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German Pages 292 Year 2015
Anja-Simone Michalski Die heile Familie
Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger
Band 141
Anja-Simone Michalski
Die heile Familie
Geschichten vom Mythos in Recht und Literatur
Zugl. Diss. Universität Tübingen.
ISBN 978-3-11-037888-7 e-ISBN [PDF] 978-3-11-040068-7 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-040074-8 ISSN 0174-4410 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Dank Diese Arbeit ist als Dissertation am Deutschen Seminar der Eberhard Karls Universität Tübingen entstanden. Mein erster Dank gilt Prof. Dr. Dorothee Kimmich. Von ihr habe ich viel mehr gelernt als das Handwerk des wissenschaftlichen Arbeitens. Es war schön, Teil eines so kollegialen und angstfreien Doktorandenkolloquiums sein zu dürfen. Zu danken habe ich auch Prof. Dr. Walter Erhart und Prof. Dr. Schamma Schahadat, die die Arbeit zusätzlich begutachtet haben. Prof. Dr. Walter Erhart möchte ich außerdem für seinen Vortrag und die Diskussion beim Workshop »Familiengeschichten in Literatur und Recht« danken, der im Juli 2012 in Tübingen stattfand. Außerdem danke ich ihm, Prof. Dr. Christian Begemann, Prof. Dr. Norbert Bachleitner, Prof. Dr. Gangolf Hübinger und Dr. Manuela Gerlof für die wunderbare Möglichkeit, meine Arbeit in der Reihe Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur veröffentlichen zu dürfen. Peter Heyl und Dr. Manuela Gerlof danke ich für ihre kritischen Blicke während der Endredaktion der Arbeit, Kevin Göthling für die herstellerische Betreuung des Bandes. Ohne juristischen Beistand wäre es mir nicht gelungen, den rechtlichen Diskursen zur Familie inhaltlich gerecht zu werden. Eine große Inspiration waren die Arbeiten Prof. Dr. Inge Kroppenbergs, natürlich auch ihr Vortrag während des bereits erwähnten Workshops. Dr. Wolfgang Zwengel danke ich vor allem für seine jahrelange Freundschaft. Daneben und mit Blick auf diese Arbeit aber auch für seine geduldige Hilfe und seinen Zuspruch. Bei meinen Freunden bedanke ich mich im Alltag vielleicht viel zu selten. Ohne Eva Hrabal aber wäre schon mein Studium sehr viel trostloser gewesen. Ihre Loyalität hat mich auch in den Jahren der Promotion immer wieder auf die Beine gestellt. Annabelle Achim, Sara Bangert und Caroline Merkel waren die perfekte ›Library Peergroup‹. Ich werde an unsere gemeinsame Tübinger Zeit immer sehr gern zurückdenken. Mein größter Dank gilt meiner Familie: Claudia Zilk verdanke ich unzählige Anregungen und Inspirationen, Geduld, Freude und den größten Rückhalt, den man sich wünschen kann. Gewidmet ist die Arbeit meinen Eltern Helga und Uwe Michalski und meinem Bruder Alexander, ohne deren Unterstützung und Vertrauen gar nichts möglich gewesen wäre. Mit ihnen habe ich – im positivsten Sinne – Familie gelernt.
Inhaltsverzeichnis
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Einleitung: Beharrliche Mythen 1 1 ›Familie‹ erforschen: Schwierigkeiten und Tendenzen 4 2 Die ›heile Familie‹: Roland Barthes, Claude Lévi-Strauss und der Mythos 9 3 Bürgerlichkeit? 11 4 Law and literature: Diskurse und methodische Vorüberlegungen
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19 Familiennormen und Normfamilien: Narrative des Rechts 1 Textkorpus 21 1.1 19. Jahrhundert: Die Beratungen zum Bürgerlichen Gesetzbuch als ›discourse in progress‹ 21 1.2 21. Jahrhundert: Bürgerliches Gesetzbuch, Grundgesetz und aktuelle juristische Theorie 23 2 Wer ist ›Familie‹? Erste Leitfragen 26 2.1 19. Jahrhundert: Ehelichkeit und (Fiktionen von) Leiblichkeit 28 2.1.1 Ehelichkeit – Zweigeschlechtlichkeit 28 2.1.2 Leiblichkeit 35 2.1.3 Rechtliche Zeugung als begrenzte Fiktion: Adoption im 19. Jahrhundert 38 2.1.4 Zusammengefasst: Wer ist »Familie« im 19. Jahrhundert? 41 2.2 21. Jahrhundert: Neue Technologien, neue Konstellationen? 42 2.2.1 Familien im Grundgesetz 43 2.2.1.1 Willkommen in der Struktur: Der Ehebegriff des Artikels 6 GG 43 2.2.1.2 Widerständige Realität: Der Familienbegriff des Artikels 6 GG 50 2.2.1.3 In den Sackgassen des Rechts: Zur Gleichstellung nichtehelicher Kinder nach dem Kindschaftsrechtsreformgesetz 53 2.2.2 Bürgerliches Gesetzbuch: Fragmentfamilien und Familienfragmente 55 2.2.2.1 Mutter und Vater werden: Legitimation von Elternschaft und Adoption im BGB 55 2.2.2.2 Im Namen des Kindeswohls 67 3 »Familienwissenschaft« und vage Signifikanten: Ingeborg Schwenzers »Model Family Code« 76
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Inhaltsverzeichnis
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Vom Funktionieren des Diskurses: Rechtliches Sprechen über die Familie 79 5 Verfallsrhetorik oder Veränderungseuphorie? Einblicke in die Familiensoziologie 83 5.1 Von Wissenschaft und mythischen Narrativen 85 5.2 ›Universal change‹: Zugeständnisse an den Historismus 90 5.3 Pluralisierung, Individualisierung und Deinstitutionalisierung 92 5.4 Doing family? 96 5.5 Zusammengefasst: Familiensoziologie 99 6 Erste Befunde und Ausblick: Recht, Literatur und Mythos 100
103 II Am Ende der Biologie: Adalbert Stifters familiäre Ordnungen 1 Wahlverwandtschaft: Der Nachsommer 103 1.1 Familien in Ordnung 103 1.2 Grundlegend: Postulat einer destruktiven Harmonie 108 1.3 Ästhetik und Individuum: »Wenn wir nur in uns selber in Ordnung wären« 113 1.4 Und die Schönheit Natalies? Ent-erotisierte Nachsommerwelten 115 1.5 Leidenschaftslose Bande: Risachs Familiensammlung 118 1.6 Komplementäre oder konkurrierende Väter: »mein Freund als mein Nebenbuhler« 120 1.7 Familie und Mythos im Nachsommer? 123 2 Subversion des Bürgerlichen: Brigitta 126 2.1 Vertraute Kontexte 126 2.2 Brigittas Gendertrouble: »she becomes a heroine by becoming a hero« 131 3 Am Ende der Biologie: Familien im Nachsommer und in Brigitta 136 138 III Familiensysteme: Theodor Storms Aquis submersus 1 Missglückte Adoption: Waise bleibt Waise 141 2 What makes a family? Johannes’ Ordnungen 142 3 Vaters Schuld? Detektivarbeiten 144 4 Familienchaos: »un jeu très compliqué« 148 5 Zusammengefasst: Scheitern und Lichtblick bei Storm 151 153 IV Prekäres Patchwork: Wilhelm Raabe 1 Die Chronik der Sperlingsgasse: Geschichten vom ›Als Ob‹ 153 1.1 Ende gut, Familie gut: Kernfamiliäre Fixierung der Chronik 156
Inhaltsverzeichnis
1.2 Abweichlerisches: Von zerrütteten Kleinfamilien und kritischen Karikaturisten 159 2 Mütter, Väter, Kinder: Die Akten des Vogelsangs 161 2.1 Nur was ist los mit Velten Andres? Der Vogelsang als Fallgeschichte 164 2.2 Alles ganz anders: Einsprüche gegen die Psychoanalyse 169 2.3 Familien: Soll und Haben 171 3 Zusammengefasst: Chronik und Akten 173 V
Experimente in erstarrten Systemen: Familien in Recht und Literatur im 19. Jahrhundert 175
VI Väter wider Willen: Clemens J. Setz’ Würfel und Wilhelm Genazinos Familienfurcht 180 1 Clemens J. Setz: »Kubische Raumaufteilung« 180 1.1 Krankheit als Metapher 180 1.2 Würfeliges: Familie im/als Raum 182 1.3 Klein und weg? 183 1.4 Familienkrise: Raumkontingenz und Psychomythos 185 2 Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten 189 2.1 Konstellation: Ödipal 189 2.2 Zurück zur Natur? Die Familie als kulturelles Fatum 190 3 Väter wider Willen: Begegnungen mit dem psychoanalytischen Mythos 193 VII Neue Väter und ihre Familienmärchen: Thomas Hettche und John von Düffel 197 1 Thomas Hettche: Die Liebe der Väter 197 1.1 Vatermangelkinder 197 1.2 Kleinfamilienmärchen und Barthes’sche Mythen 199 1.3 Überlegung: Familie als Autobiographie 205 2 John von Düffel: Beste Jahre 206 2.1 Killerkriterien fürs Geschlecht: Von fruchtbarer Unfruchtbarkeit 207 2.2 Japanische Verwandte: Familie als Mythos 212 2.3 Ambige Zeichen und fiktive Alltagswelten 214 2.4 Der letzte Akt: Familiengründung und Fiktion 220 2.5 Familie bleibt Fiktion 222
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Inhaltsverzeichnis
VIII Genealogie eines Gefühls: Peter Wawerzineks Mängelwesen 224 1 Geschichten aus dem »Mamaland«: Narration und Mangel 225 2 (Mutter-)Collagen und Blaue Blumen 228 3 Lieder von der (Mutter-)Liebe 232 4 Misslungene Fiktionen: Adoptionsmutter 233 5 Gelungene Annahmen: Ziehvater und Großmutter 237 6 Die Waise als Autobiograph: Muttersprachkunst 239 6.1 Die Waise und die Muttersprache 239 6.2 Von »Humbug« und »Märchen«: Die Autobiographie als MetaSprache 243 7 Zusammengefasst: Die Kleinfamilie und die Geschichten 246 IX Korrekturen und Geschichten: Familien in Recht und Literatur heute X
Von der mythischen Qualität des Kernfamiliennarrativs
Schlussplädoyer: Mit dem Mythos umgehen Verzeichnis gebrauchter Abkürzungen
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259 Bibliographie Gesetzestexte und Gesetzesentwürfe 259 Rechtsprechung 259 Materialien zur Entstehung des BGB 260 Kommentierung der aktuellen Fassung des BGB und des GG Literarische Textbeispiele 262 Weitere Quellen und Forschungsliteratur 263 Personenregister
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Es muss immer so aussehen, als hätte es keine Wahl gegeben. (Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten)
Einleitung: Beharrliche Mythen Als die ›heile‹ bürgerliche Kleinfamilie zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den gesamten (rechtspolitischen) deutschen Raum einheitlich im Bürgerlichen Gesetzbuch kodifiziert und institutionalisiert wird, ist die Literatur mit ihr längst fertig. Exemplarisch zeugt schon das Schicksal von Lessings Emilia Galotti1 vom Ende der Familienidylle. Die Kernfamilie, das legt Lessings Stück nahe, trägt den Keim ihrer eigenen Zerstörung von Anfang an in sich.2 Die familiären Akteure verabsolutieren ein System bürgerlicher Moralvorstellungen, das in letzter Konsequenz mit dem Mord des Vaters an der eigenen Tochter bezahlt werden muss. Katastrophengeschichten dieser Art bleiben der Literatur erhalten: ›Heil‹ ist die Kleinfamilie nicht bei Kleist und nicht bei Keller. Kleists Töchtern, Söhnen, Müttern und Vätern misslingt beinahe jeder kommunikative Akt, tödlich endet das für die Familie Schroffenstein3 ebenso wie für den Findling4, das ›Happy End‹ der Marquise von O…5 ist bei näherem Hinsehen ein einziges Desaster, denn es ist ausgerechnet der Vergewaltiger der Tochter, den die Familie schließlich sangund klanglos integriert. Kellers Söhnen fehlt zum kernfamiliären Dasein allzu oft der Vater. Allerdings lässt sich im Grünen Heinrich6, bei Pankraz, dem Schmol-
1 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. In: Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. 7. Band: Werke 1770–1773. Frankfurt am Main 2000, S. 291–371. 2 Zur Krise der Familie im bürgerlichen Trauerspiel vgl. auch Albrecht Koschorke: Einleitung. In: Koschorke u. a.: Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution. Konstanz 2010, S. 7–50: »Das bürgerliche Trauerspiel übermittelt das Bild einer Welt aus schwachen Vätern, die vor der Wahrnehmung ihrer patriarchalischen Pflichten und Rechte versagen; toten, anwesenden oder moralisch zwielichtigen Müttern, die dem Kind eine gute Partie und sozialen Aufstieg über den bürgerlichen Lebenskreis hinaus zu verschaffen versuchen; Töchtern an der Schwelle der Mannbarkeit, die daran scheitern, bei lebendigem Leib aus der Machtsphäre des Vaters in die Machtsphäre ihres Gatten zu wechseln. Die Welt des bürgerlichen Trauerspiels ist von Verführern, Intriganten und Mätressen bevölkert, die den vorgeblich umhegten Familienraum durchqueren, umcodieren und zerstören.« (S. 15) So werde »die bürgerliche Familie schon in ihren Anfängen als ein beschädigter, transitorischer und exzentrischer Raum vorgeführt« (S. 16). 3 Heinrich von Kleist: Die Familie Schroffenstein. In: Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. 1. Band. München 1961, S. 49–152. 4 Heinrich von Kleist: Der Findling. In: Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. Band 2. München 1961, S. 199–215. 5 Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… In: Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. Band 2. München 1961, S. 104–143. 6 Gottfried Keller: Der Grüne Heinrich. Erste Fassung. In: Keller: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. von Thomas Böning und Gerhard Kaiser. Band 2. Frankfurt am Main 1985, S. 7–897.
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Einleitung: Beharrliche Mythen
ler7 und bei Frau Regel Amrain8 etwas Bemerkenswertes beobachten: Während die Familien dieser Texte de facto ›unvollständig‹ sind (wie gesagt: es fehlt der Vater) und damit gerade nicht dem Ideal der Kleinfamilie entsprechen, leuchtet hinter ihrem Rücken ein ›Eigentliches‹ auf, die Vorstellung davon, wie Familie sein sollte, wäre sie ›ganz‹. Wäre das Schicksal des ›grünen‹ Heinrich Lee unter väterlicher Obhut anders verlaufen? Die Witwe Lee jedenfalls klagt überfordert, sie müsse in der Erziehung des Sohnes »alles auf sich nehmen«9: »Ermahnungen zu erteilen«, findet sie, »dazu gehört eigentlich ein Vater, eine Frau kann solche Dinge nicht auf die rechte Weise sagen; wenn das arme Kind nicht zurechtkommt, wie werde ich die Sorge mit dem gehörigen klugen Ernste vereinigen können?«10 Keller ruft im Grünen Heinrich den Mythos der Kleinfamilie auf, der Heinrichs biographisches Versagen erklären soll – und lässt dieser Erklärung dann doch nicht das letzte Wort. Der Text seziert Heinrichs ›Scheitern‹ und offenbart es als multikausal. Zu dicht verwoben sind Ursachen und Wirkungen im Text, Heinrich ›verheddert‹ sich in eigenem Unvermögen, fatalistischen Strukturen und hat immer wieder auch einfach nur: Pech. Ein Vater hätte hier, das mag man vermuten dürfen, wohl gar nichts ausrichten können, hätte vielleicht ähnlich nutz- und hilflos gewirkt wie der erst am Ende der Erzählung Frau Regel Amrain und ihr Jüngster zur Familie zurückgekehrte Mann, von dem es wenig Spektakuläres zu berichten gibt. Er nimmt keine herausragende Stellung innerhalb des familiären Systems ein, wird lediglich »ein gelassener und zuverlässiger Teilnehmer an der Arbeit, mit manchen Ruhepunkten und kleinen Abschweifungen, aber ohne dem blühenden Hausstande Nachteile oder Unehre zu bringen«11. Die Söhne sind auch ohne ihren Vater groß geworden – und in diesem Fall sogar erfolgreich. Keller bedient sich hier wie da des Bildes von der heilen Familie, spielt mit ihm und zweifelt an seiner biographischen Relevanz. Während also die Literatur mit der Familie hadert, feiert der juristische Diskurs das neue Familienrecht, das die bürgerliche Kleinfamilie zur Norm erhebt. Kulturwissenschaftliche Forschungen zu Rechtstexten sind leider auch
7 Gottfried Keller: Pankraz, der Schmoller. In: Keller: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. von Thomas Böning, Gerhard Kaiser und Dominik Müller. 4. Band: Die Leute von Seldwyla. Frankfurt am Main 1989, S. 15–68. 8 Gottfried Keller: Frau Regel Amrain und ihr Jüngster. In: Keller: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. von Thomas Böning, Gerhard Kaiser und Dominik Müller. 4. Band: Die Leute von Seldwyla. Frankfurt am Main 1989, S. 145–194. 9 Keller: Der Grüne Heinrich, S. 23. 10 Keller: Der Grüne Heinrich, S. 23. 11 Keller: Frau Regel Amrain, S. 193.
Einleitung: Beharrliche Mythen
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nach den ersten Arbeiten zu »Law and Literature«12 noch dünn gesät; einen grundlegenden Band mit Analysen auch juristischer Zusammenhänge haben 2010 Inge Kroppenberg und Martin Löhnig herausgebracht. Inge Kroppenberg weist darauf hin, dass im juristischen Diskurs ein Abgesang auf die Familie lang nicht zu vernehmen ist: Es sind das Wechselspiel und die Spannung zwischen einer modernen Gesetzesstruktur und einer vormodern operierenden, namentlich von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung geprägten Familienrechtssemantik, mit denen das Recht mit seinen Mitteln auf die Krise der Familie reagiert und damit arg in Mitleidenschaft gezogene Überzeugungen und Erwartungen zumindest partiell kontrafaktisch stabilisiert – indem es nämlich verlorenes oder verloren geglaubtes Regelvertrauen wiederherstellt. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Kodifizierung des Bürgerlichen Familienrechts als Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs am Ende des 19. Jahrhunderts vielleicht weniger als Ornament oder Krönung bürgerlicher Rechtswissenschaft deuten, sondern selbst als ein veritables Krisensymptom.13
Krise hin oder her – die Kleinfamilie bleibt als ›heile Familie‹ dann doch auch nicht nur dem Recht, sondern auch der Literatur erhalten. Bis in die Postmoderne arbeiten sich die Autorinnen und Autoren an dieser Struktur ab, verleihen ihr immer wieder Strahlkraft oder zerstören gründlich jedes ihrer Bestandteile. Gleichzeitig macht die Familie auch im Recht einige Entwicklungen durch. Die Ehe, rechtspolitisch gewollte Keimzelle des Familiären, wird angreifbarer: Aus der Scheidung nach dem »Verschuldensprinzip« wird eine Scheidung auf Grund von »Zerrüttung«;14 Frauen und Männer bekommen gleiche Rechte, damit beginnt eine Auflösung starrer familiärer Geschlechterrollen; die Identität des pater familias, um den herum sich die Familie des 19. Jahrhunderts rechtlich organisiert, hat nahezu nichts mehr gemein mit dem ledigen Vater, der im 21. Jahrhundert um das Sorgerecht für seine Kinder bangt.15 Familien und Familiennarrative verändern sich. Immer aber, so scheint es, setzen sie sich auf die ein oder andere Weise auseinander mit der bürgerlichen Kernfamilie, die das BGB in seiner ersten Fassung so trotzig installiert. Im inter-
12 Zu Tendenzen des Forschungsfeldes siehe Unterpunkt 4 in diesem Kapitel. 13 Inge Kroppenberg: Vaterbilder des modernen Zivilrechts. In: Fragmentierte Familien. Brechungen einer sozialen Form in der Moderne. Hg. von Inge Kroppenberg und Martin Löhnig. Bielefeld 2010, S. 89–114, hier S. 96. 14 Vgl. Dieter Schwab: Familienrecht. München 2010, S. 158. 15 Zur schwachen rechtlichen Stellung des Vaters im gegenwärtigen Rechtssystem vgl. Kroppenberg: Vaterbilder des modernen Zivilrechts, S. 107: »Der Vater ist, gemessen an seiner rechtlichen Machtfülle zu Beginn des 20. Jahrhunderts, heute ein familienrechtlicher Johann Ohneland.«
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Einleitung: Beharrliche Mythen
diskursiven Netzwerk juristischer und literarischer Texte versucht diese Arbeit, die Erzählung der Familie genauer in den Blick zu nehmen.16
1 ›Familie‹ erforschen: Schwierigkeiten und Tendenzen Heimito von Doderers vielleicht berühmteste Warnung – »Wer sich in die Familie begibt, kommt darin um«17 – kann nicht nur individualbiographisch, also mit Blick auf die Stellung des Einzelnen zur und in der Familie gelesen werden, auch der wissenschaftliche Blick auf die Familie sieht sich mit einigen Gefahren konfrontiert, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen. Die französische Soziologin Martine Segalen warnt: Im Gegensatz zu anderen Gebieten, auf denen wir zugegebenermaßen keine Kompetenz besitzen, haben wir in Bezug auf die Familie – berechtigterweise – das Gefühl, sie zu kennen, da wir in sie hineingeboren wurden oder selbst bereits eine Familie gegründet
16 Ulrich Friedrich Straubs Dissertation aus dem Jahr 2007, Die erstaunliche Beharrlichkeit des bürgerlichen Familienideals und seine Reflexion in ausgewählten Familiendramen von 1840 bis 1995 (Dissertation 2007, Freiburg im Breisgau; online abrufbar: http://www.freidok.uni-freiburg. de/volltexte/3323/pdf/Endfassung_Diss7.pdf [letzter Zugriff am 20.9.2014]), setzt sich hingegen ausschließlich mit dem dramatischen Diskurs auseinander. Der Autor erkennt dabei zwar, dass das bürgerliche Familienideal »Universalität und Zeitlosigkeit für sich« beansprucht (S. 12), das Erkenntnisinteresse der Arbeit, die immer auch »tatsächliche« Entwicklungslinien in der Gesellschaft mitreflektiert (vgl. Kapitel »Familie heute«, S. 51–57), bleibt aber diffus. Straub kann am Ende seiner Untersuchungen zeigen, dass sich der dramatische Diskurs der von ihm in den Blick genommenen 150 Jahre immer wieder an Idealen abarbeitet, »die das achtzehnte Jahrhundert etabliert hat. Damit ist deren Persistenz bis in die Gegenwart nachgewiesen.« (S. 396) In der ›Realität‹ konstatiert Straub Familienmüdigkeit: »Das Bürgertum hat seine gesellschaftliche Dominanz verloren und sich in zahlreiche nebeneinander existierende Gruppierungen aufgesplittert. Die postmoderne Bewegung unternimmt den Versuch, das Familienideal zu einer Wertvorstellung unter vielen zu degradieren.« (S. 395) An möglichen Antworten auf die Frage, warum »die Hegemonie des bürgerlichen Familienideals genau dort noch nicht gebrochen werden [konnte], wo die Frage der Kindesaufzucht nach einem ideellen Überbau verlangt« (S. 395), versucht sich Straub nicht. Das liegt meines Erachtens auch an der mangelnden Distanzierung des Autors von genau denjenigen Diskursen, die die Kleinfamilie immer schon als Norm voraussetzen. So beobachtet Straub immer wieder ein Bedrohtsein der Kernfamilie in der »soziale[n] Realität« (S. 11). Die »Tendenz zur Individualisierung« (S. 47), meint der Autor beispielsweise, zerstöre letztendlich den Familienverbund. 17 Heimito von Doderer: Repertorium. Ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen. Hg. von Dietrich Weber. München 1969, S. 78.
1 ›Familie‹ erforschen: Schwierigkeiten und Tendenzen
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haben. Dieses empirische, intuitive Wissen über die Familie macht sie zu einem der ideologisch belastetsten Themen.18
Vor wenigen Jahren erschien Günter Burkarts soziologisches Kompendium zur Zukunft der Familie. Die Beiträger lassen sich unterschiedlich ›engagiert‹ auf Zukunftsprognosen zur Familie ein. Alois Hahn setzt den Schlusspunkt mit einem deutlichen Plädoyer für die bürgerliche Kernfamilie, eingekleidet in ein Schreckensszenario klinisch-künstlicher Reproduktion: Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass man die Erzeugung gesellschaftlichen Nachwuchses und die Entscheidung darüber den Familien entzieht, sie also […] Ethikkommissionen überlässt, die in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung darüber befinden, wie viele Kinder ›erzeugt‹ oder vielleicht auch geklont werden und wer für ihre Aufzucht und Erziehung zuständig sein soll. Schon jetzt vollziehen sich manche Adoptionsverfahren nach dem Zuteilungsverfahren, ganz ähnlich wie es auch bei Organzuteilungen bei Transplantationen zugeht. Die Familie, wenn man sie dann noch so nennen will oder darf, wäre dann auch nicht mehr auf die Verschiedengeschlechtlichkeit der Paare angewiesen, wie es sich jüngst mit der Einführung der so genannten ›Homo-Ehe‹ gezeigt hat.19
Wissenschaftliche Untersuchungen zur Familie und ihrer Struktur sehen sich – wohl stärker als das in vielen anderen Forschungsbereichen der Fall ist – mit dem Problem der nötigen Distanz zu ihrem Objekt konfrontiert.20 In den 1980er Jahren beschreibt Hartmann Tyrell die Genealogie dieser Schwierigkeit. Die normative
18 Martine Segalen: Die Familie. Geschichte, Soziologie, Anthropologie. Frankfurt am Main/ New York/Paris 1990, S. 1. 19 Alois Hahn: Familienutopien. In: Zukunft der Familie. Prognosen und Szenarien [auch: Zeitschrift für Familienforschung, Sonderheft 6]. Hg. von Günter Burkart. Opladen/Farmington Hills 2009, S. 299–310, hier S. 310. Ähnliche Befürchtungen äußerte zuletzt auch die Autorin Sibylle Lewitscharoff in ihrer Dresdner Rede »Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod«. Lewitscharoff erscheint »das gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse derart widerwärtig«, dass sie so weit geht, »Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas.« Die Rede ist online abrufbar: http:// www.staatsschauspiel-dresden.de/download/18986/dresdner_rede_sibylle_lewitscharoff_final. pdf (letzter Zugriff am 3.10.2014). 20 Vgl. Jack Goody: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa. Frankfurt am Main 1989: »Die Erforschung der Familie aber ist ein Bereich, in dem wir besondere Vorsicht, ja Zurückhaltung üben müssen, insbesondere wenn es um die Untersuchung der ›affektiven‹ Aspekte der fundamentalen Beziehungen der Mitglieder untereinander geht, die wir alle aus unterschiedlichen Blickwinkeln erlebt haben.« (S. 14) Vertiefend zu den Schwierigkeiten der Familiensoziologie in Bezug auf die Objektivität auf ihren Gegenstand siehe Kapitel I, 5.
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Einleitung: Beharrliche Mythen
Qualität der Diskurse um die Familie ist für ihn auch ein Prozess der zunehmenden gesellschaftlichen Institutionalisierung der Kernfamilie: Mit Ehe und (notwendig hinzutretend) Filiation sind exklusiv und vollständig die beiden Rekrutierungsprinzipien benannt, die – unter Ehemann/Vater, Ehefrau/Mutter und Kind – die familiale Zusammengehörigkeit unabweisbar herstellen. Ist beides gegeben, so ist eine neue Familie ›vollständig‹ auf den Weg gebracht; alle für Familienbildung notwendigen Positionen sind damit besetzt, und auch das Hinzukommen weiterer Kinder (als Bruder oder Schwester) ändert daran nichts, daß schon mit dem ersten Kind Familie gegeben ist. […] Mehr braucht es nicht, aber weniger geht auch nicht: die kinderlose Ehe ist keine Familie; vor allem aber: das Nichtbesetztsein einer der beiden Elternpositionen fällt als Mangel mit Zwangsläufigkeit auf, gilt herkömmlich als problematisch […].21
Von den familiären Akteuren wird, so Tyrell, in der Regel ein spezifisches Verhalten (zueinander) erwartet. Das Zusammenleben im familiären Verbund zielt auf Dauer und ist beliebiger Kündbarkeit entzogen; es meint weiter ›Intimität‹, soziale Nähe und Dichte des Interagierens, wie die Familienmitglieder sie typisch mit niemand sonst teilen. Das Zusammenleben in der Ehe impliziert Sexualität. Wesentlich ist weiterhin: Familienzusammengehörigkeit disponiert zum Zusammenwohnen, zu gemeinsamer Haushaltsführung, zu gemeinsamem Wirtschaften und ›Füreinandersorgen‹.22
In der Familie als Kernfamilie sind, so könnte man es nüchtern formulieren, das Personal, die Art und Weise seiner Rekrutierung und die emotionale Choreographie diskursiv vorgeschrieben – und zwar ein für allemal. Tyrell weist darauf hin, »die bürgerlich eingefärbte Kultur der westlichen Gesellschaften« habe diese Familienform zur ›Normalform‹ von Familie werden lassen; sie hat ihr zu gesellschaftsweiter Geltung und Dignität verholfen. Man kann auch sagen: Ehe und Familie in dem genannten Sinne, also im Sinne des festen Verweisungszusammenhangs der genannten Momente, sind kulturell institutionalisiert worden.23
Was Tyrell »Institutionalisierung« nennt, ließe sich auch als ›Naturalisierung‹ eines sozialen Konstrukts fassen. Tyrell spricht von
21 Hartmann Tyrell: Ehe und Familie – Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung. In: Die »postmoderne« Familie. Familiale Strategien und Familienpolitik in einer Übergangszeit. Hg. von Kurt Lüscher, Franz Schultheis und Michael Wehrspaun. Konstanz 1988, S. 145–156, hier S. 147. 22 Tyrell: Ehe und Familie, S. 147. 23 Tyrell: Ehe und Familie, S. 148.
1 ›Familie‹ erforschen: Schwierigkeiten und Tendenzen
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Einheits- und Ganzheitssuggestionen des Begriffs ›Familie‹. Uns ist selbstverständlich: wo Vater, Mutter und die gemeinsamen Kinder beisammen sind, da ist die Familie vollständig beisammen; es fehlt an ihr nichts, sie ist eine ganze Familie. […] Die Familie ist als solche die ›natürliche‹ Einheit des Zusammenlebens, was dann die besondere Interaktionsnähe von Vater, Mutter und Kindern im Gefolge hat, usw.24 (Hervorhebung AM)
Gleichzeitig ist die objektive Erforschung der Familie und damit die Dekonstruktion ihrer vermeintlichen Natürlichkeit selten so vehement in Angriff genommen worden wie in der im weitesten Sinn kulturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte. Mit dem strukturalistischen Blick, den Claude Lévi-Strauss insbesondere auch auf familiäre Strukturen anwendet, ist der Familie die biologische Abstammung als eindeutiges Identifikationsmerkmal genommen: Zweifellos ist die biologische Familie vorhanden und setzt sich in der menschlichen Gesellschaft fort. Was aber der Verwandtschaft ihren Charakter als soziale Tatsache verleiht, ist nicht das, was sie von der Natur beibehalten muß: es ist der wesentliche Schritt, durch den sie sich von ihr trennt. Ein Verwandtschaftssystem besteht nicht aus den objektiven Bindungen der Abstammung oder der Blutsverwandtschaft zwischen den Individuen; es besteht nur im Bewußtsein der Menschen, es ist ein willkürliches System von Vorstellungen, nicht die spontane Entwicklung einer faktischen Situation.25
Lévi-Strauss weist auf die diskursive Konstruiertheit der Familie hin: Das natürlich-biologische Fundament der Familie wird hinterfragt. Auch Jack Goody entdeckt in den 1980er Jahren die Familie als kulturell bedingt – und rückt vor allem die Prozesse der Industrialisierung als für ihre Formung bedeutsam in den Mittelpunkt.26 Die Familie ist dann in ihrer Struktur weniger ›natürlich‹ und ›ewig‹ als
24 Hartmann Tyrell: Familienforschung – Familiensoziologie: Einleitende Bemerkungen. In: Zeitschrift für Familienforschung, Heft 2 (2006), S. 139–147, hier S. 145. Ähnlich äußert sich auch Dieter Hoffmeister: »Als Rechtsform durch den Gesetzgeber zwar nicht eingeführt, gleichwohl aber durch ihn geschützt, erschien [die Familie] damit als natürliches System mit biologischer Fundierung und universeller Ausbreitung; geeignet nicht allein, das physische Überleben zu sichern, sondern auch unser aller kulturelles Überleben« (Dieter Hoffmeister: Normativität in der Familiensoziologie. Randale in der Keimzelle, ideologische Einfalt oder familiäre Vielfalt? In: Beschreiben und/oder Bewerten I. Normativität in sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern [auch: Münsteraner Schriften zur Soziologie, Band 1]. Hg. von Johannes Ahrens u. a. Berlin 2008, S. 203–230, hier S. 206). 25 Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie. Frankfurt am Main 1967, S. 66. 26 Erst im Zuge der Industriellen Revolution setzt sich nach Goody erstmals (und noch sehr partiell) die für die frühe Kleinfamilie typische Arbeitsteilung der Geschlechter durch, »da die Männer jetzt auf einer für die ganze Familie ausreichenden Basis bezahlt wurden, wodurch die
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Einleitung: Beharrliche Mythen
vielmehr ein kulturelles Produkt der Anpassungsleistung an die sie umgebenden und bestimmenden Faktoren. Für Pierre Bourdieu ist die Familie dann letztlich nichts als ein »Papiergebilde«27, ein Effekt sprachlicher Konventionen: »Die herrschende – die legitime – Definition der normalen Familie […] beruht auf einer Konstellation von Wörtern, Haus, Haushalt, house, home, household, die die soziale Realität, sie scheinbar beschreibend, in Wirklichkeit konstruieren.«28 Gleichzeitig erscheint uns »nichts […] natürlicher als die Familie: Diese willkürliche soziale Konstruktion gehört scheinbar ganz auf die Seite des Natürlichen und Allgemeinen.«29 Nicht nur die vermeintliche Natürlichkeit der gesamten familiären Struktur, auch die Semantik – und damit einhergehend oft die soziale Rolle – einzelner familiärer Akteure wurde eingehend untersucht und als historisch erkannt. Beispielhaft erwähnen kann man Philippe Ariès’ Geschichte der Kindheit30, die das Kind als Objekt pädagogischer Anstrengungen und als Zentrum der Kleinfamilie entdeckt. Barbara Vinken sieht im Bild der »deutschen Mutter« wenig ›Natürliches‹, stattdessen sei es ein »Bollwerk gegen die Gleichheit von Frauen und Männern«31. Im deutschen Diskurs sei die Mutter »ein altehrwürdiges Produkt des Protestantismus«32, mithilfe dessen »biologische[ ] Mütterlichkeit« zur »heiligsten aller Aufgaben aufrückte«.33 Dieter Thomä geht in einem 2009 erschienenen Sammelband der »Vaterlosigkeit« als einer »fixen Idee« auf den Grund – und damit auch den Vätern selbst, deren vielfache Semantisierung in politische, psychologische und religiöse Felder aufgefächert werden kann.34
Mitarbeit der Frau entbehrlich wurde« (Jack Goody: Protoindustrialisierung und Hochindustrialisierung. In: Goody: Geschichte der Familie. München 2002, S. 167–201, hier S. 182). 27 Pierre Bourdieu: Familiensinn. In: Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main 1998, S. 126–136, hier S. 127. 28 Bourdieu, S. 126. 29 Bourdieu, S. 130. 30 Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit. Aus dem Französischen von Caroline Neubaur und Karin Kersten. München 1992 [frz. 1960]. 31 Barbara Vinken: Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos. Frankfurt am Main 2011 [2002], S. 7. 32 Vinken, S. 9. 33 Vinken, S. 15. 34 Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Hg. von Dieter Thomä. Frankfurt am Main 2009.
2 Die ›heile Familie‹: Roland Barthes, Claude Lévi-Strauss und der Mythos
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2 Die ›heile Familie‹: Roland Barthes, Claude Lévi-Strauss und der Mythos Welche Fragen aber lassen sich dann noch stellen zur Familie? Angesichts des wissenschaftlichen Befundes verwundert doch vor allem die Hartnäckigkeit, mit der sich die Vorstellung von der Familie als einer ›natürlichen‹ Struktur in den unterschiedlichsten Diskursen hält. Die Vorstellung der Kernfamilie als einer ›heilen‹ und überzeitlich legitimierbaren Familie begegnet sowohl in juristischen als auch in literarischen Texten immer wieder. Wenn das Grundgesetz auch heute noch in Artikel 6 »Ehe und Familie« syntaktisch nebeneinander stellt, impliziert das genau ihren von Tyrell aufgezeigten festen »Verweisungszusammenhang«35: Familien sind zunächst einmal dort, wo Ehen sind. Und auch die Literatur greift (nicht nur im 18. bzw. 19. Jahrhundert) das Modell der Kernfamilie immer wieder auf – nicht selten, das werden die Analysen dieser Arbeit zeigen, affirmativ. Im Anschluss an die Schriften Roland Barthesʼ soll die Naturalisierung der familiären Struktur hier als »Mythos« verstanden werden. Den Mythos der ›heilen Familie‹ als Kernfamilie genauer zu konturieren, seine Leistung zu zeigen und die Bruchstellen seiner Tradierung ist das Anliegen dieser Arbeit.36 Barthesʼ Perspektive auf die Ideologisierung, Naturalisierung und immer auch Emotionalisierung sozialer Strukturen und Objekte weist einige Vorteile auf, die sich im Rahmen einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Analyse immer noch besonders gut nutzen lassen. Ausgangspunkt der Überlegungen Barthes’ zu den so genannten Mythen des Alltags war zumeist ein Unbehagen an der »Natürlichkeit«, die von der Presse, von der Kunst, vom gesunden Menschenverstand ständig einer Wirklichkeit zugesprochen wird, die – auch wenn es die unsere ist, in der wir leben – eine durchaus geschichtliche Wirklichkeit ist. Kurz, ich litt darunter, daß in der Erzählung unserer Gegenwart ständig Natur und Geschichte miteinander vertauscht werden, und ich wollte dem ideologischen Mißbrauch
35 Tyrell: Ehe und Familie, S. 154. 36 Von der »Naturalisierung« des kleinfamiliären Modells spricht auch Albrecht Koschorke (Die Heilige Familie und ihre Folgen. Frankfurt am Main 2001 [2000], S. 187). Koschorke verfolgt in seinem Essay den »kulturell außerordentlich bedeutungsträchtigen Komplex der christlichen Heiligen Familie« (S. 7) bis in die Gegenwart. Die Gründe für die Beharrlichkeit der mythischen Erzählung der Kleinfamilie sucht er in den religiösen Ursprüngen der Familienerzählung: »[S]eit der Erklärung der Ehe zum Sakrament im Hochmittelalter und spätestens dann seit der Reformation [wandern] immer mehr Merkmale des Heiligen in die menschliche Normalfamilie selbst ein.« (S. 187)
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Einleitung: Beharrliche Mythen
auf die Spur kommen, der sich nach meinem Gefühl in der dekorativen Darstellung des Selbstverständlichen verbirgt.37
Das Entstehen eines Barthes’schen Mythos basiert immer auf einem kommunikativen Akt,38 gewissermaßen einer kulturellen Erzählung, denn es erklärt sich mit einem spezifischen Gebrauch der (nicht nur sprachlichen) Zeichen. Der Mythos »ist ein sekundäres semiologisches System«, weil er »auf einer semiologischen Kette aufbaut, die schon vor ihm existiert«.39 Ein Signifikant denotiert innerhalb dieser Struktur doppelt; er ruft sein im linguistischen Sinn Bezeichnetes hervor (das Wort ›Vater‹ ruft das abstrakte Konzept ›Vater‹ hervor), reichert dieses Bezeichnete aber darüber hinaus auf der mythischen Ebene an: Allerdings ist das im mythischen Begriff enthaltene Wissen wirr, ein aus unscharfen, unbegrenzten Assoziationen bestehendes Wissen. Man muß diese Offenheit des Begriffs betonen; er ist keineswegs eine abstrakte, gereinigte Essenz, sondern ein formloser, instabiler, nebelhafter Niederschlag; seine Einheit und sein Zusammenhang sind vor allem funktional bedingt.40
In dieser Anreicherung sieht Barthes eine »Deformation«41, weil die Bedeutung des Signifikanten jetzt über das rein denotierende Sprechen hinausgeht. Der Mythos »verwandelt Geschichte in Natur«42 – mit Tyrell könnte man sagen: Er macht seinen Gegenstand »unantastbar[ ]«43. Das geschieht, indem er die
37 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Berlin 2010, S. 11. 38 »Der Mythos ist ein System der Kommunikation, eine Botschaft. Man ersieht daraus, daß der Mythos kein Objekt, kein Begriff und keine Idee sein kann; er ist eine Weise des Bedeutens, eine Form.« (Barthes: Mythen, S. 251) 39 Barthes: Mythen, S. 258, Herbvorhebung im Original. 40 Barthes: Mythen, S. 264. 41 Barthes: Mythen, S. 268. 42 Barthes: Mythen, S. 278. 43 Leistung und Gefahr dieser Unantastbarkeit beschreibt Tyrell folgendermaßen: »Der öffentliche Diskurs in Sachen Ehe und Familie, wie er in Deutschland […] seit der Mitte des 19. Jahrhunderts […] Kontur gewinnt, beschwört einerseits die Bedrohungen der Familie und pflegt ein dramatisierendes Krisenbewußtsein. Andererseits kann er sich nicht genug darin tun, die Ehe (nur sie) als die natürliche und angemessene Form des Geschlechterverhältnisses geltend zu machen, die Familie (nur sie) als Hort der Liebe und den richtigen und schlechthin besten Ort für Kind und Erziehung zu preisen usw. Das Legitimationssystem, das hier […] entwickelt wird, besetzt die Institution der Familie mit einem ganzen Panorama von Wertformeln, (zeitgenössischen) Höchstwertformeln und stattet sie so mit nahezu unantastbarem öffentlichem Kredit aus.« (Tyrell: Ehe und Familie, S. 148 f.) Auch Bourdieu beobachtet die vermeintliche ›Natürlichkeit‹ der Familie. Für ihn ist sie das Ergebnis einer genealogischen Verschleierung, die auf der Verschränkung
3 Bürgerlichkeit?
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Geschichtslosigkeit und Unhintergehbarkeit seines Signifikats postuliert. Dem Mythologen gelingt es, diese Deformation zu durchschauen.44 Der weitaus häufiger vertretene »Mythenleser« jedoch »antworte[t] auf den konstitutiven Mechanismus des Mythos«45 – er ›glaubt‹ ihn. Roland Barthesʼ Theorie ermöglicht es, die Erzählung von der Kernfamilie als »Mythos« zu lesen. Die Familie ist damit nicht zuletzt immer auch das Produkt einer semiotischen Anreicherung, Leistung sich stets wiederholender bürgerlich-gesellschaftlicher Kommunikation. Dieses Wissen vorausgesetzt, muss der Mythologe sich immer auch in kritische Distanz zu seinem Objekt begeben, die ich in dieser Arbeit im Wege einer ›Zergliederung‹ der mythischen Erzählung erreichen will. Vor dem Hintergrund der semiotischen bzw. linguistischen Basis der Theorie Barthes’ sollen die einzelnen Bestandteile der kernfamiliären Narration sichtbar gemacht werden. Es wird mir also im Folgenden darum gehen, die einzelnen ›Bausteine‹ des Mythos von der ›heilen Familie‹ analytisch herauszuarbeiten – analog zum linguistischen Begriffsinventar bietet sich für diese ›Bausteine‹ der Begriff des Mythems an. Claude Lévi-Strauss hat ihn in seiner Strukturalen Anthropologie beschrieben: Ähnlich wie die kleinsten sprachlichen Einheiten (Lévi-Strauss nennt »Phoneme, Morpheme und Semanteme«46) sind Mytheme in diesem Sinn die »konstitutiven Einheiten«47 des Mythos.
3 Bürgerlichkeit? Die moderne Kernfamilie ist, das hat die soziologische Forschung gezeigt, zuvorderst ein bürgerliches Phänomen, gewissermaßen der größte soziale ›Export-
subjektiven und objektiven Erlebens beruht: »Die Familie ist ein Konstruktionsprinzip, das den Individuen zugleich (als inkorporiertes Kollektiv) immanent und, da es ihnen in Gestalt der Objektivität aller anderen entgegentritt, transzendent ist: Sie ist etwas Transzendentales im Sinne von Kant, das sich aber, da es allen Habitus immanent ist, als etwas Transzendentes durchsetzt. Dies ist die Grundlage der spezifischen Ontologie der sozialen Gruppen (Familien, Ethnien oder Nationen): Da sie sowohl in die Objektivität der sozialen Strukturen als auch in die Subjektivität der objektiv auf diese abgestimmten mentalen Strukturen eingegangen sind, präsentieren sie sich der Erfahrung, obgleich sie das Produkt von Konstruktionsakten sind, die sie nach Meinung jener ethnomethodologischen Kritik scheinbar in die Nichtexistenz von reinen Gedankengebilden verweisen, mit der Undurchlässigkeit und Widerständigkeit von Dingen.« (Bourdieu: S. 129) 44 Barthes: Mythen, S. 276. 45 Barthes: Mythen, S. 276. 46 Lévi-Strauss, S. 231. 47 Lévi-Strauss, S. 231.
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Einleitung: Beharrliche Mythen
schlager‹ des Bürgertums.48 Mit der Kleinfamilie entwickelt die Mittelschicht eine Familienform, die als Norm »zunehmend für die ganze Gesellschaft verbindlich«49 wurde. Jürgen Kocka sieht die bürgerliche Lebensführung zentral durch ein besonderes Verständnis der Familie gekennzeichnet, das sich jedenfalls zuerst im Bürgertum entwickelte und lange in diesem am ehesten (wenn auch nicht vollkommen) realisiert werden konnte, bevor es auch in nichtbürgerlichen Gesellschaftskreisen mehr oder weniger akzeptiert und zur Regel wurde: die Familie als eine sich selbst begründende, als Selbstzweck begreifende Gemeinschaft, die Familie als eine durch emotionale Beziehungen statt durch Zweckhaftigkeit und Konkurrenz geprägte Sphäre (in Absetzung zu Wirtschaft und Politik), die Familie als rechtlich geschützter und durch »dienstbare Geister« freigesetzter Innenraum der Privatheit im Unterschied zur Öffentlichkeit.50
Auch Roland Barthes ist auf der Suche nach genuin »bürgerlichen« Mythen, spricht von der Hoffnung, »vom biederen Anprangern loszukommen und en détail die Mystifikation deutlich zu machen, die die kleinbürgerliche Kultur in universelle Natur verwandelt«51. Die Strukturen bürgerlichen Lebens sind freilich als Grundbedingung für das Bestehen der Kernfamilie genauso wenig ewig wie die Kleinfamilie selbst. Das Konzept der ›Bürgerlichkeit‹ hat sowohl vor als auch nach dem 19. Jahrhundert eine spezifische Geschichte, deren aktuelle Tendenzen sich nur schwer bewerten lassen.52 Unabhängig vom Schicksal der Bürgerlichkeit scheint sich das bevorzugte Modell seiner familiären Organisation aber sowohl
48 »Der soziale Ort ihrer [der Familie, AM] Herkunft war das Bürgertum, das sich jenseits der ständischen Gesellschaft als neue soziale Form etablierte« (Lothar Böhnisch und Karl Lenz: Zugänge zu Familien – ein Grundlagentext. In: Familien. Eine interdisziplinäre Einführung. Hg. von Lothar Böhnisch und Karl Lenz. Weinheim/München 1997, S. 9–64, hier S. 16). Vgl. auch Koschorke: Einleitung, S. 38: »Denn auch wenn es sich bei der Familie keineswegs um eine exklusiv bürgerliche Einrichtung handelt, so ist sie doch als eine solche modellbildend geworden […].« 49 Goody: Protoindustrialisierung und Hochindustrialisierung, S. 169; nicht nur das Bürgertum stärkt dabei die Struktur der Kernfamilie, offenbar gilt das Verhältnis auch vice versa: Ute Frevert weist darauf hin, dass »der bürgerliche Lebensstil, der sich im 19. Jahrhundert normsetzend entfaltete und verbreitete«, ohne »die bürgerliche Familie mit ihrer glasklaren, sogar in psychische Dimensionen verlagerten Arbeitsteilung zwischen Erwerbs-Mann und Haus-Frau nicht denkbar« war (Ute Frevert und Heinz-Gerhard Haupt: Der Mensch des 19. Jahrhunderts. In: Frevert und Haupt: Der Mensch des 19. Jahrhunderts. Essen 2004, S. 9–19, hier S. 14). 50 Jürgen Kocka: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert. In: Kocka (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987, S. 21–63, hier S. 43 f. 51 Barthes: Mythen, S. 9. 52 Kocka beobachtet eine »Zunahme der Unschärfe des Bürgertumsbegriffs im Laufe des 20. Jahrhunderts« (Kocka, S. 45).
4 Law and Literature: Diskurse und methodische Vorüberlegungen
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im Diskurs als auch in der ›Lebenswelt‹ zu halten – es lässt sich (und hier liegt wohl der Grund für seine Expansion) von Anfang an auch losgelöst von der Zugehörigkeit familiärer Akteure zum Bürgertum oder zu einem spezifisch bürgerlichen Habitus denken und leben. Das spezifisch ›Bürgerliche‹ an der Kernfamilie wird mich in dieser Arbeit aufgrund dieser prekären Zuordnung deshalb nur dort beschäftigen, wo die Verbindung der Kernfamilie zum Bürgertum von den untersuchten Texten selbst thematisiert wird. Das ist vor allem in den literarischen Texten der Fall (Wilhelm Raabes wohl familienfeindlichste Figur, Velten Andres in Die Akten des Vogelsangs, ist zugleich ein wahrer ›Bürgerschreck‹), kommt aber natürlich auch in der Kodifikation eines Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Ausdruck.
4 Law and Literature: Diskurse und methodische Vorüberlegungen Mit dem Blick auf juristische und literarische Diskurse positioniert sich diese Arbeit im Kontext der Law-and-Literature-Debatte und versucht gleichzeitig, sie zu erweitern. Innerhalb der Law-and-Literature-Forschung können bislang die beiden Richtungen ›Law in Literature‹ und ›Law as Literature‹ unterschieden werden.53 Das Anliegen meines Projekts zielt dabei insbesondere über das erste Schlagwort hinaus. So geht es nicht primär darum, literarische Texte daraufhin zu befragen, ob und wie in ihnen »Rechtsprobleme […] künstlerisch behandelt werden«54 (›Law in Literature‹). Sofern die ausgewählten Texte rechtliche Aspekte familiärer Strukturen thematisieren, ist das zwar bedeutsam und wird auch Teil der Analyse sein (das betrifft besonders die Texte Rabenliebe und Die Liebe der Väter) – mir kommt es aber auf anderes oder mehr an. Die Frage lautet nicht: Wie beschreiben Texte juristische Sachverhalte; die Frage lautet: Wie erzählen (und damit: wie formen und bearbeiten) Texte den Mythos Familie? Den juristischen Texten kommt innerhalb dieser Arbeit ein analytisches Primat zu. Die Mytheme, die sich aus der Analyse der juristischen Texte destillieren lassen, werden anschließend im literarischen Diskurs ›nachgezeichnet‹. In gewisser Weise kehre ich damit das von Stephen Greenblatt erprobte Vorgehen
53 Vgl. Edward Schramm: Law and Literature. In: Juristische Arbeitsblätter (2007), S. 581–585. 54 Schramm, S. 583.
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Einleitung: Beharrliche Mythen
um, die Vernetzungen der Elemente des literarischen Diskurses in anderen Kontexten aufzuzeigen.55 Ein solcher Zugriff auf zwei Diskurse – den man, analog zu den von Schramm benannten Forschungsrichtungen, als ›Law and Literature‹ bezeichnen könnte – kann exemplarisch zeigen, welche Mytheme synchron verhandelt werden und wie sie sich diachron in den beiden Diskursen verändern. Inwiefern es zu Austauschprozessen zwischen den Diskursen kommt, bestimmte Elemente also transformiert werden und ›wandern‹, wird eine abschließende Zusammenschau erkennen lassen. ›Law as Literature‹ ist bestrebt, »die Techniken der Literaturkritik bzw. kulturwissenschaftlicher Methodik auf Rechtstexte anzuwenden, und betont damit die Bedeutung der Sprache für die Rechtsfindung«56. Es ist möglich, Gesetze jenseits ihrer funktionalen Einbindung in das Rechtssystem zu verstehen und zu deuten. Dieser Ansatz repräsentiert law as a practice of making various kinds of literary artifacts: interpretations, narratives, characters, rhetorical performances, linguistic signs, figurative tropes, and representations of the social world. It treats law as a process of meaning making and as a crucial dimension of modern cultural life.57
Hier schließt die Arbeit insofern an, als sie Familien auch als Ergebnis juristischer Diskurse begreift. Die Beobachtung, dass Familien Gegenstand staatlicher Sorge sind, führt zu der Frage, wie der Begriff der Familie im staatlichen Diskurs verstanden und konstruiert wird. Als Teilbereich staatlicher Interventionsmacht sollen Segmente des juristischen Diskurses, in diesem Fall Gesetzestexte und deren Paratexte,58 untersucht werden. Bestimmte soziale Strukturen werden aufgrund juristischer Diskurse innerhalb der Lebenswelt als ›Familien‹ sichtbar – auf andere soziale Strukturen trifft das nicht zu. Das hat Konsequenzen, die innerhalb einer Gesellschaft bestimmten Gruppierungen mehr oder überhaupt juristische Handlungsmacht verleihen, während anderen Gruppierungen diese Handlungsmacht entzogen oder gänzlich verwehrt bleibt. Zur Debatte steht die Frage, wie Familien in rechtlichen Diskursen machtvoll konstruiert werden. Juristische Texte werden aber auch in einem weiteren Sinn einer kulturwissenschaftlichen Analyse unterzogen: Der juristische Diskurs wird als Mythen-
55 Vgl. exemplarisch: Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Oxford 1990. 56 Schramm, S. 581. 57 Guyora Binder und Robert Weisberg: Literary Criticisms of Law. Princeton 2000, S. IX. 58 Darunter fallen Kommentare, Urteile etc. Näheres siehe Kapitel I, 1.
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archiv gelesen, der bürgerliche Mythos der Kernfamilie, seine spezifische Leistung innerhalb des juristischen Diskurses herausgearbeitet. Diese Arbeit greift zwei sehr unterschiedliche diskursive Bereiche heraus, die sich insbesondere in Bezug auf ihr (in beiden Fällen sehr komplexes) Verhältnis zur ›Realität‹ bzw. zur Gesellschaft unterscheiden. Im Ergebnis soll es auch gelingen, beide Diskurse in ihrer Spezifik besser zu konturieren.59 Die Frage lautet deshalb schließlich auch: Welche Gesetzmäßigkeiten bestimmen auf der Basis rechtlicher oder literarischer ›Logik‹ das Sprechen über Familien? So lassen sich Beobachtungen zu der Frage anstellen, wie innerhalb einer Gesellschaft Diskurse aufeinander antworten, inwiefern Diskurse affirmativ oder subversiv zueinander stehen. Die vorliegende Arbeit geht von demjenigen Diskursbegriff Michel Foucaults aus, den Foucault der Archäologie des Wissens zugrunde gelegt hat. Während spätere Texte Foucaults verstärkt nichtdiskursive Praktiken in die Analysen einbeziehen (z. B. Praktiken des Strafens, der Disziplinierung der Körper in Überwachen und Strafen), konzentriere ich mich im Sinne einer Archäologie auf sprachlich manifeste Diskurse. Diskurse sind in der Archäologie nicht mehr (nur) »Gesamteinheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentation verweisen)«, sie sind vielmehr »als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«.60 Gleichzeitig bezeichnet der Begriff des Diskurses »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören«61. Foucault geht in diesem Zusammenhang von der Existenz beispielsweise eines klinischen oder eines ökonomischen Diskurses aus.62 Ziel des Projekts ist die Beschreibung der Diskurse zur Familie und damit auch die Beschreibung des Familienbegriffs, den sie hervorbringen.63
59 Überlegungen dazu vgl. Kapitel I, 4 (für den juristischen Diskurs) und Kapitel IX (für den literarischen Diskurs). 60 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt am Main 1981, S. 74. 61 Foucault: Archäologie, S. 156. Vgl. auch Foucault: Archäologie, S. 170: »Man kann also jetzt der Definition des ›Diskurses‹, die weiter oben angeregt worden war, einen vollen Sinn geben. Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören.« 62 Vgl. Foucault: Archäologie, S. 156: »Und so werde ich von dem klinischen Diskurs, von dem ökonomischen Diskurs, von dem Diskurs der Naturgeschichte, vom psychiatrischen Diskurs sprechen können.« 63 »Anstatt die Begriffe in einem virtuellen deduktiven Gebäude erneut anordnen zu wollen«, schreibt Foucault, »müßte man die Organisation des Feldes der Aussagen beschreiben, in dem sie auftauchen und zirkulieren.« (Foucault: Archäologie, S. 83)
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Einleitung: Beharrliche Mythen
Die zeitlichen Einschnitte sind in der zweiten64 Hälfte des 19. Jahrhunderts und im beginnenden 21. Jahrhundert gesetzt. Dafür zeichnet vor allem das Primat der juristischen Diskurse verantwortlich: In den 1870er Jahren beginnen die Beratungen zum Bürgerlichen Gesetzbuch. Die Protokolle dieser Beratungen sind als Motive zu dem Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich ein Archiv dieses Diskurses und lassen verlässliche Rückschlüsse auf den juristischen Diskurs des 19. Jahrhunderts zu.65 Ein weiterer Einschnitt im 21. Jahrhundert begründet sich mit den fundamentalen Änderungen, die das Familienrecht, das im Bürgerlichen Gesetzbuch kodiert ist, erst in den letzten drei Jahren des 20. Jahrhunderts durchläuft. Mit dem so genannten Kindschaftsrechtsreformgesetz wird die rechtliche Unterscheidung zwischen nichtehelichen und ehelichen Kindern ad acta gelegt, die Systematik des Familienrechts ändert sich so von Grund auf. Eine detailliertere Erläuterung der Gründe für die gewählten Zeiträume erfolgt im juristischen Teil dieser Arbeit.66 Die Auswahl der literarischen Texte orientiert sich zunächst einmal an den Mythemen, die sich in den juristischen Diskursen eines gewählten Zeitabschnitts finden. Die Literatur des 19. Jahrhunderts ist (gerade wegen ihres oft biedermeierlichen Anstrichs) zu großen Teilen immer auch Literatur über die Familie. Mit Adalbert Stifter, Theodor Storm und Wilhelm Raabe wurden realistische Autoren gewählt, deren Texte sich auf eine besonders prägnante, bisweilen überraschende Weise mit den Konzepten von Ehelichkeit und Leiblichkeit auseinandersetzen, die im juristischen Diskurs des 19. Jahrhunderts so zentral sind. Die Texte werden in dieser Arbeit oftmals gegen den ›Lektürestrich‹ gelesen; sie werden immer als Archiv für familiäre Konstellationen und Mytheme herangezogen. So gerät der eine oder andere neue, bisher ›überlesene‹ Bereich in den Blick, andere, bisweilen längst kanonisch gewordene Lesarten werden marginalisiert. Bei der Auswahl der aktuellen Literatur wurde ebenfalls auf die Passung zum juristischen Diskurs geachtet – ohne gleichzeitig darauf verzichten zu wollen, auch den eigenständigen Impulsen literarischer Welten Rechnung zu tragen. Mit den Texten Clemens J. Setz’, Wilhelm Genazinos, Thomas Hettches und John von Düffels habe ich mich dafür entschieden, die Analyse besonders auf die Rolle der Väter im familiären Diskurs zu fokussieren. Das ist abermals dem rechtlichen Diskurs geschuldet, insbesondere den im Vergleich zur Mutterschaft ungleich
64 Eine Ausnahme bildet hier lediglich Stifters Brigitta, der bereits 1844 bzw. 1847 entstanden ist. Die Familien-Strukturen dieses Textes werden allerdings in Bezug gesetzt zur Familie im später erschienenen Nachsommer. 65 Genauer zu den Quellen im 19. Jahrhundert: vgl. Kapitel I, 1.1. 66 Kapitel I, 1.
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komplexeren Regularien zur Vaterschaft. Anders als Mutterschaft, die juristisch immer noch ›sicher‹ scheint (mater semper certa est), wird Vaterschaft zunehmend unschärfer, lässt sich beispielsweise aufspalten in soziale, rechtliche und biologische Komponenten. Damit soll freilich nicht impliziert sein, dass literarische Inszenierungen zur Mutterschaft nicht gleichermaßen lesenswert gewesen wären. Auch Mütter treffen in der Literatur auf den Mythos der Kleinfamilie. Schon ›geringere‹ Abweichungen von seinem Ideal sorgen für Unruhe. Anna Katharina Hahns Roman Kürzere Tage beispielsweise, 2009 erschienen, beschäftigt sich mit Familiendiskursen, perspektiviert durch die beiden weiblichen Hauptfiguren Leonie und Judith. Die ›heile Familie‹ ist der wunde Punkt der Mütter bei Hahn, von denen die eine (Leonie) im Beruf geblieben ist, die andere (Judith) sich, bewaffnet mit »Globuli, Meerwassernasentropfen und Heftpflaster«67, ganz den Kindern widmet. Leonie und Judith, die in direkter Nachbarschaft zueinander wohnen, sind einander gegenseitig eine Bedrohung. Hahn erzählt in Leonie die familiär überforderte Karrierefrau, die im Moment höchster Belastung verstehen kann, »daß es Leute gibt, die zuschlagen. Tote Kinder in Mülltonnen, an Betten fixiert, vergraben im Keller. Nur damit endlich Ruhe ist.«68 Vollzeitmutter Judith ist der Fluchtpunkt der Selbstqualen, die Leonie sich auferlegt. Wenn sie »in das Fenster auf der anderen Straßenseite schaut, hat sie das Gefühl, ein Bilderbuch aufzuschlagen, in dem alles so ist, wie es sein soll. Sie gönnt sich den Anblick der heiligen Familie, wie sie die Nachbarn nennt, fast täglich.«69 Judith allerdings, das weiß der Leser bald, taugt nicht zum Idealbild. Was Leonie sieht, ist die Oberfläche einer Mutterschaft, die die Suchtpatientin Judith sich nur zum Kostüm gemacht hat. »Was will ich sein?«, fragt sie sich, Vogelscheuche, Hausfrau, […] Mama, breikochend, hinternwischend und fliesenscheuernd? Oder lieber wieder hinaustreten aus dem warmen Mief, hinaus auf die neonweiß umstrahlten Eisgipfel der Hackstraßenlandschaft, wo Wodka und Tequila in klaren Strömen fließen, wo immer künstlich beleuchtete Nacht herrscht und der Tag im Dämmer heruntergerasselter Rolläden verschlafen wird?70
In der Mutterrolle weiß Judith sich zu versichern, dass sie »kein paillettenbesticktes, Döner kotzendes [F]littchen« mehr ist, »sondern Frau Rapp mit Ring«.71 Hahn lässt den Mythos der Kleinfamilienmutter in ihrer erzählten Realität
67 Anna Katharina Hahn: Kürzere Tage. Berlin 2010 [2009], S. 83. 68 Hahn: Kürzere Tage, S. 58. 69 Hahn: Kürzere Tage, S. 76. 70 Hahn: Kürzere Tage, S. 207. 71 Hahn: Kürzere Tage, S. 203.
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gehörig zusammenschrumpfen. Leonie ist er ein qualvolles Narrativ, mit dem sie ihr eigenes Ungenügen unterstreicht. Und auch Judith peinigt sich letztlich mit der Mutterrolle, in der sie doch eigentlich Schutz sucht, der sie gleichzeitig aber auch Verachtung entgegenbringt: »Du bist nichts, Hausfrau und Mutter. Niemand spricht für dich, nur bayerische Trachtenträger und minderbemittelte Nachrichtensprecherinnen brechen eine krumme Lanze und machen alles noch schlimmer.«72 Das Recht allerdings macht aus der Mutterschaft eine äußerst lakonische Erzählung. »Mutter eines Kindes ist«, so heißt es in § 1591 BGB, »die Frau, die es geboren hat.« Dieser Lakonie vielleicht ist es geschuldet, dass sich neben den literarischen Vatertexten im 21. Jahrhundert in dieser Arbeit auch ein Text zur Mutter findet: In Peter Wawerzineks Rabenliebe wird Mutterschaft mindestens so diffus wie das Vatersein. Gleichzeitig leistet dieser Text – ähnlich wie die meisten anderen – einen eindrucksvollen Beitrag zur – mehr Barth’schen als Blumenberg’schen – »Arbeit am Mythos«, der sich diese Analysen verpflichtet fühlen.
72 Hahn: Kürzere Tage, S. 99.
I Familiennormen und Normfamilien: Narrative des Rechts Der juristische Diskurs ›erzählt‹ Familiengeschichten, mythische Geschichten im Sinne Roland Barthes’. Das lässt schon Dieter Schwabs Eintrag zur »Familie« im Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland erahnen. Schwabs begriffsgeschichtliche Genealogie der Familie zeigt die Verwurzelung der bürgerlich-kernfamiliären Struktur in mythologischen Mustern.1 Die Familie werde kulturphilosophisch als »natürlicher und sittlicher Organismus angesehen«2 – als ein solcher taucht er auch im juristischen Diskurs des 19. Jahrhunderts auf. »Die Formel von dem primär natürlichen und sittlichen Wesen der Familienverhältnisse« begegne in der juristischen Literatur, so Schwab, »allenthalben«.3 Weil es sich bei »Familie« um einen »vorrechtlich-sittlichen«4 Begriff handelt, definiert das Recht ihn nicht expressis verbis – schon gar nicht mittels einer so genannten »Legaldefinition«. »Legaldefiniert« werden in Gesetzestexten an vielen Stellen zahlreiche andere Rechtsbegriffe. § 194 BGB definiert beispielsweise den Begriff des »Anspruchs« als das »Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen«. So erhalten Begriffe eine exklusive Semantik, die sie innerhalb des juristischen Textkorpus einem eindeutigen Signifikaten zuordnet. Ein mögliches Bedeutungsspektrum außerhalb der gesetzlichen Textwelt wird so ausgeschlossen. Der Familie widerfährt eine solche Festlegung nicht (welche Konsequenzen das hat, wird zu zeigen sein). »Als Rechtsbegriff kommt die Familie (trotz der Überschrift ›Familienrecht‹ über das vierte Buch) nicht vor.«5 Stattdessen »werden einzelne Beziehungen abgehandelt«6.
1 Der auch dem Bürgerlichen Gesetzbuch zugrunde liegende Familienbegriff sei dabei erkennbar als ein »spezifisch bürgerlicher«: »Für die adelige Lebensform war die Vorstellung von der verinnerlichten, der Ökonomie entfremdeten ›kleinen‹ Lebensgemeinschaft nicht passend. Sie entsprach auch nicht der bäuerlichen Familie, welche die traditionelle Einheit von Familie und Betrieb fortführte. Der vierte Stand schließlich, die Masse der Industriearbeiter insbesondere, erschien aus dem Familienbegriff gedanklich ausgeklammert« (Dieter Schwab: Familie. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Band 2: E–G. Stuttgart 1975, S. 253– 301, hier S. 298). 2 Schwab: Familie, S. 298. 3 Schwab: Familie, S. 296. 4 Schwab: Familie, S. 298. 5 Schwab: Familie, S. 297. 6 Schwab: Familie, S. 297.
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I Familiennormen und Normfamilien: Narrative des Rechts
Noch die Verfasser aktueller juristischer Fachliteratur argumentieren auf der Basis eines Glaubens an die ›natürliche‹ Grundlage der familienrechtlichen Verhältnisse. Von der »Selbstverständlichkeit der Familie«7 spricht Gerhard Köbler. Sachlich sei der Hauptgegenstand des Familienrechts, die Familie als Verbindung von Männern und Frauen und ihren Kindern, so natürlich, dass Geschlechtsgemeinschaft, Kindererzeugung und Kinderaufzucht schon in der Antike zum natürlichen Recht gerechnet werden.8
»Das Recht«, diagnostiziert dagegen Inge Kroppenberg kritisch, inszeniert Einheit, wo keine mehr ist, es schafft neue Zugehörigkeit zu einer positiv besetzten Gemeinschaft […]. Strukturell modern lagert das bürgerliche Familienrecht semantische Sedimentschichten an, die aus einer eigentlich vergangenen Zeit stammen. Von ihm aus werden die Kontinuitätslinien bis zur archaischen Führungspersönlichkeit des antiken Hausverbands zurückgezogen […].9
Es handele sich schon bei den ersten Entwürfen des Bürgerlichen Gesetzbuchs »um eben jene Form der enthistorisierenden Vergegenwärtigung, die Grundlage war für die Mythisierung der Familie und Raum bot für die Sakralisierung des privaten Raums schlechthin«10. Welche Mytheme aber strukturieren die Familien im rechtlichen Diskurs? Wenn das Gesetz keine explizite Definition zur Familie liefert, so kommen in den Regularien für die einzelnen familiären Beziehungen doch implizite Grenzen und Wertungen zum Ausdruck. Welche Elemente begrenzen Familien demnach im rechtlichen Sinn substantiell, was scheint dem Recht verzichtbar? Die folgende Analyse wird insbesondere zeigen, welche Diskurse aus der Gründerzeit des Bürgerlichen Gesetzbuchs das zum Zeitpunkt des Entstehens dieser Arbeit geltende Recht aufgreift, welche ›verschwunden‹ sind oder ersetzt wurden. Die anschließende Lektüre der literarischen Texte wird die Mytheme dieses Kapitels aufgreifen. Erst die parallele Analyse der Auseinandersetzung beider Diskurse (des literarischen und des juristischen) mit dem Familienmythos ermöglicht im Anschluss daran Aussagen über die Funktionsweise der beiden Diskurse und über die Produktivität des untersuchten Mythos in den jeweiligen Kontexten.
7 Gerhard Köbler: Familienrecht im geschichtlichen Wandel. In: Recht als Erbe und Aufgabe. Heinz Holzhauer zum 21. April 2005. Hg. von Stefan Chr. Saar, Andreas Roth und Christian Hattenhauer. Berlin 2005, S. 355–366, hier S. 355. 8 Köbler, S. 355. 9 Kroppenberg: Vaterbilder des modernen Zivilrechts, S. 102 f. 10 Kroppenberg: Vaterbilder des modernen Zivilrechts, S. 103.
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1 Textkorpus 1.1 19. Jahrhundert: Die Beratungen zum Bürgerlichen Gesetzbuch als ›discourse in progress‹ Das Bürgerliche Gesetzbuch tritt am 1. Januar 1900 in Kraft. Ein auch rechtlich zersplittertes Deutsches Reich, das sich noch in den 1890er Jahren in systematisch sehr verschiedene Rechtsgebiete gliedert,11 erhält so nach einem langwierigen Aushandlungsprozess eine einheitliche rechtliche Grundlage. Die Beratungen der Ersten Kommission beginnen in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts.12 Ziel ist ein gemeinsames Recht, das mehr ist als ein »bürokratisch-juristisches Gesetzbuch«13. Es gelte, schreibt das Kommissionsmitglied Pape 1879, das innerhalb des Deutschen Reichs bestehende, in mancher Hinsicht sehr abweichende Recht mit Zuverlässigkeit zu ermitteln, eine nicht geringe Zahl von Rechtsinstitutionen in ihren verschiedenen Gestaltungen sowie die thatsächlichen Verhältnisse, welche die abweichenden Entwickelungen und Ausgestaltungen hervorgerufen haben, zu ergründen, sorgfältig zu prüfen und zu erwägen, inwiefern hinsichtlich des einen oder anderen Rechtsinstituts ohne wesentliche und empfindliche Nachtheile und ohne schädliche Einwirkung auf die Landesverfassung und das öffentliche Recht für dieses oder jenes Gebiet ein einheitliches Recht sich begründen lasse […].14
11 Vgl. weiterführend Ulrich Eisenhardt: Deutsche Rechtsgeschichte. München 1995: »Nachdem er 1873 die Gesetzgebungskompetenz erhalten hatte, stand der Reichgesetzgeber vor einer schwierigen Lage. Da in etlichen Ländern eigene Kodifikationen mit privatrechtlichem Inhalt und in anderen Ländern das gemeine römische Recht galten, wenn auch etwa vorhandene Partikular- und Gewohnheitsrechte Vorrang genossen, herrschte eine weitgehende Rechtszersplitterung […]. In linksrheinischen Gebieten galt seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts der code civil von 1804 […], in Preußen das ALR [Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794], in Bayern der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756 und in Sachsen das Sächsische Bürgerliche Gesetzbuch von 1863/1865, nächst dem code civil und dem österreichischen ABGB [Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie von 1811] die bedeutendste Kodifikation, die das 19. Jahrhundert auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts hervorgebracht hat […].« (S. 381) 12 Die Erste Kommission »konstituierte sich am 17.9.1874«; vgl. Werner Schubert: Entstehungsgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuchs. In: Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen. Hg. von Horst Heinrich Jakobs und Werner Schubert. Band 1: Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB. Einführung, Biographien, Materialien. Berlin 1978, S. 27–68, hier S. 40. 13 Schubert zitiert mit diesen Worten in seiner Einführung in die Entstehungsgeschichte des BGB den an den Beratungen maßgeblich beteiligten Juristen Eduard Lasker; vgl. Schubert, S. 31. 14 Zitat Heinrich Eduard Papes nach Schubert, S. 42.
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Die Redaktoren der Entwürfe des Bürgerlichen Gesetzbuchs sind Vertreter aus Theorie und Praxis der einzelnen Rechtsgebiete.15 Die Ausarbeitung erfolgt in mehreren Schritten: Der Ersten Kommission folgt in der Regel eine Kritik des jeweiligen Entwurfs durch eine Vorkommission des Reichsjustizamtes,16 daraufhin formiert sich die Zweite Kommission, deren Entwürfe im Bundesrat und im Reichstag debattiert werden. Diskutiert werden die Grundlagen sämtlicher rechtlicher Begriffe und Institutionen – im Rückgriff auf die theoretischen und praktischen Erfahrungen der Vertreter der bisher geltenden Kodifikationen. Die Entwürfe zur Ausarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuches und die Protokolle über die Arbeit an diesen Entwürfen ermöglichen daher breite Einblicke in den rechtlichen Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Grundlage für die folgenden Analysen ist der Entwurf der Ersten Kommission,17 darüber hinaus die so genannten Motive zu dem Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich,18 die die argumentativen Leitlinien des Entwurfs zusammenfassen. Lehrbücher zum Bürgerlichen Gesetzbuch aus dem beginnenden 20. Jahrhundert haben die Recherche zum Diskurs im 19. Jahrhundert ergänzt.19
15 Vgl. Rosemarie Jahnel: Kurzbiographien der Verfasser des Bürgerlichen Gesetzbuchs. In: Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen. Hg. von Horst Heinrich Jakobs und Werner Schubert. Band 1: Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB. Einführung, Biographien, Materialien. Berlin 1978, S. 69–124. 16 Allerdings gilt hier für das Familienrecht eine Ausnahme: »Beratungen über das 4. Buch [d. h. das Familienrecht, AM] haben in der Vorkommission, soweit feststellbar, nicht stattgefunden.« (Werner Schubert und Horst Heinrich Jakobs: Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen. Hg. von Horst Heinrich Jakobs und Werner Schubert. Band 5,2: Familienrecht II [§§ 1564–2921]. Berlin 1988, S. IX); »[d]as Familien- und Erbrecht ist von der Vorkommission überhaupt nicht behandelt worden« (Schubert, S. 54). 17 Eine Konzentration der Analyse auf diesen Entwurf ist vor allem vor dem Hintergrund der offenbar unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen der einzelnen Entwürfe sinnvoll. Schubert macht in seiner Einführung deutlich darauf aufmerksam: »In welchem gesellschaftspolitischen Vakuum die Verfasser des 1. Entwurfs sich zuletzt befunden haben, wird durch nichts so deutlich belegt, wie durch die scharfe Kritik, die in den Jahren 1888 und 1889 von allen politischen und weltanschaulichen Richtungen am 1. Entwurf geübt wurde.« (Schubert, S. 40) 18 Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Band IV: Familienrecht. Amtliche Ausgabe. Berlin/Leipzig 1888. Im Folgenden zitiert als Motive. 19 Ein historisch-kritischer Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, der auch dieser Arbeit sicherlich dienlich gewesen wäre, erscheint derzeit sukzessive im Mohr Siebeck Verlag: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB. Hg. von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert und Reinhard Zimmermann. Tübingen 2003 ff. Der Band zum Familienrecht befindet sich allerdings derzeit noch im Planungsstadium.
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1.2 21. Jahrhundert: Bürgerliches Gesetzbuch, Grundgesetz und aktuelle juristische Theorie Das vierte Buch des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), das Familienrecht, wurde seit seinem Inkrafttreten vielfach geändert. Damit änderten sich natürlich auch die rechtlichen Grundlagen für Familien, mithin der rechtliche Diskurs über das Konzept ›Familie‹. Neben den Gründungsdiskursen zum BGB analysiert diese Arbeit den aktuellen rechtlichen Familiendiskurs. Inhaltlich begründen lässt sich eine solche Fokussierung auf die Wende zum 21. Jahrhundert vor allem vor dem Hintergrund der Änderungen, die das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts aus dem Jahr 1997 bzw. 199820 mit sich brachte. Mit diesen Neuerungen habe sich, so Schwab, das deutsche Familienrecht derart gründlich gewandelt, dass »kaum ein Stein auf dem anderen geblieben«21 sei. Die Neuerungen betreffen unter anderem das Kindesnamensrecht22, Sorgerechtsfragen im Falle einer Scheidung23, das Adoptionsrecht24, vor allem aber auch das Abstammungsrecht25. Seit der Reform unterscheidet das Familiengesetzbuch nicht mehr zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern – eine Differenzierung, die für die Struktur des Familienrechts vor der Reform fundamental war (siehe in diesem Kapitel 2.1.1).
20 Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 16.12.1997, BGBl I, S. 2942, ergänzt durch das Beistandschafts-, das Erbrechtsgleichstellungs- und das Unterhaltssicherungsgesetz. Die Reformgesetze traten 1998 in Kraft (vgl. Dieter Schwab: Vorwort. In: Das neue Familienrecht. Systematische Darstellung zum Kindschaftsrechtsreformgesetz, Kindesunterhaltsgesetz, Eheschließungsrechtsgesetz und Erbrechtsgleichstellungsgesetz. Hg. von Dieter Schwab. Bielefeld 1998, S. VIII). 21 Schwab: Vorwort, S. VIII. 22 Vgl. Thomas Wagenitz: Neues Recht in alten Formen: Zum Wandel des Kindesnamensrechts. In: Das neue Familienrecht. Systematische Darstellung zum Kindschaftsrechtsreformgesetz, Kindesunterhaltsgesetz, Eheschließungsrechtsgesetz und Erbrechtsgleichstellungsgesetz. Hg. von Dieter Schwab. Bielefeld 1998, S. 125–149. 23 Vgl. Dieter Schwab: Elterliche Sorge bei Trennung und Scheidung der Eltern. In: Das neue Familienrecht. Systematische Darstellung zum Kindschaftsrechtsreformgesetz, Kindesunterhaltsgesetz, Eheschließungsrechtsgesetz und Erbrechtsgleichstellungsgesetz. Hg. von Dieter Schwab. Bielefeld 1998, S. 187–232. 24 Vgl. Rainer Frank: Die Neuregelung des Adoptionsrechts. In: Das neue Familienrecht. Systematische Darstellung zum Kindschaftsrechtsreformgesetz, Kindesunterhaltsgesetz, Eheschließungsrechtsgesetz und Erbrechtsgleichstellungsgesetz. Hg. von Dieter Schwab. Bielefeld 1998, S. 273–290. 25 Vgl. grundlegend Friedhelm Gaul: Die Neuregelungen des Abstammungsrechts durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz. In: Das neue Familienrecht. Systematische Darstellung zum Kindschaftsrechtsreformgesetz, Kindesunterhaltsgesetz, Eheschließungsrechtsgesetz und Erbrechtsgleichstellungsgesetz. Hg. von Dieter Schwab. Bielefeld 1998, S. 49–124.
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Darüber hinaus entschied der Gesetzgeber 2001, die Varianten rechtlich institutionalisierten Zusammenlebens zu erweitern und ermöglichte gleichgeschlechtlichen Paaren die Eintragung einer Lebenspartnerschaft (Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft26). Die Diskussion um die Legitimation der eingetragenen Lebenspartnerschaft ist dabei immer schon auch eine um die Ehe gewesen, deren Sonderstatus als familiäre ›Keimzelle‹ man durch die Lebenspartnerschaft bis heute in Gefahr sieht.27 Das Familienrecht der 2010er Jahre unterscheidet sich ausgehend von diesen (und vielfältigen anderen, bereits im 20. Jahrhundert beginnenden)28 Wandlungsprozessen mittlerweile sehr grundlegend von demjenigen des 19. bzw. beginnenden 20. Jahrhunderts. Ein diachroner Vergleich beider juristischer Diskurse verspricht die Möglichkeit, Entwicklungslinien aufzeigen zu können, die auch eine historische Kontextualisierung kontemporärer Debatten erlauben. Ein Blick in das geltende Bürgerliche Gesetzbuch reicht, will man den aktuellen juristischen Diskurs zur Familie fassen, kaum aus. Auch das mit der Gründung der Bundesrepublik in Kraft getretene Grundgesetz sorgt sich um die Familie. In Artikel 6 des Grundgesetzes finden sich zentrale Aussagen zur Familie: Der Artikel verspricht besonderen Schutz für Ehe und Familie (Absatz 1), führt grundsätzliche Bestimmungen an zum Elternrecht (Absatz 2 und 3), zum Anspruch der Mütter auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft (Absatz 4) und verpflichtet den Gesetzgeber, eheliche und nichteheliche Kinder einander gleichzustellen. Die rechtsverbindliche Auslegung dieses Schutzes übernimmt das Bundesverfassungsgericht.29 Grundgesetz und Bürgerliches Gesetzbuch sind daher für die Frage nach den Familienbildern des deutschen Rechts gleichermaßen von Bedeutung:
26 Vom 16.2.2001 (BGBl I, S. 266). 27 Vgl. zur rechtlichen Diskussion bspw. Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 36 ff. Zur Zitationsweise der Kommentare vgl. Anmerkung 34. 28 Zu denken wäre unter anderem an die Reformen im Scheidungsrecht (vgl. Dieter Schwab: Familienrecht. München 2010, S. 158 f.) und, natürlich, an die rechtliche Gleichbehandlung von Mann und Frau, die das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts vom 18.6.1957 (BGBl I, S. 609) kodifiziert. 29 Vgl. z. B. Klaus Schlaich und Stefan Korioth: Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen. München 2007, S. 8 f.: »Das Verfassungsgericht kann sich darin [bei seiner Interpretation, AM] zurückhaltend oder großzügig, ›politisch‹ (gestaltend) oder ganz ›juristisch‹ verhalten. Je nachdem, welches Verfassungsverständnis das BVerfG [Bundesverfassungsgericht] seiner Interpretation des [Grundgesetzes] unterlegt und in welchem Maße es die einzelnen Sätze der Verfassung inhaltlich auffüllt oder gar ›überanstrengt‹, weitet es seinen Kontrollbereich aus oder begrenzt ihn.«
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»Das Familienrecht der Bundesrepublik ist durch fundamentale Aussagen des G[rund]G[esetzes] geformt.«30 Grundrechte wirken auch auf die nicht grundrechtlichen, so genannten »einfachen« Gesetzestexte. Die juristische Dogmatik spricht von der »mittelbaren Drittwirkung« der Grundrechte, die den Gesetzgeber und Rechtsanwender dazu verpflichtet, auch die Normen beispielsweise des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Sinne der Grundrechte auszulegen und fortzubilden. Auf diesem Wege prägen die Grundrechte auch das Verhältnis Privater zueinander.31 Sie sind »nicht bloß Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat […], sondern darüber hinaus eine objektive Wertordnung«32. Artikel 6 Absatz 1 GG wird daher auch als »wertentscheidende Grundsatznorm« verstanden, ist also »eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts«.33 Vor dem Hintergrund dieser Prämissen werden Grundgesetz und Bürgerliches Gesetzbuch im Folgenden in einem Verhältnis der gegenseitigen Ergänzung und Erläuterung zueinander gelesen. Um Aussagen treffen zu können über die Struktur des aktuellen Familienrechts, beschränke ich mich zunächst auf die Lektüre der Gesetzestexte und die sie unmittelbar umgebenden Texte juristischer Hermeneutik. In Frage kommen vor allem Kommentare, diejenigen Fachwerke also, die in mehr oder weniger kondensierter Form die Stoßrichtung jedes Paragraphen, die Historik seiner Auslegung und zur jeweiligen Regelung ergangene Rechtsprechung zusammenfassen.34 Für den juristischen Diskurs kann Kommentaren durchaus eine lei-
30 Schwab: Familienrecht, S. 5. 31 Zur näheren Erläuterung und Diskussion der »mittelbaren Drittwirkung« vgl. z. B. Volker Epping: Grundrechte. Heidelberg 2010, S. 140 ff. oder Michael Kloepfer: Staatsrecht kompakt. Staatsorganisationsrecht – Grundrechte – Bezüge zum Völker- und Europarecht. Baden-Baden 2012, S. 139 ff. 32 Epping, S. 141. 33 Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 33; das sei »st[ändige] R[echt]spr[echung]« seit 1957; zur aktuellsten einschlägigen Entscheidung vgl. BVerfGE 111, 160, 172 = NVwZ 2005, 201 (»Kindergeld an Ausländer«). Uhle verweist auf die entsprechenden Stellen der Kommentierungen bei Sodan, Sachs und von Münch/Kunig. Zur Zitationsweise der Kommentare vgl. Anmerkung 34. 34 Die Zitationsweise in diesem Kapitel versucht, den unterschiedlichen bibliographischen Gepflogenheiten sowohl der juristischen als auch der literaturwissenschaftlichen Disziplin gerecht zu werden. Gerichtsurteile und Kommentare werden nach Maßgabe der juristischen Fakultät zitiert. Ein Abkürzungsverzeichnis findet sich im bibliographischen Anhang. Um der Aktualität der Debatten Rechnung zu tragen, wurden für die vorliegende Arbeit hauptsächlich zitierfähige Online-Kommentare herangezogen. Auf weitere gedruckte Kommentare wird jeweils an geeigneter Stelle verwiesen. Die Kommentierungen der Beck’schen Online-Kommentare werden nach folgendem Muster aufgeführt: Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 33; dabei bezeichnet
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tende Funktion zugeschrieben werden: paragraphen- bzw. artikelweise geordnet bewahren und sammeln sie diejenigen Bereiche der fachlichen Debatte, die die jeweiligen Herausgeber für wesentlich halten. Nachzulesen ist dort sowohl die so genannte »herrschende Meinung«, die sich in der juristischen Praxis durchgesetzt hat, als auch davon oft verschiedene, rechtstheoretische Debatten. Als juristische Diskursarchive sind Kommentare für die vorliegende Arbeit ein unverzichtbares Nachschlagewerk. Darüber hinaus sind die Entscheidungen der Gerichte, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts, die nicht selten die künftige Auslegungspraxis einer Vorschrift bestimmen, von Bedeutung.35 Ohne ein Studium dieser zu den Gesetzestexten hinzutretenden juristischen Auslegungspraxis lässt sich die Systematik des Familienrechts nicht verstehen. Ergänzend wurden auch für den aktuellen Diskurs Lehrbücher zu Rate gezogen. Der Ansatz der Familienrechtlerin Ingeborg Schwenzer zu einem »Modernen Familienrecht« bietet abschließend einen Einblick in die aktuelle familienrechtliche Theoriebildung.
2 Wer ist ›Familie‹? Erste Leitfragen In einem ersten Schritt soll das Korpus in beiden Zeitabschnitten (im 19. und im 21. Jahrhundert) Auskunft geben auf die Frage, welche sozialen Konstellationen rechtlich als ›Familie‹ definiert werden. Das BGB kennt, wie gesagt, seit seiner Entstehung keine Legaldefinition der Familie. Familie innerhalb des Rechts ist – so hat es Inge Kroppenberg gefasst – vielmehr eine
der erste Name bzw. bezeichnen die ersten Namen den bzw. die Herausgeber oder Begründer des Kommentars, der letzte jeweils den Autor des konkreten Abschnitts; darauf folgt der Artikel bzw. der Paragraph und die Randnummer, unter der die Stelle zu finden ist. Weitere Kommentare werden ebenfalls unter dem Nachnamen der Herausgebenden bzw. des Begründers angeführt (Sodan, Sachs, von Münch/Kunig u. a.). Die besondere Textur der Kommentare verlangt einige Sensibilität und bisweilen auch Toleranz in Bezug auf den Ursprung der Text-Elemente. Kommentare bedienen sich – teilweise wörtlich – Textkomponenten vor allem aus Urteilen, aber auch aus dem Schrifttum, ohne diese Übernahmen eigens kenntlich zu machen. Geschuldet ist dies einem Bewusstsein für die streng formalisierte juristische Ausdrucksweise. Um diesbezüglich Transparenz im weitesten Sinne gewährleisten zu können, werde ich im Folgenden die Gerichtsurteile, auf die sich die Kommentare beziehen, jeweils mit anführen. Die Hervorhebungen der Kommentare wurden übernommen. 35 Bei der derzeitigen Menge an Urteilen, die das Familienrecht direkt oder indirekt beeinflussen, kann hier natürlich keine vollständige und tagesaktuelle Darstellung erfolgen. Allerdings soll es gelingen, die wichtigsten Argumentationslinien des heutigen Diskurses zu verdeutlichen.
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semantische Konstruktion[ ], die vom Recht einerseits vorausgesetzt, andererseits aber nur dadurch juristisch operationalisierbar [wird], dass die einzelnen Rollenbeziehungen, die des »Vaters«, der »Mutter« und des oder der »Kinder«, mit rechtlichen Inhalten versehen werden, die das Rollenbild im Rechtsraum repräsentieren.36
Das BGB bestimmt also zu keiner Zeit direkt die Essenz des Begriffs ›Familie‹. Allerdings knüpft es Elternschaft an bestimmte Voraussetzungen, definiert Vaterund Mutterschaft, regelt Sorgerechte. Der familiäre Mythos des BGB ist ein Mythos der definierten Rollen und der Beziehungen familiärer Akteure zueinander. Im Folgenden geht es ausschließlich – und hier liegt eine wesentliche Begrenzung meines Ansatzes – um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Personen vor dem Hintergrund des Gesetzes Zugehörigkeit zur im Recht institutionalisierten Kernfamilie beanspruchen können oder als Zugehörige der Kernfamilie in Anspruch genommen werden können. Debatten und Streitigkeiten um Sorgeund Umgangsrechte sind damit nicht zwingend gleichbedeutend. Das wird schon deutlich, wenn man sich klar macht, dass es durchaus Situationen gibt, in denen auch rechtlich anerkannte Eltern kein Sorgerecht für ihr Kind haben. Darüber hinaus erfreuen sich Umgangsrechte für einen erweiterten Personenkreis (außerhalb der im Recht abgesteckten kernfamiliären Gruppe) gerade im 20. und im 21. Jahrhundert einer gewissen Konjunktur.37 Die aktuelle Regelung des § 1685 BGB zum »Umgang des Kindes mit anderen Bezugspersonen« (also zum Beispiel mit Großeltern und Geschwistern) wurde vor dem rechtstatsächlichen Hintergrund geschaffen, dass gerade außereheliche Kinder häufiger als mit dem Vater mit anderen Bezugspersonen (Geschwistern, anderen Verwandten der Mutter) zusammenleben.38
Ihr Ziel ist es, »die Sozialbeziehungen des Kindes zu Bezugspersonen, die ihm üblicherweise besonders nahe stehen, zu stärken und auf eine Rechtsgrundlage zu stellen«39. Über das Konzept der ›Kernfamilie‹ im Recht verraten diese Umgangsrechte insofern etwas, als damit sukzessive auch einem erweiterten Kreis von Personen Rechtssicherheit in Bezug auf private Beziehungen zugestanden werden soll. Die oft formulierte Beobachtung, private Beziehungen würden
36 Kroppenberg: Vaterbilder des modernen Zivilrechts, S. 91. 37 Zu Novellierungen im Umgangsrecht vgl. beispielsweise Bamberger/Roth/Veit § 1685 BGB Rn 1.1. 38 Bamberger/Roth/Veit § 1685 BGB Rn 1.1, mit weiteren Nachweisen. 39 Bamberger/Roth/Veit § 1685 BGB.
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im 21. Jahrhundert mehr und mehr »verrechtlicht«40, trifft in diesem Kontext sicherlich zu. Die Frage, welche Bedürfnisse ein solches ›Recht im intimen Raum‹ befriedigt (und wiederum hervorbringt!) ist noch nicht ansatzweise beantwortet. Die entscheidenden (und überschaubareren) Fragen dieser Arbeit aber lauten zunächst: Wer darf sich im Diskurs der Gesetze Vater eines Kindes nennen, wer Mutter? Wie viele Akteure können zur Kernfamilie gehören? Und welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um ein Eltern-Kind-Verhältnis rechtlich abgesichert zu wissen?
2.1 19. Jahrhundert: Ehelichkeit und (Fiktionen von) Leiblichkeit 2.1.1 Ehelichkeit – Zweigeschlechtlichkeit Friedrich Endemanns Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts lobt noch in seiner neunten Auflage aus dem Jahr 1908 die besonderen Errungenschaften der neuen, einheitlichen Gesetzgebung – vor allem vor dem Hintergrund einer offenbar zuvor vermissten Systematik. Das Familienrecht sei »von jeher das Stiefkind der Dogmatik« gewesen: Insofern war die Ausarbeitung des Familienrechts des Bürgerlichen Gesetzbuches eine schöpferische Tat. Das Gesetz gibt uns im wesentlichen eine einheitliche, die familienrechtlichen Beziehungen unter richtiger Würdigung der sittlichen deutschen Anschauungen und der sozialen Lebensverhältnisse ordnende Satzung.41
Einer juristischen Wissenschaft müsse es in erster Linie gelingen, »die zahllosen, durch ihre Fülle erdrückenden Einzelvorschriften auf möglichst einfache, durchsichtige Prinzipien zurückzuführen«42. Die Bestimmungen zum sozialen und gleichzeitig juristischen Konzept der ›Familie‹, die der Ersten Kommission vorschwebten, folgen solch homogen argumentierenden Leitgedanken, zu deren wichtigstem Prinzip die Frage nach Ehelichkeit wird. Vollgültig verwandt im Sinne des Gesetzes sind Kinder mit ihren Eltern nur dann, wenn sie als »ehelich« gelten. Nur dann treten mit der Geburt
40 Von einer »Verrechtlichung« des familiären Bereichs spricht der Soziologe Karl Lenz (vgl. Karl Lenz: Haben Familien und Familiensoziologie noch eine Zukunft? In: Zukunft der Familie. Prognosen und Szenarien [auch: Zeitschrift für Familienforschung, Sonderheft 6]. Hg. von Günter Burkart. Opladen/Farmington Hills 2009, S. 73–91, hier S. 78). 41 Friedrich Endemann: Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts. Einführung in das Studium des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Band 2, 1. Abteilung: Familienrecht. Berlin 1908 [1896], S. VII. 42 Endemann, S. VII.
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eines Kindes alle Rechtsfolgen ein, die nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch in Bezug auf das Verhältnis eines Erwachsenen zu seinem potentiell leiblichen Kind zur Verfügung stehen. An die Ehelichkeit knüpft der Entwurf Folgen im Unterhaltsrecht, namensrechtliche Konsequenzen (die Frage betreffend, welchen Familiennamen das Kind bekommen soll) und die Ausgestaltung der »elterlichen Gewalt« (die im heutigen Familienrecht nach inhaltlich-konzeptuellen Veränderungen seit 1980 unter dem Begriff der »elterlichen Sorge« begegnet)43. Unter dem Titel »Verwandtschaft« besagt der 1466. Paragraph des Entwurfs, dass ein eheliches Kind nicht nur dasjenige sei, welches die Ehefrau während der Ehe von dem Ehemanne empfangen hat, sondern auch dasjenige, welches die Ehefrau vor Schließung der Ehe von dem Ehemanne empfangen und nach Schließung der Ehe geboren hat.44
Diese Bestimmung ist durchaus keine Selbstverständlichkeit, denn Familiengründung bzw. Sexualität außerhalb der Ehe sind nicht der gewünschte Regelfall: Der Entwurf hat sich denjenigen Gesetzgebungen angeschlossen, welche bei der Bestimmung der Ehelichkeit nicht unterscheiden, ob das von der Ehefrau nach Schließung der Ehe geborene Kind von dem Ehemanne während der Ehe oder vor Schließung der letzteren erzeugt ist. Vom natürlichen und sittlichen Standpunkte aus mag ein solcher Unterschied gerechtfertigt sein; vom gesetzgeberischen Standpunkte aus dagegen empfiehlt derselbe sich nicht. Die im § 1466 bestimmte Gleichstellung trägt dazu bei, die Eheschließungen, und zwar bald nach dem Fehltritte der Eltern, zu befördern und so die Zahl der unehelichen Kinder zu vermindern; sie vereinfacht das Recht und schützt zugleich den Ruf der Eltern, wie des Kindes, die Ruhe und den Frieden der Familie, indem sie jede Untersuchung darüber, ob das Kind vor oder nach Schließung der Ehe erzeugt ist, entbehrlich macht.45 (Hervorhebung AM)
Die Zugeständnisse an eine von der Ehe losgelöste Fortpflanzung sind rein pragmatischer, quasi ›volkserzieherischer‹ Natur. Sie sollen der »Ehelosigkeit« keinen Vorschub leisten, sondern die Möglichkeit eröffnen, »Fehltritte« unsichtbar zu machen. Ehe und Familie knüpft der erste Entwurf des BGB damit so eng aneinander, dass der Ehemann tatsächlich – wie im Grundsatz »pater est quem nuptiae
43 Vgl. zum Beispiel Bamberger/Roth/Veit § 1626 BGB Rn 1. 44 Die Paragraphen des Entwurfs entsprechen dem Entwurf erster Lesung aus dem Jahr 1888. Nachzulesen ist dieser Entwurf des Gesetzes in: Die Gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich. Hg. von Benno Mugdan. 4. Band: Familienrecht. Berlin 1899. Im Folgenden wird er zitiert nach dem Muster: § 1466 BGB aF. 45 Motive, S. 647.
