899 HF 913 HF 922-1015 HF 922-30 HF 925 HF 930-5 HF 936-41 HF 936-40 HF 936f. HF 940f. HF 942-63 HF 947-1000 HF 957 HF 959-62 HF 965f.

Index locorum 332 Anm. 76 332f. 340 Anm. 102 319 Anm. 37 332 Anm. 76; 333 333 331 Anm. 73 350 436 Anm. 115 372 Anm. 199 350 371; 372 Anm. 200; 373; 374 439-42 344; 374f. 371; 372 Anm. 200 329 371 373 350 Anm. 136 319 371-3 356 Anm. 159 350f. 329 374f. 395 Anm. 282 374 Anm. 206 345 Anm. 115 443 335; 336 Anm. 90 428; 441 Anm. 436 335; 347f. Anm. 125 348 Anm. 125 335f. Anm. 88 336 Anm. 90 336 Anm. 90 347f. 375 332f. 344f. 375 Anm. 213

HF 966

374 Anm. 206; 395 Anm. 282 HF 966f. 375f. HF 968 336 Anm. 90; 338 Anm. 96 HF 969-1000 335-8; 348 HF 971-4 365f. HF 974 336 Anm. 90; 338 Anm. 96 HF 981 366; 367 HF 982f. 365f.; 367 HF 984f. 338 Anm. 96 HF 985 365 Anm. 178; 366 Anm. 179 HF 986f. 336 Anm. 90; 338 Anm. 96 HF 995 336 Anm. 90 HF 1001-6 319 HF 1016-24 357; 367; 443f. HF 1016-20 444 Anm. 439 HF 1021-4 357 Anm. 160; 367f.; 444-9; 450f. HF 1022 336 Anm. 90 HF 1025-27 357; 443f. HF 1028-38 357; 389 Anm. 259 HF 1039-41 357f.; 366f. HF 1041 443 Anm. 438 HF 1042-88 443 Anm. 438 HF 1042-63 358 Anm. 161 HF 1045f. 345; 290 Anm. 259 HF 1046 340 Anm. 104; 348 HF 1054 336 Anm. 90 HF 1064-7 358 Anm. 161 HF 1064-6 336 Anm. 90; 390 Anm. 259 HF 1085f. 439-41 HF 1086 374 Anm. 206; 375f.; 395 Anm. 282 HF 1087f. 329 Anm. 70 HF 1089-1100 389f. HF 1101-4 340 Anm. 102; 381 Anm. 227; 390f.; 393 Anm. 273

Index locorum HF 1101f. 400 Anm. 294; 406f. HF 1102 349 Anm. 134 HF 1110 443 Anm. 438 HF 1119 376; 395 Anm. 282; 396 HF 1122 374 Anm. 206; 376 Anm. 215; 395 Anm. 282 HF 1127 331 Anm. 73 HF 1131f. 390 Anm. 260 HF 1133 348 Anm. 129 HF 1142 374 Anm. 206; 395 Anm. 282 HF 1145 336 Anm. 90 HF 1146-53 391 Anm. 263 HF 1148-52 368 Anm. 188 HF 1148 474 Anm. 43 HF 1153f. 368 Anm. 188 HF 1154-62 391 HF 1154 391 Anm. 263 HF 1157-9 391f. HF 1157f. 368 HF 1169-71 394 Anm. 276 HF 1169f. 340 Anm. 102; 381 Anm. 227 HF 1186 339 Anm. 97; 368f. HF 1187f. 340 Anm. 102 HF 1189 348 Anm. 129 HF 1190-2 340 Anm. 102 HF 1190 329 HF 1202-4 392 HF 1206-10 336 Anm. 90 HF 1214-418 320 Anm. 45 HF 1216f. 391 Anm. 265 HF 1218-20 339 Anm. 97 HF 1220-2 393-5; 394 Anm. 276 HF 1221f. 340 Anm. 102; 381 Anm. 227 HF 1222 393 Anm. 270 HF 1226f. 392 HF 1227f. 391 Anm. 264 HF 1229 348 Anm. 129 HF 1231 392f. HF 1232-4 339 Anm. 97

HF 1234-6 HF 1235

729

394 Anm. 276 340 Anm. 102; 381 Anm. 227 HF 1241 391 Anm. 263 HF 1242-1394 329 HF 1247 340 Anm. 102; 381 Anm. 227; 391 Anm. 263 HF 1248-52 391 Anm. 264 HF 1253 331 Anm. 73 HF 1255-310 348 HF 1257 391 Anm. 263 HF 1263-8 331 Anm. 73 HF 1263-5 329f.; 330 Anm. 72 HF 1263f. 331 Anm. 74 HF 1269-78 340 Anm. 102 HF 1271-78 348 HF 1276-8 381 Anm. 227 HF 1277 393 Anm. 270 HF 1279-80 348 HF 1283f. 336 Anm. 90 HF 1301f. 391 Anm. 263 HF 1303 331 Anm. 73 HF 1303f. 369 Anm. 189 HF 1311f. 331 Anm. 73; 348 Anm. 129; 443 Anm. 438 HF 1324-33 321; 339 HF 1324 336 Anm. 90 HF 1328-33 336 Anm. 90 HF 1334f. 349; 351; 395 Anm. 279 HF 1341-46 330 Anm. 72 HF 1347-51 391 Anm. 264 HF 1353-6 348 Anm. 129 HF 1353-5 340 Anm. 102 HF 1360-4 336 Anm. 90 HF 1366-70 368 Anm. 185 HF 1377-85 343 HF 1382f. 340 Anm. 102 HF 1386f. 340 Anm. 102; 381 Anm. 221 HF 1390-2 336 Anm. 90 HF 1393 331 Anm. 73

730 HF 1399f. HF 1410 HF 1410f. HF 1412-4 HF 1415f.

Index locorum

339 Anm. 97 340 Anm. 102 348 Anm. 129 391 Anm. 264 340 Anm. 102; 381 Anm. 227 HF 1419-21 336 Anm. 90 HF 1427f. 443 Anm. 438 Heracl. 10f. 359 Anm. 164 Hipp. 732-4 368 Anm. 186 Hipp. 925-7 399 Anm. 289 Hipp. 1290-3 368 Anm. 186 Ion 1 397 Anm. 287 Ion 1238f. 368 Anm. 186 IA 798 28 Anm. 56 IA 1041 28 Anm. 54 IA 1248 359 Anm. 164 IA 1467-9 413 Anm. 338 IT 1103-5 414 Anm. 342 IT 1242f. 434 Anm. 415 Med. 516-9 399 Anm. 289 Med. 833 28 Anm. 54 Med. 1296f. 368 Anm. 186 Or. 96 389 Anm. 257; Ph. 623 Ph. 785 436 Anm. 421 Phaëth. fr. 781, 61-4 Kannicht (Bd. 5, 2, S. 820 TrGF) 368 Anm. 186 Ph. 784-800 372 Anm. 199 Ph. 801-5 45 Anm. 124; 581 Anm. 543 Ph. 826 313 Ph. 1605-7 581 Anm. 543 Rh. 349 28 Anm. 54 Rh. 913 476 Anm. 44 Rh. 921-5 545 Anm. 407 Rh. 974-7 77 Anm. 276 Supp. 623 Supp. 1178 512 Tr. 751 359 Anm. 164 Tr. 1242-5 447 Anm. 451

fr. 179-227 Kannicht (Bd. 5,1, S. 274-312 TrGF) 649 Anm. 753 fr. 910, 6 Kannicht (Bd. 5,2, S. 917 TrGF) 512 EUSEBIOS (EUS.) Vita Constantini 3, 54, 2 123 Anm. 145 Vita Constantini 3, 54, 2f. 165 Anm. 296; 168 Anm. 309 EUSTATHIOS (EUST.) ad Il. 1, 206 (Bd. 1, S. 137, Z. 29f. van der Valk) 353 Anm. 147 ad Il. 2, 711-15 (Bd. 1, S. 509, Z. 31-S. 510, Z. 2 van der Valk) 478 Anm. 55 ad Il. 14, 226 (Bd. 3, S. 623, Z. 235 van der Valk) 29 Anm. 58; 30 Anm. 58 ad Il. 21, 259 (Bd. 4, S. 498, Z. 7-9 van der Valk) 31 Anm. 60; 32 Anm. 63 ad Od. 3, 267 (Bd. 1, S. 125, Z. 30 Stallbaum) 558f. Anm. 457 ad Od. 3, 332 (Bd. 1, S. 131, Z. 41f. Stallbaum) 31 Anm. 61 ad. Od. 5, 50 (Bd. 1, S. 198, Z. 4-6 Stallbaum) 29 Anm. 58 ad Od. 17, 205 (Bd. 2, S. 139, Z. 18 Stallbaum) 45 Anm. 122; 59 Anm. 201 FD 3, 2, 50 = SIG3 699 FESTUS (FEST.) s. v. Pimpleides

19 Anm. 19; 71 Anm. 250 31 Anm. 60; 32 Anm. 61

Index locorum GALEN (GAL.) Bd. 12, S. 416 Kühn

501

GEORG. GRAMM. 8, 18 Ciccolella

601 Anm. 598

GERMANICUS 221

110 Anm. 106

GORGIAS (GORG.) 82 B 11 (II, 288, 11) Diels-Kranz 322 Anm. 55 82 B 11 (II, 290, 17) Diels-Kranz 322 Anm. 55 82 B 11a (II, 302, 23) Diels-Kranz 322 Anm. 55 82 B 11a (II, 302, 31) Diels-Kranz 322 Anm. 55 GREGORIOS PALAMAS (GREG. PAL.) Triade 1, 1, 15 602 Anm. 599 HEGESINUS (HEGESIN.) FGrH/BNJ F1, 4 85 Anm. 18 HEPHAISTION (HEPH.) 16, 3 534 Anm. 344; 534 Anm. 346 HERMESIANAX (HERMESIAN.) fr. 7, 23 CA 601 Anm. 598 HERMESIANAX VON KYPROS FGrH/ BNJ 797 F2 s. Ps.-Plu. Fluv. 2, 3 HERMIPPOS (HERMIPP.) fr. 63, 1 Kassel-Austin (Bd. 5, S. 591 PCG) 27 Anm. 51 HERMIPPOS (HERMIPP. HIST.) FGrH 1026 F84

