Die alte Welt: Von Land und Meer, Herrschaft und Krieg, Mythos, Kult und Erlösung 3805351860, 9783805351867, 9783805351850, 9783805351874

Die Begriffe Universalität und Globalisierung sind heute in aller Munde, aber sie sind nicht neu, ihre Wurzeln reichen b

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German Pages 706 Year 2019

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
I Land und Meer
1 Land als Lebensraum und Quelle der Macht
2 Oikos und Polis
3 Das Meer als Hindernis, Verkehrsweg und Siedlungsraum
4 Magie fremder Länder
Tartessos
Ägypten
Indien
5 Rom: Von einer italischen Landmacht zum Mittelpunkt der Oikumene
6 Politisierung des Meeres
7 Antike Wasser- und Landgrenzen
Hasdrubal-Vertrag
Limes
8 Orbis terrarum und Okeanos als variable Größen
Hanno
Pytheas
Nearchos
9 Phöniker und Griechen im Westen
Karthago
Alalia
II Mythos und Historie
1 Homer und kein Ende
Homerische Welten
Anachronistische Helden
Hesiods Realismus
2 Zwischen Realität und Zauber
Der Schild des Achilleus
Kirke und Kalypso
Zyklopen
Phäaken
3 Demokratischer Mythos
4 Der Mythos Alexander
5 Vergangenheit als Ideal
Cincinnatus
Fabius Maximus
6 Mythologische Verklärungen
Dido und Aeneas
Alpenübergang
Cannae
Numantia
7 Konstruktion des Barbaricum
Orient und Okzident als antithetische Größen
Barbaren des Westens
Ariovist
Gentes externae
III Kult und Erlösung
1 Erschaffung des Olymp
2 Religiöser Eifer
Phye zieht in Athen ein
Hermenfrevel
Sokratesurteil
3 Grundzüge römischer Religionsausübung
4 Christentum und römischer Staat
5 Handeln im göttlichen Auftrag
Alexander in Troja
Hannibal und Melkart
Scipio und Jupiter
Princeps a diis electus
Constantin und Christus
6 Durchsetzung des Christentums
7 Fundamentalistische Tendenzen im römischen Kultbetrieb
8 Herrscherkult im Christentum
9 Paradigmenwechsel: Zur Entgöttlichung christlicher Herrscher
IV Herrschen und Dienen
1 Sklaverei zwischen Regelerscheinung und Massenphänomen
2 Die Stimme des Ich: Archilochos, Sappho, Alkaios, Theognis, Pindar
3 Verblendung der Macht
Kroisos
polis tyrannos
4 Militärverfassung als Spiegelbild der Gesellschaft
Sparta
Makedonien
5 Markante Profile
Perikles
Pompeius
Cicero
Fulvia
Paulus
Julian
Christliche Wortführer
6 Soziale Machtgruppen
Griechische Aristokraten
Vornehme Karthager
Römische Senatoren
7 Gescheiterte Machtmenschen
Themistokles
Hannibal
Cato
V Krieg und Gewalt
1 Gewaltsame Exzesse
2 Epochale militärische Konfrontationen
Salamis
Gaugamela
Actium
Hadrianopel
3 Präventivkriege?
Peloponnesischer Krieg
Römisch-karthagischer Krieg
4 Kriegsschuldfrage
5 Zwischen Gewalt und Staatsstreich
Gracchen
Marius und Sulla
6 Geld und Krieg
Zur Finanzierung des 2. Römisch-karthagischen Krieges
Nordafrikanisches Wirtschaftswunder
Eroberung Galliens
Einnahme Jerusalems durch Titus
7 Urbane Pulverfässer: Antiochia, Alexandria, Rom, Thessalonike, Constantinopel
VI Regierungsstile – Herrschaftsformen
1 Solonischer Bürgerstaat
2 Kalifat oder Zivilgesellschaft
3 Politische Diskurse
Alleinherrschaft
Monarchische Theorie
Tyrannis
Demokratie
Res publica populi Romani
4 Caesarismus als Macht der Worte, Bilder und Bajonette
5 Fortschreibung des Ausnahmezustandes: Augusteisches Principat
6 Spätantikes Herrschertum
7 Zur Erosion kaiserlicher Machtgrundlagen
VII Monotheismus als politisches Problem
1 Das Christentum wird salonfähig
2 Christliche Heterogenität
3 Konkurrierende Diskurse
Donatistenstreit
Trinitarischer Konflikt
Monophysiten – Dyophysiten
4 Einbettung des Monotheismus in eine polytheistische Welt
5 Klerikale Machtkämpfe
6 Tauziehen um die religiöse Deutungshoheit
7 Imperator christianissimus
8 Neue Räume der Macht: Christliche Gotteshäuser
VIII Ikonographie der Macht
1 Bausteine für eine Phänomenologie des antiken Herrscherbildes
2 Früheste Beispiele
Minoische Ära
Mykenische Epoche
Geometrische Zeit
3 Machtmenschen der archaischen Welt
4 Herausragende Individuen der Poliswelt
5 Brückenschlag zum Hellenismus: Zwischen Kontinuitätund Wandel
6 Hellenistische Potentaten
Alexander: Die Geburt der individuellen Herrscherdarstellung
Diadochen: Zitation und Variation
Ausblick: Herrscher und Gott
7 Karthagische Machtmenschen
8 Auftrumpfende Bilder der späten römischen Republik
9 Herrscherrepräsentation in augusteischer Zeit
10 Kaiserliche Repräsentation in der Spätantike
Constantinsbogen
Constantin Imperator
Constantius' II. Rombesuch
11 Christusdarstellungen
Anmerkungen
Bibliographie
Abbildungsnachweis
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Die alte Welt: Von Land und Meer, Herrschaft und Krieg, Mythos, Kult und Erlösung
 3805351860, 9783805351867, 9783805351850, 9783805351874

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Pedro Barceló

Eine Gesamtschau auf die ganze Antike

Pedro Barceló, geb. 1950, war bis 2015 Professor für Geschichte des Altertums an der Universität Potsdam. Innerhalb der griechisch-römischen Antike beschäftigte sich der international renommierte Historiker unter anderem mit der Geschichte von Religion und religiösem Wandel, von Randgruppen und der Rolle des Christentums. Bei der wbg erschien von ihm u.a. die Biographie Alexander der Große (2007) sowie Kleine griechische Geschichte (2004) und Kleine römische Geschichte (2005).

Von etwa 1500 v. Chr. bis 500 n. Christus war die Mittelmeerwelt ein zusammenhängender Kulturraum, gekennzeichnet von einem vielfältigen Fundus gemeinsamer Vorstellungen genauso wie von konkurrierendem Wettstreit. Facettenreich beschreibt der renommierte Althistoriker Pedro Barceló ein Panorama der prägenden Faktoren, die die antike Geschichte bestimmten – und die bis heute noch ihre Wirkmacht entfalten: Land und Meer, Mythos und Historie, Kult und Erlösung, Herrschaft, Krieg und Gewalt, Regierungsstile, aufkommender Monotheismus und die Ikonographie der Macht.

Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a.M. Umschlagbild: »Akropolis bei Sonnenuntergang« Gemälde (1859) von Louis Gurlitt Foto: © akg images.

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8053-5186-7

Barceló

Die Alte Welt

Die Alte Welt Von Land und Meer, Herrschaft und Krieg, Mythos, Kult und Erlösung

Hellenismus und das Römische Reich schufen einen großen, mediterranen Kulturraum. Pedro Barceló entwirft, als Summe seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Alten Welt, das Panorama der maßgeblichen Aspekte der politischen und ökonomischen, der sozialen und religiös-kultischen Entwicklungen der Antike: Welche überzeitlichen Mythen durchziehen die griechisch-römische Mittelmeerkultur? Welche gemeinsamen Vorstellungen von Göttlichem, von Herrschaft oder Feindschaft? Denn es sind vor allem diese anthropologischen Phänomene, die den Kulturraum der Phönizier und Perser, der Griechen und Römer sowie der Kelten und Germanen zu einem großen Ganzen machten, und die uns heute noch prägen – weil wir in ihren Fußstapfen wandern.

Pedro Barceló Die Alte Welt

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Pedro Barceló

Die Alte Welt Von Land und Meer, Herrschaft und Krieg, von Mythos, Kult und Erlösung in der Antike

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Zabern ist ein Imprint der wbg. © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Leoni Hellmayr, Baden-Baden Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Umschlagabbildung: „Akropolis bei Sonnenuntergang“. Gemälde (1859) von Louis Gurlitt Foto: © akg images. Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8053-5186-7 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8053-5185-0 eBook (epub): 978-3-8053-5187-4

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Inhalt

Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I Land und Meer

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

1 Land als Lebensraum und Quelle der Macht 2 Oikos und Polis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

3 Das Meer als Hindernis, Verkehrsweg und Siedlungsraum 4

. . . . . . . . 38

Magie fremder Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Tartessos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

5 Rom: Von einer italischen Landmacht zum Mittelpunkt der Oikumene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 6 Politisierung des Meeres

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

7 Antike Wasser- und Landgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Hasdrubal-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Limes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 8

Orbis terrarum und Okeanos als variable Größen . . . . . . . . . . . . . . 78 Hanno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Pytheas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Nearchos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

9 Phöniker und Griechen im Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Karthago . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Alalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

5

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Inhalt

II Mythos und Historie

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

1

Homer und kein Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Homerische Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Anachronistische Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Hesiods Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

2

Zwischen Realität und Zauber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Der Schild des Achilleus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Kirke und Kalypso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Zyklopen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Phäaken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

3 Demokratischer Mythos 4 Der Mythos Alexander

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

5 Vergangenheit als Ideal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Cincinnatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Fabius Maximus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 6

Mythologische Verklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Dido und Aeneas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Alpenübergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Cannae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Numantia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

7 Konstruktion des Barbaricum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Orient und Okzident als antithetische Größen . . . . . . . . . . . . . . 150 Barbaren des Westens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Ariovist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Gentes externae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 III Kult und Erlösung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

1 Erschaffung des Olymp 2

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Religiöser Eifer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Phye zieht in Athen ein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Hermenfrevel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Sokratesurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

3 Grundzüge römischer Religionsausübung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

6

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Inhalt

4 Christentum und römischer Staat

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

5 Handeln im göttlichen Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Alexander in Troja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Hannibal und Melkart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Scipio und Jupiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Princeps a diis electus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Con­stantin und Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 6 Durchsetzung des Christentums

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 Fundamentalistische Tendenzen im römischen Kultbetrieb 8 Herrscherkult im Christentum

. . . . . .

233

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

9 Paradigmenwechsel: Zur Entgöttlichung christlicher Herrscher

IV Herrschen und Dienen

224

. . .

250

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

1 Sklaverei zwischen Regelerscheinung und Massenphänomen

. . . . . 256

2 Die Stimme des Ich: Archilochos, Sappho, Alkaios, Theognis, Pindar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 3 Verblendung der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Kroisos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 polis tyrannos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 4 Militärverfassung als Spiegelbild der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 279 Sparta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Makedonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 5 Markante Profile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Perikles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Pompeius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Cicero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Fulvia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Julian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Christliche Wortführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 6 Soziale Machtgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Griechische Aristokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 7

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Inhalt

Vornehme Karthager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Römische Senatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 7 Gescheiterte Machtmenschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Themistokles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Hannibal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Cato . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 V Krieg und Gewalt 1 Gewaltsame Exzesse

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

2 Epochale militärische Konfrontationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Salamis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Gaugamela . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Actium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Hadrianopel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 3 Präventivkriege? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Peloponnesischer Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Römisch-karthagischer Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 4 Kriegsschuldfrage

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

392

5 Zwischen Gewalt und Staatsstreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Gracchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Marius und Sulla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 6

Geld und Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Zur Finanzierung des 2. Römisch-karthagischen Krieges . . . . . . 409 Nordafrikanisches Wirtschaftswunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Eroberung Galliens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Einnahme Jerusalems durch Titus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420

7 Urbane Pulverfässer: Antiochia, Alexandria, Rom, Thessalonike, Con­stantinopel . . . . . . . . . . . . . . . . VI Regierungsstile – Herrschaftsformen 1 Solonischer Bürgerstaat

. . . . . . . . . . . .

425

. . . . . . . . . . . . . . . . . 432

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433

2 Kalifat oder Zivilgesellschaft

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

8

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Inhalt

3 Politische Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Alleinherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Monarchische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Tyrannis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Res publica populi Romani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 4 Caesarismus als Macht der Worte, Bilder und Bajonette

. . . . . . . . 471

5 Fortschreibung des Ausnahmezustandes: Augusteisches Principat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 6 Spät­antikes Herrschertum

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

7 Zur Erosion kaiserlicher Machtgrundlagen

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII Monotheismus als politisches Problem 1 Das Christentum wird salonfähig 2 Christliche Heterogenität 3

504

. . . . . . . . . . . . . . . 513

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

514

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518

Konkurrierende Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Donatistenstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Trinitarischer Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 Monophysiten – Dyophysiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527

4 Einbettung des Monotheismus in eine polytheistische Welt 5 Klerikale Machtkämpfe

. . . . . . . 534

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541

6 Tauziehen um die religiöse Deutungshoheit 7 Imperator christianissimus

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 548

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 Neue Räume der Macht: Christliche Gotteshäuser VIII Ikonographie der Macht

555

. . . . . . . . . . . . . 560

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571

1 Bausteine für eine Phänomenologie des antiken Herrscherbildes . . . 572 2

Früheste Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Minoische Ära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Mykenische Epoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Geometrische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 9

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Inhalt

3 Machtmenschen der archaischen Welt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588

4 Herausragende Individuen der Poliswelt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593

5 Brückenschlag zum Hellenismus: Zwischen Kontinuität und Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

597

Hellenistische Potentaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Alexander: Die Geburt der individuellen Herrscherdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Diadochen: Zitation und Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 Ausblick: Herrscher und Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618

7 Karthagische Machtmenschen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622

8 Auftrumpfende Bilder der späten römischen Repu­blik 9 Herrscherrepräsentation in augusteischer Zeit 10

. . . . . . . .

. . . . . . . . . . 624

. . . . . . . . . . . . . . . . 628

Kaiserliche Repräsentation in der Spät­antike . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 Con­stantinsbogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 Con­stantin Imperator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Constantius’ II. Rombesuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643

11 Christusdarstellungen Anmerkungen Bibliographie

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681

Abbildungsnachweis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

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ie nachfolgenden Ausführungen wollen vereinzelte Beobachtungen und Teilerkenntnisse zu einem Bild der Antike bündeln, das sich aus unterschiedlichen Elementen zusammensetzt. Eine gewisse Novität darf ihre Gesamtanlage beanspruchen, die eine Mischung aus Einzeldarstellungen und historischen Synthesen vereint, die sich mit den verschiedensten Facetten der politischen, ökonomischen, sozialen und kultischen Entwicklungen der Alten Welt auseinandersetzen. Es werden vielfältige thematische Einblendungen geboten, die Streiflichter auf die untersuchten Episoden und Pro­ blemfelder werfen. Erst ihre Zusammenschau ermöglicht den Aufbau panoramischer Sichtweisen, die zu übergreifenden Fragestellungen anregen sollen. Die ausgewählten Aspekte können, trotz ihres fragmentarischen Charakters, Einblicke in die faszinierende Welt der Antike und deren Bedeutung für uns heute vermitteln. Für unsere Gegenwart liefert gerade die Antike überschaubare Modelle möglichen menschlichen Verhaltens. Denn wie kaum ein anderes Zeitalter bietet sie, als ein in jeder Hinsicht geschlossener Kulturkreis, eine ausgezeichnete Materialfülle, um sie mit den darauf aufbauenden historischen Nachfolgeprozessen zu vergleichen. Die im Laufe der Zeit aufgekommenen Sinngebungen der Philosophen, Kulturwissenschaftler, Theologen und Historiker, die sich auf antike Errungenschaften beziehen, sollen ebenfalls einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Es geht um den Beispielcharakter der Antike als Labor für vergangene Ereignisse, als Quelle der Inspiration und Erfahrung für menschliche Grenzsituationen, sowie periodisch auftretende Krisenlagen. Gleichzeitig ist auch ihre Bedeutung als unerschöpfliches Archiv der Erinnerung, als Katalysator unseres kulturellen Erbes und ihre Vorbildfunktion für die zivilisatorische Entwicklung der nachfolgenden Epochen zu würdigen. Das Wissen darüber, dass jede Beschäftigung mit vergangenen Epochen lediglich Deutungen der ihr zugrunde liegenden Realitäten zu Tage fördern kann und die Einsicht, dass Gewissheiten auf diesem Gebiet kaum zu ­erlangen sind, bestimmten die Konzeption und den Fortgang der Arbeit, 11

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Einleitung

die eine Art Rechenschaftslegung über antike Kernthemen vorzulegen ­versucht. Gleichzeitig möchte sie deren Bedeutung für ähnlich gelagerte Fragestellungen, Ereigniszusammenhänge oder Gefühlslagen unseres eigenen Erfahrungshorizontes festhalten. Insofern liegt hier kein Lehrbuch, sondern eine Sammlung von Impressionen zur Geschichte und zu Geschichten der Alten Welt vor. Es kreist um anthropologische Phänomene, die seit ihrer Genese eine ungebrochene Folgewirkung in Zeit und Raum entfaltet haben. Anders ausgedrückt: Sie handeln von unserer Vorgeschichte, die uns deswegen unmittelbar berührt, weil wir in ihr verankert sind und immer noch in ihren Fußstapfen wandeln. Ihre Zusammenstellung ist den Anforderungen nach Relevanz und Aktualität verpflichtet, wobei natürlich eigene Neigungen und Sichtweisen bei der Auswahl der Inhalte zum Tragen gekommen sind. In ihrer Gesamtheit wollen die getroffenen Aussagen einen Leitfaden zeichnen, um historische Rückblicke, die klassische Form der Vergegenwärtigung von Vergangenheit, zu ermöglichen. Zugleich sollen sie aber auch einen aussagekräftigen Ausschnitt über die Heterogenität und Komplexität antiker historischer Zusammenhänge vermitteln. Dies gilt vornehmlich für jene Aspekte, denen gerade heute eine besondere Relevanz zukommt, weil sie auf Entwicklungslinien zurückgeführt werden können, die aus dem Altertum stammen und noch nicht als erledigt oder gar als abgeschlossen zu betrachten sind – trotz der langen Zeitspanne, die zwischen ihnen liegt. Die thematisierten Episoden begreifen das Geschehen des klassischen Altertums, also das Wirken der Hellenen, Perser, Punier, Juden, Römer, Iberer, Kelten und Germanen, um nur die einschlägigen Akteure zu nennen, als eine miteinander verwobene Sinneinheit, die in einer gemeinsamen zivilisatorischen Entwicklungsstufe wurzelte. Sie wird konstituiert durch analoge politische, ökonomische, soziale, religiöse und geistige Maßstäbe und Wertvorstellungen, die trotz aller Differenzen und unterschiedlichen regionalen Ausprägungen letztlich ein zusammengehörendes Ganzes ergeben. Besonders gut sichtbar wird die Einheit der antiken Weltkultur an der Ausgestaltung der auf dem Sklaveneinsatz beruhenden Arbeitswelt und der Produktionsverhältnisse der griechisch-römischen Gesellschaft, die sich durch eine erstaunliche Homogenität und Langlebigkeit auszeichnen. Ein anderes verbindendes Element stellt die Genese, Entfaltung und Ausbreitung des äußerst komplexen Kultwesens dar, sowie die Art seiner sozialen und politischen Instrumentalisierung im Wandel der Zeit. Auch das Gedeihen der christlichen Gemeinden wäre ohne ihren jüdischen Ursprung, den geistesgeschichtlichen Beitrag der hellenischen Intellektualität und das römische Rechtsdenken unvorstellbar gewesen: 12

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Einleitung

Nirgendwo wird Interkulturalität sinnfälliger als auf dem Feld des christ­ lichen Kultbetriebs und dessen Ideenwelt. Als weiteres Element für die Bindewirkung der Antike lassen sich die auf griechischem und römischem Boden entstandenen Verfassungsentwürfe und Staatsformen anführen, welche die Grundlagen der politischen Architektur und Denkvorstellungen der Moderne bilden. Allein diese wenigen Schwerpunkte belegen die Modellhaftigkeit und Integrationsfähigkeit antiker Lebensformen sowie ihren hohen Grad an innerer Vernetzung und Affinität. Begriffe wie Universalität und Globalisierung, heute in aller Munde, sind alles andere als neu und schon gar keine Schöpfung unseres Jahrhunderts. Ihre Vorgeschichte reicht bis in die durch die Prägekraft des Hellenismus und des Imperium Romanum geschaffenen Kulturzonen zurück. Im Einklang mit diesen Prämissen umfasst das Spektrum der untersuchten Problemfelder neben Grundfragen des menschlichen Zusammenlebens auch Aspekte der Lebensbedingungen diverser antiker Gesellschaften sowie die Wirkmächtigkeit überregionaler Raumhorizonte unter Einbeziehung ihrer Grenzerfahrungen. In diesen Kontext ordnet sich das Ineinandergreifen von Land und Meer als naturgegebene Schaubühnen der Geschichte ein, ebenso wie die Verflechtung von Mythos und Historie als Sphäre der Erinnerung und als Chiffre der Weltdeutung. Auch das Spannungsverhältnis zwischen Herrschen und Dienen als Paradigma für die Machtansprüche Einzelner oder von Kollektiven gehört dazu sowie die Sprengkraft der G ­ ewaltpotenziale, die in den Tiefenstrukturen der antiken Gesellschaften loderten und immer wieder eruptive Ausbrüche erfahren haben, was sich sowohl anhand der periodisch auftretenden Revolten als auch anhand einer endemischen Kriegführung aufspüren lässt. Daneben sind anthropologische Konstanten wie der Vorbildcharakter der Vergangenheit für die Bewältigung der Gegenwart oder die Folgen jeder Form ungehemmter Machtausübung für den Zusammenhalt der näher betrachteten Ereigniszusammenhänge berücksichtigt worden. Als ähnlich relevante Frage­stellungen, denen nachgegangen wurde, erwiesen sich die auf antikem Boden entwickelten Herrschaftsformen, der innere Zusammenhang zwischen Geld und Krieg, die Entdeckung des Fremden als Strategie der Selbstvergewisserung beziehungsweise die vielfachen geistigen Sehnsüchte und Bedürfnisse der aus den verschiedenen Ethnien stammenden Individuen sowie die Antworten darauf, die in den einschlägigen Kultgemeinschaften der Alten Welt gegeben wurden. Blickt man im Detail auf die behandelten Gegenstände, so wird ersichtlich, dass neben Themen aus dem klassischen Repertoire der Beschäftigung mit 13

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Einleitung

dem Altertum (Solonischer Bürgerstaat, Peloponnesischer Krieg, Sokratesurteil, Sparta, der Mythos Alexander, Gracchische Reformen, Eroberung Galliens, Limes, Christentum und römischer Staat etc.), andere weniger geläufige, aber deshalb nicht minder wichtige Fragekomplexe (Alalia, Numantia, PhyeEpisode, Deiokes, Orient und Okzident als antithetische Größen, Cincinnatus, klerikale Machtkämpfe etc.) eine gebührende Würdigung erfahren haben. In vielen Fällen konnten Neuakzentuierungen vorgenommen werden, die bisher vernachlässigte Aspekte in einem neuen Licht erscheinen lassen. Außerdem dienen diese Akzentuierungen der perspektivischen Erweiterung vorliegender Ergebnisse. Darüber hinaus soll über eine Reihe für das Verständnis der Antike relevanter Sachverhalte (Anachronistische Helden, Dido und Aeneas, Politisierung des Meeres, Herrschaftslegitimation, Herrscherkult im Christentum etc.), Einrichtungen (Polis, Tyrannis, Caesarismus, Augusteisches Principat, Spät­antikes Herrschertum, christliche Gotteshäuser etc.), Individuen (Kroisos, Themistokles, Hannibal, Pompeius, Fulvia, Julian etc.) und Problemfelder (demokratischer Mythos, Kalifat oder Zivil­ gesellschaft, fundamentalistische Tendenzen im römischen Kultbetrieb, Erosion kaiserlicher Machtgrundlagen, trinitarischer Diskurs etc.) informiert und zum Nachdenken angeregt werden. Die in den einzelnen Kapiteln verzeichneten historischen Zusammenhänge, erörterten Ereignisabfolgen oder Deutungen bieten jeweils einen konzisen Überblick, der als Einstieg für weitere Fragestellungen dienen kann. Im Idealfall sollen die vorgelegten Ergebnisse den Leser zu neuen gedanklichen Anstößen für eine Beschäftigung mit den ausgewählten Pro­ blemfeldern anspornen. Bei der Präsentation der inhaltlichen Schwerpunkte des Buches wurde auf die Ökonomie der Ausführung und auf die Übersichtlichkeit der vorgetragenen Argumente besonderer Wert gelegt, was ein wesentlicher Grund für die relative Kürze der einzelnen Kapitel ist. Kernaussagen sollen prägnant hervorgehoben werden und den Vergleich mit analogen Sachverhalten erleichtern. Denn trotz der Vielfalt der untersuchten Materie gibt es teils deutliche, aber auch manche auf den ersten Blick nicht erkennbare Bezüge, Rückverweise und Verbindungen zwischen den an unterschiedlichen Stellen behandelten historischen Zusammenhängen. Daher sind manche Fragestellungen beziehungsweise bestimmte Individuen unter verschiedenen Rubriken aufgegriffen worden, um ihre vielschichtigen Bedeutungen und ihre diversen Merkmale zu konturieren. Daneben haben sich einige Themen als epochenübergreifende Untersuchungsobjekte angeboten. So zieht sich beispielsweise die Problematik der historischen Würdigung von Machtdiskursen unter Einbeziehung der 14

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Einleitung

Frage nach der bildlichen Darstellung von Herrschaft wie ein Leitfaden durch die gesamte Abhandlung. Ähnliches lässt sich über die Politisierung der Religion in der vorchristlichen und christlichen Ära und über die Mythisierung der Geschichte als Rechtfertigungsstrategie oder über das spezi­ fische Eigengewicht des Individuums für das allgemeine Verständnis bestimmter Konfliktlagen oder ganzer Geschichtsabläufe sagen. Um der Arbeitsweise der antiken Autoren gerecht zu werden, die stets an bedeutenden Persönlichkeiten orientiert bleiben, wurden über eine Reihe von ihnen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, sowohl aus der Sicht der literarischen Quellen als auch aus der Perspektive der archäologischen Überreste, mal kürzere, mal längere Porträts angefertigt, was besonders im letzten Kapitel des Buches zum Ausdruck kommt. Sie dienen der Verdeutlichung ihrer Singularität als historisch Handelnde und gleichzeitig der besseren Durchdringung der Epoche, die sie repräsentieren oder gar entscheidend mitgeprägt haben. Ähnlich wie Plato der griechischen Philosophie, Cicero der lateinischen Beredsamkeit, Paulus dem frühen Christentum Grundlage und Gestalt verliehen haben, lässt sich dies auch im politischen Bereich über Perikles als Personi­fizierung der athenischen Demokratie, Alexander und Caesar als dämonische Machtmenschen, Augustus als dem Begründer einer Staatsform, die Jahrhunderte lang die Geschicke der Welt mitgeprägt hat, oder Con­stantin als Umgestalter des antiken Kultwesens sagen. Derartige epochenübergreifende, unverwechselbare Charaktere aus dem Altertum, die neben vielen anderen behandelt werden sollen, entfalten eine bis heute spürbare Wirksamkeit. Mit Bedacht wurde auf eine Auswahl von Zeugnissen aus unserer reichhaltigen antiken Überlieferung zurückgegriffen, um die Themen mit zeitnahem Kolorit anzureichern. Die einschlägigen Textpassagen sollen besonders aus­ sagekräftige Ereignisse oder Entwicklungslinien illustrieren und gleichzeitig dokumentieren. Einige dieser Quellenstellen bilden einen geeigneten Ausgangspunkt für weitere Fragestellungen. Darüber hinaus können sie helfen, umstrittene historische Sachverhalte zu erschließen und deren Tragweite einer erneuten Überprüfung und kritischen Würdigung zu unterziehen. Einheit und Diversität, so könnte eine Kennzeichnung der Dossiers lauten, die in ihrer Gesamtheit als eine Art bunter Katalog oder bilanzierendes Panoptikum ausgewählter antiker Episoden begriffen werden können und sich durch ihren Facettenreichtum, ihre Wirkmächtigkeit oder aber ihre Singularität auszeichnen. Eindeutigkeit und Komplexität wäre eine weitere denkbare Denomination für jene Kapitel, die aufgrund ihres antithetischen Charakters ein möglichst großes Spektrum kontroverser historischer Sichtweisen zu erfassen versuchen. Dennoch sind, trotz ihrer teilweise disparaten Ausrichtun15

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Einleitung

gen, viele der dargebotenen historischen Deutungen kognitiv näher miteinander verzahnt, als ein erster Blick vielleicht vermuten lässt. Die Eigenart der vorliegenden Abhandlung, die keine strenge Chrono­ logie befolgt, und deren Stoffauswahl, die auf Sinnzusammenhänge hin orientiert bleibt, sind für die verschiedenen Stilebenen verantwortlich. Diese hängen ab sowohl von der Art des jeweils gewählten methodischen Zugriffs als auch von der Absicht, die ihre Ausarbeitung leitete. Neben deskriptiven und narrativen Passagen kommen eine Reihe von im investigativen Duktus pointiert vorgetragenen Ansichten zu bestimmten offenen Fragen zur Sprache, die sowohl Zwischenergebnis als auch Rechenschaftsbericht zur Steigerung des historischen Erkenntnisgewinns darstellen. Letztere sollen aber auch verdeutlichen, auf welch schwankendem Boden wir uns bewegen, wenn wir antike Phänomene oder Sachverhalte, die vordergründig als hinreichend geklärt erscheinen mögen, zu erfassen trachten. Gleichzeitig wird damit aufzuzeigen versucht, wie vorläufig und korrekturbedürftig jede noch so sicher geglaubte Lehrmeinung sein kann. Eine Gewissheit steht jedoch bei der rückblickenden Bewertung dieser Ansammlung von Fragestellungen, Darlegungen und Analysen rund um das Altertum außer jedem Zweifel: Die wertvollen Hilfeleistungen und Anregungen, die ich aus dem Kreis meiner Mitarbeiter und Doktoranden aus dem Historischen Institut der Universität Potsdam unentwegt erhalten habe. Gerne denke ich an die zahlreichen Gesprächsrunden zurück, in deren Verlauf die Grundzüge und die inhaltlichen Ausrichtungen einiger Kapitel erörtert worden sind. Diese fortwährende Dialogbereitschaft hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das Werk konkrete Gestalt annehmen konnte. Ganz herzlich möchte ich mich bei Niklas Engel, Eike Faber, Sandra Kaden, Mario Hensel, Almuth Lotz, Paul Peters, Virginia Poczesny, Matthias Sandberg und Matthias Zein für ihre liebenswürdige, kompetente Anteilnahme bedanken. Ohne ihr Engagement und ihre stete Ermutigung, ohne ihre Treue und Kooperation wäre die Fertigstellung dieses umfangreichen Arbeitsvorhabens kaum möglich geworden. Ihnen allen ist dieses Buch gewidmet. Wertvolle Anregungen gaben mir Bertram Blum und Manfred Clauss, deren sorgfältige Lektüre des Manuskripts ich nicht hoch genug schätzen kann. Großer Dank gebührt ebenfalls Clemens Heucke und Daniel Zimmermann, den Verantwortlichen der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt, für die von Beginn an sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit, die zur Veröffentlichung des vorliegenden Buches geführt hat.

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I Land und Meer

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ie folgenden Ausführungen lenken das Augenmerk auf die Erde und das Wasser als Grundelemente des menschlichen Daseins. Sie sind entscheidend für unsere Wahrnehmung der Welt und unseren Zugriff auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, nicht zuletzt deswegen, weil sie stets aufeinander bezogen sind und dennoch in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen. Das war in der Antike nicht anders als heute. Ein Unterschied hat sich jedoch durch die im letzten Jahrhundert erfolgte Durchdringung eines weiteren Urstoffes ergeben: Die Luft, beziehungsweise der Weltraum als weitere Sphäre für die Entfaltung der Menschheitsgeschichte, womit eine jahrtausendlange Bipolarität in der Erfassung der Welt entscheidend erweitert und verändert wurde. Erde, Wasser und Luft als Grundlagen menschlichen Zusammenlebens sind nie herrschaftsfrei gewesen. Die auf und mit ihnen errichteten Formen von Machtbildung bieten einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der sich dort ereignenden politischen, sozialen, ökonomischen und religiösen Entwicklungen. Nach wie vor sind prägende Vorstellungen unseres historischen Erfahrungshorizontes vom Zusammenspiel zwischen Land und Meer bestimmt. Von seiner Beschaffenheit, seinen Potenzialen, Gefahren und seiner Bedeutung für die von der ­Antike bis heute gültigen Lebenseinstellungen handeln die folgenden Kapitel. Sie wollen die Herausbildung von Lebensräumen (oikos, polis) beispielhaft erfassen, ferner verzeichnen sie die Entdeckung und Vermessung abgelegener Teile der mediterranen Kulturlandschaften und untersuchen darüber hinaus (Tartessos, Ägypten, Indien) die Ursachen und Folgen der griechischen und phönikischen Kolonisation, beobachten dann die Festlegung von Grenzräumen (Hasdrubal Vertrag, Limes, Alalia/Korsika) und beschäftigen sich schließlich mit der Erschließung von Randbereichen einer aufgrund der verbesserten nautischen Kommunikationsmöglichkeiten in höherem Maße verfügbar gewordenen Welt (Fahrten des Hanno, Pytheas und Nearchos). Die damit einhergehende Entzauberung bisher unbekannter 17

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I  Land und Meer

­ egionen, die durch ihre Eingliederung in den Lebensbereich der bekannten R Welt einen Teil ihrer Magie einbüßen, wird ebenfalls zu erörtern sein. Gleichzeitig soll nach den Mechanismen der Begründung von Herrschaft am Beispiel von Karthago und Rom gefragt werden und darüber hinaus, ausgehend von der athenischen Seedominanz (Politisierung des Meeres) eruiert werden, wie es auf Dauer gelingt, die zu Lande und zu Wasser errichteten Machtpotenziale zu aktivieren und politisch nutzbar zu machen. Die Beantwortung dieser Fragen ermöglicht uns, Kontinuitätslinien aufzuzeigen, die bis heute fortwirken und geeignet sind, den Modellcharakter der Antike zu verdeutlichen.

1 Land als Lebensraum und Quelle der Macht Die Erde ist sehr groß und wir wohnen (…) nur in einem kleinen Teil von ihr um das Meer herum, wie Ameisen und Frösche um einen Teich. (Plato, Phaidon 109 b)

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er Mensch sei ein Landtreter und kein Fisch lautet eine unwiderlegbare Behauptung zum Wesen unserer Artgenossen1, und dennoch: Über diesen naheliegenden Umstand hinweg darf man nicht verkennen, dass es zu kurz gegriffen wäre, das menschliche Dasein lediglich als erdgebunden zu betrachten; dazu ist die Dominanz der riesigen Wassermassen, die den größten Teil unseres Planeten bedecken, zu erdrückend. Wie einst die mythischen Götter nicht nur vom Himmel herab, sondern auch dem Meer entstiegen sein sollen, so gehören Erde und Wasser zum Wesen der Welterklärung und zur Komplexität der menschlichen Natur. Beide Elemente sind mehr als bloße Materie. Ihrer Wirkmächtigkeit verdanken die Erdenbewohner ihren Lebensraum: Dieser vermag nicht nur naturgegebene Trennungslinien zu überwinden, sondern ermöglicht gleichsam die Entstehung jener Szenarien, die den Rahmen der Geschichte konturieren. Das weit verbreitete Gefühl, die Welt sei zu klein geworden, ja es würde vielerorts eine erhebliche Disproportion zwischen Raum und Bevölkerung bestehen, diese Vorstellung von Einengung der natürlichen Lebenssphären war den Menschen des Altertums weitgehend fremd. An heutigen Wertmaß18

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1  Land als Lebensraum und Quelle der Macht

stäben gemessen, gab es damals keinen Mangel an Siedlungsraum. Im Gegenteil: Land war im Überfluss vorhanden. Allerdings existierten kaum menschenleere Regionen, wie bereits die frühesten epischen Texte vermerken, die uns mit einem Panoptikum vielfältiger Lebewesen konfrontieren (Sirenen, Amazonen, Lestrigonen, Zyklopen): Magische bis abnorme Gestalten, zuweilen durchaus gewöhnliche Menschen, welche die unzugänglichsten Zonen des Erdballs bevölkerten. Gewiss stand das Land nicht immer als Synonym für fruchtbare Acker­ böden, die Lebensgrundlage der Bewohner einer bestimmten Gegend. Ertragreiche, üppige Felder waren im griechischen Kulturkreis eher selten vorhanden, außerdem lagen sie nicht immer in unmittelbarer Nähe der heimatlich vertrauten Umgebung. Aber Möglichkeiten, die aus unterschiedlichen Gründen als unerträglich empfundene eigene Lebenssituation zugunsten neuer Siedlungsgebiete auszutauschen, gab es durchaus. Eine früh einsetzende Kolonisationsbewegung liefert dafür reichlich Belege. Die Ausweitung des Raumhorizontes ergab sich jedoch nicht allein als Ergebnis der Seefahrt. Terrestrische Expansionsschübe verzeichnen unsere antiken Texte zuhauf. Sie bildeten sogar die Regel für die Entstehung und Vergrößerung einer Ortschaft, eines Gemeinwesens. Fluren, Weideplätze und Ackerland auf Kosten der Nachbarn zu erwerben, war eine ursprüngliche Form der Herrschaftsbildung, der meist eine Zusammenlegung verstreut liegender Siedlungen zu einer größeren Einheit vorausging, woraus hervorgeht, dass Landbesitz stets die Basis der ökonomischen und sozialen Existenz eines organisierten politischen Verbands bildete. Er war Lebensraum und Quelle der Macht zugleich. Das Wasser, obwohl in der mittelmeerischen Kulturwelt stets präsent, blieb zunächst merkwürdigerweise relativ unbeachtet.2 Es wurde als Nahrungsmittelreservoir oder als Kommunikationsweg genutzt, erlangte aber erst im Zuge der Kolonisation3 und der Entfaltung der athenischen Seemacht4 einen eigenen politischen Stellenwert als tragende Säule jener maritim ausgerichteten Gemeinwesen, die als besonders dynamisch herausragten. Gelegentlich wirkte es unheimlich bis drohend: Zuverlässig die Erde, unzuverlässig das Meer soll bereits Pittakos von Mytilene (7. Jahrhundert v. Chr.), der zu den sieben Weisen des Altertums gezählt wurde, ausgerufen haben, um charakteristische Eigenschaften beider Urstoffe vergleichend zu unterstreichen. Es existierten jedoch genügend Berührungspunkte, wo Land und Meer sich in besonderer Weise begegneten, woraus Lebensräume eigener Prägung hervorgingen: Die Inseln. Kein Wunder, dass in den ersten griechischen Schriftzeugnissen ausgerechnet ein am Ionischen Meer gelegenes Eiland eine 19

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I  Land und Meer

N

S

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lan

tos

E U B Ö A

Chalkis Aulis

Olympos

Lelantische Ebene

Eretreia

Lefkandi

B Ö O T I E N

Amarynthos

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Panakton Phyle

Thriasische Ebene

A

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Athen

Megara Piräus

Phaleron

0

5

10

15 km

Attika und Euböa

herausragende Rolle als Ausgangs- und Endpunkt der turbulenten Irrfahrten des listenreichen Odysseus spielte, die Hauptfigur eines der großartigsten Epen der Weltliteratur. Ithaka ist bis heute als Inbegriff des Sehnsuchtsortes par excellence im kollektiven Gedächtnis der Mittelmeervölker haften geblieben, wie zahlreiche Beispiele aus Dichtung, Bildender Kunst oder Musik eindrucksvoll unterstreichen; vielleicht keines so eindringlich wie das meisterhafte Gedicht „Ithaka“ des Konstantin Kavafis und dessen einfühlsame Vertonung durch den Komponisten Lluis Llac.5 Die Beschäftigung mit dieser Insel ist von besonderem Reiz. Sie entsprang anders als viele Szenarien der homerischen Odyssee nicht der poetischen Imagination ihres Schöpfers, sondern stellt eine unleugbare Realität dar, die sich verorten, begehen und vermessen lässt. Nach den Berechnungen von Eberhard Ruschenbusch auf der Basis des bebaubaren Bodens boten die fast 100 Quadratkilometer Gesamt20

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1  Land als Lebensraum und Quelle der Macht

fläche etwa tausend Familien Wohnraum für ein erträgliches Wirtschafts­ leben, das sich der Pflege des Ackerbaus und der Viehzucht sowie der Ausbeutung der maritimen Ressourcen widmete.6 Die wichtigste Siedlung der Insel ist als fest gefügtes Gemeinwesen (polis) erkennbar. Ein Marktplatz, ein Hafen, eine Volksversammlung sind ebenso nachweisbar wie eine relativ differenzierte Wirtschaftsstruktur mit besser gestellten Familien, Handwerkern, freien Lohnarbeitern, Fischern, Bauern, Hirten und Sklaven. Auf dieser Insel begegnet uns das Ineinandergreifen von Land und Meer als tragendes Element menschlichen Zusammenlebens in besonderer Weise. Während wir dank Homer erfahren, was sich im Innern des Gemeinwesens ereignete, zeigen die überaus dramatischen Seefahrten des Odysseus, des prominentesten Inselbewohners, sehr eindringlich, welche Macht das Meer über das Schicksal der Menschen, die sich in seine Obhut begaben, erlangen konnte. Auf einige dieser Episoden werden wir noch zu sprechen kommen.7 Doch es war vor allem das Land, das die Zielrichtung für die Befriedigung der Bedürfnisse der antiken Menschen vorgab. Wie erbittert umkämpft es zuweilen sein konnte, zeigt die sogenannte Lelantische Fehde, die sich um die Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert v. Chr. ereignete. Sie galt, nach dem legendären Trojanischen Krieg, als die erste historisch verbürgte militärische Konfrontation auf griechischem Territorium, die um den Besitz von Grund und Boden ausgetragen wurde. Allerdings scheinen die kriegerischen Verwicklungen der archaischen Epoche mehr Adelsfehden als Konflikte zwischen verfeindeten Staaten gewesen zu sein. Davon zeugt dieser sich über Jahrzehnte hin erstreckende Streitfall, bei dem die vornehme hellenische Welt je nach Neigung, Opportunität oder wegen bestehender Gastfreundschaften Partei für Eretreia oder Chalkis, beides Städte auf der Insel Euböa, ergriff: Dem vornehmen Thessaler Kleomachos, der für Chalkis kämpfte, wurde dort ein Ehrenmal gewidmet. Für den gefallenen Amphidamas aus Chalkis veranstaltete man besondere Trauerfeierlichkeiten, die in einem literarischen Wettbewerb gipfelten, bei dem Hesiod auftrat und einen Preis davon trug.8 Auch für Eretreia sind ehrenvolle Kriegerbestattungen bezeugt, wie Ausgrabungen bestätigen, die mit diesen Nachbarschaftsgefechten in Zusammenhang stehen dürften.9 Aus dem Zusammenspiel zwischen Mensch und Landschaft wird deutlich, warum in Griechenland keine monarchische Zentralge­ walt entstand: Individua­ lität, adeliges Standesbewusstsein und Polis­ bezogenheit waren ­stärker ausgebildet als das Bedürfnis nach Einheit. Dies hat auch zu tun mit griechischen Spezifika wie Landschaftsgliederung, Wirtschaftssystem oder Meeresorien­tierung, nicht zuletzt aber mit dem Ausbleiben einer äußeren Be21

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drohung, die den Weg zum Zusam­men­schluss einer extrem atomisierten Welt hätte weisen können. Jenseits der aristokratischen Betrachtungsweise des Lelantischen Konfliktes, welche die Perspektive unserer Quellen bestimmt, ging es dabei vor allem um einen harten und überaus zähen Wettbewerb um Acker- und Weideland. Ein Sieg hätte einen gewaltigen Vorteil für diejenige landhungrige Machtgruppe bedeutet, die sich behauptet hätte. Damit wären ihre ökonomischen Ressourcen beträchtlich vermehrt worden, denn die gewonnenen Ländereien hätten ihre dominierende Position zweifellos gestärkt. Als hippobotai (Pferdezüchter) werden die vornehmen Herren aus Chalkis bezeichnet, womit eine Bezeichnung aufgegriffen wird, die an die wohlklingenden Epitheta der Helden der homerischen Epen erinnerte. Die Lelantische Flur galt als eines der fruchtbarsten Gebiete der Ägäis. Wer sie kontrollierte und bebaute, sicherte sich die Zukunft des eigenen oikos und der polis. So viel wird aus der spärlichen Überlieferung klar: Der Streitfall zog sich extrem lange hin und sein Ergebnis bleibt ungewiss. Vielleicht gab es am Ende keinen klaren Sieger. Was die langandauernden Auseinandersetzungen allerdings vollbrachten, war eine unübersehbare Auszehrung der Potenziale beider rivalisierender Parteien. Denn danach scheinen weder Chalkis noch Eretreia, trotz der Vorteile ihrer geographischen Lage, eine nennenswerte politische Rolle in der Ägäis gespielt zu haben, woraus sich eine geschichtsträchtige Lehre ableiten lässt: Derartige Kriege fügen allen, die sich daran beteiligen, gewöhnlich nur Schaden zu. Am Ende gibt es nur Verlierer. Der Lelantische Krieg als Dauerkonflikt, an dem halb Griechenland teilnahm, wirkt wie ein Vorgriff auf einen ebenso langen, aber blutigeren Krieg, dem ein ähnlicher Ausgang beschieden sein sollte, und der gegen Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. die hellenische Welt an den Rand des Abgrunds treiben wird: Der Peloponnesische Krieg.10

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2 Oikos und Polis Die Bürger sollen für ihr Gesetz kämpfen wie für eine Mauer. (Heraklit, Fragment 111)

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rund­einheit des sozialen Lebens und der ökonomischen Tätigkeit der antiken Griechen war der oikos: die Fami­lie samt Sklaven, mobilem und immobilem Besitz – im Falle der besser gestellten gesellschaftlichen Schichten auch Gefolgsleute. Als Wirtschaftseinheit stand er unter dem Leitgedanken der Autarkie, dem Be­mühen um Eigendeckung jeglichen Bedarfs. Kaum ein Erzeugnis oder eine Dienstleistung musste von außerhalb herbeigeschafft werden. Materieller Wohlstand beruhte vornehmlich auf Landeigentum und auf Viehbesitz sowie auf der Hortung von Vor­räten und prestigeträchtigen wertvollen Gütern wie Metallen, Waffen oder kostbaren Stoffen, die sich zum standesgemäßen Gabentausch eigneten. Der Austausch von Geschenken, den die Vornehmen im Umgang mit ihresgleichen pflegten, wurde nicht als Handel, sondern als Ausdruck der gegenseitigen Wert­ schätzung im Rahmen der Gastfreundschaft erachtet. Die vorherrschende Adelsethik der frühgriechischen Gesellschaft kannte darüber hinaus eine weitere standesgemäße Erwerbsweise: Die mit der Kriegführung einhergehende Beschaffung von Beute. Diese gewaltsame Aneignung von Land, Viehherden, Gütern und Menschen bot zugleich Spielräu­me für einen ausgeprägten aristokratischen Wettbewerb um Macht und Ruhm. Klar formuliert findet sich bereits in den homerischen Epen die Verachtung anderer Erwerbsweisen, wie etwa Handel und Handwerk. Die Auffassung, dass abhängige Berufs­tätigkeit wie eigentlich überhaupt jede Arbeit, außer als freier Bauer, zur Bestreitung des Lebensunterhaltes gering geschätzt wurde, da sie dem Lebensideal der Kriegerethik oder der aristokratischen Muße zuwiderlaufe, wirkte weit über die homerische Welt hinaus und bestimmte stets die Werteskala der nachfolgenden Gesellschaften. Mit Blick auf einen in älterer Zeit nachweisbaren Kulturtransfer zwischen Ägypten beziehungsweise den Völkern des Vorderen Orients und den Hellenen steuerte der Historiker und Volkskundler Herodot aus Halikarnassos für seine eigene Zeit (5. Jahrhundert v.  Chr.) eine aufschlussreiche Bemerkung zum Thema bei: Wer von 23

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k­ örperlicher Arbeit frei ist, gilt für edel, besonders wer sich der Kriegskunst widmet. Das haben sämtliche Griechenstämme übernommen, besonders die Spartaner. Am wenigsten verachten die Korinther die Handwerker.11 Noch mehr als die auf die Lebenswelt der gesellschaftlichen Eliten fixierten homerischen Epen eröffnet das nüchtern-realistische Gedicht Werke und Tage des böotischen Bauern Hesiod wertvolle Einblicke in die Wirtschaftsund Lebens­weise der großen Mehrheit der Bevölkerung der archaischen Zeit: Müh­seliger Ackerbau als prekäre Grund­lage für die Erarbeitung eines Existenzminimums durch den Anbau von Weizen und Gerste, aber auch Wein und Oliven, kennzeichnen die vorherrschenden Ver­hältnisse ebenso wie die Unterdrückung der Landbewoh­ner durch örtliche Potentaten. Sowohl Homer als auch Hesiod bezeugen die entscheidende Bedeutung des Bodens als Basis für jede Wirtschaftsform und als Messlatte für Besitz und gesellschaftliche Geltung. Daran wird sich in der Folgezeit wenig ändern. Im Alltag der Griechen grenzte sich die Reichweite des oikos, der als ­abgeschlossene Privatsphäre der freien Verfügungsgewalt Einzelner unterlag, vom Wirkungskreis der Polis ab, wo in einem öffentlichen Raum die Angelegenheiten aller durch Debatten, Abstimmungen und Gesetze entschieden wurden.12 Der oikos gehörte bestimmten Individuen, die Polis der gesamten Bürgerschaft. Der Kernbereich des griechischen Siedlungsraumes, der sich vom Süden der Balkanhalbinsel über die Ägäis mit ihrer Inselwelt bis zur Westküste Kleinasiens erstreckte, war mit poleis übersät. Er wurde im Norden von der thrakischen Chalkidike und der Chersones und im Süden von der Insel Kreta eingerahmt. Ihre historisch relevantesten ­Regionen waren das kleinasiatische Ionien im Osten der Ägäis sowie die ebenfalls von Ioniern bevölkerte Halbinsel Attika; ferner die äolisch besiedelten mittelgriechischen Räume Böotien und Thessalien, an die sich im Norden Epirus und Makedonien anschlossen. Die bekanntesten Landschaften der Peloponnes waren Achaia, Elis und die Argolis im Norden, sowie Messenien und Lakonien im Süden. Das trennende und zugleich verbindende Element dieser weit ausgreifenden, kontrastreichen Regionen war die Ägäis mit ihrer vielfältigen Inselwelt, die wie kein anderer Faktor die Lebensverhältnisse der Menschen bestimmte. Die Verbindungswege zu Land waren aufgrund der Topographie gelegentlich problematisch. Nicht selten werden fruchtbare Flusstäler durch unzugängliche Bergketten erdrückt. So beträgt etwa die Kammhöhe des in der südlichen Peloponnes zwischen Messenien und Lakonien verlaufenden Taygetosgebirges 2000 Meter. Die höchste Erhebung ist der im nördlichen Thessalien hochragende Olymp (fast 3000 Meter), die legendäre Heimstatt der Götter. Das Ausmaß der 24

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N

S

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Thasos

Imbros

CHALKIDIKE Olymp Korkyra

Ilion (Troja)

Lemnos

Assos

Larisa THESSALIEN

ÄGÄISCHES MEER

Lesbos

KLEINASIEN

Mytilene

Skyros Leukas

Kephallonia Zakynthos

IONISCHES MEER

Euböa Thermopylen ÄT O L I E N Delphi Theben Chalkis

Smyrna

Chios

Kolophon Marathon Ephesos Athen Korinth Samos Salamis A T T I K A Andros ARKADIEN Mykene Ikaros Tenos Milet Argos Olympia Mykonos Patmos ARGOLIS Delos PELOPONNES Halikarnassos Naxos Sparta Kos Pylos K y k l a d e n LAKONIEN ACHAIA

BÖOTIEN

Melos

Dodekanes

Thera

Kythera

KRETISCHES MEER

MITTELMEER

Rhodos

Karpathos

Knossos Kreta

Gortyn

0

50

100

150 km

Griechisches Mutterland

landwirtschaftlich nutzbaren Flächen blieb im Verhältnis zum unfruchtbaren Karstgebirge gering. Nur ein Viertel der Gesamtfläche eignete sich für den Ackerbau. Weil natürliche Reichtümer dünn gesät waren, reichten die Agrarerträge und die überall praktizierte Weidewirtschaft kaum aus, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren. Mit anderen Worten: Das griechische Mutterland, nicht so sehr die Kolonien, war auf Importe angewiesen, die nur dann beschafft werden konnten, wenn genug Überschüsse erwirtschaftet wurden. Dass diese Aufgabe überaus erfolgreich gemeistert wurde, belegt der bemerkenswerte ökonomische, politische und kulturelle Aufschwung während der klassischen Ära (5. und 4. Jahrhundert v. Chr.), als es den bedeutendsten griechischen Städten gelang, die nötigen Ressourcen zu aktivieren, um das Weltreich der Perser in die Schranken zu weisen und sich danach als die bestimmenden Gestaltungsmächte im östlichen Mittelmeerraum in Stellung zu bringen. 25

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Ur­sprünglich war die Polis ein befe­stigter Ort, der durch den Zusammenschluss mehrerer Dörfer (synoikismos) entstand und so eine größere Einheit bilden konnte.13 Sie verstand sich als autono­mes Gemeinwesen, das sich nach eigenen Wertvor­stellun­gen und Normen verwaltete und in dem seine Bewohner das öffentliche Leben frei be­stimmten. Eine wesentliche Grundlage des Zusammenlebens war die Tötungshemmung, was die Solidarität und Hilfsbereitschaft innerhalb der Gemeinschaft verstärkte, indem sie Aggressionspotenziale nach außen kanalisierte: Fremde galten grundsätzlich als Bedrohung, vor der man sich schützen musste. Wie sehr unnötiges Blutvergießen innerhalb der Bürgerschaft irritierend wirkte, zeigen beispielhaft die Folgen des Kylonischen Frevels in Athen.14 Im Zen­trum der Polis, sowohl topographisch als auch lebensweltlich, stand der Marktplatz: Die agora. Gerade dieser öffentliche Raum galt im Bewusstsein der antiken Autoren als Kernbereich der Polis und somit als identitätsstiftendes Merkmal der griechischen Staatlichkeit gegenüber fremden Kulturen, wie Herodot aufschlussreich beleuchtet, als er das geschäftige Treiben auf der agora aus der Perspektive der Perser festhält: Als der Herold diese Botschaft verkündet hatte, soll Kyros die Griechen seiner Umgebung gefragt haben, was denn die Spartaner für Menschen seien, wie stark das Volk sei, das ihm so etwas sagen ließ. Als er darauf Bescheid erhalten hatte, soll er zu dem Boten aus Sparta gesagt haben: „Ich habe noch nie vor Männern Angst gehabt, die in der Mitte ihrer Städte Plätze angelegt haben, auf denen sie sich versammeln, um Eide zu schwören und sich dabei zu belügen. Wenn ich am Leben bleibe, soll Sparta von seinem eigenen Schicksal mehr zu reden haben als von dem der Ionier.“ Die verächtlichen Worte sprach Kyros über alle Griechen aus, weil sie Märkte geschaffen haben, auf denen sie Handel treiben. Die Perser selbst pflegen nämlich keine Märkte zu errichten, und sie kennen auch überhaupt keinen Handel.15 Diese aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. stammende Textpassage hat für unsere Fragestellung eine besondere Relevanz. Sie verdeutlicht kulturelle Differenzen, etwa den Stellenwert des allen Bürgern zugänglichen Raumes in jeder griechischen Stadt im Kontrast zu den Einrichtungen der persischen Welt, wo ein solcher politisch und ökonomisch bedeutsamer urbaner Ort der Begegnung unbekannt war. Darüber hinaus bietet sie eines der seltenen Beispiele dafür, dass durch den Vergleich unterschiedlicher ­Lebensformen eine Reflexion über gegensätzliche politische Modelle angestoßen wird. Bezeichnenderweise verwendet Herodot das Verb agorein, um seine auf die Polis bezogene Vorstellung von zwischenmenschlichen Kontakten, Waren- und Gedankenaustausch im weitesten Sinne zu kennzeichnen. 26

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Indem gerade die Abwesenheit dieser Funktionen in der fremden Zivilisation betont wird, erscheint das spezifische Eigengewicht der agora für den griechischen Lebensraum umso schärfer konturiert als bewusstseinsbildendes Symbol der Polis. Bildete die agora das Herzstück der Polis, so war die Volksversammlung (ekklesia) ihre wichtigste Institution. Sie sanktionierte alle politisch maßgeblichen Entscheidungen. Weitere grundlegende Institutionen waren ein Ältestenrat, Volksgerichte und ein stark differenziertes Ämterwesen, das sich in der Regel jährlich erneuerte.16 Die zahlreichen ­Organe und Institutionen der Polis, die in der Öffentlichkeit tagten, verstärkten die Interaktion innerhalb der Bürgerschaft. Interaktion lebte von der Kommunikation, vom Austausch von Neuigkeiten und Informationen aller Art, die sowohl für den Politik- und Kulturbetrieb als auch für die Wirtschaft von Nutzen sein konnten, indem sie etwa Innovationen förderten. Damit wurden wichtige Grundlagen für den Ausbau einer Wissensgesellschaft gelegt, die auf einen dauerhaften Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen ihren Gliedern angewiesen blieb. Die sich ständig erneuernden Nachrichtenbörsen ermöglichten optimale Voraussetzungen für die Ausgestaltung erfolgversprechender Lebensbedingungen. Gleichzeitig steigerte die permanente Bürgerbeteiligung an der Leitung des Gemeinwesens die Effektivität der politischen Entscheidungsfindung und der sozialen, ökonomischen und kulturellen Initiativen. Darauf beruht die Überlegenheit partizipativer Gesellschaften gegenüber autoritär geführten Staatswesen.17 Zur Kennzeichnung der Polis hat sich der Begriff Stadt­staat einge­ bürgert  – ein missver­ständlicher Terminus, der den Eindruck erwec­ken könnte, die Stadt hätte über ihr Umland (chora) geherrscht. Eine weitere Schwierig­keit für die inhaltliche Präzi­sierung des Po­lis­begriffes ergibt sich aus dem unterschied­li­chen Urbanisierungsgrad der einzelnen Gemein­den. Der Fall Amorgos ist hierfür aufschlussreich. Auf dieser kleinen Kykladeninsel gab es nicht weniger als drei souveräne Gemeinwesen. Demnach besaß jede Polis relativ wenig Bewohner.18 Setzt man ihre Zahl in Verhältnis zum verfügbaren Ackerboden, so wird deutlich, dass die Möglichkeit einer ökonomischen Segmentierung auf natürliche Grenzen stieß. Soziale Egalität und politische Homogenität waren die Folgen der Kleingliedrigkeit. Legt man ferner das Vergleichsbeispiel Athen und Sparta zugrunde, so wird ein weiterer Gegensatz sichtbar. Im Unterschied zu der in Meeresnähe gelegenen Stadt Athen, die ein entwickeltes urbanes Zen­trum darstellte, blieb Sparta eine Ansammlung aus mehreren Dörfern. Die folgende Textpassage kann dies sehr anschaulich illustrieren: Wenn jetzt die Stadt der Lakedämonier zerstört würde und nichts von ihr übrigbliebe als die Tempel und die Fun27

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damente der Bauten, so würde man in späterer Zeit kaum glauben, dass die Macht der Lakedämonier deren Ruf entsprochen habe. Gegenwärtig sind sie die Herren von zwei Fünfteln der Peloponnes und Vormacht nicht nur der ganzen Halbinsel, sondern auch zahlreicher auswärtiger Bundesgenossen. Trotzdem könnte es scheinen, dass ihre Macht gering sei, weil die Stadt keine stolzen Tempel und Prachtbauten hatte und nicht zusammenhängend gebaut war, sondern nach altgriechischer Weise aus zahlreichen Ortschaften bestand. Umgekehrt, wenn es Athen so ginge, würde man angesichts der erhaltenen Reste der Stadt glauben, die Macht der Athener sei noch einmal so groß ge­ wesen, wie sie wirklich ist.19 Hinzu kommt, dass Sparta eine aristokra­tisch geprägte Stadt war20, während sich Athen nach der Vertreibung des Tyrannenge­schlechts der Peisis­ tratiden (510/9 v. Chr.) zu einer Volks­herr­schaft wandelte.21 Demnach war die griechische Staatlichkeit an keine spezifi­sche Verfassungs­form gekoppelt, weswegen die antike Polis dem modernen Staatsbegriff, mit dem keine implizite Aussage über die jeweils vorherr­schende Regierungsform verbunden ist, durchaus ähnlich ist. Ferner zeichnete sie sich durch einen ungebrochenen Willen zur Be­hauptung ihrer Unabhängigkeit (eleu­theria), aber auch durch einen starken Drang zur Selbstversorgung (autarkia) und schließlich durch ein Streben nach Vereinheitlichung des politischen Lebens aus, das in der schritt­weisen Verwirkli­chung der Rechtsgleichheit der Bürger seinen Ausdruck fand (isonomia).22 Die Polisbürger unterscheiden sich wesentlich vom Typus der modernen Staatsbürger. Das Bürgerrecht galt als integraler Bestandteil ihrer Identi­tät. Einbürgerungen kamen selten vor, denn sie bedurften der Zustimmung der Mehrheit. Trotzdem nahmen viele griechische Städte bereitwillig Fremde (Metöken, Periöken) auf, die den in ihrer Gaststadt herrschenden Gesetzen unterworfen blieben. Eine eigene Gruppe bildeten die Sklaven, die in der griechischen Welt ihren festen Platz am unteren Ende der Sozialskala einnahmen. Ihre gezielte Ausbeutung, oft unter menschenunwürdigen Verhältnissen, etwa als Bergwerksklaven, ist eine Konstante der gesellschaftlichen und politischen Systeme der Antike. Wie sehr das Modell der Polis mentalitätsbildend geworden ist, belegt der folgende Fall.  Jahrelang wurde das auf dem Gelände von Toscanos in der heutigen Provinz Málaga (Südspanien) sich befindende Ruinenfeld mit der griechischen Polis Mainake gleichgesetzt. Doch die neuesten Grabungs­ ergebnisse sprechen gegen eine griechische Identität dieser Siedlung, die vielmehr eine phönikische Niederlassung darstellt, die bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. bestand. Fast ein halbes Jahrtausend blieb der Ort ein Trümmerfeld, bis er in augusteischer Zeit wieder bewohnt wurde, womit die archai28

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sche Niederlassung eine neue Siedlungskontinuität erlebte, die bis zur Spät­antike dauerte, als der Platz aufgegeben wurde und der Vergessenheit anheimfiel. Diesem Befund steht die bei einigen griechischen Autoren anzutreffende Zuschreibung von Mainake als griechische Kolonie gegenüber. Allerdings sind die frühesten Zeugnisse deutlich zurückhaltend. So bezeichnet Hekataios von Milet (Ende 6. Jahrhundert v. Chr.) Mainake als keltische Stadt23, während Herodot (5. Jahrhundert v. Chr.) sie nicht zu kennen scheint. Bereits dies dürfte ein gewichtiger Einwand gegen die griechische Zugehörigkeit des Ortes sein. Denn, dass ausgerechnet Herodot, dem wir die Kenntnis der phokäischen Westkolonisation verdanken, von einer angeblich phokäischen Stadt Mainake keine Notiz nahm, spricht für sich.24 Erst aus einem im 2. Jahrhundert v. Chr. abgefassten Gedicht des PseudoSkymnos, das Ephoros’ Bemerkungen zur Geographie des Westens verarbeitete, wurde erstmals eine Verbindung zwischen Mainake und Massalia hergestellt. Diese nachträglich vorgenommene Filiation bestätigt jedoch einen bekannten Trend, nämlich namhafte Orte (und Mainake wäre dann der westlichste koloniale Vorposten) für den griechischen Kulturkreis zu vereinnahmen. In diesem Sinne hatte Aristoteles selbst Rom als hellenische Polis ausgegeben. Entscheidend an der von Strabo aufbewahrten Notiz ist, dass die als Mainake bezeichnete Ruinenstadt alle charakteristischen Merkmale einer griechischen Polis aufweise.25 Seine Gewährsleute, Artemidor beziehungsweise Poseidonios, waren wohl vor Ort gewesen und hielten ihre Eindrücke fest; das heißt, sie haben ein Trümmerfeld erblickt, das durch die Regelmäßigkeit und Konsistenz der Fundamente hervorstach, und meinten, das könne nur eine hellenische Siedlung sein. Damit war, wie Hans-Georg Niemeyer verdeutlicht hat, das „griechische“ Mainake geboren.26 Die hellenische Identität der in Augenschein genommenen Überreste beruhte folglich auf den subjektiven Eindrücken einer von späteren Autoren vorgenommenen inter­pretatio graeca. Lehrreich an dieser Fallstudie ist, dass sich die landläufige Vorstellung einer griechischen Polis an einem ausgewogen gestalteten Siedlungsplatz orientierte. Mit einer Polis verband man planmäßig ausgeführte Straßenzüge, repräsentative Bauten, überhaupt eine durchdachte städtische Anlage. Orte, deren Überreste (wie dies im Falle Toscanos der Fall war) Symmetrie und Monumentalität erkennen ließen, mussten folglich Schöpfungen des griechischen Geistes gewesen sein. Wie kurz jedoch diese Annahme greift, bedarf keines Beweises. Auch andere Völker, etwa die Phöniker, brauchten sich diesbezüglich nicht hinter den Hellenen zu verstecken.27 Die griechische Umdeutung der phönikischen Niederlassung von Toscanos liefert einen an29

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schaulichen Beleg dafür. Doch zur Polis gehörte mehr als die Stadtanlage. Noch wichtiger als die Bauten war die innere Organisationsform, kurzum ihre von anderen städtischen Formen des Altertums sich deutlich unterscheidende Eigenart. Entscheidend waren die innere Autonomie sowie die in der Agora sich konstituierende Öffentlichkeit, die auf der Interaktion zwischen den Bürgern beruhte.28 Die Polis bestand auf ihrer Unabhängigkeit gegenüber fremden Mächten oder den Machtansprüchen einzelner Potentaten, die ihr ihren Willen aufzwingen wollten. Die von den Göttern garantierten und von der Bürgerschaft getragenen Institutionen waren ihr Sinnbild. In diesem Sinne betonte der Historiker Thukydides, dass die Polis der Ausdruck eines sich selbst genügenden Bürgerverbands darstellte.29 Wie tief verwurzelt diese Vorstellungen im Denken der Griechen beheimatet waren, verdeutlicht eine Begebenheit aus den Perserkriegen, die Herodot festgehalten hat: Als die Athener im Zuge der Invasion des Xerxes ihre Stadt räumten, begaben sie sich auf ihre Schiffe in der Bucht von Salamis. Dort tagte der Kriegsrat der verbündeten Hellenen, die sich den Persern widersetzten. Der Korinther Adeimantos wollte aber die Athener davon ausschließen, mit der Begründung, diese hätten ihre Polis aufgegeben und damit die Geschäftsgrundlage für eine überstaatliche Kooperation verloren: Auf diese Rede des Themistokles erhob sich der Korinther Adeimantos wieder gegen ihn und sagte, er solle lieber schweigen, weil er kein Vaterland mehr habe; und er warnte Eurybiades davor, über den Antrag eines Heimatlosen abstimmen zu lassen. Wenn Themistokles wieder mitreden wolle, müsse er nachweisen, für welche Polis er spreche. Das warf er Themistokles vor, weil Athen genommen und vom Feind besetzt war. Nun sagte Themistokles dem Adeimantos und den Korinthern viele harte Worte und bewies ihnen, dass Athen und Attika viel größer seien als Korinth, solange Athen 200 Schiffe bemannt habe.30 Es mag uns Menschen des 21.  Jahrhunderts, die wir von einer Vielfalt weitgehend austauschbarer städtischer Akkulturationsformen umgeben sind, schwer begreiflich erscheinen, welch einzigartiges Phänomen die Polis für ihre Bewohner darstellte. Sie bot ihnen nicht nur Wohnraum und Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Entfaltung, sondern war zugleich Schicksalsgemeinschaft. Von ihrem Wohl und Wehe hing die Lebensqualität jedes Einzelnen ab. Erfolge bedeuteten Prosperität, oft verbunden mit ökonomischen Vorteilen für bestimmte Bevölkerungsgruppen; Misserfolge konnten im krassesten Fall, wenn die Stadt erobert wurde, die Versklavung ihrer Bevölkerung nach sich ziehen. Ihre Einwohnerschaft bestand nicht nur aus Bürgern, sondern umfasste stets Fremde und Sklaven. Zur Bürgerschaft gehörten Frauen und Kinder, wiewohl sie von der Wahrnehmung der politischen 30

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Rechte ausgeschlossen blieben, weil diese nur den Waffenträgern vorbehalten blieben. Die Politen bildeten jedoch keinen monolithischen Block. Differenzierungen nach sozialem und wirtschaftlichem Status, nach Bildungsstand und politischer Neigung sind unverzichtbar, um die unterschiedlichen Bedürfnisse und Denkart der einzelnen Gruppen zu verstehen. Ein Mitglied der städtischen Oberschicht hatte einfach eine andere Erwartungshaltung an seine Heimat als ein Tagelöhner. Ein Sklave dürfte sie anders wahrge­ nommen haben als etwa eine Dame aus vornehmem Hause. Ein fremder Geschäftsmann verfolgte andere Interessen als ein armer Bürger. Doch über alles Trennende hinweg gab es übergreifende Bezugspunkte und Anliegen. Die Polis bot sämtlichen Bewohnern einen Lebens- und Schutzraum sowie einen gemeinsamen Erinnerungsort. Solche Konstanten förderten das kollektive Bewusstsein der Politen; sie haben ihre Wahrnehmungen und Empfindungen, ihr Verhalten und Denken beeinflusst. So äußerte Heraklit von Ephesos (6.–5. Jahrhundert v. Chr.) in drastischer Weise seinen Unmut über seine Landsleute, weil sie sich mit herausragenden Mitbürgern schwer taten: Recht geschähe den erwachsenen Ephesiern, so sie sich insgesamt aufhängten und die Stadtverwaltung den Unerwachsenen hinterließen, sie, die den Hermodor, den Fähigsten unter ihnen, hinausgejagt haben mit den Worten: Von uns soll keiner der Fähigste sein oder, wenn schon, dann anderswo und bei anderen Leuten.31 Einen noch deutlicheren Hinweis für das tiefsitzende Misstrauen gegenüber der Masse als Träger eines quantitativen Mehrheitsprinzips und komplementär dazu in die Wertschätzung einer außergewöhnlichen Individualität bringen weitere Aussagen Heraklits zum Ausdruck wie: Gesetz ist es auch, dem Willen eines einzelnen zu gehorchen.32 An anderer Stelle heißt es: Einer gilt mir Unzählige, so er der Ausgezeichnetste ist.33 Gemeinsamer Nenner dieser Einschätzungen war eine aristokratische Grundhaltung, die gelegentlich auf die Spitze getrieben wird. Dennoch: Über allem und jedem stand das Gesetz (nomos). Derartige Äußerungen ­offenbaren, wie sehr Reflexionen über das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, Machtausübung und bürgerlichem Selbstbewusstsein das Verständnis der Polis prägten. Die frühesten griechischen Schriftzeugnisse gewähren uns einige Einblicke hierzu. Wenn Alkaios von Mytilene oder Theognis von Megara im 6. Jahrhundert v. Chr. sich über die Machtergreifung einer bestimmten Gruppierung in ihrer jeweiligen Heimatstadt erregten, weil damit den übrigen Mitbürgern die politischen Spielregeln diktiert wurden, so verdeutlichen solche Stimmen, dass alles, was mit der Leitung der Staatsgeschäfte zusammenhing, als eine prinzipiell die gesamte Bürgerschaft betreffende Angelegenheit erachtet wurde, zu der alle 31

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aufgerufen waren.34 Häufig mussten sich die aristokratisch regierten Städte gegen die Herrschaftsansprüche ehrgeiziger Machtmenschen wehren. Das Tauziehen der Parteiungen reflektiert ein politisch orientiertes Schrifttum, das die Vertreibung der Tyrannen und die Verwirklichung der politischen Gleichberechtigung forderte. Am konsequentesten vermochten sich die Grundsätze der Bürgersolidarität in Sparta durchzusetzen. Nur die Polis konnte die notwendigen Rahmenbedingungen dafür bieten, und so galt eine erzwungene Ausweisung, etwa in Form der Verbannung, als die strengste Strafe, die über einen Bürger verhängt werden konnte. Als Herodot von ­Halikarnassos den fiktiven Besuch des Atheners Solon am Hofe des Lyderkönigs Kroisos mithilfe einer didaktisch angelegten novellistischen Erzählung thematisierte, verband er das Streben nach dem höchsten Glück eines (griechischen!) Menschen mit dessen Polisbezogenheit.35 Der patriotische Bürgersinn, der im herodoteischen Solon der Kontrastierung von griechischer Freiheit und orientalischem Herrschertum dient, erfährt eine Steigerung in den von Thukydides komponierten Reden des Perikles, die auf die aktuelle Situation des Peloponnesischen Krieges anspielen. Hier wird der Bürgerstolz zum Kennzeichen der Polis stilisiert: Frei leben wir als Bürger im Staat und frei vom gegenseitigen Misstrauen des Alltags, ohne gleich dem Nachbarn zu zürnen. Zusammenfassend sage ich, dass unsere Stadt im Ganzen die Schule von Hellas sei und daß jeder einzelne Bürger bei uns in vielseitigster Weise und in spielerischer Anmut seine eigenpersönliche Art entfalte. Wir brauchen keinen Homer als Künder unserer Taten, nein, zu jedem Meer und Land haben wir uns durch unseren Wagemut Zutritt verschafft, überall haben wir mit unseren Siedlungen unvergängliche Denkmäler unseres Glückes oder Unglückes hinterlassen.36 Das von Thukydides angesprochene Lebensgefühl manifestierte sich nicht nur in den Institutionen, sondern ebenfalls in den städtebaulichen Anlagen. Die nach dem Vorbild des Hippodamos von Milet entstandenen Wohnviertel in Piräus, Thurioi oder Milet, durch Gleichmäßigkeit geprägt, scheinen wie eine Widerspiegelung der Gleichheitsidee. Platon griff solche Gedanken auf und hob sie in kosmographische Dimensionen. Die Maße einzelner Häuser innerhalb einer Stadt wurden als Beitrag zur Harmonie der Weltschöpfung empfunden.37 Die Meinungen darüber gingen in der griechischen gelehrten Welt jedoch weit auseinander. Xenophon38 und Demosthenes39 fanden Gefallen an den hippodamischen Entwürfen, während Aristoteles40 diesbezüglich reserviert blieb. Die Polis war nicht nur Mittelpunkt des politischen und wirtschaftlichen Lebens, sondern als Wohnsitz ihrer Schutzgottheiten auch ein religiöses 32

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Zen­trum. Kulthandlungen übten eine gemeinschaftsstiftende Wirkung auf die gesamte Bevölkerung aus. Die Deckungsgleichheit von Bürgerverband und Kultgemeinschaft galt den Menschen der Antike als Voraussetzung ihrer sozialen Existenz und staatlichen Identität.41 An die Politen wurden hohe Erwartungen gestellt: Die Verteidigung der Heimat mit der Waffe in der Hand und, vor allem an die vermögenden Bürger gerichtet, die Bereitschaft zur Übernahme von finanziellen Lasten für die Allgemeinheit. Die Befolgung dieser Normen galt als selbstverständliche Bürgerpflicht. Der Einzelne und die Gemeinschaft erlebten die dazu gehörigen Rituale wie Aufzüge, Opferhandlungen oder Theateraufführungen als konstitutive Teile ihres politischen Daseins. Die ganze Bevölkerung nahm daran teil. In Athen war das Interesse an den Großen Panathenäen oder den Großen Dionysien so gewaltig, dass Demosthenes42 seine Mitbürger verspottete, die Abhaltung der Feste ernster zu nehmen als die Kriegführung gegen König Philipp II. von Makedonien. Nicht von ungefähr nennt Aristoteles43, als er die Aufgabenbereiche der athenischen Amtsträger auflistet, die Organisation und Durchführung der Feste an erster Stelle. Auch Aristophanes ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, in seiner Komödie Die Wolken der Feststadt Athen ein literarisches Denkmal zu setzen. Die Polis sorgte auch für die Erziehung ihrer Bewohner. In der Wahrnehmung dieser Rolle sieht der platonische Sokrates eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Im Phaidros bekennt er: Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.44 Wenn auch diese Worte auf das klassische Athen gemünzt zu sein scheinen, das damals eine beispiellose Aufbruchsstimmung erlebte, in der sich Redekunst, Philosophie und Dichtung entfalten konnten, so lässt sich diese Aussage dennoch verallgemeinern. Die Menschen in der Stadt als Quelle der Erfahrung und des Wissens, als Ausprägung der antiken Spielart der condition humaine, werden als Kontrast zum naturhaften Dasein des Landlebens gesehen. Dieser Dualismus ist oft thematisiert worden. Ein eindrucksvolles Zeugnis dafür liefert Aristophanes. In der auf dem Höhepunkt des Peloponnesischen Krieges (425 v.  Chr.) abgefassten Komödie Acharner lässt der Dichter den aus einem attischen Dorf stammenden, aber wegen der Notwendigkeiten des Krieges in Athen einquartierten Dikaiopolis nachsinnieren: Ich bin in der Volksversammlung stets der Erste, ich nehme Platz; in meiner Einsamkeit seufze ich dann, gähne, strecke, lüfte mich, sinniere, schreibe, kratze im Haar mich, schaue ins Feld hinaus und bete um Frieden, fluche der Stadt und denke: wäre ich nur daheim auf meinem Dorf: dort hörte ich niemals: kauft, kauft Kohlen, Essig, Öl! Da wächst alles in Fülle – Hol der Henker das Geplärr! 33

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Nun, weil ich einmal hier bin, will ich auch, verlasst euch drauf, eins poltern, schreien, die Redner aushunzen, die nicht für den Frieden sprechen.45 In diesen Versen werden die Beschwernisse des Stadtlebens mit einer rührenden Unbefangenheit ausgemalt, wobei eine Sicht des Landlebens zum Ausdruck kommt, die von der Stadtperspektive durchdrungen ist. Doch der Gegensatz von Urbanität und Ruralität fällt hier so krass aus, weil die städtischen Lebensverhältnisse infolge des langandauernden Krieges ein unerträgliches Ausmaß erreicht hatten. Bereits in archaischer Zeit erschütterten soziale Unruhen den inneren Frieden zahlreicher Städte.46 Parteibildung innerhalb der Bürgerschaft, verbunden mit einer Radikalisierung der Politik, erzeugten mancherorts bürgerkriegsähnliche Zustände (staseis). Als Beispiele dafür lassen sich die Streitigkeiten zwischen Hetairien in Mytilene (6.  Jahrhundert v.  Chr.) oder Oligarchen und Demokraten aus dem Jahr 435 v. Chr. in Epidamnos anführen. Durch die sukzessive Einmischung von Kerkyra, Korinth und Athen werden letztere zu einem Konflikt eskalieren, der halb Griechenland erfassen wird.47 Innere Zwietracht galt als die größte Heimsuchung, die einem Gemeinwesen widerfahren konnte. Allein die geographische Enge des griechischen Siedlungsraumes begünstigte die Ausweitung Polis übergreifender Auseinandersetzungen. Nicht selten entwickelten sich aus regionalen Diskrepanzen regelrechte Kriege. Ähnlich ist der Peloponnesische Krieg entstanden, der wie kaum ein anderes Ereignis die innere Stimmungslage und das äußere Gefüge Griechenlands verändert hat. Damals wurde ihre Gefährdung besonders sichtbar. Zahlreich waren auch die Konzepte der griechischen Intellektuellen zu deren Bewältigung gewesen. Da sie innerhalb des Rahmens der Poliswelt blieben, strebten sie meist eine Reform des ­Systems an. So auch der vielleicht unkonventionellste aller diesbezüglichen Denkanstöße, der von Aristophanes in seiner 411 v.  Chr. aufgeführten ­Komödie Lysistrata ersonnen wurde. In diesem auf dem Höhepunkt des Peloponnesischen Krieges abgefassten Werk bricht sich ein ungewöhnlicher Lösungsvorschlag Bahn: Die Frauen sollen die Macht im Staate übernehmen und den wie eine Naturplage auf ganz Griechenland lastenden Krieg endlich beenden. Lysistrata, die Protagonistin des Stückes, hält ein bemerkenswertes Plädoyer, um die verfahrene Lage der Polis, die sich aus deren Verkrustung ergab, aufzubrechen: Wie die Wolle vom Kot und vom Schmutz in der Wäsche man säubert, so müsst ihr dem Staate von Schurken das Fell reinklopfen, ablesen die Bollen: Was zusammen sich klumpt und zum Filz sich verstrickt – Klubmänner, für Ämterbesetzung miteinander verschworen – kardätschet sie durch und zerzupfet die äußersten Spitzen, dann krempelt die Bür34

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ger zusammen hinein in den Korb patriotischer Eintracht und mischt groß­ herzig Insassen dazu, Verbündete, Freunde des Landes; auch die Schuldner des Staats, man verschmähe sie nicht und vermenge auch sie mit dem Ganzen! Und die Städte, bei Gott, die als Töchter der Stadt in der Ferne sich Sitze gegründet, übersehet sie nicht: denn sie liegen herum wie zerstreute vereinzelte Flocken. Lest alle zusammen von nah und von fern auf, schichtet sie hier und wickelt ein Ganzes daraus und verspinnt es zu einem gewaltigen Garnknäuel! Aus diesem dann webet vereint für das Volk einen wollenen Mantel! 48 Das Stück endet mit einem Versöhnungsbankett, an dem Athener und Spartaner sich die Hand reichen und ihre Differenzen begraben. Aber es war alles ein flüchtiger Bühnentraum, eine Komödie. Die Realität schrieb das Drehbuch für die sich bald darauf abspielende Tragödie: Es kam nicht zu einem Ausgleich zwischen den Rivalen; Athen musste erschöpft kapitulieren und Sparta wird sich seines Sieges nicht erfreuen. Zerstört wurde aber durch diesen unerbittlich geführten griechischen Bürgerkrieg der innere Zusammenhalt der Poliswelt. Sie wird sich nie mehr davon erholen können. Wegen der ungeheuren Machtfülle, die sie in die Lage versetzte, Wohlfahrt und Frieden zu ermöglichen, wurden Machtmenschen wie Lysander, der Sieger des Peloponnesischen Krieges, mit göttlichen Ehren überhäuft.49 Alexander der Große und nach ihm die Diadochen werden folgen. Es handelt sich dabei um die Einführung von lokalen Kulten, die ein politischer Verband aus freiem Entschluss veranlasste, um seinem Wohltäter, der etwas Großes für die Stadt geleistet hatte – etwa Befreiung von fremder Herrschaft, Schonung nach der Eroberung, Beendigung eines Kriegszustandes –, mittels sakraler Ehrenbezeugungen dafür zu danken.50 Zu diesem Zweck stiftete man der betreffenden Person einen Kult mit der Weihe eines Tempels oder Altars, der mit der Einrichtung einer Priesterschaft verbunden war, womit sich ein Umbruch der geltenden religiösen Normen vollzog. Die traditionellen Gottheiten waren in den Augen der Betroffenen kaum mehr in der Lage, die Sicherheit der Gemeinwesen zu verbürgen. An ihre Stelle rückten nun charismatische Potentaten auf, die einen wirksameren Schutz zu bieten schienen. Was dem äußeren Anschein nach wie eine religiöse Krise aussieht, ist die Kehrseite der tiefgreifenden politischen Umwälzungen, die sich im Verlauf des 4. Jahrhunderts v. Chr. anbahnten, als immer mehr Poleis in Abhängigkeit von äußeren Mächten gerieten. Ihre Abwehrmechanismen reichten nicht mehr aus, um auf sich allein gestellt ihre Eigenständigkeit zu behaupten, was zur Zeit der Perserkriege in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. noch gelungen war. Damals hatte das kollektive Selbstwertgefühl der Bürgerschaft die Herausstellung hervorragender Individuen noch verhin35

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dert. Die Polis als Verkörperung des Bürgerverbands, erfuhr vielerorts kultische Verehrung. Darin manifestierte sich neben dem Stolz auf die Heimatstadt auch ein besonderes Bewusstsein für deren Leistungsfähigkeit. Es fiel leicht, den Polisgöttern zu danken, solange sie Erfolg und Sieghaftigkeit garantierten. Dies wandelte sich jedoch während des 4.  Jahrhunderts v.  Chr. grundlegend, als ehrgeizige Individuen auftraten, die gestützt auf außerordentliche Machtmittel in der Lage waren, diese Funktion zu übernehmen. Von ihrem Wohlwollen hing das Schicksal zahlreicher Poleis ab. Insofern spiegelt sich in dem durch die Stadtkulte angezeigten religiösen Wandel eine Krise des politischen Systems wider. Gleichwohl zog der politische Abstieg traditioneller griechischer Mächte wie Athen, Sparta oder Theben keinen Niedergang der Polis nach sich. Die Stadt blieb die Keimzelle von Politik, Religion, Wirtschaft und Kultur, und so ging die Ausbreitung der hellenistischen Zivilisation mit der Gründung neuer Städte einher und mit der Belebung alter urbaner Zentren, die erst jetzt zur vollen Entfaltung gelangten. Die hellenistische Epoche erlebte die Entstehung großer Metropolen: Alexandria wurde ihr Exponent. Die königliche Residenz an der Nilmündung unterschied sich deutlich von einer Polis klassischer Prägung. Obwohl eine Volksversammlung und ein Rat ihre politischen Geschicke mitbestimmten, wurde hier der jeweils regierende König maßgeblich. Diese Verlagerung der Macht wurde optisch durch die riesige Fläche, die innerhalb der Stadt für die königlichen Bauten reserviert war, hervorgehoben. Ihr Selbstbewusstsein konnten die Städte der hellenistischen Ära kaum aus den prekären politischen Verhältnissen beziehen. Immer wichtiger wurden ihre ökonomischen und kulturellen Leistungen. Bald entwickelte sich ein Wettbewerb um städtebauliche Innovationen und zivilisatorische Ausstrahlung. Die Bibliothek von Pergamon wetteiferte mit dem Museion von Alexandria, der berühmten Forschungsstätte des Altertums, oder mit den namhaften Philosophenschulen von Athen (Lykeion, Stoa). Alexandria, Kos, Knidos und Pergamon stritten um den Vorrang ihrer medizinischen Einrichtungen. Die Urbanisierung des Lebens erzeugte eine Atmosphäre, in der sich eine im Verhältnis zur Vergangenheit gesteigerte Sensibilität für Bildungsfragen entfalten konnte. In Athen beispielsweise unternahm man den Versuch, die eigene kulturelle Tradition zu kanonisieren. Im Jahr 330 v. Chr. beantragte der athenische Staatsmann Lykurg: Dass Bronzestatuen der Dichter Aischylos, Sophokles und Euripides aufgestellt werden sollten, dass ihre Tragödien aufgeschrieben und offiziell vom Staat aufbewahrt werden sollten und dass der Stadtschreiber sie lesen und mit den Worten der Schauspieler verglei36

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chen sollte; es solle gesetzeswidrig sein, bei der Aufführung vom autorisierten Text abzuweichen.51 Die Bewohner hellenistischer Poleis zeigten sich von einem überschwänglichen Selbstbewusstsein und einer hohen Opferbereitschaft für die Heimatstadt erfüllt. Sie waren stolz, Bürger eines berühmten Ortes zu sein. Je fester mächtige Despoten die Zügel ihrer Herrschaft strafften, umso mehr klammerte man sich an die Stadt, erhoffte man sich von ihr Schutz und Geborgenheit. Dem verbreiteten Bedürfnis hellenistischer Städte nach lokaler ­Autonomie, das sich etwa im Erwerb des Münzprägerechts oder der Asylie äußerte, trugen die Herrscher Rechnung. Sie befleißigten sich einer jovialen Tonart gegenüber den dafür empfänglichen Poleis, redeten ihre Bewohner, wie beispielsweise Eumenes II. von Pergamon die Milesier, als Verwandte an. Doch sämtliche Höflichkeitsbeteuerungen konnten die Tatsache nicht überdecken, dass die meisten Städte mittlerweile von Monarchen abhängig ­geworden waren, womit das Alleinstellungsmerkmal der Polis, nämlich die einst stolz behauptete Autonomie, während des 3. und 2.  Jahrhunderts v. Chr. ihre ursprüngliche Bedeutung einbüßte.

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3 Das Meer als Hindernis, Verkehrsweg und Siedlungsraum

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ass die neuzeitliche Erschließung unbefahrener Seewege und unbekannter Länder nicht durch „vornehme Dogen auf pomphaften Staatsschiffen erfolgte, sondern durch wilde Abenteurer und Seeschäumer, kühne, die Ozeane durchstreifende Waljäger und wagende Segler als die ersten Helden einer neuen maritimen Existenz“52, trifft ebenfalls auf die mediterranen Gesellschaften der Antike zu. Auch für sie gilt, dass die Eroberung des ­Meeres das Werk unerschrockener, berufsmäßiger Seefahrer war. Allerdings ereignete sie sich nicht aus wissenschaftlicher Neugier heraus, sondern, um den Tausch von Waren von den Säulen des Herakles im Westen bis an die Levante im Osten zu ermöglichen. Wie den Walfängern des 18. und 19. Jahrhunderts, von deren Welt uns Hermann Melvilles Moby Dick einen beeindruckenden Ausschnitt vermittelt, offenbarte sich den seefahrenden Händlern der Antike der Ozean, nicht abenteuerlustigen Entdeckern. Handel und Schifffahrt bildeten die Klammer, die Phöniker und Griechen mit ihren weit zerstreuten Interessensphären verband. Die sagenumwobene Fahrt des samischen Schiffseigners Kolaios (um 630 v.  Chr.) erscheint als frühes Beispiel einer wagemutigen, allerdings auch unfreiwilligen Meeresüberschreitung53, denn er war auf dem Weg von Griechenland nach Ägypten in einen Sturm geraten, der ihn schließlich bis zur Straße von Gibraltar v­ erschlug. Als erster Grieche soll er in dem für sein Reichtum an Metallen berühmten Tartessos gelandet sein, nahe dem phönikischen Gades im Südwesten der Iberischen Halbinsel.54 Dort habe Kolaios vorteilhafte Geschäftsabschlüsse tätigen können, die ihm 60 Talente Gewinn einbrachten. Ein Zehntel seiner Erträge verwendete er für die Fertigung eines Greifenkessels, den er als Weihegeschenk dem Heratempel seiner Heimatstadt Samos stiftete. Es gab jedoch weniger spektakuläre Formen von Kontaktaufnahmen zum Zweck des Güteraustauschs, über die ein anschaulicher Bericht bei Herodot vorliegt: Wenn die Karthager nach Westafrika segeln, laden sie ihre Waren ab und legen sie am Strand nebeneinander aus. Dann steigen sie in ihre Schiffe und geben ein Rauchsignal. Sobald die Einheimischen den Rauch sehen, kommen sie ans Meer; dann legen sie Gold als Preis für die Waren hin und ­ziehen sich zurück. 38

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Daraufhin erscheinen die Karthager und sehen nach. Entspricht das Gold ihrer Meinung nach dem Wert der Waren, so nehmen sie es und fahren ab; andernfalls gehen sie wieder auf die Schiffe und warten dort. Jene aber nähern sich dann wieder den Waren und legen Gold hinzu, bis sie sie zufriedenstellen.55 Gewöhnlich erfolgte die Erschließung eines Absatzmarktes über die Gewinnung der Oberschichten der Zielregion. Die weitgereisten Seefahrer tauschten mit ihnen Geschenke, schlossen Verträge ab und ebneten so den Weg für weitere kommerzielle Transaktionen. Das Interesse galt hauptsächlich Rohstoffen wie Holz oder Luxusgütern, Nahrungsmitteln wie Getreide, Wein, Öl und Menschen (Sklaven), vor allem aber den begehrten Metallen Silber, Blei und Zinn, für welche eine ständig wachsende Nachfrage bestand. Wer waren diese Navigatoren, die sich auf die langen und gefährlichen Routen aufmachten? Die soziologische Einordnung der Händler-Abenteurer ­bereitet einige Schwierigkeiten. So lassen sich bei Homer sowohl Belege beibringen, dass der Warenaustausch als eine für einen vornehmen Mann unziemliche Beschäftigung empfunden wurde, als auch für das Gegenteil. Zwar kommt keine Bezeichnung für Händler vor, dafür werden aber die Phöniker als für die Abwicklung der Tauschgeschäfte Zuständige erwähnt. Dass sie negativ gezeichnet werden, scheint mit ihrer verwegenen Tätigkeit, wobei Piraterie und Angst vor Fremden eine Rolle spielten, zusammenzuhängen. Andererseits sprach Herodot mit Hochachtung von den Leuten, die sich auf die großen Seerouten aufmachten. Der bereits erwähnte Kolaios von Samos dürfte ein wohlhabender Mann gewesen sein. Nur wer ein Schiff samt Ausrüstung und Warenlager besaß, war in der Lage, sich am Fernhandel zu beteiligen. Hinzu kam, dass eine lange Seefahrt mit beträchtlichen Unwägbarkeiten verbunden blieb; weswegen die Gewinne entsprechend hoch ausfallen mussten, um die eingegangenen Risiken zu kompensieren. Die Fortschritte im Schiffsbau und in der Navigation sowie der Ausbau fester Routen und Absatzmärkte führten zu einer Intensivierung des Seehandels und zur Herausbildung eines eigenen Berufsstandes. Darauf anspielend vermerkte der Historiker Thukydides, der ein besonderes Sensorium für die Bedeutung des Meeres und der Seefahrt entwickelte: Das Seemannshandwerk ist eine Kunst (techne), die man nicht nur so gelegentlich nebenher treiben kann, sondern auf die man sich mit ganzer Kraft verlegen muss.56 Parallel dazu lässt sich eine Differenzierung der mit dem Fernhandel zusammenhängenden Tätigkeiten beobachten. Dazu zählte das Aufkommen von Handelsgesellschaften, nicht selten mit multiethnischem Charakter. Griechen, Karthager und Italiker fanden sich zusammen, um maritime Geschäftsabschlüsse zu tätigen. Demosthenes liefert ein Beispiel für staatsüber39

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I  Land und Meer

Tanaïs

AT L A N T I S C H E R OZEAN Olbia

Theodosia

Tyras Istros Mantua Atria Placentia Spina Bononia Lattes Arelate Pisae Arretium Agathe Massalia Perusia Populonia Vulci Volsinii Emporion Veii Alalia Roma Capua

Gades Mainake Lixus

Baria

Tomoi

SCHWARZES MEER Sinope

Trapezus

Phasis

Kerasos

Kytoros

Apollonia

Phanagoreia

Byzantion

Abdera Epidamnos Kyzikos Methone Kyme Fratte Taras Kyme Olbia Pompeii Velia Dodona Phokaia Korkyra Tharros Al Mina Sybaris Ephesos Soloi Delphi Nora Kroton Milet Phaselis Sulcis Athen Korinth Motye Knidos Nagidos Olympia Himera Rhegion Byblos Rhodos Sparta Kition Naxos Akragas Thera Utica Syrakusai Sidon Gela Tyros Karthago Kommos

MITTELMEER Sabratha

Leptis Magna

Expansion und Kolonisation etruskischer Städte (ca. 9.–5 Jahrhundert v. Chr.) Etruskische Expansionsrichtung Griechisches Mutterland und Kolonisationsgebiete Phönizische Expansion Phönizische Expansionsrichtung Punische Expansion

Barke

Apollonia Naukratis

Kyrene

Daphnai Memphis

ROTES MEER

0

200

400

600 km

Griechische Kolonisation

greifende Geschäftsverbindungen, das sich verallgemeinern lässt.57 Es handelt sich um einen um 340 v. Chr. abgeschlossenen Darlehensvertrag für eine Seefracht, bei dem Kreditgeber und Kreditnehmer aus verschiedenen Orten stammten: Athen, Phaselis und Karystos. Wenn wir heute eine kleinasiatische Küstenlandschaft in einer beliebigen ländlichen Region aufsuchen, die in der Antike zum Kernbereich des griechischen Kulturkreises gehörte, können wir die aufschlussreiche Beobachtung machen, dass sich die Äcker fast bis zum Meeresufer hin ausdehnen. Es hat den Anschein, als ob der landwirtschaftlichen Ausnutzung von jedem Quadratmeter Boden absolute Priorität eingeräumt wird. Gemäß der Logik einer solchen Landaufteilung und -nutzung drängt sich die Vermutung auf, dass das Meer als Hindernis wahrgenommen wird, weil es die planvolle Kultivierung der Felder unterbricht. Eine derartige Raumordnung mag man als etwas befremdlich empfinden, zumal sämtliche Mittelmeeranrainer seit der griechischen Antike auf das Meer hinschauten, das nicht nur ihre Blick­ richtung, sondern auch die Dynamik der Beziehungen zum Nachbarn bestimmte und damit einen zentralen Stellenwert als Lebensraum erlangte. Das scheint sich in den von den Nachfahren ehemaliger Steppenvölker, die das Osmanische Reich begründeten, besiedelten Küstenregionen anders zu 40

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g­ estalten. Es entsteht der Eindruck, dass die heutigen türkischen Bewohner die ehemals griechische Kulturlandschaft mit dem Rücken zum Seeufer vermessen, was auch der Grund dafür ist, dass sie mit großem Geschick und Fleiß beträchtliche Erträge aus ihrer Arbeit an den betreffenden Parzellen erzielen, ansonsten aber das Wasser als eine notgedrungene Unterbrechung ihrer gewohnten, auf die Bewirtschaftung der Felder ausgerichteten Tätigkeit ansehen. Den Menschen aus dem Altertum dürfte eine solche Lebenseinstellung ungewöhnlich vorgekommen sein. Das Meer ragte in ihren Alltag hinein, bestimmte ihren Lebensrhythmus. Es wurde daher weniger als Hindernis, sondern vielmehr als verbindendes Element, als integrativer Bestandteil der eigenen lebensräumlichen Existenz empfunden. Daher spielte das Mittelmeer in der griechischen Geschichte eine Hauptrolle als Plattform der Lebensgestaltung, der Siedlungsgeschichte und der politischen Kultur, noch mehr: Es wurde für die Geschicke der an seinen Gestaden beheimateten Völker identitätsbildend. Im Verlauf der großen Koloni­sations­bewegung (8.–6. Jahrhundert v. Chr.) siedelten sich griechisch sprechende Menschen aus dem ägäischen Raum an den Küsten Süditaliens, Sizi­liens, der Südkü­ste Galliens und der Ostkü­ste Iberiens, der Kyrenai­ka, an den Ufern Thra­kiens, des Helle­spont und des Schwarzen Meeres an. In Nordsy­rien suchten Grie­chen Al Mina auf, betrieben von dort aus einen regen Handel mit Chalkis und Eretreia auf Euböa. Schon bald wurde die Bil­dung von Inter­essen­zonen erkenn­bar. So dominier­ ten etwa Ko­rinth und Chalkis im westlichen Mittelmeerraum, wäh­rend die Propon­tis und das Schwarz­meer­gebiet seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. von Megara und Milet aus erschlossen wur­den.58 Die Expan­sion führte zu Kon­ flikten und zu Reak­tio­nen anderer Völker. Sie rief eine Aus­weitung des Ein­ flussge­bie­ts der Phöni­ker hervor, die schließlich die Seewege entlang der Küste Nord­afrikas bis nach Iberien hin kon­trollierten: Gades und Karthago waren ihre westlichen Stützpfeiler.59 Kolonien wurden gegründet, um der Übervölkerung und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Schwierigkei­ten in der Heimat zu begegnen oder um Rohstoffe für die örtliche Wirtschaft und damit neue Märkte zu gewinnen.60 Doch bleiben diese Erklärungs­versuche einseitig. Jedenfalls gingen bereits existierende Han­ dels­ beziehungen einer Besitznahme voraus­ . Denn es bildeten sich verschiedene Siedlungstypen heraus. Am wichtigsten war die apoi­kia, die typische Kolonie, die als Ableger der Mut­terstadt angelegt wurde und danach als autonome Polis mehr oder minder engen Kontakt zu ihr unterhalten konnte. Es kam auch vor, dass Tochterstädte ihrerseits Filialen gründeten (Megara Hyblaia oder Selinunt). Die apoikia, gewöhnlich 41

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agrarisch ausgerichtet, behauptete sich als übliches Sied­lungsmodell. Daneben gab es das emporion, eine Nieder­lassung, die als Stützpunkt für die ­Navigation, als Stapelplatz oder als Handelskontor diente. Aus dem archäo­ lo­ gischen Befund ergeben sich Rückschlüsse auf die unter­ schiedli­ chen Beweggrün­ de, die zur Kolonisation fremder Land­ striche geführt haben mögen. Das Beispiel der von Thera aus besiedelten Kolonie Kyrene ist gut überliefert. Wir erhalten einen Einblick in die Landnahme und die Entwicklung der prosperierenden Stadt. Viele Generationen nach der Gründung der Kolonie bat die Mutterstadt, den in Kyrene ansässigen Theraiern das Bürgerrecht zu verleihen und berief sich dabei auf frühere bilaterale Abmachungen. Das Ersuchen wurde gewährt und eine Abschrift des Beschlusses im Tempel des Apollo in Delphi hinterlegt: Die Volksversammlung hat folgendes beschlossen: Da Apollo von sich aus dem Battos und den Theraiern das Orakel gegeben hat, Kyrene zu besiedeln, scheint es bestimmt zu sein für die Theraier nach Libyen auszusenden den Battos als Führer (archegetes) und König (basileus), als Gefährten aber sollen die Theraier ziehen. Zu völlig gleichen Bedingungen sollen sie ziehen aus jedem Haushalt (oikos), dazu sollen sie einen Sohn auswählen. Von den Theraiern, sofern sie frei sind, soll ziehen, wer will. Wenn die Siedler dann die Kolonie in festen Besitz haben, dann soll jeder von den Familienangehörigen, der später in Libyen landet, sowohl das Bürgerrecht als auch an den Ehren teilhaben und soll von dem noch nicht einem Besitzer zugewiesenen Land einen Teil durchs Los erhalten.61 Der Text bietet wertvolle Hinweise für die Modalitäten des Kolonisa­ tionsprozesses. Demnach entwickelte sich die Kolonie zu einer autarken Ackerbürgergemein­de, die unter der Leitung eines aus der Aristokratie stammenden oikistes (Gründer) stand, der von der Mutter­stadt mit den Schiffen und dem für die Errich­tung der Stadt Notwen­digen versehen wurde. Er überwachte die Landverteilung und schuf die politischen, recht­ lichen und religiösen Institutionen der neuen Polis.62 Als göttlicher Schirmherr der neuen Gründungen walte­te Apollon, dessen Orakel in Delphi vor jeder Auswanderung befragt wurde. Dies führte alsbald dazu, dass Delphi zur Schalt­stelle der griechischen Kolonisa­tion avancier­te. Die Teil­nahme an einer überseeischen Unternehmung musste nicht immer freiwil­lig erfolgt sein. Ver­mutlich waren die Betroffenen unverheirate­te waffenfähige Män­ner, die aus Familien mit mehr als einem Erben stammten. Da in einigen Kolo­nien die Siedler gamoroi („die das Land unter sich geteilt haben“) hießen, wurde offen­sicht­lich die Auswahl der Böden unter dem Aspekt der land­wirt­schaftlichen Nutz­barkeit getroffen. Auf Münzen der Kolonie Selinunt erscheint beispiels­weise der Sellerie, auf denen von Meta­pont die 42

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3  Das Meer als Hindernis, Verkehrsweg und Siedlungsraum

Girifalco Antike Markierungen von Landparzellen Entwässerungsgräben

N

Tavole Palatine

S

Salice Metapontion Antiker Hafen

Pirazzero

Termilito Antiker Küstenverlauf

Cerulli

Scanzano

G O L F V O N TA R E N T

0

2

4

6 km

Metapont

Korn­ähre. Obwohl die Kolonien unabhän­gig waren, konnten sich einige nicht allein von der Bewirt­schaftung ihres Umlandes ernähren. Sie blieben auf den Arbeitseinsatz der unterworfenen Bevölkerung angewie­sen. Daher spielte der militäri­sche Aspekt eine zentrale Rolle: Die Kolonisa­tion eines Gebie­tes war auch ein Tätig­keits­bereich für er­probte Krie­ger, weswe­gen die frühesten Siedlun­gen mit beson­derer Berück­sichti­gung ihrer strate­gischen Lage angelegt wurden. Die Auswirkungen der Kolonisation waren erheb­lich. Die Verbreitung der in der Heimat bewährten Institutio­nen samt einheitlicher Städtebau­muster (hippodamischer Bauplan) sowie die Zunahme des Schiffs­verkehrs und des Han­dels führ­ten zu ökonomischen Veränderungen, zu einem wirt­schaft­­ lichen Aufschwung und zur Ver­stärkung eines panhellenischen mittelmeer43

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umspannenden Be­wusst­seins. Auch konnte die Kolonisationsbewegung beträchtliche Nebenwirkungen auf die sozialen und politischen Verhältnisse in den Mutterstädten entfalten, wie das folgende Beispiel verdeutlicht. Eine Luftaufnahme der unteritalischen Stadt Metapont zeigt eine auffällige Anhäufung von symmetrisch abgegrenzten Landfluren, die aufgrund der Geradlinigkeit der Trennmarken sowie der Gleichmäßigkeit der einzelnen Parzellen hervorstechen.63 Offensichtlich sind hier die ältesten Spuren des Kolonisationsprozesses festgehalten worden, als im Kontext der Landnahme die verfügbaren Ackerflächen vermessen und unter den Neusiedlern aufgeteilt wurden. Dies geschah wohl in der Absicht, die Vergabe der Felder an die betroffenen Kolonisten im Geist der Gleichheit zu verteilen. Demnach erhielten die ersten Ankömmlinge etwa gleich umfangreiche Landgüter zugewiesen. Die Zuteilung der Landpar­zellen erfolgte offenbar im Losverfahren, was den Grund­satz der Gleichberechtigung zwischen den unterschiedlichen Siedlern zusätzlich unterstreicht. Möglicherweise versuchte man auf diese Weise bewusst in der Fremde das zu verwirklichen, was in der Heimat oft genug verwehrt worden war: Die Nivellierung der Besitzunterschiede. Damit hoffte man die Sprengkraft einer stets brodelnden Quelle sozialer Umstürze durch Herstellung einer Plattform der ökonomischen Chancengleichheit auf Dauer zu entschärfen.

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4 Magie fremder Länder Tartessos Wenn erst Andalusien seinen Schliemann findet, dann wird die ­Kultur des alten Tartessos auferstehen, glänzend und überraschend wie die von Kreta in den Palästen von Knossos und Phaistos. (Adolf Schulten)

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eit jeher strahlten ferne, poetisch verklärte Länder eine enorme Anziehungskraft aus. So wie der eigene, überschaubare Lebensbereich ein ­spezifisches Lebensgefühl erzeugte, so sehr war man sich bewusst, dass unterschiedliche Lebensformen ebenso eigens dafür passende Räume erforderlich machten. Diese lagen allerdings meist außerhalb der Reichweite der heimatlichen Umgebung. Man erahnte diese mehr, als dass man sie wirklich kannte. Sie bildeten den Stoff für Mythos und Phantasie. Mit der Erschließung des Meeres rückten sie aber auf einmal deutlich näher zusammen, sie wurden bekannt und begehbar. Mit dessen Zugänglichkeit trat eine Änderung des Wahrnehmungshorizontes ein, die enorme unternehmerische Energien freisetzte und dabei neuartige Raumperspektiven eröffnete. Die Bewältigung großer Wegstrecken hat die Isolation weit entfernter Orte plötzlich aufge­ hoben und die Kulturländer des östlichen Mittelmeerbeckens mit den unbekannten Territorien des Westens enger verzahnt. Damit ist der Weg für einen intensiven zivilisatorischen Transfer gebahnt worden. Die Entdeckung von Tartessos durch Phönikier und Griechen war ein Ergebnis davon und schon bald entstanden sagenumwobene Geschichten um diese außerhalb der vertrauten Lebenskreise liegenden Gebiete. Mit der legendären Gestalt des tartessischen Herrschers Argant­honios verband sich die Vorstellung eines Eldorado, eines an Silber und Edelmetallen reichen Landes im äußersten westli­chen Winkel der Mittelmeerwelt.64 Die antiken seefahrenden Völker besuch­ten regelmäßig die Re­gion, legten an deren Küsten Stützpunkte an, trieben Handel, knüpften Kon­takte mit den dortigen Oberschichten und trugen dazu bei, die Potenziale des Landes allgemein bekannt zu machen und das bis dahin in sich gekehrte Tartessos aus dem Dornröschenschlaf wachzurütteln. 45

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Nur wenige antike Namen sind derartig mit Elementen der Legende durchsetzt wie dieser, bis in die jüngste Vergangenheit eifrig gesuchte Ort. Der besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachwirkende „Schliemann­ effekt“ beeinflusste in hohem Maße die Vorstellungen der Gelehrten, die sich in Analogie zu Troja Tartessos als eine unter dem Erdboden verborgene, mächtige und nicht minder geschichtsträchtige Stadt dachten. Daher traute man dem unauffindbaren Ort ein ähnlich dramatisches Schicksal zu, das im Zuge einer Eroberung und anschließenden Zerstörung wie ein ­Naturereignis gekommen sein musste. Bestimmte bis vor kurzem die Suche nach diesem einen Platz den Blickpunkt der Forschung, so hat sich neuerdings ein spürbarer Wandel vollzogen.65 Die lange vorherrschende Fixierung auf einen als verschollen geltenden Ort ist, bedingt durch die Neubewertung der archäologischen und historischen Quellen, in den Hintergrund getreten. Es gilt als gesichert, dass die im Südwesten der Iberischen Halbinsel zu verortende tartessische Region (ihr Kerngebiet lag in den heutigen Provinzen Huelva, Cádiz und Sevilla), die wegen ihres Reichtums an Silber, Eisenerz und Kupfer begehrt war, seit alters her Kontakte mit den Ländern des östlichen Mittelmeeres unterhielt. Ob allerdings einige Erwähnungen von Tarschisch im Alten Testament auf diese Gegend zu beziehen sind, bleibt fraglich.66 Jedenfalls lässt sich ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. ein Kranz phönikischer Niederlassungen auf tartessischem Boden archäologisch dokumentieren, der tiefgreifende Akkulturationsprozesse auslöste und gleichzeitig einen ökonomischen, sozialen und politischen Umbruch in der indigenen Gesellschaft bewirkte. Über diese in Küstennähe errichteten Siedlungen wurde der wichtigste Teil der Kontakte zur Außenwelt abgewickelt. Im Verlauf des 6. Jahrhunderts v. Chr. lässt sich ein Erlahmen der phönikischen Aktivitäten im südhispanischen Raum beobachten und damit verbunden eine Veränderung der Lebensbedingungen im Tartessosgebiet. Zwei Faktoren weisen darauf hin. Zum einen die Aufgabe einer Reihe phönikischer Niederlassungen an der andalusischen Küste, die von da an einen Bruch in der Belegungskontinuität aufweisen (die oben genannte Nieder­ lassung von Toscanos wäre ein solcher Fall)67; ferner ergeben zahlreiche Grabungsbefunde einen spürbaren Wandel der materiellen Kultur, charakterisiert durch den auffälligen Mangel an den früher so häufigen Bronze­ gegenständen, was eine Verarmung der örtlichen Oberschichten anzeigt gegenüber den reicheren Materialien aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. Zur Deutung dieser Sachlage werden unterschiedliche Denkmodelle erwogen.68 Dabei sollte man von monokausalen Erklärungsversuchen absehen, die 46

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keine befriedigende Lösung des Problems bieten können, sondern höchstens Stoff für weitere Hypothesen liefern. Eine solche Vermutung wäre die gelegentlich vertretene Ansicht, dass von Karthago die Initialzündung zum Untergang der tartessischen Zivilisation ausging; eine Annahme, die ohne jede Beweiskraft ist.69 Die Spur, die einen politischen Wandel in Tartessos anzeigt, lässt sich in groben Umrissen anhand der schriftlichen Quellen verfolgen. Die ältesten griechischen Gewährsleute kennen den bereits genannten basileus Arganthonios, der im 6. Jahrhundert v. Chr. wirkte, und dem übereinstimmend eine beherrschende Stellung zugeschrieben wird.70 Unabhängig davon, wie man seine staatsrechtliche Stellung bewertet (ob als Synonym für eine Dynastie oder als Herrscher eines größeren Territoriums oder als Leiter einer regionalen Stammeskonföderation) – entscheidend ist, dass er als Oberhaupt einer politischen Einheit erscheint. Dass Tartessos stets als Bezeichnung für eine Kulturregion steht, ist ebenfalls unserer ­ältesten Überlieferung zu entnehmen.71 Sie bestand aus einer Vielzahl von Siedlungen und Stämmen, die sich unter Einschluss des Guadalquivirtales von der heutigen Provinz Huelva nach Westen hin ausdehnten. Arganthonios ist bezeichnenderweise der letzte tartessische Regent, von dem wir Kunde haben.72 Dass er keinen Nachfolger fand, hängt nicht mit der lange Zeit vertretenen Katastrophentheorie zusammen, wonach Tartessos untergegangen sei, sondern sein Verschwinden stand mit dem Ende einer historischen Etappe in Zusammenhang, über die sich derzeit nichts Genaueres sagen lässt. Während des 6.  Jahrhunderts v.  Chr. traten deutliche Transformationen im südhispanischen Raum auf. Davon blieben die phönikisch-tartessischen Beziehungen nicht unberührt. Als Folge interner und externer Faktoren (massaliotische Konkurrenz, Ausdünnung des tartessischen Bronzemarktes, Umorientierung auf die Silber- und Erzausbeutung, politischer Zerfall von Tyros, phokäische Westexpansion, keltische Einfälle) kristallisiert sich im Übergang des 6. zum 5. Jahrhundert v. Chr. eine veränderte wirtschaftliche und politische Lage heraus. Sie wies zwei unterschiedliche Schwerpunkte auf: Zum einen die Guadalquivirmündung mit Gades und Huelva als Knotenpunkte; zum anderen das Bergbaugebiet im Südosten (Almería, Murcia), das für die Zukunft vielfältige wirtschaftliche Aussichten eröffnete. Dieser Wandel umreißt die Ausgangssituation für die ersten Kontakte der Karthager mit der tartessischen Region, die keineswegs als Vorkämpfer der Westphöniker nach Südhispanien kamen. Karthagos Eintritt in die hispanische Geschichte hängt ursächlich mit dem Strukturwandel zusammen, der durch die römische Annexion von Sizilien und Sardinien eingeleitet wurde.73 47

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I  Land und Meer

Ägypten Kaum ein anderes Land regte die Phantasie der Fremden im gesamten Altertum stär­ker an als das von Wüsten und Meer abgeschottete Land am nordöstlichsten Rand des afrikanischen Kontinents. Seiner abgelegenen Lage und der emsigen Arbeitskraft seiner Bewohner verdankte dieses geheimnisvolle, entlang des Nil sich ausbreitende Territorium seine unverwechselbare wirtschaftliche, soziale und kulturelle Eigenart. Pyramiden, Tempel und königliche Repräsentationsbauten bildeten das äußere Gepräge einer monumentalen Architektur, die den Herrschaftsbedürfnissen der Gottkönige (Pharaonen) und der mächtigen Priesterschaft entgegenkam.74 Obwohl das Land sich seit dem Ende der Pharaonenzeit in einer politi­ schen Krise befand, war die Bewun­derung der antiken Völker für die Denkmäler der Ägypter, ihre Technik, ihre Wissen­schaft, ihre Medizin, ihre Astrologie und ihre Religion ungebrochen. Neidlos billigten die Griechen der uralten ägypti­schen Kultur einen zivilisatori­schen Vorrang zu. Das Land am Nil war das Ziel eines jeden griechischen Bildungsreisenden und mancher heraus­ragenden Hellenen. Etwa Homer, Lykurg, Solon, Thales, Pythagoras oder Herodot sagte man einen Aufenthalt im sagenumwobenen Ägypten nach, wo sie Erkenntnisse und Inspiration für ihr Tun erhalten haben sollen. Über den Philosophen und Naturwissenschaftler Anaxagoras von Klazomenai hieß es, dass er sein beachtliches astronomisches Wissen aus den geheimen Büchern der ägyptischen Priester geschöpft habe. Kontakte zwi­schen Europa, Asien und dem an der Nilmündung gelegenen afrikanischen Brückenland hat es immer gegeben. Zahl­reich sind die ägypti­schen Einflüsse auf die griechische Kunst und Technik vor allem im Bereich des Bauwesens, der Ornamentik und der handwerklichen Fertigkeiten. Ebenso waren die Beziehungen Ägyptens zur griechischen Welt im militärischen Bereich äußerst intensiv. Unter den Pharaonen Necho II. (610– 595 v. Chr.) und Psammetich II. (594–589 v. Chr.) dienten zahlreiche griechische Söldner in der ägyptischen Armee und in der Flotte, wo sie zeitweise eine dominierende Stellung erlangten. Während der Regierungszeit des Pharao Amasis (570–526 v.  Chr.) verstärkte sich der griechische Einfluss weiter. Ein direktes Tor nach Ägypten errich­te­ten die Grie­chen durch die Gründung der Handels­nieder­lassung von Naukratis am Nildelta im 6.  Jahrhundert v.  Chr. Sie erhielt einen privilegierten Status als Frei­ handelszone, von wo aus der gesamte Warenaustausch zwischen den drei Kontinenten abgewickelt werden konnte. Darüber hinaus gestattete Amasis 48

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den Griechen die Errichtung von Heiligtümern. Bezugnehmend darauf hat ­Herodot, der Ägypten aus ­eigener Anschauung kannte, folgenden Bericht verfasst: Pharao Amasis war ein Freund der Griechen. Manchen von ihnen erwies er Gutes; den griechischen Einwanderern überließ er die Stadt Naukratis zur Besiedlung. Er gab denen, die nicht dauernd in Ägypten wohnten, sondern nur Handel treiben wollten, Plätze, wo sie Altäre und Kultstätten errichten konnten. Ihr größter heiliger Bezirk ist das sogenannte Hellenion. Es ist von folgenden Städten gemeinsam gegründet worden: von den ionischen Orten Chios, Teos, Phokäa und Klazomenai, von den dorischen Rhodos, Knidos, Halikarnassos und Phaselis, von dem aiolischen Mytilene allein. Ihnen gehört dieser Bezirk gemeinsam, und diese Städte stellen auch die ­Hafenaufseher.75 Ägyptens Prestige als Vorbild und Lehrmeister für andere Völker reichte weit bis in den politischen Bereich hinein. So soll Polykra­tes von Samos ebenso wie Kypselos und Periandros von Korinth in die ägypti­ schen Angelegen­heiten ver­wickelt gewesen sein. Bezeichnenderweise trug der letzte Vertreter des korinthi­schen Tyrannen­hauses den ägypti­schen Namen Psam­me­tich, was auf besonders enge Bindungen zu Ägypten schließen lässt. Im Verlauf des 6. Jahrhunderts v. Chr. wurde das aufgrund seiner vielfältigen Ressourcen begehrte Land immer stärker in die Auseinandersetzungen der orientali­ schen Großmächte hin­ eingezo­ gen: Assyrien, Babylon und schließlich Persien. Mit dem Feldzug des Kamby­ses, Sohn des Reichsgründers Kyros, geriet es schließlich unter per­sische Kontrolle (525 v. Chr.) und verlor endgültig, trotz einiger kurzer Phasen pharaonischer Herrschaft, seine Unabhän­gigkeit. Von nun an wird Ägypten unaufhörlich von fremden Mächten beherrscht werden, die in der Ausbeutung der natürlichen Reichtümer des äußerst ertragreichen Territoriums einander ablösten. Nach den Persern kamen die Makedonen, danach die Römer und nach ihnen die muslimischen Araber. Dennoch behielt Ägypten über alle Eroberungen hinweg seinen besonderen Zauber und seine Einzigartigkeit bis in die Neuzeit hinein: Napoleons ruhmsüchtige Expedition, die ihn bis an den Fuß der Pyramiden verschlug, lässt sich ebenfalls in die Reihe fremder Invasionen einordnen, die das uralte Kulturland nachhaltig veränderten, welches im Gegenzug die Zeugnisse seiner prachtvollen Zivilisation dem erstaunten neuzeitlichen Europa vermitteln konnte. Über das gesamte Altertum galt das Land am Nil trotz seiner relativen politischen Ohnmacht als Wiege des Wissens, Heimstätte einer bewundernswerten Kultur und Hort der Lebensweisheit zugleich, dessen Errungenschaften von der übrigen Welt ehrfurchtsvoll rezipiert wurden. 49

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I  Land und Meer

Indien Indien übte eine unleugbare Faszination auf Menschen des mittelmeerisch geprägten Kulturkreises aus. Galt doch der weitgehend unbekannte Subkontinent als eine Art Wunderland, weit entfernt, sonderbar, rätselhaft und märchenhaft, reich an Gewürzen und exotischen Gütern zugleich.76 Eine entscheidende Wende im Prozess der Erschließung des Landes für den Westen erfolgte als Konsequenz des Alexanderzuges im letzten Drittel des 4.  Jahrhunderts v. Chr. Der überaus wissensbegierige Makedonenkönig, der zuvor Ägypten seinem Herrschaftsbereich einverleibt hatte, ließ es sich nicht nehmen, das andere geheimnisumwitterte Territorium am östlichen Rande des weltumspannenden Okeanos aufzusuchen und zu erobern, um wie einst Herakles oder Dionysos damit bis an die Grenzen der damals bekannten Welt vorzustoßen. Folgerichtig betrat Alexander nach der Besetzung Baktriens, das heutige Afghanistan, an der Spitze einer imponierenden Streitmacht, nachdem er den Kyberpass überschritten hatte, das Gebiet des verbündeten indischen Fürsten Taxiles (westliches Pakistan). Dieser übergab ihm seine Hauptstadt Taxila (nahe bei Rawalpindi), wo zahlreiche ausgediente Soldaten sich von den Strapazen des Feldzuges erholen und eine neue Heimat finden konnten. Hier lernten die aus dem griechisch-makedonischen Raum stammenden Fremden intensiv die indische Stadtkultur mit ihren fremdartigen religiösen Gebräuchen, ihrer in Kasten gegliederten Gesellschaft, den Asketen, Fakiren und Brahmanen sowie den zahllosen Kuriositäten des Landes kennen. Besonderes Interesse zeigte Alexander für die Gymnosophisten, die eine ähnliche Lebensweise wie die im griechischen Kulturkreis wirkenden Kyniker zu pflegen schienen, und so lud er sie zu seiner Tafel.77 Einen von ihnen, Kalanos, nahm er in sein Gefolge auf.78 Die Begegnung beider Welten bewirkte gegenseitiges Erstaunen, schuf Missverständnisse zuhauf und wurde bald zu einem Thema, das sich in einem Gestrüpp von Legenden verfing. Obwohl die Öffnung des Landes nach Westen in der Alexanderzeit und in der sich anschließenden hellenistischen Epoche zweifellos dazu beitrug, die Kenntnisse über Indien zu vermehren und gleichzeitig eine Intensivierung der Handelsrouten zu Wasser und zu Lande zu befördern, blieb diese Region dennoch aus der Perspektive der Mittelmeerwelt ziemlich unzugänglich, ja randständig und fremd. Zwar gab es seit der Diadochenära eine unübersehbare, allerdings schlecht quantifizierbare griechisch-makedonische Präsenz in den eroberten indischen Territorien; trotzdem vermochten diese Gebiete keine angemessene Rolle, die ihrer Größe entsprochen hätte, zu spielen. In den politischen Planungen des seleukidischen Reiches, das sich eindeutig 50

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nach Westen hin orientierte, blieb der Stellenwert Indiens von untergeordneter Bedeutung. Die gewaltige Entfernung zu den Brennpunkten der mittelmeerisch zentrierten Weltsicht der Seleukiden sowie die für die Menschen aus dem Westen schwer erträglichen klimatischen Bedingungen des indischen Subkontinents erwiesen sich als zusätzliche Hindernisse für eine tiefere Integration dieser fernab liegenden Regionen in den Gesamtrahmen der seleukidischen Reichspolitik. Erst in der frühen Neuzeit und angelockt durch die angeblich ungeheuren Reichtümer, die dort zu erlangen seien, wird durch die Odyssee des seefahrenden Visionärs Christoph Kolumbus der Fokus der Aufmerksamkeit und die unersättliche Gier der europäischen Mächte sich verstärkt nach den ­fernen indischen Territorien richten. Dass die eklatanten Fehlplanungen des Kolumbus auf der Suche nach dem kürzesten Weg von Westeuropa nach Indien zur unfreiwilligen Entdeckung Amerikas führen sollten, ist einerseits als Ironie der Geschichte zu werten. Andererseits bleiben die Spuren dieses gewaltigen Missverständnisses bis auf unsere Gegenwart sichtbar. Noch heute trägt die vor der amerikanischen Küste sich ausbreitende Inselwelt den bezeichnenden Namen Westindien. Wie bereits Alexander der Große, der mit seinem indischen Feldzug angesichts der Größe, Entfernungen und Beschaffenheit des Landes spektakulär scheiterte, sollte sich auch Kolumbus mit Bezug auf Indien – wenn auch aus einer völlig anderen Perspektive, denn er hat bekanntlich niemals indischen Boden betreten – nicht minder grandios verrechnen.

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5 Rom: Von einer italischen Landmacht zum Mittelpunkt der Oikumene Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht – Kennst du es wohl? Dahin! Dahin Möchte ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn! (Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre)

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ie italische Halbinsel, das heiß ersehnte Paradies der nordeuropäischen Romantik, wie Goethes unnachahmliche Verse meisterhaft unterstreichen, bildet einen abwechslungsreichen geographi­schen Raum, der von Gebirgsketten (Abruzzen, Apennin), Flüssen (Arno, Po, Tiber, Volturnus), Seen und Feuchtgebieten (Pontinische Sümpfe) durchzogen wird und in dem gut bewässerte Ebenen (Campanien, Tibertal, Poebene) und hügeliges Terrain (Lukanien, Toskana, Umbrien) das Land­schaftsbild bestimmen. Die Alpen im Norden und das Meer an den Rändern sind die markantesten topographischen Merkmale dieser rund 250 000 Quadratkilometer umfassenden territorialen Einheit, die in Sizilien eine Fortsetzung findet und die von Nord nach Süd von der Gebirgskette des Apennin in zwei unterschiedliche Hälften geteilt wird. Die westlichen, am Tyrrhenischen Meer gelegenen Landschaften, sollten aufgrund ihrer geopolitischen Gegebenheiten (fruchtbare Ackerböden, Bevölkerungsdichte, günstige Häfen, Anziehungspunkt für die etruskische und griechische Kolonisation) geschichtlich bedeutsamer werden als die entlang der Adria sich erstreckende Osthälfte. Aufgrund seiner Lage im Zen­ trum des Mittelmeerbeckens war das Land stets äußeren Einflüssen ausgesetzt. Zahlreiche Völker haben vielfältige Spuren ihrer Präsenz hinterlassen. Die Bewohner des Tibertals, die zum Stamm der Latiner gehörten, unterhielten enge Kontakte zu den Etruskern, die in der Toskana und in Campanien siedelten. Diese standen ebenso wie die in Unteritalien heimisch gewordenen Griechen (Neapel, Kyme, Poseidonia, Kroton, Tarent, Metapont) auf einem beachtlichen Kulturniveau. Beide Völker wurden die Lehrmeister der Römer. Die übrigen Stämme Italiens gehörten hauptsächlich den Gruppen der Umbro52

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5  Rom: Von einer italischen Landmacht zum Mittelpunkt der Oikumene

Sabeller (Um­brer, Sabiner, Aequer, Marser) und der Osker an, deren wichtigster Stamm die Samniten waren. Am Nordrand Italiens lebten kelti­sche Stämme, im Süden treffen wir auf die Lukaner, Daunier, Peuketier, Salentiner und Messapier.79 In einem mittelitalischen Flusstal (Tiber) entstand die Stadt Rom. Allerdings stellt das überlieferte Gründungsdatum, das der gelehrte Heimatforscher Varro auf das Jahr 753 v.  Chr. errechnete, eine literarische Fiktion dar. Die archäologischen Überreste legen nahe, den Prozess der Stadtwerdung deutlich später anzusetzen. Erst ab dem Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. scheinen sich einige dorfähnliche Siedlungen auf den Hügeln des Palatin, Esquilin und Quirinal zu einer neuen Gemeinschaft vereinigt zu haben. Verantwortlich dafür dürften die nördlich davon beheimateten Etrusker gewesen sein, die im Zuge ihrer Südexpansion einen befestigten Stützpunkt unweit der Tibermündung anlegten.80 An der Spitze der ersten Siedlung am Tiber stand ein König, der als oberster Priester, Richter und Heerführer amtierte. Er war für die Pflege der Beziehungen zu den Göttern verantwortlich, die wiederum das Gedeihen der Gemeinde verbürgten. Diese sakrale Verankerung der Herrschaft wird nach der Königszeit auf die Inhaber der höchsten politischen Ämter übergehen, denen die Erkundung des Götterwillens oblag (auspicium). Aus der Frühzeit stammte die Gliederung der Einwohnerschaft in drei Stämme (tribus) zu je 10 Abteilungen (curiae), sowie die Einteilung der plebs (Masse der Bevölkerung). Offenbar kam das in Rom herrschende etruskische Herrschergeschlecht aus Tarquinii, und seine Regierungszeit erstreckte sich bis in das erste Drittel des 5. Jahrhunderts v. Chr. In der Seeschlacht von Kyme (474 v. Chr.) brachten die Griechen Süditaliens den Etruskern eine schwere Niederlage bei, die sie zwang, sich aus Campanien und Latium zurückzuziehen. Wahrscheinlich bildete dieser Rückschlag den Auftakt zur Vertreibung des letzten etruskischen Stadtherrn aus Rom. Danach wurde die Stadt von den grundbesitzenden patrizischen Familien kollektiv regiert, die sich in einem Adelsrat versammelten (Senat), aus dessen Mitte die jährlich gewählten Magistrate kamen.81 Die Römer waren ein Bauernvolk, das zäh an seinen Traditionen festhielt. Die agrarische Prägung der Gesellschaft übertrug sich auf ihr Staatswesen. Ihre Wirtschaftsverfassung, Sozialordnung, Militärorganisation und Religion waren erfüllt von den Erfordernissen einer auf die Bebauung des Bodens ausgerichteten Lebenshaltung. Ackerflächen hatten einen hohen Stellenwert in einer Welt, in der die Steigerung und Ausweitung der Agrarerträge das Handeln der Menschen maßgeblich bestimmte. Seit frühester Zeit bewirtschafteten freie Bauern bescheidene Ackerflächen, deren Erträge gerade 53

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I  Land und Meer A L P E N

Römisches Gebiet um 500 v. Chr. während der Samnitenkriege (300 v. Chr.) nach den Samnitenkriegen (290 v. Chr.) nach den Kriegen gegen Pyrrhus (275 v. Chr.)

Po Antiker Küstenverlauf

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Syracusae

Roms Ausgreifen in Italien

den Eigenbedarf deckten. Die spätere römische Überlieferung nennt hierbei das als Existenzgrundlage kaum ausreichende Areal von 2–4 iugera (0,5–1 Hektar) als übliche Feldgröße. Die Ausweitung des römischen Herrschaftsgebietes seit dem 4.  Jahrhundert v.  Chr. bewirkte in mehrfacher Hinsicht einen Wandel. Zunächst gelangten die Familien der Oberschicht über die Okkupation der von besiegten Gegnern konfiszierten Territorien (ager ­publicus) in den Besitz beträchtlicher Landflächen; die wachsende Zahl an 54

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5  Rom: Von einer italischen Landmacht zum Mittelpunkt der Oikumene

Sklaven (Kriegsgefangenen) ermöglichte deren Bewirtschaftung in größeren Wirtschaftseinheiten. Vor allem brachten die jahrelangen Feldzüge den Verfall beziehungsweise die Verschuldung der kleinen Höfe, der Basis der römischen Wehrorganisation, mit sich. Der Aufstieg Roms zum Mittelpunkt ­Italiens wie überhaupt die zunehmende Urbanisierung der Halbinsel schufen derweil die großen Absatzmärkte für eine auf Überschuss orientierte ­Agrarwirtschaft, die im Umfeld dieser städtischen Zentren zur Ausbreitung von gewinnorientierten spezialisierten Gutsbetrieben führte. In den abgelegenen Gebieten, vor allem in den Bergregionen, vermochte sich jenes kleine freie Bauerntum hingegen während der gesamten Antike unter kärglichen Bedingungen zu behaupten. Andernorts zogen von ihren Landstücken verdrängte Bauern nach Rom und bildeten das städtische Proletariat, oder aber sie gerieten in zunehmende Abhängigkeit von Großgrundbesitzern. Eine besondere Sprengkraft erhielten die Auseinandersetzungen innerhalb der Bürgerschaft durch die Notlage der überschuldeten Kleinbauern und der Besitzlosen (proletarii). Sie stellten die übervölkerte Stadt vor schwere Aufgaben. Erst die Besitznahme italischen Bodens trug dazu bei, die soziale Lage der Masse der römischen Bevölkerung zu verbessern.82 Daher hing die Expansion Roms mit dem Erwerb von Land zusammen. Zunächst bekämpften die Römer die Volsker und Aequer, die sich nach dem Zusammenbruch der etruskischen Herrschaft in Latium ausbreiten wollten. Dabei kam es zu einer Kooperation mit den ebenfalls davon betroffenen latinischen Gemeinden (Tibur, Lanuvium, Praeneste). Erheblich mehr Bedeutung kam der Auseinandersetzung mit den benachbarten etruski­schen Städten Veji und Caere zu. Sie bestimmte die römi­sche Außen­politik am Ausgang des 5. Jahrhunderts v. Chr. Als man schließ­lich Veji besiegt und annektiert hatte, womit sich das römische Staatsgebiet fast verdoppeln konnte, folgte im Jahr 387 v. Chr. ein Rück­schlag. Die als Gallierkatastrophe in den römischen Annalen verzeichnete Niederlage und die anschließende Plünde­rung der Stadt durch keltische Scharen hinterließ ein Trauma der Bedrohung aus dem Norden. Doch Rom erholte sich schnell von dieser Gefahrenlage. Durch die Festigung seiner Position innerhalb des Latinischen Bundes (foedus Cassianum um 370 v.  Chr.) gelang es, die Kelten aus Mittelitalien zu vertreiben. Kurz darauf nahm Rom den Volskern die Städte Antium und Terracina ab, womit es sich nach Süden ausweitete. Im Norden wurde die reiche Stadt Caere erobert und in das mittlerweile beachtliche römische Staatsgebiet einverleibt. Zwischen 340 und 338 v. Chr. führte Rom einen erbitterten Krieg mit den Latinern, der nur unter Anspannung aller Kräfte siegreich beendet werden konnte. Die unterlegenen Städte verloren ihre politische Autonomie und 55

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wurden in den römischen Staatsverband eingegliedert, was eine erhebliche Erhöhung der Militärkapazität bedeutete. Damit wurde Rom die Vormacht Mittelitaliens.83 Wegen der gespannten Lage in Campanien, wo die mit Rom verbündeten Städte Capua und Neapel um Beistand gegen die oskisch-samnitischen Bergvölker baten, griff die latinische Vormacht in die politi­schen Verhältnisse Süditaliens ein. Eine Generation lang führte Rom mehrere Kriege gegen die wehrhaften Samniten, in deren Verlauf sich verheerende Niederlagen mit Erfolgen abwechselten. Entscheidend wurde die Anlage eines Festungsgürtels römischer Bürgerkolonien (so genannte coloniae Latinae) entlang der Grenzgebiete zwischen Samnium, Campanien und Apulien (wie etwa Fregellae, Suessa, Luceria oder Venusia), womit eine wirksame Kontrolle der Region auf Dauer erlangt werden konnte. Der dritte Samnitenkrieg (300–291 v. Chr.) eskalierte schließlich zu einem gesamtitalischen Konflikt. Rom musste sich zusätzlich gegen die Etrusker und Kelten zur Wehr setzen und gewaltige Anstrengungen unternehmen, um sich gegen die mächtige Phalanx der Feinde zu behaupten. Der römische Sieg bei Sentinum (295 v. Chr.) in Umbrien brachte die Entscheidung. Danach hatten die Römer keinen ernsthaften Gegner mehr in Italien zu fürchten. Die Gemeinden südlich des Po hatten sich mit der römischen Vorherrschaft abzufinden. Wichtigstes Instrument dieses Einigungsprozesses waren die Legionen. Die darin dienenden schwerbewaffneten Bürgersoldaten, die nach Bedarf ausgehoben wurden, zeichneten sich durch strenge Disziplin und hohe Pflichterfüllung aus. Ihre militärische Überlegenheit gründete auf ihrem harten Drill, ihrer Kampfkraft und außergewöhnlicher Opferbereitschaft für den Staat.84 Das römisch-italische Militäraufgebot stellte eine Achtung gebietende Heeresmacht dar, die im Zuge der Expansion geformt wurde und mit der sich jeder potenzielle Gegner Roms zu messen hatte. Rom hatte durch Annexionen sowie durch die Gründung von Bürgerkolonien sein Staatsgebiet erheblich ausgeweitet und die Anzahl seiner Bürger vermehrt. Trotz des Zugewinns an Territorium und an Bevölkerung blieb die römische Landmacht verfassungstechnisch ein Stadtstaat. Die politische Struktur Italiens stellte dagegen eine Mischung aus territorialstaatlichen und stadtstaatlichen Prinzipien dar. Sie bestand aus unterschiedlichen Gemeinwesen (Griechenstädte, keltische und süditalische Stammesgebiete, etruskische, umbrische, campanische, samnitische, apulische, lukanische Städte), die in Vertragsbeziehungen zu Rom traten. Dieses Netzwerk diente dazu, Rom militärisch beizustehen. Es entwickelte sich ein differenziertes Geflecht von bilateralen Verpflichtungen, welche die innere Autonomie der Verbündeten respektierte. Auch wurden keine Abgaben erhoben, aber die Militär- und Außenpolitik wurde aus56

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schließlich von Rom bestimmt. Die Beziehungen der Bundesgenossen (socii) zur Vormacht waren hinsichtlich ihrer Rechtsstellung von unterschiedlicher Qualität. Diejenigen, die hartnäckigen Widerstand geleistet hatten, bekamen schlechtere Konditionen als diejenigen, die sich den römischen Wünschen rechtzeitig gebeugt hatten. Hinzu kam, dass es den Städten und Stämmen Italiens untersagt war, völ­kerrechtlich wirksa­me Abmachungen untereinander einzugehen, da einzig Rom als gemeinsa­mes Bindeglied zwischen ihnen fungierte. Daher bildete sich keine Bundes­genossenschaft mit eigenen politischen Zielsetzungen oder Bundesorganen heraus, sondern das Ergebnis der Expansion war die römische Vorherrschaft über die Völker Italiens.85 Obwohl die Stadt am Tiber stets eine klassische Landmacht blieb, gingen in ihrem Herrschaftsbereich Land und Meer immer wieder neue Synthesen ein86, was besonders in der Seekriegführung während des 1. Römisch-karthagischen Krieges zum Ausdruck kam. Dabei bewies Rom, wie sehr es das Meer gewinnbringend zu nutzen vermochte, indem es etwa bei der Schlacht von Mylae die Schiffe der Karthager mit dem corvus, einer Brücke am Bug ihrer Schiffe enterte und die Gepflogenheiten des Landkrieges auf die Flotte übertrug.87 Später wird, unter der Ägide des Pompeius (1.  Jahrhundert v. Chr.), die vollständige Kontrolle des riesigen Binnenmeeres, das sämtliche Mittelmeeranrainer miteinander verband, erfolgen. Gerade dieser Aspekt verdeutlicht, wie die ideelle Grenze zwischen Land und Meer durchlässig und wandelbar blieb und den Erfordernissen seiner imperialen Mission angepasst werden konnte. Fasst man die Stationen der Expansion Roms zusammen88, so ergibt sich, dass im Zeitraum von drei Generatio­nen der Großteil der zivilisier­ten Welt unter mittelbare oder unmittelbare römische Herrschaft gelangte. Das war eine singuläre Leistung. Sie zwang selbst den Griechen Poly­bios, der unter dem Eindruck der Größe Roms zum Historiker der römischen Welt­reichsbildung geworden war, zur uneingeschränkten Anerkennung. Die Epoche der politischen Atomisierung schien überwunden. Polybios verstand Roms Expansion als Vorspiel einer, die gesamte Kulturwelt umspannenden Univer­salge­schichte: In den vorangehenden Zeiten lagen die Ereignisse der Welt gleich­sam verstreut auseinander, da das Geschehen hier und dort sowohl nach Pla­nung und Ergebnis wie räumlich geschieden und ohne Zusammenhang blieb. Von diesem Zeitpunkt an aber wird die Geschichte ein Ganzes, gleichsam ein einziger Körper, es verflechten sich die Ereignisse in Italien und Libyen mit denen in Asien und Griechenland, und alles richtet sich aus auf ein einziges Ziel.89 Die Eroberung der meisten Länder der Mittelmeerwelt erhob Rom zur Führungsmacht der Oikumene. Als Folge dieser Entwicklung sprachen römi57

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sche Magistrate in den Provin­zen Recht, und die römischen und italischen Kaufleute konnten sich eine Vormachtstellung dort ver­schaffen, wo bis dahin Karthager, Griechen und Orientalen führend gewe­sen waren.90 Für die großen Familien Roms brachte die Expansion eine beträchtliche Ausweitung ihrer Einflusssphären. Gleichzeitig zeigte sich die stadtrömi­sche Plebs zunehmend bereit, ihre Stimme bei den Comitien demjeni­gen Kandidaten zu geben, der ihre materiellen Interessen zu wahren versprach. Wahlbestechungen wurden ein gängiges Mittel der Politik, und gegen Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. setzte eine politische Laufbahn nicht mehr die Zugehörigkeit zur Nobilität und persönliche Leistung voraus, sondern vor allem große Geldmittel. Doch je mehr Sklaven und Güter aller Art aus den eroberten Gebieten nach Rom ström­ten, desto ent­scheidender veränderte sich das ökonomische und soziale Gleichgewicht in der agrarisch ge­prägten Stadt. Durch Handel mit den abhängigen Provinzen sowie durch das System der Steuerpach­ten reich gewordene Mitglieder des Ritterstandes (equites, publicani) legten ihre Gewinne in Italien an, wo sie Großgrundbesitz (Latifundien) erwarben, der durch Sklaven, die infolge der zahlreichen Eroberungskriege reichlich vorhanden waren, bewirtschaftet wurde. Billige Getrei­deimporte aus den eroberten Provin­zen verschärften die Kon­kurrenz und verursachten ein ökonomisches Ungleich­gewicht, das schließlich viele Kleinbauern zur Aufgabe ihrer Exi­stenzgrundlage und zur Abwanderung nach Rom zwang. Diese landlos gewordenen Bauern, die bislang in den Legionen gedient hatten, brachten das System der Truppen­aushebung ins Wanken.91 So gesellte sich zur Wirtschaftskrise eine Krise der Wehrverfassung. Hinzu kamen militärische Rückschläge. Die bis dahin mit der Führung des Staates beauftragte Nobilität versagte immer häufiger bei der Lösung von außenpolitischen Aufgaben, die bis dahin ihre Domäne gewesen waren. Die spektakulären Nieder­lagen der römischen Legionen in den keltiberischen Krie­gen (153–133 v. Chr.) – allein vor der Stadt Numantia mussten mehre­re Armeen kapitulieren – unterbrachen jäh die politi­schen Karrieren mancher Senatoren, die als Truppenbefehlshaber dafür verantwortlich waren.92 Daher sind die letzten Jahrzehnte der Repu­blik von einer Kette dynamischer Ausein­ander­setzungen um die Überlebensfähigkeit des überlieferten Staatsmodells gekennzeichnet. Ereignisse von höchster Dramatik und Intensität prägen das Bild dieser Ära. Während die vorangegangene Epoche von der Schaffung eines Weltreiches und der Bewältigung der in ihrem Gefolge ausbrechenden militärischen, ökonomischen und sozialen Krisen beherrscht wurde, verweist die Spätphase der Repu­blik auf eine Akzentverschiebung in Richtung Innenpolitik. Wenn auch die Neuordnung der Ostgrenze durch Pompeius (66–63 v. Chr.) oder die Eroberung 58

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Galliens durch Caesar (58–50 v.  Chr.) spektakuläre Errungenschaften darstellten, das Hauptinteresse galt der Frage nach der Praktikabilität der repu­ blikanischen Regierungsform. Würde sie weiter bestehen können oder den Machtinteressen einzelner Potentaten erliegen? Die Entscheidung darüber sollte nach dem blutigsten Bürgerkrieg der römischen Geschichte (49–31 v.  Chr.) erfolgen, der eine tiefe Zäsur zwischen der untergehenden repu­ blikanischen Staatsordnung und der sich herausbildenden Principatsherrschaft setzte. Am Ende dieses Prozesses stand eine grundlegende Umwälzung der politischen Verhältnisse, die von manchen Gelehrten als Revolution (Ronald Syme, Alfred Heuss) charakterisiert worden ist. Im Gegensatz zu den modernen Anschauungen, die auf dem Beispiel der französischen oder russischen Revolution beruhen, wo eine neue soziale Schicht (Bürgertum) die bisher herrschenden Eliten (Monarchie, Adel) ablöste, fand in Rom nichts dergleichen statt. Die Repu­blik ging wegen der Konkurrenzsituation innerhalb der regierenden Nobilität zugrunde. Jedoch stilisierte sich der Sieger dieses Machtkampfes, Augustus, der mit seinem Principat faktisch die Monarchie etablierte, keineswegs als Totengräber eines abgewirtschafteten Systems, sondern als Reformer und Bewahrer der überlieferten Regierungsform.93 Seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. hatte sich Rom kontinuierlich zum anerkannten Mittelpunkt der zivilisierten Regionen der Antike entwickelt. Aus der ursprünglichen latinischen Agrargemeinde war eine Weltstadt, aus der aristokratischen Stadtrepu­blik ein alle Anrainerregionen des Mittelmeerraumes umfassendes Imperium geworden. Über seinen Stellenwert äußerte sich der Staatsmann Cicero folgendermaßen: Gib dich ihr ganz hin und lebe in ihrem unvergleichlichen Licht (…). Sich aus ihr zu entfernen, bringt üble Nachrede und Vergessenheit mit sich für jeden von uns, die wir fähig sind, zu Roms Ruhm durch unsere Arbeit beizutragen.94 Einen entscheidenden Wandel erlebte die Stadt, als infolge der Bürgerkriege die repu­blikanische Staatsform zusammenbrach und Augustus und seine Nachfolger die Principatsherrschaft verfestigten.95 Kein anderer Autor hat die Bedeutung dieses für die Zukunft der antiken Welt entscheidenden politischen Wandels für das römische Stadtleben prägnanter erfasst als der im 2.  Jahrhundert schreibende Juvenal. In der so eigentümlich römischen Literaturgattung der Satire hat er einige Folgen dieses Transformations­ prozesses prägnant geschildert: Seitdem wir keinem mehr unsere Stimme verkaufen können, hat das Volk längst jedes Interesse (am politischen Leben der Stadt) verloren. Denn während es einst Befehlsgewalt, Liktorenbündel, Legionen, alles zu vergeben hatte, hält es sich jetzt zurück und wünscht sich dringlich zwei Dinge nur noch: Brot und Spiele.96 59

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I  Land und Meer

NORDSEE

B R I TA N N I A Londinium

GERMANIA INF.

LUGDUNENSIS

GERMANIA SUP. RAETIA NORICUM

GALLIA AQUITANIA

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Carthago SICILIA NUMIDIA

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Corduba BAETICA

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Byzantium

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MACEDONIA

C O AD PP A ASIA C COMMAGENE Delphi Athenae Ephesus LYCAONIA Antiochia ACHAIA LYCIA ET CILICIA PAMPHYLIA SYRIA CYPRUS

Brundisium

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Römisches Reich Grenzen der Provinzen

0

200

400

600 km

ROTES MEER

Imperium Romanum

Seine einzigartige Stellung als ideelle Mitte eines Vielvölkerkonglomerats und repräsentative Residenz der Kaiser konnte Rom unangefochten jahrhundertelang behaupten. Die Regierungszentrale und Wirtschaftsmetropole eines überaus heterogenen Reiches galt auch als städtebauliches Vorbild und nicht zuletzt als Reservoir für Politik und Kultur in einer sich rasch romanisierenden Welt. Trotz seines fortschreitenden Bedeutungsverlustes, der sich während des 3. Jahrhunderts erstmals bemerkbar machen sollte, vermochte Rom eine unbestrittene Ausstrahlung bis zum Ausgang des Altertums auszuüben. Zahlreiche Einwohner Roms führten ein von der Gunst der Mächtigen abhängiges Dasein. Um die Masse der Bevölkerung zur Loyalität gegenüber dem jeweils regierenden Kaiser anzuhalten, erhielt sie Nahrungsmittelspenden und gelegentlich Geldgeschenke. Die Kaiser scheuten keine Kosten, um durch Theateraufführungen oder Gladiatorenkämpfe die plebs urbana bei Laune zu halten. Gleichzeitig bot der römische Festkalender der vornehmen Stadtgesellschaft günstige Gelegenheiten, sich selber darzustellen. Standes60

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unterschiede herauszukehren war eine beliebte Form, das eigene Selbstbewusstsein zu erhöhen. Dafür gibt es zahlreiche Zeugnisse. Keines ist vielleicht so anschaulich wie ein Epigramm des Dichters Martial, worin eine Verfügung des Kaisers Domitian gelobt wird, in der er den Angehörigen des Ritterstandes oberhalb der für Senatoren reservierten Ehrensitze bevorzugte Plätze im Theater zuwies: Endlich kann man wieder bequemer sitzen, jetzt ist die Würde des Ritterstandes wiederhergestellt, wir werden nicht mehr durch den Pöbel bedrängt und beschmutzt.97 Das kaiserzeitliche Rom war übervölkert. Tausende von Menschen drängten sich auf engstem Raum im Zen­trum der Stadt. Dort waren die Kaiserforen, die Basiliken, die kaiserlichen Paläste, dort standen die Theater, Thermen und der Circus Maximus; die repräsentativen Tempel hatten ebenfalls dort ihr Zuhause sowie zahllose Portiken, Kaufläden und die Stadtresidenzen der großen Herren, denen man als Klient täglich die Aufwartung machte. Doch es gab auch Schattenseiten. Die Mietskasernen (insulae) waren schlecht gebaut, eng, überteuert und ständig vom Einsturz oder von der Feuergefahr bedroht. Der Straßenlärm war unerträglich. Die in Rom wohnhaften Schriftsteller werden nicht müde, Klagelieder auf die Defizite des Stadtlebens anzustimmen. Wer aber Rom lobte, tat dies weniger wegen der Qualität seiner urbanen Infrastruktur, sondern aufgrund der überragenden Bedeutung der Stadt als Machtzentrale des Reiches. Die architektonische Ausgestaltung der urbs oblag der Fürsorge der Kaiser. Sie war eine eminent politische Aufgabe, denn die Baupolitik diente der Herrscherdarstellung. Sie reflektierte zugleich den durch den Übergang von der Repu­blik zur Monarchie sich vollziehenden Mentalitätswandel, der sich in der Interaktion zwischen Kaiser und Stadtbevölkerung kundtat. Den Anfang machte hier Augustus: Rom, dessen äußeres Ansehen damals noch nicht der Majestät seiner Weltherrschaft entsprach (…) verschönerte er (Augustus) so sehr, dass er schließlich mit Recht sich rühmen dürfte, er hinterlasse eine Stadt aus Marmor, während er eine Stadt von Backsteinen vorgefunden habe.98 Das Beispiel fand außerhalb der Reichszentrale Nachahmung. Den vermögenden Bürgern der Provinzialstädte bot die Verschönerung ihrer Heimatstadt eine Plattform zur gesellschaftlichen Profilierung. Indem sie für die Allgemeinheit Theater, Thermen, Markthallen oder Bibliotheken stifteten, erwarben sie Sozialprestige und öffentliche Wertschätzung. Beides festigte ihre politische Dominanz: Großzügige Spender wurden mit den höchsten lokalen Magistraturen betraut. Wie wichtig diese Akkumulation von Ehre und Anerkennung war, belegen zahlreiche Inschriften, die eine wertvolle Quelle für das Selbstverständnis der munizipalen Eliten darstellen. Doch so 61

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I  Land und Meer

sehr auch einige Provinzialstädte Berühmtheit und Reichtum erlangten, blieb Rom stets der Maßstab, das Ziel und der Mittelpunkt einer von ihr abhängigen und tiefgeprägten Welt.99 Die zwei Jahrhunderte, die auf die Begründung des augusteischen Principats folgten, erlebten die fortschreitende Integration der von Rom eroberten Provinzen in ein zentral geleitetes, sich ständig ausdehnendes, prosperierendes Weltreich. Diese für die spätere politische und soziale Prägung Europas wirkmächtige Epoche wird durch die Konsolidierung und den Ausbau der städtischen Zivilisation und Kultur sowie durch die wachsende Romanisierung insbesondere der westlichen Landesteile, die sich dadurch immer mehr einander anglichen, charakterisiert. Blickt man auf die politische Geschichte, so sind die sich abwechselnden Herrscherhäuser das auffälligste Merkmal dieser Zeit. Den Anfang machte die julisch-claudische Dynastie (14–68), deren untereinander verwandte Vertreter aus den stadtrömischen Familien der Julier und Claudier abstammten. Mit den Flaviern (69–98) bestieg die erste außerhalb Roms beheimatete italische Familie den Thron der Caesaren. Danach kamen die sogenannten Adoptivkaiser an die Reihe (98–180). Das frühe und mittlere Kaiserreich wird durch ein weitgehendes Ausbleiben von Bürgerkriegen und durch die Behauptung der Reichsgrenzen gekennzeichnet. Ferner sind die Verbreitung eines einheitlichen Rechtssystems, die Förderung einer staatlichen Wohlfahrtspolitik sowie der Aufschwung der traditionellen Kulte Kennzeichen dieser Epoche. Obwohl das Aufkommen des Christentums zunächst wenig daran ändert, melden sich die ersten Stimmen, die in der neuen Lehre eine Gefahr für das Imperium erblicken. Während der etwa 100-jährigen Zeitspanne, die sich zwischen dem Ausgang des Adoptivkaisertums und der Begründung der con­stantinischen ­Dynastie erstreckt (193–306), erlebte das Reich weitaus mehr Regenten, als in den übrigen Jahrhunderten römischer Kaiserherrschaft zusammen. Sie amtierten nur kurz, und die meisten starben eines gewaltsamen Todes. Die an den Grenzen des Imperiums stationierten Armeen erhoben politische Ansprüche, indem sie, unter Ausspielung ihres Einschüchterungspotenzials, ihre jeweiligen Kandidaten an die Spitze des Reiches durchzusetzen versuchten. Die Folge war ein permanenter Bürgerkrieg, den die Soldatenkaiser – sie werden so genannt, weil sie Truppenkommandeure waren – mit äußerster Erbitterung gegeneinander führten, um Thron und Leben zu verteidigen. Der Mangel an Stabilität korrespondierte mit tief greifenden gesellschaft­ lichen Veränderungen. Wirtschaftskrisen und soziale Umwälzungen lassen sich als Ursache oder Folge der fragilen Herrschaftsverhältnisse interpretie62

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ren. So wurde das äußere Erschei­nungsbild der Epoche durch sich ständig wiederholende Usurpationen bestimmt. Obwohl die meisten Kaiser des 2.  Jahrhunderts gezwungen waren, sich außerhalb Roms in den Grenz­ provinzen auf­zuhalten, verlor die Stadt nichts von ihrer Anziehungs­kraft als Mittelpunkt des Reiches. Sie blieb bis ins 3. Jahrhundert ihre bevorzugte ­Residenz. Dieses Primat kam ihr erst abhanden, als infolge der unzähligen Bürgerkriege und der Einfälle der Grenznachbarn die Randgebiete des ­Imperiums eine größere militärstrategische Bedeutung erlangten.100 Die Verlagerung der Machtzentrale von Italien an die Peripherie des Reiches war zunächst eine Ant­wort auf die zunehmende Bedrohung der Grenzen durch auswärtige Völker, aber auch eine Reaktion auf die instabilen innenpolitischen Verhältnisse. Mit Con­stantin dem Großen hielt das Christentum Einzug in die bisher polytheistisch bestimmte religiöse Landschaft der Mittelmeerwelt. Die Tragweite dieses Prozesses erkennt man an den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Veränderungen, die den Charakter des spätrömischen Reiches entscheidend prägten. Die Neuordnung des Hofes und der Verwaltung, die Neugliederung und Anpassung des Heeres an die Finanzbedürfnisse des Reiches, die Eingliederung des Christentums in Staat und Gesellschaft sowie die Gründung Con­stantinopels markieren den Wandel der Reichspolitik. Vor allem brachte die kaiserliche Neugründung am Bosporus eine Verlagerung des Schwergewichts des Imperiums in den Osten mit sich und damit verbunden eine Beschleunigung des Bedeutungsverlustes der Stadt Rom, die politisch immer ohnmächtiger wird und erst durch die am Ausgang des Altertums aufkommende Bedeutung des Papsttums ein neues Ausrufezeichen setzen konnte, das sich allerdings bis auf unsere Tage fortgesetzt hat. Den Verlust der politischen Zentralität machte Rom durch seine neue Rolle als Referenzpunkt der christlichen Kirchen des Abendlandes wett.

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6 Politisierung des Meeres

T

rotz unbestreitbarer technischer Fortschritte im Schiffbau und in der Navigation spielte die Seefahrt während der Phase der Polisbildung und deren Konsolidierung als Instrument der Machtpolitik des Staates eine eher untergeordnete Rolle.101 Politische und wirtschaftliche Macht errang man vornehmlich durch Geländegewinne, militärische Erfolge wie die Einnahme von Städten, die Eroberung von Land oder die Ausbeutung der agrarischen und viehwirtschaftlichen Potenziale einer Region. Dem entsprechend verfuhr das persische Weltreich der Achaimeniden, als es sich daran machte, eine präzedenzlose Territorialherrschaft zu errichten. Ebenso handelten die expandierenden griechischen Poleis, wie etwa Sparta, Theben, Tarent oder Syrakus, um ihr Umland zu arrondieren oder zu vergrößern. Ähnlich waren Karthago in Nordafrika oder Rom vorgegangen, um sich den Großteil der italischen Halbinsel gefügig zu machen. Die Vorstellung, wie Besitztitel, politische Verfügungsrechte über beweg­ liche und unbewegliche Objekte beziehungsweise eine nennenswerte ökonomische Akkumulation von Ressourcen zu erlangen seien, kurzum die begriffliche Erfassung von Herrschaft, wurde bestimmt durch Eigentumsrechte an Land und Boden einschließlich der sich darauf befindenden Wertgegenstände und Menschen. Gezielte Einsätze von Kavallerie- oder Infanterieeinheiten waren die traditionellen Mechanismen, um Machtmittel zu erwerben; das heißt, Städte, Acker- und Weideland sowie Menschen samt ihrem Besitz langfristig auszubeuten und zu kontrollieren. Erst die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über landgebundene Güter formte das Konzept der Aneignung von politisch und gesellschaftlich relevanten Ressourcen als Synonym für Reichtum, Wohlstand, Macht und Herrschaft. Machterwerb und Machtausübung waren folglich orientiert am Land und dessen Erträgen. Das Meer blieb zunächst weitgehend außerhalb jener landgestützten Strategien der Herrschaftsbegründung. Angesichts dieser auf das Land hin orientierten Evidenz muss man nach der Bedeutung und den Folgen der Beherrschung des Meeres fragen, die sich mit der Durchsetzung der athenischen Hegemonie im Verlauf des 5.  Jahrhunderts v.  Chr. ereignete.102 Der Historiker Thukydides gibt einige wertvolle Hinweise darauf. Hier finden wir zum ersten Mal den Gedanken 64

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6  Politisierung des Meeres

a­ usgesprochen, dass die Machtstellung eines Gemeinwesens durch die Bündelung und den Einsatz maritimer Praktiken begründet werden konnte. Gewiss erfand Thukydides nichts Neues, als er dies eher beiläufig vermerkte; vielmehr zog er lediglich eine Schlussfolgerung, die sich aus der Betrachtung der spezifischen Voraussetzungen der maritimen Machtentfaltung Athens aufdrängte.103 Selbstverständlich gab es, lange bevor Athen nach Beendigung der Perserkriege (480 v. Chr.) über die Ägäis gebot, andere griechische, phönikische oder etruskische Staaten, die vergleichbar große Flotten unterhielten, Seehandel und Piraterie trieben und sich im Kriegsfall als Angreifer oder Verteidiger zur See betätigten. Dennoch bestand ein fundamentaler Unterschied zwischen diesen Handlungsweisen und dem Verhalten, das Athen etwa ab der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. immer deutlicher an den Tag legte. Athen verfügte über eine gewaltige Kriegsflotte, die im Dauereinsatz gehalten wurde und wegen ihrer Omnipräsenz die Funktion einer ökonomischen Plattform, einer sozialen Instanz und einer politischen Waffe zugleich erfüllte. Beschaffenheit, Organisation und Verwendung der athenischen Seestreitkräfte spiegelten einerseits die demokratische Verfassung der Stadt wieder. Andererseits wirkten gerade die Flottenbesatzungen bei dem politischen Willensbildungsprozess entscheidend mit. Ohne Flotte hätte es keine Demokratie in Athen gegeben, beziehungsweise die von Perikles gelenkte demokratische Staatsordnung wäre ohne den Faktor Flotte als tragende Säule des Sozialkörpers der Polis undenkbar gewesen. Diese Zusammenhänge werden deutlich, wenn man sich die Rolle Athens während und nach den Perserkriegen vergegenwärtigt. Darüber erfahren wir Entscheidendes von Herodot, als er die Episode von der Räumung der Stadt angesichts des persischen Ansturms nacherzählt: Damals flüchteten die Athener aus ihrer von den Persern bedrohten Stadt, begaben sich nach Salamis im Vertrauen darauf, ihrem Schicksal eine günstige Wende geben zu können. Sie wurden in der Stunde der höchsten Not und Bedrängnis von ihren Schiffen aufgefangen, und mit deren Hilfe gelang es auch in der Bucht von Salamis, den Sieg über die übermächtig scheinenden Feinde davonzutragen.104 Danach kontrollierte die athenische Flotte den östlichen Mittelmeerraum, ohne fremde Konkurrenz zu befürchten. Sie bot den griechischen Städten Schutz vor dem persischen Weltreich und errichtete auf diese Weise eine auf die Beherrschung des Meeres hin gestützte Hegemonie in der Ägäis. Ihr Instrument war der Attisch-Delische Seebund, die gewaltigste Konzentration maritimer Ressourcen, welche die antike Welt bis dahin erlebt hatte. Aus der Beobachtung dieser keineswegs selbstverständlichen Entwicklung lässt sich folgern, dass Athens maritimes Ausgreifen im Mittelmeer65

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I  Land und Meer Ax

ILLYRIEN

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422

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424

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422

411

Skyros

Chios Delphi Böotien Euböä Theben Lokris 412 Kephallenia Marathon 431 426 A C H A I A Athen Korinth 412 431 Salamis Attika Andros Elis 418 Zakynthos Aigina Tenos Ikaros Argos Mantineia

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430

IONISCHES MEER

431

431

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430

Sparta

425

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424

PERSERREICH Hermos

406

Sardes ndros

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Ephesos Samos

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Kykladen Paros Naxos

416

Priene Milet

Halikarnassos

Amorgós

Kos

Melos

431

Rhodos

426

Kythera

Athen und seine Verbündeten Sparta und seine Verbündeten Neutrale griechische Staaten Brandherd Schlacht Feldzug Athens (Flotte) Feldzug Spartas (Flotte) Zug des Brasidas (Sparta)

Pergamon

Skiathos

Ätolien

430

410

Samothrake

422

Ä G Ä I S C H E S Lesbos Mytilene MEER

Phthiotis

Ambrakia

N

432– 429

THESSALIEN

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Korfu

Chalkidike

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427

Thasos

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MARMARA411 MEER

Amphipolis

Pella

415– 413

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Epidamnos

429

Lindos

KRETISCHES MEER Karpathos

Kreta Gortyn

MITTELMEER

0

50

100

150 km

Attisch-Delischer Seebund

raum und darüber hinaus nach der Begründung des Attisch-Delischen Seebundes die Polis zum Meer hin prolongiert hat, ihre Grenzen verlängert und ihren Aktionsradius immens erweitert hat.105 Damit wurde nicht nur ein neues Element, nämlich das Wasser, als die weitaus wichtigste Schaubühne der athenischen Politik erschlossen und konstituiert, sondern durch die Ausweitung des Handlungsrahmens der Polis ein beträchtlicher Zugewinn an politischen Gestaltungsmöglichkeiten erzielt. Mit der Politisierung des Meeres begab sich die Stadt auf ein ungewohntes, bisher relativ vernachlässigtes und doch inkommensurables Betätigungsfeld. Politisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, die Ausdehnung des Wirkungskreises der Polis und damit die Aktivierung der Möglichkeiten, die das Meer als Quelle einer neuen Form von Herrschaftsausübung bot, die auf der Flexibilität und Schnelligkeit der militärischen Einsätze, auf der Kontrolle der Kommunikation der Schifffahrtsrouten sowie auf der Unabhängigkeit vom Land beim Erwerb von Ressourcen beruhte. Als die Polis der Athener am Ende des 66

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6  Politisierung des Meeres

­ eloponnesischen Krieges die Flotte verlor106, änderte sich zugleich deren P politische und soziale Ausrichtung; es ist daran zu erinnern, dass die Landmacht Sparta den Krieg gegen Athen zur See gewann, ebenso wie später die römischen Bauernsoldaten die seefahrenden Karthager in ihrem eigenen Element schlagen werden. Der Verlust der Seeherrschaft schloss eine deutliche Verkleinerung des politischen Gestaltungsrahmens eines Gemeinwesens ein. D ­ anach war Athen gezwungen, sich auf die Suche nach einem neuen Aktions­radius zu begeben, sich also politisch neu zu erfinden. Geblieben als Erbe der athenischen Machtentfaltung zur See ist aber das Phänomen der Politisierung des Meeres bis auf unsere Tage. Bereits im Altertum konnten sich jene Staaten, die über das Meer geboten, leichter als Großmächte behaupten (Karthago, Ptolemäerreich, Rom) als ihre ausschließlich auf Landbesitz angewiesenen Konkurrenten. Daran wird sich bis in die Neuzeit kaum etwas ändern. Erst die mit dem Aufkommen der ersten Flugzeuge möglich gewordene Erschließung des Luftraumes und danach des Weltalls haben neue Maßstäbe für die Beherrschung des Erdballs eröffnet. Wie das athenische Beispiel eindringlich verdeutlicht, stellte die Kontrolle der Meere eine wesentliche Voraussetzung dar, um den eigenen Machtbereich gegen jede Anfechtung langfristig schadlos zu halten. Diese Lektion mühsam lernen musste Alexander der Große, der sie zu Beginn seiner Unternehmung gegen das Perserreich (334 v. Chr.) gründlich missachtet hatte, womit er beinahe gescheitert wäre.107 Der Verlauf seiner ersten Militäroperationen liefert wichtige Anhaltspunkte für das Ineinandergreifen und die wechselseitige Abhängigkeit von Land und Meer als gleichgewichtige Plattformen und strategische Faktoren von Machterwerb und -erhaltung. Jenseits des geschönten Bildes eines durchgängig erfolgreichen Draufgängers, das unsere antiken Autoren von Alexander zeichnen, gibt es eine nüchternere Einschätzung seiner überaus verwegenen asiatischen Kampagne. Sein Eindringen ins feindliche kleinasiatische Gebiet war mehr als riskant. Das Landheer blieb äußerst verwundbar, weil es einer entsprechenden seegestützten Unterstützung seiner Vorstöße weitgehend entbehren musste. Nach seinem Marsch durch Lydien, Karien und Ionien wird ihm in Milet die Grenze seiner operativen Fähigkeiten aufgezeigt, als er erkennen musste, dass die für die Aufrechterhaltung seiner Versorgungslinien unentbehrlichen Küstenregionen sich seiner Kontrolle entzogen. Angesichts der maritimen Überlegenheit seiner Feinde löste Alexander seine kleinere Flotte auf und gefährdete auf diese Weise zusätzlich seine logistische Basis – ein verhängnisvoller Fehler, der schleunigst korrigiert werden musste, um zu verhindern, dass seine im anatolischen Hochland stehende Armee nicht von der persischen 67

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I  Land und Meer

Flotte in der Levante und den Truppen des Dareios III. im Osten erdrückt würde.108 Aus diesen Gründen hing Alexanders Schicksal an einem seidenen Faden. Trotz einiger spektakulärer Erfolge (Sieg am Granikos, Einnahme von Sardes und Halikarnassos) war es ihm nicht gelungen, die in seinem Rücken operierende persische Flotte auszuschalten. Kleinasien wandelte sich zum Schauplatz eines paradoxen Wettbewerbs um die Behauptung der wichtigsten Häfen, Navigationsrouten und Versorgungslinien zwischen dem makedonischen Landheer, welches das Meer fürchtete und der persischen Flotte, die ständig vom Land bedroht wurde. Damit entstand eine Patt­ situation, die erst durch die Schlacht bei Issos (333 v. Chr.) aufgehoben werden wird. Ohne diesen Sieg hätte Alexander auf Dauer seine Position auf dem kleinasiatischen Festland nicht aufrechterhalten können. Erst ab diesem Zeitpunkt ergab sich eine veränderte geostrategische Lage, die von einem Gleichgewicht zwischen terrestrischen und maritimen Machtmitteln gekennzeichnet wurde. Nun kehrten sich die bisherigen Vorzeichen des Konfliktes um: Alexander erkannte die Bedeutung des Meeres als Instrument der Kriegführung an und zog folgerichtig nach Phönikien und Ägypten weiter, um sich die dortigen nautischen Ressourcen zu sichern, anstatt sich auf eine überstürzte Verfolgung des geschlagenen persischen Königs Dareios zu begeben. Ohne eine wirksame Kontrolle beider Elemente, Land und Meer, war weder der Krieg zu gewinnen, noch die dauerhafte Beherrschung des achaimenidischen Weltreiches möglich. Diese Einsichten werden von nun an ­Alexanders weitere Aktionen entscheidend bestimmen. Ein abschließendes Beispiel, das auf die Endphase der hellenistischen Ära verweist, soll die bisherigen Überlegungen über Ursachen und Folgen der Politisierung des Meeres abrunden. Sein Protagonist war einer der prominentesten Vertreter der römischen Senatsaristokratie: Gnaeus Pompeius Magnus, renommierter Kriegsherr und Konkursverwalter der seleukidischen Monarchie.109 Angesichts der akuten Bedrohung der Meere, die aufgrund einer dramatischen Zunahme der Piraterie entstanden war110, erhielt er im Jahre 67 v. Chr. durch die lex Gabinia de bello piratico111 ein faktisch uneingeschränktes Seekommando, das hinsichtlich seiner Ausstattung und der Reichweite der damit verbundenen Vollmachten alle vergleichbaren Fälle bei weitem übertraf: Zehntausende Legionäre und Seestreitkräfte, zahllose Schiffe, sämtliche Häfen und gewaltige Hilfsmittel wurden Pompeius zur Verfügung gestellt, um das Mittelmeer von der Seeräuberplage zu befreien.112 Die Fülle der aufgebotenen Ressourcen deutet bereits an, dass keine kurzfristige regionale Aktion geplant war, sondern es um viel mehr ging. Beabsichtigt war die ­unwiderrufliche Beherrschung des Kernraumes des römischen Weltreiches in 68

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6  Politisierung des Meeres

seiner Gesamtheit und auf Dauer.113 Lehrreich in diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung Ciceros, die sich auf die Strategie des Pompeius im Bürgerkrieg gegen Caesar bezog, in der sich der zeitgenössische römische Staatsmann in einem Brief an Atticus folgendermaßen äußerte: Sein ganzer Plan ist der des Themistokles. Er (Pompeius) meint, wer das Meer beherrscht, der werde unbedingt den Krieg gewinnen. Darum hat er sich nie darauf versteift, Hispanien um seiner selbst willen zu halten; seine Hauptsorge ist immer gewesen, sich eine Seemacht zu schaffen. Wenn es soweit ist, wird er also mit einer gewaltigen Flotte auslaufen und nach Italien kommen.114 Doch nun zurück zu Pompeius Kampf gegen die Seeräuber: Parallel zur konzentrischen Eroberung wichtiger Küstenregionen des europäischen, afrikanischen und asiatischen Kontinents machte sich Rom damals erstmalig daran, das Meer zu kontrollieren, womit es ein Bindeglied errichtete, das die Entfernungen zwischen weit gelegenen Territorien verringerte und gleichzeitig eine Sicherheitszone entlang der Zentralachse seines Herrschaftsgebietes schuf.115 Ebenso ungewöhnlich wie die angestrebte Zielsetzung war die angewandte Methode, um diese äußerst ambitionierten Vorgaben zu erfüllen. Pompeius teilte den gesamten Mittelmeerraum in 13 Abschnitte, die der Aufsicht seiner Legaten unterstanden, deren Vollmachten sich sowohl auf das Land als auch auf das Meer zugleich erstreckten.116 Damit geschah nichts Geringeres als die erste großangelegte Vermessung des Meeres nach dem Modell der provin­zialen Raumgewinnung, beziehungsweise Grenzziehungen, bei der das nasse Element wie eine feste Landmasse betrachtet und analog dazu parzelliert wurde. Indem landbezogene Kriterien auf das Wasser Anwendung fanden, ging eine Aneignung des Meeres einher, das nun als Besitzstand des römischen Staates in Anspruch genommen wird, so als ob es sich um ein neuerworbenes Territorium handeln würde. Die sich einbürgernde Nomenklatur zur Kennzeichnung dieser einschneidenden Veränderung bisheriger Verhaltensmuster brachte die neue Synthese mithilfe eines Possesivpronomen prägnant mit zwei Worten zum Ausdruck, die deren politisches und ideologisches Programm verkündeten: Mare nostrum (unser Meer). Sie unterstreichen das römische Selbstverständnis und gaben zugleich der Mittelmeerregion eine Denomination, die sich bis heute erhalten hat.117

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7 Antike Wasser- und Landgrenzen Hasdrubal-Vertrag Wie wenn sie ihre ersten Strahlen dorthin Entsendet, wo sein Blut vergoß ihr Schöpfer, Indem die Waage überm Ebro steht Und Mittagsglut erhitzt des Ganges Welle, So stand die Sonne und es ging zu Ende Der Tag, als uns erschien der Engel Gottes. (Dante, Die Göttliche Komödie, Fegefeuer, Siebenundzwanzigster Gesang, 1–6)

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assergrenzen erlangten in der Antike eine vielschichtige Bedeutung. Sie konnten je nach Perspektive als von der Natur vorgegebene Trennungs- beziehungsweise Begegnungsräume gedeutet aber auch als geopolitische oder kulturhistorische Trennlinien verstanden werden. Der Halys stellte nicht nur die Grenze zwischen dem Herrschaftsgebiet der Lyder und der Perser dar, sondern schied eine griechisch beeinflusste Zivilisation von einer barbarischen.118 Eine ähnliche Rolle spielten die Donau, der Euphrat oder der Rhein in römischer Zeit. Allerdings galt in der imperialen Vorstellung der augusteischen Epoche der Okeanos als die natürliche Abschlusslinie, was implizit nahelegte, dass Rhein, Donau und Euphrat mitten durch römisches Gebiet strömten. Für die griechisch geprägte Weltsicht galt die Meerenge von Gibraltar als westlicher Endpunkt der zivilisierten Welt, dessen Pendant im Osten der Pontus Euxinus darstellte. Neben der politischen, geographischen oder kulturhistorischen Bedeutung von Gewässern wurden Flussgrenzen in der antiken Vorstellungswelt auch als Sinnbild von Selbst­ bescheidung und Zähmung aufgefasst. Sie gehörten zu den ältesten Themen der Geschichtsschreibung. Herodot hat als Warner am Beispiel der Überquerung des Hellesponts durch den Perserkönig Xerxes diese Situation in paradigmatischer Weise ausgemalt und damit ein Vorbild für die nachfolgende Literatur geschaffen.119 In Livius fand er einen gelehrigen Nachahmer. Wie der römische Historiker berichtet, hatte Hannibal am Vorabend des Kriegs70

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7  Antike Wasser- und Landgrenzen

ausbruches und vor dem Übergang über den Hiberus einen Traum, der in unverkennbarer Analogie zur Überschreitung des Hellespont durch Xerxes stand.120 Indem Hannibal, von der hybris geleitet, den Fluss überschritt, war in Livius’ Augen sein Untergang besiegelt. Dem livianischen Verdikt war der Hasdrubal-Vertrag vorausgegangen. Die Mehrheit der Forschung121 setzt den in besagter Vereinbarung erwähnten Fluss mit dem Ebro gleich. Andere Ansichten, die eine Lage südlich von Sa­ gunt postulierten, konnten sich nicht durchsetzen. Am bekanntesten ist die von Carcopino vertretene These, die den Iber im Júcar zu erkennen glaubte. Diejenigen Autoren, die den Ebro mit dem Iber des Hasdrubal-Vertrages identifizieren, stützen ihre Auffassung lediglich auf die Namensähnlichkeit. Demgegenüber wird darauf verwiesen, dass dieser Flussname in Hispanien mehrfach belegt ist und im Zuge des Bekanntwerdens der Iberischen Halb­ insel von Süden nach Norden wanderte.122 Jedenfalls wird seine Lokalisierung aus dem Blickwinkel der späteren Ereignisse vorgenommen.123 Doch sämt­ liche Indizien, die uns die Bodenfunde bieten, legen unmissverständlich nahe, die Grenze des karthagischen Machtbereiches im Südteil der Iberischen Halbinsel zu suchen.124 Hier lag der Schwerpunkt der barkidischen Aktivitäten, wo Hasdrubal kurz vor Vertragsabschluss (um 227 v. Chr.) in Erinnerung an die Heimat Qarthadasch  – „die neue Stadt“  – Karthago (Cartagena) errichtet hatte. In der Nomenklatur der neuen Residenz waren ein Programm und ein Anspruch enthalten. Damit sollte nicht ein Graben zur Mutterstadt gezogen werden, sondern das Gegenteil war der Fall.125 Die Wiederholung des Namens der Mutterstadt unterstrich die wechselseitigen Bande und betonte, dass der Aktionsradius der Karthager sich keinesfalls auf Nordafrika einschränken ließ, wie dies die Römer nur allzu gern gewollt hätten. Mit der Verlegung des Regierungssitzes nach Carthago Nova schuf Hasdrubal ein Tor zur Außenwelt. Die Stadt verfügte über einen ausgezeichneten Hafen und lag näher an Karthago als Gades. Darüber hinaus passte diese Gründung in eine strategische Gesamtkonzeption, in der die mittelmeerische Hafenstadt gleichsam einen territorialen Abschluss bildete. Beweggrund der Vereinbarung kann nicht die Festlegung einer zum damaligen Zeitpunkt (um 226 v.  Chr.) dem realen Zustand der karthagischen Expansion in keiner Weise entsprechenden Demarkationslinie (Ebro) gewesen sein. In der Errichtung des neuen karthagischen Bollwerks sahen die Römer vor allem eine Gefährdung ihrer Besitzungen auf Sardinien und Sizilien und reagierten darauf mit der Verdoppelung der Prätorenstellen, um die Verteidigungsbereitschaft ihrer neuen Provinzen zu stärken. Es ging ihnen primär um die Beschneidung des karthagischen Einflusses. Aus den Aufzeichnungen des Polybios 71

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erfahren wir über die Bedingungen der Vereinbarung Folgendes: Sie (die Römer) schlossen durch eine Gesandtschaft mit Hasdrubal einen Vertrag, in dem vom übrigen Iberien kein Wort stand, dagegen bestimmt war, die Karthager sollten den Iber nicht in kriegerischer Absicht überschreiten.126 Auch bei Livius findet der Hasdrubal-Vertrag mit folgenden Worten Erwähnung: Mit diesem Hasdrubal hatte das römische Volk, weil er ein erstaunliches Geschick darin gezeigt hatte, Völker an sich zu binden und seiner Herrschaft einzugliedern, den Vertrag mit der Bestimmung erneuert, dass der Hiberus die Grenze zwischen beiden Herrschaftsbereichen sein sollte und den mitten in den Herrschaftsbereichen beider Völker wohnenden Saguntiner ihre Unabhängigkeit erhalten bleiben sollte.127 Schließlich äußert sich Appian zur Lage des Iber folgendermaßen: Die Saguntiner, ursprünglich Bewohner aus Zakynthos, siedeln in der Mitte der Wegstrecke, die von den Pyrenäen bis zum Iber führt.128 Aus den verfügbaren Quellen geht hervor, dass der erwähnte Fluss in keinem Zusammenhang mit dem heutigen Ebro steht. Der Nordhispanien durchfließende Strom lag sehr weit von der Operationsbasis Hasdrubals entfernt. In dieses Bild passt das Fehlen jeglicher Hinweise darüber, dass sich die Karthager in dieser Zeit so dezidiert nach Norden hin orientierten.129 Mehr Sinn ergibt ein Fluss, der sich in Reichweite der konkreten Machtmöglichkeiten Hasdrubals befand. Daher bietet sich der Segura geradezu an. Eine derartige Annahme wird durch die Tatsache gestützt, dass die Karthager eine territoriale Saturierung  – schließlich beherrschten sie damals die Kernzonen Andalusiens und der iberischen Südostregion – erreicht hatten. Diese Gebiete waren so groß wie Sardinien und Sizilien zusammen und von größerem Umfang als die nordafrikanischen Ländereien Karthagos. Es sei daran erinnert, dass Karthago Jahrhunderte gebraucht hatte, um überseeischen Besitz zu erwerben, und gewaltige Anstrengungen unternehmen musste, um die erreichte Machtstellung zu halten. Dieser für die Ausgestaltung der karthagischen Politik nicht zu unterschätzende Blickwinkel manifestierte sich im Hasdrubal-Vertrag. Aus karthagischer Sicht war die Sanktionierung des südlich des Segura liegenden Gebietes ein diplomatischer Erfolg. Der 1. Römisch-karthagische Krieg lag erst eine halbe Generation zurück. Aber auch den Römern brachte der Vertrag Vorteile: Die mit Rom verbündeten Massalioten sowie mehrere italische Städte erhielten Schutz für ihren Handel mit der hispanischen Ostküste.130 Die Beurteilung dieser Vorgänge findet sich in der Forschung aufs engste mit der Frage des Kriegsausbruchs verknüpft. Neben der Eroberung Sagunts 72

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7  Antike Wasser- und Landgrenzen Militäreinrichtungen Punische Siedlungen Sonstige Orte Münzfunde

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Iberische Halbinsel in der Barkidenzeit

wird auch die Überschreitung des Iber als Motiv für die römische Kriegserklärung angesehen.131 Als wesentlicher Grund für das römische Verhalten wird angeführt, dass Rom die Eroberung Sagunts tatenlos geschehen ließ und erst Hannibals Überschreiten des Iber in Roms Augen den casus belli schuf. Für diese Sicht ist die Gleichsetzung des Flusses im Hasdrubal-Vertrag mit dem Ebro eine notwendige – aber konstruierte – Voraussetzung. Es fällt bei den Beschwerden der Karthager vor dem Kriegsausbruch auf, dass das römische Eingreifen in Sagunt nicht als Bruch des Hasdrubal-Vertrags empfunden wurde. Vielmehr verwiesen die Karthager auf den Lutatius-Vertrag, der die Einflusssphären beider Mächte festschrieb. Warum verurteilten sie nicht die römische Einmischung in einem Gebiet, das durch den HasdrubalVertrag – wäre tatsächlich der Ebro die Grenze gewesen – als karthagischer Machtbereich galt? Die Verletzung der Demarkationslinie hätte doch ein willkommenes Argument geliefert. Dass sie es nicht taten, lässt sich nur mit 73

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der Tatsache erklären, dass nicht der Ebro die Einflusssphären abgrenzte, sondern der südlich von Sagunt gelegene Segura. Polybios, der den Ereignissen am nächsten steht, belegt es unmissverständlich: Wenn man die Zerstörung Sagunts als die Ursache des Krieges betrachtet, so muss man zugeben, dass die Karthager im Unrecht waren, als sie ihn begannen, sowohl nach dem unter Lutatius abgeschlossenen Vertrag, der den beiderseitigen Bundesgenossen von beiden Seiten Sicherheit verbürgte, wie nach dem Vertrag des Hasdrubal, der den Karthagern verbot, den Iber in kriegerischer Absicht zu überschreiten.132 Der Wortlaut dieser Äußerung ist aufschlussreich, weil daraus ersichtlich wird, dass Hannibal, bevor er Sagunt angriff, den Fluss der Hasdrubal-Vereinbarung überschritten hatte. An einer anderen Stelle berichtet Polybios über die Reaktion der Karthager auf die nach der Zerstörung Sagunts nach Karthago angereiste römische Delegation, die den Krieg erklären sollte, indem er feststellt: Über die Vereinbarung mit Hasdrubal gingen sie (die Karthager) einfach hinweg, als entweder gar nicht abgeschlossen oder, wenn dies der Fall sei, als unverbindlich für sie selbst, da sie ohne ihre Einwilligung getroffen worden sei.133 Im Klartext heißt dies, dass die Karthager auf den römischen Vorwurf, Hannibal hätte durch seine Expedition nach Sagunt die Hasdrubal-Vereinbarung verletzt, mit dem Argument der Nichtratifizierung dieses Abkommens antworteten, woraus sich ebenfalls ergibt, dass der betreffende Fluss zwischen Cartagena und Sagunt zu verorten ist. Ferner bieten die archäologischen Befunde keinerlei Hinweise für eine karthagische Landnahme nördlich des Segura. Schließlich war die von den Karthagern kontrollierte Region, die von Guadalquivir und Segura eingeschlossen wurde, hinsichtlich ihrer Ausdehnung beträchtlich und zum Zeitpunkt des Abschlusses des Hasdrubal-Abkommens keineswegs definitiv unterworfen gewesen. Ersetzt man den Segura durch den Ebro, so würde das entsprechende Territorium alle Maßstäbe bisheriger karthagischer Überseepolitik sprengen und im Übrigen den Römern eine beispiellose Großzügigkeit unterstellen, die gar nicht zu ihrem sonstigen kleinlichen Verhalten – hier wäre an Sardinien zu erinnern – passt.134 Es kommt noch ein zusätzliches Argument hinzu, das bislang übersehen worden ist. Die Demarkationslinie des karthagischen Herrschaftsbereiches im iberischen Raum, die das Guadalquivir- und Seguratal umkreiste, wird im Zuge der römischen Präsenz in Hispanien eine zusätzliche Bestätigung erfahren. Als die neuen Eroberer sich ab dem Jahr 197 v. Chr. daran machten, die territorialen Eckpunkte ihrer hispanischen Provinzen festzulegen, knüpften sie an bereits bestehende Vorgaben an, die aus der Zeit der kartha74

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gischen Verwaltung dieser Gebiete stammten. Es kann daher kein Zufall gewesen sein, dass die Trennlinie zwischen der Hispania Citerior und ­Ulterior just entlang jener Regionen gezogen wurde, die sich nordöstlich des Guadalquivir und südlich des Segura befanden, unter Einschluss von Neukarthago in das diesseitige Hispanien. Diese Maßnahmen waren alles andere als improvisiert; sie spiegelten jene politischen und territorialen Realitäten wider, die während der Regierung Hasdrubals geschaffen worden waren, der gestützt auf den mit den Römern vereinbarten Vertrag die Voraussetzungen für die künftige Gliederung des iberischen Raumes gelegt hatte. Daran lässt sich aus rückschauender Perspektive beispielhaft die Bedeutung von Grenzziehungen für die Konstituierung von Herrschaftsverhältnissen erkennen.

Limes Mindestens eine historische Schlussfolgerung lässt sich aus der Analyse des Hasdrubal-Vertrages ziehen. Betrachten wir ihn als Grenzvereinbarung, so unterlag seine Geltung einschließlich der Integrität der darin festgeschriebenen territorialen Fragen dem Vorbehalt der Vorläufigkeit. Grenzziehungen stehen immer in direktem Verhältnis zu den Kräfteverhältnissen der Vertragspartner. Ihre Dauer und Konsistenz hängt von zahlreichen Faktoren ab. Am wichtigsten dabei ist die Machtfrage, was wiederum impliziert, dass die erzielten Übereinkünfte grundsätzlich veränderbar sind. Dies traf in besonderer Weise auf die limites des Imperium Romanum zu, des größten Staatsgebildes des Altertums. Hatte sich mit den Expeditionen Alexanders des Großen eine enorme Veränderung des Raumhorizontes im Osten der mittelmeerisch zentrierten Kulturwelt durchzusetzen vermocht, so galt dies auch seit Caesars transalpinen Feldzügen für den Nordwesten des europäischen Kontinents. Mit der Hinwendung nach Gallien und Britannien eröffnete sich der Blick auf die Weite des Atlantischen Ozeans, zu den Randregionen einer beinahe unbekannten nordalpinen Welt. Tatsächlich kann man sich die Wirkung der Raumveränderungen in den ersten zwei nachchristlichen Jahrhunderten kaum gewaltiger vorstellen: Die Land- und Seegrenzen des sich konstituierenden Imperium Romanum sprengten das bisherige Vorstellungsvermögen; sie hatten sich in jede Himmelsrichtung ausgeweitet, bis sie schließlich von Hispanien bis nach Mesopotamien, von Ägypten bis nach Britannien reichten. An besonders neuralgischen Stellen errichtete man limites als Kor75

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rektiv zu den von der Natur vorgegebenen Grenzmarkierungen in Form von Flüssen, Wäldern, Bergen oder Wüsten. Der im kaiserzeitlichen Sprachgebrauch verwendete Begriff limes bezeichnete ursprünglich einen, den topographischen Gegebenheiten des Geländes angepassten, befestigten Weg am Rande des römischen Machtbereiches im gallisch-germanischen Raum. Bis gegen Ende des 1.  Jahrhunderts markierten die aus Holz ausgeführten Wehrbauten gewöhnlich den Vormarsch der römischen Legionen jenseits des Rheins und der Donau. Sie dienten primär der Absicherung der strategisch wichtigen Aufmarschstraßen und bildeten den Ausgangspunkt aller römischen Militäraktionen gegen das freie Germanien. An eine feste, starre Grenz- oder Abwehrlinie, wie es die große chinesische Mauer oder die Maginot-Linie waren, dachte man nicht. Nachdem aber die germanischen Provinzen eingerichtet  – und das Konzept der Eroberung Germaniens bis zur Elbe nach der Niederlage des Varus im Teutoburger Wald (9) aufgegeben worden war  –, wandelten sich die seit Domitian angelegten limites von offensiv gegen den Feind gerichte76

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ten Operationsbasen zu defensiven Stellungslinien, die den abgeschwächten Anspruch der römischen Herrschaftsausübung auf sämtliche germanischen Regionen dokumentierten. Die veränderte Funktion des Limes lässt sich aus seinem jeweiligen architektonischen Zustand ablesen. Die früheste Phase datiert aus flavischer Zeit (69–96). Damals schlugen die Römer zunächst eine Schneise in die Wälder und errichteten darauf einen Postenweg, der von hölzernen Wachtürmen flankiert wurde. Unter Hadrian lässt sich eine Neuerung beobachten: Die Aufstellung eines Palisadenzauns im Vorfeld der Straße. Seit der Mitte des 2. Jahrhunderts wurden an einzelnen Abschnitten die in regelmäßigen Abständen ausgeführten Holztürme durch Steinbauten ersetzt, wie man noch heute gut im Norden Englands sowie in Schottland sehen kann; später errichtete man an der raetischen Grenze statt der Palisade eine Mauer, die im Vorfeld von einem Graben geschützt wurde. Mit zunehmender Zeitdauer wurde der Limes als Abschluss oder Beginn, je nach Perspektive, des römischen Herrschaftsgebiets angesehen, als randständiges Denkmal der imperialen Größe Roms. Zwar schränkte er keineswegs die römischen Expansionsambitionen ein, aber je länger er verteidigt werden musste und je schwieriger sich diese Aufgabe gestaltete, umso deutlicher wurde er als Demarkationslinie empfunden, als Begrenzungswall zwischen unterschiedlichen, stets umkämpften Kulturräumen. Als Bauwerk zwischen antagonistischen zivilisatorischen Sphären verkörperte er nicht nur das steingewordene Symbol der imperialen Machtansprüche Roms, sondern galt zunehmend als politische, juristische und territoriale Trennlinie zwischen zwei Welten: Imperium Romanum und Barbaricum. Er war aber auch ein Instrument der Kontrolle und ein Monument des Wissens und des technologischen Fortschritts einer Weltmacht, die sich ihren Nachbarn gegenüber als unüberwindbar dünkte. Die von Vergil, dem Dichter der augusteischen Epoche, aus dem Bewusstsein der römischen Überlegenheit heraus gegenüber den Völkern, die außerhalb des römischen Machtbereiches siedelten, stolz verkündete Parole eines imperium sine fine hatte sich spätestens seit dem Ansturm der germanischen Völkerscharen, die im Verlauf des 3. Jahrhunderts die Preisgabe der jenseits von Rhein und Donau gelegenen römischen Gebieten erzwangen, definitiv überlebt.

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räzise Vorstellungen über Reichweite und Beschaffenheit von Grenzen hatten die Mehrzahl der antiken Menschen ebenso wenig wie die Erdenbewohner späterer Epochen. Zwar besitzen wir heute allerlei Landkarten, Atlanten oder Reliefzeichnungen, um jene Linien, die Bezirke, Staaten oder territoriale Einheiten konturieren, zu visualisieren; aber es ist ein weiter Schritt bis zur vollständigen topographischen, beziehungsweise kognitiven Erfassung der betreffenden Raumeinheiten. Da die Menschen früherer Jahrhunderte unsere heutigen Hilfsmittel entbehren mussten, hatten sie es noch schwerer, sich einen genauen Begriff von der Gestalt und den Dimensionen ihrer Welt zu machen. Sie suchten nach Behelfskonstruktionen: Berge, Gebirgsketten, Flüsse, Seen, das Meer, Wüsten, undurchdringliche Wälder oder gut unterscheidbare Fluren dienten dazu, Eindrücke von der Ausdehnung und Reichweite bestimmter Raumzonen zu vermitteln. Die Bürger der griechischen Stadtstaaten hatten es angesichts der geringen Größe und Überschaubarkeit ihrer Gemeinwesen naturgemäß leichter, sich damit zurecht zu finden, als etwa die Einwohner der großen Territorialstaaten. Die Grenzen der römischen Provinzen in Nordafrika oder im syrisch-arabischen Raum etwa wurden aufgrund des Ineinandergreifens von Kulturland und Wüste ständig verändert, neu vermessen und den sich wandelnden topographischen und politischen Gegebenheiten angepasst. Dies galt ebenso für die Festsetzung jener Grenzbereiche, die das römische Reich von seinen Nachbarn in den stark umkämpften Krisengebieten der eigenen Herrschaftsperipherie schied. Dass Grenzen nicht statische, sondern überaus dynamische, jederzeit veränderbare Markierungslinien darstellten, hatten schon alle großen Staatsschöpfungen des Altertums erfahren müssen. Wie weit reichte das Achaimenidenreich nach Osten hin? Wo lagen die südlichen Grenzen des ägyptischen Ptolemäerreiches? Wer konnte mit Sicherheit den genauen Verlauf der limites des Imperium Romanum bestimmen? Wie weit reichten die Randzonen der mittelmeerisch geprägten Welt nach Norden hin und nach den Ländern des Ostens? Was wussten die mittelmeerischen Völker über Skandinavien, die sibirischen Steppen oder gar Fernost?

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War es an sich schon schwierig, den Umfang der Landmasse, die den orbis terrarum ausmachte, zu benennen, so erwies sich die nähere Bestimmung der Umrisse aller Meere und Ozeane, welche die bewohnbare Welt umspannten, als nahezu unmöglich. Verantwortlich dafür war die eigene Einbettung in einen sich kaum verändernden Lebensbereich. Wandlungen der geopolitischen Landkarte standen meist in Zusammenhang mit abenteuer­ lichen Expeditionen, Eroberungen und gezielten Erkundungen der Rand­ zonen der damals bekannten Welt. Am vertrautesten war das Mittelmeer, das aufgrund seiner relativen Abgeschlossenheit und intensiven Befahrung ­seitens der Völker, die an seinen weitläufigen Küsten lebten, viel von seiner ursprünglichen Bedrohlichkeit eingebüßt hatte. In der Zeit zwischen Homer und Augustus hatten die Kenntnisse der Navigationsrouten, die Sicherheit der Seefahrt und das Wissen über Entfernungen, Untiefen, Winde und sonstige Naturgegebenheiten, welche die Seefahrt maßgeblich bestimmten, deutlich zugenommen. Verantwortlich dafür waren kühne Seefahrer, welche die vom Ozean umschlossenen Grenzgebiete der Welt erforschten. Einer der wagemutigsten unter ihnen war der Karthager Hanno.

Hanno Der Name Hanno kommt im antiken Karthago häufig vor. Dank der von Klaus Geus erstellten Prosopographie der literarisch überlieferten Karthager wissen wir, dass es nicht weniger als 33 berühmte Träger dieses Namens gab, was eine Identifizierung des Seefahrers mit anderen Personen gleichen Namens beträchtlich erschwert.135 Ob er, wie gelegentlich angenommen wird, der Sohn des bekannten Staatsmanns Hamilkar war, der 480 v. Chr. bei der unglücklich verlaufenden Schlacht von Himera auf Sizilien starb136, ist fraglich. Jedenfalls wird Hanno in einem in Karthago aufbewahrten Reisebericht (Periplus), unserer Hauptquelle für seine Person sowie seine Erkundungsund Kolonialfahrt, als basileus angesprochen, was ihn als einen hohen Würdenträger der karthagischen Repu­blik ausweist. Weitere Hinweise darüber liefert die antike Literatur nicht. Gesichert scheint zu sein, dass er etwa gleichzeitig mit seinem Landsmann Himilko, der die europäische Atlantikroute erforschen sollte, den Auftrag erhielt, entlang der Seewege der afrikanischen Küste zu segeln, wie Plinius festgehalten hat.137 Vermutlich sind diese Seefahrten innerhalb der Zeitspanne zwischen dem Ende des 6. und dem ersten Drittel des 5.  Jahrhunderts v.  Chr. anzusiedeln. Eine genauere Datierung ist nicht möglich. Doch anders als die Erkundungs- und Handels79

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fahrt des Himilko war Hannos Vorhaben wesentlich umfangreicher. Mit 60 Schiffen ausgestattet und 30 000 Menschen an Bord, Männer und Frauen, soll er eine großangelegte Auswanderungsaktion angestrebt haben, wie die ersten Zeilen seines Periplus vermerken. Zweifellos sind die überlieferten Zahlen ziemlich übertrieben, denn die Ladekapazität der erwähnten Schiffe reichte nur für einen Bruchteil der Genannten aus. Ferner wird darin berichtet, dass im Verlauf dieser Expedition einige Kolonien an der Küste Nordafrikas jenseits der Straße von Gibraltar angelegt wurden und schließlich eine südwärts ausgerichtete Erkundungsfahrt entlang der westafrikanischen Küste, die sich wahrscheinlich bis in den Golf von Guinea ausdehnte, unternommen wurde. Darüber verfasste Hanno den bereits erwähnten Reise­ bericht, der im Tempelbezirk des Baal Hammon in Karthago als Weiheinschrift aufbewahrt und von dem später eine griechische Ausgabe angefertigt wurde, die uns erhalten ist. Vielleicht sind die problematischen Zahlenangaben über die Teilnehmer an der Expedition ein Übertragungsfehler, der zu Lasten der Übersetzer ging. Hannos Expedition war nicht die erste groß angelegte Afrikafahrt. Wie Herodot berichtet, hatte unter der Herrschaft des Pharaos Necho  II. eine Umschiffung des Kontinents stattgefunden. Es waren phönikische Seefahrer, die zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. vom Roten Meer aufbrachen, weiter entlang der ostafrikanischen Küste segelten, die Südspitze Afrikas umfuhren, und dann über die Westküste bis zur Straße von Gibraltar gelangten, von wo aus sie das Mittelmeer befuhren, bis sie nach Ägypten gelangten, wo die Reise ihren Ausgang genommen hatte. Aus dem überlieferten Text des Periplus des Hanno, der allerdings nur die Hinfahrt vermerkt, lässt sich für die Rekonstruktion seiner legendären Reise in groben Zügen folgende Route annehmen: Bald nach der Überwindung der Straße von Gibraltar gründete er die Niederlassung Thymiaterion, von wo aus er Richtung Kap Soloeis weitersegelte. Über die genaue Verortung der erwähnten Kolonien von Karikon Teichos, Gytte, Akra, Melitta und Arambys kann man nur Mutmaßungen anstellen. Vielleicht lagen sie nördlich des Flusses Lixus. In dieser Gegend wurde eine längere Rast eingelegt, die Hanno dazu nutzte, um freundschaftliche Beziehungen zu den einheimischen Berberstämmen anzubahnen. Die Fahrt wurde dann nach Südosten fortgesetzt, bis schließlich eine Insel erreicht wurde, auf der eine Siedlung namens Kerne angelegt wurde, die südlichste karthagische Kolonie überhaupt. Nach den Angaben des Hanno betrug die Route von Kerne zu der Straße von Gibraltar etwa die gleiche Entfernung wie von dort nach Karthago. Von dem neu ­errichteten Stützpunkt aus wurden nun zwei weitere Erkundungsfahrten 80

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­ nternommen. Eine davon nahm die Mündung des Flusses Senegal ins u ­Visier, wo sie auf feindlich gesinnte Einheimische trafen. Die zweite Expedition dauerte länger und führte Hanno an Kap Verde vorbei, erst Richtung Süden, dann nach Osten. Nach etwa vier Wochen, nachdem Hanno wahrscheinlich die nigerianische Küste erreicht hatte und die Vorräte zur Neige gingen, musste er die Heimreise antreten.

Pytheas Über den aus der an der Rhônemündung gelegenen griechischen Kolonie Massalia stammenden Pytheas lässt sich vermuten, dass er Händler und Seefahrer war und dass seine Ozeanreise (vielleicht auch mehrere) zu Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. zu datieren ist. Ob er zu seiner Atlantikfahrt erst die Iberische Halbinsel umsegelte und die Straße von Gibraltar passierte oder gar von der gallischen Atlantikküste aufbrach, wohin er über die Flüsse Aude und Garonne gelangt sein könnte, bleibt ungewiss. Jedenfalls segelte er über die Mündung des Flusses Loire hinaus entlang der bretonischen Küste bis nach Cornwall, von wo aus er weiter über den Nordkanal zu den Hebriden gelangte. Der Endpunkt und die genaue Ausdehnung der Ozeanfahrt des Pytheas lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Strabo äußert, dass Pytheas bis zu den Ländern „nahe der Frostzone“ gekommen sei; an anderer Stelle wird als am weitesten entferntes Reiseziel die Insel Thule erwähnt, die sechs Tagesfahrten nördlich der britischen Insel zu verorten war. Je nachdem, ob man die beiden Zitate auf denselben Ort bezieht oder die erste Bemerkung nur allgemeinen Charakter hat, dürfte es sich bei Thule um Norwegen oder vielleicht gar um Island gehandelt haben. Legt man Tacitus zugrunde, so könnten es aber auch die Shetlandinseln gewesen sein. Möglicherweise ist er auf seiner Rückfahrt von Thule nach Süden bis nach Nordfriesland und bis in die dänische Küstenregion gelangt. Unbestritten ist aber, dass Pytheas die aus der Mittelmeerperspektive heraus fremdartig wirkenden Regionen Nordeuropas bereist hat und darüber einen Bericht abgab. Pytheas verzeichnete als erster die den Mittelmeerbewohnern unbekannten Gezeiten und versuchte, das Aufkommen von Ebbe und Flut mit der Wirkung der Mondphasen zu erklären. Ferner lernte er die in Britannien angewandten Methoden zur Zinngewinnung und Vermarktung kennen: die Abbauphasen, die technische Weiterverarbeitung zu geschmolzenen Barren, den Abtransport und die Verladung über einen Damm zur Insel Ictis (Cornwall), wo sie fremde Händler in Empfang nahmen und weiter vertrieben. 81

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Vom Meer aus berechnete Pytheas den Umfang der britischen Küsten. Mit erstaunlicher Genauigkeit vermochte er die Entfernung von der Nordspitze Schottlands zu seiner Heimatstadt Massalia einzuschätzen. Auch beobachtete er nördlich von Thule große Mengen von Treibeis sowie die für einen mittelmeerischen Griechen überraschenden Naturphänomene des Polarlichts und der Mitternachtssonne.

Nearchos Ebenso unbekannt wie das Nordmeer war der jenseits des Perserreiches sich erstreckende Okeanos, der nach allgemein verbreiteten Vorstellungen die Randgebiete der bewohnten Welt umschloss. Seine Umsegelung war stets mit hohen Risiken und zahlreichen Fragezeichen versehen. In der Schlussphase seines Asienfeldzuges wollte Alexander der Große seine Geheimnisse entschlüsseln. Die Gründe dafür waren vielfältig. Einerseits konnten die daraus zu gewinnenden Erkenntnisse von Nutzen sein für die bessere Erreichbarkeit der jüngst erworbenen indischen Territorien, andererseits erwartete man, durch die Kontrolle der Seestationen am Okeanos die Route nach Arabien, Alexanders nächstes Eroberungsprojekt, zusätzlich abzusichern. Nicht zuletzt spielte Alexanders unbändige Neugier, möglichst alles über die Grenzregionen der Welt zu wissen, eine erhebliche Rolle bei der Durchführung der Okeanosfahrt seines Gefährten Nearchos. Im Verlauf seiner Indienexpedition und nach einem äußerst beschwerlichen Marsch erreichten im Sommer des Jahres 325 v. Chr. die Landtruppen und die Schiffe Alexanders südlich von Pattala die Mündung des Indus. Damit fand die etwa achtmonatige Expedition auf dem Fluss- und Landweg einen vorläufigen Abschluss. Den strategisch wichtigen Knotenpunkt versah man mit neuen Hafenanlagen und einer Garnison. Alexander ließ es sich nicht nehmen, entlang der Mündungsarme des Indus bis zum Okeanos zu segeln. Mit einigen Schiffen fuhr er auf eine vorgelagerte Insel, um von hier aus in die Weite des Meeres vorzustoßen, bis kein Land mehr in Sicht war. Wie bereits einige Jahre früher bei der Überquerung des Hellespont (334 v. Chr.) brachte er auch dieses Mal Poseidon ein Opfer dar und warf goldene Schalen ins Wasser. Er wähnte sich am Ende der Welt. Die Fahrt in den Indischen Ozean war kein isoliertes Ereignis, sondern stand in Verbindung mit bereits vollzogenen Akten der Grenzüberschreitung. Sie bildete gewissermaßen deren vorläufigen Abschluss. So wie Alexander in seinem ersten Regierungsjahr an die Donau gelangt war und den legendären Strom 82

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überwinden konnte (335 v.  Chr.), oder nach der Eroberung Sogdiens die Stadt Alexandria Eschate an der Peripherie der zivilisierten Welt gründete und in die unendliche Steppe Innerasiens blickte, erwarb er durch das Befahren des Okeanos die Gewissheit, eine weitere weltumspannende Grenze überschritten und damit eine dem Herakles würdige Leistung vollbracht zu haben. Vielleicht versöhnte ihn dies ein wenig mit der Tatsache, dass er am Hyphasis den Indienfeldzug auf Druck seiner Kampfgefährten hatte ab­ brechen müssen. Ebenso aufsehenerregend wie Alexanders Rückkehr aus dem Inneren Asiens war die Fahrt des Nearchos durch den bis dahin weitgehend unbekannten Indischen Ozean. Während Nearchos mit seiner Flotte auf die günstigen Monsunwinde hoffte – auf die er fast drei Monate warten musste, bis er schließlich seine abenteuerliche Küstenfahrt bis zur Mündung des Euphrat antreten konnte138–, trat Alexander im September 325 v. Chr. entlang der Küste Gedrosiens die Rückkehr nach Westen zu Lande an.139 Gedacht war an die Durchführung einer kombinierten See- und Landoperation, wie sie bereits an der Donau, in Phönikien, in Ägypten und am Indus stattgefunden hatte. Im Unterschied zu den vergleichbaren Unternehmungen galt diese jedoch als weitaus gefährlicher. Die Kenntnisse der Seefahrtsrouten im Indischen Ozean waren mangelhaft und der Landweg durch die Gedrosische Wüste barg unkalkulierbare Risiken in sich. Bald drang der gesamte Heereszug in die Wüste ein.140 Es dauerte nicht lange, bis die am Weg gelagerten oder von den Mannschaften mitgeführten Vorräte verbraucht waren. Dann folgten wochenlange Märsche unter schwierigsten klimatischen Bedingungen, welche die Moral der Truppe zersetzten. Hinzu kam der akute Wassermangel. Menschen und Tiere kämpften ums nackte Überleben. In Unkenntnis des Geländes wurde mancher Umweg eingeschlagen. Der gerade Weg entlang der Küste erwies sich wegen seiner ungeheuren Widrigkeiten als ungangbar, und so musste man notgedrungen landeinwärts ­einbiegen. Dabei riss die Verbindung mit der am Indischen Ozean nach Westen segelnden Flotte gänzlich ab. Beide Heeresformationen wussten nichts voneinander, verloren jeden Kontakt und irrten jede für sich ziellos umher: Nearchos mit seinen Schiffen am Indischen Ozean und Alexander mit seinem Heer in der Wüste von Makran. Als etwa zwei Monate nach dem Abmarsch aus Ora Ende 325 v.  Chr. die gedrosische Hauptstadt Pura erreicht werden konnte, war Alexanders Heer ein Schatten seiner selbst.141 Völlig entkräftete und kranke Soldaten bedurften der Pflege und Rekon­ valeszenz. Die gewaltige physische Überbeanspruchung hatte bei allen Teilnehmern sichtbare Spuren hinterlassen. Die Mühen waren keineswegs 83

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­ eendet, denn noch lag ein beträchtliches Stück Weg vor ihnen. Da die Verb bindung zur Flotte längst abgebrochen war, schrieb Alexander sie ab. Er glaubte nicht mehr daran, sie wiederzusehen. Erheblich verbessert wurde die überaus betrübliche Bilanz der Operationen der letzten Monate durch das plötzliche Auftauchen der verloren geglaubten Flotte des Nearchos in der Straße von Hormuz unweit von Kap Maketa. Ähnlich wie das Landheer mussten auch die Flottenbesatzungen erhebliche Strapazen erdulden. Von akutem Wasser- und Nahrungsmittelmangel, von Verzweiflung und Orientierungslosigkeit geplagt, stand das Schicksal der mit soviel Erwartung angetretenen Seefahrt oft genug am Rande des Abgrunds. Nur der Beharrlichkeit des Nearchos, der gegen den Rat des Onesikritos handelte142, der Arabien umsegeln wollte, war es zu ­verdanken, dass die Schiffe Kurs auf den Persischen Golf hielten, bis sie schließlich dort eintrafen. Schier zufällig vernahmen einige an Land gegangene Seeleute, dass sich Alexanders Landheer nur wenige Tagesmärsche vom Schiffslager entfernt befand. An der Spitze eines Suchtrupps gelangte Nearchos zum Lager des Königs, der sich über die Rettung der Flotte angeblich mehr als über die Eroberung Asiens gefreut haben soll.