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demonstrant«46 – als Vater »bewiesen« ist: »Es wird vermuthet, daß das von der Ehefrau geborene Kind, dessen Empfängniszeit ganz oder zum Theile in die Zeit während der Ehe fällt, von dem Ehemanne erzeugt sei.«47 Zur Begründung dieser Norm führen die Motive die »durch die eheliche Gemeinschaft begründete[ ] Wahrscheinlichkeit« an, »daß der Ehemann innerhalb der Empfängniszeit des Kindes, soweit die letztere in die Zeit während der Ehe fällt, seiner Ehefrau beigewohnt hat«.48 Wie stark sich diese Koppelung noch Jahrzehnte nach den ersten Entwürfen des BGB innerhalb der rechtswissenschaftlichen Literatur hält, zeigen die diesbezüglichen Ausführungen im Lehrbuch Endemanns. Es genüge [n]ach unseren sittlichen und sozialen Zuständen […] zur endgültigen Feststellung der Vaterschaft des Ehemannes, daß die Ehefrau das Kind »in der Ehe« (nach ihrer Eingehung oder innerhalb der Schwangerschaftsdauer nach ihrer Auflösung) geboren hat: Vater ist, wer mit der Mutter die Hochzeit gemacht hat.49
In einer Fußnote heißt es gar: Wenn ein Menschenpaar auf eine einsame Insel verschlagen wird und die Frau, nachdem beide dort drei Jahre allein verweilt haben, ein Kind gebiert, ist, soweit wir als Menschen urteilen können, mit absoluter Gewißheit zu sagen, daß der mit ihr zusammenlebende Mann der Vater des Kindes ist. Für unsere normalen sittlichen Verhältnisse hat das Schlafgemach der Ehefrau die Abgeschlossenheit jener Insel.50 (Hervorhebung AM)
Das rechtliche Konzept ›Familie‹ im Sinn der Motive fußt auf der Absolutsetzung der bürgerlichen Ehe als einzig legitimer Zeugungsgemeinschaft. Die Leiblichkeit eines Kindes ist, zumindest bei Vätern,51 kein Garant für die vollständige familienrechtliche Zuordnung des Kindes zu seinem Elternteil. Im Falle einer unehelichen Zeugung
46 »Vater ist, wer durch die Heirat als solcher erwiesen ist.« Auf diesen Grundsatz verweisen die Motive beispielsweise auf S. 651. 47 § 1468 BGB aF. 48 Motive, S. 653. 49 Endemann, S. 521. 50 Endemann, S. 522, Fußnote 12. 51 Zur Zuordnung des Kindes zur Mutter: Vgl. in diesem Kapitel, 2.1.2.
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hat der Entwurf zwischen dem unehelichen Kinde und dessen Abkömmlingen einerseits und dem unehelichen Vater und dessen Verwandten andererseits familienrechtliche Beziehungen, insbesondere die aus dem ehelichen Eltern- und Kindesverhältnisse sich ergebenden Pflichten und Rechte, grundsätzlich nicht anerkannt.52 (Hervorhebung AM)
Das heißt: Die Verwandten des unehelichen Vaters sind mit ihrem blutsverwandten Enkel oder Neffen bzw. ihrer blutsverwandten Enkelin oder Nichte rechtlich nicht verwandt. Sowohl im Erbrecht als auch im Unterhaltsrecht hat das Konsequenzen, die die Motive durch die emotionale Konfiguration zwischen einem unehelichen Vater und seinem Kind legitimiert sehen. Die uneheliche Abstammung führe in den wenigsten Fällen zu einer innigeren Verbindung zwischen beiden. Meistens steht der Vater dem unehelichen Kinde gleichgültig und fremd gegenüber. Er betrachtet dasselbe als eine Last und hat kein Interesse an dem Wohlergehen, der körperlichen und geistigen Ausbildung desselben. […] [W]enn der Vater die Verpflegung und Erziehung desselben übernimmt, so geschieht dies nur zu oft in seinem eigenen finanziellen Interesse […]. Es ermangeln hier völlig die sittlichen und faktischen Voraussetzungen für die Begründung familienrechtlicher Beziehungen […].53
Den unehelichen Vater trifft immerhin die Unterhaltspflicht aus § 1571 des Entwurfs. Danach ist er »vor der Mutter und den sonstigen Verwandten des Kindes verpflichtet, demselben nach Maßgabe der §§ 1572–1576 den Unterhalt zu gewähren«54. In diesem Zusammenhang erwähnen die Motive die leibliche Verbindung zwischen Vater und Kind – allerdings nur, um sie sogleich auf das Wenigste zu reduzieren: Das durch die Zeugung zwischen dem unehelichen Vater und dem unehelichen Kinde geknüpfte natürliche Band der Verwandtschaft bringt, wenn auch das Gesetz im Uebringen aus den in den Motiven zu § 1568 […] dargelegten Gründen Anstand [sic!] nehmen muß, familienrechtliche Beziehungen zwischen dem unehelichen Kinde und dessen Vater anzuerkennen, doch die natürliche und sittliche Pflicht für den unehelichen Vater mit sich, für den Unterhalt des Kindes zu sorgen. Der Anerkennung dieser Unterhaltspflicht kann das
52 Motive, S. 851. Deutlich wird diese Position auch einige Seiten später: »Wenngleich der Entwurf die Unterhaltspflicht des unehelichen Vaters gegenüber dem Kinde auf die Vaterschaft zurückführt, so erkennt er doch insoweit nur ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem unehelichen Kinde und dessen Vater, nicht auch zwischen dem ersteren und den Verwandten des Vaters an.« (Motive, S. 874) 53 Motive, S. 851 f. 54 § 1571 BGB aF.
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Recht sich nicht entziehen, ohne mit den Gesetzen der Natur und dem Sittengesetze in Widerspruch zu gerathen.55
Die Motive sprechen sich interessanterweise explizit gegen eine »Vaterschaftsanerkennung« aus. Im Wege einer solchen Anerkennung könnte ein leiblicher Vater die (annähernd) vollgültige rechtliche Vaterschaft auch außerhalb der Familie erlangen. Der Entwurf aber hat »das französischrechtliche Institut der Anerkennung nicht aufgenommen«56. Bedenklich sei die Aufnahme jenes Institutes, »weil es die Gefahr mit sich bringt, daß dadurch, namentlich in den unteren Volksklassen, die Ehelosigkeit und das Konkubinat befördert, andererseits das Familienleben, insbesondere der eheliche Frieden, gestört wird«57. Allerdings stehe es dem unehelichen Vater frei, »seinem unehelichen Kinde durch Annahme an Kindesstatt [also durch Adoption, AM] die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes«58 zu verschaffen. »Außerdem gewährt die Legitimation durch nachfolgende Ehe (§§ 1579 ff.) oder durch Ehelichkeitserklärung (§§ 1583 ff.) dem unehelichen Vater die Möglichkeit, seinem unehelichen Kinde die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes zu verschaffen.«59 Dem Vater bleiben, will er rechtlich vollgültig der Vater seines unehelichen Kindes werden, also nur Institutionen, die – abgesehen von der Adoption, für die es gesonderter Voraussetzungen bedarf (s. u.) – eindeutig auf die Ehelichkeit verweisen. Die »Legitimation durch nachfolgende Ehe« kommt dabei sogar einer ›nachträglichen Heirat‹ gleich: Ein uneheliches Kind erlangt durch die nach seiner Geburt zwischen seinem Vater und seiner Mutter erfolgende Eheschließung von der Zeit der letzteren an die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes (Legitimation durch nachfolgende Ehe).60
Auch hinter dieser Regelung verbirgt sich (ähnlich wie bei der Gleichbehandlung der vor der Ehe empfangenen Kinder und denjenigen, die während der Eheschließung empfangen wurden) ein gewissermaßen pädagogisches Prinzip:
55 Motive, S. 868. 56 Motive, S. 852; mit der Anerkennung ist im franz. Recht eine Art ›kleine elterliche Gewalt‹ verbunden. 57 Motive, S. 852. 58 Motive, S. 852. 59 Motive, S. 853. 60 § 1579 BGB aF.
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Das Institut der Legitimation durch nachfolgende Ehe empfiehlt sich nicht allein im Hinblicke darauf, daß durch die nachfolgende Ehe der Eltern des unehelichen Kindes das verletzte Prinzip der Ehe anerkannt, der Widerspruch mit der sittlichen Ordnung beseitigt und das begangene Unrecht geheilt wird, sondern auch um deswillen, weil es im öffentlichen Interesse dazu beiträgt, die Zahl der Eheschließungen zu vermehren, die Zahl der unehelichen Kinder zu vermindern.61 (Hervorhebung AM)
Der Legitimation kommt dabei offenbar sogar der Status einer zweiten Geburt zu. Das legitimierte Kind wird ab dem Zeitpunkt der Eheschließung für ehelich erklärt (nicht etwa rückwirkend).62 Mit der Eheschließung der Eltern beginnt für das vormals uneheliche Kind eine neue Zeitrechnung – im buchstäblichen Sinn. Eine Folge der ausschließlich zukunftsorientierten Ehelichkeit des Kindes ist es namentlich, daß, wenn ein Rechtserwerb von dem Lebensalter des ehelichen Kindes abhängig gemacht ist, die bereits vor der Legitimation geborenen ehelichen Kinder des einen oder anderen Elterntheiles als die älteren anzusehen sind, obwohl sie in Wirklichkeit jünger sind, als die legitimirten Kinder.63
Die Berechnung des (rechtlich relevanten) Lebensalters eines durch Eheschließung legitimierten Kindes setzt, gleich einer ›Neugeburt‹, mit dem Moment neu an, da es ehelich geworden ist. Die Familie gruppiert sich im ersten Entwurf des BGB deutlich nicht um das Kind, sondern um die Eheschließung. Von ihr ist letztlich der rechtliche Status der familiären Mitglieder zueinander primär abhängig. Die Legitimation durch nachfolgende Ehe ist folgerichtig das einzige ›Gegenmittel‹, das die Unehelichkeit eines Kindes tatsächlich beseitigt. Sowohl die »Annahme an Kindesstatt« (also die Adoption) als auch die so genannte »Ehelichkeitserklärung«, mit der Männer nachträglich für eine bessere rechtliche Stellung ihrer unehelichen Kinder sorgen können, machen aus unehelichen Kindern keine ehelichen: [D]urch die Ehelichkeitserklärung und die Annahme an Kindesstatt hört das uneheliche Kind an sich nicht auf, ein uneheliches Kind zu sein; vielmehr erlangt dasselbe in dem gesetzlich näher bestimmten Umfange […] nur die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes.64 (Hervorhebung AM)
61 Motive, S. 919. 62 »Nach § 1579 erlangt indessen das uneheliche Kind die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes nur von der Zeit der Eheschließung an für die Zukunft. Die Legitimation wirkt also nicht bis zu der Geburt des Kindes zurück.« (Motive, S. 923) 63 Motive, S. 924. 64 Motive, S. 920.
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Weiter heißt es: Der Entwurf (§ 1583 Abs. 2, § 1596 Abs. 1) verbindet mit der Legitimation durch Ehelichkeitserklärung nicht die vollen Wirkungen der Legitimation durch nachfolgende Ehe (§ 1579), sondern […] nur mindere Wirkungen, nämlich nur ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem unehelichen Kinde und dessen Abkömmlingen einerseits und dem unehelichen Vater andererseits.65 (Hervorhebung AM)
Bei der Ehelichkeitserklärung ist das mit Blick auf die Bezeichnung dieser rechtlichen Möglichkeit besonders verwunderlich. Sie gilt allerdings nur »als ein Surrogat der Legitimation durch nachfolgende Ehe«66, ist gedacht für Fälle, in denen »durch Tod, Geisteskrankheit, Verschollenheit der Mutter oder aus anderen Gründen die Eheschließung zwischen dem Vater und der Mutter des unehelichen Kindes unmöglich geworden ist«67. Darüber hinaus sind […] auch solche Fälle zu berücksichtigen, in welchen die Eingehung der Ehe mit der Mutter des Kindes zwar möglich, dem Vater des letzteren aber nicht zuzumuthen ist, z. B. weil die Mutter sich später einem liederlichen Lebenswandel ergeben hat, oder aus sonstigen Gründen die Eheschließung als angemessen nicht erachtet werden kann.68
Ehelichkeit bleibt vor diesem Hintergrund das wichtigste Mythem familiärer Narrative im Bürgerlichen Gesetzbuch um 1900. Wird sie ›verpasst‹ oder gar unmöglich, sieht sich die familiäre Struktur in ihrer institutionellen Legitimation bedroht. Mit der Ehelichkeit verbunden ist darüber hinaus unhintergehbar die zweigeschlechtliche Struktur der Familie. Elterliche Gewalt und Familienmitgliedschaft erlangt als erwachsener Mensch nur, wer Teil einer Ehe ist – Teil einer Ehe aber können nur je ein weiblicher und ein männlicher Körper werden. Inge Kroppenberg pointiert: Die Mutter als geborene Sorgeberechtigte, der Vater als geborener Gewalthaber – das sind die beiden radikalen Urmuster des Bürgerlichen Familienrechts im Verhältnis zu den gemeinschaftlichen ehelichen Kindern.69
65 Motive, S. 934. 66 Motive, S. 920. 67 Motive, S. 930. 68 Motive, S. 931. 69 Kroppenberg: Vaterbilder des modernen Zivilrechts, S. 101. Zwei Seiten vorher heißt es: »Die bürgerliche Kindererziehung – das Rechtsverhältnis, auf dem sie beruht, nennt man elterliche Gewalt […] – wird im Familienrecht mit der biologischen Elternschaft, männlich oder weiblich
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2.1.2 Leiblichkeit Leiblichkeit spielt im ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs dort eine begründende, argumentativ wichtige Rolle, wo sie eindeutig ›beweisbar‹ scheint: Der Ehemann gilt als rechtlicher Vater, weil nur er als Zeugender denkbar und damit bewiesen ist. Gleichzeitig muss der uneheliche Vater nur dann für den Unterhalt des Kindes aufkommen, wenn erwiesen ist, dass er »mit der Mutter desselben innerhalb der Empfängniszeit den Beischlaf vollzogen hat«70. Bedient er sich erfolgreich der so genannten exceptio plurium concumbentium, der »Einrede der mehreren Beischläfer«71, kann er also beweisen, dass innerhalb der Empfängniszeit »auch von einem Anderen der Beischlaf mit der Mutter vollzogen«72 wurde, wird er nicht unterhaltspflichtig: Da der innere Grund der Unterhaltspflicht des unehelichen Vaters nur in dem durch die Zeugung zwischen dem Kinde und dem Erzeuger geknüpften Bande der Blutsverwandtschaft gefunden werden kann und auch der Entwurf jene Unterhaltspflicht auf die Vaterschaft als Rechtsgrund zurückführt (§ 1571), so kann es nicht zweifelhaft sein, daß vom Standpunkte der juristischen Konsequenz aus die Thatsache, daß innerhalb der Empfängniszeit die Mutter mit mehreren den Beischlaf vollzogen hat, als erheblich erachtet werden muß. Das die Grundlage der Unterhaltspflicht bildende natürliche Verhältniß zwischen dem Kinde und dem Konkumbenten ist in einem solchen Falle nicht feststellbar und deshalb für das Recht nicht vorhanden.73
Mutterschaft hingegen ist kein »Rechtsgeschäft«, hat weder Legitimationsakte noch Ehelichkeit zur Voraussetzung. Die »Thatsache der Mutterschaft«74 denken schon die Motive rein biologisch (zur aktuellen Situation s. u.). Für die Mutter eines unehelichen Kindes hat die kaum widerlegbare Leiblichkeit unausweichliche Konsequenzen. Obwohl der Mutter die volle elterliche Gewalt nicht zuerkannt wird,75 gilt das Kind dem Entwurf – anders als beim unehelichen Vater –
zu sein, verbunden. Es ist diese Verankerung in den Körpern der Menschen, die die elterliche Gewalt entlang der Geschlechterrollenformen teilt und kompartimentiert.« 70 BGB § 1572 aF. 71 Vgl. Motive, S. 885. 72 § 1572 BGB aF. 73 Motive, S. 885. 74 Motive, S. 856. 75 Regelmäßig wird »der unehelichen Mutter […] die elterliche Gewalt versagt«, weil »in vielen Fällen die unehelichen Mütter leichtsinnige und verschwenderische Personen sind«. (Motive, S. 862) Die Erfahrung lehre, »daß uneheliche Kinder in körperlicher wie in geistiger Hinsicht nur zu oft verwahrlost werden. Das Interesse dieser zahlreichen Kinder und mittelbar der Gesellschaft erheischt es dringend, möglichst sichere Garantien zu schaffen, daß dieselben in körperlicher und geistiger Beziehung eine gute Ausbildung erhalten und zu nützlichen Gliedern der
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als rechtlich mit ihr und ihrer Familie verwandt. Dahinter steht »das dringende Interesse, die Lage der unehelichen Kinder zu verbessern«76. Man geht davon aus, dass – explizit trotz der Unehelichkeit – die emotionale Bindung des Kindes zur Mutter und zu deren Verwandtschaft ›natürlicherweise‹ gegeben sein wird. In den Worten der Motive: dass die faktischen und sittlichen Voraussetzungen für familienrechtliche und erbrechtliche Beziehungen zwischen dem unehelichen Kinde und dessen Abkömmlingen einerseits und der Mutter und deren Verwandten andererseits, wenn auch nicht in demselben Maße, wie bei ehelicher Abstammung, so doch regelmäßig in einem solchen Grade vorhanden sind, daß, unter Vorbehalt geeigneter, der Verschiedenheit der Sachlage entsprechender Modifikationen, dem unehelichen Kinde im Verhältnisse zur Mutter und zur mütterlichen Familie grundsätzlich die Stellung ehelicher Kinder eingeräumt werden kann.77
Das uneheliche Kind stehe »der Mutter entschieden viel näher als dem Vater«78. Es sei schließlich »schon von der Natur der Mutter anvertraut und deren Pflege und Erziehung überlassen«79. Durch die volle rechtliche Zuordnung des Kindes zur Mutter werde das zunächst auf der natürlichen Verbindung beruhende Band der Liebe zwischen dem unehelichen Kinde und dessen Mutter fester geknüpft, und werden andererseits durch diese nahen Beziehungen zwischen dem unehelichen Kinde und der Mutter von selbst auch die durch die Einheit des Blutes begründeten Beziehungen desselben zur Familie der Mutter aufrecht erhalten und belebt […].80
menschlichen Gesellschaft erzogen werden. Diese Garantien würden aber regelmäßig fehlen, wenn man der unehelichen Mutter die elterliche Gewalt über ihr uneheliches Kind einräumen wollte. Hat die uneheliche Mutter an sich auch die Fähigkeit, die mit der elterlichen Gewalt verbundenen Pflichten und Rechte zu erfüllen bezw. auszuüben, so mangelt es ihr doch zu oft an dem guten Willen und dem genügenden Ernste. In vielen Fällen hat die uneheliche Mutter für das uneheliche Kind nicht das gleiche Interesse und die gleiche hingebende, das Beste des Kindes im Auge habende Liebe, wie die eheliche Mutter für ihr eheliches Kind; vielmehr verhält sie sich gleichgültig gegen das uneheliche Kind und betrachtet dasselbe wohl gar als eine drückende Last. Dazu kommt, daß die uneheliche Mutter selten einen festen Hausstand hat, daß sie, um ihrem Erwerbe nachzugehen, häufig von dem Kinde getrennt ist und dasselbe gegen eine billige Vergütung fremden Personen überläßt, welche dabei weniger das Interesse des Kindes als ihr eigenes Interesse berücksichtigen.« (Motive, S. 860 f.) 76 Motive, S. 854. 77 Motive, S. 854. 78 Motive, S. 854. 79 Motive, S. 854. 80 Motive, S. 855. Interessanterweise kommt hier die Vorstellung zum Ausdruck, Recht könne natürlich vorhandene Emotionen verstärken oder zumindest stützen.
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Obwohl die Mutter im Falle einer unehelichen Geburt nicht die elterliche Gewalt über ihr Kind erlangt, kann sie von der Pflicht zur Sorge für das Kind nicht freigesprochen werden: Wenngleich der Entwurf aus den angeführten Gründen Anstand genommen hat, der unehelichen Mutter die elterliche Gewalt über das uneheliche Kind zu übertragen, so ist es doch im Anschlusse an das überwiegend geltende Recht als unbedenklich erachtet, der Mutter […] die thatsächliche Sorge für die Person des Kindes als ein selbständiges, ihr kraft des Gesetzes zustehendes Recht unter Aufsicht des bestellten Vormundes zu überlassen […].81
Die Leiblichkeit der Mutterschaft mündet damit in einer Konstruktion, die der Mutter eines Kindes zwar Pflichten überträgt, aber kaum Rechte einräumt. Auch vor diesem Hintergrund erscheint die Ehe als Fluchtpunkt familiären Zusammenlebens: Außerhalb dieser Institution lässt sich Familie nur unter deutlich erschwerten Bedingungen realisieren. »Die Bürgerliche Familie« des beginnenden 20. Jahrhunderts, schreibt Inge Kroppenberg, »ist eine (status-)rechtlich fundierte Kleingruppe«: »Wer dazu gehören möchte, muss sich gegenüber dem Vater juristisch legitimieren, als Ehefrau oder eheliches Kind.«82 Zwischen den beiden Mythemen Leiblichkeit und Ehelichkeit besteht damit offenbar sowohl bei der Vater- als auch bei der Mutterschaft ein hierarchisches Verhältnis zugunsten der Ehelichkeit. Allerdings lohnt sich in diesem Kontext ein Blick in die Diskussionen der Motive zur Regelung der »Annahme an Kindesstatt«. Die Grundlagen von Familienbildern und -mythemen lassen sich vor allem auch dort beobachten, wo Familien ihre ›natürliche‹ Grundlage im Sinne einer Zeugung fehlt.83 Dann nämlich müssen sie ›rein‹ rechtlich, abseits ›natürlicher‹ verwandtschaftlicher Verhältnisse konstruiert werden. In diesem Zusammenhang rückt die Leiblichkeit von ihrer marginalisierten Position ins Zentrum der Debatte: Das rechtliche Konstrukt der Adoption muss sich, das wird der folgende Überblick zeigen, immer wieder an ihrem ›Mangel‹ an Leiblichkeit messen lassen.
81 Motive, S. 862. 82 Kroppenberg: Vaterbilder des modernen Zivilrechts, S. 97 f. Kroppenberg weist außerdem darauf hin, dass sich die bürgerlich-rechtliche Familie aus diesem Grund »von einer ganzen Reihe von Personen« trennt: »Konkubinen und nichteheliche Kinder, die in vormoderner Zeit abhängig vom Reichtum und Stand des Hausvorstands, durchaus auf Anerkennung, Versorgung oder überhaupt auf eine rechtliche Stellung hoffen konnten, finden sich nun außerhalb des Kreises der Kernfamilie wieder, die auf diese Weise ihre Ressourcen stärker zusammenhalten kann.« (S. 98) 83 Zu Familienbildern im Adoptionsrecht vgl. auch Ingeborg Schwenzer: Familienbilder im Adoptionsrecht. In: Schwenzer: Familie und Recht. Ausgewählte Beiträge aus 25 Jahren. Bern 2010, S. 685–709.
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2.1.3 Rechtliche Zeugung als begrenzte Fiktion: Adoption im 19. Jahrhundert Ein Blick auf die Adoption soll das Mythem des ›gleichen Blutes‹ noch einmal konturieren. Der Adoption – in den Motiven ist vorrangig von der »Annahme an Kindesstatt« die Rede – wird vor dem Hintergrund der familienrechtlichen Systematik im 19. Jahrhundert mit ausdrücklicher Skepsis begegnet. Die rein rechtlich begründete Verwandtschaft ist dort ein Fremdkörper, wo man sich im Regelfall auf eheliche Abstammung oder Blutsverwandtschaft verlässt. Es lasse sich nicht leugnen, daß manche Bedenken gegen die Aufnahme des Institutes der Annahme an Kindesstatt erhoben werden können. Man hat in der Zulässigkeit der Annahme an Kindesstatt eine Beförderung der Ehelosigkeit, ein Mittel zur Befriedigung des Eigennutzes auf Seiten des Annehmenden, eine Verwirrung und Verdunkelung der Familienrechte, insbesondere auch einen ungerechtfertigten Eingriff in die auf Blutsverwandtschaft beruhende Erbberechtigung der Familie des Annehmenden gesehen.84
Dennoch sei die Aufnahme des Institutes in das Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs gerechtfertigt. Zum einen sei nämlich die »Annahme an Kindesstatt […] namentlich für wohlhabende, edeldenkende Personen, welche in kinderloser Ehe leben, ein erwünschtes Mittel, diesen Mangel zu ersetzen«85. Darüber hinaus trage die Adoption dazu bei, »die Zahl der illegitimen, eines Familienlebens entbehrenden Kinder zu vermindern«86. Die beiden Argumente pro Adoption verweisen auf die gängigsten ›Einsatzbereiche‹ der Adoption nach dem neuen Gesetz für das Deutsche Reich. Zum einen eröffnet das Adoptieren eine weitere Möglichkeit, im Falle einer unehelichen Geburt den Makel der Ehelosigkeit zu beseitigen: Wahlkind kann ein fremdes wie ein eigenes uneheliches Kind sein. Der Fall, daß der Vater sein uneheliches Kind adoptiert, hat besonders wichtige Bedeutung, weil damit die vielleicht zweifelhafte Frage der Vaterschaft ausgeschaltet und die Erbittung der Ehelichkeitserklärung erübrigt wird. Aber auch die Mutter kann ihr eigenes uneheliches Kind adoptieren, obgleich dieses ihr gegenüber bereits die Stellung eines ehelichen Kindes hat; denn sie erlangt durch die Annahme das Recht der elterlichen Gewalt.87
Zum anderen soll kinderlosen Ehepaaren Familie ermöglicht werden. Die Adoption steht dabei nicht als zweiter möglicher (und gleichberechtigter) Weg der Familiengründung zur Verfügung. Vielmehr soll
84 Motive, S. 951. 85 Motive, S. 952. 86 Motive, S. 952. 87 Endemann, S. 693.
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die Annahme an Kindesstatt nur ein subsidiäres Mittel sein […], ein Eltern- und Kindesverhältnis zu begründen. Solange dieser Zweck noch auf dem Wege der ehelichen Zeugung erreicht werden kann, liegt nicht nur kein Bedürfniß für die Annahme an Kindesstatt vor, sondern ist auch deren Nichtzulassen im Interesse der Beförderung der Ehen rathsam.88
Der Annehmende muß daher nach § 1603 Absatz 1 des Entwurfs »das 50. Lebensjahr zurückgelegt haben«, »davon ausgehend, daß in diesem Alter die Zeugungskraft, wenn auch nicht aufgehoben, doch geschwächt und die Wahrscheinlichkeit der Erzielung eigener Kinder auf dem Wege der ehelichen Zeugung geringer geworden ist«.89 Es besteht durchaus die Option, diese Altersgrenze zu senken, allerdings nur, wenn die Zeugungsunfähigkeit als erwiesen gilt.90 Die Annahme an Kindesstatt ist buchstäblich »ein künstliches Institut«91, die Imitation eines Eigentlichen, das aber unerreicht bleibt. Für das Verhältnis zwischen Kind und Annehmendem bzw. Annehmenden muss das Prinzip »adoptio naturam imitatur«92 gelten. Deshalb muss der Annehmende »mindestens achtzehn Jahre älter sein als das Wahlkind«93. »Der Zweck der Annahme an Kindesstatt geht gerade dahin, durch dieselbe für den Annehmenden eine fiktive eheliche Nachkommenschaft zu begründen.«94 (Hervorhebung AM) Wie im heutigen Adoptionsrecht auch (s. u.) bleibt der stärkste Bezugspunkt dieser »fiktiven« Familiengründung die Ehe: Nur Ehegatten (nicht etwa ein Geschwisterpaar oder ein Freundespaar) können »eine Person als gemeinschaftliches Kind annehmen«95. Das entspreche »den natürlichen Verhältnissen«96, denn »[n]iemand kann das eheliche Kind mehrerer Personen sein, sofern die letzteren nicht miteinander in der Ehe leben oder gelebt haben«97.
88 Motive, S. 960. 89 Motive, S. 960. 90 Vgl. Motive, S. 960: »Um die Annahme an Kindesstatt auch für solche im Voraus nicht zu übersehende Fälle zu ermöglichen, in welchen der Annehmende zwar das fünfzigste Lebensjahr noch nicht zurückgelegt hat, nach den individuellen Verhältnissen desselben aber anzunehmen ist, daß derselbe leibliche Kinder nicht mehr erzielen werde, erklärt der § 1603 Abs. 2 Dispensation von dem im § 1603 Abs. 1 aufgestellten Erfordernisse für zulässig […].« 91 Motive, S. 964. 92 Endemann, S. 693 (Fußnote). Die Motive sprechen von dem »Grundsatze, daß das künstlich geschaffene Kindesverhältnis dem natürlichen möglichst entsprechen und ein möglichst inniges werden soll […].« (Motive, S. 961) 93 Endemann, S. 693. 94 Motive, S. 958. 95 § 1608 BGB aF. 96 Motive, S. 963. 97 Motive, S. 963.
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Wie schwer die Integration der ›künstlichen‹ Familienbande bei aller imitatio fällt, zeigen die Stellen in den Motiven, an denen von der Gefahr einer Vermischung eigener ehelicher Kinder und adoptierter Kinder die Rede ist. Bereits vorhandene eheliche Kinder stehen in Konkurrenz zu einer gewünschten Adoption, ja schließen diese kategorisch aus. Das adoptierte Kind bleibt in der Argumentation der Motive ein ›fremdes‹ Kind, das den häuslichen Frieden der bürgerlichen Ehe zu stören in der Lage wäre: Für den Entwurf ist die Erwägung maßgebend gewesen, daß, wenn der Annehmende einen ehelichen Abkömmling hat, einerseits für eine Annahme an Kindesstatt regelmäßig ein Bedürfnis nicht vorliegt, andererseits dieselbe die Gefahr mit sich bringt, daß durch die Aufnahme eines fremden Kindes das häusliche Glück gestört und die Gelegenheit zu Mißhelligkeiten zwischen dem Annehmenden und dessen ehelichen Abkömmlingen gegeben wird, Mißhelligkeiten, welche namentlich daraus entstehen können, daß durch die Annahme an Kindesstatt die Hoffnungen der ehelichen Abkömmlinge in erbrechtlicher Hinsicht getäuscht werden.98 (Hervorhebung AM)
Die Adoption des fremden Kindes ist dann auch immer unvollständig. Obwohl mit ihr »der Angenommene die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes des Annehmenden erlangt«99, hat diese ›Anverwandung‹ ihre Grenzen. § 1620 Absatz 2 besagt: Der Angenommene und dessen Abkömmlinge erlangen weder die rechtliche Stellung von Verwandten der Verwandten des Annehmenden noch die von Verschwägerten des Ehegatten des Annehmenden; der Ehegatte des Angenommenen oder eines Abkömmlings desselben erlangt nicht die rechtliche Stellung eines Verschwägerten des Annehmenden.100
Etwas klarer formulieren die Motive: In Württemberg wird angenommen, daß durch die Annahme an Kindesstatt zwischen dem Angenommenen und den Verwandten des Annehmenden keine Verwandtschaft entsteht. […] Der Entwurf (§ 1620 Abs. 2) schließt sich in dieser Beziehung den modernen Rechten an. Eine Ausdehnung des durch die Annahme an Kindesstatt begründeten Verhältnisses auf
98 Motive, S. 957. Dass es sich hier ideologisch durchaus um eine Bevorzugung der leiblichen Kinder handelt (und nicht etwa um die Sicherung eines maximal großen Erbteils für das einzelne Kind), zeigt die Tatsache, dass die Annahme mehrerer Adoptivkinder (die ein eventuelles Erbteil ebenfalls in kleinere Teile zerbrechen ließe) nicht ausgeschlossen ist (vgl. Motive S. 959). 99 Motive, S. 956; vgl. § 1601 BGB aF: »Durch die Annahme an Kindesstatt erlangt der Angenommene die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes des Annehmenden, soweit nicht aus dem Gesetze ein Anderes sich ergiebt.« 100 § 1620 Absatz 2 BGB aF.
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die Verwandten des Annehmenden würde über den Zweck des Institutes und das Bedürfniß hinausgehen und den heutigen Anschauungen nicht entsprechen.101
Das angenommene Kind wird also nicht verwandt mit den Verwandten seiner Adoptiveltern. ›Adoptierte Großelternschaft‹ existiert um 1900 nicht. Die rechtliche Ausgestaltung der Adoption sorgt im Gegenteil dafür, dass das Adoptivkind weiterhin an seine Herkunftsfamilie gebunden bleibt: Wie der Angenommene auf der einen Seite nicht in die Familie des Annehmenden eintritt (§ 1620 Abs. 2), so hört derselbe andererseits nicht auf, Mitglied seiner natürlichen Familie zu sein.102
Begründet wird diese Rückbindung unter anderem mit der »natürlichen Grundlage der familienrechtlichen Beziehungen«103, mit der die Adoption nicht dienen kann. Mit der Wirkung der Adoption verlieren die leiblichen Eltern zwar dauerhaft »die elterliche Gewalt über den Angenommenen«104. Das Kind bleibt aber »mit allen Rechten und Pflichten, wie insbesondere der wechselseitigen Erbberechtigung und dem Rechte wie der Pflicht zur wechselseitigen Unterhaltgewährung der Angehörige seiner Stammfamilie«105. Darüber hinaus wird so in der Auslegung Endemanns »das natürliche Interesse [der leiblichen Eltern] an dem Wohlergehen des Kindes rechtlich anerkannt«106. Familiengründung durch Adoption bleibt im 19. Jahrhundert vor allem deshalb prekär, weil Leiblichkeit und Ehelichkeit (die letztlich immer auch Leiblichkeit suggerieren oder garantieren soll) als Kriterien für Verwandtschaft absolut gesetzt werden. Für ein zweites Institut des Verwandtwerdens ist hier offenbar kein Platz.
2.1.4 Zusammengefasst: Wer ist ›Familie‹ im 19. Jahrhundert? Als Leitlinien und damit Mytheme107 der familienrechtlichen Diskussion um 1900 können Ehelichkeit und Leiblichkeit destilliert werden. In erster Linie entsteht die bürgerliche Familie dort, wo geheiratet wurde – die Leiblichkeit der Kinder ist
101 Motive, S. 980. 102 Motive, S. 989. 103 Motive, S. 989. 104 § 1626 BGB aF. 105 Endemann, S. 700. 106 Endemann, S. 700. 107 Zum Begriff des Mythems vgl. die Einleitung dieser Arbeit.
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dann ihrer Ehelichkeit untergeordnet. Ausdrücklich beschäftigten sich die Motive mit Fällen, in denen die leibliche Verwandtschaft der Kinder mit dem Vater in Zweifel steht. Das Institut der Ehe erlaubt hier eine ›Leiblichkeitsfiktion‹, die sich weniger an den Tatsachen als an rechtspragmatischen und volkserzieherischen Erwägungen orientiert. Obwohl Leiblichkeit sich innerhalb der bürgerlichen Ehe fingieren lässt, damit durchaus ein ›biegsames‹ Konzept bleibt, stellt sie sich als Dreh- und Angelpunkt der Debatte um die »Annahme an Kindesstatt« heraus. Fehlende Leiblichkeit wird hier problematisch bewertet und ist darüber hinaus auch nicht ersetzbar. Vollständig verwandt werden adoptierte Kinder mit ihrer Adoptivfamilie nie, gleichzeitig betont der Gesetzgeber das natürliche (leibliche) Band der adoptierten Kinder zu ihrer Ursprungsfamilie. Der bürgerliche Familienmythos vermittelt sich damit über Ehelichkeit und Leiblichkeit gleichermaßen. Beide Mytheme werden innerhalb der Debatten der Motive zwar als historisch erkannt: Beinahe jeder Abschnitt der Motive beginnt mit einer Diskussion der rechtstheoretischen Prinzipien der einzelnen aktuell gültigen Gesetze, der sich die »Position des Entwurfs« anschließt oder von der sie sich abgrenzt. Diese Position begreift sich aber nicht als rein subjektive Setzung. Sie orientiert sich stets am »sittlichen Gefühl«, an »Natürlichkeit« oder »Billigkeit« als unhintergehbaren Instanzen. »Es handelt sich«, so Inge Kroppenberg, hier »um eben jene Form der enthistorisierenden Vergegenwärtigung, die Grundlage war für die Mythisierung der Familie und Raum bot für die Sakralisierung des privaten Raums schlechthin.«108
2.2 21. Jahrhundert: Neue Technologien, neue Konstellationen? Familienrechtliche Entwicklungen […] scheinen wenig kohärent und sind durchaus widersprüchlich, allenfalls gar antinomisch […]. (Andrea Büchler)109
Leiblichkeit und Ehelichkeit werden auch im beginnenden 21. Jahrhundert noch als Voraussetzungen für das Entstehen familienrechtlicher Bindungen diskutiert.
108 Kroppenberg: Vaterbilder des modernen Zivilrechts, S. 103. 109 Jenseits des ganz normalen Chaos des Familienrechts: Transistenzen und Persistenzen, Konvergenzen und Divergenzen in den Familienrechten Europas: institutionelle Betrachtungen, vertragliche Bindungen und rechtliche Verantwortung in Gegenwart von Pluralität. In: Private Law. National, Global, Comparative. Festschrift für Ingeborg Schwenzer zum 60. Geburtstag. Hg. von Andrea Büchler und Markus Müller-Chen. Band 1. Bern 2011, S. 285–304, hier S. 299.
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Neue Reproduktionstechnologien und neue Möglichkeiten, Elternschaft nachzuweisen, verändern dabei aber wesentlich die Grundlagen der Diskussion.110 Das 21. Jahrhundert kennt Elternschaft darüber hinaus nicht nur als biologisch-genetische, sondern auch als ›soziale‹ bzw. ›gelebte‹. Die Frage, wo Familien beginnen, welchen sozialen Konstellationen man den rechtlichen Status einer Familie zubilligen sollte und muss, hat sich deutlich verkompliziert. Grundgesetz und Bürgerliches Gesetzbuch durchdringen unterschiedliche familiäre ›Prinzipien‹, die miteinander nicht immer vereinbar erscheinen.
2.2.1 Familien im Grundgesetz 2.2.1.1 Willkommen in der Struktur: Der Ehebegriff des Artikels 6 GG Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes beansprucht seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes für »Ehe und Familie« den »besonderen Schutz[ ] der staatlichen Ordnung«. Die weiterhin herausragende Position der Ehe im familiären Diskurs legt schon diese syntaktische Zusammenstellung der beiden Begriffe »Ehe« und »Familie« nahe. Es scheint mir daher sinnvoll, zunächst den Ehebegriff des Artikels 6 genauer zu konturieren. Erst im Anschluss daran werde ich mich mit dem grundgesetzlichen Konzept der Familie beschäftigen, das der Gesetzgeber auch im 21. Jahrhundert von der Ehelichkeit offenbar nur zögerlich trennt. Das Grundgesetz schützt die Institution Ehe in erster Linie vor staatlichen Eingriffen: »Der Staat ist verpflichtet, den diesbezüglichen Freiraum der ehelichen Lebensgestaltung, also die spezifische Privatsphäre der Ehepartner zu achten […].«111 Auch politisch darf der Begriff ›Ehe‹ nicht in Dienst genommen werden. Es ist dem Gesetzgeber, schreibt der Kommentator Uhle mit Blick auf
110 Grundlegend (vor allem aus kulturwissenschaftlicher Perspektive) zur Auswirkung der Reproduktionstechnologien auf die familiäre Struktur: Andreas Bernard: Samenspender, Leihmütter, Retortenbabies. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. In: Fragmentierte Familien. Brechungen einer sozialen Form in der Moderne. Hg. von Inge Kroppenberg und Martin Löhnig. Bielefeld 2010, S. 169–183: »Wenn Lévi-Strauss über das ›Gesetz der Deszendenz‹ sagt, dass es nicht nur bedeutet, ›daß man Eltern haben muß, sondern auch, daß man ihnen ähnlich sein wird‹, dann steht genau dieses Gesetz im Zeitalter der assistierten Empfängnis auf dem Prüfstand. Denn es ergeben sich Mischformen, Fragmentierungen, Vervielfältigungen, aufgespaltene Mutter- und Vaterschaften – neue Familien- und Verwandtschaftsstrukturen also, die sich in unserer Kultur und in unserem Rechtssystem neu organisieren müssen.« (S. 170) 111 Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 25. Uhle verweist hier auf ein grundlegendes Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 1957. Wörtlich heißt es dort: »Es handelt sich dabei [bei Artikel 6 Absatz 1 GG, AM] zunächst um eine Bestimmung im Sinne der klassischen Grundrechte, die angesichts der Erfahrungen in der Zeit der nat[ional]soz[ialistischen] Herrschaft dem Schutz der spezifischen Privatsphäre von Ehe und Familie vor äußerem Zwang durch den Staat dienen
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die einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts, »bei der Ausgestaltung seiner Rechtsordnung untersagt […], inhaltlich ein spezifisches Bild der Eheverhältnisse zu formen und verbindlich bzw[.] drängend vorzuschreiben«112. Gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes scheint der Begriff ›Ehe‹ also auf der einen Seite inhaltlich maximal vage bleiben zu müssen (Freiraum der Lebensgestaltung für die Ehepartner, keine politische Institutionalisierung). Andererseits gibt Artikel 6 GG auch eine »Institutsgarantie«, die den Gesetzgeber verpflichtet, die »wesentlichen Strukturen von Ehe und Familie«113 zu erhalten. Der Gestaltungsfreiheit der Ehepartner korrespondiert eine Bindung des Staates an das »der Verfassung zugrunde liegende[ ] Bild[ ] von Ehe und Familie«114. Dieses Bild sei, so das Bundesverfassungsgericht, »von Alters her überkommen und in seinem Kern unverändert geblieben«115. Artikel 6 GG schafft damit zwei Perspektiven auf den rechtlichen Begriff der ›Ehe‹. Der private Ehebegriff des Bürgers muss unangetastet bleiben. Gleichzeitig markiert die ›Ehe‹ als Rechtsbegriff eine Institution, deren »Ordnungskern […] die unverrückbare Grenze«116 der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bedeute.
soll.« (BVerfGE 6, 55, 72 ff. = NJW 1957, 418 [»Verfassungswidrigkeit der Zusammenveranlagung von Ehegatten zur ESt; Normenkontrollverfahrensrecht«]) 112 Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 25, mit Verweis auf BVerfGE 53, 257, 296 f. (»Versorgungsausgleich I«) und BVerfGE 87, 234, 258 f. (»Einkommensanrechnung«). Uhle bezieht sich auch auf die Kommentierung bei Mangoldt/Klein/Starck und Sachs. Der Autor erwähnt hier interessanterweise die Einführung einer verpflichtenden Elternzeit für Väter und bewertet sie als problematisch im Hinblick auf politisch motivierte Eingriffe in die Familie: »Angesichts dessen sind etwa die beim sog[.] Elterngeld vorgesehenen ›Vätermonate‹ wegen des mit ihnen verbundenen gesellschaftspolitisch-erzieherischen Effekts verfassungsrechtlich problematisch […].« 113 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 29; der Kommentar führt an dieser Stelle eine ganze Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts an, die auf diese Wendung rekurriert. Die jüngste: BVerfGE 105, 313, 344 f. = NJW 2002, 2543 ff. (»Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes«). 114 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 29; die Formulierung entnimmt Uhle BVerfGE 80, 81, 92 = NJW 1989, 2195 (»Aufenthaltsrecht eines adoptierten erwachsenen Ausländers«) bzw. BVerfGE 76, 1, 49 = NJW 1988, 626 (»Ehegattennachzug zu Ausländern«). 115 BVerfGE 10, 59, 66 = NJW 1959, 1483 (»Verfassungswidrigkeit des Stichentscheides des Vaters«). 116 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 30; Uhle verweist hier auf das bereits erwähnte Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur »Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes« (BVerfGE 105, 313, 345 f. = NJW 2002, 2543 ff.), das zwar die Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetztes bescheinigt, damit aber andererseits eine deutliche Trennung zwischen zwei- und gleichgeschlechtlichen rechtlichen Partnerschaften zieht. (»Die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare verletzt Art. 6 Abs. 1 GG nicht. Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG hindert den Gesetz-
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Gemeint ist damit eine inhaltliche Festlegung des Gesetzgebers auf nicht verhandelbare Prinzipien, die die Ehe ›an sich‹ prägen. So ist es zum Beispiel nicht erlaubt, die Ehe einfach abzuschaffen oder »wesenskernrelevante[ ]«117 Änderungen daran vorzunehmen. Das gilt auch – wenn auch nicht im gleichen Maße – für den Begriff der ›Familie‹. Nicht zur Disposition stehen darf die »familiäre Solidarität«, das meint: keine Familie ohne »Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber ihrem Kind«118. Gleichzeitig ist »die elterliche Sorge für das minderjährige Kind«119 nicht suspendierbar. Artikel 6 GG verspricht in diesem Sinne »Schutz« als Rechtssicherheit für bestimmte Formen menschlichen Miteinanders. So wird gesellschaftliche Wirklichkeit benannt und gegebenenfalls gestaltet. Rechtsfolgen treten nur ein, wenn sich das Tatsächliche als »Sachverhalt« unter die gegebene Norm subsumieren120 lässt: Nur wenn also ein bestimmtes soziales Gefüge als »Familie« oder »Ehe« rechtlich ›erkannt‹ werden kann, bestehen Unterhaltsrechte und -pflichten, gibt es die Möglichkeit zu erben und zu vererben, darf im rechtlichen Sinn füreinander gesorgt werden bzw. Sorge in Anspruch genommen werden. Nach Uhles Kommentierung erwächst aus Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes auch das Gebot, die Ehe als Institution gegenüber anderen, möglicherweise ähnlichen Institutionen zu privilegieren (so genanntes »Privilegierungsgebot«):121 Daher ist die Legislative gehalten, zwischen Ehe und Familie einerseits und allen übrigen Formen menschlicher Lebensgemeinschaft andererseits einen rechtlichen Abstand einzuhalten […].122
geber nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder nahe kommen. Dem Institut der Ehe drohen keine Einbußen durch ein Institut, das sich an Personen wendet, die miteinander keine Ehe eingehen können.«) 117 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 30. 118 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 32. 119 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 32. 120 Grundlegend zur Problematik des Begriffs und der Methode der Subsumtion vgl. Gottfried Gabriel und Rolf Gröschner: Subsumtion. Schlüsselbegriff der juristischen Methodenlehre. Tübingen 2012. 121 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 36 mwN im Schrifttum. 122 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 36 mit Hinweis auf die Kommentierung bei Sachs. Mit dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur »Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner« ist der Bereich dieser grundrechtlich legitimierten Privilegierung allerdings geschrumpft. Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass der »durch Art. 6 Abs. 1 GG gebotene besondere Schutz der Ehe […] die Benachteiligung angenommener Kinder eines Lebenspartners gegenüber angenommenen Kindern eines Ehepartners [nicht rechtfertigt]. Zwar ist es dem Gesetzgeber wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe grundsätzlich nicht verwehrt, diese gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen. Zur Rechtfertigung der Benach-
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Das hat gravierende Folgen beispielsweise für die Einführung einer neuen Institution wie der Eingetragenen Lebenspartnerschaft. Was genau fasst der Gesetzgeber unter »Ehe«, an welche Voraussetzungen knüpft er sie und wie (und mit welcher Begründung) grenzt er sie ab von Formen nichtehelichen Zusammenlebens? Den Begriff der ›Ehe‹ trifft, wie andere Begriffe des Rechts,123 die Diskussion um das Zusammenspiel möglichst überzeitlich geltender Regelungen auf der einen Seite und dem, was man auf der anderen Seite mit dem Schlagwort des »gesellschaftlichen Wandels« belegt.124 »Ausgangspunkt für die Bestimmung der durch das Grundgesetz nicht definierten, kulturell geprägten Institution der Ehe« sei, liest man bei den Kommentatoren zum Grundgesetz, »ihr ›verweltlichtes‹, also bürgerlich-rechtliches Verständnis, wie es der allgemeinen Begriffsverwendung zur Zeit der Verfassungsgebung zugrunde gelegen hat […]«.125 Das bedeutet aber nicht, so Uhle, »dass der Ehebegriff gegen jeden Wandel abgeschottet wäre«126. Ähnlich argumentiert auch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2002: Das Grundgesetz selbst enthalte »keine Definition
teiligung vergleichbarer Lebensgemeinschaften bedarf es jedoch eines hinreichend gewichtigen Sachgrundes, der hier nicht gegeben ist« (Bundesverfassungsgericht, Pressestelle, Pressemitteilung Nr. 9/2013 vom 19.2.2013, Beschluss vom 19.2.2013; online abrufbar: http://www.bverfg.de/ pressemitteilungen/bvg13–009.html [letzter Zugriff am 20.9.2014]). 123 Zu denken wäre etwa an »Sittlichkeit« bzw. »Sittenwidrigkeit«. 124 Zur Konfrontation eines statischen Ehebegriffs mit »gesellschaftlichem Wandel« vgl. Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle GG Art. 6. Vgl. auch Anne Röthel: Institution und Intimität. Die Ehe, ihre Leitbilder und ihr Recht aus privatrechtlicher Sicht. In: Begegnungen im Recht. Ringvorlesung der Bucerius Law School zu Ehren von Karsten Schmidt anlässlich seines 70. Geburtstags. Tübingen 2011, S. 173–194. Röthel sieht das Eherecht in einem »Zustand dogmatischen Halbdunkels« (S. 177): »Wir tun uns schwer mit Bekenntnissen zu einem ›Wesen‹ der Ehe und der Bestimmung von sittlichen Gehalten« (S. 177). Die Autorin beobachtet »Bruchlinien«, die beweisen, dass das Eherecht »doch nicht so eindeutig ist, wie es der politische Gesetzgeber zuweilen proklamiert« (S. 178). Als Beispiele nennt sie unter anderem die unausgesprochenen und »verschwiegene[n] Rollenbilder«, die dem Eherecht zugrunde liegen (S. 178–182). Einen griffigen Überblick über die aktuellen Debatten und Entscheidungen zum Ehebegriff inklusive einer historischen Kontextualisierung liefert Jutta Limbach (Ehe und Recht im Wandel der Zeit. In: Private Law: National, Global, Comparative. Festschrift für Ingeborg Schwenzer zum 60. Geburtstag. Hg. von Andrea Büchler und Markus Müller-Chen. Teil 1. Bern 2011, S. 1079–1089). Limbach kommt zu dem Schluss: »Kaum ein soziales und rechtliches Gebilde hat sich als so lernfähig erwiesen wie die Ehe. […] Das Institut als solches ist robust und über den gesellschaftlichen Wandel erhaben. Immer wieder ist es dem Gesetzgeber oder den Gerichten gelungen, diese Lebensform behutsam den sich verändernden gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnissen anzupassen.« (S. 1089) 125 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 2 mit Verweis auf die Kommentierung bei Sachs. 126 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 2.
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der Ehe, sondern setzt sie als besondere Form menschlichen Zusammenlebens voraus«127. Bei der Bestimmung von »Form und Inhalt« des Begriffs verfüge der Gesetzgeber über »einen erheblichen Gestaltungsspielraum«128. Das Grundgesetz gewährleiste dabei »das Institut der Ehe nicht abstrakt, sondern in der Ausgestaltung, wie sie den jeweils herrschenden, in der gesetzlichen Regelung maßgebend zum Ausdruck gelangten Anschauungen entspricht«129. »Ehe« im Sinne des Gesetzes könnte im Fahrwasser dieser Argumentation schlicht alles sein, was der common sense unter »Ehe« verstanden wissen will. »Allerdings«, so weiter der Text des Urteils, muss der Gesetzgeber bei der Ausformung der Ehe die wesentlichen Strukturprinzipien beachten, die sich aus der Anknüpfung des Art. 6 Abs. 1 GG an die vorgefundene Lebensform in Verbindung mit dem Freiheitscharakter des verbürgten Grundrechts und anderen Verfassungsnormen ergeben […].130
Für die Ehe gelten also wesentliche Grundbedingungen, die in Rechtsnormen kodiert sind. Zu diesen Prinzipien gehört – und zwar ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels –, dass der Begriff der Ehe »die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft«131 meint. Uhle benennt als Voraussetzungen einer rechtsgültigen Ehe »im Einzelnen: die Einehe«, »die Geschlechtsverschiedenheit der Partner«, »den freien Entschluss zur Lebensgemeinschaft und deren freie Ausgestaltung auf der Grundlage gleichberechtigter Partnerschaft«, »die prinzipielle Unauflöslichkeit […] sowie die Mitwirkung des Staates«132 (Hervorhebungen AM).
127 BVerfGE 105, 313, 345 f. = NJW 2002, 2543, 2547 (»Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes«). 128 BVerfGE 105, 313, 345 f. = NJW 2002, 2543, 2547 (»Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes«). 129 BVerfGE 105, 313, 345 f. = NJW 2002, 2543, 2547 (»Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes«). 130 BVerfGE 105, 313, 345 f. = NJW 2002, 2543, 2547 (»Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes«). 131 BVerfGE 105, 313, 345 f. = NJW 2002, 2543, 2547 (»Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes«). 132 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 2. Inwiefern sich auch in diesen eigentlich als »unveränderlich« postulierten Prinzipien schon der ›gesellschaftliche Wandel‹ Raum genommen hat, zeigt sich in der Überzeugung, es müsse sich bei einer Ehe um eine »gleichberechtigte Partnerschaft« handeln. Erst im Jahr 1957 nämlich macht das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts eine Anpassung des Ehe- und Familienrechts an den Gleichheitsgrundsatz aus Artikel 3 des Grundgesetzes möglich.
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Ganz im Sinne eines strukturalistischen Paradigmas der Bedeutungsgenerierung kann der Begriff der Ehe als solcher innerhalb der rechtlichen Systematik nur so eine sinnvolle Funktion erfüllen und wirkungsvoll denotieren: Wenn er nämlich inhaltlich etwas benennt, was andere Begriffe im Vergleich zu ihm gerade nicht meinen.133 Die heterosexuelle Monogamie grenzt die Ehe von Formen des Zusammenlebens ab, die diese beiden Kriterien nicht erfüllen, daher rechtlich nicht »Ehe« werden können. Geht man eine Ehe ein, ist man auf die Mithilfe des Staates angewiesen – nur durch seine Assistenz können Partner zu Ehepartnern werden. Die »prinzipielle Unauflöslichkeit« der ansonsten weitestgehend frei auszugestaltenden Verbindung schließt die Möglichkeit einer Scheidung natürlich nicht aus. Eine Scheidung aber folgt einer genau vorgeschriebenen juristischen Choreographie – und sie hebt die rechtliche Bindung an den vormaligen Ehepartner entgegen landläufiger Meinungen nicht auf. Sie verwandelt lediglich, so die juristische Konstruktion, das Eheverhältnis in ein Scheidungsverhältnis.134 »Ehe und Familie«: Wie bereits ausgeführt, stellt Artikel 6 GG beide Begriffe unmittelbar nebeneinander. Suggeriert wird damit, dass der Bedeutungsgehalt des erstgenannten Begriffs denjenigen des zweitgenannten zumindest affiziert. Tatsächlich ist im Text der Kommentierungen zu Artikel 6 GG das »familiäre Leitbild des Grundgesetzes […] das der ehebasierten Familie, also die Gemeinschaft der miteinander verheirateten Eltern mit ihren Kindern«135. Für das Familienkonzept des Gesetzestextes scheint auch hier insbesondere die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner von Bedeutung. Ehen erfüllen, der Vorstellung des Gesetzgebers zufolge, in der Regel das Kriterium der ›Finalität‹, sie sind also auf die Zeugung von Nachkommen ausgerichtet. Familien im Sinne des familiären Leitbildes benötigen ein männliches und ein weibliches ›Gründungsmitglied‹. Sie entstehen nach dieser Argumentation vorrangig durch ›natürliche‹ Zeugung innerhalb einer ehelichen Partnerschaft.136 Gleichgeschlechtliche Verbindungen sind damit »vom Ehebegriff aus geschlossen«137 – und so zunächst auch vom Familienbegriff. In Frage kommt das Eingehen einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft nach dem Lebenspart-
133 Vgl. Koschorke: Einleitung, S. 38: »Nach allen Seiten hin muss der Familiendiskurs Distinktionsleistungen erbringen, obwohl er sich doch als Inklusionsformel ausgibt.« 134 Schwab: Familienrecht, S. 155 ff. 135 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 14 mit Verweis auf Mangoldt/Klein/Starck. 136 Gleichgeschlechtlichen Paarungen ist sowohl die gemeinsame Adoption als auch der legale Zugang zur assistierten Reproduktion bislang verwehrt. 137 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 4 mit Verweis auf BVerfGE 105, 313, 345f = NJW 2002, 2543 (»Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes«) und die Kommentierung bei Maunz/Dürig.
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nerschaftsgesetz, das am 1. August 2001 in Kraft getreten ist. Zwar wird die gesetzliche Grundlage dieses Instituts beständig an das der Ehe angeglichen,138 den Schutz des Grundgesetzes genießt es aber bis dato nicht. Der Schutz des Artikels 6 GG könnte sich »allenfalls durch eine Verfassungsänderung« auch auf Lebenspartnerschaften erstrecken. Dafür fehlt es der ›herrschenden Meinung‹ aber an »sachliche[n] Gründe[n]«139. »Ehe und Familie« bewegen sich damit im Grundgesetz in der Regel im Rahmen der Butler’schen »heterosexuellen Matrix«140. Damit der Schutzbereich des Artikels 6 GG eröffnet ist, muss eine Partnerschaft bestimmten äußeren Kriterien genügen. Dazu gehört die Verschiedengeschlechtlichkeit genauso wie der Wille zur vertraglichen Festlegung, d. h. der Wille, eine Ehe einzugehen. Nicht eheliche Lebensgemeinschaften fallen nicht in den Schutzbereich des Artikels 6 GG. Der Kommentar weist darauf hin, eine Ausdehnung des Art 6 Abs 1 GG auf nichteheliche Lebensgemeinschaften durch Verfassungsänderung ist zuletzt in der Gemeinsamen Verfassungskommission abgelehnt worden […]. Auch eine analoge Anwendung des Art 6 Abs 1 GG auf nichteheliche Lebensgemeinschaften ist nicht möglich.141
Nichteheliche Lebensgemeinschaften kommen, sofern sie nichtehelich bleiben wollen, dann als zu schützende Güter in Frage, wenn sie »Familie« im Sinne des Artikels 6 GG werden – wenn also gemeinsame Verantwortung für Kinder übernommen wird.142
138 Vgl. die aktuellen Änderungen für Sukzessivadoptionen und in Bezug auf die steuerliche Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaften mit ehelichen Partnerschaften: Bundesverfassungsgericht, Pressestelle, Pressemitteilung Nr. 41/2013 vom 6.6.2013, Beschluss vom 7.5.2013, online abrufbar: http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/ bvg13–041.html (letzter Zugriff am 19.6.2013): Ausschluss eingetragener Lebenspartnerschaften vom Ehegattensplitting ist verfassungswidrig; ebenso Bundesverfassungsgericht, Pressestelle, Pressemitteilung Nr. 9/2013 vom 19.2.2013, Beschluss vom 19.2.2013: Nichtzulassung der Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner ist verfassungswidrig. 139 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 4. 140 »Es geht darum, ein hegemoniales diskursives/epistemisches Modell der GeschlechterIntelligibilität zu charakterisieren, das folgend unterstellt: Damit die Körper eine Einheit bilden und sinnvoll sind, muß es ein festes Geschlecht geben, das durch die zwanghafte Praxis der Heterosexualität gegensätzlich und hierarchisch definiert ist.« (Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main 1991, S. 220, dort Anmerkung 6.) 141 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 12. Uhle verweist hier auf die BundestagDrucksache 12/6000 (dort S. 54 ff.), die freilich schon vom 5.11.1993 datiert. 142 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 12; zur rechtlichen Situation nichtehelicher Lebensgemeinschaften vgl. Inge Kroppenberg: Rechtsregeln für nichteheliches Zusammenleben.
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Geschützt im Kontext des Grundgesetzes sind damit nur Partner, die Ehepartner werden. Dabei denkt der Gesetzestext mit dem Begriff der »Finalität« die Ehepartner als potentielle Familiengründer. Darüber hinaus können natürlich auch Nicht-Eheleute und gleichgeschlechtliche Partner Familien gründen. Geschützt nach dem Grundrecht ist dann zwar nicht die Beziehung der Lebenspartner zueinander, allerdings ihre Familie, die Eltern-Kind-Beziehung also. Obwohl Artikel 6 GG Ehe und Familie in begrifflicher Engführung immer noch aneinander bindet, hat sich der Schutzbereich des Artikels 6 GG in den letzten Jahrzehnten so zusehends dynamisiert und erweitert.
2.2.1.2 Widerständige Realität: Der Familienbegriff des Artikels 6 GG Familien entziehen sich – noch in einem anderen Maße als Ehen, die per se immer auch ein rechtliches Institut sind – definitorischen Zugriffen. Grundsätzlich ist dabei natürlich auch die Familie kein rechtsfreier Raum. Wer ein Kind sein Kind nennen will, muss nicht immer biologisch, auf jeden Fall aber rechtlich sein Vater oder seine Mutter sein.143 Die Anerkennung einer sozialen Struktur als Familie, die schlussendlich auch entscheidet, welche Personen wann rechtliche Eltern eines Kindes genannt werden dürfen, ist allerdings »von faktischen Elementen bestimmt«144. Mit »faktischen Elementen« sind, folgt man der Kommentierung zu Artikel 6 GG, Phänomene gemeint, die man »gesellschaftliche Realität« nennen könnte und die den mittlerweile aus der Soziologie bekannten performativen Charakter des Familienbegriffs unterstreichen:145 »Nach der ständigen Rechtsprechung des B[undes]Verf[assungs]G[erichts] ist Familie die umfassende Gemeinschaft von Eltern und ihren Kindern, in der […] den Eltern vor allem Rechte und Pflichten zur Pflege und Erziehung der Kinder erwachsen.«146
Zu Geschichte und Dogmatik aus deutscher Sicht. In: Rechtsregeln für nichteheliches Zusammenleben. Hg. von Inge Kroppenberg u. a. Bielefeld 2009, S. 43–63. 143 Zu den Voraussetzungen von Elternschaft vgl. dieses Kapitel, 2.2.2. 144 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 14 mit Verweis auf die entsprechende Kommentierung bei Sachs. 145 Vgl. Michaela Schier und Karin Jurczyk: Familie als Herstellungsleistung in Zeiten der Entgrenzung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 34 (2007), S. 10–17. Zu soziologischen Positionen zur Familie siehe dieses Kapitel, 5. 146 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 14 mit Hinweis auf die einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts; zuletzt BVerfGE 108, 82, 112 = NJW 2003, 2151 (»Rechtsstellung des so genannten biologischen Vaters«).
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Während der Ehebegriff des Grundgesetzes sich offenbar vergleichsweise hartnäckig fundamentalen Modifikationen widersetzt, räumen die Kommentatoren der Struktur der ›Familie‹ größere Freiheiten ein: Das familiäre Leitbild des Grundgesetzes ist das der ehebasierten Familie, also die Gemeinschaft der miteinander verheirateten Eltern mit ihren Kindern […]. In die Gewährleistung des Art 6 Abs 1 GG einbezogen wird jedoch auch die Gemeinschaft eines Elternteils mit den ehelich geborenen Kindern […].147
Nicht nur von der von zwei Partnern verschiedenen Geschlechts gegründeten Ehe dürfen Familien abweichen, ohne den Schutz nach Artikel 6 GG einzubüßen. »Aus der Kasuistik der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung« lassen sich darüber hinaus zwei inhaltliche Merkmale extrahieren, die für den Familienbegriff nicht (mehr) konstitutiv sind. So kommt es […] nicht zwingend auf eine Blutsverwandtschaft an, so dass neben der Gemeinschaft der Eltern mit den aus natürlicher Abstammung sowie homologer bzw[.] heterologer Insemination hervorgehenden Kindern […] auch die elterliche Gemeinschaft mit Stief-, Adoptiv- und Pflegekindern unter den Familienbegriff fällt […].148
Die Blutsverwandtschaft weicht als Kriterium für Familienzugehörigkeit einer Betonung der faktischen »Gemeinschaft«, die zwischen Eltern und Kindern besteht. Darüber hinaus rückt man aber offenbar auch von der Absolutheit rechtlicher Zuordnungen ab. Wer der rechtliche Vater eines Kindes ist, ist nicht mehr allein entscheidend. ›Familienhaftigkeit‹ ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts149 auch gegeben, wenn ›nur‹ biologische Vaterschaft besteht und darüber hinaus der Vater »tatsächlich Verantwortung« für das Kind übernimmt oder übernommen hat. Konkret heißt es im Urteil, man gehe im Grundgesetz (insbes. in Artikel 6 Absatz 2 Satz 1) zwar
147 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 14 mit Verweis auf die Kommentierung bei Sachs (Anmerkung 116). 148 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 15 mit Verweis auf Mangoldt/Klein/Starck und Hinweis auf BVerfGE 18, 97, 105 f. = NJW 1964, 1563 (»Verfassungswidrigkeit der Zusammenveranlagung von Eltern und Kindern«); speziell zur Pflegefamilie: BVerfGE 68, 176, 187 = NJW 1985, 423 (»Verbleib eines Kindes bei den Pflegeeltern gegen Willen der leiblichen Eltern«); BVerfGE 79, 51, 59 = NJW 1989, 519 (»Voraussetzungen für einen Adoptionspfleger«); speziell zur Adoptivfamilie: BVerfGE 80, 81, 90 = NJW 1989, 2195 (»Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis für Familienangehörige von Wanderarbeitnehmern«). 149 BVerfGE 108, 82 = NJW 2003, 2151 (»Rechtsstellung des so genannten biologischen Vaters«).
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von einer auf Zeugung begründeten leiblichen Elternschaft aus, nimmt aber über diese Zuordnung hinausgehend die Eltern-Kind-Beziehung als umfassendes Verantwortungsverhältnis von Eltern gegenüber ihren der Pflege und Erziehung bedürftigen Kindern unter seinen Schutz. Voraussetzung dafür, entsprechend dem Elternrecht Verantwortung für das Kind tragen zu können, ist insofern auch die soziale und personale Verbundenheit zwischen Eltern und Kind […]. Die Abstammung wie die sozial-familiäre Verantwortungsgemeinschaft machen gleichermaßen den Gehalt von Art. 6 II 1 GG aus. Beides in Deckung zu bringen, ist vom Gesetzgeber anzustreben. Fallen sie aber in der Wirklichkeit auseinander, gibt die Grundrechtsnorm keine starre Gewichtung dafür vor, welchem der beiden Merkmale, die die Elternschaft ausmachen sollen, der Vorrang einzuräumen ist und bestimmt insoweit kein Rangverhältnis zwischen der biologischen und der sozialen Elternschaft.150 (Hervorhebung AM)
Das Urteil verdeutlicht, dass »Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG […] den leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater in seinem Interesse, die rechtliche Stellung als Vater einzunehmen«151, schützt. Ihm sei daher »verfahrensrechtlich die Möglichkeit zu eröffnen, die rechtliche Vaterposition zu erlangen, wenn dem der Schutz einer familiären Beziehung zwischen dem Kind und seinen rechtlichen Eltern nicht entgegensteht«152. Aus der erweiterten Vater-Definition (sowohl ein rechtlicher als auch ein biologischer Vater bilden mit ihrem Kind eine Familie im Sinne des Artikels 6 GG) resultiert natürlich die Möglichkeit, »dass ein Kind zwei Familien angehören kann«, ähnlich wie bei »Pflegekindern und bei nichtehelichen Kindern«153. Ausführlich heißt es hierzu bei Uhle: Auch wenn dem Verfassungsgeber bei der Schaffung des Art 6 Abs 1 GG die Gemeinschaft verheirateter Eltern mit ihren Kindern vor Augen stand,154 […] ist […] die Ehe aus der Sicht des Grundgesetzes […] nicht (mehr) eine begriffsnotwendige Grundlage der Familie. […] Daher schützt diese Bestimmung auch die Gemeinschaft der nichtverheirateten Mutter
150 BVerfGE 108, 82, 112 = NJW 2003, 2151, 2154 (»Rechtsstellung des so genannten biologischen Vaters«). 151 BVerfGE 108, 82, 112 = NJW 2003, 2151, 2152 (»Rechtsstellung des so genannten biologischen Vaters«). 152 BVerfGE 108, 82, 112 = NJW 2003, 2151 (»Rechtsstellung des so genannten biologischen Vaters«). 153 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 15 mit Verweis auf Mangoldt/Klein/Starck. 154 Hier Verweis auf BVerfGE 25, 167, 196 = NJW 1969, 597 (»Auftrag an den Gesetzgeber zur Reform des Unehelichenrechts«) und BVerfGE 92, 158, 176f = NJW 1995, 2155 (»Rechtsstellung des Vaters bei Adoption der nichtehelichen Kinder«).
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mit ihrem Kind155 […] bzw[.] des nichtverheirateten Vaters mit seinem Kind156 […]. Lebt das Kind nicht mit beiden Elternteilen zusammen, tragen aber beide Eltern tatsächlich Verantwortung für das Kind, hat dieses zwei Familien, die von Art 6 Abs 1 GG geschützt sind: die Familie mit der Mutter und die mit dem Vater […].157
Blutsverwandtschaft, die eheliche Verbindung der Eltern miteinander oder die rechtliche Zuordnung des Vaters zum Kind allein erfassen als Definitionsmerkmale der Familie offenbar nicht mehr ausreichend die gesellschaftliche Realität. Uhles Kommentierung zu Artikel 6 Absatz 1 GG bleibt dabei aber durchaus ambig. Während auf der einen Seite die definitorische Eindeutigkeit in Bezug auf die Familie in der Argumentationsführung der Gesetze bzw. in deren Auslegung verschwindet, ändert sich, folgt man dem Kommentar und der dort zitierten Rechtsprechung, auf der anderen Seite nichts am Leitbildcharakter der ehelichen Familie. Es bleibt »doch die auf Ehe gegründete Familie das Leitbild der Verfassung […], die vollständigste Familienform und typischerweise die beste Voraussetzung für eine gedeihliche Entfaltung der Kinder«158.
2.2.1.3 In den Sackgassen des Rechts: Zur Gleichstellung nichtehelicher Kinder nach dem Kindschaftsrechtsreformgesetz Welch konstitutives Gewicht Artikel 6 GG und seiner Auslegung auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber auch dem mit der Grundgesetzbestimmung nach wie vor verknüpften Leitbild der Ehe zukommt, wird besonders deutlich, wirft man einen Blick auf die Entwicklung der Rechtsprechung zu nichtehelichen Kindern. Der fünfte Absatz des Artikel 6 fordert, »[d]en unehelichen Kindern […] durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische
155 Hier Verweis auf BVerfGE 18, 97, 105f = NJW 1964, 1563 (»Verfassungswidrigkeit der Zusammenveranlagung von Eltern und Kindern«); BVerfGE 25, 167, 196 = NJW 1969, 597 (»Auftrag an den Gesetzgeber zur Reform des Unehelichenrechts«); BVerfGE 80, 81, 90 = NJW 1989, 2195 (»Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis für Familienangehörige von Wanderarbeitnehmern«). 156 Hier Verweis auf BVerfGE 45, 104, 123 = NJW 1978, 33 (»Teilweise Verfassungswidrigkeit des sog. Familienlastenausgleichs«); BVerfGE 56, 363, 382 = NJW 1981, 1201 (»Elterliches Sorgerecht bei nichtehelichen Kindern«); BVerfGE 79, 203, 211 = NJW 1989, 1275 (»Legitimation eines nichtehelichen Kindes durch ausländischen Vater«); BVerfGE 108, 82, 112 = NJW 2003, 2151 (»Rechtsstellung des so genannten biologischen Vaters«); vgl. auch BVerfGE 112, 50, 65 = NJW 2005, 1413 (»Hinterbliebenenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz – Nichtehelicher Lebenspartner«). 157 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 16. 158 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 17 mit Hinweis auf zuletzt BVerfGE 117, 316, 328 = NJW 2007, 1343 (»Leistungen der Krankenversicherung bei künstlicher Befruchtung«).
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Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern«. Diese Gleichstellung nichtehelicher Kinder gebietet ausdrücklich das Kindschaftsrechtsreformgesetz seit 1998.159 Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem die Funktion bzw. ›Stoßrichtung‹ der Vorschrift. Artikel 6 Absatz 5 GG liegt laut Uhle »erkennbar die Bewertung zugrunde, dass aus Sicht des Grundgesetzes den ehelichen Kindern, also den Kindern in der ehebasierten Familie, die bestmöglichen Entwicklungschancen zuteil werden«160. Absatz 5 ist »auf Verbesserung der Lebensbedingungen des unehelichen Kindes durch Angleichung an die Lage ehelicher Kinder gerichtet«161. Dabei dürfe sich der Gesetzgeber nicht mit einer bloßen Annäherung der Stellung des nichtehelichen Kindes an die des ehelichen Kindes zufrieden geben […]. Das Ziel – die Schaffung wirklich gleicher Bedingungen – ist ihm vielmehr im Grundgesetz verbindlich vorgegeben. Gestaltungsfreiheit kommt ihm nur bei der Entscheidung über den einzuschlagenden Weg zu.162
Uhle hält fest: »Maßstab dieser Angleichung ist das in einer Ehe- und Familien einheit aufwachsende Kind […].«163 Die Zeugung eines nichtehelichen Kindes wird seit der Reform des Kindschaftsrechts an die gleichen rechtlichen Konsequenzen gebunden wie die Zeugung eines Kindes innerhalb einer Ehe. Das betrifft vor allem auch Fragen des Unterhalts, aber auch Rechte des Umgangs (sowohl des Kindes mit seinen Eltern als auch der Eltern mit dem Kind). Am Prozess dieser Angleichung zeigt sich das performative Vermögen rechtlicher Begriffe – und gleichzeitig offenbaren sich die systembedingten ›Sackgassen‹ des Familienrechts. Die Ungleichbehandlung nichtehelicher und ehelicher Kinder ist schließlich eine Tatsache, die durch das Recht, das Kategorien dieser Art zur Ver-
159 Vgl. Gaul. Der Reform waren Anmahnungen des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichstellung nichtehelicher Kinder vorausgegangen: BVerfGE 79, 256 = NJW 1989, 891 (»Anfechtung der Ehelichkeit durch volljähriges Kind«); BVerfGE 85, 80 = NJW 1992, 1747 (»Ausgestaltung des Instanzenzuges für Unterhaltsstreitigkeiten«); BVerfGE 90, 263 = NJW 1994, 2475 (»Ehelichkeitsanfechtung durch volljähriges Kind«); BVerfGE 92, 158 = NJW 1995, 2155 (»Rechtsstellung des Vaters bei Adoption der nichtehelichen Kinder«). 160 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 17. 161 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 73 mit Verweis auf BVerfGE 25, 167, Leitsatz 2 und 181, 191 = NJW 1969, 597 (»Auftrag an den Gesetzgeber zur Reform des Unehelichenrechts«); außerdem weitere Verweise auf die entsprechende Kommentierung bei Maunz/Dürig und Dreier. 162 BVerfGE 85, 80, 88ff = NJW 1992, 1747 f. (»Ausgestaltung des Instanzenzuges für Unterhaltsstreitigkeiten«). 163 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 75.
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fügung stellt, überhaupt erst entsteht. Die Definition familiärer Strukturen durch ihre Bindung an die Ehe hat sie allererst hervorgebracht. Der Schutz der Familie im Grundgesetz ist – zusammengefasst – also immer noch in erster Linie der Schutz der Kernfamilie. Bei Erweiterungen des normativen Familienpersonals oder Abweichungen davon ist der grundgesetzliche Schutz nicht ohne Weiteres aufgehoben. Dennoch werden Abstufungen vorgenommen (beispielsweise ist die Eltern-Kind-Beziehung geschützt, nicht aber die der unverheirateten Partner zueinander). Abweichungen erfahren ihre Bewertung auch hier immer in Bezug auf ein normatives Eigentliches.
2.2.2 Bürgerliches Gesetzbuch: Fragmentfamilien und Familienfragmente Artikel 6 Absatz 1 GG trifft wesentliche definitorische Aussagen zu Ehe und Familie, weil er sie unter besonderen staatlichen Schutz stellt. Detaillierter und komplexer noch sind die Familiennarrative des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Mutterschaft und Vaterschaft sind im BGB in den Paragraphen 1591 und 1592 definiert. Danach ist Mutter eines Kindes »die Frau, die es geboren hat«, Vater derjenige Mann, der entweder »zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist«, derjenige, der »die Vaterschaft anerkannt hat« oder aber »dessen Vaterschaft nach § 1600d oder § 182 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit gerichtlich festgestellt ist«. Während Vaterschaft damit offenbar auf mindestens drei Wegen erreicht werden kann (ausführlicher dazu später), scheint Mutterschaft sich unanfechtbar mit dem Moment der Geburt einzustellen. Die folgende differenzierte Auseinandersetzung mit den Wegen zur Elternschaft, die der rechtliche Diskurs hier kontrolliert, eröffnet die Möglichkeit, Familien unter neuen Aspekten definiert zu sehen. Die Ehelichkeit, die Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes noch immer besonders schützt, wird im Bürgerlichen Gesetzbuch abgelöst von einer auf den ersten Blick recht unübersichtlichen Gemengelage aus den Elementen »Leiblichkeit«, »Ehelichkeit« und »sozialer Elternschaft«.
2.2.2.1 Mutter und Vater werden: Legitimation von Elternschaft und Adoption im BGB Geburtsmütter: Mutterschaft im Bürgerlichen Gesetzbuch Das BGB regelt Verwandtschaftsverhältnisse allgemein in § 1589. »Personen, deren eine von der anderen abstammt«, heißt es da, »sind in gerader Linie verwandt.« Familiäre Zuordnung richtet sich dementsprechend zunächst nach der
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biologischen Herkunft: »Für die Abstammung ist die (natürliche) (Bluts-)Verwandtschaft maßgebend […].«164 Die in § 1591 BGB normierte rechtliche Mutterschaft scheint auf den ersten Blick ebenfalls biologisch fundiert: »Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat«, die Mutter ist also »ausschließlich und von vornherein unverrückbar die biologische (Geburts-)Mutter«165. Anders als im Falle der Vaterschaft ist eine »Anfechtung [der Mutterschaft, AM] […] nicht vorgesehen«, ursprünglich ebenso wenig ein »Verfahren auf Feststellung der Mutterschaft«.166 Beide Rechtsmittel (Anfechtung und Feststellung der Elternschaft) stellt das Bürgerliche Gesetzbuch bei Vaterschaften unter bestimmten Voraussetzungen zur Verfügung (s. u.). Eine Anfechtung ist grundsätzlich eine Möglichkeit, die Folgen rechtlich bedeutsamer Handlungen rückgängig zu machen. Es müssen dann jeweils bestimmte Voraussetzungen für eine Anfechtung vorliegen.167 Im Fall der Elternschaft kann eine Vaterschaft, die einmal anerkannt wurde, unter bestimmten Voraussetzungen angefochten werden.168 Die Elternschaft wäre dann bei wirksamer Anfechtung »nichtig«,169 sämtliche rechtliche Folgen, die mit der Elternschaft verbunden sind, beseitigt. Eine solche Anfechtung kommt für Mütter nicht in Frage. § 1591 ist in dieser Fassung überraschenderweise ein recht ›junger‹ Paragraph, und er zeigt, wie juristische Systematik und gesellschaftliche Meinungsbildungsprozesse bzw. wissenschaftliche Neuerungen miteinander interagieren. Eingefügt wurde die Norm erst im Rahmen des Kindschaftsrechtsreformgesetzes, also Ende der 1990er Jahre.170 Die Definition der Mutter als Gebärende soll »für Fälle der Ei- oder Embryonenspende eine ›gespaltene‹ Mutterschaft« verhindern.171
164 Bamberger/Roth/Hahn § 1589 BGB Rn 4 mit Verweis auf die entsprechende Kommentierung bei Soergel, Erman und Palandt. 165 Bamberger/Roth/Hahn § 1591 BGB. 166 Bamberger/Roth/Hahn § 1591 BGB. Hier wird aktuell diskutiert, denn nicht nur die Mutterschaft gilt es zu schützen, auch die Rechte des Kindes (in diesem Fall: das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung, s. u.) wollen berücksichtigt werden. Diesem Recht nun »will der Gesetzgeber (BT-Drucks 13/4899 S 83) bei Auseinanderfallen von Geburts- und genetischer Mutterschaft durch eine Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO Rechnung tragen« (ebd.). 167 Zu den allgemeinen Grundsätzen der Anfechtung vgl. beispielhaft Bernd Rüthers und Astrid Stadler: Allgemeiner Teil des BGB. München 2003, S. 326 ff. 168 Geregelt sind diese Voraussetzungen in den §§ 1600 bis 1600c BGB. 169 Die Rechtsfolgen einer Anfechtung regelt grundsätzlich § 142. In Absatz 1 heißt es: »Wird ein anfechtbares Rechtsgeschäft angefochten, so ist es als von Anfang an nichtig anzusehen.« 170 Bamberger/Roth/Hahn § 1591 BGB Rn 1. 171 Bamberger/Roth/Hahn § 1591 BGB Rn 1.
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Eispenden sind in Deutschland zwar verboten.172 Dennoch sollen für Fälle, »in denen eine Eispende im Ausland oder verbotenerweise im Inland vorgenommen wird«173, chaotische maternale Verhältnisse (ein Kind mit zwei Müttern, einer Geburtsmutter und einer genetischen Mutter) durch die Definition der Mutter als »Geburtsmutter« verhindert werden. Das Konzept biologischer Verwandtschaft, auf dem § 1589 beruht, ruft § 1591 für die Mutterschaft also tatsächlich nur auf den ersten Blick auf. Es kommt bei Mutterschaft nicht in erster Linie auf gemeinsame Gene bzw. Blutsverwandtschaft an. Die Frage ist darüber hinaus auch nicht, ob eine Frau tatsächlich soziale Verantwortung für ein Kind übernimmt. Abgestellt wird allein auf den Vorgang der Geburt. Hahn erläutert zu § 1591 BGB: Die Zuordnung des Kindes zur Geburtsmutter ist […] keine bloße Scheinmutterschaft. Sie kann nicht durch Anfechtung beseitigt werden […]. Zur genetischen Mutter kann daher auch nicht im Wege des Statusverfahrens ein Eltern-Kind-Verhältnis iSv § 169 Nr 1 FamFG [Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, AM] begründet werden […].174
172 Vgl. das Gesetz zum Schutz von Embryonen vom 13.12.1990 (BGBl I, S. 2746), § 1: »Mißbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken«: »(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. auf eine Frau eine fremde unbefruchtete Eizelle überträgt, 2. es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt, 3. es unternimmt, innerhalb eines Zyklus mehr als drei Embryonen auf eine Frau zu übertragen, 4. es unternimmt, durch intratubaren Gametentransfer innerhalb eines Zyklus mehr als drei Eizellen zu befruchten, 5. es unternimmt, mehr Eizellen einer Frau zu befruchten, als ihr innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen, 6. einer Frau einen Embryo vor Abschluß seiner Einnistung in der Gebärmutter entnimmt, um diesen auf eine andere Frau zu übertragen oder ihn für einen nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck zu verwenden, oder 7. es unternimmt, bei einer Frau, welche bereit ist, ihr Kind nach der Geburt Dritten auf Dauer zu überlassen (Ersatzmutter), eine künstliche Befruchtung durchzuführen oder auf sie einen menschlichen Embryo zu übertragen. (2) Ebenso wird bestraft, wer 1. künstlich bewirkt, daß eine menschliche Samenzelle in eine menschliche Eizelle eindringt, oder 2. eine menschliche Samenzelle in eine menschliche Eizelle künstlich verbringt, ohne eine Schwangerschaft der Frau herbeiführen zu wollen, von der die Eizelle stammt. (3) Nicht bestraft werden 1. in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1, 2 und 6 die Frau, von der die Eizelle oder der Embryo stammt, sowie die Frau, auf die die Eizelle übertragen wird oder der Embryo übertragen werden soll, und 2. in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 7 die Ersatzmutter sowie die Person, die das Kind auf Dauer bei sich aufnehmen will. (4) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 6 und des Absatzes 2 ist der Versuch strafbar.« 173 Bamberger/Roth/Hahn § 1591 BGB Rn 1. 174 Bamberger/Roth/Hahn § 1591 BGB Rn 1 mit Verweis auf die entsprechende Kommentierung bei Palandt. Zur Diskussion im Schrifttum vgl. z. B. Günther Beitzke: Rechtsvergleichende Bemerkungen zum künstlich gezeugten Kind. In: Familienrecht in Geschichte und Gegenwart. Symposion aus Anlaß des 80. Geburtstags von Friedrich Wilhelm Bosch am 2. Dezember 1991. Hg. von Hans Friedhelm Gaul. Bielefeld 1992, S. 49–67. Beitzke argumentiert für ein Recht der
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Der Grundsatz »mater semper certa est«175 erfüllt sich also auch im 21. Jahrhundert durch Setzung: Für rechtliche Unsicherheiten soll im Gesetz in Bezug auf die Mutterschaft so wenig Raum wie möglich sein.
›Eheväter‹, ›Anerkennungsväter‹ und biologische Väter: Vaterschaft im BGB Die Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs zur Vaterschaft sind weitaus komplizierter als diejenigen zur Mutterschaft. Vaterschaft legitimiert sich – neben einer möglichen Adoption – durch gesetzliche Vermutung, Rechtsgeschäft oder Rechtskraft einer gerichtlichen Feststellung:176 Gesetzlich vermutet wird die Vaterschaft zugunsten des Mannes, der mit der Mutter des Kindes zum Zeitpunkt der Geburt in einer Ehe lebt (§ 1592 Nummer 1 BGB). Der Ehe kommt innerhalb der rechtlichen Systematik, ähnlich wie im 19. Jahrhundert, eine pragmatische Funktion zu, vermag sie doch »die Existenz des Bindungswillens [des Vaters an sein Kind, AM] ohne weiteres nachzuweisen und ist folglich problemloser Referenzpunkt rechtlicher Wirkungen«177. Rechtlicher Vater kann ein Mann – wenn nicht bereits ein qua Ehe ›entstandener‹ Vater vorhanden ist – auch werden, indem er die Vaterschaft mit der Zustimmung der Mutter (§ 1595 Absatz 1 BGB) rechtsgeschäftlich anerkennt (§ 1592 Nummer 2 BGB). Dabei kommt es »[a]uf die biologische Richtigkeit des Anerkenntnisses […] nicht an«178. Sogar »eine bewusst unrichtige Anerkennung ist – wenn die übrigen Wirksamkeitsvoraussetzungen gegeben sind – wirksam«179. Gibt es weder einen Ehevater noch einen Anerkennungsvater, greift das gerichtliche Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft (§ 1592 Nummer 3 BGB in Verbindung mit § 1600d BGB). Es ermittelt den biologischen Vater und stellt dessen (rechtliche) Vaterschaft fest. Lässt sich im Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft die biologische Abstammung nicht durch vorhandene Beweismittel
genetischen Mutter auf Adoption; schließlich könne man »doch der Meinung […] sein […], das Kind sei bei seinen beiden genetischen Eltern richtig aufgehoben« (S. 67). 175 »Die Mutter ist immer sicher.« 176 Vgl. auch die Darstellung bei Konstanze Plett: Das unterschätzte Familienrecht. Zur Konstruktion von Geschlecht durch Recht. In: Recht und Geschlecht. Zwischen Gleichberechtigung, Gleichstellung und Differenz. Hg. von Mechthild Koreuber und Ute Mager. Baden-Baden 2004, S. 109–119, insbes. S. 111. 177 Büchler, S. 296. 178 Bamberger/Roth/Hahn § 1592 BGB Rn 4, mit Verweis auf u. a. die entsprechenden Kommentierungen bei Staudinger. 179 Bamberger/Roth/Hahn § 1592 BGB Rn 4.
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klären, hilft wiederum das Gesetz: »[W]er der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat«, wird als Vater vermutet (§ 1600d Absatz 2 BGB). Damit ist also Vater nicht gleich Vater. Im ersten Fall (›Ehevater‹) kommt es auf biologische Verwandtschaft zunächst überhaupt nicht an. Der Gesetzgeber fragt ausschließlich nach dem (ehelichen) Verhältnis, das zwischen Mutter und Vater besteht. Im zweiten Fall (›Anerkennungsvater‹) entsteht Vaterschaft rechtsperformativ durch die Anerkennung des Kindes. Auch hier steht biologische Abstammung nicht im Vordergrund. Lediglich bei der gerichtlichen Feststellung der Vaterschaft sucht der Gesetzestext von Anfang an nach demjenigen Mann, der das Kind gezeugt hat.
Recht der Gene: Möglichkeit der Klärung leiblicher Abstammung und Anfechtung von Elternschaft Freilich können ›falsche‹ (d. h. genetisch nicht fundierte) Elternschaften – in Grenzen – als solche offengelegt werden. Familienmitglieder haben untereinander einen »Anspruch auf Einwilligung in eine genetische Untersuchung zur Klärung der leiblichen Abstammung« (§ 1598a BGB). Ein »Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung« wird direkt aus dem Grundgesetz abgeleitet, und zwar aus einer sehr weit gefassten Auslegung der Artikel 2 Absatz 1 GG in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (Artikel 2 Absatz 1 GG) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (Artikel 1 Absatz 1 GG)
Das Bundesverfassungsgericht versteht das Wissen um die eigene genetische Abstammung als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.180 Dieses Wissen biete, so der Kommentator, »dem Einzelnen unabhängig vom Ausmaß wissenschaftlicher Ergebnisse wichtige Anknüpfungspunkte für das Verständnis und
180 Vgl. Bamberger/Roth/Hahn § 1591 BGB Rn 16 mit Verweis auf BVerfGE 96, 56 = NJW 1997, 1769, 1770 (»Auskunftsrecht des nichtehelichen Kindes auf Benennung des Vaters«). Dort heißt es wörtlich: »Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfaßt […] auch das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung.«
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die Entfaltung der eigenen Individualität«181. Sogar Mutterschaften können »bei Auseinanderfallen von Geburts- und genetischer Mutterschaft« überprüft werden.182 Stellt sich heraus, dass die Mutter, die das Kind geboren hat, nicht die genetische Mutter des Kindes ist, kann die Mutterschaft dann aber (anders als die Vaterschaft) nicht angefochten werden. Die Mutterschaftsfeststellung ist immer »rechtsfolgenlos«, Mutter bleibt trotz aller Genetik in jedem Fall (und unabhängig vom Willen der Mutter oder des Kindes) die Geburtsmutter.183 Das Recht, die Abstammung des Kindes überprüfen zu lassen (vgl. § 1598a), haben nur das betroffene Kind, der rechtliche Vater und die Mutter. Wenn die Überprüfung der Elternschaft ergibt, dass die rechtliche Zuordnung eines Kindes zum Vater nicht der biologischen Vaterschaft entspricht, kann die Vaterschaft qua Anfechtung beseitigt werden (§ 1599, Nichtbestehen der Vaterschaft). Grund einer solchen Vaterschaftsanfechtung ist immer die nicht vorhandene biologische Verbindung zwischen Kind und Vater. Die Möglichkeit, eine biologisch legitimierte rechtliche Vaterschaft anzufechten, weil sie in der sozialen Realität nicht vorhanden ist, gibt es nicht. Das Anfechtungsrecht ist immer ein Recht der Biologie und soll die Zuordnung des Kindes zum Vater zugunsten der Abstammung »korrigieren«184. Es lohnt sich hier allerdings ein Blick auf denjenigen, der bis vor kurzem keinen Auskunftsanspruch zur Klärung der leiblichen Vaterschaft hatte: »Nicht einbezogen in den Kreis der Klärungsberechtigten ist der potentielle leibliche Vater, der nicht rechtlicher Vater des Kindes ist.«185 Diesem »außenstehenden
181 BVerfGE 79, 256 = NJW 1989, 891, 892 (»Anfechtung der Ehelichkeit durch volljähriges Kind«). 182 Und zwar notfalls »durch eine Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO [Zivilprozessordnung]«, dessen erster Absatz bestimmt: »Auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses, auf Anerkennung einer Urkunde oder auf Feststellung ihrer Unechtheit kann Klage erhoben werden, wenn der Kläger ein rechtliches Interesse daran hat, dass das Rechtsverhältnis oder die Echtheit oder Unechtheit der Urkunde durch richterliche Entscheidung alsbald festgestellt werde.« Vgl. Bamberger/Roth/Hahn § 1591 BGB Rn 23. Damit sei, so Hahn, bereits »der erste Schritt in Richtung auf eine Relativierung der strikten Regelung des § 1591 getan« (Bamberger/Roth/Hahn § 1591 BGB Rn 8) – eine Aufspaltung der Mutterschaft, wie sie das Gesetz im § 1591 verhindern will, nimmt hier offenbar ihren Anfang. 183 Vgl. Bamberger/Roth/Hahn § 1591 BGB Rn 23. 184 Vgl. Schwab: Familienrecht, S. 266. 185 Bamberger/Roth/Hahn § 1598a BGB Rn 2 mit Hinweis auf den Beschluss des OLG Karlsruhe vom 17.7.2009 (»Nachweis der Erbfolge bei Pflichtteilssanktionsklausel mit auflösend bedingter Erbeinsetzung«) (= NJW-RR 2010, 365 ff.).
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Dritten«186 blieb, wollte er die Vaterschaft des rechtlichen Vaters feststellen lassen, nur der weitaus sperrigere Weg über § 1600 Absatz 1 Nummer 2: Er musste an Eides statt versichern, der Mutter während der gesetzlichen Empfängniszeit beigewohnt187 zu haben und hat nur dann ein Anfechtungsrecht, wenn zwischen dem Kind und dem gesetzlichen Vater keine sozial-familiäre Beziehung besteht.188
Wenn sich sein biologisches Kind also in eine Familie integriert hatte, innerhalb derer sich ein rechtlich anerkannter, aber nicht genetisch verwandter Vater um das Kind kümmerte, konnte auf Veranlassung des leiblichen Vaters weder die Vaterschaftsfrage gerichtlich geklärt noch die Vaterschaft des ›nur‹ rechtlichen und sozialen Vaters zum Kind angefochten werden. Während die Vaterschaft von Mutter, Kind und rechtlichem Vater grundsätzlich angefochten werden kann, um einem Auseinanderklaffen von gesetzlicher und biologischer Vaterschaft zu entgehen,189 damit Vaterschaft wesentlich durch genetische Zuordnung definiert wird, fand diese Argumentation bislang ihre Grenze beim biologischen Vater, der nicht Teil der rechtlichen Familie ist, in der ›sein‹ Kind lebt. Das familiäre Mythem der Leiblichkeit trat hier deutlich hinter ein Konzept »tatsächlicher Verantwortung« eines Vaters für ein Kind zurück. Dass der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur »Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters« vor einigen Tagen den Bundesrat passiert hat, bedeutet hier freilich eine Trendwende.190 Vorausgegangen war dem Entwurf zur Gesetzesänderung eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der hatte an einer vorangegangenen Entscheidung deutscher Gerichte beanstandet, dass dem im betreffenden Fall klagenden leiblichen (aber nicht rechtlichen) Vater der Umgang mit seinen Kindern versagt worden sei, »ohne die Frage zu prüfen, ob der Umgang mit dem biologischen Vater dem Wohl
186 Bamberger/Roth/Hahn § 1600 BGB. 187 Das Kriterium des »Beiwohnens« stellt sicher, dass heterologe Samenspender nicht als rechtliche Väter in Frage kommen; vgl. Bamberger/Roth/Hahn § 1600 BGB Rn 3. 188 Bamberger/Roth/Hahn § 1600 BGB. Vgl. zur Diskussion der Regelung im Schrifttum beispielhaft Helmut Büttner: Der biologische (genetische) Vater und seine Rechte. In: Perspektiven des Familienrechts. Festschrift für Dieter Schwab zum 70. Geburtstag. Hg. von Sibylle Hofer. Bielefeld 2005, S. 735–745; außerdem im selben Band der Beitrag von Johannes Hager: Der rechtliche und der leibliche Vater, S. 773–781. 189 Vgl. Schwab: Familienrecht, S. 266. 190 Der Entwurf vom 2.11.2012 ist online einsehbar unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/ brd/2012/0666-12.pdf (letzter Zugriff am 13.10.2014). In Kraft getreten sind die Vorschläge am 13.7.2013.
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der Kinder dienlich gewesen wäre«191. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist der Auffassung, es müsse »auch dann, wenn ein anderer Mann als der biologische Vater rechtlicher Vater der Kinder ist und der biologische Vater noch keine Verantwortung für die Kinder getragen hat, eine gerechte Abwägung aller konkurrierender Rechte«192 stattfinden. Insbesondere müsse geprüft werden, »ob der Umgang mit dem biologischen Vater im Einzelfall dem Wohl des Kindes dienen würde«193. Mit dem »Wohl des Kindes« ruft der Gerichtshof den wohl wichtigsten Topos familienrechtlicher Debatten auf, dessen Leistungen und Schwierigkeiten ich nach einem kurzen Blick in das aktuelle Adoptionsrecht genauer konturieren werde.
Keine halben Sachen, aber unterschiedlichste Interessen: Adoption 2000 Der adoptio naturam imitatur-Grundsatz prägt nicht nur die Adoptionsdebatte im 19. Jahrhundert, sondern auch die grundsätzliche Ausrichtung der heutigen Rechtslage. Die aktuellen Regelungen zur Adoption sind Ergebnis einer ständigen Verhandlung mit dem Mythem der Leiblichkeit – eine einheitliche Linie lässt sich hier nur schwer behaupten. Zweck der Adoption sei zunächst einmal »die Förderung des Kindeswohls durch die völlige Eingliederung in eine andere als die Herkunftsfamilie«194. § 1741 Absatz 1 BGB bestimmt: Die Annahme als Kind ist zulässig, wenn sie dem Wohl des Kindes dient und zu erwarten ist, dass zwischen dem Annehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind-Verhältnis entsteht.
Adoptionen sollen vorwiegend von Ehepaaren vorgenommen werden, das verdeutlicht der zweite Absatz des § 1741: Wer nicht verheiratet ist, kann ein Kind nur allein annehmen. Ein Ehepaar kann ein Kind nur gemeinschaftlich annehmen. Ein Ehegatte kann ein Kind seines Ehegatten allein annehmen.
191 Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters, S. 5. 192 Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters, S. 5. 193 Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters, S. 5. 194 Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 1 mit Verweis auf OLG Schleswig FamRZ 2008, 1104, 1107.