47

731

HERODIAN (HDN.) Hdn. Epim. S. 109, Z. 4 Boissonade 29 Anm. 58 Hdn. Epim. S. 199, Z. 6 Boissonade 557 Anm. 452 Hdn. Gr. Bd. 3, 1, S. 40, Z. 3-13 Lentz 557 Anm. 452 Hdn. Gr. Bd. 3, 1 S. 265, Z. 16 Lentz 30 Anm. 58 Hdn. Gr. Bd. 3, 1, S. 299, Z. 32 Lentz 30 Anm. 58 Hdn. Gr. Bd. 3, 1, S. 328, Z. 8f. Lentz 542 Anm. 390 Hdn. Gr. Bd. 3, 1, S. 330, Z. 3 Lentz 29 Anm. 58 Hdn. Gr. Bd. 3, 2, S. 442, Z. 21-23 Lentz 557 Anm. 452 Hdn. Gr. Bd. 3, 2, S. 924, Z. 25f. Lentz 542 Anm. 390 HERODOT (HDT.) 4, 8 320 Anm. 52 4, 149 582 Anm. 545 5, 59-61 144f. Anm. 210; 203 Anm. 466 7, 131 29 Anm. 58 HESIOD (HES.) Op. 1 28 Anm. 56; 242 Anm. 25 Op. 223 278 Anm. 125 Op. 427-36 94 Anm. 44 Op. 436 96 Anm. 53 Op. 568 445 Anm. 442 Op. 639f. 106 Anm. 94 Op. 648-62 144 Anm. 208 Op. 650-62 202 Op. 651-60 143f. Anm. 208 Op. 654-9 143-6; 202f. Op. 656-62 274-6 Op. 658-62 273f. Anm. 117 Op. 658 124 Anm. 145 Op. 662 273 Anm. 113

732 Op. 662f. Sc. 206

Index locorum

295f. 28 Anm. 54; 242 Anm. 25 Th. 1-115 69; 97; 209; 229-307; 230-6; 237f.; 654-6; 658f. Th. 1-35 33; 39; 75; 97; 105f. Anm. 94; 238; 239-42; 242-48; 259-64; 279-83; 286-90; 601-604 Th. 1-21 124 Anm. 146 Th. 1-8 98 Th. 1 124 Anm. 145; 237 Anm. 10; 240-2; 275f.; 279 Th. 2-10 244-7; 279f.; 289 Th. 2-7 242; 276 Anm. 122 Th. 2-6 277f. Th. 2 111 Anm. 108; 238 Anm. 13; 289 Th. 3 218f. Th. 3f. 287f.; 601 Anm. 599 Th. 4 98f. Th. 5f. 104f.; 286-8; 603 Anm. 599 Th. 6 105; 111 Anm. 108; 218; 289 Th. 7f. 284 Anm. 150; 603 Anm. 599 Th. 8 290 Th. 9-21 246f. Th. 9 277; 278f. Anm. 125 Th. 9f. 244; 291 Th. 10 124f.; 238; 246; 292-4 Th. 11-21 270 Anm. 108; 282f. Th. 22-35 120 Anm. 133; 144; 240; 261f.; 272-6; 281f.; 295f.; 588 Anm. 560 Th. 22 238 Anm. 15; 246f.; 273f. Anm. 117; 296 Th. 22f. 98; 272f. Th. 23 115; 120; 144; 242; 289 Th. 24 262f. Anm. 90 Th. 25 27 Anm. 51;

242 Anm. 25; 248; 254 Anm. 64 Th. 26 282 Anm. 140 Th. 26-8 275 Anm. 119 Th. 27f. 273 Anm. 116 Th. 29 254 Anm. 64 Th. 30 262; 296 Th. 30f. 118 Anm. 128; 200 Anm. 453; 230 Anm. 4; 243 Anm. 29; 602 Anm. 598; 603 Anm. 601 Th. 31f. 243; 292 Anm. 171; 293 Anm. 172; 603 Anm. 601 Th. 32 269; 269f. Anm. 108; 298 Anm. 184 Th. 33 268; 298 Th. 34 241 Anm. 24 Th. 34f. 241 Th. 35 259-61; 260f. Anm. 85 Th. 35f. 263f. Anm. 92 Th. 36-115 236 Th. 36-79 238; 239; 242; 250-7; 279; 284-6; 288-90 Th. 36-67 239 Anm. 15 Th. 36-52 27 Anm. 53; 75; 252-4; 263f.; 294 Th. 36 237 Anm. 10; 238 Anm. 13; 239; 241 Anm. 24; 254 Anm. 64; 261; 288 Anm. 163 Th. 36f. 283 Anm. 144 Th. 37 288 Anm. 159; 288; 297 Th. 38 270; 270 Anm. 108; 273 Anm. 115; 297-304 Th. 39 124f.; 294 Th. 39f. 252f.; 256f.; 292 Anm. 171; 293 Anm. 172 Th. 40-3 289f. Th. 40f. 254 Anm. 63; 254 Anm. 64; 288 Anm. 163 Th. 41 290 Anm. 167; 294 Th. 42 288 Anm. 159; 288 Anm. 160; 289; 293

Index locorum Th. 42f. 254 Anm. 63 Th. 43 124f.; 238; 253; 288; 292-4 Th. 44-50 253 Anm. 62; 268; 269 Anm. 107; 270 Anm. 108; 282f.; 297; 299 Th. 51 283 Anm. 144; 288 Anm. 159; 288; 288 Anm. 163; 297f. Th. 52 27 Anm. 51; 28 Anm. 57; 242 Anm. 25; 254 Anm. 64 Th. 53-67 239 Anm. 15; 252f.; 254 Anm. 64; 255f.; 298 Anm. 185 Th. 53 238 Anm. 15; 254 Anm. 64 Th. 54 46 Anm. 125; 304; 547 Anm. 425 Th. 55 302-4 Th. 58-60 304 Th. 60-2 27 Anm. 52 Th. 60 253 Th. 60f. 252f. Th. 62 28 Anm. 57; 239 Anm. 15; 242; 288 Anm. 159; 288 Anm. 160; 289 Th. 63-79 27 Anm. 53 Th. 63-5 288 Anm. 163 Th. 63 284 Th. 63f. 284 Anm. 150; 292 Anm. 170 Th. 65-7 284f.; 292 Anm. 170 Th. 65 124f.; 253; 292-4 Th. 66f. 253 Anm. 62 Th. 67 124f.; 230 Anm. 4; 292-4; 292 Anm. 170 Th. 68-79 253f.; 254f. Th. 68 238f. Anm. 15; 288 Anm. 159 Th. 69-71 285; 289f. Th. 69 254 Anm. 63; 289 Th. 71-4 271f.; 288 Anm. 163; 297 Anm. 183; 299 Th. 71 254 Anm. 65;

733

268 Anm. 104; 288 27 Anm. 51; 242 Anm. 25; 271f.; 288 Th. 76 253; 604 Th. 77-9 127 Anm. 151; 250f.; 281 Anm. 134; Th. 77 202 Th. 79-93 202 Anm. 460 Th. 79 250f. Th. 79f. 257f. Th. 80-103 248-64; 248f.; 250-7; 257-9; 261-4; 302 Th. 80-93 251 Anm. 55; 254f.; 257f. Th. 80 251 Anm. 56 Th. 81 254 Anm. 64 Th. 83 251 Anm. 57 Th. 84 256f. Th. 93f. 258f. Th. 94-103 254 Anm. 64; 255f.; 258f.; 261-4 Th. 94-7 241 Anm. 23 Th. 94 262 Th. 96f. 263 Th. 97 256f.; 292 Anm. 171 Th. 98-103 282 Anm. 140; 297 Anm. 183 Th. 100 273 Th. 104-115 264-72 Th. 104 254 Anm. 64 Th. 106-13 299 Th. 114 27 Anm. 51; 266 Th. 115 266f. Th. 116 266f. Th. 118 288 Anm. 160 Th. 129 37 Anm. 87 Th. 135 303 Th. 143 292 Anm. 170 Th. 145 292 Anm. 170 Th. 427-36 85 Anm. 18 Th. 450 292 Anm. 170 Th. 452 292 Anm. 170 Th. 75

734

Index locorum

Th. 463 Th. 482f. Th. 519 Th. 794 Th. 820-85 Th. 832 Th. 915-7 Th. 953 Th. 966

472 Anm. 34 472 Anm. 34 397 Anm. 287 288 Anm. 160 294 Anm. 177 292f. Anm. 171 298 Anm. 185 288 Anm. 161 27 Anm. 51; 242 Anm. 25 Th. 1022 27 Anm. 51; 242 Anm. 25 fr. 1, 2 Merkelbach-West 27 Anm. 51; 242 Anm. 25 fr. 7, 3 Merkelbach-West 29 Anm. 57 fr. 26, 10-12 Merkelbach-West 19 Anm. 19; 21 Anm. 26; 39 Anm. 102; 76f. fr. 312 Merkelbach-West 445 Anm. 442 HESYCHIOS (HSCH.) s. v. Ἑλικώνια µουσεῖα (ε 2089 Latte) 192 Anm. 422 s. v. θαµυρίζει (θ 91 Latte) 148 Anm. 223 s. v. θούριδες (θ 664 Latte) 34 Anm. 70; 59f. Anm. 201 s. v. Ἵππουκρήνης (ι 858 Latte) 110 Anm. 106 s. v. λείβηθρον (λ 512 Latte) 31 Anm. 61 s. v. νύµφαι (ν 713 Latte) 59 Anm. 201; 75 Anm. 267 s. v. νύµφη (ν 717 Latte) 59 Anm. 201 s. v. Πιερία (π 2257 Hansen) 29 Anm. 58 s. v. Πιερίδες (π 2258 Hansen) 28 Anm. 54 s. v. Πιερίη (π 2259 Hansen)

29 Anm. 58 s. v. Πίµπλ(ε)ιαι (π 2339 Hansen) 27 Anm. 51; 30 Anm. 60; 31 Anm. 61 HIMERIOS (HIM.) Or. 8, 8 Or. 8, 17 Or. 12, 25 Or. 20, 1 Or. 22 Or. 46, 3-5 Or. 46, 6

592 Anm. 571 592 Anm. 571 124 Anm. 146 353 Anm. 147 124 Anm. 146 31 Anm. 60 124 Anm. 146; 353 Anm. 147 Or. 47, 9 124 Anm. 146 Or. 48, 3 124 Anm. 146 Or. 48, 37 28 Anm. 56; 35 Anm. 74; 77; 124 Anm. 146 Or. 54, 2 586 Anm. 555 Or. 62, 6 28 Anm. 56 Or. 62, 7 124 Anm. 146; 124; 293 Anm. 174 Or. 64, 5 123 Anm. 145 Or. 66 572 Anm. 513; 584-92 Or. 66, 2-7 584 Anm. 551 Or. 66, 2 586 Anm. 554 Or. 66, 6f. 77 Anm. 532; 585-92 Or. 69, 9 41 Anm. 106 HIPPOLYTOS (HIPPOL.) Haer. 1, 26, 2 28 Anm. 55; 29 Anm. 57 HOMER (HOM.) Il. 1, 1 Il. 1, 2-7 Il. 1, 8f. Il. 1, 70 Il. 1, 247-9 Il. 1, 573 Il. 1, 601-4

265 265f. Anm. 96 267 Anm. 100 270 Anm. 108; 299 Anm. 187 257 511 Anm. 238 27 Anm. 53