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9 Phöniker und Griechen im Westen Karthago Es war in Megara, der Vorstadt von Karthago, in den Gärten ­Hamilkars (…). Feigenbäume umgaben die Küchen, ein Sykomorenhain erstreckte sich bis hin zu grünen Laubmassen, wo zwischen den weißen Büscheln der Baumwollstauden Granatäpfel hervorleuchteten. Mit Trauben beladene Weinstöcke rankten bis in das Astwerk der Pinien empor, ein Rosenfeld erblühte unter Platanen; da und dort wiegten sich Lilien über Rasenflächen. Schwarzer, mit Korallenstaub vermischter Sand bedeckte die Pfade, und in der Mitte bildete eine Zypressenallee von einem Ende zum anderen einen doppelten Säulengang aus grünen Obelisken. (Flaubert, Salammbô)

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er in der Abenddämmerung zu Schiff von Nordosten kommend in die Bucht von Tunis einfährt, dann Richtung Sidi Bou Said abbiegt und gegenüber dem Hügel von St.  Monique mitten im Areal des antiken Karthago das afrikanische Festland betritt, wird Zeuge eines atemberaubenden Spektakels. Er erlebt, wie die Konturen zwischen Firmament, Erde und Wasser sich immer mehr verwischen, bis das Zusammenspiel der Elemente in einer silbergrauen, vom rötlichen Schimmer des ausgehenden Tages durchfluteten Traumlandschaft aufzugehen scheint. Setzt man den Fuß auf den felsigen Küstensaum, so wird man sogleich von einer wohlduftenden Vegetation empfangen. Der Ankömmling schätzt sich glücklich, an dieser Stelle gelandet zu sein. Möglicherweise wurden die ersten aus dem östlichen Mittelmeerraum stammenden Kolonisten, die nach langer, beschwerlicher Fahrt in dieser Gegend festen Boden betraten, von ähnlichen Eindrücken überwältigt.143 Die um einen hervorragenden Naturhafen mitten in einem unbekannten Land von ihnen angelegte Siedlung entwickelte sich nach und nach zu einer bedeutenden Stadt. Um sie und ihre Bewohner zu beschreiben, griff man stets auf Superlative zurück; allein ihr wahres Wesen blieb dadurch nicht minder verborgen, je mehr Stereotypen zur Charakterisierung der 85

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I  Land und Meer

Wirklichkeit herhalten mussten. Von Beginn an präsentierte sich Karthago als Synthese dreier Kontinente. Aus Asien hervorgegangen, in Afrika fest verankert, blickte es nach Europa, um sich dorthin auszuweiten. Nie blieb die Stadt abgekapselt, stets oszillierte sie zwischen Land und Meer, schwankte zwischen Selbstbesinnung und Öffnung. Karthago wurde im Jahr 146 v. Chr. dem Erdboden gleichgemacht.144 Aufgrund der Zerstörung außerstande, sich direkt zu Wort zu melden, weil die eigene schriftliche Überlieferung verlorenging, kam alles Gute wie Schlechte, was es über dieses eigenartige Gemeinwesen zu berichten gab, aus fremden Quellen. Bereits die Kontakte mit den Hellenen aus der Magna Graecia und Sizilien hatten die Aufmerksamkeit der griechischen Kulturwelt auf den wichtigsten phönikischen Stützpunkt des Westens gelenkt. Wegen der ­späteren weltgeschichtlich bedeutsamen Auseinandersetzung mit Rom sollte Karthago an Berühmtheit gewinnen, aber es waren hauptsächlich kritische, meist feindlich gesinnte Stimmen, die dessen Außenwahrnehmung bestimmten.145 Flauberts verzweifelter Seufzer darüber, dass über das unverfälschte Karthago sich wenig Gesichertes eruieren lasse, bleibt auch heute nachvollziehbar. Die Erfahrungen des Schöpfers von Salammbô, der mittels einer kühnen Umdeutung der trümmerhaften Überlieferung den Blick für das genuine Karthago frei zu bahnen versuchte, sind überaus bemerkenswert. Was jedoch dem Künstler Flaubert erlaubt war, nämlich je nach Bedarf mithilfe seiner Imagination die Lücken der antiken Quellen zu schließen und damit ein farbiges Tableau zu entwerfen, das seinem Roman – übrigens einem der meistgelesenen des 19. Jahrhunderts – die gewünschte Lebendigkeit verleiht, bleibt dem Historiker verwehrt. Im Gegensatz zum Romancier, der ganz im Geschmack seiner Zeit Karthago mit einem aus der Magie des Orients gewirkten Mantel drapiert, ist dieser auf die Ergründung der Ursprünge, die Beobachtung von Entwicklungen und die Analyse der nachprüfbaren Folgen von Ereignissen angewiesen. Er ist daher gezwungen, sich auf historische Sachverhalte zurückzubesinnen und daran anknüpfend Rekonstruktionen und Interpretationen zu entwerfen. Und so erfährt bei Anwendung historisch-analytischer Methoden die magische Anziehungskraft Karthagos eine proportional zur Höhe des neuzeitlichen Romantizismus entgegenstehende Entzauberung. In kaum einer anderen antiken Stadt verzahnten sich Land und Meer so untrennbar miteinander wie in Karthago. Das Meer war ihr Element und die Flotte ihre Lebensader. Auf diesem Wege gelangten Menschen, Güter und Ideen rasch von weit entfernten Orten zu diesem am Schnittpunkt zwischen dem westlichen und östlichen Mittelmeerraum gelegenen Zentralort. 86

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Das alte Karthago

Hier wurden Rohstoffe zu Fertigwaren verarbeitet, die umliegenden Territorien planvoll für die landwirtschaftliche Nutzung erschlossen. Kaufleute, Seefahrer, Gelehrte und Abenteurer aus aller Herren Länder gingen in Karthago ein und aus. Auch fanden die neuesten Errungenschaften aus der Welt der Kunst, Architektur und des Handwerks rege Aufmerksamkeit. Der maritime Charakter der Stadt hatte ihre Öffnung nach allen Seiten hin begünstigt. So gelang es der griechischen Kultur, lange bevor sie in Rom Wurzeln schlagen konnte, in Karthago einen günstigen Nährboden zu finden. Die Rezeption der neuesten Entwicklungen aus allen Bereichen der Wissenschaft und Technik gab der Stadt einen Vorsprung gegenüber ihren Nachbarn.146 Namhafte griechische Intellektuelle des 4. Jahrhunderts. v. Chr. lobten ihr politisches System und sahen in ihm eine geglückte Mischung aus Augenmaß und Erfolg. Kein Geringerer als Aristoteles kann dies bestätigen, wenn er die Vorzüge der karthagischen Verfassung herausstellte und sie in einem Atemzug mit Sparta nannte.147 Auch Eratosthenes äußerte sich voll des Lobes über die nordafrikanische Enklave. Es verwundert nicht, dass Karthago schon früh ein Anziehungspunkt für Menschen aus dem gesamten Mittelmeerraum geworden war. Dazu kamen Söldner aus Griechenland, Italien, Gallien, Hispanien und Nordafrika. Denn zur Aufrechterhaltung der mittlerweile erworbenen Machtposition war Karthago angesichts seines verhältnismäßig geringen Bevölkerungspotentials bei militärischen Ausein87

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I  Land und Meer

andersetzungen dazu übergegangen, die Aufgebote der Bürgermilizen durch Söldner zu erweitern.148 Betrachtet man die maritime Ausrichtung Karthagos, wie sie durch den Bericht des Herodot über die Schlacht am Sardischen Meer149 sowie durch die zahlreichen Handelsstützpunkte entlang der westmittelmeerischen Küsten zum Ausdruck kommt, kann man zwar eine Dominanz des Meeres konstatieren, das die Schaubühne für eine der wichtigsten Thalassokratien (Seemächte) des Altertums bot, und ist folglich geneigt, die Bedeutung des afrikanischen Hinterlandes für die weitere Entwicklung der Stadt zu unterschätzen. Tatsächlich aber waren es beide Elemente, Erde und Wasser, die durchaus gleichgewichtig das Schicksal der westphönikischen Metropole von Anfang an mitbestimmten. Dies zeigte sich bereits bei ihrer Gründung im 8.  Jahrhundert v.  Chr. Die erste Siedlung war einerseits das Ergebnis einer maritimen Expedition, die sich deutlich unterschied von der Anlage vergleichbarer phönikischer Handelskontore, wie etwa die oben angesprochene Niederlassung von Toscanos bei Málaga.150 Andererseits wurde die „Neue Stadt“ einer griechischen apoikia vergleichbar als Ackerbaukolonie angelegt, offen für den Handel und die Ausbeutung des Umlandes. Sie ähnelte mehr einer Polis als einer phönikischen Faktorei und war doch beides zugleich. Diese Doppelfunktion als Land- und Seemacht wird ihre weitere Geschichte entscheidend prägen.151 Während das Meer die Plattform für die schon früh einsetzende Expansion darstellte, bildeten sich markante Schnittpunkte heraus, die eine Einbeziehung des nordafrikanischen Umlandes in das politische Räderwerk des aufstrebenden Gemeinwesens beförderten. Zunächst lässt sich dies ab der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. beobachten, als sich die Karthager entschlossen, durch die Einstellung der Tributzahlungen an die einheimischen Libyer das benachbarte Grenzland zu erobern und als Bestandteil ihres nun vergrößerten Staates einzu­ gliedern, das sich von einer ursprünglichen Kolonialsiedlung zu einer ­expandierenden Territorialmacht wandelte. Stets versuchte Karthago, seine ­Agrarproduktion in den fruchtbarsten Landstrichen Nordafrikas auszudehnen, indem es neue Pflanzen und Kulturen einführte sowie die traditionellen Anbaumethoden verbesserte. Bald gehörte das um die Halbinsel von Kap Bon gelegene Hinterland zu den ertragreichsten Anbaugebieten der damaligen Welt.152 In diesem Kontext ist hervorzuheben, dass die namhafteste Schrift über die Landwirtschaft nicht von einem Römer, wie vielleicht angesichts der herausragenden Bedeutung der Agrikultur für die ­römische Gesellschaft zu vermuten wäre, sondern vom Karthager Mago verfasst wurde.153 88

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Die ersten tyrischen Kolonisten hatten sich inmitten einer von kriege­ rischen libyschen und numidischen Stämmen beherrschten Umwelt an­ gesiedelt und ihnen Tribute für die Nutzung des Landes entrichtet. Die selbstbewussten Karthager überschritten diese eng gezogenen Grenzen und eroberten neue Areale. Dies war das Werk einer Ackerbau treibenden Aristokratie, die auf diese Art ihre Macht beträchtlich erweiterte und festigte. Parallel dazu erfuhr das überseeische Engagement der Karthager eine deutliche Stärkung, ablesbar an den zahlreichen Emporien auf Malta, Sizilien, Pantelleria, Korsika, Sardinien, Ibiza und entlang der nordafrikanischen und iberischen Küste. Sie bildeten die Eckpfeiler einer an Intensität und Volumen ständig zunehmenden Handelstätigkeit, die aus der karthagischen Repu­blik ein überregionales Wirtschaftszen­ trum machte. Ihr Hafen wuchs zum wichtigsten Umschlagplatz für Rohstoffe aus dem westlichen Mittelmeerbereich. Die ökonomische Grundlage der karthagischen Dominanz beruhte auf der Ausbeutung der nordafrikanischen Anbaugebiete und der Beteiligung am Überseehandel.154 Mit der Bildung eines maritimen Handelsimperiums stiegen die Gewinnchancen beträchtlich und damit die Perspektiven der daran Beteiligten, wirtschaftliche Macht in politische Geltung umzumünzen. Die Versorgung der italischen und gallischen Nachfrage sowie die handelspolitische Aktivierung Sardiniens und Siziliens boten der karthagischen Oberschicht ein einträgliches Betätigungsfeld. Es ist nicht zuletzt die Aussicht auf die direkte Vermarktung der landwirtschaftlichen Potenziale im Innern Siziliens (Henna, Segesta) sowie die Kontrolle der Häfen (Panormos, Himera, Agrigent, Selinunt), was die Karthager angespornt hat, Teile der Insel zu erobern und als dauernden Besitz zu beanspruchen. Am Ende einer langandauernden Auseinandersetzung mit Syrakus, der hellenischen Vormacht auf Sizilien, gelang es den Karthagern, den westlichen Teil der Insel ihrem Herrschaftsbereich einzuverleiben.155 Als ein weiteres Ergebnis der meerumspannenden Herrschaft der Karthager sind jene wagemutige Seereisen anzusehen, in deren Verlauf hochseetüchtige Schiffe auf der Suche nach kostbaren Metallen (Kupfer, Zinn) die britannischen Küsten aufsuchten (Fahrt des Himilko)156, oder gar die zentralafrikanische Küste erreichten (Fahrt des Hanno).157 Es war das am Golf von Guinea reichlich vorhandene Gold, das die Karthager anlockte und zum Ausbau eines regen Handelsverkehrs mit den entlegenen Regionen im Herzen des afrikanischen Kontinents veranlasste. Unzählige Karawanen, mit dem Gold und den Edelmetallen Zentralafrikas beladen, durchquerten die Sahara und vermehrten den schon sprichwörtlichen Reichtum der nordafrikanischen Metropole. 89

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I  Land und Meer

Alalia In den Kapiteln 163–167 seines 1. Buches erzählt Herodot vom Schicksal der Phokäer, von ihren wagemutigen Fahrten, in deren Verlauf sie Beziehungen zu den südhispanischen Tartessiern knüpften, sowie von der um 560 v. Chr. auf Geheiß eines Apollonorakels gegründeten Niederlassung auf Korsika, die den Namen Alalia trug. Ferner wird ihre Freiheitsliebe betont: Sie waren neben den Bewohnern von Teos die einzigen ionischen Griechen, die es vorzogen, die Heimat zu verlassen, um der persischen Knechtschaft zu entgehen. Der Massenauszug hatte weitreichende Folgen. Von den Raubzügen der Phokäer aufgeschreckt, verbündeten sich die Etrusker aus Caere mit den Karthagern und lieferten ihnen ein Gefecht am Sardischen Meer, das als Schlacht von Alalia bekannt geworden ist. Damals trafen (um 530 v. Chr.) 180 Schiffe aufeinander, womit wir vor der bis dahin größten maritimen Auseinandersetzung im westlichen Mittelmeer stünden. Die Phokäer gewannen zwar die Schlacht, verloren aber den Krieg, weil ihre Verluste beträchtlich gewesen waren. Die von den Etruskern ergriffenen griechischen Kriegsgefangenen wurden gesteinigt, die Überlebenden segelten zunächst nach Unteritalien (Rhegion), später gründeten sie die neue Siedlung Elea (Velia), wo sie ihre endgültige Heimat fanden. Die Ereignisse, die sich um die Odyssee der Phokäer ranken, bieten Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der politischen Verhältnisse dieser jenseits der Magna Graecia und Sizilien, den beiden Zentren griechischer Kultur im Westen, liegenden Region. Zum ersten Mal werden die Karthager erwähnt. Ähnliches lässt sich über die Etrusker sagen. Bedeutsam ist der herodoteische Bericht, weil sich weitere Zeugnisse damit verknüpfen lassen, wie die Bilingue von Pyrgi, die ein etruskisch-karthagisches Zusammen­ gehen bezeugt158, oder die Aussagen des Aristoteles hinsichtlich einer etruskisch-karthagischen Allianz.159 So unschätzbar Herodots Bericht ist – ganz vermag er nicht, alle Fragen zu beantworten. Das kann man ihm nicht anlasten, denn seine Absicht war es, über den persisch-ionischen Konflikt zu berichten, und in diesem Kontext bildete der Phokäerexkurs lediglich eine Episode. Folglich müssen wir unsere Kenntnisse über diese Vorkommnisse aus anderen Quellen ergänzen. Wahrscheinlich dürfte das phokäische Massalia mit Spannung das Schicksal der stammesverwandten Alalioten verfolgt haben160, worüber Herodot allerdings schweigt. Es gibt aber vier Textpassagen, die auf eine Beteiligung Massalias an dem Konflikt hindeuten. Antiochos von Syrakus161 sagt, dass die Griechen einen Misserfolg erlitten. Ferner erfahren wir, dass sowohl Korsika als auch Massalia und Velia als Auffan90

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9  Phöniker und Griechen im Westen

gorte der flüchtenden Phokäer bereit standen. Anlässlich seines Rechenschaftsberichtes über die aufsehenerregenden maritimen Auseinandersetzungen der Vergangenheit vermerkt Thukydides einen massaliotischen Seesieg über die Karthager, der sich mit der herodoteischen Erzählung in Einklang bringen lässt.162 Eine Notiz des Pausanias erweitert diese Sichtweise und ergänzt, dass die Massalioten nach ihrem Erfolg ein Weihegeschenk in Delphi stifteten.163 Schließlich erzählt Pompeius Trogus ebenfalls von einem Sieg der Massalioten über die Karthager.164 Was zunächst wie eine Erweiterung der herodoteischen Notizen aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung jedoch als eine Verkomplizierung des Sachverhaltes. Neben Übereinstimmungen gibt es markante Unterschiede. Beispielsweise spricht Herodot über eine Beteiligung der Etrusker an der Schlacht im Sardischen Meer, wohingegen Thukydides, Pausanias und Pompeius Trogus lediglich einen Sieg der Massalioten über die Karthager verzeichnen. Während für Herodot das Ergebnis nicht eindeutig (kadmenischer Sieg) feststand, erlitten die Griechen nach Antiochos einen Rückschlag. Welche Schlussfolgerungen erlauben die widersprüchlichen Darstellungen? Entweder die nachherodoteische Tradition hat mit den Geschehnissen um Alalia nichts zu tun, und es handelt sich bei den von Thukydides, Pausanias und Pompeius Trogus überlieferten Vorgängen um andere Konflikte, oder alle Texte sprechen über den gleichen Sachverhalt, allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven. Diese Vermutung lässt sich durch folgende Beobachtungen erhärten: Zwar kommt, so weit erkennbar, eine etruskische Sichtweise der Ereignisse nirgendwo zum Vorschein, dafür lässt sich eine ostgriechische Tendenz ausmachen. Sie wird greifbar im herodoteischen Text, der, einer phokäischen Quelle folgend, den Karthagern eine Außenseiterrolle zuweist, während die Etrusker die Handelnden sind. Außerdem ist die Anlage des herodoteischen Phokäer-Logos zu berücksichtigen, in dem die Leidensgeschichte dieses Volkes das Hauptmotiv bildete. Dies könnte die Ursache dafür sein, dass sein Bericht an den Stationen der flüchtenden Phokäer, von Kleinasien über Korsika nach Italien, orientiert bleibt und daher das Engagement der Massalioten vernachlässigt. Thukydides dagegen beleuchtet diese Vorgänge aus einem anderen Blickwinkel. In dem Vorspann zur Geschichte des Peloponnesischen Krieges bilanziert er die vor der athenischen Machtentfaltung zur See nennenswerten Großtaten, wozu er den Erfolg der Massalioten über Karthago zählt, der in den Augen der griechischen Öffentlichkeit durch die Errichtung eines Schatzhauses in Delphi verherrlicht wurde. Hier ging es primär um eine denkwürdige Tat, und als solche galt dieser Seesieg. Daher war ein Eingehen auf die phokäischen Angelegenheiten nicht zwingend 91

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I  Land und Meer

­ otwendig. Insofern thematisiert Thukydides das, was im Bewusstsein der n mutterländischen Griechen über die maritime Position der Westgriechen in Erinnerung blieb: Die Schlagkraft der massaliotischen Flotte. Angesichts einer solch uneinheitlichen Überlieferungslage bleibt zu fragen, was die untersuchten Autoren miteinander verbindet. Einmal fanden die einschlägigen Ereignisse etwa zur gleichen Zeit statt. Die von Thukydides vorgenommene Einbettung der Schlacht in die Zeit des Polykrates von Samos und des Kambyses legt dies nahe. Es herrscht ebenfalls Übereinstimmung über die Anlässe des Konflikts, nämlich die Massenankunft der flüchtenden Phokäer und die von ihnen betriebene Piraterie. Auch besteht trotz der unterschiedlichen Bewertungen hinsichtlich des Schicksals der Phokäer weitgehender Konsens. Schließlich markiert die Schlacht im Sardischen Meer den Beginn der überseeischen Expansion Karthagos. Sardinien und Ibiza sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Die frühesten Indizien, die eine Anwesenheit von Karthagern in Ibiza nahelegen, datieren aus dem letzten Drittel des 6. Jahrhunderts v. Chr. Die Bedeutung der Insel beruhte auf ihrer Stellung als Umschlagplatz und Knotenpunkt für die phönikische Seefahrt. Diese nahm deutlich zu, nachdem die alaliotische Piraterie beseitigt war.165 Ähnliches lässt sich für Sardinien sagen. Eine ältere phönikisch-orientalische Siedlungsphase geht ab Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. in eine karthagisch geprägte Phase über. Auf den ersten Blick erlebte Alalia nach der Schlacht im Sardischen Meer eine Zäsur. Die Auswanderung nach Velia und Massalia bedeutete das Ende der griechischen Polis.166 Doch war auch das Ende der griechischen Präsenz auf Korsika damit verbunden? Wichtige Aufschlüsse über Alalia am Ausgang des 6. Jahrhunderts v. Chr. erhalten wir aus der Auswertung der Nekro­ pole von Casabianda. Offenbar hat sich eine im wesentlichen einheimische Oberschicht in Alalia gebildet, in der griechische und etruskische Elemente integriert gewesen sind. Hier sind die Analogien zu anderen Orten, die ebenfalls einer phokäischen Akkulturation unterlagen, unübersehbar: Etwa der Fall Ampurias, wo ebenfalls ein Nebeneinander der iberischen und griechischen Bevölkerung zu beobachten ist.167 Antiochos von Syrakus und Pausanias legen nahe, dass ein Teil der vor den Persern flüchtenden Phokäer nach Massalia kam, was ein zusätzlicher Hinweis für die Beteiligung der Stadt am Konflikt gegen Etrusker und Karthager sein könnte. Das Schatzhaus der Massalioten in Delphi datiert aus dieser Zeit. Diese massaliotische Präsenz in Delphi, das Schaufenster der griechischen Welt, wird übereinstimmend als Indiz für die Prosperität der Stadt angesehen. Im letzten Drittel des 6. Jahrhunderts v. Chr. wurde ihre Chora erweitert und die landwirt92

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schaftliche Tätigkeit intensiviert, wohl aufgrund einer Bevölkerungszunahme. Hier könnte man an Flüchtlinge aus Alalia denken.168 Eine unmittelbare Folge der Schlacht im Sardischen Meer war die Gründung von Elea (Velia) an der lukanischen Küste unweit von Poseidonia, in einer Region, die von Eustathios, einem Scholiasten aus dem 12. Jahrhundert, als das massaliotische Italien (Italia massaliotiké) bezeichnet wird. Damit ist bereits der Zusammenhang zwischen den wichtigsten phokäischen Siedlungen des Westens angesprochen. Poseidonia prägte Münzen nach dem Vorbild Velias, die handwerklichen Produkte beider Städte sehen zum Verwechseln ähnlich aus. Wie die Arbeiten von Jean Paul Morel belegen, erlebte der Güteraustausch im Dreieck Massalia, Velia, Poseidonia ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. eine beträchtliche Dynamisierung.169 Die Vorgänge um Alalia und deren Folgen werden in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Besagte Auseinandersetzung sei lediglich eine belanglose Episode ohne nennenswerte Folgen, lautet eine Ansicht. Mehrheitlich wird jedoch als Ergebnis der Schlacht im Sardischen Meer ein Rückgang des griechischen Einflusses im Westen gesehen und eine Neuaufteilung dieser Region in einen karthagisch-etruskischen Machtblock. Ferner wird als Konsequenz des phokäischen Rückzuges aus Korsika angenommen, dass die Karthager eine antigriechische Blockadepolitik im äußersten Westen des Mittelmeerraumes praktiziert hätten, was allerdings unhaltbar ist.

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II Mythos und Historie

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ei den folgenden Akzentsetzungen geht es um die kritische Betrachtung jener Legenden, die seit den frühesten Zeugnissen unseres Kulturkreises mit der Rückschau auf die historisch erfahrbare Sicht der Vergangenheit eng verwoben erscheinen. Die homerischen Epen mit ihrem unglaublichen Formenreichtum bieten zahlreiche Beispiele dafür, wie durch Rückgriff auf den Mythos längst vergangene Zeiten vergegenwärtigt und erklärt werden können. Von der Besonderheit der homerischen Weltsicht, vom Zauber und der Magie der darin agierenden Gestalten und den im Kontrast dazu stehenden nüchternen Ansichten Hesiods soll die Rede sein. Ferner dient die Unter­ suchung des Beziehungsgeflechts, das viele Sagengestalten, leibhaftige Götter, Alltagszenen und gewöhnliche Menschen umgibt, dazu, die Sphären des Mythos und der Historie zu vermessen (Kirke und Kalypso, Zyklopen, Phäaken, Schild des Achilleus) und sie für ein vertieftes Verständnis der Vergangenheit fruchtbar zu machen. Es geht dabei um die Bedeutung von Traumwelten, Sehnsüchten, Idealen und Realitäten als Teil unseres kulturellen Erbes sowie als Bausteine der historischen Erinnerung. Diese lassen sich mittels der Analyse konkreter Persönlichkeiten (Peisistratos, Alexander, Scipio Aemilianus), politischer Projektionen (demokratischer Mythos) oder legendärer Ereignisse (Alpenübergang, Cannae, Numantia) durchaus rational erklären, wie aufgezeigt werden soll. In diesem Kontext kommt der mythologischen Verklärung historischer Sachverhalte als Strategie für die Vereinnahmung der Vergangenheit eine zentrale Rolle zu (Cincinnatus, Fabius, Maximus, Dido und Aeneas). Dabei steht sowohl die mythische als auch die geschichtliche Dimension der behandelten Episoden zur Debatte. Der Wirkmächtigkeit von Deutungsmodellen, die aus beiden Sphären entlehnt sind, widmet sich das letzte Unterkapitel dieses Kapitels, das sich mit dem Bild des Fremden, genauer mit der Konstruktion des Barbaren befasst. Es geht darum nachzuweisen, unter welchen Bedingungen xenophobisch aufgeladene Stereotypen entstehen und sich verfestigen, welche historische Funktion ihnen 94

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1  Homer und kein Ende

zukommt, um damit eine bestimmte Sicht auf die Vergangenheit zu eröffnen. Möglicherweise vermag die unvoreingenommene Rezeption der ausgewählten Fallbeispiele (Orient und Okzident als antithetische Größen, Feinde als Bedrohung, Rom und die Barbaren) die dabei mitschwingenden Verformungen, Verwerfungen und Vorurteile deutlicher erkennbar werden zu lassen, um mit vergleichbaren Situationen, die sich auch heute ergeben können, differenzierter und sensibler umzugehen.

1 Homer und kein Ende Homerische Welten

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m Vergleich zu dem Quellenmaterial der mykenischen Ära und der Dark Ages gestatten die homerischen Epen tiefere Einblicke in die sozialen und politischen Verhältnisse der archaischen Zeit. Es ist so, als ob in einem dunklen Raum plötzlich das Licht aufginge, womit der Schauplatz der griechischen Geschichte hell beleuchtet, ja im neuen Glanz erstrahlen würde. Aufgrund der Auskünfte, die Homer bietet, sind wir erstmalig in der Lage, fundierte Einschätzungen über die Triebkräfte und Lebensbedingungen der Menschen abzugeben, die im Mittelpunkt der dargestellten Episoden stehen. Nicht nur ihre öffentlichen Auftritte, sondern auch ihre Privatsphäre, Gefühlswelt und Wertmaßstäbe werden in epischer Breite ausgemalt. Sie rücken in unsere Nähe, was uns durchaus tangiert, weil wir trotz der großen zeitlichen Distanz in ihnen einen Teil von uns selbst erkennen. Dies ist bereits in den ersten Versen des Epos, das den Trojanischen Krieg besingt, der Fall. Hier begegnen wir einem überaus dramatischen Appell, der auf einen verzwickten Streitfall Bezug nimmt, der den Zusammenhalt der Expedition in Frage stellen konnte: Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, ihn, der entbrannt, den Achaiern unnennbaren Jammer erregte und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aides sandte, aber sie selbst zum Raub gewährte den Hunden und den Vögeln umher zum Fraß. So ward Zeus’ Wille vollendet seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten Atreus’ Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus.1 Die unzähmbare Leidenschaft eines berühmten Kriegers, der zusammen mit seinen Gefährten nach Troja gezogen war, um neben reicher Beute un95

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II  Mythos und Historie

sterblichen Ruhm und Ehre zu erwerben, steht am Anfang der Ilias, ein literarisches Meisterwerk der griechischen Archaik. Sein Schöpfer, Homer, ruft in der Einleitung seines farbenprächtigen Epos die Göttin auf, vom Zorn eines gekränkten Mannes zu singen. Was war vorausgegangen? Agamemnon, der Führer des griechischen Belagerungsheeres vor Troja, geriet mit seinem tapfersten Kämpfer, Achilleus, wegen der gefangenen Briseis in einen heftigen Disput. Die Situation kommt uns reichlich bekannt vor: Zwei Männer stritten sich um eine Frau. Beide wollten sie besitzen. Agamemnon blieb unnachgiebig, nahm Achilleus das Mädchen weg und führte es in sein Zelt ab. Aber seine Autorität litt darunter, denn der Unterlegene verweigerte nun die Gefolgschaft und der Oberbefehlshaber vermochte ihn nicht zur Wiederaufnahme des Kampfes zu bewegen. Achilleus Gemütszustand ist verständlich. Zwar hatte Agamemnon durch die Ergreifung der jungen Frau sein Vorrecht bei der Verteilung der Kriegsbeute durchgesetzt, aber gleichzeitig die Ehre eines Mitkämpfers öffentlich angegriffen, denn das Objekt der männlichen Begierde befand sich zuvor in Achilleus Zelt, als jener die Herausgabe erzwang. Aber Agamemnon versuchte einzulenken, indem er seinem Rivalen als Ersatz für Briseis ein wahrhaft königliches Geschenk anbot, nichts Geringeres als sieben „wohlbevölkerte Städte“2, die Achilleus jedoch bockig ablehnte, weil er unnachgiebig auf der Rückgabe der Geisel bestand. Diese Reaktion, die uns moderne Menschen anspricht, weil sie vom verletzten Ehrgefühl durchdrungen ist, war den Zeitgenossen allerdings schwer zu vermitteln. Dass man aus Trotz oder gar Sentimentalität eine so überaus großzügige Abfindung eines Mädchens wegen ausschlagen konnte, dürfte gewiss Kopfschütteln und Unverständnis ausgelöst haben. Selbst der allgemein anerkannte Nestor blieb erfolglos, als er versuchte, zwischen den Kampfhähnen zu vermitteln. Ein eindringlicheres Netzwerk menschlicher Leidenschaften episch darzustellen, wie es Homer auf unnachahmliche Weise vermochte, ist schwer vorstellbar. Besitztrieb, Ehrsucht, gekränkte Eitelkeiten, Gier, Konsensbestrebungen, Gefühlsaufwallungen, Machtbewusstsein und vieles mehr wird in kunstvoll gestalteten Versen thematisiert, die uns deswegen in Atem halten, weil sie stets aktuelle Themen behandeln. Wir sehen darin, was für alle große Literatur gilt, deren Inhalt anthropologische Grundphänomene reflektiert, Spiegelungen unserer eigenen Wirklichkeit. Außerdem fasziniert uns der Zauber einer Welt voll Abenteuer, Wunderwesen, dramatischer Aktionen und verwegener Gestalten, in der sich vielfältige Formen der griechischen Lebensart manifestieren. Mit der Hinwendung zu Homer begeben wir uns zu den Anfängen der schriftli­chen Traditionsbildung, sozusagen zu den ältesten literarischen 96

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1  Homer und kein Ende

S­ puren unserer eigenen Kultur. Anders als die nur begrenzt aussagekräftigen Verzeich­nisse der mykenischen Palastzeit vermitteln die homerischen Epen (Ilias, Odys­see) eine viel­schichtige Vorstellung von der Alltagswirklichkeit, Denkvorstellungen und Gefühlslagen der darin handelnden Menschen und ihrer Umwelt. Ferner bieten sie ein äußerst komplexes und keineswegs einheitliches Bild einer Epoche, für deren Kennzeichnung sich der summarische Begriff homerische Gesellschaft eingebürgert hat. Die soziale Dimension der Epen ver­einigt sowohl Elemente der Kontinuität als auch des Bruchs und der Umwandlung der ihnen zugrundeliegen­den historischen Wirklichkeiten.3 Sie sind das Ergebnis einer nicht mehr bis ins Detail zurückzuverfolgenden Verschmelzung unterschied­licher Bewusstseinsebenen, mündlicher Traditionen und Relikte vergangener Jahrhunderte. Die verarbeiteten Erinnerungen reichen von der grauen Vorzeit bis hin zu der Epoche, in der die Epen ihre uns überlieferte Gestalt annahmen.4 Obwohl alles darauf hindeutet, dass es gerade diese letz­te Phase war, die das Hauptsubstrat der sozialen und politischen Verhältnisse der gezeichneten Episoden bildete, gibt es hinreichende Anhaltspunkte, die auf längst vergangene Zeiten hinweisen. An die mykenische Ära erinnern etwa die große Anzahl von Schiffen und Besatzungen aus dem Schiffskatalog der nach Troja aufgebrochenen Kämpfer sowie einige Züge der Hofhaltung in den Palästen des Nestor, des Menelaos und des Alkinoos, nicht zuletzt aber die sa­krale Verankerung der Herrscherwürde in der Gesellschaft: Ihre Vertreter galten als gottentsprossen. Ferner hatten sie ein Anrecht auf Geschenke und besaßen, wie die Götter, ein temenos (Sakralbereich, Landgut). Die bereits erwähnte Großzügigkeit des Agamemnon gegenüber Achilleus oder die des Menelaos gegenüber Odysseus ver­mittelt einen Eindruck vom Reich­tum der mykenischen Potentaten. Wesentlich schwieriger ist es, das Verhältnis der home­rischen Institutionen zu den Dark Ages zu bestimmen, da uns hierfür – anders als für die mykenische Palast­zeit – die Vergleichsgrundlage fehlt. Dennoch gibt es Schichten homerischer Überlieferung, die nur durch eine direkte Bezugnahme zu der unmittelbar vorangehenden Epoche ent­schlüsselt werden können. So sieht Moses Finley in der Welt des Odysseus die Verhältnisse der Dark Ages und begründet dies damit, dass eine große Anzahl zeitgenössischer Erscheinungen nicht in den Epen vorkommen: Ionier und Dorer, der Gebrauch der Schrift und eiserne Waffen, die griechische Kolonisation und der damit zusammenhängende Handel werden ebenso wenig berücksichtigt wie die Verweise auf jene politischen Ge­meinschaften, die sich mittlerweile der Alleinherrschaft entledigt hatten.5 Dieser An­sicht ist mehrmals widersprochen worden. Die heute vorherrschende Forschungs­meinung be­tont, dass es vor97

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wiegend die Zeit der Fixierung von Ilias und Odyssee war, die sich in den homerischen Gesängen widerspiegelt. Alle we­sentlichen politischen, ökonomischen, s­ozialen und reli­ giösen Erscheinungsformen der Epen wie Polis, Volksversammlung, Familienverband, Krieg, Handel, Oikos, Landund Viehwirtschaft sowie das Wertesystem der Gesellschaft thematisieren Handlungsweisen und Situationen, wie man sie im Griechen­land des 8. und 7. Jahrhunderts v. Chr. allerorten vor­fand. Auf der institutionellen Ebene konfrontieren uns die Epen mit verschiedenen Herrschaftsdiskursen. Agamem­non verkörpert an einigen Stellen eine an alte mykeni­sche Traditionen anknüpfende und den Menschen des 8. Jahrhunderts v.  Chr. kaum noch verständliche Vorstellung eines uneinge­schränkten Herrschertums. Der ihm zur Verfügung stehende Machtbereich umfasste ein beträchtliches Territorium. Seine Stellung gründete auf Erbfolge und gött­liche Auserwählung. Zepter und „heiliges Gesetz“ erhielt Agamemnons Großvater Pelops vom Göttervater Zeus selbst. Diesen von der sozialen und ökonomischen Reali­tät der archaischen Lebenswelt Griechenlands weit entfernten Herrschaftsauffassungen stehen in den Epen andere, wesentlich nüchternere gegenüber. Es gibt eine Reihe von basileis, deren Macht kaum die Grenzen ihrer kleindimensionierten Gemeinden überschreitet. Ihre Gedanken kreisen um das angestrebte oder bereits erhaltene temenos (Landgut). Auch die minutiös be­schriebene Vorratskammer mit ihren Lebensmitteln und kostbaren Metallen, besonders aber die Viehherden, die als Maßstab für den Reichtum der Betroffenen gelten, spielen eine große Rolle bei all ihrem Trachten und Tun.6 Schließlich tritt uns vor allem in der Odyssee eine Vorstellung von Herrschaft entgegen, deren Vertreter kaum etwas anderes zu sein scheinen als gut situierte Grundbesitzer. Sie agieren als Mitglieder eines Adelskollektivs und streben im Wett­bewerb mit ihren Standesgenossen eine Vorrangstellung an. Um diese zu ver­wirklichen, griff beispielsweise Odysseus bei seiner Rückkehr nach Ithaka zu Gewaltmaßnahmen. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist die durch das Fernbleiben des Odysseus entstandene politische Spannung auf der Insel, die sich in einem Machtkampf der Konkurrenten entlud. In der Brautwerbung um Penelope erreichte der adlige Wettbewerb seinen sichtbaren Ausdruck. Von Bedeutung ist eine fast unscheinbare Begebenheit, die sich auf dem Hintergrund der ungeklärten Machtverhältnisse ergab. Verzweifelt über die lange Abwesenheit seines Vaters Odysseus, erbat Telemachos von der Volksversammlung Unterstützung gegen die Freier seiner Mutter Penelope, die sein Vermögen hemmungslos verschleuderten. Er verlangte ein Schiff, um sich auf die Suche nach dem Vater zu begeben. Bemerkenswert ist Telemachos Wunsch, eine an sich private Angelegenheit vor das 98

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Volk von Ithaka zu bringen, sie sozusagen zu politisieren: Gebt mir ein schnelles Schiff und zwanzig Gefährten, die mir die Hin- und Rückfahrt durchzuführen vermögen; denn ich möchte nach Sparta gehen und dem sandigen Pylos, ob ich von der Heimkehr höre des Vaters, der lange schon fort ist, ob es mir einer der Sterblichen sagt oder ob ich von Zeus her hör ein Gerücht, wie so sehr es verbreitet ist unter den Menschen. Hör ich, er sei noch am Leben, der Vater, und sei auf dem Heimweg, halt ich ein Jahr noch aus, wie sehr ich auch bedrängt bin; höre ich aber, er sei gestorben und nicht mehr am Leben, will ich nach Hause zurück ins liebe Land meiner Väter kehren, ein Mal ihm errichten und Totenopfer ihm spenden, reichliche, wie es sich ziemt, und gebt einem Manne die Mutter.7 Die Szene ist deshalb aufschlussreich, weil sie verdeutlicht, dass ein Beschluss durchsetzungsfähig sein konnte, wenn er von der Volksversammlung mehrheitlich getragen wurde. Folglich standen die Herrschaftsansprüche der Eliten mit deren gesellschaftlicher Akzeptanz in Einklang. Zu Recht sieht daher Kurt Raaflaub im Verhalten der Akteure ein „Konzept der kollektiven Verantwortung“ ausgebildet, woraus sich folgern lässt, dass private Angelegenheiten und öffentliches Interesse durchaus in ein Spannungsverhältnis zueinander geraten konnten.8 Streitfälle wurden mittels Schiedssprüchen gelöst oder durch mehr oder weniger heftige Konfrontationen entschieden. Die Frage war stets, welche Person oder gesellschaftliche Gruppe die Macht besaß, sich durchzusetzen. Bezeichnend dafür ist die Thersites-Episode. Der nicht­ adlige Thersites verhöhnte den erfolglosen Agamemnon in provokanter Weise vor der gesamten Heeresversammlung, indem er drohte: Lasst uns mit den Schiffen nach Hause fahren, diesen aber (Agamemnon) lasst hier vor Troja seine Beute verschlingen, damit er sehe, ob wir ihm Hilfe sind oder nicht.9 Derartige Anfechtungen von Herrschaftsansprüchen blieben aber die Ausnahme. Die Regel bildete vielmehr das Anstimmen eines hohen Liedes auf die Protagonisten der Epen, und das war die adlige Herrenschicht, die auf dem Schlachtfeld die Kommandos ausgab, in Streitfällen als Richter agierte, die Geschicke der Gemeinschaft leitete und mittels Opferhandlungen das Wohlwollen der Götter für den eigenen Oikos und die gesamte Polis heraufbeschwor.

Anachronistische Helden In den homerischen Epen manifestiert sich das Wertesystem und Lebensgefühl der griechischen Eliten.10 Der Bekenntnischarakter, der den Lobpreisungen innewohnt, lässt die Kehrseite einer tiefgreifenden Krise erah99

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nen. Durch Hervorhebung der Gegensätze bleibt sie für uns erkennbar. Der selbstbewusste Adlige schätzte alle diejenigen gering, die er in unüberwindlichem Abstand zu seinem eigenen exklusiven Lebenskreis verortete. Handwerker, nichtadlige Landbesitzer und Kaufleute wurden als Vertreter der gesellschaftlichen Gruppierungen, denen kein heldisches Leben vergönnt war, ignoriert, wenn nicht sogar verachtet.11 Und doch waren es ­gerade diese sozialen Schichten außerhalb der vornehmen gesellschaft­ lichen Kreise, von denen die Anstöße zur Aushöhlung der traditionellen Adelswelt ausgingen. Die Thersites-Episode und Hesiods despektierliche Epitheta über die Repräsentanten der Adelskultur12 liefern einen Vor­ geschmack dafür. Den Auflösungserscheinungen des traditionellen Ordnungsgefüges hielt der homerische Held seine eigenen Wertvorstellungen entgegen: Kriegerethik, Streben nach Ruhm und Ehre sowie seine Individualität stellte er höher als Solidarität und Gemeinsinn. Was wie ein Bekenntnis zur Einseitigkeit anmutet, ist nichts anderes als der zum Scheitern verurteilte Versuch, die soziale und politische Realität des 8. und 7. Jahrhunderts v. Chr. zu verdrängen. In der Vermittlung dieses Spannungsverhältnisses thematisierte Homer auf subtile Weise eine anthropologische Grunderfahrung, die Jahrhunderte später durch Cervantes’ Don Quijote in seinem sprichwörtlichen Kampf gegen Windmühlen erneut ins geistesgeschichtliche Bewusstsein gehoben werden wird. Diesbezüglich hat Paul Ingendaay eine geistreiche Metapher gefunden, um die Essenz dieses bahnbrechenden Oeuvres zu verdeutlichen, wenn er schreibt: „Es ist eben doch mehr als ein Roman, eher eine flüssige Substanz, die in die kulturellen Erdschichten der Welt eingesickert ist und die Qualität des Trinkwassers für immer verändert hat“.13 Was für Cervantes zu Recht in Anspruch genommen wird, gilt nicht minder für Homer, den Meister der epischen Erschließung der Welt. Doch bei aller Sympathie, ja vielleicht sogar Nostalgie, die Homer für die Repräsentanten einer untergehenden Adelsschicht aufbrachte, ignorierte er keineswegs ihre Schattenseiten, die er durchaus skeptisch verzeichnete. Eine kritische Einstellung gegenüber Machtträgern war durchaus nicht ungewöhnlich. Sie hatte verschiedene Ursachen und fand im außergriechischen Kulturkreis ihre Parallelen.14 Am deutlichsten lässt sich die negative Einschätzung der autokratischen Machtansprüche einzelner Individuen bei den Hebräern feststellen.15 Die anklagenden Töne speisten sich aus zwei Quellen. Eine Strömung, die sich am schärfsten im Alten Testament artikulierte, verwarf aus prinzipiellen Erwägungen heraus die Machtfülle ehrgeiziger Individuen. Die andere gründete in der Enttäuschung, die durch den 100

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Machtmissbrauch Einzelner verursacht wurde, erkannte aber die Daseinsberechtigung der Führungsschicht grundsätzlich an. Mit letzterer haben wir es in den homerischen Epen zu tun. Meistens verbarg sich hinter solchen Einstellungen ein Besserungskonzept. Es klang wie eine beschwörende Mahnung, wenn Hesiod in starker Anlehnung an Homer16 das Bild des gerechten basileus geradezu hymnisch umschrieb: Die aber rechten Bescheid Einheimischen geben und Fremden, gerade und schlicht, und weichen nicht ab auch nur etwas vom Rechten, denen gedeiht die Gemeinde, und in ihr blühen die Sippen. Friede beschirmt die Jugend im Land, und es lässt nicht bei ihnen unglückseligen Krieg entstehen Zeus, Späher ins Weite. Nie wird der Hunger Begleiter bei rechtlich handelnden Männern, nie der Ruin, sie vollbringen ihr Werk für festliche Freuden, reichen Ertrag bringt denen ihr Land, und auch auf den Bergen bringt der Eichbaum Eicheln im Wipfel, Bienen im Stamme. Und ihre wolligen Schafe sind schwer von lastenden Flocken. Und ihre Weiber gebären den Eltern gleichende Kinder. Unaufhörlich gedeihen sie an Gütern. Und nicht auf Schiffen fahren sie hinaus, es bringt ihnen Frucht kornspendender Acker.17 Der Evozierung einer solchen gesellschaftlichen Idylle schloss sich komplementär die Verwünschung der das Recht beugenden, sich des Frevels schuldig machenden Potentaten eines politischen Verbandes an, die in apokalyptischen Drohungen gipfelte: Denen sendet vom Himmel herab viel Leiden Kronion, Hunger und Seuche zugleich; hinstarben die Leute in Scharen. Und es gebären die Frauen nicht mehr, es schrumpfen die Häuser nach Zeus’ Willen und Sinn, des Olympiers; oder es hat auch denen den stattlichen Heerbann vertilgt, eine Feste genommen oder die Flotte auf See, zum Vergelt Zeus, Späher ins Weite. Adlige Herren, ach wolltet auch ihr von euch aus bedenken solches Gericht!18 Derartig leidenschaftliche Plädoyers für die Verwirklichung der Gerechtigkeit im Alltag können den ihnen innewohnenden Anteil von Gesellschaftskritik kaum verhehlen. Zumindest dürfen sie als Entwürfe dafür gelten, wie sich die früharchaische Welt den mustergültigen Adligen vorstellte. Nicht vergessen sollte man dabei, dass solche Idealbilder aus der Not der grauen Wirklichkeit geboren waren. Das Herausstreichen der Attribute, die man dem weisen Staatsmann zusprach, verdichtet sich zu einer Wunschvorstellung. Sie zeigt unmissverständlich, woran es im konkreten Alltagsleben mangelte.19 Insofern dienten die Preisgedichte nicht nur der Proklamation der Wertvorstellungen des aristokratischen Publikums, sondern legten gleichsam den Finger in die Wunde.20 101

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Hesiods Realismus Im Unterschied zur Ilias zeichnet sich die Odyssee durch eine schärfere Kontrastierung der sozialen Eliten aus. Während dort innerhalb eines Individuums unterschiedliche positive und negative Eigenschaften aufscheinen, sind die vornehmen Personen hier eindeutiger gezeichnet. Einer Reihe von schlechten Charakteren stehen etliche positive Beispiele gegenüber. Die ­Boshaftigkeit eines Echetos21 wird kompensiert durch das Wirken des Phäaken Alkinoos, dessen Regierung ideale Züge aufweist. Allein Odysseus, die Hauptgestalt des Epos, fällt aus dem Rahmen. Aufgrund der zahlreichen Verwicklungen, Perspektiven und Rollen, denen er im Verlauf seiner Irrfahrten unterworfen ist, entsteht ein komplexes Bild seiner Person, das nicht frei von Widersprüchen ist. Vor seinem Aufbruch nach Troja regierte er in ­Ithaka vorbildlich. Später wird er unter Anwendung von Gewalt seine alte Stellung zurückgewinnen. Es ist kein Zufall, dass in der Odyssee eine Anklage über die Ungerechtigkeit der basileis zu vernehmen ist22, die auf jene bitteren Töne vorausverweist, die eine Generation später bei Hesiod zu hören sind. Jenseits der adligen Zirkel, die sich in einem ständigen Ringen um Erwerb und Behauptung von Macht, Einfluss und Ruhm befanden, existierte eine bäuerliche Welt voller Mühen, harter Arbeit und Überlebenskampf, die in Hesiods Gedichten, welche die Verhältnisse des frühen 7.  Jahrhunderts v.  Chr. reflektieren, ihre Stimme erhob. Dem Verfasser einer Göttergenea­ logie (Theogonie) verdanken wir ein Traktat, der aus persönlicher Betroffenheit entstand und den Titel Werke und Tage trägt. Hier werden Themen angesprochen, welche die Lebensbedingungen seines Verfassers unmittelbar berührten. Am Anfang des Proömions ist zu lesen: Musen, ihr vom pierischen Land, deren Sang den Ruhm gibt, hierher kommt und kündet von Zeus, lobpreist euren Vater! Sind durch ihn doch die Männer die sterblichen ruhmlos und ruhmvoll, unbekannt oder bekannt, nach Zeus’ des Erhabenen Willen. Leicht gibt strotzende Kraft, leicht drückt den Strotzenden nieder, leicht lässt schwinden den Hochansehnlichen, wachsen den Niedrigen, leicht streckt grade den Krummen und lässt verdorren den Stolzen Zeus, der Donnerer droben, der wohnt in erhabensten Häusern.23 Bereits die in feierlicher Gebetssprache abgefassten Verse gewähren Einblicke in die Bedingtheit menschlichen Tuns. Ruhmlos und ruhmvoll, hochansehnlich und unscheinbar, gebeugt und aufrecht durchwandern die Sterblichen ihr Dasein. Im Spannungsfeld dieser Gegensatzpaare entfaltet sich die von der Gottheit gelenkte irdische Existenz. Nichts scheint auf 102

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Dauer angelegt zu sein. Die Wechselbeziehung zwischen Glück und Unglück offenbart die Labilität der menschlichen Schicksale und kündet von deren Unvollkommenheit. Vornehme wie Geringe sind in gleicher Weise davon betroffen.24 Wenn Hesiod im Folgenden eine private Angelegenheit  – nämlich die Erbstreitigkeiten, in die er mit seinem Bruder Perses geraten war – zum Ausgangspunkt seiner Dichtung erhebt, so tritt darin im Vergleich zu Homer nicht nur eine nüchterne Erzählebene zutage, sondern gleichzeitig eine neue Reflexionsebene über die gesellschaftliche Realität.25 Sein Autor, der aus dem Blickwinkel eines mittleren böotischen Landbesitzers schreibt, berichtet über die Beschwernisse des Alltags.26 An einigen Stellen der Werke und Tage ist von den geschenkeverzehrenden Herren27 die Rede, die bei Streitigkeiten als Schlichter angerufen wurden. Mit der Sammelbezeichnung basileis werden jene Machtmenschen gekennzeichnet, die als Richter auftraten.28 Neben der Kriegsführung29 galt die Rechtsprechung als ihre ureigene Domäne. Allerdings sollte man sich über die Vollmachten der Gerichtsherren keine hochtrabenden Vorstellungen machen, denn ihre Kompetenzen dürften begrenzt gewesen sein. Die Streitparteien mussten sich einvernehmlich auf einen Schlichter einigen. Ebenso mussten die Betroffenen den Schiedsspruch akzeptieren, denn nur so hatte seine Entscheidung Aussicht auf Erfolg, da dem Richter keine Vollstreckungsmittel zur Verfügung standen, um die Einhaltung des Urteils zu gewährleisten. Alles hing von seiner Fähigkeit ab, die Kontrahenten mittels eines für beide Seiten annehmbaren Spruchs zu befriedigen.30 Wie Hesiods Anspielungen zeigen, basierte das Renommee eines Adligen auf seinem öffentlichen Wirken für die Gemeinschaft. Handelte er zur allgemeinen Zufriedenheit, so stiegen sein Ansehen und seine Autorität. Agierte er aber eigennützig und rücksichtslos, so riskierte er Anfeindung und den Verlust seiner sozialen Anerkennung. Die dargestellte Situation verdeutlicht auch, dass Hesiod und Perses, zwei freie Landbesitzer, die in einen Streitfall involviert waren, zur Schlichtung ihrer Rechtshändel der Mitwirkung der basileis eigentlich nicht bedurften, denn sie hätten ihren Zwist von sich aus beilegen können. Daher kündet die unfreundliche Tonart, die gegen die ortsansässigen Notabeln angeschlagen wird, auch vom Selbstbewusstsein der mittleren, Grund besitzenden Schichten, die als Glieder der Polis sowohl auf dem Schlachtfeld als auch in der Volksversammlung deren Geschicke entscheidend mitbestimmten.31 Zweifellos trug die Dominanz der heroischen Kulisse, vor der die Protagonisten der Ilias und Odyssee agierten, ihren Teil dazu bei, die zeitgenössi103

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schen Konturen der homerischen Eliten zu verwischen. Bei Hesiod dagegen werden die Führungsschichten aus direkter, teils sogar aus persönlich belasteter Erfahrung heraus geschildert. Dies führt zwar zu subjektiven Bewertungen, aber gerade die bitteren Worte, die Hesiod zur Kennzeichnung der lokalen Machteliten findet, unterstreichen die Überzeugungskraft seiner Ausführungen. Sie verdeutlichen die Kehrseite des Alltags mit seinen Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten. In der Welt der Werke und Tage waren die basileis keine strahlenden Helden, wie sie uns bei Homer häufig begegnen, sondern raffgierige Honoratioren, die sich die Nöte der unteren Bevölkerungsschichten zunutze machten.32 Den vielfachen Beschwörungen gegen die Willkür der Mächtigen wohnt eine Appellfunktion inne. Nach Hesiods Überzeugung wurden durch ihre schiefen Urteile nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch die sittlichen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens beschädigt. Um gegen diese weitverbreiteten Missstände vorzugehen, wird im Verlauf des 7.  Jahrhunderts v.  Chr. eine Kodifizierung des Rechts gefordert, was jedoch nur selten erfüllt wurde. Die schlechte Überlieferungslage vermerkt lediglich die Gesetzeswerke des Zaleukos von Lokroi, Charondas von Katane und des Atheners Drakon (um 620 v. Chr.). Letztere sahen eine Reihe von Sanktionen für Gesetzesübertretungen vor, die wegen ihrer überaus großen Härte eine zweifelhafte Berühmtheit erlangen sollten.

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2 Zwischen Realität und Zauber Der Schild des Achilleus

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er Schilderung der Lebensbedingungen in der bäuerlich geprägten Welt Hesiods lässt sich eine homerische Episode zur Seite stellen, welche ebenfalls die Bedeutung der Gerechtigkeit für die sittliche Ordnung des Gemeinwesens anspricht. In der detailreichen Beschreibung von Achilleus’ Schild im 18. Gesang der Ilias begegnet uns eine der bemerkenswertesten Passagen des um den trojanischen Krieg kreisenden Epos. Sie erscheint völlig frei von jeder militärischen Konnotation. Plötzlich werden wir in eine friedvolle, zivile ­Atmosphäre versetzt, die den Blick freimacht für das Alltagsleben der homerischen Welt und uns wertvolle Einsichten über ihre genuinen Institutionen vermittelt. Die bukolisch anmutenden Szenen zeigen uns in der als Schauplatz des Geschehens abgebildeten Gemeinde einen Hochzeitszug, der das Straßenbild der Stadt belebt, während auf dem Marktplatz einer anderen Stadt die Honoratioren des Ortes sich versammelt haben, um den Streit zwischen zwei Männern zu schlichten. Die bemerkenswerte Episode wird folgendermaßen beschrieben: Darauf zwei Städte auch schuf er der vielfach redenden Menschen, blühende; voll war die eine hochzeitlicher Fest und Gelage. Junge Bräute aus den Kammern geführt beim Scheine der Fackeln, gingen einher durch die Stadt, und hell erhob sich das Brautlied; tanzende Jünglinge drehten behende sich unter dem Klange der von Flöten und Harfen ertönte, aber die Frauen standen bewunderungsvoll vor den Wohnungen jede betrachtend. Auch war dort auf dem Markt gedrängt des Volkes Versammlung, denn zwei Männer zankten und haderten wegen der Sühnung um den erschlagenen Mann. Es beteuerte dieser dem Volke, alles habe er bezahlt; ihm leugnete jener die Zahlung. Jeder drang, den Streit durch des Kundigen Zeugnis zu enden. Diesem schrien und jenem begünstigend eifrige Helfer, doch Herolde bezähmten die Schreienden. Aber die Greise saßen umher im heiligen Kreis auf gehauenen Steinen und in die Hände den Stab dumpf rufender Herolde nehmend, standen sie auf nacheinander und redeten wechselnd ihr Urteil. Mitten lagen im Kreis auch zwei Talente des Goldes, dem bestimmt, der vor ihnen das Recht am gradesten spräche.33 Diese außergewöhnliche Passage spiegelt die literarische Umsetzung einer ikonographischen Darstellung wider, welche dem Dichter zufolge, der sie 105

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überliefert, in der Mitte eines Schildes angebracht war, den der Gott Hephaistos selbst im Auftrage Zeus’ für den Trojakämpfer Achilleus angefertigt hatte. Die dargebotenen Szenen führen uns zu einer Art locus amoenus, durchaus vergleichbar mit dem Phäakenland, der ganz anders als die blutige Welt der Krieger, die in der Ilias das vorherrschende Ambiente dominiert, vom Alltagsleben einer normalen Stadt erzählt. Durch die Aufzeichnung eines Hochzeitszuges wird eine bürgerliche Szenerie vorgestellt, die eine festliche Atmosphäre ausstrahlt, wie sie auch heute überall vorkommen kann. Das im Zen­trum des anderen Tableaus stehende Gerichtsverfahren, das die auf den Ausgang des Streitfalls neugierige Bevölkerung des Ortes gefangen hält, gewährt uns Einblicke in das interne Getriebe eines homerischen Gemeinwesens. Neben den an der Klage beteiligten Parteien erscheinen zwei Männer, die über das Schmerzensgeld für ein Blutverbrechen verhandeln. Um sie herum gruppieren sich alle Organe, die für die Gewährung von Rechtsicherheit in der Stadt zuständig sind. Die Herolde fungieren als Hilfspersonal der Justizverwaltung, da sie mit ihrer Präsenz dazu beitragen, den Urteilsspruch zu legitimieren und durchzusetzen. Die Anspielung auf die Belohnung, die derjenige erhalten soll, der die Gerechtigkeit triumphieren lässt, vollendet das komplexe Panoptikum sozialer Interaktion und verleiht der gesamten Situation einen Hauch institutioneller Prägung. Diese Inszenierung einer ursprünglich privaten Angelegenheit, die aber durch ihre Verhandlung in einem öffentlichen Raum eine übergreifende politische Bedeutung erhält, verkündet zugleich eine Botschaft, der ein exemplarischer Aussagewert zukommt: Von der gerechten, maßvollen Rechtsprechung hing nicht nur das Schicksal des einzelnen Bürgers, sondern auch die Stabilität und die Zukunft jeder politischen Gemeinschaft ab.

Kirke und Kalypso Circe! Circe! Lächelnd mit nackten Brüsten lag sie und rauchte, als ich vom Meer erzählte. (Christoph Meckel)

Die Lebenssphären der Nymphe Kalypso und der Zauberin Kirke scheinen von einem Schleier des Unwirklichen, der Magie sowie der dichterischen Imagination umhüllt zu sein. Sie gehören zu den rätselhaftesten Episoden 106

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der homerischen Dichtung. Möglicherweise reflektieren die Passagen, die sich mit diesen bemerkenswerten Gestalten beschäftigen, Erinnerungen an längst vergangene Formen menschlicher Existenz. Von Interesse ist aber, dass diese märchenhaften Wesen, eine Mischung aus Urgewalten und femmes fatales, jenseits der sie umgebenden Phantasiewelt, in einer Gemeinschaft leben, die einem organisierten Gemeinwesen zum Verwechseln ähnlich sieht. So wohnt Kirke in einer palastähnlichen Behausung auf der Insel Aiaia, was auf ein abgegrenztes Herrschaftsgebiet verweist, dessen geographische Grenzen von der Phantasie des Betrachters und der Unermesslichkeit des Meeres gesetzt werden. Ferner verfügen Kalypso und Kirke über umfangreiche Vorräte an lebensnotwendigen Ressourcen und Güter aller Art, etwa Nahrungsmittel wie Weizen, Honig, Käse, Fleisch, Wein und vieles mehr, welche in den Vorratskammern ihrer Residenzen aufbewahrt werden, was wiederum auf eine planvoll betriebene Landwirtschaft in einer organisierten Gemeinschaft hindeutet, in der Arbeitsteilung nicht unbekannt war. Auch vermag Kirke, in Analogie zur Rolle des Odysseus gegenüber seinen Gefährten, eine unanfechtbare Autorität über ein anonymes weibliches Kollektiv, das ihren Befehlen Folge leistet, auszuüben. So ergibt sich aus dem Vergleich der Verhaltensmuster des Odysseus und der Kirke eine Reihe von hierarchischen Referenzen, die sich in eine soziale Dynamik einschreiben, welche die abgeschlossene Gesellschaft der Insel Aiaia mit der anders gearteten Lebenswirklichkeit des Odysseus verbindet. Die Begegnung beider Welten lebt aber auch von den Gegensätzen, Spannungen und Gewaltpotenzialen, welche die unterschiedlichen Lebensentwürfe der konfrontierten Gruppen umrahmen. Dabei lässt sich eine Vermischung uralter Relikte mit dem ewigen menschlichen Traum von der Beherrschung der Natur beobachten, hier negativ abgewandelt in der Verwandlung der Gefährten des Odysseus zu Schweinen, wie die tragische Begegnung zwischen den antagonistischen Welten drastisch versinnbildlicht: Und sie fanden im Tal der Kirke Häuser gebaut aus zugehauenen Steinen in rings umhegtem Gelände (…). Kirke aber führte sie hinein und ließ sie auf Sessel und Throne sitzen, Käse und Mehl und gelben Honig verrührend mit pramneischem Wein; doch mischte sie noch in die Speise böse Kräuter, damit sie das Vaterland gänzlich vergäßen. Aber nachdem sie es gegeben und die es getrunken, da schlug sie gleich mit der Gerte an und sperrte sie ein in den Kofen. Die nun hatten von Schweinen die Köpfe, die Stimme, die Borsten und die Gestalt; jedoch der Verstand blieb ständig wie früher.34 107

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Oder um ein weiteres Bild magischer Betörung zu bemühen: Der unfreiwillige Aufenthalt, den Odysseus im Umfeld von Kalypso erleidet, hält die Spannung zwischen den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten, die hier aufeinander prallen, aufrecht, allerdings ohne sie aufzuheben. Die Ver­ mittlung eines paradigmatischen Tauziehens zwischen konkurrierenden Schicksalsmächten, die sich anziehen und zugleich abstoßen, gerät zum retardierenden Handlungsmotiv. Ausgangspunkt bleibt die halberzwungene Gefangenschaft des Odysseus, die ungewöhnlich lange Zeit währt und traumhafte, zuweilen auch hedonistische Züge aufweist. Doch plötzlich wird der Zauber der Verführung gebrochen. Nun vermag der vom Bann der Nymphe befreite Held sich endlich seiner Bestimmung zuzuwenden: der Rückkehr nach Hause, womit der Fortgang seiner Odyssee um eine weitere Etappe verlängert wird. Nach der anheimelnden Grotte der Kalypso winkt die kalte, spannungsgeladene Realität Ithakas als ersehntes Ziel. Doch noch hat unser Held eine rastlose Wanderschaft vor sich, deren Richtung ungewiss bleibt; ihm werden andere verwandte Gestalten nacheifern, wie etwa ­Egmont, der auf seiner Suche nach Sinn und Orientierung bekennt: Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefasst die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam. (Goethe, Egmont).

Zyklopen Ach! Meine Seele ward betrübt Wie des Odysseus Seele, Als er gehört, dass Polyphem Den Felsblock schob vor die Höhle. (Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen)

Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet die abnorme Gestalt des riesigen einäugigen Polyphem, ein Sohn des Poseidon, der eigenbrötlerisch in einer Höhle mit seinen Schafen für sich alleine lebt, aber dennoch nicht einsam ist, nicht nur als Lehrbeispiel für die Vermittlung der Diskrepanz zwischen Kultur und Barbarei, sondern vielmehr als Momentaufnahme für die Formung des politischen Bewusstseins dienen kann. Dies wird durch eine auf den ersten Blick verborgene politische Prägung der Welt der Zyklopen ermöglicht, die 108

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Odysseus blendet Polyphem. attisch-schwarzfigurige Oinochoe, 6./5. Jh. v. Chr.; Paris, Louvre.

sich innerhalb eines öffentlichen Raumes (weitere Zyklopen wohnen in der unmittelbaren Umgebung des ausführlich gezeichneten Polyphems) entfaltet, der sich durch Heranziehung der verfügbaren Auskünfte, welche die Episode liefert, erschließen lässt. Am deutlichsten belegt dies jene Szene, als Polyphem, geblendet vom listigen Odysseus, der mit seinen Gefährten in seine Höhle ein109

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gedrungen war und sich als „Niemand“ vorgestellt hatte, um Hilfe bei seinen Artgenossen nachsucht, die er dennoch nicht erhält. Der Appell an die Gemeinschaft der Zyklopen erweist sich als erfolglos, weil sein Wehklagen „Niemand hat mich geblendet“ wirkungslos bleibt und daher ungehört verhallt. Die Zyklopen bilden eine in sich geschlossene Lebenswelt, in der sich individuelle Lebensentwürfe und Gemeinschaftssinn gegenseitig bedingen und ergänzen. In der Begegnung mit den Gefährten des Odysseus kommen die unterschiedlichen Stimmungslagen des düsteren Höhlenbewohners zum Vorschein. Sie schwanken zwischen der brutalen Rohheit gegenüber Menschen, die in dem makabren Bild der Verspeisung der Gefährten des Odysseus gipfelt, und der gefühlvollen Anteilnahme gegenüber seinen Schafen. Die archaische Vignette des Zyklopendaseins reflektiert einen Zustand politischer Ursprünglichkeit, die sich in den abgelegenen, ländlichen Regionen Griechenlands lange gehalten hat. Im 2. Jahrhundert hat der Reiseschriftsteller Pausanias folgendes Bild der Polis Panopeis festgehalten: Von Chaironeia sind es zwanzig Stadien nach Panopeis, einer phokischen Stadt, wenn man auch einen solchen Ort eine Stadt nennen darf, der weder Amtsgebäude, noch ein Gymnasium, noch ein Theater, noch einen Markt besitzt, nicht einmal Wasser, das in einem Brunnen fließt, sondern wo man in Behausungen, etwa wie den Hütten in den Bergen an einer Schlucht wohnt. Und doch haben sie ihre Landesgrenzen gegen die Nachbarn und schicken ebenfalls Vertreter in die phokische Versammlung. 35 Der Pausaniastext wirkt wie eine nachträglich verfasste Illustration des rohen zyklopischen Alltags. Komplementär zu den Zyklopen lassen sich auch die Lebensverhältnisse der Lestrygonen und Kimmerier heranziehen, die ebenfalls in Poleis organisiert waren. Gemeinsam ist diesen Beispielen der Kontrast zwischen den unbändigen Kräften der Natur und den Segnungen der menschlichen Zivilisation. Dies kommt in dem knappen Bericht des Odysseus zum Ausdruck, der durch die Feststellung der Defizite, die in der Lebenswelt der Zyklopen vorherrschten, deren mangelnde Staatlichkeit ­beklagt: Wir kamen zum Land der Zyklopen, der gewaltigen, gesetzlosen, die, sich auf die Götter verlassend, die unsterblichen, weder Gewächse pflanzen mit den Händen noch pflügen, sondern das wächst alles ungesät und ungepflügt: Weizen und Gerste und Reben, die einen Wein von großen Trauben tragen, und der Regen des Zeus mehrt es ihnen. Sie haben weder ratspflegende Versammlungen (agorai boulephoroi) noch verbindliche Ordnungen (themistes), sondern bewohnen die Häupter der hohen Berge in gewölbten Höhlen und ein jeder setzt die Satzungen fest für seine Kinder und seine Frauen, und sie kümmern sich nicht umeinander.36 110

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2  Zwischen Realität und Zauber

All das, was in dem Wohnverband der Zyklopen fehlt, wird als unverzichtbar für die Vorstellung einer zivilisierten, menschenwürdigen Konvivenz erachtet. Folglich sind abgestimmte Wirtschaftsformen, Gesetze, kumulative Beratungen sowie die soziale Interaktion zwischen den Mitgliedern eines solidarischen Gemeinwesens die Bausteine der homerischen Vorstellung eines geordneten, humanen Lebens in der Gemeinschaft. Auffällig ist dabei, dass das Fehlen von Ratsversammlungen, das heißt das Ausbleiben von Meinungsaustausch zwischen den Gliedern einer Lebensgemeinschaft, als Mangel verbucht wird. Regeln, Normen und Absprachen zwischen den Trägern eines politischen Verbands erweisen sich als konstitutive Merkmale einer Öffentlichkeit, die keineswegs als herrschaftsfreier Raum begriffen wird. Obwohl die Machtfrage im Zyklopenstaat nicht ausdrücklich thematisiert wird, ist sie doch implizit in der Kritik an die vorherrschenden anarchischen Verhältnisse stets mitgedacht.

Phäaken Nackt kommt dem Ankömmling das andere Geschlecht entgegen: phallisches Blühen, gefördert von der Hitze des Mittags. (Günter Kunert, Nausikaa II)

Im Kontrast zu der rauen Welt der Zyklopen und der weitaus entwickelten, aber im tiefen Zwist gespalteten Gesellschaft von Ithaka stellt sich die Lebenswelt der Phäaken dar. Gegenseitige Rücksichtnahme zwischen den Bewohnern von Scheria, so heißt der idyllische Ort, gepaart mit zivilisierten Umgangsformen gegenüber Fremden bestimmen das politische Ambiente eines Gemeinwesens, das ziemlich irreal wirkt, weil all die bisher bemängelten Negativerscheinungen wie List, Tücke, Gier oder Anarchie fehlen. Eine prächtige Stadt mit soliden Behausungen beherbergt ein zufriedenes Volk, das sich um seine Führungsschicht reiht. Homer hat die als Polis erkennbare, wohlgeordnete Phäakenstadt folgendermaßen beschrieben: Aber wenn wir die Stadt betreten, den Kranz ihrer hohen Türme  – der schöne Hafen umschließt die Stadt auf zwei Seiten, schmal ist ihr Zugang; doppelt geschweifte Schiffe umsäumen sichernd den Weg; denn für alle und jeden liegt dort ein 111

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II  Mythos und Historie

Standplatz. Weiter der Marktplatz, rund um den schönen Tempel Poseidons, festgefügt mit Steinen im Boden, die weither man holte.37 Wie im Land, wo Milch und Honig fließen, begegnen uns hier ein alter, weiser Regent (Alkinoos) und seine ebenso kluge und tugendhafte Gattin (Arete). Wie die gute Fee im Märchen heißt ihre Tochter Nausikaa den gestrandeten Odysseus willkommen. Sie führt den schutzbedürftigen Fremdling in das Haus ihrer Eltern, wo er Hilfe und Geborgenheit erfährt, ja sogar wertvolle Gastgeschenke erhält. Gesellschaftliche Ereignisse wie Wettkämpfe, Rezitationsabende oder Gastmähler prägen das gesellschaftliche Ambiente der Stadt der Phäaken. Ein Detail sollte man nicht unerwähnt lassen. Zwar bewirten die Herren des Phäakenlandes den schiffbrüchigen Odysseus aufs Großzügigste, sie lassen sich aber ihre Auslagen von der Gemeinschaft der Phäaken erstatten. Damit bekommt diese ideal gezeichnete, fast unwirkliche Welt einen Schuss Realismus, der sie halbwegs auf den Boden der Tatsachen zurückführt. Diese beiläufig überlieferte Begebenheit zeigt auch, dass Gastfreundschaft gegenüber Fremden als Gemeinschafts­ aufgabe empfunden wurde, die alle Glieder der Gesellschaft anging und an der sich alle zu beteiligen hatten. Eine weitere Eigenschaft der Polis der Phäaken ist die vorherrschende Eintracht zwischen den Mächtigen. Sie liefert ein eindringliches Gegenbild zu den Verhältnissen auf Ithaka, der Heimat des Odysseus. Waren in Scheria Gastfreundschaft, gegenseitige Rücksichtnahme und Harmonie an der Tagesordnung, so ist der Alltag bei den Freiern der Penelope von Rivalität, Missbrauch der Gastfreundschaft und Rücksichts­ losigkeit erfüllt. Offenbar wird die Polis der Phäaken als idealer Gegen­ entwurf zum grauen gesellschaftlichen Alltag der meisten griechischen Städte des 8. Jahrhunderts v. Chr. gezeichnet. Sie erscheint als Sinnbild einer der ersten politischen Utopien unseres Kulturkreises.

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3 Demokratischer Mythos

E

s gehört zu den Paradoxien der athenischen Demokratie, dass sie auf die Tyrannis stärker fokussiert war, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Die wesentlichen Informationen darüber verdanken wir dem Historiker Thukydides, dessen Bericht als Exkurs in die ausführlich abgehandelte Alkibiadesepisode eingearbeitet ist: 38 Ein unwissender, misstrauischer Demos sträubte sich gegen außergewöhnliche Persönlichkeiten, die schließlich scheiterten. Ferner betont Thukydides, dass es nicht die Athener, sondern die Spartaner waren, die für Hippias’ Vertreibung sorgten. Ähnlich wie Alkibiades musste dieser in die Verbannung gehen und ebenso wie jener versuchte dieser, mit fremder Hilfe seine Rückkehr zu erzwingen.39 Die Einblendungen über das Wesen der Tyrannis sind alles andere als negativ. Von Peisistratos heißt es, dass er als geachteter Staatsmann40 gestorben sei. Sein Regiment bedrückte weder die Menge, noch verursachte es Ärgernis. Erst nach der Ermordung des Hipparchos veränderte sich der Charakter der Herrschaft. Sie wurde als unerträglich empfunden. Mit der Hilfe von Sparta vermochten die Alkmeoniden Hippias aus Athen zu verjagen, womit die ­Tyrannis ihr Ende fand. Thukydides’ Bemerkungen zum Peisistratidenregiment zeigen, dass es nicht als Gegenentwurf zur solonischen Polis, sondern als eine Variante der Machtausübung innerhalb der geltenden Verfassung empfunden wurde. Daher bewirkte die Entfernung des Hippias aus Athen keinen konstitutionellen Wandel. Die Vorstellung der Peisistratidenherrschaft als ein dem Wesen der Polisgemeinschaft konträrer Regierungsentwurf ist ein Ergebnis der fortschreitenden demokratischen Entwicklung Athens, als man anfing, die Tyrannis vom Standpunkt der Volksherrschaft aus rückblickend zu bewerten. Den für die Überwindung der Tyrannis maßgeblichen Adelsrivalitäten – hier spielten die Alkmeoniden41 eine entscheidende Rolle – maß Thukydides keine besondere Bedeutung bei. Ganz anders dachte Herodot darüber. Nach seinem Bericht waren es gerade diese, welche die Initiative ergriffen, und Sparta sekundierte dabei, um ihre Rückkehr nach Athen zu ermög­ lichen. Diese Einschätzung steht im Widerspruch zur thukydideischen Version über die Vertreibung des Hippias. Nachdem es nicht der Demos war, 113

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II  Mythos und Historie

der sich seiner entledigte, bleibt nur Sparta übrig. Doch hier sind Zweifel angebracht. Sparta engagierte sich in Athen, wie übrigens zuvor in Samos oder Naxos, auf Betreiben von befreundeten aristokratischen Kreisen, die ihre verlorene Machtstellung in der Heimat mit seiner Hilfe wiederzugewinnen trachteten. Bei den Vorgängen, die zur Verbannung der Tyrannen führten, sprechen die von Sparta erlittene Niederlage bei Phaleron sowie der schlecht vorbereitete Feldzug gegen Hippias gegen einen starken Protagonismus der Spartaner.42 Entscheidend wurden die aus dem Exil agierenden Alkmeoniden, denen es gelang, Kleomenes für ihr Vorhaben einzuspannen. Es drängt sich die Vermutung auf, dass die Führungsrolle43, die Thukydides Sparta zuweist, ein Zugeständnis an die verbreitete Vorstellung von der ­Tyrannenfeindlichkeit des lakedämonischen Staates war. Das stets tyrannenfrei gebliebene Sparta wird zum natürlichen Feind der Tyrannis stilisiert.44 Aber diese Vorstellung hält einer kritischen Prüfung nicht stand. Sie beruht auf einer Legende.45 Als die Leistungen der Peisistratiden gewürdigt und dabei ihre bürgerfreundlichen Maßnahmen hervorgehoben werden, heißt es, dass diese weder die Gesetze noch die Institutionen der Polis angetastet hatten.46 Demnach stand der Peisistratidenclan neben den politischen Organen der Stadt. Offenbar übte er seinen Einfluss, der auf der Kontrolle der politischen Schaltstellen beruhte, indirekt aus, mittels Verbündeter und Anhänger.47 Einzelne Mitglieder der Familie mochten herrisch oder jovial nach außen hin auftreten. Als unumschränkte Herrscher, denen alle gehorchten, empfanden sie die Zeitgenossen (sicher nicht alle) jedoch kaum. In den Augen des Thukydides kam Hippias dem Bild nahe, das sich zu seiner Zeit über die Peisistratidenära verfestigt hatte. Für einen Teil der Athener war es dagegen Hipparchos, der die diesbezüglichen Vorstellungen adäquater erfüllte. Daraus lässt sich folgern, dass die Söhne nach dem Tod des Vaters die von ihm geschaffene führende Position im Staat auszufüllen versuchten. Wie diese sie ausübten, lässt sich nicht mehr ermitteln.48 Jedenfalls bedeutete die Ermordung des Hipparchos einen tiefen Einschnitt. Dieser Wendepunkt war es gewesen, der die Peisistratidendominanz in einem negativen Licht erscheinen ließ: Hippias wurde ihr Symbol. Da er es war, der für die Gewaltmaßnahmen, die der Ermordung seines Bruders folgten, verantwortlich zeichnete, konnte er im Gedächtnis der Nachwelt schlecht als Synonym der bürgerfreundlichen Tyranniszeit gelten. Diese frühere Epoche wurde mit Hipparchos in Zusammenhang gebracht, der einen Kreis von Künstlern und Intellektuellen (Anakreon, Simonides) um sich sammelte. Ihre Namen standen für Literatur oder Kunst, nicht für Gewalt.49 114

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Insofern kann man Thukydides verstehen, wenn er in Hippias den maßgeblichen Protagonisten erblickte,50 während die in der kollektiven Erinnerung der Athener dem Hipparchos zugeschriebene Rolle ein differenziertes Urteil über die Gesamtheit des Peisistratidenregimes zum Ausdruck brachte. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen resultierten aus der Ambivalenz der Situation. Obwohl stets ein prominentes Mitglied der Sippe im Vordergrund stand, war die Tyrannis ein Familienunternehmen.51 Durch die Zusammenarbeit des gesamten Clans kam Peisistratos an die Macht52, nach der Gefangennahme seiner nächsten Verwandten gab Hippias auf, da die Grundlagen seiner Machtstellung beeinträchtigt worden waren. Den thukydideischen Reflexionen über die Peisistratidenzeit steht die Evidenz eines in Athen nachhaltig wirkenden Tyrannentraumas gegenüber53, wie die Aufstellung eines Standbildes zu Ehren der Tyrannenmörder belegt. Diese ­Stimmungslage ebbte keineswegs mit zunehmendem Abstand zur Peisistratidenära ab, sondern erreichte auf dem Höhepunkt der demokratischen Entwicklung Athens eine besondere Virulenz. Gewiss stand die Tyrannenfeindlichkeit zunächst in direktem Bezug zur Rolle des Hippias während der Perserkriege. Beim Invasionsversuch von Marathon befand er sich beim ­Perserheer und war bereit, seine Herrschaft über die Stadt zu erneuern.54 Perserfurcht und Tyrannisablehnung verschmolzen damals zu einem ­komplementären Begriffspaar. Der Aufstieg Athens zum schlagkräftigsten Machtblock der griechischen Welt minderte jedoch die Gefahr einer persischen Aggression55, womit jener Tyrannenangst, die im Zusammenhang mit der Persergefahr aufkam, der Nährboden entzogen wurde.56 Deutlich erkennbar wird hier die Abkehr von einer historischen Sichtweise bei gleichzeitiger Zunahme einer mythischen Vereinnahmung der Vergangenheit. Am Anfang stand ein Mord aus Eifersucht: Hipparchos wurde von Aristogeiton und Harmodios niedergestreckt. Daraufhin straffte sein Bruder Hippias die Zügel, weswegen er bald verhasst und seine bislang als erträglich empfundene Machtausübung so drückend wurde, dass man seine Vertreibung als Befreiung empfand. Die Regentschaft der Peisistratiden hatte sich durch Gewaltausübung diskreditiert. Schon bald verblasste der eigentliche Grund für den Mord (eine Liebesaffäre), und es erfolgte eine heroische Umdeutung des banalen Geschehens: Aristogeiton und Harmodios wurden von Mördern zu Tyrannentötern, ja zu Freiheitshelden im Kampf gegen die ­Alleinherrschaft. Die ursprünglichen Rächer einer privaten ménage à trois verwandelten sich zu politischen Überzeugungstätern. Es war nur folgerichtig, dass diese Heldentat im Sinne einer Selbstvergewisserung der Polis in einem Denkmal verherrlicht wurde, das der Perserkönig Xerxes nach der 115

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II  Mythos und Historie

Tyrannentöter (477/6 v. Chr.): Standbildgruppe im strengen Stil, Marmor­ kopie der originalen Bronzegruppe von Kritios und Nesiotes. Höhe: 1,95 m. Fundort: Athen, Agora (Original), heute nicht mehr erhalten; ­Tivoli, Villa ­Hadriana (Kopie), jetzt Neapel, Nationalmuseum.57 Die Identifikation der ­Figuren erfolgte von C. Friedrichs durch Vergleiche mit ­entsprechenden ­römischen Münzdarstellungen, auf denen die Einzel­figuren abgebildet waren. Ungelöst ist bis heute das Problem, wie die beiden Tyrannentöter als Gruppe aufzustellen sind.

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Einnahme Athens im Jahr 480 v. Chr. allerdings als Beute mitnehmen und in Susa aufstellen wird. Wenig später erging der Auftrag an Kritios und Nesiotes (477 v. Chr.) die uns heute bekannte Figurengruppe anzufertigen. Es ist die Tat, der man sich bei der Vergegenwärtigung des Kunstwerks jeweils von Neuem eingedenk wurde. Jeder Polite sollte sich mit diesem historischen Akt identifizieren. Kultisch verehrt wurden die Tyrannentöter an ihrem Grab; das Denkmal blieb allein dem ehrenden Gedächtnis des Freiheitswillens vorbehalten. Bezeichnenderweise wurde untersagt, neben besagtem Monument andere Statuen aufzustellen, was einer aus demokratischem Geist geschöpften Monopolisierung der politischen Repräsentation Vorschub leistete. Wie zahlreiche Rituale belegen, gehörten demokratischer Mythos und Tyrannen­ ideologie eng zusammen. Zwar minderte der Aufstieg Athens zum schlagkräftigsten Machtblock der griechischen Welt die Gefahr der persischen Bedrohung, doch das demokratische Selbstwertgefühl verlangte Vorbilder und Identifikationsfaktoren zugleich. In dem Maße, wie Aristogeiton und Harmodios immer mehr zu Stiftern der Freiheit und damit zu Begründern der Demokratie avancierten, wandelten sie sich von historischen zu legendären Gestalten. Als Symbol des freiverfassten Staates nahmen sie einen festen Platz in der Erinnerung der Athener ein. Die negative Vorstellung der Tyrannenherrschaft als Antipode zur positiv konnotierten Volksherrschaft lieferte ein Feindbild und damit eine zusätzliche ideologische Rechtfertigung der athenischen Regierungsform. Vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges erfuhr die Infragestellung der athenischen Vormachtstellung58 eine dramatische Zuspitzung, worauf die Athener reagierten: Als die Persergefahr ihre Aktualität einbüßte, musste diese durch andere Drohkulissen ersetzt werden.59 In den Tagen vor und während des Peloponnesischen Krieges erfüllte die Angst vor der Übermacht der Peloponnesier diese Funktion. Die Formel von der Tyrannis als Gegensatz zur Demokratie ließ sich auf Sparta projizieren, indem man den Vorwurf erhob, dass gerade Sparta durch seine demokratiefeindliche Einstellung der Tyrannis Vorschub leistete.60 Das Thema ließ sich innenpolitisch ausschlachten: Nach 424 v. Chr. häufen sich in den Werken des Aristophanes Anspielungen auf die Tyrannis.61 Sie zeigen uns, dass dabei nicht die Erinnerung an die Alleinherrschaft, sondern vielmehr die Furcht vor einer Machtergreifung der spartafreundlichen athenischen Oligarchen das Motiv für die Skandalisierung der Tyrannis abgab. Aristophanes’ Äußerungen müssen auf dem Hintergrund eines lange dauernden Krieges, der bisher k­ einen durchgreifenden Erfolg gebracht hatte, gesehen werden. Zugleich ließ die zeitbedingte Abwesenheit der Flotte, des Bollwerks der Demokratie, das Risiko 117

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eines oligarchischen Staatsstreiches steigen. Dies zu verhindern, galt als Pflicht eines jeden Politen. Der demokratische Mythos der Athener wachte darüber und rief stets zur Wiederholung einer Befreiungstat auf, wie sie einst Aristogeiton und Harmodios vollbracht hatten. Als eine Reihe von Rückschlägen im Peloponnesischen Krieg die Stabilität der athenischen Verfassung aushöhlte, wendete sich das Blatt. Das in der Überhöhung der demokratischen Ordnung eingeschlossene Verdammungsurteil der Peisistratiden verlor an Attraktivität. Der am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. zunehmende Überdruss gegen die Machtanmaßungen der Vielen machte sich auf der Suche nach neuen politischen Konzepten daran, die Tyrannis neu zu entdecken. Aus dem maßvollen Verhalten des Peisistratos bei Herodot und aus der synesis und arete des thukydideischen Peisistratos rückt in der aristotelischen Schrift über den Staat der Athener die Tyrannis in die Nähe des Goldenen Zeitalters62, und im platonischen Dialog Hipparchos wird dem ermordeten Peisistratiden gar ein Denkmal gesetzt.63 Die aus demokratischem Legitimierungszwang heraus aufgekommene Mythisierung der Tyrannenmörder konnte in Krisenzeiten zu einer Idealisierung der Einzelherrschaft umschlagen, womit die Tyrannenfeindlichkeit als Klammer für den demokratischen Mythos der Athener zunehmend ihre Strahlkraft einbüßte.

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4 Der Mythos Alexander Autorität flog ihm zu. Lebenslänglich. Er hätte sich rechtzeitig in ein öffentliches Amt zurückziehen müssen. Das Amt hätte er verlassen können mit 65 Jahren. Er aber hatte die ihm zugewachsene Macht in einem Privatunternehmen konzentriert. Sechs mögliche Nachfolger waren verbraucht. Er war nicht fähig, Macht zu teilen. Seine Kräfte fühlte er schwinden. (Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt)

A

lexanders Odyssee hatte elf Jahre gedauert (334–323 v. Chr.). Alles, was er tat und was wir in ihn projizieren, bezieht sich auf diese knapp bemessene Zeitspanne. Daher zeigt das Fundament für seine Beurteilung eine auffällige Konzentration von Raum-, Zeit- und Wirkungsfaktoren als Rahmenbedingungen einer politischen Biographie, die sich durch ungewöhn­ liche Gedrängtheit und Dichte auszeichnet. Kaum ein Jahr verging ohne ungewöhnliche Taten, dramatische Brüche oder aufsehenerregende Wendungen. Angesichts seiner spektakulären Auftritte auf den Schlachtfeldern des Orients birgt die retrospektive Analyse seiner Aktionen die Gefahr, die Bilanz dieser Jahre zu verabsolutieren, zu überschätzen oder gar zu gering zu veranschlagen. Dass er als titanische Persönlichkeit in Erinnerung blieb, unterstreicht das Außergewöhnliche eines Lebenswegs, um den sich schon früh Mythen rankten. Es begann mit dem Feldzug gegen das Achaimenidenreich, den er als König der Makedonen und als Hegemon des Korinthischen Bundes eröffnete. Aus dieser Doppelfunktion resultierte sein Verhalten, das bemüht war, den sich daraus ergebenden divergierenden Anforderungen zu genügen. Je tiefer er in den asiatischen Raum vorstieß, umso stärker wandelten sich sein Auftreten und sein Erscheinungsbild. Nach den Anfangserfolgen überwucherten die ersten legendären Züge die historisch erfahrbaren Stationen seiner asiatischen Expedition. Schon nach der Landung am östlichen Ufer des Hellespont, bei der er im Gewand des Achilleus zur Befreiung der ionischen Griechen vom persischen Joch aufrief, zerstreute er jedweden Verdacht, dass er einen gewöhnlichen Beutefeldzug im Sinne hatte. Zahlreiche Inszenierungen wie der Speerwurf in den asiatischen 119

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II  Mythos und Historie

Boden, das Opfer in Aulis, der Besuch in Troja oder die Ehrungen am Grab des Achilleus knüpften an mythologisch konnotierte Episoden an, mit denen er die Schirmherrschaft der vor Troja kämpfenden griechischen Heerführer für seine Aktionen reklamierte. Seine mit vielen Fragezeichen versehene Unternehmung sollte an die homerischen Helden erinnern und damit den Mythos einer glorreichen Vergangenheit in den Dienst einer ­ungewissen Zukunft stellen. Die erste überaus riskante Feldzugsphase, die anders als es die nachträglich geglätteten Quellenzeugnisse nahelegen, den jugendlichen König an den Rand des Abgrunds brachte64, stand unter der Ägide einer panhellenischen Ideologie, als deren Vollstrecker er sich vor der griechischen Öffentlichkeit wirkungsvoll in Szene setzte. Doch nachdem die westlichen Satrapien des Achaimenidenreiches besetzt werden konnten, integrierte Alexander einheimische Elemente und Persönlichkeiten in sein entstehendes Herrschaftssystem. Er änderte an den bestehenden Verhältnissen so wenig wie möglich und übertrug seinen Vertrauten Schlüsselstellungen. Daneben bekleideten sorgsam ausgewählte Mitglieder der persischen Oberschicht Leitungsfunktionen in seinem sich stets vergrößernden Führungsstab. Schon hier offenbarte sich Alexanders Pragmatismus, der den panhellenischen Geist seines Feldzuges konterkarierte, als Konstante seiner künftigen Strategie der Machterhaltung. Als Alexander Karien betrat, wurde eine Facette seines Regierungsstils sichtbar, die danach ebenfalls in Ägypten und Babylon zur Anwendung kam: Die Regeneration der im Verlauf der persischen Herrschaft verschütteten Traditionen dieser Regionen. Er ließ sich von der karischen Fürstin Ada ­adoptieren, um von der einheimischen Bevölkerung als rechtmäßiger Nachfolger akzeptiert zu werden, was die Legitimation seiner Ansprüche verstärkte. Der Drang nach Absicherung seiner keineswegs gefestigten Herrschaft führte schon bald in der offiziellen Kriegspropaganda zu einem diffusen Ideologiekonglomerat, das jederzeit den sich verändernden Gegebenheiten angepasst werden konnte. Nach dem Sieg bei Issos weigerte sich Alexander, auf Dareios’  III. Vorschlag einer Reichsteilung einzugehen. Mit der Ablehnung eines Verständigungsfriedens unterstrich er seine Ambitionen auf den asiatischen Kontinent. In seinen Plänen war kein Platz für ein nach dem Vorbild seines Vaters Philipp II. gestaltetes Großmakedonien.65 Alexanders Ziele waren ehrgeiziger. Der bereits bestehenden Dominanz über Makedonien, Griechenland und Kleinasien wollte er die Herrschaft über das restliche Achaimenidenreich hinzufügen. Die Umrisse einer Universalherrschaft, die Orient und Okzident zugleich umfasste, erschienen erstmalig am Horizont. Um das 120

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4  Der Mythos Alexander

hochgesteckte Ziel zu verwirklichen, setzte er seine hervorragend ausgebildete Armee und damit Makedoniens Schicksal immer wieder aufs Spiel. Mit der Eroberung Ägyptens und der anschließenden Krönung zum Pharao war Alexander seiner makedonischen Heimat weit entrückt. Von Bedeutung war sein Besuch im Heiligtum des Zeus-Ammon in der Oase Siwah, wo er eine Bestätigung seiner göttlichen Abstammung erhalten haben soll oder dies zumindest gegenüber seiner Umgebung suggerieren konnte. Hervorzuheben ist die fortwährende propagandistische Absicherung seiner vielfältigen Herrschaftsansprüche durch sakrale Handlungen und religiöse Motive.66 Zahlreiche Prophetien und Prodigien sollten die Konformität der Götter mit seinen diversen Vorhaben zum Ausdruck bringen und zugleich seine Gefolgschaft anspornen. Seine öffentlich zur Schau getragene Verbundenheit mit den auf seiner Wanderschaft liegenden Orten, die eine Beziehung zu den bis ans Ende der Welt treibenden Herakles oder Dionysos aufwiesen, verstärkte diese Identifizierungstendenzen.67 Sein unstillbares Verlangen nach Ruhm, Ehre und Macht erhielt unmittelbar nach der definitiven Niederlage seines Gegners Dareios III. 331 v. Chr. die ersehnte Bestätigung, als er noch auf dem Schlachtfeld von Gaugamela vom siegreichen Heer zum König von Asien proklamiert wurde. Einen solchen Titel, der einen kontinentalen Herrschaftsanspruch verkündete, hatte noch niemand geführt.68 Nach seinem triumphalen Einzug in Babylon setzte er sich in Besitz der Königsresidenzen und erfüllte sich einen Lebens­traum, indem er in Susa auf dem Thron der Achaimeniden Platz nahm. Die Brandschatzung des Palastes von Persepolis war der Höhepunkt des Feld­zuges und zugleich ein bewusst gesetztes Zeichen, welches das Ende des R ­ achekrieges signalisierte. Denn unmittelbar darauf beeilte er sich, das Grab des Dynastiegründers Kyros in Pasargadai zu restaurieren, um dem Schöpfer des Perserreiches seine Ehrerbietung zu erweisen. Die Bewunderung für Kyros in der griechischen Welt war groß. Xenophon hatte ihm in seiner ­Kyropädie, einem Werk, das Alexander sicherlich kannte, ein Denkmal gesetzt. Die ostentativ bekundete Wertschätzung für Kyros hatte eine politische Komponente.69 Ebenso wie die karische Herrscherin Ada oder die Pharaonen nahm ihn Alexander in Anspruch, um sich in seine Nachfolge einzureihen. Kyros wurde damit zum Vorgänger des jugendlichen Welteroberers. Wenn wir die Reihe der glorreichen „Vorfahren“ näher betrachten, die Alexander im Verlauf seiner Expeditionen anhäufte, so fällt auf, dass er sowohl menschliche als auch göttliche Akteure in einer Genealogie des Erfolges vereinte: Philipp II., Achilleus, Ada, die ägyptischen Pharaonen, Zeus-Ammon, Herakles, Dionysos und jetzt auch Kyros, der die Tugenden des Achaimenidenhauses 121

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II  Mythos und Historie

Alexander, Prägung des Diadochen Lysimachos (um 286/82), London British Museum)

verkörperte. Die Aufbietung gerade dieser Gründerikone verkündete eine unmissverständliche Botschaft: Dareios III. war es nicht wert, in seine Fußstapfen zu treten. Nur Alexander erwies sich kraft seiner Leistungen als der würdige Nachfolger des Reichsgründers. Nach der Beseitigung des Dareios 330 v.  Chr. übernahm Alexander die Hofhaltung der Achaimeniden. Er kleidete sich persisch, verwendete das Königssiegel und ließ sich mittels der Proskynese aufwarten. Die Opposition der Makedonen war unüberhörbar, und so kam es zu schweren Loyalitätskrisen70, auf die Alexander erbarmungslos reagierte, indem er zunächst Philotas und seinen Vater Parmenion beseitigen ließ. Die Missstimmung aber blieb. Sie brach sich in Marakanda Bahn, als Alexander seinen Gefährten Kleitos eigenhändig tötete, was eine persönliche Krise auslöste. Kurz darauf weigerte sich ein Teil seines makedonischen Gefolges, von Kallisthenes angestiftet, die Proskynese zu vollziehen. Der König hatte dies nicht vergessen und entledigte sich seiner anlässlich der Pagenverschwörung. Die Opposition gegen Alexander richtete sich nicht nur gegen sein zunehmend autokratisches Gebaren, sondern war zugleich Ausdruck der Fehlplanungen und Unzulänglichkeiten des Feldzuges in den Jahren 330 bis 327 v. Chr., der im ostiranischen Raum in eine Sackgasse zu geraten drohte. Eine Reihe von Rückschlägen unterminierte die Autorität des Königs, der darauf mit Aktionismus und Brutalität reagierte. Die Unzufriedenheit des makedonischen Kriegeradels blieb und meldete sich anlässlich der kritischen Etappen des Feldzuges wiederholt zu Wort. Am heftigsten geschah dies 326 v. Chr. bei der erzwungenen Rückkehr am Hyphasis und 324 v.  Chr. bei der Meuterei in Opis. Die Widerstände aus den eigenen Reihen hingen auch mit der Frage 122

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4  Der Mythos Alexander

der künftigen politischen Gestaltung der asiatischen Eroberungen zusammen. Hätten die Perser Griechenland besetzt, was zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. durchaus denkbar schien, wäre es einfach als weitere Satrapie dem Achaimenidenreich einverleibt worden. Dazu hätte es keinen Umbau des bestehenden Staatsorganismus bedurft, sondern lediglich eine Erweiterung des bewährten Herrschaftsbereiches erfordert. Die imperiale Tradition orientalischer Großmächte wie Sumer, Akkad, Assyrien oder Babylon, deren Erbe die Perser antraten, erleichterte ihnen diese Aufgabe. Demgegenüber stand dem Makedonenkönig kein vergleichbares Modell der territorialen Integration zur Verfügung, das die nötigen Erfahrungen und die passenden Mechanismen bereithielt, um eine derart komplexe Aufgabe zu bewältigen. Während die riesige Landmasse des Achaimenidenreiches verhältnismäßig leicht Gebietserwerbungen verkraften konnte, vermochte die makedonische Monarchie damit kaum Schritt zu halten: Nicht nur, weil die Größe der Erwerbungen die Machtzentrale erdrückt hätte, sondern auch, weil sie aufgrund ihrer Eigenart und Geschichte damit überfordert gewesen wäre. Dass Alexander auf diese drängende Herausforderung keine Antwort fand, hängt gewiss mit seiner unerwarteten Erfolgssequenz zusammen, die, schneller als gedacht, vollendete Tatsachen schuf. Doch offenbart der Wechsel seiner Parolen und Ziele, die sich dem Verlauf des Feldzuges anpassten, weniger die Verlegenheit des Eroberers, als vielmehr die Strukturschwäche seiner Ausgangsposition. Dagegen blieb aber die Methodik seiner Herrschaftssicherung stabil. Sie wies den Weg der künftigen politischen Gestaltung: Alexander setzte von Anfang an auf die Übernahme der persischen Verwaltungspraktiken und verwandelte sich immer mehr zu einem westlichen Herrscher auf dem orientalischen Thron. Babylon statt Pella lautete die Alternative, die Alexander nur allzu bereitwillig ergriff. Alexanders Erfolge beruhten auf der Ausschöpfung des gewaltigen Potenzials der makedonischen Kriegerelite in Verbindung mit seiner eigenen Besessenheit. Sie schufen einen Präzedenzfall. Indem sie die Verwundbarkeit sowie die Veränderbarkeit der vorherrschenden politischen Verhältnisse schonungslos aufdeckten, eröffneten sie die Möglichkeit zur Bildung neuer Synthesen. Eines ihrer folgenreichsten Ergebnisse war die Entstehung eines gewandelten Raumhorizontes. Die Kleindimensionalität der griechischen Polis, die Regionalität der makedonischen Stammesherrschaft, die Abgeschlossenheit der asiatischen Landmasse des Achaimenidenreiches wurde plötzlich aufgebrochen. Daraus gingen eine globalisierte Welt, präzisere Raumvorstellungen und -wahrnehmungen sowie ein tieferes Verständnis für den Zusammenhang zwischen Land und Meer hervor. Die größere Durch123

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II  Mythos und Historie

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Gaugamela Hekatompylos Arbela MEDIEN PARTHIEN Alexandreia Thapsakos MESOPOEkbatana TAMIEN Areion (Herat) MITTELKaspische Tore Alexandreia Eu (Hamadan) Sidon ph Arachoton MEER Damaskos 323 ra Tyros t Phra (Kandahar) ARACHOSIEN Opis 324 330 nach Siwa DRANGIANA Alexandreia Babylon Alexandreia Jerusalem Opiane Susa 331 331 Gaza 324 BABYLONIEN Memphis UXIER von Siwa Pasargadai KARMANIEN Alexandreia ARABIEN Persepolis 325 OREITANIEN Persische Tore ÄGYPTEN PERSIS GEDROSIEN Pattala Reich Alexanders des Großen Pura 325 In

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Kypern

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Theben

Zug Alexanders des Großen (334–323 v. Chr.) Zug des Krateros (325 v. Chr.) Seeroute des Nearchos (325 v. Chr.) Persische Königsstraße

PERSISCHER MEERBUSEN ARABISCHES MEER

0

200

400

600 km

Stationen des Alexanderzuges

lässigkeit zwischen Ost und West, die deutlich verbesserten Kommunika­ tionswege und ein bisher unbekannter Sinn für Territorialität trugen dazu bei, neuartige Kulturzonen zu schaffen, welche die geltenden politischen Maßstäbe sowie die tradierten geographischen Dimensionen sprengten. Seit Alexander der Heimat den Rücken gekehrt hatte, war er zum mächtigsten Potentaten der Welt aufgestiegen. Die Basis seiner Ausnahmestellung war nicht mehr allein das makedonische Königtum, sondern die Vielfalt der aus seinen Eroberungen resultierenden Herrschaftsrechte. Er war König von Makedonien und von Asien, Hegemon des Korinthischen Bundes, ägyptischer Pharao, Herr zahlloser Städte und Völker, die er erobert hatte. Diese beeindruckende Anhäufung von Ämtern, Befugnissen und Funktionen verlieh ihm eine außerhalb jeder Diskussion stehende Autorität. Er konnte nach Belieben über Truppen, Ressourcen, Menschen, Ländereien, Geldmittel, Flotten, Städte und Versorgungsgüter verfügen. Die an manche Beschränkung gebundene Machtausübung des makedonischen Königs geriet zunehmend in den Hintergrund, während sich sein Regierungsstil immer stärker dem der Achaimeniden anglich. Die persischen Könige waren uneingeschränkte Gebieter über Land und Leute. Obwohl sie über einen Stab von Beratern verfügten, trafen sie die Entscheidungen in letzter Instanz.71 Sie 124

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waren auch die Erben der altorientalischen Monarchien mit ihrem univer­ salen Herrschaftsanspruch. Ihre religiöse Doktrin war der Zoroastrismus, was sie nicht daran hinderte, andere Kulte zu dulden und zu fördern.72 Ähnlich verfuhr Alexander, der sich als Protektor aller Religionen seines Herrschaftsgebietes stilisierte. Eine seiner wichtigsten politischen Maximen war die Verwirklichung einer Integrationspolitik, die allerdings in seiner makedonischen Umgebung auf Skepsis stieß. Doch bis auf wenige Ausnahmen gehorchte sie immer, wenn es ihr König verlangte. Bereits während der ersten Phase seines kleinasiatischen Feldzuges, die mit der Einnahme der ionischen Städte einen Abschluss fand, zeichneten sich die späteren Verhaltensmuster ab. Anstatt die befreiten Städte in den Korinthischen Bund aufzunehmen, verharrten sie unter Alexanders Befehlsgewalt, so wie sie in der Vergangenheit der Souveränität des Achaimenidenkönigs überstellt worden waren. Alexander dachte nicht daran, das makedonische Staatsgebiet durch gezielte Arrondierungen zu vergrößern. Sein persönliches Regiment trat im Verlauf seiner Expeditionen noch deutlicher hervor. Die Rückkehr des Truppenaufgebotes des Korinthischen Bundes, das er in Ekbatana entließ, markierte die Wende. Ab diesem Zeitpunkt eroberte er auf eigene Rechnung den Ostteil des Perserreiches. Getrieben von unersättlichem Ehrgeiz und beispiellosem Ruhmstreben wurden die Grenzen seines Handelns nur noch von der Natur gezogen. Niemand forderte Rechenschaft von ihm. Wir erleben die Herausbildung einer individuellen Machtstellung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Ihre Grundlagen waren der gewaltige militärische Erfolg, die daraus resultierenden Ressourcen, die notgedrungene Akzeptanz seiner Herrschaft durch die Besiegten und nicht zuletzt die überaus komplexe Persönlichkeit Alexanders, die Furcht und Bewunderung zugleich hervorrief. Seine Vitalität und Energie, seine im Ertragen von Strapazen unbegrenzte Ausdauer, sowie seine genialische Improvisationsfähigkeit und Siegeszuversicht wirkten auf seine Umgebung ansteckend. Bei aller Hochachtung vor seinen Errungenschaften darf jedoch nicht verdrängt werden, dass sie eine unübersehbare Blutspur hinterließen. Unzählige Menschenleben wurden schuldlos Opfer seiner unbezähmbaren Ambitionen. Zwar kündeten glanzvolle Siege, prächtige Bauten und ein Kranz neu entstandener Städte von seiner Wanderung bis zu den Grenzen der damaligen Welt, aber der Preis, der dafür entrichtet werden musste, war hoch. Gewalt, Zerstörung und vielerlei Zumutungen gegenüber seinen Zeitgenossen sind die Wegbegleiter der Feldzüge Alexanders. Angesichts seiner komplexen Persönlichkeitsstruktur wäre es allerdings einseitig, in ihm le125

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diglich einen rohen Kriegsmann zu sehen.73 Er zeigte sich stets für Wissenschaft und technische Neuerungen interessiert, gab sich gegenüber fremden Lebenswelten überaus aufgeschlossen. Daneben war er ein religiös äußerst beflissener Mensch, der sämtliche Heiligtümer, die auf seinem Weg lagen, aufsuchte und ehrte. Auch ließ er regelmäßig aufwändig ausgestattete athletische, künstlerische und literarische Wettbewerbe veranstalten, bei denen sich sein Heerlager zeitweilig in eine „Kulturwerkstatt“ zu verwandeln schien.74 Alexander lässt sich nicht unter einem einzigen Etikett subsumieren. Für ­einige verkörperte er die militärischen Tugenden schlechthin. Andere verehrten ihn gar als gottähnliche Herrscherpersönlichkeit.75 Es gab aber auch welche, die in ihm einen blutrünstigen Autokraten erblickten: rachsüchtig, despotisch und selbstverliebt. Gerade seine brutale Kriegführung in Baktrien und Sogdien, die in Indien noch eine Steigerung erfuhr, bestätigte diese von Unerbittlichkeit und Gewalt durchtränkte dunkle Seite seines Wesens.76 Darüber darf seine nachträglich geschönte Charakteristik nicht hinweg­täuschen, wie sie uns etwa bei Plutarch begegnet und stets allgemeine Zustimmung ­gefunden hat.77 Gewiss lassen sich manche noblen Züge, welche die Apologeten, wie etwa Arrian, dem bewunderten Idol zuschreiben, nicht in Abrede stellen. Doch daneben brechen sich immer wieder Rachsucht, Egoismus und Grausamkeit Bahn, sowie eine stark ausgeprägte Egomanie, die ihn gelegentlich blind für die Stimmung seiner Umgebung werden ließ. Alexander ließ niemanden gleichgültig. Die Palette der Wahrnehmungen und Reaktionen, die er hervorrief, ist unüberschaubar.78 Unbestreitbar ist, dass niemals zuvor ein Machtmensch so rasch eine derartige weltumspannende Geltung erlangen konnte. Sein Herrschaftsanspruch war universal, weil er einerseits an das Erbe des Orients anknüpfte, wo solche Gedanken zu Hause waren, und weil er andererseits einen unbändigen Willen zur Macht erkennen ließ79, der die bislang geltenden Grenzen sprengte. Letzterer manifestierte sich in seiner Beharrlichkeit und Ausstrahlung, die trotz selbstverschuldeter Rückschläge, wie die Katastrophe in der Gedrosischen Wüste, wenig darunter litt. Dennoch konnte sein Charisma nicht verhindern, dass in dem Maße, wie sein Prestige alle herkömmlichen Maßstäbe sprengte, seine institutionelle Stellung labil blieb. Ohne ihn erwies sich das Konzept der universalen Monarchie als bloße Makulatur. Die Zukunft würde vielfältige Formen der Vergegenwärtigung Alexanders erleben. Aber nicht seine politischen Projekte fanden Nachahmer. Diese erhoben vielmehr seine Taten zum Maßstab der Imitatio. Wer sich in seine Fuß­ stapfen begab, musste es ihm gleichtun; es genügte nicht, sich in den Besitz seiner Titel und Funktionen zu bringen. Alexanders Erbe war sein unnach126

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ahmliches Verhalten, kein System; denn nur jenes konnte Systeme ändern oder aufbauen, wie seine antiken Nachahmer wussten. Möglicherweise hätte dies Augustus, der Erbauer der römischen Monarchie, am besten erklären können, wenn jemand auf die Idee gekommen wäre, ihn danach zu fragen.80 Wagemut, der oft genug in Tollkühnheit ausschlug, penetrante Verbissenheit, die sich zur Rastlosigkeit steigerte, unkonventionelle Pläne, die in Megalomanie ausarten konnten, sowie unerhörte Siege, welche die gewöhn­ lichen Parameter von Erfolg sprengten, markierten sein Grenzgängertum. Letztere bildeten die Grundlagen eines unvergleichlichen politischen Werdegangs. Alexander wird zum Synonym für Sieghaftigkeit und Erfolg. Die Objekte seiner Siege – Städte, Menschen, Territorien – waren Lohn und Aufgabe zugleich. Der darin liegende Widerspruch, der den Spannungsbogen zwischen egoistischer Verfolgung selbst gestellter Ziele und sachgemäßer Verwaltung der erworbenen Länder umriss, konnte zeitweise zwar überspielt, aber nie überwunden werden. Alexanders Tod verschärfte die Situation zusätzlich. Danach trat der Charakter der Fremdherrschaft im Orient deutlicher als zuvor zum Vorschein. Primär wurde das gewaltsam akquirierte Reich durch die Armee sowie durch die nicht unproblematische Kooperation einer dazu genötigten persisch-makedonischen Elite zusammengehalten, die ihren Standort durch ihre Nähe zum König definierte. Nicht ein gewachsenes Zusammengehörigkeitsgefühl oder eine von den meisten Teilvölkern getragene Überzeugung oder ein politisches Programm bildeten die Klammer zwischen den verschiedenen Ethnien und den divergierenden Interessen der Regionen, sondern gemeinsamer Bezugspunkt war und blieb Alexander, genauer: die in seiner Person sich verdichtende Machtfülle. Auch nicht Freiwilligkeit oder Einsicht, vielmehr Zwang und Einschüchterung bildeten die Grundlagen des heterogenen Staatsgebildes. Dies war keine langfristig tragfähige, sondern eine durchaus brüchige Basis. Ihre Konsistenz verdankte sie dem Verhalten der Führungsschichten, in letzter Instanz dem Geschick Alexanders. Alles hing von ihm ab. Ständige Präsenz vor Ort, Aktualisierung seiner Machtstellung durch neue Erfolge und Vermeidung von Erosionen an den Rändern des Vielvölkerstaates bildeten die unverzichtbaren Bedingungen für die Behauptung einer trotz allem äußerlichen Glanz doch fragilen, personalen Herrschaft. Eine Rückkehr in die Heimat, verbunden mit einer Wiederauflage der von Philipp II. vorgezeichneten Regeln königlicher Machtausübung, die Makedonien einst groß gemacht hatten, war für Alexander außerhalb seines mittlerweile verwandelten Politikverständnisses geraten.81 Sie wurde auch nicht ernstlich erwogen. Nur von den asiatischen Gravitationszentren Babylon, 127

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Susa und Ekbatana aus, die in Äquidistanz zu den weit gespannten Grenzen des Reiches lagen, schien dessen sinnvolle künftige Organisation und Verwaltung möglich zu sein. Wenn von den letzten Plänen Alexanders die Rede ist, so werden als Ziele Arabien und die Länder des westlichen Mittelmeerraumes genannt. Dass er seiner Jagdleidenschaft in den makedonischen Wäldern wieder frönen könnte, schien ganz unwahrscheinlich geworden zu sein. Makedonien, Ausgangspunkt und Machtbasis der politischen Existenz Alexanders, erlebte den schleichenden Verlust der einstigen Sonderstellung. Es spielte zunehmend die Rolle einer ferngesteuerten regionalen Ordnungsmacht, die sich zum Reservoir für Soldaten und Führungspersonal für den Hofstaat des weit entfernt weilenden Königs verwandelte. Das einstige Zen­ trum verrutschte allmählich an die Peripherie des Geschehens. Stammland und König, Makedonien und Alexander strebten immer weiter auseinander. Die makedonische Generalität der Vielvölkerarmee Alexanders empfand instinktiv diesen Dualismus als Gefährdung. Wenn von dieser Seite Kritik am Herrscher vernehmbar wurde, so geschah dies meist, um ihn daran zu erinnern, dass er sich von seinen heimatlichen Wurzeln entfernte und dabei ­Gefahr lief, seine Hausmacht zu verlieren. Makedonien schien zunehmend ein Modell der Vergangenheit zu werden, das seine Anziehungskraft dramatisch einzubüßen drohte. Die letzten Entwürfe Alexanders, die ohnehin disparaten Dimensionen seines Reiches durch zusätzliche Erwerbungen zu vergrößern, mögen als unerlässliche Bausteine auf dem Weg zur Universalmonarchie oder gar als Kompensationsstrategien einer zunehmend brüchigen Herrschaft gedeutet werden: politisch gesehen waren sie kontraproduktiv. Die adligen Weggenossen Alexanders, die Philipps II. Handeln mitgetragen hatten, der Politik stets als realitätsnahe Kunst des Möglichen betrieb, hielten seinem Nach­ folger mit wachsender Ungeduld mahnend den Spiegel vor. Für Alexander aber bedeutete Politik etwas anderes. Nicht die Anpassung der vorhandenen Möglichkeiten an erreichbare Ziele, sondern scheinbar unerreichbare Ziele mit den vorhandenen Möglichkeiten bewältigen  – das war sein Leitsatz. Darin erwies er sich im Sinne des klassischen Begriffsverständnisses als unpolitischer Mensch. Ihm ging es vielmehr um Errungenschaften und weniger um Wirklichkeiten, er strebte primär nach unsterblichem Ruhm und weniger langfristigen Wirkungen. Dass ihn, wie bei seinem Vorbild Achilleus, der Tod auf dem Höhepunkt seiner Lebenslinie einholte, überrascht kaum. Ein alter, gebrechlicher Alexander erscheint ziemlich unvorstellbar. Er passt nicht in das Porträt des ewig jugendlichen Grenzgängers, welches sein Mythos bereits zu seinen Lebzeiten von ihm entwarf. Bei der Nachzeichnung 128

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dieser Nahtstellen vermischen sich Historie und Legende. Das Ergebnis dieser wechselseitigen Durchdringung entfacht die fortwährende Erneuerung seines Bildes, das bis in die jüngste Gegenwart seine eigentümliche Lebendigkeit bewahrt. Wie bei kaum einer anderen Gestalt der Weltgeschichte schärft gerade sein abruptes Verschwinden das Bewusstsein für seine Abwesenheit und schafft somit das Bedürfnis nach dessen Vergegenwärtigung. Dass die Welt nach Alexander das auf keine einfache Formel zu bringende Phänomen des zwischen Triumph und Scheitern wechselnden Welteroberers als Orientierungsinstanz und als Ausgangspunkt ihrer Zukunftsvisionen gebrauchte, um sich an ihm zu messen, zu reiben oder zu beweisen, bleibt einer der untrüglichen Beweise für die Aktualität seiner zwischen Mythos und Historie hin und her pendelnden Biographie.

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5 Vergangenheit als Ideal Cincinnatus

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s gibt keine treffendere Untermauerung der mit dem legendären amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy in Verbindung gebrachten Sentenz „Frage nicht, was der Staat für dich tun kann, sondern was du für den Staat tun kannst“82 als die Besinnung auf die für die Geschichte der frühen römischen Repu­blik bezeichnende Cincinnatus-Episode. Dass sie in den englischen Kolonien Nordamerikas verbreitet war, belegt die Tatsache, dass der Staatsgründer George Washington noch während des Unabhängigkeitskrieges, den die Aufständischen gegen das britische Mutterland führten, eine „Society of the Cincinnati“ ins Leben rief. Noch heute erinnert die Stadt Cincinnati in Ohio daran, ebenso wie die Kommune Cincinnato in Italien, die nach einem der bekanntesten Heroen der frühen römischen Repu­blik benannt wurde. Kennedys Sentenz und Cincinnatus’ Lebenslauf ­verbindet die Vorstellung vom uneigennützigen Einsatz der Bürger für das Gemeinwohl. Gleichzeitig wird damit der Vorrang der öffentlichen Belange gegenüber der Verfolgung privater Angelegenheiten unterstrichen. Doch was wissen wir wirklich vom historischen Lucius Quinctius Cincinnatus? Wohl nicht viel mehr als dass er, neben der pflichtgemäßen Ausübung einiger Staatsämter, ein zurückgezogenes Leben geführt und sich der Pflege seines Gutes gewidmet habe. Aus dem Gestrüpp von Legenden und historischen Reminiszenzen entstehen bukolische Bilder wie das eines Mannes, der aufgrund familiären Ungemachs hinter einem Ochsengespann seine Felder bewirtschaftet und alles liegen lässt, wenn ihn der Staat braucht.83 Nach Livius, unserer Hauptquelle, führte er auf Wunsch des Senats die römischen Truppen gegen die feindlichen Stämme der ­Sabiner, Aequer und Volsker an.84 ­Obwohl während seiner Abwesenheit seine Äcker unbestellt blieben, was für seine Familie schlimme Konsequenzen hatte, zögerte er keinen Augenblick, sich zur Verfügung zu stellen und seine Pflicht gegenüber dem Gemein­wesen zu erfüllen. Binnen kürzester Frist soll er die in ihn gesetzten Er­wartungen erfüllt und die Feinde Roms bezwungen haben. Die Angst der Bürger, er könnte sich nach dem erzielten 130

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Erfolg an die Macht und die Ämter klammern, erwies sich jedoch als unbegründet. Nach Erledigung seines Auftrags legte Cincinnatus den Oberbefehl nieder, zog sich ins Privatleben zurück und widmete sich fortan der Bewirtschaftung seines Landguts.85 Auch soll er keinen materiellen Ausgleich für seine Dienste für die All­gemeinheit verlangt haben. Damit wurde er zum Inbegriff des idealen B ­ ürgers und Staatsdieners. Zwei Deutungen der Cincinnatus-Episode drängen sich auf: Einerseits wurde er zum Musterbürger, der seine privaten Angelegenheiten der Staatsräson bereitwillig unterordnete, andererseits diente er den Römern der späten Repu­blik als Paradigma für die Bindekraft der Tradition, oder anders ausgedrückt: für die Verbindlichkeit des mos maiorum als Orientierungsrahmen für sachgerechtes politisches Verhalten. Damit reiht sich Cincinnatus mit anderen Persönlichkeiten der Frühzeit in eine Ahnengalerie von ­illustren Gestalten ein, die sowohl als Garanten für den Aufstieg Roms zur Führungsmacht im Mittelmeerraum galten, als auch das Erinnerungsprofil einer verklärten Vergangenheit prägten. Kein anderes Volk des Altertums hat sich häufiger auf die eigene Vorgeschichte berufen, um damit bestimmte politische Strategien zu verfolgen oder gezielte emotionale Wirkungen zu erzielen, als die Römer. In ihrer historischen Erinnerung gerieten die Episoden ihrer fernen Vergangenheit zu ruhmvollen Exempla für sachgemäßes politisches Agieren, die es nachzuahmen galt. Das Gewesene wird damit zum Ideal und zum Modell für die Bewältigung der Zukunft stilisiert. Auf diese Art und Weise gerät die Instrumentalisierung der Vergangenheit zum politischen Programm und gleichsam zum Maßstab des politischen Handelns für Gegenwart und Zukunft.

Fabius Maximus Wie ein Wirbelsturm hatte Hannibals Armee im Jahr 218 v.  Chr. Teile ­Italiens überrollt. Seine fortgesetzten Siege über drei consularische Heere müssen den Römern wie ein Alptraum vorgekommen sein. Eine Wiederholung der in den römischen Annalen verzeichneten Gallierkatastrophe, die als Tiefpunkt ihrer Geschichte galt, schien in greifbare Nähe gerückt zu sein. Hatten die Römer die Karthager schlicht unterschätzt oder waren die Erfolge Hannibals vielmehr dem Leichtsinn oder gar der Unfähigkeit der römischen Kommandeure geschuldet? Jedenfalls herrschte nach den erlittenen Niederlagen in Rom blankes Ent­setzen. Tagelang debattierte man im Senat ohne Unter­brechung. Der Ruf nach Lösungen und Erfolgen wurde 131

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laut.86 Vor allem wüns­chte man sich eine besonnene Kriegführung. Diese ver­sprach man sich von dem erfahrenen und bewährten Quintus Fabius Maximus, und so wählte ihn das Volk zum Diktator – ein Ausnahmeamt, das die höchste ausfüh­rende Ge­walt, und das bedeutete vor allem die Führung des Heeres, für die be­grenzte Dauer von sechs Monaten auf sich ver­ einig­te.87 Die Diktatur war aus der Not des Augenblickes geboren. Damit wollte man ein wirksames Instrument für die Bewältigung der bevorstehenden Herausforderungen schaffen. Quintus Fabius Maximus änderte vor allem die Art der bisherigen Kriegführung. Ihn drängte es nicht, sich den Karthagern zu stellen, wie es seine Vorgänger ge­tan hatten, die übereilt dem Gegner Schlach­ten auf ungün­sti­gem Gelände angeboten und ver­loren hatten. Er ließ sich Zeit. Er nutzte sie, um die angeschlagene Moral der ihm anvertrauten Truppen (zwei neu ausgehobene Legionen und zwei weitere, die er vom Consul Gnaeus Servilius Geminus übernahm) durch Übungen zu heben und den günstigen Au­gen­blick für die nächste militärische Auseinandersetzung selbst zu bestimmen.88 Inzwischen konnte sich Hannibal ungehindert durch Apulien und Campanien bewegen und diese fruchtbaren Gegenden nach Belieben ver­wüsten sowie reiche Beute machen, weil sich Fabius ­Maximus zurückhielt.89 Nach langem Warten sah dieser endlich die Möglichkeit gekommen, seine Defen­sivstra­tegie aufzugeben und Hannibal, der beim Übergang über den Vol­tur­nus unweit von Teanum eingekreist werden konnte, in eine Schlacht zu ver­wickeln. Dieser soll darauf mit einer List ge­antwortet haben: Er trieb eine Herde Ochsen mit Brandfackeln an den Hör­nern in der Nacht auf das römische Lager zu. Die Wach­ mannschaft auf der Passstraße, die den Abzug der Karthager ver­hindern soll­te, geriet in Panik, verließ ihren Posten und ­kämpfte gegen die karthagische Abteilung, die die Herde begleitete. Die entstande­ne Verwirrung nutzte Hannibal, um sich aus der Umklammerung des Fabius Maximus zu retten, der es nicht gewagt hatte, in der Nacht sein Lager zu verlassen und Hannibal anzugreifen. Es sei dahin­gestellt, ob diese von den antiken Autoren gern ausgebreitete Episode wörtlich zu nehmen ist.90 Jedenfalls diente sie dem Vergleich zwischen der Beweglichkeit Hanni­bals und der Bedäch­tigkeit des Fabius Maximus, der deshalb als Cunctator (Zauderer) in die Ge­schichtsbücher eingegangen ist.91 Unstreitig hatte das behutsame Vorgehen des Fabius Maximus insgesamt dazu beigetragen, Rom vor schweren Schäden zu bewahren. Nicht zuletzt deswegen errang er in der historischen Erinnerung der Römer einen hohen Stellenwert als Verkörperung einer nüchternen, planvollen Vorgehensart bei der Führung der 132

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Staatsangelegenheiten. Wie Cincinnatus, Claudius Caecus, der ältere Cato und andere Repräsentanten der repu­blikanischen Traditionen rückte Fabius Maximus in jenen erlauchten Zirkel römischer Staatsmänner auf, die in den Biographien des Plutarch, eines der meistgelesenen Bücher der ­Antike und Neuzeit, verewigt wurden und als historische Belege für den Vorbildcharakter der Vergangenheit galten.

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6 Mythologische Verklärungen Dido und Aeneas

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ie weit reichen die Spuren eines Gemeinwesens zurück? Dies zu eruieren, ist im Falle Karthagos besonders reizvoll, weil die Stadt nach dem 3. Römisch-karthagischen Krieg 146 v.  Chr. dem Erdboden gleichgemacht wurde, womit ihre historische Erinnerung versiegte, buchstäblich unter Trümmern begraben wurde. Über mehrere, nachträglich zu Bedeutung aufgestiegene antike Städte liegen Gründungsgeschichten vor. Sagenstoffe aus grauer Vorzeit, Heldengestalten und historische Reminiszenzen vereinigen sich zu eindringlichen allegorischen Bildern, aus denen sich aber nur selten historisch zuverlässige Begebenheiten ablesen lassen. Wer kennt nicht den Bruderzwist zwischen Romulus und Remus, die wohl bekannteste Episode aus dem reichhaltigen Repertoire des römischen Sagenkreises?92 Ihre politische Brisanz illustriert die Tatsache, dass Octavian nach seinem Aufstieg zur Macht erwog, sich in Romulus umzubenennen, bevor aus ihm Augustus wurde. Bekanntlich scheiterte das Vorhaben an jener Version der Romuluslegende, wonach der Stadtgründer Romulus von erbosten Senatoren erschlagen worden war. Unter ein derartig ungünstiges Omen wollte Octavian seine gerade erworbene Herrscherstellung über den römischen Staat doch nicht stellen und unterließ es daher, das Schicksal herauszufordern. So sehr konnte der Mythos, wie dieses Beispiel zeigt, das Drehbuch der Geschichte mitgestalten. Nicht viel anders verhält es sich mit Karthago, über dessen Frühgeschichte wir ebenfalls einen reichen Sagenkreis kennen, in dessen Mittelpunkt namhafte Akteure stehen. Anders als für die römische Vergangenheit, die von einheimischen (Varro, Livius) oder romfreundlichen Autoren (Dionysios von Halikarnassos) ersonnen wurde, ist die überlieferte Fassung der karthagischen Gründungsepisode das Werk fremder Gewährsleute, was genauso viele Vorteile wie Nachteile mit sich bringt. Am ausführlichsten ist sie in den viele Jahrhunderte nach den Geschehnissen verfassten Historien des Pompeius Trogus (Justin) überliefert worden.93 Wenn wir die unterschiedlichsten Traditionsstränge auf eine Hauptversion hin vereinfachen, so sind dies ihre wesentlichen Züge: Elissa, die Schwester des im phönikischen Tyros 134

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r­ egierenden Stadtherrschers Pygmalion, flüchtete aus ihrer Mutterstadt, weil ihr Bruder aus Habgier ihren reichen Ehemann, den Melkartpriester Acherbas, der gleichzeitig ihr Onkel war, umbringen ließ. Nach einer Zwischenstation auf Zypern (Kition) segelte Elissa mit ihrem Anhang zur nordafrikanischen Küste weiter. Dort erhielten die Ankömmlinge von den einheimischen Libyern Gastrecht. Sie überließen ihnen so viel Land, wie sie mithilfe einer zerschnittenen und ausgebreiteten Stierhaut bedecken konnten (Byrsa). Darauf errichteten sie die „Neue Stadt“, denn das ist die wörtliche Bedeutung von Karthago (Qarthadasch), und verpflichteten sich, Tribute an die Erst­ besitzer des Landes zu entrichten. Als der Numiderhäuptling Hiarbas Elissa zur Frau nehmen wollte, ging sie in den Freitod, um durch ihr Opfer die Existenz der Stadt zu sichern.94 Eine weitere populäre Lesart der frühkarthagischen Geschichte, in deren Mittelpunkt die Beziehung zwischen Dido (so heißt nun Elissa) und Aeneas rückt, stammt vom römischen Dichter Vergil, der Schöpfer einer an Homer orientierten lateinischen Heldensaga, deren Titel Aeneis den Namen ihres Protagonisten verewigte.95 Demnach soll ein Sturm den aus Troja flüchtenden Aeneas, Sohn der Göttin Venus, in das gerade errichtete Karthago verschlagen haben. Ähnlich wie Nausikaa bei den homerischen Phäaken96 nahm Dido den Fremdling gastlich auf, der daraufhin vom Untergang seiner Heimatstadt sowie von den dramatischen Umständen, die dazu geführt hatten, erzählte. Jahrelang hatte der Überlebende aus Troja, von einer Küste zur anderen getrieben, eine beschwerliche Irrfahrt hinter sich gebracht, die nun zu Ende schien, als er Karthago erreichte. Von Venus und Juno angetrieben, entbrannte Dido in Liebe zu Aeneas, die dieser ebenfalls erwiderte. Daraufhin entschloss sie sich, obwohl sie nach dem Tod ihres Mannes Ehelosigkeit geschworen hatte, sich mit dem Fremden zu verbinden. Allein der Götter­ vater Jupiter hatte andere Pläne mit dem trojanischen Flüchtling. Er sollte nach Italien weiterziehen und dort die Fundamente des römischen Staates errichten: Unversehens eilte Merkur im Auftrag des Jupiters nach Karthago, um Aeneas zum Aufbruch zu bewegen. Nach der Trennung der Liebenden verübte die verzweifelte Dido Selbstmord. Ihr tragisches Ende wirkt wie ein Vorgriff auf den späteren Antagonismus zwischen Rom und Karthago, als Symbol jener unerfüllten Hoffnungen, die an Eintracht und Kooperation statt an Konfrontation und Krieg gemahnten. Die verschiedenen historischen Schichten dieser farbigen Legenden, die ihren Stoff aus einer griechischen Tragödie entlehnt zu haben scheinen, auseinanderzuhalten, bleibt ein mühevolles Unterfangen, wiewohl sich darüber keine endgültige Klarheit erzielen lässt. Zwar dürften vereinzelte Namen der 135

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Handelnden historisch verbürgt sein (etwa Pygmalion als Stadtherrscher von Tyros; auch der Name Elissa ist im Unterschied zu Dido phönikisch), aber sowohl der Rahmen der Erzählungen als auch wesentliche Einzelheiten sind nach griechischen novellistischen Vorbildern gestaltet. Das Szenario für diese Kompositionen wird wohl im sikeliotischen Kulturkreis zu suchen sein, der spätestens seit dem 6.  Jahrhundert v.  Chr. rege Beziehungen mit Karthago ­unterhielt.97 Betrachten wir die Bausteine des vorliegenden Sagenstoffes, so fällt auf, dass es spätere Ereignisse waren, die den Anstoß zur Schaffung einer solch dramaturgisch durchkomponierten Gründungssaga gegeben haben. Die wachsende politische Bedeutung Karthagos verlangte nach einer möglichst langen, ehrwürdigen Vorgeschichte, die durch die außergewöhnlichen Taten seiner Protagonisten geadelt wurde. Beides sollte sowohl die Singularität als auch die exzeptionellen Leistungen der Stadt unterstreichen. Was sich an historisch verbürgten Tatsachen ermitteln lässt, kann in wenigen Sätzen zusammengefasst werden. Wir beobachten zunächst eine innenpolitische Auseinandersetzung in Tyros, die innerhalb der herrschenden Schichten ausgetragen wurde. Ein Teil des städtischen Adels samt Anhängerschaft („Melkart-Fraktion“) verließ daraufhin die Heimat und wanderte nach Zypern aus. Dort scheiterte das Projekt einer Stadtgründung. Nach einer weiteren Odyssee wurde in Nordafrika ein neuer Versuch unternommen, der wohl erst nach Überwindung beträchtlicher Schwierigkeiten (Tributzahlungen an die Libyer) von Erfolg gekrönt war. Die massive Auswan­ derung aus der Mutterstadt machte aus der „Neuen Stadt“ mehr als eine Handelsfaktorei, wie sie für die phönikische Ausbreitung im westlichen Mittelmeer typisch ist. Schon aufgrund ihres Bevölkerungspotenzials und ihres überdurchschnittlich großen Siedlungsareals unterschied sich die nordafrikanische Gründung von ihren phönikischen Schwestersiedlungen im Westen.98 Jedenfalls erscheint Karthago von Anfang an als ein selbstbewusstes Gemeinwesen, zwar mit dem phönikischen Mutterland durch religiöse und familiäre Beziehungen verbunden, aber politisch autonom, vergleichbar mit den wichtigsten etruskischen oder griechischen Städten der Region, wie etwa Massalia, Caere oder Syrakus. Was die Verknüpfung von Dido mit Aeneas betrifft, so ist ihr Befund und Gehalt eindeutiger und politischer. Sie vermittelt eine auf dem Hintergrund der späteren Ereignisse rückblickend konstruierte Version des römisch-karthagischen Dualismus, die bis in die Gründungszeit zurückverlegt wird und eine allegorische Erklärung für die Entstehung einer nachträglich aufgekommenen Konkurrenzsituation liefern soll, etwa nach dem Motto: Aus enttäuschter Liebe erwuchs unbändiger Hass. Gleichzeitig kündet sie von einer 136

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frühen Nahbeziehung zwischen Karthago und Rom, die jedoch durch die Macht des Schicksals zerschlagen worden sein soll. Damit deutet sie die Möglichkeit einer friedlichen Übereinkunft an. Aus dieser Perspektive erscheint die sprichwörtliche Rivalität zwischen beiden Gemeinwesen als Ergebnis verpasster Chancen, die allerdings durch das schon seit Urzeiten bestehende Spannungsverhältnis zwischen beiden mythischen Gründungsikonen bereits vorgezeichnet gewesen war. Wie andere Städte des Altertums besaß auch Rom eine novellistisch durchkomponierte und dramaturgisch ausgemalte Gründungssaga, in deren Mittelpunkt der aus dem brennenden Troja geflüchtete und bei der karthagischen Königin Dido zeitweise weilende Aeneas stand. Auf diese Weise wurde eine Verbindungslinie zur sagenumwobenen Stadt Troja gezogen, die an die Landnahme erinnerte und somit die Verankerung der ersten Bewohner Roms in einem ehrwürdigen, heroischen Kontext betonte. So, wie wir für Rom ein traditionelles Gründungsdatum kennen, das der Heimatforscher Varro auf das Jahr 753 v. Chr. festlegte, so lautet das von Timaios überlieferte Gründungsjahr Karthagos 814 v. Chr. Es erübrigt sich, zu betonen, wie problematisch die von den antiken Autoren errechneten Chronologien sind.99 Für Festlegungen aus der mythisch verklärten Vergangenheit gilt dies in besonderem Maße. In solchen Fällen ist darauf zu achten, ob die literarisch tradierten Ereignisse von weiteren unabhängigen Quellen bestätigt werden können. Richtet man den Blick auf die weitgehend schriftlose Vorzeit, wie dies für die Epoche der Gründung Karthagos der Fall ist, so kann hier nur die archäologische Fundkarte weiterhelfen. Tatsächlich haben die durchgeführten Ausgrabungen in Karthago Materialien aus dem 8.  Jahrhundert v. Chr. zutage gefördert.100 Damit entsteht zwar eine Zeitlücke zwischen den literarischen Zeugnissen und dem archäologischen Befund, aber dies lässt sich vielleicht damit erklären, dass ein zentrales Kriterium für die Aufstellung von chronologischen Tabellen, nämlich die griechische Keramik, im westlichen Mittelmeerraum erst ab dem Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht. Möglicherweise reflektieren die verhältnismäßig frühen Gründungsdaten unserer literarischen Quellen einen präkolonisatorischen Prozess, also eine längere Phase der Vorbereitung, die von Erkundungsfahrten und Handelskontakten geprägt gewesen sein mag und die der Anlage von festen Siedlungsplätzen vorangegangen sein wird. Wie das für die meisten Kolonialgründungen der Fall ist, sind die ersten Jahrhunderte karthagischer Geschichte in dichten Nebel gehüllt. Deutlicher werden die Konturen der Stadt erst ab dem 6.  Jahrhundert v.  Chr., als die griechischen Historiker anfingen, sich für die Vorgänge im 137

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westlichen Mittelmeerraum stärker zu interessieren, wie die Berichte über die kriegerische Konfrontation zwischen Phökäern, Etruskern und Karthagern in der Schlacht bei Alalia zeigen, die bereits gewürdigt wurde.101

Alpenübergang Kaum eine andere Episode aus dem Altertum hat so viel Aufsehen erregt wie die Überquerung der Alpen durch Hannibals Truppen im Spätherbst des Jahres 218 v. Chr. – als er damit seine tollkühne Expedition nach Italien einleitete, um die mächtigste Stadt des Mittelmeerraumes herauszufordern.102 Bald entstand ein suggestives Bild des Wagemutes: Eine Masse entschlossener Kämpfer erzwang sich, dank ihres charismatischen Führers, den Zugang zu ihrem Zielgebiet, indem sie den rauen Kräften der Natur trotzte und das schier Unmögliche erstaunlich problemlos bewältigte. Die majestätischen Kolonnen einer Armee, die von Elefanten flankiert immer tiefer in unheimliche Gebirgsregionen vordrangen, riefen Erstaunen und Bewunderung hervor. So entstand ein Mythos, der sich wie eine weitere Tat des Herakles in die Hannibalbiographie einreihen ließ und von der Exzeptionalität der Situation und ihren Paradoxien lebte: Tiere aus der afrikanischen Savanne stießen auf einem von Schnee und Eisglätte umsäumten Weg vor, numidische Wüstenreiter bezwangen die schwer zugänglichen Pässe einer winterlichen Hochgebirgslandschaft. Daher wundert es nicht, wenn die vorhandenen Berichte eine Fülle dramatischer Wendungen bieten und die historische Rekonstruktion der Tat hinter einem Nebelvorhang der Phantasie zu verschwinden droht. Die zuverlässigsten Informationen hat Polybios aufbewahrt, der die Notizen des Silenos, eines Teilnehmers an der Expedition und des Sosilos verarbeitete.103 Sie können ­höhere Glaubwürdigkeit beanspruchen als die Aufzeichnungen des Livius, die von literarischen Reminiszenzen stark überwuchert sind.104 Auffallend bleibt jedenfalls das hohe Tempo der gesamten Unternehmung. Nach Überwindung der Pyrenäen zog Hannibal an der Rhône entlang vorbei an Montelimar Richtung Valence. Dann bog er nach Osten ab Richtung Grenoble, indem er dem Flusslauf der Isère folgte. Als die Alpenregion erreicht war, begann der Aufstieg, wahrscheinlich über den Mont Cenis. Der Aufenthalt im Hochgebirge war eine Tat, die an die militäri­schen Leistungen Alexanders, besonders an seinen Zug durch Bak­trien (Hindukusch) erinnerte. Sie wurde schon im Altertum mit Hochachtung regi­striert, und bald rankten sich Legenden um sie. Die Fakten sind viel nüchterner: Trotz der Novität der Aufgabe führte Hannibal sein Heer verhältnismäßig rasch nach 138

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Ita­lien. Dabei konnte er sich der Hilfe einiger keltischer Stämme versichern, die ihm Weggeleit und Verpflegung gaben. Andere Gebirgsstämme wie die Allobroger blieben feindlich gesinnt und bedrängten die karthagischen Marschkolonnen, die sich dagegen zur Wehr setzten. Große Mühen bereitete vor allem der Abstieg aus dem Hochgebirge; hier wurden die Grenzen der Belastbarkeit erreicht. Zwar erlitt das karthagische Heer schmerzliche Verluste, aber seine Kampfkraft hatte nicht wesentlich darunter gelitten, was vor allem der gründlichen Vorberei­tung der gesamten Unternehmung zuzu­ schreiben ist.105 Am schlimmsten erging es den Ele­fanten, von denen die meisten den anstrengenden Marsch und die harte Witterung nicht überlebten. In den weiteren Zügen Hannibals spielten sie keine Rolle mehr. Nach Überquerung der Alpen gelang es binnen kur­zer Zeit, die karthagi­sche Armee wieder auf nahezu volle Kamp­fstärke zu brin­gen106, denn Han­nibal erhielt rasch Verstärkung von den mit Rom ver­feinde­ten Kelten.107 In etwa acht Wochen hatte er die Strecke von der Rhône bis zur Poebene bewältigt; mitt­lerweile war es Ende Oktober gewor­den. Hannibal war nicht der erste gewesen, der sich auf diese Herausforderung einließ, denn lange zuvor hatten verschiedene keltische Völkerscharen die Alpenpässe in kriegerischer Absicht mehrfach bezwungen; es ist anzunehmen, dass die karthagischen Kundschafter aus diesen Erfahrungen Lehren zogen. Denn die logistische Umrahmung der Unternehmung war zweifellos bemerkenswert: Depots mit Vorräten und Hilfsmittel waren entlang des Weges vorsorglich angelegt worden und mit den meisten gallischen Stämmen wurden Absprachen getroffen, damit sie den Durchzug des karthagischen Heeres ermöglichten. Etwa zehn Jahre später wird Hannibals jüngerer Bruder Hasdrubal Ähnliches leisten, als er eine Armee von Hispanien nach Oberitalien in kürzester Zeit verlegte. Doch darüber wird in der antiken Überlieferung kaum gesprochen werden, obwohl die Leistung Hasdrubals der seines Bruders in nichts nachstand. Den Ruhm dieser keineswegs einmaligen Tat, die in die historische Erinnerung einging und bis auf unsere Tage das Bild Hannibals entscheidend prägt, erntete ausschließlich der ältere ­Bruder. Sein legendärer Alpenübergang wird noch zu dessen Lebzeiten zum wesentlichen Baustein seines Mythos.

Cannae Im Hochsommer des Jahres 216 v.  Chr. trafen sich die zwei mächtigsten Heere, die jemals auf italischem Boden aufgestellt worden waren, in der 139

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Ebene von Cannae.108 Ein Kräftemessen zwischen einer gewaltigen römischen Armee und den Truppen Karthagos stand unmittelbar bevor.109 Die Schlachtplanung des karthagischen Feldherrn Hannibal verrät eine erstaunliche Komplexität. Es ging darum, die Wucht des feindlichen Vorpreschens abzufedern, die eigene Reiterei zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen und dabei einen feindlichen Durchbruch zu vereiteln, ohne die eigenen Schlachtreihen in Unordnung geraten zu lassen. Gleichzeitig musste der Gegner an seinen Schwachstellen bedrängt und dezimiert werden. Das Gelingen dieses Vorhabens hing von dem reibungslosen Zusammenwirken der diversen Waffengattungen ab. Die Armee Hannibals hatte dank jahrelanger Zusammenarbeit einen hohen Grad an Professionalität erreicht. Sie war gewohnt, unter ihm zu dienen, kannte seine Anforderungen und wurde von bewährten Offizieren geführt. Dank ihrer Erfahrung war sie den zwar zahlenmäßig überlegenen, aber unzureichend ausgebildeten römischen Verbänden an Kampfkraft ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Die Dispositionen der Römer gingen von der Voraussetzung aus, dass der massive Angriffskeil der Legionen unwiderstehlich sei und daher die feindlichen Linien auseinanderreißen würde. Daher beabsichtigten sie, die bunt zusammengewürfelten Fußtruppen des Feindes aufzureiben, die zu erwartenden Attacken der feindlichen Reiterei an den Flanken abzuwehren und den entscheidenden Schlag im Zen­trum der karthagischen Formation auszuführen. Energie und Masse waren die Trumpfkarten der Römer, die Karthager dagegen bauten auf Schnelligkeit, Flexibilität und Kampferfahrung. Am 2. August 216 v. Chr. wurde eine der gewaltigsten Schlachten der antiken Kriegsgeschichte ausgetragen. Der Consul Gaius Terentius Varro, der an diesem Tag das Oberkommando führte, gliederte seine Armee in drei große Blöcke: Auf der rechten Seite die römischen Reiter, in der Mitte eine riesige Menge schwerbewaffneter Fußtruppen, den linken Flügel besetzte die Reiterei der römischen Bundesgenossen. Vor diesem gewaltigen Rechteck standen die leichtbewaffneten Abteilungen, die den Kampf eröffneten. Hannibal antwortete auf die römische Taktik, indem er die balearischen Schleuderer und die leichtbewaffneten libyschen Lanzenträger deutlich vor seine Schlachtreihe verlegte, um den römischen Vormarsch zu stören. Sein linker Flügel bestand aus keltischen und hispanischen Reitern. Den rechten Flügel bildete die numidische Reiterei. Am schwierigsten war aber die Behauptung des Mittelblocks. An seinen Rändern wurden libysche Infanteristen in römischer Bewaffnung postiert. Im Zen­trum, dem neuralgischen Punkt der gesamten Schlachtreihe, standen die keltischen und hispanischen Fußtruppen unter dem direkten Befehl Hannibals. Nachdem das Heer Aufstellung 140

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g­ enommen hatte, bildeten die keltischen und hispanischen Fußtruppen einen halbmondförmigen, weit ausgreifenden Bogen, um die vorpreschenden römischen Legionen darin aufgehen zu lassen. Parallel dazu ließ Hannibal seine keltischen und hispanischen Reiter auf die römische Kavallerie los, die, überrumpelt von deren Stoßkraft, beträchtlich dezimiert wurde und sich ­daraufhin zurückzog. In der Zwischenzeit hatten die römischen Legionen einen Frontalangriff auf das Zen­trum der karthagischen Linien unternommen. Die keltischen und iberischen Verbände wichen geordnet zurück und umkreisten dabei die vorwärtsstürmenden Legionäre. Nun schwenkten die an den Rändern postierten libyschen Infanteristen nach vorn und vollführten dabei eine halbe Drehung. Sie attackierten die römischen Legionen an den Flanken, bremsten ihren ungezügelten Vormarsch und schlossen sie in einem Kessel ein. Die karthagische Infanterie umzingelte die in eine Falle geratenen römischen Fußtruppen und richtete ein Blutbad an. Zu allem Übel für die Römer gelang es den numidischen Reitern des Maharbal und Hanno, nach einem Sturmangriff die italische Reiterei zu zerstreuen. Dabei konnten sie auf die Unterstützung der keltischen und hispanischen Reiter des Hasdrubal rechnen. Als dann von der römischen und bundesgenössischen Reitertruppe nichts mehr übrig blieb, fiel die gesamte karthagische Reiterei den eingekesselten römischen Legionen in den Rücken und entschied die Schlacht.110 Hannibals Taktik ging weitgehend auf. Die römischen Truppen wurden zurückgedrängt, ohne dass sie sich zu großer Gegenwehr aufraffen konnten. Zehntausende sollen umgekommen sein, darunter der amtierende Consul Lucius Aemilius Paullus nebst zahlreichen Senatoren.111 Zahllose Legionäre gerieten in Gefangenschaft. Der Rest flüchtete. Unter ihnen befand sich der Consul Gaius Terentius Varro. Hannibals Verluste sollen dagegen verhältnismäßig gering gewesen sein. Doch darüber wird noch zu reden sein. Jedenfalls war der Mythos von der Unbesiegbarkeit der römischen Legionen endgültig dahin. Der Tag von Cannae ging in die Annalen als der schwärzeste Tag der römischen Geschichte ein. Hannibal stand im Zenit seiner Machtentfaltung. Im Kriegsrat, den der siegreiche Feldherr einberufen hatte, sollen einige seiner Offiziere ihn aufgefordert haben, sofort nach Rom zu marschie­ ren. Es sei dahingestellt, ob die berühmte Äuße­rung des Befehlshabers der karthagischen Kavallerie Maharbal, Zu siegen verstehst du Hannibal, den Sieg zu nutzen verstehst du nicht!112, überhaupt historisch ist. Hannibal hatte andere Pläne. Vielfach wird vermutet, dass er, indem er den Angriff auf Rom gerade zu dem Zeitpunkt unterließ, der dafür militärisch wie auch psycholo­ gi­sch am besten geeignet war, den ersten und glei­chsam fol­genreichsten 141

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­ ehler des Krie­ges beging. Die Belagerung nicht einmal versucht zu haben, F soll eine ver­hängnis­volle Fehlentscheidung gewesen sein, die sich für Hannibal bitter rächen soll­te – so wird vermutet. Tat­sache sei, so wird weiter argumentiert, dass ande­re ver­gleich­bare Ar­meen derartige Her­aus­forde­rungen angenommen und er­folg­reich abge­schlos­sen hätten. Die Erobe­rung von ­Syrakus eini­ge Jahre später durch Marcus Claudius Mar­cel­lus beziehungsweise die Einnahme von Tarent durch Quintus Fabius Maxi­mus werden als Vergleichsbeispiele angeführt.113 Doch diesen Ansichten liegt eine einseitige Sicht der Tatsachen zugrunde. Ihre Hauptzüge lauten wie folgt: Der zahlenmäßig überlegenen Masse frontal angreifender römischer Truppen begegnete Hannibal mit einer defensiven Taktik, die sich durch Beweglichkeit im Gelände auszeichnete. Obwohl den römischen Verlusten vergleichsweise geringe Einbußen auf karthagischer Seite gegenüberstanden, wagte es Hannibal nicht, die Gunst des Augenblickes zu nutzen. Indem er jedoch Rom verschonte, verschenkte er den fast schon errungenen Sieg. So oder ähnlich lautet die Quintessenz, die sich den vorhandenen Stellungnahmen der antiken und modernen Autoren entnehmen lässt.114 Die Frage ist, ob sich dies alles genauso zugetragen hat. Die vorherrschende Ansicht sieht in Cannae einen überwältigenden Sieg Hannibals, der letztlich durch seine Unentschlossenheit nachträglich verspielt wurde. Hannibal, so lautet der häufig erhobene Vorwurf, hätte nach dem römischen Debakel den Krieg durch die Einnahme Roms beenden können. Dass er sich dazu nicht aufraffen konnte, so wird gefolgert, erweist ihn als einen zwar militärisch fähigen, aber letztlich mit politischer Blindheit geschlagenen Troupier. Darüber hinaus lässt die Größe der Niederlage die Gloriole Roms heller erstrahlen: Es erscheint als ein Gemeinwesen sui generis, das selbst derartige Schläge nicht nur verkraftet, sondern sogar ins Gegenteil verkehren kann. Die andere, der historischen Realität näherkommende Lesart muss die Tragweite von Cannae nüchterner beurteilen, ja sie sozusagen entmythologisieren. Selten verläuft eine Schlacht nach den Direktiven der in der ­Kommandozentrale ausgeheckten Taktik. Häufig kommt es in der Hitze des Gefechts zu Fehlleistungen, Überraschungsmanövern oder plötzlich auftauchenden Schwierigkeiten, die den vorgesehenen Ablauf vereiteln. Eine vergleichbare Disproportion zwischen Planung und Verlauf traf mit Sicherheit auch hier zu. Zwar konnte sich Hannibal auf dem Schlachtfeld behaupten und einen glänzenden taktischen Sieg davontragen, aber die Niederlage der römischen Legionen war mit beträchtlichen eigenen Verlusten erkauft.115 Seine Einbußen waren größer, als ein rein numerischer Vergleich zwischen den Potenzialen beider Gegner verdeutlichen kann. Es ist daran zu erinnern, 142

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dass Hannibal, anders als die Römer, nur schwer Ersatz für seine Truppen beschaffen konnte. Die karthagische Armee war nach dem gewaltigen Zusammenprall mit den in Cannae gebeutelten Legionen ebenfalls entscheidend geschwächt.116 Eine offensive Kriegführung alten Stils konnte sich Hannibal danach nicht mehr leisten. Dass er es vermied, nach Rom zu ziehen, ist auch ein Hinweis auf die deutlich verminderte Schlagkraft seines Militär­ potenzials. Die Suche nach politischen Lösungen, die Hannibal nach Cannae energisch betrieb, war kein Beleg für seine staatsmännische Unbeholfenheit, sondern zeugte genau vom Gegenteil. Die Situation war ihm aufgezwungen worden, und er versuchte, das Beste daraus zu machen. Der Zugewinn neuer Bundesgenossen verschaffte ihm eine nötige Atempause.117 Die Römer wurden dadurch gezwungen, ihr bald nach Cannae aufgestelltes Heer zu teilen und sich an mehreren Fronten gleichzeitig zu erwehren. Spätestens ab diesem Zeitpunkt trugen die Karthager die Last des Krieges nicht mehr allein. Die von Hannibal von Anfang an konsequent verfolgte Strategie erlaubte ihm die Verwirklichung seines politisch-militärischen Hauptanliegens: die Fortsetzung seiner Unternehmung auf italischem Boden. Dies hatte zur Folge, dass Nordafrika von den Schrecken des Krieges bis auf weiteres verschont blieb. Für Hannibal, der als Knabe die Belagerung Karthagos durch die Söldner miterlebt hatte, bedeutete dieses Ziel mehr als die bloße Erfüllung eines strategischen Plans. Sollte Han­nibal wegen des Debakels von Cannae allerdings von seinen Gegnern Frie­dens­bereit­schaft erwar­tet ha­ben, so verrechnete er sich gründlich. Die Römer verweigerten jede Verhandlung. Nicht einmal wegen der Rückgabe der Kriegsgefangenen zeigten sie sich gesprächsbereit.118 Die Karthager hatten, ebenso wie die hellenistischen Staaten, eine andere Einstellung zum Krieg. Dieser konnte durch Verhandlungen beendet werden, sobald sich eine Kriegspartei entscheidende Vorteile verschafft hatte.119 Für die Römer war ein Krieg jedoch erst dann zu Ende, wenn der Unterlegene sich dem Willen des Siegers fügte. Zwar hatte Hannibal in einem ähnlichen Alter wie einst Alexander, der wiederholt die Perser schlug und ihr Reich vernichtete, die machtbewusste römische Repu­blik empfindlich getroffen, doch nach Cannae verläuft die Erfolgskurve des Karthagers anders als die des Makedonen. Im Gegensatz zu Alexander, der die Machtzentren des Perserreiches einnahm, zog Hannibal nicht als Sieger in die Hauptstadt des Gegners ein. Rom war eben nicht das Perserreich. Hannibal hatte für die Unabhängigkeit Karthagos zur Waffe ­gegriffen. Das Vorbild dafür bot das politische System der hellenistischen Staaten, das durch die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichtes der Kräfte die Bildung einer allmächtigen Hegemonialmacht zu verhindern vermochte 143

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und die Existenz mehrerer in Konkurrenz zueinander stehenden Gemein­ wesen ermöglichte. Dass sich Rom nicht in ein solches Korsett einspannen ließ, ist eine Erfahrung, die Hannibal im Augenblick seines großen Sieges in ­Cannae machen musste. Eine aufschlussreiche Paradoxie kennzeichnete die damalige politische Lage: Niemals zuvor war Rom so nahe am Abgrund gestanden und Karthago so meilenweit von einem Sieg entfernt.

Numantia Die in der zentralhispanischen Hochebene liegende, zum Stamm der Arevaker gehörende Siedlung Numantia wurde schon im Altertum legendär. Sie verkörpert einerseits das Musterbeispiel eines grausigen, asymmetrischen Krieges, andererseits steht sie als Symbol für die Selbstbehauptung einer weit entlegenen Provinzstadt gegenüber den Anfechtungen einer Weltmacht, die im Zuge dieser Auseinandersetzungen in eine schwere politische Krise abgleiten wird. Als Synonym für bedingungslose Opferbereitschaft und für den Widerstand gegenüber einem weit überlegenen Kontrahenten lebt dieser Name in der spanischsprachigen Kulturwelt bis in die Gegenwart fort.120 Die Ursachen dieses Konflikts, der in einem erbarmungslosen Vernichtungsfeldzug mündete, liegen im Wesen der römischen Provinzialpolitik begründet, die nach der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts einen unrühmlichen Höhepunkt in Sachen Unerbittlichkeit und Perfidie erreichte.121 Trotz zahlloser Bemühungen konnten die Consuln Nobilior, Pompeius, Laenas, Mancinus, Lepidus, Furius und Piso der widerspenstigen Stadt nicht Herr werden, die ihnen skandalöse Niederlagen zufügte, womit das imperiale Ehrgefühl tief verletzt wurde. Die für das Ansehen Roms völlig verfahrene Situation änderte sich erst, als die Leitung der Operationen dem Zerstörer Karthagos, Scipio Aemilianus (Enkel des Siegers über Hannibal, Sohn des Eroberers Makedoniens) übertragen wurde. Der erfahrene Feldherr disziplinierte die demoralisierten Legionen und mobilisierte eine gewaltige Truppenmacht, die den Ort hermetisch abriegelte. Dennoch lieferten die numantinischen Verteidiger, von Hunger und Entbehrungen geschwächt, einen zähen, aber aussichtslosen Widerstand gegen die haushoch überlegenen Belagerer. Nach der Einnahme der Stadt erfolgte ihre Brandschatzung und Verwüstung als Warnung an andere Gemeinschaften, die ähnliche Unabhängigkeitsgedanken hegten. Vor allem der brutale Ausgang der Konfrontation, die eklatante Disproportion zwischen beiden Rivalen, die Unverhältnismäßigkeit der Mittel, sowie die Unbeugsamkeit der einen und die Arroganz der 144

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anderen Seite, verliehen der Situation ihre besondere Schärfe und Dramatik. Wie konnte es soweit kommen? Die entscheidende Phase des Numantinischen Krieges eröffnete der Consul Quintus Caecilius Metellus Macedonicus, ein erprobter Heerführer, der während des Jahres 142 v. Chr. die Rebellion der Lusonen, Belli, Titii und Arevaker niederschlug.122 Er eroberte Centobriga und Contrebia, rückte anschließend in die Gebiete der Arevaker vor, wo sich Numantia und Termantia, beide gut befestigt, widersetzten. Da er kein Befürworter extremer Maßnahmen war, behandelte er die Unterworfenen taktvoll. Abgeschreckt durch den Misserfolg des Nobilior, der Numantia zuvor vergeblich belagert hatte, verzichtete Metellus darauf, die Festung der Arevaker frontal anzugreifen und verschob die Eroberung auf einen späteren Zeitpunkt, um das Risiko eines Scheiterns zu umgehen. Er begab sich dann in die Winterquartiere im Tal des Jalón, wo er unterwegs die umliegenden Ländereien verwüstete, um die Versorgung der Arevaker zu erschweren. Hier bereitete er sich auf die nächste Offensive vor, die er mit der Unterwerfung der widerspenstigen ­Arevaker abzuschließen gedachte. Doch es kam anders als vorgesehen. Auf Betreiben des Quintus Pompeius weigerte sich der Senat, die Statthalterschaft des Metellus zu verlängern, der so die Gelegenheit entschwinden sah, in Hispanien zu triumphieren. Pompeius, Consul des Jahres 141 v. Chr. und Befehlshaber eines großen Heeres, handelte anders als sein behutsamer Vorgänger. Er ließ seine Legionen vor Numantia aufmarschieren und griff unverzüglich an. Aufgrund seiner Unerfahrenheit und wegen der Überstürzung des Vorstoßes erlitt er einen Rückschlag. Von den Arevakern bedrängt, musste Pompeius eilends abziehen und sein Vorhaben aufgeben. Um den Fehlschlag zu kompensieren, wandte er sich Termantia zu, in der Annahme, die Einnahme dieses Ortes sei eine einfachere Aufgabe. Auch hier erlitt er eine Niederlage, die zusätzlich verschlimmert wurde durch die Verfolgung seines Heeres durch die Arevaker, die ihm unzählige Verluste zufügten.123 Da sich seine Amtszeit dem Ende neigte, führte er seine Truppen zum Überwintern an die Ostküste Iberiens. Trotz seiner indiskutablen Leistungen wurde sein Mandat dennoch um ein weiteres Jahr verlängert. Erneut wurde Numantia das Ziel des Statthalters, der dieses Mal allerdings darauf verzichtete, einen Frontalangriff gegen die Stadtmauern auszuführen. Er verlegte sich auf die Belagerung des Ortes. Das ungünstige Wetter und die anhaltenden Ausfälle der Numantier zwangen Pompeius zum Rückzug. Unmittelbar darauf griff die Demoralisierung der Truppe um sich, zumal sich die meisten Legionäre seit Jahren ununterbrochen im Dienst befanden. Ihre Motivation und Kampfstärke sanken auf alarmierende Werte. Angesichts der geringen 145

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­ rfolgsaussichten und auch, um das Scheitern der Expedition zu kaschieren, E begann Pompeius, mit den Numantinern zu verhandeln, was er in Rom als diplomatischen Erfolg ausgab. Um die Vereinbarung zu besiegeln, reiste eine Senatskommission nach Hispanien, welche Geiseln, die Übergabe der Gefangenen und der Deserteure sowie einen Tribut forderte. Die von den Entbehrungen des Krieges erschöpften Numantiner akzeptierten die Bedingungen und streckten Pompeius die Hälfte der verlangten Summe vor. Am Ende werden jedoch alle diese Bemühungen fruchtlos bleiben. Denn der Senat, vom Clan der Servilii Caepiones und von Metellus beeinflusst, der eine offene Rechnung mit Pompeius hatte, lehnte die Übereinkunft ab und bestand auf der bedingungslosen Kapitulation (deditio). Da sie verweigert wurde, beauftragte er den Consul Marcus Popillius Laenas mit der Fortführung der Operationen (139 v. Chr.). Die ergriffenen Maßnahmen des neuen Befehlshabers blieben aber ebenso wirkungslos, wie die des Pompeius. Er kehrte Ende des Jahres 138 v. Chr. nach Rom zurück, ohne etwas ausgerichtet zu haben. Daraufhin übernahm der neugewählte Consul des Jahres 137 v. Chr., Gaius Hostilius Mancinus, die Leitung der Operationen. Seine Amtsführung, die noch demütigender werden sollte als das ohnehin ruhmlose Vorgehen seiner unmittelbaren Vorgänger, lässt sich nur mit der Schande vergleichen, die Rom Jahrhunderte zuvor gegen die Samniten an dem Caudinischen Joch erdulden musste.124 Als Mancinus vor Numantia erschien, ließ er, beeindruckt von den Gerüchten, dass andere hispanische Stämme den Numantinern zu Hilfe eilten, sämtliche Eroberungsabsichten fallen.125 Die Initiative des Feldzuges glitt ihm aus den Händen. Von nun an beschränkte er sich darauf, sich zu verschanzen und zu schützen  vor einem allerdings an Zahl und Ausrüstung weit unterlegenen Gegner. Als er nachts an der Spitze eines großen Heeres den Rückzug vor Numantia antrat, setzten ihm die Arevaker in einer engen Talschlucht zu und brachten ihm herbe Verluste bei, die etwa die Hälfte seiner Truppenstärke ausmachten. Die Überlebenden, von den Feinden eingekreist, standen kurz vor der Vernichtung. Durch Vermittlung des Quästors Tiberius Sempronius Gracchus, Sohn des gleichnamigen Statthalters des Jahres 180 v. Chr., der sich den Ruf der Rechtschaffenheit erworben hatte, traten die Numantiner in Friedensverhandlungen mit Mancinus ein. Dabei gelang es, die eingeschlossenen Legionäre vor dem vorhersehbaren Gemetzel, das ihnen drohte, zu bewahren. Als die Kunde davon in Rom eintraf, war die Empörung gewaltig. Der Senat, erzürnt über die Handlungsweise des Mancinus, entfernte ihn aus dem Amt und weigerte sich entschieden, die mit den Arevakern geschlossene Abmachung anzuerkennen. Daraufhin wurde der 146

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Consul Marcus Aemilius Lepidus nach Hispanien gesandt und mit der Leitung des numantinischen Feldzuges betraut. Indes spaltete die Diskussion um Mancinus’ Vertrag die politische Elite Roms. Die Verteidiger des Abkommens, wie Gracchus, führten zu seinem Vorteil die Rettung des Heeres an, sein Schwager Scipio Aemilanus, einer der Gegner des Paktes, hob dagegen die demütigenden Begleitumstände seines Abschlusses hervor. Während in Rom über die Gültigkeit des Abkommens debattiert und auf das Ergebnis des Prozesses gegen Mancinus gewartet wurde, verzichtete der neue Statt­ halter darauf, Kampfhandlungen gegen Numantia einzuleiten. Lepidus, ein ebenso schlechter Truppenführer wie seine unmittelbaren Vorgänger und erpicht darauf, sich einer reichen Beute zu bemächtigen, nahm die Belagerung von Pallantia in Angriff, weil er dort erhebliche Reichtümer vermutete. Er unternahm diese Aktion gegen den ausdrücklichen Willen des Senates, der nach den in Numantia erlittenen Fehlschlägen zur Vorsicht mahnte. Von den Schwierigkeiten der Operation überfordert, sah sich Lepidus gezwungen, den Rückzug seiner Legionen aus Pallantia anzuordnen, die nun von den Belagerten angegriffen wurden und in höchste Not gerieten. Dank einer Mondfinsternis konnten sich die Einheiten von Lepidus gerade noch in Sicherheit ­bringen. Die Leistungen des Lepidus erwiesen sich als ebenso mangelhaft wie diejenigen des Mancinus. Der Senat, verärgert über seine dilettantische Kriegsführung, ersetzte ihn noch vor Ablauf seiner Amtszeit durch den Consul Lucius Furius Philus (136 v.  Chr.). Nun fand die groteskeste Szene des gesamten Krieges statt. Der Senat, der die Gültigkeit der Vereinbarung, die Mancinus mit den Numantinern ausgehandelt hatte, nie anerkannt hatte, machte diesen für alle Fehlschläge des Feldzuges verantwortlich. Eskortiert von Furius, Metellus und Pompeius verwandelte sich Mancinus zum Protagonisten einer archaischen Zeremonie, die sich vor den Mauern Numantias abspielte. Er wurde nackt und mit gebundenen Händen seinen Feinden ausgeliefert. Die Numantiner, von dem düsteren Spektakel erstaunt, das sich vor ihren Augen zutrug, weigerten sich, ihm die Tore ihrer Stadt zu öffnen. Mancinus, der einen ganzen Tag diese unerhörte Demütigung aushielt, sah sich gezwungen, zum römischen Lager zurückzukehren.126 Der Krieg wurde weiter fortgesetzt. Furius und sein Nachfolger, Quintus Calpurnius Piso, der Consul des Jahres 135 v. Chr., taten nichts Erwähnenswertes an der numantinischen Front. Nach einem 9-jährigen Krieg lagen das Prestige und der Kampfgeist der römischen Legionen am Boden, und Numantia, obwohl zwar erschöpft, war noch weit davon entfernt, sich zu unterwerfen.127 Die letzte Phase der numantinischen Tragödie begann mit einem erbitterten Streit in Rom. Publius Cornelius Scipio Aemilianus, der Zerstörer Kar147

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thagos, ein dezidierter Vertreter einer unnachgiebigen Linie, wurde trotz Vorbehalten des Senates zum Consul gewählt und mit der Beendigung des leidigen Krieges beauftragt.128 Als Verstärkung der hispanischen Legionen konnte Scipio mit den Freiwilligen rechnen, die sich der Expedition anschlossen, sowie mit der Unterstützung seiner zahlreichen Gefolgsleute. Das wichtigste Kontingent kam aus Numidien. In seinem Heerlager befand sich eine Reihe von Persönlichkeiten, die mit der Zeit Berühmtheit erlangen sollten: Polybios von Megalopolis, Chronist der Expansion Roms, die römischen Historiker Publius Rutilius Rufus und Sempronius Asellio sowie der Dichter Lucilius; auch der numidische Prinz Jugurtha, der später zum unversöhn­ lichen Feind Roms mutierte und vom legendären Gaius Marius besiegt werden sollte, der ebenfalls in den Reihen Scipios kämpfte, sowie Gaius Sempronius Gracchus, Gaius Memmius und Fabius Maximus, Scipios leiblicher Bruder, der sich in der Vergangenheit in den Kämpfen gegen Viriathus hervorgetan hatte, sowie sein Sohn Quintus Fabius, der zukünftige Sieger über den gallischen Stamm der Allobroger. Scipio erreichte Anfang des Jahres 134 v.  Chr. Hispanien. Seine ersten Maßnahmen waren darauf gerichtet, das Selbstvertrauen einer durch die erlittenen Niederlagen traumatisierten Armee wiederherzustellen. Er verbannte jegliche Form von Luxus aus dem Feldlager und erhöhte drastisch die militärische Disziplin.129 Nach Abschluss seiner umfangreichen Vorbereitungen führte er ein gewaltiges Heer vor die Mauern Numantias.130 Im Herbst 134 v. Chr. begann die Belagerung. Scipio verteilte seine Truppen auf zwei befestigte Lager. Er umzingelte den Platz und auf den Zeitfaktor setzend, hoffte er Numantia mit Geduld durch den Hunger zu bezwingen. Wie er es bereits in Karthago getan hatte, ließ er ein undurchdringliches Belagerungssystem errichten. Neben die zwei großen Hauptlager kamen fünf weitere kleine Bastionen. Er etablierte eine dichte Kommunikationskette zwischen ihnen über eine Mauer von 4 Metern Höhe, die mit einem Graben und einem Palisadenzaun verstärkt wurde. Außerdem setzte er ein Alarmsystem ein, das mit optischen Signalen ausgestattet war, um nächtliche Angriffe der Belagerten zu verhindern. Hinzu kamen hunderte von hölzernen Türmen, auf denen er seine Sturmgeschütze aufstellte. Die Numantiner, entsetzt von dieser furchteinflößenden Zurschaustellung militärischer Macht, verschanzten sich in ihrer Stadt hinter dem Schutz ihrer immer poröser werdenden Mauern. Sie litten zunehmend Hunger und Durst. Schließlich, nach 15 Monaten unglaublicher Entbehrungen, waren sie zur Kapitulation bereit. Diejenigen, die ihre Waffen auslieferten, erhielten eine Frist von zwei Tagen, um sich zu ergeben. Angesichts der Aussicht auf Gefangenschaft und Sklaverei wählte ein Teil der Bevölkerung den freiwilli148

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gen Tod. Als die römischen Legionen schließlich in die Stadt einmarschierten, fanden sie ein schreckliches Panorama vor: allenthalben Zerstörungsspuren und Berge von Leichen. Scipio brannte die Stadt ab und hinterließ ein Ruinenfeld. Numantia hatte aufgehört, zu existieren.131 Damit endete einer der schmählichsten Feldzüge der römischen Geschichte (133 v.  Chr.). Nachdem die Verbündeten der Numantiner bestraft wurden, verließ Scipio die Iberische Halbinsel in Richtung Rom, um einen Triumph zu feiern. Zu dem Beinamen Africanus gesellte sich nun Numantinus hinzu. Bekanntlich konzentrierte sich das Interesse der antiken Autoren auf die Errungenschaften (res gestae) einiger außergewöhnlicher Individuen, welche die politische Szenerie Roms beherrschten. Ohne Zweifel gehörte Scipio dazu. Die Kapitel, die Polybios der hispanischen Geschichte widmet und die Texte jener Autoren, die ihm folgen, kreisen hauptsächlich um die Taten dieser Akteure. Würden wir über so reichliche Informationen über den numantinischen Krieg verfügen, wenn Scipio nicht in ihn eingegriffen hätte? Wohl kaum. Obwohl Scipios hispanischer Feldzug bar jeder militärischer Genialität war und durch die erdrückende Überlegenheit eines erfahrenen Schlächters endete, vielmehr einer absurden Vernichtungsexpedition glich, wird er in den Quellen als lobenswertes Unterfangen dargestellt. Je mehr die antiken Autoren seine Ruhmestaten verherrlichten, desto größer wurde die Bedeutung des von ihm erwählten Ziels. Die Superlative, mit denen Scipio bedacht wurde, wurden ebenfalls auf Numantia übertragen. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass die Überlieferung der numantinischen Episode, undenkbar ohne Scipio, den Blick auf die ihr vorausgehenden Ereignisse überdeckt hat. Die Relevanz anderer Orte wie Segeda, Cauca, Pallantia oder Termantia, die ohne Zweifel eine der untergegangenen Stadt der Arevaker vergleichbare historische Rolle gespielt haben, wird auf diese Weise kleingeschrieben und vom Glanz des scipionischen Sieges überschattet. Ebenso wie Scipios wird Numantias Bedeutung großgeschrieben. Durch das Hervor­ heben der einzigartigen Unbeugsamkeit der Stadt erfährt die unvergleichliche Tugend seines Bezwingers eine Verstärkung. In der Perspektive der antiken Historiker, die diesen Prozess nacherzählten, war die Geschichte der römischen Weltreichsbildung gleichzusetzen mit der Geschichte der großen Männer, die sie vollbracht hatten: Innerhalb dieser erlauchten Ahnengalerie römischer Zelebritäten nahm Publius Cornelius Scipio Aemilianus einen prominenten Platz ein.

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7 Konstruktion des Barbaricum Eine kleine Spinne ist stolz darauf, wenn sie eine Fliege erjagt hat, mancher Mensch, wenn er ein Häschen, ein anderer, wenn er in seinem Netz einen kleinen Fisch, ein anderer, wenn er Eber oder Bären, und noch ein anderer, wenn er Sarmaten fängt. Sind denn aber diese, wenn man dabei die Triebfedern untersucht, nicht insgesamt Räuber? (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen 10,10)

Orient und Okzident als antithetische Größen

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eit Kyros, der Begründer des Achaimenidenreiches, Lydien und die ­ionischen Städte Kleinasiens um 545 v.  Chr. unter seine Herrschaft brachte, fiel der Schatten der persischen Weltmacht auf die Stammesgesellschaften des Balkanraumes und auf die griechische Poliswelt.132 Um den eigenen Standort in dieser gewandelten politischen Landschaft zu bestimmen und das gesteigerte Interesse der Nachwelt an den folgenreichen Vorgängen zu befriedigen, errichtete der griechische Historiker Herodot mit der Rekon­ struktion der Geschichte der Ost-Westbeziehungen dieser Begegnung ein beeindruckendes schriftstellerisches Denkmal.133 Es war nach den Epen Homers das grandioseste und eines der am meisten verbreiteten Werke der griechischen Literatur. Beide Autoren befassen sich mit dem Kampf zwischen europäischen und asiatischen Völkern. Während bei Homer keine Spuren einer antagonistischen Ost-West-Dualität auftauchen, verkörpern für den im Perikleischen Zeitalter lebenden Herodot Orient und Okzident, Perser und Griechen, bereits klar umrissene, sich politisch und kulturell gegenüberstehende Antipoden, beziehungsweise geopolitische Antithesen. In der Publizistik des 4. Jahrhunderts v. Chr. verfestigte sich dieser Gegensatz zum chauvinistischen Bild des der griechischen Zivilisation haushoch unterlegenen dekadenten Orientalen, der zum Prototyp des Barbaren schlechthin verkam. Selbst hochrangige Intellektuelle wie Isokrates, Plato oder Aristoteles scheuten sich keinesfalls, derartige aus Feindbildern gestrickte Gemeinplätze kritiklos zu verbreiten.134 In diesem Kontext gehört die von Herodot135 überlieferte Debatte über die beste Staatsordnung, die am persischen Hof anlässlich der Erhebung des 150

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­ areios zum König stattgefunden haben soll. Die ausgetauschten Argumente D verdeutlichen die politischen Vorstellungen der persischen Großen, in deren Händen die Entscheidung über die Zukunft ihres Weltreiches lag. Bei Herodot wird die Kontroverse durch die von Dareios gestellte Frage entschieden: Wie ist das Perserreich frei geworden? Wer hat ihm Freiheit gegeben? Das Volk, die Oligarchie oder die Monarchie? Ich bin der Überzeugung, dass wir durch einen Mann die Freiheit bekommen haben; an ihr müssen wir festhalten.136 Nicht unbedingt die besseren Argumente, sondern der Verweis auf die Vergangenheit wurde ausschlaggebend. Das Königtum des Kyros hatte einst die Freiheit der Perser begründet, das des Dareios sollte nun ihren Fortbestand sichern. Freiheit wird hier nicht als individuelle Wertvorstellung, sondern als eine dem gesamten Perservolk zugutekommende Befreiung vom Joch der benachbarten Meder gesehen. Sie galt als Verdienst der mit dem Reichsgründer Kyros untrennbar verbundenen monarchischen Regierungsform. Den charismatischen Aspekt der Achaimenidenherrschaft berührte Herodot dagegen kaum. Vielmehr konzentrierte sich sein Blick auf die für die Griechen spürbaren Auswirkungen der persischen Weltreichsbildung. Daher wurden die militärischen Leistungen der Achaimeniden, die das bis dahin größte Staatsgebilde der Antike geschaffen hatten, von den Griechen durchaus gewürdigt. Ebenso wurden diese Erfolge als Vorzüge der monarchischen Staatsform vermerkt. Dennoch hielt dies die Griechen nicht davon ab, die Machtstellung des persischen Königs als eine der Tyrannis ähnliche, uneingeschränkte Herrschaft zu betrachten. Daher bleibt das Urteil über die persische Regierungsform gespalten. Neben Anerkennung ihrer Vorzüge lässt sich auch eine deutliche Ablehnung der für Polisbürger anrüchigen Alleinherrschaft vernehmen. Ein Musterbeispiel dafür ist Herodots köstliche Anekdote über die Erlangung der Königswürde durch Dareios. Hier ein Auszug davon: Wegen des Königtums beschlossen die Perser Folgendes: Wessen Pferd als erstes bei Sonnenaufgang vor der Stadt wiehere, wenn sie aufgestiegen seien, der sollte die Königsherrschaft erhalten (…). Gleich bei Anbruch des Morgens waren die sechs Bewerber, wie verabredet, zu Pferde zur Stelle. Als sie vor der Stadt hin und her ritten und an die Stelle kamen, wo in der vergangenen Nacht eine Stute gebunden war, da wieherte das Pferd des Dareios, als es hinzukam. Zur gleichen Zeit, als das Pferd dies machte, fielen ein Blitz und ein Donner aus hellem Himmel. Dieses Geschehen, das für Dareios hinzukam, bestätigte ihn, wie wenn es nach einer gewissen Verabredung geschehe. Die anderen aber sprangen von den Pferden und verehrten Dareios fußfällig.137 Dieses für nichtpersische Betrachter barbarische Spektakel war wenig dazu angetan, eine positive Einschätzung der persischen Monarchie zu ver151

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mitteln.138 Es lag den Griechen fern, die absolute Machtstellung des persischen Königs als Freiheit (eleutheria) zu begreifen. Die Anlage des herodoteischen Werkes lässt deutlich werden, dass das Schema eines unter despotischer Herrschaft stehenden Ostens einerseits und der selbstbestimmten politischen Ordnung der Poliswelt andererseits die Grundüberzeugung der griechischen Weltsicht bildete.139 Im Dialog zwischen dem Perserkönig Xerxes und dem Spartaner Demaratos hat Herodot dem Dualismus zwischen den orientalischen Regierungspraktiken und der griechischen eleutheria ein Denkmal gesetzt.140 Diesem Idealbild bürgerlicher Tugenden, wie es die ­griechischen Autoren propagandistisch verkündeten, stand die bewusst zur Schau getragene Herrscherattitüde der Achaimenidenkönige gegenüber, die ein Bestandteil ihres politischen Selbstverständnisses darstellte. In der prachtvollen Residenz Persepolis, die ideelle Mitte des Perserreiches und Hort der monarchischen Repräsentation, ist sie steinerne Wirklichkeit geworden, wie die nachstehende Abbildung verdeutlicht. Im Vordergrund des Monumentalfrieses, der sich im Bereich des Palastes von Persepolis befindet, steht der Perserkönig. Er sitzt hieratisch steif und unbewegt auf einem reich verzierten Thron, erhaben über seine Untertanen. Nicht einmal seine Füße, die auf einem Schemel ruhen, berühren den Boden. In seiner Rechten hält er ein langes Zepter, eine runde Krone trägt er auf dem Haupt. Er allein sitzt, während sein Gefolge auf deutlich abgestufter Ebene in Bereitschaft steht, Wächter mit Speeren, offenbar die Leibwache, in Front zum König paradieren und einen Bittsteller vorlassen, der leicht gebückt mit der Hand vor dem Mund in ehrfurchtsvollem Gestus zur Audienz an den König herantritt. Die Distanz wird deutlich gewahrt durch zwei Feuer­altäre, die beide Figuren räumlich trennen. Abgehoben über die übrigen, genau in die Mitte gestellt und von den Augen aller anvisiert, bildet der König der Könige den inhaltlichen Schwerpunkt der Bildkomposition, eine Tatsache, die durch die sorgfältige Ausgestaltung von Kleidung (Umhang, Stiefel), Insignien (Zepter, Krone) und Haartracht (langer Bart in karoartiger Maserung) unterstrichen wird. Einzig der hinter Dareios’ Thron sich befindende Kronprinz Xerxes erreicht ihn, obzwar stehend, an Wuchs und trägt eine vergleichbare Königstracht. Ähnliche Reliefs, auf denen höfische Zeremonien wiedergegeben werden, finden sich im Ausgrabungsgelände von Persepolis zuhauf.141 Sie sind Ergebnis einer langen Tradition von Herr­ scherbildern, die der persischen Repräsentationskunst durch die Vermittlung von Assur und Babylon verfügbar gemacht wurden.142 Solche inszenierten Szenen verkündeten nicht nur politische Botschaften, sondern verdeutlichen zugleich Differenzen zwischen konkurrierenden Re152

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Der sitzende König der Könige Dareios, Monumental­ relief aus dem Schatzhaus des Palastes von Persepolis

gierungssystemen und Wertvorstellungen. Durch Betonung der jeweiligen Wertigkeiten werden die darunter schwelenden Gegensätze sichtbar. Eine klassische literarische Würdigung des Antagonismus zwischen der persischen Königsmacht und dem griechischen Bürgersinn entnehmen wir der Tragödie Die Perser des athenischen Dichters Aischylos.143 Im berühmten Traum der persischen Königsmutter Atossa erscheinen zwei Frauengestalten, die vor den Wagen des Xerxes gespannt werden: Eine von ihnen fügt sich in ihr Los und zieht den Wagen weiter, während die andere, als Griechin erkennbar, aufbegehrt und den Wagen zum Stürzen bringt. Hier ist der unmittelbare zeitgeschichtliche Bezug wirksam geworden. Der Stolz auf die eigene freiheitliche Verfassung und das gestärkte politische Selbstbewusstsein 153

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nach der erfolgreichen Abwehr der Perser nährten den Boden, auf dem sich ein solcher Dualismus entfalten konnte. Auf die Frage der Atossa: Wer ist als Gebieter über ihnen (über die Athener) und wer befiehlt dem Heer? erfolgt die Antwort: Keines Mannes Knechte oder Untertanen heißen sie.144 Der Vergleich zwischen demokratischem und monarchischem Regierungssystem schlägt bei Aischylos zum Nachteil der Autokratie aus. Die unter dem nomos Athens stehenden gleichberechtigten Bürger kontrastieren stark mit den der uneingeschränkten, herrschaftlichen Gewalt des Königs der Könige gehorchenden Persern. Eine besondere Wirkung erreichte Aischylos dadurch, dass er neben den vielen namentlich bezeichneten Personen auf die Individualisierung der griechischen Akteure verzichtete, um den ­politischen Egalitätsgedanken zu akzentuieren. Nicht Themistokles oder Leonidas wurden auf der öffentlichen Bühne als Leistungsträger des Gemeinwesens gefeiert, sondern die namenlose Bürgerschar, die durch ihr gemeinsames Bemühen den Sieg über die Anmaßung eines barbarischen Feindes davongetragen hatte, erhielt das höchste Lob. Dadurch wird die Polis als die Summe aller Bürger in eine mythische Sphäre erhoben und verklärt.145 Die unausgesprochene Botschaft solcher Texte ist klar: Barbaren waren zu derartigen Errungenschaften nicht fähig.

Barbaren des Westens Galten die Perser den Griechen als die Barbaren des Ostens, so übernahmen im Westen diese Rolle die jeweiligen Gegner, die sich den Römern in den Weg stellten, womit sich zeigen lässt, dass die Barbarenvorstellungen der antiken Völker untrennbar mit der Konstruktion von Dualismen und Feind­ bildern verknüpft sind. Den Anfang machten die Karthager. Das von Livius überlieferte Kurzpor­trät Hannibals bringt dies auf den Punkt, wenn es dort über ihn heißt: Er war kühn, wenn es galt, gefährliche Aufträge zu übernehmen, und in den Gefahren erwies er sich sehr besonnen. Keine Anstrengung konnte seinen Körper ermüden und seinen Mut besiegen. Hitze und Kälte ertrug er gleich gut, die Menge seiner Speisen und Getränke wurde vom natürlichen Bedürfnis, nicht von der Genusssucht bestimmt (…). Seine Kleidung hob sich von der seinesgleichen keineswegs ab. Dagegen fielen seine Waffen und Pferde auf. Er war der beste Soldat zu Pferd und auch zu Fuß. Als erster zog er in den Kampf, als letzter verließ er das Schlachtfeld. Diesen so großen Tugenden hielten übergroße Laster die Waage: Eine unmenschliche Grausamkeit, eine mehr als punische Treulosigkeit. Nichts galt ihm Wahrheit, nichts war ihm 154

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heilig. Götterfurcht kannte er nicht, ein Eid war ihm bedeutungslos, und er empfand keinerlei religiöse Bindung.146 Bemerkenswert an derartigen Einschätzungen ist, dass neben der Hervorhebung der unbestreitbaren Qualitäten des legendären Karthagers (sie ließen sich schlechterdings kaum leugnen), ein Schatten auf seine charakter­ liche Eignung fällt. Indem Hannibal mangelnde Religiosität attestiert und sie implizit mit der Vorbildlichkeit der Römer in sakralen Angelegenheiten kontrastiert wird, soll das unzivilisierte Verhalten des so negativ Gezeichneten hervorgehoben werden. Gleichwohl kündet das livianische Verdikt von der Ratlosigkeit der Römer angesichts des mittelmeerumspannenden Gewitters, das sich über der von Hannibal bedrohten Stadt zusammenbraute. Dass die Wucht der karthagischen Militär- und Propagandaoffensive keineswegs ungehört verhallte, beweist die Reaktion der Römer. Unter dem Druck der Verhältnisse sahen sie sich gezwungen, Stellung zu beziehen. Quintus Fabius Pictor, ein Zeitgenosse Hannibals, verfasste eine historische Abhandlung, die ganz von der Vorstellung erfüllt war, eine Chronik der Ereignisse aus römischer Sicht darzubieten.147 Er wollte die römische Position in diesem Krieg rechtfertigen, da sie Gefahr lief, ins Hintertreffen zu geraten. Welchen Adressatenkreis er dabei im Auge hatte, wird klar, wenn man bedenkt, dass ­dieses erste Geschichtswerk eines Römers in griechischer Sprache abgefasst wurde. Leider ist nur wenig davon im Original erhalten geblieben. Doch über Anlage, Argumentation und Intention dieses Werkes sind wir aufgrund einiger Bemerkungen des Polybios und des Dionysios von Halikarnassos unterrichtet. Daraus geht hervor, dass Quintus Fabius Pictor den Standpunkt vertrat, Rom führe ausschließlich gerechte Kriege zum Schutz der eigenen Bundesgenossen und sei daher den Karthagern moralisch überlegen. Aus diesem Grunde ist die römische Geschichtstradition von einem bisweilen bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Hannibalbild gekennzeichnet, das durch die verlorengegangene prokarthagische Überlieferung kaum noch zu revidieren ist. Erinnert sei etwa an die oben zitierten Worte des Livius, mit denen er Hannibal zu einem unberechenbaren Barbaren machte. Gegen diesen Gegner galt es, alle zur Verfügung stehenden Mittel aufzubieten. Die ideologische Strategie der Römer gipfelte in einer groben Polemik, mit der man den als Ausbund der Untreue und Lasterhaftigkeit charakterisierten Gegner verunglimpfte. Alles, was sich unter diesem Klischee subsumieren ließ, wurde aufgeboten und Hannibal und seinen Truppen angelastet. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet eine Passage des Livius, in der wir lesen können: Der punische Feind schleppt von den äußersten Küsten der Erde, von der Meerenge des Ozeans und den Säulen des Hercules Soldaten heran, die nicht einmal in 155

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Afrika heimisch sind und die kein Recht, keinen Vertrag, ja beinahe nicht die menschliche Sprache beherrschen. Diese Soldaten, die schon von Natur und Gewohnheit roh und wild sind, hat obendrein ihr Feldherr selbst zu wilden ­Tieren gemacht: Er ließ sie Brücken und Dämme aus aufgehäuften Leichen errichten und – man kann es nur mit Abscheu aussprechen – brachte ihnen bei, Menschenfleisch zu essen. Wer wollte es nicht verabscheuen, und wäre er in Italien auch nur geboren, wenn er Geschöpfe, die solch entsetzliche Speisen gegessen haben, die anzurühren schon eine Untat wäre, als Herren über sich anerkennen, sein Recht aus Afrika und Karthago holen und zulassen müsste, dass Italien eine Provinz der Numider und Mauren werde?148 Mit der Dämonisierung ihrer Rivalen verfolgten die Römer die Absicht, ihre eigenen Bundesgenossen, deren Bündnistreue durch die spektakulären Erfolge Hannibals auf eine harte Probe gestellt wurde, bei der Stange zu halten. Allein aus Furcht sollte ein mögliches Zusammengehen der römischen Verbündeten mit den Karthagern vermieden werden. Die Grobschlächtigkeit der römischen Kriegspropaganda lässt sich als Beleg dafür anführen, dass die Befreiungsideologie Hannibals nicht nur die kulturell den Karthagern nahestehenden Griechen, sondern auch manchen italischen Bundes­ genossen der Römer ansprach und eine entsprechende Wirkung entfaltete. Eine weitere, aufschlussreiche Variante des Barbarenmotivs lässt sich anhand der Berichterstattung über die Wechselfälle des 2. Römisch-karthagischen Krieges beobachten, wie das folgende Beispiel zeigt. Als nach der Katastrophe von Cannae der von Hannibal besiegte römische Consul Gaius Terentius Varro nach Rom zurückkehrte, soll er nach Livius wie folgt empfan­gen worden sein: Gerade in dieser Stunde der Not beseelte die Bürgerschaft eine so erhabene Gesinnung, dass sehr viele Menschen aller Stände dem Consul bei seiner Rückkehr trotz einer so schweren Niederlage, für die er selbst doch einen beachtlichen Teil der Verantwortung trug, entgegengingen und ihm dafür dankten, dass er den Staat nicht ganz aufgegeben habe. Als Heerführer Karthagos hätte er jede Strafe zu gewärtigen gehabt. 149 Dieser nachträglich abgefasste Lagebericht dokumentiert jen­seits des ­Pathos, der die Szene umschließt, eine un­leugbare histo­rische Realität: den römischen Selbstbehauptungs­willen. Roms Wi­derstands­kraft war nach Cannae keineswegs gebrochen. Ansonsten ist das in den Beteuerungen des römischen Historikers eingefangene Ambiente zu rela­tivieren. Dem Leser soll der römi­sche Großmut vorgeführt und die Solidarität der Römer in einer Notlage verdeutlicht werden und im Gegensatz dazu der Kleinmut der Karthager, ja ihre Perfidie angeprangert werden. Der Kontrast zwi­schen der Gelassenheit der römischen Politik dieser Tage, die die­ser aus römischen 156

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Quellen stammenden Episo­de unterlegt ist, und der Wirklichkeit könnte jedoch kaum größer sein. Tatsächlich breitete sich auf die Nachricht vom Desaster bei Cannae Chaos und Panik in Rom aus. Die Furcht vor dem ­unmittelbaren Auf­tauchen Hannibals vor den Stadtmauern Roms war gewaltig.150 Verzweif­lung, Erregung, religiöser Fanatismus, blinde Wut und aber­gläubische Furcht, die sich in der Darbietung von Menschenop­fern (be­ zeichnenderweise waren die Opfer Fremde) entlud, kenn­zeichneten die vorherrschende Stimmung.151 Im Übrigen beruhte die Anspielung auf das karthagische Verhalten gegenüber besiegten Feldherren, die angeblich ans Kreuz geschlagen worden seien, auf ein in Rom verbreitetes Vorurteil, das keiner kritischen Prüfung standhält.

Ariovist Eines der ersten Beispiele eines Barbaren aus dem Norden finden wir in Caesars Bericht über den Germanenhäuptling Ariovist152, der als besonders herrschsüchtig und mächtig vorgestellt wird – wohl stärker als er in der Realität war  –, um damit die eigenen Leistungen hervorzuheben.153 Dabei zeichnet Caesar ein Bild vom Anderssein eines ungestümen Fremden, der gegenüber römischen Wertmaßstäben unvorteilhaft hervorstach. Zur Legitimierung seines Vorgehens gegen Ariovist, der noch im Jahre 59 v.  Chr., ausgerechnet während Caesars Consulat, als amicus des römischen Volkes geehrt worden war, diente – wie so oft – ein gallisches Hilfegesuch: Nachdem Ariovist jedoch einmal die Truppen der Gallier in der Schlacht bei Magetobriga geschlagen habe, regiere er selbstherrlich und grausam, er fordere die Kinder des höchsten Adels als Geiseln und strafe und foltere sie auf jede Weise, wenn etwas nicht nach seinem Wink und Willen geschehe. Er sei ein jäh­ zorniger und unberechenbarer Barbar, sie könnten die Art seiner Herrschaft nicht länger ertragen (…). Es bestehe jedoch kein Zweifel daran, dass Ariovist, falls man ihm dies verrate, alle Geiseln, die er in seiner Gewalt habe, hinrichten lassen werde.154 Aus Caesars commentarii über den Gallischen Krieg erfahren wir, dass der pflichtbewusste Statthalter nicht tolerieren konnte, dass Ariovist die Haeduer, die Bundesgenossen der Römer, unterdrückte. Weiterhin wird die Gefahr ausgemalt, die für die römischen Interessen bestand, wenn unkontrollierte Germanenhaufen auf Veranlassung Ariovists den Rhein nach Belieben überquerten. Vermutlich handelte es sich bei dieser Begründung seines Eingreifens keinesfalls um eine nachträglich ersonnene Rechtfertigung, sondern sie 157

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dürfte wohl in dieser Form dem römischen Senat gegeben worden sein.155 Caesar verlangte ultimativ die Beendigung der germanischen Einwanderung nach Gallien. Weiterhin seien die von den Haeduern geforderten Geiseln freizulassen. Darauf entgegnete Ariovist, er sei als Sieger rechtmäßig verfahren, denn auch das römische Volk würde in einem ähnlichen Fall sich nicht nach den Forderungen einer dritten Partei richten. Damit stellte sich der selbst­ bewusste Anführer der Germanen auf eine Stufe mit Caesar, wenn er mit den Besiegten so umging, wie es die Römer üblicherweise taten. Dass eine solche Haltung vom römischen Standpunkt aus als Anmaßung und als Ausdruck einer überspannten Hybris gewertet wurde, bedarf keines Beweises. Die Episode kommt uns bekannt vor. Sie erinnert uns an die in den entwickelten, reichen Staaten der Gegenwart geführte Diskussion über die Aufnahme und Integration von Migranten aus den krisengeschüttelten Teilen der Welt. Wenn heute die Gefahr für die Architektur der eigenen Sozialordnung durch den Andrang der aus fremden Kulturen stammenden Aufnahmesuchenden heraufbeschworen wird, so waren damals die außerhalb des eigenen Wahrnehmungshorizontes lebenden Germanen die Zielpunkte der in jeder Gesellschaft offenbar unausrottbaren Xenophobie. Daher legte ­Caesar, um die Kriegslüsternheit der Germanen, die durch ihre Wildheit, Frucht einer jahrelangen Ermangelung fester Wohnsitze, zur blinden Tapferkeit angespornt worden seien sowie um den barbarischen Hochmut ihres Anführers zu unterstreichen, Ariovist Sätze wie diese in den Mund: Was die Tat­sache angehe, dass Caesar betont habe, er werde Übergriffe gegen die Haeduer nicht hinnehmen, so habe sich noch nie jemand mit ihm auf einen Kampf eingelassen, ohne dabei in sein Verderben zu stürzen. Wenn Caesar wolle, solle er angreifen; er werde sehen, was die nie besiegten, in höchstem Maße waffen­ erprobten Germanen, die vierzehn Jahre lang kein Dach über dem Kopf gehabt hätten, mit ihrer Tapferkeit zu leisten vermöchten.156 Auf die Nachricht, dass gallische Gebiete verwüstet wurden und eine starke suebische Truppe im Begriff sei, den Rhein zu überschreiten, setzte Caesar sein Heer in Marsch. Da Ariovist beabsichtigte, seine Truppen nach Vesontio (Besançon) in Stellung zu bringen, zog auch Caesar dorthin, um die Stadt zu besetzen. Kurz vor der Eröffnung der Feindseligkeiten soll sich jedoch Angst und Schrecken im römischen Heer ausgebreitet haben, als die Gallier Gerüchte über die Gestalt und Kampfkraft der Germanen ausstreuten: Sie erklärten beharrlich, die Germanen seien von ungeheurer Körpergröße, unglaublich tapfer und waffenerprobt, und wenn sie mit ihnen des Öfteren zusammengestoßen seien, hätten sie nicht einmal die Mienen und den scharfen Blick ihrer Augen aushalten können.157 158

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Derartige Notizen reihen sich in die bisherige Darstellung des bedroh­ lichen, unberechenbaren Barbaren ein, der nun dem Leser furchteinflößend mit ungeheurer Körpergröße und finsterem Blick gegenübersteht. Die Panik soll bei den römischen Soldaten ein solches Ausmaß erreicht haben, dass einige ihre Testamente verfasst und andere gar an Fahnenflucht gedacht haben sollen. Der römische Feldherr beruhigte jedoch die Gemüter seiner Legionäre mit einer emotionalen Rede, in der er auf vergangene Siege wie die des Marius über die Kimbern und Teutonen oder auf die Erfolge im Sklavenkrieg verwies. Die Erinnerung an bereits geleistete Heldentaten spornte sie an. Außerdem wirkte diese Form der Selbstvergewisserung identitätsbildend gegenüber den in den Augen der Römer unzivilisierten Barbaren, die keine vergleichbaren Erfolgsgeschichten vorweisen konnten. Auch der Rekurs auf den Aberglauben der Germanen wird aufgeboten, um das entworfene Barbarenporträt abzurunden. So berichtet Caesar, wie Ariovist eine Militär­ aktion wegen des Neumondes vermied und dass die Germanen nur Gegenstände anbeten würden, die sie sahen, nämlich Sonne, Feuer und Mond, womit sie als phantasielose Anhänger eines unterentwickelten Naturkultes abqualifiziert werden158, was die Vorstellung des unzivilisierten Barbaren zusätzlich verstärken sollte. Schließlich kam es zur Schlacht, bei der die Germanen vernichtend geschlagen und aus Gallien vertrieben wurden. In der Darstellung Ariovists wurde ein Urtypus des Barbaren geschaffen, der als naturhaft, jähzornig, unberechenbar, selbstherrlich und grausam galt. Das konstruierte Feindbild diente dazu, die rücksichtslose und eigensüchtige Handlungsweise Caesars zu beschönigen. Seine gewagten militärischen Interventionen sollten nicht als das wahrgenommen werden, was sie wirklich waren: Rücksichtslose Aggressionen gegen Völker jenseits der römischen Provinzgrenzen. Daneben sollte auch die römische Zuverlässigkeit gegenüber Bundesgenossen betont werden, die durch den zügellosen Barbaren Ariovist in Bedrängnis geraten waren.159 Caesars Barbarenbild speist sich aus zwei miteinander verwobenen Bestandsteilen. Zum einen spielte der personengebundene Aspekt eine wichtige Rolle, insbesondere das wilde Gebaren fremder Menschen, die hinsichtlich ihrer Lebensweise, ihres Aussehens und Verhaltens einen Kontrast zu der als normgebend empfundenen Wesensart der Römer bildeten. Auf der anderen Seite kommt ein strukturelles Merkmal hinzu. Es liefert die Vergewisserung, dass die Romnähe beziehungsweise Romferne nicht nur den räumlichen Abstand gegenüber barbarischer Lebensweisen markierte, sondern auch die eigene kulturelle Überlegenheit ­unterstrich. Dies wird von Caesar eher beiläufig vermerkt, als er auf die Grenzlage der römisch beeinflussten Regionen Galliens als zivilisatorisches 159

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Kriterium hinwies. Mit Bezug auf die den Ubiern benachbarten Germanen führte er aus: Auf der anderen Seite schließt das Gebiet der Ubier an, die für germanische Verhältnisse ein großes und blühendes Volk sind. Sie sind etwas zivilisierter als die übrigen Germanen, weil ihr Gebiet an den Rhein stößt und sie viel Verkehr mit Händlern haben. Wegen der Nähe zu Gallien haben sie selbst gallische Sitten angenommen.160 Gerade dieser letzte Aspekt, die Bewertung der geographischen Entfernung beziehungsweise Nähe zu Rom als Zivilisationsdefizit oder gar als eine Art Kulturbonus, je nach Perspektive, sollte sich im römischen Schrifttum zu einem geläufigen Topos entwickeln, den wir später bei Tacitus und vielen anderen antiken Autoren wie Ammianus Marcellinus, der nun ausführlich behandelt werden soll, zur Kennzeichnung barbarischer Lebensweisen immer wieder begegnen werden.

Gentes externae Kein anderer spät­antiker Autor bietet so viele Auskünfte über die auswär­ tigen Völker (externae gentes) wie der in der Nachfolge des Tacitus schreibende Ammianus Marcellinus. Ohne sein Oeuvre wären unsere Kenntnisse über die Hunnen, Alamannen, Franken, Sarmaten, Limiganten, Goten oder Alanen nur Stückwerk. Allerdings sollte der Versuchung widerstanden werden, einen rigiden Deutungsrahmen zu entwerfen, der die Gesamtheit des Themas einschließt und es somit übermäßig verallgemeinert. Wenn wir bei den Schemata bleiben, die Ammian benutzt, um das Bild fremder Völker zu vermitteln, fällt auf, dass diese, trotz der üblichen Gemeinplätze, die in ihren Charakterisierungen einfließen, beachtlich voneinander abweichen können. Während die Hunnen etwa und in geringerem Maße die Alanen als Antipoden der Zivilisation dargestellt werden, unterscheiden sich die dem römischen Reich näher benachbarten Franken oder Alamannen lediglich durch politische, wirtschaftliche oder juristische Faktoren wie ihre gänzlich andere Konzeption von Bürgerrecht, ihre Stammesorganisation oder ihren Lebensstandard von den römischen Vorstellungen einer kultivierten Lebensart. Auf dieser Grundlage konnte über ihre Unterwerfung debattiert oder die Möglichkeit ihrer Integration in den römischen Staatsverband erwogen werden, was etwa bei den Hunnen undenkbar blieb. Allerdings können wir Ammian nicht als eine Art Steinbruch für selektive ethnographische Informationen verwenden. Würden wir so handeln, dann liefen wir Gefahr, uns im Gewirr der Gemeinplätze zu verlieren, was aber nur zu Suggestivfragen oder Wert160

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urteilen führen würde, wie etwa sein angeblicher Antigermanismus beziehungsweise seine Sympathien und Antipathien, die er gegenüber bestimmten fremden Stämmen gehegt haben soll.161 Jenseits des rhetorischen Überbaus Ammians bei der Schilderung der Gestalt, des Charakters und der Lebensart dieser Personengruppen, gibt es belastbare Kriterien, um einen objektiven Interpretationsrahmen für die Beurteilung der Handlungsweise Roms gegenüber den auswärtigen Völkern zu entwerfen. Um die vielfältigen Verflechtungen der gentes externae mit dem Imperium zu verdeutlichen, lassen sich drei Bereiche benennen, die das Axiom der römisch-barbarischen Beziehungen bilden. An erster Stelle wäre die Problematik der Grenzverteidigung zu nennen, die mittlerweile nur in Kooperation mit den unmittelbaren Grenznachbarn bewerkstelligt werden konnte. Der zweite Faktor war die (sporadische) Integration von reichsfremden Völkern auf römischem Boden, die der Kolonisation brachliegender Ländereien und der Gefahrenentschärfung gegenüber neuralgischen Grenzabschnitten diente, um den Druck auf das Reichsgebiet zu vermindern. Schließlich ist auf die ausschlaggebende militärische Mitwirkung der reichsfremden, meist germanischen Truppen im römischen Heer hinzuweisen. Es sind gerade diese Aspekte, die das Augenmerk Ammians auf sich gezogen haben. Im Bewusstsein der zunehmenden Abhängigkeit des Reiches von seinen Nachbarn räumt er der Erörterung jener außenpolitischen Krisenlagen, die das Handeln der Reichsführung in besonderem Maße herausforderten, einen beträchtlichen Platz innerhalb seiner Babarenkapitel ein. Obwohl er von einem patriotischen Standpunkt geleitet wird, verfährt er verhältnismäßig unvoreingenommen bei der Darbietung seines Stoffes. Wenn gelegentlich die Postulate der Unparteilichkeit verletzt wurden, so geschah dies aus übergreifenden politischen Gründen, wie die folgenden Fallbeispiele zeigen, die uns in paradigmatischer Weise die Positionen der Beteiligten in diesem Wechselspiel von challenge and response sowie die Dialektik von Integration und Abwehr beider Welten veranschaulichen. Die erste Episode datiert aus dem Jahre 358, und sein Protagonist war der Caesar Julian, Befehlshaber des gallischen Heeres. Anlässlich der Darstellung eines seiner Feldzüge lobt Ammian sein Verhalten gegenüber den alamannischen Häuptlingen, Suomar und Hortar, die eine Gefahr für die bedrohte Rheingrenze darstellten. Unser Autor bietet das übliche chauvinistische Arsenal der römischen Rhetorik auf, um den Abschluss eines Friedensvertrages zwischen diesen Stämmen und dem Imperium zu feiern, indem er die reichsfremden Antagonisten als Verlierer präsentiert, die um die Gunst des siegreichen Caesar bettelten: So unterwarfen jene einstmals stolzen Könige, 161

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die sich daran gewöhnt hatten, vom Raub an unseren Landsleuten reich zu werden, ihren gebändigten Nacken dem Joch der römischen Macht. Als ob sie unter Tributpflichtigen geboren und erzogen worden wären, gehorchten sie unseren Befehlen, ohne zu murren.162 Wenn wir jedoch die Passage hinzuziehen, die dem zitierten Abschnitt vorangeht, stellen wir fest, dass Ammian, obwohl er die Alamannenhäuptlinge als geschlagene und als von der römischen Kriegsmaschinerie gede­ mütigte „Barbaren“ darstellt, die Tatsache nicht verbergen kann, dass das vermeintlich dominante Rom sich gezwungen sah, diesen Frieden in einer konfliktbeladenen Zone seines immensen Wirkungskreises schlicht zu erkaufen. Julian entrichtete den alamannischen Häuptlingen Subsidien, damit diese sich künftig von den Grenzen fernhielten.163 Dies war nicht der einzige Fall, bei dem römische Staatsvertreter pragmatische Außenpolitik gestalteten. Sie gaben mehr oder minder widerwillig Gelder aus, um ein Gefahrenpotenzial zu entschärfen und auch das Risiko, das jede militärische Aktion in sich barg, zu vermeiden. Rhetorische Floskeln über die „bittflehenden Barbaren“ und die Realität einer kaum noch funktionierenden militärischen Abschreckungsstrategie gehen nicht nur in diesem Fall weit auseinander. Die nächste Episode ist politisch anders zu gewichten. Kaiser Valens war es in den sechziger Jahren des 4. Jahrhunderts gelungen, ein Abkommen mit den Goten zu schließen, die sich am Unterlauf der Donau niedergelassen hatten. Er sah sich dazu gezwungen, obwohl die reichsfremden Stämme aus Sicht des Kaiserhofes einen Unruhefaktor in einer für die Sicherheitsbedürfnisse des Reiches empfindlichen Zone darstellten. Bei der Kommentierung der von der Reichsregierung ergriffenen Maßnahmen preist Ammian die prudentia des Kaisers, der dank eines behutsamen Truppeneinsatzes ein riskantes militärisches Abenteuer vermied, ohne sich auf eine unnötige Konfrontation einzulassen. Die einschüchternde Wirkung der römischen Kriegsmaschinerie hatte dieses Mal noch ausgereicht, um den Frieden an einem gefährdeten Grenz­ abschnitt zu wahren:164 Nach den verschiedenen Ereignissen dieser drei Jahre war es aus mehreren Gründen an der Zeit, den Krieg zu beenden: erstens, weil die Furcht der Feinde infolge der lang andauernden Anwesenheit des Kaisers zunahm, zweitens, weil die Barbaren infolge der Unmöglichkeit des Handelsverkehrs so sehr äußersten Mangel am Notwendigsten litten, dass sie immer wieder Bittgesandtschaften schickten und Verzeihung und Frieden verlangten. Der Kaiser war zwar unerfahren, erwies sich jedoch als nüchterner Beurteiler der Verhältnisse, bevor er, durch verderbliche Verlockung der Schmeichler verführt, den Staat ins Unglück stürzte, das ewige Trauer zur Folge hatte. So beschloss er in Anbetracht des Nutzens für den Staat, den Goten Frieden zu gewähren.165 162

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Die positive Einschätzung der Donaupolitik aus den Jahren 367–369 ist als Kontrast zu den Geschehnissen in Hadrianopel zu betrachten, als sämtliche römischen Amtsträger, vom Kaiser abwärts, kläglich versagten und den massiven Einbruch gotischer Kontingente auf römischem Boden nicht verhindern konnten (378).166 Eine derartig eklatante Beschämung der römischen Waffenehre hatte man seit Valerians Gefangennahme im Perserkrieg (260) nicht mehr erlebt. Schmerzlicher war aber die infolge des verlorenen Waffengangs eingetretene Verschlechterung der politischen Landkarte: Die Goten besetzten Provinzialgebiete, die dadurch der Souveränität Roms entglitten. Bei der Thematisierung der traumatischen Wirkung der römischen Niederlage, der Kaiser Valens zum Opfer fiel, bietet Ammian eine objektive Diagnose der Gründe, die zur Katastrophe geführt hatten: Die mangelhafte strategische Koordination des Feldzuges, das unheilvolle Streben nach Ruhm, das Valens zu einer übereilten, verhängnisvollen Konfrontation verleitete und nicht zuletzt die exzessive Gier und Gewaltbereitschaft der römischen Grenzkommandeure Lupicinius und Maximus, denen es gründlich misslang, die explosive Stimmung im Gotenlager zu entschärfen, womit eine friedliche Lösung vereitelt wurde: Als die über den Strom gekommenen Barbaren von Mangel an Lebensmitteln heimgesucht wurden, erdachten jene allgemein verhassten Heerführer ein niederträchtiges Geschäft. Sie brachten so viele Hunde auf, wie es ihre Unersättlichkeit vermochte, und gaben je einen für einen Sklaven, und unter diesen wurden sogar Verwandte von Häuptlingen fortgeführt.167 Die Rückschläge, die am Ende der siebziger Jahre des 4. Jahrhunderts sich als Konsequenz der gotischen Überschreitung der Donau einstellten, waren für Ammian das unheilvolle Resultat einer gescheiterten Politik, die, anstatt mit Mäßigung und Integrationsmaßnahmen auf die teilweise berechtigten gotischen Forderungen zu reagieren, stets das Gegenteil davon tat. Folgerichtig weist er die Verantwortung dafür den Vertretern der römischen Staatsmacht zu.168 Unser Chronist legt nahe, dass es für die Interessen des Imperiums besser gewesen wäre, freiwillig und geordnet den von den Hunnen bedrängten Goten die Grenzen zu öffnen, als, wie es dann wirklich geschah, zu versuchen, aus deren verzweifelter Lage engstirnige Vorteile zu ziehen, indem man mit fatalem Tunnelblick die Lösung der Probleme verpasste. Ammians Analyse beweist eine bemerkenswerte Freiheit im Urteil in einer überaus sensiblen auswärtigen Angelegenheit, die vitale Interessen des Reiches tangierte. Bei der kompromisslosen Kritik an den Ursachen der ­römisch-gotischen Auseinandersetzungen offenbarte er eine pragmatische Sichtweise auf die Krisen seiner Zeit. Wenn auch die römische Überlegenheit 163

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gegenüber den Grenznachbarn, wie zahlreiche Einzelfälle gezeigt hatten, bei weitem nicht so groß war, wie es die traditionellen Floskeln der Panegyriker nahelegten, zweifelte kaum jemand an der Wirkmächtigkeit der vorhandenen politischen und ökonomischen Ressourcen. Man glaubte daran, dass das Imperium sich langfristig über die gegenwärtigen Widrigkeiten erheben würde.169 Dennoch sollte sich nach der Niederlage von Hadrianopel der Umgang sowohl mit den aufrührerischen Grenznachbarn als auch mit den reichsfremden Truppen, die unter eigener Führung im römischen Dienst standen, grundlegend ändern. Die Lösung der damit verbundenen Probleme sollte sich zur größten Herausforderung für den Zusammenhalt des Reiches entwickeln.170 Die wachsende Bedeutung der germanischen Stämme, die sich innerhalb der Grenzen des Imperiums angesiedelt hatten oder diese fortwährend bedrohten, entwickelte sich zu einer Überlebensfrage. Von ihrem Verhalten als Soldaten im Dienste Roms, als auf römischem Boden niedergelassene Verbündete oder als innerhalb der Grenzregionen lebende Siedler hing das Schicksal des Kaiserreiches immer mehr ab. Die gotische Invasion der thrakischen Provinzen galt für Ammian als Bruch des prekären Gleichgewichtes der Kräfte, das unter großen Anstrengungen Jahrhunderte gehalten hatte und nun eine schwere Hypothek für den Fortbestand des Reiches darstellte: Das spätere Eindringen von Ost- und Westgoten, Franken, Vandalen und anderen germanischen Stämmen in die gallischen, hispanischen oder italischen Territorien, deren spektakulärer Höhepunkt die Plünderung Roms im Jahre 410 sein sollte, zeichnet sich in diesem Kontext als Fortsetzung und Intensivierung des Zerfallsprozesses ab, der mit dem Ableben von Kaiser Valens in der Schlacht von Hadrianopel begonnen hatte. Ammians Sicht auf die Gegenwart wird von zwei Aspekten bestimmt. Auf der einen Seite standen seine Leidenschaft, sein Moralismus, seine analytischen Fähigkeiten sowie die Überzeugungen eines erregbaren Patrioten, der die Fehler der Reichsführung für die eingetretenen Übel mitverantwortlich machte. Auf der anderen Seite fühlte sich Ammian, zermürbt durch die Ansammlung von Rückschlägen, die das geschwächte Reich erlitt, gefangen in einem Gefühl der Ohnmacht, weil er die Unmöglichkeit von dauerhaften Lösungen für die Probleme erkannte, die seine Welt zu ersticken drohten. Daher zeichnete er das Bild eines von den herbstlichen Stürmen durchgerüttelten Staatswesens, dessen Zukunftsperspektiven düsterer wurden und kaum noch zu prognostizieren waren, sogar für einen so bedingungslos von der Sendung Roms überzeugten Enthusiasten, wie es Ammian war. Für ihn wie für viele seiner Zeitgenossen bildete die dominante Stellung Roms gegenüber den Völkern auf der anderen Seite von Rhein und Donau  – ein 164

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a­ nderes Thema waren die wesentlich komplexeren Beziehungen zum Perserreich – einen der Eckpfeiler der raison d’être des Imperiums und seiner universellen Mission. Diese gründete auf dem Organisationsvermögen, den vielfältigen Ressourcen sowie der überwältigenden militärischen Überlegenheit, die so oft unter Beweis gestellt worden war. Auch wenn Rückschläge vorkamen, gelang es Rom am Ende, sich gegenüber seinen Gegnern durchzusetzen. Die Erfahrungen der Vergangenheit hatten bis auf wenige Ausnahmen gezeigt, dass Konflikte zugunsten Roms ausgingen, das anschließend die Friedensmodalitäten nach Maßgabe der eigenen Interessen festlegte. Diejenigen, die sich gegen die imperialen Machtansprüche auflehnten, wurden bekriegt, besiegt, versklavt, mehr oder weniger friedlich auf Reichs­ boden angesiedelt, oder sie verblieben als abhängige Verbündete außerhalb der Grenzen unter der wachsamen Kontrolle des römischen Heeres, den Bedingungen unterworfen, die der jeweilige Kaiser auferlegte. Ein verklärtes Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Nachbarn, nicht nur in zivilisatorischer, sondern auch in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht, bildete das von den römischen Eliten geteilte Wahrnehmungsparadigma. In diesem Kontext war Ammian keine Ausnahme. Wenn er sich der patriotischen Redewendungen der imperialen Propaganda bediente, um die römisch-barbarischen Beziehungen zu charakterisieren und dabei die Handlungsweise des Imperiums als Konzessionen oder gar als Gnadenakte gegenüber den potenziell unterlegenen Völkern umdeutete, so blieb er damit in der eigenen Selbsttäuschung gefangen. Darin drückte sich der herrschende Geistes­ zustand eines Teils der römischen Gesellschaft aus, welche die Augen vor der grauen Wirklichkeit verschloss, statt die tatsächlichen Widrigkeiten zur Kenntnis zu nehmen. Doch darin erschöpfte sich Ammians Beitrag zur Deutung der politischen Verhältnisse seiner Zeit keineswegs. Er hat sich einen Rest kritischer Distanz bewahrt und diese auch in der Anlage seiner res ­gestae zum Ausdruck gebracht. Die Völker, die außerhalb der Grenzen oft genug ein prekäres Dasein fristeten, wurden deshalb für Barbaren gehalten, weil ihnen das fehlte, was nach römischen Maßstäben den Kernbereich der eigenen Identität ausmachte. Gelang es den externae gentes, am Wohlstand des Reiches und an der römischen Lebensart zu partizipieren, so erfolgte diese Annäherung unter dem Zwang der Verhältnisse; das heißt, die an der Tür des Reiches klopfenden Fremden mussten sich den ersehnten Zugang erkämpfen. Nichts geschah aus Einsicht oder Freiwilligkeit. Die römischen Eliten zeigten sich nicht übermäßig sensibel im Umgang mit ihren Nachbarn, die meist lediglich eine Verbesserung ihrer dürftigen Lebensverhältnisse erstrebten. Sie verstanden weder die dramatische Situation, die sich 165

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außerhalb der Grenzen im letzten Drittel des 4.  Jahrhunderts zusammenbraute, noch waren sie imstande, prophylaktische Maßnahmen zu ergreifen, um sie entsprechend abzufedern. Bei der Beobachtung dieser Zusammenhänge erleben wir eine paradigmatische Änderung der Leitlinien der auswärtigen Politik. Die entscheidenden Impulse werden nun immer mehr von barbarischem Boden ausgehen und das Reich somit zwingen, darauf zu reagieren.171 Wie die meisten Imperien reagierte Rom zu spät und mit wenig Phantasie auf die Herausforderungen seines Wertesystems. Die Leitlinien römischer Regierungskunst waren darauf ausgerichtet, die Disproportion in den Beziehungen zwischen Reich und Peripherie, seit jeher das Hauptziel des römischen Imperialismus, zu konservieren. Das Primat römischer Interessen als Grundsatz der Außenpolitik galt als eine nicht verhandelbare Bedingung und unverzichtbare Garantie, um das erwünschte Ungleichgewicht der Kräfte zu erhalten, das heißt, um die römische Dominanz zu zementieren. Eine solche Einschätzung der Herrschaftsideologie wurde von den intellektuellen Kreisen, zu denen Ammian zählte, aus Überzeugung geteilt. Das ist der Grund, dass, wenn diese Autoren über Episoden berichteten, die um die externae gentes kreisten, sie dies in einer pathetisch auftrumpfenden Weise taten, die gerade deshalb so anachronistisch klang, weil sie spätestens seit Hadrianopel völlig fehl am Platze war. Es entging der kritischen Wahrnehmung der Zeitgenossen nicht, dass die Folgen von Hadrianopel die Koordinaten der bisherigen territorialen Ordnung empfindlich verrückt hatten: Das Reich verlor damals die Kontrolle über strategisch wichtige Gebiete, die nun unter gotische Herrschaft gerieten. Bis zu diesem Zeitpunkt galt die feste Überzeugung, dass die römische Überlegenheit die Regeln der Außenpolitik bestimmte. Dies wurde immer wieder verwirklicht unter Anwendung von Kriterien wie Belohnung oder Bestrafung benachbarter Völker, die auf der eigenen unangefochtenen Hegemonie gründeten, was jedoch gegen Ende des 4. Jahrhunderts außer Kraft gesetzt worden war. Plötzlich waren die Goten in der Lage, mit dem gebeutelten Imperium auf Augenhöhe zu verhandeln, eigene Bedingungen zu stellen oder sogar Vorteile zu erzielen, was in früheren Zeiten undenkbar erschien. Je deutlicher sich der radikale Wandel der auswärtigen Politik, der zum Nachteil der bisher unbestrittenen Vormacht vor sich ging, offenbarte, desto beharrlicher versuchte die offizielle Propaganda, ihn zu verdecken. Themistios, einer ihrer wichtigsten Wortführer, leugnete nicht nur die für das Reich negativen Folgen des mit den Goten abgeschlossenen foedus von 382, den zu unterschreiben sich Theodosius gezwungen sah, sondern ­präsentierte ihn als Erfolg kaiserlicher Diplomatie. Durch Rekurs auf die 166

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S­ chemata der römischen Großmachtideologie zeichnete er eine politische Idylle, die von der Realität Lügen gestraft wurde: Wir sahen, wie die Anführer und Häuptlinge der Goten nicht etwa durch Täuschung ein Übergabefähnchen brachten, sondern wie sie auf Schwert und Eisen verzichteten, aufgrund deren sie bis zu jenem Tag überlegen gewesen waren, und wie sie die Knie des Kaisers umschlangen, demütiger als einst Thetis, wie Homer sagt, die Knie des Zeus umfasst hat, als sie ihn um ihres Sohnes willen anflehte, bis sie einen ­gnädigen Wink erhielten und eine Stimme vernahmen, die nicht Krieg entfachte, sondern voller Gnade, Friedfertigkeit und Wohlwollen war und das Unrecht gänzlich verzieh.172 Es drängt sich der Eindruck auf, dass Ammian als Historiker und kritischer Beobachter des politischen Panoramas seiner Zeit nicht bereit war, die negativen Konsequenzen der gotischen Machtbildung auf römischem Boden nach dem Vorbild anderer Autoren zu ignorieren oder gar mit wohlklingenden Sätzen, die an das römische Überlegenheitsgefühl appellierten, zu verschleiern. Es war vielleicht diese tiefe Frustration, Frucht eines unbestechlichen Geistes, die ihn dazu verleitete, den Endpunkt seines Werkes keineswegs zufällig oder willkürlich zu setzen. Angesichts der außerordentlich problembehafteten Gegenwart entschied er sich bewusst dazu, die Nachwirkungen von Hadrianopel weder zu beschönigen noch in den Chor der Panegyriker der offiziellen Propagandamaschinerie einzustimmen. Im politischen Denken Ammians markierte der Verlust von Gebieten, die vormals unter römischer Herrschaft gestanden hatten, die Grenze dessen, was das Imperium ertragen konnte. Nirgendwo in seinem Werk wird die Fieberkurve des verletzten Patrioten so explosiv ansteigen wie in jenen Passagen, die über den Friedensvertrag zwischen Kaiser Jovian und dem Perserreich berichten (363), der nach der missglückten Persienexpedition Julians die Abtretung römischer Provinzen jenseits des Tigris an das Perserreich festschrieb. Bei der Niederschrift dieser unrühmlichen Episode kennt Ammians Empörung keine Grenzen: Hartnäckig forderte der Perserkönig seine Gebiete, die ihm, wie er selbst sagte, von Max­imian vor langer Zeit entrissen worden waren (…). Er verlangte Arzanene, Moxoene, Zab­di­cene ferner Rehimena und Corduene zusammen mit fünfzehn Kastellen, dazu Nisibis, Sin­gara und die äußerst günstig gelegene Festung Castra Maurorum. Wir hätten lieber zehnmal kämpfen sollen, um nichts davon aufzugeben, doch setzte die Menge der Schmeichler dem furchtsamen Kaiser zu (…). Ohne jegliches Zögern lieferte er alles aus, was ­gefordert wurde, und konnte dabei nur mit Mühe durchsetzen, dass Nisibis und Singara ohne ihre Einwohner in persischen Besitz übergingen und dass von den anderen Kastellen wenigstens die römischen Be­satzungen in unser Gebiet 167

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zurückkehren durften (…). Nach der Bestätigung dieser schmach­vollen Abmachung sollte während einer Waffenruhe nichts unternommen werden, was dem Vertrag widersprach.173 Um wie viel höher muss Ammians Enttäuschung gewesen sein nach dem Gotenfoedus des Jahres 382, das die Abtrennung vitaler Teile vom Rumpf des Imperiums festschrieb, die strategisch wichtiger waren als jene Rand­ bereiche in Mesopotamien, die im Jahre 363 den Persern in die Hände gefallen waren. Möglicherweise war dieser erzwungene territoriale Rückzug, beschönigt und verschleiert durch die offizielle Propaganda, der Auslöser, der Ammian zu einer irreversiblen Distanzierung von der politischen Bericht­ erstattung veranlasste. Aus seinem Vergleich zwischen Cannae und Hadrianopel kann nicht gefolgert werden, wie dies einige Historiker tun174, er sei überzeugt, Rom werde sich in ähnlicher Weise wie nach der Niederlage gegen Hannibal wieder erholen. Cannae war in der Tat der Wendepunkt in einem Konflikt, der danach zu Lasten Karthagos ausging. Ammian, der sich den realen Möglichkeiten des politischen Betriebs seiner Zeit bewusst war, hegte jedoch wenig Hoffnung in die Regenerationsfähigkeit des angeschla­ genen Reiches. Als er seine res gestae etwa zwei Jahrzehnte nach der verhängnisvollen Schlacht niederschrieb, sah er keine Anhaltspunkte für eine Besserung der verfahrenen Lage. Vermutlich war gerade dieser Pessimismus in Anbetracht der düsteren Zukunftsperspektiven die tiefere Ursache für sein aufschlussreiches Schweigen nach Hadrianopel.

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III Kult und Erlösung

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ie nachfolgenden Kapitel wollen drei miteinander verzahnte Problemfelder, die um das antike Kultverständnis kreisen, erörtern und auf bestehende Analogien beziehungsweise Differenzen aufmerksam machen. Ihre Bedeutung ergibt sich schon aus der Tatsache, dass die heute vorherrschenden religiösen Tendenzen (Christentum, Judentum und Islam) ohne ihre antiken Wurzeln und die dazu gehörige Vorgeschichte kaum zu verstehen sind. Zunächst geht es um die Erfassung der Grundlagen des griechischen Kultwesens und seinen Modellcharakter für die weiteren Religionssysteme des Altertums (Erschaffung des Olymp). Gleichzeitig sollen anhand ausgewählter Beispiele der Religiosität des politischen Alltags nachgegangen und ­einige signifikante Reibungsflächen offengelegt werden (Phye-Episode, Hermenfrevel, Sokratesurteil), um daran das spannungsgeladene Verhältnis zwischen religiöser Normenbefolgung und individuellem Entfaltungsdrang zu überprüfen. Ähnliches soll für die römisch geprägte Weltsicht nachgeliefert werden, indem auf die Grundzüge der römischen Religionsausübung, ihr Regelwerk und ihre Toleranzschwelle näher eingegangen wird. Im nächsten Fragekomplex steht der Einbruch des Christentums in die polytheistische Landschaft der Alten Welt im Mittelpunkt. Dabei werden seine Lehre und seine Organisationsform, seine Behauptung als anerkannte Religions­ gemeinschaft und die damit zusammenhängenden Konfliktlagen sowie sein Verhältnis zum Staat in Augenschein genommen (Christentum und römischer Staat, die Durchsetzung des Christentums). Die Instrumentalisierung der Götterwelt durch machtverliebte Individuen ist eine eigene Betrachtung wert, weil die Inanspruchnahme der Religion als Rechtfertigungsstrategie menschlichen Tuns die Belastbarkeit und die Grenzen des antiken Kultverständnisses offenbart (Handeln im göttlichen Auftrag), wobei die ausgewählten Fallstudien sowohl auf die heidnische wie auch auf die christliche Welt Bezug nehmen. Der letzte Block widmet sich der Konfrontation, den Krisen und den Neuentwicklungen, die sich im Zusammenhang mit der 169

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III  Kult und Erlösung

Ausbreitung des Christentums in Staat und Gesellschaft des römischen Reiches ergeben haben. Dabei tauchen Fragen wie diese auf: Unter welchen Bedingungen entsteht Rechtgläubigkeit? Was sind die Ursachen für das Aufkommen fundamentalistischer Strömungen im antiken Religionsbetrieb? Welche tragenden Elemente, die sich aus der Antike ableiten lassen, bestehen noch heute in den Beziehungen zwischen Kirche und Staat? Welche religionspolitische Funktion kommt den früher als Götter verehrten, nun christlich gewordenen Herrschern im Imperium Romanum Christianum zu?

