Ehe und Familie: Die »anthropologische Frage« und die Evangelisierung der Familie [1 ed.] 9783428547289, 9783428147281

Ehe und Familie sind fundamentale Gegebenheiten des menschlichen Zusammenlebens. Christlicher Glaube wie säkulare Mensch

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German Pages 182 Year 2015

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Ehe und Familie: Die »anthropologische Frage« und die Evangelisierung der Familie [1 ed.]
 9783428547289, 9783428147281

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S ozial e Ori enti er ung Band 24

Ehe und Familie Die „anthropologische Frage“ und die Evangelisierung der Familie

Herausgegeben von Stefan Mückl

Duncker & Humblot · Berlin

STEFAN MÜCKL (Hrsg.)

Ehe und Familie

Sozia le Orientierung herausgegeben von

Anton Rauscher ∙ Stefan Mückl ∙ Arnd Uhle

Band 24

Ehe und Familie Die „anthropologische Frage“ und die Evangelisierung der Familie

Herausgegeben von Stefan Mückl

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0720-6917 ISBN 978-3-428-14728-1 (Print) ISBN 978-3-428-54728-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84728-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Ehe und Familie sind fundamentale Gegebenheiten des menschlichen Zusammenlebens. Ihre Bedeutung übersteigt die rein individuelle Ebene der unmittelbar betroffenen Personen, seit jeher sind sie zugleich von eminenter Relevanz für den gesellschaftlichen Bereich. Ehe und Familie sind, beginnend mit der (vorchristlichen) Antike, ein Thema für Philosophie, Religion und Recht – zu keinem Zeitpunkt der Geschichte waren sie eine bloße „Privatsache“. Bei allen Unterschieden in Herleitung und Begründung stimmen bis heute politische wie kirchliche Gemeinschaft im Befund überein, daß Ehe und Familie von grundlegender Bedeutung für die Bildung der jeweiligen Gemeinschaft sind. Nicht von ungefähr besteht ein untrennbarer Konnex zwischen beiden Institutionen: Das deutsche Grundgesetz stellt in Art. 6 Abs. 1 „Ehe und Familie … unter (den) besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“1. Die Kirche begreift, der Lehre des Evangeliums folgend, die Ehe als Sakrament, welches typischerweise darauf ausgerichtet ist, sich zur Familie zu weiten. So hat die Kirche seit ihren Anfängen die Familie als eine „Kirche im Kleinen“, als „Hauskirche“, verstanden, in welcher der Glaube erfahren, gelebt und weitergegeben wird. Ein säkularisiertes Pendant findet diese Sicht auf universaler Ebene in Art. 16 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen von 1948, welche die Familie „als natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft“ bezeichnet und ihr darum einen Anspruch auf „Schutz durch Gesellschaft und Staat“ zuspricht. Präziser gefaßt, stimmen der Glaube der Kirche und weltliche Rechtsordnungen (nationaler, supranationaler und internationaler Provenienz) in einem zentralen Punkt überein: Ehe und Familie sind keine „Produkte“ der (kirchlichen oder bürgerlichen) Gemeinschaft, sondern vielmehr ihre Grundlage wie Voraussetzung. Sie sind der Gemeinschaftsbildung vorausliegende Realitäten, die infolge der ihnen innewohnenden Kraft und Dynamik für größere Einheiten konstituierend sind. Was der Glaube der Kirche mit der Wendung zum Ausdruck bringt, Ehe und Familie seien Bestandteil der Schöpfungsordnung, begründet die säkulare Menschenrechtstradition mit ihrer Rede vom vorstaatlichen Charakter der Menschenrechte, welche die Rechtsordnung vorgefunden, aber nicht ins Werk gesetzt habe. Auch insoweit 1 Weniger nüchtern formulieren den gleichen Sachverhalt diverse Landesverfassungen, so etwa diejenige des Freistaates Bayern (Art. 124 Abs. 1: „Ehe und Familie sind die natürliche und sittliche Grundlage der menschlichen Gemeinschaft und stehen unter dem besonderen Schutz des Staates.“) oder diejenige der Freien Hansestadt Bremen (Art. 21: „Ehe und Familie bilden die Grundlage des Gemeinschaftslebens und haben darum Anspruch auf den Schutz und die Förderung des Staates.“).

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Vorwort

zeigt sich ein grundlegend gemeinsamer Punkt: Die Realitäten von Ehe und Familie folgen aus dem Menschen selbst, seinen Anlagen und seiner Natur. Indes ist just dieses anthropologische Fundament in den letzten Jahrzehnten heftigen Erschütterungen ausgesetzt. Sie sind auf globaler Ebene, mit besonderer Heftigkeit aber in weiten Teilen der westlichen Welt, zu beobachten und weisen dabei verschiedene Dimensionen auf: ¢ Pharmazeutisch-medizinisch-technische Entwicklungen haben die nahezu vollständige Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung ermöglicht: Hatten in einem ersten Schritt seit den späten 1950er Jahren die Entwicklung und Verbreitung von Kontrazeptiva („Anti-Baby-Pille“) das Phänomen der Sexualität ohne Fortpflanzung bewirkt, führten die seit den 1970er Jahren zur Verfügung stehenden und zunehmend ausgeweiteten Techniken der Reproduktions„medizin“ („Retortenbaby“) zum gegenteiligen Phänomen der Fortpflanzung ohne Sexualität. Gerade in den hochindustrialisierten Ländern des Westens, in welchen diese Mechanismen aufgrund des allgemeinen Wohlstands sowie vielfach auch der Übernahme durch die staatlichen Sozialversicherungssysteme nahezu für jeden (und jede) erreichbar sind, sind die Folgen mit Händen zu greifen: Rückgang der Geburten wie der Eheschließungen, Zunahme der Geburten außerhalb der Ehe sowie jenseits der Grenzen der biologischen Gebärfähigkeit. ¢ In den staatlichen Rechtsordnungen haben, wiederum zumeist in den westlichen Demokratien sowie in zahlreichen supranationalen wie internationalen Organisationen, die Ehe und Familie betreffenden Normen an Steuerungskraft eingebüßt. Der Text einer Norm, selbst wenn er seit Jahrzehnten unverändert besteht, vermittelt eine nur scheinbare Eindeutigkeit: Der Begriff der „Ehe“ wurde, dem rechtshistorisch wie rechtskulturell gereiften Leitbild entsprechend, in den späten 1950er Jahren vom deutschen Bundesverfassungsgericht als „die auf Dauer angelegte, in der rechtlich vorgesehenen Form geschlossene, grundsätzlich unauflösliche Lebensgemeinschaft von Mann und Frau“ definiert2. Diese Umschreibung, wiewohl unverändert auch in jüngeren Gerichtsentscheidungen zitiert, gibt die Rechtswirklichkeit allenfalls noch in Teilbereichen wieder; jedenfalls drei ihrer tragenden Säulen sind zu erheblichen Teilen derogiert: Die „Unauflöslichkeit“ der Ehe steht unter dem Vorbehalt der nahezu voraussetzungslos möglichen Ehescheidung, ihre „Verschiedengeschlechtlichkeit“ unter politischem und zunehmend (supra- wie international erzeugtem) rechtlichem Druck, ihre „Rechtsförmigkeit“ unter der Konkurrenz diverser Modalitäten menschlichen Zusammenlebens, welche in der Substanz gleiche Rechte und Pflichten beanspruchen. Diese Rahmenbedingungen haben nachhaltigen Einfluß auf Wertmaßstäbe und Überzeugungen wie auf Verhaltensweisen in der Bevölkerung insgesamt: „Ehe“ 2 Bundesverfassungsgericht, in: Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 10, S. 59 (66).

Vorwort

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ist das Zusammenleben zweier Personen, die „füreinander einstehen und Verantwortung übernehmen“, „Familie“ jene Sozialstruktur, „wo Kinder sind“. An der allgemeinen Entwicklung haben, jedenfalls in den westlichen Ländern, die Christen in zunehmendem Ausmaß ebenfalls Anteil3 : Entsprechend der allgemeinen demographischen Entwicklung sinkt die Zahl der Kirchenglieder; auch ohne Einbeziehung von Phänomenen wie Kirchenaustritten (bzw. – in wesentlich geringerem Umfang – Kircheneintritten) ist der „Saldo“ in Deutschland seit Anfang der 1970er Jahre negativ, konstant liegt die Zahl der Sterbefälle über derjenigen der Taufen. Geradezu dramatisch sind die Einbrüche beim Ehesakrament: Auch wenn die jüngste Jahresstatistik der Deutschen Bischofskonferenz davon spricht, „nach wie vor“ würden „sich viele Paare (entscheiden), durch die Ehe ihrer Liebe einen öffentlichen und verbindlichen Charakter zu geben“, wird gleichwohl ein starker Rückgang seit 1990 konstatiert4. Der langfristige Trend spricht eine noch deutlichere Sprache: Schlossen 1970 immerhin noch sieben von zehn Katholiken die kirchliche Ehe, sind es heute keine drei mehr. Die Reserve gegenüber dem Sakrament der Ehe hat naturgemäß Rückwirkungen auf die Weitergabe des Glaubens in der Familie: Lediglich etwas über 70 % der Kinder, bei denen Vater oder Mutter katholisch ist, werden gegenwärtig in der katholischen Kirche getauft5. Naturgemäß stellen sich in anderen Teilen der Weltkirche für Ehe und Familie andere Herausforderungen (polygame Traditionen, gefährdete oder zerbrochene Familien aufgrund von Phänomenen wie der Arbeitsmigration). Vor diesem Hintergrund hatten zahlreiche Synodenväter zum Abschluß der Bischofssynode vom Oktober 2012 angeregt, die folgende Synode – nach über dreißig Jahren6 – dem Thema der Familie zu widmen. Nach dem Amtsverzicht von Papst Benedikt XVI. hat der neugewählte Papst Franziskus diese Anregungen aufgegriffen und zum gründlicheren Studium der sich stellenden Herausforderungen zwei Bischofssynoden einberufen, eine erste außerordentliche für Oktober 2014 sowie eine ordentliche für Oktober 2015. Die genauen Formulierungen der Themen beider Synoden lassen den inneren Konnex zur Bischofssynode von 2012 erkennen, die sich der „Neuevangelisierung zur Weitergabe des christlichen Glaubens“ gewidmet hatte: Stand die außerordentliche Vollversammlung der Synode von 2014 unter der Überschrift „Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung“, geht es bei der or-

3 Umfangreiches statistisches Material bei Joachim Eicken/Ansgar Schmitz-Veltin, Die Entwicklung der Kirchenmitglieder in Deutschland. Statistische Anmerkungen zu Umfang und Ursachen des Mitgliederrückgangs in den beiden christlichen Volkskirchen, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Wirtschaft und Statistik 6/2010, Wiesbaden 2010, S. 576 – 589. 4 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2013/2014 (Reihe „Arbeitshilfen“, Nr. 269), Bonn 2014, S. 15. 5 Ebd., S. 14. 6 Zuletzt hatte sich die Bischofssynode 1980 mit dem Thema „Familie“ befaßt, als deren Frucht hat Papst Johannes Paul II. das Nachsynodale Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981) verfaßt.

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Vorwort

dentlichen Vollversammlung im Oktober 2015 um „Berufung und Mission der Familie in der heutigen Welt“. Evangelisierung – Berufung – Mission: Die inhaltliche Spannweite der Synode ist demnach beträchtlich breiter als allgemeine wie (jedenfalls hierzulande) innerkirchliche Wahrnehmung und mediale Begleitung es vermuten lassen. Wie wichtig und für die kirchliche Sendung elementar es ist, „verletzte Familie (zu) heilen“7, dokumentiert die Fülle von jüngst erschienenen Publikationen8. Freilich kann die Bewältigung von „pathologischen“ Konstellationen nicht losgelöst von grundsätzlichen Überlegungen erfolgen, die in den bisherigen Überlegungen (zumindest in der Wahrnehmung) nicht immer die ihnen gebührende Aufmerksamkeit gefunden haben. Eine dieser grundsätzlichen Überlegungen betrifft die „anthropologische Frage“, auf die der Abschlußbericht der Synode vom Oktober 2014 ausdrücklich hinweist (Nr. 5). Damit angesprochen ist zum einen die im Lehramt von Papst Johannes Paul II. entfaltete „Theologie des Leibes“9, zum anderen die Notwendigkeit einer angemessenen Vorbereitung auf die Ehe sowie eine nachfolgende Begleitung in der Ehe in Verkündigung und Pastoral. Diesen Fragestellungen war die – interdisziplinär ausgerichtete – XIX. Studientagung der Fakultät für Kirchenrecht an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom am 12. und 13. März 2015 gewidmet, deren Vorträge dieser Band der interessierten Öffentlichkeit zugänglich macht. Von Herzen sei auch an dieser Stelle allen gedankt, die zur raschen Publikation dieses Bandes beigetragen haben: den Übersetzern für ihren Einsatz, der Stiftung zur Förderung der Katholischen Soziallehre für ihre Unterstützung, dem Verlag Duncker & Humblot für die bewährt gute Zusammenarbeit. Rom, im Juni 2015 7

Stefan Mückl

So die Zwischenüberschrift vor Nr. 44 des Abschlußberichts (Relatio Synodi) der Dritten Außerordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode, „Die pastoralen Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung“, 18. Oktober 2014, in: AAS 106 (2014), S. 887 – 908 (902); deutsche Übersetzung in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung. Texte zur Bischofssynode 2014 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz (Reihe: „Arbeitshilfen“, Nr. 273), Bonn 2014, S. 141 – 175 (167). 8 Die von der Kirche wiederholt vorgelegte Lehre ist dokumentiert bei Rudolf Voderholzer (Hrsg.), Zur Seelsorge wiederverheirateter Geschiedener. Dokumente, Kommentare und Studien der Glaubenskongregation, Würzburg 22014. – Stellvertretend aus der kaum noch überschaubaren Literatur Robert Dodaro, „In der Wahrheit Christi bleiben“: Ehe und Kommunion in der katholischen Kirche, Würzburg 22014; Markus Graulich/Martin Seidnacher (Hrsg.), Zwischen Jesu Wort und Norm. Kirchliches Handeln angesichts von Scheidung und Wiederheirat, Freiburg 2014; Andreas Wollbold, Pastoral mit wiederverheiraten Geschiedenen – gordischer Knoten oder ungeahnte Möglichkeiten?, Regensburg 2015. 9 Dokumentation der Texte bei Norbert und Renate Martin (Hrsg.), Johannes Paul II., Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. Katechesen 1979 – 1981, Vallendar 1985; systematische Analyse: Dominik Schwaderlapp, Erfüllung durch Hingabe. Die Ehe in ihrer personalistischen, sakramentalen und ethischen Dimension nach Lehre und Verkündigung Karol Wojtylas/Johannes Pauls II., St. Ottilien, 2002.

Inhaltsverzeichnis Carlo Cardinal Caffarra Glaube und Kultur in Hinblick auf die Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Antonio Malo Identität, Differenz und Beziehung von Mann und Frau: Die Geschlechtlichkeit

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Paul O’Callaghan Eine Zeit für die Liebe, für die Heiligkeit und für die Barmherzigkeit. Gedanken über die tragenden Säulen von Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rafael Díaz Natur und Gnade in der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Carla Rossi-Espagnet Grundsätzliche Aussagen des kirchlichen Lehramts zur Ehe . . . . . . . . . . . . . . . .

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Héctor Franceschi Ehe und Familie aus Sicht der Rechtsanthropologie. Die Natur der familiären Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Joaquín Llobell Wahrheit des Ehekonsenses und Ehenichtigkeit. Der deklaratorische Nichtigkeitsprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 José María Galván Die Ehevorbereitungskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Paolo Bianchi Das Brautexamen als pastorales Instrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Montserrat Gas und M. Pilar Lacorte Evangelisierung der Familie. Die Familie als ursprüngliche Realität: Zeigen, Bilden, Begleiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Abkürzungen Die in diesem Band verwandten Abkürzungen folgen – sofern sie nicht bereits aus sich selbst oder aus dem Zusammenhang heraus verständlich sind – dem im „Archiv für Katholisches Kirchenrecht“, Bd. 174 (2005), S. 119 ff., abgedruckten Verzeichnis.

Glaube und Kultur in Hinblick auf die Ehe Carlo Cardinal Caffarra Zu Beginn sollen zwei kurze terminologische Vorbemerkungen stehen, damit der Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen mit konzeptueller Klarheit hervortritt. Glaube meint die fides quae im Hinblick auf die Ehe. Er ist gleichbedeutend mit dem „Evangelium der Ehe“, sowohl im objektiven (das, was das Evangelium zur Ehe vorlegt) als auch im subjektiven Sinn: das Evangelium – Frohbotschaft –, welches die Ehe ist. Es soll hier nicht um die Glaubenslehre bezüglich der Ehe als solche gehen, sondern vielmehr darum, wie die Lehre in einem bestimmten kulturellen Umfeld, dem des Westens, verkündigt wird. Der zweite Begriff – Kultur – bezieht sich auf die heutzutage in den westlichen Ländern verbreitete Sichtweise der Ehe. „Sichtweise“ meint dabei die Art und Weise, wie die Ehe verstanden wird, vor allem in den staatlichen Rechtsordnungen und den Erklärungen internationaler Organisationen. Die nachfolgenden Überlegungen gehen in drei Schritten vor. Der erste versucht eine Skizze der kulturellen Bedingtheiten, die heute auf die Ehe in den westlichen Ländern einwirken. Sodann sollen die grundlegenden Schwierigkeiten benannt werden, die diese kulturellen Bedingtheiten für das christliche Verständnis der Ehe aufwerfen. Drittens schließlich werden einige grundsätzliche Vorgehensweisen zur Sprache kommen, wie das Evangelium der Ehe heute verkündet werden muß.

I. Kulturelle Bedingtheiten und Ehe Rari nantes in gurgite vasto1. Dieser berühmte Vers Vergils bezeichnet mit fotographischer Genauigkeit den Zustand der Ehe in den westlichen Ländern. Das „Gebäude“ der Ehe wurde zwar nicht zerstört, aber dekonstruiert, Stein um Stein zurückgebaut. Am Ende haben wir noch alle Einzelteile, das Gebäude aber gibt es nicht mehr. Unverändert bestehen sämtliche Kategorien, die das Institut der Ehe ausmachen: die Gattenschaft, Vaterschaft und Mutterschaft, Kindschaft und Geschwisterschaft. Doch sie haben keine eindeutige Bedeutung mehr. Hier ist das Abhandenkommen dieser Eindeutigkeit nicht näher zu untersuchen. Nur ein Beispiel: mater semper 1

Aeneis I, 118.

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certa, so hieß es im römischen Recht. Heute gilt das nicht mehr. Wer ist Mutter: Die Spenderin der Eizellen? Diejenige, die das Kind austrägt? Die Auftraggeberin? Weshalb und auf welche Weise konnte es zu dieser Dekonstruktion kommen? Auf den Grund der Entwicklungen geblickt, sieht man einen Prozeß der Konzipierung von Ehe im Gange, welche die biologisch-sexuelle Prägung des Menschen außer acht läßt. Immer mehr in den Bereich des Vorstellbaren gerät eine Ehe, die gänzlich von der je eigenen Sexualität der beiden Ehegatten getrennt ist. Eine solche Trennung betrifft mittlerweile selbst die Kategorie der Vater- und Mutterschaft. Die gravierendste Folge dieser Ent-Biologisierung der Ehe ist, daß sie auf einen rein privaten Belang ohne nennenswerte öffentliche Relevanz reduziert wird. Der Prozeß, der zur Trennung des Instituts der Ehe von der sexuellen Identität der Ehegatten geführt hat, war lang und vielschichtig. Er kann hier nur in seinen wesentlichsten Etappen angedeutet werden. Der erste Schritt liegt in der Art und Weise, wie die Beziehung des Menschen zu seinem eigenen Körper verstanden wird. Dieses Thema war seit jeher Gegenstand des christlichen Denkens. Eine Metapher mag helfen, den Gang der Dinge zu beschreiben: Der Verzehr mancher Speisen verursacht keinerlei aktuelle oder spätere Schwierigkeiten, weder Verdauungsprobleme noch Anstieg der Cholesterinwerte. Andere Speisen dagegen sind, auch in ihrer langfristigen Wirkung, für den Organismus schädlich. Das christliche Denken hat die platonische und die neuplatonische Sicht vom Menschen in sich aufgenommen, und diese Entscheidung hat ernste „Verdauungsprobleme“ verursacht. Dieser Probleme waren sich die großen Theologen des Mittelalters wohl bewußt, wenn sie sagten, der Wein des Glaubens drohe sich in das Wasser der Philosophen zu verwandeln, anstatt daß umgekehrt das Wasser der Philosophen zum Wein des Glaubens werde2. Augustinus hat mit großer Klarheit und in tiefer Durchdringung gesehen, daß die zentrale Schwierigkeit in der humanitas – humilitas Verbi anzusiedeln ist, indem das Wort Fleisch geworden ist und damit auch eine körperliche Verfaßtheit besaß3. Die genuin theologische Schwierigkeit mußte zwangsläufig auch eine anthropologische werden und so gerade die Beziehung des Menschen zu seinem Körper betreffen. Die bedeutende These von Thomas von Aquin von der substantiellen Einheit der Person schien dabei nicht überzeugend. Ein zweiter Aspekt: Die Trennung des Körpers von der Person erfährt einen neuen Impuls in der für die moderne Wissenschaft charakteristischen Methodologie, in ihrem jeweiligen Untersuchungsgegenstand jeden Bezug zur Subjektivität zu

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So etwa Thomas von Aquin, Super Boethium De Trinitate, pars 1, q. 2, art. 3, ad 5. Augustinus, Tractatus in Ioannis Evangelium, II,4; sowie – besonders markant – Enarrationes in Psalmos 85,1 (cogitatio nostra de recenti eius contemplatione quae erat in divinitate, pigrescit descendere ad eius humilitatem). 3

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unterbinden, da dies eine nicht meßbare Größe sei4. Die Entwicklung zur Trennung des Körpers von der Person ist damit in der Sache abgeschlossen, der Körper wird auf ein bloßes Objekt reduziert und umgeformt. Einerseits wird das Biologische zunehmend aus der Definition der Ehe ausgeschlossen, zum anderen und als Folge dessen wird dafür den Kategorien einer auf reine Emotionalität beschränkten Subjektivität eine zentrale Rolle beigemessen. Vor der entbiologisierenden Wende bestand das Genom von Ehe und Familie im Wesentlichen aus der Relation zweier Beziehungen: der Beziehung der Gegenseitigkeit (die Gattenschaft) und der generationenübergreifenden Beziehung (Elternschaft). Alle Beziehungen waren intra-personal: sie wurden als in der Person wurzelnde Beziehungen gedacht. Gewiß waren sie nicht auf das Biologische reduziert, vielmehr wurde das Biologische in die Gesamtheit der Person aufgenommen und integriert. Der Körper ist ein Körper mit einer Person, und die Person ist eine Person mit einem Körper. Heute kann die Gattenschaft hetero- wie homosexuell sein, die Elternschaft kann man durch technische Vorgänge erlangen. Wie Pierpaolo Donati zu Recht angemerkt hat, stehen wir nicht vor einem bloßen Wandel der äußeren Form, gewissermaßen in der Morphologie, sondern vor einer Veränderung des Genoms von Familie und Ehe5.

II. Schwierigkeiten für das Evangelium der Ehe Welches sind nun die grundlegenden Schwierigkeiten, die diese kulturellen Bedingtheiten für das christliche Verständnis der Ehe aufwerfen? Es handelt sich wohl nicht um ein hauptsächlich ethisches Problem, um eines der menschlichen Verhaltensweisen. Den Bedingtheiten, die heute auf Ehe und Familie einwirken, läßt sich nicht in erster Linie mit moralischen Mahnreden begegnen. Bei der Verkündigung des Evangeliums der Ehe stellt sich vielmehr eine grundlegend anthropologische Frage. Dazu vier präzisierende Schlaglichter: Erstens: Nach katholischer Lehre besteht bekanntlich eine Koinzidenz zwischen sakramentaler Ehe und Naturehe. Diese Koinzidenz läßt sich aus theologischer Sicht heute nicht mehr in Frage stellen, wenngleich die Frage seit Duns Scotus (der als erster die Koinzidenz geleugnet hat) in der lateinischen Kirche lange diskutiert wurde. Doch das, was die Kirche unter „Naturehe“ verstand und weiterhin versteht, wurde in der gegenwärtigen Kultur zerstört. Fast ist man versucht zu sagen, dem Sakrament der Ehe sei die „Materie“ herausgenommen worden. Zu Recht fragen sich Theologen, Kanonisten und Seelsorger, in welcher Beziehung zueinander Glaube und Sakrament bei der Ehe stehen. Doch das Problem liegt 4 Zu den Konsequenzen dessen am Beispiel der Medizin siehe Carlo Caffarra, Scienza e/o Sapienza, online verfügbar unter www.caffarra.it/incontro070315.php. 5 Pierpaolo Donati, La famiglia. Il genoma che fa vivere la società, Soveria Mannelli 2013.

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weit tiefer: Ist derjenige, der eine sakramentale Ehe eingehen möchte, auch dazu fähig, eine Naturehe einzugehen? Anders gefragt: Könnte es sein, daß nicht sein Glaube, sondern sein Menschsein so sehr beeinträchtigt ist, daß er gar nicht mehr in der Lage ist, die Ehe einzugehen? Genauer noch: Die Fähigkeit zur Ehe ist unmittelbar in die Natur der menschlichen Person eingeschrieben. Worum es hier geht, ist die (aktuelle) Fähigkeit, diese grundsätzliche Ehefähigkeit auch auszuüben. Gewiß sind die cc. 1096 und 1099 CIC zu beachten. Doch die Rechtsvermutung des c. 1096 § 2 CIC darf angesichts des geistlichen Zustands vieler schon im Hinblick auf die Naturehe nicht zur Untätigkeit verleiten. Eine zweite Dimension der anthropologischen Frage besteht in der Unfähigkeit, die Wahrheit über und mit ihr die Kostbarkeit der menschlichen Sexualität zu erfassen. Augustinus hat auf die wohl genaueste Art und Weise diesen Zustand beschrieben: „Ich wußte nicht, daß darin eben die Größe meines Elends bestand, daß ich, zu versunken und zu verblendet, nicht imstande war, das Licht der Tugend und der ohne fleischlichen Genuß zu hebenden Schönheit zu denken, die das Auge des Fleisches nicht sieht, sondern die nur von den Tiefen der Seele aus geschaut wird.“6

Die Kirche muß sich fragen, warum sie das Lehramt des heiligen Papstes Johannes Paul II. über Sexualität und menschliche Liebe faktisch ignoriert hat. Und ein weiteres: Die Kirche verfügt über eine große Schule, in der die tiefgehende Wahrheit über Körper und Person erlernt wird – die Liturgie. Inwieweit und aus welchen Gründen hat sie es nicht verstanden, diesen Schatz auch in Hinblick auf die hier interessierende anthropologische Frage zu heben? Ist sich die Kirche überhaupt vollends darüber im Klaren, daß die „Gender“-Theorie ein regelrechter Tsunami ist, der gar nicht so sehr das Verhalten der einzelnen im Visier hat, sondern die vollständige Zerstörung von Ehe und Familie? Zusammengefaßt stellt sich für das christliche Verständnis der Ehe heute als zweite grundlegende Herausforderung der Wiederaufbau einer Theologie und Philosophie des Leibes und der Sexualität, die in der gesamten Kirche ein neues Engagement im Bereich der Erziehung hervorrufen können. Die wohl schwerwiegendste Dimension der anthropologischen Frage ist die dritte: Der Zusammenbruch der Vernunft in ihrer Ausrichtung auf die Wahrheit hin, von dem in der Enzyklika Fides et ratio7 die Rede ist, hat auch Willen und Freiheit des Menschen mit sich gerissen. Die Verarmung der Vernunft hat die Verarmung der Freiheit hervorgebracht: Als Folge seiner Zweifel an der Fähigkeit, eine vollständige und endgültige Wahrheit zu erkennen, vermag der Mensch auch nicht zu glauben, daß er sich wirklich in vollständiger und endgültiger Weise verschenken 6

Augustinus, Bekenntnisse, Buch VI, 16, 26. Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio über das Verhältnis von Glaube und Vernunft vom 14. September 1998, Nr. 81 – 83, in: AAS 91 (1998), 5 – 88 (68 – 71); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 135 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 1998, S. 83 – 86. 7

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und seinerseits das vollständige und endgültige Sich-Verschenken eines anderen empfangen kann8. Die Verkündigung des Evangeliums der Ehe richtet sich heute an Menschen, deren Wille und Freiheit von ihrer ontologischen Konsistenz abgelöst sind. Aus dieser Inkonsistenz erwächst heute dann die Unfähigkeit der Menschen, die Unauflöslichkeit der Ehe anders als ein von außen auferlegtes Gesetz verstehen zu (lex exterius data): eine „Größe“, die sich umgekehrt proportional zur Größe der Freiheit verhält. Gerade auch für die Kirche stellen sich hier gravierende Folgefragen. Schon in den staatlichen Rechtordnungen hat der Übergang vom Verschuldenszum Zerrüttungsprinzip bei der Ehescheidung einen Zustand institutionalisiert, der auf den Menschen bei der Ausübung seiner Freiheit einwirkt. Das führt zur vierten und letzten Dimension der anthropologischen Frage: der inneren Logik der staatlichen Rechtsordnungen im Hinblick auf Ehe und Familie. Zur Thematik im Allgemeinen hat Papst Benedikt XVI. die Sicht des kirchlichen Lehramts in einer seiner grundlegenden Ansprachen dargelegt, jener vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 20119. Die Rechtsordnungen haben in einem fortlaufenden Prozeß das Familienrecht von der Natur der menschlichen Person entwurzelt. So wird eine Art „Tyrannei des Artifiziellen“ oktroyiert, welche die Legitimität allein auf das Verfahren reduziert. „Tyrannei des Artifiziellen“: Als Beispielsfall mag die Anerkennung der Attribute der Gattenschaft auf homosexuelle Partnerschaften dienen. Während bisher die Rechtsordnungen – ausgehend von der Prämisse der natürlichen Fähigkeit, die Ehe zwischen Mann und Frau zu schließen – sich auf die Normierung der Hindernisse für die Ausübung dieser natürlichen Fähigkeit oder die dafür gebotene Form beschränkten, messen sich die aktuellen Gleichstellungsgesetze die Befugnis bei, die Fähigkeit erst zu kreieren, das Recht der Eheschließung auszuüben. Das Gesetz maßt sich die Autorität an, auf künstlichem Weg etwas möglich zu machen, was es auf natürliche Weise nicht gibt10. Ein verhängnisvoller Fehler wäre es, anzunehmen (und daraus gar Konsequenzen für das Handeln zu ziehen), die bürgerliche Ehe sei für das Evangelium der Ehe nicht von Belang, da dieses allein das Sakrament der Ehe im Blick habe. Ein solches Denken würde bedeuten, die bürgerliche Ehe den Strudeln der liberalen Gesellschaften zu überlassen. 8 David C. Schindler, The crisis of marriage as a crisis of meaning: on the sterility of the modern will, in: Communio 41 (2014), S. 331 – 371. 9 Benedikt XVI., Ansprache im Deutschen Bundestag, in: L’Osservatore Romano (deutsch), Nr. 39 vom 30. 9. 2011, S. 9. – Aus dem reichhaltigen Schrifttum Georg Essen (Hrsg.), Verfassung ohne Grund? Die Rede des Papstes im Bundestag, Freiburg 2012 (dort ebenfalls Abdruck des Textes der Ansprache: S. 17 – 26); Maria Cartabia/Andrea Simoncini (Hrsg.), La legge di re Salomone. Ragione e diritto nei discorsi di Benedetto XVI, Mailand 2013. 10 Joël-Benoît d’Onorio (Hrsg.), Le mariage en question, Paris 2014, S. 96 f.

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Carlo Cardinal Caffarra

III. Vorgehensweisen bei der Verkündigung Abschließend sollen einige Vorgehensweisen benannt werden, wie das christliche Verständnis der Ehe nicht dargelegt werden soll, sowie einige andere, die der Verkündigung hingegen dienlich sind. Zu vermeiden sind namentlich drei Herangehensweisen: Zunächst der traditionalistische Weg, welcher eine bestimmte Form des Familie-Seins mit Familie und Ehe als solchen verwechselt. Sodann die Katakomben-Option, die sich für eine Rückkehr in die Katakomben entscheidet (oder gleich dort bleiben möchte). Konkret besteht sie in der Haltung, sich mit den „privaten Tugenden der Ehegatten“ zu begnügen, während die Ehe als Rechtsinstitut ruhig entsprechend der Entscheidung der liberalen Gesellschaft definiert werden könne. Gleichfalls auszuscheiden hat die Haltung des Gutmenschen, die meint, die oben näher skizzierte Kultur sei Ergebnis einer historisch unumkehrbaren Entwicklung. Mit ihr, so diese Lesart, seien Kompromisse zu suchen, um das zu retten, was man in ihr als „gut“ anerkennen könne. Über eine jede dieser drei Herangehensweisen wäre noch vieles auszuführen, was hier indes nicht geleistet werden kann. Welche sind aber nun die positiven, empfehlenswerten Vorgehensweisen bei der Verkündigung? Den Ausgangspunkt dafür bildet eine nüchterne Feststellung: Der Wiederaufbau des christlichen Verständnisses der Ehe im Bewußtsein der einzelnen wie in der westlichen Kultur muß als ein langwieriger und dornenreicher Prozeß begriffen werden. Verbreitet sich eine Pandemie, ist es zunächst gewiß dringlich, die akut Betroffenen zu heilen. Ebenso notwendig ist es aber auch, die Ursachen zu beseitigen. An erster Stelle müssen die seit jeher bestehenden unumstößlichen Tatsachen im Hinblick auf Ehe und Familie wieder entdeckt werden. Das bedeutet, von den Augen des Herzens die Schleier der Ideologien zu entfernen, welche das Erkennen der Wirklichkeit verhindern. Gefordert ist die (im sokratisch-augustinischen Sinne) Pädagogik des inneren Lehrmeisters, nicht nur einfach jene des Konsenses. Auf einen Begriff gebracht, geht es um die Zurückgewinnung des „Erkenne dich selbst“, das den geistlichen Weg des westlichen Denkens begleitet hat. Die seit jeher bestehenden unumstößlichen Tatsachen, von denen die Rede war, sind in die ureigene Natur der menschlichen Person eingeschrieben. Die Wahrheit der Ehe ist keine lex exterius data, sondern eine veritas indita. Eine zweite Notwendigkeit betrifft die Wiederentdeckung der Koinzidenz von Naturehe und sakramentaler Ehe. Die Trennung der beiden Größen führt einerseits dazu, die Sakramentalität als etwas von außen Hinzugefügtes zu verstehen. Auf der anderen Seite läuft sie Gefahr, das Institut der Ehe jener „Tyrannei des Artifiziellen“, auszuliefern, von der oben die Rede war. Drittens schließlich besteht ein dringender Bedarf, die „Theologie des Leibes“, so wie sie das Lehramt des hl. Papstes Johannes Paul II. entfaltet hat, von neuem fruchtbar zu machen. Heute steht der christliche Pädagoge vor der Aufgabe eines

Glaube und Kultur in Hinblick auf die Ehe

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umfassenden theologischen und philosophischen Wirkens, das nicht mehr an spezialisierte Institutionen delegiert werden darf oder allein von ihnen wahrgenommen werden kann. Wie diese Bemerkungen deutlich machen, geht es darum, den Vorrang der Zeit gegenüber dem Raum ernst zu nehmen11: Die skizzierten Aspekte betreffen drei notwendige prozeßhafte Entwicklungen, nicht aber drei unmittelbar wirksam werdende Einzelmaßnahmen. Mit George Weigel12 bin auch ich der Meinung, daß die Grundfrage bei den Debatten der Bischofssynode lautet, welche Beziehungen die Kirche zur Postmoderne haben möchte. In ihr ist der von der Dekonstruktion der Ehe übriggebliebene Torso eine ebenso dramatische wie unmißverständliche Realität.

11 Zu diesem Prinzip: Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute vom 24. November 2013, Nr. 222 – 225, in: AAS 105 (2013), S. 1019 – 1137 (1111 f.); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 194 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 2013, S. 154 – 156. 12 George Weigel, Between two Synods. An analysis of the challenge of this particular catholic moment, in: First Things, January 2015, online zugänglich unter: www.firstthings. com/article/2015/01/between-two-synods.

Identität, Differenz und Beziehung von Mann und Frau: Die Geschlechtlichkeit Antonio Malo Der Rabbiner Jonathan Sacks berichtet über die Ursprünge jener Liebe, die das Leben in die Welt bringt: „Einem kürzlich erschienenen wissenschaftlichen Artikel zufolge begann diese Liebe vor 385 Millionen Jahren in einem schottischen See. Zwei Fische vereinigten sich, um das erste Beispiel sexueller Reproduktion zu verwirklichen, das wissenschaftlich bekannt ist. Bis dahin wurde das Leben in asexueller Weise, durch Zellteilung, Knospung, Fragmentation oder Parthenogenese weitergegeben. Das sind alles einfachere und weniger aufwendige Formen der Weitergabe des Lebens, als die Aufteilung in männlich und weiblich, mit jeweils unterschiedlichen Rollen bei der Erzeugung und Unterhaltung des Lebens. Bedenkt man, wie viel Kraft und Energie die Vereinigung von Männchen und Weibchen in der Tierwelt benötigt – Darbietungen, Balzrituale, Rivalitäten und Gewalttätigkeiten –, verblüfft das Entstehen der sexuellen Reproduktion. Auch die Biologen haben dafür keine sichere Erklärung: Einige vermuten darin eine Schutzfunktion gegen Parasiten oder eine Immunisierung gegen Krankheiten. Andere sagen, daß einfachhin die Begegnung mit dem Gegenstück Vielfalt erschafft. Aber in jedem Fall haben die Fische in Schottland etwas Neues und Großartiges entdeckt, das seither von allen höherentwickelten Formen des Lebens übernommen worden ist. Das Leben beginnt, wenn das Männchen und das Weibchen sich begegnen und sich umarmen.“1

Sodann zählt der Rabbiner die sieben Stufen auf, die von diesem ersten Liebesakt zur menschlichen Familie geführt haben. Dabei greifen ineinander „sexuelle Anziehung, körperliches Verlangen, Freundschaft, Partnerschaft, emotionale Affinität und Liebe, schließlich die Zeugung der Nachkommenschaft, ihre Beschützung und Aufzucht, ihre erste Erziehung sowie ihr Eintreten in eine Identität und eine Geschichte. Selten hat eine Institution so viele unterschiedliche Antriebe und Wünsche, Rollen und Verantwortlichkeiten in sich vereinigt. Sie hat der Welt Sinn gegeben und ihr ein menschliches Antlitz verliehen.“2 Heute hat es den Anschein, daß diesen sieben Stufen noch eine abschließende hinzuzufügen ist: Der Zerfall der Liebe. Aus einer Reihe von Gründen, der viel1

Jonathan Sacks, Dio e il mistero gaudioso del sesso. Vortrag beim Internationalen interreligiösen Kolloquium „Humanum – La complementarietà fra uomo e donna“ vom 17.–19. November 2014 in Rom, online zugänglich unter www.tempi.it/il-mistero-gaudiosodel-sesso-ecco-come-e-perche-dio-ha-creato-il-mondo-nellamore-tra-maschio-e-femmina#. VWV4sM_5 fIU. 2 Ebd.

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leicht wichtigste unter ihnen ist die Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung, verbreiten sich in der globalisierten Welt (und nicht allein im Westen) neue Verständnismuster von Sexualität, Familie, Beziehungen zwischen Mann und Frau und Elternschaft, welche von immer mehr Verfassungen akzeptiert und von immer mehr Menschen praktiziert werden. Nahezu all das, was die menschliche Sexualität die Jahrhunderte hindurch zu vereinigen verstanden hat, beginnt sich nunmehr wieder zu trennen – in der mehr oder weniger klaren Absicht, so ein neues Modell von Menschheit zu schaffen. Vor dem Hintergrund dieser Situation großer Verwirrung will dieser Beitrag zum Nachdenken über die Schönheit und Komplexität der menschlichen Sexualität anregen, welche weder tout court mit einer „herkömmlichen Konzeption“ noch mit einer Vermehrung der Geschlechter gemäß den Wünschen der Beteiligten ineinsgesetzt werden kann. So sollen zunächst diese beiden Verständnismuster skizziert werden, die sich in unversöhnlicher Weise gegenüberstehen: Kulturelle und soziale Traditionen versus freie Wahl der eigenen Sexualität.

I. Das traditionelle Verständnis von Sexualität Im Ausgangspunkt ist in den Blick zu nehmen – wie McIntyre hinsichtlich der Moral betont –, daß die Rede von „dem“ traditionellen Verständnis bereits eine Abstraktion von den zwischen den verschiedenen Traditionen bestehenden Unterschieden beinhaltet. Das betrifft in diesem Zusammenhang speziell die Abstraktion von der jüdisch-christlichen Tradition, die zutiefst menschlich ist. Diese Präzisierung vorausgeschickt, kann für den Bereich der Sexualität ein Verständnis als traditionell gelten, das auf dem Unterschied zwischen Mann und Frau eine hierarchische Struktur sämtlicher Lebensordnungen aufbaut, in welcher – von der Sexualität bis zur Familie, von der Gesellschaft bis zur Religion – die Frau dem Mann untergeordnet ist. Bei allen Akzenten und Nuancen je nach Kulturen, sozialen Zusammenhängen und historischen Epochen weist das traditionelle Verständnis drei Hauptmerkmale auf: Die spezifischen Aufgaben der Frau liegen im Bereich des privaten Lebens, ihr Leben wird weitgehend von der Geburt und Erziehung der Kinder geprägt, im übrigen widmet sie sich fast ausschließlich der häuslichen Arbeit. Die philosophische Begründung dieser Hierarchie durchzieht die gesamte Philosophie von Platon über Rousseau, Kant und Hegel bis hin zu Nietzsche. In der griechischen Philosophie wird diese Differenz vielfach metaphysisch erfaßt. Nach dem späten Platon und manchen neuplatonischen Philosophen ist dem männlichweiblichen Paar derselbe Gegensatz immanent, wie er zwischen dem Einen und der Vielfalt besteht: Das Männliche sei, weil es am Einen partizipiert, unveränderlich und perfekt, das Weibliche dagegen veränderlich und imperfekt, da es an der Dyade Anteil habe. Die Vereinigung von Männlichem und Weiblichem, der Anfang der Vielheit, hat von dieser Warte eine negative Konnotation, insofern sie vom Einen

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entfernt3. Aristoteles hingegen versteht den Unterschied zwischen Mann und Frau in einem rein physischen Sinn: nicht mehr als Anfang des Gegensatzes auf der Ebene des Seins, sondern als akzidentelle Differenz, die „nicht die Substanz, sondern nur die Materie und den Körper betrifft“4. Der geschlechtliche Unterschied kommt vor allem in der Funktion von Mann und Frau beim Geschlechtsakt sowie in den in der Familie wahrgenommenen Rollen zum Ausdruck. Trotz dieser unterschiedlichen Aufgabenstellung interpretiert Aristoteles Funktionen und Rollen von Mann und Frau hierarchisch: Weil der männliche Samen der Akt bzw. die Form des Embryos sei, stelle die Frau lediglich das Materialprinzip dar, das in die Form gebracht („informiert“) werden müsse – was wiederum dem Akt (also dem Mann) zukomme5. Bei allen sonstigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen im Mittelalter und in der Renaissance haben die philosophischen Lehren der Neuzeit dieses traditionelle Verständnis der Sexualität – mit manchen Varianten – fortgeführt. Es erstaunt, etwa in den Romanen Emile oder über die Erziehung und Julie oder Die neue Heloise (welche die Erziehung junger Menschen des Großbürgertums zur Zeit der Aufklärung thematisieren) auf Gedanken über den Unterschied zwischen Mann und Frau zu stoßen, die bereits bei Aristoteles oder den mittelalterlichen Autoren anzutreffen sind. Auch wenn Rousseau nicht von einem isolierten, sondern aufeinander bezogenen Verständnis der Geschlechter ausging, gelangte er doch zu den gleichen Ergebnissen wie die antiken Philosophen: bei der geschlechtlichen Vereinigung wirken beide Geschlechter gleichermaßen am Endzweck mit, freilich auf unterschiedliche Weise: Der Mann ist aktiv und stark, die Frau passiv und schwach. Erforderlich sei es demnach, so Rousseau weiter, daß der Mann Lust und Potenz mitbringe und daß die Frau sich dem ein wenig widersetze … denn schließlich ist sie zu dem Zweck erschaffen, um dem Mann zu gefallen und um ihm untergeordnet zu sein. Daher habe die Frau, so lehrt der französische Philosoph, „wenn (sie) sich … über die ungerechte Ungleichheit beklagt, die der Mann bekundet, … Unrecht; diese Ungleichheit ist keine menschliche Einrichtung oder zumindest nicht das Werk des Vorurteils, sondern der Vernunft: der, dem die Natur die Kinder als Gut anvertraut, ist dem anderen dafür verantwortlich“6.

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Platon, Timaios, 90c -91a. Aristoteles, Metaphysik, IX, 1058b 21 – 22. 5 Aristoteles, De generatione animalium, III, 3, 737a 25. 6 Jean-Jacques Rousseau, Emile (1762), 5. Buch, Stuttgart 1963, S. 726. – Mit Recht weist Luciano Coatti, Rousseau: le relazioni di dipendenza nella formazione del legame sociale, in: I Castelli di Yale, II-2 (1997), S. 173 – 194, darauf hin, daß auch Rousseau eine zweiseitige Abhängigkeit von Mann und Frau annimmt, insofern der Mann von der Frau im Hinblick auf sein Begehren abhängt. Da aber das Begehren des Mannes „stoßweise“ auftritt, gibt es für Rousseau keine echte Gleichheit der Geschlechter: „Es gibt keine Gleichartigkeit zwischen den beiden Geschlechtern im Hinblick auf das Geschlechtliche. Der Mann ist nur in gewissen Augenblicken Mann, die Frau ist ihr ganzes Leben lang Frau, oder wenigstens während ihrer ganzen Jugend; alles erinnert sie unablässig an ihr Geschlecht“ (ebd.). 4

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Auch nach Kant weisen die Geschlechter, obschon durch die Kategorie der „Gemeinschaft“ aneinander gebunden (welche ihre Grundlage im Recht eines jeden am Körper des anderen hat), tiefgehende psychologische und soziale Unterschiede auf. Diese sind von beinahe ontologischer Natur, dementsprechend haben die Ehepartner nicht dieselben Rechte: Der Mann muß in dieser Gemeinschaft das Sagen haben, die Frau hat zu gehorchen. Aus dieser Verschiedenheit der Aufgabe folgt auch eine unterschiedliche Erziehung: Der Mann muß im Sinne eines tiefen Verstandes unterwiesen werden, während die Frau dazu angeleitet werden soll, einen schönen Verstand zu erwerben7. Das Terrain der Frau ist demnach das Heim und die Familie, dasjenige des Mannes die Gesellschaft, die Politik und die Wissenschaft. Wie Rousseau verficht Kant die Auffassung, daß bei aller beiderseitigen Abhängigkeit der Geschlechter der Mann im Kulturzustand infolge seiner körperlichen Fähigkeiten, seiner physischen Stärke, seiner Vernunft und seines Mutes der Frau überlegen sei (im Naturzustand dagegen sei die Frau dem Mann „durch ihre natürliche Gabe, sich der Zuneigung des Männlichen ihr gegenüber zu bemächtigen“8 überlegen). Auch auf dem Gebiet der Gefühle kommt die grundlegende Differenz zum Ausdruck: Das dem Mann eigene Gefühl ist das Erhabene, das der Frau das Schöne. Die Geschlechterbeziehung in der Ehe erlangt bei Hegel einen höherrangigeren Wert: Sie ist nicht nur ein Vertrag, der dem einen Ehepartner dauerhaft den Besitz über den Körper des anderen verschafft, sondern vielmehr die dauerhafte Vereinigung von Endlichem und Unendlichen, somit die erste Stufe der „Sittlichkeit“9. Die einfache und natürliche Unterscheidung zwischen den Geschlechtern erreicht in der Ehe geistlichen Bedeutungsgehalt. Die Geschlechter verteilen unter sich die Unterschiede der ethischen Substanz. Der Mann „ist daher das Geistige, als das sich Entzweiende in die für sich seiende persönliche Selbständigkeit und in das Wissen und Wollen der freien Allgemeinheit, im Selbstbewußtsein des begreifenden Gedankens und im Wollen des objektiven Endzwecks, – das andere (die Frau) das in der Einigkeit sich erhaltende Geistige als Wissen und Wollen des Substantiellen in Form der konkreten Einzelheit und der Empfindung. – Jenes (der Mann, A.M.) im Verhältnis nach außen das Mächtige und Betätigende, dieses (die Frau, A.M.) das 7 Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), 3. Abschnitt, A 53/54, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Werke in sechs Bänden, Bd. 1: Vorkritische Schriften bis 1764, Darmstadt 1960, S. 853: „Man wird ihr (der Frauen, A.M.) gesamtes moralisches Gefühl und nicht ihr Gedächtnis zu erweitern suchen und zwar nicht durch allgemeine Regeln, sondern durch einiges Urteil über das Betragen, welches sie um sich sehen.“ 8 Ebd., A 76 (S. 866): „Ein Frauenzimmer ist darüber wenig verlegen, daß sie gewisse hohe Einsichten nicht besitzt, daß sie furchtsam und zu wichtigen Geschäften nicht aufgelegt ist etc. etc., sie ist schön und nimmt ein, und das ist genug. Dagegen fordert sie alle diese Eigenschaften am Manne, und die Erhabenheit ihrer Seele zeigt sich nur darin, daß sie diese edle Eigenschaften zu schätzen weiß, sofern sie bei ihm anzutreffen sind.“ 9 Siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 163, in: Eva Moldenhauer/Karl Markus (Hrsg.), Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 neu edierte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1979.

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Passive und Subjektive“10. Gewiß hat die Frau nach Hegel einige Aspekte der „Allgemeinheit“, z. B. den Ehemann und die Söhne, aber ihr fehlt die ethische „Allgemeinheit“, denn ihre Einzelheit ist verbunden mit der natürlichen Liebe, dem Vergnügen, dem Kontingenten: „dieser“ Ehemann, „diese“ Kinder. Für Nietzsche schließlich steht der geschlechtliche Dualismus nicht nur am Anfang der Reproduktion der Spezies, sondern auch des künstlerischen Schaffens. Entsprechend dem Antagonismus zwischen Dionysios und Apollon herrsche zwischen Mann und Frau Kampf sowie (eine jeder späteren und zeitweisen Versöhnung vorausliegende) Spannung. Zwar nimmt Nietzsche hin, im Verhältnis zwischen Mann und Frau von Liebe zu sprechen, doch sei dieser Begriff bei ihnen unterschiedlich zu verstehen: Bei der Frau sei es die vorbehaltlose Hingabe ihrer selbst in Körper und Seele, beim Mann dagegen das, was er von der Frau will, sprich eine totale Liebe. Nach Nietzsche ist dieser Unterschied für die Geschlechter so grundlegend, daß Modifizierungen dieses Unterschieds geradezu zu einem Verlust der Weiblichkeit oder Männlichkeit führen würden: „Ein Mann, der liebt wie ein Weib, wird damit Sklave; ein Weib aber, das liebt wie ein Weib, wird damit ein vollkommeneres Weib“11. Den Beziehungen zwischen Mann und Frau ermangele es folglich an Ethik, denn Liebe sei von Natur aus erbarmungslos und egoistisch. Die Treue der Frau könne man deshalb auch nicht als Tugend ansehen, sie sei nun einmal die weibliche Weise zu lieben. Beim Mann dagegen besteht Liebe nicht in der Hingabe seiner selbst in Gestalt einer dauerhaften Bindung mit einer bestimmten Frau, sondern im Verlangen, sie vollkommen zu besitzen: „Tatsächlich ist es der feinere und argwöhnischere Besitzdurst des Mannes, der dies ,Haben‘ sich selten und spät eingesteht, was seine Liebe fortbestehn macht; insofern ist es selbst möglich, daß sie noch nach der Hingebung wächst – er gibt nicht leicht zu, daß ein Weib für ihn nichts mehr ,hinzugeben‘ hätte“12. Einige Feministinnen vom alten Schlag wie Élisabeth Badinter halten die Überhöhung der mütterlichen Liebe für die Ursache des traditionellen Verständnisses der Sexualität13. Ähnlich wie Derrida, erblickt auch sie in der „Mystik der Mutterschaft“ den Grund für die Einschränkung der Frau auf natürliche Reproduktion, Haus, Familie und Privatsphäre14. Auch hätten die Philosophen, so meint sie weiter, die menschliche Sexualität von den männlichen Bedürfnissen her betrachtet und aus der Frau eine negative Ergänzung des Mannes gemacht. Die Beharrlichkeit dieser Philosophen im Betonen des Unterschieds zwischen den Ge10

Ebd., § 166. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882/1887), § 363. 12 Ebd. 13 Élisabeth Badinter, L’éducation des filles selon Rousseau et Condorcet, in: Robert Thiéry (Hrsg.), Rousseau, l’Emile et la Révolution, Paris 1992, S. 285 – 291. 14 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität, Frankfurt a.M. 1991, dekonstruiert die traditionelle Figur der Frau und der Familie mittels einer genealogischen Analyse in drei Etappen: das Prinzip der Reproduktion, die häusliche und familiäre Segregation sowie die „Mystik“ der Mutterschaft. 11

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schlechtern wie auch die Abhängigkeiten unter ihnen belegten, wie eine vorgebliche natürliche Ungleichheit eine Form kultureller Diskriminierung tradiere, welche die Aufrechterhaltung der männlichen politischen Ordnung zum Ziel habe. Der Kritik dieser Autorin am traditionellen Modell ist in vielen Punkten – Ausschluß der Frau aus dem öffentlichen Leben, Unterordnung unter den Mann etc. – zuzustimmen. Doch die eigentliche Ursache der skizzierten philosophischen Konzeptionen (die im übrigen in zahlreichen Aspekten divergieren) liegt doch wohl in einer naturalistischen Sicht der menschlichen Sexualität denn in einer Fokussierung auf das Phänomen der Mutterschaft. Denn die Natur zeigt bei fast allen Tieren das Männchen als dem Weibchen überlegen, es ist stärker und unabhängig, da es weder schwanger wird noch sich um die Aufzucht des Nachwuchses zu kümmern hat. Auf dieser Linie nun bilden sich die Beziehungen zwischen Mann und Frau nach dem Leitbild der Herrschaft des Mannes über die Frau sowie ihren Funktionen bei Reproduktion und Pflege des Nachwuchses. Die Sexualität wird von denjenigen Autoren, die sie in den Mustern von „Herrschaft“ und „Unterordnung“ konzipieren, im Grunde aus der Perspektive der Körperlichkeit verstanden, und zwar in der Spezifikation der Körperlichkeit als männlich oder weiblich. Das führt dazu, alles (auch nur mittelbar) Körperliche einer Person, wie die Sexualität und die aus ihr erwachsenen Beziehungen, aus dem Blickwinkel der spezifischen Unterscheidung von männlich und weiblich zu begreifen. Mißt man aber der Körperlichkeit diesen ausschließlich spezifischen Sinn bei, vermag man nicht zwischen animalischer und menschlicher Sexualität zu unterscheiden. Gewiß sprechen viele dieser Denker von Erziehung, Sittlichkeit und sogar Aufeinander-Verwiesenheit der Geschlechter, aber das hat doch immer etwas Künstliches an sich, solange diese Beziehung als solche ausschließlich spezifisch sein soll. Nicht von ungefähr findet sich bei fast allen (die vielleicht einzige Ausnahme ist Nietzsche, der bereits die Sittlichkeit der geschlechtlichen Vereinigung in Abrede stellt) ein Dualismus zwischen natürlicher Sexualität und der Sittlichkeit der Ehe. Auf der anderen Seite versteht man, im Zuge der Tendenzen, menschliche Pluralität auf die Einheit hin zu reduzieren (Sexualität der Spezies), die geschlechtlichen Unterschiede als einen Gegensatz von komplementären Aspekten, welche einer Vereinheitlichung zugänglich sind: Herrschaft – Unterordnung, Aktivität – Passivität, Stärke – Schwäche. Diese Unterschiede spiegeln aber nicht die tatsächlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern wider, da sie nicht die Personen in den Blick nehmen. Es handelt sich um akzidentelle (im Sinne von: nicht notwendige oder kontingente) Unterschiede bei einer Person. Das Akzidentelle (etwa: kochen können) mag bei einer Frau in stärkerem oder geringeren Maß anzutreffen sein, doch das hat keinerlei Auswirkungen auf ihre Weiblichkeit. Das Essentielle (etwa: Tochter sein) darf niemals fehlen. Sowohl der Naturalismus wie eine bestimmte Spielart des Feminismus vertauschen nun, jede Richtung entsprechend ihrer Agenda, Akzidentelles und Essentielles. Aus naturalistischer Warte muß die

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Frau schwach und auf männlichen Beistand angewiesen sein, der radikale Feminismus hingegen will sie von der Fessel des Mannes „befreien“. Sieht man Akzidentelles als wesentlichen Unterschied, entstehen Stereotype, welche – zu Ende geführt – karikaturhaft werden. Ein solches Zerrbild ist der „Machismo“, der infolge der physischen Ungleichheit in der Frau eine Sklavin im Dienst des Mannes betrachtet. Er entwirft strikte Vorgaben, was Mann und Frau fühlen, ersehnen, denken, sprechen oder tun können. Auf diese Weise kreiert er ein System sozialer Normen und ungeschriebener Verbote, welche die gesamte Existenz der Geschlechter regulieren.

II. Die „Gender“-Ideologie Von der Grundannahme des personalen Charakters der menschlichen Sexualität ausgehend, korrigiert die „Gender“-Ideologie die naturalistische Einseitigkeit derjenigen, welche die Sexualität als etwas rein Vorgegebenes und Spezifisches konzipieren, ohne die Einwirkungen der Gesellschaft wie der menschlichen Freiheit einzubeziehen. Daß zwischen der Sexualität bei Tieren und Menschen grundlegende Unterschiede bestehen (diese zeigen sich in einer Vielzahl von Erscheinungen: Reduzierung des menschlichen Sexualtriebs auf die letzte Phase des Geschlechtsakts, Abkoppelung des sexuellen Antriebs von den natürlichen Zyklen der Fruchtbarkeit der Frau, erotisches Verlangen, feste Beziehungen zwischen Mann und Frau, Existenz der Institution Familie), ist als objektives Faktum unter den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unstreitig. Gleiches gilt für den Umstand der unterschiedlichen Steuerung der Sexualität: mittels des Instinkts beim Tier, durch Werte beim Menschen. Die anthropologische Problematik besteht nun nicht darin, diese Unterschiede zu akzeptieren, vielmehr darin, ihre Wurzel ausfindig zu machen. Folgt man der „Gender“-Ideologie, so liegt die Wurzel des Unterschieds zwischen der Sexualität bei Tieren und Menschen in der freien Wahl. Da das biologische Geschlecht allen Männern und Frauen der Spezies „Mensch“ gemeinsam sei, könne das personale Charakteristikum der Sexualität nicht das biologische Geschlecht sein, sondern vielmehr die Ausübung des freien Willens. Dies führt zur Unterscheidung zwischen „Gender“ und „Sex“: Der Begriff gender bezieht sich auf die Herausbildung der eigenen sexuellen Identität vermittels einer persönlichen Wahl, welche die Sehnsüchte, Gefühle, Neigungen sowie das Verhalten – kurz: die sexuelle Orientierung – einbezieht. Demgegenüber bilden für das natürliche Geschlecht (sex) ausschließlich die körperlichen Merkmale den Bezugspunkt. Folge dessen ist, daß jeder vor dieser Wahl liegende geschlechtliche Unterschied ein bloßes biologisches, soziales oder kulturelles Moment ist, das nach dem je eigenen Willen verändert werden kann. Daher dürften Mann und Frau, da sie als Personen die gleiche Würde haben, in der Wahl ihres eigenen „gender“ niemals durch Tra-

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ditionen, Rollenbilder und Vorurteile konditioniert werden15. Die personale Art und Weise, Mann und Frau zu sein, soll demzufolge weder auf geschlechtlichen Unterschieden noch auf den beiden existierenden körperlichen Modi (männlich und weiblich) beruhen, sondern vielmehr in der kulturellen Interpretation der Sexualität (verstanden als continuum zwischen zwei unterschiedlichen Polen) verankert sein. Vertreter der „Gender“-Ideologie schlagen deshalb fünf grundlegende gender vor: homosexuell, lesbisch, bisexuell, transsexuell und heterosexuell. Ein jedes von ihnen soll eine der freien Wahl jederzeit zugängliche Option sein, welche nicht durch vorgefertigte Rollenbilder gebunden sei. Es mag den Anschein haben, die radikale Unterscheidung zwischen natürlichen und sozialen Geschlecht vermöge das komplexe Problem der menschlichen Sexualität zu lösen: sie sei nicht naturbedingt, sondern frei wählbar. Indes verhilft diese so einfache und klinisch reine Unterscheidung nicht zum Verständnis dessen, worin nun genau der personale Charakter der Sexualität besteht. Wenn Sexualität schon durch den schlichten Umstand personal wird, daß sie „frei“ ist, und „frei“ sein eine Wahl ohne Vorfestlegungen meint, ist es offenbar für eine personale Sexualität hinreichend, eine solche Wahl in Übereinstimmung mit den eigenen Vorlieben, Neigungen oder Präferenzen zu treffen. Diese nämlich hätten, so die Verfechter der „Gender“-Ideologie, in dem Maße, in welchem sie das tief in der menschlichen Person Angelegte widerspiegeln, den gleichen Ursprung im freien Willen. Eine „entkörperlichte“ Freiheit kennt nur eine denkbare Pflicht – das, was sie unter „Authentizität“ versteht, nämlich die Entsprechung zwischen empfundener sexueller Orientierung und der Wahl des dem entsprechenden „gender“. So verhält man sich in Übereinstimmung mit dem, was man subjektiv zu sein glaubt, denn der Zugang zum eigenen Sein – so denkt man – erfolge durch Gefühle und Neigungen (die sogenannte „sexuelle Orientierung“). Doch schon der Begriff „sexuelle Orientierung“ birgt einen inneren und nicht heilbaren Selbstwiderspruch in sich. Auf der einen Seite gehört die sexuelle Orientierung nicht zum (natürlichen) Geschlecht (sex), da sie personal ist; umgekehrt rechnet sie aber auch nicht zum sozialen Geschlecht (gender), da sie der eigenen Entscheidung vorausgeht. So bleibt letztlich im Dunkeln, ob nun die sexuelle Orientierung vorgegeben oder aber konstruiert ist. Ein weiteres Problem des Modells der „sexuellen Orientierung“ stellt die Annahme dar, es würden sich Sehnsüchte „widerspiegeln“. Was authentischer er15 Die „Würde der Person“ umfaßt nach den Feministinnen der „Gender“-Ideologie die absolute Kontrolle über die eigene Körperlichkeit, einschließlich der Fähigkeit, sie zu verändern. Die Annahme einer souveränen Subjektivität – die für alle Individuen der Spezies die gleiche ist – wurzelt im kartesianischen Rationalismus und erfährt ihre politische Entfaltung bei den beiden bedeutendsten Ideologen des Individualismus: Hobbes und Locke. Detaillierte Analyse des Einflusses dieser rationalistisch-liberalen Denkschule auf die sogenannten „reproduktiven Rechte“ bei Ana María Vega, Los „Derechos Reproductivos“ en la sociedad postmoderna: una defensa o una amenaza contra el derecho a la vida?, in: Jaime Vidal (Hrsg.), Derechos reproductivos y técnicas de reproducción asistida, Granada 1998, S. 1 – 52 (9).

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scheint, ist in Wirklichkeit in weit höherem Maß von Moden, gesellschaftlichem Druck und Rollenbildern abhängig, da der ausgesuchte „Sexualitätstypus“ niemals allein von der eigenen Freiheit geschaffen wird. Man entscheidet sich für einen der bereits zirkulierenden (etwa für eines der mehr als 70 „gender“, die bei „Facebook“ verfügbar sind), doch es könnte unzählige andere geben, die noch nicht entdeckt worden sind. Eine derartige Wahl steht also offensichtlich unter dem erheblichen Einfluß der Massenmedien und der Werbung. So wird die personale Sexualität letzten Endes zu einem Bestandteil denkbar größter Impersonalität, nämlich der Modelle der Konsumgesellschaft. Die Wahl eines „gender“ bringt, so gesehen, einen Verlust an Freiheit mit sich. Aus eben diesem Grund ermuntern einige Vertreter der „Gender“-Ideologie sogar dazu, das „gender“ immer dann zu ändern, wenn man dazu Lust hat, oder auch, es zu dem alleinigen Zweck zu ändern, um sich niemals auf ein bestimmtes „gender“ festzulegen. Dergestalt driftet die „Gender“Ideologie von einer vorgeblich personalen Sexualität (verstanden als Authentizität im Hinblick auf die eigene „sexuelle Orientierung“) in die Ablehnung von Identität ab, denn diese würde ja die Realisierung von noch unbekannten Möglichkeiten – also eine vollständige „Kreativität“ – verhindern. Eine solche „Kreativität“ freilich gerät über kurz oder lang zu einem geschlossenen Modell, das anderen sodann nahegelegt, wenn nicht sogar aufgedrängt wird. Die Ungereimtheiten der „Gender“-Ideologie rühren nicht so sehr von dem her, was sie aussagt (der personale Charakter der Sexualität), sondern von dem, was sie in Abrede stellt, nämlich den Zusammenhang von menschlicher Sexualität mit der Körperlichkeit und mit einer den menschlichen Willen übersteigenden Zielbestimmung (erotisches Verlangen, Selbsthingabe und Fortpflanzung). Diese „Theorie“ ist der Sache nach eine Art postmoderner Dualismus: Der jeglichem Bedeutungsgehalt entkleidete menschliche Körper wird zur Spielwiese für die Kreativität und die Macht des Willens. Die klassischen Autoren hätten diese Macht „despotisch“ genannt, da sie die Wirklichkeit – konkret, die körperliche Verfaßtheit, aus welcher der freie Wille des Subjekts hervorgeht – nicht zur Kenntnis nimmt. Nach den Verfechtern der „Gender“-Ideologie verfügt die menschliche Sexualität in ihren unterschiedlichen Entwicklungsstufen und in den auf ihr beruhenden Beziehungen über keine genaue Struktur, vielmehr sei sie technischen Änderungen oder Umgestaltungen entsprechend subjektiver Wünsche zugänglich. Die Wahl eines biologisch-psychisch-sozialen Geschlechts, die Bandbreite vielfältige Sexualbeziehungen, die Erfahrungen von Mutter- und Vaterschaft seien bereichernde Möglichkeiten, welche mit Hilfe des technisch-wissenschaftlichen „Großmarktes“ zu verwirklichen und vom Staat als Individualrechte zu garantieren und zu subventionieren seien. Der Zufallscharakter solche „Wahl“-Entscheidungen erweist sich wohl am besten in der technisch ermöglichten Trennung von Sexualität und Fortpflanzung mit ihren Optionen: sie reichen von sexuellen Beziehungen ohne Kinder bis hin zur Erzeugung von Kindern ohne sexuelle Beziehungen. Auf einen Nenner gebracht, konzipiert die „Gender“-Ideologie die Sexualität als ein entkörperlichtes freies Ermessen. Ihr fehlt jeder Bezug zu einem wahren und eigentlichen Ge-

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schlechtsakt, zur Weitergabe des Lebens, zu den auf der Abstammung beruhenden Banden sowie generell zur geschichtlichen und verantwortlichen Dimension der Sexualität. Vielleicht liefert dieser letzte Punkt den Schlüssel dafür, zu begreifen, warum sich menschliche Sexualität weder in einer bestimmten physiologisch-instinktiven Dynamik noch im Gebrauch der Geschlechtsorgane nach Gutdünken erschöpft. Sie muß vor allem in ihrer ganzen historischen Dimension integriert, d. h. personal gelebt werden. Daher läßt sich die menschliche Sexualität von der Weitergabe des Lebens und von generationenübergreifenden Beziehungen nicht trennen. Kommt es dennoch zu einer Trennung, dann gibt es keine Sexualität mehr, sondern nur noch Genitalität. Die Sexualität eines jeden Menschen hat eine Geschichte, die weder ausschließlich oder auch nur vorwiegend in seinen „Wahl“-Entscheidungen bestünde, sondern vielmehr in den Beziehungen begründet liegt, aus denen sie hervorgeht und auf die hin sie sich öffnet. In einer Gesamtschau führt die „Gender“Ideologie zu merkwürdigen Resultaten: Indem das „gender“ rein kulturell und sozial begriffen wird, fallen die eigene Geschichte wie die Bindungen zu den Eltern (die doch das „gender“ erzeugt haben!) unter den Tisch. Insoweit ist diese „Theorie“ dem traditionellen Verständnis ähnlich, welches die Sexualität rein natürlich bestimmt (natura pura). Denn es ist die Ablösung von der Geschichte, welche eine Angleichung der menschlichen Sexualität an die Natur erlaubt. Hier wie dort offenbart sich eine ahistorische Sexualität. Die von Feministinnen aufgeworfene Frage der Identität des „gender“ muß damit anders gestellt werden: Es kann nicht um die Unterscheidung zwischen Mann und Frau als zwei unterschiedliche Modalitäten von in Beziehung stehenden Personen gehen, sondern der Blick muß auf das gerichtet werden, was in dieser Beziehung unveränderlich und auf das, was hingegen veränderlich ist. Methodisch können also die somatisch-psychologisch-spirituellen Unterschiede nicht einfach eliminiert werden, es gilt, sie zu beschreiben und dabei – soweit als möglich – zwischen absoluten Realien und Stereotypen zu unterscheiden. Dazu leistet gerade der Vergleich der jeweiligen Differenzen im Hinblick auf generative Beziehungen einen wertvollen Beitrag. Nur so läßt sich das Spezifizität, die Originalitä und die Einzigartigkeit eines jeden sozialen Geschlechts herauszustellen.