Index locorum Il. 1, 604 39 Anm. 102 Il. 2, 447 511f. Il. 2, 484-93 143 Anm. 208 Il. 2, 484 27 Anm. 51; 242 Anm. 25; 267 Anm. 100 Il. 2, 485f. 298 Anm. 185 Il. 2, 491 27 Anm. 51; 242 Anm. 25 Il. 2, 492 301f. Anm. 197 Il. 2, 594-600 39 Anm. 102; 545 Anm. 407 Il. 2, 761-3 267 Anm. 100 Il. 6, 21-6 281 Anm. 137 Il. 6, 355-8 447 Anm. 451 Il. 6, 358 616 Anm. 643 Il. 9, 688 509 Il. 11, 218 27 Anm. 51; 242 Anm. 25; 267 Anm. 100 Il. 14, 225-8 29 Anm. 57 Il. 14, 444f. 281 Anm. 137 Il. 14, 508 27 Anm. 51; 242 Anm. 25; 267 Anm. 100 Il. 15, 532f. 243 Anm. 29 Il. 16, 112 27 Anm. 51; 242 Anm. 25; 267 Anm. 100 Il. 17, 547-50 278f. Anm. 125 Il. 17, 551 278f. Anm. 125 Il. 17, 646 278 Anm. 125 Il. 17, 649 278 Anm. 125 Il. 18, 593 280 Anm. 130 Il. 18, 603 280 Anm. 130 Il. 20, 7-9 57 Anm. 192 Od. 1, 1-9 265f. Anm. 96 Od. 1, 1 265 Od. 1, 10 266 Od. 1, 337 302 Anm. 199 Od. 2, 373 509 Od. 4, 400-6 595 Anm. 580 Od. 4, 738 509 Od. 4, 829 509 Od. 5, 50 29 Anm. 57 Od. 5, 63-77 306f. Anm. 208

Od. 6, 46 Od. 6, 106 Od. 7, 14-17 Od. 7, 139-145 Od. 8, 63 Od. 8, 63f. Od. 8, 73 Od. 8, 481 Od. 8, 488-91 Od. 8, 488 Od. 8, 557-63 Od. 8, 562 Od. 10, 543 Od. 11 Od. 14, 434-36 Od. 18, 194 Od. 19, 413 Od. 20, 83 Od. 24, 58-62 Od. 24, 60-62

735 288 Anm. 161 282 Anm. 139 278 Anm. 125 278 Anm. 125 39 Anm. 102 603 Anm. 600 39 Anm. 102 39 Anm. 102; 273 Anm. 113 298 Anm. 185 39 Anm. 102; 273 Anm. 113 278 Anm. 125 278 Anm. 125 56 Anm. 179 390 Anm. 262 281 Anm. 137 280 Anm. 130 510 511 Anm. 238 77 39 Anm. 102; 67 Anm. 237

HOMERISCHE HYMNEN (H. HOM.) 2 (= h. Cer.) 626 Anm. 680 2 (= h. Cer.), 1 241 Anm. 23 3 (= h. Ap.), 1-13 244 Anm. 31 3 (= h. Ap.), 156-64 402 Anm. 303; 408-11 3 (= h. Ap.), 162-4 303 Anm. 203 3 (= h. Ap.), 214-16 29 Anm. 57 3 (= h. Ap.), 545 265 Anm. 93 4 (= h. Merc.) 70 29 Anm. 58 4 (= h. Merc.) 450 27 Anm. 51; 242 Anm. 25 4 (= h. Merc.) 579 265 Anm. 93 5 (= h. Ven.), 260f. 244 Anm. 31 5 (= h. Ven.), 292 265 Anm. 93 6, 1f. 241 Anm. 23 6, 19f. 265 Anm. 93 7 (h. Bacch.), 58 265 Anm. 93

736 9, 7 10, 1 10, 4 11, 1 11, 5 12, 1 13, 1 13, 3 14, 6 15, 1 15, 9 16, 1 16, 5 17, 1 17, 5 18, 1 18, 10 18, 12 19 (= h. Pan), 5 19 (= h. Pan), 10-15 19 (= h. Pan), 19-21

Index locorum 265 Anm. 93 241 Anm. 23 265 Anm. 93 241 Anm. 23 265 Anm. 93 241 Anm. 23 241 Anm. 23 265 Anm. 93 265 Anm. 93 241 Anm. 23 265 Anm. 93 241 Anm. 23 265 Anm. 93 241 Anm. 23 265 Anm. 93 241 Anm. 23 265 Anm. 93 265 Anm. 93 281 Anm. 137 244 Anm. 31

279 Anm. 128 19 (= h. Pan), 27-9 244 Anm. 31 19 (= h. Pan), 48 265 Anm. 93 20, 1 241 Anm. 23 20, 8 265 Anm. 93 21 353 Anm. 147 21, 1 241 Anm. 23 21, 3f. 241 Anm. 23 21, 5 265 Anm. 93 22, 1 241 Anm. 23 22, 6f. 265 Anm. 93 23, 1 241 Anm. 23 25, 1-5 241 Anm. 23 25, 6f. 265 Anm. 93 26, 1 241 Anm. 23 26, 11-13 265 Anm. 93 27, 1 241 Anm. 23 27, 21f. 265 Anm. 93 28, 1 241 Anm. 23 28, 17 265 Anm. 93 29, 13f. 265 Anm. 93

30, 1 30, 17f. 31, 17 32, 17f. 33, 18

241 Anm. 23 265 Anm. 93 265 Anm. 93 265 Anm. 93 265 Anm. 93

HONESTUS (HONEST.) AP 5, 20 164 Anm. 287 AP 7, 66 164 Anm. 287 AP 7, 274 164 Anm. 287 AP 9, 216 164 Anm. 287 AP 9, 225 110 Anm. 106; 164 Anm. 287; 164f. Anm. 291 AP 9, 230 82; 164 Anm. 287; 207; 208; 209f. Anm. 487 AP 9, 230, 2 110 Anm. 106 AP 9, 230, 4 28 Anm. 54 AP 9, 250 164 Anm. 287 AP 9, 292 164 Anm. 287 AP 11, 32 164 Anm. 287 AP 11, 45 164 Anm. 287 10-18 Gow-Page s. IThesp 289-97 IThesp 298-300; 301; 312; 424 s. ebd. HORAZ (HOR.) carm. 1, 26, 9

30 Anm. 60

HYGIN (HYG.) fab. 165, 4

545 Anm. 407

IAMBLICHOS (IAMB.) VP 146 301 Anm. 60 IBYKOS (IBYC.) fr. S151 PMGF 144 Anm. 208 fr. S151, 23f. PMGF 123 Anm. 145 IG 22, 971

169 Anm. 311;

Index locorum 176 Anm. 332 22, 1358, col. 1, 1, 45 72 Anm. 250 4, 682 = SEG 27, 115 = App. Anth. Epigrammata dedicatoria 291 169 Anm. 311; 171 Anm. 319; 179-81 9, 1, 334 643 11, 4, 1061 169 Anm. 311; 170 Anm. 316; 175 Anm. 329; 176 Anm. 330; 181 Anm. 349; 181 Anm. 352 11, 4, 1136 170 Anm. 316; 175 Anm. 329; 176 Anm. 330; 181 Anm. 349 12, 5, 893, 3 71 Anm. 250 12, 6, 1, 527 72 Anm. 250 12, 6, 1, 528 72 Anm. 250 12, 7, 95, 9 85 Anm. 18 12, 8, 358 72 Anm. 250 IOHANNES VON GAZA (JO. GAZ.) 13 Ciccolella 123 Anm. 145 ITHESP 1-28 141 Anm. 204 2 141 Anm. 204 19 141 Anm. 204 23 176 Anm. 332 30 176 Anm. 332 34 158 Anm. 263; 169 Anm. 311; 177 Anm. 334 44-57 151 Anm. 237 54 152 Anm. 239; 181 Anm. 352; 184-7 54, 24-8 152 Anm. 239; 169 Anm. 311; 170 Anm. 313; 170 Anm. 313; 184-7 54, 24 155 Anm. 248 54, 29-36 152 Anm. 239 54, 37 152 Anm. 239 54, 58 152 Anm. 239

55

737

152 Anm. 239; 185-7 55, 10f. 152 Anm. 239 55, 14 152f. Anm. 240 55, 21 152f. Anm. 240 56 185; 186 58-60 149 Anm. 227; 150f. 58, 4-9 152 Anm. 239 58, 5-7 124 Anm. 145 59, 4-8 152 Anm. 239 59, 4-6 124 Anm. 145 60 206 Anm. 474 61 142 Anm. 205; 149 Anm. 227 61, 4-6 152 Anm. 239 62 150 Anm. 229; 151 Anm. 237; 169 Anm. 311; 174 Anm. 323; 181 Anm. 352; 188f. 65 151; 205f. Anm. 474 65, 3-6 201 84 169 Anm. 311; 181 Anm. 352; 182f. 99bis 181 Anm. 352; 185 123 141 Anm. 204 152-60 169 Anm. 311 152-4 150 Anm. 229; 172 Anm. 321; 174 Anm. 323; 181 Anm. 352 152 184f.; 188f. 153 184f.; 188f. 153, 3 124 Anm. 145 154 172 Anm. 321 155 172 Anm. 321; 173 Anm. 322; 181 Anm. 352 155, 8-10 172 Anm. 321 155, 13 170 Anm. 313 156 170 Anm. 316; 172 Anm. 321; 173 Anm. 322; 174f.; 181 Anm. 352 156, 2f. 155 Anm. 248 156, 15-21 184

738 156, 15-17

Index locorum

93 Anm. 40; 168 Anm. 310 156, 21-3 184 156, 43 192 Anm. 422 156bis 173 Anm. 322; 181 Anm. 352 156bis, 4f. 170 Anm. 313 157 173 Anm. 322; 181 Anm. 352 158 139 Anm. 200; 173 Anm. 322; 181 Anm. 352 159-60 181 Anm. 352; 185f. 159 154f. Anm. 247 160 154f. Anm. 247; 181 Anm. 352 161-185 169 Anm. 311 161 139 Anm. 199; 176 Anm. 331; 181 Anm. 352; 187; 189 161, 6f. 188 Anm. 408 162 181 Anm. 352 163 176 Anm. 331; 177 Anm. 335; 181 Anm. 352; 187; 189 165 188 Anm. 401 165, 8-11 176f. Anm. 332 167 139 Anm. 198; 176 Anm. 331; 187f. 168 139 Anm. 199 169 176 Anm. 331 170 176 Anm. 331; 176f. Anm. 332; 177 Anm. 333; 188 Anm. 401 171 176 Anm. 331; 188 Anm. 401 172 176 Anm. 331; 181 Anm. 352; 188 Anm. 401 173 177 Anm. 335 174 176 Anm. 331 174, 7f. 148f. Anm. 223; 178 Anm. 339 174, 10 159 Anm. 273