1 Erschaffung des Olymp Da ihr noch die schöne Welt regieret, An der Freude leichtem Gängelband Glücklichere Menschenalter führtet, Schöne Wesen aus dem Fabelland! Ach, da euer Wonnendienst noch glänzte, Wie ganz anders, anders war es da! Da man deine Tempel noch bekränzte, Venus Amathusia! (Friedrich Schiller, Die Götter Griechenlands)

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esonders anschaulich tritt die mythologische Verknüpfung zwischen Götter und Menschen in den Werken Homers an jenen Stellen hervor, wo Genealogien entworfen oder gegenseitige Parteinahmen und Verstrickungen zwischen den sterblichen und unsterblichen Akteuren der Epen sichtbar werden. Sie bestimmen nicht nur den Fortgang der Handlung, sondern auch die Spannbreite von Nähe und Ferne zwischen beiden Sphären, die stets miteinander verwoben bleiben. Die olympischen Götter1 sahen nicht nur wie Menschen aus, sie traten wie diese auf, wurden ebenso von ­Begierden und Leidenschaften erfasst und getrieben. Ihr Handeln unterlag dem unentrinnbaren Räderwerk des Schicksals. Der Olymp homerischer Prägung erwies sich als eine nach den gültigen Parametern der Adelsgesellschaft gestaltete Wohnstätte der Unsterblichen. Gemeinsame ethische Vorstellungen und Verhaltensnormen verbanden beide Bereiche zu einer Wertegemeinschaft, die in ihrem Bemühen nach Erfüllung und Vollkommenheit 170

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1  Erschaffung des Olymp

aufeinander angewiesen blieben. Doch damit erschöpfte sich keinesfalls die Komplexität der Beziehungen zwischen den Bewohnern der olympischen Gefilden und der irdischen Welt.2 Wie alle kultischen Systeme vermittelte auch die griechische Religion Gewissheiten und Trost zugleich. Sie vermochte das von Mühsal geplagte Leben der Menschen in einen kosmischen Dachverband einzubetten, der die Aussicht auf Ordnung und Geborgenheit eröffnete und in dem die Götter Ausdruck sowohl für den Weg, als auch für das Ziel zur Verwirklichung menschlicher Sehnsüchte und Hoffnungen verkörperten. Ebenso wichtig für das Verständnis der griechischen Kultpraxis sind die Beiträge der vorhelle­nischen Bevölkerung. Wir wissen, dass die Verehrung der Mater Magna Jahrtau­sende hindurch bei den Völkern des Ägäisraumes vorherr­schend war. Grie­chisch sprechen­de, kriege­rische Ein­dringlin­ge brachten eine patriar­chalische, von Zeus domi­nierte, olympische Religion mit sich, die in den folgenden Jahr­hunder­ten die alten Kult­formen zu überlagern vermochte. Auf den Linear B-Täfel­chen der myke­nischen Zeit finden sich bereits Namen des späteren Göt­terpantheons, wie etwa Hera, Poseidon, Hades, Ares, Hermes, Aphrodite oder Artemis, was ein Hinweis für die Evidenz kultischer Kontinuitäten ist. Doch die Vielzahl der Gottheiten, ihre Abstam­mung und ihre Wirkungs­sphäre werden für uns erst mit dem Beginn der Schrift­lichkeit fassbar. Hier ist eine Ten­denz zur Vereinheitlichung und Systematisierung der Göt­tergenealogien erkennbar. Zudem wird schon früh eine reflektie­rend-rationale Aus­deutung sichtbar, welche die Theolo­gie zur Mythologie werden lässt. Dafür verantwortlich sind die homeri­schen Epen, deren Gottheiten nach dem Vorbild der Repräsentanten der vornehmen Welt der frühgriechischen Ge­sellschaft zu einem geschlossenen Ganzen zusammen­gefügt wurden, an deren Spitze Zeus thronte. Der im griechischen Denken angelegte Anthropomorphismus brach sich hier Bahn und suchte die Geburt, Jugend, Liebes­beziehungen, Charak­ter und Aufgabenbereiche der einzelnen Götter anschaulich abzubilden. Obwohl diese keineswegs voll­ kommen waren, hafteten ihnen bestimmte Attribute an, die sie von den Menschen abhoben: Unsterb­lichkeit, Glückselig­keit, Allmacht, All­gegen­wart und All­wissen­heit. Während Homer den Götterolymp als eine ewige Ordnung beschrieb, nahm Hesiod in seiner Theogonie den Mythos der Weltschöpfung auf, indem er auf ältere Traditionsstränge des orientalischen Raumes zurückgriff und in seine Betrachtungen einbezog: Erst nach schweren Kämpfen gegen die Titanen errang Zeus, der Sohn des Kronos, die Herr­schaft des Olymps. Von den anderen Olympiern schließlich als Herrscher anerkannt, wies er ihnen ihre 171

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Rechte und Pflichten zu und schuf damit eine neue göttliche Ordnung. ­Hesiods Hang zur Systematik ließ ihn die unüberschau­ba­re Menge von Gott­ heiten, die in der grie­chischen Religion verehrt wurden, in eine genealogische Ord­nung bringen, sodass er als erster Theologe der Grie­chen gelten kann. Jahrhunderte später resümierte der Historiker Herodot rückblickend, dass Homer und Hesiod den Griechen den Stammbaum der Götter aufge­ stellt, den Göttern Beinamen gegeben, ihre Verehrungsräume und Wirkungs­ bereiche geschieden und ihre Gestalt beschrieben hätten.3 Nicht auf den historisch nachweisba­ren Kult der Griechen bezog er sich dabei, sondern auf das Erscheinungsbild der Götter in der epischen Dichtung. Dabei muss betont werden, dass Homer und Hesiod disparate Überliefe­rungs­stränge in ihren Werken verein­heitlicht haben und so, ohne auf lokal­spezifische Beson­ derheiten ein­ zuge­ hen, den olympischen Göttern eine gesamt­ griechi­ sche Geltung ver­schafften. Ein Ausblick in die klassische Zeit zeigt uns, dass die olympischen Gottheiten ihre von Homer und Hesiod zugeschriebenen Wesenszüge bewahren konnten und mit dem Bürger­sinn der Polis weitgehend verschmol­zen. Dies geschah, obwohl mit den ioni­schen Naturphilosophen zunächst, dann mit der Sophi­stik und schließlich mit Platon eine rationalistische Kritik aufkam, die den durch Homer und die Tragi­ker vertretenen mythischen Diskurs ­dialektisch zergliederte oder gar ver­warf. Da aber in der Praxis die überlieferten religiösen Wertvorstellungen ihren Platz hartnäckig behaupteten, suchte die nach­platonische Philosophie nach neuen Wegen, indem sie den My­ thos als bildhafte Metapher für naturphilosophische oder ethische Grundwerte ausdeutete. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch bei den Vertretern der dramati­schen Dichtkunst nachzeichnen. Zelebrierte Aischylos noch die ­homerische Tradition auf der Bühne, so haben wir in Euripi­des den Vertreter einer philo­sophisch geprägten Auf­klärung vor uns, der in sehr freier Weise auf Götterallegorien zurückgriff, um daraus literarische Stoffe für ethische Aussagen zu gewinnen. Überhaupt setzte das Aufkommen der Sophistik einen bewussten Kontrast zu den konventionellen Auslegungspraktiken der traditionellen Religion, indem rationalistische Modelle zur Weltdeutung die Bahn für eine radikale Religionskritik ebneten, auf die im nächsten Kapitel kurz eingegangen wird.

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2 Religiöser Eifer Phye zieht in Athen ein

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m Zusammenhang mit der Darlegung der Peisistratoshandlung liefert ­Herodot eine aufschlussreiche Notiz über die enge Vernetzung zwischen persönlichen Ambitionen und religiösen Sehnsüchten. Sie gleicht auf den ersten Blick einer erstaunlichen Maskerade. Gleichwohl vermag sie Rechenschaft über die beträchtliche Sprengkraft der Volksfrömmigkeit sowie über die Stimmungslage der im archaischen Athen (6. Jahrhundert v. Chr.) vorherrschenden religiösen Erregung abzulegen. Die in Frage kommende Textpassage lautet folgendermaßen: Nun ersannen Peisistratos und Megakles, um Peisistratos Rückkehr nach Athen zu ermöglichen, eine recht einfältige List (…). In dem Demos Paiania lebte eine Frau namens Phye. Sie war vier Ellen weniger drei Finger groß und sonst wohlgestaltet. Diese Frau steckten sie in eine volle Waffenrüstung, ließen sie auf einen Wagen steigen und fuhren sie in stattlicher Haltung in die Stadt. Herolde mussten vorauslaufen und beim Betreten des Stadtbezirks verkünden:„Athener, nehmt Peisistratos willig und freudig auf; denn Athene ehrt ihn am meisten von allen Menschen und führt ihn selbst in ihre Burg zurück.“ So riefen sie auf allen Straßen. Sogleich breitete sich das Gerücht in alle Teile des Landes aus, dass Athene Peisistratos zurückführe. In der Stadt glaubten alle, die Frau sei wirklich die Göttin; sie beteten sie an und nahmen Peisistratos auf. 4 Wer einmal in der Pfingstmontagnacht noch vor Tagesanbruch die jährlich stattfindende Wallfahrt zu Ehren der Jungfrau von der Morgenröte (Virgen del Rocío) im südspanischen Almonte unweit der Guadalquivirmündung erlebt hat, wie eine gewaltige Menschenmenge das Defilée der Weißen Taube (Blanca Paloma) begleitet – so bezeichnet man liebevoll die Marien­ figur  –, und mit einer Mischung aus Verzückung, entfesselter Emotionen und Massenhysterie sich dem Kultbild nähern will, um es anzufassen, was zu einem unbeschreiblichen Gedränge führt und dann, als dies gelungen ist, froh sein kann, wenn das Ganze ohne größere Blessuren heil überstanden ist, der wird den von Herodot verzeichneten Auftritt der Phye in Athen mit einem komplizenhaften Augenzwinkern betrachten. 173

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Der herodoteische Bericht über Peisistratos’ Einzug in Athen mithilfe der Phye-Travestie lässt ebenso wie der heutige Pilgerzug zum Wallfahrtsort Almonte (Romería de la Virgen del Rocío) mehrere Deutungen zu. Zunächst kündet er von der im archaischen Athen verbreiteten Vorliebe für Spektakel und Theatralik, was nicht besonders überrascht in einer Stadt, die als Geburtsstätte der Bühnenaufführungen galt, die ursprünglich als religiöse Veranstaltungen für den Gott Dionysos entstanden sind. Mit dieser Neigung hängt die Zurschaustellung von Kultszenen, -bildern und -ritualen eng zusammen. Starke visuelle Reize, einfallsreich inszeniert und mit der Patina religiöser Devotion überzogen, waren damals und sind noch heute in der Lage, tiefe Eindrücke zu erzeugen und Leidenschaften zu entfesseln. Damit lässt sich eine weitere Sichtweise der Begebenheit verbinden. Um eine entsprechende Wirkung entfalten zu können, musste das Erregungspotenzial auf fruchtbaren Boden fallen. Nur auf dem Hintergrund einer ansteckenden, mitreißenden religiösen Fieberkurve konnte die Epiphanie einer inbrünstig verehrten Gottheit auf die nötige Aufnahmebereitschaft treffen, um die gewünschten Effekte auszulösen. Dass der Kultbetrieb jener Jahre in Athen von religiösem Eifer und psychologischer Überspanntheit erfüllt war, dafür gibt es mehr als nur Indizien. So schreibt Friedrich Cornelius, einer der besten Kenner der Materie, über den uns hier berührenden Sachverhalt Folgendes: „Attika war von religiöser Propaganda aufgeregt. Die ekstatische Dionysosreligion und die eleusinischen Mysterien fanden immer mehr Anhang, die orphischen Prediger traten auf; der Frevel gegen die Kyloner schreckte mit der Angst vor göttlicher Strafe. Ein solcher Geisteszustand hat Visionen und Massensuggestionen auch bei viel nüchterneren Völkern im Gefolge, als die Griechen es waren.“5 In diesem Kontext verdeutlicht die von Peisistratos inszenierte AthenePhye Epiphanie jenseits der religionsphänomenologischen Ebene, die solchen Begebenheiten zu eigen ist, nicht nur einen besonders krassen Fall religiöser Ekstase, sondern auch das Ineinandergreifen von Kult und Macht. Phye-Athene symbolisiert die unausrottbare menschliche Hoffnung auf die Gegenwart der göttlichen Wirkkraft im sozialen Leben einer Gemeinschaft, während Peisistratos – und Megakles, der auch daran beteiligt war – für die nicht minder präsente Versuchung stehen, die Magie des Sakralen für politische Zwecke einzuspannen; oder anders ausgedrückt, für das tiefe menschliche Bedürfnis nach Nähe und Vereinigung mit einer bestimmten Gottheit. Herodots Verweis auf die Leichtgläubigkeit der Athener stammt aus einer späteren Zeit, die vom rationalistischen Einfluss der athenischen Intellektualität auf das religiöse Empfinden des späten 5. Jahrhunderts v. Chr. geprägt 174

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war. Daher sind seine Wortwahl und Ausdeutung dieser Episode aus der Warte der Perikleischen Epoche nachvollziehbar. Dennoch werden genug Beispiele überliefert – zwei davon, nämlich den Hermenfrevel und die Causa Sokrates, werden wir im Anschluss erörtern  –, die für eine ausgesprochen religiös aufgewühlte Atmosphäre in Herodots eigener Zeit stehen und daher zur Vorsicht mit einer allzu säkularen Interpretation der religiösen Gefühlswelt einer vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft mahnen. Jedenfalls stellte sich unser Chronist die Ursprünge der griechischen Religion äußerst nüchtern vor. Seine Einschätzung über die Beschaffenheit und Funktion der ­Götter und des Kultes liest sich eher wie eine aus dem Geist der Sophistik geschöpfte Proklamation: Aber woher jeder einzelne Gott stammte oder ob sie schon immer alle da waren, wie sie aussahen, das wussten die Griechen bis gestern und vorgestern nicht. Hesiod und Homer haben meiner Meinung nach etwa 400 Jahre vor mir gelebt, aber nicht mehr. Sie haben den Stammbaum der Götter in Griechenland aufgestellt und ihnen ihre Beinamen gegeben, die Ämter und Ehren unter ihnen verteilt und ihnen ihre Gestalt verliehen.6 Die herodoteische Textpassage gibt Zeugnis für eine zu seiner Zeit in Athen heftig geführte Diskussion über den Stellenwert der Götter in der menschlichen Gesellschaft, an der die Sophisten maßgeblich beteiligt waren. Ihre rationalistische Ausdeutung des Kultwesens verbunden mit dem Bekenntnis, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, schränkte nicht nur die Wirkkraft jeder übernatürlichen Sphäre erheblich ein, sondern leistete auch der Relativierung überlieferter Wertvorstellungen der traditionellen Religion Vorschub. In seiner Schrift Über die Götter verfasste Protagoras ein agnostisches Manifest, worin Sinn und Zweck der anerkannten Gottheiten in Frage gestellt wurden. Noch deutlicher wurde die Religionskritik in dem entweder von Kritias oder von Euripides stammenden Sisyphostraktat getrieben, der die Entstehung des Götterglaubens ins Visier nahm. Die Etablierung religiöser Wertvorstellungen wird hier als listenreiche Erfindung und gleichzeitig als politische Notwendigkeit gesehen, um die Masse des Volkes zu zähmen und mittels abergläubischer Furcht in Abhängigkeit von den herrschenden gesellschaftlichen Normen, die jede staatliche Ordnung konstituieren, zu halten.7 Mit dem Aufkommen des Agnostizismus in der Sophistik wurde das Nachdenken über die politische Sprengkraft der Religion angestoßen. Dieser Impetus beschäftigte und trieb auch manche Humanisten der Renaissancezeit an. Eine besondere Wirkung sollte die nie ganz erloschene Debatte jedoch in der Epoche der Aufklärung entfalten, weil sie daran anknüpfend die Koordinaten des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat neu definierte und damit die Säkularisierung der modernen Gesellschaften ermöglichte. Da175

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III  Kult und Erlösung

nach erhielt das Thema in der marxistischen Weltsicht erneut Relevanz. Es bestimmte die Tonlage des historischen Materialismus entscheidend mit und ist seither nicht mehr zum Verstummen gekommen.

Hermenfrevel Im Sommer des Jahres 415 v. Chr., als das kriegsgeschüttelte Athen durch Anspannung aller Kräfte im Begriff stand, eine Wende im peloponnesischen Konflikt mittels einer wagemutigen Expedition nach Syrakus herbeizuführen, wurden die Bewohner der Stadt kurz vor Auslauf ihrer Flotte von einer gewaltigen Panik aufgeschreckt. Als sie morgens aufwachten, erlebten sie, dass unter dem Schutz der Nacht fast allen Hermen die Köpfe abgeschlagen oder verstümmelt worden waren. Ein ohnmächtiges Entsetzen ergriff die Bürgerschaft. Der Vorfall traf eine Stadt, die sich gerade auf ein überaus riskantes militärisches Abenteuer einlassen wollte, wie ein Peitschenhieb. Ein Religionsfrevel war geschehen, galten doch besagte Statuen als verehrungswürdige Sakralbilder, die eine besondere Ehrwürdigkeit ausstrahlten. War alles ein spontaner Gewaltakt, von einer übermütigen, alkoholisierten jungen Bande inszeniert, oder handelte es sich gar um eine bewusste Provokation? Wie konnte man angesichts eines derartigen Sakrilegs noch an einen glücklichen Ausgang der für das Schicksal der Stadt entscheidenden Unternehmung hoffen? War sie nicht schon gescheitert, bevor sie begonnen hatte? Die den Ereignissen am nächsten stehende Quelle, Thukydides, beschreibt das Tauziehen um den Hermenfrevel weniger als religiösen Skandal, sondern vielmehr als politischen Machtkampf. Seiner Ansicht nach wurde die heikle religiöse Thematik gewaltig aufgebauscht und als Vorwand missbraucht, um Alkibiades und seine Anhängerschaft aus dem öffentlichen Leben Athens zu verbannen.8 Allerdings ist dabei zu bedenken, dass Thukydides dem Wirken überirdischer Gewalten in seinem Geschichtswerk generell wenig Raum einräumt. Umso mehr stehen bei ihm machtpolitische Beweggründe als Motive für staatliches Handeln im Vordergrund. Daraus erklärt sich seine deutliche Positionierung. Hinzu kommt, dass er, von den Fähigkeiten des Alkibiades überzeugt, es für einen schweren Fehler hielt, dem Staatsmann und Feldherrn in einer für Athen überaus kritischen Lage mit einer gerichtlichen Untersuchung zuzusetzen. Aber Thukydides vertrat in dieser Angelegenheit nur die Meinung eines von der sophistischen Aufklärung beeinflussten Teils der Bürgerschaft, der aber keineswegs mit der Mehrheit der Athener gleichzusetzen ist, wie der weitere Verlauf der Affäre zeigen wird. 176

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Bald ergingen sich die Athener in wilde Spekulationen gegen verschiedene Personen, die als vermeintliche Verursacher oder Drahtzieher des ­unerhörten Frevels bezeichnet wurden. Ins Zen­trum der Verdächtigungen gerieten vor allem jene Bürger, die auf irgendeine Weise, sei es durch Extravaganz oder durch Nonkonformismus, nicht der gesellschaftlichen Schablone entsprachen. Doch das Fieberthermometer der religiösen Erregung steigerte sich zusätzlich, als im Zuge der emsigen Ermittlungen weitere Kultverfehlungen ans Licht kamen. Eine Kronzeugenregelung führte zu einer Flut von Anklagen. Hohe Kopfgelder wurden ausgesetzt und sogar Sklaven und Metöken zur Aussage gezwungen. Als besonders schwerwiegend erwies sich die Erkenntnis, dass die Eleusinischen Mysterien als Posse in Privathäusern aufgeführt worden waren.9 An dieser skandalösen Verhöhnung der überlieferten Kultpraktiken soll unter anderem der für seinen lockeren Lebenswandel bekannte Alkibiades, der Kopf der Sizilienexpedition, beteiligt gewesen sein.10 Zum Ziel der existenzbedrohenden Denunziationen wurden aber auch andere Angehörige der Oberschicht. Angesichts der gespannten politischen Lage wurden die ganzen Vorkommnisse nicht nur als schlechtes Omen für den bevorstehenden Krieg, sondern auch als Frontalangriff auf die demokratische Staatsform gewertet. Und wie stets bei solchen Fällen üblich, schwebte die Angst vor einer Verschwörung zur Errichtung einer Tyrannis wie ein Damoklesschwert über der tief verunsicherten Bürgerschaft. Eine besondere Brisanz erhielt die ausufernde Angelegenheit vor allem, weil Alkibiades, auf dem die Hoffnungen auf den Erfolg der Sizilienexpedition ruhten, immer stärker in den Fokus der Vorwürfe rückte. Angesichts der großen Popularität, die der charismatische Feldherr bei den Flottenbesatzungen genoss, wagte man es zunächst nicht, gegen ihn vorzugehen. Zwar forderte er eine sofortige Klärung der Vorwürfe, doch darauf ließen sich die Athener nicht ein, weil sie keinesfalls den Fortgang des sizilischen Feldzuges gefährden wollten und so verschob man die Untersuchung des Vorfalls auf die Zeit nach dem Abschluss des bevorstehenden Feldzuges.11 Mit Alkibiades an der Spitze lief dann die Flotte nach Westen aus und nahm Kurs auf Sizilien. Doch die nervöse Unruhe blieb, zumal nun die Anschuldigungen gegen den Flottenkommandeur nicht mehr zum Verstummen kamen. Seine politischen Gegner gewannen die Oberhand, und so wurde beschlossen, das athenische Staatsschiff Salamina auslaufen zu lassen, um den abberufenen Alkibiades zurück nach Athen zu bringen, wo er sich vor Gericht wegen des Hermenfrevels verantworten musste. Dieser entzog sich aber durch seine Flucht nach Sparta der drohenden Verurteilung, woraufhin er und seine Gefährten in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurden. Dennoch wurde die 177

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syrakusanische Expedition weitergeführt. Bekanntlich endete sie mit einem für die Geschichte Athens beispiellosen Fiasko.

Sokratesurteil Sokrates tut Unrecht, indem er die Götter nicht anerkennt, ­welche der Staat anerkennt, dafür aber neue Götter einführt. Er tut ferner dadurch Unrecht, dass er die jungen Leute verdirbt. (Xenophon, Erinnerungen an Sokrates)

Eine Mehrheit konservativ gesinnter Athener hatte die Abberufung des Alkibiades durchgesetzt. Wenige Jahre danach sollte Sokrates zur Zielscheibe ähnlich gelagerter, religiös konnotierter Ressentiments werden, die stets eine gewichtige Rolle in der athenischen Innenpolitik spielten, wie die gegen Andokides vorgebrachte Klage belegt. Er war kein Einzelfall. Auch einige prominente Vertreter des athenischen Kulturbetriebes, wie etwa Phidias, Anaxagoras oder Aspasia hatten bereits ein ähnliches Schicksal geteilt.12 Offenbar erzeugten plötzlich auftretende Krisen nicht nur Spannungen innerhalb des politischen Betriebs des athenischen Gemeinwesens, sondern trugen ebenfalls dazu bei, dass die Gelassenheit gegenüber abweichendem sozialen Verhalten deutlich abnahm, bei gleichzeitiger Zunahme religiöser Aufgeregtheit. In den wegen Atheismus beziehungsweise Verhöhnung der Polisreligion veranstalteten Prozessen erlebten sie einen Höhepunkt. Im Todesjahr des Sokrates (399 v. Chr.) wurde der athenische Staatsmann Andokides mit folgenden Vorwürfen konfrontiert: Er hat das heilige Gewand eines Priesters angezogen, Zeremonien verspottet und verbotene Worte gesprochen. Er hat die Bilder der Götter geschändet, an die wir glauben und denen wir Opfer bringen und zu denen wir im Geiste der Verehrung und Reinheit unsere Gebete richten (…). Wer kann das ertragen? Welcher Freund, welcher Verwandte, welcher Geschworene wird ihn insgeheim begünstigen auf die Gefahr hin, dass er den offenen Zorn der Götter auf sich zieht? Statt dessen müsst ihr euch der Ansicht anschließen, dass ihr durch Bestrafung und Entfernung des Andokides die Stadt reinigt und von Schuld befreit und einen Unglücksbringer und Gotteslästerer hinaustreibt, denn er ist einer von diesen.13 Mit ähnlich lautenden Anklagepunkten musste sich der Athener Sokrates (470–399 v.  Chr.) auseinandersetzen, wie die von Xenophon überlieferte Klageschrift (siehe oben) zeigt. Zweifellos war Sokrates eine ungewöhnliche, äußerst eigenwillige Persönlichkeit, die durch Nonkonformismus und bei178

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ßende Geistesschärfe hervorstach. Zwar galt er seinen athenischen Mitbürgern als überaus kluger, origineller Kopf, aber daneben genoss er den Ruf, ein unverbesserliches Lästermaul und ein Querulant zu sein. Wie der Religionsstifter Jesus von Nazareth hat Sokrates der Nachwelt nichts Schriftliches hinterlassen. Es waren seine Schüler Xenophon und vor allem Platon, die uns seine Gedankenwelt und seine Lehren nähergebracht haben. Soviel lässt sich aus der Masse der Überlieferung über den Weisheitslehrer sagen: Er unterzog mit bemerkenswerter intellektueller Unbestechlichkeit den Kanon überlieferter Weisheiten mittels bohrender Fragen, die oft mit einem ironischen Unterton versehen waren, einer kritischen Überprüfung, wobei er sich seines scharfen Verstandes und seiner unerbittlichen Logik bediente. Darin sah er den richtigen Weg zur Erkenntnis. Seine Überzeugung, dass aus einsichtigem Denken rechtes Handeln zwangsläufig hervorgehen müsste, nahm den selbstbestimmten, aufgeklärten Menschen vorweg. Derartiges Insistieren bedeutet aber immer eine Gefahr für herrschende Konventionen, denn systematisches Hinterfragen stellte notgedrungen Macht, Privilegien und Althergebrachtes auf den Prüfstand. Natürlich erzeugte seine lockere Redeweise in Kultangelegenheiten und seine Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten Anfeindungen. So haben seine Gegner ihn als Leugner der Polisgottheiten und als Verderber der Jugend bezichtigt; an diese richtete sich vor allem sein pädagogisches Bemühen. Kritik am traditionellen Kultbetrieb war eine gefährliche Angelegenheit. Sokrates bewegte sich angesichts der in Athen vorherrschenden religiösen Fieberkurve auf vermintem Terrain, und so kam es zur Prozesseröffnung. Die Ankläger Meletos, Lykon und Anytos warfen ihm aber nicht nur mangelnde Ehrfurcht gegenüber den Göttern (Asebie), sondern auch Verstöße gegen geltende soziale Normen vor, woraus sich eine verhängnisvolle Verknüpfung von religiöser Praxis und gesellschaftlichen Verhaltensregeln erahnen lässt. Es ist davon auszugehen, dass die Ankläger ein bestimmtes Motiv für die Klageerhebung genannt haben dürften, weil kaum anzunehmen ist, dass sie aus reiner Gesetzestreue handelten. Doch darüber wird nichts überliefert. Möglicherweise gab es handfeste politische Gründe dafür. Zum Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung war die Regierung der ­sogenannten Dreißig Tyrannen gerade abgelöst worden und die Demokratie wieder hergestellt. Zwar hatte sich Sokrates gegen die Willkürherrschaft positioniert, aber einige seiner prominentesten Schüler wie Alkibiades, ­Xenophon oder Kritias galten als Kritiker der demokratischen Verfassung. Wollte man den Lehrer für das Verhalten seiner Schüler verantwortlich machen?14 179

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Aus Platons Apologie erfahren wir, dass sich Sokrates angesichts der erhobenen Asebievorwürfe ungeschickt verteidigte. Sein Auftreten vor Gericht war eine Spur zu selbstsicher, seine Rede schwankte zwischen Ironie und Hochmut, teils blitzte seine Voreingenommenheit immer wieder durch. Auch appellierte er nicht an das Gewissen der 501 Geschworenen, die unter den athenischen Bürger ausgelost worden waren, um über sein Schicksal zu entscheiden. Dies alles führte nicht gerade dazu, das Wohlwollen des Gerichts zu gewinnen. Obwohl es ihm gelang, die meisten Punkte der Anklage einigermaßen zu widerlegen, zeigten sich am Ende dennoch 281 Geschworene von seiner Schuld überzeugt. Lediglich 220 Geschworene plädierten auf Freispruch: Sokrates wurde verurteilt. In einer zweiten Phase des Verfahrens ging es um die Festlegung des Strafmaßes. Da die Ankläger die Todesstrafe beantragt hatten, durfte der Verurteilte replizieren. Er hätte um ein mildes Urteil bitten können, aber er tat es in seiner zweiten Rede nicht. Im Gegenteil, er bestand auf seiner Unbescholtenheit, betonte seine Unschuld und brandmarkte das ergangene Verdikt als Fehlurteil. Die Verurteilung zum Tode ließ nicht auf sich warten. Platon übermittelt uns in dem Dialog mit Kriton, einem Freund des Sokrates, der ihn kurz vor der Urteilsvollstreckung zur Flucht aus der Stadt bewegen wollte, die letzte Reaktion des sich in sein Schicksal fügenden Bürgers Sokrates: Hältst Du es für möglich, dass eine Stadt weiter bestehe und nicht zusammenstürze, in welcher die gerichtlichen Entscheide keine Wirkung haben, sondern von Privatleuten aufgehoben und vernichtet werden? Bekanntlich weigerte sich Sokrates beharrlich, jede Möglichkeit zur Flucht zu ergreifen: Er starb durch den Schierlingsbecher. Sokrates Schicksal hat stets die Gemüter der Nachwelt stark bewegt und eine intensive Diskussion in der europäischen Geistesgeschichte von der Antike bis zur Neuzeit entfacht. Aus der Vielzahl der einschlägigen Meinungen sollen einige Stimmen herausgegriffen werden, um damit einen kleinen Ausschnitt über die kontroverse Rezeption des nach dem Jesusprozess berühmtesten Gerichtsverfahrens der Weltgeschichte zu dokumentieren.15 Jacob Burckhardt beklagte am Sokratesprozess den Mangel an individueller Freiheit sowie den unangemessenen Totalitarismus einer politischen Gemeinschaft, die sich als Staatskirche gerierte. Ausgehend von seiner Gleichsetzung der Polis als religiöses System, bezeichnete er deren Einwirkungsmöglichkeiten auf den kultischen Bereich als „Staatsallmacht“, was fatale Konsequenzen für den einzelnen Bürger bringen konnte, angesichts der bedrohlichen Strafmaßnahmen, die das Kollektiv erlassen konnte. Das verleitete Burckhardt zur Feststellung: „So ist der Staat zugleich eine mit dem 180

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Rechte Asebieklagen anzustrengen ausgestattete Kirche, und dieser vereinigten Macht erliegt der Einzelne vollständig“.16 Nach Burckhardt bezahlte ­Sokrates sein individuelles Freiheitsbedürfnis und seine Weigerung, sich mit Leib und Seele dem Absolutheitsanspruch der Polis zu verschreiben, mit dem höchsten Preis, den ein Mensch überhaupt entrichten konnte. Auch sah er im Asebieprozess, der sich mit der fehlenden religiösen Linientreue gegenüber dem Bürgerverband zu befassen hatte, einen Vorwand, um miss­ liebige Außenseiter zu belangen, was der staatlich sanktionierten Willkür Tür und Tor öffnete. Daher erblickte Burckhardt in Sokrates den unfreiwillig in die Fallstricke einer Disziplinierungsmaschinerie verfangenen autonomen Bürger, der sich gegen die Allmacht des Staates auf eine ihm angemessene Art und Weise wehrte und damit das verhängnisvolle Korsett der kollektiven Intoleranz bloßstellte. Gleichzeitig erlangte Sokrates durch sein Sterben, so Burckhardt, eine einzigartige Größe, die seiner Person eine bewundernswerte Eigenständigkeit verlieh. Friedrich Nietzsche dagegen interpretierte den Tod des Sokrates als Akt einer gewollten Selbstaufgabe, für den man keineswegs den Staat verantwortlich machen dürfe. Seine schlechte Meinung über Sokrates hing nicht zuletzt mit der Geringschätzung seiner Philosophie zusammen. Nietzsche missfiel so ziemlich alles an Sokrates, seine Haltung gegenüber dem Staat und dem Leben, selbst seine äußere Erscheinung erregte seine boshafte Kritik. Der durchschlagende Erfolg des neuen, unkonventionellen dialektischen Denkens, das Sokrates begründete, ging nach Nietzsches Ansicht auf Kosten des vornehmen Geschmacks, also zu Lasten des aristokratischen Geistes, der von der Masse – und dafür machte er paradoxerweise Sokrates verantwortlich – außer Kraft gesetzt wurde. Bei Burckhardt aber war gerade Sokrates derjenige, der wegen seiner intellektuellen Unbestechlichkeit oft genug gegen die Mehrheitsmeinung aneckte. Für Nietzsche bleibt von Sokrates eine instinktgetriebene, verachtungswürdige und überaus mediokre Gestalt als Zerrbild übrig, das lediglich nur aufgrund seiner Verfallserscheinungen eine gewisse Faszination auf die Nachwelt auszuüben vermochte. Sein abschließendes, vernichtendes Urteil lautete: „Sokrates war ein Missverständnis“.17 Viel positiver urteilte Johann Wolfgang Goethe über den athenischen Denker, wenn er über ihn bekannte: „Sokrates galt mir für einen trefflichen weisen Mann, der wohl im Leben und Tod sich mit Christo vergleichen lasse“ (Dichtung und Wahrheit). Bertolt Brecht schließlich hat in seiner Erzählung „Der verwundete Sokrates“ den Philosophen in die Rolle eines Kriegsmannes schlüpfen lassen. Die erfundene Episode bietet eine Persiflage des legendären Atheners, der als erfolgreicher Hoplit in der Schlacht bei 181

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­ elion eine Auszeichnung erhalten sollte, welche dieser aus guten Gründen D allerdings ablehnte. Die grotesken Umstände seiner militärischen Aktivitäten werden in einem Dialog mit Alkibiades ausgebreitet, der hintersinnig und ironisch die Problematik der Tapferkeit im Kriege aufs Korn nimmt: „Höre Alkibiades“, sagte er (Sokrates) energisch und mit ganz frischer Stimme, „es kann in diesem Falle nicht von Tapferkeit geredet werden. Ich bin sofort, als die Schlacht begann, das heißt, als ich die ersten Perser auftauchen sah, d ­ avongelaufen, und zwar in der richtigen Richtung, nach hinten. Aber da war ein Distelfeld. Ich habe mir einen Dorn in den Fuß getreten und konnte nicht weiter. Ich habe dann wie ein Wilder um mich gehauen und hätte beinahe einige von den Eigenen getroffen. In der Verzweiflung schrie ich irgendwas von anderen Abteilungen, damit die Perser glauben sollten, da seien welche, was Unsinn war, denn sie verstehen natürlich nicht Griechisch. Andererseits scheinen sie aber ebenfalls ziemlich nervös gewesen zu sein. Sie konnten wohl das Gebrüll einfach nicht mehr ertragen, nach allem, was sie bei dem Vormarsch hatten durchmachen müssen. Sie stockten einen Augenblick, und dann kam schon unsere Reiterei. Das ist alles.“18

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er griechische Historiker Polybios, ein ausgezeichneter Kenner der ­römischen Lebensverhältnisse, äußerte sich in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. im Rahmen seiner Reflexionen zur politischen und sozialen Architektur des römischen Staates über dessen religiöse Wertvorstellungen folgendermaßen: Der größte Vorzug des römischen Gemeinwesens aber scheint mir in ihrer Ansicht von den Göttern zu liegen und, was bei anderen Völkern ein Vorwurf ist, eben dies die Grundlage des römischen Staates zu bilden: eine beinahe abergläubige Götterfurcht. Die Religion spielt dort im privaten wie im öffentlichen Leben eine solche Rolle und es wird so viel Wesens darum gemacht, wie man es sich kaum vorstellen kann.19 Etwa eine Generation später gab der römische Staatsmann Cicero als Antwort auf die Frage nach den Ursachen für die Größe Roms, dass es ihre religio, der fromme Umgang mit den Göttern, speziell die Treue zu dem seit alters her verehrten Pantheon war, was den atemberaubenden Aufstieg des Staates ermöglicht hatte. Cicero brachte diese Reziprozität prägnant auf den Punkt in seiner Schrift über das Wesen der Götter, wenn er feststellte: Vor die Götter trete man rein, bringe fromme Gesinnung mit, halte äußere Pracht fern. Wer anders handelt, den wird der Gott selbst bestrafen. Für sich allein soll niemand Götter haben, weder neue noch auswärtige, außer solche, die von Staats wegen eingeführt sind. Zu Hause erweise man nur Göttern Verehrung, die man nach Brauch von den Vätern ererbt hat.20 Wie in allen Gesellschaften des Altertums waren im Verständnis der Römer Religion und Politik untrennbar miteinander verwoben. Im erreichten Erfolg, davon waren sie felsenfest überzeugt, manifestierte sich die Konformität der Götter nicht nur zu den ererbten Sitten und Institutionen ihres Gemeinwesens, sondern auch gegenüber dem eingeschlagenen Weg der Weltreichsbildung. Ihr mächtiger politischer Verband erschien ihnen als eine bestätigende Widerspiegelung ihrer Kultgemeinschaft. Daher erblickten sie in ihren beispiellosen Errungenschaften eine zwangsläufige Belohnung für ihre manifeste Frömmigkeit und Ehrfurcht gegenüber ihren Göttern (pietas). Ursprünglich bestimmten zahlreiche lokale und regionale Kulte das religiöse Leben der Stadt. Durch Kontakte mit der Außenwelt gerieten jedoch 183

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fremde Kultvorstellungen in den Gesichtskreis der Römer. Ihre allmähliche Übernahme in den offiziellen Staats­kult war Abbild der im 4. Jahrhundert v. Chr. einsetzenden Expansion, die zugleich e­ ine Erwei­terung des kulturellen Horizontes mit sich brach­te, insofern als mit der Duldung nicht­ römischer Lebenswelten gleichzeitig die Stabilität der multiethnischen Gesellschaft Roms gefördert wurde. Doch diente die Inte­gration auswärtiger Kulte primär politischen Rücksich­ten und weniger privaten Sehnsüchten. Der Einzug des Apollokultes, das Hei­mischwerden der kleinasiatischen Mater Magna oder die Verbreitung der orientalischen Mysterienreligionen, um nur einige Beispiele zu erwähnen, markierten stets bestimmte Phasen der römi­schen Großmacht­bildung. Im ständigen Kreislauf des Gebens und Nehmens gab es sichtbare und ver­borgene Linien. Rom exportierte Solda­ ten, Provinzialverwalter und Händler und importierte im Gegenzug Personengruppen unterschiedlicher Herkunft, aller Art Güter und nicht zuletzt auch Kulte aus allen Gegenden seines enormen Wirkungskreises. Gerade mit dem letz­ten Punkt berühren wir eine weniger sicht­bare Strö­mung, die sich jeder buchhalte­rischen Darstellung entzieht. Bekannt sind die großen, vom Staat offiziell geförderten Implantationen fremder Götterkulte, doch dürfen wir annehmen, dass es sich dabei le­diglich um die Spitze des Eis­ berges handelte. An der Herausbildung des römischen Pantheons lässt sich die Integrations­ fähig­keit der römischen Religion ermessen. Die Förderung bestimmter Kulte war seit jeher aufs Engste mit der senatorischen Familien­politik und ihrem Machtkampf um die Vorherrschaft im Staate verknüpft. Wenn die Fabier das etruski­sche Auguralwesen, die Scipio­nen den Mater Magna-Kult begünstigten, die Julier den Venus-Kult propagierten, Augustus die in Vergessenheit geratenen einheimische Kulte belebte, unter den Antoninen Mithras blühte, unter den Severern orientalische Gottheiten verstärkt Einzug in Rom hiel­ten, Aurelian mit der Verehrung des Sol Invictus und ­Con­stantin dem Christen­gott zum Durchbruch verhalf, so erscheint jede Parteinah­me der Führungsschichten für einen bestimmten Kult­stets mit einer politischen Absicht verbunden. Am auffälligsten ist das dichte persönliche Geflecht, das Reli­gion und Politik umgab. Senatoren waren gleichzeitig Politiker und Priester. Der Kaiser übte in seiner Eigenschaft als Pontifex Maximus die Oberaufsicht über die Kultkollegien aus. Gerade diese Häufung priesterlicher Würden bei den Trägern der Staatsmacht, die gleichzeitig Repräsentan­ten der römischen Religion waren, verlieh den Sakralpraktiken eine besondere politische Sprengkraft. Die Einholung von Auspizien vor Beginn einer Amtshand­lung, die Gelüb­de, die man bestimmten Gott184

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heiten ent­gegenbrach­te, um römische Siege zu ersehnen, machten die Götter zu Mitverantwortlichen für das Ergebnis der Unternehmung. Ein anschauliches Beispiel, das die enge Verzahnung zwischen Kultwesen und politischem Handeln verdeutlicht, bietet uns die Seekriegführung im 1.  Römisch-karthagischen Krieg. Der römische Consul Publius Claudius Pulcher, Befehlshaber der Flotte, die in den sizilischen Gewässern operierte, bereitete sich in der Nähe von Drepanum auf ein Gefecht mit der Armada des karthagischen Admirals Adherbal vor (249 v.  Chr.). Im Begriff, seine religiösen Pflichten vor Schlachtbeginn zu erfüllen, ordnete der Consul an, dass den Heiligen Hühnern das vorgeschriebene Futter verabreicht werde, um nach dessen Verzehr das erwartete glückverheißende Omen für den Ausgang des Kampfes zu erhalten. Doch die Tiere weigerten sich, die vorgesetzte Nahrung aufzunehmen, was an sich schon ein schlechtes Vorzeichen war, das den Consul zur Aufgabe seines Schlachtplanes hätte veranlassen müssen. Nichts dergleichen geschah. Ungeduldig und aufgebracht über die aufgetretenen Komplikationen setzte sich Claudius über die religiösen Bedenken hinweg und gab die Anweisung: Man solle die Heiligen Hühner ins Wasser werfen, damit sie saufen könnten, wenn sie schon nichts fressen wollten.21 Die Schlacht ging ungünstig für die Römer aus. Sie verloren fast hundert Schiffe, viele tausend Mann fielen bei den Kampfhandlungen. Es war eine der größten Katastrophen des Krieges, die nach landläufiger Meinung durch die pietätlose Haltung ihres Admirals verursacht worden war. Nach seiner Rückkehr nach Rom wurde er nicht wegen seines militärischen Versagens, sondern wegen des begangenen Frevels zur Verantwortung gezogen. Mögen wir aus heutiger Perspektive über diese Vorgänge lächeln, für die Zeitgenossen hatten sie eine ernst zu nehmende Bedeutung. Nach römischer Auffassung war Erfolg nur im Einklang mit dem göttlichen Willen möglich. Jedes Abweichen von der religiösen Tradition bedeutete demnach eine mutwillige Verringerung der Siegeschancen. Daher musste in den Augen des römischen Historikers Livius der Karthager Hannibal zwangsläufig scheitern, weil er als Inbegriff der Irreligiosität galt. Bei der Durchsicht solcher Beispiele sollte man allerdings nicht in den Fehler verfallen, der römischen Religiosität oberflächlichen Formalismus vorzuwerfen. Diese gelegentliche Etikettierung entspringt einem Missverständnis, das auf eine Mischung aus neuzeitlichem Pietismus und nordeuropäischer Romantik beruht und den Primat des subjektiven religiösen Erlebens übergebührlich betont.22 Viele der sich daraus ergebenden Ansichten sind wenig hilfreich, um den massiven Realismus des antiken mittelmeerisch geprägten Kultverständnisses angemessen wiederzugeben. 185

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Gewiss gab es engere und weitere Grenzen, um das Verhältnis des Individuums zur Religion zu bestimmen. Was der einzelne Bürger im privaten Bereich tat oder glaubte, berührte den Staat erst dann, wenn offizielle ­ Kultvorschrif­ten beein­träch­tigt wurden. Ansonsten misch­ten sich die Behörden kaum in die privaten Kultpraktiken ein. Diese Haltung entsprang der römi­schen Tradition sowie der Eigenart des römischen Staates und seiner Religion, die nicht vom Glauben im metaphysischen Sinne, sondern vom Kultvollzug getragen wurde. Der Gottesdienst war für das Leben der antiken Men­schen ein bedeutsa­mer Mittelpunkt. Kultfeiern und Opferhandlungen fanden in der Öffentlich­keit statt. Festzüge, Prozessio­nen und Rituale zogen große Menschenmassen an. Ne­ben Emotionen und Affekten, die dabei entfesselt wurden, gehörte eine eigene Bildersprache dazu, die Harmonie, Trost und Geborgenheit evozieren konnte. Die vielen Gott­heiten boten mannig­ fache Identifikations­möglichkeiten, und gerade dies vermochte das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stärken. Diese polytheisti­sche Ausrichtung erlaub­te ein großes Maß an Flexibi­li­tät, und so zeichnete sich der römische Staat durch prinzi­pielle Duldung fremder Kulte aus. Wurden religiöse Praktiken oder magisch-philo­so­phische Lehren unterdrückt, so ging man nicht gegen sie vor, weil sie fremd waren, sondern weil man Aufruhr oder Ver­ brechen dahinter vermutete. Da die Römer schon früh ein farbenträchtiges Nebeneinander teils sich kom­plementär ergänzender Gottheiten erlebten, die ein Geflecht von Auf­ gabenbereichen abdeckten, waren sie gegenüber neuen religiösen Strömungen offen, was aber nicht mit Toleranz in Sinne der heutigen Begriffsbe­ deutung verwechselt werden darf. Die dabei vorherrschende Gefühlslage erachtete die eigenen Götter als die grundsätzlich geeigneteren, was dazu führte, dass man fremden Gottheiten mit einer Mischung aus Neugier und Herablassung begegnete. Die Wurzeln dieser Haltung lagen einerseits im Fehlen einer von den politischen Ent­scheidungs­trägern abgesetz­ten Priesterkaste, die sich zum Hort der strenggläubigen Obser­vanz hätte emporschwingen können, anderer­ seits im Wesen des staatstragenden Pantheons be­ gründet, dessen Gottheiten keine Erlö­ sungsbot­ schaft verkündeten. Die capito­linische Trias (Jupi­ter, Juno und Minerva) symbolisierte den Zusammenhalt des Staates. Apollo, Venus oder Mars etwa standen für Sicherheit, Erfolg und Sieghaftig­keit. Personifizierte und divinisierte Tugenden wie Fortu­na, Concordia oder Vir­tus zogen eine ideologische Klammer um die privat-indivi­duellen und die öffent­lich-kollek­tiven Wertesyste­me in Staat und Gesellschaft. Sehr ein­prägsam wurde dies in der Romrede des Aelius Aristides zum Aus­druck gebracht, in einer Passage, die wie eine Theogo­nie 186

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der Antoni­nenzeit wirkt: Denn die Götter, wie es scheint, sehen auf euch (die römischen Kaiser) herab, erhalten euch gnädig euer Reich und verleihen euch die Gunst, es beständig zu besitzen. Zeus, weil ihr euch für ihn um den Erdkreis, seine vorbildliche Schöpfung, wie man sagt, vorbildlich kümmert, Hera, weil die Ehen rechtmäßig geschlossen werden, Dionysos und Demeter, weil unter ihnen die Feldfrüchte kein Unrecht erleiden, Poseidon, weil ihm das Meer von Seeschlachten rein gehalten und von Handelsschiffen statt von Trieren befahren wird. Im Chor vereint, blicken Apollo, Artemis und die Musen unablässig auf ihre Diener im Theater, Hermes indes braucht nicht auf Wettkämpfe und Gesandtschaften zu verzichten, Aphrodite nicht auf Fruchtbarkeit und Gunstbezeugungen. Wann war jemals die Zeit geeigneter oder wann erfreuten sich die Städte jemals mehr daran? (…). Der alles sehende Helios entdeckte unter eurer Herrschaft weder eine Gewalttat noch ein Unrecht (…). Daher blickt er zu Recht mit höchstem Wohlgefallen auf euer Reich herab.23 Neben den offiziellen Staatsgottheiten spielten die Mysterienreligionen eine wichtige Rolle. Die Eleusinischen Mysterien, der Isis- oder der KybeleKult konnten sich einen festen Platz im religiösen Gefühlsleben der Bevölkerung sichern. Obwohl die Mysterienkulte exklusiv blieben und nur einer kleinen Schar von Adepten Trost und Halt boten, existierte keine Unvereinbarkeit zwischen ihnen und dem traditionellen Götterpantheon. Dennoch blieb die Anziehungskraft und Popularität der römischen Götter gerade im 2. und 3. Jahrhundert, also zu der Zeit der intensivsten Ausbrei­tung der orientalischen Religionen im römischen Reich, ungebro­chen. Folglich kann von einer Abwendung vom traditionellen Kult nicht gesprochen werden. Das Gegenteil scheint zuzutreffen: Die Flexibilität und Integrationsfähigkeit der römischen Religion vermochte den aus dem Osten eingeführten Gottheiten ein Heimatrecht unter dem Dach des offiziellen Kultes einzuräumen. So kam während des 2.  Jahrhunderts etwa die aus Persien stammende Mithrasverehrung nach Rom24, wo sie ohne Schwierigkeiten in den religiösen Alltag eingegliedert werden konnte. Somit überwand sie die regionalen Grenzen und entfaltete eine überregionale Geltung. Wegen ihrer polytheistischen Ausrichtung verfügte die römische Religion über ein beachtliches Reservoir von passenden Optionen für Gottessucher. Auch war ihr ein gerüttelt Maß an Gelassenheit zu eigen, wenn es darum ging, sich auf neue Situationen einzustellen. Dafür war die personelle und strukturelle Verzahnung der staatlichen mit den kultischen Institutionen des Staates verantwortlich.25 Einerseits gewährleistete die Religionsausübung aus der Sicht der Bevölkerungsmehrheit die Existenz und die Wohlfahrt des Gemeinwesens, indem sie eine Symbiose zwischen dem politischen Verband 187

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Szene aus dem Mithraskult, Kultrelief aus Fiano Romano, Paris, ­Louvre

und der sie tragenden Kultgemeinde herstellte26, andererseits war das Pantheon der anerkannten Gottheiten keineswegs abgeschlossen und gegen Anfechtungen durchaus anfällig. Es befand sich in einem ständigen Wandel, was letztlich mit dem Prozess der Reichsbildung zusammenhing, an der sich erkennen ließ, wie die Unermesslichkeit des antiken Götterhimmels mit der Grenzenlosigkeit der römischen Herrschaft zu korrespondieren schien.27 Geprägt von Synkretismus und Durchlässigkeit gegenüber den diversen religiösen Welten, förderte die römische Kultpraxis das Zusammenleben unterschiedlicher Gemeinschaften innerhalb eines überaus heterogenen Reiches und leistete damit einen Beitrag zu dessen Stabilität.28 Jedoch verhinderte diese Integrationsfähigkeit keineswegs das Aufkeimen intoleranter Einstellungen, wenn etwa von bestimmten Kultvereinigungen Anschläge auf die Sicherheit des Staates oder verderbliche moralische Einflüsse auf die geltenden ethischen Normen, beziehungsweise eine Zersetzung der gesellschaftlichen Kohärenz befürchtet wurden.29 Dies lässt sich am Beispiel der von Anfang an beargwöhnten Christen verdeutlichen. Die Repräsentanten des Staates interessierten sich kaum für die Lehrsätze dieser aus dem Judentum hervorgegangenen Glaubensgemeinschaft. Umso mehr zeigten sie sich besorgt über das öffentliche Erscheinungsbild ihrer Mitglieder, das als eine schwerwiegende Infragestellung der säkularen Traditionen, die Rom 188

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groß gemacht hatten, angesehen wurde. Wie stark im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft gerade diese Vorstellung verankert blieb, nämlich dass der Erfolg Roms dem Zuspruch der Götter zuzuschreiben sei30, und wie sehr diese Sichtweise sogar die spät­antike christliche Weltdeutung nachhaltig beeinflusste, veranschaulicht die Polemik des Kirchenvaters Augustinus in seinem Gottesstaat, wo der Widerlegung derartiger Ansichten breiter Raum gewidmet wird.31 Weil einige Christen den offiziellen Opferhandlungen fernblieben und sich weigerten, den Göttern und dem Kaiser zu huldigen, machten sie sich aus der Sicht der Behörden der Illoyalität gegenüber dem Staat und seiner ­sakralen Instanzen verdächtig. Deswegen konnten sie der Verschwörung bezichtigt und als Feinde der bestehenden Ordnung betrachtet werden.32 Daran lässt sich erkennen, dass ein Kult durchaus als Gefahr eingestuft werden konnte, wenn seine Anhänger die Vorgaben des traditionellen religiösen Systems missachteten, was sie in der Wahrnehmung ihrer Umgebung zu gesellschaftlichen Außenseitern abstempelte. Gleichzeitig darf nicht verkannt werden, dass das von den Christen nach außen getragene Bekenntnis zu einer mit dem Rest des römischen Pantheon inkompatiblen Gottheit einen verschärften Wettbewerb auf Erden um die Deutungshoheit über die unsichtbare Welt der Geister, Dämonen und Götter eröffnete.33 Während in den ersten zwei Jahrhunderten Anfeindungen gegen die Christen selten vorkamen und die staatlichen Behörden erst nach Erstat­tung einer Anzeige einschritten, änderte sich ab der Mitte des 3. Jahrhun­derts die Stoßrich­tung der Christenpolitik. Dass die Regierung über einen langen Zeitraum hinweg keinen Anlass sah, sich um die Christusgläubigen zu kümmern, überrascht nicht. Sie waren, bis auf einige örtliche Ausnah­men, zu unbedeu­tend, um vom Staat zur Kenntnis ge­nommen zu wer­den. Wie der gelegentliche Aufschrei einiger betroffener Staatsver­treter zeigt, konnten zwar die Christen regional gesehen ein Faktor werden, mit dem man sich ausein­andersetzen musste, aber der Staat tat dies eher widerwillig und gezwungener­maßen. Man könnte etwas überspitzt formulieren: Solange das Christentum ein Minderheitsphänomen war, das zwar Teile der Gesellschaft befiel, den Staat aber verschonte, ließ es sich mit einem juristi­schen Instrumentari­um niederhalten, das auf die Mitarbeit der nichtchristli­chen Gesell­schaft, das heißt auf ihre Animositäten gegen die Christen baute. Es kommt noch etwas anderes hinzu, was häufig unterschätzt wird. Die heid­nische Welt des 1. und 2. Jahrhunderts war beweglicher, gelassener und gegen Anfech­tungen ihrer Grundwerte wirksamer gefeit, als es ein nur auf die Verfolgungs­maßnahmen fixierter Blick erkennen lässt. Als aber während des 3. Jahrhunderts eine ganze Reihe von politischen, sozialen 189

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Kaiser Marc Aurel beim Opfer vor dem Tempel des Jupiter Capitolinus; ­Ausschnitt von einer Reliefplatte aus Marmor vom Bogen des Marc Aurel, H. des Gesamtreliefs 3,14 m, B. 2,10 m; 176; Rom, Palazzo dei ­Conservatori

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3  Grundzüge römischer Religionsausübung

und wirtschaftli­chen Faktoren das Gesicht des r­ ömischen Reiches veränderte, wandelte sich die Sicht auf das Christentum, weil es inzwischen innerhalb des Staates Fuß fasste und Anhänger in der Reichsverwaltung, beim Heer und am Kaiserhof gewann. Wie zahlreiche Inschriftenfunde nahelegen, unterstützten gerade die Militär­kreise die restaurativen reli­gionspoliti­schen Tendenzen mit beson­derer Hingabe.34 Die illyrischen und pannonischen Kaiser machten sich das von Septimi­us Severus verkündete Pro­gramm der Erneue­rung der römischen Religion zu eigen. Diese Haltung war es, welche die im 3. Jahrhundert bestimmenden Führungsschichten in eine Gegnerschaft zum Christentum führen konnte. Die religio Romana erforderte vielfache Opferhandlungen und eine sorgfältige Beachtung der von der Tradition überlieferten Rituale. Die öffentlich inszenierten religiösen Feierlichkeiten unter Beteiligung der staatstragenden Schichten des Volkes und die Ausführung der festgelegten Kulthandlungen genügten, um die Götter zufriedenzustellen. Das Christentum verlangte mehr und anderes. Der christliche Gott offenbarte sich dem Einzelnen, wies ihm den Weg zum Heil und verlangte die Erfüllung seiner Gebote. Er beanspruchte besonders sein Innerstes, sowohl den Geist, als auch das Herz. Von seinen Anhängern erwartete er eine ganzheitliche Hingabe, die über den Gottesdienst hinausging und das gesamte private Verhalten vereinnahmte. Um es auf eine Kurzformel zu bringen: Der heidnische Kult benötigte ­Adepten und forderte Akzeptanz sowie die öffentliche Anerkennung seiner traditionellen Wertvorstellungen samt Kultpraktiken. Seine auf Stein gemeißelten Kultdarstellungen bildeten einen Gegenpol zum christlichen Verlangen nach Gläubigkeit und Ergebenheit gegenüber Bischöfen und Dogma. Offenbarte die heidnische Kultpraxis, sichtbar an der oben abgebildeten Opferszene, einen hohen Grad an Gegenständlichkeit und Über­schwang, zeichnete sich die christliche Frömmigkeit durch einen Hang zum Verzicht und zur Abstraktion aus.35

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4 Christentum und römischer Staat Was kann von Nazareth Gutes kommen? (Johannes 1, 46)

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ie Gegenüberstellung des verhafteten Jesus von Nazareth mit seinem Richter Pontius Pilatus wirkt wie das Vorspiel des sich nachträglich anbahnenden Konfliktes zwischen Christentum und römischer Staatsmacht. Sofern die Evangelien Einblicke in die religionspolitische Dimension des Prozesses gestatten, scheint die Befragung von Missverständnissen und Irritationen bestimmt worden zu sein. Die bemerkenswerte Unbeugsamkeit (contumacia, obstinatio) des beschuldigten Jesus, die Pilatus als Renitenz deutete, war aus römischer Sicht Grund genug, um die Höchststrafe gegen jeden aufsässigen Provinzialen in einer Krisenregion zu verhängen. Damit stellte der römische Statthalter die Autorität des Staates wieder her und hoffte durch sein hartes Strafmaß ein abschreckendes Beispiel zu statuieren. Aus heutiger Sicht erscheint uns das gegen Jesus durchgeführte Gerichtsverfahren alle bedenklichen Merkmale eines kurzen Prozesses aufzuweisen. Aber das wäre eine moderne Deutung, welche die Realität der provinzialen Herrschaftspraxis verkennt. Zwar gehörte Willkür nicht unbedingt zum üblichen Vorgehen der Behörden, aber diese zeigten sich wenig zimperlich, wenn es darum ging, die maiestas Roms unbeschadet zu halten. Dem tragischen Ausgang dieser Begegnung, schließlich ließ ein ranghoher Repräsentant des Reiches den Stifter36 einer neuen Glaubensgemeinschaft ans Kreuz schlagen, kam eine paradigmatische Bedeutung für die Behandlung der danach vermehrt auftretenden Christusgläubigen zu, die im Gekreuzigten den alttestamentlich geweissagten Gottessohn erblickten. Unterminierte ein Bekenntnis zu Jesus die Autorität des Staates und seiner ­kultischen Einrichtungen? Die auf Jesus sich berufende, nach seinem Tod entstandene christliche Gemeinde stand vor der Herausforderung, die kompromisslose Haltung ihres Religionsstifters nachzuahmen. Darin lag ein gewichtiges Problem beschlossen, denn ein allzu absolut vorgetragener Anspruch des christlichen Bekenntnisses konnte von den Außenstehenden als bewusste Geringschätzung der altehrwürdigen Kulttraditionen verstanden werden, die das Fundament der staatlichen Ordnung bildeten. Wie sollte 192

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man eine Lehre verkünden, die zum Abfall von der bisherigen Religionsausübung aufforderte? Welche Probleme damit verbunden sein konnten, sollte die Mission des Paulus in Ephesos oder in Thessalonike zeigen. In der Verkündigung der christlichen Lehre erblickten ihre Feinde eine Störung des Religionsfriedens. Die Weigerung der Christen, die staatstragenden Gott­ heiten anzuerkennen, sah man ferner als Angriff auf die etablierten gesellschaftlichen Wertvorstellungen.37 In der kirchlichen Tradition gilt Nero als der erste Verfolger – eine Einordnung, die sich als durchaus problematisch erweist.38 Dieser nutzte die in der Bevölkerung Roms vorherrschende Stimmung für seine Zwecke aus, indem er den Christen die Schuld am Brand der Stadt im Jahre 64 gab. Die juristische Begründung für die Strafmaßnahmen bezog sich allerdings nicht auf ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kult, sondern auf den Tatbestand der Brandstiftung, gemäß der verbreiteten Behauptung.39 Den Puls der römischen Kulttradition zu Beginn des 2. Jahrhunderts fühlt man in besonderer Weise anhand der Korrespondenz zwischen dem Statthalter von Bithynien und Pontus Plinius und Trajan. Sie kreiste um die Behandlung der Christusgläubigen. In seiner Anfrage an die Zentralregierung berichtete er: Mit denen, die mir als Christen angezeigt wurden, bin ich folgendermaßen verfahren: Ich habe sie gefragt, ob sie Christen seien. Gestanden sie, so habe ich ihnen unter Androhung der Todesstrafe ein zweites und drittes Mal dieselbe Frage gestellt, beharrten sie, so habe ich sie hinrichten lassen. Denn ich zweifelte nicht: Was immer sie gestehen mochten, so verdienten allein ihre Hartnäckigkeit und ihr Starrsinn Bestrafung. Andere, die einem ähnlichen Wahnsinn verfallen waren, habe ich, weil sie das römische Bürgerrecht besaßen, nach Rom geschickt. Wie es aber zu gehen pflegt, nahmen auf das gerichtliche Einschreiten hin bald die Anschuldigungen zu und kamen weitere Fälle zur Anzeige. Eine anonyme Anklageschrift wurde vorgelegt, die zahlreiche Namen enthielt. Die leugneten, Christen zu sein, oder es je gewesen zu sein, habe ich entlassen zu können geglaubt, sobald sie, nach meinem Vorgang, die Götter anriefen und deinem Bild, das ich mit den Götterstatuen zu diesem Zweck hatte herbeischaffen lassen, mit Weihrauch und Wein opferten, außerdem noch Christus lästerten (…). Andere von den Denunzianten Genannte gaben erst zu, Christen zu sein, widerriefen aber gleich darauf (…). Sie alle haben ebenfalls deinem Bild sowie den Götterstatuen gehuldigt und Christus gelästert (…). Ich fand nichts anderes als minderwertigen, maßlosen Aberglauben. Daher setzte ich das Verfahren aus, um eiligst deinen Rat einzuholen.40 Indem Trajan das von Plinius eingeleitete Verfahren guthieß, bekräftigte er, dass die christlichen Praktiken einen Straftatbestand darstellten. Mögli193

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cherweise galt seit Neros Regierung das Bekenntnis zum Christentum als flagitium, und offenbar ist in Flavischer Zeit daran nicht gerüttelt worden. Doch Trajans Antwort enthielt darüber hinaus weitergehende Verfahrensvorschriften, wenn er anordnete: Du hast, mein Secundus, als du die Fälle derer untersuchtest, die bei dir als Christen angezeigt wurden, ein völlig ­korrektes Verhalten eingeschlagen. Denn es lässt sich nichts allgemein Gültiges ­verfügen, das sozusagen als feste Norm gelten könnte. Fahnden soll man nicht nach ihnen; wenn sie aber angezeigt und überführt werden, muss man sie bestrafen, so jedoch, dass einer, der leugnet Christ zu sein, und dies durch die Tat, d. h. durch Vollzug eines Opfers für unsere Götter, unter Beweis stellt, aufgrund seiner Reue zu begnadigen ist, wie sehr er auch in der Vergangenheit verdächtig sein mag. Anonyme Anzeigen dürfen freilich bei keiner Anklage berücksichtigt werden. Denn das wäre ein äußerst schlechtes Beispiel und entspräche nicht dem Geist unserer Zeit.41 Als entscheidend darf die kaiserliche Anweisung gelten, Nachforschungen bezüglich der Zugehörigkeit zur Christengemeinde zu unterlassen. Weiter verfügte Trajan, dass, wenn es zu Anzeigen kommen sollte, die Betroffenen ihre Unschuld durch den Vollzug einer Opferhandlung beweisen konnten, womit er auf die von Plinius verlangte Verfluchung Christi verzichtete. Ferner verbot der Kaiser die Beachtung anonymer Denunziationen und schließlich endete das Reskript mit einem Bekenntnis, das als Magna Charta seines Principats gelten kann: ein allzu inquisitorisches Verhalten seitens des Staates würde dem Geist der Epoche nicht gerecht werden. Diese Grundsatz­ erklärung verdeutlicht das Agieren eines umsichtigen Herrschers. Rechtstaatlichkeit und nicht Gewaltanwendung sollte das Auftreten der Institutionen bestimmen. Im Gegensatz zu der Aufgeregtheit des Plinius zeigt sich Trajans Reaktion von Mäßigung und Gelassenheit erfüllt. Sie schien getragen von jener souveränen Sicherheit, die nur jemand ausstrahlen konnte, der von der Rechtmäßigkeit seiner Handlungsweise überzeugt war. Dennoch muss gefragt werden: Wieso konnte der Kaiser so großzügig gegenüber einer Gruppe sein, die bei manchen Zeitgenossen als subversiv galt? Die Antwort kann nur lauten, dass er in den Christen weder eine ernsthafte Herausforderung der römischen Religion, noch eine staatszersetzende Kraft erblickte, denn andernfalls hätte der energische Herrscher keinen Augenblick gezögert, die Autorität des Staates unbeschadet zu halten. Seine Haltung wird erst begreiflich, wenn wir das gängige Vorurteil ablegen, dass die römischen Behörden stets eine regelrechte Christenhatz veranstaltet hätten. Diese verformte Sicht der Realität vermittelte ein apologetisches Schrifttum, das die Ausbreitung der neuen Lehre als eine von Blutzeugen (Märty194

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rern) triefende Aufopferungsgeschichte beschrieb. Waren die julisch-claudischen und flavischen Kaiser tatsächlich solch rabiate Christenverfolger, wie die im 4.  Jahrhundert schreibenden Kirchenväter suggerierten? Hier sind Vorbehalte angebracht.42 Die zeitnahen Stimmen, wie etwa Origenes, äußern sich zurückhaltender darüber, was durch den Wortlaut von Trajans ­Instruktionen verständlich erscheint. Es gibt eine weitere Quelle, die als Beleg für eine Verfolgung ins Feld geführt wird: Die Offenbarung des Johannes. Die im Zen­trum der Schrift stehende Tierfigur ist gewöhnlich mit Nero oder Domitian gleichgesetzt worden, woraus man ein Indiz für eine Christenverfolgung abzuleiten glaubte. Doch dem ist zu widersprechen. Der teils rätselhafte Text spendete keineswegs Trost an die durch die repressiven Maßnahmen der Behörden eingeschüchterten Christen Kleinasiens, sondern wollte vielmehr den inneren Zusammenhalt jener Gemeinden stärken, die Gefahr liefen, auseinanderzubrechen, nicht weil sie bedrängt wurden, sondern weil sie den Lockungsangeboten des heidnischen Kultbetriebs erlagen. Es war ein Abfall vom Christentum, was den um die Zukunft der kleinasiatischen Christengemeinden besorgten Verfasser der Schrift alarmierte. Dies wird durch den Aufschwung der traditionellen Religion in der Region bestätigt, der sich in der Abhaltung prachtvoller Kultfeste, in der Intensivierung des Tempelbaus und des Kaiserkultes manifestierte. Nicht der römische Staat hatte Angst vor den Christen, sondern die christlichen Vordenker zeigten sich durch die ungebrochene Attraktivität der traditionellen Religionspraktiken beunruhigt. 43 Das von Trajan eingeführte Verfahren brachte eine substanzielle Verbesserung der Lage der Beschuldigten. Die Behörden durften nur dann aktiv werden, wenn eine begründete Anzeige vorlag. Wurde jemand als Christ denunziert, so musste der Ankläger an der Verhandlung teilnehmen. Vermochte der Angezeigte durch den Vollzug des Opfers die Haltlosigkeit der Vorwürfe zu entkräften, kam der Denunziant wegen Falschaussage vor Gericht und riskierte so die Höchststrafe. Damit lag das Schicksal des Anklägers in der Hand des Angeklagten. Man kann sich vorstellen, wie rasch die Denunziationen zum Versiegen gekommen sein dürften. Diese gelassene Behandlung abweichender religiöser Minderheiten war bemerkenswert, weil Trajan als Traditionalist galt, der, ähnlich wie Augustus, innerhalb seines Palastes keine neuen Religionen förderte. Daraus wird ersichtlich, dass die Einhaltung der bestehenden Kultvorschriften keine Negierung fremder Kultformen nach sich zog. Gerade diese Stimmungslage erlaubt uns, die komplexe soziale Realität der Epoche zu erkennen, die das vorherrschende, konsolidierte politisch-religiöse System eines Staates widerspiegelte, der 195

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sich auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung befand. Aus alldem ergibt sich, dass die Erfüllung des Rituals die Strafverfolgung außer Kraft setzte, denn aus römischer Sicht wurden durch den Vollzug des Opfers die Bande mit der Götterwelt aufs Neue geknüpft. Gleichzeitig sah man in der Opferhandlung einen Akt der Solidarisierung mit der politischen Gemeinschaft. Es ging nicht um die Erforschung der individuellen Glaubensüberzeugung, sondern um die Abgabe eines öffentlichen Bekenntnisses zum Imperium. Die auf den ersten Blick vorhandene Unverträglichkeit zwischen Christuskult und römischer Religion ist dennoch zu relativieren. Trotz grundlegender Divergenzen entwickelte sich im Alltag ein modus vivendi zwischen den miteinander lebenden und aufeinander angewiesenen unterschiedlichen Kultgruppierungen, der gelegentlich Grenzen zu überschreiten vermochte. Die monotheistische Ausschließlichkeit des Christengottes konnte seine Anhänger nie von synkretistischen Ritualen abhalten, ebenso wenig, wie die bestehende Strafandrohung seitens des Staates die Ausbreitung des Christuskultes verhindert hat. Erschwert wurde die Lage des Christentums dadurch, dass es, anders als das ebenfalls monotheistische Judentum, keine alte und keine Stammesreligion war. Sein Missionsgebiet war die ganze Welt, und hier lag ein Grund für weitere Kollisionen, denn das Imperium Romanum erhob ebenfalls Anspruch auf den gesamten Erdkreis und betrachtete ihn als sein Aktionsfeld. Was man den Juden nachsah, machte man den Christen zum Vorwurf. Schließlich waren diese von ihrer ursprünglichen Kultgemeinschaft abgefallen. Die Einschätzung der Christen durch antike Autoren wie Tacitus oder Sueton etwa – von Celsus, Porphyrios und Gleichgesinnten ganz zu schweigen – bewegte sich zwischen Kopfschütteln und Abscheu. Sie waren voller Unverständnis gegenüber einer Lehre, die ihnen unverständlich blieb, deren Sprachregelung und Symbolik sie abstoßend fanden und deren Gefährlichkeit für den Bestand des Staates sie erahnten. Es darf nicht verwundern, wenn überzeugte Verfechter der imperialen Sendung Roms die Aufrechterhaltung des traditionellen Götterpantheons propagierten und jeder Abweichung misstrauisch gegenüberstanden. Daher waren Christenfeinde in der frühen Kaiserzeit weniger von Hass gegen die neue Lehre erfüllt; ihre Abneigung entsprang vielmehr ihrer affirmativen Haltung zum Imperium. Hinzu kommt, dass die Anerkennung des Christengottes nicht nur die bewährte, Jahrhunderte lang vorherrschende Eintracht innerhalb der Götterwelt (pax deorum) gestört, sondern auch nach einer neuen Konzeption von Politik verlangt hätte. So standen sich zwei Prinzipien mit verschiedenen Ausgangspositionen und Zielsetzungen gegenüber. Gab es einen Ausgleich 196

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oder siegte die eine Richtung über die andere? Vordergründig  – und die späteren Ereignisse scheinen dies zu bestätigen – ist man geneigt, nicht von Versöhnung, sondern von Durchsetzung der christlichen Lehre mit anschließender Zerschlagung des Heidentums zu sprechen. Und obwohl dies in den Grundzügen richtig ist, kann man die Frage noch anders stellen: Wie sah das seit dem 4. Jahrhundert sich allmählich ausbreitende Christentum aus, und welchen Preis musste es für seinen Siegeszug entrichten? Um ­allgemeine Anerkennung zu erreichen, hatte sich die neue Religion der heidnischen Umgebung weitgehend anzupassen. Bevor das Christentum unter Con­stantin die Schwelle zur politischen Salonfähigkeit überschreiten konnte, musste es so umgestaltet werden, dass seine Botschaft, Lehre, Organisation und Symbolik verstanden und als akzeptabel angesehen wurden. Ohne dies zu wollen, trugen gerade die Gegner durch ihre Kritik und Verfolgung zu diesem Wandel bei. Seit Augustus stellte der überall im Reich stattfindende Kaiserkult eine bewährte Form der Kommunikation zwischen der Reichspitze und der provinzialen Gesellschaft dar.44 Zudem bedeutete der Vollzug des Rituals die Anerkennung der Kaiserherrschaft durch die Opfernden. Forderte ein Imperator, wie Decius (249–251), seine Untertanen auf, eine supplicatio (Opfer und Gebet) zu vollziehen, so tat er dies nicht, wie eine auf die Verfolgung der Christen einseitig fixierte Optik glauben machen möchte, um Dissidenten zu disziplinieren, sondern handelte in der Absicht, einen Beweis der Solidarität von Seiten der Bevölkerung zu erhalten. Es ging dabei primär um die Erlangung von Zustimmung, weniger um die Ausgrenzung der illoyalen Bürger. Durch eine derartig groß angelegte Mobilisierung sollte Konformität mit dem Kaiser demonstriert werden. Der Appell war aus der Sicht der Regierung notwendig, um den vielfältigen Bedrohungen (Einfall fremder Völker, Machtkämpfe, wirtschaftliche Probleme), die das Reich erschütterten, durch einen Akt der inneren Geschlossenheit zu begegnen. Kaiser Valerian (253–260) erblickte in den Christen einen Unsicherheitsherd und ein Hindernis für die Einheit des Reichs. Da er sich ihrer Loyalität nicht sicher war, griff er sie massiv an, indem er zunächst die Kleriker bedrängte und danach alle anderen Gemeindeglieder unter Generalverdacht stellte.45 Als aber im Verlauf des gescheiterten Feldzuges gegen das Sassanidenreich Valerian in Gefangenschaft geriet und nach seinem Tod der Perserkönig Schapur als Trophäe seines Sieges ihm seine Haut abziehen, gerben und öffentlich ausstellen ließ, war nicht nur ein Tiefpunkt in der römischen Geschichte erreicht, sondern ein ebenso spektakuläres Revirement in der Religionspolitik. Nicht wenige Christen sahen in Valerians grausigem Schicksal ein göttliches 197

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Hirt mit Schaf auf den Schultern; Relief wohl von einem Sarkophag, ­Marmor; von Bartolomeo Cavaceppi (1716–1799) als freistehende Statue umge­ arbeitet. H. (nach Restaurierung) 100 cm, H. des antik Erhaltenen 55 cm (spätes 3. Jh.); Rom, Vatikan, Museo Pio Cristiano

Vorzeichen, während in manchen heidnischen Kreisen den Christen die ­Urheberschaft am Elend der Gegenwart angelastet wurde.46 Als Reaktion auf die gegenseitigen Schuldzuweisungen entfaltete sich eine von Valerians Sohn und Nachfolger Gallienus verantwortete Beschwichtigungspolitik, die zu einer Einstellung der Christenverfolgung führte.47 198

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Die immer wieder erneuerten Bündnisse der Imperatoren mit den Göttern Roms galten als Voraussetzung für das Gelingen der zunehmend komplexer werdenden Aufgaben der Staatsführung. Politische Erfolge und militärische Siege stärkten nicht nur die virtus imperatoria der Regenten, sondern wurden ebenso als Beweise für die Gunst der Götter gegenüber dem Gemeinwesen gewertet.48 Innerhalb dieser Wechselseitigkeit zog Valerians tiefer Fall eine Störung der gesellschaftlichen Symmetrie nach sich: Römischer Himmel und römische Erde schienen auseinanderzustreben.49 Wie oft konnte das Imperium eine Wiederholung derartiger Katastrophen aushalten? Das Kaisertum erlebte damals seine gewaltigste Bewährungsprobe. In diesem Kontext diente die causa Valerian als Warnung und Mahnung zugleich. Denn sein Scheitern war weitaus verhängnisvoller als die üblichen Palastintrigen um den Thron oder die zahlreichen internen Machtkämpfe um die Herrschaft, weil es die Vorstellung der lebensnotwendigen Allianz der Staatsrepräsentanten mit den Göttern Roms in einem bisher ungekannten Ausmaß untergrub. In der Reflexion, die bald darauf einsetzte, kamen die Modalitäten des Erwerbs beziehungsweise des Verlustes von Herrschaft auf den Prüfstand. Damit wuchs die Notwendigkeit, die Suche nach jenen unverzichtbaren himmlischen Beschützern voranzutreiben, die Stabilität und Erfolg verbürgen konnten. In Kenntnis dieser Zusammenhänge schlossen Diocletian und Maximian mit der Schaffung des Vierkaisermodells ­(Tetrarchie) ein Bündnis mit Jupiter und Hercules, die auf diese Weise zu Weggefährten und Garanten ihrer Regierung aufrückten, was gleichsam bedeutete, dass die Verklammerung eines Zukunftsprojektes mit eigens auserwählten Gottheiten diese in Geiselhaft nahm. Stärker als in der Vergangenheit wurde das Schicksal der römischen Religion dem Erfolg der vier göttlich inspirierten und gleichzeitig amtierenden Kaiser Diocletian, Maximian, Galerius und Constantius überantwortet. Die Gleichsetzung von Staat und ­Götterkult, zum Programm erhoben, setzte ein Mobilisierungspotenzial frei, das einerseits ein eigenwilliges politisches Konzept verkündete, andererseits zu einer Neuauflage der staatlich gelenkten Gewalt gegen jene Gruppierungen ermöglichte, die aus der Sicht der Herrschenden eine Regeneration des angeschlagenen Gemeinwesens verhinderten. Die Legitimation der Tetrarchie beruhte auf der unlösbaren Verbindung der altrömischen Religion mit den Regenten. Ihre Divinität bildete einen integrativen Bestandteil der zu einer göttlichen Familie vereinten Herrscher. Die Nichtanerkennung dieser Festlegung konnte strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, weil sie aus der Sicht der Kaiser das religiös untermauerte Fundament des Staates zersetzte und die bestehende Ordnung unterminierte.50 199

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Diocletian blieb zunächst bei der von Gallienus vorgezeichneten Linie. So holte er den Christen Lactanz als Rhetoriklehrer nach Nikomedien und ließ ihn in seiner Bibliothek arbeiten. Lactanz selbst bekräftigt51, dass Diocletian lange Zeit tolerant gewesen sei. Dies bestätigt auch die Tatsache, dass neben dem Kaiserpalast von Nikomedien ein großes christliches Gotteshaus stand.52 Der Anstoß für die Änderung seiner Einstellung zu den Christen ist schwer zu ermitteln. Die christlichen Autoren Lactanz und Eusebios sind die wichtigsten Quellen für die nun folgenden Konflikte zwischen der römischen Staatsmacht und der neuen Religion. Die geistige Auseinandersetzung ist jedoch schlecht belegbar, da die Schriften der Heiden bis auf wenige Ausnahmen53 vernichtet wurden. Am 23. Februar 303 erschien das erste von vier Edikten, mit denen die Christen zu der althergebrachten Reichsreligion zurückgeführt werden sollten. Über dessen Inhalt berichten Lactanz54 und Eusebios55 übereinstimmend, dass die Kirchen abzureißen und theologische Schriften zu verbrennen seien. Weiter wurde die Entfernung der Christen aus dem staatlichen Dienst verfügt. Diocletians Reaktion auf die teilweise vorhandene Bereitschaft der Verfolgten zum Martyrium bestand darin, die Verfolgungsmaßnahmen noch zu verschärfen. Vor allem ein zweimaliger Brand des Palastes von Nikomedia führte zu einem noch strengeren Vorgehen, dem sich ein allgemeines Opfergebot gegenüber den Göttern der römischen Staatsreligion anschloss. Eusebios erzählt, dass sich die Verfolgung zu einem regelrechten Krieg gegen die Christen ausweitete, in dessen Verlauf die Zahl der Abgefallenen (lapsi) ebenso wie die der Märtyrer in die Tausende ging. Diese Einschätzung, vor allem hinsichtlich der Zahl der Märtyrer, dürfte entschieden zu hoch sein. Hinzu kommt, dass Form und Intensität der christenfeindlichen Maßnahmen je nach Zeitpunkt und Landschaft höchst unterschiedlich ausfielen. Im Westen, vor allem unter Maximian in Italien und Afrika, wurden Christenprozesse durchgeführt. Im Osten gab es die meisten Opfer; hier hat auch der Rücktritt Diocletians im Jahre 305 die Verfolgungen nicht beendet. Sie sind erst durch das Toleranzedikt von Serdica, das Galerius erst im Jahre 311 erließ, zum Abschluss gekommen. Die Gründe für diese Verfolgung sind in der kultisch-religiösen Einstellung Diocletians und seiner Mitherrscher zu suchen. Während des über 40-jährigen Religionsfriedens, der seit der Aufhebung der Verfolgungsedikte des Valerian (260) andauerte, konnte sich der christliche Glauben ungehindert ausbreiten. Den Abfall vom überlieferten Kult sahen die Tetrarchen als einen Akt der Illoyalität an. Das von Diocletian geschaffene politisch-religiöse Herrschaftssystem, das von seinem inneren Wesen her das Christentum als Sammelbewegung staatsgefährdender Sektierer verdammte, war der Aus­ 200

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löser für die Verfolgungspolitik und weniger die persönliche Haltung der Tetrarchen. Zur Profilierung des Christentums leistete Diocletian ungewollt einen Beitrag. Seine Religionspolitik wurde von Prohibitivmaßnahmen begleitet, die den Abweichlern Gewalt und Leid androhten. Die bedrängten Christen wurden gezwungen, wenn sie nicht untergehen wollten, sich zu organisieren und den Kampf gegen die heidnische Militanz anzunehmen. Neben Rückschlägen gab es auch eine beträchtliche Stärkung der eigenen Position, indem man der eigenen Widerstandsfähigkeit immer wieder gewahr wurde. Christ zu sein, konnte überaus beschwerlich sein. Gelegentlich wurden Christusgläubige bedrängt, und sie lebten mit dem Risiko, angezeigt und verurteilt zu werden. Vom Standpunkt des geltenden Rechtes waren sie nicht geschützt, bei strikter Anwendung der Rechtssatzungen stand sogar die Existenz der Gemeinschaft auf dem Spiel. Dass sie dennoch weiter bestand, hängt mit der Natur der kaiserzeitlichen Gesellschaft zusammen. Das römische Reich war ein Personenverband, was Auswirkungen auf sein Regierungssystem hatte. Gesetze konnten nur in Kraft treten, wenn die Mitarbeit der Individuen und gesellschaftlichen Gruppen, die in diesem Prozess involviert waren, reibungslos funktionierte. Je mehr Christusgläubige sich darunter befanden, desto mehr Widerstand hatte jede antichristlich inspirierte Politik zu überwinden. Das Gedeihen des Christentums ist nicht nur durch eine Reihe günstiger Bedingungen wie die religiöse und soziale Geborgenheit, die jede eingeschworene Gemeinschaft ihren Mitgliedern vermittelt, sondern auch durch Anfeindungen von außen befördert worden. Die Polemik seiner schärfsten Kritiker (Celsus, Porphyrios) zog die Apologetik nach sich, womit eine ständige Überprüfung und Korrektur der eigenen Position stattfand; die Verfolgung brachte Märtyrer hervor, und damit wurde ein Beispiel für Selbst­ behauptung und Unüberwindbarkeit geliefert.

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5 Handeln im göttlichen Auftrag

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tets haben sich Machtmenschen aller Epochen darauf berufen, im göttlichen Auftrag unterwegs zu sein und entsprechend zu handeln. Die ­römischen Imperatoren, die frühen Kalifen, zahlreiche Herrscher des europäischen Mittelalters und der Neuzeit, Ritter und Päpste haben immer wieder ihre individuellen Glaubensüberzeugungen zum Maßstab ihrer politischen Tätigkeit erhoben und damit eine verhängnisvolle messianische Rechtfertigung ihrer Taten heraufbeschworen, die in einigen Fällen für unzählige Schandtaten mitverantwortlich war, denn eine solche Überzeugung beruhte auf der Unterscheidung zwischen richtig und falsch, gut und böse, gerecht und ungerecht. Es fiel nicht schwer, sich Beschränkungen aufzuerlegen, wenn man sich als Verkünder und Verfechter der Wahrheit empfand und daher auf der guten Seite wähnte: Was sprach dagegen, wenn nötig, Gewalt gegen diejenigen anzuwenden, die falsch lagen? Die angebliche göttliche Bestätigung des eigenen Tuns verstärkte die Gewissheit, adäquat gehandelt zu haben, sich auf dem einzig gangbaren Weg des Heils zu befinden. Folglich bildeten die Stigmatisierung der Gegner und die eigene Selbstüberhöhung die nächsten Stufen auf dem Weg der Vereinnahmung göttlicher Wirkkräfte zum eigenen Nutzen. Die maßgeblichen Vorbilder für die Anrufung von Gottheiten, um die Absegnung des eigenen Vorgehens zu legitimieren, entstanden bereits in der antiken Welt, lange bevor monotheistische Gottesvorstellungen die religiöse Szenerie der mediterranen Kultur durchdrangen. Bereits in den homerischen Epen treten charismatische Akteure auf, deren militärische Führerschaft und rücksichtloses Gebaren durch eine besondere Nähe zu bestimmten Gottheiten geadelt und so rechtfertigt wurde, wie dies beispielsweise durch Agamemnon, Achilleus oder Odysseus mustergültig verkörpert wird. Mit der Übergestalt des in die Fußstapfen des Achilleus tretenden Alexanders des Großen beginnend, werden sodann die Potentaten der hellenistischen Ära, besonders die Ptolemäer und Seleukiden, aber ebenso die daran anknüpfenden karthagischen und vor allem die römischen Machthaber sich verstärkt auf göttliche Leitbilder besinnen, um ihre Taten und Untaten zu legitimieren. In diesem Kontext diente eine in der Verbindung von Person und Gottheit zur Schau getragene Inszenierung politischen Handelns besonders 202

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ehrgeiziger Machthaber als Strategie der Selbstvergewisserung und zugleich als Erfolgsgarantie in besonders heiklen Konfliktlagen. Die nachstehend ausgewählten Beispiele geben reichlich Zeugnis dafür. Gleichzeitig vermitteln sie ­einige aufschlussreiche Varianten einer stets aktuellen Problematik, die uns vor Augen führt, wie die Spannbreite zwischen göttlicher Mission und individueller Ambition vermessen wird.

Alexander in Troja Seit seiner Anwesenheit auf asiatischem Boden tat Alexander alles, um seinen Feldzug religiös zu legitimieren. Während Parmenion die Verladung des Expeditionsheeres an den Dardanellen überwachte, suchte Alexander in Elaius an der Südspitze der Chersones das Grabmonument des Protesilaos auf56: Der erste Grieche, der im Trojanischen Krieg asiatischen Boden betreten hatte, weswegen er als Heros kultisch verehrt wurde. Da das Heiligtum im Zuge der Perserkriege von Xerxes geplündert worden war57, veranstaltete Alexander eine symbolträchtige Restaurierung. Ebenso wie die Abfahrt aus Europa wurde die Überwindung der Meeresstraße, die beide Erdteile trennt, sowie die Ankunft auf der asiatischen Seite des Hellespont mit großem Pathos begangen. Analog zur homerischen Lobpreisung der adeligen Krieger der heroischen Vergangenheit zelebrierte sich die makedonische Militär­ aristokratie selbst. Wenn auch die antiken Autoren den Blick einseitig auf ­Alexander lenken – seine Gefährten waren nicht minder enthusiastisch an diesen Aktionen beteiligt. Darüber hinaus sollten diese Gedenkakte die makedonischen Truppen samt den griechischen Bundesgenossen ansprechen und für die bevorstehenden militärischen Herausforderungen anspornen. Sowohl am europäischen als auch am gegenüberliegenden asiatischen Ufer des Hellespont wurden zum Ruhm des Zeus, der Athene und des Herakles Altäre dediziert. Mitten auf dem Meer fand ein Opfer für Poseidon und die Nereiden statt, um eine günstige Überfahrt zu erflehen. Eine wertvolle goldene Schale wurde ins Wasser geworfen, um die Meeresgottheiten zu versöhnen. Alexander steuerte eigenhändig sein Schiff und landete an jenem Strand, den angeblich schon die Mannen Agamemnons aufgesucht hatten. Er soll als erster in voller Rüstung an Land gegangen sein und zuvor einen Speer auf das gegenüberliegende Ufer geworfen haben, um damit seine Besitzansprüche auf Asien zu unterstreichen.58 Was im Einzelnen tatsächlich geschah, lässt sich kaum rekonstruieren. Unabhängig davon, wie man die Wirkung der auch als Motivationsschub 203

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III  Kult und Erlösung

g­edachten Demonstrationen von Siegeszuversicht beurteilt, unzweifelhaft ist, dass die Eröffnungsphase des Persienzuges bewusst an die Tradition der ­homerischen Heldenverehrung anknüpfte, um damit den Rachecharakter der Expedition zu betonen. Alexander und seine Gefährten reklamierten sie als spätere Wegbegleiter der einstigen Helden eingedenk der Tatsache, dass Achilleus, Agamemnon, Odysseus, Ajax und ihre Weggefährten als Chiffren der hellenischen Identität galten. In diesem Sinne ist der sich daran anschließende Besuch in Ilion, dem sagenumwobenen Troja, zu verstehen. An diesem für Griechen und Makedonen ehrwürdigen Ort erwies Alexander dem angeblichen Grab des Achilleus seine Reverenz. Parallel dazu besuchte sein Gefährte Hephaistion, der hier erstmalig erwähnt wird, die Ruhestätte des Patroklos.59 Dann betete der Makedonenkönig, der sich mütterlicherseits auf Achilleus zurückführte, an der Stelle, wo Achilleus’ Sohn Neoptolemos den Trojaner Priamos erschlagen haben soll, um diese Tat zu sühnen. Seine Rüstung weihte er der Göttin Athene, der er größte Ehrerbietung erwies. Im Gegenzug erhielt er Waffen, die aus dem Trojanischen Krieg herrühren sollten. Er ließ sie bei seinen späteren Feldzügen ständig vor sich her tragen.60 Alexander hatte sich mit seiner engsten Umgebung nach Troja aufgemacht, um Achilleus, die mythische Symbolgestalt für militärische Tüchtigkeit par excellence, für seine Zwecke einzuspannen. Indem er diesen als seinen Vorfahren in Anspruch nahm, sich ihm anglich und die folgenden Militäraktionen unter dessen Ägide stellte, verkündete er ein Programm, das sich in wenigen Worten zusammenfassen ließ: Er versprach allen, die sich ihm anschlossen, jenen Ruhm und Erfolg, für den der gefeierte Kriegsmann Achilleus Pate stand. Eine Mischung aus genussvoll erlebter Theatralik, tief empfundener Devotion und nüchtern berechneter Wirkung prägte die Atmosphäre der vor Beginn der Kampfhandlungen veranstalteten Rituale. Nebenbei bereitete Alexander mit der Aufbietung des Achilleusmythos die eigene Mythenbildung vor. Zweifellos verlieh die Verknüpfung der legendären homerischen Trojaexpedition mit dem Persienzug der Unternehmung Alexanders den Charakter einer grundsätzlichen Abrechnung mit den Barbaren. Über ihre Tragweite lässt sich aus den vorhandenen Quellen jedoch wenig in Erfahrung bringen. Daher gehen die modernen Sichtweisen, die in diesen Inszenierungen bereits die Ankündigung eines Kampfes um das ganze Perserreich, ja um die Weltherrschaft erkennen wollen, letztlich von den später zutage tretenden Ergebnissen aus.61 Die Wertschätzung des Ortes äußerte sich außer im symbolhaften Handeln in materiellen und ideellen Vergünstigungen: Um sich die griechischen Poleis Kleinasiens gewogen zu machen, befreite Alexander die Stadt Ilion 204

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von Abgaben und Tributen. Ferner hielt er seine Truppen von jeglicher Plünderungsaktion ab.62 Die spektakulären Aktivitäten, die Alexander auf den Spuren Homers ausführte, waren durchaus ernst gemeint. Sie dienten ihm als ideologische Flankierung seiner weit gespannten Pläne. Was er und seine Gefährten diesbezüglich unternahmen, war keine bloße Schauspielerei, die für das höhere Ziel der Kriegspropaganda in Kauf genommen wurde; stattdessen entsprach die an den Tag gelebte Homerbegeisterung den Neigungen des makedonischen Kriegeradels. Manche modernen Historiker63 sehen in Alexander einen Romantiker, der bei seinem Aufenthalt in Troja ausschließlich aus persönlichen Motiven handelte. Diese Sichtweise spiegelt eher eine neuzeitliche Gefühlslage wider als die für Menschen der antiken Mittelmeerkultur schlüssige Vereinbarkeit von Realität und Mythos, Schwärmerei und Ernsthaftigkeit, religiöse Devotion und Kalkül. Die Betonung der gemeinsamen griechischen Tradition, ablesbar an der Summe der vollzogenen Opfer, Sühnehandlungen und Akte der Erinnerung, erlebten die Betroffenen als Stimulation für die bevorstehenden Militäraktionen, die zunächst noch kein klares Ziel erkennen ließen. In Alexanders Appell an den griechischen Gemeinsinn mischte sich ein Gefühl der Unterlegenheit mit dem Willen zum Sieg über den übermächtigen Feind. Durch Vergewisserung der göttlichen Zustimmung sollte die anfängliche Unsicherheit über die Zukunft der Expedition überdeckt werden. Schließlich befand sich seit etwa zwei Jahren eine starke makedonische Vorhut in Kleinasien, die nach ersten vielversprechenden Fortschritten, die zu einem Umschwung in Ephesos geführt hatten, sich dann aber nach Abydos zurückziehen musste und auf der Stelle trat. Dort wartete sie die Ankunft der Hauptarmee ab, um die ramponierte Waffenehre der Makedonen wiederherzustellen. Lediglich die vor der Küste gelegene Inselfestung Kyzikos trotzte der Macht der Satrapen. Die anderen exponierten Städte an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien, wie Lampsakos, verhielten sich abwartend. Das Risiko einer einseitigen Parteinahme war zu groß, und so musste Alexander erst zeigen, was er zu leisten imstande war, um Parteigänger zu rekrutieren. Allein in die historische Rolle des legendären Achilleus zu schlüpfen, so sehr diese ihm maßgeschneidert zu sein schien, genügte nicht, um einen politischen Umschwung im kleinasiatischen Raum zu bewirken. Es mussten handgreif­ liche Beweise seines politischen Geschickes und vor allem seiner militärischen Kompetenz folgen. Noch mehr als seine Gegner war der in Asien agierende König der Makedonen auf schnelle Erfolge angewiesen. Der 22-jährige Monarch strotzte vor Selbstbewusstsein. Ihm stand ein beträchtliches Militär­ potenzial zur Verfügung. Keiner seiner Vorgänger auf dem Argeadenthron 205

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und auch kein griechischer Potentat hatte jemals eine vergleichbare Truppenkonzentration im Feindesland geführt. Voller Siegesgewissheit machte sich die von einem neuen Achilleus angeführte makedonisch-griechische Kriegskoalition auf, die persische Weltmacht herauszufordern.

Hannibal und Melkart Versetzen wir uns in das karthagische Winterlager in Neukarthago (Cartagena) in den Anfangswochen des Jahres 218 v. Chr. und versuchen zu eruieren, wie und wo der 2. Römisch-karthagische Krieg begann. Die Fragestellung mag überflüssig erscheinen, weil es als Tatsache gilt, dass Hannibal im Frühjahr dieses Jahres seine Armee in Neukarthago formierte und Richtung Italien in Marsch setzte. Doch diese Feststellung ist nicht ganz zutreffend. Um es präziser zu sagen: Sie beschreibt erst den zweiten Teil des Weges, den Hannibal beschritt, um mit Rom abzurechnen. Seine Marschroute führte zunächst nicht nach Norden, sondern in die entgegengesetzte Richtung, nach Süden. Zielort war Gades (Cádiz). Noch während des Winterlagers nahm Hannibal Kurs auf die Straße von Gibraltar. Die Zeit drängte, und er wollte so schnell wie möglich zurück im Hauptquartier sein. Der offizielle Anlass seines Besuches in Gades war die Einlösung eines Gelübdes sowie die Darbringung eines Opfers im Heiligtum des Gottes Melkart, um dessen Beistand für die bevorstehenden Unternehmungen zu erbitten.64 Wir besitzen einige aussagekräftige Münzprägungen, die einen engen Zusammenhang zwischen dem Barkidengeschlecht und Melkart herstellen.65 Auch die Jugendlichkeit des Eroberers war ein Attribut, das eine Parallelisierung zu den Taten des Welteroberers Alexander erlaubte. Hannibal selbst hatte im Alter von sechsundzwanzig Jahren das höchste Militäramt erhalten (221 v. Chr.); daher konnte er sich wie ein neuer Alexander im Licht des Melkart/Herakles präsentieren: Er trug eine Statuette des Gottes, die einst Alexander gehört haben soll, ständig bei sich. Unter den zwölf Taten des Herakles gab es eine, die sich in besonderer Weise gegen die Römer einsetzen ließ.66 Als Herakles die Rinder des von ihm besiegten Geryon durch Hispanien und Gallien über die Alpen bis nach Italien trieb, so erzählt die Legende, versuchte der auf dem Aventin hausende Riese Cacus, die vorbeiziehenden Tiere zu stehlen, was Herakles jedoch rechtzeitig bemerkte. Der diebische Cacus wurde von ihm daraufhin zur Rechenschaft gezogen und bestraft. Diese Episode aus dem Bereich der Mythologie war allseits bekannt. Sie eignete sich zur Veranschau206

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lichung des römisch-karthagischen Konfliktes. Mit Bezug darauf ließ die karthagische Kriegspropaganda verbreiten, dass sich nun Hannibal, wie einst ­Herakles, nach Italien begeben werde, um die Römer für ihr anmaßendes Verhalten in Hispanien zur Verantwortung zu ziehen. Was war vorausgegangen? In die Auseinandersetzung zwischen den Karthagern und der Stadt S­ agunt, die gegen benachbarte karthagische Verbündete vorgegangen war, mischte sich Rom nach einem Hilferuf der Saguntiner ein.67 Die Belagerung und Eroberung Sagunts durch Hannibal (Ende Dezember 219 v. Chr.) war der casus belli für die Römer, die das Vordringen der Karthager in Hispanien ohnehin mit großem Misstrauen verfolgt hatten. Ein von den Römern behaupteter Vertragsbruch, wonach Sagunt zum römischen Einflussbereich gehört haben soll und als Verbündeter Roms Anspruch auf dessen Schutz gehabt hätte, diente als Vorwand für die römische Kriegserklärung an Karthago.68 Darauf reagierte Hannibal sowohl mit umfangreichen Kriegsvorbereitungen als auch mit einer wohlüberlegten ideologischen Offensive, die sich kultisch-sakraler Motive bediente. Das übergeordnete Ziel war freilich, Bundesgenossen zu gewinnen. Dies dürfte eine der Lehren des vergangenen römisch-karthagischen Konfliktes gewesen sein, als Karthago, allein auf sich gestellt, die gesamte Last des Krieges tragen musste. Mit der Mobilisierung einer im westlichen Mittelmeerraum äußerst populären Identifikationsfigur wie Melkart/Herakles war eine für die Zeitgenossen deutliche Botschaft verbunden. Gewiss genügte die Anrufung der Gottheit allein nicht; sie musste mit einer aktuellen politischen Programmatik verknüpft werden. Wie sie im Einzelnen formuliert wurde, ist nicht überliefert. Aber aus der Beobachtung der nachfolgenden Ereignisse lässt sich erschließen, dass ein Befreiungsaufruf im Zen­trum des religions­ politischen Appells gestanden haben wird. Die zu erwartende Wirksamkeit dieser Maßnahme war eine entscheidende Voraussetzung für das ­Gelingen seiner Strategie. Die von Hannibal bekundete Melkart/Herakles-Devotion sollte nicht nur alle Westphöniker, zu denen die Karthager gehörten, sondern ebenso die Griechen ansprechen. Bedenken wir, dass es in Südhispanien, Sardinien und Sizilien mehrere westphönikische Siedlungen sowie zahlreiche griechische Poleis gab.69 Die Attraktivität des von Hannibal unterbreiteten Angebots zeigt sich darin, dass sich im Verlauf der militärischen Auseinandersetzung namhafte griechische Gemeinwesen seinem Kampf gegen Rom anschlossen: König Philipp  V. von Makedonien (215 v.  Chr.)70, Syrakus (215 v. Chr.)71, Tarent (213 v. Chr.)72 sowie zahlreiche italische und sizilische Griechenstädte.73 Hannibal forderte die Griechen und Westphöniker auf, sich auf ihre eigene ehrwürdige Kultur zu besinnen und die politische Konsequenz daraus zu ziehen: das Joch der Römer abzuschütteln. Diese dürften als Unter207

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drücker und herrschsüchtige Neulinge auf der Bühne der Weltgeschichte apostrophiert worden sein, die man in ihre Schranken weisen müsse.74 Das Feindbild, das Hannibal von den Römern entwarf, zeigte Wirkung. Weder die Griechen noch die Westphöniker wollten ihren Vorrang im westlichen Mittelmeerraum kampflos räumen. Durch die Aufbietung einer sakralen Identifi­ kationsmöglichkeit hatte Hannibal eine Plattform geschaffen, die geeignet schien, die untereinander zum Teil zerstrittenen Romgegner unter einem gemeinsamen Dach zu versammeln. Dies war eine ingeniöse staatsmännische Maßnahme, da es gelang, die unterschiedlichen Interessen der Romgegner zeitweilig zu überdecken, ohne zunächst ein weittragendes Konzept formulieren zu müssen. Das gemeinsame Band der Allianz wurde ex negativo bestimmt; die positive Ausfüllung blieb der Zukunft überlassen. Für einen Mann wie Hannibal, der sich laut Livius durch seine mangelnde Religiosität auszeichnete75, stellte die durch gemeinsame Interessen geschmiedete antirömische Aktionsgemeinschaft eine erstaunliche Leistung dar. In diesem Sinne ist die von Hannibal in Gades inszenierte Anbetung des Melkart-Herakles zu verstehen. Ein göttlicher Beschützer sollte seiner wagemutigen Unternehmung die nötige sakrale Weihe verleihen.

Scipio und Jupiter Die Antwort auf die kultischen Initiativen der Karthager wurde im Verlauf des Jahres 211 v. Chr. in Rom sichtbar. Hier trat ein Mann auf, der dem unbesiegbar scheinenden Hannibal politisch und mili­tärisch ebenbürtig war und bald eine kriegsentscheidende Rolle spielen sollte: Publius Cornelius Scipio, der aufgrund seiner späteren Taten unter dem ehren­vollen Beinamen Africanus in die römischen Annalen eingehen sollte. Er war der Sohn des in Hispanien gefallenen gleichnamigen Feldherrn. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren – auch hier gibt es eine Parallele zu Hannibals Biographie – wurde er als Privatmann mit dem Oberbefehl in Hispanien betraut, was gegen die Tradition verstieß, weil Scipio aufgrund seiner Jugend noch kein hohes Staatsamt (Prätur, Consulat) bekleidet hatte. Er war bisher lediglich Ädil ­gewesen. Aber der Einfluss seiner Familie und seiner politischen Freunde sowie die dem tatkräftigen Mann gewogene Volksmeinung setzten sich gegen die Bedenken des Senates durch. Auf Antrag der Consuln des Jahres 211 v. Chr., Gnaeus Fulvius Centumalus und Publius Sulpicius Galba, wurde der junge Publius Cornelius Scipio von den Centuriatscomitien mit der Führung des Krieges in Hispanien beauftragt.76 208

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Für Scipio war diese ungeheure Herausforderung eine Familienangelegenheit, bei der öffentliche Belange und private Interessen zusammentrafen. Er wollte sie bestehen, um Vater und Onkel zu rächen und die römische Waffenehre wiederherzustellen. In einem Punkt übertraf Scipio die meisten seiner römischen Standesgenossen. Seine Energie und sein Selbstbewusstsein waren überdurchschnittlich stark entwickelt, seine Frömmigkeit setzte neue Maßstäbe. Scipio fiel durch besondere religiöse Beflissenheit auf und vermittelte seiner Umgebung das Gefühl, ein Günstling der Götter zu sein. Dies stärkte das Selbstvertrauen und das Vertrauen anderer in sein Kriegsglück. Diesbezüglich vermerkt Livius: An keinem Tage betrieb er eine öffentliche oder private Angelegenheit, ohne zuvor auf das Kapitol zu gehen, nach Betreten des Tempels sich niederzulassen und meistens allein im Verborgenen die Zeit zu verbringen. Diese Gewohnheit, der er durch sein ganzes Leben treu blieb, ließ, sei es absichtlich oder zufällig, die verbreitete Meinung bei einigen Leuten Glauben finden, er sei ein Mann von göttlicher Abstammung, und ließ das Gerücht wieder auftauchen, das in Bezug auf Alexander den Großen schon vorher verbreitet war (…), er sei im Beilager mit einer gewaltigen Schlange empfangen und im Schlafgemach seiner Mutter sei sehr oft die Erscheinung dieses Wunderzeichens gesehen worden.77 Wie sehr Scipio bei all seinen Militärunternehmungen sich auf die Motivationskraft der göttlichen Wirkmächte berief, bezeugt Polybios, der bei der Schilderung seines Husarenstücks, als er die Festung Neukarthago das Zen­ trum der karthagischen Macht in Hispanien überraschend und tollkühn angriff, Folgendes festgehalten hat: Scipio besaß in besonderem Maße die Fähigkeit, seinen Truppen Mut einzuflößen, ja es ging eine suggestive Kraft von ihm aus. Sie gehorchten also und wetteiferten, rasch durch das seichte Wasser zu laufen, das ganze Heer aber dachte nichts anderes, als dass hier ein Gott in das Geschehen eingegriffen habe.78 Dass tatkräftige, erfolgreiche Menschen, die aufgrund ihrer militärischen oder politischen Fähigkeiten herausstachen, mit Gottheiten verbunden oder gar gleichgesetzt wurden, entsprach dem Zeitgeist. Alexander der Große und die Diadochen, Hannibal und die Scipionen gehören einer charismatischen Elite an, die durch die Wirkkraft und Rezeption hellenistischer Kommunikationsformen definiert wurde.79 Dazu gehörte die mehr oder weniger dezent propagierte eigene Gottessohnschaft (Alexander und Zeus-Ammon) oder eine besondere Nahbeziehung zu einer unterstützenden Gottheit, die als Symbol für erzielte Erfolge galt (Ptolemaios und Dionysos, Hannibal und Melkart, Scipio und Jupiter) oder die Proklamation der eigenen Göttlichkeit: Ptolemäer, Seleukiden und Antigoniden wurden als „rettende Götter“ ver209

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ehrt. Wie einst die homerischen Helden, die ihren Kampf unter der Ägide des Götterolymps austrugen (Athene etwa setzte sich für Odysseus ein, während Aphrodite Paris half), besiegten Alexander und die Diadochen ihre Feinde im Auftrag einer höheren Macht. Die besondere Nahbeziehung zu Melkart-Herakles, die Hannibal immer wieder öffentlich betonte (Kultfest am Avernersee), beantwortete sein römischer Herausforderer mit der Inszenierung einer publikumswirksamen Jupiterdevotion. Es ging dabei nicht nur um verinnerlichte Frömmigkeit, sondern vor allem um Machtpolitik. Nur die richtigen Gottheiten waren in der Lage, den ersehnten Erfolg zu garantieren. Besonders deutlich wird dies bei den Ereignissen des Jahres 205 v. Chr. sichtbar werden. Damals verkündeten die Sibyllinischen Bücher, dass Hannibal nur dann aus Italien vertrieben und besiegt werden könne, wenn man den Kult der Großen Mutter von Pessinus (Mater Magna) in Rom feierlich einführe. Zum Empfang der Göttin wurde Publius Cornelius Scipio Nasica auserkoren, Vetter des Publius Cornelius Scipio, des Gegenspielers von Hannibal.80 Die Barkiden und die Scipionen begegneten sich nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern lieferten sich im Stile rivalisierender hellenistischer Dynasten durch die Instrumentalisierung von Religion und Kult auch einen erbitterten Wettbewerb um Popularität, Akzeptanz, Macht und Vorrang. Viele andere sollten ihnen später folgen, so etwa der von Dionysos getragene Marcus Antonius und Octavian/Augustus, der Günstling Apollos.81 Die Hellenisierung der römischen Politik, die darin bestand, individuelle Ansprüche und überragendes Leistungsvermögen mit einer unverwechselbaren göttlichen Patina zu überziehen, nahm hier ihren Anfang.

Princeps a diis electus Mit einer aus J. Rufus Fears entlehnten Formel weist die Kapitelüberschrift auf das Reziprozitätsverhältnis zwischen irdischer Macht und göttlicher Wirkkraft im römischen Kaiserreich hin und betont damit einen zentralen Aspekt der politischen Dimension der Herrschaftslegitimation. Stets rühmten sich die führenden römischen Potentaten ihrer besonders engen Bande zu bestimmten Gottheiten. Überspitzt könnte man sagen: Der Polytheismus lag im Interesse der repu­blikanischen Adelsgesellschaft. Hätte es nur einen Gott ­gegeben, so wäre vielen ehrgeizigen Familien die Möglichkeit genommen worden, sich religiös und damit auch politisch zu profilieren. Die Ranggleichheit zwischen den verschiedenen Gottheiten erschien wie eine Widerspiegelung des aristokratisch ausbalancierten Gleichgewichtes im Staate. Wie kann man 210

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den unter Augustus sich vollziehenden Wandel zur Monarchie mit den repu­ blikanischen religionspolitischen Maßstäben in Einklang bringen? Grundsätzlich war sein Herrschaftsanspruch auf keine einzelne Gottheit fixiert. Je nach Anlass berief sich der Princeps auf diverse himmlische Beschützer, um seine besondere politische Stellung, sein Kriegsglück oder sein Charisma zu unterstreichen.82 Die Beachtung, die Augustus den traditionellen Gottheiten im Rahmen seines groß angelegten Programms der religiösen Erneuerung von Staat und Gesellschaft schenkte, stand in keinem Vergleich zu dem besonderen Verhältnis, das er zu Apollo, Mars und Venus pflegte.83 All die Aufgaben, die mit dem Kult dieser Gottheiten zusammenhingen, wurden vom Kaiserhaus monopolisiert. Nur Augustus und der als Nachfolger bestimmte Tiberius durften hier tätig werden.84 Die Tendenz, eine mit der herrschenden Familie untrennbar verwobene Gottheit in den Mittelpunkt des Staatskultes zu stellen, wird besonders deutlich anhand der augusteischen Apollo-Devotion. Neben Jupiter erinnerte vor allem Apollo an den bei Actium errungenen Sieg Octavians über Antonius und Kleopatra, der den Beginn seiner Herrschaft markierte.85 Bei keinem anderen Heiligtum gingen Religion und Politik eine so enge Verbindung ein. Sein Tempel war neben dem Haus des Augustus errichtet worden, womit die Wohnung des Princeps und der Sakralbau zu einer Einheit verschmolzen. Die Sibyllinischen Bücher, die bislang auf dem Capitol aufbewahrt wurden, brachte man nun im Apollotempel auf dem Palatin unter.86 Ähnliches lässt sich vom Mars Ultor Tempel sagen, der Mars und Venus, den Gottheiten des julischen Hauses, gewidmet war.87 Auch dort können wir eine Verlagerung und Konzentration von Sakralfunktionen beobachten: Die Zeremonie des Nagelschlagens wurde dorthin verlegt. Hier opferten die Statthalter vor ihrem Abgang in die Provinz. Kamen sie siegreich zurück, weihten sie dort ihre Ehrenkränze.88 Die aufwändigsten Monumente entstanden für die am engsten mit Augustus verbundenen Götter, deren Bedeutung sich gleichsam in der Größe und der Pracht ihrer Bauten spiegelte. In diesem Zusammenhang ist auf den Herrscherkult als Bestandteil der Kaiserhuldigung hinzuweisen. Während früher einige Provinzstatthalter kultische Ehren erfuhren, verlagert sich diese Art der Dankbarkeitsbezeugung auf den Kaiser. Die Sakralisierung des Princeps hielt Schritt mit dem Prozess der monarchischen Machtbildung. Augustus und seine Nachfolger ließen es sich gerne gefallen, dass zahllose Städte sie als Götter verehrten oder dass Dichter und zufriedene Untertanen sie in die göttliche Sphäre erhoben.89 Die Phasen dieses Prozesses lassen sich auf vielfältige Weise verfolgen, etwa anhand der sich wandelnden Auffassung des Virtus-Begriffes. Während der Repu­blik war der populus Romanus der Bezugspunkt der 211

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­ obpreisungen, die seine fortuna, pietas, concordia oder felicitas evozierten. L Unter der Regierungszeit des ersten Princeps erhalten Wertvorstellungen wie virtus, securitas oder pax den Zusatz augusta; das heißt, es bildeten sich neue Begriffssynthesen, in deren Mittelpunkt der Kaiser rückte.90 Es war eine in der Antike gängige Überzeugung, Machterwerb, Reichtum, Sieghaftigkeit und Herrschaft als Zeichen göttlicher Auserwählung anzusehen. Wer soviel davon erlangen konnte, dass er alle anderen überragte, stellte sich mit den Unsterblichen auf eine Stufe. Es wundert nicht, dass Augustus bereits zu Lebzeiten als Gott verehrt wurde. Hierbei stand er in einem Spannungsverhältnis zur traditionellen religio Romana, deren Oberpriester er war und die eine solche Überhöhung aushalten musste.91 Jedenfalls kam den Präferenzen des Kaisers bei der Formulierung der Grundsätze der Religionspolitik entscheidende Bedeutung zu. Diese Mensch-Gott-Beziehung war auf Gegenseitigkeit angelegt: Der Machthaber erhöhte die von ihm bevorzugte Gottheit, die wiederum seine Herrschaft in göttlichem Glanz erstrahlen ließ. Analog zum Prinzip der Kumulation von Herrschaftsbefugnissen in einer Person erhielt die vom Kaiser auserkorene Gottheit ein Bündel von Sakralfunktionen und Kompetenzen. Aus der rückschauenden Perspektive mag das römische Kaisertum als eine schlüssig konzipierte Herrschaftsfolge der einzelnen Principes erscheinen; doch bei näherer Betrachtung gibt es eine Reihe von Aspekten, die ein allzu glattes und festgefügtes Bild monarchischer Kontinuität relativieren. Es existierte beispielsweise keine Instanz, der es von Amts wegen oblag, den Kaiser zu erheben. Niemand wusste, wer dafür zuständig war, und so stand nach der faktischen Erringung der Alleinherrschaft (dies konnte mithilfe des Senates, der Prätorianer, der Legionen oder der stadtrömischen Bevölkerung geschehen) das Bemühen, sie zu legitimieren, vor allem, wenn keine dynastische Kontinuität vorlag, als vordringliche politische Aufgabe.92 Dies traf in besonderem Maße für die Zeit nach Septimius Severus zu. Der mit Waffengewalt errungene Kaiserthron musste von einer breiten Zustimmung getragen werden, falls die Herrschaft Bestand haben sollte.93 Bereits im 1. Jahrhundert gibt es Versuche angesichts der brüchig werdenden, auf Augustus zurückgehenden Legitimierung des Principats, dieses auf neue Grundlagen zu stellen, indem man es mit bestimmten Gottheiten in Verbindung brachte.94 Diese Tendenz lässt sich Ende des 2. Jahrhunderts verstärkt beobachten, als sich nach der Epoche des Adoptivkaisertums neue Formen der religiösen Überhöhung der Kaiserherrschaft ausbreiteten.95 Commodus (180–192) bewegte sich einerseits im Rahmen herkömm­ licher religiöser Vorstellungen, wenn er sich als Sohn Jupiters und als 212

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l­ebender Hercules darstellen ließ. Schon Nero hatte befohlen, vor seinem Palastneubau eine Kolossalstatue mit den Attributen von Helios-Apollo zu errichten, was auf eine Identifikation mit dieser Gottheit abzielte.96 Andererseits zeigte Commodus Sympathien für die orientalischen Mysterienkulte. Isis und der babylonische Baal standen hoch im Kurs. Im Unterschied zu den Travestien und Metamorphosen eines Caligula oder Nero tauchte Commodus in die religiöse Gefühlswelt seiner Umgebung ein und benutzte sie zur Erhöhung der eigenen Stellung. In seiner Regierung sind unübersehbare Ansätze wahrnehmbar, die kaiserliche Autokratie in ein religiös fundiertes System einzukleiden. Ferner stellte er das öffentliche Leben gleichsam unter seinen persönlichen Schutz als Hercules Romanus. Die magische Kraft des Herculesnamens wurde dabei besonders herausgestellt97 und avancierte zum festen Bestandteil seiner Kaisertitulatur. Bezeichnenderweise erschien er zwischen pater patriae und pontifex maximus. Dem Koloss des Nero, den die Flavier in einen Helios Apollo verwandelt hatten, ließ er seinen Porträtkopf aufsetzen und in eine Herculesstatue umwandeln.98 Mit dem aus dem syrischen Emesa stammenden Elagabal (218–222) zog die religiöse Welt des Ostens mit großem Gepränge in Rom ein.99 Natürlich gab es dort seit Langem eine große Anzahl orientalischer Kulte, welche die aus dem Osten stammenden Menschen mitgebracht hatten. Neu war dagegen, dass nun der Kaiser als ihr wichtigster Exponent auftrat. Elagabal sah sich in erster Linie als Priester seines syrischen Sonnengottes, und so verschaffte er dem Stein des Sonnengottes von Emesa, der in feierlicher Prozession in Rom einzog, dort eine prächtige Heimstätte. Sein Ziel war, seinem Gott einen Vorzugsplatz in Rom einzuräumen.100 So, wie er selbst eine Vestalin zur Frau nahm, gab er seinem Gott die Himmelsgöttin von Karthago zur Frau und ließ darüber hinaus die ehrwürdigsten Preziosen der römischen Religion wie den Stein der Mater Magna, die Schilde der Salier oder das Feuer der Vesta in den Tempel des Sonnengottes überführen. In der Kurie des römischen Senates ließ er sein Bild als Priester des Sonnengottes oberhalb der Victoria anbringen und verlangte, dass die höchsten Amtsträger des Reiches und wer sonst öffentliche Opfer darbrachte, von nun an zuerst seinem Gott huldigen sollten.101 Wenn auch Elagabals Versuch, den traditionellen römischen Kult durch eine fremde Gottheit zu überlagern und seinen Gott an die Spitze des römischen Pantheons zu stellen, erfolglos blieb, so wurde trotzdem sichtbar, welche Möglichkeiten einem Kaiser in dieser Hinsicht zur Verfügung standen, falls er nicht wie Elagabal politisch scheiterte. 213

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In der Münzprägung des Gallienus (253–268) tauchen erstmals göttliche Comites (ständige Begleiter) auf, die der kaiserlichen Regierung Schutz gewähren sollten.102 Zahlreiche Götter werden zwar aufgeboten, doch die Vorstellung von einem einzigen höchsten göttlichen Willen als Summe der Energie der einzelnen Gottheiten erfüllte das Götterpantheon. Solche Gedanken waren weit verbreitet und konnten auf eine lange Tradition zurückblicken. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet die Romrede des Aelius ­Aristides: Vor der Machtübernahme des Zeus/Jupiter herrschte Chaos; erst durch ihn sei Ordnung und Sicherheit aufgekommen. Von Bedeutung ist hier die Parallelisierung der Herrschaft des höchsten Gottes mit der politischen Machtausübung im menschlichen Bereich.103 Aufschlussreich ist eine Bemerkung, die Herodian Kaiser Caracalla in den Mund legte: Jupiter übergibt die kaiserliche Herrschaft an einen einzigen Menschen, so wie er der einzige Herrscher unter den Göttern ist.104 Die geistigen Grundlagen der von Gallienus angestrebten Reichsordnung wurzelten in einem Bekenntnis zur griechischen Universalität. Darin zeigte sich der starke Einfluss, den der Neuplatonismus auf den Kaiser ausübte. An Gallienus’ Erneuerungsbemühungen knüpfte Aurelian (270–275) an; jedoch ging es ihm weniger um die Begründung einer Weltanschauung, als vielmehr um die religiöse Umgestaltung des Reiches.105 Die Plattform dazu bot der weitverbreitete Sonnenkult.106 Aurelian, dem die Niederwerfung regionaler Abspaltungen in Ost und West gelang und der die Wiederherstellung der Reichseinheit vollbrachte, hat die religiöse Erneuerung des Imperiums auf einem Wege gesucht, der wie die Summe der Bemühungen der Vergangenheit anmutet.107 Er errichtete seinem Gott Sol dominus imperii Romani nicht nur einen prächtigen Tempel in Rom, sondern gründete hierfür eigens ein Priesterkollegium, das künftig die führende Position einnehmen sollte, und richtete Sonnenfestspiele ein. Auf eine aufschlussreiche Parallele soll hingewiesen werden: Vor der Schlacht bei Emesa erlebte Kaiser Aurelian, wie eine Generation später Con­stantin, eine Vision: Der Sonnengott erschien dem Kaiser und verhieß ihm den Sieg über seine Feinde: Nachdem Aurelian so den Osten wieder in seine Gewalt gebracht hatte, zog er als Sieger in Emesa ein und verfügte sich alsbald in den Tempel Heliogabals, um sozusagen im Namen der Allgemeinheit sein Gelübde einzulösen. Übrigens stieß er hier auf diejenige Gestalt der Gottheit, die er im Kampf als Helfer erblickt hatte. Deshalb errichtete er hier Tempel, in die er wertvolle Weihgeschenke stiftete, und baute in Rom dem Sonnengott einen Tempel, den er (…) mit noch größerer Ehrerbietung weihte.108 Die Erscheinung ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil der im palmyrenischen Sonderreich als Hauptgott verehrte Sol für alle sichtbar Aurelian 214

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begünstigt hatte. Kaiser Elagabal wollte einen allseits anerkannten Reichsgott schaffen, als er den Sonnengott von Emesa nach Rom verpflanzte. Elagabal verschwand und hinterließ wenige Spuren, der Sonnengott aber blieb und wurde in seinen diversen Erscheinungsformen nach wie vor überall verehrt. Die Soldaten an Rhein, Donau, Euphrat und in Nordafrika beteten Mithras an, wo der Sonnenkult eine wichtige Rolle spielte; in den keltischen und germanischen Ländern gab es unter dem Gewand lokaler Gottheiten zahlreiche Sonnenkulte. Im griechischen Raum war der Sonnengott als Helios-Apollo längst zu Hause gewesen, und die meisten syrischen Städte pflegten ebenfalls Sonnenkulte. Der Sonnengott Aurelians jedoch war nicht mehr das Steinidol des Elagabal.109 In einigen intellektuellen Kreisen entstand eine Theologie, die den Sonnengott als Abbild des höchsten himmlischen Wesens deutete (Porphyrios). Diesem Sonnengott, der die mannig­ fachen solaren Riten in Ost und West in sich vereinigte, schuf Aurelian einen staatlichen Kult in Rom. Wieder einmal verlangte ein Kaiser, dass seine Untertanen den Gott, den er ihnen als staatstragend empfahl, in besonderer Weise anbeteten. Der solare Henotheismus war schon deshalb für diese Aufgabe geeignet, weil er für die Anhänger von populär astrologischen Vorstellungen ebenso akzeptabel war wie für die Verehrer der alten Kulte, deren Götter häufig mit Sol mannigfache Verbindungen eingegangen waren. Selbst die verschiedenen Philosophenschulen mochten sich mit dem solaren Prinzip abfinden. Der Deus Sol Invictus, der selbst ein Ergebnis der synkretistischen Integration war, sollte das auseinanderfallende Reich zusammenhalten und gegen die zahlreichen Bedrohungen abschirmen.

Con­stantin und Christus Enge Verbindungen mit der Götterwelt besaßen für antike Machthaber keinen Seltenheitswert. Das Verlangen nach Erkundung des göttlichen Willens war angesichts der Herausforderungen, die Umbruchzeiten mit sich brachten, hoch. Wie seine ehrgeizigen Zeitgenossen stand auch Con­stantin zu Beginn seiner politischen Laufbahn vor dem Dilemma zwischen Anrufung und Auserwählung. Träume oder Visionen waren in diesem Kontext geeignete Mittel, um die ersehnte Schutzgottheit zu aktivieren. In einer Welt gegenseitiger Abhängigkeiten und ständigen Vergewisserns vermochten die­ jenigen herauszuragen, die sich auf besonders tragfähige Beziehungen zu den übernatürlichen Mächten berufen konnten. In den äußerst bewegten Jahren, die auf Diocle­tians und Maximians Abdankung (305) folgten, war 215

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die Herstellung einer Verbindung zwischen Thronaspiranten und Erfolg verheißenden Gottheiten von ent­scheidender Bedeutung für die Festlegung der Strategien, die das politische Überleben sichern sollten. Sowohl Con­stantin als auch seine Konkurrenten um die Macht im Reich standen in einem Wettlauf um die Gunst der Sol­daten, der Be­völkerung und der Götter. Die Betrachtung dieses Kreislaufs gibt Aufschluss über den Impetus der religionspolitischen Haltung Con­stantins. Ihre Vorgeschichte wird uns zuerst durch einen Panegyriker, dann durch die christlichen Publizisten Lactanz und Eusebios von Caesarea überliefert. Leider sind die vorhandenen Berichte so widersprüchlich, dass sich keine klare Abfolge des Geschehens ermitteln lässt.110 Die größte Zeitnähe kann der Lobredner des Jahres 313 beanspruchen. In seiner prunkvollen Ansprache, die er in Anwesenheit Con­stantins vor der Hofgesellschaft hielt und in welcher er die kaiserlichen Taten des Vorjahres verherrlichte, verkündete er: Denn welcher Gott, welche gegenwärtige Majestät hat Dich (Con­stantin) so aufgemuntert, dass Du gegen die Ratschläge der Menschen, gegen die Warnungen der Opferschauer und obwohl fast alle Deine Begleiter und Führer nicht nur still murrten, sondern ihre Angst auch offen bekundeten, von Dir aus erkanntest, dass die Zeit der Befreiung der Stadt gekommen war? Du hast, Con­stantin, in der Tat irgendeine geheime Verbindung mit dem göttlichen Geist, der, nachdem er alle Sorge um uns den minderen Göttern überlassen hat, allein Dich gewürdigt hat, sich Dir direkt zu zeigen. Andernfalls, tapferster Imperator, gib Rechenschaft darüber, womit Du gesiegt hast!111 Während der Panegyriker lediglich Überlegungen hinsichtlich der in Frage kommenden Gottheit an­stellte, die Con­stantins Sieg vor den Mauern Roms ermöglicht hatte, ohne allerdings eine Festlegung zu treffen, äußerte sich der christliche Rhetoriklehrer Lactanz nur wenige Jahre später (um 315), als sich die kaiserliche Gunst gegenüber der neuen Schutzgottheit bereits offenbart hatte, mit bemerkenswerter Eindeutigkeit: Christus war es, der für diesen Erfolg verantwortlich zeichnete: Im Schlaf wurde Con­stantin ermahnt, das himmlische Zeichen Gottes auf den Schilden anzubringen und so die Schlacht zu beginnen. Er tat wie befohlen, und indem er den Buchstaben X umlegte und die Spitze umbog, brachte er Christus auf den Schilden an.112 Bischof Eusebios von Caesarea dagegen, der zwei unterschiedliche Einblendungen des Vorganges bietet, berichtete zunächst in seiner wenige Jahre nach den Ereignissen entstandenen Kirchengeschichte von einer Anrufung des christlichen Gottes im Gebet, später aber von einem Himmelszeichen, das dem Kaiser den Sieg über seine Feinde verheißen haben soll. Die erste Textstelle lautet: Con­stantin rief durch Gebete den himmlischen 216

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Gott und seinen Logos, Jesus Christus, den Retter aller Menschen, als Bundesgenossen an.113 Eine zur gleichen Zeit geprägte Münze, die sowohl traditionelle heidnische Attribute (capitolinische Wölfin mit Romulus und Remus) als auch christliche Motive (Christogramm) in einer neuartigen Zusammenschau vereinigt, ist ein dokumentarischer Beleg für die Nähe des Kaisers zum christlichen Gott, der als Beschützer und Siegesgarant in Anspruch genommen wird.114 Zwei Jahrzehnte später, in der nach Con­stantins Tod abgefassten Lebensbeschreibung des Kaisers, sieht bei Eusebios das Szenario nicht mehr ganz so nüchtern aus. Anders als bei Lactanz wird das Visionserlebnis vor Beginn des italischen Feldzuges angesetzt. Eusebios, der sich dabei auf das Zeugnis Con­stantins beruft, teilt uns nun Folgendes mit: Um die Mittagszeit, als der Tag bereit war, sich zu neigen, da, so sagte er (Con­stantin), habe er mit eigenen Augen am Himmel selbst über der Sonne ein aus Licht gebildetes Siegeszeichen des Kreuzes erblickt, und ferner sei diesem Zeichen eine Schrift beigefügt ge­ wesen, die sagte: Durch dieses siege! Ein Erschrecken habe aber wegen dieser ­Vision ihn und das ganze Heer ergriffen, das ihn, als er gerade irgendwohin auf dem Marsch war, begleitet hatte und so Zuschauer des Wunderzeichens geworden war. Und er sei unschlüssig gewesen, was dieses Wunderzeichen zu bedeuten habe. Aber während er darüber nachdachte und vielerlei Überlegungen anstellte, überraschte ihn die Nacht. Im Schlaf jedoch sei ihm der Gesalbte des Herrn (Christus) erschienen und habe ihm befohlen, das am Himmel erschienene Zeichen abzubilden, um es bei den Kämpfen mit den Feinden als Schutzzeichen zu gebrauchen.115 Die Zusammenschau der vorhandenen Quellen verdeutlicht, wie sich in wachsender Progression die Legende vom gottgefälligen Kaiser der politischen Biographie Con­stantins bemächtigte. Er wird zu einer providenziellen Gestalt stilisiert und sein Handeln als eine heilsgeschichtliche Notwendigkeit dargestellt. Angesichts solcher Zeugnisse vermag nur die Einbeziehung des historischen Hintergrunds, auf den sich die Berichte beziehen, die ideologisch befrachteten Deutungen zu relativieren und so den Weg für eine sachgemäße, auch kritischen Nachfragen standhaltende Erklärung freizumachen.116 Als Con­stantin am 25. Juli des Jahres 306 von der britannischen Armee zum Augustus erhoben wurde, stellte ein derartiger Coup das tetrarchische System zunächst in Frage.117 Nach hitzigen Diskussionen gelang im September desselben Jahres eine Lösung. Der Augustus Galerius erkannte Con­ stantin an, womit dieser einen Platz innerhalb des Vierkaiser-Kollegiums 217

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III  Kult und Erlösung

Silbermedaillon Con­stantins aus dem Jahr 315, mit Christogramm am Helm, Münzstätte Ticinum

zugewiesen bekam.118 Der bisherige Caesar Severus avancierte zum Augustus des Westens und Con­stantin wurde ihm als Caesar unterstellt. Verschärft wurde die Lage im Reich dadurch, dass Con­stantins Vorgehen Nachahmung fand. Als am 28. Oktober des Jahres 306 Maxentius in Rom zum ­Augustus ausgerufen wurde, zeigte sich Galerius nicht mehr bereit, eine weitere Aushöhlung der mühsam hergestellten politischen Stabilität hinzunehmen, und antwortete darauf mit Krieg.119 Severus fiel im Frühjahr des Jahres 307 im Kampf gegen Maxentius. Kurz darauf scheiterte Galerius bei dem Versuch, Maxentius zu entthronen.120 Damals kam Maximian seinem Sohn Maxentius zu Hilfe, indem er seine erzwungene Abdankung widerrief und sich kräftig in die Tagespolitik einmischte. Auf der Suche nach Verbündeten ging er mit Con­stantin einen Pakt ein, der mit einer Eheschließung besiegelt wurde. Dieser heiratete Maximians Tochter Fausta und erhielt als Gegenleistung den Augustustitel zugesprochen, der ihm von Galerius verweigert worden war.121 Damit rechtfertigte Con­stantin durch Rückgriff auf die ideologischen Grundlagen der Tetrarchie seine Herrschaft. Im Frühjahr des Jahres 308 kam es jedoch zwischen Maxentius und Maximian zum Zerwürfnis, das Letzteren zwang, Italien zu verlassen und am gallischen Hof Con­stantins Zuflucht zu suchen. Die konkurrierenden Machtansprüche des Galerius, Maximin, Con­ stantin, Maxentius und Maximian unterminierten die tetrarchische Regierungspraxis. Daher fand am 11. November 308 eine Kaiserkonferenz im pannonischen Carnuntum (Petronell, Österreich) statt, um die Autoritätskrise zu beenden. Das Ergebnis war für Con­stantin ernüchternd. Nicht nur, dass s­einem Verbündeten Maximian definitiv die Anerkennung versagt 218

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wurde. Schwerwiegender war für ihn, dass anstelle des verstorbenen Severus nun Licinius zum neuen Augustus des Westens erhoben wurde, was zur Folge hatte, dass er selbst die Augustuswürde aufgeben musste. Natürlich weigerte sich Con­ stantin, seine Zurücksetzung anzuerkennen, was eine Fortdauer der Spannungen bedeutete und den Keim für weitere Konflikte in sich barg.122 Die nächste Aufregung wurde von Maximian verursacht. Erbittert über seine Absetzung nutzte er die nächstbeste Gelegenheit, um sich gegen seinen Schwiegersohn zu erheben (Frühjahr 310). Der Umsturzversuch konnte jedoch von Con­stantin vereitelt werden, der daraufhin seinen Schwiegervater zum Selbstmord zwang.123 Somit war plötzlich für Con­stantin eine prekäre Lage entstanden, denn er hatte bislang kraft der von ­Maximian verliehenen Augustuswürde seine Herrschaftsansprüche begründet. Die gegen ihn gerichtete Rebellion Maximians machte dies zunichte. Er stand nun vor der Notwendigkeit, sich neu zu orientieren. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Um der neuen Situation gerecht zu werden, proklamierte ein Panegyriker im Juli des Jahres 310 auf Con­stantins Geheiß dessen Abstammung von Claudius Gothicus, einem aufgrund seiner kurzen Regierungszeit fast in Vergessenheit geratenen Vorgänger, der aber in gutem Ruf stand.124 Mit der Aufbietung dieser konstruierten dynastischen Kontinuität brach Con­stantin endgültig mit dem tetrarchischen System. In dieser äußerst angespannten politischen Lage kam einer vom Lobredner anlässlich des glücklichen Ausgangs der Affäre Maximian verkündeten Apollovision eine besondere Bedeutung zu. Sie erfüllte den Zweck, Con­stantins Kehrtwende mithilfe des Gottes Apollo, dem Symbol des Lichtes und der Sonne, zu unterstreichen. Der Panegyriker berichtet, wie Con­stantin mit dem besonders in Gallien verehrten Apollo in Beziehung trat und als Schutzgottheit des con­stantinischen Herrschaftsanspruchs der Öffentlichkeit präsentiert wurde: Du (Con­stantin) hast ihn (Apollo) wirklich gesehen und dich in seinen Zügen wiedererkannt, den Gott, dem nach alten Sehersprüchen die Herrschaft über die ganze Welt gebührt. Und diese Weissagungen sind, wie ich meine, jetzt erst (in Dir) erfüllt worden; denn Du, Kaiser, bist, wie jener Gott, jugendlich, fröhlich, heilspendend und über alle Maßen schön!125 Con­stantins Vorgehensweise änderte sich, als er sich im Frühjahr des Jahres 312 entschloss, den Krieg gegen Maxentius zu eröffnen.126 Damit ging er ein unkalkulierbares Risiko ein, an dem zwei militärisch versierte Herrscher, Severus und Galerius, bereits gescheitert waren. Welche Probleme dieser Feldzug bereiten würde, zeigte sich schon in Oberitalien, wo die Invasionsarmee auf erheblichen Widerstand stieß. Anders als der Panegyriker, der über diesen Feldzug berichtet, uns glauben machen will, gab es hier keine 219

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Blitzkampagne im Stil Caesars, sondern einen mühevollen, erbittert geführten Kampf, der nur knapp zu Con­stantins Gunsten ausging.127 Offenbar hatte Con­stantin die Lage falsch eingeschätzt. Seine Position verschlechterte sich zusehends. Je länger der Feldzug dauerte – mittlerweile war es Oktober geworden –, umso geringer waren seine Erfolgsaussichten. Die Entscheidung musste in Rom fallen. Aber auch hier waren bei nüchterner Abwägung der Tatsachen Con­ stantins Aussichten gering. Maxentius hatte kürzlich die ­Aurelianische Mauer verstärken lassen und die Stadt auf eine Belagerung vorbereitet, sie galt als uneinnehmbar. In diese aussichtslos erscheinende Lage ordnet sich das von den christlichen Autoren stilisierte Visionserlebnis und der darauffolgende unerwartete Sieg des Herausforderers ein128, womit die Geburtsstunde des Mythos Con­ stantin eingeläutet wurde. Das Image eines „christlichen“ Kaisers gehört zu seinen Bestandteilen ebenso wie das Bild eines im Glanz der göttlichen Auserwählung wandelnden Triumphators. Doch was geschah wirklich? Wie ­dürfen wir uns Con­stantins Vision vorstellen? Wer sah wen? Wer sprach mit wem? Wie spielte sich das Ganze ab: in Trance oder gar in wachem Zustand? Oder war alles nur Einbildung oder gar erfunden?129 Es ist aussichtslos, begründete Antworten darauf geben zu wollen. Während die Vision, die Schilde der Soldaten, die Anrufung des Christengottes und derartiges mehr der späteren Interpretation bedurften130, sind die sich nun überstürzenden Ereignisse eindeutig. Dass Maxentius den Kampf um Rom nicht von seiner uneinnehmbaren Position in der befestigten Stadt aus führte, sondern eine Schlacht anbot, war eine Überraschung. Vielleicht fühlte er sich so überlegen, dass er den Krieg abkürzen wollte. Anstatt die Belagerungsarmee zu zermürben, eröffnete er durch sein schwer zu verstehendes Verhalten Con­stantin die einzige Möglichkeit, die fast gescheiterte Unternehmung doch noch glücklich zu beenden. In einem an der Milvischen Brücke äußerst erbittert geführten Kampf vermochte Con­stantin das Blatt zu wenden: Maxentius verlor am 28. Oktober des Jahres 312 die Schlacht und sein Leben.131 Nach Überwindung zahlreicher Schwierigkeiten hatte er es geschafft, seinen übermächtigen Konkurrenten auszuschalten und aus schier ausweg­ loser Lage sich zum mächtigsten Mann des Westens zu erheben. Was als ­Fiasko zu enden gedroht hatte, erwies sich als entscheidender Schritt auf dem Weg zur Gesamtherrschaft. Eine vom Kaiser aufgerufene Gottheit hatte ihn dabei maßgeblich unterstützt. Der hilfreiche Schlachtenhelfer war jener erst kürzlich von Galerius zugelassene Gott der Christen, der nun als Garant des gerade errungenen Sieges erschien. Aus der Perspektive des ­Jahres 312 war jedoch vieles, was später eintrat, noch nicht vorhersehbar. 220

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Entgegen der in der Forschung geäußerten Skepsis132 dürfte Con­stantin den nach jeder siegreichen Unternehmung üblichen Gang zum Capitol, dem Wohnsitz der traditionellen Götter Roms, doch angetreten haben. Zwar teilt uns der Panegyriker des Jahres 313 nichts darüber mit; andererseits sagt er ebenso wenig, dass es sich bei der Schutzgottheit Con­stantins um Christus gehandelt habe. Doch erst der Rombesuch des Jahres 326, als Con­stantin auf Anraten eines christlichen Bischofs den bereits begonnenen Zug zum Capitol abbrach, machte die verwandelte religionspolitische Lage augen­ fällig, indem er im Zen­trum der damaligen Welt eine Abkehr von den alten Göttern veranstaltete.133 Gewiss ist eine derartige Deutung nicht frei von Vermutungen. Jedoch beziehen sie sich nicht auf die religiöse Gesinnung Con­stantins, dessen Innenleben uns ohnehin verborgen bleibt, sondern vielmehr auf eine Verknüpfung von persönlichen und situativen Elementen. Letztere lassen sich einigermaßen objektivieren: Die Lage im Reich war nach der relativ ruhigen Phase der ersten diocletianischen Tetrarchie von heftigen innenpolitischen Konvulsionen gekennzeichnet. Zeitweise amtierten nicht weniger als sieben Thronanwärter nebeneinander. Alle beanspruchten als Mindestforderung eine anerkannte Stellung im mittlerweile nur noch nominell bestehenden Vierkaiserkollegium. Die Berufung auf die Jupiter-Hercules-Theologie war die legitimatorische Chiffre der Tetrarchie, und die sich daraus ergebende Christenverfolgung war eine Konsequenz dieser Festlegung.134 Als aber das für die Kaisererhebungen maßgebliche dynastische Empfinden der Soldaten das ausgeklügelte, letztlich auf die Person Diocletians zugeschnittene Regierungsmodell in Frage stellte, war man stärker als je zuvor auf zusätzliche Legitimationsquellen angewiesen. Diese Ausgangslage übte zweifellos eine beträchtliche Wirkung auf Con­stantins Haltung aus. Sein Vater Constantius I. hatte bezüglich der Verfolgung der Christen Zurückhaltung geübt. Der Sohn ging noch einen Schritt weiter, indem er den Christen die Ausübung ihrer Kultpraktiken ermöglichte, wie uns Lactanz versichert135; das legt nahe, dass Con­stantin die Befolgung der Edikte von Nikomedia de facto eingestellt hatte. Die Frage ist nur: Ab wann? Betrachtet man den skizzierten Ereignisablauf, so kann dies nur ab 310 der Fall gewesen sein, als er mit Maximian und mit der tetrarchischen Ideologie endgültig brach und sich nach neuen Möglichkeiten einer religiös konnotierten Herrschaftslegitimation umsah.136 Ein solches Vorgehen ist aber keineswegs mit einer frühen Hinwendung zum Christentum gleichzusetzen. Mit der Duldung der umstrittenen Glaubenslehre in seinem ohnehin schwach christianisierten Reichsteil setzte Con­ stantin jedoch ein unmissverständliches Zeichen seiner Unabhängigkeit. 221

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Dementsprechend hatte er seinen verstorbenen Vater Constantius I. konsekrieren lassen und Claudius Gothicus als Ahnherr in Anspruch genommen. Überdies machte er aus seiner Verehrung für Apollo keinen Hehl. Dieser Gottesbezug kam besonders dann zum Tragen, wenn militärische Entscheidungen bevorstanden: So im Jahr 310, als er mit Apollos Hilfe die von ­Maximian ausgehende Bedrohung abzuwehren vermochte und seine Herrschaft festigte. Ähnlich sind die Ereignisse des Jahres 312 zu beurteilen. Auf seinem Italienfeldzug war Con­stantin in äußerste Bedrängnis geraten und erbat mitten in seiner größten Krise Hilfe von Christus. Dies dürfte ihm umso leichter gefallen sein, als seit dem Toleranzedikt des Galerius aus dem Jahr 311 die einst verfolgte Kultgemeinschaft als anerkannte Körperschaft (religio licita) galt.137 Der Gott der Christen war damit in erhöhtem Maße verfügbar geworden.138 Vergleicht man Con­stantins Apollo- und Christusanrufungen miteinander und fragt man nach den Konsequenzen dieser Gegenüberstellung, so sind folgende Aspekte zu beachten: Con­stantins Apollovision vom Jahr 310 ging eine weniger dramatische Gefährdung voraus, als dies im Jahre 312 der Fall sein sollte. Darüber hinaus sind die Überraschungsmomente geringer. Apollo hatte in Gallien einen festgefügten Platz, sodass man von einer Verknüpfung von lokalen Gegebenheiten mit klassischen Siegesthemen (Unterdrückung einer Revolte, Erfolg über Barbaren) ausgehen kann. Dies alles verlieh der Apollovision einen konservativen Charakter. Apollos Stellenwert in der römischen Welt war jedermann geläufig und bedurfte keiner Erklärung. Demgegenüber war die Christusvision zwar strukturell mit der Apollovision vergleichbar und in gewisser Beziehung auch eine Fortsetzung. Aber die inneren Bausteine und das historische Umfeld sind ganz verschieden. Die Gefährdung Con­stantins im Jahre 312 war ungleich größer als zwei Jahre zuvor und insofern war auch der Bedarf an wirkungsvoller göttlicher Hilfe deutlich größer. Ferner hatte kein römischer Kaiser vor ihm den bisher geächteten Christus als Sieg verheißendes numen in Anspruch genommen. Insofern waren wesentliche Bestandteile der durch den Umgang mit Christus ins Leben gerufenen Szenerie neu. Damit war die Frage nach dem Stellenwert von Christus im con­stantinischen Reich aufgeworfen. Sie löste eine religionspolitische Dynamik aus, die sich bald verselbstständigen sollte. Die Inanspruchnahme von zunächst Apollo und dann Christus war daher keineswegs unvereinbar.139 Im Gegenteil! Indem Con­stantin sämtliche Register der religiösen Optionen seiner Umgebung zog, bewegte er sich in traditionellen Bahnen. Er tat dies auch, als sein übermäßiger Ehrgeiz ihn im Jahr 312 zu einer Unternehmung trieb, aus der es kein Entrinnen mehr zu geben 222

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schien. Wie einige Kaiser vor ihm, die vor schwierigen Situationen standen, griff auch er als ultima ratio auf göttlichen Beistand zurück. Warum ausgerechnet Christus? Wir wüssten gerne mehr über einen möglichen christenfreundlichen familiären Hintergrund, wie er immer wieder mit Hinweis auf Con­stantins Mutter Helena behauptet wird.140 Ob dies entscheidend war, darf bezweifelt werden. Wahrscheinlich war Con­stantin vom Gott der Christen deshalb besonders beeindruckt, weil dieser allen Anfeindungen seitens der Staatsmacht getrotzt und als ein gestärkter Gott aus der Verfolgung hervorgegangen war.141 Wenn Christus aus gewaltiger Bedrängnis den Sieg über seine übermächtigen Gegner davongetragen hatte, konnte Con­stantin hoffen, dass er auch ihm im Augenblick seiner größten persönlichen Krise beistehen würde. Warum hätte er es also nicht mit Christus versuchen sollen? Entscheidend wurde nun, wie sich die Anpassung des christlichen Gottes in eine polytheistische religiöse Landschaft bewerkstelligen ließ. Die berühmte Inschrift auf dem Con­stantinsbogen (instinctu divinitatis, auf Eingebung der Gottheit) berief sich, wie auch der Panegyriker des Jahres 313 (summus rerum sator), auf die höchste Gottheit, die je nach Standpunkt traditionell oder christlich interpretiert werden konnte.142 Diesen Deutungen gemeinsam war die Vorstellung einer allmächtigen und höchsten Gottheit, welche die Wohlfahrt des römischen Volkes, die Sieghaftigkeit des Kaisers und die Einheit des Reiches verkörperte. Nach den Ereignissen des Jahres 312 bot sich Christus Con­stantin geradezu an.143

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6 Durchsetzung des Christentums

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ie Entscheidung zugunsten des Christentums fiel durch die dezidierte Parteinahme des Kaiserhauses zugunsten der neuen Glaubensrichtung aus. Ohne sie wäre seine rasche Ausbreitung und Durchsetzung undenkbar gewesen. Con­stantin, der Initiator dieser Entwicklung, offenbarte eine bemerkenswerte Vorurteilslosigkeit gegenüber den in weiten Teilen des Reiches diskriminierten Christen.144 Diese äußerte sich zunächst darin, dass er den Gemeinden seines Herrschaftsbereiches Schonung gewährte. Im Jahr 311 v. Chr. hatte Galerius sein Toleranzedikt verkündet, das den Christen die freie Kultausübung gestattete. Nach der Ausschaltung des Maxentius bekräftigte Con­stantin zusammen mit Licinius im Mailänder Edikt des Jahres 313 die Duldung des christlichen Glaubens. Die Forschungsdebatte über die Con­stantinische Wende ist seit Jacob Burckhardts Zeiten von den taktischen Absichten der kaiserlichen Politik bestimmt worden. Con­stantins Pragmatismus stand im Mittelpunkt der Kontroverse und verdeckte dabei einen zentralen Aspekt seiner Politik, nämlich ihre spezifisch gestalterische Kraft. Im Verlauf seiner langen Regierung wird Con­stantin von der Duldung zur Bevorzugung des Christentums schreiten. Binnen einer Generation schaffte der christliche Kultverband den Sprung von der Illegalität zur anerkannten Glaubensgemeinschaft. Der rasche Wandel löste einerseits eine Aufbruchsstimmung aus, andererseits offenbarte er, wie überfordert alle Beteiligten waren. Jedenfalls blieben zahlreiche ungelöste Probleme bestehen. Wie sollte die Kirche mit den staatlichen Stellen zusammenarbeiten? Wie musste das Verhältnis zu den nichtchristlichen Kultgemeinschaften gestaltet werden? Welche Lösungen gab es für die vorhandenen Streitigkeiten und Abspaltungstendenzen innerhalb des christlichen Lagers, und wer sollte als letzte Instanz darüber befinden? Aufgrund der regionalen Unterschiede der Christengemeinden sowie wegen ihrer endemischen Zerstrittenheit bestand in Fragen der Kirchendisziplin und der Festlegung einer verbindlichen Glaubenslehre erheblicher Klärungsbedarf. Dissens stand der Geschlossenheit der Kirche entgegen, und seit Con­stantin hatten die Kaiser ein verstärktes Interesse an einer berechenbaren Kultgemeinschaft. Theologie hörte auf, bloße philosophische Spekulation mit beschränkten Folgen zu sein; sie erhielt vielmehr durch die 224

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staatliche Anerkennung der christlichen Kultgemeinschaft eine bis dahin ungekannte politische Relevanz. Dennoch: Trotz seiner Sympathien für die Christen war sich Con­stantin bewusst, Kaiser aller Römer zu sein. Seit 321 waren Heiden und Christen durch einen für alle bindenden Festtag, den Tag des Sol, vereint. Für die mehrheitlich heidnischen Soldaten erfand man ein theistisches Gebet, das auch Christen mitsprechen konnten. Während das Heidentum von der Reichsregierung weitgehend in Ruhe gelassen wurde, gerieten christliche Abweichler zunehmend in die Sphäre der Illegalität. Die unmittelbare politische Tragweite dieser Vorgänge wird anhand der konkreten legislativen Maßnahmen der Con­stantinsöhne sichtbar. Constans (337– 350) und Constantius  II. (337–361) betrieben eine entschieden christenfreundlichere Politik als ihr Vater. Noch bedeutsamer war die Tatsache, dass in die Gesetzgebung des Constantius  II. erstmalig christliche Grundsätze und Wertvorstellungen Eingang fanden.145 Allerdings vollzog sich die Ausbreitung des Christentums in der spät­antiken Gesellschaft keineswegs geradlinig und nicht überall mit der gleichen Intensität. Sein Zuwachs korrespondierte nicht immer mit einem Schwund der traditionellen Kulte. Die ausschnitthaften Einblicke in diesen Prozess zeigen, dass wir es hier mit äußerst komplexen Vorgängen zu tun haben. Was für die Stadt Rom galt, musste keineswegs Bedeutung für Antiochia haben; was sich in Italien abspielte, konnte in Gallien, Illyrien oder Raetien irrelevant sein. Neben Wellen der Christianisierung gab es Zeiten, in denen bestimmte heidnische Kultfeste großen Zulauf erhielten. Bald übernahmen die Christen heidnische Tempel und Friedhöfe, gelegentlich koexistierten heidnische und christliche Bräuche nebeneinander, bisweilen sogar miteinander. Es gab auch Rückschläge. Am nachhaltigsten wirkte die von Julian (361) verkündete Restauration der heidnischen Kulte, was die christlichen Gemeinden mit Sorge ­registrierten, doch machte der frühe Tod des Kaisers diesen Ansatz zunichte. Ohnehin sprach Julians Programm nur eine gebildete Minderheit an und blieb daher ohne großen gesellschaftlichen Widerhall. Die Grenzen zwischen Christentum und Heidentum erschienen zuweilen als so fließend, dass sie weder vor Einrichtungen noch vor Bräuchen oder Personen haltmachten. Als Julian, zum Caesar berufen, in den Westen des Reiches aufbrach (355), begegnete ihm Pegaisos, der Bischof von Ilion, ein Verehrer des trojanischen Heros Hektor und der Göttin Athene. Die um diese Zeit geschriebene Expositio totius mundi et gentium bezeugt die rege Götterverehrung, die in Alexandria vorherrschte, und Julian verfasste eine hoch gelobte Eloge auf das alexandrinische Serapeion, einen der ägyptischhellenistischen Gottheit Serapis gewidmeten Tempel. Während im Jahr 359 225

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Tertullus, der praefectus urbi, das Opfer im Castortempel in Ostia vollzog – ein Hinweis dafür, wie die altüberlieferten Kultpraktiken in Rom noch fest verankert waren – breitete sich das Christentum in Sizilien rasch aus. Es gab auch Eifersüchteleien, Reibereien und Konfrontationen, die teils beigelegt wurden, teils sich gewaltsam entluden. So wurde das in der Antike gerühmte Heiligtum der karthagischen Dea Caelestis im Jahr 399 zu einer christlichen Kirche umfunktioniert. Am stärksten erhitzte die Gemüter allerdings die durch christliche Fanatiker in Szene gesetzte Zerstörung des Serapeions in Alexandria. Innerhalb des Zeitraumes zwischen der Regierung Con­stantins und ­Thedosius’ wurden die Weichen für die Durchsetzung des Christentums gelegt. Eine entscheidende Rolle in diesem Prozess spielten die vielfältigen religionssoziologischen und religionspsychologischen Faktoren, die zur Christianisierung breiter Volksschichten, vor allem im Osten des Reiches, geführt hatten. Eine der wesentlichen Bedingungen für die Ausbreitung des christlichen Glaubens war die straffe Organisation der Kirche. Die Herausbildung einer anerkannten Hierarchie und die allmähliche Übernahme staatlicher Funktionen durch die Bischöfe haben nicht nur zur Ausweitung des klerikalen Einflusses geführt, sondern auch die zunehmende Unentbehrlichkeit der kirchlichen Institutionen unter Beweis gestellt. In einer Zeit wachsender staatlicher Desintegration, bedingt durch innere Krisen und stärker werdende Bedrohungen von außen, vermochten sich mancherorts mächtige Bischöfe (Athanasius von Alexandria, Damasus von Rom, Ambrosius von Mailand) als Stützen der Gesellschaft zu behaupten. Dienstleistungen wie Rechtsprechung, Schulunterricht, Krankenpflege, Armenfürsorge, die der Staat immer weniger erfüllen konnte, gelangten in kirchliche Trägerschaft. Daneben ist auch die wachsende Anziehungskraft zu berücksichtigen, die das Christentum auf die Gebildeten und Vornehmen, die in der Kirchen­ hierarchie leitende Stellungen anstrebten, auszuüben begann. Es ist kein Zufall, dass in dem Maße, wie mächtige Grundherren (potentes) die Schwäche der Städte ausnutzten, um ihre Machtbereiche zu vergrößern, ambitionierte Bischöfe auftraten, die, gestützt auf die Protektion des kaiserlichen Hofes und im Bewusstsein ihrer auf dem göttlichen Willen gegründeten Autorität, Ansprüche auf Vorrang erhoben.146 Das über 300-jährige Mit- und Gegeneinander von heidnischen und christlichen Kultformen schuf bemerkenswerte Symbiosen. Aus diesem Grund ging das Heidentum keineswegs unter  – vielmehr wandelte es sich um. Es erfuhr eine Reihe von Umbildungen, als es sich den neuen politischen Gegebenheiten anpasste; zum Teil schlüpfte es in ein christliches 226

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­ ewand und verlängerte damit seine Wirkmächtigkeit, was jedoch seine AbG wehrkräfte beträchtlich schwächte. Was man geistig hätte verteidigen können, wurde im Verlauf eines langen und komplexen Integrationsprozesses vom Christentum allmählich absorbiert. Nur so ist zu erklären, dass das Heidentum sich zu keinem sonderlichen Aufbäumen gegen seine christlichen Unterdrücker aufraffen konnte. Der Streit um den Victoriaaltar, das wohl bekannteste Beispiel heidnischen Selbstbehauptungswillens, blieb auf die Stadt Rom beschränkt, erfasste nur die hauchdünne Gruppe heidnisch gesinnter Senatoren und erlangte lediglich geistesgeschichtliche Bedeutung.147 Anders als das früher drangsalierte Christentum vermochte das Heidentum aus der Bedrängnis heraus kaum Abwehr- und Regenerationskräfte zu entfalten, was freilich durch seine Uneinheitlichkeit enorm erschwert wurde, und so zog es sich in Reservate zurück. Es überlebte vornehmlich auf dem flachen Land in den Westprovinzen und in jenen urbanen Zentren, in denen es genug traditionsbewusste Bevölkerungsteile gab, die sowohl über ein beträchtliches Maß an ökonomischer Unabhängigkeit als auch über ­politischen Einfluss verfügten, um ihre religiöse Ausrichtung zu bewahren. Allerdings wies die Politik der Nadelstiche gegen die Nichtchristen eine Vorgeschichte auf, die lange vor Theodosius’ antiheidnischer Gesetzgebung begonnen hatte. Zwar förderte Con­stantin das Christentum nach Kräften, unterließ es jedoch, die überlieferten Kulte zu verbieten, wenn auch immer wieder Behinderungen einzelner heidnischer Bräuche vorkamen. Weniger zimperlich gingen seine Nachfolger vor. In regelmäßigen Abständen dekretierten sie Opferverbote, konfiszierten Tempelbesitz und kürzten oder entzogen die staatlichen Zuwendungen für den traditionellen Kult. Nach der gescheiterten julianischen Restauration des Heidentums wurden die Schikanen gegen die alten Kulte fortgesetzt. Nichtsdestotrotz blieben die heidnischen Gottheiten während des gesamten 4. Jahrhunderts weitgehend sichtbar. Sie waren in Hainen, Tempeln und Heiligtümern zu Hause und zeigten dort, wo man sie unbehelligt ließ, Präsenz im öffentlichen Raum, der von ihren Statuen und Abbildungen geschmückt blieb. Demgegenüber machte sich der christliche Gott rar. Oft ­verschwand er hinter Symbolen und Allegorien, offenbarte sich durch Gnadenakte oder zog sich hinter Kirchenmauern und in die Privatsphäre seiner Anhänger zurück. Hinter dieser relativen Abkapselung steckte ein System der Zurückhaltung: Der christliche Schöpfergott der sichtbaren und unsichtbaren Welt reduzierte sein direktes Auftreten auf Erden aufs Notwendigste. Einer allzu ungestümen Vermischung des christlichen Gottes mit menschlichen Akteuren, wie dies in der heidnischen Lebenswelt geläufig war, standen 227

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Jupiter thronend; Rekonstruktion aus Marmor und Bronze, H. 3,47 m; St. Petersburg, Eremitage

nicht nur theologische Bedenken im Wege, zumal die ungeklärte Trinitätsfrage sich als Hemmnis für die Konfiguration eines christ­lichen Gottesbildes erwies148, sondern auch psychologische Vorbehalte entgegen. Gleichwohl musste das Christentum als relativ neuer Kultverband die Grenzen seines öffentlichen Erscheinungsbildes behutsam abstecken, um Dissonanzen zu vermeiden. Vermochten heidnische Gottheiten als Begleiter jener Menschen aufzutreten, die zwischen beiden Welten wandelten, wie dies die Kaiser­ apotheosen lebhaft versinnbildlichen, beschritt das Konzept der christlichen Himmelfahrt, wie wir es am Beispiel Con­stantins beobachten können, andere Wege. 228

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Konsekrationsmünze Con­stantins,149 um 337/341, Rückseite eines Follis, Münzstätte Contantinopel

Auf einschlägigen Münzkompositionen erscheint erstmalig eine Hand statt der klar definierten Gestalt der Gottheit, die dem Kaiser den Übergang in eine jenseitige Welt erleichterte. Bemerkenswert ist die Zurückhaltung der betreffenden göttlichen Macht, was im Vergleich zu den heidnisch konnotierten Apotheosen, wo sich Götter und Menschen auf der gleichen Ebene begegneten und zeigten, eine substantielle Änderung darstellte. Einerseits wird damit die Distanz zur unsichtbaren Welt und dem darüber waltenden Gott betont, andererseits deutete man damit an, dass die Nähe Gottes jedermann offen stand, nicht nur dem Kaiser. Der Glaube an die Wiederauferstehung machte einen Spalt des Tores zur Himmelssphäre auf. Ansonsten verströmte der ersehnte Aufenthaltsort eine Aura des Geheimnisses und der Entrückung. Solche Bildprogramme finden ihre Entsprechung in den Kunstwerken, die sich dem Thema der Auffahrt Christi in den Himmel widmeten, wie die nachstehend abgebildete Diptychonplatte verdeutlicht. Im Verlauf des 4.  Jahrhunderts vollzogen Teile der herrschenden Eliten eine atemberaubende Wende, die von der dezidierten Verteidigung des ­Polytheismus durch die Tetrarchen in der ersten Dekade des Jahrhunderts bis zur Hingabe an einen monotheistischen Gott unter der theodosianischen Dynastie reichte. Gleichzeitig unterstrichen die gesetzlichen Verfügungen aller Kaiser, welcher Glaubensrichtung sie auch anhingen, wie sehr sich die Anforderungen des Staates an die Kultpraxis der Untertanen steigerten. Am 27. Februar 380, etwa ein Jahr nach seiner Thronbesteigung, erließ Kaiser Theodosius ein Edikt in Thessalonike, das ein Bekenntnis zum nicaenisch-trinitarischen Credo enthielt: Alle Völker, über die wir ein mildes und maßvolles Regiment führen, sollen, so ist es unser Wille, in der Religion verhar229

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III  Kult und Erlösung

Die drei Frauen am Grab und die Himmelfahrt Christi, Diptychonplatte aus Elfenbein H. 18,7 cm., B. 11,6 cm. (um 400) München, ­Bayerisches National­museum

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ren, die der göttliche Apostel Petrus, wie es der von ihm kundgemachte Glaube bis zum heutigen Tage dartut, den Römern überliefert hat und zu der sich der Pontifex Damasus wie auch Bischof Petrus von Alexandrien, ein Mann von apostolischer Heiligkeit, offensichtlich bekennen; das heißt, dass wir gemäß apostolischer Weisung und evangelischer Lehre eine Gottheit Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes in gleicher Majestät und heiliger Dreifaltigkeit glauben. Nur diejenigen, die diesem Gesetz folgen, sollen, so gebieten wir, katholische Christen heißen dürfen; die übrigen aber, die wir für toll und wahnsinnig halten, haben den Schimpf ketzerischer Lehre zu tragen. Auch dürfen ihre Versammlungsstätten nicht als Kirchen bezeichnet werden. Endlich soll sie vorab die göttliche Vergeltung, dann aber auch unsere Strafgerechtigkeit ereilen, die uns durch himmlisches Urteil übertragen worden ist.150 Die Kircheneinheit sollte zur tragenden Stütze der Reichseinheit erhoben werden. Obwohl das Edikt keine expliziten Aussagen zu den nichtchristlichen Kultgemeinschaften enthielt, richtete sich der Geist der Verordnung gegen sie. Begann mit der Kampfansage an den Arianismus eine neue Runde innerchristlicher Richtungskämpfe, diesmal unter dem Vorzeichen der n ­ icaenischen Formel, so wurde mit der Ächtung der anders lautenden Bekenntnisse gleichsam die Agonie des Heidentums eingeleitet. Allerdings zeigt die religions­ politische Szenerie nach 380, dass die vom Kaiser favorisierte Glaubensrichtung sich keineswegs sofort und überall durchzusetzen vermochte. Die Richtungskämpfe innerhalb des christlichen Lagers blieben lange virulent. Nach den Auseinandersetzungen zwischen Nicaenern, Arianern, Donatisten und Manichäern, welche die christliche Öffentlichkeit stets in Atem hielten, sollten später die Grabenkämpfe zwischen den Anhängern der monophysitischen und der diophysitischen Lehre ausbrechen. Auf der anderen Seite lässt sich ein Fortbestehen der alten Kulte überall beobachten. Anfang des 6.  Jahrhunderts konnte Zosimos eine heidnisch inspirierte römische Geschichte verfassen, eine Art Kontrapunkt zu der christlichen Weltdeutung des Augustinus und Orosius, in der er Con­stantin und Theodosius wegen ihrer Religionspolitik scharf angriff151 und in der Vernachlässigung des traditionellen Kultes die Ursachen für den Niedergang Roms erblickte. Dennoch war eine solche Haltung die Ausnahme geworden. Typischer dagegen scheint die Reaktion des ebenfalls heidnischen Historikers Ammian auf die religionspolitischen Herausforderungen seiner Zeit: Man ging ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg. Dies musste keineswegs mit religiöser Indifferenz gleichbedeutend sein. Vielmehr entsprangen die hierfür zugrunde liegenden Maßstäbe den für Christen und Heiden gleichermaßen verbindlichen ethischen Normen, in denen Neuplatonismus und Christentum konvergierten. 231

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Daraus speiste sich die Forderung nach einem friedlichen Nebeneinander der unterschiedlichen religiösen Strömungen. Ammians echt empfundene Anerkennung für die Praxis der valentinianischen Religionspolitik kommt nirgendwo deutlicher zum Tragen als in jener bilanzierenden Feststellung, die verknüpft ist mit einer impliziten Kritik an der theodosianischen Position, in der es heißt: Schließlich wurde seine (sc. Valentinians) Regierung durch eine maßvolle Haltung in Reli­gionsstreitigkeiten berühmt, in denen er eine unparteiische Haltung einnahm. In dieser Hinsicht belästigte er niemanden und gab auch keine Anweisung, diesen oder jenen Kult zu pflegen. Er machte keinen Versuch, durch drohende Verbote den Nacken der Untertanen nach seinem eigenen Willen zu beugen.152 Freilich konnte die tagespolitische Realität durchaus Frontstellungen erzeugen; trotzdem gab es, ungeachtet der seit Theodosius geltenden dogmatischen Glaubensnormen, immer wieder Zeiten des Waffenstillstandes. Die Stimmungslage im Reich am Ausgang des 4. Jahrhunderts war keineswegs so beschaffen, dass dem emphatischen kaiserlichen Aufruf zur religiösen Einheit widerspruchslos Folge geleistet wurde. Wollte Theodosius, dass seine Initiative keine bloße deklamatorische Grundsatzerklärung blieb, so mussten weitere Schritte folgen. Dies geschah auch einige Zeit danach, als im Jahre 391 wohl unter dem Einfluss der Auseinandersetzung mit Eugenius, der als Protektor der heidnischen Religion auftrat, die bis dato strengsten Gesetze gegen das Heidentum erlassen wurden. Die Durchsetzungskraft der kaiserlichen Gesetzgebung stieß häufig an Grenzen. Was aus heutiger Sicht inkonsequent scheint, war in den Augen der Menschen der Spät­antike durchaus nachvollziehbar. Ein Christ wie Theodosius hatte keine Berührungsängste gegenüber prominenten Heiden, die durch ihr öffentliches Festhalten am Heidentum die Wirkungslosigkeit der kaiserlichen Gesetzgebung bloßstellten. Auf der anderen Seite kannte aber der Kaiser auch keine Scheu vor ­Radikalmaßnahmen. Teils unter dem Zwang der vorherrschenden Verhältnisse, teils aus Opportunität duldete oder inszenierte er selbst Gewaltakte. So verschärfte er die antiheidnische Gesetzgebung als politische Antwort auf die konziliante Haltung, die Eugenius gegenüber dem Heidentum einschlug. Die Auseinandersetzung zwischen Theodosius und Eugenius, die 394 am Frigidus entschieden wurde, wies in der nachträglichen propagandistischen Deutung der Ereignisse die typischen Züge eines Religionskrieges auf. Wenn der siegreiche Theodosius sich am Ende maßvoll zeigte, so nicht zuletzt aus der Erkenntnis, den politischen Widerstand der mächtigsten heidnischen Gruppe des Reiches gebrochen zu haben. 232

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as Phänomen des Fundamentalismus hat spätestens seit den Ereignissen vom 11. September 2001 eine besondere Sichtbarkeit und Sprengkraft erreicht. Meist wird es mit den radikalen Strömungen innerhalb des Islam in Verbindung gebracht, während vergleichbare Auswüchse, die in anderen Religionen beheimatet sind beziehungsweise vergangenen Epochen angehören, weitgehend ausgeblendet werden. Hinzu kommt, dass unter dem Eindruck weiterer, vordergründig religiös beeinflusster Gewaltakte eine inflationäre Verwendung des Begriffes aufgekommen ist, der zunehmend als Erklärungsmodell für irrationale Handlungsweisen verstanden wird, was gelegentlich stereotype Vereinfachungen und Vorurteile erzeugt oder bekräftigt. Selbst eine unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten geführte Debatte um diese Materie kann sich der Dominanz solcher Deutungsmuster kaum entziehen. Daher bleiben Nachdenken und Aufklärung über die Wurzeln religiösen Fanatismus der einzig gangbare Weg zu einer Versachlichung der aktuellen Diskussion. Voraussetzung für einen kritischen Umgang mit der Wirkmächtigkeit des religiös motivierten Fundamentalismus ist die Erforschung seiner Ursprünge, die bis in die Antike als Nährboden der monotheistischen Religionen zurückreichen. Während der römischen Kaiserzeit hat diese Thematik aufgrund der gewaltsamen Durchsetzung religiöser Überzeugungen innerhalb konkurrierender Kultsysteme eine paradigmatische Bedeutung erlangt. Wenn wir diese historische Entwicklungslinie nachzeichnen, betreten wir ein Arbeitsfeld, das sich aus der Verknüpfung der ­politischen Grundeinstellungen mit den religiösen Verhaltensnormen des 4.  Jahrhunderts ­zusammensetzt – der Epoche, die wie keine andere vom Mit- und Gegeneinander zwischen montheistischen und polytheistischen Religionen geprägt ist. Ihre Analyse eröffnet die Sicht auf einen in seiner Intensität einmaligen Verdrängungswettbewerb zwischen religiösen Gruppierungen innerhalb eines gemeinsamen Bezugsrahmens, nämlich des römischen Staates, der als Agens und Plattform dieser Auseinandersetzung fungierte und von der Wucht dieses Transformationsprozesses zunächst überrascht und danach vielfach überfordert wurde. 233

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Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen ist die Frage, ob die kultischen Veränderungen und Machtkämpfe um die religiöse Vorherrschaft, die sich in dieser Zeit ereignen, als Erklärungsmuster für fundamentalistische Handlungsweisen tauglich sind. Das Spektrum dieser Fragestellung wird somit vom Wettbewerb um individuelle Haltungen, theologische Positionierungen und regionale Konfliktlagen zwischen antagonistischen religiösen Parteien unter Einbeziehung der Rolle des Staates bestimmt. Erst die Zusammenführung der einzelnen Aspekte vermag die Sicht auf jene Konvivenzund Dissidenzprozesse zu eröffnen, die fundamentalistische Einstellungen verhindern oder befördern konnten. Die polytheistischen Religionen besaßen kein heiliges Buch, das als Wegweiser oder als Inspirationsquelle für ein kultgerechtes Verhalten diente. Auch kannten sie weder Offenbarungen noch Dogmen. Im Mittelpunkt des Kultbetriebs standen altüberlieferte Zeremonien, Opferhandlungen und Rituale, deren Erfüllung Priesterkollegien oblag, die sich im Falle Roms aus den Reihen der höchsten Amtsträger des Staates rekrutierten. Diese Ausgangslage macht es schwer, unsere gängigen Vorstellungen von Fundamentalismus auf die religio Romana zu übertragen; es sei denn, man würde die peinlich genaue Befolgung ihrer vorgeschriebenen Rituale in diesem Sinne deuten.153 Denn aus heutiger Perspektive verstehen wir unter religiösem Fundamentalismus meist das Primat einer außerhalb jeder kritischen Diskussion stehenden Glaubensgemeinschaft über politische, ökonomische und soziale Belange154, der sich in der strikten Befolgung göttlicher Mandate äußert, die in heiligen Texten offenbart wurden; diese werden unter Verzicht auf wissenschaftliche Exegesemethoden wortwörtlich ausgelegt und von den Adepten zum Maßstab ihres Handelns erhoben. Natürlich ist das Phänomen des Fundamentalismus unendlich komplexer, als jede Definition zu erfassen vermag. Es greift weit über die Motiv- und Deutungsebene hinaus, indem es die Lebenswelt der Betroffenen ganzheitlich berührt, die Frage nach dem Umgang mit anderen Religionen stellt und die Einstellung zu Zwang, Verboten, Repression und Gewalt thematisiert. Davon ist in der römischen Religion wenig zu spüren, weil sie sich aufgrund ihrer Vielfalt an Göttern und Kulten gegenüber fremden Glaubensgemeinschaften grundsätzlich zurückhaltend verhielt. Doch wie bei den meisten Verallgemeinerungen trifft diese Sichtweise nur bedingt zu. Es gibt auch Beispiele für das Gegenteil. Verantwortlich dafür war die personelle und strukturelle Verzahnung der staatlichen mit den kultischen Institutionen, denn die Götter bildeten einen wesentlichen Bestandteil des politischen Systems, weil sie dessen Existenz und Wohlfahrt garantierten. Daraus ergab sich 234

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eine Symbiose zwischen der politischen Gemeinschaft und der sie tragenden Kultgemeinde. Angesichts dieser Evidenz bleibt zu fragen, wie eine derartig vielseitige religiöse Landschaft intolerante Einstellungen erzeugen konnte. Und in der Tat kamen diese nur selten vor, wenn etwa von den fremden Kulten eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung befürchtet wurde. Unter die bekanntesten Beispiele fallen die Verbote der Bacchanalien (186 v. Chr.) oder des Kultes der ägyptischen Göttin Isis (das nur vorübergehend galt) sowie die Strafmaßnahmen gegen die Manichäer und die Christen. Wegen ihrer staatstragenden Rolle besonders anfällig gegenüber Ausschlägen des sozialen Pendels geworden, übertrug die religio Romana dem jeweils regierenden Kaiser die Supervision über die Kultpraxis.155 Die Bewahrung der religiösen Symmetrie, zu einer zentralen Herrschaftsaufgabe stilisiert, wurde zunehmend von den Störungen des gesellschaftlichen Gleichgewichtes abhängig. Daher genügte für die Zustimmung oder Ablehnung neuer Religionsgemeinschaften ein Verweis auf politische Kriterien, was zur Folge hatte, dass für die Verhängung von Verboten gegen bestimmte Kulte keine religiösen Maßstäbe angewendet wurden. Selten warf man ihren Anhängern vor, die falschen Gottheiten zu verehren, sondern den anerkannten Göttern Roms – den Symbolen der Einheit des Staates – den schuldigen Respekt versagt zu haben. Um gegen eine verdächtig gewordene religiöse Gruppierung strafrechtlich vorzugehen, nahmen die Vertreter der Staatsmacht nicht deren Doktrin ins Visier; vielmehr bewerteten sie ihr Gefahrenpotenzial für das Zusammenleben unter dem Dachverband der bestehenden Rechtsordnung und der herrschenden Moral. Erst wenn diese Vereinbarkeit gestört schien, ging man gegen religiöse Gemeinschaften vor. Der Blick der Behörden richtete sich auf das Verhalten der Anhänger und nicht auf den theologischen Gehalt einer aus welchen Gründen auch immer in Verruf geratenen Religion. Vor diesem Hintergrund erschienen die expandierenden christlichen Gemeinden aufgrund ihrer effizienten Organisation und ihrer straffen Führung als Bischofskirchen wie abgeschottete Sozialkörper, die sich an den Rändern der römischen Lebenswelt angesiedelt hatten. Je mehr Gebildete und Vornehme dazu zählten, je rascher ihre ökonomischen Mittel wuchsen, desto mehr wurden sie als Staat im Staat wahrgenommen.156 Ihren Mitgliedern warf man Absentismus, Korpsgeist und mangelnde gesellschaftliche Solidarität vor. Dass sich in politisch unruhigen Zeiten bei den Trägern der staatlichen Macht die Neigung verstärkte, in den Kultalltag der Unter­ tanen einzugreifen, belegen zahlreiche Stimmen. Einen anschaulichen Hinweis auf diese Vereinnahmungstendenz liefert die fiktive Maecenas-Rede des Historikers und Senators Cassius Dio, in welcher der Kaiser aufgefordert 235

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wird, das religiöse Verhalten seiner Untertanen durch die entschiedene ­Abwehr der fremden Kulte zu normieren: Wenn du daher wirklich unsterblich werden willst, so handle nach meinem Rat, und außerdem verehre nicht nur selbst die Himmelsmacht allenthalben und auf alle Art im Einklang mit den Überlieferungen unserer Väter, sondern zwinge auch alle anderen, sie zu ehren! Diejenigen aber, die unsere Religion etwa durch fremde Riten entstellen wollen, lehne ab und bestrafe sie, nicht nur um der Götter willen, deren Verächter auch keinem anderen Wesen Verehrung erweisen dürfen, sondern weil derartige Menschen, indem sie irgendwelche neuen Gottheiten an Stelle der alten einführen, viele dazu veranlassen, fremde Lebensformen anzunehmen; und daraus entstehen dann Verschwörungen, Parteienbildung und staatsgefährdende Vereine, was alles einer Regierung keineswegs nützt.157 Derartige Notizen aus der ersten Hälfte des 3.  Jahrhunderts bestätigen nicht nur ein vermehrtes Interesse seitens der Mächtigen, die religiöse Ausrichtung der Bevölkerung zu beeinflussen. Von hier aus war es lediglich ein kleiner Schritt, die staatliche Kontrolle auf den gesamten Kultvollzug auszudehnen. In diesem Sinn erwiesen sich die repressiven Maßnahmen der Regierung gegen Minderheiten als direkte Konsequenz einer offenbar verbreiteten Haltung, die religiöse Nonkonformität als politische Unzuverlässigkeit oder gar als Renitenz bewertete, die ein Einschreiten der Behörden erfordere.158 Im Übergang vom 3. zum 4. Jahrhundert wird der staatliche Autoritarismus sogar eine Verschärfung erfahren. Die von Diocletian inspirierte, religiös motivierte Herrscherideologie bemühte sich, die Beziehungen mit dem Göttlichen zu monopolisieren, und reagierte empfindlich auf jede Form von Interferenz. Jene, die sich berufsmäßig mit der Deutung des Schicksals (fatum) befassten, wie die Wahrsager, Magier und Astrologen, oder wie die Manichäer und die Christen einem Kult nachgingen, der sich der Kontrolle der Behörden entzog, wurden bestraft.159 Dieses Politikverständnis setzte Maßstäbe, die in der Folgezeit wirksam blieben. So unterschieden sich der Heide Diocletian und der Christ Valentinian kaum in ihrer Unnachgiebigkeit gegenüber Gruppen, die als gefährlich für die Gesellschaft eingestuft wurden, wie ein Vergleich ihrer jeweiligen Gesetzgebung belegt.160 Eine bisher ungekannte Mobilisierung der staatlich gelenkten Gewalt gegen religiöse Gruppierungen brachten die von Diocletian zunächst gegen die Manichäer (295)161 und dann gegen die Christen erlassenen nikomedischen Edikte (303)162 mit sich, welche die religiöse Homogenität des Reiches erzwingen wollten. Von der Überzeugung geleitet, dem Reich einen Dienst zu erweisen, nahmen die Tetrarchen, wie einige ihrer Vorgänger, gewalt­ tätige Methoden in Kauf, um das übergeordnete Ziel einer Revitalisierung 236

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der traditionellen Religion zu erfüllen, die sie als unabdingbare Prämisse für die Regeneration des von zahlreichen Anfechtungen bedrohten Staates erachteten. Die Unversöhnlichkeit gegen bestimmte soziale Gruppen passt allerdings nicht so recht in die Programmatik der diocletianischen Reformen, die durchaus integrative Züge aufwiesen. Die Tetrarchen waren keinesfalls übereifrige Fanatiker. Nicht alle zeigten sich vom Nutzen der Repression überzeugt, zumal Teile der Öffentlichkeit skeptisch gegenüber einer derart unkonzilianten Politik blieben. Hinzu kam, dass der enorme staatliche Druck, der gegen die geächteten religiösen Gruppen aufgebaut wurde, weit davon entfernt war, die erstrebte Befriedung zu erreichen. Bei der Durchführung der Verfolgungsmaßnahmen erlebten die staatlichen Behörden mehr Irritationen als Erfolge, denn die von den Christen erlittenen Martyrien ließen ihre Glaubensgenossen keineswegs in ihrer Haltung wanken, sondern erzeugten vielerorts die gegenteilige Wirkung, weil sie dazu beitrugen, das Bild der Unverwundbarkeit der Verfolgten zu verfestigen.163 Hierbei begegneten sich zwei rigoristische Strömungen, denn sowohl die kaiserliche Regierung als auch die Bedrängten waren von der Richtigkeit der eigenen Überzeugung erfüllt. Unterdrücker und Unterdrückte gingen bis zum Äußersten, indem sie entweder Gewaltakte ausübten oder diese über die Grenzen der Selbstaufgabe hinaus selbst erduldeten. Dass die Tetrarchen glaubten, den Kampf gegen das Christentum siegreich zu bestehen, darf angenommen werden. Dafür spricht der relativ späte Beginn der Verfolgung. Erst nachdem die Autoritätskrise behoben und das tetrarchische System gefestigt, die Finanz-, Provinz- und Heeresreformen abgeschlossen und die Grenzen stabilisiert wurden, schien der Zeitpunkt gekommen zu sein, den letzten Akt der inneren Konsolidierung des Reiches – als solche verstanden die Tetrarchen ihre Christenpolitik – zu vollenden. Umso größer war dann die Enttäuschung, als sich das Scheitern der Christenver­ folgung immer deutlicher abzeichnete. Die Spuren dieses Gefühls der Ohnmacht lassen sich anhand eines Textes nachweisen, der die gereizte Stimmung einfängt, die auf Seiten der Drahtzieher der christenfeindlichen Politik herrschte. Es handelt sich um das Edikt von Serdica vom 30. April 311, mit dem Kaiser Galerius nach acht Jahren die Ächtung der Christen aufhob. Wir lesen darin: Denn aus irgendeinem Grund hatte ein so starker Eigenwille eben diese Christen erfasst und so große Torheit von ihnen Besitz ergriffen, dass sie den Gebräuchen der Alten nicht mehr folgten, die vielleicht ihre eigenen Vorfahren eingeführt hatten, sondern ganz nach Gutdünken und Belieben sich Gesetze gaben, um sie zu beachten, und in verschiedenen Gegenden verschiedene Völker zu einer Gemeinschaft vereinigten. Als schließlich 237

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von uns der Befehl erging, dass sie zu den Gebräuchen der Alten zurück­kehren sollten, wurden viele in Kapitalprozesse verwickelt, viele aber auch vertrieben. Und da die meisten auf ihrem Vorsatz beharrten und wir sahen, dass sie weder den Göttern die gebührende Anbetung und Ehrfurcht angedeihen ließen noch den Gott der Christen verehrten, so haben wir in Anbetracht unserer umfassenden Milde und im Hinblick auf unsere immerwährende Gewohnheit, allen Menschen zu verzeihen, geglaubt, auch diesen unsere bereitwilligste Nachsicht gewähren zu müssen, damit sie wieder Christen sein und ihre Versammlungsstätten wiederaufbauen können. Jedoch so, dass sie nichts gegen die öffentliche Ordnung unternehmen. Durch ein anderes Schreiben aber werden wir den Gerichtsbeamten anzeigen, was sie zu beachten haben. Daher wird es entsprechend unserem Entgegenkommen die Pflicht der Christen sein, zu ihrem Gott zu beten für unser Wohl, für das Wohl des Staates und für ihr ­eigenes, damit der Staat nach allen Richtungen hin vor Schaden bewahrt bleibe und sie sicher in ihren Wohnsitzen leben können.164 Unschwer lässt sich anhand der wohl von Galerius selbst stammenden Formulierungen die Frustration eines Herrschers nachvollziehen, der widerwillig erkennen musste, dass es ihm nicht geglückt war, die verachtete ­Glaubensgemeinschaft auszuschalten. Besonderes Interesse verdient das Argument, das der gescheiterte Verfolger anführt, um die Wende in der kaiserlichen Politik zu rechtfertigen: Da es sich als unmöglich erwiesen hatte, das Christentum zu vernichten, solle künftig wenigstens sein Kultvollzug so ­gestaltet werden, dass seine sakrale Wirksamkeit zur Entfaltung gelange. ­Offenbar wurde die vorschriftsmäßige Abhaltung eines Rituals, selbst der misstrauisch beargwöhnten christlichen Zeremonien, als gewichtiger erachtet als die Abneigung gegen eine ungeliebte religiöse Vereinigung. Diese Handlungsweise unterstreicht die in der religiösen Gefühlswelt der Römer tief verwurzelte Vorstellung, dass das Wohlwollen der Götter von der korrekten Befolgung der Liturgie abhing. Für Galerius waren die vom Glauben der Väter abgefallenen Christen Verblendete, die aus Unvernunft handelten, wie er selbst in seinem Toleranzedikt eindringlich bekräftigte. Ähnliche Epitheta sollte Con­stantin wenig später verwenden, nachdem er Rom eingenommen, dabei ein enges Band zum Christengott geknüpft hatte165 und sich in der Folgezeit bestrebt zeigte, der Kirche die Segnungen seiner kaiserlichen Fürsorge angedeihen zu lassen. In einem Brief an den Bischof Caecilian von Karthago bezeichnete Con­stantin die Gegner der Mehrheitskirche, also die Donatisten, als vom Wahnsinn Befallene, die jede Strafe verdienten166: Wenn du ­demnach wahrnimmst, dass gewisse Menschen dieser Art in ihrem Wahnsinn beharren, so wende dich ohne Bedenken an die erwähnten Richter und trage 238

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die Sache vor, auf dass sie entsprechend der mündlichen Weisung, die ich ihnen gegeben habe, solche Leute zur Umkehr veranlassen.167 Trotz der prinzipiellen Unterschiede in der Christenfrage zwischen Galerius und Con­stantin herrschte hinsichtlich der Bewertung religiöser Dissidenz ein Gleichklang der Auffassungen. Das unwirsche und widerwillig ­abgerungene Zugeständnis des Galerius gegenüber den verfolgten Christen findet in der gereizten Stimmung Con­stantins gegen die Donatisten seine Entsprechung. Dieser forderte Bischof Caecilian auf, Disziplinarmaßnahmen gegen Abweichler zu ergreifen, was der Angesprochene auch tat. Zum ersten Mal stellte ein Kaiser einem prominenten Kleriker den staatlichen Apparat zwecks Unterdrückung von religiösen Abspaltungsbewegungen zur Verfügung. Damit wurde der Verschmelzung von Kirche und Staat Tür und Tor geöffnet. Ein Ergebnis dieser Allianz war die wechselseitige Instrumentalisierung beider Institutionen um des gemeinsamen Zieles willen. Dieses sah die Aufhebung der Divergenzen innerhalb der Kirche vor, um einen für alle Christen verbindlichen Gottesdienst zu stiften. Con­stantin verlangte die religiöse Einheit der Christen und drohte allen, die sich dagegen sperrten, Strafmaßnahmen an. Damit hob eine Politisierung der Theologie an, die mittelfristig zur Theologisierung des Staates führen sollte.168 In einem Brief aus dem Jahr 316, der auf dem Höhepunkt der durch den Donatistenstreit verursachten Spannungen an Celsus, den höchsten Amtsträger der afrikanischen Provinzen, gerichtet war, tat Con­stantin seine Meinung in Sachen christlicher Dissidenz mit folgender Begründung kund: Denn es ist hinreichend deutlich, dass niemand die Martyrerseligkeit auf eine Weise suchen kann, die der Wahrheit der Religion fremd und unangemessen zu sein scheint. Ich werde veranlassen, dass diejenigen, die ich als Gegner von Recht und Religion erkenne und die ich schuldig finde, die der Religion zustehende Ehre zu beflecken, die entsprechende Strafe für ihren Wahnsinn und ihren verwegenen Starrsinn ohne jeden Zweifel abbüßen. Damit sie sicher wissen, was man als wohlanständigen Glauben haben muss, rufe ich das Heil zum Zeugen an, dass ich Volk und Kleriker, soweit sie zu den höheren Ämtern gehören, untersuchen und so richten werde, wie es der Wahrheit und der Religion deutlich entspricht.169 Ein Vergleich der Sätze Con­stantins mit denen des Edikts von Serdica enthüllt uns eine weitere aufschlussreiche Parallele. Der christenfreundliche Con­stantin bediente sich ähnlicher Argumente wie der christenfeindliche Galerius, um abweichendes Verhalten zu stigmatisieren. Beide Herrscher waren sich darin einig, die Hilfsmittel des Staates einzusetzen, um das religiöse Verhalten ihrer Untertanen zu regulieren. Zu der Forderung nach Kompatibilität mit der traditionellen Religion, welche die Kaiser bis zum Tole239

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ranzedikt des Galerius erhoben hatten, wird nach der Durchsetzung des Christentums unter der con­stantinischen Dynastie das Kriterium der Rechtgläubigkeit hinzukommen, das auf die Überzeugung von der Einzigartigkeit und der ausschließlichen Geltung der eigenen dogmatischen Position gegründet war. Damit entstand die Voraussetzung für eine neue Christen­ verfolgung, denn ins Visier der Behörden konnten nunmehr die als Abweichler stigmatisierten christlichen Dissidenten geraten. Um der religiösen Konsenserzwingung willen wird die Staatsmacht nun christliche Abweichler sanktionieren. Die Gesetzgebung der Nachfolger Con­stantins liefert zahlreiche Beispiele hierfür.170 Sie zeigen uns, wie man auf der einen Seite den ergebenen Parteigängern Privilegien gewährte und auf der anderen Seite drastische Strafen gegen die als Häretiker kriminalisierten Dissidenten verhängte. Während der Regierungszeit des Kaisers Constantius II. vollzieht sich ein Paradigmenwechsel. Erstmalig werden im Jahr 341 bestimmte Opferpraktiken, die zum Kernbereich der traditionellen Religion Roms gehörten, verboten.171 Im Jahr 356 erfolgte sogar eine deutliche Verschärfung. Zunächst wird gegen die Abhaltung der heidnischen Kulte massiv vorgegangen172 und bald darauf die Schließung heidnischer Tempel angeordnet.173 Parallel zu dieser antiheidnischen Gesetzgebung mehren sich die kaiserlichen Verfügungen, in denen dem christlichen Klerus Immunität und Privilegien gewährt werden.174 In der Substanz ähnliche Gedankengänge finden sich paradoxerweise in der Regierungszeit des zur traditionellen Religion bekehrten Kaisers Julian, der eine Wiedergeburt der heidnischen Kulte nach dem Vorbild der Denkweisen und Organisationsformen vorantrieb, die aus der christlichen Kirche entlehnt wurden. Er förderte die Karrieren namhafter Heiden, bevorzugte die für ihre heidnische Gesinnung bekannten Akademien und Bildungseinrichtungen und erschwerte im Gegenzug den christlichen Rhetoriklehrern ihre Berufsausübung. Für unsere Fragestellung bedeutsam sind die leidenschaftlichen Aufforderungen, die Julian an die Reichsbevölkerung richtete, um den traditionellen Götterkult zu beleben. Dank des verfügbaren Quellenmaterials können wir zahlreiche Facetten des heidnischen Reformprogramms nachzeichnen. Darin nahmen die Maßnahmen, die das Ansehen der heidnischen Priester mehren sollten, breiten Raum ein, wie an einem Brief Julians aus dem Jahre 362 sichtbar wird: Insbesondere sollen sie alle liederlichen Theatervorführungen meiden, keinen Schauspieler, keinen Wagenlenker zu Freunden wählen, keinen Tänzer oder Mimen ins Haus lassen. Bezüglich der Jagd ist zu sagen, dass sie, wenn sie in den Städten und außerhalb der Theater veranstaltet wird, sie den Priestern und deren Kindern untersagt sein soll.175 240

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Julian wollte die gesellschaftliche Stellung der heidnischen Priester durch Erhöhung ihrer sacerdotalen Würde stärken. Das war ein gemeinsames Bestreben von Heiden und Christen. Beide religiösen Welten konvergierten in einer gemeinsamen ethischen Plattform, die der orthodoxen priesterlichen Amtsausübung einen zentralen Stellenwert einräumte. Der religiöse Eiferer Julian verachtete seine lauen heidnischen Kultgenossen nicht minder, als seine christlichen Widersacher die christlichen Abweichler. Die rigoristische Haltung, die in Julians Appellen aufscheint, erfuhr in der christlichen Welt ebenfalls eine beträchtliche Ausweitung. Eine Neigung zur Weltflucht machte sich hier breit, wie sie das Mönchtum und die Eremiten verkörperten. Sie wurde verstärkt durch eine Zunahme der Askese, der Spiritualität und der moralischen Unnachgiebigkeit, einschließlich eines Hangs zur Körperfeindlichkeit, wie wir beispielsweise anhand der Briefe des Hieronymus an Heliodor oder Eustachius beobachten können. Zum Ruf nach einem kontempla­ tiven Leben gesellte sich das Postulat der Keuschheit. Die daraus resultierende christliche Morallehre, die in der Beherrschung der Affekte und der Abkehr von den Begierden des Körpers gipfelte, hat die Kirche vielfach überfordert, und sie tut es heute noch.176 Im Zuge der Symbiose zwischen Kirchenhierarchie und Reichsregierung kam eine fundamentalistische Rhetorik auf, die ihren Anhängern suggerierte, im Besitz der unumstößlichen Wahrheit zu sein. Ihre Aufbietung diente nicht selten der Rechtfertigung von Gewalt. Ab der zweiten Hälfte des 4.  Jahrhunderts machten sich ambitionierte und charismatische Bischöfe verstärkt bemerkbar, denen die strikte Einhaltung der von ihnen vertretenen Glaubenslehre oberste Richtschnur war.177 Sie zeigten sich äußerst empfindlich gegenüber jeder Form von Kritik und zwangen ihre Meinung der christlichen Gemeinschaft, den Nichtchristen, ja selbst dem Kaiser auf. Ambrosius von Mailand liefert eindringliche Beispiele dafür. Wir wollen eines davon näher betrachten. Die Streitursache erweist sich als äußerst instruktiv, weil sie die Paradoxie und Folgerichtigkeit der Situation zugleich erkennen lässt. Der für seine christliche Gesinnung bekannte Constantius II. hatte einst den Altar der Victoria aus der römischen Kurie entfernen lassen. Allerdings ließ Julian ihn, nach seiner Abkehr vom Christentum, wieder im Sitzungssaal des Senates aufstellen. Nach der Konsolidierung des Christentums unter den Herrschern der valentinianischen Dynastie ersuchten christliche Senatoren im Bund mit dem römischen Bischof Damasus um die Entfernung des symbolträchtigen Monuments. Der Bitte wurde nach einer hitzigen Diskussion, in welcher Symmachus und Ambrosius als Exponenten zweier antagonistischer Prinzipien auftraten, entsprochen.178 Verwunderlich an dieser 241

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­ ngelegenheit ist nur, dass dieselbe Regierung, die sich dem Druck des AmA brosius beugte und die Victoria aus dem römischen Senat verbannte, keinen Widerspruch darin empfand, in ihrer amtlichen Münzprägung das Bild eben dieser heidnischen Victoria mit dem christlichen Labarum in der Hand zu propagieren. Daraus lässt sich folgern, dass synkretistische Optionen, wie sie Symmachus in seinen Plädoyers deutlich machte und die Regierung in ihrer Münzprägung bekannte, keine unüberwindbaren Hindernisse schufen. Die Entscheidung erzwang schließlich Ambrosius, der die Autorität seines Amtes und seiner Person in die Waagschale warf und die Oberhand behielt. Von der Überzeugung einer allein selig machenden Kraft der christlichen Offenbarung erfüllt, vermochte er sich gegen die auf Toleranz und Synkretismus basierende Argumentation der heidnischen Senatoren durchzusetzen. Bemerkenswert ist der Diskussionsstil der Beteiligten. Symmachus verwies auf die Religionspraxis des christlichen Kaisers Constantius II., um seine Position zu untermauern, indem er seinen Nachfahren Gratian folgendermaßen ansprach: Eure Ewigkeit soll sich an andere Taten dieses Herrschers halten, die sich geziemender anwenden lassen. Dieser hat den heiligen Jungfrauen keines ihrer Privilegien weggenommen, er hat den Adeligen Priesterämter zugewiesen, er hat den römischen Kulten ihre Zuschüsse nicht verweigert und er ist durch die Straßen der Ewigen Stadt hinter den erfreuten Senatoren einher geschritten. Mit ruhigem Antlitz hat er die Heiligtümer angesehen und die auf den Giebeln eingemeißelten Götternamen gelesen. Er hat nach dem Ursprung der Tempel gefragt, ihre Erbauer bewundert und, obwohl er selbst einer anderen Religion anhing, hat er die unsere dem Reich erhalten.179 Darauf erwiderte der Mailänder Bischof Ambrosius: Während alle Menschen, die unter römischer Botmäßigkeit leben, Euch, den Kaisern und Herrschern des Erdkreises, dienen, dient Ihr selbst dem allmächtigen Gott und dem heiligen Glauben. Ein sicheres Heil gibt es nur, wenn jeder den wahren Gott, das heißt, den Gott der Christen, der die ganze Welt regiert, aufrichtig verehrt. Er ist allein der wahre Gott, der aus innerstem Herzen angebetet wird. Denn ‚die Götter der Heiden sind Dämonen‘, wie die Schrift sagt.180 Während Symmachus argumentierte, bat und zu überzeugen versuchte, sprach Ambrosius apodiktisch, forderte und verlangte. Der Bischof wusste sich von einer höheren Macht durchdrungen, die selbst dem Kaiser Respekt einflößte. Die Überlebenschancen des Heidentums waren damit geschwunden. Noch ging es hier um ein äußerliches Symbol, nämlich um die Entfernung eines heidnischen Altars, eines Gegenstandes also. Doch der nächste Schritt, der im Gedankengebäude des Ambrosius bereits angelegt war, zielte bereits auf die Zerstörung des Altars und damit auf die Auslöschung des 242

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­ eidentums. Die Auswüchse dieser Haltung werden einige Zeit später im H Verhalten des ägyptischen Geistlichen Schenuda deutlich sichtbar. Dieser Prototyp eines christlichen Eiferers scheute keine Gewaltmaßnahme, um seine fragwürdigen religiösen Anliegen durchzusetzen. Verbissener Aktionismus und Grobschlächtigkeit werden zum Markenzeichen seines Handelns. Mit ihm erhält der christliche Fundamentalismus deutliche Konturen und ein ausgesprochen unversöhnliches Gesicht.181 Im polytheistischen System erfreute sich der Kaiser göttlicher Verehrung; außerdem versah er das ehrwürdige Amt des Pontifex maximus.182 Im christianisierten Imperium musste der Herrscher sich diese Funktion mit einer zunehmend machtbewussten klerikalen Hierarchie teilen. Während die erste Generation christlicher Imperatoren noch das Oberpontifikat bekleideten, verzichteten Gratian und Theodosius darauf, weil er zu stark heidnisch konnotiert war. Damit trugen sie dazu bei, den Platz des ersten Mannes im Staate in der christlichen Welt neu zu verorten. Die gesetzlichen Verfügungen aller Kaiser unterstreichen, wie sehr sich die Anforderungen der Regierenden an die Kultpraxis der Untertanen steigerten. Doch trotz unleugbarer Analogien zwischen heidnischen und christlichen Herrschern in der Frage der Glaubenshomogenität gab es, was die Erwartungshaltung beider religiöser Gruppen betraf, signifikante Unterschiede hinsichtlich des jeweiligen Kultvollzugs. Jede römische Regierung nahm unabhängig von ihrer religiösen Filiation bestimmte religiöse Gruppierungen aus machtpolitischen Gründen ins Visier, um gesellschaftliche Erosionsprozesse einzudämmen und damit die innere Geschlossenheit des Reiches zu stärken. Sie sah die Fundamente des Staates durch abtrünniges Verhalten bedroht und schritt dagegen gewaltsam ein. Auslöser des staatlichen Interventionismus waren Krisensituationen; seine Methode war die Repression. In ihren Maßnahmen zur Erzwingung der religiösen Einheit unterschieden sich die heidnischen kaum von den christlichen Herrschern. Neu war allerdings, dass nun christliche Würdenträger sich ungehemmt der Macht des Staates bedienten, um Unterdrückungsmaßnahmen zu rechtfertigen, wenn aus ihrer Sicht orthodoxe Glaubensgrundlagen in Zweifel gezogen wurden. Im vortheodosianischen Reich stand die römische Religion als Synonym für Kontinuität, Erfolg und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Religiöse Dissidenz galt als Anfechtung des politischen Systems; sie wurde mit polizeilichen Mitteln mehr schlecht als recht im Zaum gehalten. Theologische Argumentationsparadigmen sucht man in dieser Auseinandersetzung vergebens. Es ging dabei um die Bewahrung des Bestehenden und nicht um 243

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richtige oder falsche, sondern um die für den Staat nützlichen Götter. In der nachtheodosianischen Ära konnten hingegen aufgrund der monotheistisch-trinitarischen Struktur des Christentums mithilfe der Theologie Grenzlinien zwischen Dogma und Häresie, zwischen Sünde und Heil gezogen werden. Erstmalig erhielten die weltlichen und geistlichen Interpreten der Botschaften des einzigen Gottes die Gelegenheit, Glaubenspositionen als politische Waffe einzusetzen. Der christliche Glaube bedeutete Ausschließlichkeit, Konzentration und Selektion zugleich. Im Bewusstsein, den einzig gangbaren Weg zu kennen, wehrte er sich ge­gen falsche Götter und Irrlehren. Aus diesen Bestrebungen heraus entstand ein Spannungsverhältnis zwischen religiösem Anspruch und Lebenswirklichkeit. Die Überdehnung dieses Anspruches bildete den Nährboden, auf dem Fundamentalismus gedeihen konnte. Die Ermordung der heidnischen Gelehrten Hypatia durch fanatisierte Christen183, die Schließung der wegen ihrer heidnischen Ausrichtung ehrwürdigsten Bildungseinrichtung der Alten Welt, der Akademie von Athen, oder das erbarmungslose Vorgehen gegen die als Häretiker stigmatisierten religiösen Randgruppen geben exemplarisch davon Zeugnis.184

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8 Herrscherkult im Christentum

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ie Genese des Kaiserkultes entsprang unterschiedlichen Wurzeln. Ursprünglich bediente er das Bedürfnis einzelner Städte, Regionen oder Bevölkerungsgruppen, dem Machtmenschen, der bestimmte Leistungen für sie erbracht hatte, dafür zu danken. Durch die Stiftung von Tempeln, Priesterschaften und Kultfeiern hielt man die Erinnerung an die erwiesene Wohltat wach und schöpfte zusätzlich Hoffnung, in Zukunft weitere Gunsterweise zu erhalten. Eine andere Strömung des Herrscherkultes ging von den ton­ angebenden Eliten aus, die dem regierenden Kaiser Akzeptanz, Kontinuität und Erfolg verheißen wollten. Dies äußerte sich in der routinemäßigen Huldigung des Staatsoberhauptes anlässlich seines Regierungsantritts, seines Geburtstags, seiner errungenen Siege oder sonstiger Feierlichkeiten durch die staatstragenden Gruppen des Reiches wie Senatoren, Curiale, Soldaten oder die Bevölkerung der Städte, die sich ebenfalls die kaiserliche Gunst sichern wollten.185 Seit Caesar galten die an der Spitze des weltumspannenden Imperiums stehenden Herrscher als Götter, weil sie, ähnlich wie diese, das Schicksal des Reiches und seiner Bewohner maßgeblich beeinflussen konnten.186 Viele sahen in der Person des Imperators eine auf Erden wandelnde Gottheit (deus praesens), weswegen seine öffentlichen Auftritte wie die Epiphanie einer Gottheit gestaltet und mit einem Pomp gefeiert wurden, der an Gottesdienste erinnerte.187 Es wurden ihnen Altäre, Kulte und sakrale Feste geweiht.188 Dankbare Untertanen stifteten Ehrenmonumente, deren Inschriften die Göttlichkeit des regierenden Kaisers und seiner Vorgänger priesen. Mitglieder aller Gesellschaftsschichten (Senatoren, Provinziale, Freigelassene und einfache Bürger) opferten vor ihren Bildern und erwiesen ihnen die gleiche Ehrfurcht wie den unsterblichen Göttern. Nach ihrem Tod erfolgten die Konsekration und die anschließende Aufnahme unter die Staatsgötter. Im Vollzug des Kaiserkultes erblickte man einen untrüglichen Loyalitätsbeweis gegenüber den maßgeblichen staatserhaltenden Institutionen: Götterpantheon und Kaiserhaus. Besonders wichtig war die öffentliche Bekundung von Zuneigung und Respekt im Hinblick auf das Militär, das während des 3. Jahrhunderts zur zuverlässigsten Stütze der Regierenden aufgerückt war. Aus der Perspektive der 245

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Führungsschichten bildete die Erhaltung dieser Nahbeziehung zwischen Imperator und Heer, die durch den Kaiserkult eine ständige Vergewisserung erfuhr, eine unerlässliche Bedingung für den Fortbestand des geltenden politischen Systems.189 Voraussetzung und Konsequenz des Kaiserkultes war die Göttlichkeit des Herrschers. Manche Imperatoren vermochten auf divinisierte Ahnen zu verweisen und galten folglich als Nachfahren eines Gottes. Wer sich wie Vespasian, Septimius Severus oder die meisten Herrscher des 3.  Jahrhunderts nicht auf einen konsekrierten Vorfahren berufen konnte, musste die eigene Göttlichkeit durch herausragende Taten unter Beweis stellen. Folglich beruhte das System auf einer Kombination aus charismatischen und leistungsbedingten Faktoren, verstärkt durch die Identifikation der Betroffenen mit einer bestimmten Gottheit aus dem unerschöpflichen Reservoir des römischen Pantheons. Daraus resultierte eine dynamische Wechselbeziehung: Der göttliche Kaiser akzeptierte, förderte und verehrte die Götter, die wiederum seine Göttlichkeit nicht in Abrede stellten. Bekannte sich aber ein Kaiser zum Christentum, so konnte er kaum den eigenen Vater dem christlichen Gottvater als gleichberechtigten Partner zur Seite stellen. Die monotheistische Ausrichtung der christlichen Lehre schloss diese Angleichung aus. Gleichwohl sprach man ihm im umfassenden Sinne Göttlichkeit zu. Dies betraf nicht nur die kaiserliche Person, sondern auch die Familie und die nähere Umgebung.190 Mit der ihnen eigenen Behutsamkeit, die aus der Skepsis der Umwelt gegenüber ihrer Glaubensbotschaft resultierte, verbanden die Christen von Anfang an die Ablehnung der Göttlichkeit des Kaisers stets mit der bedingungslosen Anerkennung seiner Herrschaft. Ihre führenden Köpfe wurden nicht müde, eine Ergebenheitserklärung nach der anderen an die Adresse des jeweils regierenden Kaisers zu richten, wie dies der im 2.  Jahrhundert amtierende antiochenische Bischof Theophilos mit folgenden Worten tat: Also will ich lieber den Kaiser (als die Götter) ehren, nicht indem ich ihn anbete, sondern indem ich für ihn bete. Den wirklichen und wahren Gott bete ich an, wohl wissend, dass der Kaiser von ihm bestellt ist. Du fragst mich nun: Warum betest Du nicht den Kaiser an? – Weil er nicht geschaffen wurde, um angebetet zu werden, sondern um mit der ihm recht­ mäßig zustehenden Ehre verehrt zu werden. Denn er ist nicht Gott, sondern ein Mensch, der von Gott eingesetzt wurde, nicht um angebetet zu werden, sondern um ein gerechter Herrscher zu sein.191 Die christlichen Imperatoren standen vor einer ambivalenten Situation. Sie durften nicht außer Acht lassen, dass ihr Amt mit der Pflege des traditionellen Kultes verwoben war. Ihnen oblag die Fürsorge für die römische Religion in ihrer Gesamtheit.192 Weil aber das Christentum mittlerweile den Status 246

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einer religio licita genoss, standen seine Gottesdienste ebenso wie die heidnischen Rituale unter dem Schutz des Staates. Daraus erklärt sich ihre Handlungsweise. Sie agierten einerseits als pflichtbewusste Supervisoren der traditionellen Kulte, andererseits als Förderer und Protektoren der Kirche. Offenbar erregte ein solches Verhalten wenig Widerspruch bei den meisten Zeitgenossen, selbst dann nicht, als bestimmte Regenten, wie etwa Constantius II., Gratian oder Theodosius ihre christlichen Neigungen immer deutlicher betonten. Die Sogkraft der Tradition, die Neuheit der Situation sowie die Tatsache einer heidnisch gesinnten Bevölkerungsmehrheit ließen keine dramatischen Änderungen der eingespielten Kultpraxis erwarten. Im Einklang mit der normativen Kraft der Tradition wurden die christlichen Herrscher ebenso wie ihre heidnischen Vorgänger als Götter angesehen, denen gemäß ritualisierter Praktiken Verehrung zustand. Dagegen werden die Christen, die ihnen ihre neu gewonnene Kultfreiheit verdankten, schwerlich etwas einzuwenden gehabt haben. Mit der von Galerius in Serdica (311) verkündeten und von Con­stantin und Licinius in Nikomedia und Mailand (313) bestätigten Tolerierung ihrer Religionsausübung waren die Christen ohnehin von der Verpflichtung zum Kaiserkult befreit. Für jene traditionsbewussten Gruppen, die an den überlieferten Ritualen festhielten, änderte sich zunächst nichts. Dies bestätigen eine Fülle von epigraphischen Zeugnissen, aus denen die Göttlichkeit von Con­stantin193, Valentinian194 oder Theodosius195 hervorgeht, sowie zahlreiche Passagen aus den offiziellen Reden des Themistios, um nur ein Beispiel zu erwähnen, in denen die göttlichen Kaiser Constantius II., Valens und Theodosius überschwänglich gefeiert werden.196 Angesichts der grundlegenden Veränderungen, die aus der Annäherung des Kaisertums an die Kirche resultierten, ergab sich aber das Problem, wie der immer mehr als Christ fühlende Herrscher sich zu verhalten habe, um einerseits seiner eigenen Überzeugung Genüge zu tun beziehungsweise die Gefühle seiner christlichen Untertanen nicht zu verletzen und andererseits nicht in einen unüberbrückbaren Widerspruch zur Regierungspraxis zu geraten. Überließ man den Untertanen die Initiative oder erließ der Kaiser einschlägige Verfügungen, um den kultischen Umgang mit ihm zu regeln? Für die Klärung der Frage, ob der zum Christentum tendierende Herrscher auf die eigene Göttlichkeit verzichtet hat, bietet sich die Biographie Con­stantins geradezu an, weil nirgendwo heidnische und christliche Anschauungen so unmittelbar aufeinandertreffen wie hier. Strittig bleibt allerdings, ab wann seine christlichen Neigungen deutlich hervortraten. Gewiss war dies nicht im Jahr 312 oder unmittelbar danach der Fall.197 Folgt man den Berichten der christlichen Schriftsteller, wie etwa Eusebios von Caesarea, 247

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so erhält man zwar den Eindruck, die christliche Gesinnung Con­stantins habe stets seine Rolle als Imperator bestimmt, doch das ist kirchliche Rhetorik. Es gibt genug Hinweise, die eine solche Annahme relativieren. So etwa, als Con­stantin auf die Anfrage der Stadt Hispellum um 333, ihm und seiner Familie einen Tempel mit dazugehörigem Kult zu weihen, positiv reagierte, wie der Text einer bekannten Inschrift verkündet: Dass in ihrer (der Stadt) Mitte auch ein Tempel für das Flavische, das heißt unser Geschlecht, wie ihr es wünscht, von großartiger Wirkung errichtet wird, das gestatten wir. Dabei wird zur Auflage gemacht, dass der Tempel, der unserem Namen geweiht ist, nicht durch betrügerische Verbrechen irgendeines Aberglaubens übel befleckt wird.198 Die Tempeldedikation war die Gegenleistung der umbrischen Stadt Hispellum dafür, dass Con­stantin sie im Zug einer Verwaltungsreform zur Provinzhauptstadt erhoben hatte. Dass die im letzten Absatz des Textes angesprochene Vermeidung von Aberglauben (superstitio) mit einem Verbot jeglicher Opferpraktiken gleichzusetzen sei, ist ausgeschlossen. Betrachten wir ferner die zwischen 306 und 323 am Kaiserhof gehaltenen Lobreden, die ein zuverlässiges politisches Barometer für die vorherrschende Sprachregelung bilden, so zeigt sich auch hier keine substanzielle Änderung in der Wahrnehmung des Kaisers durch seine heidnisch gesinnte Umgebung. Für die Heiden blieb Con­stantin eine Gottheit, für die Christen eine verehrungswürdige Persönlichkeit, die sich der besonderen Gnade des christlichen Gottes erfreute. In den ersten zwanzig Jahren seiner Regierung gibt es zahlreiche Stimmen, die ihn in Reden, Inschriften, Münzen, Bauten oder Bildern als Gott feierten.199 Etwa der Wunsch der Provinz Africa nach Einrichtung einer Priesterschaft samt Stiftung eines Kultes für die regierende Dynastie, wie der zeitgenössische Historiker Aurelius Victor vermerkte: Ferner wurde in Afrika für das Flavische Geschlecht ein Priesteramt eingerichtet und der Stadt Cirta, die infolge der Belagerung durch Alexander verwüstet war, nach ihrer Wiederherstellung und Ausschmückung der Name Con­stantina gegeben.200 Ebenfalls von Bedeutung für seine Wahrnehmung als Gottkaiser war die Errichtung einer Kolossalstatue in Rom sowie die auf der Spitze einer Porphyrsäule angebrachte Statue des Stadtgründers von Con­stantinopel, die im Zen­trum der neuen Residenz am Bosporos stand und mit der Con­stantin als Gott gefeiert wurde.201 Jedoch wird ab der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre des 4. Jahrhunderts der diesbezügliche Befund deutlich spärlicher. Die Einweihungsrituale von Con­stantinopel und die allerdings erst nach seinem Tod erfolgte Konsekration waren in diesem Kontext die auffälligsten Stationen der heidnischen Rezeption seiner Herrscherpersönlichkeit.202 Aus diesen Zeugnissen ergibt sich, dass im wohl christlich geprägten letzten Jahrzehnt 248

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von Con­stantins Herrschaft im Verhältnis zu den zahlreichen Bekundungen der Zeit davor weniger tragfähige Belege vorliegen, die seine Göttlichkeit preisen, was kein Zufall sein dürfte. Eine Erklärung kann darin liegen, dass er sich seit 326 primär als Christ empfand und es daher unterließ, vor allem dort, wo er dies selbst bestimmen konnte, die eigene Göttlichkeit hervorzukehren. Auf der anderen Seite ließ er es geschehen, dass sowohl seine eigene als auch die Divinität seiner Vorfahren weiter öffentlich und reichsweit propagiert wurde. Seine Nachfolger taten es ihm gleich. Nehmen wir als ein Beispiel dafür einen bei Sirmium dem christlichen Herrscher Constantius  II. gewidmeten Meilenstein aus den fünfziger Jahren des 4. Jahrhunderts: Der Imperator Caesar Flavius Julius Constantius, der Ehrfürchtige, vom Glück ­Gesegnete, Augustus, Allerhöchster Sieger, immerwährender Triumphator, des göttlichen Con­stantinus, des besten und allerhöchsten Princeps (Sohn), der göttlichen Maximianus und Constantius Enkel, des Gottes Claudius Urenkel, Pontifex Maximus, Oberster Germanen- und Alamannenbesieger, Oberster Adiabenenbesieger, im 32. Jahr der tribunizischen Gewalt, dreißigmal Imperator, siebenmal Consul, Vater des Vaterlandes, Proconsul, ließ, nach Befestigung der Straßen, Wiederherstellung der Brücken und Wiederrichtung des Staates, Steine setzen alle fünf Meilen quer durch Illyricum. Von Atrans am Flusse Savus 246 Meilen.203 Zwar entwickeln sich mit der Zeit bezüglich des Umgangs mit dem Kaiser neue Verhaltensformen, die den Bedürfnissen eines immer stärker zum Christentum tendierenden Herrschers gerecht zu werden trachteten, aber diese lassen niemals vergessen, wo sein früherer Platz war. In dem Maße jedoch, wie die kultische Verehrung der kaiserlichen Person nachlässt, wird den Symbolen der kaiserlichen Macht verstärkt gehuldigt (adoratio purpurae). Einen Eindruck davon vermittelt die Hofhaltung des Constantius II.204 Von besonderem Interesse ist sein Verhalten gegenüber den Heiden anlässlich seines Romaufenthaltes im Jahr 357, das vorher belastet gewesen war und in dem Verbot der Opferhandlungen im Jahre 356 einen Höhepunkt erreicht hatte.205 Unter dem Eindruck der in Rom lebendigen Tradition revidierte der Kaiser seine kurz davor erlassenen antiheidnischen Maßnahmen. Noch eine Generation später lobte ihn der Heide Symmachus wegen seiner toleranten Einstellung gegenüber der traditionellen Religion.206

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9 Paradigmenwechsel: Zur Entgöttlichung christlicher Herrscher

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eil der römische Kaiser als Gott galt, gebührte ihm nach traditioneller Anschauung kultische Anbetung, womit das herrschende politische System stabilisiert wurde. Götterkult und Kaiserkult verschmolzen zum Staatskult. Dem christlichen Kaiser gebührte aus christlicher Sicht ebenfalls Verehrung, weil er die christliche Gemeinde beschützte und den Vollzug des Gottesdienstes ermöglichte. Die von den Herrschern beförderte Einheit der Lehre war angesichts der in dogmatischen Fragen tief gespaltenen Kirche eine Leistung, die Anerkennung hervorrief.207 Auch für den christlichen Kaiser war die ihm zuteil gewordene Huldigung Bestandteil der Etikette und zugleich eine Dankbarkeitsbezeugung für erbrachte Leistungen.208 Allerdings sollte nicht übersehen werden, welchen Reiz die homöische Trinitätsdeutung auf einen christlichen Herrscher ausüben konnte. Hatte nicht Eusebios von Caesarea den göttlichen Logos und den Kaiser in einem Atemzug genannt und Con­stantin und seine Söhne als Abbild von Gottvater, Logos und Geist hervorgehoben?209 Der von Eusebios propagierte Subordinatianismus leistete der Annäherung des Herrschers an die Trinität Vorschub. Wenn Christus nur gottähnlich war, zudem irgendwann geschaffen, dann konnte der Kaiser ihm nacheifern. Constantius  II., der zum homöischen Bekenntnis neigte, war in einer Familie von Göttern aufgewachsen. Großvater und Vater waren konsekriert worden. Ist es undenkbar, dass sich das letzte Glied einer göttlichen Ahnenreihe jener Richtung innerhalb des Christentums anschloss, die ihm unmittelbare Gottesnähe verhieß?210 Zur Konturierung dieses Zusammenhangs hat Peter Brown ein der Situation überaus angemessenes Bild entworfen, wenn er sagt: „Damals schien der Sieg des Monotheismus tatsächlich der Sieg eines Gottes in der Höhe gewesen zu sein, der den Menschen in der Tiefe seine Befehle hatte überbringen lassen durch eine Reihe privilegierter Vertreter seines Willens, von denen Christus der größere gewesen war und, auf einer niedrigeren Ebene, Konstantin der neueste.“211 Wie sehr die Angleichung der Trinität an die kaiser­ liche Familie die Gemüter der Zeitgenossen beschäftigte, unterstreicht eine anekdotische Begebenheit, die sich anlässlich der Einberufung des Konzils 250

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von Con­stantinopel (381) am Hof des Theodosius zutrug. Der Kirchenhistoriker Sozomenos erzählt, wie die im Palast sich zur Audienz versammelten Bischöfe dem Kaiser aufwarteten: Unter ihnen weilte ein alter Bischof aus einer unbedeutenden Stadt, der mit den Gepflogenheiten am Hof nicht vertraut war. Die übrigen Bischöfe begegneten dem Herrscher mit Respekt und Pietät. Ähnlich begrüßte der alte Bischof den Kaiser. Aber der Sohn des Herrschers, der neben ihm saß, wurde vom Bischof nicht mit der gleichen Ehrerbietung behandelt, sondern er sprach zu ihm wie zu einem Kind. Empört über dieses Verhalten ordnete der Kaiser die Vertreibung des alten Bischofs aus dem Palast an. Dieser wendete sich, voll der Trauer, zu ihm und sagte: ‚Beachte mein Kaiser, wie ebenso diejenigen den himmlischen Vater verletzen, die den Sohn anders als ihn ehren und ihn als untergeordnet ansehen.‘ Voller Bewunderung wegen dieser Worte ließ der Kaiser den Bischof erneut vortreten, entschuldigte sich und gestand, dass dieser die Wahrheit gesagt habe.212 Ab den dreißiger Jahren des 4. Jahrhunderts koexistierten mehrere mit­ einander vielfach verwobene, aber dennoch vom Bewusstsein ihrer spezifischen religiösen Eigenart erfüllte Bevölkerungsteile (Heiden, nicaenische, donatistische, homöische Christen, Manichäer). Über alles Trennende hinweg bildeten diese Gruppen eine kulturell, sozial, politisch und wirtschaftlich aufeinander angewiesene Gemeinschaft. Wie ähnlich christliche und heidnische Anschauungen sein konnten, lässt sich an der Biographie des Firmicus Maternus aufzeigen. Trotz seines Konfessionswechsels verzichtete er nicht auf einen Teil seiner bisherigen Grundüberzeugungen, die nach wie vor sein religiöses Denken bestimmten.213 Auch Synesios von Kyrene ließe sich hier einreihen.214 Der Vielschichtigkeit der Verhältnisse vermochten eindimensionale Initiativen nicht gerecht zu werden. Dies hatten die Verfolgungsedikte des Diocletian und Galerius verdeutlicht, die auch deswegen scheiterten, weil sie mit allzu simplen Methoden ein allzu komplexes Problem anzugehen versuchten. Der zum Christentum neigende Con­stantin musste folglich mit der Realität eines religiös geteilten Reiches umgehen. Dabei sah er sich in der Nachfolge der als bürgerfreundlich geltenden Vorgänger. Trajans gelassene Haltung in der Christenfrage wäre in diesem Kontext nur ein Beispiel unter vielen anderen. Es machte wenig Sinn, der heidnischen Bevölkerung die eigenen christlichen Vorstellungen zu verordnen. Auf diesem Feld mussten Con­stantins Nachfolger lernen, behutsam zu agieren auf der Suche nach einem modus vivendi. Dies galt insbesondere gegenüber den unterschiedlichen christlichen Lehrmeinungen, die mittels Kompromissen zur Einheit verpflichtet werden sollten. Gegenüber der heidnischen Bevölkerung versahen sie weiterhin das Amt des Pontifex maximus und 251

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sorgten für die Abhaltung der traditionellen Kulte. Gleichzeitig nahmen sie sich als Person so weit zurück, wie dies ohne Anstoß zu erregen möglich war. Weder Con­stantin noch seine Nachfolger verboten den Kaiserkult. Wir besitzen eine aufschlussreiche, beiläufig überlieferte Notiz aus dem Jahr 360, die zeigt, wie der Kaiser – hier handelte es sich um den damals noch in Gallien regierenden und als Christ geltenden Julian – vom alamannischen Klientelkönig Vadomar im amtlichen Schriftverkehr ganz selbstverständlich als deus angeredet wurde.215 Eine Einschränkung des Kaiserkultes wurde erstmals von Theodosius II. im Jahr 425 angeordnet. Es gab aber Vorboten dazu, etwa die im Jahr 382 von den Kaisern Gratian, Valentinian II. und Theodosius I. an den Befehlshaber der Osrhoene Palladius erlassene Verfügung216, die in den heidnischen Tempeln aufbewahrten Götterbilder (simulacra) nach ihrem künstlerischen Wert, nicht aber ihrer göttlichen Wirkkraft zu bewerten. Diesen Argumentationsfaden nahm Theodosius II. auf und folgerte daraus: Wenn jemals unsere Statuen und Büsten aufgestellt werden, sei es an Festtagen, wie es Brauch ist, oder an gewöhnlichen Tagen, soll der Statthalter ohne die Gunst be­f lissene Erhebung der adoratio (Verehrung, Anbetung) dabei sein, damit der Schmuck für den Tag oder für den Ort und für unsere Erinnerung an ihn beweist, dass die Gegenwart sich genähert hat. Auch die bei den Spielen aufgestellten Götterbilder sollen zeigen, dass unsere Gottheit und die Lobesreden nur in den Herzen und in den geheimen Gedanken der Herbeieilenden weiterleben. Wenn ein Kult die Würde der Menschen überschreitet, wird er für die überirdische Gottheit bewahrt.217 Betrachtet man den Wortlaut des einschlägigen Gesetzes, so wird ersichtlich, dass bis zu diesem Zeitpunkt die religiös aufgeladene Huldigung des Herrschers durchaus üblich gewesen war. Der kryptische Text des Edikts gibt außerdem zu erkennen, dass Statuen, Büsten oder Kaiserporträts bei Fest­ tagen öffentlich aufgestellt und verehrt wurden, woraus sich folgern lässt, dass unbeschadet der Hinwendung der Herrscher zum Christentum der Kaiserkult seine gesellschaftliche Bedeutung beibehielt. Was sich jedoch bereits seit den christlich sozialisierten Nachfolgern Con­stantins abzeichnete, war ein Rückzug von der traditionellen Kultpraxis bei gleichzeitiger Intensivierung der kaiserlichen Präsenz bei den christlichen Feierlichkeiten wie Gottesdiensten, Bischofssynoden oder Kircheneinweihungen, was eine gewisse Sogwirkung erzeugte. Je häufiger die Abwesenheit des Kaisers beim Vollzug der heidnischen Rituale wurde, desto mehr verengte sich der Spielraum für den Herrscherkult. Mit dem Verzicht auf die Bekleidung des Oberpontifikats durch Gratian und Theodosius wird ein Zeichen im Prozess der Distanzie252

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9  Paradigmenwechsel: Zur Entgöttlichung christlicher Herrscher

rung des ersten Mannes im Staate von der traditionellen Religion gesetzt, was einer Fortsetzung des Kaiserkultes auf Dauer den Boden entziehen sollte. Man könnte vermuten, dass mit der Infragestellung der Göttlichkeit des Imperators die Hindernisse für den Vollzug des Kaiserkultes für die Christen entfallen wären. Doch so einfach lagen die Dinge nicht. Abgesehen davon, dass die christlichen Herrscher offenbar nicht daran dachten, einen derartigen Vorstoß zu unternehmen, ist keineswegs sicher, ob dies auch wirklich von ihnen erwartet wurde. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass erst Theodosius II. im Jahre 425 mit überaus nebulösen Formulierungen zur Beendigung des Kaiserkultes aufrief, indem er die eigene Göttlichkeit problematisierte, so muss man fragen, warum in den zurückliegenden hundert Jahren christlichen Kaisertums nichts dergleichen geschehen war. Die Antwort darauf kann nur lauten, dass dazu keine Notwendigkeit bestand. Überblickt man die Zeugnisse, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen, so ergibt sich, dass mit der Regierungsübernahme christlich gesinnter Herrscher keine radikale Änderung der überlieferten Formen des Kaiserkultes einherging. Der Geburtstag, der Regierungsantritt, die Siege, die runden Regierungsabschnitte (decennalia, vicennalia, tricennalia) der Herrscher wurden vom Senat, von den Curien, von den zahllosen Städten des Reiches, von den Garnisonen und von Privatpersonen gemäß eines eingespielten Rituals begangen. Die Verehrung der Kaiserbildnisse, der Vollzug von Opferhandlungen vor den Göttern und der göttlichen Majestät des regierenden Herrschers, die Darbringung von Gelübden für die Wohlfahrt des Reiches und seines Oberhauptes waren Bestandteile einer festgefügten sozialen Praxis. Mochte sich der fernab weilende Herrscher mehr oder weniger prononciert als Christ fühlen, ist es unwahrscheinlich, dass die hundertfachen Zeremonien und Praktiken der Beteiligten darauf Rücksicht nahmen, genauer, überhaupt vor der Notwendigkeit standen, darauf Rücksicht nehmen zu müssen. Dies wäre nur dann der Fall gewesen, wenn der Kaiserhof diesbezügliche Direktiven erlassen hätte. Doch darüber schweigen unsere Quellen, woraus wir folgern können, dass der immer mehr um seine Macht besorgte Imperator seine Untertanen einfach gewähren ließ. Er schritt gegen die kultische Verehrung seiner Person nicht ein, weil sie nicht als unüberbrückbarer Widerspruch empfunden wurde. Er ließ es auch geschehen, dass auf Ehreninschriften seine Göttlichkeit und die seiner Vorfahren verkündet wurden und ebenso ließen die christlichen Nachfolger ihre christlichen Vorgänger nach heidnischem Ritual konsekrieren. Dabei spielte auch eine Rolle, dass es sich um zwei getrennte religiöse Systeme handelte, mit unterschiedlichen Vorstellungen über das Göttliche. Heidnische Götter waren aus christlicher 253

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III  Kult und Erlösung

Sicht Bestandteile eines überwundenen Geschichtsabschnitts, ihre Verehrung hatte mit Pietät oder Traditionsbewusstsein, weniger mit Religion im christlichen Sinne zu tun. Die Huldigung einer Kaiserbüste galt nicht dem Gottkaiser, sondern der Majestät des Herrschers. Christliche Vordenker wie Gregor von Nazianz218 oder Ambrosius von Mailand219 erblickten in der kultischen Verehrung des Kaisers eine historisch gewachsene Praxis. Sie entschärften ihre für Christen explosive Brisanz, indem sie auf die Äußerlichkeiten im Ritual verwiesen, womit sie die Frage nach der göttlichen Natur des Kaisers herunterspielten. Es ist eines der auffälligsten Phänomene des 4. Jahrhunderts, wie am Beispiel Constantius’ II. sichtbar wird, dass der seiner Göttlichkeit entsagende christliche Herrscher zwar die Richtlinien der Glaubensausübung bestimmte, damit aber keinen ungeteilten Konsens innerhalb der Kirche zu stiften vermochte.220 Seine kultische Leitungsfunktion wird zwar formal anerkannt; tatsächlich aber durch das Verhalten jener Bischöfe ausgehöhlt, die im ­Widerspruch zu ihm standen. Unter dem Deckmantel theologischer Streitigkeiten eines sich manifestierenden Dissenses zwischen antagonistischen christlichen Gruppen loderte ein Konflikt um brüchig gewordene Loyalitäten. Wir erleben einen schleichenden Machtkampf um die Beanspruchung der höchsten religiösen Autorität: Stand ein häretischer Kaiser höher als ein Kleriker, der vom Bewusstsein erfüllt war, die richtige Form der Gottesverehrung zu verkünden? Deutlicher als in der Vergangenheit vergrößerte sich ab der Mitte des 4. Jahrhunderts die Kluft zwischen Herrschaftsansprüchen und Kultalltag. Mit dem Verlust der eigenen Göttlichkeit und der Verdrängung des Staatsoberhauptes aus dem Zen­trum der Kultpolitik ging dem Kaiser ein beträchtliches Stück an Gestaltungspotenzial verloren. Schwindende Macht verringerte die Notwendigkeit der Verehrung des höchsten Repräsentanten, bis sie schließlich irrelevant werden sollte.