III. Der Körper ist männlich oder weiblich, weil er gezeugt wurde Der menschliche Körper ist männlich und weiblich, weil er von einem Mann und einer Frau gezeugt wurde. Der Körper in seiner Geschlechtlichkeit steht sowohl am Anbeginn der Person wie er auch die Person ausmacht, er ermöglicht der Person, Nachkommen zu zeugen. Dem eigenen Geschlecht geht der Begegnung zweier Geschlechter voraus (sie bringt eines hervor: Sohn oder Tochter). Später können dann aus der Vereinigung mit dem anderen Geschlecht beide Geschlechter gezeugt werden (man ist Vater oder Mutter von Söhnen und Töchtern). Natürlich wird das

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Y-Chromosom nur vom Vater weitergegeben, doch dieser bedarf zur Zeugung eines Sohnes der Mitwirkung der Frau. Jede Person hat ihr jeweiliges Geschlecht, doch die Gabe, sowohl zu geben wie zu empfangen. So hat die Sexualität eine schöne Ambivalenz: sie kann beide Geschlechter hervorbringen, doch dies allein im Wege der Beziehung mit dem anderen Geschlecht (und nicht aufgrund der Selbstreferentialität eines einzigen Individuums), und zwar in der diachronen Zeit der Geschichte der Person und nicht in der Synchronität des momentanen Gutdünkens16. Eine jede geschlechtlich geprägte Identität hat so ihre je eigene „Geschichte“: sie ist eine aus zweien geworden und kann ihrerseits zwei machen. Der menschliche Körper ist dementsprechend nicht bloß die biologische Gegebenheit, die sich in männlich oder weiblich individuiert (materia signata quantitate), sondern vielmehr Ausdruck der Identität der Person (Sohn/Tochter, Ehemann/ Ehefrau, Vater/Mutter, Großvater/Großmutter) und Vehikel der personalen Kommunikation (Zeugung, Erziehung, Hingabe). Durch die zwischenmenschlichen Beziehungen findet sich der männliche und weibliche Körper in ein Netz familiärer Beziehungen wie in die Geschichte seiner Abstammung eingebettet. All das verdichtet sich im eigenen Namen, dessen Zweck es ist, die anderen Personen zu erkennen und selbst erkannt zu werden. Gewiß macht der Name selbst nicht die Person aus (er bezeichnet sie nur), ist aber doch ihr einzigartiger Bezugspunkt. Bei aller genealogischen (Vor-)Prägung bringt jede Person in ihrer leiblichen Dimension die Neuheit des Einzigartigen in die Geschichte ein. Möglich wird dies dadurch, daß die menschliche Person nicht nur einen Körper der Spezies homo sapiens sapiens hat, sondern weil sie Körper ist. Gerade hier ist die Unterscheidung zwischen sein und haben von großer Wichtigkeit. Auch wenn die Einzigartigkeit der Person nicht der Körper ist, gründet sie doch im Körper, auch wenn sie diesen überschreitet, wie es im Lächeln des kleinen Kind an seine Mama zu beobachten ist. Der männliche und weibliche Körper ist somit der ursprüngliche Ausdruck der Person und ihrer Beziehung mit anderen Personen; man ist Person als Mann oder als Frau (die Person wird nicht neutral geboren17). Als Ausdruck der Person erlangt der Körper einen symbolischen Bedeutungsgehalt der Zugehörigkeit zu einer Familie, zu einer staatlichen sowie einer religiösen Gemeinschaft, zu einer Kultur. Im Körper verbinden sich die biologischen Gegebenheiten mit der bewußten Wahrnehmung der Wirklichkeit (der des anderen wie der eigenen), welche nicht rein subjektiv ist, denn zu ihr zählen auch die Anerkennung der und die Sorge um die anderen: das Kind hängt von der Beziehung mit den Eltern, den Erziehern und weiteren Vorbildern ab, um seine Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen, um zu lernen, um zu lieben und geliebt zu werden. All das macht es erforderlich, sich immer wieder die eigene geschlechtliche Verfaßtheit 16 Fabrice Hadjadj, Qu’est-ce qu’une famille?, Paris 2014, S. 210: „Ce qui m’apprend a m’ouvrir aux autres, au monde, à l’événement, ce n’est pas d’abord ma libertè, c’est le fait d’être venu à moi-même par d’autres déjà“. 17 Allerdings existiert bei Frauen das sog. Triple-X-Syndrom, welches freilich eine Anomalie der DNA beim Geschlechtschromosom ist.

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persönlich anzueignen und sie zu bejahen (was ersichtlich nicht selbstverständlich ist), mit einem Wort: sich mit der eigenen Geschlechtlichkeit zu identifizieren. Das geschieht etwa in der Begegnung mit den männlichen und weiblichen Vorbildern, in erster Linie mit den eigenen Eltern. Die Annahme des eigenen Geschlechts erfolgt, auch in symbolischer Weise (Verlangen nach dem anderen, Sprache, Handlungen, Beziehungen), nur in wechselseitiger Beziehung auf beide Geschlechter: auf dasjenige, das man als eigenes nachahmt wie auf dasjenige, von dem man sich unterscheidet. Auf die Personalisierung der eigenen Geschlechtlichkeit wirken zudem Erwartungshaltungen von Herkommen und Kultur ein (etwa: Kleidung, Farben, Spielzeug). Derartige Symbole verhelfen ebenso dazu, sich der eigenen geschlechtlichen Identität bewußt zu werden wie sonstige Verbote oder Erwartungshaltungen. Einen weiteren Faktor bilden die Anerkennung des anderen und die Anerkennung durch andere mittels der Körpers. Zunächst gibt es keine Begegnung mit dem persönlichen Sein als solchem, vielmehr begegnet man einem geschlechtlich verfaßten Körper und den für ihn charakteristischen Handlungsweisen. Letztere kommen nicht aus dem Nichts, sondern beruhen auf psycho-körperlichen Gegebenheiten und ihrer Interpretation, auf ihrem soziokulturellen Symbolismus und auf den Abläufen von Akten des Erkennens und Sich-Aneignens. Aufgrund der – visuellen und sonstigen – Wahrnehmung durch andere entwickelt man selbst ein Bewußtsein für die eigene Geschlechtlichkeit und lernt, seine Identität zu bestimmen. Am wichtigsten ist dabei die (An-)Erkennung durch die Personen, denen man affektiv besonders nahe steht, da sie die eigenen Wurzeln oder die Hauptvorbilder betreffen18. So hat für einen Sohn die Anerkennung für eine sportliche Leistung von Seiten des Vaters ein ganz anderes Gewicht als die Bewunderung durch den Klassenkameraden, denn der Vater ist das „Ur“-Vorbild, an dem sich für den Sohn der Weg aufzeigt, selber Vater zu werden. Der Sohn ist nicht nur durch sein männliches Geschlecht auf den Vater bezogen, sondern auch dadurch, daß er sich mit dem identifiziert, der ihn gezeugt hat. Einzubeziehen sind aber auch die Wirkungen von negativen wie von aufbauenden Vorbildern, nicht allein im Hinblick auf das Reifen der geschlechtlichen Identität, sondern auch im Hinblick auf den Reifeprozeß als solchen sowie auf all jene Entwicklungsstufen, in welchen die Person ihre Identität formt. So läßt sich zusammenfassend festhalten, daß sich die menschliche Sexualität auf die Körperlichkeit als Mann und Frau und damit auch auf die Weitergabe des Lebens bezieht. Gleichermaßen wirken auf die Sexualität der symbolische Wert der Leiblichkeit sowie die persönliche Identifikation mit den Erwartungshaltungen über das Mann- bzw. Frausein ein, gerade innerhalb eines bestimmten psychosozialen Umfelds und vor allem in den Beziehungen zu anderen Menschen (sei es im Ge18 Die Anerkennung des anderen wird somit zur ersten logischen und genealogischen Wahrheit: „Ce n’est pas que je m’ouvre à autrui, ni que je suis ouvert dès l’origine à lui: c’est que par autrui je m’ouvre à moi-même.“, so Hadjadj (FN 16), S. 211.

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meinsamen, sei es in den Unterschieden). Entgegen naturalistischen wie konstruktivistischen Konzeptionen gelangt man zur geschlechtlichen Identität immer in den Beziehungen: in den Beziehungen zu Eltern und Vorbildern, in der wiederholten Annahme der männlichen bzw. weiblichen Leiblichkeit, in der persönlichen Wahl der Beziehungen zu anderen Identitäten. Die Verwirrungen rund um die geschlechtliche Identität stehen in unmittelbarem Zusammenhang zur Marginalisierung der Fortpflanzung als der Erfahrung des Gezeugtseins und des Zeugens19.

IV. Geschlechtliche Verfaßtheit und Integration der Sexualität Zur Erfassung dieser generativen Beziehungsstruktur scheint der Terminus „geschlechtliche Verfaßtheit“ am treffendsten, da er auf den Körper wie auf die Fortpflanzung verweist und zudem den Bogen zur konkreten biographischen Situation der personalen Sexualität schlägt. Anders als der von der „Gender“-Ideologie verfochtene Terminus des „Gender“, welcher das leibliche Geschlecht wie die Fortpflanzung ausblendet, benennt derjenige der „geschlechtlichen Verfaßtheit“ explizit die Geschlechtlichkeit, und zwar in ihrer ganzen Bandbreite: in ihrer körperlichen, affektiven, rational-willentlichen und vor allem in ihrer beziehungshaften Dimension (nämlich: Fortpflanzung und Beziehungen zwischen den Generationen). An dieser Stelle ist dem Bedeutungsgehalt des Begriffs der „Generativität“ nicht näher nachzugehen. Festhalten läßt sich immerhin, daß er das Entstehen des Menschen in seiner Einzigartigkeit in den Blick nimmt: sein Entstehen als geschlechtliches Wesen, seine Erziehung, die Ausbildung seiner geschlechtlichen Verfaßtheit, seine eigene generative Fähigkeit. Der überaus komplexe Begriff der Generativität hängt somit eng zusammen mit der Hingabe der eigenen Person, der Ehe, der Familie und der Einzigartigkeit der Person20. Umgekehrt ist die geschlechtliche Verfaßtheit nicht etwas vollständig Vorgegebenes, vielmehr muß sie diverse Phasen der persönlichen Entwicklung wie die Ausbildung der körperlichen Sexualität, die psychische Identifikation, die persönliche Integration, das Sich-Schenken, die Vater- bzw. Mutterschaft durchlaufen. Nicht allein der (personale) Körper, sondern auch die Freiheit gehört also zur geschlechtlichen Verfaßtheit, welche mithin Beziehungscharakter aufweist. Diese Freiheit meint aber nicht eine „entkörperlichte“ Freiheit nach freiem Gutdünken, sondern diejenige eines menschlichen Wesens, das – weil es selbst gezeugt worden 19 Es genügt ein Blick auf die jüngsten Zahlen des Istituto Nazionale di Statistica über die Geburtenrate in Italien. 20 Karol Wojtyla, Metafisica della persona, Mailand 2003, S. 1464, beschreibt die Beziehung zwischen Person und Familie so: „Die Familie ist – und sie muß es sein – jene besondere Ordnung der Kräfte, in der jeder Mensch wichtig und gebraucht ist, allein aufgrund der Tatsache, daß er ist und vermöge dessen, wer er ist; sie ist die zutiefst ,menschliche‘ Ordnung, welche auf dem Wert der Person aufgebaut und unter jedem Gesichtspunkt auf diesen Wert hin ausgerichtet ist.“

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ist – immer in Beziehungen lebt. Freiheit entsteht und reift in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, ausgehend von den von den Kindern zum Ausdruck gebrachten und von den Eltern bewerteten Affekten und Wünschen. Geschlechtliche Verfaßtheit meint also mehr als den individuellen Geschlechtsunterschied, sie eröffnet dem Menschen den Raum, Beziehungen einzugehen und gerade dadurch seine Geschlechtlichkeit persönlich integrieren zu können21. Infolge ihres wesenhaft beziehungsgebundenen Charakters weist die geschlechtliche Verfaßtheit sozialen Wert auf. Es geht daher nicht an, Sexualität (welche es in analoger Weise auch bei Tieren gibt) und geschlechtliche Verfaßtheit gleichzusetzen. Letztere betrifft ausschließlich die Person. Gerade hier liegt der entscheidende Unterschied, das Alleinstellungsmerkmal beim Menschen: Die menschliche Sexualität gehört zur Existenz einer jeder Person als Sohn oder Tochter, welche dann Ehemann oder Ehefrau, Vater oder Mutter werden kann. Verfehlt ist es, die geschlechtliche Verfaßtheit auf die pure Sexualität zu reduzieren, wie es auch falsch ist, sie in Abrede zu stellen, da man personal und frei leben und handeln wolle. Denn in Wirklichkeit führt dies zu Willkür und Selbstreferentialität. Beide Fehlhaltungen im Verständnis der Geschlechtlichkeit zeigen die Komplexität der menschlichen Person wie ihre Schwierigkeiten, ihren rechten Platz in der Welt zu finden. Um so dringlicher ist es, exakt zwischen Sexualität und geschlechtlicher Verfaßtheit zu unterscheiden, um sie in die Person zu integrieren. Was aber meint „Geschlechtlichkeit in die Person integrieren“? „Integrieren“ will sagen, die eigene Geschlechtlichkeit dergestalt zu „personalisieren“, daß sie Teil einer einmaligen und unwiederholbaren Identität wird. Möglich wird dies dadurch, daß die Person in einem gewissen Sinn über ihre Geschlechtlichkeit „verfügt“ – sie kann Beziehungen, auf denen sie ihre Identität aufbaut, akzeptieren oder ablehnen. Selbstverständlich ist die geschlechtliche Verfaßtheit, da sie von ihrer Verankerung in der (genetisch bedingten) männlichen oder weiblichen Leiblichkeit nicht abgelöst werden kann, nicht das Ergebnis einer bloßen Auswahlentscheidung. Am Anfang der geschlechtlichen Verfaßtheit steht – vor jedweder Entscheidung – das Faktum des Gezeugtseins, die historisch-biographische Abstammung eines jeden Menschen. Nur in diesem Kontext der durch Abstammung vermittelten Beziehungen ist eine Personalisierung der Geschlechtlichkeit möglich. Bildlich gesprochen: Der Mensch besitzt seine Sexualität nicht wie ein Handwerker seine Werkzeuge (es kommt also nicht auf den Gebrauch an: die geschlechtliche Verfaßtheit hängt nicht davon ab, wie die Geschlechtsorgane benutzt werden), sondern vielmehr, wie die Sonne das Licht „besitzt“. Wie das Licht Teilhabe an der Energie der Sonne ist, „besitzt“ die menschliche Person ihre Sexualität, indem sie Anteil an ihrer Einzigartigkeit als Person hat, diese wiederum hängt auch von der Abstammung in ihrem Ursprung wie in ihrer Ausrichtung ab.

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Dazu Virgilio Melchiorre, Corpo e persona, Genua 1987, S. 125.

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Entsprechend ihrer Teilhabe an der Einzigartigkeit der Person kann die Sexualität in einem stets wachsenden Ausmaß integriert werden. Die Möglichkeit eines Wachstums in der eigenen persönlichen Identität durch die Integration der Sexualität impliziert auch die gegenteilige Möglichkeit: die progressive Des-Integration. Doch diese kann niemals die Einzigartigkeit der Person vollständig auslöschen, ebensowenig ihre ursprüngliche Geschlechtlichkeit und ihre Abstammung. Es trifft zu, daß sich die Identität einer Person von ihrem eigenen Geschlecht abkoppeln kann, doch – um die Analogie zur Sonne aufzugreifen – wie die Energie der Sonne immer Licht ist, so ist die Identität der Person von Anfang bis zum Ende geprägt durch ihre Zeugung und ihre Geschlechtlichkeit. Daher bleibt die Identität geschlechtsbezogen, auch wenn man sich für eine „Änderung“ seines Geschlechts entscheidet. Die – ontologische – Einzigartigkeit der Person also drückt sich im Anfang durch die männliche bzw. weibliche Leiblichkeit aus und diese wiederum ist die Grundlage für die geschlechtliche Verfaßtheit der Person. Daher verdient es hervorgehoben zu werden, daß eine Geschlechts„änderung“ Entfremdung hervorruft: in der betreffenden Person selbst, in ihrem Umfeld und im Hinblick auf ihre Abstammung. Wie gestalten sich Beziehungen zu einer Person, die ihr Geschlecht „ändert“? Oft gehen sie in die Brüche oder verändern sich22. Als weitere Anforderungen verlangt die geschlechtliche Verfaßtheit die ethische Identität (der Mensch muß seine Sexualität durch ihren Gebrauch oder ihren NichtGebrauch personalisieren) wie ein angemessenes Verhalten in den Beziehungen. Denn Ziel der Integration des Geschlechtstriebs ist das Sich-Verschenken als Person, was aus sich heraus „erzeugend“ ist. Eine solche Intregration gelingt, wenn sich das geschlechtliche Verlangen auf die umfassende Hingabe seiner selbst in der Ehe oder im Zölibat öffnet, kurz gesagt: durch die Tugend der Keuschheit. Die bloße Enthaltsamkeit dagegen führt nicht zur Integration der Sexualität, da ihr die für die Liebe charakteristischen Eigenschaften wie Zielsetzungen fehlen. Keuschheit meint nämlich nicht, das erotische Verlangen abzutöten, sondern vielmehr, es auf eine höhere Ebene zu heben und es immer mehr zu intensivieren, bis es die Hingabe seiner selbst ist, welche stets in der Annahme des Geliebten als Geschenk ist. Im Gegensatz zur Des-Integration, hervorgerufen entweder durch Unzucht oder aber durch die Unterdrückung der Sexualität in der bloßen Enthaltsamkeit, stellt sich die Keuschheit als die notwendige Bedingung dar, um die Sexualität in die Person zu integrieren. Ein Mangel an Keuschheit führt zur Des-Integration: Einerseits verhindert eine Sichtweise, die den Körper des anderen nur als Objekt betrachtet, den Zugang zu seiner Person. Und auf der anderen Seite verliert das Verlangen seinen erotischen Antrieb zur personalen Vereinigung und reduziert sich auf ein bloßes Verlangen nach Sex. Die Verwandlung des Körpers in ein reines Lustinstrument bedeutet eine Verdinglichung des Körpers (des eigenen wie desjenigen der anderen), welche ein von Respekt und Liebe gesprägtes Zusammenleben mit sich selbst wie mit anderen unmöglich macht (hier zeigt sich, daß es auch eine 22 Darstellung einer solchen Entfremdung im Film „Alles über meine Mutter“ von Pedro Almodovar.

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Beziehung mit dem eigenen Körper gibt). Die Integration der Sexualität spielt bei der personalen Identität eine bedeutende Rolle, da die Sexualität eng verknüpft ist mit höchstpersönlichen Auswahlentscheidungen hinsichtlich der Bindung der eigenen Existenz, des affektiven Einsatzes, der persönlichen Betroffenheit und der Weitergabe des Lebens. So führt, mit Zygmunt Bauman gesprochen, ein Mangel an Identität in diesem Bereich zu einer „Verflüssigung“ des Ich, wie man es anhand der Figur des homo sexualis beobachten kann, der dazu bestimmt ist, eine Reise anzutreten „die niemals endet, deren Reiseplan an jede Station variiert und deren Ziel für immer unbekannt bleibt“23. Die Integration der Sexualität in die Person betrifft nicht nur das Vermögen der Einzigartigkeit, sondern auch die faßbare Art der geschlechtlichen Verfaßtheit. Die menschliche Sexualität bedarf, um sich wirklich auf den anderen hin auszurichten, der Erfahrung wie der Formung des Verlangens. Im Sich-Verschenken an eine Person des anderen Geschlechts wird die geschlechtliche Verfaßtheit zur Weitergabe des Lebens befähigt, indem sie sich auf ein (eigenes oder adoptiertes Kind) öffnet. Um die Verantwortung für ein Kind übernehmen zu können, müssen Mann und Frau in Körper und Seele vereint sein. Ein Kind ist nicht nur für dieses selbst ein Geschenk, sondern auch für seine Eltern, die so in ihrer Identität als Vater und Mutter weiter wachsen. Eben hier liegt der Grund dafür, weshalb in der geschlechtlichen Verfaßtheit Leiblichkeit und symbolischer Aspekt der Beziehungshaftigkeit untrennbar sind. Die Art des Mann- oder Frau-Seins verschließt sich, sofern sie nicht als bloße Kondizionierung der Natur oder als rein kulturelles Konstrukt verstanden wird, nicht im Bereich der körperlichen Sexualität, sondern öffnet sich auf auf sämtliche Dimensionen der personalen Existenz: Die Person sinnt darüber nach, wie sie mit der Welt in Beziehung tritt, wie sie handelt und leidet, wie sie mit anderen zusammenarbeitet und zusammenlebt. Die geschlechtliche Verfaßtheit entfaltet sich in zwei Modalitäten, sei es entsprechend ihrem Ursprung (Sohn/Tochter; Bruder/Schwester), sei es entsprechend den das Leben weitergebenden Beziehungen (Ehemann/Ehefrau; Vater/Mutter; Onkel/Tante; Großvater/Großmutter). Die Beziehungen beruhen auf der unterschiedlichen Weise, wie Mann und Frau mit dem anderen in Beziehung treten, letztlich, wie sie sich selbst „überschreiten“. Für den Mann befindet sich der andere außerhalb seiner selbst, während sie Frau den anderen auch in sich selbst findet – dieser Unterschied ist grundlegend für alle Beziehungen zwischen Mann und Frau. Das erklärt, warum die Tochter (Schwester, Ehefrau, Mutter etc.) eine mehr „innerliche“ Beziehung zum anderen hat, die in Aufnahme und Warmherzigkeit zum Ausdruck kommt, der Mann hingegen eine „äußerliche“ Beziehung, charakterisiert durch die Stichworte Abgrenzung und Schutz. Diese Unterschiede sind nicht nur nichts Negatives, sondern, mehr noch, notwendig, damit sich die personale Identität 23 Zygmunt Bauman, Amore liquido. Sulla fragilità dei legami affettivi, Rom 2006, S. 77. – Indes: Um die Figur des homo sexualis zu überwinden, ist es nicht damit getan, zufällig eine bestimmte sexuelle Identität zu wählen, man muß schon die geschlechtliche Verfaßtheit als solche annehmen.

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harmonisch herauszubilden vermag zwischen der gebotenen Nähe wie Distanz zum anderen. Daher ist, ungeachtet der jeder Beziehung eigenen Ähnlichkeiten (Kindschaft, Abstammung), die Art und Weise immer verschieden, wie sich jemand als Mann oder Frau entwickelt. Dadurch wird auch verständlich, daß die Subjekte der Beziehungen, die von ihrer geschlechtlichen Verfaßtheit her verschieden sind, nicht austauschbar sind: die Ehefrau kann nicht Ehemann sein, und der Ehemann nicht Ehefrau, die Frau nicht Vater und der Mann nicht Mutter. Die menschliche Geschlechtlichkeit und dementsprechend auch die geschlechtliche Verfaßtheit ist gleichermaßen natürlich und kulturell, psychologisch (durch die Prozesse der Identifikation und der Abgrenzung) und ethisch (mittels der Integration) und nicht zuletzt beziehungshaft. Vielleicht kann die Unterscheidung zwischen geschlechtlicher Verfaßtheit und Geschlechtlichkeit den Schlußstein in der Diskussion über den ontologischen Charakter der Geschlechtlichkeit bilden. Im Lichte des vorstehend Ausgeführten dürften das Mann- oder Frau-Sein nicht als ontologische, wohl aber als geschichtliche und existentielle Unterscheidung verstanden werden. Aus ontologischer Sicht sind die Personen einzigartig und unverwechselbar, während das männliche bzw. weibliche Geschlecht eine Gemeinsamkeit mit allen Männern bzw. Frauen darstellt. Anders gesagt: Die Person betrifft die Ebene des Seins, die geschlechtliche Verfaßtheit infolge der Leiblichkeit diejenige der Seinsweise (essentia). Nota bene: Nicht gemeint ist, daß das Mann- oder Frau-Sein ein Akzidenz der Seinsweise wäre (so wie etwa die Nasenform), vielmehr ist es eine Modalität des Person-Seins als solchen, was alles zur menschlichen Seinsweise Gehörende miteinschließt: die strukturelle Zusammensetzung auf Körper, Geist und Seele, die Integration der Geschlechtlichkeit im Sich-Verschenken, die eigene Abstammung wie die Weitergabe des Lebens. Kurzum: Die geschlechtliche Verfaßtheit ist konstitutiver Teil der menschlichen Seinsweise, Teilhabe am Seinsakt der Person. Zugleich läßt die geschlechtliche Verfaßtheit in actu die menschliche Natur nicht als eine entkörperlichte Seinsweise verstehen, sondern vielmehr als eine fortlaufende Beziehung zwischen Personen vermittels der Generationen.

V. Ergebnis Die „Gender“-Ideologie korrigiert die naturalistische Konzeption der menschlichen Sexualität, indem sie auf die Einwirkung von anderen Aspekten – wie die soziale, kulturelle und psychologische Dimension des Verlangens oder das Existenzial der Authentizität – hinweist. Zugleich blendet sie aber so essentielle Realitäten wie den Körper, die Weitergabe des Lebens, die Erziehung des Verlangens und die generative Beziehung von Mann und Frau aus. Auf den ersten Blick scheint die Unterscheidung zwischen „Geschlechtlichkeit“ und „geschlechtlicher Verfaßtheit“ der von der „Gender“-Ideologie konzipierten Differenzierung zwischen sex und gender zu entsprechen, insofern das gender – wie

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die geschlechtliche Verfaßtheit – die personale Form der Sexualität bildet. Doch es gibt aber einen entscheidenden Unterschied: Die geschlechtliche Verfaßtheit ist, wie gesehen, nicht etwas von der Sexualität Verschiedenes, sondern schließt sie vielmehr als grundlegendes Element mit ein, denn ihr Ursprung wie Ziel ist die Zeugung von Menschen und von deren Beziehungen. Außerdem beschränkt sich Sexualität nicht auf den rein physischen Befund, handelt es sich doch um eine personale Tendenz, geformt aus dem Verlagen, den ersten Erfahrungen, der Identifikation und den Beziehungen. Gewiß spielen bei der geschlechtlichen Verfaßtheit Kultur und soziale Konventionen eine bedeutende Rolle, doch nicht in dem Maße, daß man neue „gender“ erfinden müßte oder in der Männlichkeit und der Weiblichkeit zwei Konstrukte der Sozialgeschichte erblicken könnte. Kraft der Sexualität verwirklicht sich Person-Sein in der Dualität Mann – Frau, beide Modalitäten sind in gleicher Weise personal und folglich mit gleicher Würde ausgestattet. Die Existenz in der einen oder anderen Modalität widerspricht nicht der Einzigartigkeit der Person, sondern ist Teil von ihr: Sie ist einzigartig, nicht die Männlichkeit oder Weiblichkeit, und zwar in der Modalität des Mann- oder FrauSeins. Nicht immer gelingt es, wie in der gegenwärtigen Gesellschaft, den Gehalt dieser Einzigartigkeit ausfindig zu machen, oder aber sie ist ein Spiel der Moden und Ideologien. Gewiß ist heute die Identität von Mann und Frau komplexer und flexibler als früher, sie bietet mehr Platz für die individuelle Freiheit, aber auch für die subjektive Unsicherheit und für Extremhaltungen (Fanatismus versus nicht faßbare Identität). Dies liegt an der zurückgehenden Prägekraft der sie umgebenden Sozialstrukturen (Familie und Gesellschaft), die auch selbst nicht mehr die formende Wertigkeit vermitteln, welche der Unterschied zwischen Mann und Frau für die Geburt, die Erziehung und die Weitergabe des Lebens mit sich bringen. Und dennoch: Auch die aktuelle Zeitspanne in der jahrtausendealten Geschichte der Liebe ist keine Katastrophe, so es gelingt, die Schönheit der Familie wiederzuentdecken. Und so läßt sich diese wundervolle Geschichte fortschreiben, mit all ihrem Schatten und ihrem Licht.

Eine Zeit für die Liebe, für die Heiligkeit und für die Barmherzigkeit Gedanken über die tragenden Säulen von Ehe und Familie Paul O’Callaghan Time’s a great healer (irisches Sprichwort) Quis custodiet ipsos custodes? (Juvenal)1 The quality of mercy is twice blest (Shakespeare)2

I. Einführung Die Beziehung zwischen christlicher Lehre und Barmherzigkeit geht von der Überzeugung aus, daß die auf der Ehe gründende Familie etwas Zerbrechliches ist, aber zugleich eine enorme Bedeutung für die Zukunft der Menschheit aufweist. Die Familie ist „die grundlegende Zelle der Gesellschaft“3, weil man außerhalb der Familie nicht zu lieben lernt, und ohne die Liebe erwartet uns nichts anders als ein langer und kalter „anthropologischer Winter“. Gerade weil die Familie so grundlegend, aber auch zerbrechlich ist, benötigt sie „stützende Strukturen“. Strukturen aller Art, nämlich juristische, wirtschaftliche, kulturelle, geistige Strukturen – wie den Staat, die Gesellschaft, die Religion –, und vor allem braucht sie die göttliche Gnade, die Barmherzigkeit Gottes. Die Gnade jedoch muß man, wie die Früchte, von einem gesunden und reich tragenden Baum pflücken. Es müssen also Strukturen sein, die nicht die Familie ersetzen, zersetzen oder in ihre Natur eingreifen,

1

Juvenal, Satiren VI, 347 f. William Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, IV, 1. 3 So Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute vom 24. November 2013, Nr. 66, in: AAS 105 (2013), S. 1019 – 1137 (1048); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 194 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 2013, S. 54; der damit eine Formulierung verschiedener Dokumente des II. Vatikanischen Konzils aufgreift, s. Dekret Apostolicam actuositatem über das Laienapostolat, Nr. 11 („Die Familie ist … Grund- und Lebenszelle der Gesellschaft“); sowie Pastorale Konstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute, Nr. 52 (Familie als „das Fundament der Gesellschaft“). 2

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sondern sie stützen. Mit einem Wort, Strukturen, die es – mit Johannes Paul II. gesprochen – der Familie ermöglichen, zu „werden, was sie ist“4. Zahlreich sind die Fragen, die Ehe und Familie im größeren Kontext der theologischen Anthropologie, d. h. des christlichen Menschenbildes, betreffen5. Noch zahlreicher jedoch sind die Fragen aus der philosophischen und kulturellen Anthropologie. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf drei Aspekte, die – wie zu zeigen sein wird – miteinander verknüpft sind: Der erste berücksichtigt die Dynamik Individuum – Gesellschaft als Grundstruktur des Menschen, eines Wesens, das liebt und geliebt wird. Dabei soll die Dynamik der verschiedenen, dort relevanten „stützenden Strukturen“ näher betrachtet werden. Der zweite betrifft die hermeneutische Rolle des universalen Rufs zur Heiligkeit im persönlichen und familiären Leben. Der dritte Aspekt schließlich ist besonders aktuell, er betrifft die Beziehung zwischen christlicher Lehre und Barmherzigkeit in der Familienpastoral.

II. Die individuelle Selbstverwirklichung des Menschen durch Liebe in Familie und Gesellschaft Im Juni 2014 verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat eine äußerst positiv gehaltene Erklärung über Wesen und Rolle der Familie (verstanden als aus Vater, Mutter und Kindern bestehend) in der Gesellschaft6. Von den 47 im Rat vertretenen UNO-Mitgliederstaaten votierte über die Hälfte (26) dafür7, es gab 14 Gegenstimmen8 und sechs Enthaltungen9, ein Staat nahm an der Abstimmung nicht teil10. Im Einklang mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 wurde die Familie als natürliche und fundamentale Einheit der menschlichen Gesellschaft anerkannt, welche den Schutz durch Gesellschaft und Staat verdient11. Zugleich aber 4 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute vom 22. November 1981, Nr. 17 („Familie, werde, was du bist!“), in: AAS 74 (1982), S. 81 – 199 (99); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 33 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 51994, S. 21. 5 Dazu Paul O’Callaghan, Figli di Dio nel mondo. Trattato di antropologia teologica, Rom 2013; Kurzfassung: „Dio che ti anticipa“. Una breve narrativa della vita della grazia divina, Siena 2013. 6 Resolution Nr. A/HCR/26/L.20/Rev. 1. 7 Algerien, Benin, Botswana, Burkina Faso, China, Kongo, Elfenbeinküste, Äthiopien, Gabun, Indien, Indonesien, Kenia, Kuweit, Malediven, Marokko, Namibia, Pakistan, Philippinnen, Rußland, Saudi-Arabien, Sierra Leone, Südafrika, Vereinigte Arabische Emirate, Venezuela und Vietnam. 8 EU (Deutschland, Irland, Österreich, Frankreich, Italien, Großbritannien, Tschechien, Estland, Rumänien), außerdem Chile, Japan, Montenegro, Südkorea, USA. 9 Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Mexiko, Mazedonien, Peru. 10 Kuba. 11 So enthält etwa die irische Verfassung folgende Bestimmungen:

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versuchte eine beachtliche Minderheit, eine breitere Definition der „Familie“ durchzusetzen. Aufschlußreich dabei war der Kommentar eines die Erklärung ablehnenden Delegierten, der monierte, der Text handle nicht von Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Familie selbst12. Damit sollte wohl zum Ausdruck gebracht werden, die besondere Förderung der Familie gehe nicht mit dem Schutz der Menschenwürde und der Person einher, so daß in manchen Fällen der Staat, intermediäre Gruppen oder gar supranationale Organismen eingreifen müßten, um zu verhindern, daß bestimmte Mechanismen der Unterdrückung durch die Familie zu Beeinträchtigungen der Menschenrechte führten. Statt die Familie vorbehaltlos zu unterstützen, der Familie wohlgesonnen zu sein, hielt man dafür, der Staat solle unmittelbar zentrale Aspekte des menschlichen Lebens besser selbst regeln, so etwa die Kindererziehung (einschließlich der Sexualerziehung), Klagemöglichkeiten gegen die eigenen Eltern oder Kinder, ein Recht auf Scheidung und Abtreibung, die Gestaltung der familiären Struktur und Identität nach den individuellen Vorstellungen. Daraus ergibt sich ein komplexes vierseitiges Beziehungsgeflecht zwischen Individuum, Familie, Staat und Religion. Dieses Geflecht ist wichtig, um die Gedanken zur Familie mit den verschiedenen Aspekten des menschlichen Lebens richtig in Beziehung zu setzen, desgleichen, um in einer ganzheitlichen juristischen Betrachtungsweise diese vier Elemente des menschlichen Lebens einzubeziehen. Dem besseren Verständnis der Zusammenhänge mag ein historisches Beispiel, konkret: aus der griechisch-römischen Antike, dienen, sodann auch eine aus dem Bereich der Anthropologie stammende Überlegung. Der im 19. Jahrhundert lebende französische Historiker Fustel de Coulanges entfaltet in seinem Buch La cité antique13, seinerzeit revolutionär und auch heute Art. 41 (1) Der Staat anerkennt die Familie als die natürliche und ursprüngliche Grundeinheit der Gesellschaft und als eine moralische Einrichtung mit unveräußerlichen und unverjährbaren Rechten vor und über allen positiven Gesetzen. (2) Der Staat garantiert daher den Schutz der Familie, ihren Aufbau wie ihr Ansehen, als die notwendige Grundlage der sozialen Ordnung und als unentbehrlich für das Wohl von Volk und Staat. Art. 42 (1) Der Staat anerkennt, daß die Erziehung des Kindes in erster Linie und natürlicherweise der Familie obliegt; er verbürgt sich, das unveräußerliche Recht und die unveräußerliche Pflicht der Eltern zu achten, je nach ihren Mitteln für religiöse, moralische, geistige, körperliche und soziale Erziehung ihrer Kinder Sorge zu tragen. (2) Es steht den Eltern frei, für diese Erziehung in ihrer Privatwohnung, in Privatschulen oder in staatlich anerkannten oder vom Staat eingerichteten Schulen zu sorgen. 12 Vgl. dazu den Bericht bei www.zenit.org/en/articles/un-adopts-resolution-to-protect-fam ily vom 3. Juli 2014. 13 Numa Denis Fustel de Coulanges, La cité antique, 1864 (Nachdruck: Paris 2009). Eine gute Zusammenfassung des Werkes bietet Larry Siedentop, Inventing the Individual: the Origins of Western Liberalism, London 2014. Ihm zufolge vermag diese in der Substanz heute noch maßgebliche Schrift die vor allem von Rousseau und Robespierre propagierte Fehlvorstellung zu widerlegen, nach der die griechisch-römische Antike eine Blütezeit der individuellen Freiheit gewesen sei (S. 19, 28). – In der Antike meinte „Freiheit“ die Möglichkeit für

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noch überraschend, daß in der Antike das religiöse Leben vorwiegend im Kontext der familiären Hausgemeinschaft seinen Ausdruck fand. Die Familie (Vater, Mutter, Kinder und Sklaven) gab der Religion ihre Heimstätte, die Religion ihrerseits regelte gleichzeitig streng die Familie und war Garant sowohl des Eigentums als auch der Unsterblichkeit14. Der Ritus der Eheschließung und die aus ihm erwachsene familiäre Struktur galten als heilig und unantastbar. Mehr noch, die familiäre Hausgemeinschaft war Sitz des Heiligen und der Religion. Im Mittelpunkt des familiären Lebens standen Riten rund um das „heilige Feuer“, als Ausdruck wie Voraussetzung der familiären Einheit. Die Familie war Religion; die Religion in ihrem Wesen häuslich. Gegenüber der Familie in ihrer religiösen Grundstruktur spielten sowohl der Staat wie der Einzelne eine untergeordnete, meistens sogar eine unbeachtliche Rolle15. Folgt man Fustel de Coulanges, so ist es verständlich, daß im Laufe einer jahrhundertelangen Entwicklung diese starre soziale Institution – sozusagen die „unauflösliche Ehe“ zwischen Familie und Hausreligion – nach zwei Richtungen abzubröckeln begann. Ein erstes Moment ist dabei die Herausbildung staatlicher Bindungen. Wie bei anderen Völkern auch, verschiebt sich in Griechenland wie in Rom die Rolle der Religion(en) zunehmend von der Familie zum Volk und zum Staat. Die familiäre Einheit wird so zu Lasten des militärischen, wirtschaftlichen und politischen Wachstums des Staates geschwächt. Nun bildet sich außerdem die öffentliche Funktion der Religion heraus. Zwar behält sie im Leben der Menschen ihre zentrale Rolle, zumal als Ausdrucksform der pietas des einzelnen Menschen. Doch auch diese verlagert sich langsam von der Familie in die öffentliche Sphäre: vom Vater zum Kaiser. Zum zweiten löste sich das enge Band zwischen Religion und Familie in dem Maße, in dem die einzelnen sich ihrer Rechte bewußt wurden und sie zunehmend einforderten. Am alten griechischen oder römischen Familienherd war allein der Vater (paterfamilias) die oberste Autorität – sie war beinahe göttlich, die des Königs und Priesters. Die anderen Familienmitglieder – Frau, Kinder und Sklaven – unterstanden ihm bar jeder Rechte. Charakteristikum der familiären Einheit war einige, am öffentlichen Leben teilzuhaben. Von der modernen Vorstellung einer persönlichen Freiheit für alle ist das noch weit entfernt, vgl. O’Callaghan, Figli di Dio (FN 5), S. 555 – 572. 14 In Griechenland und Rom sind Hausreligion, Familie und Eigentum untrennbar miteinander verbunden. Die Familie begründet sich nicht durch Abstammung, Liebe oder Macht, sondern durch die Religion, s. Fustel de Coulanges, La cité antique (FN 13), S. 42. 15 Illustrierend Siedentop, Inventing the Individual (FN 13), S. 15 („The ancient family began as a veritable church“) sowie S. 18 („For the Greeks and Romans, the crucial distinction was not between the public and private spheres. It was between the public and domestic spheres. And the domestic sphere was understood as the sphere of the family, rather than as that of individuals endowed with rights. The domestic sphere was a sphere of inequality. Inequality of roles was fundamental to the worship of the ancient family … Piety raised a barrier that could not be scaled“).

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eine tiefgehende Ungleichheit, die freilich religiös gerechtfertigt wurde. Aussichtslos war die Lage der Töchter, die Söhne immerhin konnten mit der Eheschließung selbst Priester eines neuen Familienverbandes und so einer neuen Religion werden. Als erste wiesen die Stoiker auf die zentrale Rolle des Individuums und auf dessen Gewissen als „Hauptsitz“ des Religiösen hin, dem sich Familie wie Staat unbedingt unterzuordnen hatten16. Stärker noch wirkte das Christentum mit der – erst impliziten, dann zunehmend expliziten – Betonung der zentralen Rolle der menschlichen Person17. Nach Kierkegaard besteht der entscheidende historische Beitrag des Christentums in seinem Eintreten für den Einzelnen, das menschliche Individuum, die Person18. Mit der Kategorie des einzelnen, so der dänische Philosoph, stehe und falle die Botschaft des Christentums19. Diese Aussage entspricht vielleicht nicht der ersten Intuition des Christen, der vom Sozialen und vom Leben aus der Nächstenliebe her zu denken gewohnt ist. Will man aber den Wert der menschlichen Person verstehen, hat dieser Gedanke starkes Gewicht. Die komplexe historische Entwicklung der Fragestellung bedarf hier keiner weiteren Entfaltung, es genügt für die hier interessierenden Zusammenhänge die Feststellung: Ausgehend von stoischen, jüdischen und christlichen Wurzeln gewinnt die westliche Kultur ihre Überzeugung vom Wert des menschlichen Individuums, der Person, welche letztes Zuordnungssubjekt der unveräußerlichen Menschenrechte ist20. Die Moderne hat diese Sichtweise weitgehend übernommen. Nun aber bleibt die Frage: Wo bleiben in diesem modernen, unzweifelhaft christlich radizierten, Prozeß der Erhöhung des Individuums die anderen „stützenden Strukturen“ des menschlichen Lebens – der Staat, die Familie und die Religion? 1. Die Beziehung zwischen Individuum und Staat In der Moderne erscheint der Staat, absolutistische Muster imperialistischen und monarchischen Zuschnitts hinter sich lassend, zunehmend als das Ergebnis der Übereinkunft des Willens der Bürger. Er hat demnach den Menschen und ihren Interessen zu dienen und stellt sich so als ein seinem Wesen nach assoziatives Phänomen dar, das dem Volk untergeordnet ist. Darin besteht die Grundidee der modernen demokratischen Systeme. Der Staat ist die Summe der Individuen mit der Funktion, ihren Interessen gerecht zu werden. 16 Näher O’Callaghan, Figli di Dio nel mondo (FN 5), S. 39 – 44; s. die Wertungen bei Fustel de Coulanges, La cité antique (FN 13), S. 479 („Stoicism, by enlarging human association, emancipates the individual“) sowie S. 526 („Stoicism had already … restored man to himself, and had founded liberty of conscience“). 17 O’Callaghan, Figli di Dio nel mondo (FN 5), S. 685 – 703. 18 Ebd., S. 698 m. Fn. 50. 19 Søren Kierkegaard, Samlede Vaerker, Bd. 13, Kopenhagen 1930, S. 608 f. 20 Näher O’Callaghan, Figli di Dio nel mondo (FN 5), S. 73 – 79.

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2. Die Beziehung zwischen Individuum und Familie Für viele ist heutzutage die Familie „der moderne Staat im Kleinformat“, also eine Gruppe von Individuen, die darin übereinkommen, unter würdigen Umständen miteinander leben zu können. Demnach müßte sich die „Familie“ dem Willen und den Lebensumständen der sie bildenden Individuen unterwerfen und immer wieder neu an ihnen ausrichten. So einfach liegen die Dinge freilich nicht. Der vornehmliche Grund liegt darin, daß das menschliche Individuum in seiner Existenz von der affektiven wie physischen Vereinigung zweier anderer Individuen – Vater und Mutter – ausgeht. Schon dies macht deutlich, daß der Mensch in seiner Individualität und in seinem PersonSein nicht auf eine monadenhafte, von den anderen abgekoppelte Existenz reduzieren werden kann, mit denen er – wie Hobbes meinte – allenfalls kontingente vertragliche Bindungen zur Sicherung seines Überlebens und seiner Entwicklung eingehen könnte. Gerade vom Beginn des Lebens her zeigt sich die zutiefst relationale Natur der menschlichen Existenz des Menschen: sie entspringt einer metaphysischen und nicht nur existentiellen Beziehung mit anderen Personen und hängt weiterhin von dieser Beziehung ab – in erster Linie mit Gott als dem Schöpfer der menschlichen Existenz, sodann mit den eigenen Eltern und den anderen Mitgliedern der Familie. Ein weiteres: Der Mensch gelangt allein dann zu seiner vollständigen Entfaltung, wenn er von anderen großzügig empfängt und seinerseits den anderen großzügig gibt. Er ist auf das Empfangen angewiesen, indem er mit seinem Person-Sein einen Akt der bejahenden Liebe setzt, nämlich einer Liebe ohne (Vor-)Bedingungen. Seinerseits muß er die Gaben und Talente, die er selbst von Gott empfangen hat, an andere Menschen weitergeben (denn ihretwegen hat er sie empfangen), wodurch er seine Dankbarkeit für die empfangenen Gaben erweist21. Das alles gilt nicht für ein oder zwei Tage, sondern für immer. Diese Dynamik formuliert die Konstitution Gaudium et spes mit der gelungenen, von Johannes Paul II. oft aufgegriffenen, Wendung, der Mensch könne „sich selbst nur durch diese aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden.“22. So gelangt der Mensch zu einem harmonischen Leben, welches die gesunde Mitte zwischen Autonomie und Abhängigkeit wahrt. Diese Mitte wird aber derjenige verfehlen, der sich nicht dauerhaft und vorbehaltlos – also: unauflöslich – geliebt weiß, und in gleicher Weise derjenige, der nicht in der Lage ist, sich aus freien Stücken zu verschenken. Finden und verwirklichen läßt sich diese Mitte nur in einer dauerhaften Bindung zwischen Mann und Frau, mit ihren Kindern und anderen Angehörigen, mit einem Wort: in der Familie.

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Ebd., S. 632 – 635. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute vom 7. Dezember 1965, Nr. 24, in: AAS 58 (1966), S. 1025 – 1115 (1045). 22

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Diese ganze Dynamik wird nun, bereits zu Beginn des menschlichen Lebens, von unterschiedlichen Spielarten einer nominalistischen Manipulation der Natur23 (nach Carlo Caffarra: von der „Tyrannei des Artifiziellen“24), bedroht: von Empfängnisverhütung, künstlicher Befruchtung und „Geburtenkontrolle“ über Angriffe auf den Bestand des Ehebandes bis hin zu den Versuchen einer Neudefinition der Ehe. Dahinter stehen zwei Ursachen: Einmal manifestiert sich in diesen Prozessen ein gesteigerter Regulierungswille des Staates, der letztlich zu einer Verlagerung, Konditionierung und Reduzierung der Rolle von Ehe und Familie im Leben der Menschen führt. Zum zweiten werden gerade diejenigen Faktoren des menschlichen Wachsens und Reifens, die normalerweise im Familienleben erprobt und herangebildet werden (Liebe, Annahme in Dankbarkeit, Treue), von der Manipulation der menschlichen Natur in massiver Weise negativ beeinflußt. Das muß nicht in jedem Fall zwingend so sein, doch wie soll jemand lernen, wirklich zu lieben, wenn er nicht selbst über einen langen Zeitraum hinweg eine treue und stabile Liebe erfahren hat? Kurzum, ein Staat, der infolge der unüberschaubar hohen Zahl seiner Bürger zwangsläufig auf „unpersönliche“ Weise agieren muß, ist von vornherein nicht dazu in der Lage, unmittelbar das menschliche, kulturelle und affektive Wachstum – wie es in der Familie geschieht – seiner Bürger zu gewährleisten. Der Staat kann die Liebe schlichtweg nicht organisieren, ebensowenig wie andere Organismen von der lokalen bis zur internationalen Ebene. Allein die Familie vermag dies zu bewerkstelligen, und aus ebendiesem Grund verdient sie die Unterstützung des Staates. 3. Die Rolle der christlichen Religion in Bezug auf die Familie Welche Rolle kommt nun der Religion, zumal der christlichen, gemeinsam mit Staat und Familie beim Wachstum und Heranreifen der menschlichen Person zu? Oder könnte es nicht sein, daß das Individuum in seiner Entwicklung durch den Staat, die Familie oder auch durch die Religion beeinträchtigt wird? In diesem 23 In seiner Ansprache vor dem Deutschen Bundestag vom 22. September 2011(Abdruck in: L’Osservatore Romano [deutsch], Nr. 39 vom 30. 9. 2011, S. 9 sowie in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz [Hrsg.], Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22.–25. September 2011. Predigten, Ansprachen und Grußworte. Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Nr. 189, Bonn 2011, S. 35) sprach Papst Benedikt XVI. von den Versuchen, die menschliche Natur zu manipulieren, welche dann nur „ein Aggregat von als Ursache und Wirkung miteinander verbundenen Seinstatsachen“ werde, einer Materie also, die nach menschlichen Wünschen und Bedürfnissen zu formen wäre. „Ein positivistischer Naturbegriff, der die Natur rein funktional versteht, so wie die Naturwissenschaft sie erkennt, kann keine Brücke zu Ethos und Recht herstellen, sondern wiederum nur funktionale Antworten hervorrufen.“ – Zur Wirkung des Nominalismus in der Moderne s. Michael Allen Gillespie, The Theological Origins of Modernity, Chicago 2008. 24 Carlo Caffarra, Glaube und Kultur im Hinblick auf die Ehe, in diesem Band, S. 11 – 17 (15).

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Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß der Beitrag des Christentums hinsichtlich der griechischen und der römischen Gesellschaft in der Antike weder die Familie als solche betraf noch den Staat. Vielmehr ging es um das Individuum, die Person und die ihr eigene Natur als relationales Wesen. Der christliche Glaube versuchte nicht, die Familie – noch weniger den Staat – zu verabsolutieren, wie es all die Religionen des Mittelmeerraums in den vorchristlichen Jahrhunderten taten. Doch gleichzeitig spielte die Familie bei der Festigung und Ausbreitung des Christentums eine unentbehrliche Rolle. Einerseits trat die christlich verstandene Familie das Erbe der jüdischen Familie an. Dieser kam eine dezidiert religiöse Funktion zu, war sie doch, ausgehend von der Verheißung an Abraham, daraufhin ausgerichtet, die Geburt des Messias zu sichern. Überdies war die jüdische Gesellschaft gewöhnlich patriarchalisch verfaßt25. Im Alten Testament wird Gott als der einzige Herr des Universums deutlich herausgestellt, diese Alleinherrschaft findet dann ihre Konkretisierung in der unhinterfragbaren Autorität des Familienvaters, der zudem Priester und Lehrer war26. Zur Illustration mag der Hinweis auf jene Episode aus dem 11. Kapitel des Buches der Richter genügen, als Jiftach seine eigene Tochter tötete, um sein Gelübde gegenüber Gott nach dem Sieg über die Ammoniter zu erfüllen27. Auf der anderen Seite verändert nun das Neue Testament das Verständnis der Familie auf subtile, doch nicht unbedeutende Weise. Es werden nicht allein die sich ergänzenden Rollen von Mann und der Frau bei der Erziehung der Kinder deutlicher herausgestellt, vor allem wird die väterliche (wie die mütterliche) Autorität relativiert und derjenigen Gottes untergeordnet. Die Jünger müssen von den Worten Christi Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel (Mt 23,9) überrascht gewesen sein, heißt dies doch, daß die Kinder (wie auch die Sklaven) nicht mehr Eigentum des Vaters sind28. Aufschlußreich ist die Perikope vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41 – 52). Als seine Eltern den verloren geglaubten Jesus nach dreitägiger Suche wiederfanden, fragte seine Mutter: Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht. Die Antwort Jesu ist bemerkenswert: Warum habt ihr mich gesucht? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meinem Vater gehört? Doch seine Eltern verstanden nicht, was er damit sagen wollte. Trotz allem, so endet der Text des Evangelisten Lukas, kehrte er mit ihnen nach Nazareth zurück und war ihnen gehorsam. 25 Dazu jüngst Carol L. Meyers, Was Ancient Israel a Patriarchal Society?, in: Journal of Biblical Literature 133/1 (2014), S. 8 – 27. 26 Siehe O’Callaghan, Figli di Dio nel mondo (FN 5), S. 319 f. 27 Bemerkenswert ist die entgegengesetzte Handlungsweise, wie sie etwa im Verhalten der Mutter des Propheten Samuels zum Ausdruck kommt, als sie ihn dem Eli übergibt (1 Sam 1,21 – 28). 28 Zur Beziehung zwischen Christentum und Sklaverei O’Callaghan, Figli di Dio nel mondo (FN 5), S. 624 f.

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In dieser Episode stellt Jesus den Seinen vor Augen, daß der Gehorsam gegenüber Gott (dem eigenen Gewissen) dem Gehorsam gegenüber den Menschen vorgeht. Darin besteht die Alternative. Die liebevolle Umgang Jesu mit den Kindern vermittelt nicht den Eindruck, diese seien bloßes Eigentum ihrer Eltern: Laßt die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes (Mk 10,14). So stellte sich Jesus in der Tat auch gegen die zu jener Zeit geltenden Normen des familiären Lebens, indem er diesen die höherrangigen Anforderungen an die christliche Nachfolge entgegensetzte (Mt 10,34 – 39; 12,46 – 50). Er sah gerade aufgrund des Glaubens an Gott und der von Ihm bewirkte Erlösung – damit also aus Gründen der Religion – die Möglichkeit eines harten Gegensatzes zwischen Eltern und Kindern voraus: drei werden gegen zwei stehen und zwei gegen drei (Lk 12,51 – 53). Das Scheidungsverbot beinhaltet die Lehre, daß Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer (Mk 10,2 – 12). Verschiedene Gleichnisse handeln von Kindern, die ihren Eltern gehorchen – doch es gibt Ausnahmen (Mt 21,28 – 31; Lk 15,11 – 32). Natürlich stand es nicht in der Absicht Jesu, die Familie zu verändern oder gar zu beseitigen, wohl aber, die Beziehungen der Personen innerhalb der Familie gegenüber Gott neu auszurichten29. Er läßt deutlich werden, daß die Würde des einzelnen und die Unantastbarkeit seines Gewissens ihren Grund in seiner Beziehung zu Gott haben, dem Schöpfer und Herrscher über alles und von allem. So konnte Petrus gegenüber den jüdischen Behörden sagen: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen (Apg 5,30). Gewiß realisiert sich die Alternative nicht in jeder Situation30. Paulus betont nachdrücklich die Pflicht der Kinder zum Gehorsam gegenüber ihren Eltern, ruft aber zugleich die grundsätzliche Gleichheit zwischen Eltern und Kindern in Erinnerung31: Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, sondern erzieht sie in der Zucht (paideia) und Weisung des Herrn! (Eph 6,4). Wenn es in Gaudium et spes allgemein heißt „Christus … macht … dem Menschen den Menschen selbst voll kund“32, läßt sich dies in unserem Zusammenhang abwandeln in: „Christus macht der Familie die Familie voll kund“. Die Thematik bedarf gewiß eingehender Vertiefung. Festzuhalten ist, daß man nicht schon dadurch Christ wird, daß man einer christlichen Familie angehört. Im Unterschied zum Judentum wie zum Islam wird man Christ in der vollständigen Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes (Röm 8,21) durch die Taufe, die ein 29 John W. Drane, „Family“, in: T. Desmond Alexander/Brian S. Rosner (Hrsg.), New Dictionary of Biblical Theology, Leicester 2000, S. 494 – 496 (495). 30 Biblischer Gegenbeleg: „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den Schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes.“ (Röm 13,1 f.) 31 Zum Thema der Gleichheit unter den Menschen s. O’Callaghan, Figli di Dio (FN 5), S. 621 – 636. 32 Gaudium et spes (FN 22), Nr. 22; zu diesem Ausdruck O’Callaghan, Figli di Dio (FN 5), S. 90 – 120.

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Ritus der Eingliederung in die Kirche ist (und mancherorts zudem in die res publica, wie die öffentliche Rolle der großen Baptisterien – Florenz, Pisa, Rom – noch heute erkennen läßt). Von allem Anfang an aber war klar, daß die Christen sich frei fühlten, ihr eigenes Leben gestalten konnten, eben nicht – einerlei, ob Söhne oder Töchter – Eigentum ihrer Eltern waren. In der griechisch-römischen Antike galt nicht nur der Ehebruch, sondern oftmals auch der Zölibat als Verbrechen33. So läßt sich der Umstand, wie sich unter den Christen der Zölibat verbreitete, als einen Beleg verstehen, daß die Gläubigen sich nicht vollständig von ihren Familien beherrscht und kontrolliert fühlten. Zweifellos war die Familie der beste Ort für das menschliche Heranwachsen34, freilich als eine Schule der Freiheit, Verantwortung und Gleichheit, eine Schule, um das rechte Maß zwischen Autonomie und Abhängigkeit zu finden und um der persönlichen Berufung ganz entsprechen und in der Gesellschaft dienen zu können. Im Unterschied zu den antiken Religionen wirkte das Christentum zutiefst befreiend, nicht nur in moralisch-innerlicher Hinsicht, sondern gerade auch auf der Ebene von Gesellschaft, Gesetz und Familie. Das Christentum fordert nicht nur Freiheit von der Gesellschaft, sondern fördert und verteidigt sie.

III. Die allgemeine Berufung zur Heiligkeit und der christliche Realismus In der Diskussion über das Leben der Familien wird häufig zwischen Ideal und Realität unterschieden, zwischen Wunschbild und konkreten Leben. Das Ideal ist demzufolge die perfekte, harmonische, vereinte Familie, die herausragende Bürger und gute Christen heranzubilden vermag. Die Realität soll davon grundverschieden sein, weil das in so vielen Familien Ge- und Erlebte – Zerrüttung, Untreue, Traumata, Entwurzelung – vom Ideal weit entfernt ist. Die Realität gilt es in den Blick zu nehmen. In einem zentralen Abschnitt des Apostolischen Schreibens Evangelii gaudium betont Papst Franziskus: „Die Wirklichkeit steht über der Idee“35. Und weiter: „Die Wirklichkeit ist etwas, das einfach existiert, die Idee wird erarbeitet. Zwischen den beiden muß ein ständiger Dialog hergestellt und so vermieden werden, daß die Idee sich schließlich von der Wirklichkeit löst.“36 Für Christen steht aber fest, daß es realistisch ist, die christliche Vollkommenheit im Bereich der Familie zu erreichen; vielleicht ist sie realistisch mit christlichen Realismus, also unter Einbeziehung der Gnade. Christen sind davon überzeugt, daß es möglich ist, die Ehe in Treue zu leben und ein geordnetes und bereicherndes 33

Fustel de Coulanges, La cité antique (FN 13), S. 61 – 64. Eingehend Rodney Stark, Il trionfo del cristianesimo: come la religione di Gesù ha cambiato la storia dell’uomo ed è diventata la più diffusa al mondo, Turin 2012, S. 67 – 219. 35 Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (FN 3), Nr. 233. 36 Ebd., Nr. 231. 34

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Familienleben zu führen. Den Grund dafür bildet eine positive und optimistische Sichtweise der menschlichen Natur, die zwar um ihre Schwäche aufgrund der Erbsünde weiß, doch mit starkem Glauben darauf vertraut, daß Gott den Menschen überreich seine Gnade schenkt. Gerade aus diesem Glauben heraus sehen Christen in der Familie „die grundlegende Zelle der Gesellschaft“37. Die vom II. Vatikanischen Konzil feierlich verkündete allgemeine Berufung zur Heiligkeit bekräftigt diese Überzeugung gewissermaßen von innen her38 und gibt so den Christen die nötigen Anstöße, die Institution Familie mit allen Mitteln zu fördern. Daß es keine idealen Familien gibt, ist allgemein bekannt. Eine jede Familie stößt über kurz oder lang auf – häufig: große – Schwierigkeiten. In der Tat gibt es nur die realen Familien, mit ihrem eigenen Hintergrund, ihrer Geschichte und Erfahrung. Sie alle haben, ohne Ausnahme, Probleme, werden auf die Probe gestellt, erleiden den Verlust geliebter Menschen. Aber gerade dort greift die Gnade Gottes ein. Daher verläuft die sachgerechte Linie der Unterscheidung nicht zwischen idealen und realen Familien, sondern vielmehr zwischen solchen, welche für sich die Hoffnung bewahren, auch mit Hilfe anderer Instanzen – vor allem der Hilfe Gottes – mit Zuversicht und Würde nach vorne zu schauen, und jenen anderen, die resignieren. Welchen dieser Wege eine Familie geht, ist dabei keine ausgemachte Entscheidung, worum es vielmehr geht, ist, die Ehe mit Realismus und Bodenhaftung zu leben. Dafür ist zweierlei in Rechnung zu stellen: Liebe braucht Zeit und Raum, um wachsen und reifen zu können. Die Phantasievorstellung einer romantischen, entflammenden, unwiderstehlichen Liebe auf den ersten Blick entspricht nicht der Erfahrung der meisten Paare. Ihnen gelingt es aber, allen Schwierigkeiten und Enttäuschungen zum Trotz, ihre Liebe nicht nur lebendig zu erhalten, sondern immer mehr zu festigen, indem sie beharrlich gegen den Egoismus und den gefährlichen Hang ankämpfen, sofort positive „Ergebnisse“ erzielen zu wollen. In einem berühmten Interview hat Max Horkheimer die Enzyklika Humanae vitae des seligen Papstes Paul VI. mit einem bemerkenswerten Argument verteidigt: Die Empfängnisverhütung, so der Philosoph, lasse der Liebe 37

Nachw. oben FN 3. Als Folgen des Wirkens der Gnade im Ehe- und Familienleben lassen sich benennen: (1) Sie überwindet die Sünde, also den Bruch im menschlichen Herzen wie in der Beziehung zwischen den Ehegatten. (2) Sie bewegt zur Liebe, im Sinne einer uneigennützigen und vorbehaltlosen Hingabe. (3) Sie läßt Mensch und Welt als ein Geschenk verstehen. (4) Sie richtet den Menschen auf die Ewigkeit aus und läßt so die Unauflöslichkeit der Ehe besser verstehen und leben. – Zur Rolle der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit s. die Botschaft des Präsidenten des Päpstlichen Rates für die Laien Kardinal Stanisław Ryłko vom 3. Oktober 2014 (online verfügbar unter www.laici.va/content/laici/en/messaggio-del-presidente/sinodo_2014. html), darüber hinaus den Beitrag von Rafael Díaz, in diesem Band, S. 53 – 74. Vgl. außerdem O’Callaghan, Figli di Dio (FN 5), S. 288 – 301 und passim; Miguel De Salis, La chiamata universale alla santità e all’apostolato negli insegnamenti di san Josemaría Escrivá. Elemento per una disamina del suo messaggio prima del Concilio Vaticano II, in: Javier López (Hrsg.), San Josemaría e il pensiero teologico, Rom 2014, S. 181 – 205. 38

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keinen Raum zum Wachsen, denn sie schließe all dasjenige aus, was zum Reifen jeder Liebe notwendig sei – Sehnsucht und lange Zeiten des Wartens, Geduld und Opfer39. Die Fülle der göttlichen Gnade wirkt im menschlichen Leben nicht abstrakt oder symbolisch, sie ist nicht eine bloße Hilfe zu den menschlichen Bemühungen, sondern etwas zutiefst Wirkliches im Herzen des konkreten, sündhaften Menschen und umfaßt die sozialen und körperlichen, die aktuellen wie vergangenen Aspekte seines Lebens. Christ sein meint nicht, einen vollkommenen Grad an glänzenden Tugenden schon erreicht zu haben (und so die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, vgl. Mt 5,16), sondern vielmehr, bei allen persönlichen Begrenztheiten – doch getragen von der Gnade Gottes und gestärkt durch die Sakramente – nach dieser Vollkommenheit zu streben. Gott benötigt nicht die gefestigte Tugend der Menschen, sondern sein Bemühen, heilig zu sein. Zu diesem Bemühen gehört es, die der Schöpfung eingeprägten Gesetze Gottes40 ebenso anzuerkennen wie die Notwendigkeit der Hilfe anderer41. Auch der geistliche Kampf gehört dazu: sich der eigenen Schwächen bewußt zu sein, demütig zu sehen, wie es um einen steht, bereit, zum Lernen und zum Sich-Ändern. Vor allem bedarf es einer gläubigen, freudigen und vertrauensvollen Antwort auf den gnadenhaften Anruf Gottes. Mit einem Wort, es geht um einen beharrlichen Kampf der Liebe, zunächst zu Gott, die dann aber in der Liebe zum Nächsten ihren Ausdruck findet. Der heilige Josefmaria Escrivá drückt es so aus: „So offenbart sich Christus nicht trotz unseres Elendes, sondern gewissermaßen durch unser Elend, durch das Leben von Menschen, die aus Fleisch und Lehm sind: Er offenbart sich in unserem Bemühen, besser zu werden, eine Liebe zu verwirklichen, die danach trachtet, rein zu sein, den Egoismus zu beherrschen und uns den anderen ganz hinzugeben, indem wir unser Leben zu einem ständigen Dienst werden lassen.“42

Wird die göttliche Gnade großherzig angenommen, ist es möglich – fast könnte man sagen: einfach –, eine gute christliche Familie reifen zu lassen.

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Vgl. Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Hamburg 1970, S. 73. O’Callaghan, Figli di Dio nel mondo (FN 5), S. 578 – 580. 41 Zur Bedeutung der Hilfe anderer für das christliche Leben Paul O’Callaghan, The Charism of the Founder of Opus Dei, in: Annales Theologici 14 (2000) S. 401 – 446. 42 Josefmaria Escrivá, Christus begegnen, Köln 1978, Nr. 114 (= S. 262). Über das Handeln Christi im Christen s. Paul O’Callaghan, The Inseparability of Holiness and Apostolate. The Christian ‘alter Christus, ipse Christus’ in the Writings of Blessed Josemaría Escrivá, in: Annales Theologici 16 (2002) S. 135 – 164, und ders., Lumen Christi. Il paradigma del cristiano nel mondo, in: Periodicum Internationale editum a Pontificia Academia Theologiae (PATH) 9 (2010), S. 171 – 183. 40

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IV. Die Beziehung zwischen Lehre und Barmherzigkeit In der Diskussion über Ehe und Familie werden häufig zwei Ansätze zur Lösung der aktuellen Probleme und Herausforderungen gegenübergestellt: die Lehre einerseits, die Barmherzigkeit andererseits – Kopf und Herz, Verkündigung des Dogmas und Anwendung des Evangeliums auf das menschliche Leben, Ideal und Wirklichkeit. Wer die heute so genannte „traditionelle“ Ehe verteidigt, gehörte demnach zur ersten Gruppe, den Idealisten, den Hütern der Lehre. Wer dagegen die Komplexität familiärer Lebensformen wahrnimmt und sich im Namen der Barmherzigkeit der gelebten Realität anpaßt, rechnete zur zweiten. Diese vereinfachende Beschreibung der Wirklichkeit spiegelt natürlich nicht den Reichtum und die Komplexität des christlichen Lebens wider. Auch nimmt sie nicht wirklich ernst, daß das göttliche Wort – die Kraft, das Licht, die Gnade Gottes – Fleisch geworden ist, sich inkarniert hat, sich wirklich ganz in die Welt hineinbegeben hat, nicht nur vollends einen menschlichen Leib angenommen hat, sondern auch die soziale und zeitgebundene Verfaßtheit der geschaffenen Welt und des zu Fall gekommenen Menschen – um ihn zu erlösen und zu retten, freilich unter vollständiger Beachtung seiner Dynamik und Zeiten. Was nun die hinreichend bekannte Polarität von „Lehre“ und „Barmherzigkeit“ betrifft, ist zu betonen, daß der wesentliche Inhalt der „Lehre“ gerade die Barmherzigkeit ist, während die der Barmherzigkeit innewohnende Kraft die Lehre ist. Genauer gesagt: Die Glaubenslehre mit ihren verschiedenen Aussagen zu Dogma und Moral ist das feingegliederte Endergebnis eines langen Entwicklungsprozesses kirchlicher Reflexion über das Evangelium. Das Evangelium seinerseits ist gerade die Geschichte der göttlichen Barmherzigkeit, die auf den Menschen zugeht, um ihm Vergebung und Heiligung zu bringen. Es ist Heilsgeschichte, die im Leben, Sterben und in der Auferstehung Christi ihren Höhepunkt findet. So ist die Lehre, welche die Kirche verkündet, der Nektar der heiligen Schrift. Sie ist wie ein Medikament, das bitter schmecken kann und in der richtigen Dosis verabreicht werden muß, aber vor allem ist sie der Ausdruck der barmherzigen Liebe Gottes. So schrieb kürzlich Papst Franziskus in einem Brief an Theologen: „Die Barmherzigkeit ist nicht nur eine pastorale Haltung, sondern die Substanz selbst des Evangeliums Christi.“43 Und in der Abschlußbotschaft der letzten Bischofssynode heißt es: „Die christliche Botschaft enthält immer die Wirklichkeit und Dynamik der Barmherzigkeit und der Wahrheit, die in Christus zur Einheit geführt werden.“44 43

Franziskus, Schreiben an den Großkanzler der Pontificia Universidad Católica Argentina zum 100. Gründungstag der Theologischen Fakultät vom 3. März 2015. 44 Relatio Synodi der Dritten Außerordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode, „Die pastorale Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung“, 18. Oktober 2014, Nr. 11, in: AAS 106 (2014), S. 887 – 908 (892); deutsche Übersetzung in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung. Texte zur Bischofssynode 2014 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz (Reihe: „Arbeitshilfen“, Nr. 273), Bonn 2014, S. 141 – 175 (150).