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Den aktuell geltenden Regelungen zur Adoption liegt wesentlich die Adoptionsreform durch das Adoptionsgesetz vom 2.7.1996 zugrunde.195 Das 21. Jahrhundert tut sich spätestens seit dieser Reform deutlich leichter damit, Familienbeziehungen durch einen Rechtsakt entstehen zu lassen. Was die rechtlichen Wirkungen der Adoption betrifft, so hat man sich »für die Volladoption entschieden. Dies gilt ungeschmälert für die Annahme eines minderjährigen Kindes als den typischen Fall.«196 Anders als um 1900 erhält das Kind die rechtliche Stellung eines Kindes des Annehmenden (§ 1754 II). Der Annehmende erhält somit die elterliche Sorge (§ 1754 III); überhaupt treten alle Wirkungen des Eltern-Kind-Verhältnisses ein.197 (Hervorhebung AM)
Auch gegenüber den Verwandten des Annehmenden und dem Kind entstehen »die vollen verwandtschaftsrechtlichen Beziehungen«, zum Beispiel ein gesetzliches Erbrecht und gesetzliche Unterhaltsansprüche.198 Die Verbindung des Kindes zur Herkunftsfamilie erlischt hingegen vollständig (§ 1755 Absatz 1 BGB) – und zwar »obwohl dies von den Beteiligten nicht immer gewünscht ist«199. Der kritische Nachsatz des Kommentators Enders trifft den Kern familienrechtlicher Bestimmungen. Das Gesetz stellt Leitbilder und Institutionen zur Verfügung, die Stabilität und Orientierung suggerieren und vermitteln, letztlich aber auch immer normativ und begrenzend wirken. Das Adoptionsrecht orientiert sich an der ehelich fundierten Kernfamilie200 und ihrem beschränkten Kreis an möglichen Akteuren. Selbst wenn sich die Beteiligten dies wünschen: Gleichzeitige
195 Gesetz über die Annahme als Kind und zur Änderung anderer Vorschriften vom 2.7.1996 (BGBl I, S. 1749). 196 Schwab: Familienrecht, S. 378. 197 Schwab: Familienrecht, S. 385 f.; Ausnahmen von diesem Grundsatz gelten nur dort, wo eine »Rechtsvorschrift nicht an den Rechtsbegriff der Verwandtschaft, sondern an die (leibliche) Abstammung bzw[.] an die Tatsache der Geburt anknüpft« (Bamberger/Roth/Enders § 1754 BGB, Rn 8). Unter anderem ist der »Beischlaf zwischen Verwandten […] nur strafbar, wenn es sich um leibliche Abkömmlinge handelt« (Bamberger/Roth/Enders § 1754 BGB Rn 8.1). 198 Schwab: Familienrecht, S. 386. 199 Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 1.1. 200 Einzeladoptionen sind zwar erlaubt, Enders weist aber in seiner Kommentierung darauf hin, dass die »Orientierung am konkreten Kindeswohl [es nicht] verbietet […], im Einzelfall zu berücksichtigen, dass die Einzeladoption den Bedürfnissen des Kindes nicht gerecht wird, dass mit der Reduktion zweier familienrechtlicher Verhältnisse auf eine Rechtsbeziehung Nachteile verbunden sind, so etwa auch in Hinblick auf den Abbruch der rechtlichen Beziehungen zu den Verwandten der bisherigen Eltern […].« (Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 18)
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familienrechtliche Beziehungen zur Herkunfts- und zur Adoptionsfamilie sieht das Gesetz nicht vor.201 Mit der Adoption verliert der leibliche Elternteil seine rechtlich privilegierte Stellung und scheidet aus dem Verwandtschaftsverhältnis völlig aus, um einem anderen Verwandtschaftssystem Platz zu machen.202
Dennoch bleibt auch das Adoptionsrecht vom Hin und Her zwischen faktischen,203 rechtlichen und biologischen Familienbanden nicht unberührt. Die Adoption gilt weiterhin als ›Wagnis‹ und Fiktion, deren Gefahren man in erster Linie mit dem Rückgriff auf Altbewährtes begegnet. Jede Form »einer ›künstlichen‹ Familiengründung« sei, so argumentiert der Kommentator, »mit Unsicherheiten belastet«.204 Man habe davon auszugehen, »dass die genetische Verbindung i[n] d[er] R[egel] ein kontinuierlicheres Interesse des leiblichen Elternteils erwarten lässt«205 als eine Adoption. Obwohl Adoptionen im 21. Jahrhundert durch ihre Vollständigkeit gestärkt erscheinen, kreist der Kommentar hier also immer wieder um den Mangel an Leiblichkeit. Auch die Stiefkindadoption werde deshalb im juristischen Schrifttum »inzwischen sehr skeptisch beurteilt«206. Mit der Adoption eines Stiefkindes wird der ehemalige Stiefelter zum rechtlichen Elter des Kindes (§ 1754 BGB). Gleichzeitig erlischt das rechtliche Band zwischen dem Kind und seinem leiblichen Elternteil (§ 1755 BGB). Diese »mit der Adoption verbundene juristische Auflösung des genetisch begründeten Verwandtschaftsverhältnisses«, befürchtet Enders nun, »kann für das Kind ein erhebliches Identitätsproblem bedeuten«207. Das Gesetz sei daher »für die Stiefkindadoption nicht besonders konzipiert«208. Von einer
201 Mit dem Gesetz über die Annahme als Kind und zur Änderung anderer Vorschriften vom 2.7.1996 (BGBl I, S. 1749) hat man sich nicht nur für die Volladoption, sondern auch für das so genannte Dekretsystem entschieden (vgl. Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 1.1). Betont wird damit die »besondere staatliche Verantwortung für die Annahme« (Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 1.1) – die Adoption entsteht nicht mehr durch einen privatrechtlichen Vertrag zwischen Bürgern (wie im 19. Jahrhundert), sondern muss staatlich erlassen werden. 202 Bamberger/Roth/Enders § 1755 BGB Rn 9.1. 203 Den Begriff der »faktischen Familie« verwendet der Kommentar zum § 1741 BGB, vgl. Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 15. 204 Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 13.2. 205 Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 13.2. 206 Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 16.1 mwN; vgl. dazu auch Schwenzer: Familienbilder im Adoptionsrecht, S. 699. 207 Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 16.1. 208 Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 16.1.
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Mutter, die nicht mit dem leiblichen Vater ihres Kindes zusammenlebt, erwartet die Rechtsprechung, dass sie [die Mutter] selbst sich dafür einsetzt, dass das Kind zu seinem leiblichen Vater eine persönliche Beziehung erhält. Die völlige Verdrängung des Vaters aus dem Erleben des Kindes lässt eher auf ein problematisches Verhalten der Mutter schließen […].209
Bedenken in puncto »Leiblichkeit« tun sich offenbar bei der so genannten »Inkognitoadoption« auf, die das Gesetz mit § 1747 Absatz 2 BGB ausdrücklich erlaubt. Die Einwilligung der leiblichen Eltern in eine Adoption des Kindes ist damit »auch dann wirksam, wenn der Einwilligende die schon feststehenden Annehmenden nicht kennt« (§ 1747 Absatz 2 BGB). »Ob bei einer geplanten Inkognitoadoption die bessere Abschottung des Kindes gegenüber der Ausforschung seiner Herkunft für das Kind vorteilhaft sein kann«, ist nach Enders »im Einzelfall besonders zu prüfen«:210 Zunehmend wird davon ausgegangen, dass für die Entwicklung des Kindes sowohl die Herkunfts- als auch die Annahmefamilie von Bedeutung sind […], dass der völlige Bruch mit der Herkunftsfamilie mit dem Kindeswohl regelmäßig nicht vereinbar ist […]. In der Praxis sind die reinen Inkognitoadoptionen selten geworden […].211
Obwohl Kinder innerhalb der rechtlichen Systematik vollgültig nur einer Familie (also nach den Idealvorstellungen des Gesetzgebers: zwei miteinander verheirateten Eltern) angehören können, erweitert sich hier das Familienbild des BGB. Betont wird die Relevanz der Kenntnis genetischer Abstammung.212 »Versuche der Adoptivbewerber, den Umgang des [leiblichen] Vaters mit dem Kind zu verhindern«, können nach aktueller Rechtsprechung sogar »Zweifel an ihrer Eignung begründen«.213
209 Bamberger/Roth/Enders BGB § 1748 Rn 30.1 mit Verweis auf BGH NJW 2005, 1781, 1783 (»Ersetzung der Einwilligung des leiblichen Vaters bei der Stiefkindadoption«). 210 Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 15. 211 Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 17.1 mwN im Schrifttum. 212 An anderen Stellen, durch Umgangsrechte und kleine Sorgerechte etc., stärkt das BGB vor allem nicht-leibliche Beziehungen; hier ist dann offenbar die ›faktische‹ Pflege von größerer Bedeutung. Vgl. § 1688 Absatz 1 Satz 1 BGB: »Lebt ein Kind für längere Zeit in Familienpflege, so ist die Pflegeperson berechtigt, in Angelegenheiten des täglichen Lebens zu entscheiden sowie den Inhaber der elterlichen Sorge in solchen Angelegenheiten zu vertreten.« Vgl. auch § 1685 BGB, der den »Umgang des Kindes mit anderen Bezugspersonen« regelt. 213 Bamberger/Roth/Enders § 1741 BGB Rn 21.1 mit Verweis auf BVerfG NJW 2005, 2685, 2688 (»Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses des Umgangsrechts eines nichtehelichen Vaters«).
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Mit der Stiefkindadoption für Lebenspartner unterläuft der Gesetzgeber diesen ›Trend zur Leiblichkeit‹. Nach § 9 des Lebenspartnerschaftsgesetzes kann ein Lebenspartner »ein Kind seines Lebenspartners allein annehmen«, es also adoptieren.214 Die Tatsache, dass gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, ohne den Kreis der Zeugenden bspw. durch eine Samenspende oder eine Leihmutterschaft zu erweitern, unfruchtbar bleiben, subvertiert den Leitsatz der Naturimitation durch Adoption: Hier kann keine biologische Familiengründung imitiert werden, Familiengründung findet gleichwohl statt.215
Zusammenfassung: Elternschaft legitimieren Die Legitimation von Elternschaft im deutschen Familienrecht ergibt sich aus einem Konglomerat von möglichen Kriterien, die an Familien angelegt werden können. Eine Familie ist offenbar immer noch vornehmlich (d. h. im rechtlich einfachsten Fall) dasjenige soziale Gefüge, das entsteht, wenn eine mit einem Mann verheiratete Frau ein Kind zur Welt bringt. Dabei spielt es in keinem Fall eine Rolle, ob sie biologisch mit dem Kind verwandt ist – sie muss es ›nur‹ geboren haben. Auch der Vater wird dann durch seine Ehe mit der Mutter rechtlicher Vater, nicht durch die Zeugung bzw. durch seine biologische Verwandtschaft mit dem Kind. Elternschaft entsteht hier durch gesetzliche Zuordnung. Dass Väter darüber hinaus aus freien Stücken Kinder – die Zustimmung der Mutter vorausgesetzt – als die ihrigen anerkennen können, verleiht Familien (in Grenzen) ein Narrativ der freien Gestaltbarkeit. Vater werden kann, erst einmal unabhängig von biologischer Abstammung, derjenige, der für ein Kind Verantwortung übernehmen will (im Wege einer Anerkennung oder im Kontext der Ehe). Zuletzt bleibt Vaterschaft aber anfechtbar. Hier ist das Kriterium der genetischen Verwandtschaft wiederum zentral. Soziale bzw. rechtliche Zuordnungen sind dann vorrangig, wenn sich ein möglicher ›zweiter‹ Vater anheischig macht, einer schon bestehenden familiären Struktur ihre genetische Legitimation zu entziehen.
214 Vgl. § 9 des Gesetzes über die Eingetragene Lebenspartnerschaft (»Regelungen in Bezug auf Kinder eines Lebenspartners«), insbesondere Absatz 6 und 7. 215 Inge Kroppenberg spricht sich in diesem Zusammenhang gegen »die krampfhafte Nachahmung eines als ›natürlich‹ beschriebenen, aber stets normativ aufgeladenen Leitbilds« aus (Inge Kroppenberg: Adoptio naturam imitatur. Grenzfragen der Annahme als Kind in historischdogmatischem Kontext. In: forum historiae iuris [19. März 2012]; online abrufbar: http://www. forhistiur.de/media/zeitschrift/1203kroppenberg.pdf [letzter Zugriff am 20.9.2014]). Sukzessive Stiefkindadoption für eingetragene Lebenspartner bedeute »nicht den Untergang des christlichen Abendlandes, sondern nur eine Uminterpretation des Adoptionskonzepts«.
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Der Streit um bestehende Elternschaft ist rechtlich von Belang, weil Elternschaft Rechtsfolgen nach sich zieht. Eltern üben gemäß Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes das Elternrecht aus, denn »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht«. Elterliche Sorge (das »Sorgerecht« also) steht normalerweise den rechtlichen Eltern zu (vgl. § 1627 BGB: »Die Eltern haben die elterliche Sorge in eigener Verantwortung und in gegenseitigem Einvernehmen zum Wohl des Kindes auszuüben.«) Darüber hinaus regelt das Familienrecht basierend auf elterlicher Zuordnung beispielsweise Unterhaltsrechte bzw. -pflichten, entscheidet über Umgangsrechte und darüber, wer im Todesfall im Wege der gesetzlichen Erbfolge erbt. Ähnlich wie Ehegatten stehen Eltern und Kinder in einem Rechtsverhältnis zueinander, das ihnen Möglichkeiten eröffnet und sie füreinander in die Pflicht nimmt. Der Vorteil der vertraglich begründeten Ehe und eindeutig geregelter familiärer Verhältnisse liegt innerhalb der rechtlichen Systematik in ihrer relativen Eindeutigkeit. Lebensweltlich Chaotisches wird in einem Institut gebannt, das eine präzise rechtliche Zuordnung erlaubt, die beteiligten Personen zueinander in (rechtlich) eindeutige Beziehung setzt und die Zuteilung von Pflichten und Verantwortlichkeiten erlaubt. Das sei nicht zuletzt für das Funktionieren eines Sozialstaats unerlässliche Voraussetzung.216 Die Kriterien dafür, wie Familie entsteht, sind dabei, wie gezeigt, unterschiedlich. Die Zuordnung richtet sich je nach Sachlage nach biologischer Verwandtschaft, dem Willen des Individuums, Verantwortung für ein Kind zu übernehmen, oder nach prozessualer Bestimmung rechtlicher Zuordnung. Der Begriff des ›Vaters‹, an den sich so zahlreiche Rechtsfolgen binden, lässt sich bereits inhaltlich fragmentieren. Die Mutter kann der Gesetzgeber nur noch mittels einer einfachen Setzung (vgl. § 1591) vor einem ähnlichen Schicksal bewahren.
2.2.2.2 Im Namen des Kindeswohls In den bisweilen disparat erscheinenden Diskussionen zur Konstituierung und Ausgestaltung rechtlicher Elternschaft beziehen sich Gesetzestext und
216 Vgl. Eberhard Eichenhofer: Ehe und Familie in der Sozialrechtsordnung. In: Gesetzgebung, Menschenbild und Sozialmodell im Familien- und Sozialrecht. Hg. von Okko Behrends und Eva Schumann. Berlin/New York 2008, S. 91–116, S. 96: »Weil die Ehe zur wechselseitigen Deckung des Lebensbedarfs die Eheleute verpflichtet, geht die familienrechtliche Einstandspflicht generell der Einstandspflicht des Staates vor.« Weiter heißt es: »Soziale Sicherung ist auf Familien zentral angewiesen.« (S. 98)
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gängige Auslegungspraxis immer wieder auf das so genannte »Kindeswohl«217. Dieses Konzept ist, resümiert Kommentator Veit, zwar immer wieder »Entscheidungsmaßstab für das richterliche Handeln«, dabei aber »nur schwer zu konkretisieren«.218 Der Begriff taucht bereits im BGB von 1900 auf, und zwar – ähnlich wie heute noch – als Maßstab für die Eingriffsrechte des Vormundschaftsgerichts in Familien: Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen.219
Später wurde das Wohl des Kindes »Entscheidungsmaßstab im Elternkonflikt«220, sollte also ausschlaggebend sein in Bezug auf die Frage, welchem Elternteil man sinnvoller Weise das Sorgerecht zusprach. Das Scheidungsrecht von 1977 sah vor, dass im Fall der Scheidung das Sorgerecht »›in der Regel‹ einem Elternteil allein übertragen«221 werden müsse. Auch die Reform von 1980 spricht die elterliche Sorge regelmäßig »im Falle der Scheidung […] ausnahmslos Mutter oder Vater allein«222 zu. »Dahinter stand«, so Schwab, »die Vorstellung, dass das Kind klare Lebensverhältnisse brauche und dass es üblicherweise zu einem Elternteil, meist der Mutter, eine stärkere Bindung entwickelt habe.«223 Das Kindeswohl konkretisiert sich hier mit dem Argument der Kontinuität und der Stabilität, die ein eindeutiges, aber geteiltes Sorgerecht gewährleiste. Seit 1982 hat sich diesbezüglich in der Rechtsprechung ein Wandel vollzogen. Die Antwort auf die Frage, welche Sorgerechtsregelung dem Kindeswohl
217 Vgl. § 1626 Absatz 3 BGB: »Zum Wohl des Kindes gehört in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen«; noch ausdrücklicher § 1697a BGB: »Soweit nichts anderes bestimmt ist, trifft das Gericht in Verfahren über die in diesem Titel geregelten Angelegenheiten diejenige Entscheidung, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten dem Wohl des Kindes am besten entspricht.« 218 Bamberger/Roth/Veit § 1666 BGB Rn 6 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung (BVerfG FamRZ 2000, 1489) und die Kommentierung bei Staudinger. 219 § 1666 BGB aF. 220 Vgl. hierzu und insgesamt detailliert zum Kindeswohl und seiner historischen Kontextualisierung: Eva Schumann: Kindeswohl zwischen elterlicher und staatlicher Verantwortung. In: Gesetzgebung, Menschenbild und Sozialmodell im Familien- und Sozialrecht. Hg. von Okko Behrends und Eva Schumann. Berlin/New York 2008, S. 169–225; hier S. 171. 221 Schwab: Familienrecht, S. 356. 222 Schwab: Familienrecht, S. 356. 223 Schwab: Familienrecht, S. 356.
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am besten dient, lautet nun anders: Das Bundesverfassungsgericht erklärt, auch nach einer Scheidung sollte »den Eltern die gemeinsame Sorge belassen werden«224. Mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz von 1998 verfestigt sich endgültig die Meinung, man müsse auch bei einem Scheidungsprozess möglichst bemüht sein, »dem Kind beide Eltern als Sorgeberechtigte zu erhalten«225. Folglich gilt nach aktueller Rechtsprechung: Wird [im Rahmen des Scheidungsverfahrens, AM] kein Antrag auf Zuweisung der Alleinsorge gestellt […], bleibt es bei der gemeinsamen elterlichen Sorge […], selbst wenn es an einer gemeinsamen Erziehungsbereitschaft der Eltern fehlt.226
So wird die gemeinsame Sorge zum Regel-, die Alleinsorge zum Ausnahmefall.227 Seit Vater und Mutter mit dem Gleichberechtigungsgesetz228 von 1957 im ›Normalfall‹ gemeinsam die elterliche Sorge ausüben, wurde das Kindeswohl außerdem »zur Maxime elterlichen Handelns«229. Die elterliche Gewalt sollte idealerweise »im gegenseitigen Einvernehmen zum Wohle des Kindes«230 ausgeübt werden. Das Kindeswohl ist damit unter anderem »Richtschnur der elterlichen Sorge«, soll sicherstellen, »dass die Eltern auf dasjenige Sorgeverhalten verpflichtet sind, das voraussichtlich der Integrität und der Entfaltung des Kindes am besten dient«.231 Bei groben Verletzungen dieser Pflicht, das heißt: bei Gefährdung des Kindeswohls, schreitet das staatliche Wächteramt ein (Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 GG). § 1666 BGB (»Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des
224 Schwab: Familienrecht, S. 357 mit Hinweis auf BVerfGE 61, 358 (»Sorgerecht für nichteheliche Kinder«). 225 Schwab: Familienrecht, S. 357. 226 Bamberger/Roth/Veit § 1671 BGB Rn 2 mit Verweis auf OLG Hamm FamRZ 1999, 38, 39; OLG Stuttgart FamRZ 1999, 39. Vgl. zur Forschungsdiskussion auch: Barbara Veit: Die gemeinsame Sorge wider Willen. In: Perspektiven des Familienrechts. Festschrift für Dieter Schwab zum 70. Geburtstag. Hg. von Sibylle Hofer. Bielefeld 2005, S. 947–963. Veit untersucht unter anderem die Frage, »ob die gesetzlich verordnete Gemeinsamkeit der Eltern nach der Trennung dem Kindeswohl entspricht« (S. 949). 227 Vgl. Bamberger/Roth/Veit § 1671 BGB Rn 2 mit Verweis auf BVerfG FamRZ 2006, 21, 23. Gleichzeitig löst sich mit dieser Regelung die Familie einmal mehr von ihrer Bindung an die Ehe: Die Familie (im Sinne des Sorgerechts der Eltern) bleibt auch dann noch bestehen, wenn die Ehe geschieden wird. Vgl. Kroppenberg: Vaterbilder des modernen Zivilrechts, S. 107. 228 Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts vom 18.6.1957 (BGBl I, S. 609). 229 Schumann, S. 172. 230 Schumann, S. 171 f. 231 Schwab: Familienrecht, S. 305.
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Kindeswohls«) nennt auch heute Voraussetzungen, die einen staatlichen Eingriff unumgänglich machen: Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.
Die Grenzen des Elternrechts sollen dort beginnen, wo das Wohl des Kindes gefährdet ist – eine Definition dieses »Wohls« liefert zumindest Uhle in seiner Kommentierung zu Artikel 6 Absatz 2 GG nicht: »Problematisch kann im Einzelfall die Konkretisierung des Kindeswohls als immanenter Grenze des Elternrechts sein, da es sich bei diesem um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt […].«232 Der Begriff des ›Kindeswohls‹ ist mangels eindeutiger Signifikation innerhalb der rechtlichen Systematik immer wieder virulent. Während das Eingehen einer Ehe bestimmte Voraussetzungen hat (s. o.) und eindeutige Folgen nach sich zieht, bleibt die Antwort auf die Frage, was genau das ›Kindeswohl‹ ausmacht und welche Konsequenzen die Rücksichtnahme darauf haben soll, in den meisten Fällen diffus: Der Gesetzgeber nennt als Elemente des Kindeswohls das körperliche, geistige und seelische Wohl des Kindes. Entscheidendes rechtliches Kriterium des Kindeswohls ist das aus dem Elternrecht abgeleitete Ziel der Erziehung, dass sich das Kind zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln kann […]233; rechtlich abgesichert ist auch die Bedeutung von Kontinuität und Stabilität von Betreuungs- und Erziehungsverhältnissen234 […] und vor allem der Wille des Kindes.235
Die Konsequenzen eines unbestimmten Begriffs dieser Art liegen auf der Hand: Um seine Bedeutung muss gerungen werden. Letztlich muss im strittigen Fall argumentiert werden, mit welchem familiären Setting dem Kindeswohl ausreichend Rechnung getragen wird. Der Kindeswohlbegriff wird dabei »von einer Vielzahl außerjuristischer Elemente (wissenschaftliche Erkenntnisse, gesellschaftliche Standards) mitbestimmt«236.
232 Beck OK Epping/Hillgruber/Uhle Art. 6 GG Rn 55. 233 Verweis auf BVerfG FamRZ 2008, 1737, 1738. 234 Verweis auf die Kommentierung bei Staudinger. 235 Bamberger/Roth/Veit § 1666 BGB Rn 6. 236 Bamberger/Roth/Veit § 1666 BGB Rn 6.
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Solch ›diskursive Einfallstore‹ sind im Gesetz nicht ungewöhnlich,237 sie verlangen jedoch von Gesetzgeber und Gesetzesinterpreten das Heranziehen nicht-juristischer Diskurse. Zur Beurteilung dessen, was dem Wohl des Kindes entspricht, wird eine Gemengelage aus herrschenden Meinungen in psychologischen und soziologischen Diskursen herangezogen, die sich zu einer Art allgemein vertretbarem common sense addieren.238 Dabei greift der Gesetzgeber auf das Kindeswohl – das ist den Kommentierungen und den Gerichtsentscheidungen der letzten Jahre immer wieder zu entnehmen – nicht ausschließlich dann zurück, wenn es darum geht, elterliches Verhalten zu beurteilen oder Sorge- bzw. Umgangsrechte nach Scheidungen zum Wohl des betroffenen Kindes zu regeln. Das Kindeswohl erweist sich als ein rechtspolitisches Instrument, mit dem sich normative Aussagen zur Familie begründen lassen. Die folgenden Fallbeispiele sollen das illustrieren.
Das Kindeswohl und die Kleinfamilie: Beispiele Eine zum Zeitpunkt des Entstehens dieser Arbeit aktuelle und (auch) den Begriff des Kindeswohls betreffende Entscheidung stammt aus dem Jahr 2007.239 Zu klären war die Frage, ob die künstliche Befruchtung einer Frau, die nicht in einer ehelichen Gemeinschaft lebt, von einer gesetzlichen Krankenversicherung getragen werden sollte. Geregelt ist dieser Fall in § 27a des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB V). Dort heißt es unter der Überschrift »Künstliche Befruchtung«:
237 Auch der im Grundgesetz kodierte Familienbegriff lässt sich ja, wie oben gezeigt, nur in seinen jeweils historischen Auslegungsvarianten verstehen. Eines der prominentesten Beispiele für das immer wieder neu zu konkretisierende Recht ist § 138 Absatz 1 BGB, der die Gültigkeit eines Rechtsgeschäfts davon abhängig macht, ob im Kontext seines Zustandekommens und in Bezug auf seinen Inhalt die »guten Sitten« gewahrt wurden. 238 Ein Beispiel für die Einbeziehung außerjuristischer Diskurse sind fachwissenschaftliche Studien zu einem bestimmten Sachverhalt, beispielsweise die auch in dieser Arbeit angeführte Studie zur Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften (hg. von Marina Rupp. Köln 2009). Institutionalisiert wurde eine Einflussnahme außerjuristischer Diskurse im Deutschen Ethikrat, dessen Stellungnahme vom 24.9.2014 zum Inzestverbot die familienpolitischen Debatten erst kürzlich wieder inspiriert hat. Der Ethikrat ist der Meinung, »dass im Fall einvernehmlicher Inzesthandlungen unter volljährigen Geschwistern weder die Befürchtung negativer Folgen für die Familie noch die Möglichkeit der Geburt von Kindern aus solchen Inzestbeziehungen ein strafrechtliches Verbot dieser Beziehungen rechtfertigen kann«. Die Stellungnahme ist online abrufbar unter http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-inzestverbot.pdf (letzter Zugriff am 13.10.2014, Zitat dort auf S. 72). 239 BVerfGE 117, 316 = NJW 2007, 1343 (»Leistungen der Krankenversicherung bei künstlicher Befruchtung«).
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»Die Leistungen der Krankenbehandlung umfassen auch medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft«, allerdings nur, wenn (u. a.) »die Personen, die diese Maßnahmen in Anspruch nehmen wollen, miteinander verheiratet sind«. Das Bundesverfassungsgericht spricht sich in seinem Urteil eindeutig dafür aus, das Leitbild des Grundgesetzes weiterhin im Bild der ehezentrierten Familie zu sehen: Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, dass § 27a Abs. 1 Nr. 3 SGB V die Leistung medizinischer Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft (künstliche Befruchtung) durch die gesetzliche Krankenversicherung auf Personen beschränkt, die miteinander verheiratet sind.240
§ 27a Absatz 1 Nummer 3 SGB V schließe die gesetzlich versicherten Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft von der Sachleistung einer medizinischen Maßnahme nach dieser Vorschrift aus, auch wenn im Übrigen die Voraussetzungen gegeben sind. Sie werden dadurch im Verhältnis zu Ehepaaren finanziell benachteiligt und müssen, wenn sie die gewünschte künstliche Befruchtung vornehmen wollen, die gesamten Kosten dafür selbst tragen.241
Diese Ungleichbehandlung sei »sachlich gerechtfertigt«242. Zur Begründung stützt sich das Bundesverfassungsgericht auf die rechtlichen Folgen, die eine Eheschließung im Gegensatz zum nichtehelichen Zusammenleben nach sich ziehe: Die Ehe sei nach wie vor die rechtlich verfasste Paarbeziehung von Mann und Frau, in der die gegenseitige Solidarität nicht nur faktisch gelebt wird, solange es gefällt, sondern rechtlich eingefordert werden kann […].243
Das sei für den vorliegenden Fall relevant, weil es sich bei dem Versuch, eine künstliche Befruchtung durchführen zu lassen, um eine Situation handele, die
240 BVerfGE 117, 316 = NJW 2007, 1343, 1344 (»Leistungen der Krankenversicherung bei künstlicher Befruchtung«). 241 BVerfGE 117, 316 = NJW 2007, 1343, 1344 (»Leistungen der Krankenversicherung bei künstlicher Befruchtung«). 242 BVerfGE 117, 316 = NJW 2007, 1343, 1344 (»Leistungen der Krankenversicherung bei künstlicher Befruchtung«). 243 BVerfGE 117, 316 = NJW 2007, 1343, 1344 (»Leistungen der Krankenversicherung bei künstlicher Befruchtung«).
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die Belastbarkeit der Beziehung auf die Probe stelle.244 Der Gesetzgeber habe davon ausgehen dürfen, »dass die Ehe auch in einer solchen Situation, in der sich Paare ihren Kinderwunsch im Wege der künstlichen Befruchtung erfüllen wollen, die Grundlage für eine erhöhte Belastbarkeit der Partnerschaft darstellt«245. Weder der Gesetzgeber noch das Bundesverfassungsgericht sorgen sich natürlich letztlich um den Fortbestand der Paarbeziehung als solcher. Zentral für die weitere Begründung ist das »Kindeswohl«, das das Gericht an den Bestand der Beziehung der Eltern zueinander knüpft. Die Ehe biete »wegen ihres besonderen rechtlichen Rahmens […] eine Lebensbasis für ein Kind […], die den Kindeswohlbelangen mehr Rechnung trägt als eine nichteheliche Partnerschaft«246. Sie sei nach § 1353 Abs. 1 BGB auf Lebenszeit angelegt und nur unter den Voraussetzungen der Aufhebung (§§ 1313 ff. BGB) oder Scheidung (§§ 1564 ff. BGB) wieder auflösbar, während nichteheliche Partnerschaften jederzeit beendet werden können, auch wenn diese sich im konkreten Fall als eine feste Bindung erweisen. Die ehelichen Bindungen bieten einem Kind grundsätzlich mehr rechtliche Sicherheit, von beiden Elternteilen betreut zu werden. Auch sind Ehegatten einander nach § 1360 BGB gesetzlich verpflichtet, durch ihre Arbeit und mit ihrem Vermögen die Familie zu unterhalten. Dieser Unterhalt ist mit auf die Bedürfnisse der gemeinsamen Kinder ausgerichtet, begünstigt auch sie und bestimmt maßgeblich ihre wirtschaftliche und soziale Situation […]. Eine solche Verpflichtung besteht bei Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft nicht.247
Das Kindeswohl ist nicht nur Orientierungspunkt der Rechtsprechung – auch Mutter- und Vaterschaft sind in ihrer Konzeption und mit ihren rechtlichen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten an das Kindeswohl gebunden. Die ›ungespaltene Mutter‹ kann eventuell nicht eindeutige rechtliche Zuordnungsverhältnisse eines Säuglings verhindern und soll sicherstellen, dass jemand auch rechtlich verpflichtet ist, sich seiner anzunehmen. Das Neugeborene sei
244 »Die hohe Belastung ergibt sich im Zusammenhang mit den medizinischen Maßnahmen einer künstlichen Befruchtung insbesondere daraus, dass oft mehrere, beide Partner physisch und psychisch fordernde Versuche notwendig sind, diese Versuche zudem nicht selten erfolglos bleiben, und die künstliche Befruchtung nur in 18 von 100 Behandlungen zur Geburt eines Kindes führt. Die Versuche können mit gesundheitlichen Risiken verbunden sein.« (BVerfGE 117, 316 = NJW 2007, 1343, 1344 [»Leistungen der Krankenversicherung bei künstlicher Befruchtung«]) 245 BVerfGE 117, 316 = NJW 2007, 1343, 1344 (»Leistungen der Krankenversicherung bei künstlicher Befruchtung«). 246 BVerfGE 117, 316 = NJW 2007, 1343, 1344 (»Leistungen der Krankenversicherung bei künstlicher Befruchtung«). 247 BVerfGE 117, 316 = NJW 2007, 1343, 1344 (»Leistungen der Krankenversicherung bei künstlicher Befruchtung«).
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auf die Hilfe der Frau, die es auf die Welt bringt, sofort und dringend angewiesen, selbst wenn die Fürsorge Dritter zur Stelle ist. Das erfordert im Interesse des Kindes eine sofortige volle Verantwortung der Gebärenden für das Kind. Die nur genetische Mutter hingegen wird während der Geburtszeit eher nicht in der Nähe des Kindes sein. Die aus Schwangerschaft und Geburt entstandenen engen und durchaus auch biologischen Bindungen lassen zudem am ehesten vermuten, dass die erwartete Verantwortung getragen und die für das Kind nötige Hilfe geleistet wird. Die austragende Frau steht der Verantwortung für das Neugeborene eben am nächsten. Insoweit kann auch nicht außer Acht bleiben, dass Schwangerschaft und Geburt Mutter und Kind körperlich wie seelisch zumindest im Anfangsstadium enger aneinander binden als das Blutsband.248
Vaterschaft muss im Zuge eines »Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung« angefochten werden dürfen – aber nur dann, wenn die Anfechtung keine dem Kindeswohl zuträgliche, bereits bestehende elterliche Bindung gefährdet. Und auch der Schutz von Ehe und Familie und die normativen Vorstellungen, die Familien im Kontext der Ehelichkeit situieren, speisen sich letztlich aus dem Kindeswohlargument. Aber das Kindeswohl ermöglicht, da es inhaltlich vage bleiben muss, auch progressive Erweiterungen des Familienbegriffs. Das zeigt nicht nur die Debatte zur rechtlichen Stärkung unehelichen Zusammenlebens, sondern auch die Diskussion um die ›Regenbogenfamilien‹. Eine repräsentative sozialpsychologische Studie des Bundesjustizministeriums zur »Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften«, die 2009 veröffentlicht wurde, zeigt, dass lesbische oder schwule Eltern keine ›Gefahr‹ für das Wohl des Kindes darstellen: Die Ergebnisse zeigen, dass sich Kinder und Jugendliche aus [Lebenspartnerschaften] in Bezug auf die Beziehungsqualität zu beiden Elternteilen und in ihrer psychischen Anpassung von Kindern und Jugendlichen, die in anderen Familienformen aufwachsen, nur wenig unterscheiden. […] Signifikante Unterschiede fanden sich dahingehend, dass Kinder und Jugendliche aus [Lebenspartnerschaften] über ein höheres Selbstwertgefühl und über mehr Autonomie in der Beziehung zu beiden Elternteilen berichteten als Gleichaltrige in anderen Familienformen. Die Ergebnisse der Kinderstudie legen in der Zusammenschau nahe, dass sich Kinder und Jugendliche in Regenbogenfamilien ebenso gut entwickeln wie Kinder in anderen Familienformen.249
248 Säcker/Rixecker/Wellenhofer § 1591 BGB Rn 4. 249 Rupp, S. 308.
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Für die Entwicklung der Kinder sei nicht die »Struktur der Familie« entscheidend, »sondern die Qualität der innerfamilialen Beziehungen«.250 Das Kindeswohl erweist sich in diesem Zusammenhang als Dreh- und Angelpunkt möglicher (und fundamentaler) Veränderungen in Bezug auf familiäre Konzepte. Zweigeschlechtlichkeit und Ehelichkeit sind – mit Blick auf das Kindeswohl – möglicherweise verzichtbar. Mit Blick auf ihre rechtliche Situation äußern die in der Studie Befragten dann auch »Anregungen bzw. Wünsche zur Verbesserung«251: »Diese lassen sich auf die Behebung bestehender Unterschiede und Nachteile gegenüber Verheirateten zusammenfassen.«252
Zusammenfassung: Das Kindeswohl Inmitten ihrer oftmals widersprüchlich erscheinenden Argumentationslinien erschafft die Rechtsordnung die Figur des ›bedürftigen Kindes‹, dem es ihre Entscheidungen scheinbar unterordnet. Familien entstehen um dieses Kind herum, organisieren sich nach seinen Bedürfnissen. Hier offenbart sich einmal mehr der sozialperformative Charakter rechtlicher Institutionen. Denn solange Mütter und Väter mit rechtlichen Instrumenten ausgestattet werden, die beispielsweise einem (gleichgeschlechtlichen oder nichtehelichen) Lebenspartner gar nicht erst zukommen, nimmt es nicht Wunder, dass die finanzielle und rechtliche Absicherung eines Kindes durch seine (rechtlichen) Eltern immer noch am ›sichersten‹ scheint. Innerhalb des juristischen Diskurses sind Mütter und Väter (wie auch immer sie als solche legitimiert sein mögen) so immer noch diejenigen Personen, die die Position des Kindes am zuverlässigsten sichern – am einfachsten innerhalb der ehelichen Gemeinschaft. Das Kindeswohl bleibt aber umkämpftes Terrain, das die unterschiedlichsten rechtspolitischen Richtungen für sich in Anspruch nehmen. Außerjuristische Diskurse (Studien, die Arbeit von Interessenverbänden etc.) können in gewissem Maße Einfluss nehmen auf seine Deutung – und so das Familienrecht entscheidend mitgestalten.
250 Rupp, S. 308. 251 Rupp, S. 310. 252 Rupp, S. 310.
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3 »Familienwissenschaft« und vage Signifikanten: Ingeborg Schwenzers »Model Family Code« Rechtstheoretische Vorschläge zur Vereinfachung und Internationalisierung familienrechtlicher Konstellationen stammen aktuell unter anderem vom deutsch-schweizerischen Team Schwenzer/Dimsey. Unter dem Stichwort »Model Family Code«253 haben Ingeborg Schwenzer und Mariel Dimsey auf rechtsvergleichender Basis ein Modellgesetz erarbeitet, das für die vorliegende Arbeit bemerkenswert ist. Es zeigt exemplarisch, welche Elemente sich im familienrechtlichen Diskurs als ›unhintergehbar‹ herauskristallisieren und welche Konzepte man für suspendierbar hält. Es gäbe wohl, hält Schwenzer fest, »kaum ein Rechtsgebiet, das in den letzten Jahrzehnten nicht nur so beständigem, sondern auch grundstürzendem Wandel ausgesetzt war und wohl auch in Zukunft sein wird, wie das Familienrecht«254. Familien fordern einen transdisziplinären Blickwinkel, an deren Anfängen Schwenzer sich verortet: Unabdingbare Voraussetzung, um mit den neuen Entwicklungen umgehen und sinnvolle Lösungsansätze für die auftretenden Fragestellungen entwickeln zu können, ist ein umfassendes Problemverständnis. Hierzu kann die Schaffung der […] eigenständigen Fachdisziplin »Familienwissenschaft« einen wesentlichen Beitrag leisten. Die Hauptmerkmale des neuen Fachs Familienwissenschaft sind Internationalität, Interdisziplinarität sowie Austausch und Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis.255
In rechtsvergleichender Perspektive ließen sich »drei Prinzipien« isolieren, »die bei entsprechender Fortschreibung als Grundpfeiler für ein in sich konsistentes Familienrecht für das 21. Jahrhundert dienen könnten«.256 Schwenzer nennt im
253 Der Model Family Code ist abgedruckt in: Schwenzer: Familie und Recht. Ausgewählte Beiträge aus 25 Jahren. Bern 2010, S. 711–728. 254 Ingeborg Schwenzer: Ein Familienrecht für das 21. Jahrhundert. In: Siebzehnter Deutscher Familiengerichtstag vom 12. bis 15. September 2007 in Brühl. Ansprachen und Referate. Berichte und Ergebnisse der Arbeitskreise. Bielefeld 2008, S. 27–40, hier S. 27. 255 Ingeborg Schwenzer: Zur Notwendigkeit einer Disziplin »Familienwissenschaft«. In: Schwenzer: Familie und Recht. Ausgewählte Beiträge aus 25 Jahren. Bern 2010, S. 98–107, hier S. 98. Eine solche Notwendigkeit der inter-, ja transdisziplinären Familienwissenschaft sieht auch Michelle Cottier: Inter- und Transdisziplinarität in der Familienwissenschaft aus der Perspektive des Familienrechts. In: Private Law. National, Global, Comparative. Festschrift für Ingeborg Schwenzer zum 60. Geburtstag. Hg. von Andrea Büchler und Markus Müller-Chen. Band 1. Bern 2011, S. 351–363. 256 Schwenzer: Ein Familienrecht für das 21. Jahrhundert, S. 29.
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Folgenden das »Prinzip der Nichteinmischung«, das »Einfordern von Verantwortung« und den »Vorrang des Kindeswohls«.257 »Nicht einmischen« soll sich bei Schwenzer vor allem die staatliche Autorität, und zwar radikaler als es bisher das deutsche Grundgesetz vertritt: Es kann nicht die Aufgabe eines säkularisierten Familienrechts sein, den Bürgerinnen und Bürgern bestimmte Lebensformen vorzuschreiben, und sei es nur dadurch, dass die eine, d. h. die Ehe, gegenüber den anderen privilegiert wird.258
Durch die Forderung nach Nivellierung der Unterschiede zwischen den Lebensformen löst Schwenzer das in Deutschland noch recht feste Band zwischen Ehe und Familie. Gleichzeitig bindet sie den Familienbegriff an die Verantwortung des Individuums: Es gilt, Verantwortung für gelebte Wirklichkeit jenseits von rechtlichen Hülsen einzufordern. Es kann nicht angehen, dass – anders als in anderen Bereichen des Privatrechts – ein Partner sich von den Konsequenzen seines eigenen Verhaltens einfach dadurch gewissermaßen freizeichnet, dass er eine Ehe nicht eingeht.259
Da das Familienrecht vorrangig »den Schutz der nachwachsenden Generation sicherzustellen« habe, besteht Schwenzers Modell konsequent auf den »Vorrang des Kindeswohls«, das der Code ausdrücklich in Artikel 3.1 (»Wohl des Kindes«) regelt. Dort heißt es: »In allen Eltern und Kinder betreffenden Angelegenheiten ist vorrangig das Kindeswohl zu berücksichtigen.« Auf der Basis der drei Prinzipien ergeben sich sowohl für Partnerschaften als auch für die Beziehung zwischen Eltern und Kindern Konsequenzen, die im Familienrecht kodifiziert werden können. Der Model Family Code regelt in drei Teilen »Partnerschaften«, Fälle »[h]äusliche[r] Gewalt« und das Verhältnis von »Eltern und Kindern«. Ehen und nichteheliche Lebensgemeinschaften werden im Modellgesetz grundsätzlich gleich behandelt, nur so könne man dem Verantwortungsprinzip gerecht werden.260
257 Schwenzer: Ein Familienrecht für das 21. Jahrhundert, S. 29 ff. Vgl. auch Ingeborg Schwenzer: Grundlinien eines modernen Familienrechts aus rechtsvergleichender Sicht. In: Schwenzer: Familie und Recht. Ausgewählte Beiträge aus 25 Jahren. Bern 2010, S. 109–133, insbes. S. 114 ff. 258 Schwenzer: Ein Familienrecht für das 21. Jahrhundert, S. 29. 259 Schwenzer: Grundlinien eines modernen Familienrechts aus rechtsvergleichender Sicht, S. 115. 260 Schwenzer: Grundlinien eines modernen Familienrechts aus rechtsvergleichender Sicht, S. 116.
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Weitreichende Veränderungen ergäben sich für das aktuell geltende deutsche Recht mit Schwenzers Bestimmungen zur Elternschaft. Schwenzer stellt hier deutlich auf ein Konzept »intentionale[r] Elternschaft«261 ab. Als »Kind der Familie« gilt (a) ein gemeinsames Kind der Partner sowie (b) ein Kind, für dessen langfristiges Wohlergehen beide Partner Verantwortung übernehmen.262
Dieses Modell verwirklicht […] die drei zentralen Prinzipien eines modernen Familienrechts, d. h. Nichteinmischungs-, Verantwortungs- und Kindeswohlprinzip, in optimaler Wiese, darf doch davon ausgegangen werden, dass es dem Kindeswohl am besten dient, wenn zwei Menschen gemeinsam willentlich Verantwortung für ein Kind übernehmen.263
Ein Anfechtungsrecht für den biologischen, aktuell nicht rechtlichen Vater will Schwenzer im Zuge des Kindeswohls »auf Fälle begrenzt [wissen], in denen keine gelebte Eltern-Kind-Beziehung zu dem intentionalen Elternteil (mehr) besteht«264. Leiblichkeit marginalisiert dieses Konzept zugunsten gelebter sozialer Elternschaft. Schwenzers Modell stärkt eine sozialpragmatische Definition der Familie. Man werde im Zuge der intentionalen Elternschaft sogar letztlich »auch von der Vorstellung, dass ein Kind nur zwei rechtliche Eltern haben kann, Abstand nehmen müssen«265. Damit nähert sich der rechtswissenschaftliche Diskurs aber keinesfalls subjektiver Beliebigkeit. Nicht der Einzelne soll entscheiden, wo für ihn Familie beginnt. Schwenzers Modell bleibt, bei aller eingeforderten Modernität, auf objektiv-normative Kriterien angewiesen. Ob eine »Partnerschaft« im Sinne ihres Modellgesetzes gegeben ist, soll im Streitfall künftig eine vom Gericht vorzunehmende Analyse ergeben. Den Richtern werde dabei ein weites Ermessen eingeräumt, indem sie auf eine ganze Reihe von Kriterien zur Bestimmung, ob eine rechtsrelevante Partnerschaft anzunehmen ist, verwiesen werden. Hierzu
261 Schwenzer: Grundlinien eines modernen Familienrechts aus rechtsvergleichender Sicht, S. 128. 262 Schwenzer: Model Family Code, S. 711. 263 Schwenzer: Grundlinien eines modernen Familienrechts aus rechtsvergleichender Sicht, S. 128. 264 Schwenzer: Grundlinien eines modernen Familienrechts aus rechtsvergleichender Sicht, S. 128. 265 Schwenzer: Ein Familienrecht für das 21. Jahrhundert, S. 37.
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gehören die Dauer der Beziehung, Art und Weise des Zusammenlebens und der Lebensgestaltung, das Vorhandensein einer sexuellen Beziehung, Erwerb und Nutzung von Eigentum, die Verrichtung von häuslichen Pflichten sowie schließlich das Auftreten des Paares nach außen.266
Ähnlich wie das Kindeswohl wird bei Schwenzer damit auch der Begriff der ›Partnerschaft‹ zum vagen Signifikanten, den der jeweilige außerrechtliche Diskurs inhaltlich wird füllen müssen. Die Kriterien, die Schwenzer zur Prüfung vorschlägt, implizieren ein durchaus traditionelles Partnerschaftsbild, das sich unter Umständen hinter dem Rücken des progressiv gemeinten aber vagen Gesetzestextes auch in ein durchaus mythisch-bürgerliches Familienbild übersetzen ließe. Der Model Family Code ist mit seiner (post-)modernen Stoßrichtung damit auch ein dehnbares Instrument, das – ebenso wie das aktuell geltende deutsche Recht – von den unterschiedlichsten familienideologischen Richtungen in Dienst genommen und ausgestaltet werden kann.
4 Vom Funktionieren des Diskurses: Rechtliches Sprechen über die Familie Das Ergebnis eines Sprechens über Familien hängt immer auch von den Regeln desjenigen Diskurses ab, der spricht. Die vorliegende sowohl synchrone als auch diachrone Analyse ermöglicht es, Aussagen zu treffen zur Funktionsweise und Entwicklung des rechtlichen Diskurses. In seiner Geschichte der Gouvernementalität267 thematisiert Michel Foucault unter den Stichworten »Sicherheit, Territorium, Bevölkerung« (Band 1) und »Die Geburt der Biopolitik« (Band 2) die Möglichkeiten und Prämissen machtvoller ›Zurichtungen‹ gesellschaftlicher Realitäten.268 Das Stichwort ›Familie‹ fällt
266 Schwenzer: Grundlinien eines modernen Familienrechts aus rechtsvergleichender Sicht, S. 117 f. 267 Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt am Main 2006; Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt am Main 2006. 268 Vgl. u. a. die Vorlesungen 9 und 10 des zweiten Bandes, in denen der »amerikanische Neoliberalismus« als »globale Forderung, utopischer Mittelpunkt und Denkmethode« erfasst wird (Foucault: Geburt der Biopolitik, S. 300).
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im Kontext eines zusammenfassenden Vortrags zur »Gouvernementalität« im Februar 1978.269 Unter »Gouvernementalität« versteht Foucault dort die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als »Regierung« bezeichnen kann, gegenüber allen anderen […] geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat.270
Wir leben, so Foucault, im Zeitalter dieser Gouvernementalität als Form der Machtausübung innerhalb der Staaten. Gouvernementalität wurde im 18. Jahrhundert entdeckt […]. Die Gouvernementalisierung des Staates, die ein besonders verzwicktes Phänomen ist […]. […] [D]ie Taktiken des Regierens gestatten es, zu jedem Zeitpunkt zu bestimmen, was in die Zuständigkeit des Staates gehört und was nicht in die Zuständigkeit des Staates gehört, was öffentlich ist und was privat ist, was staatlich ist und was nicht staatlich ist.271
Mit der Entwicklungsgeschichte der heutigen Form des Regierens sieht Foucault den Begriff und die Geschichte der Familie untrennbar verbunden. Der Vortrag konstatiert in der Geschichte des Regierens eine »Verschiebung der Familie von der Ebene des Modells zur Ebene der Instrumentalisierung«, die er in Bezug auf die Beziehung zwischen Bevölkerung und Regierung als »absolut fundamental« benennt.272 Der Gouvernementalität voraus gehen Formen der Herrschaftsausübung, die sich am Modell der Familie als einer hierarchisch organisierten Einheit orientieren. Die Grundfrage des Souveräns lautet: »Was muss man tun, damit derjenige, der regiert, den Staat ebenso bestimmt und gewissenhaft regieren kann, wie man eine Familie zu regieren vermag?«273 Der Herrscher ist pater populi, Vater eines Volkes, das er als große Familie versteht und dessen Leitung ihm obliegt. Die Familie ist damit Sinnbild gelungener Machtausübung, Sinnbild hierarchischer Struktur, Politik die gesamtstaatliche Vergrößerung ihrer Struktur. In der Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich mit Foucault eine Ablösung dieses Machtparadigmas konstatieren. Bevölkerungsstrukturen werden als komplexer
269 Michel Foucault: Die »Gouvernementalität« (Vortrag). In: Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Dritter Band: 1976–1979. Frankfurt am Main 2003, S. 796–823. 270 Foucault: Die »Gouvernementalität«, S. 820 f. 271 Foucault: Die »Gouvernementalität«, S. 822. 272 Foucault: Die »Gouvernementalität«, S. 816. 273 Foucault: Die »Gouvernementalität«, S. 814.
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wahrgenommen. Bevölkerung lässt sich nicht mehr auf das familiale Modell reduzieren,274 Herrschaft sich dann auch nicht mehr im Modell der Familie spiegeln: »Mit Ausnahme einer bestimmten Zahl von Restthemen – dies können moralische und religiöse Themen sein – wird die Familie als Modell der Regierung verschwinden.«275 Wer herrscht, herrscht nicht mehr als pater familias des Volkes. Damit rückt die Familie aber nicht aus dem Fokus der Macht. Sie wird »genau zu diesem Zeitpunkt […] wieder als Element innerhalb der Bevölkerung und als fundamentales Relais ihrer Regierung auftauchen«276. Die Familie ist nun kein Modell mehr; sie ist ein Segment, ein schlechthin privilegiertes Segment, weil man, sobald man bei der Bevölkerung hinsichtlich des Sexualverhaltens, der Demografie, der Kinderzahl oder des Konsums etwas erreichen will, über die Familie vorgehen muss. Damit aber wird die Familie als Modell zum Instrument, sie dient als privilegiertes Instrument für die Regierung der Bevölkerungen und nicht als chimärisches Modell für die gute Regierung […]. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts taucht die Familie in dieser Instrumentalisierung im Verhältnis zur Bevölkerung auf: in den Kampagnen gegen die hohe Sterblichkeit sowie den Kampagnen, die sich um die Eheschließung, um Pocken- und andere Schutzimpfungen drehen.277
Als ein Element der Bevölkerung betreffen die Familie nun die Ergebnisse gouvernementaler Machtausübung: Denn was kann, im Grunde genommen, das Ziel der Regierung sein? Gewiss nicht zu regieren, sondern das Los der Bevölkerung zu verbessern, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer und ihre Gesundheit zu mehren; und die Instrumente, die sich die Regierung gibt, um diese Ziele zu erreichen, sind dem Feld der Bevölkerung gewissermaßen immanent. Im Wesentlichen wird es die Bevölkerung selbst sein, auf die sie direkt mittels Kampagnen oder auch indirekt mittels Techniken einwirkt, die es beispielsweise erlauben, ohne dass es die Leute merken, die Geburtenrate zu steigern oder die Bevölkerungsströme in dieser oder jener Region einer entsprechenden Betätigung zuzuleiten. Statt als Ausdruck der Macht des Souveräns tritt die Bevölkerung vielmehr als Zweck und Instrument der Regierung hervor. Die Bevölkerung tritt als Subjekt von Bedürfnissen und Bestrebungen, aber ebenso auch als Objekt in den Händen der Regierung hervor […].278
»Die Geburt einer Kunst«, nennt es Michel Foucault, »oder zumindest die Geburt absolut neuartiger Taktiken und Techniken.«279 Das Problem der Legitimation
274 Foucault: Die »Gouvernementalität«, S. 816. 275 Foucault: Die »Gouvernementalität«, S. 816. 276 Foucault: Die »Gouvernementalität«, S. 816. 277 Foucault: Die »Gouvernementalität«, S. 816. 278 Foucault: Die »Gouvernementalität«, S. 817. 279 Foucault: Die »Gouvernementalität«, S. 817.
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von Macht hat sich mit dem Ablegen des Modells ›Familie‹ als Vorbild für staatliche Organisation verschärft: Die Bevölkerung zu führen heißt nicht, allein die kollektive Masse an Phänomenen oder die Bevölkerung allein auf der Ebene ihrer globalen Befunde zu führen; die Bevölkerung zu führen heißt, sie gleichermaßen in der Tiefe, in der Feinheit und im Detail zu führen.280
Gouvernementalität ist nichts anderes als »die Bewegung, welche die Bevölkerung als eine Gegebenheit, als ein Interventionsfeld und als das Ziel der Regierungstechniken hervorbringt«281. Im Rahmen dieses Konzepts denkt Foucault die Familie als Objekt staatlicher Zu- und Eingriffe. Juristische Texte ließen sich dann lesen als ein Archiv dieser Konstruktionsprozesse – was sicherlich, zumindest im 19. Jahrhundert, oft den Punkt nicht verfehlt: Beispielhaft sei an die explizit überlieferte volkspädagogische Idee der Autoren der Motive erinnert, die nicht eheliche Zeugung dadurch zu verhindern, dass rechtliche Absicherung familiärer Bande jenseits der bürgerlichen Ehe schwierig oder gar unmöglich sind.282 Die Autoren der Motive fungieren als Vertreter des Staates – und handeln folgerichtig immer auch in seinem Sinn. Denkbar und kodiert ist im juristischen Diskurs des 19. Jahrhunderts deshalb vor allem ein Familienbild, das die bürgerliche Kernfamilie institutionell stabilisiert, indem die rechtliche Handlungsmacht zentralisiert dem Ehemann zugesprochen, die Ehefrau hingegen möglichst machtlos gehalten wird. Die Diskurse im 21. Jahrhundert zeigen demgegenüber ein weitaus komplexeres Bild. Innerhalb eines demokratisierten juristischen Diskurses haben sich mittlerweile zahlreiche andere Diskurse Platz gemacht: Nicht nur der Staat, scheint es, meldet Interesse an der Familie an. In den Gesetzestexten und Kommentaren, in der Rechtsprechung und der Fachliteratur finden sich Debatten um moderne Reproduktionstechniken, um deren ethische Bewertung, Fragen der Geschlechtergleichheit, der Gleichbehandlung unterschiedlichster Lebensformen. Der juristische Diskurs ist stärker als im 19. Jahrhundert zum Kampfplatz verschiedenster ›Mächte‹ geworden. Noch einmal sei an eine weitere wichtige Eigenschaft des rechtlichen Diskurses erinnert: diejenige nämlich, möglichst trennscharfe Begriffe bereit zu stellen. Nur wenn mit Begriffen wie ›Ehe‹ und ›Familie‹ Inhalte denotiert werden, die aus der Masse der sozialen Phänomene bestimmte Konstellationen herausgreifen und auszeichnen, kann juristische Subsumtion stattfin-
280 Foucault: Die »Gouvernementalität«, S. 819. 281 Foucault: Die »Gouvernementalität«, S. 820. 282 Vgl. Kapitel 1, 2.1.1.
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den, kann Recht letztlich erst ›funktionieren‹. Hier zeigt sich besonders eindrücklich ein gewalt- bzw. machtvoller (gleichwohl innerhalb der Logik des Diskurses unentbehrlicher) Zug des Rechts, dem auch das 21. Jahrhundert nicht entkommt. Im Gegenteil: Besonders verbissen diskutiert man aktuell die Frage, wo das Kindeswohl beginnt – und wo es definitiv sein Ende findet. Diese Überlegung führt freilich weit über meine Arbeit hinaus und direkt zur grundsätzlichen Frage nach dem Zusammenwirken verschiedener Diskurse, zur Frage auch danach, was ›Recht‹ letztlich ist und wie sich seine Verflechtung auch mit der ›sozialen Wirklichkeit‹ beschreiben ließe.283 Ohne mit Antworten auf diese Fragen aufwarten zu können, möchte ich mir einen kurzen Blick auf die aktuellen Tendenzen eines Diskurses erlauben, der den gegenwärtigen juristischen gleichermaßen flankiert, immer wieder in ihn eingreift und ihn so inhaltlich mitgestaltet:284 die Familiensoziologie.
5 Verfallsrhetorik oder Veränderungseuphorie? Einblicke in die Familiensoziologie Wenn Rechtskodifikationen verändert werden, herrscht häufig die Vorstellung vor, das Recht werde an eine wie auch immer zu definierende ›Lebenswirklichkeit‹ oder gar an den so genannten ›Zeitgeist‹ angepasst. Das Verhältnis lässt sich aber auch anders herum beschreiben. Das Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts vom 21.12.2007285 beispielsweise brachte wesentliche Änderungen, die die rechtliche Position der Familienmitglieder zueinander geprägt und verändert haben. Eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partner würde möglicherweise auch die gesamtgesellschaftliche Debatte zur Ehe, den ›Zeitgeist‹ als das Archiv der vorherrschenden Bilder zur Familie verändern. Der rechtliche Diskurs und ›die‹ Gesellschaft bzw. ihre Struktur befinden sich in einem komplexen Wechselspiel miteinander, das mit einfachen bottom-up- oder top-down-Modellen nicht ausreichend erfasst wird. Niklas Luhmann konstatiert: »In evolutionärer Perspektive ist Recht als unaufgebbares Element der Gesellschaftsstruktur immer
283 Einführend und grundlegend dazu: Susanne Baer: Rechtssoziologie. Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung. Baden-Baden 2011. 284 Die Verbindung des juristischen Diskurses zum familiensoziologischen zeigt sich beispielsweise in Studien wie der bereits erwähnten zur Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften. Der Familienbericht der Bundesregierung wäre ein ähnliches ›Einfallstor‹. 285 BGBl I, S. 3189.
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Bewirktes und Wirkendes zugleich.«286 Das komplexe Zusammenspiel der einzelnen Diskurse (oder Systeme) können nur Analysen zeigen, die verschiedene synchrone Bereiche analysieren und Thesen zu ihrem Zusammenwirken bereitstellen. Die Besonderheit der soziologischen Perspektive auf die Familie wiederum liegt in ihrem Bemühen um die Wissenschaftlichkeit ihrer Aussagen. Soziologische Forschung, deren Gegenstand die Familie ist, trifft – viel eindeutiger noch als der rechtswissenschaftliche Diskurs – auf Schwierigkeiten, die in der seit langem nachhaltig geführten Debatte um eine ›Wertfreiheit‹ der Forschung immer wieder begegnen.287 Jack Goody weist in seiner Studie zur Entwicklung von Ehe und Familie in Europa darauf hin, dass »die Erforschung der Familie« ein Bereich sei, in dem wir besondere Vorsicht, ja Zurückhaltung üben müssen, insbesondere wenn es um die Untersuchung der ›affektiven‹ Aspekte der fundamentalen Beziehungen der Mitglieder untereinander geht, die wir alle aus unterschiedlichen Blickwinkeln erlebt haben.288
Die Frage nach dem Mythos der ›heilen Familie‹ stellt sich, das soll hier in Ansätzen gezeigt werden, auch der zeitgenössischen Soziologie. Im wissenschaftlichen Diskurs finden sich, in Barthes’scher Terminologie, Mythenleser und Mythologen. Die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ›Familie‹ entkommt der mythischen Narration dabei nur mühsam. Die soziologische Forschung ist nicht zuletzt ein Beispiel für die Produktivität eines mythischen Narrativs, das auch in der aktuellsten Forschung ebenso unverzichtbar wie unhintergehbar scheint.
286 Niklas Luhmann: Rechtssoziologie. Band 2. Reinbek bei Hamburg 1972, S. 294. 287 Grundlegend dazu Max Weber: Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In: Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 1988, S. 489–540. Außerdem: Max Weber: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. v. Johannes Winckelmann. Tübingen 1988, S. 146–214. Zur aktuellen Zügen der Debatte vgl. den Sammelband Werte in den Wissenschaften. Hg. von Gerhard Zecha. Tübingen 2006. 288 Goody: Entwicklung von Ehe und Familie, S. 14.
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5.1 Von Wissenschaft und mythischen Narrativen Die Anfänge der Familiensoziologie liegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die soziologische Auseinandersetzung mit Familien ist seit ihrem Beginn auch Impulsgeber für mythische Narrative zu privaten Lebenswelten, die u. a. das Recht aufgreift. Wilhelm Heinrich Riehls Fetischisierung des »ganzen Hauses«289 ist weniger historische Familienforschung als die Konstruktion eines angeblich vergangenen Ideals aus dem vermeintlichen Mangel des Gegenwärtigen.290 In diesem Exkurs will ich mich allerdings weniger mit der Geschichte der Familiensoziologie291 beschäftigen als mit Leitlinien des aktuellen familiensoziologischen Diskurses. Hier haben zwar schon die 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts die Familie als Gegenstand kritischer Theorie(-Bildung) entdeckt.292 Hartmann Tyrell spricht in diesem Zusammenhang von veritablen »Legitimationseinbußen des bürgerlichen Familienmusters«293, Elisabeth Beck-Gernsheim meint gar, die Familie sei hier »entlarvt [worden] als Ideologie und Gefängnis, als Ort alltäglicher Gewalt und Unterdrückung«294. Soziologischer Familienforschung attestiert Kurt Lüscher aber auch im 21. Jahrhundert noch eine »notorische[ ] Ideologisierung ihres Gegenstandes«295. Dieter Hoffmeister
289 Wilhelm Heinrich Riehl: Die Familie. Stuttgart/Berlin 1925 [Original 1855], S. 158–181. 290 Vgl. Böhnisch und Lenz: »Eine Gegenwartsanalyse der Familien kommt ohne Rückgriff auf die Vergangenheit nicht aus. Die Frage ist nur, ob man sich dabei auf Forschungsergebnisse stützt oder sich – wie es in der Familienforschung lange Zeit der Fall war und zum Teil auch noch ist – damit begnügt, aus der Bestandsaufnahme der Gegenwart das alte Familienleben als Kontrastbild zu extrahieren. Meist hat man sich in diesem Fall damit begnügt, dieses Kontrastbild implizit zu unterstellen, nicht selten verknüpft mit der normativen Überhöhung, daß die Familie so wie sie ›war‹, ›eigentlich‹ auch sein sollte. Prototypisch läßt sich diese Vorgehensweise bei Wilhelm H. Riehl […] studieren […].« (S. 11) 291 Vgl. hierzu bspw.: Die Geschichte der Familiensoziologie in Portraits. Hg. von Rosemarie Nave-Herz. Würzburg 2010. 292 Grundlegend ist hier natürlich die Kritische Theorie zu nennen: Max Horkheimer u. a.: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Lüneburg 1987 [1936]. Vgl. darin v. a. Max Horkheimer: Theoretische Entwürfe über Autorität und Familie, S. 1–228: »Die Familie besorgt, als eine der wichtigsten erzieherischen Mächte, die Reproduktion der menschlichen Charaktere, wie sie das gesellschaftliche Leben erfordert, und gibt ihnen zum großen Teil die unerlässliche Fähigkeit zu dem besonders gearteten autoritären Verhalten, von dem der Bestand der bürgerlichen Ordnung in hohem Masse abhängt.« (S. 49 f.) 293 Tyrell: Ehe und Familie – Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, S. 149. 294 Elisabeth Beck-Gernsheim: Die neue Unübersichtlichkeit der Familie. In: Beck-Gernsheim: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen. München 1998, S. 9. 295 Lüscher, S. 4.
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verwundert […] die Tatsache, dass selbst angesichts der offenbar unaufhaltsamen Auflösung der ›klassischen‹ bürgerlichen Kleinfamilie als dominanter Lebensform die Familienforschung (und mit ihr auch das Familienrecht) dieser noch immer Leitbildfunktion zugesteht […].296
George Murdocks These von der anthropologischen Universalität der Kleinfamilie ist längst widersprochen und widerlegt worden.297 Dennoch hat sich im soziologischen Sprechen über Familien eine Konzentration der Familiensoziologie auf die »Normalfamilie (bestehend aus Vater, Mutter und ihren leiblichen Kindern)«298 sedimentiert.299 Die Rede sei unter anderem von »unvollständigen Familien« oder
296 Matthias Grundmann und Dieter Hoffmeister: Familie nach der Familie. Alternativen zur bürgerlichen Kleinfamilie. In: Zukunft der Familie. Prognosen und Szenarien [auch: Zeitschrift für Familienforschung, Sonderheft 6]. Hg. von Günter Burkart. Opladen/Farmington Hills 2009, S. 157–178, hier S. 163. 297 »The family is a social group characterized by common residence, economic cooperation, and reproduction. It includes adults of both sexes, at least two of whom maintain a socially approxed sexual relationship, and one or more children, own or adopted, of the sexually cohabit ing adults« (George Peter Murdock: The Nuclear Family. In: Murdock: Social Structure. New York 1949, S. 1–22, hier S. 1). Weiter heißt es bei Murdock: »The nuclear family is a universal human social grouping, either as the sole prevailing form of the family or as the basic unit from which more complex familial forms are compounded, it exists as a distinct and strongly functional group in every known society.« (S. 2) Oft zitierte Kritik an dieser Position stammt von Rolf Eickelpasch: »In unserer vergleichenden Strukturanalyse familialer Systeme in fremden Gesellschaften hat sich die seit Murdock in der Familiensoziologie verbreitete These von der Universalität der Kernfamilie als ethnozentrisches Vorurteil erwiesen. Diese These postuliert einen bestimmten Typus von Familie, nämlich den bürgerlichen der euro-amerikanischen Gesellschaften, als anthropologische Konstante und verliert so die je spezifischen historischen und gesamtgesellschaftlichen Abhängigkeiten familialer Strukturen aus dem Blick« (Rolf Eickelpasch: Ist die Kernfamilie universal? Zur Kritik eines ethnozentrischen Familienbegriffs. In: Zeitschrift für Soziologie 3 (1974), S. 323–338, hier S. 336). 298 Laszlo A. Vaskovics: Pluralisierung der Elternrolle. Soziale, biologische, genetische und rechtliche Elternschaft. In: Vom Stammbaum zur Stammzelle. Reproduktionsmedizin, Pränataldiagnostik und menschlicher Rohstoff. Hg. von Elmar Brähler, Yve Stöbel-Richter und Ulrike Hauffe. Gießen 2002, S. 29–43, hier S. 36. 299 Vgl. Vaskovics: Pluralisierung der Elternrolle, S. 36. Ähnlich äußern sich auch Böhnisch und Lenz: »Bis in die Gegenwart hinein ist die Familienforschung […] reich an Beispielen, daß Familie […] als ein wissenschaftlicher Allgemeinbegriff verstanden wird. In der konkreten Begriffsbestimmung schimmert aber dennoch an einigen Stellen unverkennbar die Ausrichtung an dem Formtypus der bürgerlichen oder modernen Familie durch.« (Böhnisch und Lenz, S. 25 f.) Karl Lenz äußert vor diesem Hintergrund eine grundlegende »Skepsis gegen die Brauchbarkeit des Familienbegriffs« (Karl Lenz: Familie – Abschied von einem Begriff? In: Erwägen Wissen Ethik 1 (2003), S. 485–498, hier S. 485) und erwägt auch aus methodischen Gründen, den Begriff zu verabschieden: »Der in der Familienforschung gebräuchliche Begriff ist sehr eng an das Mo-
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»Ein-Elternfamilien«, von »nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern«, von »Nachscheidungsfamilien« und »binuklearen Familien«.300 Betont ist damit keine legitime Andersartigkeit familiärer Strukturen, sondern vielmehr ihr Abweichen von einem ›Eigentlichen‹, das der familiensoziologische Diskurs nur widerwillig als Orientierungspunkt aufgibt. Beispielhaft dafür steht »die unkritische Übernahme des Verweisungszusammenhangs von Ehe und Familie«301, die auch Böhnisch und Lenz beklagen: »Erst nach und nach wächst die Einsicht, daß dieser Verweisungszusammenhang in einer Familiendefinition, die mehr sein will als eine bloße Beschreibung des modernen Familientypus, nichts zu suchen hat.«302 Die »Festlegung der Mindestgröße der Familie auf drei«, die die Konzentration auf das kleinfamiliäre Leitmodell bedeutet, transportiert zudem einen familiären Biologismus,303 der sich auch in denjenigen Familiendefinitionen noch
dell der modernen Familie gebunden. Verbreitet ist die Gleichsetzung von Familie mit Kernfamilie, eine Einengung der Familie auf biologische Elternschaft und die Gleichsetzung von Familie und Haushalt. Auch hat das dominante Familienverständnis eine eigenständige Erforschung der Ehebeziehung weitgehend verhindert. Schließlich ist Familie ein im hohen Maße wertbeladener Begriff.« (S. 485) Kritik am Verhältnis der Familiensoziologie zu ihrem eigenen Familienbegriff kommt auch von Dieter Hoffmeister: Die heutige Familiensoziologie klammere sich »an die Leitidee der bürgerlichen Kleinfamilie […], fast so, als verlöre sie ohne diese ihre Orientierung« (Hoffmeister, S. 204). Ähnlich beklagt auch Huinink die Mängel der empirischen Familiensoziologie und weist darauf hin, »dass die Messkonzepte der Familiensoziologie und -demographie immer noch zu sehr von dem traditionellen Familienbild der Mitte des 20. Jahrhunderts ausgehen« (Johannes Huinink: Zur Positionsbestimmung der empirischen Familiensoziologie. In: Zeitschrift für Familienforschung [2006], S. 212–252, hier S. 219). 300 Vgl. Vaskovics: Pluralisierung der Elternrolle, S. 36; ähnlich argumentiert Hoffmeister: »Seit langem bestehen […] Probleme damit, bestimmte Präfixe (Kern-Familie, Rest-Familie, Alleinerziehenden-Familie, Halb-Familie, Stief-Familie, unvollständige Familie, Problem-Familie etc.) als Familienformen überhaupt zu akzeptieren, was u. a. daran liegen mag, dass diese Präfixe selbst semantisch negativ besetzt sind.« (Hoffmeister, S. 219) Die Folgen einer solch pejorativen Semantisierung ›alternativer‹ Familienmodelle zeigen sich zum Beispiel in der Monographie Rüdiger Peuckerts, die von der soziologischen Unsicherheit in Bezug auf Phänomene des Alleinerziehens Zeugnis ablegt. Peuckert fragt, ob es sich »heute tatsächlich, wie in den Medien häufig zu lesen ist, bei einem wachsenden Teil von Ein-Eltern-Familien um eine bewusst gewählte und auf Dauer konzipierte (alternative oder nichtkonventionelle) Lebensform [handelt], um ein ›neues‹ familiales Selbstverständnis? Oder handelt es sich eher um eine deprivierte Lebensform, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eher unfreiwillig zustande gekommen ist? Oder ist das Alleinerziehen eine ›ganz normale‹ Familienform wie jede andere auch?« (Rüdiger Peuckert: Familienformen im sozialen Wandel. Wiesbaden 2012, S. 374) 301 Böhnisch und Lenz, S. 26. 302 Böhnisch und Lenz, S. 26. 303 Vgl. Lenz: Abschied von einem Begriff?, S. 489.
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findet, in denen die »Mutter-Kind-Dyade« (ohne Vater) als familiärer Nukleus gilt.304 Die Konzentration auf die Kernfamilie führt mit Hoffmeister zu einer spezifischen, binären Struktur des soziologischen Diskurses: »Familie wird entweder diesseits oder jenseits der leiblichen Kernfamilie angesiedelt – also binär kodiert – und damit nur begrenzt mit Blick auf die positiven Seiten ihrer pluralen Vielfalt wahrgenommen […].«305 Vor diesem Hintergrund verwundert die Marginalisierung von solchen Lebensformen nicht, denen mit biologistischen Paradigmen nicht beizukommen ist. ›Regenbogenfamilien‹, lesbische und schwule Eltern also, »werden auch aus diesem Grund nicht als eine mögliche Familienform wahrgenommen«306. Als besonders ›trickreich‹ und überlebensfähig erweisen sich mythische Argumentationen in soziologischen Diskursen, wenn sie vermeintlich objektive Unterstützung naturwissenschaftlicher Prägung erhalten. Günter Burkart befürchtet eine Bedrohung der soziologischen Theoriebildung überall dort, wo es um die Herausforderung der Sozial- und Kulturwissenschaften durch die »Lebenswissenschaften« (Hirnforschung, Genetik, Molekularbiologie usw.) geht. Die Erfolge dieser Forschungsrichtungen betreffen auch das Thema Familie und private Lebensformen. Eine Re-Naturalisierung des privaten Lebens, eine Biologisierung von familialen und von Geschlechtsrollen, könnte die Debatte der nächsten Jahre und Jahrzehnte bestimmen. […] Während wir uns zum Beispiel intern noch streiten, wie rational und wie individuell die Partnerwahl ist […], berichten die Zeitungen fast täglich von neuen Ergebnissen der Hirnfor-
304 Vertreten zum Beispiel von Eickelpasch: »›Familie‹ – das ist unsere vorweggenommene Zentralthese – ist nicht eine transkulturelle Konstante, sondern ein interkulturell variabler Strukturzusammenhang elementarer Beziehungseinheiten mit der Mutter-Kind-Einheit als Zentrum. ›Urwüchsig‹ im Sinne Max Webers und universal ist allein die Mutter-Kind-Einheit.« (Eickelpasch, S. 325) 305 Hoffmeister, S. 219. 306 Angela Wegener: Regenbogenfamilien. Lesbische und schwule Elternschaft zwischen Heteronormativität und Anerkennung als Familienform. In: Feministische Studien 1 (2005): Kinderlosigkeit, S. 53–67, hier S. 59; ähnlich äußert sich auch Karl Lenz: »Ein weiterer Beleg für die daraus resultierende Verengung ist die starke Vernachlässigung homosexueller Paare. Da diese – zumindest im Bannkreis des in der Familienforschung etablierten Biologismus – nicht Familie werden können, hat sich die Familienforschung lange Zeit gar nicht und auch weiterhin nur sehr randständig mit lesbischen und schwulen Zweierbeziehungen befasst […].« (Lenz: Haben Familien und Familiensoziologie noch eine Zukunft?, S. 85) Zu weiteren, unter anderem soziologischen Befunden zur gleichgeschlechtlichen Familie mit Kindern vgl. den Sammelband Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern. Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform. Hg. von Dorett Funcke und Petra Thorn. Bielefeld 2010.
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schung oder Genetik, mit denen auch eine Paarbildung auf eine solide biologische Grundlage gestellt werden könne.307
Hinter normativen Aufladungen eines familienmythischen Denkens verbergen sich auch in der Familiensoziologie Vorstellungen davon, »wie Familie schlechthin ist bzw. wie eine ›richtige Familie‹ zu sein habe«308. Aus dieser Perspektive resultieren unweigerlich »Verfallsrhetoriken«309. So imaginiert Günter Burkart – aktuelle gesellschaftliche Entwicklungslinien deutlich (ab-)wertend – in dem von ihm herausgegebenen Sammelband zur Zukunft der Familie, es könne in einigen Jahrzehnten zu einem »Erstarken des Profamilismus« kommen. Dann könnten die nichtehelichen Familienformen […] wieder stärker unter ideologischen Druck geraten. Vielleicht wird man sich im Jahr 2030 dann wundern, dass um die Jahrtausendwende in familiensoziologischen Standardwerken die Geschlechter-Differenz und die Vateranwesenheit aus der Definition von Familie getilgt worden waren. Als Grund dafür könnte dann erscheinen, dass es ›damals‹ in erster Linie darum gegangen war, Einelternfamilien oder homosexuelle Paare mit Kindern als vollwertige Familien zu legitimieren.310
Ähnlich wie in Literatur und Recht halten sich die Auseinandersetzungen mit Mythen und Mythemen hartnäckig,311 prägen den Diskurs, ermöglichen in einer Geste der Abgrenzung aber auch neue Narrative.
307 Günter Burkart: Positionen und Perspektiven. Zum Stand der Theoriebildung in der Familiensoziologie. In: Zeitschrift für Familienforschung 2 (2006), S. 175–205, hier S. 198 f. 308 Lenz: Abschied von einem Begriff?, S. 487. 309 Wolfgang Lauterbach: Nur Mythenjägerin? Zur Biografie der Familiensoziologie in den letzten zwei Dekaden. In: Soziologische Forschung: Stand und Perspektiven. Ein Handbuch. Hg. von Barbara Orth, Thomas Schwietring und Johannes Weiß. Opladen 2003, S. 125–138, hier S. 126. 310 Günter Burkart: Einblicke in die Zukunft der Familie. In: Zukunft der Familie. Prognosen und Szenarien [auch: Zeitschrift für Familienforschung, Sonderheft 6]. Hg. von Günter Burkart. Opladen/Farmington Hills 2009, S. 9–30, hier S. 21 f. 311 Böhnisch und Lenz weisen darauf hin, »daß im wissenschaftlichen Diskurs über Familien bis heute Mythen verbreitet sind« (Böhnisch und Lenz, S. 11). Neben dem »Harmonie-« und dem »Größenmythos« nennen die Autoren auch den »Konstanzmythos«, der mit dem Mythosbegriff dieser Arbeit kompatibel ist. Dahinter verbirgt sich »die Vorstellung, daß Familie als Gefühlsgemeinschaft eine Naturkonstante sei, die immer und überall in der Ausprägung vorhanden ist« (S. 11).
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5.2 ›Universal change‹: Zugeständnisse an den Historismus312 Während der soziologische Diskurs sich so einerseits offenbar nie vollständig vom kernfamiliären Mythos gelöst hat, finden sich andererseits auch immer wieder klare Bekenntnisse zu einem historischen Blick auf die ›moderne Familie‹.313 Das Sprechen über die Kernfamilie begleitet dann die Einsicht in ihre historische Ausnahmestellung – die so genannte »Krise der Familie« wird zum Regelfall. Die kontemporären Entwicklungen, in denen ein »Abschied von der Kleinfamilie« dechiffriert wird, seien – »zumindest wenn man die historische Perspektive über den meist üblichen Rahmen, der die Zeit vor 1945 vernachlässigt, hinaus verlängert – nicht so einzigartig, wie ab und an behauptet«314. Die Debatte um den so genannten »zweiten demographischen Wandel« (»second demographic transition«315, SDT) kann als Versuch gelesen werden, den Verlust der Kernfami-
312 Als Sonderform des Historismus lässt sich vermutlich der ›Regionalismus‹ lesen, der im deutschen Diskurs um die Unterschiede zwischen west- und ostdeutschen Familienstrukturen zum Tragen kommt. Vgl. bspw. Dirk Konietzka und Michaela Kreyenfeld: Nichteheliche Mutterschaft und soziale Ungleichheit im familialistischen Wohlfahrtsstaat. Zur ökonomischen Differenzierung der Familienformen in Ost- und Westdeutschland. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (2005), S. 32–61. 313 Böhnisch und Lenz gehen davon aus, dass sich der Historismus in der Familiensoziologie mittlerweile durchgesetzt hat (vgl. Böhnisch und Lenz, S. 12). 314 Paul B. Hill und Johannes Kopp: Familie in der Krise? Heirat und Familienbildung im Vergleich verschiedener Geburtskohorten. In: Informationsdienste Soziale Indikatoren 17 (1997), S. 1–4, hier S. 4. Hill und Kopp präsentieren interessanterweise empirische Befunde, die nahelegen, dass Familien um 1900 ähnlich von der ›Krise‹ der Kernfamilie betroffen waren, wie es der heutige Diskurs für die aktuellen sozialen Formen nahelegt: »Es zeigt sich hierbei […], daß die heutigen Entwicklungen – mit einer relativ geringen Heiratsneigung, einer hohen Zahl wohl auch auf Dauer ledig Bleibender sowie relativ geringen Geburtenzahlen und einer späten ersten Geburt – historisch gesehen eher die Regel denn die Ausnahme darstellen. In diesem Sinne sind sich die Kohorten von 1900 und die jüngeren Geburtsjahrgänge im Heiratsverhalten und der Fertilität ähnlich, während der Kohorte von 1940 in den genannten Variablen wohl eher eine Ausnahmestellung zukommt. Die fast heraufbeschworene Krise der Familie ist demographisch wohl eher der Regelfall.« (S. 2) 315 Geprägt wurde der Begriff von Dirk J. van de Kaa und Ron Lesteaghae, ursprünglich in einem nur in niederländischer Sprache erschienenen Aufsatz von 1986 (Ron Lesthaeghe und Dirk J. van de Kaa: Twee Demografische Transities? In: Bevolking: Groei en Krimp. Hg. von Ron Lesthaeghe und Dirk J. van de Kaa. Deventer 1986, S. 9–24). In englischer Sprache ist das Konzept gut zusammengefasst in einem Paper von van de Kaa nachlesbar: Dirk J. van de Kaa: The Idea of a Second Demographic Transition in Industrialized Countries. Paper presented at the Sixth Welfare Policy Seminar of the National Institute of Population and Social Security, Tokyo, Japan, 29 January 2002; online abrufbar: http://www.ipss.go.jp/webj-ad/webjournal.files/population/2003_4/kaa. pdf (letzter Zugriff am 20.9.2014). Kritisch zum Konzept des SDT: David Coleman: Why We Don’t
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lie an orientierungsstiftender Potenz in eine deterministische Erzählung einzubinden. Der beobachtete und prognostizierte gesellschaftliche Wandel describes, and recognises […] a ›package‹, or syndrome, the substantial and unprecedented progress of cohabitation, lone parenthood, childbearing outside marriage and low fertility observed in many countries since the 1960s and the parallel retreat in those societies from marriage and from traditional norms of sexual restraint. All these demographic trends have been consolidated during the 1990s […] and as the theory predicts, are increasing almost everywhere in the developed world, although still at different levels of prevalence.316
Mythisch aufgeladen scheint vor dem Hintergrund eines unvermeidlichen und universalen Werte- und Strukturwandels nicht mehr die Familie, sondern vielmehr ihr Wandel selbst: »If the theory is correct, they may become as universal as anything can be.«317 Einen Widerspruch zwischen den Universalisierungstendenzen eines bürgerlichen Familienleitbildes und historisch-empirischer sozialer Realität erkennt Heidi Rosenbaum in ihren historischen Studie zu Formen der Familie.318 Sie weist auf die »Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit« bei der Darstellung der bürgerlichen Familie hin und stellt die Frage »nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter denen klassenspezifische normative Orientierungen – und darum handelt es sich bei dem bürgerlichen Familienleitbild – Angehörige anderer Klassen beeinflussen können«.319 Einer Barthes’schen Mythos-Dekon struktion durchaus verwandt, stellt Rosenbaum fest, dass im historischen Diskurs die dem Leitbild »zugrunde liegenden materiellen und strukturellen Voraussetzungen nicht thematisiert werden«320. Die soziale Struktur der Kleinfamilie »verwischt« ihre »Klassen- und Interessengebundenheit«.321 Die Kernfamilie wird ideologisch-normativ aufgeladen und in andere gesellschaftliche Klassen exportiert. Sie ›vergisst‹ ihre strukturale Bedingtheit, während ihre »Werte und Normen relativ abgehoben von der gesellschaftlichen Realität« existieren.322 Die
Have to Believe Without Doubting in the »Second Demographic Transition« – Some Agnostic Comments. In: Vienna Yearbook of Population Research (2004), S. 11–24. 316 Coleman, S. 11. 317 Coleman, S. 11. 318 Vgl. Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1982. 319 Rosenbaum, S. 478. 320 Rosenbaum, S. 483. 321 Rosenbaum, S. 483. 322 Rosenbaum, S. 483.
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bürgerliche Ideologie könne so mit dem Anspruch auftreten, »nicht spezifische, sondern allgemeingültige, für alle Menschen geltende Maxime zu sein«323. Das bürgerliche Familienideal repräsentiert im Ergebnis und »seinem Anspruch nach Familienbeziehungen schlechthin«324. Die Möglichkeit, die Kernfamilie als historisch bedingt wahrzunehmen, verändert auch die Perspektive auf die aktuelle angebliche ›Krise‹ der Familie. Nicht mehr das entfesselte, nach Unabhängigkeit strebende Subjekt macht sich schuldig des Verrats an der Familie. Grundmann und Hoffmeister argumentieren in neo-marxistischer Wendung, »dass die ›Familie nach der Familie‹ im wahrsten Sinne des Wortes unfrei« sei, weil »›klassische‹ Formen des familiären Zusammenlebens durch den immer prägnanteren Zuschnitt der Familie auf postmoderne Marktmechanismen stark erodiert« seien.325 Damit, freilich, bewegt sich die Argumentation wieder auf diejenigen Ideologeme zu, die in der bürgerlichen Familie einen (angreifbaren) Schutzraum vor einer zudringlichen Außenwelt sehen.
5.3 Pluralisierung, Individualisierung und Deinstitutionalisierung Pluralisierung, Individualisierung und Deinstitutionalisierung sind die wichtigsten Schlagworte, mit deren Hilfe die kontemporäre Familiensoziologie dem Wandel, den sie an familiären Strukturen in den letzten Jahrzehnten beobachtet,326 deskriptiv begegnet. Grundlegend werden diese Veränderungen wiederholt mit dem Begriff der »Pluralisierung« benannt: Zu der ›bürgerlichen Ehe und Familie‹ und dem Kernfamilienhaushalt aus Eltern und Kindern, die in den 50er Jahren ihr ›Goldenes Zeitalter‹ hatten, sind in den westlichen
323 Rosenbaum, S. 483. 324 Rosenbaum, S. 483. 325 Grundmann und Hoffmeister, S. 164. 326 Hoffmeister weist in diesem Zusammenhang auf die trügerische Objektivität empirischer Daten hin: »Gleichwohl wäre aber auch zu zeigen, wie die Diskurse in der Familiensoziologie, ja selbst die empirische Entschlüsselung der vielfältigen Formen familiären Zusammenlebens oder der Hinweis auf die ihnen zugrunde liegenden Pluralisierungs- und Individualisierungstrends nach wie vor am Normalfall der bürgerlichen Kernfamilie gemessen werden.« (Hoffmeister, S. 204) Explizit mit Bezug auf eine mögliche »Pluralisierung« familialer Lebenswelten warnt auch Peuckert: »Will man die Pluralisierungsthese empirisch prüfen, muss vor einigen Fehlschlüssen gewarnt werden.« Die Befunde hingen »ganz wesentlich davon ab, wie man Lebensformen kategorisiert und misst und welchen historischen Zeitabschnitt man zu Grunde legt.« (Peuckert, S. 151)
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Industriegesellschaften in den letzten dreißig Jahren eine Fülle anderer Formen des Haushalts und ›ehelicher und familialer Figurationen‹ hinzugetreten, die sowohl die strukturelle als auch und vor allen Dingen die kulturelle Vorherrschaft der bürgerlichen Ehe und Familie gebrochen haben.327
Das Pluralisierungstheorem entwickelt und fördert dabei ähnliche Argumentationsmuster wie die Historisierung der Kernfamilie. Während es auf der einen Seite das Ende der Kleinfamilie plausibel macht, den Mythos damit an sein Ende gekommen sieht, führt es auf der anderen Seite zum Wiedererstarken mythischer Elemente. So diagnostiziert beispielsweise Vaskovics Pluralisierung in Form einer »Segmentierung« der Elternrolle, die zahlreiche neue familiäre Verbindungen ermöglicht: Es sei heutzutage offensichtlich, dass die Entstehungs- und Begründungszusammenhänge der Elternschaft unterschiedlich sein können; je nachdem entstehen unterschiedliche ›Elternschafts-Segmente‹ (biologische, genetische, rechtliche, soziale) und Elternschafts-Konstellationen (begründet durch die auf ein Kind bezogenen Elternschafts-Segmente bei einer ElternPerson zu einem bestimmten Zeitpunkt). Diesen Vorgang der Ausdifferenzierung der Entstehungs- und Begründungszusammenhänge von Elternschaft möchte ich mit dem Begriff ›Segmentierung‹ der Elternschaft bezeichnen.328
Vaterschaft als Konzept löst sich in den zahlreicher werdenden Legitimationsmöglichkeiten auf, gleichzeitig entdeckt der Autor re-biologisierend die Mutterrolle wieder, wenn er von einer »immer stärkere[n] Dominanz der (genetisch geprägten) Mutter-Kind-Dyade in den künftigen Familienstrukturen«329 ausgeht. Die Mutter-Kind-Dyade werde sich »in Anbetracht der Ausdifferenzierungen der Vaterschaftskonstellationen immer mehr als eine stabile Achse erweisen, um welche herum sich diese Entwicklung abspielt«330.
327 Laszlo A. Vaskovics: Soziologie familialer Lebenswelten. München 1995, S. 55; ähnlich auch Rosemarie Nave-Herz, die die Pluralisierung aber nicht nur positivistisch denkt, sondern verschiedene Familienformen auch in Abhängigkeit von der Perspektive des Definierenden unterscheidet. Familienformen ließen sich mit Nave-Herz einteilen nach der Art des Familienbildungsprozesses, nach der Zahl der Generationen, der Rollenbesetzung in der Kernfamilie (Zwei-Eltern-Familien/Ein-Eltern-Familien/polygame Familien), nach dem Wohnsitz oder der Erwerbstätigkeit der Eltern. So ergeben sich bei Nave-Herz mindestens 21 verschiedene Familienformen (vgl. Rosemarie Nave-Herz: Ehe- und Familiensoziologie. Eine Einführung in Geschichte, theoretische Ansätze und empirische Befunde. Weinheim/München 2004, S. 33–35). 328 Vaskovics: Pluralisierung der Elternrolle, S. 34. 329 Vaskovics: Segmentierung der Elternrolle, S. 288. 330 Vaskovics: Segmentierung der Elternrolle, S. 288.
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Mit Individualisierung und Deinstitutionalisierung hat man – je spezifisch akzentuiert – versucht, Erklärungsmodelle für die vermeintliche Pluralisierung bereitzustellen. Prominenter Vertreter der Individualisierungsthese ist Ulrich Beck, der einen Abschied von »traditionale[n] Blaupausen«331 für das postmoderne Zeitalter »des eigenen Lebens« konstatiert: Man nehme, was man will: Gott, Natur, Wahrheit, Wissenschaft, Technologie, Moral, Liebe, Ehe – die Moderne verwandelt alles in ›riskante Freiheiten‹. Alle Metaphysik, alle Transzendenz, alle Notwendigkeit und Sicherheit wird durch Artistik ersetzt. […] Individualisierung meint […] die Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen – zum Beispiel das Brüchigwerden von lebensweltlichen Kategorien wie Klasse und Stand, Geschlechtsrollen, Familie, Nachbarschaft usw. […].332
Der Mensch sei nun »(im radikalisierten Sinne Sartres) zur Wahl seiner Möglichkeiten«333 geworden: »Die traditionale Familie gerät unter den normativen Horizont reziproker Individualisierung«334. Der neue Mythos sei die Realisierung einer »Demokratie en miniature«, in der es gelingt, »die Gleichheit der Verschiedenen, die Gleichheit von Männern, Frauen und Kindern im eigenen Leben herzustellen«.335 Damit verschwindet die Kleinfamilie allerdings nicht von der Bildfläche. Durchaus sei es noch möglich, »konventionell und traditionell zu leben. Frau kann Hausfrau, Mutter im klassischen Sinne sein wollen.«336 Beck nimmt ihr jedoch die Aufgabe, gesamtgesellschaftliches Heilsversprechen und damit bürgerlicher Mythos schlechthin zu sein. Die Entscheidung für die »Normalfamilie«337 ist vor dem Hintergrund des neuen Individualisierungsdrucks, der die »Gestaltung der vorgegebenen Biografie […] zur
331 Ulrich Beck: Das Zeitalter des eigenen Lebens. Individualisierung als »paradoxe Sozialstruktur« und andere offene Fragen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 2001 (29), S. 3–6, hier S. 4. 332 Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim: Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie. In: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Hg. von Ulrich Beck und Elisabeth BeckGernsheim. Frankfurt am Main 1994, S. 10–39, hier S. 11. 333 Beck und Beck-Gernsheim, S. 16. 334 Beck, S. 4; vgl. dazu auch: Elisabeth Beck-Gernsheim: Auf dem Weg in die postfamiliale Familie. In: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Hg. von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim. Frankfurt am Main 1994, S. 115–138. 335 Beck, S. 3. 336 Beck, S. 3. 337 Beck, S. 5.
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Aufgabe des Individuums«338 macht, eine »nonkonforme individualistische Wahllebensform«339 unter vielen. Hartmann Tyrells Begriff der Deinstitutionalisierung kommt schon in den 1980er Jahren zu einem ähnlichen Ergebnis, setzt in der Konzeption aber weniger beim Individuum als bei der diskursiven Legitimierung sozialer Institutionen an. Er beobachtet einen »Prozeß der Reduktion (aber durchaus nicht: des Verschwindens) der institutionellen Qualität von Ehe und Familie«340. Unter Institutionalisierung versteht Tyrell – und hier ähnelt seine Begrifflichkeit, deutlich dem Barthes’schen Mythosbegriff – eine »Affirmation des Selektiven, so daß es im öffentlichen Diskurs explizit die Aura etwa des Natürlichen und Unantastbaren gewinnt«341. Innerhalb weniger Jahrzehnte sei »das Sozialklima von erheblicher Intoleranz gegen Abweichungen von Ehemoral und Familiensittlichkeit in weitgehende Permissivität umgeschlagen«342: »[D]ie dominant normativ-moralische Zumutungsqualität, die dem ›Familienleitbild‹ vor hundert Jahren anhaftete und ihm sicherlich nicht äußerlich war, sie kommt ihm heute nicht mehr zu.«343 Die ehemals verbindliche Institution »Familie« beschreibt Tyrell als ganzheitliche Struktur, deren einzelne Bestandteile – Ehe und Filiation – immer und kohärent aufeinander verweisen und deshalb als geschlossene, sinnvolle Einheit rezipiert werden konnten.344 Diese elementaren Verweisungszusammenhänge werden im Prozess der Deinstitutionalisierung entkoppelt: Aus A folgt nicht mehr unbedingt B, aus Liebe folgt heute durchaus nicht mehr (bindend und motivational zwingend) Heirat/Ehe, aus Verheiratetsein nicht mehr selbstverständlich Zusammenwohnen […], aus Verheiratetsein aber auch nicht mehr notwendig ein Sexualprivileg oder der Wunsch nach Kindern.345
Der Deinstitutionalisierungsprozess Tyrells löst die mythischen Qualitäten der Kernfamilie auf. Damit legt er (Gleiches gilt natürlich für Beck) Grundsteine für eine performative, handlungspragmatische Perspektive auf familiäre Strukturen.
338 Beck, S. 3. 339 Beck, S. 4. 340 Tyrell: Ehe und Familie, S. 145. 341 Tyrell: Ehe und Familie, S. 148. 342 Tyrell: Ehe und Familie, S. 154; ähnlich auch Tyrell: Familienforschung, S. 145. 343 Tyrell: Familienforschung, S. 145. 344 Vgl. Tyrell: Ehe und Familie, S. 147. 345 Tyrell: Ehe und Familie, S. 155.
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5.4 Doing family? Wir sind fünf Geschwister. Wir wohnen in verschiedenen Städten, einige sogar im Ausland, und wir schreiben uns nicht häufig. Wenn wir uns treffen, sind wir den anderen gegenüber manchmal vielleicht zerstreut oder gleichgültig. Doch ein Wort genügt zwischen uns. Ein Wort oder ein Satz genügt: einer jener Sätze, die uns, als wir Kinder waren, unendliche Male wiederholt wurden. […] Diese Sätze sind die Grundlage unserer familiären Einheit […]. (Natalia Ginzburg)346
Die performative Dimension der Familie rückt nicht nur im juristischen, sondern auch im soziologischen Diskurs mehr und mehr in den Fokus. Hartmut Rosa beobachtet im Übergang von der klassischen Moderne zur Spät-Moderne allgemein einen »Wechsel von einem positionalen hin zu einem performativen Wettbewerb«347. In diesem Zusammenhang können insbesondere auch »Wertschätzungsniveaus […] nicht mehr dauerhaft gesichert werden, sondern sie wollen permanent erkämpft und verteidigt sein«348. Der familiäre Bereich ist davon nicht auszunehmen, auch er muss »immer wieder aufs Neue […] überprüft werden«349. Ehepartner gewinnt man längst nicht mehr mit Sicherheit ›für die Ewigkeit‹, aber auch dort, »wo eine Trennung realiter gar nicht in Betracht gezogen wird«, wirke sich das »Bewusstsein dieser Möglichkeit« aus:350 Weil sich die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern per se gar nicht auflösen lassen – Eltern- und Kindschaft sind die nahezu letzten (handlungspraktisch wirksamen) unwiderruflichen Sozialrollen –, lässt sich der Übergang von Position auf Performanz hier kaum denken; und doch scheint mir, dass auch im Umgang zwischen Kindern und Eltern die postulierte Umstellung von Position auf Performanz erkennbar wird: Was es für die Interaktionspartner jeweils bedeutet, Kind oder Elternteil zu sein, welcher Bindungs- und Verpflichtungsgrad damit verknüpft ist, ist (zumindest dann, wenn die Kinder erwachsen sind) nicht ein für allemal und sozial verbindlich bestimmt, sondern hängt wiederum von der beziehungsbestimmenden ›Performanz‹ ab.351
346 Familienlexikon. Berlin 2007, S. 23. 347 Hartmut Rosa: Von der stabilen Position zur dynamischen Performanz. Beschleunigung und Anerkennung in der Spätmoderne. In: Sozialphilosophie und Kritik. Axel Honneth zum 60. Geburtstag. Hg. von Rainer Forst u. a. Frankfurt am Main 2009, S. 655–671, hier S. 662. 348 Rosa, S. 661 f. 349 Rosa, S. 663. 350 Rosa, S. 666. 351 Rosa, S. 666 f.
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Ähnlich wie im juristischen Diskurs sorgt auch im soziologischen besonders das Phänomen der »sozialen Elternschaft« für einen Paradigmenwechsel. Von Familie könne »immer erst dann gesprochen werden […], wenn die biologische zur sozialen Elternschaft wird«352. Denkbar seien »Familien ohne biologische (und ohne rechtliche) Elternschaft […], nicht aber Familien ohne soziale Elternschaft«353. Aus diesem Primat sozialer Elternschaft folgt die Ahnung, dass es sich bei Familien um Produkte einer spezifischen Herstellungsleistung354 handelt. Methodisch greifen die Verfechter dieses Ansatzes auf konstruktivistische Ansätze, insbesondere auf Judith Butlers Konzept eines »Doing Gender« zurück. So lasse sich die Herstellung von Familie als zusammengehörige Gruppe, ihre Selbstdefinition und Inszenierung als solche, als »Doing Family« bezeichnen, das von praktischen und symbolischen Verschränkungsleistungen individueller Lebensführungen im Kontext von Familie getragen wird.355
Schiers und Jurczyks Befreiung der Familie im Sinne eines »Doing Family« erinnert an Ingeborg Schwenzers theoretische Überlegungen zu einem neuen Familienrecht. Auch hier soll nicht mehr auf ideologisch belastete Familiendefinitionen, sondern auf das konkrete Handeln des Einzelnen abgestellt werden. »Konzeptuell bedeutet die Rede von Familie als Herstellungsleistung eine stärkere Fokussierung des Handlungsparadigmas gegenüber dem institutionellen Paradigma.«356 Allerdings zeigt sich, dass auch die »Familie als Herstellungsleistung« sich noch nicht vom mythologischen Erbe kleinfamiliärer Leitbilder befreit hat. Um eine Familie als solche gelten zu lassen, sei die »Konnotation von Familie mit Ehe, traditionellen Geschlechterrollen sowie mit Zusammenleben in einem Haushalt […] nicht zwingend«357. Schiers und Jurczyks postmodernes Familienbild bedient sich dafür der bürgerlichen familienidyllischen Topoi des gemeinsamen sozialen Raums und der gemeinsamen Emotion: Wichtige Bedingung für Interaktionsprozesse ist die physische Anwesenheit der Interaktionspartner, die räumliche Kopräsenz. Denn um Familie als Gemeinsamkeit zu leben und nicht als bloßes Nebeneinander von Individuen […], braucht es Gelegenheiten. Bedingung
352 Lenz: Haben Familien und Familiensoziologie noch eine Zukunft?, S. 80. 353 Lenz: Haben Familien und Familiensoziologie noch eine Zukunft?, S. 80. 354 Schier und Jurczyk, S. 10–17. 355 Schier und Jurczyk, S. 10 (Fußnote 3). 356 Schier und Jurczyk, S. 10. 357 Schier und Jurczyk, S. 11.