176, 2f. 178 Anm. 339 177 176 Anm. 331; 178 Anm. 339; 188 Anm. 401 177, 3 169 Anm. 312 177, 4f. 178 Anm. 339 178 176 Anm. 331; 178 Anm. 339; 181 Anm. 352; 188 Anm. 401 179 176 Anm. 331; 178 Anm. 339; 188 Anm. 401 180 139 Anm. 199; 176 Anm. 331; 179 Anm. 340; 181 Anm. 352 188 Anm. 401 180, 3f. 178 Anm. 339 182 176 Anm. 331 184, 1f. 178 Anm. 339 194 139 Anm. 199 204-7 169 Anm. 311 204 138 Anm. 193; 156 Anm. 253 204, 10f. 153 Anm. 243 205 141 Anm. 205; 156 Anm. 253; 176 Anm. 331 206 138 Anm. 193; 141 Anm. 205; 156 Anm. 253 206, 3 124 Anm. 145 207 156 Anm. 253 210 140 Anm. 203 211 140 Anm. 203 262 141 Anm. 203 270 85 Anm. 18 273 101f. 274 138 Anm. 194; 156 Anm. 253; 201; 206 Anm. 474; 212f. 274, 4-7 579 Anm. 532 275, 1 138 Anm. 194 287 139 Anm. 197; 155 Anm. 249; 155f. Anm. 252 288-300 196 Anm. 442; 207-9 288-97 138 Anm. 194; 160-2 288 124 Anm. 145;

Index locorum 160f. Anm. 277; 160-3 202 Anm. 460 141 Anm. 205; 142 Anm. 205; 161 Anm. 279; 162 Anm. 282 295 161 Anm. 279; 201f. 296 210 Anm. 487 297, 3f. 209-11 298-300 138 Anm. 194 298 142 Anm. 205; 161 Anm. 279; 162 Anm. 282 298, 1 213 Anm. 498 299 162 Anm. 282 300 162 Anm. 282 301 138 Anm. 194; 148 Anm. 223; 162 Anm. 283; 208 Anm. 483 302 139 Anm. 198 303 138 Anm. 194; 141f. Anm. 205; 148 Anm. 223; 149 Anm. 228; 162 Anm. 284; 196 Anm. 442 304 139 Anm. 189; 156 Anm. 253 305 138 Anm. 196; 156 Anm. 253 306 138 Anm. 195 307 139 Anm. 198 308 139 Anm. 198 309 142 Anm. 205 311 148 Anm. 223 312 138 Anm. 194; 142 Anm. 205; 149 Anm. 228; 162 Anm. 283; 162 Anm. 284; 196 Anm. 442; 208 Anm. 483 313 148 Anm. 223 314 141 Anm. 203 328 157 Anm. 261 342 140 Anm. 203 349 140 Anm. 203 350 140 Anm. 203 353 140 Anm. 203 293 294

739

358 169 Anm. 311; 178 Anm. 339 358, 3f. 178 Anm. 339 359 169 Anm. 311 361 169 Anm. 311 362 140 Anm. 203 364 140 Anm. 203 365 140 Anm. 203 366 140 Anm. 203 372 140 Anm. 203; 159 Anm. 273 376 169 Anm. 311 376, 5-7 178 Anm. 339 377 138 Anm. 195; 159 Anm. 273; 169 Anm. 311 377, 3f. 178 Anm. 339 382 178 Anm. 339 383 178 Anm. 339 387 138 Anm. 195; 169 Anm. 311 392 169 Anm. 311 395 140 Anm. 203 396 157 Anm. 261 397 138 Anm. 195; 158 Anm. 264; 177 Anm. 335 398 138 Anm. 195; 158 Anm. 264 400-2 138 Anm. 195; 159 Anm. 273 404-1303 140 Anm. 202 404 138 Anm. 195; 159 Anm. 273 405 138 Anm. 195; 141 Anm. 205; 159 Anm. 273; 169 Anm. 311 408 140 Anm. 203; 159 Anm. 273 410 138 Anm. 195; 159 Anm. 273 411 140 Anm. 203; 159 Anm. 273 414 138 Anm. 195; 140 Anm. 203 418 141 Anm. 205; 166 Anm. 297 418, 6 124 Anm. 145 419 138 Anm. 195; 165f. Anm. 297; 214 420 140 Anm. 203; 158 Anm. 268 421-3 138 Anm. 195 421 159 Anm. 274 422-3 159f. Anm. 274;

740

Index locorum

163 Anm. 285 138 Anm. 195; 160 Anm. 274; 162 Anm. 283; 163 Anm. 285; 207-9 424, 3 124 Anm. 145 424, 3f. 208 Anm. 483 424, 4 165 Anm. 293 428 140 Anm. 203 429 138 Anm. 195 431 140 Anm. 203 433 140 Anm. 203 438 140 Anm. 203 454 141 Anm. 203 456 141 Anm. 203 460 141 Anm. 203 472 141 Anm. 203 473 141 Anm. 203 474 140 Anm. 203 479 141 Anm. 203 742 140 Anm. 202 847 140 Anm. 202 1077 140 Anm. 202 1119 140 Anm. 202 1247 155 Anm. 248 1248 155 Anm. 248 424

JULIAN (JUL.) Ep. 41 545 Anm. 407 Or. 3, 106c (Εὐσεβείας τῆς βασιλίδος ἐγκώµιον) 27 Anm. 53 JUVENAL (IUV.) 7, 6f. 9, 22f.

119 Anm. 132 494

KALLIMACHOS (CALL.) Aet. fr. 2-2j Harder 39 Anm. 102; 104f.; 113f. Anm. 117; 119-23; 124 Anm. 146; 617 Aet. fr. 2, 1 Harder 110 Anm. 106 Aet. fr. 2, 1f. Harder 120-3 Aet. fr. 2, 4 Harder 120 Anm. 135

Aet. fr. 2b, 1-4 Harder 119 Anm. 130 Aet. fr. 2b, 1-3 Harder 120 Anm. 135 Aet. fr. 2b, 1 Harder 121 Anm. 139; 121f. Anm. 140 Aet. fr. 2d, 4 Harder 617f. Anm. 647 Aet. fr. 2f, 10-15 Harder 150 Anm. 231 Aet. fr. 2f, 15 Harder 192 Anm. 422 Aet. fr. 2f, 16-41 Harder 119 Anm. 130 Aet. fr. 2f, 18 Harder 120 Anm. 135 Aet. fr. 112, 5f. Harder 121-3 Aet. fr. 112, 6 Harder 110 Anm. 106 Aet. T 6 Harder =AP 7, 42 114 Anm. 117 Ap. 4f. 414 Anm. 342 Ap. 5 353 Anm. 147 Cer. 606 Anm. 613; 624-6; 635 Anm. 704 Cer. 38 595 Anm. 580 Del. 591 Anm. 571 Del. 7f. 30 Anm. 60 Del. 70-196 579 Anm. 532 Del. 70-8 579 Anm. 532 Del. 79-98 584 Anm. 550 Del. 81f. 85 Anm. 18; 578f. Anm. 532 Del. 88-98 581 Anm. 542 Del. 249-55 353 Anm. 147 Del. 249-52 414 Anm. 342 Dian. 41 579 Anm. 532 Epigr. AP 6, 310 627 Anm. 683 Epigr. AP 6, 311 627 Anm. 683 Epigr. AP 9, 565 627f. Epigr. AP 9, 566 627 Epigr. AP 11, 362 627 Anm. 683

Index locorum 627 Anm. 685 Epigr. AP 12, 43, 1-4 627 Anm. 684 Iamb. 4 547f. Anm. 522; 549f. Anm. 423; 571 Anm. 511 Lav. Pall. 584; 591 Anm. 571; 592; 633-7; 648 Lav. Pall. 57-136 592-630; 631 Anm. 695 Lav. Pall. 57 611 Anm. 627 Lav. Pall. 60-5 611 Anm. 627 Lav. Pall. 66f. 603 Anm. 599; 611 Anm. 627 Lav. Pall. 70-130 592f. Lav. Pall. 70-4 111f.; 594-6; 600 Anm. 595; 600; 602-4; 611 Anm. 627; 611 Anm. 628 Lav. Pall. 71 601f. Anm. 598 Lav. Pall. 75-84 595f. Lav. Pall. 75 597 Anm. 585 Lav. Pall. 75f. 617f. Anm. 647 Lav. Pall. 76 600 Anm. 595 Lav. Pall. 80f. 611 Anm. 628 Lav. Pall. 82 612 Anm. 629; 620f. Anm. 657 Lav. Pall. 85-92 599 Anm. 590; 619 Lav. Pall. 85-9 596 Lav. Pall. 85 611 Anm. 628 Lav. Pall. 89-92 596f. Lav. Pall. 90-2 612f. Lav. Pall. 90 599; 600; 612f. Lav. Pall. 94 619f. Lav. Pall. 97-130 600 Anm. 590 Lav. Pall. 97f. 599 Anm. 590 Lav. Pall. 98-118 599 Anm. 590 Lav. Pall. 107-18 597 Anm. 585 Lav. Pall. 107-9 598f.; 609 Anm. 625 Lav. Pall. 110-12 597; 597f. Anm. 587 Lav. Pall. 111 600; 610 Anm. 626

741

Lav. Pall. 113 600 Anm. 596 Lav. Pall. 114f. 597 Lav. Pall. 115f. 597f.; 599 Lav. Pall. 116 600; 609 Anm. 623; 610 Anm. 626 Lav. Pall. 117f. 598f.; 612f. Lav. Pall. 118 600; 609 Anm. 623; 610 Anm. 626 Lav. Pall. 119-30 619 Lav. Pall. 119 619f.; 624 Lav. Pall. 120-30 599 Anm. 590 Lav. Pall. 121-6 603 Anm. 601 Lav. Pall. 121 616 Lav. Pall. 123-6 622 Lav. Pall. 127 603 Anm. 601 Lav. Pall. 131-6 620 Anm. 657 Lav. Pall. 137-42 628 Anm. 688 PSEUDO-KALLISTHENES (PS.-CALLISTH.) 1, 42, 6 28 Anm. 54 KALLISTRATOS (CALLISTR.) Stat. 1 223 Anm. 531 Stat. 2 223 Anm. 531 Stat. 2, 3 219 Anm. 514 Stat. 3 223 Anm. 531 Stat. 3, 4 219 Anm. 514 Stat. 4 223 Anm. 531 Stat. 5 223 Anm. 531 Stat. 5, 4 219 Anm. 514 Stat. 6 223 Anm. 531 Stat. 6, 1 219 Anm. 514 Stat. 7 218-24 Stat. 7, 1 93 Anm. 40; 105 Anm. 93; 110 Anm. 106; 111 Anm. 108; 192 Anm. 422 Stat. 8 223 Anm. 531 Stat. 9 223 Anm. 531 Stat. 10 223 Anm. 531 Stat. 10, 3 219 Anm. 514 Stat. 11 223 Anm. 531

742 Stat. 11, 3 Stat. 12 Stat. 13 Stat. 14

Index locorum 219 Anm. 514 223 Anm. 531 223 Anm. 531 220; 223 Anm. 531

KERKIDAS (CERC.) fr. 7, 9 Powell

28 Anm. 54

KOLLUTHOS (COLUTH.) 23 85 Anm. 18 23f. 124 Anm. 146 KORINNA (CORINN.) PMG 654 col. i, 1 - col. ii, 11 125f.; 457-652; 458-62; 460f. Anm. 2; 518f.; 527 Anm. 311; 537; 538 Anm. 367; 544-56; 568-77; 590-2; 630-52; 658f. PMG 654 col. i, 1-11 463f.; 514-6 PMG 654 col. i, 3-6 649 Anm. 753; PMG 654 col. i, 5 468 Anm. 17; 469 Anm. 21 PMG 654 col. i, 5f. 467 Anm. 15 PMG 654 col. i, 10 466f. PMG 654 col. i, 12-34 462f.; 468-74 PMG 654 col. i, 12-18 464-7; 472f.; 551-6; 646-50 PMG 654 col. i, 12 468 Anm. 17; 514 PMG 654 col. i, 12f. 517 Anm. 276 PMG 654 col. i, 13f. 509 PMG 654 col. i, 14 468 Anm. 17 PMG 654 col. i, 15-18 510 Anm. 234 PMG 654 col. i, 15 515 PMG 654 col. i, 16 577 PMG 654 col. i, 16f. 510 PMG 654 col. i, 18 509f. PMG 654 col. i, 19-34 468; 473f.