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So sehr die Barmherzigkeit „der Kerngehalt des Evangeliums“ ist, bezeichnet sie zugleich eine pastorale Haltung. Während die auf sie bezogene Lehre – Barmherzigkeit als Ausdruck der göttlichen Vergebung und Gnade – den Charakter des „Statischen“, Abstrakten und Allgemeingültigen aufweist, fordert ihre Anwendung den Geist der Nähe, der Empathie und der Annahme des anderen, so wie er ist, der Geduld, des Wartenkönnens, des langen Atems. Die Lehre ist vom Herrn der Kirche gegeben worden; die Barmherzigkeit ist eine menschliche wie christliche Tugend, mit der die Lehre auf die verschiedenen konkreten Situationen der Menschen angewandt wird. Vielleicht läßt sich ihre Beziehung in diese Formel fassen: Lehre plus Zeit ergibt Barmherzigkeit. Die Lehre „enthält“ die Barmherzigkeit, genauso wie die Medizin die Gesundheit „beinhaltet“. Daher, so der Abschlußbericht der Synode, besteht „die größte Barmherzigkeit darin, mit Liebe die Wahrheit zu sagen“45. So soll die Lehre in einer Weise vermittelt werden, welche die tatsächliche Dynamik des menschlichen Lebens beachtet und widerspiegelt sowie die zeitbedingten und kulturell geprägten Umstände der Menschen in Rechnung stellt. Bei einer medizinischen Behandlung wäre es fatal, einem Patienten die Schwere seiner Krankheit zu verschweigen und ihm zur kurzfristigen Linderung seiner Schmerzen ein Placebo zu verabreichen – es wäre ein Betrug am Patienten. Ebenso unverantwortlich wäre es, ihn als unheilbar „abzuschreiben“ und sich nicht der beharrlichen Anstrengung zu unterziehen, ihn wie auf einer „sanft ansteigenden Ebene“46 voran zu bringen. Fehlt im pastoralen Handeln der Kirche, zumal in der Familienpastoral, dieses feinfühlige Eingehen auf die konkreten Lebensumstände der Menschen, kann – um Ausdrücke von Papst Franziskus zu gebrauchen – die Verkündigung der Lehre leicht als „feindselige Verhärtung“ und die Barmherzigkeit als „destruktives Gutmenschentum“ wahrgenommen werden47. Schließen können wir mit folgender Überlegung. Im „Kaufmann von Venedig“ von Shakespeare sagt Porzia: the quality of mercy is twice blest48 – „Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang. Sie träufelt wie des Himmels milder Regen zur Erde unter ihr, zwiefach gesegnet“. Sie ist zweifach gesegnet, denn, so der Text weiter: „Sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt.“ In der Tat, die Barmherzigkeit muß mit vollen Händen ausgeteilt werden. Gott wird nie müde, zu vergeben. Gott vergibt alles und Gott vergibt immer49, auch wenn die Menschen es nicht immer zu tun verstehen. Die Barmherzigkeit muß auch angenommen werden, oft45

Ebd., Nr. 28. Ausdruck nach Josefmaria Escrivá, Christus begegnen (FN 42), Nr. 75 (= S. 187), welcher das Erfordernis meint, den Faktor Zeit und die persönlichen Möglichkeiten der Menschen bei ihrer Entwicklung im christlichen Leben zu berücksichtigen. 47 Franziskus, Ansprache zum Abschluß der Dritten Außerordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode vom 18. Oktober 2014, in: AAS 106 (2014), S. 835 – 839 (836); deutsche Übersetzung dem von der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft (FN 44), S. 176 – 182 (177 f.). 48 Nachw. oben FN 2. 49 Franziskus, Predigt vom 13. März 2015. 46

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mals unter Anstrengungen, denn sie fordert eine schmerzliche Bekehrung des Geistes und des Herzens, biblisch ausgedrückt: metanoia. Dabei bedient sich Gott der Menschen selbst. Den anderen gegenüber sind die Christen in den Worten von Benedikt XVI.50 „Diener der Hoffnung“ (oder sollten es zumindest werden). Ist also die Barmherzigkeit von der christlichen Tugend der Liebe inspiriert und durchformt, steht gewissermaßen die Tugend der Hoffnung51 „an der Spitze“, jene christliche Tugend also, welche die Zeiten lenkt und leitet.

V. Fazit Die drei Schritte dieses Beitrags lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen: Die Liebe braucht Zeit, die Heiligkeit braucht Zeit, die Barmherzigkeit braucht Zeit. Alle drei Haltungen benötigen Zeit, aber im Inneren der Zeit erfordern sie auch sie stützende Strukturen – juristische, soziale, kulturelle Strukturen, vor allem aber die Stütze der Gnade Gottes, wie sie im Leben der Kirche vergegenwärtigt wird. Sollten unter den gegenwärtigen Umständen diese Stützen nicht tatsächlich wirksam werden, stünden wir vor die Perspektive einer Welt ohne Liebe, ohne Heiligkeit, ohne Barmherzigkeit – vor einem tiefen „anthropologischen Winter“.

50 Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi über die christliche Hoffnung vom 30. November 2007, Nr. 34, in: AAS 99 (2007), S. 985 – 1027 (1012); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 179 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 2007, S. 43. 51 O’Callaghan, Figli di Dio (FN 5), S. 404 – 412.

Natur und Gnade in der Ehe Rafael Díaz

I. Einführung Der Abschlußbericht der Dritten Außerordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode betont, Papst Paul VI. habe „mit der Enzyklika Humanae vitae das innere Band zwischen der ehelichen Liebe und der Weitergabe des Lebens ins Licht gehoben“1, und verbindet damit die Einladung, die Botschaft dieser Enzyklika „wiederzuentdecken, die hervorhebt, daß bei der moralischen Bewertung der Methoden der Geburtenregelung die Würde der Person respektiert werden muß“2. Bekanntlich hatte Papst Paul VI. als Lehre der Kirche definiert, daß jeder eheliche Akt für die Weitergabe des Lebens offen sein muß, und weiter, daß diese Lehre „in einer von Gott bestimmten unlösbaren Verknüpfung der beiden Sinngehalte – liebende Vereinigung und Fortpflanzung –, die beide dem ehelichen Akt innewohnen“ begründet ist. Allein wenn beide Aspekte beachtet sind, „behält der Verkehr in der Ehe voll und ganz den Sinngehalt gegenseitiger und wahrer Liebe, und seine Hinordnung auf die erhabene Aufgabe der Elternschaft, zu der der Mensch berufen ist“3. Wie zuvor Paul VI., hat Johannes Paul II. die untrennbare Bindung zwischen ehelichem Akt auf der einen Seite und der Institution Ehe und ihren Zwecken andererseits hervorgehoben: „Die leibliche Ganzhingabe der Ehepartner wäre eine Lüge, wenn sie nicht Zeichen und Frucht personaler Ganzhingabe wäre“, welche auch den Erfordernissen einer verantworteten Fruchtbarkeit entspricht. Daraus schließt er: „Diese Hingabe ist in ihrer ganzen Wahrheit einzig und allein im ,Raum‘ der Ehe möglich, im Bund ehelicher Liebe, auf dem Boden der bewußten und freien Entscheidung, mit der Mann und Frau die innige, von Gott gewollte 1

Relatio Synodi der Dritten Außerordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode, „Die pastorale Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung“, 18. Oktober 2014, Nr. 18, in: AAS 106 (2014), S. 887 – 908 (895); deutsche Übersetzung in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung. Texte zur Bischofssynode 2014 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz (Reihe: „Arbeitshilfen“, Nr. 273), Bonn 2014, S. 141 – 175 (155). 2 Ebd., Nr. 58. 3 Paul VI., Enzyklika Humanae vitae vom 25. Juli 1968, Nr. 12, in: AAS 60 (1968), S. 482 – 503 (488 f.).

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Lebens- und Liebesgemeinschaft eingehen, die nur in diesem Licht ihren wahren Sinn enthüllt“4.

II. Anthropologische Wertigkeit der Ehe 1. Der Mensch – Ein Beziehungswesen Nach der priesterschriftlichen Überlieferung des Schöpfungsberichts, formte Gott, der Herr, nachdem Er Erde und Himmel geschaffen hatte, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen (Gen 2,7). Unter allen Kreaturen des sichtbaren Universums besitzt der Mensch durch den göttlichen Atem, der ihn zum Leben erweckte, eine ureigene Würde: Der Mensch ist die einzige Kreatur auf Erden, die nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde (vgl. Gen 1,26). So lebt der Mensch in der Welt, kraft seiner einzigartigen Würde überschreitet er sie zugleich. Dies tut er, so Papst Franziskus, in erster Linie kraft des Umstands, daß „Gott dem menschlichen Wesen eine andere Art von Autonomie“ gibt, und zwar „eine Autonomie, die sich von jener der Natur unterscheidet: es ist die Freiheit“5. In zweiter Linie tut er dies, weil der Endzweck des Menschen, gemessen an der Immanenz seiner rationalen Handlungen, in zwei lebenswichtigen Aufgaben besteht: zu erkennen und zu lieben6. Unter allen Geschöpfen auf Erden manifestiert sich daher im Menschen am augenfälligsten die Individualität, die „Unteilbarkeit“. Der Mensch ist das unteilbarste Lebewesen, Herr seiner selbst. Seine Handlungen entspringen der Tiefe seiner eigenen Intimität und sie können daher nicht vorherbestimmt sein. Individualität bedeutet indes nicht Introvertiertheit. Im Gegenteil: Je mehr der Mensch Individuum ist, um so mehr interessiert ihn alles Übrige7. Diese Erfahrung überliefert das Buch Genesis, wenn es die Einsamkeit des ersten Menschen schildert. Nach der Enzyklika Caritas in veritate Papst Benedikts XVI. ist die Einsamkeit „(e)ine der schlimmsten Arten von Armut, die der Mensch erfahren kann. … Genau betrachtet haben auch die anderen Arten von Armut, einschließlich der materiellen Armut, ihren Ursprung in der Isolation, im Nicht-geliebt-Sein oder in der Schwierigkeit zu lieben. Oft entstehen die Arten der Armut aus der Zurückweisung der Liebe Gottes, aus einem 4 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute vom 22. November 1981, Nr. 11, in: AAS 74 (1982), S. 81 – 199 (92 f.); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 33 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 51994, S. 16. 5 Franziskus, Ansprache anläßlich der Einweihung einer Büste zu Ehren von Papst Benedikt XVI., 27. Oktober 2014. 6 Vgl. José Ignacio Murillo, Operación, hábito y reflexión. El conocimiento como clave antropológica en Tomás de Aquino, Pamplona 1998, S. 13 – 29. 7 Vgl. Leonardo Polo, La persona humana y su crecimiento, Madrid 1996, S. 21 – 36.

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ursprünglichen tragischen Verschließen des Menschen in sich selbst, der meint, sich selbst genügen zu können oder nur eine unbedeutende und vorübergehende Erscheinung, ein ,Fremder‘ in einem zufällig gebildeten Universum zu sein. … Der Mensch als Geschöpf von geistiger Natur verwirklicht sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Je echter er diese lebt, desto mehr reift auch seine eigene persönliche Identität. Nicht durch Absonderung bringt sich der Mensch selber zur Geltung, sondern wenn er sich in Beziehung zu den anderen und zu Gott setzt. Die Bedeutung solcher Beziehungen wird also grundlegend.“8

Der Individualität wie Relationalität entsprechend bedeutet „das Sein für den Menschen ein Mit-Sein; seine Existenz ist dementsprechend stets Ko-Existenz“9. Gleichzeitig charakterisieren Individualität und Relationalität den Menschen als ein berufenes Lebewesen. Gott ruft den Menschen ins Leben, und diese seine Existenz ist ihm zugleich Aufgabe: Die Person ist dazu berufen, dadurch innerlich zu wachsen, indem sie Beziehungen der Gemeinschaft in Wahrheit und Liebe aufbaut. Und da letzten Endes allein Gott die Sehnsucht des menschlichen Herzens voll befriedigen kann10, ist der Mensch dazu „berufen, in Erkenntnis und Liebe am Leben Gottes teilzuhaben. Auf dieses Ziel hin ist er geschaffen worden, und das ist der Hauptgrund für seine Würde“11. 2. Der Mensch: Leib und Seele Die Seele ist mit dem Körper nicht auf gewaltsame Weise vereint, da sie ihn für ihre Existenz braucht. Hat sie aber einmal dem Körper seine Form gegeben (ihn „informiert“, beseelt), kann sie auch ohne diesen fortbestehen12. Dieser Notwendigkeit entsprechend gibt der Körper der rationalen Natur der menschlichen Person spezi8

Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit vom 29. Juni 2009, Nr. 53, in: AAS 101 (2009), 642 – 709 (688 f.); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 186 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 2009, S. 86. – Angesichts der einzigartigen Würde des Menschen ist zwischen metaphysischen und anthropologischen Transzendentalien zu unterscheiden. Letztgenannte sind nach Leonardo Polo, Antropología trascendental, Bd. 1: La persona humana, Pamplona 1999: die persönliche Ko-Existenz, die persönliche Freiheit, der persönliche Verstand sowie die persönliche Liebe und Annahme. Der Dualismus zwischen Körper und Geist sowie zwischen Verstand und Willen gehören dabei zur Seinsweise (essentia) und sind vom Seinsakt der Person (actus essendi) real verschieden. Das Begriff „Person“ ist daher radikaler als derjenige des „Ich“, ebenso die Begriffe der „Freiheit“ gegenüber dem „freien“ Willen, der „Verstand“ gegenüber der „Erkenntnis“ und die „Liebe“ gegenüber dem „Willen“ (vgl. dens., Antropología trascendental, Bd. 2: La esencia de la persona humana, Pamplona 2003). 9 Carlo Rocchetta, Il sacramento della coppia. Saggio di teologia del matrimonio cristiano, Bologna 1996, S. 74. 10 Augustinus, Bekenntnisse, I. 1.: „Du hast uns auf Dich hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir.“ 11 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 356. 12 Vgl. Thomas von Aquin, S. Th., I, q. 76, a. 5, c.

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fische Besonderheiten, wie etwa den Umstand, daß die menschliche Erkenntnis ihren Ausgang bei den Sinnen nimmt. Gleichwohl ist die Seele, der geistigen Würde des Menschen entsprechend, Form und Zielbestimmung für den Körper13. Die Seele bewirkt so eine Vergeistigung des Körpers, welcher dergestalt am Sein nach Gottes Ebenbild teilhat. Daher ist der Körper des Menschen nicht mit dem der Tiere vergleichbar, er hat vielmehr Anteil an dem Überschreiten des Geistes über die Materie. Diese ergibt sich aus den sinnlichen kognitiven Potenzen des Menschen (da sie in der Seinsweise der Seele ihren Ausgang nehmen)14 sowie aus seiner besonderen körperlichen Physionomie: „Der aufrechte Gang befreit die Hände, die nicht mehr als Pfoten der Fortbewegung dienen, sondern um das Zehnfache potenzierte Greifwerkzeuge darstellen. Die Hände befreien das Gesicht, das nicht mehr schnappendes Maul, sondern Vorposten des Logos ist“15. Zur gleichen Schlußfolgerung lassen die körperlichen Gesten des Menschen gelangen: Ein Kuß ist nicht das Aufeinandertreffen zweier Münder, ein Streicheln nicht ein bloßer Hautkontakt, ein Lächeln nicht die Kontraktion der Gesichtsmuskeln. Der Körper hat auf diese Weise die Wertigkeit eines Symbols16, insoweit er Ausdrucksform der Person ist. Zugleich verwirklicht er die interpersonalen Beziehungen. Dennoch sind diese die Beziehungen zwischen zwei Personen und nicht zwischen zwei Körpern. Ansonsten wäre der Mensch nur eine intrakosmische Substanz ohne Handlungsfreiheit und allen Gesetzen der Physik unterworfen. Deswegen variiert, je nach kulturellem Kontext, die Körpersprache, mit welcher der Mensch Respekt, Gehorsam, Freundschaft etc. zum Ausdruck bringt. Allerdings eröffnet diese Transzendenz dem Menschen auch die Möglichkeit, den Symbolcharakter seines Körpers ins Diabolische zu verkehren. Die Körpersprache wahrt diesen Symbolcharakter, wenn er echte Beziehungen der Gemeinsamkeit mit anderen entwickelt; sie bereichern die Person. Diabolisch wird sie dagegen, wenn sie betrügt, die zwischenmenschlichen Beziehungen verletzt und so die Person verarmen läßt. Das Paradebeispiel dafür ist der Kuß des Judas: eine Geste der Freundschaft wird zum Zeichen des Verrats. 3. Der Ehebund Die in der Körperlichkeit angelegte menschliche Sexualität gewinnt eine ganz eigene symbolische Wertigkeit. Die biologische Geschlechtlichkeit wird vom genetischen (den XX-Chromosomen bei der Frau und den XY-Chromosomen beim Mann) sowie vom somatischen Geschlecht (unterschiedliche Geschlechtsorgane 13

Vgl. Polo, Antropología trascendental II (FN 8), S. 291 – 298. Vgl. Thomas von Aquin, S. Th., I, q. 77, a. 6, c. 15 Fabrice Hadjadj, Mistica della carne. La profondità dei sessi, Mailand 2009, S. 59. 16 Vgl. Rocchetta (FN 9), S. 70 – 76. 14

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sowie morphologische Unterschiede bei manchen Geweben und Organen) bestimmt. Die Neurologie belegt, daß namentlich auch das Gehirn Geschlechtsspezifika aufweist17. Da im Nervensystem die instinktiven, emotiven und affektiven Impulse des Lebens zusammenfließen, verarbeiten Männer und Frauen diese Impulse in unterschiedlicher Weise. Daraus ergibt sich, daß die biologische Geschlechtlichkeit einen entscheidenden Faktor dafür bildet, wie der Mensch ko-existiert, und bildet so den Ausgangspunkt für die beiden Modalitäten menschlicher Existenz: Mann-Sein und Frau-Sein. In den Worten von Johannes Paul II. ist „die Funktion des Geschlechts … in gewisser Hinsicht ein ,konstitutiver‘ Bestandteil der Person (nicht nur ein Attribut)“, was „deutlich (macht), wie tief der Mensch mit seiner ganzen geistigen Einsamkeit, mit der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit seiner Person vom Körper als ,er‘ bzw. ,sie‘ geprägt wird.“18 Die Sexualität verleiht der menschlichen Person eine Potentialität – die Weitergabe des Lebens im Geschlechtsakt –, deren geistlich-spirituelle Dimension es erst begreiflich zu machen gilt. Bereits die Wirkungsweise des sexuellen Impulses markiert einen signifikanten Unterschied zur Tierwelt. Bei den Tieren folgt der sexuelle Instinkt den Naturgesetzen und ist Ausdruck des Lebens- und Erhaltungstriebs. Das Tier wird von seinem Instinkt gesteuert und beherrscht, der – außer bei Anomalien oder externen Ursachen – mit untrüglicher Sicherheit wirksam ist. Der Mensch hingegen ist frei und diese seine Freiheit zeigt sich schon im Fehlen von regelmäßig wiederkehrenden Perioden sexueller Impulse; ebenso darin, daß diese sein Verhalten nicht notwendigerweise determinieren. Weiter hat bereits aus Gründen der menschlichen Physiognomie die Zeugung einen gänzlich anderen Bedeutungsgehalt als beim Tier: Die aufrechte Gang des Menschen gestattet den Geschlechtsakt „auf gleicher Augenhöhe“, in einer „Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Das Angesicht ist weit mehr als die Gesichtszüge und seine Muskeln. Es geht um weit mehr als ein Zusammenwirken muskulärer Bewegungsabläufe. Vielmehr wird im Körperlichen etwas offenbar, was nicht materiell ist. Bereits an der Oberfläche zeigt sich Innerlichkeit“19. Die Körpersprache kann sym-bolisch oder dia-bolisch sein, etwas zum Ausdruck bringen oder Verwirrung stiften. Die Vereinigung der Geschlechter erlaubt auch die Vereinigung der Münder. Doch man kann auch küssen wie Judas. Wie also muß nun diese Vereinigung erfolgen, um ein wahrhaft menschlicher Akt zu sein? Das Buch Genesis liefert uns auch hier die Antwort. Der erste Schöpfungsbericht hebt hervor, daß Gott Mann und Frau nach Seinem Abbild schuf, Ihm ähnlich, und zwar als einander zugeordnetes Paar – und auch diese Verbindung ist Abbild Gottes: Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert 17 Vgl. Natalia López Moratalla, Cerebro de mujer y cerebro de varón, Madrid 2007; Louann Brizendine, The female brain, New York 2006. 18 Johannes Paul II., Generalaudienz vom 21. November 1979, Nr. 1, in: Norbert und Renate Martin (Hrsg.), Johannes Paul II., Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. Katechesen 1979 – 1981, Vallendar 1985, S. 98 – 103 (99). 19 Hadjadj (FN 15), S. 61.

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die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen (Gen 1,28). Dazu drei Anmerkungen: Im Schöpfungsbericht sind also Ehe und Fortpflanzung eng miteinander verbunden. Daraus erhellt, daß im Geschlechtsakt jener personale Bund zwischen Mann und Frau zum Ausdruck kommt, der die Ehe ist20. Zum zweiten erweist sich die Fortpflanzung als Ant-Wort auf den persönlichen An-Ruf Gottes an Mann und Frau, an Seiner schöpferischen Kraft teilzuhaben. Gott ist der Urheber der Ehe, Er hat Adam und Eva als Ehegatten zusammengeführt21. Fraglos erwächst die Ehe aus der Liebe der Gatten zueinander, diese Liebe freilich ist zeichenhafte Gegenwart der Liebe Gottes. Papst Franziskus formuliert dies in der Enzyklika Lumen fidei mit den Worten: „Auf diese Liebe gegründet, können sich Mann und Frau mit einer Geste, die ihr ganzes Leben mit einbezieht und in vielen Zügen an den Glauben erinnert, die gegenseitige Liebe versprechen. Eine Liebe zu versprechen, die für immer gilt, ist möglich, wenn man einen Plan entdeckt, der größer ist als die eigenen Pläne, der uns trägt und uns erlaubt, der geliebten Person die ganze Zukunft zu schenken.“22

Die eheliche Treue ist keine Last, welche die Brautleute an ihrem Hochzeitstag auf sich nehmen; sie ist vielmehr ein göttliches Geschenk, welches sie als Eheleute zu hüten berufen sind. Sie können sich gegenseitig nur darum endgültig und vorbehaltlos annehmen, weil sie schon im Voraus von Gott endgültig und vorbehaltlos angenommen worden sind. Eheliche Treue ist darum Treue zu Gott23. Drittens schließlich erhält das Brautpaar die Sendung, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren. Die Würde dieses Auftrags ist ebenso schon im Buch Genesis beschrieben. Dem Schöpfungsbericht nach wird der Mensch zu einem lebendigen Wesen, als ihm Gott aus Erde vom Ackerboden den Lebensatem in seine Nase blies (Gen 2,7). An späterer Stelle wird abermals ausgesagt, daß Gott den Menschen nach seinem Abbild erschaffen hat, dann aber hinzugefügt, daß Adam einen Sohn (zeugte), der ihm ähnlich war, wie sein Abbild (Gen 5,2 – 3). Die Zeugung kann also 20

Siehe auch in diesem Kontext das in FN 4 nachgewiesene Zitat; auf gleicher Linie Walter Kasper, Zur Theologie der christlichen Ehe, Mainz 21981, S. 25: „Die umfassendste Form personaler Bindung zwischen Mann und Frau ist die Ehe. Sie umfaßt wie kein anderes zwischenmenschliches Verhältnis sonst die gesamte Person der beiden Partner in allen ihren Dimensionen. Deshalb ist es sinnvoll, daß volle Geschlechtsgemeinschaft zwischen Mann und Frau ihren Ort in der Ehe hat. Hier ist sie eingebunden in eine umfassende menschliche Lebens- und Schicksalsgemeinschaft.“ 21 Exegese des Schöpfungsberichts der Genesis bei Antonio Miralles, Il matrimonio. Teologia e vita, Cinisello Balsamo 1996, S. 14 – 17. 22 Franziskus, Enzyklika Lumen fidei über den Glauben vom 29. Juni 2013, Nr. 52 in: AAS 105 (2013), S. 555 – 596 (590); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 193 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 2013, S. 60. 23 Vgl. Kasper (FN 20), S. 33.

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nicht nur menschliches Handeln sein; es ist auch göttliches Handeln, das dem Menschen den Lebensatem schenkt und ihn so zum Abbild Gottes macht. In aller Klarheit findet sich dieser Gedanke bei Johannes Paul II.: „Am Anfang jeder menschlichen Person steht ein Schöpfungsakt Gottes; kein Mensch kommt zufällig zum Leben; er ist immer Endziel der schöpferischen Liebe Gottes. Aus dieser grundsätzlichen Glaubens- und Verstandeswahrheit ergibt sich, daß die der menschlichen Sexualität eingeschriebene Zeugungsfähigkeit – in ihrer tiefsten Wahrheit – ein Zusammenwirken mit der Schöpfungskraft Gottes ist.“24

Das bisher Darlegte läßt deutlich werden, daß der eheliche Akt „keineswegs etwas rein Biologisches (ist), sondern … den innersten Kern der menschlichen Person als solcher (betrifft)“25. Er erinnert in eindringlicher Weise an den von Gott eingesetzten Ehebund und ist Ausdruck wie Bekräftigung des gleichen Bundes zwischen Gott und den Ehegatten. Daher wird der Geschlechtsakt auf wahrhaft menschliche Weise vollzogen (und ist ein im Wortsinn sym-bolischer Akt), wenn er Ausdruck ehelicher Einheit und Offenheit für das Leben ist und wenn er die treue und fruchtbare Liebe der Ehegatten als Antwort auf die treue und schöpferische Liebe Gottes beinhaltet, welche der Liebe der Ehegatten vorausgeht und sie stützt.

III. Die christologische Wertigkeit der Ehe Die anthropologische Wertigkeit kann nicht umfassend den Wert der Ehe nach dem Plan Gottes aufweisen, da ihr der Konnex zum Geheimnis der Vereinigung Christi mit der Kirche fehlt, so wie ihn der Epheserbrief entfaltet: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein [Zitat von Gen 2,24]. Dies ist ein tiefes Geheimnis; ich beziehe es auf Christus und die Kirche (Eph 5,31 – 32). Die paulinische Lehre von der zentralen Rolle Christi im Werk der Schöpfung (alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen, Kol 1,16) betrifft in besonderer Weise die Ehe. Zur näheren Untermauerung dessen ist auf die unterschiedlichen Abschnitte der Heilsgeschichte einzugehen. 1. Die Ehe in der Schöpfungsordnung Johannes Paul II. zufolge eröffnet der Epheserbrief, der mit einem Lobpreis Gottes in Jesus Christus beginnt, „die übernatürliche Welt des ewigen Geheimnisses, der ewigen Pläne Gottes, unseres Vaters, für den Menschen. Diese Pläne gehen der ,Schöpfung der Welt‘ und damit auch der 24 Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer eines Studienseminars in Castel Gandolfo über „Verantwortliche Elternschaft“ vom 17. September 1983, in: Norbert und Renate Martin (Hrsg.), Johannes Paul II. Die Familie – Zukunft der Menschheit. Aussagen zu Ehe und Familie 1978 – 1984, Vallendar 1985, S. 457 – 461 (458). 25 Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (FN 4), Nr. 11.

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Rafael Díaz Erschaffung des Menschen voraus. Also beginnen diese göttlichen Pläne sich bereits in der ganzen Wirklichkeit der Schöpfung zu verwirklichen. Wenn zum Schöpfungsgeheimnis auch der Zustand der Urunschuld des als Ebenbild Gottes als Mann und Frau erschaffenen Menschen gehört, so heißt das, daß das ursprüngliche, dem Menschen von Gott zuteil gewordene Geschenk bereits die Frucht der Erwählung miteinschloß.“26

Im Paradies bringt die Berufung des Menschen zum Leben in Christus das Geschenk der ursprünglichen Heiligkeit mit sich, die Teilhabe am innersten Leben Gottes als Sohn im Sohn. So wie der Ruf Gottes zur Existenz untrüglich das Leben schenkt, so schenkte in den Anfängen der Ruf zur Heiligkeit tatsächlich das Siegel der Gotteskindschaft, was unmittelbar im Geschenk der Fortpflanzung seinen Widerhall findet. Der Mensch, als Mann und Frau, hat durch die körperliche Vereinigung nicht nur Anteil an der schöpferischen Liebe Gottes, sondern auch an seiner heiligmachenden Liebe. Dergestalt erinnert die geschlechtliche Vereinigung nicht nur an den von Gott gestifteten Ehebund, sondern auch an den heilbringenden Bund Gottes mit seinem Volk. Dieser enge Konnex von Ehe und ehelicher Vereinigung verleiht auch der ehelichen Lebensgemeinschaft als solcher eine neue Würde. Heutzutage besteht in der Theologie weitgehende Übereinstimmung darüber, daß die Ehe schon in den Anfängen Typus der Verbindung zwischen Christus und der Kirche war und als deren Vorbild eingesetzt wurde. Konkret wurde die Ehe den kultischen bzw. sakramentalen Vorschriften des Alten Testaments anglichen, die Gott zu einem zweifachen Zweck bestimmt hatte: Sie sollen Ihm die Ehre geben im (Literalsinn) und auf Christus verweisen (typologischer Sinn)27. Entsprechend war nach Leo dem Großen seit Anbeginn in der Ehe eine zweifache Dimension angelegt: über die Vereinigung der Geschlechter hinaus (Literalsinn) ist sie Zeichen für Christus und die Kirche (typologischer Sinn)28. So ist die Ehe der Ursprünge in ihrem typologischen Charakter einzigartig unter den „Sakramenten“ des Alten Testaments. Während die alten Kultvorschriften im Neuen Bund verschwinden, wird die Ehe zum Sakrament der Kirche erhoben. Die Exegese des Schöpfungsberichts liefert das biblische Fundament für diese These sowie zusätzliche Anknüpfungspunkte für das typologische Verständnis der Ehe in den Anfängen. Der Bund Gottes mit Seinem Volk wird im Alten Testament mit dem Begriff b rît bezeichnet, dessen Handlungssubjekt Jahwe ist. Denn allein Er begründet ¯ diesen Bund, es besteht keine wechselseitige, bilaterale Beziehung zwischen Gott und Mensch. Allein Gott setzt die Pflichten des Menschen fest, Er allein knüpft die Gültigkeit seines b rît an die Erfüllung bestimmter Bedingungen. Gott steht durch ¯ den b rît nicht in der Pflicht, ihn zu bewahren, auch dann nicht, wenn das Volk ihn ¯ e

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26 Johannes Paul II., Generalaudienz vom 6. Oktober 1982, Nr. 3, in: Norbert und Renate Martin (Hrsg.), Johannes Paul II., Die Erlösung des Leibes und die Sakramentalität der Ehe. Katechesen 1981 – 1984, Vallendar 1985, S. 208 – 214 (210). 27 Thomas von Aquin, S. Th., I-II, q. 102, a. 2, c. 28 Vgl. Leo der Große, Epistola ad Rusticum Narbonensem Episcopum, c. 7, in: Bullarium Romanum, I, ed. Taurinensis, 44B-458.

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einhält: Die einzige Garantie besteht darin, daß Gott stets sein Wort hält29. Zwar fehlt der Terminus b rît im Schöpfungsbericht. Gleichwohl herrscht in der Exegese ¯ und der systematischen Theologie im Anschluß von Gerhard von Rad, welcher auf die wechselseitige Beziehung von Schöpfung und alttestamentarischer Soteriologie hingewiesen hatte, die Meinung vor, der zufolge der Komplex der Schöpfung in den größeren Zusammenhang der Heilsgeschichte einzubeziehen und von ihm aus zu interpretieren ist30. e

Dementsprechend lehrt der Katechismus, daß „die Schöpfung … der Beginn der Heilsökonomie‘, ,der Anfang der Heilsgeschichte‘ (ist), die in Christus gipfelt“31. Die Schöpfung ist Voraussetzung des Bundes, der b rît seinerseits Wiederherstel¯ lung und Erneuerung der Schöpfung. Die theologischen Merkmale des b rît, wel¯ cher eine inkommensurable Kategorie gegenüber menschlichen Bundesschlüssen darstellt, entsprechen denjenigen eines Schöpfungsaktes: Die Schöpfung kennt keine Wechselseitigkeit zwischen Gott und Geschöpf, denn sie wird allein bewirkt durch das Wort Gottes, der das Sein schenkt und alles Geschaffene durch Seine Treue bewahrt. Gleichwohl sollte der Terminus b rît nicht auf die Schöpfung be¯ zogen werden, denn die Schöpfung als solche ist weder historisch noch heilsvermittelnd. e

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Ist nun b rît ein Bund zwischen Gott und Mensch – worin das Universum, da für ¯ den Menschen geschaffen, einbezogen ist –, tritt dies in der Schöpfung als Beginn der Heilsgeschichte in der Erschaffung der ersten Menschen in den Blick. Im Einklang mit seiner Einsetzung durch Gott erhält die Ehe die Merkmale des b rît : Gott ¯ selbst ist der Urheber der Ehe und darum unterliegt diese heilige Verbindung, mit verschiedenen Gütern und Zielen ausgestattet, nicht mehr menschlicher Willkür32. Ist nun aber nach dem Buch Genesis die Erschaffung des ersten Ehepaares im eigentlichen Sinne bereits heilbringend? e

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In der priesterschriftlichen Version des Schöpfungsberichts zeigt sich die Beziehung zwischen Schöpfung und Bund in der herausgehobenen Stellung des Sabbat, alter priesterlicher Überlieferung zufolge seit Anbeginn der Zeitpunkt schlechthin für den israelitischen Kult. Der Sabbat offenbart den Charakter als Zeichen für den sinaitischen Bund (vgl. Ex 31,12 – 17)33. Doch welches ist das Volk des Bundes? In der Priesterschrift wendet sich Gott persönlich einzig und allein an den Menschen, freilich nicht als Einzelwesen, sondern als Mann und Frau, als 29 Ernst Kutsch, b rît, in: Ernst Jenni/Claus Westermann (Hrsg.), Theologisches Hand¯ wörterbuch zum Alten Testament, Bd. 1, Gütersloh 62004, S. 339 ff. 30 Vgl. Michelangelo Tábet, Creazione e salvezza nella tradizione storico-narrativa del popolo d’Israele, in: Marco Valerio Fabbri/ders. (Hrsg.), Creazione e salvezza nella Bibbia. Atti dell’XI Convegno Internazionale della Facoltà di teologia, Rom 2009, S. 17 – 48 (20 – 24). 31 Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 280. 32 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute vom 7. Dezember 1965, Nr. 48, in: AAS 58 (1966), S. 1025 – 1115 (1067). 33 Vgl. Tábet (FN 30), S. 17 (42 f.).

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einander zugeordnetes Paar. Ihnen gibt er auf, fruchtbar zu sein und die Erde zu bevölkern. Die Ehe erscheint so als das Zentrum der Schöpfungsordnung, und darin liegt zugleich das Zentrum der Konkretwerdung der Einheit von Schöpfung und Bund, die gleichermaßen für das Alte wie für das Neue Testament konstitutiv ist34. Auch in der jahwistischen Version des Schöpfungsberichts scheint der Begriff des Bundes auf: „An einigen Momenten wird deutlich, daß Gott daran gelegen ist, einen Menschen zu erschaffen, der zur Gemeinschaft mit Ihm in der Lage ist, wie das Gebot der Treue (Gen 2,15 – 17a) oder die Androhung von Strafen. Ihre Funktion besteht darin, dem Gewissen des Menschen einzuprägen, daß er unwiderruflich unter seinem Schöpfer steht. Vor allem aber erweist sich der Bericht des Jahwisten heilsgeschichtlich ausgerichtet: Indem der Mensch durch sein alleiniges Verschulden seinen paradiesischen Urzustand, charakterisiert durch eine wahre dialogische Beziehung mit Gott, hinter sich läßt, geht er der größten Gaben verlustig und stürzt in das Verderben“35. Gleichermaßen bietet der jahwistische Bericht Anhaltspunkte dafür, die Ehe als Ausfluß des Bundes zwischen Gott und Mensch zu verstehen36. Der hebräische Begriff ‘e¯zer („eine ihm ähnliche Hilfe“) kommt in der Bibel an 21 Stellen vor, wobei damit an 15 Stellen die Hilfe bezeichnet wird, die Gott Seinem Volk im Rahmen des b rît leistet. Der Terminus tarde¯ma¯h (der den „Schlaf“ meint, den Gott ¯ über den Mann kommen ließ, bevor er die Frau formte) findet im Alten Testament dort Verwendung, wo im oder unmittelbar nach dem Schlaf etwas Außerordentliches passiert. Im Pentateuch kommt tarde¯ma¯h explizit einmal im Kontext des Bundes vor, als nämlich Abraham auf göttliches Geheiß das Opfer vorbereitete, ihn dann aber „Schlaf“ befiel: In diesem Augenblick begann Gott mit ihm zu sprechen und schloß einem Bund mit ihm. Die Parallele der Erschaffung Evas mit dem Bund legt nahe, daß die von Gott im Anfang eingesetzte Ehe zu jenem ersten Bund rechnet, den Gott mit dem Menschen in der Schöpfung geschlossen hat. Die Ehe als solche ist Bestandteil des heilbringenden Bundes, die eheliche Treue somit zugleich Treue zum b rît. Nach Schillebeeckx kommt der Ehe bei allen Völkern religiöser ¯ Gehalt gerade aus dem Grund zu, weil sie nicht nur ein Geschenk der Schöpfung, sondern ein „Mysterium“ ist: ein persönliches Heilsgeschenk Gottes37. e

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Papst Johannes Paul II. kann auch hier zusammenfassend zitiert werden, wenn er sagt:

34 Joseph Ratzinger, Zur Theologie der Ehe, in: Tübinger Theologische Quartalschrift 149 (1969), S. 53 – 74 (56). 35 Tábet (FN 30), S. 17 (44). 36 Für die Exegese der Ehe als alttestamentarischer Bund vgl. Ignacio Belzunce, El matrimonio como alianza, Diss. theol. (Päpstliche Universität Santa Croce), Rom 2003, S. 124 – 140. 37 Edward Schillebeeckx, Il matrimonio. Realtà terrena e mistero di salvezza, Cinisello Balsamo, 41986, S. 91 – 94.

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„Die Einsetzung der Ehe nach den Worten von Genesis 2,24 drückt nur den Beginn der grundlegenden menschlichen Gemeinschaft aus, die durch die ihr innewohnende Kraft der ,Fortpflanzung‘ (,seid fruchtbar und vermehrt euch‘: Gen 1,28) der Weiterführung des Schöpfungswerkes dient, sondern sie ist gleichzeitig Ausdruck des Heilswillens des Schöpfers, der dem ewigen Erwähltsein des Menschen entspricht, von dem der Epheserbrief redet. Dieser Heilswille kommt von Gott, dem Schöpfer, und seine übernatürliche Wirksamkeit identifiziert sich mit dem Akt der Schöpfung des Menschen im Stand der ursprünglichen Unschuld. In diesem Stand trug die Erwählung des Menschen in Christus von Ewigkeit her bereits im Akt seiner Schöpfung Früchte. Man muß also erkennen, daß das Ursakrament der Schöpfung seine Wirksamkeit aus dem ,geliebten Sohn‘ schöpft (vgl. Eph 1,6, wo die Rede ist von der ,Gnade die Gott uns geschenkt hat in seinem geliebten Sohn‘). Wenn es sich dann um die Ehe handelt, kann man folgern, daß sie – eingesetzt im Rahmen des Sakraments der Schöpfung in seiner Gesamtheit, das heißt im Zustand der Urunschuld – nicht nur Weiterführung der Schöpfungswerkes, also der Fortpflanzung dienen sollte, sondern auch dazu, eben dieses Sakrament der Schöpfung, das heißt die übernatürlichen Früchte der ewigen Erwählung des Menschen durch den Vater im ewigen Sohn, auf die späteren Generationen der Menschheit auszudehnen.“38

In dieser heilbringenden Wertigkeit wäre der eheliche Akt die Erinnerung an den Bund, Zeichen und Verwirklichung des Geschenks der göttlichen Gnade an die Menschen. Denn er schenkte nicht nur das Leben, sondern auch das Heil. Die Ehe (wie die Ausübung der Sexualität) in einem heilsgeschichtlichen erfassen zu verstehen, führt zu einem tieferen Verständnis ihrer anthropologischen Wertigkeit. Ratzinger hatte bereits angemerkt: „Die Konstruktion der Ehe geht immer weniger von Augustins heilsgeschichtlichen Ideen und immer mehr von den philosophischen Begriffen natura und genus (beziehungsweise generatio) aus“. Das Ergebnis sei „eine eigentümliche Mischung von Abstraktion und Naturalismus … Der beherrschende Gesichtspunkt ist nun, daß die Geschlechtlichkeit eine Sache der ,Natur‘ sei; Natur aber wird im Anschluß an Ulpian definiert als dasjenige, was die Natur allen Lebewesen (animalia) eingibt. Von dieser Natur wird gesagt, daß sie dem Menschen nicht als Individuum, sondern als Gattungswesen zugehöre; die Ehe erscheint folglich als eine Funktion der Gattung und findet in deren Erhaltung ihren wesentlichen Sinn. Zum sittlichen Kriterium der Geschlechtlichkeit wird damit, daß sie ,naturgemäß‘ geschieht; dies aber sei der Fall, wenn der Geschlechtsakt so vollzogen werde, daß er ,an sich zur Zeugung geeignet‘ bleibe, also dem Gattungssinn der ,Natur‘ Genüge tue. Das heißt aber: Das versittlichende Element wird nun nicht mehr aus dem personalen und sozialen Bereich, überhaupt nicht mehr aus dem Anthropologischen genommen, sondern letztlich aus dem animalischen Raum.“39

38 Johannes Paul II., Generalaudienz vom 6. Oktober 1982, in: Martin/Martin (Hrsg.), Erlösung des Leibes (FN 26), Nr. 7, S. 208 (213 f.). 39 Vgl. Ratzinger (FN 34), S. 53 (63).

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2. Die Ehe nach dem Sündenfall Die ersten Menschen machten das Geschenk der erfahrenen Gnade zunichte, indem sie der göttlichen Weisung zuwiderhandelten, nicht von den Früchten des Baumes der Erkenntnis zu essen. Im Bericht der Genesis nimmt Adam, von dem die ganze Menschheit ausgeht, eine zentrale Rolle ein: Erst nachdem er von der verbotenen Frucht gegessen hatte, gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, daß sie nackt waren (Gen 3,6 – 7). Die verbotene Frucht hatte ihm indes die Frau gereicht. Von Gott als Hilfe für den Mann erschaffen, die ihm entspricht, wurde sie zur Verbündeten der Schlange, um den Mann zu Fall zu bringen. Als Adam die Frucht nimmt, wird ihr Verhältnis dia-bolisch: der Ehebund wird verletzt, es kommt zum Bruch mit Gott. So scheint im Bericht über die Erbsünde auch die Sünde als Folge ehelicher Untreue durch. Die Erbsünde verletzt die Beziehung des gegenseitigen Sich-Schenkens zwischen den Ehegatten und die Vertraulichkeit mit Gott. Sogleich erkannten beide, daß sie nackt waren und empfanden Scham (Gen 3,7 – 8), sowohl voreinander (daher mußten sie die eigene Nacktheit bedecken), als auch vor Gott (daher mußten sie sich vor Ihm verstecken). Durch all dies wird „ein gewisser grundlegender Bruch in der menschlichen Persönlichkeit aufgedeckt, sozusagen ein Riß in der ursprünglichen geistig-körperlichen Einheit des Menschen. Dieser wird sich zum ersten Mal bewußt, daß sein Körper aufgehört hat, aus der Kraft des Geistes zu schöpfen, der ihn auf die Ebene der Gottebenbildlichkeit erhob.“40 Zudem „wurde die Dimension der Weitergabe des Lebens nunmehr (statt vom Erbe der gottgeschenkten ursprünglichen Gnade … erleuchtet zu werden) durch die Erbsünde verdunkelt“41. Die Schwächung der geistlich-spirituellen Dimension des Körpers zeigt sich in besonderer Weise beim Geschenk der Weitergabe des Lebens. Da diese „Vergeistigung“ (oder besser: Personenbezogenheit) im Ruf Gottes ihren Ursprung hat, tritt die Konkupiszenz auf den Plan, sobald die Gemeinschaft mit Ihm zerbrochen ist. Diese Konkupiszenz manifestiert sich in der Schwierigkeit, die Sexualität in ihrer geistig-spirituellen Dimension zu begreifen und sie so in wahrhaft menschlicher Weise zu leben. Gleichwohl ist und bleibt die Seele Form wie Zielbestimmung des Körpers, so daß sich die menschliche Person der Herabsetzung ihres Körpers und dem Ausgeliefertsein an dessen sexuellen Trieb widersetzt. Das erklärt, weshalb mit der Konkupiszenz auch das Schamgefühl erscheint. Das heißt natürlich nicht, daß im Zustand der ursprünglichen Unschuld die sinnliche Lust gefehlt hätte oder geringer gewesen wäre. Ganz im Gegenteil war sie, so Thomas von Aquin, um so größer, je reiner die Natur und je feinfühliger der 40

Johannes Paul II., Generalaudienz vom 28. Mai 1980, Nr. 2, in: Martin/Martin (Hrsg.), Menschliche Liebe (FN 18), S. 203 – 208 (204). 41 Johannes Paul II., Generalaudienz vom 13. Oktober 1982, Nr. 1, in: Martin/Martin (Hrsg.), Erlösung des Leibes (FN 26), S. 214 – 219 (214).

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Körper war: Der Mäßige verspürt nicht weniger Lust am Essen als der Gierige. Mit der Erbsünde überlagert die Konkupiszenz die Lust in derart ungeordneter Weise, daß sie nicht mehr von der Vernunft gesteuert wird. Sofern der Mensch unfähig ist, die Lust in actu und das Aufwallen der Konkupiszenz durch die Vernunft zu moderieren, droht er beim Geschlechtsakt zum Tier zu werden42. In Buch Genesis erscheint diese fehlende Dominanz der Seele über den sexuellen Trieb gar als Strafe Gottes: Nach dem Schuldbekenntnis der Menschen sprach Gott zur Frau, er werde ihr viel Mühsal bereiten, so oft sie schwanger werde, und weiter, sie werde Verlangen nach ihrem Mann haben, doch der werde über sie herrschen (Gen 3,16). Die der Beziehung zwischen Mann und Frau zugefügte Wunde schlägt in Form von Phänomenen wie Verstoßung und Polygamie auf die Ehe durch, welche das mosaische Gesetz stillschweigend billigt, indem es Folgeregelungen trifft: Ein Mann darf neben einer Frau nicht auch noch deren Schwester heiraten (Lev 18,18). Er darf das Erstgeborenenrecht nicht dem Sohn der geliebten Frau zuerkennen, wenn es in Wirklichkeit dem Sohn der nicht geliebten Frau zusteht (Dtn 21,15 – 17). Ebensowenig darf er eine Frau nicht ein zweites Mal heiraten, wenn er sie verstoßen hat und sie einen anderen Mann geheiratet hat, der dann gestorben ist oder sie seinerseits verstoßen hat (Dtn 24, 1 – 4). Trotz alledem steht Gott treu zu Seinen Gaben, und Sein erster Segen über die Ehe, wiewohl geschwächt, wird niemals widerrufen. Im Bund Gottes mit Abraham wird der Segen über das erste Ehepaar von neuem bekräftigt: Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. (Gen 12,2)43. Zudem verbindet sich der Segen, worauf Schillebeeckx aufmerksam macht, mit dem Geschenk der Gnade, denn die Verheißungen wurden Abraham und seinem Nachkommen, nämlich Christus, verheißen (Gal 3,16): „Die Segnung der Schöpfung wurde Unterpfand der Rettung in dem Segen, den Abraham und seine Nachkommen erhalten haben und die in einem tieferen Sinne auch König David zukam: So segne jetzt gnädig das Haus deines Knechtes, damit es ewig vor deinen Augen Bestand hat. Denn du, mein Herr und Gott, hast es versprochen und mit deinem Segen wird das Haus deines Knechtes für immer gesegnet sein (2 Sam 7,29). Ehe und Familie erhalten so nicht nur die Stellung als Geschaffenes, sondern auch als Werkzeuge der Rettung, als Stationen auf dem Weg zum Reich Gottes, ohne die das Abraham geleistete Versprechen nicht gehalten hätte werden können.“44 Die Billigung von Polygamie und Verstoßung erregen freilich Erstaunen: „Diesbezüglich muß man sich vor Augen führen, daß die biblische Offenbarung tief in der Geschichte verwurzelt ist. Der Plan Gottes wird darin allmählich offenbar und wird erst langsam etappenweise umgesetzt, trotz des Widerstands der Menschen. Gott erwählt ein 42

Vgl. Thomas von Aquin, S. Th., I-II, q. 98, a. 2 – 3. Siehe ferner Gen 13,16; 17,2.4 – 7. 44 Schillebeeckx (FN 37), S. 96. 43

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Rafael Díaz Volk und erzieht es mit Geduld. Die Offenbarung paßt sich dem kulturellen und sittlichen Niveau weit zurückliegender Zeiten an und berichtet daher von Tatsachen und Bräuchen wie zum Beispiel Betrugsmanövern, Gewalttaten, Völkermord, ohne deren Unsittlichkeit ausdrücklich anzuprangern.“45

Unter diesem Blickwinkel des progressiven Charakters der göttlichen Offenbarung läßt sich das mosaische Gesetz zu Verstoßung und Polygamie ebenso recht verstehen wie die Botschaft der Propheten. Die Offenbarung verwirklicht sich allmählich und findet ihre Vollendung in Jesus Christus. Ihr progressiver Charakter bezieht sich nicht allein auf den Heilsplan Gottes als solchen, sondern auch auf die Gnade, diesen annehmen und leben zu können. Das mosaische Gesetz legalisiert weder Verstoßung noch Polygamie, sondern dispensiert lediglich von den Bestimmungen der Einheit und Unauflösbarkeit unter bestimmten Bedingungen der Personen, der Zeit sowie anderer Umstände46. So wurde nach der Summa die Verstoßung erlaubt, „um ein größeres Übel zu verhindern, zu dem die Menschen durch die Verdorbenheit ihres appetitus irascibilis verleitet wurden“47. Im Unterschied dazu wurde die Polygamie erlaubt, um ein höheres Gut zu erlangen: um die Kinderzahl der wahren Anbeter Gottes in einer Zeit zu erhöhen, in welcher die Anbetung Gottes im Wege der Weitergabe des leiblichen Lebens verbreitet und erhalten wurde48. Ein weiterer Schritt in diesem Prozeß des allmählichen Fortschreitens der Offenbarung ist das Wirken der Propheten: Hosea, Jeremias, Ezechiel und Jesaja tadeln die Herzenshärte des von Gott auserwählten Volkes und kündigen die Verwandlung der Herzen als Gottesgeschenk an, auf daß das Volk Ihn erkennen und lieben sowie dem Bund mit Ihm treu bleiben kann. Er wird ihnen ein anderes Herz und einen neuen Geist schenken, das Herz von Stein aus ihrer Brust nehmen und ihnen ein Herz von Fleisch geben, damit sie nach Seinen Gesetzen leben und auf Seine Rechtsvorschriften achten und sie erfüllen. So werden sie Sein Volk sein und Er wird ihr Gott sein (vgl. Ez 11,19 – 20). Um den Bund sowie die historischen Abläufe des Verhältnisses zwischen Gott und Seinem Volk zu beschreiben, bedienen sich die Propheten des Bildes der Ehe. Dementsprechend lassen die Treue 45

Benedikt XVI., Nachsynodales Schreiben Verbum Domini über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche vom 30. September 2010, Nr. 42, in: AAS 102 (2010), S. 681 – 787 (721); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 187 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 2010, S. 71. – Hervorhebungen im Original. 46 S. Th., Suppl., q. 65, a. 2; q. 67, a. 2. Von den Bestimmungen der Einheit und Unauflösbarkeit kann dispensiert werden, da sie keine Hauptbestimmungen des Naturgesetzes darstellen, sondern sich als sekundäre Normen aus den primären im Wege von Schlußfolgerungen ergeben: „Da menschliche Verhaltensweisen gemäß der persönlichen Situation, der Zeit und den jeweiligen Bedingungen divergieren, ergeben sich die genannten Schlußfolgerungen aus den Hauptbestimmungen des Naturgesetzes nicht als immer zu erfüllende Normen, sondern nur in der Mehrzahl der Fälle.“ 47 S. Th., Suppl., q. 67, a. 3, c. 48 Vgl. S. Th., Suppl., q. 65, a. 2, c und ad 4.

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Gottes und die Bestrafung des Volkes für seine Untreue nicht nur die Verurteilung von Verstoßung und Polygamie anklingen, sondern gleichfalls durchscheinen, daß die Untreue zum Ehebund zusammenhängt mit der Untreue des Volkes zu dem mit Gott eingegangenen Bund aufgrund der Verhärtung der Herzen. Die Ehe erscheint dergestalt zuinnerst verbunden mit dem Bund, nicht nur als Metapher, sondern vielmehr in ihrer konkreten Ausgestaltung in der geschichtlichen Realisierung. Denn aus der Verhärtung der Herzen gegenüber Gott entspringt die Herzenshärte in der Treue zum Ehebund. Erst wenn Gott einen neuen Bund errichten wird, welcher das Herz von Stein in ein Herz von Fleisch verwandeln wird, wird der Ehebund entsprechend dem ursprünglichen Heilsplan Gottes wiederhergestellt. Beim Propheten Maleachi erfährt der Konnex zwischen Ehe und Bund zusätzliche Anreicherung49. Angesichts des Verfalls der Sitten nach der Rückkehr Israels aus der babylonischen Gefangenschaft fordert der Prophet das Volk auf, Gott die Treue zu wahren. Dessen Sünden beklagt er mit starken Worten: „Außerdem bedeckt ihr den Altar des Herrn mit Tränen, ihr weint und klagt, weil er sich eurem Opfer nicht mehr zuwendet und es nicht mehr gnädig annimmt aus eurer Hand. Und wenn ihr fragt: Warum? Weil der Herr Zeuge war zwischen dir und der Frau deiner Jugend, an der du treulos handelst, obwohl sie deine Gefährtin ist, die Frau, mit der du einen Bund geschlossen hast. Hat er nicht eine Einheit geschaffen, ein lebendiges Wesen? Was ist das Ziel dieser Einheit? Nachkommen von Gott. Nehmt euch also um eures Lebens willen in Acht! Handle nicht treulos an der Frau deiner Jugend! Wenn einer seine Frau aus Abneigung verstößt, dann befleckt er sich mit einer Gewalttat, spricht der Herr der Heere. Nehmt euch also um eures Lebens willen in Acht und handelt nicht treulos!“ (Mal 2,13 – 16)

In diesem Text klingt der jahwistische Bericht über den Abschluß des Bundes des ersten Ehepaares an. Die von Gott bezeugte Ehe mit der „Frau der Jugend“ ist die gleiche Ehe wie diejenige der Schöpfungsordnung, woran das Gebet von Tobias und Sara eindrucksvoll erinnert (Tob 8,4 – 8). So wird deutlich, daß der Konnex zwischen Ehe und Bund (der Bund umfaßt auch die Ehe) auch nach dem Sündenfall in der Heilsgeschichte, wenngleich geschwächt, fortbesteht. Maleachi läßt daran keinerlei Zweifel, wenn er für den Bund zwischen der „Frau der Jugend“ und dem Mann den Begriff b rît verwendet. Wenn Gott die Opfer der Israeliten nicht an¯ nimmt, so liegt der Grund in der Untreue zum Ehebund, denn sie ist zugleich Bruch des Bundes mit Gott. Der gleiche Gedanke findet sich im Buch der Sprichwörter, wenn es heißt, daß die Frau, die den Gefährten ihrer Jugend verläßt, damit den Bund ihres Gottes (b rît) vergißt (Spr 2,16 – 19)50. Für Israel ist die Ehe die sich im ¯ Fleisch bewährende Form der Bundestreue, die Gott in seiner Transzendenz beläßt und sich seiner nicht zu bemächtigen versucht51. e

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Ein letzter Gedanke: Der Verlust des Geschenks der Gnade schwächt die symbolische Wertigkeit der geschlechtlichen Vereinigung als Zeichen für den b rît. ¯ e

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Vgl. Belzunce (FN 36), S. 186 – 194. Ebd., S. 194 – 198. 51 Vgl. Ratzinger (FN 34), S. 53 (57). 50

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Doch ebensowenig wie die Ehe als solche, so verschwindet auch ihre Heilsbedeutung nicht völlig. Gewöhnlich verweist man darauf, daß die Propheten für die Untreue des Volkes zum Bund mit Gott die Metapher des Ehebruchs verwenden. Gleichwohl läßt sich der Konnex zwischen geschlechtlicher Vereinigung und b rît ¯ auch positiv erfassen: im von Gott festgelegten Bundeszeichen der Beschneidung (Gen 17,10 – 14). Kraft dieses Zeichens kommt der Ehe unter den Israeliten nicht allein anthropologische Wertigkeit zu, sondern beinhaltet die Verheißung Gottes an Abraham, ihn zum Vater eines großen Volkes zu machen und seine Nachkommenschaft zu segnen. Der Geschlechtsakt wird so ein Akt des Kultus und der Bundestreue. Auch dieser Aspekt kommt sinnfällig im Gebet von Tobias und Sara zum Ausdruck, in dem sie am Tag ihrer Hochzeit Gnade und Heil auf sich herabrufen. Ihr Gebet, in der Form des jüdischen berakä, ist Lobpreis Gottes, Gedächtnis an die Erschaffung des ersten Ehepaares und die Bitte, daß dieses Gedächtnis in ihrer Ehe mit göttlichem Beistand wirksam werde. e

3. Die Ehe im Neuen Bund Der von den Propheten verkündete neue und ewige Bund Gottes mit Seinem Volk wird im Geheimnis der Menschwerdung des Sohnes Gottes Wirklichkeit. Alle, die an Jesus Christus glauben und sich taufen lassen, erhalten Seinen Geist, werden ein Leib in Christus und dadurch verwandelt, um entsprechend der neuen Würde als Kinder Gottes zu leben. Hatte Moses noch – wegen der Herzenshärte des Volkes – die Verstoßung der Frau gestattet, sollen im Neuen Bund die Männer ihre Frauen lieben, wie Christus Seine Kirche liebt, und die Frauen sollen sich den Männer unterordnen, wie sich die Kirche Christus unterordnet (vgl. Eph 5,22 – 30). Nach Papst Johannes Paul II. machen die Ermahnungen des Epheserbriefes deutlich, „daß es sich um eine moralische Verpflichtung handelt. Um aber zu einer solchen Verpflichtung aufrufen zu können, muß man zugeben, daß das Wesen der Ehe etwas von jenem Mysterium einschließt. Anderenfalls hinge der Vergleich im Leeren. Dann würde die Aufforderung, die der Verfasser des Epheserbriefes an die Ehegatten richtet, nämlich ihre gegenseitigen Beziehungen so zu gestalten, wie sie zwischen Christus und der Kirche bestehen (,so – wie‘), einer wirklichen Grundlage entbehren, man hätte keinen Boden unter den Füßen.“52. Im Neuen Bund gelangen die Vor-Formen des Alten Testamentes zur Erfüllung. Die Ehe wurde von Anbeginn an als Typus der Verbindung zwischen Christus und der Kirche eingesetzt; nach dem Sündenfall wird ihre typologische Wertigkeit von Gott noch bestätigt. Die Erfüllung dieser doppelten typologischen Ausprägung der Heilsgeschichte findet im Neuen Testament ihren Ort in der Perikope von der Hochzeit zu Kana. Der Bericht ist zutiefst christologisch: hier ereignet sich das 52 Johannes Paul II., Generalaudienz vom 18. August 1982, Nr. 3, in: Martin/Martin (Hrsg.), Erlösung des Leibes (FN 26), S. 169 – 174 (171).

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erste der von Jesus gewirkten Zeichen. Mit der Verwandlung von Wasser in Wein offenbarte Er seine Herrlichkeit – nach dem Alten Testament ein Wesenszug Gottes –, und seine Jünger glaubten an Ihn (Joh 2,11). Bei der Hochzeit in Kana offenbarte Jesus seine Gottheit. Hier nahm die neue Gemeinschaft der Gläubigen ihren Anfang. Die christologische Wertigkeit der Perikope erschließt sich nur dann zur Gänze, wenn man die Zeitangabe zu Beginn einbezieht: Am dritten Tag (Joh 2,1). So wird, worauf Benedikt XVI. verweist, „deutlich, daß es dem Evangelisten gerade auf diese symbolische Zeitangabe ankommt, die er uns als Verstehensschlüssel für das Ereignis in die Hand gibt.“53. So erweist sich vor allem, „wenn eine Zeitberechnung angestellt wird, … daß der Tag, an dem das Fest der Hochzeit in Kana begann, der sechste nach dem Anfangstag war. Bedenkt man weiter, daß das Johannesevangelium (wie auch das Buch Genesis) mit den Worten ,Im Anfang‘ beginnt, gerät sogleich der Bericht über die Schöpfung der Welt, die in sechs Tagen vollendet wurde, in den Sinn. Was also geschieht am sechsten Tag? Gott erschuf Mann und Frau, segnete sie auf daß sie sich vermehrten und die Erde bevölkerten (vgl. Gen 1,27 – 28). Wie wir wissen, leitete die jüdische Tradition hieraus die Einrichtung der Ehe ab. Und eben darum findet am sechsten Tag in Kana die Hochzeit statt.“54 Ein weiteres: „Im Alten Testament ist der dritte Tag das Datum der Theophanie, so zum Beispiel in dem zentralen Bericht über die Begegnung zwischen Gott und Israel am Sinai: ,Am dritten Tag, im Morgengrauen, begann es zu donnern und zu blitzen … Der Herr war im Feuer … herabgestiegen‘ (Ex 19,16 – 18). Zugleich ist darin ein Vorverweis auf die endgültige und entscheidende Theophanie der Geschichte durchzuhören: auf die Auferstehung Christi am dritten Tag, in der die frühen Gottesbegegnungen zum definitiven Einbruch Gottes in die Erde werden; in der die Erde definitiv aufgerissen wird, hineingenommen in Gottes eigenes Leben. So wird uns hier angedeutet, daß es um ein erstes Sich-Zeigen Gottes in der Fortführung der alttestamentlichen Geschehnisse geht, die alle Verheißungscharakter in sich tragen und nun ihrer Endgültigkeit zustreben.“55

In dieser Perspektive erweist sich die Perikope von der Hochzeit in Kana als „die Erfüllung der Anfänge der Menschheit wie der Anfänge Israels“56. Da sich die Erfüllung während einer Hochzeit sichtbar und konkret zuträgt, ist diese Feier als zeitliches Symbol bedeutsam für das Verständnis des Ereignisses, sie ist weit mehr als ein literarischer Kunstgriff57. Tatsächlich besteht zwischen der in Kana gefeierten Hochzeit (die katastrophal hätte enden können, doch durch das Wunder gerettet

53 Joseph Ratzinger-Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg 2007, S. 293. 54 Bruno Ognibeni, Il matrimonio alla luce del Nuovo Testamento, Rom 2007, S. 70. 55 Joseph Ratzinger-Benedikt XVI. (FN 53), S. 293 f. 56 Ognibeni (FN 54), S. 71. 57 Miralles (FN 21), S. 101.

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wird) und dem Neuen Bund eine neue Beziehung, in welcher sich die typologische Wertigkeit der Ehe in den Anfängen sowie im Alten Bund erfüllt. Wie generell bei der Typologie, folgt die Erfüllung dem Gesetz von Kontinuität und Diskontinuität. Im Fall der Ehe – eine Realität der Schöpfungsordnung, die im Anfang als Typus eingesetzt wurde – vollziehen sich Kontinuität und Diskontinuität in ihrer Einbeziehung in die neue sakramentale Ökonomie. Das Element der Kontinuität liegt in dem Umstand, daß dieselbe Ehe zur Würde des Sakramentes erhoben wird. Im Vergleich zur Ehe im Alten Bund besteht Diskontinuität, denn im Typus ist der Glaube in das Geheimnis der heilsbringenden Verbindung zwischen Christus und der Kirche (nur) implizit58, im Ehesakrament aber ist die Ehe selbst der Ursprung der Heiligkeit. Von der Ehe der Schöpfungsordnung unterscheidet sich das Sakrament der Ehe dadurch, daß in ihr die Konkupiszenz vorhanden ist und der Zustand der Gnade und Gerechtigkeit nicht durch die Zeugung vermittelt wird; gleichwohl kann „auch hier … die Gnade übergroß werden, wie der hl. Paulus sich an anderer Stelle ausdrückt: Wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden (Röm 5,20)“59. Um zur Gänze zu erfassen, daß das Sakrament der Ehe die Erfüllung der Ehe der Schöpfungsordnung darstellt, bedarf es noch die Herausarbeitung des inneren Bandes zwischen Ehe und Zölibat um des Himmelreiches willen. Die Erbsünde schwächt die geistlich-spirituelle Dimension des Körpers, was insbesondere durch den Eintritt des Todes in die Welt zum Ausdruck kommt. Jesus Christus hat Sünde und Tod überwunden, gleichwohl müssen alle Menschen sterben, um mit Ihm aufzuerstehen. Die Erfüllung des ersten Bundes führt nicht zur Wiederherstellung der Gabe der Unsterblichkeit, was natürlich nicht bedeutet, daß die neue Heilsökonomie im Vergleich zum Zustand vor der Erbsünde defizitär wäre. Das Reich Christi ist nicht von dieser Welt, die von Ihm vermittelte Gnade hebt den Menschen über den Urzustand hinaus, doch in Fülle geschieht sie am Ende der Welt mit der Auferstehung des Fleisches. Dann werden die Menschen nicht mehr heiraten, sondern sie werden sein wie die Engel im Himmel (Mk 12,25). Damit ist gemeint, daß der Auferstehungsleib „dank der Verherrlichung seines geist-leiblichen Seins in der ewigen Einheit mit Gott“ vergeistigt werden wird. In ihr gibt es keinen Platz für die ursprüngliche Einsamkeit, welche die Frau beendete sollte, weil hier der Mensch – Mann und Frau – „sowohl die Fülle der persönlichen Hingabe als auch die der zwischenmenschlichen Gemeinschaft von Personen findet“60. Christus erhebt also auf der einen Seite die Ehe zum Sakrament und gibt andererseits dem Zölibat einen neuen Sinn, nämlich als Vorwegnahme des Endzustandes nach der Auferstehung des Fleisches. Noch einmal Johannes Paul II.: 58

Thomas von Aquin, S. Th., I-II, q. 103, a. 2, c. Johannes Paul II., Generalaudienz vom 13. Oktober 1982, Nr. 3, in: Martin/Martin (Hrsg.), Erlösung des Leibes (FN 26), S. 214 – 219 (216 f.). 60 Vgl. Johannes Paul II., Generalaudienz vom 10. März 1982, Nr. 1, in: Martin/Martin (Hrsg.), Erlösung des Leibes (FN 26), S. 82 – 87 (82 f.). 59

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„Wenn der Aufruf zur Ehelosigkeit ,um des Himmelreiches willen‘ in der menschlichen Seele, im Zustand irdischer Zeitlichkeit, das heißt, in dieser Welt, in der die Menschen gewöhnlich heiraten (vgl. Lk 20,34), gehört wird, läßt sich darin unschwer eine besondere Aufgeschlossenheit des menschlichen Geistes erkennen, der bereits in dieser Zeit gleichsam das vorwegnimmt, was jedem Menschen bei der künftigen Auferstehung geschenkt wird.“61

Was trägt nun die Erhebung der Ehe zum Sakrament zur körperlichen Vereinigung bei? Formal betrachtet, ist die Ehe das Eheband. Eben darum besteht das Sakrament nicht allein oder auch nur in erster Linie in der Feier der Hochzeit. Gemäß ihrer sakramentalen Natur ist das Eheband ein sichtbares Zeichen, weil es (wie das Prägemal) erste Folge der Feier des Sakraments ist: res et sacramentum. Die sakramentale Vollendung geschieht aber zu einem anderen Zeitpunkt, der die menschliche Leiblichkeit miteinbezieht, also im ehelichen Akt. Der mittelalterliche Theorienstreit, ob die Ehe im Augenblick ihres Vollzugs oder schon zum Zeitpunkt des Konsenses zustande kommt, führte zu der bekannten Unterscheidung zwischen „geschlossener Ehe“ (matrimonium ratum) und „geschlossener und vollzogener Ehe“ (matrimonium ratum et consummatum). Die geschlossene Ehe ist Zeichen für die Verbindung zwischen Christus und der Kirche, insofern sie eine Verbindung der Liebe ist. Indes hat dieses Band nicht die Festigkeit der geschlossenen und vollzogenen Ehe, weil Christus aus Liebe die menschliche Natur annimmt und sich mit der Kirche zu einem Fleisch verbindet. Eben diese Verbindung im Fleisch kommt in der körperlichen Vereinigung symbolhaft zum Ausdruck62. Daraus resultiert die sakramentale Wertigkeit aus der geschlechtlichen Vereinigung zwischen christlichen Ehegatten, in ihr findet die ursprüngliche Heiligkeit dieser Vereinigung ihre Erfüllung. War früher der eheliche Akt Gedächtnis des ersten Bundes (da er ja die Ehe beinhaltete), ist er nunmehr – dank der Erhebung der Ehe zum Sakrament des neuen Gesetzes – Gedächtnis des Bundes zwischen Christus und der Kirche.