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IV Herrschen und Dienen

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n diesem Abschnitt, der sich mit den Mechanismen und den Folgen der Ausübung von Macht und Herrschaft auseinandersetzt, kommen antithetische gesellschaftliche Strukturen sowie kontroverse Sichtweisen zu Wort. Dazu gehört die Bedeutung der Sklaverei für die ökonomische und soziale Architektur der antiken Gemeinwesen ebenso wie die auf militärische Machtentfaltung gegründeten Staatswesen des Altertums (Sparta, Makedonien) und die sie tragenden sozialen Schichten. Beide Phänomene zählen zu den langlebigsten, anthropologischen Konstanten der Alten Welt. Die Erkenntnis, wie sehr aristokratisch geprägte Normen das politische Verhalten der antiken Gesellschaften bestimmten, bildet eine Grundvoraussetzung zur Erfassung ihrer inneren Dynamik. Sichtbar wird dies an der Führungsrolle der bei den maßgeblichen Völkern des Altertums dominierenden sozialen Machtgruppen (griechische Aristokraten, karthagische Vornehme, römische Senatoren), die es genauer zu betrachten gilt. Hinsichtlich des Umgangs mit der Macht lässt sich die Untersuchung beispielhaft auf bestimmte Potentaten (Kroisos) und Gemeinwesen (polis tyrannos) ausdehnen, um zu klären, was sie mit der ihnen zur Verfügung stehenden Machtressourcen anstellten, welche Gefahren damit verbunden waren und welchen Verblendungen sie dabei erlagen. Es geht aber auch um den Aufschrei jener selbstbewussten Individuen (Alkaios, Sappho, Theognis, Pindar), die um ihren politischen Stellenwert in der krisengeschüttelten Welt der archaischen Polis ringen und uns damit Einblicke in die politische Semantik dieser relativ unbekannten Epoche vermitteln. Schließlich wird das Augenmerk auf herausragende Träger von Macht und Charisma gelenkt, weil sich in ihnen wesentliche Züge der Epoche, die sie verkörpern, widerspiegeln. In den Biographien des Perikles, Pompeius, Cicero, Fulvia, Paulus, Julian und einiger prominenter Kirchenmänner erkennen wir jeweils unterschiedliche Facetten von Politikverständnis und Machtausübung, die geeignet sind, einen aufschlussreichen Eindruck über die unterschiedlichen Modalitäten sowie die Komplexität des 255

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IV  Herrschen und Dienen

Phänomens Herrschaft zu vermitteln. Komplementär zu den Profilen dieser markanten Persönlichkeiten sollen jene eigenwilligen Machtmenschen (Themistokles, Hannibal, Cato) aufgeführt werden, die sich trotz ihres Scheiterns einen Ehrenplatz in der Erinnerung der Nachwelt gesichert haben.

1 Sklaverei zwischen Regelerscheinung und Massenphänomen Wer erbaute das siebentorige Theben? (Bertolt Brecht)

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as Freiheitsthema, das nach unserem heutigen Selbstverständnis und unseren Wertvorstellungen als eine der grundlegenden politischen Kategorien gilt, war den antiken Griechen, die sich ansonsten zu allen gesellschaftlich relevanten Fragen ausführlich äußerten, keine eigenständige Betrachtung wert. Der Grund dafür, so überraschend er auf den ersten Blick erscheinen mag, ist nicht ganz uneinsichtig: All diejenigen, auf die es ankam, das heißt die prominenten Akteure der Gesellschaft, waren frei. Ihr Freisein erschien ihnen als so naturgegeben und selbstverständlich, dass darüber kaum geredet oder gar reflektiert wurde. Daher findet sich keine Problematisierung dieses Phänomens in ihren Schriften, obwohl gerade dieser Thematik eine beträchtliche soziale und ökonomische Relevanz zukam. Aber ihre Sogwirkung betraf kaum die Führungsschichten, die für die Konturierung der politischen Verhältnisse und die Festlegung der herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen verantwortlich zeichneten. Aus diesen Gründen erhielt die Freiheitsthematik eine randständige Beachtung, die objektiv gesehen allerdings im krassen Widerspruch zu ihrer Wirkmächtigkeit gegenüber den vorherrschenden sozialen Verhältnissen stand. Die Ungleichheit der Menschen, selbst ihre völlige Recht­losigkeit, empfanden die Griechen ebenso wenig wie alle Völker des Altertums als prin­ zipiel­les Problem ihrer Konvivenz. Im Gegenteil, eine im Einzelfall verschiedene, strukturelle oder gar abgestufte Ungleichheit erschien ihnen als natürlicher Zu­stand, als selbstverständliche Vor­aussetzung jedes zivilisierten Zusammenlebens. Bereits der homeri­sche oikos mit seiner patriarchalischen 256

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Struktur umfasste ein breites Spektrum unterschiedlicher Abhängig­keits­ verhältnisse (Fa­milienoberhaupt zu Ehefrau, zu Söhnen und Töchtern, zu Gesinde, Hörigen bis hin zu Sklaven), die in der nachträglichen aristotelischen Reflexion als fundamentale soziale Ausdrucks­formen der Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten gedeutet wurden.1 In diesem Kontext war die Sklaverei eine seit Urzeiten vertraute, weit verbreitete Institution, die zum ökonomischen Inventar der Gesellschaft gehörte.2 Als ­widernatürlich oder unmenschlich wurde sie ebenso wenig wie die Ver­ sklavung von Kriegsgefangenen oder der Menschenraub zu irgendeinem späteren Zeitpunkt empfunden. Allenfalls die Frage ihrer Naturgegebenheit (so Aristoteles, der auch eine Skla­venna­tur diagnostizierte) galt zuweilen als fragwürdig. Angesichts der Ablehnung der Handarbeit in dem von aristokratischen Wertmaßstäben geprägten gesellschaftlichen Ambiente der archaischen und klassischen griechischen Welt wurde die Sklaven­arbeit sogar als notwendige Vorbedingung des wirtschaftlichen Le­bens erachtet. Es gibt allerdings kaum ein vergleichbares antikes Phänomen, das eine derartige Bandbreite von widerstrebenden Bedeutungen aufweist wie die Sklaverei. Sie betreffen die soziale Werteskala der Betroffenen, ihren öko­ nomischen Status, ihren Einsatz im Arbeitsleben, ihre Mobilität, den Grad ihrer Ausbeutung oder die Zeitspanne ihres Sklavendaseins: Unterschiedlicher konnten sich ihre jeweiligen Lebensbedingungen kaum gestalten. Juristisch gesehen gab es an der Sachlage wenig zu rütteln: Der Sklave war Eigentum seines Herrn. Legen wir jedoch zu dessen näherer Bestimmung soziale und wirtschaftliche Kriterien zugrunde, dann gibt es beträchtliche Differenzierungsmerkmale, die auf die Komplexität der Institution verweisen. Die in den Bergwerken unter schrecklichen Bedingungen arbeitenden oder in den Latifundien ausgebeuteten Sklaven lassen sich kaum mit den Vertrauensmännern reicher Bürger vergleichen, die als Pädagogen ihre Kinder erzogen oder ihre Geldgeschäfte besorgten. Obwohl letztere ebenfalls Sklaven waren, vermochten sie einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf ihre Umgebung zu erlangen. Während diese Auserwählten Ersparnisse anhäufen konnten, um sich durch Freikauf und Freilassung auf ein Leben nach der Sklaverei vorzubereiten, konnte das Los zahlreicher Sklaven kaum erbärmlicher sein. Geplagt von Überforderung, Willkür, Verzweiflung, Grausamkeit3 und besonders bei jungen Mädchen und Knaben sexueller Nötigung4, führten sie ein menschenunwürdiges Dasein, das von Ausbeutung und vom Drang nach Überleben bestimmt war. Das Bewusstsein vom grundlegenden Gegen­satz zwi­schen Sklaven und Freien war deutlich ausgeprägt. Die Rechtsform eines Sklaven – als uneinge257

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schränktes Eigentum seines Herrn und wertvoller Bestandteil dessen Vermögens – gestaltete sich in der Realität allerdings durchaus unter­schied­lich. Die jeweiligen Lebensumstände mochten je nach Tätigkeit und persönlicher ­Stellung im oikos im Einzelfall leichter gewe­sen sein als diejenigen eines freien Mannes, der unter schwierigen Existenzbedingungen lebte, etwa als von Missernten bedroh­ter, an der Subsistenzgrenze wirtschaftender Klein­ bauer oder als unter ausbeuterischen Bedingungen vegetie­render Tage­löhner. Zahlenmäßig gewann die Sklaverei aber erst in der Polisge­sellschaft der klassischen Zeit erheblich an Gewicht. Der Einsatz von ­griechischen und auswärtigen Sklaven, die meist als Kriegsgefangene rekrutiert oder über Sklavenmärkte erworben wurden, in Landwirtschaft, Hand­werk, Manufakturen oder Bergbau (übrigens oft an der Seite von Freien), war für das Wirtschaftsleben hoch­entwickelter, exportorientierter Poleis, wie Athen, Korinth oder Milet, von außerordentlicher Bedeutung.5 Gerade in diesen Staaten waren auch in archaischer Zeit bedrückende Abhängigkeiten wie Schuldknechtschaft oder kollektive Hörigkeit durch soziale Reformen abgeschwächt und somit ein erheblicher Ersatzbedarf an fremden Arbeitskräften geschaffen worden. In diesem Zusammenhang bildeten die solonischen Initiativen gegen die Schuldknechtschaft einen wichtigen Meilenstein für die Beseitigung der Leibeigenschaft innerhalb eines Bürgerverbandes, wobei zu beachten ist, dass sie keineswegs aus humanitären Rücksichten, sondern primär aus politischen Erwägungen heraus eingeleitet worden waren. Mancherorts wurde dieser Entwicklung, zum Beispiel im Zuge der Kolonisation, durch eine Neuverteilung des Bodens entgegen­gewirkt. Die Zahl der Sklaven mag in manchen Städten und Regionen, wie vielleicht in Attika, die der Freien er­reicht oder sogar übertroffen haben. Auf dem flachen Lande blieb ihre Zahl dagegen eher gering. Keine große Rolle spielte die Freilassung von Sklaven im Ge­sellschaftsleben der griechischen Städte; diese erhielten zudem mit der Freiheit nicht zugleich (wie in Rom) das Bürgerrecht des entsprechenden Gemeinwesens. Mit der Zeit zog die Versorgung der Sklavennachfrage eine komplexe ­finanzielle und logistische Infrastruktur nach sich, die eine eigene Organisation erforderte. In diesem Kontext etablierte sich der Sklavenhandel, besonders im römischen Machtbereich, als ein unverzichtbarer Zweig der antiken Wirtschaft.6 Beschaffung, Transport, Verkauf und Verteilung von Sklaven wurden überregional betrieben und den Erfordernissen von Angebot und Nachfrage angepasst. Die Auktionsmärkte für Sklaven entwickelten sich zu umsatzstarken Umschlagbörsen mit einer erstaunlichen ökonomischen Dynamik. 258

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Insgesamt betrachtet blieb die Unterscheidung von Freiheit und Sklaverei im grie­chischen Raum – anders als später in Rom – in mancher Hinsicht unscharf.7 Neben verschiedenen Formen von Abhängigkeit gab es insbesondere in archai­scher Zeit in einigen Poleis, wie Sparta oder Syrakus, und in bestimmten Stammesgesellschaften, wie in Thessalien oder auf Kreta, die nach ihrer Genese und ihren sozialen Implikationen nicht mit der Sklaverei zu verwechselnde Unterwerfung der einheimischen Bevölke­rung unter den eingewanderten Eroberer. Nach der Landnahme im griechischen Mutterland oder im Zuge der Kolonisation wurde die in den erworbenen Gebieten lebende Vorbevölkerung, in Sparta waren es die messenischen Heloten, kollek­tiv in ein Abhängigkeitsverhältnis gepresst und zur Bearbeitung der Agrarflächen für die neuen Herren gezwungen. Gerade im Zeitalter der Kolonisa­tion scheint ein solches Vorgehen gegen die nichtgriechische einheimische Bevölkerung häufig gewesen zu sein. Diese blieb an den Boden gebunden, war aber nicht wie die Sklaven in die Verfügungsgewalt einzelner Herren übergegangen. So waren die Heloten kein persönliches Eigentum einzelner Spartaner, sondern blieben als Kollektiv dem Staat als Ganzes zugeordnet. Im Unterschied zu den meisten griechischen Staaten wurde das römische Wirtschaftsleben – als Folge der unaufhörlichen Eroberungen in der Phase der Weltreichsbildung in repu­blikanischer Zeit – vor allem durch den enormen Zufluss von Kriegsgefangenen in Gang gehalten, die als billige Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, in den Bergwerken, in den Steinbrüchen, im Gewerbe und in den städtischen Haushalten zur Verfügung standen. Es wurde geschätzt8, dass bereits im 3. vorchristlichen Jahrhundert etwa 600 000 Sklaven auf italischem Boden vorhanden waren, eine Zahl, die gegen Ende des 1. vorchristlichen Jahrhunderts sich etwa verfünffachen sollte (bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 7 Millionen Einwohnern). Eine derartige präzedenzlose Steigerung der Zahl der Unfreien führte zu systematischen Formen der Ausbeutung und Umstrukturierung der wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft und im Handwerk, wie sie in Griechenland hinsichtlich ihres Ausmaßes und ihrer ­Intensität unbekannt gewesen waren. Als instrumentum vocale waren die römischen Sklaven ohne jegliche persönlichen Rechte uneingeschränktes Eigentum ihrer Herren, die sie ausbeuten, verkaufen oder sogar töten konnten. Das schlimmste Los hatten wohl die Sklaven in den Bergwerken. Über ihren Alltag schrieb Diodor: Die Sklaven, die im Bergbau beschäftigt sind, bringen ihren Besitzern unglaubliche Einkünfte. Sie selbst aber müssen unterirdisch graben, bei Tage wie bei Nacht, gehen körperlich zugrunde und viele sterben infolge der übermäßigen Anstrengung  – denn Pausen in der Arbeit 259

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gibt es nicht; Aufseher zwingen sie mit Schlägen, die furchtbaren Leiden zu ertragen, bis sie elend ihr Leben aushauchen.9 Die Ausweitung der Sklavenwirtschaft, besonders nach dem Ende des 2. Römisch-karthagischen Krieges und die oft erschreckenden Lebensbedingungen der Sklaven auf den riesigen Landbesitzungen der Oberschicht in Süditalien und Sizilien, führten allerdings bald zu aufsehenerregenden Revolten (136–132 und 104–101 v. Chr. auf Sizilien; 74–71 v. Chr. unter Spartacus ausgehend von Süditalien, um schließlich auf die ganze Halbinsel überzugreifen), die von den römischen Heeren erst nach schweren Niederlagen und mit äußerster Brutalität niedergeworfen werden konnten.10 Allerdings führte der gewaltsame Protest nicht zur Entstehung einer Bewegung, welche die Sklaverei in Frage stellte. Die Aufständischen wollten lediglich die für sie drückenden Fesseln abschütteln, aber keine Systemänderung herbeiführen. Am harten Los der Sklaven vermochten die Aufstände grundsätzlich nichts zu ändern. Im Gegenteil, in manchen Gegenden wurde die Bedrückung größer als je zuvor. Mit dem Ende der römischen Expansion in augusteischer Zeit versiegte allmählich der Nachschub an preiswerten Sklaven; der Nachwuchs in Gestalt von vernae (hausgeborene Sklavenkinder)11 und aus sonstigen Quellen (Import aus nichtrömischen Gebieten, Kindesaussetzung, Schuldknechtschaft) vermochten diese Lücken jedoch nur unzureichend auszugleichen. Gelegentlich behalf man sich mit punktuellen Expeditionen gegen Grenznachbarn, um eine zusätzliche Quelle für den Sklavennachschub zu erschließen. Caesars gallischer Krieg, die Unterdrückung der jüdischen Revolte durch Titus, die dacische Expedition Trajans, die Markomannenkriege Marc Aurels oder andere, teils in den Quellen nicht erwähnte, kleinere Expeditionen an den Rändern des römischen Herrschaftsbereiches wären in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Etwas anderes gilt es noch zu bemerken: Abgesehen von der Bedeutung der Sklavenarbeit für die Aufrechterhaltung der Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Transportwesen und im Gewerbe darf nicht übersehen werden, dass Sklavenbesitz als Investitionskapital einen beträchtlichen Vermögenswert darstellte, wie die Texte der römischen Juristen immer wieder betonen. Der finanzielle Wert der Sklaven war ein wesentlicher Posten in der Gesamtbilanz des römischen Wirtschaftsgefüges. Angesichts des selbst durch die gelegentlichen Beutezüge nicht aufzuhaltenden Rückgangs an Sklaven gewannen freie Arbeitskräfte etwa auf den Großgütern (latifundia) der senatorischen und municipalen Oberschichten an Bedeutung. Die römischen Agrarschriftsteller (Cato, Varro, Columella) geben 260

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einen Einblick in die Bewirtschaftungsformen senatorischer Sklavenbesitzer auf ihren Latifundien und vor allem auch in die zugrunde liegende Wirtschaftsmentalität dieser Kreise, über die auch Cicero bereits berichtet hatte.12 Allgemein wurden Handel und Handwerk als sozial disqualifizierende Erwerbsweisen von der römischen Elite abgelehnt; nur die Landwirtschaft galt als standesgemäß beziehungsweise einem freien Mann angemessen. Senatorische Vermögen bestanden so überwiegend aus (meist breit gestreutem) Landbesitz, der allerdings, anders als es das altrömische Tugendideal (mos maiorum) vorzeichnete, nicht eigenhändig, sondern in der Regel unter der Anleitung von Verwaltern (vilici, meist selbst Sklaven) von Sklaven bewirtschaftet beziehungsweise  – nach dem Abflauen der Sklavenmenge  – direkt oder unter conductores als Großpächter auch an Kleinpächter (coloni) vergeben wurde. Die vorherrschende Abneigung, über gezielten Kapitaleinsatz entsprechend höhere Erträge aus dem Landbesitz zu erzielen, stattdessen vielmehr unter Vermeidung von finanziellen Risiken sich eher mit bescheidenen, aber sicher kalkulierbaren Renditen zu begnügen, ist bezeichnend für das ökonomische Selbstverständnis der römischen Elite, die eher zu einem Rentier-Dasein als zu (unstandesgemäßem) aktivem Wirtschaftsverhalten neigte. Kostensparende Autarkie der Landgüter hatte so Vorrang vor der Ausbildung einer gewinnträchtigeren, stärker arbeitsteiligen Wirtschaftsweise. Nachdem in der späten römischen Repu­blik die Ritter (equites) den Lebensstil und die Wertvorstellungen der senatorischen Oberschicht weitgehend übernommen und auch Zugang zum ordo senatorius erhalten hatten, trat in der Kaiserzeit eine neue gesellschaftliche Gruppe als Motor des Wirtschaftslebens hervor. Vor allem in den Städten, besonders in Rom, sieht man nun ehemalige Sklaven als Freigelassene (liberti) überall in Gewerbe und Handel tätig werden. Im urbanen Raum erhielten Sklaven von ihren Herren als Ansporn für höhere Produktivität oft größere wirtschaftliche Spielräume und Aussicht auf spätere Freilassung (manumissio), durften mit einem peculium (Kapital) teils auf eigene Rechnung oder gegen Beteiligung ihres Eigentümers (dominus) wirtschaften und sich schließlich mit ihren Ersparnissen freikaufen – ohne allerdings deshalb in der Folge frei von finanziellen oder anderen Verpflichtungen gegenüber ihrem patronus und dessen Nachkommen zu sein. Gerade in Handwerk und Gewerbe, aber auch im Klein- und sogar Großhandel (hier als Agenten ihrer Patrone) arbeiteten liberti und vermochten teilweise beachtliche Reichtümer zusammenzutragen und etwa auch ihrerseits Sklaven, Land und weitere Güter zu erwerben. Manche von ihnen nahmen eine Vertrauensstellung am Kaiserhof ein, versahen wichtige Funktionen in der Verwaltung und vermochten so einen beträchtlichen 261

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­ olitischen Einfluss zu gewinnen.13 Die Macht des kaiserlichen Frei­gelassenen p Pallas wurde legendär.14 Persönlich aufgrund ihrer unfreien Herkunft von allen Ehrenstellungen (honores) des öffentlichen Lebens wie Ä ­ mtern und Priesterschaften ausgeschlossen und nur im Rahmen des Kaiserkultes zu priesterlichen Funktionen zugelassen (als augustales), konnten sie doch ihren Söhnen und Enkeln die Voraussetzung für einen sozialen Aufstieg bis in die Spitze der römischen Gesellschaft verschaffen. Die römische Gesellschaft der Kaiserzeit erlebte auf diese Weise ein beachtliches Maß an vormals ungekannter sozialer Flexibilität.15 Während der römischen Kaiserzeit melden sich vereinzelte Stimmen zu Wort, die das Los der Sklaven zu bessern versuchen. So etwa Kaiser Claudius, der laut Sueton Folgendes verfügte: Als einige Leute ihre kranken und geschwächten Sklaven auf der Aesculapinsel aussetzten, um eine medizinische Behandlung zu umgehen, bestimmte der Kaiser, alle Ausgesetzten sollten frei sein und nicht in die Gewalt ihrer Herren zurückkehren, wenn sie genesen wären. Zöge aber jemand der Aussetzung die Tötung eines Sklaven vor, so sollte er wegen Mordes belangt werden.16 Vorausgegangen waren handfeste Skandale, welche die Öffentlichkeit wachrüttelten und auf unerträgliche Zustände des Sklavendaseins aufmerksam machten. Am spektakulärsten war die Affäre um die Ermordung des römischen Stadtpräfekten Pedanius Secundus im Jahr 61 durch einen seiner Sklaven, was mit der Hinrichtung aller Sklaven seines Haushaltes, 400 an der Zahl, endete und einen gewaltigen Aufruhr innerhalb der römischen Stadtbevölkerung, die zum großen Teil aus Sklaven und Freigelassenen bestand, verursachte.17 Schließlich brachte die Durchsetzung des Christentums in Staat und Gesellschaft keine substanzielle Änderung der Lage der Sklaven. Bereits Paulus hatte über den Status des Sklaven ausgeführt: Jeder bleibe in dem Stand, in dem er berufen worden ist. Bist du als Sklave berufen, mache Dir keine Sorge.18 Der im 4. Jahrhundert wirkende Bischof Basileus von Caesara führte gar die Trennung zwischen Freien und Sklaven auf die unerforschliche göttliche Vorsehung zurück.19 Zwar wurden einige Auswüchse angeprangert, aber an der Existenz der Institution rüttelten die christlichen Eliten nicht. Ein besseres Leben im Jenseits sollte den christlichen Sklaven als Trost genügen, um von den unerträglichen Zuständen der Gegenwart abzulenken.

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us übergreifender Perspektive betrachtet, erfährt das Sklavendasein als bedrückendes Beispiel für die Fremdbestimmung und Stummheit der Betroffenen eine Konterkarierung in den Biographien einiger Charakterköpfe, die ihre Stimme zum Werkzeug ihres Drangs nach Geltung und Selbstbestimmung erhoben. Nach Hesiods Anklagen gegen die Auswüchse adliger Herrschaft vernehmen wir ähnlich engagierte Töne des selbstbewussten Individuums aus dem Munde des Archilochos von Paros (7. Jahrhundert v. Chr.), Sohn eines Adligen und einer Sklavin. Ein unstetes Leben voller Abenteuer, oft als Soldat im Dienste unterschiedlicher Auftraggeber, kennzeichnet die Grundzüge einer aufregenden Biographie, die kein Einzelfall gewesen sein dürfte. In einem Gedicht äußerte er sich voller Enthusiasmus über die Segnungen des Kriegsruhms mit Sätzen wie: Mit der Lanze nahmst Du diese Stadt und erwarbst damit großen Ruhm. Sei Herr über sie und halte die Herrschaft fest in Deinen Händen. Für viele Menschen wirst Du beneidenswert sein.20 Solche Denkvorstellungen sind voll des Geistes, den die homerischen ­Gesänge verströmen. Sie erinnern etwa an die im ersten Gesang der Ilias geschilderten Expeditionen, als Achilleus seiner Mutter Thetis ganz stolz über seine militärischen Aktionen berichtete: Thebe (in Kilikien) belagerten wir, Eetions heilige Feste, und verwüsteten sie und führten alles von dannen. Redlich teilten den Raub die tapferen Söhne Achaias.21 Die Eroberung einer Stadt brachte Ansehen und Beute. Beides galt gleichermaßen als ruhmvoll und erstrebenswert. Eine Herrschaft zu erwerben, Besitz anzuhäufen, Macht über möglichst viele Menschen auszuüben war alles andere als anstößig, denn es erhöhte die Selbstachtung und die soziale Geltung der Betroffenen. Wem dies gelang, musste sich nicht dafür schämen. Im Gegenteil: Er galt als Liebling der Götter. Eine solche Einschätzung von Ehre, die aus der erworbenen Macht resultierte, stand im Einklang mit der Kriegerethik der homerischen Adelsgesellschaft. Time (gesellschaftliche Wertschätzung) und olbos (Wohlstand, Reichtum) waren ihre Grundwerte. Sie bestimmten den Grad an Vornehmheit eines Menschen und damit 263

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s­ einen öffentlichen Stellenwert in einer auf Wettbewerb äußerst bedachten aristokratischen Gesellschaftsordnung. Doch Archilochos hatte noch andere Themen im Repertoire seiner Dichtung anzubieten, die ihn voller Distanz und innerer Einsicht gegenüber dem Blendwerk der adligen Gefühlswelt verorten. Seine räsonierende Gemütslage brach sich mit einem Hauch Wehmut und Resignation mit Aussagen wie die folgende Bahn: Was kümmert mich des reichen Gyges vieles Gold? Nie ergreift mich Neid und selten bestaune ich was Götter tun, noch möchte ich jemals Herrscher sein. Schon lange liegt dies meinen Augen fern.22 Noch eindringlicher wird die Stimme des Ich vernehmbar, wenn wir uns Sappho von Mytilene (7./ 6. Jahrhundert v. Chr.) zuwenden. Sie war, anders als bei Archilochos, der seine innere Stimmungslage geradezu eruptiv nach außen kehrte, ganz nach innen gerichtet, gespickt mit leiseren, nachdenklicheren Tönen. Darin erreichte sie einen Höchstgrad an Ausdruckskraft und Intensität. Die Lieder und Gedichte dieser ersten erfassbaren Frau unter den griechischen Intellektuellen galten jungen Mädchen, der Schönheit und Vielfalt der Natur sowie dem Verlangen nach einem erfüllten Leben. Wer von ihren männlichen Zunftgenossen wäre abgeklärt genug gewesen, um derartige freimütige Bekenntnisse abzugeben: Die einen mögen ein Reiterheer, die anderen ein Infanterieheer, wieder andere eine Flotte das Schönste nennen, was es auf der dunklen Erde gibt, ich aber das, was man liebt.23 In einem anderen Gedicht verkündete sie stolz und voller innerer Überzeugung: Ich habe eine Tochter, sie hat eine Gestalt wie goldene Blumen, meine geliebte Kleis. Für sie würde ich ganz Lydien nicht eintauschen.24 Wenn auch die vorhandenen Textfragmente keine erkennbaren Aussagen enthalten, die eine Beteiligung Sapphos an den politischen Streitigkeiten Mytilenes nahelegen, wurde die Dichterin ein Opfer der gesellschaftlichen Turbulenzen ihrer Heimatstadt, die uns aus den Gedichten ihres Landsmanns Alkaios bekannt sind. Sappho musste aus uns unbekannten Gründen die Insel Lesbos verlassen und sich ins Exil nach Sizilien begeben. Danach verliert sich ihre Spur. Die Unbefangenheit, die sich in den Aussagen des Archilochos kundtut, wenn er Themen aus der Sphäre des adligen Wettbewerbes und des Krieges besingt, wird vom Aufschrei jener Dichter konterkariert, die aus nächster Nähe und als unmittelbar Betroffene über erbitterte politische Auseinandersetzungen berichten. Bei Alkaios von Mytilene (Ende 7. bis Mitte des 6. Jahrhunderts) treffen wir auf einen vornehmen Mann, der sich selbst zum alten Adel zählte und am politischen Geschehen seiner Heimatstadt maßgeblich beteiligt war. Seine durch Herkunft und Parteinahme geprägten Ansichten, 264

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lassen kaum Objektivität erwarten, wenn er sich zur politischen Lage von Mytilene ausließ. Ähnlich tendenziös äußerte er sich über seine Gegner und Mitbewerber. Der politische Alltag auf Lesbos war von einem endlosen Machtkampf von Adelsfaktionen überschattet, die sich um die Erlangung der Regierungsgewalt gnadenlos befehdeten. Verschwörungen und Umstürze lösten einander ab. So entmachteten Megakles und seine Gefährten die bisher regierenden Penthiliden. Melanchros wiederum wurde durch Pittakos und die Brüder des Alkaios aus Mytilene vertrieben. Dann aber wechselte Pittakos in das Lager des Myrsilos über und trieb Alkaios in die Verbannung. Dessen Versuch, Pittakos zu stürzen, der mittlerweile als Schlichter die labilen politischen Verhältnisse auf Lesbos halbwegs stabilisieren konnte, schlug jedoch fehl. Seine Enttäuschung darüber brach sich in einer Reihe von Gedichten Bahn, in denen er mit seinen Kontrahenten erbarmungslos abrechnete. Den Tod des Myrsilos besang er mit emotionsgeladenen Versen, welche die Grenzen der Mäßigung weit sprengten: Jetzt heißt es zechen und angestrengt tummeln sich im wilden Tanze. Verreckt ist Myrsilos! Über den durchaus angesehenen Pittakos äußerte sich Alkaios nicht minder boshaft und negativ: Siehe, sie (die Mytilener) bestellten den niedrig geborenen Pittakos zum Tyrannen über die feige und gottverfluchte Stadt, einhellig mit lautem Jubel. Myrsilos und Pittakos werden als Tyrannen bezeichnet. Hier begegnet uns die Vokabel, die bereits Solon, ein Zeitgenosse des Alkaios, verwendete, um eine ungerechte Herrschaft zu benennen, welche die Polis als Ganzes bedrohen konnte. Offenbar wurde Pittakos’ Berufung an die Spitze der Regierung vom demos getragen. Vielleicht war es gerade diese Öffnung der Politik, nämlich die Aktivierung des größten Teils der Bürgerschaft Mytilenes, was Alkaios und seine Parteigänger vehement missbilligten, wohl deswegen, weil sie selbst von der Leitung der Staatsgeschäfte ausgeschlossen wurden. Wenn Alkaios den Pittakos einen Niedriggeborenen nennt, so bringt er damit ein vom altadeligen Standpunkt geprägtes, abschätziges politisches Werturteil zum Ausdruck. In der Invektive gegen den politischen Gegner erreichen Alkaios’ Gedichte die gewünschte polemische Wirkung. Die Verunglimpfung des Pittakos stand im Mittelpunkt seiner leidenschaftlichen Anklagen. Sie enthüllen uns den politischen Standort des Alkaios und seiner Kampfgefährten. Alles, was Raum für Angriffsflächen bot, wurde kritisch vermerkt und beurteilt, selbst die Hochzeit des Pittakos. Es musste seine altadeligen Gegner betrüben, dass ausgerechnet Pittakos eine Angehörige aus dem vornehmen Penthilidengeschlecht heiratete. Möglicherweise verlieh gerade diese gesell265

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schaftliche Nobilitierung der volksfreundlichen Politik des Pittakos eine zusätzliche Legitimität. Zwischen Ironie und Bitterkeit pendelt Alkaios’ Stimmung, wenn er nun von der Verbindung des Pittakos mit einer Dame aus dem Penthilidenclan eine Brücke zum Atridenhaus schlug. Gerade diese Passage belegt die Aktualität traditioneller Wertvorstellungen, woraus sich erkennen lässt, wie sehr im 6. Jahrhundert v. Chr. die homerische Adelsideologie hoch in Kurs stand und als polemisches Argument ins Feld geführt werden konnte. Alkaios, der als Sprecher seiner Gefährten auftrat, blieb dem Kodex der Adelsgesellschaft verpflichtet. Seine Gedichte, die auf Symposien vorgetragen wurden, an denen naturgemäß seine Gesinnungsgenossen teilnahmen, dienten der Stärkung des Korpsgeistes. Eine die Polis als ganzes einbeziehende politische Aussage fehlt ebenso wie die Darbietung einer ­alternativen politischen Programmatik für die Zukunft Mytilenes. Theognis von Megara (Mitte des 6.  Jahrhunderts v.  Chr.), der bei den Machtkämpfen, die zu seiner Zeit seine Heimat erschütterten, sich auf die Seite der aristokratisch gesinnten Minderheit schlug, sah in der Verwischung der überlieferten Standesunterschiede eine beklagenswerte Zerfallserscheinung. Er spitzte den bereits von Alkaios thematisierten Konflikt zwischen adliger Herkunft und Reichtum markant zu. Theognis sah in der Aufwertung des Reichtums einerseits einen Bruch der Identität von Adel und vornehmer Geburt, andererseits eine Bedrohung der bewährten Ordnung der menschlichen Gesellschaft: Nicht ohne Grund, o Ploutos (Wohlstand), verehren dich die Menschen am meisten, leicht nämlich trägst du doch all ihre Schlechtigkeit. Dabei schiene es recht, wenn Reichtum die Guten nur hätten, und Armut des schlechten Manns ständiger Begleiter wär.25 Theognis’ Eintreten für eine stramm aristokratische Richtung ist aus der Abwehrhaltung heraus zu verstehen, die zahlreiche Mitglieder der Oberschichten in den Poleis des 6. Jahrhunderts v. Chr. einnahmen. Seine Vorstellung vom ethisch und politisch vollkommenen Individuum verdichtet sich im Begriff des agathos. Eine solche Idealgestalt sollte von altadeligem Geschlecht abstammen, Reichtum besitzen und sich durch Bildung und ein vorteilhaftes äußeres Erscheinungsbild auszeichnen. Nur wer solche Voraussetzungen erfüllte, könne gerecht sein, sich durch Tapferkeit auszeichnen und dabei stets das rechte Maß vor Augen haben. Es ist, wie auch bei Alkaios zu beobachten, die Rückbesinnung auf das alte homerische Standesideal, das Theognis den veränderten sozialen und politischen Verhältnissen der Gegenwart wie einen Spiegel entgegenhielt. Für die Schwächung der traditionellen Vorherrschaft des alten Adels wird vielfach die tyrannis verantwortlich gemacht. Daher beschwor Theognis seine Mitbürger eindringlich, sich 266

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unter keinen Umständen damit abzufinden (823). Ferner verkündete er, dass die Beseitigung eines „demos-verschlingenden Tyrannen“ eine ehrenhafte Tat sei, die keine Rache der Götter nach sich ziehe (1181 f.). Und schließlich warnte er davor: Alleinherrscher soll die Stadt nie aufnehmen (52). Ansätze zu einer politischen Alternative zur Tyrannis ließ Theognis in einer an Simonides gewidmeten Elegie durchblicken. Die Verse 667 bis 682 sind hierbei von besonderer Bedeutung. Nach der überzeugenden Deutung von Cerri ist die darin vorkommende Bezeichnung isos dasmos als Äquivalent von isonomia zu verstehen.26 Folgt man dieser Gleichsetzung, so bieten diese Sätze den frühesten Beleg (Mitte des 6. Jahrhunderts) für die Evozierung der Rechtsgleichheit, womit gleichzeitig ein Hinweis für die aristokratische Filiation dieser Denkvorstellung vorliegen würde. Gängiger als Cerris von der Forschung nur wenig rezipierter Ansatz ist die These, dass die erste Nennung des Begriffes Isonomie eine Generation später greifbar sei, nämlich im Skolion auf die athenischen Tyrannenmörder.27 In der Vereinnahmung der lsonomie durch Theognis lag eine gesellschaftliche und politische Aussage begründet. Indem sie als Kampfaufruf gegen die Tyrannis gebraucht wurde, diente sie als politische Waffe. Beabsichtigt wurde damit mittels Betonung des Vorrangs des Adels diejenigen zu mobilisieren, denen nach Theognis’ Meinung die Leitung der Staatsgeschäfte kraft ihrer Abstammung und Bildung oblag. Dieser Appell entsprang nicht demokratischem Empfinden, das man Theognis schwerlich zutrauen kann, sondern erwuchs vielmehr aus dem Nährboden seiner aristokratischen Wertvorstellungen. Es waren die von der Tyrannis an den Rand des politischen Spektrums zurückgestuften Adligen, die durch die Forderung nach Rechtsgleichheit eine Wiederherstellung ihres beeinträchtigten Status verlangten. Insofern beinhaltete die Vorstellung von Isonomie ursprünglich keine bestimmte Programmatik. Vielmehr artikulierte sie den Wunsch derjenigen, die, vom Zen­trum der Macht verdrängt, nun ihre Beteiligung an der Regierung des Gemeinwesens verlangten. Wenn Pindar (ca. 520–445 v. Chr.) ans Ende der Reihe frühgriechischer Lyriker gestellt wird, so nicht nur deshalb, weil er chronologisch hierher gehört, sondern vor allem, weil gerade an ihm eine gewandelte Sicht vom Wesen der Adelsethik sich beobachten lässt. An den Fürstenhöfen der sizilischen Tyrannen ebenso heimisch wie in den Adelskreisen des griechischen Mutterlandes, vermittelte Pindar eine unaufgeregte Sichtweise des Herrschaftsdiskurses. Anders als für Theognis oder Alkaios waren für Pindar die Bemühungen der Vornehmen, sich eine Vorzugsstellung in der Polis zu ­verschaffen, kein Thema seiner Gedichte. Er entwarf vielmehr ein ethisch 267

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begründetes Idealbild der Aristokratie. In den bisherigen Beispielen stand die Polisperspektive im Vordergrund einer mit gesellschaftskritischen Anspielungen voll gespickten Dichtung. Daraus erklärt sich auch die Verurteilung der Tyrannis, weil sie die Ansprüche der Adelsgruppen auf die Leitung der Staatsgeschäfte in der jeweiligen Heimatstadt einschränkte. Bei Pindar finden wir diese spezielle Polisbezogenheit nicht, und daraus resultiert auch sein Desinteresse an den unaufhörlichen sozialen und politischen Kämpfen, welche die Poliswelt der archaischen Ära heimsuchten. Seine Verse richteten sich wie die homerischen Gesänge an ein gesamthellenisches Publikum. Aus diesem Grunde kommt den tagespolitischen Äußerungen eine eher unter­ geordnete Rolle zu. Anders als bei Theognis erscheint bei Pindar die Adelsideologie unzertrennlich mit dem ökonomischen Geist seiner Zeit verwoben. Aus dieser ­Verbindung resultierten, gemessen an der Perspektive der Kampflyrik eines Alkaios oder Theognis, manche überraschenden Einblendungen. So erfüllte bei dem von Pindar besungenen Hieron von Syrakus die Herrschaft den Sinn seines Lebens, denn sie gab ihm den nötigen Reichtum, aus dem ihm Ehre erwuchs. Auch wenn vornehme Personen an einer kaufmännischen Tätigkeit nichts Anstößiges fanden und obwohl das Sprichwort Geld macht den Mann aus die Runde machte, blieb Grundbesitz nach wie vor die Quelle allen Reichtums und Ansehens. Die Nachfahren der alten Geschlechter, welche die staatlichen Ämter monopolisierten, galten nach wie vor als die eigentliche Stütze der Gesellschaft. Allerdings verdeutlichte das Beispiel Athens, dass die solonischen Reformen und die Herrschaft des Peisistratos den politischen und sozialen Aufstieg einer Reihe von Familien ermöglichten, die nicht zur alten Führungsschicht gehörten. Diese neuen Eliten haben den geltenden Sittenkodex des Geburtsadels nicht nur nicht angetastet, sondern sich ihm weitgehend angepasst und ihn verinnerlicht. Die genealogische Erfassung von Religion und Geschichte, die athletische Ausbildung und die damit zusammenhängenden Attribute, agonale Denkweisen sowie der dazugehörige Verhaltenskodex finden in den Dichtungen Pindars, die der Lobpreisung dieser neuen Aristokratien gewidmet sind, ihren Widerhall.

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ie nachstehenden Ausführungen rund um den legendären Lyderkönig Kroisos nehmen zunächst ein einzigartiges archäologisches Zeugnis ins Visier. Danach sollen die Erkenntnisse, die sich aus der Analyse des Bildmaterials ergeben, mit den Aussagen der zeitlich späteren literarischen Überlieferung verglichen werden. Auf diese Weise lässt sich der Erkenntniswert beider Quellengattungen in Hinblick auf die in der Kapitelüberschrift formulierte Aussage, nämlich das Verblendungspotenzial der Macht, das es auf bestimmte Individuen oder Gruppen auszuüben vermag, kritisch würdigen. Bei der Betrachtung folgender Vasenabbildung fällt als erstes ein Scheiterhaufen ins Auge, der wie ein Podest wirkt. Auf einem darauf befindlichen reich verzierten Thron, über den ein gepunktetes Fell gebreitet ist, sitzt eine männliche Figur in hieratischer Haltung: Bärtig, mit einem Chiton und Mantel bekleidet. Sie hält in der linken Hand ein Zepter, während die weit ausgestreckte Rechte eine verzierte Schale hebt und offensichtlich ein Trankopfer vollzieht. Ferner trägt der Sitzende einen Lorbeerkranz um sein Haar. Dies ist die erste Darstellung einer historischen Person, bei der Herrschaftsattribute, die ansonsten mit Zeus in Verbindung stehen, abgebildet werden. Man könnte hier einwenden, dass Thron, Zepter und Lorbeerkranz in der Symbolwelt der archaischen Zeit noch kein eindeutiges Herrscherattribut darstellten. Deswegen ist es durchaus sinnvoll, nach anderen Identifikationsmerkmalen zu suchen. Diese ergeben sich aus der Deutung des gesamten Geschehens: Ein Diener, den die spärliche Gewandung in seinem sozialen Rang definiert, bückt sich mit zwei Fackeln, um den Scheiterhaufen in Brand zu stecken. Die Szene ist aus der Literatur bekannt. Es handelt sich bei dem Thronenden um Kroisos, der nach seiner Niederlage gegen Kyros sein Leben verwirkt hatte.28 Durch die Einordnung des Dargestellten in einen historischen Kontext kann eine zweifelsfreie Zuordnung vorgenommen werden, wobei Thron und Lorbeerkranz tatsächlich als Insignien der Macht aufzufassen sind. Paradox ist nur, dass es der Scheiterhaufen ist, der den Leidenden erhebt. Dadurch werden die Vorbereitungen zur Hinrichtung zur Demon­ 269

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Kroisos-Amphore (um 500 v. Chr.), attische reifarchaische Bauchamphore des Malers Myson, rotfigurig. Höhe: 58,5 cm. Fundort: Vulci, jetzt Paris, Louvre29

stration von Größe und Monumentalität. Die später noch oftmals in verschiedener Variation thematisierte Genredarstellung „Kroisos auf dem Scheiterhaufen“ ist sowohl als legendäres als auch – und das ist hier das besondere – als historisches, ja als zeitgenössisches Ereignis aufzufassen. Etwa ein halbes Jahrhundert lag zwischen der Herstellung der Vase und der Einnahme der lydischen Stadt Sardes durch die Perser. Die Aktualität der Szene für das griechische Publikum wird durch die bevorstehenden Perserkriege noch unterstrichen. Es ist die bewusste Abgrenzung vom mächtigen östlichen Nachbarn, welche im Schicksal eines zwar politisch unterlegenen, moralisch hingegen würdig erscheinenden Herrschers, der dem todbringenden Gegner zu trotzen trachtet, ein Exempel der Überlegenheit schafft. Gerade im eigenen Untergang entfaltet sich ein beispielhaftes Verhalten herrschaftlicher Würde. Im Gestus des Trankopfers demonstriert der abgesetzte König seine pietas und sein Einvernehmen mit den Göttern.30 Er hält dabei die Phiole direkt über das Haupt des Dieners, der gerade im Begriff steht, den Scheiterhaufen anzuzünden, was schwerlich ein Zufall sein konnte. 270

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Mit Kroisos wird in der Ikonographie der griechischen Vasenkunst ein fremder Herrscher thematisiert, der sich in sein Schicksal ergibt. Königssturz und Fallhöhe kontrastieren mit der Haltung des noch auf dem Scheiterhaufen majestätisch Thronenden: Das Herrscherbild wird zum Fürstenspiegel. Dies ist um so beachtlicher, als die griechische Kunst peinlich darum bemüht war, eigenen Staatsmännern, die in den Poleis um Macht und Einfluss rangen, eine ikonographische Repräsentation zu versagen. Fremde Regenten konnten dagegen problemlos dargestellt werden. Vergeblich wird man zu dieser Zeit prominente Griechen in Herrschaftspositur suchen.31 Verwiesen sei auf die drei Generationen später entstandene historische Darstellung der einschlägigen Ereignisse. Nach der siegreichen Beendigung der Perserkriege beschrieb Herodot den Aufstieg und Untergang des Lyderreiches, konzentriert in der Person des Kroisos, der dort allerdings durch das Walten der Götter von dem Vollzug des Todesurteils errettet wurde.32 Die Niederringung des Lyderreiches wird bei Herodot zum Sprungbrett für die persische Machtentfaltung in Kleinasien und damit zur Voraussetzung für den griechisch-persischen Gegensatz im Ägäisraum, der schließlich zur Konfrontation zwischen den griechischen Poleis und dem Weltreich der Achaimeniden führen sollte. Zwar ist dies eine spätere Sicht der Dinge, die geprägt ist von der leidvollen Erfahrung der Kriege, doch schimmert auch auf der Kroisos-Amphore eine politische Aussage durch, die darauf hindeutet, dass schon um 500 v. Chr. von einer gewissen perserfeindlichen Stimmung ausgegangen werden kann. Es ist eben der unterlegene Lyderkönig Kroisos, der interessiert, und nicht etwa der politisch erfolgreiche Perser­ könig Kyros. Aus der historischen Perspektive der klassischen Epoche erschien der ­lydische König Kroisos als Paradigma des orientalischen Herrschertums. ­Allein sein Name implizierte große Machtfülle sowie eine in der griechischen Welt unbekannte höfische Prachtentfaltung. Seine Besitzungen erbrachten ihm beträchtliche Ressourcen, die aus ihm eine der vermögendsten Persönlichkeiten der antiken Welt machten. Dank seines sprichwörtlichen Reichtums überschritt sein Ruhm die Grenzen seiner lydischen Heimat. Die Opfergaben, die Kroisos dem Heiligtum von Delphi in Anerkennung für die erhaltenen Orakelsprüche schenkte, gaben Zeugnis von seiner legendären Großzügigkeit. Um aber die Eigenart seines aufgrund seiner Opulenz vernebelten Charakters hervorzuheben, der von Voreingenommenheit nur so strotzte, übermittelt uns Herodot eine fiktive Begegnung zwischen dem orientalischen Monarchen Kroisos und dem griechischen Staatsmann Solon, der anlässlich seiner ausgedehnten Reisen nach Sardes gekommen sein soll: 271

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Gerade der Gesetze wegen und um die Welt zu sehen, war Solon außer Landes gegangen und zu Amasis nach Ägypten gekommen, und er gelangte auch nach Sardes zu Kroisos. Nach seiner Ankunft ließ ihn Kroisos im Palast gastlich aufnehmen. Am dritten oder vierten Tage mussten ihn Diener auf Kroisos’ Geheiß in die Schatzkammer führen und alle die großen und reichen Schätze des ­Königs zeigen.33 Mittels Rückgriff auf ein in den Tragödien gängiges literarisches Stilmittel ließ Herodot beide Berühmtheiten als Personifizierung unterschiedlicher kultureller Modelle aufeinandertreffen. Während König Kroisos im Genuss seiner Reichtümer Sinn und Zweck seiner Machtfülle (arche) erblickte, repräsentierte der Athener Solon den bürgerlichen Patriotismus griechischer Prägung, der sich dem Dienst der Polisgemeinschaft verschrieben hatte. Diese Gegenüberstellung antagonistischer Ideenwelten wird besonders durch jene Aussagen akzentuiert, die Herodot Solon in den Mund legt, als dieser auf Kroisos’ Fragen unerwartete Antworten von sich gab: „Gastfreund aus Athen, verschiedene Kunde über dich ist zu uns gedrungen, über deine Weisheit und deine Reisen. Man hat uns erzählt, du habest als Freund der Weisheit, und um die Welt kennenzulernen, viele Länder der Erde bereist. Nun möchte ich dich gerne fragen, ob du schon einen Menschen gefunden hast, der am glücklichsten auf Erden ist.» Er erkundigte sich danach, weil er meinte, selbst der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Solon jedoch wollte ihn nicht schmeicheln, sondern die ganze Wahrheit sagen. Er sprach daher: «Ja, König, Tellos aus Athen!» Kroisos staunte über das Wort und fragte gespannt: «In welcher Hinsicht, meinst du sei Tellos der glücklichste?» Solon antwortete :«Tellos lebte in einer blühenden Stadt, hatte treffliche, wackere Söhne und sah, wie ihnen allen Kinder geboren wurden und wie diese alle am Leben blieben. Er war nach unseren heimischen Begriffen glücklich, und ein herrlicher Tod krönte sein Leben. In einer Schlacht zwischen Athenern und ihren Nachbarn in Eleusis brachte er durch sein Eingreifen die Feinde zum Weichen und starb den Heldentod. Die Athener begruben ihn auf Staatskosten an der Stelle, wo er gefallen war, und ehrten ihn sehr.“34 Der Meinungsaustausch zwischen Kroisos und Solon ermöglicht eine ethische Lektüre der Grundsatzfrage, inwiefern die Sehnsucht nach individuellem Glück und der Anspruch des Staates an seine Bürger sich miteinander vereinbaren ließen. Der solonische Vorschlag, der durch seine Aktualität besticht, stellt das öffentliche Interesse über die Belange des Einzelnen. Mittels Rückgriff auf die Figur des idealen Bürgers, in die sich Herodots Solon verwandelt, wird eine politische Stellungnahme abgegeben: Der Vorrang des Gemeinwohls stand höher als das Streben nach privatem Glück. Wir fassen 272

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hier eine Urform des konstitutionellen Patriotismus, der in der griechischen Tragödie ansatzweise bereits artikuliert worden war, von Herodot jedoch nun mit größerer Eindeutigkeit zum Ausdruck gebracht wurde. Diesem Konzept, das durch den Verweis auf die demokratischen Werte das Wesen und die Ziele des modernen Verfassungsstaates vorwegnimmt, kommt gerade im Europa des 21. Jahrhunderts eine außergewöhnliche Bedeutung zu. Angesichts des tiefgreifenden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Integrationsprozesses der Europäischen Union dürfte der Patriotismus nationaler Prägung, der das politische Ambiente des 19. und 20.  Jahrhunderts entscheidend mitbestimmte, gegenüber der Alternative des Verfassungspatriotismus der Vergangenheit angehören. Die Idealisierung der Figur Solons im Gegensatz zur impliziten Kritik ­Herodots an dem lydischen König Kroisos dient dem Historiker dazu, den Archetyp eines verblendeten Staatsmannes zu zeichnen, dem die Wahrung des Gleichgewichtes zwischen Machtausübung (arche) und Übermut (hybris) misslingt. Ein Beispiel für die Überschreitung dieser schmalen Grenze, die den Fall des von sich überzeugten Kroisos verursachen wird, weil er sich als unfähig erweist, die Balance zwischen dem Besitz und dem Gebrauch der Macht zu halten, liefert das Tauziehen zwischen Lydien und Persien um die Kontrolle Vorderasiens. Vor dem historischen Hintergrund dieser Konfrontation, die vom Expansionsprozess des Achaimenidenreiches nach Westen in der zweiten Hälfte des 6.  Jahrhunderts v.  Chr. bestimmt wurde, gestaltet ­Herodot in didaktischer Absicht eines seiner wirkungsvollsten Lehrkapitel über die Folgen der Verführung, welche die Macht auf jeden ausübt, der ihr ­verfällt. Überzeugt von seiner haushohen Überlegenheit, schickte Kroisos Boten nach Delphi, um das Orakel über den Ausgang des unmittelbar bevorstehenden Feldzuges zu befragen, den er gegen Kyros zu führen gedachte. Die Antwort aus Delphi schien ihn in seinem anfänglichen Optimismus zu bestätigen: Wenn er den Halys überschreiten sollte, würde er ein großes Reich zerstören, teilte ihm die Pythia mit.35 Doch was auf den ersten Blick als Bestätigung der Überlegenheit des lydischen Königs interpretiert werden könnte, sollte sich als Bumerang erweisen. Der doppelte Sinn des Orakelspruchs, der nicht frei von Ironie war, betonte nicht nur die Launenhaftigkeit des Schicksals, sondern sollte sich im Nachhinein als groteske Karikatur der hybris des Lyderkönigs herausstellen. Der narzistische Kroisos schien in seiner Ich-Bezogenheit keinen Augenblick am glücklichen Ausgang der ­ Schlacht gezweifelt zu haben, als er sich auf ein von vornherein verlorenes Unterfangen einließ. Als Kroisos an der Spitze seiner Truppen den Fluss Halys überschritt, zerstörte er tatsächlich ein großes Reich, nämlich sein ei273

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genes. Diese romanhafte Version der Eroberung Kleinasiens durch Kyros lässt die historische Realität des Konfliktes zwischen Lydien und Persien jedoch weitgehend außer Acht. Ebenso ist sie hinsichtlich des Charakters der Protagonisten und der Geschehnisse stark verformt. Aber Herodot wollte nicht detailgetreu informieren, sondern vielmehr ein Memento formulieren, als er seine Leser mit einem psychologischen und moralischen Porträt eines orientalischen Potentaten konfrontierte, der außerstande war, die Selbstüberschätzung, die aus der Machtausübung resultierte, zu zügeln. Damit ließ der Historiker Herodot den zeitgenössischen griechischen Staatsmännern eine eindringliche Mahnung zukommen. Neben Herodots Version über den Untergang des Kroisos existierte eine davon unabhängige Tradition, die den Ausgang der Ereignisse und das Verhalten seiner Protagonisten anders beurteilte. Hier erschien Kyros als der grimmige Eroberer Westkleinasiens, der Kroisos keineswegs schonte, wie Herodot behauptete, sondern, wie die obere Abbildung zeigt, den geschlagenen Herrscher der Lyder aus abergläubischer Furcht beseitigen ließ.36 Eine überaus positive Einschätzung erfuhr Kyros von Xenophon. Dieser stilisierte den Perserkönig als trefflichen, humanen Monarchen, der mit Rücksicht auf die Allgemeinheit handelte und nur das Beste im Sinne hatte. Unter ausdrücklicher Berufung auf den xenophontischen Kyros reklamierte ihn ­Cicero als Ebenbild des tugendhaften Herrschers. In einem Brief an seinen Bruder Quintus bemerkte er: Xenophons Kyros ist vom Autor nicht der historischen Wahrheit entsprechend, sondern nach dem Idealbild eines gerechten Herrschers gestaltet, in welchem der Philosoph höchste Majestät mit außergewöhnlicher Leutseligkeit verband  – übrigens ein Buch, das unser Africanus mit gutem Grunde nie aus der Hand legte, weil in ihm alle Pflichten eines umsichtigen, maßvollen Fürsten aufgeführt werden.37 Die literarische Rezeption des historischen Kyros, des prominenten Gründers des Achaimenidenreiches, unterstreicht die Metamorphose eines wirkmächtigen Herrscherbildes. Aus der herodoteischen historischen Novelle entstand eine Generation später aus Xenophons Feder ein Fürstenspiegel, dessen Popularität und Geltung Jahrhunderte später von Cicero bestätigt wird.

polis tyrannos Um die Hegemonie im Attisch-Delischen Seebund zu konturieren, bot Thukydides eine überraschende Wortschöpfung auf, welche die Machtfülle seiner Heimatstadt mittels eines diskreditierenden Adjektivs zum Ausdruck 274

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bringen sollte: polis tyrannos. Der Begriff verwies nicht nur auf eine repressive Regierung, sondern unterstrich neben den machtversessenen Äußerungen, die unser Autor den führenden athenischen Staatsmännern in den Mund legte, dass die emotional aufgeladene Formel im vollen Bewusstsein ihrer extremen Zweideutigkeit ersonnen wurde.38 Die Entscheidungskompetenz einer Volksversammlung, die das gewaltigste Herrschaftsgefüge, das Hellas bisher gesehen hatte, lenkte, lief für Thukydides stets Gefahr, der Verblendung der Macht zu erliegen. Arche und hybris werden in diesem Kontext als komplementäre Seiten derselben Medaille begriffen.39 Aber im Gegensatz zu Herodot sah Thukydides, dass das Verführungspotenzial der hybris keineswegs für die Auswüchse von Machtmissbrauch allein verantwortlich war. Vielmehr erkannte er in den systemimmanenten Folgen ungehemmter Herrschaftsausübung die Ursachen für die Überdehnung jener ethischen und politischen Normen, welche die Stabilität eines Gemeinwesens auf Dauer gefährdeten. Daher glaubte er, dass die Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg, den die Stadt gegen eine von Sparta angeführte Koalition geführt hatte, nicht nur der Verführung der Macht geschuldet, sondern vielmehr das Ergebnis eines unausweichlichen Dilemmas war: Nämlich die Unmöglichkeit, die unkontrollierbare Dynamik zu beherrschen, die ihre Handhabung zwangsläufig hervorrief.40 Das Problem, wie die thukydideische Verwendung des Tyrannenbegriffes zur Charakterisierung der athenischen arche einzuordnen sei, etwa als Reflex der propagandistischen Auseinandersetzung zwischen den Kriegs­ gegnern oder aber als bewusste kritische Stellungnahme des Thukydides selbst41, kann vernachlässigt werden; entscheidend ist dabei, dass mit dem paradoxen Bild einer um die Wahrung ihrer erworbenen Macht ringenden Polis eine lehrreiche Zuspitzung des Herrschaftsdiskurses dargeboten wurde. Indem sich Athen wie ein Tyrann gebärdete, konnte es seine Existenz sichern, oder, um es wie Kurt Raaflaub zu sagen: „Die Freiheit des Tyrannen garantierte den Bestand des Staates, denn nur der Tyrann (Athen) war wirklich frei“. Woraus sich folgern lässt: Der Machthaber verfängt sich früher oder später unweigerlich in den Fallstricken der Macht.42 Eine solch frappierende Umkehrung der in Athen allgemein verbreiteten Tyrannenideologie verdeutlicht, wie beeinflussbar und konjunkturabhängig der Prozess der politischen Meinungsbildung sein konnte. Demokratische Grundsätze oder daraus abgeleitete praktische Konzepte wogen in der Tagespolitik recht wenig, wenn es darum ging, das machtpolitische Interesse des Staates durchzusetzen: Und wenn unsere Stadt in Ehren steht wegen ihrer Herrschaft und ihr doch auch alle darauf stolz seid, so gebührt es sich jetzt, ihr 275

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zu Hilfe zu eilen und der Mühsal sich nicht zu entziehen (…), und glaubt nicht, es ginge bei diesem Kampf nur um das eine, nicht Knechte zu werden statt frei, sondern euch drohen auch der Verlust eures Reiches und die Gefahren des Hasses, der euch aus der Herrschaft erwuchs (… ), denn die Herrschaft, die ihr übt, ist jetzt schon Tyrannis; sie aufzurichten mag ungerecht sein, sie aufzugeben, ist gefährlich.43 Solche Formulierungen, die Thukydides den maßgeblichen Protagonisten des athenischen Staates (hier war es Perikles; ähnliche Äußerungen macht auch Kleon)44 in den Mund legt, verdeutlichen die Umwandlung des Tyrannenbegriffes in eine politische Durchhalteparole.45 Der sophistische Geist, der solchen Argumentationsparadigmen innewohnt, findet in der zeitgenössischen Publizistik seine markantesten Parallelen. Zahlreiche euripideische Heldengestalten werden davon angetrieben. So etwa Eteokles, der freimütig bekennt: Und gilt es Unrecht zu tun, dann geht es um den Preis der Macht. Im andern sei aber das Recht gewahrt.46 Wie die aufgeführten Textstellen verdeutlichen, ist das Grundelement der Polis-Tyrannos Vorstellung ein Räsonieren über den Themenkomplex Herrschaft-Freiheit-Knechtschaft.47 Was jedoch angesichts solch unverblümter Bekenntnisse zur Machtpolitik, bei denen das Wohl des Staates über ethische Grundsätze obsiegte, aus rückschauender Perspektive geradezu machiavellistisch anmutet, wird durch eine Reihe von komplementären Aussagen relativiert, welche die Verteidigungswürdigkeit der demokratischen Lebensform hervorheben.48 Dennoch erscheint die Tyrannis als unausweichliche Konsequenz des erzielten Erfolges. Sie zu erhalten, wird zum Postulat der Staatsraison, zum Maßstab des politischen Handelns erhoben. Mag Thukydides mittels solcher Maximen die Unbefangenheit zum Ausdruck bringen, welche die athenische Volksversammlung befiel49, mag darin auch ein Bekenntnis zum Staatsnutzen mitschwingen, daneben wird Kritik, zumindest Distanzierung hörbar. Die Fragilität der gelenkten Demosherrschaft auf dem Hintergrund der athenischen Hegemonie, die dem Missbrauch von Macht einen günstigen Nährboden bot, wurde damit offenbar. Nach landläufiger Meinung gehörten Tyrannis und Hybris zusammen. Sie bildeten ein sich gegenseitig ergänzendes und bedingendes Begriffspaar. Thukydides’ Mahnungen an die Adresse jener unangemessenen Machtausübung, die den Bogen der politischen Vernunft zu überspannen drohte, begegnen uns an zentralen Stellen seines Werkes. In den Diskussionen vor der Sizilienexpedition, vor allem im Melierdialog, manifestierte sich der despotische Charakter der athenischen arche völlig ungeschminkt. Hier offenbarte sich die Kehrseite der Machtausübung mit all ihrer Fragwürdigkeit. Frei von moralisierender 276

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Penetranz, dennoch unüberhörbar deutet Thukydides an, wie die Aufgabe von ethischen Normen zu einer verhängnisvollen politischen Eindimensionalität führen kann. Sein Geschichtswerk bot dafür das beste Beispiel. Der Vergleich mit der Kylonaffäre vermag diesen Sachverhalt zu illustrieren. Eine weitgehende Entsprechung zwischen der strukturellen Situation, die der Begründung der Tyrannis zugrunde lag und der Ausübung von Macht, wie sie sich mit der Genese der athenischen arche Bahn brach, war in der thukydideischen Gedankenführung angelegt. In der am Vorabend des Peloponnesischen Krieges nach den Verwicklungen um Poteidaia im Jahr 432 v. Chr. von Sparta ein­ berufenen Konferenz argumentierten die Athener, um ihr politisches Verhalten zu rechtfertigen, folgendermaßen: Wir folgen nur der menschlichen Natur·, wenn wir eine Herrschaft, die sich uns anbot, angenommen haben und behalten wollen, besiegt von drei so starken Mächten wie Ehre, Furcht und Vorteil; wir sind ja auch nicht die ersten, die dies angefangen haben, sondern es ist immer so gewesen, dass der Mindere sich dem Mächtigeren fügen muss.50 Ähnliche sozial-psychologische Begründungszusammenhänge bietet Thukydides auf, um die Dynamik des kylonischen Staatsstreiches zu erläutern. Analog zur Stadt der Athener, die nach den Siegen in den Perserkriegen und der Gründung des Attisch-Delischen Seebunds eine atemberaubende Erfolgsphase erlebte, vermochte Kylon nach einem glänzenden olympischen Sieg die höchste Stufe des Ruhmes zu erklimmen.51 Was der Polis aufgrund ihrer Opferbereitschaft und ihres Wagemutes zuteilwurde, erlangte Kylon52 durch die Entfaltung seiner besten Eigenschaften. Fast zwangsläufig strebte der auf dem Gipfel seines Lebens stehende Kylon nach der Tyrannis ebenso, wie die allmächtig gewordenen Athener anfingen, ihre Macht als Herrschaft über ihre Schutzbefohlenen zu missbrauchen. Es ist nicht primär Hybris oder Übermut, was die Polis oder das Individuum zum Griff nach der Macht veranlasste; vielmehr sieht Thukydides die Triebkraft dieses Prozesses in einer der Natur der Machtgewinnung innewohnenden, unausweichlichen Kausalität. Ihr beiderseitiges Scheitern (Athens und Kylons) schließlich scheint auch weniger eine Folge der Verblendung, die jede überdimensionierte Dominanz stets ausübt, sondern eher in den unerbittlichen Regeln des Umgangs mit der Macht begründet zu liegen. Es lässt sich eine weitere Komponente der Tyrannisumdeutung beobachten. War in der Vergangenheit (Kylonepisode, Peisistratiden) die Errichtung einer Alleinherrschaft vornehmen Herren vorbehalten, so bemächtigt sich jetzt der demokratische Staatskörper der Athener dieser Funktion. Rückte das Volkskollektiv an die Stelle des Tyrannen, geriet die Position der Tyran277

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nis im Kreislauf der Verfassungen als denaturierte Herrschaft durch eine derartige Rochade an den Rand des politischen Spektrums. Derartige Funktionsverschiebungen bieten einen anschaulichen Beleg für die Verselbständigung und Herauslösung der Tyrannisfrage aus ihrem ursprünglichen Umfeld. Demzufolge operierte der polis tyrannos-Diskurs mit der Ambivalenz und Sprengkraft jeder ungehemmten Herrschaftsausübung sowie mit den Grenzen der Selbstbestimmung von Politik. Machterwerb wird als erstrebenswert erachtet, eine Herrschaft über andere zu errichten erscheint als logische Konsequenz daraus. Durch die Notwendigkeit, sie auf Dauer zu erhalten, betritt das Individuum oder das Kollektiv einen Teufelskreis, so belehrt uns Thukydides, an dessen Ende meist ein Scheitern zu erwarten ist.

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4 Militärverfassung als Spiegelbild der Gesellschaft Sparta Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl. (Simonides)

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chon im Altertum stand die Polis der Spartaner im Ruf eines bellizistischen Staatswesens. Ihre militärische Leistungsfähigkeit genoss hohes Ansehen und so trauten die meisten Griechen ihr eine besondere Lei­ tungskompetenz in Krisenzeiten zu. Besonders einprägsam hat der Dichter ­Tyrtaios den Zusammenhang zwischen Militärverfassung und politischem Verband in einem Gedicht eingefangen, in dem er mit Bezug auf die Wehrfähigkeit seiner Heimatstadt Sparta voller Stolz verkündet: Ist doch allen gemeinsam ein Stolz in Stadt und Gemeinde, wenn ein Krieger sich hält standhaft im vorderen Feld, unverrückbar fest, und kennt kein feiges Entweichen (…). Wenn aber einer fällt in vorderster Reihe, seinem Vater, der Stadt und den Gefährten zum Ruhm (…), solchen Mann beweinen Alte wie Junge und die ganze Stadt klagt um seinen Verlust. Wenn er indes, dem Rachen des bitteren Todes entronnen, siegend gewann mit dem Speer leuchtende Beute des Ruhms, ehrt ihn jeglicher Mann zumal, so Alte wie Junge, vieles erfreut ihn, bevor Hades ins Dunkel ruft. Schreitet geehrt ins Alter und glänzend, keiner der Bürger mag ihm schmälern am Recht oder an Achtung den Teil. Und in versammelten Reihen rückt Jüngerer und Altersgenosse, jeder, und räumt ihm den Platz, auch noch der ältere Mann. 53 Die Hoplitenphalanx als Spiegelbild der spartanischen Gesellschaft und Synonym für die Einsatzbereitschaft der Politen evoziert die militärische Schlagkraft eines Gemeinwesens, das aus gleichberechtigten Gliedern bestand. Derartige Appelle bezeugen das Selbstbewusstsein einer sozialen Gruppe, die sich als eingeschworenen Bürgerverband begriff und stets bereit war, ihre überlieferten politischen und gesellschaftlichen Institutionen bis zum äußersten zu verteidigen. 279

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Ausschnitt aus dem Schulterfries der sogenannten Chigi-Kanne, ­korintisch um 650 v. Chr.

Der isonome Grundzug der spartanischen Gesellschaftsordnung erschien den meisten Griechen als Ver­körperung der guten Ordnung (Eunomia). Sparta galt als das Ideal des Hoplitenstaates, der dank seiner straffen, militä­risch durch­geformten sozialen Gliederung jedweder Anfechtung zu wider­stehen vermochte. Doch das Szenario innerer Stabilität, das sich von der bewegten Geschichte anderer archaischer Poleis unterschied, hatte seine Kehrseite. Deren Leidtragende waren ein Großteil der Bevölke­rung in den von Sparta besetzten Gebieten, die den Südteil der peloponnesischen Halbinsel umfassten. Die Eroberung des benachbarten Messenien und die Knechtung ihrer Ureinwohner bestimmten maßgeblich den Verlauf der weiteren politischen Entwicklung des spartanischen Staates. Die Heloten verrichteten die zum Lebensunterhalt notwendi­ge Arbeit für die Kriegerkaste der Spartaner, die sich selbst als homoioi (die Gleichen) bezeichneten.54 Zur Zeit der Perser­kriege gab es etwa zehntausend kampf­ fähige Vollbürger. Gegenüber den Heloten und der breiten Schicht der ­Periöken (die Her­umwoh­nenden), die in eigenen Gemein­den lebten, aber außer der Verpflichtung zum Kriegsdienst keine politi­schen Rechte besaßen, befanden sie sich in der Minderheit.55 Daher gerieten die Herren in wirtschaftliche Ab­hängig­keit von ihren Hörigen und Untertanen. Ferner 280

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wurden sie von der Furcht vor einer Helotenerhebung beherrscht. Auf diesem Hinter­grund ist die Neuord­nung des spartanischen Staates zu sehen, die sich während des 6. Jahrhunderts v. Chr. in mehre­ren Zeitabschnitten vollzog und zur Schaffung der sparta­nischen Lebens­ordnung (Kosmos) führte. In diese Zeit der Umgestal­tung gehört die Rhetra, die früheste der erhalte­ nen griechischen Verfassungen, die Plutarch dem sagenhaf­ ten spartani­schen Gesetz­geber Lykurg zuschrieb, deren Authentizität aber um­ stritten ist.56 Alle Spartaner ohne Rücksicht auf Abstam­mung oder Besitz erlangten die volle politische Gleichberechtigung. Dies setzte allerdings die Beseiti­gung der alten dorischen Sippen­ver­bände (Phylen) voraus, die zugunsten einer Neueinteilung der Bürgerschaft nach Trup­ ­ penkör­ pern aufgege­ben wurden. Das alte gentilizische Prinzip musste den Not­wen­ digkeiten einer auf der Ausbeutung der Heloten gegründeten Militärge­ sellschaft weichen. Die Regierungsgewalt übten die jährlich zu wählenden fünf Ephoren aus, die in Zusammenarbeit mit dem Rat der Alten (gerousia), für den nur die männlichen Spartaner über sechzig Jahre in Frage kamen, die Richtlinien der Politik bestimmten. Eine Schalt­stelle hatten in diesem Staat zwei gleichzeitig amtierende basileis, eine aus der Früh­zeit stammende Institution, deren Bestand nicht angetastet wurde. Wir besitzen eine reichhaltige Überlieferung darüber, weil sie ein einzigartiges staatsrechtliches Phänomen darstellte, das die Neugier der Historiker erregte. Die spartanischen basileis rekrutierten sich aus den Häusern der Agiaden und Eurypontiden. Ihre Würde war erblich und wurde beim Abtreten eines Amtsinhabers an den Nachfolger gemäß dem nomos der Erbfolge vergeben.57 Strittig war die Amtsübergabe allerdings, wenn keine männliche Nachkommenschaft vorlag.58 Nicht immer erlangte der erstgeborene Sohn des verstorbenen Amtsinhabers die Stellung des Vaters, wie es am Beispiel von Dorieus und Kleomenes deutlich wird. Auch gab es Fälle von Absetzungen (Demaratos). Maßgeblich für die Einsetzung eines Prätendenten war die Anerkennung durch die Volksversammlung. Welche Rolle dabei die Gerusie spielte, ist umstritten.59 Die Funktionen der spartanischen basileis umfassten den sakralen und den militärischen Bereich. Sie agierten als Priester des Zeus und als Befehlshaber des spartanischen Heeresaufgebotes. Wenn auch die politische Entwicklung oder die Person, die das Amt innehatte, dieses stärken oder schwächen konnte und auch die repu­blikanische Einbettung des hohen Amtes in das System des spartanischen Kosmos bedeutsam war, sollte man dennoch seine Gestaltungsmöglichkeiten keineswegs unterschätzen. Außerdem genossen sie eine Reihe von Privilegien (gerea). Herodot60 und Xenophon61 haben diese sorgfältig verzeichnet und in drei Gruppen 281

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eingeteilt: Kriegsführung, Friedenszeiten und Ehrungen, die ihnen nach ihrem Tod erwiesen wurden. Dass über ihre politischen Kompetenzen Unklarheit herrscht, ist hauptsächlich auf eine Bemerkung Herodots zurück­ zuführen, wonach sie das Recht hatten, den Krieg dorthin zu tragen, wo sie wollten.62 Wie soll man nun auf dem Hintergrund dieser Aussage die Befugnisse der spartanischen Staatsorgane einschätzen? Eine Durchsicht der einschlägigen Notizen63 zeigt jedoch, dass stets die Heeresversammlung über Krieg und Frieden entschied. Sie übertrug dem basileus die operative Leitung der Feldzüge, weswegen Aristoteles (Pol. 1285 a) ihn als strategos autokrator bezeichnet. Auf eine Kurzformel gebracht, lässt sich dennoch festhalten: Über den basileis stand die Polis.64 Gemeinsame Mahlzeiten, Waffenübungen und Wettkampf spielten in der sparta­ni­schen Gesell­schaft eine zentrale Rolle. Sämtliche Organe des Staates sowie seine ökonomische und soziale Architektur waren auf die Aufrecht­ erhaltung seiner Wehrhaftigkeit abgestimmt. Damit aber war der Gefahr einer politischen Erstarrung und gesell­schaft­li­chen Verkrustung der Weg geebnet. Ein Ausbruch aus der festgefügten Ordnung des spartanischen Kosmos war dem Einzelnen kaum möglich, da die Kinder schon frühzeitig das Elternhaus verlassen mussten, um die harte Schule des spartanischen Erziehungssystems und der Militäraus­bildung zu durchlaufen und so von jungen Jahren an vom Staat verein­nahmt zu wer­den. Zu den Negativerscheinungen der spartanischen Ordnung gehörte die verächtliche Behandlung der Heloten, die sich bis zu deren Tötung steigern konnte, ohne dass die Täter deswegen zur Verantwortung gezogen würden. Die herrschende soziale und politische Spannung entlud sich in einer Reihe von Helotenaufständen, bis Messenien in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. sich von der oppressiven Herrschaft Spartas befreien konnte und einen autonomen Staat gründete, was Sparta ungemein schwächte. Auch wurde im Laufe der Zeit das soziale Gleichgewicht innerhalb der spartanischen Bürgerschaft durch eklatante Besitzumschichtungen gestört, die zu Lasten jener Individuen gingen, denen durch Verarmung der Entzug der Bürgerrechte drohte. Dies hatte zur Folge, dass mit der Zeit die Zahl der kampffähigen Hopliten nur wenige Tausend betrug, womit die während des 6. und 5. Jahrhunderts eingenommene Hegemonialstellung in Griechenland nicht aufrecht zu erhalten war. Die Schlacht bei Leuktra (371 v. Chr.), die mit der Niederlage der spartanischen Phalanx gegen Theben endete, besiegelte den politischen Untergang der einstigen griechischen Führungsmacht.

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Makedonien Von den griechischen Stammesgesellschaften und Poleis hob sich Makedonien durch seine dem Griechischen weitläufig verwandte Sprache, durch seine territoriale Ausdehnung sowie durch seine monarchische Verfassung ab. Daneben gab es einen mit beträchtlicher Hausmacht ausgestatteten Adel, der in den Hochlandregionen unabhängig waltete und ein Mitspracherecht bei der Regierung des Landes und bei der Königswahl besaß, die allerdings von der Heeresversammlung sanktioniert werden musste.65 Die Bedeutung der makedonischen Aristokratie verdeutlicht eine bruchstückhaft erhaltene Abschrift eines Staatsvertrages aus dem 4.  Jahrhundert v.  Chr., wo neben dem König und den Mitgliedern seines Hauses eine Reihe namentlich aufgeführter makedonischer Adliger die Vereinbarung mit beschworen hat.66 Mit Sicherheit ging die Initiative zu dieser breit angelegten Bekräftigung der Abmachung von den athenischen Vertragspartnern aus67, weil sie neben dem als schwach eingeschätzten König zusätzlich die maßgeblichen makedonischen Fürsten in die Pflicht nehmen wollten, um die Einhaltung des Abkommens zu gewährleisten. Der König galt als primus inter pares. Seine Befähigung zur Herrschaft musste immer wieder unter Beweis gestellt werden, wozu sich insbesondere Kriegszüge eigneten. Darauf spielt Aristoteles68 an, wenn er die makedonischen neben den spartanischen basileis einordnet, weil deren Herrschaftsansprüche auf die Heeresführung zurückgingen. Daher ist der Abstand zwischen König und Adligen in ähnlicher Weise einzuschränken wie bei den Protagonisten der homerischen Epen, von denen sich einige führende Geschlechter dieser randständigen Regionen ableiteten. Achilleus wurde als Ahnherr der Aiakiden, der epeirotischen Könige aus dem Stamm der Molosser, in Anspruch genommen; Herakles, Zeus’ Sohn, galt als mythische Gründergestalt des Argeadenhauses, der makedonischen Monarchie.69 Ein Blick auf die Regierungstätigkeit der Argeaden bestätigt, wie untrennbar Amt und Leistung miteinander verwoben waren. Von ihnen wurden besondere militärische Qualitäten gefordert. Starke Persönlichkeiten auf dem Königsthron vermochten zeitweilig ein Übergewicht im Lande zu erlangen, während schwache Regenten zum Spielball konkurrierender Mächte werden konnten. Die Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zwischen den zentrifu­galen Kräften zu wahren, belegen die zahllosen Fehden zwischen den regionalen Machteliten des Landes, bei denen Clangeist und Blutrache mehr als das Gesetz galten. Da es keine festen Regeln für die Nachfolge gab, brachen bei Thronvakanzen regelmäßig langwierige und 283

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überaus blutige Streitigkeiten innerhalb der Argeadendynastie aus. Der makedonische Thron war alles andere als ein Ruhekissen. Die meisten Argeaden bezahlten für ihre Herrscherstellung einen hohen Preis, indem sie eines gewaltsamen Todes starben. Die Könige herrschten über einen uneinheitlichen Personenverband, der Ackerbauern aus dem Tiefland, Hirten aus den Mittelgebirgsgegenden, griechische Kolonisten sowie raue Hochlandbewohner umfasste. Zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehörte die Jagd; daneben luden sie regelmäßig zu Tischgesellschaften ein, an denen der Hofstaat teilnahm.70 Auch bereisten sie häufig an der Spitze ihrer Gefährten ihr weites Land, um die Treuebande zu den zahlreichen Clans vor Ort zu festigen. Sie führten das makedonische Heeresaufgebot, übten priesterliche und richterliche Funktionen aus, prägten Münzen, leiteten geeignete Maßnahmen zum Landesausbau wie die Anlage von Straßen sowie den Bau von Hafenanlagen und veranlassten gelegentlich Stadtgründungen. Außerdem repräsentierten sie das Gemeinwesen nach außen, indem sie Verträge abschlossen und Bündnisse mit auswärtigen Staaten eingingen. Den griechischen Autoren, denen wir die Kenntnis der makedonischen Vergangenheit verdanken, erschienen diese Kompetenzen so umfangreich wie diejenigen der orientalischen Potentaten, weswegen sie die Herrschaft der Argeaden häufig als tyrannis bezeichneten. Erschwert wird eine solche Beurteilung allerdings durch den tiefgreifenden Wandel, den Makedonien unter Philipp II. erlebte, der den schlummernden Riesen am Rande der griechischen Welt binnen einer Generation zu einer Großmacht werden ließ. Möglicherweise haben die rasanten Umwälzungen dazu beigetragen, dass das Königtum der Argeaden nachträglich als unabhängiger und uneingeschränkter wahrgenommen wurde, als es von Beginn an war. Dafür bieten die aus großem zeitlichem Abstand heraus verfassten Berichte der antiken Autoren einige Anhaltspunkte, wenn sie die Fortschritte Makedoniens mit der Regierung Philipps II. gleichsetzten. So lesen wir bei Arrian: Philipp übernahm euch (die Makedonen) als Herumtreiber und Arme; viele von euch weideten, in Felle gekleidet, ihre wenigen Schafe in den Bergen und kämpften ohne viel Erfolg gegen die Illyrer, Triballer und ihre Nachbarn, die Thraker. Er hat euch anstatt der Felle Mäntel gegeben, euch im Kampf ebenbürtig gemacht, so dass ihr auf die Festigkeit von Forts nicht mehr vertrautet als auf eure eigene Tapferkeit und euch behaupten konntet. Er hat euch zu Bauherren von Städten gemacht und euch gute Gesetze und Sitten gebracht.71 Bei derartigen Äußerungen ist eine rückschauende Perspektive zu berücksichtigen. Nach der Erfahrung der Diadochenzeit wurde Philipps II. 284

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Regierung als ein Baustein zur späteren Entwicklung begriffen. Der König als Führer, Lehrer, Gesetzgeber und Wohltäter seines Volkes ist eine typisch hellenistische Sichtweise, die nur bedingt mit der politischen Realität des Stammeskönigtums, die vor der Ära der Diadochen bestand, zu tun hat. Auf der anderen Seite dürfen die berechtigten Vorbehalte gegen die Allmacht des Königs keineswegs dazu verleiten, eine allzu minimalistische Vorstellung von der makedonischen Monarchie anzunehmen. Zwar setzte mit der Regierungszeit Philipps II. die überregionale Geltung Makedoniens ein, wesentliche Grundlagen dafür sind jedoch lange vor ihm gelegt worden.72 An dieser Stelle muss an Alexander I. (um 495–450 v. Chr.) mit dem Beinamen Philhellen erinnert werden, der nach der Schlacht bei Platää 479 v. Chr. sich von Persien lossagte. Dank seiner Diplomatie73 und opportunistischen Machtpolitik vermochte er Makedoniens Einflussbereich östlich des Strymon auszuweiten, was zur Stärkung des Königtums beitrug. Anschließend rückte König Archelaos (413–399 v.  Chr.) in den Blickpunkt der antiken Autoren. Über ihn berichtet der athenische Historiker Thukydides74, dass seine Leistungen im Bereich der Landesverteidigung und der Militärreformen schwerer wogen, als die aller seiner Vorgänger. Er fand in der griechischen Öffentlichkeit starke Beachtung, weil unter seinem dynamischen Regiment das wachsende politische Gewicht Makedoniens in der Poliswelt immer deutlicher spürbar wurde, und sich sein Hof zum Magneten für prominente Vertreter des griechischen Geisteslebens entwickelte.75 Doch entscheidend für die Zukunft Makedoniens wurde König Philipp II. (359–336 v. Chr.). Als er im Alter von etwa zweiundzwanzig Jahren die Regierung übernahm, steckte das Land in einer hoffnungslosen Lage. Angesichts der turbulenten Amtsführung seiner Vorgänger zerfiel die Königsmacht zusehends.76 Seine Vorgänger hatten nicht verhindern können, dass Makedonien zeitweise in Abhängigkeit von den Illyrern, von Athen, Theben oder Olynth geriet. Nun stand der an die Spitze des makedonischen Staates gelangte junge Regent vor der schwierigen Aufgabe, die im Westen eingedrungenen Illyrer, sowie die im Norden sich ausbreitenden Paionen abzuwehren. Außerdem musste er seine Stellung gegen die Ansprüche einiger Konkurrenten aus dem Argeadenhaus absichern. Besetzte makedonische Regionen wurden wiedergewonnen und die obermakedonischen Fürstentümer Lynkestis und Orestis in das Staatsgebiet einbezogen. Ferner vereinbarte er mit den Athenern, Amphipolis zu erobern und ihnen anschließend die Stadt zu übergeben, wohingegen diese sich im Gegenzug verpflichteten, Pydna an Makedonien abzutreten.78 285

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Münze Alexanders I. Philhellen. Gewicht: 28, 90 g; Aufbewahrungsort: Paris.77 Vorderseite: Auf einem mächtigen Pferd, das nahezu die gesamte Münzfläche ausfüllt, erkennen wir einen Reiter mit Mantel, Kausia und Diadem in herrschaftlicher Pose. In seiner Rechten, vom Leib des Pferdes verdeckt, hält er zwei Speere. Auf der rechten Hinterflanke des Pferdes ist ein Kerykeion, zwischen dessen Hufen spaziert ein kleiner, pelziger Hund. Alle dargestellten Figuren sind rechts gewandt. Rückseite: Um ein Linien­quadrat mit vier Feldern verläuft der Namenszug Alexandro. Das Ganze ist eingebettet in ein vertieftes Quadrat

Derartige Errungenschaften dienten nicht nur der Stabilisierung des angeschlagenen Staates, sondern erhöhten zusätzlich das Prestige des Argeadenhauses.79 Bereits die ersten Aktionen Philipps II. nahmen sein später deutlich sichtbar werdendes politisches Credo vorweg: Makedonien durfte nie wieder zum Spielball fremder Mächte verkommen. Diesem Ziel ordnete sich die darauffolgende expansive Außenpolitik unter, die durch Diplomatie, Einschüchterung, Geschick, Militärinterventionen, wechselnde Allianzen, Rücksichtslosigkeit und Machtbewusstsein geprägt war. Durch die Aufstellung einer leistungsfähigen Kavallerie und einer äußerst disziplinierten Fußtruppe sind bereits im 5. Jahrhundert die Grundla­gen der später herausragenden makedonischen Armee gelegt worden. Neben der traditionell starken Adelsreiterei, den Hetairoi80, nahm die umstrukturierte Infanterie nun eine gleichwertige Stellung ein. Ihre Mitglieder wurden durch Verleihung des ­Titels Pezhetairoi, Kampfgefährten zu Fuß, in die Nähe der Reiterei gerückt und standen nach dieser Rangerhöhung auch in einem engeren Verhältnis zum König. Ihre Zahl erfuhr eine beträchtliche Steigerung. Der allein ­dadurch erzielte Vorsprung gegenüber Konkurrenten wurde durch die verbesserte Ausrüstung noch vergrößert. Ihre Hauptwaffe war die 3 bis 5 Meter 286

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lange Stoßlanze, die Sarissa. Trotz der Größe und des Gewichtes konnten aufgrund des hohen Trainingsstandes mit dieser Waffe außerordentlich flexible Bewegungen ausgeführt werden. Als geschlossene Phalanx waren die mit Sarissen ausgestatteten Truppen extrem schlagkräftig. Sie konnten sich jederzeit mit den als unbesiegbar geltenden griechischen Hopliten messen. Zudem verfügte das makedonische Heer über die beweglicheren Hypaspisten, die mit einem größeren Schild und einer kurzen Lanze ausgerüstet waren und als Sturmtruppe fungierten. Als Flankenschutz zur schwer bewaffneten Reiterei agierte eine leichte Kavallerie.81 Zusätzlich verbesserte Philipp  II. die Schlagkraft seiner Armee, indem er taktische Änderungen einführte und die makedonischen Eliteeinheiten durch griechische Hopliten, kretische Bogenschützen, thessalische, illyrische und thrakische Reiterformationen ergänzte. Er verstand es, die verschiedenen Waffengattungen im Gefecht effizient aufeinander abzustimmen. Hinzu gesellte sich die Taktik der „schiefen Schlachtordnung“ des Epameinondas. Während seines Aufenthaltes in Theben hatte er deren enorme Wirkung kennengelernt und später zur Grundlage seiner Kriegführung erhoben. Der Hetairenreiterei kam der offensive Part zu, während die Phalanx der Pezhetairoi defensiv agierte. Die taktische Offensive fixierte er dabei nicht auf einen bestimmten Flügel, sondern richtete die Aufstellung seines Heeres flexibel nach der Schlachtordnung des Feindes oder der Beschaffenheit des jeweiligen Geländes aus. Philipps II. territoriale Erwerbungen dienten nicht nur der Stärkung der Monarchie, sondern ebenso der wirtschaftlichen Absicherung seiner stets wachsenden Armee, womit sich deren Effizienz wiederum erhöhte. Die mit großzügigen Landparzellen belohnten Soldaten bildeten, ähnlich wie die Spartaner, eine jederzeit einsatzbereite Militärkaste, die sich weitgehend dem Kriegshandwerk widmete. Mit diesem zahlenmäßig beachtlichen, professionell geführten und hervorragend ausgebildeten Heer konnten weder die Balkanstämme noch die meisten Polisstaaten des Ägäisraumes konkurrieren. Gestützt auf sein planvoll geschmiedetes Machtinstrument forcierte Philipp II. nach der Phase der Herrschaftssicherung den Aufstieg seines Landes zur Führungsmacht im östlichen Mittelmeerraum.

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5 Markante Profile Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen. (Friedrich Schiller, Die Räuber)

Perikles Ganz nach der Art der Medici hat auch Perikles seine Herrschaft lediglich als „erster Bürger“ ausgeübt, indem er seine Macht nicht auf Erbrecht und Gottesgnadentum, sondern auf politische Klugheit, die Suggestion seiner Persönlichkeit und den Glanz der durch ihn geförderten Künste stützte. (Egon Friedell)

A

ls im Jahr 472 v. Chr. der gefeierte athenische Tragödiendichter Aischylos sein Drama Die Perser aufführte, übernahm ein junger Mann, der aus einer angesehenen athenischen Familie stammte, die Choregie. Sein Name war Perikles, Sohn des Xanthippos und der Agariste, einer Dame aus dem Geschlecht der Alkmeoniden. Einen großen Einfluss auf seine intellektuelle Entwicklung dürfte der Philosoph Anaxagoras von Klazomenai, der einige Zeit in Athen weilte, ausgeübt haben. Im Rampenlicht der politischen Bühne Athens trat der junge Mann erstmalig im Jahr 463 v. Chr. als Ankläger im Prozess gegen Kimon auf, der mit der Verbannung des spartafreund­ lichen Staatsmannes endete. Nach der Ermordung des Ephialtes (461 v. Chr.), der durch die Entmachtung des Areopags einen wesentlichen Schritt zur Demokratisierung Athens vollzogen hatte, setzte Perikles dessen Politik fort, indem er für die Stärkung des Rates und der Volksversammlung eintrat und den Archonten das Vetorecht gegen Beschlüsse der Volksversammlung wegnahm. Später wird er durch eine Erhöhung der Geschworenenzahl die Kompetenzen der Volksgerichte ausweiten, womit eine wesentliche Grundlage zum Ausbau des demokratischen Systems geschaffen wurde.82 Ausschlaggebend für sein politisches Wirken wurden seine brillante Rhetorik und seine bestechende Überzeugungskraft, dank derer er die Entschei-

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dungsgremien der athenischen Demokratie (Rat und Volksversammlung) für seine Vorhaben immer wieder gewinnen konnte. In den Jahren zwischen 443 und 429 v.  Chr. wurde er nicht weniger als fünfzehn Mal zum Strategen gewählt, womit er einen überragenden Einfluss auf das politische Tagesgeschehen geltend machen konnte. Innenpolitisch führte er Diätenzahlungen für die Bürger ein, die sich in den Institutionen des athenischen Politikbetriebes engagierten. Damit sollte vor allem den ärmeren Bevölkerungsschichten die Teilhabe an den demokratischen Prozessen erleichtert werden, da sie nun einen pekuniären Ausgleich für den entgangenen Arbeitslohn vom Staat erhielten. Den dadurch gestiegenen Finanzbedarf holte man sich von den Tributen der Bundesgenossen des Attisch-Delischen Seebundes, die in zunehmendem Maße für die Ausgaben der athenischen Staatskasse aufzukommen hatten. Außenpolitisch versuchte Perikles zu einem Ausgleich mit dem Perserreich zu gelangen, um stabile Verhältnisse in dem für die Wirtschaft Athens lebenswichtigen Ägäisraum zu bekommen. Im Gegenzug befolgte er eine konfrontative Politik gegenüber Sparta, die durch ein Bündnis mit Argos, Spartas Gegenspieler auf der Peloponnes, ihren sichtbaren Ausdruck fand. Bald geriet Athen aufgrund seiner maritimen Expansionsbestrebungen, die etwa auf der Insel Euböa vom Erfolg gekrönt wurden, in Konflikt mit anderen griechischen Seemächten, die sich ebenso um die Kontrolle von Schiffsrouten, Märkten und Einflusszonen bemühten. Die athenische Flotte versuchte mit wechselndem Erfolg sich eine Vormachtstellung am Golf von Korinth, in der Ägäis und auf Zypern zu verschaffen. Eine Expedition nach Ägypten (454 v. Chr.) scheiterte jedoch kläglich, weil man die eigenen Ressourcen überstrapaziert und das ­gegnerische Potenzial unterschätzt hatte. Daraus zog Perikles Konsequenzen. Mittels eines großangelegten diplomatischen Vorstoßes wollte er die endlosen Streitigkeiten der griechischen Poleis beenden und unter Wahrung von Athens Ansprüchen auf eine Hegemonialstellung zur See eine dauerhafte Friedensordnung herbeiführen, was aber der Quadratur des Kreises gleichkam. Nicht ganz überraschend erhoben Korinth und Sparta Bedenken gegen diesen Plan. Es sollten gerade diese Städte sein, die 431 v. Chr. zum Schlag gegen Athen aus­ holen und damit den blutigsten Krieg der griechischen Geschichte mit ver­ ursachen würden. Ob allerdings im Jahr 449 v.  Chr. durch Vermittlung des Atheners Kallias ein Ausgleich mit dem Achaimenidenreich erzielt werden konnte, ist, wie Klaus Meister aufgezeigt hat, unwahrscheinlich.83 Nichtsdestotrotz hielten sich in diesen Jahren die Perser in der Ägäis zurück, und Athen verzichtete im Gegenzug auf künftige Interventionen in Ägypten, Zypern und der Levante. Dies entsprach den Zielsetzungen des Perikles, der eine Befriedung der Ägäisregion auf der Basis des Status quo anstrebte.84 Dagegen blieb 289

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die Lage im Kernbereich des griechischen Mutterlandes nach wie vor spannungsgeladen, weil zahlreiche Konfliktherde und Rivalitäten, insbesondere mit Athens nördlichem Nachbarn Theben und vor allem mit den peloponnesischen Mächten Korinth und Sparta, die sich vor dem Einschüchterungspotenzial der athenischen Flotte fürchteten, nicht dauerhaft entschärft werden konnten. In dieser politisch bewegten Ära sorgte Perikles dafür, dass seine Heimatstadt eine bedeutende Anzahl von Repräsen­tations­bauten erhielt, welche die von Xerxes zerstörte peisistratidische Stadt in die ansehnlichste Metropole Griechenlands verwandelten.85 Damals wurde auch der auf Themistokles zurückgehende Plan vollendet, die Errichtung eines gewaltigen Verteidigungswalls (Langen Mauern), der Athen mit dem Hafen von Piräus verband. Aber die Tätigkeit des Perikles erstreckte sich auch auf das Geistesleben der Stadt, die sich gerade in dieser Zeit zum Magnet für die namhaftesten Kulturschaffenden und Intellektuellen Griechenlands entwickelte. In diesem Zusammenhang spielte seine Lebensgefährtin Aspasia, eine Dame aus Milet, eine zentrale Rolle. Entgegen der Verleumdungen einer frauenfeindlich eingestellten Publizistik war sie eine hochgebildete Stütze ihres außergewöhnlichen Mannes gewesen, die schon deswegen herausragte, weil ansonsten die athenischen Frauen ein zurückgezogenes Leben im Schatten ihrer Männer führten und keine nennenswerte Rolle in der Öffentlichkeit spielten.86 Die Persönlichkeit des Perikles als Impulsgeber und Lenker der athenischen Politik lässt sich kaum von dem ungeheuren Aufschwung seiner Heimatstadt trennen, die sich in den Jahren seiner politischen Wirksamkeit zum kulturellen, ökonomischen und politischen Mittelpunkt Griechenlands entwickelte. Thukydi­des versuchte in analytischer Weise, ihm nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg, die durch seine Politik zumindest mitverschuldet worden war, gerecht zu werden, indem er diesen außergewöhnli­chen Mann in seiner ganzen Widersprüchlichkeit darstellte. Bezüglich seines Verhältnisses zu Athen sagte er: So war es (das Gemeinwesen der Athener) dem Namen nach Demokratie, in Wirklichkeit aber die Herrschaft des ersten Mannes.87 Sein Verhältnis zur Volksversammlung der Athener umschrieb Thukydides folgendermaßen: Perikles konnte die Masse in Freiheit niederhal­ten und ließ sich nicht von ihr führen. 88 Der zeitgenössische Historiker würdigte Perikles in differenzierter Weise, indem er einerseits dessen Verdienste um den athenischen Staat heraushob, andererseits aber die Schattenseiten seiner Politik nicht aussparte. In Perikles ver­dichtete sich die Ambivalenz der athenischen Demokratie. Als Angehöriger des einflussrei­chen Alkmeoni­denhauses und stetig mächti­ger geworden im Gefolge der Umset­zung seiner politischen Vorstellungen exemplifiziert er, 290

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wie ein Einzelner gerade als Funktionsträger der Polis den Rahmen der Gleichheit spren­gen konnte. Bekannt ist ja die öffentliche Dominanz des Perikles-Kreises, dem ein tyran­nenähn­liches Hofleben nachgesagt wurde.89 Seit dem Altertum wird über Perikles’ Anteil am Ausbruch des Peloponnesischen Krieges heftig diskutiert. Obwohl sein Landsmann Thukydides ihn zu entlasten versucht, lässt sich kaum bestreiten, dass er zur Konfliktverschärfung beitrug, womit auf ihn ein Teil der Verantwortung fällt, etwa wenn man an sein gegenüber Sparta unkonziliantes Verhalten in der Megara-Affäre denkt. Was war vorausgegangen? Zwischen 435 und 433 v. Chr. waren heftige Streitigkeiten zwischen Korinth (Spartas Verbündeten) und Kerkyra ausgebrochen, an denen sich Athen auf Seiten der Kerkyräer beteiligte, womit der korinthische Einfluss am Ionischen Meer deutlich geschmälert wurde. Kurz darauf kam es in der korinthischen Tochterstadt Poteidaia, Mitglied des Attisch-Delischen Seebundes, zum Krieg mit Athen, weil die Athener den korinthischen Einfluss auf der strategisch wichtigen Halbinsel Chalkidike zurückdrängen wollten, um ihre lebenswichtigen Verbindungen nach Thrakien nicht zu gefährden. Für die Zeitgenossen noch gravierender war jedoch das Tauziehen zwischen Athen und Megara, das in einer Handelsblockade mündete, die der megarischen Schifffahrt die Häfen des Attisch-Delisch Seebundes versperrte. Diese mit ­Perikles’ Billigung auf den unterschiedlichen Konfliktfeldern eingeschlagene interventionistische Politik bildete eine schwere Belastung für die athenischspartanischen Beziehungen, die von den Peloponnesiern mit der Kriegseröffnung beantwortet wurde, was Athen aber nicht übermäßig überrascht haben kann. Mit diesem Ausgang der Konflikteskalation hatte Perikles wohl gerechnet und seine Heimatstadt darauf vorbereitet. Er hoffte mithilfe der angehäuften Geldmittel und mit der konsequenten Befolgung der richtigen Militärstrategie Athens Gegner in die Schranken zu weisen. Perikles’ militärische Vorgehensweise war angesichts des hoplitischen Übergewichtes seiner Gegner defensiv ausgerichtet gewesen, was nicht besonders überrascht. Wie bereits Themistokles einst beim Persersturm vorgeführt hatte, plante Perikles als letzten Ausweg die Evakuierung Attikas. Seine strategische Priorität sah die Verbarrikadierung Athens vor. Die gesamte Bevölkerung sollte innerhalb der Langen Mauern, die Athen mit dem Hafen von Piräus verband, Schutz finden und dort den Fortgang der Ereignisse abwarten. Unter keinen Umständen dürfte eine Feldschlacht riskiert werden. Vielmehr sollten mittels des Einsatzes der Flotte den Angreifern empfindliche Nadelstiche zugefügt werden. Folgerichtig schwor Perikles die Athener darauf ein, sich auf eine längere Phase des Ausharrens einzurichten. Schließlich mahnte er sie eindringlich, solange der Krieg währte, keine Gebiets­ 291

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erwerbungen anzustreben, sondern den Status quo zu erhalten. Perikles’ Kalkül war klar: Die Vorstöße der Peloponnesier sollten ins Leere laufen, ferner sollten diese aus Erschöpfung und Erfolglosigkeit die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens einsehen, während zwischenzeitlich die athenische Flotte die belagerte Stadt versorgte, die Gebiete der Feinde verwüstete und so einen ­Beitrag zu ihrer Demoralisierung leistete. Perikles’ Plan war verwegen und gefährlich zugleich. Sein Gelingen hing von vielen Unwägbarkeiten ab. Dazu war ein eiserner Durchhaltewille nötig angesichts der jährlich stattfindenden Überfälle der Peloponnnesier in Attika, welche die Lebensgrundlagen der ländlichen Bevölkerung nachhaltig beschädigten. Doch es kam noch schlimmer. Im Jahr 430 v. Chr. brach eine verheerende Epidemie in der übervölkerten Stadt Athen aus, die einen Teil der Bürgerschaft hinwegraffte. Das athenische Militärpotenzial wurde aufgrund dieser Seuche empfindlich dezimiert, Friedensbereitschaft machte sich breit. Bald darauf starb Perikles. Mit seinem Tod spitzte sich die Krise seiner bedrängten Heimatstadt zu, nachdem ihr die Grenzen ihrer politischen Kapazität aufgezeigt worden waren. Perikles kann als Beispiel dafür gelten, dass die Ansprüche des Individuums immer stärker an Gewicht gewannen gegenüber der isonomen Gesellschaft der Politen. Trotz des unbestrittenen Glanzes des perikleischen Athen, das sich zum Kristallisationspunkt für Politik, Kultur und Wirtschaft in Griechenland entwickelte, darf der Blick auf die negativen Begleiterscheinungen dieser Boomphase attischer Prosperität nicht versperrt werden. Es waren vor allem die Bundesgenossen, die den Preis für den demokratischen Aufbau und die zivilisatorischen Errungenschaften Athens zu entrichten hatten. Auf ihren Schultern ruhte ein Großteil der Lasten. Ein anderer, nicht minder bedeutsamer Anteil wurde von der verhältnismäßig großen Menge der athenischen Sklaven getragen  – auch dies ein unabdingbares Merkmal der athenischen Demokratie –, die durch ihre harte Arbeit, etwa in den Bergwerken von Laureion, den wirtschaftlichen Aufschwung Athens ermöglichten.

Pompeius Weder unsere Gebrechen noch die Heilmittel vertragen wir mehr. (Titus Livius)

Lässt sich Gnaeus Pompeius als die verpasste Chance der römischen Repu­ blik begreifen, wie eine griffige Formulierung namhafter Forscher suggeriert?90 Dies zu vermuten, hieße, dem seit den gracchischen Konvulsionen 292

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und der sullanischen Rosskur angeschlagenen Gemeinwesen eine Überlebenschance einzuräumen.91 War dies aber wirklich der Fall? Ein Blick auf das politische Gerangel der sechziger und fünfziger Jahre des 1. vorchristlichen Jahrhunderts lässt daran Zweifel aufkommen. Einerseits war die Verwandlung der römischen Repu­blik zu einer faktischen Monarchie keine zwangsläufige Entwicklung, sondern Ergebnis eines langen und komplexen Transformationsprozesses, der mit den spezifischen innenpolitischen Realitäten und mit dem Verhältnis zwischen Machtzentrale und Peripherie (Provinzen) aufs Engste zusammenhing. Andererseits lässt sich rückblickend betrachtet eine progressive Desintegration der römischen Führungsschicht ausmachen, die aufgrund von Parteibildungen, unversöhnlichen Frontstellungen, ungehemmtem Ehrgeiz, Skandalen und übermäßiger Verschuldung ihre Regierungsfähigkeit zunehmend einbüßte. Unmittelbare Konsequenz daraus war eine asymmetrische Machtverlagerung zugunsten weniger Personen und Machtgruppierungen auf Kosten der Standessolidarität und der politischen Stabilität. Hinzu kam, dass sich die Vergrößerung des Reiches als nachteilig für die Aufrechterhaltung der politischen Architektur der Repu­blik auswirkte. Die territorialen Erwerbungen bildeten eine ungegliederte Masse unterschiedlicher Problemfelder, deren Kernzellen die zahllosen tributpflichtigen, freien und verbündeten Städte waren, auf denen die Wirtschaftskraft Roms beruhte. Eine sachgerechte Verwaltung dieser heterogenen Gebiete überforderte das traditionelle Herrschaftsgefüge, weil es mit dem Instrumentarium des Stadtstaates ein gewaltiges Imperium mehr schlecht als recht zu verwalten versuchte. Unmittelbare Folge davon war sowohl die Überdehnung des politischen Systems als auch die Entstehung von Disproportionen, was zu explosiven Machtballungen führte. Die Bildung enormer Herrschaftsbereiche im Osten (Pompeius) und im Westen (Caesar) verschaffte ihren Schöpfern gewaltige Klientelen, Truppenkontingente und materielle Ressourcen, deren Potenziale die Praxis des aristokratischen Gleichgewichtes aus den Angeln hob. Der immer größer werdende römische Herrschaftsbereich erwies sich aufgrund seiner Schwerkraft als Totengräber der Repu­ blik. Dass zunächst Pompeius, dann Caesar und schließlich Augustus die Phasen des repu­blikanischen Zerfalls beschleunigten, lag nicht zuletzt in der Struktur des Imperiums begründet, wie schon der neuzeitliche Staatstheoretiker Montesquieu erkannt hatte. Welchen Anteil hatte Pompeius (106–48 v. Chr.) an diesem Erosionsprozess? Hat er ihn angefacht oder nur beschleunigt?92 Bereits im jugendlichen Alter beteiligte er sich an den blutigen innenpolitischen Machtkämpfen auf Seiten Sullas, dem er eine aus eigenen Machtmitteln heraus rekrutierte 293

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Marmor-Kopf des Gnaeus Pompeius, 1. Jh. v. Chr., Höhe 41 cm; Kopenhagen, Carlsberg Ny Glyptotek

Armee zur Verfügung stellte. Jahrelang übte er höchste militärische Funktionen aus, ohne zuvor eine ordentliche Magistratur bekleidet zu haben.93 Pompeius agierte erfolgreich in Italien, Sizilien und Nordafrika, womit er zum Sieg der sullanischen Sache beitrug. Sein militärischer Ruhm wuchs noch mehr, als er mit der Kriegführung gegen Sertorius in Hispanien beauftragt wurde, wo es ihm gelang, den letzten Widerstand gegen das sullanische Regiment zu brechen.94 Nach Rom zurückgekehrt, bekleidete er zusammen mit Marcus Licinius Crassus das Consulat, womit er auf Anhieb an die Spitze der Exekutive gelangte (70 v. Chr.). Ihre Position benutzten die beiden ehemaligen Anhänger Sullas, um dessen unpopulärste Maßnahmen aufzuheben. Dazu gehörten die Wiederherstellung der vom Diktator beschnittenen Befugnisse der Volkstribune sowie die Aufhebung des Senatsmonopols auf die Besetzung der Gerichte, die in allerdings moderater Form nun wieder den Rittern zugänglich gemacht wurden. Kurz darauf begann eine neue 294

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Phase in Pompeius’ politischer Laufbahn, die durch die Übernahme außerordentlicher Kommandos bestimmt wurde. Den Anfang machte eine auf Betreiben des Volkstribuns Gabinius durchgesetzte Beauftragung mit einem Imperium von nie dagewesenem Umfang zur Säuberung des Mittelmeeres von der Seeräuberplage (lex Gabinia de bello piratico, 67 v. Chr.). Pompeius erhielt Schiffe, Truppen, Geld und Befugnisse in fast unbeschränktem Ausmaß.95 Außerdem war seine Befehlsgewalt jener der Provinzstatthalter übergeordnet. Ebenso spektakulär wie die Größe der Aufgabe war der erzielte Erfolg. Nach wenigen Monaten herrschte auf den Hauptseewegen Ruhe: Die Getreideflotten konnten die Häfen Italiens ungestört anlaufen.96 Angesichts dieser beeindruckenden Leistungsbilanz schien es nur folgerichtig, dass gerade ihm die Lösung der größten außenpolitischen Herausforderung zugetraut wurde: Die Führung des Krieges gegen Mithridates.97 Eine Generation lang beschäftigte der König von Pontus die römischen Ostarmeen, die seit Sullas Zeiten sich mit unterschiedlichem Erfolg mit ihm gemessen hatten. Im Jahr 68 v. Chr. schien Mithridates endgültig am Ende. Nach zwei Niederlagen gegen Lucullus in Armenien waren seine militärischen Mittel und auch sein politisches Kapital erschöpft. Doch Meutereien im Heer des Lucullus führten zu einem Rückschlag. Da die Legionen weitgehend paralysiert waren, gelang es Mithridates, eine römische Abteilung zu schlagen, sein Reich wieder in Besitz zu nehmen und erneut die römische Stellung in Kleinasien zu erschüttern. Angesichts der verfahrenen Situation in diesem nicht enden wollenden Krieg sollte Pompeius die leidige Angelegenheit definitiv lösen. Es wurde eine Erweiterung der 3-jährigen unumschränkten Weisungsbefugnis aus dem Seeräuberkrieg um die römischen Ostprovinzen in Aussicht genommen. Deren Statthalter sollten Pompeius untergeordnet werden, der den Oberbefehl über alle römischen Truppen in dieser Region führen sollte. Zwar wurde der Antrag des Manilius (lex Manilia de imperio Cn. Pompeii, 66 v. Chr.) von den meisten Senatoren abgelehnt, doch die Volksversammlung stimmte dafür, und bei ihr lag das letzte Wort. Pompeius erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen. Noch im selben Jahr besiegte er Mithridates am Euphrat. In der Verfolgung des Gegners drang sein Heer 65 v. Chr. schließlich bis in den Kaukasus vor.98 Er nutzte diesen Sieg zu einer umfassenden territorialen Neuordnung der gesamten Region, die bis über das Ende der Antike hinweg Bestand haben sollte. Das Seleukidenreich wurde noch während des Krieges aufgelöst und in die römische Provinz Syrien umgewandelt, während Judäa nach der Eroberung Jerusalems als Klientelstaat eingerichtet wurde. Neben Asien wurden nun auch ­Kilikien, Bithynien und Pontos der direkten Herrschaft Roms unterstellt.99 295

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Um die neuen Provinzen herum gruppierte sich ferner eine Vielzahl von Klientelstaaten (Galatien, Kommagene, Kappadokien), deren Regenten ihre Machtstellung Pompeius verdankten. Im Osten des Reiches wurde nunmehr eine systematische Raumordnung errichtet, die als Modell für die weitere Umgestaltung des gesamten provinzialen Reichsgebietes dienen konnte. Pompeius’ Aufenthalt im östlichen Mittelmeerraum und seine Neuordnung der geostrategischen Landkarte dieser Weltgegend haben die politische Dynamik der letzten Phase der römischen Repu­blik maßgeblich beeinflusst. Der wie ein neuer Alexander auftretende Pompeius schuf ein, den Anforderungen einer Weltmacht adäquateres System römischer Provinzialadministra­ tion, das als Vorbild für die Reichsverwaltung der Principatszeit dienen sollte und aus ihm einen übermächtigen Patron des Ostens machte.100 Rund um die Frage der Annahme oder Ablehnung der pompeianischen Ostpolitik schieden sich die Geister im römischen Senat. Eine von Lucullus, Catulus, Bibulus und Cato angeführte Senatsgruppe ging auf Konfrontationskurs mit dem starken Mann der Repu­blik. Diese Frontbildung nutzte der begabte Gaius Julius Caesar, seit 63 v. Chr. Pontifex Maximus und aussichtsreicher Kandidat für das Consulat, um Pompeius mit dem einflussreichen Crassus zu versöhnen (ihr gemeinsames Consulat aus dem Jahr 70 v. Chr. hatte mit einer Fehde geendet) und damit ein schlagkräftiges Bündnis zu schmieden, das stärker als die mächtigste Senatsgruppierung sein würde.101 Ende der sechziger Jahre standen sich zwei Lager gegenüber. Die Gegner des Pompeius stellten die Senatsregierung über die Alleingänge militärisch begabter Standesgenossen, auch wenn, wie im Falle des Pompeius, diese dem Staat durchaus Vorteile einbrachten. Gekränkte Eitelkeiten (Lucullus), Rigorismus (Cato), die Sorge um den Fortbestand der herrschenden Oligarchie oder die Angst vor einem allzu großen Protagonismus Einzelner wurden zunehmend zu Maßstäben der Politikgestaltung. Auf der anderen Seite erreichte die Sucht nach Befriedigung des eigenen Ehrgeizes einen neuen ­Höhepunkt. Es war die Tragödie der Repu­blik, dass ihre politische Führung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, dieser Gefahr nicht anders zu begegnen wusste als durch eine Politik der Machtverweigerung gegenüber ihren tüchtigsten Mit­gliedern. Die Probleme, mit denen der römische Staat konfrontiert war (Aufstände in den Provinzen, Bürgerkriege, Sklavenrevolten, Proletarisierung Roms und Italiens, Wirtschaftskrisen, Piraterie etc.) ver­langten eine größere Flexibilität in der Auswahl der Mittel, als dies etwa durch den Einsatz eines mit umfangreichen Vollmachten ausgestat­teten Amts­trägers gelegentlich vorkam. Durch die Bewältigung solcher Aufgaben aber drohte 296

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der Einzelne eine überragende Macht über seine Standesgenossen im Senat zu erlan­gen. Beherrscht von Misstrauen gegen jeden, der die aristokrati­sche Gleich­heit zu sprengen drohte, und besessen von der Furcht vor einer Alleinherr­schaft, verzichtete die Nobilität eher auf jegliche Krisenbewältigung, als dass sie das Risiko einer Entmachtung durch eines ihrer Mitglieder eingegangen wäre. Sie schien das Ver­trauen in ihre Institutionen und in die Integrationsfähigkeit ihres Herrschaftssystems verloren zu haben. Bereits der zeitgenössische Historiker Asinius Pollio sah in der Absprache (coitio) des Jahres 60 v. Chr. den Anfang vom Ende der libera res publica, als der ruhmreiche Feld­herr Pompeius, der geschickte Taktiker Caesar und der vermögende Crassus übereinkamen, ihre politische Zukunft miteinander abzustimmen. Vor­ausgegangen war die Brüskierung des Pompeius durch die Nobilität. Der nach dem Mithridatischen Krieg siegreich aus dem Osten zurückgekehrte Feldherr entließ nach Betreten des itali­schen Bodens seine Kriegsveteranen und begab sich ohne Druck­mittel nach Rom, in der Hoffnung, vom Senat die An­erkennung für seine ergriffenen Maßnahmen zu erhal­ten.102 Pompeius hätte dem Beispiel Sullas folgend sich mithilfe seiner Truppen Roms bemächtigen können, wie viele offenbar erwarteten. Doch er tat es nicht. Vielmehr löste er seine Armee auf und streckte damit den repu­blikanischen Institutionen die Hand hin. Aber der Senat reagierte anders, als Pompeius erwartet hatte. Weder erkannte er die von Pom­peius im Osten getroffenen An­ordnungen an, noch bewilligte er die Ver­sorgung von dessen wichtig­ster Klientel, den Veteranen.103 Damit wurde die Chance verspielt, den mächtigen Militärpotentaten in die repu­blikanische Verantwortung zu integrieren. Die Erfahrungen nach Pompeius’ Rückkehr aus dem Osten (62–60 v. Chr.) verdeutlichten, dass der faktische Herrscher über weite Teile des Imperiums in der Stadt Rom nur einer unter vielen Senatoren war, die ihn gelegentlich seine Ohnmacht spüren lassen konnten. Erbittert über die ihm widerfahre­ne Behandlung brachte Pom­peius, vom amtierenden Consul Caesar gestützt, der keine Rücksicht auf den Senat nahm, seine Anliegen durch (59 v. Chr.). Damit begann eine Phase des Antagonismus zwischen Pompeius und dem Senat, die ein Jahrzehnt dauern sollte und einen entscheiden­den Anteil am Zusammen­bruch der Repu­blik hatte. Denn die in der römischen Aristokratie stets vor­hande­ne, seit den Gracchen und Sulla verschärfte Angst vor über­mächtigen, mit außerordentlichen Gewalten ausgestatteten Stan­desge­nossen trieb die Nobilität zu einer Ver­ weige­ rungshaltung, die der Entfremdung d ­es Pompeius vom Senat Vor­schub leistete. Da­durch nahm der Senat Partei und hörte auf, eine unabhängige, über den ver­schiedenen Interessengruppen stehende Instanz 297

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zu sein. Seine traditionelle Schlichtungs­funktion, die seit den Gracchen erste Risse aufwies, wurde in der späten Repu­blik die Ausnahme. Die große Politik spielte sich immer häufiger außerhalb oder gegen den erklärten Willen des Senates ab. Doch obwohl im Jahre 58 v. Chr. Pompeius, Caesar und Crassus die gesteckten Ziele erreicht hatten und ihre gemeinsame Macht den stärksten Faktor in der römischen Politik darstellte, war ihre­ künftige Zusammen­arbeit nicht unproblema­tisch. In dem Maße, wie sie durch ihr abgestimmtes Verhal­ten sich gegenseitig Vorteile verschaffen konnten, reduzierte sich die gemeinsame Basis ihres Zweckbündnisses; denn die jeweilige Macht­zunahme verlief keineswegs gleichmäßig und verursachte so ein Un­gleichgewicht in der Allianz. So musste Caesars gallisches Imperium langfristig Pompeius misstrauisch machen. Um mit seinen Verbündeten gleichzuziehen, versuchte auch Crassus Mitte der fünfziger Jahre, durch die Übertragung eines Oberkommandos in Syrien einen Aus­ gleich gegenüber seinen Verbündeten zu erhalten. Nach seinem Tod im Jahr 53 v.  Chr. bei Carrhae im Krieg gegen die Parther lockerte sich die ­Allianz zwischen Pompeius und Caesar.104 Einige Zeit danach zerbrach sie vollends. Vorausgegangen war Julias Tod, Caesars Tochter und Gattin des Pompeius, die ein wertvolles Pfand für den Bestand des Bündnisses gewesen war. Pompeius verständigte sich nun mit der Gruppe um Cato, Bibulus und Metellus Scipio, die den Senat dominierte und isolierte so den in Gallien operierenden Caesar.105 Als Gegenge­wicht zu Caesar erhielt Pompeius die Statthalterschaft von Hispanien. Gegen alles Herkommen blieb er in der Nähe Roms, um so seinen Einfluss an der Schaltstelle der Macht besser geltend machen zu können. Die ihm aufgetragene Provinz ließ er durch Legaten verwalten, was rück­ blickend betrachtet einen Vorgriff auf die sich unter Augustus durch­setzen­de kaiserliche Provinzver­waltung darstellte.106 Damit entstand für Caesar eine prekäre Lage. Gelang es ihm nicht, sich mit Pompeius auszusöh­nen, so waren seine weiteren Pläne, etwa sein zweites Consulat, in Frage gestellt und seine politische Karriere gefährdet. Wollte er trotz­dem seine Ansprüche auf eine leitende Stelle im Staat aufrechterhal­ten, was ihm aufgrund seiner Leistungen in Gallien nur allzu gerechtfertigt erschien, musste er alle Hilfsmittel, die ihm aus seiner Statthalterschaft zur Ver­fügung standen, mobilisieren. In diesem Sinne ist seine fieberhafte Tätigkeit in seinen Provinzen nach der Niederschlagung des Vercingetorix­-Auf­standes zu verstehen, welche die vorläufige Unterwerfung Galliens bedeutete (51 v. Chr.). Durch Aushebung weiterer Legionen baute Caesar seine Machtbasis auf. Damit machte er deutlich, dass er bereit war, notfalls mit Gewalt seine An­sprüche auf das zweite 298

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­ onsulat durchzusetzen. Der Bürgerkrieg lag in der Luft. Der sich in aller C Stille auf jede Eventualität vorbereitende Caesar entfaltete vor der römischen Öffentlichkeit eine publikumswirksame diplomati­sche Offensive, die von seinen Agenten (Curio, Antonius) im Senat lanciert wurde. Seine Strategie der Kriegsverhinderung befolgte er gleichwohl aus einer Position der Stärke heraus, und ein Eingehen auf die Vermittlungsvorschläge wäre einer Kapitulation seiner Gegner gleichgekommen. So kam die Eröffnung der Feindselig­ keiten von jener um Cato versammelten Gruppe, die Pompeius in ihren Bann gezogen hatte und auf den Krieg gänzlich unvorbereitet war. Vier Jahre lang wurde die gesamte Mittelmeerwelt Schauplatz erbitter­ter Auseinandersetzungen. Zu Beginn des Krieges besetzte Caesar Italien, das von Pompeius eilig geräumt werden musste.107 Dieser wich in den Osten aus, wo er über große Klientelen verfügte, und ver­suchte, von dort aus die verloren gegangene Kontrolle über Italien zu gewinnen. Auf der Gegenseite befand sich Caesar trotz der Erfolge seines italischen Feldzuges in einer schwierigen Lage. Die in Hispanien stationierten pompeiani­schen Legionen standen in seinem Rücken, verhinderten so eine Verfolgung des über die Adria entkommenen Pompeius und stellten darüber hinaus eine Bedrohung seiner gallischen Opera­tionsbasis dar. Um der Gefahr einer Umklammerung zu begegnen, begab sich Caesar kurz entschlossen nach Hispanien. Durch seinen Sieg bei Ilerda (49 v.  Chr.) nahm er die erste schwierige Hürde. Nachdem die pompeianische Armee in Hispanien besiegt war, verschwand auch die drohende Gefahr eines Zweifrontenkrieges. Danach bahnte sich ein Kampf zwischen der West- und Osthälfte des Reiches an, womit der Bürgerkrieg eine globale Dimension erreichte. Doch trotz der erzielten Erfolge war Caesars Lage keineswegs unproblematisch. Seine Gegner kontrollierten das Meer und konnten das Übersetzen der caesarianischen Legionen nach Illyrien erschweren sowie dessen Nachschub behindern. Caesar setzte alles auf eine Karte und suchte den schnellen Kampf mit seinen Gegnern jenseits der Adria. Die Entscheidung fiel in Griechenland. Auf dem Schlacht­feld von Pharsalos (48 v. Chr.) in Thessa­lien behielt Caesar die Oberhand. Das pompeianische Heer löste sich weitgehend auf. Pompeius wurde wenig später in Ägypten ermordet. Die alte repu­blikanische Staatsform wurde nomi­nell beibehalten. Der Staat aber lag als Beute in den Händen des Sie­gers. Damit hatte die auf aristokratische Gleichheit gegrün­ dete Repu­blik ausgespielt. Mit dem Verschwinden des Pompeius von der politischen Bühne Roms schien die Angst­vision der römischen Aristokraten Wirklichkeit geworden zu sein: Einer aus ihrer Mitte hatte sich zum Beherrscher über alle emporgeschwun­gen. 299

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Cicero Die Persönlichkeit des Marcus Tullius Cicero ist die mit Abstand bekannteste Gestalt der Antike, die uns durch ihr umfangreiches schriftliches Oeuvre, insbesondere den großen persönlichen Briefverkehr, einen tiefen Einblick in ihr Leben und ihr geistiges Inneres gewährt. Der bedeutendste Redner und ­Advokat seiner Zeit präsentiert sich als treusorgender pater familias und loyaler Freund, als standfester wie kluger Verteidiger und hoch gebildeter nobilis. Wir lernen aber auch einen eitlen und zögerlichen Menschen kennen, der zuweilen bereit war, alle Überzeugungen über Bord zu werfen, sich in maßloser Selbstüberschätzung erging und trotz seiner geistesbezogenen Lebensmaximen in Furcht oder blindem Hass agierte. Diese Einsichten zeichnen einen bemerkenswerten Politiker, Philosophen und Rechtsgelehrten mit seinen Stärken und Schwächen, der geprägt ist von Prinzipien und Idealvorstellungen, aber auch von Unsicherheiten, Irrungen und Fehlern, die sowohl seine Zeitgenossen als auch die nachfolgenden Generationen in der Auseinandersetzung mit seiner Person maßgeblich beeinflussten. So entstand im Laufe der Jahrhunderte eine schier endlose Zahl von Schriften, die in ihrer Ambivalenz der Einschätzung Ciceros kaum zu überbieten ist. Mit dem Consulat im Jahre 63 v. Chr. erreichte der aus Arpinum stammende homo novus nicht nur die Spitze der Ämterlaufbahn.108 Alle vorherigen Ämter im cursus honorum hatte Cicero jeweils, sobald er das nötige Mindestalter erreicht hatte, als Erster in der Wahl durch das Volk erlangen können.109 Dies war umso bemerkenswerter, war er doch als politischer Neuling wesentlich größeren Widrigkeiten ausgesetzt als die in Konkurrenz mit ihm stehenden alteingesessenen Eliten. So spricht Cicero selbst ausführlich von den Hürden, die ihm im Weg standen110, und wurde noch im Jahre 54 v. Chr. in höhnischer Anerkennung seiner Leistungen als „Romulus aus Arpinum“ bezeichnet.111 Es zeichnete ihn aber gegenüber der großen Mehrzahl seiner Zeitgenossen aus, dass seine Karriere im kompetitiven System der Repu­blik allein auf rhetorischen und politischen Leistungen fußte. Vor allem die Fähigkeiten auf diesem Gebiet führten ihn durch die Wirren der Bürgerkriege und die Diktatur Sullas an die Spitze des Staates, die viele andere erst und vor allem durch militärische Macht und Einfluss zu erreichen vermochten. Den Weg dorthin hatte Cicero zum großen Teil taktisch klug beschritten, ohne in den innen­ politischen Auseinandersetzungen eindeutig Position zu beziehen. Die Strategie des Wahlkampfes beschreibt das von seinem Bruder Quintus verfasste commentariolum petitionis mit treffender Kenntnis und Einschätzung der Umstände, Möglichkeiten und Widrigkeiten im Kampf um die Magistratu300

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ren.112 So hatte Cicero unter anderem das Amt des Volkstribuns ausgelassen, zeigte sich stets als überzeugter Anhänger der Senatsherrschaft und machte aus seiner Abneigung gegen die populare Methode als Demagogie keinen Hehl.113 Er verstand es dabei, sich dem Senat als Verteidiger der Vorrangstellung, den Vermögenden und equites als Wahrer von Privilegien und dem Volk Roms sowie den lokalen Eliten Italiens als Interessensvertreter zu präsentieren. Dies schuf eine breite Basis von Klientel-, Freundschafts- und Abhängigkeits­verhältnissen, die im Kampf um die Magistraturen unabdingbar waren. Die A ­ nnäherung an den Kreis des Pompeius, die Cicero sowohl aus ehrlicher Bewunderung als auch politischem Kalkül unternommen hatte,114 wurde allerdings zum Hindernis, sodass ihm aufgrund seiner Herkunft nicht nur der Zugang zum inneren Kreis der Elite verwehrt wurde, sondern ihm schließlich auch Ablehnung entgegenschlug.115 Trotzdem gelangte Cicero 63 v. Chr. zum Consulat. Seine Mitbewerber um dieses Amt, Antonius, Longinus, Galba und Catilina, alle von zweifelhaftem moralischem Ruf, bestechlich, teils ohne jedes Talent, aber bereit, für die Karriere jedes Mittel zu ergreifen, sprachen eine deutliche Sprache über den Zustand des politischen Personals der späten Repu­blik. Indem Cicero sich in der Wahl gegen diese Charaktere durchsetzte, erreichte er den Höhepunkt seiner Karriere und sah sich damit der traditionellen Aristokratie an auctoritas und dignitas gleich. Diese Sicht entsprach im Ganzen nur Ciceros eigenen Vorstellungen. Er idealisierte den Staat und den Dienst daran infolge seiner reflektierenden Geisteshaltung, vor allem, da er sich nicht im ererbten Besitz der Rechte der nobiles sah. Stattdessen stand er einer Elite gegenüber, die es in keiner Weise verstand, Flexibilität im Umgang mit einem Aufsteiger, den machtpolitischen Schwergewichten Pompeius und Caesar wie auch den Schwierigkeiten der res publica an den Tag zu legen. Vielmehr war man innerhalb der Aristokratie eifersüchtig darauf bedacht, das über die Jahrhunderte streng bewahrte Gleichheitsgefüge unter allen Umständen beizubehalten. Die Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung wurde Ciceros größter Triumph und gleichzeitig der Auslöser seiner schwersten Niederlage. Die Umstände der rechtlich umstrittenen Hinrichtung römischer Bürger führten zwar zu seiner Ernennung zum pater patrias, brachten ihm aber wenige Jahre später die Verbannung außerhalb Roms ein. Ciceros Ablehnung gegenüber den Angeboten Caesars, sein fehlender Rückhalt innerhalb der Nobilität116 und nicht zuletzt auch sein Herausposaunen des eigenen Ruhms117 brachten ihn am Ende in eine verzweifelte Situation, in der ihm die Rückendeckung durch die eigentlich wichtigen Persönlichkeiten verloren ging. In seiner Ablehnung gegenüber Caesar zeigte Cicero ausgerechnet die 301

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Integrität, die sich in letzter Konsequenz für ihn rächen sollte, obwohl er die drohenden Zeichen sehen konnte. So hatte Cicero verkannt, dass sich seine romzentrierte Haltung, die er in seinen Studien und eigenen Erfahrungen erworben hatte118, nicht länger mit den realpolitischen Gegebenheiten in Einklang bringen ließ. Die Geschicke der Weltmacht Rom wurden nicht mehr im kleinen Zen­trum des Forums, der Kurien und der Comitien entschieden, sondern an der Peripherie, im kleinen Kreis der militärischen Machthaber. Dies deckte die Schwäche des Senates deutlich auf, auch wenn die Rituale der politischen Kommunikation eine andere Wirklichkeit vorspiegelten. Das System der res publica und damit der inneraristokratische Konsens waren schon so weit unter die Räder gekommen, dass Ciceros Ideal­vorstellung eines gebildeten Politikers im Dienst für den Staat längst nicht mehr der Realität entsprach. Alle Intellektualität und Wortgewalt konnte nicht gegen die Partikularinteressen einzelner Potentaten bestehen. Hatte er noch im Jahr 60 v. Chr. zu hoffen gewagt, Pompeius wie auch Caesar zum „Guten“ leiten zu können,119 wurde er, der sich sein Leben lang nichts mehr wünschte, als Staatsmann zu sein, in dieser Konsequenz immer mehr in die Rolle eines machtlosen Beobachters gedrängt, dessen Resignation deutlich aus seinen Briefen sprach.120 So widmete Cicero sich bereits in den Jahren vor seinem Exil zunehmend seinen geistigen und literarischen Interessen, obwohl er doch nach eigener Meinung zu den tonangebenden Männern der Repu­blik gehören sollte. Die Briefe aus der Verbannung zeigen schließlich einen Mann, der einen tiefen Fall und persönlichen Schlag erlitten hatte, der aber auch in seinem persönlichen Unglück eine Tragödie für den Staat erblickte.121 Die ihm entgegenschlagenden Ovationen bei seiner Rückkehr, einhergehend mit der vollständigen Rückgabe seines Eigentums, die in der Rede de domo sua gipfelte, bestärkten Cicero für eine kurze Zeit in der Meinung, wieder eine führende Stellung im Staat einnehmen zu können und zu müssen. Allerdings endete der Versuch gegen Caesar, den er als die eigentliche Gefahr für die Repu­blik erkannt hatte, Front zu machen und sich Pompeius anzunähern, im Desaster: Zum einen kostete es Cicero die Sympathien der Nobilität. Zum anderen wurde er, indem er von Pompeius nachdrücklich zur Zurückhaltung aufgefordert wurde, das erste Opfer der im April 56 v. Chr. in Lucca erneuerten Übereinkunft zwischen Pompeius, Caesar und Crassus. Von dieser Wendung und ihren Folgen war Cicero so eingeschüchtert, dass er im Folgenden über die von ihm geforderte Neutralität hinausging und sich während des größten Teils der fünfziger Jahre zum Helfer der drei Potentaten machte. Die Erfahrung seiner Verbannung ließ ihn wie auch viele andere in der römischen Politik folgerichtig zu dem Schluss 302

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Marmor-Büste des Marcus Tullius Cicero, 1. Jh. v. Chr., Höhe 39 cm; Rom, Capitolinisches Museum

kommen, dass es die eigene Sicherheit und nicht zuletzt der Wunsch, an der aktiven Politik beteiligt zu bleiben, notwendig machten, auf die Machthaber zuzugehen.122 Vor allem diese Wende wurde Cicero in der Antike wie in der Moderne zum Vorwurf gemacht. Die Jahre vor und nach der Statthalterschaft in Kilikien 51/50 v. Chr. führten Cicero geradezu zum politischen Stillstand, der im Gegenzug geprägt war von einer herausragenden geistigen und schriftstellerischen Tätigkeit. Erst der Tod Caesars ließ ihn aus seiner Apathie erwachen, den letzten Kampf um die Repu­blik und ihre überkommenen Normen aufnehmen und für sieben Monate vom Dezember 44 bis Juli 43 v. Chr. wieder zu einem der führenden Politiker im Staat werden.123 Aber dieser einzige Kampf, den Cicero mit 303

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s­ einen Waffen wirklich bis zum Ende focht, ging verloren, und er bezahlte ihn mit seinem Leben. Wieder hatte er sich in Antonius und vor allem Octavian mit Männern eingelassen, die im tödlichen Machtspiel der ausgehenden Repu­blik bereit waren, alle moralischen und rechtlichen Grenzen zu überschreiten und zum eigenen Vorteil zu agieren.124 Diese letzte Episode ist geradezu beispielhaft für das politische Leben Ciceros. Trotz seiner herausragenden Autorität und seines Ansehens fehlte ihm der absolute Wille zur Macht. Dies entsprach auch nicht seinem Charakter. Cicero blieb eine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit, ein Patriot125 mit Prinzipien und geistigen Idealvorstellungen, die den realpolitischen Gegebenheiten der späten Repu­blik nicht gewachsen waren, wahrscheinlich nicht einmal denen früherer Zeiten, vor allem aber nicht den großen Charakteren seiner Zeit wie Pompeius, Sulla, Antonius und vor allem Caesar. Seine gedankliche Konstruktion der res ­publica und ihrer Führer konnte zwar dem Bild genügen, dass Cicero von seinem geliebten Vaterland hatte – die Wirklichkeit allerdings agierte weit daran vorbei. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die große Politik auf ihn keine Rücksicht nahm und er allzu oft in seinem Tun und Handeln scheiterte. Sicherlich hätte Cicero viel darum gegeben, ein erfolgreicherer Politiker zu sein, aber er war nicht gewillt, dafür jeden Preis zu bezahlen.126 Vielmehr tröstete er sich mit den Worten, dass der wahre Wert des Mannes nicht in dem liege, was er erreicht, sondern in dem, was er erstrebt habe.127

Fulvia Die späte Phase der römischen Repu­blik war eine Krisenzeit, in deren Verlauf sich eine drastische Radikalisierung der Politik vollzog. Gerade während der letzten Jahrzehnte kam es in Rom zu einer Machtverschiebung zugunsten weniger Potentaten. Dies ließ sich einerseits auf den bröckelnden Zusammenhalt innerhalb der adligen Führungsschicht, andererseits auf die territoriale Vergrößerung des römischen Herrschaftsbereiches zurückführen. Zumeist waren es mächtige Heerführer wie Pompeius und Caesar, welche die politischen Geschicke Roms leiteten. Das autoritäre Gebaren dieser exponierten Persönlichkeiten rief eine Gegenreaktion hervor, an der die res publica zu zerbrechen drohte. Um 75 v. Chr. wurde Fulvia in genau jene, von Wirren heimgesuchten letzten Jahrzehnte der Repu­blik hineingeboren. Aufgrund ihrer Herkunft verfügte sie über einen achtbaren familiären Status innerhalb der römischen Nobilität. Nacheinander war sie zudem mit drei der dominierenden Politiker ihrer Zeit verheiratet: In erster Ehe mit Publius 304

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Clodius Pulcher, dem berühmt-berüchtigten Volkstribun aus dem Jahr 58 v. Chr., in zweiter Ehe mit Gaius Scribonius Curio, Volkstribun des Jahres 50 v. Chr. und Caesars Legat im Bürgerkrieg, schließlich in dritter Ehe mit Marcus Antonius, dem bedeutenden Triumvir und späteren Unterlegenen im Machtkampf mit Octavian. In Rom standen die Frauen sozial, politisch und ökonomisch in der ­zweiten Reihe. Lebenslang verblieben sie unter männlicher Vormundschaft ­(tutela oder manus), da sie nach römischer Vorstellung nie die Vollkommenheit von Männern erlangen konnten. Allerdings war der Grad an ­Bevormundung, den sie erlebten, stark abhängig von ihrem Alter und der politischen Stellung der Familie, der sie entstammten. Als wichtigste gesellschaftliche Bestimmung aller Frauen oblag ihnen das Gebären legitimer Nachkommen. Ebenso zählten eheliche Treue (pudicitia), Loyalität und Geschick bei der Hausarbeit zu den Idealen einer römischen Frau. Obwohl sie keinen Anteil an der Leitung des Staates besaßen, übten gerade die vornehmen Damen einen beträchtlichen Einfluss aus, weil der politische und private Bereich in Rom nicht voneinander zu trennen waren. Auch Fulvia nahm durch ihre Ehegatten hautnah an den Geschehnissen rund um den innenpolitischen Zerfallsprozess der Repu­blik teil. Besonders auffällig trat sie als Ehefrau des Triumvirn Marcus Antonius in der Öffentlichkeit in Erscheinung. Nach der Ermordung Caesars an den Iden des März 44 v. Chr. billigte Antonius, der sich nun selbst auf dem Höhepunkt der Macht befand, seiner Gattin außergewöhnliche Aktionsräume zu, was ihr wichtige Handlungsspielräume eröffnete. Im Gegenzug setzte sich Fulvia konsequent für die Ziele ihres Ehemannes ein, selbst wenn dies ein Vordringen in den militärischen Bereich erforderlich machte, wofür ihre aktive Teilnahme am Perusinischen Krieg sinnfällig steht. Während der Kampfhandlungen, die sich über den Winter 41/40 v. Chr. erstreckten, soll Fulvia nicht nur mit Dolch und Rüstung aufgetreten sein, sondern in Praeneste sogar die militärische Führerschaft für sich beansprucht, eigenständig Truppenaushebungen unternommen und Befehle an die Soldaten ausgegeben haben. Fulvia hatte mit einem solch rigorosen Auftreten ihre bedingungslose pietas zu ihren Gatten demonstriert, damit gleichzeitig aber auch die Grenzen des traditionell Weiblichen endgültig überschritten. Dem Perusinischen Krieg vorausgegangen war eine Reihe von Ereignissen, die schließlich zu einem Streit zwischen dem jungen Caesarerben ­Octavius und Marcus Antonius um die Kontrolle Italiens führten, der das unterschwellige Konfliktpotential zwischen beiden Machthabern offen zu Tage treten ließ. Mit dem Auftrag, Rache an den Caesarmördern zu üben, 305

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hatten Antonius, Lepidus und Octavian zunächst im November des Jahres 43 v. Chr. – durch Senat und Volk legitimiert – diktatorische Vollmachten erhalten. Die Triumvirn erließen daraufhin Proskriptionen zur Unterdrückung der Opposition und bereiteten sich vor, mit den Caesarmördern abzurechnen. Im Herbst des Jahres 42 v. Chr. erlangten die Caesarianer nach der siegreichen Schlacht bei Philippi, die von Antonius geschlagen wurde und bei der Octavian als Randfigur agierte, ein erdrückendes Übergewicht. Danach war Antonius der führende Mann des Reiches, dem die Aufgabe zufiel, die Ostprovinzen zu verwalten. Octavian hingegen kam die Versorgung der Veteranen in Italien zu, weswegen er zu Beginn des Jahres 41 v.  Chr. nach Rom zurückkehrte. Fulvia und Lucius Antonius, damaliger Consul und Bruder des Marcus Antonius, befürchteten aufgrund der getroffenen Aufgabenverteilung einen baldigen Macht- und Ansehensverlust des abwesenden Triumvirn, sollte Octavian den Ruhm einer verdienstvollen Landversorgung der Veteranen für sich allein beanspruchen. Als sich Octavian schließlich von seiner Frau Claudia, der Tochter Fulvias, scheiden ließ und damit offen den Bruch mit seiner Schwiegermutter bekundete, war eine Konfrontation unausweichlich geworden. Gemeinsam beabsichtigten Lucius Antonius und Fulvia im Folgenden die Ansiedlungen der Veteranen zu verzögern, indem sie die italische Landbevölkerung wegen der drohenden Zwangsenteignungen gegen Octavian aufhetzten. Daneben trat Fulvia selbst mit ihren Kindern vor die Soldaten des Antonius, um dessen Treue für ihren Heerführer einzufordern. Die Situation hatte sich enorm zugespitzt, sodass auch die Schlichtungsversuche einiger Veteranen die folgende militärische Auseinandersetzung nicht vermeiden konnten.128 Fulvia, ihre Kinder sowie Lucius Antonius waren bereits nach Praeneste geflohen, von wo aus sie Marcus Antonius durch Briefe über die kritische Lage in Italien informierten.129 Während Lucius unterdessen wieder nach Rom zurückgekehrt war, blieb Fulvia in Praeneste, das sie nach der Aussage Cassius Dios für sich in Besitz nahm: Ja sie ließ sogar überallhin, wo es nötig war, Weisungen ergehen. Und was sollte sich jemand darüber wundern, wo sie sich doch gewöhnlich mit einem Schwert gürtete, Parolen an die Soldaten ausgab und oft sogar Ansprachen an sie richtete, lauter Dinge, womit sie Caesar Octavian noch zusätzlich treffen musste?130 Als Lucius Antonius zwischenzeitlich in der Stadt Perusia von den Truppen des Octavian, Salvidienus und Agrippa eingeschlossen worden war, verlor Fulvia keine Zeit und bemühte sich um Verstärkungen für ihren Schwager. Aus dem Bericht Appians geht hervor, dass sie Marschbefehle an die vier Feldherren ihres Ehegatten Ventidius, Asinius, Ateius und Calenus richtete, 306

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die sich in Gallien aufhielten. Weiterhin soll sie sogar eigenständig Truppen ausgehoben haben, die sie unter den Befehl des Munatius Plancus stellte, den sie anwies, Lucius Antonius zur Hilfe zu eilen. Es scheint so, dass Fulvia sogar persönlich vor das belagerte Perusia zog, zumindest lassen dies einige vor Perusia gefundene Schleuderbleie (glandes) vermuten.131 Neben den Befehlshabern Lucius Antonius und Octavian wiesen die Inschriften der Bleigeschosse auch Fulvias Namen auf, womit sie einen unmissverständlichen Beleg für ihre prominente Position darstellen. Im ursprünglichen Sinn dienten die gegen Fulvia gerichteten Aufschriften ausschließlich ihrer sexuellen Diffamierung, die bezugnehmend auf ihre widerrechtlich adaptierten männlichen Eigenschaften wie fortitudo, gravitas und severitas im Kontext einer gezielten Diskreditierung standen. Trotz ihres unermüdlichen Ehrgeizes und Engagements musste Fulvia schließlich tatenlos die Niederlage von Perusia mitansehen. Ihr blieb zuletzt nur die Flucht nach Athen, wo sie mit Marcus Antonius zusammentraf, der schwere Vorwürfe gegen seine Frau erhob. Nach seiner Abreise erkrankte Fulvia schließlich so schwer, dass sie wenig später mit nur fünfunddreißig Lebensjahren in Sikyon auf dem Peloponnes im Jahre 40 v.  Chr. verstarb.132 Der römische Geschichtsschreiber Appian, der gegenüber Fulvia voreingenommen war, kommentierte ihren Tod wie folgt: Ihr Tod schien beiden Parteien großen Nutzen zu bringen, war doch ein Störenfried von Weib aus dem Spiel genommen, eine Frau, die aus Eifersucht gegen Kleopatra einen so schlimmen Krieg angestiftet hatte.133 Neben dem Motiv der Eifersucht warf Appian Fulvia zudem gezielte Bestrebungen um die Errichtung der Monarchie vor, für deren Erlangung sie auch nicht vor einem Krieg zurückschreckte. Bewusst hätte sie sich demnach gegen die repu­blikanische Gesinnung ihres Schwagers Lucius gestellt, dem es in der Auseinandersetzung mit Octavian einzig an der Wiederherstellung der Repu­blik und dem Verhindern einer Alleinherrschaft gegangen war. Entsprechend legt Appian Lucius Antonius folgende Worte in den Mund, die er nach der Kapitulation von Perusia an Octavian gerichtet haben soll: Ich wusste, dass Fulvia auf Monarchie ausging, doch schloss ich mich ihr an und bediente mich der Soldaten meines Bruders, um euch samt und sonders zu stürzen. Auch jetzt werde ich mich, wenn mein Bruder kommen sollte, um der Alleinherrschaft ein Ende zu setzen, offen oder heimlich auf seine Seite schlagen und dich erneut um des Vaterlandes willen bekämpfen, obschon du dich mir gegenüber als Wohltäter erwiesen hast. Sollte aber auch mein Bruder jene auswählen und bevorzugen, die ihn bei seinen monarchischen Bestrebungen unterstützen wollen, dann werde ich ihn an deiner Seite bekämpfen, so lange als ich glauben kann, dass auch du nicht auf die Errichtung einer Alleinherr307

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schaft ausgehst; denn die Sache des Vaterlandes werde ich stets über Dankbarkeit und Familienzugehörigkeit stellen.134 Es bleibt festzuhalten, dass die Eigenmächtigkeit, mit der Lucius Antonius und Fulvia überhaupt handeln konnten, letzten Endes aus dem distanzierten Verhalten resultierte, das Antonius ihren Aktionen vor und während des ­Perusinischen Krieges entgegengebracht hatte. Denn obwohl er durchaus Kenntnis über die Ereignisse in Italien besaß, blieb er dennoch tatenlos und griff erst ein, als die Kapitulation Perusias längst besiegelt war. Danach befand sich Antonius jedoch in einer prekären Lage, da weitere Auseinandersetzungen mit Octavian drohten. Als die Verhandlungen um einen Waffenstillstand stagnierten, traf überraschend die Nachricht vom Tod Fulvias ein, die augenblicklich die entscheidende Wende in der als ausweglos erscheinenden Situation herbeiführte. Schnell kam es zu Schuldzuweisungen in Richtung Fulvia, die als alleinige Kriegsverursacherin abgestempelt wurde. Marcus Antonius und Octavian nahmen dies zum Vorwand, um ihre Aussöhnung zu besiegeln. Zumindest für diesen Augenblick war damit ein erneuter Bürgerkrieg abgewendet. Weitere zehn Jahre sollte das fragile Bündnis zwischen Marcus Antonius und Octavian halten, bis es schließlich mit dem Beginn des Actischen Krieges definitiv zerbrach.

Paulus Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. (Paulus, 2. Korintherbrief 3, 6)

Wie würde es um das Christentum gestanden haben ohne das energische Auftreten eines seiner wichtigsten Protagonisten, der durch seine unermüdliche Missionstätigkeit den nach Jesu Tod verunsicherten Anhängern Zuversicht und Glaube an die Zukunft vermittelte? Wenn es einen markanten Charakterkopf in dieser Frühphase der Konsolidierung des Glaubens an die messianische Sendung Jesu gibt, dann hat er einen Namen: Saul, besser bekannt als Paulus.135 Seine ansteckende Überzeugungskraft, seine Beharrlichkeit und Beredsamkeit sowie seine erstaunliche Mobilität im Dienste der Ausbreitung der Lehre vom auferstandenen Jesus sind entscheidend geworden für die Grundlegung des christlichen Glaubens und der sich darauf entwickelnden Kirche. Noch mehr als Petrus und die anderen Jünger der ersten Stunde, von denen sehr wenig zuverlässig überliefert worden ist, trat Paulus als Sprachrohr einer zu seiner Zeit unbedeutenden, gelegentlich angefein­ 308

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deten Kultgruppierung auf, die sich wie eine zarte Pflanze erst behaupten musste, um danach umso kräftiger und entschiedener zu gedeihen.136 Nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte stammte Paulus aus einer jüdischen Familie, die im kilikischen Tarsos beheimatet war, die sowohl das römische als auch das tarsische Bürgerrecht besaß. Er selbst bezeichnete sich als eifrigen Anhän­ger der Pharisäer. Ob er, wie viele andere Juden aus der Diaspora, eine Ausbildung in Jerusalem erhalten hatte, ist gut möglich, wenn auch nicht ausdrücklich belegt. Als sicher darf jedoch gelten, dass er als jüdisches Mitglied der griechisch sprechenden Diaspora sich die wesentlichen Grundlagen der hellenistischen Bildung angeeignet hatte. Die ersten erfahrbaren Lebenszeichen seiner Biographie führen uns nach Jerusalem, wo der aus Tarsos angereiste Paulus mit seinem Eintreten für pharisäische Grundsätze eine militante Haltung gegenüber der noch kleinen Schar der Jesus­ anhänger erkennen ließ. Dies äußerte sich in den Auseinandersetzungen mit den zur neuen Lehre übergetretenen Juden, die innerhalb der orthodoxen jüdischen Gemeinden Proselyten zu gewinnen trachteten. Die Dramatisierung dieser Ereignisse bis hin zu Gewalt und Mord, was vereinzelt vorgekommen sein mag, scheint dennoch etwas übertrieben, vielleicht sogar nachträglich konstruiert worden zu sein.137 Paulus, der im Gegensatz zu den zwölf Jüngern Jesus nie begegnet war, verstand sich aufgrund einer Vision des auferstan­denen Jesus, die er auf dem Weg nach Damaskus erlebt haben soll (um 32) als einen kraft gött­ licher Offenbarung auserwählten Apostel. Dieser Vorgang gewinnt wegen seiner vorangegangenen christenfeindlichen Gesinnung die Züge einer Bekehrung (aus Saulus wurde Paulus lautet das geläufige, griffige Stichwort dafür). Paulus selbst brachte seine Kehrtwendung mit Motiven aus der Prophetenberufung in Zusammenhang. Danach wurde Paulus nach seinem Selbstverständnis nicht nur missionierender Propagandist der neuen Lehre in der Diaspora, sondern empfand sich auch als die unmittelbar von Gott eingesetzte Autorität für die Verkündigung des Evangeli­ums unter den Heiden.138 Er deutete seine Stellung als eine Art Pendant zur Rolle des Petrus als Apostel der Juden. In dieser Funktion wird Paulus seine unverwechselbare Identität entfalten. Seine erste Reise führte Paulus zunächst von Syrien aus nach Arabien, in das Nabatäerreich, wo er einige Zeit verblieb. Möglicherweise fühlte er sich in Damaskus bedrängt und gönnte sich in einer abgelegenen Gegend eine Ruhepause, die vielleicht auch zur Selbstfindung diente. Als er nach Damaskus zurückkehrte, musste er sich vor Nachstellungen schützen. In einem Korb verborgen, überwand er die Stadtmauer und kehrte der Stadt den 309

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­Rücken.139 Er wird nicht wieder zurückkommen. Sein nächstes Ziel war Jerusalem, die Stadt, die aufgrund der sich dort ereignenden Leidensgeschichte Jesus’ und seiner Auferstehung als Zen­trum der jesuanischen Bewegung galt. Er verblieb nur wenige Wochen dort, aber sie reichten aus, um Petrus zu begegnen. Jakobus, den Leiter der Gemeinde, hat er ebenfalls getroffen. Es wird über ein Jahrzehnt vergehen, bis er die Stadt wieder betreten wird. Nach diesem Abstecher treffen wir Paulus in Antiochia. Die große hellenistische Metropole, wo sich, anders als in Jerusalem, die jüdischen Jesusbekenner und die heidnischen Jesusanhänger ungezwungen begegneten, bot ihm den geeigneten Nährboden für seine religiöse Sozialisation. Hier wurde zum ersten Mal der Name Christen für die Jesusanhänger benutzt: Inwiefern Paulus daran beteiligt war, entzieht sich unserer Kenntnis. Zusammen mit Barnabas unternahm Paulus eine Missionsreise nach Zypern und Kilikien. In Lystra soll er aus nicht ganz geklärten Gründen eine Steinigung nur knapp überlebt haben.140 Wieder nach Antiochia zurückgekehrt, wartete schon das nächste Missionsprojekt. Dieses Mal ging es nach Europa, genauer nach Achaia und Makedonien, wo er in Begleitung des Silvanus und Timotheus die Reise antrat. Letzterer wurde einer seiner wichtigsten Mitarbeiter, ein unermüdlicher Gehilfe in Sachen Bekehrung zum Christentum.141 Auf dem Landweg durch das innere Kleinasien gelangte Paulus, die Botschaft des Evangeliums verkündend, über Galatien in die Troas. Dann ging es auf dem Seeweg weiter Richtung europäisches Festland, das in der thrakischen Küste bei Neapolis erreicht wurde. Entlang der Via Egnatia gelangte er nach Philippi, wo eine christliche Gemeinde gegründet wurde. Sein Aufenthalt endete in einem Konflikt mit den örtlichen Behörden; vermutlich warf man ihm Störung des Religionsfriedens vor, wofür er eine körperliche Züchtigung über sich ergehen lassen musste. Danach zog Paulus unbeirrt weiter über Amphipolis nach Thessalonike, die Hauptstadt Makedoniens und Sitz des römischen Statthalters. Hier konnte er wertvolle Bekehrungserfolge verzeichnen, was ihn motivierte und zur Intensivierung seiner Missionstätigkeit anspornte. Seine nächste Station, die er auf dem Landweg erreichte, war Athen. In dieser kulturgeschichtlich legendären Stadt hat Paulus gepredigt und sich intensiv um die Gründung einer christlichen Gemeinde bemüht. Doch seine diesbezüglichen Bemühungen blieben erfolglos, wiewohl er einzelne Bekehrungen verbuchen konnte. Korinth bildete die nächste Etappe seiner Missionsreise. In dieser bevölkerungsreichen, weltoffenen Stadt wird er fast zwei Jahre verweilen. Hier schloss er Freundschaft mit Aquila und Priscilla, die zu seinen Unterstützern gehörten. Die korinthische Gemeinde entwickelte sich dank Paulus’ Einsatz zu einer der wichtigsten Stützpunkte 310

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der christlichen Lehre auf europäischem Boden. Nach getaner Arbeit verließ Paulus auf dem Seeweg Korinth, um über Ephesos und Caesarea nach Jerusalem zu gelangen. Nach über einem Jahrzehnt unermüdlichen Einsatzes hatte Paulus christliche Gemeinden in Kleinasien und Griechenland gegründet, zwischen denen er mehrmals hin- und herreiste und zu denen er eine ständige Verbindung durch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, sowie eine rege Korrespondenz aufrechterhielt. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als wandernder Handwerker.142 In den Werkstätten dürfte auch das ursprüngliche Zen­trum seiner missiona­rischen Tätigkeit gelegen haben. Seine Wanderschaft verlief aber nicht immer nach Plan und schon gar nicht friedlich. Oft traf er auf den gewaltsamen Widerstand und die unverblümte Abneigung derjenigen, die er zum Christentum bekehren wollte. Zusammen mit Barnabas und Titus, die sich ihm unterwegs angeschlossen hatten, begab sich Paulus zum Apostelkon­vent nach Jerusalem, wo eine wichtige Richtungsentscheidung über die Zukunft des Christentums gefällt werden sollte (48 oder 49). Die Führung der Jerusalemer Gemeinde, insbesondere Jakobus, scheint aus Furcht vor einer ausufernden Gemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen zur Vorsicht gegenüber einer allzu heidenfreundlichen Haltung gemahnt zu haben. Doch Paulus ließ sich nicht umstimmen. Nach heftigen Diskussionen, bei denen es nicht ohne Anfeindungen und Verletzungen zuging, erkannte die Jerusalemer Versammlung das Völkerapo­stolat des Paulus an. Er sollte künftig für die Verkündigung des Evangeliums unter den Nichtjuden zuständig sein. Entscheidend wurde vor allem aber der mit Blick auf die Heidenchristen durchgesetzte Verzicht auf die Beschneidung. Das Ergebnis erwies sich für die Zukunft als bahnbrechend, denn dadurch vollzogen die neuen Jesusanhänger eine Abkehr vom mosaischen Gesetz, das stets die Verbindung mit dem orthodoxen Judentum aufrechterhalten hatte. Mit der Zeit wird dies der Wendepunkt sein, der Christen und Juden trennen wird. Paulus war wesentlich dafür mitverantwortlich: Für seine Lehre sollte nicht mehr das Gesetz maßgeblich sein, sondern der Geist des auferstandenen Christus. Paulus machte sich von Jerusalem nach Antiochia auf, wo sich auch Petrus einfand. Es sollte dies die letzte Begegnung zwischen den zwei Gallionsfiguren der frühen Kirche werden. Über die Frage der Tischgemeinschaft der Judenchristen mit den Heidenchristen kam es zum Zerwürfnis, das für Paulus umso bitterer war, weil sein erprobter Weggefährte Barnabas sich auf die Seite des Petrus stellte.143 An dieser Frage spalteten sich die antiochenischen Christen, denn mit der Trennung bei den Mahlfeiern wurde ein 311

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­ esentlicher Teil des Gemeindelebens mitbetroffen. Paulus fand sich im w Recht, hatte doch neulich die Zusammenkunft in Jerusalem keine Bedingungen für den Übertritt der Heiden zum Christentum gestellt. Doch es ging um mehr. In der Rezeption der mosaischen Reinheitsauflagen durch die Heidenchristen erblickte Paulus eine Anerkennung des Gesetzes als heilstiftende Macht. Das war für ihn unakzeptabel: Nur der Glaube an Jesus Christus galt ihm als Weg zum Heil. Nach den Vorfällen von Antiochia machte sich Paulus zu seiner dritten und letzten Missionsreise auf, als dessen Drehscheibe er die Stadt Ephesos auswählte, die sich aufgrund ihrer Bevölkerungsstruktur und geographischen Lage geradezu anbot. Hier verbrachte er einen längeren Zeitabschnitt, den er einerseits nutzte, um in der Stadt das Evangelium zu verkünden, und andererseits, um Kontakte mit den bereits bestehenden Gemeinden mittels Briefen und Abgesandten zu pflegen oder Delegationen zu empfangen. Auch hat er von hier aus verschiedene Reisen unternommen, um die christlichen Gemeinden Kleinasiens, Makedoniens und Griechenlands zu betreuen. Ephesos wird der bisherige Höhepunkt seines apostolischen Wirkens. Hier konnte er wichtige Bekehrungserfolge erzielen, aber gleichzeitig zahlreiche Anfeindungen erzeugen. In seinem Umfeld wirkten auffällig viele Frauen in Leitungspositionen, so die Apostolin Junia oder Prisca, die Vorsteherin einer Hausgemeinde. Zu den Widrigkeiten gehörten die Unruhen in den galatischen Gemeinden, die nicht beigelegt werden konnten. Schmerzlicher war die drohende Spaltung der korinthischen Gemeinde, die Paulus dazu zwang, sich selbst dorthin zu begeben. Sein Vermittlungsversuch scheiterte, die Gemeinde blieb uneins und Paulus musste unverrichteter Dinge wieder gehen. Auch in Ephesos geriet Paulus in das Visier der Behörden. Ob der Aufstand der Devotionalienhändler des Artemisia-­ Heiligtums dafür verantwortlich war, lässt sich nicht definitiv klären. Jedenfalls scheint Paulus nicht vom römischen Gericht verurteilt worden zu sein. Danach verließ er Ephesos. Wieder in Korinth wurde Paulus Opfer einer Denunziation durch jüdische Kreise, die ihm eine Übertretung des Gesetzes vorwarfen. Der römische Statthalter Iunius Gallio (51–52) wies die Anklage ab und weigerte sich, in einer rein jüdischen Angelegenheit tätig zu werden. Danach bereiste Paulus Achaia und Makedonien, um anschließend nach Korinth zurückzukehren. Von hier aus brach er nach dem Abschluss einer Kollekten­ sammlung  – die bis dahin größte Hilfsaktion der frühen Kirche für die ­Gemeinden Iudaeas  – nach Jerusalem auf. Er wollte dann von dort nach Rom reisen, mit dem Ziel, weiter nach Hispanien zu ziehen, um den fernen 312

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Westen des römischen Weltreiches zu missionieren. Doch dann kam es zu seiner Fest­nahme in Jerusalem. Orthodoxe Juden bezichtigten Paulus, er habe Nichtjuden in das innere des Tempelbezirks geführt – ein wohl konstruierter Vorwurf, der aber den Tatbestand des Aufruhrs und Religionsfrevels erfüllte. Die römischen Behörden mussten sich damit befassen. Paulus wurde verhaftet und dem römischen Statthalter in Caesarea vorgeführt (56). Nach erfolgreicher Appellation, die Paulus aufgrund seines römischen Bürgerrechts durchsetzte, wurde er an das kaiserliche Gericht überstellt. Auf seiner Überführung nach Italien erlitt er vor Kephallenia Schiffbruch.144 Doch schließlich kam er in Rom an (58), wo er bis zum Prozessbeginn unter behördlicher Aufsicht festgehalten wurde, jedoch ungehindert Besuch empfangen konnte. Ob er hier den nur von einer späteren Legende bezeugten Märtyrertod erlitten haben soll, wird sich nie ganz klären lassen. Während die Apostelgeschichte des Lukas in einigen Teilen ein idealisiertes Paulusbild zeichnet, bieten die Paulusbriefe das Kontrastbild dazu. Als unecht gelten die Episteln an die Epheser, Kolosser, 2. Thessaloniker, Timotheus, Titus und Hebräer, die wohl von seinen Schülern stammten, während die Briefe an die Römer, Korinther, Galater, Philipper, 1. Thessaloniker und Philemon von Paulus selbst verfasst sein dürften. Letztere müssen als die zuverlässigeren Quellen gelten, um den historischen Paulus aufzuspüren und seine wahre Persönlichkeit und Ideenwelt sichtbar werden zu lassen. Paulus’ Schriften enthalten die ältesten theologischen Aussagen zu Themen der christlichen Moral, Ethik, Gottesbild und Glaubenslehre der sich formierenden Kirche. Sie halfen entscheidend mit, die Bande zwischen den heterogenen christlichen Gemeinden zu festigen und gleichzeitig das Bewusstsein einer neuen christlichen Identität zu stiften. Zahlreiche Textstellen erscheinen durchdrungen vom Temperament und Glaubenseifer seines Verfassers. Ihre Tonlage variiert zwischen der Hochlage einer behutsamen, räsonierenden Gedankenführung bis zu den Tiefen apodiktischer Werturteile, voller Bauchgefühl und Impulsivität. Manche Aussagen wirken aus heutiger Sicht geradezu irritierend, etwa wenn er sich zur Rolle der Obrigkeit145 oder über die Frauen äußerte.146 Auch Rechthaberei war ihm nicht fremd. Daneben vermitteln wichtige Passagen seiner Briefe einerseits die Zweifel eines Gottessuchers und andererseits eine Sicherheit im Urteil, die nur demjenigen zu eigen ist, der von der schicksalhaften Bedeutung der eigenen Mission vollständig durchdrungen ist. Diese drückt sich in den unterschiedlichen Rollen aus, die Paulus auf seiner langen Wanderschaft annahm, etwa als Ratgeber, Missionar, Lehrer, Motivator, Schlichter, Seelsorger oder Glaubenswächter. Was ihn aber vor 313

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allem auszeichnete, war seine Glaubensstärke, seine Leidensfähigkeit und seine Unbeirrtheit, die ihm erlaubte, Rückschläge einzustecken und niemals von seinen Zielen abzulassen. Wie die meisten christlichen Zeitgenossen des Paulus ging auch er von einer baldigen Wiederkunft Christi aus, die das Ende der Welt einleiten würde. Im Mittelpunkt seines Denkgebäudes stand eine leidenschaftlich vorge­tragene Erlösungsbotschaft: Nur der Glaube an Jesus Christus, der für die Erlösung der Menschheit gestorben sei147, vermochte Heil zu spenden: Die dadurch erlangte Gnade Gottes schuf die Voraussetzung für eine neue christliche Existenz in Freiheit von Sünde, Gesetz und Tod. Am Ende des irdischen Daseins winkte die Hoffnung auf ein ewiges Leben in der Herrlichkeit Gottes.148 Die später ausgeformte und in der Kirchentradition so wirkmächtige Kreuzestheologie, die Gnadenlehre sowie die Grundsätze des kanonisch gewordenen Glaubensbekenntnisses sind in der paulinischen Ideenwelt bereits vorgezeichnet. So etwa, wenn er im ersten Brief an die ­Korinther (15, 3–4) knapp und bündig feststellt: Christus ist gestorben für unsere Sünden, der Schrift gemäß, und ist begraben worden und ist auferweckt am dritten Tag, der Schrift gemäß. Aus der Zusammenschau seiner gesamten Schriftzeugnisse lassen sich die ersten zaghaften Umrisse der künftigen christlichen Gemeinden zeichnen, einschließlich der unaufhörlichen Streitigkeiten zwischen antagonistischen Gruppierungen innerhalb des christlichen Kultverbands. Außerdem erlauben sie uns, die wesentlichen Bausteine der paulinischen Glaubenslehre zu erkennen. Sie ist erfüllt vom Eifer und den tiefen religiösen Überzeugungen, aber auch von der kämpferischen Natur und Unkonzilianz ihres Verkünders. Christologie, Liturgie und Dogmenbildung wären ohne die wegweisenden Beiträge des Paulus undenkbar gewesen. Sie bilden die gedanklichen Grundlagen und die seelsorgerischen Pfade, auf denen die spätere christliche Theologie ihr Glaubensgebäude errichten wird.

Julian Nach Cicero ist Julian aufgrund seines umfangreichen schriftstellerischen Oeuvres der bekannteste Staatsmann des Altertums. Seine ungewöhnliche Persönlichkeit und seine prominente Stellung als Oberhaupt des Imperiums machen ihn unübersehbar. Gänzlich zum Hauptthema wird er allerdings aufgrund seiner Kultpolitik, die, je nach Perspektive, den Beginn oder den Ausgang einer religiösen Wende markiert. 314

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Doch nun der Reihe nach. Als Mitglied des con­stantinischen Herrscherhauses übernahm der literarisch gebildete Jüngling im Jahre 355 im Westreich einen wichtigen militärischen Kommandoposten, den er zum Erstaunen aller höchst kompetent versah. Mit dem Essen kam der Appetit, und so stellte der überaus erfolgreiche Gehilfe des regierenden Augustus Constantius II. im Jahr 360 die Machtfrage. Als Julian gegen Constantius II. aufbegehrte, wollte er nicht nur die Macht mit ihm teilen, sondern durch Klärung der Nachfolgefrage seine Zukunft an der Spitze des Reiches absichern. Dabei stand die Begleichung einer offenen Familienrechnung ebenfalls zur Debatte. Die jahrzehntelang akkumulierten Ressentiments gegen den herrschenden con­stantinischen Clan, Rachegefühle für die aus dem Zen­trum der Macht verdrängten und ermordeten Verwandten, brachen sich mit seiner Erhebung zum Augustus Bahn. Wenn Julian diese Vorwürfe nachträglich in propagandistischer Absicht verbreitete, indem er seinen Vetter als Mörder seiner Eltern anprangerte, so versuchte er damit gleichsam seine Verantwortung an dem von ihm ausgehenden Staatsstreich zu rechtfertigen, der bei den Zeitgenossen keineswegs ungeteilte Zustimmung fand.149 Der Julian-freundliche Historiker Ammian hat mit wenigen Worten die Stimmung im römischen Senat prägnant eingefangen, der das Vorgehen des rebellierenden Caesar eindeutig missbilligte, indem das hohe Haus Julian ins Stammbuch schrieb: Wir bitten Dich, Deinem Schirmherrn (sc. Constantius) Ehrfurcht zu erweisen!150 Zweifellos waren die letzten Vertreter der con­stantinischen Dynastie recht unterschiedliche Charaktere. Doch jenseits von persönlich moti­ vierten Abneigungen gab es einen gewichtigen politischen Grund, der sie trennte: ihre gegensätzlichen Konzepte, wie die Rolle des Herrschers auszufüllen sei. Diese lassen sich an ihrer jeweiligen religiösen Ausrichtung ablesen. Während der christlich erzogene Julian gegen den Glauben seiner Kindheit und seiner familiären Umgebung revoltierte und, einer inneren Stimme gehorchend, mit dem Bekenntnis zur heidnischen Kulttradition eine religiöse Kehrtwendung vollzog, die er als Befreiung empfand151, blieb Constantius II. den religiösen Grundsätzen seiner Erziehung treu. Ihm war neben einer Dosis Grundsatzfestigkeit auch Pragmatismus zu eigen, während Julian sich durch Idealismus und verbissene Entschlossenheit hervortat. Weder übertriebenes Kalkül noch berechnende Opportunität scheinen beim Vorgehen der konkurrierenden Herrscher die entscheidende Rolle gespielt zu haben. Es war vielmehr eine aus unterschiedlichen Quellen sich speisende, in beiden Fällen in der Persönlichkeitsstruktur wurzelnde religiöse Grundhaltung, die das Gesetz ihres Handelns diktierte.152 Insofern 315

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waren beide echte Kinder ihrer Zeit. Jeder von ihnen suchte den Heil verheißenden Gott auf seine eigene Weise. Wie bei seinem Onkel Con­stantin war Julians Bekehrung ein politischer Akt gewesen, der sein neues Bündnis mit den seit Urzeiten verehrten Göttern unterstrich. Er fühlte sich von dem missionarischem Eifer erfüllt, mithilfe der traditionellen Religion das Imperium zu retten, das seiner Ansicht nach durch die zersetzenden Einflüsse der christlichen Lehre bedroht wurde, die er als Irrweg ansah. Joseph Bidez hat Julians Einstellung treffend charakterisiert: „Nicht die Auflehnung eines Ungläubigen gegen die Dogmen der Kirche, nicht die Auffassung, dass die Priester arglistige Betrüger seien, führten ihn zum Heidentum zurück; nicht die Revolte der Vernunft machte ihn zum Feind des Christentums und löste seine religiösen Bindungen. Er folgte einer mystischen Berufung, als er sich zum Kult der alten Götter entschloss, und gehorchte damit den Gottheiten, die seine Dynastie und das Reich geschützt hatten. Von ihren Stimmen ließ er sich führen, ihnen gab er sich aus ganzem Herzen in vollem Vertrauen hin. Bei einem ins letzte Gewissen vorstoßenden Verhör über seine religiösen Überzeugungen hätte er schließlich ein ganz schlichtes Glaubensbekenntnis ablegen müssen, ähnlich wie christliche Märtyrer vor ihren Verfolgern.“153 Es war in der Vergangenheit vorgekommen, dass sich legitimationsbedürftige Imperatoren bestimmten Schutzgottheiten zuwandten, um ihre Wirkmächtigkeit auszuschöpfen und ihre himmlischen Beschützer, wenn diese sich als nützlich erwiesen hatten, als Garanten ihrer Regierung betrachteten.154 Con­stantins Vorgänger waren sich ihrer Rolle als Gestalter der römischen Religion durchaus bewusst. Diese Einstellung teilte sicherlich auch Constantius II., obwohl sein Verhältnis zur Leitgottheit seiner Dynastie ihm gewisse Einschränkungen auferlegte. Con­stantins christlich erzogenen Söhnen war jede Wahl weitgehend genommen. Die religiöse Umklammerung ihrer Herrschaft erschien ihnen so unverrückbar wie schicksalhaft. Sie stand außerhalb jeder Diskussion. Daher kann in diesem Kontext nur bedingt von einer freien Gestaltungsrolle des Kaisertums in Kultfragen gesprochen werden. Constantius’ II. Verhalten in Religionsangelegenheiten wurde von einem christlich geprägten Koordinatennetz konditioniert. Wahlmöglichkeiten gab es nur innerhalb dieses Systems. Ein allzu unabhängiges Agieren war durch die Rücksicht auf die gewachsenen kirchlichen Bindungen erschwert. Allerdings verschaffte er sich durch Rückgriff auf die kaiserliche Autorität Kompensation, indem er auf dem Verordnungsweg eine einheit­ liche christliche Glaubenslehre nach seinen Bedürfnissen und Maßstäben zu formen versuchte. 316

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Die konträren Positionen, die Constantius  II. und Julian verkörperten, spiegeln ihre gegensätzlichen Auffassungen von der Ausfüllung der religiösen Rolle des Kaisertums wider.155 Constantius  II., der die Entscheidungsschlacht von Mursa betend zusammen mit seinem ergebenen Bischof Valens erlebte, fühlte sich Christus so nah verbunden, dass er den Sieg mehr dem göttlichen Wohlwollen als seinem persönlichen Engagement zuschrieb. Daher bewegte sich seine Kirchenpolitik ständig auf der Suche nach einem Kompromiss, der die kaiserliche Majestät mit der richtigen Gottesverehrung versöhnen sollte. Julian dagegen setzte andere Prioritäten. Von einem alexanderhaften Vorbild erfüllt, versuchte er seine eigene innere Bewegtheit in Tatendrang umzusetzen.156 Sein Bewusstsein der Auserwähltheit war das eines Schirmherrn der altrömischen Religion. Julians gestalterische Amtsführung kontrastierte mit der Schicksalsergebenheit des Constantius II. Dieser stand seinem monotheistischen Gott trotz seiner kaiserlichen Stellung untergeordnet gegenüber. Ihm verdankte er seine Herrschaft und seine Erfolge. Durch Ergebenheit und Gebet hoffte er sich sein Wohlwollen zu ­sichern. Julian bewegte sich dagegen in einer polytheistischen Werteskala prinzipiell gleichberechtigter Gottheiten. Der Abstand zu ihnen war wesentlich geringer. Die von ihm bewusst vollzogene Entscheidung für eine bestimmte Kultoption stellte zwar das Gleichgewicht der Herrschaft nicht in Frage. Allerdings musste auch er die religiöse Legitimation seiner Regierung durch Erfolge unterstreichen. Dies schien bereits im Jahre 361 zu gelingen, als Julian nach dem unerwarteten Tod des Constantius  II. die Gesamtherrschaft zufiel, ohne einen verheerenden Bürgerkrieg führen zu müssen. Diese schicksalhafte Fügung, von Julian als Bestätigung seiner Hinwendung zu den alten Göttern gedeutet, zeigte Wirkung auf die Religionspolitik; denn unmittelbar darauf erlebte die seit Con­stantin fortlaufend ansteigende Bevorzugung der Kirche eine Zäsur.157 Mit der Aufhebung der von Constans und Constantius II. verfügten Sanktionen gegen die traditionellen Kulte bekannte sich der vom Christentum abgefallene Kaiser zu einer heidnischen Erneuerung des Reiches.158 Damit wurden keineswegs die vor der Regierungszeit Con­stantins herrschenden religiösen Zustände herbeigeführt. Zwei Generationen christenfreundlicher Politik, die alle Lebensbereiche erfasst hatte, ließen sich nicht ohne Weiteres ungeschehen machen. Was wir bereits bei seinem Vorgänger beobachten konnten, trifft auch für die Situation des Jahres 361 zu: Die persönliche Neigung des Kaisers erwies sich als maßgebend für die Formulierung der Grundsätze der staatlichen Religionspolitik. Aufgrund der guten Quellengrundlage können wir Einblicke 317

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in die einsetzende Kontroverse nehmen, welche die julianische Restauration auslöste. Der Kaiser selbst war einer der engagiertesten Publizisten. Julians antiochenische Schrift gegen die Christen, die in der Tradition der kämpferischen heidnischen Apologetik steht, lässt in der Überschrift bereits ihren Tenor erkennen: „Gegen die Galiläer“ ist eine Abrechnung mit dem Glauben seiner Kindheit. Darin wird der Versuch unternommen, Schwachstellen im christlichen Lehrgebäude bloßzustellen, die historische Entwicklung, die zur Ausbreitung des Christentums führte, als Irrtum darzustellen und deren verderbliche Folgen für den Zusammenhalt des Reiches zu brandmarken. Der Traktat ist nur in Zitat-Fragmenten erhalten, die wir dem im 5. Jahrhundert gegen Julian polemisierenden Kyrill von Alexandrien verdanken. Soweit der Zustand der Schrift Aufschlüsse über das Gesamtkonzept erlaubt, bietet für Julian vor allem das Alte Testament genügend Angriffspunkte gegen den christlichen Gottesbegriff.159 Das kleinliche Verhalten des rachsüchtigen Gottes der Hebräer wird mit dem großherzigen Verhalten der heidnischen Götter verglichen.160 Anhand der mosaischen Zehn Gebote kritisiert Julian den ethischen Gehalt der jüdisch-christlichen Weltanschauung.161 Überhaupt wird zwischen Judentum und Christentum kaum unterschieden: Die christliche Botschaft wird nicht als eigenständige Verkündigung vom Reich Gottes begriffen, sondern in die prophetische Tradition des Alten Testaments eingereiht. Seine Angriffe auf die hebräische Zivilisation, deren Unterlegenheit gegenüber der griechisch-römischen er betont, bilden die Prämisse für die Kontrastierung der überlegenen griechischen Gottheiten mit dem Gott der Juden und Christen. Julians Polemik ist in eine Reihe mit Vorläufern wie Celsus oder Porphyrios zu stellen, deren Absicht es war, die Fragwürdigkeit der christlichen Lehre aufzuzeigen und die Zweckmäßigkeit der Götterverehrung zu beweisen. Trotz aller Analogien zwischen Celsus’ und Julians Angriffen auf das Christentum gibt es jedoch markante Unterschiede, die den Wandel der ­religionspolitischen Stimmung widerspiegeln.162 Celsus argumentierte einst aus einer Position der Stärke, während Kaiser Julian trotz seiner augenblicklichen Machtstellung aus einer Verteidigungshaltung heraus seine Ansichten verkündete. Celsus schrieb zur Zeit des gegenüber den Christen skeptisch gesinnten Herrschers Marc Aurel und konnte sich so der Zustimmung der maßgeblichen öffentlichen Meinung sicher sein. Bei Julian war eine solche Übereinstimmung aufgrund der mittlerweile fortschreitenden Ausbreitung des Christentums nicht mehr gegeben. Daher waren die Widerstände gegen Julians christenfeindliche Maßnahmen beträchtlich; sein Programm einer heidnischen Erneuerung des Staates fand wenig Anklang.163 Der Unterschied 318

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in Tonlage und Rezeption beider Traktate illustriert aufschlussreich die Veränderung der religionspolitischen Szenerie zwischen dem 2. und dem 4. Jahrhundert. Celsus’ Ausführungen können kaum ein Gefühl von Überlegenheit und einen Hauch von Herablassung gegenüber dem Christentum verbergen, während Julians Angriffe verbissen sind und einen Beigeschmack von ohnmächtiger Bitterkeit spüren lassen. Verständlicherweise wurden ­Julians Ideen von den christlichen Zeitgenossen feindlich aufgenommen, während er sich der Zustimmung der heidnisch gebliebenen intellektuellen Eliten sicher sein konnte, wie uns eine Reihe von epigraphischen Zeugnissen aus den verschiedenen Teilen des Reiches lehrt.164 Über kaum eine andere Persönlichkeit der Spät­antike schieden sich die Geister so sehr wie in der Beurteilung Julians. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist ein aus heidnischer Warte (Libanios) überschwänglich gefeiertes Idol, christlicherseits dagegen ein vielgeschmähtes Zerrbild.165 Lob und Verurteilung hielten sich die Waage. Eine rühmliche Ausnahme bildete der christliche Publizist Prudentius, der im Kontrast zu seinen Glaubensbrüdern sich um Objektivität bemühte und Julian eine unvoreingenommene Würdigung angedeihen ließ.166

Christliche Wortführer Während des 4. Jahrhunderts erlangten einige charismatische Kirchenobere erstmalig eine beträchtliche Popularität. So ragten etwa Arius und Athanasios von Alexandria, Liberius und Damasus von Rom, Basilios von Caesarea, Valens von Mursa, Ambrosius von Mailand oder Gregor von Nazianz nicht nur als Wortführer ihrer jeweiligen Kirchengemeinden, sondern als reichsweit bekannte Persönlichkeiten hervor. So sehr ihre dogmatischen Ansichten echt empfundenen theologischen Beweggründen entsprangen und auch von der Sorge um Wahrhaftigkeit getragen wurden, ihr theologisches Lavieren erwies sich häufig als von taktischen Kriterien geleitet. Das ließ individuelle Überzeugungen zeitweilig in den Hintergrund treten. Die Rücksicht auf persönliche Anliegen gewann oft Priorität gegenüber der Behauptung dogmatischer Positionen. Von Anfang an befanden sich namhafte Bischöfe in der Umgebung der Herrscher, wie etwa der bewährte Maximinus von Trier, Eusebios von Caesarea, der Kirchenhistoriker und Theoretiker der christlichen Monarchie167, Hosius von Córdoba, der weltgewandte Ratgeber, der charismatische Missionsbischof Theophilos oder Leontias, der gelehrte Bischof von Antiochia. 319

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Vor allem Eusebios von Nikomedia168, der sich zu einer auf Konsens ausgerichteten Glaubenslehre bekannte, wurde Ende der dreißiger Jahre für die theologische Ausrichtung des Ostepiskopats maßgeblich. Ausgehend von einer subordinatianistischen Trinitätsdeutung strebte diese Denkrichtung eine Versöhnung mit der vor allem im Westen des Reiches verbreiteten nicaenischen Formel an. Doch neben den mannigfachen theologischen Positionsbestimmungen, die das Wesen Gottes und das Verhältnis des Sohnes (Logos) zum Vater zu ergründen versuchten, war das bemerkenswerteste Phänomen dieser Jahre die Formierung episkopaler Netzwerke, welche die Nähe des Kaisers als Vorteil ausnutzten. Der Generation der con­stantinischen Bischöfe folgten theologisch zwar blassere, dafür aber in den Spielregeln der höfischen Politik versiertere Kirchenmänner vom Schlage eines Valens von Mursa, Ursacius von Singidunum oder Acacius von Caesarea.169 Ihr Ziel war es, den Kaiser für die eigenen Initiativen zu gewinnen. Primär ging es um die Festlegung der Glaubenslehre, aber es ging ebenso um die Mehrung des eigenen Einflusses und Prestiges. Wir beobachten ein Zusammenspiel konvergierender Interessen und Ambitionen, sofern sich der Wunsch des Herrschers nach einer konsensfähigen religionspolitischen Leitlinie mit den dogmatischen Anliegen der Bischöfe seiner Umgebung deckte. Wenn der römische Bischof Leo die Synode von Ephesos (449) als latrocinium verurteilen wird, womit er seine dort anwesenden Mitbrüder im Bischofsamt als „Räuber“ abqualifizierte, so brachte er mit einem kräftigen Epitheton, das Berühmtheit erlangen sollte, das Dilemma der meisten Kirchenversammlungen zum Ausdruck. Die jeweils unterlegene Partei fühlte sich um die Früchte ihrer theologischen Mühen betrogen, weil viele Synodal­ teilnehmer ferngesteuert wurden und die mit List und Druck erzielten Ergebnisse a priori feststanden. Rückblickend betrachtet, verlief die Synode von Ephesos hinsichtlich der dabei entfalteten Einschüchterung, Erpressung und Gewalt nicht viel anders als andere, vergleichbare Zusammenkünfte.170 Entscheidend bei den Meinungsverschiedenheiten zwischen Kirchenmännern waren nicht nur das Beharren auf antagonistischen Bekenntnisformeln, sondern oft genug persönliche Animositäten. Kleinlicher Egoismus triumphierte häufig über die dringend gebotene Notwendigkeit zur Einigung. Athanasios war die rechte Hand und der Nachfolger Bischof Alexan­ ders, der die Exkommunikation des Arius durchgesetzt hatte, weswegen er alles daran setzte, eine Rehabilitierung des in Nicaea verurteilten Arius zu unterbinden.171 Das Verhältnis zwischen Athanasios und Eusebios von Nikomedia, dem Studienfreund des Arius, war von Anfang an von Abneigung 320

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geprägt. Eine Restitution des Arius, verbunden mit seiner Rückkehr nach Alexandria, wie sie Eusebios betrieb, empfand Athanasios als persönliche Kränkung und Frontalangriff auf seine episkopale Würde. Ähnliches lässt sich über die Rivalität zwischen Nestorios von Con­stantinopel und Kyrill von Alexandria sagen, die den Gang der Kirchenpolitik in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts prägen wird. Theologie und Dogmatik spielten bei diesen klerikalen Machtkämpfen, obwohl es zugegebenermaßen um lehramt­ liche oder disziplinarische Streitpunkte ging, teilweise eine untergeordnete Rolle.172 Für einen Teil der Bischöfe waren jedoch dogmatische Positionierungen eine Herzensangelegenheit, die in ihrer tiefen Gläubigkeit wurzelte. Diese unbeirrt zu bekennen, empfanden sie als Verpflichtung und als Unterpfand für ihr Seelenheil. Donatus, Ambrosius, Aetios und Hilarius von Poitiers wären Beispiele dafür. Andere zeigten sich weniger am theologischen Diskurs interessiert. Für sie hatte die Herstellung eines einheitlichen Bekenntnisses unter Wahrung ihrer Stellung Priorität. Es lassen sich allerdings genügend Bischöfe finden, die je nach politischer Konjunktur und theologischer Großwetterlage ihre Meinung änderten, wie Valens von Mursa oder Liberius von Rom. Eine bis dahin unbekannte Politisierung der Theologie eröffnete den jeweiligen Wortführern die Möglichkeit, die Erfüllung ihrer theologischen Anliegen mit der Stärkung ihres kirchenrechtlichen Status zu verknüpfen. Gerade dieser Gesichtspunkt wird die künftige Kirchenpolitik maßgeblich bestimmen. Obwohl die konkurrierenden Oberhirten sich als religiöse Autoritäten verstanden, benahmen sie sich oft genug wie weltliche Potentaten.173 Viele von ihnen definierten sich über ihr Amt sowie über die Größe und Bedeutung ihrer Anhängerschaft. Nur selten widerstanden die maßgeblichen Bischöfe des Reiches der Versuchung, den staatlichen Arm für die Erreichung der eigenen Zwecke aufzubieten. Die daraus resultierende Verquickung der geistlichen und weltlichen Macht sollte sich als verhängnisvolle Hürde für die Entfaltung eines Geistes der theologischen Reflexion sowie der innerkirchlichen Konsensbildung erweisen. Auffällig an den meisten Bischofsversammlungen ist, bis auf einige Ausnahmen, der Mangel an ergebnisoffenen Diskussionen; denn die Beschlüsse der Zusammenkünfte scheinen von Anfang an festgestanden zu haben. Der Druck, den die Meinungsführer auf die Teilnehmer ausübten, festigte die Hier­archisierungstendenzen innerhalb des Episkopats. Dies geschah in zwei­ facher Hinsicht. Einerseits wurde der Klerus unterhalb des Bischofsamtes immer stärker der episkopalen Autorität unterstellt.174 Andererseits gelang es den Metropoliten der großen Städte, ihren Einflussbereich auf Kosten der Amtsbrüder, die kleineren Bistümern vorstanden, auszudehnen. Sachlich 321

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orientierte Argumentationslinien, wie sie von einer unvoreingenommenen Debatte zu erwarten gewesen wären, waren bei den meisten Synoden aufgrund der vorherrschenden Rahmenbedingungen so gut wie ausgeschlossen. Bis auf wenige Ausnahmen galten den Bischöfen die Sicherung ihres Amts und die Erhaltung der Gunst der Mächtigen ebenso viel wie ihre ­eigenen theologischen Überzeugungen oder gar die Einheit der Kirche. Die engen Verbindungen der Kirchenoberen zum Kaiserhaus, ihre wachsende soziale Bedeutung sowie ihre politische Unentbehrlichkeit innerhalb einer sich immer stärker christianisierenden Gesellschaft machte aus den geist­ lichen Hirten der Metropolen, wie etwa Rom, Karthago, Mailand, Sirmium, Con­stantinopel, Alexandria oder Antiochia Machtträger. Aufgrund ihrer steigenden gesellschaftlichen Anerkennung und ihrer Ressourcen verwandelten sich die von Con­stantin und Constantius  II. noch gegängelten Bischöfe im Zuge der allmählichen Desintegration der kaiserlichen Herrschaft ab dem Ende des 4. Jahrhunderts175 immer mehr zu Potentaten, welche, ähnlich wie weltliche Patrone ihre Klienten, die ihnen anvertrauten Gemeinden als Machtreservoir mobilisieren konnten. Die Anhängerschaft eines Bischofs war nun in der Lage, mit der Gefolgschaft der Vertreter der Staatsgewalt zu konkurrieren.176 Die im Zuge der con­stantinischen und theodosianischen Gesetzesinitiativen erfolgte Privilegierung des Priesterstandes erwies sich als erster Schritt einer sich anbahnenden Klerikalisierung des kirchlichen Alltags, die in den westlichen Provinzen des Reiches aufgrund der schwindenden Kaisermacht ein Höchstmaß an Relevanz erlangen sollte, was in der Formulierung des Primatsanspruches des römischen Bischofsstuhls gipfeln wird. Das christliche Führungspersonal ergriff nur allzu gern jede sich bietende Gelegenheit zum Ausbau seiner theologischen, politischen und sozialen Position. Vor allem die Spitzen der christlichen Hierarchie, die Inhaber der großen Bischofssitze, als herausragende Verkünder und Vermittler des göttlichen Willens verwandelten sich zunehmend zu einer sakralrechtlich geadelten kirchlichen Nomenklatura. Viele von ihnen entwickelten mit der Zeit eine Art Patronatsbeziehung zu den ihnen anvertrauten Gemeinden, die von Paternalismus, Fürsorge und Machtbewusstsein geprägt wurde.177 Über die gallischen Bischöfe des ausgehenden Altertums vermerkt Peter Brown: „Als ein ‚die Armen Liebender‘ unterstützte der Bischof nicht nur die Mittel­ losen. Er wandte Kraft und Mittel an die Erhaltung der gesamten Gemeinde. Die im 6. Jahrhundert ausgebildete Vorstellung des guten katholischen Bischofs als eines ‚Vaters‘ seiner Stadt wurde vielleicht das dauerhafteste institutionelle Ideal, das Westeuropa bisher hervorgebracht hat. Denn es änderte 322

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sich kaum bis zum Ende des Ancien régime.“178 Sieht man von der Gründung des Kirchenstaates in Italien ab, so wird etwa durch die Schaffung von geistlichen Territorien, an deren Spitze Fürstbischöfe stehen werden, die politische Steigerung des Bischofsamtes auf dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erreicht, womit ein System der weltlichen Herrschaft des hohen Klerus begründet wird, das bis zur Napoleonischen Ära fortdauern sollte. Derartige Klerikalisierungstendenzen hatten sich bereits in con­stan­ tinischer Zeit abgezeichnet, wie wir anhand der Denkart des Eusebios von Caesarea nachvollziehen können, der dem tyrischen Bischof Paulus zu dessen Lebzeiten ein literarisches Denkmal setzte. Bemerkenswert bleibt dabei, dass die aus der monarchischen Panegyrik der Kaiserzeit stammende rhetorische Begrifflichkeit zum tragenden Baustein der Kirchengeschichtsschreibung aufrückte und zur Charakterisierung des kirchlichen Führungspersonals reibungslos aufgeboten werden konnte. Analog zum weltlichen Bereich, wo Kaiserbiographien und Reichsangelegenheiten sich gegenseitig vermengten, verschmolzen im kirchlichen Bereich Bischofs- beziehungsweise Heiligenviten und Kirchenamt zu einer heilsgeschichtlich überhöhten Einheit. Der Versuch, die Lebensläufe der Kleriker als konstitutiven Teil der Geschichte der Kirche zu begreifen, wurde von nun an fester Bestandteil einer hagiographisch verklärten Selbstbeweihräucherung. Es lohnt sich, die Sprachbilder näher zu betrachten, mit denen ein ansonsten nicht besonders herausragender Bischof in die kosmische Sphäre überhöht wurde: Wer anderer denn allein der große Hohepriester des Alls, dem einzig das Recht zukommt, die Geheimnisse jeder vernunftbegabten Seele zu erforschen, vermöchte auch nur mit dem Blicke zu dringen in den heiligen Hain? Vielleicht aber ist es noch einem andern, aber ihm allein unter den Männern gleichen Amtes möglich, die zweite Stelle darin nach Christus einzunehmen, dem Führer hier, der den Vorsitz führt über diese Schar, den der erste und große Hohepriester selbst mit dem zweiten priesterlichen Rang in dieser Kirche ausgezeichnet und den er, nachdem er, Hirte eurer ehrwürdigen Herde, auf Grund der Wahl und Bestimmung des Vaters von eurem Volke Besitz genommen, zu seinem Diener und Dolmetsch gemacht hat. Er ist der neue Aaron oder Melchisedech, dem Sohne Gottes ähnlich geworden, bleibend und von ihm behütet immerdar durch euer aller gemeinsames Beten.179 Über den spezifischen Charakter der heilsgeschichtlich geprägten Aussagen hinaus, offenbart die aufgeladene Stimmungslage, wie aus der klerikalen Perspektive ihres Verfassers die christliche Gemeinschaft sich zunehmend über ihren Bischof definierte. Dieser vertrat sie nach außen, war ihre 323

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höchste Autorität in Glaubensfragen und agierte als Sachwalter des Kirchenver­mögens, was ihm eine beträchtliche Machtposition eintrug, die das Disziplinarrecht über Klerus und Gemeinde einschloss.180 Außerdem erlangten die Bischöfe einen beträchtlichen Einfluss auf die Lebensführung ihrer Gemeindemitglieder. Askese und Ehelosigkeit, stets als Ideale gepriesen und stilisiert, wurden von zahlreichen Männern und Frauen gelebt, die sich in die Obhut der Kirche begaben.181 Derartige zölibatäre Lebens­ entwürfe verengten die sozialen Bindungen der Betroffenen, die ihre Beziehungen zur Außenwelt unter den Einfluss ihrer geistlichen Führer stellten. Auf diesem treuen Heer von Menschen, die in der Entsagung lebten, fußte ein nicht geringer Teil der Macht der Kirchenoberen. So verfügten die Bischöfe von Alexandria, um das bekannteste Beispiel anzuführen, über eine regelrechte Armee von ergebenen Anhängern, die keine Gewalttat scheuten, wenn es darum ging, ihre Glaubensvorstellungen oder die Anweisungen ihres geistlichen Oberhauptes zu verwirklichen. Bischof Eusebios von Caesarea, ein entschiedener Verfechter des Vorrangs des Klerus, erachtete, wie die Mehrheit seiner Amtsbrüder, die Durchsetzung des Christentums als Durchbruch einer vom Normalgläubigen abgehobenen, im Glanze der Himmelsmacht erstrahlenden priesterlichen Führungsschicht, wie die folgenden Zeilen verdeutlichen: Zwei Lebenswege wurden also vom Herrn ­seiner Kirche gegeben. Der eine ist übernatürlich und steht außerhalb des gewöhnlichen menschlichen Lebens; er gestattet keine Ehe, kein Gebären von Kindern, kein Eigentum oder keinen Besitz von Reichtum (…). Wie einige himmlische Wesen blicken diese auf das menschliche Leben hinab und erfüllen das Amt einer Priesterschaft des allmächtigen Gottes (…). Und der bescheidenere, menschlichere Weg veranlasst Menschen dazu, sich in reiner Hochzeit zu verbinden und Kinder hervorzubringen, Regierungsgeschäfte zu übernehmen, Soldaten, die für das Recht kämpfen, Befehle zu erteilen; er lässt sie Neigung zur Landwirtschaft, zum Handel und zu den anderen weltlichen Interessen sowie auch zur Religion haben.182 Die von Ambrosius von Mailand und anderen einflussreichen Bischöfen, wie Kyrill von Alexandria oder Leo und Gelasius von Rom, vorangetriebene Klerikalisierung der Kirche, obwohl mehrheitsfähig, blieb nicht unwidersprochen. Kritik kam von verschiedenen Seiten auf. Der Fall Priscillian beleuchtet auf dramatische Weise, wie eine Frömmigkeitsbewegung, die aus der Mitte der Kirche hervorging, den bemerkenswerten Versuch unternahm, mit den Verweltlichungstendenzen zu brechen.183 Anknüpfend an den Erfahrungsschatz der Urkirche und mit Bezug auf ihre prophetische Tradition, stellte Priscillian die Monopolstellung der Bischöfe in Frage.184 Dass macht324

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bewusste kirchliche Würdenträger wie Ithacius, Bischof von Faro, und Idacyus, Bischof von Merida, im Zusammenspiel mit Kaiser Maximus den unbequemen Mahner als Ketzer abstempelten, ihn hinrichten ließen und damit seine Kritik im Keim erstickten, überrascht nicht. Den Zeitgenossen blieb dennoch ein fader Beigeschmack in Erinnerung, jedes Mal wenn sie an das Schicksal des honorigen Priscillian dachten, des ersten als Häretiker verurteilten Mannes der Kirche, der auf Betreiben intriganter Klerikerkreise von der Staatsmacht enthauptet wurde.185 Eine stets selbstbewusst agierende Klerikerschicht sicherte sich resolut die Ressourcen der Macht in Kirche und Staat. Getragen von einer ergebenen Klientel, die aus der hierarchischen Organisation der Bistümer resultierte, wegen der immer größeren politischen Bedeutungslosigkeit des Staates, der eine Lücke hinterließ, die nun von den kirchlichen Autoritäten ausgefüllt werden konnte, und aufgrund ihres wachsenden Ansehens als Heilsvermittler wurden die Bischöfe in immer höhere Verantwortungspositionen katapultiert.186 Die Inhaber der bedeutendsten Bischofsitze pflegten in vielfacher Weise direkte Beziehungen zu den Kaiserhöfen, so etwa Athanasios, als er mit Magnentius verhandelte, oder Theophilos von Alexandria187, der sogar zwei Gesandtschaften an die sich bekämpfenden Kaiser Maximus und Theodosius abschickte, um dem Richtigen, sprich, dem Sieger im Machtkampf, beflissen zu gratulieren. An diesen Begebenheiten erkennt man, wie die Bischöfe, speziell die Metropoliten und Patriarchen, eine Art Hofhaltung entwickelten, um mit den mächtigsten Potentaten der Welt auf Augenhöhe zu verkehren. Wie die höchsten Amtsträger des Reiches unterhielten sie Beziehungen zu den wichtigsten Entscheidungszentren und pflegten einen reichsweiten, regen Gedankenaustausch mit den maßgeblichen kirchlichen und weltlichen Autoritäten. Aufgrund der vielfältigen Funktionen als geistlicher Führer, Schlichter, Theologe, Richter, Literat, politische Leitfigur oder Verwalter von Ressourcen lässt sich zwar keine einheitliche Funktionsbeschreibung des Bischofsamtes geben, aber dennoch seine herausragende Bedeutung als Teil der neuen Herrschaftselite konstatieren. Hinzu kam das individuelle Charisma einiger Persönlichkeiten, die als Gottesfreunde allgemeine Anerkennung genossen und durch ihr Mitreden in weltlichen Angelegenheiten einen scharfen Kontrast zu den Eremiten und Mönchen bildeten. Obwohl die Grundlagen ihrer Machtstellung religiös konnotiert waren, erscheinen sie nur allzu oft als politische Akteure, die sich in die Nachfolge der abdankenden Machtträger der römischen Welt nahtlos einreihten. Die cathedra mancher Bischöfe strahlte eine ähnliche Anziehungskraft aus wie die einst mächtigen Orakelstätten der alten Welt. 325

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Bischof Ecclesius von Ravenna hält das von einem Engel überreichte ­Modell der Kirche in Händen. Mosaik mit Apsisgewölbe von San Vitale, ­Ravenna (6. Jahrhundert)

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Trotz der Beteuerungen der christlichen Publizisten, die häufig ein allzu verklärtes Bild zeichnen, beruhte die überragende Machtstellung der Bischöfe weder auf biblischen Vorbildern noch auf theologischen Begründungen. Sie ergab sich letztlich aus dem hierarchischen Charakter der Gesellschaft der römischen Kaiserzeit. Ihre höchsten Würdenträger standen dafür Pate. Daher ist die pyramidale Organisation der Kirche einerseits zeitbedingt, andererseits das Resultat der politischen Umstände, welche die Salonfähigkeit des Christentums in con­stantinischer Zeit ermöglicht hatten. Dass die ursprünglich kleinen, egalitären, sich selbst verwaltenden christlichen Gemeinschaften im Verlauf des 4. Jahrhunderts sich zu straff geführten Bischofsgemeinden verwandelten, ist historisch nachvollziehbar, war aber keinesfalls heilsgeschichtlich vorgegeben. Gewiss hat die Klerikalisierung der Kirche ihre gesellschaftliche Bedeutung erheblich gestärkt, ihr damit aber gleichzeitig eine schwere Hypothek aufgebürdet, deren Folgen noch heute spürbar sind. Wenn daher Bischöfe gelegentlich aus einem Geist der selektiven Wahrnehmung heraus und, um ihre Vollmachten zu rechtfertigen, darauf verweisen, dass sie keiner demokratischen Institution vorstehen, so geht eine solche Aussage an der Substanz der Kirche vorbei. Vielmehr offenbart sie die Paradoxie eines einseitigen klerikalen Amtsverständnisses, das dessen primär dienende Funktion durch den Rekurs auf autokratische Verhaltensweisen konterkariert. Am sinnfälligsten kommt die besitzanzeigende Vereinnahmung der christlichen Gemeinden durch den Klerus in jenen Mosaiken zum Ausdruck, in denen analog zu der Attitüde der weltlichen Herrscher Bischöfe dargestellt werden, die voller Stolz und Selbstbewusstsein ihre ­Basiliken wie eine Siegestrophäe unterm Arm tragen, wie etwa Ecclesius, Bischof von Ravenna.

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6 Soziale Machtgruppen Griechische Aristokraten

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as sich bereits in der homerischen Gesellschaft abzeichnete, bewahrte für die nachfolgende Zeit unverminderte Geltung. Die führenden Adelsgeschlechter fühlten sich nicht ausschließlich den kleinräumigen Heimatgemeinden verbunden, sondern knüpften Beziehungen zum gesamten griechischen Raum. Allerdings bildete sich in Griechenland keine Regierungszentrale heraus, wie sie eine Monarchie hätte darstellen können, sondern eine bemerkenswert kontinuierliche staatliche Atomisierung prägte die politische Landkarte.188 Wenn es überhaupt einen sozialen Gravitationspunkt gab, so verkörperte ihn noch am ehesten die Welt des Adels. Schon in den ersten griechischen Schriftquellen taucht eine panhellenische Adels­ gesellschaft auf, die ein engmaschiges Netz von Kontakten mit Standes­ genossen unterschiedlichster Herkunft knüpfte und dadurch ein Bewusstsein für ein hellenisches Zugehörigkeitsgefühl wachhielt. In diesem Kontext scheinen die kriegerischen Auseinandersetzungen der Frühzeit mehr Adelsfehden als Konflikte zwischen verfeindeten Staatswesen gewesen zu sein. Ein Beispiel davon wäre der Lelantische Krieg, bei dem sich zahlreiche Aristokraten aufgrund bestehender Gastfreundschaften entweder für Eretria oder Chalkis – das waren die Kontrahenten – zu kämpfen entschieden. Grundbesitz, Wettbewerb, Gefolgschaft und Familienverbindungen waren unerlässliche Voraussetzungen einer standesgemäßen Lebensführung. Sie ermöglichten eine standesgemäße Selbstdarstellung nach außen. Hinzu gesellten sich die Beherrschung und Verinnerlichung eines Adelskomments, dessen Grundregeln schon die homerischen Gesänge offenbaren. Der Sieg bei den vielfältigen Wettbewerben galt als das Lebenselixier der griechischen Adligen.189 Jedoch läuft eine an den Oberschichten haftende Sichtweise der griechischen Alltagswirklichkeit Gefahr, die allgemeinen Lebensbedingungen zu vernachlässigen, überhaupt den Blick nicht genügend auf andere strukturbestimmende Merkmale zu richten. Wie sah der Staat der archaischen Epoche aus? Wer regierte in den Poleis und in den Stammesstaaten?190 In der Regel scheint dafür ein Adelsrat verantwortlich gewesen zu sein, der 328

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die Ämter Jahr für Jahr zu vergeben hatte, wie uns die frühesten inschriftlichen Belege aus Dreros auf Kreta oder Chios zeigen.191 Hier kommt zum Vorschein, was sich in der Kriegführung und noch deutlicher in der Tradition der sport­lichen Wettkämpfe beobachten lässt: Die Verwirklichung des individuellen Ehrgeizes im Wettbewerb mit den adligen Standesgenossen bildete die stärkste Motivation der Akteure, sowohl auf dem Schlachtfeld wie auch auf der Rennbahn. Der zur Führungselite einer Gemeinschaft zählende Aristokrat wollte nicht nur der Sieger im Agon sein, sondern auch eine maßgebliche Rolle in der Politik spielen. Erste Anzeichen dieses Strebens nach Macht und Einfluss vermittelt uns die nur fragmentarisch erhaltene Dichtung des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr., die deshalb leider nur streiflichtartige Ein­blicke in die politische Szenerie Griechenlands gestattet. Abgesehen davon, dass die Verhältnisse in den verschiedenen Poleis und Stammesgesellschaften uneinheitlich waren und wir häufig Sonderentwicklungen zu berücksichtigen haben, bestimmt der politische Standort der Autoren ihre historische Perspektive. Wenn man anhand der spärlichen Texte das Vokabular der archaischen Einrichtungen untersucht, so lässt sich als prägendes Merkmal das Eindringen neuer Herrschaftsformen ausmachen, die in Opposition zur traditionellen Gestalt des basileus standen: monarchos oder tyrannos. Die im Zusammenhang mit diesen Schlagwörtern eröffnete Polemik bildete einen Indikator, um dem Prozess der Auflösung beziehungsweise Transformation der nachhomerischen Oberschichten nachzugehen.192 Die griechische Gesellschaft, von der Institution des auf Selbstversorgung ausgerichteten Oikos charakterisiert, gliederte sich in Adlige und Nichtadlige mit ihren unterschiedlich großen Besitztümern und Familien. Die dabei wirksamen Abhän­gigkeitsverhältnisse traten vornehmlich im Krieg und bei Rechtsstreitigkeiten hervor, waren aber nicht feuda­ler Natur. Weitergehende gesellschaftliche Strukturen wurden, ungeachtet des Aufkommens eigens spezialisierter Berufe (De­miourgoi, Handwerker: etwa Zimmerleute, Schmiede, Töpfer aber auch Sänger, Ärzte oder Seher), nur rudimentär ausgebildet. Die aristokratischen Familien ragten in den verschiedenen lokalen und regionalen Gesellschaften Griechenlands in wirtschaftlicher wie in sozialer Hinsicht heraus. Die Kon­zentration von Landbesitz, materiellem Reichtum und An­ hängerschaften war die Grundlage ihrer politischen Dominanz. Ihr Streben nach Anerkennung leiteten die Adelsgeschlechter aus ihren Familientradi­ tionen mit oft mythischen Ahnen und, damit zusammenhängend, uralten Familien­kulten ab. Überhaupt verwalteten aristokratische Sippen zugleich die für die Gemeinschaft relevanten religiösen Rituale ihrer Lokalgesell­ schaften; das einfache Volk blieb in kultischen Belangen von ihnen abhän­gig. 329

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Religion, Tradition, Reichtum, Prestige und im Krieg wie im Gemein­schafts­ leben erbrachte Leistungen begrün­deten zu­gleich die politischen Herrschaftsansprüche dieser gesellschaftlichen Eliten gegenüber der Masse der ein­fachen Bevölkerung. Sehr plastisch brachte gegen Ende des 6. Jahrhunderts v.  Chr. ein vornehmer Kreter sein Standesbewusstsein folgender­ maßen zu Wort: Großen Reichtum besitze ich: einen Speer und ein Schwert und den schönen Schild, den Schutz des Körpers. Denn dadurch pflüge ich, dadurch mähe ich, dadurch keltere ich den süßen Wein aus der Traube, dadurch nenne ich mich Herr der Geknechteten. Sie aber, die es nicht wagen, einen Speer und ein Schwert und den schönen Schild, den Schutz des Körpers zu haben, kauern alle nieder und beugen vor mir das Knie, nennen mich Herrn und großer König.193 Konstitutiv für das Selbstverständnis dieses Adels, der sonst keine grundsätzlichen formalen Zugehörigkeits- oder Gliede­rungskriterien kannte, war ein Selbstbild mit festumris­senen We­sensmerkmalen und Leistungsattributen, die sich in den Adjektiven verdichteten: stark, tüch­tig, tapfer, reich, gut und schön zu sein. Die Pflege vornehmer Lebensformen erlaubte sowohl im loka­len Bereich als auch im Polis-übergreifenden gesellschaftlichen Rahmen die Zurschau­stellung dieser prestigeträchtigen Eigenschaften und zugleich die Abgrenzung gegenüber Nichtadligen: Sportliche Wettkämpfe (Agone) – am berühmtesten waren die Olympischen Wettbewerbe  – dienten diesem Zweck ebenso wie Sym­posien, repräsentative Gelage unter Gleichgestellten. Derartige Veranstaltungen wurden zu Bestandteilen einer auf Exklusivität hin ausgerichteten Adelskultur, an der gleichgesinnte Aristo­kraten aus allen Teilen der griechischen Welt partizipier­en konnten. Weitreichende Heiratsbeziehungen, Gastfreundschaften und persönliche Netzwerke sorgten für ein grenzüberschreitendes Zusammengehö­rig­keitsgefühl zwischen den führenden Adelsgeschlechtern Griechenlands. Zugleich konnten sie wirtschaftliche und politische Interessen der jeweiligen Heimatorte fördern, was das Ansehen der dafür verantwortlichen Adligen erhöhte. Aufgrund dieser Voraussetzungen bildeten diese Adelsfamilien das natürliche Reservoir für die Rekrutierung der Entscheidungs- und Amtsträger in den sich formierenden Polisgesellschaf­ten. Selbst in den auf die Gleichstellung aller Bür­ger beruhenden demokratischen Staaten konnten zahlreiche maßgebliche Politi­ker (so etwa in Athen Aristokraten wie Miltiades, Ki­mon, Peri­kles oder Alkibiades) aus diesen exklusiven gesellschaftlichen Kreisen stammen, was den anhaltenden Einfluss dieser Oberschicht wiederspiegelt. Aristo­ kratische Mentalität, Kultur und Wert­vorstel­lun­gen wirkten gleichfalls nachhaltig in der Bürgerge­sell­schaft der Polis fort. Im Zuge des wirtschaftlichen und 330

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militä­rischen Auf­stieges wei­terer Bevölkerungskreise wur­den jene adligen Wertmaßstäbe und Lebensformen vielfäl­tig imitiert beziehungsweise adap­ tiert. Elitäres und egalitäres Selbst­bewusst­sein wurde nicht zuletzt in die Städtegründungen in Übersee (Sizilien, Süd­italien, Thrakien, Schwarzes Meer) expor­tiert. Bereits in den ältesten historischen Quellen können wir eine panhellenische Adelsgesellschaft erkennen, die durch ein weitverzweigtes Netz von Kontakten miteinander verbunden blieb. Bemerkenswert ist dabei, dass die von ihren Herkunftsorten vorgegebenen natürlichen Grenzen problemlos überschritten werden konnten. Der aus dem homerischen Kontext stammende Wettbewerb um Helenas oder um Penelopes Hand unterschied sich nicht wesentlich von den Vorbereitungen, die der Vermählung von Agariste, der Tochter der sikyonischen Potentaten Kleisthenes, vorausgingen. Dieses legendäre Ereignis vereinte die crème de la crème des hellenischen Adels. Bei derartigen Begebenheiten, bei denen sich die vornehme griechische Gesellschaft ein Stelldichein gab, wurden nicht nur die Bande der Verwandtschaft und Zugehörigkeit enger geknüpft, sondern auch die Werte einer panhellenisch ausgerichteten adligen Kulturgemeinschaft bewusst gepflegt. Darüber bietet uns Herodot anlässlich der Aufzählung der Prätendenten der Agariste eine äußerst anschauliche Schilderung: Kleisthenes war der Sohn des Aristonymos, der Enkel des Myron, der Ur­ enkel des Andreus. Er hatte eine Tochter namens Agariste, die er dem tapfersten und edelsten aller Griechen, den er fände, zur Frau geben wollte. Als ­Kleisthenes bei den olympischen Spielen mit dem Viergespann siegte, ließ er durch einen Herold verkünden: Welcher Grieche sich für würdig halte, des Kleisthenes Schwiegersohn zu werden, solle am sechzigsten Tage oder früher in Sikyon erscheinen, da Kleisthenes innerhalb eines Jahres, von diesem sechzigsten Tage an gezählt, die Hochzeit seiner Tochter feiern wolle. Da machten sich alle Griechen, die auf sich und ihr Vaterland stolz waren, als Freier auf nach Sikyon, und Kleisthenes richtete für sie eine Rennbahn und einen Ringplatz ein, eben zu diesem Zwecke. Aus Italien kam Smindyrides, der Sohn des Hippokrates aus Sybaris, der glänzendste Freier, der erschien; Sybaris stand zu dieser Zeit in seiner höchsten Blüte. Aus Siris stellte sich Damasos ein, der Sohn des sogenannten „Weisen“ Amyris. Diese kamen aus Italien. Vom ionischen Meerbusen her erschienen Amphimnestos aus Epidamnos, der Sohn des Epistrophos. Der kam also vom ionischen Meer. Aus Aitolien kam Males, der Bruder des Titormos, der alle Griechen an Körperkraft übertraf und vor den Menschen in die äußersten Winkel des aitolischen Landes geflohen war. Aus der Peloponnes traf Leokedes 331

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ein, der Sohn des Pheidon, des Tyrannen von Argos, jenes Pheidon, der den Peloponnesiern neue Maße geschaffen und von allen Griechen am meisten gefrevelt hatte. In Olympia hatte er die Kampfrichter aus Elis verjagt und die Wettspiele selbst geleitet. Dessen Sohn also kam und Amiantos, der Sohn des Lykurgos, ein Arkader aus Trapezunt. Auch ein Azener aus Paios, Laphanes, der Sohn des Euphorion, der, wie es in Arkadien heißt, die Dioskuren in seinem Hause bewirtet und seitdem jedermann gastlich aufgenommen hat. Aus Elis stellte sich Onomastos ein, der Sohn des Aigaios. Diese also kamen aus der ­Peloponnes selbst. Aus Athen erschien Megakles, der Sohn jenes Alkmeon, den Kroisos zu sich berufen hatte, und noch ein anderer, Hippokleides, der Sohn des Teisandros, der unter den Athenern an Reichtum und Schönheit hervorragte. Aus Eretria, einer damals blühenden Stadt, traf Lysanias ein; er war der einzige Mann aus Euboia. Aus Thessalien kamen der Skopade Diaktorides aus Krannon und der Molosser Alkon. So zahlreich waren die Freier. Als diese zu dem festgesetzten Tag erschienen, fragte Kleisthenes zuerst jeden nach seiner Vaterstadt und seinem Geschlecht. Dann behielt er sie ein Jahr bei sich. Er prüfte ihren Mannesmut, ihre Gemütsart, ihre Bildung, den Charakter, indem er sich mit jedem einzeln unterhielt und mit allen zusammen. Er führte die jüngeren von ihnen auf die Turnplätze und prüfte sie, was das wichtigste war, beim gemeinsamen Mahl. Solange er sie bei sich behielt, tat er das unausgesetzt, und dabei bewirtete er sie großartig.194 Wie diese aufschlussreiche Passage illustriert, war die Vorherrschaft des Adels in den Städten des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. von ausschlaggebender Bedeutung. Der Erwerb von Land, der Wettbewerb unter Gleichen, die Mobilisierung von Gefolgsleuten und die Schaffung weitgespannter Netzwerke familiärer Beziehungen definierten die Grundbedingungen des adligen Lebensstils. Die zur Schau getragene Aufbietung dieser Faktoren forderte eine überaus bewusste, ja kalkulierte Selbstdarstellung nach außen. Jeder sollte davon erfahren, um so den Stellenwert und die Bedeutung des Betroffenen zu erkennen. Der Sieg in den verschiedenen Wettbewerben – am meisten zählte ein Erfolg im Quadriga-Rennen in Olympia – galt als glanzvoller Höhepunkt einer aristokratischen Biographie. Es waren Leistungen, die ganz Griechenland mit Bewunderung wahrnahm. Der Sieger, dessen Name in aller Munde war, erlangte durch den Triumph Prestige und Ansehen. Dazu trugen Dichter wie Alkman, Simonides und Pindar bei, welche in dem Bestreben, dem Ruhm der homerischen Helden nachzueifern, die Heldentaten der Adligen der archaischen Zeit unsterblich werden ließen. Aus dem Bereich der bildenden Kunst ließe sich der unter dem Namen „Reiter Rampin“ bekannt gewordene Torso eines vornehmen Mannes mit 332

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„Reiter Rampin“ (um 550 v. Chr.): Reitertorso und Pferdefragment archaisch; Kopf archaisch. H. Payne195 erkannte als erster die Zusammen­ge­hörigkeit beider Teile. Der gesamte Fundkomplex wird heute (trotz räum­licher Trennung der Objekte) nach der Privatsammlung Rampin, in welcher sich der Kopf ursprünglich befand, als „Reiter Rampin“ bezeichnet. Gesamthöhe der Fragmente: 1,08 m (fast lebensgroß). Fundort: Athener Akropolis, heute Athen, Akropolismuseum, Paris, Louvre196

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dazugehörigem Pferdefragments neben die literarischen Porträts der Welt des Adels stellen. Die Arme und Beine des Reiters fehlen (bis auf die Oberschenkel), das Pferd ist nur fragmentarisch erhalten (Halspartie, Mähne). Der Reiter ist nackt und sitzt ohne Sattel in aristokratischer Positur mit rechtwinklig gebeugten Oberschenkeln auf. Die Rückwärtsneigung des Pferdehalses zeigt, dass der Reiter die Zügel anzieht. Auffällig ist der ornamentale Aufbau der Bauchmuskulatur sowie die Gestaltung der Frisur: Das Haar gliedert sich in Buckellöckchen, die schneckenförmig in Stirn und Schläfen auslaufen. Hinter den Ohren wallen dichte Haarsträhnen auf die Schultern. Um das Haupt geflochten ist ein Kranz aus Eppichlaub, wie er bei Siegerstatuen häufig anzutreffen ist. Augen, Mund und Kinnbart, der in Form von perlenartigen Locken realisiert wurde, lassen eine Verwandtschaft mit dem sogenannten Kalbträger erkennen.197 Angesichts der edlen Gesichtszüge, der langen, gepflegten Haare und des athletischen Körperbaus, der in seiner Nacktheit alle Möglichkeiten zur ornamentalen Ausgestaltung durch den Künstler bot, vermittelt der Torso eine aristokratische Attitüde, die Gelassenheit und Selbstbewusstsein verströmt. Das Reiten selbst ist ein Attribut vornehmer Lebensart, in der sich die Aristokratie der archaischen Zeit darzustellen gefiel. Aus der Komposition nicht etwa des Pferdefragments, sondern des rekonstruierten Pferdes erschloss man die Existenz eines zweiten Reiters, der mit jenem eine Reitergruppe ­gebildet habe. Welchen Persönlichkeiten würde nun solch ein künstlerisch aufwändiges, nahezu lebensgroßes Denkmal zugeeignet worden sein? Neben die These, es handele sich um die Dioskuren, gesellte sich die bis heute gängige Auffassung, hier seien die Peisistratiden Hipparchos, dessen Vorliebe für Pferde ja bekannt ist, und sein Bruder Hippias abgebildet. Wäre diese Zuweisung richtig, dann hätten wir hier die erste Herrscherdarstellung vor uns, die Machthaber, noch dazu Exponenten der tyrannis, zu ihren Leb­ zeiten – nach ihrem Tod wären diese Denkmäler mit Sicherheit nicht entstanden – errichtet haben müssten. Die Indizien, die für die Existenz eines ­Tyrannendenkmals sprechen, sind jedoch zu dürftig und hängen von der Verlässlichkeit der vorgeschlagenen Rekonstruktion ab. Zudem gibt es ­keinerlei Belege, die eine derartige Zuweisung stützen würden. Es erscheint wesentlich einsichtiger, den „Reiter Rampin“ als Produkt aristokratischer Selbstdarstellung zu würdigen, den irgendein Familienclan in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. in Auftrag gab. Die Frage, ob die Skulptur überhaupt auf eine konkrete historische Person zugeschnitten und somit von ­politischer Relevanz war, oder ob es sich hier nicht einfach um eine Sieger334

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statue eines anonymen vornehmen Jünglings handelte, muss offen bleiben. Deutlich wird hier jedenfalls die Evidenz eines Denkmals für die immer größer werdenden Ansprüche mächtiger Individuen.