PMG 654 col. i, 19-26 517 Anm. 276; 637-44 PMG 654 col. i, 19 577 PMG 654 col. i, 21f. 513; 641f.; 644-6 PMG 654 col. i, 27 577 Anm. 528 PMG 654 col. i, 28 577; 577 Anm. 528 PMG 654 col. i, 29-col. ii, 11 576f. PMG 654 col. i, 29-34 518 Anm. 280; 568-73 PMG 654 col. i, 29 511 PMG 654 col. i, 33 515 574 Anm. 518 PMG 654 col. i, 35-col. ii, 11 468 PMG 654 col. i, 47-col. ii, 11 515 PMG 654 col. i, 48f. 575 PMG 654 col. i, 49 465 Anm. 11 PMG 654 col. ii, 2 574; 577 Anm. 529 PMG 654 col. ii, 3 574; 577 Anm. 529 PMG 654 col. ii, 5 574; 577 Anm. 529 PMG 654 col. ii, 5f. 574f. Anm. 521; 577 Anm. 529 PMG 654 col. ii, 6 515 PMG 654 col. ii, 12 - col. iv, 52 518f.; 520 Anm. 286; 527 Anm. 311; 536; 538 Anm. 367 PMG 654 col. iii, 12-51 517 Anm. 276 PMG 654 col. iii, 15 513 PMG 654 col. iii, 21 465 Anm. 11 PMG 654 col. iii, 22f. 511 PMG 654 col. iii, 25f. 511f. PMG 654 col. iii, 43 512 PMG 655 523-5; 533-40; 542 PMG 655, 1-11 527 Anm. 311 PMG 655, 2 524 Anm. 297

Index locorum PMG 655, 5 512f. PMG 656 524 Anm. 297 PMG 657 523f. Anm. 296 PMG 659 635 Anm. 705 PMG 664a 464 Anm. 9; 479f.; 481; 483; 525f.; 527 Anm. 311; 530 Anm. 326; 540f.; 541-3 PMG 664b 537 Anm. 364; 541 Anm. 380 PMG 670 476 Anm. 50 PMG 672 636 Anm. 705 PMG 674 156; 486 Anm. 96 522f.; 528 Anm. 312 PMG 688 478 Anm. 55; 482f.; 530 Anm. 326; 549 Anm. 421 PMG 690 486 Anm. 690; 520f. Anm. 289; 635 Anm. 705 PMG 695A 548 Anm. 420 KRATES (CRATES THEB.) fr. 359, 2 SH 28 Anm. 54 LEON VON BYZANZ FGrH/ BNJ 132 F2 559 Anm. 459 LEXICON VINDOBONENSE (LEX. VIND.) s. v. ὅτῳ (ο 6) 123 Anm. 145 LIBANIOS (LIB.) Chr. 10, 5, 22 Decl. 1, 182 Or. 11, 97 Or. 64, 12 Or. 64, 14

28 Anm. 55 31 Anm. 60 110 Anm. 106; 111 Anm. 107 111 Anm. 108 111 Anm. 108

LIMENIOS (LIMEN.) 3 28 Anm. 54; 85 Anm. 18; 124 Anm. 146; 601 Anm. 598

LOBO fr. 520, 2 SH

743 27 Anm. 51

LUKIAN (LUC.) Electr. 4 353 Anm. 147 Ind. 3 105 Anm. 93; 118f.; 124 Anm. 146 JTr. 26 124 Anm. 146 Salt. 41 581 Anm. 541 LYDOS (LYD.) Mens. 4, 71 s. Eumel. fr. 18 Bernabé LYKOPHRON (LYC.) 273-5 30 Anm. 60; 67-9; 77 Anm. 276 275 32 Anm. 63 409f. 32 Anm. 63 Paraphr. antiqu. zu Lyc. 275 32 Anm. 63; 68 Anm. 240 Paraphr. rec. zu Lyc. 275 32 Anm. 63; 68 Anm. 240 LYKOS VON RHEGION FGrH/ BNJ 570

72-5

LYSIAS (LYS.) 4, 3

640 Anm. 714

MARTIAL (MART.) 12, 43

502 Anm. 183

MARTIANUS CAPELLA (MART. CAP.) 6, 653 119 Anm. 132 MAXIMOS (MAX.) prooim. 1 s. [Orph.] fr. 771b Bernabé 6, 141 30 Anm. 60; 65

744

Index locorum

MAXIMOS VON TYROS (MAX. TYR.) 37, 4 124 Anm. 146 38, 2 124 Anm. 146 MELA 2, 2, 36

31 Anm. 61

MENANDER (MEN. RH.) 390 124 Anm. 146 392 29 Anm. 58 442 28 Anm. 55; 29 Anm. 58; 124 Anm. 146 MOSCHOS [MOSCH.] 3, 70-5 117 3, 76f. 117f. 3, 77 110 Anm. 106 3, 78-84 117 MYRTIS PMG 716

479 Anm. 58; 543f.

NESTOR VON LARANDA AP 9, 364 116 Anm. 122 NIKANDER (NIC.) Th. 10-12

105 Anm. 90

NIKOLAOS VON DAMASKOS (NIC. DAM.) FGrH 90 F 15 = Xanth. BNJ 765 F 16a 75 Anm. 266; 75 Anm. 267 NIKOKRATES FGrH/BNJ 376 F1, 3 93 Anm. 40; 156 Anm. 254; 168 Anm. 310 FGrH/BNJ 376 F3a 93 Anm. 40; 156 Anm. 254; 168 Anm. 310; 169 Anm. 311 FGrH/BNJ 376 F4 156 Anm. 254;

192 Anm. 422 NONNOS (NONN.) D. 1, 504 D. 5, 61 D. 7, 233-6 D. 7, 234f. D. 13, 71f. D. 13, 428-31 D. 38, 206 D. 41, 223f. D. 41, 226f. D. 41, 227 D. 44, 6-10 D. 44, 6f.

28 Anm. 54 557 Anm. 452 105 110 Anm. 106 85 Anm. 18 31 Anm. 60 353 Anm. 146 41 Anm. 106 116 Anm. 122 110 Anm. 106 436 Anm. 415 110 Anm. 106

PSEUDO-NONNOS (PS.-NONN.) Scholia mythologica 43, 8 110 Anm. 106 OLYMPIODOR (OLYMP.) in Alc. 2, Z. 24-29 Westerink 46 Anm. 127 Proll. 2, Z. 16-23 Westerink 46 Anm. 127 OLYMPIODOR (OLYMP. ALCH.) Bd. 2, S. 85, Z. 10 Berthelot 28 Anm. 54 OPPIAN (OPP.) C. 2, 156f. C. 2, 547f. C. 4, 392 ORIBASIOS (ORIB.) Syn. 2, 56, 11

31 Anm. 60 353 Anm. 146 353 Anm. 145 95 Anm. 49

ORPHIKA (ORPH.) A. 50 31 Anm. 60; 32 Anm. 63 A. 1373-6 31 Anm. 60 H. 76, 2 28 Anm. 54

Index locorum fr. 771a Bernabé 30 Anm. 60; 32 Anm. 63; 65 Anm. 229 fr. 771b Bernabé 30 Anm. 60 OVID (OV.) fast. 3, 456 fast. 5, 7f.

110 Anm. 106 110 Anm. 106; 119 Anm. 132 met. 5, 256-263 110 Anm. 106 met. 5, 294-678 58 Anm. 197; 545 Anm. 407; 570 Anm. 504 met. 5, 663-678 570 Anm. 504 met. 5, 312 119 Anm. 132 met. 6, 87-9 567 Anm. 491 PAEAN DELPHICUS (PAE. DELPH.) 1,1 85 Anm. 18 PALAIPHATOS (PALAEPH.) 47 545 Anm. 407 PANT 2, 67, 20f.

557 Anm. 452

PAUSANIAS (PAUS.) 1, 14, 3 94 Anm. 42 1, 19, 5 41 1, 21, 7 93 Anm. 42 1, 37, 2 512 2, 3, 5 110 Anm. 106 2, 10, 3 93 Anm. 42 2, 31, 1 51 Anm. 152 2, 31, 3 50; 51; 302 Anm. 199 2, 31, 9 110 Anm. 106 3, 17, 5 50 4, 33, 3 545 Anm. 407 4, 33, 7 545 Anm. 407 5, 6, 4 93 Anm. 42 5, 10, 8 490 Anm. 105 5, 14, 10 72 5, 15, 10 72 Anm. 252

745

6, 9, 1 93 Anm. 42 7, 18, 2 94 Anm. 42 7, 18, 3 94 Anm. 42 8, 4, 1 94 Anm. 42 8, 26, 1 94 Anm. 42 8, 30, 1 51 Anm. 154 8, 32, 1 51 Anm. 154 8, 32, 2 50; 51 Anm. 154 8, 35, 8 93 Anm. 42 8, 37, 7 94 Anm. 42 8, 42, 11 94 Anm. 42 9, 1, 2 580 Anm. 534 9, 2, 3f. 581 Anm. 541 9, 3 580 9, 3, 7 450 Anm. 458 9, 5, 15 582 Anm. 545 9, 12, 3 50 9, 19, 2 93 Anm. 42 9, 22, 3 478 Anm. 55; 481f.; 545f. Anm. 409; 548f. Anm. 421 9, 24, 5 94 Anm. 42; 96 Anm. 53 9, 26, 6-27, 8 190 Anm. 414 9, 26, 6 92 Anm. 38 9, 27, 1-5 157 Anm. 256 9, 27, 5 51; 53 Anm. 165; 193; 224 Anm. 534; 496 Anm. 143 9, 28, 1-4 190; 195 9, 28, 1 85 Anm. 18; 92-7 9, 28, 2-4 96f. 9, 29, 1-31, 6 85 Anm. 18; 91f.; 165 9, 29, 1-4 190 9, 29, 1 34 Anm. 72; 195 Anm. 438 9, 29, 1f. 142 9, 29, 3f. 34 Anm. 72; 142 9, 29, 5-31, 6 138; 190-215; 190f.; 196-200 9, 29, 5-9 197 9, 29, 5 93 Anm. 40; 104 Anm. 87; 119; 191 Anm. 421; 193 Anm. 431; 194 Anm. 432