IV. Abschließende Überlegungen Die enge Beziehung zwischen Ehe und körperlicher Vereinigung bringt die symbolische Wertigkeit dieser Körpersprache zum Ausdruck, welche den Bund Gottes mit den Ehepartnern in Erinnerung ruft. Weiter erfährt die symbolische Wertigkeit eine neue Würde von der Institution der Ehe als Bild und Inhalt des b rît. ¯ Daher ist die Treue zum Ehebund zugleich Treue zum b rît. ¯ Aufgrund dieser Einbeziehung der Ehe in den b rît tritt eine direkte und un¯ mittelbare Beziehung zwischen der konkreten und historischen Form der Ehe und dem von Gott in der Heilsgeschichte festgesetzten b rît zutage. So wie in der Fülle ¯ der Zeiten „der Sohn Gottes sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit e

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Ebd., S. 83. Miralles (FN 21), S. 54 – 57.

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jedem Menschen vereinigt (hat)“63, hat auch jede Ehe durch das Wirksamwerden des Geheimnisses der Vereinigung zwischen Christus und der Kirche gewissermaßen ihre ursprüngliche Würde neu erhalten. Indes sind nur die Getauften in dieses Geheimnis vollständig einbezogen. Daher ermangelt es der Praxis der Kirche, bei der nichtsakramentalen Ehe vom Gesetz der Unauflöslichkeit um eines höheren Gutes willen zu dispensieren, nicht an einer Grundlage: es geht um das Gut des Glaubens (in favorem fidei). Ließe sich eine solche Dispens auf die geschlossene und vollzogene Ehe ausweiten? Die Antwort kann nur negativ ausfallen: Dies würde zwangsläufig die sakramentale – zeichenhafte – Natur der christlichen Ehe in Abrede stellen, näherhin den Zusammenhang, daß die Ehe zwischen Christen kraft ihrer Taufe in den Bund zwischen Christus und der Kirche eingefügt ist und dergestalt die Ehegatten – lebendig gemacht durch die Liebe Gottes – dazu berufen sind, durch ihre Treue die Liebe zwischen Christus und der Kirche zum Ausdruck zu bringen. Nun läßt sich aber nicht leugnen, daß die neue Ökonomie noch unter dem Gesetz der Konkupiszenz steht. So kann die Treue Gottes auf die Untreue des Christen treffen, doch Gott bleibt stets treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen (2 Tim 2,11 – 13). Bisweilen bleiben christliche Ehegatten nicht nur ihrem Eheversprechen nicht treu, sondern gehen eine neue Verbindung nach staatlichem Recht ein, obgleich der andere Ehegatte noch lebt. Darunter gibt es, wie auf der letzten außerordentlichen Synode angemerkt, Fälle, in denen eine solche zweite Verbindung aus Gründen der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe nicht beendet werden kann. Die symbolische Wertigkeit der Körpersprache läßt die Sinnhaftigkeit der pastoralen Praxis deutlich werden, welche das kirchliche Lehramtes für diese Fällen vorsieht: Aufrechterhaltung der Lebensgemeinschaft und Sich-Enthalten der den Ehegatten eigenen Akte. Denn so bleiben die Betroffenen dem Bund zwischen Gott und der Kirche auch in ihrer konkreten ehelichen Situation treu64. Gewiß, die heutige Gesellschaft ist hochgradig sexualisiert, die Befriedigung des Sexualtriebs gilt ihr ebenso als Selbstzweck wie eine sexuelle Beziehung als die authentische Ausdrucksform einer affektiven Beziehung zwischen nichtverheirateten Personen. Bereits das II. Vatikanische Konzil hatte gemahnt: „Um die Pflichten dieser christlichen Berufung beständig zu erfüllen, ist ungewöhnliche Tugend erforderlich. Von daher müssen die Gatten, durch die Gnade zu heiligem Leben ge63

II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes (FN 32), Nr. 22. Siehe dazu das Apostolische Schreiben Familiaris consortio (FN 4), Nr. 84; sowie Benedikt XVI., Nachsynodales Schreiben Sacramentum Caritatis über die Eucharistie, Quelle und Höhepunkt von Leben und Sendung der Kirche vom 22. Februar 2007, Nr. 29, in: AAS 99 (2007), S. 105 – 180 (128 – 130); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 177 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 22007, S. 45 – 48. – Speziell zur Einladung an wiederverheiratete Geschiedene, gänzlich enthaltsam zu leben: Éric Jacquinet/Jacques Nourissat, Fidèles jusqu’à l’audace. Un chemin nouveau pour l’accompagnement de fidèles divorcés remariés dans l’Église, Paris 2008, S. 136 f. 64

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stärkt, Festigkeit in der Liebe, Seelengröße und Opfergeist pflegen und im Gebet erbitten“65. Gleichermaßen hatten die Synodenväter in ihrem Abschlußbericht die Bedeutung der Tugenden in Erinnerung gerufen, insbesondere diejenige der Keuschheit, weil sie eine „wertvolle Voraussetzung für ein echtes Wachstum der zwischenmenschlichen Liebe“ darstellt66. Richtig hat Papst Franziskus gesagt: „In Einheit mit dem Glauben und der Liebe leitet uns die Hoffnung in eine sichere Zukunft, die sich von den trügerischen Angeboten der Götzen der Welt deutlich unterscheidet, aber dem täglichen Leben neuen Schwung und neue Kraft verleiht. Lassen wir uns nicht die Hoffnung stehlen; lassen wir nicht zu, daß sie vereitelt wird durch unmittelbare Lösungen und Angebote, die uns auf dem Weg aufhalten und die Zeit ,aufsplittern‘ und in Raum umwandeln. Die Zeit steht immer über dem Raum. Der Raum läßt die Vorgänge erstarren, die Zeit hingegen führt sie in die Zukunft und drängt, voll Hoffnung voranzugehen.“67

Der Mensch kann nicht ohne Hoffnung leben; die Gegenwart ist ohne existenziellen Sinn, wenn sie keine Zukunft hat, für die es sich zu leben lohnt. Damit die Zeit, die vergeht, nicht bloß ein Totschlagen der Zeit wird, muß sie verdient werden. Eine lebenswürdige Existenz ist jene, die wächst und gleichzeitig offen für die Zukunft ist, eine Zeit, in der man noch wachsen kann. Aber kann ein endlicher Geist unendlich wachsen? Die Frage kann nur bejaht werden, denn die Natur des Menschen ist nicht prädestiniert. Vielmehr wird sie von innen her durch die Tugenden als Leitprinzip für die Potentialität der Handlungen vervollkommnet68. Es tut Not, wieder über Tugenden in der Familie zu sprechen und durch die Pastoral den Familienangehörigen zu helfen, solche Tugenden zu erwerben. Darin liegt eine notwendige Bedingung, damit die Familien für ihre Zukunft offen bleiben und in der Hoffnung leben, gemeinsam etwas aufzubauen, wofür es sich zu leben lohnt69. In einer stark sexualisierten Gesellschaft tut es Not, die Schönheit und Tiefe der Tugend der Keuschheit von neuem zu entdecken, jener Tugend, welche die Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden, reich macht: „Die Keuschheit – nicht bloß Enthaltsamkeit, sondern das entschiedene Ja eines liebenden Willens – ist eine Tugend, welche die Liebe in jedem Abschnitt des Lebens jung erhält. … Wenn die Liebe die eheliche Keuschheit einschließt, ist das eheliche Leben Ausdruck einer wahrhaftigen Haltung, Mann und Frau verstehen sich und fühlen sich vereint. Wenn aber

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II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes (FN 32), Nr. 49. Relatio Synodi (FN 1), Nr. 39. 67 Enzyklika Lumen fidei (FN 22), Nr. 57. 68 Dazu Leonardo Polo, Quién es el hombre: un espíritu en el mundo, Madrid 72007 (Die Ethik, Kap. VI). 69 Eine gute Zusammenfassung der familiären Tugenden ausgehend von der Anthropologie Leonardo Polos findet sich bei Alfredo Rodríguez, Perspectiva antropológica de la familia, in: Francisco Altarejos/ders./Javier Vergara (Hrsg.), Familia, Educación y Sociedad. Una aproximación interdisciplinar, Madrid 2014, S. 139 – 159. 66

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Rafael Díaz das göttliche Gut der Sexualität sittlich verfällt, geht die Intimität verloren, und Mann und Frau können sich nicht mehr in die Augen sehen.“70

Wer hingegen sein erotisches Verlangen unter Ausklammerung der diesem innewohnenden rationalen Komponente zu befriedigen sucht, verfällt in – psychologisch gesprochen – sexuelle Abhängigkeit. Deren Folgen liegen in unserer Gesellschaft offen zutage: Krise der Institution Ehe, steigende Zahlen von Abtreibungen und nichtehelichen Kindern (welche in besonderem Maße dem Risiko von schulischem Mißerfolg und Jugendkriminalität ausgesetzt sind), erhöhte Anfälligkeit für Depression und Selbstmord, Zunahme häuslicher Gewalt sowie Anstieg wirtschaftlicher Armut in den Familien71. Ein letztes: Jesus Christus hat seinen Jüngern – den Jüngern aller Zeiten – gesagt, daß sie getrennt von Ihm nichts vollbringen können (vgl. Joh 15,6). Eingedenk dieser Worte besteht die wichtigste Aufgabe darin, die Menschen zu einer persönlichen Begegnung mit Ihm zu führen, damit sie bei Ihm bleiben: „Christus zu begegnen und sich von seiner Liebe ergreifen und führen zu lassen, weitet den Horizont des Lebens und gibt ihm eine feste Hoffnung, die nicht zugrunde gehen läßt. Der Glaube ist nicht eine Zuflucht für Menschen ohne Mut, er macht vielmehr das Leben weit. Er läßt eine große Berufung entdecken, die Berufung zur Liebe, und er garantiert, daß diese Liebe verläßlich ist und es wert ist, sich ihr zu übereignen, da ihr Fundament auf der Treue Gottes steht, die stärker ist als all unsere Schwäche.“72

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Josefmaria Escrivá, Christus begegnen, Köln 1978, Nr. 25. Vgl. Sean Ignatius O’Riordan, Chastity, in: Robert L. Fastiggi (Hrsg.), New catholic encyclopedia, Supplement 2012 – 2013: Ethics and philosophy, I, Washington/Detroit 2013, S. 252 – 258; Francisco José Contreras, La desinstitucionalización del matrimonio y sus consecuencias, in: Juan de Dios Larrú (Hrsg.), La grandeza del amor humano, Madrid 2013, S. 274. 72 Enzyklika Lumen fidei (FN 22), Nr. 53. 71

Grundsätzliche Aussagen des kirchlichen Lehramts zur Ehe Carla Rossi-Espagnet Das Interesse der ganzen Welt fokussiert sich auf die Ehe. Jahrzehntelang wurde die Institution abgelehnt sowie durch die Verbreitung von „freier Liebe“ und nichtehelichen Gemeinschaften abgelöst. Nun aber setzt die „Gender“-Ideologie auf die „Ehe für alle“. Die Vorschriften über die Ehe in den staatlichen Rechtsordnungen waren bereits harten Anfechtungen ausgesetzt, welche die Grundpfeiler der Ehe geschwächt haben. Neuere Bestrebungen, eine Ehe à la carte einzuführen, haben den Druck zusätzlich erhöht. Bei ihr verblieben von der natürlichen Struktur der Ehe nur Einzelteile, die ein jeder nach seinem Belieben neu zusammensetzen könnte. Auch die Kirche, die in dieser Welt lebt, hat in ihren Reihen eine wachsende Anzahl von Gläubigen, die von diesen mächtigen Einwirkungen betroffen sind: Infolge Untreue oder Kinderlosigkeit gefährdete oder gescheiterte Ehen, Zunahme der zivilen Ehescheidungen mit dem Eingehen neuer Verbindungen. Was im Namen „der Freiheit“ als positive Entwicklung der Sitten erscheint, nimmt den Umstand nicht gebührend zur Kenntnis, daß solche Phänomene in Wirklichkeit die Gesellschaft zersetzen sowie Einsamkeit und Armut hervorrufen. Als gute Mutter sieht sich die Kirche aufgerufen, einzugreifen und denen beizustehen, die sich in derartigen Situationen befinden. Um auf diese bedeutende pastorale Herausforderung – unter den gegenwärtigen Umständen vielleicht die pastorale Herausforderung schlechthin – wirksame Antworten zu finden, hat der Papst für 2014 und 2015 zwei Versammlungen der Bischofssynode einberufen. Der vorrangige Dienst, den die Kirche für die Welt und in der Welt leisten kann, besteht darin, die Wahrheit in aller Klarheit darzulegen sowie Wege aufzuzeigen, den Herausforderungen im Eheleben zu begegnen. Dieser Beitrag beleuchtet die grundsätzlichen Aussagen des kirchlichen Lehramts zur Ehe, speziell des ordentlichen Lehramts in moralischer Hinsicht. Im weiteren wird ein besonderes Augenmerk auf das Lehramt von Papst Franziskus gelegt. Das betriff zunächst zwei Hauptmerkmale, die miteinander eng verwoben sind: In inhaltlicher Hinsicht der beständige Verweis auf die Barmherzigkeit und sowie hinsichtlich der Vorgehensweise der pastorale Zugriff. Sodann sind die inhaltlichen Aspekte seines Lehramts zur Ehe darzustellen.

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I. Das ordentliche Lehramt des Papstes in moribus Noch bis vor einigen Jahrzehnten wurde die prophetische Sendung des Lehramts von einem vorherrschenden intellektuellen Klima angezweifelt, welches die Skepsis für die höchste Form des Wissens hielt: Jede Gewißheit zu leugnen, schien ein Gebot der Intelligenz, das Bestreben nach Öffnung hin auf „weitergehende Perspektiven“ bildete die Grundlage für den Dialog, Wahrheit als solche wurde abgelehnt, alle Meinungen galten als gleichbedeutend1. Heute dagegen hat diese Einstellung einer Gewißheit Platz gemacht: Der Gewißheit nämlich, daß es keine gemeinsame und objektive Wahrheit gebe, auf die alle zustreben sollten. Ein jeder sei Hüter seiner eigenen Wahrheit. Formal gesehen, respektiert jeder die Wahrheit der anderen und fordert umgekehrt Respekt für seine eigene. Es liegt auf der Hand, daß es so zu keinem Dialog kommt. Der immer stärkere Individualismus der gegenwärtigen Kultur hat dazu geführt, die Privatisierung der Überzeugungen sowie das Sich-Verschließen des einzelnen in seiner eigenen Weltsicht zu legitimieren. Die Ablehnung einer über individuelle Meinungen hinausgehenden Wahrheit hat zu einer Sprachlosigkeit hinsichtlich all derjenigen Aspekte geführt, die sich nicht mit der Technik von pragmatischen Entscheidungen lösen lassen. So wird ein Dialog über menschliche Werte und über Fragen des Glaubens schon gar nicht mehr angestrebt, da dies mangels gemeinsamer Bezugspunkte unmöglich geworden ist. Einzig über das Verfahren läßt sich noch eine Verständigung erzielen, das somit der einzige Garant für die Gültigkeit von Entscheidungen und Handlungen ist. 1. Das Evangelium der Familie im Lehramt Zu den Gaben, die Christus Seiner Kirche geschenkt hat, gehört das Charisma der Lehre (vgl. Mt 28,19 – 20). So war sich die Kirche stets ihrer Pflicht bewußt, eine Wahrheit weiterzugeben, die sie selbst empfangen (und nicht etwa selbst ausfindig gemacht) hatte. Das vertiefte Studium der Offenbarung wie das Nachsinnen darüber, wie es die Kirche seit zwei Jahrtausenden praktiziert, haben nicht die Zielsetzung, neue Entwürfe für das Evangelium zu entwickeln, sondern das Verständnis jener geschenkten Wahrheit immer mehr zu vertiefen. Der Beistand des Heiligen Geistes und die Gegenwart Christi, der einzigen Wahrheit (Joh 14,6), gewährleisten, daß der Lehrtätigkeit der Kirche ein sicheres Charisma der Wahrheit eigen ist. Bekanntlich haben die beiden Vatikanischen Konzilien den Gehalt dieses Charismas näher präzisiert und konturiert: das I. Vatikanische Konzil mit der Definition des Dogmas der Unfehlbarkeit des Papstes, sofern er ex cathedra spricht, das II. Vatikanische Konzil mit der Entfaltung der Teilhabe der gesamten Kirche

1 Vgl. Ramón Garcia de Haro/Carla Rossi, Matrimonio e famiglia nei documenti del Magistero, Mailand 2000, S. 13 – 44.

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und ihrer verschiedenen Glieder am munus docendi2. Das Dogma von 1870 über die Unfehlbarkeit des Papstes verstärkte einerseits die Maßgeblichkeit des päpstlichen Lehramtes, indem es in dessen dogmatischen Definitionen die Unfehlbarkeit der Kirche, der treuen Braut Christi, als solcher konzentrierte. Auf der anderen Seite blieb die Frage nach dem Stellenwert des sonstigen päpstlichen Lehramts offen, das seither als „nicht unfehlbares päpstliches Lehramt“ bezeichnet wurde (der heutige Sprachgebrauch verwendet den Begriff „ordentliches päpstliches Lehramt“). Die Gegenüberstellung zum unfehlbaren Lehramt ließ im Terminus „nicht unfehlbar“ die Assoziation zu „fehlbar“ oder jedenfalls „diskutabel“ mitschwingen, so daß man schon abwegigerweise von einem „der freien Diskussion zugänglichen Lehramt des Papstes“ zu sprechen begann3. Demgegenüber hat das II. Vatikanische Konzil in der Kirchenkonstitution Lumen gentium klargestellt, daß „dieser religiöse Gehorsam des Willens und Verstandes in besonderer Weise dem authentischen Lehramt des Bischofs von Rom, auch wenn er nicht kraft höchster Lehrautorität spricht, zu leisten ist; nämlich so, daß sein oberstes Lehramt ehrfürchtig anerkannt und den von ihm vorgetragenen Urteilen aufrichtige Anhänglichkeit gezollt wird, entsprechend der von ihm kundgetanen Auffassung und Absicht. Diese läßt sich vornehmlich erkennen aus der Art der Dokumente, der Häufigkeit der Vorlage ein und derselben Lehre, und der Sprechweise.“4 Gleichwohl entzündete sich nach der Veröffentlichung der Enzyklika Humanae vitae (1968) die Diskussion von neuem. Verbreitet wurde die kirchliche Bedeutung des ordentlichen päpstlichen Lehramts in Abrede gestellt, ebenso, daß seinen Lehraussagen religiöser Gehorsam zu leisten ist. Der seinerseits entstandene Dissens führte in der Kirche zu großer Orientierungslosigkeit und beträchtlichen Schäden5. Die Lehraussagen zu Ehe und Familie entstammen größtenteils dem ordentlichen Lehramt der Päpste. Die umfassendste dogmatische Definition hat demgegenüber das Konzil von Trient vorgenommen, das sich gegen die Lehrer Luthers wandte, derzufolge die Ehe weder Sakrament noch Heilsmittel sei, sondern ein bloß’ „menschlich Ding“6. 2 II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen Gentium über die Kirche, in: AAS 57 (1965), S. 5 – 71: Nr. 25 behandelt die Rolle der Bischöfe, Nr. 35 diejenige der Laien sowie Nr. 12 den Glaubenssinn des ganzen Volkes Gottes. 3 Erstmals gegen eine derartige Interpretation des ordentlichen päpstlichen Lehramtes: Pius XII., Enzyklika Humani generis über einige falsche Ansichten, die die Grundlage der katholischen Lehre zu untergraben drohen vom 12. August 1950, in: AAS 42 (1950), S. 561 – 578 (568 f.). 4 Konstitution Lumen gentium (FN 2), Nr. 25. 5 Zusammenfassung des historischen Vorgangs sowie Analyse der damit verbundenen doktrinellen Implikationen bei García de Haro/Rossi (FN 1), S. 22 – 26. 6 Konzil von Trient, 24. Sitzung vom 11. November 1563, in: Heinrich Denzinger/Peter Hünermann/Helmut Hoping (Bearb.), Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg 442014, Nr. 1800. – Zuvor hatte bereits das Konzil von Florenz (1439) den sakramentalen Charakter der Ehe definiert.

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Mit dem Tridentinum waren die dogmatischen Festlegungen hinsichtlich der Ehe abgeschlossen. In der Folgezeit wurde in einer Vielzahl von Äußerungen des Lehramts die von den Vätern überlieferte und in der mittelalterlichen Theologie näher ausgefaltete Lehre rezipiert und weiterentwickelt. Verschiedene Päpste haben sich in Enzykliken, Briefen sowie in zahlreichen Ansprachen jenen Aspekten der Ehe zugewandt, welche zu ihrer Zeit am meisten der Klärung und Vertiefung bedurften7. Gleichfalls hat der Beitrag der Kanonistik ein besseres Verständnis der Glaubensinhalte des Ehesakraments gefördert, welche für die Herausarbeitung der rechtlichen Verpflichtungen des Ehevertrags wesentlich sind. Unter den verschiedenen Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils, die sich zu Ehe und Familie verhalten, ragt die breit angelegte Darstellung in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes hervor8, welche ihrerseits der Dogmatischen Konstitution Lumen gentium ihren entscheidenden innovativen Ansatz verdankt. Dort nämlich wird die Lehre über die Berufung zur Heiligkeit, welche alle Getauften und alle übrigen Berufungen in der Kirche betrifft9, auch im Hinblick auf die christlichen Eheleute entfaltet. Zum ersten Mal hat hier die Kirche in einem feierlichen Lehrentscheid verkündet, daß die Ehe nicht nur als solche – da Sakrament – heilig ist, sondern daß sie für die Eheleute eine göttliche Berufung und einen wirklichen Weg der Heiligkeit in der Kirche darstellt. Diese Lehre hat der heilige Papst Johannes Paul II. in vielfacher Form, beginnend mit seinem ersten und grundlegenden Dokument über die Familie, dem Apostolischen Schreiben Familiaris consortio, aufgegriffen10. Dieses Schreiben entstand im Anschluß an die Familiensynode des Jahres 1980, zu der die aktuelle Synode über die Familie in Kontinuität steht. „Ureigenste Quelle und Hilfe zur Heiligung ist für die Gatten und die christlichen Familien das Sakrament der Ehe. In ihm wird die heiligmachende Gnade der Taufe aufgegriffen“11, weshalb jede Familie dazu aufgerufen ist, in der Geschichte ihre Sendung zu erfüllen: „Jede Familie entdeckt und findet in sich selbst den unüberhörbaren Appell, der gleichzeitig ihre Würde und ihre Verantwortung angibt: Familie, ,werde‘, was du ,bist‘!“12. Deshalb „sind auch die Eheleute im Bereich ihres sittlichen Lebens auf einen solchen Weg 7 Als wichtigste Enzykliken über die christliche Ehe (so jeweils der Untertitel) dürfen gelten: Leo XIII., Arcanum divinae vom 10. Februar 1880, in: ASS 12 (1880), S. 385 – 402 sowie Pius XI., Casti connubii vom 31. Dezember 1930, in: AAS 22 (1930), S. 539 – 592. 8 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute vom 7. Dezember 1965, Nr. 47 – 52, in: AAS 58 (1966), S. 1025 – 1115 (1067 – 1074). 9 Konstitution Lumen gentium (FN 2), Nr. 11. 10 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute vom 22. November 1981, in: AAS 74 (1982), S. 81 – 199; deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 33 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 51994. 11 Ebd., Nr. 56. 12 Ebd., Nr. 17.

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gerufen“13, um das Gesetz Gottes gemäß ihrem Stand mit Hilfe der göttlichen Gnade zu erfüllen. Der „Papst der Familie“, wie ihn Papst Franziskus anläßlich seiner Heiligsprechung nannte14, hat auf vielfältige Weise die aktive Präsenz von Familien in der Kirche gefördert. Indem er die Verfahren zur Seligsprechung von einigen christlichen Ehepaaren als solchen anregte, hat er die Lehre von der Berufung zur Heiligkeit in der Ehe sinnfällig bekräftigt. Das Neue daran besteht nicht in der Seligsprechung von christlichen Eheleuten, welche es im Verzeichnis der Heiligen bereits gab (man denke etwa an die heilige Rita, den heiligen Thomas Morus oder den heiligen König Ludwig von Frankreich), sondern darin, daß für das Ehepaar als solches ein einziges Seligsprechungsverfahren durchgeführt wurde. Selbstverständlich heißt das nicht, daß Heiligkeit nicht persönlich oder von einem Ehepartner auf den anderen übertragbar wäre, sondern vielmehr, daß die Ehe für diese konkreten Eheleute der Weg der Heiligkeit gewesen ist. So wurden als erstes Ehepaar Luigi und Maria Beltrame Quattrocchi seliggesprochen (21. Oktober 2001), gefolgt von Louis und Zelie Martin (19. Oktober 2008). 2. Synode und Papst Die aktuelle Synode über die Familie, die in zwei Etappen abgehalten wird, fügt sich in das Bestreben für die Neuevangelisierung ein, dem die Kirche seit Jahren Aufmerksamkeit und Mühe zuwendet. Nach der Errichtung des „Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung“ (2010) und der Proklamation eines „Jahres des Glaubens“ (beginnend mit dem 50. Jahrestag der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils, am 11. Oktober 2012) – beides wertvolle Hilfsmittel für die Sendung der Kirche – wendet sich die Kirche nunmehr der Familie als der einzigen wirklichen Wurzel für die Neuevangelisierung zu. Im Inneren der Kirche durch die Glaubenskrise geschwächt15, ist die Familie auf ziviler Ebene dem Trommelfeuer von Gesetzen und sonstigen Maßnahmen der staatlichen Rechtsordnung ausgesetzt, welche sie ihrer Vorrechte berauben. Ein derartiges Tätigwerden von Gesetzgebern und Gerichten wäre ohne Abstützung durch eine vorherrschende Kultur der Libertinage nicht möglich, so wie sie von zahlreichen internationalen Organisationen aktiv betrieben und von einem Großteil der Medien unterstützt wird. Dadurch wird nicht nur das reale Leben der Familien erschwert, sondern schon im Vorfeld das 13

Ebd., Nr. 34. Franziskus, Predigt in der Heiligen Messe am 27. April 2014, in: AAS 106 (2014), S. 359 – 361 (360). 15 Relatio Synodi der Dritten Außerordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode, „Die pastorale Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung“, 18. Oktober 2014, Nr. 5, in: AAS 106 (2014), S. 887 – 908 (889); deutsche Übersetzung in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung. Texte zur Bischofssynode 2014 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz (Reihe: „Arbeitshilfen“, Nr. 273), Bonn 2014, S. 141 – 175 (145 f.): „Hinzu kommt die Krise des Glaubens, die viele Katholiken betrifft und die oft an der Wurzel der Krisen von Ehe und Familie steht.“ 14

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Verständnis dessen, was Familie bedeutet und worin ihr Auftrag in der Gesellschaft besteht. Der Vorrang der Individualrechte gegenüber dem Verantwortungsbewußtsein im Hinblick auf Personengemeinschaften hat zu einer sukzessiven inhaltlichen Entleerung von Gerechtigkeit und Solidarität als Grundlagen menschlichen Gemeinschaftslebens geführt: Gerechtigkeit ist reduziert auf Verfahren, Solidarität auf Interessenschutz zugunsten der eigenen Gruppe. Auch die Familie wurde in den 35 Jahren seit Erscheinen von Familaris consortio angegriffen und ihrer konstitutiven Bestandteile entleert, so daß sie ihre Kontur und fast auch schon ihre Identität verloren hat. „Familie“ zu definieren, ist heute ein mühevolles Unterfangen, nicht nur, weil sie in ihren Vorrechten nicht geschützt und gefördert wurde, sondern auch, weil die disparatesten Formen des Zusammenlebens eine Gleichstellung mit ihr verlangen. Vielerorts will man gar nur noch von „familiären Lebensformen“ sprechen. Demgegenüber hat Papst Franziskus das von der „Gender“-Ideologie ausgehende Bestreben der „ideologischen Kolonisierung“ angeprangert: „Es gibt ideologische Kolonisierungen, die versuchen, die Familie zu zerstören. Sie gehen nicht aus dem Traum, aus dem Gebet, aus der Begegnung mit Gott hervor, aus dem Auftrag, den Gott uns gibt; sie kommen von außen, und darum sage ich, daß es Kolonisierungen sind. Verlieren wir nicht die Freiheit des Auftrags, den Gott uns gibt, den Auftrag der Familie!“16 Ein weiteres, wirkmächtiges Element, welches die familiären Bande schwächt und zerstört, liegt in der Banalisierung der Scheidung, desgleichen die Verbreitung von medizinischen Techniken, welche massiv in den Prozeß der Fortpflanzung eingreifen. Indem die Technologie der freien Wahl des Menschen den Vorzug vor dem Wirken der Natur ermöglicht, wird – legt man den Blickwinkel des Gegensatzes von Natur und Kultur zugrunde – die Empfängnis scheinbar „humanisiert“. Gewiß lassen sich so die natürlichen Abläufe „beherrschen“, doch der Versuch, Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt aus dem Kontext von Liebe und treuer Hingabe seiner selbst – in einem Wort: der Ehe – zu lösen, verletzt das Beziehungsgefüge von Kindschaft und Elternschaft: Der Wunsch, ein Kind anzunehmen verkehrt sich in das Bestreben, es zu produzieren. Von anderen Problemen ganz abgesehen, verlangt eine solche Praxis nicht mehr die eheliche Vereinigung von Personen, sondern allein eine im Labor herbeigeführte Vereinigung von Geschlechtszellen. Die „Ent-Inkarnation“ der Empfängnis fördert eine Haltung, im Kind nicht ein Gut zu sehen, das seinen Wert in sich trägt, sondern ein Gut für die Eltern. Das öffnet Verhaltensweisen Tür und Tor, das Kind abzulehnen, wenn es den Erwartungen, um derentwillen es gewollt worden war, nicht entspricht. Einer solchen Versuchung erliegt man weit schwerer, wenn das Kind als Kind Gottes empfangen wurde, was für die Eltern die Sendung mit sich bringt, es zu lieben und zu ehren – um so mehr, je größer seine Unzulänglichkeiten sein mögen.

16 Franziskus, Ansprache bei der Begegnung mit den Familien in Manila, 16. Januar 2015, in: AAS 107 (2015), S. 176 – 181 (178).

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Werden die Festigkeit des Ehebandes und das hohe Gut der Weitergabe des Lebens von der Gesellschaft nicht geschützt, hat dies negative Rückwirkungen auf die Institution der Familie: Die Zahl der Eheschließungen geht, auch unter Getauften, zunehmend zurück. Umgekehrt steigen die „faktischen“ Formen des Zusammenlebens, denen es aber an rechtlicher wie an menschlicher Verbindlichkeit fehlt, in ihnen übernimmt man füreinander eben nicht umfassend Verantwortung. Wenn nun Gesellschaft und Politik diese in ihrem Verbindlichkeitsgrad schwachen Verbindungen tolerieren und, mehr noch, legalisieren, nehmen sie der auf die Ehe gegründeten Familie diejenige soziale Unterstützung, derer sie dringend bedarf. In dieser Situation bietet die Kirche das Heilmittel an, welches die Familie in ihrem Leben und in ihrer Kraft wiederherzustellen vermag: Das Evangelium der Familie. Auf der Bischofssynode im Herbst 2014 haben die Teilkirchen der westlichen Welt (Europa und Amerika) das Bild von der Familie als einem Schwerkranken (wenn nicht gleich eines Kranken im Endstadium) gezeichnet, der zudem dazu unfähig sei, die Kirche um Hilfe zu bitten, da er sich ihr nicht mehr zugehörig fühle und von der er auch keine wirkliche Hilfe erwarte. Obwohl der Papst die Kirche mit einem Feldlazarett17 verglichen hatte, benennt das Instrumentum laboris unter den Schwierigkeiten der Familie von heute auch „die Haltung der Kirche, die in vielen Fällen als ausschließend erlebt wird und nicht als eine Kirche, die begleitet und unterstützt“18. Dementsprechend bestand eine der von der Synode erwarteten Veränderungen darin, sie möge eine andere Herangehensweise bewirken, aufgrund derer die christlichen Eheleute wieder Vertrauen in die Hirten hätten. Es müßten Wege gefunden werden, daß die Kirche als barmherziger Arzt wahrgenommen werde, dem an der Gesundheit des Patienten und nicht an der Wahrung einer formalen Ordnung gelegen ist. Infolgedessen entfaltete sich die Synode in einer mehr pastoralen denn dogmatischen und anthropologischen Dimension, zumal die anthropologischen Grundsätze bereits umfassend vom Lehramt von Johannes Paul II. ausgearbeitet worden sind. Zu diesem Zweck bat der Papst die Synodenväter, freimütig ihre Meinung über die Ursachen der gegenwärtigen Situation darzulegen, sowie Vorschläge einer Therapie zu unterbreiten, wie der Familie in ihrem menschlichen wie christlichen Leben geholfen werden kann. Zugleich hat er – sowohl zu Beginn wie zum Abschluß der Synode – auch die genuine Rolle des Papstes als Nachfolger des Apostels Petrus klargestellt: „Daher bitte ich euch höflich um diese Geisteshaltung als Brüder im Herrn: mit Parrhesia sprechen und in Demut zuhören. Und tut dies in aller Ruhe und in Frieden, da die Synode stets cum Petro et sub Petro abläuft. Die 17

Franziskus, Tagesmeditation während der Frühmesse im Vatikanischen Gästehaus Domus Sanctae Martae vom 1. April 2014, in: L’Osservatore Romano (Deutsche Wochenausgabe), Nr. 15 v. 11. April 2014. 18 Dritte Außerordentliche Generalversammlung der Bischofssynode, „Die pastorale Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung“ vom 24. Juni 2014, Nr. 75.

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Anwesenheit des Papstes ist Garantie für alle und Gewährleistung des Glaubens.“19 Gleichermaßen unterstrich er in Schlußansprache unter wörtlicher Zitation eines längeren Abschnitts einer Rede von Papst Benedikt XVI., die Rolle des Papstes als servus servorum Dei20. Bisher hatte Papst Franziskus von sich eher als dem Bischof von Rom gesprochen, um so die Einheit der Ortskirche (wie in der Ansprache unmittelbar nach der Papstwahl21) bzw. innerhalb des Bischofskollegiums (in welchem der Bischof von Rom den Vorsitz in der Liebe führt) zu unterstreichen. Die außerordentliche Synode war ihm Anlaß, seine Primatialgewalt herauszustellen, welche ihm in der Kirche als Nachfolger des heiligen Petrus zukommt.

II. Hauptmerkmale des Lehramtes von Papst Franziskus über die Ehe Der Kommunikationsstil des Papstes ist von Einfachheit geprägt: alle verstehen ihn und hören ihm daher gerne zu. Seine einfachen Worte sind zugleich kraftvoll, da sie von einem kohärenten Leben getragen sind. Die Äußerungen von Papst Franziskus über Ehe und Familie lassen in besondere Weise zwei Merkmale seines Lehramtes hervortreten: in inhaltlicher Hinsicht die zentrale Bedeutung der göttlichen Barmherzigkeit sowie in der Vorgehensweise der pastorale Zugriff. 1. Die Barmherzigkeit In seiner Ansprache zum Abschluß der außerordentlichen Synode hat Papst Franziskus bekanntlich einige Versuchungen des synodalen Prozesses namhaft gemacht, welche nicht allein die dort versammelten Synodenväter betreffen, sondern all jene, welche die Arbeit der Synode mitverfolgt haben. Die fünf vom Papst aufgeführten Versuchungen lassen sich in zwei entgegengesetzte Haltungen zusammenfassen: Einerseits die Versuchung, sich im Gesetz zu verschließen und in dessen Wortlaut zu verhärten, ohne die Bedürfnisse der Kirche und den Geist Gottes einzubeziehen, der stets überrascht. Dem steht die Versuchung des Gutmenschentums gegenüber, das die Probleme dadurch lösen möchte, daß zwar die Symptome angegangen, doch die wahren Ursachen vernachlässigt werden. So werden die Menschen

19 Franziskus, Grußadresse zur Eröffnung der Dritten Außerordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode, 6. Oktober 2014, in: AAS 106 (2014), S. 833 – 834 (834) sowie in der deutschen Übersetzung (FN 15) S. 80 – 82 (82). 20 Franziskus, Ansprache zum Abschluß der Dritten Außerordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode, 18. Oktober 2014, in: AAS 106 (2014), S. 835 – 839 (838 f.) sowie in der deutschen Übersetzung (FN 15) S. 176 – 182 (181 f.). 21 Franziskus, Erste Grußworte vor dem Apostolischen Segen Urbi et orbi vom 13. März 2013, in: AAS 105 (2013), S. 363.

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mit ihren Wunden allein gelassen, ohne die Macht des Wortes Gottes anzuerkennen22. Die Eindrücke derer, die in den Medien die Diskussionen der Synode verfolgt haben, bündelten sich entweder in Furcht oder in Hoffnung: Die einen empfanden Furcht, daß die Kirche gerade dabei sei, auf irreparable Weise den Schatz der christliche Ehen zu beschädigen oder gar zu verlieren. Andere wiederum hegten die Hoffnung in die Entwicklung hin auf eine tolerantere Kirche, die offen sei, einige ihrer Gesetze – wie die Unauflöslichkeit der Ehe – zu überdenken, um so christlichen Eheleuten in ihren Problemen entgegenzukommen. Treue und Barmherzigkeit wurden als Gegensätze dargestellt, so daß sich nicht wenige guten Glaubens vor die Alternative sahen: entweder das von Gott stammende Erbe an Weisheit zu wahren, auch wenn es in der Gegenwart nicht mehr recht verstanden und noch weniger befolgt wird, oder aber jene Teile der Lehre abzuschaffen, die weniger leicht zu verstehen und zu befolgen sind, damit den Gläubigen keine Lasten aufgeladen werden, die sie nicht tragen können. In der Enzyklika Caritas in veritate hat Papst Benedikt XVI. tiefgehende Überlegungen über die Notwendigkeit angestellt, die Wahrheit aus Liebe zu wahren und umgekehrt in der Wahrheit zu lieben. Dabei betonte er, man könne keines der beiden Elemente abschaffen, ohne auch das andere zu verlieren. Die Wahrheit bewahrt die Liebe davor, Sentimentalismus zu werden, ihrerseits gewährleistet die Liebe, daß die Wahrheit geliebt und nicht gefürchtet oder mit Indifferenz betrachtet wird: „Daher ist es notwendig, die Liebe und die Wahrheit nicht nur in der vom heiligen Paulus angegebenen Richtung der veritas in caritate (Eph 4,15) miteinander zu verbinden, sondern auch in der entgegengesetzten und komplementären von caritas in veritate. Die Wahrheit muß in der ,Ökonomie‘ der Liebe gesucht, gefunden und ausgedrückt werden, aber die Liebe muß ihrerseits im Licht der Wahrheit verstanden, bestätigt und praktiziert werden.“23 Liebe und Wahrheit, Barmherzigkeit und Treue, sind die Begriffspaare, welche die Spannung in der Kirche beschreiben, die das immer lebendige Wort Gottes auslöst. Die Kirche hütet dieses Wort, nicht indem sie es schon der Gefahr einer „Ansteckung“ durch die Kulturen nicht aussetzt, sondern vielmehr dadurch, daß sie es in alle Lebensbereiche hinein verbreitet und auf die Erfordernisse aller Menschen hin ausrichtet, ohne daß dies ihrem Charakter als wahrer Heilsbotschaft Abbruch tun würde. Tatsächlich neigt „das Gute … immer dazu, sich mitzuteilen. Jede echte Erfahrung von Wahrheit und Schönheit sucht von sich aus, sich zu verbreiten, und jeder Mensch, der eine tiefe Befreiung erfährt, erwirbt eine größere Sensibilität für die Bedürfnisse der anderen. Wenn man das Gute mitteilt, faßt es Fuß und entwickelt

22 Franziskus, Ansprache (FN 20), in: AAS 106 (2014), S. 835 (836) sowie in der deutschen Übersetzung (FN 15) S. 176 (177 f.). 23 Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit vom 29. Juni 2009, Nr. 2, in: AAS 101 (2009), 641 – 709 (642); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 186 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 2009, S. 6.

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sich.“24 Angesichts heutiger Tendenzen, Liebe und Barmherzigkeit höher zu schätzen als Wahrheit und Treue sowie, Barmherzigkeit mit Toleranz und Mitleid zu verwechseln, ist der wahre Gehalt dieses göttlichen Attributes in Erinnerung zu rufen, in dem Sinne, wie er offenbart wurde. Im Alten Testament ist die Anerkennung der Barmherzigkeit Gottes im Gebet Israels allgegenwärtig; die Anrufung denn sein Erbarmen währt ewig (Ps 136) ist ein Flehen um die Treue Gottes, damit Er dem Bund trotz der Sünde des Volkes treu bleibt. Die Barmherzigkeit ist die treue Liebe Gottes, welche stärker ist als die Sünde des Menschen. Sie erreicht ihren Höhepunkt in Christus, in dessen Menschheit die Barmherzigkeit Gottes ihren höchsten Ausdruck findet und den endgültigen Sieg über die Sünde erlangt25. In Christus kann Gott den neuen und ewigen Bund stiften, da Seine Treue im Menschen Jesus Christus die vollkommen treue Antwort findet, welche Sünde und Tod besiegt. Die Barmherzigkeit Gottes vollzieht sich gemeinsam mit seiner Gerechtigkeit, sie ist niemals ungerecht, um so weiter entfernt dagegen ist sie von der Toleranz der Ungerechtigkeit, welche aus der Sünde hervorgeht: Der Herr ist gnädig und gerecht, unser Gott ist barmherzig (Ps 116,5). Es ist nicht barmherzig, die Untreue zu tolerieren, als ob sie unbedeutend und kein Bruch des Bundes wäre. Die göttliche Barmherzigkeit zielt vielmehr darauf ab, die menschliche Person vom Bösen fernzuhalten und den Weg der Umkehr aufzuzeigen, der zum Leben führt (vgl. Ez 33,11). Im Lehramt von Papst Franziskus wird besonders offensichtlich, daß die der Kirche heute aufgegebene Sendung der Evangelisierung ein Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes ist. Im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium erinnert er daran, daß nach dem heiligen Thomas von Aquin „in Bezug auf das äußere Handeln die Barmherzigkeit die größte aller Tugenden ist“26. Der Papst unterstreicht, daß das große göttliche Geschenk, welches die Kirche weitergeben soll, nur in einer inneren Haltung der Bekehrung empfangen werden kann. Daher spricht er für gewöhnlich gleichzeitig von Barmherzigkeit (von Seiten Gottes) und von der Bitte um Vergebung (von Seiten des Menschen)27. Die Barmherzigkeit Gottes befreit und entfernt von der Sünde, und bewirkt so die Gerechtigkeit, wenn sie im Geist der Bekehrung

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Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute vom 24. November 2013, Nr. 9, in: AAS 105 (2013), S. 1019 – 1137 (1022 f.); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 194 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 2013, S. 12. 25 Juan José Pérez-Soba/Stephan Kampowski, Das wahre Evangelium der Familie. Die Unauflöslichkeit der Ehe: Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Illertissen 2014, S. 57 – 75. 26 Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (FN 24), Nr. 37. – In diesem Kontext zitiert der Papst die in S.Th., II-II, q. 30, a. 4, niedergelegte Aussage: „An sich ist die Barmherzigkeit die größte der Tugenden. Denn es gehört zum Erbarmen, daß es sich auf die anderen ergießt und – was mehr ist – der Schwäche der anderen aufhilft; und das gerade ist Sache des Höherstehenden. Deshalb wird das Erbarmen gerade Gott als Wesensmerkmal zuerkannt; und es heißt, daß darin am meisten seine Allmacht offenbar wird.“ 27 Ebd., Nr. 3, 44, 114 und öfter.

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und aus dem Wunsch heraus empfangen wird, in der eigenen Situation entsprechend der kirchliche Lehre „das Bestmögliche zu tun“. 2. Der pastorale Zugriff Das zweite Merkmal des Lehramtes von Papst Franziskus ist die dezidiert pastorale Ausrichtung, wie sie, gewiß mit jeweils spezifischen Modalitäten, dem gesamten Lehramt der Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil gemeinsam ist28. Bei dessen Eröffnung hatte der heilige Papst Johannes XXIII. über die Art und Weise der Ausbreitung der christlichen Lehre betont: „Das soll freilich in vollkommenem Einklang mit der wahren Lehre stehen, aber auch diese soll im Licht der modernen Forschungen und der Sprache des heutigen Denkens dargelegt und erforscht werden. Man muß die Substanz der alten Lehre des Glaubensschatzes von der Formulierung ihrer sprachlichen Einkleidung unterscheiden. Und darauf muß man allenfalls mit Geduld großen Wert legen und dabei alles so abwägen, wie es den Formen und Erfordernissen eines Lehramtes entspricht, das vorwiegend pastoralen Charakters ist.“29

In den Jahrzehnten nach dem Konzil wurde viel darüber diskutiert, worin dieser „pastorale Charakter“ des Lehramtes bestehe. Insoweit wird übereinstimmend der Zielpunkt betont, daß nämlich das gesamte Leben der Kirche auf das Heil der Menschheit ausgerichtet ist: „Pastoraler Charakter meint, daß sich die Kirche als eine im Wesen exzentrische Realität darstellt und nur aufgrund einer zweifachen konstitutiven Beziehung erfaßt werden kann: einmal von Christus und seiner Sendung her und zum anderen auf die Welt hin, zu der sie fortwährend und wesenhaft gesandt ist“30. Die Ausrichtung der Kirche auf das Heil der Menschheit hat dazu beigetragen, die Bedeutung der Empfänger der Heilsbotschaft besser in den Blick zu nehmen, denn ohne ihre Glaubensentscheidung könnte der göttliche Heilsplan nicht zu seiner Erfüllung gelangen. Im Anschluß an die Veröffentlichung der Enzyklika Humanae vitae konzentrierte sich die Debatte über den pastoralen Charakter des Lehramts auf den Wert der Lehraussagen in moribus und wurde von den Vertretern der Auffassung angefacht, moralische Normen gebe nur im Grundsatz, nicht aber im Konkreten. Somit komme dem Lehramt in Fragen der Moral nur in seinen allgemeinen Aussagen ein Wahrheitsanspruch zu, in seinen Einzelaussagen hingegen allein ein ermahnender, eben: „pastoraler“ Gehalt31. Die Vertreter dieser Ansicht sahen im zeitgebundenen 28 Gabriel Richi Alberti, Evangelii Gaudium y la indole pastoral del magisterio, in: Scripta teologica 46 (2014), S. 611 – 634. 29 Johannes XXIII., Ansprache Gaudet Mater Ecclesia zur Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils vom 11. Oktober 1962, in: AAS 54 (1962), S. 786 – 796 (792). 30 Angelo Scola, Chi e` la Chiesa? Una chiave antropologica e sacramentale per l’ecclesiologia, Brescia 2005, S. 134. 31 Aus der Diskussion s. einerseits Bruno Schüller, Christianity and the New Man: the Moral Dimension. Specificity of Christian Ethics, in: William J. Kelly (Hrsg.), Theology and

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Charakter von spezifischen Lehraussagen auf dem Gebiet der Moral den Grund, weshalb ihnen für die Gläubigen keine verbindliche Kraft zukommen sollte. Vielmehr müsse man in ihnen einfache Ermahnungen an die Gläubigen erblicken, ihr Verhalten in einer bestimmten Weise am Evangelium auszurichten, was aber nicht notwendigerweise in verschiedenen historischen Abschnitten in gleicher Weise geschehen müsse. Von derartigen Prämissen ausgehend, wurde (zwangsläufig) auch die Autorität des Lehramts in Fragen der Moral als solche in Zweifel gezogen: Wenn dessen Lehraussagen bloße Ermahnungen ohne Wahrheitsanspruch und Bindungskraft für die Gläubigen sein sollten, wäre die Autorität nicht mehr im geoffenbarten Wort Gottes begründet, welches der Kirche zu dem Zweck übergeben worden ist, es allen Völkern zu verkünden, sondern allein in der Begegnung mit den Kulturen, welchen die Kirche ihre Botschaft bringen muß. Das führte zu einem verbreiteten Konsequentialismus im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt lehramtlicher Aussagen: „Wahr ist, was die Zustimmung der Gläubigen findet.“32. Nach dieser Lesart wäre das Lehramt eine unter vielen Stimmen, welche sich in der ethischen Diskussion an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit vernehmen läßt. Doch es wäre nicht mehr die Stimme, welche aufgrund ihrer prophetischen Sendung das Wort Gottes im Hier und Jetzt der Geschichte gegenwärtig macht, „wie das Licht eines Leuchtturmes eines Hafens oder einer Fackel, die in die Mitte der Leute getragen wird, um die zu erleuchten, die den rechten Weg verloren haben oder sich in der Mitte eines Sturmes befinden“33. Der Gegensatz zwischen pastoralem und dogmatischem Charakter des Lehramtes wurde durch eine ganzheitliche Sicht überwunden: Das Bestreben, das Evangelium im praktischen Leben zu verwirklichen, gereicht nicht nur dem Glaubensleben, sondern auch der Glaubenslehre zum Vorteil, denn die letztere wird so tiefer erfaßt und in einem gewissen Sinn auch bereichert. Bereits das II. Vatikanische Konzil hatte dies in seiner Offenbarungskonstitution festgehalten: „Was von den Aposteln überliefert wurde, umfaßt alles, was dem Volk Gottes hilft, ein heiliges Leben zu führen und den Glauben zu mehren. So führt die Kirche in Lehre, Leben und Kult durch die Zeiten weiter und übermittelt allen Geschlechtern alles, was sie selber ist, alles, was sie glaubt.“34

Discovery. Essays in Honor of Karl Rahner, S.J., Milwaukee 1980, S. 307 – 327; andererseits Germain Gabriel Grisez, The Way of the Lord Jesus, Bd. 1: Christian moral principles, Chicago 1983, S. 864. 32 Vgl. etwa Bernhard Häring, Chiedere l’opinione di vescovi e teologi, in: Il Regno/ Attualita` 2 (1989), S. 1 – 4. 33 Relatio Synodi (FN 15), Nr. 28. 34 II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Dei Verbum über die göttliche Offenbarung vom 18. November 1965, Nr. 8, in: AAS 58 (1966), S. 817 – 835 (821).

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III. Die Inhalte des Lehramtes von Papst Franziskus über die Ehe Papst Franziskus pflegt mit großer Klarheit zu sprechen und sich nicht bei Themen aufzuhalten, zu denen sich die Kirche bereits definitiv geäußert hat, statt dessen greift er vor allem umstrittene Fragen auf. Was ihm die Sympathien derer zufliegen läßt, die von der Kirche auf die neuen Fragen, die die Welt bewegen, auch neue Antworten erhoffen, hat auf der anderen Seite die Kritik derer hervorgerufen, die bei umstrittenen Fragen „eine verbindliche Aussage“ hören wollen, welche den Diskussionen ein für alle Mal ein Ende setzt. Ersichtlich hat der Papst nicht das Ziel, abermals das zu bekräftigen, was bereits im Katechismus der Katholischen Kirche hinreichend klar und verbindlich definiert wurde. Sein Anspruch ist vielmehr, die zutiefst menschlichen und christlichen Inhalte ins Licht zu rücken, welche die Voraussetzungen für das Evangelium der Familie bilden. Im folgenden soll auf einige Lehraussagen von Papst Franziskus über die wesentlichen Güter der Ehe näher eingegangen werden, welche die katholische Lehre herkömmlicherweise in der Einheit, der Unauflöslichkeit und der Weitergabe des Lebens sieht. So läßt sich aufzeigen, welche jene alten und neuen Dinge sind (Mt 13,52), die er den Gläubigen und der Welt darbietet. 1. Einheit Das erste Gut der Ehe besteht darin, daß sie der Ort der treuen Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau ist, die sich einander hingeben und annehmen, um sich in allen – einfachen wie schwierigen – Umständen des Lebens zu lieben. Das Versprechen einander zu lieben, bedeutet das Wohl des anderen zu wollen und sich gegenseitig zu helfen, es zu erreichen, und zwar ganz und gar, ausschließlich, die persönliche Intimität (körperlich wie geistlich) miteinander teilend. Der Welt dieser Zeit, befallen von der Krankheit des Individualismus, hat der Papst in Erinnerung gerufen, daß eine solche Verbindung die persönliche Entfaltung nicht etwa einschränkt, sondern ihr im Gegenteil zum Vorteil gereicht: „Der Ehemann (hat) die Aufgabe, die Ehefrau mehr Frau werden zu lassen, und die Ehefrau (muß) ihren Ehemann mehr zum Mann werden lassen … Sie müssen auch an Menschlichkeit wachsen, als Mann und als Frau. Und das ist etwas, das ihr untereinander ausmacht. Das bedeutet, gemeinsam zu wachsen. Es fliegt einem nicht zu! Der Herr segnet es, aber es kommt aus euren Händen, aus eurem Verhalten, aus der Art, zu leben, der Art, wie ihr euch liebt. Einander wachsen lassen! Immer alles dafür tun, daß der andere wächst. Daran arbeiten. Na ja, und so kann ich mir vorstellen, wie dich dann eines Tages auf der Straße im Dorf die Leute ansprechen und sagen: ,Was für eine schöne, starke Frau!‘ … ,Kein Wunder, bei dem Ehemann!‘ Und auch zu dir werden sie sagen: ,Schaut ihn euch an!‘ … ,Kein Wunder, bei der Ehefrau!‘ Und genau das ist es! Darum geht es: daß wir uns gemeinsam wachsen lassen, der eine den anderen.“35 35 Franziskus, Ansprache an junge Paare, die sich auf die Ehe vorbereiten, 14. Februar 2014, 3. Frage.

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Mit wenigen Worten hat der Papst wichtige Aspekte beleuchtet, die verbreitete Fehlhaltungen korrigieren, wie die Ablehnung der tatsächlichen Gleichheit der Ehegatten, als ob der eine im Dienst des anderen stünde, das fehlende Bemühen, Situationen zu vermeiden, die zur ehelichen Untreue führen können (mit der Standardausrede, es handele sich ja nur um Ausnahmen), die Ansicht, Liebe sei allein etwas Spontanes und erfordere keine Anstrengungen oder schließlich die Neigung, das eigene Glück als etwas strikt Persönliches zu verstehen, wofür der andere eine Bedrohung sei. Insbesondere aber hat der Papst betont, daß Mann und Frau einander brauchen, um ihre jeweilige geschlechtliche Identität zu entwickeln, um „mehr Mann“ und „mehr Frau“ zu werden. Ein weiteres Zitat auf dieser Linie: „Schon lange haben wir, zumindest in den westlichen Gesellschaften, das Modell der gesellschaftlichen Unterordnung der Frau gegenüber dem Mann hinter uns gelassen – ein uraltes Modell, dessen negative Auswirkungen jedoch nie ganz erschöpft sind. Wir haben auch ein zweites Modell überwunden: die reine und einfache Parität, die automatisch angewandt wird, und die absolute Gleichheit. So hat sich ein neues Paradigma gebildet, das Paradigma von Gegenseitigkeit in Gleichwertigkeit und Unterschiedlichkeit. In der Beziehung zwischen Mann und Frau sollte also anerkennt werden, daß beide notwendig sind, da sie zwar eine identische Natur besitzen, aber mit eigenen Ausprägungen. Die Frau ist notwendig für den Mann und umgekehrt, damit die Person wirklich zu ganzer Fülle gelangt.“36

Der Unterschied zwischen den Geschlechtern begründet eine grundsätzliche Verschiedenheit zwischen den menschlichen Personen, die so dazu aufgerufen sind, über sich selbst hinauszugehen, um sich jenseits des eigenen Ich wiederzufinden – im unbekannten Land des In-Verbindung-Tretens mit dem anderen Geschlecht und allen seinen (biologischen, psychologischen und geistlichen) Charakteristika. Diese neue Perspektive, die sich in der gemeinsamen Erfahrung auftut, läßt eine jede der Personen neue und bisher unbekannte Facetten ihrer selbst erkennen: sie zeigt dem Mann sein Mann-Sein und der Frau ihr Frau-Sein. Es zeigt beiden, daß ihrer Fähigkeit zur Beziehung eine verwandelnde Kraft innewohnt, die sich grundlegend von der unterscheidet, die mit Personen des gleichen Geschlechtes erfahrbar ist. All das wird bekanntlich von der „Gender“-Ideologie ausgeblendet. Für sie ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern lediglich kulturbedingt und zudem negativ konnotiert, da er Ungleichheit bedingt und so die Personen in ihrer Freiheit beschränkt. Die Menschen seien durch anerzogene kulturelle und soziale Stereotypen gezwungen, eine bestimmte sexuelle Identität anzunehmen. Die „Gender“Ideologie hingegen erhebt den Anspruch, jeder Person eine Vielfalt an sexuellen Beziehungen zu eröffnen, ohne daß diese durch den sozialen Kontext oder durch eine projizierte sexuelle Identität auf soziale Stereotypen festgelegt wären. In Wahrheit führt aber eine solche Ideologie zu einer fortschreitenden Isolation der Personen, da keine dieser vielfältigen Beziehungsformen jemals als stabil und endgültig betrachtet werden kann, um die Freiheit für künftige, anders gerichtete Entscheidungen nicht zu verlieren. So bleiben Beziehungen fragil und sind bloße 36 Franziskus, Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung des Päpstlichen Rates für die Kultur, 7. Februar 2015.

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Projektionen eines Ich, das unfähig ist, aus sich selbst herauszugehen. Beziehungen werden, statt Hilfe für eine wirkliche Entfaltung der Person zu sein, zu einem Hindernis für dieses Ziel. Nur die starke Verbindung, die durch das Eheband begründet wird, vermag demgegenüber das Wachsen und Reifen beider Ehepartnern zu unterstützen: Ein jeder kann, ohne sich selbst zu „verlieren“, aus sich selbst herausgehen und dank der Hilfe des anderen in das unerforschte Land der Begegnung eintreten. In der christlichen Ehe wird die Liebe unter den Ehegatten durch die Teilnahme an der Liebe zwischen Christus und der Kirche bereichert. Diese weiterführende Dimension umfaßt ausdrücklich den Aspekt des Opfers: Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat (Eph 5,25). Die Liebe Christi bis hin zum Tod ist eine unerschöpfliche Kraft für alle, vor allem für „die Ehepaare, die ,den Weg nicht durchstehen‘ … und von den Versuchungen der Verzagtheit, der Untreue, des Rückzuges, des Verlassens gebissen werden. Auch ihnen gibt Gott Vater seinen Sohn Jesus, nicht, um sie zu richten, sondern um sie zu retten: Wenn sie sich Ihm anvertrauen, heilt er sie mit seiner barmherzigen Liebe, die aus seinem Kreuz entspringt, mit der Kraft einer Gnade, die sie wieder aufleben läßt und ihnen zu neuem Schwung auf dem Weg des Ehe- und Familienlebens verhilft.“37 2. Unauflöslichkeit Das Lehramt von Papst Franziskus in der Frage der Unauflöslichkeit des Ehebandes ist von großer Deutlichkeit. So nahm er im Rahmen eines Treffens mit Brautleuten eine Frage, welche die Angst vor dem „für immer“ thematisierte, zum Anlaß, auf zwei wesentliche Aspekte hinzuweisen. Der erste betrifft das Postulat, die heute allgegenwärtige „Kultur des Vorläufigen“ zu überwinden, welche aus der Beobachtung gespeist wird, daß sich alles blitzartig ändert und somit nichts, auch nicht fundamentale Entscheidungen, von Dauer sein kann: „Ist es möglich, einander ,für immer‘ zu lieben? Viele Menschen haben heute Angst davor, definitive Entscheidungen zu treffen. Ein junger Mann hat einmal zu seinem Bischof gesagt: ,Ich möchte Priester werden, aber nur für zehn Jahre.‘ Er hatte Angst vor einer definitiven Entscheidung.“38 Eine weitere Quelle für diese „Kultur des Vorläufigen“ liegt in einer Vorstellung von Freiheit, man könne immer zum Ausgangspunkt zurückkehren, so als ob man die eigenen Handlungen ungeschehen machen, vor ihren Konsequenzen fliehen und die Spuren verwischen könne, die sie in und um einen hinterlassen haben. So gleicht die Freiheit einem Spielzeug, bei dem sich das Ich hinter jeweils unterschiedlichen Entscheidungen förmlich verstecken kann, ohne daß es auch nur eine von ihnen voll und ganz treffen würde. Versteht man Freiheit als die Möglichkeit, ohne konkretes Ziel zu handeln, sich nie auf eine Richtung 37 Franziskus, Predigt in der Heiligen Messe vom Fest Kreuzerhöhung mit Ritus der Trauung, vom 14. September 2014. 38 Franziskus, Ansprache vom 14. Februar 2014 (FN 35).

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festlegen zu müssen, handelt es sich letztlich um eine Freiheit ohne Horizont und Orientierung. „Wie also kann man diese Angst vor dem ,für immer‘ heilen? Man heilt sie Tag für Tag, indem man sich dem Herrn Jesus anvertraut in einem Leben, das zu einem täglichen spirituellen Weg wird, der aus Schritten gemacht ist – aus kleinen Schritten, Schritten gemeinsamen Wachstums –, aus der Verpflichtung, Frauen und Männer zu werden, die reif sind im Glauben. Denn, liebe Verlobte, dieses ,für immer‘ ist nicht nur eine Frage der Dauer! Eine Ehe ist nicht nur dann gelungen, wenn sie von Dauer ist – auf die Qualität kommt es an! Für immer zusammen zu bleiben und einander für immer zu lieben: das ist die Herausforderung, vor der die christlichen Ehepaare stehen.“39

Hier bringt der Papst die Frage nach der Angst vor der Unauflöslichkeit auf den Punkt: Die Angst wird nicht durch die Vorstellung hervorgerufen, für immer mit der geliebten Person zusammen zu sein, denn gerade das ist ja das erstrebte Gut und auch das Motiv zu heiraten. Vielmehr hat die Angst ihren Ursprung in der Vorstellung, man müsse für immer zusammen bleiben muß, obwohl man sich nicht mehr liebt: eine solche Pflicht ohne Liebe ist das Gegenteil des Erstrebten und wird zu einem schweren Joch. Daher bedarf der Gehalt von Liebe der sorgfältigen Darlegung, zum einen ist die Reduktion zu überwinden, sie bestehe nur im Gefühl, zum anderen sind die Haltungen auszubilden, die aus der Liebe erwachsen und sie sodann stärken: einander verstehen, einander entgegenkommen, lernen, einander gut zu behandeln, von Neuem zu beginnen, wenn man sich geirrt hat, dem anderen eine neue Möglichkeit bieten40. Ein solcher Weg wird notwendigerweise die Bitte um den Beistand Gottes einschließen, das Gebet füreinander, das Gebet um „unsere tägliche Liebe“. Eine besondere Herausforderung für die Unauflöslichkeit des Ehebandes stellt das Phänomen der zivilen Ehescheidung mit anschließender Wiederheirat dar. Auf der Bischofssynode vom Oktober 2014 wurde diese Frage unter dem Blickwinkel diskutiert, ob eine Möglichkeit bestehe, die kirchliche Disziplin hinsichtlich des Zugangs der betroffenen Personen zu den Sakramenten der Buße und der Eucharistie zu verändern. Der Abschlußbericht der Synode hält fest, daß die Synodenväter in diesem Punkt nicht einig sind41. Die eigentliche Frage betrifft im Kern die Unauflöslichkeit des Ehebandes: Mit welchem Recht kann die zweite Verbindung als legitim angesehen und der Zugang zu den Sakramenten gewährt werden, falls die erste Ehe gültig ist? Aus historischer Erfahrung weiß die Kirche um die Brisanz dieser Frage, welche die weltliche Macht nicht selten nach den Maßstäben menschlicher Bedürfnisse zu lösen versucht hat: Im 16. Jahrhundert hat die Verteidigung der Unauflöslichkeit der Ehe zur Trennung der Kirche von England geführt, die gegenwärtige Disziplin der Ostkirche ist das vom Cäsaropapismus begünstigte Ergebnis eines Kompromisses zwischen weltlicher und kirchlicher Macht. 39

Ebd. Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (FN 24), Nr. 66. 41 Relatio Synodi (FN 15), Nr. 52. 40

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Darum geht es heute freilich nicht, da – woran nochmals zu erinnern ist – die Synode eine pastorale und keine dogmatische Zielsetzung verfolgt. Ihr ist es also aufgegeben, Wege zu finden, welche das Dogma der Unauflöslichkeit der Ehe unangetastet lassen, gleichzeitig aber dafür Sorge tragen, daß die in einer zweiten Verbindung Lebenden sich nicht als automatisch außerhalb der Kirche stehend fühlen. Ihnen sind Wege des Zugangs zu eröffnen, ihre Situation in menschlicher wie auch christlicher Hinsicht zu verbessern, wobei alle Umstände des jeweiligen Falles einzubeziehen sind. 3. Weitergabe des Lebens Bei diesem Thema verweist Papst Franziskus häufig auf die Enzyklika Humanae vitae des seligen Papstes Paul VI., so etwa anläßlich der Begegnung mit den Familien in Manila: „Ich denke an den seligen Paul VI. In einem Moment, in dem sich das Problem des Bevölkerungswachstums stellte, hatte er den Mut, die Offenheit für das Leben in der Familie zu verteidigen. Er wußte um die Schwierigkeiten, die es in jeder Familie gab, und darum war er in seiner Enzyklika sehr barmherzig gegenüber den Sonderfällen. Und er bat die Beichtväter, mit den Sonderfällen sehr barmherzig und verständnisvoll umzugehen. Doch sein Blick reichte darüber hinaus: Er schaute auf die Völker der Erde und sah diese Bedrohung der Zerstörung der Familie durch Kinderlosigkeit. Paul VI. war mutig, er war ein guter Hirte und warnte seine Schafe vor den kommenden Wölfen. Möge er uns heute abend vom Himmel her segnen!“42

Diese Enzyklika, Zeichen des pastoralen Mutes eines Papstes, ist von fortdauerndem Wert für Kirche und Gesellschaft, da sie die Freiheit und die Verantwortung der Eheleute in den Mittelpunkt der Fruchtbarkeit in der Familie rückt und somit den Weg für eine menschengerechte Weitergabe des Lebens weist. Mehrfach hat sich der Papst dem Aspekt der Verantwortung – wie auch demjenigen der Großzügigkeit – zugewandt. Im Hinblick auf Ängste vor der Weitergabe des Lebens, die zumal in Europa besorgniserregende Auswirkungen auf das Leben der Familien wie der Staaten entfalten, mahnte er: „Wenn eine kinderreiche Familie als Last angesehen wird, dann stimmt etwas nicht! Elternschaft muß verantwortungsvoll sein, wie auch die Enzyklika Humanae vitae des seligen Papstes Paul VI. lehrt, aber mehr Kinder zu haben, darf nicht automatisch zu einer verantwortungslosen Entscheidung werden. Keine Kinder zu haben ist eine egoistische Entscheidung. Das Leben wird jünger und bekommt Kraft, wenn es sich vervielfältigt: Es wird reicher, nicht ärmer!“43

42 Franziskus, Begegnung mit den Familien in Manila (FN 16), in: AAS 107 (2015), S. 176 (179). 43 Franziskus, Generalaudienz vom 11. Februar 2015.

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Entgegen anderslautenden Behauptungen ist Kinderreichtum keine Armutsursache, weder für die Familien selbst noch für die Gesellschaft. Papst Franziskus trägt dazu weitergehende Überlegungen bei. „Gesunde Familien sind grundlegend für das Leben der Gesellschaft. Es schenkt Trost und Hoffnung, zahlreiche vielköpfige Familien zu sehen, die Kinder als wahres Geschenk Gottes annehmen. Sie wissen, daß jedes Kind ein Segen ist. Ich habe gehört, daß einige sagen, daß kinderreiche Familien und die Geburt vieler Kinder zu den Ursachen der Armut gehören. Das scheint mir eine vereinfachende Ansicht zu sein. Ich kann sagen, wir alle können sagen, daß der Hauptgrund der Armut ein Wirtschaftssystem ist, das den Menschen aus dem Mittelpunkt genommen und den Götzendienst des Geldes an seine Stelle gesetzt hat: ein Wirtschaftssystem, das ausgrenzt, das immer ausgrenzt – es grenzt die Kinder, die alten Menschen, die arbeitslosen jungen Menschen aus – und das die Wegwerfkultur schafft, in der wir leben. Wir haben uns daran gewöhnt, weggeworfene Menschen zu sehen. Das ist der Hauptgrund der Armut, nicht die kinderreichen Familien. Auf den heiligen Josef verweisend, der das Leben des – in jenem Land so sehr verehrten – Santo Niño geschützt hat, habe ich daran erinnert, daß die Familien, die verschiedenen Bedrohungen gegenüberstehen, geschützt werden müssen, damit sie die Schönheit der Familie im Plan Gottes bezeugen können. Die Familien müssen auch gegen die neuen ideologischen Kolonisierungen verteidigt werden, die ihre Identität und ihre Sendung angreifen.“44

IV. Ausblick Seit vielen Jahren legt das Lehramt der Kirche bedeutsame Beiträge zu Ehe und Familie vor, welche auf unseren kulturellen Kontext bezogen sind. Das betrifft vor allem das Lehramt des heiligen Johannes Paul II., in der Gegenwart nun die von Papst Franziskus angestoßene Arbeit sowie seine eigene Lehrverkündigung. Der Vorschlag, den die Kirche der Welt unterbreitet, hat seinen Ursprung im Hören auf die göttliche Offenbarung, welche die Quelle von Weisheit und Wahrheit ist und die vom Wandel der kulturbedingten Modelle nicht außer Kraft gesetzt wird. Freilich tut es Not, daß die Worte der Kirche in der aktuellen Debatte als bedenkenswert wahrgenommen werden, und daß die Kirche selbst als ein relevanter Gesprächspartner angesehen wird. Diese Voraussetzungen werden dann für viele Menschen der Ausgangspunkt sein, um den göttlichen Ursprung der Kirche und ihrer Lehre zu entdecken. Das aktuelle Klima ist jedoch vermehrt aggressiv und wenig geneigt, andere als die von der „Gender“-Ideologie verfochtenen Überzeugungen auch nur anzuhören. Das Aufbauen verhärteter Fronten war noch nie ein Weg des Dialogs. Schrille Töne in einer sterilen Konfrontation führen nicht weiter. So zeigt sich die Kirche als „Mutter und Lehrmeisterin“ – mater et magistra –, nicht nur wegen der Güte der Inhalte, die sie anzubieten hat, sondern auch dadurch, daß sie stets neue Wege sucht, um ihr Wort dem Verstand und dem Herz so vieler nahe zu bringen, die um Identität und Zukunft ihrer Ehen und Familien bangen. 44

Franziskus, Generalaudienz vom 21. Januar 2015.