Vornehme Karthager In der Gestalt des Hamilkar entfaltet sich die Biographie der ersten bezeugten karthagischen Persönlichkeit, die Teil eines die Grenzen des eigenen Gemeinwesens sprengenden aristokratischen Netzwerkes war und dabei unverwechselbare Merkmale ihrer karthagischen Identität erkennen ließ.198 Er stammte aus dem sogenannten Magonidenclan, der ab dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. eine politische Schlüsselstellung in Karthago erlangt hatte.199 Sein Entschluss, in Sizilien aktiv zu werden, hing mit dem Erstarken Syrakus’ unter Gelon zusammen, was der karthagischen Seefahrt den Zugang zu den Häfen der Insel erheblich erschwerte. Bis dahin sicherten sich die als Schiffseigner tätigen karthagischen Aristokraten die Zufahrtswege nach Sizilien durch ein dichtes Netz familiärer Bindungen, wie sie zwischen Hamilkar und dem Tyrannen Terillos von Himera, dem Tyrannen Pythagoras von Selinunt und Anaxilas, dem Tyrannen von Rhegion und Messina bestanden. Die Initiative zur Bildung der Kriegskoalition dürfte von dem aus Himera vertriebenen Terillos ausgegangen sein, der sowohl von seinem griechischen Verbündeten Anaxilas als auch von seinem karthagischen Gastfreund Hamilkar Beistand erbat. Daher vereinte die Abwehrfront gegen die Expansionspolitik Gelons und Therons die sich bedroht fühlenden Städte der Region, deren führende Persönlichkeiten mittels Gastfreundschaften oder Ehebündnissen eine über die Grenzen ihrer jeweiligen Gemeinwesen hinausreichende aristokratische Allianz geschmiedet hatten. Es ist gerade dieser Aspekt, den die antiken Autoren als Motiv für die karthagische Beteiligung an den Ereignissen des Jahres 480 v. Chr. betonen.200 Die engen Bande zwischen griechischen und karthagischen Adelskreisen weisen auf das Bestehen zwischenstaatlicher Beziehungen hin. Eine dramatische Änderung der bestehenden Verhältnisse konnte die Stabilität dieser für die karthagische Oberschicht vitalen Einnahmequellen gefährden. Daraus erklärt sich die Bereitschaft Hamilkars zur Teilnahme an der sizilischen Unternehmung. Dass ihm die Leitung der Operationen zufiel, dürfte damit zusammenhängen, dass er das umfangreichste Truppenkontingent beizusteuern vermochte.201 Seine pietätvolle Haltung während der Kampfhandlungen bei Himera, die durch eine sorgfältige Erfüllung seiner priesterlichen Aufgaben untermauert wurde, indem er die erlittene Nieder335

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lage mit seiner freiwilligen Aufopferung sühnte, hat ihm, trotz des mit­ verschuldeten Misserfolges, im westphönikischen Kulturbereich Ruhm und Anerkennung eingebracht. Hamilkar scheint damit zum Modell eines karthagischen Aristokraten am Ausgang der archaischen Zeit geworden zu sein. Über seine Nachwirkung vermerkt Herodot: Jedenfalls opfern ihm die Karthager und sie haben ihm in allen ihren Kolonien Denkmäler errichtet, das größte aber in Karthago selbst.202 Eine grundlegende Änderung der Lage auf Sizilien ergab sich erst im Zusammenhang mit der Segesta-Affäre und der darauf folgenden athenischen Expedition nach Syrakus.203 Nach deren Scheitern nutzte Karthago die Schwäche der griechischen Städte aus, um militärisch auf der Insel zu intervenieren. 409 beziehungsweise 406 v.  Chr. im Gefolge der erfolgreichen Feldzüge des Hannibal204, der dabei von seinem Verwandten Himilko205 unterstützt wurde, entstand eine karthagische Herrschaftszone auf Sizilien. Der versierte Truppenführer Hannibal, ein Enkel des bei Himera gefallenen Hamilkar, rächte dessen Tod, indem er zahlreiche Himeraier an der Stelle, wo der Großvater starb, hinrichten ließ.206 Die vornehmen Karthager Hannibal und Himilko, die ihre familiären Interessen mit dem Dienst am Staat verbanden, wurden die Architekten der karthagischen Expansion auf Sizilien. Erwiesenes Leistungsvermögen begründete Ansprüche auf die Führung des Gemeinwesens. Als besonders wichtig galten dabei militärische Erfolge, woraus ersichtlich wird, dass entgegen dem verbreiteten Vorurteil, Karthago hätte seine Kriege nur mit Söldnern geführt, die Mitwirkung von Bürgerverbänden zur Normalausstattung eines jeden Truppenaufgebots gehörte.207 Nicht nur die Flotte, auch das Landheer bildete die Kaderschmiede der Führungsschicht. Wenn diese in der modernen Forschung als Kaufmannsgilde bezeichnet wird, so verwendet man damit nicht nur ein fragwürdiges Etikett, sondern verkennt gleichzeitig die tragende militärische Verankerung der karthagischen Elite in einer auf Wettbewerb gegründeten aristokratischen Repu­blik.208 Während des 4. und 3.  Jahrhunderts v.  Chr. wird Karthago vielfach gezwungen gewesen sein, den auf Sizilien erworbenen Besitz gegen die Anfechtungen der Syrakusaner und Römer zu verteidigen. Die zahlreichen Auseinandersetzungen zu Lande und zu Wasser boten den Mitgliedern der Oberschicht die Möglichkeit, Kriegsruhm zu sammeln – eine unerlässliche Voraussetzung, um politische Ansprüche anzumelden.209 Die Verteidigung Siziliens geriet zur Bewährungsprobe für die ehrgeizigsten Mitglieder der karthagischen Aristokratie. Aus diesen Kreisen stammten die maßgeblichen Feldherren, Admiräle und Statthalter, die ­wiederum die politischen Zügel des Gemeinwesens in der Hand hielten. In 336

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Sizilien wird auch Hamilkar Barkas sich die ersten Sporen verdienen auf seinem Weg zum Gipfel der Macht in Karthago. Bereits während des 5. Jahrhunderts v. Chr. hatte Karthago die Tributzahlungen an die Libyer eingestellt. Im Gefolge der nordafrikanischen Expansion wurde das Nahrungsmittelreservoir für die wachsende Bevölkerung gesichert; darüber hinaus konnten die führenden Familien durch Ausweitung ihrer Ländereien einen beträchtlichen Machtzuwachs verbuchen. Für den Adelsclan der Barkiden lässt sich in der Gegend von Hadrumetum umfangreicher Grundbesitz nachweisen.210 Die Einkünfte aus den überseeischen Besitzungen und ein sich vergrößernder Landbesitz bildeten nun die wirtschaftlichen Säulen einer auf Expansionskurs ausgerichteten Oberschicht. Besonders virulent wurde der Dualismus zwischen afrikanischer Expansion und Überseepolitik nach dem 1. Römisch-karthagischen Krieg (241 v. Chr.) und der Söldnerrevolte (238 v. Chr.). Damals sah sich die karthagische Regierung gezwungen, die ökonomischen Lebensgrundlagen der Stadt den veränderten Realitäten anzupassen. Der Verlust der Flotte und der Einkünfte aus Sizilien und Sardinien brachten das Wirtschaftssystem an den Rand des Zusammenbruchs. Auch stellten die von Rom geforderten Reparationszahlungen eine weitere Belastung dar.211 Zwei Möglichkeiten zeichneten sich ab, um einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden. Die erste war die Konzentration aller verbliebenen Energien auf den gezielten Ausbau der karthagischen Machtposition in Nordafrika, unter Verzicht auf eine erneute Überseepolitik. Diese, den grundbesitzenden Schichten gewiss willkommene Option, hätte zwar eine Ausweitung der landwirtschaftlichen Ressourcen bedeutet, wäre aber nur durch Eroberungen in Libyen und der Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung zu verwirklichen gewesen. Da jedoch die Söldnerrevolte allen Beteiligten noch deutlich vor Augen stand, schien ein derartiges Vorhaben die erneute Gefahr eines Aufstandes zu erhöhen. Das Vorbild für ein auf Nordafrika konzentriertes Herrschaftsgebiet bot das Staatswesen der Ptolemäer in Ägypten, das durch die planvolle Ausschöpfung der natürlichen Reichtümer des Landes der dortigen Führungsschicht einen sagenhaften Wohlstand bescherte.212 Für eine solche Initiative trat in Karthago die Gruppe um Hanno ein.213 Die Alternative dazu knüpfte an die überseeische Tradition Karthagos an. Hamilkar Barkas war ihr Exponent. Der Verlust Siziliens und Sardiniens verlangte einen Ersatz für die angeschlagene Wirtschaft. Ein solches Ziel schien den Anhängern Hamilkars durch ein Ausgreifen auf die Iberische Halbinsel erreichbar zu sein. Dort gab es Rohstoffe zur Genüge, und das Land bot ein bewährtes Rekrutierungs­ reservoir für die stets benötigten Söldner.214 Welche dieser Gruppierungen, 337

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die nach der Niederschlagung des Söldneraufstandes die karthagische Politik beherrschten – die Partei der nordafrikanischen Expansion um Hanno oder die Anhänger der Überseepolitik um Hamilkar  –, sich durch­setzen würde, war ungewiss. Gegen Hamilkars Pläne sprach die Erinnerung an die gerade überstandene Auseinandersetzung mit Rom. Gegen Hannos Absichten sprach seine unrühmliche Rolle im Söldneraufstand, welche die Skepsis gegen seine afrikanischen Pläne verstärkt haben dürfte, während sich Hamilkar in einer günstigeren Position befand: Der unbesiegte Feldherr des 1. Römisch-karthagischen Krieges und Bezwinger der aufständischen Söldner verfügte über Ansehen und Popularität.215 Ihm gelang es auch, sich der Mitarbeit einflussreicher Adelskreise (Hasdrubal) zu versichern.216 Gestützt auf seine mächtigen Verbündeten und im Einklang mit der Volksmeinung erlangte er das Oberkommando, um das Hispanienprojekt in die Tat umzusetzen. Der zwischen Hamilkar und Hanno entstandene Dualismus wird sich auf Hamilkars Sohn Hannibal vererben und zur Bildung einer antibarkidischen Opposition führen. Zum ersten Mal können wir die Dynamik rivalisierender Adelsgruppierungen in Karthago beobachten, die sich einen scharfen Wettbewerb um die Bestimmung des politischen Kurses lieferten. Die erfolgreiche Unterdrückung des Söldneraufstandes markierte den Aufstieg des barkidischen Hauses. Hamilkars Sohn Hannibal, der maßgebliche karthagische Staatsmann seiner Zeit, wird im Stil eines Diadochen neue Maßstäbe in den Bereichen Politikgestaltung und Militärführung setzen. Wie sehr die karthagische Oberschicht von hellenistischen Einflüssen durchdrungen war, zeigen nicht nur die urbanistische Silhouette der Stadt oder der rege Waren- und Gedankenaustausch mit dem östlichen Mittelmeerraum, sondern auch ihre Lebensgewohnheiten.217 Auch Hannibals Erziehung gibt Zeugnis davon, denn Sosylos von Sparta und Silenos von Kaleakte waren seine Lehrer. Die damals beliebten Alexandererzählungen, die Schilderungen von Pyrrhos’ Feldzügen und die Militärtraktate des legendären Spartaners Xanthippos, des Retters von Karthago im 1. Römisch-karthagischen Krieg, dürften zu seinen Pflichtlektüren gezählt haben. Seine Ausbildung und seine Wertvorstellungen unterschieden sich kaum von denen der hellenistischen Aristokraten.218 Die einstige Seemacht Karthago war innerhalb von zwei Jahrzehnten in Hispanien zu einer Landmacht geworden. Das Barkidenhaus hatte an dieser Entwicklung den maßgeblichen Anteil. Leistungsfähige Talente, die aus der karthagischen Elite rekrutiert wurden, bildeten das Herzstück des nach hellenistischem Vorbild organisierten Heeres, das eine Generation lang die ­römischen Legionen ernsthaft herausfordern sollte. Maharbal, der Befehls338

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haber der numidischen Reiterei, der Leiter der Pioniere Hasdrubal, Mago der Samnit oder Himilko und Hanno  – alle­samt Offiziere, die später Berühmtheit erlang­en sollten – begleiteten die barkidische Expansion in Hispanien von Beginn an. Gemäß der Gepflogenheiten der karthagischen Adelswelt wurden zur Festigung ihres Herrschaftsanspruches Allianzen mit benachbarten Völkern durch Eheverbindungen gefestigt. Daher bil­dete die Pflege der Beziehun­gen zu den wichtig­sten iberischen Fürstengeschlechtern die tra­gende Säule der barkidischen Macht. Wie zuvor schon Hasdrubal heira­tete Hannibal eine vornehme Dame aus Castulo. Derartige Bündnisse erleichterten die von den Barkiden ange­strebte Aner­kennung ihrer Füh­ rungsfunktion durch die hispanischen Völker. Bekanntlich eröffnete der plötzliche Tod des Hasdrubal Hannibal den Zugang zur Macht.219 Wie einst bei Hamilkars Nachfolge ergriff auch diesmal die Armee die Initiative. Sie entschied sich für ein vielversprechendes Talent, das kaum mehr als seine verwandtschaftlichen Beziehungen in die Waagschale werfen konnte. Gleichwohl wurde diese Entscheidung von den karthagischen Behörden und der Volksversammlung bestätigt.220 Die in Hispanien erzielten Erfolge unter­ strichen den Führungsanspruch der Barkiden. Dennoch blieb der repu­ blikanische Charakter des karthagischen Gemeinwesens unangetastet. Hamilkar, Hasdrubal, Hannibal und dessen Brüder Hasdrubal und Mago waren trotz ihrer weit g­ efassten Kompetenzen Beauftragte, die im Namen und in Ver­tretung Karthagos handelten.221 Weil sie ihre Machtstellung von der Zu­ stimmung des Heeres ableiteten und das Charisma von Herrschern gegenüber den hispanischen Völkern ent­wickelten, weil Erfolg und Prestige zu Maßstäben ihrer Legitimität wurden oder sie nach der Art der Diadochen Städte gründeten sowie Münzen prägen ließen, brei­tete sich die Vorstellung eines von der Mutterstadt Karthago unabhängigen Herrschertums der Barkiden in Hispanien aus.222 Doch trotz der Spannungen, die gelegentlich aufgetreten sein mögen, ist es immer zu einem Interessensausgleich gekom­men. Die Mutterstadt wurde stets um Bestätigung der in Hispanien er­griffenen Maßnahmen ersucht. Gegenseitige Konsulta­tionen waren die Regel, Entscheidungen von Tragweite wurden einvernehmlich getroffen. Mitglieder des karthagischen Rates befanden sich stets in Hannibals Umgebung. Als dann schließlich der Krieg gegen Rom ausbrach, deckte Karthago jede Initiative, die von Hannibal ergriffen wurde.223 Wie in allen Gemeinwesen des Altertums bildete auch in Karthago die Landwirtschaft die Basis für gesellschaftliches Ansehen und politische Macht. Solange aber die territoriale Ausbreitung aufgrund der feindlich eingestellten Libyier eingeschränkt blieb, bot das Meer ein willkommenes Ersatzventil. 339

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Seehandel und Kolonialunternehmungen ermöglichten den Aufstieg der ehrgeizigsten Adelsfamilien. Erst die Genese und systematische Erweiterung des überseeischen Herrschaftsgebietes der Karthager, wie sie sich besonders in Sizilien manifestierte, bewirkte die endgültige Konsolidierung des Adelsregiments. Dessen namhaftesten Vertreter erscheinen seit dem Ende des 5. Jahrhunderts v.  Chr. als Feldherren auf Sizilien und Sardinien, als Leiter von ­Kolonialunternehmungen auf den Inseln des Tyrrhenischen Meeres und in Nordafrika, als Verwalter des sich stets vergrößernden Herrschaftsbereiches, als Großgrundbesitzer in Numidien, als Reeder, Seefahrer und Organisatoren eines atlantischen wie auch mittelmeerumspannenden Handels. Mit der Bildung eines maritimen Handelsimperiums stiegen die Gewinnchancen beträchtlich und damit die Möglichkeiten der daran Beteiligten, wirtschaftliche Macht in politische Geltung umzumünzen, das heißt die politischen und sakralen Funktionen zu monopolisieren. Im Verlauf der zahllosen Kriege gegen Syrakus schafften eine Reihe von Admirälen und Feldherren den Aufstieg in die Führungsriege des Staates. Die Protagonistenrolle der schlecht bekannten karthagischen Adelsschicht des 4. und 3. Jahrhunderts v. Chr. ergab sich aus der Verbindung von Regierungsämtern, Statthalterschaften und Militärkommandos. Auf dem Höhepunkt der Krise, die Karthago nach dem verlorenen 1. Römisch-karthagischen Krieg befiel, erschütterten Adelsrivalitäten die Fundamente der karthagischen Gesellschaft. Aus diesen Richtungskämpfen ging schließlich die Adelsgruppierung der Barkiden als Sieger hervor, woraus sich beobachten lässt, wie sehr militärische Tüchtigkeit die Grundlage einer überragenden politischen Machtstellung bildete. Neben dem außenpolitisch wichtigen Strategenamt bildeten die innenpolitisch maßgebliche Magistratur des Sufetats, sowie der Rat und der Gerichtshof der Einhundertvier das Herrschaftsbollwerk des Staates. Von der reibungslosen Zusammenarbeit dieser zentralen Institutionen und der sie tragenden Individuen hing die Stabilität des politischen Systems ab. Die ausgewählten Beispiele lassen nicht nur unterschiedliche Facetten der Adelsherrschaft, sondern auch die Konturen einer tiefgreifend geprägten Adelsrepu­blik erkennen. Ähnlich wie in Rom ließ sich auch in Karthago das traditionelle aristokratische Rollenverständnis seiner vornehmsten Bürger mit dem Dienst am Gemeinwesen vereinbaren. Ähnlich wie Rom vermochte auch Karthago die Energie seiner Führungsschicht in die Expansion des Gemeinwesens zu kanalisieren. Die Machtzunahme der mächtigsten Adelsgeschlechter korrespondierte mit der Ausbreitung des karthagischen Herrschaftsgebietes. Die Magoniden standen für den Erwerb Sardiniens und Siziliens, Hanno und Himilko für die wagemutigen maritimen Unter340

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nehmungen zur afrikanischen Küste und nach Nordwesteuropa, die Gruppe um Hanno für die Eroberung großer Teile Nordafrikas und die Barkiden für die Eingliederung Hispaniens in den karthagischen Machtbereich. Hannibal verkörperte die auf Leistung beruhende militärische Führerschaft und trat darüber hinaus als bedeutender innenpolitischer Reformer hervor, der im Stile der mythischen Gesetzgeber der Vergangenheit die Fundamente für eine Modernisierung des Staatswesens legte. Die verhältnismäßig geringe Anzahl namentlich erfassbarer Karthager waren ausnahmslos Seefahrer, Heerführer, Diplomaten oder Staatsmänner.224 Es waren gerade diese oft wagemutigen und kosmopolitischen Aristokraten, welche die Werke der griechischen und römischen Historiker bevölkern und ihren Gegnern Ärgernis, Ansporn oder gar Modell gewesen waren. Karthagische Kaufleute, wie etwa der von Plautus im Poenulus boshaft verzeichnete Händler Hanno, der zur Karikatur der Kleinkrämerei und Habgier geriet, blieben dagegen eine Domäne der römischen Komödie.225

Römische Senatoren Unter den zahlreichen Nachrichten, die uns das Gebaren römischer Senatoren nahebringen, ragt eine Episode heraus, die trotz ihrer Singularität dennoch typisch ist, weil sie das übersteigerte Selbstverständnis und Selbstwertgefühl der römischen Aristokratie beispielhaft illustriert. Sie handelt vom römischen Gesandten Gaius Popilius Laenas, der im Jahre 169 v. Chr. nach dem Ausgang der Schlacht von Pydna, die Makedoniens Schicksal entschied, sich nach Alexandria begab, um dem syrischen König Antiochos IV. ein Ultimatum zu überbringen, das den sofortigen Abzug seiner Truppen aus Ägypten verlangte. Doch hören wir die polybianische Version dieser aufschlussreichen Begebenheit: Als Antiochos gegen Ptolemaios heranzog, um Pelusium zu besetzen, trat ihm der römische Gesandte Gaius Popilius Laenas in den Weg. Der König begrüßte ihn schon von weitem durch lauten Zuruf und streckte ihm die Hand entgegen. Popilius aber reichte ihm die Schreibtafel, die er bereit hielt und auf der der Senatsbeschluss geschrieben stand, und hieß ihn zuerst das Schriftstück lesen (…). Als der König gelesen hatte, erklärte er, seinen Freunden das Schreiben mitteilen und sich mit ihnen über die neue Lage beraten zu wollen. Darauf tat Popilius etwas, was man nicht anders als hart und im höchsten Maße demütigend bezeichnen kann: er zog mit einem Weinrebenstab, der ihm gerade zur Hand war, einen Kreis um Antiochos und hieß ihn in diesem Kreis seine Antwort auf den Senatsbeschluss zu erteilen. Der 341

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König, obwohl befremdet über dieses Ansinnen und die Anmaßung des römischen Gesandten, zögerte nur kurze Zeit und erwiderte dann, er werde alles tun, was die Römer von ihm verlangten. Jetzt ergriff Popilius seine Hand und er und seine Mitgesandten begrüßten Antiochos auf das herzlichste.226 Eine kleine Zahl senatorischer Clans, zu denen Gaius Popilius Laenas zählte, deren Macht auf Reichtum, ausge­dehnten persönlichen Abhängig­ keitsverhältnissen sowie ständiger gegen­seitiger Unterstüt­zung gegründet war und oft über Jahrhunderte hinweg erhalten blieb, bildete das Rückgrat der römischen Gesellschaft. In ihren Händen lag die Leitung des Staates. Ihre Machtgrundlagen waren neben Grundbesitz und Familientradition ihre weitverzweigten sozialen und ökonomischen Netzwerke. Vermögen, Ansehen, Einfluss und Gefolg­schaft eines vornehmen Geschlechts, im Verlauf von Generationen erworben und gefestigt, waren für den einzelnen Römer nicht nur entscheidende Voraussetzungen einer politi­schen Laufbahn, sondern die Zugehörigkeit zu einer der großen Sippenverbände machte für ihn eine andere als eine öffentliche Tätigkeit beinahe undenkbar.227 Die patriarchalisch organisierte Familie bildete die Mitte der Gesellschaft. Ihr Oberhaupt (pater) besaß die uneingeschränkte Vollmacht über die übrigen Familienangehörigen (Frau, Kinder, Dienerschaft). Analog zum politischen System der Römer, das auf Disziplin, Anordnen und Befolgen gegründet war, schuldete man der Autorität des Familienvaters (patria potestas) Ehrfurcht und Gehorsam. Daher wurden die im Senat versammelten Oberhäupter der mächtigsten Familien Roms patres genannt. Sie verkörperten die maßgeblichen ökonomischen und politischen Netzwerke der römischen Gesellschaft. Diese wurde von einem Geflecht von bilateralen Abhän­gigkeitsverhält­nissen und Treueverpflichtungen durchzogen, gemeinhin als Klientelwesen bekannt. Enger gefasst bezeich­nete Klientel die Gesamtheit jener Personen (clientes), die zur Wahrnehmung und Durchsetzung ihrer Interessen ein Treue­ verhältnis (fides) mit einem Schutzherrn (patronus) eingegangen waren. Im Extremfall gewährleistete der Patron die soziale Existenz seines Schutzbefohlenen, indem er für Lebensunterhalt, Obdach, zumindest aber für Arbeit sorgte. Klienten, deren soziale Stellung eine gewisse Sicherheit aufwies (etwa Kleinbauern, Handwer­ker, kleinere und mittlere Geschäftsleute), erwarteten von ihrem Pa­tron Rechtsschutz, Maßnah­men zur Wahrung ihres Besitzstandes und Förderung ihres beruflichen Fortkommens. Klienten, die den gehobe­ nen und obersten Schichten angehörten, wie Großgrundbesitzer, Handelsleute, Reeder, Manufakturbesitzer und Bankiers, die eine unabhängige ­soziale Stellung einnahmen und selbst als Patrone auftraten, verlangten von ihrem Patron keine mate­ rielle Hilfe, wohl aber Unterstützung in ihren 342

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geschäftli­chen Angelegenheiten durch seinen gesellschaftlichen und politi­ schen Einfluss. Eine der ältesten Patronatstätigkeiten, die Ver­tretung des Klienten vor Gericht, war vor allem innerhalb der Führungsschicht gefragt. Die Bezeichnungen Patron und Klient sagen nichts aus über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, wenn auch die Tätigkeit als Patron ihrem Wesen nach eine herausgehobene Position voraussetzte. Klient dagegen konnte jeder sein. Selbst ein Senator, der sich vor Gericht von einem anderen Senator, oft minderen Ranges, vertreten ließ, war in diesem Falle dessen Klient. Der Klient war zu Gegenleistungen verpflichtet, deren Art und Ausmaß sich nach seinen Möglichkeiten sowie den Bedürfnissen des Patrons richteten. Wir können uns hier auf den Fall des Pa­trons beschränken, der einer der großen Familien angehörte und im öffentlichen Leben stand. Grund­sätzlich stimmten seine Klien­ten bei Wahlen und Abstimmungen für ihn oder für die von ihm befür­worteten Kandidaten oder Anträge. Es wurde erwartet, dass sie ihre Beziehungen im Interesse ihres Patrons einsetzten. Klientelverhältnisse waren in der Regel unauflöslich. Starb der Patron, so trat sein Erbe in alle bestehenden Verpflichtungen ein. Starb der Klient, blieben seine Nachkommen in der fides des bisherigen Patrons. Klientelverhältnisse waren vielsei­tig. Der Einzelne konn­te Patron mehrerer Klienten oder Klient mehrerer Patrone sein. Allerdings war die personale Bindung umso schwächer, je näher sich die Partner eines solchen Treueverhältnisses von ihrem gesell­schaftlichen Rang her kamen und je unabhängiger sie voneinander in ihrer sozialen Stellung waren. Insbesondere die Angehörigen der vornehmsten Familien und der sozial unmittelbar darunter liegen­den, finanziell und wirtschaftlich gleich oder bes­ser gestellten Oberschicht, des Ritterstandes, bezeichneten sich in ihren Ver­pflichtungen nicht als Patrone und Klienten (außer bei Gerichtsverhandlungen), sondern als Freunde (amici) oder als gute Bekannte (familiares). An der moralischen Ver­pflichtung zur Erwiderung jeder Leistung änderte dies nichts, und auch unter den großen Familien waren Generationen überdauernde Treueverhältnisse keine Seltenheit. Doch im politischen und geschäftlichen Alltag waren wechselnde Beziehungen eher die Regel. Der Senat setzte sich aus allen ehemaligen Magistraten vom Quä­storier (gewese­ner Quästor) aufwärts zusammen und umfasste im 1.  Jahrhundert v. Chr. etwa 600 Mitglieder. Somit waren für gewöhn­lich sämtliche Häupter und führende Vertreter der großen Familien, insbesonde­re die Nobili­tät, im Senat. Andererseits hatte nicht schon die bloße Zugehörig­keit zur Aristokratie einen Senatssitz zur Folge, sondern erst die Bekleidung einer Magistratur. Der damit verbundene Wettbewerb aber verlangte selbst von dem Angehö343

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rigen der einflussreichsten Familien ein gewisses Maß an eigenem Einsatz und persönli­cher Leistung im Dienste des Gemeinwesens. Zwar mono­ polisierte die Aristokratie die Ämter im Ganzen und die Nobilität das Consulat im Besonderen, aber die Entscheidung darüber, welches Mitglied dieser Gruppen welches Amt erlangte, lag letztlich bei der Wählerschaft. Schon aus seiner Zusammensetzung ergab sich die überragende Bedeutung der Kammer. Als ehemaliger Magistrat hatte der einzelne Senator bereits die Erfahrun­ gen verarbeitet, die der jeweils amtie­rende Jahresmagistrat erst sammeln musste. Er war seit Jahren gewohnt, sich mit allen öffentlichen Aufgaben auseinanderzu­setzen, nicht nur mit den speziellen Aufgaben einer einzelnen Magistratur. Seine Unterstützung, sein persönliches Ansehen und das seiner Familie mochten dem oder den amtierenden Magistraten mit zur Wahl verholfen haben, waren vielleicht gar ausschlagge­bend gewesen. Er war älter als die meisten Amtsträger und konnte bereits deshalb erwarten, dass diese seine Ansichten ernst nahmen. Besaß schon der einzelne Senator gegenüber den Amtsträgern einen Erfahrungs-, Leistungs- und Ansehensvorsprung, so galt dies erst recht für die gesamte Körperschaft. Der Senat vereinigte die Sum­me der Erfahrungen aller ehemaligen Amtsträger, die Summe ihrer Leistungen im öffentlichen Interesse, ihres persönlichen Anse­hens und des Einflusses ihrer Familien, aber auch die Summe des Ansehens ihrer Vorfahren, die in gleicher Eigenschaft, viel­leicht seit Jahrhunderten, im Senat vertreten waren. Eines von den vielen Beispielen, die sich dafür anführen ließen, ist auf dem Grabstein des ansonsten nicht besonders in Erscheinung getretenen römischen Praetors (139 v. Chr.) Gnaeus Cornelius Scipio Hispanus eingemeißelt. Darin lesen wir Sätze, die einen Eindruck von der verpflichtenden Kraft der Tradition, den Grundsätzen aristokratischer Lebenseinstellungen und den Rollenerwartungen an die Mitglieder des Senatorenstandes vermitteln: Die Tugenden meines Geschlechts habe ich durch meine Lebensführung gemehrt, für Nachkommenschaft gesorgt, den Taten des Vaters nachgeeifert, der Vorfahren Ruhm erhalten, so dass sie sich freuen sollten, dass ich ihnen geboren wurde: ihr Nachkomme wurde durch ihr Ansehen geadelt.228 Innerhalb des Senates besaßen diejeni­gen den größten Einfluss, welche die gesamte Ämterlaufbahn absolviert hatten: die gewese­nen Consuln (viri consulares). Sie waren vom Wahlvolk mehrfach in ihren Ämtern bestätigt wor­den, sie kannten alle zivilen und militärischen Tätigkeits­bereiche des ­öffentlichen Lebens, sie gehörten der Nobilität an und ver­fügten über eine ausgedehnte Anhängerschaft. Persönli­che Lei­stungen im Dienste des öffentlichen Interesses (res publica) verliehen dem Betreffenden Ansehen und Würde (dignitas). Beides zusam­men gab dem Consular (und in minderem 344

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Umfang auch dem rangniedrigeren Senator) auctoritas, den Einfluss des leitenden Staatsmannes. Seine Ansichten und Rat­schläge waren für die Entscheidung der Gesamtheit maßgeblich; ihnen kam Urheberschaft im Sinne des Wortes zu: Die von der Allgemeinheit respektier­te Befähigung, zu erkennen, was im öf­fentlichen Interesse sei, und entsprechend zu handeln. Die auctoritas des einzelnen Consulars wog unendlich viel, die versammelte auctori­tas des Senates (auctoritas patrum) bestimmte die Richtlinien der ­Politik.229 Unter Berücksichtigung des gesetzlichen Mindestalters von dreiundvierzig Jahren und einer Lebens­erwartung von etwa sechzig Jahren kann man davon ausgehen, dass die Zahl der Consulare für gewöhnlich kaum mehr als 30 betrug. Im Senat hatten sie stets zuerst das Wort in der Debatte, und sie gaben als erste ihre Stimme ab. Im Gegensatz zur Volksversammlung kannte der Senat keine geheime Abstimmung. Wofür die Mehrzahl der ­Consulare sich entschied, das wurde zumeist von der Gesamtheit des Senates beschlossen, nicht zuletzt aufgrund der ja auch innerhalb der Aristokratie wirksamen Nah- und Treu­everhältnisse. Doch selbst die Consu­lare richteten sich in ihrem Votum nach einer kleinen Gruppe aus ihrer Mitte, nach der auctoritas jener Staatsmänner nämlich, die durch außerordentliche Leistung und persönliches Ansehen unbestritte­nen Vorrang vor allen anderen genossen. Das waren die principes viri, die in Wirklichkeit den Gang der Dinge ­bestimmten, sofern sie sich einig waren. Der bestimmende Einfluss der ­principes und übrigen Consulare hatte zur Folge, dass, sobald sie in einer anstehenden politischen Frage einen Konsens erzielt hatten, der ganze Senat ihrem Beispiel folgte. Nur wenn gegensätzliche Auf­fassungen bezüglich des ein­zuschlagenden Weges nicht überbrückt werden konnten, kam es zu einem tatsächlichen Mehr­heitsentscheid, der dann gewöhn­lich von allen als Ausdruck ihrer gemein­samen Sache, des öffentlichen Interesses, aufgefasst und respektiert wurde. So trat der Senat als geschlossene, unteilbare Körperschaft auf, die kraft ihrer Zusam­men­setzung und der auctoritas ihrer führenden Mitglieder über das Gemein­wohl abgewogener zu entscheiden ver­mochte als jede andere Institution – und erst recht als jedes Individuum.230 Eine überaus anschauliche Momentaufnahme über eine legendäre Senatssitzung, an der der alte, ehrwürdige Senator Appius Claudius Caecus teilnahm  – einer der ersten römischen Staatsmänner, der historisch fassbar ist –, verdanken wir dem griechischen Biographen Plutarch von Chaironeia. Claudius’ politische Laufbahn, seine Eigenschaften und Charakterzüge sowie seine Leistungen für das Gemeinwesen waren überaus bemerkenswert. Von ihm hieß es, dass er versuchte, „mit Hilfe seiner Klienten sich Italiens zu bemächtigen“. Sein Ansehen und seine Autorität waren so hoch, dass sie poli345

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tische Wertmaßstäbe setzen konnten, wie die nachfolgende Episode verdeutlicht. In Zusammenhang mit der Abwehr des Pyrrhos, der mit Heeresmacht in Italien eingefallen war, wird eine Begebenheit überliefert, deren Protagonist Appius Claudius, der Censor des Jahres 312 v. Chr. war, und die auf eindringliche Weise die Bindekraft der Tradition im Denken und Handeln der römischen Führungsschicht mustergültig aufzeigt. Folgendes wird darüber berichtet: Da war es Appius Claudius, ein hoch angesehener Mann, der sich wegen seines hohen Alters und seiner Erblindung von den Staatsgeschäften zurückgezogen hatte, der, als der Senat Frieden schließen wollte, sich nicht mehr zurückhalten konnte, sondern sich von seinen Dienern in einer Sänfte zum Senat tragen ließ. Als er dort ankam, empfingen ihn seine Söhne und Schwiegersöhne, nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn hinein, und der Senat ­bewahrte aus Achtung für den Mann ein ehrfurchtsvolles Schweigen. Er trat sogleich auf und sprach: Bisher, ihr Römer, litt ich unter dem Verlust meiner Augen, jetzt bedaure ich, dass ich außer der Blindheit nicht auch taub bin, sondern von schimpflichen Beratungen und Beschlüssen hören muss, die den Ruhm unserer Stadt vernichten (…). Als Appius solche Worte gesprochen hatte, erfüllte die Senatoren neuer Mut zum Kriege, und sie gaben Bescheid, Pyrrhos solle erst Italien räumen und danach von Freundschaft und Bundesgenossenschaft reden (…), sonst würden die Römer mit aller Kraft Krieg führen, und wenn er tausend Männer wie Laevinus in die Flucht schlüge.231 Die Stellungnahme des Senates spiegelt die kompromisslose Geistes­ haltung der römischen Eliten wider. Jede Auseinandersetzung, an der die Römer beteiligt waren, galt für sie erst als beendet, wenn sich der Gegner gefügt und alle römischen Kriegsziele verwirklicht worden waren. Gleichzeitig gibt der Verlauf der Senatssitzung Aufschluss darüber, wie sehr Tradition, Familienbande und durch Erfahrung erworbenes Ansehen die Geschicke des Staates mitbestimmten. Außerdem verdeutlicht die Episode um den Senatsauftritt des Appius Claudius Caecus die starke aristokratische Prägung der res publica, deren Führungsschicht überaus empfänglich gegenüber der auctoritas ihrer überragenden Mitglieder war. In diesem Kontext passt eine Äußerung, die dem griechischen Gesandten Kineas aus Thessalien zugeschrieben wird, der im Auftrage des Pyrrhos mit dem römischen Senat verhandelte und vom Selbstbewusstsein der Senatoren beeindruckt, diese als eine Versammlung von Königen bezeichnet haben soll.232

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bwohl gewöhnlich Erfolg als gängiger Maßstab herhalten muss für die Beurteilung der Wirkmächtigkeit politischer Biographien  – gewiss nicht nur in den Gesellschaften des Altertums –, lässt sich an einigen Beispielen ein gegenläufiger Trend festmachen, insofern, als bestimmte Machtmenschen trotz ihres Misserfolgs zum Gegenstand der retrospektiven Vergegenwärtigung oder gar zum Objekt der Bewunderung und damit der Unsterblichkeit werden konnten. Diese Fälle zeigen uns, wie es einigen energischen, charismatischen aber auch widersprüchlichen Persönlichkeiten, die voller Tatendrang waren, gelingt, nicht nur das historische Interesse der Nachwelt zu erregen, sondern auch ein bemerkenswertes Ausmaß an Anerkennung und ehrendem Andenken zu erfahren. Im Gegensatz zur Wahnsinnstat des Herostratos, der den berühmten Artemistempel von Ephesos niederbrannte, um sich einen Platz in der Erinnerung der Nachwelt zu sichern und so einige, wenn auch fragwürdige Berühmtheit erlangte, bilden die ausgewählten Beispiele (Themistokles, Hannibal und Cato) nicht nur die Antipoden dazu, sondern können auch helfen, die überaus komplexe Wechselwirkung zwischen persönlichem Leistungsvermögen und Verfehlung der angestrebten Vorhaben im Sinne der Fragestellung zu verdeutlichen. Dass gerade diese Potentaten trotz ihres Scheiterns noch heute nicht der Vergessenheit anheimgefallen sind, verdanken sie gewiss ihrer unverwechselbaren Individualität, vor allem aber ihren spektakulären Taten, auch wenn diese nicht unbedingt das gewünschte Ziel zu erreichen vermochten.

Themistokles Ihrem Landsmann Themistokles verdankten die Athener den Befreiungsschlag gegen die Perser, der ihnen zunächst die politische Autonomie ­sicherte und danach die Hegemonie über die Ägäis einbrachte. Er galt als Ideen­geber und Vollender des athenischen Flottenbaus und als spiritus rector der überaus erfolgreichen Seekriegführung gegen das Achaimenidenreich. Sein Ruhm und seine Popularität in der griechischen Welt standen nach der 347

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Schlacht von Salamis (480 v. Chr.) hoch im Kurs. Als eine der wenigen Polis übergreifenden Gestalten genoss er die ungeteilte Anerkennung jener Hellenen, die zur Abwehr der Persergefahr ihre gegenseitigen Fehden begruben und eine Koalition geschlossen hatten, die sich als äußerst erfolgreich bewähren konnte. Diese für die Zukunft handlungsfähig zu halten, war eines seiner erklärten Ziele. Es ging ihm um eine gesamthellenische Kooperation angesichts der noch nicht endgültig überwundenen Persergefahr. Themistokles war sowohl ein Geschöpf, als auch ein maßgeblicher Förderer und Gestalter der athenischen Demokratie.233 Sie bot ihm den nötigen Nährboden für seine folgenreichen politischen Initiativen. Als eines der ersten historisch fassbaren Individuen der griechischen Geschichte erhielt er Denkmäler, die sowohl seine Leistungen als auch die Verdienste seiner Stadt verherrlichten und damit den Rahmen zwischen öffentlichem Raum und Privatsphäre neu definierten. Wir wollen nun ein solches Beispiel näher betrachten. Mit der Themistokles-Herme von Ostia werden allgemein die Anfänge des Porträts in der griechischen Kunst verknüpft. Ein Vergleich dieser Herme mit dem stilistisch verwandten Kopf des Aristogeiton234 lässt es offenbar werden, dass im Übergang vom noch archaisch beeinflussten „strengen Stil“ zur frühen Klassik ein bedeutender Schritt erfolgt, indem die Künstler nun beginnen, sich für historisch konkrete Personen mit ihren ausgeprägten individuellen Merkmalen zu interessieren. Obwohl diese durchaus wiederum idealisiert dargestellt werden können (Londoner PeriklesHerme), so ist die Referenz doch eine eindeutige. Die Zuweisungskriterien konkretisieren und verengen sich damit für den Betrachter. Eine Selbstbespiegelung, wie noch bei den Tyrannentötern, ist nun nur noch infolge der exakten historischen Identifikation einer einmaligen Persönlichkeit und nicht mehr durch eine eher abstrakte Interpretation eines Handlungsbildes möglich. Zugleich wird das ursprüngliche Weihegeschenk usurpiert und umfunktioniert: Es ehrt nun nicht mehr eine empfangende Gottheit, sondern einen genau bestimmbaren, im Bild verewigten Menschen.235 Damit waren dem Personenkult Tür und Tor geöffnet.236 Stellten die Tyrannentöter noch überindividuelle Idealtypen vor, so wurde in der Themistokles-Herme eine konkrete zeitgenössische Persönlichkeit noch zu ihren Lebzeiten, wahrscheinlich auf dem Gipfelpunkt ihrer Popularität, abgebildet.237 Themistokles wird nicht etwa als heroischer Sieger von Salamis dargestellt; vielmehr kontrastiert der eigentümliche Zug des Charakterkopfes mit der bis dahin üblichen Idealplastik (Harmodios, „Reiter Rampin“). Ein breites, fast bullig wirkendes Antlitz tritt uns hier entgegen: Kurzes Haar, ein fast nur angedeuteter Vollbart über einer nach vorn gezogenen 348

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Themistokles-Herme von Ostia (476 v. Chr.?). Römische Kopie eines griechischen Originals. Gesamthöhe: 50 cm; Höhe des Kopfes: 26 cm. Fundort: in der Nähe des Theaters in Ostia, heute Museum Ostia. ­Identifikation durch Inschrift: Themistokles in Buchstabenformen des 2./3. Jahrhunderts v. Chr. Die Herme zeigt einen Ausschnitt aus einer ­ursprünglichen Porträtstatue238

Kinnlade, die Denkerfalte auf der massigen Stirn und die nach vorn blickenden Augen mit hochgewölbten Brauen lassen alles andere als den „Befreier Griechenlands“ erkennen. Fast möchte man einen bäuerischen Ausdruck aus den Zügen herauslesen. Themistokles wird nicht als abgeklärter Stratege dargestellt (wie dies etwa bei den Perikles-Hermen der Fall ist), sondern als Bürger und Leitfigur des Demos von Athen, als „einer aus dem Volk“.239 Das markante Äußere des Zeitgenossen war Signal genug, um bei dem Betrachter die Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit wachzurufen, in der sich auch dieser als Teil des Schulter an Schulter kämpfenden Bürgeraufgebots wiedererkennen konnte. Der Mythos, nun als säkulares historisches Ereignis, wird in den Dienst genommen als „Träger und Deuter des Ruhmes“240 von politisch wirksamen Individuen. Zu diesem Kontext passt, dass die 349

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Schlacht von Salamis als Bühnenstoff auch im zeitgenössischen Drama nachweisbar ist. Somit haben wir in der Themistokles-Herme mehr als das „Porträt eines eigenwilligen Menschen in einer revolutionären Epoche“241 vor uns; nämlich ein geschichtsträchtiges Symbol für die gesamte Polis. Wir fassen hier eine Emanzipation des Individuums von einer aristokratisch geprägten Gesellschaft und zugleich bereits diejenigen Tendenzen, die das Individuum wiederum aus dem Verband der Gleichen herausheben würden. Die Möglichkeit, in einem Porträt verewigt zu werden, konnte nun vielen zuteilwerden, die sich im Auftrag der Polis (beispielsweise im Strategenamt) verdient gemacht hatten. Andererseits bedeutete dies nicht nur einen Prestigegewinn für die Stadt, die sich in den Bildwerken loyaler Bürger selbst bespiegeln konnte, sondern barg auf lange Sicht ebenso die Gefahr in sich, dass allein durch die Möglichkeit, im Denkmal vor die Augen aller Politen zu treten, ein Propagandainstrument geschaffen wurde, das den Interessen der auf Gleichheit (Isonomie) bedachten Polis zuwiderlaufen konnte: Was in der Themistokles-Herme durch die behutsame, wenig idealisierende Art und Weise der Darstellung noch abgefedert wurde, musste später ikonographisch zu einer Verherrlichung eines primus inter pares werden und politisch zum existentiellen Problemfall, welcher das Selbstverständnis des Polisverbandes unmittelbar tangieren würde: Der Einzelne, groß geworden durch innenund außenpolitisches Können, lässt die Gemeinschaft der Gleichen hinter sich. Paradebeispiel hierfür wird eine Generation später Perikles sein. Doch Themistokles sollte in der zweiten Phase seines Lebens nach allen ihm zugeteilten Ehrungen einen tiefen Fall erleben, der gemäß der inneren Logik des demokratischen Systems mit seinen Errungenschaften und der damit einhergehenden Überhöhung seiner Person in Zusammenhang stand. Die athenische Demokratie liebte den Erfolg, konnte aber die dafür Verantwortlichen schwer ertragen. Vorwände für eine Anklage waren schnell gefunden und erhoben. Themistokles’ Hochmut und Ehrgeiz hatten ohnehin schon immer Anstoß erregt und seine Popularität nachträglich gemindert. Bei passender Gelegenheit bezichtigten ihn seine Gegner der Konspiration mit den Persern und klagten ihn wegen Hochverrats an.242 Doch so unwahrscheinlich die vorgebrachten Vorwürfe klangen, sie verfehlten ihre Wirkung nicht und so wurde Themistokles durch das Scherbengericht verurteilt. Es entbehrt nicht der Ironie, dass der Verantwortliche für das Misslingen der persischen Expedition nach Europa persönlich scheitern und beim ehemaligen Kontrahenten den Rest seiner Tage verbringen sollte. Nach seiner Flucht aus Athen begab er sich ins persische Exil, wo ihm der Achaimenidenherrscher Artaxerxes die kleinasiatische Stadt Magnesia als Zufluchtsort zuwies. 350

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Hannibal Es gehört zu den Paradoxien der karthagischen Geschichte, dass die historische Wahrnehmung der nordafrikanischen Stadt aus der Perspektive der Kriegstaten einer nach landläufiger Ansicht dem Kommerz verschriebenen Führungsschicht bestimmt wurde. In diesem Kontext kam den militärischen Leistungen der Barkidenfamilie eine Schlüsselrolle zu. Hannibal stammte aus diesem Geschlecht von Kriegsherren und Politikern, die nun, wie einst die Magoniden, die Macht ihrer Heimatstadt über weite Teile des westlichen Mittelmeerbeckens ausdehnen konnten. Bereits sein Vater Hamilkar war einer der bedeutendsten Feldherren seiner Zeit.243 Er leitete die Operationen auf Sizilien während des 1. Römisch-karthagischen Krieges (264–241 v.  Chr.), den er unbesiegt überstand. Danach erlöste er seine bedrängte Heimat von dem Ansturm der revoltierenden Söldner (240­–238 v. Chr.). Schließlich legte er den Grundstein zur Errichtung der karthagischen Herrschaft im Südteil der Iberischen Halbinsel (237–229 v.  Chr.). Hannibals militärische Ausbildung fand im Heerlager seines Vaters Hamilkar in Hispanien statt. Hier genoss er eine sorgfältige Erziehung, die im Einklang mit den in der karthagischen Oberschicht geltenden hellenistischen Maßstäben stand. Einer seiner Lehrer, der Spartaner Sosylos, machte ihn mit den Taten Alexanders des Großen, Pyrrhos’ von Epirus und Xanthippos’, des spartanischen Strategen und Retters von Karthago im 1. Römisch-karthagischen Krieg, vertraut. Ferner konnte er in der Umgebung seines Vaters wichtige Erfahrungen in den Bereichen Menschenführung, Diplomatie, Militärwesen und Politikgestaltung sammeln. Im Mittelpunkt seiner Biographie steht der Krieg, den er sechzehn Jahre lang gegen Rom, die mächtigste Stadt der damaligen Welt, führte (218– 202 v. Chr.). Hannibal griff für die Unabhängigkeit Karthagos zur Waffe. Das Vorbild dafür bot das politische System der hellenistischen Staaten im öst­ lichen Mittelmeerraum, das durch die Herstellung eines Gleichgewichtes der Kräfte die Bildung einer allmächtigen Hegemonialmacht verhindern konnte und die Existenz mehrerer, in Konkurrenz zueinander stehender Gemeinwesen ermöglichte. Rom in ein solches Korsett einzuspannen, war sein wichtigstes Kriegsziel. Hannibals Feldzugsplan, mit dem Heer von Hispanien aus bis nach Italien vorzustoßen und dort die Entscheidung zu erzwingen, war einer der kühnsten Entwürfe der Militärgeschichte. Die römische Überlegenheit zur See und der Mangel an einer eigenen starken Flotte zwangen Hannibal dazu, sich auf dem Landweg nach Italien zu begeben. Aus der Not machte er eine Tugend. Die Idee, den Krieg im Lande des Gegners auszutragen, war ­angesichts der geographischen Gegebenheiten, falls ihr Erfolg beschieden 351

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sein würde, fast ein halber Sieg. Die Überlegung war bestechend. Voraussetzung dafür waren jedoch sorgfältige, alle Eventualitäten berücksichtigende Vorkehrungen. Um den reibungslosen Transport und die Versorgung einer umfangreichen, kampfstarken Armee über eine lange und schwierige Strecke zu ermöglichen, musste alles gründlich vorbereitet werden. Gewaltige Pionierleistungen waren zu bewältigen, wozu es einer eingespielten Logistik bedurfte. Waffen- und Lebensmitteldepots galt es unterwegs anzulegen. Der Marsch durch zahlreiche, teils feindliche Gebiete war zu sichern. Karthagische Gesandte hatten den Auftrag, mit Geldzahlungen oder Gewaltandrohung das Wohlwollen oder wenigstens die Neutralität der Anrainervölker zu erreichen. Am Fluss Ticinus kam es zu den ersten Kampfhandlungen auf italischem Boden. Hannibal bereitete sich sorgfältig darauf vor, indem er seine Truppen psychologisch auf den bevorstehenden Angriff einstimmte. Ein Teil der Legionen wurde niedergemacht, andere konnten fliehen. Hannibal hatte dieses für den weiteren Fortgang seines Italienzuges so wichtige Treffen dank der Kampfkraft und Manövrierfähigkeit seiner Reitertruppen für sich entschieden. Der römische Consul Publius Cornelius Scipio wurde dabei verwundet. Es war die erste militärische Konfrontation zwischen Römern und Karthagern seit dem Ende des 1. Römisch-karthagischen Krieges gewesen, und das Erstaunliche daran war, dass sich die Karthager auf dem Schlachtfeld gegen die gefürchteten römischen Legionen überlegen behaupten konnten. Eine Niederlage hätte für Hannibal den vorzeitigen Abbruch seiner mit so viel Engagement und Entbehrungen unternommenen Expedition bedeutet. Er riskierte mehr als sein Gegner und gewann. Es war vor allem die Schlacht bei Cannae (216 v.  Chr.), die Hannibals Kriegsruhm begründete, als sein etwa 40 000 Mann umfassendes Heer eine ungefähr doppelt so starke römische Armee schlug.244 Es ist ersichtlich, welch hoher Stellenwert der ideologischen Flankierung des 2. Römisch-karthagischen Krieges zukam, wie sehr sie seinen Verlauf und seine nachträgliche Deutung mitbestimmte. Den Anfang hatte Hannibal gemacht. Als nach der Einnahme Sagunts die römische Kriegserklärung bevorstand, beeilte er sich, ein religiös fundiertes Konzept einer antirömischen Allianz zu entwerfen, das er als Kehrseite seiner Militärstrategie begriff. Wie weit ein propagandistisch unzureichend vorbereiteter Kriegsplan führen konnte, hatte ­Pyrrhos gezeigt. Obwohl er auf eine starke Armee zurückgreifen konnte, vermochte sich der von Hannibal bewunderte König kaum länger als ein paar Jahre in Italien und Sizilien zu halten. Dies alles hatte Hannibal genau registriert. Er zog Lehren daraus, indem er die gefangenen Italiker befreite und sie in ihren jeweiligen Herkunftsorten verkünden ließ, dass er nur gegen 352

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Rom Krieg führe. Erst als die karthagische Kriegskoalition infolge der un­ geheuren Machtressourcen Roms nach und nach zerbrach (Syrakus, Capua, Tarent, Makedonien), wurde Hannibals Stellung in Italien unhaltbar. Bezeichnenderweise läutete die Eroberung von Cádiz durch die Römer, die für Hannibal den Verlust des ältesten Bundesgenossen bedeutete, die letzte Phase eines Konfliktes ein, der stets an verkehrten Fronten ausgetragen wurde. Um Rom von einem Angriff auf Karthago abzulenken, beschäftigte Hannibal die Römer in Italien. Die Entscheidung fiel aber in Hispanien, als die Römer die dortigen Machtbasen der Karthager eroberten (205 v. Chr.). Kurz darauf musste Hannibal aus Italien abziehen, und der Krieg nahm in Nordafrika seine unvermeidliche Wendung. In der Schlacht bei Zama wurde Hannibal von Scipio geschlagen und der Krieg war damit zu Ende (202 v. Chr.). Entgegen der Beteuerungen der romfreundlichen Autoren, die den 2. Römisch-karthagischen Krieg als ein Ringen zwischen zwei etwa gleich starken Gegnern darstellen, war die Disproportion zwischen den Beteiligten weitaus größer. Der Krieg konnte von Hannibal nicht gewonnen werden. Zu erdrückend war das römische Potenzial im Verhältnis zu den Ressourcen der Karthager. Dass er Rom überhaupt so lange in Schach halten konnte, lag an seinen glänzenden militärischen Fähigkeiten sowie an der zustande gebrachten antirömischen Allianz. Diese Deutung mag etwas verwundern, weil wir uns daran gewöhnt haben, Hannibals Aktivitäten ausschließlich durch die militärische Brille zu betrachten. Dazu gibt es hinreichenden Anlass, denn sie bestimmt die Perspektive unserer antiken Gewährsleute. Aber diese Sichtweise greift zu kurz. Um die Bedeutung des 2. Römisch-karthagischen Krieges zu erfassen, müssen seine weit ausgreifenden ideologischen, politischen und ökonomischen Implikationen ausgelotet werden; selbst dann, wenn uns die antiken Autoren keine expliziten Begründungen dafür liefern.245 Doch neben den strukturellen Faktoren muss die persönliche Dimension des legendären Karthagers in Rechnung gestellt werden. Es spricht für seine militärische Befähigung und sein Charisma, dass seine Armee, die immerhin über ein Jahrzehnt fern von der Heimat weilte und schweren Dauerbelastungen ausgesetzt war, ihm den Gehorsam bewahrte. Obwohl der Krieg in Italien kaum zu gewinnen war und der Abzug nach Nordafrika drohte, gab es keine Meuterei. Selbst bei Rückschlägen behielt Hannibal die Kontrolle über seine Truppen. Keine historisch relevante Persönlichkeit im westlichen Mittelmeerraum hatte die Welt so sehr in Staunen versetzt wie der Feldherr Hannibal. Niemand zuvor hatte eine vergleichbare Prominenz und so viel bewegt wie er. Alles an ihm erinnerte an den großen Makedonen Alexander, der einst ausgezogen war, um die Grenzen der Welt zu durch­ 353

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messen. Es gab zwar in der Gegend, wo Hannibal zu Hause war, mehrere bemerkenswerte Individuen: Machtmenschen vom Schlage eines Dionysios oder Agathokles von Syrakus, ganz zu schweigen von den legendären Gestalten der frühen römischen Repu­blik (Brutus, Cincinnatus etc.). Doch sie alle entfalteten eine lokale, bestenfalls regionale Wirkung. Demgegenüber stellten Hannibals Taten das Agieren der bisherigen Berühmtheiten in den Schatten. Sein Aktionsradius umfasste einen Großteil der bekannten Welt. Erst sein Auftreten formte sie zu einer Einheit. Die Aktivierung der Länder des westlichen Mittelmeerraumes setzte eine Dynamik in Gang, die schließlich zur Integration beider Hälften der mediterranen Welt führte. Alle vorhandenen Kriterien für die Beurteilung solcher Phänomene gerieten ins Wanken. Niemand zuvor hatte sich auf solche militärischen Projekte eingelassen und war dabei so grandios gescheitert wie er. Auch hinsichtlich seiner Erfolge und Niederlagen sprengten die Parameter seines Handelns die bisherigen Maßstäbe. Außergewöhnliche Menschen suchten seine Nähe, unterstützten oder bekämpften ihn. Hannibal wurde zum Katalysator für Begabungen. Dies traf vor allem für seine Gegner zu, die, von ihm angespornt, Höchstleistungen erbrachten (Scipio); sie gewannen dadurch an Statur und Bedeutung. Nach der Konfrontation mit Hannibal war Rom verwandelt. Es bewegte sich danach unwiderruflich auf imperialem Kurs, und Hannibal hatte, wenn auch ungewollt, einen nicht geringen Anteil daran. In der Galerie historischer Berühmtheiten, denen eine ungebrochene ­Aktualität zu eigen ist, behauptet Hannibal einen unangefochtenen Ehrenplatz. Sein mythisch verklärter Gang durch die Geschichte erregt Erstaunen, beflügelt die Phantasie, fordert zumindest Aufmerksamkeit heraus. Auch wenn sein Parforceritt auf den Bühnen antiker Weltpolitik die Chronik einer Niederlage liefert, erscheint diese mit soviel Wagemut, Leidenschaft und Größe verbunden, dass am Ende Bewunderung oder gar eine augenzwinkernde Komplizenschaft gegenüber dem grandios Gescheiterten übrig bleibt. Würden wir im Rahmen einer Erhebung nach den bekanntesten Gestalten des Altertums fragen, so kann man erwarten, dass der Name Hannibal bei den meisten Antworten unter ihnen wäre. Wenn wir weiter nach den Stationen oder den markantesten Ereignissen seines Lebensweges fragen, kämen gewiss sein Marsch nach Italien sowie der Alpenübergang einschließlich der Elefanten in den Antworten vor. Doch trotz des hohen Bekanntheitsgrades einzelner Episoden sind die historischen Einsichten zu Hannibal und seiner Zeit eher gering. Dieser Befund dürfte nicht nur für unsere Gegenwart charakteristisch sein, sondern auch für die Zeiten davor. Es sind vor allem schillernde Begebenheiten (etwa der Zweikampf zwischen Hannibal und Scipio), 354

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überdimensionale Episoden (etwa das Massaker von Cannae) oder paradoxe Phänomene (etwa Elefanten in der winterlichen Alpenlandschaft) gewesen, welche die allgemeine Wahrnehmung dieser überaus komplexen Persönlichkeit bestimmten, weswegen er wie nur wenige Menschen der Antike im Bewusstsein der Nachwelt lebendig geblieben ist. Zu ungewöhnlich und aufsehenerregend waren seine Taten, als dass sie in Vergessenheit geraten konnten. Sein Draufgängertum und seine Entschlossenheit, als er den mächtigsten Staat der damaligen Welt herausforderte, seine spektakulären Leistungen, als er Rom in die Enge trieb, hielten das Interesse an seiner Person über die Jahrhunderte hindurch wach, und sie tun dies heute noch. Die wenig erfreulichen, teils schrecklichen Begleiterscheinungen und Folgen dieses Ringens um Macht und Herrschaft, um Prestige und Ehrgeiz, das unzählige Menschenleben kostete und ganze Landschaften in Mitleidenschaft zog, wurden eher beiläufig vermerkt. Doch auch diese Tatsachen sind ein unauflöslicher Bestandteil von Hannibals Wirken. Wie bei allen großen Eroberern wurde auch sein Gang durch die Geschichte von einer blutigen Spur begleitet. Darauf muss immer wieder hingewiesen werden. Während die Erinnerung an seine Heimatstadt Karthago zunehmend verblasste, blieb jene an Hannibal stets aktuell und lebendig. Allerdings war die Vergegenwärtigung seiner historischen Rolle Schwankungen unter­worfen. Es entwickelte sich nicht ein einziges Hannibal­bild, sondern mehrere.246 Sie sind das Ergebnis von späteren zeit­genössi­schen Interpolationen. Jede Epoche hat bestimmte spezifische Merkmale ihrer jeweiligen Hannibalexegese beigemengt, und das Erstaunlichste dabei ist, dass aus dem gescheiterten Feldherrn und Staatsmann eine überlebensgroße Gestalt entstanden ist, die bis auf unsere Tage kaum etwas von ihrer Faszination eingebüßt hat.

Cato Gewiss, unsern Cato schätze ich nicht weniger als Du; aber in seiner anständigen Gesinnung und unerschütterlichen Zuverlässigkeit richtet er doch bisweilen Unheil in der Politik an. Er stellt Anträge, als ob er sich in Platos Idealstaat und nicht in Romulus’ Schweinestall befände. (Cicero an Atticus)

Marcus Porcius Cato, Urenkel des legendären Cato Censorius, gehörte zum inneren Kreis der römischen Aristokratie.247 Ins Rampenlicht der politischen Öffentlichkeit Roms trat er erstmalig anlässlich der Catilinarischen Ver355

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schwörung auf, als es ihm gelang, den Senat umzustimmen und die Hinrichtung der an dem Staatsstreichversuch Beteiligten durchzusetzen (63 v. Chr.). Erstaunlich dabei war allerdings, dass Cato, obwohl noch am Anfang seiner politischen Laufbahn stehend (im vorhergehenden Jahr war er Quästor ­gewesen), die Urteilsbildung des Senates  – jener erlauchten Körperschaft, welche die gesamte politische Erfahrung Roms in sich versammelte – massiv beeinflussen und von einem bereits gefassten Beschluss abbringen konnte.248 Dabei vermochte er zu diesem Zeitpunkt, für jemanden, der im Senat Gehör fand durchaus unüblich, keine besonderen politischen Verdienste für sich in Anspruch zu nehmen, um seine Autorität zu unterstreichen.249 Für ihn sprachen lediglich die mitreißende Kraft seiner Rede und die Festigkeit seiner Überzeugungen, die durch eine ungewohnte Prinzipientreue hervorstachen. Ebenso konnte er seine Herkunft aus einem der führenden Familienverbände der römischen Nobilität in die Waagschale werfen. Den Grundsätzen der stoischen Philosophie verpflichtet und gelegentlich überaus dogmatisch veranlagt gegenüber den Wertmaßstäben der Tradition, die er zur Richtschnur seines Handelns erhob, setzte sich der Moralist Cato für die Idee des bedingungslosen Dienstes eines jeden Bürgers für die Belange des Staates ein, die er höher als jede persönliche Befindlichkeit stellte. Dadurch erwarb er sich den Ruf der Rechtschaffenheit und Prinzipientreue. In diesem Sinne sagte er der Korruption und der Bestechung den Kampf an, was in einem von zahlreichen Geldskandalen erschütterten Staatswesen keine geringe Tugend darstellte. Gleichzeitig galt er aber auch als verbohrt, starrsinnig und als nicht immer diplomatisch bei der Verwirklichung seiner Anliegen. Trotzdem war er zu tieferen menschlichen Regungen fähig, wie er wiederholt bewiesen hat: Seinem Temperament nach neigte er zur Macht des Wortes und der Überzeugung, aber auch zur Mäßigung und zum Ausgleich; Gewalt erachtete er als ultima ratio der Politik. Auf manche seiner Standesgenossen wirkte seine zur Schau getragene Unbescholtenheit allerdings durchaus irritierend, was gelegentlich zu einer Verzeichnung seiner Persönlichkeit beigetragen haben mag, die teils groteske Züge annehmen konnte. So hat ihn der Caesarbewunderer Theodor Mommsen, der Meister der ­römischen Geschichtsschreibung, als den Don Quijote der römischen Politik bezeichnet250, ein zwar geistvolles Bonmot, das aber nur zum Teil zutrifft. Denn Cato ließ sich zwar meist von Grundsätzen, aber, wenn es die Ange­ legenheit erforderte, ebenso von Realismus und Pragmatismus bei der Verfolgung seiner politischen Ziele leiten. Politisch schloss sich Cato dem optimatisch gesinnten Kreis um Catulus, Hortensius, Lucullus und Bibulus an, der sich Ende der sechziger Jahre 356

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v. Chr. durch eine Fundamentalopposition zunächst gegen Pompeius, später gegen Caesar hervortat. Deren Beweggründe waren freilich nicht immer sachbezogen, sondern wie bei allen senatorischen Klüngeln wurden auch sie von eigenen Interessen, Eitelkeiten und Eifersüchteleien mitbestimmt und geleitet. Einen unerwarteten Erfolg konnte die optimatische Senatsgruppe allerdings erzielen, als sie den aus dem Osten siegreich heimgekehrten Pompeius politisch ausbremste, was sich allerdings für die Zukunft des senatsgestützten Regiments der römischen Repu­blik als verhängnisvoll erweisen sollte.251 Denn nun rückten Caesar, Crassus und Pompeius, nachdem sie ihre gegenseitigen Fehden begruben, näher zusammen und errichteten ein faktisches Regierungskartell, das die optimatisch gesinnte Senatsgruppe zeitweise neutralisierte und in den Schatten zu stellen vermochte. Die neuen Machthaber waren nun in der Lage, ihre eigenen Projekte auch gegen den erbitterten Widerstand der um Cato sich formierenden Opposition durchzusetzen, indem sie, gestützt auf ihre gewaltige Klientel, mithilfe der Volksversammlung oder des eingeschüchterten Senates regierten. Catos cursus honorum verlief recht unspektakulär. Nach Bekleidung der Quästur (64 v. Chr.) und des Volkstribunats (62 v. Chr.) versah er im Jahr 54 v. Chr. die Prätur. Das Consulat, den Gipfel der Macht, sollte er jedoch nicht erreichen, womit seine politische Karriere einen Knick erlebte. Gemessen an den Maßstäben der römischen Nobilität konnte sie alles andere als glanzvoll bezeichnet werden, was aber seiner Entschlossenheit, an seinen Zielen festzuhalten, keinen Abbruch tat. Obwohl ihm die höchsten Weihen der römischen Repu­blik, das Consulat und die Zensur, verwehrt wurden, war sein politischer Einfluss dennoch weitaus größer, als die erreichten Stufen seiner politischen Laufbahn vermuten lassen würden. Die größte Wirksamkeit entfaltete er keineswegs wegen seiner Amtsgewalt (potestas), die sich durchaus in Grenzen hielt, sondern aufgrund seiner Charakterfestigkeit und seines Ansehens (autoritas). Zu seinen Betätigungsfeldern gehörte nicht die Armee, wie dies für die meisten Potentaten der damaligen Zeit (Sertorius, Lucullus, Pompeius, Caesar) der Fall war, sondern der Senat, die Volksversammlung sowie die zahlreichen politischen Konventikel, die ihm wegen seiner Popularität und seines hervorragenden familiären Netzwerkes offenstanden. Entscheidend für seine zeitweise dominierende Rolle im politischen Alltag der späten römischen Repu­blik wurden aber seine Unerschrockenheit, sein Gerechtigkeitssinn, sein dialektisches und polemisches Talent sowie seine durch nichts zu erschütternde Standhaftigkeit: Angst war ihm fremd. Seit den fünfziger Jahren des 1. vorchristlichen Jahrhunderts profilierte er sich aufgrund seiner kompromisslosen Haltung gegenüber Caesar, den 357

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aufgehenden Stern der römischen Politik, den er sich zum Ziel seiner ­wiederholten Angriffe auserkoren hatte. Immer wieder gelang es ihm, wirkungsvolle Stiche gegen den verhassten Machtmenschen anzubringen, etwa, als er im Jahre 60 v. Chr. dem siegreich aus Hispanien heimkehrenden Caesar, der vor den Toren Roms stand, den zu erwartenden Triumpf verhagelte, indem er durch Dauerreden im Senat die Abstimmung über Caesars Wunsch, sich in Abwesenheit für das Consulat bewerben zu können, hintertrieb.252 Zweifellos gehörte Cato zu jener Riege römischer Senatoren, die es sich zur ­Lebensaufgabe gemacht hatten, Caesar aus dem römischen Politikbetrieb zu verbannen, weil er in ihm eine Gefahr für die Repu­blik sah. Cato war von der Richtigkeit des repu­blikanischen Regierungssystems, das heißt von der Zweckmäßigkeit der Senatsherrschaft überzeugt. Seine Bewahrung und Verteidigung hatten für ihn Priorität. Diesem Ziel ordnete er sich bedingungslos unter. Folgerichtig stand er, als sich die Fronten des Bürgerkrieges herausbildeten (49 v. Chr.), auf der Seite der Senatspartei. Wenn auch Caesar durch seinen Ehrgeiz und Eigennutz wesentlich zur Eskalation des Konfliktes beigetragen hat, so war auch die Unkonzilianz seiner Widersacher, unter ihnen Cato, nicht weniger mitverantwortlich an dieser blutigsten Episode der ­römischen Geschichte.253 Es ist allerdings aus heutiger Perspektive kaum zu klären, inwiefern ein wenig mehr an gegenseitiger Rücksichtnahme und Nachgiebigkeit auf beiden Seiten die Katastrophe des Bürgerkrieges möglicherweise verhindert hätte.254 Mit der Mehrheit der Senatoren befand sich auch Cato im Lager des Pompeius, als die entscheidende Schlacht bei Pharsalos (48 v.  Chr.) geschlagen wurde, die den Machtkampf um die Leitung der Repu­blik zugunsten Caesars entschied. Danach sammelte Cato die Reste des senatstreuen repu­blikanischen Heeres und führte es nach Nordafrika, um von dort aus den Krieg gegen Caesar fortzusetzen; doch alle seine Bemühungen sollten sich als vergeblich erweisen. In der Schlacht bei Thapsus setzte sich Caesar erneut durch. Damit war jeder Widerstand sinnlos geworden. Cato erkannte dies deutlich, und da er eine Begnadigung seitens Caesars, die er gewiss erhalten haben würde, schroff ablehnte, verübte er in Utica Selbstmord (46 v. Chr.). Wie alle römischen Aristokraten hat sich auch Cato in der Öffentlichkeit bewusst inszeniert, um damit ein bestimmtes Bild seiner Wesensart und seiner politischen Gesinnung zu entwerfen und zu verfestigen: Er trat gelegentlich barfüßig und ohne Unterwäsche, lediglich mit der Toga bekleidet auf, um seine jedem Luxus entgegengesetzte Haltung zu betonen. Die Befolgung der Bindekraft der Tradition (mos maiorum) war ihm Richtschnur seines ­öffentlichen und privaten Verhaltens. Auch galt er als unbestechlich und dies 358

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in einer Gesellschaft, in der die Gier nach Geld wie ein Krebsgeschwür wucherte. Er führte eine an den strengen Sitten der Vorfahren orientierte einfache Lebensweise, was seine Ernsthaftigkeit und politische Zuverlässigkeit positiv unterstrich. Darüber hinaus stach Cato durch seine Furchtlosigkeit und unbeirrbare Konsequenz bei der Befolgung seiner politischen Anliegen heraus. Seine rhetorischen Fähigkeiten waren beachtlich, ebenso seine grenzenlose Zähigkeit und Verbissenheit beim Erreichen seiner Absichten. Gewiss verfügte Cato nicht über die Rechtskenntnisse Ciceros und über die forensische Geschliffenheit des Hortensius beziehungsweise über die militärische Erfahrung des Pompeius oder über den Reichtum des Crassus oder über die politische Manövrierfähigkeit Casesars. Aber in einem Punkt übertraf er alle seine noch angeseheneren und begabteren Standesgenossen: Seine über alle Zweifel erhabene politische Integrität. Kurzum waren es nicht glänzende politische Eigenschaften oder gar militärischer Ruhm, die ihn auszeichneten, sondern es war die Faszination seiner Persönlichkeit, welche seine Stärke ausmachte. Diese speiste sich aus der unbeirrbaren Attitüde eines eigenwilligen und einzigartigen Individuums, das, mit Ecken und Kanten versehen, den Politikbetrieb seiner Zeit entscheidend mitprägte. In die Galerie der Zelebritäten der späten römischen Repu­blik ist Cato als die Verkörperung eines prinzipientreuen Bürgers eingegangen. Seine Weigerung, von Caesar begnadigt zu werden, indem er den Freitod anstatt die angebotene Verschonung wählte, verwandelte den gescheiterten Staatsmann, der keines seiner weitgespannten Ziele verwirklichen konnte, dennoch zu einer Ikone der Freiheit, zu einem Widerstandskämpfer gegen die Despotie. Er hat nicht nach Macht gestrebt; auch war sie für ihn kein Selbstzweck. Dennoch, in seiner Ohnmacht als Besiegter, entfaltete seine Person eine fast mythische Aura, die seinen Bezwinger aufs Höchste verunsicherte. Als Brutus nach Catos Tod eine Lobschrift über ihn verfasste, antwortete Caesar mit seinem Anticato, einer üblen Hetzschrift, die alles andere als ein Ruhmesblatt für die beträchtlichen intellektuellen Fähigkeiten ihres Verfassers darstellte: In diesem nach seinem Tod ausgetragenen, ungleichen Wettbewerb blieb Cato der eindeutige Punktsieger.

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V Krieg und Gewalt

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ewaltausbrüche nach innen und nach außen, kriegerische Verwicklungen als Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln sowie die Funktion des Geldes als Grund, Vehikel und Ziel der Kriegsführung, bilden die Schwerpunkte der nachfolgenden Kapitel. Es geht im Wesentlichen darum, die politischen Implikationen der von Gruppen und Staaten kalkuliert ausgeübten Gewalt sowie den Stellenwert kriegerischer Auseinandersetzungen in den antiken Gesellschaften zu dokumentieren und zu überprüfen. Ausgehend von der Betrachtung ausgewählter militärischer Konfrontationen (Salamis, Gaugamela, Actium, Hadrianopel) soll ihre jeweilige historische Bedeutung als Chiffre für die durch sie ausgelösten Epochenwenden festgehalten und ihre Breitenwirkung innerhalb ihres engeren historischen Umfelds ausgelotet werden. Ferner stehen die fragwürdige Sinnhaftigkeit des Krieges sowie die Verantwortung der beteiligten Parteien am Ausbruch der für das Schicksal der Alten Welt besonders relevanten Konflikte (Peloponnesischer Krieg, 1. und 2. Römisch-karthagischer Krieg) auf dem Prüfstand. Der innere Zusammenhang zwischen Politik und Gewalt lässt sich mustergültig anhand der blutigen Konvulsionen, welche die römische Repu­blik im letzten Jahrhundert ihres Bestehens erschütterten (Gracchen, Marius und Sulla), aufzeigen. Sie zeugen von der verhängnisvollen Verflechtung zwischen persönlichen Ambitionen und politischen Zielsetzungen. Gleichzeitig belegen sie, wie sehr militärische Denkweisen als eine schier unlösbare Hypothek auf dem Politikbetrieb einer sich in Auflösung befindlichen Staatsform lasteten. In einem weiteren Kapitel soll dann das politische Gewicht des Geldes für die Ermöglichung von Kriegshandlungen (Kriegsfinanzierung im 2. Römisch-karthagischen Krieg), für die Neuausrichtung von Politik und Ökonomie (Nordafrikanisches Wirtschaftswunder) und für die Sanierung der Staatsfinanzen in Verbindung mit skrupellosen Feldzügen (Einnahme Jerusalems durch Titus) erörtert werden. Besonders verbreitet war die persönliche Bereicherung machtversessener Individuen, die, wie der Fall Caesars 360

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zeigt, die eigene politische Zukunft  – und das war gleichbedeutend mit einem Bürgerkrieg – mit der aus ihrer Statthalterschaft resultierenden Beute finanzierten (Eroberung Galliens). Schließlich soll auch über die in den Großstädten der Spät­antike sich zusammenballenden Gewaltpotenziale berichtet werden (Antiochia, Rom, Alexandria, Thessalonike, Con­stantinopel), die in ungelösten sozialen, religiösen und ökonomischen Krisenlagen ihren Ursprung hatten. Dabei ist zu klären, aus welchen Gründen die Revolten entstanden und wie man mit ihnen umging. Ferner ist zu fragen, wie die Staatsmacht darauf reagierte und welche Auswirkungen die gewaltsamen Umstürze auf das politische Gleichgewicht des spät­antiken Reiches zeigten.

1 Gewaltsame Exzesse Die Menschheit (…) erinnert sich im allgemeinen länger der Mißhandlungen, die sie erfährt, als der Liebkosungen. Was wird aus den Küssen? Aber die Wunden hinterlassen Narben. (Bertolt Brecht, Die Trophäen des Lukullus)

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ewalt als Mittel der Politik, der Kriegführung und der Herrschaftsausübung galt in den Gesellschaften des Altertums keineswegs als ultima ratio, sondern häufig als gängige, unvermeidliche Begleiterscheinung von Politikgestaltung. Sie hat immer wieder stattgefunden und gelegentlich erschreckende Ausmaße angenommen, die von individueller Grausamkeit bis zu terroristischen Massakern reichten, an denen sich kleinere aber auch größere Gruppen beteiligen konnten. Sie wurde aus unterschiedlichen Gründen ausgeübt, um etwa die eigene angefochtene Position zu behaupten, gelegentlich auch, um ein Exempel zu statuieren, ferner um Beherrschte dauernd in Abhängigkeit zu halten und ihnen die Ausweglosigkeit von Widerstand zu verdeutlichen, oder schlicht und einfach, um aufgestaute Rachegefühle hemmungslos zu befriedigen. Oft wurde sie von skrupellosen Potentaten ausgeübt, die aufgrund ihrer Machtstellung in der Lage waren, ihren Willen gegen andere rücksichtlos durchzusetzen. Nicht selten aber traten machtversessene Kollektive auf, die um den Verlust ihrer Vorherrschaft beziehungsweise um ihre Privilegien fürchteten und sich mittels drastischer Gewaltmaßnahmen ihrer identitärischen Zugehörigkeit zu vergewissern suchten, in der An361

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nahme, dass die begangenen Untaten die eigene Gemeinschaft enger zusammenschweißen würde. Zu den Mechanismen der Gewaltanwendung gehörten die Tötung, Verstümmelung und Erniedrigung der Gegner. Gewöhnlich standen die physische Vernichtung sowie die Versklavung besiegter Feinde am Ende jeder Gewaltaktion. Schonung und Gnade wurden selten gewährt, und wenn doch, dann geschah es meist aus utilitaristischen Gründen, um etwa die Arbeitskraft der Besiegten auszubeuten oder um die Reproduk­ tionsfähigkeit der weiblichen Gefangenen auszunutzen. Tiefere Einsichten in die Notwendigkeit einer generösen Behandlung von Unterlegenen, um damit nachhaltige Wirkungen für die Zukunft zu erzielen, gab es zwar hin und wieder, doch blieben sie eher die Ausnahme. Dass sich erklärte Feinde versöhnten und ihre Streitigkeiten auf dem Verhandlungsweg beilegten, kam überaus selten vor. Rache, Gier und ein atavistisches Sicherheitsdenken, das auf die Niederringung oder gar physische Ausradierung der Kontrahenten ausgerichtet blieb, setzten sich immer wieder durch, wie die folgenden Textbeispiele belegen, die einige Facetten des Gewaltphänomens in der Antike verdeutlichen und darüber hinaus zeigen, wie sehr persönliche Schicksale zum Spielball egoistischer Machtinteressen und falschverstandene kollektive Rücksichten immer wieder verkommen konnten. Im 22. Gesang der Odyssee wird in epischer Breite die Konfrontation zwischen dem lang abwesenden basileus Odysseus und den Freiern der Penelope beschrieben, die sich zu einer Blutorgie dramatischen Ausmaßes steigern und eines der markantesten Kapitel der an Gewalt keineswegs armen homerischen Welt schreiben sollte. Uns liegt hier ein Beispiel aristokratischer Gewalt vor, die aus dem Wettbewerbstrieb und den Ambitionen der Beteiligten nach Macht, Reichtum und Ehre resultierte. Bemerkenswert ist dabei, dass, während die Freier im Zweikampf sukzessiv erledigt werden, die mit ihnen kooperierenden Sklaven aus dem Haushalt des Odysseus erst nach grausamer Folter hingerichtet wurden. Die Art des Todes war offenbar vom Sozialstatus der Betroffenen abhängig. Was war geschehen? Angespornt durch das Fernbleiben des Odysseus aus Ithaka, der sich bei der Belagerung von Troja über Gebühr lange aufhielt, versuchte eine Reihe heiratswilliger Edelleute dessen Frau Penelope zur Hochzeit mit einem von ihnen zu bewegen. Während die edle Dame in der Erwartung der Heimkehr ihres Mannes mit ihrer Entscheidung zögerte und allerlei Listen anwandte, um das Vorhaben zu hintertreiben, nisteten sich die Heiratsbewerber bei ihr ein und verprassten das Hab und Gut des abwesenden basileus. Plötzlich änderte sich die Lage. Der zurückgekehrte Odysseus betrat waffenklirrend die Szene und übte Rache an den Freiern und ihren 362

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Helfern, indem er sie alle hinrichtete, womit er die angefochtene Machtstellung über seinen Oikos aktualisierte. Er zeigte den Bewohnern Ithakas auf unmissverständliche Weise, wer der Herr im eigenen Hause war, was diese wohl oder übel zur Kenntnis nahmen. Keine Hand rührte sich, weder für noch gegen ihn. Odysseus schrieb ein neues, blutiges Kapitel in der Geschichte der Insel, und deren Bewohner schauten zu, während er gegen seine Widersacher wütete. Zu sehr hing die Gemeinschaft von den Adligen ab, als dass diese in der Lage gewesen wäre, auf solche Situationen eigenständige Antworten zu finden. In dieser Ohnmacht offenbart sich bereits das Bedürfnis nach einer Reform. Politik war noch nicht die Sache aller, sondern vornehmlich derjenigen, die aufgrund ihrer ökonomischen und sozialen Vormachtstellung befähigt waren, sich ungehindert durchzusetzen, notfalls unter Anwendung von Gewalt. Ungewöhnlich hart und unerbittlich reagierte das hochgerüstete Athen, die Vormacht des Attisch-Delischen Seebundes im Sommer des Jahres 427 v. Chr., als mitten im Peloponnesischen Krieg die Unabhängigkeitsbestrebungen Mytilenes ihre bis dahin unangefochtene Herrschaft in der Ägäis bedrohten. Um künftige Abfallsbewegungen anderer Bündnispartner im Keim zu ersticken, beschloss die athenische Volksversammlung, eine Strafexpedition gegen die aufrührerische Stadt durchzuführen und ein grausames Exempel zu statuieren, was aber kurz darauf innerhalb der eigenen Bevölkerung ein kritisches Nachdenken über die Unverhältnismäßigkeit der in einer erregten Situation verhängten Strafen erzeugte: (Die Athener) beschlossen im Zorn nicht nur diejenigen, die sie hatten, umzubringen, sondern gleich sämtliche erwachsenen Mytilener und Frauen und Kinder als Sklaven zu verkaufen, dies zur Strafe für den ganzen Abfall, dessen sie sich erkühnt, statt die Herrschaft hinzunehmen wie andere (…). Tags darauf aber empfanden sie Reue und dachten noch einmal nach, wie unmenschlich der gefasste Beschuss sei und schwerwiegend, eine ganze Stadt zu vernichten, statt nur die Schuldigen.1 Nach einer hitzigen Debatte änderte die Volksversammlung mit knapper Mehrheit den bereits gefassten Exekutionsbeschluss. Zwar wurden die vom Feldherrn Paches überstellten etwa 1000 Gefangenen, die für die Erhebung gegen Athen verantwortlich gewesen waren, auf Kleons Betreiben hingerichtet, Mytilenes Befestigungen geschleift und seine Schiffe von den Athenern konfisziert. Die inzwischen angesetzte Aktion zur Massenhinrichtung und Versklavung der Gesamtbevölkerung Mytilenes konnte jedoch mit knapper Not verhindert werden. Eine zweite Triere erreichte Lesbos gerade noch rechtzeitig: Sie vermochte den geänderten Beschluss der athenischen Volksversammlung bekannt zu geben, bevor das drohende Massaker Gestalt annahm. 363

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Im gleichen Jahr, als die Ereignisse um Mytilene ihren gewaltdurchtränkten Lauf nahmen, wurde die mit Athen verbündete Stadt Platää von den Peloponnesiern und Thebanern aus Erbitterung darüber, dass sie ihren Feinden im Peloponnesischen Krieg die Treue hielt, dem Erdboden gleichgemacht. Die Strafmaßnahmen, welche die Sieger über Platää verhängten, hat Thukydides festgehalten: Sie (Spartas Verbündete) brachten mindestens zweihundert Plataier, und fünfundzwanzig Athener, die bei der Belagerung sie unterstützt hatten, um. Die Frauen verkauften sie als Sklavinnen. Die Stadt gaben sie für etwa ein Jahr Männern aus Megara zu bewohnen, die wegen Parteikämpfen heimatlos geworden waren und den überlebenden Plataiern, die auf ihrer Seite gestanden hatten; später aber rissen sie sie ganz nieder bis auf den Erdboden.2 In dem sogenannten Melierdialog berichtet Thukydides ausführlich über eine athenische Expedition gegen die Insel Melos im Jahr 416 v. Chr. Die Melier, die sich am Peloponnesischen Krieg nicht beteiligten, also weder mit Sparta noch mit Athen verbündet waren, wurden entgegen bestehender Vereinbarungen unter Missachtung ihrer Neutralität ange­ griffen und nach erbittertem Widerstand bezwungen. Ihre Bevölkerung musste sich eine schändliche Behandlung gefallen lassen, die an Brutalität kaum zu überbieten war. In den von Thukydides überlieferten Reden, die in der athenischen Volksversammlung gehalten wurden, verwiesen die Befürworter einer rigiden Machtpolitik, die für das aggressive Vorgehen der Athener verantwortlich war, auf das Recht des Stärkeren, das ein solches Vorgehen gegen Schwächere grundsätzlich rechtfertige. Die Melierepisode galt schon in der Antike als Musterbeispiel für die Rohheit des Krieges und die Sittenlosigkeit einer auf die Spitze getriebenen Macht­ politik: Als ein weiteres Heer aus Athen eintraf (…), ergab sich Melos auf Gnade oder Ungnade. Die Athener richteten alle erwachsenen Melier hin, soweit sie in ihre Hand fielen, die Frauen und Kinder verkauften sie in die Sklaverei. Den Ort gründeten sie selber neu, indem sie später fünfhundert athenische Bürger dort ansiedelten.3 In der Endphase des Peloponnesischen Krieges wurde auf Betreiben des Alkibiades ein athenisches Invasionsheer nach Syrakus gesandt, um die Stadt zu erobern. Doch die Expedition endete mit einer verheerenden Niederlage der fern von der Heimat auf verlorenem Posten operierenden Truppen (413 v. Chr.). Über die harte Behandlung der athenischen Kriegsgefangenen erfahren wir folgendes: Die Athener und ihre Verbündeten (…) versenkten sie in den Steinbrüchen als der sichersten Verwahrung, nur Nikias und Demosthenes machten sie nieder (…). Die in den Steinbrüchen behandelten die Syrakusaner 364

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anfangs sehr grausam (…). Wie viel im ganzen gefangen waren, ist mit Genauigkeit schwer zu sagen, wohl nicht weniger als siebentausend (…), nur wenige von so vielen kehrten nach Hause zurück.4 Bei der Durchsicht der hohen Zahl der aus dem Altertum überlieferten Beispiele brutaler Gewaltanwendung fällt auf, dass die Berichterstatter so gut wie nie auf Appelle zur Milde, gerichtet an die höheren Mächte, verweisen. Damit ergibt sich zwangsläufig die Frage, ob die Götter gegenüber dem Leid der Menschen unempfindlich waren; oder betrachtete man vielmehr die einschlägigen Gräueltaten als etwas Selbstverständliches und ausschließlich der menschlichen Sphäre zugeordnete Angelegenheiten, die jenseits der gött­ lichen Wirkmacht lagen? Die verfügbaren Zeugnisse scheinen auf die zweite Möglichkeit hinzuweisen. Nirgendwo werden in der antiken Literatur die Verlorenheit des Menschen und die Sinnlosigkeit politischen Handelns deutlicher zum Ausdruck gebracht als bei der Betrachtung der unsäglichen Leidensgeschichten, die in Zusammenhang mit der Kriegführung standen. In keinem vergleichbaren Fall wurden die Abgründe antiker Existenzen apokalyptischer ausgemalt als in den aus unerbittlichen Frontstellungen resultierenden Gewaltorgien. Die polybianische Darstellung des zwischen Karthago und den nordafrikanischen Stämmen geführten Vernichtungsfeldzuges, dem sogenannten Söldnerkrieg, vermittelt einen beredten Eindruck davon. Über das grausame Verhalten der Söldner wird an einer Stelle des Kampfverlaufes erzählt: Den Gisko und seine Schicksalsgenossen, gegen siebenhundert an der Zahl, nahmen Spendios und seine Leute, führten sie aus dem Wall heraus ein Stück vor das Lager und schlugen ihnen zuerst die Hände ab, angefangen mit Gisko (…), dann schnitten sie den Unglücklichen Nasen und Ohren ab, zerbrachen den Verstümmelten die Beine und warfen sie, noch lebend in den Graben (….). Für die Zukunft fassten sie den förmlichen Beschluss und verpflichteten sich darauf, an jedem gefangenen Karthager Rache zu nehmen und ihn zu töten, jedem Bundesgenossen aber die Hände abzuhauen und ihn so nach Karthago zurückzuschicken.5 Die Antwort der Karthager auf die Untaten der Söldner fiel nicht minder drastisch und schrecklich aus. Beide Seiten, sowohl die aufständischen Söldner als auch die angefeindeten Karthager, lieferten sich einen schonungslosen Wettbewerb in Sachen Gnadenlosigkeit und Grausamkeit. Es wundert nicht, dass Polybios, der Chronist dieser blutigen Episoden, seine diesbezügliche Berichterstattung dazu benutzte, um über die Abgründe der mensch­ lichen Existenz kopfschüttelnd zu reflektieren, und dabei eines der eindringlichsten Porträts über die „Bestie Mensch“ zeichnete, das aus dem Altertum zu uns gekommen ist.6 365

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Die ungefähr 9-jährige gallische Statthalterschaft Caesars, von militärischen Aktionen, Straf- und Beutezügen durchtränkt, hatte einen hohen Blutzoll gefordert. Dabei war Caesar, so seine Selbsteinschätzung, nicht besonders grausam bei der Verfolgung seiner Ziele vorgegangen; galt doch gerade seine lauthals proklamierte Milde (clementia) bei der Behandlung besiegter Gegner als sprichwörtlich. Dies war dennoch kein Hinderungsgrund, um zahlreiche Menschenleben auf dem Altar seiner Ambitionen zu opfern. Weil es sich aber dabei meist um Barbaren handelte, interessierte primär die Zahl der Gefallenen, um dem Eroberer je nach deren Quantität entsprechende Triumphe und Ehrungen in Rom zu gewähren. Die römischen Autoren gehen dabei buchhalterisch vor, wenn sie über das Ausmaß der Gewalt und Zerstörung berichten: Ihre Unbefangenheit bei der Aufzählung getöteter Feinde erscheint gelegentlich mit einem Gefühl der Überlegenheit auf die eigene militärische Stärke verknüpft. Die dabei hingerichteten Menschen werden in Kauf genommen und bestenfalls als unvermeidliche Kollateralschäden für die Erreichung der angestrebten Ziele verbucht. Von Mitleid ist keine Spur zu finden. So dürften etwa im Verlauf von Caesars Feldzügen in Gallien mehrere hunderttausend Menschen erschlagen, verletzt, oder verstümmelt worden sein, gefallen oder in die Sklaverei geraten sein. Doch neben dem Kriegselend, den zahlreichen Toten infolge von Kampfhandlungen und den üblichen Massakern und Hungersnöten kamen auch solche Gewaltexzesse vor, die von der kalten Logik der Machtsicherung diktiert wurden. Dies geschah beispielsweise im letzten Kriegsjahr Caesars in Gallien anlässlich der Belagerung und Einnahme von Uxellodunum, einer Stadt der Cadurcer, wie Hirtius im 8. Buch der Gallischen Chronik Caesars berichtet: Daher glaubte er (Caesar), er müsse die übrigen durch eine exemplarische harte Bestrafung der Einwohner (der Stadt Uxellodonum) abschrecken. Er ließ deshalb allen, die Waffen getragen hatten, die Hände abhauen, schenkte ihnen aber das Leben, um die Strafe für ihre Schlechtigkeit augenfälliger werden zu lassen.7 Mit dem Ende der Bürgerkriege und der Begründung des Principats (die darunter zu verzeichnenden Opferzahlen waren beträchtlich) nahmen die internen Machtkämpfe, die stets einen hohen Blutzoll gefordert hatten, zwar ab; dies bedeutete jedoch keineswegs, dass deswegen im römischen Machtbereich überall und dauerhaft Frieden vorherrschte. Abgesehen von den endemischen militärischen Auseinandersetzungen um den Kaiserthron wurde das Aggressionspotenzial des römischen Reiches an dessen Peripherie abgeleitet, wie etwa die Eroberung Daciens zeigt. Sehr schmerzhaft bekamen dies etwa die Juden zu spüren. Sie wurden Opfer einer brutalen Expedition, bei 366

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der die Gier nach Beute sich mit beispielloser Grausamkeit paarte. Mit der Zerstörung des Tempels von Jerusalem setzten die Römer ein Ausrufezeichen der Skrupellosigkeit, ähnlich, wie sie es in der Vergangenheit bereits mit der Zerstörung Korinths (146 v. Chr.), Karthagos (146 v. Chr.) und Numantias (133 v. Chr.) getan hatten. Diese Verlagerung der Gewaltausübung außerhalb der Reichsgrenzen machte die Grenznachbarn zu den Leidtragenden der imperialen Politik Roms. Zahlreiche fremde Stämme gerieten in das Visier der römischen Kriegsmaschinerie. Die kaiserzeitlichen Autoren von Tacitus bis Ammianus Marcellinus vermelden im Zuge ihrer Berichterstattung über die Kriegstaten der römischen Heere zahlreiche Gewalttaten an den Grenzen des Reiches und darüber hinaus, die aus unterschiedlichen Motiven begangen wurden. Als Beispiel kaiserzeitlicher Grenzpolitik soll am Ende dieser kurzen Übersicht ein Konflikt betrachtet werden, in dessen Mittelpunkt der als konziliant geltende Kaiser Constantius II. stand. Im Verlauf einiger vom Kaiser selbst im Jahr 359 am Unterlauf der Donau geleiteten Operationen gegen reichsfremde Stämme, die sich in Grenznähe niederlassen wollten, wurde vom Chronisten der Ereignisse der Terminus der utilitas publica (hier zu übersetzen als Staatsräson) als argumentative Plattform bemüht, um die unverhältnismäßig repressive Handlungsweise des Kaisers zu rechtfertigen. Dieser führte eine unbarmherzige Säuberungsaktion durch, die in einem Massaker mündete, wie der zeitgenössische Historiker Ammian zugeben musste: Die sarmatischen Limiganten (…) waren allmählich aus den Landstrichen entwichen, die für sie im vergangenen Jahr zum allgemeinen Nutzen bestimmt worden waren (…). Nun hatten sie Gebiete in unserer Nachbarschaft in Besitz genommen und schweiften nach ihrer angeborenen Gewohnheit frei umher. Wenn sie nicht vertrieben würden, könnten sie alles in Verwirrung bringen. Da der Kaiser glaubte, dass diese Verhältnisse immer schlimmere Ausmaße annehmen würden, wenn man die Sache aufschöbe, ließ er von allen Seiten her eine große Anzahl tüchtiger Soldaten zusammenziehen und rückte ins Feld aus (…). An den Ufern der Donau lagerte das Heer in Zelten, und der Kaiser beobachtete die Barbaren, die schon vor seiner Ankunft Freundschaft nur heuchelten (…). Unverzüglich sandte er (Constantius II.) daher zwei Tribunen mit je einem Dolmetscher zu den Limiganten und versuchte, durch vorsichtige Fragestellungen in Erfahrung zu bringen, warum sie, nachdem ihnen auf ihre Bitten hin Frieden und Vertrag zuteil geworden seien, ihre Wohnsitze verlassen hätten, sich überall herumtrieben und entgegen dem Verbot die Grenzen beunruhigten (…). Er (der Kaiser) ließ in der Nähe von Acimincum einen Wall errichten und eine hohe Aufschüttung in Form einer Rednertribüne 367

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herstellen. Schiffe mit einer Besatzung von kampfbereiten Legionären erhielten den Befehl den Flusslauf (…) zu überwachen, damit sie, falls sie bemerkten, dass die Barbaren in Aufruhr gerieten, ihnen (…) unversehens in den Rücken fallen könnten, wenn deren Aufmerksamkeit sich auf anderes richtete.8 Die von den römischen Legionen gegen die arglosen Grenznachbarn von Brutalität und Treulosigkeit durchtränkten Maßnahmen forderten eine große Zahl von Opfern unter den wehrlosen Limiganten. Eine günstige militärische Situation ausnutzend zögerte der ansonsten von Ammian als unkriegerisch kritisierte Constantius II. nicht, den Stamm der sarmatischen Limiganten zu vernichten,9 um so eine potenzielle Gefahr an einem neu­ ralgischen Grenzabschnitt zu beseitigen. Ein solches Verhalten nahm Ammian billigend in Kauf, der keine tadelnde Silbe gegenüber dem Verursacher einer Blutorgie gegen eine getäuschte und wehrlose reichsfremde Bevölkerung verlauten ließ. Wie so oft, scheint auch hier der Erfolg die Brutalität der angewandten Mittel gerechtfertigt zu haben: Die Rebellen wurden nämlich in die Enge getrieben; die einen wurden niedergemacht, der Rest durch den Schrecken auseinandergetrieben. Während sie zum Teil durch nutzlose Bitten die Hoffnung auf Leben zu erwirken suchten, wurden sie mit verdoppelten Hieben niedergehauen. Nachdem alle vernichtet waren, bliesen die Trompeten zum Rückzug.10

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2 Epochale militärische Konfrontationen

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mmer wieder wird auf hervorstechende Ereignisse aus Politik, Wirtschaft, Technik, Kultur oder Religion zurückgegriffen, um mit ihrer Hilfe bestimmte Abschnitte eines Zeitalters zu konturieren, zu erschließen oder abzugrenzen. Die Erfindung des Buchdrucks, die Entdeckung der Neuen Welt, die Reformation, die Konstruktion der ersten Dampfmaschinen, das Inkrafttreten der amerikanischen Verfassung, die Verbreitung der Motorisierung, die Promulgation des Code Napoleon, der Sieg der Digitaltechnologie, die Einführung des Euro und vieles mehr haben nicht nur wesentliche Impulse für den Alltag ausgelöst, sondern auch den Geschichtsablauf immer wieder beschleunigt und neu gegliedert. Es gibt eben eine Zeit vor diesen Neuerungen und dementsprechend eine Ära danach, die gerade aufgrund der davon ausgehenden Wirkungen stark von ihnen geprägt worden ist. Auch Kriege, diese unausrottbare Plage der Menschheit, haben stets das Ihrige dazu beigetragen, die Geschichte mit dem Blut der Opfer zu schreiben und in Perioden des Leides, der Siege und Niederlagen einzuteilen, wie uns die Antike besonders sinnfällig lehrt. Davon soll nun die Rede sein. Die nachstehend aufgeführten Waffengänge sind nicht wegen ihrer militärstrategischen beziehungsweise taktischen Relevanz oder gar Singularität aus der unübersehbaren Fülle antiker Kriegsverwicklungen ausgewählt worden. Vielmehr spiegelt sich in ihnen, jenseits ihrer bellizistischen Konnotationen, eine außerordentliche historische Bedeutung wider, die aus den Folgewirkungen resultiert, die sich an ihrem jeweiligen Ausgang ergeben haben. Als politisch unverzichtbare Chiffren der historischen Vergegenwärtigung haben die Schlachten von Salamis, Gaugamela, Actium und Hadrianopel entweder den Lauf der nachfolgenden Geschehnisse wesentlich beeinflusst, tiefgreifende Zäsuren gesetzt oder gar eine Schlüsselrolle innerhalb besonders dramatischer Geschichtsabläufe gespielt. Gleichzeitig kennzeichnen sie aber auch den Beginn beziehungsweise das Ende, je nach Perspektive, bestimmter Epochen. Daher werden in den folgenden Kapiteln die einschlägigen Schlachten nicht um ihrer selbst willen referiert; vielmehr stehen die zusammengetragenen Beispiele als Erinnerungsorte für markante Ereigniszusammenhänge, die den Verlauf der Geschichte bestimmt und verändert 369

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haben. Nicht auf die Zahl der Kombattanten, auf die angewandten taktischen Neuerungen oder auf die Schauplätze der Kampfhandlungen, sondern auf die Wirkung, die sie ausgelöst haben, kommt es hier primär an. Mit ihnen verknüpft sich die Vergegenwärtigung entscheidender Wendepunkte der Geschichte der Alten Welt.

Salamis Dann gibt die Mauer aus Holz der Tritogeborenen weitschauend Zeus unbezwungen allein, dir und deinen Kindern zu Nutze. Doch erwarte du nicht der Reiter Schar und das Fußvolk Ruhig auf festem Boden! Entweiche dem drohenden Angriff, Wende den Rücken ihm zu, Einst wirst du ja dennoch sie treffen. Salamis göttliche Insel, die Kinder der Frauen vertilgst du, Sei es zu Demeters Saat oder sei es zum Zeitpunkt der Ernte. (Herodot 7, 141, 3–4)

Die Seeschlacht von Salamis steht als Synonym für die Behauptung der Eigenständigkeit der griechischen Poleis gegenüber den Machtansprüchen des multiethnischen persischen Imperiums.11 Sie gilt auch als die Bewährungsstunde einer Reihe freiverfasster Gemeinwesen, allen voran Sparta und Athen, die sich dem unaufhaltsam scheinenden Expansionsprozess einer monarchisch geführten Weltmacht zu erwehren vermochten. Wichtigster Akteur auf Seiten der griechischen Verbündeten, die sich der persischen ­Invasion in der Bucht von Salamis entgegenstellten, war die Polis der Athener, welche durch die vorausschauende Flottenbaupolitik des Themistokles ­gerade noch rechtzeitig zu einer achtungsgebietenden maritimen Macht geworden war.12 Die Reaktion der Athener auf den persischen Einmarsch, der ihre Heimat zu überrollen drohte, war an Dramatik kaum zu überbieten. Angesichts des Stellenwertes der Polis für die Griechen, als Sitz der Götter, Begräbnisplatz der Vorfahren und Keimzelle der eigenen Identität, muss der präzedenzlose Schritt der Athener verwundern, ihre Wohnsitze aus Gründen der Kriegsstrategie dem Feind preiszugeben, der sie gründlich verwüsten sollte. Die Bürger Athens räumten ihre Stadt und begaben sich zur Insel Salamis, um sich dem persischen Zugriff zu entziehen und gleichzeitig von dort aus den Widerstand zu organisieren. Wie viel geistige Regsamkeit, Opferbereitschaft, Wagemut und Siegesgewissheit sich hinter ihrer Haltung verbarg, liegt auf 370

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2  Epochale militärische Konfrontationen

der Hand. Anders als die Phokäer und Teier, die einst mit Flucht in den fernen Westen auf die persische Übermacht reagiert hatten, entschlossen sich die Athener und mit ihnen zahlreiche Griechen, alles auf eine Karte zu setzen und dem Gegner die Stirn zu bieten.13 Eine derartige Mobilisierung der gesamten Bevölkerung wäre undenkbar gewesen ohne die Demokratisierung der athenischen Polis, die alle verfügbaren Kräfte freisetzte, um sich dieser gewaltigen Herausforderung zu stellen. Neben den Anstrengungen aller Gesellschaftsschichten bei der Bewältigung der schicksalhaften Aufgabe bleibt das Wirken des politisch weitsichtigsten Atheners Themistokles erkennbar. Das delphische Orakel hatte ebenfalls das seinige dazu beigetragen: Themistokles nutzte den Verweis auf die hölzernen Mauern als göttlichen Wink für den von ihm vorgesehenen Einsatz der Flotte in der Bucht von Salamis. Dass die Insel im Orakeltext als die göttliche bezeichnet wurde, gab der Siegeszuversicht einen weiteren Schub. Themistokles Plan bestand darin, die zahlenmäßig überlegene persische Flotte, die vorwiegend aus Io­niern, Phöni­kern und Zyprioten bestand, nicht auf hoher See, sondern auf die für ein ungehindertes Manövrieren ungeeigneten Gewässer rund um die Bucht von Salamis hinzulenken, wo diese die Größe und nautische Überlegenheit ihrer Schiffe nicht ausspielen konnte.14 Hier hatte er die Seestreitkräfte der Athener, Megarer, Korinther und Aegineten vorsorglich konzentriert und auf das Treffen eingestimmt. Genau an dieser Stelle erhoffte er sich dank der kleineren, aber dafür flexibleren Schiffe der griechischen Koalition einen günstigen Ausgang der Seeschlacht. Der persische König Xerxes nahm bereitwillig und voller Zuversicht den Kampf an, weil es mittlerweile Herbst geworden war (480 v. Chr.) und es ihn drängte, sein Landheer über die Landenge von Korinth gegen Sparta zu führen. Sein Kalkül war, dass sich dieses Vorhaben nur dann Erfolg versprechend ausführen ließ, wenn er zuvor die griechische Flotte auszuschalten vermochte. Denn ohne die logistische Unterstützung der maritimen Streitkräfte der griechischen Koalition wären ihm die Peloponnesier hoffnungslos ausgeliefert gewesen. Noch Ende des Jahres, so dürfte er gerechnet haben, sollte dann die Eroberung Griechenlands mit der Einnahme Spartas vollendet werden. Über den genauen Verlauf der Seeschlacht von Salamis lässt sich keine endgültige Klarheit gewinnen. So viel ist sicher: Die persische Armada lief am 27. September 480 v. Chr. von Phaleron aus, besetzte die vorgelagerte Insel Psyttaleia, sperrte den östlichen und südlichen Zugang der Bucht von Salamis und nahm dann entlang der Südküste Attikas Kurs nach Westen, um auf die griechische Flotte zu stoßen, die sich an der Nordküste der Insel 371

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Salamis zwischen der kleinen Insel Georgios und der Kapspitze von Kynosura in Gefechtsformation aufgestellt hatte. Gleichzeitig war das persische Landheer aus Athen abgezogen und Richtung Westen in Marsch gesetzt worden. Es bezog an der Südküste Attikas gegenüber der Stadt Salamis Stellung. Am nächsten Morgen begann die Schlacht, die der Perserkönig Xerxes von einer nahegelegenen Anhöhe aus inmitten seiner siegessicheren Hofgesellschaft verfolgte. Die athenischen Schiffe, die sich neben der Insel Georgios auf der linken Flanke der Formation befanden, eröffneten den Kampf. Sie preschten gegen die am rechten Rand der persischen Plotte postierten phönikischen Schiffe vor. Da die Enge des Schlachtfeldes die Manövrier­ fähigkeit der Phönikier erheblich einschränkte, befand man sich alsbald in einem wilden Handgemenge. Der gewaltige Druck der Athener zwang die phönikischen Schiffe dazu sich, angesichts der Enge der umliegenden Gewässer, zurückzuziehen und in die Mitte der Schlachtreihe auszuweichen, womit sie die Ordnung der persischen Flotte insgesamt empfindlich störten. Diese kam immer mehr aus dem Gleichgewicht, weil die kleineren, wendigeren griechischen Schiffe von allen Seiten über die ausmanövrierten persischen Schiffe herfielen und diese in Einzelkämpfe verwickelten. Nach und nach isolierten sie die feindlichen Schiffe. Danach rammten und enterten sie die Einheiten der mittlerweile in gänzliche Unordnung geratenen persischen Flotte, bis sie als Sieger hervorgingen. Am Abend des 28. September konnten sich die verbündeten Griechen vollständig durchsetzen. Sie hatten ungefähr 40 Schiffe eingebüßt, während ihre Gegner den Verlust von etwa 200 Schiffen zu beklagen hatten. Das Seetreffen von Salamis erwies sich für beide Kontrahenten als Schlüsselerlebnis und zugleich als Wendepunkt des Krieges. Die Perser verloren mit der Schlacht schlagartig die logistische Unterstützung für das im Inneren Griechenlands nun isoliert operierende Landheer. Danach mussten sie gezwungenermaßen ihre weitgesteckten Ziele einer vollständigen Eroberung Griechenlands aufgeben. Eine neue Situation entstand: Nun hatten sich die bisherigen Angreifer gegen den erstarkten Feind zu erwehren. Im Gegenzug gewann die hellenische Koalition wertvolle Zeit für die Vorbereitung eines Gegenschlags. Außerdem erlangte sie gleichzeitig die Initiative in einem Krieg, der nach der Einnahme Attikas schon fast verloren schien. Der Erfolg von Salamis verlieh den Hellenen eine gehörige Dosis an Selbstvertrauen und Siegeszuversicht. Als dann die griechi­schen Hopliten bei Platää unter Führung Spartas im darauffolgenden Jahr das Land­heer der Perser unter Mardo­ nios niederrangen, war die unmittelbare Be­drohung Grie­chenlands beendet. Danach ging der Hellenenbund gegen Persien offensiv vor und z­ erstörte nach 372

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dem Seesieg bei Mykale die maritime Hegemonie des Achaimenidenreiches in der Ägäis, die von nun an den Charakter eines hellenischen Binnen­mee­res erhalten sollte. Die Perser mussten die mit so umfangreichen Vorbereitungen geplante Eroberung Griechenlands für gescheitert erklären und sich unverrichteter Dinge nach Asien zurückziehen (Herbst 479 v. Chr.). Es war ein spektakulärer, glanzvoller Sieg der kleindimensionierten griechischen Stadtstaaten über das achaimenidische Weltreich, der durch die Zusammenarbeit der zwei mächtigsten Poleis Griechenlands möglich geworden war. Sparta verließ sich auf das hervorragend ausgebildete und gut geführte Hoplitenheer, das an Disziplin und Kampfkraft seinesgleichen suchte. Athen steuerte eine bisher nicht gekannte geistige Wendigkeit bei, die sich in der gewählten Strategie und im Einsatz seiner kriegsentscheidenden Flotte manifestierte. Die Erfahrung der Perserkriege veränderte nachhaltig das politische Gefüge des griechischen Mutterlandes. Die Entdeckung und Behauptung der wieder gewonnenen Freiheit, die Verbreitung demokratischer Tendenzen sowie die Bildung neuer Hegemonialformen wurden nun die epochenbestimmenden Faktoren der gestärkt aus einer bedrohlichen Bewährungsprobe hervorgegangenen Poliswelt.

Gaugamela Die am 1. Oktober des Jahres 331 v. Chr. ausgetragene Schlacht von Gaugamela (unweit von Kerbala im heutigen Irak) entschied endgültig über den Erfolg des von Alexander zwei Jahre zuvor begonnenen Feldzuges gegen das Achaimenidenreich.15 Spätestens nach diesem militärischen Schlagabtausch verschoben sich nicht nur die Ost-West-Koordinaten, sondern auch die bislang geltenden Herrschaftsparadigmen. Zum ersten Mal vermochte ein westlicher Potentat die Herrschaft über das orientalische Weltreich der Perser an sich zu reißen. Wie gelang dieser schicksalsträchtige Sieg? Ähnlich wie zuvor bei Issos stellte Dareios III. eine imponierende Schlachtreihe um seine persischen Elitetruppen auf, die von den griechischen Söldnern umrahmt wurden. Er selber nahm in deren Mitte Platz, von seinen ­Getreuen umgeben. Den rechten Flügel, der aus medischen, armenischen, parthischen, sakischen und hyrkanischen Reitern bestand, befehligte Mazaios. Den schlagkräftigen linken Flügel mit baktrischen, sogdischen, skythischen und indischen Reiterformationen kommandierte Bessos, der mächtigste Mann der östlichen Satrapien. Die Masse der Fußtruppen, nach den unterschiedlichen Völkern gegliedert, bildete eine zweite Schlachtreihe, die 373

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gleichzeitig den rückwärtigen Linien Deckung bot.16 Insgesamt kämpfte für Dareios ein zahlenmäßig überlegenes Heer, das ein Übergewicht an Kavallerie aufwies, dafür aber über keine dem Gegner ebenbürtige Infanterie verfügte. Die von den antiken Autoren überlieferten Zahlenangaben von über einer Million Kämpfern auf persischer Seite sind völlig unrealistisch. Alexander führte sein zahlenmäßig unterlegenes, dafür aber kampf­ erprobtes Heer in Angriffsformation auf das Schlachtfeld.17 In der Mitte, leicht schräg gegenüber dem Zen­trum der gegnerischen Reihen, stellte er die Phalanx auf, deren rechte Flanke von den Hypaspisten verlängert wurde. Dort schlossen sich die makedonischen Hetairenreiter unter Kleitos und Philotas an, die den rechten Flügel des Angriffskeils bildeten, der von agrianischen und thrakischen Fußtruppen abgeschirmt und von Alexander selbst angeführt wurde. Am linken Flügel standen die griechischen und thrakischen Reitertruppen unter dem Befehl des Parmenion. Um den Nachteil der geringeren Truppenstärke zu kompensieren und um eine Umzingelung zu verhindern, hielt Alexander eine Reservetruppe bereit. An deren Ränder stellte er leichtbewaffnete Reiter und eine starke Infanterieformation auf, die je nach Bedarf den Angriff unterstützten oder zusammen mit der Reserve eine Art Verteidigungskarree bilden konnten. Vor Eröffnung der Kampfhandlungen spornte Alexander, in Begleitung des Sehers Aristander von Telmessos, alle Abteilungen seines Heeres an, indem er die Männer direkt ansprach und ihnen den Sieg verhieß, wobei er sich auf seine Abstammung von Zeus berief.18 Darunter ließ sich sowohl seine argeadische Herkunft, die sich auf den Zeussohn Herakles zurückführte, als auch die seit dem Besuch in Siwah geglaubte göttliche Abkunft subsumieren. Erstmalig griff Alexander auf massive Motivationsmittel zurück, was ein Hinweis auf die existenzielle Bedrohung ist, vor der er sich befand. Immerhin wurde nicht nur im Orient gekämpft, denn Antipater stand etwa zeitgleich Agis III. auf der Peloponnes gegenüber. Vom Ausgang beider Treffen hing das Schicksal Makedoniens ab. Dennoch: Furcht oder Zweifel scheint Alexander vor keiner Schlacht verspürt zu haben. Sein Selbstbewusstsein und seine Siegeszuversicht müssen erdrückend, geradezu ansteckend gewesen sein.19 Über das Kampfgeschehen von Gaugamela liegt ein literarischer Bericht vor, der starke Anklänge an die vorangegangene Schlacht bei Issos aufweist und daher hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit problematisch ist, wobei nicht ganz deutlich wird, welche Schlacht dabei als genuines Modell diente. Die über­ triebenen Zahlenangaben, der Protagonismus Alexanders bei gleichzeitiger Betonung von Dareios’ Versagen, die Vorwürfe Alexanders an 374

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die Adresse des Parmenion20, weil dieser die Verfolgung des geschlagenen persischen Königs vereitelt haben soll, sowie unzählige Einzelheiten – etwa wie die griechisch-makedonischen Truppen mit den Sichelwagen und den Kriegselefanten zurechtkamen oder die Verlustangaben – klingen geschönt und vermitteln eher die nachträgliche Perspektive der Sieger, die nicht unbedingt mit der staubigen und grausigen Wirklichkeit des unübersichtlichen Kampfgeschehens übereinstimmen muss.21 Unklar ist auch, wer zunächst die Initiative ergriff. Jedenfalls scheint schon bald eine Ausdünnung und Verlängerung des rechten makedonischen Flügels stattgefunden zu haben, bis dieser den äußersten Rand des Schlachtfeldes erreichte. Dieses Manöver erwiderte der linke Flügel der Perser, indem er einen Schwenk zwecks Umfassung der sich in Bewegung befindenden makedonischen Linien ausführte. Alexander soll dann alles auf eine Karte gesetzt haben; und während er seinen Flankenschutz aktivierte, ließ er das Gros seiner Reiterei gegen die Mitte der feindlichen Reihen vorpreschen, indem er die Lücke ausnutzte, die durch die Umgruppierung der persischen Kavallerie entstanden war. In der Zwischenzeit geriet der rechte Flügel der Perser mit dem linken Flügel Alexanders aneinander. Die Schlacht stand unentschieden. Alles hing davon ab, wo der nächste Durchbruch erzielt werden würde. Nun gleicht vieles von dem, was danach folgte, einer Dublette von Issos: Demnach stürmte Alexander an der Spitze seiner berittenen Gefährten die Kommandostelle des Dareios im Zen­trum der feindlichen Formation, dem wahrscheinlich die Übersicht über den Schlachtverlauf abhandengekommen sein dürfte. Angesichts der drohenden Gefahr, die durch die herannahenden makedonischen Reiter entstand, ergriff der persische König die Flucht und entwertete so den erfolgreichen Vormarsch seines rechten Flügels, der mittlerweile die Truppen des Parmenion zurückschlug und das gegnerische Lager erreichen konnte.22 Durch die Aufgabe des Dareios demoralisiert, verloren die benachbarten Frontabschnitte des persischen Heeres die Motivation zum Weiterkämpfen. Berauscht vom eigenen Erfolg setzte Alexander zunächst dem flüchtigen ­Herrscher nach, der von der Garde, den griechischen Söldnern und der baktrisch-sogdischen Reiterei des Bessos begleitet wurde. Alexander soll bald darauf von der Verfolgung abgelassen haben, als ihn ein Hilfegesuch des Parmenion erreichte.23 Sein Eintreffen auf dem Schlachtfeld stellte jedenfalls das Übergewicht der Makedonen her und trug gleichzeitig zur Auflösung der ohne ihren König kämpfenden persischen Armee bei. Alexander hatte sich bei seinem zweiten Kräftemessen mit dem Oberhaupt des Perserreiches erneut durchgesetzt. 375

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Welcher Stellenwert diesem Sieg zukam, wird daran sichtbar, dass sich Alexander noch auf dem Schlachtfeld von seinen Truppen zum König von Asien ausrufen ließ, womit der Anspruch auf die erworbenen Gebiete unter Berufung auf das Recht des Siegers zum Ausdruck gebracht wurde.24 Dass Dareios flüchten konnte, war gewiss ein Schönheitsfehler. An der faktischen Kontrolle der ertragreichsten Satrapien des Perserreiches änderte dies aber nichts. Nun stand Alexander der Weg nach Babylon, Susa und Persepolis offen. Ob sich dort noch ein nennenswerter Widerstand regen würde, war zunächst unklar. Erneut musste sich Alexander zwischen der Ergreifung des Dareios und der Fortsetzung der Operationen Richtung Südosten entscheiden. Er ließ sich nicht zu einer ungestümen Verfolgung des geschlagenen Achaimeniden hinreißen, der über das Zagrosgebirge nach Ekbatana, der königlichen Residenzstadt Mediens auswich, sondern richtete sein Augenmerk auf die sich in erreichbarer Nähe befindenden Machtzentren des Perserreiches, die zu besetzen er sich nun selber anschickte. Nach dem Sieg von Gaugamela beschwor Alexander den panhellenischen Geist durch die feierliche Verkündigung der Freiheit der griechischen Staaten und das Ende der Tyrannenherrschaften. Nicht alles hatte nur deklamatorischen Wert; einige konkrete Maßnahmen folgten nach. So ordnete er den Wiederaufbau der Stadt Platää an, die in den Perserkriegen tapfer zum Hellenenbund gehalten hatte. Auch schickte er einen Teil der Beute in das unteritalische Kroton, weil von dort aus einst Phayllos ein Schiff ausgerüstet hatte, um die griechische Flotte bei Salamis zu unterstützen.25 Die bewusst inszenierte Erinnerung an die Perserkriege sollte der griechischen Öffentlichkeit die Tragweite seiner Erfolge im Zen­trum des Achaimenidenreiches verdeutlichen und sie gleichzeitig empfänglich machen für die weitere Unterstützung seines Feldzuges sowie für die Akzeptanz der makedonischen Vorherrschaft. In den etwa vier Jahren, die seit seinem Auszug aus Pella vergangen waren, hatte der junge Makedonenkönig den König der Könige entthront, womit er eine Leistung vollbrachte, die kein Hellene vor ihm zu erträumen gewagt hätte: Das bis dahin allmächtige Perserreich war seine Siegesbeute geworden; nach Gaugamela löste es sich auf.

Actium Die Schlacht bei Actium markiert den Schlusspunkt im Machtkampf zwischen Antonius und Octavian um das Erbe Caesars. Ihr Ausgang entschied die Frage, wer in Zukunft das römische Reich regieren sollte. Vorausgegangen 376

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war eine unüberbrückbare Entfremdung zwischen beiden Machthabern. Sie wurde begleitet von einer beispiellosen Schmutzkampagne, die an Perfidie und Skrupellosigkeit kaum zu überbieten war. So verschaffte sich Octavian mit Gewalt das bei den Vestalinnen deponierte Testament des Antonius, um es propagandistisch auszuschlachten, das heißt, seinen Kontrahenten als eine in den Fängen einer ausländischen Königin agierenden Marionette darzustellen, der die Interessen Roms verriet. Wie nicht anders zu erwarten war, hat der Sieger dieses Zweikampfes, Octavian, die spätere Sichtweise der Ereignisse maßgeblich bestimmt und für seine Zwecke umgedeutet, was den Historiker dazu aufruft, mit der nötigen Unvoreingenommenheit die Hintergründe dieses Konfliktes zu betrachten. Octavians ideologische Offensive versuchte das Duell zwischen den mächtigsten Potentaten der damaligen Welt nicht als Bürgerkrieg, sondern als militärisches Vorgehen gegen eine feindliche Macht, nämlich Ägypten, darzustellen und zu rechtfertigen. Dabei stilisierte er sich als Verfechter des wahren Römertums und als Führer einer Koalition aus den Westprovinzen, die den angeblich degenerierten Orientalen Antonius und seine Verbündete Kleopatra in die Schranken weisen musste. Tatsächlich bildeten die römischen Ostprovinzen einschließlich Ägyptens den Eckpfeiler von Antonius’ Machtstellung. Doch daraus den Schluss zu ziehen, dieser hätte die Sache Roms aufgegeben und verraten, ging wohl zu weit: Als die Kampfhandlungen unvermeidlich schienen, verließ ein beträchtlicher Teil der römischen Führungsschicht, etwa 300 Senatoren, Italien und begab sich in das Lager des Antonius. Darunter befanden sich Gnaeus Domitius Ahenobarbus und Gaius Sosius, die amtierenden Consuln des Jahres 32 v. Chr., was eine schallende Ohrfeige für Octavian bedeutete, weil dadurch die gegen Antonius erhobenen Vorwürfe gewissermaßen konterkariert wurden. Allerdings blieb erwartungsgemäß die Mehrheit der Senatoren in Rom, womit sie Octavians Position stärkten.26 Am Golf von Actium, wo rund tausendfünfhundert Jahre später die Schlacht von Lepanto stattfinden wird, die das maritime Übergewicht des osmanischen Reiches im Mittelmeerraum endgültig brechen sollte, trafen die verfeindeten römischen Armeen zusammen.27 Eine gewaltige Truppenkonzentration wurde im Verlauf des Jahres 31 v. Chr. in Stellung gebracht. Agrippa, der Befehlshaber des octavianischen Aufgebotes, verfügte über 20 Legionen, ein großes Reiterkontingent und fast 400 Kriegsschiffe. Antonius hatte 25 Legionen und ebenso viele Kavalleristen wie der Gegner unter sich. Diese Truppenmacht wurde von mehr als 250 Schiffen flankiert, die allerdings größer als die wendigeren Schiffe Octavians waren. Antonius hatte die Absicht, die Armeen des Octavian nach Westgriechenland zu 377

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l­ocken und sie dort in einer Entscheidungsschlacht zu schlagen. Ob er zunächst das Ziel verfolgt haben soll, bis nach Italien vorzustoßen, Rom einzunehmen und damit den lästigen Konkurrenten auszuschalten, bleibt umstritten. Jedenfalls mutet sein Aufbruch von Ephesos über Athen gen Westen etwas überstürzt an. Außerdem schien sein Aufmarsch nicht gründlich genug vorbereitet gewesen zu sein, was sich damit erklären lässt, dass er das Terrain für die kommende Auseinandersetzung auswählen und besetzen wollte, bevor seine Kontrahenten ihm zuvorkamen. Jedenfalls setzte er sich am Golf von Ambrakia fest, und da er keine Anstrengungen unternahm, den Gegner an der Überquerung des Ionischen Meeres zu hindern, muss man davon ausgehen, dass er ihn genau hier stellen und schlagen wollte. Während die ­rivalisierenden Truppenaufgebote sich zunächst in einer Pattsituation befanden, besetzten Octavians Verbände die Insel Korkyra im Norden von Antonius’ Stellungen. Danach ergriffen die Flotteneinheiten des Agrippa Besitz von der Insel Leukas, und als ferner Patras und weitere Stützpunkte auf der Peloponnes, unter ihnen Methone, eingenommen werden konnten, geriet Antonius allmählich in die Zange. Damit entstand für ihn eine Zwangslage, denn die Verbindungswege der antonianischen Flotte nach Griechenland, Kleinasien und der Levanteküste wurden weitgehend abgeschnitten, was die Lebensmittelzufuhr seiner gesamten Armee akut gefährdete. Aus diesen Gründen befand sich die gewaltige Truppenkonzentration des Antonius, bevor überhaupt die ersten Kampfhandlungen begonnen hatten, in einer sowohl logistisch als auch psychologisch ungünstigen Position. Während die im offenen Meer ungehindert operierenden Flottenverbände des Agrippa den Ring um Antonius Schritt für Schritt enger schlossen, wurde seine strategische Lage rund um den Golf von Ambrakia immer unhaltbarer. Hinzu kam, dass eine in seiner Flotte ausgebrochene Epidemie sowie die prekäre Versorgungslage seines Heeres seine Operationsfähigkeit erheblich einschränkten. Parallel dazu setzte eine Demoralisierungswelle zulasten des Antonius ein, die, je länger die Entscheidung hinausgezögert wurde, einen wachsenden Aderlass an Ausrüstung, prominenten Parteigängern und Mannschaften verursachte, die entweder Antonius verließen oder zu Octavian überliefen. Im September des Jahres 31 v.  Chr. war es soweit.28 Die Armada des ­Antonius und der Kleopatra, die an der Spitze ihrer 70 ägyptischen Schiffe zunächst in Deckung blieb, brachte sich am Eingang des Golfs von Actium in Stellung. Der Ausgang ins offene Meer wurde von der Flotte des Agrippa versperrt. Antonius, der seine Elitetruppen auf seine geräumigeren Schiffen verladen hatte, um dadurch die Kampfkraft zu erhöhen, eröffnete das 378

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­ efecht. Er wollte die größere Tonnage seiner Schiffe nutzen, um die BloG ckade zu durchbrechen und den Gegner zum Rückzug zu zwingen. Doch die an Zahl überlegenen kleineren Schiffe des Agrippa stellten sich ihm in dem Weg und versuchten, aufgrund ihrer größeren Wendigkeit und Manövrierfähigkeit die gegnerische Flotte zu segmentieren, in Einzelgefechte zu verwickeln, auszumanövrieren beziehungsweise ins Leere laufen zu lassen. Dank ihrer größeren Erfahrung im Seekrieg vermochten die Mannschaften des Agrippa die antonianische Flotte, die sich in Sachen Kampfkraft und seemännisches Können kaum mit ihnen messen konnte, in arge Bedrängnis zu bringen.29 Plötzlich, mitten im Kampf, durchbrachen die Schiffe der Kleopatra die feindlichen Stellungen, verschafften sich damit Zugang zum offenen Meer und segelten danach Richtung Südosten, das heißt, Richtung Ägypten ab. Antonius, der dies bemerkt hatte, folgte nach. Damit war der Ausgang der Schlacht besiegelt. Die Streitmacht des Agrippa vermochte das Treffen für sich zu entscheiden. Die Legionen des Antonius, die vom Land aus den Verlauf der Seeschlacht miterlebt hatten, verließen ihre Stellungen und traten den Rückzug an. Allmählich löste sich das Landheer des Antonius durch Desertion oder Aufgabe auf, oder ging, wie dies für Bürgerkriege nicht unüblich war, zum Sieger von Actium über. Als Octavians Armeen im darauffolgenden Jahr in Ägypten einmarschierten und damit die Ausweg­losigkeit eines jeden Widerstands verdeutlichten, verübten Antonius und Kleopatra Selbstmord (30 v. Chr.). Nach seiner Rückkehr nach Rom wird Octavian das Ende des Bürgerkrieges verkünden und eine Periode des Friedens wirkungsvoll ausrufen und inszenieren, die unter dem Stichwort pax Augusta in die römischen Annalen als die epochenübergreifende Errungenschaft des Siegers von ­Actium eingehen wird. Insofern war das Ergebnis dieser gewaltigen Seeschlacht politisch äußerst bedeutsam: Der wichtigste Rivale um die Herrschaft im römischen Reich war ausgeschaltet. Aus Octavian wurde Augustus, der Friedensfürst, der nun ungehindert die Macht über den römischen Staat ergreifen konnte. Damit hatte die auf der Grundlage der aristokratischen Gleichheit gegründete libera res publica definitiv ausgespielt. Mit der Begründung des augusteischen Principats setzte eine neue Ära ein, die bis zum Ausgang der politischen Ordnung der römisch geprägten Antike ­andauern wird. Insofern erwies sich die Schlacht bei Actium als überaus folgenreich. Sie steht als Synonym für die Umwandlung der repu­ blikanischen Staatsform in eine von Augustus und seinen Nachfolgern eingerichtete faktische Monarchie, das Kaisertum, das ein neues Kapitel römischer Geschichte eröffnen wird. 379

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Hadrianopel Die römische Niederlage in der Schlacht bei Hadrianopel (378) bezeichnete das Ende der unangefochtenen Dominanz des römischen Weltreiches über seine Nachbarn und leitete gleichzeitig den Beginn der sogenannten Völkerwanderung ein. Zum ersten Mal musste das stolze römische Kaiserreich es geschehen lassen, dass sich fremde Völker innerhalb seines Staatsgebietes ungehindert festsetzten und dessen territoriale Integrität und Souveränität in Frage stellten. Daher wurde das Ergebnis dieser militärischen Konfrontation aus der Perspektive der Zeitgenossen als Katastrophe empfunden, wohl nur noch übertroffen von der Eroberung und Plünderung Roms im Jahre 410 durch eben jene Goten, die bei Hadrianopel einen ersten Sieg über die römischen Donaulegionen davon getragen hatten. Nach dem kurzen Zwischenspiel der Regierung Jovians bestiegen Valentinian I. und dessen jüngerer Bruder Valens den kaiserlichen Thron, womit das Reich eine Doppelspitze erhielt. Die neuen Imperatoren hatten zwar erfolgreiche, jedoch nicht gerade herausragende Offizierskarrieren absolviert. Bezüglich ihrer Herrschaftsauffassung scheinen beide Regenten die Überzeugung geteilt zu haben, dass die Barbaren jenseits der Grenzen mit harter Hand zu behandeln seien. Valens, der neben der persischen Grenze noch die untere Donau zu überwachen hatte, war bereits zu Beginn seiner Regierungszeit in Konflikt mit den dort siedelnden Goten geraten, weil diese seinen Gegenspieler Prokop unterstützt hatten. Er rächte sich für diese Parteinahme der Goten für seinen Konkurrenten um den Kaiserthron mit drei Strafexpeditionen, die ihn in den Jahren 367, 368 und 369 in die gotischen Stammesgebiete führten. Das militärische Ergebnis ist als Unentschieden zu bewerten. Der Vertrag, der die Kampfhandlungen beendete, schloss die Grenze und unterband weitgehend sowohl die Handels- als auch die Informationsströme in beide Richtungen.30 Vom plötzlichen Auftauchen der Hunnen im Jahr 375 wurden alle Stämme des Schwarzmeer- und Donauraumes überrascht31, ebenso wie die Reichsführung. Jedenfalls standen im Sommer 376 etwa neun Zehntel des gotischen Stammes der Tervinger am Nordufer der Donau und baten um die Erlaubnis, sich auf römischem Reichsgebiet anzusiedeln.32 Es mögen zwischen 100 000 und 200 000 Menschen gewesen sein, die sich vor den Hunnen auf der Flucht befanden. Valens ließ sie die Donau überschreiten. Ammian, unser Gewährsmann für die nachfolgenden Ereignisse, führt den Ausbruch der Krise, die zur Schlacht von Hadrianopel führen wird, auf die Inkompetenz und die Gier der römischen Befehls­ 380

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haber vor Ort zurück: Sie scheiterten bereits daran, die Überquerung des Flusses in geordneten Bahnen durchzuführen, die Goten zu entwaffnen oder auch nur zu registrieren.33 In der daraufhin entstandenen unübersichtlichen Krisenlage lieferten sich gotische Scharen und römische Truppen mehrere Scharmützel, die beiden Seiten vor Augen führten, dass das Reich weder darauf vorbereitet war, die Neu­ankömmlinge zu versorgen noch über das entsprechende Bedrohungspotenzial verfügte, um sie von der Überschreitung der Grenze abzuhalten.34 Mittlerweile waren die Goten bis zu den Randgebieten der moesischen Provinzen vorgestoßen. Im Verlauf eines Jahres hatte sich ihr Aktionsradius bis in die thrakische Diözese ausgeweitet, wo sie sich Zugang zum Reichsgebiet zwischen die Bergketten des Haemus und des Rhodopegebirges verschafft hatten. Nun entschloss sich Valens, zu handeln. Er brach einen bereits geplanten Persienfeldzug ab, um sich auf einen Militärschlag gegen die Goten vorzubereiten. Die Strategie des Feldzuges wurde mit dem Stab Gratians, des Herrschers des westlichen Reichsteils, abgestimmt. Valens zog von seinem Hauptquartier in Con­stantinopel im Sommer des Jahres 378 an der Spitze eines schlagkräftigen Kontingents bis zur unteren Donau vor. Zwischen den Abteilungen Gratians und den thrakischen Gebirgsketten eingekreist, versuchten die Goten, sich vor der drohenden Umklammerung zu befreien. Sie setzten sich Richtung Con­stantinopel in Bewegung und gelangten in die Nähe der Stadt Hadrianopel (das heutige Edirne), nur wenige Tagesmärsche von der Kaiserresidenz am Bosporus entfernt. Seit Anfang August war auch Valens mit seiner Armee unterwegs. Er stand in regelmäßigem Kontakt mit dem heranziehenden Gratian, dessen Generäle eindringlich dazu mahnten, ein militärisches Eingreifen nur mit dem vereinten römischen Heer zu wagen. Unweit von Hadrianopel haben die Goten dann am 9. August der aus dem Osten heranrückenden Armee die Schlacht angeboten. Valens war zu diesem Zeitpunkt davon überzeugt, lediglich etwa 10 000 Kämpfern gegenüberzustehen, eine Anzahl, die er, wie er glaubte, mit seinen überlegenen Kräften mühelos bewältigen konnte. Er brannte darauf, den Sieg ohne die Beteiligung seines Neffen Gratian zu erringen – übertriebene Berichte von dessen kürzlich gegen die Alamannen errungenen Erfolgen machten den senior Augustus eifersüchtig und unvorsichtig. Die falsche Einschätzung der Stärke des Gegners, sowie die Entscheidung, die Schlacht ­alleine, ohne die Unterstützung des Gratian, anzunehmen, waren verhängnisvolle strategische Fehler, die sich bitter rächen sollten.35 Hinzu kamen weitere taktische Fehlgriffe: Valens’ Heer marschierte früh morgens auf das Schlachtfeld zu und hielt sich den Rest des Tages ohne Verpflegung in der 381

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Sonne auf, war also bereits erschöpft, als der Kampf etwa um die achte Stunde herum tatsächlich begann. Der Befehlshaber der gotischen Verbände Fritigern hatte mit Verhandlungen in letzter Minute geschickt Zeit herausgeschlagen, während seine Truppen innerhalb der Wagenburg günstige Positionen für den bevorstehenden Kampf bezogen. Es war schließlich nicht einmal der Kaiser, der den Befehl zum Losschlagen gab: Offensichtlich waren innerhalb der beiden Führungsebenen noch Verhandlungen im Gange, als plötzlich römische Bogenschützen und leichte Infanterie, ohne einen Angriffsbefehl erhalten zu haben, losschlugen und prompt von den Goten rasch zurückgeworfen wurden.36 Entscheidend für die römische Niederlage war jedoch, dass die von den ­Römern vernachlässigte gotische Kavallerie plötzlich auf dem Schlachtfeld eintraf und die römischen Linien völlig unvermittelt aus dem Hinterhalt überrollte. Damit war die Ordnung der römischen Schlachtreihen dahin, bisher erreichte Vorteile wurden hinfällig: Es brach eine allgemeine Panik aus. Die Demoralisierung innerhalb der römischen Verbände griff um sich. Valens wurde von einem Pfeil im Auge verwundet; ob er noch auf dem Schlachtfeld starb, ist ungewiss. Jedenfalls wurde sein Leichnam nicht gefunden – was nicht verwundert angesichts der Niederlage, der großen Verluste an Soldaten und der wilden Flucht der Überlebenden. Es war die bald darauf auf dem Schlachtfeld erschienene Armee Gratians, die etwas Ordnung in die chaotische Situation bringen konnte, und es war Gratian, der am 19. Januar 379 Theodosius zum Nachfolger des Valens auserkor und ihm den Auftrag erteilte, die ins Reich eingedrungenen Goten in Schranken zu halten. Dies gelang ihm aber erst im Jahr 382 und zwar keineswegs mit Militärgewalt, sondern mit diplomatischen Mitteln. Mit dem Abschluss des Gotenfoedus machte Theodosius das Beste aus der Situation, welche durch das Ungeschick und die Niederlage seines Vorgängers Valens entstanden war. Höchst wahrscheinlich hätten die Goten gegen den koordinierten Ansturm der vereinigten westlichen und östlichen Armeen Roms nur geringe Siegeschancen gehabt. Die Wirkung des mit den Goten abgeschlossenen Vertrages war weitreichend, denn er geriet zum Modell für künftige Vereinbarungen, welche die Rechtslage der ins Reich eingedrungenen fremden Stämme regelten. Ihre Hauptbedingungen waren die Zuteilung von Reichsterritorien an die Goten, die sie nach Gutdünken verwalten konnten und dadurch den politischen Spielraum Roms in der Donauregion erheblich einschränkten. Im Gegenzug verpflichteten sich die Goten, auf Anforderung Waffendienst zu leisten, ­allerdings unter der Leitung ihrer Stammesführer. Die von den Goten den 382

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Römern abgetrotzten Klauseln empfanden viele Zeitgenossen, so etwa Ammian, als Anfang vom Ende der römischen Weltherrschaft. Die Schlacht bei Hadrianopel markiert aber auch den Eintritt der gotischen Völkerscharen in die von Rom dominierte Geschichte der antiken Welt; gleichzeitig steht sie für den Beginn einer langen und beschwerlichen Odyssee der Gotenstämme durch zahlreiche Länder des Mittelmeerraumes. Die im Laufe der Zeit als Westgoten bezeichneten germanischen Eroberer werden sich nach einer Zwischenphase, die sie im südlichen Gallien verbrachten37, dann endgültig in Hispanien niederlassen, wo sie zwei Jahrhunderte lang ein geschlossenes Herrschaftsgebiet behaupten konnten, bis sie schließlich von den aus Nordafrika einsickernden muslimischen Eroberern verdrängt werden sollten (711).38 Damit schloss sich der Kreis um die Folgen von Hadrianopel, der mit der Festsetzung des Islam auf europäischem Boden, genau in jenen Territorien, die einst den Römern, später den Goten entrissen worden waren, einen vorläufigen Abschluss finden sollte.

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3 Präventivkriege? Peloponnesischer Krieg

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etrachtet man die Zuspitzung des Konfliktes zwischen dem Attisch-Delischen und dem Peloponnesischen Bund, so scheint es, dass Letzterer des Zeitgewinns wegen zum Krieg drängte, um der als Bedrohung empfundenen Übermacht des Konkurrenten zuvorzukommen. Die Militäraktionen, welche die Peloponnesier im Frühsommer des Jahres 431 v. Chr. einleiteten, als sie in Attika einfielen, wollten Schlimmeres verhindern, doch in Wahrheit eröffneten sie einen unsäglichen Krieg, der eine Generation lang währen sollte und an dessen Ende mehr Verlierer als Gewinner zu verzeichnen waren. Dem Geschichtswerk des Thukydides verdanken wir die Kenntnis der Stationen (431–404 v.  Chr.) dieser gewaltigsten militäri­ schen Aus­ einandersetzung innerhalb der griechi­schen Welt. Seine scharfsinnige Distinktion zwischen äußeren Anlässen (aitiai) und inneren Ursachen (prophaseis) des Kriegsausbruches sowie sein prüfendes, kriti­sches Verhält­nis zum Stoff seiner Darstellung sind ein Lehr­stück der analyti­schen Geschichts­ schreibung, die eine neue Stufe der historischen Wissenschaft be­gründete. Aus der Vielfalt der Problemkreise, die dem unmittelbaren Kriegsausbruch vor­angin­gen, lassen sich mehrere Konfliktfelder herausheben.39 Da wären zunächst Kerkyras Streitigkei­ten mit der Mutterstadt Korinth, die ein athenisches Ein­greifen zugunsten Kerkyras nach sich zog, was den Groll der Korin­ther auf die Athener immens steigerte. Ferner ist das Tauziehen zwi­ schen Athen und Korinth wegen Poteidäa als wichtiger Anlass für den Kriegsaus­bruch bewertet worden. Als eigentliches Motiv für die Kriegserklärung der Pelopon­nesier haben die meisten Zeitgenossen aber das von Athen ver­häng­te Handelsembargo gegen Megara, das sogenannte megarische Psephisma, gesehen. Die entscheidende Ursache für die Eröffnung der Feindse­ ligkeiten war jedoch die von Thukydides erkannte Angst der verbünde­ten Pelopon­nesier vor der aufstrebenden athenischen Hegemonial­macht, die durch eine beispiellose Expansionspolitik immer mehr politische, ökonomische und militärische Macht auf sich vereinigen konnte40: Es begann nämlich damit, dass Athener und Peloponnesier den dreißigjährigen Ver­ trag auf­ 384

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kündigten, den sie nach der Eroberung Euböas abge­schlossen hatten. Die Gründe, warum sie ihn aufho­ben, und die Streitpunkte schreibe ich vorweg, damit nicht später jemand fragt, wie ein solcher Krieg in Griechenland ausbrach. Den tiefsten Grund freilich, zugleich den meist verschwie­genen, sehe ich im Wachstum Athens, das die erschreckten Spartaner zum Kriege zwang.41 Insofern fußt Thukydides’ psychologische Deutung der tieferen Beweggründe des Kriegsausbruches auf der sorgfäl­tigen Beobachtung von historischen Bedingun­gen, die unmittelbar nach den Perserkriegen zutage getreten waren. Zu nennen wäre neben dem Antagonismus zwischen Athen und Sparta, der den geltenden Struktu­ren der Poliswelt durchaus entsprach, der fulminante Aufstieg Athens zum Mittel­punkt eines Seereiches, welches das einst vorherrschende Gleichgewicht der Kräfte nachhaltig veränderte. Hinzu kamen die Folgen einer dynamischen Han­dels­politik. Athen konnte bereits die Seerouten zum Schwarzen Meer und zur Levanteküste kontrollieren und schick­te sich nun durch seine Intervention in Kerkyra an, Fuß im westlichen Mittel­meer zu fassen, das bis dahin als Inter­essensphäre der Korinther, Spartas wichtigste Verbündete, gegolten hatte. Die Addition dieser Krisen und Bedrohungsszenarien war nach Thukydides’ Einschätzung die Ursache für den Präventivschlag, zu dem sich die Peloponnesier hinreißen ließen, um das wachsende Potenzial der Athener rechtzeitig zu brechen, bevor es zu spät geworden wäre. Doch verhielt es sich wirklich so? Gab es wirklich keine Möglichkeit, den Krieg abzuwehren? Dazu schweigen die antiken Autoren. Was jedoch in der Überlieferung durchschimmert, ist die zunehmende Kritik, die in der griechischen Öffentlichkeit über das imperiale Machtgebaren Athens geäußert wurde, was die Vermutung nährt, dass wegen dessen allzu forschen Auftretens die Sympathien der neutralen Staaten wohl eher den ­Peloponnesiern gegolten haben dürften.42 Anders ausgedrückt: Die strahlende Kulturmetropole Griechenlands schaffte es nicht, die Zeitgenossen für die Zweckmäßigkeit ihrer Politik zu gewinnen, was damit zusammenhing, dass es Athen nicht gelang, eine überzeugende ideologische Begründung ihrer ausgreifenden Herrschaft zu formulieren.43 Inwiefern und in welchem Ausmaß die Vertreter des athenischen Geisteslebens ihre beträchtlichen intellektuellen Fähigkeiten zur Rechtfertigung der umstrittenen Außenpolitik ihres Gemeinwesens einsetzten, bleibt allerdings unklar. Erwartungsgemäß nahm das von Perikles geleitete Athen die Herausforderung der Peloponnesier an und stellte sich auf einen mühseligen Kampf ein, dessen strategische Leitlinien in den Reden, die Thukydides Perikles in den Mund legt, entfaltet werden. Den Auftakt der Kampfhandlungen bildeten der Überfall des mit Sparta ver­bündeten Theben auf den athenischen 385

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Vorposten Platää sowie der Einfall des spartanischen Königs Archidamos an der Spitze des Aufge­ bots des Peloponnesischen Bundes in Attika (431 v. Chr.). Diese erste Phase der Auseinandersetzungen, der sogenannte Archidamische Krieg, war durch jährlich statt­findende Offensiven der Peloponnesier auf athenischem Boden gekennzeichnet. In Attika nahm man eine ­defensive Haltung ein, riskierte keine offene Schlacht und verschanzte sich hinter seinem Schutzwall, der mit den Mitteln der damaligen Belagerungstechnik unein­nehmbar schien. Im Gegenzug störten attische Geschwader Handel und Zufuhr der Peloponnesier und setzten ihnen durch gezielte militärische Schläge empfindlich zu.44 Jedoch musste Athen die Folgen der selbstgewählten Defensivstrategie teuer bezahlen. Der von Thuky­dides anschaulich beschriebene Pestausbruch in der übervölkerten Stadt45, dem auch Peri­kles zum Opfer fiel, verschlimmerte die Situation der dicht hinter den Langen Mauern, die den Akropolisbereich mit dem Piräus verbanden, eingepferchten Bevölkerung Attikas. Im Jahr 425 v. Chr. konnte Athen einen wichtigen Erfolg bei Pylos verbuchen. Auf der Insel Sphakteria nahm Kleon einige hundert Spartaner gefangen. Relativiert wurden diese Gewinne allerdings durch die vom spartani­ schen Feldherrn Brasidas in Thrakien errungenen Siege, deren bedeutendster die Einnahme von Amphipolis war, Athens wichtigstem Stütz­punkt in der Nordä­gäis. Aufgeschreckt durch die Ereignisse in Sphakteria, die den Verlust einer beträcht­lichen Anzahl von Bürgern zu bringen drohte, entschloss sich Sparta, Frie­densverhandlun­gen auf­zunehmen. 421 v. Chr. kam es schließlich zur Unterzeichnung des nach dem athenischen Unterhändler benannten „Frieden des Nikias“. Doch der aus Erschöpfung und Kriegsunbehagen vereinbarte Pakt blieb prekär. Er brachte keine wirkliche Lösung des Konflikts, sondern blieb lediglich ein Waffenstillstand, der eine Wiederauf­nahme der Kampf­handlungen keinesfalls ausschloss. Tatsächlich kam es bald zum erneuten Ausbruch der Feindseligkei­ten. Einige nicht erfüllte Vertragsklauseln lieferten den Anlass dazu. Auslösendes Moment waren aber zwei miteinander eng zusammen­hängende Fakto­ren: Zum einen brach im Peloponnesischen Bund eine Krise aus, welche die latente Frontstellung zwischen Sparta und Athen verschärfte, zum anderen trat auf der politi­schen Bühne Athens ein außergewöhnlicher Machtmensch auf: Alkibiades.46 Im Geist der Sophistik erzogen, ver­körperte er den Typus des unkonventionellen Individu­ums, dem die Einordnung in das Kollektivsystem der Polis schwerfiel. Aus diesem Widerspruch resultierte seine politi­sche Haltung, die ihn erst zum erbitterten Feind seiner Vater­stadt, dann zum Freund der Spartaner und schließlich zur großen Stütze seiner bedräng­ten Mitbürger werden ließ. Wo sein Lehrer 386

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Sokrates den Giftbecher vorzog, um nicht in unwiderruflichen Gegensatz zu seiner Heimatpolis zu geraten, entschloss sich Alkibiades dazu, das Schicksal herauszufordern. In der Zeit nach dem Nikiasfrieden, als sein Einfluss auf die athenische Politik maßgebli­ch zunahm, brachte er eine Annäherung an Argos zustande, womit eine Versöhnung zwischen Athen und Sparta zunichte gemacht wurde.47 Als dann sein Plan misslang, den Krieg in Südgriechenland wieder zu entfesseln, gewann er die athenische Volks­ versamm­lung für ein verwegenes Projekt: die sizilische Expedi­tion. Gegen den ausdrücklichen Rat des besonneneren Nikias setzte der attische Demos Alkibiades’ Vor­stellungen in die Praxis um. Eine starke Flotte sollte Syrakus, die Tochterstadt Korinths und bedeutendste Polis im Westen, erobern und daraufhin Sizilien unter athenische Botmäßigkeit zwingen.48 Doch mit der Abberufung des im Zusammenhang mit dem Hermenfrevel49 inkriminierten Alkibiades, der zu den Spartanern floh, verschwand der Kopf der Unter­ nehmung. Die sizilische Expedi­tion (415–413 v. Chr.) scheiterte voll­ständig. Die Einnahme von Syrakus misslang, die gesamte athenische Flotte und das Landungs­heer gingen zugrunde oder gerieten in Gefangenschaft. Die atti­ schen Strategen, unter ihnen Nikias, verloren ihr Leben. Es war die größte politische und militä­rische Katastrophe, die Athen bis dahin erlebt hatte. Die vor Syrakus erlittene Niederlage war der Wendepunkt des Peloponnesischen Krieges. Auf Rat des zu den Lakedämoniern übergelaufe­nen Alkibiades ergriff Sparta die Offensive in Attika. Die Spartaner setzten sich in den Besitz des Landstädtchens Dekeleia und errichteten dort einen festen militäri­schen Stützpunkt, der die Athener vollständig lähmte. Die Folgen des Dekeleischen Krieges sind vor allem an den innenpolitischen Um­wälzungen in Athen ablesbar. Im Jahre 411 v. Chr. konnte sich ein oligarchisches Regime durchsetzen, dessen Herrschaft nur kurze Zeit währte. Nach Jahresfrist wurde die Demokratie wiederhergestellt und mit ihr lebte die Hoffnung auf eine günstige Wendung des Krieges erneut auf. Die Wiedererstarkung der athenischen Demokratie stand mit Alkibiades’ neuem Kurswechsel im Zusammenhang. Er überwarf sich mit den Spartanern und kehrte nach Athen zurück, wo er mit offenen Armen empfangen wurde. Zum Befehlshaber der Flotte gewählt, gelang es ihm, zwei Seesiege zu erringen und damit die athenische Position in der Ägäis zu verbessern. Doch anstatt nun auf einen Ausgleichsfrieden hinzuwirken, der den erschöpften Staat wie­ derhergestellt hätte, lehnte die Volksver­sammlung auf Rat des Kle­ophon, unter Verkennung der tatsächlichen Machtverhältnisse, zwei Frie­densangebote der Spartaner ab. Nun sahen die Achaimeniden die Möglichkeit gekommen, Sparta energisch zu unter­stützen, um der Entmachtung Athens Vorschub zu leisten. 387

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Im Sommer 405 v. Chr. vernichteten die Spartaner in der Seeschlacht bei Aigospotamoi die athenische Flotte und kurz darauf nahm der Spartaner Lysander Athen ein. Damit endete der Pelopon­nesische Krieg (404 v. Chr.).50 Die Bilanz dieses Konfliktes ist bedrückend. Was als regional begrenzter Präventivschlag begonnen hatte, entwickelte sich zu einem globalen Machtkonflikt, der den gesamten Mittelmeerraum in Mitleidenschaft zog und die Kräfte der Kriegsteilnehmer gründlich erschöpfte. Die daran beteiligten griechischen Poleis hatten durch die ungewöhnlich lange Kriegsdauer ­unsäglich gelitten. Keine der in den Kriegswirren verwickelten Parteien zog letztlich einen klaren Gewinn daraus. Nicht einmal für Sparta, das nach außen hin siegreich aus den Kämpfen hervorgegangen war, hatte sich der Krieg wirklich gelohnt. Seine neue Vormachtstellung in Hellas musste es mit schweren Erschütterungen seines gesellschaftlichen Gefüges teuer bezahlen. Nur die Achaimeniden hatten ihr Ziel erreicht. Denn die griechischen Staaten stellten nun keine ernsthafte Herausforderung mehr für die persischen Macht­ansprüche in der Ägäis dar.

Römisch-karthagischer Krieg In noch stärkerem Maße, als dies beim großen griechischen Bürgerkrieg der Fall war, dessen Chronist Thukydides trotz seiner athenischen Herkunft eine bemerkenswerte Äquidistanz zwischen den Kontrahenten bewahrte, stellt die vorhandene romfreundliche Überlieferung den Ausbruch des 1. Römisch-karthagischen Konfliktes als Präventivaktion der Römer dar, die den bellizistisch gesinnten Karthagern lediglich zuvorgekommen seien. Inwiefern diese Sichtweise sich als tragfähig erweist oder vielmehr als Ergebnis einer einseitigen Berichterstattung anzusehen ist, gilt es zu überprüfen, um zu einer sachgemäßen Bewertung eines der größten Konflikte des Altertums zu gelangen. Die Gründe, die zur ersten bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Rom und Karthago führten, hingen mit der explosiven politischen Situation Siziliens zusammen. Neben Karthago und Syrakus erhob eine dritte Macht Ansprüche auf den Nordteil der Insel: die Mamertiner (Söhne des Mars), eine campanische Söldnerbande, die sich mit Gewalt Messinas bemächtigt hatte, indem sie einen Teil der Stadtbevölkerung niedermachte. Es dauerte nicht lange, bis ein heftiger Streit mit Syrakus ausbrach, weil dessen Herrscher Hieron nicht bereit war, die Errichtung eines neuen Machtblocks in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu dulden, der seine unbestrittene Vor388

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rangstellung im Ostteil der Insel in Frage gestellt hätte. Die Rivalität zwischen den Mamertinern und Hieron entlud sich in einer Reihe von Gefechten. In der Schlacht am Longano (269 v. Chr.) vermochte Hieron einen Sieg zu erringen. Die geschwächten Mamertiner begaben sich nun auf die Suche nach Verbündeten, um sich der syrakusanischen Umklammerung, in die sie zu geraten drohten, zu entziehen. In Messina gab es diesbezüglich keine eindeutige Präferenz. Einige erhofften sich Beistand von den Karthagern, den langjährigen Gegnern der Syrakusaner, andere hingegen neigten dazu, einen Hilferuf nach Rom aussenden zu lassen. Diese zunächst lokal begrenzten Streitigkeiten an der Meerenge zwischen Sizilien und Italien, einer für den Handel und die Navigation im zentralen Mittelmeerraum strategisch wichtigen Gegend, sollten der Auslöser eines weitaus größeren Konfliktes werden; denn die zunächst abseits stehenden Mächte Rom und Karthago griffen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, doch in Messina ein, womit die Messina-Affäre sich zu einem Flächenbrand ausweitete.51 Die Rede ist vom 1. Römisch-karthagischen Krieg (264–241 v. Chr.). Man muss nach den Beweggründen der Römer fragen, die zu einer Hilfeleistung an die Mamertiner führten, zumal sie gewusst haben müssen, dass durch ihre Intervention in Sizilien ein unvermeidlicher Konflikt mit Karthago heraufbeschworen würde. Auf der Suche nach Antworten kommt man nicht umhin, ihren Expansionsdrang in Rechnung zu stellen. Ihrem ungebremsten Ehrgeiz ist es zuzuschreiben, dass sie der jüngst errungenen Hegemonie über Italien einen neuen überseeischen Einflussbereich hinzufügen wollten. Dieses Streben nach Land, Beute und Ruhm war offenbar stärker als die Behutsamkeit, die eine nüchterne Bewertung der Lage erfordert hätte. Vermutlich wollte sich die römische Politik keine Fesseln auferlegen lassen und unter allen Umständen ihre ungehinderte Manövrierfähigkeit bewahren, selbst wenn man dafür das Risiko eines Krieges mit dem ehemaligen Verbündeten Karthago, das wenige Jahre zuvor im Pyrrhoskrieg noch eng mit Rom kooperiert hatte, auf sich nehmen musste. Zu berücksichtigen ist auch, dass während des 3. Jahrhunderts v. Chr. einige führende campanische Familien einen beachtlichen politischen Aufstieg in Rom erlebten und sich Zugang zum römischen Senat verschafften. Sie bildeten eine mächtige Interessengemeinschaft, die in Wettbewerb mit der karthagischen Aristokratie trat und, wie diese, sich ebenfalls an dem gewinnbringenden Sizilienhandel beteiligen wollte.52 Über die Anlässe der römischen Intervention auf sizilischem Boden, die zum 1. Römisch-karthagischen Krieg führen sollte, gibt uns Polybios folgende Einschätzung: Die Mamertiner, die vorher schon, wie oben berichtet, 389

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ihren Rückhalt in Rhegion verloren, nun aber auch selbst eine vollständige Niederlage erlitten hatten, wollten teils zu den Karthagern ihre Zuflucht nehmen und sich selbst und ihre Burg in ihre Hände geben, andere aber schickten Gesandte nach Rom, boten die Übergabe der Stadt an und baten, ihnen als Stammverwandten beizustehen. Die Römer waren lange unschlüssig, was sie tun sollten, denn die Inkonsequenz einer solchen Hilfeleistung lag offen zutage: kurz vorher hatten sie ihre eigenen Mitbürger auf das schwerste bestraft und hingerichtet, weil sie Verrat an den Rheginern verübt hatten; gleich danach aber den Mamertinern zu helfen, die sich in gleicher Weise nicht nur an den Messeniern, sondern auch an Rhegion vergangen hatten, schien ein schwer zu entschuldigendes Unrecht. Sie waren sich hierüber völlig im Klaren; da sie aber auf der anderen Seite sahen, dass die Karthager sich nicht allein ganz Libyen, sondern auch große Teile von Iberien unterworfen hatten, überdies alle Inseln im Sardinischen und Tyrrhenischen Meer in ihrer Gewalt hatten, waren sie in schwerer Sorge, sie könnten, wenn sie auch noch die Herrschaft über Sizilien gewännen, ihnen äußerst gefährliche Nachbarn werden, da jene sie dann eingekreist hätten und Italien von allen Seiten bedrohten. Dass sie aber Sizilien in kurzer Zeit unter ihre Herrschaft bringen würden, wenn die Mamertiner keine Hilfe erhielten, lag klar zutage. Denn wurde ihnen Messina ausgeliefert, waren sie erst Herren dieser Stadt, so stand zu erwarten, dass sie binnen kurzem ­Syrakus vernichten würden, da sie beinahe über das ganze übrige Sizilien geboten. Dies alles sahen die Römer zwar voraus und erkannten, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als Messina nicht preiszugeben und nicht zuzu­ lassen, dass die Karthager einen Brückenkopf für den Übergang nach Italien gewännen.53 Die Darstellung des romfreundlichen Autors kann nicht verhehlen, dass die Gier nach Macht und Beute die Römer nach Sizilien trieb. Daher zeigt sich Polybios bemüht, den römischen Kriegseintritt zu rechtfertigen. Er berichtet von der bevorstehenden Einkreisung Italiens durch die Karthager, die den Anstoß für den römischen Befreiungsschlag nach Sizilien gegeben haben soll. Doch wer die betreffende Textpassage näher betrachtet, wird schwerlich die Anspielung auf die Macht der Karthager zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr., die inzwischen neben Nordafrika und die Inseln im zentralen Mittelmeerbereich (Sizilien, Sardinien, Malta) auch noch Iberien in Besitz genommen hatten, für ein stichhaltiges historisches Argument halten können. Man spürt den propagandistischen Charakter der polybianischen Argumentation, die in der Beschwörung des Hannibalgespenstes gipfelt, das hier eine retrospektive psychologische Rechtfertigung für den römischen Kriegseintritt liefern soll (gemeint ist Hannibals Marsch von His390

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panien nach Italien im Jahr 218 v. Chr.). Hannibal war aber zum Zeitpunkt des Ausbruchs des 1. Römisch-karthagischen Krieges nicht einmal geboren; dennoch wird sein späteres Wirken instrumentalisiert, um eine Einkreisungstheorie zu konstruieren, der zufolge den Römern keine andere Wahl blieb, als sich durch einen Angriff zu verteidigen. Derartige Argumenta­ tionsparadigmen dienten der Beschönigung der römischen Intervention in Messina. Polybios zählt angesichts dieser schwerwiegenden Einmischung der Römer außerhalb Italiens alle Argumente auf, die eine solche Haltung, von Polybios als Defensivmaßnahme gedeutet  – tatsächlich war sie eine ­Offensivhandlung der Römer –, erzwangen. Damit suggeriert er eine Bedrohung Italiens54 durch eine aggressive karthagische Politik, innerhalb derer Hispanien eine wesentliche Rolle zukam, denn erst durch dessen Nennung entfaltete die Einkreisungsidee durch die Erinnerung an Hannibal ihre volle Wirkung. Eine solche politische Konstellation, wie sie Polybios dem Leser suggeriert, hat im Jahr 264 v. Chr. jedoch nicht bestanden; sie ist ein Anachronismus. Um nur ein Beispiel anzuführen: Bekanntlich gelang den Karthagern unter Hamilkar erst nach 237 v. Chr. eine Festsetzung auf hispanischem Boden. Folglich agierten nicht die Karthager, sondern die Römer eindeutig als Aggressoren in den Verwicklungen um Sizilien. Allem Anschein nach bestand also die Notwendigkeit, dies zu kaschieren, und so griff man, um die römische Handlungsweise zu rechtfertigen, zu einer plumpen Geschichtsklitterung: Rom wurde bedroht und war daher gezwungen, zu reagieren; das heißt, den Karthagern zuvorzukommen. Im Frühjahr des Jahres 264 v. Chr. setzte eine römische Armee nach Sizilien über. Es war die erste bewaffnete Intervention außerhalb Italiens  – der Vorspann zu Roms Griff nach der Weltmacht.

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pätestens seit der griechische Historiker Thukydides am Ende des 5.  Jahrhunderts v.  Chr. die Frage nach dem eigentlichen Beginn eines Krieges vor der ersten Kampfhandlung aufwarf, stellt sich der historischen Wissenschaft dieses Problem immer wieder aufs neue. Das Altertum bietet ein reichhaltiges Reservoir einschlägiger Beispiele, an denen die jedem unmittelbaren Kriegsausbruch vorausgehenden, propagandistischen Auseinandersetzungen zwischen den Konfliktparteien verfolgt werden können. Es mag vielleicht überraschen, wenn im folgenden von der ideologischen Kriegführung Hannibals die Rede sein wird, weil die einseitig verformte Überlieferungslage des römisch-karthagischen Antagonismus eher die Kriegsschuldfrage betonte und dadurch die Wahrnehmung der damals aktuellen Fragestellungen überlagerte.55 Um es gleich vorweg zu sagen: Die von Hannibal vor Ausbruch der Kampfhandlungen in Gang gesetzte ideologische Offensive erwies sich, obwohl von der Forschung wenig beachtet, als eines der folgenreichsten Phänomene des römisch-karthagischen Ringens um die Vormachtstellung im westlichen Mittelmeerraum. Die romfreundlichen Autoren, die über den 2. Römisch-karthagischen Krieg berichteten, sahen den Konflikt als einen von den Karthagern herbeigeführten Revanchekrieg, den der militärisch äußerst versierte Hannibal in die Tat umsetzte. Urheberschaft und Planung wurden aber, je nach Perspektive, seinen Vorgängern Hamilkar oder Hasdrubal zugeschrieben.56 In dieser Relation der gestaffelten Verantwortung am Kriegsausbruch geriet Hannibal zum bloßen Ausführungsorgan. Er wurde als die bewaffnete Hand der rachsüchtigen Stadt Karthago stilisiert. Vor diesem Hintergrund entstand das Bild des militärisch begabten Truppenführers, der aber politisch unbedarft gewesen sei.57 Auf eine Kurzformel gebracht lautet das gängige Urteil: Der Soldat Hannibal versagte als Staatsmann, zeigte sich den komplexen politischen Aufgaben des von Karthago entfesselten Krieges nicht gewachsen. Als inzwischen sprichwörtlich gewordenes Symbol dieser Einschätzung lässt sich jene berühmte, vielfach kolportierte Sentenz anführen, die der römische Historiker Livius dem karthagischen Offizier Maharbal in den Mund legte, als dieser nach der Schlacht von Cannae Hannibal entgegenschleuderte: Du kannst 392

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zwar siegen, Hannibal, aber den Sieg zu nutzen, verstehst du nicht! 58 Derartige Bewertungen entbehren nicht nur jeder sachlichen Grundlage, sie gehen auch an den Tatsachen vorbei, die dem römisch-karthagischen Konflikt zugrunde liegen. Eine unvoreingenommene Betrachtung dieser Vorgänge lässt die Evidenz einer ingeniösen Kriegsplanung erweisen. Darüber hinaus können die Ergebnisse dieser Beobachtungen dazu beitragen, nicht nur das einseitige Hannibalbild zu revidieren, sondern auch die Dynamik des römischkarthagischen Verhältnisses realistischer zu beurteilen. Die Kontroverse um die Verantwortung am 2. Römisch-karthagischen Krieg, eines der meistdiskutierten Problemfelder der antiken Geschichte, ist wesentlich mitbestimmt von der Beurteilung, die den darin involvierten karthagischen Staatsmännern zuteilwird. Das Interesse, welches diese Streitfrage auslöste, hat weniger mit ihrer zeitgenössischen Relevanz zu tun, als vielmehr mit einer heftig umstrittenen Rezeptionsgeschichte, die bis in die Neuzeit reicht. Der Disput über die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1914–1918) hat vornehmlich die deutschen, englischen, französischen und italienischen Gelehrten gefesselt, welche in der Ausgangslage des 2. Römisch-karthagischen Krieges ein ähnlich gelagertes Experimentierfeld zu entdecken glaubten und daher eine weitere Front intellektueller Auseinandersetzung eröffneten, sich sozusagen einen Stellvertreterkrieg lieferten. Derartige Vermischungen von unvereinbaren Voraussetzungen haben nicht nur den Blick auf die im 3. Jahrhundert v. Chr. angesiedelten Ereignisse getrübt, sondern auch die Interpretationsparameter, welche an die antiken Gewährsleute angelegt wurden, stark beeinflusst. Erst durch die Revision dieser Gemengelage lässt sich zu einer adäquateren Einschätzung der Motive und Ziele der Kriegsparteien gelangen. Über die Gründe, die zum Ausbruch des 2. Römisch-karthagischen Krieges führten, berichtet der griechische Historiker Polybios: Sobald nämlich Hamilkar, mit dessen persönlichem Groll sich jetzt seine und aller Karthager Empörung über diese Vergewaltigung (Raub Sardiniens) vereinigte, seiner Vaterstadt Ruhe und Frieden gesichert hatte, richtete sich seine Initiative sofort auf Iberien, um dort die Hilfsmittel für den Krieg gegen die Römer zu gewinnen. Und dies nun ist als die dritte Ursache anzusehen, ich meine die Erfolge der karthagischen Politik in Iberien. Denn im Vertrauen auf die dort errungene Macht gingen sie zuversichtlich dem Krieg entgegen.59 Diese Reflexionen sind trotz der erkennbaren Bemühungen, eine möglichst sachgerechte Deutung des Kriegsausbruchs zu geben, parteiisch gefärbt. Gemäß dieser Logik erscheint die Initiative zum Kriegsausbruch als direkte Folge von Hamilkars Auftreten in Hispanien, wobei die Rolle Roms 393

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zu gering veranschlagt wird. Man könnte aber genauso gut sagen, dass der 2. Römisch-karthagische Konflikt lange, bevor Hannibal Sagunt überfiel, begann und die Römer darauf mit der Kriegserklärung antworteten. Seine ­Anfänge lassen sich ebenso in der römischen Einmischung in die hispanischen Angelegenheiten der Karthager erkennen. Zwanzig Jahre lang hatten sich die Karthager auf der Iberischen Halbinsel ausgebreitet. In dieser Zeit hatten die Römer zugesehen, wie die einstigen Gegner ihre Kriegsreparationen vertragsgemäß entrichteten und gleichzeitig einen ansehnlichen Besitz anhäuften. An gelegentlichen Inspektionsreisen ließen es die Römer nicht mangeln. Seit dem Lutatius-Vertrag empfanden sie sich ohnehin als Vormacht im westlichen Mittelmeerraum und traten entsprechend auf. Die ­Senatsgesandtschaft, die Hamilkars Tätigkeit in Hispanien in Augenschein nahm, war Ausdruck dieses übersteigerten römischen Selbstbewusstseins. Gegenüber Hasdrubal hatten die Römer ebenfalls ihr Misstrauen bezüglich eines zu weit ausgreifenden karthagischen Vorgehens bekundet. Hasdrubal verpflichtete sich zur Selbstbeschränkung. Er gab eine vertraglich vereinbarte Willenserklä­rung ab, die aber nur ihn allein band. Mit dem jun­gen Hannibal wollten die Römer ähnlich verfahren und ihn zur Befolgung der römischen Zielsetzungen zwingen. Sie be­schnit­ten seinen Aktions­radius und drohten bei Zuwiderhandlung mit Krieg.60 Man braucht sich nur die Reaktion der Römer vorzustellen, hätten die Karthager ihnen Vorschriften bezüglich ihres Umgangs mit den Völkern Italiens gemacht. Sie aber misch­ten sich in die karthagischen Angelegen­heiten in Hispa­nien vehe­ment ein und glaubten sich dabei im Recht.61 In Wirklichkeit ging es um die Lösung einer Machtfrage. Wie ­viel Entfaltungsraum war Rom bereit, Kart­hago zu konzedieren? Das Spannende an dieser Konstellation war aber, inwie­weit Hannibal sich das römische Verhalten gefallen ließ. Man könnte den Streitfall auch anders formulieren: War im 1. Rö­misch-karthagischen Krieg Sizilien der Zankapfel gewesen, so war es nun wieder ein Land, auf das beide Parteien Besitz­ansprü­che erhoben; die eine Seite, die karthagische, aus dem Bewusstsein, eine rechtmäßige Beute erworben zu haben, die andere Seite, die römi­sche, aus Großmachts­treben. Es ging um Hispanien, um seine Reic­htümer und um seine Bedeutung als Macht­basis für ein wiedererstarktes Karthago. Dies sind die nüchternen Tatsachen, die dem römisch-karthagi­schen Konflikt zugrunde lagen. Nicht zum ersten Mal mischte sich Rom in die Geschicke weit entfernter und unter fremder Herr­schaft stehender Gebiete mit Berufung auf ein fides-Verhältnis ein, und das Ergebnis bedeutete stets Krieg.62 Besonders deutlich trat dies im Jahr 264 v. Chr. zutage, als Rom durch seine Intervention in Sizilien den 1. 394

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Römisch-kartha­gischen Krieg einleitete. Als Rom aber zwei Generationen später (218 v. Chr.) erneut einen Krieg gegen Karthago in Kauf nahm, war nicht vor­auszuse­hen, dass wegen der Energie, Zielstrebig­keit und au­ßer­ ordent­li­chen Kapazi­täten Han­nibals ein antiker Weltkrieg daraus werden würde, des­sen Auswirkungen niemand vorausahnen konnte. Dennoch haben die antiken Berichterstatter dieser Vorgänge ein karthagofeindliches Bild der zum Krieg führen­den Kon­fliktla­ge gezeichnet. Wenn man die erhaltenen Aussagen unter­sucht, so gewinnt man zunächst den Eindruck, es hätte sich um die Klärung einer Rechtsfrage gehandelt, nämlich der Ein­haltung beziehungsweise Verletzung von Verträgen, um daran die Frage der Kriegs­ schuld zu messen. In Wirklichkeit ging es um Missgunst, Gier, Angst, Expan­sionsdrang, Autonomie, Land und Herrschaft.63 Das juristische Problem der Verantwortlichkeit am Kriegsaus­bruch war aus der Perspektive des Jahres 218 v. Chr. von unter­geord­neter Bedeutung. Die von unserer Überlieferung betonten Rechts­brüche, der Angriff auf eine mit Rom verbündete Stadt und die Verletzung der Hasdrubal-Vereinbarung, stellen nachträglich ins Spiel gebrachte Argumente dar, um das römische Verhalten zu rech­ tfertigen. Spätestens seit dem Fall Sagunts waren die Römer zum Krieg in Hispanien entschlossen. Dass sie ihn nicht sofort began­nen, hängt mit ihren übrigen auswärtigen Verwicklun­gen zusammen. Hinzu kommt, dass aus der Perspektive der römischen Kriegspropa­ganda die Rache für einen in Not geratenen Ver­bünde­ten ein wirksameres Argument für den Kriegseintritt darstellte, als die Verletzung einer Demarkations­ linie. Die Zuspitzung dieser Situation hat Livius in einem höchst dramatischen, jedoch frei erfundenen Monolog eingefangen, als er den führenden karthagischen Politiker Hanno vor dem Rat seiner Stadt folgende Rede halten lässt: Diesen jungen Mann (Hannibal) aber hasse ich und verabscheue ich wie eine Furie und Fackel eines solchen Krieges. Ich meine, man müsse ihn nicht nur als Sühne für den Vertragsbruch ausliefern, sondern auch, wenn es niemand verlangt, an die äußeren Küsten des Meeres und der Länder schicken. Man müsste ihn an einen Ort bringen, woher uns weder sein Name noch sein Ruf erreichen kann. Dann könnte er den Bestand des Staates in seiner Ruhe nicht mehr stören. Ich stelle also den Antrag, sofort Gesandte nach Rom zu schicken, die dem Senat Genugtuung leisten. Andere Boten sollen Hannibal melden, er möge sein Heer von Sagunt abziehen. Hannibal selbst soll man ­vertragsgemäß den Römern ausliefern.64 Die Szene ist ebenso wie ihre Aussage unhistorisch.65 Dass innenpolitische Rivalitäten bis zum Landesverrat gehen konnten – denn nichts anderes hätte die Auslieferung Hannibals an die Römer bedeutet –, ist eine groteske Ver395

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drehung der Realität. Selbst als Hannibal, der unverrichteter Dinge aus Italien zurückgekehrt war, die Schlacht von Zama verlor, was die Kapitu­lation Karthagos nach sich zog, stand seine Auslieferung nicht zu Debatte. Warum sollte dies eine karthagische Gruppierung vor Kriegsbeginn gefordert haben? Mit der Konstruktion von zwei verfeindeten Parteien innerhalb Karthagos entwarf die römische Kriegspropaganda eine geschickt gesponnene Legende über die Kriegsschuldfrage, die damit Hannibal allein zugeschrieben werden konnte. Wahrscheinlich ging diese Konstruktion eines Dualismus zwischen Barkiden und Karthago auf den römischen Historiker Quintus Fabius Pictor zurück, der sich bemühte, Rom von jeder Schuld am Kriegsausbruch freizusprechen.66 Wenn, wie die romfreundlichen Autoren behaupten, die Stimmung in Karthago geteilt war, so heißt dies nichts anderes, als dass ein signifikanter Teil der karthagischen Bürgerschaft wie die Römer selbst dachte und, um die Krise zu entschärfen, sogar bereit war, den eigentlichen Kriegstreiber, nämlich Hannibal, auszuliefern. Aus derartigen Vorstellungen heraus spricht unverblümt die römische Kriegspropaganda. Dass die tatsächliche Situation anders geartet war, belegt die unvoreingenommene Darstellung der Ereignisse bei Polybios67 sowie der weitere Fortgang des Konfliktes, in dessen Verlauf Hannibal zwei Jahrzehnte lang die bedingungslose Unterstützung seiner Heimatstadt erhielt – und zwar bis zum bitteren Ende. Vergegenwärtigen wir uns den strittigen Sachverhalt: Als die Saguntiner die Turboleten über­fielen, erklärte Hannibal, dass es karthagische Sitte sei, den Bedrängten Unterstützung zu leisten.68 Bevor er gegen Sagunt tätig wurde, holte er sich Instruktionen aus Karthago, und ob­wohl die Anhänger des Hanno gegen Hannibal opponierten (falls am Bericht des Livius etwas dran ist), ließ man ihn nach Gutdünken gewähren. Das Recht stand nicht auf Seiten der Römer, deren Gesandtschaften die Karthager einschüchtern wollten.69 Rom handelte gegenüber Sagunt ebenso, wie Hannibal ge­genüber den verbündeten Turboleten. Obwohl die Römer für sich das Recht für ein derartiges Verhalten in Anspruch nahmen, verwei­gerten sie den Karthagern ein gleiches. Bedenkt man ferner, dass Hannibal mit der Realität der anmaßenden Politik eines uner­bitt­lichen Gegners groß geworden war, so kann man verstehen, dass ein Nachgeben für ihn nicht in Frage kam. Die römischen Einmi­schungen in Hispanien ließen für die Zukunft wenig Gutes erwar­ten. Daher war für Kart­hago das Risiko eines Krieges das kleine­re Übel – geringer jedenfalls als ein aus seiner Sicht fauler Kompromiss, der früher oder später ebenfalls zum Krieg geführt hätte und zwar dann, wenn es den Römern opportun erschienen wäre. In einer Rede, die Hannibal vor seinen Soldaten hielt, als der Krieg schon begonnen hatte, und die interessanterweise 396

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vom römi­schen Historiker Livius überliefert wird, rechnet er mit Rom ab: Dieses höchst unmenschliche und hoch­müti­ge Volk will überall besitzen, überall entscheiden. Immer maß es sich die Entscheidung an, mit wem wir Krieg führen, mit wem wir Frieden haben sollen. Es engt und schließt uns in Grenzen von Bergen und Flüssen ein, die wir nicht verlassen dürfen; und selbst achtet es die Grenzen nicht, die es setzte.70 Spätestens als der Konflikt mit Rom seinen Siedepunkt er­reichte, fing Hannibal an, sich auf den unvermeidlichen Krieg vorzuberei­ten.71 Die Vorund Nachteile der kriegführenden Partei­en hielten sich die Waage. Für Rom sprach das größere Bevölke­rungs­potenzi­al, das es in die Lage versetzte, gewaltige Heeres­ver­bände auf­zustellen.72 Ferner besaß es, nach der Ausliefe­rung der karthagi­schen Flotte am Ende des vergangenen Krieges, die un­be­strittene Seeherrschaft. Schließlich gebot die Stadt über die italische Bundes­genossenschaft, was ihre Wehrkraft zusätz­lich steigerte. Als Vorteil für Karthago könnte sich, wenn dies ge­schickt ausge­nutzt würde, die geographische Zersplitterung in den Zielgebieten römi­scher Außen­poli­tik erweisen. Die römische Intervention in Illy­rien zog die Feindschaft Makedoniens nach sich. Bei der Provin­zialisierung Siziliens war die Rolle von Syrakus unge­klärt. Die keltischen Völker Oberitaliens bedeuteten nach wie vor eine Bedrohung für Rom. Wenn es gelänge, diese po­tenziellen Konflikt­herde zum Nutzen Karthagos zu aktivieren, so wäre Rom massiv unter Druck geraten. Was sicher als Gedan­ken­spiel begann, das in Hanni­bals Kalkül gut passte, sollte immer deutli­cher das Haup­tthema seiner künftigen diploma­ tischen Bemü­hungen werden. Die Realisierung einer mittelmeer­umspannen­ den antirömischen Alli­anz bildete von nun an ein Postu­lat der karthagi­schen Staatskunst. Die stärkste Waffe für eine Auseinandersetzung mit Rom – darüber bestand für Hannibal kein Zweifel – war das Vertrauen auf die eigene Kraft. Alles kam auf die Leistungsfähigkeit seines Heeres an. Hannibal war von dessen Zuverlässigkeit überzeugt. Seine karthagi­schen, numidischen und hispanischen Elitetruppen waren ihm ganz ergeben.  Jahrelang hatte er sie erprobt und gedrillt. Die his­panische Infanterie war der römischen ebenbürtig, der numidi­schen Kavallerie hatten die Römer wenig entgegenzusetzen. Auch die karthagischen Kriegselefanten konnten von Bedeu­tung sein, vorausgesetzt, sie überstanden den überaus langen und be­schwerlichen Weg. Schon vor Ausbruch des Krieges unterhielten die Römer Agenten in Hispanien, um über Absichten und Truppenbewegungen des Gegners auf dem Laufenden zu sein. Sagunt und Massalia dürften hierbei eine wichtige Rolle gespielt haben. Auf der anderen Seite wusste Hannibal über die Stimmung in 397

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Italien gut Bescheid. Er zog aus der Beobachtung der militärischen Aktionen der Römer wertvolle Lehren. Seit geraumer Zeit unterrichteten ihn Kundschafter über die römischen Operationen gegen die Keltenstämme Oberitaliens (225–222 v. Chr.), woraus er Rückschlüsse auf den aktu­ellen Zustand der römischen Armee zog.73 Um das erdrücken­de Überge­wicht der römischen Fußtruppen, das auf Kosten einer Ver­nachläs­sigung der Reiterei zustande kam, auszugleichen, stä­rkte er die eigene Kavallerie und machte sie zu seiner wirksamsten Waffe.74 In Rom war die gegen Hannibal gerichtete Eindämmungsstrategie nicht unumstritten.75 Einige Senatoren mahnten zur Vor­sicht. Der Gruppe um Quintus Fabius Maximus erschien die Rechtsgrund­lage der Kriegs­erklärung fragwürdig; außerdem scheute sie sich vor einem erneu­ten Krieg mit Karthago und erachtete den harten Kon­fronta­tions­kurs, den die Cornelier und Aemilier verfolgten, als zu riskant.76 Aber auch in Karthago gab es warnende Stimmen: Der ent­schlossene politische Kurs der Barkiden war den Kreisen um Hanno schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Zweifel­los hätten sie eine Verständigung mit Rom vorgezogen. Nur war diese mitt­lerweile illusorisch geworden. Die Interessenkolli­sion, die durch den römischen Weltmachtanspruch einerseits und die Dynamik der barki­dischen Hispanien­ politik andererseits entstanden war, hatte die Reizschwelle einer drohenden bewaffneten Auseinandersetzung sinken lassen. Der offensive Zug, der den römischen Interventio­nen in Hispanien zu eigen war, erwies sich als Einbahnstraße in den Krieg. Zwar empfanden die Römer keine direkte Bedrohung ihrer Interessen, doch sahen sie im barkidischen Hispanien eine Machtbasis, die eine Neuauflage der traditionel­len karthagischen Überseepolitik ermöglichen konnte. So beweist die römische Krie­gserklärung an Karthago, wie sehr noch die Erinne­rung an den 1. Römisch-kartha­gischen Krieg nachwirkte, wie über­trieben hoch die Römer ihr Sicherheitsbedürfnis bewerteten und wie wenig sie im Gegenzug bereit waren, jede Form von frem­dem Machtgewinn zu tolerieren. Diese Stimmung wird von Polybios eingefangen, der die Darstellung des letzten Aktes vor Ausbruch der Feindseligkeiten mit der theatralisch anmutenden Szene der Kriegserklärung durch eine römische Senatsdelegation in Karthago (Frühjahr 218 v.  Chr.) abschließt: Die römischen Gesandten erwiderten auf die Verteidigung der Karthager weiter nichts, sondern der älteste von ihnen zeigte den Mitgliedern des karthagischen Rats den Bausch seiner Toga und sagte, er habe darin für sie sowohl Krieg wie Frieden; er werde ihnen ausschütten und dalassen, was sie haben wollen. Der Sufet der Karthager hieß sie ausschütten, was sie selbst für gut befänden. Als der Römer erklärte, er schütte den Krieg aus, da riefen meh398

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rere zugleich aus dem Rat, sie nähmen ihn an. Damit gingen die Gesandten und der Rat auseinander.77 Es ist zu vermuten, dass beide Kontrahenten in der Hoffnung, sich durchzusetzen, die Kriegserklärung als kalkulierbares Risiko in Kauf nahmen. Doch was dann geschah, sollte nicht nur die Maßstäbe bisheriger Kriegführung sprengen, sondern auch alle Prognosen und Erwartungen widerlegen. Die Explosivität des nun ausgebrochenen Krieges konnte im Frühjahr des Jahres 218 v. Chr. wohl niemand erahnen.78

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en Reformen des Tiberius Sempronius Gracchus ging eine traumatische Erfahrung voraus: Roms skandalöse Niederlage vor dem hispanischen Städtchen Numantia, das zum wiederholten Male die römischen Legionen an den Rand der Verzweiflung gebracht hatte. Was war geschehen? Einen ganzen Tag stand der ehemalige römische Consul Gaius Hostilius Mancinus splitternackt vor der unbezwingbaren Stadt, bat um Einlass, der aber verweigert wurde. Dieser war vom römischen Senat der feindlichen Stadt ausgeliefert worden, damit er gegen den Einsatz seines Lebens die Kapitulation, die er, um sein bedrängtes Heer retten zu können, mit den Numantinern vereinbart hatte, unwirksam machen sollte.79 Tiberius Gracchus war als Mitglied des Stabes des unglücklichen Mancinus dabei gewesen. Er war mitverantwortlich am Zustandekommen dieser aus römischer Sicht völlig untragbaren Abmachung. Sich und seine Heimat vom Makel der Demütigung zu befreien, bildete von nun an einen Schwerpunkt seiner politischen Tätigkeit.80 In Rom angekommen, ließ sich Gracchus zum Volkstribun wählen. Er wollte durch Erhöhung der militärischen Schlagkraft der römischen Waffen eine Wiederholung der numantinischen Episode verhindern und damit verbunden eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der ärmeren Bürger erreichen, die für die Rekrutierung der Legionen unverzichtbar waren. In einer von Plutarch überlieferten Redepassage soll der Volkstribun die sozialen Missstände beklagt und zur Lage der am Rande der Gesellschaft stehenden Unterschichten folgendes geäußert haben: Die wilden Tiere, die in Italien hausen, haben ihre Gruben; jedes von ihnen weiß seine Lagerstätte, seinen Schlupfwinkel. Nur die, welche für Italien kämpfen und sterben, können auf weiter nichts als Luft und Licht rechnen; unstet, ohne Haus und Wohnsitz, müssen sie mit Weibern und Kindern im Lande herumstreichen. Die Feldherren lügen, wenn sie in Schlachten die Soldaten ermuntern, ihre Grabmäler und Heiligtümer gegen die Feinde zu verteidigen; denn von so vielen Römern hat keiner einen väterlichen Herd, keiner eine Grabstätte seiner Vorfahren aufzuweisen. Nur für die Üppigkeit und den Reichtum anderer müssen sie ihr Blut 400

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vergießen und sterben. Sie heißen Herren der Welt, in Wirklichkeit aber können sie keine einzige Erdscholle ihr Eigentum nennen.81 Die sichtbar vorhandenen Anzeichen einer gestörten sozialen Symmetrie innerhalb der römischen Gesellschaft sollten durch tiefgreifende Reformen, so Gracchus Absicht, eine entscheidende Korrektur erfahren. Doch gegen jede Erwartung sollte das Jahr 133 v. Chr. für die Nobili­tät zum Schlüsselerleb­nis werden. Der Volkstribun Tiberius Sempronius Gracchus, ein Mitglied aus einer der vornehmsten Familien Roms, versuchte, durch eine an sich moderate Bodenre­form (lex agraria) der Landflucht und Proletarisierung der Kleinbauern wirksam zu begegnen.82 Ein anderer Tribun verhinderte kraft seines Vetos die Annahme des Gesetzes, woraufhin beide Kontrahenten an den Senat appellierten. Wen auch immer der Senat favori­siert hätte, die auctoritas patrum hätte es dem Unterlegenen gestattet, ohne Gesichtsverlust bei der Verwirklichung seines Vorhabens nachzugeben. Doch der Senat fand zu keinem Konsens. Er entschied weder für noch gegen Tiberius Gracchus. Und somit scheiterte dieser paradoxerweise an der Unfähigkeit seiner Standesgenossen, sprich des Senates, sein Vorhaben zu fördern beziehungsweise zu unterbinden. Tiberius Gracchus wie auch sein Widersa­cher standen bei ihren Anhängern und Hintermännern im Wort. Ein Rückzie­her ohne die Rückendeckung des Senates hätte für jeden den Verlust seiner dignitas und das Ende der politischen Laufbahn bedeutet. In dieser verzwickten Lage bot sich Tiberius Gracchus ein Ausweg, der jedoch die größten Gefahren in sich barg: Seine Gesetzesinitiative sollte unter Umgehung des Senates von der Volksversammlung in Kraft gesetzt werden, was zwar ungewöhnlich, aber dennoch verfassungskonform war; denn die Beschlüsse des concilium plebis galten seit der lex Hortensia des Jahres 287 v.  Chr. als bindend für die gesamte Bürgerschaft. Doch weil dies so gut wie nie vorkam, wurden vor allem die politischen Implikationen eines derartigen Vorgehens befürchtet: Alle Besitzlosen, welche die Versammlung der Plebs majorisierten, also die vermeintlichen Nutz­nießer seiner Agrargesetzgebung, wären Tiberius Gracchus stark verpflich­tet gewesen. Bei A ­ nnahme seines Gesetzes würde er sich zu einem über­mächtigen Patron der stadtrömischen Plebs verwandeln und damit dem Senat zu­mindest vorübergehend einen Teil seiner traditionellen Herr­schaftsgrundlage entziehen. Gestützt auf eine von ihm kontrollier­te Volksversammlung setzte Tiberius den opponierenden Tribun Octavius ab, brachte anschließend seine Gesetzes­vorschläge durch und über­nahm dadurch de facto die Regierungs­ gewalt. Die ­Senatsnobilität hatte versäumt, von der auctoritas Gebrauch zu machen – ein verhängnisvoller Fehler, der sie der Herrschaft eines Einzelnen aus­lieferte. Ein aristokratisches Trauma schien Wirklichkeit zu werden: Einer 401

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aus der Mitte der Führungsschicht drohte, sich zum Herrscher über seine Standesgenossen aufzu­werfen. Aufgehetzt von Publius Cornelius Scipio Nasica, einem Verwandten des Tiberius – denn die Consuln hatten sich geweigert, gegen Tiberius Gracchus vorzugehen –, stürmten zahlreiche Senatoren das Capitol und erschlugen ihn, inmitten einer Versammlung, bei der er sich für das kommende Jahr wiederwählen lassen wollte. Mit der Ermordung des Tiberius Gracchus wurden gleich mehrere schwerwiegende Tabubrüche begangen, die das Fundament der römischen Verfassung erschütterten. Einmal traf die tumultuarische Hinrichtung einen mit dem Nimbus der sacrosanctitas (Unverletztbarkeit) versehenen Vertreter des Volkes. Zudem spielte sich die Gewaltorgie innerhalb der entmilitarisierten Stadtmauern ab. Ferner gab es weder ein Gerichtsverfahren, noch lag eine rechtsgültige Verurteilung des angefeindeten Volkstribunen vor, die eine solche Notmaßnahme abgedeckt hätte. Damit erreichte die ungezügelte Gewalt einer privaten Gruppe als Mittel der Politik einen unrühmlichen Höhepunkt. Im Jahr 124 v. Chr. erhielt die gracchische Politik einen neuen Auftrieb, als Gaius Sempronius Grac­chus, der jüngere Bruder des Tiberius, zum Volks­tribun gewählt wurde. Einen Schwerpunkt seiner ungewöhnlich umfangreichen Gesetzes­ tätigkeit bildete die Sozialpolitik.83 Ein Ackergesetz nach dem Vorbild seines Bruders Tiberius (lex agraria) sowie ein Gesetz für Getreidespenden an die stadtrömische Plebs (lex frumentaria) hatten eine Besserung der wirtschaftlichen Verhält­nisse breiter Bevölkerungsschichten zum Ziel. Von größter Tragweite war seine mit Unterstützung des Ritterstandes gegen die Senatoren durchgesetzte Änderung der Gerichtshöfe (lex iudiciaria), die den Rittern die Geschworenengerichte, die vorher ausschließlich in den Händen des Senates gewesen waren, übertrug und so eine bisher ungekannte Riva­lität zwischen den zwei höchsten Ständen der Gesellschaft erzeugte. Mit Gaius Gracchus fand der Ritterstand, ordo equester, der bislang wenig politische Ambitio­nen gezeigt hatte, Eingang in das Getriebe der ­römischen Tagespo­litik. Besonders durch die Ausübung der Repetunden­ gerichtsbarkeit erlangten die Ritter die Kontrolle über die Tätigkeit der senatori­schen Provinzstatthalter. Aber nicht nur politisch, sondern auch ­gesellschaftlich erfuhren sie eine gewichtige Aufwertung, die etwa durch die Zuerkennung von besonderen Sitzplätzen im Theater (eine Ehre, die bis dahin nur Senatoren zustand) augenfällig wurde. Als zweite gesellschaftliche Kraft im Staate verlangten die ehrgeizigen Ritter  – das war allerdings nur eine Minderheit des mehrheitlich von Grundbesitzern geprägten Ritterstandes, die in den Steuerpachtgesellschaften der publica­ni ihre Machtbasis hatte – Mitwirkung bei der Leitung der Regierungsgeschäfte. Der Ritter­stand 402

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konnte sich zu einem konstituierenden Faktor der stadtrömischen Politik entwickeln, mit dem man von nun an rechnen musste. Doch die Interessengemeinschaft zwischen Gaius Gracchus und den Rit­tern zerfiel bereits bei der Bürgerrechtsfrage. Der in seinem zwei­ten Tribunat eingebrachte Ge­ setzesantrag zugunsten der Auswei­tung des römischen Bürgerrechts (civitas Romana) auf die italischen Bundesgenossen brachte Gaius Gracchus ins ­politische Abseits, und so konnte er von seinen politischen Gegnern ausmanövriert werden. Weder der Senat noch die Plebs, seine traditionelle Klientel, fan­den an dieser Aktion besonderen Gefallen. Gaius Gracchus wurde für das folgende Jahr nicht wie­dergewählt. Damit waren sein Reformprogramm und seine Karriere beendet. Mit Rückendeckung des Senates erklärte der Consul Lucius Opimius den Ausnahmezustand (senatus consultum ultimum) und wandte damit erstmalig ein gegen Unruhestifter, denen die Möglichkeit der Appellation an das Volk verweigert wurde, gerichtetes, gewaltsames Verfahren an, das durch die Berufung auf den Staatsnotstand die Verfassung außer Kraft setzte. Über die Gesetzmäßigkeit dieser die Souveränitätsrechte des populus Romanus usurpierenden Handlungsweise gingen die Meinungen heftig auseinander.84 Wie schon sein Bruder Tiberius fand auch Gaius innerhalb der Stadtmauern einen gewaltsamen Tod. Eine paradigmatische Erkenntnis lieferte jedoch das tragische Schicksal der aus den höchsten Kreisen der römischen Nobilität stammenden Volkstribunen: Der bis dahin geltende politische Konsens innerhalb der Führungsschichten, der in der Vergangenheit trotz Krisen zahlreiche Bewährungsproben bestanden hatte, war aufgrund der Auseinandersetzungen im Gefolge der Ermordung der gracchischen Brüder mehr als brüchig geworden. Von nun an war Gewalt ein probates Mittel und eine feste Größe im politischen Machtkampf der konkurrierenden Eliten um die Führung der römischen Repu­blik.

Marius und Sulla Sulla, der die Tyrannei und Anarchie mit der Freiheit vermengte, erließ die Cornelischen Gesetze. Seine Vorschriften schienen nur dazu zu dienen, die Verbrechen wieder einzuführen. Indem er so eine Unmenge von Handlungen als Mord bezeichnete, fand er überall Mörder, und durch ein nur zu gern befolgtes Verfahren legte er allen Bürgern Schlingen, säte Dornen oder eröffnete Fallgruben auf ihrem Weg. (Montesquieu, Vom Geist der Gesetze)

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Die Beseitigung der Gracchen brachte keine Lösung der anstehenden Probleme der angeschlagenen römischen Repu­blik, denn die Proletarisierung der mittleren und unteren Schichten schritt weiter voran und es wurde zunehmend schwierig, angesichts der auswuchernden italischen Latifundienwirtschaft, Legionäre (als typische Vertreter der landbesitzenden Mittelschicht) für das römische Heer zu rekrutieren. Im Streit um einen Ausweg aus der verfahrenen Lage bildeten sich zwei Senatsgruppierungen heraus, die unterschiedliche Zielsetzungen verkörperten. Zahlreiche nobiles bestanden auf der Unveränderbarkeit des Status quo, das heißt der Beibehaltung einer uneingeschränkten Senatsherrschaft, die ihren prominenten Status innerhalb der Gesellschaft und zugleich ihre Machtausübung garantierte. Sie bezeichneten sich selbst als boni (die Guten) oder optimates (die Besten). Ihre senatorischen Gegner nannten sie populares (die Volkstüm­ lichen), weil sie mithilfe der Comitien ihre Anliegen und Reformen durchsetzen wollten, notfalls gegen den erklärten Willen mächtiger Senatsgruppierungen. Gaius Marius, ein homo novus, der mit Unterstützung des Ritterstandes und der Volksversammlung das Consulat und die Kriegführung gegen Jugurtha in Afrika übertragen bekam, wurde aufgrund seiner politischen Orientierung und seiner Erfolge zum Symbol der popularen Politik.85 Die nach ihm benann­te Heeresre­form veränderte die Struktur der römischen Militärverfassung grundlegend. Er fing als erster Feldherr an, Besitzlose (Proletarier) für die Legionen auszuheben; denn durch die Auszehrung des bäuerlichen Mittelstandes standen kaum Truppen zur Verfügung, um den wachsenden Personalbedarf der imperialen römischen Außenpolitik zu befriedigen. Dieser weitgehende Eingriff in die Sozial- und Militärverfassung hatte zur Folge, dass sich eine Nahbeziehung (Klientel) zwi­schen kommandierenden Befehlshabern und den von ihnen abhängigen Truppen entwi­ ckel­te, für die sie sich als Patro­ne um eine gesicherte wirtschaftliche Existenz nach der Dienstzeit bemühten, etwa durch Veteranenansiedlungen. Nach skandalö­sen Beste­chungsaffären (Aulus Postumius Albinus: Jugurt­ha) und Niederlagen römischer Armeen, die von Vertretern der optimatisch gesinnten Kreise der Senatsaristokratie verschuldet worden waren (Gnaeus Servilius Caepio: Arausio) konn­ten Marius und die um ihn gescharte populare Gruppierung die seit den Gracchen verloren gegangene politische Initiative wiedererlan­gen. Das Vehikel dazu boten die sieben von Marius teilweise ohne Iteration beklei­deten Consula­te, die den tüchtigen Feldherrn an die Spitze der Exekutive brachten. In die Annalen Roms ist Marius aber wegen seiner spektakulären Siege über die germanischen Kimbern an der 404

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Rhônemündung (102 v. Chr. bei Aquae Sextiae) und die Teutonen in Oberitalien (101 v. Chr. bei Vercellae) eingegangen, wofür ihn die dankbare Bevölkerung als dritten Gründer Roms feierte.86 Doch den nach der Beseitigung der Germanenbedrohung neu entfachten innenpolitischen Umtrieben der radikali­sierten Popularen (Lucius Appuleius Saturninus, Gaius Servilius Glaucia) und der geschlossen dagegen opponierenden Senats­mehrheit, die sich in­zwi­schen der Unterstützung großer Teile des Ritterstandes ver­sichert hatte, vermochte Marius nicht standzuhalten. Seine unent­schlossene Haltung brachte ihn zu Fall und machte dadurch die Bahn frei für eine optimatische Reaktion. In dieser Zeit des machtpolitischen Ringens zwischen optimatischen und popularen Machtgruppen erschütterte eine Rebellion der Bundesgenossen den Bestand der römischen Dominanz auf der italischen Halbinsel. Auslöser war der gescheiterte Antrag des Volkstribunen Marcus Livius Drusus, den Italikern das römische Bürgerrecht zu verleihen (91 v.  Chr.). Nach einem verlustreichen Krieg, der beinahe verloren worden wäre, konnten sich die Römer jedoch schließlich durch Aufbietung aller Kräfte durchsetzen. Sie versuchten mit Konzessionen die aufgeladene Stimmung in Italien zu entschärfen. Im Jahr 90 v. Chr. gewährte man den am Aufstand Unbeteiligten das römische Bürgerrecht (lex Julia de civitate amicis et sociis populi Romani danda), ein Jahr später dehnte man es auf alle Italiker aus (lex Plautia-Papiria). Damit wurde Rom faktisch ein Territorialstaat, dessen Bürgerschaft die gesamte italische Halbinsel südlich des Po umfasste. Kaum war der Bundesgenossenkrieg überstanden, loderten die innenpolitischen Machtkämpfe wieder auf. Der Volkstribun Publius Sulpicius Rufus nahm sich der noch ausstehenden Integration der Italiker in den römischen Staatsverband an, indem er die gleichmäßige Einschreibung der Neubürger in die 35 Stimmbezirke (Tribus) Roms forderte. Seine optimatischen Gegner dagegen versuchten sämtliche Italiker in die vier städtischen Tribus einzuschreiben, um so ihr politisches Gewicht zu schmälern. Als Sprecher der ­optimatischen Senatskreise lehnte Lucius Cornelius Sulla, der Consul des Jahres 88 v. Chr., den Vorstoß des Sulpicius ab und versuchte, die Abstimmung zu verhindern, was ihm jedoch misslang. Sulpicius enthob mittels eines Plebiszits daraufhin Sulla vom Oberbefehl im Krieg gegen Mithridates und übertrug diese Aufgabe stattdessen an Marius, der trotz seines Alters nach wie vor als gefeierter Feldherr galt. Doch Sullas Reaktion auf seine ungewöhnliche Absetzung war so spektakulär wie gesetzeswidrig: Er begab sich zu dem in Nola versammelten Heer und versicherte sich der Unterstützung der Legionen, die damit rechnen mussten, unter Marius’ Führung nicht am 405

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beuteträchtigen Feldzug teilnehmen zu können. Sulla gelang es, die Truppen für sich einzunehmen und zum Marsch nach Rom zu bewegen, was nichts anderes als die Inszenierung eines Staatsstreiches bedeutete. Der Tabubruch, dass ein Consul gegen Rom zog, konnte nur notdürftig durch legalistische Argumente propagandistisch überdeckt werden. Die entmilitarisierte Stadt wurde nach kurzem Kampf durch die Putschisten eingenommen. Marius musste fliehen. Sulpicius wurde kurz darauf getötet. Jetzt zeigte sich aber, dass die sullanischen Truppen die politischen Interessen ihres Befehlshabers nicht vollständig teilten, sondern auf einen schnellen Aufbruch nach Kleinasien drängten. Sulla blieb somit nur wenig Zeit, seine Macht durch Gesetzesänderungen zugunsten der optimatischen Senatsgruppe und durch Festnahmen sowie Hinrichtungen seiner Widersacher zu festigen. Danach machte sich Sulla eilends in den Osten auf, um Mithridates in die Schranken zu weisen. Doch die Wahl seines erklärten Gegners Lucius Cornelius Cinna zum Consul für das Jahr 87 v. Chr. machte bereits deutlich, dass der Frieden nicht von langer Dauer sein würde.87 Als Sulla Rom einnahm und die bewaffnete Macht zur Beseitigung der politischen Gegner rücksichtslos einsetzte, erhielt das Herr­schaftsgebäude der Nobilität einen tiefen Riss, von dem es sich nie wieder erholen würde. In einem Gemeinwesen, das keine Trennung zwischen militärischer und ziviler Gewalt kannte, in dem Politiker zugleich Heerführer und Heer­ führer auch zivile Amtsträger waren, stellte der Oberbefehl auf den bedeutenden Kriegsschauplätzen von jeher ein Politikum dar. Jetzt wurde er zu einer Existenzfrage der regierenden Oligarchie. Der Staatsmann, der erfolg­ reich mit seinen Legionen im Auftrag seines Landes Krieg führte, dem die gesamten finan­ziellen Ressourcen und Klientelbindungen der ihm unterstellten Provinzen zur Verfügung standen, der durch seine Tätigkeit die Herrschaft des römischen Volkes festigte und seinen Machtbereich erweiterte und so einen Beitrag zur Stärkung der res publica leistete, konnte nun aufgrund seiner Machtfülle, Popularität und seines Erfolges zu einem Si­ cherheitsrisiko werden. Dies verdeutlicht die weitere Laufbahn des aus dem Osten heimkehrenden Sulla, die zwischen Staatsstreich und Restauration hin und her pendelte, wie es auch eine Generation später das Verhalten Caesars zeigen wird. Nach Beendigung des Mithridatischen Krieges, der allerdings mehr vertagt als definitiv beigelegt werden konnte, betrat Sulla an der Spitze seiner Armee italischen Boden. Er rechnete mit seinen Gegnern ab, indem er die berüchtigten Proskriptionen erließ, womit missliebige Opponenten kurzerhand ohne Gerichtsurteile und unter Missachtung der eingespielten 406

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­ egeln der Appellation an das Volk eliminiert werden konnten. Dieser R Sündenfall brachte die innenpolitischen Kräfteverhältnisse der Repu­blik ins Wanken. Eine bis dahin ungekannte Form staatlich sanktionierten Terrors hielt Einzug in Rom. Der Senat ernannte Sulla zum Diktator ohne Zeitbegrenzung (82 v. Chr.) mit der Aufgabe, die Verfassung der Repu­blik (dictator rei publicae constituendae) durch eine umfangreiche gesetzgeberische Tätigkeit neu zu ordnen.88 Die sullanischen Reformen sind aber in den Quellen nur unzureichend dokumentiert und in ihrer Wirkung meist schon nach einigen Jahren in bedeutenden Einzelmaßnahmen revidiert worden. Sullas Ziel war es, die Herrschaft der optimatischen Senatsgruppe dauerhaft zu sichern. An erster Stelle stand die Einschränkung der Befugnisse der Volkstribune. Ihr Vetorecht erfuhr eine Beschneidung, ferner wurde ihnen die Bekleidung weiterer Ämter verwehrt. Auch deren Beschlussvorlagen mussten in Zukunft erst dem Senat zur Zustimmung vorgelegt werden. In der Rechtsprechung fand ein Ausbau der sieben ständigen Geschworenengerichte statt, die unter Vorsitz eines Prätors für jeweils eine bestimmte Straftat zuständig waren. Damit wurde die Übergabe dieser Gerichte an die Ritter durch Gaius Gracchus rückgängig gemacht. Die Volksgerichte erwiesen sich somit als überflüssig, was zwar die Effizienz der Gerichtsbarkeit steigerte, dem Volk jedoch ein wichtiges politisches Recht nahm und den Popularen weiteren politischen Spielraum raubte. Der Senat verdoppelte sich um 300 auf 600 Mitglieder. Die neuen Ratsherren kamen aus dem Ritterstand und blieben Sulla verbunden. Ein weiteres Interesse Sullas galt der Neugestaltung der Magistratur, indem die höchsten Amtsträger des Staates an Machtfülle verloren und Mindestaltersregelungen sowie Wiederwahlbeschränkungen erlassen wurden. Ihre Zahl erhöhte sich auf zehn: zwei Consuln und acht Prätoren. Erst im Anschluss an dieses ordentliche Amt verwalteten sie als Promagistrate  – pro consule und pro praetore  – für ein Jahr die Provinzen. Durch die Trennung des ordent­ lichen, zivilen Amtes von der Verwaltung der Provinzen, was die militärische Kommandogewalt einschloss, sollte die Entmilitarisierung Italiens gewährleistet werden. Um auch in den Provinzen gefährliche Machtkonzentrationen einzelner Statthalter zu vermeiden, wurden ferner die wichtigsten Heeresverbände auf alle Promagistrate verteilt. Mit Sullas Reformen war die repu­blikanische Verfassung im optimatischen Sinne mit diktatorischen Mitteln umgestaltet worden, um die brüchige Senatsregierung zu festigen. Verhängnisvoll daran war allerdings, dass der Retter des Systems der traditionellen Adelsherrschaft als Autokrat auftrat 407

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und somit zur Nachahmung anregte. Vor allem das Odium der Proskriptionen sowie die unpopuläre Entmachtung des Volkstribunats brachte die sullanische Neuordnung in Misskredit. Wie lange sie Bestand haben würde, hing von der Haltung ihrer Anhänger, den noch vorhandenen Gegnern und vor allem von der weiteren imperialen Entwicklung Roms ab. Denn Sulla legte zur Überraschung aller die Diktatur nieder, zog sich ins Privatleben zurück und starb kurz darauf (78 v. Chr.). Es gehört zu den Paradoxien dieser Epoche, dass Sullas scharfer Kritiker Gaius Julius Caesar, ein Verwandter und Sympathisant des Marius, der ihn wegen seines freiwilligen Rückzuges aus der Regierung einen politischen Analphabeten nannte, sich zu seinem gelehrigen Schüler entwickeln sollte.89

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6 Geld und Krieg Zur Finanzierung des 2. Römisch-karthagischen Krieges

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ür die Frage der Finanzierung des 2. Römisch-karthagischen Krieges ist das Ausgreifen Karthagos auf die Iberische Halbinsel von entscheidender Bedeutung gewesen. Seit die Barkiden dort Fuß fassen konnten (237 v. Chr.), hatten sich die Machtmittel der nordafrikanischen Metropole stän­dig vermehrt. Die Zahl der Verbündeten stieg beträchtlich (Edetaner, Ilergeten, Turboleten, Carpetaner), und das Heer erreichte einen hohen Lei­stungs­ stand. Ein intensiver Handel mit hispanischen Erzeugnissen wie Öl, Getreide, Spartgras, Fischkonserven, Holz und Wolle füllte die Kassen der ­Karthager. Die in Cartagena gehorteten Mengen an Edelmetallen, die Waffen­ arsenale und Werften, die mit allerlei Vorräten und Rohstoffen gefüllten Lagerhäuser und die vielen Geiseln, welche die Konformität der iberischen Stämme mit der Herrschaft der Karthager gewährleisteten, ergaben den sichtbarsten Beweis für die wachsende Prosperität des hispanischen Herrschaftsgebietes Karthagos.90 Hinzu kam die systematische Ausbeutung der reichlich vorhandenen Bodenschätze des südhispanischen Raumes ­(Silber, Kupfer, Eisenerz, Blei), deren Lagerstätten in den Regionen von Riotinto, Huelva, Sierra Morena, Castulo, Cartagena und Sierra Almagrera lagen. Allein die Mine von Baebelo brachte dem karthagischen Fiskus einen täglichen Er­trag von 300 Pfund Silber. Wie die Eigentumsverhältnisse an den Bergwerken geregelt waren, bleibt unklar. Möglicherweise erhielten die Einheimischen eine Pacht für ihre Nutzung, vielleicht wurden die Bergwerke aber auch annektiert. Jedenfalls scheint unter den Barkiden – anders als zur Römerzeit, als sich private Kapitalgeber an der Ausbeutung beteiligten – die Ausschöpfung der Metallvorkommen als staatliches Monopol organisiert worden zu sein, da die Erträge in die karthagische Staatskasse flossen.91 Vor allem aufgrund der enormen Produktivität der südhispanischen Silberminen war Karthago nach dem verlorenen 1. Römisch-karthagischen Krieg erneut zu einem Macht­faktor im westlichen Mittelmeerraum aufgestiegen und damit in die Lage versetzt worden, ein umfangreiches Heer zu unterhalten und eine ausgreifende Außenpolitik zu verfolgen, was letztlich die Ursache für den 2. Römisch-karthagischen Krieg sein wird. 409

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Neben der Rekrutierung von Verbündeten beruhte die von Hannibal im Einverständnis mit der karthagischen Regierung entworfene Kriegsstrategie auf zwei Voraussetzungen: Es war einerseits unumgänglich, dass militärische Fortschritte auf italischem Boden erzielt werden mussten, um sowohl das Militärpotential als auch die Aufmerksamkeit Roms dorthin zu lenken und zu binden. Andererseits musste der Geld- und Versorgungsfluss aus den ­hispanischen Machtbasen reibungslos funktionieren, um die Staatskasse ­Karthagos mit flüssigen Geldmitteln zu versorgen und die Italienarmee einsatzfähig zu halten. Damit dies alles geschah, durfte die Ausbeutung der hispanischen Bergwerke auf keinen Fall unterbrochen werden, weswegen Hannibals Bruder Hasdrubal mit genügend Truppen in Iberien verblieb, um den ungestörten Abbau der kriegswichtigen Rohstoffe zu ermöglichen und zugleich den Nachschub zu organisieren, nachdem Hannibal mit der Hauptmacht nach Italien aufgebrochen war.92 Aus der Zusammenschau der zerstreuten Auskünfte der einschlägigen antiken Autoren wie Polybios, Strabo, Livius und Plinius bezüglich der Bereitstellung der iberischen Ressourcen lässt sich in groben Zügen berechnen, welche Machtmittel den Karthagern für die Führung des Krieges gegen Rom zur Verfügung standen. Allein die Bergbaugebiete Südhispaniens, nämlich die Regionen um Cartagena und Baebelo, ohne das Bergbaugebiet um Huelva zu berücksichtigen, warfen einen jährlichen Ertrag von etwa 46 Tonnen Silber ab, was etwa 10 Millionen Denaren entsprach. Die Gesamtkosten des in Hispanien aufgestellten karthagischen Heeres (Waffen, Schiffe, Kriegsgerät, Verpflegung, Sold), das maximal 60 000 Mann umfasste, beliefen sich auf dem Höhepunkt der Mobilmachung kurz vor Kriegsbeginn auf etwa 9,5 Millionen Denare jährlich, den Gegenwert von 44 Tonnen Silber. Folglich reichte die Produktion der hispanischen Minen gut aus, um sowohl den Unterhalt der Italienarmee Hannibals als auch die Versorgung der in Iberien verbliebenen Truppen zu gewährleisten. Eventuelle Überschüsse dürften nach Karthago als Beitrag zur Gesamtfinanzierung des Krieges transferiert worden sein93, um damit die sizilischen und sardischen Expeditionen zu finanzieren. Daraus wird ersichtlich, dass die Fortführung der militärischen Operationen der Karthager vom reibungslosen Betrieb der hispanischen Bergwerke abhängig war. Sie bildeten die tragende Säule der karthagischen Kriegswirtschaft. Die andere Nachschubbasis, die Stadt Karthago selbst, hatte dafür zu sorgen, dass die Militäreinsätze in den verschiedenen Kriegsschauplätzen koordiniert wurden und dass auf dem Seeweg die logistische Unterstützung der außerhalb Nordafrikas operierenden Armeen und Flotten erfolgte. Um diese Vorgaben zu erfüllen, konnte Karthago auf die Überschüsse aus den hispa410

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nischen Bergwerken sowie auf die reichen Agrarressourcen Nordafrikas zurückgreifen. Letztere dürfen keineswegs unterschätzt werden, wie die Situation verdeutlicht, die sich am Ende des verlorenen 2. Römisch-karthagischen Krieges ergab: Obwohl damals der ökonomische Aktionsradius Karthagos auf Nordafrika beschränkt blieb, war die besiegte Stadt binnen kurzer Zeit in der Lage, die erdrückend hohen römischen Reparationszahlungen zu begleichen. Es handelte sich dabei immerhin um die beachtliche Summe von 10 000 Silbertalenten, was einen schlagenden Beweis für die Wirtschaftskraft des nordafrikanischen Raumes darstellt.94 Wenden wir kurz den Blick nach Rom, so waren dort in Bezug auf die Finanzierung des Krieges gänzlich andere Mechanismen am Werk. Vorausgeschickt sei die Tatsache, dass Rom, um die Bereitstellung der hohen Kosten seiner Expansionspolitik zu bewerkstelligen, stets logistische und finanzielle Schwierigkeiten zu überwinden hatte. Aber die Einnahme der etruskischen Stadt Veji (396 v. Chr.) wies den künftigen Weg, als die dort erzielte gewaltige Beute zum wichtigsten Baustein der römischen Kriegswirtschaft wurde. Der besiegte Feind hatte die Kosten des römischen Militärapparates zu tragen. Nach Cato dem Älteren nährte der Krieg den Krieg95, und Cicero sah es als eine Selbstverständlichkeit an, dass der Fiskaldruck, der auf den eroberten Gebieten lastete, die mehr als gerechtfertigte Kompensation für die Auslagen des römischen Sieges darstellte.96 Aber in der Praxis lief einiges anders, als in den Schriften der Propagandisten der römischen Herrschaft zu lesen war. Wenn etwa durch Niederlagen der römischen Waffen die Geldbeschaffung aus der Beute der Besiegten ausblieb, begab man sich auf die Suche nach anderen Wegen der Kriegsfinanzierung. Das bekannteste Beispiel war die während des 2. Römisch-karthagischen Krieges im Jahr 215 v. Chr. veranstaltete öffentliche Versteigerung der Kriegsrüstungen als Geldakquisitionsprogramm, um die römischen Armeen in Hispanien angemessen auszurüsten und zu versorgen. Mit dieser Methode der Anschubfinanzierung war die Keimzelle für die societates publicanorum gelegt worden, die sich von nun an zum wichtigsten Faktor der römischen Kriegswirtschaft entwickeln sollten. Diese streckten dem Staat das benötige Geld für die Ausstattung der anstehenden Militäroperationen (Beschaffung von Kriegsgerät, Schiffe, Versorgung der Truppe, Soldzahlungen) vor, der dann nach erfolgreicher Erledigung der bellizistischen Aktionen den Geldgebern die Rückzahlung der entsprechenden Summen samt der dazugehörigen hohen Gewinnmargen garantierte.97 Auf diese Art wurde der Krieg durch Rückgriff auf Privatkredite finanziert – eine Methodik, die Schule machen sollte, wie die zahlreichen Kriegsanleihen der Neuzeit belegen. 411

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Ein Ausblick auf die Kaiserzeit zeigt, wie es zunächst gelang, eine gewisse wirtschaftliche Prosperität durch die Zunahme des Handels und des Güterverkehrs sowie durch Fiskalreformen zu erreichen, was sich auf die Finanzpolitik auswirkte. Aber plötzlich auftretende Kostenfaktoren, wie etwa der Brand Roms im Jahr 64 oder die Usurpationswirren des 1.  Jahrhunderts, führten wieder dazu, großangelegte Beutezüge zu unternehmen (Jüdischer Krieg, Eroberung Daciens), um sowohl die Militärausgaben zu decken, als auch die erforderlichen Infrastrukturmaßnahmen voranzutreiben, um die Staatskasse aufzufüllen. Bedingt durch den starken Druck auf die Reichsgrenzen stiegen seit dem Ende des 3. Jahrhunderts sowohl die Zahl der Legionen als auch die zu leistenden Soldzahlungen. Die Militärausgaben erreichten eine bis dahin ungekannte Höhe, was tiefgreifende Reformen der Geldwertpolitik erforderte. Doch die Zunahme der Inflation und die chronische Münzverschlechterung zwangen dazu, die Finanzierung des Militär­ apparates auf Naturallieferungen abzustellen (annona militaris). Die Armee wurde zum größten Kostenfaktor des an den Grenzen akut bedrohten römischen Staates. Angesichts des Wegfalls von Beute im großen Stil wegen des Ausbleibens von Eroberungskriegen blieb nur eine rücksichtslose Steuereintreibung als Ausgleich für die einst geltenden Methoden der Kriegsfinanzierung übrig.98

Nordafrikanisches Wirtschaftswunder Finanzielle Vorteile und wirtschaftliche Prosperität ließen sich nicht nur mittels Eroberungen oder Beutezügen erzielen. Wie das folgende Beispiel verdeutlichen soll, das aus heutiger Perspektive uns nur zu verständlich erscheint, konnte die erhoffte Wirkung auch dann eintreten, wenn das Gegenteil zutraf. Das Ausbleiben von Kriegshandlungen oder, anders ausgedrückt, das Anbrechen von Friedenszeiten, besonders aber lang andauernde Nachkriegsphasen konnten günstige Voraussetzungen für die Entfaltung einer gewinnorientierten Wirtschaftspolitik schaffen. Betrachtet man die nach dem verlorenen Krieg und dem anschließenden römischen Friedensdiktat veränderte politische Situation Karthagos ab dem Jahr 201 v. Chr., so sind zunächst die empfindlichen territorialen Verluste (Sardinien, Sizilien, Iberien, Nordafrika), die Karthago in Erfüllung der Abtretungsklauseln der Kapitulationsvereinbarung erleiden musste, zu berücksichtigen. Zur Auslieferung der Flotte gesellte sich eine jährlich aufzubringende Kriegskontribution, die von den Römern unerbittlich eingetrieben wurde. Ferner fielen die 412

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­ innahmen aus den Silberbergwerken Iberiens aus, die in den letzten JahrE zehnten den wohl wichtigsten Posten im karthagischen Staatshaushalt dargestellt hatten, ohne die der kostenintensive Krieg gegen Rom nicht hätte finanziert werden können. Doch paradoxerweise vermochte sich das angeschlagene Karthago erstaunlich schnell aus dieser prekären Lage zu erholen und zur Überraschung und Sorge der Römer einen bemerkenswerten wirtschaft­lichen Aufschwung vorzulegen. Wie kam es dazu? Zwei Faktoren sind für das Verständnis des Politikwandels, den die nordafrikanische Handelsmacht Karthago nach dem verlorenen Krieg gegen Rom erlebte, von ausschlaggebender Bedeutung. Zum einen die Demobilisierung des gewaltigen Militäraufgebotes, womit ein beträchtlicher Kostenfaktor wegfiel, der die Staatskasse stets extrem belastet hatte; zum anderen Hannibals Rückkehr in die karthagische Innenpolitik. Seine bald erfolgte Wahl zum Sufeten, zum höchsten zivilen Amtsträger, und die von ihm vorangetriebene Neuordnung der Staatsfinanzen schufen die nötigen Voraussetzungen für die wirtschaftliche Erholung der auf die Ausschöpfung aller noch verbliebenen Aktivposten angewiesenen nordafrikanischen Enklave. Auf Hannibals Initiative hin vermochte die besiegte Stadt aufsehenerregende Fortschritte in den Bereichen Steuergerechtigkeit und Haushaltspolitik zu verbuchen. Diese ­legten eine solide Basis für den künftigen ökonomischen Erfolg.99 Ausgeschlossen von den gro­ßen außenpolitischen Unternehmungen brachte die erzwungene Rück­besinnung auf innenpolitische Vorhaben den Karthagern wirtschaftlich gesehen nicht nur Nachteile. Bei kluger Bewirtschaftung der vorhandenen Ressourcen, welche die Stadt einst mächtig gemacht hatten, ließen sich handfeste Vorteile erzielen. Die Mittel, die in der Vergangenheit für den Bau und den Unterhalt der großen Kriegsflotte sowie für die Entlohnung der überaus beträchtlichen Söldnerverbände aufgewendet werden mussten, konnten nun in den Landesausbau, in die Melioration der Landwirtschaft und in die Verbesserung der ökonomischen Infrastruktur investiert werden.100 Die besiegte und politisch geschwächte Stadt erlebte damals einen von den Römern misstrauisch beäugten wirtschaftlichen Aufschwung101, wie etwa Catos Insistieren auf die Niederringung der seiner Meinung nach erneut zu mächtig gewordenen nordafrikanischen Metropole belegen. Die tragenden Säulen für die neu belebte ökonomische Infrastruktur Karthagos im ersten Drittel des 2. Jahrhunderts v. Chr. waren einerseits eine äußerst leistungsfähige Landwirtschaft, die in einem der fruchtbarsten Gebiete des Mittelmeerraumes getrieben wurde, ferner ein gewinnbringender Handel mit dem afrikanischen Hinterland, wobei der Karawanenhandel mit dem Gold Zentralafrikas nicht zu vernachlässigen ist, und schließlich eine 413

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Der Hafen von Karthago (Zeichnung von Peter Connolly)

von Grund auf erneuerte Haushaltspolitik. Auch die handwerkliche Produktion vermochte neue Höchstwerte zu erreichen, welche die Gesamt­ bilanz verbesserten. Ablesbar wird dies alles auch aus den Veränderungen der architektonischen Silhouette der Stadt.102 Erst nach dem 2. Römisch-karthagischen Krieg und infolge des zunehmenden Wohlstandes errichtete man nun jene großzügig dimensionierten Wohnanlagen, die das urbane Weichbild der Stadt bestimmten. Auch wurde der Hafen von Karthago erweitert und modernisiert. Damals entstand ein rechteckiger Handelshafen, der durch einen Kanal mit einem runden Militärhafen verbunden war, mit Liegeplätzen für 200 Schiffe, in dessen Mitte sich die sogenannte Admiralsinsel befand. Darüber hinaus überstrahlte die Pracht der öffentlichen Gebäude und der neuerrichteten Wohnviertel bei weitem die bescheideneren Behausungen der Vergangenheit.103 Der wirtschaftlichen Dynamik und den Leistungen im ökonomischen Bereich stand jedoch ein klein dimensioniertes, sprich kostengünstiges außenpolitisches Engagement gegenüber, welches einerseits die Karthager stets an ihre eingeschränkte Souveränität erinnerte, andererseits sich überaus kostenminimierend auf den staatlichen Haushalt auswirkte, womit ein Investitionsvolumen an Kapital erspart wurde, welches nun für andere Zwecke eingesetzt werden konnte. So blieb etwa der römi­sche Klientelstaat Karthago während des römisch-seleukidischen Konfliktes nicht untätig. In Erfüllung 414

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seiner Bündnispflicht stellte er dem römischen Admiral Gaius Livius Sali­ nator Schiffe zur Verfügung. Auch belieferten die Karthager die römischen Truppen mit Getreide und anderen Versorgungsgütern und boten die Rück­ zahlung der noch ausstehenden Kriegsreparationen an.104 Da es sich dabei um gewaltige Summen handelte, muss man annehmen, dass die Finanz­ reformen, die während Hannibals Sufetat angestoßen worden waren, dem karthagischen Staat eine äußerst wirksame und schnelle ökonomische Gesundung ermöglicht hatten. Dieses Til­gungs­angebot lehnten die Römer aus verständlichen Gründen jedoch entschieden ab. Offenbar wollten sie bei den Karthagern das Gefühl ihrer Abhängigkeit gegenüber Rom mög­lichst lange wach halten. Eine naheliegende Analogie drängt sich bei der Betrachtung dieser Zusammenhänge geradezu auf. Auch die Bundesrepu­blik Deutschland hat nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg nicht nur eine Verkleinerung des einstigen Staatsgebietes sondern auch eine Einschränkung der Souveränitätsrechte in Kauf nehmen müssen. Stand Karthagos politisches Wirken unter römischer Kuratel, so waren es hier die Alliierten, welche die Leitlinien der deutschen Politik lange Zeit weitgehend bestimmten. Ähnlich wie ­Karthago hat die junge westdeutsche Repu­blik die noch verbliebenen und ­angehäuften Ressourcen ihrer wie im Falle Karthagos überaus erfolgreichen ökonomischen Tätigkeit in den gezielten Ausbau der wirtschaftlichen Infrastruktur investiert, auf eine aufwändige Außenpolitik verzichtet und aufgrund der weitgehenden Entmilitarisierung sich zumindest zeitweise die beträchtlichen Kosten für einen eigenen Militärapparat erspart. Infolge der verlorenen Kriege haben aufgrund dieser durch die Notlage geschuldeten Umverteilung der verbliebenen Aktivposten sowohl Karthago als auch die junge Bundesrepu­blik Deutschland die Voraussetzungen geschaffen für die als Wirtschaftswunder bezeichnete gewaltige Umstellung der eigenen Wirtschaftspotenziale – von der Kriegswirtschaft hin zu einer zivil orientierten Marktwirtschaft, die auf Produktion, Handel und Dienstleistungen beruhte.105 Ein entscheidender Unterschied bestand jedoch zwischen beiden historischen Situationen. Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges hatten ein vitales Interesse daran, das neue Deutschland in den Rahmen der europäischen Politik einzubinden. Aus Weitsicht wussten sie, dass ökonomischer Wohlstand sich für beide Seiten langfristig auszahlen würde, was ja auch eingetreten ist. Von einer solchen Reflexionsebene waren die Römer in Bezug auf Karthago jedoch weit entfernt. An Integration und Gleichgewicht dachten sie keinesfalls. Für Rom war eine befriedigende Friedensordnung erst dann erreicht, wenn die eigenen Belange und Forderungen bedingungslos 415

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erfüllt wurden. Die Maßstäbe ihres Handelns pendelten zwischen Rigorismus und Eigennutz. Das Freund-Feind-Denken war trotz des Sieges über Karthago so ausgeprägt, dass man den aufkeimenden Wohlstand des einstigen Gegners kaum ertrug und mit Neid und Misstrauen darauf reagierte. Daher wurde die erreichte Prosperität der nordafrikanischen Metropole letztlich zum Verhängnis. Dem Aufschwung Karthagos begegneten die Römer mit Missgunst, Misstrauen und äußerster Unnachgiebigkeit. Erinnert sei nur an den legendären Spruch des alten Cato, der jede Rede, die er in der römischen Öffentlichkeit hielt, mit dem Satz abschloss: „Im übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden sollte.“ Am Ende machten die Römer ihre Drohungen auf barbarische Weise wahr: Von der einstigen mittelmeerischen Handelsmacht blieb nur noch ein Ruinenfeld übrig.