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für Familie sind räumlich kopräsente Zeiten und Zeit für Familie, qualitativ gefüllt mit Kapazitäten für Aufmerksamkeit und Gefühle.358
Die Akteure familiären Handelns, insbesondere ihr Gender und die Frage nach ihrer institutionell-rechtlichen Verbindung zueinander – treten in den Hintergrund. Umso wichtiger – und hier lauert erneut die Gefahr des Ideologischen – wird offenbar das ›Wie‹ ihrer Interaktion.359 Die bereits erwähnte Studie zur Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften zeigt einen ähnlichen Befund. Gesucht wird nicht zuletzt nach dem Gemeinsamen im Abweichenden, dem, wenn man so möchte, bürgerlichen Element im lange Zeit antibürgerlich markierten ›homosexuellen Lebensstil‹.360
358 Schier und Jurczyk, S. 11. 359 Damit soll selbstverständlich nicht gesagt werden, dass die ältere Familiensoziologie dieses Kriterium vernachlässigt hat. Schon Wilhelm Heinrich Riehl entwirft ja eine ganze Choreographie familiären Intimlebens; vgl. Riehl, bspw. S. 131: »Wenn das Familienoberhaupt den übrigen Gliedern der Familie gegenüber im Verhältnis der Autorität steht, so stehen diese zu ihm im Verhältnis der Pietät, der liebe- und ehrfurchtsvollen Hingebung.« Impliziert ist hier lediglich die Beobachtung, dass es in einem Moment, in dem andere familienstrukturelle Normative nicht mehr greifen (etwa die Kategorie der Zweigeschlechtlichkeit) zu einer stärkeren Fokussierung dieser Elemente kommt. 360 So beginnt das Fazit zu den »Befunde[n] aus der Kinderstudie« mit den Worten: »Die Ergebnisse zeigen, dass sich Kinder und Jugendliche aus [Lebenspartnerschaften] in Bezug auf die Beziehungsqualität zu beiden Elternteilen und in ihrer psychischen Anpassung von Kindern und Jugendlichen, die in anderen Familienformen aufwachsen, nur wenig unterscheiden. Gleiches gilt für die Konflikte zwischen den Partner(inne)n sowie für Auseinandersetzungen mit dem externen Elternteil.« (Rupp, S. 308) Gezielt (und meiner Ansicht nach unterkomplex) im Hinblick auf die Unterschiede homosexueller und heterosexueller Familiengründung argumentiert dagegen Eva Illouz in ihrem Essay, einer »soziologischen Erklärung« der Frage Warum Liebe weh tut (Eva Illouz: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Berlin 2011). Illouz konstatiert eine Asymmetrie der Geschlechter, die (immer noch) tief in den Strukturen (post-)modernen Lebens verwurzelt scheint. Das »Entstehen sexueller Felder« (Illouz: Warum Liebe weh tut, S. 432), auf denen beide Geschlechter sich Kapital (durch sexuelles Begehren und Begehrtwerden) aneignen, schaffe »die Bedingungen für eine emotionale Beherrschung von Frauen durch Männer« (Eva Illouz: »Macht euren Kinderwunsch nicht von Liebe abhängig!« In: Spiegel Online [11.10.2011]; online abrufbar: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/soziologin-illouz-machteuren-kinderwunsch-nicht-von-liebe-abhaengig-a-790592.html [letzter Zugriff am 20.9.2014]). Das liege unter anderem daran, dass der »gesellschaftliche Status von Männern […] wesentlich stärker von ihrem ökonomischen Erfolg ab[hängt] als davon, Familie und Kinder zu haben« (Illouz: Warum Liebe weh tut, S. 433). Frauen hingegen seien immer noch nicht »dazu bereit […], der Idee der romantischen Liebe abzuschwören« (Illouz: Warum Liebe weh tut, S. 439). Auf dem sexuellen Feld sind sie unterlegen, weil sie sich weiterhin »nach einer gefestigten, monogamen Beziehung« (Illouz: »Macht euren Kinderwunsch nicht von Liebe abhängig!«) sehnten. Eine
5 Verfallsrhetorik oder Veränderungseuphorie? Einblicke in die Familiensoziologie
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5.5 Zusammengefasst: Familiensoziologie Die Familiensoziologie ist offenbar – ähnlich wie das Recht – untrennbar verwoben mit einer nicht immer bewusst geleisteten Arbeit am kleinfamiliären Mythos. Stärker noch als im Recht unterliegt die Familie als Gegenstand (sozial-)wissenschaftlicher Forschung diskursiven Strategien, die ihr So-Sein vermeintlich objektivieren. Die Loslösung von strukturalen Mythemen, die Familie und Ehe aneinander binden oder nur bestimmte Genderkonstellationen als Familie wahrnehmen, mündet in einen performativen Familienbegriff. Ein solcher allerdings befreit sich keinesfalls von bürgerlichen Mythen – er läuft immer auch Gefahr, neuen Nährboden für ideologische und normative Vorstellungen von familiärem Handeln bereitzustellen. Kurt Lüscher verweist zu Recht auf die Beharrlichkeit mythischer ›Splitter‹ im Diskurs um die Familie. Familie lasse sich zwar als gedankliche und lebenspraktische Leistung verstehen. Diese Auffassung vermag dem tatsächlichen Abbau von Normalitätsvorstellungen Rechnung tragen, berücksichtigt allerdings auch, daß wer immer sich für Familie entscheidet und Familie lebt, sich mit institutionellen Vorgaben auseinandersetzen muß.361
Zu zeigen wäre in einem weit ausführlicheren Rahmen, inwieweit die Diskurse in der Familiensoziologie, ja selbst die empirische Entschlüsselung der vielfältigen Formen familiären Zusammenlebens oder der Hinweis auf die ihnen zugrunde liegenden Pluralisierungs- und Individualisierungstrends nach wie vor am Normalfall der bürgerlichen Kernfamilie gemessen werden.362
Strategie, der Geschlechterungleichheit subversiv zu begegnen, sieht Illouz in der Auflösung klassischer Familienstrukturen, die sich explizit am Beispiel ›der‹ Homosexuellen orientieren sollen: »Den Frauen möchte ich sagen: Macht euren Kinderwunsch nicht abhängig vom Wunsch nach romantischer Liebe. Wenn ihr Kinder wollt, bekommt sie allein – oder in einer Gemeinschaft mit anderen Frauen, die ebenfalls Kinder wollen. Oder mit Männern, die Kinder wollen, aber nicht eure Partner sind. Es braucht keine traditionelle Familienstruktur, um Kinder aufzuziehen. Ich glaube wirklich, dass Homosexuelle in vielem die Avantgarde der Gesellschaftsentwicklung bilden, etwa bei der Frage der Trennung von Elternschaft und sexuell-romantischen Beziehungen: Manchmal korrespondieren sie, manchmal nicht. Und wenn sie nicht korrespondieren, sollte man sie getrennt verfolgen. Ich glaube, wir werden in diese Richtung gehen. Wir sollten es.« (Illouz: »Macht euren Kinderwunsch nicht von Liebe abhängig!«) Illouzʼ Argumentation nimmt ein Bild ›des Homosexuellen‹ in Dienst und übersieht dabei gerade den starken Trend zur ›Verbürgerlichung‹ alternativer Familienmodelle. 361 Lüscher, S. 12. 362 Hoffmeister, S. 204.
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I Familiennormen und Normfamilien: Narrative des Rechts
6 Erste Befunde und Ausblick: Recht, Literatur und Mythos Familien sind im rechtlichen Diskurs erheblichen Verschiebungsprozessen unterworfen (erinnert sei an den Weg von der Teil- zur Volladoption). Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der definitorischen ›Substanz‹ der Familie heute genauso wie im 19. Jahrhundert. Die strukturalistische Grunddisposition des Rechtssystems (Begriffe können nur bedeuten, was andere Begriffe nicht bedeuten) bringt zwangsläufig Exklusionen hervor: Erfüllt eine bestimmte Konstellation die Kriterien des Rechts nicht, handelt es sich nicht um eine Familie im Rechtssinn. Die Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches kreisen vor allem um die Frage nach Ehelichkeit und Leiblichkeit. Die ›Normfamilie‹ entsteht dort, wo Ehelichkeit der Kinder gegeben ist – und damit Leiblichkeit ›garantiert‹ werden kann. Die zurückhaltenden Regularien der Adoptionsverfahren spiegeln diese Mytheme: Das in jedem Fall nicht-leibliche Kind lässt sich rechtlich nicht vollständig ins familiäre System integrieren. Aus einer Fixierung auf ein Ehekonzept, das immer auch Leiblichkeit meinen soll, erklärt sich die vollständige Heteronormativität des BGB um 1900. Die bürgerliche Ehe kodiert zudem eine Sexualmoral, die Zeugungen außerhalb der Ehe verhindern oder unsichtbar machen will. Zweigeschlechtlichkeit, Ehelichkeit und Leiblichkeit lassen sich als Mytheme der Familiengeschichten der Motive bzw. des ersten Entwurfs zum BGB nicht voneinander trennen. Texte des literarischen Diskurses, die ähnliche Themen in den Blick nehmen, finden sich unter anderem bei Adalbert Stifter, Theodor Storm und Wilhelm Raabe. Stifters Textfamilien subvertieren dabei sowohl die Kategorie der Leiblichkeit als auch diejenige der Zweigeschlechtlichkeit. Die nachsommerlichen Zeugungen geschehen überaus asexuell mittels gemeinschaftlicher ideologischdiskursiver Prägung. Brigitta wiederum (zer-)stört die Binarität der Geschlechter: Das Konzept des heterosexuellen Ehepaars löst sich im Text auf. Die Protagonisten leben – begibt man sich auf die Suche nach der Auseinandersetzung mit familiären Mythemen – in einem brüderlich-queeren Raum, der sich an die rechtlichen Vorstellungen um 1900 kaum mehr rückbinden lässt. Storms Aquis submersus greift gleichermaßen die Frage nach der ›Normalfamilie‹ auf. Das Konzept genetischer Verwandtschaft verkompliziert der Text. Familiäre Bindungen entziehen sich – hier liegt eines der bis heute verstörenden Elemente des Textes – jedem normativen Diskurs. Raabes Chronik der Sperlingsgasse stellt eine ebenso umfassende Auseinandersetzung mit dem Mythos der Kernfamilie dar wie seine Akten des Vogelsang. Bürgerliche Narrative wie wir sie im Recht finden, werden in einem mythischen Diskurs verstärkt – und im selben Moment ausgehöhlt.
6 Erste Befunde und Ausblick: Recht, Literatur und Mythos
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Die neuen Technologien verkomplizieren im 21. Jahrhundert die Frage danach, wie Familien entstehen können. Die aktuellen Änderungen und Diskurse im und um das Gesetz sind »keineswegs geradlinig, sondern komplex, in vielen Aspekten widersprüchlich, inkohärent, unordentlich«363. Rechtlich lassen sich familiäre Wirklichkeiten nur schwierig einholen. Die einheitliche, so genannte »institutionelle Begründung der Familie« über die Ehelichkeit der Geburt gerät vermehrt ins Hintertreffen. Wo sie nicht mehr gilt, macht sie unterschiedlichsten Begründungsmustern und Mythemen Platz. Zwar bleibt die Mutter als Gebärende dem Recht mythischer Fixstern. Darüber hinaus aber wird mal biologische Verwandtschaft zur begründenden Instanz, dann wieder besteht der Gesetzgeber auf der Ehelichkeit, führt daneben Modelle sozialer Elternschaft an, die sich von Leiblichkeit und Ehelichkeit so weit entfernen können, dass Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern denkbar werden. Die Entwicklungen im Adoptionsrecht legen davon Zeugnis ab. Die Adoption ist eine Volladoption, kein ›Ersatzkind‹ soll hier – rechtlich prekär – ein wenig am Familienleben Teil haben, im Gegenteil: Die Spuren der Adoption dürfen ›unsichtbar‹ werden, die Blutsverwandtschaft weicht einem Akt rechtlicher Zeugung. Diese Verschiebungen innerhalb der rechtlichen Systematik diskutiert Schwenzers Ansatz. Hier allerdings lässt sich eine ›Mythologisierung der Werte‹ beobachten, die den Blick vom Außen der Familie (von ihrer Struktur) auf ihr Innen lenkt. Nicht mehr das Wie familiärer Verbindung ist nun entscheidend. Prüfstein soll eine spezifische Qualität des Miteinanders werden. Die Konzentration des rechtlichen Diskurses auf das so genannte ›Kindeswohl‹ offenbart einen ähnlichen Umschwung.364 Als neues Mythem des 21. Jahrhunderts ist es das diskursive Einfallstor und die Projektionsfläche für familiäre Leitbilder, die sich auf der einen Seite vom Leitbild der Kleinfamilie lösen können: Ingeborg Schwenzers Familienprotagonisten sind weder durch ein bestimmtes Geschlecht noch in ihrer Anzahl vordefiniert. Das BGB hingegen nutzt das Kindeswohl bisher auch zur Re-Inszenierung der Kernfamilie. Die Ehe als Grundlage und Leitbild der Beständigkeit trägt so weiterhin die Auslegungspraxis des Artikels 6 des Grundgesetzes. Literarische Texte der letzten Jahre antworten bisweilen direkt auf diese Diskurse. Thomas Hettches Die Liebe der Väter diskutiert auf einer rechtspolitischen Ebene des Romans die lange Zeit sehr schwache rechtliche Stellung des biologischen Vaters, der mit der Mutter seines Kindes nicht verheiratet ist. Bemerkenswert ist, dass Hettches Text dann nicht für eine grundsätzliche Befreiung
363 Büchler, S. 303. 364 Andrea Büchler spricht von der »Kinderzentriertheit des Familienrechts« (Büchler, S. 297).
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I Familiennormen und Normfamilien: Narrative des Rechts
aus familiären Regularien streitet, sondern im Gegenteil eine Verengung und ReInstallation des mythischen Denkens darstellt. John von Düffel erzählt in Beste Jahre ebenfalls von der – in diesem Fall vor allem durch Technologien – prekär gewordenen Vaterschaft. Deutlich stellt sich seinem Erzähler die Frage nach der Notwendigkeit der Zweigeschlechtlichkeit vor dem Hintergrund möglicher (sogar heterologer!) Samenspenden. Clemens J. Setz und Wilhelm Genazino greifen den Mythos der bürgerlichen Kernfamilie anders auf – und auf interessante Weise an. Die Auseinandersetzung mit dem mythischen Narrativ der Familie offenbart seine zwanghaften Seiten: Das bürgerliche männliche Subjekt, das Vater werden soll oder bereits ist, sucht nach Möglichkeiten des Ausbruchs. Die als starr erlebten Rollen im familiären Paradigma werden – wie im Familienrecht auch – als dem Subjekt vorgängige Konzepte erzählt, die letztlich nicht die gewünschte Vater-Mutter-Kind-Trias hervorbringen, sondern ins Pathologische fliehende Väter. Der autobiographisch rückgebundene Roman Rabenliebe von Peter Wawerzinek fokussiert schließlich die Grundlagen des familiären Mythos im 21. Jahrhundert. Das Wohl des verwaisten Kindes ist hier in Gefahr. Zur Debatte stellt der Text schlussendlich aber mehr: Die emotionale Choreographie familiärer Bindungen kann, folgt man ihrer literarischen Inszenierung mit Wawerzinek, nicht natürlich begründet werden. Familiäre Emotionen finden ihren Ursprung in kulturell präsenten Narrationen – wie sie auch das Recht zur Verfügung stellt.
II Am Ende der Biologie: Adalbert Stifters familiäre Ordnungen 1 Wahlverwandtschaft: Der Nachsommer1 1.1 Familien in Ordnung »Die Familie ist es, die unsern Zeiten noth thut, sie thut mehr noth als Kunst und Wissenschaft als Verkehr und Handel Aufschwung und Fortschritt, oder wie alles heißt, was begehrungswerth erscheint.« (GW 4,3, S. 263)2 – Ein klareres Postulat für den Wert der Familie könnte Heinrich, der Erzähler im Nachsommer, wohl kaum äußern. Der Nachsommer ist als Bildungsroman3 dann auch in erster Linie der Roman einer Familien-Bildung.4
1 Dieses Kapitel basiert auf meiner im Oktober 2009 an der Eberhard Karls Universität Tübingen eingereichten Magisterarbeit mit dem Titel »Beruhigende Fiktionen« – Stifters NachsommerFamilie als Ort der Sinnkonstitution. 2 Adalbert Stifter: Der Nachsommer. In: Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Bände 4,1–4,3. Stuttgart/Berlin/Köln 1997/1999/2000, hier Band 4,3, S. 263. Die Seitenangaben zum Nachsommer, zu den Bunten Steinen und zu Brigitta beziehen sich auf die historisch-kritische Gesamtausgabe und werden im Folgenden zitiert nach dem Muster: GW 4,3, S. 263. 3 Diskussionen zur Einordnung des Nachsommers als Bildungsroman setzen oft bei der Frage an, ob Heinrich überhaupt als Hauptprotagonist des Romans gelten darf. Stifters eigene Äußerungen lassen Heinrich und Natalie zu einer »heitere[n] Ausschmückung des Werkes« werden, dessen »Ernst und […] Schwerpunkt […] irgendwo anders liegen« (Adalbert Stifter an Gustav Heckenast, Brief vom 24. Mai 1857. In: Stifter: Sämmtliche Werke. 19. Band. Briefwechsel. 3. Band. Hg. von Gustav Wilhelm. Reichenberg 1929, S. 19–23, hier S. 22). Peter Hohendahl stellt fest, der Titel des Romans verweise »nicht auf Heinrich Drendorf, sondern auf seinen väterlichen Mentor« (Hohendahl, S. 339). In Frage gestellt wird von Hohendahl dann vor allem der Status Heinrichs als individuell handelndes Subjekt. Stifters Roman »stellt ins Zentrum nicht die Entwicklung eines Individuums, sondern thematisiert […] die Frage nach Ordnung« (S. 339). Christian Begemann weist darauf hin, dass es im Text »subjektive Abweichungen, affektive Ausrutscher und biographische Irrwege nicht einmal ansatzweise gibt« (Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart 1995, S. 339, vgl. auch Hohendahl, S. 348). Hans Dietrich Irmscher unterstreicht die »Eigenart der Bildung, die Heinrich Drendorf […] durchläuft« (Hans Dietrich Irmscher: Keller, Stifter und der Bildungsroman des 19. Jahrhunderts. In: Handbuch des deutschen Romans. Hg. von Helmut Koopmann. Düsseldorf 1983, S. 370–394, hier S. 390): »Ihr Ziel ist nicht die Entfaltung aller Möglichkeiten des Individuums, sondern seine Unterordnung unter ein bestehendes Wertesystem, dessen sich der Erzähler sukzessiv vergewissert.« (S. 391) Diese Konstellation erscheint vor dem Hintergrund der Anlage des Risach’schen Deutungs- und Wertesystems nur folgerichtig: Heinrichs Erkenntnisse sind immer nur Einsichten in prinzipiell
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II Am Ende der Biologie: Adalbert Stifters familiäre Ordnungen
Heinrich, Sohn eines Kaufmanns, verlässt seine Familie, die Stifter als durchaus ›klassische‹ Kernfamilie zeichnet. Sie folgt in ihrer Struktur und Funktionalität dem führenden Diskurs zur Familie, wie er zeitgleich auch vom Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl etabliert wird. Riehls ›Standardwerk‹ zur Familie erscheint erstmals 1855 und findet zahlreiche Leser.5 Die Aufgabenteilung der Ehegatten basiert darin auf einer »soziale[n] Ungleichheit als Naturgesetz«6. Während die Frau sich durch ihre Anwesenheit im Haus »weit über die persönliche Kraft hinaus«7 geadelt sieht, schwingt sich der Mann »rasch empor im öffentlichen Leben«8. Analog dazu bleibt in Stifters Text die berufliche Sphäre allein dem Vater vorbehalten, der Mutter ist die Sorge um das Wohl des Hauses und der Familie ›natürliche‹ Rolle: »Sie ging in dem Hause emsig herum, besorgte alles, ordnete alles […] und war uns ein eben so ehrwürdiges Bildniß des Guten wie der Vater […].« (GW 4,1, S. 12) Diese Aufgabenteilung und (immer auch essentialistisch begründete) Komplementarität9 der Ehegatten führt im Umkehrschluss zur unbedingten Abhängigkeit der beiden voneinander. Riehl beschreibt die Ehe als 34
nicht Hinterfragbares. Cornelia Blasberg spricht daher vom Nachsommer als einem »Traditionsroman« (Cornelia Blasberg: Ein Nachwort zum Nachsommer. In: Blasberg: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten. Freiburg im Breisgau 1998, S. 329–371, hier S. 341). 4 Dass die Bildung einer (familiären) Gemeinschaft im Mittelpunkt des Textes steht, sehen so ausdrücklich Peter Uwe Hohendahl, Peter Schäublin (vgl. Peter Schäublin: Familiales in Stifters Nachsommer. In: Adalbert Stifter heute. Londoner Symposium 1983. Hg. von Johann Lachinger. Linz 1985, S. 86–99) und Dieter Borchmeyer (vgl. Dieter Borchmeyer: Ideologie der Familie und ästhetische Gesellschaftskritik in Stifters Nachsommer. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 99 [1980], S. 226–254). Klaus-Detlef Müller verbindet die Familienbildung mit dem Begriff des Bildungsromans: »Durch die Ideologie der Familie erhält der Weltausschnitt, den der ›Nachsommer‹ zur Anschauung bringt, den Charakter eines Ganzen, das stellvertretend für die Welt überhaupt stehen kann« (Klaus-Detlef Müller: Utopie und Bildungsroman. Strukturuntersuchungen zu Stifters ›Nachsommer‹. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 90 [1971], S. 199–228, hier S. 209). In diesem Sinne gelange »der Roman zu einem mehr als privaten Abschluß und sein Held zu einem gesellschaftlich objektiven Bildungsziel.« (S. 208) 5 1925 erscheint Die Familie immerhin schon in der neunten Auflage. 6 Riehl, S. 3; ausführlich zur Geschlechterchoreographie seit dem 18. Jahrhundert Ute Frevert: »Mann und Weib, und Weib und Mann«. Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München 1995; auch: Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850). Göttingen 2000. 7 Riehl, S. 21. 8 Riehl, S. 21. 9 Vgl. zur Vorstellung einer Komplementarität der Geschlechter Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Frankfurt am Main 1979, bes. S. 24–43.
1 Wahlverwandtschaft: Der Nachsommer
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diejenige Institution, in der »[d]ie in ihre zwei Gegensätze gespaltene menschliche Gesamtpersönlichkeit sucht […] wieder einheitlich zu werden«10. Die Mitglieder dieses kernfamiliären Systems sind für Heinrich zunächst absolute Bezugspunkte, die ein autarkes und nicht zu hinterfragendes Orientierungssystem bereithalten. »Zuweilen kamen Menschen zu uns, aber nicht oft« (GW 4,1, S. 12), berichtet Heinrich: Den Unterricht erhielten wir in dem Hause von Lehrern, und dieser Unterricht und die sogenannten Arbeitsstunden, in denen von uns Kindern das verrichtet werden mußte, was uns als Geschäft aufgetragen war, bildeten den regelmäßigen Verlauf der Zeit, von welchem nicht abgewichen werden durfte.11 (GW 4,1, S. 12)
Die Familienmitglieder folgen in ihren täglichen Verrichtungen und Aufgabenbereichen einer starren Ordnung, sie sind aneinander angepasst wie die Dinge, die sich im Haus des Vaters angesammelt haben: Für die alten geschnizten und eingelegten Geräthe wurde auch ein eigenes Zimmer hergerichtet. Der Vater hatte einmal aus dem Gebirge eine Zimmerdecke mitgebracht, welche aus Lindenholz und aus dem Holze der Zirbelkiefer geschnizt war. Diese Decke ließ er zusammen legen, und ließ sie mit einigen Zuthaten versehen, die man nicht merkte, so daß sie als Decke in dieses Zimmer paßte. (GW 4,1, S. 14)
Weder Dingen noch Menschen ist es gestattet, die vom Vater geschaffene, als natürlich deklarierte Ordnung zu verlassen.12 In Stifters Text lässt sich ein
10 Riehl, S. 125. 11 Vgl. Borchmeyer, S. 228: Die »familiären Beziehungen schaffen sich in den Wohnräumen eine intime Wirkungssphäre, welche vom öffentlichen Leben hermetisch abgeschirmt ist. […] Wir haben ein rigoros von der Außenwelt abgeriegeltes bürgerliches Interieur vor uns.« 12 Zur »Ordnung« als übergreifendem Thema des Nachsommers vgl. beispielhaft Peter Uwe Hohendahl: Die gebildete Gemeinschaft: Stifters Nachsommer als Utopie der ästhetischen Erziehung. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Band 3. Frankfurt am Main 1985, S. 333–356: »Die Welt des Nachsommers erscheint als eine Konfiguration, in der das Netz der Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen schließlich wichtiger ist als das einzelne Ding oder die individuelle Person: diese verweisen auf etwas Umfassenderes, nämlich die harmonische Ordnung des Ganzen.« (S. 340) Ein ganzer Sammelband zur Ordnung bei Adalbert Stifter erschien 2007: Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Hg. von Sabina Becker und Katharina Grätz. Heidelberg; vgl. darin vor allem die Einleitung (S. 7–16) und die Beiträge Günter Saßes (Familie als Traum und Trauma. Adalbert Stifters Nachsommer, S. 211–233) und Sabina Beckers (Nachsommerliche Sublimationsrituale. Inszenierte Ordnung in Adalbert Stifters Nachsommer, S. 315–338). Hans Joachim Piechotta sieht in Stifters Fixierung gar ein »mythologisches Zitat«: Vollkommene Ordnung und damit »mythische Allheit« sei das »metasignifikante Signifikat« in Stifters Werk (Hans Joachim
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II Am Ende der Biologie: Adalbert Stifters familiäre Ordnungen
starker ›Harmonisierungsdruck‹ beobachten, der etwa Uneinigkeiten der Ehegatten untereinander nicht erzählbar macht. Die Verbindung der Eltern Heinrichs wird als überaus einstimmig beschrieben: »Die Freude meines Vaters war außerordentlich, die Mutter freute sich des Vaters willen.« (GW 4,2, S. 15) Eventuelle Ungleichheiten zwischen den Ehepartnern werden durch die hierarchische, durchaus gewaltsam konnotierte Unterordnung der Frau aufgefangen: Die Mutter hätte, so Heinrich, das streng regulierte tägliche Einerlei gern auch einmal »zu Gunsten einer Lust« durchbrochen, »wenn sie nicht von der Furcht vor dem Vater davon abgehalten worden wäre«. (GW S. 4,1, 12) Die Ordnung des Vaters bleibt dabei nicht allein äußerlich, sie greift nach der Innerlichkeit der Dinge und vor allem der Familienmitglieder: »Jedes Ding und jeder Mensch, pflegte er zu sagen, könne nur eines sein, dieses aber muß er ganz sein.« (GW 4,1, S. 11) Den Mitgliedern und Dingen der Familie ist es nicht nur verboten, ihre Orte zu wechseln, sie sind gleichzeitig auch nicht durch ein Ähnliches oder gar Anderes substituierbar. Die kleinfamiliären Strukturen, die der Nachsommer durch den Vater Heinrichs präsentiert, sind vor dem Hintergrund dieser Logik jeder Geschichtlichkeit entzogen. Ihre Agenten sind ›Dinge an ihrem Platz‹, die sich in eine übergeordnete Harmonie fügen. Die Experimente, die Risach im Rosenhaus mit der Familie anstellt, werden diese Ordnung wiederholen – und gleichzeitig radikalisieren. Veränderung tritt dennoch in die Sphären des Romans. Bekanntermaßen verlässt der heranwachsende Heinrich die gesättigte kleinfamiliäre Atmosphäre – die »Häuslichkeit« (GW 4,1, S. 9–25) – um »die Wissenschaft der Bildung der Erdoberfläche und dadurch vielleicht der Bildung der Erde selber zu betreiben« (GW 4,1, S. 44). Neben seinen Ausflügen ins Gebirge erzählt der Text vor allem von Heinrichs Aufenthalten bei Gustav von Risach im Rosenhaus. Hier wird Heinrich seiner späteren Frau Natalie, der Ziehtochter Gustav von Risachs, begegnen. Das Rosenhaus bietet Heinrich im Sommer seiner ersten Wanderung zunächst nur Schutz vor einem Unwetter, wird dann aber rasch und unwiderruflich zum Fluchtpunkt seiner charakterlichen und ›wissenschaftlichen‹ Bildung. Gustav von Risach entpuppt sich als Mentor par excellence, der Erzähltext ist durchdrungen von seitenlangen wörtlichen Wiedergaben der Gespräche mit ihm und seinen Angehörigen
Piechotta: Ordnung als mythologisches Zitat. Adalbert Stifter und der Mythos. In: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Hg. von Karl Heinz Bohrer. Frankfurt am Main 1983, S. 83–110, hier S. 107).
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und Angestellten.13 Bald schon bemerkt der Sohn des Kaufmanns, dass er bei einer erneuten Rückkehr ins Rosenhaus dort nicht mehr wie ein gewöhnlicher Gast aufgenommen wird: Das Wiedersehen mit dem alten Risach »war beinahe bewegt, wie zwischen einem Vater und einem Sohne, so sehr war meine Liebe zu ihm schon gewachsen, und eben so mochte auch er schon eine Zuneigung zu mir gewonnen haben« (GW 4,2, S. 189). Diese Zugehörigkeit aber, die Heinrich bis zum Ende des Romans zu Risachs und Mathildes »Sohn« (GW 4,3, S. 263) werden lässt, konkurriert mit der familiären Ordnung des leiblichen Vaters, die Heinrich unweigerlich stört oder wenigstens auf überraschende Weise erweitert, um Risachs und Mathildes Sohn zu werden. Dass es sich hier um eine gewöhnliche Schwiegerelternschaft handelt, ist zwar eine Überlegung wert. Die textuellen Verfahren lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass Vater Risach zwischen seiner Ziehtochter Natalie, die später Heinrichs Frau wird, und Heinrich selbst keinen wesentlichen Unterschied macht. Im Gegenteil: Bevor Heinrich Risachs Ziehtochter Natalie heiraten kann, muss er, in der Logik der im Text vorgetragenen familiären Gesetze, ein Familienmitglied werden – und damit Natalies Bruder. Die Begründung neuer, vermeintlich stabilerer Ordnungen ist ein zentrales Thema des Textes. Schon früh stößt Heinrich bei seinen wissenschaftlichen Betätigungen auf Schwierigkeiten in Auseinandersetzung mit ›alten Ordnungen‹, deren Legitimation und Wertigkeit er problematisiert, gleichzeitig aber auch respektiert: Ich bemerkte, daß von den Pflanzenlehrern die Eintheilungen der Pflanzen nur nach einem oder einigen Merkmalen, zum Beispiele nach den Samenblättern oder nach den Blüthen theilen gemacht wurden, und daß da Pflanzen in einer Gruppe beisammen stehen, welche in ihrer ganzen Gestalt und in ihren meisten Eigenschaften sehr verschieden sind. Ich behielt die herkömmlichen Eintheilungen bei, und hatte aber auch meine Beschreibungen daneben. In diesen Beschreibungen standen die Pflanzen nach sinnfälligen Linien, und, wenn ich mich so ausdrücken dürfte, nach ihrer Bauführung beisammen. (GW 4,1, S. 32)
Die Begründung und Aufrechterhaltung von Ordnung ist dann auch das Anliegen im Rosenhaus, dessen Eigentümer eigentlich nichts anderes im Sinn hat als die Bildung und Erziehung des Kaufmannssohns Heinrich. Heinrich und Gustav von Risach werden zum Ende des Textes von ein und derselben ›Bauführung‹ sein, will heißen: Sie haben in allen vom Text als bedeutsam markierten Lebensbereichen ein und dieselbe Disposition. Heinrich hat deshalb gegen Ende seiner Entwicklung nicht nur eine Frau – die Adoptivtochter Risachs nämlich –,
13 Cornelia Blasberg spricht von der »Echoqualität« der Erzählstimme Heinrichs. (Blasberg, S. 344)
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II Am Ende der Biologie: Adalbert Stifters familiäre Ordnungen
sondern vor allem auch einen zweiten Vater gewonnen. »Mein Sohn«, adressiert ihn Risach, »ich werde dich jezt du nennen, und du mußt zu mir wie zu deinem ersten Vater auch dies Wörtchen sagen […].« (GW 4,3, S. 263) Nicht die Hochzeit mit Natalie, sondern die Adoption Heinrichs ist das eigentliche Ziel des Textes.14 Die Liebesgeschichte zwischen Heinrich und Natalie wird äußerst zurückhaltend erzählt. Schon die Kapitelüberschriften der drei Bände deuten an, dass die Voraussetzung für die Hochzeit nicht die romantische Zuneigung der Eheleute zueinander, sondern schlicht und ergreifend Heinrichs widerspruchslose Eingliederung in Risachs familiäre Strukturen ist: Von der anfänglichen »Häuslichkeit« (GW 4,1, S. 9–25) Heinrichs über seine »Einkehr« (GW 4,1, S. 45–66) im Rosenhaus führt jeder der Erzählstränge schließlich zum wachsenden »Vertrauen« (GW 4,3, S. 48–74) zwischen Heinrich und Risach. Das Hochzeitsfest dagegen ist lediglich der »Abschluß« (GW 4,3, S. 229–282) einer ungleich wichtigeren Entwicklungsgeschichte.
1.2 Grundlegend: Postulat einer destruktiven Harmonie Die Diskurse um Kunst und Kultivierung im Rosenhaus spielen in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle. Beide Bereiche werden von Risach als basierend auf mythischen, ewig-gleichen Konstanten vorgestellt. Ihren Ursprung haben sie, folgt man dem Diskurs Risachs, in vom Individuum vollkommen unabhängigen Sphären. Kunst und der Umgang mit der Natur durchwalten die gleichen Gesetze, Ordnung und Harmonie sind ihr Ziel. Wo es erreicht wird, ist das immer auch ein ethischer Erfolg.15
14 Peter Schäublin weist in seiner Lektüre auf die Bedeutung der Adoption im Text hin, konzentriert sich aber vor allem auf eine Perspektive, die Risach in seiner (durch Adoption erworbenen) Vaterrolle in den Mittelpunkt rückt: »Die Adoption Risachs als Sohn [durch die Eltern Mathildes, AM] […] wird nachgeholt in Gestalt seiner Adoption als Vater.« (Schäublin, S. 94) Auch »Natalie macht Risach […] zu ihrem Vater« (S. 94) und räumt ihm damit ein Vetorecht gegen ihre Verbindung mit Heinrich ein (von dem Risach freilich keinen Gebrauch macht). Von »Adoption« spricht auch Cornelia Blasberg (vgl. Blasberg, S. 342). Günter Saße nennt Risach Heinrichs »Ersatzvater« (vgl. Saße, S. 216), was freilich etwas missverständlich bleibt, weil Risach Heinrich keinen fehlenden Vater ›ersetzt‹, vielmehr ihm ein zweiter Vater wird. 15 Der Maler Eustach ist beispielsweise der Meinung, »die Kunstdinge [seien] das Höchste des irdischen Lebens«. Er hält »ein Kunststreben als blosses Bestreben schon für hoch […], wie er auch zu sagen pflegt, das Gute sei gut, weil es gut sei« (GW 4,3, S. 62; Hervorhebung AM).
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Schönheit – damit auch ›das Gute‹ – erklärt sich nach klassischer16 Maxime durch »Ruhe in Bewegung« (GW 4,1, S. 16/4,2, S. 89), denn »Bewegung regt an, Ruhe erfüllt, und so entsteht jener Abschluß in der Seele, den wir Schönheit nennen« (GW 4,2, S. 92). Ein berufener Künstler findet daher auch am besten auf ›natürlichem‹ Wege zur Einsicht in dieses Gesetz, er folgt einer platonisch gedachten Anamnesis,17 anstatt einen steinigen Weg der Erkenntnis zu beschreiten: Das Beste ist, daß die schaffende Kraft in der Regel nicht nach solchen aufgestellten Säzen wirkt, sondern das Rechte trifft, weil sie die Kraft ist, und es desto sicherer trifft, je mehr sie sich auf ihrem eigenthümlichen Wege naturgemäß ausbildet. (GW 4,2, S. 92 f.)
Kunst entsteht nach Naturgesetzen, die der Künstler ›spürt‹ und in die er sich demütig fügt. Der Text – und das ist für die weiterführende Argumentation zentral – setzt Schönheit mit Geschlossenheit im Sinne eines Sich-Zusammenfügens von Einzelteilen gleich; Kunstwerke sind in ihrem Ergebnis vor allem in sich stimmig, ermöglichen das »Erlebnis einer unauflösbaren Totalität«18: Was aber die Merkmale anbelangt, an denen ihr die Schönheit erkennen wollt, so werdet ihr keine finden. Das ist eben das Wesen der besten Werke der alten Kunst, und ich glaube, das ist das Wesen der höchsten Kunst überhaupt, daß man keine einzelnen Theile oder einzelne Absichten findet, von denen man sagen kann, das ist das schönste, sondern das Ganze ist schön, von dem Ganzen möchte man sagen, es ist das schönste; die Theile sind blos natürlich. (GW 4,2, S. 87; Hervorhebung AM)
Solch mythische Überhöhung im Ideal der Natürlichkeit findet sich auch in den landschaftsarchitektonischen Projekten Risachs wieder, von denen der Roman an zentralen Stellen immer wieder berichtet. Auch hier geht Risach (zumindest auf den ersten Blick) den ›natürlichen‹, »sanften Gesetzen«19 gemäß vor:
16 Risachs Ästhetik greift hier insbesondere auf die Laokoon-Schriften Lessings und Goethes zurück: Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner. Band 5/2: Werke 1766–1769. Frankfurt am Main 1990, S. 11–321; Johann Wolfgang von Goethe: Über Laokoon. In: Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hg. von Friedmar Apel. Band 18. Frankfurt am Main 1998, S. 489–500. 17 Vgl. Blasberg, S. 336. 18 Müller, S. 219. 19 Den Begriff des »sanften Gesetzes« prägt Stifter in seiner »Vorrede« (GW 2,2, S. 9–16) zu den Bunten Steinen. Auch hier weist er sowohl eine naturgesetzliche als auch eine ethische Bedeutungskomponente auf: »So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes. Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit Einfachheit Bezwingung
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Das ist die Wiese, die ich euch gestern von dem Hügel herab gezeigt habe, und von der ich gesagt habe, daß bis dahin unser Eigenthum gehe, und daß ich sie nicht habe einrichten können, wie ich gewollt hätte. Ihr seht, daß die Stellen an dem Bache versumpft sind, und saures Gras tragen. Dem wäre leicht abzuhelfen, und das mildeste Gras zu erzielen, wenn man dem Bache einen geraden Lauf gäbe, daß er schneller abflösse, die Wände hie und da mit Steinen ausmauerte und die Niederungen mit trockener Erde anfüllte. Ich kann euch jezt den Grund zeigen, weßhalb dieses nicht geschieht. Ihr seht an beiden Seiten des Baches Erlenschößlinge wachsen. […] Diese ungestalteten Anhäufungen von Holz […], aus denen die dünnen Ruthen oder krüppelhafte Äste hervorragen, bilden sich hier in sumpfigem Boden […]. (GW 4,1, S. 138 f.)
Diese Gattung Holz sei »sehr gesucht für Schreinerarbeiten und sehr kostbar« (GW 4,1, S. 139), fährt Risach fort. Er weiß um die Gesetze der Natur, die er souverän, aber scheinbar bescheiden für sich nutzt. Der Erfolg gibt seiner Methode Recht, sogar das Laub seiner Bäume ist »vollkommener […] als anderwärts« (GW 4,1, S. 63). Dass die Ökonomie des Rosenhauses dabei doch immer Produkt der »Schaffungslust« (GW 4,3, S. 143), ja des Eigensinns20 eines sich bisweilen auch gegen Widerstände durchsetzenden Individuums bleibt, kann der Text nur notdürftig verbergen.21 Die Forschung zum Nachsommer hat immer wieder die gewaltsamen Züge hervorgehoben, die hinter der scheinbar friedlichen Lebensführung der
seiner selbst Verstandesgemäßheit Wirksamkeit in seinem Kreise Bewunderung des Schönen verbunden mit einem heiteren gelassenen Streben halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemütes furchtbar einherrollenden Zorn die Begier nach Rache den entzündeten Geist, der nach Thätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört, und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind, wie Stürme feuerspeiende Berge Erdbeben. Wir wollen das sanfte Gesez zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird.« (GW 2,2, S. 12) 20 Vgl. GW 4,3, S. 139: »Ich entwarf gerne das Bild dessen, was ich thun sollte, selbst, und vollführte es auch gerne mit meiner alleinigen Kraft. Daraus folgte, daß ich schon als Kind, wie meine Mutter erzählte, eine Speise, ein Spielzeug und dergleichen lieber nahm, als mir geben ließ, daß ich gegen Hilfe widerspänstig war, daß man mich als Knaben und Jüngling ungehorsam und eigensinnig nannte, und daß man in meinen Männerjahren mir Starrsinn vorwarf.« 21 Poetologische Operationen hierzu hat Christian Begemann herausgearbeitet. Herausragend sei »vor allem der Versuch, die ›Setzung‹ der Rosenhauswelt […] aufzuheben. Ein ganzes Bündel von Strategien dient der Anbindung aller Züge von Risachs radikal künstlicher Schöpfung an vorgegebene ›wesenhafte‹ Strukturen. […] Jeder Verdacht von Willkür muß vermieden werden.« (Begemann, S. 327) Der Text arbeite so mit »Akribie daran, die Spuren seiner auslösenden und grundlegenden Konflikte hinter sich zu verwischen« (S. 326).
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Rosenhäuser steht.22 Prominentestes Beispiel ist Risachs Garten samt Rosenzucht und ›natürlicher Vogelvoliere‹. Heinrichs Erstaunen ob der Möglichkeit eines harmonischen Zusammenspiels des Menschen mit der ihn umgebenden Natur prägt immer wieder seine Beschreibungen. Vogelgesang ist im Garten nahezu immer zu vernehmen;23 die Beziehung des alten Mannes zu den Tieren wird besonders in folgender Fütterungsszene als ideal im Hinblick auf einen vertrauensvollen und reibungslosen Umgang gezeichnet: Mein Gastfreund war in einer seltsamen Beschäftigung begriffen. Eine Unzahl Vögel befand sich vor ihm auf dem Sande. Er hatte eine Art von länglichem geflochtenem Korbdeckel in der Hand, und streuete aus demselben Futter unter die Vögel. Er schien sich daran zu ergözen, wie sie pickten, sich überkletterten, überstürzten und kollerten, wie die gesättigten davon flogen, und wieder neue herbei schwirrten. Ich erkannte es nun deutlich, daß außer den gewöhnlichen Gartenvögeln auch solche da waren, die mir sonst nur von tiefen und weit abgelegenen Wäldern bekannt waren. Sie erschienen gar nicht so scheu, als ich mit allem Rechte vermuthen mußte. Sie trauten ihm vollkommen. (GW 4,1, S. 84)
Einige Passagen später erfährt der Leser allerdings durch Heinrichs Erzählung, dass die Rosenhaus-Idylle durchaus ihren Preis hat. Gustav von Risach gesteht, daß auch unnüze Glieder [d. h. Vögel, AM] herbeikommen, Müssiggänger Störenfriede […]. Ein großer Händelmacher ist der Sperling. Er geht in fremde Wohnungen, balgt sich mit Freund und Feind, ist zudringlich zu unsern Sämereien und Kirschen. Wenn die Gesellschaft nicht groß ist, lasse ich sie gelten, und streue ihnen sogar Getreide. Sollten sie hier aber doch zu viel werden, so hilft die Windbüchse, und sie werden in den Meierhof hinabgescheucht. Als einen bösen Feind zeigte sich der Rothschwanz. Er flog zu dem Bienenhause, und schnappte die Thierchen weg. Da half nichts als ihn ohne Gnade mit der Windbüchse zu tödten. Wir ließen beinahe in Ordnung Wache halten, und die Verfolgung fortsezen, bis dieses Geschlecht ausblieb. (GW 4,1, S. 169 f.)
22 Einige Berühmtheit hat Arno Schmidts Charakterisierung Stifters als »sanfter Unmensch« erlangt (Arno Schmidt: Der sanfte Unmensch. Einhundert Jahre »Nachsommer«. In: Schmidt: Nachrichten von Büchern und Menschen. Band 2: Zur Literatur des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1971, S. 114–136). Schmidt fordert dazu auf, »zu attackieren, was Stifter hier gelobpriesen hat: die sittliche Verkommenheit falscher Exklusivität, nicht minder, als die grauenhafte Gefühllosigkeit seines Ideals« (S. 136). In der Lektüre Christian Begemanns gelingt Risach das Dasein eines »ontologisch nobilitierte[n] Sonderling[s]« (Begemann, S. 325). Keine Instanz im Text jedoch »garantiert […], daß Risachs Haltung nicht lediglich der Eigen-Sinn ist, als der sie, von außen gesehen, erscheint« (S. 325): »Der Text kann diese tiefe Unsicherheit nicht beheben […].« (S. 325) Die Arbeiten Risachs seien »auf ihrer Kehrseite ein Destruktionsprozeß« (S. 345). Vgl. hierzu auch Borchmeyer, S. 253 und Saße, S. 214. 23 Schon bei Heinrichs erstem Gang durch den Garten: »Da wir in dem Garten so fortgingen, hörte ich besonders aus seinem bebuschten Theile wieder die Vogelstimmen, die ich in dem Wartezimmer gehört hatte, nur hier deutlicher und heller.« (GW 4,1, S. 62)
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Aus dem friedvollen Alten ist ein totalitärer Architekt der Natur geworden, der alle Elemente »mit der Windbüchse« tötet, die seine Ordnung stören. Dass ihm das Heinrich kommentar- und kritiklos durchgehen lässt – die Textstelle enthält keinerlei Reflexionen oder den Hinweis auf eine mögliche Irritation bei Heinrich –, liegt in der Logik einer Erzählung begründet, die den Wanderer Heinrich längst in das System des Rosenhauses integriert hat. Er ist Teil einer Ordnung, gegen die aufzubegehren nicht zu seinen Aufgaben gehört. Natur und Kultur sind hier eng miteinander verwoben: Die kulturellen Zugriffe erscheinen nur deshalb ›natürlich‹, weil Risachs Diskurs der Natur ein sittliches Moment andichtet, das er im Moment der Kultivierung ›hebt‹. Unter seiner Hand kommt die Natur damit sozusagen zu sich selbst. Der Mensch erscheint »als bloßer Ausführungsgehilfe der Natur, die durch ihn als ihr Medium zu ihrer Vollkommenheit gelangen will«24. Natur und Kunst »verweisen stets aufeinander; sie repräsentieren dasselbe Ideal«25. Aber auch die Diskurse um familiäre Strukturen lassen sich hier mühelos anbinden. Der Beschaffenheit der Familienmitglieder soll narrativ ebenso ihr subjektiv konstruierter Ursprung entzogen werden wie den Rosenhaus-Gärten und den Regeln der Kunst. Risach ›erschafft‹ Heinrich nicht, Heinrich ›erkennt‹ das ›Richtige‹ in seinem eigenen Tempo, geht im Rosenhaus auf eigenen Wunsch ein und aus und bleibt so scheinbar der Herr über seine eigenen Entscheidungen. Gleichzeitig ist es eindeutig Risachs Gestaltungswille, der den Grundstein für die Struktur der Nachsommer-Familie legt und bestimmend auf das Wesen ihrer Mitglieder einwirkt: »Du hast immer wie ein Vater an Natalien gehandelt«, äußert Risachs Lebensliebe Mathilde gegenüber Risach: »Was sie ist, ist sie größten theils durch dich.« (GW 4,3, S. 243)26 Ein der ästhetischen Lehre entlehnter Imperativ der Geschlossenheit, so meine im Folgenden leitende These, bestimmt dabei die Erzählung Stifters in ihrer Gänze. Nicht nur die Natur muss sich ihm beugen; unter seiner Beobach-
24 Begemann, S. 344. Walter Benjamin spricht von einer »heimliche[n] Bastardierung«, die entsteht, wenn Stifter »die sittliche Welt und das Schicksal mit der Natur« verbindet (Walter Benjamin: Stifter. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Band II,2. Frankfurt am Main 1977, S. 609). Auch Thomas Macho weist darauf hin, dass Stifters Dinge »häufig Hybride (im Sinne Latours)« seien, Zwitter nämlich »aus Materialität und kultureller Bedeutung« (Thomas Macho: Stifters Dinge. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 8 [2005], S. 735–741, hier S. 739, 738). 25 Macho, S. 739. 26 Schließlich gibt sich Risach sogar – oft zitiert – als ›Matchmaker‹ der Hochzeit zwischen Natalie und Heinrich zu erkennen: »›Habe ich es gut gemacht, Natta‹, sagte mein einstiger Gastfreund, ›daß ich dir den rechten Mann ausgesucht habe? Du meintest immer, ich verstände mich nicht auf diese Dinge, aber ich habe ihn auf den ersten Blick erkannt. […]‹« (GW 4,3, S. 265)
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tung steht schließlich insbesondere auch die Beschaffenheit der Innerlichkeit der Protagonisten und damit die Struktur der Rosenhaus-Gemeinschaft selbst, die sich durchaus mit dem Begriff des Gesamtkunstwerks beschreiben lässt.27 Dass die Familie Risachs keine Familie ist, die auf genetische Verwandtschaft zurückverweist, spielt vor diesem Hintergrund dann allenfalls noch eine untergeordnete Rolle. Bedeutender als Blutsverwandtschaft ist ihr die Tradierung des harmonisierenden ästhetischen Diskurses, der ihrer Struktur vor allem zugrunde liegt. 1.3 Ästhetik und Individuum: »Wenn wir nur in uns selber in Ordnung wären«28 Heinrichs Erfahrung mit ästhetischen Diskursen beschränkt sich bei seiner Ankunft im Rosenhaus auf das Diktum von der Kunst als »Ruhe in Bewegung« (GW 4,1, S. 16/GW 4,2, S. 89), das sein Vater zwar vertritt, das Heinrich aber nicht begreift, solange er Sohn seines ersten Vaters bleibt. Der junge Naturforscher zeichnet von Anfang an – zunächst allerdings rein funktional im Dienst seiner Wissenschaft: »Ich könnte mir ja meine Naturgegenstände, dachte ich, eben so gut zeichnen als beschreiben, und die Zeichnung sei am Ende noch sogar besser als die Beschreibung.« (GW 4,1, S. 41) So gelingt Heinrich die Konservierung der vergänglichen Natur (»Die gezeichneten Pflanzen dagegen bewahrten wenigstens die Gestalt« [GW 4,1, S. 42]). Mit einer ästhetischen Durchdringung des Lebens im Sinne Risachs hat das allerdings noch nicht viel gemein. Das ästhetisches Projekt »Rosenhaus« lässt nur bestimmte Erzeugnisse als gelungene Kunst gelten. Bei einem Kirchenbesuch zieht der Künstler Roland, der zum inneren Kreis der Hausgemeinschaft im Rosenhaus zählt, eine klare Linie zwischen ›echter‹ und ›falscher‹ Kunst: Der Hauptaltar in altdeutscher Art war geblieben. Roland sagte, es sei ein Glück gewesen, daß man im vorigen Jahrhunderte nicht mehr so viel Geld gehabt habe als zur Zeit der Erbauung der Kirche, denn sonst hätte man gewiß den ursprünglichen Altar weggenommen, und hätte einen in dem abscheulichen Sinne des vergangenen Jahrhunderts an seine Stelle gesezt. (GW 4,3, S. 55 f.)
27 Klaus-Detlef Müller liest in Stifters Text Indizien »für Stifters Streben nach Totalität« (Müller, S. 208); Stifter versuche, »das Ganze noch auf einem anderen Wege zu gewinnen«, nämlich »durch die Verklärung der Familie zum Bildungsziel«. (S. 208) Die Familienideologie des Textes müsse als »ästhetisches Muster verstanden« werden, »der Personenkreis des Romans [werde] als Ganzheit gesetzt«. (S. 226) 28 GW 4,1, S. 217.
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Diese Erkenntnis ›echter‹ Kunst fordert vom Betrachter eine spezifische innere Beschaffenheit: Wenn irgend ein Theil der Menschheit ein Volk rein und gesund am Leibe und an der Seele ist, wenn seine Kräfte gleichmäßig entwickelt nicht aber nach einer Seite unverhältnismäßig angespannt und thätig sind, so nimmt dieses Volk ein reines und wahres Kunstwerk treu und warm in sein Herz auf, wozu es keiner Gelehrsamkeit, sondern nur seiner schlichten Kräfte bedarf, die das Werk als ein ihnen Gleichartiges aufnehmen, und hegen. (GW 4,3, S. 147)
Ein ›gesundes Volk‹ erkennt und rezipiert ›gesunde Kunst‹ – so unoriginell und fragwürdig sich das freilich lesen mag, für den Nachsommer ist dieses System unhintergehbar. Im schlimmsten Fall bleibt dem ›unreifen‹ Rezipienten der Zugang zur großen Kunst verwehrt: Wenn aber die Begabungen eines Volkes, und seien sie noch so hoch, nach einer Richtung hin in weiten Räumen voraus eilen, wenn sie gar auf bloße Sinneslust oder auf Laster gerichtet sind, so müssen die Werke, welche eine große Wirkung hervor bringen sollen, auf jene Richtung, in der die Kräfte vorzugsweise thätig sind, hinzielen, oder sie müssen Sinneslust und Laster darstellen. Reine Werke sind einem solchen Volke ein Fremdes, es wendet sich von ihnen. (GW 4,3, S. 147)
Heinrichs ›innerer Makel‹ ist zu Anfang nicht die »Sinneslust« oder ein schlimmeres Laster. Trotzdem ist sein Blick auf die Kunst lange Zeit verstellt, denn auch wer »in einer bestimmten Richtung befangen ist, und nur die Schönheit, die in ihr liegt, zu fassen und zu genießen versteht« (GW 4,2, S. 88), erlebt klassische Schönheit nicht und findet die Werke älterer Zeiten »meistens leer und langweilig« (GW 4,2, S. 88). Heinrichs Laster in diesem Sinne ist sein einseitiges Interesse für die Wissenschaft, hat er doch Abbildungen von gewissen Gegenständen, besonders denen eurer wissenschaftlichen Bestrebungen zu sehr und zu lange in einer Richtung gemacht, als daß euer Auge sich nicht daran gewöhnt euer Gemüth sich nicht dazu hingeneigt hätte, und ungefüger geworden wäre, etwas anderes mit gleicher Liebe aufzunehmen, das in einer anderen Richtung lag […]. (GW 4,2, S. 88)
Wie für die Kunst selbst (und für Risachs Räumlichkeiten samt Gartenanlage) gilt offenbar auch für den Menschen und seine Persönlichkeit das Ideal des gleichmäßigen Zusammenstimmens aller Teile. Die Voraussetzung für die Kunsterkenntnis ist, dass der Mensch in sich selbst »in Ordnung« (GW 4,1, S. 217) ist. Der Prozess der Rezeption eines idealen Kunstwerks stärkt, einer Wechselwirkung ähnlich, diese Ordnung nochmals. Bei Heinrich löst der Anblick der Marmorsta-
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tue im Rosenhaus eines Tages »unmittelbare und tiefe Anerkennung« (GW 4,2, S. 88) aus; Risach berichtet von Kunstwerken der alten Zeit, daß sie in ihrer Einfachheit und Reinheit das Gemüth erfüllen, und es, wenn die Lebensjahre des Menschen nach und nach fließen, nicht verlassen, sondern es mit Ruhe und Größe noch mehr erweitern, und mit Unscheinbarkeit und Gesezmäßigigkeit zu immer größerer Bewunderung hinreißen. (GW 4,2, S. 85)
Hinter der antiken Statue im Rosenhaus leuchtet für Heinrich dann etwas ›Höheres‹ auf, gleichsam ein absoluter, metaphysischer Bezugspunkt: Der Eindruck war aber nicht einer, wie ich ihn öfter vor schönen Sachen hatte, ja selbst vor Dichtungen, sondern er war, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, allgemeiner geheimer unenträthselbarer, er wirkte eindringlicher und gewaltiger; aber seine Ursache lag auch in höheren Fernen, und mir wurde begreiflich, ein welch hohes Ding die Schönheit sei, wie schwerer sie zu erfassen und zu bringen sei, als einzelne Dinge, die die Menschen erfreuen, und wie sie in dem großen Gemüthe liege, und von da auf die Mitmenschen hinausgehe, um Großes zu stiften und zu erzeugen. (GW 4,2, S. 95)
Hier geschieht kein individuelles und bescheidenes ästhetisches Erwachen, vielmehr hebt sich die »Trennung von Kunst und Leben […] in diesem Moment auf, der Anblick ästhetischer Reinheit in einer antiken Statue verweist auf die Aufgabe des Menschen, sich der Vollkommenheit zu nähern«29. Die Rezipienten der nachsommerlichen Kunstwerke sind ›ordentlich‹ in einem zweifachen Sinne. Die Innerlichkeit der Protagonisten weist eine spezifisch leidenschaftslose Disposition auf, die das Erkennen des Kunstschönen und immer zugleich ethisch Guten offenbar überhaupt erst ermöglicht. Gleichzeitig verbirgt sich auch hinter der gesamten sozialen Struktur der Rosenhaus-Gemeinschaft das Ideal des Zusammenstimmens aller ihrer Einzelteile. Heinrichs Integration in die Rosenhaus-Familie kann nur gelingen, wenn er selbst ein integriertes Einzelteil der Familie wird.
1.4 Und die Schönheit Natalies? Ent-erotisierte Nachsommerwelten Kunst und Leidenschaft – und sei es auch nur wissenschaftliche Leidenschaft – bleiben im Nachsommer per se unvereinbar. Wie bei einem Kunstwerk stört Leidenschaft das Gleichgewicht der einzelnen Teile, die letztlich nur zugunsten des
29 Hohendahl, S. 350.
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Ganzen bestehen und verhindert jede Möglichkeit der Erkenntnis des Schönen. In einem Text, der das auf solche Weise beschaffene Schöne derart absolut setzt, nimmt es nicht wunder, dass (zwischenmenschliche) Erotik nahezu komplett marginalisiert werden muss.30 Risach erlebt in seiner Jugend die katastrophalen Folgen erotischen Begehrens, als er – eigentlich als pädagogischer Begleiter für Mathildes Bruder – in Mathildes Familie aufgenommen wird, dann aber seine Leidenschaft für Mathilde entdeckt und deshalb postwendend aus der Familie ausgeschlossen wird. Das erklärt innerhalb einer figurenpsychologischen Betrachtungsweise seinen noch im Alter vorhandenen Wunsch, »sinnliches Verlangen in Kunst aufgelöst und erlöst zu wissen«31. Heinrichs und Natalies Emotionen müssen daher stets innerhalb eines ästhetischen Diskurses aufgehoben werden, der die Körper abseits von Leidenschaft thematisiert.32 Der spätere Adoptivsohn Heinrich erkennt in Natalie von Beginn an eine Schönheit, die rein ästhetisch konnotiert ist und die ihn allenfalls zum Zeichnen inspiriert: »Ich dachte mir, da der Wagen [mit Mathilde und Natalie, AM] immer tiefer über den Berg hinabging, ob denn nicht eigentlich das menschliche Angesicht der schönste Gegenstand zum Zeichnen wäre.« (GW 4,1, S. 178) Natalies Gesicht erinnert ihn an die Gesichter, die er auf den Steinen seines Vaters
30 Sebald beschreibt dieses Verschwinden als »Phantasieverbot« »beim Beschreiben weiblicher Schönheit«. Stifter habe damit »das Bild der schönen jungen Frau in seinen Werken […] weitgehend neutralisiert« (Winfried Georg Sebald: Bis an den Rand der Natur. Versuch über Stifter. In: Sebald: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke. Salzburg/Wien 1985, S. 15–37, hier S. 30). Einer Fetischisierung und Erotisierung unterliegen demgegenüber freilich die (Kunst-)Dinge: Vgl. dazu Joseph Vogl: Der Text als Schleier. Zu Stifters Der Nachsommer. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 298–312; auch Heinz Drügh: Ästhetik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte (1700–2000). Tübingen 2006, S. 269. 31 Claudia Öhlschläger: Weiße Räume. Transgressionserfahrungen bei Adalbert Stifter. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 9/10 (2002/2003), S. 55–68, hier S. 57. 32 Auf die Verbindung des ästhetischen Diskurses mit der Erkenntnis Natalies als künftiger Ehefrau weist schon Helga Bleckwenn hin: Das »Bildungserlebnis der Antike« sei »mit [Heinrichs] Beziehung zu Natalie verbunden« (Helga Bleckwenn: Stifter und Goethe. Untersuchungen zur Begründung und Tradition einer Autorenzuordnung. Frankfurt am Main/Bern 1977, S. 141). Franziska Schößler spricht von einer »Verschiebung des Körperdiskurses in den ästhetischen Bereich« (Franziska Schößler: Das unaufhörliche Verschwinden des Eros. Sinnlichkeit und Ordnung im Werk Adalbert Stifters. Würzburg 1995, S. 41). Erst Heinrichs »Integration […] in Risachs autoritär verwalteten Ordnungskosmos« erlaubt dem künftigen Ehemann einen Blick auf Natalies Körper: »Der Körper erscheint nur demjenigen, der die hierarchische Ordnung bereits internalisiert hat.« (S. 85)
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erblickt hat,33 »oder vielmehr in ihren Zügen war das Nehmliche, was in den Zügen auf den Angesichtern der geschnittenen Steine ist« (GW 4,2, S. 196): das Freie das Hohe das Einfache das Zarte und doch das Kräftige, welches auf einen vollständig gebildeten Körper hinweist, aber auch auf einen eigenthümlichen Willen und eine eigenthümliche Seele. (GW 4,2, S. 196)
Ebenso wie die Marmorstatue im Rosenhaus ist Natalie ein unteilbares Ganzes. Natalies Körper ist in seiner Sinnlichkeit nicht von Belang, er fungiert als Zeichen für etwas Dahinterliegendes: Von den frühen »Feldblumen« über den »Nachsommer« bis hin zum späten »Waldbrunnen« erheben es Stifters Männer zur Strategie, den weiblichen Körper nur als Zeichen zu betrachten. Das weibliche Äußere wird entweder studiert, um es zeichnen zu können, also unter rein ästhetischer Perspektive und mit der Absicht, es zum ikonischen Signifikanten zu machen; oder es wird nach Maßgabe der Physiognomik als Index bzw. Symptom des Charakters, der Seele dechiffriert, jenes unsichtbaren Dings, das sich nur in einem anderen zu erkennen geben kann.34
Wie die Natur und die Kunst verweist auch Natalie auf das Ideal ewiger, unvergänglicher Harmonie. Auf der Ebene der sprachlichen Beschreibung durch die Erzählerfigur Heinrich ist sie folgerichtig kaum von den Kunstwerken zu unterscheiden, an denen Heinrich sein ästhetisches Auge geschult hat. Ihr »blaßgraues Seidenkleid schimmerte« (GW 4,2, S. 223) wie der Marmor der Nymphe auf dem Sternenhof. Heinrichs Liebeserklärung an Natalie betont daher die Einfachheit, Reinheit und Zeitlosigkeit ihrer Erscheinung wie folgt: Ihr seid so gut, so rein, so einfach. […] Ich habe euch mehrere Jahre gekannt […], ihr waret heute, wie ihr gestern gewesen waret, und morgen wie heute, und so habe ich euch in meine Seele genommen zu denen, die ich dort liebe, zu Vater Mutter Schwester – nein, Natalie, noch tiefer, tiefer – (GW 4,2, S. 260)
Das aber sind genau diejenigen Kategorien, die Heinrich aus den ästhetischen Diskursen mit Risach destillieren muss, um sich Risachs Sohn nennen zu dürfen.
33 Vgl. auch Peter M. McIsaac: The Museal Path to Bildung: Collecting, Exhibiting and Exchange in Stifter’s Der Nachsommer. In: German Life and Letters 57/3 (2004), S. 268–289, insbes. S. 282: »In his thinking, Natalie’s features replace the Greek stones as that which is ›most beautiful‹ in his mental framework, and he concludes that her family genealogy must reach back to the ancients.« 34 Begemann, S. 65 f.
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Natalies Qualitäten liegen vor allem in ihrer Einpassung in diesen Diskurs: »To appreciate Natalie one must reflect upon the characteristics of this work of art [die Marmorstatue, AM], for the marble muse is Natalie immortalized.«35
1.5 Leidenschaftslose Bande: Risachs Familiensammlung Die Gemeinschaft der Nachsommerer kann vor dem Hintergrund dieser vollständigen sinnlichen Tabuisierung zugunsten ästhetischer Reinheit und Ordnung keine ›klassische‹ Familie sein, die aufgrund biologischer Ähnlichkeit zueinander gehört. Körperliche Zeugung wird daher auch weder thematisiert noch scheint sie für die Genese der Familie vonnöten.36 Gustav und Natalie sind Mathildes Kinder – allerdings ist ›Vater‹ Risach leiblich nicht mit ihnen verwandt. Der biologische Vater ist früh verstorben37 und damit keine Konkurrenz für das nachsommerliche Familienglück. Qua ›Adoption‹ setzt Risach sich an dessen Stelle, ohne deshalb ein sexuelles Verhältnis zu Mathilde zu haben. Nicht zu Unrecht wundert sich Heinrich nach der Lebensbeichte des Freiherrn, »daß ihr mit Mathilden nach eurer Wiedervereinigung nicht in einen nähern Bund getreten seid« (GW 4,3, S. 227). Die Zeit dafür sei »vorüber« (GW 4,3, S. 227) gewesen, kommentiert Risach. Leidenschaften haben im artifiziellen System seiner Gemeinschaft aber tatsächlich schlicht und ergreifend keinen
35 Christine Oertel Sjögren: Mathilde and the Roses in Stifter’s Nachsommer. In: Publications of the Modern Language Association of America 81 (1966), S. 400–408, hier S. 400; vgl. auch Müller, S. 220: »Natalie ist die Inkarnation des humanistisch-klassizistischen Menschenbildes, gestaltgewordenes Ideal.« 36 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Brigid Haines: Dialog und Erzählstruktur in Stifters Der Nachsommer. In: Adalbert Stifters schrecklich schöne Welt. Beiträge des internationalen Kolloquiums zur A. Stifter-Ausstellung (Universität Antwerpen 1993) (auch: Jahrbuch des AdalbertStifter-Instituts des Landes Oberösterreich, Band 1). Hg. von Roland Duhamel u. a. Brüssel 1994, S. 169–177, insbes. S. 173. Der Nachsommer stützt damit eine auch von Albrecht Koschorke vorgetragene These zur Leidenschaftslosigkeit der Familie im 19. Jahrhundert: »Zu den eigentümlichen Befunden, die man beim Studium von textuellen Repräsentationen der Familie machen kann, gehört das Faktum, dass sie seit dem 19. Jahrhundert von dem bereinigt scheint, was man heute ›Sexualität‹ nennt. […] Im 19. Jahrhundert […] tritt die Frage der familiären Erotik aus dem Bereich des nüchtern Diskutierbaren hinaus; die eigentümliche ›Desexualisierung‹ der Familie wird zu einem unhinterfragbaren sittlichen Wert erhoben. Zugleich jedoch verliert die Diskussion hier ihre ältere Eindeutigkeit, wenn nicht nur zugedeckt wird, was in Familien sexuell geschieht, sondern zugleich gefordert wird, dass Menschen nur hier sexuell aktiv sein dürften.« (Koschorke: Einleitung, S. 41 f.) 37 Mathilde berichtet bei ihrem Wiedersehen mit Risach, ihr Gatte sei »vor Langem gestorben« (GW 4,3, S. 219).
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Platz. Heinrich kann deshalb ebenso ein Sohn Risachs werden, wie Natalie seine Tochter ist. Die Erziehung der beiden fällt dann in den unmittelbaren Aufgabenbereich des Freiherrn, ohne dass er deswegen den Gedanken an eine Vermählung seiner Kinder aufgeben müsste. Die nachsommerliche Gemeinschaft ist als Gesamtkunstwerk nur so möglich: als scheinbar freiwilliger Zusammenschluss leidenschaftsloser und eigentlich (biologisch) voneinander vollkommen unabhängiger Personen. Dinge werden, wie Heinz Drügh festhält, im Nachsommer »mit dem Ziel ihrer Zusammenfügung, ihrer Vereinigung zu einem umfassenden Ganzen gesammelt«38. Zur Bilder- und Steinesammlung Risachs kommt schließlich eine ›Familiensammlung‹ hinzu, in der Heinrich ein komplettierendes Element ist. Sammlungen implizieren, so Christian Begemann, »den Anspruch auf Abbildung von Totalität«39 – die einzelnen Mitglieder der Familie werden damit zu Zeichen für ein harmonisches Ganzes, das sie immer und in erster Linie bedeuten.40 Statt genetischer Prägung teilen sie am Ende ihres Bildungsweges den diskursiven Kanon Risachs, auf dessen Vermittlung er besonderen Wert legen muss, weil sie den Grundstein für die Struktur seiner Familie legt.41 Ursula Naumann formuliert, Heinrich sei »für die ihm vermittelten Inhalte bloßes Gefäß, jederzeit mit dem Aufgenommenen identisch«42. Die Harmonie unter den Rosenhäusern verblasst mit diesem Gedanken zum rein textuellen Verfahren einer Erzählung, die einer auf »Konfliktvermeidung zielenden Idealkonstruktion«43 huldigt: Heinrichs Beteuerung seiner Gleichgesinntheit, der man – ähnlich formuliert – ebenso oft im Roman begegnet wie dem zufriedenen Einverständnis der gesamten Rosenhaus-
38 Drügh, S. 273. Zu Sammlungen im Nachsommer vgl. ausführlich Katharina Grätz: Der Nachsommer. In: Grätz: Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe. Heidelberg 2006, S. 214–248. 39 Begemann, S. 333. 40 Vgl. auch Drügh, S. 274: »Risachs Sammeln erweist sich als ritueller Versuch der Wiederherstellung, als Zusammenfügung der Dinge, wie sie ihm auf menschlichem, genauer: bürgerlichem Terrain im Hinblick auf die Gründung einer Familie, versagt geblieben ist.« 41 Vgl. auch Saße, S. 216 f.: »Heinrich und Natalie fügen sich vollständig in den harmonischen Kosmos Risachs. Hierbei kommt es nicht zu einem Ausgleich von Ich und Welt, sondern das Ich wird in eine Welt integriert, die schon vorab ein störungsfreier Raum ist, in dem alles mit allem in einen ›stimmigen‹ Zusammenhang gebracht wurde.« 42 Ursula Naumann: Der Nachsommer. In: Naumann: Adalbert Stifter. Stuttgart 1979, S. 39–45, hier S. 41; zur Erzählstimme im Nachsommer siehe auch Margret Walter-Schneider: Das Unzulängliche ist das Angemessene. Über die Erzählerfigur in Stifters Nachsommer. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 34 (1990), S. 317–342. 43 Borchmeyer, S. 240.
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›Familie‹, steht nicht für einen dialogisch gewonnenen Konsens sondern deutet auf die von vornherein festgelegte Echoqualität seiner Erzählstimme.44
Heinrich Drendorf hat seinen Platz getauscht oder zumindest einen weiteren eingenommen: Er ist nicht mehr (nur) Sohn seines genetischen Vaters, sondern Teil einer Familie, die von genetischen Banden nichts wissen will. Die Position des Vaters kann für die Figur Heinrich doppelt besetzt werden.
1.6 Komplementäre oder konkurrierende Väter: »mein Freund als mein Nebenbuhler«45 Problematisch muss für das ›System Risach‹ bleiben, dass Heinrichs Vater – anders als der Vater Natalies – noch lebt und damit als zweite Vaterstimme in die Erziehung des nun gemeinsamen Sohnes einzugreifen berechtigt ist.46 Tatsächlich ist die Narration des Verhältnisses zwischen dem alten Drendorf und Gustav von Risach – ähnlich wie diejenige der gewaltsam durchgeführten landschaftsarchitektonischen Projekte Risachs – nicht ganz zu glätten. Die Tatsache, dass die Rosenhaus-Familie eine Setzung ist, die Heinrichs Ursprungsfamilie in ihrer Legitimation tendenziell bedroht, wird an keiner Stelle explizit zum Thema gemacht. Hin und wieder aber tun sich Bruchstellen in Stifters Text auf, die von einem ›Kampf der Väter‹ zeugen und die Natürlichkeit der Rosenhaus-Konstruktion in Zweifel ziehen. Grundsätzlich und zunächst einmal kann der alte Drendorf die Erziehungsmaßnahmen Risachs nur billigen – betont Heinrich doch von Anfang an die Ähnlichkeiten zwischen seinen beiden Vätern. Schon der erste Blick in Risachs Garten erinnert ihn daher »an den[jenigen] meiner Eltern bei dem Vorstadthause« (GW 4,1, S. 60).47 Drendorf und Risach gleichen einander in vielen Bereichen. Wo keine Gleichheit vorliegt, unterstreicht der Text Züge von Komplementarität. Die
44 Blasberg, S. 343 f. 45 GW 4,3, S. 268. 46 Hier widerspreche ich den Positionen Dieter Borchmeyers und Klaus-Detlef Müllers, die in der Personenkonstellation am Ende des Textes eine »ideale[ ] Großfamilie« (Müller, S. 226) lesen, »welche die Intimität der Kleinfamilie auf eine größere Gruppe ausdehnt« (Borchmeyer, S. 253). 47 Vgl. auch GW 4,1, S. 54: »Das Zimmer enthielt nehmlich einen schön getäfelten Fußboden, wie ich nie einen gleichen gesehen hatte. Es war beinahe ein Teppich aus Holz. Ich konnte das Ding nicht genug bewundern. Man hatte lauter Holzgattungen in ihren natürlichen Farben zusammengesezt, und sie in ein Ganzes von Zeichnungen gebracht. Da ich von den Geräthen meines Vaters her an solche Dinge gewohnt war, und sie etwas zu beurtheilen verstand, sah ich ein,
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Kunstsammlungen der Väter ergänzen einander dort, wo sie sich nicht ohnehin gleichen.48 Während Risach die marmorne Statue als eines seiner Schmuckstücke sein Eigen nennt, Drendorf sen. mit neu gefertigten Möbeln im ›alten Stil‹ versorgt und die fehlenden Ergänzungen zu seinen Wandverkleidungen anfertigen lässt, besitzt Heinrichs Vater die wertvollere Bildersammlung und die geschnittenen Steine, die der Freiherr als »auserlesen« anerkennt: »[D]enen hätte er nichts Gleiches entgegen zu stellen es müßte nur das Marmorstandbild sein« (GW 4,3, S. 253). Heinrich kann mit Blick auf die Sammlungen, denen innerhalb dieser Gemeinschaft ästhetischer Positionen die Funktion zukommt, zentrale Werte zu tradieren, getrost Kind zweier Väter sein. So willigt dann auch sein Vater scheinbar widerspruchslos in das Risach’sche Adoptionsverfahren ein: »Die schöneren Eigenschaften, die eine Zukunft gewähren,« sagte mein Vater, »hat er von euch gebracht, wir haben es wohl gesehen, und haben ihn darum immer mehr geliebt, ihr habt ihn gebildet und veredelt.« (GW 4,3, S. 260)
Nichtsdestotrotz finden sich Zeichen von väterlicher Konkurrenz und Nebenbuhlerei in Heinrichs Erzählung. Nach jedem Aufenthalt im Rosenhaus berichtet Heinrich seiner ›Ursprungsfamilie‹ von seinem »Gastfreund«. Der Vater reagiert regelmäßig mit dem Wunsch, die Gemeinschaft im Rosenhaus zu besuchen: Ich habe mir schon früher bei den Erzählungen von diesen Dingen vorgenommen, die Reise zu ihnen zu machen; jezt aber, da ich die Abbildungen sehe, werde ich die Reise nicht nur um so gewisser sondern auch in viel näherer Zeit machen, als es wohl sonst hätte geschehen können. (GW 4,2, S. 49)
Was ihn stets abhält, sind die alltäglichen Geschäfte eines Kaufmanns, bei denen er »nicht wissen kann, welche Umstände einzutreten vermögen, die von ihm Zeit und Handlungen fordern« (GW 4,2, S. 50). »Der alte Drendorf«, merkt Rudolf Wildbolz an, »ist ein geringer ausgestatteter Risach.«49 Anders als Risach ist er aus ökonomischen Gründen nicht in der Lage, sich ausschließlich um ästhetisches Wachstum zu kümmern. Damit kann er auf dem Gebiet der Kunstsammlerei gegen Risachs Einfluss nur verlieren. Das ist umso dramatischer, als die emotio-
daß man alles nach einem in Farben ausgeführten Plane gemacht haben mußte, welcher Plan mir selber wie ein Meisterstück erschien.« 48 Vgl. McIsaac, S. 281: »We should not overlook the fact that his aesthetic experience derives almost exclusively from the nearly identical collections his father and Risach maintain.« 49 Rudolf Wildbolz: Langeweile und Faszination. Stuttgart u. a. 1976, S. 98.
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nalen Bindungserlebnisse zum gemeinsamen Sohn Heinrich ausschließlich im Kontext dieser Sammlungen stehen. Zwischen Vater Drendorf und seinem Sohn kommt es, nachdem Heinrich Interesse an seinen Bildern zeigt, zu einer deutlichen »Annäherung« (GW 4,2, S. 63–148). Allerdings teilt Heinrich Erlebnisse dieser Art nicht nur exklusiv mit seinem leiblichen Vater. Auch Risach kann er, wie gezeigt, nur näher kommen, wenn er dessen ästhetische Gebote als unhintergehbar akzeptiert. Dass Heinrich »wahrhaftig« (GW 4,2, S. 76) ist, weiß Risach erst mit Sicherheit, nachdem der Ziehsohn die Schönheit der Marmorstatue zu schätzen gelernt hat. Zwischen Risach und Drendorf etabliert sich notwendigerweise ein Konkurrenzverhältnis. Beide Väter überreichen der Braut des Sohnes deshalb während der Hochzeitsfeier Schmuckstücke. Risach versteht den diesbezüglichen Vorstoß Drendorfs als klare Aufforderung – »da mein Freund als mein Nebenbuhler aufgetreten ist« (GW 4,3, S. 268), lässt auch er seinen Schmuck von der Hochzeitsgesellschaft begutachten. Der Wettbewerb der Väter geht »unentschieden« (GW 4,3, S. 270) aus. Ähnlich wie die Sammlungen der Väter sind auch ihre Schmuckstücke komplementär zueinander: »War der Diamantschmuck wie fromm erschienen, so erschien der Smaragdschmuck wie heldenartig. Keiner erhielt den Preis. Risach und der Vater stimmten selber überein.« (GW 4,3, S. 269) Mit dem Ende der Konkurrenz um den Schmuck der Braut endet der Wettbewerb der Väter aber noch nicht: »Da heute unser Wettkampf unentschieden geblieben ist,« sagte Risach zu meinem Vater, »so wollen wir nun sehen, wer mit geringerem Aufwande seinen Siz zu einem größeren Kunstwerke machen kann, du deinen Drenhof, oder wenn du ihn lieber Gusterhof nennen willst, oder ich meinen Asperhof.« (GW 4,3, S. 270)
Für das Funktionieren der Rosenhaus-Familie ist die Harmonie ihrer Mitglieder allerdings zu wichtig, als dass sie einem Konkurrenzkampf der Väter geopfert werden könnte. Der Wettbewerb zwischen Drendorf und Risach muss daher kaschiert werden. Tatsächlich löst Risach das angedrohte Konkurrieren in dem Versprechen auf, Drendorf bei der Gestaltung seines Hofes zu unterstützen. Von der Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzungen zwischen den zwei Vätern eines Sohnes zeugen nur noch kriegerische Metaphern: »Wenn es uns im Asperhofe an Arbeit fehlt, so werden wir in den Drenhof hinüber geliehen,« sagte Eustach. »Auch dann, wenn wir hier Arbeit haben,« erwiederte Risach, »ich will dem Feinde Waffen liefern.« (GW 4,3, S. 270; Hervorhebung AM)
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1.7 Familie und Mythos im Nachsommer? Stifters Erzählung votiert für Strukturen, die sich die klassische Kernfamilie zur Vorlage nehmen:50 Die Vorstellung des Nachsommer-Textes, einer feindlich gesinnten Umwelt mit der Familie eine in sich abgeschlossene Gemeinschaft entgegenzustellen, teilt der Text mit zeitgenössischen Theoretikern wie Wilhelm Heinrich Riehl. Heinrichs Berichte über Ausflüge in die Stadt zeigen deutlich seine Skepsis gegenüber einem »Außen« der Familiengemeinschaft auf dem Land: Das Gewimmel der Leute in den Gassen, das Herumgehen gepuzter Menschen in den Baumgängen des grünen Plazes zwischen der Stadt und den Vorstädten, das Fahren der Wägen und ihr Rollen auf den mit Steinwürfeln gepflasterten Straßen, und endlich, als ich in die Stadt kam, die schönen Waarenauslagen und das Ansehnliche der Gebäude befremdeten und beengten mich beinahe als ein Gegensaz zu meinem Landaufenthalte […]. (GW 4,1, S. 181)
Darüber hinaus herrscht – auch hier ist Stifter d’accord mit Riehl und dem traditionellen kernfamiliären Modell – im Rosenhaus und im Sternenhof die Binarität der Geschlechter, die sowohl Vater- als auch Mutterrollen unverzichtbar macht. Natalie lebt zwar bei ihrer Mutter, Mathilde beklagt aber ihren oft ›männerlosen‹ Alltag, den sie deutlich als ihrem Geschlecht nicht entsprechend markiert: Mathilde hatte einmal, da ich sie im Sternenhofe besuchte, zu mir gesagt, das Leben der Frauen sei ein beschränktes und abhängiges, sie und Natalie hätten den Halt von Verwandten verloren, sie müßten Manches aus sich schöpfen wie ein Mann, und in dem Widerscheine ihrer Freunde leben. Das sei ihre Lage, sie daure ihrer Natur nach fort und gehe ihrer Entwicklung entgegen. (GW 4,3, S. 281)
50 Das Ideal des »ganzen Hauses« als historischer Vorläufer der institutionalisierten Kernfamilie ruft Risach zwar auf, hebt aber gleichzeitig hervor, dass eine solche soziale Struktur nicht (mehr) realisierbar sei: »Es ist in der Tat sehr zu bedauern, daß die alte Sitte abgekommen ist, daß der Herr des Hauses zugleich mit den Seinigen und seinem Gesinde beim Mahle sitzt. Die Dienstleute gehören auf diese Weise zu der Familie, sie dienen oft lebenslang in demselben Hause, der Herr lebt mit ihnen ein angenehmes, gemeinschaftliches Leben, und weil alles, was im Staate und in der Menschlichkeit gut ist, von der Familie kömmt, so werden sie nicht bloß gute Dienstleute, die den Dienst lieben, sondern leicht auch gute Menschen, die in einfacher Frömmigkeit an dem Hause wie an einer unverrückbaren Kirche hängen, und denen der Herr ein zuverlässiger Freund ist. Seit sie aber von ihm getrennt sind, für die Arbeit bezahlt werden, und abgesondert ihre Nahrung erhalten, gehören sie nicht zu ihm, nicht zu seinem Kinde, haben andere Zwecke […].« (GW 4,1, S. 135 f.) Die Familienform des Nachsommers ist bereits die Kleinfamilie.
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Das Paar gestaltet die beiden Höfe letztlich aber gemeinsam, Besuche und Gegenbesuche sind an der Tagesordnung: So wie Mathilde in dem Rosenhause um den weiblichen Antheil des Hauswesens sich bekümmert, alles, was dahin einschlug, besehen, und Anleitungen zu Verbesserungen gegeben hatte: so that es mein Gastfreund in dem Sternenhofe mit allem was auf die äußere Verwaltung des Besizes Bezug hatte, worin er mehr Erfahrung zu haben schien als Mathilde. (GW 4,1, S. 306)
Dass Familiengründung notgedrungen mit dem Institut der Ehe einhergehen muss, verneint der Text jedoch. Im Gegenteil liegt der Gründungsmythos der Nachsommerer ja gerade im Nicht-Zustandekommen der Ehe zwischen Mathilde und Gustav von Risach.51 Das impliziert selbstverständlich auch die Abwesenheit von Sexualität und Blutsverwandtschaft. Die Protagonisten des Nachsommers teilen statt biologischer Gemeinsamkeiten eine spezifische Gesinnung, deren Symptom die Einsicht in den Wert und die Beschaffenheit der Schönheit ist. »Das Leben, das fortdauert«, schreibt Christian Begemann, »ist das der Art, also der Familie, ist das von gleich-artigen und als solchen austauschbaren Teilchen. Als besonderes ist das Ich unrettbar, aber in seiner Gleichheit mit Ahnen und Nachkommen geht von ihm gewissermaßen nichts verloren.«52 Ähnlich wie seine Kunstwerke modelliert Risach den Strom seiner (rein ideellen) Nachkommen, in der Hoffnung, die ihnen zugrundeliegende Idee möge die Zeit überdauern. Der Preis, den auch die Strukturen der Rosenhaus-Gemeinschaft und ihre »Exzesse[ ] der Konfliktlosigkeit«53 für den Einzelnen in seiner Individualität unbestreitbar haben, steht auf einem anderen Blatt. Insbesondere Vaterschaft gerät im Kontext dieser ideellen Fortpflanzung in legitimatorische Schwierigkeiten. Heinrichs Väter sind innerhalb ihres jeweiligen Systems unersetzbar – die Systeme selbst aber erweisen sich als gegeneinander austauschbar bzw. lösen einander ab. Die Rolle des Vaters, der mit dem Sohn dieselben Gene teilt, gilt nicht als einmalig gesichert: Wahlverwandtschaftliche Bezüge ersetzen die Blutsbande. Das problemlose Fehlen eines Vaters kann der Text nicht denken – Natalie ist schließlich nach dem Tod ihres leiblichen Vaters auf die Adoption durch Gustav von Risach angewiesen. Stifter lässt Risach als
51 In diesem Zusammenhang wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Natalie und Heinrich unter gewissermaßen ›bereinigten‹ Bedingungen nachzuholen haben, was Risach und Ma thilde versagt geblieben ist (zuletzt Jochen Berendes: Nachlaß zu Lebzeiten: Der Nachsommer. In: Berendes: Ironie – Komik – Skepsis. Studien zum Werk Adalbert Stifters. Tübingen 2009, S. 321–369, insbes. S. 361 f., auch Saße, S. 219). 52 Begemann, S. 46. 53 Begemann, S. 349.
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Vater in seinem Text aber sogar noch weiter ›expandieren‹, verschafft der Vaterrolle insgesamt eine bemerkenswerte Flexibilität und Fragmentierbarkeit. So ist es möglich, dass Heinrich zwar einen biologischen Vater hat, aber – und darin liegt ein kleiner Familienskandal – er genügt ihm nicht. Die Stelle des Vaters ist hier doppelt besetzt. Der Nachsommer erzählt die Geschichte einer Familien-Bildung, in deren Zentrum Heinrich ein zweites Mal zum Sohn gemacht wird. Die Möglichkeit der Adoption Heinrichs von einem zweiten Vater noch zu Lebzeiten des leiblichen Vaters ist nur plausibel, wenn man sich vor Augen hält, dass die beiden Vaterfiguren in ihrem Buhlen um den Sohn entweder Gleiches oder Komplementäres zur Verfügung stellen. Heinrich muss sich nicht entscheiden, denn seine Väter widersprechen einander nicht. In Bezug auf den Bildungsweg des Sohnes kommen sie einander nicht in die Quere, sondern reichen sich gewissermaßen die Hände: Wo die Sammlung des einen aufhört, beginnt die des anderen. Die Konkurrenz um eine eventuell exklusive Bindung zum Sohn löst der Text auf in der Ähnlichkeit der beiden väterlichen Sammlungen und der Gewissheit der beiden Väter, dasselbe erzieherische Ideal zu verfolgen. Mit dem Ergebnis sind Drendorf und Risach gleichermaßen zufrieden: Heinrichs »Selbst hat sich entwickelt, und aller Umgang, der ihm zu Theil geworden […], hat geholfen« (GW 4,3, S. 260). Jenseits des tradierten kleinfamiliären Mythos, der Ehelichkeit und Leiblichkeit proklamiert, rekurriert das Nachsommersystem auf seine eigenen Mythen. Es verspricht letztlich sogar größere Stabilität als die Familie der Blutsverwandten, weil der Text ihre Mitglieder in einem System der Kohärenz aneinander bindet, das – zumindest strukturell – nichts Geringeres als Unsterblichkeit verspricht. Dass sich im Rosenhaus nichts mehr »ändert, alles […] seine endgültige Gestalt erlangt«54 hat, entzieht auch den familiären Strukturen jede Historizität. Die Familie ist so »auf Dauer gestellt«55, ein »Bündnis über die Generationsgrenzen hinweg und gegen die individuelle Vergänglichkeit«56.
54 Begemann, S. 337. 55 Saße, S. 231. 56 Wolfgang Matz: Gewalt des Gewordenen. Adalbert Stifters Werk zwischen Idylle und Angst. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 63 (1989), S. 715–750, hier S. 727 f.; Sebald spricht von dem Versuch einer »Auslösung aus der Unheimlichkeit der Zeit überhaupt« (Sebald, S. 23).
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2 Subversion des Bürgerlichen: Brigitta 2.1 Vertraute Kontexte Werkchronologisch entsteht Brigitta, »Stifters ungarischer Familienroman«57, vor dem Nachsommer. Die inhaltlichen Ähnlichkeiten zwischen den Texten sind kaum zu übersehen:58 Brigitta und Stephan sind einen Großteil der erzählten Zeit über wie Gustav Risach und Mathilde ein Beispiel für ein living apart together des 19. Jahrhunderts. Beide Paare widmen sich außerdem der Kultivierung der sie umgebenden Landschaften, ihrer gemeinsamen Geschichte sind jeweils katastrophale Abgründe eingeschrieben, die im aktuellen biographischen Kontext bewältigt werden müssen. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass der Nachsommer gegenüber Brigitta poetologisch eine Radikalisierung darstellt. Der spätere Roman verabschiedet das »besondere Subjekt mit seinen willkürlichen Wünschen, Strebungen und Affekten«59, das Stifters Texten immer auch suspekt ist. Übrig bleibt ein »Konzept der Desubjektivierung und Entindividualisierung«60, das in Brigitta so sicherlich noch nicht haltbar ist, allenfalls seinen Anfang nimmt.61 Liest man die Texte hingegen mit Blick auf ihren Skeptizismus bezüglich kernfamiliärer Strukturen, erscheint die Haltung der frühen Novelle als weitaus radikaler. Sie stellt, das werde ich im Folgenden zeigen, genauso wie der Nachsommer die Kategorie der Blutsverwandtschaft für den Mythos der Kernfamilie in Frage, kritisiert darüber hinaus aber auch das Mythem der Zweigeschlechtlichkeit des Elternpaars. Brigitta erzählt vom zweimaligen Entstehen ein und derselben Familie. Die genetische Verwandtschaft zwischen den Familienmitgliedern ist zwar gegeben, wird aber in ihrer Bedeutung für den Zusammenhalt der familiären Gruppe marginalisiert. Die ›hässliche‹ Brigitta und der ›schöne‹ Stephan werden nach ihrer Hochzeit Eltern von Gustav – Stephan betrügt dann allerdings Brigitta mit der schönen Gabriele. Die aus diesem Grund erfolgende Scheidung macht Brigitta
57 Brigitte Prutti: Künstliche Paradiese, strömende Seelen: Zur Semantik des Flüssigen in Stifters Brigitta. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 15 (2008), S. 23–45, hier S. 40. 58 Christian Begemann sieht im Nachsommer »eine Art ›Remake‹ der ›Brigitta‹-Problematik« (Begemann, S. 322). Grundlegend zum Vergleich der beiden Texte: Gunter Hertling: Adalbert Stifters Brigitta (1843) als Vor-»Studie« zur »Erzählung« seiner Reife Der Nachsommer (1857). In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 9/10 (2002/2003), S. 19–54. 59 Begemann, S. 322. 60 Begemann, S. 323. 61 Zur Diskussion vgl. Begemann, S. 260–291.
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zur alleinerziehenden Mutter: Sie ist künftig »im strengen Sinne des Wortes ganz allein mit ihrem Kinde« (GW 1,5, S. 460). Brigitta beginnt mit der Bewirtschaftung eines Landgutes in der ungarischen Puszta, Stephan folgt ihr nach. Bis zum Ende der Novelle, das die Wiederaufnahme des gemeinsamen Familienlebens erzählt, leben die Gatten zwar in Freundschaft, aber getrennt voneinander. Gustav weiß nicht, dass Stephan sein Vater ist. Der Umgang der Eltern ist innig, sie sorgen sich um den jeweils anderen, eheliche und familiäre Gemeinschaft finden trotzdem nicht statt: Der Major [Stephan Murai, AM] sagte einmal zu mir, daß sie in einer Stunde, wo sie, wie es selten zwischen Menschen geschieht, mit einander inniger über sich selber sprachen, festgesetzt haben, daß Freundschaft der schönsten Art, daß Aufrichtigkeit, daß gleiches Streben und Mittheilung zwischen ihnen herrschen sollte, aber weiter nichts; an diesem sittlich festen Altare wollen sie stehen bleiben, vielleicht glücklich bis zum Lebensende – sie wollen keine Frage weiter an das Schicksal thun, daß es keinen Stachel habe, und nicht wieder tükisch sein möge. Dies sei nun schon mehrere Jahre so, und werde so bleiben. (GW 1,5, S. 467)
Erst am Ende des Textes kommt es zum Wiederaufleben der familiären Gemeinschaft. Die verwandtschaftliche Beziehung ihrer Protagonisten scheint konventionell: Der Major Stephan Murai ist der Gatte Brigittas, Gustav deren gemeinsamer leiblicher Sohn. Ähnlich wie im Nachsommer ist es auch hier aber gerade nicht die Blutsverwandtschaft mit dem Kind, die die Stabilität der Familie garantiert. Der Diskurs um die Familie ist ebenso wie im Nachsommer eingebettet in umfassendere Kontexte aus den Bereichen Ästhetik und Natur bzw. Kultivierung. Der Erzähler lernt Murai in der zweiten Hälfte seines, Murais, Leben kennen. Seine aktuelle Lebensweise nennt der Major selbst mit der Geste der Altersweisheit ›gut‹.62 Inhaltlich besteht dieses ethisch Gute in erster Linie in der Kultivierung des Öden bzw. in der Entdeckung des Schönen im Hässlichen.63 Die Güter Brigittas und Stephans liegen inmitten karger Wüstenlandschaften, deren Potential erst durch das Know-how der Wirtschafter gehoben werden kann. Der Major glaubt,
62 Vgl. die Phantasie des Majors, »so Hunderttausende zu leiten, und sie zum Guten zu führen« (GW 1,5, S. 438). 63 Walter Haußmann weist zu Recht darauf hin, dass in Stifters Text »nicht die Fähigkeit des Denkens oder Sprechens, nicht das Unterscheiden zwischen Gut und Böse […] den Menschen [macht], sondern das Empfinden des Schönen« (Walter Haußmann: Adalbert Stifter, Brigitta. In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 3 [1951], S. 30–48, hier S. 36).
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daß man es so mit dem Boden eines Landes beginnen müsse. Unsere Verfassung, unsere Geschichte ist sehr alt, aber noch vieles ist zu thun; wir sind in ihr, gleichsam wie eine Blume in einem Gedenkbuche aufgehoben worden. Dieses weite Land ist ein größeres Kleinod, als man denken mag, aber es muß noch immer mehr gefaßt werden. Die ganze Welt kömmt in ein Ringen sich nutzbar zu machen, und wir müssen mit. Welcher Blüthe und Schönheit ist vorerst noch der Körper dieses Landes fähig, und beide müssen hervorgezogen werden. Ihr müßt es ja gesehen haben, da Ihr zu mir kamt. Diese Haiden sind der feinste schwarze Ackergrund […]. (GW 1,5, S. 436)
So habe man auch vor einigen Jahren einen Bund geschlossen, den Landbau und die Hervorrufung der ursprünglichen Erzeugnisse dadurch zu heben, daß man dies zuerst in dem besten Maßstabe auf den eigenen Besitzungen thue, und so den andern mit einem Beispiele vorangehe, namentlich wenn sie sehen, daß Wohlhabenheit und besseres Leben sich aus dem Dinge entwickle. (GW 1,5, S. 441)
Diesseits und jenseits der paradiesischen Inselgüter herrscht die Wüste, die sich immer gleich bleibt, keine Orientierung bietet und vor deren Hintergrund menschliches Leben nicht einmal akustisch in Erscheinung treten kann: »Wir ritten an denselben unzähligen grauen Steinen vorbei, wie ich sie heute den ganzen Tag zu Tausenden gezählt habe«, berichtet der Erzähler anfangs. »Sie glitten mit falschem Lichte auf dem dunklen Boden hinter mich, und weil wir eigentlich auf trocknem sehr festen Moore ritten, hörte ich keinen Hufschlag unserer Pferde […].« (GW 1,5, S. 421) Kultivierung ist deshalb die oberste Aufgabe und Pflicht des Einzelnen, weil der Text sie zur Grundbedingung menschlichen Daseins überhaupt macht. Die Natur legitimiert die Anstrengungen ihrer Bewirtschafter, denn sie kommt, genau wie im Nachsommer, scheinbar unter der Hand des Menschen erst zu sich selbst: Als wir hinaus auf die Felder kamen, wogten sie im dunkelsten Grün. Nur in England habe ich gleiches gesehen; aber dort, schien es mir, war es zarter und weichlicher, während dieses hier kräftiger und sonnedurchdrungener erschien. (GW 1,5, S. 428)
Die Schönheit der Natur, die erst in kultivierender Leistung zutage tritt, findet ihre Parallele in der Schönheit eines vermeintlich hässlichen Menschen, die erkannt, sozusagen ›gehoben‹ werden muss. Schönheit werde, mit den Worten des Erzählers, oft »nicht gesehen, weil sie in der Wüste ist, oder weil das rechte Auge nicht gekommen ist« (GW 1,5, S. 445 f.). Für die junge Brigitta habe man sich schon früh jemanden wünschen müssen, der »für die verhüllte Seele ein Auge« (GW 1,5, S. 448) hat und ihre Schönheit sieht. Das gelingt schließlich Stephan, dem der Erzähler einen »empfindlichen Schönheitssinn« (GW 1,5, S. 415) zuschreibt.