Ehe und Familie aus Sicht der Rechtsanthropologie Die Natur der familiären Beziehungen Héctor Franceschi

I. Einführung Dieser Beitrag betrachtet Ehe und Familie aus Sicht der Rechtsanthropologie. Ihr geht es darum, eine jeder der zwischenmenschlichen Beziehungen zu untersuchen, die das Gesamt von Ehe und Familie bilden, und sie zu verstehen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die in ihnen angelegte rechtliche Dimension gelegt. Zweck dieses Beitrags ist es, die Grundlagen der Ehe und der Familie aus der Perspektive des „rechtlichen Realismus“ erneut darzulegen. Ihm zufolge stellen diese Institute nicht bloße kulturelle Konstrukte oder das Resultat der positiven Rechtssysteme in Staat oder Kirche dar. Ehe und Familie sind vielmehr ursprüngliche und ursprunggebende Wirklichkeiten, die eine ihnen innewohnende rechtliche Dimension haben und demzufolge als solche anerkannt werden müssen, damit sich in Gesellschaft, Kirche und Staat normative Systeme bilden können, die wahrhaft gerecht sind, indem sie die Würde der menschlichen Person verteidigen und fördern. Denn der Mensch kann nicht als isoliertes Einzel-wesen verstanden werden, sondern vielmehr als ein „Beziehungs-wesen“, welches seine vollkommene Verwirklichung nur in (Be-)Achtung der Wahrheit (dessen, „was ist“) sowie in der Suche nach den inneren, objektiven Gütern der familiären Beziehungen finden kann. Wenn der Begriff „Rechtsanthropologie der Ehe“, der seit Ende der 1980er Jahre am Lehrstuhl für kanonisches Ehe- und Familienrecht dieser Fakultät geprägt und entfaltet wurde, gewöhnungsbedürftig erscheinen mag, sei darauf verwiesen, daß sich Papst Benedikt XVI. genau diesen Ausdruck in seiner Ansprache an die Römische Rota im Jahr 2007 zu eigen gemacht hat: In dieser Ansprache wird eine Verbindung zwischen der „Wahrheit der Ehe“ und der „Rechtsanthropologie der Ehe“ hergestellt1. Mit Blick auf die Wirklichkeit der Ehe und die ihr innewohnende rechtliche Dimension führt der Papst aus: 1 Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Rota vom 27. Januar 2007, in: AAS 99 (2007), S. 86 – 91; deutsche Übersetzung in ArchKathKR 176 (2007), S. 192 – 196.

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Héctor Franceschi „Die anthropologische und heilbringende Wahrheit der Ehe wird – auch in ihrer rechtlichen Dimension – bereits in der Heiligen Schrift dargelegt. Die Antwort Jesu gegenüber jenen Pharisäern, die ihn nach seiner Meinung fragten in bezug auf die Rechtmäßigkeit des Entlassens der Frau aus der Ehe, ist sehr gut bekannt: ,Habt ihr nicht gelesen, daß der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat und daß er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen‘ (Mt 19,4 – 6). Die Zitate aus dem Buch Genesis (1,27; 2,24) zeigen die eheliche Wahrheit des ,Anfangs‘ wieder auf, jene Wahrheit, deren Fülle sich auf die Vereinigung Christi mit der Kirche bezieht (vgl. Eph 5,30 – 31) und die Gegenstand so umfassender und tiefer Reflexionen von seiten Papst Johannes Pauls II. in seinen Katechesereihen über die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan gewesen ist.“2

Im direkten Anschluß daran bezieht sich Benedikt XVI. – gerade in Bezug auf diese Wahrheit der Ehe – ausdrücklich auf die Rechtsanthropologie: „Von dieser dualen Einheit des menschlichen Paares ausgehend kann man eine echte Rechtsanthropologie der Ehe ausarbeiten. In diesem Sinne sind die abschließenden Worte Jesu besonders erleuchtend: ,Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.‘ … Die Partner müssen sich endgültig verpflichten, eben weil die Ehe im Schöpfungs- und Erlösungsplan so beschaffen ist. Und die wesentliche rechtliche Natur der Ehe liegt eben in diesem Band, das für den Mann und für die Frau ein Erfordernis der Gerechtigkeit und der Liebe darstellt, der sie sich, zu ihrem eigenen Wohl und zum Wohl aller, nicht entziehen können, ohne im Widerspruch zu dem zu stehen, was Gott selbst an ihnen getan hat.“3

Gegenpole der Rechtsanthropologie sind sowohl der Rechtspositivismus wie auch der Relativismus. Beide wollen eine Grundlage von Ehe und Familie nicht in dem finden, was die Person „ist“, in ihrer daraus hervorgehenden Wirklichkeit und unveräußerlichen Würde. Vielmehr reduzieren sie Ehe und Familie auf eine rein kulturelle, völlig veränderbare Ausdrucksform, für welche die Bezeichnung „Wahrheit der Ehe“ keinerlei Sinn mehr hätte. Im Hinblick auf den Rechtspositivismus erklärt der Papst: „Für den Positivismus wäre die rechtliche Natur der ehelichen Beziehung nichts weiter als das Resultat der Anwendung einer menschlichen Norm, die formal gültig und wirksam ist. Auf diese Weise steht die menschliche Wirklichkeit des ehelichen Lebens und der ehelichen Liebe außerhalb der ,Rechtsinstitution‘ Ehe. Es entsteht eine Kluft zwischen Recht und menschlichem Leben, die jede Möglichkeit einer anthropologischen Grundlegung des Rechts radikal ausschließt.“4

Sodann hält er einer relativistischen und rein existentiellen Sichtweise der menschlichen Person, der Ehe und der Familie und somit der familiären Beziehungen entgegen: 2

Ebd., in: AAS 99 (2007), S. 86 (88 f.) bzw. ArchKathKR 176 (2007), S. 192 (193 f.). Ebd., in: AAS 99 (2007), S. 86 (89) bzw. ArchKathKR 176 (2007), S. 192 (194). 4 Ebd. 3

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„Angesichts der subjektivistischen und anarchischen Relativierung der sexuellen Erfahrung bekräftigt die Tradition der Kirche klar die rechtliche Natur der Ehe, das heißt ihre von Natur aus gegebene Zugehörigkeit zum Bereich der Gerechtigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen. In dieser Hinsicht verknüpft sich das Recht wirklich mit dem Leben und der Liebe wie ein ihm innewohnendes ,Gebot‘. Daher verweist, wie ich in meiner ersten Enzyklika geschrieben habe, der Eros ,von der Schöpfung her den Menschen auf die Ehe, auf eine Bindung, zu der Einzigkeit und Endgültigkeit gehören. So, nur so erfüllt sich seine innere Weisung‘ (Deus caritas est, 11). Liebe und Recht können sich so bis zu dem Punkt vereinen, daß schließlich Ehemann und Ehefrau einander die Liebe schulden, die sie spontan füreinander empfinden: Die Liebe ist in ihnen die Frucht ihres freien Wollens des Wohles des jeweils anderen und des Wohles der Kinder. Und das ist im übrigen auch ein Erfordernis der Liebe zum eigenen wahren Wohl.“5

Darin liegt die große Wahrheit, welche die rechtsanthropologische Sicht der Ehe und der Familie vertiefen will. Es geht mit anderen Worten um die Wiederentdeckung dieser der Ehe und jeder familiären Beziehung innewohnenden Dimension der Gerechtigkeit. Wird diese Dimension nicht anerkannt und verteidigt, läßt sich kein Begriff von Ehe, Familie und familiärer Beziehung bilden, der nicht ideologisch aufgeladen oder (im Fall der kirchlichen Lehre und des Kirchenrechts) ein fideistisches Konstrukt wäre, was einen wirklichen Dialog mit der gegenwärtigen Gesellschaft unmöglich machen würde. So gelangt Benedikt XVI. zu der Schlußfolgerung „Das ganze Wirken der Kirche und der Gläubigen im Bereich der Familie muß auf dieser Wahrheit über die Ehe und auf der ihr innewohnenden rechtlichen Dimension gründen.“6 Vor dem dargelegten Hintergrund hat sich eine rechtsanthropologische Sichtweise der Ehe und der Familie diesen zentralen Themenfeldern zuzuwenden: ¢ der Beziehung zwischen familiärer Wirklichkeit und den Rechtsordnungen; ¢ der Familie als Gemeinschaft, in der die grundlegende Dimension der Beziehung der menschlichen Person geformt wird; ¢ dem anthropologischen Gehalt von Ehe und Familie: bei der Entwicklung eines die Realität widerspiegelnden Begriffs der Person bedarf es der Vergewisserung über die wesentliche Bedeutung der familiären Beziehungen, erhalten doch die ersten menschlichen Beziehungen ihre „familiäre Natur“ gerade von der Familie. Auf dieser Grundlage wäre dann ein Rechtsbegriff der „familiären Beziehung“ zu formulieren, der allen in der familiären Gemeinschaft bestehenden Beziehungen gemeinsam ist und somit eine allgemeine Charakterisierung dieser Beziehungen ermöglicht; ¢ ausgehend von einem solchen allgemeinen Begriff der „familiärer Beziehung“ lassen sich dann die Besonderheiten jeder der grundlegenden familiären Bezie-

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Ebd., S. 86 (90) bzw. ArchKathKR 176 (2007), S. 192 (195). Ebd.

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hungen benennen (eheliche Beziehung, Beziehung Vater-Mutter/Kind, geschwisterliche Beziehung). Im folgenden sollen nur zwei Aspekte eingehend untersucht werden: die Ehe und Familie innewohnende rechtliche Natur und sodann die familiäre Beziehung im Allgemeinen (also ohne nähere Untersuchung ihrer Spezifikationen). Gelingt es, diese beiden Aspekte im Lichte der Rechtsanthropologie zu erklären, dann lassen sich auch die eheliche Beziehung, die Beziehung Vater-Mutter/Kind sowie die geschwisterliche Beziehung in wirklichkeitsbezogener Weise verstehen, sowohl im Hinblick auf ihre Natur wie auch auf die Anforderungen, die sich aus der Gerechtigkeit ergeben7.

II. Die immanente rechtliche Dimension der Ehe und der Familie8 1. Ursprüngliche und immanente rechtliche Dimension von Ehe und Familie Die auf die Ehe begründete Familie ist das menschliche „Habitat“, in dem sich das Sein des Menschen ausbildet. Denn die sozialen Beziehungen, die das Gewebe der Gesellschaft bilden, sind nicht einfachhin funktionale und immer gleiche Beziehungen, die in gleichartiger Weise untereinander vollkommen gleiche Individuen untereinander und vor dem Staat verbinden würden, so als ob es zwischen den Menschen und dem Staat keine Zwischeninstanzen gäbe. Die (rechts)verbindliche Begründung und die effektiv mögliche Entwicklung der ersten familiären Beziehungen stellen demgegenüber die notwendigen Voraussetzungen dafür dar, damit sich die anderen sozialen Beziehungen auf den verschiedensten Ebenen in ihrer jeweiligen Eigenart und ungestört herausbilden können. Zum Verständnis von Ehe und Familie aus rechtsanthropologischer Sicht muß daher der innere Zusammenhang zwischen den Begriffen „Familie“ und „Person“ einbezogen werden. Die menschliche Person kann ihre ethische Vollkommenheit nur dann erreichen, wenn sie aus der Gemeinschaft einer Familie hervorgeht. Dieser Gemeinschaft wohnt bereits kraft Natur der Sache eine rechtliche Dimension inne, die jedem rechtlich relevanten Handeln von Gesellschaft oder Kirche vorausgeht. Eben weil Ehe und Familie Institute sind, die zur Ordnung des Tatsächlichen gehören – zur Seinsordnung –, erweist sich ihre rechtliche Natur in drei wesentlichen Dimensionen: der zwischenmenschlichen, der sozialen und (bei Getauften) der kirchlichen. 7

Vertiefend Juan Ignacio Bañares, La dimensión conyugal de la persona: de la antropología al derecho, Madrid 2005. 8 Bei diesen Überlegungen stehe ich bei meinem Lehrer Joan Carreras, der mich in das Eherecht eingeführt hat, in der Schuld. – Siehe unser gemeinsames Werk: Héctor Franceschi/ Joan Carreras, Antropología jurídica de la sexualidad. Fundamentos para un Derecho de Familia, Cáracas 2000 (online verfügbar unter www.bibliotecanonica.net/docsab/btcabn.htm).

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Die wichtigste von diesen drei Dimensionen ist die erste, die zwischenmenschliche, bildet doch der Konsens der Partner die Wirkursache der familiären Gemeinschaft. Fehlt der Ehekonsens, ist die Anerkennung der Ehe durch Gesellschaft und Staat (das sind die beiden anderen soeben genannten Dimensionen) sinnlos. Denn es handelt sich nicht um eine konstitutive Anerkennung, sondern um die Anerkennung einer Wirklichkeit, die zwar eine soziale Komponente in sich birgt – aber eben doch eine Wirklichkeit ist, die allein zwei Personen (Mann und Frau) durch ihren höchstpersönlichen Konsens begründen können, den keine menschliche Gewalt ersetzen kann (vgl. c. 1057 § 1 CIC). Staat und Kirche haben die Befugnis, die Ausübung des Rechts auf die Ehe zu regeln, freilich nicht, um es in willkürlicher Weise zu definieren oder zu begrenzen, sondern vielmehr zu dem Zweck, daß die Bürger bzw. die Gläubigen in den jeweiligen Rechtsordnungen die maßgeblichen Elemente der Ehe und der familiären Gemeinschaft wiederfinden können. So werden sie dazu befähigt, aufgrund der Normen einer konkreten Rechtsordnung zu erfassen, was die Familie ausmacht, und ebenso umgekehrt, zu verstehen, welche anderen Formen menschlichen Zusammenlebens nicht so bezeichnet werden können – eben weil sie es nicht sind9. Es hat den Anschein, daß sich gegenwärtig die westlichen Kulturen im Treibsand einer individualistischen und gegen die Familie gerichteten Sichtweise der menschlichen Person verloren haben. Eine Folge davon sind rasche und tiefgreifende Veränderungen im Familienrecht, die eine traurige Realität offenbar machen: In vielen westlichen Ländern kennen die staatlichen Instanzen kein Modell der Familie mehr. Die Familie wird von den staatlichen Rechtsordnungen nicht mehr „anerkannt“, sondern vielmehr „ignoriert“. Das bedeutet nicht, daß sie keinerlei Gestaltungskraft mehr hätten – natürlich wird es weiterhin Rechtsnormen zu Ehe und Familie geben, die in vielen Fällen auch den Anforderungen der Gerechtigkeit entsprechen und daher für die Bürger im Gewissen verpflichtend sind. Bei alledem kommt derartigen gesetzlichen Bestimmungen rechtliche Natur in dem Maße zu, in welchem sie den der familiären Gemeinschaft innewohnenden rechtlichen Anforderungen entsprechen. Genau das war immer mit dem klassischen Ausdruck gemeint gewesen, Ehe und Familien seien „natürliche Institute“. Doch man wird heute, da dieser Begriff bei vielen jeden Aussagegehalt verloren hat oder von der Gegenwartskultur mit falschen Inhalten aufgefüllt wird, andere Wege finden müssen, um die gleichen Ideen und Grundprinzipien einsichtig zu machen. Einer dieser denkbaren Wege, um das Gespräch wiederaufnehmen, das mit einem Großteil der

9 Héctor Franceschi, Ius connubii y sistema matrimonial, in: Instituto de Ciencias para la Familia (Hrsg.), El matrimonio y su expresión canónica ante el III milenio, Pamplona 2000, S. 471 – 508; ders., Riconoscimento e tutela dello „ius connubii“ nel sistema matrimoniale canonico, Milano 2004. Generell nützlich zum besseren Verständnis der in diesem Beitrag angesprochenen Fragestellungen: Päpstlicher Rat für die Familie (Hrsg.), Lexicon. Termini ambigui e discussi su famiglia, vita e questioni etiche, Bologna 2003.

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Juristen abgebrochen erschien, ist die rechtsanthropologische Sicht von Ehe und Familie10. Vor diesem Orientierungsverlust in vielen westlichen Kulturen (und nicht nur in ihnen) hat die Kirche große Anstrengungen unternommen, um die Schönheit und Größe der Realitäten „Ehe“ und „Familie“ immer mehr bekannt zu machen und zu verbreiten. Einen bedeutsamen Anschub hat diesen Anstrengungen die Einberufung zweier Synoden über die Familie durch Papst Franziskus verliehen. Die Kirche will mit neuem Schwung zur Wiederentdeckung der Familie beitragen, indem sie – zumal im Licht der Offenbarung in Christus – die der Ehe und der Familie innewohnende Wahrheit sowohl ihren Gläubigen wie der gesamten Gesellschaft darlegt. Dabei weiß sie sich ihrer Sendung verpflichtet, Hüterin einer Wahrheit zu sein, die sie als Geschenk wie als Auftrag empfangen hat und bei der die Würde der menschlichen Person selbst betroffen ist. Auf Hunderten, wenn nicht Tausenden von Seiten hat die Kirche alle denkbaren Fragestellungen der Begründung und Entwicklung der Familie dargelegt und verdeutlicht. Gleichwohl ist auch unter denen, die sich in der Kirche mit rechtlichen Fragen beschäftigen, die Ansicht weit verbreitet, die Kirche beanspruche ihre Regelungskompetenz für die Ehe, nicht aber für die Familie11. Während die Ehe ein zur Würde des Sakraments erhobener „Vertrag“ sei (worin der rechtfertigende Grund für die kirchliche Regelungskompetenz liege), stelle demgegenüber die Familie eine Realität dar, welche zwar eine rechtliche, nicht aber eine „kanonische“ Dimension aufweise. Die Familie sei natürlich Adressatin pastoraler Aufmerksamkeit und Gegenstand lehramtlicher Verlautbarungen, aber aus streng rechtlicher Sicht habe sie mit der kirchlichen Rechtsordnung kaum Berührungspunkte. Beleg dafür sei der Niedergang des kanonischen Familienrechts, das sich in den Jahren unmittelbar nach der Promulgation des Codex von 1983 herausgebildet hatte, seinerzeit mit großem Enthusiasmus betrieben wurde und schon als ein neuer Zweig der Kirchenrechtswissenschaft ausgeflaggt worden war. Heute muß man feststellen, daß das kanonische Familienrecht – bei mancher löblichen Ausnahme12 – nahezu verschwunden ist, ja letztlich in der Kirche nicht wirklich Fuß gefaßt hat13. Es ist hier nicht der Ort, um die Gründe für diese Entwicklung vertieft zu analysieren, es muß mit einigen knappen Anmerkungen sein Bewenden haben. Einer der Gründe ist sicher in dem in westlichen Ländern weitverbreiteten Vorurteil zu finden, eine „rechtliche“ Realität 10

Vgl. Pedro Juan Viladrich, La familia soberana, in: IusEcc 7 (1995), S. 539 – 550. Vgl. Urbano Navarrete, Diritto canonico e tutela del matrimonio e della famiglia, in: Päpstlicher Rat für die Interpretation der Gesetzestexte (Hrsg.), Ius in vita et in missione Ecclesiae, Vatikanstadt 1994, S. 987 – 1002 (988). 12 Etwa Ilaria Zuanazzi, Per un diritto di Famiglia della Chiesa: i rapporti tra genitori e figli, in: IusEcc 25 (2013), S. 409 – 430. 13 Dazu Juan Ignacio Arrieta, La posizione giuridica della famiglia nell’ordinamento canonico, in: IusEcc 7 (1995), S. 551 – 560. 11

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werde weitgehend durch das Handeln von Institutionen (vor allem des – staatlichen oder kirchlichen – Gesetzgebers) geschaffen, anders formuliert: Recht ist nur das „positive Recht“. Bei einer solchen Sichtweise gelangt man, da in der Tat nur wenige „positive“ Normen des CIC die Familie in den Blick nehmen, zur Schlußfolgerung, es fehle an den notwendigen Voraussetzungen zur Etablierung einer eigenständigen Disziplin des Kirchenrechts. Eine solche, so hört man weiter, könnte sogar als lächerlich erscheinen, vergleicht man sie mit der Vielzahl der kirchlichen Normen über die Ehe oder gar mit den staatlichen Systemen des Familienrechts14. Greift man nun die Grundidee dieses Abschnitts wieder auf – Ehe und Familie haben eine immanente rechtliche Dimension –, erweist sich, wie sich demgegenüber ein Familienrecht entwickeln läßt, das weder kanonisch noch staatlich ist, weil es eben die in der Wirklichkeit bestehende rechtliche Dimension dieser Personengemeinschaft abbildet und daher jedweder staatlichen oder kirchlichen „Anerkennung“ vorausliegt. Es gibt weder eine „kanonische“ noch eine „staatliche Familie“, sondern allein die Realität „Familie“, und nur insoweit diese in ihrem Sein von der staatlichen oder kirchlichen Rechtsordnung anerkannt wird, kann man von einem wirklichen „Familienrecht“ sprechen. Dieses „Familienrecht“ muß die Grundlage einer jeden Rechtsordnung bilden, die sich zu Ehe und Familie verhält. Es handelt sich, anders gewendet, um ein „Familienrecht“, das weder als „kanonisch“ noch als „staatlich“ zu qualifizieren ist, sondern auf der „Realität der Familie“ und auf der Anerkennung der Würde der menschlichen Person in ihrer Geschlechtlichkeit beruht. Eben darin besteht das Anliegen einer rechtsanthropologischen Sicht von Ehe und Familie. In anderen Worten: Das „Familienrecht“ kann sich nicht auf das Studium der positiven Normen einer bestimmten Rechtsordnung beschränken, sondern muß darüber hinaus gehen und zur Wahrheit der Dinge vordringen, indem es einen Freiraum für das Nachdenken über die der Familie innewohnende rechtliche Natur läßt. 2. Gemeinsame Wurzeln der Ehe und Familie immanenten rechtlichen Dimension „Was erwartet die Familie als Institution von der Gesellschaft?“ so fragte Papst Johannes Paul II., um darauf zu antworten: „Vor allem, in ihrer Identität anerkannt und in ihrer sozialen Subjektivität angenommen zu werden. Diese Subjektivität ist an die Identität gebunden, die der Ehe und der Familie eigen ist“15. 14 Vgl. Juan Ignacio Arrieta, Il rinnovamento del sistema matrimoniale canonico alla luce dei recenti lavori sinodali, in: Luigi Sabbarese (Hrsg.), Sistema matrimonia canonico in synodo, Rom 2015, S. 41 – 59 (42 f.). 15 Johannes Paul II., Brief an die Familien vom 2. Februar 1994, Nr. 17, in: AAS 86 (1994), S. 868 – 925 (903); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 112 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 31995, S. 46.

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Ebenso wichtig wie die Erkenntnis um die immanente rechtliche Dimension von Ehe und Familie ist die Einsicht, daß beide Institutionen dieselbe rechtliche Natur besitzen. Auf der Linie der zitierten Bemerkung von Johannes Paul II. läßt sich festhalten, daß die Identität der Familie auf derjenigen der Ehe beruht sowie umgekehrt die Identität der Ehe auf derjenigen der Familie. Anders gesagt, die Familie gründet sich auf den Ehebund (das matrimonium in fieri), der dann wahrhaft „ehelich“ ist, wenn er sich als offen für die Weitung zur Familie erweist. Diese Offenheit kommt herkömmlich im ehelichen Gut der Nachkommenschaft (dem bonum prolis) zum Ausdruck, die in der Terminologie des CIC mit dem Wesensziel der „Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft“ umschrieben wird (c. 1055 § 1 CIC). Anders ausgedrückt, kann es keine wahre Ehe geben, wenn nicht gleichzeitig die Familie besteht. Damit ist gemeint, daß schon im Zeitpunkt des Ehebundes nicht allein die erste familiäre Beziehung – die eheliche – begründet wird, sondern auch schon die Familie ins Leben tritt. Die Familie entsteht nicht erst dann, wenn tatsächlich die Kinder zur Welt kommen, sondern bereits mit der Offenheit auf die eheliche Fruchtbarkeit hin, die ja Bestandteil des wechselseitigen Sich-Schenkens und -Annehmens der Ehegatten ist. Diese Überlegungen sind keineswegs belanglos. Nimmt man sie ernst, führen sie zu wichtigen Folgerungen im Verständnis der Ehe wie der Familie. Die Erkenntnis, daß die Familie bereits im Ehebund angelegt ist und in ihm ihren Ausgang nimmt, vermag einen Beitrag zu leisten, um reduktionistische Auffassungen zu überwinden, die Familie auf die biologische und soziologische Sphäre einzuengen. Da der Ehekonsens der Ehegatten die Familie begründet, läßt sich die rechtliche Natur der Familie im Licht der Ehe besser verstehen: beide haben dieselbe Wirkursuche – eben den Ehekonsens. Hat man diese untrennbare Beziehung zwischen Ehe und Familie erfaßt, bereichert das auch ein jedes der beiden Institute: man versteht den Grund, warum sich die Familie auf die Ehe gründet und erkennt gleichzeitig besser die familiäre Natur der Ehe als der ersten familiären Beziehung. 3. Die gemeinsame rechtliche Natur von Ehe und Familie als Grundlage der rechtsanthropologischen Sicht von Ehe und Familie Hervorstechendstes Kennzeichen der gegenwärtigen Familienrechtsordnungen ist das Fehlen von Kriterien, die eine in sich kohärente Interpretation der Rechtsvorschriften zu Ehe und Familie zulassen. Verdanken diese Systeme in ihren Ursprüngen vieles dem kanonischen Ehe- und Familienrecht, erscheinen sie heute wie die sterblichen Hüllen von Körpern, denen nunmehr das Leben fehlt, das sie in vergangenen Zeiten beseelte. So ist die kirchliche Rechtsordnung auf einem impliziten Begriff der „menschlichen Person“ aufgebaut – ein Geschöpf, das nur im ernstgemeinten Verschenken seiner selbst zu sich selbst finden kann –, desgleichen auf dem Verständnis der „Familie“ als Gemeinschaft von (solchen) Personen. In

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dieser Gemeinschaft bestehen verschiedene zwischenmenschliche Beziehungen nebeneinander, die jeweils Wege der Vollkommenheit darstellen, in denen ein jedes Familienmitglied beständig zum Verschenken seiner selbst berufen ist. Zusammengefaßt: Die Ehegatten begründen die Familie durch ihren Ehekonsens (jenen Willensakt, in dem sich Mann und Frau einander als Ehepartner schenken und annehmen), indem sie dieser Familie die „Logik des Sich-Verschenkens“ gewissermaßen einpflanzen. Demgegenüber fehlen diese für das kirchliche Eherecht grundlegenden anthropologischen Begriffen heutzutage in vielen Familienrechtsordnungen. In ihnen stellt sich die Familie statt dessen als eine Gemeinschaft von Individuen dar, die bestimmte Funktionen oder auf die Verwandtschaft bezogene „Rollen“ wahrnehmen: als Eltern, Ehemänner, Ehefrauen oder Kinder. Was diese Begriffe nun substantiell bedeuten, vermögen auch Fachleute nicht mehr zu sagen. Ein bezeichnendes Beispiel dafür findet sich in einem von einer „Expertengruppe Familienrecht“ des Europarats vorbereiteten Arbeitspapier, in dem es heißt: „Für die Zwecke dieses Dokuments erscheint es nicht notwendig, den Begriff ,Eltern‘ zu definieren, da davon ausgegangen wird, daß ein Kind nur eine Mutter und nur einen Vater hat. Die Begriffe ,Mutter‘ und ,Vater‘ bezeichnen daher, unbeschadet gegenteiliger Vorschriften, diejenigen Personen, die vom Gesetz als Eltern anerkannt werden.“16. Die Definition der verschiedenen „Familienrollen“ wird also der nationalen Gesetzgebung überlassen. Wenn nun schon Experten des Familienrechtes es ablehnen, eine Definition der grundlegenden Begriffe (Familie, Ehe, Kindschaft, Vaterschaft etc.) zu versuchen und statt dessen diese Aufgabe der jeweiligen positiven Gesetzgebung überlassen, wird das Terrain der Rechtswissenschaft verlassen und dasjenige eines denkbar radikalen Rechtspositivismus und kulturellen Relativismus betreten. Für sie gibt es keine „Wirklichkeit“, die „in rechter Weise“ zu regeln wäre, vielmehr wird die Wirklichkeit „bestimmt“ – vom Willen des Gesetzgebers, von der Mehrheit (manchmal auch nur der Minderheit), von einflußreichen ideologisch ausgerichteten Gruppierungen. All dies läßt sich heute anhand der „Gender“-Ideologie beobachten. Das zentrale Problem liegt darin, daß viele dieser Begriffe in der Vergangenheit nicht definiert worden sind, da sie in den (staatlichen wie kirchlichen) Rechtsordnungen vorausgesetzt wurden. Im Westen wurde das Ehe- und Familienrecht auf der Grundlage eines konkreten Systems der Verwandtschaftsgrade konzipiert, dessen ferne Ursprünge in den Verwandtschaftssystemen der indoeuropäischen Völker liegen und das dann seine entscheidenden Prägungen durch die Einflüsse des Christentums in Mittelalter und Neuzeit erfahren hat. Während die antiken Verwandtschaftssysteme um die Figur des Vaters kreisten, beruht im Westen das christlich geprägte Verwandtschaftssystem auf dem Begriff der una caro. Dieser 16 Groupe de travail sur le statut juridique des enfants (CF-FA-GT2 (98) 5), Annexe III, Rapport sur les principes relatifs à l’établissement et aux conséquences juridiques du lien de filiation, Nr. 11 (Übersetzung d. Verf.).

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biblische Ausdruck will sagen, daß die Ehegatten eine Einheit bilden und im Stammbaum den Platz eines einzigen sozialen Subjektes einnehmen: Mann und Frau sind nicht mehr zwei, sondern (bezogen auf die Verwandtschaftsverhältnisse) eins. Alle übrigen Elemente des Verwandtschaftssystems wurden stillschweigend vorausgesetzt, und da insoweit keine größeren Schwierigkeiten bestanden, sah man kein Bedürfnis für eine Definition und weitere begriffliche Ausformungen. Von dieser Rechtstradition haben sich die gegenwärtigen Rechtssysteme von dem Zeitpunkt an allmählich abgelöst, in dem der Scheidung derselbe Stellenwert eingeräumt wurde wie der Anerkennung des ius connubii (Recht auf die Ehe). Ehemann und Ehefrau gelten nicht mehr als eine verwandtschaftliche Einheit, da diese ihre Identitäten keinen Bezug zu „Seinsweisen“ oder „persönliche Identitäten“ mehr aufweisen sollen. Statt dessen beschränkt die positive Rechtsordnung diese Identitäten allein darauf, soziale Funktionen zu bezeichnen (die wiederum die Rechtsordnung ihrerseits geschaffen hat). Demnach wäre es also der Staat, der – sowohl bei der Eheschließung wie auch bei der Aufhebung der Ehe – den Bürgern den legitimen Gebrauch dieser „Funktionen oder Rollen“ zuweisen oder wegnehmen würde. In den letzten Jahrzehnten läßt sich eine fortschreitende Entwicklung beobachten, nach der auf die übrigen familiären Identitäten und Beziehungen die gleichen rechtlichen Schemata übertragen werden, die – wie soeben dargelegt – zuvor bereits auf die eheliche Beziehung angewendet wurden. Familiäre Identitäten und Beziehungen seien demnach keine „Seinsweisen“ der Person, sondern würden vielmehr von der jeweiligen Rechtsordnung definiert und zugewiesen. Haben sich in der westlichen Kultur Formulierungen wie „Ex-Mann“ oder „Ex-Frau“ durchgesetzt, ist der Schritt nicht mehr weit, auch von „Ex-Kindern“, „Ex-Eltern“ oder „ExGeschwistern“ zu sprechen. Zu Beginn dieses Jahrtausends stehen die Juristen, die vom vorgegebenen Charakter von Ehe und Familie überzeugt sind, vor einer zentralen rechtskulturellen Herausforderung, nämlich derjenigen, aufzuzeigen, wie sehr sich in vielen Ländern das Familienrecht in gefährlicher Weise von seinen Grundlagen – dem Verwandtschaftssystem – abgelöst hat. Während in diesem System die grundlegenden Begriffe auf der interpersonalen und geschlechtsbezogenen Natur der menschlichen Person und der familiären Beziehungen beruhen, wollen sie die modernen Rechtssystemen auf eine falsch verstandene „spiritualistische“ Sichtweise des Menschen gründen. Prämisse dieser Sichtweise ist das „Projekt der eigenen Freiheit“17, einer Freiheit, die in dem Maße unbeschränkt sein soll, in dem Technik und wissenschaftlicher Fortschritt es dem Menschen erlauben, sich nach eigenem Gutdünken selbst zu schaffen. Nach dem Familienrecht der westlichen Länder, die bereits ein „Recht auf Änderung des eigenen Geschlechts“ anerkennen, kann derjenige, der in 17 Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor vom 6. August 1993, Nr. 48, in: AAS 85 (1993), S. 1133 – 1228 (1172); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 111 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“ (Bonn 51995), S. 49.

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der „Rolle Ehemann“ eine Familie gegründet hat, zu einem späteren Zeitpunkt eine weitere in der „Rolle Ehefrau“ begründen. Die gleiche besorgniserregende Dynamik zeigt sich auch im Bereich der Kindschaft; es genügt, sich die Techniken der künstlichen Befruchtung, die Möglichkeit des Klonens von Embryonen oder das Phänomen der Leihmutterschaft zu vergegenwärtigen. Werden die familiären Beziehungen jeglichen objektiven Gehalts entleert, könnte jede beliebige Beziehung als Ehe, Kind- oder Geschwisterschaft angesehen werden. Den gemeinsamen Fluchtpunkt all dieser Umformungen bildet eine individualistische Anthropologie, welche sich von dem Verwandtschaftssystem abwendet, auf dem unsere Gesellschaft und unsere Kultur errichtet sind. Nach dieser anthropologischen Konzeption sind familiäre Beziehungen nichts anderes als vertragliche Beziehungen mit gesellschaftlicher Relevanz. Sie bestehen erst dann, wenn der Staat sie anerkennt, wobei der Befugnis einer derartigen „Anerkennung“ keine Grenzen gesetzt sind. In Wahrheit handelt es sich dabei jedoch um eine absolute Befugnis, etwas zu kreieren, was in der Wahrheit der Person und der einzelnen familiären Beziehungen keinerlei Grundlage hat. Familiäre Beziehungen würden demnach nur solange existieren, als die sie begründenden Interessen oder Gefühle fortbestehen. Wären hingegen ihre soziale Funktion oder die subjektiven Absichten erfüllt oder auch entfallen, könnte jeder der Beteiligten sich von der vertraglichen Bindung befreien und vom Staat deren „Löschung“ verlangen. Kein Verwandtschaftssystem könnte eine so tiefgreifende Umformung und eine derart radikale Entleerung an Werten überstehen. Um diesen Prozeß der beständigen Dekonstruktion zum Sillstand zu bringen, bedarf es gesteigerter Anstrengungen im Bereich der Anthropologie. Gegenwärtig besteht das Problem darin, daß die Anthropologen keine Juristen sind: sie sagen nicht, wie ein bestimmtes Verwandtschaftssystem sein müßte, vielmehr untersuchen und beschreiben sie es so, wie es ist (oder wie es in Erscheinung tritt). Um so erstrebenswerter ist es daher, eine „Rechtsanthropologie der Ehe und der Familie“ auszuformen, deren vorrangiges Ziel es ist, die Verwandtschaftssysteme im Licht der Würde der menschlichen Person zu studieren. Dabei soll es nicht darum gehen, ein artifizielles System am grünen Tisch zu schaffen, sondern vielmehr darum, die Logik und die Dynamik der familiären Identitäten und Beziehungen zu analysieren, insofern es sich bei ihnen um Dimensionen handelt, die ontologisch an die menschliche Person als „Beziehungswesen“ gebunden sind. Dergestalt könnte der Rechtskultur die Grundlage für die Errichtung der verschiedenen Familienordnungen zur Verfügung gestellt werden, wobei die grundlegenden Begriffe gerade nicht „aprioristisch“ von den Staaten entworfen, sondern von der Wissenschaftsgemeinschaft definiert worden wären. Voraussetzung dafür ist freilich, daß letztere sich wirklich als den tatsächlichen Gegebenheiten zugänglich erweist und nicht nur blind den Vorgaben des Staates, einer bestimmten Ideologie oder pressure group folgt18.

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Vgl. Fabrice Hadjadj, Qu’est-ce qu’une famille?, Paris 2014.

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Die Rechtsanthropologie der Ehe müßte also die naturgegebene Rechtsgrundlage dafür bilden, dem Staat oder jedweder anderen Instanz die Grenzen ihrer Befugnisse aufzuzeigen: sie sind nicht Schöpfer der Wirklichkeit „Familie“, sondern haben (allein, aber immerhin) die Aufgabe, sie anzuerkennen und in wirksamer Weise zu schützen. Mehr noch haben die verschiedenen Institutionen die Pflicht, sicherzustellen, daß in den Gesetzen und in ihrer Auslegung die Identität der Familie und der familiären Beziehungen (beginnend mit der Ehe) widergespiegelt und nicht im Gegenteil verdunkelt wird. Zugleich müßte die Rechtsanthropologie im Bereich des Kirchenrechts die Grundbegriffe der kanonischen Familienrechts ausdrücklich formulieren. Gerade weil es bisher diese Begriffe nur implizit enthält, haben sich Studium und praktische Anwendung des Eherechtes in der Kirche nicht immer vollständig in die Grundgegebenheiten der christlichen (oder sogar der menschlichen) Anthropologie eingefügt. Mit ein Grund dafür läßt sich im gewaltigen Einfluß der individualistischen und existentialistischen westlichen Kultur ausfindig machen, welche unter den gegenwärtigen Umständen auch Auswirkungen auf die Rechtswissenschaft in der Kirche entfaltet. Zusammenfassend erweist sich bei dem Bemühen, zu einem einheitlichen rechtlichen Verständnis von Ehe und Familie zurückzufinden, zweierlei als notwendig: zum einen bedarf es der neuen Vergewisserung ihrer immanenten rechtlichen Dimension, zum anderen der Entfaltung einer Rechtsanthropologie der Ehe und Familie. Diese kann nicht allein auf der deskriptiven Ebene des Seins verharren, sondern hat den Versuch zu wagen, auch das Sollen zu definieren. Miteinzubeziehen ist dabei die Dimension der Gerechtigkeit, die untrennbar mit verschiedenen Bereichen der menschlichen Geschlechtlichkeit – und damit auch mit Ehe und Familie – verbunden ist19.

III. Die familiären Beziehungen aus rechtsanthropologischer Perspektive 1. Der rechtliche Begriff der familiären Beziehung Familiäre Beziehung ist jene Beziehung, die einerseits zwei Personen kraft bestimmter Grundzüge ihrer Ur-Identität vereint, resultierend aus ihrer Geschlechtlichkeit und daher unveränderbar und unverwechselbar, und zum zweiten diejenigen Anforderungen der Gerechtigkeit festsetzt, die zur Herausbildung einer wahren Gemeinschaft zwischen diesen Personen erforderlich ist. Zu einem vertieften Verständnis dessen bedarf es einiger terminologischer Präzisierungen der Elemente „Beziehung“, „Gemeinsamkeit“ und „Gemeinschaft“. Damit wird der Weg frei, um

19 Näher Héctor Franceschi, „Ius divinum“ e „Ius humanum“ nella disciplina matrimoniale. La „verità del matrimonio“ come fondamento del sistema matrimoniale canonico, in: Juan Ignacio Arrieta/Costantino Fabris (Hrsg.), Il „ius divinum“ nella vita della Chiesa, Venedig 2010, S. 773 – 817.

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den Begriff selbst näher zu untersuchen und seine bedeutendsten Wesenselemente herauszuarbeiten20. 2. Terminologische Präzisierungen Im Familienrecht müssen die drei Begriffe „Gemeinschaft“ (communitas), „Gemeinsamkeit“ (communio) und „Beziehung“ unterschieden werden. a) Der Begriff der Gemeinschaft (communitas) ist weiter gefaßt als die beiden anderen, insofern er einen ausgeprägt sozialen Charakter aufweist. Auch wenn bereits zwei Subjekte für die Konstituierung einer „Gemeinschaft von Personen“ ausreichend sind, sieht der Ausdruck „Gemeinschaft“ diese Personen von einer institutionellen Warte aus, in ihrer Beziehung zu anderen Personen oder Personengemeinschaften. Die zu einer Gemeinschaft gehörenden Personen formen ein „Wir“ und werden so als Angehörige derselben sozialen Gruppe wahrgenommen, so daß sie anderen gegenüber als „Einheit“ erscheinen. In einer solchen Gemeinschaft kann sich eine Vielzahl von Personen mit unterschiedlichen Rollen und Funktionen finden. Doch eine „Gemeinschaft von Personen“ besteht nur dort, wo „die spezifische Existenzform und Art des Zusammenlebens die Gemeinsamkeit ist: communio personarum.“21 Somit bedingen sich die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gemeinsamkeit“ wechselseitig: die Gemeinsamkeit bildet sich innerhalb einer Gemeinschaft von Personen, diese wiederum hat die Aufgabe, ihre Mitglieder zur Gemeinsamkeit zu befähigen. b) Die Gemeinsamkeit (communio) der Liebe beschreibt Wesen und Aufgaben der Familie, deren vorrangiges Strukturprinzip indes die die familiären Beziehungen sind. Wie gesehen, sind die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gemeinsamkeit“ eng miteinander verwandt, doch sie sind – worauf Johannes Paul II. hinwies – nicht identisch: „die ,Gemeinsamkeit‘ betrifft die persönliche Beziehung zwischen dem ,Ich‘ und dem ,Du‘. Die ,Gemeinschaft‘ dagegen übersteigt dieses Schema in Richtung einer ,Gesellschaft‘, eines ,Wir‘. Die Familie als Gemeinschaft von Personen ist daher die erste menschliche ,Gesellschaft‘“.22 Innerhalb der Familiengemeinschaft gibt es unterschiedliche Arten der Gemeinsamkeit der Personen, was dem Umstand geschuldet ist, daß die Familie von den familiären Beziehungen her strukturiert ist. In der Familie müssen sich alle gegenseitig als „Ich“ und „Du“ anerkennen, das heißt, als Personen. Es geht aber noch um mehr: Jenes „Ich“ und „Du“ beziehen sich in spezifischer Weise auf die jeweils zur Gemeinsamkeit berufenen Personen: 20 Vertiefend zur Beziehungsnatur der Person aus soziologischer Betrachtungsweise Paolo Terenzi/Pierpaolo Donati (Hrsg.), Invito alla sociologia relazionale. Teoria e applicazioni, Mailand 22006. 21 Johannes Paul II., Brief an die Familien (FN 15), Nr. 7, in: AAS 86 (1994), S. 868 (874) bzw. S. 12 (deutsche Übersetzung). 22 Ebd. bzw. S. 13 (deutsche Übersetzung)

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das „Du“ des Sohnes gegenüber seinem Vater ist nicht dasselbe „Du“, mit dem er sich an seinen Bruder wendet. Wenn es also zutrifft, daß die Gemeinsamkeit die Beziehung zwischen einem „Ich“ und einem „Du“ beschreibt, dann ist ebenso wahr, daß die beiden sich so gegenübertretenden Personen von der Beziehung selbst tatsächlich unterschieden sind. Sie sind nicht einfachhin Freunde, und die sie verbindende Beziehung ist nicht bloß eine „zwischenmenschliche Beziehung“. Vielmehr konstituiert sie gerade die familiäre Beziehung als ein spezifisches „Ich“ und ein spezifisches „Du“. Deshalb ist die Familie nicht eine „Gemeinschaft der Gleichen“ und die communitates personarum, die sich in ihr bilden, haben nicht den gleichen anthropologischen, ethischen und rechtlichen Gehalt. c) Gemeinsamkeit setzt Beziehung voraus. Eine echte communio personarum besteht dort, wo die Personen sich nicht nur gegenseitig als um ihrer selbst willen zu respektierendes und zu liebendes „Ich“ und „Du“ anerkennen, sondern wo sie auch die spezifische Eigenart der Beziehung befolgen, die gerade sie vereint. 3. Detaillierte Untersuchung des Begriffs der „familiären Beziehung“ a) Koinzidenz der familiären Beziehungen mit den Grundzügen der menschlichen Identität: Ihr intrapersonaler Charakter Wie schon dargelegt, bildet die Familie als Gemeinschaft die Person und baut sie auf: gerade deswegen sind die familiären Beziehungen intrapersonal, das heißt, sie vereinen „zwei Personen kraft bestimmter Grundzüge ihrer Ur-Identität“. Die familiären Beziehungen sind demnach aus dem Grunde „intrapersonal“, weil sie mit den Grundlinien der persönlichen Identität zusammenfallen: eine Person wird in aller Regel ein Bewußtsein ihrer selbst dadurch erlangen, daß sie um ihre Ursprünge und ihre Bindungen an die Gesellschaft weiß, und diese wiederum vorrangig von ihren Familienangehörigen herrühren. In gewisser Weise ist es die Beziehung selbst, welche die Identität schafft und nicht umgekehrt. Die erste persönliche Identität im biografischen Sine ist die Kindschaft, die richtigerweise einen Vater und eine Mutter erfordert. Der eheliche Bund bewirkt nicht allein, daß sich die Ehegatten als solche anerkennen, sondern auch als potentielle „Erzeuger“ (= Eltern) einer dritten Person, die ihr Entstehen gerade jenem Akt zwischenmenschlicher Liebe verdanken muß, den die für das Leben offene eheliche Vereinigung darstellt. Dergestalt bedingen sich die Identität der Eltern und die des Kindes gegenseitig: es handelt sich um eine Korrelation. Interessanterweise existieren in allen Kulturen gemeinsame Namen, um die wichtigsten familiären Beziehungen mittels der durch sie verbundenen Personen zu bezeichnen: Vater/Mutter und Kind, Bruder und Schwester, Ehemann und Ehefrau. Allein die familiäre Beziehung ermöglicht den Gebrauch dieser Bezeichnungen, da diese dem Sein der jeweiligen Person entsprechen. Die drei wichtigsten intraper-

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sonalen Beziehungen in der Familie sind somit die Vater-, Mutter- und Kindschaft, die Geschwisterschaft und die Gattenschaft, durch sie gelangt jedes der betroffenen Subjekte zu einem vollständigen Bewußtsein seiner selbst, seiner Herkunft und seiner Bestimmung sowie seiner persönlichen Identität23. b) Vermittlung der familiären Beziehungen durch die Geschlechtlichkeit der Personen Gemeinhin heißt es, der klassische Fall der Familie sei die auf das Prinzip der Blutsverwandtschaft gegründete. Indes muß auch die nähere Befassung mit der Blutsverwandtschaft das Verwandtschaftssystem einbeziehen, in dem eine konkrete Familie lebt, deren Fall untersucht wird. Jedes Verwandtschaftssystem läßt schon durch die Sprache erkennen, welche „die zwischenmenschlichen Beziehungen eines Subjektes (sind), die von seiner Geschlechtlichkeit herrühren.“24 Sexualität kann nicht allein auf ihre körperlich-genitale Dimension und noch weniger auf ihre Ausübung reduziert werden25, und so gesehen bestehen die familiären Beziehungen immer zwischen Personen in ihrer Geschlechtlichkeit, als geschlechtliche Wesen. Die persönliche Identität – und als Folge davon die Bezeichnung in der Familie – wird also immer von der Geschlechtlichkeit her vermittelt: eine Person erkennt sich als Mann oder Frau, als Sohn oder Tochter, als Bruder oder Schwester, als Ehemann oder Ehefrau, als Vater oder Mutter. Bei der Gattenschaft spielt die geschlechtliche Verfaßtheit der Beteiligten nicht nur eine Rolle, vielmehr sind deren Verschiedenheit und die aus ihr folgende Komplementariät für die Gattenschaft wesensbestimmend. Da die geschlechtliche Verfaßtheit alle Dimensionen der Person – von der genetischen bis zu geistlichen – umgreift, und außerdem die volle geschlechtliche Identität erst nach einem langen Prozeß des Reifens erlangt wird26, ist die Familie der primäre Raum der Erziehung im Bereich der Geschlechtlichkeit: die Eltern, die Geschwister, die Natürlichkeit eines vertrauten Familienlebens, die erforderlichen Tugenden für ein gedeihliches Zusammenleben der Familienmitglieder sind grundlegende Faktoren für die geschlechtliche Reife der Person27. 23

Näher Gabriel Chalmeta, Ética especial, Pamplona 1996, S. 63 – 74. Antonio Moreno, Sangre y libertad, Madrid 1994, S. 11. 25 Vertiefend Blanca Castilla, Persona y modalización sexual, in: Juan Cruz (Hrsg.), Metafísica de la familia, Pamplona 1995, S. 69 – 105 (71). 26 Eingehend zu den wichtigsten Phasen dieses Prozesses sowie zu den wichtigsten Dimensionen der geschlechtlichen Identität Aquilino Polaino-Llorente, Sexo y cultura, Madrid 1992. 27 Päpstlicher Rat für die Familie, Menschliche Sexualität: Wahrheit und Bedeutung. Orientierungshilfen für die Erziehung in der Familie, Vatikanstadt 1996, insbes. Nr. 48 – 63; deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 127 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 1996, S. 3 – 80 (34 – 41). 24

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c) Konkrete Anforderungen der Gerechtigkeit in einer jeden familiären Beziehung als Voraussetzung für eine wahre Gemeinschaft von Personen Die Begriffe „Gemeinsamkeit“ und „Beziehung“ sind miteinander verwandt und könnten so in einigen Fällen als Synonyme verwendet werden. Tatsächlich ist nicht selten im Hinblick auf die Ehe unterschiedslos von Gemeinsamkeit oder Beziehung die Rede. Gleichwohl dürfen die Begriffe nicht verwechselt werden. Gemeinsamkeit setzt Beziehung voraus, diese hat ihrerseits die Aufgabe, in geordneter Weise Gemeinsamkeit zu schaffen. Einer sorgsamen begrifflichen Unterscheidung bedarf es daher, da verschiedene Ebenen angesprochen sind. Nochmals sei darauf verwiesen, daß die Subjekte der familiären Beziehung nicht ein beliebiges „Ich“ und „Du“ sind, sondern daß sie ihren je eigenen Namen haben (Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester, Onkel, Tante, Enkel, Cousin, Cousine etc.), der spezifische sich aus der Gerechtigkeit ergebende Anforderungen zum Ausdruck bringt (das einander „Ehren“ in der Familie28). Das „Du“ des Vaters hat nicht gleichen Gehalt wie dasjenige des Sohnes. Für das „Ich“ eines männliches Subjekt sind das „Du“ der Mutter, der Schwester, der Tochter und der Ehefrau substantiell verschieden (ebenso wie das „Ich“ eines weiblichen Subjektes gegenüber dem „Du“ des Vaters, des Sohnes, des Bruders und des Ehemannes). In all diesen Fällen kann und muß die Gemeinsamkeit der Personen besonders vertraut sein, was in körperlichen Gesten und in liebenswürdigem Umgang zum Ausdruck kommen wird. Gleichwohl wird die Gemeinsamkeit der Personen in allen ihren Facetten, in Worten wie in Gesten, von der konkreten Beziehung geprägt, welche die Grundlage der persönlichen Liebe bildet. So sind diejenigen Gesten, welche die alleinige und wirkliche Zugehörigkeit zum anderen als „Mann“ oder „Frau“ bedeuten, für die eheliche Beziehung kennzeichnend und in anderen Beziehungen ausgeschlossen. Ist die geschlechtliche Verfaßtheit ein für jede familiäre Beziehung konstitutiver Faktor, stellt die gemeinsame Ausübung der Sexualität (die sexuelle Verfaßtheit) das für die Gattenschaft wesensbestimmende und ausschließliche Element dar: 28 Johannes Paul II., Brief an die Familien (FN 15), Nr. 15, in: AAS 86 (1994), S. 868 – 925 (897) sowie S. 37 f. (deutsche Übersetzung): „Das Band zwischen ,ehre!‘ und ,liebe!‘ ist tief. Die Ehre ist in ihrem Wesenskern mit der Tugend der Gerechtigkeit verbunden, doch läßt sich diese ihrerseits ohne Berufung auf die Liebe – Liebe zu Gott und zum Nächsten – nicht vollständig erklären. Und wer ist mehr Nächster als die eigenen Familienangehörigen, die Eltern und die Kinder? Ist das vom vierten Gebot angezeigte interpersonale System einseitig? Verpflichtet es dazu, nur die Eltern zu ehren? Im buchstäblichen Sinn: ja. Indirekt können wir jedoch auch von der ,Ehre‘ sprechen, die den Kindern von seiten der Eltern gebührt. ,Ehre!‘ heißt: erkenne an! Das heißt, laß dich von der überzeugten Anerkennung der Person leiten, vor allem von der Person des Vaters und der Mutter und dann von der anderer Familienmitglieder. Die Ehre ist eine ihrem Wesen nach selbstlose Haltung. Man könnte sagen, sie ist ,eine aufrichtige Hingabe der Person an die Person‘, und in diesem Sinne trifft sich die Ehre mit der Liebe.“

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gerade in der sexuellen Dimension gehören sich die Ehegatten einander. Eben darum, so Antonio Moreno im Hinblick auf das konkrete Verwandtschaftssystem in den westlichen Ländern, ist immer klar, wer mit „mein Ehemann“ oder „meine Ehefrau“ gemeint ist: der andere Ehegatte. Eine derartige Eindeutigkeit gibt es allein bei der Gattenschaft, nicht aber bei anderen familiären Beziehungen: Dort läßt sich bei der Verwendung des Begriff einer Beziehung nicht schon die geschlechtliche Verfaßtheit des Sprechers erkennen29. Nun stellt die Gerechtigkeit gewiß allgemeine Anforderungen wie diejenigen, die sich aus der Würde der (um ihrer selbst willen zu liebenden) menschlichen Person ergeben. Ebensowenig unterliegt es aber Zweifeln, daß die (jeweilige) familiäre Beziehung gesonderte Anforderungen mit sich bringt, die dann zur genaueren Konturierung des weiter gefaßten Begriffs der „familiären Liebe“ beitragen können. Innerhalb der Familie als „Gemeinschaft von Personen“ gibt es verschiedene Arten von Liebe (entsprechend der Anzahl der Beziehungen in der Familie), für die alle die Eigenschaft „familiär“ kennzeichnend ist: ihre Grundlage ist der Umstand, daß die beteiligten Personen durch die besonderen (und andere Personen ausschließenden) Bande der Verwandtschaft einander verbunden sind. Jede Art der familiären Liebe und der Gemeinsamkeit wird von der sie begründenden Beziehung näher bestimmt. Die hier interessierenden Beziehungen unterscheiden sich von anderen zwischenmenschlichen Beziehungen gerade durch ihre „Familiarität“, sie entstehen also im Inneren einer „Gemeinschaft von Personen“ (der Familie), deren Bestimmung es ist, die Person als ein zur Gemeinsamkeit berufenes Wesen zu formen und zu bilden. Die Ursprungsformen der Gemeinsamkeit der Personen entsprechen dabei, wie gesehen, den familiären Beziehungen. Und so läßt sich festhalten, daß die Arten der Gemeinschaft, zu denen die durch familiäre Beziehungen verbundene Personen gerufen sind, „originär“ und „ursprünglich“ sind: sie lassen sich vom Sein und von der Würde einer jeden Person nicht trennen. Entsprechend den drei grundlegenden familiären Beziehungen (Gattenschaft, Vater-, Mutter- und Kindschaft, Geschwisterschaft) lassen sich auch die drei Hauptformen der familiären Liebe unterscheiden: die Gattenliebe, die Vater-, Mutter- und Kindesliebe sowie die Geschwisterliebe. „Familiäre Liebe“ als solche ist abstrakt, verhilft aber dazu, das Gesamt dieser Formen der Liebe in den Blick zu nehmen und ihre wechselseitige Abhängigkeit zu erfassen. Wie noch zu zeigen ist, darf weder eine familiäre Beziehung noch eine Form der familiären Liebe für sich betrachtet werden, ein umfassendes Verständnis ist jeweils nur in Beziehung zu den anderen Beziehungen und Formen möglich. Allein der Blick auf zwei konkrete Personen verhilft zu einer Umschreibung der sie verbindenden Liebe: die Liebe als dynamische Kraft bringt die Gemeinsamkeit der Personen hervor, doch eine solche 29

Moreno (FN 24), S. 130.

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Gemeinsamkeit weist nicht immer die gleichen Merkmale auf, sondern hängt vielmehr von der konkreten in Rede stehenden Beziehung ab30 : ¢ Die Gattenliebe ist jene in Gerechtigkeit geschuldete Freundschaftsliebe (amor dilectionis), die Mann und Frau, die sich in rechtmäßiger Ehe verbunden haben und die daher füreinander Ehepartner sind, in einer Gemeinsamkeit der Personen vereint. Kraft Natur der Sache bringt Gattenliebe Ausschließlichkeit und Treue sowie Unauflöslichkeit und Offenheit für die Fruchtbarkeit mit sich. ¢ Die Geschwisterliebe ist jene in Gerechtigkeit geschuldete Freundschaftsliebe, die untereinander jene Personen vereint, die durch geschwisterliche Bande verbunden sind, die also gemeinsame Eltern haben. ¢ Die Vater- und Mutterliebe. Anders als bei den anderen beiden Formen, die aufgrund ihrer strikten Gegenseitigkeit einfach zu definieren sind, muß bei der auf die Abstammung gegründeten Liebe genauer nach dem Ausgangspunkt unterschieden werden: auf der einen Seite stehen die Liebe von Vater und Mutter gegenüber dem Kind (dementsprechend: Vater- und Mutterliebe), auf der anderen Seite die Liebe des Kindes gegenüber seinen Eltern. Hier gibt es nicht nur keine strikte Gegenseitigkeit, sondern vielmehr einen bedeutsamen Unterschied, je nachdem, ob die Beziehung von der Warte der Eltern oder der des Kindes aus betrachtet wird. Juristisch gesehen spiegelt sich dies in dem Umstand wider, daß die Eltern Träger eines Pflicht-Rechts namens „elterliche Sorge“ (oder auch: „elterliche Gewalt“, patria potestas) sind. Dieses in der Empfängnis und Geburt des Kindes begründete Pflicht-Recht bestimmt dessen Rechte, solange es dem Schutz und der Erziehung der Eltern untersteht. Umgekehrt bringt es unter Einbeziehung der Dynamik der familiären Beziehungen für das Kind die Pflicht mit sich, die Eltern zu ehren und sich ihrer anzunehmen, wenn sie im Laufe der Jahre auf seine Hilfe angewiesen sind31. Um die konkreten Anforderungen der Gerechtigkeit im Hinblick auf die einzelnen familiären Beziehungen in Erfahrung zu bringen, wären diese jeweils gesondert zu betrachten, und zwar in zwei Schritten: zunächst als solche (das beträfe die sich aus dem Naturrecht ergebenden Verpflichtungen) und sodann in einem konkreten sozialen Kontext. Das aber würde die Zielsetzung dieses Beitrags 30 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute vom 22. November 1981, Nr. 11 („Die Liebe zwischen Mann und Frau in der Ehe und, in abgeleiteter und erweiterter Form, die Liebe zwischen den Mitgliedern der gleichen Familie – zwischen Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern, Verwandten und Hausgenossen – ist von einer inneren und bleibenden Dynamik beseelt und getragen, die die Familie zu einer immer tieferen und intensiveren Einheit führt, der Grundlage und Seele der Ehe- und Familien-Gemeinschaft.“), in: AAS 74 (1982), S. 81 – 199 (101); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 33 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 51994, S. 22. 31 Näher die Beiträge in Giovanni Battista Sgritta (Hrsg.), Il gioco delle generazioni, Mailand 2002.

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sprengen, dem es allein darum geht, die familiären Beziehungen im Allgemeinen aus Sicht der Rechtsanthropologie untersuchen und den Versuch zu unternehmen, die auf die Realität der menschlichen Person in ihrer Geschlechtlichkeit gegründete Natur dieser Beziehungen zu erfassen und zu erklären. 4. Grundzüge der Eigenschaften der familiären Beziehungen Am Ende dieser Überlegungen sollen, zumindest in den groben Linien, diejenigen Eigenschaften benannt werden, die – wiewohl in jeweils eigenen Nuancierungen – allen familiären Beziehungen eigen sind und sie von anderen zwischenmenschlichen Beziehungen unterscheiden. a) Intra- und interpersonaler Charakter Da die familiären Beziehungen die Grundzüge ihrer menschlichen Identität bilden, kann man sie fraglos als „intrapersonal“ bezeichnen, einmal, weil sie sämtliche Aspekte menschlicher Existenz (wie die biologischen, emotionalen, geistlichen) in sich bergen, vor allem aber darum, weil diese Beziehungen die Person in gewisser Weise als ein Subjekt „konstituieren“, das zur Gemeinsamkeit berufen ist, und diesen in ihnen gleichsam ein unzerstörbares Prägemal verleihen. Jede familiäre Bezeichnung hat ihre Entsprechung in einer anderen Person: nur derjenige ist Vater, der ein Kind hat, nur derjenige Ehemann, der eine Ehefrau hat, nur derjenige Bruder, der einen Bruder oder eine Schwester hat. Daher genügt es nicht, die grundlegenden Verwandtschaftsbande nur als interpersonale Beziehungen zu beschreiben. Die Beziehung, welche die Familienmitglieder vereint, weist eine spezifische ontologische32, ethische und rechtliche Dimension auf, kraft derer sie ihren „familiären“ Charakter erhält und sich so real von anderen interpersonalen Beziehungen unterscheiden, die sich sozusagen auf einer „äußeren“ Ebene bewegen und die eigene Identität nicht prägen. Bei den familiären Beziehungen betrifft die interpersonale Komponente hingegen die „innere“ Ebene, da sie die Grundzüge der persönlichen Identität bilden. Die persönliche „DNA“ des Individuums, aufgrund dessen es um seine Existenz als konkretes „Ich“ und um seine charakteristische Identität weiß, entsteht zu einem großen Teil von den familiären Beziehungen her, die – weil sie zum Individuum selbst gehören – nicht unbeachtet bleiben können. Daher stellen sich die familiären Beziehungen bisweilen unter einem mehr „passiven“ Aspekt dar, sofern man sie als Realitäten im Randbereich der Freiheit des Subjekts begreift, die ganz offenkundig ohne dessen Zutun „ins Werk gesetzt“ wurden und in bestimmten Fällen sogar als etwas gegen den eigenen Willen Auferlegtes angesehen werden. So lassen sich etwa die Beziehungen der Kindschaft 32 Zur ontologischen Perspektive der familiären Beziehungen siehe die Beiträge in dem in FN 25 genannten Sammelband, insbes. Juan Cruz, Amor y paternidad como ideales, S. 107 – 144.

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und der Geschwisterschaft verstehen: Gemeinhin kann sich niemand seine Eltern oder seine Geschwister aussuchen, was dazu verleiten kann, sie für im Randbereich der Freiheit angesiedelte Beziehungen zu halten, unabhängig von persönlichen Befindlichkeiten. Auf jedem Fall bleibt es einem Vater unbenommen, seinen Sohn (wegen Unwürdigkeit oder aus anderen Gründen) zu enterben, gleichwohl wird er ihn immer und trotz allem als seinen Sohn ansehen. Bei alledem ist daran zu erinnern, daß am Ursprung einer jeden familiären Beziehung stets ein Akt der Freiheit (nämlich der ungeschuldeten Liebe) steht, welcher sie als solche begründet, da sie in ihrem Wesen interpersonal ist. Der scheinbar „passive“ Charakter der familiären Beziehung bestätigt damit ein anderes ihrer Wesensmerkmale: die familiäre Beziehung ist „begründend“, will sagen, sie betrifft die ureigensten Grundlagen der persönlichen Identität, welche auf ihr aufbaut. b) Biographischer Charakter Das Leben eines Menschen, so heißt es, lasse sich nicht definieren, sondern nur erzählen33. Ebenso wahr ist, daß alle Biographien – und sei es noch so kurz und konzentriert – die wichtigsten familiären Beziehungen der dargestellten Persönlichkeit in den Blick nehmen. Das Leben eines Menschen läßt sich nicht vollständig verstehen, wenn nicht die vielfältigen familiären Beziehungen und ihre Bedeutung für die betreffende Persönlichkeit einbezogen werden. Die familiären Beziehungen haben somit dezidiert biographischen Charakter, sie verhelfen dazu, die Wahrheit über die Existenz einer Person und ihre konkrete Identität zu erfahren. So spiegelt etwa die Art und Weise, wie jemand sich vorstellt, diese Wirklichkeit wider: gegenüber einem Fremden offenbart man nicht nur den Namen, sondern auch (manchmal auch allein) den Nachnamen – und damit die Familie, der man entstammt. c) Systematischer Charakter der familiären Beziehungen – ihre Interdependenz und Komplementarität Die Familie wird von den interpersonalen Beziehungen her geformt, die in ihrem Inneren entstehen und genau aus dem Grund „familiäre“ genannt werden, da sie nur im Kontext eines aus natürlichen wie kulturellen Elementen zusammengesetzten Verwandtschaftssystems vollständig verständlich sind. Ist das System als solches infolge dieser verschiedenen Elemente flexibel, müssen bei der Würdigung einer konkreten familiären Beziehung sowohl das Naturrecht als auch das konkrete, in der betreffenden Gesellschaft geltende Verwandtschaftssystem Berücksichtigung finden. Aus dem so verstandenen systematischen Charakter ergibt sich das weitere Merkmal der wechselseitigen Abhängigkeit. Jedes neue Mitglied, das sich der 33 Siehe den auf die Realität des menschlichen Lebens gegründeten philosophischen Entwurf von Julián Marías, Antropología metafísica, Madrid 1987.

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Familie zugesellt, tritt nicht nur mit seinen Eltern in Beziehung, sondern es beeinflußt allein durch seine Existenz das gesamte Netz der Verwandtschaft: aus den Ehegatten werden Eltern, aus deren Eltern Großeltern, aus deren Geschwistern Onkel und Tanten, aus den anderen Kindern der Ehegatten Brüdern und Schwestern. Mit einem jeden neuen Familienmitglied vermehren sich die familiären Beziehungen. Diese sind schließlich auch komplementär: Keine der familiären Beziehungen vermag aus sich selbst heraus ihren möglichen Bedeutungsgehalt voll auszuschöpfen, der in einem Dritten besteht. Die eheliche Beziehung gelangt zur Fülle ihres familiären Bedeutungsgehalts, wenn sie aus der Warte des Kindes betrachtet wird. Gleiches geschieht bei der Beziehung der Kindschaft, welche durch einen Bruder stärker zum Leuchten gebracht wird („er ist eine andere Person, und doch wie ich, in ihm sehe ich meine Beziehung der Kindschaft gleichsam ,objektiviert‘“). Antonio Moreno hat dafür den Begriff „Dreiecks“-Charakter der familiären Beziehungen gefunden. Besonders augenfällig zeigt sich dieser in der familiären Dynamik der ehelichen Beziehung: in der Sache ist nichts anderes gemeint als die Ausrichtung der Ehe auf das so genannte bonum prolis34. d) Wesenhaft unaustauschbarer Charakter Unter den Anthropologen – unter Einschluß der Kulturanthropologen35 – besteht Einigkeit darüber, daß das Inzestverbot die soziale Ur-Norm darstellt, welche die menschliche Gesellschaft erst möglich macht. Die Eheverbote zwischen Eltern und ihren Abkömmlingen sowie zwischen Geschwistern haben die gewichtige Konsequenz, daß die familiären Rollen immer unterschieden und unverwechselbar bleiben, und damit die wichtigsten familiären Beziehungen untereinander nicht austauschbar sind: wenn zwei Personen im Verhältnis zueinander Vater und Tochter sind, können sie unter keinen Umständen gleichzeitig Ehemann und Ehefrau sein. Gleichermaßen kann sich niemals zwischen Bruder und Schwester eine eheliche Beziehung bilden. Die Unverwechselbarkeit der wichtigsten familiären Beziehungen ist eine Garantie für die freie Entwicklung der Grundzüge der Ur-Identität einer Person, was dann erst deren größere Reife ermöglicht36. e) Gemeinschaftscharakter Wie dargelegt, sind die Begriffe „Beziehung“ und „Gemeinsamkeit“ miteinander verwandt, weshalb sie nicht selten als Synonyme Verwendung finden. Hinter34

Moreno (FN 24), S. 35 – 42. Vgl. Claude Gustave Levi-Strauss, Razza e storia e altri studi di antropologia, Turin 1979, S. 154, der das Fundament der Familie zwar nicht eindeutig in einer objektiven Realität anerkannt, aber doch zur Aussage gelangt, sie bestehe „aus dem Ehemann, der Ehefrau und den aus deren Verbindung geborenen Kindern“. 36 Vgl. Francesco d’Agostino, Linee di una filosofia della famiglia, Mailand 1991, S. 64 ff. 35

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grund dessen ist der Umstand, daß eine jede familiäre Beziehung (die zunächst einen eher statischen Charakter hat) darauf angelegt ist, zwischen den jeweils Beteiligten eine Gemeinschaft von Personen zu bilden, der dann ein dynamischer Charakter eignet. Es gibt keinen Zwischenzustand zwischen dem „Sohn-Sein“ und dem „Nicht-Sohn-Sein“, dagegen ist es stets möglich, ein besserer Sohn zu sein (oder es zu werden) – in dem Sinne, die dieser besonderen Beziehung innewohnenden Anforderungen in immer vollkommeneren Maße zu leben. Dieser Gemeinschaftscharakter (der wachsen, abnehmen oder entfallen kann) folgt unmittelbar aus dem wesenhaft interpersonalen Charakter der familiären Beziehung. Es handelt sich stets um zwei Seiten der gleichen Medaille: Einmal sind die Personen zum gegenseitigen Respekt aufgerufen; ihre Gemeinsamkeit hängt davon ab, daß und inwieweit sie einander als „Ich“ und „Du“ anerkennen, das um seiner selbst willen zu lieben ist. Auf der anderen Seite bemißt sich der spezifische Charakter der sie verbindenden Liebe unmittelbar nach der konkreten familiären Beziehung, in der sie zueinander stehen. Ob die Vollkommenheit erreicht wird, auf welche die Beziehung kraft ihrer Natur angelegt ist, hängt zu einem hohen Maße davon ab, in welchem Maße an Treue und Gerechtigkeitssinn sie gelebt wird. Ausgangspunkt dabei ist immer die der jeweiligen Beziehung innewohnende Dimension der Gerechtigkeit, welche sie freilich nicht erschöpft, sondern vielmehr ihr Wesen bezeichnet. Keine Beziehung wird die Gemeinsamkeit, auf die hin sie angelegt ist, erreichen können, wenn die spezifischen Pflichten der Gerechtigkeit der jeweiligen Beziehung nicht beachtet und erfüllt werden.