Eroberung Galliens „Er (Caesar) brauchte immer Geld. Er hat es auch einmal mit dem Sklavenhandel versucht“, sagte der Alte im Weitergehen. „Sie haben wohl gehört von der Geschichte mit den Seeräubern?“ (Bertolt Brecht, Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar).

Von keiner staatlichen Institution ausdrücklich dafür beauftragt, machte sich der Proconsul Gaius Julius Caesar im Jahre 58 v.  Chr. aus eigenem ­Antrieb nach Gallien auf, um das Land unter seine Kontrolle zu bringen. Wie einst Alexander der Große, der bis an die Grenzen der damaligen Welt vorstieß, gedachte Caesar für sich und den Staat, den er repräsentierte, außergewöhnliche Errungenschaften zu vollbringen. Ehrgeiz und Machtwille waren seine Antriebskräfte. Es ging aber auch um die Vermehrung seiner dignitas, um eine autonome Politikgestaltung eigener Prägung, um die Berücksichtigung der Sicherheitsbedürfnisse seines Landes, um den Aufbau einer eigenen Machtstellung und nicht zuletzt um Ruhm, Ehre und natürlich um Geld. Die gallischen Feldzüge beeinflussten erheblich die politische Laufbahn Caesars.106 Vor Beginn dieser Unternehmung waren seine Schulden trotz seiner einträglichen hispanischen Statthalterschaft immer noch beträchtlich. Die Finanzierung seiner bisherigen Ämterlaufbahn hatte ihn fast zahlungsunfähig gemacht, sodass seine weitere politische Existenz am seidenen Faden hing.107 Außerdem befand er sich mit dem Teil der Senatsnobilität, die er zur Zeit seines Consulats gegen sich aufgebracht hatte, in erbitterter Feindschaft.108 Sein Bündnis mit Pompeius und Crassus gab ihm vorerst die 416

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nötige Rückendeckung, um sich gegen die Anfechtungen seiner Gegner zu wappnen. Mithilfe seiner Verbündeten erhielt er die Provinzen Gallia Cisalpina und Illyricum mit drei Legionen für den Zeitraum von fünf Jahren. Als er in Gallien ankam, begann er, seine Tätigkeit in einem Bericht festzuhalten, der uns über Hintergründe und Abläufe seiner Eroberungszüge Aufschluss gibt. Anlass für die ersten Aktionen war die Nachricht einer bevorstehenden Auswanderung der Helvetier aus der Region um den Genfer See, die Caesar als bellizistischer Akt darstellte, um so sein entschiedenes Eingreifen zu rechtfertigen.109 Er reagierte darauf und versperrte mit seinen Truppen den Marsch der Helvetier, die nun gezwungen wurden, einen Umweg, der nördlich über den Pas d’Ecluse führte und die römischen Provinzen nicht berührte, einzuschlagen. Ihr Ziel war das Gebiet der Santonen. Doch beim Übergang über die Saône griff Caesar sie an und vernichtete sie nahe der Stadt Bibracte.110 Die Überlebenden wurden entweder als Sklaven verkauft oder als Verbündete in ihrem alten Gebiet angesiedelt. Kurze Zeit später folgten weitere Auseinandersetzungen mit dem suebischen Stammesführer Ariovist, der die Gebiete der Sequaner und Haeduer besetzte.111 Deren Hilfegesuch veranlasste Caesar zu der Eroberung Vesontios und schließlich zu der Vertreibung der feindlichen Heerhaufen. Doch nachdem die Germanen über den Rhein zurückgedrängt wurden, ging es darum, die eroberten Gebiete vor weiteren Einfällen zu sichern. Dabei bereitete er neue Offensiven vor und begründete dies mit der Schutzverpflichtung gegenüber römischen Verbündeten. Schon zu Beginn seiner Statthalterschaft zeigte sich, dass es Caesar um mehr als die Stabilisierung der römischen Provinzgrenze ging. Denn im Jahre 57 v.  Chr. drangen die Römer mit einer Armee von 40 000 Mann in den Norden und Nordwesten Galliens vor, mit dem Ziel, die Belgier zu unterwerfen.112 Caesar konnte mit seinem schnellen Vorgehen große Heerscharen besiegen und ausgedehnte Teile Galliens unter seine Kontrolle bringen, weswegen ihm zu Ehren in Rom ein 15-tägiges Dankfest gewährt wurde – eine ungewöhnliche Auszeichnung, die niemand zuvor erhalten hatte.113 Doch noch im Winter 57/56 v. Chr. brachen in den Küstenregionen der Veneter, Moriner und Menapier Aufstände aus, welche die Römer allesamt unterdrücken konnten. Die Usipeter und Tenkterer, die westlich des Rheins siedelten, konnte Caesar im Jahre 55 v.  Chr. vernichtend schlagen. Einige Vorstöße über den Rhein sowie die wiederholte Übersetzung nach Britannien im Jahre 55 v. Chr. und 54 v. Chr.114 stellten die spektakulärsten Taten Caesars dar, die zwar keine territorialen Gewinne einbrachten, jedoch von der römischen Öffentlichkeit lobend zur Kenntnis genommen wurden. 417

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Im Winter 54/53 v. Chr. kam es in Gallien zu weiteren Aufständen, welche die römischen Streitkräfte in arge Bedrängnis brachten. Der Eburonenfürst Ambiorix vernichtete zahlreiche römische Kohorten, was zu einer offenen Rebellion führte. Unter seiner Führung schlossen sich die Nervier und Treverer den Aufständischen an. Sie griffen ein weiteres Winterlager an, das nur durch Caesars entschlossenes Eingreifen gerettet werden konnte.115 Als Antwort darauf fiel Caesar in Eilmärschen in das Land der Senonen und der Carnuten ein, worauf diese sich kampflos ergaben. Noch in diesem Jahr überschritt er zum zweiten Mal den Rhein und vertrieb die anrückenden Sueben. Auf seinem Rückzug aus dem rechtsrheinischen Gebiet verwüstete er als Rache für die Vernichtung der römischen Kohorten das Gebiet der Eburonen, wobei er fast das ganze Volk auslöschte.116 Dabei konnte Ambiorix entkommen. Zu dieser Zeit war eine Entspannung der Gesamtlage nicht in Sicht. Das Unbehagen über die römische Besetzung Galliens erreichte während des Jahres 52 v. Chr. ihren Höhepunkt. Mit der Erstürmung der besetzten römischen Stadt Cenabum (das heutige Orléans) durch die Carnuten brach der große Gallieraufstand unter dem Arvernerkönig Vercingetorix aus.117 Caesar, der von den Ereignissen überrascht worden war, stieß von Narbo aus mit einem kleinen Heer über die Cevennen vor, obwohl er von seiner Haupttruppe abgeschnitten war. Er verwüstete das Gebiet der Arverner, indem er Cenabum zurückeroberte und es zur Strafe brandschatzen ließ. ­Daraufhin konnte die Vereinigung mit seinem Hauptheer erfolgen. Vercin­ getorix, der sich als äußerst fähiger Stratege erwies, griff Caesar nicht an, sondern vernichtete sämtliche Vorräte, um die römischen Versorgungslinien zu schwächen.118 Nach mehreren Niederlagen gelang es Caesar, die befestigte Hauptstadt der Biturigen, Avaricum (das heutige Bourges), im Mai 52 v. Chr. zurückzuerobern. Daraufhin griff er mit einem Teil seiner Legionen Gergovia  – die Hauptstadt der Arverner  – an, deren Belagerung jedoch wegen weiterer antirömischer Revolten aufgegeben werden musste. Daraufhin zog sich Vercingetorix in die als uneinnehmbar geltende Festung Alesia zurück, um hier im Herzen Galliens Caesar zum Entscheidungskampf zu stellen. Caesar nahm die Herausforderung an. Er trieb seine Soldaten in nur einem Monat dazu an, einen 16 Kilometer langen Wall um Alesia auszuheben und Gräben zu ziehen.119 Angesichts der Bedrohung durch das anrückende gallische Entsatzheer, das Vercingetorix zur Hilfe eilte, befahl Caesar, einen weiteren 21 Kilometer langen Wall aufzuwerfen und ihn mit Türmen, Wassergräben, Fallgruben, Pallisaden und Bodenhindernissen zu befestigen.120 Nach 4-tägigen Gefechten, in denen das herbeieilende gallische Entsatzheer aufgehalten wurde, gaben die in Alesia eingeschlossenen Gallier 418

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auf. Vercingetorix wurde gefangengenommen und bis zu Caesars Triumphzug in Rom verschont. Innerhalb von etwa acht Jahren (58–50 v. Chr.) vermochte Caesar, von der narbonensischen Provinz ausgehend das gesamte freie Gallien zu erobern und dem römischen Herrschaftsbereich hinzuzufügen. Auch legte er den Rhein als neue nordwestliche Demarkationslinie seiner territorialen Erwerbungen fest. Dabei hatte sein Krieg hunderttausende Menschen das Leben gekostet und das Land wirtschaftlich und militärisch ausbluten lassen. Caesar nutzte den gallischen Feldzug, um sein Ansehen zu erhöhen und damit Ansprüche auf eine leitende politische Stellung im Staat zu erheben. Außerdem konnte er sich aus der gewaltigen Kriegsbeute immens bereichern, was zur Sanierung seiner vor Beginn des Feldzuges ramponierten Finanzverhältnisse beitrug.121 Der notorische Schuldenmacher von einst hatte sich kraft der Einkünfte, die er aus Gallien beziehen konnte, zum reichsten Mann Roms gewandelt. Er war nun in der Lage, mit eigenen Mitteln neue Legionen anzuwerben. Der Feldzug bot ihm nicht nur die Möglichkeit zur Tilgung seiner Schulden, sondern durch finanzielle Zuwendungen in die politische Laufbahn von Günstlingen zu ­investieren, die während seiner Abwesenheit aus Rom seine Interessen vertraten. Caesar hat während seiner Statthalterschaft ein gewaltiges Vermögen angehäuft. So berichtet Plutarch, dass die Römer nach der Belagerung Alesias mit Silber und Gold beschlagene Schilde, Panzer und Trinkgeschirre in ihr Lager schleppten.122 Auch Sueton schildert an vielen Stellen die Bereicherung Caesars am gallischen Feldzug. Dabei habe er ganz Gallien im Laufe seiner Eroberung mit einer jährlichen Abgabe von 40 Millionen Sesterzen belegt.123 Des Weiteren bemächtigte er sich der mit Weihegeschenken gefüllten Heiligtümer und Tempel und plünderte während des Feldzuges zahlreiche Städte, was ihm weitere Finanzmittel einbrachte.124 In seinen eigenen Berichten finden sich nur wenige Hinweise auf Gewalttaten, um seiner offiziellen Lesart des Krieges, die Sicherung und Ausweitung des römischen Herrschaftsbereiches, nicht zu widersprechen. Lediglich am Ende seiner Feldzugsberichte tauchen einige Notizen auf, die von Plünderungen und Verwüstungen mit der anschließenden Verteilung der Beute an die Soldaten berichten.125 In Hinblick auf Caesars politische Zukunft nahm die Aufrechterhaltung seiner Netzwerke in Rom einen zentralen Stellenwert ein. Er gab vor allem gegen Ende seiner Statthalterschaft, als seine Ablösung nahte, riesige Summen aus, um dies zu erreichen. So befreite er beispielsweise den begabten Volkstribun Curio von seiner großen Schuldenlast oder beschenkte den Consul Paullus mit 1500 Talenten126, damit sie seine Interessen vertraten. Zudem wurden auch all diejenigen großzügig bedacht, 419

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die seine politischen Anliegen dezidiert unterstützten.127 Nach dem Tod des Crassus und seiner Tochter Julia, Pompeius’ Ehefrau, war dies auch besonders nötig, denn die Allianz zwischen Caesar und Pompeius ging nun zu Ende. Plötzlich erhöhte sich für Caesar die Gefahr einer politischen Isolation, sollte er seine Provinzen und sein Heer verlieren. So viel steht fest: Ohne die Ressourcen aus seiner gallischen Kriegsbeute hätte Caesar seinen Sieg im anschließenden Bürgerkrieg kaum erringen können.

Einnahme Jerusalems durch Titus Die Zerstörung des Tempels von Jerusalem (70) markiert die Endphase des Aufstands der Juden gegen Rom, der bereits im Jahr 66 begonnen hatte.128 Er wurde aufgrund des Fiskaldrucks der römischen Behörden sowie wegen ­einiger Aktionen der Besatzungsmacht gegen die jüdischen Kultbräuche ­entfacht. Zur Niederschlagung der Revolte entsandte Kaiser Nero den bewährten Vespasian nach Judäa, der sich als überaus rücksichtslos bei der Bewältigung seines Auftrages erwies. Als jedoch im Jahr 68 nach der Ermordung Neros ein Bürgerkrieg zwischen mehreren Thronkandidaten ausbrach, den Vespasian schließlich für sich entscheiden konnte, überließ dieser die definitive Unterdrückung der jüdischen Revolte seinem ältesten Sohn Titus, der als energischer und erfahrener Befehlshaber galt. Die ausführlichste Quelle für diese Ereignisse ist Flavius Josephus, der in seinem Werk als Augenzeuge eine allerdings stark persönlich gefärbte Sicht über Ursachen und Ablauf der Rebellion bietet. Darüber hinaus liegen Kurzberichte bei Tacitus und Cassius Dio vor. Die einzige von Josephus differierende Darstellung liefert Sulpicius Severus. Es ist jedoch bekannt, dass es weitere abweichende Darstellungen über den Aufstand und speziell die Belagerung und Einnahme Jerusalems bereits vor Josephus gab, da dieser in seinen Memoiren gegen sie polemisierte und sich selbst auf die Aufzeichnungen des Titus berief: Dieser habe die Chronik Josephus’ als einzig authentische und autorisierte bestätigt. Für Josephus, der einer vornehmen Jerusalemer Priesterfamilie entstammte und während des Aufstandes in römische Gefangenschaft geriet, trugen die radikalisierten Juden die Verantwortung an ihrem Schicksal. Schließlich seien fanatisierte religiöse Eiferer in großer Zahl nach Jerusalem geströmt, die das politische Gleichgewicht zerstört hätten. Weiter führt Josephus aus, dass diese sowohl die Römer als auch Teile der eigenen Bevölkerung drangsaliert und damit zur Vermehrung der Spannungen beigetragen 420

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hätten. Erst die Eroberung Jerusalems durch Titus hätte diesem verhängnisvollen Treiben ein Ende gemacht. Dass aber im Laufe der äußerst brutal geführten Kämpfe unzählige Menschen den Tod gefunden haben sollen, sei ebenfalls auf das Konto der Aufständischen zurückzuführen, die eine ehrenvolle Kapitulation ausgeschlagen hätten. Sulpicius Severus dagegen erwähnt, dass Titus den belagerten Juden keinesfalls eine Kapitulation anbot, sondern vielmehr jegliche Aussicht auf Rettung und Gnade vereitelte. Des Weiteren habe er den Tempel von Jerusalem keineswegs erhalten oder retten wollen, wie Josephus behauptet, sondern seine Zerstörung selbst angeordnet. Ungeachtet der Frage nach der Verantwortlichkeit an dem gewaltigen Massaker, das an den in Jerusalem eingeschlossenen Menschen verübt wurde, war der ungeheure, alle Maßstäbe sprengende Blutzoll des jüdischen Krieges, der selbst Caesars Blutspur in Gallien fast in den Schatten stellte, wegen seiner Grausamkeit und Menschenverachtung präzedenzlos. Über das Ende der Kampfhandlungen berichtet Josephus folgendes: Als die Soldaten vom Töten bereits ermüdeten, jedoch noch eine große Menge Überlebender zum Vorschein kam, befahl der Caesar Titus nur die Bewaffneten und die aktiv Widerstand Leistenden zu töten, die übrige Menge aber lebend gefangenzunehmen. Über diese Befehle hinaus machten die Soldaten alte und schwache Leute nieder, brauchbare Leute im besten Alter aber trieben sie im Tempelbezirk zusammen und sperrten sie in den ummauerten Vorhof der Frauen. Als Wächter setzte der Caesar einen Freigelassenen ein, ferner Fronto aus der Gruppe seiner Freunde, der für jeden Gefangenen die angemessene Behandlung festlegen sollte. Dieser ließ sämtliche Rebellen und Räuber, die sich gegenseitig denunzierten, hinrichten, von den jungen Leuten sonderte er die körperlich größten und ansehnlichsten aus und sparte sie auf für den Triumphzug. Von der übrigen Menge schickte er die Gefangenen, die älter waren als 17 Jahre, in die ägyptischen Bergwerke und Steinbrüche, die meisten aber verteilte Titus als Geschenke auf die Provinzen, wo sie im Amphitheater durch Schwert und wilde Tiere umkommen sollten. Gefangene unter 17 Jahren verkaufte er. Von ihnen verhungerten während der Tage, an denen Fronto seine Entscheidungen traf, 11000 insgesamt, einige, weil sie von den Wächtern aus Hass keine Nahrung erhielten, andere, weil sie das Zugeteilte nicht annahmen. Zudem mangelte es an Getreide für eine solche Menschenmenge. Die Gesamtzahl der Gefangenen während der vollen Kriegsdauer betrug 97000, die der Toten während der gesamten Belagerung 1,1 Millionen.129 Ob die gewaltigen Zahlenangaben hinsichtlich der Opfer des Krieges, die Josephus überliefert, stichhaltig sind, muss offen bleiben. Gesichert ist dagegen die tendenziöse Anlage seines Werkes, das auf eine Entastung des Titus 421

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hinausläuft. Daher dürfte, trotz des zeitlichen Abstands zu den Geschehnissen, die Darstellung des Sulpicius Severus der Realität näherkommen. Bei Josephus dagegen stimmen die wollwohlende Charakterisierung des Titus und sein brutales Vorgehen gegen die Belagerten nicht überein. Schließlich hatte der römische Feldherr diejenigen, die der umzingelten Stadt und der ausgebrochenen Hungersnot in Jerusalem zu entkommen versuchten, vor der Stadtmauer foltern und hinrichten lassen. Titus zeigte keinerlei Mitleid gegenüber der wehrlosen Bevölkerung. Seine Vorgehensweise erwies sich als berechnend und grausam. Sie passt zur Einschätzung Suetons, wonach er als rücksichtlos und unerbittlich galt. Dennoch lässt sich das Geschehen in Jerusalem nicht allein auf die Initiative des Titus zurückführen, da er im Auftrag Vespasians handelte. Ohne die Zustimmung seines Vaters hätte er wohl kaum eine derart große Menge an Toten in Kauf nehmen können. Auch reicht der allgemein verbreitete Antijudaismus als Motiv kaum aus, um die hohen Opfer dieses Krieges zu rechtfertigen. Daher müssen die Beweggründe der römischen Führung näher beleuchtet werden. In den letzten Jahren der Regierung Neros verzeichnete die römische Staatskasse erhebliche Defizite. Zurückzuführen waren sie auf den verheerenden Brand Roms im Jahr 64, der erhebliche Wiederaufbaumaßnahmen im Stadtgebiet erforderlich machte. Aus diesen Gründen beabsichtigte Nero, umfangreiche Bauvorhaben in einer für ihn typischen, verschwenderischen Prachtentfaltung durchzuführen. Die hierdurch anfallenden Kosten führten dazu, dass sowohl Italien als auch die Provinzen zur Finanzierung dieser Vorhaben verstärkt herangezogen wurden. Der Bedarf an Geldmitteln war gewaltig. Um ihre Eintreibung zu erleichtern, wurde ein Zensus in den Provinzen durchgeführt, der die Steueranforderungen sprunghaft nach oben trieb. Dies war ein wesentlicher Grund für den Unmut der unter der Last der Abgaben leidenden Bevölkerung Judäas. Auf die Herrschaft des Nero folgte ein kurzer, aber heftiger Bürgerkrieg zwischen Galba, Otho, Vitellius und Vespasian (68–69), womit die gebeutelte Staatskasse keine Zeit bekam, sich zu erholen, sondern weiter ausgeplündert wurde. Während der Aufstand der Juden auf die drückende Steuerlast, die durch den Brand Roms verursacht wurde, zurückzuführen ist, stellen die Kosten des Bürgerkrieges einen wesentlichen Grund für die unerbittliche Vorgehensweise Roms in Judäa dar. Es ging darum, das enorme Defizit des römischen Fiskus auszugleichen. Insbesondere galt dies für die Eroberung Jerusalems, denn der dortige Tempel war bekannt für seinen Reichtum. Auf ihn hatte es die leere römische Staatskasse längst abgesehen. Wir stehen hier vor einem gezielt geplanten, kaltblütig berechneten Raubzug, der an Perfidie 422

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kaum zu überbieten war, den eine Weltmacht zur Auffüllung des durch eigener Schuld geplünderten Aerariums vom Zaune brach. Die in Jerusalem akkumulierten Ressourcen basierten vornehmlich auf der Kopfsteuer, eines Halbschekels, die alle Juden jährlich zu entrichten hatten; darüber hinaus galt das Land selbst als äußerst fruchtbar, was sich ebenfalls auf die Einnahmen des Tempelschatzes auswirkte. Um sich darauf Zugriff zu verschaffen, mussten Vespasian beziehungsweise Titus nicht nur den Aufstand niederschlagen, sondern das jüdische Gemeinwesen auslöschen, dessen Tempel die politische und geistige Mitte des Staates darstellte. Trotz des ungeheuren wirtschaftlichen Vorteils, der nach erledigter Aufgabe winkte, war es nicht unproblematisch, ein Heiligtum dieser Größenordnung zu plündern und dem Erdboden gleichzumachen. Für den neuen Kaiser Vespasian galt es, in der Öffentlichkeit ein hohes Maß an Frömmigkeit (pietas) gegenüber allen Gottheiten des römischen Herrschaftbereiches zu wahren. Die Verwüstung eines renommierten Tempels hätte jedoch dieser Programmatik krass widersprochen und zusätzlich, in der römischen Wahrnehmung, den Zorn des jüdischen Gottes heraufbeschworen. Flavius Josephus rechtfertigt die Handlungen des Titus in der Weise, dass der Gott der Juden den Tempel bereits verlassen hätte, als die Kämpfe ausbrachen. Ferner hätte Titus versucht, den Tempel zu retten, als dieser ­während der Bestürmung in Brand geriet. Doch diese Begründung enthält zahlreiche Ungereimtheiten. So soll Titus, als die Sprengung der äußeren Tempelmauern nicht gelang, angeordnet haben, das Tor niederzubrennen. Als dies jedoch geschah, habe er Löschtrupps entsandt, um den Rest des Tempels, auf den das Feuer inzwischen übergegriffen war, zu schonen. Währenddessen sei es auf dem inneren Tempelhof zu schweren Kämpfen gekommen, wobei die Juden die Löschtrupps zurückgeschlagen hätten, sodass diese nicht in der Lage waren, ihren Auftrag zu erfüllen. Zu diesem Zeitpunkt hätte gegen den ausdrücklichen Befehl des Titus ein römischer Soldat eine Fackel auf eines der Nebengebäude geworfen. Daraufhin sah sich Titus genötigt, von der Burg Antonia, auf der er sich zu diesem Zeitpunkt aufgehalten habe, zum Tempelbezirk zu eilen, um direkt vor Ort das Kommando zu übernehmen. Dann habe er kurz den noch intakten Tempel betreten und sei danach wieder auf den Hof zurückgekehrt, um seine Anordnungen zu wiederholen. Nun habe ein Soldat eine weitere Fackel direkt in das Innere des Tempels geworfen, sodass das Gebäude in Flammen aufgegangen sei. Schließlich sei auch der Rest des Tempelbezirks niedergebrannt, was die Schatzkammer mit eingeschlossen hätte. Einige Tage später hätte dann ein Priester zahlreiche Kultobjekte einschließlich der Tempelvorhänge und des 423

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Priestergewands den Römern übergeben, und ein gefangener Wächter des Tempelschatzes habe diesen ausgeliefert. Gemäß dieser Version soll Titus gleichzeitig die Eroberung des Tempels vorbereitet und das Löschen des Feuers befohlen haben. Doch dies erscheint vor dem Hintergrund der Geschehnisse unglaubwürdig. Nachdem schließlich ein Soldat eine Fackel geworfen habe, sei Titus herbeigeeilt und hätte sogar noch kurzzeitig den Tempel betreten und bewundert. Wie dies jedoch mit den Kämpfen auf dem Vorhof zusammenpasst, ist schwer vorstellbar: Titus hätte den Tempel erst betreten können, nachdem der letzte Widerstand im Tempelbezirk gebrochen worden war. Schließlich seien einige Tage nach diesen Ereignissen Titus sowohl die Inneneinrichtung des Tempels als auch der Tempelschatz überreicht worden. Doch auch dies lässt sich nicht mit einem eben erst niedergebrannten Tempel samt Schatzhaus in Einklang bringen, zumal die Einrichtungsgegenstände teils von enormer Größe und Gewicht gewesen waren. Darüber hinaus ist gerade das Aushändigen der Tempelvorhänge unwahrscheinlich, da einer von ihnen das Allerheiligste verhüllte und die Juden, die versuchten, den Tempel zu verteidigen, wohl kaum den Frevel begangen hätten, den Vorhang zu entfernen. Des Weiteren stellt sich die Frage, zu welchem Zweck dies hätte geschehen sollen, denn einen sichereren und besser verteidigten Ort als den Tempel gab es seit Beginn der Belagerung nicht. Fasst man diese Indizien zusammen, so erscheint die Schilderung des Untergangs des Tempels alles andere als schlüssig. Von diesen Widersprüchen abgesehen, lag es im besonderen Interesse des Titus, einen unversehrten Tempel samt Schatzhaus einzunehmen, da dieses enorme Werte enthielt; insbesondere die Gold- und Silberplatten, mit denen die Wände behängt waren. Die Beschädigung und anschließende Zerstörung des Tempels kann somit erst als Konsequenz der Kampfhandlungen erfolgt sein. Das Werk des Flavius Josephus diente also keineswegs dem Zweck, die Eroberung Jerusalems und insbesondere des Tempels, das Zentralheiligtum der jüdischen Religion, in der tatsächlich erfolgten Weise nachzuerzählen, sondern vielmehr dazu, Vespasian und Titus in einem günstigen Licht darzustellen und zu entlasten. Es sollte verhindert werden, dass ihnen der Frevel des Tempelraubs und der Zerstörung nachgesagt würde, da dieser einen ­tiefen Schatten auf ihre Regierung geworfen hätte.

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7 Urbane Pulverfässer: Antiochia, Alexandria, Rom, Thessalonike, Con­stantinopel Wenn überhaupt, dann waren Klaustrophobie und die ­Spannungen des dichten Zusammenlebens in einer vis-à-vis Gesellschaft, nicht aber Verlorenheit oder Entwurzelung die spezifisch spät­antike Form des Unglückseins. (Peter Brown, Die letzten Heiden)

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ie großen Metropolen der Spät­antike wurden immer wieder von Aufruhr und Konvulsionen unterschiedlicher Art und Heftigkeit in Mitleidenschaft gezogen. Als Ursachenfelder für die mit einiger Regelmäßigkeit ausbrechenden Unruhen lassen sich religiöse Streitigkeiten, ferner Revolten aufgrund einer chronisch defizitären Lebensmittelversorgung oder auch Häuserkämpfe zwischen antagonistischen Straßenvereinigungen beziehungs­ weise Zirkusparteien festmachen.130 Doch auch ausschließlich politisch motivierte Tumulte sind hinreichend bezeugt; so etwa für Antiochia, das zudem wie keine andere provinziale Großstadt eine beträchtliche Anzahl von inneren Konflikten erlebte. Im Jahr 387 ereignete sich dort die sogenannte „Statuen-Revolte“, über die wir dank einer verhältnismäßig ausreichenden Quellenlage gut unterrichtet sind. Ihre Ursache lag zunächst außerhalb der Stadt und hatte mit der Reichspolitik zu tun. Nach den kostspieligen kriegerischen Auseinandersetzungen gegen den Usurpator Maximus, welche die Staatskasse enorm belastet hatten, belegte Kaiser Theodosius die syrische Metropole mit einer Sondersteuer. Die Stadtbevölkerung reagierte auf diese Forderung mit Ablehnung und Feindseligkeit. Die zunächst friedlichen Vermittlungsversuche des antiochenischen Stadtrates erübrigten sich schnell, als die Theatergangs das Ruder an sich rissen und unter Anwendung von zerstörerischer Gewalt ihren Unmut über die Finanzpolitik des Kaisers deutlich machten: Amtsgebäude wurden angezündet und Kaiserbilder geschändet.131 Die aufgewiegelte Masse setzte sich vor allem aus Handwerkern, aber auch aus Notabeln ­zusammen  – jener Personenkreise, die durch die Steuerforderungen der Zentralregierung besonders in Mitleidenschaft geraten waren. Die ärmeren 425

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Bevölkerungsteile, die ohnehin von der Abgabenlast befreit waren, hielten sich bei den Protesten eher zurück.132 Die Reaktion des Kaiserhofes ließ nicht lange auf sich warten. Gegen die Aufständischen wurde rigoros vorgegangen, denn auf die Schändung von Kaiserbildnissen stand die Todesstrafe, die auch unmittelbar an den Anführern der Revolte vollzogen wurde. Der Stadtrat wurde inhaftiert. Sondergerichte nahmen ihre Arbeit auf. Die gegenüber der Stadt verhängten Strafen, wie etwa die Schließung der Thermen und Theater, die Einstellung der Brotverteilung und sogar die Aberkennung einer Reihe munizipaler Privilegien, wurden zwar nach kurzer Zeit wieder zurückgenommen; doch die einmal erhobene Sondersteuer blieb bestehen.133 Der Zorn des Kaisers, der in erster Linie die Curialen für die Unruhen verantwortlich machte,134 richtete sich dennoch gegen die gesamte Stadtbevölkerung und machte damit deutlich, dass der Erhalt des kaiserlichen Wohlwollens keine Selbstverständlichkeit war.135 Zahlreiche Hungerrevolten sind während des 4. Jahrhunderts vor allem für Rom belegt136; aber auch in Antiochia und anderen Städten kam es immer wieder, bedingt durch Versorgungsprobleme, zu periodischen Unruhen. Die Wut der Bevölkerung richtete sich dabei zunächst gegen die örtlichen Behörden, deren Verantwortliche es in der Regel vorzogen, die Stadt zu verlassen und abzuwarten, bis sich die Lage von selbst wieder beruhigte und die gereizte Stimmung abflachte, was meist nicht mehr als ein paar Tage in Anspruch nahm und oft sogar noch am Abend desselben Tages, an dem der Aufstand ausbrach, geschehen konnte.137 Hungerrevolten verursachten häufig heftige Krawalle, die gegen die Spekulanten gerichtet waren, weil sie durch Zurückhaltung der Getreidevorräte die Preise in die Höhe trieben. Unter der Knappheit litten die unteren Schichten der Gesellschaft am meisten. Dennoch wäre es irreführend, die regelmäßig ausbrechenden Hungerrevolten als Widerspiegelung eines Klassenkampfgeistes oder gar einer systemischen Unzufriedenheit der benachteiligten gesellschaftlichen Schichten zu deuten. Vielmehr wurde die prekäre Versorgungssituation oft durch gezielte Agitation einzelner Akteure verursacht und ausgenutzt, um die leidende Bevölkerung aufzuwiegeln, um damit bestimmte politische Effekte zu erzielen. Am Beziehungsgeflecht zwischen der Masse des Volkes und den reicheren Bevölkerungsteilen änderten diese kurzzeitigen Unruhen nur wenig, und gelegentlich forderte die von Reue gebeutelte plebs nach der Beilegung der Lebensmittelknappheit selbst die Bestrafung der Rädelsführer.138 Die großen Metropolen der Spät­antike erfuhren im Zuge der wachsenden Verchristlichung der Stadtbevölkerungen eine Vielzahl religiöser Kon426

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flikte, deren Motive ganz unterschiedlicher Natur sein konnten. Sie konnten etwa durch das aggressive Vorgehen gegen heidnische Kultstätten im Kontext des Siegeszuges der Kirche entstehen. Nicht selten waren aber innerkirchliche Querelen um die Besetzung eines freigewordenen Bischofstuhls die Gründe für die Erregung der städtischen Massen. Daneben verursachten theologische Streitfragen, verbunden mit einem vehement vertretenen Anspruch auf die Deutungshoheit zwischen miteinander verfeindeten Kultgruppierungen, blutige Auseinandersetzungen. Gerade Con­stantinopel, wo Arianer und Nicaener praktisch Tür an Tür lebten, erwies sich oft als Schauplatz innerkirchlicher Konflikte, die mit einer unerbittlichen Virulenz ausgetragen wurden. So entbrannte im Jahr 337 nach dem Tode des Bischofs Alexander eine gewaltdurchtränkte Fehde zwischen arianischen und nicaenischen Gemeindemitgliedern um die Besetzung des vakanten Bischofsstuhls. Alexander selbst soll sich zu Lebzeiten sowohl für seinen bewährten und erfahrenen Diakon Macedonius als auch für den jüngeren Presbyter Paulus als gleichermaßen denkbare Nachfolgekandidaten ausgesprochen haben.139 Die Wahl des Nachfolgers blieb damit der tiefgespaltenen Gemeinde überlassen. Darüber schrieb der Kirchenhistoriker Sokrates folgendes: So entstand über die Wahl des neuen Bischofs ein regelrechtes Tauziehen, das die Kirche in eine gewaltige Unruhe versetzte (…). Die Verfechter des orthodoxen Credos bestanden auf der Wahl des Paulus, während die Partei der Arianer für die Sache des Macedonios stritt (…). So wurde Paulus in jener Kirche zum Bischof geweiht, die Eirene heißt und die der Großen Kirche, genannt Sophia, unmittelbar benachbart ist; denn seine Wahl hat der Anweisung des Verstorbenen letztlich besser entsprochen.140 Zwar versuchte Sokrates, den Konflikt der beiden Kontrahenten dogmatisch zu deuten. Doch damit verschleierte er den Kern der Angelegenheit, denn die zur Wahl stehenden Kandidaten entstammten derselben Gemeinde. Das heftige Tauziehen zwischen den Rivalen war in erster Linie ein Ergebnis ihrer Unkonzilianz und ihres Machtwillens: Keiner gönnte dem anderen den angesehenen Bischofsstuhl. Ihre persönlichen Ambitionen erwiesen sich stärker als ihre Konsensfähigkeit.141 Wiederholt griff Kaiser Constantius II. in den Konflikt ein, indem er den von der nicänischen Partei zum Bischof berufenen Paulus durch Eusebios von Nikomedia ersetzte. Als dieser jedoch im Winter 341/342 starb, meldete Paulus wieder seine Ansprüche an, während die arianischen Gemeindemitglieder Macedonius zum Bischof wählten, der in der städtischen Peripherie seinen Sitz nahm. Wiederum sah sich Constantius II. zur Intervention veranlasst. Er entsandte als Antwort auf die unter den rivalisierenden Bischofsanhängern erneut ausgebrochenen 427

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­Tumulte den magister equitum Hermogenes nach Con­stantinopel. Dieser ­erhielt den Auftrag, Paulus zu verhaften, was aber die Gewalt nur noch heftiger eskalieren ließ. Es kam zu Krawallen zwischen Arianern und Nicaenern, in deren Verlauf Hermogenes durch eine Allianz von Mob und Klerus getötet und geschändet wurde; offenbar hatte Paulus die Aktion selbst gesteuert. Während Sokrates auf die religiöse Konfrontation und auf den dogmatischen Unterschied zwischen den antagonistischen christlichen Parteien verweist, handelte es sich bei dem Konflikt auch um die Auflehnung einer selbstbewussten, die Schwäche der Stadtverwaltung einkalkulierenden urbanen Bevölkerung, die eine Personalfrage zum Anlass nahm, um sich gegen die Autorität der Regierung aufzulehnen. Das kaiserliche Eingreifen zog ein Blutbad nach sich, das zahlreiche Menschenleben forderte. Darin spiegelten sich die unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen und ihre Legitimationsstrategien, die diesen Konflikt entfacht hatten, wider: Die alte autonome Stadtgemeinde wehrte sich gegen die Bevormundung und Zumutungen, die mit ihrer Rolle als kaiserliche Residenz zusammenhingen. Auch Rom war vor solchen Konvulsionen nicht gefeit. Wie wir aus dem Geschichtswerk des Ammian erfahren. Dort führten heftige Kirchenstreitigkeiten häufig zu einer ernsthaften Beeinträchtigung des sozialen Friedens. So etwa im Jahr 366, als äußerst blutige Machtkämpfe innerhalb der christlichen Gemeinde Roms ausbrachen, die in einer Gewaltorgie mündeten, weil sich zwei Kandidaten, Damasus und Ursinus, um die Besetzung des Bischofsstuhls rücksichtslos befehdeten.142 Derartige Vorgänge verleiteten den heidnischen Historiker Ammian zur Ansicht, dass die Christen schlimmer untereinander wüten konnten als selbst wilde Tiere, womit er ein recht düsteres Urteil über die Stimmungslage einer der prominentesten christlichen Gemeinden des Reiches fällt. Besonders für Alexandria sind zahlreiche religiöse Konflikte zwischen Heiden und Christen bezeugt, die meist zu unkontrollierten Massakern entarteten. So wurde etwa im Jahre 361 der arianische Bischof Georg von Kappadokien, der durch eine vehement antiheidnische Politik die Ungunst der paganen Bevölkerungsteile auf sich gezogen hatte143, durch eine religiös aufgebrachte Gruppierung, zu der auch nicaenische Christen gezählt haben dürften, ermordet. Was zunächst als ausschließlich religiös motivierte Gewaltentladung erscheint, stellt sich jedoch bei genauerem Hinsehen ebenso als politischer Konflikt dar. Denn Georg wurde durch seine guten Beziehungen zum kaiserlichen Hof als dessen Vertreter vor Ort, als eine Art verlängerter Arm der Regierungszentrale betrachtet.144 Bezeichnend dafür war, dass die Lynchjustiz des alexandrinischen Straßenmobs nach dem Tod des 428

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Constantius II. befeuert wurde: Einige kaiserliche Amtsträger, die als Repräsentanten der verhassten Regierung angesehen wurden, fielen der blind­ wütigen Gewalt zum Opfer.145 Im Jahre 412/13 ereigneten sich in Alexandria zahlreiche religiös motivierte Tumulte.146 Dies war das Resultat einer vom Kaiser und der Stadt­ verwaltung in die alexandrinische Gesellschaft hineingetragenen machtund religionspolitischen Polarisierung. Gewaltsame Aktionen der Bischöfe Theophilos und Kyrill gegen Heiden, Juden und Novatianer und der damit einhergehende Machtkampf zwischen dem Bischof und dem praefectus ­augustalis heizten den innerstädtischen Konflikt zusätzlich an. Ausgangsort der Gewaltzuspitzung zwischen den Parteien war schließlich eine The­ater­ aufführung, bei der Juden und Christen in ein Handgemenge miteinander gerieten. Freilich berichtet der Kirchenhistoriker Sokrates einseitig und lediglich von Provokationen der Juden. Diese hätten die Christen mutwillig gereizt.147 Von Orestes zur Rechenschaft gezogen, machten diese Hierax, einen Kleriker und Anhänger des Bischofs Kyrill, dafür verantwortlich, die Bevölkerung gegen sie aufzuwiegeln. Orestes ließ Hierax daraufhin festnehmen und öffentlich im Theater auspeitschen. Danach war es mit der Ruhe dahin. Gewaltorgien gehörten nun zum Straßenbild; ihren Höhepunkt erreichten sie 415 durch die Ermordung der neuplatonischen Philosophin Hypatia von einer Horde aufgebrachter christlicher Fanatiker – ein wahrhaft unrühmliches Kapitel in der Geschichte der zunehmend christlich geprägten Stadt. Neben der Zwietracht in Kultangelegenheiten kam den Streitigkeiten zwischen den Zirkusparteien eine besondere Sprengkraft zu, wie die im Jahr 390 in Thessalonike ausgebrochenen Krawalle belegen. Am Anfang stand eine heftige Störung der öffentlichen Ordnung. Während eines ausgebrochenen Tumults im Hippodrom wurde der magister militum Boterich, der Leiter der gotischen Garnison der Stadt, von Anhängern einer Zirkuspartei gelyncht. Theodosius hielt sich damals in Mailand auf und war nach der Niederwerfung des Usurpators Maximus mit der Reorganisation der Westprovinzen beschäftigt. Er reagierte empört auf den Aufruhr und ordnete an, die Schuldigen unverzüglich zu bestrafen.148 Um eine Spirale der Gewalt zu vermeiden, versuchte er aber, den bereits ergangenen Befehl zu mildern; doch die Gegenorder traf zu spät ein.149 Inzwischen hatten die gotischen Truppen für die Tötung ihres Befehlshabers blutige Rache an der Bevölkerung der Stadt genommen. Tausende von Menschen wurden im Zirkus wahllos zusammengepfercht und massakriert.150 Es war die dunkelste Episode in der theodosianischen Regierungszeit. Außerdem zeigte diese Bluttat eine beträchtliche 429

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Resonanz, wie man an den Vorgängen in Mailand erkennen kann, die zu einer Konfrontation zwischen Bischof Ambrosius und Kaiser Theodosius führen sollten. Der wohl bekannteste Aufstand, der im Kontext von Zirkusparteien entstand, war der Nika-Aufstand von 532 in Con­stantinopel.151 Als konkreten Auslöser des Tumults erwies sich die rigide Finanzpolitik des praefectus praetorio Orientis Johannes von Kappadokien, der für Justinian neue Geldquellen zu erschließen suchte. Mit dem erhöhten Steuerdruck trug er zu einer weiteren Aufladung der ohnehin konfliktbereiten Atmosphäre in der kaiserlichen Residenz am Bosporus bei, die bereits den massiven Zuzug verarmter Reichsbewohner verkraften musste. Hinzu kam offenbar, dass sich die Stadtbevölkerung durch den Ausschluss von der Thronerhebung Justinians, die nicht unter d ­ emonstrativer Zustimmung der Bevölkerung im Hippodrom, sondern im Palast stattfand, und den damit einhergehenden Wandel im herrschaftlichen Selbstverständnis hin zum allein von Gott legitimierten Kaiser vor den Kopf gestoßen fühlte. Die angespannte Situation entlud sich in heftigen Straßenkämpfen zwischen den Zirkusparteien. Sie verursachte unzählige Tote.152 Das harte Durchgreifen des Stadtpräfekten, die Verurteilung von sieben Rädelsführern zum Tode, die fehlgeschlagene Hinrichtung eines Blauen und eines Grünen (so wurden die Zirkusparteien genannt), die angeblich von Justinian bewusst vorgetäuschte Unentschlossenheit zum Zwecke der Entlarvung senatorischer Widersacher153 führten zur verhängnisvollen, im Kalkül des Kaisers liegenden Eskalation. Die Verschärfung des Aufstandes mündete in Brandschatzungen und Zerstörungen von repräsentativen Gebäuden im Stadtzen­trum, in der Konfrontation von Militär und Aufständischen, in Justinians Provokationen, fehlender Diplomatie und Sensibilität im Umgang mit dem Volk im Hippodrom sowie in der Ausrufung erst von Probos und dann von Hypatios zu neuen Herrschern durch das Volk. Sie zeigt, dass sich die Revolte von ihren ursprünglichen Zielen zunehmend entfernt hatte. Das kaiserliche Massaker im Hippodrom diente schließlich dem Zweck, die senatorischen Widersacher Justinians endgültig auszumachen, auszuschalten und das aufrührerische Volk ein für alle Mal in seine Schranken zu verweisen. Doch das Ergebnis waren zahlreiche Tote, gewaltige Irritationen und eine gefährliche Anspannung, die Kaiserhaus und Stadt zugleich bedrohte. Die behandelten Beispiele von Aufständen in den spät­antiken Städten (es handelte sich dabei lediglich um eine kleine Auswahl) sind bezeichnend für die vorherrschenden politischen, sozialen und religiösen Spannungspotenziale zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen der großen Metropo430

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len des ausgehenden römischen Reiches. Sie dokumentieren zugleich ihre widerstrebenden Interessen, die häufiger als in der Vergangenheit in Kollision miteinander gerieten. Die Städte glichen vielerorts Pulverfässern, derer es nur ein Funke, der verschiedenen Ursprungs sein konnte, bedurfte, um sie zu entzünden und einen verheerenden Flächenbrand zu entfachen. Dennoch: In ihrer Gesamtheit betrachtet, störten die ausgebrochenen Unruhen zeitweise die öffentliche Ordnung in ihren jeweiligen Einzelfällen zwar empfindlich, stellten aber niemals eine ernsthafte Gefahr für das Sicherheitsgefüge des Reiches insgesamt dar.154

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VI Regierungsstile – Herrschafts­formen

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er nachfolgende Abschnitt gliedert sich in zwei Teile, die trotz ihrer ­unterschiedlichen methodischen Zugriffe eng miteinander zusammenhängen. Zunächst werden die maßgeblichen Herrschaftsformen der griechischen Antike vorgestellt; anschließend wird über die politische Regierungspraxis im römischen Reich berichtet. Ausgehend von der Betrachtung des ersten Experiments einer umgreifenden politischen Reform in unserem Kulturkreis, wie sie anhand der von Solon angestoßenen Maßnahmen zur Gesundung des Staates (Solonischer Bürgerstaat) sichtbar wird, sollen durch Kontrastierung mit einem Gegenmodell (Kalifat oder Zivilgesellschaft) die spezifischen Merkmale des auf die Antike zurückgehenden Verfassungsstaates verdeutlicht werden. Im Anschluss werden Regierungsmodelle, die sich im griechischen Kulturraum entwickelten, vorgestellt. Von der Alleinherrschaft und von der darauf gegründeten monarchischen Theorie wird ebenso die Rede sein, wie beispielsweise von der Tyrannis als Antipode zur Volksherrschaft. Der Vergleich zwischen der athenischen Demokratie und der aristokratisch geprägten römischen Repu­blik soll sowohl Analogien als auch Unterschiede zwischen den zwei wirkmächtigsten politischen Diskursen der griechisch-römischen Antike zur Sprache bringen. Mit der Untersuchung der res publica populi Romani leiten wir zu den Grundsätzen der caesarischen Politik über (Caesarismus als Macht der Worte, Bilder und Bajonette). Bei deren Betrachtung werden die Mechanismen der Umwandlung einer ­repu­blikanisch verfassten politischen Ordnung in eine monarchische Herrschaftsform sichtbar. Fortgeführt und abgerundet wird die damit eingeleitete politische Entwicklung durch die Errichtung des augusteischen Principats, das hinsichtlich seiner staatsrechtlichen Verankerung im überlieferten politischen Gefüge Roms eine ausführliche Würdigung erfahren soll. Die Konstituierung des spät­antiken Kaisertums in diocletianisch-con­stantinischer Zeit 432

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wird gewertet als Versuch der Konsolidierung der Herrschaftsverhältnisse in einer von Krisen geschüttelten Epoche. Schließlich soll die schleichende Entmachtung der Kaiserherrschaft im Westen als letzter Akt der p ­ olitischen Geschichte der Antike erörtert werden. Damit schließen wir eine Thematik ab (Erosion der kaiserlichen Machtgrundlagen), die trotz des zeitlichen Abstands, der uns von ihr trennt, eine ungebrochene Aktualität bis heute bewahrt hat.

1 Solonischer Bürgerstaat

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ei der Betrachtung der sozialen Verhältnisse im archaischen Griechenland muss man sich vor einem allzu idealisierten Bild der Adelswelt lösen, wie man es anhand von Pindars Oden gewinnen könnte. Die Realität sah oft genug düsterer aus. Überall dort, wo eine oligarchische Herrschaft sich unge­hemmt ausleben konnte, erwiesen sich die Folgen für die Allgemein­ heit als bedrüc­kend, was sich anhand der in Athen herrschenden Spannungen belegen lässt (Ende des 7., Anfang des 6.  Jahrhunderts v.  Chr.).1 Wie Aristoteles berich­tet2, dauerten die sozialen Kon­flikte lange Zeit an: Es ­geschah, dass die Adligen und das gemeine Volk lange Zeit in Zwietracht lebten. Denn ihre Verfassung war in allem übrigen oligarchisch, und außerdem waren die Armen von den Reichen abhängig, sie selbst, ihre Kinder und ihre Frauen. Sie hießen Hörige (pelatai) und Sechstellöhner (hektemoroi), denn für die Pacht bearbeiteten sie die Felder der Reichen. Das ganze Land war in der Hand weniger Leute; und bezahlten die Pächter nicht ihre Pacht, wurden sie selbst und ihre Kinder pfändbar. Die Darlehen wurden von allen bis zur Zeit Solons durch leibliche Haftung gesichert; dieser wurde als erster Fürsprecher des Volkes. Das härteste und bitterste Los war es nun also für die Massen unter dieser Verfassung, sich in Abhängigkeit zu befinden. Selbstverständlich waren sie auch über alle anderen Lebensbedingungen empört, denn sie hatten sozusagen an nichts Anteil. Erst das Archontat des charismatischen Solon (594/3 v. Chr.) leitete eine Wende ein, die den athenischen Staatsverband grundlegend verwandelte. Rückblickend betrachtet, erscheint sein Handeln als Meilenstein im Entstehungsprozess des Verfassungsstaates. Die von ihm auf den Weg gebrachten Gesetzesvorschläge lieferten einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau 433

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einer Zivilgesellschaft und zur Festigung des Gemeinwesens.3 Dieses beruhte auf der Mitwirkung der gesamten Bürgerschaft an den öffentlichen Belangen sowie auf ihrer Fähigkeit, auf konsensuelle Weise sich selbstverantwortlich zu regieren. Solon hat das politische Panorama seiner krisengeschüttelten Heimatstadt mit folgenden Versen beschrieben: Indes wird unsere Stadt (polis), soviel an Zeus liegt, niemals untergehen/ nach seinem Rat nicht, nicht nach seliger Götter Planung überhaupt:/ so hochgesinnt hält, als Garantin, des gewaltigen Vaters Tochter,/ Pallas Athene, schützend ihre Hände über sie./ Nein – ihre große Stadt durch Unverstand zu stürzen/ sind die Bewohner selbst gewillt, von Geldgier übermannt,/ im Bund mit Unrechtsdenken bei des Volkes Führern (demou hegemones)! Denen/ ist ihres großen Frevels (hybris) Folge: schwerer Schmerz, schon vorbestimmt!/ Denn sie verstehen die Gier, sich vollzuschlagen, nicht zu zügeln,/ nicht, die vorhandenen Freuden still zu würdigen beim Mahl./ (…) in Reichtum schwelgen sie, ergeben ungerechtem Tun/ (…) von götter- und gemeinschaftseigenem Besitztum nichts/ verschonend stehlen sie in Raffgier – der von hier, der andre dorther –/ und machen auch nicht halt vor Dikes heiligem Fundament –/ die schweigend ansieht, was geschieht und was davor geschehen,/ doch mit der Zeit unweigerlich erscheint und Strafe bringt./ Das greift jetzt nach der ganzen Stadt als unfliehbarer Wundbrand,/ und in den schlimmen Stand der Schuldknechtschaft gerät sie schnell,/ die inneren Aufruhr (stasis) und den Krieg aus seinem Schlafe aufweckt,/ der vielen jäh vernichtet die geliebte Jugendzeit:/ durch ihrer Feinde Einfluss wird ja rasch die Stadt, die teure,/ zerrieben im Geheimbundkampf, der den Verbrechern lieb!/ Das sind Missstände hier bei uns im Volk. Doch von den Armen/ gelangen viele in ein Land, das ihnen völlig fremd,/ für Geld verkauft, in Fesseln voller Schmach gebunden.4 Die Kurzsichtigkeit des Adels forderte die Kritik des Verfassers des engagierten Gedichtes heraus. Doch der Text enthält eine weitere Botschaft. Die göttliche und die menschliche Sphäre werden getrennt voneinander betrachtet und zwar als miteinander in Beziehung stehende, jedoch als grundlegend unterschiedliche Handlungsfelder. Mit dieser Abgrenzung bricht sich eine der wichtigsten Grundlagen des politischen Diskurses der Griechen Bahn. Sie sollte eine Folgewirkung entfalten, die bis zum heutigen Tag fortdauert. Solons Projekt, das keineswegs den Interessen der Aristokratie abträglich war, sollte diese in das politische Getriebe des Staates integrieren, ihre Mitglieder für die Mitarbeit an der Polis gewinnen, um gleichzeitig ihren Drang nach Ruhm und Ehre zum Vorteil der Staatsinteressen und des Allgemeinwohls zu kanalisieren.5 434

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Als Solon in einem anderen Kontext seine Mitbürger dazu anspornte, die Waffen gegen ihre Nachbarn zu ergreifen, tat er dies, um alle Mitglieder der Gesellschaft zu mobilisieren; denn von ihrem Erfolg hing die Handlungsfähigkeit der Polis ab. Nur eine konzertierte Aktion vermochte die Herausforderungen der Zukunft zu meistern.6 Von daher erklärt sich sein Ziel, jene Hindernisse aus dem Weg zu räumen, welche die Effizienz des politischen Systems behinderten. In diese gedankliche Argumentationskette fügte sich sein Entwurf einer timokratischen Verfassung ein, welche die politische Machtausübung auf eine neue materielle Basis stellte. Stärker als in der Vergangenheit wurde nun die wirtschaftliche Leistung des Einzelnen berücksichtigt. An erster Stelle kamen diejenigen, die 500 medimnoi (1 medimnos = ca. 52 Liter) Weizen erwirtschafteten und die mit dem Kunstwort pentakosiomedimnoi bezeichnet wurden. Danach folgten die Ritter (hippeis), die ein Minimum von 300 medimnoi erbrachten. Ihnen schlossen sich die zeugitai an, das waren diejenigen, welche zwischen 200 und 150 medimnoi nachweisen konnten. Schließlich kam die Masse der Bevölkerung (thetes), das heißt, die Bürger ohne oder mit nur kleinem Landbesitz.7 Innerhalb dieses Schemas der sozioökonomischen Erfassung der Bürgerschaft war der Landbesitz unabdingbar, um den Status jedes Einzelnen zu bestimmen.8 Bereits während des 7.  Jahrhunderts v.  Chr. hatte sich das Problem der großen Disproportion im Landbesitz, der in wenigen Händen lag, erheblich zugespitzt. Die wirtschaftlichen Missverhältnisse hatten diejenigen, die sich außerstande sahen, ihre Schulden bei den Landeigentümern zu begleichen, in einen Zustand der faktischen Leibeigenschaft gegenüber ihren Gläubigern gebracht. Diese soziale Schieflage, die sich nicht nur in Athen ergab, sondern auch in anderen griechischen Städten beobachtet werden kann, versuchte Solon zu beheben: Ich also hätte das, weswegen ich vereint/ das Volk (demos), tatsächlich, ehe ich es erreicht, gestoppt?/ Dagegen zeugt mir wohl vor dem Gericht der Zeit/ die Mutter (keine größere gibt es) der Götter vom Olymp/ am besten: sie, die schwarze Erde (ge melaina), die ich einst/ enthob der Schuldenmale (horoi), vielfach eingerammt:/ zuvor ins Sklavenjoch gebeugt, ist sie jetzt frei (eleuthera)!/ Und viele habe ich nach Athen, ins Land der Väter (patris) gottgeschenkt,/ zurückgeführt, die man verkauft (den einen wider das Recht,/ den andern rechtens), ferner die, die  – unterm harten Zwang / der Schuldenlast geflüchtet – gar nicht Attisch mehr/ beherrschten, weil sie vielerorts weit weg umhergeirrt./ Und die, die hier am Ort schmachvolle Sklaverei (doulíe)/ ertrugen, zitternd vor den Launen ihrer Herrn (despotes),/ die habe ich frei (eleutheros) gemacht! – Bis dahin war es Kraft,/ mit der ich – Zwang und Recht (bia 435

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kai díke) vereinend zum Verbund –/ gehandelt und den Plan erfüllt, so wie ich es versprach./ Doch dann habe Satzungen (thesmoi) für niedrig und für hoch,/ indem ich jedem Tatbestand sein striktes Recht (dike) zumaß,/ ich festgesetzt. Ein andrer, hätte die Geißel er wie ich/ im Griff gehabt, ein Ränkeschmied und geldversessener Mann,/ hätt’ nicht gehemmt das Volk! Denn: hätte ich gewollt,/ was den verfeindeten Parteien gefiel zu jener Zeit –/ und erst, was ihnen die je andern zugedacht! –:/ von vielen Männern hätte dann sich diese Stadt (polis) entblößt!/ Darum (die Kraft zum Widerstand holte ich mir überall)/ Habe unter vielen Hunden ich gedreht mich wie der Wolf! 9 Die Schuldknechtschaft wurde durch ein Gesetz abgeschafft, das den rechtlichen Status des hektemoroi (wörtlich, „dazu gezwungen, 1/6 seiner Produktion abzugeben“) beseitigte, und künftig den Übergang athenischer Bürger in die Hörigkeit verbot.10 Da aber die Schuldsteine nur symbolisch entfernt wurden und somit der ungleiche Landbe­sitz fortbe­stand, bedeutete die Abschüttelung der Schulden­(seisachtheia) zwar einen Fortschritt, der das Grundübel der ökonomischen Asymmetrie auf Dauer jedoch nicht beseitigen konnte. Dennoch bewirkten diese Regelungen eine Verbesserung, wenn auch keine definitive Lösung der sozialen Frage. Außerdem erwies sich die Beseitigung der Schuldknechtschaft nicht als zeitlich befristete Aktion, um eine unhaltbare Situation zu lindern, sondern sie blieb auf Dauer in Geltung. Auf diese Weise konnte verhindert werden, dass ein Teil der Bevölkerung in absolute Armut geriet. Gleichzeitig wurde ein juristischer Präzedenzfall geschaffen, da von nun an die besitzlosen Athener nie mehr zum Eigentum ihrer Mitbürger werden konnten. In vielen orientalischen Staaten fanden aus bestimmten Anlässen regelmäßig Begnadigungen statt, um diejenigen zu befreien, die aufgrund von Schulden in die Knechtschaft ihrer Gläubiger geraten waren. In diesen Fällen handelte es sich aber lediglich um punktuelle Gnadenakte, welche die Gültigkeit des Systems der Schuldknechtschaft nicht in Frage stellten. In Solons Athen, das in dieser Hinsicht zu einem Vorbild für die anderen griechischen Städte werden sollte, wurden die von Bürgern zu leistenden Frondienste endgültig überwunden, womit eine auf der juristischen Gleichheit aller Politen beruhende neue gesellschaftliche Plattform geschaffen wurde. Alle Mitglieder der Polis wurden dazu angehalten, sich an den öffent­ lichen Angelegenheiten zu beteiligen, sich einzubringen und zu den zur ­Debatte stehenden politischen Fragen Stellung zu beziehen. Gerade dieser Anspruch wird in einer Passage des Aristoteles zugeschriebenen Textes über die Verfassung der Athener festgehalten, in dem hervorgehoben wird, bis zu welchem Ausmaß die Identifikation der Bürger mit dem Staat gehen sollte: 436

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Solon hatte ein Gesetz über die Anzeige solcher Leute erlassen. Da er beobachtet hatte, dass der Staat oft in Bürgerkrieg (stasis) geriet, dass aber einige Bürger aus Gleichgültigkeit den Dingen ihren Lauf ließen, erließ er gegen sie ein besonderes Gesetz: wer nicht für eine der beiden Parteien zu den Waffen greife, wenn der Staat im Bürgerkrieg sei, der solle sein Bürgerrecht verlieren und kein Mitglied des Staates mehr sein.11 Das Wohl der Polis war von der Befolgung der Gesetze und von dem Bemühen nach sozialer Gerechtigkeit abhängig – so könnte man das solonische Programm auf eine Kurzform bringen  –, aber es war noch mehr als das.12 Aus Erfahrung wusste er, dass sich seine Reformen nur verwirklichen ließen, wenn eklatante soziale Ungleichheit, die politische Spannungen verursachte, vermieden wurde. Unüberhörbar schwingen hier Hesiods Beschwörungen der Gerechtigkeit mit. Doch Solons Vorschläge waren konkreter und politischer. Hesiods Appelle richteten sich an die staatstragenden Führungsschichten, Solon dagegen sprach alle Politen als Träger des Gemeinwesens unmittelbar an und nahm sie gleichzeitig in die Pflicht. Während bei Hesiod die Bande zwischen Rechtsuchenden und Rechtsprechenden Individual­ beziehungen mit bedingter Rückwirkung auf die gesamte Gesellschaft widerspiegelten, hing bei Solon der Sieg der Gerechtigkeit (dike) von der Mitarbeit aller Bürger am Gemeinwesen ab. Wie viele andere politisch engagierte Intellektuelle prangerte auch Solon die Habsucht an, weil sie Übermut und Ungerechtigkeit erzeugte. Allerdings sah er im Gegensatz zu Alkaios von Mytilene oder Theognis von Megara im Kontrast von Tugend und Reichtum keinen prinzipiellen Antagonismus zwischen vornehmer Abstammung und Besitz. Vielmehr deutete er die aus diesem Vergleich resultierende Spannung als die Differenz zwischen dem ehrenhaften Standpunkt eines für das Gemeinwohl tätigen Bürgers gegenüber der Polis und der egoistischen Sucht eines, allein seinen ureigenen Bedürfnissen gehorchenden Individualisten. Die Befolgung ethischer und sozialer Grundsätze wog mehr als das Festhalten an überholten Standesunterschieden. Solon wollte Missstände durch allgemein akzeptierte Regelungen beseitigen, die allen Bürgern ein mehr an Gerechtigkeit versprachen. Sein Maßnahmenbündel ist das erste Beispiel eines ehrgeizigen Reformprojektes zur Stärkung einer durch Fehlentwicklungen geschwächten Polis.13 Insgesamt betrachtet umfassten die einzelnen Initiativen wirtschaftliche, gesellschaftliche, militärische, juristische und politische Belange. Sie boten Teillösungen an, die aufgrund ihrer gegenseitigen Verzahnung eine Dynamisierung der staatlichen Aufgabenbereiche ermöglichten. Von diesem Moment an lässt sich ein qualitativer Sprung in Hinblick auf das Selbstver­ 437

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ständnis der politischen Gemeinschaft beobachten. Alle ihre Mitglieder erhielten die Gelegenheit, sich als geschlossener Bürgerverband zu begreifen, weil störende Hindernisse mit den Mechanismen der Gesetzgebung ausgeräumt werden konnten, etwa die schmachvolle Unterdrückung eines Teils der Bevölkerung aufgrund der Schuldknechtschaft. Durch die Integration aller Bürger erweiterte die Polis ihren Aktionsradius, indem sie in die Privatsphäre eindrang und neue juristische Räume der Freiheit eröffnete, die exemplarisch werden sollten.14 Ein weiterer Plan Solons, die Neugestaltung des Zensus, bettete die bürgerliche Partizipation in ein Verfassungsmodell, das den individuellen Beitrag jedes Mitgliedes für die Gemeinschaft belohnte, dem sie Macht und Rang je nach seinen ökonomischen Möglichkeiten einräumte. Vor Solon war der entscheidende Faktor, um das Hab und Gut der Bürger zu messen, ihr ererbter Landbesitz. Nun werden es die Einkünfte jedes Einzelnen sein, die den Grad seiner politischen Einflussmöglichkeiten bestimmen. Durch die Einführung eines derartigen leistungs­bezogenen Kriteriums in das politische System Athens wurde die soziale Interaktion flexibilisiert und den individuellen Fähigkeiten der Politen angepasst. Auf diese Weise vermochten sich die wirtschaftlich aufstrebenden Gesellschaftsschichten mit dem Geburtsadel gleichzustellen, ihn zu übertrumpfen oder gar diesem die Leitung der politischen Institutionen streitig zu machen. Dadurch wurde die innere Ordnung der Polis gelockert. Sie erschloss dem athenischen Staat ein neues Arsenal von Potenzialen: Denn dem Volk gab ich ein Ehrgeschenk (geras), wie es genug ist,/ und nahm von seiner Ehre (time) weder etwas fort noch tat ich etwas dazu./ Die aber Macht (dynamis) hatten und um ihres Besitzes (chrema) willen bewundert waren,/ auch für die war ich bedacht, dass sie nichts Ungebührliches erhielten./ Ich stellte mich hin und warf einen starken Schild über beide,/ und siegen ließ ich keinen von beiden auf ungerechte Art (adikos).15 Insgesamt orientierte sich Solons Tätigkeit sowohl an rationalen als auch an humanen Parametern. Trotz seiner engen Beziehungen zu den religiösen Zentren Griechenlands, wie etwa Delphi16, übernahm keine Gottheit die ­Patenschaft seines Reformwerks. Ohne auf das Instrument der göttlichen Offenbarung zu setzen, geschah alles, was in die Wege geleitet wurde, nach dem Wunsch der Mehrheit einer Bürgerschaft, die sich der politischen Auswirkung der getroffenen Maßnahmen voll bewusst war. Um die Tragweite der solonischen Gesetzgebung zu kennzeichnen, sei nun der Anachronismus erlaubt, auf spätere Konzepte wie Repu­blikanismus und Meritokratie hinzuweisen. Derartige Begriffe sind schon deswegen angebracht, weil sie den Ausgangspunkt unserer modernen Verfassungsstaaten darstellen, die sich 438

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auf partizipative Zivilgesellschaften gründen, die sich aus eigener Kraft erneuern können. Solons politische Ideen wurden auf zweifache Weise zum Modell. Einerseits, weil sie von anderen griechischen Staaten nachgeahmt werden sollten, die ihr jeweiliges Verfassungsgerüst auf ähnliche Weise veränderten, wie dies in Athen geschah. Andererseits, weil sie durch das erfolgreiche Zusammenwirken aller Bevölkerungsschichten ein Beispiel für die Nachwelt schufen. Vor allem im politischen Denken des 4. Jahrhunderts v. Chr. wird Solon Vorbildcharakter erhalten, indem ihm die Vaterschaft der ­attischen Demokratie zugeschrieben wurde.17 Dieser Umstand, der die späteren Beiträge, wie etwa den Anteil des Kleisthenes, zu minimalisieren pflegte und aus dem legendären Gesetzgeber den Urheber der Demokratie machte, war der damaligen Krise des Verfassungssystems geschuldet und der Tendenz, Lösungen und Vorbilder in der Vergangenheit zu suchen. Die durch den Filter des 4. Jahrhunderts v. Chr. konstruierte Gestalt des Solon zeichnete ihn als gerechten Schiedsrichter aus, der durch Ausgleich und Versöhnung ein Gleichgewicht zwischen demos und Adel schuf, ohne dabei auf radikale Maßnahmen zurückzugreifen. Jenseits solcher idealisierten Überhöhungen des athenischen Staatsmannes bietet Solon das erste Beispiel einer Verfassungsreform auf griechischem Boden. Sie verdeutlichte, mit welchen Mitteln die Überwindung einer tiefen Krise des politischen Systems angegangen werden konnte. Eine solche Handlungsweise verwies auf die Möglichkeit, die Institutionen des Staates bei Bedarf zu verändern. Zu betonen ist dabei, dass die ergriffenen Maßnahmen aus der inneren Architektur des Systems heraus entwickelt wurden und auf die Optimierung seiner Funktionsfähigkeit abzielten. Die grundlegenden Ideen der eingeleiteten Reformvorschläge waren von der Bereitschaft einer Bürgerschaft getragen, die aus dem Wettbewerb der Meinungen die für sie angemessenen Schlussfolgerungen zog. Abgesehen von der unstrittigen Relevanz der politischen Aktivitäten Solons sollten die Schwächen seines Reformprojektes jedoch nicht kleingeredet werden. Kurz nach seiner Umsetzung setzte sich die Konfrontation zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen fort, vor allem innerhalb der führenden Adelsgruppierungen. Der Aufruf an die Bürger, Verantwortung für die Polis zu übernehmen, vermochte weder das Aufkommen des Tyrannen Pei­ sistratos, noch den Staatsstreich des Kylon, seines erfolglosen Epigonen, zu verhindern. Dennoch schufen Solons Reformen, trotz ihrer Defizite, den anerkannten Verfassungsrahmen, den selbst in der Tyrannisära niemand in Frage zu stellen wagte. Daher wird das solonische Modell alle späteren poli439

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tischen Verwerfungen überleben und als Baustein für die Errichtung des demokratischen Systems der Athener dienen. Von einem übergreifenden Blickwinkel aus betrachtet, agierte der Reformer wie ein Chirurg, der die Mängel des Politikbetriebes in Augenschein nahm und zielgerichtet behob. Aus dieser Perspektive erschien der Staat als ein zerbrechlicher Organismus, der zwar von einer Krankheit befallen war, jedoch nach einer Diagnose und einer angemessenen Therapie wieder genesen konnte. Nicht zum ersten Mal lässt sich eine rationalistische Inspiration in der politischen Gedankenwelt des archaischen Griechenlands feststellen. Von keiner äußeren Macht, von keinem übernatürlichen Einfluss und keiner Gottheit, von keinem legendären Helden oder providenziellen Individuum wird die Lösung der Probleme des Gemeinwesens erwartet. Die erforderlichen Heilkräfte mussten aus der kollektiven Anstrengung und dem Zusammenspiel der Betroffenen erwachsen. Urheber und Adressat war der Bürgerverband, der auf diese Weise seine Kapazität zur Problemlösung unterstrich, indem er das eigene Schicksal in die Hand nahm. Um dies zu kennzeichnen, hat Jochen Bleicken eine griffige Formulierung gefunden, die wie das Resümee der solonischen Tätigkeit klingt: „Die menschliche Ordnung war verfügbar geworden.“18

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2 Kalifat oder Zivilgesellschaft Ob der Koran von Ewigkeit sei? Danach frage ich nicht! Ob der Koran geschaffen sei? Das weiß ich nicht! Dass er das Buch der Bücher sei Glaub ich aus Mosleminen-Pflicht. Dass aber der Wein von Ewigkeit sei Daran zweifle ich nicht. (Goethe, West-Östlicher Diwan)

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rkennen wir die solonische Verfassung als eine von freien Bürgern getragene Kollektivregierung, die zwar den Gottheiten Respekt zollte, ohne sie jedoch zu den Urhebern der politischen Schicksale der Menschen zu erheben, und die der Individualität ihrer Glieder verpflichtet blieb, und versucht man sie, mithilfe eines Gegenmodells zu konturieren, so kommt man unweigerlich auf die unter dem Stichwort Kalifat sowohl religiös wie auch politisch und sozial festgefügte islamische Gemeinde (umma). Aus dieser Perspektive erweist sich die politische Organisationsform des frühen Kalifats als Gegenentwurf zur Zivilgesellschaft der Antike oder umgekehrt: Eine frei verfasste bürgerliche Gesellschaftsordnung erscheint als die natürliche Alternative zu einem politischen Kultverband, der den göttlichen Geboten unterworfen ist. Nicht umsonst definiert sich der Islam als die von Menschen freiwillig vollzogene Ergebung unter den Willen des einzigen Gottes. Mit dieser kontrastiven Betrachtungsweise lässt sich ein überaus virulenter politischer und kultureller Antagonismus unserer Tage beschreiben, der auf konträre Lebensauffassungen verweist. Während der athenische Staatsmann Solon, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde, unter Beteiligung der Bürgerschaft und ohne Zuhilfenahme göttlicher Assistenz die Grundlinien eines Politikverständnisses entwarf, das uns heute trotz zahlreicher Abwandlungen in seinen Grundzügen in den demokratischen Gesellschaften des Westens begegnet, unterscheidet sich das Wesen des Kalifats davon grund­ legend. Es bildet gewissermaßen eine Antipode zum solonischen Staats­ verständnis. Das Kalifat gründet auf der Befolgung göttlicher Gebote. Sie 441

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v­ erleihen der davon abhängigen politischen Gemeinde Geborgenheit, Halt und Sinnhaftigkeit. Diese und nicht die von Menschen untereinander getroffenen Vereinbarungen bleiben für die Bewältigung der Gegenwart und Zukunft maßgeblich. Die koranischen Offenbarungen bilden den Bezugspunkt und die Richtlinie jeder politischen Tätigkeit, an deren Maßstäben sich jeder Korangläubige orientieren und messen lassen muss. Innerhalb dieses auf die unumstößliche göttliche Autorität gegründeten theokratischen Systems wirkt der Kalif als Interpret der in Buchform vorliegenden göttlichen Weisungen. Deren Verbindlichkeit im privaten wie im öffentlichen Bereich steht außer Zweifel. Sie stehen nicht zur Disposition, sondern müssen von dafür eigens Befugten, sogenannten Schriftgelehrten, immer wieder gedeutet und in konkrete politische Richtlinien übersetzt werden. Dies setzt eine eminent andere staatliche Architektur voraus, als die von Solon geschaffene Bürgergesellschaft, die das Gehäuse seines Staatsverständnisses bildet. Die Schriftgelehrten jedoch, als die Interpreten des göttlichen Willens, trachten danach, die religiöse und politische Deutungshoheit zu erlangen, um damit die Beschlüsse des Bürgerverbands zu ersetzen. Während das von den Griechen vorgelebte, auf die aktive Bürgerbeteiligung am Gemeinwesen gegründete Staatsverständnis von einer Verfassung eingerahmt wird, die sich die Bürger des betreffenden Gemeinwesens selbst verordnen und die jederzeit verändert oder an neue Gegebenheiten angepasst werden kann, braucht das Kalifat keine Verfassung, keinen Wandel, im Grunde ­genommen auch keinen Staat und keine Politik, weil all das, was für das menschliche Zusammenleben unter Korangläubigen konstitutiv ist und worauf es ankommt, schon in dem von Gott gegebenen Heiligen Buch verzeichnet, also geregelt ist. Daher ist der Koran Gesetzesbuch, Ratgeber, Wegweiser und letzte Entscheidungsinstanz und als solche nicht verhandelbar. Lediglich die Deutung bestimmter Punkte kann variieren, sofern nicht grundlegende Positionen der Glaubenslehre davon tangiert werden. Die solonische Verfassung dagegen ist viel anfälliger und fragiler und etwa durch soziale Konvulsionen stets gefährdet. Sie lässt sich jederzeit ergänzen, berichtigen, verändern, abschaffen oder gar bei Bedarf neu konzipieren, ohne dass deswegen die Fundamente der Weltsicht der daran Beteiligten erschüttert werden. Darauf beruht der signifikante Unterschied zwischen der in den Fußstapfen Solons stehenden politischen Kultur der repu­blikanisch verfassten laizistischen Staaten und Gottes Reich auf Erden, wie es das Kalifat sein will. Menschliche Entwürfe sind relativ, verbesserungsbedürftig und endlich, göttliche Gebote dagegen erheben den Anspruch zeitlos, absolut und vollkommen zu sein. Sie stehen außerhalb der 442

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2  Kalifat oder Zivilgesellschaft

Verfügungsmacht der Menschen. Anders als im solonisch inspirierten Umgang mit Fragen des politischen Zusammenlebens ist im Kalifat das Eigengewicht des Individuums gering bis verzichtbar. Lediglich die Durchsetzung göttlicher Botschaften, unbeschadet der Tatsache, wer sie definiert  – denn darauf beruht die Autorität der Schriftgelehrten  –, bleibt unverzichtbarer Auftrag und Ziel der Gläubigen, die zugleich Staatsbürger sind und in der Geborgenheit einer sinnstiftenden göttlichen Macht eingebettet bleiben, die ihnen ein hohes Maß an sozialer Sicherheit und an politischem Heimat­ gefühl vermittelt. Ein weiteres entscheidendes Kriterium der modernen Zivilgesellschaften ist die Säkularität, die Trennung von Staat und Religion aufgrund von Zugeständnissen, die im Lauf der Jahrhunderte nach zähem Kampf von der Bürgerschaft den einst allmächtigen christlichen Kirchen abgerungen worden sind, die keineswegs freiwillig auf ihre Schirmfunktion in Staat und Gesellschaft verzichtet haben. Im Gegenteil: Die Entfernung der Kirchen aus dem politischen Spektrum des Staates geschah keineswegs aus Einsicht seitens der religiösen Autoritäten; ihre Ansprüche auf Deutungshoheit und Vorrang mussten ihnen erst nach erbittertem Widerstand beschnitten werden. Die als Ergebnis dieses Tauziehens sich ergebenden Modalitäten bedürfen stets der Mehrheit der Gesellschaft, die den Stellenwert der Religion innerhalb des Staates nach Maßgabe ihrer Interessen frei bestimmt, was bedeutet, dass am Ende dieses Machtkampfes die Verfassungsnormen über die religiösen Gebote obsiegen. Daher gilt in den säkularisierten, aufgeklärten Gesellschaften der Neuzeit im Konfliktfall die Verfassung und nicht die Bibel als Richtschnur politischen Handelns. Bereits die solonische Verfassung, die darin richtungsweisend wird, kennt den Primat des Politischen. Auch erscheint sie frei von theokratischen Konnotationen. Für die Staaten der Gegenwart, die sich den antiken Wurzeln verpflichtet sehen, gilt dies erst recht. Laizistische Tendenzen, wie etwa im repu­blikanischen Frankreich, dienten zeitweise als Maßstab für die Staats­ bildung der Moderne. Davon ist die islamische Staatenwelt weit entfernt. Der sämtliche Lebensbereiche der politischen Tätigkeit, der privaten Lebensführung und des Staatsverständnisses durchdringende Absolutheitsanspruch der koranischen Lehre gewährt nur einen eng bemessenen Raum für individuelle Abweichungen und den davon abhängigen politischen Schlussfolgerungen und Zielsetzungen. Ihr Zwang zur religiösen Konformität erschwert zusätzlich die Herausbildung von Meinungspluralität und aller Initiativen, die den Toleranzrahmen der von den maßgeblichen Schriftgelehrten ausgedeuteten göttlichen Offenbarungen sprengen könnten, sowie die Entfaltung 443

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einer jenseits der geltenden religiösen Observanz auftretenden, sich selbst genügenden Zivilgesellschaft. Was die Frage der Herrschaftsausübung betrifft, ist das Modell der repu­ blikanisch verfassten Zivilgesellschaften durch die Beteiligung der Bürger, jeder nach Maßgabe seiner Möglichkeiten, an der Regierung des Gemein­ wesens gekennzeichnet. Die Verteilung der Macht auf die von der Verfassung dafür vorgesehenen Institutionen, die Verwaltung der Ämter durch die Bürger sowie ihre Entscheidungsbefugnis in Fragen der Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit sind die zentralen Themen im solonischen Staatswesen. Wahlen, Mehrheitsbeschlüsse, Kontrolle der staatlichen Organe und im Idealfall eine von der Exekutive unabhängige Justiz (was im antiken Athen nicht erreicht wurde) sichern die Funktionalität des Politikbetriebes und sorgen gleichzeitig dafür, dass die Öffentlichkeit der Debatten, die zur Entscheidungsfindung führen, gewährleistet wird. Ein komplexes System der Interaktion zwischen den Verfassungsorganen, das von individuellen Anfragen oder Gruppeninitiativen, Kontrolle der Staatsorgane und Pflicht zur Rechenschaftslegung erfüllt ist, bildet die Architektur der zivilgesellschaftlich organisierten Herrschafts- und Machtausübung. Wie sieht es im Vergleich dazu im Kalifat aus? Nun könnte man annehmen, dass, angesichts der beeindruckenden Leistungen muslimischer Gelehrter bei der Rezeption des geistigen Erbes des klassischen Altertums, gerade die antike politische Theorie, die Mutter des Verfassungsstaates der Neuzeit, der islamischen Intellektualität eine eingehende Betrachtung wert gewesen wäre. Doch genau dies ist nicht der Fall. Bezeichnenderweise sollte nicht Aristoteles, sondern Plato bei der Errichtung des Denkgebäudes des politischen Islams maßgeblich werden. Erinnern wir uns daran, dass im platonischen Idealstaat, wie wir ihn aus der Politeia und den Gesetzen kennen, kein öffentlicher Raum, keine Wahlen oder politische Debatten vorgesehen sind. Die Entscheidungen treffen hier die Weisen, die sich an unveränderliche, dem Willen der Mehrheit entzogene Regeln halten. So kann nicht besonders verwundern, dass die bedeutenden muslimischen Denker des Mittelalters, der Blütezeit der islamischen Kultur, wie etwa Avicena, Platons Ansichten für maßgeblich erachteten. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Es ist gerade dieses Dilemma, das gegenwärtig die Demokratisierungsbewegungen, welche die Voraussetzungen für den Ausbau einer Zivilgesellschaft bilden, in den muslimischen Ländern ungemein erschwert.

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3 Politische Diskurse Alleinherrschaft

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s überrascht nicht, dass die Entstehung und Begründung staatlicher Herrschaft sowie das Spannungsverhältnis zwischen Machtausübung (arche) und Verblendung der Macht (hybris) ein immer wiederkehrendes Motiv im Werk des politologisch versierten ersten Historikers der Griechen, Herodot, darstellt. Dies ist besonders in jenen Kapiteln der Fall, die das Machtgebaren politisch ambitionierter Individuen kritisch beleuchten. In der Gestalt des Deiokes hat die Behandlung dieses Themas gleich zu Beginn des Kyros-Logos eine wegweisende Würdigung erfahren. Seit der Antike wird hier das Grundschema der Genese der Alleinherrschaft erkannt (Plutarch).19 Ob aber der in den Annalen des Sargon erwähnte medische Fürst Dajaukku, der vom Assyrerkönig Sargon  II. nach Hamath (Syrien) deportiert wurde, identisch ist mit dem von Herodot (1, 96–101) als Begründer der medischen Monarchie verewigten Deiokes, bleibt zwar umstritten, ist für unsere Fragestellung jedoch zweitrangig.20 Die wesentlichen Aussagen des herodoteischen Deiokes-Logos, der keinen historischen Abriss über die medische Staatsbildung bietet, sondern mit Blick auf das griechische Publikum vielmehr das Nachdenken über die Problematik des Herrschaftserwerbs und der Machterhaltung anstoßen möchte, lauten folgendermaßen: Als alle Völker des Festlandes schon selbständig geworden waren, wurden sie auf folgende Weise wieder der Gewalt von Alleinherrschern unterworfen. Bei den Medern lebte ein weiser Mann namens Deiokes, ein Sohn des Phraortes. Dieser strebte nach der Alleinherrschaft (…). In seinem Dorf (…) war er schon vorher ein angesehener Mann und bemühte sich jetzt noch mehr und eifriger um Recht und Gerechtigkeit, indem er sich ganz beidem widmete. Das tat er zu einer Zeit, als große Gesetzlosigkeit über ganz Medien hin herrschte (…). Als der Zudrang zu ihm immer größer wurde (…), erkannte Deiokes, dass er alles in der Hand hatte (…). Als man sofort beriet, wen man zum König machen solle, wurde hauptsächlich Deiokes vorgeschlagen (…). Er befahl nun, sie sollten ihm einen Palast bauen, wie er sich für einen König zieme, und ihm als Macht eine Leibwache stellen (…). Als er so die Herrschaft in seine Hand bekommen hatte, zwang er 445

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die Meder, sich in einer einzigen Stadt anzusiedeln und, indem sie dies besorgten, um alles andere sich nicht mehr zu kümmern (…). Sie sollten ihn für ein Wesen anderer Art halten, wenn sie ihn nicht sahen.21 Als auffälliges Merkmal des herodoteischen Narrativs erweist sich die Verwendung utilitaristischer und rationaler Argumentationsschemata, um die Machtballung zu umschreiben, die sich in der Person eines Individuums, in diesem Falle des Deiokes verdichtete. In den meisten vergleichbaren Fällen, in denen der politische Aufstieg eines Potentaten oder einer neuen Dynastie dargestellt wird, spielt die göttliche Vorsehung (nachvollziehbar anhand von Weissagungen, Prodigien oder Orakelsprüchen) eine entscheidende Rolle bei der Betonung der Auserwähltheit des Betroffenen, wie dies etwa in der ­Kyros-,22 Kypselos-23 oder Peisistratossaga24 erkennbar ist. Im Vergleich dazu wird im Falle Deiokes’ der Beteiligung bestimmter Gottheiten oder der Wirkkraft übernatürlicher Konstellationen kein Raum gewährt. Aber nicht nur darauf beruht die Ausnahmestellung dieses bemerkenswerten Textes. Eine weitere Besonderheit liegt in der Botschaft begründet, die den Kern der Erzählung bildet und als Paradigma für die Genese uneingeschränkter Herrschaft gelesen werden kann. Sie wird durch Sätze verdeutlicht wie: So wie jetzt geht es nicht mehr weiter. Wenn wir es noch länger so treiben, sind wir bald nicht mehr in der Lage, das Land zu bewohnen. Lasst uns denn einen König wählen! Dann wird wieder Ordnung und Gesetz im Lande herrschen, wir können uns unserer gewohnten Arbeit widmen und werden nicht durch gesetzloses Treiben zum Auswandern gezwungen. Mit ungefähr diesen Worten überredeten sie (sc. die Meder) sich, einen König zum Herrscher zu nehmen.25 Im Mittelpunkt von Herodots Bericht über die Errichtung der Alleinherrschaft in Medien steht die Aussage, dass Deiokes auf Verlangen seiner Stammesgenossen die Königswürde erhielt und den Thron im Konsens mit der öffentlichen Meinung bestieg. Ebenfalls wird das Augenmerk auf den tiefgreifenden strukturellen Wandel gelenkt, den Deiokes’ Erhebung zur Führungsfigur auslöste: Den Beginn der Staatlichkeit in Medien. Aufgaben, die bislang unkoordiniert erledigt worden waren, wurden nun von der neu geschaffenen Zentralgewalt angegangen, ständige Organe besorgten ihre effiziente Durchführung. Damit wird angedeutet, dass die Monarchie nicht nur am Anfang des Staates stand. Diese soll ebenfalls einen Beitrag zur Stärkung der stammesmäßigen Zugehörigkeit des medischen Volkes sowie der politischen Kohärenz geleistet haben, indem sie die Erneuerung des Gemeinwesens förderte, ähnlich wie manche griechische Tyrannenherrschaft, die sich an einer Nahtstelle zwischen der Adels- und Bürgerpolis behauptete.26 Doch gibt es in Herodots Bericht einen zweiten, gegenläufigen Erzählstrang, der 446

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3  Politische Diskurse

sich in einer Reihe von Anspielungen auf Deiokes’ Verschlagenheit, seinen Machthunger und sein übersteigertes Selbstbewusstsein manifestiert und ihn in eine zwielichtige Position rückt. Manches davon erinnert an die von den griechischen Machtmenschen der archaischen Zeit angewandten Methoden zur Begründung einer Einzelherrschaft.27 Dafür spräche die Tatsache, dass der Umschlag (metabole) von der Anarchie zur Alleinherrschaft in der staatstheoretischen Diskussion der Sophistik fest verankert war, wie aus einem Erklärungsmodell des Anonymos Jamblichos hervorgeht: Es entsteht auch die Tyrannis, ein Unglück von solcher Art und Größe, aus nichts anderem als aus Gesetzlosigkeit (…). Denn wer glaubt, ein König oder ein Tyrann entstehe auf einem anderen Boden als auf dem der Gesetzlosigkeit und der Habsucht, ist ein Tor. Sobald sich alle Leute der Schlechtigkeit ergeben haben, dann pflegt das einzutreten; denn die Menschen sind nicht in der Lage, ohne Gesetze und Recht zu leben. Sooft daher diese beiden aus dem Volk verschwinden, Gesetz und Recht, so geht alsdann ihre Betreuung und Behütung in die Hände eines Einzelnen über. Wie anders sollte sonst die Alleinherrschaft einem Einzelnen zufallen, wenn nicht durch Beseitigung des Gesetzes, das dem Volk zuträglich ist? 28 In der Ausgangslage, die zur Etablierung der peisistratidischen Tyrannis in Athen führte, liegt eine Analogie zu der Zerrissenheit der inneren Verhältnisse Mediens vor Deiokes’ Machtübernahme begründet; und wie Uwe Walter verdeutlicht hat, ist ebenfalls die enge Verflechtung der Deiokesgeschichte mit der am Perserhof geführten herodoteischen Verfassungsdebatte, die dem Aufstieg des Dareios vorausging, in die Betrachtung einzubeziehen.29 Auf die historische Ebene übertragen heißt dies: Nach dem Zerfall der Assyrerherrschaft erlangten die Meder die lang ersehnte Freiheit (eleutheria), die sie vor fremder Bedrückung bewahrte. Spinnt man den Gedanken auf einer theoretischen Ebene weiter, so lässt sich daraus folgern, dass aus Gesetzlosigkeit (anomia) eine wie auch immer geartete Einzelherrschaft (tyrannis) entstehen kann. Damit fassen wir ein längst vor Herodot eingebürgertes – die Wurzeln dieses Gedankens reichen vermutlich bis auf Solon zurück30 – Paradigma aus der politischen Theorie des Verfassungskreislaufes, was uns in das Zen­trum der Debatte rund um die Zweckmäßigkeit der Monarchie führt.

Monarchische Theorie Herodots Verfassungsdebatte (3, 61–80) ist ein wichtiges Zeugnis für die ­politische Ideenwelt der griechischen Klassik. Der historische Hintergrund dieser erstaunlichen Textpassage lässt sich wie folgt rekonstruieren: Nach 447

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dem Tod des Kambyses 522 v.  Chr. geriet die von Kyros begründete und durch seinen Nachfolger ausgeweitete Machtstellung der Perser in eine schwere Krise. Der Magier Gaumata, der sich als Kyros’ Sohn Smerdis ausgab, vermochte mithilfe der Meder die Königswürde an sich zu reißen, bis er schließlich Opfer einer persischen Verschwörung wurde. Aus diesem Kreis trat Dareios, der Sohn des Hystaspes, hervor, dem es gelang, den Thron zu besteigen.31 Die Ursachen der politischen Erschütterungen, die am Ende der Regierungszeit des Kambyses ausbrachen, waren vielfältig. Allem Anschein nach überforderte die persische Expansionspolitik die Kräfte seines Reiches. Die ägyptische Expedition des Kambyses konnte nur durch Aufbietung aller verfügbaren Kräfte erfolgreich abgeschlossen werden. Der Aufstand der ­Mager ist das sichtbarste Indiz für die zentrifugalen Kräfte, die sich in Opposition zu Kambyses befanden.32 Die näheren Umstände, die zur Thronbesteigung des Dareios geführt hatten, sind uns nur teilweise bekannt, denn die sich gegenseitig ergänzenden persischen und griechischen Quellen, aus denen wir unser Wissen schöpfen, fließen nur spärlich. Die größte Nähe zu den Ereignissen bewahrt die monumentale Inschrift von Behistun in Medien, die Dareios unmittelbar nach seiner Königsproklamation anbringen ließ.33 Folgender Ereignisablauf bleibt für uns erkennbar: Unter Führung des vornehmen Persers Otanes versammelten sich weitere fünf namentlich bekannte persische Adlige (Aspathines, Gobryas, Intaphrenes, Megabyzos, Hydarnes), um die Regierung der Mager zu beenden und die Herrschaft der Perser zu restituieren.34 Als letzter schloss sich Dareios diesem Kreis an. Es gelang ihnen, am 29. September 522 v. Chr. den Magier Gaumata zu beseitigen, womit die Entscheidung über die künftige Ausgestaltung des Königtums in ihre Hände kam. Die sieben Verschworenen machten Dareios zu ihrem König. In einer bemerkenswerten Abhandlung hat Fritz Gschnitzer den Versuch unternommen, das Ineinandergreifen der persischen Sichtweise und der griechischen Rezeption dieser Episode zu erläutern.35 Seine Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Der etwa um 520 v. Chr. angebrachte Haupttext der Inschrift von Behistun ist von den späteren Nachträgen zu unterscheiden. Die in kurzem zeitlichen Abstand darauffolgenden redaktionellen Zusätze der Inschrift (519 v.  Chr. fand die erste und 518 v. Chr. die zweite Ergänzung statt) spiegeln die zum Zeitpunkt ihrer jeweiligen Abfassung vorherrschenden politischen Verhältnisse wider.36 Herodots Bericht vermittelt uns die Grundzüge des politischen Tauziehens, das sich zwischen der Urfassung der Inschrift und deren Nachträgen abspielte. Ursache dafür waren die zwischen Dareios und seinen Mitverschworenen auf­ 448

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getretenen Spannungen. Bevor die Entscheidung für Dareios gefallen war, waren die Verschworenen gleichberechtigte persische Edelleute. Dies erklärt ihre Forderungen, die als Lohn für ihre Beteiligung an der Beseitigung Gaumatas, aber auch für ihren Verzicht auf das Königtum zugunsten des Dareios gedacht waren.37 Die Thematisierung dieser Konfrontation innerhalb der persischen Führungsschicht, wie sie uns von Herodot dargeboten wird, geht auf persische Quellen zurück. Anhand der Otaneshandlung und der Intaphrenesepisode lässt sich das nachvollziehen.38 Erkennt man diese Ereignisabfolge an, so ergibt sich zwangsläufig die Frage nach der Funktion der Verfassungsdebatte, die in Herodots Bericht untrennbar mit den geschilderten Ereignissen verknüpft ist. Beruht sie auf persischen Vorlagen oder war sie eine auf ein persisches Szenario verlegte griechische Grundsatzdiskussion? Letzteres ist sicher der Fall. In diesem Meinungsaustausch, der, wie Herodot versichert, wirklich stattgefunden habe, stand allerdings nicht die Institution der Monarchie auf dem Prüfstand; vielmehr ging es um die Auswahl der für das Königsamt geeigneten Kandidaten. Und genau dies spiegelt die persische Realität wider, nicht aber der Inhalt der Debatte selbst, der eindeutig als griechisch einzustufen ist. Die ausgetauschten Argumente über die Beschaffenheit des Königtums bieten wertvolle Hinweise, dass die persischen Großen, in deren Händen die Entscheidung über den Thronprätendenten lag, mit der Monarchie bestimmte Vorstellungen verknüpften. Das Pendel bewegte sich zwischen der Hoffnung auf die Person des künftigen Königs und der Angst vor der Machtfülle seines Amtes. Letztere manifestiert sich deutlich in dem Versuch der Verschworenen, vom neuen Herrscher Immunität für ihre aristokratischen Privilegien abzutrotzen. Anders ausgedrückt: Ist die monarchische Institution, welche die aristokratischen Sonderrechte in Frage stellt, unvermeidlich, so soll wenigstens derjenige, der die Alleinherrschaft ausübt, ein Höchstmaß an aristokratischen Grundvorstellungen wahren. Derartige Gedankengänge sind allen Adelsgesellschaften gemeinsam.39 In diesem Kontext führt Otanes den ­Isonomie-Gedanken in die Diskussion ein.40 Er tritt als Verfechter der aristokratischen Gleichheit gegenüber der Despotie auf.41 Eine solche Haltung unterstreicht Denkweisen des ausgehenden 6. Jahrhunderts v. Chr. Die Befürchtungen der persischen Großen gegenüber der Monarchie decken sich mit der Ablehnung der Tyrannis seitens der griechischen Aristokraten. Otanes erscheint als Exponent dieser Tendenzen. Seine Berufung auf die Isonomie evoziert die Demosherrschaft42, die wiederum ihre Legitimation aus der Abwehr der als verderblich empfundenen Alleinherrschaft bezieht. So wiederholen die von Otanes hervorgehobenen Verlockungen der Alleinherrschaft, die selbst 449

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einen guten Mann zum Gewaltherrscher werden lassen, die an anderen Stellen des herodoteischen Werkes betonten Gefahren der Tyrannis. Zum ersten Mal begegnet uns im griechischen Schrifttum eine theoretische Absetzung der Monarchie als Gegenentwurf zu der in Verruf geratenen Tyrannis. Setzt Otanes die Tyrannis als notwendige Depravierung der Monarchie voraus, so lässt Dareios sowohl die Oligarchie wie auch die Demokratie in Alleinherrschaft entarten, worauf er das Plädoyer für die legitime ­Monarchie aufbaut. Jedenfalls steht am Ende jeder Verfassungsform die entartete Einzelherrschaft, die Tyrannis: kakia, hybris und stasis werden als ihre ­Ursachen genannt. Dareios’ Beteuerungen, dass die Herrschaft des Besten zwangsläufig zu einer effizienteren Regierung und damit zum Wohl des gesamten Staates führen müsse, verweisen ihrerseits auf Gedankengänge, wie sie seit der Sophistik zum politischen Repertoire gehörten. Als das wohl positivste Kriterium für die Monarchie – vorausgesetzt, sie werde vom besten Manne ausgeübt – galt ihre größere Leistungsfähigkeit gegenüber kollektiven Regierungsformen. Insofern handelt es sich bei der Verfassungsdebatte um eine athenische Grundsatzdiskussion, die für das griechische Publikum gedacht war, das die darin vorkommenden Anspielungen registrieren und in den Kontext des eigenen Erfahrungshorizontes einordnen konnte. Entscheidend für den Aufschwung monarchischer Anschauungen wurde jedoch der in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. sich ereignende politische Zerfall der kollektiv regierten Gemeinwesen, in deren Händen sich bislang die Meinungsführerschaft Griechenlands befunden hatte. Athens Niederlage nach dem Peloponnesichen Krieg, Spartas Absturz nach einer sich anschließenden Hegemonialphase und Thebens Unfähigkeit, dieses Erbe anzutreten, waren die begünstigenden Faktoren, die den Weg für die makedonische Monarchie freimachten. Es ist kein Zufall, dass gerade in dieser Zeit das rhetorisch-philosophische Schrifttum die Umrisse einer monarchischen Theorie liefert, die auf Leistungskriterien besonderen Wert legt. Sie wird fassbar in Xenophons Entwurf einer auf ethischen Werten beruhenden Einzelherrschaft sowie in Isokrates’ Inanspruchnahme der Monarchie als Vehikel für die Verwirklichung einer hellenischen Einheitsfront gegen Persien und gipfelt schließlich in dem von Platon propagierten Entwurf eines Philosophenkönigs als Quelle der politischen Weisheit. Von diesen Positionen bis zu der in hellenistischer Zeit bestimmenden Anschauung über die Zweckmäßigkeit der Königsherrschaft war es nur ein kleiner Schritt. Allerdings gab es keine Einbahnstraße dorthin. Vielmehr kann man unterschiedliche Wege festmachen, die dazu führten. Dass die Krise der kollektiv regierten Poleis im Umkehrschluss monarchische Optionen befördert habe, lässt 450

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sich allerdings nicht zwingend belegen. Nicht das Versagen einer bestimmten Staatsform (im Falle Athens die Demokratie), sondern das Scheitern der attischen Machtpolitik, welche die Kräfte jeder Polis auf Dauer überfordern musste, war letztlich der Auslöser einer politischen Neuorientierung. Daneben ist der Hegemoniewechsel von den bis dahin bestimmenden Stadtstaaten (Athen, Sparta, Theben) zu Makedonien zu berücksichtigen. Einerseits erzeugte das erfolgreich geführte makedonische Königtum Philipps II. uneingeschränkte Bewunderung, womit es sich von den Zuständen vieler krisengeschüttelter Poleis positiv abhob. Andererseits gelang es in dieser Zeit charismatischen Machtmenschen, in einigen Gemeinwesen, die immer stärker von ihnen abhängig wurden, sich zu Garanten ihrer staatlichen Existenz emporzuschwingen. Die Dankbarkeit, die ihnen dafür entgegenschlug, übertrug sich mit der Zeit auf die Herrschaftsform, die sie verkörperten. Die wohl anschaulichste Lobpreisung der Monarchie findet sich in einem Fürstenspiegel, den Isokrates um 368 für den zypriotischen Regenten Nikokles verfasste: Oligarchien und Demokratien streben Gleichheit an unter denjenigen, die am Staat teilhaben, und bei ihnen wird für richtig gehalten, dass niemand mehr haben soll als der andere. Das ist passend für schlechte Leute. Monarchien geben das Beste den Besten und das Nächstbessere den Nächstbesseren. Wer wird es nicht vorziehen, an einem Regime teilzuhaben, in dem er gewürdigt wird, wenn er tüchtig ist, anstatt als Unbekannter mit der Masse mitge­ tragen zu werden? Diejenigen, die für ein Jahr ein Amt verwalten, sind bereits wieder Privatleute, bevor sie die öffentlichen Angelegenheiten verstanden und Erfahrungen gesammelt haben, während Männer, die ständig im Amt sind, allein wegen ihrer Erfahrung viel besser sind als andere, selbst wenn sie von Natur aus weniger gut ausgestattet sind. Die ersteren wissen vieles nicht und drücken sich vor der Verantwortung, während ein Monarch nichts vernachlässigt, weil er für alles verantwortlich ist.43

Tyrannis Wenn die Wilden von Louisiana Früchte haben wollen, so schlagen sie den Baum an der Wurzel ab und pflücken die Früchte. So ist die despotische Herrschaft. (Montesquieu, Vom Geist der Gesetze)

Ausgangspunkt der Tyrannis war die Anpassung der Machtfrage an die sich ständig wandelnden militärischen, sozialen und ökonomischen Faktoren, 451

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welche die politische Dynamik der archaischen Gesellschaft prägten. Hier trafen gegen­sätzliche Inter­essen aufeinander: Konflikte zwischen den führenden Familien um Macht und Einfluss, Span­nungen zwischen Individuen und Kollek­tiven. Der Kreis derer, die als Folge der veränderten Rahmenbedin­ gungen (Koloni­sation, Zunah­me des Handels, Konzentration der handwerk­ lichen Produk­tion, Besitzerwerb au­ßerhalb der Heimatpolis) zu Reich­tum gelangten, erweiterte sich. Die damit einhergehenden Besitzumschichtungen mussten zwangsläufig die Frage der Beteiligung an den Staatsangelegen­heiten berühren. Am Ende dieser Transformationsprozesse stand häufig eine modifizierte politi­sche Land­schaft, in der entschlossene Machtmen­schen ihren Gemeinwesen ihren Stempel aufzudrücken vermochten. Als Tyrannen wurden jene vornehmen Herren bezeichnet, die im Wettstreit mit ihren Standesgenossen eine heraus­ragende Stellung unter Zuhil­fenahme aller erdenklichen Mittel, zu denen List und Gewalt gehörten, verwirklich­en konnten. Die meisten Tyran­nen wirkten in den größeren Poleis. Natur­ge­mäß gediehen Adels­ rivalitäten in den demographisch stärke­ren Gemeinwesen. Denn nur dort vermochten sich die zur Aus­differenzierung des Besitzes nötigen Voraus­ setzungen zu entfalten. Die Herausbildung von Adelshäusern, Gefolgschaften und antagonistischen gesellschaftlichen Gruppie­rungen beförderte die Zu­ nahme von inneren Spannungen. Daher werden die ökonomischen und ­sozialen Veränderun­gen, die sich innerhalb bestimmter Bürgerschaften vollzogen, als Grund für das Aufkommen der ersten Tyrannen­herrschaf­ten angesehen.44 Ein weiterer, sozialge­ schicht­ lich ausgerichteter Erklärungsver­ such, der die Tyran­nen  – gemäß der aristotelischen Anschauung45  – als volks­tümliche Diktatoren betrachtet, ist ebenso wie jene Sichtweise, welche die Tyrannis als politisches Instrument einer breiten nicht-adeligen Hoplitenschicht betrachtet, als Erklärungs­modell für das Phänomen der Einzelherrschaft in der For­schung diskutiert worden. Daraus ließe sich folgern: Die Tyrannis entstand aus den ökonomischen und gesellschaftlichen Umschichtungen in jenen Poleis, die aufgrund ihrer Größe und Struktur in eine Krise geraten waren. Doch birgt die Übernahme solcher Denkmuster die Gefahr, Deutungen mit der Realität zu vermengen. So war es in der älteren Forschung üblich, die Tyrannen als Exponenten der handels- und gewerbetreibenden Schichten zu begreifen, ein Ansatz, der – wie wir heute wissen – in eine Sackgasse mündet. Obwohl derartige Ansichten zweifellos ein Körnchen Wahrheit enthalten, ist zu bedenken, dass sie ex eventu konstruiert worden sind. Die Probleme, die sich der wissenschaftlichen Erfassung der Tyrannisfrage stellen, wurzeln in der dürftigen Quellenlage. Bei deren Klärung greifen wir nur einen schwachen Schatten oder, um es mit den treffen452

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den Worten von Konrad Kinzl zu formulieren: „Die moderne Geschichtsforschung ringt um die Deutung eines Phänomens, von welchem wir nur das letzte Echo vernehmen.“46 Einer der ersten, der eine solche Machtstellung begründen konnte, war Kypselos (um 620–550 v. Chr.).47 Nachdem er die Bakchiadenfamilie, die bis dahin die Geschicke Korinths leitete, verdrängt hatte, wurde er zum mächtigsten Mann der Stadt: Seine führende Stellung verschaffte er sich mit Gewalt.48 Durch Aneignung des Vermögens der entmachteten Bakchiaden sowie durch die Aufstellung einer ihm ergebenen Truppe schuf sich Kypselos die Grundlagen seiner Macht.49 Unter seiner Führung betrieb Korinth eine dynamische Außenpolitik und fing an, aus der Masse der griechischen Städte herauszuragen.50 Jedenfalls scheint die griechische Welt wenig Vergleichbares vor ihm erlebt zu haben. Das Schatzhaus, das Kypselos in Delphi unterhielt  – Herodot 1, 14 betont sein Eigentumsrecht  – und die Weihe­ geschenke, die er in Olympia stiftete, haben noch Jahrhunderte später die Phantasie des Pausanias (6, 18 ff.) nachhaltig angeregt. Außerdem gelang es ihm, die erworbene Stellung so zu festigen, dass er sie an seinen Sohn weitergeben konnte. Die Erfahrung der Tyrannis als Synonym für die Neuregelung der Machtverhältnisse innerhalb der Polis musste zwangsläufig Rückwirkungen auf das poliszentrierte Herrschaftsverständnis zeigen. Sie erhielt im Zuge der Vererbung der Macht innerhalb einer Familie eine paradigmatische Bedeutung, um die überragende Machtposition jener zu kennzeichnen, welche die Herrschaft der traditionellen Polisaristokratien in Frage stellten. Derartige Konzentrationen von Ressourcen konnten dazu führen, die zur Verfügung ­stehende Macht zu missbrauchen. Die anschaulichsten Beispiele dafür lieferten die Tyrannen der zweiten Generation. Der herodoteische Periander erscheint als Prototyp des degenerierten Gewaltherrschers: Ihm (Kypselos) folgte sein Sohn Periander auf den Thron. Er zeigte sich anfangs milder als sein Vater. Als er aber durch Boten mit Thrasybulos, dem Tyrannen von Milet, in Verkehr getreten war, wurde er noch weit blutgieriger als Kypselos (…). Er (Periander) schickte nämlich einen Boten zu Thrasybulos und ließ ihn fragen, wie er seine Sache am sichersten einrichten und dabei die Stadt am besten verwalten könne. Thrasybulos führte den Boten des Periander aus der Stadt, betrat ein Saatfeld und durchschritt es, während er den Boten wiederholt nach dem Zweck seines Kommens aus Korinth befragte. Dabei riss er immer wieder eine Ähre ab, die er über die anderen herausragen sah, und warf sie dann fort, bis er schließlich den schönsten und dichtesten Teil des Feldes mit diesem Tun entstellt hatte. Nachdem er das Feld durchschritten, entließ er den Boten, ohne 453

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ihm weiter eine Antwort zu geben (…). Periander aber verstand sein Tun und erriet, dass Thrasybulos ihm nahelege, die hervorragenden Bürger zu ermorden (…). So zeigte er offen all sein Wüten gegen seine Mitbürger. Was Kypselos noch versäumt hatte bei Hinrichtung und Verbannung, holte er nach.51 Auf der anderen Seite existierte eine andere, positive Beurteilung.52 Denn wäre der historische Periander ein Ausbund an Abscheulichkeit gewesen, so bliebe unerklärlich, warum er neben tadellosen Gestalten wie Solon von Athen, Thales von Milet, Bias von Priene, Pittakos von Mytilene, Kleobulos von Lindos und Chilon von Sparta zu den sieben Weisen des Altertums gezählt wurde. Seine Funktion als Schiedsrichter ist schwerlich in Einklang zu bringen mit dem negativen Bild, das Herodot überliefert. Bürgt doch gerade die Tatsache, dass er als Schlichter angerufen wurde, für die allgemeine Wertschätzung, die er genoss.53 Hinzu kommt, dass in Perianders Regierung die Blütezeit Korinths fiel. Die Stadt entwickelte sich zur Handelsdrehscheibe für den westlichen Mittelmeerraum, gründete namhafte Kolonien, wie etwa Kerkyra oder Poteidaia, was die korinthische Machtposition unterstreicht.54 Polykrates, der unter den herodoteischen Tyrannen eine Ausnahmestellung einnimmt,55 erscheint als eine Art antiker Condottiere, der mithilfe seiner Flotte eine überragende Machtposition in der Ägäis begründen konnte.56 Auch griff er wiederholte Male in die Geschicke des Vorderen Orients ein und versuchte dabei durch diplomatisches Taktieren von den Ägyptern und von den Persern als Machtfaktor anerkannt zu werden.57 Die innenpolitische Opposition, die sich der Hilfe Spartas vergewissert hatte, vermochte er auszuschalten. Auch der innere Ausbau von Samos verdankte ihm wesentliche Impulse. Seine historische Bedeutung hebt Herodot hervor: Nach seiner Ankunft in Magnesia fand Polykrates ein jämmerliches Ende, das weder seiner noch seiner Gesinnung würdig gewesen ist. Außer den syrakusanischen Tyrannen ist kein einziger der griechischen Alleinherrscher würdig, mit Polykrates verglichen zu werden.58 Aufschlussreich ist die Rangfolge der aufgeführten Tyrannen. Nur die syrakusanischen Herrscher waren Polykrates ebenbürtig. Hinter solchen wertenden Sichtweisen verbargen sich politische Klassifizierungen. Offenbar zeigte sich Herodot von den Leistungen des samischen Machthabers beeindruckt, denn dieser gehörte zu der Kategorie von Potentaten, die durch denkwürdige Taten hervorstachen.59 Dies bestätigt auch Thukydides, der Polykrates im Prolog seines Geschichtswerkes eine anerkennende Würdigung zukommen lässt.60 Ein Grund für solche Einschätzungen wird darin gelegen haben, dass die Regierung des Polykrates kraft ihrer Projektion und Aus454

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strahlung nach außen hin den Ruhm der Stadt Samos vermehren half. Angesichts des Glanzes seines Hofes und des Ausbaus der Stadt61 sowie seiner Erfolge in der Außenpolitik wurden die inneren, weniger erfreulichen Angelegenheiten, etwa das enge politische Korsett, das Polykrates der samischen Bürgerschaft aufzwang, in den Hintergrund gedrängt. Dennoch gibt es neben den wohlwollenden Äußerungen über Polykrates auch einen Schatten, der sich über sein politisches Wirken ausbreitet. Nach seinem Tod wurden in Samos Stimmen laut, die eine politische Kurskorrektur forderten.62 Derartige Vorhaltungen gegen die Tyrannis erschöpften sich nicht in der Formulierung einer kritischen Position, sondern enthielten meist einen ­politischen Gegenentwurf. Es ist das aristokratische Ideal der lsonomie, wie es Theognis heraufbeschwor oder im Skolion der athenischen Tyrannenmörder vorkommt.63 Keinesfalls handelt es sich dabei um das hohe Lied der Demokratie, sondern um eine politische Forderung aus dem gedanklichen Arsenal der Aristokratie. Von allen Tyrannengestalten der archaischen Zeit sind wir über das attische Geschlecht der Peisistratiden am besten unterrichtet.64 Peisistratos, der als Feldherr denkwürdige Taten im Kampf gegen Megara vollbracht hatte, ging aus den inneren Parteikämpfen, die um die Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. Athen erschütterten, als Sieger hervor.65 Gestützt auf eine Leibwache und unter Mobilisierung seiner Anhängerschaft nahm er seinen Sitz auf der Akropolis und übte einige Zeit einen bestimmenden Einfluss auf die athenische Politik aus. Seine Position war zunächst alles andere als allmächtig. Ihre Labilität, die sich aus der Konkurrenz der führenden Adelsfamilien um die Vorherrschaft ergab, wird vor allem an den zwei Vertreibungen sichtbar. Während seines Exils weilte Peisistratos in Makedonien, Thrakien, wo er einen umfangreichen Privatbesitz besaß, und in Eretria; überall knüpfte er persönliche und familiäre Bindungen und erwarb sich auf diese Art eine gewichtige Machtposition außerhalb seiner Heimat.66 Diesen Aktivposten warf er in die Waagschale, als er an der Spitze einer Privatarmee die endgültige Rückkehr nach Athen wagen konnte. Die mit ihm verfeindeten Adligen, allen voran die Alkmeoniden samt Anhang wurden aus dem Machtzen­trum verdrängt.67 So wurde Peisistratos der mächtigste Mann in der Stadt. Herodot verwendet hier wie bei ähnlich gelagerten Fällen das Wort tyrannis, um Peisistratos’ Machtstellung zu umschreiben. Der Terminus ist klar und missverständlich zugleich. Denn einerseits deutet er die umfassende Macht des damit bezeichneten Individuums an, andererseits vermag dieser Begriff die Reichweite und die Grenzen dieser Macht nicht genau zu bestimmen. Herodot 1, 59, 6 charakterisiert seinen Regierungsstil folgendermaßen: Peisistratos be455

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herrschte die Athener, ohne die bestehenden Ämter abzuschaffen oder die Rechtssatzungen zu ändern; nein, nach der bestehenden Verfassung leitete er die Stadt, indem er sie schön in Ordnung hielt. Damit zeichnet er ein ambivalentes Bild von zwei nebeneinander konkurrierenden Kraftfeldern. Demnach resultierte die Machtausübung des Peisistratos aus einem Spannungsverhältnis zwischen seinem Charisma und den traditionellen staatlichen Organen.68 Die Möglichkeit des Machtmissbrauchs war stets gegeben. Dass sich Peisistratos davor hütete, so lässt sich aus Herodot folgern, sprach für seinen politischen Instinkt. Oder anders ausgedrückt: Peisistratos scheute sich, die Grenzen seiner Macht zu überschreiten. Eigentlich erfahren wir wenig über die Mechanismen des peisis­tratidischen Politikbetriebes. Dies ist umso auffälliger, als die Religions-69, Bau-70, Außen-71 und Finanzpolitik72 dieser Zeit neue und richtungsweisende Wege ging. Hinsichtlich der vieldiskutierten Frage73, ob Peisistratos die athenische Bürgerschaft entwaffnet und eine jährliche Boden­ertragssteuer erhoben habe, wie Aristoteles (Staat der Athener 15, 3) berichtet, ist zu bemerken, dass sowohl Herodot als auch Thukydides darüber schweigen. Wie Kypselos vermochte auch Peisi­stratos die erworbene Machtstellung seinen Söhnen zu übertragen. Jedoch brachte die Ermordung des Hipparchos durch Harmodios und Aristogeiton (514 v. Chr.) die Wende. Hippias, der Bruder des Hippar­chos, ergriff nun das Regiment und gebärdete sich immer despotischer. Dem athenischen Adelshaus der Alkmeoniden gelang es mit Unterstützung des spartanischen Königs Kleomenes, Hippias aus Athen zu vertreiben (510/9 v. Chr.). Damit fand die Herrschaft der Peisistratiden ihr Ende. Unbeschadet des zeitweiligen Protagonismus, den manche Potentaten erlangen konnten, blieb die Tyrannis eine Episode. Letztlich lässt sie sich als Spielart des Macht­kampfes innerhalb der Adelsgesell­schaft begreifen. Ihre Eigenart und ihre Normen prägten die Nachfolgezeit entscheidend mit. Ohnehin ist es angesichts der Quellenlage fraglich, ob für die Erklärung des Gesamtphänomens generalisierende Definitionen überhaupt greifen können. Dessen historische Einordnung und Deutung beeinflussten zwei Faktoren maßgeblich: Zum einen die im 6. Jahrhundert v. Chr. entstandene und im Verlauf des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. verstärkt negativ bestimmte Tyrannentypologie, wie sie uns erstmals bei Solon von Athen, Alkaios von Mytilene, Theognis von Megara und in einer sich abzeichnenden Differenzierung bei Herodot begegnet74, zum anderen eine Entstehungslehre der Tyrannis, die von den Sophisten in die Lehre vom Wandel der Verfassungen eingebettet wurde, woraus sich wiederum die historische Genese der zur Institution 456

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gewordenen Tyrannis ableitete.75 Tyrannentypologie und Entstehungslehre erscheinen als die wesentlichen Bausteine des historisch wirksam gewordenen Tyrannenbildes, dessen sozialpsychologische Grundlegung schließlich in Platons Betrachtung der inneren Verfassung des tyrannischen Menschen eine bis heute nachwirkende Ausdeutung erfahren hat.76

Demokratie Wenn heutzutage aufgrund problematischer Mehrheitsbeschlüsse, die den Willen eines beträchtlichen Teils der Wählerschaft nur unzureichend wiedergeben, auf die Defizite und Grenzen der Demokratie verstärkt hingewiesen wird, weil etwa das Zustandekommen dieser Mehrheiten zu denken gibt, oder gar Wahlentscheidungen wegen vermeintlich oder offensichtlich negativer Folgen hinterfragt werden, so geschieht dies nicht zum ersten Mal. Bereits die Staatstheoretiker der griechischen Antike sparten keinesfalls mit beißender Kritik an den demokratischen Institutionen, genauer, an der Art und Weise, wie manche Beschlüsse zustande kamen. Kritische Verweise auf die mangelnde politische Reife der Abstimmungsberechtigten, beziehungsweise ihre Neigung, sich allzu leichtfertig von Demagogen verführen zu lassen, lauten die am häufigsten erhobenen Vorwürfe. Sie ähneln zum Teil den von modernen Kritikern angeführten Argumenten, woraus ersichtlich wird, dass die Bonität des demokratischen Systems an den Ergebnissen gemessen wird, wie übrigens auch alle anderen politischen Systeme. Demokratische Entscheidungen werden vor allem für gut geheißen, wenn sie einen allgemein akzeptierten Grundkonsens erzielen, also wenn eine knappe Mehrheit der Bürger nicht über die andere Hälfte selbstherrlich gebietet. Tragen die gefassten Beschlüsse aber dazu bei, die Gesellschaft zu spalten, so stellt sich die Systemfrage immer wieder aufs Neue. Bei diesem Tauziehen um die Reichweite und Fragwürdigkeit der demokratischen Praktiken gerät jedoch einer ihrer größten Vorzüge häufig in Vergessenheit: Nämlich die von Karl Popper zu Recht hervorgehobene Eigenschaft eines jeden demokratisch organisierten Gemeinwesens nach Ablauf der Amtszeit seiner Mandatsträger, eine neue Regierung ohne Blutvergießen zu ermöglichen. Genau diese Errungenschaft, die zur Essenz der Demokratie gehört, verbindet bei allen Unterschieden etwa in den Bereichen Repräsentativität und Gewaltentrennung die kleinräumigen direkten Volksherrschaften des Altertums mit den gemessen daran riesigen Staatsgebilden der modernen parlamentarischen Demokratien unserer Tage. 457

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Versuchen wir uns die Grundzüge der antiken Demokratie zu vergegenwärtigen, so bleibt unser Blick unwillkürlich an Athen haften, unbeschadet der Tatsache, dass es in Griechenland andere demokratisch verfasste Staaten gab, wie beispielsweise Syrakus, das an Bevölkerung, Territorium und Bedeutung Athen kaum nachstand. Diese Sichtweise hängt einerseits mit der historischen Vorbildfunktion zusammen, die das attische Gemeinwesen während des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. für ganz Griechenland zu erlangen vermochte und es zu einer Größe sui generis werden ließ. Andererseits stammen tatsächlich die meisten Informationen, die wir über das Phänomen der antiken Volksherrschaft zusammentragen können, über ihre innere Architektur und ihre Funktionalität, aus Athen. Den Berichten der Historiker Herodot, Thukydides und Xenophon sowie den Abhandlungen der Staatstheoretiker Isokrates, Platon und besonders Aristoteles77 verdanken wir eine reichhaltige Überlieferung. Gleichwohl gilt es zu beachten, dass die Beteiligung der Bürgerschaft an der Entscheidungsfindung innerhalb eines politischen Verbandes stets zum Wesen der griechischen Staatlichkeit gehörte. Schon in der homerischen Gesellschaft erfahren wir von der Existenz einer Schicht freier Waffenträger, die neben den aristokratischen Wortführern die Staatsgeschäfte innerhalb eines öffentlichen Raumes aufmerksam verfolgte und in mehr oder weniger abgestufter Form auch mitbestimmte.78 Monarchische Regierungsformen vermochten sich auf griechischem Boden weder herauszubilden noch zu behaupten. Stattdessen beobachten wir bereits seit dem 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. eine Reihe sich autonom verwaltender Staatswesen, die häufig unter der Ägide mächtiger Adelsclans standen, ohne dass deswegen die traditionellen Mechanismen der bürgerlichen Partizipation am Gemeinwesen außer Kraft gesetzt worden wären, und die man aus guten Gründen als kollektiv regierte Bürgerstaaten bezeichnen kann. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das bekannteste Beispiel einer antiken Demokratie, nämlich auf Athen, so sind zunächst für deren Verständnis folgende Tatsachen zu beachten: Das attische Volk war nicht deckungsgleich mit der Bevölkerung Attikas. Eine große Anzahl von Sklaven und Freigelassenen (etwa 120 000), die ortsansässigen Fremden (ca. 40 000) sowie die attischen Frauen, Kinder und Nichtwaffenfähige (ca. 100 000) blieben außerhalb jeder politischen Betätigung. Von den etwa 300 000 Einwohnern Attikas dürften etwas mehr als zehn Prozent (um die 40 000) im Besitz der vollen Bürgerrechte gewesen sein.79 Allerdings müssen diese Zahlen mit zeitgenössischen Beispielen verglichen werden, um ihre gänzliche Bedeutung zu erfassen. Im Vergleich zu jenen Poleis, die nur den vermögenden 458

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Schichten die volle politische Partizipation einräumten, schneidet die athenische Demokratie dennoch verhältnismäßig vorteilhaft ab. Zu ihren nennenswerten Errungenschaften zählte die Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für alle Bürger sowie deren uneingeschränkte Befugnis, bei der Behandlung der öffentlichen Angelegenheiten mitzuwirken. Im Gegensatz zu den repräsentativen Demokratien der Gegenwart beruhte die athenische Demokratie auf dem Grundsatz der direkten Beteiligung des Bürgers an den Staatsorganen: der Volksversammlung (ekklesia), dem Rat (boule), den Volksgerichten (heliaia) und den Gerichtshöfen (Dikasterien). Die mehrmals im Monat tagende Volksversammlung, die vom Ratsvorsitzenden geleitet wurde, war die höchste gesetzgebende Instanz. Sie erreichte ihre volle Beschlussfähigkeit, wenn mehr als 6000 Bürger anwesend waren, wobei jeder Teilnehmer rede- und antragsberechtigt war. Die 500 Mitglieder des Rates bildeten eine Art Deputiertenkonvent. Die Mitglieder dieser Herzkammer der Demokratie wurden ausgelost, womit die Gleichwertigkeit aller Bürger zum Ausdruck kam. Hier waren die zehn attischen Phylen (Landbezirke) durch je 50 Abgeordnete vertreten, die monatlich rotierten und einen geschäftsführenden Ausschuss (Prytanie) bildeten. Ihr Vorsitzender (Epistates), der höchste Repräsentant der Polis, wechselte ­täglich, um jeden Anschein von Machtmissbrauch zu verhindern. Als wichtigste Aufgabe des Rates galt die Vorbereitung der Volksbeschlüsse. Gesetzesanträge wurden hier erörtert, begutachtet und anschließend der Volks­ versammlung zur Verabschiedung vorgelegt. Ein weiteres staatstragendes Verfassungsorgan waren die Heliaia und die Dikasterien, Geschworenengerichte, welche sowohl als Rechtsorgan in Zivil- und Strafangelegenheiten als auch als Rechnungshof und Verfassungsgericht fungieren konnten. Hier nahm man die Rechenschaftsberichte der Amtsträger entgegen und wachte darüber, dass die Vorgehensweise der Exekutive in Einklang mit den geltenden Gesetzen und Rechtsvorschriften stand. Die Heliaia fungierte als oberste Kontrollinstanz der Demokratie. Jährlich wurden 6000 Bürger als Richter ausgelost, womit ein beträchtlicher Teil der Bürgerschaft direkt an der Judikative mitwirkte. Die für die Dauer eines Jahres auserkorenen Amtsträger (Archonten, Strategen) wirkten in den unterschiedlichsten Zuständigkeitsbereichen der Exekutive: Öffentliche Verwaltung, Kultwesen, Außenpolitik oder Kriegführung. Ihnen oblag die tägliche Regierungsarbeit. Da die Amtsführung unbesoldet war und dem Amtsinhaber beträchtliche Kosten verursachte, kamen meist nur reiche Bürger für diese Magistraturen in Frage80, was uns nicht besonders verwundern sollte, stammen doch auch die politischen Eliten vieler moderner Demokratien, wie etwa in den Vereinigten 459

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Staaten von Amerika aus den begüterten Schichten der Gesellschaft: Ohne ein Millionenvermögen im Hintergrund wäre eine erfolgversprechende Bewerbung um die Präsidentschaft der mächtigsten Demokratie der Gegenwart undenkbar. Zusätzlich gilt aber zu beachten, dass der athenischen Demokratie das Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, das auf Montesquieu zurückgeht und einen Grundpfeiler des modernen Verfassungsverständnisses bildet, unbekannt war. Ihre Leitgedanken waren vielmehr die Auslosung der Bürger für die Bekleidung von Staatsämtern (nur im Bereich der Finanzen und des Militärs wurden die entsprechenden Amtsträger gewählt), sowie die Rotation der Magistraturen, ferner die Kontrolle der Amtsträger durch die Gerichte und schließlich die direkte Ausübung der Souveränität durch die Volksversammlung als höchste gesetz­ bebende Instanz des Gemeinwesens. Aufgrund einer im Laufe der Zeit sich herausbildenden Organisationsstruktur vermochte die athenische Demokratie ein dichtes Geflecht bürgersolidarischer Verhaltensformen zu generieren und zu fördern und eine durch anerkannte Regeln und Gesetze abgesicherte Plattform für politische Debatten ins Leben zu rufen, die das freie Wort hoch hielt und dem Einzelnen jenseits seines sozialen Status ein beträchtliches politisches Selbstwertgefühl vermittelte. Gleichzeitig schuf sie öffentliche Räume für die ungehinderte Kommunikation und Interaktion innerhalb einer Bürgerschaft, die das eigene Schicksal in die Hand nahm und nach Lage ihrer Interessen ihr Vorgehen frei gestalten konnte. Im täglichen Umgang mit den demokratischen Praktiken und Institutionen lernten die aktiven Mitglieder des Bürgerverbands ihre beachtlichen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Kompetenzen zu gebrauchen und sowohl zum eigenen Nutzen als auch zum Nutzen der Allgemeinheit zu entfalten.81 Blicken wir auf die Entwicklungsgeschichte der athenischen Demokratie zurück, so stellte die gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. sich zuspitzende Auseinandersetzung zwischen Kleisthenes und Isagoras einen entscheidenden Schritt für die Ausgestaltung der politischen Architektur Athens dar. Letzterer machte sich im Bunde mit Sparta für die Restauration der Adelsherrschaft stark. Als Kleisthenes zunächst unterlag, wandte er sich an das Volk. Die bewaffnete athenische Bürgerschaft belagerte Isagoras und den spartanischen Heerführer Kleomenes, die sich mit einem Truppenkontingent auf der Akropolis eingeschlossen hatten, bis sie zur Aufgabe gezwungen werden konnten (508 v. Chr.). Damit war der Weg frei für eine tiefgreifende Umgestaltung des politischen Systems. Mit dem Sieg über die Oligarchen460

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riege erlangte das athenische Volk einen bisher unbekannten Protagonismus. Wie einst Solon, der einen gangbaren Weg aus der Krise aufgezeigt hatte, wurde nun der aus dem Exil zurückkehrende Kleisthenes mit der Neugestaltung des Gemeinwesens beauftragt. Er ordnete die Zusammensetzung der Phylen neu, was sich in der Praxis als Verfassungsreform herausstellte.82 Er teilte das attische Territorium, das etwa so groß ist wie der heutige Staat Luxemburg, in 30 Bezirke (Trittyen), die an der Küste, im Landesinneren und in der Stadt lagen. Daraus machte er zehn Phylen, jede zu drei Trittyen, sodass nun jede Phyle kein einheitliches Gebiet darstellte, sondern sich vielmehr aus den drei Zonen (Küste, Binnenland, Stadt) zusammensetzte. Kleisthenes’ Entwurf verband zwei Grundideen zu einer neuen Einheit: das Prinzip der Territorialität wurde mit der Durchmischung der attischen Bevölkerung kombiniert, was zur Folge hatte, dass die Bindungen der Landbewohner an den ortsansässigen Adel zerschlagen wurden. Gleichzeitig stärkte die Neueinteilung der Bürgerschaft die Macht des Demos durch die Schaffung einer repräsentativen Körperschaft, den Rat der Fünfhundert. Dieser politische Wandel ergab sich nicht zuletzt als Folge der peisistratidischen Tyrannis. Sie hatte die mächtigsten athenischen Adelshäuser aus dem Zen­trum der Macht verdrängt, sie sozusagen entpolitisiert, was – gewiss ungewollt – die Entwicklung zur Demokratie hin begünstigt hat. Denn die Exilierung einiger Adelsfamilien hatte politische Freiräume geschaffen, die nun von einer selbstbewussten, neuformierten Bürgerschaft ausgefüllt werden konnten.83 Die Erinnerung an die Tyrannis konditionierte aber auch die Verhaltensformen des demokratischen Systems. Möglicherweise besaßen zunächst die Ratsherren (Buleuten) die Vollmacht, einen der Tyrannis verdächtigen Bürger ohne Minderung seines Besitzes für zehn Jahre aus der Stadt zu verbannen. Später ging dieses Recht auf die Volksversammlung über. Da die Verurteilung durch Aufschreiben des Namens des Betroffenen auf Tonscheiben (ostraka) erfolgte, wurde das Verfahren Ostrakismos (Scherbengericht) genannt. Kaum ein anderes Ereignis vermochte die Ausgestaltung der athenischen Demokratie jedoch so nachhaltig zu befördern als der auf Themistokles’ Initiative zurückgehende Aufbau der Flotte, der größten Griechenlands (im Jahr 480 v. Chr. waren es 180, im Jahr 431 v. Chr. bereits schon 300 Schiffe).84 Ihr Unterhalt verschlang gewaltige Sum­men. Neben den Schiffsbaukosten fielen die Löhne für die Mannschaften stark ins Gewicht. In der Zeit des bevorstehenden Kampfes mit dem Perserreich trugen die vermögenden Athener einen beträchtlichen Teil der finanziellen Lasten85; danach sollten die Bundesgenossen dafür aufkommen. Als Instrument der Außenpolitik erlangte 461

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der Einsatz der Flotte nach dem erfolgreich überstandenen Krieg gegen das Weltreich der Achaimeniden eine ausschlaggebende Bedeutung. Sie gewährleistete den Schutz der Verbündeten vor der orientalischen Großmacht, hielt die weitverzweigten Verbindun­gen zwischen ihnen und der Vormacht Athen aufrecht, garantierte die Versorgung der Stadt mit Getreide aus dem Schwarzmeergebiet und bot den Athenern die Möglichkeit, überall dort zu intervenieren, wo es opportun erschien. Die innenpolitische Dynamik Athens ist ohne den Faktor Flotte als Plattform für die Integration der ärmeren Bevölkerungsschichten (Theten) in den politischen Betrieb kaum vorstellbar. Schon immer war der Kriegsdienst die Voraussetzung für jede Art institutioneller Teilnahme am Gemeinwesen, was der Grund dafür war, dass Frauen von der politischen Partizipation ausgeschlossen blieben. Die Einführung der Hoplitenphalanx brachte den Aufstieg der mittleren Grundbesitzer, die sich auf Kosten des zu Pferde kämpfenden Adels den politischen Durchbruch erkämpften. Den unteren sozialen Schichten bot nun die Flotte mit ihrem erheblichen Bedarf an Ruderern und Schiffspersonal (mindestens 20 000 Bürger) die Möglich­keit, Kriegsdienst für die Polis zu leisten. Daraus leitete sich die politische Einbindung dieser bislang am Rande des gesellschaftlichen Spektrums angesiedel­ten Bevölkerungsgruppe ab. Die Flotte als Sozialkörper der athenischen Bürgerschaft erwies sich als das wirkungsvollste Vehikel zur Verwirklichung der demokratischen Regierungsform. Die besitzlosen Theten erfuhren damit eine beträchtliche Aufwertung; denn auf ihrer Zuverlässigkeit beruhte die Effektivität der kostspieligen Militärmaschinerie Athens. Unter Ephialtes erfolgte die Schwächung des Areopags, des letzten Bollwerks der Aristokratie. Perikles setzte die demokratischen Reformen fort, indem er die politische Gleichberechtigung aller Bürger durch die Einführung von Tagegeldern sowie dem Mehrheitsprinzip für die Abstimmungen durchsetzte.86 Wie eine Rückbesinnung auf die historische Entwicklung zeigt, wurde das überaus komplexe, ausgefeilte demokratische System Athens nicht auf einmal geschaffen. Es war vielmehr Ergebnis eines langen Inkubationsprozesses, der zunächst dank des legendären Gesetzgebers Solon einen wichtigen Schub erhalten hatte und danach während des 5.  Jahrhunderts v.  Chr. zur vollen Ausbildung gelangte. Dabei ist zu bedenken, dass ohne den Beitrag einer Reihe energischer Staatsmänner von der geistigen Spannbreite eines Solon, Kleisthenes, Themistokles, Kimon, Ephialtes oder Perikles der Aufbau der Demokratie als Staats- und Lebensform kaum denkbar gewesen wäre. Doch neben dem personalen Aspekt gab es übergreifende strukturelle Motive, die zur Verfestigung der Demokratie führten. Letztlich wurden 462

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­ ilitärische Erfolge für die Beschleunigung der demokratischen Entwickm lung maßgeblich. Zunächst ermöglichte der Sieg des Demos über die von Sparta unterstützten aristokratischen Kreise um Isagoras die Durchführung der Reformen des Kleisthenes. Danach hat die militärisch glanzvolle Zurückdrängung der Perser als Folge der Flottenpolitik des Themistokles einen weiteren Meilenstein in Richtung Demokratie gelegt, und schließlich bewirkte die gewaltige Kriegsmaschinerie des Attisch-Delischen Seebundes die Konsolidierung der demokratischen Institutionen in der Ära des Kimon und Perikles.87 Trotz des beachtlichen kulturellen Glanzes der Perikleischen Epoche darf nicht verdrängt werden, dass der Sozialkörper der athenischen Demokratie von einer aus Bürgern bestehenden Militärschicht getragen wurde, die auf der Herrschaftsausübung über die Verbündeten beruhte, die für die immensen Kosten des demokratischen Betriebes und der aufwändigen Baupolitik aufzukommen hatten.88 Daher zog jede militärische Niederlage eine Krise des Systems nach sich. Aus diesen Gründen dürfen wir in der athenischen Demokratie nicht ausschließlich die regelmäßig tagende versammlungsfähige Bürgerschaft erblicken, die sich regelmäßig zu Debatten und Entscheidungen traf und durch eine breite Bürgerbeteiligung an den Ausschüssen und Gerichtshöfen eine beispiellose Mobilisierung der Zivil­ gesellschaft zustande brachte, sondern auch eine jederzeit einsatzbereite Kriegergesellschaft, stets in der Lage, ihre beträchtlichen bellizistischen Ressourcen gezielt zu aktivieren, wenn die Staatsräson, sprich der Wille der Mehrheit, es erforderte.89 Wie sehr Sieghaftigkeit im Krieg das Selbstbewusstsein der athenischen Bürgerschaft heben und zu Höchstleistungen anspornen konnte, belegt eine von Herodot gegebene Einschätzung zur Entwicklung des athenischen Machtpotenzials, die schon deswegen Glaubwürdigkeit beanspruchen kann, weil der lange in Athen weilende Historiker mit der politischen Stimmungslage der Stadt bestens vertraut war. Darin vergleicht er die außenpolitisch ruhmlose Tyrannenzeit mit der eruptiven Energieentfaltung der beginnenden Volksherrschaft, wenn er bezugnehmend auf den Sieg des athenischen Bürgeraufgebotes über die aus dem Süden anstürmenden Peloponnesier sowie die aus dem Norden und Osten aufmarschierenden Böotier und Chalkidier im Jahr 506 v. Chr. ausführt: Von nun an wurden die Athener viel stärker. Dadurch wird deutlich, wie wertvoll die Gleichheit der öffentlichen Rede, also das gleiche Recht und die gleiche Freiheit vor allen Bürgern zu sprechen, doch ist, nicht nur in einer Hinsicht, sondern in jedem Sinn. Bis zur Tyrannenherrschaft überragten die Athener ihren Nachbarn nicht an militärischen Fähigkeiten, doch nach dem Sturz der Tyrannen wurden sie deutlich überlegen. 463

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Dies zeigt also, dass sie als Männer, die für einen Herrn arbeiteten, feige waren, solange sie unterdrückt wurden, aber eifrig bereit, etwas für sich selbst zu ­leisten, sobald sie befreit wurden.90 Die Erkenntnis, dass jede Form von Kollektivregierung der Alleinherrschaft grundsätzlich vorzuziehen sei, weil erstere die Fesseln der Bürgerschaft loszulösen vermochte, die nun ihr Schicksal selbst bestimmen konnte, blieb nicht auf Herodot beschränkt. Sie lässt sich noch deutlicher als in Athen an der Genese des mittelmeerumspannenden Herrschaftsgebiets der römischen Repu­blik beobachten, die eine der größten und dauerhaftesten Machtballungen der Geschichte nicht nur der Alten Welt darstellte. Ihre frei verfasste Regierungsform (libera res publica), die sich als Instrument ihres gewaltigen Erfolges erwies, erachteten die auf ihr Staatswesen stolzen Römer als Antipode zur etruskischen Königsherrschaft, ähnlich wie die Athener ihre selbstverordneten demokratischen Einrichtungen als Kontrapunkt zur Tyrannisdominanz auffassten. In einem Punkt unterschieden sich jedoch der demokratische Betrieb der Athener von der Verfassungswirklichkeit der römischen Repu­blik: Jener legte größten Wert auf die Gleichwertigkeit ihrer Bürger, was durch das angewandte Losverfahren bei der Besetzung der Staatsämter erreicht wurde. Diese hielt dagegen Wahlen für entscheidend, ein durchaus aristokratisches Prinzip, das zur Essenz des römischen Staatsverständnisses gehörte.

Res publica populi Romani Das ganze öffentliche und private Leben der Römer erscheint durchzogen von einem dichten Netz von Abhängigkeiten und gegenseitigen Versicherungen (clientelae) zwischen den unterschiedlichen Gruppen der römischen Gesellschaft.91 Der Klient erhielt Schutz und Förderung von seinem Patron, war aber zu Gegenleistungen verpflichtet, deren Art und Ausmaß sich nach seinen Möglichkeiten sowie den Bedürfnissen seines Gönners richteten. Grundsätzlich stimmten seine Klienten bei Wahlen und Abstimmungen für ihn oder für die von ihm befürworteten Anträge und Kandidaten. Klientelverhältnisse waren in der Regel unauflöslich, denn die Erben übernahmen die jeweiligen Verpflichtungen. Auf solchen juristischen und sozialen Bindungen ruhte die Herrschaft der führenden Familien Roms, die sich im Senat versammelten und als Träger der Rechtsordnung empfanden.92 In der Theorie galt der Senat als Beratungsgremium für die Exekutive, in der Praxis aber agierte er wie die Regierung Roms. Er entwarf die Leitlinien einer Politik, die einerseits auf eine 464

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möglichst effektive Kontrolle immer größerer Territorien ausgerichtet war, andererseits die Grundpfeiler der Dominanz einer ausgewählten Führungsschicht in Staat und Gesellschaft nie aus den Augen verlor. Aus diesen Gründen stellte das römische Regierungssystem bei aller Vielfalt seiner politischen Institutionen und seiner sozialen Netzwerke die Herrschaft weniger Geschlechter nie in Frage. Im Gegenteil: Es stabilisierte diese vielmehr. Zur Führungsschicht zählten im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. etwa 100 Familien, von denen wiederum etwa zwei Dutzend regelmäßig in den Consularfasten auf­tauchen. Entscheidungen fielen grundsätzlich im Senat. Insofern trifft die Auffassung des griechischen Historikers Polybios, die römische Repu­blik habe eine Mischverfassung aus monarchischen, aristokratischen und demokratischen Elementen hervorgebracht, nur bedingt zu.93 Die Verteilung des Regierungsprozesses auf verschiedene Institutionen war in Wirklichkeit ein kompliziertes System zur Sicherung einer oligarchischen Herrschaft. Entscheidungen fielen grundsätzlich im Senat. Aber zu ihrer Verwirklichung bedurfte es der Magistrate: Consuln, Prätoren, Ädilen, Quästoren. Eine Sonderrolle spielten die Volkstribune. Allerdings war bei der Verabschiedung von Gesetzen und bei der Wahl der Magistrate die Mitwirkung der Volksversammlung unerlässlich. Insofern konnten einzelne Politiker oder Machtgruppen vielleicht vorübergehend den Senat majorisieren, doch sie mussten nach menschlichem Ermessen an einer der beiden Verfassungshürden (Magistratur, Volksversammlung) scheitern, wenn innerhalb der Senatorenschicht kein Konsens zustande kam. Umgekehrt konnten Volk und Senat nicht ohne einen vorsitzenden Consul, Praetor oder Volkstribun zusammentreten und Beschlüsse fassen.94 Eigenmächtige Magistrate vermochten trotz ihrer weitgefassten Vollmachten ohne Volksbeschluss jedoch kaum Maßnahmen von Tragweite in Gang zu setzen. Das Volk aber stand unter der Kontrolle seiner Klientelbindungen, und wenn ein aufsässiger ­Magistrat es gelegentlich verstand, diese Hürde zu überwinden und einen Entscheid in seinem Sinne in die Wege zu leiten, konnte der Senat die Angelegenheit durch einen loyalen Volkstribun verhindern. Demagogen hatten geringen Spielraum; und so zeichnete sich das römische Regierungssystem durch eine bemerkenswerte Stabilität aus. Aus der Frühzeit Roms stammte eine ständische Unterteilung der römischen Bürger in Plebejer und Patrizier. Der Vorrang der patrizischen Aristokratie beruhte auf ihren ausgedehnten Ländereien und auf der Schlagkraft ihrer Reiterei, der jedoch im Verlauf des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. durch die Effizienz der schwer bewaffneten Infanterie in Frage gestellt wurde. Gemäß den vorherrschenden Vorstellungen, wonach Militärdienst einen 465

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Anspruch auf politische Partizipation begründete, verlangten die numerisch überlegenen, grundbesitzenden, plebejischen Fußkämpfer Mitspracherechte am Gemeinwesen. Im Verlauf des 5. Jahrhunderts v. Chr. rangen die Plebejer dem patrizischen Adel die Kodifikation des geltenden Gewohnheitsrechts (Zwölftafel-Gesetz) sowie die zivilrechtliche Gleichstellung (Beseitigung der Ehehindernisse zwischen Patriziern und Plebejern) ab. Ein Ergebnis dieser als Ständekämpfe bezeichneten Auseinandersetzungen war die Schaffung des Volkstribunats. Ihre Vertreter schützten die Plebejer vor Übergriffen ­seitens der Patrizier. Sie genossen eine religiös begründete Unverletzlichkeit (sacrosanctitas), zu deren Wahrung die gesamte Plebs sich durch gegen­ seitige Eide verpflichtet hatte. Um ihre Forderungen durchzusetzen, legte die Plebs wiederholt das wirtschaftliche Leben Roms lahm, zog sogar aus der Stadt und offenbarte damit ihre Unentbehrlichkeit.95 Nach den Ständekämpfen des 5. und 4. Jahrhunderts. v. Chr. entstand eine neue senatori­sche Aristokratie mit den consu­larischen Familien an der Spitze. Eine Reihe patrizischer Familien behielt zum Teil erheblichen Einfluss (Fabier, Cornelier, Valerier, Servilier, Claudier etc.); die Mehrzahl aber musste plebeji­schen Familien (Caecilier, Domitier, Licinier, Junier, Antonier, Lutatier, Calpurnier etc.) weichen. Dagegen blieben die während der Ständekämpfe entstandenen politischen Institutionen der Plebs in vollem Umfang erhalten. Es waren dies die Sonderver­sammlung aller plebejischen Bürger (concilium plebis) und deren jährlich gewähl­te Generalbevollmäch­tigte, deren Titel tribuni plebis im Deutschen ungenau mit Volkstribun wiedergegeben wird. Als Leiter des concilium plebis besaßen die Tribunen die gleiche Gesetzesinitiati­ve wie die ordentlichen Magistrate. Sie besaßen ferner das Recht, jedem Magistrat jede Amtshandlung zu untersagen und durch ihr Veto Beschlüsse des Senates zu verhindern. Der Gefahr einer Gegenregierung nach Ende der Ständekämpfe begegnete die Nobili­tät mit der Integration des Tribunats in den Willensbildungsprozess. Junge plebejische Aufsteiger konnten sich zu Beginn ihrer Laufbahn in diesem Amt profilie­ren. Dem Senat diente es zur rascheren Handhabung der Gesetz­gebung, aber auch zur Kontrolle und Diszipli­nierung aufsässiger Magistrate. Nicht zur herrschenden Machtelite gehörenden senatorischen Familien eröffnete sich durch das Tribunat ein weiteres Betätigungsfeld, und Männern, die ohne senatorische Vorfahren eine politische Karriere anstrebten, bot es die vielleicht beste Möglichkeit, sich einen Namen zu machen und gleichzeitig gegenüber ihren adligen Patronen ihre Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen. Den definitiven Ausgleich zwischen den Ständen erreichte man erst mit der Einführung der Consulatsverfassung als oberster Magistratur des 466

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Gemein­wesens, die aufgrund der Licinisch-Sextischen Gesetze (367 v. Chr.) den Plebejern zugänglich gemacht wurde. Das Patriziat verlor damit seine Exklusivität und schmolz in der Folgezeit mit den wohlhabenden plebejischen Geschlechtern zu einer neuen Führungsriege zusammen: Der Nobilität. Den Schlussakt dieser über Generationen andauernden, innenpolitischen Machtkämpfe bildete das im Jahr 287 v.  Chr. verabschiedete Hortensische Gesetz, das den Beschlüssen der Versammlung der Plebs ­(concilium plebis) allgemeine Verbindlichkeit für die gesamte Bürgerschaft (Patrizier und Plebejer) verschaffte. Auf solchen vielfältigen Kompromissen (gesetzliche Regelungen), Abhängigkeiten (Klientelen) und Netzwerken (politische Allianzen) ruhte die Herrschaft der römischen Nobilität. Eine politische Karriere erforder­te die wiederholte Wahl in öffentliche Ämter – aber nur die Mit­glieder der Oberschicht besaßen in einer umfangreichen Klientel die nötigen Voraus­ setzungen dafür. Doch auch so benö­tigte der Einzelne, um sich durchzusetzen, die Unter­stützung von Verbündeten und der dazugehörigen Gefolgschaft. Anders waren Mehrheiten kaum zu erzielen. So verhalfen sich die Angehörigen des Senatorenstandes – in wechselnden Koalitio­nen und heftiger Konkurrenz  – stets gegenseitig zu einer politischen Lauf­bahn und schlos­sen gleichzeitig die übrige Gesellschaft davon aus. Selbst aus dem in ökonomischer Hinsicht ebenbürtigen Ritterstand gelang nur selten jemandem der Ein­bruch in die regierende Schicht, und dies meist nur durch Protektion senatorischer Kreise, die sich von dem neuen Mann (homo novus) zusätzlichen Einfluss versprachen. Die Gegenleistungen, die jeder während seiner politischen Tätigkeit für un­entbehrliche Hilfestellungen erbringen musste, bewahrten innerhalb der Aristokratie ein Gleich­gewicht in der Machtverteilung und ließen so die Entste­hung einer persönlichen, vom Konsens der regierten Schicht unabhängigen Herr­schaft eines Einzelnen kaum zu.96 Auf eine weitere Auswirkung der Zusammensetzung des Senates bleibt hinzu­weisen. Betrachtet man den Senat als die römische Regierung, so wird ersicht­lich, dass ein Regierungswechsel nie stattfinden konnte. Zwar änderten sich laufend durch Tod und Nachfolge die Mitglieder, auch die principes viri wechsel­ten, aber nie alle auf einmal und schon gar nicht als Folge einer verlorenen Wahl. Magistrat war man auf ein Jahr, Senator hingegen auf Lebenszeit. Wer Consul gewesen war, hatte keine weiteren Ämter vor sich, nur wenige Consulare wurden mit der Zensur (Amt zur Überwachung der guten Sitten und Zusammenstellung der Bürgerlisten) beauftragt. Vor ihm lagen fünfzehn oder mehr Jahre des Wirkens als leitender Staatsmann, ohne sich je wieder einer Wahl stellen zu müssen. Dies hatte zum einen eine gewisse 467

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Schwer­fälligkeit in der Reaktion auf veränderte Situationen zur Folge, zum anderen aber entzog es Senatsentscheidungen dem Zeitdruck der Tagespolitik, erlaubte langfristige Planungen und verschaffte dadurch dem römischen Regierungssystem eine Kontinuität und Stabilität, wie sie nirgends sonst erreicht worden ist. Formalrechtlich hatte der Senat nur eine Befugnis: den Magistra­ten Ratschläge zu erteilen und auch das nur auf deren Anfrage. Der Senat konnte nicht von selbst zusammentreten, sondern musste von einem dazu befugten Consul, Prätor oder Volkstribun einberufen werden. In der Praxis war aber eine Empfehlung des Senates (senatus consultum) für die Magistrate eine binden­de Anweisung und für das Gesamtvolk eine gültige Rechts­verordnung. Der Magistrat, der einem Senats­beschluss zuwiderhandelte, der ohne Rücksprache mit dem Senat Maßnahmen von Tragweite traf oder einen Ge­ setzesantrag unter Umgehung des Senates vor das Volk brachte, riskierte den politischen Ruin. Keiner durfte wagen, sich die Feindschaft der leitenden Staatsmänner zuzuzie­hen. Selbst die Consuln als höchste Amtsträger des Gemeinwesens waren nach Ablauf ihres Amtsjahres zwar Senatoren, zivilrechtlich aber private Bürger und damit der Strafverfolgung von Seiten einer durchaus politi­schen Justiz ausgesetzt. Im Übrigen mussten auch sie ein ­Interesse daran haben, dass in Zukunft ein durch ihre auctoritas erwirkter Senatsbeschluss von den dann amtierenden Magistraten befolgt wurde. Ein schlechtes Beispiel in dieser Hin­sicht konnte Rückwirkungen auf ihre eigene zukünftige Stellung als leitende Staatsmänner zeitigen. Doch darf diese verall­gemeinernde Darstellung, so sehr sie für den Regelfall zutrifft, nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kraft­proben zwischen Magi­straten und dem Senat zu allen Zeiten der Repu­blik vorkamen und zum normalen Gang des politischen Alltags gehörten. Bei aller Betonung der Regierungsgewalt des Senates darf die politi­sche Funktion des Gesamtvolkes nicht außer Acht gelassen wer­den.97 Die verschiedenen Organi­sationsformen der Volksversamm­lung (comitia centuriata, comitia tributa, comitia curiata, concilium plebis) wirkten bei der politischen Willensbildung entscheidend mit. Ähnlich wie in den meisten griechischen Poleis wurde die Heeresversammlung als Volksversammlung (comitia centuriata) nach timokratischen Kriterien (Censuswahlrecht) eingerichtet, was die vermögenden Bürger bevorteilte. Es genügt festzuhalten, dass die Abstimmungsmodalitäten mehr oder minder deutlich die grund­ besitzenden, vermögen­ den Bevölkerungs­ gruppen bevorzugten. Das Gesamtvolk (populus Romanus) als die Versamm­lung aller römischen Bürger (cives Romani) wählte alle Magistrate, beschloss Gesetze (leges) und traf die 468

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l­etztinstanzlichen Entscheidungen über Krieg und Frieden oder in Kapital­ angelegenheiten. Das Votum des einzelnen Bürgers war allerdings im All­ gemeinen durch seine jeweiligen Klientel­bindungen vorgegeben. Stand die Führungs­schicht geschlossen hinter einem Antrag, so konnte die Zustim­ mung des Volkes als sicher gelten. Ablehnungen kamen hier nur unter extre­ men Umständen vor. Bei Wahlen lag diese Voraus­setzung naturgemäß nicht vor, sodass es dem Gesamtvolk über­lassen blieb, die jeweiligen Kandidaten aus der Reihe der senatori­schen Familien in ihrer öffentli­chen Tätigkeit zu bestätigen oder abzulehnen, unter Berücksich­tigung der Abhängigkeitsverhältnisse des Wählers. In seltenen Fällen, in denen im Senat keine Einigung über anstehende Fragen erreicht wurde oder die unter­legene Seite einen Mehrheitsentscheid nicht akzeptieren wollte, konnte das Volk allerdings zum Schiedsrichter der Auseinandersetzungen innerhalb der Aristokra­tie werden, wie die Reformvorhaben des Tiberius Gracchus auf dramatische Weise aufgezeigt haben. Damals wurden die Bruchstellen des aristokratischen Konsenses, der bislang die politische Kultur Roms maßgeblich geprägt hatte, erstmalig sichtbar.98 Bisher wurden die Begriffe Staat und Repu­blik zur Kennzeichnung des politischen Systems der Römer weitgehend ver­mieden. Nichts ist gegen ihre Verwendung einzuwenden. Doch sollte man sich zuvor den römischen Staatsbegriff verdeutlicht haben. Res publica, gemeinhin mit Staat übersetzt, ist etwas ungenau. Eigentlich heißt res publica wörtlich öffentliche Angelegen­ heit – das, was die Gesamtheit der Bürger anging: Öffentliches Interesse, Ge­ meinwesen, Gemeinwohl, Staat, Verfassung und Politik. Für all das kannte der Römer eben nur diesen Begriff. Die Bezeichnung res publica war ein passi­ver Begriff. Sie konnte nicht handeln, Gesetze und Ver­träge beschließen und verkünden, Krieg erklären, Steuern erheben und dergleichen mehr. Staat im Sinne des handelnden Souveräns gegenüber dem Bürger und als Völkerrechtssubjekt gegenüber frem­den Staaten war stets der populus Romanus, das römische Volk. Es kenn­zeichnete jedoch das Selbstverständnis der herrschenden Schicht, dass im offiziellen Sprachge­brauch der Senat gleich­ be­rechtigt neben das Gesamtvolk trat. Nichts drückte Wesen und Wirklichkeit des römischen Staates knapper aus als die Abkür­zung S.P.Q.R.: Senatus ­populusque Romanus, Senat und Volk von Rom. All das, was die res publica ausmachte, stand im Gegensatz zur res privata, den privaten Angelegenheiten des Einzelnen, über die er frei und uneinge­ schränkt verfügen konnte und innerhalb derer er potestas (Macht und Gewalt) besaß, nach Belieben zu handeln. In der res publica populi Romani, den gemeinsamen Angelegenheiten des römi­schen Vol­kes, mochten ein469

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zelne ­Individuen über große auctoritas verfügen, so wie die Wortführer (principes viri); aber keiner verfügte – es sei denn in den geregelten Formen der Magistratur – über potestas, die Macht, der Ge­samtheit der Bürgerschaft den eigenen Willen aufzuzwingen. Dass die Angehörigen der Aristokratie und der vermögen­den Schichten über­haupt grö­ßeren Anteil hatten an dieser gemein­samen Sache als andere, dass insbesonde­re die nobiles die res publica als ihre ureigene Domäne betrach­teten, stand nicht im Wider­spruch zu der Grundi­dee. Der Staat war für den Römer eine abstrakte Angelegenheit, die allen gehörte und alle anging. Falls es einem leitenden Politiker jedoch ­gelang, diese Sache so zu seiner eigenen zu machen, dass die übrigen Bürger von den öffentlichen Angelegenhei­ten ausgeschlossen blieben und diese seine Entscheidungen auch gegen ihren Willen anneh­men mussten, dann stand die res publica zur Disposition.

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4 Caesarismus als Macht der Worte, Bilder und Bajonette Sein Standbild stand unter denen der Götter, nach ihm nannten sich Städte und ein Jahresmonat, und die Monarchen fügten seinen erlauchten Namen den ihrigen zu. Die römische Geschichte hatte ihren Alexander bekommen. Es war schon klar, dass er das unerreichbare Vorbild aller Diktatoren werden würde. (Bertolt Brecht, Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar).

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ass die aristokratisch geprägte römische Repu­blik sich gegen Ende des 1. vorchristlichen Jahrhunderts zu einer faktischen Monarchie verwandelte, ging wesentlich auf Caesars Initiative zurück, der nicht nur den Weg dahin ebnete, sondern gleichsam das klassische Modell einer autoritären Staatsgründung schuf, das von späteren Machtmenschen vielfach nachgeahmt werden sollte. In dieser Kontinuität wird sich in der Neuzeit beispielsweise der Bonapartismus verorten, der wie das antike Vorbild des Caesarismus als Symbol für die Überführung der französischen Repu­blik in das Kaisertum von Napoleons Gnaden steht. Einige aufschlussreiche Etappen dieses bedeutsamen Verwandlungsprozesses lassen sich anhand der Analyse eines unscheinbaren, im 9. Buch der ciceronianischen Korrespondenzsammlung an Atticus aufbewahrten und auf den März des Jahres 49 v. Chr. datierten Briefes von Caesar an seine Getreuen Oppius und Cornelius Balbus verdeutlichen, der während des italischen Feldzuges wenige Wochen nach der Überschreitung des Rubicon verfasst wurde. Darin finden wir wesentliche Richtlinien der von Caesar angestrebten Umgestaltung des römischen Gemeinwesens vorgezeichnet. In dem betreffenden Schreiben lässt sich eine Argumentationsebene ausmachen, die uns erlaubt, Caesars Position im Bürgerkrieg zu präzisieren. Aufgrund der Bedeutung ihres Inhalts und ihrer Zukunftsperspektive können diese Zeilen als Schlüssel zum Verständnis seiner Herrschaftsideologie dienen. Der Wortlaut des Schriftstücks besticht durch die sprichwörtliche brevitas seines Verfassers sowie durch die Prägnanz der übermittelten Botschaft. Betrachten wir ihn nun etwas näher: Caesar grüßt Oppius und Cornelius. Es freut mich 471

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a­ ufrichtig, dass Ihr mir in Euerem Schreiben zu verstehen gebt, wie sehr Ihr mit meinen Maßnahmen bei Corfinium einverstanden seid. Gern befolge ich Euern Rat, und das um so lieber, weil ich selbst schon entschlossen war, größte Milde walten zu lassen und mich um eine Versöhnung mit Pompeius zu bemühen. So wollen wir versuchen, ob wir auf diese Weise allgemeine Zuneigung gewinnen und den Sieg zu einem dauerhaften machen können. Alle anderen haben ja infolge ihrer Grausamkeit dem Hass nicht zu entgehen vermocht und ihren Sieg nicht allzu lange aufrecht erhalten können, abgesehen von dem einen Sulla, und den möchte ich nicht nachahmen. Mit Barmherzigkeit und Großmut ­wollen wir uns sichern; das sei unsere neue Art zu siegen. Wie sich das wird durchführen lassen, darüber habe ich mir schon meine Gedanken gemacht, und sicher lässt sich mancherlei finden. Lasst Euch bitte die Sache durch den Kopf gehen! N. Magius, einen von Pompeius’ Adjutanten, habe ich zu fassen bekommen. Natürlich habe ich ihn meinen Grundsätzen gemäß gleich wieder laufen lassen. Schon zwei andere Adjutanten des Pompeius sind mir in die Hände gefallen, und beide habe ich freigegeben. Wenn sie sich dankbar erweisen wollen, müssen sie Pompeius dazu zu bringen suchen, dass er es vorzieht, mir Freund zu sein und nicht diesen Leuten, die stets seine und meine erbittertsten Gegner gewesen sind. Ihren Machenschaften ist es zu danken, dass der Staat in diese Lage geraten ist.99 Bereits die erste Zeile versetzt uns mitten hinein in die Ereignisse des Bürgerkrieges. Nach der Eröffnung der Feindseligkeiten versuchten beide Kriegsparteien ihre jeweilige strategische Position auf italischem Boden zu verbessern. Wir beobachten, wie Caesar die Einnahme Corfiniums, einer Stadt von beachtlicher strategischer Bedeutung im Zen­trum Italiens, nur beiläufig erwähnte – eine Episode, über die er allerdings in seinem Buch über den Bürgerkrieg ausführlich berichten wird. Es überrascht kaum, dass er die seinen Gesprächspartnern sattsam bekannten Geschehnisse in abgekürzter Form abhandelte. Bemerkenswerter bleibt aber die Tatsache, dass Caesar die Richtigkeit seiner Vorgehensweise bekräftigte und sich dazu beglückwünschte, in Erwartung eines dauerhaften Sieges den Weg der Mäßigung im Umgang mit seinen Feinden gewählt zu haben.100 Nicht weniger bedeutsam war seine Ankündigung, die Tür zu einer möglichen Verständigung mit Pompeius, seinem großen Rivalen, offen zu halten. Doch nach der Betonung seiner moderaten Handlungsweise wird ein pathetisch aufgeladenes Argument aufgeboten, das im Hinblick auf Pompeius durchaus heikel war, wenn Caesar wirklich vorhatte, sich mit ihm zu versöhnen. Um sein Verhalten zu rechtfertigen, griff Caesar auf ein historisches Beispiel zurück, das im kollektiven Gedächtnis seiner Zeitgenossen stets präsent blieb: Die sullanische Diktatur, die von 472

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s­tarken innenpolitischen Konvulsionen und Blutvergießen erfüllt gewesen war. Davon setzte sich Caesar deutlich ab. Mittels der geäußerten Kritik skizzierte er implizit sein eigenes politisches Programm, charakterisiert durch die Negation all dessen, was Sulla verkörperte. Die Anspielung auf Sulla war voller persönlicher Konnotationen. In diesem Kontext müssen die tiefen persönlichen Ressentiments Caesars berücksichtigt werden, der mit Marius und Cinna, den unversöhnlichen Rivalen Sullas, verwandtschaftlich verbunden war. Sich gegen Sulla zu positionieren, gehörte zu Caesars Familienpolitik, der als typischer Vertreter der römischen Elite seine politischen Überzeugungen mit seinen familiären Verpflichtungen in Einklang zu bringen wusste. Es bedeutete für ihn keine große Anstrengung, auf diese Weise politisch Stellung zu beziehen, da er bei der Verurteilung des verhassten Sulla, den er als verabscheuenswürdiges Wesen darstellte (die Substantive crudelitas und odium beziehen sich auf ihn), seine Rachegelüste befriedigte und gleichzeitig eine alternative Perspektive als Kontrast zu der Orgie von Gewalttätigkeiten entwarf, die der umstrittene Diktator ausgelöst hatte, als er die Macht in Rom ergriff. Gleichwohl war die Verdammung Sullas in Hinblick auf Pompeius durchaus problematisch, da sich dieser an dem Blutvergießen Sullas aktiv beteiligt hatte. Angesichts dieser Sachlage kann man fragen, ob mit solchen im Schreiben eingestreuten Sticheleien die lauthals angestrebte Annäherung an Pompeius zu erlangen war? Es erscheint wenig wahrscheinlich. Wenn es so wäre, dann müssten die von politischer Leidenschaft getränkten Aussagen entweder für die Galerie oder gar für die Nachwelt verfasst worden sein. Dies nährt die Vermutung, dass der Brief ein wohl kalkuliertes propagandistisches Dokument darstellt, sorgfältig konzipiert, um die politischen Absichten seines Verfassers zu verbreiten.101 Wir verfügen über einige schriftliche Mitteilungen, die von Pompeius selbst stammten und wertvolle Informationen über seine damalige Gemütsverfassung und politische Ausrichtung boten, und die zu dem Zeitpunkt abgefasst wurden, als Caesar seine Botschaften verschickte. Bei keiner von ihnen vermögen wir Anzeichen auszumachen, dass er den Gedanken hegte, sich mit Caesar zu verständigen. Im Gegenteil: Pompeius war in jenen Tagen vollauf damit beschäftigt, die eingeleiteten militärischen Maßnahmen energisch voranzutreiben. Außerdem zeigte er sich verärgert über die Art der Durchführung der jüngsten militärischen Operationen durch seine Verbündeten, wie etwa im Fall des Domitius Ahenobarbus. Ferner erschien er auch wegen der zweifelhaften Treue einiger seiner Truppen ernsthaft besorgt gewesen zu sein. Schließlich ermahnte er seine Mitstreiter, dass sie jegliche 473

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Fragmentierung ihrer Kampfkraft vermeiden sollten, angesichts der Gefahr, von Caesars Legionen vernichtet zu werden, die an Ausbildung und Kampferfahrung seinen eigenen Truppen weit überlegen waren. Alles in allem verfügen wir über keinen Hinweis, der eine Annäherung der hoffnungslos zerstrittenen Parteien nahelegen könnte. Betrachten wir nun die weiteren Informationen, die uns Caesar liefert. Der Appell an das Gebot der Eintracht zwischen Bürgern wird durch den Bericht über die Befreiung des praefectus fabrum Magius aus der Gefangenschaft ­unterstrichen. Dieser, ein inhaftierter Adjutant des Pompeius, wurde zu seinem Vorgesetzten zurückgeschickt mit dem Auftrag, ein Friedensgespräch zwischen Pompeius und Caesar zu vermitteln. Wie er es bereits mit anderen Gefolgsleuten seines großen Rivalen getan hatte, die ebenfalls in seine Hände gefallen waren, setzte Caesar solche Freilassungen sorgfältig in Szene – angesichts einer Öffentlichkeit, die zweifelsohne derartig symbolisch aufgeladene Gesten aufmerksam zur Kenntnis nahm. Trotz des Argwohns der senatorischen Kreise gegenüber Caesar stand die positive Rezeption seiner publikumswirksamen Versöhnungspolitik in weiten Teilen der Bevölkerung außer Zweifel. Dies lässt sich anhand zweier Beispiele erhärten. In einer Mitteilung, die Cicero Anfang März im Jahr 49 v. Chr. an Atticus sandte, wird der Positionswechsel zugunsten Caesars kommentiert, der sich in den italischen Munizipien zuspitzte.102 Das aufschlussreiche Zeugnis zeigt uns die wohlwollende Aufnahme von Caesars Versöhnungspolitik und unterstreicht den Zuspruch, den diese erhielt: Ein weiteres Zeugnis entnehmen wir der Korrespondenz zwischen Caelius und Cicero, in der ersterer die Vorgehensweise Caesars lobte, indem er sie mit der Engherzigkeit des Pompeius verglich.103 Wie sich aus diesen Texten erschließen lässt, begann die von Caesar gezielt inszenierte Politik der psychologischen Kriegführung – unbeschadet der Tatsache, ob sie ernst gemeint war, oder nicht – die von ihrem Urheber erhofften Effekte zu zeigen. Ein signifikanter Teil der Öffentlichkeit zeigte sich beeindruckt von der Dialogbereitschaft, derer Caesar sich rühmte.104 Durch die positive Bewertung von Caesars Verhalten geriet sein illegaler Staatsstreich – denn nichts anderes war sein Überfall in Italien gewesen – in den Hintergrund. Genau darauf war Caesar aus: Der Öffentlichkeit vergessen zu machen, dass sich hinter dem Bild des konzilianten Verhandlungspartners ein unbezähmbarer Ehrgeiz verbarg, der keinen Krieg scheute, um seine Pläne zu verwirklichen. Die diesbezüglichen Beteuerungen Caesars sollten darüber hinaus weitere Botschaften vermitteln. Caesar, der bar aller Skrupel im Begriff stand, mit dem Schwert in der Hand dem Staat seinen Willen aufzuzwingen, griff bewusst zu wohlklingenden Worten, um seinen 474

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Überfall zu rechtfertigen und gleichzeitig ein positives Bild seiner Vorgehensweise zu zeichnen. Dies wird besonders im letzten Absatz des Briefes deutlich, der eine eminent politische Ermahnung enthält. Indem Caesar seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass seine moderate Handlungsweise Pompeius zur Umkehr bewegen könnte in einem Konflikt, der – so derjenige, der die Invasion Italiens eröffnet hatte –  absichtlich von jenen provoziert worden war, die schon immer die erklärten Feinde von ihnen beiden gewesen seien, verdrehte er Ursache und Wirkung des Streitfalls. Mit anderen Worten: Caesar nahm den Faden seiner alten Freundschaft zu Pompeius wieder auf, um neue politische Perspektiven zu entwerfen und sie zugleich von der grauen Wirklichkeit abzugrenzen. Gleichzeitig gab er damit zu verstehen, dass das aktuelle Bündnis zwischen Pompeius und den Gegnern Caesars eine gewaltige Fehlentscheidung gewesen sei, die den bereits begonnenen Bürgerkrieg unnötig verlängerte und gravierende Folgen für den inneren Frieden Roms mit sich bringen würde, für die er seine Gegner (und indirekt auch Pompeius, falls er nicht bereit war, seine Haltung zu revidieren) verantwortlich machte. Die Themen, die in dem Brief angesprochen wurden und die Art ihrer Behandlung weisen die typischen Merkmale einer politischen Kampfschrift auf, die inmitten des Bürgerkrieges angefertigt wurde und bewusst auf ihn reagierte. Das Schreiben war vordergründig an die Gefolgsleute des Autors gerichtet, denen er seine Vorgehensweise erläuterte, ihnen zugleich seinen Dank für geleistete Dienste abstattete und sie um ihre zukünftige Mitwirkung bat. Allerdings enthält der Duktus des Briefes neben seiner offenkundigen Intentionalität einen tieferen Sinn, der sich erst erschließt, wenn man hinter der Ansammlung konventioneller Floskeln seine einfallsreichen propagandistischen Wendungen und seine ideologischen Anspielungen erkennt. Denn, wie wir bereits sahen, war ihr Autor ein Experte in der Kunst der Suggestion und ein vollendeter Meister der Schreibfeder, die er virtuos zu benutzen wusste, als wäre sie ein Dolch, um sich vor seinen Feinden zu schützen und sie gleichzeitig in die Enge zu treiben. Betrachten wir den Gehalt des Briefes in seiner Gesamtheit und fragen wir nach dessen Subtext, aber vor allem nach dem Zweck seiner Kernaussagen, so gilt es folgendes zu beachten: Zunächst einmal behauptete Caesar rundheraus, dass seine unversöhnlichen politischen Feinde die eigentlichen Verursacher des Bürgerkrieges waren, auf die er deswegen mit dem Finger zeigte, ohne sie allerdings beim Namen zu nennen, und um sie auf diese Weise kumulativ zu bezichtigten. Wie er in der letzten Zeile des Schreibens hervorhebt, waren sie die Schuldigen für die gegenwärtige Misere des 475

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S­ taates. Durch eine solche Zuschreibung hoffte Caesar, obwohl er selbst der Initiator der Kampfhandlungen gewesen war, von jeder Schuldzuschreibung abzulenken. Mit der Aufforderung an Pompeius, sich auf seine Seite zu schlagen, eröffnete er einen zusätzlichen Weg der Exkulpierung. Seine Intention war klar: Diejenigen, die bereit waren, seine Sache zu unterstützen, sollten von jeglicher Verantwortung freigesprochen werden. Damit deutete er an, dass nicht er, sondern jene, die sich gegen ihn stellten, für die Verlängerung des bewaffneten Konfliktes verantwortlich zeichneten. Bemerkenswert bleibt die Tatsache, dass Caesar die Protagonisten der ­politischen Lage als ein Dreigestirn widerstrebender Gruppierungen darstellte. Da wären seine mehrfach an den Pranger gestellten Feinde, die als die eigentlichen Verursacher des Bürgerkrieges apostrophiert werden, ferner Pompeius, der hier von dieser Gruppe getrennt erscheint, und schließlich Caesar selbst samt seiner Anhängerschaft. Mit der Vorstellung, die diese konstruierte Vignette heraufbeschwor, gab Caesar dem Leser zu verstehen, dass er bis zuletzt an der Hoffnung festhielt, Pompeius auf den rechten Weg zu bringen, womit nahegelegt wurde, dass dieses Schwergewicht der römischen Politik jederzeit seine Positionierung ändern und sich auf Caesars Seite schlagen könnte, was zu einer unmittelbaren Einstellung der Feindseligkeiten geführt hätte. Mit der Konstruktion dieser Kausalkette der gestuften Verantwortung entschärfte Caesar die Wirkung eines Bürgerkrieges, den er selbst provoziert hatte, und stellte den Konflikt als einen politischen Streit dar, der jederzeit auf dem Verhandlungsweg beendet werden konnte. Durch diesen gedanklichen Schachzug wurde die Verantwortung am Bürgerkrieg auf unilaterale Weise Pompeius zugeschrieben. Schließlich stellte Caesar einen Maßnahmenkatalog vor, der sich vor allem durch die Negation von Sullas Politik definierte – ein Name, der als Synonym für eine äußerst konvulsive Epoche der jüngsten Vergangenheit stand, die von Proskriptionen und Gewalt geprägt worden war. Als Kontrapunkt zu dieser diskreditierenden Positionsbestimmung entwarf Caesar sein eigenes politisches Programm, dessen Leitlinie seine Bereitschaft zur Milde und Versöhnung darstellte und das sich mit den positiv besetzten Begriffen lenitas, misericordia und liberalitas wiedergeben ließ. Wenn wir diese wohlklingenden Äußerungen in den Kontext des Bürgerkrieges stellen, der zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Briefes voll im Gange war und bereits eine Spur der Verwüstung und Gewalt gelegt hatte, dann klang jeder Appell an die Mäßigung der Beteiligten nach himmlischer Musik. Wir dürfen unterstellen, dass es gerade diese Anrufung der Affekte war, die der caesarianischen Propaganda eine besondere ideologische Qualität verlieh. 476

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Nun muss genauer danach gefragt werden, was Caesar damit bezweckte, wenn er seine irritierenden Handlungen, die Gesetze missachteten und Gewalt entfesselten, als Begleiterscheinungen seines militärischen Staatsstreiches in Begriffe einkleidete (Verständigung, Entspannung, Frieden), die der düsteren Realität jener Tage ziemlich entgegengesetzt waren und das genaue Gegenteil von dem beschrieben, was sich um ihn herum ereignete. Bei der Bewertung dieser Gegebenheiten stellen wir fest, dass Caesar, wie es auch beim Verfassen der Commentarii de bello civili geschehen wird, ein starkes Bedürfnis verspürte, sein politisches und militärisches Handeln zu rechtfertigen. Allerdings war die Absicht des an Oppius und Cornelius Balbus gerichteten Briefes noch weiter gespannt. Vermischt mit dem Appell an die selbstauferlegte Mäßigung formulierte Caesar sein politisches Credo, das darin bestand, sich die Freiheit zu nehmen, manu militari zu intervenieren, wenn er es für opportun hielt, ferner seine eigene Vorgehensweise gegenüber den Erfordernissen der politischen Lage als angemessen hinzustellen und sich schließlich als jemand zu stilisieren, der gegenüber den Gegnern tendenziell zur Versöhnung und Vergebung neigte. Durch diese Art zu denken und zu handeln schuf Caesar nicht nur einen Präzedenzfall sondern auch einen neuen identitätsstiftenden Slogan, den er während und nach dem Bürgerkrieg immer wieder propagieren wird und der sich in zwei Worte einkleiden ließ: Clementia Caesaris. Wir vernehmen die zaghaften Gehversuche, eine charismatische Ideologie der Macht zu begründen, die ihr Schöpfer Caesar in dem Schreiben an ­Oppius und Cornelius Balbus erstmals zu Papier brachte. Obwohl er sich ­zunächst für leise Töne hinsichtlich ihrer Verbreitung entschied, verhallte sie keineswegs ungehört. In ihr verdichtete sich ein wesentlicher Teil seines später deutlich zutage tretenden ideologischen Gerüstes der Machteroberung. Paradox daran war nur, dass er es ins Leben rief, um seine prekäre Situation innerhalb eines politischen Systems zu rechtfertigen, das er zu zerstören im Begriff war. Gemäß dieser propagandistischen Rechtfertigungsstrategie befand sich die res publica in den Händen einer Bande von Unwürdigen, denen man sie entreißen musste. Folgerichtig hat sich Caesar später, als er nach seinem Sieg im Bürgerkrieg die Leitung des Staates übernahm, gegenüber der Öffentlichkeit als Befreier stilisiert. In diesem Sinne sah er sich als einzig gangbare Option, das Versöhnungswerk mit Pompeius innerhalb des fragilen inneren Gefüges der römischen Gesellschaft zu vollenden. Nichtsdestotrotz entging den Beobachtern der politischen Szenerie Roms keineswegs, dass Caesar bei der Befolgung seiner strategischen Zielsetzungen aus Eigeninteresse handelte, ohne sich sonderlich um Gesetze oder die 477

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eingespielten Formen des politischen Zusammenlebens zu scheren. Er nahm sich Vorrechte heraus, die als anstößig galten und die ihm von keiner Institution des bestehenden repu­blikanischen Gemeinwesens gewährt worden waren. Alle politisch denkenden Zeitgenossen wussten auch, dass der von Caesar eingeschlagene Weg, die ersehnte Herrschaft über die römische Repu­blik zu erlangen, unrechtmäßig war, dass seine politischen Ansprüche auf den Schwertern seiner Legionen beruhten und dass die von ihm benutzte Methode, seine Machtstellung zu begründen, seiner Gleichgültigkeit gegenüber den Tausenden von Menschenleben entsprang, die auf dem Altar seines unstillbaren Ehrgeizes geopfert worden waren. Indem Caesar die Vergebung als Verhaltensnorm einführte und sich selber in dieser Frage die Rolle der letzten Instanz anmaßte, setzte er wesent­ liche Kernbestände der repu­blikanischen Verfassung außer Kraft. Anstatt ihrer setzte er ein eigenes persönliches Regiment, das nichts anders war als die Autokratie eines machtversessenen Potentaten. Lediglich der Monarch besaß die Fähigkeit, das Gnadenrecht auszuüben, und genau dies tat Caesar mit seinen Feinden. Damit errichtete er sich einen Sockel, der ihn von seinen Mitbürgern unerreichbar abhob. In einem Verfassungsstaat repu­blikanischen Zuschnitts, der von einem weitreichenden zivilen Konsens und einem allgemeinen Wahlrecht getragen wird, verfügte kein einzelner Bürger über die potestas, seine Mitbürger zu begnadigen. Es herrschen die mehrheitlich akzeptierten Normen, die Gesetze und das Recht. In dem Staat, den Caesar zu errichten im Begriff war, sollte vor allem sein Wille maßgeblich werden. In der Anerkennung der Vollmachten eines Individuums, das sich selbst die Befugnis verlieh, das Begnadigungsrecht über seine Mitbürger auszuüben, verdichtete sich das Wesen der Monarchie, die nichts anderes bedeutete als die im Gewand der Milde und Gnade drapierte Illegitimität. Der Brief, den Caesar an seine Mitstreiter sandte, der für einen bestimmten Fall gedacht war, jedoch auch konzipiert wurde, um der Nachwelt ein günstiges Bild seines Autors zu vermitteln, zeigt uns eine durchtriebene Persönlichkeit, die äußerst geschickt vorging, um ihre Ziele zu verwirklichen. Caesar fiel in Italien ein, begnadigte immer wieder seine Widersacher und wollte Beifall für seine Milde erheischen. Man könnte vermuten, dass der spanische Ausdruck „ir por ahí perdonando vidas“ (was wörtlich heißt: „unterwegs sein und dabei fremde Leben verschonen“ und übertragen soviel wie „auf arrogante Weise sich huldvoll oder gnädig erweisen“), der übrigens in fast keiner anderen europäischen Sprache vorkommt, das passendste Motto wäre, um die Haltung Caesars zu charakterisieren, die eine beträchtliche Tragweite für die Zukunft Roms haben wird. Zugleich ist es eine der ersten 478

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Inszenierungen einer aus dem Geist der Anarchie entstandenen monarchischen Ideologie. Wie das vorliegende Beispiel zeigt, erwuchs die römische Monarchie auf einem Nährboden, der von einem unbändigen Ehrgeiz, dem Ausnahmezustand und dem Bedrohungspotenzial der Bajonette eines zu allem entschlossenen Potentaten ausgiebig gedüngt worden war.105 Nach Caesar werden die künftigen Monarchen seinen Namen tragen, um ihre Machtstellung über ein Gemeinwesen auszuüben, das durch die Beschneidung der verfassungsrechtlichen Normen ins Leben gerufen wurde, welche die Regierungsbeteiligung der Bürgerschaft garantierten und nun die Zügel des Staates einem einzigen Individuum überließ. In dem Fall, den wir gerade dargestellt haben, hieß dieses Individuum Gaius Julius Caesar. Aber vergessen wir nicht, dass nach ihm andere folgen werden, wie etwa Caligula, Nero, Iwan der Schreckliche, Ludwig  XIV., Ferdinand  VII., Napoleon oder Wilhelm II., um nur einige derjenigen zu nennen, die sich mehr oder weniger berechtigt in seine Nachfolge einreihen werden. Der berühmte Satz „l’état c’est moi“, der König Ludwig XIV. von Frankreich zugeschrieben wird, um seine autokratische Regierungsform zu kennzeichnen, scheint geradewegs aus diesem fast unbekannten Brief entnommen worden zu sein, den wir unter die Lupe genommen haben und dessen Autor Gaius Julius Caesar die res publica populi Romani mittels eines blutigen Staatsstreiches in die res ­privata Caesaris verwandelte.

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or der Behandlung des politischen Werdegangs des Augustus, der für den Übergang von der Repu­blik zur monarchischen Regierungsform des Principats steht, sei ein kurzer Blick auf eine Stellungnahme des Kulturphilosophen José Ortega y Gasset geworfen, der über Octavians Weg zur Macht folgende Einschätzung abgab: „Das also ist der Anspruch und der Titel, auf den der Imperator Augustus die Ausübung seiner Macht stützt: die Erschöpfung. Es ist kein legitimer, aber ein wirksamer Titel, es ist eine Dringlichkeit, eine Notwendigkeit. Jemand, wer auch immer es sein mochte, musste die öffentliche Gewalt, die Herrschaft ausüben, um mit der Anarchie aufzuräumen. Es gab in Rom gegen das Jahr 30 nur müde Gleichgültigkeit und Ekel gegenüber jeder Politik, was seinen Ursprung in der übermäßigen, geradezu besessenen Beschäftigung mit der Politik während der vorhergegangenen Zeit hatte; nun sehnte man sich danach, die Politik an irgendjemanden loszuwerden, wer auch immer es sei, um die Freiheit zu haben, sich nicht mit ihr beschäftigen zu müssen. Und hier liegt das Überraschende: am Ende dieses ganzen Prozesses von tausend Jahren römischer Geschichte ist das Oberhaupt des Staates wieder – irgendjemand“.106 So provokativ Ortegas Aussagen sind, ein Körnchen Wahrheit wird man ihnen schwerlich absprechen können. Mussten denn die leidvollen Erfahrungen des Bürgerkrieges nicht zu einer Umgestaltung des überforderten repu­blikanischen Politikbetriebes führen? Dennoch vernachlässigt eine Betrachtungsweise, welche die Entstehung der Monarchie als Endpunkt eines politischen Gärungsprozesses zu begreifen versucht, wesentliche Facetten der Principatsherrschaft als Nahtstelle eines gesellschaftlichen Umbruches. Ihre Bausteine lassen sich aus der Wechselwirkung zwischen P ­ erson und Situation begreifen, womit sich die Frage stellt, warum Augustus – und kein anderer  – das mit seiner Biographie untrennbar verwobene Principat ins Leben rief und vor allem, wie ihm dies gelang? Als äußerst widersprüchlich erscheint der Alltag der ausgehenden Repu­ blik. Die Vertiefung der Kontraste zwischen dem Reichtum der Oberschicht und der Armut der Masse, der Verlust an sozialer Symmetrie, die teilweise 480

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bis ins Groteske übersteigerte Selbstsucht Einzelner zulasten der Gemeinschaft, der unbändige Ehrgeiz der Führungsschicht oder gar die herrschenden Disproportionen zwischen einer entmilitarisierten Reichszentrale und einer hochaufgerüsteten Peripherie zeigen einige Bruchstellen auf, welche das traditionelle Politikverständnis von der gesellschaftlichen Wirklichkeit unterschied. Aus dieser Perspektive könnte die Eroberung der Macht durch Augustus als Versuch zur Integration auseinanderdriftender Politikbereiche erscheinen. Doch der Schein trügt. Das meiste, was der ambitionierte Machthaber anstieß, war machtpolitisch gedacht und propagandistisch sorgfältig inszeniert. Selbst die Kulturschaffenden verbreiteten – ohne, dass sie eigens dazu angestiftet worden wären  – die Errungenschaften der neuen Ära, indem sie neue Kunstformen schufen, Geschmacksrichtungen beeinflussten und damit einen Stilwandel ankündigten. Sie taten dies so nachhaltig, dass Paul Zanker mit Blick auf die Eroberung des Staates durch Augustus von der „Macht der Bilder“ spricht.107 Gewiss vermittelten nicht nur Monumente, Kunstwerke oder Bilder das Wirken des Princeps; dieses manifestierte sich ebenso anhand des für die Gegenwart und Nachwelt gesprochenen und geschriebenen Wortes. Wie nachhaltig die davon ausgehende Wirkung sein kann, bedarf keines Beweises. So wie Cicero der politischen Semantik seiner Epoche eine Stimme verliehen hat, so lässt sich dies auch auf Gaius Octavius übertragen, dessen Geburtsname schon früh von einer Nomenklatur überlagert wurde, die aus einer machtvollen Begriffskombination resultierte: Imperator Caesar Augustus. Der aus dem militärischen Bereich entlehnte Titel eines Imperators sprach die Basis seiner Herrschaft an: Der Oberbefehl über die Legionen, gepaart mit der Erinnerung an errungene Siege. Mit dem aus der julischen Familie stammenden Cognomen Caesar wurde an eine charismatische gens angeknüpft, und schließlich gemahnte die Bezeichnung Augustus an das eigene Leistungsvermögen. In diesen prägnanten Worten verdichtete sich die Machtstellung des alle repu­ blikanischen Maßstäbe sprengenden ersten Bürgers Roms108, der allen wohlklingenden Titeln zum Trotz seine Führungsrolle durch Skrupellosigkeit und Gewalttaten zementiert hatte. Durch die Kombination unterschiedlicher Bedeutungsfelder gelang eine erstaunliche Synthese. Sie verdeutlichte die Grundlagen der neuen autokratischen Regierung, indem sie gleichzeitig positive Assoziationen in Erinnerung rief: An der Spitze des Staates stand nun jemand, der den Bürgerkrieg beendet hatte. Vom Ergebnis her betrachtet, konnte die Wendung Imperator Caesar Augustus als Synonym für Stabilität, Ordnung und Kontinuität erscheinen und so die Gräueltaten und Ungereimtheiten ihrer Genese vergessen machen. 481

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Tatsächlich hat Octavian/Augustus mit der Lenkung der öffentlichen Meinung seine ungewöhnliche Karriere gefördert. Neben der Mobilisierung von Geld, Soldaten und Anhängern begleitete immer wieder eine passende politische Strategie die verschiedenen Stationen seines Aufstieges. Dies offenbarte sich zu Beginn seines Wirkens, als er mit erstaunlicher Zielstrebigkeit nach der Ermordung Caesars zunächst dessen Namen annahm, dann die Vergöttlichung seines Adoptivvaters betrieb, um sich der römischen Öffentlichkeit als dessen politischer Erbe zu empfehlen. Vorausgegangen war ein ungewöhnlicher Kraftakt: Er warb unter den Veteranen Caesars ein Heer an und marschierte wie einst Sulla nach Rom. Derartige Eigenmächtigkeiten ließen alle aufhorchen. Die Angriffe des Antonius – dieser apostrophierte ihn als einen Knaben, der alles nur seinem Namen verdanke – zeigen uns, dass Octavians Auftritte seine Gegner irritierten. Wie sehr sich all jene täuschten, die ihn unterschätzten, sollte sich spätestens im Verlauf des Jahres 43 v. Chr. zeigen, als das „enfant terrible“ der römischen Politik die Fronten wechselte und von der senatstreuen Cicerogruppe zu den Caesarianern überlief. Als mitten im Kampf gegen Antonius, den er im Auftrag des Senates führte, die Consuln Hirtius und Pansa fielen, nutzte Octavian das Machtvakuum, indem er mithilfe seiner Armee den verdutzten Senat überrumpelte und sich unter Gewaltandrohung das Consulat verschaffte. Um ein Übergewicht seiner bisherigen Verbündeten zu verhindern  – Brutus und Cassius hatten sich mittlerweile in den Besitz der Legionen der Ostprovinzen gebracht  –, ließ er die Caesarmörder verurteilen und die Ächtung des Antonius, der bisher als Staatsfeind galt, aufheben. Die Geschlossenheit innerhalb des caesarianischen Lagers wurde durch den Schwenk Octavians zu Antonius gestärkt. Bald darauf schlossen sich ihnen die Militärbefehlshaber der westlichen Provinzen (Gaius Asinius Pollio, Lucius Munatius Plancus, Marcus Aemilius Lepidus) an. Im November des Jahres 43 v. Chr. erhielten – durch Senat und Volk legitimiert – Antonius, Lepidus und Octavian diktatorische Vollmachten. Die Triumvirn erließen daraufhin Proskriptionen zur Unterdrückung der Opposition und bereiteten sich nun vor, mit den Caesar­mördern abzurechnen. Diese diametrale Kehrtwende von der Senatspartei zum Caesarismus ließ sich sehr einprägsam in zwei Worte einkleiden: Cicero und Rache (ultio). Die Attentäter sollen als Losungswort „Cicero“ ausgegeben haben, als sie den Diktator niederstreckten. Verband sich nun Octavian mit Antonius unter der Parole Rache für Caesar, so stand Cicero im Weg. Die glänzendste Stimme Roms wurde das prominenteste Opfer der Justizmorde der Triumvirn, die mit erprobter Skrupellosigkeit ihre Gegner ausschalteten. 482

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Im Herbst des Jahres 42 v. Chr. erlangten die Caesarianer nach der siegreichen Schlacht bei Philippi, die von Antonius geschlagen wurde und an der Octavian als Randfigur agierte, ein erdrückendes Übergewicht. Danach war Antonius der führende Mann im Reich, dem nun die Aufgabe zufiel, die Ostprovinzen zu verwalten. Die bald nach Philippi geprägten ConcordiaMünzen spiegeln die gewandelten politischen Verhältnisse wider. Nachdem durch die Rache an den Caesarmördern der pietas Genüge getan worden war, konnte die Neuordnung des Staates angegangen werden. Der Rache­ gedanke war nach der Errichtung des Triumvirats ein wirksamer Slogan ­gewesen, um die Anhängerschaft des ermordeten Caesar zu mobilisieren. Octavian hat dieses Motiv geschickt ausgeschlachtet. In dem vor der ­ Schlacht bei Philippi im Falle eines Sieges versprochenen Tempels für den rächenden Mars (Mars Ultor), der zusammen mit dem Augustusforum nach einer langen Bauzeit erst 2 v. Chr. fertig gestellt wurde, ist er steinerne Wirklichkeit geworden. Ovid, der die Einweihungsfeierlichkeiten in seinen Fasten fest­gehalten hat, berichtet, wie es Augustus gelang, im Jahre 20 v. Chr. nach langwierigen Verhandlungen von den Parthern die Feldzeichen zurückzu­bekommen, die der unglückliche Feldherr Marcus Licinius Crassus im Jahr 53 v. Chr. in der Schlacht bei Carrhae verloren hatte. Dieser Vorgang wurde, nachdem die erhaltenen Feldzeichen in dem Tempel des Mars Ultor feierlich deponiert worden waren, von der augusteischen Propaganda als Beweis für die römische Weltgeltung stilisiert und als Rache uminterpretiert, wodurch der Beiname des Gottes eine zweite, aktuelle und Augustus sicher genehmere Lesart erhielt. Am Ort der Erinnerung an eine der blutigsten Schlachten des Bürgerkrieges, der zahlreiche Menschenleben gekostet hatte und von Augustus mit verursacht worden war, sollte nun die Vergegenwärtigung eines außenpolitischen Erfolgs treten. Dass Augustus ein handfestes Interesse daran hatte, die mit dem Reizwort Rache für Caesar verbundenen Ereignisse vergessen zu lassen, belegen die Ereignisse von Perugia, als er sich mit Antonius um die Kontrolle Italiens stritt und die Ratsherren der italischen Stadt kaltblütig ermorden ließ (40 v. Chr.). Laut Sueton soll er damals geäußert haben: Es muss gestorben werden.109 Selbst in der leidgeprüften Bürgerkriegszeit galten derartige Vorkommnisse als besonders verachtungswert. Wie ist es Octavian angesichts solcher Untaten gelungen, der öffentlichen Meinung zu beweisen, dass er kein machtbesessener „gewöhnlicher Terrorist“ war, wie ihn Jochen Bleicken bezeichnet hat?110 Die Antwort kann nur lauten: Durch eine unermüdliche propagandistische Kleinarbeit, die Unerfreuliches kaschierte und im Gegenzug Erfolge einhämmerte, so lange und beharrlich, bis sie Wirkung 483

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zeigte. Die Schrecken der Bürgerkriegszeit abzuschwächen, war sein Anliegen. Wie sehr man sich in Rom den Frieden herbeisehnte, lässt sich anhand eines um 40 v. Chr. abgefassten Gedichtes ermessen, in dem Horaz die Folgen des inneren Zwistes in den dunkelsten Farben ausmalte: Das zweite Menschenalter schon reibt sich auf in Bürgerkriegen und durch seine eigenen Kräfte kommt Rom zu Fall. (Die Stadt), die weder die benachbarten Marser zu vernichten vermochten, oder die Etruskerschar des drohenden Porsenna noch wettstreitend, Capuas Tapferkeit, noch der blutige Spartacus, noch der treulos auf Umsturz sinnende Allobroger, sie, welche auch das wilde Germanien mit seiner blauäugigen Jugend nicht bezwang und der von unseren Vorfahren verfluchte Hannibal: sie werden wir, ruchloses Geschlecht verfluchten Blutes, wir selbst zugrunde richten, und wilde Tiere werden wieder den Boden (der Stadt) in Besitz nehmen; der Barbar wird, weh! auf ihre Aschenreste siegreich seinen Fuß setzen und über ihren Grund hoch zu Ross donnernden Hufschlags galoppieren.111 Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung erreichte vor der alles entscheidenden Schlacht bei Actium 31 v. Chr. ihren Höhepunkt.112 Die skrupellose Veröffentlichung von Antonius’ Testament und die chauvinistische Ausdeutung seines Wortlautes lieferten die Stichwörter, aus denen Feind­ bilder gestrickt wurden. Wie die octavianische Propaganda Antonius verzeichnete, ist bei Cassius Dio nachzulesen: Die Frau (Kleopatra) hatte ihn (Antonius) so gefügig gemacht, dass sie ihn veranlasste, selbst die Rolle eines Gymnasiarchen bei den Alexandrinern zu übernehmen. Sie erhielt von ihm den Titel Königin und Herrin, bekam eine römische Leibwache und die Soldaten schrieben Kleopatras Namen auf ihre Schilde (…). Sie ließ sich in einer Sänfte tragen, während Antonius sie zu Fuß zusammen mit ihren Eunuchen begleitete. Sein Hauptquartier nannte er Königspalast (…) kleidete sich auf eine Art, die den römischen Sitten widersprach (…) man musste den Eindruck gewinnen, dass er von ihr durch irgendeinen Zauber verhext worden sei.113 Gemäß der offiziellen Version der Ereignisse war der Actische Krieg nicht gegen Antonius, sondern gegen Kleopatra geführt worden, womit er als auswärtige Unternehmung galt, wie die kurz nach 29 v. Chr. entstandenen Georgica des Vergil zeigen, die dieses Ringen als Schicksalskampf deuteten. Als aber nach der Ausschaltung des Antonius die kampfbetonten Parolen ihre Aktualität einbüßten, wandte man sich moderaten Botschaften zu, die den Wiederaufbau der verwüsteten Länder und die Befestigung des mit dem Schwert gewonnenen Friedens verkündeten. Beabsichtigt wurde damit, die Erinnerung an den hohen Blutzoll, mit dem man den Frieden erkauft hatte, abzuschwächen: pax und securitas sowie die Verheißung eines aureum 484

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s­ aeculum waren die zentralen Stichworte der augusteischen Propaganda; dazu gesellte sich die concordia (Versöhnung). Allerdings sollte sich die clementia des Augustus von der seines Adoptivvaters unterscheiden, da diese vielfach als Herrscherattitüde empfunden worden war. Auf die Betonung seiner repu­blikanischen Grundsätze legte Octavian größten Wert, wie die inszenierte Senatssitzung vom 16. Januar 27 v. Chr. zum Ausdruck brachte, als er dem Senat und Volk von Rom seine bisherigen Machtbefugnisse zurückgab. Im Gegenzug wurde er durch die Übertragung des proconsularischen Imperiums und der Verleihung des Beinamens Augustus auf­gefordert, die Leitung der Staatsgeschäfte wahrzunehmen. Von nun an mehrten sich die Beschlüsse, die seine Machtstellung erhöhten, die durch einen gefügigen Senat und eine kontrollierte Volksversammlung bestätigt wurden: Häufige Bekleidung des Consulats, volle tribunicia potestas und ­imperium proconsulare maius 23 v. Chr., cura annonae 22 v. Chr., pontifex maximus 12 v. Chr., pater patriae 2 v.  Chr. Niemals zuvor hatte eine derartige Anhäufung von Ämtern und Würden in einer Person stattgefunden.114 Augustus’ Tatenbericht (res gestae) ist für das Selbstverständnis des Principats von zentraler Bedeutung, weil er besser als jedes andere Schriftstück das latente Spannungsverhältnis zwischen repu­blikanischer Ideologie und faktischer Alleinherrschaft umschrieb. Bereits der erste Satz machte dies sichtbar: Im Alter von neunzehn Jahren habe ich als Privatmann aus eigenem Entschluss und aus eigenen Mitteln ein Heer aufgestellt, mit dessen Hilfe ich den durch die Willkürherrschaft einer bestimmten Gruppe versklavten Staat befreite. Bemerkenswert ist weniger, dass der Verfasser das eigene persönliche Profil herauskehrte, sondern der sich ankündigende Stilwandel. Die Altersangabe stellte nicht nur einen Bezug zu dessen außergewöhnlicher Tat her, sondern sie gab einen mit dem Lebensalter des Augustus verwobenen chronologischen Fixpunkt vor. Die Regel, dies durch Erwähnung der eponymen Consuln zu tun, wurde bewusst durchbrochen. Ebenso scheint der Gleichklang am Anfang und am Schluss des Textes mit Bedacht gewählt worden zu sein: Augustus’ Lebenslauf wird zum Geschichtssubjekt erhoben. Dessen Grenzen ergeben sich durch die Datierungsangaben an den Polen der res gestae. Dass der Anfang und das bald bevorstehende Ende seines politischen Wirkens (zum Zeitpunkt der Redaktion des Textes war er sechsundsiebzig Jahre alt) in einer Zählweise angegeben wird, die von seiner Geburt aus rechnete, war bezeichnend. Nicht die Geschicke des Staates bestimmten die Lebensläufe seiner Bürger, sondern die res gestae des ersten Bürgers waren es, die den Bezugspunkt setzten und die Richtung angaben, inner485

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halb derer sich das Schicksal der res publica erfüllte. Davon zeugen die zahlreich eingestreuten Possessivpronomina: unter meinem Kommando, unter meinen Auspizien, in meinem Auftrag, aus meinem Machtbereich, aufgrund meiner Kompetenzen. Sie verdeutlichten jedem Leser, in welchem Verhältnis Augustus zum Staat stand. Anlässlich seiner Tätigkeit als Friedensstifter rühmte er sich: Den Tempel des Janus Quirinus, der nach dem Willen unserer Vorfahren geschlossen werden sollte, wenn im ganzen Herrschaftsbereich des römischen Volkes, zu Wasser und zu Lande ein durch Siege gefestigter Friede eingekehrt sei – was nach der Überlieferung vor meiner Geburt, seit der Gründung der Stadt, überhaupt nur zweimal der Fall gewesen sein soll – diesen Tempel hat nun der Senat unter meiner Regierung dreimal zu schließen angeordnet.115 Erneut begegnet uns ein Verweis auf seine Geburt, die hier in Beziehung gesetzt ist zum Anfang der römischen Geschichte und als Epochengrenze dient. Dass ein im Bewusstsein dieser kriegserfüllten Zeit so sensibles Thema wie der Friede mit diesem Hinweis periodisiert wurde, machte aus Augustus’ Biographie eine Größe sui generis. Horaz und Vergil haben die Schließung des Janustempels im Jahre 13 v.  Chr. gebührend gefeiert. Die Aeneis zeigt uns, wie Zeitgeschichte – und die war hier gleichbedeutend mit den Taten des Augustus – mit der mythischen Vergangenheit in Verbindung gebracht und dadurch verklärt wurde. Sinnfälliger hätte man kaum die Folgen der eigenen politischen Wirkmächtigkeit in den Fluss des Geschichtsverlaufes einbauen können. Dass offensichtlich niemand Anstoß an solchen Formulierungen genommen hat, ist ein Indiz dafür, wie sehr monarchische Denkweisen begannen, sich im Alltag durchzusetzen. Nimmt man aber an, dass selbst hinter solchen Sätzen die geschickte Regie des Augustus stand, so wäre dies ein Hinweis darauf, wie akribisch der Wandel zur Autokratie vorbereitet wurde. Es fällt auf, welch großen Raum die Verbeugungen gegenüber den repu­blikanischen Institutionen in den res gestae einnehmen. Häufig entbot der Princeps dem Senat seine Reverenz, indem er sich als getreuer Sachwalter seines Willens darstellte oder Volksbeschlüsse geflissentlich ­ausführte. Er wollte als mustergültiger Amtsträger gesehen werden, um so davon abzulenken, dass er den Staat wie seine eigene Landparzelle bestellte. Dies ist der Grund dafür, dass die Gegenüberstellung des repu­blikanischen Bekenntnischarakters der Schrift mit den Stellen, an denen sich monarchisches Selbstbewusstsein Bahn bricht, ein Spannungsverhältnis offenbart, das die politische Ambivalenz der neuen Herrschaft verdeutlicht. Das Monarchische dominierte und dies nahmen die Zeitgenossen mehr oder minder widerwillig zur Kenntnis. Man fügte sich ins Unvermeidliche, würdigte 486

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durchaus die Vorteile der Principatsregierung, vergaß aber deren Schattenseiten nicht. In diesem Zusammenhang kam dem Jahr 27 v.  Chr. Bedeutung zu. Ab diesem Zeitpunkt ließ sich eine wichtige Änderung beobachten. Der Princeps legte sich Zurückhaltung auf, unterließ es, seine Person und seine Taten durch Bauten und Worte zu verherrlichen und überließ dies nun ­anderen: dem Senat, den Städten und Körperschaften, den Privatleuten. Das auf breiter Ebene vernehmbare Lob des Augustus wird zur Begleiterscheinung der Epoche. Die Macht des Princeps äußerte sich darin, dass die aus fremder Feder stammende Zustimmung zur augusteischen Herrschaft die Öffentlichkeit erfasste und somit das kollektive Bewusstsein beeinflusste, während kritische Stellungnahmen wenig Gehör fanden. Die Massaker der Bürgerkriege, der Preis für die augusteischen Ambitionen, gerieten in Vergessenheit, während die Segnungen der neuen Friedensordnung dagegen eindringlich wiederholt wurden. Wie sah die Bilanz aus? Lassen wir Tacitus sprechen, so war die Angst vor neuen Bürgerkriegen stärker als der Drang nach Freiheit. Indem sich die Generationen nach Augustus sein Axiom der Machterhaltung zu eigen machten, zeigen uns die Ausführungen des Tacitus, wie sehr die Wirkung der augusteischen Gedankengänge über ihren Schöpfer hinaus in Geltung blieb. Mit der Berufung auf die Sohnschaft des vergöttlichten Gaius Julius ­Caesar hatte Augustus seine Laufbahn begonnen. Der damit verknüpfte Anspruch schloss neben der politischen die kultische Sphäre ein. Die Konstituierung des Principats wurde von einem parallel dazu sich vollziehenden Ausbau seiner priesterlichen Stellung begleitet. Daneben ist auch ein Prozess der Verehrung des Princeps zu beobachten, der in der Divinisierung kulminierte. Die Sakralisierung des Augustus begann bereits im Jahre 36 v. Chr., als ihm die sacrosanctitas eines Volkstribunen verliehen wurde, was die Unverletzlichkeit seiner Person garantierte. Deren Bedeutung kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Die Regierungszeit der Augustus nachfolgenden Principes pflegte man mit der Verleihung der Befugnisse des Volkstribunats zu datieren. Das tribunizische Initiativrecht verlieh die Möglichkeit, Politik aktiv zu gestalten. Mit dem Vetorecht vermochte er, all das zu verhindern, was gegen seine Interessen gerichtet war. Soweit wir wissen, musste Augustus nie davon Gebrauch machen. Bald nach Actium fingen die Provinzen an, den friedensstiftenden Princeps kultisch zu verehren. In Rom selbst hielt man sich mit Ehrungen nicht zurück. Senat und Volk schlossen ihn in ihre Gebete ein, widmeten ihm bei privaten und öffentlichen Gastmählern Trankspenden und beschlossen ferner, seinen Namen in das alt487

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ehrwürdige Lied der Priesterschaft der Salier aufzunehmen. Die Einbe­ ziehung des Herrschers in die Fürbitten der verschiedenen religiösen Kollegien – so wie es für die Arvalbrüder bezeugt ist – belegt die fortschreitende kultische Überhöhung des Princeps. Dass Augustus’ Platz bei den Göttern war, zeigt sich etwa anhand des von Agrippa gestifteten Pantheon – eines in den hellenistischen Monarchien dem Herrscherkult dienenden Sakralbaus –, wo das Bildnis des Augustus nach der Absicht des Agrippa ursprünglich in die Tempelcella kommen sollte, auf Augustus’ Anweisung aber dann neben der Statue des Stifters in der Vorhalle Aufstellung fand. Sehr eindrucksvoll kommt die religiös-sakrale Weihe, die den Princeps umgab, in den ihm gewidmeten Altardedikationen der Ara Pacis Augustae und der Ara Fortunae Reducis zum Ausdruck. In einer Ode, die Horaz zu dieser Zeit abfasste, wurde die Heimkehr des Augustus wie die Epiphanie eines Gottes geschildert. Je länger seine Herrschaft dauerte, umso mehr fielen die frühen Untaten des Octavian der Vergessenheit anheim. Im Gedächtnis blieb jedoch die lang andauernde Friedenszeit, die sich von der anarchischen Bürgerkriegszeit vorteilhaft abhob. In der öffentlichen Wahrnehmung seines Wirkens korrespondierte der persönliche Machtzuwachs des Princeps mit einer fortschreitenden Stabilisierung der politischen Verhältnisse. Den Verlust an Freiheit (libertas) machte der Zugewinn an Sicherheit (securitas) wett. Dazu diente ihm die Kontrolle des Militärs, das ihm dank seines proconsularischen Kommandos weitgehend unterstand und das er durch Geschenke und Veteranenansiedlungen eng an seine Person binden konnte. Die in den gefährdeten Zonen des Reiches stationierten Legionen erfüllten Aufgaben der Grenz­ sicherung und konnten als innenpolitischer Ordnungsfaktor einge­setzt werden. Gemessen an dem Einfluss des Augu­stus auf die römische Armee könnte man seine Herrschaft als Militärmonarchie bezeich­nen. Stellt man jedoch die Frage nach den Grundsätzen seiner Regierung, so ist dieser Aspekt nur einer unter vielen, wenn auch ein wichtiger. Will man mit einem Wort die Principatsherrschaft charakterisieren, so ergeben sich Probleme, die weniger in der Semantik heutiger Begriffe, als viel­mehr in der Natur der Sache begründet liegen. Augustus’ eigene Einschätzung beschreibt die vielschichtige Proble­matik folgendermaßen: Ich habe an persönlichem Einfluss (auctoritas) alle übertroffen, an Amtsgewalt (potestas) aber habe ich um nichts mehr beses­sen als die übrigen, die in dem jeweiligen Amt mir Kollegen gewesen sind.116 Der Begründer des Principats hob die auctoritas als tragendes Moment seiner Herrschaft hervor, unterließ aber zu erwähnen, dass seine über­ 488

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ragende Autorität Ergebnis eines histori­schen Prozesses war, in dessen Verlauf er sich die Schaltstellen der Macht im Staate bereits gesichert hatte. Von daher ist die An­spielung auf die gleichwer­tige potestas, die er mit seinen Amts­kollegen teilte, zwar juristisch gesehen durchaus zutreffend, macht­ politisch betrachtet stellt sie jedoch eine Verdrehung von Ursache und Wirkung dar. Seine über­ragende Macht­stellung beruhte nämlich auf einer beispiellosen Anhäufung repu­blikanischer Ämter und Befugnisse, die in der Ver­dichtung auf eine Person ihren ursprünglichen Charakter ver­loren, da sie die Machtmöglichkeiten des Betreffenden bis ins Unendliche steigerten. Nikolaos von Damaskus, ein Zeitgenosse des Augustus, äußerte sich über den Princeps folgendermaßen: Die ganze Menschheit wendet sich voller Ehrfurcht an den Augustus. Die Städte und Provinziallandtage verehren ihn mit Tempeln und Opfern; denn das entspricht seiner Größe. Auf diese Weise danken sie ihm überall für seine Wohltaten.117 Solche hymnischen Verse, die aus dem Munde eines im hellenistischen Osten beheimateten Menschen stammten, waren nicht besonders auffällig. Seit Jahrhunderten gehörte es in dieser Weltgegend zum guten Ton, Potentaten überschwänglich zu preisen oder gar kultisch zu verehren. Was im Bewusstsein der Römer als Schmeichelei (adulatio) gelten konnte, war im Sprachgebrauch der hellenistischen Kultur über die Hofetikette hinaus Bestandteil der Umgangsformen geworden. Davon unterschied sich die römische Denkart grundsätzlich. Zwar waren einzelne nobiles in der Repu­blik Gegenstand der Lobpreisung gewesen, aber zum einen blieb sie die Ausnahme, und zum anderen galt diese primär einer mit der Person untrennbar verwobenen denkwürdigen Tat oder Leistung. Hintanstellung der eigenen Individualität zwecks größerer Verherrlichung des Gemeinwesens war die Regel. Ein Abweichen davon galt als prätentiös. Allerdings waren derartige Grundsätze im Verlauf des 1. vorchristlichen Jahrhunderts aufgeweicht worden. Die Betonung der eigenen Verdienste erreichte teilweise groteske Formen. Verantwortlich dafür war die Konkurrenzsituation innerhalb der Nobilität, die es einem Einzelnen erschwerte, sich über alle anderen zu erheben. Eines ihrer auffallendsten Charakteristika war die Redefreiheit, genauer: die Unbefangenheit, mit der die Mitglieder der Führungsschicht miteinander umgingen. Wie schonungslos dies zu geschehen pflegte, belegen zahlreiche Beispiele aus der Spätphase der Repu­blik. Die Freimütigkeit des Umgangstons spiegelte das Selbstbewusstsein einer Gesellschaftsschicht wider, die sich als Trägerin der Rechtsordnung ansah, deren einzelne Glieder sich als gleichberechtigt empfanden und in der sich jeder einzelne besser dünkte als seine Mitbewerber. Eine solche strukturelle Wettbewerbslage 489

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schuf Konflikte zuhauf. Gerichtsreden, Invektiven, Volks- und Senats­ ansprachen bildeten die Angriffswaffen, aber auch die Ventile, um Ärger über erlittene Zurücksetzungen oder Freude über errungene Erfolge zu kanalisieren. Die Herabwürdigung des Konkurrenten gehörte ebenso dazu wie die Vergabe von Lob an die eigene Adresse oder an die der Verbündeten. Standesdünkel musste man den römischen Senatoren nicht erst einimpfen; die meisten von ihnen besaßen ein Höchstmaß davon. Daraus wird verständlich, wie genau jede Überhöhung eines Mitgliedes dieser Elite beäugt wurde. In der Krisenzeit der Repu­blik stiegen die Empfindlichkeiten noch mehr. Das Postulat, die aristokratische Gleichheit gegenüber den Machtanmaßungen Einzelner zu erhalten, bestimmte weitgehend das politische und soziale Verhalten der Nobilität. Sinnfällig wurde dies an der Rezeption des mitten im Bürgerkrieg von Caesar wohl berechneten Programmes der Schonung der Gegner. Die clementia Caesaris wurde zum Erkennungszeichen der ­Autokratie.118 Caesar hatte sie während des Bürgerkrieges propagiert und zum Prinzip seines politischen Handelns erhoben. Wie die Betroffenen reagierten, zeigt das Schicksal des Cato Uticensis: Von der Gnade des Siegers abhängig zu werden, empfanden manche als Kränkung.119 Gemessen an den früheren Reden vor römischen Magistraten oder Richtern wirkte der Appell an die Milde des Siegers, wie er in einigen Verteidigungsreden Ciceros vorkommt, die der Consular vor dem im Bürgerkrieg siegreichen Caesar hielt, panegyrisch; die angeschlagene Tonart erinnerte an die Art und Weise, wie man sich gegenüber Monarchen verhielt. Eine einschneidende Beeinträchtigung des freien Wortes begleitete die sich verfestigende Principatsherrschaft. So beklagte sich Tacitus zu Beginn seiner Annalen, wie die überhandnehmende Schmeichelei die talentiertesten Geister davon abhielt, sich mit der augusteischen Zeit zu befassen. Die Tabuisierung der jüngsten Vergangenheit machte selbst innerhalb des Kaiserhauses nicht halt. Claudius’ Absicht, die Zeit der Bürgerkriege historisch zu behandeln, vereitelten seine Mutter Antonia und seine Großmutter Livia, zwei Exponenten der Principatsideologie. Die Senatsdebatte, die nach dem Tod des Augustus stattfand und in deren Verlauf Tiberius die Regierung übertragen wurde, hat Tacitus als Musterfall der adulatio principis gestaltet. Die knechtische Atmosphäre des hohen Hauses soll Zeugnis dafür ablegen, dass die Rücksicht auf den Princeps und nicht Sachargumente die zu treffenden Entscheidungen bestimmte. Ziemlich weit wagten sich die Dichter in der Verherrlichung des Princeps vor. Mehrmals rückte Horaz Augustus in die Nähe der Götter. Trotzdem bildete sich keine Hofdichtung heraus. Als die versprochene restitutio der res 490

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Augustus, gefolgt von Liktoren an der Spitze einer Prozession; Südseite der Ara Pacis Augustae in Rom. Relief aus lunensischem Marmor, H. 1,55 m; 13–9 v. Chr.

publica nach der Herrschaftskonsolidierung ausblieb, breitete sich bei den meisten Intellektuellen Ernüchterung aus. Die Anerkennung, die Augustus zuteilwurde, entsprach der Überzeugung, dass sein Wirken eine Friedensphase ermöglicht habe, die aber sehr teuer erkauft wurde. Spannungen durchzogen das politische Leben analog zu der im Umgang mit dem Princeps sich einbürgernden Tonart. Auf die Bezeichnung dominus, mit der Augustus gelegentlich angeredet worden war, reagierte er empfindlich und verbat sich eine solche Titulierung, weil Sklaven ihre Herren so ansprachen. Ähnlich verhielt sich Tiberius, der denjenigen, die ihn dominus nannten, einen scharfen Verweis erteilte. Die Zeitgenossen des Augustus erlebten immer wieder die Heraushebung des Princeps über alle anderen Bürger. Besonders die großen Monumental­ inschriften zeigten dies jedermann in anschaulicher Weise. Während repu­ blikanische Magistrate bei ihren Bauten nur das betreffende Amt nannten, in dessen Ausübung sie die Bautätigkeit veranlassten, finden wir in den Bauinschriften des Augustus neben seinem Namen stets die vollständige Titulatur: 491

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Altar für den vergöttlichten Augustus vom Forum in Palestrina, Bildnis des Augustus in einem clipeus, umrahmt von zwei Füllhörnern mit Girlande; Mitte des 1. Jahrhunderts; Palestrina, Museo Archeologico Prenestino

Seine Consulate, seine tribunizische Amtsgewalt, seine imperatorischen Akklamationen, seinen Oberpontifikat, seine vielfältigen Ehrentitel (etwa: pater patriae) wurden pflichtgemäß aufgelistet. Die Funktion einer solchen Mitteilung war nicht, Zeugnis abzulegen für eine bestimmte Tat oder Leistung, die den Urheber mit Stolz erfüllte, sondern dem übermächtigen Herrscher eine Huldigung darzubringen, ähnlich wie man sie den Göttern erwies. Es ist kein Zufall, dass Augustus Gegenstand göttlicher Verehrung auf zahlreichen Inschriften wurde.  Jahrzehntelang hatte man sich daran gewöhnt, die römischen Schutzgottheiten und den Princeps in einem Zusammenhang zu sehen. Viele Verhaltensformen, die man den Göttern gegenüber an den Tag legte, übertrug man nach und nach auf deren Schützling Augustus, der, ebenso wie die Götter, die Wohlfahrt des Reiches gewährleis492

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tete. Aufschlussreich dafür ist eine Notiz, die Sueton aufbewahrt hat: Als er (Augustus) an der Bucht von Puteoli vorbeisegelte, versammelten sich die Reisenden und Seeleute eines alexandrinischen Schiffes, das gerade eingelaufen war, in weißen Kleidern und mit Kränzen auf dem Deck, brachten Weihrauchopfer dar und riefen Augustus ihre Segenswünsche und Lobpreisungen zu: Nur durch ihn lebten sie, könnten sie zur See fahren, Freiheit und Wohlstand genießen.120 Untersucht man die ideologischen Aspekte, die erstmalig bei der Eidesleistung der westlichen Provinzen 32 v. Chr. angesichts der bevorstehenden Auseinandersetzung mit Antonius zum Tragen kamen, einen consen­sus universorum begründeten und danach ständig an politischem Gewicht gewan­ nen, so entsprach der verfassungsmäßigen Seite der Principatsherrschaft eine kultische Dimension, die Augustus eine sakrale Weihe verlieh. Der in den Provinzen des Imperiums einsetzende Kaiser­kult lag in der Logik dieser Tenden­zen und knüpfte an die Traditionen der hellenistischen Monarchien an. Damit wurde der Prin­ceps aus dem Adelskollektiv altrömischer Prägung her­ausgeho­ben. Doch weder Augustus noch seine Nachfolger haben jemals den Amtstitel eines Königs geführt. Am Weiterbestand der tradierten repu­ blikanischen Einrichtun­gen, die eine solche Macht­stellung ausschlos­sen, hielten sie fest. Dadurch konnten sie den Vorwurf entkräften, eine Königs­ herr­schaft (reg­num) errichtet zu haben, die in Rom stets im Ruch einer Tyran­nis stand. Dennoch blieb der monarchische Charakter von Augustus’ Herrschaft un­verkenn­bar, und hier lag das Problem der Kontinuität des Principats. Sie konnte nicht allein durch Verweis auf eine bestimmte Person, sondern musste durch Bezugnahme auf die politische Sachlage, etwa das übergeordnete Interesse des Staates, gerechtfertigt werden. Daher lautete das Argument der Principatsverfechter, dass die Gefährdung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung die Fortführung der Principatsherrschaft erforderte. Um der securitas Dauer zu verleihen, musste an die Nachfolge gedacht und die Frage nach der Kontinuität des Principats gestellt werden. Dynastiebildung und fortschreitende Sakralisierung des Princeps hingen eng zusammen. Auch diese Vorgänge wurden von dem gezielten Aufbau eines präsumptiven Nachfolgers begleitet. Der Betroffene wurde durch Verleihung der tribunicia potestas, durch Adoption in die Familie des Princeps und durch Aufnahme in die vornehmsten Kollegien des römischen Staatskultes in die künftige Aufgabe eingeführt. Der logische Wendepunkt dieses Prozesses war mit der Divinisierung des toten Herrschers erreicht, was zugleich den Neuanfang und die Erneuerung des Principats markierte. 493

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Zweifellos hat die außergewöhnliche Persönlichkeit des Augustus entscheidend dazu beigetragen, dass der Übergang der politischen Macht und der sie tragenden Rechtsordnung von der Nobilität zum Princeps in annehmbaren Formen vor sich ging, welche die repu­blikanische Etikette re­ spektierten, und dass die Entmachteten sich damit einigermaßen abfanden. Mit der Designierung des Tiberius lebte das augusteische Regierungs­ modell weiter. Gemäß der herrschenden Ideologie, wonach das Principat eine Ausnahmesituation und Bürde sei, musste er vom Senat zur Übernahme der Nachfolge aufgefordert werden. Durchaus unbedrängt hatte ­Tiberius zuvor den prätorianischen Kohorten die Tagesparole ausgegeben und damit unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, worauf seine Macht gründete.