746

Index locorum

9, 29, 5f. 167 Anm. 300 9, 29, 6-27, 8 91f. 9, 29, 6-9 198f. 9, 29, 6 154 Anm. 245; 205 9, 30, 1 93 Anm. 40; 158; 166-8; 194 Anm. 431; 196 Anm. 442; 197 9, 30, 1-12 167 Anm. 304; 168 Anm. 309 9, 30, 1-4 167 Anm. 300 9, 30, 2 148 Anm. 223; 196 Anm. 442; 197; 205 9, 30, 3 200; 202f. 9, 30, 4-12 198f.; 199 Anm. 451 9, 30, 4 223 Anm. 531 9, 30, 7 29 Anm. 58 9, 30, 8 34; 34 Anm. 72; 68 9, 30, 9-11 31 Anm. 60; 34 Anm. 72 9, 31, 1 93 Anm. 40; 150 193 Anm. 431; 197f. 9, 31, 1f. 167 Anm. 301 9, 31, 2 149 Anm. 228; 197 Anm. 442; 198 9, 31, 3-6 200 9, 31, 3 93 Anm. 40; 107 Anm. 98; 110 Anm. 106; 145 Anm. 212; 155 Anm. 249; 168 Anm. 310; 169 Anm. 311; 178 Anm. 339; 191 Anm. 421; 193f. Anm. 431; 197 Anm. 445; 200; 202; 204 Anm. 470 9, 31, 3f. 110 Anm. 104; 194 Anm. 432 9, 31, 4-6 198f.; 199f. Anm. 451 9, 31, 4 205; 206 Anm. 475; 206 9, 31, 7-9 92 Anm. 39 9, 34, 3 545 Anm. 407 9, 34, 4 34 Anm. 69; 42; 65; 85 Anm. 18; 199 Anm. 451 9, 41, 6. 44 Anm. 118 10, 8, 10 20 Anm. 22

10, 13, 3 10, 13, 5 10, 15, 1 10, 19, 4

93 Anm. 42 29 Anm. 58 496 Anm. 143 24 Anm. 37

PAUSANIAS, DER GRAMMATIKER (PAUS. GR.) s. v. Λείβηθρα (λ 5 Erbse) 32 Anm. 63 PERSIUS (PERS.) prol. 1 PHEID 189

118 Anm. 127 s. Anon. fr. 959 SH

PHILITAS (PHILET.) Demeter 625 Anm. 678 PHILODAMOS (PHILOD. SCARPH.) 436 14-20 434 Anm. 415 53-62 28 Anm. 55 119-21 511f. PHILON (PH.) De plantatione 127-9 294 Anm. 178 PHILOSTRATOS (PHILOSTR.) Im. 1, 14 581f. Anm. 544 Im. 1, 14, 3 434 Anm. 415 Im. 1, 14, 4 582 Anm. 544; 582f. Anm. 545 VA 4, 22 581 Anm. 542 VA 4, 24 93 Anm. 40; 192 Anm. 422; VA 7, 16 106f. Anm. 95 PHILOXENOS (PHILOX. LEUC.) PMG 836, 41 512

Index locorum PHOTIOS (PHOT.) s. v. λείβηθρον (λ 146 Theodoridis) 31 Anm. 61 s. v. λίβηθρα (λ 294 Theodoridis) 31 Anm. 61 s. v. νύµφαι (ν 286 Theodoridis) 75 Anm. 267 s. v. Πιερίδες (π 873 Theodoridis) 28 Anm. 54 s. v. Πιερία (π 874 Theodoridis) 29 Anm. 58 Bibl. 140a 31 Anm. 60 Bibl. 186, 7 545 Anm. 407 Bibl. 321b 85 Anm. 18 PINDAR (PI.) O. 6, 17f. O. 6, 87-90 O. 6, 89f. O. 9, 1-4 O. 10, 91-3 O. 10, 96 P. 1, 5-16 P. 1, 13-15f. P. 1, 14 P. 2, 52 P. 3, 89-91 P. 6, 49 P. 9, 87 P. 10, 6 P. 11, 1 P. 12 N. 1, 67-72 N. 5, 22-4 N. 6, 29f. N. 6, 32 N. 7, 14-16 N. 7, 31f. N. 8, 26 I. 1, 65 I. 2, 34 I. 6, 74f.

510 480 549 Anm. 421 340 302 Anm. 197 28 Anm. 54 302 Anm. 199 294 Anm. 177 28 Anm. 54 512 39 Anm. 102 28 Anm. 54 405 Anm. 314 28 Anm. 54 27 Anm. 51 447 Anm. 452 342 Anm. 111 39 Anm. 102 302 Anm. 197 28 Anm. 54 302 Anm. 197 302 Anm. 197 639 Anm. 711 28 Anm. 54 124 Anm. 145 39 Anm. 102

747

I. 8, 56a-58 77 Anm. 276 I. 8, 57 124 Anm. 145 I. 8, 59f. 302 Anm. 197 fr. 29-35 Snell-Maehler 294f. Anm. 178 fr. 29 Snell-Maehler 482 Anm. 77; 538 Anm. 366; 549 Anm. 421 fr. 31 Snell-Maehler 294f. Anm. 178 fr. 52f, 5f. Snell-Maehler (Pae.6, 5f.) 536 Anm. 360 fr. 52f, 6 Snell-Maehler (Pae. 6, 6) 28 Anm. 54 fr. 52f, 7-9 Snell-Maehler (Pae. 6, 7-9) 21 mit Anm. 25 fr. 52h, 19 Snell-Maehler (Pae. 7b, 19) 124 Anm. 145 fr. 52m, 6f. Snell-Maehler (Pae. 12, 6f.) 513 fr. 83 Snell-Maehler 549 Anm. 421 fr. 94a, 5f. Snell-Maehler (Parth. 1, 5f.) 536 Anm. 360 fr. 94c, 1 Snell-Maehler (Parth. 3, 1) 72 Anm. 251 fr. 94d Snell-Maehler 549 Anm. 421 fr. 150 Snell-Maehler 536 fr. 215, 6 Snell-Maehler 28 Anm. 54 fr. 346 Snell-Maehler 378 Anm. 221 PLATON (PL.) Ax. 371e 378 Anm. 221 Lg. 2, 653d3 71 Anm. 250 Lg. 6, 775b 61 Anm. 209 Phlb. 15d 8 512 Phd. 84e3-85a5 353 Anm. 146 Phdr. 216f.; 595 Anm. 580; Phdr. 229a1-c3 63 Anm. 219 Phdr. 229a4-6 63 Anm. 219

748

Index locorum

Phdr. 230a6-c5 Phdr. 230b3 Phdr. 230b8f.

63 Anm. 219 216 Anm. 504 41 Anm. 107; 62 Anm. 210 Phdr. 230c3-5 216 Anm. 504 Phdr. 234d1-6 62 Anm. 212 Phdr. 236d10-e1 63 Anm. 219 Phdr. 237a7-b1 62 Anm. 214; 63f. Phdr. 238c9-d3 62 Anm. 212; 63f. Phdr. 238c9-d1 63 Anm. 219 Phdr. 241e3-5 62 Anm. 212; 63f. Phdr. 242a1f 63 Anm. 219 Phdr. 242a3-6 63 Anm. 219 Phdr. 243a5-b2 63 Anm. 214 Phdr. 245a 62 Anm. 214 Phdr. 248d2-4 62 Anm. 214 Phdr. 248e1f. 62 Anm. 214 Phdr. 258d7 63 Anm. 220; 64 Anm. 221 Phdr. 258e6-259b6 62 Anm. 214; 63f. Phdr. 258e6-259a6 63 Anm. 219 Phdr. 259a5f. 63 Anm. 219 Phdr. 259b5 63 Anm. 214 Phdr. 259b6-d8 41 Anm. 107; 62 Anm. 214; 63f. Phdr. 259d7f. 63 Anm. 219 Phdr. 262d2-6 41 Anm. 107; 62 Anm. 212; 62 Anm. 214; 64 Phdr. 263d1-6 62 Anm. 212 Phdr. 265b4 62 Anm. 214 Phdr. 268d6-e6 63 Anm. 214 Phdr. 278b8-c1 62 Anm. 212; 62f. Anm. 214 Phdr. 278b9 41f. Anm. 107; 63 Anm. 219 Phdr. 279b-c 63 Anm. 219 Phdr. 279b8-c3 41 Anm. 107 PLINIUS (PLIN.) nat. 4, 25 119 Anm. 132; 158; 191f. Anm. 422

nat. 4, 32 31 Anm. 61 nat. 5, 43, 149 566 Anm. 488 nat. 7, 34 494; 496; 499-503 nat. 25, 49 95 Anm. 49 nat. 28, 81 501 nat. 34, 51 484 Anm. 85 nat. 34, 70 490 Anm. 105; 496 nat. 34, 80 501 nat. 34, 88 501 nat. 35, 101 501 Anm. 105 nat. 36, 27-9 489 Anm. 105 PLUTARCH (PLU.) Alex. 14, 8 30 Anm. 60 Mor. 161c7f. (Septem sapientium convivium) 353 Anm. 146 Mor. 300d-f (Aetia Romana et Graeca) s. Myrtis PMG 716 Mor. 347f-348a (De Ath. glor.) 478 Anm. 55; 482; 530 Anm. 326; 537f. Mor. 398c-d (De Pythiae oraculis) 34 Anm. 68 Mor. 402c-d (De Pythiae oraculis) 22-4 Mor. 521d (De curiositate) 50 Anm. 145 Mor. 578f-579a (De Genio Socratis) 147 Mor. 649d (Quaestiones convivales) 512 Anm. 245 Mor. 716f-717a (Quaestiones convivales) 44f. Mor. 743c (Quaestiones convivales) 71f. Anm. 250 Mor. 744c (Quaestiones convivales) 48f. Mor. 745a-b (Quaestiones convivales) 48f. Mor. 748e-771e (Amatorius) 215 Mor. 748e-749c (Amatorius) 165 Mor. 748e-f (Amatorius)

749

Index locorum 169 Anm. 311; 184; 215 Mor. 748e (Amatorius) 215 Anm. 501 Mor. 748f (Amatorius) 93 Anm. 40; 215 Mor. 749a-b (Amatorius) 217 Mor. 749a (Amatorius) 215-8 Mor. 749c (Amatorius) 93 Anm. 40; 217f. Mor. 1094a (Non posse suaviter vivi secundum Epicurum) 124 Anm. 146 Mor. 1132a-b. (De musica) 545 Anm. 407 Per. 13, 5 512 Sull. 17, 6 [463c] 34 Anm. 70; 44f. Thes. 30, 5 378 Anm. 221 Thes. 33, 1f. 378 Anm. 221 fr. 82 Sandbach 192 Anm. 422 fr. 84 Sandbach 143f. Anm. 208; 203 Anm. 466; 202-4 PSEUDO-PLUTARCH (PS.-PLU.) Fluv. 563-7 Fluv. 2, 2 559; 560 Anm. 461; 561 Anm. 462; 562; 567; 582 Anm. 545 Fluv. 2, 3 560-3; 565; 567; 569; 578; 582; 582f. Anm. 545; 584; 591 Anm. 571; 631f. Fluv. 6, 1 567 Anm. 492 Fluv. 9, 1 567 Anm. 492 Fluv. 10, 3 561 Anm. 462 Fluv. 11, 3 561 Anm. 461; 565-7 Fluv. 11, 4 561 Anm. 462 Fluv. 12, 4 562 Anm. 465 Fluv. 15 561 Anm. 462 Fluv. 16, 1 119f. Anm. 133 Fluv. 18, 6f. 567 Anm. 492 Fluv. 21 500