IV. Ausblick Abschließend seien einige Aspekte erneut aufgegriffen, welche Notwendigkeit und Möglichkeit verdeutlichen sollen, in der Kirche – sowohl in normativer Hinsicht wie in wissenschaftlicher Durchdringung – ein eigenständiges Familienrecht zu konzipieren, das diesen Namen verdient und in der dargelegten Rechtsanthropologie der Ehe und Familie fest verankert ist: An erster Stelle bedarf es dafür der Überwindung einer rechtspositivistischen Betrachtungsweise. Das Recht besteht eben nicht allein aus den positiv gesetzten Normen, sondern beruht – wie gerade das kanonische Ehe- und Familienrecht deutlich macht – zu einem erheblichen Maß auf dem Naturrecht, im konkreten Fall: auf dem, was der Würde der menschlichen Personen in ihren Modalitäten als Mann und Frau eigen ist37. Eben darum ist es wichtig, das Familienrecht zu konzipieren, das nicht allein auf die positiven Normen beschränkt, sondern in der Realität „Familie“ tief verankert ist. Eine solche Sichtweise bietet der „rechtliche Realismus“, der das Wesen der jeweiligen Phänomene und die ihnen innewohnende rechtliche 37 Carmelo Vigna, Intorno all’etica della differenza. Uomo e donna tra conflitto e reciprocità, in: ders. (Hrsg.), Introduzione all’etica, Mailand 2001, S. 231 – 253.

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Dimension zur Grundlage nimmt: er beruht auf dem, „was ist“. Fraglos bedarf es bei diesen Bemühungen um die Konzeption des Familienrechts des Rückgriffs auf andere Wissenschaften, welche die Realität „Familie“ aus unterschiedlichen Perspektiven erforschen (wobei sowohl Methode und Eigengesetzlichkeit einer jeden Disziplin gewahrt werden als auch ein recht verstandener interdisziplinärer Ansatz verfolgt wird): die allgemeine Rechtslehre des kanonischen Rechts, die philosophische und theologische Anthropologie, die Rechtsanthropologie, die Ehetheologie und andere mehr. All diese Wissenschaften tragen zu einem besseren Verständnis der Realität „Familie“ bei, um dann in einem zweiten Schritt ihre rechtlichen Dimensionen herausarbeiten und in Regeln fassen zu können. Ein weiteres Desiderat liegt darin, die verschiedenen familiären Beziehungen aus juristischer Sicht wissenschaftlich zu durchdringen: ihre Struktur im Allgemeinen, die jeweiligen wesentlichen Eigenschaften sowie die Rechte und Pflichten, die sich aus ihrer Natur ergeben. Für die Systematisierung des kanonischen Familienrechts bedarf es ferner der erneuten Besinnung auf und der näheren Entfaltung des untrennbaren Bandes zwischen Ehe und Familie (gewissermaßen der „rote Faden“ dieses Beitrags). In den letzten Jahrzehnten hat das kirchliche Lehramt in diesem Zusammenhang vielfach von der „auf die Ehe gegründeten Familie“ gesprochen. Eine solche Rückbesinnung tut vor allem in einer Gesellschaft Not, deren (staatliche) Rechtsordnung die Ehe von objektiven Inhalten entleert und sie zu einer begrifflichen Hülle ohne Kern gemacht hat, so daß es völlig im Belieben des Staates oder gar einzelner liegt, was die Ehe ausmacht und in welcher Beziehung sie zur Familie steht38. Wenn in diesem Beitrag verschiedentlich auf das kirchliche Lehramt Bezug genommen worden ist, ist damit nicht bezweckt, eine allein „katholische“ Sichtweise des Verständnisses von Ehe und Familie zu präsentieren. Es geht vielmehr um Wahrheiten, deren Wurzeln tief in der menschlichen Person selbst liegen, einer Person, die dazu berufen ist, sich zu verschenken, da sie nur so ihre volle Verwirklichung ihrer selbst findet. Bei der Ehe besteht, wie dargelegt, dieses SichSelbstverschenken in der vollständigen und unbedingten Hingabe an den anderen in der eigenen Männlichkeit und Weiblichkeit – daher können allein Mann und Frau sich wechselseitig als Ehegatten schenken und als solche annehmen – mit dem Ziel, diejenigen Wirklichkeiten zu schaffen, die in allen Kulturen den Namen „Ehe“ und „Familie“ haben. Auf dieser Grundlage läßt sich ein dem positiven Recht vorausliegendes kanonisches Familienrecht entwickeln, das in einer orientierungslosen Gesellschaft überzeugende und der Vernunft entsprechende Antworten zu geben vermag. In einer Gesellschaft, die zum Spielball nicht nur der Augenblickskultur, sondern vielfach auch von solchen pressure groups geworden ist, welche die auf die Ehe 38

José Gabriel Martínez de Aguirre, El matrimonio invertebrado, Madrid 2012.

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gegründete Familie (früher nannte man sie gern „Kernzelle der Gesellschaft“ oder „Wiege der Zivilisation“!) zersetzen wollen, kann – im Einklang mit dem Wunsch von Papst Franziskus – das kanonische Recht einen Beitrag leisten: die Familie und ihre heutige Krise besser zu verstehen, vor allem aber, sich der Notwendigkeit bewußt zu werden, ihre Schönheit wiederzuentdecken, um ihre Wahrheit und ihren ganzen Reichtum den Gläubigen und der gesamten Gesellschaft zu vermitteln.

Wahrheit des Ehekonsenses und Ehenichtigkeit Der deklaratorische Nichtigkeitsprozeß Joaquín Llobell

I. Einführung Schon vor 50 Jahren stellte die Pastoralkonstitution Gaudium et spes des II. Vatikanischen Konzils fest, daß „nicht überall … die Würde dieser Institution (die Ehe, J.L.) in gleicher Klarheit (erscheint). Polygamie, um sich greifende Ehescheidungen, sogenannte freie Liebe und andere Entartungen entstellen diese Würde“1. Im letzten halben Jahrhundert seit Ende des Konzils hat die Verunsicherung über die Natur der Ehe zugenommen: durch die soeben genannten Beziehungen wie durch andere, die damals gänzlich unvorstellbar waren, hat sich in vielen Ländern die Situation verdunkelt, worauf Papst Franziskus in der Ansprache an die Römische Rota vom 23. Januar 2015 hingewiesen hat2. Diese allgemeine Verunsicherung führt dazu, daß viele Ehen von Katholiken scheitern, weil die Ehepartner den übernommenen Verpflichtungen nicht treu gewesen sind oder unter der Untreue des anderen leiden. Andererseits kann das Scheitern in einigen Fällen deutlich werden lassen, daß einer der Ehepartner (oder gar beide) nicht heiraten wollte oder konnte, und die Ehe infolgedessen nichtig sein könnte. Dabei ist deutlich zwischen Scheitern und Nichtigkeit der Ehe zu unterscheiden; würde man die Kategorien hingegen (sei es theoretisch, sei es praktisch) gleichsetzen, hieße das, die Scheidung zu akzeptieren. Ebendiese Unterscheidung herauszuarbeiten, ist der Zweck des Ehenichtigkeitsprozesses. Eine so komplexe Fragestellung kann unmöglich in einem kurzen Beitrag dargelegt werden3. Daher sollen nur die wesentlichen Begriffe des Ehenichtigkeitsprozesses in Erinnerung gerufen und einige der auf ihn bezogenen Änderungsvorschläge bewertet werden, die aus Anlaß der außerordentlichen Bischofssynode vom 2014 unterbreitet wur-

1 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute vom 7. Dezember 1965, Nr. 47, in: AAS 58 (1966), S. 1025 – 1115 (1067). 2 Franziskus, Ansprache an die Römische Rota vom 23. Januar 2015, in: AAS 107 (2015), S. 182 – 185. 3 Eingehend zur Thematik Joaquín Llobell, Los procesos matrimoniales en la Iglesia, Madrid 2014.

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den, ebenso die bereits veröffentlichten Dokumente in Vorbereitung der ordentlichen Bischofssynode von 20154.

II. Die Lineamenta für die Bischofssynode vom Oktober 2015 und die Reform des Ehenichtigkeitsprozesses Seit der Ankündigung zweier Bischofssynoden über die Familie (die außerordentliche von 2014 als Vorbereitung der ordentlichen von 2015) durch Papst Franziskus hat die Thematik der Ehenichtigkeitsverfahren in der innerkirchlichen Diskussion besondere Bedeutung erlangt. Dies belegt eine Pressemeldung des Presseamts des Heiligen Stuhls vom 20. September 2014 (also wenige Tage vor Eröffnung der ersten Synode), welche die am 27. August 2014 durch den Papst erfolgte Einsetzung einer Spezialkommission zum Studium einer Reform des Eheprozeßrechts bekanntgab5. Unter dem Vorsitz des Dekans der Römischen Rota, Mons. Pio Vito Pinto, gehören dieser Kommission insgesamt 12 Kirchenrechtsexperten an, darunter der Präsident des Päpstlichen Rats für die Gesetzestexte, Kardinal Francesco Coccopalmerio. Der Pressemitteilung zufolge sollten die Arbeiten der Spezialkommission möglichst bald beginnen und das Ziel verfolgen, einen Vorschlag für die Reform des Eheprozesses auszuarbeiten, der das Verfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen sucht sowie zugleich das Prinzip der Unauflöslichkeit der Ehe wahrt. Indes besteht, worauf Kardinal Coccopalermio im Januar 2015 bei einem Vortrag an der Päpstlichen Universität Gregoriana hinwies6, beim Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte eine andere Kommission mit vergleichbarer Zielsetzung, die schon im Pontifikat von Benedikt XVI. eingesetzt worden war. Diese Kommission hatte ihre Arbeit zunächst unterbrochen, um sie dann – gebilligt von Papst Franziskus – nach Abschluß der Synode vom Oktober 2014 wieder aufzunehmen. In seiner Ansprache zum Abschluß der Synode von 20147 hat der Papst die Zielsetzungen betont, welche die mit der Anwendung wie mit der Reform des 4 Siehe ferner Joaquín Llobell, La pastoralità del complesso processo canonico matrimoniale: suggerimenti per renderlo più facile e tempestivo, in: Carlos José Errázuriz/Miguel Ángel Ortiz (Hrsg.), Misericordia e diritto nel matrimonio, Rom 2014, S. 131 – 164; ders., Prospettive e possibili sviluppi della „Dignitas connubii“. Sull’abrogazione dell’obbligo della doppia sentenza conforme, in: Periodica 104 (2015), S. 237 – 284. 5 http://press.vatican.va/content/salastampa/de/bollettino/pubblico/2014/09/20/0651/01463. html. 6 Francesco Coccopalmerio, L’applicazione della „Dignitas connubii“ nell’esperienza del Pontificio Consiglio per i Testi Legislativi, in: Janusz Kowal (Hrsg.), Congresso Internazionale di Diritto Canonico. „Dignitas connubii“ a 10 anni dalla pubblicazione: bilancio e prospettive, Rom 2015 (im Druck). 7 Franziskus, Ansprache zum Abschluß der Dritten Außerordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode vom 18. Oktober 2014, in: AAS 106 (2014), S. 835 – 839; deutsche Übersetzung in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung. Texte zur Bischofssynode 2014

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Ehenichtigkeitsprozesses Befaßten (folglich auch die Mitglieder der beiden erwähnten Kommissionen) zu erreichen anstreben sollen. In erster Linie hat jeder in seiner Funktion, dem eigenen munus, daran mitzuwirken, daß jedes einzelne Urteil die Wahrheit über die Gültigkeit oder Nichtigkeit der gescheiterten Ehe widerspiegelt. An zweiter Stelle soll ein Prozeß rasch und innerhalb eines vernünftigen Zeitraumes entschieden werden, nachdem der Gläubige die Kirche um eine Erklärung über die Gültigkeit seiner gescheiterten Ehe gebeten hat (vielfach aus dem Grund, um mit derjenigen Person eine neue Ehe eingehen zu können, mit der er schon standesamtlich verheiratet ist oder schlicht zusammenlebt). Die erste Zielsetzung (Sicherstellung der deklaratorischen Natur des Urteils der Kirche) geht der zweiten vor (Schnelligkeit des Verfahrens). Doch sie darf umgekehrt nicht zur Verhinderung von (auch substantiellen und einschneidenden) Änderungen instrumentalisiert werden, die einen beschleunigteren Verfahrensgang erwarten lassen, solange nur die rein deklaratorische Natur der Entscheidung unangetastet bleibt. So hat Papst Franziskus in seiner erwähnten Ansprache vom Oktober 2014 verschiedene „Versuchungen“ namhaft gemacht, die er während der Debatten in der Synodenaula wahrgenommen hatte – Versuchungen, gegen die nicht nur Synodenväter ankämpfen müssen: „Zuerst: Die Versuchung der feindseligen Verhärtung, das heißt die Tendenz, sich im Geschriebenen (dem Buchstaben) zu verschließen und sich nicht von Gott überraschen zu lassen, vom Gott der Überraschungen (dem Geist); sich zu verschließen im Gesetz, in der Gewißheit dessen, was wir kennen, und nicht dessen, was wir noch lernen und erreichen müssen. Seit der Zeit Jesu ist das ist die Versuchung der Eifrigen, der Gewissenhaften, der Besorgten und der – heute – sogenannten ,Traditionalisten‘ und auch der Intellektualisten. Die Versuchung des destruktiven Gutmenschentums, das im Namen einer irreführenden Barmherzigkeit die Wunden verbindet, ohne sie zuvor zu behandeln und medizinisch zu versorgen; das die Symptome behandelt und nicht Ursachen und Wurzeln. Das ist die Versuchung der ,Gutmenschen‘, der Furchtsamen und auch der so genannten ,Progressiven und Liberalen‘. (…) Die Versuchung, das ,depositum fidei‘ zu vernachlässigen … (o)der auf der anderen Seite die Versuchung, die Wirklichkeit zu übersehen durch die Verwendung einer minutiösen Sprache und einer geglätteten Ausdrucksweise … Haarspalterei nennt man so etwas, glaube ich … (…) Ich persönlich wäre sehr besorgt und traurig gewesen, hätte es diese Versuchungen und diese lebhaften Diskussionen nicht gegeben (…) Und das jederzeit (…) ohne je die grundlegenden Wahrheiten des Ehesakraments in Frage zu stellen: Unauflöslichkeit, die Einheit, Treue und Zeugung von Nachkommenschaft, das heißt die Offenheit für das Leben (vgl. cc. 1055, 1056 CIC und GS 48).“8

und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz (Reihe: „Arbeitshilfen“, Nr. 273), Bonn 2014, S. 176 – 182. 8 Ebd., zit. nach der deutschen Übersetzung, S. 177 – 179.

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Die Lineamenta für die anstehende ordentliche Synode (2015), welche auf der Relatio Synodi der außerordentlichen Generalversammlung von 2014 beruhen, enthält zum Recht des Eheprozesses folgende Passage9 : „Eine große Zahl der Synodenväter hat die Notwendigkeit unterstrichen, die Verfahren zur Anerkennung der Nichtigkeit einer Ehe zugänglicher und schneller zu gestalten, und möglicherweise ganz auf Gebühren zu verzichten. Dazu wurden folgende Vorschläge gemacht: Die Notwendigkeit zweier gleichlautender Urteile aufzugeben; die Möglichkeit, einen Verwaltungsweg unter Verantwortung des Diözesanbischofs festzulegen; ein verkürztes Verfahren, das bei Fällen offenkundiger Nichtigkeit anzuwenden wäre.“

Der Vorschlag erhielt auf der Bischofssynode von 2014 143 Ja- und 35 NeinStimmen10. Es liegt auf der Hand, daß die Verwirklichung des Willens des Papstes eine Änderung der Gesetzeslage zum Ehenichtigkeitsprozeß erfordert, soll er auf wirksame Weise beschleunigt werden. Gleichwohl werden derartige Reformen das Recht auf eine angemessene Untersuchung ex officio seitens des Richters, der Ehegatten und des Bandverteidigers garantieren müssen11, denn diese Untersuchung hat den Richter in die Lage zu setzen, mit moralischer Gewißheit12 zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen zu können. Diesen Aspekt hat Papst Franziskus in einer Ansprache vom 24. Januar 2015 eigens betont. Denn ein jeder, der mit Ehenichtigkeitsprozessen befaßt ist, muß – entsprechend dem jeweiligen Amt und der jeweiligen Verantwortung – das Seine dazu beitragen, um (in den Worten des Papstes) „einen zugleich sicheren als auch raschen Prozeßverlauf zu gewährleisten. Einen sicheren Verlauf, der klar das Ziel des Prozesses aufzeigen und erläutern soll, das heißt die moralische Gewißheit: dabei ist es erforderlich, daß 9

Lineamenta für die Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode, „Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute“, 9. Dezember 2014, Nr. 48; wörtlich identisch mit der Relatio Synodi der Dritten Außerordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode, „Die pastorale Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung“, 18. Oktober 2014, in: AAS 106 (2014), S. 887 – 908; deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft (FN 7), S. 141 – 175. 10 Ebd., S. 169 (in den AAS werden demgegenüber die Abstimmungsergebnisse generell nicht mitgeteilt). 11 Sollte das Erfordernis zweier gleichlautender Urteile abgeschafft werden, würde dies die Bedeutung der Rolle des Bandverteidigers im Dienst der Wahrheit erheblich steigern, und zwar sowohl in der Untersuchungsphase in erster Instanz als auch bei der Anfechtung des ersten Urteils pro nullitate matrimonii (wenn seine Bewertung der moralischen Gewißheit von derjenigen des Richters abweicht). – Zur Wichtigkeit des Bandverteidigers siehe Franziskus, Ansprache an den Obersten Gerichtshof der Apostolischen Signatur vom 8. November 2013, in: AAS 105 (2013), S. 1152 – 1153, sowie, nahezu identisch, Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses der Fakultät für Kirchenrecht der Päpstlichen Universität Gregoriana vom 24. Januar 2015, in: AAS 107 (2015), S. 192 – 193. 12 Zu diesem Zentralbegriff des kanonischen Prozeßrechts siehe cc. 1432, 1452, 1559, 1598, 1608, 1678 CIC sowie Art. 56, 71, 159, 229, 234, 236, 247 der Instruktion Dignitas connubii (DC) vom 25. Januar 2005.

Wahrheit des Ehekonsenses und Ehenichtigkeit

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jeglicher vernünftige Zweifel des Irrtums ausgeschlossen wird, selbst wenn die bloße Möglichkeit des Gegenteils nicht beseitigt ist“13. Auf der anderen Seite können, so der Papst weiter, bei dem Bemühen um ein ausgewogenes Verhältnis von Sicherheit und Schnelligkeit des Prozesses „für die Zukunft weitere gesetzgeberische Maßnahmen (nicht) ausgeschlossen werden“, die dem Ziel eines „raschen Prozeßverlauf(es) … bar aller Formalismen“ dienen sollen14. Im Hinblick auf die drei in den Lineamenta aufgeführten Vorschläge gesetzgeberischer Änderungen15 sei auf einen kürzlich publizierten Beitrag hingewiesen, in welchem ich selbst die Abschaffung des Erfordernisses zweier gleichlautender Urteile als möglich angesehen habe16. Neben anderen Gründen würden vor allem die statistischen Daten über die Tätigkeiten der Kirchengerichte eine solche Abschaffung rechtfertigen: In den USA und Kanada wurden nur 1 % der in erster Instanz pro nullitate matrimonii entschiedenen Urteile in der zweiten Instanz abgeändert, in Europa waren es 7,4 %, in der Gesamtkirche 3,3 %. Die Statistiken berechtigen zur der Annahme, daß diese Abänderungen größtenteils daher rühren, daß der Bandverteidiger und vor allem derjenige Ehegatte Berufung eingelegt haben, der die vom anderen Teil angefochtene Ehe für gültig hält. Anders gewendet, für die geringe Zahl an abgeänderten Urteilen wäre eben nicht die Verpflichtung kausal, das Urteil, welches erstmals eine Ehe für nichtig erklärt, von Amts wegen dem Berufungsgericht zuzuleiten17. Gerade diese Verpflichtung ist aber eines der tragenden Elemente, aus dem sich das Erfordernis zweier gleichlautender Urteile ergibt. Demnach würde man in der Sache zu einem zweitinstanzlichen Urteil gegen die Nichtigkeit einer Ehe auch dann gelangen können, würde das Erfordernis zweier gleichlautender Urteile nicht bestehen (siehe „Statistik 2012“ auf der nächsten Seite). Gleichermaßen möglich erscheint mir die Einführung eines neuen „verkürzten Verfahrens bei Fällen offenkundiger Nichtigkeit“. Denn es werden sich auf die Beweistatsachen bezogene Sachverhaltskonstellationen festlegen und typisieren lassen, die ausreichen, um den Richter „unter Auslassung der Förmlichkeiten des ordentlichen Gerichtsverfahrens“ zur moralischen Gewißheit über die Nichtigkeit der Ehe gelangen zu lassen. Wie beim Urkundenverfahren müßte auch hier die Beteiligung der Parteien und des Bandverteidigers sichergestellt sein18, vor allem wäre mit Nachdruck zu betonen, daß eine Entscheidung zugunsten der Nichtigkeit der Ehe auch dann von der moralischen Gewißheit des Richters herrühren muß. Rein formalistische Vorgehensweisen sind dabei ebenso zu vermeiden wie die gebotene Kontrolle der korrekten Anwendung eines solchen neuen Verfahrens durch 13

Nachw. FN 11, unter Hinweis auf Art. 247 § 2 DC (Hervorhebungen im Original). Ebd. 15 Nachw. oben FN 9. 16 Llobell, Prospettive e possibili sviluppi (FN 4). 17 Dazu c. 1682 CIC; Art. 264 – 267 DC. 18 Dazu c. 1686 CIC; Art. 295 DC. 14

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Joaquín Llobell

das Recht auf eine weitere Instanz sichergestellt sein muß. Mit anderen Worten, sowohl dem Bandverteidiger wie dem Ehegatten, der mit der Entscheidung nicht einverstanden ist, muß die Möglichkeit der Berufung – einschließlich zur Römischen Rota – offenstehen. Statistik 201219 Länder

1. Instanz Urteile pro nullitate

1. Instanz Urteile pro validitate

2. Instanz Urteile pro nullitate

2. Instanz Urteile pro validitate

Afrika

537

69

281 (= 98,3 %)

5 (= 1,7 %)

Kanada und USA

16.929

827

15.836 (= 99 %)

174 (= 1 %)

Übrige amerikanische 4.909 Staaten

444

3.100 (= 95,4 %)

149 (= 4,6 %)

Asien

2.604

112

1.828 (= 97,8 %)

42 (= 2,2 %)

Europa

8.858

1.965

8.100 (= 92,6 %)

644 (= 7,4 %)

Ozeanien

429

25

300 (= 98 %)

6 (= 2 %)

Gesamtkirche

34.266 (= 90,9 %)

3.442 (= 9,1 %)

29.445 (= 96,7 %)

1020 (=3,3 %)

III. Die wesenhaft deklaratorische Natur der Ehenichtigkeitsverfahren: Der favor veritatis und die moralische Gewißheit hinsichtlich der quaestio facti und der quaestio iuris Der dritte in den Lineamenta für die Synode im Oktober 2015 genannte Vorschlag einer denkbaren gesetzgeberischen Innovation bei den Ehenichtigkeitsverfahren geht dahin, „die Möglichkeit eines Verwaltungsweges unter der Verantwortung des Diözesanbischofs festzulegen“20. Diese Verfahrensmodalität, kurz „Verwaltungsverfahren“ genannt, scheint mir bei Ehenichtigkeitsverfahren nicht anwendbar zu sein, da das Verwaltungshandeln vom Grundsatz des Ermessens geprägt ist, was mit der deklaratorischen Natur der Ehenichtigkeitsverfahren schlechthin unvereinbar ist. Letztere sind niemals konstitutiv (in dem Sinne, daß sie die Rechtswirklichkeit gestalten können: also eine nichtige Ehe gültig zu machen oder 19

Die zuletzt veröffentlichen Daten beziehen sich auf das Jahr 2012, Nachw. in: Secretaria Status, Rationarium Generale Ecclesiae. Annuarium statisticum Ecclesiae 2012, Vatikanstadt 2014, § 53, S. 450. 20 Nachw. oben FN 9.

Wahrheit des Ehekonsenses und Ehenichtigkeit

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umgekehrt)21 – im Unterschied zu den Verfahren zur Trennung der Ehegatten, welche daher sehr wohl im Verwaltungsweg durchgeführt werden können22. Auch im Strafrecht kommt ein Verfahren im Verwaltungsweg in Betracht, sofern der Angeklagte seine Schuld anerkennt und die ihm auferlegte Strafe akzeptiert, ansonsten auch unter der Voraussetzung, daß sein Recht auf Verteidigung nach den Grundsätzen eines fairen Verfahrens gewahrt ist, wie es vom Naturrecht (oder auch vom ius gentium) anerkannt ist. So stellt die Anwesenheit des Angeklagten im Strafprozeß eine hinreichende Garantie für die Gerechtigkeit des (gleichfalls konstitutiven) Strafverfahrens dar23. Das Ehenichtigkeitsverfahren ist demgegenüber nicht darauf ausgerichtet, eine von der tatsächlich existierenden Wirklichkeit verschiedene Realität zu „konstruieren“. Würde die Rechtsordnung die Synchronie zwischen Wirklichkeit und gerichtlichem Verfahren nicht wahren, „erlaubte“ dies die „Annullierung“ gültiger Ehen, was der von Jesus Christus gewollten Unauflöslichkeit widerspricht: Darum wird der Mann (…) sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen (Mt 19,4 – 6; vgl. Gen 1,27; 2,24; Mt 5,31 – 32; Mk 10,2 – 11). Die Unauflöslichkeit (deren Beachtung die salus animarum entscheidend beeinflußt) verlangt die Befolgung des Prinzips des favor veritatis, das heißt, die Notwendigkeit, die moralische Gewißheit über die Nichtigkeit der Ehe zu erlangen, um die entsprechende Entscheidung zu fällen. Seit der Systematisierung des kirchlichen Rechts durch Gratian um das Jahr 1140 stand die enge Beziehung des favor veritatis und der rein deklaratorischen Natur des Verfahrens über die Gültigkeit einer Ehe zum göttlichen Recht (ius divinum) fest. So lautet der Tenor der berühmten Dekretale Lator von Alexander III. (damit also nur kurz nach Erstellung des Decretum): „Ein gegen die Ehe ergangenes Urteil erwächst nie in Rechtskraft; daher ist es zu jedem Zeitpunkt zu widerrufen, wenn ein Irrtum feststeht“24. Ein

21

Näher Llobell (FN 3), S. 109 – 118; ders., La pastoralità del complesso processo (FN 4), S. 131 (156 – 160). 22 Eingehend Joaquín Llobell, I procedimenti di separazione coniugale, in: Janusz Kowal/ ders. (Hrsg.), „Iustitia et iudicium“. Studi di diritto matrimoniale e processuale canonico in onore di Antoni Stankiewicz, Vatikanstadt 2010, Bd. IV, S. 2087 – 2106; ders., Il m.p. „Quaerit semper“ sulla dispensa dal matrimonio non consumato e le cause di nullità della sacra ordinazione, in: Stato, Chiese e pluralismo confessionale. Rivista telematica, Nr. 24/2012 vom 9. Juli 2012, S. 1 – 52 (38 – 39); online zugänglich unter www.statoechiese.it/images/stories/ 2012.7/llobell_bis_il_m.p.n.v.x.pdf. 23 Vgl. Joaquín Llobell, Giusto processo e „amministrativizzazione“ della procedura penale canonica, in: Kurt Maens (Hrsg.), Consociatio Internationalis Studio Iuris Canonici Promovendo: XV International Congress of Canon Law „Crime and Punishment“. Nature, Problems and Perspectives of Canonical Penal Law and Its Relation to Civil Law, Washington 2015 (im Druck). 24 Sententia lata contra matrimonium nunquam transit in rem iudicatam; unde quandocunque revocatur, quum constat de errore (Alexander III., 1159 – 1181, Lator, X.2.27.7).

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Joaquín Llobell

solcher Irrtum nämlich wäre, wie der Text der Dekretale weiter besagt, den Ehegatten periculum animarum, zudem deceptio Ecclesiae25. Andererseits steht der favor veritatis über dem favor matrimonii (vgl. c. 1060 CIC). Mehr noch, nach dem berühmten Diktum des spanischen Jesuiten Tomás Sánchez (1550 – 1610) gibt es keinen von der Wahrheit abgelösten favor matrimonii: „Der wahre favor matrimonii verlangt die Auflösung der nichtigen und den Schutz der gültigen Ehe“26. Der heilige Papst Johannes Paul II. griff den Gedanken auf, indem er feststellte: „Jedes gerechte Urteil über die Gültigkeit oder Nichtigkeit der Ehe ist ein Beitrag zur Kultur der Unauflöslichkeit sowohl in der Kirche als auch in der Welt“27. In seiner Ansprache vom 24. Januar 2015 hat Papst Franziskus weiter betont, daß jede Reform des Ehenichtigkeitsprozesses „klar das Ziel des Prozesses aufzeigen und erläutern soll, das heißt die moralische Gewißheit: dabei ist es erforderlich, daß jeglicher vernünftige Zweifel zu irren ausgeschlossen wird, selbst wenn die bloße Möglichkeit des Gegenteils nicht beseitigt ist“28. Das Erreichen der moralischen Gewißheit als „Ziel des Prozesses“ selbst zu bezeichnen und sie so zu verstehen, wie es Papst Franziskus unter Verweis auf Art. 247 § 2 der Instruktion Dignitas connubii29 tut, ist axiologisch wie hermeneutisch von besonderer Bedeutung: Diese Bestimmung rezipiert zwei Aspekte der Kategorie der moralischen Gewißheit in die Rechtsordnung, die bis zum Inkrafttreten der Instruktion allein vom Lehramt der Päpste Pius XII. und Johannes Paul II. vorgelegt worden waren30 und weder in c. 1608 CIC noch in c. 1291 CCEO enthalten waren. Auch wenn das päpstliche Lehramt stets unmittelbare rechtliche Relevanz aufweist31, erleichtert die nunmeh25

(E)cclesiamque deceptam, ipsos contradictione et appellatione cessante faciatis sicut virum et uxorem insimul permanere (ebd.). 26 Tomas Sánchez, Disputationum de sancto matrimonii sacramento, Buch 7, Disp. 100, Nr. 14, Venedig 1625: Ita est matrimonii favor irritum dissolvere, ac validum tueri. 27 Ansprache an die Römische Rota vom 28. Januar 2002, Nr. 7, in: AAS 94 (2002), S. 340 – 346 (344); deutsche Übersetzung in: ArchKathKR 171 (2002), S. 156 – 161 (159). 28 Nachw. oben FN 11, unter Hinweis auf Art. 247 § 2 DC. 29 Die Bestimmung lautet: „Für die vom Recht geforderte moralische Gewißheit (…) ist es erforderlich, daß jeglicher vernünftige Zweifel im Recht und in der Sache zu irren, ausgeschlossen wird.“ 30 Pius XII., Ansprache an die Römische Rota vom 1. Oktober 1942, Nr. 1, in: AAS 34 (1942), S. 338 – 343 (339 f.): Die moralische Gewißheit „schließt (ex positivo) jeden begründeten oder berechtigten Zweifel aus und unterscheidet sich, so betrachtet, wesentlich von der erwähnten Schein-Gewißheit; ex negativo läßt sie die absolute Möglichkeit des Gegenteils bestehen und unterscheidet sich damit von der absoluten Gewißheit. Die Gewißheit, von der Wir hier sprechen, ist für Urteilsfindung notwendig und ausreichend.“; sowie Johannes Paul II., Ansprache an die Rota Romana vom 4. Februar 1980, Nr. 6, in: AAS 72 (1980), S. 172 – 178 (175 f.); deutsche Übersetzung in: ArchKathKR 149 (1980), S. 124 – 130 (127 f.). 31 Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Rota vom 26. Januar 2008, in: AAS 100 (2008), S. 84 – 88 (87 f.); deutsche Übersetzung in: ArchKathKR 177 (2008), S. 170 – 174 (173): „In dieser realistischen Sichtweise ist auch der Wert der Interventionen des kirchlichen Lehramtes zu Fragen des kirchlichen Eherechts zu verstehen, einschließlich der Ansprachen

Wahrheit des Ehekonsenses und Ehenichtigkeit

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rige rechtliche Einkleidung der moralischen Gewißheit in Art. 247 § 2 DC, daß dieses Institut seine Aufgabe als Garant der deklaratorischen Natur der Ehenichtigkeitsverfahren erfüllen kann. Wie bereits in der Ansprache des heiligen Papstes Johannes Paul II. an die Römische Rota von 1980 angeklungen, schließt diese nunmehr von Papst Franziskus ausdrücklich zitierte Norm zu den konstitutiven Bestandteilen der moralischen Gewißheit auch die Kenntnis derjenigen Tatsachen (historischer und biographischer Art) ein, welche die Ehe nichtig gemacht haben. Jene quaestio facti ergibt sich aus den verschiedenen Beweismitteln. Doch darin erschöpft sich nicht der Gehalt der neuen Bestimmung des Art. 247 § 2 DC, welche – auch dies auf der Linie der RotaAnsprache von 1980 – das Erfordernis der moralischen Gewißheit über die quaestio facti hinaus auf diejenigen Normen erstreckt, welche die Ungültigkeit oder zumindest die Beweistatsachen begründen. Das bedeutet, die moralische Gewißheit umfaßt auch die quaestio iuris als notwendigen Ausdruck der objektiven und dementsprechend deklaratorischen Natur des Urteils über die Nichtigkeit der Ehe. Johannes Paul II. bemerkte dazu: „Die für die Gerechtigkeit und den Prozeß typische Objektivität, die bei der Untersuchung des Tatbestandes (quaestio facti) im Festhalten an der Wahrheit konkrete Gestalt annimmt, wird in der Erforschung des Rechts (quaestio iuris) in Treue umgesetzt; Begriffe, die offensichtlich eng miteinander verwandt sind“32. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen angemessener Anwendung der Grundsätze der moralischen Gewißheit einerseits und der Beachtung der deklaratorischen Natur der Urteile in den Ehenichtigkeitsfällen andererseits sei noch ein weiterer Abschnitt aus der Rota-Ansprache von 1980 in Erinnerung gerufen: „Demzufolge ist es keinem Richter gestattet, ein Urteil zugunsten der Nichtigkeit einer Ehe zu fällen, wenn er nicht zuvor die moralische Gewißheit darüber erlangt hat. Die bloße Wahrscheinlichkeit reicht für die Entscheidung eines Falles nicht aus. Für jedes Nachgeben in dieser Hinsicht würde das gelten, was sehr richtig von den anderen Gesetzen gesagt

des Papstes an die Römische Rota. Diese stellen geradezu eine Richtschnur für die Tätigkeit aller kirchlichen Gerichte dar, insofern sie mit Autorität all das lehren, was zum Wesen der Ehe gehört. Mein verehrter Vorgänger Johannes Paul II. warnte in seiner letzten Ansprache an die Rota vor dem positivistischen Verständnis des Rechts, das dazu neigt, die Gesetze und die in der Rechtsprechung geltenden Richtlinien von der Lehre der Kirche zu trennen. Er sagte: ,In Wirklichkeit hat die authentische Auslegung des Wortes Gottes, die vom Lehramt der Kirche vorgenommen wird, rechtliche Bedeutung in dem Maß in dem sie den Rechtsbereich betrifft, und sie benötigt keinen weiteren formellen Übergang, um rechtlich und moralisch bindend zu sein. Für eine gesunde rechtliche Hermeneutik ist es zudem unerläßlich, die Gesamtheit der Weisungen der Kirche zu erfassen und jede Aussage organisch in die Tradition einzubinden. Auf diese Weise werden selektive und verzerrte Auslegungen sowie unfruchtbare Kritiken an einzelnen Passagen vermieden (AAS 97 [2005], S. 166, Nr. 6).‘“ 32 Johannes Paul II., Ansprache an die Rota Romana (FN 30), Nr. 8, in: AAS 72 (1980), S. 172 (177); deutsche Übersetzung in: ArchKathKR 149 (1980), S. 124 (129).

126

Joaquín Llobell

wurde, welche die Ehe betreffen: Jede Lockerung hat eine zwingende Dynamik in sich: cui, si mos geratur, divortio, alio nomine tecto, in Ecclesia tolerando via sternitur.“33

IV. Verlagerung der Ehenichtigkeitsverfahren auf den Verwaltungsweg: Dichotomie zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit? Von den drei in Nr. 48 der Lineamenta genannten Möglichkeiten für eine Beschleunigung des Prozesses34 lassen sich der Sache zwei grundsätzlich realisieren (Abschaffung des Erfordernisses zweier übereinstimmender Urteilen; verkürztes Verfahren bei Fällen offenkundiger Nichtigkeit). Der dritte Vorschlag hingegen – Verwaltungsweg unter der Verantwortung des Diözesanbischofs – wirft so schwerwiegende Probleme auf, daß sich diese Lösung nicht empfiehlt. Eine Verlagerung der Ehenichtigkeitsfälle auf den Verwaltungsweg wäre gänzlich inakzeptabel, wenn dies zum Ausdruck bringen sollte, die kirchliche Autorität verfügte über einen (für das Verwaltungshandeln typischen) Ermessensspielraum, um gescheiterte Ehen für nichtig zu erklären (etwa weil wiederverheiratete Geschiedene sich nach den Sakramenten der Buße und der Eucharistie sehnen, an ihrem Empfang aber gehindert sind). In der Sache dieser, freilich anders formulierte, Ansatz wurde 1994 von der Kongregation für die Glaubenslehre unter dem Präfekten Joseph Kardinal Ratzinger eingehend geprüft und verworfen35. Daher ist die Annahme, Ratzinger selbst habe in seinem Buch „Das Salz der Erde“36 einen vergleichbaren Weg vorgeschlagen, nicht recht stimmig, hätte er sich doch damit nur drei Jahre nach der Entscheidung von 1994 selbst widersprochen. Würde man Kardinal Ratzinger als Zeugen für die hier kritisierten Tendenzen in Anspruch nehmen, wäre das reine Wortklauberei und entspräche nicht seiner tatsächlichen Ansicht. In der Tat hatte er als Resümee der Behandlung dieses Themas auch 33

Ebd., Nr. 6, in: AAS 72 (1980), S. 172 (176) sowie in: ArchKathKR 149 (1980), S. 124 (128). – Die vom Papst zitierte Passage („würde dies gängige Praxis, würde so unter anderer Bezeichnung die Ehescheidung in der Kirche, eingeführt“) entstammt dem Brief des Kardinalpräfekten des (damaligen) Rates für die Öffentlichen Angelegenheiten der Kirche an den Vorsitzenden der Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten von Amerika vom 20. Juni 1973; Abdruck in: Ignatius Gordon/Zenon Grocholewski, Documenta recentiora circa rem matrimonialem et processualem, Bd. I, Rom 1977, Nr. 1431 – 1437. 34 Nachw. oben FN 9. 35 Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über den Kommunionempfang von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen vom 14. September 1994, in: AAS 86 (1994), S. 974 – 979; deutsche Übersetzung in: Rudolf Voderholzer (Hrsg.), Zur Seelsorge wiederverheirateter Geschiedener. Dokumente, Kommentare und Studien der Glaubenskongregation. Mit einer Einleitung von Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI., Würzburg 22014, S. 35 – 40. 36 Joseph Ratzinger, Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche an der Jahrtausendwende. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Stuttgart 1996, S. 219 – 222.

Wahrheit des Ehekonsenses und Ehenichtigkeit

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mögliche Vereinfachungen des Verfahrens erwogen, ohne aber im geringsten die Grundsätze der Ehe in Zweifel zu ziehen: „Solche Rechtsentwicklungen, die entkomplizieren können, sind denkbar. Aber der Grundsatz, daß eine Ehe unauflöslich ist und daß jemand, der die gültige Ehe seines Lebens, das Sakrament, verlassen hat und in eine andere Ehe eingetreten ist, nicht kommunizieren kann, der Grundsatz als solcher gilt in der Tat definitiv.“37

Würden also die Ehenichtigkeitsverfahren Amtsträgern zugewiesen, die formal keine Richter sind, könnte man wegen der Rechtsnatur der dann ausgeübten Gewalt von einem „Verwaltungs“verfahren sprechen. Diese Amtsträger könnten aber keinerlei Ermessensspielräume haben, eine Ehe mit konstitutiver Wirkung zu „annullieren“ (auch wenn sie es irrtümlicherweise für „pastoral geboten“ halten sollten) – die Entscheidung kann und muß auch dann rein deklaratorischer Natur sein. Außer in den Fällen der Auflösung des Ehebandes zugunsten des Glaubens (in favorem fidei) oder einer nichtvollzogenen Ehe (super matrimonio non consummato)38 hat die kirchliche Autorität, sei es durch die Verwaltung39 oder durch die richterliche Gewalt nur zwei Optionen einer „Erklärung“: entweder, daß mit moralischer Gewißheit feststeht, daß die in einem kanonischen Verfahren geprüfte Ehe niemals „existiert“ hat (und folglich für nichtig zu erklären ist), oder aber, daß die Nichtigkeit nicht gegeben ist und mithin die Ehe (auch wenn sie offenkundig gescheitert ist) mit allen ihren Rechtswirkungen als unverändert gültig anzusehen ist40. Aus dem bisher Dargelegten lassen sich zusammenfassend die nachfolgenden Elemente herausdestillieren, welche zur Wahrung der rein deklaratorischen Natur der Urteile in Ehenichtigkeitsverfahren erforderlich sind. Ob man dann dieses Verfahren als verwaltungs- oder als gerichtsförmig qualifiziert, ist dabei nicht entscheidend – es geht um die Sache, nicht um Bezeichnungen. Die unverzichtbaren Elemente sind:

37

Ebd., S. 221. Vgl. cc. 1142 – 1150, 1697 – 1706 CIC; cc. 854 – 862, 1384 CCEO; Kongregation für die Glaubenslehre, Normen für die Durchführung des Verfahrens zur Auflösung des Ehebandes zugunsten des Glaubens (in favorem fidei) vom 30. April 2001, Abdruck in: ArchKathKR 171 (2002), S. 161 – 168; (nicht offizielle) deutsche Übersetzung in: DPM 9 (2002), S. 356 – 377; Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Litterae circulares de processu super matrimonio rato et non consummato, 20. Dezember 1986, in: Congregatio de Cultu Divino et Disciplina Sacramentorum, Collectanea documentorum ad causas pro dispensatione super „rato et non consummato“ et a lege sacri coelibatus obtinenda, inde a Codice Iuris Canonici anni 1917, Vatikanstadt 2004, Nr. 50, S. 119 – 124; Benedikt XVI., Motu proprio Quaerit semper vom 30. August 2011, in: AAS 103 (2011), S. 569 – 571; deutsche Übersetzung in: ArchKathKR 180 (2011), S. 551 – 553. 39 Vgl. Art. 5 § 2 DC; Art. 118 der Lex propria des Obersten Gerichthofs der Apostolischen Signatur vom 21. Juni 2008, promulgiert durch Papst Benedikt XVI., Motu proprio Antiqua ordinatione, in: AAS 100 (2008), S. 513 – 538 (= ArchKathKR 177 [2008], S. 174 – 200; eine deutsche Übersetzung liegt – soweit ersichtlich – noch nicht vor). 40 Dazu cc. 1060, 1085 § 2 CIC; cc. 779, 802 § 2 CCEO. 38

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Joaquín Llobell

¢ das sorgfältige Zusammentragen der Beweise, so daß der zur Entscheidung Berufene die Wahrheit über die Gültigkeit oder Nichtigkeit der Ehe erkennen kann (und nicht, weshalb die Ehe gescheitert ist); ¢ die Mitwirkung beider Ehegatten bei der Beweisaufnahme (Benennung von Zeugen, Vorlegen von Urkunden etc.); da sie die Situation am besten kennen und es sich um ihre Ehe handelt, können sie nicht von der Überprüfung ihrer Gültigkeit freigestellt werden. Unberührt davon bleibt das allgemeine Erfordernis, daß andere Beweismittel die Aussagen der Ehegatten bestätigen, zumal in Fällen der Simulation. Facta eloquentiora sunt verbis („Tatsachen sagen mehr als Worte“): diese Grundhaltung der Rechtsprechung der Rota trägt dazu bei, daß es nicht – wovor Papst Benedikt XVI. warnte – zu rechtswidrigen Nichtigkeitserklärungen der Ehe durch die Ehegatten selbst kommt41; ¢ alle vorgebrachten Beweismittel müssen den Ehepartnern und dem Bandverteidiger zugänglich sein, so daß sie in der Lage sind, einen Gegenbeweis antreten zu können; ¢ der Ausspruch der Nichtigkeit kann nur erfolgen, wenn die zur Entscheidung berufene Stelle die moralische Gewißheit sowohl über die questio facti wie über die questio iuris erlangt hat42 ; und schließlich, ¢ angesichts menschlicher Fehlsamkeit, die Möglichkeit für die Ehegatten oder den Bandverteidiger, eine als ungerecht empfundene Entscheidung bei einer anderen Stelle anfechten zu können, die von der Erstinstanz wirklich unabhängig ist. Wie aus dieser Aufstellung unverzichtbarer Elemente für jedes auf den Ausspruch der Gültigkeit oder Nichtigkeit einer Ehe gerichteten Verfahrens deutlich wird, hängt der erforderliche Aufwand an Zeit und Mühen nicht davon ab, ob die administrative oder rechtsprechende Gewalt tätig wird, sondern vielmehr von einer sorgsamen Beweiserhebung, welche – nicht skrupulös, aber seriös – zur Ermittlung der Wahrheit führt. Eine solche Tätigkeit verlangt vom Rechtsanwender eine solide Kenntnis der anzuwendenden Prozeßhandlungen wie des zu erreichenden Zwecks, nämlich eine der Wahrheit entsprechende Feststellung über die Gültigkeit oder Nichtigkeit der gescheiterten Ehe zu treffen. Eine derartige Aufgabe muß notwendigerweise denjenigen Personen anvertraut werden, die neben Rechtschaffenheit und wirklich pastoralem Sinn über die notwendige Fachkompetenz und Zeit für die 41

Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Rota vom 28. Januar 2006, in: AAS 98 (2006), S. 135 – 138 (137); deutsche Übersetzung in: ArchKathKR 175 (2006), S. 152 – 156 (154); Joaquín Llobell, La genesi dei disposti normativi sul valore probatorio delle dichiarazioni delle parti: il raggiungimento del principio della libera valutazione delle prove, in: Fidelium iura 12 (2002), S. 139 – 177; Miguel Ángel Ortiz, La forza probatoria delle dichiarazioni delle parti nelle cause di nullità del matrimonio, in: Héctor Franceschi/ders. (Hrsg.), Verità del consenso e capacità di donazione. Temi di diritto matrimoniale e processuale canonico, Rom 2009, S. 387 – 449. 42 Dazu oben Text zu FN 28 – 33.

Wahrheit des Ehekonsenses und Ehenichtigkeit

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Verrichtung dieser anspruchsvollen Arbeit verfügen. Der Ehenichtigkeitsprozeß erfordert „hochspezialisierte Fachleute mit pastoralem Einfühlungsvermögen und Gerechtigkeitssinn“, mit einem Wort: „Richter der Kirche“. Jeder Richter muß die genannten wesentlichen Elemente kennen und anwenden, welche die Klugheit des kirchlichen Gesetzgebers im Laufe der Jahrhunderte ausgeformt hat. Das gilt sowohl dann, wenn die Entscheidung von einem Richter im eigentlichen Sinn zu treffen ist (also vom Diözesanbischof oder einem von ihm delegierten Richter) oder einer anderen Person. Bekanntlich war letztere Möglichkeit von Kardinal Walter Kasper beim Konsistorium vom Februar 2014 vorgeschlagen worden43. Hier liegt das Problem nun darin, daß der zum „Urteilen“ Berufene (bei Kardinal Kasper: ein Priester) nach den Grundzügen eines Prozesses vorgehen müßte, sowohl im Hinblick auf die quaestio iuris wie auch auf die quaestio facti (Beweiserhebung über die entscheidungserheblichen Tatsachen). Eine derartige Aufgabe erfordert die für einen Richter spezifische Ausbildung. Verfügte er nicht über diese Kompetenz, könnte er nicht die für den Ehenichtigkeitsprozeß charakteristische deklaratorische Natur gewährleisten und geriete sehr leicht in die von Kardinal Kasper selbst benannte Gefahr: „Es wäre falsch, die Lösung des Problems in einer großzügigen Ausweitung der Ehenichtigkeitsverfahren zu suchen. Damit würde der fatale Eindruck erweckt, die Kirche nehme auf unehrliche Weise in Wirklichkeit Ehescheidungen vor.“44. Einem so hohen Risiko kann sich die Kirche nicht aussetzen; daher muß diese Lösung ausscheiden. Was die Päpste Johannes Paul II.45 und Benedikt XVI. in zahlreichen Ansprachen an die Römische Rota wiederholt dargelegt haben, hat Papst Franziskus bei mehreren Gelegenheiten bekräftigt46 : Der recht verstandene pastorale Charakter der 43

Walter Kasper, Das Evangelium von der Familie. Die Rede vor dem Konsistorium, Freiburg 2014, S. 59: „Alternativ könnte man sich vorstellen, daß der Bischof einen geistlich und pastoral erfahrenen Priester als Pönitentiar oder Bischofsvikar mit dieser Aufgabe betraut.“ 44 Ebd., S. 61. 45 Johannes Paul II., Ansprache an die Römische Rota vom 29. Januar 2005, Nr. 5, in: AAS 97 (2005), S. 164 – 166 (165); deutsche Übersetzung in: ArchKathKR 174 (2005), S. 157 – 160 (158 f.): „Die Deontologie der Richter hat ihr inspirierendes Kriterium in der Wahrheitsliebe. Er muß deshalb fest überzeugt sein, daß es die Wahrheit gibt. Deshalb ist es notwendig, sie zu suchen mit dem echten Verlangen, sie zu erkennen, trotz der Unannehmlichkeiten, die aus der Erkenntnis entstehen können. Man muß der Angst vor der Wahrheit widerstehen, die manchmal aus der Frucht erwachsen kann, die Personen zu irritieren. Die Wahrheit, die Christus selbst ist (vgl. Joh 8,32.36), macht uns frei von jeder Form des Kompromisses mit eigennützigen Lügen. Der Richter, der wirklich als Richter handelt, das heißt mit Gerechtigkeit, läßt sich weder von falschem Mitleid mit den Personen noch von falschen Denkmodellen beeinflussen, auch wenn sie im Umfeld verbreitet sind. Er weiß, daß die ungerechten Urteile nie eine wahre pastorale Lösung sind und daß das Urteil Gottes über das eigene Handeln das ist, was für die Ewigkeit zählt.“ – Hervorhebungen nur hier. 46 Siehe vor allem die Ansprachen zum Abschluß der Bischofssynode im Oktober 2014 (FN 7) sowie an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses an der Päpstlichen Universität Gregoriana (FN 11).

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Joaquín Llobell

Entscheidung hängt davon ab, daß ihre deklaratorische Natur über die Wahrheit der Gültigkeit oder Nichtigkeit der Ehe beachtet wird, nicht aber von dem Umstand und den Ursachen ihres Scheiterns: „Bezüglich der Wahrheit habe ich in den Ansprachen an diesen Apostolischen Gerichtshof im Jahr 2006 und 2007 wiederholt auf die Möglichkeit hingewiesen, ,die Wahrheit über das Wesen der Ehe und die Realität jeder persönlichen Situation, die dem Urteilsspruch der Gerichts unterbreitet wird, zu finden (…). Ich möchte heute betonen, daß sowohl die Gerechtigkeit als auch das Postulat der Wahrheitsliebe erfordert und im wesentlichen die Suche nach dem Wahren mit sich bringt. Vor allem aber macht die Liebe den Bezug auf die Wahrheit um so erforderlicher. ,Die Wahrheit zu verteidigen, sie demütig und überzeugt vorzubringen und sie im Leben zu bezeugen, sind daher anspruchsvolle und unersetzliche Formen der Liebe. Denn diese freut sich an der Wahrheit (1 Kor 13,6)‘ (Caritas in veritate, Nr. 1). ,Nur in der Wahrheit strahlt die Liebe und kann glaubwürdig gelebt werden (…). Ohne die Wahrheit gleitet die Liebe in Sentimentalität ab. Sie wird ein leeres Gehäuse, das man nach Belieben füllen kann. Das ist die verhängnisvolle Gefahr für die Liebe in einer Kultur ohne Wahrheit. Sie wird Opfer der zufälligen Gefühle und Meinungen der einzelnen, ein Wort, daß mißbraucht und verzerrt wird, bis es schließlich das Gegenteil bedeutet (ebd., Nr. 3).“47

Auf der gleichen Linie liegt es, wenn Papst Franziskus in der Verkündigungsbulle des außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit Misericordiae vultus vom 11. April 2015 verschiedentlich sowohl den Vorrang der Barmherzigkeit als auch die wesentliche Bedeutung der Gerechtigkeit betont (s. Nr. 17 – 19, besonders Nr. 20 – 21 bei der Betrachtung der Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit). Beides findet seinen Ausdruck im aufrichtigen Bereuen der eigenen Sünden und im Vorsatz, nicht mehr zu sündigen sowie, als Folge dessen, im Bestreben, die Möglichkeiten zur Sünde soweit wie möglich zu entfernen – unbeschadet der Gewißheit des erneuten Zu-Fall-Kommens wie der neuerlichen Vergebung Gottes (vgl. Mt 18,22): „Die Barmherzigkeit steht also nicht im Gegensatz zur Gerechtigkeit. Sie drückt vielmehr die Haltung Gottes gegenüber dem Sünder aus, dem Er eine weitere Möglichkeit zur Reue, zur Umkehr und zum Glauben anbietet. (…) Wenn Gott bei der Gerechtigkeit stehen bliebe, dann wäre er nicht mehr Gott, sondern vielmehr wie die Menschen, die die Beachtung der Gesetze einfordern. Die Gerechtigkeit alleine genügt nicht und die Erfahrung lehrt, daß wer nur an sie appelliert, Gefahr läuft, sie sogar zu zerstören. Darum überbietet Gott die Gerechtigkeit mit der Barmherzigkeit und der Vergebung. Das bedeutet keinesfalls, die Gerechtigkeit unterzubewerten oder sie überflüssig zu machen. Ganz im Gegenteil. Wer einen Fehler begeht, muß die Strafe verbüßen. Aber dies ist nicht der Endpunkt, sondern der Anfang der Bekehrung, in der man dann Zärtlichkeit der Vergebung erfährt. Gott lehnt die Gerechtigkeit nicht ab. Er stellt sie aber in einem größeren Zusammenhang und geht über sie hinaus, so daß man die Liebe erfährt, die die Grundlage der wahren Gerechtigkeit ist.“ (Nr. 21) 47 Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Rota vom 29. Januar 2010, in: AAS 102 (2010), S. 110 – 114 (113); deutsche Übersetzung in: ArchKathKR 179 (2010), S. 141 – 145 (144). – Hervorhebung im Original.

Die Ehevorbereitungskurse José María Galván

I. Einführung Entsprechend dem klassischen Grundsatz sancta sancte tractanda sunt lag der Kirche seit jeher die Vorbereitung eines jeden Gläubigen auf den fruchtbaren Empfang der Sakramente am Herzen. Das gilt selbstredend auch für das Sakrament der Ehe, schon länger zurückliegende Aussagen des Lehramts verhalten sich in diesem Sinne: „Die Brautleute sollen also in die Ehe treten, damit sie wirklich fähig sind, entsprechend ihrem Stand, sich gegenseitig in den Wechselfällen des Lebens Stütze zu sein und noch viel mehr sich gegenseitig zu helfen in der Sorge um ihr ewiges Heil und in der Gestaltung des inneren Menschen zur Vollreife Christi.“ (vgl. Eph 4,13)1

Diese Worte von Papst Pius XI. lassen deutlich werden, daß die spezifische Vorbereitung auf das Sakrament der Ehe gerade darin besteht, mit Christus eins zu werden – durch die immer bereitwilligere Annahme der Hilfe der göttlichen Gnade, um das eheliche Leben als Weg der Heiligung zu beschreiten. Das Apostolische Schreiben Familiaris consortio bildet wohl den Höhepunkt der lehramtlichen Aussagen im Hinblick auf die Ehevorbereitung, zumindest was Vollständigkeit und Konkretheit der praktischen Hinweise angeht2. Auf sie (wie auf die einschlägigen Dokumente der einzelnen Bischofskonferenzen) soll hier nur hingewiesen werden. Im folgenden geht es um die Darlegung von Überlegungen und Erfahrungen, die aus der universitären Lehrtätigkeit in Moraltheologie wie aus einer bald 30-jährigen Praxis in der Familienpastoral auf Pfarrebene erwachsen sind.

1 Pius XI., Enzyklika Casti connubii über die christliche Ehe vom 31. Dezember 1930, in: AAS 22 (1930), S. 539 – 592. – Dort werden mehrfach und eingehend die verschiedenen Phasen der Ehevorbereitung dargelegt, welche dann im Apostolischen Schreiben Familiaris consortio systematisch zusammengefaßt werden. Die Aussagen in Casti connubii (insbes. Nr. 118 und 121) sind insoweit heute so aktuell wie damals. 2 Zusammenfassend Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute vom 22. November 1981, Nr. 66, in: AAS 74 (1982), S. 81 – 199 (159 – 162); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 33 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 51994, S. 67 – 69.

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Der Grundansatz ist dabei: Ausgangspunkt bilden, soweit wie möglich, die Bitten und Anfragen, welche heutzutage heiratswillige junge Menschen in ihren Herzen tragen. Diese gilt es dann mit den Antworten des christlichen Glaubens in Übereinstimmung zu bringen. Kurz gesagt, soll begreiflich werden – wie in dem zitierten Text der Casti connubii bereits angeklungen war –, wie die innere Identifikation mit Christus ihre Liebe fördert und sie zur Vollkommenheit führt.

II. Wozu Ehevorbereitung? Die erste Frage zu einem Ehevorbereitungskurs betrifft gewöhnlich schon die Notwendigkeit der Vorbereitung auf das Ehesakrament: „Wieso muß ich einen Kurs besuchen, um zu heiraten?“ Das Schreiben Familiaris consortio scheint einer solchen Frage Nahrung zu geben; wenn deutlich gesagt wird: „diese Vorbereitung muß immer in solcher Weise empfohlen und durchgeführt werden, daß ihr eventuelles Fehlen kein Hindernis für die Trauung darstellt.“3. Zugleich werden aber auch Gründe von Gewicht benannt, weshalb die Ehevorbereitung ihren Sinn hat. Die Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage ist alles andere als selbstverständlich, einmal aus mehr allgemein-anthropologischen Gründen, und zum anderen aufgrund der aktuellen Prägungen von zahlreichen heiratswilligen jungen Menschen. Was den erstgenannten Aspekt betrifft, sollte man annehmen, daß die menschlichen Lebewesen (so wie andere Lebewesen auch) von Natur aus für eine für das Überleben der Spezies so elementaren Realität wie die Ehe „gut ausgestattet“ sind: die Menschheit gäbe es schon lange nicht mehr, hätten die Menschen nicht „normalerweise“ ein Minimum an Voraussetzungen für die Ehe. Dieser Zusammenhang gibt heute – erstaunlicherweise – nicht die Erfahrung zahlreicher junger Menschen wieder: Ihnen erscheinen die Voraussetzungen für die Ehe nur schwer erreichbar, oftmals halten sie sich für nicht in der Lage oder jedenfalls nicht ausreichend vorbereitet, um die damit verbundenen Verpflichtungen einzugehen. Doch zugleich sehen sie sich keineswegs außerstande, auch lange vor der Eheschließung, umfassend und aktiv geschlechtliche Beziehungen aufzunehmen, vielfach (wenngleich nicht notwendigerweise) abgekoppelt von der natürlichen Folge der Fortpflanzung. Vielen von ihnen erscheint die Trennung von Sexualität und Ehe geradezu „natürlich“ und selbstverständlich, wie sie seit den 1950er Jahren mit der Verbreitung der Pille sowie mit der nachfolgenden „sexuellen Revolution“ in der gegenwärtigen Kultur zugenommen hat. In der Tat hat die Erfindung der hormonellen Empfängnisverhütung der Menschheit zum ersten Mal ein technisches Mittel an die Hand gegeben, welches es vermochte, das seit jeher – auf rein persönlicher Ebene! – Bestehende zunächst mit Elementen einer anthropologischen und soziologischen Theorie anzureichern und später, jedenfalls in den westlichen Ländern, zur vorherrschenden Kulturform zu erheben. 3

Ebd.

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Folge dessen ist, daß die einstmals aus den ehelichen Verpflichtungen als „natürlich“ angesehene Gründung einer Familie nur mehr Ergebnis privater Entscheidungen ist, also ohne jeden Grad an Bindung. In dieser Perspektive bedarf es zur Ehevorbereitung allein der Sexualerziehung (reduziert auf Informationen über Methoden der Geburtenkontrolle). Paradoxerweise hat etwas so Unnatürliches wie die Empfängnisverhütung bei vielen Menschen dazu geführt, daß ihnen vor- und außereheliche sexuelle Aktivitäten als „natürlich“ vorkommen. Das erschwert die Einsicht in die Notwendigkeit einer Vorbereitung auf etwas, wofür doch anscheinend die Natur selbst das Notwendige bereitgestellt hat. Erschwerend kommt hinzu, daß heute viele Menschen (eheliche) Liebe nur mit der Kategorie der Gefühle erfassen, was zur Folge hat, daß nicht die Person als Ganze in das gegenseitige SichSchenken einbezogen wird. Indes ist die rein affektive Liebe zutiefst „zentripetal“; auf eine solche Verbindung muß man sich in der Tat nicht besonders vorbereiten: es reicht hin, den Ruf zu vernehmen, es zu „versuchen“ und solange weiter zu machen, wie es gut geht.

III. Erster Grund: Die Natur der persönlichen Liebe Wie läßt sich auf diese Einwände antworten? In erster Linie sind die Personen in den Blick zu nehmen, und nicht nur die menschliche Natur als Abstraktum. Die Unterscheidung zwischen Natur und Mensch hat die weitere Unterscheidung – nicht Gegensatz! – zwischen „personaler“ und „natürlicher“ Liebe zur Folge. Beide Dimensionen sind auf die Einheit und vollständige Harmonie untereinander ausgerichtet, ist der Mensch doch von Natur aus ein personales Wesen. Heute hat man nüchtern festzustellen, daß diese notwendige Harmonisierung zahlreichen Menschen nichts Vorgegebenes ist, sei es, daß die beiden Dimensionen schon nicht auseinandergehalten werden (Liebe wird nur im „natürlichen“ Sinn aufgefaßt), sei es, daß die Harmonisierung „von unten“ her versucht wird (die „natürliche“ Liebe steuert die personale). Eine recht verstandene Anthropologie erfordert, daß die personale Liebe als integratives Prinzip für die Einheit der Person wirkt: nur wer mit einer personalen und bewußten Liebe (der amor benevolentiae) zu lieben vermag, kann die natürliche, affektive Liebe zu ihrer Vollkommenheit entfalten. Gewiß kann der Mensch nicht ohne Gefühle leben, doch diese müssen – um wahrhaft menschlich zu werden – von der amor benevolentiae (um)geformt werden. Es ist sogar in umgekehrter Richtung nicht selten, daß die amor benevolentiae dort Zuneigung erwachsen läßt, wo sie „auf natürliche Weise“ nicht entstehen sollte, dann nämlich, wenn eine Person Zuneigung zu einer anderen entwickelt, die ein solches Gefühl nicht verdient – eine Mutter gegenüber einem unwürdigem Sohn, ein Freund gegenüber dem unredlichen Freund. Nun können junge Menschen, die sich „persönlich“ zur Ehe berufen fühlen, meinen, der Grund ihres Verliebtseins liege in der rein gefühlsmäßigen Liebe, nicht aber in der amor benevolentiae. So sehr dies auch in den allermeisten Fällen zutrifft, ist es ebenso wahr, daß allein die vorherige

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Fähigkeit zur amor benevolentiae die „natürliche“ Liebe als echte Zuneigung hervorbringen kann, welche in der geliebten Person ein Gut „an sich“ statt ein Gut „für mich“ sehen läßt. Das Verliebtsein führt zur bewußten Liebe, diese wiederum ist Voraussetzung für eine wahrhaft menschliche Liebe. Generell entspricht die Erfahrung junger Menschen diesem Grobschema, auch wenn nach dem ersten Verliebtsein die Macht der sexuellen Anziehung die Beziehung verkehren kann. Gleichwohl sind sich die jungen Menschen darin einig, daß echtes Verliebtsein seinen Ausgangspunkt nicht darin hat, im anderen einen Sex-Partner zu sehen. Es sind nicht die Geschlechter, die sich gegenseitig anziehen, sondern Personen in ihrer Geschlechtlichkeit.

IV. Zweiter Grund: Die Anforderungen der personalen Liebe Von dieser Feststellung ist der Schritt nicht weit, zu erkennen, daß jenes „Personale“ bzw. „Bewußte“ die Entfaltung von Tugenden erfordert, diese wiederum verlangen den freien Willen der Person, sie auch wirklich zu wollen. Tugend ist nicht naturgegeben, doch erlaubt und erleichtert sie einer Person, das ihr Natürliche zu erreichen. Wohl deshalb widmet sich die Schlußrelatio der Bischofssynode 2014 diesem Thema und merkt an, bei der Ehevorbereitung der Verlobten sei „es notwendig, an die Bedeutung der Tugenden zu erinnern.“4 Schon an einer früheren Stelle hatte die Relatio die Begründung für die konstatierte Notwendigkeit geliefert: Vor dem Hintergrund, daß heutzutage beim Einzelnen ein stärkeres Bedürfnis feststellbar ist, qualitätsvolle affektive Beziehungen zu suchen, weist die Synode auf den Umstand hin, daß dies zum Wunsch führen kann, eine Familie zu gründen5. Sogleich im Anschluß wird aber vor der damit einhergehenden Gefahr gewarnt, daß Heiratswilligen bei allen guten Absichten häufig genug das Bewußtsein dafür fehlt, was Liebe in Wirklichkeit bedeutet und sie diese häufig mit der Erfüllung ihrer individuellen affektiven Bedürfnisse verwechseln. Zwar ist der „Bund“ mit einer anderen Person gewollt, doch er wird nur in dem Maß aufrechterhalten, in dem er diese affektiven Bedürfnisse zu befriedigen vermag: „Die Gefahr des Individualismus und das Risiko, in egoistischer Weise zu leben, sind groß.“6 Diese Gefahr läßt sich dadurch verhindern, die affektiven Wünsche mit derjenigen Realität zu verbinden, die sie zur Fülle führen kann (und gleichzeitig wird so der Drang junger Menschen, welche die Verwirklichung ihrer affektiven Bedürfnisse in der Ehe su4 Relatio Synodi der Dritten Außerordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode, „Die pastorale Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung“, 18. Oktober 2014, Nr. 39, in: AAS 106 (2014), S. 887 – 908 (891); deutsche Übersetzung in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung. Texte zur Bischofssynode 2014 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz (Reihe: „Arbeitshilfen“, Nr. 273), Bonn 2014, S. 141 – 175 (164). 5 Ebd., Nr. 9. 6 Ebd.