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In der hässlichen Brigitta erkennt er, topisch in einem ›Love at first sight‹-Moment erzählt, seine künftige Gattin: »Ich habe dich erkannt. Da ich dich das erste Mal sah, wußte ich schon, daß mir dieses Weib nicht gleichgültig bleiben werde […].« (GW 1,5, S. 456) Murai wird damit in seiner Jugend zur Erlöserfigur für Brigitta, weil es ihm gelingt, ihre Schönheit zu entdecken: Einmal war [Brigitta] wieder bei dem Oheime, und da sie wegen der großen Hitze, die in dem Saale herrschte, auf den Balkon, dessen Thüren immer offen standen, hinaus getreten war, und dichte Nacht um sie lag: vernahm sie seinen Tritt zu ihr, und sah dann auch in der Dunkelheit, daß er sich neben sie stellte. Er sprach nichts, als gewöhnliche Dinge, aber wenn man auf seine Stimme horchte, so war es, als sei etwas Furchtsames in derselben. Er lobte die Nacht, und sagte, daß man ihr Unrecht thue, wenn man sie schelte, da sie doch so schön und milde sei, sie allein umhülle, sänftige und beruhige das Herz. Dann schwieg er, und sie schwieg auch. (GW 1,5, S. 452; Hervorhebung AM)
Die hässliche Frau ist im Text das Pendant zur öden Natur: Beide sind abhängig von äußerlicher Zuwendung, beide entfalten ihr Potential nur, wenn sie ›gesehen‹ und ›gut behandelt‹ werden. Gut und richtig handelt, wer sich diesen Blick zu eigen macht. Es ist Brigitta, die mit der Kultivierung der Puszta beginnt, Stephan lernt die Prinzipien der Landschaftsarchitektur von ihr. Er wird unter Brigittas Anleitung zum ›Kultivierer‹ und Bewirtschafter, damit fest integriert in die Prinzipien des Umgangs mit der öden Natur – und den hässlichen Menschen. Die Instabilität und das latente Bedrohtsein dieses Prinzips zeigt der Umgang mit Wölfen, die aus dem Garten Brigittas, in dem Rehe ungestört leben sollen, gewaltsam verbannt werden müssen: [Brigitta] führte uns in den Park, der vor zehn Jahren ein wüster Eichenwald gewesen war; jetzt gingen Wege durch, flossen eingehegte Quellen, und wandelten Rehe. Sie hatte durch unsägliche Ausdauer um den ungeheuren Umfang desselben eine hohe Mauer gegen die Wölfe aufführen lassen. Das Geld hiezu zog sie langsam aus ihrem Viehstande, und aus den Maisfeldern, deren Pflege sie sehr emporgebracht hatte. Als die Einhegung fertig war, ging man in einem geschlossenen Jagen Schritt für Schritt durch jede Stelle des Parkes, um zu sehen, ob man nicht etwa einen Wolf zu künftiger Brut mit eingemauert hatte. Aber es war keiner zugegen. Dann erst wurden Rehe in die Einhegung gesetzt, und für Anderes Vorkehrungen gemacht. (GW 1,5, S. 463)
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Wölfe müssen in der erzählten Welt ihr Dasein außerhalb der kultivierten Inseln fristen, innerhalb erlaubt der Major nur domestizierte Hunde, deren Gezähmtsein der Text an vielen Stellen deutlich hervorhebt.64 Dem Prinzip der Kultivierung, dem sich beide Gatten zum Ende des Textes verschrieben haben, geht – auch hier gibt es Parallelen zum Nachsommer – ein Erlebnis voraus, in dem die gefürchtete Wildheit als zerstörerisch wahrgenommen wurde: Stephans Seitensprung mit der schönen Gabriele beendet die Ehe zwischen Brigitta und Stephan. Der Betrug Stephans ist nicht nur ein Verrat an Brigitta als seiner Ehefrau. Mit seiner Verführbarkeit durch die Schönheit Gabrieles zeigt sich Stephan dem ins Ethische erhöhte Prinzip der Ästhetik durch Kultivierung unwürdig. Gabriele ist ein wildes Geschöpf, das ihr Vater auf dem Lande erzog, wo er ihr alle und jede Freiheit ließ, weil er meinte, daß sie sich nur so am naturgemäßesten entfalte, und nicht zu einer Puppe gerathe, wie er sie nicht leiden konnte. (GW 1,5, S. 458)
Diese Schönheit ist aber nicht die Schönheit Brigittas, sie ist eben nicht Ergebnis einer spezifischen ästhetischen Leistung des Blicks oder der Erziehung. Gabriele ist »wild« wie die Wölfe auf Brigittas Landgut. Die Familie wird, wie im Nachsommer, zusammengehalten von Prinzipien, die außerhalb ihrer selbst liegen und ihr gleichzeitig inhärent sein müssen. Familien sind soziale Strukturen, deren Zusammenhalt sich nicht natürlich und selbstverständlich ergibt. Verstößt Murai gegen die ethisch-ästhetischen Prinzipien Brigittas, wird er aus der Familie ausgeschlossen. Erst als er seinen Sohn buchstäblich aus den Fängen der Wölfe rettet (GW 1,5, S. 468 ff.), damit ein klares Bekenntnis ablegt gegen die Wildheit, kann er Gustavs Vater werden und bleiben. Blutsverwandtschaft ist damit für das Zustandekommen familiärer Strukturen schlicht und ergreifend nicht genug – und damit hier genauso marginalisiert wie im Nachsommer.
64 »Wir ritten von der großen sanften Dogge begleitet in den Besitzungen des Majors herum.« (GW 1,5, S. 428) An anderer Stelle heißt es: »Ich hatte in der That, da wir bei dem Hirtenfeuer waren, die ungemein großen, schlanken, zottigen Hunde bewundert, derlei ich auf meiner ganzen Wanderung nicht angetroffen habe, und die so sittsam neben und unter uns am Feuer herum saßen, als verstünden sie etwas von der Verhandlung und nähmen daran Theil.« (GW 1,5, S. 434) Die Hunde der Hirten sind vielleicht noch am wenigsten ›Opfer‹ dieser Zähmung. Sie sind »nicht immer so zahm und geduldig, wie Ihr sie heute gesehen habt, sondern sie würden Euch strenge mitfahren« (GW 1,5, S. 434). Auch diese Gefahr aber lässt sich bannen: »Ihr müßt es mir vorher sagen, daß ich Euch hingeleite, oder wenn ich nicht kann, daß ich Euch einen bekannten Hirten mitgebe, der Euch führe, und den die Hunde lieben.« (GW 1,5, S. 434)
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2.2 Brigittas Gendertrouble: »she becomes a heroine by becoming a hero«65 Gleichzeitig und darüber hinaus initiiert der Text durch die Körper und Körperzeichen seiner Protagonisten Brigitta und Stephan ein Spiel mit den Kategorien des Geschlechts und des Begehrens, das auch die geschlechtermetaphysische Grundierung der Kleinfamilie in Zweifel zieht. Die Familiengeschichte beginnt, als der junge Stephan, den der Erzähler als ausnehmend schönen Mann beschreibt,66 Brigitta heiratet, in deren Äußerem der Erzähler kaum Liebreiz erkennen kann. Brigitta ist ein »häßliche[s] Mädchen[ ]« (GW 1,5, S. 440), das sich, dieser Hässlichkeit wegen, schon früh isoliert sieht.67 Die Hässlichkeit des Mädchens aber beschreibt der Text wesentlich als Abweichung innerhalb der Kategorie des sozialen Geschlechts. Schon als Kind »verdrehte [Brigitta] oft die großen wilden Augen, wie Knaben thun, die innerlich bereits dunkle Thaten spielen« (GW 1,5, S. 447) und statt der weiblich konnotierten Tätigkeiten, denen ihre Schwestern nachgehen (Musik machen, GW 1,5, S. 448), reitet Brigitta lieber, »gut und kühn, wie ein Mann« (GW 1,5, S. 448). Brigitta ist nicht Tochter der Mutter, sondern imitiert ihren Vater: Seine Bücher liest sie (GW 1,5, S. 448) und wird so zu einer »fremde[n] Pflanze« (GW 1,5, S. 448) im sozialen Gefüge. Mit Blick auf die Faszination, die von Brigitta ausgeht und die sowohl Stephan Murai als auch den Erzähler erfasst, ließe sich eine tatsächliche Hässlichkeit Brigittas sogar anzweifeln.68 Brigitta, scheint es, ist ›bloß‹ männlich, changiert jedenfalls »zwischen
65 Patricia Howe: Faces and Fortunes. Ugly Heroines in Stifter’s Brigitta, Fontane’s Schach von Wuthenow and Saar’s Sappho. In: German Life and Letters 44 (1991), S. 426–442, hier S. 431. 66 Vgl. beispielhaft GLW 1,5, S. 413: Nie habe man »einen Mann gesehen, dessen Bau und Antlitz schöner genannt werden konnte, noch einen, der dieses Aeußere edler zu tragen verstand«. 67 Schon die Bindung zur Mutter misslingt; es heißt, Brigittas »Mutter wandte, von sich selber unbemerkt, das Auge ab« (GW 1,5, S. 446). Später heißt es: Brigitta »mochte ein fantastische verstümmelte Welt in ihr Herz hinein brüten« (GW 1,5, S. 448). 68 Obwohl das Bild Brigittas, das der Erzähler in Stephans Gemächern entdeckt, das »eines häßlichen Mädchens« (GW 1,5, S. 440) zeigt, beschreibt sie der Erzähler in seiner ersten Begegnung mit ihr zwar als fremd anmutende, aber durchaus nicht als eine hässliche Frau: »Ihre Augen, schien es mir, waren noch schwärzer und glänzender, als die der Rehe, und mochten heute besonders hell strahlen, weil der Mann an ihrer Seite ging, der ihr Wirken und Schaffen zu würdigen verstand. Ihre Zähne waren schneeweiß, und der für ihre Jahre noch geschmeidige Wuchs zeugte von unverwüstlicher Kraft.« (GW 1,5, S. 464) Zur nur vermeintlichen Hässlichkeit Brigittas vgl. Stefanie Kreuzer: Zur ›unerhörten‹ Erzähldramaturgie einer realistischen Novelle. Adalbert Stifters »Brigitta« (1847). In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 6 (2007), S. 25–35, insbes. S. 26 f. Als »ärgerlichen Lesefehler« gar bezeichnet Ulrich Dittmann die Behauptung, Brigitta sei hässlich (vgl. Ulrich Dittmann: Brigitta und kein Ende. Kommentierte Randbemerkungen. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 3 [1996], S. 24–28, hier S. 28).
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II Am Ende der Biologie: Adalbert Stifters familiäre Ordnungen
den Geschlechterrollen«69. Auch als Stephan um sie wirbt, bleibt ihr Gender männlich affiziert.70 In der Nacht nach ihrem erstem Gespräch war [sie] in die Knie gesunken, wie sie es öfters zu thun gewohnt war, und saß auf ihren eigenen Füßen. Auf dem Boden neben ihr lag zufällig ein Bildchen, es war ein Kinderbildchen, auf dem dargestellt war, wie sich ein Bruder für den andern opfere. Dieses Bildchen drückte sie an ihre Lippen, daß es zerknittert und naß wurde. (GW 1,5, S. 452)
Brigitta gibt dem Werben Stephans als ein sich opfernder Bruder nach – nicht als Frau. Um diese Abweichung weiß sie. Sie könne, erläutert sie später, keine andere Liebe fordern […], als die allerhöchste. Ich weiß, daß ich häßlich bin, darum würde ich eine höhere Liebe fordern, als das schönste Mädchen dieser Erde. Ich weiß es nicht, wie hoch, aber mir ist, als sollte sie ohne Maß und Ende sein. (GW 1,5, S. 454)
Von Stephan wiederum kann der Erzähler berichten, dass seine Schönheit »mehr als einmal auch Männer betörte« (GW 1,5, S. 413).71 Die Beschreibung des Erzählers verleiht ihm zudem weibliche Züge.72 Die homo- und transsexuelle
69 Ortrud Gutjahr: Das sanfte Gesetz als psychohistorische Erzählstrategie in Adalbert Stifters Brigitta. In: Psychoanalyse und die Geschichtlichkeit von Texten. Hg. von Johannes Cremerius u. a. Würzburg 1995, S. 285–305, hier S. 296. 70 Männliche oder androgyne Grundzüge betonen in ihren Lektüren auch Ingrid Stipa (vgl. Ingrid Stipa: Die Androgynie als Abweichung von gesellschaftlichen Normen: Kleists »Marquise von O…«, Stifters »Brigitta« und George Sands »La petite Fadette«. In: Androgyn. »Jeder Mensch in sich ein Paar!?« Androgynie als Ideal geschlechtlicher Identität. Hg. von Hartmut Meesmann und Bernhard Sill. Weinheim 1994, S. 159–170, insbes. S. 164 ff.), Walter Haußmann (vgl. Haußmann, S. 42) und Claude Owen (vgl. Claude Owen: Zur Erotik in Stifters »Brigitta«. In: Österreich in Geschichte und Literatur 15 [1971], S. 106–114, insbes. S. 110), Ortrud Gutjahr (vgl. Gutjahr, S. 289) und Brigitte Prutti (vgl. Prutti, S. 24, 27). Patricia Howe weist zusätzlich darauf hin, dass Brigitta ihre soziale Vereinsamung dazu nutzt, klassisch weiblichen Rollenmustern zu entkommen: »Stephan’s departure and, in further twist of fate […], the sudden deaths of her parents, sisters and father-in-law, isolate her but also free her from society’s demands for ›feminine‹ appearance and behaviour, and from the role of a romantic heroine whose identity is submerged in that of the hero.« (Howe, S. 431) 71 Die Vermutung einer homosexuelle Begehrensstruktur Stephan Murais stellt auch Claude Owen an. Die homoerotischen Hinweise seien »auffällig, wenn nicht sogar zwingend« (Owen, S. 107). Owen sieht homoerotische Tendenzen in der Beziehung zwischen Murai und dem Erzähler (S. 109). Ähnliches vermuten Ortrud Gutjahr (vgl. Gutjahr, S. 289) und Brigitte Prutti (vgl. Prutti, S. 25). 72 Von »Lieblichkeit« ist da die Rede (GW 1,5, S. 414), auch von »sanfte[r] Hoheit« (GW 1,5, S. 413), die sich der kraftvollen Erscheinung Brigittas (vgl. GW 1,5, S. 464) entgegensetzen lässt. Vgl. auch Haußmann, S. 42.
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Grundkonstellation der neu entstehenden Familie ist damit kaum zu überlesen; andererseits versucht der Text, sie durch die Kategorie der »Brüderlichkeit« zu entsexualisieren.73 Mit der Geburt des Sohnes gerät die Familie in die Traditionslinie bürgerlichfamiliärer Topoi. Die Familie zieht sich aus der Öffentlichkeit ins Private zurück, Brigitta wird der Raum der Frau zugedacht.74 Sie »pflegte ihr Kind, Murai versah seine Geschäfte; denn der Vater hatte ihm einen Theil der Güter abgetreten, und diese verwaltete er von der Stadt aus« (GW 1,5, S. 457).75 Der bald folgende Umzug aufs Land institutionalisiert und radikalisiert diese Arbeitsteilung der Geschlechter weiter, lässt die bürgerliche Familie als Inszenierung einer intimen Choreographie der Geschlechter in ihrer idealen Form also gewissermaßen zu sich selbst kommen. Stephan sucht die ihm zugedachten, männlich konnotierten Räume allein auf, beginnt »zu wirthschaften und umzuändern, und den Rest der Zeit, der ihm übrig war, zum Jagen zu verwenden« (GW 1,5, S. 457). Brigitta weiß derweil um ihren ›Makel‹, befürchtet, Stephan könne mittlerweile wissen, »was mir fehlt« (GW 1,5, S. 457), ihre Androgynität also als problematisch erkennen. Ausgerechnet das verbürgerlichte Landleben, das auch geschlechtliche Normen inszeniert, ist schließlich der Kontext, der für Stephan und Brigitta katastrophale Störungen bereit hält: Hier »führte ihm das Schicksal ein ganz anderes Weib entgegen, als er es immer zu sehen gewohnt war« (GW 1,5, S. 457 f.). Stephan trifft bei einem seiner Ausflüge auf Gabriele, jener »Tochter eines greisen Grafen, der in der Nachbarschaft wohnte« (GW 1,5, S. 458). Gabrieles Schönheit ist »weithin berühmt« (GW 1,5, S. 458), sie ist, anders als Brigitta, ein »Mädchen, gleichsam ein Abgrund von Unbefangenheit« (GW 1,5, S. 458; Hervorhebung AM). Der junge Ehemann umarmt sie im »Uebermuth« (GW 1,5, S. 459), meidet danach zwar jeden Kontakt zu ihr, hat Brigittas Vertrauen damit jedoch verloren: Brigittas Herz aber war zu Ende. Es war ein Weltball von Scham in ihrem Busen emporgewachsen, wie sie so schwieg, und wie eine schattende Wolke in den Räumen des Hauses herum ging. (GW 1,5, S. 459)
73 Vgl. dazu auch Prutti, S. 34. 74 Vgl. Frevert, insbes. S. 156–165. 75 Christiane Baumann, beobachtet hier die »Domestikation der Frau, die mit Mutterschaft und Ehealltag Brigitta endgültig ihrer Individualität, des Dämonischen und damit auch ihres einstigen Reizes beraubt« (Christiane Baumann: Angstbewältigung und »sanftes Gesetz«. Adalbert Stifter: Brigitta [1843]. In: Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. Hg. von Winfried Freund. München 1993, S. 121–129, hier S. 128).
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Stephan verrät mit seiner Umarmung nicht nur das oben erläuterte ethische Prinzip. Sein Handeln widerspricht darüber hinaus den Strukturen des Begehrens, auf die seine Beziehung zu Brigitta aufbaut. Brigitta ist kein »Mädchen«, sie bleibt immer auch androgyn, wenn nicht gar vorwiegend männlich. Die Ehefrau behält ihren Makel, dem Ehemann keine Frau zu sein. Die Brigitta der ungarischen Puszta – und hier liegt der eigentliche bürgerlich-familiäre Skandal des Textes – bleibt der Sphäre des Männlichen zugeordnet. Zwar sieht Stephan in ihr schließlich wieder eine Frau, deren »Achtung […] mir ein größeres Glück auf dieser Welt geworden [ist], als jedes andere in meinem Leben, das ich für eines gehalten habe« (GW 1,5, S. 465). Der Erzähler aber erkennt das Genderexperiment Brigittas. Um sie herum sammeln sich in seinem Bericht »alle Arbeiter […] wie um einen Herrn« (GW 1,5, S. 418), Brigitta ist ihm eher ein »Wesen« (GW 1,5, S. 418) als eine Frau, eher ein »er« als eine »sie«. Der »Reiter«, als der er Brigitta kennen lernt, »aber war nichts anderes als ein Weib, etwa vierzig Jahre alt, welches sonderbar genug die weiten landesmäßigen Beinkleider anhatte, und auch wie ein Mann zu Pferde saß« (GW 1,5, S. 418). Zwischen Stephan und Brigitta hat sich darüber hinaus ein Kräftegleichgewicht etabliert, das sich wesentlich von jenem bürgerlichen Topos ihrer Ehe unterscheidet. Nicht mehr Brigitta ist es, die Stephan ihre »Seelenthränen« (GW 1,5, S. 452) hingibt, jetzt ist es Murai selbst, der sich Brigitta ›unterwirft‹ und die von ihr gesetzten Regeln befolgt. Dazu gehört – bis zur Familienzusammenführung am Schluss des Textes – ein respektvoller Abstand zueinander, vor allem aber auch die Lehre von der Kultivierung öder Landschaften. Dieser Diskurs erfüllt nicht zuletzt die Funktion, den Gendertrouble des Textes immer wieder aufzulösen bzw. zu kaschieren. Die Männlichkeit Brigittas ist ihre Hässlichkeit, ihre Hässlichkeit ist – und bleibt – aber auch ihre Männlichkeit. Der Text führt – scheinbar losgelöst vom »Unbehagen der Geschlechter«76 – den hässlichen Menschen und die öde Natur parallel als Bildungsaufgaben für Stephan Murai ein. Die trans- und homosexuelle Grundierung der Paarbeziehung zwischen Brigitta und Stephan kann dann auf der Ebene des Figurendiskurses unbesprochen bleiben, wird gerade so aber auch unausgesprochen lebbar. Nach dem Angriff der Wölfe liegt Gustav einige Zeit krank. Schließlich erwacht er »nach langem Schlafe« (GW 1,5, S. 471) und scheint gesund. Der Erzähler berichtet:
76 Butler.
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Aber […] auf der Stelle, wo der Major gestanden war, hatte ich ein leichtes Geräusch vernommen, und wie ich hinblickte, sah ich, daß er sich halb umgewendet hatte, und daß an seinen Wimpern zwei harte Tropfen hingen. Ich ging gegen ihn, und fragte ihn, was ihm sei. Er antwortet leise: »Ich habe kein Kind.« (GW 1,5, S. 472)
Ausgerechnet diese Äußerung, die die Kinderlosigkeit Stephan Murais denotiert und damit als Sprechakt seine Identität als Nicht-Vater schafft, ist im Text gleichzeitig der Moment, in dem die Familie wieder zusammenfindet. Brigitta mußte mit ihrem scharfen Gehöre die Worte vernommen haben; denn sie […] sagte […] nichts, als das einzige Wort: »Stephan«. […] »Nun keine Trennung mehr, Brigitta, für hier und die Ewigkeit.« (GW 1,5, S. 472)
Die Familie restituiert sich überraschend im Moment ihrer deutlichsten Verleugnung. Gustav erfährt nun, wer sein Vater ist, und die Familie entscheidet sich für ein gemeinsames Leben auf Brigittas Landgut. (GW 1,5, S. 473 f.) Der Moment der Erkenntnis am Bett des erwachten Kindes und der dazugehörige Satz bedeuten allerdings nicht den tatsächlichen Glauben an die Vaterlosigkeit oder seine performative Konstatierung. Stephan weiß ja seit Jahren um seine Vaterschaft. Die merkwürdige Anagnorisis-Szene zwischen Brigitta und Stephan, die die Familie schließlich wieder zusammenführt, wird innerhalb meiner Lektüre als Moment der Bündelung komplex ineinander verwobener inhaltlicher Ebenen lesbar. Grundsätzlich bekräftigt die Aussage Stephans performativ die Anerkennung seiner Strafe (den Entzug der gelebten Vaterschaft) und damit der Prinzipien, gegen die er mit seinem Betrug verstoßen hat. Dass Stephan Gabriele begehrt, verstößt gegen zweierlei: gegen die homosexuell konnotierte Begehrensstruktur zwischen Brigitta und Stephan und gegen den Diskurs um ethisch ›wertvolle‹ Kultivierung und Schönheit. Stephan hat sich mit Gabriela für die Wildheit entschieden – und für die Weiblichkeit. Dem Text gelingt es, die homosexuelle Begehrensstruktur im Text zu ›verkleiden‹. Stephans Anerkennung des Kultivierungsprinzips (mit dem er sich gegen das wild Schöne und gegen das Weibliche wendet) macht möglich, was im Rahmen bürgerlicher Familientopoi notwendig schief gehen musste, weil es vor allem als Abweichung vom normativen Ideal ins Auge fiel: Die männliche Brigitta und ihr Partner Stephan können gemeinsame Eltern von Gustav werden. Die Familie zwischen Brigitta und Stephan kann sich nur jenseits bürgerlicher Klischees formieren, solange wilde Weiblichkeit ihr Außen bleibt. Freilich lässt Stifters Text eine Lektüre, die eine homoerotische Komponente des Textes hebt, nicht ungebrochen zu. Brigitta trägt zwar in der Regel keine Frauenkleider – kommt Murai zu Besuch, tritt diesbezüglich ein Ausnahmefall
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ein (vgl. GW 1,5, S. 464). Das Auferstehen der bürgerlichen Familie nach der Krankheit des Sohnes ist auch eine Inszenierung männlich-weiblicher Binarität; die Namen der Protagonisten weichen, sie werden ›Mann‹ und ›Weib‹: Der Major wendete sich vollends herum – beide starrten sich eine Sekunde an – nur eine Sekunde – dann aber vorwärts tretend lag er eines Sturzes in ihren Armen, die sich mit maßloser Heftigkeit um ihn schlossen. Ich hörte nichts, als das tiefe leise Schluchzen des Mannes, wobei das Weib ihn immer fester umschlang, und immer fester an sich drückte. (GW 1,5, S. 472; Hervorhebung AM)
Der Erzähler verdankt Stephan Murai dann auch vor allem diese vordergründige Lehre ›gesunder‹, kleinfamiliärer Heilsgewissheit, dass er nämlich »nun einen Hausstand habe, daß ich eine liebe Gattin habe, für die ich wirke, daß ich nun Gut um Gut, That um That in unsern Kreis hereinziehe« (GW 1,5, S. 466). Wiederholt wurde jedoch darauf hingewiesen, dass das »Weib«, das uns Stifter zum Ende seiner Erzählung präsentiert, ein auf seine Mutterschaft zurückgeworfenes Wesen ist.77 Auch Stephan Murai scheint in dieser Konstellation seiner Sexualität und seines Begehrens beraubt.78 Das Ende der Stifterʼschen Novelle wirkt deshalb so konstruiert, und, wie Haußmann schreibt, »höchst merkwürdig«79, weil sich unter der tränenreichen, entsexualisierten Version der bürgerlichen Familie etwas anderes verbirgt. Brigitta wagt hinter dem Rücken seiner Figuren die Auflösung der Zweigeschlechtlichkeit und des heterosexuellen Begehrens, die dem Mythos der heilen Familie doch so zentral scheint.
3 Am Ende der Biologie: Familien im Nachsommer und in Brigitta Am Ende des biologischen Paradigmas sind Stifters Texte (ganz entgegen ihres epochengeschichtlichen biedermeierlichen Stigmas) als Erzählungen lesbar, die die Mytheme kleinfamiliärer Gründung, wie sie im juristischen Diskurs des 19. Jahrhunderts verhandelt werden, subvertieren. Der fundamentale Zusammenhalt der bürgerlichen Kleinfamilie wird in beiden Texten nicht durch leibliche
77 Vgl. Prutti, S. 36: Brigitta habe sich »in den transparenten Signifikanten einer idealen Mütterlichkeit verwandelt«. 78 Vgl. Owen, S. 111: »Zwar ist alle Leidenschaft aus diesem Verhältnis entwichen, dafür ist aber eine ›heimliche Innigkeit‹ und ›Achtung‹ eingetreten.« Ähnliches beschreibt Prutti: »Im Medium der empfindsamen Tränen vereinigen sich liebende Seelen statt der passionierten Körper […].« (Prutti, S. 39) 79 Haußmann, S. 45.
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Verwandtschaft garantiert. Im Nachsommer etabliert Risach seinen ästhetischen Kosmos, der all diejenigen Personen als Wahlverwandte integriert, die sich dafür geeignet zeigen. Brigittas Imperativ ist zunächst ein ähnlicher: Stephan muss lernen, das Schöne im Hässlichen zu sehen. Erst, wenn er sich dieses Prinzips würdig erweist, darf er sozialer Vater seines leiblichen Kindes werden. Eine Familie ist, ähnlich wie im Nachsommer, in allererster Linie eine ›Einigungsgemeinschaft‹. Risachs Familie behält, im Gegensatz zu Brigittas, die typisch bürgerliche Geschlechterchoreographie bei. Der Nachsommer präsentiert zwar einen ›enterotisierten‹ Raum, bleibt aber geschlechtlichen Oppositionen grundsätzlich verhaftet. Männliche und weibliche Tätigkeitsbereiche sind klar voneinander getrennt.80 Ehelichkeit ist damit zwar nicht zwangsläufig verbunden, kristallisiert sich jedoch letztlich als Ideal heraus. Mathilde und Risach sind nie verheiratet, Heinrich und Natalie, deren Beziehung das Ergebnis des Romans ist, werden es aber sein. Für das familiäre Konzept in Brigitta kann deshalb gesagt werden, dass es sich noch deutlich weiter vom bürgerlichen Kernfamilienideal löst. Stephans und Brigittas Familie ist nicht mehr bürgerlich im Sinne einer feststehenden Geschlechterchoreographie – das ethische Prinzip des ›Schönen‹ im ›Hässlichen‹ verbirgt das nur mühsam. Die geschlechtliche Identität der Eheleute und die Struktur ihres Begehrens hält der Text in der Schwebe.
80 Vgl. GW 4,1, S. 306.
III Familiensysteme: Theodor Storms Aquis submersus Über Storms Erzählung Aquis submersus wurde in der Forschungsliteratur viel gestritten. Ihr Protagonist, der Maler Johannes, ist der Vater eines gleichnamigen Sohnes, der aus einer Liebesnacht mit der adeligen (und damit für Johannes eigentlich ›verbotenen‹) Katharina hervorgegangen ist. Der Sohn ertrinkt am Ende der Novelle. Insbesondere auf die Frage nach Johannesʼ Schuld am Untergang der Familie antwortet ein Chor germanistischer Analysen mit einem Spektrum an möglichen Antworten.1
1 Den Anfang der Spekulationen macht Storm selbst mit eigenen Aussagen zur Deutung des Figurenschicksals, z. B. in einem Brief an Erich Schmidt vom September 1881, in dem er angibt, an eine direkte »Schuld des Paares« an der Katastrophe nicht gedacht zu haben (in: Theodor Storm – Erich Schmidt: Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. von Karl-Ernst Laage. Band 2: 1880–1888. Berlin 1976, S. 46–50, hier S. 49). In der Forschung ist prominent die Position David A. Jacksons zu nennen: Jackson sieht die Schuld nicht bei den Figuren, sondern wesentlich bei der ideologischen Macht der Kirche: »Gegen die reine Macht [das feudale Gesellschaftssystem] konnten Johannes und Katharina ankämpfen; gegen die Kirche kommen sie nicht an, weil die Macht des Gedankens und des naturwissenschaftlichen Denkens die Glaubenslehren der den weltlichen Herrschern unterstehenden Landeskirchen noch nicht untergraben hat« (David A. Jackson: Die Überwindung der Schuld in der Novelle »Aquis submersus«. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 1972, S. 45–56, hier S. 52). Darauf antwortet W. A. Coupe, der Jacksons Argumentationen weitgehend widerlegt und Johannes durchaus persönliche Schuldfähigkeit und »Rücksichtslosigkeit« attestiert (W. A. Coupe: Zur Frage der Schuld in »Aquis submersus«. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 1975, S. 57–72, hier S. 69). Aquis submersus ist, auch jenseits der Frage nach der Schuld der Protagonisten, vielfältig lesbar, darauf weist explizit Gunter Hertling hin. Hertlings Meinung nach verbirgt sich hinter Storms Text sowohl eine »Erinnerungsnovelle«, als auch eine »Künstlernovelle«, eine »Liebesnovelle« und eine »Schicksalsnovelle« (Gunter Hertling: Theodor Storms »Meisterschuß« Aquis submersus. Der Künstler zwischen Determiniertheit und Selbstvollendung. Würzburg 1995, S. 11 f.). Im Spiegel der Figur des Malers Johannes wurden besonders intensiv Fragen und Scheitern von Repräsentation und Realismus diskutiert (vgl. bspw. Elisabeth Bronfen: Leichenhafte Bilder – Bildhafte Leichen. Zu dem Verhältnis von Bild und Referenz in Theodor Storms Novelle »Aquis Submersus«. In: Die Trauben des Zeuxis. Hg. von Hans Körner. Hildesheim u. a. 1990, S. 305–334) und Möglichkeiten der Kunst in Bezug auf Erinnerungsprozesse bzw. auf die Repräsentation von Vergehendem und Vergangenem (vgl. bspw. Christiane Arndt: Die Überschreitung des Rahmens – Theodor Storms Aquis submersus. In: Arndt: Abschied von der Wirklichkeit. Probleme bei der Darstellung von Realität im deutschsprachigen literarischen Realismus. Freiburg im Breisgau 2009, S. 193–22; Clifford A. Bernd: Theodor Storm’s Craft of Fiction. Chapel Hill 1963, S. 11–53; Heinrich Detering: Storm oder Die Wiederkehr der Toten. Zur Rahmenerzählung von Aquis submersus. In: Detering: Herkunftsorte. Literarische Verwandlungen im Werk Storms, Hebbels, Groths, Thomas und Heinrich Manns. Heide 2001, S. 106–147).
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Wie besonders Mullan betont hat, fällt ein Urteil über Johannes deshalb so schwer, weil der Text selbst ein hohes Maß an Komplexität aufweist: Storm […] has broadened the motivation to embrace not only personal responsibility on the part of the hero, but also the deterministic influences of heredity and social convention, and a fateful combination of chance events and coincidences which conspire against the lovers.2
Mir ist es im Rahmen dieser Arbeit wichtig, einen Bereich in den Mittelpunkt der Reflexion zu rücken, der in der Forschungsgeschichte wenig beachtet wurde: die Frage nach den Möglichkeiten und Begrenzungen familiärer Fundamente. Überzeugende psychoanalytisch geprägte Deutungen zu den Familienkonstellationen in Aquis submersus hat es freilich gegeben. Bis heute referiert die Literatur auf einen Aufsatz von Gerhard Kaiser aus den 1970er Jahren. Kaiser sieht die Schuld in Storms Text weder religiös noch moralisch grundiert; vielmehr erzähle die Geschichte von einem »Schuldzusammenhang der Kultur, der in die Institution der Familie eingesenkt ist«3. Der Rahmenerzähler werde als Kind zum Zeichendeuter einer Familiengeschichte, weil er selbst eine Familiengeschichte hat. Im Stormschen Horizont der Vergänglichkeit wird das Stormsche Thema der Familie verhandelt, ein Horizont und ein Thema, die so eng für ihn zusammengehören.4
Die Novelle problematisiere die »Kulturinstanz Vater«5, denn nur Söhne, die ihre Väter als Väter und Liebhaber der Mutter erleben, gelinge die Sozialisationsleistung der bürgerlichen Familie.6 »Weil der kleine Johannes zwei Väter hat, von denen der eine ihn wegschiebt und der andere ihm nicht zeigen kann, wie man [eine Frau] liebt, hat er keinen und ertrinkt.«7 Christian Neumann deckt die ödipalen »Triangulierungen«8 im Text auf, deren Logik die Geschichte in die Katastrophe münden lässt. In Storms Erzäh-
2 W. N. B. Mullan: Tragic Guilt and the Motivation of the Catastrophe in Storm’s »Aquis Submersus«. In: Forum for Modern Language Studies 18/3 (1982), S. 225–246, hier S. 231. 3 Gerhard Kaiser: Aquis submersus – versunkene Kindheit. Ein literaturpsychologischer Versuch über Theodor Storm. In: Euphorion 73 (1979), S. 410–434, hier S. 430. 4 Kaiser, S. 418. 5 Kaiser, S. 421. 6 Vgl. Kaiser, S. 422. 7 Kaiser, S. 422. 8 Christian Neumann: Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst: »Aquis submersus«. In: Neumann: Zwischen Paradies und ödem Ort. Unbewusste Bedeutungsstrukturen in Theodor Storms novellistischem Spätwerk. Würzburg 2002, S. 39–76, hier S. 50.
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III Familiensysteme: Theodor Storms Aquis submersus
lung sitzen »[v]on Beginn an […] die Väter auf der Anklagebank«9. Dass Johannes Katharina vergebens begehrt, liege an der »mit der ödipalen Vaterinstanz verbundene[n] inhumane[n] Gesellschaftsordnung, die auf der patriarchalischen Allianz von Adel und Kirche beruht«10. Unweigerlich führt die »in der Novelle dargestellte Konfrontation mit der ödipalen Vaterinstanz« zum »Scheitern des Ichs, das diesseits des Ödipuskomplexes bleibt«.11 Regina Fasold hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass Aquis submersus den »Verlust der erbarmenden mütterlichen Liebe« erzählt – »ein Topos vieler später Storm-Novellen – die im Text als nicht rationalisierbare Urschuld erscheint«.12 Bisher nicht gelesen wurde der Text als Diskursarchiv für den Umgang mit den möglichen Grundlagen für familiäre Konstellationen.13 Wer gehört familiär zu wem in Storms Text – und welcher Logik gehorcht dieses Zusammengehören? Familien bewegen sich in Storms Text in einem Spannungsfeld zwischen verschiedenen Möglichkeiten ihrer Legitimation. Die Kriterien der biologischen Abstammung und einer spezifischen, im Text kodierten Wesensgleichheit der Familienmitglieder konkurrieren miteinander oder ergänzen sich, müssen letztlich aber beide gleichermaßen fundamental in Zweifel gezogen werden. Der Raum für den Tod des Kindes öffnet sich gewissermaßen erst im Kampf um die Frage nach legitimer familiärer Zuordnung. Innerhalb dieses Kontextes ergibt sich erstens möglicherweise ein neuer Impuls in Bezug auf die Beantwortung der Schuldfrage in Storms Text. Darüber hinaus – und mit Blick auf diese Arbeit wichtiger – lassen sich aus einer derart familiär perspektivierten Lektüre von Aquis submersus Schlüsse ziehen über den Umgang des Textes mit dem Narrativ der Kleinfamilie. In Storms Text, so viel sei vorweggenommen, bleibt davon nicht sehr viel übrig.
9 Neumann, S. 61. 10 Neumann, S. 67. 11 Neumann, S. 67. 12 Regina Fasold: Theodor Storm. Stuttgart/Weimar 1997, S. 136; vgl. auch Regina Fasold: Culpa patris Aquis submersus? Mütter und Tod in Theodor Storms Novellen. In: Begegnung der Zeiten. Festschrift für Helmut Richter zum 65. Geburtstag. Hg. von Regina Fasold u. a. Leipzig 1999, S. 185–202. 13 Heinrich Detering liest in Aquis submersus zwar auch die Geschichte einer »scheiternden bürgerlichen Kleinfamilie« (Heinrich Detering: Aquis submersus. Schattenbeschwörung und Zeitkritik. In: Interpretationen. Theodor Storm. Novellen. Hg. von Christoph Deupmann. Stuttgart 2008, S. 68–87, hier S. 74), konzentriert sich in seiner Analyse aber auf die Thematisierung des bürgerlichen Tugendbegriffs in Verbindung mit Gender-Konzepten. Das »Idealbild des neuen, bürgerlichen Mannes« – verkörpert im Maler Johannes – distanziere sich deutlich von »den trinkfreudigen, lärmenden, raufenden Junkern« und trage »bemerkenswerte Züge einer Männer-Weiblichkeit« (S. 76).
1 Missglückte Adoption: Waise bleibt Waise
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1 Missglückte Adoption: Waise bleibt Waise Aquis submersus wird in Binnen- und Rahmengeschichte erzählt. Die Stimme der Binnenerzählung, in alten Aufzeichnungen konserviert, die der Rahmenerzähler 200 Jahre später erst findet, gehört dem Maler Johannes, für den als junge Waise der Adelige Gerhardus Verantwortung übernimmt. Gerhardus ermöglicht Johannes finanzielle Absicherung und eine Ausbildung zum Maler. Zu Beginn der Binnenerzählung stehen sich die Möglichkeiten biologischer und adoptiver Familiengründung gegenüber. Dabei scheint zunächst nur die biologische Variante einen stabilen familiären Verbund zu legitimieren. Katharina ist die biologische Tochter des Gerhardus, ihr leiblicher Bruder ist der Junker Wulf. Johannes ist Waise und als solche Schützling und »Ziehsohn« des Gerhardus: Obschon ein adeliger Mann, war er meinem lieben Vater doch stets in Treuen zugethan blieben, hatte auch nach dessen seligem Hintritt sich meiner verwaiseten Jugend mehr, als zu verhoffen, angenommen und nicht allein meine sparsamen Mittel aufgebessert, sondern auch durch seine fürnehme Bekanntschaft unter dem Holländischen Adel es dahin gebracht, daß mein theurer Meister van der Helst mich zu seinem Schüler angenommen.14
Obwohl Johannes so zwar in den Genuss finanzieller Unterstützung und beruflicher Protektionen kommt, ist er dennoch eindeutig kein Mitglied der Familie des Gerhardus. Ein Sohn ist schon vorhanden, Wulf wird Johannes kein wohlwollender Bruder: Wohl aber tückete mich ein Anderes, und das war der Gedanken an den Junker Wulf. Er war mir nimmer hold gewesen, hatte wohl gar, was sein edler Vater an mir gethan, als einen Diebstahl an ihm selber angesehen; und manches Mal, wenn ich, wie öfters nach meines lieben Vaters Tode, im Sommer die Vacanz auf dem Gute zubrachte, hatte er mir die schönen Tage vergället und versalzen. (SW 2, S. 387 f.)
Der adelige Familienverband erkennt nur Blutsverwandtschaft an. Nach dem Tod des Gerhardus übernimmt Wulf den Hof, auf dem die Nicht-Zugehörigkeit des Johannes sich deutlich im Angriff seiner Hunde manifestiert: Als ich aber durch den Thorweg gehen wollte, jagten vom Hofe her zwei fahlgraue Bullenbeißer mit Stachelhalsbändern gar wild gegen mich heran; sie erhuben ein erschreckliches Geheul, der eine sprang auf mich und fletschete seine weißen Zähne dicht vor meinem Antlitz. Solch ein Willkommen hatte ich noch niemalen hier empfangen. (SW 2, S. 393)
14 Theodor Storm: Aquis submersus. In: Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Band 2: Novellen 1867–1880. Frankfurt am Main 1987, S. 378– 454, hier S. 387; zitiert nach dem Muster: SW 2, S. 387.
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Anders als Heinrich Drendorf im Nachsommer kann Johannes kein Mitglied der Familie werden. Die Katastrophe der Erzählung nimmt hier ihren eigentlichen Anfang. Denn anstatt Katharinas Bruder zu werden, bleibt Johannes ein Fremder in der familiären Struktur – so wird Katharina Objekt seines Begehrens. Sie, des »edlen Herrn Gerhardus Töchterlein, des Junkers Wulfen einzig Geschwister« ist ihm bald ein »holde[s] Gottesgeschöpf[ ], in dem, wie es sich manchmals fügen mußte, all Glück und Leid und auch all nagend Buße meines Lebens beschlossen sein sollte, für jetzt und alle Zeit«. (SW 2, S. 388) Bevor Gerhardus’ Zögling Deutschland verlässt, um die Ausbildung in Holland anzutreten, werden Johannes und Katharina ein Liebespaar. Als Johannes aus Holland zurückkehrt, ist sein Ziehvater gerade gestorben. Es erwartet Johannes an seiner statt Wulf, der im Begriff ist, seine Schwester Katharina mit dem ebenfalls adligen Kurt von der Risch zu verheiraten – Johannes tritt damit fortan offen als Nebenbuhler um Katharina auf.
2 What makes a family? Johannes’ Ordnungen Problematisch wird Johannes’ Begehren zum einen, weil die Standesgrenzen ihn als Bräutigam für Katharina eigentlich ausschließen. Darüber hinaus findet der Maler bald Möglichkeiten, sich doch noch zum Sohn des Gerhardus zu machen, indem er die Kategorie der biologischen Verwandtschaft grundsätzlich aushöhlt. Jenseits – oder jedenfalls neben – biologischen Abstammungsregeln etabliert Johannes die Kategorie der Wesensgleichheit, die ihm die familiäre Zugehörigkeit zu Gerhardus und Katharina verschafft, ihn aber im selben Moment in eine geschwisterlich-inzestuöse Beziehung zu Katharina setzt. Vor der Hochzeit Katharinas, die gleichbedeutend mit dem Verlassen des väterlichen (jetzt brüderlichen) Hofes ist, soll Johannes Katharina für die Ahnengalerie des Hauses malen. Der Maler orientiert sich bei einem Blick auf die bereits vorhandenen Bilder der Galerie an physiognomischen Ähnlichkeiten, die im Text auf wesensgleiche Innerlichkeiten schließen lassen: »Katharinens Antlitz fand ich in dem der beiden Eltern wieder: des Vaters Stirn, der Mutter Liebreiz um die Lippen« (SW 2, S. 402). Äußerlichkeiten korrelieren direkt mit innerlicher Beschaffenheit. Das Bild des Junker Wulf, das Johannes im Bildersaal findet, kann laut Johannes weder Gerhardus noch Katharina zugeordnet werden: »[W]o aber war hier der harte Mundwinkel, das kleine Auge des Junker Wulf? – Das mußte tiefer aus der Vergangenheit heraufgekommen sein!« (SW 2, S. 402) Im Bild einer Ahnin findet Johannes die gesuchten Merkmale:
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Hier, dieses ist’s! Wie räthselhafte Wege gehet die Natur! Ein saeculum und drüber rinnt es heimlich wie unter einer Decke im Blute der Geschlechter fort; dann, längst vergessen, taucht es plötzlich wieder auf, den Lebenden zum Unheil. (SW 2, S. 402)
Johannes trifft anhand der Bildergalerie neue Zuordnungen. Der Junker Wulf ist nicht mehr der »Sohn des edlen Gerhardus« (SW 2, S. 402), sondern »nachgeborene[r] Sprößling« (SW 2, S. 402) der Ahnin.15 Damit gibt der Maler das Kriterium der Blutsverwandtschaft für familiäre Zuordnung nicht gänzlich auf, er nimmt ihm aber seine verabsolutierende Tendenz, denn Blut ist nicht gleich Blut. Mitten durch die Familie des Gerhardus geht ein Riss, der Gerhardus und Katharina von der Ahnin und Wulf verschieden erklärt. Zwischen Bruder und Schwester sei, bemerkt Johannes bei einem gemeinsamen Essen, »das Tischtuch durchgeschnitten« (SW 2, S. 403).16 Der Ordnungsversuch des Malers bleibt dabei nicht allein familienintern. Auch das übrige Figurenensemble unterwirft sich Johannes’ Dialektik.17 Es ent-
15 Christian Neumann deutet diese Szene als interessante Verkehrung des Freud’schen Familienromans: »Dadurch, dass er Wulf genealogisch ausschließlich auf die böse Ahnfrau bezieht, entwirft der Ich-Erzähler in gewisser Weise einen umgekehrten Familienroman […]. Nicht das Subjekt sucht sich ein anderes, besseres Elternpaar, sondern hier wird einer aus der Nachfolge seiner guten Eltern ausgeschlossen.« (Neumann, S. 54 f.) 16 »Die Welt«, so Winfried Freund, »scheint in Antithesen auseinandergebrochen« (Winfried Freund: Hoffen auf Humanität. Die versunkene Güte in »Aquis submersus«. In: Freund: Theodor Storm. Stuttgart u. a. 1987, S. 90–103, hier S. 92). 17 Diese Beobachtung stützt die These Regina Fasolds, die sich mit der Frage nach dem Vererbungsdiskurs bei Storm beschäftigt hat. Zu Recht erinnert Karl Ernst Laage daran, dass – vor dem Hintergrund Mendels und Darwins – »die Vererbungsfrage zu Storms Zeit überall diskutiert« wurde (Karl-Ernst Laage: Die Schuld des Vaters in Theodor Storms Novelle ›Carsten Curator‹. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 44 [1995], S. 7–22, hier S. 8). Eine Reduktion der Storm’schen genealogischen Diskurse auf die Vererbungslehre hält Fasold hingegen mit Blick auf die literarischen Texte für zu einfach: »Storms Distanz zum naturwissenschaftlichen Diskurs bleibt immer deutlich« (Regina Fasold: Theodor Storms Verständnis von »Vererbung« im Kontext des Darwinismus-Diskurses seiner Zeit. In: Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Hg. von Gerd Eversberg, David A. Jackson und Eckart Pastor. Würzburg 2000, S. 47–58, hier S. 56). Carsten Curator beispielsweise »rationalisiert nicht vorschnell die Beziehung zwischen den Generationen im modernen biologischen Sinne, sondern beläßt ihr das Geheimnis« (Fasold: Theodor Storm, S. 145). Storm sei »in der Lage […], über komplexere Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den Generationen zu erzählen, als es der biologische Determinismus der Vererbung zulassen würde« (Fasold: Theodor Storms Verständnis von »Vererbung«, S. 51). Aquis submersus greift den Vererbungsdiskurs zwar ebenfalls auf, Johannes’ Neugruppierungen erstrecken sich aber dann gerade auch auf diejenigen Figuren des Ensembles, die nicht blutsverwandt mit Gerhardus sind.
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stehen neue Familien und Zugehörigkeiten: Wulfs Heiratskandidat für seine Schwester, Kurt von der Risch, gleicht äußerlich dem »Buhz«, einem Raubvogel, vor dem Katharina schon als Kind fürchtet, er könne Vogelfamilien töten (SW 2, S. 389). Seiner Physiognomie fehlt, ähnlich wie derjenigen der Ahnin, jeder Liebreiz. Die Hände der »Bas’ Ursel« hält Johannes in einem Moment des Erschreckens für diejenigen der bösen Ahnin (vgl. SW 2, S. 420), Gerhardus’ Schwester dagegen hat eindeutig die Züge des Bruders (vgl. SW 2, S. 410). Das System der Zuordnungen trennt nicht nur nach äußerlichen Kriterien und innerer Gesinnung. Getrennt werden auch die Mächtigen (die Ahnin mit der Kraft ihres Fluchs, Wulf mit seiner patriarchalen und militärischen Gewalt) von den Ohnmächtigen (der tote Gerhardus, die vom Bruder dominierte Katharina). Johannes’ familiäres Ordnungssystem, das Blutsverwandtschaft zugunsten von wesenhafter Zusammengehörigkeit unterläuft, lässt ihn vor diesem Hintergrund selbst zum Sohn und geistigen Nachkömmling des Gerhardus werden. Wie gesagt: Diese Zuordnungen führen auf direktem Weg zum Inzest. Sein Verhältnis zu Katharina kann Johannes mit diesem ›Kniff‹ zwar rechtfertigen (mit dem Argument der besseren ›Passung‹), gleichzeitig wird es aber zum absoluten Tabu. Die beiden Familienmodelle, die der Text im ersten Teil der Binnengeschichte entwirft, konkurrieren miteinander – und scheitern je spezifisch. Blutsverwandtschaft, das liest man deutlich aus Johannesʼ Bericht, garantiert keinen familiären Zusammenhalt. Wesensgleichheit allerdings führt in inzestuöse K onstellationen. Für Johannes ist Katharina in beiden Modellen unerreichbar: Als zwar nicht blutsverwandter, aber auch nicht-adeliger Maler erfüllt er das Kriterium des angemessenen Standes nicht. Als Sohn des Gerhardus scheint in seiner Beziehung zu Katharina der Inzest auf.18
3 Vaters Schuld? Detektivarbeiten Das Spiel mit der Frage nach der Legitimation familiärer Zuordnungen verkompliziert sich weiter im Zusammenhang mit der Frage nach der Schuld am Ertrinken des kleinen Johannes. Die Rahmenerzählung des Textes fungiert gleichsam als Dekodierungsprozess19 des Bildes, das Johannes’ und Katharinas toten Sohn
18 Einen »verhüllt inzestuösen Charakter« in der Beziehung zwischen Johannes und Katharina sieht auch Christian Neumann (vgl. Neumann, S. 51). 19 Ausführlich zum Bild als Rätsel: Achim Nuber: Ein Bilderrätsel. Emblematische Struktur und Autoreferentialität in Theodor Storms ›Aquis submersus‹. In: Colloquia Germanica 26 (1993), S. 227–243. Vgl. auch Arndt, S. 194 f.: »Der Rahmenerzähler der Novelle, der zu jener Zeit,
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abbildet. Es handelt sich bei dem Bildnis genauer um dasjenige »eines toten Kindes, eines schönen, etwa fünfjährigen Knaben, der, auf einem mit Spitzen besetzten Kissen ruhend, eine weiße Wasserlilie in seiner kleinen bleichen Hand hielt« (SW 2, S. 381). Im Rahmen blickt der Erzähler auf dieses Rätsel seiner Kindheit zurück, das ihm das Bild in der Kirche seiner Heimat stellt. Mit der Frage nach der Schuld am Tod des Kindes lassen sich die bereits angeführten familiären Diskurse verknüpfen. Die Ursache des Todes bleibt für den Erzähler zunächst im Unklaren, erst die Binnengeschichte eröffnet die Identität des Kindes. Hinter dem Bild, das ist mit der Lektüre der Malertagebücher klar, verbirgt sich die Familientragödie um Johannes, Katharina und deren gemeinsamen Sohn. Johannes jun. wird während der Entstehungszeit des Katharina-Porträts in einer einzigen Liebesnacht gezeugt. Johannes muss danach wieder nach Holland fliehen, Katharina bringt in seiner Abwesenheit (und natürlich ohne dass der Vater von der Schwangerschaft erfahren hat) das gemeinsame Kind zur Welt. Statt Kurt von der Risch wird nun ein Prediger der Mann Katharinas, der mit der Hochzeit dem Kind einen »ehrlichen Namen« (SW 2, S. 446) gibt und so den ›Fehltritt‹ der Mutter wieder gut macht.20 Einige Jahre später soll Johannes bei seiner erneuten Rückkehr nach Deutschland ausgerechnet ein Porträt dieses Predigers anfertigen. Während seines Aufenthaltes im Haus des Predigers erkennt Johannes seinen Sohn und nimmt Kontakt zu Katharina auf. Bei einer Auseinandersetzung zwischen Katharina und Johannes ertrinkt der unbeobachtete Junge im See. Johannes malt das Bild des Kleinen, das der Erzähler der Rahmenhandlung Jahrhunderte später in der Kirche entdeckt. Während dem Rahmenerzähler die Entschlüsselung der Identität des toten Kindes zufriedenstellend gelingt, bleibt die Antwort auf die Frage nach der Schuld dem Leser der Novelle überlassen. Der Rahmenerzähler enthält sich eindeutiger Aussagen und der Text webt mehrere Schulddiskurse ineinander, die im Wesentlichen in drei Richtungen weisen: Entweder ist es der gesellschaftlich-politische Kontext, der den Liebenden ihr Zusammensein so schwer macht, dass es unweigerlich zur katastrophalen Zuspitzung kommen muss. Das Kind eines Malers und einer Adligen darf – in der Logik gesellschaftlicher Sanktionen – nicht überleben.
als er das Bild zum ersten Mal sieht, selbst noch Kind ist, will mehr über den portraitierten Jungen erfahren. Auf dieser Detektivarbeit basiert letztlich die Erzählung.« Winfried Freund spricht von der »analytische[n] Erzählweise« des Falls (Freund, S. 90). 20 Von der Ehe als ›Deal‹ haben beide Parteien profitiert: Der Pastor nahm, mit den Worten Katharinas, »die Sünderin zum Weibe« (SW 2, S. 447) und hat sein »Amt dafür bekommen« (SW 2, S. 446).
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Die Schuld Johannes’ ist es dann allenfalls insofern, als er den Verhältnissen, in denen er lebt, getrotzt hat,21 anstatt sich in sie zu fügen. Darüber hinaus verweist die Bildinschrift »C.P.A.S.« auf zwei weitere Lesarten. Der Erzähler des Rahmens dechiffriert die ersten beiden Buchstaben richtig als »Culpa Patris« (SW 2, S. 383). Der hier aufgerufene »Pater« kann allerdings zweierlei bedeuten: Gemeint sein kann die Schuld des leiblichen Vaters, damit die Schuld eines weltlichen Subjekts, oder die übergeordente Instanz eines Himmlischen oder im weitesten Sinne Schicksalhaften, die den Tod des Kindes herbeigeführt hat.22 Die Virulenz dieser Entscheidung – für ein weltliches oder aber für ein metaphysisches Verursachen – spielt der Text an vielen Stellen durch. So wählt Storm für Aquis submersus beispielsweise ein Setting, das innerhalb seines Gesamtwerks topische Züge trägt.23 Die Aufmerksamkeit der beiden Erzähler der Binnen- und Rahmenhandlung schweift zwischen Meer und flachem Land hin und her, sucht gewissermaßen nach dem Ursprung der Dinge und entscheidet sich mal für die eine, mal für die andere Seite: »Die Meisten mögen wohl nach Westen blicken, um sich an dem lichten Grün der Marschen und darüberhin an der Silberflut des Meers zu ergötzen«, mutmaßt der Erzähler des Rahmens, »meine Augen wenden unwillkürlich sich nach Norden, wo, kaum eine Meile fern, der raue spitze Kirchturm aus dem höher gelegenen, aber öden Küstenlande aufsteigt« (SW 2, S. 378). Den Abschluss der Binnenerzählung macht demgegenüber wieder ein Eindruck von der See, an den sich der Maler Johannes zu erinnern glaubt: [U]nd seltsam, was ich niemals hier vernommen, ich wurde plötzlich mir bewußt, daß ich vom fernen Strand die Brandung tosen hörete. Kein Mensch begegnete mir, keines Vogels Ruf vernahm ich; aber aus dem dumpfen Brausen des Meeres tönete es mir immerfort, gleich einem finsteren Wiegenliede: Aquis submersus – aquis submersus! (SW 2, S. 454 f.)
Die Orientierung gen Meer oder Land ist schwerlich als Zufall zu lesen, immer scheint sie auch eine Perspektive der Deutung oder Wertung in Bezug auf Erzähltes oder zu Erzählendes zu implizieren. Land und Meer halten zwei verschiedene
21 »The term most frequently used in the story to describe Johannes’ failing is ›Trotz‹, and the word runs, with minor variations in form, like a leitmotif trough the text.« (Mullan, S. 238) 22 Vgl. Kaiser, S. 411: »Culpa patris« ließe sich auch anders lesen, nämlich »als Anklage gegen einen bösen Gott-›Vater‹ gefährlicher Schickungen und Zufälle, welche die Menschen wider ihren Willen verstricken und ins Elend treiben«. 23 Vgl. u. a. die Erzählungen Der Schimmelreiter, Hans und Heinz Kirch und Carsten Curator, alle in: Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Frankfurt am Main 1987.
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Antworten bereit auf die Hauptfrage des Textes, derjenigen nach der Schuld am Tod des Jungen. Die Blicke beider Erzähler suchen die Schuld im weltlichen Dasein (dem Dorf, der Kirche, dem flachen Land) oder in einer unendlichen Instanz, deren Signifikant das Meer ist. Dabei erschöpft sich diese Metapher nicht allein in der Weite und Unendlichkeit des Ausblicks, die mit einer gewissen unbegreiflichen Erhabenheit einhergeht;24 das Meer (und damit das Wasser) wird im Kontext der Erzählung vielmehr ausdrücklich als ein Werkzeug Gottes ausgelegt, mit dem er seinen Richtspruch tut: »Dort«, sagte [der Küster], »hat einst meiner Eltern Haus gestanden; aber anno 34 bei der großen Fluth trieb es gleich hundert anderen in den grimmen Wassern; auf der einen Hälfte des Daches ward ich an diesen Strand geworfen, auf der anderen fuhren Vater und Bruder in die Ewigkeit hinaus.« Ich dachte: »So stehet die Kirche wohl am rechten Ort; auch ohne den Pastor wird hier vernehmentlich Gottes Wort geprediget.« (SW 2, S. 437)
Beide Perspektiven lassen sich, so unvereinbar sie auf den ersten Blick scheinen mögen, miteinander versöhnen. Der Verweis des Textes auf eine dem Subjekt übergeordnete Instanz deutet weniger auf eine absolute Perspektive des Textes hin – nicht die Novelle orientiert sich unterm Strich an dieser Lesart. Vielmehr lassen sich die Stellen als Spuren lesen, die zur Orientierung ihrer Hauptfigur, des Malers, an überindividuellen Erklärungsmustern führen. Johannes wird eben diese Orientierung zum Verhängnis. Dabei ist es weniger der Glaube an ein Gottgegebenes, das ihn leitet – es ist die Legende um den Fluch der »Ahnin«. Als Johannes Katharina malt und die beiden sich als Liebende ›erkennen‹, steht über diesem Erkennen das Bild der Ahnin. »Kennet Ihr die«, will Johannes wissen, »[d]iese Augen haben hier all die Tage auf uns hingesehen.« (SW 2, S. 407) Katharina enthüllt Johannes die Legende, auf die das Bild verweist: [S]ie soll ihr einzig Kind verfluchet haben; am andern Morgen aber hat man das blasse Fräulein aus einem Gartenteich gezogen, der nachmals zugedämmet ist. Hinter den Hecken, dem Walde zu, soll es gewesen sein. (SW 2, S. 407)
24 Eine Ahnung göttlicher Präsenz beim Anblick des Meeres in Verbindung mit dem religiösen Diskurs findet sich im Text beispielsweise beim ersten Zusammentreffen zwischen Johannes und dem Prediger: »Da ich die Bildnisse der früheren Prediger zu sehen wünschte, so gingen wir mitsammen in die Kirche, welche also hoch belegen ist, daß man nach den anderen Seiten über Marschen und Haide, nach Westen aber auf den nicht gar fernen Meeresstrand hinunterschauen kann. Es mußte eben Fluth sein; denn die Watten waren überströmet, und das Meer stund wie ein lichtes Silber.« (SW 2, S. 436)
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Der Fluch trifft die Tochter, weil sie einen Mann erwählt hatte, der »nicht ihres Standes« (SW 2, S. 408) war. Die Ahnin hätte, vermutet Johannes, auch Katharina verflucht (SW 2, S. 408), die sich desselben Vergehens schuldig macht. Am Morgen nach der Liebesnacht zwischen Katharina und Johannes, in der der gemeinsame Sohn gezeugt wird, wiederholen sich in Johannes’ Wahrnehmung Reminiszenzen an den Fluch: Nahezu erschrocken aber wurd’ ich, da meine Augen bei einem Rückblick aus dem Gartensteig von ungefähr die unteren Fenster neben dem Thurme streiften; denn mir war, als sähe hinter einem derselbigen ich gleichfalls eine Hand; aber sie drohete nach mir mit aufgehobenem Finger und schien mir farblos und knöchern gleich der Hand des Todes. […] So, deß nicht weiter achtend, schritt ich eilends durch den Garten, merkete aber bald, daß in der Hast ich auf einen Binsensumpf gerathen; sank auch der eine Fuß bis übers Änkel ein, gleichsam, als ob ihn was hinunterziehen wollte. »Ei«, dachte ich, »faßt das Hausgespenste doch nach dir!« (SW 2, S. 420)
Die Erklärung der Katastrophe als Folge eines Fluchs koloriert zwar die historische Distanz der Binnenerzählung, scheint vor dem Hintergrund der Epistemologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings wenig befriedigend. Sie führt den Leser jedoch an jene Stelle des Textes, die für die Frage nach familiärer Zuordnung so wichtig ist: Johannes selbst ist es, der sich an einer entscheidenden Stelle in seiner Biographie an vermeintlich transindividuellen, objektivierbaren Mustern orientiert – und damit die Katastrophe erst heraufbeschwört. Mit der Figur der Ahnin beginnt, wie bereits gezeigt, für Johannes ein System familiärer (Zu-)Ordnungen, das zu demjenigen der Blutsverwandtschaft quer liegt. Familiäre Systeme sind es, die Johannes miteinander in Konkurrenz treten lässt. Dass sich die Logik der Familie mit diesen seinen ›Berechnungen‹ nicht verträgt, Familien sich schlussendlich jeder Ordnung widersetzen, wird zum Tod seines Sohnes führen.
4 Familienchaos: »un jeu très compliqué«25 Die familiären Zuordnungsstrategien des Textes verkomplizieren sich weiter, als Katharina, nachdem sie unehelich Johannes’ Sohn auf die Welt gebracht hat, in Johannes’ Abwesenheit den Prediger heiratet. Im Schema der physiognomischen Zuordnungen zählt der Prediger ins Lager der Mächtigen, Johannes beschreibt ihn als
25 SW 2, S. 399.
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einen großen hageren Mann in der üblichen Tracht eines Predigers, obschon sein herrisch und finster Antliz mit dem schwarzen Haupthaar und dem tiefen Einschnitt ob der Nase wohl eher einem Kriegsmann angestanden wäre. (SW 2, S. 434)
Darüber hinaus ist er wie Wulf und Kurt militärisch sozialisiert, der Pastor sei »als Feldcapellan mit den Brandenburgern hier ins Land gekommen, als welcher er’s fast wilder denn die Offiziers getrieben haben solle« (SW 2, S. 435). Das Zusammenleben Katharinas mit dem Prediger ist dann auch nicht zuletzt eine machtvolle Zurichtung Katharinas. In der Verbindung mit Johannes nimmt sie eine ebenbürtige Position ein, sie entscheidet selbst über Johannes’ sexuellen Zugriff: »Katharinens weiße Hände strichen über meine Locken; sie herzete mich und sagte leise: ›Da ich in meine Kammer dich gelassen, so werd’ ich doch dein Weib auch werden müssen.‹« (SW 2, S. 418) Die Ehe mit dem Prediger dagegen bringt sie in eine ohnmächtige Position: Des Küsters alte Magd hatte ich einmal nach des Predigers Frau befraget; aber sie hatte mir kurzen Bescheid gegeben: »Die kennt man nicht; in die Bauernhäuser kommt sie kaum, wenn Kindelbier und Hochzeit ist.« – Der Pastor selbst sprach nicht von ihr. (SW 2, S. 439)
An seinem leiblichen Sohn erkennt Johannes demgegenüber auf den ersten Blick das Merkmal, das ihn der Gruppe um Gerhardus zuordnet: »Die Augen des schönen blassen Knaben, es waren ja ihre Augen!« (SW 2, S. 440) Damit gehört, der Logik der Wesensgleichheit folgend, der Junge zu Katharina und Johannes. Sogar die Kategorie der Blutsverwandtschaft gäbe Johannes’ Anspruch, nun der Vater des Kindes und damit endlich Teil einer Familie sein zu dürfen, Recht. Erstmals im Text fielen damit sogar Blutsverwandtschaft und Wesensgleichheit für Johannes in eins. Die Konkurrenz der beiden familiären Zuordnungssysteme käme hier insofern zum Stillstand, als Johannes vor dem Hintergrund beider Modelle ein Anrecht auf sein Kind zu haben glaubt. Der Text unterwandert die Schlüssigkeit dieser Zuordnung allerdings an zentraler Stelle. Die erste Begegnung Johannes’ mit seinem Sohn findet im Beisein des Stiefvaters statt. Zwischen dem kleinen Jungen, der mit seinem Stiefvater weder blutsverwandt ist noch ihm wesenhaft ähnlich zu sein scheint, herrschen überraschenderweise Harmonie und Vertrauen: Der Knabe, welchen letzterer [der Prediger] auf den Arm genommen hatte, hielt dessen Nacken mit beiden Ärmchen fest umschlungen und drückte die zarte Wange an das schwarze bärtige Gesicht des Mannes, als finde er so den Schutz vor der ihn schreckenden Unendlichkeit, die dort vor unseren Augen ausgebreitet lag. (SW 2, S. 437)
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In den Augen des Predigers glüht »ein dunkles Feuer […], aber seine Hand lag liebkosend auf dem Kopf des blassen Knaben, der sich an seine Kniee schmiegte« (SW 2, S. 438). Erstaunlich muss es für Johannes sein, dass die Vater-Sohn-Beziehung zwischen seinem leiblichen Sohn und dem Prediger sich weder nach biologischer Zugehörigkeit noch nach dem Kriterium der Wesensgleichheit richtet. Die Zerstörung der zweiten Familie im Text (Prediger, Katharina, Johannes jun.) geht letztlich darauf zurück, dass die familiäre Beziehung, die der Prediger und der kleine Johannes zueinander gefunden haben, sich mit der Logik familiärer Systeme, wie Johannes sie kennt, nicht vereinbaren lässt. Familien entziehen sich dem Diskurs um Biologie und Gleichheit, sie entstehen offenbar dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Der Prediger »liebt das Kind; – was ist denn mehr noch zu verlangen?« (SW 2, S. 447), stellt Katharina klar. Ein (post-)moderner Blick könnte die Übernahme tatsächlicher Verantwortung des Predigers für seinen Pflegesohn erkennen und vielleicht ›soziale Vaterschaft‹ attestieren. Für Johannes freilich ist das eine bittere Erkenntnis: »Und du, du und mein Kind, ihr solltet mir verloren sein!« (SW 2, S. 447) »Ich will das nicht!« schrie ich; »ich will« … Und eine wilde Gedankenjagd rasete mir durchs Hirn. (SW 2, S. 447)
Die Zerstörung der Familie geht letztlich auch auf die Unfassbarkeit einer Einsicht zurück. Johannes findet Katharina wieder, pocht auf sein Recht als Liebender. Katharina verweigert sich ihm: »›Du, Johannes‹, sagte sie, ›du wirst es nicht sein, der mich noch elender machen will.‹« (SW 2, S. 447) Johannes’ Versuch, Katharina umzustimmen, entpuppt sich als zerstörerischer Akt: »[I]ch hätte sie tödten mögen, wenn wir also miteinander hätten sterben können.« (SW 2, S. 448) Diese Formulierung aber ist die Perversion eines Systems, das Johannes ein Recht auf einen Platz an Katharinas Seite einräumt. Die Binnengeschichte hält damit tatsächlich eine Antwort auf die Frage nach der Schuld des Vaters bereit. Schuld ist nach dieser Lektüre nicht der himmlische Vater, wohl aber die Orientierung des biologischen Vaters an der Idee familiärer Zuordnungen, die ihren Ursprung in der Legende um das Verfluchtwerden nehmen. Johannes macht sich schuldig, weil er das System der Zugehörigkeiten, das er erschaffen hat, absolut setzt und letztlich kein weiteres daneben duldet. Die fragile Position von Familien spielt der Text von Anfang an anhand der Beobachtung von Vogelnestern durch. Als Kinder beobachten Johannes und Katharina Vogelfamilien; Johannes ist es, der die Rotschwänze vor dem Zugriff des Raubtiers rettet: »Da spannte ich meinen Eschenbogen und schoß, das Raubthier
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zappelnd auf dem Boden lag; aus dem Baume aber schwang sich ein zwitschernd Vöglein in die Luft.« (SW 2, S. 389) In der letzten Begegnung mit Katharina und ihrer Familie entpuppt sich nun ausgerechnet der jugendliche Schütze selbst als »Buhz«. Dass auch die Kinder in der Rahmenerzählung (also gut 200 Jahre später) wieder Nester beobachten – sie »wußten […] mit dem den Buben angebornen Instinkte die Nester der Lerchen und der Grauammern aufzuspüren, denen [sie] dann die wiederholtesten Besuche abstatteten, um nachzusehen, wie weit in den letzten Stunden die Eier oder die Jungen nun gediehen seien« (SW 2, S. 379) – transponiert eine Warnung der Binnengeschichte in den Rahmen: Familiäre Strukturen sind fragil, dem räuberischen Zugriff immer potentiell ausgeliefert. Unbegreiflich bleibt Johannes das Verhältnis zwischen seinem Sohn und dem Prediger. Das ›Recht‹, das er an seinem Sohn und an Katharina zu haben glaubt, besteht im Moment seines Auftauchens nicht mehr – er macht sich schuldig, weil er trotzdem darauf beharrt. Allerdings – und das ist die familiäre Pointe des Textes – ist natürlich auch diese letzte vorgestellte familiäre Kombination (Prediger, Katharina, Johannes jun.) alles andere als ›heil‹. Zwischen Prediger und Sohn herrscht stilles Einverständnis, Katharina aber bleibt eine Fremde im eigenen Haus: Aus dem Garten der Küsterei […] sahe ich sie einmal langsam über die Priesterkoppel nach ihrem Hause gehen; aber sie hatte mir den Rücken zugewendet, so daß ich nur ihre schlanke jugendliche Gestalt gewahren konnte […]. Das Bild ihres finsteren Ehgesponsen trat mir vor die Seele, und mir schien, es passe dieses Paar nicht wohl zusammen. (SW 2, S. 439)
5 Zusammengefasst: Scheitern und Lichtblick bei Storm Die Textfamilien, die Storm entwirft, verweisen damit alle auf einen Zustand, den sie gerade nicht erreichen: den der Unversehrtheit. In der Familie seines Ziehvaters ist für die Waise Johannes kein Ankommen; die Beziehung zu Katharina gleitet ins Inzestuöse ab; der Wiedervereinigung von Katharina, Johannes und ihrem Sohn steht eine neu entstandene, durch die Beziehung des Priesters zu seiner Frau ebenfalls ›gebrochene‹ Familie entgegen. »Korrekt gerade ist eigentlich nichts bei Storm«26 – so wusste bereits Thomas Mann den Dichter gegen der Vorwurf der Heimatkunst zu verteidigen. Storms Text beschäftigt sich inten-
26 Thomas Mann: Theodor Storm (1930). In: Mann: Essays. Hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Band 3: Ein Appell an die Vernunft. 1926–1933. Frankfurt am Main 1994, S. 223– 244, hier S. 232.
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siv mit den Möglichkeiten familiärer Legitimation, lässt aber alle diskutierten Wege scheitern. Anders als bei Stifters Nachsommer ist die Wesensgleichheit zwischen den familiären Akteuren nicht das absolute Kriterium für das Bestehen eine Familie. Auch die Biologie bzw. die Natur beansprucht keine herausragende Rolle. Blutsverwandte Geschwister können einander durchaus auch fremd sein – die Familie um Gerhardus ist kein homogenes Gebilde, ihre Mitglieder (zer-) stören einander. An Storms Novelle Carsten Curator ließe sich zeigen, dass gerade auch blutsverwandte Söhne Fremdkörper innerhalb einer familiären Struktur sein können.27 Familien entstehen in Storms Text nicht regelhaft, sondern am ehesten gerade im Unvorhersehbaren, dort, wo jenseits biologischer oder wesenhafter Verwandtschaft Verantwortung übernommen wird.
27 Auch in dieser Novelle wird mit der Schuld des Vaters am Untergang des Sohnes experimentiert. Carstens Schuld könnte auch hier an der Fixierung des Vaters auf das Kriterium der ›Wesensgleichheit‹ liegen, an der es ihm und dem Sohn mangelt. Sohn Heinrich stammt aus einem für den sittenstrengen Bürger ungewöhnlich leidenschaftlichen Intermezzo des Vaters. Er »erbt« so Regina Fasold, »nicht die über Generationen in der Familie tradierte Einfachheit und Sittenstrenge, die ›Neigung zur Gedankenarbeit‹ und das ruhig-verständige Wesen des Vaters […]. Vielmehr sind es die scheinbar zufällig im Sohn kulminierenden Eigenschaften der Mutter«, die den Sohn für den Vater zu einem Fremden machen. (Fasold: Theodor Storms Verständnis von »Vererbung«, S. 55) Hartmut Pätzold kann zeigen, dass Storm hier »literarische Figuren geschaffen hat, denen die Verteidigung ihrer bürgerlichen Identität mißlingt, weil sie sich von außen und innen gleichermaßen bedroht fühlen« (Hartmut Pätzold: Der verunsicherte Bürger. Bemerkungen zum Paradigma misslingender pluripolarer Identität in »Carsten Curator«. In: Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Hg. von Gerd Eversberg, David A. Jackson und Eckart Pastor. Würzburg 2000, S. 129–142, hier S. 135).
IV Prekäres Patchwork: Wilhelm Raabe Indeed it appears that whatever can go wrong in a family goes wrong in Raabe. (Jeffrey L. Sammons)1
1 Die Chronik der Sperlingsgasse: Geschichten vom ›Als Ob‹ Wilhelm Raabes Texte kreisen ebenfalls um die Frage, ob und wie sich Alternativen zur Kernfamilie denken lassen. Raabe experimentiert vielfach mit familiären Akteuren, mit den Möglichkeiten ihrer Kombination – oft auch mit ihrem Fehlen – und mit ihrer Beschaffenheit. Sowohl die Chronik als auch die Akten kennen Patchwork-Konzepte und ›unvollständige‹2 Familien, Stiefkindgeschichten und die nachbarschaftliche Erweiterung der Kernfamilie. In der Forschung hat sich vor diesem Hintergrund eine Argumentation durchgesetzt, die Raabe eine gewissermaßen ›postmoderne‹ Distanz zu kernfamiliären Modellen attestiert. Erst kürzlich hat Patrick Eiden-Offe in seiner Lektüre der Chronik der Sperlingsgasse argumentiert, es gehe »bei Raabe […] nicht um die Wiederherstellung ›ganzer‹ Sozialformen, sondern eher um eine Bestandsaufnahme all der kleinen Formen, in denen versehrte Familien und Familienlose zusammen leben können und dabei alles das bekommen«3, was sie benötigen. Anders als im zeitgenössischen Familiendiskurs (hier verweist Eiden-Offe auf den bereits erwähnten Wilhelm Heinrich Riehl) sei Verwandtschaft im Text Raabes kein starres Gefüge mit auf ihre Rolle festgelegten Akteuren, sondern funktioniere »als modulares System, das den Bedürfnissen entsprechend kombiniert wird«4. Beispielsweise werden die Funktionen des Vaters und des Ehemanns, die sich im hegemonialen Modell des ›Familienvorstands‹ treffen, […] dissoziiert – und so erst als Funktionen ausgestellt, die eben nicht notwendig in einer natürlichen Person zusammenfallen müssen.5
1 Wilhelm Raabe. The Fiction of the Alternative Community. Princeton 1987, S. 193. 2 Der Begriff der »Unvollständigkeit« wird in der Familiensoziologie aufgrund seiner normativen Tendenz mittlerweile »eher gemieden[ ]«, vgl. Tyrell: Ehe und Familie, S. 147. 3 Patrick Eiden-Offe: Nachbarschaft als Lebensform in Wilhelm Raabes »Chronik der Sperlingsgasse«. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85 (2011), S. 233–264, hier S. 256. 4 Eiden-Offe, S. 257. 5 Eiden-Offe, S. 257.
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Ähnlich hat das in den 1980er Jahren schon Jeffrey L. Sammons herausgearbeitet.6 Sammons spricht von Raabes Werk als Fiction of the Alternative Community – Blutsverwandtschaft bedeute dem Autor »wenig oder nichts«7. Immer wieder fänden sich in den Texten »the non-aggressive, the non-ambitious, the empathic and gentle-spirited, the defeated rebels and the souls in tune with the pathos of living« als eigene »community«, die, mit der Entscheidung für ein alternatives Zusammenleben, eine Verweigerungshaltung gegenüber den tradierten gesellschaftlichen Strukturen deutlich machten.8 Sammons gelangt schließlich sogar zu dem Ergebnis, dass die alternativen Gemeinschaften, die die Figuren bei Raabe immer wieder bilden, in keinerlei Weise ›vordefiniert‹ (»preformed«) seien: »[P]eople choose one another, freely and rationally in recognition of mutual affinities.«9 Die Chronik der Sperlingsgasse will sich diesen Thesen aber nicht so recht fügen. Die Hauptfiguren der Gasse leben – in diesem Punkt sei Sammons und Eiden-Offe recht gegeben – in einem nachbarschaftlich erweiterten Patchwork. Johannes Wachholder, der Erzähler, ist der Pflegevater der verwaisten Elise; Helene Berg wohnt mit Sohn Gustav schräg gegenüber. Über die Gasse hinweg verbinden sich die beiden Wohnungen zu einer gemeinsamen ›Familienresidenz‹. Während Elise bei Helene eine »zweite Behausung«10 hat, wird Johannes zum Miterziehenden für Gustav: Ich lege nun ein Gesicht an wie Zeus Kronion, wenn’s lange heiß gewesen ist und er donnern will, und beginne eine Rede, die anfängt: Als ich in deinem Alter war (wie Nota bene alle Väter und Erzieher beginnen, seit Adam seinen Erstgeborenen »rüffelte«) […] und ende, indem ich die rührend-pathetische Seite – den Kummer der Mutter – herauskehre. (BA 1, S. 114; Hervorhebung AM)11
6 Vgl. Sammons: Wilhelm Raabe, bes. S. 189 ff. und S. 200 ff. und Jeffrey L. Sammons: Die defekte Familie bei Wilhelm Raabe und die Fiktion der alternativen Gemeinschaft. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (1985), S. 27–43. Auch Ingeborg Hampl beschäftigen die Familienmodelle Raabes – ihre Arbeit bietet eine gute (und vermutlich vollständige) Übersicht über die verschiedenen familiären Strukturen der Texte (Ingeborg Hampl: »Grenzfälle«. Familien- und Sozialstrukturen im Erzählwerk Wilhelm Raabes. Passau 1995, S. 73–110). 7 Sammons: Die defekte Familie, S. 38. 8 Sammons: Wilhelm Raabe, S. 209: »In doing so, they also express, always implicitly and sometimes explicitly, a refusal of the inherited structures of society, to which they abjure loyality, not by confrontation but by evasion.« 9 Sammons: Wilhelm Raabe, S. 203. 10 Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse. In: Raabe: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. 1. Band. Göttingen 1965. S. 7–171, hier 113. Im Folgenden zitiert nach dem Muster BA 1, S. 113. 11 Vgl. auch BA 1, S. 115: »Ich komme jetzt der bedrängten Tante zu Hülfe.«
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Dass so eine familiäre Struktur als Patchwork entsteht, lässt sich nicht bestreiten. Von einer ›freien‹, nicht ›vordefinierten‹ Gestaltung dieser Struktur durch die Figuren kann die Rede aber nicht sein. Denn Raabes Protagonisten geben ihre Orientierung am Idealmodell der Kleinfamilie nicht auf. Das Patchwork der Figuren weiß um seine Uneigentlichkeit. Die Pflegetochter des erzählenden Chronisten Johannes Wachholder kommt als Tochter von Franz und Marie Ralff zur Welt. Ihre Geburt ist der Beginn eines nur kurzen kleinfamiliären Intermezzos, denn die Eltern sterben, als Elise noch ein Säugling ist. Der Chronist Johannes Wachholder ist für die kleine Elise das, was man einen ›alleinerziehenden Pflegevater‹ nennen könnte. Seine Vaterschaft ist Surrogat für die Elternschaft von Franz und Marie: [U]nd ich allein mit dem Kinde in dieser kleinen Welt eines verlornen Glücks – Erbe von so viel Schmerz und Tränen und Verlassenheit! Aber jetzt galt es zu handeln, nicht zu träumen. Ich mußte mich aufraffen […] und versprach mir leise dabei, dem Kinde meiner Freunde ein treuer Helfer zu sein im Glück und Unglück bei Nacht und bei Tage, und ich glaube, den Schwur gehalten zu haben. (BA 1, S. 55)
Die Erzählung seiner eigenen Elternschaft birgt in Wachholders Erzählung dabei stets Spuren des Uneigentlichen, des Nicht-Gelingenden: »Weißt du nicht«, schreibt er dem mittlerweile in Italien lebenden, erwachsenen Pflegekind, »daß ich dich auf den Armen schaukelte, daß ich über dir wachte in langen Nächten, wie nur eine Mutter über ihrem Kinde wachen kann?« (BA 1, S. 56; Hervorhebung AM) Wachholders Frage offenbart dessen Elternrolle in ihrer eigentlichen Widersprüchlichkeit. Während der Freund der Eltern einerseits die Mutterschaft für sich selbst ausschließt (solcherart in langen Nächten wachen kann eben »nur eine Mutter«), beansprucht er sie andererseits im gleichen Atemzug – performativ begründet – für sich, denn er hat ja »gewacht«. Johannes Wachholder und Helene Berg bleiben in der Sperlingsgasse auf das kernfamiliäre Ideal bezogen. Die Gasse und ihre Bewohner bilden lediglich eine Erweiterungsmöglichkeit familiärer Torsi, die diejenigen Funktionen bereitstellt, die den Mitgliedern im Sinne kernfamiliären Zusammenlebens ›fehlen‹.12 Was die zu vergebenden Rollen (Mutter, Vater, Kinder) betrifft, orientiert sich die Familie ›Berg-Wachholder‹ stets konsequent am kernfamiliären Modell. Wachholder ersetzt Helene den fehlenden Ehemann und Gustav den fehlenden Vater. Helene
12 So sieht das auch Eiden-Offe: »Die Nachbarschaft supplementiert die defekten Familien« (Eiden Offe, S. 256).
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wiederum nimmt sich als ›Mutter‹ der verwaisten Elise an.13 Helene Berg und Johannes Wachholder werden gemeinsam ein Elternpaar: Weder Erweiterungen noch Unvollständigkeit des ›regulären‹ Personals sind hier vorgesehen; auch eine Abweichung vom Postulat der Zweigeschlechtlichkeit des Elternpaars bleibt aus. Dabei besteht zwischen Helene und Johannes keine eheliche oder eheähnliche Verbindung. Sowohl Helene als auch Johannes treffen sich, könnte man sagen, im »Nachsommer« ihrer romantischen Biographien. Helene ist inzwischen Witwe, Johannes der ewig Verschmähte Marie Ralffs. So bleibt ihr Kernfamilienmodell zwar notwendig unvollkommen – gerade aber keine unabhängige Setzung eines nachbarschaftlichen »neue[n] Bund[es]«14, sondern stets auch melancholisch bezogen auf ein verpasstes Eigentliches. Die ›heile Familie‹ ist immer noch Fluchtpunkt der Chronik und ihr beinahe heilsgeschichtliches Versprechen.
1.1 Ende gut, Familie gut: Kernfamiliäre Fixierung der Chronik »Dann werden wir von Gustav und Elise sprechen« (BA 1, S. 140): Mit der Eheschließung von Gustav und Elise endet die Chronik Wachholders. Nach zwei Generationen steht hier erstmals wieder das grundlegende Setting zur Entstehung einer Kernfamilie bereit.15 In der dritten Generation, derjenigen der Enkel, kommt mit der Eheschließung eine Reihe katastrophaler Geschehnisse an ihr Ende. Neben dem frühen Tod der Eltern Elises verbirgt sich hinter der Patchwork-Konstruktion noch ein zweites Unglück, zu dem sowohl Gustav als Sohn Helenes als auch Elise als Tochter Franz Ralffs in direkter Verbindung stehen. Franz Ralff und Helene Berg sind beide Kinder des Grafen Seeburg, zumindest die Schwangerschaft, aus der Franz hervorgeht, ist gewaltsam herbeigeführt. Franz’ Mutter stirbt an den psychischen Folgen der Vergewaltigung, Franz wächst bei seinem Onkel auf.
13 Das deutet sich schon in Helenes mütterlichem Kuss auf dem Friedhof an: »Sie war es, die schon einmal durch unser Leben und durch die Blätter dieser Chronik geglitten ist mit jenem Sonnabend im Sommer 1841, als wir den toten kleinen Vogel auf dem Johanniskirchhofe begruben zu den Füßen der Gräber von Franz und Marie. Sie küßte damals die kleine Elise, aber wir kannten einander nicht.« (BA 1, S. 106) 14 Eiden-Offe, S. 254. 15 Der Text illustriert damit eine These von Sebastian Susteck: »Das Reden von der Familie ist zumal im ›familialen‹ 19. Jahrhundert ein sentimentalisches Reden, das die Familie bedroht sieht und in ihrem Ideal immer bereits Verfallenem und Verlorenem nachtrauert, gerade daraus aber die Relevanz der Familie gewinnt« (Susteck, Sebastian: Die Form der Fortpflanzung und die Form der Familie. In: Koschorke, Albrecht u. a.: Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution. Konstanz 2010, S. 97–137, hier S. 105).
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Die Mutter Helenes überlebt die Geburt der Tochter nicht; Vater Seeburg wohnt daraufhin mit seiner Tochter »menschenscheu und finster in einem einsamen kleinen Hause« (BA 1, S. 107). Nach seinem Tod nimmt sich der Doktor des Grafen Helenes als Stieftochter an. Später wird Helene die Frau des Doktors, der Sohn Gustav wird geboren. Als auch der Doktor begraben ist, zieht Helene ihren Sohn allein auf. Helene erkennt Elise als ihre Nichte, als Elise ihr den Ring zeigt, den ihr Vater ihr vererbt hat und der das Siegel des Grafen zeigt: »Sieh, welch ein schöner Ring!« sagte einmal Elise, der Frau Helene, die bei uns saß, jenen Reif zeigend […], der das Wappen des Grafen von Seeburg trug! – Ich habe nicht nötig aufzuschreiben, was folgte! – – – – Wir trennten uns damals so bald nicht. (BA 1, S. 106 f.)
Der Ring wird zwar sofort vernichtet,16 die gemeinsame Elternschaft von Helene und Johannes bewahrt aber trotz des versunkenen Rings das Wissen um seine Herkunft. Johannesʼ Erzählung ist also auch ein Versuch, familiäre Katastrophen zugunsten einer Perspektivierung auf eine bessere Zukunft vergessen zu machen. Das geschieht mit dem ›Prinzip Hoffnung‹, das aus der Eheschließung (und damit wahrscheinlichen Familiengründung) zwischen Gustav und Elise erwächst. [U]nd in der ärmlichen Wohnung drüben in Nr. zwölf, in der engen, dunkeln Sperlingsgasse verklingt die letzte Saite der unheilvollen, wilden Geschichte […]. – Ist das Lied vorbei? Eine junge, fröhlichere Weise nahm den letzten Ton auf, und »Gustav und Elise Berg« wird die neue Melodie lauten! (BA 1, S. 106)
Gleichzeitig legitimiert die Eheschließung die Katastrophen – schließlich haben sie Gustav und Elise als Ehepaar erst ermöglicht. »Wie die Fäden laufen mußten, um hier in der armen Gasse sich zusammenzuschürzen zu einem neuen Bunde!«, wundert sich Wachholder: »Wie so viele Herzen fast brechen wollten, um ein neues Glück aufsprießen zu lassen!« (BA 1, S. 169) Die Chronik ist in ihrer narrativen Anlage deutlich auf den Mythos der Kleinfamilie perspektiviert: Die Hochzeit von Elise und Gustav beendet eine Serie ›unvollständiger‹ Familien und ermöglicht erstmals wieder die Aussicht auf ›vollständiges‹ Familienglück. Nicht nur Wachholders Patchwork aber, auch die Biographie des benachbarten Journalisten und Freundes Wimmer legt Zeugnis ab von der kernfamiliären Fixierung des Textes. Wimmers junggesellische Wohngemeinschaft mit einem Pudel namens Rezensent scheint anfangs wenig konventionell. Schließlich aber
16 »Noch an demselben Abend trug ich ihn auf die Königsbrücke und warf ihn weithin in den Strom, nachdem ich ihn in zwei Stücke zerbrochen hatte. Helene lehnte neben mir am Geländer, und schweigend gingen wir zurück in die Sperlingsgasse zu – unsern Kindern.« (BA 1, S. 108)
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mündet sie in der Gründung einer – sehr bürgerlichen – Kernfamilie. Die Nachbarschaftsfamilie in der Sperlingsgasse begreift Wimmer in der Rückschau offenbar nur als soziale ›Zwischenetappe‹. Zu seinen damaligen Freunden gehörte erstens ein Schulmeister namens Roder, zweitens ein ältlicher Herr, Wachholder genannt, und drittens – ein junges Mädchen […] namens Elise Ralff. Wir wohnten in einer großen Stadt, wo es viel Staub gibt und aus der sie mich höchst wahrscheinlich aus Sorge um meine Gesundheit, wegjagten […]. (BA 1, S. 118) Mit diesen Freunden lag ich an dem Tage, an welchem ich den letzten Staub von den Füßen über jene Sand-Stadt schüttelte, in einem Holze […], als auf einmal ein Gefühl bodenloser Einsamkeit und moralischen Katzenjammers usw. usw. über mich kam. Da stieg plötzlich, mitten im grünen Walde, wo die Vögel so lustig sangen und die Sonne so hell und fröhlich durch die Zweige schien, ein Gedanke in mir auf, ein Gedanke an ein kleines hübsches Mädchen, mit welchem ich einst zusammen gespielt und an das ich oft – oft gedacht hatte in spätern Jahren. […] [I]ch dachte: Heinrich, warum gehst du nicht nach München, wo du geboren bist, wo dein Onkel Pümpel, wo dein – kleines liebes Mühmchen Nannette wohnt? (BA 1, S. 118 f.; Hervorhebung AM)
Wimmer hat plötzlich »ordentlich Lust, solid zu werden« (BA 1, S. 83), heiratet seine Cousine und nennt sich erst dann »sehr glücklich und fidel« (BA 1, S. 122). Der Brief, der Wachholder von der neu gewonnenen Sicherheit berichtet, wird in der Sperlingsgasse gefeiert und offenbart so abermals die Orientierung der Gasse am Wimmer’schen Modell: »Welchen Jubel hatte einst dieser Doppelbrief mit seinen Postskripten in der Sperlingsgasse erregt! Wie tanzte an jenem Augustnachmittag im Jahr 1841, als er ankam, der Lehrer Roder mit der kleinen Elise im Zimmer herum!« (BA 1, S. 122) Der »Jubel« der Gasse ist ein Jubel fürs kleinfamiliäre »Solidwerden« – von frei wählbaren Alternativen kann keine Rede mehr sein. Sammons Thesen, die Raabes »alternative communities« als eigenständige, beinahe kreative Entwürfe von der Kernfamilie abkoppeln wollen, scheinen auf die Sperlingsgasse nicht anwendbar. Vielmehr ist hier einer Beobachtung Marianne Wünschs Recht zu geben. Die »Quasi-Familien aus nicht verwandten Alten und elternlosen Kindern sind sich«, meint Wünsch, »in Raabes Texten strukturell extrem ähnlich«.17 Statt einem Ausbruch aus der Familie im Bild der »alternativen Gemeinschaft« sieht Wünsch in Raabes Texten eine (kern-)familiäre Omnipräsenz: »Gesellschaft manifestiert sich also bei Raabe – wie bei nicht wenigen anderen Realisten –
17 Marianne Wünsch: Eigentum und Familie. Raabes Spätwerk und der Realismus. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 31 (1987), S. 248–266, hier S. 263.
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primär als Familie, und nichtfamiliäre Relationen tendieren zur Transformation in quasi-familiäre […].«18
1.2 Abweichlerisches: Von zerrütteten Kleinfamilien und kritischen Karikaturisten Der Chronik der Sperlingsgasse ist ein gewisser Skeptizismus am kleinfamiliären Modell freilich dennoch nicht abzusprechen. Mit der Geschichte der bürgerlichen ›Normalfamilie‹ Karsten, die ob der politischen Sturheit ihres Familienvaters all ihre Söhne an den deutsch-französischen Krieg verliert (BA 1, S. 95 ff.), liegt die Vermutung nahe, dass das familienidyllische Ideal, an dem sich die ›Quasi-Familie‹ Wachholders und Bergs orientiert, womöglich gar nicht existiert. Darüber hinaus emanzipiert sich die Gasse hin und wieder tatsächlich deutlich von Mythemen wie sie den juristischen Diskurs des 19. Jahrhunderts prägen. Sammons hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass »das hysterische Entsetzen über die uneheliche Geburt, das sich allenthalben in der damaligen bürgerlichen Gesellschaft und namentlich im englischen Roman bemerkbar macht, bei Raabe weitgehend fehlt«19. Der alleinerziehenden Balletttänzerin mit dem schwindsüchtigen Sohn jedenfalls bringt die Sperlingsgasse Mitgefühl statt Verachtung entgegen.20 Eine dezidiert familienkritische Figur lernt Wachholder im Karikaturenzeichner Ulrich Strobel kennen. Er erweist sich in puncto Familienglück als widerständigster Akteur der Chronik. »Meine Mutter starb, indem sie mich gebar« (BA 1, S. 165) – sein biographischer Anfang ist zugleich ein Anfang vom Ende der heilen Familie, die er als Konzept ganz offensichtlich auch nicht für naturgegeben hält: »Wir leben uns gar zu gern in alles ein«, sinniert er, in unsern Rock, in unsern Körper, in unsere Familie, in unser Volk; wir freuen uns, wenn ein kleiner verwandter Mitbürger das Licht der Welt erblickt; wir ärgern uns, wenn wir den Rock zerreißen oder ein Krähenauge bekommen; wir betrüben uns, wenn unser Vater, unsere Mutter stirbt; aber wir halten das alles für natürlich – bloß weil wir es leichter übersehen können. (BA 1, S. 164; Hervorhebung AM)
18 Wünsch, S. 264 f. 19 Sammons: Die defekte Familie, S. 32. 20 Wachholder kommentiert: »Arme, arme Mutter! Ein hübscher, leichtsinniger Schmetterling gaukeltest du, bis die Verführung kam und siegte. Verlassen, verspottet, suchtest du dein Glück nur in den Augen, in dem Lächeln deines Kindes, und jetzt nimmt dir der Tod auch das!« (BA 1, S. 124)
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IV Prekäres Patchwork: Wilhelm Raabe
Strobel bleibt in der erzählten Zeit der Chronik familienverweigernder Junggeselle. Innerhalb der Chronik ist das deshalb von besonderem Belang, weil seine Stimme der wichtigste (vielleicht einzige) Gegenpart zu derjenigen Wachholders ist – und gleichzeitig vor dem Hintergrund der Poetologie des Textes, die als Chronik ein Vielfaches an Perspektiven als Collage zusammenstellt, immer ein Teil derselben bleibt.21 Trotz Fundamentalskepsis erhält der Zeichner eine Stimme in den Aufzeichnungen des Alten. Wachholder lädt ihn ausdrücklich ein, seinen Teil dazu beizutragen, ja, »Mitarbeiter« (BA 1, S. 34) des Projekts zu werden. Strobel reagiert auf die Nachricht von Wimmers Hochzeit und die darauffolgende Familiengründung explizit anders als der Rest der Gassenbewohner. Er erinnert daran, dass der ehemals kritische Journalist Wimmer sein oppositionelles Engagement aufgeben musste, bevor er bei seinem jetzigen Schwiegervater angestellt und dessen Tochter heiraten konnte. Der Zeichner kommentiert durchaus bissig: Es ist ein prächtiges Ehepaar geworden […]. Seit der Doktor den bösen politischen Husten, der ihn sonst plagte, losgeworden ist, hat er einen Umfang gewonnen, dem nur das Embonpoint der kleinen fidelen Frau Doktorin Nannerl nahe kommt. Und diese kleinen, fetten Wimmerleins: Hansl, Fritzl und Eliserl, »das jüngste Wurm«, wie der Doktor sagt! (BA 1, S. 122)
Die Familiengründung des »Rezensenten«, des Pudels Wimmers, verläuft in der Erzählung Strobels gleichzeitig mit der seines Besitzers. Für jedes Wimmerlein ein Pudel, einer immer schwärzer und schnurrbärtiger als der andere. Wie heißen die doch? Richtig: Stulpnas […], Dinte und Quirl. Es ist ein Schauspiel für Götter, die Familie spazierengehen zu sehen. (BA 1, S. 122 f.)
Ehemann und Vater werden: Was im Leben Johannes Wachholders wunder Punkt und verpasste Chance ist, avanciert in der Schilderung Strobels zur Pudelkomödie. Die Chronik der Sperlingsgasse distanziert sich mit Strobel so doch noch ironisch von ihrem eigenen Fluchtpunkt: der Kernfamilie.
21 Vgl. zur Poetologie der Collage Walter Dietze: Zeitstimmung und Zeitkritik in Wilhelm Raabes ›Chronik der Sperlingsgasse‹. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 61 (1969), S. 337–346: »[Z]um anderen ermöglicht diese Form der Ich-Erzählung das eigentlich Chronikhafte des Ganzen, das Zusammenfügen eines individuellen Erinnerungskonglomerats nämlich mit den ständig eingeschobenen Verlautbarungen anderer Erzähler, mithin eine pluralistische, wiewohl außerordentlich sorgsam bedachte und komponierte Erzählperspektive.« (S. 338)
2 Mütter, Väter, Kinder: Die Akten des Vogelsangs
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Der Text des alten Wachholder macht die Kernfamilie als ›Happy End‹ zum perspektivischen Fluchtpunkt jedes Erzählens. Die familiären Akteure, ihre Rollen und ihre Beziehungen zueinander sind in dieser Geschichte ein unveränderliches Eigentliches, ein Mythos, den Wachholder stets überhöht, weil er ihn selbst verfehlt hat. Strobels Kritik an der Perspektive des Alten ist dieser Erzählung aber eingeschrieben. Der Junggeselle ist der Unruheherd des Textes. Die Orientierung Wachholders am kernfamiliären Modell ist damit nicht aufgehoben. Immerhin aber schafft Strobels Blick auf die Sperlingsgasse und ihre am Bürgertum orientierten Figuren eine deutliche Distanz zu Wachholders Heilsgeschichte.