Fluv. 23, 4 Fluv. 24, 1 Fluv. 25, 4

561 Anm. 461; 565f. 562 Anm. 465; 567 Anm. 492 561 Anm. 461; 566

PMICH 4913 III, Z. 3 s. Nikokrates FGrH/BNJ 376 F1 PMILVOGL 1, 20, 18-32

378 Anm. 221

POLLUX (POLL.) 1, 37

169 Anm. 311

POLYBIOS (PLB.) 4, 62, 1 30, 4, 7 31, 12, 1

30 Anm. 58 353 Anm. 146 353 Anm. 146

POMPONIUS PORPHYRIO (POMP. PORPH.) Hor. carm. 1, 26, 9 31 Anm. 60; 32 Anm. 61 PORPHYRION (PORPH.) Abst. 3, 16, 4 545 Anm. 407 in Harm. 157 124 Anm. 146 POSEIDIPP (POSIDIPP.) fr. 118, 1-8 Austin-Bastianini 35 Anm. 74 fr. 118, 1-3 Austin-Bastianini 21 Anm. 26 fr. 118, 7f. Austin-Bastianini 21 Anm. 26; 30 Anm. 60; 123f. Anm. 145; 601f. Anm. 598 PVindob G 40611 col. v, 2 (Poseidipp oder Asklepiades) 21 Anm. 26

750

Index locorum

POXY 2438 478 Anm. 55 2438 col. ii, 1-4 s. Corinn. PMG 695A 3537, fr. 1 recto 120 Anm. 133 PRATINAS fr. 3, 4 Snell (Bd. 1, S. 82 TrGF) 28 Anm. 54 PRIAPEA (PRIAP.) 4

2, 10, 25 2, 10, 26 2, 34, 2 3, 1, 6 3, 3 3, 3, 1-12 3, 3, 2 3, 3, 51f. 4, 6, 4

30 Anm. 58 30 Anm. 58

PVINDOB PVindob G 40611 col. v, 2 [Poseidipp oder Asklepiades] 21 Anm. 26 PYTHAGORAS (PYTHAG.) S. 164 Thesleff 31 Anm. 60

502 Anm. 183

PROKLOS (PROCL.) ad Hes. Op. proem. S. 5f. Gaisford 602 Anm. 598 ad Hes. Op. 650-9 s. Plu. fr. 84 Sandbach Chr. S. 101, Z. 9-13 Allen 202f. Chr. S. 101, Z. 10 Allen 123 Anm. 145 Chr. S. 101, Z. 10f. Allen 202f. in R. Bd. 2, S. 204 Krol 124 Anm. 146 PROPERZ (PROP.) 2, 3, 9-20 2, 3, 19-22 2, 3, 19-21 2, 3, 20 2, 3, 21

PTOLEMAIOS (PTOL.) Geog. 3, 13, 15 Geog. 3, 13, 40

531 531f. 497 Anm. 151 119 Anm. 132 476 Anm. 50; 503f. Anm. 187 114 Anm. 117 105 Anm. 91 114 Anm. 117 114 Anm. 117 114 Anm. 117 118 Anm. 127 110 Anm. 106 118 Anm. 127 114 Anm. 117

QUINTUS VON SMYRNA (Q. S.) 3, 582-96 77 Anm. 276 3, 594 124 Anm. 146 3, 647 28 Anm. 54 3, 785 124 Anm. 146 3, 786 28 Anm. 54 6, 76 28 Anm. 54 SAPPHO (SAPPH.) fr. 55, 2f. Voigt fr. 103, 5 Voigt fr. 208 Voigt

28 Anm. 56 28 Anm. 54 353 Anm. 147

SCHACHTER UND MARCHAND 2013 S. 287-292 169 ANM. 311 SCHOLIEN (SCHOL.) Schol. A. R. 1, 25

31 Anm. 61; 32 Anm. 63 Schol. A. R. 1, 31 29 Anm. 58 Schol. A. R. 1, 551 S. 47 Wendel s. Corinn. PMG 670 Schol. Arat. 216-224 Schol. Arat. 222

110 Anm. 106 113 Anm. 115

Schol. Ar. Ach. 720 s. Corinn. PMG 688 Schol. Ar. Pl. 845 378 Anm. 221

751

Index locorum Schol. Ar. Pl. 1013 378 Anm. 221 Schol. Batr. 1 Schol. Batr. 1f.

29 Anm. 57; 29 Anm. 58 124 Anm. 146

Schol. Clem. Al. Protr. 1, 2, 1-3 557 Anm. 452 Schol. Clem. Al. Protr. 1, 10, 2 85 Anm. 18

27 Anm. 51 Schol. Hom. Od. 3, 267e Pontani 557 Anm. 454; 558f.; 562f.; 578 Schol. Hom. Od. 5, 50b1 Pontani 29 Anm. 58 Schol. Hom. Od. 5, 50b2 Pontani 29 Anm. 58 Schol. Hor. carm. 1, 26, 9 31 Anm. 60; 32 Anm. 61

Schol. E. Ph. 801 45 mit Anm. 124

Schol. Call. Del. 7

30 Anm. 60 32 Anm. 63

Schol. Hes. Op. 1 28 Anm. 55 Schol. Hes. Op. 1 Pertusi 124 Anm. 146 Schol. Hes. Op. 658 124 Anm. 145 Schol. Hes. Th. 1 93 Anm. 40; 124 Anm. 145; 192 Anm. 422 Schol. Hes. Th. 3a di Gregorio 110 Anm. 106; 111 Anm. 108 Schol. Hes. Th. 4 98 Anm. 65 Schol. Hes. Th. 6 105 Anm. 93 Schol. Hes. Th. 30 85 Anm. 18; 602 Anm. 598 Schol. Hes. Th. 53 29 Anm. 58; 30 Anm. 58 Schol. Hes. Th. 62a u. b Wendel 29 Anm. 57 Schol. Hes. Th. 64 93 Anm. 40; 192 Anm. 422

Schol. Call. Del. 82 580f. Anm. 540 Schol. Call. Del. 97 580f. Anm. 540 Schol. Call. Lav. Pall. 71 110 Anm. 106

Schol. Hom. Il. 2, 484 Erbse 27 Anm. 51; 124 Anm. 146 Schol. Hom. Il. 14, 226a Erbse 29 Anm. 57; 29 Anm. 58 Schol. Hom. Il. 14, 226c Erbse 29 Anm. 57; 29 Anm. 58; 30 Anm. 58 Schol. Hom. Il. 18, 339 Erbse 27 Anm. 51 Schol. Hom. Il. 24, 215b Erbse

Schol. Pi. O. 2, 44 Schol. Pi. O. 2, 48 Schol. Pi. I. 2, 34

Schol. Lyc. 275, Z. 20 Scheer 68 Anm. 240 Schol. Lyc. 275a Leone 68 Anm. 240 Schol. Lyc. 275b Leone 32 Anm. 63; 68 Anm. 240 Schol. Lyc. 275c Leone 32 Anm. 63 Schol. Lyc. 653, Z. 15-19 Scheer 545 Anm. 407 Schol. Lyc. 835 110 Anm. 106 124 Anm. 146 124 Anm. 146 124 Anm. 145

Schol. Bern. ecl. 7, 21 43 Anm. 114 Schol. S. OT 1105-9 557 Anm. 452

752

Index locorum

Schol. Theoc. 7, 78f. b Wendel s. Lykos FGrH/ BNJ 570 F7 Schol. Theoc. 7, 78f. c Wendel 72-5 Schol. Theoc. 7, 92 75 Anm. 267 Schol. Theoc. S. 333, Z. 6-13 Wendel 602 Anm. 598 SEG 14, 742 71 Anm. 250 15, 517, col. 2, 1, Z. 1-4 71 Anm. 250 21, 541, col. 5, 1, Z. 40-7 72 Anm. 250 27, 115 = IG 4, 682 = App. Anth. Epigrammata dedicatoria 291 169 Anm. 311; 171 Anm. 319; 179-81 30, 382 48f. 31, 525 s. IThesp 273 32, 456 172 Anm. 321; 181 Anm. 352 32, 456, 17-20 169 Anm. 311; 170 Anm. 313 36, 1045 71 Anm. 250 37, 385 s. IThesp 99bis 47, 484 s. IThesp 273 47, 746, 2 71 Anm. 250 63, 340-2 41 Anm. 111 SENECA (SEN.) Oed. 13ff. SERVIUS (SERV.) ecl. 7, 21

581 Anm. 541

SIMONIDES (SIMON.) fr. 264 Poltera 23f. fr. 265 Poltera 39 Anm. 102; 124 Anm. 146; 124f.; 293 Anm. 174 SOLINUS (SOLIN.) 7, 22 8, 7 SOLON (SOL.) fr. 13, 2 West fr. 13, 51 West

119 Anm. 132 31 Anm. 61

28 Anm. 54 27 Anm. 51

SOPHOKLES (S.) Aj. 859 Ant. 342 Ant. 965 El. 59 OC 668-93 OC 782 OT OT 896 OT 1086-95 OT 1105-9

577 Anm. 528 649 Anm. 753 436 Anm. 421 322 Anm. 52 436 Anm. 421 322 Anm. 52 606 Anm. 613 418 Anm. 351 581 Anm. 543 436 Anm. 421; 557 Anm. 452 OT 1108 75 Anm. 264; 123 Anm. 145 OT 1268-70 618 Anm. 649 OT 1391-3 581 Anm. 543 OT 1391f. 613 Anm. 633 Tr. 1143 577 Anm. 528 fr. 568, 1 Radt (Bd. 4, S. 429 TrGF) 28 Anm. 54

43 Anm. 114

SIG SIG3 699 = FD 3, 2 50 19 Anm. 19; 71 Anm. 250

SOZOMENOS (SOZ.) 3, 5, 3f. 165 Anm. 296; 168 Anm. 309 3, 5, 4 124 Anm. 145

SIMMIAS (SIMM.) 15, 27, 12

STATIUS (STAT.) silv. 1, 4, 25

28 Anm. 54

30 Anm. 60

753

Index locorum silv. 1, 4, 26 silv. 2, 2, 37 silv. 4, 6, 22-30 silv. 5, 3, 148-58 silv. 5, 3, 156-8 silv. 5, 3, 158 Theb. 4, 60