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chen, in die rechten Bahnen gelenkt): „Die Herausforderung für die Kirche besteht darin, den Paaren durch die Förderung des Dialogs, der Tugend, und des Vertrauens auf die barmherzige Liebe Gottes bei der Reifung der emotionalen Dimension und der affektiven Entwicklung zu helfen.“ Drei Bausteine sind also bei dieser pastoralen Aufgabe wesentlich: Dialog, Tugend und Gottvertrauen.

V. Erste Anforderung der personalen Liebe: Eigenschaften eines wirklichen Dialogs Der Dialog, der über die bloße Mitteilung rein verstandesmäßiger Inhalte hinausgeht, wird durch die Natur der amor benevolentiae selbst gewährleistet. Der Schritt von der (alles in allem: zentripetalen) gefühlsmäßigen Liebe „zu zweit“ zur wirklichen ehelichen Liebe ist heutzutage nicht einfach. Indes strebt diese Liebe, weil sie sich selbst schenkt, zur Mitte hin, und gerade von dorther entstehen das wahrhaft menschliche Gefühl und ein wirklicher Dialog. Ein solcher Dialog erwächst daraus, daß Absichten und Ziele sowohl des Intellekts wie des Willens ganz und gar geteilt werden, so daß die Ehegatten eine einzige Wahrheit und eine einzige Liebe haben – beide werden ein Fleisch. Ihre menschliche Liebe ist dann vollkommen, wenn sie die „natürliche“ und die „personale“ Liebe in der einzigen Erfahrung des gemeinsamen Lebens zusammenführt. Es versteht sich von selbst, daß dieses Zusammenführen „von oben“ kommt: auf die amor benevolentiae läßt sich die affektive Liebe gründen, doch umgekehrt ergibt sich aus dieser nicht „auf natürlichem Weg“ die amor benevolentiae. Dieses Bewußtsein gilt es, da bei zahlreichen Menschen infolge kultureller Prägungen nicht vorhanden, im Wege entsprechender Bildung zu vermitteln. Nun ist der soziale Druck, Liebe als bloßes Gefühl anzusehen, gewiß kein Phänomen aus jüngster Zeit, da es aber seit Jahrzehnten das vorherrschende Klima zu sein scheint, vergrößert dies bei zahlreichen jungen Menschen eine negative kulturelle Grundstimmung. Schon seit geraumer Zeit hat das kirchliche Lehramt immer wieder auf diesen Punkt hingewiesen7. 7

Prophetisch die Aussagen des seligen Papstes Paul VI., Enzyklika Humanae vitae vom 25. Juli 1968, Nr. 9, in: AAS 60 (1968), S. 482 – 503 (486), zum vollständig menschlichen Charakter der ehelichen Liebe: „Sie entspringt darum nicht nur Trieb und Leidenschaft, sondern auch und vor allem einem Entscheid des freien Willens, der darauf hindrängt, in Freud und Leid des Alltags durchzuhalten, ja dadurch stärker zu werden: so werden dann die Gatten ein Herz und eine Seele und kommen gemeinsam zu ihrer menschlichen Vollendung.“– Aus jüngerer Zeit hl. Johannes Paul II., Brief an die Familien vom 2. Februar 1994, Nr. 14, in: AAS 86 (1994), S. 868 – 925 (884 f.): „Sicher im Widerspruch zur Zivilisation der Liebe steht die sogenannte ,freie Liebe‘, die um so gefährlicher ist, weil sie gewöhnlich als Frucht eines ,echten‘ Gefühls hingestellt wird, während sie tatsächlich die Liebe zerstört. Wie viele Familien sind gerade aus ,freier Liebe‘ in die Brüche gegangen! Dem ,wahren‘ Gefühlsantrieb im Namen einer von Auflagen ,freien‘ Liebe auf jeden Fall zu folgen, bedeutet in Wirklichkeit, den Menschen zum Sklaven jener menschlichen Instinkte zu machen, die der hl. Thomas ,Leidenschaften in der Seele‘ nennt. Die ,freie Liebe‘ nützt die menschlichen Schwächen aus, indem sie ihnen mit Hilfe der Verführung und mit dem Beistand der öffentlichen Meinung

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Auf der Grundlage des bisher Dargelegten können die zukünftigen Ehegatten darüber Klarheit gewinnen, daß beim Menschen der primäre Wert der sexuellen Anziehungskraft die Person ist (und nicht, wie bei den Tieren, die Gattung). Anders gewendet: Ihr Liebe ist bewußt und gewählt, resultierend aus dem gegenseitigen, frei und vorbehaltlos erfolgten Sich-Erwählen, wodurch ein jeder sich selbst auf die personelle Vervollkommnung des anderen hin orientiert und darin sein Ziel findet. Daher müssen sich die Brautleute ihrer „persönlichen“ Berufung ebenso gewiß sein wie ihrer wechselseitigen Verwirklichung in der communio personarum, welche die drei Güter der Ehe (bona) voraussetzt: Die Einheit, die Unauflöslichkeit und die Fortpflanzung. Da es heute nicht einfach ist, in diesen Gütern nicht bloß etwas Wünschenswertes oder zur Ehe einfach „Dazugehörendes“ zu sehen (eine häufige Fehlvorstellung, wenn sie so wie früher allein präsentiert werden), sondern als Voraussetzungen einer wirklich menschlichen, personalen Liebe, sollte hier ein erster Schwerpunkt in der Katechese der Ehevorbereitung liegen. Um so mehr gilt dies, da allein von diesem Ausgangspunkt das so aktuelle Postulat nach einer Vervollkommnung der Affektivität (wovon die Schlußrelatio der Bischofssynode handelt) zu realisieren ist8. Stets ist bewußt zu machen, daß allein eine interpersonale Liebe mit den genannten charakteristischen Kennzeichen das sakramentale Zeichen der Ehe begründet: einen gewissen ,Rahmen‘ von Vortrefflichkeit liefert. So sucht man durch die Schaffung eines ,moralischen Alibi‘ das Gewissen ,zu beruhigen‘. Nicht bedacht werden jedoch alle daraus erwachsenden Folgen, besonders wenn diese außer dem Ehegatten die Kinder zu bezahlen haben, die des Vaters oder der Mutter beraubt und dazu verurteilt werden, tatsächlich Waisen lebender Eltern zu sein.“ – Deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 112 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 31995, S. 35. 8 Auf gleicher Linie die – unverändert aktuellen – Aussagen der Enzyklika Humanae vitae (FN 7), Nr. 9: „In diesem Licht wird die besondere Eigenart und Forderung der ehelichen Liebe deutlich. Es kommt sehr darauf an, daß man davon die rechte Vorstellung hat. An erster Stelle müssen wir sie als vollmenschliche Liebe sehen; das heißt als sinnenhaft und geistig zugleich. Sie entspringt darum nicht nur Trieb und Leidenschaft, sondern auch und vor allem einem Entscheid des freien Willens, der darauf hindrängt, in Freud und Leid des Alltags durchzuhalten, ja dadurch stärker zu werden: so werden dann die Gatten ein Herz und eine Seele und kommen gemeinsam zu ihrer menschlichen Vollendung. Weiterhin ist es Liebe, die aufs Ganze geht; jene besondere Form personaler Freundschaft, in der die Gatten alles großherzig miteinander teilen, weder unberechtigte Vorbehalte machen noch ihren eigenen Vorteil suchen. Wer seinen Gatten wirklich liebt, liebt ihn um seiner selbst willen, nicht nur wegen dessen, was er von ihm empfängt. Und es ist seine Freude, daß er durch seine Ganzhingabe bereichern darf. Die Liebe der Gatten ist zudem treu und ausschließlich bis zum Ende des Lebens; so wie sie Braut und Bräutigam an jenem Tag verstanden, da sie sich frei und klar bewußt durch das gegenseitige eheliche Jawort aneinander gebunden haben. Niemand kann behaupten, daß die Treue der Gatten – mag sie auch bisweilen schwer werden – unmöglich sei. Im Gegenteil. Zu allen Zeiten hatte sie ihren Adel und reiche Verdienste. Beispiele sehr vieler Ehepaare im Lauf der Jahrhunderte sind der Beweis dafür: Treue entspricht nicht nur dem Wesen der Ehe, sie ist darüber hinaus eine Quelle innigen, dauernden Glücks. Diese Liebe ist schließlich fruchtbar, da sie nicht ganz in der ehelichen Vereinigung aufgeht, sondern darüber hinaus fortzudauern strebt und neues Leben wecken will.“

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¢ Die Einheit beider Ehegatten erfordert die Treue, nicht allein als Gegenteil und Ausschluß der Untreue, sondern als Verwirklichung der vollständigen und gegenseitigen Hingabe der Person. Keiner behält etwas von sich zurück und kann somit nicht mehr über sich selbst allein und autonom verfügen. ¢ Ebensowenig ist die Unauflöslichkeit die bloße Negation der Scheidung, sondern bringt den Umstand zum Ausdruck, daß das Sich-Verschenken der eigenen Person – deren Natur in Zeit und Geschichte verankert ist – auch die Hingabe ihrer ganzen Zeitgebundenheit mit sich bringt: die Gemeinschaft (communio) der Ehegatten ist eine immer wieder neu zu verwirklichende Aufgabe, solange ein jeder Zeit zur Verfügung hat. ¢ Die Fortpflanzung macht die gegenseitige Hingabe der Ehegatten in bezeichnender Weise offenkundig. Sie läßt keine Dimension menschlicher Existenz in Raum und Zeit unberücksichtigt und bekräftigt, daß die leib-seelische Verfaßtheit des Menschen von Natur aus auf die Weitergabe des Lebens angelegt ist. Von dieser Blickwarte wird sich gut verdeutlichen lassen, daß die den Ehegatten vorbehaltene Sexualität im Vollsinn primär Ausdruck und Verwirklichung der gegenseitigen Hingabe der eigenen Wahrheit und Liebe ist. Diese werden dem anderen überantwortet, um als höchster Ausdruck der Gemeinschaft die gegenseitige Vollkommenheit als Personen zu erreichen: die Person verwirklicht sich in der communio. Darin liegt das Ziel, welches die Ehegatten in ihrem Sexualleben erstreben, ohne dabei die individuelle Lust auszuschließen und auch zu suchen, welche die Sexualität von Natur aus mit sich bringt. Freilich ist wichtig, daß diese eher „individuelle“ Dimension an letzter Stelle der Absichten steht. Eine solche Rangordnung gewährleistet, was die künftigen Ehegatten wissen müssen, nicht nur das höchste Glück im Sich-Verschenken, sondern stellt das Sexualleben in den Dienst, um die eheliche Liebe zu stärken, zu bewahren und wiederherzustellen.

VI. Zweite Anforderung der personalen Liebe: Die Tugenden Auf dem Terrain der Tugenden sollten den zukünftigen Ehegatten zwei grundlegende Aspekte vermittelt werden: Erstens, daß es des eigenen Bemühens bedarf, um Tugenden zu erwerben, sind sie doch stets Frucht der persönlichen Freiheit und nicht der Vorgaben der Natur9. Zweitens hat die Katechese die Besonderheit der für 9 Ganz offenkundig ist der Begriff der Tugend im Sinne der sokratisch-aristotelischen Tradition in der Gegenwartskultur nicht gerade präsent, weshalb die Weitergabe dieser Inhalte an junge Menschen einer entsprechend angemessenen Sprache und Modalität der Vermittlung bedarf. Von elementarer Wichtigkeit ist, daß die moralischen Tugenden die Person des Handelnden als solche vervollkommnen, und nicht nur ihr Handeln (dianoetische Tugenden). Diese Vollkommenheit der tugendhaften Person ist (bei aller notwendigen Anstrengung, um den habitus operativus bonus zu erlangen, vgl. S.Th., I-II, q. 55, a. 3) der Schlüssel zu einem glücklichen Leben, das in der größtmöglichen Harmonie mit sich selbst, mit den anderen und mit der Welt besteht.

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das eheliche und familiäre Leben wichtigsten Tugenden auf gründliche, vollständige, systematische und glaubwürdige Weise darzulegen. Wie dies am besten getan wird, hängt von vielen Faktoren ab. Unabhängig von der gebotenen gemeinschaftlichen Dimension der Ehevorbereitung ist doch stets die persönliche Begleitung der zukünftigen Ehegatten vorrangig, so wie es c. 1063 Nr. 2 CIC vorsieht („persönliche Vorbereitung auf die Eheschließung, durch welche die Brautleute in die Heiligkeit und in die Pflichten ihres neuen Standes eingeführt werden“). So gibt es Fälle, in denen eine eher „scholastische“ Darlegung der moralischen Tugenden vorzugswürdig ist, welche das klassische Schema der vier Kardinaltugenden auf das eheliche Leben anwendet. In anderen Fällen kann ein konkreterer, mehr lebensbezogen-existentieller Zugriff der angemessene sein, der sich auf diejenigen Tugenden konzentriert, welche für das Entstehen persönlicher Gemeinsamkeit elementar sind (wie die Aufrichtigkeit und Demut), um dann zu den eher praktischen Tugenden überzugehen (wie Großherzigkeit und Geduld). In jedem Fall liegt auf der Hand, daß sich die Tugenden des ehelichen Lebens primär in der Ehe selbst entwickeln müssen. Um jungen Ehepaaren dabei zu helfen, wären aus pastoraler Sicht Ehekurse noch wichtiger als Ehevorbereitungskurse; auch dies rechnet nach c. 1063 Nr. 4 CIC zu den Aufgaben der Hirten („den Ehegatten gewährte Hilfe, damit sie den Ehebund treu halten und schützen und so zu einer von Tag zu Tag heiligeren und vollkommeneren Lebensführung in der Familie gelangen“). Es verdient hervorgehoben zu werden, daß zwischen Dialog und Tugend eine dynamische Wechselbeziehung besteht: der wirkliche Dialog zwischen den Ehegatten läßt einen jeden für den anderen zur besten Quelle werden, um die Aspekte des tugendhaften Lebens zu erkennen und in ihnen zu wachsen. Ebenso erfährt ein jeder dezidierten Ansporn, um selbst die nötigen Anstrengungen zum Erwerb der Tugenden zu entfalten. Umgekehrt macht ein Wachsen in den Tugenden die Menschen besser und fördert so die gegenseitige Hingabe, durch die jeder zum besten Weg der Vervollkommnung für den anderen wird. Dialog führt zur Tugend und die Tugend stärkt den Dialog.

VII. Dritte Anforderung der personalen Liebe: Gnade und theologale Tugenden Entscheidend ist nun der dritte Schritt: weder die Natur der ehelichen Liebe noch die Tugenden des ehelichen und familiären Lebens vermögen in den persönlichen Anlagen der künftigen Gatten eine entscheidende Hoffnung zu finden. Dialog und Tugenden sind auf die helfende Gnade Gottes angewiesen10. Erinnert sei an Worte des hl. Papstes Johannes Paul II.: 10

Weiterhin bedenkenswert die Ausführungen in der Enzyklika Humane vitae (FN 7), Nr. 8: „Die eheliche Liebe zeigt sich uns in ihrem wahren Wesen und Adel, wenn wir sie von ihrem Quellgrund her sehen; von Gott, der ,Liebe ist‘, von ihm, dem Vater, ,nach dem alle Vaterschaft im Himmel und auf Erden ihren Namen trägt‘. Weit davon entfernt, das bloße Produkt des Zufalls oder Ergebnis des blinden Ablaufs von Naturkräften zu sein, ist die Ehe in

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„Ihr denkt dabei an die Entscheidung, die aus eurem Gefühl kommt, und ich kann mir vorstellen, daß ihr mir zustimmt: Was im Leben wirklich zählt, ist die Person, mit der man sich entschließt, das Leben zu teilen. Doch Vorsicht! Jede menschliche Person hat unweigerlich ihre Grenzen: auch in der glücklichsten Ehe muß man ein gewisses Maß an Enttäuschung einkalkulieren. Also, liebe Freunde! Ist das nicht die Bestätigung dessen, was wir vom Apostel Petrus gehört haben? Früher oder später ruft jeder Mensch mit ihm aus: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens (Joh 6,68). Jesus von Nazareth, Gottes und Mariens Sohn, das ewige Wort des Vaters, geboren vor zweitausend Jahren zu Betlehem in Judäa, er allein kann die tiefsten Sehnsüchte des menschlichen Herzens stillen.“11

Diese Überlegungen helfen den Verlobten zu verstehen, daß ihre Liebe und die sie konstituierenden Tugenden nicht von ihren beschränkten Kräften abhängen (sie würden nur zu Enttäuschung und Frustration führen), sondern von dem Umstand, daß Christus ihnen Worte des ewigen Lebens zugesagt hat, damit sie ihrerseits sich gegenseitig ihre Liebe bekunden: exakt darin besteht die sakramentale Wirklichkeit ihrer Ehe. Diese sakramentale Teilhabe an der Kraft Christi geht auf dynamische Weise in eine neue Dimension der Tugend über, empfangen und nicht erworben: das übernatürliche Leben. Christi Wort des ewigen Lebens wird, im Glauben empfangen, der Seinsgrund einer theologalen Hoffnung, die nicht mehr bloß menschlicher Wunsch ist, sondern unerschütterliches Vertrauen, das zu einer ehelichen Liebe führt, die wahrhaft Caritas ist. Für die Ehegatten sind Glaube, Hoffnung und Liebe im Verhältnis zu Gott auch Glaube, Hoffnung und Liebe in ihrer Ehe. Die theologalen Tugenden erweisen sich so als die von der Gnade gegebene dynamische Fähigkeit, welche die operative Logik der moralischen Tugenden vervollkommnet (die ihrerseits die Möglichkeit der Verwirklichung der umfassenden und wahren menschlichen Liebe sind). Bilden die drei theologalen Tugenden den Mittelpunkt der Erläuterung des sakramentalen Charakters der Ehe, sieht man die unmittelbare Vorbereitung auf die Liturgie nicht als bloße „Probe der Feier“, sondern vielmehr als aktive Teilnahme am Geheimnis Christi, aus dessen Kreuz die Liebe Gottes in die Herzen der Ehegatten ausgegossen wird durch den Heiligen Geist, der ihnen gegeben ist (vgl. Röm 5,5).

Wirklichkeit vom Schöpfergott in weiser Voraussicht so eingerichtet, daß sie in den Menschen seinen Liebesplan verwirklicht. Darum streben Mann und Frau durch ihre gegenseitige Hingabe, die ihnen in der Ehe eigen und ausschließlich ist, nach jener personalen Gemeinschaft, in der sie sich gegenseitig vollenden, um mit Gott zusammenzuwirken bei der Weckung und Erziehung neuen menschlichen Lebens.“ 11 Johannes Paul II., Predigt zum Abschluß des XV. Weltjugendtages, Tor Vergata, 20. August 2000.

Das Brautexamen als pastorales Instrument Paolo Bianchi In seiner Ansprache an die Römische Rota vom 22. Januar 2011 hat Papst Benedikt XVI. die rechtliche Dimension des pastoralen Handelns bei der Ehevorbereitung hervorgehoben und dabei auch ausdrücklich Bezug auf das Brautexamen genommen1: „Zu den Mitteln, die sicherstellen sollen, daß der Plan der Brautleute wirklich auf die Ehe ausgerichtet ist, gehört vor allem das Brautexamen. Dieses Examen hat in erster Linie einen rechtlichen Zweck: Es soll sicherstellen, daß einer gültigen und rechtmäßigen Eheschließung nichts im Wege steht. ,Rechtlich‘ bedeutet jedoch nicht ,formalistisch‘, als ob es ein bürokratischer Schritt sei, der darin besteht, ein Formular auszufüllen, auf der Grundlage standardisierter Fragen. Es handelt sich vielmehr um eine einzigartige pastorale Gelegenheit – der alle Ernsthaftigkeit und Aufmerksamkeit entgegengebracht werden muß, die sie verlangt –, in der der Hirte durch ein respektvolles und herzliches Gespräch versucht, der Person zu helfen, sich der Wahrheit über sich selbst und über ihre menschliche und christliche Berufung zur Ehe ernsthaft zu stellen. In diesem Sinne erfordert das Gespräch, das immer mit jedem der beiden Verlobten allein geführt werden muß – was der Zweckdienlichkeit weiterer Gespräche mit dem Paar keinen Abbruch tut –, eine Atmosphäre völliger Aufrichtigkeit, wobei man die Tatsache hervorheben sollte, daß es vor allem im Interesse der Brautleute selbst liegt, eine gültige Ehe einzugehen, und daß sie selbst als erste vor ihrem Gewissen dazu verpflichtet sind.“

Ausgehend von diesen Aussagen sollen nachfolgend einige Überlegungen2 zu vier Aspekten dieses pastoralen Instruments entwickelt werden: (I.) welche Zielsetzungen verfolgt das Brautexamen, (II.) wie und mit welchen Grundhaltungen kann es wirkungsvoll durchgeführt werden, (III.) welchen Gegenstand hat das Brautexamen, und wie können die darin zu behandelnden Fragen besser formuliert 1 Abdruck in: AAS 103 (2011), S. 108 – 113; deutsche Übersetzung in: ArchKathKR 180 (2011), S. 152 – 157. 2 Anknüpfend an meine vorgehenden Veröffentlichungen, siehe Paolo Bianchi, La preparazione al matrimonio, oggi, in Italia, in: Quaderni di diritto ecclesiale 1 (1998), S. 79 – 94; ders., Nullità del matrimonio e difetti nella sua preparazione, in: Quaderni di diritto ecclesiale 1 (1998), S. 126 – 132; ders. L’esame dei fidanzati: disciplina e problemi, in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 – 394; ders., La valutazione dell’esistenza di un vero consenso nell’ammissione al matrimonio, in: Miguel Ángel Ortiz (Hrsg.), Ammissione alle nozze e prevenzione della nullità del matrimonio, Mailand 2005, S. 189 – 211; ders., „Non esiste […] un matrimonio della vita e un altro del diritto“: l’esigenza di una seria pastorale prematrimoniale e di una coerente prassi giudiziaria, in: IusEcc 23 (2011), S. 472 – 485. – Ferner María Elena Olmos Ortega, Sentido del expediente matrimonial canónico en la sociedad de hoy, in: Revista Española de Derecho Canónico 64 (2007), S. 561 – 605 (574 ff.).

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werden, damit dieser Gegenstand klarer hervortritt, und (IV.) welche sind die möglichen Ergebnisse des Brautexamens.

I. Zielsetzungen des Brautexamens Der Zweck des Brautexamens besteht in der Zulassung der Nupturienten zur Eheschließung seitens der zuständigen kirchlichen Autorität. Diese Zulassung stützt sich freilich auf die begründete Vermutung, daß die Betreffenden auch in der Lage und dazu willens sind, ihr Recht auf die Ehe in rechter Weise auszuüben – in der soeben zitierten Formulierung von Benedikt XVI.: mittels „einer gültigen und rechtmäßigen Eheschließung“. Es geht mit anderen Worten darum, durch eine Überprüfung sicherzustellen, daß ein wirklicher Ehekonsens vorliegt3, also darum, zu verifizieren, ob der Konsens der Nupturienten aus freien Stücken zustande kommt und ihm keine Mängel anhaften4. Um diese Aussage in ihrer ganzen Bedeutung zu erfassen, bedarf es eines adäquaten Verständnisses des Rechts auf die Ehe, des ius connubii. Dazu wiederum verhilft die eingangs zitierte Ansprache von Benedikt XVI. an die Römische Rota. In ihr wendet sich der Papst mit deutlichen Worten gegen ein verkürztes und rein subjektives Verständnis dieses Rechts und betrachtet es statt dessen in einer realitätsbezogenen-ontologischen Perspektive: Er zeigt auf, daß die Ausübung dieses Rechts mit der Achtung der Natur der Ehe, mit ihrer ontologischen Struktur, zusammenhängt. Für Benedikt XVI. läßt sich das Recht auf die Ehe nicht auf einen Anspruch reduzieren, den man „unabhängig vom tatsächlichen Inhalt der Vereinigung“, die man ins Leben rufen möchte, einfordern kann. Vielmehr setzt die Ausübung dieses Rechts „voraus, daß man (die Ehe) wirklich schließen kann und will, also in der Wahrheit ihres Wesens. … Das ius connubii bezieht sich nämlich auf das Recht, eine wahre Eheschließung vorzunehmen.“ Nur wer fähig und willens ist, die Wahrheit der Ehe in ihrer natürlichen Realität zu verwirklichen, hat im eigentlichen Sinn ein Recht auf die Ehe, das dann in der kirchlichen Rechtsordnung wirksam werden kann. Von diesem Ansatz her wird deutlich, daß das Recht auf die Ehe, so grundlegend es für die menschliche Person auch ist, nicht auf eine rein subjektive Ebene reduziert werden kann. Ebensowenig kann es abgelöst werden von seinem Beziehungscharakter (im Hinblick auf den anderen Partner) und seiner Gemein-

3 Zu den verschiedenen Bezugspunkten des Ehekonsenses näher Bianchi, in: Ortiz (FN 2), S. 189 (192). 4 Siehe Bianchi, in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (356); in Art. 10 des Allgemeinen Dekrets der Italienischen Bischofskonferenz über die kirchliche Eheschließung vom 17. Februar 1991 ist von der „Freiheit und Vollständigkeit des Konsenses“ die Rede. – Abdruck des Dekrets in: Notiziario della Conferenza Episcopale Italiana 1990, S. 571 – 590, ebenso in: José Tomás Martín de Agar/Luis Navarro (Hrsg.), Legislazione delle Conferenze episcopali complementare al C.I.C., Rom 72009, S. 624 – 649.

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schaftsbezogenheit (im Hinblick auf die – menschliche wie kirchliche – Gemeinschaft). Das Recht auf die Ehe in der „Wahrheit“ der Ehe zu verankern, bedeutet, es auf den unverzichtbaren Aspekten ihrer „Natur“5 zu gründen, welche sich ihrerseits aus der anthropologischen Wahrheit von der wechselseitigen Ergänzung von Mann und Frau (Komplementarität) herleitet. Anders gewendet: Die Ausübung des ius connubii kann nur in Bezug auf den Gehalt6 der Ehe vernünftig gedacht werden. Hinsichtlich der Zielsetzungen des Brautexamens enthält der Schlußteil der Ansprache von Benedikt XVI. an die Römische Rota aus dem Jahr 2011 noch einen weiteren Gedanken, nämlich die Notwendigkeit „den Teufelskreis“ zwischen einer leichtfertigen Zulassung zur Eheschließung und späteren Forderungen nach einer ebenso einfachen Anerkennung von ihrer Ungültigkeit „zu durchbrechen“. An ihre Stelle muß vielmehr ein kohärentes und konsistentes Zusammenspiel von pastoraler Praxis und Rechtsprechung treten. In diesem Sinne erweist sich das Brautexamen als ein präventives Instrument zur Vermeidung möglicher nichtiger Eheschließungen (wobei selbstredend keinem Rigorismus mit übertriebenen Ansprüchen das Wort geredet werden soll).

II. Notwendige Grundhaltung zur wirksamen Durchführung des Brautexamens In unserem Referenztext – der Ansprache an die Römische Rota von 2011 – bezeichnet der Papst das Brautexamen als „eine einzigartige pastorale Gelegenheit“, die nicht auf das rein geschäftsmäßige Ausfüllen eines Formulars7 reduziert werden darf. Eine solche Haltung würde nicht nur der eigentlichen (auch der rechtlichen) Bedeutung des Brautexamens nicht gerecht, sondern wäre die Karika5 Héctor Franceschi, Il diritto al matrimonio e la sua protezione nell’ordinamento canonico, in: Janusz Kowal/Joaquín Llobell (Hrsg.), „Iustitia et Iudicium“. Studi di diritto matrimoniale e processuale canonico in onore di Antoni Stankiewicz, Vatikanstadt 2010, Bd. I, S. 305 – 325 (309 f.). 6 Zusammenfassend Franceschi (FN 5), S. 305 (315). 7 Zum Problem der möglichen formalistischen Verkürzung der Ehevorbereitung Bianchi, in: IusEcc 23 (2011), S. 472 (475, 478 f.). – Bereits in seiner Ansprache an die Römische Rota vom 29. Januar 2004 hatte der hl. Papst Johannes Paul II. auf die Gefahren einer derartigen Verkürzung hingewiesen: „Die Feststellung der wahren Ungültigkeiten sollte vielmehr dazu anleiten, zur Zeit der Heirat mit größerer Ernsthaftigkeit die für die Eheschließung notwendigen Erfordernisse, besonders die den Konsens und die wirklichen Anlagen der Brautleute betreffenden, zu ermitteln. Die Pfarrer und ihre Mitarbeiter in diesem Bereich haben die schwerwiegende Pflicht, einer rein bürokratischen Sichtweise der vorehelichen Nachforschungen gemäß c. 1067 nicht nachzugeben. Ihr pastorales Handeln muß von dem Bewußtsein geleitet sein, daß die Personen gerade in diesem Augenblick das natürliche und übernatürliche Gut der Ehe entdecken und sich folglich verpflichten können, es anzustreben.“ (Nr. 5); Abdruck in: AAS 96 (2004), S. 348 – 352 (351); deutsche Übersetzung in: ArchKathKR 173 (2004), S. 149 – 153 (151 f.).

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tur, ja die Parodie seiner Rechtlichkeit, auch wenn eine derartige Vorstellung von Recht leider auch in kirchlichen Kreisen besteht (oder zumindest in jüngster Zeit verbreitet war). Um diese Verkürzung in Theorie und Praxis zu vermeiden, müssen zunächst die Hirten selbst (und mit ihrer Hilfe die Brautleute!) den Weg der Ehevorbereitung in angemessener Weise angehen. Bestimmte Grundhaltungen, die im Folgenden zu behandeln sind und auf die ich schon anderweitig hingewiesen habe, können dies begünstigen. Beginnen wir mit jenen Aspekten, die Benedikt XVI. in seiner Ansprache an die Römische Rota ausdrücklich genannt hat: ¢ In erster Linie bedarf der Hervorhebung, wie das Brautexamen als „ein respektvolles und herzliches Gespräch“ zu führen ist. Die Charakterisierung des Brautexamens als „Dialog“ meint dabei, daß ein wirkliches Gespräch und ein wirklicher Gedankenaustausch anhand genauer Fragen und klarer Antworten stattfinden sollen8. Bei diesem Dialog sollen die Positionen des zu Befragenden geduldig und aufmerksam erforscht werden, um seine wahren Absichten in Bezug auf die Ehe präzise und objektiv feststellen zu können. Daher ist auch von „Respekt“ die Rede, denn dadurch wird deutlich, daß eine wirkliche Sorge um das Wohl des anderen das Handeln leitet. Die geforderte „Herzlichkeit“ meint mehr als Takt und gute Umgangsformen. Sie will deutlich machen, daß dem Fragesteller (der ja die kirchliche Autorität repräsentiert) die Person dessen, der um die kirchliche Eheschließung bittet, am Herzen liegt und es ihm daher wirklich daran gelegen ist, daß sie auf bestmögliche Art und Weise in diesen Stand eintreten kann. Anders gewendet, ist „Herzlichkeit“ etwas völlig anderes als jene oberflächliche Gutmütigkeit, die den „schlichten“ Ehekonsens sucht9. Das Gemeinte trifft stattdessen vielleicht besser der Begriff der „Umsicht“10, welche sowohl um die eigene Pflicht weiß als auch Liebe zum Ausdruck bringt – Liebe zu den übertragenen Aufgaben wie zu den Menschen, für die man seinen Dienst versieht. ¢ Die gerichtliche Praxis – zu den Akten eines Ehenichtigkeitsverfahrens gehört üblicherweise die Dokumentation der Ehevorbereitung mit dem Protokoll des Brautexamens – zeigt leider häufig, daß es bei dieser Gelegenheit gerade nicht zu einem derartigen wirklichen Dialog gekommen ist: Entweder wurde in der Sache ein bloßer Monolog geführt, bei dem zwar die Fragen gestellt wurden, der Fragesteller aber auch gleich selbst die Antworten darauf gegeben hat. Oder aber es wurden noch nicht einmal die Fragen gestellt, sondern allein ein vorab ausgefülltes Formular unterschrieben. Schließlich kann der Mangel darin bestehen, daß das Gespräch in einer derart bürokratischen Weise geführt wurde, die keinerlei Vertiefung zuließ. 8 Bianchi, in: IusEcc 23 (2011), S. 472 (480); ders., in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (367 f.); ders., in: Ortiz (FN 2), S. 189 (192 ff.). 9 Bianchi, in: Ortiz (FN 2), S. 189 (194 f.). 10 Bianchi, in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (356 f.).

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¢ Zweitens weist Benedikt XVI. deutlich darauf hin, daß dieses Gespräch „der Person helfen (muß), sich der Wahrheit über sich selbst und über ihre menschliche und christliche Berufung zur Ehe ernsthaft zu stellen.“ Das pastorale Ziel einer echten Aussprache im Hinblick auf eine bewußte und ehrliche Entscheidung ist angesichts einer so bedeutenden und schwerwiegenden Entscheidung wie einer Eheschließung von einzigartiger Bedeutung. Deshalb, so der Papst weiter, erfordert das Gespräch zwischen dem Hirten und den Brautleuten „eine Atmosphäre völliger Aufrichtigkeit“. Das kann bei ihnen dadurch gefördert werden, daß sie sich bewußt machen, „daß es vor allem im Interesse der Brautleute selbst liegt, eine gültige Ehe einzugehen, und daß sie selbst als erste vor ihrem Gewissen dazu verpflichtet sind.“. Dieser Verweis auf die Wahrheit – die Wahrheit über die tatsächlichen eigenen Dispositionen sowie die Wahrheit in Bezug auf den angestrebten Lebensstand – ist von entscheidender Bedeutung, denn die Liebe zur Wahrheit, die ehrliche Suche nach ihr wie der Gehorsam ihr gegenüber, ist der wahre Berührungspunkt von Recht und Pastoral. Wahres Recht, wahre Gerechtigkeit und wahres pastorales Handeln gibt es nur im Respekt vor der Wahrheit, vor der Ordnung im Denken wie auch im Handeln11. ¢ Benedikt XVI. macht noch auf einen dritten Punkt aufmerksam: Damit das Gespräch (und somit das Brautexamens selbst) seinen Zweck bestmöglich erfüllt, muß es „immer mit jedem der beiden Verlobten allein geführt werden.“12. Dergestalt soll der jeweils befragten Person die Möglichkeit gewährleistet werden, völlig frei zu sprechen und sich dem Vertreter der kirchlichen Autorität vertrauensvoll zu öffnen, indem auch denkbare Zweifel, Ängste, Bedenken oder Schwierigkeiten in Bezug auf die bevorstehende Ehe artikuliert werden. Ist hingegen der zukünftige Partner beim Gespräch anwesend, könnte dies die Freiheit des anderen, unbefangen zu sprechen, erheblich beeinflussen und einschränken. Ebensowenig bestünde für den Befragten die Möglichkeit, den Vertreter der Kirche um Hilfe und Beistand zu bitten, falls er etwa unzulässigem Druck ausgesetzt oder in einseitiger Weise beeinflußt worden wäre. Selbstverständlich dürfen sich die pastoralen Kontakte des Priesters mit den Verlobten nicht auf die beiden Einzelgespräche beschränken. Diese tun, wie der Papst ausdrücklich betont, „der Zweckdienlichkeit weiterer Gespräche mit dem Paar keinen Abbruch“. Das Brautexamen ist eine pastorale Chance, die den Verlobten helfen soll, ihren Ehekonsens so bewußt und so ehrlich wie möglich zum Ausdruck bringen zu können. Der Papst will hier unterstreichen, wie bedeutsam es ist, diese Gelegenheit nicht zu verpassen. Auch dieser Gesichtspunkt wird, wie in der Praxis der Ehenichtigkeitsverfahren immer wieder deutlich wird, nicht beachtet. Bei der Prüfung der Inhalte des Brautexamens anhand des entsprechenden Protokolls zeigt sich leider nicht 11

Bianchi, in: IusEcc 23 (2011), S. 472 (480 f.). Siehe dazu auch die Überlegungen bei Bianchi, in: IusEcc 23 (2011), S. 472 (481); dems., in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (357); dems., in: Ortiz (FN 2), S. 189 (195 f.). 12

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selten, daß die Nupturienten gemeinsam befragt wurden und weiter, wie dieser Umstand die Erklärungen wechselseitig (von einem der beiden oder gar von beiden) beeinflußt hat, weil diejenigen Konstellationen nicht offen angesprochen werden konnten, die sich negativ auf die Gültigkeit der Ehe – rechtlich wie in ihrem Wesen – ausgewirkt haben. Die bisher genannten Empfehlungen, allesamt der Ansprache Benedikts XVI. an die Römische Rota aus dem Jahr 2011 entnommen, sind jene von grundlegender Bedeutung. Gleichwohl lassen sich noch weitere Punkte anführen, die ebenfalls einen Beitrag dazu leisten können, daß das Brautexamen seinen Zweck wirklich erfüllt und daß diese Gelegenheit eines pastoralen Dialogs nicht ungenutzt bleibt: ¢ Den Brautleuten sollte dabei geholfen werden, die objektive Bedeutung des Gesprächs zu verstehen, damit sie eine dementsprechende subjektive Einstellung dazu finden können. Zu einem derartigen Bewußtsein vermag das Geschick des Priesters in den verschiedenen, nicht selten auch symbolischen, Phasen des Gesprächs beitragen, so bei der Feststellung der Identität der Brautleute, bei der Erläuterung der Bedeutung des zu führenden Gesprächs oder bei der Erklärung des (Ledigen-)Eides vor seiner Ablegung13. ¢ Neben dem offensichtlichen Wert als Dokument und Beweismittel kommt dem korrekt verfaßten und unterschriebenen Protokoll14 des Gesprächs auch eine symbolische Bedeutung zu. Das Protokoll (zu dessen Inhalt später ausführlicher) darf die Antworten nicht allzu zusammenfassend-allgemein wiedergeben, vielmehr müssen die tatsächlichen Erklärungen und Intentionen des jeweils Befragten zum Ausdruck kommen15. Eben dies verlangen c. 1567 § 1 CIC und Art. 173 § 1 der Instruktion Dignitas connubii: Das Protokoll hat den genauen Wortlaut (ipsa verba) der Aussagen des Befragten wiederzugeben, besonders an jenen Stellen, welche den eigentlichen Inhalt der Frage betreffen. Die in den Normen genannte iudicii materia ist in unserem Fall der Gegenstand der Frage, auf die der Befragte antwortet. ¢ Damit die im Protokoll festgehaltenen Antworten die eben genannten Kriterien erfüllen können, muß die Vorgehensweise des Fragestellers eine „mäeutische“ sein: Er soll dem Befragten geduldig wie verständig zu helfen versuchen, seine Vorstellung von der Ehe im allgemeinen und seine Absichten im Hinblick auf die angestrebte Ehe im besonderen so genau wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Dabei ist den kulturellen wie psychologischen Prägungen des Gesprächspartners große Aufmerksamkeit zu widmen, gegebenenfalls muß ihm 13 Näher Bianchi, in: Ortiz (FN 2), S. 189 (197 f.) sowie ders., in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (361 – 364), insbes. zur Bedeutung des Eides und seinem Beweiswert in einem späteren Ehenichtigkeitsverfahren. 14 Bianchi, in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (357). 15 Bianchi, ebd., S. 354 (368); ders., in: Quaderni di diritto ecclesiale 1 (1998), S. 126 (131).

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mit zusätzlichen (also über den Fragebogen hinausgehenden) Fragen geholfen werden, mehr als nur allgemeine oder stereotype Antworten zu geben16. ¢ Ein kontrovers diskutiertes Thema ist die zeitliche Geltung des Brautexamens17. So stellt sich die Frage, ob es angemessen ist, einen Zeitraum der Gültigkeit festzusetzen, wie es etwa in Italien in Art. 10 des Dekrets der Italienischen Bischofskonferenz über die kirchliche Eheschließung18 geschehen ist (sechs Monate). Die zeitliche Beschränkung der Gültigkeit des Brautexamens leuchtet unmittelbar ein: im Laufe der Zeit können sich die Absichten oder die wesentlichen Umstände im Hinblick auf die Eheschließung verändern und wären so der Möglichkeit eine pastoralen Überprüfung entzogen. Freilich bleibt ein Dilemma bestehen: Wird das Brautexamen – auch bei einem vergleichsweise kurz bemessenen Gültigkeitszeitraum – zu früh durchgeführt, besteht das eben genannte Risiko. Liegt es hingegen zu kurz vor dem Termin der Trauung, können die insoweit bestehenden Erwartungshaltungen ein zu starkes Gewicht erhalten und tendenziell die Freiheit der Brautleute, wirklich unbefangen zu sprechen, beeinträchtigen. Nun ist es gewiß unmöglich – gar noch mit einer allgemeinen Regel – a priori alle denkbaren Gefahren einer pastoralen Entscheidung auszuschließen. Der Hirte, der die Verlobten auf dem Weg zur Hochzeit begleitet, hat daher in jedem konkreten Fall eine doppelte Aufgabe: zum einen, den geeignetsten Zeitpunkt für die Durchführung des Brautexamens zu wählen, und zum anderen, für mögliche Probleme oder Meinungsänderungen sensibel zu bleiben, auch wenn diese erst nach dem (noch so vertieft geführten) Gespräch auftreten sollten. ¢ Schließlich ist auf das Seelsorgegeheimnis hinzuweisen, welches die Vertraulichkeit des Brautexamens absichert. Damit sind hier nicht so sehr allgemeine Gesichtspunkte gemeint – etwa, wer dazu berechtigt ist, von dessen Inhalt zu erfahren19 –, vielmehr geht es um die Frage, ob es zulässig ist, mit einem der Verlobten die Antworten des andern zu überprüfen. Da viel dafür spricht, daß das Geheimnis auch gegenüber den beiden Befragten gilt, läßt sich (worauf zurückzukommen sein wird20) an folgende Lösungsmöglichkeit für das Problem denken: Der Priester weist beide Brautleute darauf hin, daß ein bestimmter Gesichtspunkt dem weiteren Fortgang auf die Eheschließung hin im Wege steht (ohne aber die Quelle seiner Kenntnis – eines der Einzelgespräche – zu offenbaren) und überläßt es ihrer Verantwortung, diesen Aspekt innerhalb eines angemessenen Zeitraums untereinander zu klären. Sollte es auch dann nicht zu 16 Bianchi, in: Ortiz (FN 2), S. 189 (198 ff.), mit einem konkreten Beispiel notwendiger Nachfragen, um die tatsächlichen Absichten des Befragten zum Thema der Nachkommenschaft besser zu verstehen. 17 Näher zu diesem Aspekt Bianchi, in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (357 f., 366). 18 Nachw. FN 4. 19 Dazu etwa Bianchi, in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (357, 364 f.). 20 Unten IV.

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einer klärenden Aussprache unter den Brautleuten gekommen bzw. der Hinderungsgrund nicht ausgeräumt sein, müßte der Fall an den Ortsordinarius weitergeleitet werden. Dieser verfügt über Möglichkeiten weitergehender Nachforschungen und könnte sogar die Eheschließung aus einem schwerwiegenden Grund verbieten, solange dieser fortbesteht (vgl. c. 1077 § 1 CIC)21.

III. Der Fragenkatalog des Brautexamens – Bestand und Reformbedarf Es ist eine Binsenweisheit, daß in einem Gespräch die Qualität der Antworten nicht nur davon abhängt, wie die Fragen gestellt werden, sondern bereits vom objektiven Gehalt der Fragen selbst. Unklar formulierte, allgemein gehaltene oder schwer verständliche Fragen werden gewiß keine qualitativ guten und präzisen Antworten hervorbringen, auch wenn der Befragte bereitwillig antwortet und gewillt ist, sich zu öffnen. Da die heute verwendeten Fragenkataloge (jedenfalls der in Italien übliche, bei dem anscheinend eine Neufassung vorbereitet wird) nicht in jeder Hinsicht befriedigen, soll im folgenden auf einige allgemeine Probleme hingewiesen werden. Darüber hinaus sollen denkbare Neuformulierungen in diesen Fragenkatalogen vorgeschlagen werden, insbesondere bei jenen Fragen, welche überprüfen, ob der Ehekonsens aus freien Stücken zustande gekommen ist kommt daß ihm keine Mängel anhaften. Besondere Aufmerksamkeit verdienen bei der Durchführung des Brautexamens diejenigen unabdingbaren Elemente des Ehebundes, welche im konkreten kulturellen Umfeld sich als Schwachpunkte darstellen können. In Italien (wohl generell in Westeuropa) dürften solche kritischen Punkte sein: ¢ die mangelnde Akzeptanz der Unauflöslichkeit des Ehebandes22, zumal angesichts einer verbreiteten Scheidungsmentalität;

21

Vgl. Bianchi, in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (357, 364 f.), anhand des Beispielsfalls des Ausschlusses der Nachkommenschaft durch einen der Partner. Andere Hinderungsgründe können sein: Druck zur Eheschließung seitens des anderen oder von Familienangehörigen, Kenntnis einer dem anderen nicht offenbarten schweren Krankheit oder schädlichen Gewohnheit (Drogenkonsum, Glücksspiel), Bestehen einer intimen Beziehung mit einem Dritten, Widerstand oder starke Zweifel gegen das Eingehen einer dauerhaften und unwiderruflichen Bindung. 22 Bianchi, in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (378 ff.); ders., in: Ortiz (FN 2), S. 189 (207 f.).

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¢ ernste Schwierigkeiten im Hinblick auf den Glauben oder auf die religiöse und sakramentale Dimension der Ehe23 (mit möglichen Auswirkungen auf die Akzeptanz der ontologischen Grundstruktur der Ehe als solcher24); ¢ psychische Anomalien oder vergleichbare Zustände25 (bei derartigen psychischen bzw. psychologischen Störungen stellen sich schwierige Wertungsfragen: einerseits weisen sie verschiedene Ausdrucksformen auf, zum anderen darf das Recht auf die Ehe derjenigen nicht über das zulässige Maß hinaus beschränkt werden, die einfacher strukturiert sind oder gewisse Defizite haben); ¢ die fehlende Offenheit für Nachkommenschaft26 in einem Umfeld, in dem (wie in Italien, jedenfalls bei der einheimischen Bevölkerung) die Geburtenrate anhaltend gering ist. Bereits in der Vergangenheit hatte ich ein einer Untersuchung zum Brautexamen den in Italien gebräuchlichen Fragebogen analysiert und dabei für einige der vorgesehenen Fragen andere Formulierungen angeregt27. Im Abstand von über einem Jahrzehnt soll dieser Ansatz, in der Analyse wie in den Änderungsvorschlägen, wieder aufgegriffen werden und versucht werden, abermals verbesserte Formulierungen zu finden. Dabei erscheint eine Beschränkung auf die den Ehekonsens betreffenden Fragen sinnvoll, denn heutzutage betreffen fast alle Ehenichtigkeitsfälle Konsensmängel. Demgegenüber sind Ehehindernisse und Formfehler äußerst selten; zudem geht es dabei um objektive Sachverhalte, für deren vertiefte Erörterung beim Brautexamen kaum eine gesteigerte Notwendigkeit besteht. 23 Vgl. Bianchi, in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (371 ff.); ders., in: Ortiz (FN 2), S. 189 (209 ff.). 24 In seiner letzten Ansprache an die Römische Rota hat Papst Benedikt XVI. – unter Bekräftigung der Lehre vom für die gültige Eheschließung notwendigen „Grad“ an Glauben (so wie sie vom hl. Papst Johannes Paul II. im Apostolischen Schreiben Familiaris consortio, Nr. 68, sowie in seinen Ansprachen an die Rota von 2001 und 2003 dargelegt wurde) – so argumentiert: Der fehlende Glaube könne den Nährboden für den Ausschluß der Hinordnung der Ehe auf das Gut der Eheleute bilden, so etwa, wenn das Gleichheitsprinzip oder die eheliche Treue (welche in der Ausschließlichkeit der Beziehung besteht) abgelehnt werden oder es aber am Willen mangelt, die geschlechtliche Dimension der Ehe im Einklang mit der menschlichen Würde zu leben (Ansprache vom 26. Januar 2013, Nr. 4, Abdruck in: AAS 105 [2013], S. 168 – 172 [172]; deutsche Übersetzung in: ArchKathKR 182 [2013], S. 211 – 214 [214]). – Auch Papst Franziskus ist in seiner Ansprache an die Römische Rota vom 23. Januar 2015 auf das Thema zu sprechen gekommen, inwieweit ein im Subjektivismus gefangener Glaube, der für den Betreffenden weder Orientierung noch Maßstäbe mehr enthält, Auswirkungen auf den Ehekonsens haben kann: „Denn die Unkenntnis über die Glaubensinhalte könnte zu dem führen, was der Codex als einen ,den Willen bestimmenden Irrtum‘ bezeichnet (vgl. c. 1099)“, diese Möglichkeit dürfe „anders als in der Vergangenheit … in Anbetracht des häufigen Vorrangs des weltlichen Denkens über das Lehramt der Kirche nicht mehr als Ausnahme betrachtet werden.“; Abdruck in: AAS 107 (2015), S. 182 – 185 (183). 25 Vgl. Bianchi, in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (386 ff.). 26 Vgl. Bianchi, in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (381 f.); ders., in: Ortiz (FN 2), S. 189 (208 f.). 27 Bianchi, in: Quaderni di diritto ecclesiale 15 (2002), S. 354 (369 – 393).

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In dem gegenwärtig in Italien gebräuchlichen Fragebogen betreffen die Fragen 3 bis 10 den Ehekonsens. Des besseren Verständnisses halber wird im folgenden diese Reihenfolge beibehalten, auch wenn eine andere Anordnung vorstellbar wäre. 1. Grundsätzliches zur kirchlichen Eheschließung Derzeit lautet die Frage 3 wie folgt: „Warum haben Sie sich dazu entschieden, kirchlich zu heiraten? Glauben Sie an die Ehe als Sakrament? Haben Sie Schwierigkeiten, die Lehre der Kirche über die Ehe zu akzeptieren? Wenn ja, in welchen Punkten?“

Um Sinn und Zweck der Frage klarer hervortreten zu lassen, könnte sie so gefaßt werden: „a) Warum haben Sie sich dazu entschieden, in der Katholischen Kirche zu heiraten? b) Welche religiöse Bedeutung messen Sie dieser Entscheidung bei? c) Kennen Sie die Lehre der Katholischen Kirche über die Ehe? Teilen Sie deren Inhalte oder haben Sie teilweise eine gegenteilige Meinung? Wenn ja, in welchen Punkten?“

Die Teilfrage a zielt darauf ab, den wahren Kern jener Entscheidung besser zum Ausdruck zu bringen, geht es doch nicht bloß darum, in einem Kirchengebäude einer Zeremonie beizuwohnen, sondern vielmehr darum, sich eine umfassende Sicht der Ehe zu eigen zu machen. Teilfrage b stellt die heute noch überwiegend vertretene Lehrmeinung in Rechnung, der zufolge kein expliziter Glaube an die sakramentale Natur der Ehe verlangt wird, hält es aber für hilfreich, wenn die religiösen Absichten artikuliert werden. Teilfrage c hält die verschiedenen Elemente – Kenntnis, Akzeptanz, ggf. Dissens – besser auseinander. Wird ein von der kirchlichen Lehre abweichender Standpunkt artikuliert, wären damit sogleich im weiteren Verlauf des Gesprächs sowie in der gesamten pastoralen Begleitung der Ehevorbereitung zu behandelnde Gesichtspunkte gewonnen. 2. Freiheit des Ehekonsenses Frage 4 betrifft die Freiheit des Konsenses und hat gegenwärtig diese Fassung: „Die Ehe setzt eine vollkommen freie Entscheidung voraus. Heiraten Sie aus eigenem Antrieb, aus freien Stücken und aus Liebe oder werden Sie durch äußere Umstände dazu bestimmt? Fühlen Sie sich von Ihren Familienangehörigen oder von denen Ihrer Verlobten zur Eheschließung gedrängt?“

Diese Frage bedarf keiner substantiellen Veränderungen, da sie hinreichend zwischen situationsbedingten (wie einer Schwangerschaft) und von Personen ausgeübten Beeinflussungen unterscheiden hilft. Das Adverb „vollkommen“ könnte auch gut entfallen, da die menschliche Freiheit immer unvollkommen, begrenzt und in gewisser Hinsicht beeinflußt ist. Im letzten Teil der Frage könnte es sich emp-

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fehlen, den Kreis derer, welche auf eine Eheschließung hindrängen, über die Familienangehörigen hinaus auch auf andere Personen zu erstrecken (auch wenn es zutrifft, daß derartiger Druck zumeist von Familienangehörigen ausgeht). 3. Eheliche Treue In Frage 5 des aktuellen Fragebogens heißt es: „Der Ehebund ist die Gemeinschaft des ganzen Lebens zwischen einem Mann und einer Frau. Wollen Sie die Ehe als einzige Ehe und verpflichten Sie sich zur ehelichen Treue?“

Die Frage ist gewiß nicht schlecht gestellt. Doch angesichts der gegenwärtigen Pluralität in religiösen Fragen, in Vorstellungen über die Ehe und in den Modalitäten gelebter Beziehungen sollte sie besser umformuliert und unterteilt werden. Dergestalt ließe sich deutlicher zwischen dem Grundsatz der Einehe (der in c. 1056 CIC als Wesenseigenschaft der „Einheit“ der Ehe aufscheint) und der Pflicht zur Treue gegenüber dem Ehepartner unterscheiden. Folgende Formulierung sei zur Diskussion gestellt: „Der Ehebund ist die Gemeinschaft des ganzen Lebens zwischen einem Mann und einer Frau. a) Akzeptieren Sie demnach das Prinzip der Einehe, aufgrund dessen neben dieser Ehe gleichzeitig nicht noch weitere bestehen können? b) Verpflichten Sie sich zur ehelichen Treue, indem Sie sich ausschließlich ihrem Ehepartner schenken? c) Unterhalten Sie derzeit ein Beziehung zu einer anderen Person als Ihrem künftigen Ehepartner? Wenn ja, was sind diesbezüglich Ihre Absichten?“

Teilfrage c trägt dem Umstand Rechnung, daß – wie in der gerichtlichen Praxis oft zu beobachten – der Ausschluß der Pflicht zur ehelichen Treue darin seinen Ursprung hat, daß einer der Nupturienten parallel zum Verlöbnis noch eine weitere Beziehung führt, die er nicht aufzugeben gewillt ist. 4. Unauflöslichkeit der Ehe Frage 6 betrifft den heiklen Punkt der Unauflöslichkeit des Ehebandes, sie ist derzeit wie folgt gefaßt: „Es ist Gottes Wille, daß das Eheband bis zum Tod eines Ehegatten fortbesteht. Wollen Sie die Ehe als unauflösliche und schließen Sie dementsprechend aus, sie durch Scheidung aufzulösen?“

Die Schwierigkeit der Thematik erfordert eine bei weitem detailliertere Formulierung der Frage, die etwa so lauten könnte:

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Paolo Bianchi

„Nach katholischer Lehre besteht das Eheband bis zum Tod eines Ehegatten fort. a) Wollen Sie Ihre Ehe als unauflösliche: als einen Bund, der in guten wie in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit fortbesteht, auch wenn gegebenenfalls negative Umstände eine Trennung nahelegen könnten? b) Haben Sie heute bereits konkrete Gründe, auf Grund derer Sie sich schon jetzt die Möglichkeit vorbehalten, die Ehe aufzulösen und eine neue Verbindung einzugehen? c) Ist Ihnen bewußt, daß eine eventuelle zivile Ehescheidung keinerlei Einfluß auf das Fortbestehen des Ehebandes aus religiöser Sicht hat?“

Teilfrage a will besser verständlich machen, worin die Unauflöslichkeit eigentlich besteht. Zielsetzung von Teilfrage b ist es, eine mögliche causa proxima exclusionis zutage zu fördern, welche die konkrete Grundlage für den Ausschluß einer unwiderruflichen Verpflichtung bilden könnte. Schließlich versucht Teilfrage c die Begrifflichkeiten zu klären, die manchmal unklar bleiben und es somit erschweren, die wirkliche Absicht der Brautleute im Hinblick auf die Ehe zu verstehen. Ohne diesen Aspekt über Gebühr zu betonen, muß deutlich werden, daß die zivile Ehescheidung das (kirchliche) Eheband unberührt läßt. 5. Ehezwecke Gleichermaßen bedarf die gegenwärtige Fassung von Frage 7 erheblicher Modifizierungen. Nachdem zunächst die institutionellen Ehezwecke in Erinnerung gerufen werden, handelt die Frage dann nur noch von der Nachkommenschaft und läßt die Hinordnung der Ehe auf das Wohl der Ehegatten gänzlich außer Betracht. So fällt es nicht leicht, die (auch rechtlich relevanten) Inhalte genau zu bestimmen. Zur Zeit heißt es: „Die Ehe ist durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und die Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet. Nehmen Sie die Aufgabe der Elternschaft an, was auch das Gut der Nachkommenschaft einschließt? Haben Sie vor, die Kinder katholisch zu erziehen?“

Besser wäre so zu formulieren: „Die Ehe ist durch ihre natürliche Eigenart sowohl auf das Wohl der Ehegatten wie auch auf die Zeugung und die Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet. a) Nehmen Sie die Aufgabe der Elternschaft an, auch unter Einschluß der Zeugung von Kindern? b) (Nur für Katholiken) Haben Sie vor, den Kindern eine katholische Erziehung zu gewährleisten? c) Versprechen Sie, den anderen wirklich als (Ehe-)Partner anzuerkennen und anzunehmen, als eine Person mit gleichen Rechten und mit gleicher Würde? d) Sind Sie zum Versprechen bereit, ihm in allen Wechselfällen und Umständen des Lebens materiell und spirituell beizustehen?

Das Brautexamen als pastorales Instrument

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e) Verpflichten Sie sich dazu, im Gefühls- und Sexualleben die Würde der menschlichen Person und der Ehe zu achten und zu respektieren?“

Wie unschwer zu erkennen, orientieren sich die Formulierungsvorschläge für die Fragen, die das Gut des Gattenwohls betreffen, an der Ansprache von Benedikt XVI. an die Römische Rota aus dem Jahr 201328. 6. Bedingte Eheschließung Dringend änderungsbedürftig ist Frage 8: „Schließen Sie die Ehe unter einer Bedingung ab? Unter welcher?“

Diese Frage konfrontiert den Befragten mit einem Fachbegriff, der viele Bedeutungsvarianten aufweist (man denke nur an die verschiedenen zeitlichen Bezugspunkte der Bedingung – vergangene, gegenwärtige und zukünftige – oder an ihre unterschiedlichen Rechtswirkungen im CIC und im CCEO). Da dieser Begriff höchstwahrscheinlich nicht in seinem spezifischen Sinn verstanden wird, werden auch die Antworten nichts zur Klärung beitragen können, mag der Befragte noch so guten Willens sein. Zielführender ist es, die Frage vom Inhalt der gesetzten Bedingung her zu stellen, welche die Wirksamkeit des geleisteten Konsenses von einem bestimmten Umstand abhängig machen will. Nach einem solchem Umstand ist also zu fragen, etwa in dieser Formulierung: „Machen Sie die Wirksamkeit oder die Dauerhaftigkeit Ihrer Entscheidung für die Ehe von bestimmten Verpflichtungen oder besonderen Eigenschaft Ihrer Verlobten abhängig? Oder aber von anderen Umständen, die Ihnen besonders wichtig erscheinen? Wenn ja, von welchen?“

Die so formulierte Frage wäre auch dann unverändert sinnvoll, sollte – wie teilweise in der Lehre vorgeschlagen –, das Regime der Bedingung im CIC demjenigen im CCEO angeglichen werden. Das letztgenannte halten heute manche für mehr mit der natürlichen Eigenart der Ehe im Einklang stehend (wenngleich nicht so sehr als unmittelbaren Ausfluß des Konsensprinzips). 7. Ehewillen des Partners In Frage 9 werden die Eheabsichten des anderen erkundet: „Akzeptiert Ihre Verlobte das Ehesakrament in seiner Einheit und Unauflöslichkeit oder hat sie insoweit Vorbehalte (Untreue, Scheidung)? Sind Sie sicher, daß sie Sie aus freien Stücken und aus Liebe heiratet?“

28

Siehe FN 24.

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Paolo Bianchi

Abgesehen von der mißglückten systematischen Stellung der Frage (sie gehört richtigerweise unmittelbar nach die Erkundung der Eheabsichten des Befragten) sollte sie umfassender formuliert werden: Statt sich auf die Freiheit des Ehekonsenses und die sogenannten Wesenseigenschaften der Ehe zu beschränken, sollte sie auch die institutionellen Ehezwecke einbeziehen. Da die Frage auf die „natürliche“ Struktur der Ehe abzielt, welche auch für eine nicht-sakramentale Ehe gilt (etwa bei Dispens vom Eheverbot der Religionsverschiedenheit), bedarf es keines Verweises auf die Sakramentalität der Ehe. Demnach könnte die Frage folgendermaßen lauten: „Heiratet Ihre Verlobte Sie aus freien Stücken? Akzeptiert sie die Inhalte der Ehe so, wie sie in den vorangegangenen Fragen dargelegt wurden? Hat sie gegen die Prinzipien der gegenseitigen Hilfe und Rücksichtnahme, der Einheit des Ehebandes und der Pflicht zur Treue, der Verpflichtung für das ganze Leben oder der Bereitschaft zur Annahme von Nachkommenschaft, jemals Zweifel oder Ablehnung geäußert? Haben Sie diese Fragen gemeinsam geklärt?“

8. Gemeinschaft des ehelichen Lebens Die letzte den Konsens betreffende Frage (Nr. 10) spricht mehrere Themen an, in der gegenwärtigen Fassung wie folgt: „Hatten Sie während der Verlobungszeit Anlaß, am Gelingen Ihrer Ehe zu zweifeln? Haben Sie etwas verheimlicht, was das eheliche Zusammenleben schwerwiegend stören könnte?“

Es bietet sich an, die Frage bei Aufrechterhaltung ihrer prinzipiellen Struktur zu unterteilen und zu präzisieren, etwa in dieser Form: „a) Hatten Sie während der Verlobungszeit Anlaß, am Gelingen Ihrer Ehe zu zweifeln? Worin bestand ein solcher Anlaß? Haben Sie darüber eine Klärung versucht? Ist dieser Zweifel zwischen Ihnen ausgeräumt? b) Haben Sie Ihrer Verlobten etwas verheimlicht, was das eheliche Zusammenleben schwerwiegend stören könnte? Was? Warum haben Sie nicht mit ihr darüber gesprochen? Sind Sie jetzt bereit, es zu tun?“

Zweck der Teilfrage a ist es, eine Motivlage auszuschließen, die einem Nichtigkeitsgrund nahekommt, etwa im Hinblick auf die Nachkommenschaft oder die Unauflöslichkeit. Demgegenüber will Teilfrage b verhindern, daß es aufgrund einer arglistigen Täuschung über eine Eigenschaft der Person (vgl. c. 1098 CIC) zu einer nichtigen Eheschließung kommt, generell geht es also darum, größtmögliche Ehrlichkeit zwischen den Brautleuten zu fördern.

Das Brautexamen als pastorales Instrument

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IV. Mögliche Ergebnisse des Brautexamens und entsprechende Handlungsoptionen Die Ergebnisse des Gesprächs über die Zulassung zur Eheschließung können denkbar unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welche Erklärungen die Brautleute abgeben und mit welcher (inneren) Einstellung sie sich dem Gespräch stellen. Daher soll zunächst ein allgemeiner Gesichtspunkt in Erinnerung gerufen werden, ehe dann denkbare Reaktionen und Handlungsoptionen für die Fälle zur Sprache kommen, in denen Probleme entstanden sind. Der erwähnte allgemeine Gesichtspunkt läßt sich abermals der Ansprache von Papst Benedikt XVI. an die Römische Rota von 2011 entnehmen. Er besagt im Grundsatz, daß beim Brautexamen zwei Extremhaltungen zu vermeiden sind: auf der einen Seite ein leichtfertiger Laxismus und auf der anderen Seite ein ungerechtfertigter Rigorismus. Ersterer besteht darin, ohne größere Nachforschungen und ernsthafte Vertiefung der Umstände alle zur Eheschließung zuzulassen. Das andere Extrem kommt in einer Haltung zum Ausdruck, welche (negative) Vermutungen aufstellt, die erst einmal widerlegt werden müssen, etwa, daß eine Mehrheit der Brautleute einen nur scheinbar aufrichtigen Willen zur Ehe habe oder daß ihre Fähigkeit, den Anforderungen der Ehe nach kirchlichem Verständnis zu entsprechen, generell beeinträchtigt sei29. Keine dieser Haltungen nimmt die betreffende Person und die Bedeutung des Brautexamens wirklich ernst: Die erste verwechselt Offenheit für die Menschen und Aufnahmebereitschaft mit Gutmenschentum und diffuser Nachsichtigkeit. Bei der zweiten fehlt es am Vertrauen in die Aufrichtigkeit und das Verantwortungsbewußtsein der Gesprächspartner – damit exakt daran, was eine wirklich auf die Person bezogene, eine personalistische, Sichtweise nur als bestehend annehmen kann. Denn es ist eine Sache, den Gesprächspartner zu Aufrichtigkeit und Verantwortungsbewußtsein anzuhalten, eine völlig andere aber, von vornherein davon auszugehen, daß dieser im Irrtum oder aus schlechter Absicht handelt und damit letztlich nicht zur Ehe fähig ist. Kommen im Laufe der unmittelbaren Ehevorbereitung – und insbesondere beim Brautexamen – Schwierigkeiten und Probleme zum Vorschein, besteht der erste Schritt eines denkbaren Lösungsansatzes darin, eine klare und eindeutige Diagnose der sich darstellenden Situation vorzunehmen. Davon, daß das aufgetretene Problem in gebührender Weise erfaßt wird, hängt es ab, die geeigneten Mittel zu dessen Lösung auszuwählen und anzuwenden. Steht demnach die Diagnose des Umstandes fest, welcher dem weiteren Fortgang der Ehevorbereitung und der Zulassung zur Eheschließung im Wege steht, stellen sich dem Priester drei denkbare Szenarien (mit unterschiedlichen „therapeutischen“ Anforderungen):

29

Bianchi, in: IusEcc 23 (2011), S. 472 (481 f.).

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¢ Einmal kann das aufgetretene Problem (das zunächst ernsthafte Schwierigkeiten aufzuwerfen schien) schon bei dieser Gelegenheit gelöst werden, indem die zugrundeliegende Situation vertieft besprochen wird30. Beispielsfälle sind nur scheinbare Hindernisse (etwa: einer der beiden registriert in seinem sozialen Umfeld zwar eine bestimmte Erwartungshaltung im Hinblick auf die Eheschließung, diese beeinträchtigt aber nicht seine Willensfreiheit) oder zunächst potentiell nichtigkeitsrelevante, dann aber zwischen den Brautleuten selbst geklärte Hindernisse (etwa: einer der beiden weiß um seine Unfruchtbarkeit, verschweigt sie aber dem anderen; als er später den Umstand doch offenbart, akzeptiert ihn der andere). ¢ Im zweiten Szenario besteht tatsächlich ein unüberwindbares Hindernis für die Zulassung zur Ehe, mag dieses ipso facto sein (wie im Falle des Ehehindernisses der Impotenz31) oder aus dem Willensakt eines (oder gar beider) der Beteiligten resultieren (etwa: fehlende Bereitschaft, eine einem Wesenselement der Ehe entgegengesetzte Haltung zu ändern; Weigerung, dem Partner eine persönliche Eigenschaft zu offenbaren, die das Eheleben stören könnte, motiviert aus der Befürchtung, der andere könnte deshalb von der Eheschließung Abstand nehmen). In derartigen Fällen kann die angemessene Reaktion nur darin bestehen, den Betroffenen32 einsichtig zu machen, daß in ihrem Falle ein bestimmter Umstand die Zulassung zu Ehe unmöglich macht, und die Vorbereitung abzubrechen. Den Betroffenen bleibt es immer unbenommen, die getroffene pastorale Entscheidung dem Ortsordinarius zur erneuten und vertieften Prüfung ihrer Situation vorzulegen. ¢ Als drittes Szenario ist der „perplexe Fall“ vorstellbar, anders gewendet: eine Situation, die vor einer Entscheidung noch weiterer Sachaufklärung bedarf33. Ein denkbarer Anwendungsfall ist, daß einer der Partner mit dem anderen noch bestimmte Gesichtspunkte seiner eigenen Person oder seine Absichten im Hinblick auf diese (die potentiell für die Gültigkeit der Ehe relevant sind) klären und einer Lösung zuführen möchte. In einem solchen Fall würde die Ehevorbereitung bis zu dem Zeitpunkt ausgesetzt, in dem die Brautleute glaubhaft machen, die Schwierigkeit geklärt zu haben. Ebenso vorstellbar ist die Konstellation, daß der Seelsorger zusätzlicher Kenntnisse bedarf oder weitere (etwa medizinische) Nachforschungen für nötig erachtet, dafür aber seine Möglichkeiten oder Kompetenzen nicht ausreichen. In einem solchen Fall wird die beste Lösung darin bestehen, die Angelegenheit 30

Bianchi, in: Ortiz (FN 2), S. 189 (201 f.). Es versteht sich von selbst, daß im Falle eines dispensfähigen Ehehindernisses die angemessene Handlungsoption darin besteht, sich um die Dispens zu bemühen. 32 Vgl. Bianchi, in: Ortiz (FN 2), S. 189 (202 f.), unter Abwägung der Gründe, den für die Nichtzulassung zur Eheschließung maßgebenden Umstand dem Partner mitzuteilen, der darüber in Unkenntnis ist. 33 Zu dieser Konstellation Bianchi, ebd., S. 189 (203 f.). 31

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dem Ortsordinarius vorzulegen, der eine höhere Autorität34 besitzt und dem wohl auch zusätzliche Mittel für die Untersuchung zur Verfügung stehen, um zu einer abgewogeneren Entscheidung zu gelangen. Zu einer sorgfältigen und korrekten Behandlung von aufgetretenen Problemen zählt es schließlich, diese aktenkundig zu machen. Das (von Rechts wegen im Pfarrarchiv aufzubewahrende) Ehevorbereitungsprotokoll muß in einem genauen und vollständigen Bericht darüber Auskunft geben, um welche Schwierigkeit es sich gehandelt hat, was zu deren Überwindung unternommen worden ist und welche Ergebnisse dieser Versuch gezeitigt hat. Ein gründliches Vorgehen zahlt sich in jedem Fall aus, einerlei, ob die Ehevorbereitung unterbrochen werden mußte und später wiederaufgenommen und abgeschlossen wurde, oder aber, ob Vorbereitung zwar regulär zu Ende geführt, dann aber die Gültigkeit der geschlossenen Ehe angezweifelt wurde35. Die Beweiskraft eines in gewissenhafter Amtsausübung und zum rechten Zeitpunkt erstellten Berichts wird schwerlich unterbewertet werden können.