2 Mütter, Väter, Kinder: Die Akten des Vogelsangs Auch die Akten experimentieren mit der Kernfamilie und den denkbaren Alternativen zu ihr. Was von den Akten mit Blick auf ihren Verfasser, »Oberregierungsrat Dr. jur. K. Krumhardt«22, immer wieder gesagt wurde – dass sie nämlich dessen »Existenz […] zunehmend stören und bedrohen«23 – lässt sich offenbar genauso für die im Text verhandelten Konzepte von Familie festhalten. Antje Harnisch weist darauf hin, »daß die bürgerlich-patriarchalische Form der Familie […] im Verlaufe des Textes zunehmend in Frage gestellt wird«24. Erst einmal könnte man den Akten allerdings mit Blick auf die Protagonistin Amalie und ihren Sohn eine ähnliche kernfamiliäre Fixierung attestieren wie der Chronik. Amalie und ihr Sohn Velten leben in den Kindertagen des Erzählers im Vogelsang in direkter Nachbarschaft zu Karls Familie. Karl ist Kind einer klassischen bürgerlichen Kernfamilie mit einer starken, orientierungsstiftenden Vaterfigur: Krumhardt sen. ist Beamter, »[i]n welchem juristischen Sonderfach […] ist wohl gleichgültig, daß er aber ein sehr tüchtiger Beamter war, haben alle seine Vorgesetzten anerkannt« (BA 19, S. 217). Eben dieser ›Tüchtige‹ ist nun seit dem Tod des alten Andres Veltens Obervormund und »der Witwe [Amalie] als ›Familienfreund‹ beigegeben worden« (BA 19, S. 220). Die Frau sei
22 Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. 19. Band. Freiburg im Breisgau/Braunschweig 1957, S. 211–408, hier 213. Im Folgenden zitiert nach dem Muster BA 19, S. 213. 23 Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001, S. 209. 24 Antje Harnisch: Keller, Raabe, Fontane. Geschlecht, Sexualität und Familie im bürgerlichen Realismus. Bern 1994, S. 112.
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IV Prekäres Patchwork: Wilhelm Raabe
unzurechnungsfähig, der Junge ein verwahrloster Strick und bei den Leuten Familienfreund spielen zu sollen und Vernunft reden zu müssen eine Aufgabe, die einen zur Verzweiflung bringen kann! (BA 19, S. 223),
flucht Krumhardt. Amalie fügt sich in die familienhybride Konstruktion und argumentiert topisch auf ihre Weiblichkeit Bezug nehmend: Sie haben vollkommen recht: wir bedürfen eines Vormunds, auch wo, oder besonders wo, wie in unserm Fall, unsere Kinder und unsere Männer für uns armen Weibsleute mit im Spiel sind. (BA 19, S. 252; Hervorhebung AM)
Für die nachbarschaftlichen Patchwork-Konstruktionen des Vogelsangs gilt damit erst einmal eine ähnliche Diagnose wie für die Wahlverwandten der Sperlingsgasse: Sie stehen im Zeichen der Komplettierung einer (bürgerlichen) Kleinfamilie. Das Patchwork aus Amalie, Velten und Karls Vater subvertiert die Strukturen der heilen Familie nicht, es orientiert sich an ihnen. Amalie Andres aber ist dann doch keine Helene Berg. Zwar kokettiert sie, Vater Krumhardt sei »unsere einzige treue, sorgliche männliche Stütze in der nahen Nachbarschaft und der weiten Welt« (BA 19, S. 252). Gleichzeitig wissen Karls Protokolle jedoch über sie zu berichten, dass sie die einzige Person des Vogelsangs ist, vor der auch mein Vater Respekt hat und auf die er hört, wenn er das Wort genommen hat und sie es nach ihm nimmt, trotzdem er als »Familienfreund« auch ihr gegenüber das Wort »Unzurechnungsfähiges Frauenzimmervolk« oft genug hinter den Zähnen brummt. (BA 19, S. 250 f.)
Amalie Andres macht eine kritische Perspektivierung der üblichen, patriarchalischen Familienstruktur möglich.25 Sie hat »die Position des Objektes eines konkreten Mannes und der patriarchalen Ordnung verlassen«26, im Vergleich mit ihr wird der eingeschränkte Bewegungsradius der kleinfamiliären Mutter Karls erst sichtbar. Von ihr berichtet Karl, sie sei »eine gute Mutter und die beste der Gattinnen [gewesen], wenn das letztere vom vollständigen Aufgehen in den Ansichten, Meinungen Worten und Werken des Gatten abhängig ist« (BA 19, S. 218). Der Sohn ist sich in seinen Protokollen aber nicht einmal sicher, ob seine Mutter »je einen anderen Willen haben konnte« als denjenigen ihres Gatten: »Sie fühlte sich wohl in der Zucht, in welcher er sie und sein Haus hielt« (BA 19, S. 218). Um Amalie
25 Vgl. Harnisch, S. 112. 26 Harnisch, S. 113.
2 Mütter, Väter, Kinder: Die Akten des Vogelsangs
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Andres dagegen lässt der Text gewissermaßen ein eigenständiges mütterliches Reich entstehen, das der väterlichen Kontrolle Krumhardts de facto nur auf dem Papier bedarf. Darüber hinaus gibt es im Vogelsang – und das ist deutlich anders als in der Chronik – tatsächlich familiäre Strukturen, die sich als Alternative zur Kleinfamilie lesen lassen. Karl begreift sich nämlich als Sohn zweier Familien – damit zweier Mütter, während er gleichzeitig natürlich Kind seines Vaters bleibt. Das Haus der Nachbarin habe ihm immer »einen behaglichern Unterschlupf« (BA 19, S. 234) geboten: Es wurde dort allen Sündern viel leichter vergeben als – bei uns. Ich habe eben wahr zu sein, wenn ich durch diese Blätter bei meiner Nachkommenschaft irgendeinen Nutzen stiften will, und so sage ich, daß auch ich selber mich lieber bei der Mutter Veltens zu den Sündern als bei meinen eigenen Eltern zu den Gerechten zählen ließ. (BA 19, S. 234)
Auch Helene Trotzendorff, das dritte Kind im Vogelsang, wird von Amalie adoptiert. Helene und ihre Mutter sind sozusagen ›Kuckuckseier‹, die Charles Trotzendorff (Helenes Vater) dem Vogelsangnest ›zuschiebt‹, als er nach Amerika, »in den, mit einigem Recht ›fern‹ genannten Westen, verduftet« (BA 19, S. 229 f.). Helene »gehörte doch zu uns«, so sieht das dann auch Velten, sie ist »meiner Mutter Kinde« (BA 19, S. 276). Velten Andres selbst wird im Laufe seines Lebens ebenfalls noch einmal Sohn: in seiner Studienzeit in Berlin nämlich bei der verwitweten Fechtmeisterin Feucht, die sich für die Erziehung Veltens prompt ihren verstorbenen Gatten zurückwünscht, »um diesem jungen Leichtsinn und Phantastikus den richtigen Waffensegen zu geben, daß die Philister ihn uns nicht auf seinem Lebensweg zum Krüppel geschlagen im Chausseegraben liegenlassen« (BA 19, S. 296).27 Erziehung und Elternschaft scheinen unter Vogelsänglern (und später, in der Studienzeit Veltens, auch unter Berlinern) durchaus kreativ gestaltbar. Insbesondere das Prinzip der ›Mütterlichkeit‹28 ist im Text nicht an bestimmte familiäre Strukturen oder gar Blutsverwandtschaft gekoppelt. Die Funktion der Mütterlichkeit kann zeitgleich von verschiedenen Personen übernommen werden. Deutlich
27 Wörtlich heißt es von der Mutterrolle der Fechtmeisterin: »Da war zuerst seine Stubenwirtin, die Frau Fechtmeisterin Feucht. Ein anderer hätte die Millionenstadt jahrelang nach der aussuchen können, ohne sie zu finden: auf ihren jetzigen jungen Herrn, auf ›ihren Velten‹, schien sie schon jahrelang gewartet zu haben, um, ›was sehr nötig war‹, Mutterstelle an ihm zu vertreten.« (BA 19, S. 280) 28 Zur »Mütterlichkeit« als Prinzip vgl. auch Irmgard Roebling: Wilhelm Raabes doppelte Buchführung. Paradigma einer Spaltung. Tübingen 1988, S. 126.
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IV Prekäres Patchwork: Wilhelm Raabe
bricht hier tatsächlich die enge Struktur der Kernfamilie auf – alternative Modelle werden erprobt.
2.1 Nur was ist los mit Velten Andres? Der Vogelsang als Fallgeschichte Anders als Wachholders Chronik sind die Akten des Vogelsangs eine Auftragsarbeit, und zwar für gleich vier Klienten. Es geht um die Bewertung des Lebens Velten Andres’, der zwar hoch talentiert und »für das Leben unter allen Formen und Bedingungen ausgerüstet war«, es aber »nach bürgerlichen Begriffen zu nichts« gebracht hat. (BA 19, S. 318) Der jüngst in aller Einsamkeit verstorbene Junggeselle Velten selbst hatte sich zu Lebzeiten Karl Krumhardt zum Biographen gewünscht, in der Hoffnung auf eine milde Beurteilung seiner möglichen Verfehlungen: Krumhardt, dein Protokollführergesicht ist mir niemals so sympathisch gewesen wie in diesem Augenblick! Wenn du dereinst deinen Kindern von deinem Jugendfreunde erzählst, so vergiß nicht, mit melancholischem Kopfschütteln zu seiner Entschuldigung anzuführen: Der arme Tropf konnte nichts dafür […]. (BA 19, S. 301)
Auch die Mutter Veltens, Amalie Andres, wünscht sich, ausgerechnet Krumhardt möge von ihrem Sohn erzählen: Denn sieh, eben weil ich nicht an das Glück meines Velten im Sinne der Welt glaube, so möchte ich grade deshalb, als seine arme, angstvolle Mutter, einen haben, der in der richtigen Weise, wenn keinem anderen, so doch sich selber von uns mit vollem Verständnis erzählte und sich all unser Schicksal zurechtlegte. (BA 19, S. 303 f.)
Anders als Velten erwartet Amalie von Karl keine entlastenden Worte, sondern Verständnis. Karl, das wird sich im Laufe seiner Aktenarbeit zeigen, ist ein »Velten-Kenner« wie kein anderer – und ist es gleichzeitig nicht. Den dritten Auftrag an den Protokollanten gibt Helene Trotzendorff, die mit Karl und Velten im Vogelsang groß geworden ist und ihr Leben in ähnlicher Weise wie Velten als gescheitert betrachten muss. Sie trifft Krumhardt im Sterbezimmer des gemeinsamen Freundes und bittet ihn: »[G]ehe heim zu deiner lieben Frau und deinen lieben Kindern und erzähle den letzteren zu ihrer Warnung von Helene Trotzendorff und Velten Andres, und wie sie […] ein trübselig Ende nahmen.« (BA 19, S. 403) Zu diesem Wunsch nach der Beschreibung eines »trübseligen Endes« als Warnung an die eigene Familie kommt eine vierte Funktion der Akten hinzu. Karl selbst ist, neben Velten, Amalie und Helene, sein eigener ›Auftraggeber‹. Ihn plagt weniger der Tod des Freundes als die Erinnerung an ihn.
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Es geht ihm weniger darum, dessen Andenken zu bewahren – vielmehr ringt er darum, Velten Andres und der Bewertung seines Lebens auf den Grund zu gehen: Schreibe ich übrigens denn nicht auch jetzt nur deshalb diese Blätter voll, weil ich doch mein möglichstes tun möchte, um mir über diesen Menschen, einen der mir bekanntesten meiner Daseinsgenossen, klarzuwerden? Aber es ist immer, als ob man Fäden aus einem Gobelinteppich zupfe und sie unter das Vergrößerungsglas bringe, um die hohe Kunst, die der Meister an das ganze Gewebe gewendet hat, daraus kennenzulernen. (BA 19, S. 318)
Der Jurist und Familienvater Karl hat es, anders als Velten, »zu etwas gebracht«, und zwar als einziges Kind des Vogelsangs. (BA 19, S. 226) In der Rückschau wird deutlich, dass die Geschichte seiner Erziehung vor allem die Tradierung und Fortführung eines bürgerlich konnotierten Lebensweges zum Ziel hatte. Krumhardts Vater wünscht sich von seinem Sohn, daß du dich zu der besten Gesellschaft hältst. Wir, deine Mutter und ich, haben unser Leben darauf eingerichtet von deiner Geburt an. Laß mich an dir erleben, was ich selber nicht habe erreichen können. (BA 19, S. 268 f.)
Karl internalisiert29 und erfüllt das von ihm Verlangte und arbeitet noch im hohen Alter unter dem Porträt seines Vaters.30 Wichtigstes Zeichen für den erzieherischen Erfolg ist die Brautwahl Karls, in der sich auch die Verbundenheit mit dem Lebensstil der Eltern offenbart: Daß ich ihnen [Anna] als liebe Braut und gute Tochter zuführte, war der beiden guten und lieben alten Leute letzte Freude und drückte ihnen das letzte Siegel auf die Gewißheit, daß auch ich ein guter, braver Sohn gewesen sei, daß ich allen ihren Erwartungen entsprochen habe und mich auch fernerhin aller hohen und höchsten Ehren und Genugtuungen unserer Welt im kleinsten würdig erweisen werde und also aller durch zwei ganze treusorgliche Elternleben aufgewendeten Ängste, Mühen, Kümmernisse und Entsagungen wert. (BA 19, S. 335)
29 So weiß der Sohn auch von denjenigen Wertungen des Vaters zu berichten, die dieser gar nicht geäußert hat: »[Velten] aber stand und redete seinerseits seinen Unsinn in den Sommerabend hinein, wie mein Vater sich ganz gewiß ausgedrückt haben würde.« (BA 19, S. 258) 30 Vgl. BA 19, S. 217: »Das Bild meines seligen Vaters aber, mit dem zu dem Landesorden hinzugestifteten Verdienstkreuz Erster Klasse auf der Brust, habe ich in Lebensgröße (nach seinem Tode nach einer guten Photographie gefertigt) über meinem Schreibtische hängen und hole mir auch von ihm heute noch Aufklärung und Rat, und nicht bloß in meinen Geschäften, sondern im Leben überhaupt.«
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Velten Andres dagegen ist, genau wie Helene Trotzendorff, Kind in einer für Raabe typischen ›defekten‹ Familie. »Seinen Vater kennt Velten eigentlich nur aus den Erzählungen seiner Mutter« (BA 19, S. 242). Mutter Amalie zieht ihn allein groß. Veltens Vaterlosigkeit wird im Text wiederholt als problematisch diskutiert. Velten selbst kultiviert sein Defizit-Stigma als identitätsbildend: Ja, Elly [Helene], das ist eben unser Jammer, daß wir zwei doch nur von unseren Müttern erzogen worden sind. Wie die Flügelengel haben sie uns unter beiden Armen und wollen uns mit in die Höhe nehmen, jede auf ihre Weise […]. (BA 19, S. 258)
Es bleibe für ihn aber »bei der Weibererziehung« (BA 19, S. 273), äußert er selbst noch als Student Karl gegenüber: Ich habe mich von den Weibern erziehen lassen und lasse mich von den Weibern weiter erziehen. Geh du nur hin; ich bleibe bei den Müttern, bei den Frauen und bei den Mädchen. (BA 19, S. 273)
Die rein weibliche Erziehung ermöglicht Velten ein ›Verkriechen hinter den Schürzen‹ (vgl. BA 19, S. 274, 347), die der Text immer wieder mit Weltflucht und Lebensuntauglichkeit konnotiert. Karl hingegen unterstreicht die Bedeutung des väterlichen ›Griffs‹ für seine eigene Sozialisation: Dann aber sehe ich auch zu dem Bilde des alten Herrn über meinem Schreibtisch unter einigen Gewissensbissen auf und – möchte das Nachgefühl seiner grimmigen, aber treuen Faust an meinem Arm wahrlich nicht missen, auch durch mein ganzes ferneres Leben. (BA 19, S. 254)
Den Grund für Veltens Scheitern, für seine Existenz als ›Bürgerschreck‹, hat zumindest die Forschung dann auch vor allem in diesen familiären Strukturen gesehen, denen er entstammt. Velten fehlt, so könnte man das Spektrum psychopathologisierender Lesarten zusammenfassen, schlicht der Vater. Irmgard Roebling nähert sich Velten Andres mit Konzepten Lacans und Kristevas.31 Roebling beobachtet, dass
31 Roebling bezieht sich insbesondere auf Lacans Konzept der symbolischen Ordnung und das von Kristeva ins Spiel gebrachte »weibliche Gegenkonzept« des Semiotischen. Zur Darstellung dieser Konzepte bei Roebling vgl. Roebling, S. 105–199. Weiterführende Literatur siehe dort.
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der Appell, der dann zum Schreiben der »Akten« führen wird, aus einem Bereich kommt, in dem Weiblichkeit und Kindheit einen besonderen bedeutungstragenden Stellenwert haben, während, wie wenig später noch einsichtiger wird – der Symbolkontext des Biographen als väterliche Welt definiert ist.32
Amalie Andres zählt Roebling zu den Frauenfiguren Raabes, mit denen der Autor »eine Welt des Weiblichen in der Männerwelt« gestaltet, die als Ergänzung und Gegenbild aufzufassen ist. Die vielen liebevollen, humanen, guten, mütterlichen, gerechten Frauen werden zum Gesamtbild einer weiblichen Muse als Korrektiv gegen die Zerstörung der Welt durch das Patriarchat sowie gegen die Zerstörung ganzheitlichen Subjektseins überhaupt.33
In Amalie sieht Roebling die Repräsentantin eines kreativ-weiblichen Gegendiskurses, vor dessen Hintergrund die latente Gewalt des männlichen Patriarchats offenbar wird. Problematisch ist diese Spaltung innerhalb der erzählten Welt dann allerdings für die Kinder dieser Eltern. Im Mittelpunkt der Erzählung sieht Roebling Karl, nicht Velten. In Karls Akten komme der Prozeß der Personwerdung [zur Darstellung] durch die Inszenierung eines anderen Ichs auf der Bühne der erinnerten Kindheit, das nicht aufgeht im Ich des Erzählers, ihm oft diametral entgegengesetzt ist, das Element eines heimlich gewünschten und gefürchteten (da das Erzähler-Ich in Frage stellenden) anderen ist.34
Velten ist für Karl in der Lektüre Roeblings deshalb bedrohlich und faszinierend, weil er auslässt, was Karl durchlaufen musste: die Lösung des Kindes aus dem von Kristeva so genannten »Semiotischen«, mithin aus der ödipalen Beziehung zur Mutter. Velten sei aus den Regionen oberhalb des bürgerlichen Bodens nicht heruntergekommen. Er hat die ödipale Identifikation nicht geleistet, läuft weiter hinter der Mutterfigur her, eine Vision von Mütterlichem ohne Vaterfigur – symbolisiert im Roman durch die drei ihn umgebenden Witwen: Andres, Feucht und Mungo.35
32 Roebling, S. 107. 33 Roebling, S. 155. 34 Roebling, S. 110; zur Verunsicherung Karls durch Velten vgl. u. a. Sigrid Thielking: Sonderbare Aktenstücke. Inszenierte Verschriftlichung bei Wilhelm Raabe. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 12/1 (2002), S. 25–35. Für Thielking ist Velten Andres »der Andere im eigenen Selbst, der Schattenmann des Bürgers Krumhardt« (S. 30 f.). 35 Roebling, S. 146.
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Dass Velten »bei den Müttern« (BA 19, S. 273) bleibt, also Zeit seines Lebens »in die semiotische Phase zurückstreb[t] bzw. aus ihr […] Impulse«36 bezieht, ist für Roebling die eigentlich verunsichernde Erfahrung, mit der Karl sich schreibend konfrontiert. Seine eigenen »verdrängten semiotischen Kräfte«37 erwachen in der Erinnerung an Velten. Roebling geht so weit, Velten Andres selbst jeden »Realitätswert«38 abzusprechen – ihre Lesart reduziert Velten letztlich auf eine Projektionsfigur für Karl. Für die familiären Strukturen in Raabes Text heißt diese Analyse freilich zweierlei: Zum einen beantwortet sie die Frage nach dem Grund für Veltens Versagen mit einem ungelösten ödipalen Begehren, das der Vatermangel hervorruft. Die ›unheile‹ Familie Andres bringt – vor dem Hintergrund Lacan’scher psychoanalytischer Erklärungsmuster – zwangsläufig Velten als lebensuntaugliches Individuum hervor. Mit der Aufwertung des weiblich-semiotischen Bereichs im Rückgriff auf Kristeva lässt sich neben dieser Diagnose für das Konzept alleinerziehender Mutterschaft aber auch eine für die bürgerliche, ›heile‹ Struktur erstellen. Karl selbst muss seine eigene familiäre Sozialisation in der Konfrontation mit dem Freund in Frage stellen. Mit Lacan setzt sich ihm in seinem ödipalen Begehren der Vater als »der große Andere« entgegen. Diese Entgegensetzung als Verbot bedeute immer auch eine Initialisierung des Subjekts in die außerfamiliäre Welt.39 Anders ausgedrückt: Karl ist nur deshalb ein ›erfolgreicher Bürger‹, weil er in der »Ordnung des Vaters«, im »Symbolischen«, angekommen ist.40 Der »Ansturm der semiotischen Kräfte«41, den nun die Beschäftigung mit Velten freisetzt, eröffnet allerdings einen Raum, in dem die eigene Ich-Werdung auch als Akt der Gewalt und der Zurichtung erfahren werden muss: So wie das Symbolgesetz zwar als conditio sine qua non von festem Ich-Erleben verstanden werden muß, so sehr ist es doch zugleich ein dem Individuum anderes, ist Zwang und Vergewaltigung. Es ist immer Tod und Opfer dabei.42
36 Roebling, S. 135. 37 Roebling, S. 157. 38 Vgl. Roebling, S. 174: »Das Kind Velten, als Mittelpunkt dieses mütterlichen Bedeutungsbereiches, hat keinen Realitätswert, ist kein eigentliches Signifikat, sondern repräsentiert […] Karls Begehren.« 39 Vgl. Roebling, S. 146. 40 Roebling schreibt: »Karl hatte sich inzwischen im bürgerlichen Leben eine Position geschaffen und lebt (zum Stolze seiner Eltern) mit Familie in einem angesehenen Wohnviertel […]. Alles war also nach den Vorstellungen des väterlichen Gesetzes verlaufen […].« (Roebling, S. 159) 41 Roebling, S. 160. 42 Roebling, S. 165.
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Raabes Text liefert in dieser Lesart einen doppelten Kommentar zum Mythos der heilen Familie: Er unterstützt ihn – weil Kinder ›unvollständiger‹ Familien auf die Biographie eines Velten Andres zusteuern43 – und unterläuft ihn gleichzeitig, weil ›heile Familien‹ noch lange kein Garant für ›heile Kinder‹ sind.44
2.2 Alles ganz anders: Einsprüche gegen die Psychoanalyse Die Stärke des späten Raabe-Textes wird immer dann offenbar, wenn ein zweiter Blick in den Text eine weitere Perspektive eröffnet. Das gilt gerade auch für die Frage nach dem Grund für Veltens ›Andersartigkeit‹. Die lässt sich dann nämlich doch gerade nicht ausschließlich und ›glatt‹ aus seiner ›weiblichen‹ Erziehung ableiten. Bisherige Lektüren des Raabe-Textes konzentrieren sich häufig einseitig auf einen Vergleich der Familienmodelle Andres und Krumhardt.45 Eine dritte Familie zeigt, dass die Müttererziehung offenbar kein ausschlaggebendes Kriterium ist. Deutlicher formuliert: Die Anwesenheit eines Vaters ist im Text kein Garant für das Gelingen eines Lebens. Die Familie des Beaux, deren Bekanntschaft Velten während seiner Studienjahre in Berlin macht, leidet an Mutterlosigkeit, der Vater erzieht die Kinder Leonie und Leon. Mit Blick auf Leon kann von rettenden väterlichen Griffen nicht die Rede sein: »O Herr Krumhardt, bitte, nehmen Sie meinen Bruder nicht lächerlich!«, klagt die Schwester:
43 Manfred Kindermann liest in Karls Akten ein »implizites psychologisches Wissen« Karls um Velten, das die »narzißtische Störung« des Jugendfreundes aufdeckt (Manfred Kindermann: Subjektkonstitution als Entfremdung. Implizites psychologisches Wissen in Raabes Roman »Die Akten des Vogelsangs«. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2000, S. 102–121, hier S. 110). 44 Walter Erhart kritisiert an der Lektüre Roeblings ein grundsätzliches Problem psychoanalytischen Lesens: »Die Familienordnung und die Subjekt-Positionen in den Akten des Vogelsangs werden durch die vorausgesetzten psychoanalytischen Strukturen in einer Weise festgelegt, die dem ganzen Roman ein dichotomes Geschlechter-Modell unterlegt – ungeachtet der im Roman möglicherweise vorkommenden Pluralität von Weiblichkeiten und Männlichkeiten.« (Erhart: Familienmänner, S. 216) In den Akten liest Erhart die »Erzählung des einen Mannes über den anderen« (S. 219). Der fehlende Vater wird Andres aber auch bei Erhart zum Verhängnis. Er sieht Veltens »Abweichungen von der Konstruktion ›gründerzeitlicher‹ Männlichkeit auf fast allen Ebenen: durch seine Herkunft aus dem ›Reich der Mütter‹, in dem Frau Andres als ›alte Riesin‹ […] und die Fechtmeisterin als ›märchenerzählende Großmutter‹ […] bezeichnet werden, und durch die Geschichte einer Regression, die Andres einerseits zu seinem familialen Ursprung, andererseits in die vorzivilisatorischen Anfänge der Menschheit zurückführt« (S. 225). Dem stelle der Text Karls Familiengründung als »Initiation der Männlichkeit« (S. 225) gegenüber. 45 Vgl. beispielsweise die Beiträge Roeblings und Kindermanns.
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Man kann auch in einer Stadt wie Berlin noch immer in einem stillen Märchenwinkel aufwachsen, und das sind wir beide, Leon und ich; und mein Papa hat dazu geholfen (meine Mama ist lange tot), daß wir so geworden sind – Leon besonders, denn er hat von uns zweien immer die unruhigste Phantasie und Seele. […] Aber Papa ist eigentlich auch sehr mit daran schuld, daß wir so aufgewachsen sind in Einbildung und Träumen. (BA 19, S. 287)
Er, Leon, habe es »noch nicht recht gelernt, den Traum und das Leben auseinanderzuhalten« (BA 19, S. 289). Es ist ausgerechnet Veltens Einfluss, der den Jungen lebenstauglich macht. Velten liest in einem Brief von Vater des Beaux, der Junge werde ihm, ohne meine [Veltens, AM] Beaufsichtigung von Tag zu Tage unter den Händen mehr zu einem Narren und es bleibe ihm nichts übrig, als den Knaben mir [Velten, AM] nachzuschicken; eine Reise um die Erde unter meiner [Veltens, AM] Führung erscheine ihm als das letzte Mittel, den Phantasten für den künftigen Kommissions- oder Kommerzienrat zu ernüchtern. (BA 19, S. 330)
Die Bemühungen des Vogelsangs, den ›Mangel‹ in Veltens Familienstruktur als einen ›Vatermangel‹ auszugleichen, wirken vor diesem Hintergrund besonders absurd. Dazu kommt, dass sowohl Velten als auch Helene (die im Leben ähnlich scheitert wie Velten) ihr eigenes Versagen immer wieder auch gerade nicht auf der Basis familiärer Strukturen oder Prägung erklären wollen. Ausdrücklich verweisen sie beide auf unlösbare biographische Rätsel, deren Ursache sie in einer ominösen schicksalhaften Instanz suchen (oder in sich selbst) anstatt in ihrer Familie. Velten schreibt: Meine liebe, liebe Mutter, Du kannst nichts dafür, und mein Vater auch nicht. Solches war mir an der Wiege gesungen, aber nicht von Dir mit Deinem: »Buko von Halberstadt« oder: »Schlaf, Kindchen, schlaf, da draußen geht ein Schaf«. Es kauert immer eine andere Sängerin auf der andern Seite des ersten Schaukelkahns menschlichen Schicksals und summt ihren Sang in ihre Hexenbartstoppeln, und der stammt von den Müttern viel weiter hinabwärts und ist der allein maßgebende. (BA 19, S. 328)
»Was ich geworden bin«, gesteht analog dazu Helene, »ist aus mir selber, nicht von meiner armen Mutter her und noch weniger von meinem Vater.« (BA 19, S. 401) Das Konzept der ›heilen Familie‹ bekommt als Ort der Hervorbringung sozial fähiger Individuen mit diesen Textstellen einen empfindlichen Kratzer. Das Gelingen oder Nichtgelingen eines Lebens führt Raabe in den Akten – so sehr man sich das wünschen mag – nicht einfach auf das Vorhandensein bestimmter kernfamiliärer Akteure zurück.
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2.3 Familien: Soll und Haben Eine eindeutige Bewertung klassisch kernfamiliärer Strukturen, die sich Ehelichkeit und Leiblichkeit zur Grundlage machen, kann man Raabes Text also nicht abringen. Das zeigt auch ein weiterer Diskurs im Text: derjenige um Eigentum und Besitz. Veltens Autodafé bildet den Höhepunkt der Akten. Nach dem Tod seiner Mutter will der Sohn »die Fäden abschneiden dürfen, die ihn mit dem Erdenballast verknüpfen« (BA 19, S. 370): Er verbrennt und verschenkt in »Eigentumsmüdigkeit« (BA 19, S. 373) alle Habseligkeiten seiner Mutter. Velten erweist sich damit einmal mehr als ein »Kumpan mit Zumutungen« (BA 19, S. 358). Das bürgerliche Umfeld reagiert auf seine ›Vorstellung‹ vorwiegend schockiert. Karl selbst tut sein Freund »in tiefster Seele leid, und zu helfen war ihm nicht« (BA 19, S. 177); seine Frau Anna gruselt es nachgerade, sie fürchtet, ihrem Mann könnten Sohn Ferdi und sie zur »Last« werden, »wie deinem entsetzlichen Freunde sein Hausrat und sein Haus in eurem unheimlichen, schrecklichen Vogelsang!« (BA 19, S. 373 f.) Den Skandal, den das Autodafé darstellt, fasst Roebling – wiederum mit Lacan und Kristeva – als ein Aufbegehren gegen die symbolische Ordnung auf. Die Eigentumsvernichtung müsse »als Verwerfen des Thetischen angesehen werden«46, als ein Versuch also, die auch als gewaltsam erfahrene Überführung in die Ordnung des Symbolischen, die die Kernfamilie bereitstellt, rückgängig zu machen. Das Eigentum sei dabei mit Lacan »als zentraler Signifikant der bürgerlichen Thesis aufzufassen«47. Mit dem Autodafé wird »der Zwang vorübergehend aufgehoben, und die Kräfte des Semiotischen gewinnen für eine bestimmte Phase die Überhand«48. Eigentum ist bei Roebling in einer »Fortführung Lacanscher Grundannahmen« Teil des »Herrendiskurs[es] der Moderne«.49 Veltens Eigentumsmüdigkeit ist dann ein letzter Versuch, gemeinsam mit Freund Karl, der ihm beisteht, gegen die symbolische Ordnung aufzubegehren, deren Teil er vor dem Hintergrund seiner ungelösten ödipalen Verstrickung nie werden konnte. Roeblings Thesen jedoch übersehen meines Erachtens einen wichtigen Punkt. Eigentum, schreibt Roebling, werde in den Akten »vornehmlich als väterliche Angelegenheit eingeführt und erfahren«50. Die psychische Sozialisation des (männlichen) Bürgers ist dann erfolgreich abgeschlossen, wenn er im Kampf
46 Roebling, S. 165. 47 Roebling, S. 165. 48 Roebling, S. 165. 49 Roebling, S. 163. 50 Roebling, S. 115.
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mit dem Vater aus dem ödipalen Begehren hinaustritt, die symbolische Ordnung anerkennt und – gewissermaßen als Signum dieses erfolgreich durchlaufenen Prozesses – beginnt, Eigentum anzuhäufen. Diese Diagnose gilt sicherlich für Karl und seinen Vater. Störend muss es hier jedoch sein, dass es prominent vor allem die Raabe’schen Frauenfiguren sind, die ihre Identität an Besitz und Eigentum festmachen.51 Schließlich hortet die Fechtmeisterin Feucht Trophäen und Memorabilia ihrer Schüler52 und auch Veltens Mutter Amalie hatte sich von nichts trennen können, was je dem Gatten und dem Sohn lieb gewesen und überdrüssig geworden war. Sie hatte es ihnen aus den Augen gerückt und sich selber, sozusagen, ein Herzensmuseum draus gemacht. (BA 19, S. 372)
Eigentum und Familie sind in Raabes Text längst jenseits kernfamiliärer Strukturen aneinander gebunden. Gerade die Mütter, die mit Roeblings Rückgriff auf Kristevas Konzepte dem patriarchalen Gegendiskurs, dem »semiotischen Raum«, zuzuordnen wären, sind an ihn gebunden. Eigentum kann einfacher Ding-Besitz als Wert sein – metonymisch denotieren die vielen Dinge aber auch das ›Eigentum aneinander‹. Amalie hortet im »Herzensmuseum« die Erinnerung an den Ehemann und die Kindheit des Sohnes, die Fechtmeisterin Feucht wird ihre Schüler immer auch über deren Pokale ›besitzen‹ können. Was aber bedeutet dann Veltens Autodafé für das Vogelsang-Experiment mit dem Mythos der Kleinfamilie? Mein Vorschlag wäre, in Veltens pyromanischer
51 Juristisch korrekt müsste man Besitz und Eigentum voneinander unterscheiden. Danach denotiert ›Besitz‹ lediglich die aktuelle und tatsächliche Gewalt über Dinge, ›Eigentum‹ bedeutet, auch rechtlich über einen Gegenstand verfügen zu können (ihn beispielsweise verkaufen zu dürfen). Besitzer und Eigentümer müssen also nicht immer ein und dieselbe Person sein. Vor dem Hintergrund der historischen Rechtslage steht zu vermuten, dass in der literarischen Welt der Akten Frauen das tatsächliche rechtliche Eigentum an Dingen nicht im gleichen Umfang wie Männern zusteht. Der Text scheint diesen Unterschied allerdings nicht in einem Maße zu diskutieren, der für die gegebene Frage relevant wäre. Im Gegenteil werden weiblicher Besitz und männliches Eigentum insofern gleich behandelt, als beide Sachverhalte auf die Affinität der Figuren zu bürgerlichen Strukturen hinweisen. 52 »Die ganze Welt kam hier gar nicht in Betracht; aber in ganz Deutschland gab es kein Witwenstübchen, das diesem glich. Mitten in diesem Berlin diese ganze deutsche Jugend, soweit sie sich in Jena und auf ihren Verbindungsbildern zusammengefunden hatte. Alle Wände damit bedeckt; – dazwischen, wo nur ein Räumchen, alles voll von Schattenrissen mit allen Couleuren an Mütze und Band. Waffentrophäen statt des Spiegels, Schläger und Stulpen und was sonst dazu gehört, wo nur noch was aufzuhängen war. Keine Ritterdame des romantischsten Mittelalters hatte je zu der Ausstattung ihres Ahnensaales und ihrer Kemenate so gepaßt wie die Frau Fechtmeisterin Feucht zu dem Schmuck und der Zierde ihres Altweiberstübchens, wie gesagt: mitten in diesem Berlin!« (BA 19, S. 281)
3 Zusammengefasst: Chronik und Akten
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Rebellion eine grundsätzlichere Familienkritik zu entdecken, die nicht nur die bürgerliche Normalfamilie betrifft, sondern gegen jedwede familiäre Struktur (auch gegen so genannte ›alternative‹) opponiert. Veltens Eigentumskritik bleibt zunächst ja durchaus auch lesbar als eine Distanzierung vom Modell der Kernfamilie. Wo die Kleinfamilie ist, ist für Velten kein Platz – und vice versa. So weigert er sich, nach dem Tod Amalies Karls und Annas Gast zu sein. Er könne sich das vorstellen, wenn Anna jetzt nicht ihren Buben hätte. Soll ich eine karthagische Mutter aus ihr machen, die ihr Wurm dem Moloch opfert? Ich glaube, sie sähe es in meinen Armen ebensogern wie in denen des feurigen Götzen. (BA 19, S. 366)
Den Nachwuchs Karls betrachtet Velten skeptisch. Anna ängstigt die Art und Weise, wie er es [das Kind Ferdinand, AM] mir aus den Kissen nimmt und es mir von hinten und vorn besieht und die Nase rümpft und lästerlich lacht und den Kopf schüttelt und seine Reden und Redensarten dabei, die lasse ich – die lassen wir – wenigstens Ferdi und ich uns nicht gefallen. (BA 19, S. 360)
Im Kontext seines großen Kehraus entpuppt sich Velten aber dann als Familienschreck schlechthin. Der »Weltüberwinder« Velten Andres ist längst einen Schritt weiter: Familiäre Strukturen will er, im Dienste seiner Freiheit, auch jenseits des Modells der ›heilen Familie‹ überwinden. Das könnte daran liegen, dass der Kleinfamilie und der von ihr tradierten symbolischen Ordnung eine kolonialisierende, expandierende Tendenz zukommt. Das ›Einander-Besitzen‹ ist in dieser Lesart eine kleinfamiliäre Eigenart, die auch in den besten alternativen Familien vorkommt. Roeblings Lesart des Autodafés als einer Kritik an der bürgerlichen Ordnung könnte man dann beibehalten – und sie gleichzeitig ins Reich der Mütter erweitern.
3 Zusammengefasst: Chronik und Akten Patchwork bei Raabe also? Ja – aber damit verbunden immer auch komplizierte und umfassendere literarische Experimente mit konventionellen und alternativen Lebensentwürfen. In der Chronik sind alternative Modelle nur möglich unter Beibehaltung des Leitbildes, das sie weiterhin bedauern nicht zu sein. Die Kernfamilie scheint als Leitmodell auf der Ebene des expliziten Figurendiskurses auch in den Akten noch auf: Karl bleibt innerhalb seiner Akten (und vermutlich über sie hinaus) Vater seiner Kleinfamilie. Die Patchwork-Lösungen des Vogelsangs
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können sich vom bloßen Surrogatcharakter, der ihnen in der Chronik noch zukommt, aber deutlich lösen. Die Frage nach der Zweigeschlechtlichkeit des erziehenden Elternpaars beschäftigt dann vor allem die Akten. Bemerkenswerterweise lässt es der Text aber nicht zu, Veltens biographisches Versagen ausschließlich aus seinem Leben ›unter Müttern‹ zu erklären. Nimmt man die Figuren selbst beim Wort, kann man dem Mythem geschlechtlich kodierter (Familien-)Rollen keinen Glauben mehr schenken. Der Eigentumsverdruss Veltens am Ende des Textes ist gleichzeitig ein Verdruss in Bezug auf jede mögliche familiäre Bindung. Velten erinnert auch hier an den Karikaturenzeichner Strobel, der generell bindungsscheu bleibt und schließlich, alles hinter sich lassend, aus der Sperlingsgasse verschwindet. (BA 1, S. 163 ff.) Veltens Kritik ist freilich umfassender. Auch die ›unheilen‹ Familien scheinen für ihn keine echte ›Alternative‹ (im Sinne eines möglicherweise ›anderen‹ Lebensentwurfs) zu sein. Denn selbst bei Amalie und der Fechtmeisterin hat sich längst der bürgerliche Eigentumsdiskurs etabliert – man will einander diesseits und jenseits der Vogelsang’schen Hecken besitzen. Was den Aktenschreiber Krumhardt und den Chronisten Wachholder an den Junggesellen fasziniert, bedroht gleichzeitig deren vertraute, als identitätsstiftend erlebte Kategorien. Vor allem Krumhardts Aufzeichnungen ist eine tiefe Verunsicherung eingeschrieben, die in seiner mal latenten, mal ganz expliziten Bewunderung für Velten liegt: Er ist doch mein Freund gewesen, und ich bin der seinige. Ich habe sein Leben miterlebt, und doch, grade hier, vor diesen Blättern, überkommt es mich von Seite zu Seite mehr, wie ich der Aufgabe, davon zu reden, so wenig gewachsen bin. Ich habe alles erreicht, was ich erreichen konnte; er nichts – wie die Welt sagt – und – wie ich mich zusammennehmen muß, um den Neid gegen ihn nicht in mir aufkommen zu lassen! (BA 19, S. 295)
Velten ist »endemisch gefahrbringend« (BA 19, S. 357), weil er nicht nur einfach ein ›Bürgerschreck‹ bleibt, dessen Lebensweg am Familienmythos trotzigen Zweifel anmeldet, sondern gleichzeitig zum komplizierten Rätsel und magnetischen Pol wird, der auf die ihn Umgebenden Anziehungskraft ausübt. Ausgerechnet Karls Frau Anna gesteht: »[D]ein Freund Velten Andres gefällt mir ausnehmend, und ich kann das um so ruhiger sage, als ich hier gar nicht für mich spreche.« (BA 19, S. 349) Den Männern, mutmaßt sie, müsse Velten besonders gefallen: »[W]äre ich ein Mann […], so müßte ich dann und wann neidisch auf solch einen übrigens im Grunde gräßlichen Menschen werden.« (BA 19, S. 349) Karl und seine Frau Anna können sich zwar faktisch ihres Eigentums an der eigenen Familie sicher sein – dessen Bewertung aber stört der Roman empfindlich.
V Experimente in erstarrten Systemen: Familien in Recht und Literatur im 19. Jahrhundert Als Mytheme, mit denen das Recht seinen Diskurs zur Familie strukturiert, haben sich Ehelichkeit (damit verbunden immer auch Zweigeschlechtlichkeit) und Leiblichkeit herausgestellt (vgl. Kapitel I, 2.1). Zwischen den beiden Begriffen lässt sich eine (nicht immer, aber doch häufig) stabile Hierarchie herstellen: Der Leiblichkeit misst das Gesetz im Regelfall kaum Bedeutung bei, zumindest dann nicht, wenn sich die Kinder einer Partnerschaft durch ihre Geburt im Zeitraum des Bestehens einer ehelichen Gemeinschaft als ehelich und damit als zur Familie gehörig erweisen. Die Frage nach der faktischen Leiblichkeit der Verwandtschaft, die Frage also, ob man es in einem solchen Fall tatsächlich mit genetischer Abstammung zu tun hat, ist innerhalb dieses Kontextes nicht mehr relevant. Präziser: Der eheliche Kontext fingiert die Leiblichkeit der Kinder – auch wenn sie de facto gar nicht besteht. Leiblichkeit wird erst dann zum bestimmenden Faktor für familiäre Verbindungen, wenn die Ehelichkeit eines Kindes sich als problematisch erweist. Die Beziehung zum Vater bleibt dann schwach (beispielsweise entsteht keine rechtliche Verwandtschaft des Kindes zur Verwandtschaft des Vaters). Der Vater ist zwar – kann seine Vaterschaft bewiesen werden – zu Unterhaltszahlungen verpflichtet. Die »Einrede mehrerer Beischläfer« wird die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Beweisführung aber in der Praxis veritabel erschwert haben. Als ›natürlich‹ dagegen (und daher auch als unhintergehbar) wird die Beziehung der Mutter zu ihrem Kind betrachtet. Die Begründung des Gesetzgebers für diese enge Bindung fußt ausschließlich auf dem leiblichen Band zwischen Mutter und Kind. Das Konzept ›Familie‹ marginalisiert im Normalfall der (ehelichen) bürgerlichen Kleinfamilie die Leiblichkeit der Kinder. Familie entsteht auch bei genetischer Nicht-Verwandtschaft. Die Ehelichkeit stellt sich dann als Mittelpunkt familiärer Gründungsakte heraus. Dennoch bleibt das Gesetz auch hier unentschieden. Im Falle einer gemeinsamen (und damit ehelichen) Adoption wird die Nicht-Leiblichkeit zum Hemmschuh nicht-biologischer Familiengründung. Das angenommene Kind bleibt auch rechtlich Teil seiner Ursprungsfamilie, wird damit nie vollständig das ›eigene‹. Rechtlich kodifiziert ist im BGB um 1900 als Ergebnis der Mythos der bürgerlichen Familie, den Thomas Nipperdey als »Familienreligion« beschrieben hat: Die Familie […] ist religiös geweiht, sakrosankt […]. Alle Parteien, alle religiösen Richtungen, alle Klassen teilen diesen Glauben an die Familie: Protestanten, Katholiken und Agnostiker, Konservative, Liberale und auch Sozialdemokraten, wenn man von ein paar intellektuellen Randexistenzen und ihren utopischen Vorstellungen von einer »anderen Familie« absieht.
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V Experimente in erstarrten Systemen
[…] Mit dem Schwinden der religiösen Substanz und der außerweltlichen Antworten auf die Fragen nach dem Lebenssinn dringt die Familie […] in den Rang von etwas Letztem, Sinnstiftendem vor. […] Die dominante Geltung der Familie kommt auch darin zum Ausdruck, daß es die Norm des Erwachsenen ist, verheiratet zu sein. Singles spielen keine Rolle, sie sind nicht wirklich anerkannt […].1
Die gewählten literarischen Texte beschäftigt – ebenso wie das Recht – die Frage nach der Leiblichkeit und nach der Ehelichkeit der familiären Akteure. Stifters Protagonisten scheren sich in ihren Familiengründungen dabei offenbar weder um das eine noch um das andere. Heinrich ist zwar Kind einer bürgerlichen Kernfamilie, der Roman beginnt aber erst, als er sie verlässt, um Sohn einer zweiten Familie zu werden. Im Nachsommer ist nichts, wie es sich der Gesetzgeber um 1900 vorstellen mag. Die Rosenhäuser wirken vor dem Hintergrund der Motive in mancherlei Hinsicht wie ein Hippiekommune Mitte des 20. Jahrhunderts: Heinrich und Natalie sind die Kinder von Risach und Mathilde, nur Natalie aber ist das leibliche Kind von Mathilde. Alle anderen Verbindungen sind wahlverwandtschaftlichen Ursprungs. Darüber hinaus sind die Eltern nicht verheiratet, leben sogar – bei dennoch gemeinsamer Kindererziehung – an getrennten Orten. Das familiäre System der Rosenhäuser ist das Produkt ästhetisch-harmonisierender (und immer auch subjektiver) Setzungen Risachs. Familien sind hier kein Ort objektivierbarer rechtlicher oder biologischer Gründungsakte, sondern Ergebnis selbst gestalteter Performanzen (die sich freilich, das hat die Lektüre gezeigt, immer als unhintergehbar ›tarnen‹). Heinrich heiratet seine eigene Stiefschwester. Das geht auch deshalb, weil Sexualität innerhalb der Rosenhaus-Familie keinerlei Rolle spielt bzw. spielen darf. Während die rechtlichen Diskurse des auslaufenden 19. Jahrhunderts Sexualität innerhalb der bürgerlichen Ehe zu domestizieren versuchen, tabuisiert im Nachsommer ein von Risach erlebtes Trauma (das Ausgeschlossenwerden aus der Familie Mathildes) Sexualität noch in der nachfolgenden Generation. Heinrich und Mathilde werden eine Ehe gründen – ob sie vor dem Hintergrund der nachsommerlichen Erziehung zur Leidenschaftslosigkeit jemals zeugen werden,
1 Thomas Nipperdey: Familie. In: Nipperdey: Deutsche Geschichte. 1866–1918. Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990, S. 43–73, hier S. 43 f. Weiter heißt es: »Daß die Realität der Familie hinter deren Idealen zurückblieb, ist nicht mehr als selbstverständlich und mindert nicht deren Kraft. Auch die brüchige Realität stand unter dem Gesetz der Norm, auch die Gegner der Idealisierungen der Familie oder der Familie überhaupt, die Zyniker, konnten sich der öffentlichen Bekundungen der Norm kaum entziehen. Wer die Familie angriff, stellte sich außerhalb der Gesellschaft […].« (S. 45)
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bleibt fraglich. Am Ende der Biologie scheint bei Stifter ein deutlicher Zweifel an der Möglichkeit familiärer Kontinuität auf. Brigitta greift die familiären Fundamente, wie sie das BGB um 1900 zeigen wird, noch weiter an. Leiblichkeit ist hier ebenso wenig ein Garant für das Bestehen familiärer Systeme wie Ehelichkeit. Stephan und Brigitta leben über die meiste erzählte Zeit der Novelle hinweg gerade nicht als Familie. Die Beziehung der Eltern zueinander wirft zudem Zweifel am Konzept der Zweigeschlechtlichkeit auf. Stephan und Brigitta leben zwar als ›Mann und Weib mit Kind‹ auf dem Land, gerade im Moment ihrer größten Verbürgerlichung aber bricht die Katastrophe in die Familie ein: Brigittas ›Makel‹, hinter der ihre Männlichkeit aufscheint, treibt Stephan in die Arme Gabrieles. Brigitta bleibt bis zum Schluss der Novelle immer auch männlich. Stifters frühe Novelle erprobt damit Mitte des 19. Jahrhunderts einen Ausbruch aus den herrschenden Diskursen zu zweigeschlechtlichem Begehren und vor allem auch zu zweigeschlechtlicher Familiengründung. Das Ehelichkeitspostulat der Motive, das ein Zusammenleben jenseits der Zweigeschlechtlichkeit gar nicht erst in Erwägung zieht, wirkt vor diesem Hintergrund nahezu anachronistisch. Die kleinfamiliären Fundamente, die das Gesetz im ausgehenden 19. Jahrhundert festschreibt, sind bei Theodor Storm genauso wenig sicher. Aquis submersus lässt von den Mythemen des Rechts nichts mehr übrig: Alle Wege zur ›heilen Familie‹ sind versperrt. Leiblichkeit und Ehelichkeit gewähren gerade keine Garantie mehr für stabile familiäre Einheiten: Die leiblichen Geschwister Wulf und Katharina sind einander Feind, die Ehe zwischen Katharina und dem Priester bringt zwar eine rechtlich einwandfreie Familie, aber keine glücklichen Eheleute hervor. Was die Legitimation familiärer Systeme betrifft, glaubt Erzähler und Vater Johannes an die Kategorie der Wesensgleichheit, mit der ja auch Stifter in seinen Texten experimentiert. Anders als bei Stifter endet aber bei Storm das Projekt wahlverwandtschaftlicher Zuordnungen in der Katastrophe. Johannesʼ Beharren auf seinem Recht als Vater des kleinen Johannes und als legitimer Partner Katharinas führt zum Tod seines Sohnes. Die einzige funktionierende familiäre Verbindung, die gegen Ende des Textes aufscheint, ist diejenige zwischen dem Priester und seinem Stiefsohn. Sie lässt sich interessanterweise weder durch eine klassische bürgerliche (Liebes-)Ehe der Eltern noch durch leibliche Verwandtschaft zwischen Vater und Sohn erklären. Wenn in Storms Text vom Glauben an die Familie noch etwas bleibt, dann, so scheint es, hier: im Spontanen, Unerklärlichen. Raabes Texte setzten die Variablen des familiären Diskurses noch einmal unter dem Konzept des ›Patchwork‹ in Bewegung. Ehelichkeit und Leiblichkeit spielen in der Sperlingsgasse zunächst keine Rolle: Johannes Wachholder kümmert sich gemeinsam mit der ebenfalls alleinerziehenden Helene Berg um
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Elise und Gustav. Wie Risach und Mathilde sind sie nicht miteinander verheiratet, lieben einander auch nicht. Die nachbarschaftlichen Dienste sind aber, das konnte die Analyse zeigen, gerade kein freier Akt familienperformativer Gestaltung. Die Chronik der Sperlingsgasse orientiert sich durch das Patchwork seiner Figuren hindurch – vielleicht mehr als alle anderen gewählten literarischen Texte dieser Zeit – am Mythos der heilen Familie. Die bürgerliche Kernfamilie ist gerade deshalb der wunde Punkt der Protagonisten, weil er biographisch ›verpasst‹ wurde oder von Anfang an unmöglich war. Was Wachholder mit Elise erlebt, scheint immer auch ›uneigentlich‹. Gassenfreund Wimmer gelingt, worauf alle insgeheim hoffen: die Gründung einer ›Normfamilie‹. Raabes Junggesellen sind es, die die familiäre Matrix der Texte gehörig durcheinanderbringen. Aus seinem Zweifel am kernfamiliären System macht schon Ulrich Strobel in der Chronik keinen Hehl – wirklich perfektioniert hat die Familienkritik aber Velten Andres in den Akten des Vogelsangs. Seine Eigentumskritik, die im großen Autodafé ihren Ausdruck findet, ist immer auch Familienkritik: Der Weltüberwinder Velten ist das Besitzen leid. Dinge muss er genauso loswerden wie familiäre Bande. Damit ist er im bürgerlichen Sinn gescheitert. Gleichzeitig ist seine Geschichte aber auch diejenige einer heldenhaften Befreiung aus letztlich auch kontingent erscheinenden bürgerlichen Zwängen. Der Vogelsang kontrastiert ›vollständige‹ mit ›unvollständigen‹ Familien: Karls Mutter-Vater-Erziehung steht zunächst Veltens Mutterfixierung gegenüber. Die Ideologie der Zweigeschlechtlichkeit unterläuft der Text aber immer wieder, denn Veltens Versagen lässt sich aus dem Mangel an väterlichem »Griff«, wie der Text es nennt, nicht eindeutig erklären. Im Vogelsang gelingt eine Befreiung der Familie aus kernfamiliären Strukturen auch insofern, als das dortige Patchwork sich von einer Orientierung an der Normfamilie frei macht. Mütterlichkeit wird zum Prinzip, das von mehreren möglichen Protagonistinnen ausgefüllt wird: Karl kann deshalb genauso wie Helene und Velten Kind mehrerer Mütter sein. Leiblichkeit ist so auch im Vogelsang keine notwendige Bedingung für das Entstehen von Familien. Helene, Velten und Karl begreifen sich, trotz unterschiedlicher genetischer Eltern, immer auch als Geschwister. Ehelichkeit und Leiblichkeit werden in den gewählten literarischen Texten als Variablen literarischer Experimente aufgegriffen und je verschieden akzentuiert. Die Ehelichkeitskonzepte der Texte bleiben einander dabei nicht gleich: Die Ehe der Eltern Karl Krumhardts im Vogelsang ist eine durchweg bürgerliche; Brigittas Ehe mit Stephan löst sich von der Bindung an das Postulat der Zweigeschlechtlichkeit; die Beziehung zwischen Storms Katharina und dem Priester besteht offenbar nur auf dem Papier, lässt sich jedenfalls nicht an die Zuneigung der Ehepartner zueinander rückbinden. Während das Recht ›die‹ Ehe als Institut kennt, kennt die Literatur ihr Spektrum.
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Die Begründung einer Familie im leiblich-ehelichen Kontext weicht bei den meisten Texten (Die Chronik der Sperlingsgasse bildet hier die Ausnahme) dem Versuch, Familien wahlverwandtschaftlich zu begründen. Das heißt nicht, dass ihre Strukturen beliebig wären oder gar in jedem Fall den Akt ihrer subjektiven Gründung offenlegten. Stifters Familien begreifen sich gerade nicht als subjektives Performativ; die Strategien der Objektivierung, die gerade auch den Familiendiskurs steuern, sind sowohl im Nachsommer als auch in Brigitta deutlich. Selbst zu bestimmen, wer unter welchen Bedingungen zur eigenen Familie gehört, ist den Texten ein neugieriges Experiment wert – das allerdings auch in der Katastrophe enden kann. In Aquis submersus sind es Johannes’ Neuordnungen, die verantwortlich zeichnen für den Tod des Sohnes. Und auch im Vogelsang ist man sich mit den alternativen Familienmodellen keineswegs sicher. Durchaus kann es glücken, sich nachbarschaftlich-familiär unter die Arme zu greifen: Die Erziehung Helenes durch ihre zweite Mutter Amalie zeigt das; auch Karl fühlt sich bei Amalie bisweilen wohler als in seiner leiblichen Familie. Diese Begegnung mit dem familiär ›Anderen‹ aber ist es dann auch, die Karl sein Leben lang nicht loslässt. Seine Identität als ›guter Bürger‹ gerät vor allem ins Wanken, weil er eben nicht nur der Sohn einer bürgerlichen Kleinfamilie ist.
VI Väter wider Willen: Clemens J. Setz’ Würfel und Wilhelm Genazinos Familienfurcht Im 21. Jahrhundert beschäftigt das Recht vor allem die prekär gewordene Vaterrolle. Vaterschaften lassen sich auf dreifachem Weg juristisch legitimieren (vgl. Kapitel I, 2.2.2.1): mit der Zustimmung der Mutter durch die Anerkennung des Kindes als das eigene, durch gerichtliche Feststellung und – am einfachsten – durch die Ehe mit der Mutter. »Vater eines Kindes ist […] der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist«, bestimmt § 1592 BGB. Dem rechtlichen System ist die Narration eines beinahe ›automatischen‹ Entstehens einer Familie inhärent, das die Protagonisten der beiden folgenden Texte essentiell beschäftigt. Genazinos Gerhard Warlich soll heiraten, Setz’ René Templ hat es bereits getan. Beide Männer wirken gefangen im scheinbar alternativlosen sozialen Raum der Kleinfamilie. Den Texten gelingt auf je unterschiedliche Weise die Entdeckung einer narrativen Struktur, die dem kernfamiliären Zwang zugrunde liegt.
1 Clemens J. Setz: »Kubische Raumaufteilung« 1.1 Krankheit als Metapher1 Kevin, der Sohn des Schriftstellers und Familienvaters René Templ, aus dessen Perspektive Setz’ Text hauptsächlich erzählt wird,2 leidet unter einer nicht näher diagnostizierten Lungenkrankheit. »Es ist der Sauerstoff« (KR, S. 13), klagt Templs Ehefrau, vermutlich ein Mangel daran, denn Kevin ist vor allem »müde«, und zwar »[r]ichtig, nicht bloß schläfrig«. (KR, S. 12) Der Sohn Templs ist kon-
1 Susan Sontag zeigt unter diesem von ihr entlehnten Titel natürlich zu Recht, dass Krankheit im nicht-literarischen, realgesellschaftlichen Kontext »keine Metapher ist und daß die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen – und die gesündeste Weise, krank zu sein – darin besteht, sich so weit wie möglich von metaphorischem Denken zu lösen, ihm größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen« (Susan Sontag: Krankheit als Metapher. München 1978, S. 5). 2 Unterbrochen wird die interne Fokalisierung durch René nur in einer kurzen Fokalisierung durch seinen Sohn Kevin: »Kevin kam aus der Toilette. Er war entsetzlich müde. Um die Ecke, in ihrem Zimmer saß seine Mutter am Telefon und sprach mit einem Immobilienmakler […]. Dann hörte man die Gartenpforte, ein Geräusch wie das Zähneknirschen eines Säuglings. Sein Vater kam. Schnell verschwand Kevin in seinem Zimmer. Er setzte sich auf sein Bett und ließ seinen Körper zu Atem kommen. Verdammtes Treppensteigen.« (Clemens J. Setz: Kubische Raumaufteilung. In: Setz: Söhne und Planeten. München 2010, S. 11. Im Folgenden zitiert als KR.)
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stitutionell ein alter Mann. Er »setzte sich auf sein Bett und ließ seinen Körper zu Atem kommen« (KR, S. 11), schimpft auf das »verdammte[ ] Treppensteigen« (KR, S. 11); sogar sein Gesicht erinnert den Vater an das »eines alten Mannes« (KR, S. 23). Intertextuell oszilliert Setz’ Sohn zwischen den beiden lungenkranken Mann’schen Figuren Hans Castorp und Thomas Buddenbrook auf der einen Seite und dem schwächlichen Hanno Buddenbrook. Der hat zwar kein Lungenleiden, seine kränkelnde Präsenz innerhalb der Familie ist aber gewissermaßen das Memento mori der Buddenbrooks. Wie bei den Texten Thomas Manns darf man die Krankheit des Sohnes auch bei Setz nicht nur als ein zufälliges Schicksal lesen. Sie denotiert hier wie da immer auch die Krise eines genealogischen, familiären Systems, deren letzte Vertreter René und Kevin sind. Templs Schwierigkeiten kulminieren in der Verweigerung seiner Vaterrolle. »Warum tust du nicht, was du tun kannst? Für dein Kind …« (KR, S. 14), will Ehefrau Jacqueline wissen. Templs Widerstand gegen seine Vaterrolle liegt in ihrer Bewertung als »jämmerliche[m] Instinkt« (KR, S. 25), mit dessen Unterdrückung er gerade dann beschäftigt ist, wenn Kevin genau diesen »Instinkt« deutlich einklagt: Kevin schüttelte den Kopf, berührte nun schon fast das Hosenbein seines Vaters. Mutig, dachte Templ, und für einen Augenblick musste er der Versuchung widerstehen, seinen Sohn aufzuheben und ihn sich auf die Schultern zu setzen. Woher die Kraft für diesen Widerstand kam, war unklar, aber sie war schon seit Jahren da, Tag für Tag, ein zäher Widerstand, ein subversives Vatersein. (KR, S. 24 f.)
Templ ist und bleibt im Verlauf der Novelle nur ein Kopf, der sich von allen Zudringlichkeiten seines grausamen Schicksals mit Büchern und ähnlichem Blödsinn ablenkte. Unterdessen ging sein Sohn vor die Hunde, wurde langsam zerfleischt von den offenen Stellen in seiner Lunge. (KR, S. 47)
Die Krise der Familie ist hier in erster Linie eine Krise der Vaterschaft: Templ verweigert sich seiner Rolle, entzieht sich seinen Aufgaben als Vater. Begibt man sich auf die Suche nach der Ursache für Templs Fluchtverhalten, beginnt man am besten mit der Analyse der Räume, um die sich in Templs Leben alles dreht. Setz’ Familiengeschichte ist nämlich immer auch die Geschichte einer Familie im und als Raum.
1.2 Würfeliges: Familie im/als Raum Räumliche Diskurse und Erlebnisse der Figuren im und mit dem Raum, insbesondere Templs (dessen Namen ja bereits auf einen Ort verweist), durchziehen
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die Novelle. Eine ausdrückliche Reflexion auf die Möglichkeiten des Raums setzt genaugenommen schon mit dem Titel der Novelle ein, der gleichzeitig der Name eines Bildes von Maurits Cornelis Escher ist. Der Text selbst liefert in der erlebten Rede Templs eine Bildbeschreibung: »Ein merkwürdiges Bild: Ein endloser Raum, angefüllt mit den immer gleichen geometrischen Figuren. Würfel, miteinander verbunden durch längliche Quader.« (KR, S. 10) Templ greift das Bild einige Passagen später im Zusammenhang mit seinem Sohn auf – und bindet es damit sofort an den familiären Diskurs des Textes. Renés Frau vermutet hinter dessen Symptomen zwischenzeitlich eine allergische Reaktion und drängt auf den Umzug der Familie, den Templ im Rückgriff auf die Würfelmetapher zurückweist: Was hatte ein Umzug in ein anderes Haus für einen Sinn? Es war doch überall dasselbe: Vier Wände, die einen Raum einschlossen, in dem man sich vor den Gezeiten verstecken konnte. Würfel, das war es, nichts anderes, Würfel in der Landschaft. Davon wurde keine Krankheit besser. Man tauschte einen Würfel gegen einen anderen, das war alles. (KR, S. 17)
Später wiederholt sich diese Beschreibung des Wohnraums als Würfel: Templ flüchtete in sein Arbeitszimmer und setzte sich hinter den Schreibtisch. Seine Hände zitterten. Wieder war alles auf so schrecklich bedrängende Weise da: vier Wände, ein Zimmer, Fenster. Räume: Würfel, in die man sich flüchten konnte oder in die man gesperrt wurde. Einen anderen Unterschied gab es nicht. (KR, S. 30)
Hier offenbart sich deutlich eine Doppelnatur des Raums als zugleich Käfig und Rückzugsort. Templ wird vor dem Hintergrund des Würfelbildes eine Figur des Raums: Bedrohlich oder beruhigend – auf jeden Fall aber immer Gegenstand seiner Beobachtung und seines Empfindens – ist ihm das, was ihn unmittelbar umgibt. Die Flucht vor seiner Frau (»Nur kurz aufs Klo«, KR, S. 14) endet nicht, wie geplant, mit befriedigender Masturbation, sondern mit einem ernüchternden Blick auf die Toilette als Gefängniszelle: »Ein Waschbecken gab es, einen Handtuchhalter, keine Fenster.« (KR, S. 17) Von der ersten Seite der Erzählung an ist der Lebensraum Renés immer auch der Raum der Familie. Zudem ist das prägendste Erlebnis Renés mit seinem Sohn, von dem der Text berichtet, eine gemeinsame Begegnung im und mit dem Raum; es findet in einem »mittelgroße[n] Glaskasten« (KR, S. 24) statt, in dem die Lungenfunktion des Kleinen gemessen werden soll. Vater und Sohn reagieren gleichermaßen klaustrophobisch auf das drohende Eingesperrtsein: »[…] Kevin drängte sich an ihn, hatte Angst vor dem Käfig, ein zitterndes Tierjunges. Und es half nichts, wie immer, es half nichts und niemand. Er musste mit hinein.« (KR, S. 25 f.)
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1.3 Klein und weg? Renés doppeltes Verhältnis zu Räumen intensiviert sich, als er beginnt, regelmäßig zu schrumpfen. Erstmals geschieht das im Keller seines Hauses, nachdem er kurz zuvor den Umzug abgelehnt hat. Auf der nächtlichen Suche nach Beschäftigung (»[d]ie Dartscheibe im Keller montieren«, KR, S. 20) reicht er plötzlich nicht mehr an die Böden des Kellerregals: Templ versuchte, seinen Körper in die Höhe zu strecken, aber er gelangte gerade einmal bis zum vorletzten Regalboden, auf dem giftige Farbdosen standen und ihre Etiketten abschwitzten. […] Nichts zu machen. […] Er reichte jetzt nicht einmal mehr bis zu den Magazinen. Er war nicht viel größer als sein Sohn! (KR, S. 21)
Aber auch im Zusammenhang mit diesen Schrumpfungen wird der sich vergrößernde Raum nicht nur als bedrohlich wahrgenommen. Als es ihm bei einem weiteren Anfall gelingt, sich in die Schublade seines Schreibtisches zu retten, findet Templ dort eine Ausgabe von Tschechows Der Mensch im Futteral. An Tschechows Protagonist war bekanntlich die beständige und unbezwingbare Neigung zu beobachten, sich mit einer Schicht zu umgeben, sich sozusagen ein Futteral zu schaffen, das ihn absondern und vor äußeren Einflüssen schützen sollte.3
Die Schublade wird Templ – ähnlich wie dem Lehrer bei Tschechow schließlich auch sein eigener Sarg – zum Schutzraum: »Auch hier war es sehr eng, so wie im Glaskäfig heute Vormittag … nur war die Enge jetzt sehr angenehm.« (KR, S. 31) Templs Haus steht »versteckt zwischen zwei imposanten Mehrfamilienhäusern« als Nukleus der klassischen Kernfamilie, deren Bewohner Vater, Mutter und Kind sind. Als angenehm empfindet der Schriftsteller sein Haus, weil es in ›Ellbogenfreiheit‹ zu den umgebenden Häusern steht: »Kein Schulter-an-Schulter-Stehen wie bei einer zum Appell angetretenen Schulklasse. Man konnte es, wenn man rastlos war oder es im Haus nicht aushielt, lange umrunden und sich gut überlegen, ob man wieder zurückkehren wollte.« (KR, S. 11) Anderes als bei seinem Arztbesuch mit Kevin, der ihn ›in den Käfig‹ zwingt, kann Templ mit Blick auf sein Haus ›außen bleiben‹. Ist das nicht möglich – weil die familiäre Dynamik ihn zu Interaktionen zwingt, schrumpft er, bis er in eine Schreibtischschublade
3 Anton Tschechow: Der Mensch im Futteral. In: Tschechow: Der Tod des Beamten/Der Dicke und der Dünne/Der Mensch im Futteral. Russisch/Deutsch. Hg. von Martin Schneider. Stuttgart 1986 [russ. 1898], S. 18–53.
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passt. So wird das Innen des Hauses zum Außen der Schreibtischschublade – und die Schublade zum Schutzraum.4 Templs Haus ist ein ›Raum der Familie‹, zu dem er immer wieder Abstand sucht. René liebt seine Freundin Natalie – vor allem aber auch ihren Stadtteil, »weil er sehr weit von seiner Wohnadresse entfernt lag. Wenn er von dieser wohltuenden Ferne wieder genug hatte, fuhr er mit der Straßenbahnlinie 7 bis zur Eggenberger Allee.« (KR, S. 10) Die Situation mit Sohn Kevin im Glaskasten wird für René erst dann angenehm, als es ihm gelingt, eine positiv besetzte, ähnliche Situation des engen Raums zu assoziieren – die allerdings deutlich vor der Familiengründung liegt: Das war doch alles nicht so schlimm, in Wirklichkeit. So wie damals, als er mit seiner Frau – damals noch seine Freundin, Studentin der Rechtswissenschaften – in einer Telefonzelle den Regen abgewartet hatte, in einer angenehm engen Telefonzelle. Siehst du? Da war die Enge angenehm gewesen. Damals hatte er sie geküsst, draußen das Rauschen des Regens, sie beide leicht bekleidet. (KR, S. 26)
Die »Heimkehr« (KR, S. 9) in den familiären Raum ist hingegen die Rückkehr in die bedrohliche Enge eines von Mutter Jacqueline kontrollierten Raums: »Templs erster Impuls riet ihm zur Umkehr. […] Er hatte Angst vor seiner Frau.« (KR, S. 13) Statt Bewegungsfreiheit bietet das Haus Schrittkontrolle: Am besten auf die Toilette. Er setzte sich in Bewegung. – Himmelherrgott, er war noch nicht einmal dazu gekommen, die Schuhe auszuziehen. Aber Gott sei Dank hatte sie den verbotenen Schritt über den Teppich nicht bemerkt. Schnell zurück. […] – Wo, wo willst du hin? (KR, S. 14)
4 Die Schrumpfung Templs in seinem Arbeitszimmer erinnert an Kafkas Gregor Samsa: »Am Schreibtischsessel angekommen stellte er fest, dass er nicht mehr hinaufkam, sein Becken war zu niedrig – also kletterte er auf den Sessel, wie man zum ersten Mal auf ein Reitpferd klettert: mit allen Vieren strampelnd wie ein Käfer.« (KR, S. 31) Auch Samsas Verwandlung befördert ihn in ein Außen der familiären Struktur, in dem Kritik an eben dieser erst möglich wird – ein Vergleich, der meine Lektüre stützen kann. Gregors Verwandlung findet in seinem eigenen Zimmer statt, mit seiner Familie kommuniziert er nur durch geschlossene Türen: »Infolge der Holztür war die [durch die Verwandlung bedingte, AM] Veränderung in Gregors Stimme draußen wohl nicht zu merken […]. [U]nd schon klopfte an der einen Seitentür der Vater, schwach, aber mit der Faust. […] An der anderen Seitentür aber klagte leise die Schwester […]. […] Gregor aber dachte gar nicht daran aufzumachen, sondern lobte die vom Reisen her übernommene Vorsicht, auch zu Hause alle Türen während der Nacht zu versperren« (Franz Kafka: Die Verwandlung: In: Kafka: Gesammelte Werke. Hg. von Max Brod. Band 4: Erzählungen. Frankfurt am Main 1946, S. 69–142, hier S. 74 f.).
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Templs Raumerfahrungen sind Erfahrungen mit dem Raum der Familie. Einem Außen, das als beengend erfahren wird, kann der Protagonist nur entweichen, indem er sich schrumpfend entzieht, damit an die (Vater-)Rolle, die der soziale Raum ihm abverlangt, buchstäblich nicht mehr ›heranreicht‹. Familien lassen sich vor dem Hintergrund des Raumparadigmas als soziale Räume lesen, die immer auch als Begrenzung des Individuums erfahren werden. Die Ursachen für Templs Schwierigkeit, Vater zu sein, sind aber noch ein wenig komplizierter. Der Text hält weitere Reflexionen auf Eschers Bild bereit, insbesondere betreffen sie die Legitimation räumlicher Ordnungen.
1.4 Familienkrise: Raumkontingenz und Psychomythos Die Familie ist in Setz’ Text ein Ort der Krise. Metaphorisch kleidet sich diese Krise in die Krankheit des Sohnes, sie äußert sich außerdem im Fluchtinstinkt des Vaters. Gleichzeitig lässt sie sich diskursiv auf einer weiteren Ebene an die Reflexion auf das Raumparadigma anbinden. Templs klaustrophobische Disposition arbeitet sich an Eschers Kubischer Raumaufteilung als einem Gedankenexperiment ab, das, – folgt man der Ekphrasis Natalies – die Frage nach der Notwendigkeit der Geometrie des Raums aufwirft. Renés Geliebte Natalie findet: Es ist das ironischste Bild von allen […]. Es ist völlig egal, womit der Raum ausgefüllt wird, will der Maler sagen. Das ist mir erst angesichts dieser total fantasielosen Geometrie klar geworden. Und es ist egal, wie ihr euch auf der Welt verteilt. […] Ganz egal wie, ganz egal wo. Es ändert sich dadurch nichts. Genau das sagt das Bild. Jeder baut einen soliden Kubus um sich und legt ein paar Kommunikationskanäle zu den anderen. Mehr gibt es nicht. (KR, S. 42 f.)
Hinter Eschers starrer Geometrie vermutet Natalie ein nihilistisches Bekenntnis zur Kontingenz sozialer Strukturen. Sinnstiftend oder gar ›natürlich‹ sind diese Strukturen nicht, sie wirken zwar auf den ersten Blick unumstößlich und stabil, denotieren aber letztlich nur die absolute Zufälligkeit der angeordneten Elemente. Übertragen auf die (immer auch sozialen) Räume des Textes ließe sich sagen: Familien als soziale Räume sind eine kontingent entstandene Möglichkeit, sich ›auf der Welt zu verteilen‹ – aber dabei weder sinnstiftend noch ›natürlich‹. Dieses Bekenntnis zur Zufälligkeit sozialer Räume könnte René Templ theoretisch aus seinem ›Familiengefängnis‹ befreien. Sein Gefangensein im familiären Raum, das ständige, kafkaeske Schrumpfungsexzesse evoziert, wäre vor dem Hintergrund dieser Lesart nur ein scheinbares – weil jede soziale Ordnung immer auch eine konstruierte, niemals metaphysisch begründbare ist.
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Natalies Ekphrasis allerdings schließt mit einem Zweifel an der Richtigkeit dieser Bildbotschaft: »Das Geniale ist, dass das Bild so Recht hat, wie man es nur haben kann, sich aber gleichzeitig total irrt. Vollkommen.« (KR, S. 42) Templ selbst erscheint das Bild wie eine überraschende, dabei viel zu einfache und elegant erschlichene Lösung für ein komplexes Problem. Gleichzeitig wirkte es, betrachtet man es lange genug, fast sarkastisch, sogar ein wenig boshaft. (KR, S. 43)
Soziale Gefüge wie die Familie sind mit Eschers Modell nihilistischer Kontingenz nicht zu fassen – die Dinge liegen komplizierter. Templs Schrumpfungen verlangen dem Leser eine andere Lektüre ab. Denn der Familienvater schrumpft ja, weil er nur so dem als zwingend erfahrenden sozialen Raum entkommen kann. Nur schrumpfend gelingt es ihm, die Macht des Raumes über ihn zu einem beruhigenden Erlebnis oder sogar zur Macht seiner selbst über den Raum zu verkehren. Das »komplexe[ ] Problem« (KR, S. 43) liegt im Zwang der mythischen Rede, in der die familiären Protagonisten innerhalb der Struktur des Textes gefangen bleiben. Denn nicht nur das Raumparadigma greift der Text wiederholt auf, auch psychoanalytische Konstellationen beschäftigen Templ und den Erzähler. Mein Lektürevorschlag für Templs Problem lautet: Der (psychoanalytisch semantisierte) kleinfamiliäre Mythos bringt seine Erfahrung der Familie als einem ›engen Raum‹ hervor. Walter Erhart hat in seiner Studie zu »Familienmännern« auf die Installation unhintergehbarer, psychoanalytischer Muster im familiären Diskurs hingewiesen. Sigmund Freuds ödipale Narrationen, insbesondere aber deren Weiterentwicklung durch Jacques Lacan, schreiben dem Individuum die Geschichte einer familiär institutionalisierten Subjektwerdung auf den Leib, deren Deutungshoheit es kaum entrinnen kann: »Die […] ödipale Struktur der Familie wird […] als das Gesetz des Vaters universalisiert und erhält einen ähnlich ›archaischen‹ und systematischen Stellenwert.«5 Lacan habe »die Freudschen Theorien über die individualpsychologische Geschichte der Geschlechtsidentitäten […] enthistorisiert und in ein Modell zeit- und geschlechtsloser Subjektspaltung übersetzt«6. Templ erkennt im kleinfamiliären Raum mit den psychoanalytischen Narrationen Strukturen, die das Individuum ›formen‹, es gewissermaßen (in der Logik der Psychoanalyse) erst hervorbringen. Wer Vater werden will (oder soll), muss vorher aufhören, ein Sohn zu sein – Templ aber schrumpft auf die Größe eines
5 Erhart: Familienmänner, S. 36. 6 Erhart: Familienmänner, S. 37.
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Kleinkindes, dann sogar eines Fötus zurück: Er verweigert sich so nicht nur dem Vatersein, sondern in letzter Konsequenz auch der linearen Subjektwerdung psychoanalytischer Erzählung. Die den Text abschließende Schrumpfung beim Sex mit Natalie zeigt das besonders deutlich. Sie bildet den Versuch Templs ab, familiär konnotierten Räumen zu entkommen, die zwar einerseits jede natürliche Rückbindung eingebüßt zu haben scheinen. Andererseits sind sie aber immer auch mit mythischen – hier konkret: psychoanalytischen – Geschichten angereichert. Die Schrumpfung ist zunächst eine panisch erfahrene Demütigung: Templ war zusammengeschrumpft auf die Größe einer Handpuppe, nur eine absurde Erektion von normalen Ausmaßen stand daraus hervor, und auch sein Kopf war beinahe gleich groß geblieben. (KR, S. 45)
Das Entsetzen über die eigene Monstrosität hält an, bis es Templ gelingt, auch in dieser Situation die Optionen des Raums, abhängig von seiner Größe, neu zu erfahren. Er entdeckt, dass er »bei Anstrengung schrumpfte und wuchs, wenn e[r] las« (KR, S. 46). Diese Entdeckung führt zu einer sexuellen Raumphantasie, in der als Raum der Körper Natalies dient. In einer Imagination, die Penetration, Zerstörung und Geburt miteinander verbindet, sprengt Templ seine Geliebte: Eine Vision stellte sich ein, ein Fiebertaumel. Sein kleiner Körper, bis zum Hals in Natalies Vagina. Nur der Kopf mit Lesebrille […] schaute hervor, wie bei einer Geburt. Und nehmen wir weiter an, ihr gefiele das und sie hielte ihn wie ein Sexspielzeug und schöbe ihn sich in die Vagina, zöge ihn an den Haaren wieder hervor und rammte ihn zurück […]. Und was, wenn er in dieser Stellung etwas zu lesen bekäme, irgendeine Nachricht, auf der Decke zum Beispiel … er würde wachsen, über sich hinaus – und den warmen Tunnel sprengen, Natalies zierlichen Körper. (KR, S. 57)
In einer ihn sexuell erregenden Allmachtsphantasie beherrscht und zerstört Templ den ihn umgebenden Körperraum, der ein familiärer, mütterlicher ist. Geboren wird in dieser Szene er selbst – und seine Geburt ist gleichzeitig der Moment, in dem er seine mütterliche Geliebte vernichtet. Aus dem schrumpfenden, hilflosen Vater wird hier ein die Mutter begehrender und sie gleichzeitig aber auch zerstörender Ödipus. Der Ausbruch aus einem familiär konnotierten Raum (Natalie ist Gebärende und Mutter) ist so ein Ausbruch aus mythischen psychoanalytischen Narrationen, die der eigentliche Auslöser für Templs Flucht sind. In der Realität des Textes gelingt die Flucht aus diesen mythischen Strukturen kaum. René soll ›instinkthalber‹ die Vaterfigur sein, die der familiäre Raum ihm diktiert – er ist zugleich ›natürlich‹ der Vater seines Sohnes und lebt in absoluter Entfremdung von dieser Rolle. Seine Vaterschaft sucht ihr Vorbild deshalb
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in Defoes Journal of the Plague Year7, das Templ bei Natalie entdeckt. Defoes Held sorgt während der Pest für seine erkrankte Familie – und er tut das in sicherem Abstand. »Ich wende mich nicht von ihnen ab; ich tue für sie, was ich kann. Und außerdem – gelobt sei der Herr – verhindere ich, dass sie Not leiden« (zitiert in KR, S. 50). Gleichzeitig kann und muss der Vater zur Familie Abstand halten, will er nicht selbst Opfer der Krankheit werden: »Naja«, sagte er, »das da ist mein Haus«, und er zeigte auf ein sehr kleines Bretterhäuschen, »und da leben meine arme Frau und meine zwei Kinder – wenn man es überhaupt leben nennen will, denn meine Frau und eins der Kinder sind krank, und ich gehe nicht mehr zu ihnen« (zitiert in KR, S. 49).
Die subversive Vaterschaft Renés will sich in sicherem Abstand zu den Bedürfnissen seiner Familie entwickeln – das aber lässt, anders als bei Defoes Ausnahmezustand, die räumliche Konstellation nicht zu. Im Bild Eschers hält die Kontingenz und ›Nicht-Natürlichkeit‹ sozialer Räume Einzug ins Bewusstsein der Figuren. Mit Walter Erhart könnte man meinen, den Figuren sei darüber hinaus auch klar, dass die »Psychoanalyse Freuds und Lacans, mit ihrer Konzentration auf eine originäre Mangelerfahrung des Subjekts und dessen Disziplinierung durch das väterliche Gesetz, […] keine Einsichten in zeitlose Wahrheiten«8 bietet, sondern lediglich eine mögliche Familiengeschichte darstellt. Aber die Krise des familiären Raums im Text ist eine doppelte. Während er auf der einen Seite seine Natürlichkeit einbüßt (weil er mit Escher als sozial konstruiert, als arbiträr erkannt wird), behält er auf der anderen Seite (durch den psychoanalytischen Mythos) seinen zwanghaften Charakter, vor dem Templ die Flucht antritt. Templ erfährt die bürgerliche Familie als zwingenden und beengenden Raum, dessen Anforderungen er als »Homme de lettres« (KR, S. 53) nicht standhält. Ein Außerhalb der Strukturen kann er sich nur geschrumpft in ihrem Inneren vorstellen, wo er neben Tschechows Opus selbst zum »Menschen im Futteral« wird, der sich vor der Rolle des Familienvaters schützt. Die Inszenierung der Vaterschaft gelingt im Lauf des (gesamten) Romans eigentlich nur dort, wo sie entweder imaginiert oder bereits vorbei ist. In Karl Senegger findet Templ in der zweiten Novelle (»Fuge zu Ehren des Sonnensystems«) eine intellektuelle Vaterfigur. Senegger selbst hat soeben seinen Sohn Victor verloren, dem er Zeit seines Lebens eine ausagierte Vaterschaft schuldig
7 Daniel Defoe: A Journal of the Plague Year. Authoritative Text, Backgrounds, Contexts, Criticism. New York/London 1992 [1722]. 8 Erhart: Familienmänner, S. 35.
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geblieben ist. Templ soll sich nun, gemeinsam mit Senegger, um die Herausgabe des literarischen Werkes Victors kümmern – die Inszenierung der Vaterrolle ist damit ins Posthume verschoben und wird, wenn überhaupt, erst in sicherer Distanz möglich.
2 Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten 2.1 Konstellation: Ödipal Mit der Verweigerung, eine Vaterrolle im psychoanalytisch semantisierten, kleinfamiliären Raum einzunehmen, ist Setz’ Protagonist kein Einzelfall. Wilhelm Genazinos promovierter Philosoph Gerhard Warlich leidet darunter, dass die langjährige Freundin Traudel »nun doch geheiratet werden«9 will. Es ›droht‹ die Familiengründung, denn Traudel will außerdem ein Kind (vgl. GGZ, S. 28). Schon von einer Ehe aber fühle er, Warlich, sich »stark eingeschränkt« (GGZ, S. 21). Für ihn bedeute das die »Zerstörung unserer jetzt so schönen Verhältnisse« (GGZ, S. 30). Die »Verhältnisse« zwischen Gerhard und Traudel sind gekennzeichnet durch ein überreguliertes Nebeneinanderherleben, in dem es Warlich verboten ist, »mich über Traudels Abendgarderobe lustig zu machen«, Traudel sich im Gegenzug nicht über Warlichs »Alltagskluft zu mokieren« hat (GGZ, S. 65). Gerhard kommt im Kräftefeld der Beziehung dabei eindeutig die schwächere Rolle zu: Allerdings hat Traudel einen starken Gestaltungsdrang, dessen Opfer auch ich zuweilen werde. Es irritiert mich bis auf den heutigen Tag, daß Traudel, als wir zusammenzogen, von meiner damaligen Einrichtung so gut wie nichts für unsere gemeinsame Wohnung übernehmen wollte. Sie setzte es durch, daß ich die Sperrmüll-Abfuhr anrief und dann auch noch selbst dabei zusah, wie meine gesamte Einrichtung, mit der ich doch jahrelang gelebt hatte, von zwei Männern auf einen großen LKW geladen wurde und dann in einer Müllverbrennungsanlage verschwand. (GGZ, S. 17)
Warlich taugt nicht zum Vater, dieser Verdacht drängt sich hier auf, weil er das Kind seiner mütterlichen Partnerin ist; darauf deutet auch die infantilisierte sexuelle Beziehung der Figuren zueinander hin. »Ich bin kraftlos«, erzählt Warlich, »und ein wenig unentschlossen, grabe mit der Hand nach Traudels seitlich abge-
9 Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten. München 2009, S. 21. Im Folgenden zitiert als GGZ.
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rutschter Brust, hebe sie nach oben und schiebe mir kindisch die Brustspitze in den Mund.« (GGZ, S. 16) Die Sexualität des erwachsenen Mannes gleicht einer ödipalen Verschiebung des Begehrens von der Mutterbrust zur Brust der Partnerin. Die Brust der Mutter glaubt Warlich – offenbar auch im Einverständnis mit der Mutter – als Kind zu besitzen: Ich hatte als Kind tatsächlich die Vorstellung, ich sei der Besitzer der Brüste meiner Mutter. Ich war beruhigt und momentweise sogar sorgenfrei, wenn ich dabei zusehen konnte, wie sich meine Mutter mehrfach am Tag von oben in den Ausschnitt griff und eine der beiden irgendwie verrutschten Brüste wieder ordentlich in den Büstenhalter zurückschob. Sie lachte mich an, wenn sie merkte, daß ich sie dabei beobachtete. (GGZ, S. 76 f.)
Die Symbiose mit der Mutter wird beim erwachsenen Warlich allerdings nie gelöst. Warlich bleibt, so könnte man sagen, bei der Mutter: »Als meinen Wohnort könnte ich eigentlich angeben: Ich bin Untermieter bei Traudels Busen.« (GGZ, S. 62) In Warlichs ›Kindlichkeit‹ und ›Lebensuntüchtigkeit‹ wird so eine andere familiäre Verhinderungsstrategie als bei René Templ lesbar. Der Familiengründung hofft Warlich nicht durch Schrumpfung oder Sprengung der ödipalen Narration zu entkommen, sondern indem er bereits in seiner Paarbeziehung zu Traudel alle Akteure der Kleinfamilie bereitstellt: Er ist Kind und Mann zugleich.
2.2 Zurück zur Natur? Die Familie als kulturelles Fatum Warlich fürchtet offenbar ähnlich wie Templ die Wiederholung mythologisch erstarrter familiärer Narrationen. Bei einer Aufführung des Stücks Eines langen Tages Reise in die Nacht von Eugene O’Neill,10 die er mit Traudel besucht, konkretisiert sich seine Familienfurcht: Ich höre den Nörgeleien der Hauptfigur mit wachsendem Interesse zu und erinnere mich dabei an ähnliche Beschwerden meines Vaters. Genau wie die Theaterfigur überwarf er sich mit dem von ihm gewählten Leben. Auch mein Vater wurde nicht damit fertig, daß er einen Beruf, eine Wohnung, eine Frau und Kinder hatte. Die meisten Männer, glaube ich, verstehen nicht, daß sie eine Familie haben. (GGZ, S. 66)
Familiengründung ist in Warlichs Wahrnehmung ein kultureller Automatismus, der nicht das versprochene Glück, sondern Unglück generiert: »Vor ihrer Hochzeit waren meine Eltern zwei lachende junge Leute […]. Sie folgten wie fast alle
10 Eugene O’Neill: Long Day’s Journey into Night. New Haven 1956.
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der Überschätzung ihrer Kräfte und heirateten und zeugten Kinder. Auf den späteren Fotos hatten meine Eltern beklommene und überforderte Gesichter.« (GGZ, S. 66 f.) Mit Traudels Kinderwunsch glaubt sich der Erzähler auf eben diesem Weg: Es ist nichts los, ich sitze mit Traudel in einem Theater, aber es beschleicht mich die Ahnung eines bösartigen Schicksals. […] Der Schock liegt in der plötzlich eintretenden Gewißheit, daß sich in Traudel und mir das Schicksal meiner Eltern wiederholen wird. (GGZ, S. 67)11
Dem Theaterbesuch folgt beim anschließenden Abendessen eine Unterhaltung über den freien Willen, der den Eindruck, bei der Gründung einer Kernfamilie werde einem sozialen Determinismus genüge getan, verstärkt: Zwei kleine Mädchen rennen im Lokal herum und verbreiten den Geruch ihres süßlichen Kinderschweißes. Der Mann am Nebentisch redet über unser aller Freiheit, die es seiner Meinung nach nicht gibt. […] Der Mann am Nebentisch sagt: Wahrscheinlich merken die Menschen nicht, daß unsere Freiheit nur eine Freiheit des Redens und Vorstellens ist, nicht eine des Handelns. Wahrscheinlich empfinde ich das Problem, daß ich dem Mann am Nebentisch innerlich beipflichte, meine Zustimmung aber verheimlichen muß. (GGZ, S. 71)
Warlich flüchtet in intellektuelle Spielereien und Distanzexperimente. Er entwickelt einen auffallenden Fetisch für seine Kleidung, an deren Verschleiß er Prozesse der Renaturalisierung beobachtet. Er nimmt sich vor, die Verwitterung meiner Hose auf dem Balkon [zu] beobachten. Ich werde die Hose auf dem Balkon aufhängen, sie dort aber nicht mehr (oder erst nach langer Zeit) wieder wegnehmen. Weil ich von der Wohnung aus beobachten will, wie sich die Hose unter dem Einfluß des Wetters und des Klimas und des Staubs langsam auflöst und sich dann wieder (so stelle ich mir das vor) in einen Teil der Natur zurückentwickelt. Ich werde über diese Vorgänge ein Tagebuch der Verwitterung oder so etwas Ähnliches führen. (GGZ, S. 25)
Dieses Interesse an der Rückführung kultureller Objekte in die Natur antwortet auf die im Text immer wieder laut werdende Klage über Gefühle der Entfremdung, die auf kultureller Überformung beruhen: Ich empfinde Scham über die Konsum-Parolen auf meinen beiden Plastiktüten. Das junge Paar links von mir saugt jetzt so heftig an seinen Trinkröhrchen, daß ich überlege, zu den
11 Verstärkt wird die Angst vor sozialen Automatismen durch die generell sehr starke Identifikation Warlichs mit seinem Vater: »Ich müßte einmal den Mut finden, mit Traudel Klarheit darüber herzustellen, was wir eigentlich wollen und nicht wollen. Tatsächlich aber benehme ich mich wie mein Vater.« (GGZ, S. 27)
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beiden zu sagen: Ich gebe Ihnen fünf Euro, wenn Sie mit Ihrem Geröchel sofort aufhören. […] Leider bin ich voller Mißtrauen in unsere Zustände. (GGZ, S. 8)
Anne Schmuck liest die Kleidung der Protagonisten Genazinos als »poetischen Doppelgänger«; die Hose fungiere als »äußerer Repräsentant seines [Warlichs] Innenleben«.12 Die Re-Naturalisierung der Hose kann dann als Wunsch nach der Re-Naturalisierung Warlichs selbst gelesen werden, der an kultureller Deformation leidet. Seine Momente des Glücks sind Epiphanien, die auf die Existenz einer ›anderen‹ Wirklichkeit verweisen, die möglicherweise jenseits der aktuell sichtbaren, kulturell geformten Oberfläche existiert. Von meinen Beobachtungen geht das von mir erwartete Glück aus. […] Die Koinzidenz der Ereignisse erregt mich auf gewisse Weise. […] Eine Minute lang lebe ich in einer Hochstimmung, die sich meinen Worten entzieht. Es ist schade, daß Traudel jetzt nicht bei mir ist. Dann könnte ich sie, indem ich ihr die Bilder zeige, teilhaben lassen an dieser anderen Wirklichkeit und könnte ihr auf diese Weise die Idee einflößen, daß es bereichernd ist mich zu kennen. (GGZ, S. 12 f.)
Die Krise des Protagonisten ist eine Krise, die durch diejenigen Phänomene ausgelöst wird, die er als von seiner eigenen Natur entfremdet wahrnimmt. Familiengründung wird, ähnlich wie bei Templ, erkannt als ein zwar nicht natürlichzwingender, sondern ›bloß‹ kulturell hervorgebrachter Akt, der aber, ähnlich wie die Wahl eines Berufs, irgendwann ›an der Reihe ist‹ und trotz seiner kulturellen Basis keineswegs veränderbar ist. Auch Warlich fürchtet sich vor der Familie als einer zwingenden mythischen Narration, der man nur entkommen kann, wenn man sich außerhalb des Sozialen platziert: Entweder, indem man im semiotischen Raum, in der symbiotischen Mutterbindung verharrt, oder indem man sich, wie Warlich am Ende des Textes, schlicht in die psychiatrische Klinik einweisen lässt, dem gesellschaftlichen Außen schlechthin. Dort erst kann sich Warlich einen Ort erhoffen, an dem es möglich wird, sich über das Absurd-Zwanghafte zu erheben.13
12 Anne Schmuck: Poetische Doppelgänger. Bedeutung und Funktion von Kleidung in ausgewählten Romanen Wilhelm Genazinos. In: Verstehensanfänge. Das literarische Werk Wilhelm Genazinos. Hg. von Andrea Bartl und Friedhelm Marx. Göttingen 2011, S. 225–238, hier S. 235. 13 Mit dem Verrücktwerden des Protagonisten ist gleichzeitig ein Hauptmotiv der Texte Genazinos benannt. Eine ähnlich geartete Krise mit ebenso ähnlichen »Rettungsversuchen« eines männlichen Protagonisten (allerdings nicht immer verknüpft mit dem Moment der Familiengründung) ließe sich u. a. auch für Genazinos Texte Ein Regenschirm für diesen Tag (München 2001), Mittelmäßiges Heimweh (München 2007), Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman (München 2003) und Wenn wir Tiere wären (München 2011) benennen. Vgl. dazu Tilmann Spreckelsen:
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3 Väter wider Willen: Begegnungen mit dem psychoanalytischen Mythos Eine psychoanalytische Lesart familiärer Strukturen wurde bereits für Raabes Akten des Vogelsangs versucht – und stellte sich nur als partiell fruchtbar heraus. Raabes Figuren widerfährt, konfrontiert man sie mit dem psychoanalytischen Begriffsinventar, keine Gerechtigkeit. Reste der Erzählung sind geblieben, die sich den Lacan’schen Mustern widersetzen. René Templ und Gerhard Warlich bringen die psychoanalytischen Narrationen aber selbst in ihre Erzählungen ein. Sie sind ihnen als kulturelles Wissen von Anfang an ›auf den Leib geschrieben‹. Beide Texte erzählen von der postmodernen Begegnung mit einem seit dem 20. Jahrhundert beharrlichen neuen Familienmythos: der psychoanalytischen Narration von der Subjektwerdung. René Templ und Gerhard Warlich fürchten die Familie als einen durch die Psychoanalyse kulturell semantisierten Raum der Bedrohlichkeit und Enge. Familiengründung und familiäre Rollenverteilungen sind ein sich ständig wiederholendes, damit mythisches kulturelles Narrativ, aus dem es offenbar kein Entrinnen gibt. Für Gerhard Warlich kommt die Vaterrolle gar einem »Mißbrauch meiner Person« gleich (GGZ, S. 68). Psychoanalytische Narrationen zur Familie stellen in beiden Texten eine Choreographie der Enge zur Verfügung: Söhne bleiben demnach immer auch ödipal an ihre Mütter gebunden (Warlich an seine Mutter und Traudel, Templ an Natalie, Sohn Kevin an seine Mutter Jacqueline). »Die Theorie der Psychoanalyse ist selbst einer von vielen Familienromanen, der einen spannenden ›roman de famille‹ präsentiert und vorgibt, einen universalen ›roman familial‹ entdeckt zu haben«14, schreibt Walter Erhart. »Das Wissen über Familie« werde bei Jacques Lacan »nicht durch eine geschichtsphilosophische Verlaufsform bestimmt, sondern durch die Struktur des Subjekts: dem immer schon erfolgten Verlust der Mutter-Kind-Dyade und der gleichfalls unausweichlichen sprachlich-symbolischen Ordnung des Vaters.«15 Die mythische Qualität der kleinfamiliären Struktur bestätigt sich im psychoanalytischen Diskurs und wird durch ihn abermals hervorgebracht, denn Lacan liefert »ein Modell zeit- und geschlechtsloser Subjektspaltung«16, in der das Individuum als ein gesellschaft-
Manche möchten lieber nicht. Gesellschaftliche Teilhabe und Initiation in den Romanen Wilhelm Genazinos. In: Text + Kritik 162 (April 2004), S. 79–86. 14 Erhart: Familienmänner, S. 105. 15 Erhart: Familienmänner, S. 34. 16 Erhart: Familienmänner, S. 37.
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lich integriertes Subjekt erst greifbar wird: »[S]o wie niemand Zugang zur ›jouissance‹ besitzt, so sind alle dem paternalen Gesetz unterworfen.«17 Sucht man nach einer Erklärung für die absolute Präsenz der psychoanalytischen Erzählung innerhalb der Kleinfamilie, könnte man mit Albrecht Koschorke beim Narrativ der Heiligen Familie landen, das demjenigen der ›heilen‹ Familie vorauszugehen scheint. Koschorke entdeckt in der ödipalen Erzählung Freuds eine Variante der christlichen Erzählung zur Heiligen Familie: Freuds »Coup«, wie Koschorke es nennt, bestehe darin, »die christliche Tradition in […] neuralgischen Punkten zu ›kippen‹«18. Er mache in einem ersten Schritt »deren fundamentale Unterscheidung zwischen sinnlicher (Eros) und übersinnlicher Liebe (Agape) rückgängig«19. Dann gelingt es der psychoanalytischen Theorie, die kulturelle Imagination vollständig umzupolen, indem sie das Bild des leidenden Erlöser-Sohnes hinter dem spektakulären Sujet eines seit je herbeigesehnten Vatermordes, das Bild der trauernden Mutter hinter demjenigen der begehrten Frau des Vaters verblassen lässt.20
Diese Änderungen in der Großen Erzählung (Lyotard), die die Familie ist, sei so pertinent und so unwiderstehlich, dass man Mühe hat, sich an die ältere Semantik des gottergebenen Martyriums überhaupt nur zu erinnern. Rückwirkend scheint es, als wäre die Generationenfolge immer schon von ödipalen Ambivalenzen und Ersetzungshandlungen skandiert worden. Es handelt sich hier um einen der wahrscheinlich raren Momente, in denen eine Theorie nachhaltig in die narrative Grundlegung des kulturellen Gedächtnisses einzugreifen vermochte.21
In der Begegnung mit psychoanalytischen Familienmodellen rät Koschorke deshalb zur kritisch-genealogischen Perspektive: Der Gegensatz zwischen christlicher Passion und ödipaler Rivalität bildet eine langfristige soziohistorische Umgewichtung im Machtverhältnis zwischen den Generationen ab. Statt die Heilige Familie rückwirkend mit Freudschen Kategorien zu beschreiben, wäre es deshalb sinnvoller, umgekehrt den historischen Ort der Psychoanalyse näher zu bestimmen […].22
17 Erhart: Familienmänner, S. 37. 18 Koschorke: Die Heilige Familie, S. 214. 19 Koschorke: Die Heilige Familie, S. 214. 20 Koschorke: Die Heilige Familie, S. 214. 21 Koschorke: Die Heilige Familie, S. 214. 22 Koschorke: Die Heilige Familie, S. 213.