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eit Lucius Cornelius Sulla im Jahr 78 v.  Chr. auf seine überragende Machtstellung im römischen Staat aus eigenem Antrieb verzichtet hatte, war kein anderer römischer Staatsmann diesen Weg gegangen, mit einer Ausnahme: Diocletian, der Jahrhunderte nach Sulla nach einer etwa 20-jährigen Regierungsphase von der politischen Bühne freiwillig abtrat und sich ins Privatleben zurückzog. Beide hinterließen unübersahbare politische Spuren. Während Sulla die Verfassung der späten römischen Repu­blik neuordnete, stand Diocletian für das Modell des spät­antiken Herrschertums Pate. Wer war dieser Kaiser und welche Bedeutung hatte er für die Geschichte des ausgehenden römischen Reiches? So, wie die Genese des Principats ohne Augustus undenkbar bleibt, ist ­Diocletian für das Verständnis des spät­antiken Kaisertums maßgeblich geworden. Seine Regierung leitet eine Phase römischer Geschichte ein, deren Folgen bis zum Ausgang der Antike prägend werden sollten. Als er am 17. November 284 den Thron bestieg, sah allerdings alles nach einer kurzlebigen, dem Muster üblichen Machtübernahme eines weiteren Soldatenkaisers aus. Doch bald überraschte der neue Herrscher mit seinen unkonventionellen Maßnahmen, die das Gehäuse des römischen Staates gründlich umkrempelten und ihm eine neue Zukunftsprojektion verliehen. Es war wohl die Vielzahl ungelöster Aufgaben, die Diocletian veranlasste, seinen Waffengefährten Maximian (1. April 286) zum Augustus auszurufen. Die Annahme der Beinamen Iovius für Diocletian und Herculius für Maximian brachte das Regierungsprogramm zum Ausdruck: Rückbesinnung auf die altüberlieferte Religion und Rechtfertigung der eingeführten Herrschaftsordnung durch Berufung auf Jupiter und Hercules, als deren Schutzbefohlene die Kaiser gesehen werden wollten. Die Aufteilung der Herrschaft war keine Novität, wohl aber, einen Nichtverwandten zum Mitkaiser zu ernennen. Doch mit der Zeit erkannte Diocletian, dass für den Zusammenhalt des Reiches mehr getan werden musste. Deshalb beförderte er am 1. März 293 den tüchtigen Offizier Galerius zum Caesar und Maximian erhob wiederum seinen Praefectus Praetorio Constantius zum Mitherrscher. Zugleich wurden beide Caesares vom jeweiligen Augustus adoptiert. Sie waren offen495

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bar dafür vorgesehen, nach einer entsprechenden Amtszeit die Augusti abzulösen und ebenfalls wieder einen Caesar als späteren Nachfolger einzusetzen. Für die Zweierherrschaft Diocletians und Maximians mochte das Beispiel des Marc Aurel und Lucius Verus Pate gestanden haben, für die nun eingerichtete Vierkaiserherrschaft (Tetrarchie) gab es keinerlei Vorbilder: Aus einer Verlegenheitslösung erwuchs ein, wenn auch nur kurzfristiges System der Herrschaftsteilung. Die Genese der Tetrarchie ist vor dem Hintergrund der Reichskrise des 3. Jahrhunderts zu verstehen. Einige tatkräftige Kaiser dieser Zeit (Claudius Gothicus, Aurelian, Probus) hatten das Werk der Restauration des Reiches begonnen, doch aufgrund der vorherrschenden Instabilität nur zaghafte Fortschritte erzielt. Erstaunlich am Modell der Herrschaftspluralität war, dass die aufeinander abgestimmte Regierungsausübung von zunächst zwei, dann vier Kaisern keine Abspaltungstendenzen hervorrief. Das Gegenteil trat ein. Die Macht des Staates erfuhr eine deutliche Stärkung. Alle vier Herrscher erfüllten die in sie gesetzten Erwartungen: Überfälle der Grenznachbarn wurden abgewehrt, innere Unruhen im Keim erstickt und Usurpatoren entmachtet. Dies gelang nicht zuletzt, weil sie sich an Absprachen hielten, gemeinsam beschlossene Gesetze ausführten und eine Reihe von Maßnahmen umsetzten, die den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gesundungsprozess des römischen Reiches zum Ziel hatten. Die Reform der Verwaltung wurde durch eine Vermehrung und zugleich räumliche Verkleinerung der Provinzen ermöglicht. Das Verteidigungssystem, das auf dem koordinierten Vorgehen zwischen Grenztruppen und mobilen Einsatzverbänden beruhte, wurde durch die Aufstockung der Truppenbestände schlagkräftiger. Die gleichzeitig durchgeführte Reform der Bodenertragssteuer sicherte der Staatskasse die notwendigen Mittel für den Unterhalt des gestiegenen Bedarfes des Militär- und Verwaltungsapparates. Zugleich erlebte das Reich, wie Diocletian zur Stärkung der kaiserlichen Macht eine­ ­politische Theologie ins Leben rief, die auf traditionellen Grundlagen eine göttlich legitimierte Kaiserfamilie schuf, die keine Anfechtungen seitens fremder Gottheiten duldete, was die Christenverfolgungen nach sich zog. Da dieser Konzeption zufolge den Tetrarchen die Macht von den Göttern verliehen worden war, durfte sie nicht durch die Unzuverlässigkeit menschlichen Handelns in Frage gestellt werden. Dies bedeutete, dass nicht mehr das Heer den Kaiser erhob, sondern dass das Recht der Proklamation eines Herrschers ausschließlich den amtierenden Tetrarchen oblag. Obwohl mit der Tetrarchie ein System der Herrschaftspluralität geschaffen wurde, galt jeder der vier Herrscher grundsätzlich als Gesamtherrscher, 496

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Gruppe der Tetrarchen, H. 130 cm; Hochrelief von einer Porphyrsäule vermutlich aus dem Kaiserpalast von Nikomedia (um 300); heute Venedig, Piazza di San Marco, eingemauert in die Südwestecke des Markus-Doms

ungeachtet der unmittelbaren Verantwortung für die Verwaltung seines Reichsteils. Jeder von ihnen verfügte über einen eigenen Hofstaat, an dessen Spitze ein Praefectus Praetorio stand. Praktisch sah die Viererherrschaft so aus, dass jeder Kaiser ein bestimmtes Gebiet zugesprochen bekam: Diocletian regierte von Nikomedia aus den Orient, sein Caesar Galerius erhielt die Donauprovinzen, Illyrien mit Griechenland und weilte häufig in Sirmium 497

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und Thessalonike. Maximian behielt sich Italien bis zur oberen Donau sowie Raetien und Afrika vor. Er residierte in Mailand und Aquileia. Constantius verwaltete Gallien, Hispanien und Britannien. Seine bevorzugten Residenzen waren Trier und später York. Einschneidende Veränderungen erfuhr vor allem die innere Gestalt des Reiches. Bis in die Zeit Diocletians war es eingeteilt in etwa 50 kaiserliche und senatorische Provinzen. Im Jahre 297 wies eine amtliche Zusammenstellung der Verwaltungseinheiten, das sogenannte Verzeichnis von Verona, rund 100 Provinzen aus. Ferner erfolgte eine Dezentralisierung der Verwaltung. Zunächst wurde zwischen kaiserlichen und senatorischen Provinzen nicht mehr unterschieden. Auch wurde die Sonderstellung Italiens beseitigt. Schließlich wurde das Reichsgebiet in 12 Diözesen von unterschiedlicher Größe aufgeteilt, an deren Spitze ein vicarius (Stellvertreter des Praefectus Praetorio) stand.121 Eine Ausnahme bildete hierbei Italien, das in eine südliche und eine nördliche Diözese zerfiel, wobei die südliche Italia suburbicaria die Stadt Rom versorgen musste. Ziel der Provinzialreform war es, die Effizienz der Verwaltung zu erhöhen. Besonders die Rechtsprechung und die Finanzverwaltung waren davon betroffen. Ein weiterer Punkt der Reformen betraf das Steuer- und Finanzwesen. Diocletian betrachtete die Münzverschlechterung mit Sorge. Bei seinen Reisen durch die Provinzen wurde er ständig gebeten, Maßnahmen gegen die Preisinstabilität und vor allem gegen die Teuerung der Lebensmittel zu ergreifen. Bald erfolgte eine Finanzreform verbunden mit einer völligen Neuordnung des Währungssystems. Es entstand ein über das gesamte Reich verteiltes Netz von Münzstätten, die eine in Gewicht und Bild einheitliche Währung prägten. Die spektakulärste wirtschaftspolitische Maßnahme war das im Jahr 301 erlassene Höchstpreisedikt.122 Wie Lactanz123 berichtet, wurde eine lex (de) pretiis rerum venalium erlassen, die Maximalpreise für unzählige Waren festlegte und jede Zuwiderhandlung drastisch mit der Todesstrafe bedrohte. Aus zahlreichen Inschriften und 140 Fragmenten aus verschiedenen Städten im Osten des römischen Reiches, gelang es, den Text dieses Ediktes weitgehend zu rekonstruieren. Der Eingriff der Behörden in den Wirtschaftskreislauf zielte darauf ab, die Preise einzufrieren und die allgemeine Kaufkraft zu verbessern. Der Maximaltarif sollte verhindern, dass der Besitzer von Edelmetall über eine erhöhte Kaufkraft verfügte, das umlaufende Edelmetall den Markt überschwemmte und damit Preissteigerungen verursachte. Dass die Währungspolitik gescheitert sei, wie Lactanz nahelegt, ist sicher übertrieben, obwohl sein weit gestecktes Ziel der Preisstabilität nicht gelingen konnte, da eine Preiskontrolle gleichzeitig eine Steuerung der Produktion und des Warenvertriebs vorausgesetzt hätte. 498

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Nach einer langen Regierungszeit beging Diocletian am 20. November 303 sein 20-jähriges Regierungsjubiläum (Vicennalia) gemeinsam mit Maximian in Rom.124 Zum ersten Mal seit rund hundert Jahren konnte ein Herrscher auf eine mehr als 10-jährige Regierungszeit zurückblicken. Das Ansehen des Kaisers war groß, und so wurde sein Besuch in Rom als prachtvoller Triumph geplant, in dem alle errungenen Siege zusammengefasst und in einem glänzenden Aufzug in der alten Machtzentrale gefeiert werden sollten. Doch diese Begegnung zwischen Diocletian und der stadtrömischen Bevölkerung erfüllte die gegenseitigen Erwartungen nicht. Das Volk, das gehofft hatte, reich beschenkt zu werden, wurde enttäuscht. Verglichen mit den Gewohnheiten der Zeit fielen die Spenden spärlich aus. Die gegenseitigen Verstimmungen führten schließlich dazu, dass der Kaiser bald die Stadt für immer verließ (20. Dezember 303). Am 1. Mai 305 erfolgte der Rücktritt beider Augusti. Anlässlich eines Staatsaktes in Nikomedia legte Diocletian sein Amt nieder125, während Maximian von Diocletian genötigt wurde, in Mailand ebenfalls dem Purpur zu entsagen.126 Die Abdankung ist aus persönlichen Gründen und der gerade überstandenen Krankheit Diocletians allein nicht zu erklären; sie war wohl auch von Anfang an Teil der Planung seines tetrarchischen Systems. Beide scheidenden Kaiser erhoben ihre Caesares, Galerius und Constantius zu Augusti und gaben ihnen zugleich neue Caesares. Galerius erhielt Maximinus mit dem Beinamen Daia, Constantius den bisher unbekannten Severus als Caesar. Constantius wurde rangältester Augustus.127 Er behielt seinen gallischen Reichsteil, Severus erhielt Italien und Africa sowie Pannonien, Galerius bekam Illyrien, Thrakien und Kleinasien; Maximinus Daia übernahm den Orient. Während Maximian auf seine Güter nach Lukanien ging, nahm Diocletian seinen alten Namen Diocles wieder an128 und zog sich in seinen Palast nach Spalato zurück. Aber die Situation im Reich gestaltete sich anders als erwartet. Bald sollte ein lang anhaltender Bürgerkrieg ausbrechen, der die Tetrarchie in Frage stellte, als Constantius bereits am 25. Juli 306 in Eburacum (York) überraschend starb. Noch am gleichen Tag riefen die Truppen seinen ältesten Sohn Con­stantin zum Augustus aus. Es war keine Konsultation mit den regierenden Kaisern vorausgegangen, wie Diocletian vorgesehen hatte. Sofort begab sich Con­stantin nach Gallien, um den Reichsteil seines Vaters zu übernehmen. Streitigkeiten zwischen den vier Herrschern über die Legitimität der von den Soldaten betriebenen Kaiserproklamation waren unvermeidlich. Sie führten dazu, dass die Tetrarchie als Regierungsform in Gefahr geriet. Maximian kehrte aus dem Privatleben zurück, um mit seinem Sohn Maxentius, der sich nach dem Vorbild des Con­stantin 306 in Rom zum Kaiser hatte ausrufen lassen, nochmals 499

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selbst zu regieren. In den folgenden Auseinandersetzungen um die rechtmäßige Nachfolge in der Tetrarchie, die durch die Erhebung des Con­stantin und Maxentius verursacht worden waren, kam es zu erbitterten Kämpfen zwischen den einzelnen Herrschern, in deren Verlauf Kaiser Severus, der vergeblich versucht hatte, Maxentius zu entthronen, umkam (September 307). Die Usurpationswirren des 3. Jahrhunderts schienen sich zu wiederholen. Schon 307 war Diocletian gebeten worden, die Tetrarchie neu zu ordnen. Er selbst weigerte sich, auf den Thron zurückzukehren, übernahm aber für das Jahr 308 noch einmal ein Consulat – sein zehntes. Er berief eine Kaiserkonferenz nach Carnuntum ein, um die verfahrene Lage des Reiches zu bereinigen.129 Zuerst zwang er Maximian zur erneuten Abdankung, Maxentius wurde jede Anerkennung versagt und Con­stantin musste sich mit dem Caesarentitel begnügen. Neuer Augustus des Westens wurde Licinius. Galerius übernahm die Führerschaft in der neuen Tetrarchie. Im Kaiserkollegium wurde dadurch für eine kurze Zeit ein prekäres Gleichgewicht hergestellt und, was noch wichtiger war, der Bürgerkrieg verhindert. Aber es zeigte sich in den folgenden Machtkämpfen, dass auch diese Lösung keinen Bestand hatte. Diocletian hatte ein letztes Mal kraft seiner überragenden Autorität das tetrarchische System gerettet. Doch schon bald kam es erneut zu schweren Kämpfen um die Herrschaft (Licinius gegen Maximin, Con­stantin gegen Maxentius, Licinius gegen Con­stantin). Im Jahre 324 gelang es Con­stantin, durch einen Sieg über Licinius die Alleinherrschaft zu erringen und damit die Con­stantinische Dynastie zu begründen. Das ­Modell der Tetrarchie war zwar gescheitert, doch die Reformen, die sie in Verwaltung, Finanzen, Hofhaltung und Heeresorganisation angestoßen hatte, blieben auch danach wirksam. Symbol des spät­antiken Reiches war das Kaiserhaus, dessen Funktion sich auf institutioneller Ebene gewandelt hatte. Am auffälligsten lässt sich dies am neuen, von Diocletian eingeführten und von Con­stantin weiterentwickelten Hofzeremoniell beobachten, was auf die Zeitgenossen einen starken Eindruck hinterließ.130 In der Anfangszeit des Principats betonten die meisten Herrscher ihre Gleichrangigkeit mit den Senatoren. Der Kaiser war princeps, erster unter Gleichen. Im 3. Jahrhundert hatte sich das Verhältnis zwischen Kaiser und Senat verschlechtert. Der Senat verlor an Einfluss und besaß kaum noch politische Macht. Um die fehlende senatorische Legitimation zu kompensieren, versuchten manche Kaiser, ihre Stellung kultisch zu überhöhen. Die Sakralisierung des Kaisers kam beim Hofzeremoniell besonders deutlich zum Ausdruck. Der Kaiser, der nun durch das Ritual der adoratio mit den Untertanen in Verbindung trat, versuchte, seiner Umwelt die Majestät seiner Stellung ein500

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zuschärfen. Nur unter Wahrung des zeremoniellen Schweigens (silentium) und mit verhüllten Händen (manus velatae) durfte sein Gegenüber sich ihm nähern. Sein Thron befand sich unter einem prachtvoll ausgestatteten Baldachin wie im Allerheiligsten eines Tempels hinter einem Vorhang (velum). Abgeschirmt von der Öffentlichkeit und innerhalb des Palastes kultisch verehrt, wurde der jeweilige Herrscher seiner Individualität immer mehr entkleidet, sodass ihm wenig Raum für persönliche Eigenheiten blieb.131 Er wurde zunehmend als Verkörperung der höchsten Regierungsgewalt wahrgenommen. Obwohl wir über die Nachfolger Con­stantins zahlreiche Zeugnisse besitzen, wissen wir kaum etwas über ihren privaten Bereich. Wenn nicht, wie im Falle Julians, Äußerungen vorliegen, die Einblicke in sein Innenleben, Temperament oder seine Gemütsverfassung erlauben, sind Kenntnisse über die Persönlichkeit der spät­antiken Herrscher bestenfalls aus zweiter Hand zu erhalten. Auf welche Art politische Grundsatzfragen aufgeworfen und behandelt wurden, erfahren wir ebenso wenig wie die außerhalb der Palastmauern stehenden Zeitgenossen. Dass Entscheidungen in der Umgebung des Kaisers fielen, ist bekannt, aber ihre Motive können wir nur aus der Betrachtung der zutage tretenden Ergebnisse rekonstruieren.132 Eine der wichtigsten politischen Veränderungen betraf die von Diocletian eingeleitete und unter der Regierung Con­stantins und seiner Söhne vollzogene Trennung der Zivil- und Militärverwaltung. Der Prätorianerpräfekt wurde von seinen militärischen Funktionen entbunden und ausschließlich mit der Wahrnehmung ziviler Aufgaben betraut. Die zunächst vier, später drei Inhaber dieses Amtes (gallische, italische, illyrische und orientalische Präfektur) galten als die höchsten Würdenträger des Reiches. Gegen ihre Verfügungen gab es keine Appellation. Sie vertraten den Kaiser, abgesehen vom militärischen Bereich, in Fragen der Staatsverwaltung, der Justiz und des Steuerwesens – hier war die Versorgung des Heeres eine der Hauptaufgaben.133 Jede Präfektur umfasste mehrere Diözesen mit jeweils einem Vicarius an der Spitze, die sich wiederum in Provinzen gliederten, die von Statthaltern (iudex, praeses, proconsul) verwaltet wurden. Ausgenommen von dieser Regelung war zunächst Rom, dann Con­stantinopel, deren höchste Amtsträger (praefectus urbi) direkt dem Kaiser unterstanden.134 Diesen grundlegenden Umwandlungen der Verwaltungsstruktur des Reiches entsprach die Neugliederung des Heeres, das in ein Grenzheer (limitanei) und in mobile Einsatzformationen (comitatenses) zerfiel.135 An der Spitze der Armee wirkten die Heeresmeister (magistri militum), unterteilt in magister peditum, Befehlshaber der Infanterie, und magister equitum, Befehlshaber der Kavallerie. Daneben gab es auch Feldherren am Kaiserhof (magistri mi501

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litum praesentalis) und in den gefährdeten Grenzbezirken (duces). Die Ausdifferenzierung und Professionalisierung des Heeres sollte zukünftig dessen politische Bedeutung erhöhen. Das Kommando über die kaiserliche Leibgarde (scholae palatinae) führte nun der magister officiorum.136 Die Vermehrung der Staatsämter spiegelte die veränderten Anforderungen an die Reichsverwaltung wider. Durch Verleihung des Titels eines comes, durch Schaffung von Rangstufen versuchte der Kaiser, die Senatsaristokratie an seinen Hof zu binden, der in den Mittelpunkt des Staates rückte.137 Den innersten Kern bildete die kaiserliche Wohnung. Selbst die Schlafräume des Kaiserpaares wurden gemäß orientalischer Tradition von Eunuchen (cubicularii) bewacht. Ihr Oberaufseher (praepositus sacri cubiculi) stand sogar den höchsten Reichsbeamten im Rang gleich.138 Durch seine Nähe zum Herrscher erlangte er großen Einfluss. Eine weitere Veränderung betraf die ­Umwandlung des consilium principis zu einem sacrum consistorium. Dieser Staatsrat mit dem quaestor sacri palatii an der Spitze vereinigte die Vorsteher der Palast- und Staatsverwaltung.139 Neu war ebenfalls die Würde des magister officiorum, dem die Hofämter, Kanzleien und Referate sowie die Palasttruppen unterstanden. Seine Befugnisse umfassten ferner die Aufsicht über die Staatspost, Waffenfabriken und die agentes in rebus, eine Art Sonderermittler in Hochverratsangelegenheiten.140 Große Bedeutung kam der Neugliederung des Finanzwesens zu. Seit Constantius II. nannte man es sacrae largitiones, weil die wichtigsten Haushaltsposten aus kaiserlichen Spenden bestanden, die Soldaten und Amtsträger neben der regelmäßigen Naturalverpflegung bei besonderen kaiserlichen Feiertagen erhielten. Der comes sacrarum largitionum war der Finanzminister des Reiches. Neben ihm wirkte der comes rerum privatarum, der das umfangreiche kaiserliche Vermögen, bestehend vor allem aus Domänenbesitz, verwaltete.141 Einblick in den bürokratischen Aufbau des spätrömischen Reiches erhalten wir durch die aus der Zeit um 430 stammenden notitia dignitatum, eine Art Staatshandbuch, das die zivilen und militärischen Ämter einschließlich der Truppenformationen verzeichnet.142 Der kaiserliche Hof (comitatus) befand sich während des 4. Jahrhunderts ständig auf Reisen. Er bewegte sich in Kriegs- und Friedenszeiten von einer Ecke des Reiches zur nächsten. Allein zwischen 350 und 357 war Constantius II. vom mesopotamischen Edessa nach Con­stantinopel, dann weiter nach Serdica, Sirmium und Mursa gezogen. Von hier aus begab er sich über Aquileia und Mailand nach Arles. Über die Rhône führte der Weg weiter zum Rhein und dann erneut nach Mailand. Dann bog er nach Rom ab, von wo er in den Donauraum zurückkehrte.143 Mit dem Kaiser und seiner Familie reisten 502

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die Würdenträger des Hofes, die Spitzen der Verwaltung mit ihren Kanzleien, ein Heer von Amtsträgern, Staatsgästen, Gesandten, die zahllosen Bediensteten, ein Stab von Priestern, die Gardetruppen und viele andere mehr.144 Eine beträchtliche Logistik wurde allein benötigt, um den Transport, die Verpflegung, Unterkunft und Sicherheit der reisenden Regierungszentrale zu gewährleisten. Hinzu kam die Koordination des Itinerars, die Vereinbarung von Terminen mit Scharen von Bittstellern, Amtsträgern, Militärs, örtlichen Notabeln oder Bischöfen. Es durfte zu keinem Stillstand in der Politik kommen. Auf den verschiedenen Etappen des Weges wurden Ernennungen vollzogen, Festakte veranstaltet, Bischofssynoden einberufen, Gesetze erlassen, Entscheidungen von Tragweite getroffen. Auch dies bedurfte der Vorbereitung und erforderte ebenfalls eine komplexe und leistungsfähige Infrastruktur. In seiner Eigenschaft als oberster Feldherr, Richter und Gesetzgeber vereinigte der Kaiser die höchste staatliche Gewalt in seinen Händen. Wie er jedoch seine prinzipiell uneingeschränkten Machtmöglichkeiten einsetzen konnte, hing von der Bereitschaft der gesellschaftlich relevanten Kräfte zur Mitarbeit ab. Was nutzte die ganze Macht, wenn die Soldaten eigene Wünsche verfolgten oder die für die Steuereintreibung verantwortlichen Städte des Reiches wenig Neigung zur Kooperation mit der Regierungszentrale erkennen ließen, oder wenn gar einzelne Bischöfe oder Bischofssynoden der kaiserlichen Religionspolitik ablehnend gegenüberstanden? Aus diesen Gründen war die kaiserliche Regierung bestrebt, auf die maßgeblichen sozialen Gruppen Einfluss zu nehmen. Die Loyalität der Armee zu erhalten und eine einheitliche, vom Kaiser gesteuerte Religionspolitik durchzusetzen, waren wichtige Voraussetzungen dafür. Es galt unter allen Umständen, Abspaltungstendenzen im Heer und im Kultwesen zu unterbinden. Einheitlichkeit als Bedingung für innere Eintracht sollte die Regierungsarbeit erleichtern. Diese hatte absolute Priorität. Gelang es nicht, sie auf Anhieb herzustellen, so griff man zu Reglementierungen, um sie nötigenfalls mit Gewalt zu erzwingen. Es sind gerade diese Züge, die dem spätrömischen Reich den Ruf, ein Zwangsstaat gewesen zu sein, eingebracht haben. Sie manifestieren sich in einer restriktiven Gesetzgebung voller Verbote und Drohungen. Sie äußern sich in den autoritären kaiserlichen Initiativen zugunsten der Vollendung der Glaubenseinheit, die stets Widerspruch erzeugten. Sie kommen ebenfalls in den Verordnungen zum Ausdruck, die das Ziel verfolgten, die Wehrkraft der Bevölkerung und die Finanzstärke des Reiches zu erhalten, aber oft das Gegenteil bewirkten. Allerdings wurde die deutlich erkennbare Bemühung der Zentralbehörden, ein kaiserliches Herrschaftsmonopol zu verwirklichen, durch die zahlreichen zentrifugalen Kräfte konterkariert. 503

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tellen wir uns einmal vor, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika würde außer Kraft gesetzt, das mächtigste Gemeinwesen der neueren Zeit wäre in Auflösung begriffen und die Presse würde kaum Notiz davon nehmen. So ähnlich muss man sich den Machtverzicht des Romulus Augustulus, des letzten weströmischen Kaisers vorstellen, der mit seinem Abgang eine glanzvolle Epoche römischer Geschichte zu Grabe trug, die das Schicksal der zivilisierten Welt jahrhundertelang geprägt hatte. Dieses Revirement war allerdings der letzte Akt eines Prozesses, der lange zuvor eingesetzt hatte, in dessen Verlauf die kaiserliche Autorität zunehmend unterminiert worden war. Die Absetzung des letzten weströmischen Kaisers im Jahr 476 war so unspektakulär, dass selbst zeitgenössische Chronisten es nicht für wert hielten, darüber zu berichten.145 Wie konnte es dazu kommen? Seit Augustus die Grundlagen der Kaiserherrschaft gelegt hatte, galt der Imperator als oberster Richter, Gesetzgeber, Befehlshaber und Priester. Die gleichzeitige Wahrnehmung dieser Funktionen bestimmte seinen Regierungsstil. Sie beruhte darauf, dass die Bestandteile seiner Macht von jedem Amtsinhaber stets aktualisiert wurden. Verlor er die Kontrolle über wesentliche Teile seines komplexen Machtgefüges, dann war seine Herrschaft gefährdet. Die Ausübung der gebündelten militärischen, gesetzgeberischen und priesterlichen Kompetenzen war das unverkennbare Gütezeichen kaiserlicher Herrschaft. Wurden sie jedoch nicht regelmäßig wahrgenommen, so führte dies unweigerlich zur fortschreitenden Entmachtung des Herrschers und zur Aushöhlung des eingespielten Regierungssystems. Betrachten wir zunächst den Wandel der richterlichen Kompetenzen der Imperatoren. Im Zuge der Schaffung der Tetrarchie wurden die Amtsbefugnisse des Prätorianerpräfekten neu geregelt. Die nun vier amtierenden Prätorianerpräfekten wurden von ihren militärischen Aufgaben entbunden. Im Gegenzug erhielten sie neue juristische Funktionen, was zur Folge hatte, dass die höchste richterliche Appellationsfunktion, die bisher dem Kaiser oblag, auf seinen höchsten zivilen Stellvertreter überging. Die Kaiser des 4.  Jahrhunderts haben durch die Delegierung ihres Richteramtes eine zunächst nicht als Verlust empfundene, doch mittelfristig durchaus wirksame Schwächung ihrer 504

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Machtposition in Kauf genommen. Ammian berichtet, wie der Praefectus Praetorio Modestus Kaiser Valens von der Ausübung des Richteramtes fernhielt, indem er das Argument der Missachtung der maiestas der kaiserlichen Herrschaft ins Feld führte: Die Kleinigkeiten privater Rechtsfälle stünden unter der Würde des Kaisers (…), die persönliche Untersuchung von Rechts­ fällen (…) würden die Hoheit des Amtes erniedrigen. Der Historiker Ammian folgert daraus: (Valens) hielt sich daraufhin von der Ausübung des Richter­ amtes zurück. Damit öffnete er räuberischem Unwesen Tür und Tor. Es nahm durch die Schlechtigkeit der Richter und Rechtsanwälte, die gemeinsame Sache machten, von Tag zu Tag zu; denn sie verkauften die Rechtsfälle geringerer Leute an Truppenführer oder an die Mächtigen im Palast und erwarben so Schätze oder hervorragende Ämter.146 Aufschlussreich an dieser Begründung ist, dass die Verdrängung des Kaisers aus der Rechtspflege kritisch gesehen wird. Sie habe, so Ammian, nicht eine Besserung der Lage, sondern vielmehr das Gegenteil bewirkt, letztlich die Zunahme der Korruption gefördert. Auf die Stellung des Kaisers bezogen, bedeutete eine derartige Kompetenzverschiebung, dass in dem Maß, in dem sich zivile Befugnisse in den Händen seines Stellvertreters häuften, die Machtfülle des Staatsoberhauptes durch den Rekurs auf andere Quellen der kaiserlichen Herrschaft kompensiert werden musste. Gerade die militärische Leitungskompetenz war im spätrömischen Reich, das sich aufgrund der zahlreichen Usurpationen und Kriege gegen Grenznachbarn einer ständigen Bedrohung gegenübersah, in besonderer Weise gefragt. Schon längst beruhte die kaiserliche Herrschaft nicht mehr auf dem Konsens der senatorischen Führungsschichten, sondern wurzelte vielmehr auf der Akzeptanz des jeweiligen Thronkandidaten durch eine zunehmend politisierte Armee.147 Der Kaiser als oberster Feldherr verdankte seine Herrscherstellung wesentlich der Aktualisierung seines militärischen Oberkommandos. Den Imperatoren des 4. Jahrhunderts waren diese Zusammenhänge sehr bewusst. Immer wieder traten sie inmitten ihrer Soldaten auf, vollzogen Ernennungen und Beförderungen bewährter Offiziere, leiteten persönlich militärische Operationen oder feierten Triumphe über innere und äußere Feinde.148 Die Biographien Con­stantins, Constantius’ II., Julians, Valentinians und Theodosius’ sind beredte Beispiele dafür. Diejenigen, die in Konflikt mit den militärischen Eliten des Reiches gerieten, wie etwa Constans, bezahlten die Vernachlässigung ihrer Imperatorenpflichten mit dem Leben. Dies galt auch für Julian und Valens, die für das Scheitern von Militäroperationen gegen auswärtige Völker verantwortlich waren.149 Die intensive Pflege der Beziehungen zwischen Herrscher und Armee 505

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sowie die guten Kontakte zur Generalität waren entscheidend für die Stabilität der Kaiserherrschaft. Eine Zäsur in den Beziehungen zwischen Imperator und Armee markierte das Jahr 387, als der aus der germanischen Militärelite stammende Arbogast ohne kaiserliches Mandat das Amt eines magister militum erhielt. Überraschend an dem Vorgang war, dass diese Berufung ohne vorherige Konsultation des Kaisers geschah und auch nachträglich nicht von diesem legitimiert wurde. Ein Teil der militärischen Elite hatte die Zügel der Macht ergriffen und unter Umgehung des Imperators einen der ihren an die Spitze der Armee gesetzt und somit den Kaiser zum Statisten degradiert. Damit wurde die Autorität des Staatsoberhauptes entscheidend geschwächt. Denn durch die Entwöhnung der Kaiser, militärische Hoheitsrechte auszuüben, wurden gerade jene Kräfte, die diese Situation ausnutzten, proportional dazu gestärkt. Die danach immer mehr vom Heer isolierten Regenten vermochten nur über eine stets kleinere und von militärischen Machtmitteln entblößte Umgebung zu gebieten. Die Herrschaft über weite Teile des Reiches glitt ihnen aus den Händen. Dies traf auf die meisten Kaiser des 5. Jahrhunderts zu, die dem westlichen Reichsteil vorstanden. Wie sehr Arbogasts Amtsführung einen Traditionsbruch bedeutete, belegt eine Szene, die sich innerhalb der Palastmauern ereignete: Der Heermeister ermordete eigenhändig im Consistorium einen Vertrauten des Herrschers, der unter dem kaiserlichen Purpurmantel vergeblich Schutz gesucht hatte; anschließend zerriss er vor den Augen des Hofes das von Valentinian  II. ausgefertigte Entlassungsdekret.150 Arbogast blieb im Amt und der desavouierte Kaiser musste um sein Leben fürchten. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis der machtbewusste Arbogast sich seiner entledigte und bei passender Gelegenheit einen Kaiser seiner Wahl als Nachfolger einsetzte: Eugenius.151 Je mehr der Kaiser von der Ausübung seiner militärischen Führungsaufgaben ferngehalten wurde, die stets die Grundlage seiner Herrschaft dargestellt hatten, umso mehr wuchs der politische Einfluss jener Kreise, die sich diese Kompetenzen aneigneten. Dass sich nun eine wachsende Zahl von Heermeistern wie Arbogast, Merobaudes, Ricimer, Stilicho oder Odoaker152 in den Vordergrund schoben, war die logische Folge dieser schleichenden Machtverlagerung. Die Heermeister übten faktisch die Herrschaft im Reich aus, indem sie den jeweils regierenden Kaiser ins zweite Glied zurückdrängten.153 Trotzdem entstand kein Machtvakuum, sondern es entwickelte sich ein Transfer von Leitungsaufgaben zum Nachteil des Staatsoberhauptes. Die Isolierung der Herrscher ging zu Lasten ihrer Politikfähigkeit. Ab dem Ende des 4. Jahrhunderts schmolz die effektive militärische Befehlsgewalt der Im506

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peratoren in den westlichen Reichsteilen dramatisch. Sie verkam zu einem Torso. Ohne die Kontrolle über die Armee musste die Autorität des Kaisers in einer Sackgasse münden. Kann man den Verlust militärischer Kompetenzen, den die spät­antiken Kaiser erlitten, als Traditionsbruch bezeichnen, so gilt dies nicht weniger für die Minderung der imperatorischen Autorität im kultisch-religiösen Bereich, die seit Augustus die ureigene Domäne des Herrschers geworden war. Mit der Begründung des Principats übte der göttlich verehrte römische Herrscher als Mitglied der wichtigsten Priesterkollegien einen entscheidenden Einfluss auf das religiöse Leben seiner Untertanen aus.154 Die Akzeptanz und Förderung bestimmter Gottheiten155 oblag ihm ebenso wie die Zustimmung oder Ablehnung von Kulten156, die auf römischem Boden heimisch werden wollten.157 Die Präferenz für einen bestimmten Kult wurde konstitutiv für die Gestaltung der Religionspolitik. Ein entscheidendes Kriterium war die Reziprozität. Gewöhnlich erwiesen die Kaiser einer speziellen Gottheit besondere Verehrung, die wiederum ihre Regierung mit einer Aura göttlichen Glanzes ausstattete. Dieser Zusammenhang prägte das polytheistische Modell der Herrschaftsausübung der Tetrarchie. Daher lehnten die Tetrarchen jede Anfechtung der göttlichen Weltordnung ab, die sie selber repräsentierten. Ebenso wenig konnten sie den Anspruch des christlichen Gottes hinnehmen, das Götterpantheon zu monopolisieren. Aus diesem Grund war die Christenverfolgung eines ihrer zentralen politischen Anliegen. Diocletian, Maximian, Constantius und Galerius handelten wie Jupiter, Hercules, Apollo und Mars, die sich einander auf Augenhöhe begegneten. Diese konzertierte Herrscher- und Götterpluralität stellte die auf Ausschließlichkeit abgestellte Grundhaltung des Christentums in Frage.158 Das Gleichgewicht der römischen Religion änderte sich schlagartig mit dem Einbruch eines monotheistisch-trinitarischen christlichen Gottes in die polytheistische Landschaft des Reiches, der auf den Zusammenbruch der Tetrarchie folgte.159 Wie kaum ein anderer weltgeschichtlich bedeutsamer Vorgang hat die Durchsetzung der christlichen Lehre, die mit der gleichzeitigen Zerschlagung einer säkularen Tradition einherging, die politische und religiöse Szenerie der Alten Welt verändert.160 Die nach Con­stantin amtierenden christlichen Herrscher haben im Widerstreit mit der sich formierenden Bischofskirche um die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen dem christlichen Kult und dem Staat gerungen. Kirche und Theologie mussten sich unter den veränderten Bedingungen des sich rasch wandelnden Reiches an die neuen politischen Realitäten anpassen. Alte Gepflogenheiten gingen zu Bruch, neue wurden dabei begründet. Dies betraf sowohl die Festlegung der 507

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theologischen Messlatten, denen man Geltung verschaffen wollte, als auch die Interaktion und Rollenzuweisung innerhalb der Führungsschichten. Es stellten sich nun neue Fragen: Wer gestaltete innerhalb der christlichen Kirche die Modalitäten der Religionspolitik, der Kaiser oder die Bischöfe? Wer war in letzter Instanz für Fragen der Kirchendisziplin, der Kirchenver­ fassung oder gar für die theologischen Inhalte der Kirchenlehre zuständig? Was bisher Bestandteil der pontifikalen Amtsausübung der römischen Kaiser gewesen war, konnte plötzlich in Frage gestellt werden. Standen die heidnischen Imperatoren im Mittelpunkt eines religiösen Koordinatensystems, das die Ordnung der damaligen Welt widerspiegelte, so liefen die christlich gewordenen Nachfolger Con­stantins Gefahr, zu Randfiguren der Kirchenpolitik zu verkümmern. Der Umgang mit diesen Themenkomplexen verschob das staatliche und gesellschaftliche Ordnungsgefüge der Alten Welt tiefer und grundlegender, als es auf den ersten Blick anmutet. Dies spiegeln bereits beispielhaft die Ereignisse rund um den Donatistenstreit wider, als Kaiser Con­stantin  – von den Betroffenen aufgesucht und um eine Entscheidung gebeten – einer Bischofssynode die Handlungsvollmacht übertrug, anstatt selbst zu entscheiden. Ein solches Faktum spielte für die Gestaltung der Zukunft des Reiches eine größere Rolle als etwa die als epochal apostrophierte Con­stantinische Wende des Jahres 312. Von der Haltung des Kaisers sollte eine beträchtliche Wirkung ausgehen. Als er in seiner Funktion als Staatsoberhaupt von den zerstrittenen religiösen Gruppen aus Nordafrika um Schlichtung ersucht wurde, verwies er die Angelegenheit an Fachleute, an eine zunächst in Rom (313) und dann in Arles (314) tagende Bischofssynode, die, wie die späteren Ereignisse zeigen sollten, keine Lösung des Problems erzielen konnten. Hatte Con­stantin sich damals einer lästigen Angelegenheit entledigen wollen, so waren die Konsequenzen des damit gesetzten Beispiels weitreichend. In Zukunft sollten Bischofsversammlungen in Fragen der Kirchenordnung eine immer größere Rolle zulasten der Reichsregierung einnehmen. Ähnlich wie im militärischen Bereich lässt sich aus der Entwicklung des Kultwesens ebenfalls eine fortschreitende Abdrängung des Kaisertums aus dem Zen­ trum der Religionspolitik beobachten.161 Mit Con­stantins Haltung in der Donatistenfrage, eine Entscheidung, die ihm eigentlich oblag, zu delegieren, begann eine der wichtigsten Innovationen dieser Zeit: Die Eroberung des öffentlichen Raumes durch eine selbstbewusste, nach Macht und Einfluss drängende klerikale Hierarchie.162 Der Aufstieg des Bischofs zu einer autonomen Autorität im christlichen Sakralwesen war verbunden mit einer Beeinträchtigung der kaiserlichen Schlich508

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tungsfunktion. Darüber darf die devote Verehrung, die Con­stantin seitens der Bischöfe genoss, die in ihm den Retter der Christen vor der Verfolgung sahen, nicht hinwegtäuschen. Die Spannungen zwischen seinen Nachfolgern und den führenden Kirchenmännern, etwa zwischen Constantius  II. und Athanasios von Alexandria163 oder zwischen Theodosius I. und Ambrosius von Mailand164, um nur zwei bekannte Beispiele aufzuführen, bildeten lediglich die Spitze des Eisbergs. Wenn maßgebliche Bischöfe ihre Treue zu einer bestimmten dogmatischen Lehrmeinung höher stellten als ihre Gehorsamspflicht gegenüber dem Kaiser – und das geschah während der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts fortwährend  –, dann zerbrach damit eines der wirksamsten Bande, das Politik und Religion bisher zusammengehalten hatte. Mit der Verfestigung einer derartigen Dissenskultur entwickelten sich neue Formen religionspolitischen Handelns. Bischöfe und Kaiser wetteiferten immer mehr um die Gunst des einen unteilbaren Gottes. Bestand am Anfang eine Art Äquidistanz, so verkürzten sich die Wege immer mehr zugunsten der Kirchenrepräsentanten, die mit Vehemenz ihren Platz in seiner Nähe behaupten konnten. In früheren Zeiten waren die Herrscher hinsichtlich der Monopolisierung der sacra publica so gut wie konkurrenzlos. Die Anerkennung und Durchsetzung des christlichen Gottes erforderte ein neues Beziehungsgeflecht, aus dessen Zen­trum der Kaiser immer mehr verdrängt wurde. Heilige Männer, Bischöfe oder theologisch geschulte Experten samt ihren weit verzweigten Anhängerschaften traten als Sprachrohr des göttlichen Willens auf und handelten als von Gott gesandte Autoritäten in Kultfragen. Damit war der Kaiser nicht mehr die unanfechtbare Instanz, sondern eben nur eine Autorität neben anderen. Laut christlicher Lehre galt die weltliche Herrschaft ausschließlich als von Gott verliehen. So formulierte am Ausgang der theodosianischen Epoche der machtbewusste Bischof Kyrill von Alexandria, einer der führenden Köpfe der Ostkirche, in einem Memorandum, das an den Hof von Con­ stantinopel gerichtet und dessen Adressat Theodosius II. war, die Leitprinzipien des christlichen Kaisertums und unterstrich dabei die Unterordnung des Kaisers unter den Willen Gottes. Wichtig sind dabei weniger die Inhalte solcher Traktate, die keineswegs neu waren165, sondern der belehrende Ton, der sich bei derartigen Gelegenheiten einschlich. Noch bemerkenswerter ist der Umstand, dass ein Bischof, indem er eine Brückenfunktion zwischen Himmel und Erde beanspruchte, theologische Begründungen lieferte, wie die gottgefällige politische Ordnung auszusehen habe: 509

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Die unerschütterliche Grundlage eurer so gottliebenden und ruhmgekrönten Regierung ist unser Herr Jesus Christus selbst, denn ‚durch ihn üben die Könige Königsmacht und bestimmen die Machthaber, was recht ist’, wie geschrieben steht. Denn sein Wille ist allmächtig, und durch einen bloßen Wink verleiht er die Fülle alles Guten. Und gern und bereitwillig verteilt er an diejenigen, die ihn lieben, das Auserlesenste von allem, was man zu wünschen und zu bewundern pflegt. Ein ausreichender Beweis für das Gesagte liegt schon in dem, was eurer Herrschaft geschenkt worden ist und, wie wir vertrauen, noch geschenkt werden wird.166 Wer, wenn nicht die Bischöfe als Heilsvermittler und als privilegierte Diener Gottes und Deuter seines Willens, sollte dem Staatsoberhaupt in Fragen, die den Umgang mit der von Gott verliehenen Herrschaft betrafen, beraten und leiten? Die bisher untersuchten Konfliktfelder spiegeln vor allem die im weströmischen Kaiserreich vorherrschenden politischen Verhältnisse wider, wo Heermeister, Bischöfe, regionale Aristokratien und römischer Senat zeitweilig in Konkurrenz zum Kaiser auftraten und sich einen Wettbewerb um die Monopolisierung zentraler Staatsaufgaben lieferten, was dem Kaiserhof einen erheblichen Verlust an Ansehen und Regierungskompetenz einbrachte.167 Anders verlief die Entwicklung im östlichen Reichsteil, wo das seit Justinian wieder erstarkte byzantinische Kaisertum seine Machtgrundlagen sowie den territorialen Bestand des Reiches behaupten konnte. Wenn das östliche Erfolgsmodell jedoch nicht als Vorbild für die westliche Reichshälfte taugte, so lag dies nicht allein an den Auswirkungen der Barbareneinfälle, die im Westen deutlich gefährlicher ausfielen als im Osten.168 Dessen Unübertragbarkeit war auch die Folge der tiefgreifenden Autoritätskrise, die das westliche Kaisertum längst erfasst hatte und seine Regierungsfähigkeit beträchtlich einschränkte. Die Beobachtung antiker und moderner Krisen lehrt, dass abrupte Transformationsprozesse von Gewalt, Ungerechtigkeit und Unsicherheit begleitet werden – aber ebenso zeigt sich, dass nicht immer Anarchie und allgemeines Chaos am Ende stehen müssen. In der Auflösungsphase des weströmischen Reiches verschlechterten sich die ohnehin prekären Lebensbedingungen der meisten Menschen keineswegs dramatisch, als die kaiserliche Autorität kollabierte. So führte etwa die Übertragung von juristischen Kompetenzen auf den praefectus praetorio, wiewohl sie dem Kaiser zum Nachteil gereichte, keineswegs zum Zusammenbruch der Rechtspflege. Die Kritik des Ammian geht in dieser Hinsicht zu weit. Wir können auch nicht ausschließen, dass diejenigen, die davon betroffen waren, in diesen Maß510

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7  Zur Erosion kaiserlicher Machtgrundlagen

nahmen zur Dezentralisierung der Entscheidungsprozesse eine positive Entwicklung sahen. Ähnliches lässt sich über die Neugliederung der Reichsverteidigung sagen, insofern die größeren Kompetenzen und Verantwortlichkeiten der magistri militum diesen erlaubte, effizienter auf kritische ­Situationen an den bedrohten Grenzen zu reagieren als in der Vergangenheit. Stilicho, Aëtius, Ricimer oder Odoaker vermochten dank ihrer Fähigkeiten Gefahrenlagen zu meistern, an denen die jeweiligen Kaiser gescheitert wären.169 Es sollte auch bedacht werden, dass die offizielle Einführung eines monotheistischen Glaubenssystems die überfällige Reform überholter Kultinstitutionen überlagerte. Es bleibt eine offene Frage, bis zu welchem Grad die ersten christlichen Imperatoren sich bewusst waren, welche Veränderungen sich durch die religiöse Neuorientierung des Reiches vollzogen. Doch in dem Maß, wie der Kaiser einen Verlust seiner religiösen Führungsposition verzeichnete, entfaltete sich komplementär dazu eine von der klerikalen Elite getragene Dynamik, die eine umfassende Neuordnung der kultischen Sphäre vorantrieb.170 Die Beziehungen zwischen dem Herrscher und seinem engsten Umfeld erachteten die antiken Autoren als entscheidend für die Beurteilung seiner Regierung.171 In diesem Kontext bedeutete die fortschreitende Entmachtung der kaiserlichen Vorrechte keineswegs das Ende der Politikgestaltung, sondern machte lediglich ein verändertes Politikverständnis sichtbar. Vor allem im Westreich beobachten wir eine Stärkung der zentrifugalen Kräfte: die germanischen Militäreliten, die lokalen Aristokratien, die Bischöfe und nicht zuletzt der römische Senat, der eine Renaissance erlebte und zeitweilig zum Schiedsrichter zwischen den antagonistischen politischen Gruppierungen aufstieg. Auf der anderen Seite machte die mit dem Verlust der traditionellen Kompetenzen einhergehende neue Rolle des Kaisertums als bloße Repräsentationsinstanz seine Entbehrlichkeit deutlich. Wenn der Kaiser nicht gebraucht wurde, was sollte dann aus dem Imperium werden? Der in theodosianischer Zeit schreibende Historiker Ammian war nicht der einzige aus der Riege der traditionell gesinnten Intellektuellen, der diese Entwicklung mit Sorge betrachtete. In einer seiner berühmtesten Passagen äußerte er sich über die historische Rolle der Kaiserherrschaft folgendermaßen: Zum Jüngling und Manne gereift hat es (das römische Volk) in allen Gegenden des Erdkreises Lorbeeren und Triumphe geerntet. Schließlich schon dem Greisenalter nahe und zuweilen allein durch seinen Namen überlegen, hat es sich einem ruhigeren Leben zugewandt. Darum hat die verehrungswürdige Stadt, nachdem sie den übermütigen Nacken vieler Völker bezwungen und ihnen Gesetze als ewige Fundamente und Stützen der Freiheit gegeben hatte, wie eine beson511

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VI  Regierungsstile – Herrschafts­formen

nene, kluge und reiche Mutter den Kaisern als ihren Söhnen die Verwaltung ihres Erbteils anvertraut.172 In dieser Aussage schwingt die Hoffnung mit, dass durch einen energischen Herrscher die Heilungskräfte des Reiches gestärkt werden könnten. Bei derartigen Gedankenspielen, die eine von der Mehrzahl der Gebildeten geteilte deterministische Sichtweise von Geschichte offenbaren, wonach es keine Alternative zu dem durch das Kaisertum verkörperten Ordnungs­ system der Alten Welt zu geben schien, schimmert die Unhaltbarkeit des vehement verteidigten Modells durch. Es ist anzunehmen, dass Ammian seine Historien noch in der Amtszeit des Theodosius veröffentlichte. Hätte er sie später, also unter der Regierung des Arcadius und Honorius abgefasst, wäre sein diesbezügliches Urteil vermutlich düsterer ausgefallen. Zu diesen Herrschern passt der aus der modernen Verfassungstheorie stammende Satz: le roi règne, et il ne gouverne pas. Damit war auf Dauer die auf dem Imperiumsgedanken gegründete Stabilität der politischen Verhältnisse kaum aufrechtzuerhalten. Ungeachtet der unterschiedlichen Nuancen der untersuchten Quellen offenbart ihre Zusammenschau ein politisches Koordinatensystem, das den Zerfall der kaiserlichen Macht dokumentiert, genauer: die Erosionsprozesse, die dazu führten, dass die Kaiser des 4. und 5. Jahrhunderts wesentliche Teile ihrer schiedsrichterlichen, militärischen und religiösen Kompetenzen sukzessive einbüßten. Trotz der unleugbaren Hinweise, die es dafür gibt, thematisieren dennoch die antiken Autoren so gut wie nie die weitreichenden Konsequenzen dieses Phänomens. Daher müssen wir dessen Beweggründe aus der Rückschau rekonstruieren und gelangen erst mittels einer systematischen Quellendurchsicht zu den dargelegten Schlussfolgerungen. Dies bedeutet keineswegs, dass den Intellektuellenkreisen der Spät­antike diese Zusammenhänge unbekannt geblieben wären. Es ist offensichtlich, wie sehr die starke Fixierung auf die Bindekraft der Tradition wirkte, sodass die zeitgenössischen Beobachter die daraus abzuleitenden Implikationen ignorierten. Eine solche Geisteshaltung lässt sich ebenfalls auf jene Autoren ausdehnen, die den letzten Abschnitt der Geschichte Roms von einem religiös bestimmten Standpunkt aus bewerteten, wie beispielsweise Orosius aus christlicher oder Zosimos aus heidnischer Sicht.

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VII Monotheismus als politisches Problem

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ie nachfolgenden Kapitel versuchen, die mit dem Einbruch des monotheistischen Christentums in die polytheistische Landschaft der antiken Welt zusammenhängenden Problemfelder näher einzugrenzen und zu analysieren. Sie wollen Rechenschaft ablegen über den Zusammenhang zwischen dem nach der alleinigen Macht strebenden christenfreundlichen Herrscher Con­stantin und der Eingott-Vorstellung des Christentums. Auch über die Motive und die Folgen der christlichen Heterogenität soll nachgedacht werden, ebenso wie über die dogmatischen Streitigkeiten zwischen den während des 4. und 5.  Jahrhunderts in unversöhnlicher Frontstellung zueinander verharrenden christ­lichen Gruppierungen (Donatistenstreit, Trinitarischer Konflikt, Monophysiten, Dyophysiten). Ein weiteres Thema, das eine eingehende Erörterung verdient, ist die Anpassung der christlichen Glaubenslehre an die Erfordernisse einer heidnischen Umwelt, die nach wie vor die Mehrheitsgesellschaft darstellte. Nicht minder konfliktbeladen wie die Beziehungen der Christen zu den Nichtchristen gestalteten sich die Verhältnisse innerhalb des christlichen Lagers, wo sich mächtige Bischöfe um dogmatische Positionsbestimmungen, Prestige und Machtstreben erbittert befehdeten (klerikale Machtkämpfe), oder besonders ambitionierte Kleriker den Vertretern der weltlichen Macht trotzten (Tauziehen um die religiöse Deutungshoheit), um damit den Vorrang der geistlichen gegenüber der weltlichen Macht einzufordern. Als Folgewirkung davon geriet die neue Rolle der christlich gewordenen Kaiser, ihr Stellenwert und Selbstverständnis innerhalb des christlichen Koordinatennetzes auf den Prüfstand (Imperator christianissimus). Die Klärung dieses Problems wird noch lange die Religionsgeschichte des Abendlandes beschäftigen. Mit der Entwicklung und Funktion sowie mit der gesellschaftlichen und religiösen Relevanz der christlichen Gotteshäuser als neue Räume der Macht wird zum Schluss einer Frage nachgegangen, die uns noch heute unmittelbar betrifft. 513

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1 Das Christentum wird salonfähig Intoleranz ist nur dem Monotheismus wesentlich: ein alleiniger Gott ist, seiner Natur nach, ein eifersüchtiger Gott, der keinem andern das Leben gönnt. (Arthur Schopenhauer)

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ie Durchsetzung des christlichen Gottes im römischen Reich war mit der Herrschaft Con­stantins untrennbar verbunden. Durch seine Abwendung von den im tetrarchischen System fest verankerten Gottheiten bei gleichzeitiger Zuwendung zu dem der tetrarchischen Theologie diametral entgegengesetzten Eingott der Christen stellte er das System der Herrschaftsteilung in Frage. Der christliche Monotheismus vertrug sich mit Jupiter-­ Hercules ebenso schlecht wie die con­stantinischen Ambitionen auf die Gesamtherrschaft mit der diocletianischen Regierungspluralität. Die Protektion, die Con­stantin vom Gott der Christen erfuhr und die dieser ihm wiederum gewährte, ermöglichte die Eingliederung dieser verhältnismäßig neuen Glaubensgemeinschaft in die römische Welt. Der vom Christengott erhobene Ausschließlichkeitsanspruch korrespondierte mit dem Anspruch Con­ stantins auf die Alleinherrschaft im Reich. Christus, der dem heidnischen Pantheon die Partizipation an der unteilbaren Göttlichkeit verwehrte, verlieh den Zielsetzungen Con­stantins eine unverwechselbare Handschrift.1 Damit ist eine der Ursachen angesprochen, die Con­stantin veranlasst haben kann, den Gott der Christen zum Abbild der eigenen machtpolitischen Ambitionen zu erheben: das Bedürfnis, sich von den Zielsetzungen seiner Wettbewerber abzusetzen. Ein weiterer Grund für Con­stantins Hinwendung zum Christentum lag in dessen monotheistischer Struktur begründet. Heidnische Thronprätendenten konnten sich auf eine große Anzahl prinzipiell gleichberechtigter Gottheiten des traditionellen Kultes berufen, um Herrschaftsansprüche anzumelden. Nahm Con­stantin aber Christus in Anspruch, so war dieser nicht nur unteilbar und daher ausschließlich auf ihn bezogen, sondern gleichzeitig engte er die Räume für andere Konkurrenten ein, da sie auf keine mit Christus vergleichbare Gottheit als Legitimations­ träger zurückgreifen konnten. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür liefert der letzte Kampf zwischen Con­stantin und Licinius.2 Im Verdrän514

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1  Das Christentum wird salonfähig

gungswettbewerb um irdische Macht und himmlische Gunst behauptete sich derjenige, dessen göttlicher Beschützer als Abbild des errungenen Sieges ­erschien. Durch die Anpassung des Christentums an die Institutionen des Staates öffnete Con­stantin die Tür für eine religionspolitische Neuorientierung des römischen Reiches. Während seiner Regierungszeit überwogen noch henotheistische Grundeinstellungen, doch unter seinen Nachfolgern neigt sich das Pendel zugunsten der vom Christentum verkörperten monotheistischen Option.3 Daran konnte die julianische Restauration wenig ändern. Julians gescheiterter Versuch, das Christentum zu verdrängen, ist das anschaulichste Beispiel für die mittlerweile verbreitete Neigung zur monotheistischen Religion hin. Ein letztes Mal versuchte ein römischer Kaiser in seiner Eigenschaft als oberster Kultwächter des Reiches die Rückkehr zur traditionellen Religion zu erzwingen. Damit war die Bestimmung des Stellenwertes des Kaisertums innerhalb einer in Fluss geratenen religiösen Landschaft unumgänglich geworden. Es ging dabei um die Deutungshoheit über die Zukunft des Reiches, um die Rolle des Kaisertums und um die Positionierung einer monotheistischen Gottheit in diesem Koordinatensystem.4 Den Anfang machten in con­stantinischer Zeit Lactanz5 und Eusebios von Caesarea, der dazu ausführte: Als der Herr und Heiland erschien und zugleich mit seiner Anhängerschaft Augustus als der Erste unter den Römern über die Völker Herr wurde, da löste sich die pluralistische Vielherrschaft auf, und Friede erfaßte die ganze Erde.6 In der eusebianischen Sichtweise ist die Vorstellung impliziert, dass mit dem Principat des Augustus der Monotheismus begonnen habe und ferner dass zum Wesen des alle Partikularinteressen überwindenden Imperium Romanum das monotheistische Christentum metaphysisch von Anfang an dazu gehörte. Mit Blick auf die weitere Entwicklung konnte gefolgert werden: Was Augustus vorbereitet hatte, vollendete Con­stantin. Nicht zufällig werden Con­stantin Äußerungen zugeschrieben, in denen er zur Wider­ legung des Heidentums ansetzte und die Lehre der gottgefälligen christlichen Monarchie verkündete. In der Tricennalienrede resümierte Eusebios: Dem einen König auf Erden entspricht der eine Gott, der eine König im Himmel und der eine königliche Nomos und Logos.7 Aus der Zusammenschau der von den Kirchenvätern geäußerten Meinungen in Bezug auf die christliche Herrschaftskonzeption der nachcon­stan­ tinischen römischen Imperatoren hat Marie Theres Fögen die Schlussfolgerung gezogen: „Der Kaiser ist nicht Gott, aber Gottes Vertreter auf Erden. Nicht er, als Mensch, fordert Ehrerbietung, sondern Gott fordert sie für 515

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VII  Monotheismus als politisches Problem

s­einen Imitator. Nicht gewählt ist der Kaiser vom Menschen, vom Senat, vom Volk oder vom Militär, sondern auserwählt ist er von Gott persönlich. Mit diesem Konzept knüpfte Eusebios an selbst für Heiden nicht unakzeptable Überzeugungen an und verdrängte, nachdem er in Konstantin einen sich solcher Beschreibung nicht widersetzenden Kaiser gefunden hatte, den alten Anspruch des Kaisers auf eigene Göttlichkeit.“8 Anknüpfend an Eusebios machte sich im christlich inspirierten Schrifttum eine theologische Interpretation der römischen Geschichte als notwendige Bedingung zur Christianisierung der Welt breit. Nach Ansicht der einschlägigen Autoren konnte die voraugusteische heidnische Kleinstaaterei erst durch die Begründung des Principats und die Schaffung eines Einheitsstaates überwunden werden.9 Dieser Strukturwandel, so wird gefolgert, ermöglichte die weltweite Ausbreitung und Durchsetzung der christlichen Lehre. Dass Christi Geburt mit der Epoche der Entstehung der römischen Principatsherrschaft zusammenfiel, empfanden die christlichen Autoren als providentielle Fügung. Folglich verband in seiner Universalgeschichte der Augustinusschüler Orosius die Friedenstätigkeit des ersten römischen Kaisers mit dem göttlichen Plan einer Heilsgeschichte. Noch stärker als bei seinen Vorgängern gehen bei Orosius Christentum und Römerreich eine unauflösliche Symbiose ein. Augustus und Christus werden so miteinander verknüpft, dass am Ende dieses Assimilationsprozesses der Gründer des römischen Kaisertums christianisiert und der zum cives Romanus gewordene Christus romanisiert wird.10 Eine solche Umdeutung der Anfänge war durch den monotheistischen Charakter der christlichen Religion, die seit Con­stantins Regierung immer breitere Akzeptanz erfuhr, möglich geworden. Mit Kaiser Theodosius erfolgte der Durchbruch zur religiösen Homo­ genisierung, als er der Reichsbevölkerung den nicaenischen Glauben vorschrieb.11 Damit hielt das Kriterium der Rechtgläubigkeit Einzug in die alte Welt, und mit ihm erfuhr die Wechselbeziehung zwischen Monarchie und Monotheismus eine weitere Zuspitzung. Hatten sich die heidnischen Herrscher mit einem Bekenntnis zur offiziellen Religion begnügt, sich damit zufrieden gegeben, wenn die von ihnen bevorzugten Gottheiten allgemeine Anerkennung fanden, ansonsten sich nicht weiter um die private Kultsphäre ihrer Untertanen gekümmert, so stand nun die religiöse Gesinnung des einzelnen im Vordergrund. Von besonderer Bedeutung war die Stellung des Kaisers in der christianisierten Welt. Heidnische Herrscher nahmen, wenn sie es wollten, eine alles beherrschende Rolle im Kultwesen ein. Sie standen auf einer Ebene mit den Gottheiten, wurden selbst zu Göttern erhoben. Im christlichen Monotheis516

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mus konnte der Herrscher nicht auf derselben Stufe wie Gott stehen. Seine Position bedurfte der Festlegung und Deutung. Als Herrscher und Pontifex Maximus war Con­stantin für die richtige Gottesverehrung im römischen Reich verantwortlich.12 Dies betraf die heidnischen und die christlichen Kulte zugleich. Auf Con­stantins Initiative hin und unter seinem Vorsitz tagten Konzilien in seinem Palast. Bei den Gottesdiensten nahm der Kaiser im Zen­trum des Altarraumes an prominenter Stelle Platz. Kurzum: Er trat als sichtbares Oberhaupt der christlichen Kirche auf.13 Con­stantin aber war die Ausnahme. Im Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem Mann, der die Verfolgung beendet hatte, nahm der christliche Klerus noch nicht wahr, welche überragende Stellung Con­stantin eingenommen hatte. Bei seinen Nachfolgern sollte dies anders werden. Die Verdrängung des Kaisers aus dem Zen­ trum des christlichen Glaubens begann. Immer mehr traten machtbewusste Bischöfe als Wortführer und Sachwalter der Kirchenpolitik in Erscheinung. So versuchte etwa Ambrosius, den Sitz des Kaisers in der Kirche vom Altarraum, der seiner Meinung nach für den Klerus reserviert war, zu entfernen.14 Derartige symbolträchtige Gesten veranschaulichen das nun einsetzende Tauziehen zwischen Kaiser und Kirchenhierarchie, das im Investiturstreit einen Höhepunkt erreichen sollte. Die Zusammenstöße zwischen Kirchenführern und Kaiser belegen zwar ein ­Ringen um kirchenpolitische Positionen, doch in Wahrheit ging es um die Bestimmung der Grenzen zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Die Privatisierung der Religion und die Säkularisierung des Staates nahmen von hier aus ihren Anfang. Zu Recht betont Albrecht Dihle, dass die christlichen Kaiser nach Con­stantin „die Legitimation der Herrschaftsordnung einer Institution (der Kirche) übertragen (hatten), die um ihrer selbst willen bestrebt sein musste, sich einer völligen Identifizierung mit dem Träger der weltlichen Macht zu entziehen.“15 Mit der endgültigen Durchsetzung des Christentums in der römischen Gesellschaft gingen Staatskörper und Kirche getrennte Wege. Ein in der Antike unbekannter Dualismus zwischen Staat und Kultgemeinschaft prägte von nun an die Geschicke der christianisierten Ökumene.

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2 Christliche Heterogenität

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aum ein anderes geistesgeschichtliches Phänomen hat eine derartig nachhaltige Wirkung auf die nachfolgenden Jahrhunderte entfacht wie der Einbruch des Monotheismus in die religionspolitische Landschaft der antiken Welt. Im Hinblick auf das Christentum und den Islam ist diese Aussage jedoch differenziert zu betrachten. Unbestritten groß ist der Einfluss der koranischen Lehre in vielen Regionen der Erde bis zum heutigen Tage. Ebenfalls hat das Christentum in den folgenden Jahrhunderten, in denen sich das Imperium Romanum zu einem Imperium Romanum Christianum verwandelte, eine enorme Anziehungskraft entfaltet und sich bis zur Gegenwart zum dominierenden Kultverband des Abendlandes entwickelt. Während aber, was den Islam betrifft, sein bedingungsloser monotheistischer Charakter außer Frage steht, lässt sich dies für das Christentum nur bedingt behaupten. Es ist eine monotheistisch-trinitarische Religion, die zudem in der Gottesmutter Maria und den Heiligen in abgestufter Dignität ein breites Spektrum himmlischer Wesen aufweist und so eine Brücke zur Vielfalt des traditionellen heidnischen Kultes zu schlagen vermag. Auch darin unterscheidet sich das Christentum vom Islam, der in Sachen Gottesvorstellung eine kompromisslose Eingottlehre vertritt. Als weiteres Merkmal des christlichen Kultlebens erweist sich dessen Heterogenität. Von Anfang an erschien das Christentum aus den unterschiedlichsten Anlässen in zahlreiche Glaubensrichtungen, dogmatische Grund­ legungen und Sonderkirchen segmentiert. Eine einzige unteilbare christliche Kirche hat nie existiert. Sie bleibt zwar ein stets angestrebtes Desiderat, ist aber bis heute mehr Wunschvorstellung als Realität. Die divergierenden Richtungen, die sich aus der Formung des christlichen Glaubens herausbildeten, hingen von vielen Faktoren ab; entscheidend war aber das im Gegensatz zum Islam unscharfe Gottesbild, welches einer langwierigen Definition bedurfte. Dazu gesellten sich die unterschiedlich gelagerten Kulturregionen, in denen das Christentum Fuß fassen konnte, die jeweils eigene, teils kon­ troverse geistesgeschichtliche Beiträge zum theologischen Gehalt der neuen Glaubenslehre beisteuerten: Nicht eine Kirche, sondern eine Pluralität von lose miteinander verbundenen, zuweilen aber auch sich heftig befehdenden Kirchen war das Ergebnis.

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2  Christliche Heterogenität

Während das relativ geschlossene System des Islam in der entscheidenden Anfangszeit unter arabischer Kuratel stand und im Koran ein unumstrittenes Narrativ besaß, entwickelte sich das Christentum unter dem Einfluss des jüdischen Monotheismus, der hellenistischen Philosophie und des römischen Rechtsdenkens zu einer multikulturellen Religion, ohne zunächst eine unbestrittene Deutungsinstanz für theologische Anliegen hervorzubringen. Abspaltungen und Richtungskämpfe waren die unmittelbare Folge. Monotheistischer Anspruch und faktische Diversität in Bekenntnisfragen kennzeichnen jahrhundertelang die Wirklichkeit des Christentums, das nicht zuletzt ­deshalb eine außerordentliche Dynamik und Lebendigkeit zu entfalten vermochte. Aus dieser Spannung heraus ergaben sich in der sogenannten Verfolgungszeit theologische Meinungsverschiedenheiten und dann, nach der Nobilitierung des Christentums in nachcon­ stantinischer Zeit, politische Grabenkämpfe, da beide Ebenen, die politische und die theologische, repräsentiert durch Staat und Kirche, oft genug in unversöhnlicher Gegnerschaft verharrten. Der ganzheitliche Anspruch des Christentums auf die allein ­seligmachende Heilslehre wird wegen der Uneinheitlichkeit der Kirche zum politischen Problem in der sich immer stärker christianisierenden Gesellschaft des ausgehenden Altertums, zumal die nicht immer reibungslosen Beziehungen zwischen den vielfältigen Kirchen und dem sich allmählich christianisierenden Staat zusätzliche Hürden errichteten. Dies betraf sowohl die theologische Deutungshoheit in Glaubensangelegenheiten als auch die Handlungsvollmacht der geistlichen und staatlichen Autoritäten in Personalfragen, die mit der Ausübung des christlichen Amtes zusammenhingen. Keine Religionsgemeinschaft ist in ihrem Bemühen um Gewissheiten und Wahrheit gegen Spaltungen gefeit. Selbst der im Verhältnis zum Christentum homogenere Islam hat dies erfahren, als sich im Verlauf des 7. Jahrhunderts die Sunniten und Schiiten wegen der Nachfolge im Kalifat unerbittlich befehdeten, bis sie schließlich eigene Sonderwege einschlugen, die bis heute andauern. Ging es hier primär um Personalfragen, waren die Richtungskämpfe innerhalb des Christentums wesentlich komplexer und langwieriger. Sie wurden sowohl von dogmatischen Auslegungen als auch von Disziplinarangelegenheiten oder gar von Personal- und Rangfragen und nicht zuletzt vom Charisma der daran Beteiligten bestimmt. Rechthaberei und Intoleranz konnten in einer von dem Gedanken der Rechtgläubigkeit beseelten religiösen Stimmung nur allzu leicht gedeihen. Wenn man sich auf der richtigen Glaubensseite befand, mussten folglich all diejenigen irren, die diese Überzeugung nicht teilten oder gar leugneten. Der Sprung von der Ablehnung dogmatischer Positionen zur Gewaltanwendung gegen bestimmte reli519

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giöse Gruppierungen konnte unter Umständen verschwindend klein sein, wie Arnold Angenendt an konkreten Beispielen in einer umfangreichen Studie epochenübergreifend aufgezeigt hat.16 Es kam eine weitere Bewandtnis hinzu, welche die Genese des Christentums von Anfang an stark mitprägte. Die christliche Glaubenslehre entbehrte eines geographischen Zen­trums, einer theologischen Verortung sozusagen, von der sie sich konzentrisch hätte ausbreiten können (Jerusalem ist es nie gewesen); stattdessen bildete sie gleichzeitig mehrere geographische und kulturelle Bezugspunkte (Syrien, Kleinasien, Ägypten, Nordafrika, Italien), welche die christliche Missionstätigkeit, Glaubenslehre und Dogmenbildung selbständig organisierten und beförderten. Der Mangel an einem von Anfang an anerkannten Referenzpunkt – was der Islam in Mekka und Medina besaß – zwang die sich reichsweit vermehrenden Kirchen dazu, nach wirksamen Mechanismen der Vergewisserung und Konsolidierung der Glaubenslehre Ausschau zu halten. Um die wachsende Pluralität der wegen des Fehlens einer Leitungsebene sich teils widersprechenden Bekenntnisse zu kompensieren, wurde die Hierarchisierung der Gemeinden vorangetrieben, bis am Ende dieses Prozesses die von Anfang an bereits angelegte monarchische Amtsgewalt der Bischöfe definitiv Gestalt annahm. Daher wird in der Folgezeit weniger der theologische Diskurs, sondern vielmehr das Tauziehen zwischen den namhaftesten Vertretern des Episkopats die Richtlinien der Kirchenpolitik bestimmen. Deswegen werden aus dem Disput der Bischöfe um die Grundlegung der Glaubenslehre die virulentesten Kirchenstreitigkeiten und Abspaltungen erwachsen. Ihre Zahl war Legion (Gnostiker, Marcionianer, Montanisten, Novatianer etc.)17; alle zu dokumentieren, ist nahezu unmöglich. Daher sollen im Folgenden nur einige der im 4. Jahrhundert, also nach der Duldung des Christentums durch Kaiser Galerius (311), kirchenpolitisch relevantesten Dissidentengruppen dargestellt werden, um sowohl einen Eindruck von den Ausprägungen christlicher Heterogenität als auch über die Konsequenzen für die Stabilität des Kirchenfriedens und des davon abhängigen politischen Systems zu vermitteln.

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3 Konkurrierende Diskurse Donatistenstreit

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ie Unruhen in der numidischen Kirche, die auf ihr Territorium beschränkt blieben, entfesselten in einem relativ stark christianisierten Landstrich einen Flächenbrand, der sich zunächst an der Behandlung kirchendisziplinarischer Maßnahmen entzündete und sich dann zu einem langen, unversöhnlichen Konflikt ausweiten sollte. Als Con­stantin unmittelbar nach seinem Sieg über Maxentius die Herrschaft über Nordafrika zufiel, sah er sich mit dem Problem konfrontiert, die dortige, in tiefen Grabenkämpfen zerstrittene Kirche zusammenzuführen. Die Anhänger des Donatus (daher die Bezeichnung Donatisten), der während der diocletianischen Verfolgung standhaft geblieben war, klagten Bischof Caecilian an, dessen Weihe sie ­anzweifelten, weil sie von einem in der Verfolgung schwach gewordenen Bischof gespendet worden war. Es ging vorrangig um die Reinheit der Priester als Sakramentenspender, weil nur diese in den Augen der Donatisten deren volle Gültigkeit gewährleisten konnte.18 Ausgangspunkt der Beschwerde waren Con­stantins Reparationszahlungen zum Aufbau der geschundenen nordafrikanischen Christengemeinden gewesen19, die Caecilian nach Meinung der Donatisten zu Unrecht erhalten hatte, erachteten sie sich doch selbst als die einzig wahre, christliche Kirche dieser Region. Der Kaiser, der als Pontifex maximus aufgerufen worden war, darüber zu befinden, musste eine heikle Entscheidung in einer administrativen und zugleich innerkirchlichen Angelegenheit fällen. Um möglichst unvoreingenommen zu urteilen, beauftragte er auf Wunsch der Betroffenen keine nordafrikanischen Juroren, sondern den römischen Bischof Miltiades, den er nach seinem Einzug in Rom kennengelernt und sich durch bedeutende Schenkungen verpflichtet hatte20, mit dem Vorsitz der Beratung. Zusätzlich betraute Con­stantin die Bischöfe Reticius von Autun, Maternus von Köln und Marinus von Arles, die ihm wohl seit längerem persönlich bekannt gewesen sein dürften21, mit dem Beisitz der Anhörung, zu der noch 15 von Miltiades nominierte Kleriker aus Italien hinzugezogen wurden. Am 2. Oktober 313 trafen sich die aus Germanien, Gallien und Italien angereisten ­Synodalen in Rom.22 Nach Untersuchung des Streitfalls positionierten sie 521

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sich gegen die Forderungen des Donatus, indem sie Caecilian als rechtmäßigen Bischof von Karthago bestätigten. Der Spruch der römischen Synode wurde aber von der unterlegenen Partei nicht anerkannt, die daraufhin erneut an den Kaiser appellierte.23 Im Auftrag Con­stantins lud Marinus von Arles im August des Jahres 314 ausgewählte Bischöfe des Westens in seine Residenz ein, um die endgültige Beilegung des afrikanischen Streitfalls zu erreichen. Es erschienen die Vertreter des römischen Stuhls, sodann zwölf Bischöfe aus Gallien und Germanien, neun Bischöfe aus Italien, sechs Bischöfe aus Hispanien und drei Bischöfe aus Britannien. Wie vor Jahresfrist in Rom waren auch Caecilian und Donatus samt ihrem jeweiligen Anhang anwesend. Somit stellte die Synode von Arles eine halbwegs repräsentative Kirchenversammlung der westlichen Provinzen dar, bei der noch andere ungelöste Probleme auf die Tagesordnung kamen.24 Erneut wies man die Klage des Donatus zurück. Im Gegenzug wurde Caecilian freigesprochen und in seinem Amt als Bischof von Karthago bestätigt. Außerdem wurden weitere Bestimmungen erlassen, welche die Donatisten verurteilten und die Grundsätze des kirchlichen Disziplinarrechts neu regelten. Damit gaben sich die Donatisten aber keineswegs zufrieden. Sie spalteten sich von der durch Caecilian vertretenen Gemeinde ab und behaupteten sich, trotz aller gegen sie gerichteten Maßnahmen, generationenlang bis zur Islamisierung Nordafrikas im 7. Jahrhundert als Sonderkirche.25 Die kaiserliche Schlichtungspolitik war gescheitert, womit dem erfolgsverwöhnten Herrscher Con­stantin die Grenzen seiner religiösen Kompetenzen erstmalig aufgezeigt worden waren.26 Obwohl die Beratungen von Rom und Arles im Auftrag des Kaisers stattgefunden hatten, entwickelten sie eine eigene Dynamik, die neue Maßstäbe für die künftige Behandlung kirchlicher Angelegenheiten schaffen sollten. Die Synoden stärkten die Position der Bischöfe und unterstrichen ihre Unentbehrlichkeit bei der Regelung innerkirchlicher Konfliktlagen. Nur allzu gern ergriffen sie die Hand, die ihnen der Kaiserhof bot, um ihre theologischen Anliegen aber auch ihre gesellschaftliche Stellung zu festigen. Sie nahmen die freie Benutzung der kaiserlichen Post sowie manch andere Privilegien in Anspruch und gefielen sich in ihrer neuen Rolle in der Umgebung des Herrschers, was mit einem beträchtlichen Prestigegewinn verbunden war. Seit jeher war das Ansehen der heidnischen Priester groß gewesen.27 Davon profitierten nun die Sachwalter des christlichen Kultes. Auf einmal wurden die noch vor kurzem verfolgten Kirchenmänner als Stützen der Gesellschaft und des Staates anerkannt. Namhafte Bischöfe wie Miltiades, Ma522

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3  Konkurrierende Diskurse

rinus, Caecilian, Donatus und der bald noch größere Wirksamkeit entfaltende Hosius von Córdoba28 traten plötzlich aus der Anonymität heraus und avancierten zu Protagonisten der Religionspolitik. Damit wurde zum ersten Mal sichtbar, dass es im christlichen Lager zwei Autoritäten gab: den Kaiser und die Bischöfe.29 Bei Letzteren handelte es sich um „Männer, die ebenso sicher in der ‚Gottesfreundschaft‘ ruhten, wie der Kaiser selbst.“30 Zweifellos stellten die als Redner, Theologen, Schlichter, Diplomaten, geistliche Führer oder politisch agierenden Gemeindeleiter die eigenständige Innovation der spät­antiken Gesellschaft dar. Innerhalb ihrer Gemeinden blieb ihre potestas konkurrenzlos. Die soziale Wirkkraft und politische Geltung ihrer auctoritas war seit der Anerkennung des christlichen Kultes ständig im Wachsen begriffen.31 Wegen der Christenverfolgung und wegen der regionalen Unterschiede der weit auseinanderliegenden Christengemeinden bestand in Fragen der Kirchendisziplin und der Festlegung einer verbindlichen Glaubenslehre erheblicher Bedarf. Innerkirchlicher Dissens stand der Einigung der ohnehin heterogenen christlichen Gruppen entgegen; deshalb hatte Con­stantin ein gesteigertes Interesse an einer berechenbaren Glaubensgemeinschaft. Theologie hörte auf, bloße philosophische Spekulation mit beschränkten Folgen zu sein; stattdessen erhielt sie durch die als Sozialkörper konstituierte, reichsweit anerkannte christliche Gemeinde eine bis dahin ungekannte ­politische und gesellschaftliche Relevanz. Auch Con­stantins Verurteilung der donatistischen Dissidenz muss in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Sie stand nicht nur in Widerspruch zum Geist der Mailänder Vereinbarung des Jahres 31332, die bekanntlich die freie Religionsausübung ­garantierte, sondern offenbarte ebenso die Fragwürdigkeit der staatlich geförderten Kirchenpolitik. Ab wann wurde eine bestimmte Form der Kult­ ausübung als Abweichung empfunden und warum? Mit der Erörterung dieses Problems stoßen wir an die Grenzen der religiösen Toleranz, die nur solange währte, wie die von der Staatsmacht vorgegebenen Rahmenbedingungen erfüllt wurden.33 Wie der Donatistenstreit gezeigt hatte, wurden Bekenntnisfragen besonders virulent, wenn der Kaiser in Kirchenangelegenheiten eingriff. Dies brachte eine Verchristlichung der Herrschaft, das heißt eine Monopolisierung34 und Sakralisierung35 der kaiserlichen Mittlerfunktion mit sich. Derlei Tendenzen waren – wenngleich unter anderen religiösen Vorzeichen – bereits während der Regierung Diocletians hervorgetreten. Die christliche Lebenssicht und der Absolutheitsanspruch auf den Vollzug des göttlichen Willens erlangten jedoch unter der Alleinherrschaft Con­stantins erstmals eine neue politische Dimension. 523

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VII  Monotheismus als politisches Problem

Trinitarischer Konflikt Auf dem Konzil von Nicaea (325) wurde der erste große theologische Streitfall der mittlerweile vom Staat tolerierten christlichen Glaubensgemeinschaft ausgetragen, als sich der Konflikt des alexandrinischen Bischofs Alexander mit seinem Presbyter Arius zu einem Disput um die Wesenheit Gottes ausweitete. Con­stantin, der dort als Schiedsrichter zwischen den verfeindeten Parteien auftrat36, erwirkte einen Beschluss in einer dogmatischen Frage.37 Formal handelte es sich bei dieser Bischofsversammlung um eine Verzahnung von traditioneller Synode und kaiserlichem consilium, bei dem Con­stantin staatlicher iudex war, was eine Vermischung alter Kircheninstitutionen mit Anleihen an staatliche Rechtsverfahren anzeigt.38 Diese Ambivalenz ist symptomatisch für das gesamte Verhältnis zwischen Kirche und Staat im 4. Jahrhundert. Das Problem, das sich den Theologen bei der Bestimmung des christlichen Gottesbegriffes stellte, war kein geringes. Gefragt war nach der Substanz der Gotteslehre und nach der Hierarchie zwischen Vater und Sohn (Logos). Sie mussten die monarchianistische Lehre, die Christus mit Gott­ vater gleichsetzte, mit der jüdischen Tradition, die Christi Gottheit in Abrede stellte, versöhnen und dabei Rücksicht auf die vorherrschende monotheistische Grundstimmung der christlichen Gemeinden nehmen.39 Das Ergebnis einer derart vielschichtigen Gemengelage konnte kein eindeutiges sein. Noch mehr: Gesucht wurde eine definitive Formel, also die Quadratur des Kreises. Daher waren Kompromisse zu erwarten. Obwohl in der frühen Kirche der Vorrang des Vaters gegenüber dem Sohn als Selbstverständlichkeit galt, was sich bereits in den Paulusbriefen erkennen lässt40, entwickelten sich mit der Zeit verschiedene Denkrichtungen, die komplexe theologische Lösungsversuche anboten. Meist spiegelten sie zwei Prinzipien wider. Das eine betonte die Subordination des Sohnes gegenüber dem Vater, während das andere von einem Modell der Gleichheit oder gar der Identität innerhalb der Trinität ausging. Lange bevor der alexandrinische Priester Arius die Kontroverse verschärfte, waren schon zahlreiche Gefechte um diesen Themenkreis mehr oder weniger ergebnislos ausgetragen worden (Dionys von Alexandria gegen Dionys von Rom beziehungsweise Paulus von Samosata).41 Im Streit mit seinem alexandrinischen Bischof Alexander verfasste der Presbyter Arius ein an Origenes und Lukian von Antiochia angelehntes Bekenntnis, das eine Absage an die modalistische Trinitätsdeutung ent­hielt.42 Deren Kernaussagen lauteten, dass der Sohn vor aller Zeit geschaffen, keiner anderen Kreatur gleich, aber ebenso wenig wesensgleich mit dem Vater sei.43 Der 524

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von Alexander verfügten Exkommunikation des Arius begegnete Bischof Eusebios von Nikomedia mit der ausdrücklichen Anerkennung des arianischen Credos. Was als theologischer Disput begonnen hatte und mit dis­ ziplinarischen Maßnahmen niedergehalten werden sollte, geriet außer Kon­ trolle. Die mit der geographischen Ausweitung und Publizität verknüpften Machtfragen ließen aus einem lokalen Konflikt einen Kirchenkampf entstehen, der den ganzen Osten in Mitleidenschaft zog.44 Zum Konzil von Nicaea, das Con­stantin primär anlässlich der Feiern seiner Vicennalia (20-jähriges Regierungsjubiläum) und des Sieges über Licinius einberufen hatte und weniger wegen der ihn kaum berührenden dogmatischen Spitzfindigkeiten, war der Kaiser nebst etwa 300 Bischöfen aus dem ganzen Reich erschienen, wobei das östliche Episkopat zahlenmäßig dominierte. Es war die bis zu diesem Zeitpunkt größte Kirchenversammlung, und sie kam auf kaiserliche Initiative zustande, da die Kirche als Institution zum damaligen Zeitpunkt nicht in der Lage war, ihre internen Streitigkeiten zu regeln. Hosius von Córdoba, der das Vertrauen Con­stantins genoss, war mit verantwortlich, dass auf kaiserliches Betreiben Arius verurteilt und eine Definition des christlichen Glaubens verordnet wurde.45 Sie betonte die Wesenseinheit zwischen Vater und Sohn (homoousios), ohne aber theologische Konsequenzen daraus zu ziehen, womit die Anhänger des Subordinatianismus ebenso leben konnten wie die Anhänger des Monarchianismus.46 Dennoch war die vorgeschlagene Einigungsformel, die keineswegs durch die Texte der Bibel gedeckt war, den meisten Bischöfen unverständlich. Der Partei Alexanders kam sie ungelegen und den theologisch Gebildeten erschien sie äußerst problematisch. Da aber Con­stantin ihr Verkünder war, wurde das nicaenische Bekenntnis angenommen. Auch Eusebios von Nikomedia stimmte zähneknirschend zu.47 Welcher inhaltliche und formale Sinnzusammenhang sich dahinter verbarg, blieb zunächst unklar. Die Anhänger Alexanders wähnten sich mit der Verurteilung des Arius am Ziel und pochten auf die Gültigkeit des homoousios ungeachtet der Deutungsmöglichkeiten, welche die verabschiedete Formel zuließ. Darüber hinaus brachte Nicaea eine Stärkung des alexandrinischen Patriarchats. Seine Vollmachten gegenüber dem örtlichen Presbyterium und den ägyptischen und libyschen Bischöfen erfuhren eine erhebliche Ausweitung. Alexandria wurde Rom angeglichen, dessen Bischof eine Kirchenprovinz unterstand, die den Großteil Italiens umfasste. Überhaupt wurden die Rechte und Einwirkungsmöglichkeiten der Metropolitensitze gestärkt.48 Hinsichtlich der theologischen Ausfüllung der nicaenischen Formel kam es bald in Antiochia zu Streitigkeiten, die zur Verbannung des Bischofs Eusta525

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thios, eines Kritikers des Eusebios von Nikomedia führten.49 Ähnlich erging es Bischof Marcellus von Ancyra (Ankara), der das Homoousios-Symbol strikt monarchianistisch interpretierte und von der göttlichen Identität zwischen Vater und Sohn ausging.50 Auf einer Synode, die wohl 336 in Con­ stantinopel tagte, wurde er verurteilt und abgesetzt.51 Als schließlich das vom Kaiser verordnete Bekenntnis von Nicaea keinen durchschlagenden Erfolg brachte, ließ Con­stantin die theologische Position seines Einigungsversuches weiter fassen, indem er vom geltenden Glaubenssatz etwas abrückte.52 Am Ende wurde sogar Arius rehabilitiert, wogegen der neue alexandrinische Bischof Athanasios vehement aufbegehrte. In der Folgezeit entwickelte sich eine sowohl persönliche als auch theologische ­Rivalität zwischen den politisch ambitionierten Bischöfen Athanasios, Alexanders Nachfolger in Alexandria, und Eusebios von Nikomedia.53 Ein kleiner Vorfall brachte die Lawine ins Rollen. In einer ägyptischen Gemeinde der Mareotis (Nilmündung) wirkte ein gewisser Ischyras, der nach Athanasios’ Meinung sein Amt zu Unrecht ausübte. Er schickte seinen Presbyter Makarios, um ihn abzusetzen. Dieser erledigte den Auftrag undiplomatisch und gewaltsam, indem er den Altar der aus seiner Sicht ketzerischen Kirche umstürzte und dabei den Abendmahlskelch und andere Kultgeräte zerbrach.54 Der Abgesandte des Athanasios hatte schlimmer als ein heidnischer Christenverfolger gewütet. Auch wenn er sich für diesen Frevelakt rechtfertigen konnte, lastete das Odium dieser Untat wie ein Fluch auf Athanasios, wie die Zukunft zeigen sollte. Die Beschlüsse der Synode von Nicaea, die Verurteilung der Lehren des Arius sowie seiner Anhänger und das umstrittene nicaenische symbolon, das Con­stantin auf Anraten des Hosius von Córdoba durchsetzte55, waren jeweils ein Akt kaiserlicher Autorität. Con­stantin stellte sich mit den bischöflichen Synodalen auf eine Stufe, indem er aktiv in die theologische Debatte eingriff, um einen Ausgleich zu erwirken.56 Er trat als Gestalter des Kultwesens auf, eine Stellung, die ihre traditionellen Wurzeln in der Einheit von Kult und Staat hatte. Religiöse Geschlossenheit sollte das Gemeinwesen stabilisieren. Con­stantin forderte als Gegenleistung für die der Kirche gewährten Vergünstigungen Einheit und Kirchenfrieden. Schien dies gefährdet, was ja unmittelbare Auswirkungen auf die Innenpolitik des Reiches hatte, sah er sich zum Einschreiten gezwungen. Unter die Fürsorge für einen Kult, eine Aufgabe, die dem Kaiser als pontifex maximus57 schon aus traditionell heidnischen Wurzeln oblag58, fiel nun nicht mehr nur der Schutz der heidnischen Religion, sondern in diesem Fall der christliche Glaube. Mit wachsender Ausbreitung, Institutionalisierung und Eingliederung der christlichen Kir526

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che in staatliche Strukturen mussten interne Konfliktpotenziale, gleich ob sie in theologischen Meinungsverschiedenheiten, im Konkurrenzdenken kirchenpolitischer Art, in disziplinarischen Streitfragen oder in einer Verquickung dieser Faktoren begründet lagen, zunehmend Relevanz für die staatliche Politik erhalten. Differenzen gab es zur Genüge, denn die christliche Lehre war kein monolithischer Block. Vielmehr gab es von Anfang an stets eine Vielzahl verschiedener, miteinander wetteifernder Glaubensrichtungen, die für den Laien59 nur in Nuancen voneinander abwichen, für Theologen jedoch – und hier sind insbesondere die des Ostens gemeint – zentrale Daseinsfragen darstellten, für die es sich zu streiten lohnte. Der theologische Aspekt wurde zudem vermischt mit Kompetenzstreitigkeiten, die sich im Zuge der Institutionalisierung der Kirche60 ergaben, wobei die Verbindung, die Kirche und Staat im con­stantinischen Zeitalter willig eingegangen waren, bald ihre widerstrebenden Kräfte offenbaren sollte. Kirchenprovinzen, insbesondere die großen Metropolitensitze Con­stantinopel, Antiochia, Alexandria und Rom, wetteiferten miteinander. Neue Konflikte entstanden immer wieder in den Grauzonen eines sich erst allmählich herausbildenden Kirchenrechts durch die Schaffung neuer Ämter und Organe sowie durch die Verfolgung materieller Interessen, konkret: durch den Kampf um Privilegien und Eitelkeiten. Feinsinnige Unterscheidungen, philosophische Spekulationen um die Trinitätsfrage, in überzeugenden oder einschüchternden Wortkaskaden vorgetragen, in zahlreichen Traktaten erörtert – kurzum theologische Streitfragen, bei denen es um Formeln, um Glaubensinhalte, aber eben auch um Bischofsstühle ging, wurden zunehmend konträr ausgetragen. Am Ende standen Ausgrenzungen, Animositäten, Gewaltakte und Tote. Schuld daran war die wechselseitige Verquickung großer Teile der Kirchengemeinden mit prominenten Kirchenmännern, deren theologische Positionen von sozialen Gruppen abhingen, die um den Verlust ihrer ökonomischen Basis bangten und daher bereit waren, ihre ­Parteinahme für einen bestimmten Kandidaten als identitätsstiftende Parolen nachzubeten und gegen jede ­Anfechtung durchzusetzen.61

Monophysiten – Dyophysiten Kaum hatte sich nach dem Konzil von Con­stantinopel (381) der Sturm des trinitarischen Streites gelegt, der über drei Generationen die Christenheit gespalten hatte, zog eine neue, mitunter heftigere christologische Kontroverse die namhaftesten Bischofssitze des Orients in Mitleidenschaft. Nun 527

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ging es nicht mehr um die Klärung des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn, sondern um die Präzisierung der Natur Jesu, was zunehmend als zentraler Bezugspunkt des christlichen Glaubens erachtet wurde. Auf eine Kurzformel gebracht lautete die entscheidende Frage: War Jesus menschlich und/ oder göttlich beziehungsweise beides zusammen? Welcher Anteil überwog? Wie kamen Göttliches und Menschliches zusammen? Für einen Teil der Kirche galt Jesus Christus als Gott, und sein Opfergang für die Erlösung der Menschheit ließ sich nur dann verständlich und wirksam erklären, wenn seine göttliche Natur ausschlaggebend gewesen war (Miaphysiten, Monophysiten). Andere dagegen erblickten in Jesus einen Menschen und Gott zugleich, von zwei Naturen beseelt, die sich wechselseitig durchdrangen, ohne sich jedoch zu vermischen (Dyophysiten). Implizit wurde damit die Rolle Marias auf den Prüfstand gestellt, deren Verehrung sich mittlerweile einen festen Platz im Alltag der christlichen Gemeinden erobert hatte. Zwar mag uns heute, wie schon bei manchen Debatten um das umstrittene nicaenische Bekenntnis, der Anlass der Divergenzen etwas akademisch vorkommen; aber für diejenigen, die sie führten, ging es um mehr als um bloße theologische Zuweisungen. Im Hintergrund tobte ein gewaltiges Ringen um die Deutungshoheit zentraler Glaubensfragen, um die Besetzung von Bischofssitzen, um die Ansprüche auf Geltung und Vorrang der Patriarchen von Rom, Con­stantinopel, Alexandria und Antiochia, aber auch um die Gewissheit, mit dem Einsatz für die richtige dogmatische Position das ewige Seelenheil zu erlangen und die eigene Macht auf Erden zu stärken. Als Ausgangspunkt des erbittert geführten Disputs um die Natur Jesu, von dem hauptsächlich die Ostkirche erfasst wurde, können unterschiedliche Spannungspotenziale festgemacht werden, die durch ihre gegenseitige Verquickung eine gewaltige Sprengkraft auslösen sollten. Ähnlich wie einst bei der Affäre Athanasios62 lieferte auch dieses Mal eine Beschwerde gegen die Amtsführung des rücksichtslosen, machtbewussten alexandrinischen Bischofs Kyrill, die in Con­stantinopel vorgebracht wurde, die Initialzündung für eine Konfrontation, die sich zu einem Flächenbrand ausweitete, weil die Untersuchung dieser Angelegenheit sich rasch zu einem Machtkampf um Personen und Lehrmeinungen ausweitete.63 Aber es gab weitere Konfliktpotenziale: Da wäre zunächst die alte Rivalität zwischen den theologischen Schulen von Antiochia, welche in Anlehnung an neuplatonische Ideen die Zwei-Naturen-Lehre vertrat, und Alexandria, welche die Eine-Natur-Lehre, die auf der strikten Göttlichkeit Jesu beruhte, favorisierte. Hinzu kam, dass die Wahl des zur antiochenischen Schule zählenden Nestorios auf den 528

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­ ischofsstuhl von Con­stantinopel (428), der nach Rom zum zweitwichtigsB ten Bischofssitz der Christenheit aufgestiegen war, die Empfindlichkeiten des ehrgeizigen alexandrinischen Patriarchen Kyrill verletzte, der es kaum ertrug, eine nachrangige Stellung im Ostepiskopat einzunehmen.64 Einen weiteren Grund für die Zwietracht bot die schroffe Haltung des Nestorios gegen die in der Volksfrömmigkeit tief verwurzelte Marienverehrung. Er wehrte sich gegen die verbreitete Anbetung Marias als „Gottesgebärerin“ und ließ gemäß der in Antiochia vertretenen Anschauungen sie bestenfalls als „Christusgebärerin“ gelten, was ihn in Widerspruch zu einem Großteil seiner hauptstädtischen Gemeinde brachte.65 Entscheidend für die Ausweitung des dogmatischen Streites wurde letztlich die Involvierung des con­stantinopolitanischen Kaiserhofes in diesem Konflikt. Bald fraß er sich bis in die kaiserliche Familie hinein. Während der schwache und lenkbare Kaiser Theodosius II. mehr an theologischer Literatur als an den Regierungsgeschäften interessiert war, begünstigte Pulcheria, seine asketisch lebende Schwester, die das Gelübde der Jungfräulichkeit abgelegt hatte, die dyophysitischen Bestrebungen. Hingegen neigte Theodosius’ Gattin Athenais, die nach ihrer Bekehrung zum Christentum Eudokia hieß, dem monophysitischen Bekenntnis zu.66 Die unverhohlene Rivalität zwischen den zwei mächtigsten Frauen des oströmischen Hofes, der statt einer Regierungszentrale immer mehr einem Kloster ähnelte,67 steigerte sich zu einem veritablen religionspolitischen Richtungsstreit, der einen ­Höhe­punkt erreichte, als Nestorios der Kaiserschwester Pulcheria, einer eifrigen Marienverehrerin, den Zugang zu dem nur dem Klerus reservierten Altarraum verweigerte. Verletzte Eitelkeiten, Rechthaberei und Machtstreben schufen eine explosive Gemengelage, die bald die Kirchenpolitik des gesamten Ostreiches erfassen sollte.68 Nachdem es nicht gelungen war, einen Ausgleich zwischen den heillos auseinanderstrebenden theologischen Positionen herbeizuführen, einigte man sich darauf, eine Synode in Ephesos einzuberufen (431), um das leidige Problem zu lösen. Der Einberufung der Synode war ein reger Briefwechsel zwischen Kyrill und Nestorios vorausgegangen, der aber keine Annäherung der konträren Positionen erreichen konnte.69 Der Verlauf der Kirchenversammlung, die nach Nicaea (325) und Con­ stantinopel (381) als 3. ökumenisches Konzil gilt, war von taktischen Manövern bestimmt, die das Ziel verfolgten, die gegnerische Partei auszuspielen.70 Hierin vermochte sich Kyrill von Alexandria die entscheidenden Vorteile zu sichern. So ließ er beispielsweise die Beratung beginnen, bevor die angereisten syrischen Bischöfe, mehrheitlich Nestorios’ Anhänger, am Versamm529

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lungsort angekommen waren, womit er unter der Nichteinbeziehung der Opponenten im Vorfeld die gewünschten Beschlüsse verabschieden lassen konnte. Der Protest des kaiserlichen Kommissärs und der unterlegenen Partei fruchteten nichts. Nestorios wurde verurteilt und abgesetzt, seine christologische Lehre galt von nun an als häretisch. Er zog sich in ein Kloster zurück. Kyrill hatte sich kirchenpolitisch auf der ganzen Linie durchgesetzt. Trotz Protesten und Tumulten gab Kaiser Theodosius II. den Forderungen Kyrills nach und erkannte die Ergebnisse des Konzils von Ephesos an, die auch vom römischen Stuhl, dem damals der theologisch blasse Coelestin vorstand71, mitgetragen wurden. Es war ein Sieg Alexandrias über die rivalisierenden Patriarchate von Con­stantinopel beziehungsweise Antiochia, und Rom spielte, wie zu Athanasios’ Zeiten, bereitwillig mit. Mit welch harten Bandagen um die Gunst des Hofes von Con­stantinopel gekämpft wurde, um die Anerkennung der Beschlüsse von Ephesos zu erreichen, belegt das Vorgehen des theologisch äußerst bewanderten, aber skrupellosen Bischofs Kyrill von Alexandria. Dieser versuchte mithilfe einer legendär gewordenen Bestechungsaktion die Gewichte zu seinen Gunsten zu verschieben und hatte damit Erfolg, indem er die spektakulärste Korruptionsaffäre der Spät­antike anzettelte. Intrigen, Drohungen, Stimmenkauf, Gewaltanwendung und rücksichtslose Ausnutzung der eigenen Vorteile gehörten damals zum festen Bestandteil jeder erfolgreichen Konzilsarbeit.72 Ähnlich wie es nach Nicaea geschehen war, gab sich die unterlegene Partei allerdings nicht geschlagen, und ihre Hartnäckigkeit wird zwei Jahrzehnte später zu einer Revision der Konzilsbeschlüsse von Ephesos und damit zur Verurteilung der alexandrinischen Theologie führen. Im Bewusstsein, die Meinungsführerschaft in der Ostkirche definitiv erlangt zu haben, for­ mulierte Eutyches, ein Sprachrohr des alexandrinischen Bischofs am Hof von Con­stantinopel, seine pointierte monophysitische Position. Demnach wäre im Augenblick der Menschwerdung aus den zwei Naturen Christi eine ­göttliche Natur hervorgegangen, die keineswegs als wesens­gleich mit der menschlichen Natur gleichzusetzen sei. Dagegen wehrte sich der Ortsbischof Flavianos, der auf einer in Con­stantinopel einberufenen Synode diese Lehre verurteilen ließ (448).73 Der Archimandrit Eutyches war der Taufpate des allmächtigen Chrysaphios, einem Günstling des beeinflussbaren Kaisers Theodosius II., was ihm einen beträchtlichen politischen Gestaltungsspielraum bei den Entscheidungsträgern am Hof sicherte. Daher versuchte er seiner Lehre allgemeine Verbindlichkeit zu verschaffen und erreichte, dass der Kaiser seinen mächtigsten Verbündeten, den alexandrinischen Bischof Dioskoros, Kyrills Nach530

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folger, mit der Leitung einer Synode in Ephesos beauftragte, die im Sommer des Jahres 449 ihre Arbeit aufnehmen sollte. Die als „Räubersynode“ von Ephesos in die Annalen der Kirchengeschichte eingegangene Kirchenversammlung zog eine von dogmatischen Divergenzen gespickte Neuauflage der Machtprobe zwischen Con­stantinopel und Alexandria nach sich.74 Zu Beginn der Versammlung versuchte Hilarius, der Legat des römischen Bischofs Leo, einen an die Versammlung gerichteten Brief zu verlesen, was Dioskoros als Tagungsleiter jedoch verhinderte.75 Dieser setzte dann mit kaiserlicher Unterstützung die Rehabilitierung des ein Jahr zuvor in Con­stantinopel verurteilten Eutyches durch. Anschließend erreichte er, dass jeder anathematisiert wurde, der am Bekenntnis von Nicaea etwas verändere; wohl in der ­Absicht, den Bischof Flavianos von Con­stantinopel abzusetzen, der gemäß dem von Dioskoros erhobenen Vorwurf sich nicht mehr auf dem Boden von N ­ icaea befinde. Nachdem der päpstliche Legat und Flavianos die Zuständigkeit des Dioskoros energisch bestritten hatten, kam es zu einem Tumult, in dessen Verlauf der Leiter der Versammlung die Tore der Tagungsstätte öffnen ließ und eine Menschenmenge die Gegner des alexandrinischen Bischofs mit physischer Gewalt bedrängte. Es dauerte nicht lange, bis die Mehrheit der anwesenden Bischöfe – viele allerdings aufgrund ihrer eigenen Überzeugung – den Vorstellungen des Dioskoros zustimmte.76 Doch die bedeutendsten Pa­ triarchensitze des Reiches, Rom, Con­stantinopel und Antiochia, opponierten heftig gegen die Beschlüsse dieser zweiten Synode von Ephesos. Ferner wurden namhafte Bischöfe wie Ibas von Edessa, Domnos von Antiochia oder Theodoret von Kyros abgesetzt und verbannt. Ebenso erging es Favianos von Con­stantinopel, der kurze Zeit später verstarb. Dioskoros wähnte sich im Herbst des Jahres 449 wie sein Vorgänger ­Kyrill, der im Jahre 431 ebenfalls in Ephesos den Sturz des Nestorios herbeigeführt hatte, am Ziel seiner Wünsche, zumal Kaiser Theodosius II. ihm die nötige Rückendeckung gewährte. Der alexandrinische Bischofsstuhl hatte nun kirchenpolitisch die Meinungsführerschaft in der Ostkirche verfestigt und theologisch dem Monophysitismus zum Durchbruch verholfen. Seine Gegner waren geschlagen und zum Schweigen verurteilt. So schien es jedenfalls.77 Die Lage änderte sich jedoch schlagartig, als Theodosius  II. vom Pferde stürzte, daraufhin unerwartet starb (28. Juli 450) und ihm Marcian folgte. Pulcheria, die Schwester des verstorbenen Kaisers und eine eifrige Anhängerin der dyophysitischen Lehre, ehelichte den neuen Kaiser unter Wahrung ihres Keuschheitsgelübdes. Es tat sich eine neue kirchen­politische Konstellation auf, bei der die Gegner des Dioskoros bald die Oberhand gewinnen sollten.78 531

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Auf Einladung des Kaisers Marcian kam im Oktober des Jahres 451 in der Basilika der Heiligen Euphemia zu Chalkedon, einem Vorort Con­ stan­ tinopels, die bislang größte Kirchenversammlung der Christenheit zusammen, an der etwa 450 Bischöfe teilnahmen.79 Ihr Auftrag war die definitive Klärung des Problems der Vereinigung von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi – ein Streitfall, der seit zwanzig Jahren unaufhörliche Diskussionen hervorgerufen hatte und nun den Zusammenhalt der Ost­kirche zu sprengen drohte.80 Den Verlauf der Beratungen von Chalkedon überwachten 19 kaiserliche Kommissäre, die den con­stantinopolitanischen Hof auf dem Laufenden hielten und in der Mitte des Saales zwischen den zerstrittenen Gruppen augenfällig postiert waren. Anwesend waren alle maßgeblichen Bischofssitze des Ostens sowie eine Vertretung der Westkirche, an deren Spitze die Legaten des römischen Bischofs standen. Bereits in der ersten Sitzung wurden die Beschlüsse des Konzils von Ephesos vom Jahre 449 revidiert und in wesentlichen Teilen verworfen. Nach heftigen Debatten, welche die inzwischen geänderten Machtverhältnisse widerspiegelten, wurde der alexandrinische Bischof Dioskoros verurteilt, der einige Tage später aufgrund eines kirchlichen Amtsenthebungsverfahrens seinen Bischofsstuhl verlor. Die Kooperation zwischen den Bischöfen von Rom und Con­stantinopel, verstärkt durch die Unterstützung des Kaiserhauses, brachte die Mehrheit der Versammlung hinter sich.81 Das dogmatische Ergebnis von Chalkedon verständigte sich auf eine dyophysitische Formel, wonach von einem Christus in (nicht nur aus) zwei Naturen oder einer Person, die in zwei unzertrennbaren, aber unvermischten Naturen auszugehen sei. Die entscheidenden Passagen des in Chalkedon beschlossenen Textes lauten folgendermaßen: Wir folgen also den heiligen Vätern und lehren alle übereinstimmend: Unser Herr Jesus Christus ist als ein und derselbe Sohn zu bekennen, vollkommen derselbe in der Gottheit, vollkommen derselbe in der Menschheit, wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch derselbe, aus Vernunftseele und Leib, wesensgleich dem Vater der Gottheit nach, wesensgleich uns derselben der Menschheit nach, in allem uns gleich außer der Sünde, vor Weltzeiten aus dem Vater geboren der Gottheit nach, in den letzten Tagen derselbe für uns und um unseres Heiles willen [geboren] aus Maria, der jungfräulichen Gottesgebärerin, der Menschheit nach, ein und derselbe Christus, Sohn, Herr, Einziggeborener in zwei Naturen unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt zu erkennen, in keiner Weise unter Aufhebung des Unterschieds der Naturen aufgrund der Einigung, sondern vielmehr unter Wahrung der Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen und im Zusammenkommen zu einer Person und einer Hypostase, nicht durch Teilung oder Trennung in zwei Personen, sondern ein und 532

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derselbe einziggeborene Sohn, Gott, Logos, Herr, Jesus Christus, wie die Propheten von Anfang an lehrten und er selbst, Jesus Christus, uns gelehrt hat, und wie es uns im Symbol der Väter überliefert ist.82 Mit der Verabschiedung des diophysitischen Glaubenbekenntnisses erteilte man sowohl dem Nestorianismus als auch der zu einer Verleugnung der menschlichen Natur Jesu neigenden monophysitischen Doktrin eine eindeutige Absage. Die Vorstellung der ungetrennten und unzerteilten Naturen Christi war gegen die Nestorianer und das Konzept von den unvermischten, ungewandelten Naturen Christi gegen die Monophysiten gerichtet. Die Beschlüsse von Chalkedon sollten für die weitere Entwicklung der Ost- und der Westkirche eine ausschlaggebende Bedeutung erhalten insofern, als sie die Basis für die dogmatische Arbeit künftiger Generationen von Theologen bildeten. Vom politischen Standpunkt des Ostreiches aus betrachtet aber bewirkte die verabschiedete Formel eine Vertiefung der Gegensätze zwischen den nach wie vor monophysitisch gesinnten Bistümern, welche die Beschlüsse von Chalkedon nicht anerkannten, und den sich zur dyophysitischen Orthodoxie bekennenden Landesteilen.83 Das Ergebnis der christologischen Meinungsverschiedenheiten um die Natur und Person Jesu einte einerseits Teile des östlichen Episkopats mit der Westkirche, erzeugte aber andererseits eine tiefgreifende Spaltung der orientalischen Christenheit, deren politische Folgewirkungen den Zusammenhalt der unterschiedlich positionierten Regionen stark beeinträchtigten. Während die Peripherie des oströmischen Reiches (Ägypten, Syrien, Armenien) trotz der Beschlüsse von Chalkedon überwiegend monophysitisch gesinnt blieb, hielt dessen Machtzen­trum (Con­stantinopel, Kleinasien und die europäischen Landesteile) an der nun offiziell gültigen dyophysitischen Doktrin fest wie die übrigen Territorien des Westreiches.84 Das traditionelle Bündnis zwischen den Bischöfen von Alexandria und Rom, das seit Athanasios’ und Julius’ Zeiten festgefügt gewesen war, zerbrach nun im Gefolge der christologischen Kontroverse und der Beschlüsse von Chalkedon. Allerdings dauerte es nicht lange, bis die Bischöfe von Rom und Con­stantinopel, die auf der S­ ynode von Chalkedon noch eng zusammengearbeitet hatten, wegen Rang- und Prestigefragen aneinandergeraten sollten und damit den Keim für eine weitere Kirchenspaltung säten, die bis heute nicht überwunden ist.85

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ersuchen wir, uns in die Vorstellungswelt eines aus dem Osten des ­römischen Reiches stammenden Menschen des späten 4. Jahrhunderts zu versetzen, der etwa zwölf Jahrhunderte nach seiner eigenen Lebenszeit die Länder des westlichen Mittelmeeres bereist. Angenommen, er käme in unserem Gedankenexperiment über die antike Brücke, die sich über den Guadalquivir spannt, nach Córdoba und schlüge den Weg über die Orangenhaine des weitläufigen Vorhofes in die Umaiyaden-Moschee ein: Gewiss würde er beim Betreten dieses, nach der Reconquista erneut zur christlichen Kathedrale verwandelten Bauwerkes in großes Erstaunen geraten. Die Linienführung der Anlage sowie die Bauweise würden ihm vielleicht bekannt vorkommen. Spätestens aber beim Durchschreiten der alles beherrschenden Säulenfluchten könnte sich seine anfängliche Neugier in Verwirrung verwandeln. Da er das Aufkommen des Islam noch nicht erlebt hätte und daher unmöglich den Charakter der Anlage erraten könnte, würde er annehmen, sich in einer für provinzialrömische Verhältnisse überdimensionierten Basilika zu befinden. Das Fehlen aller dazugehörigen Ausstattungsstücke würde ihn ebenso verwundern wie der Mangel an Inschriften, die den Stifter des Baues verherrlichen. Die Betrachtung der einzelnen Stilelemente dürfte in ihm wiederum eine Menge von Assoziationen wachrufen. So lässt sich denken, dass er die zum Grundbestand des alten heidnischen Heiligtums gehörenden korinthischen Kapitelle graziler finden könnte als etwa die aus der christlichen Kapelle des 7. Jahrhunderts stammenden, westgotischen Voluten. Die Weite des Blickes, die Raumproportionen, die Säulenkolonaden, die raffinierten Licht-Schatten-Effekte, überhaupt die Gravität und weitläufige Majestät des Gebäudes würden in ihm den Verdacht nähren, sich in einem Palast an einem sakralen Ort zu befinden. Das an sichtbarer Stelle angebrachte Kreuz könnte er allerdings als christliches Symbol identifizieren und damit das Anwesen als Kirche oder gar als Residenz eines christlichen Herrschers einordnen. Bereits Augustus hatte sein Haus auf dem Palatin in baulichem Zusammenhang mit dem von ihm gestifteten Apolloheiligtum errichten lassen. Die Verschmelzung von 534

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4  Einbettung des Monotheismus in eine polytheistische Welt

Palast und Tempel bestand schon zu Beginn des römischen Kaisertums, und daran sollte sich in der Folgezeit wenig ändern. Kehren wir zu unserem Wanderer zurück: Er würde sich jetzt auf vertrautem Boden wähnen. Keinen Augenblick lang hätte er geglaubt, das Heiligtum irgendeiner der vielen Gottheiten des heidnischen Kultes zu betreten, und das nicht nur, weil die dazugehörigen Darstellungen fehlten. Die Monumentalität, die Atmosphäre der Ausschließlichkeit, die den gesamten Komplex umgibt, hätten ihm ohnehin das Gefühl vermittelt, diese Stelle sei einer unteilbaren Gottheit gewidmet, wie sie der Gott der Christen verkörperte, der als Eingott keine anderen Gottheiten neben sich duldete. Dass das Haus tatsächlich Allah zugeeignet war, wie die Muslime nach dem Sprachgebrauch ihres Propheten Gott anriefen, sei hier nur am Rande vermerkt. Man kann sich kaum einen Ort vorstellen, der zugleich so eindeutig und widersprüchlich ist wie die Moschee von Córdoba. Gerade in dieser Dualität drückt sich eines der wesentlichen Phänomene des spät­antiken Lebensgefühls aus. Plakativ könnte man vom Sieg des Widerspruchs in einer Welt der Eindeutigkeit sprechen. Einiges davon vermittelt das imposante Gotteshaus von Córdoba noch heute. Es verkündet den Absolutheitsanspruch beider am Bau beziehungsweise Umbau beteiligten monotheistischen Religionen. Dessen Ausdruckskraft hat darunter nicht gelitten. Rückwandlungen bleiben denkbar bis auf eine Ausnahme, und die ist für unsere Fragestellung entscheidend: Eine Rückkehr zu den Wurzeln, das heißt zum ursprünglichen Bestimmungszweck des Ortes, der, als heidnische Kultstätte gedacht, noch heute das Fundament der Moschee-Kathedrale abgibt, scheint außerhalb unserer Vorstellungswelt gerückt zu sein. Bei diesem Punkt sind unserer Phantasie Grenzen gesetzt. Damit bewegen wir uns auf einer historischen Spur, die bis zur Regierungszeit des con­stantinischen Hauses zurückreicht. Indem wir sie beschreiten, setzen wir uns mit dem Phänomen auseinander, warum und wie der christliche Monotheismus eine jahrtausendealte religions- und kulturgeschichtliche Tradition zerbrach. Der Versuch, das Erstaunen unseres Reisenden aus der Spät­antike nachzuvollziehen, führt uns auf die Suche nach Antworten auf diese Frage. In der Regierungszeit der Herrscher der con­stantinischen Dynastie setzte nicht nur in raschen Schritten der Wandel vom Polytheismus zum Monotheismus ein, sondern auch von der verordneten Einheitsreligion zur Reichskirche. Ursprünglich galt ein vom Kaiser propagierter Kult als einheitsstiftende Klammer für den Zusammenhalt des Reiches, wie etwa die von Diocletian aufgebotene Jovius-Herculius-Theologie. Mit dem Aufkommen des Christentums ging es bald darum, die unterschiedlichen dogmatischen 535

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Ausprägungen innerhalb der Kirche unter einem gemeinsamen Bekenntnis zu vereinigen. Con­ stantins Nachfolger bekamen die Geburtswehen der Glaubenseinigung deutlich zu spüren. Sie strebten die Bildung einer Einheitskirche an, in der alle widerstrebenden Tendenzen unter dem Dach einer reichsweit verbindlichen Kultgemeinschaft aufgehen konnten. Daher wurde innerhalb von zwei Generationen die römische Welt von einem Verchristlichungsprozess erfasst und so grundlegend umgestaltet, dass nicht wenige Zeitgenossen ähnlich unserem fiktiven Reisenden in einen Taumel gerieten und den eingetretenen Wandel mit Verblüffung wahrnahmen. Dass Con­stantin seine Kinder christlich erziehen ließ, ist für die religionspolitische Gestaltung des römischen Reiches schicksalhaft geworden. Zwar lieferte seine Hinwendung zu Christus den Nährboden der künftigen Entwicklung, doch erst die christlichen Neigungen seiner Nachfolger sollten diesen Prozess unumkehrbar machen. An dieser Stelle können wir an den fiktiven Reisenden über Zeit und Raum erneut anknüpfen. Denn der Antagonismus zwischen den letzten Kaisern des con­stantinischen Hauses, Con­ stantius  II. und Julian, war auch eine Frontstellung in Sachen Religions­ politik. Ein letztes Mal formierte sich das seit Con­stantins Zeiten kritisch beäugte, nun unter Julians Ägide von der Staatsmacht wieder protegierte Heidentum, indem es die christianisierte spätrömische Gesellschaft herausforderte. Doch obwohl Kaiser Julian nach dem Tod des Constantius II. die Restauration der heidnischen Kulte energisch vorantrieb, blieb die Sogkraft der Kirche ungebrochen. Die auf Initiative des Constantius  II. eingeleitete christliche Erneuerung des römischen Reiches erwies sich als äußerst resistent. Dadurch ist seine Regierungszeit epochemachend geworden. In dieser Hinsicht lässt sich das eindrucksvolle monotheistische Monument von Córdoba als ein beredtes Zeugnis dieser Geisteshaltung begreifen. Die christlichen Kaiser des 4.  Jahrhunderts griffen in sämtliche Bereiche des Kultlebens regulierend ein, indem sie ihre persönlichen Präferenzen zum Ausdruck brachten und diese mittels einer Flut von Vorschriften zu erzwingen versuchten.86 Sie wollten den unübersichtlichen Kultbetrieb stabilisieren, was angesichts der dogmatischen Vielfalt sowie des Widerstandes der vielen Dissidenten eine Sisyphusarbeit darstellte. Im Vordergrund standen die Homogenisierung der diversen Glaubensbekenntnisse sowie die Lösung der Personalprobleme. Den richtigen Kandidaten auf den passenden Bischofsstuhl zu setzen, hatte absoluten Vorrang. Ähnlich handelte Julian, als er den heidnischen Kult nach den Maßstäben der christlichen Kirche reformierte. Betrachtet man die religiöse Verortung der con­stantinischen Dynastie in ihrer Gesamtheit, so fällt auf, dass am Anfang und am Ende dieser ge536

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schichtsträchtigen Ära, die allgemein als Synonym für die Festsetzung des Christentums gilt, eine dezidierte Parteinahme für das Heidentum steht.87 Der Tetrarch Constantius I. hat in seinem Reichsteil die von Diocletian begonnene Verfolgung der Christen mitgetragen, und Julian, der letzte Vertreter des Herrscherhauses, hat nach Kräften versucht, durch Hintansetzung des Christentums die in Bedrängnis geratenen heidnischen Kulte neu zu beleben. Doch so sehr die miteinander konvergierenden Pole dieser Epoche im auffälligen Kontrast zu ihrem inneren Kern stehen, für die vorherrschende religionspolitische Atmosphäre der con­stantinischen Zeit sind sie einerseits symptomatisch, andererseits belegen sie einen Ausnahmezustand, der für diese religiös äußerst aufgewühlte Zeit keineswegs ungewöhnlich war. Die Nachfolger Con­stantins, Con­stantin II., Constantius II. und Con­ stans, haben sich durch ihre Distanzierung von den heidnischen Ritualen zur christlichen Lehre bekannt und damit ihre Integration in eine polytheistisch geprägte Landschaft ermöglicht. Darüber hinaus haben sie eine Einigung des Reiches auf christlicher Grundlage erstrebt. Insbesondere die lange Regierungszeit von Constantius II., in der sich die Entwicklung zum Staatskirchentum anbahnte, gibt davon reichlich Zeugnis.88 Jedoch erbrachten die divergierenden kultischen Parteinahmen innerhalb derselben Dynastie ein erstaunlich weites Meinungsspektrum in Glaubensfragen. Jedes Mitglied des con­ stantinischen Hauses verkörperte ein anderes religiöses Bekenntnis. Während der Dynastiegründer Constantius I. ein Anhänger des traditionellen Heidentums war, vertrat sein ebenfalls heidnischer Enkel Julian eine philosophisch-theurgische Haltung, die sich deutlich von dem Soldatenglauben seines Großvaters unterschied. Pendelte Con­stantin zwischen nicaenischer Orthodoxie und Arianismus hin und her, so galten seine Söhne Con­stantin  II. und Constans als nicaenisch, während Constantius  II. eine mittlere arianische Position einnahm, die im Kontrast zur radikal arianischen Richtung seines Mitregenten und Vetters Gallus stand. Kann angesichts dieses breiten Spektrums religiöser Optionen von einem, die Dynastie als Ganzes widerspiegelnden kultischen Konzept überhaupt die Rede sein? Die Frage lässt sich nur mit Blick auf den Aufstieg des con­stantinischen Hauses in der diocletianischen Ära beantworten, die von einer ungewöhnlichen religiösen Dynamik erfüllt war. Damals erlebten Kultangelegenheiten eine Zuspitzung, die zur Präzisierung des eigenen Standorts zwang und damit scharfen Kontrastierungen Vorschub leistete.89 Anders ausgedrückt: Seit Beginn des 4. Jahrhunderts wurde das persönliche religiöse Bekenntnis der Machteliten nicht nur zu einem Differenzierungsmerkmal, sondern vor allem zu einer politischen Überlebensfrage mit Folgen für die Zukunft. Die 537

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Profilierungsmöglichkeiten der römischen Imperatoren waren angesichts vielfacher Sachzwänge (Rücksichtnahme auf die Forderungen des Senates, des Heeres, der Provinzen, der stadtrömischen Bevölkerung oder der benachbarten Völker) begrenzt. Hinzu kam die überaus hohe Erwartungshaltung an die Arbeitskapazität des Staatsoberhauptes, das als Schlichter, Verwalter, Richter, Heerführer, Priester oder Repräsentant des Reiches auftreten und dabei stets das Richtige tun musste, weil Misserfolge seine Herrschaft gefährden konnten. Wollte ein Herrscher unverwechselbare Akzente setzen, die seiner Regierung Glanz und Eigenständigkeit verliehen, so ließ sich dafür das weite Feld der polytheistischen Kultoptionen problemlos aktivieren. Hier war das Reservoir an Gestaltungsmöglichkeiten beträchtlich. Anpassung und Unterscheidung sind die Leitbegriffe, unter denen sich die einschlägigen Maßnahmen subsumieren lassen. Thronanwärter konnten durch Anknüpfung an ihre erfolgreichen Vorgänger den jeweiligen Herrschafts­ anspruch legitimieren (Trajan-Hadrian) oder sich als Glied einer neu zu begründenden Tradition darstellen, wie dies etwa Alexander Severus durch eine Abkehr von der Kultpolitik seines gescheiterten Vorgängers Elagabal tat90 oder Gallienus durch seine Distanzierung von der Christenpolitik seines gescheiterten Vaters Valerian. Der Zwang zur Angleichung oder Unterscheidung von den Maßnahmen der Konkurrenten bestimmte mehr als die eigene Überzeugung die Regeln der religionspolitischen Orientierung. So hatte Vespasian beispielsweise aufgrund seiner Ägyptenverbindungen dem von Tiberius geächteten Isiskult zu neuem Glanz verholfen, ihn sogar als Baustein seiner Herrschaftsideologie aufgeboten.91 Ähnlich sollte Magnentius handeln, als er die von Constans und Constantius II. untersagten nächtlichen Opfer wieder erlaubte, oder als der Christ Eugenius als Beschützer der heidnischen Kulte auftrat, um den Unterschied zu Theodosius’ scharfer Gangart gegen das Heidentum zu unterstreichen. In der Instrumentalisierung der göttlichen Leitbilder als Sprachrohr ihres Herrschaftsanspruches hatten die Kaiser weitgehend freie Hand. Als Ergebnis dieser Auswahl kristallisierten sich identitätsbildende Merkmale heraus, die das eigenständige Profil der Betroffenen konturierten.92 Parallel dazu verdeutlichen Alltagsempfindungen  – ablesbar etwa an der Ikonographie der Sarkophage, wo im Gegensatz zu der Betonung des Ornaments in den vorangegangenen Epochen nun die Hervorhebung des Individuums in seinem Bezug zur transzendenten Welt dominierte –, dass solche Haltungen in allen Gesellschaftsschichten an Akzeptanz gewannen.93 Diese, einen allgemeinen Trend anzeigenden Entwicklungen wurden durch die Handlungsweise der Regierenden massiv verstärkt. 538

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Die Gestaltungsmöglichkeiten der kaiserlichen Kultpolitik knüpften ab der Mitte des 3. Jahrhunderts an jene henotheistischen beziehungsweise monotheistischen Strömungen an, welche sich allmählich die Gunst der Führungsschichten erwarben und bald unaufhaltsam reüssierten. In ihnen offenbarte sich eine gewandelte religiöse Gefühlslage insofern, als die Imperatoren begannen, bestimmte Kulte vehement zu propagieren und den anderen vorzuziehen. Aurelians Inanspruchnahme von Sol Invictus als vor den übrigen Gottheiten herausgehobenem Symbol und Garanten seiner Regierung oder die Bildung einer tetrarchischen Herrscherfamilie aus Joviern und Herculiern, deren Machtanspruch keine Infragestellung duldete, markieren den Ausgangspunkt der religiösen Suche der con­stantinischen Dynastie. Aurelian und Diocletian spielten für die Entwicklung und Ausformung von Con­ stantins religionspolitischem Bewusstsein eine ausschlaggebende Rolle. Gemeint sind freilich nicht die jeweiligen individuellen Überzeugungen, sondern die Art der Durchsetzung ihrer Kultprogramme, nämlich, wie sie den eigenen Machtanspruch unter das Zeichen einer dem jeweiligen Herrscher nahestehenden Gottheit stellten, mit dem Ziel, durch die Einführung eines für die Mehrheit der Bevölkerung verbindlichen Kultes den bedrohten inneren Zusammenhalt des Imperiums zu bewahren.94 Dies schien im Jahre 361 in erreichbarer Nähe zu sein, als Julian, nach dem unerwarteten Tod des Constantius  II., die Gesamtherrschaft zufiel, ohne einen verheerenden Bürgerkrieg führen zu müssen. Diese schicksalhafte Fügung, von Julian als Bestätigung seiner Hinwendung zu den alten Göttern gedeutet, zeigte Wirkung auf die Religionspolitik; denn unmittelbar darauf erlebte die seit Con­stantin fortlaufend ansteigende Bevorzugung der Kirche eine Zäsur.95 Mit der Aufhebung der von Constans und Constantius II. verfügten Sanktionen gegen die traditionellen Kulte bekannte sich der vom Christentum abgefallene Kaiser zu einer heidnischen Erneuerung des Reiches.96 Dass die öffentliche Meinung auf das religiöse Revirement Julians zurückhaltender reagierte, als der Kaiser erhofft haben mag, darf nicht verwundern97, hatten doch zwei Generationen der staatlichen Förderung des Christentums unübersehbare Spuren hinterlassen. Selbst wohlwollend eingestellte, heidnische Zeitgenossen, wie Ammian, dessen spärliche Äußerungen zur kaiserlichen Restaurationspolitik mehr Kritik als ungeteilte Zustimmung erkennen lassen, vermochte Julian nicht übermäßig zu begeistern.98 Aus der Retrospektive erscheint das großangelegte Programm zur heidnischen Umgestaltung des Staates ein Antagonismus. Der philosophisch geschulte, tief in der heidnisch geprägten Bildungstradition wurzelnde Julian konnte mit sei539

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nem polytheistischen Traditionalismus offenbar nur die dafür empfänglichen Intellektuellen ansprechen, ohne den inneren Nerv der römischen Mehrheitsgesellschaft zu treffen.99 Die mittlerweile erreichte Konsolidierung des Christentums  – das zur mächtigsten Religionsgemeinschaft des Reiches angewachsen war, aber wohl nur deswegen, weil das mehrheitsfähige Heidentum in zahllose separate Kultgemeinschaften zerfiel – mag eine ausschlaggebende Rolle bei der zu beobachtenden Skepsis gegenüber der Restaurationspolitik gespielt haben.100 Wenn jedoch die julianischen Bemühungen zur heidnischen Erneuerung von Staat und Gesellschaft lediglich als Episode erscheinen, so nicht zuletzt wegen der Kürze seiner Regierungszeit, die im Gegensatz zur Amtszeit seines kaiserlichen Oheims und seiner Vettern keine dauerhaften religions­ politischen Ergebnisse erzielen konnte. Hinzu kam, dass die Niederlage, die Julian im Krieg gegen Persien erlitt, wenig angetan war, das Vertrauen in die göttlichen Garanten seiner gescheiterten Unternehmung der Staatserneuerung zu befördern. Den Zeitgenossen waren diese Zusammenhänge durchaus bewusst. Sie handelten entsprechend bei der Wahl des Nachfolgers. Dass nach dem militanten Heiden Julian der Christ Jovian – der gewiss kein religiöser Eiferer war – zum Kaiser proklamiert wurde, lässt sich als zeitgemäße Antwort auf die zögerliche Annahme der julianischen Restauration, vor allem im Osten des Reiches deuten. Jovians erste religionspolitische Maßnahmen offenbarten ein hohes Maß an Verständnis gegenüber den von Julian eifrig protegierten heidnischen Kulten. Dass ein solches Vorgehen von einem Christen auf dem Kaiserthron verantwortet wurde, mag ein Indiz dafür sein, dass religiöse Koexistenz als Gebot der Stunde erachtet wurde.101 Es verdeutlicht aber auch, dass mit der Erhebung des Christen Jovian zwar ein Schlussstrich unter die irritierenden Maßnahmen seines Vorgängers gezogen werden sollte, jedoch kein radikaler Bruch mit der heidnischen Tradition angestrebt war. Und obwohl Jovian nach wenigen Monaten starb, fanden seine Nachfolger, die ebenfalls christlichen Brüder Valentinian (364–375) und Valens (364–378), bald Anschluss an den unaufgeregten Kurs des Vorgängers. Dass aber von nun an lediglich Christen den römischen Kaiserthron besteigen werden, hat eine Wiederauflage des Heidentums nach dem Beispiel Julians definitiv irreversibel gemacht. Die Regierungszeit der theodosianischen ­Dynastie bietet das beste Beispiel dafür.

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5 Klerikale Machtkämpfe Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. (Matthäus 7, 1)

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us den zahlreichen Beispielen, die sich anführen ließen, um die Thematik der Kapitelüberschrift zu illustrieren, soll nun ein Streiflicht auf die Causa des streitbaren alexandrinischen Bischofs Athanasios geworfen werden, um daran die Intensität und Breitenwirkung eines paradigmatischen klerikalen Machtkampfes zu beleuchten, der jahrzehntelang die kirchenpolitische Öffentlichkeit des Reiches in Atem hielt. Wir beginnen unsere Beobachtungen mit der Synode von Tyros (335), in deren Verlauf die Amtsenthebung des alexandrinischen Patriarchen Athanasios durch eine Mehrheit von phönikischen und syrischen Bischöfen beschlossen wurde. Die von Sozomenos überlieferten Anklagepunkte betonen die Irregularität seiner Wahl sowie sein gewaltsames Vorgehen gegen die militianischen Christen des Nillandes.102 Obwohl Athanasios mit einer Riege treu ergebener ägyptischer Bischöfe in Tyros erschien, waren seine Gegner (die ägyptischen Militianer und der Anhang des Eusebios von Nikomedia) in der Mehrzahl. Sie setzten eine Untersuchungskommission ein, von der kein günstiges Votum für den Beklagten zu erwarten war, der sich, noch bevor das Urteil verkündet wurde, aus Tyros entfernte. Die dort erschienenen Bischöfe nahmen Athanasios Amtsführung ins Visier und sprachen sich wegen der erhobenen Vorwürfe der Amtsanmaßung und Überschreitung seiner episkopalen Befugnisse für die Absetzung des beschuldigten Geistlichen aus.103 Bei der Erörterung dieser Themen spielte die theologische Position des Angeklagten eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund standen die Modalitäten der Ausübung des Bischofsamtes. Gewiss ließen sich beide Ebenen, die theologische und die disziplinarische, kaum voneinander trennen. Allerdings war die von Athanasios vertretene Glaubenslehre innerhalb der ägyptischen Kirche durchaus konsensfähig. Daher versuchten seine Gegner dessen politische Unzuverlässigkeit zu erweisen, indem sie behaupteten, der alexandrinische Bischof beabsichtige, die Getreideversorgung Con­stantinopels zu unterbinden  – ein Vorwurf, der beim Kaiser die ge541

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wünschte Wirkung erzielte. Con­stantin dachte nicht daran, einen unsicheren Kantonisten auf einem strategisch wichtigen Bischofssitz gewähren zu lassen, weswegen er die Entfernung Athanasios’ aus Alexandria befahl. Eine entschlossene Bischofspartei hatte mithilfe einer Synode einen missliebigen Amtsbruder per Mehrheitsbeschluss in die Schranken gewiesen und damit neue Realitäten geschaffen. Denn obwohl im Mittelpunkt der Debatte die Persönlichkeit des Athanasios gestanden hatte, wurde mit seiner Demissionierung gleichfalls seine theologische Position verurteilt. Athanasios galt als Verfechter der nicaenischen Lehre, jener Strömung innerhalb der Kirche, die eine Einigung der zerstrittenen Christenheit auf der Grundlage einer dogmatisch nicht unproblematischen Interpretation der Trinitätslehre anstrebte, unter Anathematisierung der sogenannten Arianer. Entscheidend für die Akzeptanz und Rezeption der Lehre von Nicaea war der relativ große Spielraum, mit dem sich die auf Geheiß des Kaisers Con­stantin verabschiedete Glaubensformel (homoousios) inhaltlich füllen ließ. Sie war mehr als diffus. Deren gegenseitige Anerkennung oder Ablehnung hing auch von Erwägungen ab, die außerhalb einer bestimmten dogmatischen Position lagen, wie etwa die Persönlichkeit der Betroffenen, ihre Verankerung innerhalb des Episkopats oder die Gunst des Kaiserhauses. Nicht selten gaben derartige, jenseits der theologischen Reflexion liegende Faktoren den Ausschlag. Bei der Synode von Tyros spielten diese Gegebenheiten eine entscheidende Rolle. Der im Ostepiskopat überragende Einfluss des Eusebios von Nikomedien, der bald zum Bischof von Con­stantinopel avancierte (338/9) und der das Wohlwollen des Kaiserhauses genoss, setzte die Verurteilung des Athanasios durch. Jedoch waren politische Kategorien, wie die Unterstützung durch eine mächtige Bischofsgruppe oder gar die Protektion des Kaiserhauses, starken Schwankungen unterworfen. Plötzlich auftretende Wechselfälle, wie die im Jahr 337 vollzogene Aufteilung der imperialen Herrschaft unter Con­stantins Erben oder der einige Jahre später eintretende Tod des Eusebios von Con­stantinopel, konnten neue theologische Konstellationen entstehen lassen, die das kirchenpolitische Profil schlag­ artig veränderten. Dafür bietet die Biographie des Athanasios eindrucksvolle Beispiele. Sein erzwungenes Exil in den Westen war keineswegs mit einem Ansehensverlust verbunden, sondern eröffnete ihm die Möglichkeit, sich eine Anhängerschaft außerhalb Ägyptens zu verschaffen. Tatsächlich sollte Athanasios eine breite Anerkennung durch namhafte Vertreter des okzidentalen Episkopats erfahren, zunächst durch den Bischof Maximinus von Trier, später durch Julius von Rom und schließlich durch den Westkaiser Constans. Verbunden 542

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damit sollten die Beschlüsse von Nicaea, die bislang vornehmlich im östlichen Episkopat für Aufregung gesorgt hatten, nun in den Westen des Reiches und zwar im Sinne des Athanasios rezipiert werden. Das Ergebnis des sich abzeichnenden konfrontativen Gedankenaustausches zwischen Ost und West war eine umfangreiche Synodaltätigkeit, die sich in den Zusammenkünften von Rom, Antiochia und Serdica konkretisierte, bei der allerdings die theologischen Meinungsunterschiede immer mehr von Personal- und Machtfragen überlagert wurden. Athanasios erbat die Unterstützung des Julius von Rom, damit dieser kraft des Prestiges ­seines Bischofsstuhls seine Rückkehr bewirken solle.104 Dass es dazu der Geneigtheit des Westkaisers bedurfte, wird ihm klar gewesen sein.105 Was auch immer Julius bewogen haben mag, für Athanasios sowie für den wegen Häresie verurteilten Marcellus von Ancyra einzutreten, bleibt unklar. Jedenfalls waren es keine dogmatischen Kriterien. Folglich müssen andere Erwägungen im Vordergrund gestanden haben. Spätestens hier wird ersichtlich, dass sich beide Reichsteile unter verschiedenen Prämissen begegneten.106 Der Streit um den Geistlichen aus Alexandria eskalierte nicht nur geographisch. Es ging auch um die Deutungshoheit über das kanonische Recht und um den Vorranganspruch des römischen Stuhls gegenüber den Patriarchen des Ostens. Ein beträchtlicher Teil der griechischsprachigen Kirche, der sich um den Meinungsführer im östlichen Episkopat, Eusebios von Con­stantinopel, scharte, konnte sich auf das Urteil von Tyros berufen. Für diese Kirchenmänner war die Angelegenheit mit der Ernennung Gregors zum Bischof von Alexandria erledigt. Sie hielten den römischen Vorstoß für eine unzulässige Einmischung.107 Damit wollte sich das orientalische Episkopat nicht abfinden. Auf Einladung des Julius verwarfen im Jahr 340108 in Rom etwa 50 italische Bischöfe das in Tyros ergangene Urteil gegen Athanasios, der nun wieder rehabilitiert wurde.109 Die revisionistische Stimmung der Versammlung erfuhr eine zusätzliche Stärkung dadurch, dass Kaiser Constans die gefassten Beschlüsse, die eine Kampfansage an die östlichen Patriarchate bedeuteten, unterstützte.110 Für eine derartige Parteinahme des Westkaisers in den Kirchenstreitigkeiten des Ostens gab es politische Gründe. Constans konnte im Falle einer Wiedereinsetzung des Athanasios mit dessen Dankbarkeit rechnen und folglich einen wichtigen Verbündeten in dem Reichsteil gewinnen, der seinem Konkurrenten unterstand.111 Mittlerweile war Con­stantin  II. nach einem kurzen Bürgerkrieg aus dem Machtkampf um die Herrschaft ausgeschieden. Constantius  II., der über die Ostprovinzen gebot, und sein Bruder Constans, dem der gesamte Westen einschließlich der Donauländer 543

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unterstand, teilten sich die Leitung des Reiches. Letzterer erhoffte sich, durch die Umbesetzung wichtiger Bischofsstühle im Reichsteil seines Bruders das ohnehin stark zu seinen Gunsten verschobene territoriale Über­ gewicht zusätzlich zu festigen.112 Wenig später, wohl Anfang 341113, wurde in Antiochia eine Versammlung abgehalten, an der Constantius  II. sowie 97 Bischöfe des Ostens teilnahmen.114 Erwartungsgemäß wies man das Ansinnen Roms ab. Die dort Anwesenden verwahrten sich, als Arianer bezeichnet zu werden. Als Erwiderung auf die dogmatischen Einwände der römischen Synode verabschiedeten sie eine Glaubensformel, die sich dem Nicaenum annäherte.115 Der Versuch, einen theologischen Ausgleich zu finden, dem sich eine Mehrheit anschließen konnte, ging von Antiochia aus, wurde aber ebenso wenig aufgegriffen wie die kirchenpolitischen Vorgaben, die Rom unterbreitet hatte. Insofern offenbaren die Regionalsynoden, die in beiden Reichsteilen abgehalten wurden, ohne zu einer Einigung zu gelangen, wie sehr sich Osten und Westen kaum fünf Jahre nach Con­stantins Tod zu entfremden begannen. Die Amnestierung des Athanasios, die auch andere Bischöfe betraf wie Marcellus von Ancyra, Asclepas von Gaza oder Paulus von Con­stantinopel, sorgte im Orient für erhebliche Unruhe. Manche Bischofsstühle waren zum Teil wiederbesetzt worden, sodass die Heimkehrer, je nach Perspektive, als Eindringlinge oder als legitime Anwärter galten. Die Konflikte, die sich daran entzündeten, endeten nur allzu oft blutig, weil jeder Kandidat über eine ihm gewogene Anhängerschaft verfügte, die keine Untat scheute, um die eigenen Ansprüche durchzusetzen. Denn es ging nicht nur um Theologie, sondern auch um handfeste materielle Vorteile. Innerhalb des Kirchenvolkes entstanden latente Spannungspotenziale, die sich bei passender Gelegenheit gewaltsam entladen konnten, insbesondere bei der Nachfolgefrage – ganz gleich, ob diese durch die Absetzung oder durch den Tod des Amtsinhabers bedingt war. Die Klientel eines Bischofs bildete eine gewaltbereite, gesellschaftlich relevante Gruppierung, mit der Partikularanliegen durchgesetzt werden konnten.116 Eine bis dahin in dieser Form unbekannte Politisierung der Bischofsernennungen war die unmittelbare Folge der konfliktreichen Personalquerelen dieser Jahre. Ende des Jahres 341 verschoben sich die innerkirchlichen Koordinaten, als Bischof Eusebios von Con­stantinopel starb.117 Mit ihm verloren die Orientalen ihre geistige Mitte. Zudem gestaltete sich die Regelung der ­ ­Nachfolge äußerst schwierig. Paulus meldete seine Ansprüche auf die Con­ stantinopolitanische cathedra an; und bei den Unruhen, die sich zwischen seinen Anhängern und denen des Macedonios entluden, kam es zu blutigen Krawallen. Paulus wurde von Constantius II. verbannt.118 544

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Ähnlich spannungsgeladen wie die politischen Machtfragen  – zwei Regenten rangen eine Dekade lang um die Vorherrschaft im Reich – stellte sich die kontroverse kirchenpolitische Situation in den vierziger Jahren des 4. Jahrhunderts dar. Es bestand ein erheblicher Klärungsbedarf in personeller und theologischer Hinsicht. Auf Anregung des Westkaisers Constans einberufen, sollte im Jahr 343 eine Kirchenversammlung aller Provinzen in Serdica zusammentreten119, um die anstehenden Probleme zu lösen. Doch die Geduld der orientalischen Bischöfe wurde auf eine harte Probe gestellt, weil Athanasios, Marcellus, Paulus und Asclepas bereits vor Verhandlungsbeginn von den Westbischöfen in die Kirchengemeinschaft aufgenommen worden waren. Diese Vorentscheidung, an der Hosius von Córdoba maßgeblich beteiligt gewesen war, machte die mühevoll ausgehandelte Tagesordnung zur Makulatur.120 Die Ostbischöfe hätten nun selbst die Stichhaltigkeit ihrer Anklagen gegen bereits rehabilitierte Geistliche vorbringen müssen. Nicht mehr die Gültigkeit der Bischofsabsetzungen stand nun zur Debatte, sondern die orientalische Synodalpraxis. Für die Bischöfe des ­Ostens bestand somit kein Grund, sich mit den Westbischöfen an den Verhandlungstisch zu setzen; allein die Teilnahme hätte eine Anerkennung der einseitig gefassten Beschlüsse bedeutet. Aus diesen Gründen zerfiel die Synode in zwei getrennte Tagungen. Die Westbischöfe konferierten in der Stadtkirche von Serdica, die Vertreter des östlichen Reichsteils im kaiserlichen Palast.121 Die Ergebnisse der Westbischöfe wurden bedeutsam für die Etablierung eines hierarchischen Prinzips im Kirchenrecht.122 Der dritte Kanon räumte dem römischen Stuhl die Funktion einer Appellationsinstanz ein123, offensichtlich eine Reaktion des Westens auf das Tauziehen um die Wiedereingliederung der Verbannten. Während sich im Osten das Prinzip der charismatischen Gleichheit der Bischöfe hielt und deshalb der Kaiser als episcopus episcoporum124 seinen Vorrang in Glaubensfragen behauptete, begann sich im Westen ein Gegengewicht zur schiedsrichterlichen Funktion des Kaisers innerhalb der Kirche auszubilden. Zwei Synodalschreiben wurden verfasst, in denen man sich gegenseitig exkommunizierte und absetzte.125 Formal war dem Westen eine Handhabe gegeben, dem Osten gegenüber Ansprüche geltend zu machen, weil sich die Orientalen von der geplanten Beratung beider Reichsteile entfernt hatten und in der Folge das okzidentale Rumpfkonzil für seine Beschlüsse die alleinige Legitimität für sich reklamierte. Nach Abschluss der Synode von Serdica brach eine Gesandtschaft, bestehend aus den Bischöfen Euphrates von Köln und Vincentius von Capua sowie dem magister equitum Flavius Salia126, nach Antiochia auf, um Constantius  II. die Beschlüsse des Westens anzu545

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empfehlen. Das mitgeführte Schreiben war in seinen Forderungen deutlich gehalten127: Kaiser und staatliche Amtsträger sollten sich von den Angelegenheiten der Kirche fernhalten und Häretiker aus ihren Ämtern entfernen. Nachdruck wurde diesen Forderungen dadurch verliehen, dass einem Staatsoberhaupt mit der ewigen Verdammnis gedroht wurde, sofern es sich diesem Ansinnen widersetze. Der Brief, ein Zeugnis klerikalen Machtbewusstseins, zeigt, wie eine vom Westkaiser protegierte Bischofspartei gegen den kaiserlichen Konkurrenten auftrumpfte, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Die politische Gegnerschaft schuf Freiräume für die Radikalisierung der innerkirchlichen Rangeleien, zumal die staatliche Spitze gespalten blieb und wenig Autorität besaß. Dies bekam der Ostkaiser zu spüren.128 Das Schreiben der Westbischöfe kann kaum als ­Dokument der Kirchenfreiheit gelten.129 Der Tenor seiner Forderungen war ebenso situationsbedingt wie die grobe Unterscheidung zwischen Orthodoxen und Häretikern. Anlass des pathetischen Traktats war der Wunsch der verbannten Bischöfe, in ihre Städte zurückkehren zu dürfen. Um dies zu ermöglichen, nahmen es die selbsternannten Vertreter der Kirchenfreiheit in Kauf, dass einerseits der Westkaiser in die kirchlichen Belange des Ostens eingriff, um für die Rezeption der Synodalbeschlüsse zu sorgen, andererseits der Ostkaiser tatkräftig für die Umbesetzung der Bischofsstühle  – in ihrem Sinne wohlgemerkt  – eintrat. Der nach der Ermordung des Constans durch Magnentius ausgebrochene Bürgerkrieg, den Constantius II. in der blutigen Schlacht bei Mursa (351) für sich entschied, änderte schlagartig die Richtung der bisherigen Beziehungen zwischen Kirche und Staat.130 Nach der Ausschaltung des Magnentius und der Erringung der Alleinherrschaft stand für Constantius II. die Regelung der leidigen theologischen Streitigkeiten ganz oben auf der Prioritätenskala. Er strebte die Wiederherstellung des seit der Synode von Serdica erheblich gestörten kirchenpolitischen Gleichgewichtes zwischen Ost und West an. Angesichts der gewandelten politischen Zustände schien dies in erreichbare Nähe gerückt zu sein. Nun mussten die von Constans dereinst beschützten Bischöfe fürchten, bei passender Gelegenheit von ihren Stühlen entfernt zu werden. So wie sein Vater Con­stantin einst den Sieg über Licinius und seine Vicennalien mit der Abhaltung der Synode von Nicaea verband, sollte nun eine nach Arles einberufene Kirchenversammlung, die dem 30-jährigen Regierungsjubiläum des Constantius II. zusätzlichen Glanz verlieh, den Auftakt zur Überwindung der Kirchenspaltung bilden. Auf der Tagesordnung der Synode stand der Fall Athanasios.131 Dieser hatte nach der Erhebung des Magnentius eine Gesandtschaft empfangen und mit ihm verhandelt.132 Sein Sturz war abzusehen. Ohne die 546

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Protektion eines mächtigen Gönners sah er sich einer ihm wenig gewogenen Bischofsfront gegenüber, auf deren Seite der Kaiser stand. Auf die Lösung des Personalproblems im Osten hatte der Westen keinen Einfluss mehr, zumal nun ein Strafgericht einsetzte, das sich gegen die Anhänger des Magnentius richtete und in dessen Verlauf mancher unliebsame Bischof seinen Sitz verlor.133 Auf Anregung des römischen Bischofs Liberius sollte es zu Beginn des Jahres 355 in Mailand, wo sich der Kaiser anlässlich der Neuordnung der Westprovinzen aufhielt, zu einer Neuverhandlung der causa Athanasios kommen.134 Angesichts der gewandelten politischen und theologischen Machtverhältnisse im Reich waren Athanasios’ Aussichten auf den alexandrinischen Stuhl so schlecht wie nie zuvor. Wenn der Kaiser auf Drängen des Liberius sich bereit gefunden hatte, seinen Fall erneut zu verhandeln, so doch nur, um die in Arles beschlossene Verurteilung des Athanasios von möglichst vielen Bischöfen des Westens bestätigen zu lassen. Die Synode von Mailand tagte zunächst in einer Basilika. Als Eusebios von Vercellae, der sich einer Abberufung des Athanasios widersetzte, die versammelten Bischöfe auf das nicaenische Bekenntnis einschwören wollte, stand Valens von Mursa (Osijek, Kroatien) auf, nahm dem Eusebios die Abschrift des Nicaenums aus der Hand und zerriss sie. Es kam zu heftigen Kontroversen. Die verwegene Haltung des pannonischen Bischofs resultierte wohl aus der kaiserlichen Protektion. Valens hatte vor der Entscheidungsschlacht von Mursa (351) Constantius  II. geistlichen Beistand geleistet.135 Sieghaftigkeit und die Überzeugung, den richtigen Himmelsbeschützer hinter sich zu haben, erzeugten ein Gemeinschaftsgefühl zwischen Kaiser und Bischof, das den Verlauf der künftigen Synoden nachhaltig beeinflussen wird. Da sich aber inzwischen der Druck der Straße auf die Beratungen lautstark bemerkbar machte, lud Constantius II. die Bischöfe in seinen Palast ein. Danach wohnte er den Sitzungen bei136 und erhöhte den Druck auf die Versammlung, indem er den Anhängern des Athanasios Repressalien androhte. Von nahezu allen 300 Westbischöfen wurde Athanasios verurteilt, mit Ausnahme von Lucifer von Calaris (Cagliari, Sardinien), Dionysios von Mailand, Eusebios von Vercellae (Vercelli, Oberitalien), Paulinus von Trier und zwei Legaten des römischen Bischofs, die wohl gemäß dem Edikt von Arles als Komplizen des als Hoch­ verräter angeprangerten Athanasios verbannt wurden.137 Nachdem durch die Verbannung des Athanasios der langwierige Streitfall geregelt schien, wähnte sich Constantius II. am Ziel seiner religiösen Einigungsbemühungen. Wie die Zukunft zeigen wird, täuschte er sich darin gründlich: Athanasios sollte seinen Bischofsstuhl in Alexandria wieder erlangen und bis zu seinem Tod im Jahre 373 mit einigen Unterbrechungen beibehalten. 547

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atte Theodosius mit dem freiwilligen Verzicht auf das Oberpontifikat wesentliche sakralrechtliche Kompetenzen eingebüßt, die eine Supervision der Priesterkollegien und des Kultes einschlossen, was auf den ersten Blick nur Bedeutung für die heidnische Kultpraxis zu haben schien, so wird diese Maßnahme letztlich die Beziehungen zwischen dem Staatsoberhaupt, das nun nicht mehr als höchste Ansprechstelle aller Religionsgemeinschaften des Reiches fungierte, und dem christlichen Klerus beeinflussen. Als ebenso bedeutsam für die christliche Sozialisation des Kaisers sollte sich die Taufe erweisen, die er während einer schweren Krankheit, kurz nach seiner Regierungsübernahme (380) aus den Händen des Bischofs Akolios von Thessalonike empfing, nicht ohne sich vorher von seiner Orthodoxie überzeugt zu haben.138 Anders als seine christlichen Vorgänger, die sich erst am Sterbebett das Taufsakrament spenden ließen, wurde Theodosius auffallend früh Vollmitglied der christlichen Gemeinschaft, womit nun, da er wie jeder andere getaufte Christ der kirchenrechtlichen Disziplinargewalt unterstellt war, ein Präzedenzfall geschaffen wurde. Die Konsequenzen daraus lassen sich anlässlich des Mailänder Bußaktes erkennen, bei dem nicht nur von Belang ist, wie es zu dem einmaligen Vorgang kam, dass der Kaiser als reuiger Sünder Zugang zum Gottesdienst begehrte, sondern vor allem, welche Implikationen sich aus dem unerhörten Vorfall selbst ergaben. Ausgangspunkt war die auf Theodosius’ Anordnung veranlasste Unterdrückung eines Aufruhrs in Thessalonike, die zahlreiche Menschenleben forderte. Eine Bischofssynode, die in Mailand tagte, wo sich damals der Kaiser aufhielt, verurteilte unter Mitwirkung des Ortsbischofs Ambrosius die Untat.139 In diesem Kontext muss daran erinnert werden, dass die an der brutalen Repression beteiligten gotischen Soldaten dem arianischen Bekenntnis anhingen, während die Opfer wohl mehrheitlich dem nicaenischen Credo verpflichtet gewesen waren, ebenso wie Theodosius und Ambrosius. Es war nicht das erste Mal, dass der Mailänder Bischof unmissverständlich Partei ergriff, wenn seine eigene religiöse Anschauung in Konflikt mit anderen Glaubensrichtungen geriet.140 Vor diesem Hintergrund muss gefragt werden, wie er sich verhalten hätte, wenn die Verursacher der Mordorgie nicaenische Katholiken und die Getöteten Arianer gewesen wären. 548

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Ein Vorfall, der sich einige Zeit davor in Kallinikum ereignet hatte (388), gibt eine mögliche Antwort darauf: Angestachelt durch fanatisierte Mönche und mit Billigung des Bischofs hatten Christen dieser mesopotamischen Stadt die jüdische Synagoge angezündet und geplündert.141 Als Theodosius davon erfuhr, zog er die Initiatoren der Gewalttat zur Rechenschaft und verpflichtete den Ortsbischof, das jüdische Gotteshaus wiederaufzubauen. Ambrosius tadelte die kaiserliche Entscheidung und bat in einem Schreiben, das der Kaiser ignorierte142, um Straffreiheit für die Verantwortlichen an den Ausschreitungen. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Kaiser und Bischof wurden anlässlich eines Gottesdienstes in der Basilika von Mailand hitzig ausgetragen. In einem Brief an seine Schwester Marcellina berichtete Ambrosius über den Vorfall: Sobald ich (von der Kanzel) herabgestiegen war, sagte Theodosius zu mir: ‚Du hast dich über uns geäußert!‘ Ich antwortete: ‚Ich habe das behandelt, was deinem Nutzen dient!‘ Da erklärte er: ‚In der Tat habe ich in Hinblick auf die Wiederherstellung der Synagoge durch den Bischof zu streng geurteilt, aber es ist korrigiert worden. Die Mönche begehen viele Verbrechen.‘ Da begann der Heermeister Timasius sich heftiger gegen die Mönche zu äußern. Ich erwiderte ihm: ‚Ich verhandele mit dem Kaiser, wie es nötig ist, weil ich weiß, dass er den Herren fürchtet, mit dir muss ich aber anders verhandeln, der du so harte Dinge sagst.‘ Dann, als ich eine Weile stehe, sage ich zum Kaiser: ‚Gib mir die Gewähr, dass ich für dich opfern darf, befreie meine Seele.‘ Als er sich hinsetzte, jedoch kein offenes Versprechen ablegte und ich stehenblieb, sagte er, er werde es korrigieren, ich begann darauf zu dringen, dass er den ganzen Prozess fallen lasse, damit der Statthalter sich nicht das Verfahren zunutze mache, um den Christen mit irgendeinem Unrecht zuzusetzen. Er stellte in Aussicht, dass dies geschehen werde. Ich sagte ihm: ‚Ich handele im Vertrauen auf dich!‘, und ich wiederholte: ‚Ich handele im Vertrauen auf dich!‘, ‚Handle!‘, erklärte er. So trat ich an den Altar und wäre unter keiner anderen Bedingung dorthin getreten, wenn er mir nicht ein vollständiges Versprechen abgelegt hätte.143 Theodosius, der Feldherr Timasius und Ambrosius stritten sich inmitten einer Messfeier über die Bewertung der Ereignisse von Kallinikum. Das Ergebnis des erregten Disputs war ein Kompromiss. Zwar wurde die kaiserliche Strafandrohung keinesfalls zurückgenommen, aber deren Ausführung gemildert. Bemerkenswert ist die bischöfliche Argumentation, wonach die Synagoge ein verzichtbares Monument des Götzendienstes und daher ohnehin zum Verschwinden verurteilt sei.144 Von antijüdischen Ressentiments angetrieben, verharmloste und rechtfertigte Ambrosius die von seinen Glaubensgenossen ausgehende Gewalt gegen Andersgläubige, indem er das, was dem 549

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christlichen Kult entgegenstand, als Provokation ansah, die eine zwangsläufige Reaktion erfordere.145 Ambrosius’ Haltung zur Affäre von Kallinikum und zum Blutbad von Thessalonike veranschaulicht, wie sehr er in vergleichbaren Konfliktlagen mit zweierlei Maß urteilte. Zwar ermahnte er, moralisch durchaus lobenswert, den Kaiser zur Reue für die Tötung der nicaenischen Bevölkerung von Thessalonike. Etwas Vergleichbares für die unschuldigen Opfer der christlichen Ausschreitungen von Kallinikum sucht man jedoch vergeblich. Gleichwohl forderte der selbstbewusste Bischof von Mailand vom getauften Herrscher die bedingungslose Anerkennung der christlichen Glaubensregel, und diese verlangte tätige Sühne für das Massaker von Thessalonike; denn die dortigen Opfer waren im Gegensatz zu denen von Kallinikum beklagenswert. Nur so, bekräftigte Ambrosius, könne Theodosius seiner Rolle als Vollmitglied der Gemeinde gerecht werden, bei Nichterfüllung drohte der Ausschluss aus der Eucharistiefeier. Dabei ließ Ambrosius eine bemerkenswerte Konsequenz durchblicken, als er Theodosius belehrte: Es ist nämlich nicht verwunderlich, dass ein Mensch sündigt. Aber das ist ­tadelnswert, wenn er nicht erkennt, dass er geirrt hat und sich nicht vor Gott demütigt (…). Allein die Buße könnte die Sünde ausgleichen… Ich rate, bitte, mahne, verlange, warne. Denn es bereitet mir Pein, dass du, der du das Muster einer unerhörten Frömmigkeit warst, der du den Gipfel der Milde einnahmst, der du es nicht zuließest, dass einzelne Schuldige in Gefahr gerieten, dass du keinen Schmerz über den Untergang so vieler empfindest! Auch wenn du in Kämpfen immer höchst erfolgreich warst, auch in anderem immer rühmenswert, dennoch war der Gipfel deiner Werke immer die Frömmigkeit.146 Wenn wir den christlichen Autoren Glauben schenken wollen147, so soll der Kaiser seinen Pflichten als Christ nachgekommen sein, indem er in der Osterwoche des Jahres 391 ohne die äußeren Abzeichen seiner kaiserlichen Stellung vor der Basilika von Mailand erschien und um Einlass ersuchte, nachdem er vorher ein Sündenbekenntnis abgelegt und seine Reue öffentlich bezeugt hatte.148 Mit seinem symbolbefrachteten Auftritt versöhnte sich Theodosius, wenn es sich tatsächlich so abgespielt haben sollte, mit seinen persönlichen Überzeugungen. Gleichzeitig bewirkte sein Verhalten eine unmissverständliche Anerkennung des Vorrangs christlicher Maximen in Angelegenheiten des Kultes und der Heilslehre. Andererseits zeigte er sich als christlicher Kaiser im Einklang mit seinem christlichen Gewissen, was keinen geringen Eindruck auf die Untertanen gemacht haben dürfte.149 Das Bild des „allerchristlichen“ Kaisers war damit unter höchst dramatischen Umständen aus der Taufe gehoben worden. Daraus konnte Theodosius politisches Kapital schlagen. Indem er freiwillig die Sünderrolle annahm, was er 550

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als Mensch und Christ tat, ohne deswegen die offizielle Appeasementpolitik, die er als Kaiser gegenüber den gotischen Soldaten vertrat, die schuldig am Massaker von Thessalonike gewesen waren, aufgeben zu müssen, handelte er rational und emotional zugleich.150 War schon die Tatsache, dass ein Herrscher vor seinen Untertanen sich in der demutsvollen Pose des Bittflehenden inszenierte, an sich ungewöhnlich; was bald darauf folgte, war nicht weniger bemerkenswert. Der Kirchenhistoriker Theodoret hat die Episode folgendermaßen nachgezeichnet: Als der Augenblick gekommen war, die Opfer­ gaben zum heiligen Tisch zu bringen, erhob er sich und begab sich unter gleichen Tränen in das Presbyterium. Nach der Opferung blieb er, wie er gewohnt war, drinnen in der Nähe der Schranken. Allein der große Ambrosius schwieg auch hier wieder nicht, sondern belehrte ihn über den Unterschied der Räumlichkeiten. Zuerst fragte er ihn, ob er etwas wünsche; und als der Kaiser antwortete, er erwarte die Teilnahme an den heiligen Geheimnissen, ließ er ihm durch den Archidiakon sagen: ‚Der innere Raum, o Kaiser, ist nur für die Priester zugänglich, für alle anderen aber unzugänglich und unberührbar. Gehe also hinaus und bleibe draußen stehen wie die übrigen; der Purpur macht Kaiser, aber keine Priester.‘ 151 Theodosius begab sich außerhalb der Apsis der Basilika, die bisher sein bevorzugter Aufenthaltsort im Gottesdienst gewesen war. Indem er demon­ strativ diesen Platz dem Klerus überließ, verrichtete er mehr als eine bloße Geste. Die Entfernung des Kaisers vom Zen­trum des Kultraumes ist das eindringlichste Bild des Triumphes des geistlichen über den weltlichen Primatanspruch in Glaubens- und Kirchenfragen.152 Als Theodosius geraume Zeit danach eine liturgische Feier in der Basilika von Con­stantinopel besuchte, verließ er zur Verblüffung des Ortsbischofs den für den Kaiser vorgesehenen Ehrensitz im Zen­trum des Altarbereiches und überließ diesen prominenten Platz den Priestern. Von nun an wird der Klerus innerhalb des Sakralraumes den Vorrang gegenüber dem ersten Mann im Reich einfordern. Denn wie Ambrosius Theodosius belehrt hatte, war der Kaiser kein Priester, sondern ein Gläubiger und als solcher den seelsorgerlichen Direktiven seines Bischofs unterstellt.153 Die Amtsführung des Ambrosius von Mailand, die hier für ähnliche Beispiele steht, liefert Material zur Genüge, um die Machtansprüche des höheren Klerus auf die Leitung der Kirchenbelange zu illustrieren. Anlässlich seines Konfliktes mit der Kaisermutter Justina um die Basilica Porciana bot Ambrosius ein Argument auf, das als Manifest des klerikalen Selbstbewusstseins gelten kann: Wann hast Du (Valentinian  II.) je gehört, (…), dass in Glaubenssachen Laien über einen Bischof gerichtet hätten? Sollen wir in gleich551

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sam knechtischer Verehrung vor dem Thron solche Bücklinge machen, dass wir unseres bischöflichen Rechtes vergessen und anderen überlassen, was Gott uns anvertraut hat? (…) Wer wird sich der Einsicht verschließen können, dass in Angelegenheiten des Glaubens (…) die Bischöfe über die christlichen Kaiser, nicht aber die Kaiser über die Bischöfe Recht zu sprechen pflegten.154 Auf dem Höhepunkt des erregten Tauziehens zwischen Kaiserhof und Bischof um die Besitzrechte155 über besagte Kirche unterstrich Ambrosius, dass er zwar die potestas des Kaisers hinsichtlich seiner Verfügungsgewalt über die Machtmittel des Staates und das Vermögen seiner Untertanen bedingungslos anerkannte, gleichzeitig aber den kirchlichen Bereich kategorisch davon ausschloss.156 Im Klartext hieß dies: Was Gott gehörte, lag ­außerhalb der Kompetenz des Staates und er, Ambrosius, bestimmte kraft seiner episkopalen Vollmachten, was darunter zu verstehen sei. Von entscheidender Bedeutung für den Ausgang der Kontroverse war die unverhohlene Mahnung des Ambrosius an den jungen Kaiser Valentinian  II., dem im Falle eines Nachgebens in der Affäre um den Victoriaaltar mit der Exkommunikation gedroht wurde: Sollte aber anders entschieden werden, so können wir Bischöfe dies nicht mit Gleichmut tragen oder unbemerkt geschehen lassen. Die Kirche wirst Du zwar besuchen können, aber Du wirst dort keinen Priester finden oder, wenn doch, so wird er Dir Widerstand leisten.157 Eine solche Tonart gegenüber einem Staatsoberhaupt hatte noch kein Kleriker anzuschlagen gewagt. Ambrosius, der aufgrund seiner familiären Herkunft zur Führungselite des Reiches gehörte – sein Vater war Prätorianerpräfekt gewesen und er selbst Provinzstatthalter, bevor er zum Bischof gewählt wurde – tat dies im Bewusstsein seiner überragenden Autorität. Wie sehr er sich ihrer sicher sein konnte, belegt sein Konflikt mit der Kaisermutter Justina, Valentinians Witwe, um die Mailänder Basilica Porciana, als diese für sich und ihre gotische Leibwache eine am Stadtrand von Mailand gelegene Kirche zur Abhaltung arianischer Gottesdienste erbat. Ambrosius opponierte heftig dagegen. Er setzte sich über die Order Kaiser Valentinians II. hinweg, der seiner Mutter die Bitte gewährt hatte, und beharrte auf dem uneingeschränkten Verfügungsrecht der Kirchen­oberen in Sakralangelegenheiten. Nach heftigen Straßentumulten ließ der Kaiser die zum Schutz des belagerten Gotteshauses abgestellten Truppenkontingente wieder abziehen. Damit konnte sich Ambrosius als Sieger in einem Kräftemessen wähnen, das die Machtlosigkeit des westlichen Kaiserhofes in den für das Herrschaftsverständnis der Imperatoren einst zentralen Kultbelangen deutlich offenbarte. Der Widerstand, der vor allem von westlichen Geistlichen gegen kaiserliche Initiativen auf dem Feld der Kirchenpolitik geleistet wurde, stärkte die 552

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Ambrosius von Mailand, Ausschnitt aus dem Mosaik in der Cappella di San Vittore in der Basilika S. Ambrogio in Mailand; um 400; vielleicht das früheste Heiligenporträt

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Unabhängigkeit und das Ansehen des Bischofsamtes beträchtlich.158 Beharrlichkeit und Konsequenz bei der Verfolgung religions­politischer Ziele ließen sich als Machtzuwachs verbuchen. Dass trotz gelegentlicher Rückschläge Bischöfe vom Schlag eines Ambrosius, die in Widerspruch zum Kaiserhof gerieten, ihre Ämter und damit ihre Handlungsvollmacht behielten, machte sie zunehmend zu unangreifbaren, charismatischen Autoritäten, zumal hinter ihnen bedeutende Anhängerschaften standen, die selbst dem Kaiser Respekt einflößten.159 Seine Machtmittel, vor allem aber seine ungewöhnliche Ausstrahlung, verliehen Ambrosius eine Aura der Unantastbarkeit. Zweifellos war Ambrosius eine außergewöhnliche, überaus facettenreiche Persönlichkeit, die vor der Bischofswahl wichtige staatliche Ämter bekleidet hatte. Kraft seiner politischen Erfahrung suchten die jungen Kaiser Gratian und Valentinian II. seinen Rat, was Ambrosius den Zugang zu den höchsten Machtzirkeln des Westreiches eröffnete. Wie so viele seiner Amtskollegen, die aus dem Curialen- oder Senatorenstand abstammten und von adeligem Selbstbewusstsein erfüllt waren, war auch Ambrosius durch und durch Aristokrat.160 Er galt als bedeutender Schriftsteller und als ebenso begnadeter Redner. Seine Geradlinigkeit und Konsequenz bei der Verfolgung seiner Glaubensanliegen beeindruckten Freunde wie Gegner zugleich und verschafften ihm Ansehen über die Grenzen seines Bistums hinaus. Die christliche Bevölkerung Mailands zog er in seinen Bann.161

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ie christlichen Herrscher versuchten, um die Glaubenseinheit innerhalb der christlichen Kirchen zu befördern, stets eine Reihe von Bischöfen um sich zu scharen. Aber es war eben nur eine Gruppe, die nicht unbedingt die Mehrheitsverhältnisse im Reich wiederspiegelte. Diesen Mangel an Repräsentativität machten sie bei der Gestaltung der Religionspolitik durch Rückgriff auf die kaiserliche Autorität wett: Die dabei angewandten Mittel reichten von der sanften Überredung bis zum gewaltsamen Einschreiten gegen Abweichler. In dieser Hinsicht ähnelten sich alle Kaiser, die in vergleichbaren Situationen nicht zögerten, mit repressiven Maßnahmen Dissidenten zu disziplinieren. Die dabei ergriffenen Maßnahmen lassen zwei unterschiedliche Zielsetzungen erkennen. Zunächst standen die Herrscher vor der Notwendigkeit, virulent gewordene Personalfragen zu lösen. Den richtigen Kandidaten auf den passenden Bischofsthron zu setzen, hatte zunächst Vorrang. Das gelegentliche Lavieren einiger Herrscher – musterhaft lässt sich dies im Falle des Constantius II. beobachten – spiegelte die Rücksichtnahme auf die Machtverhältnisse im römischen Reich wider. Es ging für den Herrscher des Orients darum, im Einklang mit seinen Brüdern, die den Okzident kontrollierten, tragfähige Kompromisse zu finden. Nach der Erringung der Alleinherrschaft wurde Constantius’ II. Vorgehen entschiedener. Waren die Herausforderungen der Personalpolitik erfolgreich erledigt, rückte die Durchsetzung einer einheitlichen Kirchenlehre in den Vordergrund. Machtpolitik und theologische Anliegen konnten dabei zusammengehen oder in Widerspruch zueinander geraten. Dabei kam stets eine Konstante zum Vorschein: Je stärker die kaiserliche Position wurde, umso mehr stieg die Neigung, in die inneren Belange der Kirche einzugreifen. Im Kontrast zu den euphorischen Stimmen mancher Kirchenhistoriker, die bereits zu Zeiten Con­stantins voreilig von einem Imperium Romanum Christianum ausgehen, wirkt die Feststellung ernüchternd, dass unter den christlichen Kaisern des 4.  Jahrhunderts bestenfalls ein Fünftel der hohen Amtsträger der christlichen Konfession anhingen.162 Die Vermutung, dass diese Herrscher durch eine selektive Ämterbesetzung das Reich von oben 555

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christianisiert hätten, ist unhaltbar.163 Die Entwicklung nach dem Tode Con­ stantins war wesentlich komplexer. Zahlreiche Gründe ließen eine rigorose Um- und Neubesetzung hoher Staatsposten undurchführbar werden. Amtsträger aus der heidnischen Aristokratie waren wegen ihrer Bildung und Erfahrung qualifiziert und unentbehrlich, sodass man sie auf ihren Posten beließ oder bei Neubesetzungen im Dienste der Effektivität immer wieder auf sie zurückgriff. Darüber hinaus war die Innenpolitik der Nachfolger Con­stantins auf ­­Konsens und Beschwichtigung ausgerichtet. Man suchte nach einem modus ­vivendi zwischen Christen und Heiden, wobei auf die jeweils unterschied­ lichen religiösen Gegebenheiten in den Provinzen Rücksicht genommen werden musste.164 Zudem stellten sich Heiden aufgrund ihrer Neutralität als überaus nützliche Vermittler in kircheninternen Streitigkeiten heraus. Die Ernennung von mindestens drei heidnischen praefecti Aegypti durch Constantius II. war eine Reaktion auf die gespannte religionspolitische Lage Ale­ xandrias.165 Zwischen Christen und Heiden bestand durchaus eine beider­ seitige Kooperationsbereitschaft, obwohl einige Gesetze scheinbar eine andere Sprache redeten. Deutlich wird hier der Abstand zwischen Theorie und Praxis. In Rom fällt die alternierende Besetzung der Stadtpräfektur mit Heiden und Christen auf166, was anzeigt, wie bemüht der jeweilige Herrscher war, ein erträgliches Verhältnis zur heidnischen Nobilität Roms zu gestalten.167 Die Regierung des Theodosius liefert ebenfalls zahlreiche Beispiele dafür: Im Jahr 391 erhielt der heidnische Prätorianerpräfekt Tatianus, der sich bei der Bekämpfung der Häretiker ausgezeichnet hatte, für seine Verdienste das Consulat.168 Er sollte nicht der einzige prominente Heide bleiben, der die höchsten staatlichen Würden erreichte. Erinnert sei an Themistios169, der, ähnlich wie Tatianus anlässlich des Krieges gegen Maximus, die Leitung der Regierungsgeschäfte im Osten während der Aus­einandersetzungen mit Eugenius versah. Aus dem Kreis der heidnischen stadtrömischen Aristokratie brachten es die prominenten Heiden Praetextatus zum Prätorianerpräfekten und designierten Consul170, Symmachus zum Stadtpräfekten und Consul171 und Nicomachus Flavianus zum Prätorianerpräfekten.172 Als Theodosius am 13. Juni 389 nach Rom kam, hielt der heidnische Redner Pacatus einen Panegyricus auf den Kaiser und wurde mit dem Proconsulat von Africa belohnt. Der für seine heidnische Gesinnung berühmte Libanios wurde mit der Prätorianerpräfektur des Ostens ausgezeichnet.173 Die Durchsicht dieser Beispiele verdeutlicht, dass es im Grunde genommen so etwas wie eine religiös motivierte Personalpolitik nicht gegeben hat. Die Ämterbesetzung richtete sich am Primat pragmatischer Forderungen 556

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aus. Keinesfalls diente sie als Instrument einer gesteuerten Christianisierung des Reiches. Es ist bezeichnend, dass der unter der heidnischen Restauration Julians praktizierte Versuch einer konsequenten Auswahl der Kandidaten nach der religiösen Zugehörigkeit, diesmal unter dezidiert christenfeindlichen Vorzeichen, nicht nur wegen der Kürze seiner Regierungszeit scheiterte, sondern auch daran, dass er an den inzwischen eingetretenen gesellschaftlichen und religionspolitischen Gegebenheiten vorbeiführte.174 Der Ämterausschluss von Heiden wurde erst während des 5. Jahrhunderts von Theodosius II. verordnet, als sich das Heidentum bereits in fortgeschrittener Agonie befand.175 Jenseits des unbezweifelbaren Pragmatismus der Regierenden hatte die entschiedene Parteinahme von Constantius  II. und Theodosius für die christliche Kirche Maßstäbe gesetzt, an denen sich ihre Nachfolger messen lassen mussten, mochten diese im Zusammenspiel mit den mächtigen Bischofsparteien erfolgreich sein oder nicht. Auf der Suche nach religiöser Einheit gab es kein Entrinnen aus dem monotheistischen Glaubenssystem. Zwar hatten sich die christlichen Kirchen endgültig einen prominenten Platz in Staat und Gesellschaft erworben, aber das Ringen um die Modalitäten des künftigen politischen Konsens und der Kircheneinheit ging weiter. Die Suche nach Konsens ergab sich aber auch aus der Verquickung traditionell paganer Vorstellungen des römischen Kaisertums mit den Erwartungen, welche die christlichen Bevölkerungsteile an den Kaiser stellten. Der Imperator Romanorum musste schließlich auch den Princeps Christianus in seinem Herrschaftsverständnis einschließen. Ein zentrales Antriebsmoment dieses Adaptionsprozesses war die Etablierung der Demut (humilitas) als Tugend des christlichen Herrschers. Hinsichtlich der auf den ersten Blick unauflöslichen Disparität von maiestas und humilitas ergab sich zunächst ein handfester Disput zwischen den heidnischen und den christlichen Eliten, in deren Zen­trum die Bemühung um ein nach christlichen Maßstäben geschaffenes Herrscherbild rückte.176 Während sich im Werk des Eusebios von Caesarea kaum mehr als vage Andeutungen in Bezug auf Fragen der kaiserlichen Demut hinsichtlich Con­stantin erkennen lassen, verwandelte sich die humilitas in der geistigen Werkstatt des Mailänder Oberhirten Ambrosius zu einem Katalysator seiner Argumentation gegenüber Kaiser Theodosius.177 Durch das tatkräftige Zutun ambitionierter Kirchenmänner wie Ambrosius vermochte die Vorstellung der humilitas immer mehr in den Kanon der ­kaiserlichen Tugenden Eingang zu finden, womit sie sich in einen Baustein des ideologischen Gehäuses des christlichen Kaisertums verwandelte.178 Die Entwicklung war jedoch zweischneidig: Mit der Berufung auf die Demut, die 557

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untrennbar im Spannungsfeld der Kaisermacht angesiedelt blieb, bot sich den selbstbewussten Klerikern ein probates Mittel, den Herrscher zur Einhaltung seiner Pflichten als Christ aufzufordern. Gleichzeitig konnten die Bischöfe anhand biblischer Vorbildern wie Moses oder David auf die Demutspflicht des Herrschers verweisen, um ihre eigenen Ansprüche auf die kultische Supervision zu begründen. Jenseits der Turbulenzen um Ambrosius und Theodosius gab es allerdings eine Ebene der Interaktion zwischen den Protagonisten des Kult­ wesens, die sich nur dann erschließt, wenn man die Dynamik und Komplexität der Beziehungen zwischen der höchsten irdischen und der himmlischen Instanzen in Betracht zieht. Fühlte sich ein bestimmter Herrscher von Gott in besonderer Weise berührt, konnte dies eine jenseits des theologischen Diskurses angesiedelte charismatische Verbindung begründen, die das Verhalten des Betroffenen lenkte und diesen mit einer Aura der Macht ausstattete. Dass eine derartige Gottesfindung einen eigenen normativen Stellenwert erlangen konnte, hatte der Fall Con­stantin gezeigt. Dies hing wesentlich davon ab, ob es sich bei dem Betreffenden um eine starke, durchsetzungs­ fähige Persönlichkeit handelte. Als solche galt auch Theodosius. Wenn er, wie einige seiner Vorgänger, sich dezidiert für seinen Gott, den er mit besonderer Hingabe verehrte, einsetzte, mochte eine solche Festlegung gewiss nicht frei von Kalkül gewesen sein. Gleichwohl vermittelte sie Theodosius die Gewissheit, einer ihm ausschließlich zugedachten göttlichen Offenbarung teilhaftig geworden zu sein.179 Involvierte Dritte in diesem Ringen um Selbstvergewisserung, wie die Bischöfe Damasus von Rom, Petrus von Alexandria oder Ambrosius von Mailand, dienten letztendlich der Beglaubigung einer bereits getroffenen Wahl. Sie stützten sozusagen die Außenwände eines Gebäudes, in dessen Mitte der vom Bewusstsein der Gottesnähe erfüllte Kaiser verharrte. Diese Zusammenhänge sind für das Verständnis der religionspolitischen Maßnahmen des Theodosius unerlässlich. Zwei auf den ersten Blick so scheinbar verschiedene Situationen wie sein Verhalten beim Erlass des Glaubensedikts von Thessalonike sowie beim Bußakt von Mailand lassen sich dadurch schlüssig erklären. In beiden Fällen ging es um die Regelung der Nahbeziehungen zwischen dem Kaiser und seinem Gott.180 Alles, was ­außerhalb dieses privilegierten Dialoges stand, wie etwa Konflikte oder Personen, waren randständige Erscheinungen, beziehungsweise nötige Bausteine, die den Schauplatz der Begegnung konturierten, nicht aber das Geschehen antrieben. Insofern war der scheinbare Triumph des Ambrosius über Theodosius, so sehr er für die spätere kirchengeschichtliche Entwick558

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lung von Bedeutung sein mochte, für das Verständnis des christlichen Kaisertums mehr Fußnote als Haupttext.181 Gewiss kann man in der Dramaturgie der Begegnungen zwischen Theodosius und Ambrosius eine politisch wirksame Selbstinszenierung erblicken. Doch es ging um mehr, nämlich um die Schaffung einer erneuerten politischen Identität als christliches Staatsoberhaupt. Was jedoch für Theodosius galt, der nach den Maßstäben seiner Epoche gewiss ein erfolgreicher Kaiser war, musste keinesfalls für andere gelten, schon gar nicht für seine politisch unbedarften Söhne, Arcadius und Honorius, die ihm nachfolgen sollten.

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ie christlichen Sakralräume dienten zunächst als Veranstaltungsorte der meist abseits der Öffentlichkeit abgehaltenen Kultpraktiken. Als erste Versammlungsorte fungierten ursprünglich die jüdischen Synagogen. Schon Jesus hatte sie aufgesucht, um seine Botschaft zu verkünden. Seine Jünger taten es ihm gleich. So zeigen die Reisen des Paulus nicht nur, unter welchen prekären Bedingungen das Evangelium verkündet wurde, wie in den Diasporasynagogen, im Theater von Ephesos, auf dem Areopag von Athen oder in namenlosen Privathäusern, sondern sie belegen gleichzeitig das Fehlen spezifischer Räumlichkeiten für die Gemeinschaftspflege und die Abhaltung von Gottesdiensten.182 Im Zuge der Abspaltung der christlichen von der jüdischen Gemeinde und seit der neronischen Ächtung der Christusanhänger verloren die Synagogen ihre Funktion als Anlaufstationen der neuen Glaubenslehre, die sich nun verstärkt auf die Suche nach ihrer eigenen Identität begab.183 Einer der ältesten Belege über das christliche Verständnis des „Gotteshauses“ entnehmen wir dem Märtyrerbericht des Stephanos in der Apostelgeschichte, wo mit Bezug auf Jesaia 66, 1, 2 gesagt wird, dass Gott nicht in Gebäuden zu Hause sei, die von Menschenhand errichtet wurden, sondern überall im Universum.184 Verweist diese Aussage auf seine Allgegenwart bei gleichzeitiger Relativierung des jüdischen Tempels als seinem ständigen Aufenthaltsort, so lässt sich daraus folgern, dass die Christen ihre Kulträume nicht als Wohnstätte Gottes betrachteten, wie dies für die Tempel der römischen Götter galt, sondern sie primär als Orte der Versammlung und des Gebetes ansahen, wo sich die Gemeinde traf, um durch bestimmte gemeinschaftliche eucharistische Rituale die Erinnerung an Jesus wachzuhalten.185 Aus dem bekannten Brief des Plinius an Trajan, einem der frühesten Zeugnisse christlichen Lebens in Kleinasien zu Beginn des 2.  Jahrhunderts, wird deutlich, dass die Christen ihre Zusammenkünfte in Privathäusern oder im Freien abhielten, um sich vor den Anfechtungen einer feindlich gesinnten Umwelt zu schützen.186 Ein ähnliches Bild vermittelt der christliche Autor Minucius Felix, wenn er die Schwierigkeiten aufzählt, die das im Verborgenen stattfindende 560

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Kultleben zu überwinden hatte.187 Aufgrund dieser Marginalisierung und wegen der Weigerung, am offiziellen Kultbetrieb teilzunehmen, kam in der heidnischen Mehrheitsgesellschaft der Vorwurf auf, die Christen seien asozial und der herrschenden Werteordnung gegenüber feindlich eingestellt.188 Die dezidiert antichristliche Polemik des Celsus bündelte die im Laufe der Zeit aufgehäuften Anklagepunkte und prangerte die Christen zusätzlich als Atheisten an, weil sie weder Tempel, Altäre noch Götterbilder besaßen.189 Tatsächlich erfahren wir über die Beschaffenheit der christlichen Begegnungsorte in den ersten drei Jahrhunderten wenig, weil die antiken Autoren dieser Thematik keine Aufmerksamkeit schenken. Zwar lassen einige archäologische Hinweise auf Bauten bescheidenen Ausmaßes in Dura-Europos, Edessa und in Kappadokien vermuten, dass es sich dabei um Kultorte handelte; doch das vorhandene Material reicht nicht aus, um daraus eine Typologie der frühen christlichen Sakralräume zu erstellen.190 Dennoch wurden gerade in dieser Epoche die entscheidenden Weichenstellungen gelegt, die das spätere innere und äußere Profil der Kirche konturieren sollten: Die in der Anfangszeit wirkenden charismatischen Gemeindeleiter wurden allmählich von einer hierarchisch gegliederten Klerikerschicht abgelöst, die in Anknüpfung an Ignatius von Antiochia die monarchische Konstitution des Bischofsamtes durchsetzte.191 Die Neuregelung der Leitungsfunktionen bewirkte eine merkliche Straffung der ursprünglich spontan organisierten Gemeinden, was nicht ohne Auswirkungen auf die Kirchenordnung und die Gestaltung der Sakralräume blieb. Die Begriffe Kirche (ecclesia), Basilika (basilica) oder Kathedrale (von der cathedra des Bischofs abgeleitet), die gewöhnlich Verwendung finden, um die christlichen Versammlungsorte zu bezeichnen, sind Ergebnisse einer historischen Entwicklung, die im 3. Jahrhundert bereits abgeschlossen war und die steigende Akzeptanz der neuen Glaubenslehre in der römischen Gesellschaft anzeigt. Mit dem Wachstum der Kirche in den meisten Provinzen des Reiches veränderten sich die Koordinaten ihres Kultbetriebes. Statt der keinem einheitlichen Schema folgenden, charismatisch geprägten Gottesdienste der Vergangenheit setzte sich eine um den Bischof kreisende Messliturgie durch, die das Gotteshaus neu strukturierte. Beides, Bischof und Sakralraum, errangen nach und nach als sichtbare, geistige Brennpunkte der Gemeinde eine neue gesellschaftliche Relevanz. Aus den erregten Worten eines syrischen Bischofs, der zu Beginn des 3.  Jahrhunderts seine Gemeindemitglieder ermahnte, den weltlichen Zerstreuungen fernzubleiben, wird eine aufschlussreiche Antinomie sichtbar: Vor die Wahl gestellt zwischen Theater und Kirchenbesuch sollten die Christen nicht wanken und den kultischen Pflichten absolute 561

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Modell einer Hauskirche aus Dura-Europos (Syrien)

­ riorität einräumen. Der Text dient als Beleg für das Vorhandensein von P ­Sakralräumen im Alltag und deren Bedeutung als zentrale Orte des christ­ lichen Kultbetriebes. Indirekt wird dieser Befund durch die christenfeind­ lichen Edikte des Kaisers Valerian, die aus den fünfziger Jahren des 3. Jahrhunderts stammten, bestätigt. Darin wird nicht nur gegen den Klerus sondern ebenso gegen die christlichen Versammlungsräume und die sich dort befindenden heiligen Bücher, Reliquien und Kultgegenstände vorgegangen, die nun von der Zerstörung bedroht werden.192 Verschaffte das ­tragische Schicksal Valerians, der bei einem Persienzug in Gefangenschaft geriet und umkam, den bedrängten Christen eine lebensnotwendige Atempause, die sie für die Reorganisation ihrer Gemeinden nutzten, so hat die lange Entspannungsphase im Verhältnis zwischen Kirche und Staat, die Gallienus, Valerians Nachfolger, einleitete, der christlichen Mission zum Durchbruch verholfen. Damals verwandelte sich die basilica, ein klassischer Bestandteil der urbanen Architektur der römischen Städte, der als Markt- und Gerichtsgebäude diente, zum Prototyp des christlichen Kultraumes der Zukunft. Diese Metamorphose steht als Sinnbild für den Übergang, den die Kirche von der Marginalität in die Öffentlichkeit vollzog. In diesem Kontext erhält eine Aussage des christlichen Publizisten ­Lactanz eine tiefere Bedeutung. Anlässlich der Kommentierung der Auswirkungen 562

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Forumsbasilika von Leptis Magna, Rekonstruktion

der diocletianischen Verfolgungsmaßnahmen im westlichen Reichsteil betonte er, möglicherweise in der Absicht, Con­stantins Vater, Constantius I., zu entlasten, dass dieser lediglich die Mauern der Gotteshäuser (conventicula) abzureißen befohlen, ansonsten die Christen unbehelligt gelassen habe.193 Unabhängig davon, welchen Wahrheitsgehalt man dieser erstaunlichen Momentaufnahme zubilligen möchte: Bemerkenswert ist, dass sie die Existenz eines Risses innerhalb der tetrarchischen Christenpolitik suggerierte, der wiederum die Brüchigkeit der Bündnisse, welche die Regierenden mit den Göttern Roms eingegangen waren, unterstrich. Die Metapher von der Zerstörung der Kirchenwände bei gleichzeitiger Unversehrtheit der christlichen Gemeinden stand gewiss für das Versagen der tetrarchischen Christenver­ folgung; zugleich aber nährte das allegorisch aufgeladene Bild die Hoffnung, dass eine beherzte Rekonstruktion des am Boden liegenden Mauerwerks die Regeneration des christlichen Glaubens ermöglichen würde. Damit deutete Lactanz an, dass die gegen das Christentum ausgeübte Gewalt lediglich die 563

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Materie betraf, keinesfalls aber den Geist der Kirche zu beschädigen vermocht hatte. Mit Con­stantins Parteinahme für das Christentum änderte sich schlagartig das religionspolitische Spektrum. Es ist unübersehbar, dass dessen Nähe zur christlichen Gemeinschaft nicht nur sein Verhältnis zu den altehrwürdigen Kultgemeinschaften auf den Prüfstand stellte, sondern erstmalig das Problem aufwarf, wie seine offizielle und persönliche Haltung gegenüber seiner neuen Schutzgottheit zu gestalten sei. Die politische Umsetzung seiner christenfreundlichen Vorgaben war mit einer Reihe von auffälligen Veränderungen verbunden: Die einst feindselige Distanz des Hofes gegenüber der ehedem verfolgten christlichen Glaubensgemeinschaft verkehrte sich binnen kürzester Zeit ins Gegenteil. Sowohl Con­stantin als auch seine Familienangehörigen stifteten christliche Basiliken, umgaben sich zunehmend mit Bischöfen, wurden eifrige Gottesdienstbesucher, privilegierten die Kleriker, befreiten die Kirche von Steuern und Abgaben.194 Aus dieser Verschiebung der religionspolitischen Koordinaten ergab sich zwangsläufig die Notwendigkeit, den Platz des Kaisers in der Kirche im wörtlichen wie im übertragenen Sinn zu präzisieren. Eine solche Frage, die früher undenkbar gewesen wäre, konnte nun ein Bischof öffentlich formulieren, ohne damit großes Aufsehen zu erregen. Berühmt ist der von Optatus von Mileve (Numidien) überlieferte Ausspruch des Donatus, der sich gegen Con­stantin richtete: „Was hat der Kaiser mit der Kirche zu schaffen?“195 Die keineswegs harmlose Anfrage besaß eine doppelte Komponente. Einerseits wurde damit das sensible Thema der strukturellen Eingliederung des Kaisers in den christlichen Kultbetrieb aufgeworfen: Empfand er sich in seiner Eigenschaft als Pontifex maximus als Oberhaupt der Kirche und stand er jurisdiktionell neben oder gar über den Bischöfen, war er selbst gar eine Art Oberbischof? Andererseits thematisierte das Statement eines kaiserkritischen Bischofs ein nicht weniger wichtiges Anliegen, nämlich die Frage, welcher konkrete Platz dem Kaiser bei den christ­ lichen Ritualen zustand: Präsidierte er die Gottesdienste, stand er neben oder über den zelebrierenden Priestern; wer setzte sich in die bischöfliche cathedra, wenn der Kaiser anwesend war, wem gebührte der Ehrenplatz in der Kirche? Solche Aspekte gingen weit über das Protokollarische hinaus, denn sie berührten das Spannungsfeld von Distanz und Nähe zur christlichen Glaubenslehre sowie das Selbstverständnis der nun auftrumpfenden christlichen Autoritäten. Das Ringen um die persönliche und institutionelle Selbstfindung wurde auch innerhalb der Kirche ausgetragen. Insbesondere die Sakralbauten der kaiserlichen Residenzen, die seit der Regierung Con­ 564

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Rekonstruktion der Basilika von S. Croce in Rom, 4. Jahrhundert

stantins einen Aufschwung erlebten, boten dem sich abzeichnenden Dualismus zwischen den Protagonisten des Kultbetriebes eine neuartige öffentliche Bühne. Sowohl der Kaiser als auch seine Mutter Helena und weitere Familienmitglieder traten als Erbauer von Gotteshäusern hervor, die an zentralen Orten der christlichen Verkündigung und der apostolischen Mission wie Jerusalem, Bethlehem, Rom, Con­stantinopel oder Antiochia errichtet wurden. Diese erhöhten durch ihre beeindruckende Monumentalität zugleich den Rang der betreffenden Bischöfe.196 Ein Beispiel für diese Stiftertätigkeit ist die im zweiten Viertel des 4. Jahrhunderts in Rom errichtete prachtvolle Basilika von Santa Croce, die eigens für die Aufbewahrung der Kreuzreliquien konzipiert wurde, die Helena 326 von einer legendär gewordenen Reise ins Heilige Land mitgebracht haben soll.197 Die häufige Präsenz des Hofes in den Basiliken wertete diese auf und verlieh den Gottesdiensten zusätzlichen Glanz. Eine sich stets verfeinernde ­Liturgie sowie die Prachtentfaltung der Gotteshäuser und der Rituale ver565

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wandelten die ursprünglich bescheidenen Versammlungsräume in Monumente der gesellschaftlichen Selbstdarstellung. Kaiser und Klerus entwickelten innerhalb und außerhalb der Kirchenmauern neue Formen der Interaktion, die sowohl den privilegierten Status der christlichen Priesterschaft widerspiegelten als auch die Bedürfnisse der kaiserlichen Herrschafts­ ideologie berücksichtigten.198 So sah sich Con­stantin, obwohl er dem Priesterstand ein neues Selbstbewusstsein zugestand, stets als Oberhaupt der von ihm protegierten Glaubensgemeinschaft. Er berief Konzilien ein, führte den Vorsitz, verlieh ihren Beschlüssen Gesetzeskraft, setzte renitente Bischöfe ab und nahm für sich das Recht in Anspruch, in disziplinarischen, kirchenrechtlichen oder theologischen Glaubensangelegenheiten als letzte Instanz zu sprechen.199 Bei der Ausübung seiner uneingeschränkten Vollmachten wurde ihm eine tiefempfundene Verehrung seitens eines Klerus zuteil, der ihm zu Dankbarkeit verpflichtet war und ihm als dem Befreier von der früheren Verfolgung huldigte. Widerspruch gegen seine selbstbestimmte Rolle als sichtbares Oberhaupt der Kirche kam nicht auf. Gleichzeitig stellte Con­ stantin den Bischöfen die Machtmittel des Staates in einem bisher ungekannten Ausmaß zur Verfügung, erwartete aber im Gegenzug Gefolgschaft und Kooperation.200 Betrat er eine Bischofssynode, so erhoben sich die Teilnehmer respektvoll, wahrten dabei eine zeremonielle Ruhe und begrüßten ihn voller Ehrfurcht. Er nahm anschließend auf einem goldenen Thron Platz, leitete und beschloss die Versammlung.201 Con­stantin verharrte stets im Zen­trum der Kirche und dies nicht nur zu seiner Lebenszeit. Ein beredtes Zeugnis seiner Selbstwahrnehmung und seiner Verortung innerhalb der christlichen Gemeinschaft liefert uns sein Grabmal in der Apostelkirche von Con­stantinopel. Hier wurde dem verstorbenen Kaiser ein prominenter Platz mitten unter den zwölf Aposteln zugewiesen, wo er, wie einst Christus, der ebenfalls von seinen Jüngern umgeben war, im Zen­trum des Sakralraumes seine ewige Ruhe finden sollte.202 Die Frage war nun, ob die Stellung, die Con­stantin für sich beanspruchte, einmalig und unwiederholbar war, oder ob seine Nachfolger nahtlos in seine Fußstapfen treten würden. Darüber wird ein langer, teils offener, teils unterschwelliger, jedoch stets heftiger Machtkampf um die religiöse Deutungshoheit entbrennen. Richten wir aber den Blick auf die innere Verfassung der Kirche, so lässt uns die Beobachtung der ersten massiven Zusammenstöße zwischen den Protagonisten des religiösen Wandels die Leitlinien erkennen, welche die künftige religionspolitische Entwicklung bestimmen werden. Wenn der nordafrikanische Donatistenstreit und die alexandrinische Kontroverse um die Theologie des Arius in besonderer Weise die innere Zerrissenheit der 566

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Kirche sichtbar machten, so offenbarte die Aufnahme der Beschlüsse von Nicaea die theologische Labilität einer verordneten Glaubenslehre. Entscheidend dabei war, dass bei diesen Konflikten der Kaiser eingegriffen hatte, um die Festschreibung des christlichen Bekenntnisses zu erzwingen. Jedoch musste er dabei erkennen, dass es leichter war, die Glaubenseinheit zu dekretieren, als sie tatsächlich zu vollbringen oder gar langfristig zu behaupten, was eine gewaltige Ernüchterung hervorgerufen haben dürfte.203 Neben der raschen Ausbreitung der christlichen Lehre im Reich und darüber hinaus wird das Axiom der theologischen Uneinigkeit sich als eine der prägenden religionspolitischen Konstanten der Epoche erweisen. Die wachsende Bedeutung der christlichen Gemeinschaft lässt sich nicht nur anhand der Zunahme der Kirchenbauten sowie der sozialen Anerkennung der Kleriker, sondern vielleicht noch mehr an der Vielfalt der christlichen Ausdrucksformen im Alltag ermessen. So rückte beispielsweise das Kreuz als eines der zentralen Symbole der christlichen Erlösungslehre in zahlreichen Werken der zweiten Hälfte des 4.  Jahrhunderts verstärkt in den Vordergrund. Es wurde in erster Linie als Siegeszeichen und weniger als Ausdruck des Leidens begriffen, was über die vorherrschende Stimmungslage der Kirche Aufschluss gibt.204 Die architektonische und künstlerische Pracht der Gotteshäuser in nach­ con­stantinischer Zeit korrespondierte mit dem steigenden Selbstbewusstsein einer Glaubensgemeinschaft, die zunehmend an öffentlichkeitswirk­ samer Ausstrahlung gewann und sich dabei prägende Zeugnisse der sakralen Kunst aneignete, wie die großartige Bildkomposition des Apsismosaiks von Santa Pudenziana zeigt, eine der aussagekräftigsten Christusdarstellungen der Epoche. Hier verkörpert Jesus, der inmitten der Apostel in herrschaft­ licher Pose thront, eine aufstrebende Glaubensgemeinschaft, die sich mittlerweile auf Erden eingerichtet hat und gleichzeitig den Blick zum Himmel erhebt: Die Anbringung eines prächtig geschmückten Kreuzes als Bindeglied beider Sphären veranschaulicht dies auf eindringliche Weise. Über die Einweihungsfeierlichkeiten der neuerbauten Basilika der phönizischen Stadt Tyros besitzen wir einen ausführlichen Augenzeugenbericht aus der Feder des Eusebios von Caesarea, der uns einen ziemlich genauen Einblick in deren Beschaffenheit gewährt.205 Gleichzeitig belegt dieser Text, der symptomatisch für andere vergleichbare Fälle ist, dass die christlichen Kulträume wegen ihrer anspruchsvollen Architektur, Geräumigkeit, luxuriösen Ausstattung, ihrem Reichtum an Kunstwerken sowie wegen ihrer Neigung zur Repräsentativität eher Kaiserpalästen glichen als Orten des Gebets und der inneren Sammlung. Analog zu dem Drang nach Steigerung der Sa567

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Christus und die Apostel – Mosaik aus der Apsis von Santa Pudenziana, Rom, Frühes 5. Jahrhundert

kralität der Kulträume gestalteten sich die liturgischen Feierlichkeiten206, welche die Unverzichtbarkeit des Klerus und insbesondere des Bischofs als Gemeindeleiter hervorheben sollten. Innerhalb der Kirche breitete sich, wie im kaiserlichen Palast, ein stimmungsvolles silentium aus. Der Einzug des Bischofs in die Basilika, der von einem Stab von Klerikern eskortiert wurde, erinnerte an den adventus eines Kaisers.207 Dort angekommen, zelebrierte er den Gottesdienst, assistiert von Presbytern, Diakonen, Subdiakonen, cantores, lectores etc.208 Den Zugang zur Messfeier regelte ein Diakon, der Sorge dafür trug, dass die Katechumenen vor Beginn des Opfermahls den Vorderraum der Kirche verließen. Nur den getauften Gläubigen war die Teilnahme gestattet. Sie nahmen gemäß ihres gesellschaftlichen Ranges Platz. Frauen und Männer blieben getrennt. Die Älteren postierten sich vor den Jüngeren. Im Zen­trum des Altarraumes und von allen Seiten gut sichtbar saßen die Kleriker; in ihrer Mitte thronte der Bischof auf einem prächtig ausgestatteten Sitz, wie die hier abgebildete cathedra des Bischofs Maximianus von Ravenna zeigt. Der in Herrscherattitüde thronende Bischof vermittelte eine Vorstellung von geistlicher Autorität und irdischer Macht zugleich. Daher bemühte 568

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Cathedra des Bischofs Maximianus von Ravenna (546–556), Elfenbein­ platten in altem Holzkern, H. 1,50 m, B. 0,66 m, auf der Vorderseite das ­lateinische Monogramm des Maximianus, darunter 5 Hochreliefs, in der Mitte Johannes d. Täufer, daneben die vier Evangelisten, Ravenna, Erz­ bischöfliches Museum

sich Augustinus, die Spannung zwischen Herrschen und Dienen, die dem kirchlichen Amtsverständnis zu eigen war, zu entschärfen, indem er die dienende Funktion in Erinnerung rief, wohl deswegen, weil sie immer wieder in Vergessenheit zu geraten drohte.209 Die Nutzung des christlichen Sakralraumes befolgte protokollarische und theologische Kriterien zugleich. Die Gottesdienstordnung sowie die Verortung der Gottesdienstteilnehmer in der Basilika erscheinen als ein getreuer Spiegel des hierarchischen Geistes, der die spät­antike Sozialordnung durchwehte.210 Gegen diese in theodosianischer Zeit sich vollziehende Entwicklung der Kirche zum prägenden Referenzrahmen der spät­ antiken Gesellschaft, was in der reichen Ausgestaltung und Herrlichkeit der Gotteshäuser zum Ausdruck kam, erhob sich gelegentlich Kritik. In 569

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seinen Briefen vermerkte der Kirchenvater Hieronymus angesichts der grassierenden Verweltlichungstendenzen bitter: Man baut Kirchen mit inkrustierten Marmorwänden, mit riesigen Säulen, die von kostbaren Kapitellen geschmückt sind; die Türen tragen Schmuck aus Ebenholz und Silber. Ich tadle dies gar nicht unbedingt (…), aber im Grunde gibt es doch eine andere Vorschrift: Christus in den Armen zu kleiden, in den Kranken zu besuchen und in den Obdachlosen aufzunehmen.211

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VIII Ikonographie der Macht

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ie folgenden Ausführungen wollen eine Skizze unterschiedlicher Formen der bildlichen Darstellung politisch konnotierter Herrschaft in der Antike entwerfen: Ins Visier genommen werden vornehmlich Zeichnungen, Bilder, Porträts oder Statuen von Personen, die als Herrschaftsträger in Erscheinung treten und entweder als solche erkennbar oder von einer Aura der Macht umgeben sind. Es handelt sich dabei um eine Auswahl und um ein Experiment zugleich. Darunter soll eine Reihe von Beispielen zur Sprache kommen, die für den Archäologen und Kunsthistoriker vielleicht längst geklärt sind, für den Historiker aber immer noch Grund zum Fragen bieten. Den Schwerpunkt dieser kleinen Sammlung bilden griechische Exponate zum einem, weil aus ihnen die ersten Gehversuche, die zur bildlichen Konfiguration von Macht und Herrschaft führen, verfolgt werden können, und zum anderen, weil sie die Grundlage für die späteren römischen Darstellungsformen abgeben, welche ohne die aus der Kunstwerkstatt der griechischen Klassik entstandenen hellenistischen Modelle undenkbar geworden wären. Abgerundet wird die Sammlung durch die Einbeziehung der christlichen Ikonographie in den Kontext dieser Betrachtung, indem anhand der Entstehung der ersten Jesusbilder das Spannungsverhältnis zwischen Menschendarstellung und Kultbild beleuchtet wird. Aus diesen Gründen verfolgt die Darstellung das Ziel, mittels aussagekräftiger Beispiele trendbestimmende Entwicklungslinien aufzuzeigen, die zur Visualisierung von Macht und Herrschaft in der antiken Kultur im Wandel der Zeit eingeschlagen worden sind. Es geht sowohl um die Verdeutlichung von strukturellen Elementen der Erfassung von Herrschaft als auch um Abbildungen von Individuen in unterschiedlichen historischen Situationen und Epochen unter Berücksichtigung der dazu gehörigen Attribute der Macht und der jeweiligen ideologischen Einbettung in ihren spezifischen politischen Kontexten. Insofern ist die Heranziehung der literarischen Charakterisierungen jener Persönlichkeiten, die jeweils im Mittelpunkt der Analyse 571

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stehen, unerlässlich für die Konturierung einer möglichst umfassenden Perspektive des Phänomens der Herrschaftsdarstellung. Beide verwendeten Quellengattungen, die materiellen Zeugnisse und die literarischen Texte, bedingen und ergänzen sich gegenseitig. Sie bilden trotz ihrer unterschied­ lichen Ansätze und Intentionen die Grundlage, um den Untersuchungsgegenstand im Sinne der aufgeworfenen Fragestellung zu erörtern und nach Möglichkeit zu entschlüsseln. Im Einzelnen gilt es, folgenden Überlegungen nachzugehen: Wann tauchen erstmalig die ersten Individualporträts auf, die man als Herrscherbilder deuten kann? Ferner: Welcher Personenkreis kommt dafür in Frage? Und schließlich: Welche Begebenheiten, historischen Momentaufnahmen und gleichbleibenden Attribute spiegeln die Darstellungen herrschaftlicher Individuen wider?