V. Abschließende Bemerkungen Diese kurzen und in groben Linien gezeichneten Überlegungen zeigen, wie das Brautexamen – selbstredend eingebunden in die umfassendere rechtliche und pastorale Vorbereitung auf die Eheschließung – ein wertvolles Hilfsmittel bleibt, damit die Brautleute die Wahrheit über die Lehre und die geistliche Dimension der Ehe tiefer entdecken können. Wenn sie dann ihre ureigensten Überzeugungen mit dieser (objektiven) Wahrheit in Übereinstimmung bringen, findet dies in ihrem Ehekonsens seinen sinnbildlichen und abschließenden Ausdruck. Voraussetzung dafür ist, daß die genaue Zielsetzung des Brautexamens recht verstanden wird, das Examen in der entsprechenden Grundhaltung und mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt wird und möglicherweise auftretenden Schwierigkeiten die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet werden. Eine Verbesserung des Fragebogens und speziell einzelner Fragen kann diesem pastoralen Instrument nur zum Nutzen gereichen.

34

Im Extremfall kann der Ortsordinarius sogar die Eheschließung verbieten (c. 1077 § 1 CIC). 35 Vgl. Bianchi, in: Ortiz (FN 2), S. 189 (204 ff., mit einem Beispielsfall zum möglichen Beweiswert von derartigen Aufzeichnungen im Ehenichtigkeitsverfahren in Fn. 18).

Evangelisierung der Familie Die Familie als ursprüngliche Realität: Zeigen, Bilden, Begleiten Montserrat Gas und M. Pilar Lacorte

I. Einführung Die Bischofssynode von 2014 hat unterstrichen, daß die Familie eine fundamentale Bedeutung für die Kirche hat – besonders in einer Zeit, in der alle Gläubigen dazu eingeladen werden, aus sich selbst herauszugehen. Die Synode will deshalb dazu beitragen, die Familie als unverzichtbares Subjekt für die Evangelisierung wiederzuentdecken. Trotz aller Krisensymptome bleibt der Wunsch nach einer Familie besonders in der jungen Generation ungebrochen, und es gibt viele Familien, die ihre Berufung trotz Hindernissen, Unverständnis und Leiden mit Großzügigkeit, Freude und Glauben leben1. Zur Vorbereitung der nächsten Ordentlichen Generalversammlung 2015 hat die Bischofssynode daher dazu eingeladen, „die Wege zu erkennen, auf denen Kirche und Gesellschaft sich in ihrem Einsatz für die auf der Ehe zwischen Mann und Frau begründete Familie erneuern können“2. Ohne die Bedeutung einzelner auf der Synode behandelter pastoraler Probleme schmälern zu wollen – etwa die pastorale Begleitung der verletzten Familien (Getrenntlebende, nicht wiederverheiratete Geschiedene, wiederverheiratete Geschiedene, Alleinerziehende)3 –, scheint es vordringlich, den Ursachen und damit der Prävention dieser Situationen eine besondere Beachtung zu schenken. Dabei kommt der Vorbereitung auf die Ehe und der Begleitung der Familien eine entscheidende Rolle zu, so daß es folgerichtig ist, in der Familienpastoral einen Großteil der Energie diesen Aspekten zu widmen. 1 Relatio Synodi der Dritten Außerordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode, „Die pastorale Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung“, 18. Oktober 2014, Nr. 1 – 2, in: AAS 106 (2014), S. 887 – 908 (887 f.); deutsche Übersetzung in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung. Texte zur Bischofssynode 2014 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz (Reihe: „Arbeitshilfen“, Nr. 273), Bonn 2014, S. 141 – 175 (142 ff.). 2 Ebd., Nr. 4. 3 Ebd., Nr. 44 – 54.

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Angesichts dieser Situation der Familie mit ihren Licht- und Schattenseiten bedarf es eines geordneten pastoralen Vorgehens. Sie betrifft die ganze Kirche und ist darauf ausgerichtet, allen Familien Beistand zu leisten, besonders jenen in Schwierigkeiten. Darin liegt wohl eine der größten Herausforderungen für die Kirche in unserer Zeit, handelt es sich doch darum, eine Institution wiederaufzubauen, die für die Zukunft der Menschheit eine Schlüsselrolle spielt4. Die Aufgabe stellt sich nicht allein der Kirche, vielmehr müssen alle Akteure der Zivilgesellschaft – von staatlichen Instanzen bis zu anderen Religionsgemeinschaften – einbezogen werden. Gleichwohl kommt der Kirche eine besondere Verantwortung zu, besteht ihre Sendung doch darin, die Wahrheit „des Anfangs“ zu lehren und so die moralischen Grundsätze zu bekräftigen, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen5.

II. Der Ausgangspunkt: Die Realität beobachten und Lösungen vorschlagen Es steht heute außer Frage, daß die Nachhaltigkeit unserer Gesellschaft – neben anderen Trägern – auf der Familie aufbaut. Seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden viele Fortschritte im Verständnis von Ehe und Familie erzielt. Doch paradoxerweise hat sich gleichzeitig das Leben der Menschen von dieser für Individuum und Gesellschaft so wichtigen Realität entfernt: Phänomene wie die Ausbreitung von nichtehelichen Lebensgemeinschaften, die steigenden Zahlen bei Scheidungen und nichtehelichen Kindern wie die jüngsten Änderungen des Familienrechts könnten den Eindruck bestätigen, die Ehe sei ein überholtes Modell und müsse deshalb durch „offenere“ Formen des Zusammenlebens ersetzt werden. Der Westen lebt unter einer Art „Tyrannei des Artifiziellen“6, in der die Gesetze je nach Laune und Ideologie des Augenblicks die Familie neu zu definieren versuchen und dabei ihr anthropologisches Fundament außer acht lassen: die natürliche Verbindung von Liebe, Sexualität, Weitergabe und Annahme des Lebens als Grundbedingung für die Fähigkeit des Menschen, sich an andere zu verschenken. Vorrangige Aufgabe ist es, die blinden Flecken der postmodernen Ideologien zu überwinden, um die ursprünglichen Evidenzen von Ehe und Familie wiederzuentdecken.

4

Der Begriff „Wiederaufbau“ wird hier bewußt der von der „Gender“-Ideologie beabsichtigen „Dekonstruktion“ der Familie entgegengesetzt, wie sie in der vorherrschen postmodernen Kultur in den westlichen Ländern teilweise Realität ist. 5 II. Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 14, in: AAS 58 (1966), S. 929 – 941 (940): „Denn nach dem Willen Christi ist die katholische Kirche die Lehrerin der Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen, autoritativ zu erklären und zu bestätigen“. 6 Dazu Carlo Caffarra, Glaube und Kultur im Hinblick auf die Ehe, in diesem Band, S. 11 – 17 (15).

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Der erste Schritt in diese Richtung ist, herauszufinden, was uns heute daran hindert, die Familie so zu sehen, wie sie ist. Es gilt diejenigen Elemente der postmodernen Kultur namhaft zu machen, welche die Fundamente der Familie nach und nach verdunkelt oder in Zweifel gezogen haben. Konkret gilt dies für die anthropologische Krise mit ihren Auswirkungen auf das affektive Leben und auf den Aufbau von stabilen familiären Beziehungen. All das führt häufig zu einer negativen und pessimistischen Sicht der Familie, die schließlich nur noch als Hindernis für den beruflichen Erfolg wahrgenommen wird. Bei einem derartigen pessimistischen Hintergrund erscheinen dann familiäre Krisen schnell als irreparable Brüche. Angesichts dieser „irrealen Realität“ tut es Not, die Schleier der Ideologien von den Augen des Herzens zu entfernen7, die uns daran hindern, die „reale Realität“ der Ehe und der Familie als „ursprüngliche Gegebenheit“ zu betrachten. Deren Grundlage bildet die geschlechtliche Verfaßtheit als Mann und Frau, ihr Charakteristikum besteht in der Antwort auf den Ruf zu Liebe und Gemeinschaft durch das Sich-Verschenken8. Die Aufgabe besteht nun darin, die Familie anhand der ehelichen Liebe aufzuzeigen und in der familiären Erziehung einen besonderen Schwerpunkt in der Herzensbildung zu setzen (das Herz zu befähigen, zu lieben). Schließlich erfordert die Begleitung von Familien in Krisensituationen eine neue Sprache, neue Herangehensweisen und entsprechend geschulte Personen. 1. Von der anthropologischen Krise zur Krise der Familie Vergleichbares wie bei der „Analogabschaltung“ der Rundfunkübertragung vor einigen Jahren läßt sich nun auch bei der Sicht vom Menschen beobachten: eine „anthropologische Abschaltung“. Es herrscht große Unkenntnis über die Identität, die Natur und die Bestimmung des Menschen. Benedikt XVI. hat im Hinblick auf dieses Phänomen einen großen Erziehungsnotstand ausgemacht, erkennbar an „den immer größeren Schwierigkeiten, die die Weitergabe der Grundwerte des Lebens und eines aufrichtigen Verhaltens an die jungen Generationen bereitet. Diese Schwierigkeiten gibt es in der Schule ebenso wie in der Familie und wohl auch in jeder anderen Einrichtung, die sich erzieherische Ziele setzt“9. Demgegenüber herrscht heute ein allgemeines Klima vor, das den Wert der menschlichen Person, die Bedeutung der Wahrheit und des Guten, letztlich selbst am Gut des Lebens in Zweifel zieht10. 7

Caffarra (FN 6), S. 11 (16). Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute vom 22. November 1981, Nr. 11, in: AAS 74 (1982), S. 81 – 199 (91 f.); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 33 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 51994, S. 15. 9 Benedikt XVI., Ansprache bei der Eröffnung der Pastoraltagung der Diözese Rom in der Basilika St. Johann im Lateran vom 11. Juni 2007. 10 Vgl. ebd. 8

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Diese anthropologische Verdunkelung betrifft zunächst den einzelnen in seiner Fähigkeit zur Selbsterkenntnis wie in seinen Beziehungen zu anderen, am Ende zeigen sich die Auswirkungen in der gesamten Gesellschaft. Das Phänomen wirkt nicht nur als theoretische Ideologie, sondern hat nach und nach im täglichen Leben der Menschen seinen Niederschlag gefunden. Eine der wirkmächtigsten Ausdrucksformen ist, worauf die Bischofssynode aufmerksam gemacht hat, der Individualismus als weitverbreitete Lebenseinstellung. Damit einher gehen beträchtliche Schwierigkeiten, den Sinn der menschlichen Beziehungen und insbesondere die Wahrheit der Ehe zu verstehen, um sich dann selbst in der Familie als „Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“ anderen hinzugeben11. Der Individualismus sieht den Menschen als unabhängiges und sich selbst genügendes Wesen. Er blendet die wahre Bestimmung des Menschen als Familienwesen, das aus Liebe ins Leben gerufen und zur Liebe durch Selbsthingabe berufen ist, aus12. Er führt – unbewußt – zur Ablehnung der menschlichen Beziehungen als der sicheren Voraussetzung für die Vervollkommnung des menschlichen Wesens. Ebensowenig akzeptiert er die Abhängigkeit und Verletzlichkeit, wie sie jede menschliche Beziehung mit sich bringt und wie sie vor allem in der wechselseitigen Hingabe der Ehegatten charakteristisch ist. Praktisch führt der Individualismus zur Unkenntnis dessen, was – auf intellektueller wie auf existenzieller Ebene – lieben und geliebt werden bedeutet. Heute erscheint die Vorstellung einer unbedingten und radikalen Liebe – verstanden als die eigene Hingabe und die Annahme des anderen (was praktisch bedeutet, den anderen „vorzuziehen“ und sein Wohl dem eigenen Wohl vorzuziehen) vielen jungen Menschen als kaum mehr verständlich ist oder gar als unmöglich. Paradoxerweise sind es genau diese Menschen, welche eine solche Liebe als Ideal für ihr eigenes Leben sehen. Einerseits würden sie gerne – so wie es für die Liebe in der Familie charakteristisch ist – vorbehaltlos lieben und geliebt werden. Zugleich sehen sie aber auch die Notwendigkeit, sich vor der Verwundbarkeit zu schützen, die die Hingabe seiner selbst an den geliebten Menschen mit sich bringt. Der Individualismus ist in unserer Kultur und in unserem Alltag allgegenwärtig. Niemand kann sich seinem Einfluß entziehen. Von seiner Warte aus sind Ehe und Familie als Institutionen keine stimmigen Konzepte, da die Ehe nur ein Vertrag zwischen zwei Individuen sei, die jeweils ihr individuelles Glück suchten. In einer derartigen Logik drohen die Kinder als Mittel der persönlichen Selbstverwirkli-

11

Relatio Synodi (FN 1), Nr. 5: „Doch andererseits muß ebenso die wachsende Gefahr betrachtet werden, die im ausufernden Individualismus zum Ausdruck kommt, der die familiären Bindungen entstellt und dazu führt, jedes Mitglied der Familie als eine Insel zu betrachten, wobei in einigen Fällen die Vorstellung eines Subjekts überwiegt, das sich nach eigenen Wünschen formt, welche wiederum als etwas Absolutes angesehen werden“. 12 Nachw. siehe FN 8.

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chung verstanden zu werden: entweder als ein zu vermeidender Störfaktor oder als unbedingt zu erreichendes Ziel13. Auch wenn sie die theoretischen Grundannahmen nicht teilen, haben heute viele Familien aber doch – unbewußt – einen individualistischen Lebensstil übernommen, der dem Wesen der Liebe in der Familie zutiefst zuwiderläuft und nunmehr an die nachwachsende Generation weitergegeben wird. Nicht selten beobachtet man bei Ehepaaren, zumal bei den jüngeren, erhebliche Schwierigkeiten, ein der Wirklichkeit entsprechendes Modell ihres Zusammenlebens zu entwickeln. In vielen Fällen wird der Umstand der Eheschließung „aus dem Blickwinkel der Individualität“ gesehen, gewissermaßen als Summe oder „Zugabe“ zum eigenen Sein, welches das persönliche Leben verbessern und vielleicht glücklich machen kann. Dementsprechend schwer verständlich erscheint es dann, daß die Ehe eine neue Realität schafft (das „Wir“), nämlich das Ineinanderfließen zweier Biographien, welches seinen Ausgangspunkt in der gemeinsamen Hingabe und Annahme der Ehegatten nimmt14. Ausdrucksformen des erwähnten individualistischen Lebensstils lassen sich heute weithin in den Familien beobachten: man verbringt kaum noch Zeit miteinander (Essenszeiten, Familienfeiern, Pflege von Kranken, Alten und Kindern), die Ehegatten führen berufliche wie gesellschaftliche Parallelexistenzen (keine gemeinsamen Freunde, keine gemeinsamen Güter). Dergestalt wird im Alltag ein wirkliches Familienleben als „Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“ Schritt für Schritt ausgehöhlt und schließlich fast unmöglich. 2. Postmoderne und Zerbrechlichkeit der Affektivität15 Als direkte Folge des Individualismus herrschen in der westlichen mainstreamKultur fragile persönliche Beziehungen vor, was zur Armut der Einsamkeit führt16. Seine unbestreitbaren Folgeerscheinungen sind Vereinsamung und fehlende Solidarität unter den Menschen, die dann in einer affektiven Beziehung letztlich nur die Befriedigung ihrer Begrenztheit oder Bedürftigkeit suchen, nicht aber Liebe mittels Hingabe und Annahme des anderen. Gleichwohl kann es als gesichert gelten, daß unter den Bedingungen der sozioökonomischen Krise der letzten Jahre die Familie die unverändert meistgeschätzte Institution darstellt, auch unter jungen Menschen. Gerade die für familiäre Beziehungen so typische Solidarität hat die größte Hilfestellung zur Bewältigung aller Arten von Schwierigkeiten geleistet. 13

Carlo Caffarra, La famiglia oggi, online zugänglich unter www.caffarra.it/fami glia130504.php. 14 Pedro Juan Viladrich, La institución del matrimonio: Los tres poderes, Madrid 2005, S. 88. 15 Die Relatio Synodi (FN 1), Nr. 10, verwendet diesen Ausdruck für „eine narzißtische, instabile und veränderliche Affektivität, die dem Einzelnen nicht immer hilft, eine größere Reife zu erreichen“, um hinzuzufügen: „Viele neigen dazu, in frühen Stadien ihres Gefühlsund Sexuallebens stecken zu bleiben.“ 16 Vgl. ebd., Nr. 6.

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Mit der individualistischen Dynamik geht eine schleichende Verdunkelung des Verständnisses wie der Ausübung von Freiheit einher. Freiheit und Liebe sind eng miteinander verbunden, stellt doch die Liebe den menschlichsten Akt der Freiheit dar. Die christlich inspirierte Anthropologie sieht im Menschen ein Wesen, das Herr seiner selbst und seiner Zukunft ist, fähig, diese Zukunft durch den Gebrauch seiner Freiheit zu bestimmen. Der Mensch ist als einziges Wesen dazu in der Lage, alles Zukünftige mit einem aktuellen Willensakt hinzugeben. Demgegenüber wird heute Freiheit häufig als schlichte Wahlmöglichkeit verstanden, so daß viele vor jeglicher Bindung in dem Glauben zurückschrecken, sich so ihre Freiheit erhalten zu können. Die kulturellen Wurzeln der Scheidung liegen in den westlichen Gesellschaften in der anthropologischen Annahme begründet, daß eine die ganze Existenz der Person umfassende Bindung unmöglich sei. Der Pessimismus versteckt sich unter dem Deckmantel der Freiheit: gerade durch das Herausstellen der individuellen Freiheit wird die größte Potenz des Menschen geleugnet – die eigene Freiheit im Wohl eines anderen, der als „anderes Ich“ geliebt wird, zu suchen und aufgehen zu lassen17. Die menschliche Sexualität ist eine der Strukturen der sozialen und kommunikativen Fähigkeiten der Person. In der Ehe ermöglicht sie die höchste natürliche Vereinigung zweier Menschen. Die postmoderne Kultur hingegen hat durch die Sinnentleerung der Sexualität diese Kommunikation weithin unmöglich gemacht: Die Sexualität wurde zur Lust uminterpretiert, die Liebe auf das rein Sentimentale reduziert18. Die westlichen Gesellschaften sind hypersexualisiert. Neben einer verfehlten Sexualerziehung in der Schule (die angeblich nur „informiert“) werden die Kinder einer regelrechten medialen Flut von aus dem Zusammenhang gerissenen „Informationen“ über die Sexualität ausgesetzt (insbesondere Internet und Fernsehen). Der aufeinander abgestimmte Rhythmus der biologischen und affektiven Reifung wird dergestalt aufgebrochen: Einzelne Elemente werden vorweggenommen, ohne zu bedenken, daß es einer Zeit affektiver Reifung und charakterlicher Festigung bedarf, um der Sexualität ihren wahren Sinn zumessen zu können. Zu benennen ist in diesem Zusammenhang der Einfluß der „Gender“-Ideologie mit ihrem künstlichen Bestreben, die naturgegebene sexuelle Unterschiedlichkeit und Komplementarität von Mann und Frau zu stigmatisieren und zu eliminieren. Demnach sei die geschlechtliche Verfaßtheit des Menschen ein schlichtes Resultat der Biologie, welches er „beherrschen“ könne und müsse. Ein derartiger artifizieller und realitätswidriger Egalitarismus führt in der Praxis zu einer Unkenntnis der Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die sich häufig unter der Form von

17 Montserrat Gas, ¿Qué significa casarse en el Siglo XXI?, in: Temes d’Avui 43 (2012), S. 83 – 91; auch online zugänglich unter www.temesdavui.cat/es/revista/43/estudios/que_signifi ca_casarse_en_el_siglo_xxi. 18 Die wichtigsten Faktoren, die diese Entwicklung beeinflußt haben sind die „Gender“Ideologie, ein radikaler Feminismus sowie ein konsumzentrierter Materialismus.

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Mißverständnissen, Enttäuschungen und Scheitern in Ehe- und Familienleben manifestieren. Darauf wird zurückzukommen sein. Außerdem erweist es sich für die Vermittlung der Wahrheit über die Familie als hinderlich, daß geeignete Instrumente fehlen. Weiterhin wird eine voluntaristisch geprägte Sprache verwendet, um den Prozeß des Liebens zu beschreiben, was heute auf große Verständnisschwierigkeiten stößt, „denken“ doch vor allem junge Menschen mehr „mit den Gefühlen“ als mit dem Intellekt. Auch hier zeigen sich dieselben Schwierigkeiten wie die unter dem Stichwort „Erziehungsnotstand“ abgehandelten: Die anthropologische Krise erschwert eine angemessene Erziehung junger Menschen in ihrer Sexualität und Affektivität. 3. Pessimistische Sichtweise der Familie und pathologische Wahrnehmung von Krisen In unserer Gesellschaft hat sich allmählich eine Sichtweise verbreitet, welche die Ehe als nur für eine Minderheit zugängliches Ideal sieht, das in der Praxis aber für die Mehrheit nicht zu erreichen sei. Zahlreiche junge Menschen haben Erfahrungen des Scheiterns bei ihren Eltern miterlebt: Auseinanderleben, Trennung und Scheidung, kurzum, das Erkalten der Liebe. Darin liegt einer der Gründe der Angst vor einer vorbehaltlosen Liebe – man möchte nicht dieselben Enttäuschungen wie die eigenen Eltern durchleiden müssen. Hinzu kommt, daß Hingabe im Familienleben als mit dem Lebensziel persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Erfolgs unvereinbar wahrgenommen wird. Dieser Auffassung sind nicht nur die meisten jungen Menschen. Vielfach sind es die Eltern, welche bei ihren Kindern die Gründung einer Familie als Karrierehindernis und Hemmschuh für die Selbstverwirklichung sehen und so „aus eigener Erfahrung“ dazu raten, die Familiengründung auf später zu verschieben oder ihr keine Priorität einzuräumen. Bei einer derartigen pessimistischen Sicht der Familie erblickt man in Schwierigkeiten und Krisen etwas Krankhaftes oder gar schon ein Scheitern, und nicht einen normalen Bestandteil des Reifens in den persönlichen Beziehungen. Diejenigen Schwierigkeiten, die früher im gewöhnlichen Ehe- und Familienleben als „Wachstumskrise“ behandelt wurden, gelten heute als nicht wiedergutzumachende Gründe für das Zerbrechen einer Beziehung. Indes lehrt die Erfahrung, daß die wesentlichen Ursachen, aufgrund derer heute viele Familien zerbrechen, gerade nicht irreparabel sind. In einem kulturellen Umfeld, das um die Realität von Ehe und Familie nicht weiß, liegt die Wurzel der Schwierigkeiten vor allem in der theoretischen und existentiellen Unkenntnis der Dynamik familiärer Beziehungen, in der Unkenntnis dessen, was Lieben bedeutet. All das erschwert es, diese Beziehungen überhaupt aufzubauen. Eine individualistische Lebenshaltung sieht die Familie nicht als Wachstum im „Wir“, sondern nur als Zugabe zum – vorrangigen – Lebensentwurf des Individuums, bestenfalls als die

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Summe zweier individueller Lebensentwürfe, nicht hingegen als eine Einheit, welche aus einem gemeinsamen Lebensentwurf herrührt, demjenigen, ein Fleisch zu sein („una caro“). Häufig wird Ehepartnern in Schwierigkeiten sogleich der Besuch von Psychiatern oder Psychologen empfohlen. Doch Schwierigkeiten sind nicht immer ein Symptom für etwas Pathologisches. Hat sich eine Krise noch nicht verstetigt oder durch zusätzliche Konflikte (etwa Untreue oder Sich-Hingezogen-Fühlen zu einer dritten Person) verschärft, würde es ausreichen, den Ehegatten verstehen zu helfen, worin die Dynamik des Wachstums und der Reifung der ehelichen Liebe besteht. Dabei wären ihnen die Phasen im Prozeß dieser Liebe aufzuzeigen, solche der Ruhe wie solche der Schwierigkeiten, damit sie ihre Situation auf eine positive Art verstehen können und dazu befähigt werden, gegebenenfalls ihr Verhalten zu ändern und sich zu einem besseren familiären Zusammenlebens bereit zu finden. Bei vielen Familienkrisen nicht mehr von etwas „Krankhaftem“ zu sprechen, heißt natürlich nicht, sie für unwichtig zu halten, ist doch hinreichend bekannt, daß sie bei den Betroffenen Leid und Schmerz verursachen. Mögen derartige Situationen sich für einen Fachmann als „normal“ darstellen, leiden doch die betroffenen Menschen in ihrem Innersten und sehen keinen Ausweg aus ihrer Situation.

III. Vorschläge: Zeigen, Bilden, Begleiten Um den Familien zu helfen, diese Situation zu ändern, bedarf es dringend eines abgestimmten Vorgehens, das auf drei Elementen beruht. Diese sollten gleichzeitig entfaltet werden, wenngleich ausgehend von den unterschiedlichen Umständen und Phasen des Lebenszyklus in der Familie: zeigen, bilden und begleiten – um wieder zur ursprünglichen Wahrheit über die Liebe in Ehe und Familie zurückzufinden. 1. Zeigen: Die eheliche Liebe als Paradigma Eine veränderte Sichtweise erfordert an erster Stelle das Erkennen der Realität und eine angemessene Sprache, welche die Wirklichkeit entsprechend den kulturellen Anforderungen an jedem Ort und zu jeder Zeit darzulegen versteht19. Um die ursprüngliche Wahrheit der Person und ihrer Berufung zu Liebe wirksam weitergeben zu können, müssen gute Gründe vorgebracht werden. Einer davon besteht darin, zu den Anfängen zurückzugehen, zum ursprünglichen Plan Gottes für Ehe und Familie wie zu der Grundlage des Ehesakraments, dem Geschenk Gottes an die 19

Auf gleicher Linie Johannes XXIII., Ansprache Gaudet Mater Ecclesia zur Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils vom 11. Oktober 1962, in: AAS 54 (1962), S. 786 – 796 (792), im Hinblick auf die Kirche: „in vollkommenem Einklang mit der wahren Lehre …, aber auch diese soll im Lichte der modernen Forschungen und der Sprache des heutigen Denkens dargelegt und erforscht werden.“

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Kirche und an die Menschheit20. Die Wahrheit des Ursprungs ist auch heute vielen immer noch unbekannt, so daß sich die Berufung zur Liebe (die jeden Menschen betrifft) in ihrem konkreten Leben nicht zu verwirklichen vermag21. So stellt es eine weiter drängende Herausforderung dar, aufzuzeigen, was es heißt, Familie sein, und was familiäre Liebe bedeutet22. Es gilt, wieder zu entdecken, wer der Mensch ist, und was es bedeutet, zu lieben. Damit einhergehend wären eine Pädagogik und eine Sprache zu entwickeln, um diese Wahrheit einsichtig zu machen und wirksam an die nachwachsenden Generationen weiterzugeben. An erster Stelle betrifft diese Bildungsaufgabe die Familie selbst23. Die Familie ist nach einer bekannten Formulierung von Viladrich „der Ort der bedingungslosen Liebe zur entblößten Person“24. Sich ohne Voraussetzungen geliebt zu wissen, ist die beste Methode, um die Dynamik des Sich-Schenkens zu erlernen, das den Menschen heute so fremd erscheint. Die Familie ist der geeignete Raum, welcher das Wachsen und Reifen der Person in allen ihren Facetten möglich macht: die Familie ist eine Schule der Liebe, und ihre Lehrmethode ist das gemeinsam verbrachte Leben, es sind also die familiären Beziehungen25. Lieben erlernt man im Wege des Zusammenwirkens von erwiesener und empfangener Liebe in den verschiedenen Ausprägungen familiärer Liebe: Elternliebe, Kindesliebe, Geschwisterliebe. Aus diesem Grund sollten sich vor allem die Eltern der eminenten erzieherischen Wirkung des alltäglichen Lebens in den Familien bewußt sein, dem noch zu oft keine Aufmerksamkeit beigemessen wird oder das sogar eine geringere Wertschätzung erfährt als andere Facetten des Lebens und der persönlichen Beziehungen (wie solche gesellschaftlicher oder beruflicher Art). Die Gefahren für die Familie rühren nicht so sehr von theoretischen und abstrakten Ideologien her, sondern vielmehr von einem individualistischen und hedonistischen Lebensstil, der in den Familien selbst Fuß faßt und so die erzieherische Kraft der Familie in ihrer nachhaltigen Wirksamkeit schwächt. Haben sich individualistische Gewohnheiten oder Handlungsweisen erst einmal festgesetzt, ist dies tödlich für die Entwicklung des Familienlebens. Das gelebte Leben erzieht in der Familie, nicht die Theorie. So macht der praktische Individualismus jede Er20

Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (FN 8), Nr. 10. Ebd., Nr. 11. 22 Ebd., Nr. 18. 23 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1632: „Damit das Ja der Brauleute ein freier, verantwortlicher Akt ist und damit der Ehebund feste und dauerhafte menschliche und christliche Grundlagen hat, ist die Vorbereitung auf die Ehe höchst wichtig“ (Hervorhebung im Original). 24 Pedro Juan Viladrich, El valor de los amores familiares, Madrid 2005, S. 28. 25 Álvaro del Portillo, La familia, verdadera escuela de amor. Comentario de la Carta a las Familias, in: „L’Avvenire“ vom 24. Februar 1994: „Nichts bewegt uns so sehr zu lieben, so der hl. Thomas, als sich geliebt zu wissen. Und gerade die Familie – eine Gemeinschaft von Personen, in der ungeschuldete, uneigennützige und großzügige Liebe herrscht –, ist der Ort, wo man zu lieben lernt.“ 21

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ziehung zunichte, denn er macht dazu unfähig, „den anderen vorziehen“, worin gerade der der Liebe eigene Habitus besteht. Die erste und grundlegende familiäre Beziehung ist die eheliche Beziehung – ohne sie kann nicht gezeigt werden kann, was Liebe ist. Sie ist sowohl zeitlich die erste (weil sie die Familie begründet) wie auch in ihrer Bedeutung, hängen doch von ihr die weiteren familiären Beziehungen und deren Fähigkeit, Schule der Liebe zu sein, ab26. Dazu einige Anmerkungen: a) Die eheliche Liebe als verpflichtende Liebe27 Im Eheversprechen wird aus der ungeschuldeten Liebe der Verlobungszeit eine „geschuldete“ Liebe. Viladrich definiert die eheliche Liebe als das „Sich-LiebenWollen kraft Geschuldetsein“28. Gerade dieses Liebesversprechen bildet die Grundlage, um die Wahrheit der familiären Liebe als voraussetzungslose Liebe zu erlernen – ein jeder wird einfachhin infolge seiner Existenz geliebt. Aus der verpflichtenden Liebe der Eltern entsteht die Beziehung, die „es erlaubt, daß ein jeder existiert, wächst, lebt sowie lernt, wer er ist, wie man sich auszudrückt, worin die eigenen Aufgaben im Leben besteht, wie man die eigene Reife erlangt“29. Diese Liebe, in der sich jede Person um ihrer selbst willen geliebt weiß und nicht aufgrund dessen, was sie tut oder hat, schafft eine so intensive Gemeinschaft des Zusammenlebens, so daß in der Familie Werte in gänzlich anderer Weise weitergegeben werden können. Die entscheidenden Lernschritte für die Persönlichkeitsbildung sind diejenigen, die sich aus dem Zusammenleben in der Familie ergeben. Es handelt sich gewissermaßen um ein „Lernen durch Eintauchen“ im Wege des alltäglichen Lebens. Werte vermittelt man nicht durch Vorträge, sondern durch Vorleben. Das Bemühen der Ehegatten, ihr Eheversprechen mit Leben zu erfüllen, ist die Grundlage für die Erziehung in der Familie, lernen doch die Kinder aus der Beziehung ihrer Eltern, wie sich Schwierigkeiten überwinden lassen. Gleichfalls lernen sie, Liebe als Prozeß und als Verpflichtung zu verstehen. Das Eheband macht jene Verpflichtung sichtbar, in welchem ein jeder vom anderen für immer geliebt wird, und zwar mittels der Ereignisse des täglichen Lebens. So erweist sich das Eheband als das Band, aus dem „die ganze affektive Energie entsteht, welche die 26

Vittorio Maioli Sanese, Padres e Hijos. La relación que nos constituye, Madrid 2006, S. 42. 27 Johannes Paul II., Brief an die Familien vom 2. Februar 1994, Nr. 11 („Die Hingabe der Person verlangt ihrer Natur nach beständig und unwiderruflich zu sein“), in: AAS 86 (1994), S. 868 – 925 (883); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 112 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 31995, S. 22. 28 Pedro Juan Viladrich, El pacto conyugal, Madrid 1990, S. 29. 29 Maioli Sanese (FN 26), S. 42.

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Dauerhaftigkeit der familiären Beziehung schafft“30. Weiß sich und fühlt sich ein Kind, zumal ab der Pubertät, als Frucht dieser Liebe seiner Eltern, fällt es ihm leichter, lieben zu lernen. Und so ist die eheliche Liebe, welche die Eltern vereint und die Familie begründet, die bestmögliche entferntere Vorbereitung auf die Ehe der Kinder31. Hinzu kommt: Die voraussetzungslose Liebe der Ehegatten bildet die Grundlage für das Mittel in der Erziehung schlechthin: die Autorität. Die verbindliche Liebe der Eltern ist unvereinbar mit der Instrumentalisierung des anderen, und ebendieser Sicherheit bedarf es, damit in der Erziehung tatsächlich Autorität wirksam werden kann: eine Autorität, welche (An-)Forderungen als Ausdruck der Liebe verstehen läßt. Autorität fordert Kohärenz, diese kommt im Bemühen der Eltern zum Ausdruck, das Versprechen ihrer Liebe immer wieder neu mit Leben zu füllen. So erfahren auch die Kinder die Sicherheit, auf die gleiche umfassende Weise geliebt zu werden, wie sich ihre Eltern lieben, spüren die Unbedingtheit der Liebe ihrer Eltern und begreifen, daß die von den Eltern gestellten Anforderungen gerade zu jener väterlichen und mütterlichen Liebe gehören, ihnen in ihrem Wachstums- und Reifeprozeß zu helfen. Zerbricht das „für immer“ der Liebe, welche die Eltern einander schulden, gerät auch die Unbedingtheit der Liebe ins Wanken, mit der sich das Kind geliebt fühlt. Üblicherweise fragen kleine Kinder bei der Mitteilung einer Trennung ihrer Eltern sogleich: „Liebst Du jetzt auch mich nicht mehr?“ b) Charakteristika der Ehe: Geschlechtliche Verschiedenheit und Komplementarität Die Familie ist auch insofern Schule der Liebe, als sie aus jener „Dynamik der Liebe“ erwächst und lebt, eins zu sein, und dabei von zwei Grundgegebenheiten ausgeht, welche zwar verschieden, doch aufeinander bezogen sind: Mann und Frau. Das Spezifikum der Familie besteht darin, daß sie auf einer Beziehung der Verschiedenheit beruht, in der die Fruchtbarkeit der menschlichen Gegenseitigkeit zum Ausdruck kommt32. Die Annahme des Verschiedenen, ein in jeder Form der Liebe, besonders in der ehelichen (welche per definitionem Liebe zwischen Verschiedenen ist) zu beobachtendes Phänomen, gründet sich auf die Einheit, die aus zwei grundlegenden anthropologischen Unterschieden erwächst: Mann und Frau zu sein. Ist die Familie auch auf die Verschiedenheit gegründet, muß sie doch – durch die der Liebe eigene Dynamik – zur Einheit finden, denn in der Verbindung liegt ihre große Kraft. Anders als sonstige menschliche Zusammenschlüsse ist die Familie, eben weil ihr höchster Wert die Einheit ist, ein Zusammenschluß mit emotional30

Ebd., S. 81. Näher Aquilino Polaino-Lorente, Familia y autoestima, Madrid 2004, S. 106. 32 Pierpaolo Donati, Manual de Sociología de la familia, Pamplona 2003, S. 33 und 146. 31

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affektivem Charakter und ein Sozialsystem mit den Ehegatten an der Spitze, deren Eheversprechen Stabilität und Sicherheit vermittelt33. Ist nun die Familie eine auf der Verschiedenheit von Mann und Frau beruhende Beziehung, lernt man in ihr, auch andere Unterschiede in Liebe zu leben. Einheit in der Familie heißt nicht, immer einer Meinung zu sein. Um aber wahre Gemeinschaft zu sein, sollten die Ehegatten ihre Entscheidungen stets gemeinsam treffen. Gemeinsame Entscheidungen lassen in der Liebe wachsen und sind zudem ein unersetzlicher Baustein der Erziehung in der Familie, kommt so doch eine Fülle an Tugenden zur Geltung und wird das eigene Zurückstehen zugunsten des Wohls der anderen gefördert. Denn den Ehegatten ist der Wunsch gemeinsam, das Wohl der Familie zu fördern, und gerade darum werden sie sich darum bemühen, Entscheidungen gemeinsam zu treffen und die „Einheit“ für das Wohl der anderen zu suchen. Jede gemeinsam getroffene Entscheidung ist sowohl Ausdruck des verpflichtenden Charakters der Liebe wie auch die beste Schule für diese Liebe. In der Familie begegnen sich auch verschiedene Generationen. Insoweit bedeutet Familie, „unter den verschiedenen Kulturen der Generationen Emigrant werden“. So wie Menschen, die ihre Heimat verlassen und sich in der Fremde an eine andere Sprache, Kultur und Umgebung anpassen müssen, verliert man in gewisser Weise auch in der Familie „seine“ Heimat: Man muß sich um das Verständnis unter den Generationen bemühen und im Zusammenleben unterschiedliche Sprachen und Ansichten zur Geltung lassen kommen34. Die Beziehungen zwischen den Generationen erleichtern besonders die Erziehungsfunktion und den familiären Zusammenhalt, und zwar nicht nur in der Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln, sondern auch in einer oft nicht ausreichend wahrgenommenen und gewürdigten Dimension, nämlich den eigenen Kindern – die ihrerseits schon verheiratet sind – als Ehegatten und als Eltern Hilfe und Vorbild zu sein. Durch eine solche Begleitung können die Kinder von ihren Eltern lernen, „Ehegatten zu sein“ und bei Schwierigkeiten ihren Rat erbitten. So können die Eltern, ohne unziemliche Einmischungen in das eheliche Leben, „von außen“ unterstützen, durch ihre stärkende und beispielgebende Anwesenheit. Verschiedenheit bereichert und ist der beste Weg, um das Erziehungsziel der Familie zu realisieren: lehren, wie man liebt. Unterschiede bereichern nicht nur, sondern sind als die große Schule der Liebe auch fruchtbar, denn den anderen lieben, heißt, aus sich selbst herauszukommen, im „eigenen Inneren Platz zu schaffen“, annehmen und geben – kurz, die Dynamik, welche die Liebe braucht. Achtet und versteht man Verschiedenheit nicht als Bereicherung, als Möglichkeit zu lieben, entstehen nur Machtkonflikte innerhalb der Familie, Konflikte, die über kurz oder lang die Familiengemeinschaft zerstören können.

33 34

Aquilino Polaino-Llorente, Familia: locura y sensatez, Madrid 1993, S. 18. Donati (FN 32), S. 216.

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2. Erziehen: Lehren, wie man liebt Im Familienleben lehrt und lernt man – wie durch Osmose –, was Liebe bedeutet, und zwar schon durch die einfachen Grundvollzüge des Aufwachsens wie der ethischen Sozialisierung und Persönlichkeitsbildung. Diese erste affektive Bildung in der Familie ist die Grundlage der entfernteren Vorbereitung auf die Ehe35. Erziehung bringt ein Mehr an Vollkommenheit mit sich und verhilft zu einem Wachstum in allen Dimensionen der menschlichen Person: Vernunft, Willen und Gefühle. Eine besondere Herausforderung stellt sich der Familie bei der Erziehung im Gefühlsleben und der Sexualität36. Die Gesellschaft der Gegenwart ist „emotional korrekt“, der größte Teil kultureller Ausdrucksformen kreist um die Emotivität. Heute lernt der Mensch die Wirklichkeit „fühlen“, bevor er sie erkennt oder mit der Vernunft versteht. Affektivität wird einerseits verherrlicht, und gleichzeitig stellt man eine bestenfalls lückenhafte Erziehung im Gefühlsleben bei Kindern und Jugendlichen in ihrem natürlichen Umfeld – der Familie – fest. Eine solche Erziehung geschieht vorrangig in der Familie, durch die Beobachtung der Liebe und ihrer Ausdrucksformen37. Die Eltern gehen dabei auf natürliche und spontane Weise vor, sie bedürfen aber auch selbst der Bildung wie der Begleitung, um ihre Erziehungsaufgabe wahrnehmen zu können. Denn sie ist weder systematisch angelegt noch erfolgt sie bewußt; die Erziehung der Emotionen, Gefühle und Herzen der Kinder vollzieht sich vielmehr im Wege des eigenen affektiven Stils: so wie Ehegatten miteinander sowie mit ihren Kindern umgehen. So wie sich die Eltern ihre Zuneigung bekunden, so wie sie sich zugunsten der anderen zurückzunehmen verstehen, so wie Unannehmlichkeiten aufnehmen und angesichts leidvoller Erfahrungen reagieren, geben sie besten Anschauungsunterricht für ihre Kinder. Und gerade dabei benötigen die Ehegatten und Eltern Hilfe. Die affektive Erziehung in der Familie ist die beste entferntere Vorbereitung für die Ehe der Kinder, denn die „Erziehung der Gefühle führt zur Erziehung für die Bindung, ebenso zur Erziehung in der Freiheit und im Leiden“38. 3. Begleiten: Auf der Suche nach neuen Formen zur Unterstützung der Familien Am meisten hilft den Familien, die Wahrheit der ehelichen und familiären Liebe von neuem sichtbar zu machen. Wie sich eine solche Begleitung verwirklichen läßt, soll anhand einiger konkreter Vorschläge aufgezeigt werden39. 35

Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (FN 8), Nr. 66. Tomás Melendo, El desafío educativo en Benedicto XVI, in: La razón histórica 23 (2013), S. 41. 37 Juan Fernando Sellés, Antropología para inconformes, Madrid 2006, S. 278. 38 Polaino-Llorente (FN 33), S. 109. 39 Vgl. das Apostolische Schreiben Familiaris consortio (FN 8), Nr. 17. 36

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a) Grundhaltung für die Begleitung von Familien Als Grundhaltung für die Begleitung von Familien (unabhängig davon, ob sie sich in einer Krise befinden) bedarf es des Verzichts auf jegliche pessimistische Sichtweise hinsichtlich der Ehe. Ein solcher Pessimismus (mag er auch angesichts der Erfahrung vielfachen familiären Scheiterns nachvollziehbar sein), kann zu der Einschätzung verleiten, das Glück in der Ehe sei etwas Utopisches, und Treue ein nur von wenigen erreichtes Ideal. Wer Familien auf dem Weg begleitet, die Schönheit der Familie neu zu entdecken, um auf Krisen und Konflikte eine positive Antwort zu finden, wird selbst vom sicheren Vertrauen in die Kraft der Wahrheit über die Ehe ausgehen, ohne dabei die Schwierigkeiten im Leben vieler Familien heute zu ignorieren oder zu unterschätzen. b) Hilfe und Begleitung von Familien ist nicht allein in Zeiten der Krise notwendig Ihrem Grundgedanken nach betrifft die Begleitung etwas für alle Notwendiges, normalerweise mit einer präventiven Zielsetzung in Bezug auf Konfliktsituationen. Von besonderer Wichtigkeit ist diese Begleitung in den Anfangsjahren einer Familie, indem sie dabei hilft, Schwierigkeiten im Zusammenleben ausfindig zu machen, zu verstehen und mit Sinn zu füllen. Sie soll darauf abzielen, bestimmte Haltungen zu gewinnen und Mechanismen der Kommunikation anzuwenden, die zu einem harmonischen Eheleben beitragen, vor allem: ¢ Kommunikation unter den Ehegatten (was nicht gesagt wird, wird auch nicht geteilt); ¢ gegenseitiger Respekt und Bewunderung der Ehegatten füreinander (um Konflikten vorzubeugen); ¢ Art und Weise, Schwierigkeiten zu begegnen (lernen, sie im familiären Zusammenleben gemeinsam und mit Erfolg zu bewältigen); ¢ Respekt vor den Unterschieden, die sich nicht ändern lassen; ¢ dem anderen Ehegatten Zeit und Zuneigung widmen (so wie es die Liebe erfordert); ¢ Bemühen um ein erfülltes und aktives Sexualleben (eheliche Beziehungen sind notwendig, wenn sie auch normalerweise nicht an erster Stelle stehen); ¢ den Bereich notwendiger persönlicher Freiheit des anderen Ehegatten festlegen und achten (auch wenn sie „ein Fleisch“ bilden, behält doch jeder Ehegatte seine Integrität und hat einen legitimen Bereich an Eigenständigkeit); ¢ Aufträge und Rollen ausgewogen und flexibel verteilen; ¢ ein „Mehr“ an Gemeinsamkeit: die Ehegatten müssen einander über diese Rolle und die der Eltern hinaus auch unzertrennliche Lebensgefährten sein40. 40

Polaino-Llorente (FN 33), S. 239 – 241.

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c) Begleitung von Familien in Schwierigkeiten Bei der Begleitung von Familien in Schwierigkeiten ist im Ausgangspunkt zu bedenken, daß eine Krise nicht zwingend Scheitern oder etwas unheilbar Pathologisches bedeutet. Krisen sind gewiß stets eine Bedrohung und ein Problem, doch ebenso sind sie auch eine Herausforderung, eine Chance zur Besserung, eine Gelegenheit zur Erneuerung wie zum Entdecken neuer Facetten der Personen und der Beziehungen in der Familie. „Jede neue Kritik, jede neue Frage über das Wesen der Familie erhält einen besonderen Wert: sie drückt weder eine Krise und noch viel weniger das Ende der Familie aus. Vielmehr hebt sie den Übergang deutlich hervor, und dieser (wie jeder) Übergang bedarf der Leitung, damit das Änderungsbedürftige geändert wird, und das erhalten bleibt, was fortbestehen soll“41. Die eheliche Liebe verlangt einen Lernprozeß der „Reinigungen und Reifungen“, welcher die Gelegenheit dafür bieten kann, die Qualität der Liebe zu mehren und zu verbessern42. Krisen wird es immer geben, doch ihre natürliche Bestimmung liegt darin, Reifung und Wachstum zu ermöglichen. d) Gründliche Kenntnisse der Anthropologie Derjenige, der Familien begleitet, benötigt gründliche Kenntnisse der Anthropologie und der menschlichen Psychologie sowie die Fertigkeiten, um die Mechanismen zur Lösung von Konflikten im spezifischen Umfeld der Familie richtig anzuwenden. Ferner muß er die Dynamik der Beziehungen in der Familie ebenso kennen wie ihre Besonderheiten und Unterschiede im Verhältnis zu anderen menschlichen Beziehungen. Weiter ist die Natur der Familie als „Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“ in Rechnung zu stellen, damit die zur Anwendung kommenden Mittel zur Wiedergewinnung der familiären Einheit führen, und nicht einen bloßen „Nichtangriffspakt“ erreichen. Die Mechanismen der Verhandlung bzw. Mediation dürfen niemals die beschriebene familiäre Dynamik unbeachtet lassen. e) Bedeutung der Vergebung Von besonderer Bedeutung ist es, die Bedeutung der Vergebung im fortschreitenden ehelichen und familiären Leben zu vertiefen und auszuarbeiten. Jede Korrektur im einzelnen, Änderung der Einstellung und des Verhaltens, jede Versöhnung, jeder Neubeginn erfordern das Gewähren wie das Empfangen von Vergebung. Sie ist zudem ein Akt der Liebe mit einer besonderen „heilenden Kraft“, denn sie befreit von der schmerzhaften Fessel des Grolls und schafft so die Grundlage für 41

Francesco d’Agostino, Elementos para una filosofía de la familia, Madrid 1991, S. 15. Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est über die christliche Liebe, Nr. 5, in: AAS 98 (2006), S. 217 – 252 (221); deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 171 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 2006, S. 10. 42

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eine neue Beziehung. Die Vergebung verlangt den Einsatz des Willens wie auch des Gedächtnisses: Vergeben heißt vergessen43. Sie bereichert sowohl denjenigen, der vergibt, wie den, dem vergeben wird. Vergeben ist ein „intensives Lieben“44, liebend verzeiht man und verzeihend liebt man, so daß gerade die Familie als „Schule der Liebe“ der Raum ist, in dem man lernt, zu vergeben, und in dem die Vergebung tagtäglich selbstverständlich gelebte Realität sein soll. In der Familie kann man jederzeit neu beginnen: auch nach etlichen Jahren kann man alles auf den Anfang zurückführen und von vorne beginnen45. Eine Familie ohne Vergebung wäre eine Familie ohne echte Liebe46.

IV. Notwendigkeit einer neuen Sprache und neuer Mittel Um den Familien zu helfen, die Schönheit der ehelichen Liebe und deren Erziehungspotential wieder zu entdecken, gilt es eine neue Sprache und geeignete Mittel zu finden, welche die Wahrheit der Ehe begreiflich machen lassen und eine immer wirksamere Hilfe in der Begleitung von Familien ermöglichen. Gewiß bestehen auf diesem Terrain schon diverse Initiativen, doch dies entbindet nicht von der Notwendigkeit, über neue Handlungsformen nachzudenken, um den gegenwärtigen Herausforderungen noch kreativer und wirkungsvoller zu begegnen. 1. Eine neue Sprache zur Darlegung der Wahrheit über die Familie Die Wahrheit über die menschliche Person und über die Familie bedarf zu ihrer Darlegung und Verbreitung einer neuen Sprache. Dabei handelt es sich um eine der menschlichen Natur eingestiftete Wahrheit, keineswegs also um eine rein religiös erklärbare Wahrheit. Daher muß sie auf eine allgemeinverständliche Art erläutert werden, nachvollziehbar auch für Nicht-Christen und Nicht-Gläubige. Ihre Darlegung soll dem Horizont der Menschen von heute angepaßt werden, was einen entsprechenden Niederschlag in der Sprache und vor allem in den verwendeten Begrifflichkeiten bedingt. Herkömmlich wurde die eheliche Liebe in einer methodisch vorgehenden und logisch akzentuierten Diktion erläutert, welche die Vernunft ansprach und an den Willen appellierte. Heute dagegen „denkt man mit den Gefühlen“ und sucht nicht primär Argumente der Vernunft. Der Begriff „Willen“ ist als solcher weithin nicht mehr verständlich, ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet er sich kaum 43

Polaino-Llorente (FN 33), S. 238. Eingehend Jutta Burggraf, Aprender a perdonar, in: Oliveros Fernández Otero (Hrsg.), Retos de futuro en educación, Madrid 2004, S. 157 – 182. 45 Maioli Sanese (FN 26), S. 49. 46 Francisco Javier Schlatter, Heridas en el corazón. El poder curativo del perdón, Madrid 2013, S. 19 f. 44

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noch in den Lehrbüchern der Psychologie und der Pädagogik und wurde durch den Terminus „Motivation“ ersetzt. Auch Begriffe wie „lieben“, „Tugend“, „Hingabe“, „Verpflichtung“ haben in den nachwachsenden Generationen einen Bedeutungswandel erfahren, so daß sie in ihrem ursprünglichen Sinn nicht mehr vollständig verstanden werden. Geht man von diesen Tatsachen aus, ist zur wirksamen Weitergabe der Wahrheit eine Methode zu entwickeln, die man mit Sokrates „mäeutisch“ nennen könnte. Dabei bestünde der erste Zugang zu den Menschen darin, ihr innerstes „Ich“ anzusprechen, nicht so sehr ihre Vernunft oder ihren Willen47. Von dieser inneren Sphäre der Intimität aus wären sodann, unter Beachtung allgemeingültiger Erfahrungen über Liebe, nach und nach die „klassischen“ Begriffe zu entfalten und mit Sinn zu füllen. So müssen nebeneinander Begriffe, Bilder und Beispiele Verwendung finden, die den Adressaten der Botschaft verständlich sind, um die Wahrheit so deutlich wie möglich ihren „Augen des Herzens“ sichtbar zu machen. Die Prämisse ist dabei stets, daß nicht allein Gläubige dazu willens und fähig sind, ganz und ungeteilt zu lieben und geliebt zu werden, sondern daß diese Sehnsucht im Herzen eines jeden Menschen begründet liegt: sie ist universal. Zum Wesen der Liebe gehört, daß diese Sehnsucht gleichzeitig eine Fähigkeit wie einen Mangel beinhaltet, welche die beiden Seite der einen Medaille „Liebe“ bezeichnen: geben und empfangen. Gemeinhin verspricht man sich eine solche ganze und ungeteilte Liebe in der Phase der Verliebtheit. („Ich liebe dich, und nur dich; das, was wir jetzt erleben, soll das ganze Leben andauern.“) Auch unter Jugendlichen besteht unverändert diese Sehnsucht, selbst unter den kirchenfernen. Allerdings fällt es ihnen schwer, das intuitiv Gefühlte und Verstandene auch als etwas Verpflichtendes wahr- und anzunehmen, als etwas, das Ausdrucksform dieser Liebe ist und vom Wert und der Würde des Menschen gefordert ist. Sie haben zwar den Wunsch, genau so geliebt zu werden, meinen aber, eine solche Liebe hänge nicht von ihnen ab, sondern vom „Zufall“, vom Glück oder (bestenfalls) von einem „guten Lauf der Dinge“. Demgegenüber schrecken sie vor der Hingabe zurück, welche diese Liebe erfordert, oder nehmen gar daran Anstoß. Für all diese Herausforderungen bedarf es gründlicher Kenntnisse der gegenwärtigen Verhältnisse sowie Kreativität und vor allem Geduld. Die damit verbundene Arbeit wird langsam und mühevoll verlaufen, sie verlangt immer wieder das Eingehen auf jeden einzelnen – aber sie kann ihr Ziel erreichen. Begrüßenswert wäre es dabei, wenn auch andere Akteure, seien es solche der Zivilgesellschaft (etwa Familienvereinigungen), seien es religiöse Gruppen, ihre Tätigkeiten im hier dargelegten Sinn so gut wie möglich koordinieren würden. 47

Die Synode 2014 hat einige Charakteristika des heutigen Menschen hervorgehoben, die einen guten Ausgangspunkt für diesen Zugang darstellen können: „sich um sich selbst zu kümmern, sein Innenleben zu erforschen, besser im Einklang mit den eigenen Emotionen und Gefühlen zu leben und Beziehungsqualität im Gefühlsleben zu suchen“, siehe Relatio Synodi (FN 1), Nr. 9.

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2. Neue Mittel der Unterstützung für Familien Zunächst sollten die bereits vorhandenen Mittel und Techniken der Konfliktlösung auf die besondere Konstellation des familiären Umfeldes angepaßt werden. In den letzten Jahrzehnten wurden für das Berufsleben Mechanismen wie Mediation, coaching und emotionelle Steuerung entwickelt. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, all dies auch auf den Bereich der Familie anzuwenden. Doch dabei wurde etwa die Mediation in allgemeiner Weise als Weg aufgezeigt, bei schon zerbrechenden Familien Spannungen und Konfrontationen zu vermindern. Was fehlt(e), ist der Versuch, sie auch als ein Mittel fruchtbar zu machen, das eine Versöhnung ermöglichen kann, sei es bei Eheschwierigkeiten, sei es bei anderen Arten familiärer Konflikte. Diese nämlich haben ihre eigenen Charakteristika, sind doch die familiären Beziehungen, in deren Kontext sie entstehen, grundverschieden von den Beziehungen in der Arbeitswelt oder in anderen Zusammenhängen. Folglich müssen bei der Lösung von familiären Konflikten Mittel und Wege gefunden werden, welche auf die Natur der familiären Beziehungen abgestimmt sind. Training in Kommunikation und emotioneller Steuerung sowie Techniken der Mediation, des Zuhörens und der Stärkung der Interaktion in der Familie können dabei eine große Hilfe sein. Doch die Grundvoraussetzung ist immer, daß all diese Mittel an die Natur der Familie angepaßt werden, liegt doch die Triebfeder ihrer Beziehungen in der Logik des Gebens, und nicht in der des Profits. 3. Fachliche Anforderungen an die Begleitung von Familien In vielen Ländern werden heute zwei Berufsgruppen bei familiären Konflikten konsultiert: die Therapeuten und die Mediatoren. Ein Therapeut ist für die Behandlung pathologischer Situationen zuständig, der Mediator soll dabei helfen, daß das Zerbrechen von Beziehungen mit so wenigen Verletzungen wie möglich vonstatten geht. Verblüffend ist, daß in der Berufsausbildung beider Gruppen üblicherweise ausgeblendet wird, daß die beste Lösung von Konflikten in der Wiederherstellung der familiären Einheit besteht. Das hat zur Folge, daß in der Praxis Therapeut wie Mediator allein dabei helfen, daß das Zerbrechen der Familie „schmerzlos“ geschieht. Es verdient festgehalten zu werden, daß es in zahlreichen Ländern kein spezifisches Berufsbild mit einer besonderen Ausbildung zur Wiederherstellung der familiären Einheit in Situationen „normaler“ Schwierigkeiten (also solchen nichtpathologischer Art) gibt. Das schon bestehende vielfältige Engagement auf diesem Feld (in Pfarreien, Initiativen, Vereinigungen usw.) ist überaus verdienstvoll, doch erfolgt es zumeist ohne fachspezifische Ausbildung und mit nur begrenzten zeitlichen Kapazitäten – beides verständlich, handelt es sich doch um ehrenamtliche Tätigkeiten.

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Soll die Aufgabe der Begleitung von Familien die gegenwärtige Situation tiefgehend umgestalten und zudem gesellschaftliche Auswirkungen entfalten (also nicht nur Katholiken, sondern alle Familien erreichen), ist es mit gutem Willen allein nicht getan. Gefordert sind eine entsprechende Vorbereitung auf diese Aufgabe und deren dauerhafte sowie professionelle Durchführung48. Nachfolgend sind die zentralen Aspekte zu benennen, welche in der Ausbildung derer zu behandeln sind, die sich hauptberuflich der Begleitung von Familien widmen. Es versteht sich, daß eine solche Ausbildung nicht bei der Vermittlung theoretischer Kenntnisse stehenbleiben kann, es bedarf vielmehr eines ganzheitlichen Ansatzes, in dem Theorie und Praxis Hand in Hand gehen. Im Ausgangspunkt hat eine solche Bildung solide Kenntnisse über die Familie und ihre Dynamik auf anthropologischem wie soziologischem Gebiet zu vermitteln. Zuerst einmal geht es darum, die Realität der postmodernen Familie zu verstehen: ihre Ansätze, ihre Entwicklung und die Konsequenzen, zu denen die gesellschaftlichen Veränderungen in den familiären Beziehungen geführt haben. All das bedarf einer Analyse der unterschiedlichen Entwürfe von Familie in einer multikulturellen Gesellschaft49. Unabdingbar ist eine gründliche, auf der Theologie des Leibes beruhende, Kenntnis der christlichen Anthropologie der Person und der Familie. Ebenso wesentlich ist das Wissen um die Bedeutung der menschlichen Sexualität, welche auf der geschlechtlichen Verschiedenheit wie Komplementarität basiert, denn hier liegt infolge weitverbreiteter Unkenntnis eine Quelle von Konflikten und Enttäuschungen im Leben vieler Eheleute50. Hierbei ist es hilfreich, sich Fähigkeiten anzueignen, bei der Beratungstätigkeit den Reichtum dieser Komplementarität in jeder Phase der affektiven und persönlichen Entwicklung aufzuzeigen, vor allem die unterschiedlichen Ausdrucksformen der Liebe bei Mann und Frau51. Gleichermaßen einzubeziehen ist die Kenntnis der verschiedenen Lebensabschnitte einer Familie sowie der in ihnen üblicherweise auftretenden kritischen Momente: Geburt der Kinder, wirtschaftliche Sorgen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Für diese Wegmarken im Leben einer Familie bedarf es der Entwicklung und Anwendung von Strategien der Optimierung, der Kompensation und der Prävention. Als hilfreich stellt sich weiter eine gewisse psychologische Vorbildung dar, die das nötige Rüstzeug vermittelt, um die Situation einer konkreten Familie zu ana48 Selbstverständlich soll das aufopferungsvolle und uneigennützige Engagement so vieler ehrenamtlicher Helfer nicht geringgeschätzt werden. Gleichwohl reicht diese Form der Begleitung von Familien nicht aus, es braucht gut vorbereitete Personen, die sich ausschließlich dieser Aufgabe widmen. Ergänzend sollten weitere Personen (insbesondere andere Familien), die entsprechend vorbereitet und eingestellt sind, bei dieser Aufgabe mithelfen. 49 Vgl. das Apostolische Schreiben Familiaris consortio (FN 8), Nr. 4, wonach sich „die Kirche, um ihren Dienst leisten zu können, um die Kenntnis jener Situationen bemühen (muß), in denen Ehe und Familie sich heute verwirklichen“. 50 Ugo Borghello, La crisis del amor, Madrid 2003, S. 50. 51 Ebd., S. 51.

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lysieren und zu verstehen sowie um die Natur von familiären Konflikten einschätzen zu können, die ein Tätigwerden erfordern. In der Ausbildung sind außerdem die Fähigkeiten zur Empathie und zur Kommunikation zu entwickeln: sie verhelfen dann dazu, Lösungsansätze für Schwierigkeiten aufzuzeigen, die für diese Familie in dieser Situation die angemessenen sind. Die Grundhaltung der Begleitung wird immer darin bestehen, die Personen wie die Beziehungen zu bestärken und sie zu ermutigen. Dabei ist die Familie eine Gruppe mit ihren Emotionen und Affekten: die Beziehungen spielen sich auf der Ebene der Intimität ab, und folglich ist es für die in einen familiären Konflikt Verwickelten äußerst schwierig, eine solche Situation objektiv zu sehen und das für die gesamte Familie Angemessene wie Erreichbare zu erfassen, zu wägen und umzusetzen. Will man den Familien dabei helfen, die für das Beziehungsleben erforderlichen Habitus zu erwerben und selbst in Krisen in ihrer Liebe zu reifen, bedarf es nicht nur des Wissens um die Abläufe familiären Lebens. Erforderlich sind zudem die Fähigkeiten des Zuhörens und der Gesprächsführung, um einen wirklichen Austausch unter den Ehegatten zu befördern und zugleich die Begleitung unparteiisch durchzuführen. Denn die Begleitung hat keine „operative“ Stoßrichtung; die Ehegatten selbst müssen lernen, ihre Schwierigkeiten untereinander zu lösen. Familiäre Konflikt oder Krisen führen zu einem Verlust des Sinns für die familiäre Einheit. Den Willen zur Zusammengehörigkeit, im Sein wie im Handeln, zurückzugewinnen, ist die elementare Aufgabe des Begleiters. Die in anderen Zusammenhängen auf dem Gebiet der Verhandlungsführung und Mediation entwickelten Mittel können auch hier hilfreiche Dienste leisten. Dabei ist stets zu bedenken, daß sie Mittel sind, also auf die Erfordernisse der Natur von Ehe und Familie anzupassen sind (und nicht umgekehrt). Das wirkliche Problem ist nicht der Konflikt, sondern die Reaktion auf den Konflikt. Eben darum sind die bei der Begleitung von Familien zur Anwendung kommenden Techniken immer auf die Bedürfnisse der Familien – im besonderen: der konkreten Familie – abzustimmen.

V. Schlußbemerkungen Diese Zeit, in der alles in Frage gestellt wird, bietet eine vorzügliche Gelegenheit, um neu zu entdecken, worin die wahre Bedeutung des „Familie-Seins“ besteht, was zu verändern ist und worin der unantastbare Kern der Ehe und Familie besteht. Die Kirche hat sich dieser Aufgabe mit ganzer Kraft zu widmen, sie betrifft alle Gläubigen, besonders aber die Laien52. Letztere sind durch göttlichen Ruf zur 52 Johannes Paul II., Nachapostolisches Schreiben Christifideles laici über die Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt vom 30. Dezember 1988, Nr. 40, in: AAS 81 (1989), S. 393 – 521 (469), weist der Familie die Aufgabe zu, „erster Ort der ,Humanisierung‘ der Person und der Gesellschaft“ zu sein; deutsche Übersetzung in dem vom Sekretariat der

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Heiligkeit inmitten der Welt berufen, gerade in den „normalen Verhältnissen des Familien- und Soziallebens, aus denen ihre Existenz gleichsam zusammengewoben ist“53. Ehe und Familie sind der primäre Ort des sozialen Engagements der Laien, denen nur von der Überzeugung ihres einmaligen und unersetzlichen Wertes für die Entwicklung der Gesellschaft und der Kirche her Rechnung getragen werden kann54. Die Laien, zumal die christlichen Familien, müssen wirkliche Subjekte der Familienpastoral sein55. Gerade sie haben auf verschiedenen Ebenen (in Pfarreien und Vereinigungen wie in der Ausübung des Berufs) und in unterschiedlichen Umgebungen (nicht allein im kirchlichen Umfeld, sondern inmitten der Gesellschaft) aktiv bei der Aufgabe der Begleitung von Familien (und zwar aller Familien, unabhängig davon, ob sie christlich oder wenigstens gläubig sind) mitzuarbeiten. Die Synode von 2014 hat zudem die Bedeutung einer „Spiritualität der Familie“ in Erinnerung gerufen56. So ist es eine dringende Aufgabe der Hirten, den Gläubigen das (gewiß hohe, und doch erreichbare) Ideal der Heiligkeit im ehelichen und familiären Leben vor Augen zu stellen57. Zu diesem Zweck sollen sie ihnen bei der Ausformung eines geistlichen Lebens helfen. Heiligkeit meint dabei nicht, das familiäre Leben mit Andachtsübungen „aufzufüllen“, sondern vielmehr, sie von den familiären Beziehungen selbst her aufzubauen, sind sie doch Beziehungen ungeschuldeter Liebe und großzügiger Hingabe an die anderen. Nach einer Wendung des seligen Álvaro del Portillo heiligen sich die Ehegatten dadurch, daß sie jene lieben, die Gott an ihre Seite gestellt hat, ihnen helfen und ihnen dienen58. Ehe und Familie als Berufung zu verstehen, sollte Leitbild für die ganze Familienpastoral sein, indem sie die Schönheit der Ehe aufzeigt, die im Einklang mit der Würde der Taufgabe gelebt wird59.

Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Heft 87 der Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Bonn 41991, S. 63. 53 II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen Gentium über die Kirche, Nr. 31, in: AAS 57 (1965), S. 5 – 71 (37). 54 Nachw. wie FN 52. 55 Relatio Synodi (FN 1), Nr. 30 und 37. 56 Ebd., Nr. 40. 57 Ebd., Nr. 34. 58 Montserrat Gas, Monseñor Álvaro del Portillo y la familia, in: Pablo Gefaell (Hrsg.), Vir fidelis multum laudabitur, Bd. 2, Rom 2014, S. 629 – 646 (641). 59 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute vom 7. Dezember 1965, Nr. 48, in: AAS 58 (1966), S. 1025 – 1115 (1067 ff.).

Autorenverzeichnis Bianchi, Mons. Prof. Dr. Paolo, Offizial des Regionalen Kirchengerichts der Lombardei Caffarra, Carlo Cardinal, Erzbischof von Bologna Díaz, Prof. Dr. Rafael, Professor für Dogmatik, insbesondere Theologie der Ehe, an der Päpstlichen Universität Santa Croce, Rom Franceschi, Prof. Dr. Dr. Héctor, Professor für Kanonisches Ehe- und Familienrecht an der Päpstlichen Universität Santa Croce, Rom Galván, Prof. Dr. José María, Professor für Moraltheologie an der Päpstlichen Universität Santa Croce, Rom Gas, Prof. Dr. Montserrat, Professorin für Familienwissenschaften an der Internationalen Universität von Katalonien, Barcelona Lacorte, Dr. M. Pilar, Studienleiterin am Institut für Familienwissenschaften an der Internationalen Universität von Katalonien, Barcelona Llobell, Prälat Prof. Dr. Dr. Joaquín, Professor für Kanonisches Prozeßrecht an der Päpstlichen Universität Santa Croce, Rom Malo, Prof. Dr. Antonio, Professor für philosophische Anthropologie an der Päpstlichen Universität Santa Croce, Rom Mückl, Prof. Dr. Stefan, Professor für Verkündigungsrecht sowie Staatskirchenrecht an der Päpstlichen Universität Santa Croce, Rom O’Callaghan, Prof. Dr. Paul, Professor für theologische Anthropologie an der Päpstlichen Universität Santa Croce, Rom Rossi-Espagnet, Prof. Dr. Carla, Professorin für Dogmatik an der Päpstlichen Universität Santa Croce, Rom