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Warlich und Templ, aber auch die Hauptfiguren der folgenden Romane, zeigen sich psychoanalytisch durchtränkt und durchaus auch informiert, darüber hinaus aber auch unterschiedlich ›analysemüde‹ bzw. ›-skeptisch‹. Ein gewisser Zwang, Familienstrukturen am psychoanlaytischen Modell zu orientieren, ist allen gewählten Texten des 21. Jahrhunderts (mehr oder weniger deutlich) eingeschrieben. Das ist sicherlich auch der von Anfang an engen Verbindung von literarischen und psychoanalytischen Diskursen geschuldet.23 Hier wären weitere, speziell auf die Tradierung des kleinfamiliären Mythos hin zugeschnittene Untersuchungen denkbar. Die Rolle der Psychoanalyse für den juristischen Diskurs könnte und müsste man ebenfalls eigens aufarbeiten. Sicherlich haben psychoanalytische Diskurse – ähnlich wie soziologische (vgl. Kapitel I, 5) – ihren Weg ins Recht gefunden. Die Analyse psychologischer Gutachten im Rahmen von Verfahren und Entscheidungen böte sich hier an. Da der juristische Diskurs, wie gezeigt, immer wieder auf außerhalb seiner selbst liegende Diskurse angewiesen ist, denen allgemein Wissenschaftlichkeit attestiert wird, hängt das Verhältnis von Psychoanalyse und Recht wohl maßgeblich vom Stellenwert psychoanalytischer Positionen im wissenschaftlich-psychologischen Diskurs an sich ab. Die aktuelle Studie zu Kindern in homosexuellen Lebensgemeinschaften jedenfalls erwähnt keine psychoanalytische Perspektive (mehr). Ein soziales Umfeld, das die Familiengründung und die mit der psychoanalytischen Perspektive verbundenen sozialen Rollen (Mutter, Vater, Kind) gleichsam ›naturalisiert‹ und deshalb nicht mehr hinterfragt, bringt jedenfalls in der Literatur Väter hervor, die sich in ihrem Vatersein bzw. Vaterwerden gefangen fühlen. »Es muß immer so aussehen, als hätte es keine Wahl gegeben«, resümiert Warlich: Nur so wird alles, was geschieht, ein Fatum sein können. In meiner Schlichtheit […] habe ich mir immer vorgestellt, daß zwei Personen, die zusammen ein Kind haben wollen, sich eines schönen Tages zusammensetzen und ihre Glückswünsche gemeinsam klären. Statt
23 Der meines Wissens jüngste Sammelband zur Verbindung von Psychoanalyse und Literatur erschien 2008: Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Hg. von Peter-André Alt und Thomas Anz. Berlin/New York 2008. Für die Familie streicht die Engführung der beiden Diskurse besonders deutlich der Freud’sche Begriff des »Familienromans« heraus (Sigmund Freud: Der Familienroman der Neurotiker. In: Freud: Gesammelte Werke chronologisch geordnet. 7. Band: Werke aus den Jahren 1906–1909. Frankfurt am Main 1941, S. 225–231). Freud mache hier, so Erhart, »die Familienphantasie als ein Erzählmuster kenntlich, das fortlaufend gebildet wird und jede ›reale‹ Erfahrung von Familie immer schon narrativ überformt« (Erhart: Familienmänner, S. 103).
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dessen ist es jetzt so, daß ich als unpassender Partner in der Unübersichtlichkeit der Liebeshandlungen irgendwie überrumpelt werden muß, weil es anders nicht geht. (GGZ, S. 68)
Auffällig weniger leiden hingegen die Mütter am Mythos. Sie halten im familiären Raum die Stellung. René Templs Frau Jacqueline verkörpert die bürgerlichmythische Mutterrolle, die ihr – zumindest in der Wahrnehmung Templs – noch eine natürliche zu sein scheint. Jacqueline wacht über den Schmutz im Haus (KR, S. 14), tritt mit Schürze (KR, S. 12) auf und bildet eine symbiotische Einheit mit ihrem Sohn. Sie erkundigt sich »nach dem Kind« statt nach Templ, der fürchtet: »Wenn nicht einmal mehr seine Frau gewillt war, ihm in dieser misslichen Lage zu helfen, war er endgültig auf sich gestellt. Allein. Keine Hilfe mehr, nirgendwo, weit und breit.« (KR, S. 28) Warlichs Traudel dagegen geht mit dem eigenen Kinderwunsch durchaus emanzipierter um: »Wegen eines Kindes muß eine Frau heute nicht mehr ihr Leben ändern« (GGZ, S. 72), vermutet sie, wird aber bezeichnenderweise von Warlich in dessen Wiederholungsszenario integriert: Dann sage ich: Als meine Mutter ehemüde wurde, wollte sie plötzlich ein eigenes Haus mit Garten, und als sie beides nicht bekam, kriegte sie zwei Kinder, meine Schwester und mich. […] [I]ch habe Angst davor, daß du deine Lebenspläne änderst, wie meine Mutter, ja. (GGZ, S. 72 f.)
Das Unbehagen, das die Protagonisten beschleicht (und das sie nicht lösen können), öffnet dem Leser den Weg vom Mythenleser zum Mythologen. Im psychoanalytischen Mythos ist die bürgerliche Familie längst wieder zum enthistorisierten Raum geworden. Mütter fügen sich in ihm wie Jacqueline ihrer Rolle oder begegnen dem Mythos mit hemdsärmelicher Pragmatik. Väter aber wollen hier keine Väter mehr sein.
VII Neue Väter und ihre Familienmärchen: Thomas Hettche und John von Düffel 1 Thomas Hettche: Die Liebe der Väter In our family portrait we look pretty happy We look pretty normal, let’s go back to that In our family portrait we look pretty happy Let’s play pretend, act like it goes naturally (Pink)1
1.1 Vatermangelkinder Vom Zwang psychoanalytisch-mytischer Narrative, dem die (ehelichen) Väter bei Setz und Genazino entkommen wollen, kann Hettches Protagonist nur träumen. Hettches Text Die Liebe der Väter2 wurde im Feuilleton größtenteils im Zusammenhang mit der rechtlichen Stellung der Väter rezipiert, die mit der Mutter ihres Kindes nicht verheiratetet sind. »Das Gesetz«, erklärt Vater und Erzähler Peter in der Novelle, erkennt das Sorgerecht eines nichtehelichen Kindes grundsätzlich allein der Mutter zu. Der Vater kann es gegen ihren Willen nicht bekommen, das hat das Bundesverfassungsgericht 2003 noch einmal bestätigt. Damit aber wird ein Machtverhältnis zwischen den Eltern geschaffen. Du kannst dir die Hilflosigkeit der Väter nicht vorstellen. (DL, S. 44)
Vor diesem Hintergrund wirkt der Die Liebe der Väter wie eine »Protestnovelle«3, die nach der Rolle der Väter im Leben der Kinder fragt und so an der Diskussion
1 Family Portrait. 2002. 2 Thomas Hettche: Die Liebe der Väter. Köln 2010. Zitiert als DL. 3 Vgl. Jens Jessen: Der begnadigte Vater. In: DIE ZEIT (12.8.2010); online abrufbar: http://www. zeit.de/2010/33/L-B-Hettche (letzter Zugriff am 20.9.2014): »Thomas Hettche hat eine klassische Novelle über das Mysterium der Elternliebe geschrieben. Sie liest sich wie ein Begleitwort zum Sorgerechtsurteil.« Eine »tendenziöse Streitschrift« nennt Christopher Schmidt Hettches Text (Papalapapp. In: Süddeutsche Zeitung [16.8.2010]; online abrufbar: http://www.sueddeutsche. de/kultur/roman-die-liebe-der-vaeter-papalapapp-1.988508 [letzter Zugriff am 20.9.2014]).
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VII Neue Väter und ihre Familienmärchen: Thomas Hettche und John von Düffel
um die »neuen Väter«4 partizipiert. Hettches Text betont die Machtposition der alleinerziehenden Mutter, die letztlich das »Ideal staatlicher Fürsorge« sei (DL, S. 46). Die restriktive Sorgerechtspolitik erst mache die Mutter zu einer ›alleinerziehenden‹: »Schon die Rede von alleinerziehenden Müttern ist eine Unverschämtheit, weil sie so tut, als gäbe es mich gar nicht!« (DL, S. 46) Der Protagonist, der die Tage zwischen den Jahren mit Freunden und seiner Tochter Annika auf Sylt verbringt, leidet daher vor allem und von Anfang an unter dem Gefühl des Ausgeschlossenseins: Annika heißt Annika nach der Freundin von Pippi Langstrumpf, und immer, wenn ich daran denken muß, ärgert mich wieder, das damals nicht verhindert zu haben. […] Niemals hätte ich zulassen dürfen, daß sie diesen Namen bekommt. (DL, S. 7)
Er sei »irgendwie kein richtiger Vater« (DL, S. 161), findet auch Helen Salentin, die alleinstehende Mutter, mit der Peter auf Sylt zufällig zusammenstößt. Peter klagt, ihm sei es »nun mal nicht gestattet, für Annika Pläne zu machen, es sei denn auf Widerruf« (DL, S. 137). Bemerkenswert an Hettches Text ist die Argumentation, die der Erzähler entfaltet, um sein Nichtvorkommen im Leben der Tochter als Mangel zu begründen. Er glaube, »daß die Liebe der Väter zu ihren Kindern nicht derjenigen der Mütter gleicht« (DL, S. 196 f.): Ich glaube, die Liebe der Väter entsteht, wenn sie zum ersten Mal in ihnen diese ganz voraussetzungslose Fülle spüren, die wir alle in uns tragen. Dieses plötzliche Wissen, was wir füreinander sein können. Für Männer ist das, glaube ich, eine andere Erfahrung als für Frauen, sie kann einen wirklich verändern, und es gibt wenig, was Männer sonst verändert. Manchmal denke ich, es sollte zwei Wörter geben für das Kind der Mutter und dasjenige des Vaters und eigentlich denke ich, eine Tochter ist immer nur eines Vaters Kind. (DL, S. 47 f.)
Dass eine biologisch begründete Verschiedenheit der Geschlechter Kindern unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit bereitstellt, ja unterschiedliche familiäre Rollen bereitstellt, ist ein topisches Fundament kernfamiliären Denkens.5 Hettches Erzähler
4 Vgl. beispielhaft Karen Krüger: Generation »Neue Väter«. Sie bekommt ein Baby – und ich die Krise. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 7 (18.02.2007). 5 Vgl. beispielsweise die Argumentationsführung in Riehls Die Familie, insbesondere das Kapitel »Mann und Weib«, S. 3–122.
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haben […] Frauen, die ohne ihren Vater aufgewachsen sind, immer am meisten beeindruckt, sind sie doch oft auf eine so klare Weise rational, der man anmerkt, daß sie sich die Rationalität ihrer Väter selbst haben erfinden müssen. (DL, S. 39)
Den eigenen Vater erinnert Peter dann auch in einer anderen Funktion als die Mutter. Der Vater ist zuständig für die Vermittlung der Orientierung in Raum und Zeit, er verortet das Kind im Universum: Die Himmelsrichtungen umstehen die Zeit. Ich erinnere mich: Septentrio ist der Norden, Oriens der Osten, Meridiens ist Mittag, Occidens Westen, […] und plötzlich erinnere ich mich wieder, daß es mein Vater war, der mir das alles zeigte. Wie konnte ich das nur vergessen! (DL, S. 211 f.)
Der Mutter werden hingegen die Bereiche der Weltflucht und der Phantasie zugeschrieben: Ich stelle den Wagen auf dem verlassenen Parkplatz ab, steige über die kniehohe Einzäunung und stapfe durch den Sand in eines der Dünentäler hinein. Wenn als Kind nichts mehr half und ich an nichts mehr Freude hatte, sagte Mutter: Komm, wir gehen in die Wüste. Dann fuhr sie mit mir hierher. Man glaubt, in der Sahara zu sein, zitierte sie jedesmal Thomas Mann. (DL, S. 212)
Warum aber auch Mutterliebe und Vaterliebe sich ontologisch voneinander unterscheiden sollen, führt der Roman nicht weiter aus. Die Behauptung bleibt eine These, die im Kampf um das Sorgerecht für die Tochter die rechtliche Gewalt verdeutlichen soll, die Vater und Tochter widerfährt. Nicht nur ihm wird etwas genommen, so die Idee, vor allem auch dem Kind. Der literarische Diskurs greift den juristischen unmittelbar auf: Der Roman eignet sich das Theorem des Kindeswohls an. Dass es letztlich der gekränkte Vater selbst sein könnte, um dessen nicht immer altruistisches Wollen und um dessen Begehren es gehen könnte, lässt Hettches Text verschwinden hinter einem vermeintlich objektiven Argument – dem unersetzlichen Beitrag nämlich, den die Liebe der Väter im Leben der Töchter ausmacht.
1.2 Kleinfamilienmärchen und Barthes’sche Mythen Hettches Text ruft das Konzept der bürgerlichen Kleinfamilie auf, die aus Mutter (-Liebe), Vater(-Liebe) und mindestens einem Kind besteht, und von deren Agenten bestimmte Verhaltensweisen erwartet werden können, weil sie diskursiv an ein Natürlichkeitsdispositiv angeschlossen sind. Dieses Dispositiv entsteht in
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Hettches Text vor allem mit Hilfe einer Perspektive auf eine Vergangenheit, die positiv konnotiert und verloren geglaubt ist. So wäre Peter nie in den Sinn gekommen, daß der entscheidende historische Prozeß in meinem Leben die Auflösung all der gesellschaftlichen Verabredungen sein würde, mit denen ich aufgewachsen bin. (DL, S. 66)
Seine Verlustperspektive erfasst dabei zunächst die eigene lebensgeschichtliche Zeit. In Peters und Annikas Leben imaginiert Peter eine Zeit vor der Trennung von Annikas Mutter. Die Trennung selbst begreift er als ›Sündenfall‹, dessen Begehen er nicht rückgängig machen kann und seit dem »nichts mehr stimmte« (DL, S. 61). Für Annika gebe es »mich und ihre Mutter nur als Feinde und alles, was davor war, als Märchen« (DL, S. 70). Beglaubigt wird diese narrative Strategie dann durch ihren Anschluss an eine überindividuelle, historische Vergangenheit. Annika ist besessen von einer mythischen Zeit des ›Eigentlichen‹, in der bestimmten kulturelle Praktiken noch magische Wirkung zugesprochen wurde: Eigentlich, sagt sie leise, wurde in den wichtigen Rauhnächten gefastet, also an Weihnachten, an Silvester und an Epiphania. Haus und Stall wurden vom Familienoberhaupt mit Weihwasser und Weihrauch gesegnet, es wurden Kerzen entzündet und Gebete gesprochen. Denn an diesen Tagen sind die Grenzen zur anderen Welt durchlässig. (DL, S. 114)
Historische und individuelle Perspektive verschränken sich in Peters Angst vor einer Welt, in der die Bücher, die seine Existenz als Verlagsvertreter und Intellektueller bestimmen, ihre Wertigkeit verlieren: Wissen Sie, es gibt so unendlich viele Bücher, viel zu viele, und es erscheinen immer noch mehr, doch in Wirklichkeit stehlen sie sich langsam weg aus unserer Welt. Die Bücher verschwinden. Und ich weiß nicht, was ich dann tun soll. (DL, S. 202 f.)
Ihn tröstet »[d]ie Vorstellung, daß etwas, was es eigentlich schon gar nicht mehr gibt, im Verborgenen überleben könnte. Für eine Weile zumindest […].« (DL, S. 203) Verloren und gleichzeitig einzig erstrebenswert scheint das Modell der Kleinfamilie, die Peter in seiner eigenen Biographie verfehlt zu haben glaubt: Immer hatte ich diese peinliche Empfindung, man sähe mir mein Versagen an, mein Verschwinden, mein Fehlen. Wenn ich Annika zu unseren Zoobesuchen abholte, da konnte sie noch nicht laufen, und im Buggy vor die Käfige schob, oder auf den Spielplätzen unter den Blicken der Mütter, oder später beim Ponyreiten oder in irgendeinem Ausflugslokal: immer hatte ich dieses peinigende Gefühl, man sähe uns beiden an, was geschehen war. Daß ich gar kein Vater mehr war. Jede Anwesenheit des Abwesenden immer zu wenig. (DL, S. 21)
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Ein Element, das sich als ›eigentlich‹ und ›natürlich‹ versteht, weist strukturelle Übereinstimmungen mit der Barthes’sche Idee des bürgerlichen Mythos auf. Hettches Text schreibt am bürgerlichen Mythos der Kleinfamilie mit. Er beschreibt kein individuelles Leiden, er greift auf die »Liebe der Väter« zurück, deren ›SoSein‹ und prinzipielles ›Anders-Sein‹ die Komplementarität der Geschlechter aufruft. Der ›Fehler‹ im angeprangerten Familienrecht liegt damit im alleinigen Sorgerecht der Mutter als einer Abweichung vom ›eigentlichen‹, ›natürlichen‹, das es – wenn schon nicht in tatsächlich gelebter – auf rechtlich institutionalisierter Ebene wiederherzustellen gilt. Kurioserweise sind Peter und Annika während ihres Aufenthaltes auf Sylt umgeben von alternativen Familienmodellen. Das miturlaubende Paar Kathrin und Florian kümmert sich gemeinsam um Florians Sohn Lukas (der allerdings sonst bei der Mutter lebt), bei Helen Salentin und ihrem Sohn kommt der ›fehlende‹ Vater nicht zur Sprache und schon Peters Mutter scheint aus den allzu klassischen Strukturen ausgebrochen zu sein, wohnte sie doch auf Sylt und verkaufte dort ihre Bücher, obwohl ihr Mann »ganz woanders war« (DL, S. 204). In der Perspektive Peters aber werden all diese Modelle defizitär, weil er sie nur vor dem Hintergrund der ›heilen‹ Kleinfamilie erfassen kann. Er berichtet von den Querelen zwischen Florian und seiner Exfrau, der zugeschrieben wird, ihre Machtposition ähnlich bewusst zu nutzen wie Peters Frau.6 Helen Salentin und Sohn Julian sind Peter aufgrund des fehlenden Vaters ödipal suspekt: »Der Junge legt seiner Mutter die Hand um die Hüfte. Die beiden wirken wie ein Paar.« (DL, S. 95) Nur das bürgerliche Familienprojekt zwischen Susanne und Achim scheint zu funktionieren: »Der Anfang sei schwierig gewesen […]. Die Streitereien hätten sich aber gelegt, als die Kinder gekommen seien.« (DL, S. 13) Susanne wird daher für Peter auch vor allem als Familienmutter attraktiv: Ich betrachte, wie sie ihren schlafenden Sohn hält, sein Kopf in ihrer Armbeuge, der Mund im Schlaf ein wenig geöffnet, ein Arm hängt schlaff herab. In diesem Moment, weiß ich, könnte ich mich in sie verlieben. (DL, S. 101)
Allerdings ›weiß‹ Peter, dass auch in dieser Familie längst der ›Wurm‹ drin ist. Denn das familiäre Verhalten von Männern und Frauen lässt sich nicht (mehr) miteinander vereinbaren, die Familie selbst ist in seiner Theorie parasitär bedroht:
6 Vgl. DL, S. 43: »Irgend etwas läuft bei ihr schief, und schon läßt sie einfach eine Bombe platzen. Einmal, als ich Lukas übers Wochenende abholen wollte – wir wohnen in Freiburg, wie Susanne und Achim, Lukas in Karlsruhe – und gerade die Sachen in den Kofferraum packte, hieß es plötzlich: Mit diesem Auto fährt Lukas nicht. Der Kindersitz habe kein Prüfzeichen. Da war dann nichts zu machen. Ich mußte den Wagen stehenlassen und die Bahn nehmen.«
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VII Neue Väter und ihre Familienmärchen: Thomas Hettche und John von Düffel
Neulich las ich von einem Parasiten, der bei Ratten und Mäusen gezielt eine bestimmte Gehirnregion infiziert, woraufhin sich deren angeborene Furcht vor Katzen ins Gegenteil verkehrt, was die Chance erhöht, daß die infizierten Tiere Katzen zum Opfer fallen, was wichtig ist, weil dieser Einzeller seine Oozysten nur in deren Darm bilden kann, die dann wiederum in einen Zwischenwirt gelangen. […] Lustigerweise hat man nun festgestellt, daß es sich bei diesem Zwischenwirt keineswegs nur um Ratten handeln muß: Fast die Hälfte aller Europäer hat Antikörper gegen diesen Parasiten im Blut und sich also einmal infiziert. In der Regel verlaufen die Infektionen unauffällig und bleiben daher unerkannt. Dennoch stellt sich natürlich die Frage, ob diese Einzeller auch unserer Psyche verändern. (DL, S. 36 f.)
Es gebe »Untersuchungen, die es plausibel erscheinen lassen, daß der Parasit Frauen dynamischer und unabhängiger werden läßt, Männer dagegen eifersüchtiger, gruppenhöriger« (DL, S. 37). Susanne küsst eines Abends Peter auch deshalb – das impliziert die Parasiten-Parabel –, weil sie, anders als ihr Mann, »dynamischer und unabhängiger« geworden ist. Achim weiß das und erkennt in Peter von Anfang an den Konkurrenten um seine Frau.7 Die ›Helden der Familie‹ sind die neuen Männer, die die alten Strukturen bewahren und beweinen. »So muß es sein«, konstatiert Peter, das antiquarische Buch in den Händen, das er seiner Tochter zum Geburtstag geschenkt hat: Dieser blaue Leinenband […] hat noch das richtige Gewicht, er öffnet sich wie von selbst und die Finger gleiten widerstandslos über das feine Papier, gerade dünn genug, damit man, gegen das Licht, den Umriß des umseitigen Textes durchscheinen sieht. So muß es sein, das gibt dem Blick halt. Meine vergehende Welt. (DL, S. 146)
Mit den Männern lässt Hettche die Kinder trauern. Tochter Annika stellt andauernd »ihre Kinderfrage«: »Werdet ihr euch irgendwann wieder vertragen, du und Mama?« (DL, S. 8) Um die Kinder etabliert der Text Unschuldsdiskurse, die ihrer Stimme besonderes Gewicht verleihen: Sie werden lachen, aber ich dachte, es gäbe da etwas Unverbildetes, sozusagen Göttliches in jedem Kind, das durch mich nur zerstört werden könnte. Deshalb hatte ich immer eine große Scheu, mich einzumischen. Dadurch würde die natürliche Freude und Sicherheit des Kindes zerstört, wie ein schönes Glas, das irgendwann den ersten Sprung bekommt. Bitte nicht durch mich, dachte ich. (DL, S. 197)
7 Vgl. DL, S. 14 f.: »Beim Essen sitzt [Susanne] neben mir. Irgendeine alte Geschichte aus unserer Schulzeit in Münster läßt uns plötzlich loslachen, und wie Teenager steigern wir uns in das Lachen hinein, bis es uns gar nicht mehr gelingen will, aufzuhören. Dabei legt Susanne ihren Arm um meine Hüfte und lehnt sich lachend an mich. Sofort registriere ich Achims überraschten Blick […].«
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Besonders perfide ist die Zeichnung Annikas und des Kindseins vor dem Hintergrund des Realismus-Paradigmas, dem sich der Text verschreibt: Annikas Geschichte beginnt zwar »jenseits dessen, was ist«, Hettche widmet sie aber »A.«, »[i]n Liebe und Dankbarkeit, daß es sie gibt. Sie hat mir dieses Buch geschenkt.«8 Annika beweint, ähnlich wie ihr Vater, das Schicksal der metaphorisch auf die Familie verweisenden Dinge: Früher hielt so ein Reetdach hundert Jahre, sagt [Annika] irgendwann. Jetzt verrotten sie schon nach kurzer Zeit. Erst beginnen die Halme muffig zu riechen, die ja gar nicht von hier stammen, sondern aus Polen oder der Türkei, dann verwandelt sich alles in schwarzgrünen Matsch. (DL, S. 85)
Während Parasiten das Verhalten der Geschlechter neu ›programmieren‹, verdirbt das schlechte Holz aus Polen die Qualität deutscher Reetdächer. Dabei bedeutet das Dach eines Hauses metonymisch sein Ganzes und damit auch die Familie, die in ihm wohnt. Bei Hettche bleibt nichts, wie es war, die Zeit der bürgerlichen Familie scheint vorbei. Die Trauer darüber verunmöglicht einen offenen, wertfreien Blick für abweichende Strukturen – sie müssen pathologisiert werden (Helen Salentin) oder sich im Alltag als dysfunktional erweisen (Kathrin und Florian). »Jeder Mensch«, erklärt Peter seiner Tochter, als die sich an den neuen Partner ihrer Mutter anschließt, »hat nur einen Papa […]. Dein Papa werde immer ich sein.« (DL, S. 174) Väter verlassen sich in Hettches Text auf Märchen und Mythen. Sie klagen Partizipation an einem System ein, von dessen Untergang sie berichten. Der Text des ehemaligen Popliteraten Hettche schließt damit an auch außerliterarisch stattfindende Diskurse zu den ›neuen Vätern‹ an. Matthias Kalle schreibt am 26.09.2011 in der Zeit unter dem Titel »Super, Papa!«: Mütter sollten dann Vater und Kind auch ruhig mal allein und den Vater machen lassen. Das Kind brauche nicht zu allen Zeiten beide Elternteile, um sich zu vergewissern, dass beide da sind, sagt Ahnert [Liselotte Ahnert, Entwicklungspsychologin, AM]. Der Vater müsse sich allerdings im Umgang mit dem Kind aktiv einbringen, mit ihm spielen und toben. Anders, riskanter, gefährlicher als die Mutter – eine wichtige Erfahrung für das Kind. Väter sind die »Impulsgeber«, sie fordern das Kind körperlich heraus, während Mütter ihm Sicherheit geben. Mütter regulieren die Gefühlswelt der Kinder, Väter ermutigen. Und sie muten dem Kind mehr zu. Fällt es hin, sagen sie: Steh auf. Sie trauen sich, ein Baby hochzuwerfen.9
8 DL, Widmung. 9 Matthias Kalle: Super, Papa! In: ZEITmagazin 39 (22.9.2011).
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VII Neue Väter und ihre Familienmärchen: Thomas Hettche und John von Düffel
Kaum zu überblicken ist vor diesem Hintergrund natürlich die geschlechtsspezifische Ratgeberliteratur für werdende Väter; beispielhaft sei auf das PapaHandbuch von Robert Richter und Eberhard Schäfer verwiesen, das besondere Unterstützung für Väter verspricht: »Väter fordern ihre Kinder anders als Mütter. Nicht besser, nicht schlechter – einfach anders! Die Kinder profitieren von diesen Unterschieden.«10 Mit solchen ›neuen Väter‹ kehrt zwar eine neue männliche Präsenz in die Kinderzimmer ein.11 In Bezug auf familienmythologisches Sprechen bleibt aber vieles beim Alten: Mutter, Vater, Kind – dazwischen möglichst Biologie.
10 Robert Richter und Eberhard Schäfer: Das Papa-Handbuch. Alles, was Sie wissen müssen zu Schwangerschaft, Geburt und dem ersten Jahr zu dritt. München 2005, S. 8. Gern knüpfen die Ratgeber auch schon im Titel an den ›männlichen‹ Diskurs der Technophilie an. Vgl. Constantin Gillies und Joe Borgenicht: Wickelpedia. Alles, was man(n) übers Vaterwerden wissen muss. Berlin 2010. 11 Zu weiterführenden Überlegungen in Bezug auf Vaterschafts- und Männlichkeitsnarrationen in der gegenwärtigen deutschen Literatur vgl. Walter Erhart: Father figures in literature 1900/2000. In: Fatherhood in Late Modernity. Cultural Images – Social Practices – Structural Frames. Hg. von Mechtild Oechsle, Ursula Müller und Sabine Hess. Opladen/Berlin/Toronto 2012, S. 61–78. Erhart stellt auch hier die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Vaterschaft und Männlichkeit. Dabei geht er von zwei grundsätzlich verschiedenen, aber durchaus nicht vollständig voneinander trennbaren Vaterschaftsnarrativen in der Moderne aus: »The first narrative is one of decline […]. Starting with the Roman Empire, dramatically increasing in Christian societies and coming to a bitter end in the 19th and 20th centuries, fatherhood as an institution and as an idea has been continuously marginalized and deprived of its power.« (S. 61) Gleichzeitig bedeutet dieser Niedergang auch die Geburt einer zweiten Erzählung, diejenige von der »fatherliness«: »Modern fatherhood, according to numerous sociological and popular investigations […] is a success story, the rise of fatherhood finally living up to its real name and its real idea: the tender and caring father, who, for the first time in history, is visible as a father performing fatherliness […].« (S. 62) Diese ›neuen Väter‹ sind, auch weil ihre Männlichkeit prekär bleibt, tragikomische Helden, in denen man sowohl Hettches als auch von Düffels Erzähler (von dem im nächsten Kapitel die Rede sein wird) wiedererkennt: »Apparently, the new father and the new idea of fatherhood have to struggle against numerous political and social obstacles that get in their way. […] These would-be heroes face powerful invisible enemies: so-called ›structures‹ that have to be overcome and destroyed, a mighty challenge which a few heroes meet to become role models for future heroes.« (S. 62)
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1.3 Überlegung: Familie als Autobiographie Bei Die Liebe der Väter handelt es sich um einen – wenn auch fiktional gebrochenen – autobiographisch markierten Text.12 Diese Markierung wirkt insofern strategisch platziert, als sie direkt der Widmung der Novelle zu entnehmen ist (s. o.). Hettche scheint die Parallelen zwischen Erlebten und Erzähltem zudem in Interviews nicht verbergen zu wollen.13 Mit dem »autobiographischen Pakt«14, der zwischen Lesern und Schreibern einer Autobiographie entsteht, verbindet sich oftmals eine »Authentizitätserwartung«15. Der Leser will nicht so sehr von der Realität des Gesagten als einer Ansammlung ›korrekter Fakten‹ ausgehen dürfen, sondern vor allem auch von der Aufrichtigkeit des Sprechers. Obwohl Martina Wagner-Egelhaaf zu Recht darauf hingewiesen hat, dass diese Erwartung eher im Kontext eines »traditionellen, häufig unreflektierten Autobiographieverständnisses«16 beheimatet sind, so glaube ich doch, dass sie sich vor dem Hintergrund der Vermittlung familiärer Mytheme funktionalisieren lassen. Die Emotionen nämlich, von denen der Erzähler berichtet, sind in ihrer vermeintlichen Authentizität nicht mehr hinterfragbar. Die Trauer des Familienvaters um seine verlorene Rolle ist insofern ›echt‹, als sie innerhalb des autobiographischen Pakts nur als authentischer Ausdruck gelesen werden kann. Die Überlegung, die ich hier anstellen möchte, betrifft eine Fortführung des Barthes’schen Mythos bzw. eine Erweiterung der mythologischen Erzählung im Zusammenhang mit autobiographischen Poetologien. Wenn die Kategorie der ›Natur‹ sich für die postmoderne Gesellschaft und ihre performativen Ansätze auch in vielerlei Hinsicht als problematische Bezugsgröße herausgestellt haben mag (und das gilt für Hettche nicht einmal – die Anbindung des Familienbildes an Bilder der Natürlichkeit im Text zeigt das deutlich), so ist es doch vielleicht möglich, neue mythologische Geschichten auf der Basis ›authentisch‹ erlebter Emotionen zu erzählen. Geschichten vom Vatersein, vom ›Familie-Sein‹, sind
12 Das gilt auch für den Text John von Düffels. Anders als Thomas Hettche nutzt von Düffel diese Markierung aber nicht strategisch. Die Poetik-Vorlesungen von Düffels weisen zudem auf eine strikte und gewollte programmatisch-poetologische Trennung zwischen authentischem Leben und Literatur hin. 13 Vgl. z. B. das Interview mit Thomas Hettche im Deutschlandradio vom 16.8.2010 unter dem Titel: Ansammlung von Schuldgefühlen; online abrufbar: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1249115/ (letzter Zugriff am 20.9.2014). 14 Vgl. Philippe Lejeune: Der Pakt. In: Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt am Main 1994, S. 13–51. 15 Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart/Weimar 2000, S. 4. 16 Wagner-Egelhaaf, S. 4.
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dann wieder unangreifbar, wenn sie von Emotionen berichten, auf deren Gestaltung und Erfahrung der Einzelne keinen Einfluss zu haben scheint. Hettches Text bedient sich genau dieses Kunstgriffs. Väter und Töchter sind buchstäblich ›machtlos‹, weil sie als Mitglieder einer Familie fühlen, wie man als Familienmitglied nun einmal füreinander fühlt.
2 John von Düffel: Beste Jahre Der Schauspieler muß, um lebendig und real zu wirken, auf der Bühne denken; er darf nicht nur glauben machen, er dächte, er muß tatsächlich etwas tun.17 Lee Strasberg
In seinen Bamberger Poetik-Vorlesungen benennt John von Düffel die Familie als »eine Kampfzone, ein Austragungsort von Konflikten«. Sie sei – im familiären Bild bleibend – »die Mutter aller Schlachten, durch sie werden sämtliche späteren Kämpfe des Lebens vorgeprägt«18. Der Roman Beste Jahre19 weicht diesen Konflikten scheinbar aus, er spielt in der Zeit vor und während einer Familiengründung. Die Geburt des Kindes wird explizit post scriptum (BJ, S. 37) aufgeführt und ist damit kein Teil des Romangeschehens. Erzählt wird von der Aneignung einer Vaterrolle, die im Roman (ähnlich wie im rechtlichen Diskurs) vor dem Hintergrund medizinisch-technischer Fortschritte an Selbstverständlichkeit verloren hat. Der Erzähler des Textes, ein Hamburger Schauspieler, lebt in einer Zeit des männlich-biographischen ›Danach‹: »Er mußte nicht mehr unbedingt mit dieser oder jener Frau schlafen und auch nicht länger seinen Vater umbringen. Er hatte keinen Konflikt mehr mit der älteren Generation und noch keinen mit der jüngeren.« (BJ, S. 7) Dieser Zustand sei zwar durchaus »schön« (BJ, S. 7), mündet aber bereits auf der ersten Seite des Textes in eine berufliche, d. h. in eine TheaterKrise. Ursache dieser Krise ist ein Mangel an Dramatik, der sich auch in einer nicht mehr hinreichenden ›Fiktionalitätspotenz‹ ausdrücken ließe: Die Frage war nur, wie lange er unter diesen Umständen noch in der Lage sein würde, auf der Bühne zu stehen. Konnte, fragte er sich, ein vergleichsweise glücklicher Mensch Schau-
17 Schauspielen und das Training des Schauspielers (1941). In: Strasberg: Schauspielen und das Training des Schauspielers. Hg. von Wolfgang Wermelskirch. Berlin 1988, S. 7–56, hier S. 27. 18 John von Düffel: Die erfundene Familie. Vom Schreiben am lebenden Sujet. In: Düffel: Wovon ich schreibe. Eine kleine Poetik des Lebens. Köln 2009, S. 83–138, hier S. 86. 19 John von Düffel: Beste Jahre. München 2010 [2007]. Zitiert als BJ.
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spieler sein? Es gab Tage, Wochen, da fühlte er sich innerlich so ruhig, so einverstanden mit dem Leben, daß es ihm fast unmöglich war aufzutreten, den Schritt in die Erregung zu tun und sämtliche Zuschauer dazu zu bringen, sich mit ihm zu erregen. (BJ, S. 7)
Die Familiengründung in späten Jahren erscheint als möglicher Ausweg aus dieser Männlichkeitskrise. Sie soll ein neues ›Drehbuch‹ liefern, eine emotionale Choreographie bereitstellen, die die Inszenierung von Dramatik und Lebendigkeit verspricht: »Es ist nämlich nicht wahr […], daß der Mensch von Natur aus den Schmerz meidet und den Genuß sucht. Wirklich und wesentlich ist er auf der Jagd nach dem großen Gefühl.« (BJ, S. 48) Vatersein gilt dem Erzähler als »die größte lebbare Liebesgeschichte seines Lebens […]. Dafür war er bereit, alles zu opfern.« (BJ, S. 49) Weiter heißt es: »Ihm schien die Rolle des Versorgers und Ernährers schon zum Greifen nah […]. Seine Liebesgeschichte als Vater und Ehemann war in vollem Gange.« (BJ, S. 49) Die Rolle des Familienvaters ist hier eine ›Rolle des Lebens‹. Im Rahmen der Erzählung bleibt sie reine Fiktion. Der vorläufige Name, den die Eltern dem noch ungeborenen Kind geben – »Obsklappt« – markiert das stets Virtuelle in der Vorstellungswelt des werdenden Vaters. Düffels Roman ist kein realistischer Familienroman, er führt in den Figuren seines Erzählers, dessen Frau, Freunde und Nachbarn (Familien-)Projektionsgeschichten vor. In einem ersten Schritt werde ich zeigen, aus welchen Elementen diese Fiktion besteht und was sie leistet. Ein zweiter Blick auf den Text zeigt dann, inwiefern er im selben Moment auf unterschiedlichen Textebenen ein Bewusstsein und Gründe für das Festhalten der Protagonisten an kernfamiliären Fiktionen aufscheinen lässt. Das Fiktive als das (noch nicht oder möglicherweise nie) Reale ist dem Protagonisten in seiner spezifisch pathologischen Disposition immer Erlösung und Bedrohung zugleich.
2.1 Killerkriterien fürs Geschlecht: Von fruchtbarer Unfruchtbarkeit Als ›späte Eltern‹ sind der Schauspieler und seine Frau Lisa auf die Hilfe der Reproduktionsmedizin angewiesen. Fruchtbarkeit wird hier, im Moment drohender Unfruchtbarkeit, zum Hauptmerkmal geschlechtlicher Identität. So inszeniert der Text die Rebiologisierung des sozialen Geschlechts. Vor dem Hintergrund höchster reproduktionaler Not ist die Kernfamilie der Ort biologisch komplementärer Geschlechter. Im Prozess der künstlichen Befruchtung sieht sich der Erzähler zunächst mit der Erfahrung beschämender Nutzlosigkeit konfrontiert. Er fühlt sich »überflüssig […], was ihm der Leiter der Fruchtbarkeitsklinik indirekt bestätigte, als er ihn beiseite nahm und sagte, daß es für ihn außer ein bißchen Masturbieren prak-
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tisch nichts zu tun gäbe« (BJ, S. 52). Vaterschaft reduziert der Text zunächst auf den Vorgang der Zeugung, der in den ›späten Jahren‹ der Protagonisten prekär wird und mit dem Gefühl der Entfremdung vom eigenen Fortpflanzungswunsch einhergeht: Es schien ihnen wenig verlockend, sich einzureihen in die Säuglings-Galerie dieses kinderlieben Doktor Frankenstein und ihm eine weitere Fototrophäe für sein Büro zu liefern, noch ein IVF- oder ICSI-Kind, auf dessen Erzeugung er stolzer sein konnte als die leiblichen Eltern. (BJ, S. 55)20
Anders als seine Frau Lisa bleibt dem Erzähler kaum eine Möglichkeit, dieses Entfremdungsgefühl im Moment der Zeugung zu kompensieren. Aus dem »Wir«, das als Überschrift für das vierte Kapitel die Einheit bezeichnet, als die sich das Paar versteht, wird im fünften Kapitel ein »klassischer Medizinerplural« (BJ, S. 57), aus dem sich der Erzähler ausgeschlossen sieht: Für ihn schien sich der Arzt nur am Rande zu interessieren, da es beim Mann, wie er sagte, medizinisch ohnehin nicht viel zu machen gab. (BJ, S. 56) Sämtliche Behandlungsschritte, die [der Arzt] ihnen in Aussicht stellte oder auch androhte, betrafen […] ausschließlich sie, Singular, seine Frau. (BJ, S. 57)
Das Gefühl, »zu gar nichts zu gebrauchen« (BJ, S. 61) zu sein, begleitet den Erzähler auch während der Zeit der Schwangerschaft.21 Gleichzeitig entwickelt er ein Gefühl des Stolzes auf die eigene (eingeschränkt vorhandene) Fruchtbarkeit. Das Vaterwerden mündet in diesem Zusammenhang in biologisch begründete Geschlechterrollen, die verantwortlich zeichnen für Strukturen des Begehrens und der Macht: »Fruchtbarkeit schien ihm das Killer-Kriterium schlechthin zu sein, ein Attraktivitäts- und Machtfaktor aus den Urgründen der Evolution.« (BJ, S. 108) So kann der als Brüderkampf erzählte Wettbewerb mit dem ewigen Rivalen
20 IVF: In-vitro-Fertilisation, ICSI: Intracytoplasmatische Spermieninjektion. Zur Bedeutung medizinisch assistierter Fortpflanzung für die Kernfamilie vgl. auch Koschorke: Einleitung, S. 7 f.: »Die Technologien der assistierten Empfängnis verändern die traditionelle Familien- und Verwandtschaftsordnung auf fundamentale Weise. Sie lösen das Leitbild des Vaters als biologischer Stammvater und der Mutter als Gebärerin ihres Kindes auf, greifen in den Code familiärer Intimität ein, schaffen Funktionsdoppelungen und neue, oft konflikthafte Figurationen, die im Skript der Kernfamilie bürgerlicher Prägung nicht vorgesehen sind.« 21 Paradigmatisch beschreibt sich der Erzähler als bloß »Wartender«, vgl. BJ, S. 171: »[A]ber was sollte er dazu sagen. Er konnte nur abwarten. Und hoffen. Wie in all den Wochen und Monaten zuvor.«
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und Freund HC zum Kampf zweier Männer um die Zeugungsfähigkeit werden, die als männliches Attribut schlechthin gelesen werden kann. [HC] war mir immer einen Schritt voraus gewesen, hatte immer die Richtung bestimmt und gewußt, wo es langgeht, so daß mir nichts anderes übrigblieb, als ihm auf meine verspielte saumselige Weise zu folgen. […] In gewisser Weise beherrschte er nicht nur sich, sondern auch mich. (BJ, S. 218)
HCs Krebserkrankung aber macht nun dessen Kinderwunsch unerfüllbar. Im Triumph (vermeintlicher) Fruchtbarkeit kann der Freund deshalb besiegt werden. Die Samenspende des Erzählers, mit der die Erzählung schließt, ist »kein Akt der Barmherzigkeit, sondern eine Attacke, ein Angriff auf ihn und seine ewige Überlegenheit« (BJ, S. 232).22 Als größte vorstellbare Kränkung männlicher Fruchtbarkeit erweist sich im Text folgerichtig die Homosexualität. Sie erscheint erstmals in Gestalt des alten Lateinlehrers Dr. Moosheimer. Dessen Neigungen wusste der Erzähler als Schüler offenbar für sich zu nutzen: In fast schon beschämender Weise gehörte er zu Herrn Dr. Moosheimers Lieblingen, dessen Wohlwollen so weit ging, selbst in dem erbärmlichsten Gestammel, den haltlosesten, unsinnigsten und freiest erfundenen Übersetzungsversuchen noch etwas Lobenswertes zu entdecken. Nie besaß das Sprichwort »Liebe macht blind« eine größere Berechtigung. (BJ, S. 24)
Gleichzeitig mit dieser Erinnerung setzt in der Erzählung eine Geste der Abgrenzung gegenüber homosexuellem Begehren ein: Je länger Herr Dr. Moosheimer sich ausließ über den begabten, hochsensiblen Schüler, der er gewesen sein sollte, desto größer wurde sein Widerwille. Er war das nicht, zu keiner Zeit, und hatte sich auch nie begabt oder sensibel gefühlt. Im Gegensatz zu Herrn Dr. Moosheimer fand er sich absolut ins Schema passend. (BJ, S. 27)
Homosexualität wird vom Erzähler als bedrohlich wahrgenommen, hinter dem Moosheimer’schen Verlangen verbirgt sich nicht nur eine sexuelle Vorliebe, sondern ein Identitätskonzept, das ›begabt‹ oder ›sensibel‹ macht – und der Fertilität im Weg steht. Dr. Moosheimers soziale Vaterschaft für einen kranken Schüler wird von ihm selbst zwar als vollwertige Vaterschaft beschrieben: »Ich blieb drei
22 Vgl. auch Martin Hielscher: Vor den Vätern schreiben die Söhne. Vaterfiguren im Prosawerk von John von Düffel. In: Familien erzählen. Das literarische Werk John von Düffels. Hg. von Stephanie Catani und Friedhelm Marx. Göttingen 2010, S. 195–203, insbes. S. 202.
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Tage bei dem Jungen, saß an seinem Bett und hielt ihm die Hand. Sie können mir glauben, daß ich weiß, was Vaterschaft bedeutet. Ich habe es erfahren.« (BJ, S. 29) Dem Erzähler aber ist sie »kopfgeboren« (BJ, S. 47) und damit einer biologischen Vaterschaft nicht ebenbürtig. Deutlicher noch zeigen sich die Geste der Abgrenzung und die damit einhergehende Aufwertung genetischer Vaterschaft in einer späteren Episode mit Dr. Moosheimer und HC, von dem der Erzähler zwischenzeitlich vermutet, er sei ebenfalls homosexuell: »Irgend etwas«, mutmaßt der werdende Vater, »verband die beiden über die alten Zeiten hinaus, und ich sah nicht viele andere mögliche Gemeinsamkeiten zwischen meinem homophilen Griechischlehrer a. D. und meinem besten Freund als eine ähnlich ausgerichtete ›Sensibilität‹.« (BJ, S. 185) Im Verlauf eines gemeinsamen Abends mit Moosheimer und HC scheint seine Fruchtbarkeit den Erzähler vor einer Vereinnahmung durch das Homosexuelle zu schützen. Ununterbrochen ist der werdende Vater in Gedanken mit der sexuellen Orientierung seiner Freunde beschäftig: HC wirkte vielleicht ein bißchen altmodisch und hanseatisch steif. Doch nichts an seiner Erscheinung, seinem Habitus deutete darauf hin, daß in ihm verborgene, verbotene Leidenschaften wüteten. Er schien eher asexuell zu sein, eher zu anständig als abgründig. Wenn das für seine Homosexualität sprach, mußte man sich fragen, wie sich das Hamburger Bürgertum überhaupt fortpflanzte. Ich kannte niemanden, der so sehr der Norm seiner Väter, so allen Erwartungen entsprach. Oder war es gerade das? Hatte er sich nur perfekt getarnt? War sein ganzes zielstrebiges, ehrgeiziges, vorzeigbares Leben nur ein einziger erbitterter Kampf gegen diese eine Neigung, die er nicht wahrhaben wollte? (BJ, S. 186)
Der Homosexuelle wird, einem gängigen Topos analog, als effeminiert (»hochsensibel«) und damit als abweichend von der als normal empfunden Geschlechterrolle beschrieben; Fruchtbarkeit wird funktionalisiert und stiftet eine heterosexuelle, männliche Identität. Er sei »mit [s]einen Gedanken heute ein bißchen woanders«, seine Frau sei »schwanger, im fünften Monat«, entschuldigt sich von Düffels Erzähler. »Willst du dich lieber sofort auf den Weg machen?« »In fünfzehn Minuten«, wiegelte ich ab, als wäre das alle Zeit der Welt, »ich würde gerne länger bleiben, aber gegen meine Beschützerinstinkte bin ich machtlos, tut mir leid …« Deutlicher konnte ich ihnen nicht zu verstehen geben, daß ich nicht zu ihrem Club gehörte. (BJ, S. 188)
Weil Fruchtbarkeit zum »Killer-Kriterium« avanciert, biologisieren und mythologisieren sich Geschlechterrollen – selbst in einem vermeintlich gleichberechtigten Milieu einer bisherigen Double Income no Kids-Ehe. Obwohl Lisa beruflich erfolgreicher ist als ihr Mann (»Sie hatte viel und groß gespielt, sogar weitaus
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prominentere Rollen als er«, BJ, S. 91), »Kochen bei ihnen keineswegs nur Frauensache war« (BJ, S. 110 f.) und »[v]on ihnen beiden […] er derjenige mit den Hausfrauenhänden« (BJ, S. 46) ist, wird Lisas ›Frausein‹ mit dem Moment der Schwangerschaft zur Projektionsfläche, auf der die traditionelle, biologisch fundierte Komplementarität der Geschlechter aufgerufen wird. Während der Erzähler sich selbst im Zustand der Ich-Spaltung beschreibt, der ihn immer auf etwas verweist, was er noch nicht oder nicht mehr ist (»Er befand sich gewissermaßen in einem Zustand des Übergangs, des Oszillierens zwischen dem, was er war, und dem, was er sein würde […]«, BJ, S. 45), sieht er in Lisa die mütterliche Verwirklichung ganzheitlicher Präsenz. Jede Vaterschaft ist »fiktional, verglichen mit der leibhaftigen Mutterschaft meiner Frau« (BJ, S. 75). Lisa droht nicht der Ich-Zerfall in mütterliche und nichtmütterliche Anteile, stattdessen »die Beschränkung auf ihre Rolle als werdende Mutter und ihren Körper. Es war die Tatsächlichkeit in Vollendung.« (BJ, S. 96) Die somatische Einheit zwischen Mutter und Kind schließt dabei den Vater als Dritten aus und manifestiert so abermals die Trennung der Geschlechter: »Ich liebe dich«, sagte er zu seiner Frau, die ihn anlächelte, irgendwie von innen heraus und irgendwie auch wieder in sich hinein. Es war im Grunde mehr ein Lächeln zwischen Obsklappt und ihr, das auf ihn abstrahlte als den Dritten im Bunde. (BJ, S. 49)23
Lisas Reduktion auf die Mutterrolle erfasst im weiteren Verlauf des Textes die Frau ›an sich‹, die unter dem »gynäkologischen Blick« (BJ, S. 85) des Erzählers zu einem reinen Fertilisationsobjekt wird: Ich konnte nur staunen, wie gynäkologisch sinnvoll Bau und Form ihrer Becken waren, wie einleuchtend die Architektur des weiblichen Körpers überhaupt! Was für eine weise Voraussicht der Natur wirkte und waltete in ihren Runden und Kurven, ihren Nahrung verheißenden Brüsten und dem Schwung ihrer Taillen, die wie geschaffen waren, um Säuglinge und Kleinkinder darauf zu balancieren. Wie elegant und natürlich, formschön und tauglich war das alles! […] Wie blind mußte ich gewesen sein für die elementarsten und ursprünglichsten Zwecke der Natur, für die suggestive Verbindung von Schönheit und Nützlichkeit im Paarungsspiel der Geschlechter. […] Quasi magnetisch übten die weiblichen Reize ihre
23 Hier erinnert von Düffels Text an Ingeborg Bachmanns Erzählung »Alles«: »Ich saß oft neben seinem Bett, sah nieder auf dieses wenig bewegte Gesicht, in diese richtungslos blickenden Augen und studierte seine Züge wie eine überlieferte Schrift, für deren Entzifferung es keinen Anhaltspunkt gibt. Ich war froh zu merken, daß Hanna sich unbeirrt an das Nächstliegende hielt, ihm zu trinken gab, ihn schlafen ließ, weckte, umbettete, wickelte, wie es die Vorschrift war. Sie putzte ihm die Nase mit kleinen Wattepfröpfchen und stäubte eine Puderwolke zwischen seine dicken Schenkel, als wäre ihm und ihr damit für alle Zeit geholfen« (Ingeborg Bachmann: Alles. In: Bachmann: Das dreißigste Jahr. Erzählungen. München 1966, S. 49–65; hier S. 52).
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Anziehung aus. Sie sprachen die Sprache der Liebe, der Erotik und manchmal sogar der Poesie, doch ihr Sinn war die Fortpflanzung […]. (BJ, S. 82 f.)
Beste Jahre führt den Moment der Familiengründung als den Moment re-mythologisierender Erzählungen vor. Der werdende Vater erzählt nicht einfach von Müttern und Vätern, er zitiert dabei einen Mythos, der durch die späte Elternschaft beinahe unerreichbar geworden ist: den der bürgerlichen Kleinfamilie. Dabei werden, ähnlich wie bei Hettche, Geschlechterrollen biologisiert und darüber hinaus Fruchtbarkeit mit Macht und Begehren verwechselt. Familiengründung ist auf der Ebene des Erzählerdiskurses anfangs zwar eine ›Lebensrolle‹. Schließlich wird sie aber – auch im Fahrwasser geschlechtlicher Identitäten – erfasst von einer Sehnsucht nach einem ›Ende der Fiktionen‹. Leibliche Vaterschaft soll jeder Virtualität ein Ende setzen: Im nachhinein bereute ich es, daß ich mich HC gegenüber so abschätzig über die Vaterschaft als Fiktion geäußert hatte. Sie war fiktional, verglichen mit der leibhaftigen Mutterschaft meiner Frau, doch sie war absolut real, verglichen mit unserer Studentenzeit, als das Leben nur in Gedanken stattfand […]. (BJ, S. 75)
Der Wunsch nach einem Kind soll gerade keine Inszenierung mehr sein, er wird als natürlich und elementar erzählt.24 Lisas Schwangerschaft bedeutet »das Ungeheuerliche und völlig Natürliche« (BJ, S. 89); Familiengründung folgt a-historischen Mustern. Die Familienfiktion, die als Drehbuch beginnt, schwingt sich schließlich zu absoluter, nicht inszenierter Natürlichkeit auf. Von Düffels Erzähler ist in diesem Kontext ein Barthes’scher Mythenleser, weil er danach strebt, das, was als ›Rolle‹ begann, zu naturalisieren und zu essentialisieren. Alle Rollen kommen im Mythos zum Stillstand.
2.2 Japanische Verwandte: Familie als Mythos Die Japan-Episode, die den Text gewissermaßen rahmt, stützt diese Lektüre. Lisa bringt »Obsklappt« im »P.S.« des Romans als »gesunden Jungen« (BJ, S. 237) auf die Welt. Die Haltung des Erzählers zu seinem Jungen mutet distanziert an: »Alle sagen, er sehe mir ähnlich, doch mich erinnert er an einen Japaner.« (BJ, S. 237)
24 Vgl. BJ, S. 106: »Es sind eben nie beide gleich unfruchtbar, es ist immer einer unfruchtbarer als der andere, und selbst in einer gutgehenden Ehe mußt du erst einmal damit zurechtkommen, daß du deiner Frau – sosehr du sie auch liebst – den natürlichsten, elementarsten Wunsch nach einem Kind nicht erfüllen kannst …«
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Die Äußerung greift auf eine Passage ganz zu Anfang des Textes zurück. Bei einem Gastspiel in Japan fühlt sich der Schauspieler »in Tokio wie auf einem anderen Planeten« (BJ, S. 12), »[s]prach- und orientierungslos« (BJ, S. 12). In einem japanischen Parkplatzwächter ›erkennt‹ er dann aber den eigenen Großvater: Und tatsächlich, je länger er den Alten, der unter den Parkplatzwächtern den Rang eines Offiziers zu bekleiden schien, aus der wartenden Menge heraus anstaunte, desto eklatanter erschien ihm die Ähnlichkeit. Diese japanische Parkplatzautorität glich seinem Großvater nicht nur, es war, genaugenommen, die japanische Ausgabe seines Großvaters, und zwar nicht nur eine mehr oder minder gelungene Kopie, sondern das Urbild. (BJ, S. 12)
Mit dieser Ähnlichkeit glaubt der Erzähler »einen tiefen Blick in die Zusammenhänge des Lebens getan« (BJ, S. 13) zu haben. Japan verliert mit dieser ›Entdeckung‹ seine Andersartigkeit: In diesem Moment hörte Nippon auf, ein fremdes Land zu sein. Als wären ihm die Schuppen von den Augen gefallen, streifte er durch die krummen Straßen von Shibuya und entdeckte mit einem Mal Ähnlichkeiten, wo er sich zuvor von fernöstlicher Lächelei und hilflos machender Höflichkeit hatte verwirren lassen. (BJ, S. 13)
Die Anekdote erinnert an Roland Barthes’ Reich der Zeichen – eine Parallele, die die Lektüre des Textes vor dem Hintergrund der Barthes’schen Überlegungen zum Mythos des Alltags zusätzlich plausibel machen kann. Barthesʼ Experiment besteht bekanntlich darin, »irgendwo in der Welt (dort) eine gewisse Anzahl von Zügen […] auf[zu]nehmen und aus diesen Zügen ganz nach Belieben ein System [zu] bilden. Und dieses System werde ich Japan nennen.«25 Dabei will Barthes nicht »mit verliebten Augen auf ein ›Wesen des Ostens‹ [blicken]; der Orient ist mir gleichgültig, er liefert mir lediglich einen Vorrat von Zügen, den ich in Stellung bringen kann, mit der Idee eines unerhörten und von dem unsrigen gänzlich verschiedenen Symbolsystems zu ›liebäugeln‹«26. Barthes geht es um die Erfahrung eines semiotischen Systems ›von außen‹ – nur so kann es, gleichsam sinnentleert, in seiner Materialität in Erscheinung treten: Während unsere Kunst alles daransetzt, den Romangestalten »Leben« und »Wirklichkeit« zu verordnen, führt das Japanische schon aufgrund seiner Struktur diese Gestalten auf die Qualität von Produkten zurück oder hält sie darin fest; es hält sie in der Qualität von
25 Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt am Main 1981, S. 13. 26 Barthes: Reich der Zeichen, S. 13.
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Zeichen, die von ihrem referentiellen Alibi par excellence, dem der lebenden Sache, abgeschnitten sind.27
Das Experiment ›Japan‹ hat Barthes »in die Situation der Schrift versetzt«28. Anders als von Düffels Schauspieler versucht er nicht, sich das Fremde mittels Ähnlichkeitsbeziehungen anzueignen. Die Situation Barthes’ ist im Gegenteil »eben jene, in der eine gewisse Zerrüttung der Person eintritt, eine Umwälzung der alten Lektüren, eine Erschütterung des Sinns, der zerrissen und bis zur unersetzlichen Leere erschöpft wird […]«29. Eine solche Perspektive muss Konsequenzen haben für den Umgang mit (semiotisch bedingten) Mythen. Wer mit Roland Barthes in ›Japan‹ war, wird Möglichkeiten und Limitationen von Zeichen verstehen, wird insbesondere semiotische Systeme als hermetisch und nicht-essentiell erkennen. Mythen und ihre naturalisierenden Imperative sind vor diesem Hintergrund nur distanziert – dekonstruierend – lesbar. John von Düffels Schauspieler jedoch entscheidet sich gegen die Erfahrung Japans als einem ›fremden‹ System, das die Möglichkeit bietet, die Mechanik semiotischer Prozesse grundlegend zu verstehen. Der Familienmythos kann vor diesem Hintergrund nicht als Mythos erkannt und dekonstruiert werden. Familienvater zu werden bedeutet auf der Ebene des Figurendiskurses die Stillstellung jeder Fiktion, »das Gefühl des Festgelegtseins, der Endgültigkeit, der Verantwortung«, »für den Rest seines Lebens ein und derselbe sein zu müssen«. (BJ, S. 229) Mytheme wie die Binarität der Geschlechter oder die genetische Verwandtschaft mit dem Kind kontrollieren den Text, weil es seinem Erzähler nicht gelingt, sie als Mythen zu dechiffrieren. Der Erzähler wird nicht nur Vater eines Kindes, er ist auch Vater eines Japaners, im metonymischen Verweis auf Barthes’ Text damit der Vater seines eigenen Mythos.
2.3 Ambige Zeichen und fiktive Alltagswelten Beste Jahre erzählt von einer semiotisch-mythologischen Naivität, die Beruhigungen, gleichzeitig aber auch Abgründe bereithält. »Obsklappt« ist schließlich vielleicht doch ein ›Japaner‹ – ein Mythos also, eine Fiktion und semiotisches Konstrukt. Semiotischen Prozessen begegnet der Text auf einer zweiten narrativen Ebene mit Unbehagen und Skepsis. Als Schauspieler ist der Erzähler gleichzeitig
27 Barthes: Reich der Zeichen, S. 20 f. 28 Barthes: Reich der Zeichen, S. 14. 29 Barthes: Reich der Zeichen, S. 16.
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Experte für Fiktion, ihr andererseits aber auch immer wieder hilflos ausgeliefert. Er weiß zwar um die Unterschiede zwischen einem inszenierten ›Als-Ob‹ und dem ›realen‹ Leben, weiß aber auch, wie schwierig es bisweilen sein kann, beide Bereiche klar voneinander zu trennen. Das liegt weniger am Erzähler selbst als an der Ambiguität der Zeichen. Lisas Rolle in einem Tatort führt zum Streit mit ihr, und zwar nicht wegen ihrer »sehr glaubwürdigen« Darstellung einer Kinderpsychologin, sondern wegen der noch viel glaubwürdigeren Liebes- und Sexszenen mit einem der Ermittler. Wie so oft in einer Schauspieler-Ehe ging es um die heikle Frage: Was ist gespielt und was ist echt? Ich war damals, obwohl ich Lisa wirklich gut zu kennen glaubte, tief verunsichert […], weil es sich um Film bzw. Fernsehen handelte und die fraglichen Szenen sehr viel realistischer daherkamen als alles auf dem Theater. (BJ, S. 113 f.)
Vor dem Hintergrund des »Method Acting«30, auf das sich der Erzähler als Grundlage seiner Schauspielkunst mehrmals bezieht,31 wird die Unterscheidung zwischen ›real‹ und ›fiktiv‹ bzw. ›gespielt‹ besonders heikel. Ziel der »Methode« ist es, sich erlebte Gefühle derart plastisch in Erinnerung zu rufen, dass sich im Moment der Zurschaustellung im Theater oder im Film eine Identität damit einstellt. Zur Schau gestellt werden also nicht ›gespielte‹ Gefühle, sondern die eigenen – auch wenn sie einem ›alten‹ Kontext entliehen sind.32 Der Verdacht, das Gesehene könnte ein Gefühl dieser Art sein – und damit authentisch – lässt sich nicht leicht entkräften. Fiktive und authentische Elemente sind in diesem Prozess untrennbar miteinander verwoben – ob die sichtbaren Zeichen auf ein ›Wahres‹ oder auf bloße Inszenierung verweisen, wird nicht klar.33 Dem Erzähler selbst sind wohl auch deshalb diejenigen Theaterbühnen die
30 Vgl. Lee Strasberg: Ein Traum der Leidenschaft: die Entwicklung der »Methode«. Eine Theorie der Schauspielkunst. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. München 1988. 31 So liest er bei einer Preisverleihung als Laudatio auf einen Kollegen einen »harmlosen, anderthalbseitigen Strasberg-Text« (BJ, S. 209). 32 Vgl. dazu Lee Strasberg: Der Schauspieler und er selbst (1965). In: Strasberg: Schauspielen und das Training des Schauspielers. Hg. von Wolfgang Wermelskirch. Berlin 1988, S. 104–116: »Das Außergewöhnliche am Schauspielen ist die Tatsache, daß das Leben selbst wirklich benutzt wird, um künstlerische Ergebnisse zu erzielen. In jeder anderen Kunstgattung geben die Mittel nur vor, sich mit der Wirklichkeit zu beschäftigen. Musik kann oft etwas viel tiefer erfassen als irgendeine andere Kunst, doch sie teilt nur etwas über die Wirklichkeit mit. […] Doch da der Schauspieler auch ein Mensch ist, gibt er nicht bloß vor, die Wirklichkeit zu gebrauchen. Er kann im wahrsten Sinne des Wortes alles, was existiert, benutzen.« (S. 104) 33 Diese grundlegende Verunsicherung erfasst den Erzähler, wie gezeigt, auch, wenn es darum geht, die ›Zeichen‹ HCs in Bezug auf eine mögliche (oder kaschierte) Homosexualität ›richtig‹ zu deuten.
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liebsten, die die Fiktion im ›Guckkasten‹ und die Realität davor eindeutig durch einen Vorhang voneinander trennen: Doch von allen Häusern, die mir offenstanden, ähnelte die Große Bühne in Stendal noch am ehesten einem Theater, wie ich es mir in meinen Kinderträumen vorgestellt hatte. Es war keine U-Bahn und kein experimentelles Wohnzimmer, es gab eine Bühne mit Orchestergraben, einen Zuschauerraum mit einem Rang und einen echten roten Samtvorhang. Wenn er geschlossen war, konnte man ihn stundenlang anstarren und sich fragen, was wohl dahinter verborgen sein mochte. (BJ, S. 133)34
Die beruhigende Vorstellung, Fiktionen fänden nur ›hinter dem Vorhang‹ statt, enttäuscht von Düffels Roman. Fiktionen durchdringen auch die Lebenswelt des Erzählers. Zeichen ›richtig‹ zu lesen bedeutet immer auch, ihr fiktionales Potential ernst nehmen zu müssen. Möglicherweise verweist das Gesehene nicht auf ein Reales, die Logik der Zeichen selbst liefert allerdings keinerlei Anhaltspunkte, wie mit derlei Unsicherheiten umzugehen ist. Von dieser Unruhe erfasst sind die paarintimen und familiären Inszenierungen des Romans. »Wenn wir nach Hause kommen, beginnt für meine Frau und mich die ›Truman-Show‹, wie wir unseren Alltag nennen.« (BJ, S. 31) Diese Bezeichnung greift auf den gleichnamigen Film Peter Weirs zurück,35 und scheint dem Paar treffend, weil ihnen ihr Alltag »zu schön vorkommt, um wahr zu sein« (BJ, S. 31). Sie kann in ihrer positiven Wendung allerdings nur notdürftig die eigentliche Angst verbergen, die sie denotiert. Der Protagonist des Films, Truman Burbank, ist Gefangener einer künstlichen Welt, einer medialen Inszenierung, einer Reality-Show, dessen Hauptdarsteller er ist. Truman ist niemals nur er selbst, er stellt sich gleichzeitig selbst dar – ohne es zu wissen. Die Perspektive des Textes auf seinen IchErzähler und Protagonisten ist eine ähnliche. Der Erzähler inszeniert sich per-
34 Die Gefahren der Illusionswirkung des Theaters, die der Erzähler so gern gebannt hätte, erinnert an die von Stendhal überlieferte Anekdote eines Soldaten, dem bei einer Othello-Aufführung das Theaterspiel Realität zu sein scheint und der deshalb tatkräftig in die Bühnenhandlung eingreift, als Othello ansetzt, Desdemona zu töten: »L’année dernière (août 1822), le soldat qui était en faction dans l’intérieur du théâtre de Baltimore, voyant Othello qui, au cinquième acte de la tragédie de ce nom, allait tuer Desdemona, s’écria ›Il ne sera jamais dit qu’en ma présence un maudit nègre aura tué une femme blanche.‹ Au meme moment le soldat tire son coup de fusil, et casse un bras à l’acteur qui faisait Othello. Il ne se passe pas d’années sans que les journaux ne rapportent des faits semblables. Eh bien! ce soldat avait de l’illusion, croyait vraie l’action qui se passait sur la scène« (Stendhal: Racine et Shakespeare. In: Stendhal: Œuvres complètes. Hg. von Victor des Litto. Genf 1970, S. 15 f.). Die theatertheoretischen Implikationen, die dem Verweis auf Stendhal innewohnen, wären noch herauszuarbeiten. 35 Peter Weir: The Truman Show. USA 1998.
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formativ in seiner eigenen Erzählung, erweist sich dabei als unsicher (»In einem Winkel seines Gehirns war er davon überzeugt, daß sie sich etwas vormachte«, BJ, S. 108 f.), ist sich seiner eigenen Motive oft nicht bewusst. Die Mutmaßungen um HCs Motive und seine Sexualität werden in ihrer Bedeutung nur dem Leser bewusst, der den Erzähler als einen sich selbst darstellenden Truman – von außen – beobachten kann. John von Düffels mythenlesender Erzähler, der als Familiengründer die Zeichen partout nicht von außen betrachten will (könnte eine solche Perspektive seine essentialisierten Fiktionen doch als solche entlarven), erweist sich damit immer wieder auch als Zeichenskeptiker. Er weiß durchaus darum, dass Zeichen sowohl Virtuelles als auch Reales bedeuten können. Wer eine Geschichte erzählt bekommt, weiß eben unter Umständen nicht, worauf die Zeichen verweisen: auf ein Reales oder auf ein nur Erdachtes. Die Familiengründung als ›Ende der Fiktion‹ und ihr Mythos arbeiten vor diesem Hintergrund gegen die tiefgreifende Entfremdungserfahrung eines bürgerlichen Milieus an, in dem alles immer auch ›nur‹ ein Spiel sein könnte. Eine weitere Episode, diejenige um den »Doreen«-Roman, lässt die Abgründe, die sich hinter fiktionalen Inszenierungen verbergen, noch einmal deutlich hervortreten. Ein Besuch HCs löst die Erinnerungen an die Zeit nach dem Mauerfall aus. Der Erzähler hat sie während seiner Ausbildung am Theater im ostdeutschen Stendal erlebt. Es ist eine Kultur der Zuschreibungen und ›Andichtungen‹, die von Düffels Text in der Narration des Erzählers aufscheinen lässt. Damals sei das Zusammentreffen zwischen Ost und West ein »Karneval der Klischees« (BJ, S. 137) gewesen, in dem jedem Beteiligten »klar [war], daß er nicht ›um seiner selbst willen‹ geliebt oder gehaßt wurde, sondern dafür, daß er neu und anders war« (BJ, S. 137). Diese kategorisierenden – offenbar narrativ angereicherten – Zuschreibungen schieben sich vor die Individualität der einzelnen Begegnung; der junge Schauspieler findet diesen Zustand fiktionaler Überlagerungen offenbar durchaus reizvoll: Es ging nicht um die feinen Unterschiede, sondern darum, die andere Hälfte Deutschlands im großen und ganzen kennenzulernen. Es hieß nicht Du und Ich, sondern Ihr und Wir. […] Sie und wir waren nicht in Personen, sondern in die Situation verliebt, in diesen einmaligen Moment deutsch-deutscher Exotik mit seinen schnellen Eroberungen und Enttäuschungen. (BJ, S. 137)
Anders als die Erinnerungen an diese ›gefahrlosen‹ Begegnungen fürchtet der Erzähler diejenige an die Liebesgeschichte um Doreen:
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Von all den Affären meiner wilden Stendaler Zeit war es die einzige, die sich ausschließlich in meinem Kopf abgespielt hatte, sie war reine Fiktion. Doch gerade das machte sie vielleicht so besonders und besonders gefährlich. (BJ, S. 140; Hervorhebung AM)
Doreen taucht erstmals im Kontext eines Discobesuchs auf: »Ein Taxi kam, und Doreen stieg aus«, »Rettungs- und Erlösungsphantasien schossen mir durch den Kopf.« (BJ, S. 146 f.) »Retten« und »erlösen« lässt sich Doreen aber zu keinem Zeitpunkt, denn sie bleibt erst einmal unauffindbar, ihr Eindruck verblasst und macht einer bloßen Erinnerungscollage Platz: Die nächsten Tage und Nächte lief ich durch Stendal mit Doreens Phantombild auf meiner Netzhaut, immer in der Hoffnung, die Entsprechung dafür zu finden, immerzu auf der Suche nach ihr. […] Unterdessen löste sich meine Erinnerung an sie in Einzelteile auf wie ein zu oft auseinandergefaltetes Foto. Ich hatte das eine oder andere Detail noch plastisch vor Augen – ihre Lippen, ihren Mund, ihre langen, glatten, unbeschreiblich braunen Haare –, sah aber Doreen nicht mehr im Ganzen vor mir, sondern erinnerte mich nur noch an das Gefühl, sie zu sehen […]. (BJ, S. 148)
Doreen bleibt Fragment – bis der Erzähler sich in ihrer Abwesenheit bei ihren Eltern einquartiert, die Doreens Jugendzimmer als Fremdenzimmer vermieten. Dort scheint es ihm, »als hätte ich auf einmal Zutritt zu ihrer Kindheit und Jugend, zu dem Gedächtnis der Dinge. Noch nie hatte ich einen Menschen so kennengelernt.« (BJ, S. 151) Das Kennenlernen Doreens bleibt freilich eine Illusion. Der Erzähler durchquert ihr Zimmer wie ein postmoderner Faust: »Ich hoffte, auf einen beobachteten Moment, um eines ihrer alten Bücher aufschlagen zu können und auf der ersten Seite in ihrer Mädchenhandschrift zu lesen: ›Dieses Buch gehört Doreen Däscher.‹« (BJ, S. 151) Die Zeichen, die er findet, setzen eine Fiktionalisierung Doreens in Gang, die mit der Wirklichkeit ihrer Person nichts gemein hat. Anders als Faust, der, allein in Gretchens Zimmer, die Not ihrer Armut zu eigenen Zwecken verkitscht36 ohne seine Illusion als solche zu erkennen, reflektiert von Düffels Erzähler jedoch seine Doreen-Konstruktion. Es geht ihm bald »längst nicht mehr darum, sie um jeden Preis wiederzusehen, es ging mir um ihre Geschichte« (BJ, S. 152).
36 »Willkommen, süßer Dämmerschein, / Der du dies Heiligtum durchwebst! / Ergreif mein Herz, du süße Liebespein, / Die du vom Tau der Hoffnung schmachtend lebst! / Wie atmet rings Gefühl der Stille, / Der Ordnung, der Zufriedenheit! / In dieser Armut welche Fülle! / In diesem Kerker welche Seligkeit!« (Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. In: Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Band 7/1. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 31–199, hier S. 115)
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Den Beschluss, Doreen einen Roman zu schreiben, eine »Doreen-Geschichte« (BJ, S. 152), kann (und will) er dennoch nicht mehr auf sich allein zurückführen, er ›teilt‹ ihn mit HC: Nach all den Jahren konnte ich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, wer von uns beiden die Idee gehabt hatte, Doreen nicht einen Brief oder ein Gedicht, sondern gleich einen ganzen Roman zu schreiben, HC oder ich. (BJ, S. 152)
Das Romanprojekt offenbart in der Erinnerung seine Abgründe, die vor allem in der Besessenheit der beiden jungen Männer liegen. HC und der Erzähler imaginieren an der realen Doreen vorbei, gewissermaßen über sie hinweg, sie fiktionalisieren ihr eine Identität auf den Leib und »erlebten diese Liebesgeschichte weitgehend zusammen« (BJ, S. 153). Einerseits ist das ein denkbar machtvoller Zugriff, andererseits droht während des Projekts auch den Männern selbst der Kontrollverlust. Seinem Freund HC schreibt der Erzähler eine Distanzlosigkeit zu, die als mögliche Projektion auf ihn selbst zurückfällt: Doch wer immer die treibende Kraft gewesen sein mochte, ich wußte genau, daß es mir mit dieser Doreen-Geschichte von Anfang an weniger ernst gewesen war als ihm – oder ernst auf andere Weise. Mir war es wichtig im Augenblick, ihm bedeutete es etwas auf Dauer. (BJ, S. 152 f.)
Die Geschichten, die die Männer von Doreen erzählen, die Zeichen, die sie untereinander austauschen, und die die junge Frau repräsentieren sollen, bedeuten nicht Doreen, sondern eine imaginierte Dritte. Narrative Zeichen können sich, das ist die eigentliche Lehre aus dem Romanprojekt des Jungschauspielers, verselbständigen. Sie haben dann mit der Realität nichts mehr zu tun, schaffen aber einen virtuellen Raum, der diese Abschaffung für eine gewisse Zeit vergessen machen kann. HC habe »alles wissen, alles lesen« (BJ, S. 153) wollen, der Verfasser des Doreen-Romans selbst erkennt in seinem Projekt schon bald »nicht de[n] Beginn oder höchste[n] Ausdruck einer romantischen Liebe, sondern in Wahrheit ihr Ende« (BJ, S. 153). Doreen durchläuft unter der Regie der Männer eine Transformation, ist »nicht mehr die unfaßbare Frau« (BJ, S. 153), sondern »eine Figur« (BJ, S. 153). Inhaltlich lassen sich die Berichte des Erzählers aus der Stendaler Zeit an seine Situation als werdender Vater auf den ersten Blick nur schwer anknüpfen. Der Text bindet beide Diskurse aber eng aneinander: Die Stendaler Berichte setzen mit einem Moment kleinfamiliärer Zelebrierung ein. HC kommt (unerwartet und aus der Sicht des Erzählers auch unerwünscht) zu Besuch. Lisa schaut an diesem Abend »die Mutterschaft gleichsam aus den Augen. Sie strahlt eine Wärme und innere Zuversicht aus, einen überwältigenden Glanz« (BJ, S. 114); sie »verkörperte
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das Leben, über jede kosmetische Eitelkeit oder Schönheit hinaus, das hatte ich noch nie so deutlich gesehen wie jetzt« (BJ, S. 115). Die Inszenierung kleinfamiliärer Geschichten als neu erlebte, körperlich beglaubigte Authentizität collagiert von Düffels Text damit direkt neben die Abgründe der Doreen-Fiktion. Während Lisa und vor allem ihr Gatte an die ›Wahrheit‹ einer kleinfamiliären Geschichte glauben wollen, die ausdrücklich ein ›Ende aller Fiktionen‹ sein soll, entgleiten der Erinnerung des Erzählers und Protagonisten Erinnerungen an Fiktionen, die sich gewissermaßen verselbständigen und am Ende inhaltlich ›leer bleiben‹: Die Doreen des Romans gibt es nicht.
2.4 Der letzte Akt: Familiengründung und Fiktion Unheimlicher noch ist im Kontext des Romanprojekts, dass die narrative Verwandlung den Erzähler selbst nicht ausnimmt. Im Wechsel der Erzählperspektive von »ich« zu »er« deutet sich ein Übergang von der Existenz als realer Person zum fiktiven Protagonisten in der eigenen Erzählung an: Es war, als stünde ich auf der Bühne, aber mitten im Leben, als wäre ich der Held und erste Zuschauer meines eigenen Films, ich und er. Und je mehr ich schrieb, desto weniger spürte ich den Unterschied. Zwischen der ersten und dritten Person lag bloß ein Wimpernschlag, nicht nur am Schreibtisch, sondern in allem, was ich sagte und tat. (BJ, S. 154)
Die Beobachtung des jungen Schauspielers verweist auf das poetologische Verfahren von Beste Jahre selbst. Die Erzählung ist wechselweise die eines Ich- oder Er-Erzählers, changiert damit zwischen innerem Monolog und distanzierterer erlebter Rede, kippt an vereinzelten Stellen sogar in einen inneren Dialog, den der Erzähler mit sich selbst führt.37 Die Erzählerstimme fächert sich in unterschiedliche Perspektiven auf, das erzählende Ich und seine Selbstaussagen sind immer wieder durch die Poetologie des Textes in Gefahr. Der Erzähler könnte, das deutet sich hier an, ein ähnlich ›leeres Zeichen‹ sein wie die Doreen des Romanprojekts. Die letzten Kapitel des Textes greifen diesen Verdacht noch einmal auf. Gleichzeitig führen sie abermals Fiktion und Familiengründung in einer luziden Zuspitzung parallel. HC ist, so viel weiß der Erzähler mittlerweile, nicht homosexuell, sondern aufgrund einer Krebserkrankung unfruchtbar. Der Erzähler soll nun als Samenspender fungieren. Abermals gerät der Schauspieler in fiktionale
37 Beispielsweise in der Schlussepisode mit Doreen, BJ, S. 232.
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Verwirrungen. Er glaubt, die Bitte nicht abschlagen zu können, gleichzeitig aber plagen ihn Gewissensbisse gegenüber Lisa, die er über den »Fertilisations-Seitensprung« (BJ, S. 209) nicht informiert hat. Rettung verspricht er sich von seinen Schauspielkünsten, die dafür sorgen sollen, dass »[d]as Ganze […] auf HC bzw. seine Frau überzeugend [wirkt], und zwar so, als würde ich wahrhaftig Samen spenden wollen, während ich in Wirklichkeit nichts eifriger versuchte, als ihn zurückzuhalten« (BJ, S. 212). Wenn er den Orgasmus nur vortäuschte oder zumindest nicht mehr als teilejakulierte, bestand keine Gefahr, daß HCs Frau empfing, schließlich war es medizinisch erwiesen, daß die ersten traurigen Tröpfchen bei mir nur leblose oder unbewegliche Schwimmer enthielten. (BJ, S. 211; Hervorhebung AM)
Diese Situation verkompliziert sich sogar noch, als klar wird, dass es sich bei HCs Frau ausgerechnet um Doreen handelt. Aus der Samenspende an eine bis dahin unbekannte Frau wird in der fiktionalen Logik des Doreen-Projekts Sex mit der ehemals Angehimmelten. Zu befürchten steht, niemand werde glauben, es sei um eine reine Samenspende gegangen, bei der Gefühle keine Rolle spielten. Statt dessen würde es so aussehen, als sei dieses Hirngespinst einer Beziehung zwischen Doreen und dir die eigentliche Liebesgeschichte deines Lebens, als ginge damit eine langgehegte Sehnsucht in Erfüllung! (BJ, S. 223)
Von Düffels Erzähler schläft trotzdem mit Doreen. Währenddessen erst wird ihm klar (den Leser beschleicht dieser Verdacht schon eine geraume Zeit), dass auch seine Freundschaft zu HC eine Schutznarration ist, die einen tiefer liegenden Konkurrenzkampf verbergen soll. Die Befruchtung der Ehefrau durch den besten Freund des Ehemannes ist »ein Angriff auf ihn [HC] und seine ewige Überlegenheit« (BJ, S. 232), sie geschieht nicht für den Freund, »sondern gegen ihn«, denn »zum ersten Mal hattest du eine Schwäche an ihm bemerkt« (BJ, S. 232): Du begehrtest Doreen nicht, nicht im geringsten, du begehrtest gegen ihn auf, getrieben von einem tiefsitzenden, lange verleugneten Haß auf den Klügeren, Besseren, Vorbildlichen, der glaubte, dich manipulieren zu können, indem er dich zwang, in seiner Geschichte mitzuspielen. (BJ, S. 232)
Der Beischlaf mit der Fiktion Doreen führt noch einmal die Gefahren vor Augen, die von Düffels Text im Kontext semiotischer Prozesse benennt: Der Erzähler fürchtet sich vor Verwechslungen, denn der inszenierte Seitensprung mit Doreen ist für Lisa ein Zeichen, das nur ›falsch‹ gelesen werden kann. Die ›Rolle‹ als Liebhaber muss der Erzähler immerhin so gut spielen, dass seine Erregung einen
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Orgasmus hervorruft – damit verfängt sich der Schauspieler in seiner eigenen Rolle, die immer auch gleichzeitig auf ein Reales verweist. Es droht dem Individuum, das deuten die perspektivischen Wechsel des Romantextes bereits an, immer auch ein Selbstverlust. Die Rolle als werdender Familienvater soll hier abermals Garant sein für eine sichere Identität, der Erzähler beschreibt sich in den Momenten größter Konfusion als glücklich verheiratet, ein werdender Familienvater ich hatte nichts mehr gemein mit dem Jungschauspieler von einst, der sich in immer neue Herzensabenteuer stürzte, auf der Suche nach sich, der nicht in Doreen, sondern in die Idee von ihr verliebt gewesen war, und auch das nur für kurze Zeit. (BJ, S. 223)
Vater sein verspricht, es wurde bereits zitiert, nichts anderes als »für den Rest seines Lebens ein und derselbe sein zu müssen« (BJ, S. 229) – und zu dürfen. Aus der Doreen-Falle freilich vermag dieses Versprechen den Erzähler nicht zu retten. Seinen sexuellen Höhepunkt ruft abermals eine (noch dazu deutlich homoerotisch aufgeladene) Fiktion hervor, die nämlich, HC habe die Verzweiflung über die eigene Unterlegenheit in den Selbstmord getrieben: [HC] fiel auf die Knie und nutzte diesen kleinen Kollaps, den Schwung der Schwäche, um die Mündung der Pistole an seine Lippen zu führen, sie zu öffnen und sich den Lauf in den Rachen zu schieben, während er mit zittrigen Fingern den Abzug entsicherte, und das, endlich, war der Moment, in dem du kamst, mit der Erleichterung, mit dem Ingrimm einer sich lösenden Verbissenheit, eines jahrzehntelangen Kampfs. (BJ, S. 235)
2.5 Familie bleibt Fiktion Von Düffels Text experimentiert – anders als Hettches Novelle – mit den narrativen Grundlagen familiärer Geschichten und Emotionen. Zwischen Erzähler und Leser steht durch das Spiel mit den Perspektiven eine kritisch-ironische Distanz, die immer auch auf der Konstruiertheit jeder familiären Erfahrung besteht. Väter werden, das lässt sich nach der Lektüre der Besten Jahre vermuten, immer ihre Familienmärchen erzählen – gleichzeitig kann aber das Bewusstsein von der Märchenhaftigkeit dieser Erzählungen zunehmen. Die Erfahrungen mit fiktional erzeugten Emotionen und Identitäten beziehen ihren Schauer aus der Uneindeutigkeit der Zeichen. Der Erzähler ›weiß‹ (wenn auch nur implizit) in fast allen Bereichen seines Lebens, dass Zeichen in performativer Wendung immer erst eine Realität erschaffen, die ihnen nicht vorausgeht. Der Familienmythos bleibt auf der Ebene des Figurenwissens von dieser Erkenntnis unberührt. Am Ende des Romans stehen als Ergebnis zwei Familien, die der Text höchst unter-
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schiedlich zur Kategorie der ›Fiktion‹ stellt. Während der Erzähler die nicht-körperliche Elternschaft im Laufe des Romans mehrmals als »fiktiv« bezeichnet, ist seine eigene leibliche Vaterschaft, die als ein Versuch begann, eine weitere Rolle (wenn auch eine ›Rolle des Lebens‹) zu lernen, eine Hoffnung auf ein Ende des Virtuellen. Dass der kleine Julian im letzten Satz des Textes seinen Vater an einen Japaner erinnert, lässt diese Hoffnung nicht gelten: Der Erzähler hat sich in Japan gegen die Dekonstruktion des Mythischen entschieden. Er und sein Familienprojekt bleiben damit im Virtuellen gefangen. Die Natürlichkeit der von Düffel’schen Kleinfamilie ist eine behauptete, fiktionale. Alle Abgründe, von denen der Erzähler berichtet, haben sich in ihr sedimentiert.
VIII Genealogie eines Gefühls: Peter Wawerzineks Mängelwesen I was an infant when my parents died. […] I’ve tried So often to evoke them that today I have a thousand parents. (Vladimir Nabokov)1
Für seinen Text Rabenliebe2 wird Peter Wawerzinek 2010 der Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen. Der autobiographische Plot erzählt das mutterlose Heranwachsen des Erzählers in Heimen und Adoptivfamilien in der Deutschen Demokratischen Republik. Zur Wiederbegegnung mit der Mutter, die die Flucht in den Westen ohne den Sohn angetreten hat, kommt es erst im späten Erwachsenenalter. Die spezifisch preiswürdige Leistung des Romans konkretisieren die Juroren im Gelingen eines autobiographischen Projekts, genauer: in der »eindrucksvolle[n] Rekonstruktion einer unterschlagenen Kindheit«3 (Burkhard Spinnen). Die Laudatorin Meike Feßmann sieht ein Werk vor sich, das »dem eigenen Lebensstoff in einem schmerzlichen Prozess abgerungen« wurde. Der Text lässt dabei erwachsenes Erzähler-Ich und erzähltes (Kinder-)Ich in ein Verhältnis zueinander treten, das die Jurorin nachgerade rührt: Wawerzinek führe »uns das Kind in all seiner Hilflosigkeit vor, ohne es bloßzustellen«. So werden – laut Feßmann – authentisch »Spuren einer Lebensverletzung« narrativiert. Peter Wawerzinek wird neben dem Bachmann-Preis in diesem Jahr auch der Publikumspreis zugesprochen. Die Rezeption des Textes findet weitere Niederschläge im literarischen Feuilleton, das sich gleichermaßen auf seine autobiographische Komponente stürzt.4 »[D]ieses 450 Seiten starke Buch« sei, so Ulrich Greiner, »das zum Himmel schreiende Dokument eines verratenen, verlassenen
1 Pale Fire. A Poem in Four Cantos. In: Nabokov: Pale Fire. London 1962, S. 35. 2 Peter Wawerzinek: Rabenliebe. Berlin 2010. Zitiert als RL. 3 Dieses und die folgenden drei Zitate sind der Diskussion der Jury bzw. der Laudatio Meike Feßmanns entnommen. Die dazugehörigen Videos sind online abrufbar: http://bachmannpreis. eu/de/audio_video/2654 (letzter Zugriff am 20.9.2014). 4 Vgl. Ulrich Greiners These, Wawerzinek erzähle in seinem Roman »[v]on einem perversen Fall, nämlich von seinem eigenen« (Ulrich Greiner: Der Schrei nach der Mutter. Eine Provokation, ein literarisches Ereignis: Peter Wawerzineks Roman »Rabenliebe«. In: DIE ZEIT [19.08.2010]; online abrufbar: http://www.zeit.de/2010/34/L-Wawerzinek [letzter Zugriff am 20.9.2014]).
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Kindes.« Merkwürdigerweise schreie dieses Kind aber nur nach seiner Mutter,5 der Vaterverlust komme nicht zur Sprache: Warum schreit er nicht nach dem Vater? Wir sind doch gerade dabei, uns die Einsicht einzuüben, dass der Vater, um der Mutter ihren gleichberechtigten Weg in die Berufswelt zu ebnen, die Rolle der Bezugsperson genauso gut einnehmen kann, wenn er nur will. Wir setzen doch, jedenfalls im öffentlichen Diskurs, alles daran, die Mutter entbehrlich zu machen. Nein, sagt Wawerzinek, die Gebärerin, aus deren Leib das Kind kommt und wohin es nicht selten zurückwill, hat eine ungleich größere symbiotische Bedeutung als der Zeuger. Auf die Mutter kommt alles an. Und gerade deshalb, weil sich die Mutterliebe nicht von selbst versteht, ist sie unersetzlich. Diese Botschaft wird vielen missfallen.
Die Beobachtung trifft ins Zentrum des Textes, ohne sie zufriedenstellend zu deuten. Was Greiner hier als »Provokation« ausmacht, lässt sich im Rahmen einer Lektüre entschärfen oder verschieben, die den Text nicht auf den bloßen Ausdruck einer durch Mutterverlust deformierten Innerlichkeit reduziert. Rabenliebe stellt ohne Zweifel das bedürftige Kind ins Zentrum eines Plots, der vom Mutterverlust über die Muttersuche und schließlich zur Begegnung mit der Mutter führt. Die literarische Leistung des Textes besteht aber weniger in der autobiographischen Darstellung individuellen Leidens als in der Frage nach dem Ursprung der Muttersehnsucht. Die vom Text vorgeführte Genealogie dieses Gefühls entlarvt es als weder biologisch noch psychologisch begründet. Nach der Mutter (und nicht nach dem Vater) sehnt sich ein Ich-Erzähler, der in ›Muttersehnsuchtsnarrativen‹ aufwächst. Seine Tragik besteht gerade darin, dass sich die Frage nach der Authentizität bzw. der Herkunft seines Gefühls nicht mehr klären lässt.
1 Geschichten aus dem »Mamaland«: Narration und Mangel Die Ankunft im Kinderheim ist für das erzählte Kinder-Ich die Rettung vor dem Hungertod und der Beginn der »Untersuchungen«. Untersucht wird sein ausgezehrter Körper, werden seine »Rippen« und »dünne[n] Ärmchen« (RL, S. 20), die den körperlichen Mangel denotieren. Überprüft werden aber auch von Anfang an die nicht-körperlichen Auswirkung des Muttermangels, und der Befund ist ernüchternd und gleichzeitig erstaunlich, denn es herrscht ein ›Mangel an Mangel‹: »Sie sagen das Wort Mutter. Sie fühlen meinen Puls. Er regt sich nicht.
5 Auffallend findet das auch Samuel Moser in der NZZ (Samuel Moser: Ein hautloser Mensch. Peter Wawerzineks Roman »Rabenliebe«. In: Neue Zürcher Zeitung [19.10.2010]; online abrufbar: http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur/ein-hautloser-mensch-1.8053307 [letzter Zugriff am 20.9.2014]).
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Bleibt konstant, wenn sie das Wort Mutter aussprechen. Das Wort Mutter ist ein meine Person nicht erregender Begriff.« (RL, S. 20) Es fehlt dem Kind auf bewundernswerte Weise an Muttersucht, mich lenkt der nicht auf die Mutter gerichtete Singleinstinkt. Ich trage keinen Mutterruch in meiner Nase. Ich sehe keinen Mutterschatten an mir vorbeihuschen. Ich weiß nicht einmal, dass ich eine Mutter haben muss. Ich weiß nicht einmal, dass sie fort ist. (RL, S. 31)
»Ein Gefühl ist nichts als ein Gefühl ein Gefühl ein Gefühl« (RL, S. 40), repetiert der Text einige Seiten später. Woher Gefühle, vorneweg solche des Muttermangels, stammen können, legt die Episode einer Folter »im Stillen« (RL, S. 78–81) nahe. Die Szene spielt sich zwischen dem Kind und der »Erzieherin mit dem dicken schwarzen Zopf am Hinterkopf« ab und hat mit der körperlichen Folter in Erziehungseinrichtungen, wie sie in den collagenhaften Einschüben im Text bisweilen beschrieben werden,6 wenig gemein. Folter besteht in der vorliegenden Szene nicht primär in physischer Gewalt, obwohl das Ausgeliefertsein des Kindes sich auch in körperlichen Zugriffen manifestiert. Der Körper der Erzieherin kommt dem Kleinen ungewollt nah und entzieht sich, wenn der Junge sich seine Nähe wünscht: Die Erzieherin kommt mir mit ihrer Nase nahe. Sie berührt mein Kinn, hebt es an, schaut mir in die Augen, berührt meine Stirn, schaut mich lange und schweigend an, derweil ich ihrem Blick standhalte, ohne die Lider zu bewegen, bis mir die Augen brennen. Ich sage mir, dass es nicht schlimm werden wird, sich die Starre lösen wird, ich befreit bin, meinen Blick im Raum schweifen lassen kann. […] Die Erzieherin beginnt mir mit ihrem Handrücken die Wange zu tätscheln. Handhaut, an die ich mich jetzt am liebsten schmiegen würde. Ich kann mich nicht duchringen und überwinden. Sie lässt ab von mir, löst ihre Hand von meiner Wange, geht im Raum herum […]. (RL, S. 78)
Die Lust an der Folter ist für die Erzieherin aber gerade dann am größten, wenn sie auf Distanz zum Kinderkörper bleibt. Letztlich vergreift sie sich nicht am Körper des Jungen, sondern hinterlässt ihre Spuren in der Wand des Kinderheims: Rollt einmal in voller Körperdrehung die Wand ab. […] Die Arme zwischen sich und die Wand geklemmt, furchen ihre Fingernägel den Kalk, dass leise jaulende Kratzgeräusche entstehen, weißer Kalk rieselt. (RL, S. 80)
6 Vgl. beispielsweise RL, S. 126, wo »[s]chreckliche Vorwürfe gegen den Kindergarten ›Sonnenkäfer‹ in Mechelgrün« laut werden. Dort sollen »Erzieherinnen […] Kinder gequält haben mit Zwangsfüttern, mit Schlägen, mit grauenhafter Lieblosigkeit«.