31 Anm. 61 30 Anm. 60; 32 Anm. 61 489f. Anm. 105 532 Anm. 330; 530 Anm. 325; 532f. 540 Anm. 379 110 Anm. 106

STEPHANOS VON BYZANZ (ST. BYZ.) s. v. Ἀκεσαµεναί s. Theagen. FGrH/ BNJ 774 F1 s. v. Ἄπτερα 545 Anm. 407 s. v. Ἰλισσός s. Apollod. FGrH/BNJ 244 F 145 s. v. Μούσειον 27 Anm. 53 s. v. Πιερία 30 Anm. 58 s. v. Τόρρηβος s. Nic. Dam. FGrH 90 F 15; Xanth. BNJ 765 F 16a s. v. Φάσηλις 27 Anm. 51 STRABON (STR.) 1, 2, 19 91; 557 Anm. 452 1, 2, 20 29 Anm. 57 7, fr. 10a-c Radt 31 Anm. 60 7 fr. 11b, Z. 17 Radt 30 Anm. 58 7 fr. 11c, Z. 24-9 Radt 30 Anm. 58 7 fr. 17a u. c Radt 30 Anm. 58 8, 6, 21 85 Anm. 18; 85-7; 89-91; 110 Anm. 106 9, 2, 14 89 Anm. 28 9, 2, 19 89 Anm. 28 9, 2, 25 30 Anm. 60; 34 Anm. 71; 42; 43; 66; 85 Anm. 18; 87-91; 89 Anm. 28; 93 Anm. 40; 142; 158f.; 192 Anm. 422 9, 2, 28 89 Anm. 28 9, 2, 29 89 Anm. 28 9, 2, 33 89 Anm. 28 9, 2, 38 89 Anm. 28

9, 3, 13 9, 5, 22 10, 3, 17

89 Anm. 28 30 Anm. 58 30 Anm. 58; 30 Anm. 60; 32 Anm. 63; 34 Anm. 71; 42; 43; 66; 85 Anm. 18; 142

SUETON (SUET.) Tib. 43

501 Anm. 177; 502 Anm. 183

SUIDAS (SUID.) s. v. Ἀστυάννασα (α 4261 Adler) 502 s. v. Θάµυρις(θ 41 Adler) 545 Anm. 407 s. v. Κόριννα (κ 2087 Adler) 478 Anm. 55; 479; 535 Anm. 354; 537 Anm. 363 s. v. Κρίτων (κ 2453 Adler) 30 Anm. 58 s. v. Λείβηθρα (λ 359 Adler) 31 Anm. 61 s. v. νύµφαι (ν 588 Adler) 75 Anm. 267 s. v. Ὀρφεύς (ο 654 Adler) 29 Anm. 58; 31 Anm. 60 s. v. Πιερία (π 1564 Adler) 28 Anm. 54 s. v. Πίνδαρος (π 1617 Adler) 479 Anm. 55; 479 SYNAGOGE (SYNAG.) s. v. λίβηθρα (λ 118 Cunningham) 31 Anm. 61 s.v. Πιερίδες (π 471 Cunningham) 28 Anm. 54 TATIAN (TAT.) ad Graec. 31-41 483 Anm. 84 ad Graec. 31, 1 493 ad Graec. 33, 2 - 35, 1

754

Index locorum

483 Anm. 84; 491-503 ad Graec. 33, 2 479 Anm. 58; 495 ad Graec. 33, 2f. 483-91; 492f.; 498f. ad Graec. 33, 3 484 Anm. 89; 501 ad Graec. 33, 4f. 498f. ad Graec. 33, 6 494; 499-503 ad Graec. 33, 7 495 ad Graec. 33, 8 488 Anm. 101; 495; 497; 499 ad Graec. 33, 9 495 ad Graec. 33, 10 497 Anm. 152 ad Graec. 34, 3 494 ad Graec. 34, 8 494; 496 ad Graec. 34, 9 502 ad Graec. 35, 1 483 Anm. 84; 485 Anm. 91; ad Graec. 41, 1 493f. THEAGENES (THEAGEN.) FGrH/ BNJ 774 F1 29f. Anm. 58 THEMISTIOS (THEM.) Or. 334b-c 530 Anm. 322 Or. 355a-c 165 Anm. 296; 168 Anm. 309 THEODOSIOS (THEODOS.) S. 22, Z. 7 Hilgard 557 Anm. 452 THEOGNOSTOS (THEOGNOST.) Can. 298 557 Anm. 452 THEOKRIT (THEOC.) 1, 15-18 595 Anm. 580; 7 625 Anm. 678; 626 Anm. 680 7, 1-157 25; 74 7, 6f. 26f. 7, 21 26 Anm. 48

7, 44 26 Anm. 48 7, 78-89 73f. Anm. 257 7, 82 74 Anm. 257 7, 92 273 Anm. 113 7, 92f. 26; 74f. 7, 95 74f. 7, 136f. 25f. Anm. 40 7, 148-55 25-7; 74 Anm. 260 7, 155-7 26 10, 24 28 Anm. 54 11, 3 28 Anm. 54 26 626 Anm. 680 Ep. 1, 2 Gow = AP 6, 336, 2 124 Anm. 145 THEOPHRAST (THPHR.) HP 9, 10, 3

95

THUGENIDES (THUGEN.) fr. 5 Kassel-Austin (Bd. 7, S. 751 PCG) 31 Anm. 60 THUKYDIDES (TH.) 2, 43, 2 510 2, 75, 2 450 Anm. 458 2, 99, 3 30 Anm. 58 2, 100, 4 30 Anm. 58 TIMAIOS VON TAUROMENION (TIMAE.) FGrH/BNJ 566 F50 72 Anm. 254 TZETZES (TZ.) ad Hes. Op. proem. S. 14-16 Gaisford 602 Anm. 598 ad Hes. Op. 1 (Bd. 2, S. 25, Z. 14f. Gaisford) s. Eumel. fr. 17 Bernabé ad Hes. Op. 1 (Bd. 2, S. 32, Z. 17f. Gaisford) 29 Anm. 58; 30 Anm. 58 ad Hes. Op. 1, Bd. 2, S. 33, Z. 4-7

Index locorum Gaisford

558 Anm. 456; 562f.; 578 ad Hes. Op. 6 (Bd. 2, S. 25, Z. 1315 Gaisford) s. Epich. fr. 39 Kassel-Austin ad Hes. Op. 652 (Bd. 2, S. 368, Z. 16-18 Gaisford) 203 Anm. 465; 203 ad Hes. Op. 652, (Bd. 2, S. 368, Z. 17 Gaisford 602 Anm. 598 H. 2, 36, 397 378 Anm. 221 H. 6, 88, 913-5 558 Anm. 456; 562f.; 578 H. 6, 90, 927f. 29 Anm. 59 H. 6, 90, 928 30 Anm. 58 H. 6, 90, 934 30 Anm. 58 H. 6, 90, 935 29 Anm. 57 H. 6, 92 = [Orph.] fr. 771a Bernabé 30 Anm. 60; 31 Anm. 60; 65 Anm. 229 ad Lyc. 275 (Z. 16-23 Scheer) 30 Anm. 60 ad. Lyc. 275 (Z. 16-19 Scheer) 31 Anm. 61 ad Lyc. 275 (Z. 21f. Scheer) 68 Anm. 240 ad. Lyc. 275 (Z. 22-26 Scheer) 31 Anm. 61 ad Lyc. 275 (Z. 22f. Scheer) 32 Anm. 63 ad Lyc. 275 (Z. 25f. Scheer) 30 Anm. 60 ad Lyc. 275 (Z. 31-3 Scheer) 30 Anm. 60 ad Lyc. 275 (Z. 33 Scheer) 68 Anm. 240 VALERIUS MAXIMUS (VAL. MAX.) 1, 6, ext. 3 70 Anm. 244 VARRO frg. Gell. 3, 11, 3

203 Anm. 465;

ling. 5, 31f. ling. 7, 20

VERGIL (VERG.) Aen. 6 ecl. 6, 64-71 ecl. 6, 64 ecl. 7, 21 ecl. 10, 12

755 203 Anm. 466 495 27 Anm. 51; 30 Anm. 60; 65 378 Anm. 221 225 Anm. 540 105 Anm. 91 30 Anm. 60; 65; 66f. 119 Anm. 132

VIBIUS SEQUESTER (VIB. SEQ.) geogr. 163 119 Anm. 132 geogr. 235 119 Anm. 132 VITA AESOPI (VIT. AESOP.) G8 124 Anm. 146 G 36 124 Anm. 146 G 134 24 Anm. 37 W 134 24 Anm. 37 VITAE HOMERI (VIT. HOM.) 7, Z. 12 Allen 28 Anm. 54 VITAE PINDARI Bd. 1, S. 2 Drachmann 557 Anm. 452 Metr. Vit. Pind., 14-16, S. 8f. Drachmann 478f. Anm. 55; 530f. Anm. 326 XANTHOS (XANTH.) BNJ 765 F 16a = Nic. Dam. FGrH 90 F 15 75 XENOPHON (X.) Cyr. 7, 5, 69 HG 6, 3, 6 Mem. 4, 1, 3 Mem. 4, 1, 4

511 378 Anm. 221 511 511

756

Index locorum

ZENOBIOS (ZEN.) 1, 79 s. Arist. fr. 8, 552 Rose ZENODOTOS (ZENOD.) ap. Ariston. ad Il. 2, 484 s. Schol. Hom. Il. 2, 484 Erbse ap. Ariston. ad Il. 18, 339 s. Schol. Hom. Il. 18, 339 Erbse ap. Ariston. ad Il. 24, 215 s. Schol. Hom. Il. 24, 215b Erbse ZONARAS (ZONAR.) s. v. Πιερίδες (π 1549, Z. 2 Tittmann) 28 Anm. 54 PSEUDO-ZONARAS (PS.-ZONAR.) s. v. Λειβήθριοι 31 Anm. 60 ZOSIMOS (ZOS.) 5, 24, 6 93 Anm. 40; 165 Anm. 296; 168 Anm. 309

kleoniki rizou

Holz vom Helikon rizou Holz vom Helikon

rizou

Holz vom Helikon

arnass, Pierien und vor allem der Helikon – die Landschaften der Musen sind, wie die Göttinnen selbst, Topoi der europäischen Literatur von der Antike bis heute. Die vorliegende Studie unternimmt es erstmals, die Verbindung der Musen mit ihrer Landschaft nicht als illustratives Beiwerk, sondern als systematische Konzeptualisierung ihres Wirkens zu behandeln. Dazu erfolgt eine umfassende Bestandsaufnahme der verfügbaren Quellen, mit besonderem Fokus auf den Berg Helikon. Drei Schlüsseltexte aus drei Epochen geraten unter dieser Perspektive neu in den Blick: das Proömium zu Hesiods Theogonie, Euripides’ Herakles und Korinnas Lied vom Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon. Die eingehenden Interpretationen dieser Texte dienen einerseits dazu, die jeweils spezifische Funktion der Verbindung von Musen und Helikon zu verstehen, andererseits schafft dieses neu gewonnene systematische Verständnis wiederum den Ausgangspunkt für die frische Interpretation der scheinbar altbekannten Werke.

Die Musen und ihre Landschaft in Kult, Mythos und Literatur

Universitätsverlag

win t e r

Heidelberg