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Nicht in körperlichen Schmerzen des Jungen besteht die Qual der Folter, sondern zunächst in der Angst vor dem Verhalten der Betreuungsperson, das als nicht nachvollziehbar wahrgenommenen wird und Hierarchie und Abhängigkeit zugleich bedeutet. »Die Frau geht seltsame Wege« (RL, S. 79), heißt es, und: »Ich bin in Gefahr, je länger die Erzieherin atmet, nichts sagt, mich nur umkreist.« (RL, S. 78) Die eigentliche Gefahr geht von dem aus, was die Erzieherin sagt. Zugerichtet wird nicht der Körper des Jungen, sondern seine Emotionen. Das geschieht durch die Einführung der Mutternarration: Alle Kinder haben eine Mama. Du und die anderen Kinder im Heim. […] Manche Mamas kommen vorbei, manche nie. […] Mamas haben viel zu tun. Mamas behüten sich. Mamas kommen nicht in dieses Heim. […] Manche Mamas schreiben Briefe. Schöne, lange lustige, bunte, kurze, knappe, steife und wohl frohgemute Briefe. […] Zumindest schicken Mamas Karten, auf denen geschrieben steht, dass sie nicht erscheinen können, dass sie zu tun haben, dass sie an großen Dingen, an einem Werk bauen, die allumfassende Zukunft angehen, Anstrengungen unternehmen, Mamas sind unter sehr vielen fleißigen Mamas in diesem großen Mamaland. (RL, S. 78–80)
»Ich weiß Bescheid«, heißt es zum Schluss der Passage. Das Wissen um die Mutter, das dem ausgehungerten Jungen, der ins Heim gebracht wird, vollkommen fehlt, wird in dieser Szene, in der die Erzieherin auf den Schutzbefohlenen zugreift, gegen den Willen des Kindes initiiert und als ein bedeutungstragender Teil seiner Biographie inszeniert. Die Mutter-Narration markiert das Kind als ein verlassenes, ohne dass gleichzeitig die konkreten Folgen dieses Mangels oder gar eine Rettung davor ersichtlich würde. Damit bleibt das Wissen um die Mutter genauso unberechenbar wie das Bewegungsmuster der Erzieherin: »Ich weiß Bescheid und weiß von nichts. Dieses Unwissen bleibt als Spuk mein Leben lang bestehen.« (RL, S. 81) Ähnliche Zustände der Illusion bewirken offenbar die fiktiven Mutterpakete, die man den Waisenkindern durch die Köchin überreichen lässt: Sie [die Köchin] schneidet mit dem Messer die Paketschnur entzwei. Befreit das Paket von der Schnur, dem Packpapier. Hebt aus dem Packpapier ein zweites Paket. Übergibt an mich einen beigelegten Umschlag, mit Zeichen versehen, die ich nicht befähigt bin als Buchstabengroßschrift zu erkennen. Buchstabe zu Buchstabe gereiht, stehe dort MEINEM SOHN geschrieben, wird mir gesagt. Die dicke Köchin zerschneidet die dünnere, zweite Schnur am zweiten Karton, um aus ihm hervor das umwickelte Geheimnis zu heben. […] Welch eine Mühe sich da gegeben wurde, welche Mühe. Die Schokolade ist nicht in kunterbuntes Geschenkpapier gewickelt, sie befindet sich in mattbrauner Verpackung. Das Papier stammt aus dem Käseladen um die Ecke. In großen Bögen liegt es neben der Waage gestapelt und dient der Verkäuferin als Einpackpapier. Ich bemerke das Papier Jahrzehnte später, bei meiner ersten vagen Stippvisite im Ort des Kinderheimes. Der Anblick löst in mir Mutterfühlen aus. (RL, S. 40)
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»Es gibt Vermutungen«, heißt es, »die keinerlei Lautstärke vertragen. Es gibt Gerüchte, die nicht einmal geflüstert werden dürfen. Was darüber hinaus zum Thema Mutter zu sagen ist, stützt sich auf Verdacht.« (RL, S. 52)
2 (Mutter-)Collagen und Blaue Blumen Wawerzineks Text ist eine Collage, die die Stimme des Erzählers immer wieder sichtbar unterbricht, um Zeitungsartikel, Filmzitate oder literarische Einschübe einzuweben. Es handelt sich bei diesen Einschüben (anders als bei den Kinderliedern und anderen Passagen, die direkt in den Textfluss integriert und nicht als Einschübe gekennzeichnet sind) dezidiert um Textunterbrechungen, um Versatzstücke, die nicht genuin Teil der Erzählerstimme sind. Nach inhaltlichen Kriterien lassen sie sich in verschiedene Gruppen sortieren. Die größte Gruppe machen diejenigen Exkurse aus, die, im Duktus des Dokumentarischen gehalten, das Verlassen eines Säuglings oder den Missbrauch eines Kindes thematisieren.7 In der vergangenen Woche starb in Schwerin die fünf Jahre alte Lea-Sophie. Ihre Eltern hatten sie verhungern lassen. Eine Woche vor ihrem Tod hatte der zuständige Sozialarbeiter nicht darauf bestanden, das Kind zu sehen. Gegen das Jugendamt laufen Anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung. (RL, S. 10) Nach der Entdeckung einer verwesten Kinderleiche in einem ehemaligen Kinderheim auf der britischen Kanalinsel Jersey melden sich immer mehr Zeugen, die über sexuellen Missbrauch von Mädchen und Jungen in der Einrichtung berichten. (RL, S. 81)
Einschübe dieser Gruppe verweisen auf das existenzielle Verhältnis eines Kindes zu seiner Betreuungsperson. Die Texte machen dabei keinen Unterschied zwischen Müttern und Vätern,8 zwischen Eltern und nicht verwandten Betreuungspersonen,9 nicht einmal zwischen Menschen und Tieren.10 Die Kata-
7 Vgl. RL, S. 10 f., 15, 22, 25, 30, 32, 39–41, 52 f., 55 f., 58, 62, 75, 77, 81, 93 f., 108, 114–116, 119 f., 126 f., 162, 253, 330. 8 Vgl. RL, S. 52: Tötung durch den Vater; S. 53: Tötung durch Mütter. 9 Vgl. RL, S. 75: Missbrauch durch die Mutter; S. 126 f.: Folter und Missbrauch im Heim bzw. im Kindergarten. 10 »Wie in Trance sitzt die Gorilla-Mama Gana im Käfig, das tote Baby Claudio […] liegt wie eine Puppe in den mächten Händen. […] Zwei Jahre zuvor hatte sich Gana aus Eifersucht immer wieder mit Gorilla-Dame Changa, die im gleichen Gehege lebt, um deren Baby gestritten. Das Affenmädchen wurde von Gana erst schwer verletzt, wenige Monate später sogar getötet. Nachdem
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strophe ist im Moment des Berichts schon geschehen, und sie besteht wesentlich in der Einsicht in das Bedrohtsein der Wehrlosen. »Es versteht sich nicht von selbst«, schreibt Ulrich Greiner, »dass Mütter ihre Kinder lieben. […] Die Mutterliebe […] ist kein Naturgesetz, sondern ein zivilisatorischer Standard, der verletzt werden kann.«11 Mit Blick auf das Korpus der expliziten Einschübe muss diese Aussage erweitert werden: Mutterliebe ist tatsächlich nicht selbstverständlich im Sinne einer Regel der Natur. Genauso bestellt ist es aber um die Vaterliebe und offenbar um die Liebe eines jeden Wesens für eine ihm anvertraute und auf ihn angewiesene Kreatur. Mütter nehmen in den Einschüben dieser Gruppe keine zentrale Stellung ein. Die Dokumente, die den Text unterbrechen und damit gleichzeitig ergänzen, sind durch ihre schiere Anzahl Dokumente, die die Möglichkeit der Katastrophe offenlegen. Der Erzähler der Rabenliebe unterbricht die eigene Narration, um ihr ihre Einzigartigkeit zu nehmen, sie einzubetten in die Einsicht in die generelle Möglichkeit des Fürsorgemissbrauchs oder -abbruchs. Eingeschoben werden darüber hinaus aber auch Textfragmente, die biologische Familien als sozial einzigartige Strukturen markieren. Es sind Hochglanz magazin-Geschichten des Wiederfindens von Familienangehörigen, die der Erzähler ausstellt und die Familien zu Orten eines fast metaphysischen Zusammenhalts machen. »Rolf hat seine Mutter nie kennengelernt. Sie starb, als er zwei Jahre alt war.« Dann begegnet ihm Brigitte in Fröndenberg-Frömern im Antik-Café. Man kommt ins Gespräch und stellt fest, dass nicht nur beide gebürtige Holzwickeder, sondern auch miteinander verwandt sind. Seine Großmutter ist die Schwester von ihrer Urgroßmutter. […] Unglaubliche Momente, sagen beide und, dass es eine Zeit dauern wird, ehe sie die Erlebnisse verarbeitet haben. […] Man weiß darüber hinaus, warum man sich gleich so sympathisch war und gut verstanden hat, einen tollen Draht zueinander gefunden. Und begeht seither anstehende Feste gemeinsam. (RL, S. 87 f.)12
Die Berichte erinnern an die ›Mutterbelehrung‹ der Erzieherin, nehmen jedenfalls mit Blick auf die Biographie des Erzählers eine ähnliche Funktion ein. Anders als die Exkurse zu Gewalt und Vernachlässigung erzählen diese Familiengeschichten vom Wiederfinden des Verlorengeglaubten. Zwischen den Suchenden bzw.
Gana dann vor einem Jahr ihr erstes Kind Mary Zwo auf die Welt gebracht hatte, vernachlässigte sie ihre Tochter, das Affenmädchen musste von Kinderärzten gerettet werden.« (RL, S. 116 f.) 11 Greiner. 12 Vgl. auch RL, S. 23, 169, 334 f., 340, 345, 381.
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Findenden besteht eine besondere Verbindung, die auch die zeitliche oder räumliche Entfernung nicht getilgt hat. Familien werden durch diese beiden Exkursgruppen auf zwei einander entgegengesetzte Arten eingeführt. Sie sind Orte der Gewalt und der Vernachlässigung, erhalten dabei aber keine gesonderte Stellung, weil sich die Fähigkeit, Schutzbefohlene zu beschädigen oder zu vernichten, als genuin menschliche (vielleicht sogar kreatürliche) herausstellt. Die Szenen unterscheiden sich allenfalls in ihrer Rezeption als Skandal, der eventuell größer ausfällt, je ›natürlicher‹ das Vertrauensverhältnis zwischen Betreuer und zu Betreuendem empfunden wird. Auf der anderen Seite führen die Exkurse solche Narrationen ins Feld, die die Familie als gemeinsamen Herkunftsort mit der Identität des Einzelnen engführen. Rolf und Brigitte sind einander ähnlich, obwohl sie sich nicht kennen, die Feste, die sie miteinander feiern, bezeugen ihren Willen, Gemeinsamkeiten künftig rituell zu manifestieren. Dem grundsätzlichen Wissen um das Bedrohtsein, das dem Einzelnen auch dann bleibt, wenn er sich als Teil einer zwischenmenschlichen Verbindung begreift, antwortet die Textcollage mit Geschichten familiärer Beschwörung, die von einer dritten Einschub-Gruppe noch ergänzt werden. Vorwiegend literarische Zitate kreisen hier um die Frage nach der Identität des Erzählers. »Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles« (RL, S. 31) – das Hölderlin-Zitat unterstreicht die Semantik einer Leerstelle innerhalb der eigenen Biographie, um die herum sich Identität konstituiert. Der Erzähler besteht nach dieser Logik in allererster Linie aus dem, was er nicht hat und sucht: aus familiären Wurzeln. Ähnlich wie in den Geschichten zu Wiedervereinigungen von Familien wird Familie im Kontext des Hölderlin-Zitats zum romantischen Projekt, zur ›Blauen Blume‹, die als absoluter Signifikant der eigenen biographischen Narration den einzig richtigen Sinn verleiht. Im »Lied der Waise«, das einige Seiten später eingeschoben wird (RL, S. 65), leidet das elternlose Kind daher auch besonders unter seinem ›NichtBezogensein‹. »Ich bin Niemand / und werde auch Niemand sein«, weil: »Mich kann keiner brauchen.« Immer wieder rekurriert der Text auf Poes Der Rabe13, der Verlust und den Umgang damit zum Thema hat. Poes Liebender wird von der Erkenntnis vernichtet, dass er die Leerstelle, die der Tod seiner Geliebten Lenore bedeutet, nicht wird füllen können – »Nevermore« ist bekanntlich das letzte und einzige Wort des Raben.
13 Edgar Allan Poe: Der Rabe. In der Übertragung von Hans Wollschläger. Frankfurt am Main 1981.
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Ein Stefan Zweig-Zitat aus Die Welt von Gestern14 erzählt demgegenüber von der Projektion einer geschlossenen Identität, die sich aus familiärer Kontinuität speist. Diese Kontinuität bleibt ungebrochen und muss weder extern noch intern hinterfragt werden: Mein Vater, mein Großvater, was haben sie gesehen? Sie lebten jeder ihr Leben in der Einform. Ein einziges Leben vom Anfang bis zum Ende, ohne Aufstiege, ohne Stürze, ohne Erschütterung und Gefahr […]. Sie lebten im selben Land, in derselben Stadt und fast immer sogar im selben Haus […]. (RL, S. 181)
Die literarischen Einschübe, die Identität und autobiographische Perspektiven ins Zentrum setzen, kreisen um die Frage nach dem Verlust von Bezugspunkten bzw. experimentieren mit der Projektion eines Lebens ohne den erfahrenen Verlust (wie im Falle des Zweig-Zitats). Dabei erheben sie den Verlust und die dabei entstehende Leerstelle zum absoluten Bezugspunkt. Hölderlin erklärt das Fehlende zum Hauptsächlichen, die Waise löscht ihre individuelle Identität in ihrem Waise-Sein aus und Poes Rabe wirft mit seinem »Nevermore« einen Schatten, der die Seele des Protagonisten vernichtet. Ähnlich determiniert erkennt sich der Rabenliebe-Erzähler »als das Kind, das zu beleben hat, was mit dem Tag seiner Geburt bereits hinter ihm liegt. Das Familienleben. Ich werde groß und wachse mit allem Mangel, den einer mit sich durchs Leben schleppen kann.« (RL, S. 193) Diese Verlusterfahrung als vernichtendes und gleichzeitig identitätskonstituierendes Element findet sich auch in der Ostereierepisode des Textes wieder. Für die Kinder sind im Heim Körbchen mit Ostereiern versteckt, die sich nur in der Farbe des sich darin befindenden gefärbten Hühnereis unterscheiden. Der Erzähler stellt sich selbst die Aufgabe, einen Korb mit einem blauen Ei zu finden. Es ist ein »blaues Ei, das sich nicht leicht finden lassen will, das einzige blaue Ei des Ostertages, das mir gehört, das ich finden muss« (RL, S. 96). Das blaue Ei lässt sich natürlich erst einmal nicht finden, es droht, eine selbst geschaffene Leerstelle zu bleiben, die der Erzähler mit samt der ihr auferlegten Bedeutung aber längst nicht mehr aufgeben kann: Ich habe alles auf die Farbe Blau gesetzt und alles verloren. Ich bin der Einzige ohne Korb, was nicht richtig ist, mich traurig stimmt, weil ich die anderen sehe, wie sie mit ihren Körben angeben, und ich weiß, dass man mir kein Extrakörbchen geben wird, gar keins mit einem blauen Hühnerei. (RL, S. 96)
14 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. In: Zweig: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Band 10. Frankfurt am Main 1981 [1944].
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Als doch noch ein blaues Ei auftaucht, ist es zertreten, »ein Quetschei mit Staub vermengt« (RL, S. 96). Der Verlust ist nicht mehr rückgängig zu machen, weil es die Logik der selbst gewählten Aufgabe, der Narration vom »einzigen blauen Ei«, nicht zulässt.
3 Lieder von der (Mutter-)Liebe Die meisten – im weitesten Sinn – literarischen Einschübe sind allerdings ohne Kennzeichnung direkt in den Text integriert. Es handelt sich um (überwiegend romantische) Gedichte, Volkslieder und -tänze, Kinderlieder, Bauernregeln, Gedichte (beispielsweise von Georg Trakl, RL, S. 30), Bibelstellen (RL, S. 32), Schlager, Texte von Liedermachern und Märchen (Tischlein deck dich, RL, S. 118). Diese Textteile sind an den meisten Stellen untrennbar mit der Erzählerstimme verwoben, das Sprechen des Erzählers geschieht mit und durch diese Fragmente. Damit werden sie zu integralen Bestandteilen seiner biographischen Narration, zu ihrem perspektivischen und emotionalen Nährboden. Besonders deutlich wird das, wenn Elemente des Liedhaften, beispielsweise Wiederholungen und Reime, in die Sprache des Erzählers aufgenommen werden, ohne dass sie eigentlich Zitat sind. »Ziehvater zieh, ich dank dir für die Müh, Ziehvater zieh« (RL, S. 253), dichtet der Erzähler, als sein Adoptivvater ihn nach einem Unfall mit dem Schlitten aus dem Schnee zieht. Der Transport des Jungen ins Kinderheim, an den sich der erwachsene Erzähler nicht korrekt erinnert und zu dem er mehrere nachträgliche Erinnerungsversionen konstruiert, wird angereichert und überformt mit dem Text des Fliegermarsches, der die Hilflosigkeit des Kindes in der Heldengeschichte eines Piloten auffängt: Durchs ganze Land würde er [der Fahrer] mich am liebsten chauffieren, abheben, aufsteigen und die überall Ruh über den Wipfeln stören, den Krähen es zeigen, ihnen den Fliegermarsch blasen: Kerzengrad steig ich zum Himmel, flieg ich zur Sonn direkt, unter mir auf das Gewimmel, da pfeif ich mit Respekt, wenn wir dann so oben schweben, mein Freund, das ist ein Leben, da fühl ich mich wie ein junger Gott […]. (RL, S. 12 f.)
Die Bedeutung der Zitate als emotionale Folie und Nährboden lässt sich nicht nur formal am Verwobensein der Zitate mit dem Erzähltext belegen, sondern auch mit einer eher inhaltlichen Perspektive, die sich in einer Episode aus einer Kinderheimfreundschaft zu Tegen zeigt. Tegen ist ein Rittergeschichtenerzähler und der Erzähler schreibt »all die wundersam grausigen Geschichten, die Tegen mir erzählt, im Hirn auf« (RL, S. 109). Diese Geschichten sind Eskapismus und emotionales Lehrwerk zugleich: »Ich bin durch Tegen in die märchenhaft mythische Welt geworfen. […] Den Namen Walther von der Vogelweide sagt Tegen mit Glanz
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in den Augen, lehrt mich Gefühl, Leidenschaft für die Natur, so arm und mittellos einer ist, den Launen der Herren ausgeliefert.« (RL, S. 109) Geschichten prägen den Jungen, vermitteln Rollenbilder, werden im Zuge des re-enactment Teil seiner Identität: »Ich bin ein Ritter. Ich diene keinem Kaiser.« (RL, S. 109) So weiß der Erzähler auch »vom Krokant, bevor ich ihn koste. Ich weiß von kandierten Veilchenblättern. Ich kann eine Speise, die ich zuvor noch nie gegessen, mit verbundenen Augen durch die Beschreibung Tegens identifizieren.« (RL, S. 110) Der Erzähler kennt weder Geschmack noch Konsistenz von Krokant aus direkter kulinarischer Erfahrung – aber er weiß, wie man ihn erzählt, weiß, dass er in den Kontext der Schlaraffenlandgeschichten gehört und welche Bedeutung ihm dort zugeschrieben wird. Analog dazu lassen sich auch diejenigen Passagen lesen, die literarische Einschübe zu Müttern und Vätern bereithalten. Auch durch sie lernt der Erzähler Emotionen, ›weiß‹, was ihm fehlt, wenn er vom Mutterverlust spricht. Die Hölderlin’sche Suche konkretisiert sich in diesen Muttergeschichten. Im Kontext des Romantextes gewinnen die in die Erzählerrede eingebetteten Verweise eine spezifische, kontextgebundene Bedeutung. Zitat und Erzählerrede verschmelzen miteinander. Dabei kann man sowohl von einer Aneignung der Zitate durch den Erzähler sprechen, als auch die Formung seines individuellen Erlebens durch die ihm bekannten Zitate beobachten.
4 Misslungene Fiktionen: Adoptionsmutter Der Erzähler berichtet von mehreren Adoptionsversuchen, die (auch wenn die letzte juristisch einwandfrei ist) emotional allesamt misslingen. Die Köchin des Waisenhauses darf ihren Schützling nicht adoptieren, ihr Mann duldet kein Kind im Haus (RL, S. 49). In der »Villa Erika« bleibt der Erzähler als ewiger Sündenbock (»Derdawars«) ein Fremdkörper innerhalb der Familie. »Derdawars wird nie und nimmer einer von uns. Derdawars ist kein Handwerklicher, heißt es aus dem Mund des Meisters. […] Ich sehe mich hinfortgenommen.« (RL, S. 60 f.) Metaphorisch kleidet der Text das Scheitern der Integration in eine Unverträglichkeit der Familienessen: »Ich bewältige ihre Festessen nicht.« (RL, S. 56)15
15 Neben der Unverdaulichkeit des Essens in der zweiten Adoptivfamilie führt der Roman auf der anderen Seite die Verbindung von Eltern zu Kindern über die Nahrung als eine existentielle ein, beispielsweise im Volkslied »Das hungrige Kind«: »Mutter, ach Mutter, es hungert mich / Gib mir Brot, sonst sterbe ich« (RL, S. 44). Essen und Nahrungsaufnahme werden so zu einem übersemantisierten Bereich im Leben des Erzählers, der auch als Erwachsener offenbar noch unter Ess-Störungen leidet (siehe auch Anm. 20).
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Die dritte, letztlich vollzogene Adoption greift das Motiv des Sich-Nicht-Einfinden-Könnens oder -Dürfens schon zu Beginn mit einer Odyssee des Zehnjährigen zu den Adoptionseltern auf: »Der genaue Weg ist mir von der Erzieherin erklärt worden: Die Straße hoch bis zur Drogerie, am Bäckerladen vorbei auf den Russenplatz zu, die erste Seitenstraße hinein und bis zum Sportplatz, dort gegenüber obere Etage.« (RL, S. 137 f.) Der in der Erinnerung einsetzende Schneefall jedoch verunmöglicht die Orientierung auf dem Weg zu den neuen Eltern: Bösartig, tiefgrau verdunkelt sich der späte Nachmittag, überhäuft die Gegend mit Schnee. Alle Wege verschwinden unter einer dünnen Schneedecke. Ich irre herum, weiß nicht weiter, will nicht zurück, mich blamieren, eingestehen, mich im kleinen Ort verlaufen zu haben. […] Ich finde aus diesem Schnee nicht hinaus. […] Es schneit an dem Tag, der mich zum Adoptionsversuch Nummer drei auf den Weg gebracht sieht. Ich verlasse das Heim. Ich bin unterwegs, ich gerate vom Wege ab in die Irre, von Schnee umgeben, der mir nicht weiterhilft. (RL, S. 139 f.)
Den Weg in die Familie erschwert der Schnee, ein den gesamten Text durchziehendes Symbol, das stets oszilliert zwischen seiner Schutzfunktion und – wie hier – bedrohlicher Kälte bzw. Isolation.16 Bereits angedeutet ist hier das unweigerliche Scheitern der Adoption, das nicht zuletzt in den Mutternarrationen der Erzählung begründet liegt. Die juristischen Grundlagen einer gelungenen Adoption referiert der Erzähler mit § 66 des Familiengesetzbuchs der DDR: Die Annahme an Kindes Statt gibt dem angenommenen Kind ein neues Elternhaus und ermöglicht seine Erziehung in einer Familie. Sie stellt zwischen dem Annehmenden und den Angenommenen ein Eltern-Kind-Verhältnis her und schafft die gleichen Rechtsbeziehungen, wie sie zwischen Eltern und Kind bestehen. (RL, S. 145)
Die Adoption, die – wie gezeigt – immer auch rechtliche und soziale Wiedergeburt fingiert,17 steht in dieser konstatierend-pragmatischen Formulierung
16 »Alle wichtigen Ereignisse meines Lebens werden Schneeaugenblicke«, weiß der Erzähler um das Motiv seines Lebens: »Schneejahrzehnte. Es fällt Schnee am Ende meines Lebens. Schnee treibt vor meinem Fenster, während ich hier am Schreibtisch sitze, schneeweiße Seiten mit Schrift fülle. Schneebuchstaben. Kristallsilben. Flockenworte.« (RL, S. 141) Vom Schnee fühlt er sich »an[ge]sehen« und »herzlich begrüß[t]« (RL, S. 14), der Schlittenunfall im Schnee führt zur ersehnten Nähe mit dem Ziehvater (RL, S. 322); gleichzeitig ist der Schneefall Motiv für die Vereinzelung der Waise, die erlebt, »wie Flocken halt fallen und sich einander nichts angehen« (RL, S. 322). 17 Vgl. Kapitel I, 2.1.3 und 2.2.2.1 und grundlegend Kroppenberg: Adoptio naturam imitatur.
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im Gegensatz zum Erleben des Erzählers. Ihm bleibt seine Adoptivmutter eine »Adoptionsmutter« – eine bedeutsame Umbenennung, die den Fokus auf den sich nie abschließenden Prozess der Annahme anstatt auf ihr Ergebnis legt: Ich schreibe mit Absicht Adoptionsmutter, nicht Adoptivmutter, weil ich der Meinung bin, dass die Adoption nicht so adoptiv bei mir verlaufen ist, wie man es einem Heimkind herzlich wünscht, ich eher in die Adoptionsmutterfalle geraten bin, viel weniger adoptiv als adoptioniert behandelt worden bin, auch wenn es den Begriff adoptioniert erst recht nicht gibt. (RL, S. 145)
Die ›Adoptionsfamilie‹ begreift sich als direkte Konkurrenz zur leiblichen Familie ihres Adoptivsohnes. Adoption erscheint hier als gewaltsamer Eingriff in die Identität des Kindes, es soll »doch so flink wie nur möglich aus mir ein richtiger Mensch geformt werden« (RL, S. 148). Die Spuren biologischer Verwandtschaft werden faktisch getilgt, weder von der leiblichen Mutter darf die Rede sein, noch ermöglicht die Adoptionsmutter dem Sohn Kontakt zu seiner leiblichen Schwester: Im Heim hätte man mich informiert, würde ich nach Verwandtschaft gefragt haben. In der neuen Familie herrschte Mutterverschweigen. […] Ich erfuhr nicht, dass unweit von uns an derselben Ostseeküste meine Schwester lebt. (RL, S. 182)
Es folgt die Inszenierung einer Familie, die im Empfinden des Erzählers Fiktion und Schauspiel bleibt: Ich gebe vor zu sein und bin es nicht. Ich lebe eine von den Adoptionseltern losgelöste innere Wahrheit, die mich hindert, den Adoptionseltern willfährig zu werden. Sie bleiben fremde Menschen für mich. (RL, S. 160)
Grund dafür ist ein Widerspruch zwischen der Mutter-Imago18 des Erzählers, die sich wesentlich aus den angeführten Mutternarrationen speist, und der real erlebten Adoptionsmutter: »Ich klage ein, von meiner Adoptionsmutter aus egoistischen Gründen für erzieherische Versuche missbraucht worden zu sein.« (RL, S. 162) Es sei ihm vorenthalten worden, was er am meisten gebraucht hätte:
18 C. G. Jung beschreibt die Mutter-Imago als »Geistesmutter«; vgl. Carl Gustav Jung: Symbole der Wandlung. Analyse eines Vorspiels zu einer Schizophrenie. In: Jung: Gesammelte Werke. Fünfter Band. Freiburg im Breisgau 1973, S. 457. Ähnlich wie in den analysierten Texten von Clemens J. Setz und Wilhelm Genazino ergäben sich sicherlich auch für die Rabenliebe über die hier präsentierte Analyse hinaus zahlreiche Bezüge zum psychoanalytischen Diskurs, der die Erzählung von der Familie grundiert bzw. einige ihrer Elemente erst hervorbringt.
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»Zuneigung, Mutterliebe, Wärme, Entdeckung und Ausweitung meiner Talente […] [,] Anerkennung [meiner] Person, […] Einfühlung, Vermögen, Verbundenheit« (RL, S. 163). Der Adoptionsmutter gelingt es nicht, den Konkurrenzkampf gegen die Narration der biologischen Mutter zu gewinnen, gerade weil sie sie ausschließt und damit dazu beiträgt, das Bild von der ›guten biologischen Mutter‹ zu verfestigen. Dazu trägt auch ein Diskurs biologisch-genetischer Ähnlichkeit zwischen Sohn und Mutter bei, den die Adoptionsfamilie weiterhin aufrechterhält, und mit dem sie den Adoptivsohn als Fremden stigmatisiert: Sie redet, wenn sie von mir persönlich tief enttäuscht worden ist, von den rezessiven Genen, dem Dilemma der Erbkrankheit, den üblen elterlichen Genanteilen, Gene meiner Abstammung, die schlechtesten der schlechten; bösartige Gene, gegen die der allerbeste Wille nicht ankommt. (RL, S. 215 f.)19
Dass die Adoptierenden den Fehler begehen »das Thema Mutter und Vater als Thema auszuschließen, mir nichts über meine Herkunft zu sagen« (RL, S. 160), setzt den Jungen »unfreiwillig in die Spur der Mutterfindung« (RL, S. 160), »im Verlauf der Adoption klopfen immer neue Muttersehnsüchte an meine Pforte« (RL, S. 169). Der Adoption gelingt kein Surrogat für die biologische Elternschaft, sie verstärkt im Gegenteil deren Semantik: »Die Natur lässt sich nicht betrügen und ausschließen«, so lautet das Adoptionsfazit des Erzählers. »Die Vorsichtsnahme [sic!] und das Verschweigen erst haben mich in Richtung Mutter geführt.« (RL, S. 161) Ähnlich wie die Textfragmente, die die Collage des Erzähltextes ausmachen, nähren so auch die misslingenden Adoptionen die Narration natürlicher Mutterschaft. Die Identität des Erzählers bleibt die einer Waisen, weil sich Mutter-Imago und Adoptionsmutter gegenseitig ausschließen und die Fiktion einer biologischen Mutter absolut gesetzt wird: Von der Mutter abgenabelt, bin ich zum Erinnern an Zustände verurteilt, die ich nicht besser weiß, wissen kann, ein Träumer, ein Komet. Ich bin, was ich an Waisentum im Schlepptau habe. Ich werde mein Waisentum nicht los. […] Der Mutterverstoßene, der an Muttermangel leidet wie unter Verschmutzung. Mein Muttermangel bildet einen langen Schweif, durch den die Waise als funkelnder Komet am Firmament sichtbar wird. […] Ein Rabenmutterrattenschwanz ist mein Schweif. Im Kern bin ich tiefgefrorene Mütterlichkeit, ein kindlicher Gefrierzustand. (RL, S. 192)
19 Vgl. auch RL, S. 216: »Ich bin aus dem Adoptionselternhaus ausgerissen, ich bin der sich unbeherrscht aufführenden Adoptionsmutter entkommen, die an diesem Tag völlig durchgedreht ist, mit ihrem Ausklopfer hinter mir herlief und wie irre schrie: Das sind die Gene. Die Gene schlagen durch. Du bist voller Gene deiner Mutter […].«
5 Gelungene Annahmen: Ziehvater und Großmutter
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5 Gelungene Annahmen: Ziehvater und Großmutter Der Vorgang der Adoption ist folgerichtig nur dort nicht durchführbar, wo die Mutter-Imago dem Prozess im Weg steht. Auf den Adoptionsvater ist ein anderer Blick möglich: In der Küche, rechts neben der Eingangstür, steht dem Adoptionsvater sein gusseiserner Ausguss zur Verfügung. […] An ihm unterzieht der Adoptionsvater sich der Reinigung […]. Ich bin der einzige Zuschauer. Die anderen sind mit sich und mir beschäftigt […]. Der Adoptionsvater […] zeigt den Oberkörper her, das fahle Rückenfleisch, das erstaunlich hell, schlaff und von Muttermalen gezeichnet ist; mit Sommersprossen übersät, grad wie ein Sternenhimmel. (RL, S. 153 ff.)
Die Annäherung an den Vater geschieht stets wortlos, jenseits des Sprachlichen: Und plötzlich bringe ich den Stiefvater mit Herz und Wärme in Verbindung, denke, dass er vielleicht von allen Menschen um mich herum der mir zugeneigteste Mensch gewesen ist. Ein Schweiger, der fühlte. (RL, S. 343)
Ähnlichkeit und Nähe sind dabei gerade auch – trotz ungleicher Gene – körperlich markiert: »Ich werde dem Adoptionsvater ähnlicher, sagen die Leute; ganz sein Auftreten, ganz seine Gangart, seine Körperhaltung.« (RL, S. 197) Das Fehlen einer Vaternarration ermöglicht es dem Erzähler, Vatergeschichten mit dem Adoptionsvater zu erleben. Der Vater fungiert als Berater (»Suchen heißt finden, sagt [er] auf dem Rückweg, rät mir, diesem hohen Motto zu folgen. Es wird mich durchs Leben leiten.« [RL, S. 174]) und Retter: Kurze Zeit später kommt es noch einmal zu etwas wie Nähe zwischen uns, ausgelöst durch ein Ereignis, das, wie anders nicht zu erwarten, von Schneefall begleitet war. […] Mein Schlitten kratzt die Kurvenaußenkante, wird umgerissen, knallt gegen einen Stein, dass der Schlitten überschlägt, es mich mit ihm einige Male umherwirbelt, wir uns zum Ende hin zwischen zwei Baumstämmen verkeilt befinden. […] Ich muss den Schlitten lassen, mich retten, ohne das Gefährt den Hang empor, der Dunkelheit entgegenkommen, stachle ich mich an. Und plötzlich ist da aus dem Nichts über mir, aus der Mitte der Dunkelheit hervor, der Ruf des Ziehvaters, dem ich freudig antworte, der dann bei mir ist, kein Wort verliert, die Hand mir reicht, mich und den Schlitten rettet, uns beide nach Hause zieht. Mir ist der Begriff Ziehvater mit einem Male gar nicht mehr so fremd wie zuvor. (RL, S. 250 ff.)
»Der Adoptionsvater sagt nicht viel« (RL, S. 359), verhindert so aber sogar auf der Brühlschen Terrasse in Dresden den Suizid des Jungen und wird, wenn nicht zum Lebensstifter, so doch zum Lebensretter: »Der Adoptionsvater erfasst die Situation, fasst meine Hand, führt mich sanft vom Geländer weg, redet nicht.« (RL, S. 360)
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Auch die Adoption durch die Großmutter gelingt, die Alte übt »eine starke Anziehungskraft« (RL, S. 169) auf den Jungen aus. Er schenkt ihr »mein erstes Bild« (RL, S. 201), sie macht ihn zum »Erben« ihrer Rezepte und damit zum nächsten Glied ihrer familiären Kette: Ich stelle an der Seite der Großmutter meinen ersten Kartoffelbrei her. […] Ich benutze für meinen Kartoffelbrei die Einbrenne der Großmutter. Das Rezept verdankt die Großmutter ihrer Großmutter, weit vor meiner Adoptionszeit vermittelt. Nun kann sie ihre Weltsicht an mich weiterreichen. (RL, S. 203 f.)
In den Rezepten der Großmutter steckt nicht nur Nahrungs-, sondern immer auch Weltwissen:20 Der Großmutter verdanke ich mein Kartoffelsein und Kartoffeldenken. […] Der Mensch ist eine Kartoffel, die kleinste aller möglichen Knollen weist ein Hirn genannte Ausstülpung auf, die uns von der Vorstellung befreit, einmalig unterm Himmel zu sein. […] Es gibt abgebrühte, faule, gute, schlechte, gibt ausgekochte, mickrige, große, genmanipulierte, gibt harte, kleine, weiche Kartoffeln. Es gibt die haltlos ruchbare, gemeine Kartoffel. Fände man die rechte Mixtur zwischen unterschiedlichen Menschen, könnten Menschen einen vorzüglichen Menschheitskartoffelsalat ergeben. […] Eine Nation ist gut im Kochtopf zu verwenden, die nächste Nation taugt besser für die Bratpfanne. […] Ich habe über dem Taumel der großmütterlichen Einbrenne die Weltpolitik als Schaustück erfahren, fortan beängstigen mich die über die Medien verbreiteten Realitäten nicht. (RL, S. 203–206)
20 Essen erscheint im Text darüber hinaus auch als pathologisch markierter Ersatz für Emotionen: »Ich bin so leer«, klagt noch der erwachsene Erzähler, »dass ich mir eine Eisbombe bestelle und sie restlos wegputze.« (RL, S. 381) Besonders eindrücklich ist eine Szene im Kinderheim, in der die Phantasie einer Mutter und die Nahrungsaufnahme miteinander verknüpft werden: »Die Köchin drückt mir den Löffel in die Hand, umschließt meine Faust zur Doppelfaust, führt den Löffel von der Untertasse meinem Munde zu, sagt: Für Mama von Mama. Jeder Widerstand löst sich in Wohlgefallen. Auf fliegt mir der Mund. Für Mama von Mama, schmeckt die Zunge. Löffel um Löffel schlecke ich Mamabrei. Herrliche Mamakristalle, ein Mamabreisee breitet sich auf der Untertasse vor mir aus. […] Jederzeit darf ich zu ihr kommen, wann immer ich mag, Kau-kau verlangen, wenn mir nach Mama zumute ist.« (RL, S. 45 f.) Als sich Mutter und Sohn erstmals begegnen, sind die Bestrafungsphantasien des Sohnes folgerichtig Szenarien des gewaltsamen Fütterns, die die Rollen vom zum fütternden Kind und fütternder Mutter vertauschen und dem Kind (statt es weiterhin in Abhängigkeit von der Mutter zu erzählen) Macht über die Mutter verleihen: »Ich bin mit der Mutter in der Küche eingesperrt. Wir sitzen auf lehnenlosen Schemeln und schälen Kartoffeln. Ich bin kein Folterer. […] Ich führe die Mutter wieder zur Bettstatt, wo ich sie anschnalle, dass sie mir nicht entwischen kann, wenn ich mit ihr rede. Den Mund öffne ich ihr mit einer Vorrichtung der Zahnmedizin. Ich füttere sie mit Kartoffelbrei, löffelweise schiebe ich ihn heiß in die Mutter hinein. Die Augen der Mutter weiten sich. Ich bin dein Sohn, höre ich mich sagen, ich meine es gut mit dir. Und drücke den nächsten Löffel in den Heißbreimund.« (RL, S. 409)
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Die gelungenen Adoptionen durch Ziehvater und Großmutter belegen die Virulenz der ›Leerstelle Mutter‹ in der Biographie des Erzählers. Die narrative Aufladung der Mutterrolle verkompliziert den Adoptionsprozess, der in Bezug auf Vater- und Großmutterrolle durchaus stattfinden kann.
6 Die Waise als Autobiograph: Muttersprachkunst 6.1 Die Waise und die Muttersprache Wawerzineks Text zeigt die Prägung seines Erzählers durch Mutternarrative, die seine Adoption verhindern und ihn lebenslang zur Waise stigmatisieren. »Es sind zeitlebens Personen um mich herum, die Interesse an meinem Waisensein bekunden« (RL, S. 328), berichtet er, so bleibe er das mangelhafte Geschöpf, das ich bin. Die mutterlose Person. Die unausgereifte Waise, der unvollständige Mensch. Das begonnene Wesen mit all seinen unerforschten Regionen, die Unmündigkeit in Person, die sich zu sondieren hat. (RL, S. 329)
Die Waisenidentität verfestigt sich, »[d]as Heimkind in mir schimmert überall durch« (RL, S. 370) und führt zu irreversiblen psychischen Deformationen: Mir hilft eine Behandlung meiner Angststörungen nicht. Mir helfen keine Medikamente. Ich meide die Psychotherapie. Es gibt keine besseren Verhaltensweisen und Therapien für mich. Ich bin die Waise, gegen all die Bemühung nicht reparabel. (RL, S. 356 f.)
Der zweite Teil des Romans (überschrieben mit den Worten »Da bist du ja«, RL, S. 289 ff.) beginnt mit einer lexikographischen Information, die an die Mutterbelehrung im Heim erinnert: Mutter, die;–, Mütter / Verkl.: Mütterchen, Mütterlein; / vgl. Mütterchen / Frau, die ein oder mehrere Kinder geboren hat, die Frau im Verhältnis zu ihrem Kind gesehen und bes. im Verhältnis des Kindes zu ihr: M. sein, werden; sie fühlt sich M. (fühlt, dass sie schwanger ist); sie ist M. geworden […]. (RL, S. 291)
Mit dem sprachlichen Signifikanten »Mutter« ist ein Konzept verknüpft, das weiter reicht als die bloße Denotation biologischer Mutterschaft. Einer Mutter ähnelt man – »du wirst wie deine M. (ähnelst ihr)« –, eine Mutter sorgt sich – »wie eine M. zu jmdm. sein; um jmdn. wie eine M. besorgt sein«, »umg. bes. berl. ich fühle mich wie bei Mutter (wie zu Hause)« –, an Mütter geknüpft und von ihnen abhängig ist offenbar sogar die materiell-gegenständliche Welt: »sie fuhren im
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Abteil für M. und Kind« (RL, S. 291). Das Mutterschaftslemma führt das Konzept der Mutterschaft auf die Sprache zurück, die es letztlich erst zur Verfügung stellt. Die Ausweglosigkeit der Situation der Waise erklärt sich aus ihrem Gefangensein in Strukturen, die jeder Identitätsbildung vorgängig sind. Sprachfindung und Mutterfindung sind im Text des Erzählers eng miteinander verknüpft. Schon der Spracherwerb des zurückgebliebenen Heimkindes wird an den Mutterverlust gebunden. »Ich habe nicht Stimme. Ich klinge wie Gurgeln eines Naturvolkes« (RL, S. 29), berichtet der Erzähler und ruft damit Erinnerungen an Wolfskinder hervor, deren mangelnde Sozialisation sie der Natur ähnlich machen. Der Grund für die lange sprachliche Verweigerung liegt in der Perspektive des Textes zunächst nicht am Fehlen einer sozialisierenden Instanz. Der Spracherwerb bei Kleinkindern wird vom Erzähler als überwiegend autark beschrieben: »Das Kind ist sein eigener Sprachpädagoge«, heißt es da. »Die endlose Wiederholung einzelner Silben, deren freie Modulation schaffen großartige Lallmonologe, die sich auf die Artikulationsorgane auswirken, sie trainieren, schleifen.« (RL, S. 28) Der Grund für das lange Verstummen des Erzählers wird im Text dann aber nicht auf der Basis ähnlich wissenschaftlich-objektiver Muster erklärt. Der Erzähler selbst schafft narrativ eine kausale Verbindung zwischen Stummheit und Waisentum. Denkt er an die stummen Jahre seiner Kindheit, hört er Musik von Clara Schumann, weil ich von unser beider Kindheit weiß, der ihren und der meinen, dass auch sie erst spät, im Alter von vier Jahren, zögerlich zu reden begann. Man hatte sie vom Vater getrennt und bei ihren Großeltern untergebracht. Sie sagen, dass die Verzögerung psychische Ursachen hat, aber sie können es nicht eindeutig nachweisen. (RL, S. 26)
Ein intertextueller Rückgriff auf Max von Schenkendorfs »Muttersprache« bringt Mütter und Spracherwerb in einen engen Zusammenhang: Muttersprache, Mutterlaut, wie so wonnesam, so traut, erstes Wort, das mir erschallet, süßes erstes Liebeswort, erster Ton, den ich gelallet, Sprache, schön und wunderbar, ach wie klingest du so klar, […] ach wie schwer ist mir der Sinn, der ich in der Fremde bin, der ich fremde Zungen höre, fremde Worte sprechen muss, die ich nimmer mehr kann lieben. (RL, S. 33 f.)21
21 Originaltext: Max von Schenkendorf: Muttersprache. In: Schenkendorf: Gedichte. Hg. und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Edgar Groß. Berlin u. a. o. J., S. 84 f. Gegenüber diesem Originaltext hat Wawerzinek eine Änderung vorgenommen. Statt »ach wie schwer ist mir der Sinn, der ich in der Fremde bin«, heißt es im Original: »ach wie schwer ist mir der Sinn, wenn ich in der Fremde bin«. Die Beschreibung eines temporären Zustand bei Schenkendorf weicht bei Wawerzinek also derjeningen eines identitätskonstituierenden Merkmals.
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Das Lied legt einen unmittelbaren Zugang vom Sprecher zur Sprache nahe, der sich über den Begriff der Mutter vermittelt. Nur die Muttersprache ist »so wonnesam, so traut«. Das Fehlen der Mutter versperrt in dieser Logik gewissermaßen den reibungslosen Einstieg in die Welt des Sprechens. Das stumme Kind wird »als sonderbar eingestuft« (RL, S. 33). Verständigungsszenen finden ersatzhalber mit Tieren statt. Dabei liegt der kommunikative Trick gerade in der Wortlosigkeit: Auf dem Fensterbrett liegen Samen ausgestreut. Die Vögel kommen und holen sie sich. Ich habe Blickkontakt zu ihnen. Wir reden in einer geheimen Sprache. Wir stummen und tauschen uns lebhaft aus. Ich habe in den Winterwochen bis zum Frühling hin mit den Blaumeisen eine spezielle Form der Verschwiegenheit ausgeübt. Die Sprache der Vögel […] wurde mir vertraut. Ich hätte mich mit den Vögeln mühelos besprechen können, wenn es mir nur vergönnt gewesen wäre, die Lippen zu öffnen und zu tschilpen. (RL, S. 33)
Das erste »Wortgebilde« (RL, S. 63) des Jungen ist »Ma-ma«. Ma-ma rufe ich ins Haus. Ma-ma rufe ich im Spielgartenhinterhof. Ma-ma sage ich zu allem, was ich sehe. Ma-ma nenne ich die Türklinge. Ma-ma nenne ich das Bett, die anderen Kinder. […] Ma-ma sage ich noch eine gute Weile, dann nutzt sich der Effekt ab, man winkt nur noch ab, wenn ich daherkomme und Ma-ma rufe. (RL, S. 63)
Im Spracherwerb des Jungen steckt so die Grunderfahrung einer Entfremdung. Das Wort selbst erfährt eine Bezogenheit, die ihm im selben Moment wieder genommen wird. Denn natürlich denotiert für die das Kind umgebenden Erzieherinnen die Doppelsilbe das Kosewort für Mutter: »Das mutterlose Kind sagt Ma-ma zur allgemeinen Verwunderung aller.« (RL, S. 63) Gleichzeitig wird der Versuch unternommen, das Wort gleichsam zu ›entschärfen‹, es in einen anderen Kontext zu stellen, in dem es in einer anderen Bedeutung aufgehen kann: »Mama wie Mama-lade«, sagt die erste Tochter der Erzieherin, »Mama wie Mama-rine, albert das zweite Mädchen.« (RL, S. 64) Diese Grunderfahrung negiert die unmittelbare ›Richtigkeit‹ in der Bedeutung sprachlicher Zeichen. Der Schenkendorf’sche Volksliedtext hält die Narration dieser Entfremdung fest. Statt mütterlicher ›Unmittelbarkeit‹ setzt es die Erfahrung eines Fremdseins in der Sprache, die entsteht, wenn man »fremde Zungen« hört und »fremde Worte sprechen muss, die ich nimmer mehr kann lieben« (RL, S. 33 f.). Sprache ist damit im Text Wawerzineks an die Erfahrung des Fremdseins gebunden. Das, freilich, ist eine genuin (post-)moderne Erfahrung, in der sich
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der Text nicht wesentlich von den Krisen eines Lord Chandos unterscheidet.22 Der Erzähler der Rabenliebe aber knüpft Sprachfremdheit und Muttermangel aneinander. Die Annäherungen zwischen ihm und dem Ziehvater funktionieren gerade deshalb so gut, weil sie nicht auf Sprache angewiesen ist. Wo Sprache ist, ist immer auch Muttermangel – und damit Fremdheit. Noch der erwachsene Erzähler fühlt sich von sprachlichen Zeichen umstellt und geradezu körperlich bedroht: Ich stecke in einer Haut, die mich von innen her beschriftet. Mit Botschaften überzogen sehe ich mich, die einzig von der Mutter stammen können. Die Mutter schreibt an mich. Sie schreibt aus mir hervor. Ich fürchte die Schrift, weil ich die Mutter in ihr nicht erkenne, von der Mutter auch nichts weiß; die mir unter die Haut gefahren ist und nun versucht, als Schrift durch die Haut zu mir aufzubrechen. (RL, S. 304)
Die Sprache des Erzählers trifft auf »Begriffslosigkeit«, wenn sie sich der Mutter nähert: Ich beschreibe den Strand, den zerzausten, über den ein Sturm gewütet hat, der sich eben legt. […] Ich komme an meinen Lieblingsstacheldrahtzaunpfosten, um auszuruhen, mir Gedanken zur Adoption und der Möglichkeit zu machen, endlich alles hinter mich zu lassen, eine eigene Mutter zu besitzen. […] Vor meinen Augen horizontloser, nebliger Dunst. Der Tag hüllt sich in diese unvergessliche, so abnorme Trübung, die nicht Tagesanbruch, nicht Tagesausklang ist, eher die Vorstufe zur Hölle, wie ich den Zustand nennen möchte, wenn auch das Bild abgegriffen ist und nicht ganz stimmig. Ich habe über die Jahrzehnte kein besseres Wort gefunden, das Erlebnis zu beschrieben. […] Ich sitze da und blicke in diese schwammige Begriffslosigkeit, diesen Dunst. (RL, S. 218 f.)
Die Mutter selbst lässt sich in der Sprache nicht einholen und ist gerade in ihrer Abwesenheit dort ständig präsent. Die ersten Romane des erwachsenen Schriftstellers zeugen noch vom Muttermangel, der den Rezipienten der Texte offensichtlich ist. Die wissen sofort »Bescheid über mich […], wüssten sogar, was mir im Kopfe rumore. Die Mutter, sagt [die Leserin] und sieht mich erwartungsvoll an, der Vater. Zwischen den Zeilen spüre man die Mutterproblematik.« (RL, S. 299)
22 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band 31: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt am Main 1991, S. 45–55.
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6.2 Von »Humbug« und »Märchen«: Die Autobiographie als Meta-Sprache Rabenliebe endet mit der Begegnung zwischen Mutter und Sohn,23 die zur DesIllusionierung im mehrfachen Sinn wird. Zwar ist die »Ähnlichkeit der Mutter zu ihrem Sohn […] frappierend« (RL, S. 400), bis hin zur Annäherung der Geschlechter: »Es ist an der Person nichts Weibliches, denke ich. Die Ohren sind männlich und viel zu groß geraten, ein Mannsschädel, nicht die Spur zierlich.« (RL, S. 400) Die lang gesuchte Mutter stellt sich aber nicht als identisch mit der Mutter-Imago des pubertierenden Erzählers heraus: »Was für eine erbärmliche Frau da auf was für einem erbärmlichen Gestühl sitzt. Nicht den Schatten wert, der sich schwach von ihr auf dem Boden abzeichnet.« (RL, S. 405) Das Treffen mit der Mutter löst das autobiographische Projekt erst aus: Ich beginne, wenn ich die Mutter besucht habe, im Moment das Abschiedes mit der Niederschrift zum Besuch, das meinem mutterlosen Status ein Ende bereitet; und ist das Buch geschrieben, komme ich im Jahr Null meiner Einsamkeit an. Die Mutter wird gegenstandslos, ein Wortgebilde, das seine Macht über mich verliert. (RL, S. 367; Hervorhebung AM)
Die Mutter wird am Ende der Autobiographie (und gleichzeitig zum Zeitpunkt ihres Anfangs, ihres auslösenden Moments) zum zerstörbaren »Wortgebilde«, das der Erzähler als solches erkennt: Ich war ein Idiot, denke ich, als ich mich entschlossen habe, zur Mutter zu fahren. Ich war ein Idiot, als ich mich habe nicht adoptieren lassen wollen. Ich war ein Idiot, als ich den Schlaumeiern zuzuhören begann, die mir einzureden versuchten, ich wäre beim Ringen ums menschliche Seelengleichgewicht auf der Verliererstrecke, wenn ich nicht zur verlorenen Mutter zurückfinde. Ich hätte durch den Muttermangel bereits sichtbaren Schaden genommen, müsse wettmachen, die Mutter aufspüren, den tiefen Graben zwischen uns überbrücken, unbedingt auf die Mutter zugehen, sie in die Arme schließen, dass sie ruhig
23 Auch hier stellen die intertextuellen Verweise einen Kontext her, von dem sich das Erzählte abhebt. »Als ich einmal reiste« (RL, S. 398) setzt die Mutter als Ziel an das Ende einer Reise, die den Erzähler des Liedes in Lumpen nach Hause kehren lässt. Der Mutter missfällt der Zurückgekehrte zunächst: »Dein Aussehn g’fällt mir gar nicht wohl, / Dein’ Höslein sind zerschlissen, / Die Strümpf, das Kamisol«. Dann aber wird der Sohn umsorgt und so gewissermaßen wieder ›hergestellt‹: »Die Mutter ging zur Küchen / Kocht mir Nudeln und Sauerkraut, / Stopft mir Rock und Höslein, / Das ich bin herrlich anzuschaun.« Das Motiv einer Rückkehr zum Ursprung, die als »identitätsschließend« erlebt wird, begegnet auch im Lied »Das Elternhaus«: »Und hab’ ich einst geendet / des Lebens ernsten Lauf / dann setzt mir einen Hügel / und setzt ein Blümlein drauf! / Doch nehmt erst aus der Brust mir / das arme Herz heraus / Das Herz das hat nur Ruhe / im teuren Elternhaus.« (RL, S. 417)
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sterben könne. […] Der Mutterdrang ist mit dem Besuch bei der Mutter ausgestanden, als unnötige Peinlichkeit wie eine Jacke abgelegt, die ich mir habe überziehen lassen. (RL, S. 405)
Als »Humbug« entlarvt sich dem Erzähler »das Märchen von der starken Wirkung der genetischen Bindung« (RL, S. 406). Die Familienmythen, die der Text in seinen Einschüben immer wieder aufruft, werden als Inszenierung erkennbar: Im Fernsehen, ja, da finden sich immer Leute, die sich geistesgestört benehmen, kreischen, umhalsen, quetschen, kneifen, drücken, schlagen, beißen, küssen und dergleichen, sich für die paar Piepen der Sendeanstalten extrem aufführen. (RL, S. 396)24
Die Tragödie des Erzählers wird deutlich als systembedingte; sie ist nur denkbar in einer kulturellen Tradition und in einer Sprache, die mutterlosen Kindern ihre Identität als verlassene Waisen erzählt: Ich weine, weil ich mir die Mutter, die ich nicht hatte, erfinden musste. […] Für mich ist die erfundene, ausgedachte, den anderen Kindern ferngehaltene Mutter in meinem Kopf eine seelische Krücke innerhalb eines totalitären Systems. (RL, S. 317)
Totalitär ist ein System, das sich selbst natürlich setzt und deshalb vom Einzelnen nicht hintergehbar ist. Der Erzähler als ›ewige Waise‹ formuliert die Möglichkeit einer Erneuerung der Sprache, die nicht vom Muttermangel geprägt ist. Es treibt ihn »in andere Länder, die Muttersprache zu vergessen. Mich lockt die Wüste, die Muttersucht in Wüstensand zu vergraben.« (RL, S. 397) In seinem autobiographischen Versuch gelingt Wawerzinek eine Annäherung an eine solche Sprache mit poetologischen Mitteln, die die Konstruiertheit des Muttermangels aufzeigen, ihm letztlich aber verpflichtet bleiben. Der Begriff der »Mutter« und die mit ihm verbundenen Emotionen lösen sich mit der späten Konfrontation auf: Es besteht ab dem Zeitpunkt nicht einmal mehr eine fiktive Verbindung zu dem Begriff Mutter. Wenn sich das Wort Mutter als Gefühl erst einmal erledigt hat, wird der Begriff so bedeutungslos wie der Begriff Vaterland, Muttersprache. Die Bindung löst sich. (RL, S. 427)
24 Das Klischee familiärer Wiedersehensfreude begegnet auch schon in »Vater, Mutter, Schwestern, Brüder«: »Vater, Mutter, Schwestern, Brüder hab ich auf der Welt nicht mehr, kehrt ich auch zur Heimat wieder, fänd ich alles öd und leer, ja, wenn nur noch eins am Leben, das sollt eine Freude geben, o wie süß und o wie schön, wär ein solches Wiedersehn […].« (RL, S. 193)
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Sich selbst in einem Kunstwerk zu beschreiben, abseits eines naiven Lamentos über eine Leerstelle, der man nicht entkommen kann, weil man sie absolut setzt, gelingt dem Text an den Stellen, an denen erzähltes und erzählendes Ich auseinandertreten: Ich bin ein kleiner Junge unterm Glas einer Schneekugel, in ihr gefangen, durch ein kurzes Schütteln vom Schnee umgeben. Die kindlichen Nerven sind überreizt. Ich bin doch erst knapp über zehn Jahre alt, wimmere ich. Warum nur holt mich keiner raus, warum kommt da niemand? Ich will das alles nicht länger aushalten müssen. (RL, S. 142 f.)
Dem zehnjährigen Jungen spendet der erwachsene Erzähler Mitgefühl – aber nicht für seinen Muttermangel, sondern für die groteske Situation, in der er ›gefangen‹ ist. Der Abstand zwischen dem kindlichen bzw. jugendlichen und dem erwachsenen Ich erzählt jede Mutter-Imago als ein in der Realität bereits nicht mehr verankertes und macht gleichzeitig deutlich, dass die Mutterposition vor dem Hintergrund der Mutternarrationen, die alle Lebensbereiche durchdringen, gefüllt werden muss, »weil […] behauptet wird, es sei nicht normal, ohne Vater aufzuwachsen und so gar keine Mutter zu haben« (RL, S. 319). Die erdachte Mutter ist so ›körperlos‹ wie notwendig, ein später Einschub im Text stammt aus dem Tagebuch25 Max Frischs und greift die Idee des Pygmalion-Mythos in der Figur der Puppe auf: Die Puppe, im Gegensatz zum leiblichen Schauspieler, begegnet uns von vornherein als Gestaltung, als Bild, als Geschöpf des Geistes. […] Die Puppe ist aus Holz […], das nie den Anspruch erhebt, einen wirklichen Menschen darstellen zu wollen und wir sollen sie nicht dafür halten. Sie ist nur ein Zeichen dafür, eine Form, eine Schrift, die bedeutet, ohne dass sie das Bedeutende sein will. Sie ist Spiel, nicht Täuschung; sie ist geistig, wie nur das Spiel sein kann. (RL, S. 386)
Rabenliebe erzählt von den Zurichtungen der Mutterpuppe, die in diesem »geistigen« Spiel als solche erst erschaffen wird. »Ich bleibe«, schreibt der Erzähler, in meinen tiefsten, geheimen, inneren Winkeln mit einer ausgedachten Mutter behaftet, weil es die echte Mutter nicht gibt, ich mich durch diesen Umstand gezwungen sehe, sie mir als Einbildung, Nachbildung zu erhalten, dass ich nicht an ihrem Fehlen krepiere, die Lebenslust verliere. (RL, S. 318)
25 Max Frisch: Tagebuch 1946–1949. In: Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz. Band 2: 1944–1949. Frankfurt am Main 1976, S. 347–755, hier S. 479.
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Dem Versprechen Ludwig Tiecks, das Wawerzineks Text zitiert und nach dem die Kunst dem Menschen »Freiheit« und »Ruhe« verspricht (RL, S. 95), kann sich die Erzählung schließlich nicht annähern. Die »Freiheit« des Künstler-Autors löst Rabenliebe nicht ein. Zum Mythos um die Mutter gesellt sich der Mythos des ›Vereinzelten‹, der sich auf der Grundlage seiner Biographie in einem Außerhalb der Gesellschaft verortet. Wenn es so weit ist, trenne ich mich von allem. Trenne mich von der Liebe, der Geliebten, meiner Familie, den Freunden. […] Ich schreibe meint: da ist also das Wesen dem Menschen fremd geworden, ein Ich, das ich nicht bin, und geht sich auch nichts an. Ich höre mich nicht einmal wie einen Roboter reden. […] Ich möchte mein Thema wie einen Bombengürtel tragen, mich mit ihm in die Luft jagen. (RL, S. 424 f.)
Liest man Rabenliebe als autobiographischen Bildungsroman, kann man wohl kaum von einer gelungenen Aufnahme des Helden in die Gesellschaft sprechen. Die Integration des Kindes in die sozialen Narrationen muss hier im Gegenteil tragisch enden, weil dem Heranwachsenden ein Mangel anhaftet, der innerhalb der Logik der Narrationen nicht zu tilgen ist. Zum Ende des Textes gelingt die ›Befreiung‹ aus dieser Logik nur näherungsweise.
7 Zusammengefasst: Die Kleinfamilie und die Geschichten Wawerzineks Rabenliebe trifft gleich zwei Kernbestandteile kleinfamiliärer Mythologie: zum einen die Semantisierung genetischer Verwandtschaft, die der Kernfamilie als sozialer Gruppe ihr distinctive feature verleiht. Der biographische Skandal, von der leiblichen Mutter verlassen worden zu sein, ist deshalb so groß, weil Leiblichkeit Fürsorge, Nähe und Ähnlichkeit impliziert. All das bleibt dem Erzähler verwehrt. Der gelingende Adoptionsprozess durch den Ziehvater und die Großmutter zeigt gleichzeitig den größten Irrtum des Textes. Weder ist genetische Ähnlichkeit ein Garant für Ähnlichkeit und Nähe, noch ist das Entstehen familiärer Gefühle ausgeschlossen, wenn es sich ›bloß‹ um Adoption handelt. Zweitens steht insbesondere die Beziehung zwischen Mutter und Kind zur Disposition. Der im Feuilleton so oft beobachtete »Schrei nach der Mutter« ist im Diskurs des Textes nur scheinbar ein ›natürliches‹, nicht zu hinterfragendes Gefühl. Das Gefühl der Muttersehnsucht erweist sich als Ergebnis komplexer, diskursiv verankerter Narrationen, die die Identität und die Emotionen der Waise als Waise allererst hervorbringen. Biologische Mütter wären, das gilt es am Ende des Textes zu vermuten, ersetzbar – gäbe es nicht so viele Geschichten, die die Waise als eine tragische Figur des Mangels erschafft.
7 Zusammengefasst: Die Kleinfamilie und die Geschichten
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Die Kleinfamilie ist – das legt der Text nahe – ein Produkt unserer Geschichten. ›Natürlich‹ ist hier allenfalls noch das Angewiesensein des Säuglings und Kindes auf Fürsorge. Wer sich dieser Aufgabe in welcher Formation widmet, ist jedoch vor dem Hintergrund kleinfamiliärer Heilsgeschichten gerade nicht mehr frei verhandelbar.
IX Korrekturen und Geschichten: Familien in Recht und Literatur heute Leiblichkeit und Ehelichkeit haben sich im Recht auch im 21. Jahrhundert noch als tragende Säulen eines kleinfamiliären Mythos erwiesen. Das »Recht auf Klärung der eigenen Abstammung«, das der Gesetzgeber im Rückgriff auf Artikel 2 des Grundgesetzes anerkannt hat, zeigt deutlich, wie wichtig die ›Richtigkeit‹ genetischer Zuordnung dem Gesetzgeber ist. Ehelichkeit hat insofern nichts von ihrer Wertigkeit verloren, als Grundgesetz und Bürgerliches Gesetzbuch nach wie vor das bürgerlich-eheliche Zusammenleben als ›Normalfamilie‹ postulieren. Allerdings verkomplizieren neue soziale und technische Variablen das familiäre Feld. Durchaus denkbar ist es, dass sich Leiblichkeit und Ehelichkeit plötzlich in die Quere kommen (eine Konstellation, die im 19. Jahrhundert nur mit einigen Anstrengungen hätte bewiesen werden können): Der qua Ehelichkeit rechtliche Vater eines Kindes muss nicht der biologische Vater sein. Das Kind kann beweisbar außerhalb der Ehe gezeugt worden sein oder mit Hilfe moderner Reproduktionstechnologien (und einer heterologen Samenspende) biologisch einem Anderen zuzuordnen. Das Gesetz positioniert sich hier nicht eindeutig für eine bestimmte familiäre Definition. Unter bestimmten Bedingungen sind Korrekturen möglich: Vaterschaften können geklärt und angefochten, damit rückgängig gemacht werden. Einzig die Mutterschaft bleibt als letzte Bastion unanfechtbar der Gebärenden vorbehalten. Neben leiblicher und ehelich begründeter Elternschaft erkennt das Gesetz in einigen Kontexten auch Konzepte sozialer Elternschaft an. Familien werden damit performativ gestaltbar, zusehends unabhängiger von der Festlegung auf leibliche oder eheliche Zeugung. Sogar das Postulat der Zweigeschlechtlichkeit des Elternpaars scheint verhandelbar zu werden. Als wichtigstes familiäres Mythem des 21. Jahrhunderts hat sich das Kindeswohl herausgestellt. Allerdings kann mit dem Konzept flexibel argumentiert werden. Weil es sich inhaltlich nicht klar konturieren lässt, kann es den Mythos der Kernfamilie auf der einen Seite durchaus stützen: Kindern geht es in dieser Tradition vor allem dann gut, wenn sie von einer ›vollständigen‹ Familie umgeben sind. Auf der anderen Seite entpuppt sich gerade das Kindeswohl als Motor der größten Veränderungen im Gesetz: Wer ›beweist‹, dass es in alternativen Familienstrukturen nicht in Gefahr ist, behält letztlich – oft im doppelten Sinne – Recht. Ingeborg Schwenzers Ansätze liefern erste Antworten auf die Frage, was mit der Familie geschieht, wenn man neue Geschichten von ihr erzählt. Bei Schwenzer ließ sich trotz (oder wegen) der Lösung der Familie aus traditionellen Bindungen (beispielsweise an die Ehe) eine Mythologisierung und Verbürgerlichung
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ihres Innenlebens beobachten. Familien entstehen nach Schwenzer nicht mehr dort, wo geheiratet wird, sondern dort, wo der Gesetzgeber auf der Basis objektivierter Kriterien Beziehungen erkennen kann, die ihm familiär erscheinen. Der Normativität entkommt man so zunächst – um ihr im selben Moment wieder in die Arme zu laufen. Die literarischen Texte im 21. Jahrhundert treiben die Experimente mit dem Zwang und der Enge familiärer Narrative weiter. Dabei greifen sie, ähnlich wie das Recht, den Mythos der Kleinfamilie immer wieder auf und loten seine Grenzen aus. René Templ und Gerhard Warlich quält die Enge der kleinfamiliären Narration, der sich auch das Recht verpflichtet fühlt. Von ödipalen Konstellationen ist freilich dort nicht die Rede. Die Zweigeschlechtlichkeit, die die Familie im ehelichen Raum situiert, greift aber immer auch auf die Vorstellung zurück, als Mann oder Frau eine jeweils spezifische Rolle natürlicherweise ausfüllen zu müssen. Templ und Warlich werden mit dem Mythos des Familienvaters konfrontiert, der ihnen buchstäblich nicht ›passt‹. Obwohl sich in beiden Texten gleichzeitig ein Wissen um die Kontingenz der kernfamiliären Struktur offenbart, lässt sich die psychoanalytische Geschichte um die Familie für beide Figuren nicht auflösen. Die Falle, in der beide Protagonisten stecken, besteht in den Geschichten, die sie sich zum Vatersein erzählen und die auch das Recht kodiert. Thomas Hettches Erzähler Peter sehnt sich deutlich in die Idylle der bürgerlichen Kleinfamilie zurück. Seine Angst vor der Auflösung kernfamiliärer Strukturen arbeitet sich direkt am juristischen Diskurs ab. Die Rechte der Väter müssen heute anders legitimiert werden als im 19. Jahrhundert: Dem pater familias kommt nicht mehr per se alle Gewalt zu – die Sorge für ein Kind darf nur übernehmen, wer sie mit dem Kindeswohl begründen kann. Hettches Lösung (die Behauptung, das Kind brauche seine Liebe als die Liebe eines Vaters, die sich ontologisch von derjenigen einer Mutter unterscheidet) nimmt den Umweg über eine Geschlechtermetaphysik, die einem Wilhelm Heinrich Riehl vermutlich nicht fremd wäre. Deutlich raffinierter stellt sich John von Düffel einer Konfrontation mit dem kleinfamiliären Mythos. Die Geschichten, die sich sein Erzähler vom Vatersein erzählt, streifen nahezu alle Bereiche, die auch den kleinfamiliären Mythos im Recht nähren: Ehelichkeit, Leiblichkeit, Zweigeschlechtlichkeit, damit verbunden Heterosexualität. Gleichzeitig weiß der Erzähler (oder vielmehr: das Erzählen des Erzählers) um die Fiktionalität dieser Geschichten: Familien sind vielleicht nicht mehr das, was sie in all den Geschichten, die der Erzähler kennt, einmal waren. Mit dem Erzählen neuer Familiengeschichten – das hier auch deutlich ein Erzählen vom Erzählen alter Familiengeschichten ist – wird deutlich, dass den neuen Familienkonzepten oft tatsächlich noch etwas fehlt: neue Mythen, neue Geschichten. Von Düffels Erzählung desavouiert alte Mythen, mündet dann aber im väterlichen Vakuum. Auf authentisch erlebte Vatergefühle kann sich Hettches
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Protagonist noch zurückziehen – wie aber soll das dem in Ich- und Er-Erzähler gespaltenen Erzähler von Düffels gelingen? Peter Wawerzineks Angriff gilt, zum Schluss, vor allem dem Mythem der Leiblichkeit. Während im Gesetz die Mutter als die Frau, die ein Kind geboren hat, derzeit noch unangreifbar bleibt, liegt bei Wawerzineks Erzähler das Konzept natürlicher mütterlicher Fürsorge in Scherben. Darüber hinaus sind familiäre Emotionen kein Ergebnis natürlicher Bande, sondern entstehen wesentlich mit und durch Geschichten von Familien. Der Macht des kleinfamiliären Narrativs, wie es sich immer noch auch im Gesetz findet, fällt Wawerzineks Erzähler zum Opfer, der sich umstellt sieht von ›Muttergeschichten‹. Diskussionen zum Kindeswohl könnten auch aus diesem Exempel durchaus noch ihre Lehren ziehen, denn ein mutmaßliches Leiden an familiären Strukturen stellt sich hier am Ende ›nur‹ als ein Leiden an den Erzählungen heraus, die diese Strukturen begleiten. Diskursvergleichende Arbeiten ermöglichen es, die spezifischen Leistungen einzelnen Diskurse, die Logik ihrer Sprechweisen, genauer zu konturieren. In der Ordnung der Dinge hat Foucault versucht, den literarischen Diskurs als »Gegendiskurs« zu begreifen.1 Foucault setzt insbesondere die Literatur seit dem 19. Jahrhundert von der vorhergehenden in ihrer Funktion ab. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert wurden die eigene Existenz der Sprache, ihre alte Festigkeit einer in die Welt eingeschriebenen Sache in dem Funktionieren der Repräsentation aufgelöst. Jede Sprache galt als Diskurs. Die Kunst der Sprache war eine Art, »Zeichen zu geben«, gleichzeitig etwas zu bedeuten und um diese bedeutete Sache Zeichen zu disponieren: eine Art also, zu benennen und dann in einer gleichzeitig demonstrativen und dekorativen Verdoppelung diesen Namen zu umfangen, ihn einzuschließen und ihn zu verbergen, ihn seinerseits durch andere Namen zu bezeichnen, die dessen aufgeschobene Präsenz, sein zweites Zeichen, seine Figur, sein rhetorischer Apparat waren.2
Die ›Aufgabe‹ der Literatur vor dem 19. Jahrhundert ist damit recht funktional und nicht wesentlich verschieden von der Aufgabe der Sprache an sich: Repräsentiert werden soll in Worten, was nicht präsent ist. Im 19. Jahrhundert (Frankreichs) konstatiert Foucault diesbezüglich eine Veränderung: Während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts und bis in unsere Zeit – von Hölderlin zu Mallarmé, zu Antonin Artaud – hat die Literatur nun aber nur in ihrer Autonomie existiert, von jeder andern Sprache durch einen tiefen Einschnitt nur sich losgelöst, indem sie eine Art »Gegendiskurs« bildete und indem sie so von der repräsentativen oder bedeutenden
1 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main 1971, S. 76. 2 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 76.
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Funktion der Sprache zu jenem rohen Sein zurückging, das seit dem sechzehnten Jahrhundert vergessen war.3
»Damals bestand die Literatur aus einem Bezeichneten und einem Bezeichnenden und verdiente, als solche analysiert zu werden«4 – jetzt nimmt sie einen Platz jenseits des Diskurses ein. Es findet in ihr »kein Diskurs mehr statt, sie teilt keine Bedeutung mehr mit, sondern stellt nur noch ihr nacktes Sein als reine Äußerlichkeit zur Schau«5. Die Sprache, heißt es weiter in »Das Denken des Außen«, hat die Möglichkeit, »die Dynastie der Repräsentation [ ] hinter sich«6 zu lassen. Foucault geht daher davon aus, dass Literatur nicht mit den Kategorien der Repräsentation gedacht werden darf. Man sucht Literatur dann nämlich »außerhalb des Ortes, an dem sie für unsere Kultur seit anderthalb Jahrhunderten nicht aufgehört hat, zu entstehen und Eindrücke zu hinterlassen«7. Eine solche Positionierung der Literatur in einem »Außen« des Diskurses hat sich für die vorliegende Arbeit als nur äußerst bedingt fruchtbar erwiesen. Romane erzählen als literarische Texte von fiktiven Familien, erschaffen damit ihren Gegenstand in der Narration und tragen bei zum diskursiven Netz, das die Vorstellungen und Voreinstellungen zur Familie innerhalb eines bestimmten Rezeptionsbereichs prägt. Selbstverständlich findet in der Literatur genauso viel »Diskurs […] statt«8 wie in den juristischen Texten. Der Mythos der Kernfamilie zeichnet sich gerade durch seine diskursive Ubiquität aus. Das gerade begründet seine Beharrlichkeit. Die Literatur kann ihm, das haben die Analysen der Texte gezeigt, auch dann nicht entkommen, wenn sie ihn in der Abgrenzung aufruft. Literarischen Diskursen kann gleichwohl gelingen, was dem Recht, das sich derlei Verunsicherungen nicht leisten darf, meist ein blinder Fleck bleibt: eine metareflexive Perspektive auf die eigenen Funktionsbedingungen. In zahlreichen Experimenten mit der Familie kann die Literatur die ›heile Familie‹ als (eine unter möglichen) Geschichten entdecken.
3 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 76. 4 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 77. 5 Michel Foucault: Das Denken des Außen. In: Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Dritter Band: 1976–1979. Frankfurt am Main 2003, S. 670–697, hier S. 672. 6 Foucault: Das Denken des Außen, S. 672. 7 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 77. 8 Foucault: Das Denken des Außen, S. 672.
X Von der mythischen Qualität des Kernfamiliennarrativs Die Gesellschaft also ist eine Familiengesellschaft. (Thomas Nipperdey)1
Das Ringen mit der Familie, mit den Rollen, die sie bereit stellt, mit der Frage nach ihrer Definition und nach dem ›Schicksal‹, das ihr droht, verbindet alle Texte dieser Arbeit – literarische und juristische –, und zwar sowohl im 19. Jahrhundert als auch in der Gegenwart. Das liegt nicht zuletzt an der mythischen Qualität des Kernfamiliennarrativs. Dieses Narrativ bedient sich eines Inventars wiederkehrender Mytheme, die sich – darin liegt vielleicht das eigentlich Perfide – nicht immer produktiv ergänzen. Während sich die Familie im rechtlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts einerseits stabil zwischen Ehelichkeit (damit verbunden: Zweigeschlechtlichkeit) und Leiblichkeit aufspannen lässt, treten die beiden Mytheme gleichzeitig auch in Konkurrenz zueinander. Die Ehelichkeit eines Kindes lässt seine Leiblichkeit fingierbar werden, damit ist ›tatsächliche‹ Leiblichkeit (fast) keine relevante Kategorie mehr. Vor allem in Fällen der Adoption wird dann aber die fehlende Leiblichkeit des adoptierten Kindes als zentraler Mangel erkannt. Literarische Diskurse, die sich synchron mit den Mythemen der Leiblichkeit und der Ehelichkeit befassen, lassen bemerkenswerte Experimente mit der Kernfamilie zu. Bei Storms Aquis submersus und Raabes Chronik der Sperlingsgasse bleibt die klassische Kernfamilie der (wenn auch verpasste) Bezugspunkt der Protagonisten. In Storms Text scheitern dann allerdings alle denkbaren Fundamente des kernfamiliären Glücks: Weder die Leiblichkeit eines Kindes noch seine Ehelichkeit oder eine spezifische Wesensgleichheit der Familienmitglieder untereinander garantiert das Bestehen bzw. Entstehen einer Familie. Stifters Nachsommer verabschiedet sich von der Vorstellung, dass Familien durch leibliche Zeugung entstehen: Risach ist kein Erzeuger, sondern ein diskursmächtiger ›Gleichmacher‹, der in Josephsehe mit Mathilde lebt. Brigitta stört darüber hinaus empfindlich die Idee einer notwendigerweise zweigeschlechtlichen Ehe. Stifters Familien fügen sich aus dieser Perspektive – bei aller vermeintlichen Biedermeierlichkeit ihres Autors – dem synchronen bürgerlich-juristischen Diskurs gerade nicht. Auch in Raabes Akten des Vogelsangs werden vielfach und variantenreich Modelle mit den Variablen der Zweigeschlechtlichkeit, der Ehelichkeit und der
1 Nipperdey, S. 44.
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Leiblichkeit erprobt. Raabes ›Patchwork‹ löst sich hier (anders als in der Chronik) stellenweise vom kleinfamiliären Leitbild. Das 21. Jahrhundert ist, juristisch und literarisch, keineswegs ein mythosfreier Raum. Im juristischen Diskurs hat sich die Erzählung von der Kernfamilie allerdings weiter ausdifferenziert. Nicht nur Leiblichkeit und Ehelichkeit ermöglichen Familien. Mittlerweile können (auch vor dem Hintergrund veränderter Reproduktionskontexte) rechtliche, biologische und soziale Elternschaft auseinandertreten. Leiblichkeit und Ehelichkeit sind nicht mehr in der Lage, die komplexen Strukturen einheitlich zu bündeln. Das neue Mythem des »Kindeswohls« leistet hier bessere Dienste. Familie darf dort sein, wo dem Wohl des Kindes am besten Genüge getan ist. Weder Leiblichkeit noch Ehelichkeit müssen das zwangsweise sicherstellen. Durchaus denkbar ist, dass man ein Kind bei dem Mann am besten aufgehoben glaubt, der weder leiblich mit ihm verwandt ist noch mit der Mutter des Kindes verheiratet. Das Kindeswohl bleibt allerdings eine intradiskursive Schnittstelle: nicht nur juristischen, sondern auch psychologischen, pädagogischen, soziologischen und nicht zuletzt auch populärwissenschaftlichen und feuilletonistischen Betrachtungen ausgeliefert.2 Wer die Tauglichkeit von Familienformen begründen will, muss hier Diskursmacht gewinnen. So verliert die Kleinfamilie auf der einen Seite an legitimatorischer Kraft, weil offenbar auch Kinder in alternativen Familienmodellen passabel groß werden. Im Schatten des Kindeswohls kann der Mythos der traditionellen Kernfamilie aber dort wieder erstarken, wo man ihr besondere ›Stabilität‹ oder ›Sicherheit‹ an-argumentiert. Familien bleiben im juristischen Diskurs damit immer auch der Ort normativer Zugriffe. Literarische Texte, die sich mit den Mythemen auseinandersetzen, die im juristischen Diskurs begegnen, machen immer wieder eine zentrale Entdeckung: diejenige von der narrativen Basis familiärer Strukturen und Emotionen. Von Düffels Roman über die Besten Jahre ist auch ein Roman, der von den Zweifeln am Vaterwerden im Zeitalter der technischen Reproduktion erzählt. Die gespaltenen Vaterrollen, die auch das Recht beschäftigen, münden für von Düffels Protagonisten in einem Rollenvakuum – und schließlich in skeptischer Distanz zum ›eigenen‹ Neugeborenen. Genazinos Gerhard Warlich droht der Zwang der Verrechtlichung seiner Partnerschaft mit Traudel. Das ›Geheiratetwerden‹ fürchtet
2 Die wissenschaftlich-diskursive Umstellung des Kindeswohls zeigt eindrücklich der Band Erfassung von Kindeswohlgefährdung in Theorie und Praxis (hg. von Wilhelm Körner und Günther Deegener. Berlin u. a. 2011). Die Herausgeber machen am Ende der zweiten Sektion Vorschläge zu »einer psychologisch fundierten Diagnostik bei Kindeswohlgefährdung (KWG) in Erziehungsberatungsstellen« (S. 328–362).
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er ebenso wie das anschließend drohende Vaterwerden. Setz’ Figur René Templ hat beides schon hinter sich – auch bei ihm zeigt sich die Kernfamilie als Ergebnis eines erstarrten Automatismus. Zu heiraten und eheliche Kinder zu zeugen scheint für Frauen und vor allem für Männer immer noch irgendwann – unausweichlich – ›an der Reihe‹ zu sein. Wawerzineks Waise scheinen auf den ersten Blick ganz andere Schwierigkeiten zu beschäftigen. Schließlich ist aber auch Rabenliebe ein Roman über starke Mythen und Mytheme: Leiblichkeit garantiert keine Mutterliebe und das Leiden am Muttermangel ist nicht genetisch begründet, sondern mit dem Zwang der Erzählungen, dem auch dieser Erzähler wohl gern entkäme. Einzig der Vater in Hettches Text wünscht sich in mythische Strukturen zurück. Die rechtlich schwache Position des biologischen Vaters sucht sich selbst im Rückgriff auf eine anachronistisch anmutende Geschlechtermetaphysik zu stärken – eine argumentativer ›Kniff‹, der auch in aktuellen Diskussionen zur rechtlichen Legitimation der Familie und ihrer Akteure immer wieder begegnet. Bis auf Hettches Text machen alle anderen literarischen Texte den Mythos der Kernfamilie als Mythos sichtbar (während sie gleichzeitig – je verschieden akzentuiert – seine Mytheme aufgreifen). Die literarischen Texte stellen damit eine metareflexive Frage, die innerhalb des Rechts nicht stattfindet: ob nämlich Emotionen und Bedürfnisse tatsächlich kollektivierten Narrationen vorgängig sind oder nicht letztlich erst durch sie hervorgebracht werden.
Schlussplädoyer: Mit dem Mythos umgehen Vor einigen Tagen (ich schreibe im Juni 2013) hat das Bundesverfassungsgericht die Begrenzung des Ehegattensplittings auf Ehepaare für verfassungswidrig erklärt. In der offiziellen Pressemitteilung des Gerichts heißt es: Die Ungleichbehandlung von eingetragenen Lebenspartnerschaften und Ehen beim Ehegattensplitting ist verfassungswidrig. Die entsprechenden Vorschriften des Einkommensteuergesetzes verstoßen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, da es an hinreichend gewichtigen Sachgründen für die Ungleichbehandlung fehlt. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden. Die Rechtslage muss rückwirkend ab der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes zum 1. August 2001 geändert werden. Übergangsweise sind die bestehenden Regelungen zum Ehegattensplitting auch auf eingetragene Lebenspartnerschaften anzuwenden.1
Während Stimmen in der Regierungskoalition weiter auf der Trennung zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft beharren,2 weicht sie im juristischen Diskurs auf. Bereits im Februar hat das Bundesverfassungsgericht auch der »Nichtzulassung der Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner«3 Verfassungswidrigkeit attestiert. Das Adoptionsverbot für gleichgeschlechtliche Paare ist damit noch nicht gefallen. Tut es das, ändert sich das Familienrecht abermals grundlegend. Den ›traditionellen‹ Eltern, die in ehelicher Verbindung leibliche Kinder zeugen, hat auch das Recht längst nichteheliche Lebensgemeinschaften, Fälle sozialer Elternschaft und Adoptionen an die Seite gestellt – und auch mit einem Auseinanderklaffen von rechtlicher und biologischer Vaterschaft geht der juristische Diskurs um. Nun könnten aus dem Gesetz bald gleichgeschlechtliche Elternpaare hervorgehen. Dem Mythos der ›heilen Familie‹ entkommt das 21. Jahrhundert allmählich – aber heftige Trennungsschmerzen begleiten den Prozess. So begegnet er uns weiterhin in zahlreichen alltäglichen sprachlichen und außersprachlichen Diskursen: wenn wir uns krankenversichern wollen, in den Urlaub fahren (›Familienangebote: 2 Erwachsene, 2 Kinder‹), Fahrkarten kaufen (›Familienti-
1 Bundesverfassungsgericht, Pressestelle, Pressemitteilung Nr. 41/2013 vom 6.6.2013, Beschluss vom 7.5.2013. 2 Für Volker Kauder gibt es die »Homo-Ehe nicht. Es gibt die Ehe und es gibt die eingetragene Lebenspartnerschaft.« Vgl. Kristina Dunz: »Für uns gibt es die Homo-Ehe nicht.« In: FR-Online (7.6. 2013); online abrufbar: http://www.fr-online.de/politik/cdu-ehegattensplitting--fuer-unsgibt-es-die-homo-ehe-nicht-,1472596,23159398.html (letzter Zugriff am 20.9.2014). 3 Bundesverfassungsgericht, Pressestelle, Pressemitteilung Nr. 9/2013 vom 19.2.2013, Beschluss vom 19.2.2013.
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Schlussplädoyer: Mit dem Mythos umgehen
cket: 2 Erwachsene, 2 Kinder‹), in Bilderbüchern blättern oder Feiertage begehen (›Muttertag‹/›Vatertag‹). Die Mytheme, aus denen sich die jeweilige Ausgestaltung des Mythos zusammensetzt und die sie voraussetzt, sind oft unausgesprochen, bleiben immer wieder auch der eigenen Interpretation überlassen: In welcher Beziehung müssen ›2 Erwachsene‹ zueinander stehen, wenn sie ein Familienangebot wahrnehmen wollen? Setzt die ›Familienversicherung‹ wirklich eine eheliche Verbindung voraus? – Bilder und Begriffe denotieren häufig eine ›heile Familie‹, die ebenfalls längst zum Signifikanten für eine zunehmend beliebiger werdende Konstellation einer sozialen Gruppe geworden ist, die sich aus Erwachsenen und Kindern zusammensetzt. Die normative Kraft mythischer Formeln lässt sich aber noch lange nicht ad acta legen.4 Solange alleinerziehende Mütter oder Väter als Allein-Erziehende erzählt werden, im familiären Patchwork immer noch vor allem die Gefahren, nicht aber die Chancen nicht-kleinfamiliären Zusammenlebens gesehen werden,5 solange sollte man wachsam bleiben: beim eigenen und im Umgang mit dem fremden Sprechen über die Familie.
4 Vor allem dann nicht, wenn sich die auch von Martin Löhnig formulierte These als richtig herausstellt, dass nämlich »das Ideal der ›Müslireklame‹-Familie« wirkmächtiger wird, je mehr die Realität sich als von diesem Ideal abweichend herausstellt (Martin Löhnig: Fragmentierte Familien. Einleitung. In: Fragmentierte Familien. Brechungen einer sozialen Form in der Moderne. Hg. von Inge Kroppenberg und Martin Löhnig. Bielefeld 2010, S. 7–11, hier S. 7). 5 Vgl. beispielsweise Melanie Mühl: Die Patchwork-Lüge. Eine Streitschrift. München 2011.
Verzeichnis gebrauchter Abkürzungen aF alte Fassung BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BVerfG Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE Zeitschrift für das gesamte Familienrecht mit Betreuungsrecht, Erbrecht, FamRZ Verfahrensrecht, Öffentlichem Recht GG Grundgesetz mit weiteren Nachweisen mwN Neue Juristische Wochenschrift NJW Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungsreport NJW-RR Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ OLG Oberlandesgericht
Bibliographie Gesetzestexte und Gesetzesentwürfe Bürgerliches Gesetzbuch, Entwurf erster Lesung aus dem Jahr 1888. In: Die Gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich. Hg. von Benno Mugdan. 4. Band: Familienrecht. Berlin 1899. Bürgerliches Gesetzbuch vom 2.1.2002 (BGBl I, S. 42, 2909, 2003 I, S. 738), letzte Änderung durch Art. 7 G vom 7. Mai 2013 (BGBl I, S. 1122, 1159). Gesetz über die Annahme als Kind und zur Änderung anderer Vorschriften vom 2.7.1996 (BGBl I, S. 1749). Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft vom 16.2.2001 (BGBl I, S. 266). Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts vom 18.6.1957 (BGBl I, S. 609). Gesetz zum Schutz von Embryonen vom 13.12.1990 (BGBl I, S. 2746). Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts vom 21.12.2007 (BGBl I, S. 3189). Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 16.12.1997 (BGBl I, S. 2942), ergänzt durch das Beistandschafts-, das Erbrechtsgleichstellungs- und das Unterhaltssicherungsgesetz. Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters (Entwurf vom 2.12.2012), online einsehbar unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/ brd/2012/0666-12.pdf (letzter Zugriff am 13.10.2014).
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Kommentierung der aktuellen Fassung des BGB und des GG Enders, Wolfgang: Kommentierung zu § 1741 BGB. In: Beck’scher Online-Kommentar BGB. Hg. von Georg Bamberger und Herbert Roth. München. Stand: 1.5.2013 (zitiert als Bamberger/ Roth/Enders § 1741 BGB). Enders, Wolfgang: Kommentierung zu § 1748 BGB. In: Beck’scher Online-Kommentar BGB. Hg. von Georg Bamberger und Herbert Roth. München. Stand: 1.5.2013 (zitiert als Bamberger/ Roth/Enders § 1748 BGB). Enders, Wolfgang: Kommentierung zu § 1754 BGB. In: Beck’scher Online-Kommentar BGB. Hg. von Georg Bamberger und Herbert Roth. München. Stand: 1.5.2013 (zitiert als Bamberger/ Roth/Enders § 1754 BGB). Enders, Wolfgang: Kommentierung zu § 1755 BGB. In: Beck’scher Online-Kommentar BGB. Hg. von Georg Bamberger und Herbert Roth. München. Stand: 1.5.2013 (zitiert als Bamberger/ Roth/Enders § 1755 BGB). Hahn, Dieter: Kommentierung zu § 1589 BGB. In: Beck’scher Online-Kommentar BGB. Hg. von Georg Bamberger und Herbert Roth. München. Stand: 1.5.2013 (zitiert als Bamberger/ Roth/Hahn § 1589 BGB). Hahn, Dieter: Kommentierung zu § 1591 BGB. In: Beck’scher Online-Kommentar BGB. Hg. von Georg Bamberger und Herbert Roth. München. Stand: 1.5.2013 (zitiert als Bamberger/ Roth/Hahn § 1591 BGB). Hahn, Dieter: Kommentierung zu § 1592 BGB. In: Beck’scher Online-Kommentar BGB. Hg. von Georg Bamberger und Herbert Roth. München. Stand: 1.5.2013 (zitiert als Bamberger/ Roth/Hahn § 1592 BGB). Hahn, Dieter: Kommentierung zu § 1598a BGB. In: Beck’scher Online-Kommentar BGB. Hg. von Georg Bamberger und Herbert Roth. München. Stand: 1.5.2013 (zitiert als Bamberger/ Roth/Hahn § 1598a BGB). Hahn, Dieter: Kommentierung zu § 1600 BGB. In: Beck’scher Online-Kommentar BGB. Hg. von Georg Bamberger und Herbert Roth. München. Stand: 1.5.2013 (zitiert als Bamberger/ Roth/Hahn § 1600 BGB). Uhle, Arnd: Kommentierung zu Artikel 6 GG. In: Beck’scher Online-Kommentar GG. Hg. von Volker Epping und Christian Hillgruber. München. Stand: 1.7.2011 (zitiert als Epping/ Hillgruber/Uhle Art. 6 GG). Veit, Barbara: Kommentierung zu § 1626 BGB. In: Beck’scher Online-Kommentar BGB. Hg. von Georg Bamberger und Herbert Roth. München. Stand: 1.5.2013 (zitiert als Bamberger/ Roth/Veit § 1626 BGB). Veit, Barbara: Kommentierung zu § 1666 BGB. In: Beck’scher Online-Kommentar BGB. Hg. von Georg Bamberger und Herbert Roth. München. Stand: 1.5.2013 (zitiert als Bamberger/ Roth/Veit § 1666 BGB). Veit, Barbara: Kommentierung zu § 1671 BGB. In: Beck’scher Online-Kommentar BGB. Hg. von Georg Bamberger und Herbert Roth. München. Stand: 1.5.2013 (zitiert als Bamberger/ Roth/Veit § 1671 BGB).
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Personenregister A Alt, Peter-André 195 Anz, Thomas 195 Apel, Friedmar 109 Ariès, Philippe 8 Arndt, Christiane 138, 144 B Bachmann, Ingeborg 211, 224 Baer, Susanne 83 Bamberger, Georg 27, 29, 56–65, 68 ff. Barner, Wilfried 1, 109 Barthes, Roland 9–12, 19, 84, 91, 95, 199, 201, 205, 212 ff. Baumann, Christiane 133 Becker, Sabina 105 Beck-Gernsheim, Elisabeth 85, 94 Beck, Ulrich 94 f. Begemann, Christian 103, 110 ff., 117, 119, 124 ff. Behrends, Okko 67 f. Beitzke, Günther 57 Benjamin, Walter 112 Berendes, Jochen 124 Bernard, Andreas 43 Bernd, Clifford A. 138 Binder, Guyora 14 Blasberg, Cornelia 104, 107 ff., 120 Bleckwenn, Helga 116 Böhnisch, Lothar 12, 85 ff., 89 f. Bohrer, Karl Heinz 106 Borchmeyer, Dieter 104 f., 111, 119 f. Borgenicht, Joe 204 Bourdieu, Pierre 8, 10 f. Bovenschen, Silvia 104 Bronfen, Elisabeth 138 Büchler, Andrea 42, 46, 58, 76, 101 Burkart, Günter 5, 28, 86, 88 f. Butler, Judith 49, 134 Büttner, Helmut 61 C Coleman, David 90 f.
Cottier, Michelle 76 Coupe, W. A. 138 D Deegener, Günther 253 Defert, Daniel 80, 251 Defoe, Daniel 188 Detering, Heinrich 138, 140 Deupmann, Christoph 140 Dietze, Walter 160 Dittmann, Ulrich 131 Doderer, Heimito von 4 Doppler, Alfred 103 Dreier, Horst 54 Drügh, Heinz 116, 119 Düffel, John von 16, 102, 197, 204–207, 209–212, 214, 216 ff., 220–223, 249 f., 253 Dürig, Günter 48, 54 Duhamel, Roland 118 Dunz, Kristina 255 E Eichenhofer, Eberhard 67 Eickelpasch, Rolf 86, 88 Eiden-Offe, Patrick 153–156 Eisenhardt, Ulrich 21 Endemann, Friedrich 28, 30, 38 f., 41 Enders, Wolfgang 62–65 Epping, Volker 24 f., 43–54, 70 Erhart, Walter 161, 169, 186, 188, 193 ff., 204 Erman, Walter 56 Escher, Maurits Cornelis 182, 185 f., 188 F Fasold, Regina 140, 143, 152 Feßmann, Meike 224 Foucault, Michel 15, 79–82, 250 f. Frank, Rainer 23 Freud, Sigmund 143, 186, 188, 194 f. Freund, Winfried 111, 120, 122 f., 133, 143, 145, 155, 168, 171, 174, 209 f., 219, 221, 232
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Personenregister
Frevert, Ute 12, 104, 133 Frisch, Max 245 Frühwald, Wolfgang 103 Funcke, Dorett 88 G Gabriel, Gottfried 45 Gaul, Hans Friedhelm 23, 54, 57 Genazino, Wilhelm 16, 102, 180, 189, 192 f., 197, 235, 253 Gillies, Constantin 204 Ginzburg, Natalia 96 Goethe, Johann Wolfgang von 109, 116, 218 Goody, Jack 5, 7 f., 12, 84 Grätz, Katharina 105, 119 Greenblatt, Stephen 13 f. Greiner, Ulrich 224 f., 229 Gröschner, Rolf 45 Grundmann, Matthias 86, 92 Gutjahr, Ortrud 132 H Habermas, Rebekka 104 Hager, Johannes 61 Hahn, Alois 5 Hahn, Anna Katharina 17, 18 Hahn, Dieter 56–61 Haines, Brigid 118 Hampl, Ingeborg 154 Harnisch, Antje 161 f. Haupt, Heinz-Gerhard 12 Haußmann, Walter 127, 132, 136 Heckenast, Gustav 103 Hertling, Gunter 126, 138 Hettche, Thomas 16, 101, 197–206, 212, 222, 249, 254 Hielscher, Martin 209 Hillgruber, Christian 24 f., 43–54, 70 Hill, Paul B. 90 Hoffmeister, Dieter 7, 85–88, 92, 99 Hofmannsthal, Hugo von 242 Hohendahl, Peter Uwe 103 ff., 115 Horkheimer, Max 85 Howe, Patricia 131 f. Huinink, Johannes 87
I Illouz, Eva 98 f. Irmscher, Hans Dietrich 103 J Jackson, David A. 138, 143, 152 Jahnel, Rosemarie 22 Jakobs, Horst Heinrich 21 f. Jessen, Jens 197 Jung, Carl Gustav 235 Jurczyk, Karin 50, 97 f. K Kaa, Dirk J. van de 90 Kafka, Franz 184 Kaiser, Gerhard 1 f., 139, 146 Kalle, Matthias 203 Keller, Gottfried 1 f., 103, 119, 161 Kindermann, Manfred 169 Klein, Friedrich 44, 48, 51 f. Kleist, Heinrich von 1, 132 Kloepfer, Michael 25 Köbler, Gerhard 20 Kocka, Jürgen 12 Konietzka, Dirk 90 Koopmann, Helmut 103 Kopp, Johannes 90 Korioth, Stefan 24 Koschorke, Albrecht 1, 9, 12, 48, 118, 156, 194, 208 Koselleck, Reinhart 19 Kreuzer, Stefanie 131 Kreyenfeld, Michaela 90 Kristeva, Julia 166 ff., 171 f. Kroppenberg, Inge 3, 20, 26 f., 34, 37, 42 f., 49 f., 66, 69, 234, 256 Krüger, Karen 198 Kunig, Philipp 25 f. L Laage, Karl Ernst 138, 141, 143, 146, 152 Lacan, Jacques 166, 168, 171, 186, 188, 193 Lachinger, Johann 104 Lauterbach, Wolfgang 89 Lejeune, Philippe 205 Lenz, Karl 12, 28, 85–90, 97 Lessing, Gotthold Ephraim 1, 109
Personenregister
Lesthaeghe, Ron 90 Lévi-Strauss, Claude 7, 9, 11, 43 Lewitscharoff, Sibylle 5 Limbach, Jutta 46 Löhnig, Martin 3, 43, 256 Luhmann, Niklas 83 f. Lüscher, Kurt 6, 85, 99 M Macho, Thomas 112 Mangoldt, Hermann von 44, 48, 51 f. Mann, Thomas 151 Matz, Wolfgang 125 Maunz, Theodor 48, 54 McIsaac, Peter M. 117, 121 Moser, Samuel 225 Mullan, W. N. B. 139, 146 Müller, Klaus-Detlef 104, 113, 118, 120 Münch, Ingo von 25 f. Murdock, George Peter 86 N Nabokov, Vladimir 224 Naumann, Ursula 119 Nave-Herz, Rosemarie 85, 93 Neumann, Christian 139 f., 143 f. Nipperdey, Thomas 175 f., 252 Nuber, Achim 144 O Oechsle, Mechtild 204 Oertel Sjögren, Christine 118 Öhlschläger, Claudia 116 O᾽Neill, Eugene 190 Owen, Claude 132, 136 P Palandt, Otto 56 f. Pastor, Eckart 143, 152 Pätzold, Hartmut 152 Peuckert, Rüdiger 87, 92 Piechotta, Hans Joachim 105 f. Pink 197 Plett, Konstanze 58 Poe, Edgar Allan 230 Prutti, Brigitte 126, 132 f., 136
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R Raabe, Wilhelm 13, 16, 100, 119, 153 ff., 158–161, 163, 166–169, 171 ff., 177 f., 193, 252 f. Richter, Robert 204 Riehl, Wilhelm Heinrich 85, 98, 104 f., 123, 153, 249 Roebling, Irmgard 163, 166 ff., 171 Rosa, Hartmut 96 Rosenbaum, Heidi 91 f. Röthel, Anne 46 Roth, Herbert 27, 29, 56–65, 68 ff. Rupp, Marina 71, 74 f., 98 Rüthers, Bernd 56 S Sachs, Michael 25, 26, 44 ff., 50 f. Sammons, Jeffrey L. 153 f., 158 f. Saße, Günter 105, 108, 111, 119, 124 f. Schäfer, Eberhard 204 Schäublin, Peter 104, 108 Schenkendorf, Max von 240 f. Schier, Michaela 50, 97 f. Schlaich, Klaus 24 Schmidt, Arno 111 Schmidt, Christopher 197 Schmuck, Anne 192 Schößler, Franziska 116 Schramm, Edward 13 f. Schubert, Werner 21 f. Schumann, Eva 67 ff. Schwab, Dieter 3, 19, 23 ff., 48, 60 f., 63, 68 f. Schwenzer, Ingeborg 26, 37, 42, 46, 64, 76–79, 248 f. Sebald, Winfried Georg 116, 125 Segalen, Martine 4 f. Setz, Clemens J. 16, 102, 180 f., 185, 189, 197, 235, 254 Sodan, Helge 25 f. Soergel, Hans Theodor 56 Sontag, Susan 180 Spreckelsen, Tilmann 192 Stadler, Astrid 56 Starck, Christian 44, 48, 51 f. Staudinger, Julius von 58, 68, 70 Stendhal 216
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Personenregister
Stifter, Adalbert 16, 100, 103–106, 109, 111 ff., 116–120, 123–127, 131 ff., 135 f., 152, 176 f., 179, 252 Storm, Theodor 16, 100, 138–141, 143 f., 146, 151 f., 177 f., 252 Strasberg, Lee 206, 215 Straub, Friedrich Ulrich 4 Susteck, Sebastian 156
Veit, Barbara 27, 29, 68 ff. Vinken, Barbara 8 Vogl, Joseph 116 Voßkamp, Wilhelm 105
U Uhle, Arnd 24 f., 43–54, 70
W Wagenitz, Thomas 23 Wagner-Egelhaaf, Martina 205 Walter-Schneider, Margret 119 Wawerzinek, Peter 18, 102, 224 f., 228, 239, 241, 244, 246, 250, 254 Weber, Max 84, 88 Wegener, Angela 88 Weir, Peter 216 Weisberg, Robert 14 Wildbolz, Rudolf 121 Wolf, Manfred 129 Wünsch, Marianne 158 f.
V Vaskovics, Laszlo A. 86 f., 93
Z Zweig, Stefan 231
T Thielking, Sigrid 167 Thomä, Dieter 8 Thorn, Petra 88 Tschechow, Anton 183 Tyrell, Hartmann 5 ff., 9 f., 85, 95, 153