1 Bausteine für eine Phänomenologie des antiken Herrscherbildes

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ede Besinnung auf Erscheinungsformen herausragender Machtmenschen stößt bereits bei einer oberflächlichen Durchsicht des verfügbaren ikonographischen Materials auf erhebliche Deutungsschwierigkeiten. Folgendes Beispiel mag dies verdeutlichen: Ein Relief vom Schatzhaus in Persepolis1 aus dem 6.–5. Jahrhundert v. Chr. (siehe Seite 153) zeigt den persischen König der Könige Dareios in zeremonieller Haltung, so wie man es sich für die Aufgabenstellung nur wünschen könnte. Von derart idealtypischen Voraussetzungen kann man bei der griechischen Kunst kaum sprechen. Allzu oft wird man, insbesondere in vorhellenistischen Epochen, auf Bildmaterial verwiesen, dem auf den ersten Blick nicht anzusehen ist, ob es sich dabei um Darstellungen handelt, die Macht und Herrschaft evozieren. Es ist ein altbekanntes Phänomen, dass in Zeiten des Umbruchs und des Neubeginns überlieferte Begriffe und Anschauungen, sofern sie nicht völlig untergehen, neue Akzentsetzungen bekommen, oder gar gänzlich neu definiert werden. Der Name bleibt, der Inhalt ändert sich, sodass abstrakte und scheinbar synonyme Begriffe behutsam und im jeweiligen zeitlichen Kontext differenziert werden müssen.2 Dies trifft in besonderer Weise für die Vorstellung vom Herrscher und von Herrschaft zu.3 572

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1  Bausteine für eine Phänomenologie des antiken Herrscherbildes

Andererseits ähneln sich bestimmte Modelle der Präsentation und Repräsentation von Macht und Herrschaft durch die Epochen hindurch oder ­bleiben zumindest vergleichbar. Nur daher ist es überhaupt möglich, Herrscherbilder als solche anhand spezifischer Merkmale zu erkennen. Dieses Wechselverhältnis hat nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf die Entwicklung der künstlerischen Darstellungsformen, ungeachtet der Tatsache, dass die Vorstellung vom Herrscher beziehungsweise von Herrschaft und deren bildliche Umsetzung mehrdeutig sein können. Der naheliegenden Interpretation als materielles Bildnis vom Herrscher steht diejenige gegenüber, die den Begriff weiter fasst und ihn von der Auffassung des Herrschertums her definiert: Dem nun abstrakten Herrscherbild ist dann die Totalität der politischen Theorie und Wirklichkeit im Selbstverständnis einer bestimmten Epoche zu eigen. Andererseits kann unter einem Bild vom Herrscher sowohl ein Denkmal gemeint sein, das den Menschen durch tägliche Anschauung ins Bewusstsein treten soll, als auch ein für profane Augen verborgenes Abbild, wie es in Gestalt der mykenischen Gesichtsmasken vorliegt, über die zu sprechen sein wird. Diese Faktoren sozialer, politischer und stilistischer Provenienz durchdringen sich dergestalt, dass sie neue Synthesen hervorbringen, die erst durch Heranziehung historischer Betrachtungsweisen entschlüsselt werden können. Gemeinhin wird an ein Herrscherbild eine bestimmte Erwartungshaltung angelegt, die impliziert, dass der Dargestellte als Persönlichkeit erkennbar ist, die mit einem Bündel von Machtattributen ausgestattet erscheint. Dass dabei unterschiedliche Epochen je verschiedene Symbolsprachen gefunden haben, erschwert die Identifikation und Klassifizierung. Der umfangreiche Untersuchungszeitraum der antiken Kulturgeschichte gebietet somit die Berücksichtigung des kunsthistorischen Wandels4 und damit der genuinen Ausdrucksmöglichkeiten, die dem jeweiligen Künstler in seiner Zeit zur Verfügung gestanden haben, um der Vorstellung dessen, was er als Herrscher aufzufassen gewohnt war, Form zu geben. Durch politische Systemveränderungen wird die Frage der Herrschaftsauffassung zum Thema, was zu einem gesellschaftlich bedingten Paradigmenwandel führen kann.5 Aus diesen Gründen soll die Recherche in chronologischer Reihenfolge mit einem Blick auf den minoischen Kulturkreis beginnen, wobei die Frage seiner griechischen Zugehörigkeit ausgeklammert wird.6 Dass er einen beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung der mykenischen und damit der griechischen Kunst ausgeübt hat, steht außer Zweifel, und das ist hier entscheidend. Aus spätminoischer Zeit lassen sich einige wenige, überaus originelle Zeugnisse für die überfeinerte Hofhaltung einer Palastkultur zusam573

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mentragen, die für unser Thema relevant sind.7 Daran schließt sich die Betrachtung der mykenischen Staatlichkeit an. Sie konfrontiert uns mit hierarchisierten Regierungsformen, die ihren materiellen Ausdruck in der Errichtung großangelegter Burganlagen fanden8, in denen sich Hofleben und Verwaltung konzentrierten. Obwohl nicht als eigentliche Herrscherbilder konzipiert, vermitteln die goldenen Gesichtsmasken bedeutender Individuen9 einen Eindruck vom Reichtum und dem Repräsentationsbedürfnis der mykenischen Oberschichten. Nach der Erosion der mykenischen Welt um 1150 v. Chr. entstand in den Dark Ages eine neue politische und gesellschaftliche Ordnung, die zum Teil auf den Trümmern der alten aufbauen konnte, obwohl die gesellschaftliche Hierarchie angeschlagen war, sodass Herrschaft nun gleichbedeutend wurde mit einer Pluralität von besser situierten Herren, die titular anknüpfend an längst vergangene Zeiten (basileis) wichtige Funktionen in den sich rudimentär ausbildenden Poleis übernahmen, wie aus den Schilderungen Homers10 und Hesiods11 sichtbar wird. Demnach waren die basileis der Dark Ages kaum mehr als vermögende Landbesitzer, denen der vormalige Glanz der mykenischen Potentanten fehlte.12 Dies ist die gesellschaftliche Wirklichkeit, welche die abstrakte Formensprache der geometrischen Zeit reflektiert.13 Die folgenden Jahrhunderte waren geprägt von Auseinandersetzungen mächtiger Adelsclans, die um die Vormacht in den sich entwickelnden Poleis rangen. Die Präponderanz der Bessersituierten dokumentiert sich in der bildenden Kunst, wo der aristokratische Lebensstil seinen genuinen Ausdruck fand. Beispielhaft lässt sich das Selbstverständnis des Adels am Bildnis des „Reiter Rampin“ (siehe Seite 333) zeigen. Die staseis der archaischen Ära, die Erfordernisse der neuen Hoplitentaktik, sichtbar an der Chigi-­Kanne aus der Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. (siehe Seite 280) sowie in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. die Bedrohung durch die Perserkriege wurden zum Katalysator für einen langfristigen Prozess, in dem immer mehr Bürgern in immer stärkerem Maße politische Rechte eingeräumt wurden. Im Verlauf der laut geforderten Bestrebungen nach Isonomie innerhalb des Politenverbands14 wuchs zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. das Bedürfnis nach ideologischer Selbstvergewisserung, erkennbar in Literatur, Philosophie und bildender Kunst, wie sich dies am Monument der Tyrannenmörder (siehe Seite 116) manifestiert. Die ersten politischen Denkmäler entstanden anfangs durchaus als Auftragsarbeiten aristokratischer Kreise. Zur Herrschaft des Demos gehörte während der Pentekontaetie eine politische Programmkunst, die den darstellungswürdigen Einzelnen als Funktionsträger der Polis bestimmte, wie die Hermen, die zu Ehren der Strategen errichtet wurden, 574

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1  Bausteine für eine Phänomenologie des antiken Herrscherbildes

Siegelabdruck aus Kastelli, erhalten auf (gebranntem[?]) Ton, Archäologisches Museum Chania, Kreta

z­ eigen. Eingeleitet durch die Katastrophe des Peloponnesischen Krieges und die in den Schriften Xenophons, Isokrates’, Platons oder Aristoteles’ reflektierte Krise der Poliswelt, begann mit dem Alexanderzug eine charismatische Wende im Gefolge von Staatstheoretikern und Künstlern, welche die Alleinherrschaft als zweckmäßigste Regierung priesen und diese als alleinige Verkörperung in der Gestalt des Herrschers plastisch darstellten.15 Das hellenistische Königsbild entwickelt sich zum Prototyp des Herrscherbildes. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass man bereits in der Definition des Themas gelegentlich auf Schwierigkeiten stoßen kann. Worin diese bestehen, soll anhand eines Zeugnisses aus minoischer Zeit erläutert werden. Vergegenwärtigen wir uns einen Siegelabdruck aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts v. Chr. aus Kastelli, das heutige Chania auf Kreta.16 Das Bildchen der Stempelfläche eröffnet das Panorama einer felsigen Uferlandschaft, über der sich eine aus zahlreichen Turmhäusern gebaute Stadt, umsäumt von einer Mauer, erhebt. In die Mauer eingelassen sind zwei mit Halbrosetten geschmückte Tore. Zwischen diesen im Vordergrund, den Großteil der Mauer verdeckend, ragt ein monolithischer Fels empor, dessen vertikale Aufwärtsbewegung sich in den höchsten Gebäuden der Stadt fortsetzt. Den Gipfelpunkt 575

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der kompositionellen Klimax bildet eine männliche Gestalt in herrschaftlichem Gestus: Weit überlebensgroß  – sie misst ungefähr ebensoviel wie der Gebäudekomplex  – steht sie auf dem Dach des in der Bildmitte zentrierten Turmes, umrahmt von zwei Kulthörnern. Sie hat die rechte Hand weit von sich gestreckt, indem sie einen zepterähnlichen Stab vor sich auf die Standfläche setzt, während die linke Hand lässig auf der Hüfte ruht. Auffallend sind die wallenden langen Haare, die bis zur Hüfte reichen und die vornehme Geburt signalisieren können, sowie die Tatsache, dass die Gestalt Schmuck an Hals und Oberarmen und auch reiche Kleidung wie Stiefel, Schurz und eine kappenartige Kopfbedeckung trägt. Während es infolge der durch die Achsensymmetrie betonten Zentrierung der Gestalt keinen Zweifel über deren Wichtigkeit und Bedeutung gibt, stellen sich bei der Interpretation des Dargestellten einige Schwierigkeiten: Wird hier ein Herrscher in imperialem Habitus und Ornat vorgestellt? Kann demzufolge der Gebäudekomplex, auf welchem die Figur so majestätisch und gebietend ruht, als Palastanlage gedeutet werden? Oder haben wir es hier mit der Epiphanie eines Gottes zu tun, der über seinem Heiligtum erscheint? Ist überhaupt ein real existierendes Wesen gemeint, oder handelt es sich um eine der frühesten Darstellungen eines Bildes im Bild, einer Statue vielleicht eines Stadtheroen, dessen Podest, eingerahmt durch die Kulthörner, zugleich eines der Turmdächer ist? Diese Fragen zielen auf die Kernproblematik jeder ikonographisch ausgerichteten Untersuchung der antiken Repräsentation von Macht. Zum einen hat man sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Identifikation auseinanderzusetzen: Wie ist ein Herrscher ohne beigefügte Inschrift, die auf Namen oder Titel schließen lassen könnte, als solcher zu erkennen? Gibt es Wege, aus der Bildkomposition und dem Bildinhalt eindeutige Kriterien zu gewinnen? Zum zweiten muss nun gefragt werden, was überhaupt ein Herrscher ist, wie sich sein Selbstverständnis definiert und wie er nach außen hin repräsentiert werden will. Um einen zeitgenössischen Vergleich anzuführen: Es würde durchaus Verwunderung erregen, bezeichnete man ein Porträt von Willy Brandt oder Angela Merkel als Herrscherbild, obwohl der Bundeskanzler doch innerhalb der Verfassung der Bundesrepu­blik Deutschland durchaus Herrschaftsfunk­ tionen wahrnimmt. Bild und Begriff scheinen hier inkompatibel, schon allein, weil die Abbildung eines demokratischen Politikers zumindest nicht in erster Linie der Repräsentation von Macht dient.17 Was nach heutigem Verständnis klar auf der Hand liegt, ist für frühere Zeiten viel schwieriger zu ermitteln: Unter welcher Regierungsform ist es überhaupt sinnvoll, von Herrscherbildern zu sprechen? 576

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1  Bausteine für eine Phänomenologie des antiken Herrscherbildes

Gemeinhin impliziert der Begriff durchaus die Vorstellung von einer monarchischen Regierungsform. Ein minimalistischer Standpunkt, der sich lediglich auf die Berücksichtigung von Machtsymbolen mit eindeutigen Identifikationsattributen wie Hoheitsinsignien, Ornat, höfisches Zeremoniell oder die absolute oder relative Größe des Dargestellten beschränkte, schiene durchaus den Vorteil klarer Kriterien und einer bequemen Vergleichbarkeit des Bildmaterials zu haben. Bedauerlicherweise treten bereits bei der Sichtung von Herrscherattributen Probleme auf. Je detaillierter die Bildanalyse wird, desto mehr Zuweisungsfaktoren lassen sich bestimmen, sodass von einem unbestrittenen Kriterienkatalog schwerlich die Rede sein kann. Legt man darüber hinaus die Maßstäbe allzu eng aus, so wird man beispielsweise bei dem berühmten Alexandermosaik (auf das ausführlich eingegangen werden soll) in Alexander selbst, so wie er uns hier entgegentritt, kaum einen Herrscher erblicken können. Bei den Strategenköpfen des klassischen Athen (auch diese sollen eingehend betrachtet werden) wird man sowohl aus der Art der Darstellung als auch aus dem politischen Kontext der isonomen Polis keine Herrscherbilder erwarten dürfen, was ja im eklatanten Gegensatz zur damaligen Ideologie gestanden hätte. Nichtsdestoweniger wäre es wenig einsichtig, diese archäologischen Zeugnisse aufgrund einer zu engen Definition des Begriffes Herrscher/Herrschaft einfach auszuklammern. Gerade im Fehlen sogleich ins Auge stechender Machtattribute kann eine Repräsentationsform von Macht begründet liegen, und schon allein in der Tatsache der Denkmalerrichtung für einen verdienten Bürger ist mehr zu sehen als ein politisch neutraler Kunstgenuss. Die öffentliche Präsentation des Bildes einer historischen Persönlichkeit war immer ein Politikum, das auf die zeitgenössischen Verhältnisse wirkte. Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang auf die Eröffnung von raumzeitlich konkretisierbaren Ereignissen und Personen in der Bildniskunst seit dem Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. hinzuweisen, wie dies anhand der Darstellungen der Tyrannenmörder aufgezeigt werden kann.18 Gerade die Einordnung des Dargestellten in einen historischen Rahmen erlaubte eine stringentere politische Inanspruchnahme der bildenden Kunst als wesentlichen Faktor der Meinungsbildung und gesellschaftlichen Selbstvergewisserung. Andererseits wäre es wiederum zu eng gedacht, sich bei der Analyse des antiken Herrscherbildes nur auf historische oder genauer, auf historisch nachweisbare Persönlichkeiten zu beschränken. Stilistisch ist dies dadurch zu rechtfertigen, dass die geometrische Kunst keine individualisierende Darstellung kennt. Die Figuren bleiben abstrakt, eine Zuweisung auf eine konkrete Person ist nur im Ausnahmefall möglich. Dennoch gewähren die 577

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S­ zenarien gerade anhand des schematisch abstrahierenden Stils Einblicke in gesellschaftliche Strukturen und damit in die Wirklichkeit von Herrschaft in einer historisch wenig bekannten Epoche. Der politische Hintergrund der basileis des geometrischen Zeitalters war eben nicht der einer zentralistischen und repräsentationsbedürftigen Monarchie19; vielmehr werden die Häupter vornehmer Familien, obwohl wir sie heute nur schwerlich als Herrscher bezeichnen können, auf den monumentalen Grabamphoren abgebildet. Sie stellen das dar, was man sich in den Dark Ages unter Herrschaft im weitesten Sinne vorzustellen hat. Der Mythos als Projektionsfläche der Vergangenheit oder gar als „geglaubte Wirklichkeit“20 liefert, insbesondere in der Vasenkunst, eine Vielzahl von Darstellungen, die  – obzwar im strengen Wortsinn unhistorisch  – für die Spielarten des Herrscherbildes von Interesse sind (wie die Kroisos-­ Amphore auf S. 270 beispielhaft zeigt). Darüber hinaus aktivierte er beim zeitgenössischen Betrachter ein abrufbares kulturelles Hintergrundwissen, das einen schnellen und eindeutigen Verständniszugang ermöglichte. Für den heutigen Rezipienten bildet er ein Paradigma für die Deutung einer Persönlichkeit, die sich als Herrscher verstanden wissen will. Das Spiel mit mythologischen Symbolen verselbständigte sich mit der Zeit immer mehr, bis in der Epoche der hellenistischen Monarchien das Zitat mit Attributen aus dem Mythos zum eindeutigen und oftmals ausschließlichen Identifikationsschlüssel für ein Herrscherbild wurde. Es erscheint aus den angeführten Erwägungen geboten, den Rahmen für eine Phänomenologie des Herrscherbildes möglichst weit zu stecken, um so in der Variation der Darstellungsformen einen Eindruck von der politischen und kulturellen Wandlungsfähigkeit der antiken Welt zu geben. Wenn im Folgenden ein chronologisches Strukturierungsschema befolgt wird, das eine stete Fühlungnahme zu den geschichtlichen Bedingungen der Kunst ermöglicht, so deshalb, um dem Herrscherbild als kunstgeschichtliche und als historische Größe auf die Spur zu kommen. Es geht dabei um die Dokumentation eines interdisziplinären Problems, das zwischen Geschichtswissenschaft, Archäologie und Kunstgeschichte anzusiedeln ist. Dass in diesem Zusammenhang umstrittenes Material nicht ausgespart wurde, ist durchaus beabsichtigt.

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2 Früheste Beispiele Minoische Ära Auf der Vorderseite der Außenfläche sieht man zwei einander zugewandte Gestalten, von denen die rechte in stolzer Positur das Haupt erhebt, die linke Hand auf die Hüfte zurückstemmt und mit der rechten Hand einen langen Stab oder ein Zepter genau zwischen sich und ihr Gegenüber hält. Sie trägt einen Schurz und gestreifte Stiefel, am Gürtel hängt ein dolchförmiger Gegenstand. Auffallend ist der reiche, fein ziselierte Schmuck an Hals und Armen sowie das lange, in lockenartigen Strähnen bis hinab zum Rücken wallende Haar. Die linke Figur steht leicht zurückgebeugt frontal zu ihrem Gegenüber. Indem sie in demonstrativem, beinahe übertriebenem Präsentationsausdruck rechts ein langes Schwert geschultert hat und über die linke Schulter wohl die Schwertscheide21 trägt, drängt sich unwillkürlich der Eindruck einer Hab-Acht-Stellung auf, erkennbar am durchgedrückten Rückgrat und dem Hervorkehren der Brust. Der Eindruck des Soldatenhaften wird verstärkt durch die Tatsache, dass der Kopf behelmt ist, wobei das Haupthaar, ganz im Gegensatz zum Partner, kurz geschoren ist und unter dem Helm kaum hervortritt. Auch diese Figur trägt einen Schurz sowie ungemusterte Stiefel und einen deutlich weniger ziselierten Halsreifen, was sie vom Gegenüber abhebt. Die Deutung des Bildes ist in der Forschung umstritten.22 Der älteren Auffassung, hier wäre der Empfang einer Gesandtschaft abgebildet (F. Matz), steht neuerdings die Erkenntnis gegenüber, dass es sich aufgrund der kindlichen Gesichtszüge und des schlanken Körperbaus um zwei Jungen handelt, die eine militärische Parade oder ein Zeremoniell nachspielen. Während hinsichtlich der Zuweisung der Altersstufen wohl kaum noch Unklarheit über die Richtigkeit der These bestehen dürfte23, fußt die Deutung der Szene als kindliches Imitationsverhalten24 auf der subjektiven, wenn auch nicht ganz von der Hand zu weisenden Beobachtung, dass die Akteure kindlich unbeholfen wirken, was der Künstler bewusst durch ein überbetontes InPose-Setzen zum Ausdruck gebracht hätte. 579

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Prinzenbecher (1650–1500 v. Chr.): Spätminoisches ­konisches Steatit­gefäß, früher mit Gold überzogen. Höhe 11,5 cm; Durchmesser oben 9,9 cm. Fundort: Palast Hagia Triada auf Kreta, jetzt im Museum von ­Herakleion25

Weniger spekulativ ist allerdings die künstlerische Differenzierung der beiden Figuren. Der rechte Junge trägt im Gegensatz zum anderen betont langes Haar, reicheren Schmuck sowie einen Stab, den er distanz- und achtungsgebietend zu hantieren weiß. Er tritt dem Betrachter im Gestus einer betonten Herrschaftsallüre entgegen. Seine relative Größe liegt zudem deutlich über derjenigen seines Partners. Aufgrund dieser Erwägungen sowie unter Berücksichtigung, dass der ursprünglich vergoldete Becher in einem Palast aufgefunden wurde, ist in der Forschung die Bezeichnung Prinzenbecher, auf dem der betreffende Königsspross selbst abgebildet worden sei, üblich geworden. Der linke Junge hingegen wird charakterisiert durch den Helm und die Haltung seiner Waffe, weswegen er auch häufig als Offizier angesehen wird. Aus der gesamten Körperhaltung, wie der Hab-Acht-Stellung, lässt sich durchaus ein vielleicht nur gespieltes hierarchisches Verhältnis zwischen den beiden Kindern ablesen. Die Relevanz der Darstellung liegt nicht allein in deren Originalität begründet, sondern ebenso in der Tatsache, dass es sich um eines der ältesten 580

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Zeugnisse von Herrschaft (mit den gängigen Herrscherinsignien) im griechischen Kulturraum überhaupt handelt. Reizvoll ist hierbei sowohl der Einblick in ein Herrscherzeremoniell aus minoischer Zeit als auch die Möglichkeit, dass wir es hier, indem die Herrscherrepräsentation in das Spiel von Kindern verwandelt wurde, wahrscheinlich mit einer bewussten Travestie desselben zu tun haben.

Mykenische Epoche Im Unterschied zur minoischen Kultur auf Kreta legten die mykenischen Machthaber (wanaktes) auf dem Festland wesentlich mehr Gewicht auf diejenigen Dinge, die nach dem irdischen Leben kommen würden. Neben den imponierenden Burganlagen sind es gerade die Schachtgräber am Gräberrund A, hier besonders Schachtgrab V, die uns über die Anfänge der griechischen Geschichte Auskunft geben und Einblicke gewähren in den fürstlichen Bestattungsluxus, der als Indikator von herrschaftlichem Repräsentationsbedürfnis gelten kann. Als Heinrich Schliemann 1876 die ausgedehnten Nekropolen in der Burg von Mykene entdeckte, glaubte er, die inmitten von reichhaltigen Grabbeigaben wie goldene Arm- und Halsreifen sich befindenden Totenmasken den sagenhaften Helden aus den homerischen Epen zuweisen zu können. Inzwischen ist die Forschung viel vorsichtiger mit derlei Identifikationen, zumal es durchaus zweifelhaft ist, ob die literarischen Reflexe auf die quellenarmen Jahrhunderte der mykenischen Epoche überhaupt einen realen historischen Kern aufweisen. Bilden die Totenmasken auch keine für uns mehr identifizierbaren mykenischen Fürsten ab, so erstaunen dennoch Pracht und Individualität der zu Gold gewordenen Gesichtszüge. Beim sogenannten Agamemnon erkennen wir einen Bart auf der Oberlippe, darunter ein Ziegenbärtchen, schmale Nasenflügel, die von feinen Augenbrauen überwölbt werden. Im Antlitz tritt uns ein vornehmes Gepräge entgegen. Diese wohl berühmteste Gesichtsmaske, aufgefunden im Schachtgrab V inmitten zweier weiterer reich geschmückter Skelette, kann als beispielhaft für die Frage gelten, ob hier ein Herrscherbild vorliegt. In der Tat haben wir in Gestalt dieser Maske die Gesichtszüge einer bedeutenden Persönlichkeit vor uns. Was dennoch an der Klassifikation als Herrscherbild zweifeln lässt, ist die Tatsache, dass dieses Bildnis nicht für den Repräsentationsgebrauch vor anderen Menschen geschaffen wurde, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach ausschließlich religiösen Zwecken diente: Es war ein im Grab verschlossenes arcanum, das die 581

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Gesichtsmaske des sogenannten Agamemnon. Die aus dem 16. Jahrhundert v. Chr. stammende Gesichtsmaske ist aus gelbrötlichem Goldblech gefertigte und hat eine Höhe von etwa 26 cm und eine Breite von 26,5 cm. Neben den Ohrläppchen ­befindet sich jeweils ein Loch, das vermutlich der Befestigung diente (Mykenischen Sammlung des Archäologischen Nationalmuseum in Athen) 26

Unvergänglichkeit eines herausragenden Individuums vor den Göttern sicherstellen sollte. Damit stehen die mykenischen Totenmasken in Analogie zum ägyptischen Totenkult, was manche Forscher dazu bewegt, eine kulturelle Fühlungnahme zwischen Teilen der mykenischen Welt und Ägypten anzunehmen. Gerade die perpetuitas ist es aber auch, die den sogenannten Agamemnon als Porträt für die Ewigkeit definiert. Das eikon des mykenischen Potentaten demonstrierte Macht inmitten des ausgedehnten Hügelgrabes und ließ diesen in seiner Eigenschaft als Herrscher überdauern. Ob der Betrachter nun die alles erkennende Gottheit ist oder der Untertan, der zur Vergegenwärtigung seiner sozialen Stellung des visuellen Aktes herrschaftlicher Demonstration bedurfte, erscheint sekundär. 582

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Geometrische Zeit Das Bild auf der Vorderseite zeigt eine hochpfostige Kline mit gedrechselten Beinen. Darauf liegt eine Gestalt mit nach oben gewandtem Antlitz, während der Oberkörper frontal, Leib und Beine hingegen im Profil wieder­ gegeben sind. Darüber hängt ein Tuch mit schachbrettartigem Muster, dessen Fläche dort einrückt, wo andere Figuren stehen. Unter der Kline knien beziehungsweise sitzen drei Figuren in typischem Klagegestus, indem sie haareraufend mit beiden Händen das Haupt berühren. Rechts von der Kline befinden sich sieben Personen, wiederum im Klagegestus, wobei eine deutlich kleinere Figur den Bettpfosten berührt. In leicht modifizierter Symme­ trie folgen links der Kline sieben weitere Gestalten, von denen die beiden letzten je ein Schwert halten, das an ihrer Seite hängt. Die Gesamtkomposition zeigt einen erheblichen Aufmarsch von Figuren in deutlichem Klagegestus, die sich ausnahmslos der als bildbeherrschend gezeichneten liegenden Gestalt zuwenden. Das Szenarium erlaubt die Identifikation als Totenklage (Prothesis). Die dargestellten Figuren sind dabei keineswegs, wie es ein erster Blick glauben machen könnte, stereotyp. Leichte Modifikationen im Gestus (die Trauerhaltung wird von einigen nur mit einer Hand vollzogen), in der Positionierung (Stehende, Sitzende, Hockende, ein Liegender) sowie im Körperbau und der Größe (besonders auffällig sind der Liegende und die kleine Gestalt am Bettpfosten) eröffnen ein durchaus differenziertes Szenarium, das altersspezifische und hierarchische Unterschiede zum Ausdruck bringt: Die kleine Figur kann als Kind gedeutet werden, dessen verwandtschaftliche Nähe zum Verstorbenen durch die unmittelbare Berührung der Kline unterstrichen wird. Als Chorleiter wird bisweilen der rechts Sitzende unter dem Leichenbett bezeichnet, da er, nur mit einer Hand den Trauergestus ausführend, die Rechte quasi dirigierend den Knieenden zuweist, die dann konsequenterweise als Klageweiber zu interpretieren wären. Weniger hypothetisch ist die Deutung der beiden Stehenden links außen, die das gegürtete Schwert als Krieger ausweist. Am auffälligsten ist die Differenzierung jedoch bei dem Toten oder bei der Toten gelungen. Die Gestalt ist eindeutig größer als alle anderen und sieht auch vom äußeren Erscheinungsbild anders aus, wie man an den Haaren und Fingern beobachten kann. Kein Zufall ist ihre Zentrierung, die durch die optische Hinwendung aller sonstigen Beteiligten noch unterstrichen wird. Anzahl und ausdifferenzierte Art des Gefolges erlauben Rückschlüsse auf die soziale Stellung der auf der Kline liegenden Person, die ohne Zweifel, im Mittelpunkt des Geschehens stehend, Anlass der künstle583

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Prothesisamphore (um 760 v. Chr.). Attische reifgeometrische Bauchhenkelamphore, aus zahlreichen Bruchstücken wieder zusammengesetzt. Höhe: 1,55 m; größter Durchmesser: 74 cm. Material: gelblicher Ton mit braunroter Firnis. Fuß neu, ebenso Teile unter dem linken Henkel. Fundort: Nekropole vor Dipylon in Athen, jetzt in Athen, Nationalmuseum. Funktion: Grabmonument. Als Künstler ist der sogenannte Dipylon-Meister anzusehen, ein Spezialist für große Grabgefäße (Coldstream) 27

rischen Ausgestaltung war. Dargestellt ist die Aufbahrung und Beklagung eines kürzlich verstorbenen vornehmen Herren oder einer vornehmen Dame, wobei allein die kostbare Monumentalität und künstlerische Qualität der Vase den Rang dokumentiert. Die Thematik des Bildes gab dem Künstler Gelegenheit, die gesamte Prothesis aufzuzeigen; das heißt, wir haben hier keine Momentaufnahme vor uns, sondern die Wiedergabe eines Geschehens. Sie erfasst die Einzelklage ebenso wie den professionellen Klage­chor mit Chorführer, den Aufmarsch des Gefolges sowie die verwandschaftlichen Beziehungen des Toten. 584

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Ekphorakrater (Mitte des 8. Jahrhundert v. Chr.). Attischer monumentaler Krater des sogenannten Hirschfeldmalers. Höhe: 1,23 m; Durchmesser oben: 78 cm. Fundort: Gräberbezirk an Piräusstraße, heute Athen, Nationalmuseum. Funktion: Grabmonument (Grabkrater mit offenem Boden für Grabspende) 28

Trotz der Faktoren, die eine weitgehende Differenzierung der Bildaussage ermöglichen, bleiben individuelle Zuweisungen unmöglich: Der symbolhafte und abstrahierende Stil der geometrischen Zeit hat ein ausgesprochenes Interesse an der Wiedergabe der für das damalige Menschenbild charakteristischen Körperteile: Langer Hals, dreieckiger Oberkörper in Frontalansicht, eingezogene Taille, massige Beine im Profil. Der Mensch wird noch nicht als ganzheitliche Entität begriffen. Die Betonung bestimmter Körperteile wie Kinn, Augen, Schultern oder Beine vermitteln eine intellektuelle Abstraktion, die auch in der Abtrennung der einzelnen Gestalten durch ornamentale Muster (Zick-Zack, Sterne) fassbar ist. Wo aber von keiner ganzheitlichen Sicht des Menschen gesprochen werden kann, ist eine Zuweisung durch 585

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konkrete Identifikationsmerkmale ausgeschlossen. Die Figuren werden für den außenstehenden Betrachter austauschbar und versinken in der Anonymität. Für die zeitgenössischen Angehörigen mochte schon allein durch das Szenarium eine individuelle Rückbesinnung auf eine konkrete Person möglich sein; für den heutigen Betrachter ist die Referenz auf eine historisch fassbare Person nicht mehr gegeben. Alles, was wir in der geometrischen Darstellung zu fassen vermögen, ist eine durch die Mittel moderner Bildanalyse begründete Vermutung, dass es sich bei dem dargestellten Toten um einen vornehmen Menschen der zu Ende gehenden Dark Ages gehandelt hat. Um die Darstellungsmöglichkeiten des geometrischen Stils genauer zu erörtern, soll auf eine weitere Vasenmalerei aus der Wende der attischen Keramik zum orientalisierenden Stil verwiesen werden, die Tendenzen der Prothesisamphore wiederaufnimmt, jedoch die Differenzierungsmöglichkeiten in der figürlichen Zeichnung nun deutlich weiterentwickelt (Markieren des Auges, Brüste, Haupthaar). Die Vorderseite des Kraters besteht im Wesentlichen aus einem Hauptfries mit mehreren Registern. An der Bahre stehen Trauernde, auf der ein überdimensionaler Toter liegt und noch eine kleine Gestalt zu erkennen ist, sodass die Interpretation der Figuren als engster Familienkreis naheliegt. Die weitere Verwandtschaft und das Gefolge erscheinen im zweiten Fries darunter: Die Ausfahrt des Toten aus der Stadt (Ekphora) auf einem Leichenwagen, gezogen von zwei Pferden, kann beginnen. Auf dem dritten, untersten Fries schließlich paradieren Krieger auf Streitwagen mit zwei Pferden einher. Stolz präsentieren sie Schilde und Schwerter und erweisen so dem Toten als Standesgenossen und Waffen­ gefährten die letzte Ehre. Die gesamte Komposition ist auf die Ekphora ausgerichtet, was durch die allgemeine Rechtswendung der Figuren und das Hineinragen des zentralen mittleren Frieses, auf dem der Leichenzug erscheint, in andere Bildabschnitte ersichtlich wird. Auf die Darstellung des Pompes wird in diesem Beispiel wesentlich mehr Wert gelegt, die Szenerie lebt ganz von der Repräsentation vergangener Macht.29 Deutlicher noch als bei der Prothesisamphore wird hier ein komplexes simultanes Geschehen wiedergegeben, diesmal unter Aufteilung in verschiedene Bildteile, die erst als Ganzes das Verständnis des Inhaltes ermöglichen. Vor dem Hintergrund beider Vasendarstellungen, die für den geometrischen Stil als repräsentativ gelten dürfen, kann eine vorsichtige Problematisierung des Begriffes Herrscherbild unter den kunsthistorischen und geschichtlichen Bedingungen der Dark Ages versucht werden. Die Abstraktion und Symbolhaftigkeit des geometrischen Stils macht die Zuweisungsproble586

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Detailaufnahme: Bildmitte

matik virulent: Szenarios werden entfaltet, die konkrete Handlungsabläufe sowie typenhaft differenzierte Figuren bieten. Da aber jegliche individuelle Züge fehlen, kann das Dargestellte für den heutigen Betrachter nicht mehr identitätsstiftend sein. Szenarium und Aufwand bestimmen die Zuweisung als gemeinte Person, nicht die Person als individuelle Entität selbst. Obwohl eine typenhafte Differenzierung durchaus vorhanden ist (Altersstufen, Geschlecht, sozialer Rang), bleibt das Deutungsmuster abstrakt und für den Außenstehenden austauschbar. Der symbolhafte Zeichencharakter erlaubt noch keine Identifikation mit einer historischen Persönlichkeit.

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in Knospenfries umrahmt die runde Segmentkomposition, auf der rechts ein Querbalken mit einer Waage nahezu die gesamte Bildhälfte einnimmt. In emsiger Betriebsamkeit machen sich nur mit einem Schurz bekleidete Gestalten, die kurzgeschorenes, mit einem Band umwundenes Haar tragen, an der Waage und an sackförmigen Gegenständen zu schaffen. Im unteren Viertel, segmentartig abgeteilt, sehen wir weitere Gestalten, schwer bepackt, offenbar bei der Verladung von Säcken. Links sitzt eine deutlich größere Figur auf einem Klappstuhl. Durch ihre Kleidung hebt sie sich von den übrigen ab: Sie trägt einen weißen Chiton, einen purpurnen gestreiften Mantel, Schnabelschuhe und einen Sonnenhut mit einer Knospenspitze. Auch physiognomisch wird die Distanz deutlich: Langes Haar wallt über den Rücken bis hinab zum Stuhl, unter dem, als exotische Zutat der afrikanischen Welt, eine Raubkatze mit Halsband ruht. Mit dirigierender Geste weist der majestätisch Sitzende seine mit einer Gewandschlaufe umwundene Rechte zur Waage, wie wenn er die Aufsicht über das Geschehen hätte, während die Linke ein auf den Boden aufgesetztes Zepter hält. Alle auf dem oberen Segment anwesenden Personen sind dem Thronenden zugewandt. Die verblasste Inschrift vor seiner Stirn ermöglicht eine namentliche Zuweisung: Arkesilas. Die Inschrift erlaubt keine eindeutige Identifikation des Dargestellten. Gemeint sein kann entweder der sagenhaft reiche Arkesilas 1. (um 599–583 v. Chr.) oder der zur Zeit des Vasenkünstlers regierende basileus Arkesilas II. (um 565–550 v. Chr.).30 In beiden Optionen wäre ein König von Kyrene abgebildet, womit diese Darstellung eines der ersten historisch lokalisierbaren Herrscherbilder wäre. Die Szenerie spielt sich unter freiem Himmel ab, nicht etwa in einem Schiff, wie bisweilen angenommen wird. Das Tuch über Arkesilas ist kein Segel, sondern ein Baldachin, der den Raum, in dem sich die Hauptperson aufhält, deutlich von den übrigen Personen abgrenzt. Vor dem basileus ist eine Figur gerade im Begriff, auf die Knie zu fallen und im devoten Gestus etwas zu erbitten. Der Akt der Unterwürfigkeit bildet zusammen mit der majestätischen Positur des Thronenden das kompositionelle Zen­trum, um 588

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Arkesilas-Schale (um 560 v. Chr.). Lakonische Trinkschale des Arkesilasmalers, schwarzfigurig mit gelblichem Tongrund, elfenbeinfarbiger ­Überzug. Höhe: 20 cm; Durchmesser: 29 cm. Fundort: Vulci, vermutlich spartanischer Importartikel, hervorragendes Zeugnis nichtattischer Werkstätten des 6. Jahrhunderts v. Chr.; heutiger Standort: Paris, ­Bibliotheque Nationale 31

das sich die übrigen Vorgänge als erklärendes Ambiente scharen. Thema ist also die Darstellung ausgeübter Macht in Gestalt eines exotischen Herrschers in einer griechischen Kolonie auf afrikanischem Boden (Raubkatze, Eidechse, Kraniche, Sonnenhut). In der Positur des Sitzenden, insbesondere in der Korrespondenz von unbewegter Körperhaltung und symbolträchtiger Armstellung, erblicken manche Interpreten eine Imitation von Pharaonendarstellungen, was aber fraglich ist. Offenbar spielt sich hier die Wägung einer Ware ab, die man mit der antiken Droge Silphion identifizieren könnte. Da Silphion ein Monopol des Herrschers war, erfolgte die Wägung, Abpackung und Hortung unter seiner Aufsicht.32 Weitreichende Analysen, welche aufgrund von Konjekturen aus den Inschriften neben den Figuren Berufsbezeichungen ableiten wollen33, ermöglichen zwar interessante, letztlich aber unbeweisbare Interpretationsansätze. Es bleibt als Fazit zu bemerken, dass 589

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VIII  Ikonographie der Macht

wir es hier offenbar mit einer funktionellen Beschreibung des kyrenäischen Wirtschaftslebens zu tun haben, in der der Herrscher realiter und ikonographisch zwar die dominierende Rolle spielte, in dem die Herrscherdarstellung aber von sekundärer Bedeutung und somit noch nicht Selbstzweck ist. Dies kommt besonders auf der Kroisos-Amphore zum tragen (siehe Seite 270). Dieses „erste politische Denkmal der abendländischen Geschichte“34, nämlich die Figurengruppe der Tyrannentöter (siehe Seite 116), hat eine komplizierte Genese. Schon bald nach dem Geschehen entstand ein Mythos. Das Tötungsdelikt aus persönlichen Motiven wurde als politische Tat umgedeutet. Daher erschienen die Mörder des Hipparchos als Vorreiter der Freiheit, weil sie die Polis von den Fängen eines Despoten erlöst ­hätten.35 Es war nur folgerichtig, dass diese heroische Tat im Sinne einer Selbstinterpretation der Polis nun auch im Denkmal verherrlicht wurde. Am Anfang stand eine Auftragsarbeit (vielleicht durch die Alkmeoniden veranlasst) an den Künstler Antenor.36 Dass dieses Werk heute nicht mehr erhalten ist, liegt daran, dass bereits der persische König die politische Bedeutung des Denkmals erkannte.37 Er ließ dieses nicht etwa einschmelzen, sondern stellte es in seiner Königsresidenz in Susa auf. Schon bald nach dem Raub (477 v. Chr.) erging eine Auftragsarbeit an Kritios und Nesiotes, und zwei Jahre später stand das heute bekannte Denkmal der Tyrannenmörder als Bronzestatuengruppe auf der athenischen Agora. In den Tyrannenmördern können wir zwei unterschiedliche Bildtypen erkennen: Aristogeiton trägt einen fülligen Bart, kurzes Haar und macht einen deutlich älteren Eindruck als Harmodios, der jünger und im Gestus agiler wirkt. Beiden gemeinsam ist die demonstrative Präsentation des Schwertes. Harmodios holt weit nach oben zum Schlag aus, während Aristogeiton mit seiner Linken, in der er die Schwertscheide hält, dem Harmodios Deckung gibt, wobei seine Rechte mit dem Schwert zusticht. Dekorativ umschlingt dabei die Chlamys seinen linken Unterarm. In typisch aristokratischer Idealvorstellung des kalos agathos treten die beiden Figuren hoch aufgerichtet und nackt einem Feind entgegen. Jede Körperfaser unterstreicht die Zielgerichtetheit der Handlung. Tonio Hölscher hat die Standgruppe treffend als „historisches Handlungsbild“38 bezeichnet. Zum ersten Mal fassen wir hier eine zu Stein gewordene Reflexion eines konkreten historischen Geschehens, eingebettet in ein Kontinuum von Raum und Zeit. Damit war der Weg zum Historienbild eröffnet.39 Im Betrachten wurde der polisbedrohende Tyrann stets aufs Neue getötet. Deshalb ist es unerheblich, nach der Wirklichkeitstreue oder nach der Individualität in der Darstellung zu fragen. Fast zwei Generationen nach 590

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dem Mord wird kaum eine Erinnerung an das tatsächliche Aussehen der ­beiden Tyrannenmörder mehr bestanden haben. Harmodios und Aristogeiton können gerade durch den zeitlichen Abstand zu überindividuellen Identifikationsfiguren für alle Politen werden, die sich in der Folgezeit eidlich verpflichten mussten, jeden Tyrannen zu töten. Der in den Tyrannentötern zur Gestalt geronnene Bürgereid ist die Inkarnation des nach Isonomie strebenden Polisgeistes – ja, dessen ideologische Selbstvergewisserung. Die betonte Differenzierung verschiedener Altersstufen (junger Harmodios und reifer Aristogeiton) diente als zusätzliche Identifikationsmöglichkeit für den gesamten Demos. Wenn also behauptet wird, dass dies die erste öffentliche ­Ehrenstatue in Athen war40, so muss zugleich eingewandt werden, dass die Verehrung einer abstrakten Größe, nämlich der gesamten Polis, galt. Nun kann man sich mit Recht fragen, warum diese Standgruppe unter die Ikonographie der Macht eingereiht wird, wo sie doch die Ohnmacht eines Potentaten offenbart. Von einem Herrscher ist nichts zu sehen. Hier liegt die eigentliche Brisanz des griechischen Begriffes vom Herrschertum. Der Tyrann, Grund und Objekt des Geschehens, wird ausgespart. Nur diejenigen, die als Funktionsträger der Polis den als ursprünglich gedachten Zustand der Isonomie wiederherstellten, indem sie das Objekt der Ablehnung beseitigten, verdienen es, auf ewige Zeiten vor die Augen aller Politen zu treten. Doch auch das ist wiederum nur dadurch möglich, dass Harmodios und Aristogeiton nicht mehr unter den Lebenden weilen und daher von keinem politisch gefährlichen Personenkult profitieren konnten. Als ruhmreiche Tote können sie dem Gemeinwohl keinen Schaden zufügen. Das spätarchaisch-frühklassische Herrscherbild definiert sich in der Polis der Athener ex negativo als Kontrastfolie zur tyrannis. Damit hatten die Athener eine ideologische und intellektuelle Plattform eines politischen Selbstverständnisses erreicht, das die Demokratie während der Pentekontaetie und in der perikleischen Epoche bestimmen sollte. Sehr beachtenswert ist die Darstellung des Würzburger Stamnos im Zusammenhang mit der Tyrannisproblematik, weil er, anders als im Denkmal der Tyrannentöter, Aristogeiton und Harmodios gemeinsam mit Hipparchos im Kampf zeigt. Ohne Zweifel handelt es sich hier um eine der frühesten Darstellungen eines Tyrannen. Hipparchos ist bekleidet mit einem Festgewand, in dem er sich anlässlich der Panathenäen des Jahres 514 v. Chr. unter das Volk mischte. Als Zeichen seiner Würde trägt er einen Lorbeerkranz sowie einen knorrigen Holzstab, der auch ein Zepter sein könnte. Dargestellt ist der Vorgang der Ermordung selbst: Der Angegriffene wendet sich fluchtartig Richtung Harmodios, der gerade zum Schwertstreich aus591

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Stamnos der Tyrannenmörder (um 475 v. Chr.). Die rotfigurige Vase des Kopenhagener Malers, Höhe: 34,3 cm, befindet sich im archäologischen Institut der Universität Würzburg 41

holt, als ihm Aristogeiton die Waffe in die Seite bohrt. Die Szene ist höchst dramatisch ausgestaltet. Während Hipparchos schutzsuchend die Arme nach Harmodios ausstreckt, ereilt ihn, eingekeilt zwischen seinen beiden Mördern, der Tod. Auf der Rückseite sind Festordner abgebildet, die Hilfe herbeirufen. Bemerkenswert ist die Vase auch in der Hinsicht, dass sie ein historisch konkretes Ereignis wiedergibt, was bis dahin in der griechischen Vasenkunst, wo vornehmlich Szenen aus dem Bereich der Mythologie ­dominieren, einmalig ist.

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eide Kopien stammen wahrscheinlich von demselben Original ab, das vermutlich identisch ist mit dem Olympios-Perikles des Kresilas42, und weisen nur geringe, dennoch deutlich sichtbare Variationen im Detail auf. Der Standort der Periklesstatue lässt sich auf der Akropolis lokalisieren, dem ursprünglichen Sitz der Tyrannen.43 Die Aufstellung erfolgte aller Wahrscheinlichkeit posthum nach 429 v. Chr.44 Ähnlich wie bei der ThemistoklesHerme von Ostia (siehe Seite 349) fällt es auf den ersten Blick schwer, den Vatikanischen oder Londoner Perikles überhaupt als Herrscherbild zu identifizieren. Gerade in der Kunst werden die zentrifugalen Tendenzen offenbar: Indem sich die Klassik vom spätarchaischen Stil lossagte, fanden die fortschritt­ lichen Eliten neue Möglichkeiten des Ausdrucks im leicht identifizierbaren individuellen Charakterbild, das gleichzeitig zum Idealtypus des Bürgers ­stilisiert wurde: „Tat und Reflexion gehören zusammen“.45 Im Londoner Perikles kommt dies besonders deutlich zum Tragen: hagere Wangen, eine hohe Stirn, ein schmaler, asketischer Schädel, Falten um Mund und Augen, doch nicht etwa ein Greis, sondern ein Mann, der sich auf der Höhe der Schaffenskraft befindet – so wollte Perikles nach seinem Tode sich vor den Augen aller repräsentiert sehen, als souveräner Menschenführer mit energischem Willen, als erfolgreicher Politiker, dem doch die Reflexion nicht fremd ist, kurz: als Prototyp eines sich „in steter Sorge für sein Volk verzehrenden Staatsmannes“ (Ernst Buschor). Man hat nun versucht, stilistische Kriterien für den Typus Strategenkopf zu finden. Demnach würde ein bärtiger Kopf, welcher das für die Strategie erforderliche Mindestalter von dreißig Jahren signalisieren würde, sowie der zurückgeschobene korinthische Helm, der auf die militärische arete hinweisen und überhaupt den Zusammenhang der Darstellung mit dem Strategenamt erst nahelegen würde, diesem Bildnistyp entsprechen. Die Tatsache, dass Perikles auf der Akropolis innerhalb eines ikonographisch genau ausgefeilten Bauprogramms in Gestalt einer nackten Ehren­ statue verewigt wurde, weist auf viel mehr hin als nur auf die unpersönliche Zurschaustellung eines Amtsträgers im Dienste der Gemeinschaft.46 Strate593

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VIII  Ikonographie der Macht

Strategenköpfe des Perikles 47 (Original um 430 v. Chr.): a) Herme des Perikles (Vatikanisches Museum): Gesamthöhe: 1,83 m; Höhe des Kopfes: 38,8 cm. Fundort: Villa nahe Tivoli. Inschrift (ca. 2. Jahrhundert): Perikles Xanthippou athenaios.48; b) Herme des Perikles (British Museum, London): Gesamthöhe: 59 cm; Höhe des Kopfes: 41 cm. Ergänzt sind Nase und Einzelheiten am Helm. Fundort: Villa des Cassius nahe Tivoli (1781). Inschrift (ca. 1. Jahrhundert v. Chr.): „Perikles“. Der Brustausschnitt der Herme und die Neigung des Kopfes lassen vermuten, dass es sich um den Ausschnitt einer Statue handelt 49

genstatuen wurden planmäßig auf der Akropolis und auf der Agora50 aufgestellt (Konon51, Miltiades, Themistokles52). Es ist überdies kein Zufall, dass auf den patriotischen Stolz hingewiesen wird. Neben den Tyrannen­tötern reihten sich nun auch die ruhmvollsten Strategen ein.53 All dies spricht für das Aufkommen eines Personenkultes, der sich nicht in irgend­einer abstrakten ethisch­en Metaphorik auf ikonographischer Ebene54 erschöpfte, sondern die verehrungswürdigen Personen als solche betraf. Interessant hierbei ist es, einen Blick auf die Rezeption des Strategenkopftypus zu werfen. Noch in der klassischen Zeit werden Heroen oft wie Strategen ab­gebildet55, und auch Herrscherdarstellungen der Barbaren orientieren sich bisweilen an dem griechischen Vorbild.56 594

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4  Herausragende Individuen der Poliswelt

Herme des Periander (Kopie nach Original aus dem 4. Jahrhundert v. Chr.). Gesamthöhe: 77 cm; Höhe des Kopfes: 28,5 cm. Nase restauriert. Fundort: Villa nahe Tivoli, seit Pius VI. (vgl. Inschriftzusatz) im Vatikanischen Museum. Die (fiktionale) Porträtherme aus Marmor liefert aufgrund der Namensnennung eine eindeutige Zuweisung. Mit drei weiteren gut erhaltenen Kopien (ohne Inschrift) geht sie auf ein griechisches Original aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. zurück. Die Datierung erfolgt hierbei nach der Buchstabenform der ­Inschrift. Kein literarisches Zeugnis erwähnt besagte Statue 57

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VIII  Ikonographie der Macht

Symptomatisch ist die Bemerkung des Plutarch58, wonach die Komödiendichter forderten, Perikles solle schwören, dass er nicht nach der Tyrannis strebe.59 Ironischerweise ist es neben Perikles gerade das Persertrauma, das zum ideologischen Baustein nun nicht mehr eines autonomen freiheits­ liebenden Politenverbandes im Kontrast zur östlichen Despotie60 wird, sondern zum vornehmlichen Prüfstein der arete desjenigen, der den Perserkampf als ideologische Selbstinszenierung monopolisiert und gleichzeitig, den eleutheria-Gedanken in Beschlag nehmend, durch seine eigene Tüchtigkeit zu dessen Bürgen wird. Doch damit ist bereits eine neue Epoche eingeläutet: das Zeitalter Alexanders des Großen und seiner Nachfolger. „Bei den Griechen haben nur diejenigen Statuen erhalten, die aus irgendeinem berühmten Grund Verewigung verdient haben“, so hieß es bei Plinius.61 Und trotzdem finden wir eine Herme, die den griechischen Tyrannen Periander abbildet. Die Zuweisung des mit Sicherheit fiktiven Porträts erfolgt aufgrund der beigefügten Inschrift: Periandros Kypselou Korinthios. Eine herrschaftliche Titulatur fehlt. Das Kypselidenhaus war eine der ältesten Adelsdynastien, welches die Griechen mit der Tyrannis in Zusammenhang brachten. Warum wird nun ausgerechnet der Exponent einer äußerst kritisch beurteilten Staatsform, deren intellektuelle Abwehr geradezu zum Schlüsselfall des demokratischen Selbstverständnisses wurde, mit einer Herme geehrt? Die Antwort ist weniger schwer zu finden, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Unter dem Namenszug findet sich ein weiterer Text: melete pan, das heißt „Praxis ist alles!“ Periander wurde spätestens seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. unter die Sieben Weisen gerechnet62, die mit ihren Spruchweisheiten (gnomai) eher zu den Philosophen als zu den Politikern zählten. Die Tatsache, dass Periander ikonographisch verewigt wurde, hängt also mit einer Umdeutung seiner historischen Rolle zusammen. Als Philosoph, der Lebensweisheiten unter das Volk streute, war er ungefährlich genug, um ihm Gestalt zu geben. Gleichzeitig bedeutet dies auch, dass wir diese Herme kaum als Herrscherbild interpretieren können, obwohl der Dargestellte in der Tat ein Herrscher war. Gemeint ist aber der Weise Periander, nicht etwa der politische Machthaber. Methodisch lässt sich daraus etwas Interessantes ableiten: Man sollte sich davor hüten, die Zuweisung als Herrscherbild nur aufgrund der Identität von Namen und historischer Persönlichkeit vorzunehmen. Von entscheidender Wichtigkeit ist die Absicht des Künstlers, der durch willentliche Komposition erst ein Herrscherbild erschafft.

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5 Brückenschlag zum Hellenismus: Zwischen Kontinuität und Wandel

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om Lyderkönig Kroisos hatten die Perser das Münzsystem übernommen. Im 5.  Jahrhundert v.  Chr. wurden griechische Münzbilder vom König der Könige imitiert, die in Kleinasien Verbreitung fanden. Heute wird in der Forschung angenommen, dass es eben die Satrapenprägungen des 5. Jahrhunderts waren, auf denen erstmals eine reale, historische Person im echten Porträt abgebildet wurde, womit der Durchbruch vom Ideal- zum Individualbild (wie in der Glyptik) vollzogen wurde. Es ist auffällig, wie ungeschminkt bei den Satrapen die Präsentation der eigenen Persönlichkeit hervorgekehrt wird: Die Münzvorderseiten bieten ohne Umschrift oder sonstiges Erkennungszeichen allein das Charakterbild des Satrapen, das die gesamte Fläche ausfüllt und so, im Umlauf befindlich, für den Herrscher zum Publikationsorgan und zum offiziellen Identifikationsmittel für die Untertanen wird. Der Satrap ist Herrscher im Kleinen, amtiert als Stellvertreter des Königs der Könige und ist damit selbst König. Die Titulatur auf den Rückseiten können natürlich als Rückbindung an den persischen König aufgefasst werden.63 Doch stellt die Doppelung von Satrapenbildnis, auf dem Herrscherinsignien zitiert werden, auf der einen Seite und Inschrift (Bas), auf der anderen mehr dar als nur eine bescheidene Erinnerung daran, wer der eigentliche Prägeherr war. Es ist ein bewusstes Spiel mit den Möglichkeiten der eigenen Macht, wie sie historisch insbesondere nach der Niederschlagung des ionischen Aufstandes den persischen Statthaltern über die Griechenstädte zuwuchs und in Griechenland selbst zu dieser Zeit noch undenkbar war. Zur eigentlichen politischen Bedeutung vermochte Makedonien unter Alexander I. zu gelangen. Während der Perserkriege wusste dieser klug zu taktieren, indem er sich noch im letzten Augenblick auf die Seite der Sieger schlug. Der Stil seiner Münzprägung orientiert sich eng an der der Bisalten, deren Silberbergwerke er um 480 v. Chr. in Beschlag genommen hatte (siehe Seite 286). Auf der Münzvorderseite scheint der König selbst abgebildet zu sein. Sein Rang wird durch die breitkrempige Kausia, das Diadem und die Reithaltung ­unterstrichen. Die Namensnennung auf der Rückseite ermög597

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Satrapenprägung (5. Jahrhundert v. Chr.64). Noch ausgeprägter offenbart sich die Individualität eines Satrapen auf einer Münzemission des Pharnabazos (450/45–373 v. Chr.).65 Wiederum umschließt eine Tiara ein Antlitz, das sich durch eine lange, gebogene Nase auszeichnet, und wiederum umkränzt eine diademartige Binde das Haupt. Auf der Münzrückseite ist der König der Könige (vielleicht Artaxerxes II. Mnemon) abgebildet, wie er, im sog. „Knielauf“ nach rechts voranschreitend, offenbar anlässlich einer Jagd Speer und Bogen bereithält. Links über seinem Haupt steht: Basileus

licht eine Identifikation als historische Persönlichkeit. Anlässlich der Schilderung dieses Expansionsprozesses bezeichnet Herodot Alexander als Stratege und König, was kein amtlicher Titel war, sondern die historische Umschreibung seiner gefestigten Machtposition.66 Seine Eroberungen unterschieden sich staatsrechtlich von denen seiner Vorgänger. Hier musste er keine Rücksicht auf aristokratische Sonderrechte nehmen, wie dies im alten Stammesgebiet der Makedonen der Fall war. Alexander I. vereinigte die hinzugekommenen Gebiete mit den alten makedonischen Kernlandschaften zu einer Einheit. Er war der erste zum griechischen Kulturkreis gehörende ­Potentat, der sich in hoheitsvoller Herrscherattitüde unter Nennung seines ­Namens abbilden ließ.67 Seine Erfolge vergrößerten den Abstand zu den adligen Standesgenossen, was sein königliches Selbstbewusstsein stärkte. Dieses neue Herrschaftsverständnis kommt in seinen Münzbildern besonders zum Tragen, bei denen sich ein Hang zur Individualisierung mit dem Bedürfnis nach R ­ epräsentation verbindet. Während mit dem Untergang der mykenischen Zivilisation monarchische Regierungsformen in Griechenland ein abruptes Ende fanden und allenfalls in Form von adligen Stadtoberhäuptern mit begrenzten Herrschaftsfunktionen weiterexistierten, wird den basileis aus dem zypriotischen Salamis in der 598

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Silberstater des Euagoras I. (1. Hälfte 4. Jahrhundert. v. Chr.). Vorderseite: Männlicher Kopf, rechtsgewandt; trägt Vollbart und ist bekleidet mit Löwenhelm; am rechten Rand Euagoras’ Name in zypriotischer ­Silbenschrift. Rückseite: sitzende Ziege 68

Forschung ein Sonderstatus attestiert, der sogar in Analogie zum mykenischen wanaka gebracht wird, dem ähnliche Grabmäler errichtet worden waren.69 Die ausgedehnten Königsgräber der an der Ostküste gelegenen Hafenstadt Salamis sind einige der wenigen Dokumente, welche wir aus der Zeit zwischen dem 8. und 4. Jahrhundert v. Chr. für Zypern besitzen. Sie führen uns anschaulich vor Augen, wie es um den Grabluxus der basileis während und seit den Dark Ages bestellt war. In den ausgedehnten Grabkammern wurden reichliche Beigaben aufgefunden; die Palette umfasst Möbel (Schemel, Throne, Betten), Leichenwagen, Bronzestandarten, Kessel sowie Rüstungen und Schmuckstücke.70 Mit Euagoras war der Höhepunkt der autonomen Entfaltungsmöglichkeiten des salaminischen Gemeinwesens erreicht. Der abgebildete silberne Stater, welcher im Ausgrabungsgelände von Salamis entdeckt wurde, ist allein aufgrund der Sonderform der zyprischen basileia von Bedeutung. Auf der Vorderseite zeigt die Münze einen bärtigen Kopf, der bisweilen mit Herakles identifiziert wird. Herakles mit dem Löwenfell ist nun typologisch zwar durchaus festgelegt, doch sollte die Tatsache berücksichtigt werden, dass vor dem Gesichtsprofil Euagoras’ Name erscheint. Eine Zuweisung des Bärtigen zum bedeutendsten zypriotischen König erscheint demnach sinnvoll und ist sicher vom Münzmeister beabsichtigt: Der ikonographisch typisierte Heros mit dem Löwenfell soll mit Euagoras’ Namenszug in Zusammenhang gebracht werden; ja, es dürfte wohl kaum übertrieben sein, eine Angleichung von Heros und Herrscher in dieser Münze ablesen zu wollen. 599

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Demnach hätten wir hier lange vor Alexander dem Großen und den Diadochen, welche die mythologische Selbstinszenierung kultivieren sollten, die erste fassbare Inanspruchnahme eines mythologischen Deutungszusammenhangs für eine historische Herrscherpersönlichkeit: Euagoras stellt sich ideologisch und genealogisch in die Fußstapfen eines Heros. Damit liegt dieser Münze nicht irgendeine unverbindliche mythologische Anspielung zugrunde, sondern vielmehr ein eminent politischer Anspruch in Form eines Herrscherbildes.

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6 Hellenistische Potentaten Alexander: Die Geburt der individuellen ­Herrscherdarstellung

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s ist gerade die einer Karikatur ähnelnde Individualität, die in der ­Darstellung des Makedonenkönigs auffällt. Hervorstechende Körper­ merkmale werden nicht mehr einem stilistischen Idealbild vom Menschen ­unterworfen und damit retuschiert, sondern nun vielmehr betont: Das Charakteristikum wird zum vornehmlichen Erkennungszeichen in der Schlacht wie im Schlachtenbild und damit zum ikonograpischen Kenn­ zeichen Alexanders in der Kunst überhaupt. Welches sind nun diese Charakteristika? Einige der auffälligsten seien hier kurz mit ihrer Wirkungs­ geschichte aufgeführt: – In Alexanders Jugendlichkeit verbindet sich das aristokratische Schönheitsideal mit der Individualität des jünglingshaften Welteroberers. Gerade das Bildnis vom Herrscher auf der Schwelle zum reifen Mann, einer Altersstufe, die ikonographisch Heroen wie Göttern eignete, wurde im Hellenismus beliebt. – Das lange lockige Haar, das bis zum Nacken reicht und als in der Mitte gescheitelter Lockenkranz (Anastole) in die markant hohe Stirn fällt, wird durch das Fehlen des in der Schlacht benötigten Helmes sichtbar: Im Wind aufgewühlt unterstreicht es die Vorwärtsbewegung des Hauptakteurs und vermittelt den Eindruck eines heroischen Wagemutes. Gerade in der Realitätsferne in einer um das realistische Detail durchaus bemühten Darstellung wird die Absicht offenbar, das Haar zum Erkennungszeichen des jungen Königs zu stilisieren. In diesem tritt die löwenhafte Natur Alexanders anschaulich zu Tage. Das alte aristokratische Schönheitsideal erhält eine neuartige stilistische Ausformung, indem sie Realismus und Idealisierung zu einer Synthese zusammenführt. – In der spärlichen, nur als schmaler Streifen sichtbaren Kinnbehaarung deutet sich auf dem Alexandermosaik bereits die bei den Diadochenbildnissen stereotyp realisierte Bartlosigkeit an: Die Rasur wird zum rezep­ tionsgeschichtlichen Markenzeichen der hellenistischen Könige.71 601

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Alexander-Mosaik. Kaum eine andere Szene aus dem Leben Alexanders vermag die Dynamik seiner Persönlichkeit so eindringlich einzufangen wie jene aus mehr als drei Millionen72 Mosaiksteinchen zusammengesetzte Abbildung, welche im August des Jahres 79 durch den Ausbruch des Vesuvs, von Asche bedeckt, konserviert wurde und schließlich im Oktober 1831 bei Ausgrabungen in Pompeji in der Casa del Fauno zum Vorschein kam. Bei dem 2,71 x 5,12 Meter umfassenden Bodenmosaik, in dem durch die Kombination der vier Grundfarben Weiß, Ocker, Rot und Schwarz bis zu 40 Farbnuancen zu finden sind, handelt es sich um eine sehr bekannte, in Neapel aufbewahrte römische Kopie einer hellenistischen Schlachtkomposition, deren Vorlage wahrscheinlich im 3. Jahrhundert angefertigt wurde.73 Standort: Neapel, Museo Nazionale

– Auffällig sind die übergroßen Augen. Durch die deutlich sichtbaren Wimpern und die leicht nach oben gezogenen schmalen Augenbrauen erkennen wir einen Menschen, der seinen Blick zielgerichtet und entschlossen in die Ferne gerichtet hat (siehe Seite 122). In der Literatur als feucht bezeichnet, verbindet der Blick Alexanders jugendliche Schönheit mit dem vorwärtsdrängenden Pathos seiner Bewegung, die dem Gegner allein schon im visuellen Akt keine Möglichkeit des Entkommens zu bieten scheint. Zusammen mit der Kopfdrehung zur Seite hin wird diese Realisation von Alexanders Augen als Inbegriff des beseelenden Organs von den nachfolgenden hellenistischen Königen aufgegriffen und zitiert. 602

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Alexander. Im Vordergrund des Schlachtengetümmels erkennen wir auf der linken Seite Alexander mit seinem Pferd Bukephalos, dessen leicht aufgerichteter Hals darauf hindeutet, dass der Makedonenkönig mit der verdeckten Linken in die Zügel greift. Die Wiedergabe seiner Kleidung und Rüstung ist bemerkenswert detailgetreu74: Alexanders vornehmer Rang wird signalisiert durch einen langärmligen purpurroten Chiton, über dem ein reichverzierter Panzer mit einem emblemartigen Gorgonenhaupt sitzt. Um die Taille geschlungen ist eine grüne Binde, deren Rand eine rotgelbe Musterung trägt, während ein rosettengeschmücktes Schwertband, in dem der Schaft eines reichverzierten Schwertes steckt, quer über die Brust hinwegläuft. Die purpurrote Chlamys endlich weist Alexander eindeutig als Spross des makedonischen Königshauses aus. Auffällig ist, dass der junge König ohne Helm in die persischen Kampfreihen vorprescht, während seine nachfolgenden Mitkämpfer großenteils behelmt auftreten

Wie bei Alexander fällt auch bei Dareios die individuelle Gestaltung des ­Gesichtsausdruckes auf, in dem sich anschaulich abzeichnet, wie auf einen Schlag die Erkenntnis der sich anbahnenden Niederlage dem Ausdruck des Erschreckens über das unmittelbare persönliche Bedrohtsein durch den heranpreschenden Makedonenkönig weicht. Betont wird die Gefährlichkeit der Lage durch die Darstellung heldenmütiger Schutzaktionen persi603

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Dareios. Alexanders Augen fixieren den neben dem Makedonenkönig zweiten Brennpunkt des Bildes, den persischen König der Könige Dareios. Er trägt einen langärmligen purpurnen Chiton mit weißem Mittelstreifen, der von goldenen Sternen umsäumt ist. Auf dem Haupt fällt eine hohe Kopfbedeckung auf, die nur das Antlitz freigibt. Offenbar handelt es sich hierbei um die Tiara, das persische Analogon zum Diadem. Goldene Schmuckreifen unterstreichen die Würde des auf seinem prunkvollen Streitwagen erhaben über allen anderen stehenden Mannes. Ein Umhang mit pelzbesäumtem Rand schlingt sich um seine linke Schulter und unterstreicht, indem er, im Fahrtwind des Streitwagens flatternd, nach rechts fortgerissen zu werden droht, die Fluchtbewegung des infolge seines Ornates (Umhang, Tiara) exakt gekennzeichneten ­persischen Königs

scher Streiter rund um den Wagen ihres Königs. Sie zentrieren den Blick auf ­Dareios und unterstreichen die tragische Komponente dieser Entscheidungsschlacht. Zwar liegt in der ikonograpischen Detailtreue ein „Dokument ersten Ranges für persische Kleidung, Bewaffnung, Pferdeanschirrung und Wagentechnik“75 vor, weniger klar ersichtlich ist allerdings der historische Kontext: Welche Schlacht wird hier dargestellt? Neuerdings finden sich in der Forschung Deutungen, die Gaugamela vor Issos favorisieren.76 Entscheidend für die Bildinterpretation ist aber die Tatsache, dass im Thema 604

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des entscheidenden Einbruchs durch die makedonische Reiterei und in der Realisation desselben in Form von zwei in den Vordergrund gerückten Königen kurz vor der Entscheidung etwas viel Abstrakteres angeschlagen wird: Die raffinierte Ausgestaltung zweier kompositioneller Organisationszentren in Gestalt des Makedonenkönigs mit seiner voranpreschenden Reiterei auf der einen Seite und des sich zur Flucht wendenden Perserkönigs mit seinen sich selbst aufopfernden Streitern auf der anderen weist symbolhaft auf die grundsätzliche Entscheidung zwischen Griechen und Persern, verdichtet in der agonalen Konfrontation zweier Könige um die Herrschaft.77 Unmittelbar fassbar wird die Antithetik zwischen Alexanders zielgerichteter Angriffsspitze und den chaotischen Auflösungserscheinungen um Dareios: Die Flucht des Perserkönigs steht synonym für den vollständigen griechischen Sieg, der sich in der Person Alexanders des Großen konkretisiert hat. Die personale Sichtweise konstituiert sich aus der signifikanten Heraushebung der Könige zueinander: aus der individuellen charakteristischen Gesichtszeichnung, aus der Körperhaltung und den aufeinander bezogenen Gesten sowie aus der außerordentlichen Gewandung (Ornat). Diese Unterschiede sind kein schmückendes Beiwerk, sie bieten vielmehr den Verständnisschlüssel. Alexanders Helmlosigkeit kontrastiert in auffälliger Weise mit der hohen Tiara des Dareios. Während dieser hochaufgerichtet auf seinen desto tieferen Fall wartet, kämpft jener in gleicher Linie mit den Seinen. Das große Anliegen des Künstlers ist es, Alexander als primus inter pares zu kennzeichnen, wobei es tunlichst vermieden wird, penetrante Herrschafts­ attribute zu betonen. Gerade in dieser Form der ikonographischen Bescheidenheit hebt sich Alexander vom zwar prunkvoll auftrumpfenden, in der Schlacht hingegen kläglich versagenden König der Könige ab. Bemerkenswert für Alexanders Herrscherbild sind gerade nicht die gewöhnlichen Insignien der Macht. Identifizierbar wird der Makedonenkönig vor allem durch die individuellen Charakteristika: Positur (vorpreschender Reiter), Fernblick, Haartracht und Jugendlichkeit werden für den Herrscher identitätsstiftender als Diadem und Zepter. Es ist seine persönliche arete, die er sich erworben hat und die ihn nun erhebt. Diese muss nicht durch höfisches Beiwerk garniert werden. Es genügt die Sprache der Tat: Der militärische Erfolg spricht für sich. Der Sieg gebührt zwar jetzt nur noch einem, und nicht mehr der Polis, doch das ­Königsideal wurzelt hier noch in menschlichen Tugenden, denen der König zu genügen hat78, wofür das Aufkommen von Fürstenspiegeln einen deutlichen Indikator liefert: „Die neue Staatsform erforderte offenbar den leitbild605

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haften Fürsten“.79 Die neuen Varianten des Herrscherbildes innerhalb eines ausgefeilten ikonographischen Bezugssystems korrespondierten mit dem Meinungsumschwung in der staatsphilosophischen Publizistik, welche angesichts der depravierten Polisexistenz nun von Monarchen sich einen Ausweg aus der Krise erhofften. Der Alleinherrscher wurde zum Hoffnungsträger und Garanten der städtischen eleutheria. Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille. Nicht nur die eigene Leistung wurde zum konstitutiven Element des neuen Herrscherideals. Ebenso können wir beobachten, wie gerade Alexander in einen selbstgewobenen mythologischen Deutungszusammenhang hineinwächst. Sein Besuch der Oase Siwah80 schuf die Voraussetzungen, orientalische Vorstellungen eines Gottkönigtums zu adaptieren und so einer länderübergreifenden Herrschaftslegitimation den Weg zu bereiten.81 Die Hörner des Zeus Ammon sind ein beliebtes Motiv auf Münzemissionen der Alexander- und Diadochenzeit: Eine Prägung des Lysimachos zeigt einen typischen Alexanderkopf mit in die Ferne schweifendem Auge und strähnenartig gelockten Haaren, über denen sich das Diadem und die geschwungenen Ammonshörner erheben.82 Ideal und Wirklichkeit flossen in eins: Das Alexanderbild in Ideologie und künstlerischer Praxis entstand aus einem Repertoire bereits vorhandener Attribute, die nun zu neuen Synthesen verschmolzen. „Dabei glich sich Alexander (…) nicht nur den Göttern an, er [wurde] auch selbst zum Vorbild von Göttern und Heroen“.83 Zu konstatieren ist zwar eine Verschmelzung von Götter-und Heroenattributen (Apollon84, Dionysos85, Achilles86, Herakles87) in der Porträtierung Alexanders, jedoch blieb dieser immer als individueller Charakter fassbar. Umgekehrt wurden Attribute Alexanders transponierbar und als Zitationen frei verfügbar für die Diadochen. Im Laufe seines Kleinasienzuges glichen sich in der Person Alexanders Herrscher und Gott sowohl genealogisch als auch ideologisch zunehmend an. Die Überhöhung des Königs dominierte insbesondere im persischen Osten die Legitimation der Herrschaft aus der immanenten arete. Der Herrscher begann ein Gott zu werden. Das Zeitalter Alexanders des Großen und der Diadochen bedeutet für die Darstellungsweise historischer Ereignisse einen Umbruch.88 Aristoteles soll beispielsweise dem Künstler Protogenes geraten haben, die Taten Alexanders zu malen wegen ihrer unvergänglichen Bedeutung.89 Dies setzt ein Wissen um die historische Repräsentanz der eigenen Person voraus: Bewusst stellt sich das Individuum in den Ablauf der Geschichte hinein, ja, es macht ­Geschichte und lässt sich so bildlich verewigen: Die Epoche konkretisiert sich im Herrscher, sie wird mit ihm deckungsgleich. Nicht mehr dient nun 606

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Alexander-Sarkophag. Standort Istanbul (Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr., nach Alexanders Tod gefertigt)90 Langseite A: Alexander erscheint beritten auf einem sich aufbäumenden Pferd. Von links heranpreschend rollt er die Reihe der Feinde auf: Die Stoßrichtung seiner Rechten, die ursprünglich wohl eine Lanze führte, bohrt sich in ein chaotisches Gemenge von Gegnern, welche nahezu die gesamte Längsseite einnehmen. Alexander kämpft (im Unterschied zum Alexander-Mosaik) ohne Panzer und trägt einen Löwenhelm, womit angezeigt wird, dass ­Herakles als Ahnherr des makedonischen Königshauses zu begreifen ist; der Löwenhelm ist ein beliebtes Mittel hellenistischer Könige, ihre Herrschaft zu legitimieren und auf ein solides mythologisches Fundament zu gründen (vgl. etwa zweihundert Jahre später die Marmorbüste des Mithridates VI. Eupator von Pontos, dessen Haupt von einem Löwenfell umfasst ist. Bereits Euagoras von Salamis wusste sich in den beziehungsreichen Pelz zu hüllen)

die politische Denkmalskunst der Selbstvergewisserung eines autonomen Polisverbandes, sondern dem Repräsentationsbedürfnis des Herrschenden. Das Bild vom siegreichen Alexander wird zum Paradigma einer neu entstehenden Hofkunst. Vergleicht man dieses Relief mit dem Alexander-Mosaik in Neapel, so fällt auf, dass unrealistische Züge nun vermehrt auftreten91, obwohl die Detailtreue in der ethnischen Differenzierung zwischen Griechen und 607

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Detailaufnahme aus dem Alexander-Sarkophag

Nicht­griechen durchaus nicht vernachlässigt worden ist. Die Kunsthistoriker erklären dies damit, dass griechische und orientalische Kunstauffassungen zu einer Art Reichskunst verschmolzen, die immer stärker, dem Zeitgeschmack des orientalischen Ostens und der Heroisierung des verblichenen Königs entsprechend, die realistische Darstellungsweise zurückdrängten.92 Thema des Reliefs ist offensichtlich eine Schlacht. Welche das nun war, lässt sich aus der Darstellung aufgrund der stilistischen Freiheiten nicht schlüssig herauslesen. Indem man allerdings versucht, den Sarkophag historisch einzuordnen, kommt man der Lösung des Problems einen Schritt näher: Nach der Schlacht von Issos (333 v. Chr.) wurde ein gewisser Abdalo­ nymos wegen seiner treuen Verdienste von Alexanders General Hephaistion in dessen Auftrag als Herr über Sidon eingesetzt. Eben dieser Abdalo­nymos gab den Alexander-Sarkophag als letzte Ruhestätte für sich selbst in Auftrag. Da nun die Schlacht von Issos den Schlüssel für dessen politische Stellung darstellte, erscheint es plausibel, das Relief der Langseite A mit lssos gleichzusetzen. Unübersehbar sind dabei die thematischen und stilistischen Anlei608

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Alexander-Sarkophag. Langseite B: Das Relief der gegenüberliegenden Langseite korrespondiert insofern mit (A), als hier eine Löwenjagd wiedergegeben wird, also eine königliche Repräsentationsveranstaltung, ­anlässlich des Aufenthalts Alexanders in Sidon. Es handelt sich offenbar um eine Löwenhatz im Tierpark von Sidon, bei der Abdalonymos von einem Löwen angefallen wurde. Zwei Makedonen sprangen in die Bresche und retteten ihm das Leben. Dabei wird der Reiter hinter dem Grabherrn trotz fehlender Attribute als Alexander interpretiert (vgl. aber den Diadem-Ansatz) 93

hen, die sich der Künstler vom Bildnis der Alexanderschlacht (dem Original des Alexander-Mosaiks) geholt hat. Beide Langseiten sind thematisch miteinander verbunden, indem sie Szenen darstellen, die für die Stellung und das Leben des sidonischen Potentaten von größter Wichtigkeit waren. Der Herrscher von Alexanders Gnaden konturiert hier seine eigene Geschichte im Spiegel des großen Gönners, dem er sich verbunden weiß. Der eigene Ruhm resultiert aus dem Ruhm des Makedonenkönigs, indem ein Lichtstrahl des königlichen Glanzes genügt, das eigene Selbst erstrahlen zu lassen: „(Die) persönliche Beziehung zu dem König (wird) als Auszeichnung und als Grundlage der eigenen politischen Position angesehen“.94 Ebenso deutlich wird allerdings die Absicht, sich mit der Verherrlichung der Taten Alexanders nach dessen Tod den Diadochen weiterzuempfehlen und so die eigene Karriere in den nun anbrechenden Fährnissen abzustützen. 609

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Diadochen: Zitation und Variation Die Zuweisung ist nicht unumstritten und erfolgt üblicherweise aufgrund eines Vergleiches mit Münzbildern, die Seleukos Nikator in reiferen Jahren zeigen.95 Als Herrscherbild weist die Bronzebüste folgende Faktoren aus, die wichtige Aufschlüsse über die Wirkung der hellenistischen Porträtkunst generell liefern: – Das Diadem über dem gelockten Haar, das als zangenförmige Strähnen in Stirn, Schläfen und Nacken herabfällt und (wohl nicht zufällig) ikonographisch an die Haartracht Alexanders anknüpft, weist den Dargestellten eindeutig als Herrscher aus. Durch diese Insignie der Macht lässt sich der Kopf datieren: Seleukos übernahm 305 v. Chr. den Königstitel und ist hier im reiferen Alter abgebildet, sodass die Entstehung des Originalkopfes wohl einige Jahre vor seinem Ableben (281 v. Chr.) anzusetzen sein dürfte. – Der angedeutete Brustausschnitt präsentiert den Dargestellten in heroischer Nacktheit, eine Erscheinungsform, die sich im Laufe der Zeit einbürgern wird. – Der Fernblick des Porträtkopfes erinnert an die Positur Alexanders des Großen und wird im Folgenden ebenfalls stilbildend. – Selbst dem modernen Forscher ist es (wenn auch nicht immer zweifelsfrei) möglich, aufgrund anderer Darstellungen herauszufinden, um welchen Herrscher es sich jeweils handelt. Das Herrscherbild war im Zeitalter des Hellenismus schon allein wegen der Münzdarstellungen, auf denen der gerade Regierende den Untertanen vor Augen trat, im Umlauf und gab so dem Volk eindeutige Zuweisungsmöglichkeiten für eine Skulptur, auch ohne Namenszug und Titulatur. Die Gesichtszüge boten von nun an hinreichende Einordnungskriterien. – Als weiterer wichtiger Aspekt und zugleich als Fazit der drei vorausgehenden Punkte muss angeführt werden, dass, indem seit Alexander erstmals das Abbild von Herrschern planmäßig und als bewusstes Mittel der Politik in Umlauf gebracht wurde, es nun eine Pluralität ein und desselben Herrscherbildes gab, welche Gegenwart und Repräsentanz des Regierenden multiplizierte und so, für den Zeitgenossen einen eindeutigen Identifikationsrahmen schaffend, dieses leicht abrufbar machte. Zugleich wurde das Porträt in der oben skizzierten Form allein für den Herrscher monopolisiert: Er allein hatte das Recht, seinem individuellen eikon Akzente zu verleihen, indem er vorgegebene Charakteristika zitierend (Haartracht, Fernblick, Nacktheit) sich in die Fußstapfen seines Vorgängers Alexander stellte oder sich in mythologische Bezüge einwob.96 610

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Büste des Seleukos Nikator (306–281 v. Chr.). Bronzekopie aus der späten Repu­blik oder frühen Kaiserzeit mit Bruststück, wohl zum Aufsetzen auf einen steinernen Hermenschaft. Gesamthöhe: 0,56 m, Höhe des Kopfes: 0,23 m. Fundort: Herculanesische Villa der Pisones, jetzt Neapel, Museo ­Nazionale. Rechtes Auge ist eingesetzt, nur das linke stammt aus der A ­ ntike. Wimpern als Bronzestreifen (zum Teil noch sichtbar) angedeutet. Diadem hinten beschädigt, herabfallende Bänder abgebrochen 97

Nach dem Tode Alexanders des Großen (323 v. Chr.) folgte der damalige Satrap von Ägypten, Ptolemaios dem Beispiel der anderen Diadochen und nahm 306/5 v. Chr. für sich den Königstitel in Anspruch. Noch im gleichen Jahr ließ er Münzen schlagen, auf denen er als König im Ornat (Diadem) erscheint. Von erheblicher Bedeutung ist nun die Tatsache, dass bei den lagidischen Münzemissionen wie auch in der Glyptik eine realistische Intention fassbar wird, die stilbildend vom Porträt des Ptolemaios I. ihren Ausgang nahm. In der Marmorbüste wurde ein fülliges Gesicht geschaffen, das breite hagere Wangen, eine ausladende Stirn und einen buckelartigen Kinnladen 611

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Marmorbüste des Ptolemaios I. Soter (322–283 v. Chr.). Höhe: 0,24 m. Standort: Paris, Louvre. Erhalten sind nur das Gesicht mit Teilen des Stirnhaares und die Kinnpartie des Halses; Ohren und Nasenspitze sind ergänzt 98

aufweist. Auf einem dicken Hals sitzt ein mächtiger Kopf, dessen vorstoßende Gesichtsfront eine ausgeformte Knochenstruktur aufweist. Das Stirnhaar ist dünn und fällt in Strähnen nach vorn in die gefurchte Stirn. Die Augen liegen in ausgeprägten Höhlungen, umgeben von einem betonten Wulst. Eingezogen erscheint die Mundpartie. Während die angespannte Unterlippe vorsteht, ist die Oberlippe schmal, aufgeworfen und steht in beachtlich kurzem Abstand zur Nase. Eine ausgeprägte Physiognomie tritt uns hier entgegen, die in Analogie zu den erhaltenen Münzbildern steht.99 Die Falten, die spitzen Gesichtszüge und der abgehärmte Eindruck machen es deutlich, dass es sich hier, trotz geschicktem Retuschieren, um ein Altersbild handeln muss. Wie bei Seleukos ist das Diadem primärer, doch wie eben dort nicht einziger Indikator für ein Herrscherbild. Überzogen erscheinen Interpreta­ 612

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tionen, die in diesem Bild aufgrund der physiognomischen Eigenheiten Anspielungen auf mythologische Figuren sehen wollen.100 Anstatt der klassischen Bindung des Porträts an einen generellen Typus (zum Beispiel des Strategen, des Weisen, etc.) kann nun ein und dieselbe Person je nach Tugend- und Idealbild verschieden dargestellt werden. Damit ergibt sich eine grundsätzliche Schwierigkeit: Einerseits erfolgt die Typen­ bildung analog dem zu realisierenden individuellen Herrscherideal, mit dem sich der König zu identifizieren weiß. Andererseits werden invariante Idealtypen des hellenistischen Herrscherbildes als freie Zitationen selbst zum normierenden Rezeptionsträger. Überwölbt wird diese Dichothomie durch die Charakteristika, die ein Herrscher als naturgegebene Eigenheiten mitbringt und die wiederum als Spielfeld symbolträchtiger Verweise genutzt werden können. Daraus ergeben sich Variationen innerhalb einer Bildnisreihe, die Vergleiche erschweren. In der Porträtbüste erschöpfen sich die Ausdrucksformen keineswegs. Gerade in der Variationsbreite möglicher Darstellungsformen von Macht liegt der Reiz des hellenistischen Herrscherbildes begründet. Auch bei der Kolossalstatue eines hellenistischen Königs, der (nicht zweifelsfrei) als Deme­ trios  I. Soter identifiziert wird, lassen sich wiederum eindeutige Kriterien eruieren, welche die Definition als Herrscherbild festlegen: – Die monumentale Körpergröße sowie stilistische Kriterien ermöglichen es, die Statue einem hellenistischen König des 2. Jahrhunderts v. Chr. zuzuweisen.101 – Fernblick und Kopfwendung wiederholen stilistische Vorgaben, wie sie im Herrscherbild Alexanders des Großen aufgetaucht sind. – Bartlosigkeit wird darin angedeutet, dass – wie auf dem Alexander-Mosaik – nur ein leichter Flaumbart durch die Gravierung angegeben wird. – In der heroischen Nacktheit offenbart sich das Bedürfnis, die körperliche Physis als ein für das Herrscherbild konstitutives Element zu definieren. Nicht mehr ist es nur die Jugendlichkeit, die stilbildend wird, ebenso kommt nun dem Muskelspiel als Metapher für politische Stärke Bedeutung zu. – Der gesamte Habitus der Statue zitiert Statuen Alexanders des Großen in ähnlicher Positur (Lysippischer Alexander; besonders aber die Statuette Alexanders mit der Lanze aus Unterägypten102): Die Positur des Herrschers, der sich mit der weit nach oben ausgestreckten Linken auf eine Lanze stützt, während er den rechten Arm lässig auf die Hüfte legt, setzt ihn als Heros in Szene. Ausgeprägter ist hierbei allerdings der Kontrapost (vorgezogene rechte Hüftseite, weit zurückgesetztes linkes Bein), der, ver613

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Demetrios I. Soter (162–150 v. Chr.)? Monumentale Bronzestatue103, ­hellenistisches Original. Höhe: 2,33 m. Standort: Rom, Thermenmuseum. Lanze ergänzt, Augen fehlen (ursprünglich farbig eingesetzt)

stärkt durch die nach hinten geschlagene Rechte, die ausgreifende Drehung der Körperachse betont. Die Fassadenwirkung der Vorderseite ist auf die Betrachtung des imposanten überlebensgroßen Standbildes durch den ehrfürchtigen Untertanen hin komponiert. Auffällig ist das kleinförmige Gesicht. Das kräftige, gleich­ mäßig gestutzte Haar kräuselt sich, rechts vom Scheitel verlaufend, in wirren Büscheln, während es in zangenförmigen Strähnen auf Stirn und Schläfen fällt. Dabei steht die geringe Größe des Kopfes im Kontrast zum massigen Körperbau des Rumpfes. Es ist ein auffälliges Phänomen der hellenistischen 614

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Ptolemaios II. Philadelphos (283–246 v. Chr.). Reiterstatuette aus Bronze. Höhe: 25 cm. Standort: New York, Metropolitan Museum. Die Zuschreibung ist umstritten; gemäß physiognomischer Eigenheiten und des Fundortes (Athribis in Ägypten) wird heute die Option favorisiert, es handele sich um Ptolemaios II 104

Herrscherbilder, dass sie umso monumentaler werden, je problematischer das politische Klima in den hellenistischen Königtümern wurde. Wir können also bereits im 2. Jahrhundert v. Chr. ein deutliches Auseinanderklaffen von auftrumpfender Kunst und der erheblich nüchterneren politischen Wirklichkeit feststellen. Wir erkennen einen nackten Reiter (das Pferd ist verloren), der eine ­Elefantenhaut über seine Brust geknotet und über Kopf sowie linken Arm 615

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VIII  Ikonographie der Macht

Antiochos VI. Epiphanes Dionysos (um 144 v. Chr.). Silberner Tetradrachmon (= 16, 89 g Gewicht); London, British Museum 105

geschwungen hat. Bereits auf Münzprägungen Alexanders des Großen finden wir die Elefantenhaut, wie sie fast den gesamten vom Haar umschlossenen Teil des Kopfes verdeckte106: Hier wie dort signalisiert der Elefant als Tier des Dionysos, dass der Herrscher, der sich seit Alexander als „Neos ­Dionysos“ begriff, arete besaß, was die Grundlage herrscherlicher Legitimation unterstrich, gleichzeitig ihn aber am Göttlichen partizipieren ließ, wodurch der mythische Überbau des hellenistischen Königtums zum Ausdruck gebracht wurde.107 Im Gesicht dieser Statuette tritt ein „alexanderhaftes Aussehen“ zutage (Fernblick, Jugendlichkeit, gelocktes Haar). Die übernommene Physiognomie, die mit den Charakteristika des Zeitgenossen verschmolzen wird, vor allem aber die Elefantenhaut werfen ein Schlaglicht auf den nunmehr verfügbaren Schatz abrufbarer Zitationen. Ein Gesicht ohne charakteristischen Ausdruck, das emotionslos, leer und nahezu alterslos wirkt, tritt uns hier entgegen. Allenfalls die rundlichen Züge lassen erkennen, dass es sich bei dieser Münze um eines der zahlreichen Kinderporträts auf hellenistischen Prägungen handelt. Die Inschrift auf der Rückseite entschlüsselt, wer hier abgebildet ist: König Antiochos. Er war zur Zeit seiner Ermordung erst fünf Jahre alt.108 Bemerkenswert ist nun nicht etwa das Kindergesicht, sondern die Art und Weise, wie das Beiwerk, die ­Insignien von Macht und Herrschaft, auf dieser Münze in Szene gesetzt werden: Über lockigem geschneckeltem Haar, das tief in Stirn und Nacken fällt und kaum mehr der Haartracht Alexanders ähnelt, verläuft ein Diadem, dessen lose Bänder flatternd um den Hals des Jungen spielen. Darüber erhebt 616

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6  Hellenistische Potentaten

Antiochos V. Eupator. Auf einem silbernen Tetradrachmon (= 16,453 g Gewicht)109 ist der 9-jährige Kronprinz Antiochos V. Eupator abgebildet (164/2 v. Chr.). London, British Museum 110

sich eine Art Strahlenkrone, die fast genauso hoch ist wie das gesamte Antlitz. Sie dominiert auffallend die Szenerie. Ein Vergleich mit anderen Münzemissionen führt zu der Feststellung, dass die Strahlenkrone nun auf nahezu allen numismatischen Herrscherdarstellungen auftaucht.111 Das Diadem ­allein genügte nicht mehr. Die an Alexander erinnernden Epitheta fingen allmählich an, abzustumpfen und langweilig zu werden. Neue und auffälligere Zeichen der Herrschaft mussten gefunden werden, die den engen Konnex zu den Göttern demonstrierten. Neben dem erhobenen Haupt, das an das Porträt seines Vaters Antiochos  IV. Epiphanes angeglichen wurde, zugleich aber individuelle Züge in sich vereinigt (schmale lange Nase mit überhängender Spitze, vorstehender Adamsapfel), und dem in die Ferne gerichteten Blick, der wiederum auf Alexander verweist, verrät nur die Königsbinde seine Stellung. Am prägnantesten kommt die Betonung der Herrscherinsignien im Späthellenismus auf einem Goldoktodrachmon des Ptolemaios III. Euergetes zum Vorschein.112 Wir erkennen ein büstenförmiges Königsbild mit synkretistisch zusammengesetzten herrscherlichen und göttlichen Attributen. Der Prägemeister erstrebte offensichtlich eine theatralische Inszenierung von Analoga (Strahlenkranz des Helios als Diadem; Ägis als Chlamys; Dreizack des Poseidon als Zepter) im Kontrast zum eher rundlich behäbigen Gesicht: Die Königstracht wird den Attributen der Götter angeglichen. Damit vereinigt der König verschiedene Aspekte der Göttlichkeit in sich, ohne jedoch infolge ­dieser Amalgamierung zu einem bestimmten Gott zu werden. Dennoch wird die Tendenz greifbar, den Herrscher mit einem Gott eins werden zu lassen. 617

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VIII  Ikonographie der Macht

Ptolemaios III. Euergetes (180–145 v. Chr.). Goldoktodrachmon (= 27,8 g Gewicht), London, British Museum

Werfen wir einen Blick zurück auf das Tetradrachmon des Antiochos VI. Gerade in einer Zeit der politischen Veränderung und des eigenen permanenten Bedrohtseins wuchs das Verlangen nach immer mehr und immer stärkerer Repräsentation im Herrscherbild, das die wahren politischen Verhältnisse zu kaschieren wusste. Die gnadenlosen Thronkämpfe ließen eine ausgefeilte Propaganda schon in jungen Jahren als ratsam erscheinen. Währenddessen zerbröckelten die hellenistischen Großreiche und gerieten in den Machtbereich Roms. Die übersteigerte Form der Repräsentation ist ein Indikator für eine Krise der hellenistischen Monarchien: Ideologischer Anspruch und politische Realität klafften weit auseinander. Die Münzprägungen der hellenistischen Könige im 2. Jahrhundert v. Chr. lassen uns in eine „theaterhafte Welt von Rokokoprinzen“113 eintreten. Zwar wurde nun auf die äußere Form (Diadem, Strahlenkrone, Übernahme der landesüblichen Herrscherinsignien) Wert gelegt, auf individuelle Merkmale hingegen wurde verzichtet: Das anfangs so ums realistische Detail bemühte Herrscherbild des Hellenismus wird zunehmend abstrakter und austauschbar. Der Verfall der seleukidischen Münzprägung zeichnet sich hier ab.

Ausblick: Herrscher und Gott Kommagene wurde als unabhängiges Königtum zu Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. von Mithradates I. Kallinikos während der Bürgerkriege, die das Seleukidenreich zerstörten, errichtet. Das späthellenistische Figurenfeld auf dem Nemrud Dag114 wurde von Antiochos I. Epiphanes in Auftrag gegeben 618

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6  Hellenistische Potentaten

Figurenfeld vom Nemrud Dag in Kommagene (1. Jahrhundert v. Chr.), Dexiosisrelief (Abbildung eines Handschlags), das Antiochos und Herakles zeigt; Höhe 2, 17 m; Sandstein

und von seinem Sohn Mithradates II. weiter ausgebaut. Mit Antiochos, der seine Genealogie väterlicherseits von Dareios und mütterlicherseits von ­Alexander dem Großen ableitete, war der Höhepunkt des Personenkultes und der herrschaftlichen Repräsentation erreicht: Nie zuvor und nie wieder danach erhob das eikon den Herrscher so weit und glich ihn in dieser unübersehbaren Form den Göttern an. 619

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VIII  Ikonographie der Macht

Beeindruckend allein ist schon die Monumentalität des Figurenfeldes, das als Ambiente eines königlichen Grabkomplexes (50 Meter hoher Tumulus) diente. Die Herrscherbilder auf der Ostterrasse maßen ca. 9 Meter in der Höhe und wurden selbst von dem Bischof Gregor von Nazianz als das achte Weltwunder bezeichnet.115 Die Köpfe sind ausnahmslos vom sitzenden Rumpf weggebrochen. Die Zuweisungen erfolgen durch eingemeißelte Inschriften auf den äußeren Frontseiten. Die Herrscher sind eingebettet in eine Umgebung von Göttern; sie werden selbst zu Göttern. Stets wird die demonstrative Nähe zum Gott gesucht: Auf den Reliefs der Südterrasse schütteln die Gottheiten den Königen von Kommagene die Hand: Herakles  – Mithridates (Mithra-dates = „Gabe des Mithra“)116 und Mithras – Antiochos I.117 Eine Identifikation zwischen Herrscher und Gott liegt nahe, ja oft gelingt sie völlig: Mithradates wird ­deckungsgleich mit Helios, der wiederum eins wird mit Mithras. Der König führte den Namen Gerechter Gott – ein Titel, der auch für Mithra reserviert war. Wie schon bei den Münzemissionen dieser Epoche lief die Überstei­ gerung des Herrscherbildes parallel mit einem eklatanten Machtverlust aller hellenistischen Königreiche, für den die Staatsbildung von Kommagene selbst ein anschauliches Zeugnis abgibt. Ohne die bisherigen Ergebnisse des Katalogs zu rekapitulieren, sei auf zwei wesentliche Aspekte hingewiesen, mit denen sich eine Besinnung auf das griechische Herrscherbild auseinanderzusetzen hat. Zum einen muss die methodische Prämisse geprüft werden, unter welchen Voraussetzungen eine Identifikation als Herrscherbild überhaupt sinnvoll ist. Wir haben gesehen, dass durchaus ein Herrscher dargestellt sein kann, ohne dass dieses Bild deswegen schon als Herrscherbild bezeichnet werden dürfte (Periander-Herme). Umgekehrt muss gerade die Tatsache, dass der Abgebildete nicht zweifelsfrei als das bezeichnet werden kann, was wir Heutigen als Herrscher (im Sinne von Monarch) zu bezeichnen pflegen, oder dass der Herrscher (bewusst) ausgespart bleibt (Tyrannentöter), keinesfalls darauf hindeuten, dass eine Klassifikation als Herrscherbild eo ipso auszuschließen ist. Ein komplexer Zusammenhang von künstlerischen Realisationsmöglichkeiten und historischem Kontext bestimmt die Interpretation. Selbst wenn man den einengenden Begriff Herrscherbild ersetzen würde durch Herrschaftsbild oder politisches Bild, könnte man dem Facettenreichtum der dargestellten Figuren und Inhalte kaum gerecht werden. Zum zweiten ermöglichte die Durchsicht der primär chronologisch strukturierten Beispiele die Beobachtung, dass für die griechische Kunst mit der Epoche des Hellenismus die entscheidende Wende einsetzte: Öffnete die 620

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6  Hellenistische Potentaten

Klassik mit einer gezielten ikonographischen Propaganda im Dienste der Polis dem Personenkult Tür und Tor, so begann doch erst seit Alexander dem Großen die Genese des personalen Herrscherbildes. Der Einzelne wird als formende Kraft verstanden, die in die Geschichte eingebettet ist und selbst Geschichte macht. Grundlage hierfür waren die Historienbilder, welche die nicht austauschbaren Kategorien von Ort und Zeit festlegten und den Menschen als Individuum in dieses Koordinatensystem stellten (Kroisos-Amphore, Tyrannentöter): In der Kunst begann man nun historisch, aber auch eminent politisch zu denken. Die Rückbesinnung auf einen vergangenen Akt wurde zu dessen Wiederholung, die dem Akteur zur Ehre gereichte. Mit der Identifikation von historischem Akt und wirkendem Individuum erwuchs die Funktion des Herrscherbildes als legitimitätsstiftendes eikon, das analog der Steigerung des Repräsentationsbedürfnisses dem König immer ausgefallenere Attribute der Macht zuwies (Strahlenkrone), gleichzeitig aber den Anspruch fürstlicher arete stets im Auge behielt (Alexander-Mosaik).

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7 Karthagische Machtmenschen

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och bevor hellenistische Lebensformen nach Rom gelangten, hatten sie sich vorher in Karthago ein Heimatrecht erworben. Seit dem 3.  Jahrhundert v. Chr. stellte die karthagische Führungsschicht, die durch ihre vielfältigen Beziehungen zu dem Ptolemäerreich, den Poleis der Magna Graecia und Sizilien eine Fülle von Anregungen aufnahm, die Brücke zwischen der östlichen Kulturwelt und den sich allmählich hellenistischen Einflüssen ­öffnenden Gesellschaften des Westens dar. Diese machten sich besonders in der Kunst und Technik, in der Politik und in der Religion bemerkbar. Letzteres eröffnete den Führungsschichten durch die gezielte Aufbietung kultischer Leitbilder, sprich die Inanspruchnahme bestimmter Gottheiten durch machtbewusste Potentaten, die Möglichkeit, politische Propagandaschlachten damit zu schlagen, wie das folgende Beispiel zeigt. Im Mittelpunkt stehen die Mitglieder des Geschlechts der Barkiden, die innerhalb einer Generation ein aufsehenerregendes Kolonialreich auf der Iberischen Halbinsel errichten konnten. Wir verfügen über einige aussagekräftige zeitgenössische Belege, die einen engen Zusammenhang zwischen den Barkiden und dem phönikischen Gott Melkart herstellen. Es handelt sich um Münzemissionen, die meist aus Gades oder Neukarthago stammen und als Soldzahlung für das in Iberien eingesetzte Heer dienten. Sie weisen neben den für die punische Münzprägung typischen Motiven wie Palme, Schiffsschnäbel, Pferd und Elefant männliche Porträts auf, die nach hellenistischen Vorbildern gestaltet sind und eine Identifikation der prominentesten Barkiden (Hamilkar, Hasdrubal, Hannibal) mit dem Gott Melkart suggerieren.118 Mit der Herausstellung Melkarts als Leitgottheit der barkidischen Expansion in Hispanien und seiner Einbettung in einen auf Herakles verweisenden Kontext wurde der Erfolg der wagemutigen und entscheidenden Unternehmung für die Regenerierung des nach dem Verlust des 1. Römisch-karthagischen Krieges angeschlagenen karthagischen Staates gefeiert. Ferner legte man damit das Bekenntnis ab, die von den Barkiden errichtete hispanische Herrschaft als Bestandteil des karthagischen Machtbereiches anzusehen.119 Der im phönikischen Kulturkreis verehrte Melkart war schon länger mit dem griechischen Herakles gleichgesetzt worden. 622

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7  Karthagische Machtmenschen

Karthagische Münze aus Hispania, 237–209 v. Chr. Silberner Doppelschekel (= 14,61 g Gewicht), London, British Museum

­ ereits Alexander der Große hatte sich seiner bedient, um seinem PersienB feldzug eine besondere kultische Weihe zu verleihen. Die Barkiden machten ihn zu ihrer Leitgottheit, zum Abbild ihrer Entschlossenheit, die eroberten hispanischen Territorien gegen jede Anfechtung zu behaupten. Die Forschung war sich lange uneins, ob die abgebildeten männlichen Porträts Gottheiten (etwa Melkart/Herakles) oder gar Hamilkar, Hasdrubal oder Hannibal selbst darstellten. Abgesehen davon, dass das Altertum nur unscharfe Trennlinien zwischen herausragenden menschlichen Individuen und Gottheiten kennt, lässt sich annehmen, dass die hellenistisch beeinflusste Münzprogrammatik der Barkiden bewusst diese Zweideutigkeit nutzte, um das Charisma der Auftraggeber der Münzemissionen zu erhöhen. Durch die Inanspruchnahme von Gottheiten und Heroen, beziehungsweise durch die Angleichung an Melkart/Herakles unterstrichen die karthagischen Potentaten ihren Machtanspruch und ihre Leistungsfähigkeit. Der Melkart/ Herakles-Kult, von der numismatischen Propaganda als Synonym für Sieghaftigkeit instrumentalisiert, sollte sich zum wirksamsten Symbol der barkidischen Überseepolitik verwandeln, womit wir gleichzeitig ein beredtes Zeugnis für die innerhalb der karthagischen Führungszirkel weit verbreiteten Hellenisierungstendenzen vor uns haben.

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8 Auftrumpfende Bilder der späten römischen Repu­blik

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ie Führungsschichten der ausgehenden römischen Repu­blik verspürten einen gewaltigen Drang nach Anerkennung. Sie hatten auch einen immensen Bedarf an repräsentativen Formen der Selbstinszenierung. Innerhalb dieser weitgehend hellenisierten Elite herrschte ein unaufhörlicher, in der Öffentlichkeit ausgetragener Wettbewerb, der zuweilen groteske ­Formen annehmen konnte. Es ging um politische Macht, Kriegsruhm und soziales Ansehen. Letzteres fand seinen Ausdruck in einer sich stets vermehrenden Nachfrage nach bildlichen Darstellungen, Porträts und Denkmälern, welche sowohl die politische als auch die gesellschaftliche Relevanz der Auftraggeber unter Beweis stellen sollten. Folglich hatten die an der Bilderwelt des Hellenismus geschulten Künstler alle Hände voll zu tun, um die Wünsche ihrer römischen Kunden zu befriedigen. Doch im Unterschied zu den hellenistischen Potentaten, deren gottgleichen Darstellungen ihres Herrschertums mitunter eine pathetische Unbefangenenheit zu eigen war, existierten für die aristokratischen Amtsträger der römischen Repu­blik engere, ungeschriebene Grenzen in Sachen öffentlicher Präsentation der in Frage kommenden Individuen samt ihrer Leistungen. Die römischen ­nobiles, die aufsehenerregende Taten vollbracht hatten, standen vor dem Zwiespalt, ihre hemmungslose Geltungssucht mit den Normen der repu­ blikanischen Selbstbescheidung in Einklang bringen zu müssen. Ein Abweichen davon galt als unangebracht, wie einige Beispiele belegen, die in Megalomanie und Geschmacklosigkeit ausarteten und die Betroffenen der Lächerlichkeit preisgaben.120 Es war nicht ganz einfach, die geeignete Formensprache sowie die adäquate Darstellungsweise aus dem Reservoir der reichhaltigen Bilderwelt der Kunstwerkstatt des Hellenismus zu finden, um den Bedürfnissen der römischen Eliten nach gesellschaftlicher Repräsentativität und politischer Geltung zu genügen, die zugleich mit einem Hauch von Zurückhaltung ausgestattet sein mussten. Ein beredtes Beispiel dafür finden wir in dem auf einer Münze für uns greifbaren Modell eines Reiterstandbildes des ­Lucius Cornelius Sulla, einer der schillerndsten und ambitioniertesten 624

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8  Auftrumpfende Bilder der späten römischen Repu­blik

Reiterstatue Sullas auf einer römischen Goldmünze (Aureus, Gewicht 10,87 g) des Jahres 80 v. Chr.; London, British Museum

­ olitischen Gestalten des spätrepu­blikanischen Rom. Diese Komposition, p die sich an hellenistischen Vorgaben orientierte, wird die Vorlage für die ­späteren Statuen des Octavian/Augustus abgeben. Sie diente gewiss den propagandistischen Zwecken des Dargestellten, aber ebenso der Zurschaustellung einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, die zeitweise eine nahezu uneingeschränkte Dominanz über das römische Gemeinwesen auszuüben vermochte. Auf der Vorderseite dieser von Aulus Manlius in Rom vor dem Jahr 80 v. Chr. geprägten Münze erscheint Sulla in herrschaftlicher Pose, majestätisch abgebildet wie ein hellenistischer König. Die Sprengkraft des Bildes wird allerdings abgemildert, weil der gefeierte Amtsträger Sulla mit der Toga eines römischen Bürgers bekleidet ist, was dazu beiträgt, dass der monarchische Anspruch der Bildaussage mit einem untrüglichen Symbol der „Bürgerlichkeit“, also der repu­blikanischen Etikette drapiert wurde und diesen dadurch konterkarierte. Kaum zwei Generationen später wird sich Octavian nicht mehr daran halten und sich in hellenistischer Herrschermanier mit nacktem Oberkörper auf seinem Reiterstandbild darstellen lassen. In der Regel versuchten die Machtmenschen der späten römischen Repu­blik, und davon gab es nicht gerade wenige, ihr übersteigertes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl unter den Mantel der Individualität und Unverwechselbarkeit zu stellen, was eine Auseinandersetzung mit den Wertvorstellungen der in den hellenistischen Ateliers entwickelten Kunstformen erforderte. Ihre für ein breites Publikum in der Öffentlichkeit aufgestellten Bilder, Büsten und Porträts, die im Gegensatz zu den sublimen, 625

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VIII  Ikonographie der Macht

Marmor-Kopf des Gaius Julius Caesar, wohl aus dem Jahr 44 v. Chr., aus Tusculum stammend, Höhe 33,5 cm, Turin, Museo di Antichità

gelegentlich etwas blutleeren hellenistischen Herrscherverherrlichungen vor Realismus nur so strotzten, sollten ein Abbild ihrer eigenen Lebenswirklichkeit vermitteln und zugleich ihre Leistungen für die res publica ihren Mitbürgern lauthals verkünden. Dies lässt sich idealtypisch anhand der Statuen Caesars, Pompeius’ und Crassus’ verdeutlichen, die eine eigentümliche Mischung aus Charakterköpfen und unverwechselbaren Individuen, die zugleich Leistungsträger waren, in sich vereinigen. Individuelle Besonderheiten werden nicht retuschiert, sondern bewusst realistisch hervorgekehrt, selbst wenn diese nicht den ästhetischen Idealen der Zeit entsprachen. So vermittelt Caesar den Eindruck einer in sich ruhenden Persönlichkeit, die Energie und gleichzeitig Gelassenheit ausstrahlte, die aber auch eine gewisse Distanz zum Betrachter einnimmt. Pompeius (siehe Seite 294) dagegen, der mit einer alexanderhaften Frisur ausgestattet, ansonsten 626

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8  Auftrumpfende Bilder der späten römischen Repu­blik

Marmor-Kopf des Marcus Licinius Crassus, Paris, Louvre

recht realistisch abgebildet ist, zeigt ein weiches Gesicht, das ihn unverwechselbar macht. Crassus stellt auf der anderen Seite fast das Gegenteil zu Pompeius dar. Seine Gesichtszüge wirken martialisch, hart und entschlossen. Man würde hinter diesem fast grimmig wirkenden Gesicht kaum den reichsten Mann Roms vermuten.

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9 Herrscherrepräsentation in augusteischer Zeit

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s gehörte zum politischen Stil der Repu­blik, dass erfolgreiche Feldherren ihre Kriegsbeute in Monumente und Tempel investierten, um ihre Leistungen in einen sakralen Kontext zu stellen. Doch die Bauten blieben vergleichsweise bescheiden. Mit Sulla brach sich jedoch ein neuer imperialer Stil Bahn (Fortunatempel in Praeneste), der in der Baupolitik der Kaiser seine endgültige Gestalt fand. Insbesondere Augustus hat erheblich zu dieser Entwicklung beigetragen, indem er Maßstäbe setzte. Er ließ Tempel renovieren und errichtete riesige Anlagen. Die großen noch heute bewunderten Bauten wie das Pantheon, das Colosseum, die Wasserleitungen und Mietshäuser in Ostia oder am Trajansforum, die von der Ingenieurkunst Roms zeugen, stammen aus der Kaiserzeit. Was für die Architektur galt, traf auch auf die Kunst zu. Zwar war die Hauptquelle römischer Plastik schon lange griechisch gewesen, aber weder gab es eine stringente Rezeption noch war die Adaption griechischer Formen unangefochten. Augustus jedoch schuf im Rückgriff auf die Kunst des klassischen Athen ein eigenes imperiales Bildprogramm. In gewisser Weise kann man ihn als Schöpfer der Idee der „Griechischen Klassik“ bezeichnen. Mit dem Ende der Eroberungen sank das Angebot an griechischen Originalen, sodass man sich aufs Nachahmen verlegte. Eigene Leistungen erbrachten die Römer vornehmlich in der Por­ trätkunst, die auf den ersten Blick realistische Bilder berühmter Persönlichkeiten wiederzugeben scheint, bei genauerem Hinsehen aber hochstilisierte Porträts schuf, um die Dargestellten als Träger römischer Tugend (virtus) zu verewigen. Das traf besonders für die Kaiserbilder zu, für die zentral Typen geschaffen wurden, die dann wieder und wieder kopiert wurden, um den Kaiser im Reich bekannt zu machen. Gerne ließ sich der Kaiser als Feldherr darstellen, um an seine Sieghaftigkeit zu erinnern. Unzählige Porträtstatuen schmückten die Städte des Reiches und ließen keinen Zweifel daran, wie die Machtverhältnisse geordnet waren. Das prachtvolle Standbild des Kaisers (der sogenannte Augustus von Prima Porta) befand sich im Landhaus der Livia, Augustus’ Frau und Mutter des Tiberius, die vielleicht den Auftrag zu dessen Herstellung erteilt 628

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9  Herrscherrepräsentation in augusteischer Zeit

Augustus. Panzerstatue aus der Villa der Livia bei Prima Porta. Marmor, H. 2,04 m; um 17 v. Chr.; Rom, Vatikanische Museen

hatte. Die im Mittelpunkt der auf dem Brustpanzer abgebildeten historischen Erzählung stehende Gestalt (Tiberius?/Mars) verstärkt die Wirkung der von Augustus in die Wege geleiteten Rückgabe der römischen Feldzeichen, die im Jahr 53 v. Chr. nach der Niederlage des Crassus von den Persern erbeutet worden waren. Durch die Einbettung der Szene in seinem 629

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VIII  Ikonographie der Macht

Brustpanzer wird die Tat als Leistung der Dynastie ausgegeben. Doch ab­ gesehen von den zahlreichen Details vermittelt das Standbild in seiner Gesamtheit noch viel mehr. Neben der Bezugnahme auf die Sieghaftigkeit des Abgebildeten, der von einer alexanderhaften Jugendlichkeit durchdrungen ist, strahlt das Monument eine überirdische Kraft und Autorität aus, die mit einer Aura der Macht und Sakralität verwoben erscheint, die den Betrachter nicht unbeeindruckt gelassen haben dürfte. Wer sollte denn auch gegen die in einen kultischen Kontext verwobene, unbefangene Präsentation von Macht und Herrschaft aufbegehren, wie sie das an einen Gott erinnernde, bellizistisch gestaltete Abbild des Augustus verkörperte? Damit soll der Betrachter der kunstvoll gestalteten Statue das Charisma des augusteischen Hauses spüren. Nicht von ungefähr wird die majestätische Haltung des heroisch Abgebildeten zum Modell für die Herrscherdarstellungen der ­ nachfolgenden Principes. Die religiös konnotierte Tempeldedikation des Augustus aus Palestrina (siehe Seite 492), welche von dankbaren Bürgern in Auftrag gegeben wurde, die pathetisch aufgeladene Opferszene des Kaisers Marc Aurel vor dem ­Capitolinischen Tempel in Rom (siehe Seite 190), welche als Akt der offiziellen Repräsentation der Kaiserherrschaft konzipiert wurde, oder das Entschlossenheit und Autorität ausstrahlende Tetrarchendenkmal aus dem Marcus-Dom von Venedig (siehe Seite 479), welches den gemeinsam regierenden Imperatoren huldigt, lassen sich, neben zahlreichen weiteren Beispielen, ebenfalls in die Kontinuität der ideologischen Selbstinszenierungen der augusteischen Ära einreihen.

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10 Kaiserliche Repräsentation in der Spät­antike Con­stantinsbogen

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er am Beginn der Via Sacra zwischen Colosseum und den Ausläufern des Palatins aufgerichtete Con­stantinsbogen gehört zu den prächtigsten und aussagekräftigsten Denkmälern kaiserlicher Repräsentationskunst der Spät­antike. Trotz seiner Monumentalität wirkt er auf den Betrachter keineswegs schwerfällig oder gar erdrückend. In Gegenteil: Wer sich der Anlage nähert, wird vielmehr wegen der raffinierten Komposition und der Vielfalt der Reliefs, die das Bauwerk schmücken, zum genauen Hinsehen geradezu eingeladen, mitunter zum Nachdenken über seine Botschaft und Funktion angespornt. Genau dies soll nun geschehen. Wir wollen uns näher mit diesem grandiosen Zeugnis spät­antiker Baukunst befassen, dessen Reliefs und Dekorelemente in der Forschung stets zu verschiedenen Deutungen Anlass gegeben haben. Nach dem heutigen Kenntnisstand stammen die Reliefteile aus der con­stantinischen, der antoninischen, der hadrianischen und der trajanischen Epoche.121 Nun gilt es, diese Bauelemente zu untersuchen; und indem in umgekehrter Reihenfolge der Weg von den späteren zu den frühesten Bestandteilen durchschritten wird, soll die Eigenart des Monuments und seine Symbolkraft näher erläutert werden. Spät­antike Dekorteile sind zum einen der historische Fries, der oberhalb der Seitendurchgänge den Bogen auf allen Seiten umläuft, die Medaillons an den beiden Schmalseiten mit den Darstellungen von Sol und Luna, der Figurenschmuck an den Schlusssteinen und in den Bogenzwickeln sowie die Postamentreliefs und die Büsten der Seitendurchgänge. Für das Verständnis des Bauwerks ist der con­stantinische Fries von zentraler Bedeutung, weil hier die Ereignisse festgehalten werden, die für die Errichtung des Bogens maßgeblich waren.122 Er beginnt im Westen mit der Profectio, wo der Aufbruch des Heeres dargestellt wird. Der Kaiser kommt zunächst nicht vor. Die linke Szene der Südseite thematisiert die Belagerung einer befestigten Stadt, wohl Verona. Hier wird Con­stantin hervorgehoben: Er überragt die ihn umgebenden Soldaten um Haupteslänge und wird von 631

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VIII  Ikonographie der Macht

Con­stantinsbogen, Rom

einer schwebenden Victoria bekränzt. Im rechten Friesstück der Südseite begegnet uns die Schlacht an der Milvischen Brücke. Con­stantin erscheint umgeben von der Victoria, der Virtus und einem Flussgott. Den Abschluss der kriegerischen Handlungen bildet die Adventusszene an der östlichen Schmalseite des Bogens. Am 29. Oktober des Jahres 312 zog Con­stantin an der Spitze seines Heeres in Rom ein. Der Kaiser fährt auf einem von der Victoria gelenkten Wagen durch die Porta Flaminia. Auf der linken Seite wird seine Ansprache auf dem Forum abgebildet, was sich aus den im Hintergrund verzeichneten Bauwerken (Basilica Julia, Tiberiusbogen, Fünfsäulendenkmal der Tetrarchen, Bogen des Septimius Severus) erkennen lässt. In der Bildmitte sind die mit jeweils einer Sitzstatue des Hadrian und Marc Aurel geschmückten Rostra zu sehen. Mit dem Hinweis auf die guten Kaiser des 2. Jahrhunderts wollte sich Con­stantin offenbar in die Tradition des aureum saeculum einreihen.123 Im weiteren Verlauf der Bildkomposition wird die Freigiebigkeit des Kaisers dargestellt. Er thront im Senatorengewand und verteilt Geldspenden. Anlässe dafür gab es genug, und sie ließen sich alle miteinander verbinden: seine Anwesenheit in Rom, die Designation für das Consulat im folgenden Jahr und schließlich der Sieg über Maxentius. 632

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10  Kaiserliche Repräsentation in der Spät­antike

Die Reliefspolien der antoninischen Epoche befinden sich in der Attikazone der Längsseiten.124 Ihre Anordnung nimmt kompositionell auf den im mittleren Teil des Bogens angebrachten con­stantinischen Fries Bezug. Die unterschiedlichen historischen Kontexte lassen sich jedoch nur bedingt vereinheitlichen. Eine Darstellung vom Rex datus sowie eine Gefangenenvorführung sind oberhalb der Belagerung von Verona angebracht, ohne dass eine inhaltliche Verbindung zwischen beiden Szenarien ersichtlich wird.125 Möglicherweise sollte darin die Sorge um die Sicherheit des Reiches und die Sieghaftigkeit des Kaisers gefeiert werden: Während Con­stantin gegen ­Maxentius zog, ließ er die ihm anvertraute Rheingrenze in volle Verteidigungsbereitschaft versetzen, ein Gedanke, den die con­stantinische Propaganda gerne aufgriff.126 Die Adlocutio und Lustratio erscheinen oberhalb der Darstellung von der Schlacht an der Milvischen Brücke. Das Thema gehörte zum Repertoire der historischen Reliefs. Adventus und Profectio an der Nordseite umrahmen in einem historischen Reliefzyklus Anfang und Ende eines Feldzuges. Die Liberalitas-Szene und die Darstellung eines bittflehenden Barbaren sind dem Congiarium des Kaisers zugeordnet und lassen sich mit der con­stantinischen Stadtszene in Einklang bringen. Die hadrianischen Medaillons (Tondi) an den Längsseiten über dem con­ stantinischen Fries sind paarweise angeordnet. Der Bezug zu pietas und virtus ist evident.127 Sie beginnen an der Südseite mit dem Auszug zur Jagd, dem sich das Opfer an Silvanus anschließt. Diesem wird als Tier ein Bär zugeordnet, der im nächsten Relief gejagt wird. Die Reihe der Opfer setzt sich mit Diana fort. Auf der Nordseite erscheint eine Eberjagd, dem darauf folgenden Opfer an Apoll schließt sich eine Löwenjagd an. An das Ende ist das Opfer an Hercules gesetzt. Hercules ist zudem die einzige Figur, die mit einer Girlande geschmückt ist; außerdem hält sie eine Victoria-Statue in der Hand. So endet auch dieser Reliefzyklus mit der Evozierung der Sieghaftigkeit des Kaisers. Die Kaiserporträts in den Medaillons sind nur an der Nordseite erhalten. Neben Con­stantin erscheint bei der Opferszene ein weiterer Kaiser, bei dessen Zuweisung die Meinungen weit auseinandergehen. Von besonderem Interesse sind die trajanischen Reliefs, die im Hauptdurchgang des Bogens und an den Schmalseiten der Attika angebracht wurden. Dargestellt sind im Hauptdurchgang der Adventus des Kaisers in Begleitung der Victoria und der Virtus. Außerdem erscheint der siegreiche Kaiser zu Pferd mit Gefolge im Kampf gegen die Daker. Das östliche Attikarelief wird von einer turbulenten Kampfszene beherrscht. Im westlichen Relief werden dakische Gefangene vorgeführt und die siegreiche römische Reiterei dargestellt. 633

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VIII  Ikonographie der Macht

Con­stantin und sein Vater Constantius ? bringen Apollo ein Opfer dar – Medaillon aus dem Con­stantinsbogen, Rom

Es ist Allgemeingut der Forschung geworden, das Trajansforum als den Herkunftsort der trajanischen Reliefs anzusehen. Filippo Coarelli128, Paul Zanker129 oder Sandro Stucchi130 haben diese Option postuliert, allerdings ohne zwingende Belege vorzulegen. Entscheidend für diese Zuweisung war die Vermutung, dass als Aufstellungsort für einen solchen großdimensionierten Fries131 nur das Trajansforum (etwa in der Attika der Basilica Ulpia) in Frage käme. Doch diese Überlegung vermag nicht zu überzeugen. Zunächst ist nicht einzusehen, wieso ausgerechnet das Forum Traianum, das Prunkstück des römischen Stadtbildes, als Steinbruch für den Con­ stantinsbogen gedient haben soll. Dem steht auch das Zeugnis des Ammianus Marcellinus entgegen. Der aufgrund seines ausgedehnten Romaufenthaltes gut unterrichtete Ammian hat anlässlich des Rombesuches des Kaisers Constantius II. eine wertvolle Liste der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt verzeichnet, eine Bestandsaufnahme der Denkmäler, die im 4.  Jahrhundert das urbane Gesicht Roms prägten. Über alle anderen Plätze ragte das Forum Traianum hervor: singularem sub omni caelo structuram, ut opinamur, etiam numinum assensione mirabilem.132 Es ist schwer vorstellbar, 634

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dass die trajanischen Reliefs des Con­stantinsbogens, die zu den größten gehören, die wir aus der römischen Antike kennen (die ursprüngliche Länge des gesamten Frieses betrug etwa 35 Meter), einfach aus dem Trajansforum herausgerissen worden waren.133 Und selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, mag es Verwunderung erregen, dass die durch ihre Entfernung verursachte große Lücke von Ammian nicht erwähnt wird. Daher drängt sich die Annahme auf, dass das Trajansforum zum Zeitpunkt des Romaufenthaltes von Kaiser Constantius II. im Jahre 357 intakt war. Folglich muss das trajanische Relief des Con­stantinsbogens aus einem anderen Ort stammen.134 Betrachten wir nun das Bildprogramm der trajanischen Reliefs genauer. Eine brauchbare Vorstellung von der ursprünglichen Aussage der auf dem Con­stantinsbogen getrennten Reliefteile zu gewinnen, ist schwierig135, weil die Bilder ohne Szenentrennung aneinanderstoßen. Dargestellt wird nicht ein chronologisch fortlaufender Frieszyklus – wie auf der Trajanssäule –, der sich als historischer Bildkommentar lesen ließe. Vielmehr begegnen uns Einzelepisoden, denen eine allgemeine, ideelle Bedeutung innewohnt: An den Wänden des Hauptdurchgangs sind Szenen angebracht, in denen der Kaiser agiert. An der Westwand erscheint er als siegreicher Feldherr zu Pferde. Darüber ist eine Inschrift, liberatori urbis, angebracht. An der gegenüberliegenden Ostwand unterhalb der Inschrift fundatori quietis zieht der Kaiser in Begleitung der Virtus siegreich in die Stadt ein. Die Seitenwahl erklärt sich möglicherweise aus der Bewegungsrichtung des Ingressus, der vom Süden her durch den Bogen hindurch auf die Via Sacra verläuft. Dedikationsinschrift und Relief stehen im Zusammenhang. Der Kaiser als Sieger in der Schlacht – auf Con­stantin übertragen heißt dies, als Bezwinger des Maxentius – lässt sich als Befreier der Stadt feiern. Der siegreich heimkehrende Princeps wird zum Friedensbringer stilisiert. In der ursprünglichen Anordnung des Frieses stand dem Adventus Augusti, deren linksläufige Darstellung sich in den verlorenen Platten fortsetzte, rechts eine Schlachtszene gegenüber, die die Niederwerfung der Daker durch die Übermacht der römischen Kavallerie und Infanterie schilderte. In der Mitte des folgenden Abschnittes ist der auf dem Pferd vorpreschende Kaiser zu sehen. Vor ihm brechen einige Daker zusammen. Tötung, Gefangennahme von Feinden und die Zurschaustellung abgetrennter Köpfe schließen sich an. Dann folgen weitere römische Soldaten. Der noch sichtbare Baum mit Topf, Helm und Schild gehört offenbar zu einem fortführenden Abschnitt, analog der Szene XX auf der Trajanssäule. Auffällig an der Reliefreihe ist einerseits das kaiserliche Repräsentations­ ritual, das Paul Zanker zu der Bemerkung veranlasst hat: „Das Erscheinen des 635

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Princeps allein vermag den Feind niederzuwerfen, so untrennbar ist der Sieg mit ihm verbunden, so sehr ist er zum Inbegriff des Sieges geworden.“136 Damit hat sich (im Vergleich etwa zum Mosaik der Alexanderschlacht) das traditionelle Bildschema der Reiterschlacht gewandelt. Der Unterlegene setzt sich nicht zur Wehr, sondern wirft sich voller Verzweiflung auf die Knie. Andererseits wird die Bedeutung der berittenen Truppen unterstrichen, an deren Spitze der Kaiser gleichsam als „heroischer Vorkämpfer“137 agiert. Diese Kampfszenen wollen die Sieghaftigkeit des Kaisers und seiner Soldaten evozieren, was bei Trajan, der häufig auf Feldzügen verweilte und als der militärisch tüchtigste römische Kaiser zu gelten hat, alles andere als erstaunlich ist. Bemerkenswert an den Reliefs ist, dass zwischen Imperator und milites eine unübersehbare Wechselbeziehung hergestellt wird. Soldaten und Kaiser s­ tehen gemeinsam im Mittelpunkt der Handlung. Auf einigen Szenen wird der Pro­ tagonismus der milites noch deutlicher als der des Kaisers betont. Damit ist die Frage aufgeworfen, ob die Aussage des Reliefs im Zusammenhang mit dem Charakter des Ortes stand, für den es möglicherweise geschaffen wurde. Lässt sich ein Bauwerk ausmachen, das dafür in Frage kommen könnte? Zunächst gilt es zu eruieren, welche Truppenteile dargestellt werden. Kleidung, Rüstung und die Nähe zum Kaiser weisen auf besondere, in der Um636

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gebung des Imperators angesiedelte Verbände hin. Der Gedanke an die kaiserliche Garde liegt nahe. Die Principes des julisch-claudischen Hauses besaßen eine germanische Leibwache, die von Galba aufgelöst wurde.138 An ihre Stelle traten die equites singulares Augusti, die in Rom stationiert waren, den Kaiser aber auf seinen Feldzügen begleiteten.139 Ob die auf dem trajanischen Fries abgebildeten milites eindeutig als equites singulares erkennbar sind, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit beantworten. Wenn auch die Aspekte für eine solche Identifikation zu überwiegen scheinen, so bleiben Zweifel, die sich nicht gänzlich ausräumen lassen.140 Auf der anderen Seite sollte man sich stets vergegenwärtigen, dass es nicht primäre Absicht solcher Kompositionen war, Realien minuziös abzubilden. Vielmehr versuchte die detailreiche Ausschmückung des Frieses, Wirklichkeit nachzuahmen, nicht in dem Bemühen, sie genau zu reproduzieren, sondern von der Warte des künstlerischen Empfindens aus plastisch zu gestalten. Wie die meisten Repräsentationsbauten wollen auch die Bildprogramme des Frieses bestimmte Aussagen assoziativ vermitteln: Die Sieghaftigkeit des Kaisers und die herausragende Bedeutung der römischen Reiterei. Einblendungen zu Organisationsformen des römischen Heeres sucht man vergebens. Tatsache bleibt, dass das Bildprogramm des trajanischen Frieses das 637

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Zusammenwirken und die Zusammengehörigkeit zwischen einem Kaiser (in diesem Falle Trajan141) und einer Heerschar (wohl die equites singulares) ­unterstreichen. Wann diese Eliteeinheit aufgestellt wurde, lässt sich nicht genau ermitteln. Jedenfalls sind die equites singulares für die Regierungszeit Trajans bezeugt142, und aus einigen Anspielungen der schriftlichen Quellen wissen wir, dass sie dem Kaiser überall bei seinen Feldzügen zur Seite standen.143 In trajanischer Zeit gab es ein Hauptquartier, die castra priora, die von der unter Septimius Severus eingerichteten Kaserne der castra nova unterschieden werden muss.144 Beide Standorte lagen auf dem Caelius, die ältere an der Via Caelimontana, unweit des Laterans, die jüngere auf dem Areal des Laterans. Es ist denkbar, dass die auf dem Con­stantinsbogen erhaltenen Reliefs Teil eines größeren Zusammenhangs waren, die anlässlich der Errichtung beziehungsweise Ausschmückung der Kaserne oder ihres Umbaus an dem Kasernengebäude angebracht wurden. Da die Reliefs Szenen aus den Dakerkriegen zeigen, wäre der ungefähre Zeitpunkt ihrer Entstehung gesichert.145 Der Protagonismus der milites, die Trajan auf seinen Dakerfeldzügen zur Seite standen, könnte der Anlass für den Auftrag eines solchen Monumentalfrieses gewesen sein. Wenn es sich so verhält, dann ließe sich eine Entsprechung konstatieren zwischen den Aussagen des Bildprogrammes und dem Zweck des Gebäudes: Die für die Sicherheit der Stadt zuständigen Truppen dokumentierten ihre Verbundenheit mit dem Kaiser, indem sie für das Wohl des Reiches an seiner Seite Siege errangen. Die virtus imperatoria des Trajan beruhte auf der tätigen Mitarbeit seiner Helfer. Kein Platz war für ein solches Bekenntnis geeigneter als das Hauptquartier dieser Spezialeinheit. Es gibt gewichtige Gründe für die Annahme, dass die trajanischen Reliefs sich ursprünglich in der Kaserne der equites singulares befunden haben. Sie lassen sich aus der näheren Betrachtung der Auseinandersetzung zwischen Maxentius und Con­stantin erschließen. Als am 28. Oktober des Jahres 306 nur wenige Monate nach Con­stantin Maxentius zum Augustus ausgerufen wurde, trug diese Erhebung alle typischen Merkmale einer Soldatenproklamation.146 Im ersten Fall bot die ­dynastische Anhänglichkeit der britannischen Truppen dem Sohn des Constantius das Diadem an, im zweiten Fall verhielt es sich ähnlich: Das Andenken der italischen Veteranen an seinen Vater Maximian gaben den Ausschlag für Maxentius. Dass in beiden Fällen die Soldaten die primären Stützen der Herrschaft bildeten, kann nicht überraschen. Dafür sprechen die zahlreichen Belastungsproben, denen Maxentius’ Regierung ausgesetzt war, die er ohne die bedingungslose Hingabe seiner Truppen nicht hätte 638

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­ estehen können. Dies galt in besonderem Maße für die Vorstöße des b ­Severus und Galerius gegen Rom, die ohne die hinter Maxentius stehenden Soldaten nicht hätten abgewehrt werden können.147 Dies traf auch für die Militäroperationen in Afrika zu, die mit der Wiederherstellung der Ober­ hoheit des Maxentius endeten. Vor allem zeigte sich die Ergebenheit der italischen Truppen zu Maxentius, als es mit seinem Vater Maximian zum Zerwürfnis kam und die Soldaten sich auf die Seite des Sohnes schlugen.148 Bei den Loyalitätsbekundungen zugunsten des Maxentius traten vor allem die in Rom stationierten Verbände der Prätorianergarde und der equites singulares hervor. Da er ihnen alles verdankte, zeigte sich Maxentius erkenntlich dafür, indem er seine hauptstädtischen Soldaten mit Vergünstigungen und Ehrungen überhäufte.149 Im Jahr 311 war die Stellung des Maxentius so gefestigt wie nie zuvor, während nach dem Tod des Galerius Licinius die Zügel der Herrschaft fest im Griff zu haben schien. Für die hochfliegenden Pläne Con­stantins waren beide nicht nur Konkurrenten, sondern ernsthafte Hindernisse auf dem Weg zur Gesamtherrschaft. Er hatte genug gewartet  – so schien es ihm jedenfalls  – und wollte nun aus dem Quartett heraustreten, um den Takt anzugeben. Im Frühjahr des Jahres 312 entschloss er sich, alles auf eine Karte zu setzen und die Entscheidung gegen Maxentius auf dem Schlachtfeld zu erzwingen. Aus der Perspektive eines außenstehenden Betrachters musste Con­stantins Italien­ zug wie ein Vabanquespiel erscheinen. Die Beispiele des Severus und des Galerius sowie die konsolidierte Stellung, die sich Maxentius in Italien geschaffen hatte, sprachen gegen das Gelingen der Unternehmung.150 Bereits das erste Hindernis, das Con­stantin auf seinem Marsch nach Rom zu überwinden hatte, die Belagerung und Eroberung der befestigten Stadt Verona, beanspruchte sein ganzes Können und stellte ihn und seine Armee vor eine schwierige Prüfung.151 Er hatte wohl die Widerstandskraft seiner Gegner unterschätzt. Die Treue der italischen Truppen zu Maxentius stellte ihn immer wieder vor schwer lösbare Aufgaben. Alles hing nun von dem Entscheidungskampf in Rom ab.152 Con­stantins strategische Lage war an­ fällig. Sie konnte sich bei einem längeren Krieg nur verschlechtern. Dass ­Maxentius den Kampf um Rom nicht von seiner gesicherten und fast un­ einnehmbaren Position in der befestigten Stadt aus führte, sondern ihn­ ­außerhalb der Stadtmauern suchte, war für alle eine Überraschung. In einem mit äußerster Erbitterung geführten Kampf an der Milvischen Brücke vermochte Con­stantin das Blatt zu wenden. In dieser für Con­stantin prekären Lage hatte sich die Anrufung des Christengottes bewährt. Ihm verdankte er nun seine politische Existenz.153 639

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Die Neubestimmung des Verhältnisses zu den besiegten Feinden, zur r­ ömischen Senatsaristokratie und zum Gott der Christen gehörte zu den ersten Aufgaben des Kaisers. Der Gott der Christen hatte seinen Sieg abgesegnet. Für die con­stantinische Propaganda sollte dieser Zusammenhang eine axiomatische Bedeutung erlangen. Es ist nur begreiflich, dass Con­stantin mit der Errichtung einer christlichen Versammlungsstätte in Rom einen Teil seiner Schuld bei seinem Schlachtenhelfer abtragen wollte. Die Wahl des Platzes, auf dem die christliche Basilika entstand, war keineswegs willkürlich. In der Regio II und V befanden sich die Kasernen der Maxentius besonders ergebenen equites singulares. Con­stantin ließ sie abreißen.154 Dafür gab es aus seiner Sicht ideologische und praktische Gründe. Zum einen konnte er ein politisches Zeichen setzen. Andererseits bedeutete die Maßnahme die Auflösung einer unnötig gewordenen Truppeneinheit, die eine Stütze von Maxentius’ Herrschaft gewesen war. Nach der Beseitigung des Tyrannen, so nannte die con­stantinische Propaganda den Maxentius155, sollten die Werkzeuge seiner Macht verschwinden. Indem Con­stantin auf dem Platz, wo sich das Hauptquartier seiner Feinde befand, nun die Laterankirche erbauen ließ, zog er unter die politischen Ereignisse des Jahres 312 einen augenfälligen und symbolträchtigen Schlussstrich. Die ehemalige Bastion seiner Feinde sollte sich zu einem Denkmal des neuen, von Con­stantin nobilitierten Reichsgottes verwandeln. Die Möglichkeiten zum Zelebrieren seines Sieges waren damit nicht ausgeschöpft. Der Bild- und Wandschmuck des zu Trajans Zeiten verzierten Gebäudekomplexes der castra priora bot sich zur Verherrlichung des Geschehens geradezu an. Die Beschaffenheit der dargestellten Kampf- und Sieges­ szenen ließen eine sinnvolle weitere Verwendung denkbar erscheinen. Daher ist anzunehmen, dass der auf Senatsbeschluss zu Ehren Con­stantins dedizierte Triumphbogen mit Friesteilen der früheren Kaserne der equites singulares ausgestattet wurde. Die Transplantation aus diesem Ort erfüllte einen doppelten Zweck: Zum einen konnte man damit wertvolles architektonisches Material wiederverwenden, zum anderen aber – und das scheint der zentrale Punkt zu sein – sollten die Besitztümer der besiegten Gegner als Spolien des Siegers fungieren. Man kann sich kaum eine zweckmäßigere Siegesbeute vorstellen als die trajanischen Reliefs aus den castra priora, einem Ort, dessen Verbindung zu Trajan mit der Zeit abgeschwächt war, dem aber die Erinnerung an das Regiment des Maxentius noch anhaftete. Nun erschließt sich auch die Bedeutung einer Zeile aus der Inschrift am Con­stantinsbogen besser, die auf Maxentius und seine Parteigänger Bezug nimmt: Cum exercitu suo tam de tyranno quam de omni eius factione uno 640

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tempore iustis rem publicam ultus est armis156 – „mit seinem Heer sowohl am Tyrannen als auch all seinen Anhängern zur selben Zeit den Staat mit gerechten Waffen rächte“. Als der römische Senat – gewiss mit kaiserlicher Billigung – Teile des abgerissenen Bauwerkes als Beutestücke auf dem Con­stantinsbogen anbringen ließ, war dies nicht nur ein Akt der Loyalität gegenüber dem neuen Herrscher, sondern auch die Konsequenz aus einem vergangenen Kapitel stadt­ römischer Geschichte. Nach Maxentius’ Tod wurden keine Gardetruppen mehr in Rom stationiert; die equites singulares werden nicht mehr in den Quellen erwähnt. Wenn die vorgeschlagene Deutung zutrifft, so hätten wir nicht nur die Ursache ermittelt, die zur Auflösung der Einheit führte, sondern auch einen handfesten Hinweis für den dafür in Frage kommenden Zeitpunkt gewonnen.

Con­stantin Imperator Unter den zahlreichen bildlichen Darstellungen Con­stantins, die aufgrund seiner langen Regierung in sämtlichen Teilen des römischen Reiches vorliegen, ragt eine Kolossalstatue des thronenden Kaisers hervor, die sich bis zu 12 Meter über die Erde erhebt und ihn in seiner ganzen Allmacht zeigt. Wenn wir nach einem Vorbild für das imposante Denkmal Ausschau halten, so finden wir es in der aus Marmor und Bronze gefertigten, monumentalen Sitzstatue des thronenden Jupiter, die heute in der Eremitage von Sankt Petersburg zu besichtigen ist (siehe Seite 228). Der, wie ein gegenwärtiger Gott (deus praesens) mit dem Blick in die Weite gerichtet, majestätisch thronende Con­stantin nahm von der Apsis seiner Basilika ausgehend den gesamten Raum, der vor ihm lag, in Beschlag und verwandelte ihn dadurch zum Kultbereich des übermächtigen Herrschers. Diese Wirkung wurde vor allem mittels der zeremoniellen Pose des Abgebildeten und der erstarrten Physionomie seiner Gesichtszüge unterstrichen. Anders als die auf dem Con­stantinsbogen überarbeiteten Köpfe, die aus der trajanischen Epoche stammten und voller Bewegung sind und auf diese Weise Con­stantin als dynamischen Romeroberer in Szene setzen, will die Kolossalstatue einen unnahbaren, in sich ruhenden, göttlichen Herrscher darstellen. Dieser besticht durch seine bloße Anwesenheit sowie durch die Distanz, die das Monument beim Betrachter entstehen lässt. Auf diese Weise wird der in einer sakralen Sphäre eingebettete Kaiser wie ein Gegenstand der kultischen Verehrung wahrgenommen. Sein Sohn Cons641

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Kolossale Sitzstatue des Jupiter, ca. 10 m hoch; Rekonstruktion unter Verwendung der erhaltenen Fragmente; Rom, Palazzo dei Conservatori

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tantius II. wird diese hieratische Haltung nachahmen und, wie das folgende Beispiel verdeutlicht, sie zum charakteristischen Merkmal der spät­antiken Herrscherrepräsentation erheben.

Constantius’ II. Rombesuch Kaiserliche Rombesuche waren im 4. Jahrhundert eine problematische Angelegenheit. Seit die Stadt, bedingt durch die ständige Abwesenheit des Herrschers, den Status eines faktischen Regierungssitzes eingebüßt hatte157, stand der meist nur wenige Wochen dauernde Aufenthalt des Reichsoberhauptes in der nach wie vor als Mittelpunkt des Imperiums geltenden Stadt vor vielerlei Ungewissheiten und Herausforderungen. Wie würde man den Kaiser empfangen, und wie würde dieser mit der Bevölkerung der Stadt umgehen? Was konnte Rom vom meist abwesenden Herrscher erwarten? Die Annahme, dass solche Begegnungen reibungslos verlaufen würden, hatte die Vergangenheit oft genug widerlegt. Ein Kaiserbesuch, stets mit hohen Erwartungen verknüpft, konnte leicht in einem Fiasko enden. Man erinnerte sich sicherlich an den letzten Romaufenthalt Diocletians (303), als dieser verbittert vorzeitig abgereist und von den geplanten Feierlichkeiten lediglich ein fader Beigeschmack übriggeblieben war.158 Im Jahre 326 war Con­stantin zum letzten Mal in Rom gewesen und aus der freudig erwarteten Begegnung entspann sich wegen seiner demonstrativen Bevorzugung des christlichen Kultes und der damit verbundenen Abkehr von den capitolinischen Gottheiten eine Konfrontation, die Ärger und Irritationen auf beiden Seiten auslöste. Constantius II., damals noch ein Kind im Gefolge seines Vaters, wurde Zeuge dieser an Konflikten reichen Episode. Der Besuch des Constantius II. in Rom im Frühjahr des Jahres 357 stand unter günstigeren Vorzeichen. Einerseits hatte die Stadt gegen die Usurpation des Magnentius Widerstand geleistet, als der zur con­stantinischen Familie gehörende Nepotianus sich dagegen positionierte und in Rom Unterstützung fand. Möglicherweise benutzten einige Senatskreise den Vorfall, um die Verbundenheit mit dem Herrscherhaus zu betonen, was Constantius II. nicht ungern zur Kenntnis genommen haben wird. Immerhin waren namhafte Senatoren, die vor Magnentius geflohen waren, zu Constantius II. geeilt und hatten ihm als rechtmäßigen Augustus gehuldigt.159 Zum anderen zeigten sich die Römer zufrieden damit, dass Constantius II. nach Erringung der Alleinherrschaft und der Regelung der drängendsten innen- und außenpolitischen Probleme Rom aufsuchte. Da ein Regierungsjubiläum unmittel643

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bar bevorstand, bekam der Besuch noch mehr Gewicht.160 Man konnte ­diesen Romaufenthalt als eine freiwillige Geste der Verbundenheit des Kaisers mit der ideellen Mitte des römischen Reiches auffassen. Die etwa vier Wochen, welche der Kaiser in Rom verbrachte, sind durch keinerlei Missstimmung getrübt worden. Im Gegenteil: Die Römer zeigten sich über die Präsenz des Kaisers in ihrer Mitte froh und gaben dies deutlich zu erkennen. Constantius II. seinerseits revanchierte sich, indem er der Stadt eine Reihe von Vergünstigungen gewährte. Trotz des längst eingetretenen Verlustes an politischer Bedeutung war Rom nach wie vor das geistige und kulturelle Zen­trum des Reiches.161 Nirgendwo sonst gab es eine vergleichbare Bildungsschicht, deren Keimzelle der römische Senat war. Die Anziehungskraft der Monumente, Bibliotheken, Schulen und Bildungseinrichtungen war ungebrochen. Namhafte Gelehrte wetteiferten mit ihren Kollegen in Alexandria, Antiochia oder Con­ stantinopel um reichsweite Anerkennung. Dass ein Aufenthalt in Rom für ambitionierte Intellektuelle als Bereicherung empfunden wurde, zeigt die Biographie des Antiocheners Ammianus Marcellinus, dem wir in Ermangelung bildlicher Dokumente, die das Ereignis festhielten, eine farbenprächtige Schilderung des Rombesuches des Kaisers verdanken. Sein Bericht, der an Lebendigkeit und Expressivität kaum zu überbieten ist, gibt die Einzelheiten des Vorgangs so plastisch wieder, dass er als Vorlage für eine bildliche Darstellung des Romeinzuges dienen könnte. Seine Vergegenwärtigung lässt in den Augen des Lesers ein Szenenbild entstehen, welches sowohl die Phantasie als auch das Bemühen nach einer detailgenauen Rekonstruktion des Geschehens beflügelt. Deren schillerndste Passagen lauten wie folgt:162 Er selbst saß allein auf einem goldenen Wagen, der im Glanz verschiedenartiger Edelsteine erstrahlte, mit dessen Schimmer sich ein bestimmtes wechselndes Licht zu vermischen schien. Und hinter verschiedenartigen anderen, die voranschritten, umgaben ihn Drachen, die aus purpurfarbenem Garn verfertigt und an den goldenen und mit Edelsteinen verzierten Spitzen der Lanzen angebracht waren (…). Und von hier an schritt ein doppelter Zug Bewaffneter einher, mit Schild und Helmbusch, ein schimmerndes Licht aussendend, mit glänzenden Brustpanzern bekleidet,… so dass man sie für Standbilder, von der Hand des Praxiteles gebildet, hätte halten können, nicht aber für Männer (…). Und so erschauerte der Augustus, von glückverheißenden Zurufen begrüßt, nicht durch das von den Bergen und Stränden her erdröhnende Getöse, sondern zeigte sich so unbeweglich, wie man ihn auch in seinen Provinzen sah. Denn er bückte seinen sehr kleinen Körper, wenn er durch hohe Tore fuhr, und, wie wenn sein Hals gemauert wäre, den Blick der Augen geradeaus 644

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r­ ichtend, wandte er das Gesicht weder nach rechts noch nach links, und wie eine menschliche Statue weder schwankend, wenn ein Rad schüttelte, noch spuckend oder Mund oder Nase abwischend oder reibend oder eine Hand bewegend ist er jemals gesehen worden.163 Constantius II. zog als siegreicher Feldherr in Begleitung seiner Truppen auf einem prächtig geschmückten Wagen in die Stadt ein. Nachdem er eine Ansprache an den Senat gehalten hatte, folgten die bei solchen Anlässen üblichen Lobreden auf den Kaiser. Auch der berühmte Redner Themistios war eigens von Con­stantinopel nach Rom gereist.164 Über die öffentlichen Auftritte des Kaisers gibt Ammian Auskunft, wenn er von Spenden an seine ­Soldaten und das römische Volk sowie von einem Besuch des Constantius II. im Circus, wo er einem Wagenrennen beiwohnte und mit Sprechchören akklamiert wurde, berichtet. Ferner erzählt Ammian von einer Stadtbesichtigung und der Aufstellung eines Obelisken.

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ereits das Alte Testament forderte die Jesusanhänger dazu auf, sich kein Bild Gottes zu machen.165 Ähnlich wie es die jüdischen und muslimischen monotheistischen Glaubensgemeinschaften noch heute tun, hat die Kirche in der Frühphase ihrer Ausbreitung, soweit wir sie zurückverfolgen können, sich an dieses Gebot weitgehend gehalten. Dies geschah wohl auch in Kenntnis der Problematik, die jedem Versuch einer Visualisierung Gottes innewohnt, wie die Auswüchse des byzantinischen Bilderstreites Jahrhunderte später unterstreichen werden.166 Mit der Zeit wurde jedoch diese Zurückhaltung erheblich aufgeweicht.167 Im Verlauf der christlichen Mis­ sio­nierung und um die Akzeptanz und Anerkennung des Evangeliums zu erhöhen, passte sich die Kirche einer Umwelt, die voll von Götterdarstellungen war, vorsichtig an. Dies heißt nichts anderes, als dass sich eine christliche Prägung heidnischer Motive unvermeidlich einstellte. Zu einer kulturell begründeten Assimilation von Ideen, Kult- und Lebensformen, die aus den traditionellen Milieus entlehnt wurden, gab es keine Alternative. Wollten die Christen, dass ihre Glaubensgemeinschaft die Grenzen überwand, die sie sonst zu einer marginalen Sekte hätten werden lassen, so musste ihre Botschaft und Lehre verstanden und für eine angemessene Rezeption durch ihre heidnische Umgebung gesorgt werden. Dies betraf besonders die nonverbale Kommunikation, also die Bildersprache einschließlich ihrer Symbolik.168 Die Verbreitung von Christusbildern wird lange Zeit als heidnische Gewohnheit empfunden und daher abgelehnt.169 Keine Bedenken bestanden aber gegenüber den Symbolen und den historischen Szenen aus dem Neuen Testament, wie die Auferweckung des Lazarus oder die Taufszene am Jordan, um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen. Aus diesem Grund entstehen ab dem späten 3. Jahrhundert nach traditionellen Mustern die ersten Abbildungen, in denen eine Anspielung auf Christus ersichtlich wird.170 Apollinische Motive regten ebenfalls die parallel dazu geschaffene Vorstellung eines Christusbildes (falls es sich um ein solches handelt) an, das mit den Attributen des Sonnengottes versehen wurde und im Strahlenkranz auf einem von Pferden gezogenen Wagen zum Himmel auffährt. 646

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Sol mit 7-strahliger Gloriole auf einer Quadriga (nur zwei Pferde erhalten). Deckenmosaik aus dem Julier Mausoleum der Nekropole unter St. Peter, Rom, um 300. Die Weinranken an dem flachen Kreuzgewölbe lassen in der Mitte ein achteckiges Bild frei. Fläche 1,98 m x 1,63 m.

Die verhältnismäßig spärlichen Christusdarstellungen als Allegorien aus vorcon­stantinischer Zeit verwundern kaum, waren sie doch meist für den Gebrauch einer randständigen Gruppe geschaffen worden.171 Auffälliger ist schon, dass sich nach der Aufhebung der Verfolgung und mit zunehmender Akzeptanz der christlichen Lehre in Staat und Gesellschaft zunächst kaum etwas daran änderte.172 Die Gründe dafür dürften sowohl in der zahlenmäßig keineswegs dominierenden Gruppe der Christen als auch in den unaufhörlichen Findungsprozessen um die Bestimmung der christlichen Gottes647

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vorstellung zu vermuten sein. Möglicherweise haben die Schwierigkeiten bei der fieberhaften Suche nach einer begrifflich unanfechtbaren Definition über das Wesen des christlichen Gottes die Entwicklung bildhafter Ausdrucksformen, die zur Genese eines eindeutigen Christusbildes hätten führen können, verzögert.173 Zunächst einmal hatte man sich mit den im heidnischen Milieu reichlich vorhandenen einschlägigen Angeboten auseinandergesetzt und sie für die eigenen Zwecke umgestaltet. Doch schon bald entwickelten sich spezifisch christliche Darstellungsformen, die im Einklang mit dem herrschenden Zeitgeist standen. Dieser wurde durch die vehement geführten dogmatischen und disziplinarischen Kontroversen innerhalb der Kirche bestimmt. Das Ringen um eine definitive Gottesformel fand meist auf Bischofssynoden in Auseinandersetzung mit Worten und Texten statt.174 Zahlreiche Schriftstücke, denen naturgemäß nur eine quantitativ begrenzte Rezeption vergönnt war, wurden immer wieder diskutiert, redigiert, vom Griechischen ins Lateinische und umgekehrt übersetzt, neu formuliert, redaktionell überarbeitet, bis sie schließlich verabschiedet werden konnten. Rhetorische, philosophische und theologische Vorarbeiten standen im Mittelpunkt einer von Fachleuten geführten Debatte. Sie bildete die Basis für die Schärfung der christlichen Begriffsbildung. Doch was in Form von verbindlichen Beschlüssen dabei herauskam, sofern es gelang, unumstrittene Ergebnisse zu erzielen, stellte lediglich die Spitze eines Eisberges dar, unter dessen Oberfläche ein Bündel emotional aufgeladener, explosiver Affekte loderte. Davon nahm der Großteil der christlichen Öffentlichkeit nur bedingt Kenntnis. Was vielmehr Publizität erlangte und in Erinnerung haften blieb, waren kurzgefasste Bekenntnisse, Formeln und theologisch belastbare Begriffe, deren Verständlichkeit und Tauglichkeit von einer Klerikerschicht geprüft werden musste, welche die Deutungshoheit in Fragen des christlichen Gottesbildes an sich gerissen hatte. Insgesamt vermittelt die Quellenlage, die uns für die Rekonstruktion dieser Zusammenhänge zur Verfügung steht, eine auffallende Disproportion zwischen Bildern und Texten. Der Fülle christlicher Literatur steht ein begrenztes Reservoir an Werken der bildenden Kunst gegenüber. Zwar lässt sich das dogmatische Lehrgebäude anhand von unzähligen Predigten, Traktaten, Stellungnahmen oder Briefen bis ins kleinste Detail zurückverfolgen, jedoch mangelt es gleichzeitig an aussagekräftigen Zeugnissen der materiellen Kultur, an Monumenten oder an Darstellungen, die das Geschriebene in einer vergleichbaren Intensität bildhaft verarbeiteten.175 Das Problem reduzierte sich nicht nur auf das heikle Thema nach dem Aussehen von Jesus, 648

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sondern betraf auch die bildliche Umsetzung des trinitarischen Gottesverständnisses. Im Kontrast zum heidnischen Alltag, der durch eine Flut personifizierter Götterfiguren überschwemmt wurde, zeigte sich Christus weder auf den Münzreversen der Herrscher, die sich zu ihm bekannten, noch auf Standbildern, Statuen oder Gemälden im öffentlichen Raum. Seine Präsenz häufte sich dagegen auf Sarkophagen, auf Gegenständen der Kleinkunst, auf Mosaiken oder Fresken, die teils in den Kirchen, noch mehr aber für den privaten Gebrauch geschaffen worden waren, wobei anhand der Frequenz der vorhandenen Christusdarstellungen man schwerlich auf eine tiefgreifende Christianisierung des 4. Jahrhunderts schließen würde.176 Versucht man die einschlägigen Kunstwerke typologisch zu erfassen, so fällt auf, dass Jesus meist in der Gestalt des Helfers, Heilers, Lehrers oder Schlichters dominierte.177 Bis zu den ab dem 6. Jahrhundert einsetzenden Serien von Christusbildern, die ihn als Herrscher des Universums feierten und in den Pantokratordarstellungen der byzantinischen Kunst gipfeln werden, war es aus der Perspektive des 4. Jahrhunderts noch ein weiter Weg. Ikonographische Christusdarstellungen als göttliches Wesen, gemalt oder in Stein gehauen, bleiben Mangelware. Wenn man davon ausgehen kann, dass dieser Befund keinen Zufall darstellt, der ausschließlich der Überlieferungslage geschuldet ist, dann verlangt das Phänomen der zögerlichen Verbreitung von Christusdarstellungen nach einer Erklärung. Sie dürfte wohl in dem mangelnden theologischen Konsens bezüglich der christlichen Gottesvorstellung, der für den Geist der spät­antiken Kirchengemeinden bezeichnend ist, begründet liegen. Das überaus verworrene und uneinheitliche Dogmenspektrum des 4. Jahrhunderts mit seinen rivalisierenden Konfessionen (Nicaener, Homöer, Anhomöer, Melitianer, Donatisten etc.) war wenig geeignet, Eindeutigkeit zu stiften.178 Hinzu kommt, dass sich die christliche Lehre stets als Offenbarungs- und Buchreligion manifestiert hatte.179 Das Wort und die Schrift behaupteten stets den Vorrang, was die ersten Sätze des Johannesevangeliums prägnant auf den Punkt bringen: „Im Anfang war das Wort (Logos) und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“180 Die Glaubensessenz und die Vorstellung, die man sich von Gott machen durfte, wurden primär über Sprache und Texte transportiert und reflektiert. Bilder scheinen dabei eine sekundäre, eher didaktische Rolle gespielt zu haben, wiewohl das Evangelium voller Parabeln und Gleichnissen steckt, die eine Bildersprache eigener Art entwickelten. Gleichwohl stellte die Bibel genügend Themen zur Verfügung, um die über Zeit und Raum sich wandelnden Bedürfnisse der christlichen Gemeinden nach erbaulichen Darstellun649

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VIII  Ikonographie der Macht

Daniel in der Löwengrube. Mittlere Szene des unteren Frieses vom sogenannten dogmatischen Sarkophag. 1838 bei Fundamentierungsarbeiten am Baldachin von S. Paolo fuori le Mura gefunden; um 330; Rom, Vatikan, Museo Pio Cristiano

gen oder Bilderzyklen zu befriedigen, die aus dem Geist einer narrativ vermittelten Buchreligion geschöpft wurden: Daniel in der Löwengrube oder Jonas im Bauch des Wals dienten dazu, die Erinnerung an die Verfolgungszeit wachzuhalten, die Hochzeit von Kana als Hinweis auf maßvolles Verhalten und viele andere Erzählungen aus dem Neuen Testament, die den historischen Jesus in den Mittelpunkt stellen, wie etwa seinen Einzug in Jerusalem, die Belehrung der Apostel oder die Heilung von Kranken.181 Diese Darstellungen sollten beitragen, den Glauben zu festigen, indem sie gleichzeitig ­halfen, sich in der Welt der Heilsgeschichte in ästhetisch akzeptabler Form einzurichten. Im Vergleich zu dieser Fülle an Motiven fällt die zurückhaltende Darstellung Gottes auf. Begab man sich aber vom reichhaltigen Repertoire der seelsorgerisch und heilsgeschichtlich orientierten Episoden, das die Bibel bietet, auf die Ebene der dogmatischen Reflexion über Gottes Allmacht und sein Erlösungswerk, also die Kernfragen des theologischen Diskurses im 4. Jahrhundert, wie dies die Auseinandersetzung um die Trinität zeigt und später das Tauziehen um die Natur Christi offenbaren wird, so verengte sich plötzlich der Raum für Interpretationen und die davon abhängigen Bilder. Diese hätten nur allzu 650

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11 Christusdarstellungen

Christus predigt den Aposteln, Szene vor einer Stadtmauer. Ausschnitt aus der Vorderseite des sogenannten Stilicho-Sarkophags, Marmor H. 1,14 m (Ende des 4. Jahrhunderts), Mailand, S. Ambrogio, unterhalb der mittelalterlichen Kanzel

leicht Widerspruch erzeugen oder irritierend wirken können, womit sie das angestrebte Ziel verfehlt hätten, denn Normverletzungen bargen die Gefahr der Häresie. Auf welche Art und Weise hätte man bildlich die Trinität abbilden können? Was gehörte zu einer theologisch korrekten Darstellung von Gottvater und Gottsohn und wie sollte man in diesem Kontext den Heiligen Geist gestalten? Was musste unbedingt vermieden werden, was sollte unbedingt ins Bild hinein? Welche Komponenten sollten beim Christusporträt dominieren, die göttlichen oder die menschlichen Eigenschaften? Wer entschied über die Angemessenheit der Darstellungen? Solange keine klaren, allgemein verlässlichen Aussagen über die Wesensbestimmung des christlichen Gottes vorlagen, die auf breite Akzeptanz stie651

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VIII  Ikonographie der Macht

Christus erscheint inmitten der Wolken in goldener Tunika und Pallium, die Rechte erhoben, in der Linken eine Buchrolle. Apsismosaik, um 530, Rom, SS. Cosma e Damiano

ßen, ließen sich keine verbindlichen Vorgaben für die Erstellung passender Gottesbilder entwerfen. Diesen Mangel hat man allerdings mit einer reichhaltigen Formenvielfalt christlicher Symbolik ausgeglichen, deren Gegenstände wie das Kreuz, das Christogramm, das Labarum oder die Krippe, um nur einige Beispiele zu nennen, eine wachsende Bedeutung im christlichen Alltag gewannen. Erst der vorläufige Abschluss der großen dogmatischen Auseinandersetzungen auf den Konzilien von Con­stantinopel (381) und Chalkedon (451) hat den Weg geebnet für die Schaffung eindeutiger Ikonographien. Christus wird neben seiner traditionellen Rolle als Lehrer, Schlichter und Helfer nun auch als Heiland und Herr der Welt wahrgenommen, wie er uns in einer der frühesten Darstellungen dieser Art begegnet, welche die römische Kirche Santa Pudenziana schmückt (siehe Seite 568). Das traditionelle Kaiserbild wird zunehmend zum Modell für das christliche Gottesbild, wie der in der Attitüde eines Herrschers segnende Christus mustergültig verdeutlicht. Sakrale Bilder genossen als Ausdruck und Repräsentation der himmlischen Welt einen besonderen Stellenwert im Gefühlsleben der Gläubigen. 652

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11 Christusdarstellungen

Sie galten als Gegenstände der Erbauung und der Verehrung und somit als Instrumente einer jenseitigen, unsichtbaren Macht, die sich der irdischen Kontrolle entzog. Das machte sie ungemein anziehend, aber zugleich unberechenbar und gefährlich. Falsche Bilder konnten eine ebenso große Abneigung und Verwirrung stiften wie falsche Bekenntnisse. Die sich in vollem Gange befindende obsessive Suche nach der richtigen Gottesformel erweist sich in diesem Kontext als das nie ganz überwundene Trauma der spät­ antiken Religiosität. Sie hat das Wesen und die Ausgestaltung der christ­ lichen Ikonographie maßgeblich bestimmt.

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Anmerkungen I Land und Meer, S. 17–93 1

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

So formulierte es der wegen seiner unrühmlichen Rolle im NS-Staat umstrittene Publizist Carl Schmitt in einer vielgelesenen Abhandlung, in der Land und Meer als gestaltende historische Kategorien ins Visier genommen werden (1981) 7, 8. Barceló (2011) 255–260; Schulz (2005) 9–26. Siehe Kapitel I 3. Siehe Kapitel I 6. Llac, Viatge a Ítaca, Fonomusic 1987. Ruschenbusch (1995) 444 f. Siehe Kapitel II 2. Hesiod, Werke und Tage 654–657. Murray (1982) 81–102; Tausend (1992) 212. Zu den Folgen des Peloponnesischen Kriegs Lévy (1976); siehe Kapitel V 3.1. Herodot 2, 167. Barceló, Hernández de la Fuente (2014) 82–91. Austin, Vidal-Naquet (1984) 39–43. Vernant (1982) 72–74. Herodot 1, 153. Barceló, Hernández de la Fuente (2014) 65–70. Ober (2016) 49–79. Ruschenbusch (1995) 436–439. Thukydides 1, 10, 2. Siehe Kapitel IV 4.1. Siehe Kapitel II 3, VI 3.3 und 3.4. Barceló, Hernández de la Fuente (2014) 139–142. Jacoby, FGrHist 70, Hekataios F 42. Barceló (2013) 605–628. Strabo 3, 4, 2. Niemeyer (1980) 165–185. Ferrer Albelda, García Fernández (2007) 653–667. Herodot 1, 153. Thukydides 2, 37–41. Herodot 8, 61, 1–2. Strabo 14, 1, 25. Heraklit, Fragment 112. Heraklit, Fragment 113. Siehe Kapitel IV 2. Herodot 1, 30; siehe Kapitel IV 3.1. Thukydides 2, 40 f. Platon, Timaios 35 b; 36 d. Xenophon, Hellenika 4, 2, 11. Demosthenes, Briefe 49, 22. Aristoteles, Politik 1330 b. Barceló, Hernández de la Fuente (2014) 91–96. Demosthenes, 1. Rede gegen Philipp 4, 26; 35. Aristoteles, Staat der Athener 56–58. Platon, Phaidros, 230 d. Aristophanes, Acharner 28 ff. Austin, Vidal-Naquet (1984) 43–45. Thukydides 1, 24 ff. Aristophanes, Lysistrata 575–586. Plutarch, Lysander 18.

50 Eines der besten Beispiele wäre der Hymnos auf Demetrios Poliorketes, den die Athener dem mächtigen Feldherrn widmeten. 51 Plutarch, Moralia 841 e. 52 Schmitt (1981) 29. 53 Herodot 4, 152, 1–3. 54 Siehe Kapitel I 4.1. 55 Herodot 4, 196, 1 f. 56 Thukydides 1, 142, 8. 57 Demosthenes, Gegen Lakritos 10–13. 58 Boardman (1981) 191–314. 59 Zur phönikischen Kolonisation Niemeyer (1989); Lancel (1992); siehe auch Kapitel I 9.1. 60 Austin, Vidal-Naquet (1984) 50–57. 61 Meiggs, Lewis (1969) 5, Z. 23 ff. 62 Leschhorn (1984). 63 Murray (1982) 145. 64 Herodot 1, 163. 65 Überblick über den Forschungsstand zur Tartessosfrage bei Campos, Alvar (2013). 66 Koch (1974) 9–101; Niemeyer (1984) 6 f. 67 Siehe Kapitel I 2. 68 Aubet (1982) 311–330. 69 Barceló (2013) 611–622. 70 Anakreon, Fragment 8; Herodot 1, 163; 4, 152. 71 Koch (1974) 103–138. 72 Zu Arganthonios vgl. Herodot 1, 163. 73 Barceló (1988) 144–151. 74 Clauss (2012) 137–161. 75 Herodot 2, 178. 76 Hahn (2000) 9–13; Barceló (2007) 193–206. 77 Arrian 7, 2, 2–5; Plutarch, Alexander 49, 8; 64; 65, 1–8. 78 Arrian 7, 2, 4; Plutarch, Alexander 65, 2–8; Hahn (2000) 99 f. 79 Zur Ethnographie Altitaliens vgl. Pallotino (1987) 68–137. 80 Kolb (1995) 74–114. 81 Kolb (1995) 119–135. 82 Alföldy (2011) 15–59. 83 Heuss (1971) 42–48. 84 Heuss (1971) 42–61. 85 Heuss (1971) 61–66. 86 Ladewig (2014) 23–45. 87 Beike (1990) 113–125. 88 Siehe Kapitel V 3.2, 4, 6.3. 89 Polybios 1, 3. 90 Kolb (1995) 175–249. 91 Alföldy (2011) 85–117. 92 Siehe Kapitel II 6.4. 93 Heuss (1971) 272–289. 94 Cicero, An seine Freunde 11, 12, 2. 95 Kolb (1995) 330–392; Siehe auch Kapitel VI 5. 96 Juvenal, 10. Satire 78–81. 97 Martial, Epigramme 5, 8. 98 Sueton, Augustus 28. 99 Kolb (1995) 568–606.

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Anmerkungen 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109

Kolb (1995) 658–662. Beike (1990) 23–31. Schulz (2005) 9–26. Thukydides 1, 3–18; 141–143. Herodot 8, 61, 12. Meister (1997) 134–152. Siehe Kapitel V 3.1. Siehe Kapitel II 4. Barceló (2007) 97 ff. Siehe Kapitel IV 5.2; Zum römischen Seewesen vgl. Ladewig (2014). 110 Plutarch, Pompeius 24; Appian 92 f.; Casius Dio 36, 20 ff. 111 Velleius Paterculus 2, 31, 2  f.; Plutarch, Pompeius 25 ff.; Casius Dio 36, 23, 4; 36, 36 f. 112 Christ (2004) 56–65. 113 Velleius Paterculus 2, 31, 3; Meister (1999) 235–249. 114 Cicero, An Atticus 10, 9, 4. 115 Schulz (2005) 9. 116 Plutarch, Pompeius 26, 5; Appian 93. 117 Ladewig (2014) 329–350. 118 Herodot 1, 71 f. 119 Herodot 7, 57. 120 Livius 21, 22, 6–9. 121 Bringmann (2001) 369–376. 122 Carcopino (1953) 258–293; Jacob (1988) 199; Vollmer (1990) 121 ff. 123 Dieser Befund lässt sich durch Heranziehung sämtlicher Erwähnungen des Flusses Iber bei Polybios erhärten. Von 16 Belegen beziehen sich acht auf den Ebro, aber dies betrifft jeweils Sachverhalte, die im Zusammenhang mit den Ereignissen des 2. Römisch-karthagischen Krieges stehen (Polybios 3, 35, 39, 76, 95, 97; 4, 28; 10, 6; 11, 32). Im Gegensatz dazu stehen jene Stellen, die vom Hasdrubalvertrag handeln: Polybios 2, 13; 3, 6, 14, 15, 29, 30. 124 Darunter leiden viele Studien, weil sie die topographischen Gegebenheiten und die archäologische Evidenz nicht zu Kenntnis nehmen, so etwa Ruschenbusch (1978) 232  f., Giovannini (2000) 69– 116; Bringmann (2001) 369–376. 125 Hoyos (2003) 80. 126 Polybios 2, 13, 7. 127 Livius 21, 2, 7. In einer Verteidigungsrede der Karthager führt Livius 21, 18, 11–12 aus: „Wenn ihr euch nur an Verträge binden lasst, die auf euren Beschluss oder Auftrag hin eingegangen wurden, konnte uns auch Hasdrubals Vertrag, den er ohne unser Wissen abschloss, nicht verpflichten“. 128 Appian, Iberische Geschichte 7. 129 Abwegig ist die Vorstellung, dass die Römer durch den Abschluss des Hasdrubalvertrags ein Zusammengehen zwischen den oberitalischen Kelten und den Karthagern verhindern wollten. Derartige Gedanken sind restropektiv und erst durch Hannibals Italienzug denkbar geworden; Vollmer (1990) 118. 130 Domínguez Monedero (1986) 601–611. 131 Schwarte (1983) 37–70. 132 Polybios 3, 30, 3. 133 Polybios 3, 21, 1.

134 Hoyos (2003) 82 geht von dieser Annahme aus: Die Römer hätten in der Erwartung, Hasdrubal werde Jahre mit der Eroberung Hispaniens bis zum Ebro zubringen, ein solch großzügiges Zugeständnis gemacht. Dafür bieten die Quellen aber keinerlei Anhaltspunkte. 135 Geus (1994) 96–129. 136 Siehe Kapitel IV 6.2. 137 Plinius, Naturgeschichte 5, 8. 138 Hahn (2000) 247–280. 139 Arrian 4, 21, 1–3; Diodor 17, 104, 3; Justin 12, 10, 7; Plutarch, Alexander 66, 3. 140 Hahn (2000) 227 ff. 141 Arrian 6, 27, 1; Diodor 17, 106, 1; Plutarch, Alexander 66, 7–67. 142 Onesikritos hatte vorgeschlagen, mit der Flotte nach Westen abzudrehen und Arabien zu umfahren (Arrian 1, 32, 7–13). 143 Polybios 1, 29, 73, 75; Huß (1985) 44–51; Lancel (1992) 49–60. 144 Polybios 38, 19–22. 145 Waldherr (2000) 209 ff. 146 Huß (1985) 496 ff. 147 Aristoteles, Politik 2, 11, 1272 b. 148 Barceló (1991) 21–26; Ameling (1993) 183–225. 149 Siehe Kapitel I 9.2. 150 Siehe Kapitel I 2. 151 Niemeyer (1989) 27–33. 152 Lancel (1992) 290–318. 153 Geus (1994) 192 f. 154 Christ (2003) 24. 155 Warmington (1979) 108–146; Ameling (1993) 44–50. 156 Huß (1985) 75–83. Zu Himilko vgl. Geus (1994) 157–159. Siehe Kapitel I 8. 157 Zu Hanno vgl. Geus (1994) 98–105. Siehe Kapitel I 8. 158 Werner (1973) 241–271, (1974) 263–294. 159 Aristoteles, Politik 3, 9, 1280 a. 160 Gras (1995) 363–366. 161 Strabo 6, 1,1. 162 Thukydides 1, 13; Barceló (1988) 99–104. 163 Pausanias 10, 8, 6; Gras (1987) 166–171. 164 Justin 43, 5. 165 Costa (1994) 75–143. 166 Gras (1985) 394 ff. 167 Domínguez Monedero (1991) 262. 168 Morel (1995) 46 ff. 169 Morel (1992) 20 ff.

II Mythos und Historie, S. 94–168 1 2 3 4 5 6 7 8

Homer, Ilias 1, 1–7. Homer, Ilias 9, 149. Zur Griechenland der Bronzezeit und der Frühen Eisenzeit vgl. Ober (2016) 187–192. Austin, Vidal-Naquet (1984) 29–32. Finley (1979) 47. Andreev (1975) 281–291. Homer, Odyssee 2, 212–223. Raaflaub (1989) 16.

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Anmerkungen 9 Homer, Ilias 2, 236–238. 10 Donlan (1980) 1–34. 11 Die Einstellung der homerischen Helden zur Arbeit ist nicht durchweg negativ. Im Unterschied zu dem Arbeitsethos Hesiods sind die vornehmen Herren der homerischen Welt vom Zwang entbunden, für den täglichen Lebensunterhalt zu sorgen. Arbeit ist demnach nur anstößig, wenn sie ein heldisches Leben verhindert. Dazu Mele (1968) 195 f. 12 Siehe Kapitel II 1.1, 1.3. 13 Ingendaay, FAZ vom 17. 04. 2016. 14 Archilochos’ Verse (D 22) sind nicht als Kritik an einem mächtigen Herrn auslegbar. Dennoch drückt sich in der Geringschätzung des Reichtums und der Macht eines Potentaten Trotz und Distanz aus. 15 Clauss (1985) 3 ff. 16 Homer, Odyssee 19, 110 ff. 17 Hesiod, Werke und Tage 225–237. 18 Hesiod, Werke und Tage 242–249. 19 Von einem Adligen erwartete man neben Tapferkeit und Gerechtigkeit, auch Fürsorge und Großzügigkeit gegenüber Bedürftigen, vgl. Homer, Odyssee 17, 415–423. 20 Zur Kritik der Helden bei Homer vgl. Raaflaub (1989) 3–6; Zu Hesiod Snell (1965) 61; Stein-Hölkeskamp (1989) 123 ff. 21 Homer, Odyssee 18, 85; 116. 22 Homer, Odyssee 4, 691. 23 Hesiod, Werke und Tage 1–8. 24 Homer, Ilias 24, 525–533. 25 Millett (1984) 86 ff. 26 Zu Böotien in Hesiods Zeit vgl. Detienne (1963) 15 ff. 27 Hesiod, Werke und Tage 38 f.; 220 f.; 263 f. 28 Hesiod, Werke und Tage 38 f., 87–96. Instruktiv für die Rechtspraxis ist das Gleichnis von der Nachtigall, Werke und Tage 202–212. 29 Die Tatsache, dass die hesiodischen Texte die militärischen Funktionen nicht erwähnen, ist kein Beweis dafür, dass sie nicht zum Aufgabenbereich des basileus gehörten, wie Detienne (1963) 17  f. behauptet. 30 Zur alltäglichen Rechtspraxis vgl. Ruschenbusch (1981) 310 ff. 31 Millett (1984) 91. 32 Als verehrungswürdiger basileus gilt nur, wer Gerechtigkeit übt. Dazu Neitzel (1977) 34. 33 Homer, Illias 18, 490–508; Hommel (1969) 11–38. 34 Homer, Odyssee 10, 210–211; 233–240. 35 Pausanias 10, 4, 1. 36 Homer, Odyssee 9, 105–115. 37 Homer, Odyssee 6, 262–267. 38 Zur kritischen Würdigung der Tyranniskapitel 6, 54–59, vgl. K. H. Dover, in: A. W. Gomme, A Historical Commentary on Thucydides, Bd.  IV, Oxford 1970, 317  ff. (ND 1978). Zur historischen Deutung Schadewaldt (1929) 84  ff.; Diesner (1968) 531 ff. 39 In beiden Fällen spielten Spartaner und Perser eine entscheidende Rolle. Der flüchtige Hippias versuchte zunächst, Hilfe von Sparta zu erhalten (He-

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rodot 5, 92). Als dies misslang, ging er zu den Persern (Thukydides 6, 59, 4). Alkibiades wurde von den Spartanern aufgenommen (Thukydides 6, 88, 10), danach arbeitete er mit den Persern zusammen (Thukydides 8, 45). Thukydides 6, 54, 5. Das Verhältnis Peisistratiden-Alkmeoniden war komplex. Es gab Zeiten der Zusammenarbeit und der Konfrontation: Peisistratos’ Hochzeit mit Megakles’ Tochter endete in einem Zerwürfnis. Mit Einverständnis der Peisistratiden bekleidete Kleisthenes das Archontat (525/4). Später gingen die Alkmeoniden in die Verbannung und agierten von dort aus gegen die Peisistratiden. Herodot 5, 62–65. Thukydides 6, 53, 3; 6, 59, 4. Thukydides 1, 18 f. Bernhardt (1987) 257–289. Thukydides 4, 54. Hier ist an das Archontat oder an die Demenrichter zu denken, vgl. Stahl (1987) 181–187. Aristoteles, Staat der Athener 18. Eine Tradition, die Hipparchos als Freund der Musen darstellt, hat sich im platonischen Dialog Hipparchos erhalten. Dazu Ariststoteles, Staat der Athener 18; Kolb (1977) 99–138. Dies lässt sich mit Herodot 1, 61 erhärten, wonach Hippias nach der Vertreibung des Peisistratos die führende Rolle im Peisistratidenclan einnahm. Aristoteles, Staat der Athener 17, 3. Zur peisistratidischen Familienpolitik vgl. Stahl (1987) 56–105. Die Tyrannis der Peisistratiden erschien aus demokratischer Sicht als ein Sündenregister. Beispiele, wie die Tyrannenfurcht bei Bedarf belebt werden konnte, bei Bleicken (1979) 157. Herodot 5, 91–94, 96; 6, 102, 107–109, 121. Ab 449/8 v. Chr. lässt sich ein Abflauen des athenisch-persischen Konfliktes beobachten, vgl. Meister (1982) 32 ff. Zur Freiheit-Tyrannis-Antithese in der athenischen Politik Raaflaub (1985) 258 ff. Hautumm (1987) 131–135; Alscher (1961) 202– 219; Fuchs (1983) 337–341; Richter (1984) 124– 127. Zur athenischen Herrschaft Schuller (1978); Giovannini, Gottlieb (1980). Zur Beurteilung der athenischen Hegemonie in der griechischen Öffentlichkeit Lévy (1976) 73 f. Die antityrannische Propaganda ließ sich flexibel handhaben: Etwa als demokratischer Vorwurf gegen die Machtgelüste der Aristokraten oder als Vorwurf der Aristokraten gegen die Machtanmaßung der demokratischen Parteiführer, vgl. Cerri (1982) 142 ff. Treffend vermerkt Lévy (1976) 140: „Il est significatif à cet égard que la peur de la tyrannie se soit cristallisée non autour d’un tribun populaire mais autour d’un jeune aristocrate „moderniste“ comme Alcibiade“.

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Anmerkungen 61 Aristophanes, Wespen 415  ff.; 464, 488, 495, 498, 502. Zum historischen und soziologischen Hintergrund vgl. Ehrenberg (1968) 343 ff. 62 Aristoteles, Der Staat der Athener 16, 7. 63 Platon, Hipparchos 228 b–229 b. 64 Alexander hatte Glück, dass seine maritime Unterlegenheit zu Beginn des Feldzuges von den Persern nicht ausgenutzt wurde. Der unerwartete Tod Memnons, Alexanders wichtigstem Gegner in der ersten Phase seines Feldzuges, befreite ihn von der Last eines kaum zu gewinnenden Krieges im Westen, vgl. Josephus Flavius, Jüdischer Krieg 5, 460 f. 65 Heuss (1977) 37 f. 66 Arrian 2, 18, 1; Plutarch, Alexander, 17, 4; 24, 5–10. 67 Zu Alexanders Beziehungen zu Zeus/Ammon, Herakles und Dionysos Heuss (1954) 69 ff.; Blázquez (2000) 99–152; Zu der mythischen Dimension der Handlungen Alexanders Gehrke (2004) 69ff. Besonders die Münzprägungen Alexanders verknüpften den Göttervater Zeus mit Heraklesmotiven, dazu Price (1991) 5, 78, 93, 2995, 3620, 3964. 68 Andreotti (1957) 125. 69 Müller (2003) 173–175. 70 Andreotti (1957) 131–133. 71 Briant (1996) 177 ff. 72 Zur Religionspolitik des Achaimenidenreiches Heuss (1981) 278 ff. 73 Heuss (1977) 42 f. 74 Plutarch, Alexander 29, 1–6. 75 Symptomatisch dafür ist Arrians 7, 30, 2 Bilanzierung von Alexanders Taten: „Dass dieser Mann nicht in unsere Welt getreten sein kann ohne göttliche Fügung, er, der so wenig einem anderen der Sterblichen gleicht, ist meine Überzeugung.“ 76 Der Verweis auf die dunklen Seiten Alexanders, die von Badian oder Will gelegentlich über Gebühr betont wurden, kommt hingegen bei den meisten Alexander-Porträts der Gegenwart, die ein allzu glattes Persönlichkeitsbild vermitteln, zu kurz, vgl. Hammond (2004) 281–286; Wiemer (2005) 171–185. 77 Kann man, wie Lauffer (2005) 204 dies tut, Alexanders Verhalten nach dem Tod des Hephaistion als Beleg für seine Menschlichkeit ausgeben? Bekanntlich trauerte Alexander maßlos um den verstorbenen Freund und ließ gleichzeitig den behandelnden Arzt umbringen, um seinen Schmerz zu besänftigen. Zum politischen Hintergrund der Mordtat vgl. Müller (2003) 228–231. 78 Cicero, Phillipische Reden 5, 48: „Auch Alexander der Makedonier hat von früher Jugend an gewaltige Taten vollbracht, und als er starb, war er erst dreiunddreißig Jahre alt. Das sind zehn Jahre weniger als bei uns für das Consulat vorgeschrieben sind! Daraus kann man entnehmen, dass der Lauf der Tüchtigkeit schneller ist als der des Lebens.“ 79 Zu den Hintergründen der Weltmonarchie Alexanders Andreotti (1957) 120 ff. 80 Über Augustus’ Besuch des Alexandergrabes in Alexandria überliefert Sueton, Augustus 18, 1: „Augustus warf einen langen Blick auf den Toten, setzte ihm einen goldenen Kranz auf und streute

Blumen darüber, um seine Ehrerbietung zu bezeugen. Als man ihn fragte, ob er auch die Grabstätte der Ptolemäer zu sehen wünschte, entgegnete er: Ich wollte einen König sehen, keine Toten.“ 81 Ab 330 v.  Chr. dienten die Söhne des makedonischen Adels am Hof Alexanders als Pagen. Der König kontrollierte auf diese Weise das Verhalten der Verwandten in der Heimat und baute gleichzeitig eine Nahbeziehung zu den künftigen Eliten seines Reiches auf, vgl. Hammond (2004) 171. 82 Die legendäre Aussage stammt von Kennedy anlässlich seiner Amtseinführung zum US-amerikanichen Präsidenten im Jahr 1961. 83 Livius 3, 26, 8–10. 84 Livius 3, 26, 5–6. 85 Livius, 3, 29, 7. 86 Livius 22, 7, 6–9, 6. 87 Polybios 3, 87; Livius 22, 8, 6 f. 88 Livius 22, 11, 12. 89 Welche Zumutungen an die Landbevölkerung gestellt wurden, zeigt ein Edikt des Quintus Fabius Maximus, das Livius 22, 11, 4 überliefert, in dem es heißt: „Wer in unbefestigten Städten und Marktflecken wohne, solle in sichere Orte ziehen. Alle sollten die Dörfer der Gegend verlassen, wo Hannibal durchmarschieren werde. Vorher aber sollten sie ihre Häuser anzünden und die Feldfrüchte vernichten, damit nicht der geringste Vorrat bleibe“. 90 Polybios 3, 93–95; Livius 22, 16–18; Cornelius Nepos, Hannibal 5, 2; Plutarch, Fabius Maximus 6, 3–7, 2; Schmitt (1991) 176–180. 91 Livius 30, 26, 9 würdigt die Maßnahmen des Quintus Fabius Maximus positiv. Ihm sei die Rettung Roms zu verdanken, so lautet sein abschließendes Urteil, dazu Beck (2000) 79–91. 92 Zur Frühgeschichte Roms Kolb (1995) 27–48. 93 Justin 18, 4, 5, 6. 94 Alvar, González Wagner (1985) 79–95; Lancel (1992) 35–38. 95 Clauss (2010 c) 54–56. 96 Siehe Kapitel II 2.4. 97 Warmington (1979) 20–26. 98 Niemeyer (1989) 20 ff.; Ameling (1993) 238–250. 99 Zur Gründungschronologie Karthagos Niemeyer (1989) 24 ff. 100 Lancel (1992) 44 ff. 101 Siehe Kapitel I 9.2. 102 Schmitt (1991) 9–46; Seibert (1993) 195–213; Lancel (1998) 125–137; Christ (2003) 63–68. 103 Polybios 3, 47–56; Meister (1999) 41–49. 104 Livius 21, 31–38; Cornelius Nepos, Hannibal 3, 4; Silius Italicus 3, 447 ff.; Appian, Hannibal 4; Ammian 15, 10, 10; Zonaras 7, 23. 105 Polybios 3, 48. Eingehende Würdigung des Alpenübergangs bei Seibert (1993) 195–200. Hinsichtlich der Routen (Durance-Col de Mont Genèvre beziehungsweise Isèretal-Kl. Sankt Bernhard) und der Teilung des Heeres (zwei getrennt marschierende Abteilungen) weicht Seibert von der opinio communis ab. Anders Lancel (1998) 125–137. 106 Nach den Angaben Hannibals auf der Inschrift von Lakinium, verfügte er bei seiner Ankunft in

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Anmerkungen Italien über 20 000 Infanteristen und 6000 Reiter, Polybios 3, 56. 107 Der Zuzug der Kelten für Hannibals Armee wurde zunächst von Publius Cornelius Scipio unterbunden (Polybios 3, 60). Erst nach der Schlacht am Ticinus erhielt er die erwartete keltische Hilfe in Form von Hilfstruppen und Nahrungsmitteln (Polybios 3, 68). 108 Zur römischen Heeresstärke Polybios 3, 107, 9; Livius 22, 36, 1 f. 109 Zur Schlacht von Cannae Polybios 3, 107–117; Livius 22, 44–50; Le Bohec (1996) 189–193. 110 Le Bohec (1996) 189–193; Christ (2003) 90 ff. 111 Polybios 3, 117, 4; Livius 22, 49, 15. 112 Livius 22, 51, 4. 113 Seibert (1993 b) 198–201, 484. 114 Livius 22, 44–61; Hoyos (2003) 120 f. 115 Während des Italienzuges wurde Hannibals Militärpotential geschwächt. Vor Cannae war keine einzige italische Stadt zu ihm übergelaufen. Aus Iberien und Karthago erreichte ihn damals kein Nachschub, er konnte lediglich auf die Kelten Oberitaliens zurückgreifen, die etwa die Hälfte seiner Armee ausgemacht haben dürften. 116 Neben den Gefallenen sind die Verwundeten und Kampfunfähigen zu berücksichtigen. Ferner wurden erhebliche Truppen benötigt, um die Kriegsgefangenen zu bewachen und die Beute zu sichern; Christ (2003) 95. 117 Livius 22, 61, 10–13. 118 Livius 22, 58–61. Zu Recht betont Seibert (1993) 485, dass Hannibal einer verhängnisvollen Fehleinschätzung unterlag, als er von den Römern nach Cannae Friedensbereitschaft erwartete, und macht ihn dafür verantwortlich. Dies ist zu einseitig. So richtig diese Auffassung ist, sie ist aber nur auf dem Hintergrund unserer Kenntnis der späteren Ereignisse verständlich. 119 Rüpke (1990) 246 ff. verweist auf die religiöse Dimension des Krieges im römischen Denken. Nur der Sieg zählte, weil dieser im Einklang mit dem göttlichen Willen stand. Rückschläge und Niederlagen mussten überstanden werden, weil für sie kein Platz innerhalb der politisch-religiösen Konzeption des Krieges war. 120 Das Stichwort „resistencia numantina“ bezeichnet im spanischsprachigen Sprachgebrauch den unbedingten Willen zum Widerstand als Durchhalteparole. Eine ähnliche Vokabel, die ebenfalls auf einen konkreten historischen Sachverhalt Bezug nimmt, wäre „quemar las naves“ (wörtlich übersetzt: „die Schiffe verbrennen“) in Anspielung auf Hernán Cortes’ Verzweiflungstat vor seinem Kampf gegen Moctezuma. 121 Neben der Auslöschung Karthagos (146 v.  Chr.) und Numantias (133 v. Chr.) wäre auch die Zerstörung Korinths (146 v. Chr.) zu erwähnen. 122 Appian, Iberische Geschichte 76. 123 Appian, Iberische Geschichte 76–78. 124 Roldán Hervás, Wulff Alonso (2001) 166–169. 125 Appian, Iberische Geschichte 80. 126 Appian, Iberische Geschichte 83.

127 Roldán Hervás, Wulff Alonso (2001) 169–170. 128 Appian, Iberische Geschichte 84. 129 Florus 1, 34, 8. 130 Zu Scipios Operationen in Numantia vgl. Appian, Iberische Geschichte 90–98. 131 Roldán Hervás, Wulff Alonso (2001) 170–174. 132 Konziser Überblick über die achaimenidische Weltreichsbildung bei Heuss (1981) 277–291; Wiemer (2005) 47–57; Briant (1996) 41 ff; Wiesehöfer (1998) 25–149. 133 Zu Herodots Perserlogos Sancisi-Weerdenburg (1994) 39–55. 134 Aristoteles, Politik 7, 1327 b, 22–33; Hall (1989) 164 f. Zum Topos der persischen Despotie als Kontrapunkt zur griechischer Gesetzesherrschaft, Müller (2003) 22 ff. 135 Herodot 3, 80–88. 136 Herodot 3, 82, 5. 137 Herodot 3, 84–87. 138 Bovon (1963) 579–602. 139 Ryffel (1973) 24. 140 Herodot 7, 102, 1–3; 104, 4–5. 141 Ghirshman (1964) 147–223, Abb.  209–259. Luschey (1983) 191–206. 142 Moortgat (1985) Taf. 1; 4 und 16 (Hammurabi); 24 (Melischipak II.); 49, 53 (Assurnasirpal II.). 143 Aischylos, Perser, 181 ff. 144 Aischylos, Perser 241 f. 145 Wie Plutarch, Perikles 14 berichtet, machte Perikles den Athenern den Vorschlag, öffentliche Bauten auf eigene Kosten zu errichten, wenn sie denn dafür gestatteten, seinen Namen auf ihnen anzubringen. Die Athener lehnten ab, weil sie nicht wollten, dass individuelles Ruhmstreben die Gesamtleistung der Bürgerschaft schmälern sollte. 146 Livius 21, 4, 5–9. 147 Gelzer (1964) 51 ff.; Musti (1974) 105–139; Beck, Walter (2001) 55–136. 148 Livius 23, 5, 11 ff. Zu dem von den Römern erhobenen Vorwurf der Grausamkeit Hannibals vgl. Seibert (1993) 531–533. 149 Livius 22, 61, 14. 150 Polybios 3, 112; Livius 22, 54, 7; Appian, Hannibal 27; Zonaras 9, 2, 2. 151 Livius 22, 57, 6. Bei den Betroffenen handelte es sich um einen Kelten und eine Keltin sowie um einen Griechen und eine Griechin, die auf dem Forum Boiarum lebendig begraben wurden. Es war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass in Rom Menschenopfer dargebracht wurden. Vgl. Rosenberger (1998) 137–139. 152 Caesar, Gallischer Krieg 1, 31, 10; Meister (1999) 250–266. 153 Ausbüttel (2007) 14. 154 Caesar, Gallischer Krieg 1, 31, 12–15. 155 Szidat (1970) 39. 156 Caesar, Gallischer Krieg 1, 36, 6–7. 157 Caesar, Gallischer Krieg 1, 39, 1. 158 Timpe (1992) 453. 159 Gesche (1976) 94 160 Caesar, Gallischer Krieg 4, 3, 3. 161 Rosen (1982) 115–117.

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Ammian 17, 10, 10. Ammian 17, 10, 8. Heather (2007) 96–100. Ammian 27, 5, 7–9. Zur Schlacht von Hadrianopel siehe Kapitel V 2. 4. Ammian 31, 4, 11. In diesen Kontext fügen sich die fruchtlosen Maßnahmen des Theodosius ein, die Autorität des Reiches in den thrakischen Gebieten, die von den gotischen Kontingenten überschwemmt worden waren, wieder herzustellen. Ammian 31, 5, 10–17. Barceló (2004) 189. Die Aufnahme fremder Bevölkerungsteile vor Hadrianopel ereignete sich üblicherweise nach einer militärischen Expedition, die mit der Versklavung oder der Umsiedlung der Besiegten endete. Sie wurden angesiedelt, um brachliegende Gegenden zu kultivieren, nah oder fern der Grenzen, je nach den Bedürfnissen der Regierung. Der Eintritt in das Imperium wurde mittels eines Vertrags (foedus) nach der Kapitulation (deditio) geregelt, der den juristischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Status der auf römischem Boden geduldeten Fremden festlegte. Themistios, Reden 16, 210 b-c. Ammian 25, 7, 9–13. Leppin (2003) 38–39.

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III Kult und Erlösung, S. 169–254 1

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Ebenso wie die capitolinischen Götter der Römer waren die griechischen Gottheiten anders als der Gott der Christen, der nicht in den von Menschenhand errichteten Bauten wohnte, denn die Kirchen waren Versammlungsorte der Gemeinde, in Tempeln, die sich zu Verehrungsorten entwickelten, zu Hause: Etwa Athena auf dem Parthenon in Athen, Hera auf dem Heraion in Samos, Apollo in Delphi. Barceló, Hernández de la Fuente (2014) 91–96. Herodot 2, 53, 2. Herodot 1, 60, 3–5. Cornelius (1929) 43. Herodot 2, 53. Meister (1997) 271–307. Thukydides 6, 61. Thukydides 6, 27, 28. Bengtson (1983) 164–169. Thukydides 6, 29. Bengtson (1983) 130–132. Pseudo-Lysias 6, 50 ff. Zum Prozessverlauf vgl. Demandt (1991) 16–19. Stepper (1997) 19–22; 136–140. Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte I 77. Friedrich Nietzsche, Werke Bd. 2, 955. Bertolt Brecht Gesammelte Werke II, Prosa 1 (Werkausgabe): Der verwundete Sokrates, S. 320. Polybios 6, 56. Cicero, Über die Natur der Götter 2, 8, 19. Valerius Maximus 1, 54.

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Brown (1986) 40. Aelius Aristides, Romrede 104 ff. Clauss (1990); Alvar (2001) 75–98. Die Bindekraft der römischen Religion ergab sich aus der Identität zwischen den Trägern der Staatsmacht und der Priesterämter. Vgl. den Katalog der römischen Priester bei Rüpke (2007). Zum Wesen der römischen Religion Scheid (1989). Rüpke (2001) 22–45, 86–118. Die Komplexität der traditionellen Religion war ebenso enorm wie die Anzahl der Götter. Private, lokale, regionale und reichsweite Kulte unterschiedlichster Provenienz wurden ergänzt durch Orakelstätten sowie ein unübersichtliches Netzwerk synkretistischer Kultpraktiken. Alföldy (1989) 57–59; Scheid (2005) 225–240. Die Intensität des Kultaustausches zwischen den diversen Regionen des Reiches belegen zahlreiche Beispiele wie etwa die Präsenz der ägyptischen Religion auf der Iberischen Halbinsel, dazu Alvar (2012). CIL I 2, 581; Livius 34, 8, 19 (Bacchanalienskandal); Sueton, Augustus 32, 1; Cassius Dio 54, 6, 6 (Verbot des Isiskultes). Bereits Naevius und Ennius hatten sich in diesem Sinne geäußert. In der Übergangsphase von der Repu­blik zum Principat wird diese Sichtweise erneut aktuell. Vgl. etwa Cicero, Vom Wesen der Götter 2, 8; Über das Gutachten der Opferschauer 19; Vier Reden gegen Catilina 3, 21; Sallust, Der Jugurthinische Krieg 14, 19; Livius 1, 4, 1; Properz 3, 11, 65. Bei Horaz und Vergil kommt sie verstärkt auf und wird schließlich von den kaiserzeitlichen Autoren weiter tradiert, vgl. Appian, Proem. 11; Herodian 2, 8, 4. Augustinus, Vom Gottesstaat 4. Zur Behandlung der Christen durch die Institutionen des römischen Staates Freudenberger (1967); Bringmann (1978) 1–18; Flach (1999) 442–464; Molthagen (2005). Brown (1986) 49–58, 96–98. Alföldy (1989) 53–102. Zum Wandel des Opferrituals in der christianisierten Welt der Spät­antike vgl. Stroumsa (2011) 86–119. Inwiefern Jesus als Stifter des Christentums angesehen werden kann, bleibt umstritten, vgl. Lauster (2015) 34 f. Walsh, Gottlieb (1992) 21–86. Meister (1999) 333–342. Zur Unterdrückung der Christen im Zeitalter Neros und Domitians vgl. Tacitus, Annalen 15, 44, 2–5; Sueton, Nero 16, 2; Clemens, Briefe 1, 5–6. Plinius, Briefe 10, 96 f. Plinius, Briefe 10, 97; Meister (1999) 344–357. Clauss (2015) 74–117. Riemer (1998) 167–172. Es gab keine verordnete, wohl aber eine auf freiwilliger Basis in zahlreichen Städten und Regionen regelmäßig stattfindende kultische Verehrung des Kaisers. Zum Kaiserkult vgl. Herz (1997) 239–264. Schwarte (1989) 103–164; Flach (1999) 442–464.

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Anmerkungen 46 Alföldy (1989) 53–102. 47 Gallienus’ Edikt erlaubte ausdrücklich die Abhaltung des christlichen Kultes, der von Valerian untersagt worden war; Eusebios, Kirchengeschichte 7, 12. 48 Fears (1977). 49 Alföldy (1989) 53–102 und die skeptische Position von Strobel (1993) 185–348, der die Existenz eines Krisenbewusstseins im 3.  Jahrhundert bestreitet. Dazu Alföldy (2011) 245–272. 50 Zu den Anfeindungen gegen die Manichäer gesellten sich chauvinistische Ressentiments hinzu. Die Anhänger dieser aus dem Perserreich stammenden religiösen Sekte waren mit dem Odium behaftet, Agenten einer fremden Macht zu sein. Zum Manichäeredikt Fögen (1993) 26–34. Zur diocletianischen Christenverfolgung Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 10–15; Eusebios, Kirchengeschichte 8, 2, 4 f.; 8, 6, 7–10; Derselbe, Über die Märtyrer in Palästina 3, 1; Portmann (1990) 212–248. 51 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 42. 52 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 13, 3. 53 Porphyrios, Sossianus Hierokles. 54 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 10 ff. 55 Eusebios, Kirchengeschichte 8. 56 Arrian 1, 11, 5; zu Protesilaos vgl. Homer, Ilias 2, 702. 57 Herodot 9, 116. 58 Zum Übergang Alexanders nach Asien Diodor 17, 17, 2; Justin 11, 5, 6–12; dazu Lane Fox (2004) 131–139; Lauffer (2005) 58–61; Wiemer (2005) 91–93. 59 Es ist unklar, ob die Szene auf einer retrospektiven Rekonstruktion beruht, oder ob Alexander und Hephaistion von Anfang an eine Nahbeziehung pflegten. Dass beide Kindheitsfreunde waren und zusammen erzogen wurden, steht außer Zweifel, vgl. Müller (2003) 221 f. 60 Plutarch, Alexander 15. Der Schild soll Alexander bei der Erstürmung der Mallerburg das Leben gerettet haben, Arrian 6, 10, 2. 61 Instinsky (1949) 63. 62 Justin 11, 6, 1–2. Nach Strabo 13, 1, 26 besuchte Alexander die Stadt erst nach seinem Sieg am Granikos und gab ihr erst danach die Freiheit. 63 Lane Fox (2004) 138. 64 Livius 21, 21, 9. 65 Siehe Kapitel VIII 7. 66 Blázquez (1999) 12 ff. 67 Polybios 3, 15; Livius 21, 6. 68 Zur römischen Kriegsideologie Rüpke (1990). 69 Zu Hannibals Absicht, die Griechen mittels des Herakles-Mythos auf die karthagische Seite zu ziehen, führt Huß (1986) 237 aus: „Die Griechen sollten in Hannibal einen zweiten Herakles sehen, der – wie der erste Herakles – von Gades aufgebrochen war, um in Italien seine Wirksamkeit zu entfalten; die politischen Sympathien der Griechen sollten gewonnen werden; die Bereitschaft der Griechen zum gemeinsamen Kampf gegen Rom sollte geweckt werden.“

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Polybios 5, 105, 7, 9; Livius 23, 33. Polybios 7, 2 f.; Livius 24, 63 ff. Polybios 8, 26; Livius 25, 7, 10 ff. Livius 22, 61, 12. Zum Feindbild der Griechen von den „barbarischen“ Römern Deininger (1971) 23–37. Livius 21, 4, 9 spricht von „nulla religio“. Grimal (1975) 129 ff.; Schwarte (2000) 106–119. Livius 26, 19. Polybios 10, 14. Kolb (1995) 221 f. Livius 29, 14, 5–14. Zanker (1987) 52–73. Vorstufen dazu lassen sich in der ausgehenden Repu­blik beobachten, etwa Cicero, Pro lege Manilia 16, 48. Dazu Rufus Fears (1977) 96 f. Ähnliche Nahbeziehungen zu spezifischen Göttern wurden von den Potentaten der späten Repu­blik reklamiert: Antonius-Hercules/Dionysos, SullaVenus, Caesar-Venus-Genetrix, Sextus PompeiusNeptun. Zur Rezeption der augusteischen Religionspolitik in der zeitgenössischen Dichtung vgl. Ovid, Fasten 2, 59–64; V 549–568. Zanker (1987) 110. Fears (1977) 125 f. Apollo als persönlicher Schutzgott des Augustus bei Horaz, carmina 1, 21; Götter als persönliche Ratgeber des Augustus: Horaz, carmina 3, 4. Sueton, Augustus 31,1. Caesar hatte vor der Schlacht bei Pharsalos Venus einen Tempel gelobt. Die Göttin diente bei der Schlacht von Munda den Caesarianern als Kampfruf. Augustus, der diese Tradition pflegte, errichtete auf dem Augustus-Forum dem Mars Ultor einen Tempel, in dem auch Venus verehrt wurde, womit er ein Zeichen der pietas gegenüber dem ermordeten Adoptivvater setzte. Sueton, Augustus 29, 2. CIL XII, 4333 (Narbo); OGIS 458 (Asia); IGRR 3, 719 (Myra in Lykien). Horaz, carmina 3, 5,1 ff.; 3, 25; Properz 4,11. Zanker (1987) 140; Weinstock (1971) 91 ff. Bleicken (1978) 15 ff.; Clauss (1996). Flaig (1992) 38 ff. Zum Charakter des römischen Kaisertums Bleicken (1978) 8 ff. Die Münzprägung und Sueton, Domitian 15 bezeugen die Verbundenheit Domitians mit Minerva, dazu Girard (1981) 233–245. Domitian hat sich als erster Kaiser auf Münzen als Stellvertreter Jupiters abbilden lassen. Ebenso wurde Trajan als Erwählter Jupiters gefeiert (Rufus Fears (1977) 191  ff.). Mit den Flaviern kam der von Augustus aus dem Pomerium verbannte Isiskult zu besonderen Ehren. Domitian war 69 in der Verkleidung eines Isispriesters aus höchster Gefahr errettet worden und ließ das römische Isis- und Serapisheiligtum prunkvoll wiederaufbauen. Noch unter Tiberius war der Kult verfolgt worden. Plinius’ Panegyricus auf Trajan (1, 4  f.). Dazu Rufus Fears (1977) 15, 145  ff. Das Ideal eines gemeinsamen Kultes als Garant für den Fortbestand

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Anmerkungen des Imperium Romanum, repräsentiert in seinem Oberhaupt, findet sich in der Romrede des Aelius Aristides 29. 96 Zur neronischen Münzprägung Rufus Fears (1977) 325–328. 97 Gagé (1981) 662–683. 98 Cassius Dio 73, 22, 3. 99 Zur religiösen Vorstellungswelt Elagabals Pietrzykowski (1986) 1806–1825; Frey (1988) 64 ff. 100 SHA Eleagabal 3, 3–5. 101 Herodian. 5, 5, 6 f.; Cassius Dio 79, 11, 1. 102 Weigel (1990) 135–143. 103 Aelius Aristides 102 ff. 104 Herodian 5, 5, 7. 105 Zur Religionspolitik Aurelians vgl. Homo (1904) 184–196; Altheim (1939) 275–286. 106 Cumont (1910) 147–158. Zur Bedeutung Sols in der Münzprägung Trajans und Hadrians vgl. Rufus Fears (1977) 241 ff. 107 Ferguson (1970) 54  ff.; Halsberghe (1984) 2195– 2200. 108 SHA Aurelian 25, 4–6. 109 Frey (1989) 67–68. 110 Ausführliche Forschungsdiskussion über Con­ stantins Visionen bei Bleicken (1992) 25–33; Weiss (1993) 143–169; Piétri (1996 b) 199–205, Herrmann-Otto (2007) 30–57. 111 Panegyricus 12 (11) 2, 4 f.; Nixon, Rodgers (1994) 295–297. 112 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 44, 5. 113 Eusebios, Kirchengeschichte 9, 9, 2. 114 Overbeck (2004) 71–90. 115 Eusebios, Das Leben Con­stantins 1, 28 f. 116 Bleicken (1992), 6–8; Bleckmann (1996) 41  ff.; Bergmeier (2010) 109–141. 117 Kolb (1997) 45; Herrmann-Otto (2007) 17–30. 118 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 25, 5; Grünewald (1990) 13–25. 119 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 26–30; Zosimos 2, 9–11. 120 Aurelius Victor, Die römischen Kaiser 40, 6–8. 121 Grünewald (1990) 25–27. 122 Grünewald (1990) 41–43. 123 Panegyricus 6 (7) 16–18; Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 29–31. 124 Panegyricus 6 (7) 21, 5–6; dazu Nixon, Rodgers (1994) 219–221; Lippold (1998) 245–253. Dass die deutlich später abgefasste Historia Augusta diese Verwandtschaft als gegeben annimmt, ist kein Beleg für die Historizität dieser Beziehung. Vgl. dort die Vita des Claudius. 125 Panegyricus 12 (11) 2, 4 f.; Nixon, Rodgers (1994) 296. 126 Grünewald (1990) 50–61; Nixon, Rodgers (1994) 248–251. 127 Panegyricus 12 (11) 5–7; Nixon, Rodgers (1994) 302–304. 128 Weiss (1993) 164–166. 129 Solche Gedanken aufzuwerfen, kann zweierlei bedeuten. Entweder man versucht wie Peter Weiss (1993) 143–169, die diesem Visionserlebnis zugrundeliegenden Realien zu rekonstruieren. Dem-

nach handelte es sich bei der Vision des Jahres 310 um einen Halo, eine ring- oder säulenartige Lichterscheinung um die Sonne, die in Zusammenhang mit Sol-Apollo gebracht, später allerdings umgedeutet und auf Christus bezogen wurde. Oder man stellt die Frage, wie das Verhältnis zwischen persönlicher Religiosität und politischem Machtkalkül in der Religionspolitik Con­stantins zu beurteilen sei. So setzt sich Jochen Bleicken in seiner 1992 veröffentlichen Monographie mit Con­ stantins Hinwendung zum Christentum auseinander und betont dabei den machtpolitischen Impetus seiner Religionspolitik. Dagegen hat Klaus Bringmann (1995) 21–47 Stellung bezogen, indem er die religiöse Komponente als wichtige Motivation der Con­ stantinischen Christenpolitik unterstreicht. 130 Bergmeier (2010) 137–141. 131 Kuhoff (1991) 143–145. 132 Diefenbach (2007) 133–152, der ebenso wenig wie Straub (1955) 297–313 zu überzeugen vermag. Dazu Bergmeier (2010) 154–161. 133 Zosimos 2, 29, 5; Paschoud (1993) 737–748; Wiemer (1994) 483–485; Clauss (1996) 9–11. 134 In diesem Sinne Kolb (1997) 44–45. Barnes (1997) 104 sieht dagegen die Verfolgung aus dynastischen Überlegungen motiviert. 135 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 24, 9. 136 Es ist denkbar, dass Con­stantin damals die Bischöfe von Autun, Arles und Köln, Orte, in denen er sich in dieser Zeit aufhielt, kennenlernte, wie ihre spätere Berufung als Beisitzer zu der Lateransynode nahelegt. 137 Zum historischen Hintergrund des Toleranzedikts des Galerius Bleicken (1992) 6–13. 138 Diesbezüglich hat Bleicken (1992) 16 treffend festgestellt: „Die Einstellung zu den Christen wird jetzt ein Faktor der politischen Auseinandersetzung, erfährt dabei eine zunehmende Politisierung und gewinnt so im Spannungsfeld der Kaiser an Gewicht. In der Eskalation der Rivalitäten verliert das Christentum das ihm seit Jahrhunderten anhaftende Stigma der Staatsfeindschaft und wächst in den öffentlichen Raum hinein.“ 139 Bringmann (1995) 34–36. 140 Barnes (2011) 30–33, 44–45. 141 Paschoud (1995) 347–348 hebt in seiner Rezension von Bleickens Buch (1992) hervor, wie sehr damals das Alte Testament präsent war. Insbesondere die Abhängigkeit von Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger, vom 2. Buch der Makkabäer ist dabei zu berücksichtigen. Besonders das Motiv der göttlichen Errettung in der Geschichte schimmert hier durch. 142 Grünewald (1990) 79–81; Nixon, Rodgers (1994) 332–333. 143 Bringmann (1995) 34–36. 144 Siehe Kapitel III 5.5. 145 Codex Theodosianus 16, 2, 16. 146 Brown (1986) 29. 147 Siehe Kapitel III 7. 148 Siehe Kapitel VII 3.2.

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Anmerkungen 149 Die Entrückung in der Quadriga war seit Trajan Bestandteil der Darstellung der Apotheose, vgl. Berrens (2004) 148. 150 Codex Theodosianus 16, 1, 2. 151 Zosimos, 3, 34; 4, 59. 152 Ammian 15, 9, 5. 153 Scheid (2003) 13–22. 154 Neuhaus (2005); Tibi (1995). 155 Die kaiserlichen Prärogativen in Kultangelegenheiten werden in der Lex de imperio Vespasiani, Absatz 6, festgehalten (CIL VI 930). Zur priesterlichen Amtsführung der römischen Kaiser Stepper (2003) 119–209. 156 Um die Mitte des 3. Jahrhunderts war die römische Gemeinde in der Lage, über 100 Priester zu unterhalten und eine erhebliche Zahl von Bedürftigen aus eigenen Mitteln zu versorgen. Dazu Eusebios, Kirchengeschichte 6, 43, 11 f. 157 Cassius Dio 52, 36, 1 f.; Bleicken (1962) 444–467. 158 Fögen (1993) 129–138. Ähnlich äußert sich Plinius 10, 96 f. bereits im 2. Jahrhundert in seinen Briefen an Trajan. 159 Fögen (1993) 20–53, 222–253; Bermejo Rubio (2008). 160 Codex Justinianus 9, 18,2: „Die Wissenschaft der Geometrie zu erlernen und auszuüben liegt im öffentlichen Interesse, die mathematische Wissenschaft hingegen ist verdammenswert und deshalb verboten.“ Oder: Codex Theodosianus 9, 16, 8: „Die Lehre der Astrologen soll ein Ende haben! Wer, sei es öffentlich oder privat, sei es tags oder nachts, bei der Beschäftigung mit diesem verbotenen Irrtum ergriffen wird, soll die Todesstrafe erleiden – und zwar beide Beteiligte. In Bezug auf die Schuld macht es nämlich keinen Unterschied, ob jemand etwas Verbotenes lernt oder lehrt.“ 161 Zum Manichäeredikt Fögen (1993) 26–34. 162 Zur diocletianischen Christenverfolgung Portmann (1990) 212–248. 163 Liebs (2002). 164 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 34, 2. 165 Barceló (2007) 133–149. 166 Zum Donatistenstreit Pietri (1996). 167 Eusebios, Kirchengeschichte 10, 6, 5. 168 Zu den christenfreundlichen Maßnahmen Con­ stantins Bleicken (1992); Lehmeier, Gottlieb (2007); Herrmann-Otto (2007) 164–174. 169 Optatus, Gegen die Donatisten 34 b. 170 Barceló (2004) 78–91, 168–178, 188–197. 171 Codex Theodosianus 16, 10, 2: „Der Aberglaube höre [augenblicklich] auf, der Wahnsinn der Opfer werde abgetan. Wer nämlich unter Übertretung des Gesetzes des göttlichen Princeps, unseres Vaters, und unter Verletzung dieser Weisung unserer Milde wagen sollte, Opfer darzubringen, wird sich die entsprechende Strafe zuziehen und die Folgen des hier ergangenen Spruches zu fühlen bekommen“. 172 Codex Theodosianus 16, 10, 6. 173 Codex Theodosianus 16, 10, 4. 174 Barceló (2004) 123–126. 175 Julian, Briefe 89 b.

176 Zur Zeit des Hieronymus spielte die Frage der Askese in der Auseinandersetzung mit Pelagius eine wichtige Rolle, die mit der Entwicklung des Manichäismus, der damals einen Höhepunkt erreichte, in Zusammenhang stand. Das kirchliche wie das staatliche Interesse an der Einheit mühte sich um Integration. Möglicherweise wurden gerade deshalb die älteren Intentionen der Askese nun akzentuiert und verallgemeinert. Dazu grundlegend Brown (1994) 19–39. 177 Athanasios und Petrus von Alexandria, Damasus von Rom, Ursacius von Singidunum, Valens von Mursa, Leontius von Antiochia, Acacius von Caesarea. 178 Der Hintergrund des Streites um den Altar der Victoria war wesentlich komplexer. Eine zentrale Rolle spielten in diesem Kontext die Privilegien der Vestalischen Jungfrauen, die Symmachus als Hort der Tradition unbeschadet halten wollte. Dazu Brown (2012) 103–109. 179 Symmachus, 3. relatio 7. 180 Ambrosius, Briefe 17, 1. 181 Hahn (2010) 218–223. 182 Clauss (1999). 183 Martínez Maza (2009). 184 Hahn (2004) 78–120. 185 Am augenfälligsten wird dieser Zusammenhang im Verhältnis des Kaisers zum Heer. Die Feldzeichen, die den kultischen Mittelpunkt bilden, sind mit seinem Bild geschmückt. Die Vereinigung von imperium und auspicium in der Person des Kaisers zeigt sich ferner darin, dass die Soldaten den Eid auf seinen genius leisten. Dazu Domaszewski (1972) 81–204. 186 Clauss (1999) 223. 187 Den Einzug Vespasians in Rom hat Flavius Josephus, Geschichte des Jüdischen Krieges 7, 71 eindrucksvoll beschrieben. 188 Zur Feier des Kaiserkultes in den Städten der Ostprovinzen vgl. Herz (1997) 239–264. 189 Alföldy (1989) 53–102. 190 Zur Göttlichkeit der christlichen Herrscher Teja (1999) 39–71. 191 Theophilos von Antiochia, An Autolykos 1040–1; Tertullian, Apologeticum 31, 3. Weitere Belege bei Lehnen (2000) 15–17. 192 Stepper (2003) 228–257. 193 CIL VI 1151 = D 705. 194 AE 1987, 435; CIL VIII 10489 = D 779. 195 CIL VI 1730 = D 1277, vgl. dazu Ernesti (1998) 89–91. 196 Clauss (1999) 210–212. 197 Elliot (1996) 61–63. 198 CIL XI 5265 = D 705. 199 Clauss (1999) 196–201; zu Theodosius vgl. Ernesti (1998) 335–337. 200 Aurelius Victor, Die römischen Kaiser 40, 28. 201 Clauss (1996) 91–92; 108–109. 202 Zur heidnischen Prägung Con­stantinopels Bergmeier (2010) 180–186. 203 CIL III 3705.

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Anmerkungen 204 Ammian 15, 4, 3; Codex Theodosianus 8, 7, 4; vgl. auch Piétri (1989) 150. 205 Codex Theodosianus 16, 10, 6; 16, 10, 4. 206 Symmachus 3. Relatio 7. 207 Leppin (1996) 42–44. 208 Dieser Aspekt spielte bei der Grablege Con­stantins eine Rolle, Diefenbach (2007) 213. 209 Eusebios, Das Lob auf Con­stantin 1, 7. 210 Barnard (1974) 140–141. 211 Brown (1996 ) 89. 212 Sozomenos, Kirchengeschichte 7, 6; Teja (1999) 61. 213 Fögen (1993) 278–280. 214 Hagl (1997) 10–20. 215 Ammian 21, 3, 5: „Fortwährend nannte er Julian in Briefen sowohl Herr und Augustus als auch Gott.“ 216 Codex Theodosianus 16, 10, 8. 217 Codex Theodosianus 15, 4, 1 = Codex Iustinianus 24, 2. 218 Gregor von Nazianz, Reden 4, 81. 219 Ambrosius, Exameron 4, 57. 220 Klein (1977); Just (2003) 192–194.

IV Herrschen und Dienen, S. 255–359 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Aristoteles, Politik 1251 a, b. Austin, Vidal-Naquet (1984) 32–38. Seneca, Über den Zorn 3, 40,2–3. Sueton, Vitellius 12. Austin, Vidal-Naquet (1984) 82–90. Plinius, Geschichte der Natur 7, 56. Austin, Vidal-Naquet (1984) 216–217. Brunt (1971) 121–125. Diodor 5, 38, 1. Guarino (1980) 9–17; Meister (1999) 199–216; Alföldy (2011) 89–95. Petronius, Gastmahl des Trimalchius 53, 1–3. Plinius, Briefe 3, 19, 1; Columella 1, 7, 5–7; 1, 8, 1–13; 1, 8, 15. 1, 8, 16–18. CIL VI 8608, 8771; Alföldy (2011) 175–197. Tacitus, Annalen 12, 53, 2–3; 13, 14, 1; 14, 65, 1. Plinius, Naturgeschichte 33,33. Sueton, Claudius 25, 2; vgl. auch Columella 1, 8, 19. Tacitus, Annalen 14, 42–45. Paulus, Korinther 1, 7, 20–21. Clauss (2015) 134. Archilochos, Fragment 23, 20. Homer, Ilias 1, 366. Archilochos, Fragment 22. Sappho 1, 27 a. d. Sappho, Incerti libri, Fragment 152 D. Theognis 523–26. Cerri (1969) 97–104. Anders Meier (1980) 326– 359; Bleicken (1979) 163–165; Raaflaub (1985) 114–118, die für eine demokratische Filiation der Isonomie plädieren. Eine andere Forschungsrichtung betont dagegen die aristokratischen Wurzeln des lsonomie-Begriffs, Triebel-Schubert (1984) 48  ff. Gewiss wird der Begriff in der politischen Lyrik des Alkaios und Solon nicht erwähnt, aber die darin enthaltenen Vorwürfe gegen die Tyrannis stimmen mit dem Geist von Theognis und des

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Tyrannenmörder-Skolions überein: Ist der Tyrann beseitigt, wird der Weg frei für politische Gleichberechtigung (in erster Linie des Adels). „Schmücken will ich das Schwert! mit der Myrthe Ranken! Wie Harmodios einst und Aristogeiton, da sie den Tyrannen schlugen, da der Athener gleicher rechte Genosse ward. Liebster Harmodios, du starbst nicht.“ (nach F. Hölderlin). Fehling (1971) 148 f. Arias (1960) 71 mit Tafel 131; Simon (1976)107 mit Taf. 133. Die Frömmigkeit Kroisos’ wird auch von Herodot 1, 86 (Stiftung an Delphi) hervorgehoben. Eine Ausnahme bilden die von Alexander I. Philhellen geprägten Münzen, die ihn in herrschaftlicher Pose verherrlichen. Siehe Kapitel IV 4.2. Herodot 1, 6–94. Dazu Heuß (1973) 385–419. Herodot 1, 30, 1. Herodot 1, 30, 2–5. Herodot 1, 53 f. Barceló (1993) 248. Cicero, An seinen Bruder Quintus 1, 1, 23. Thukydides 2, 62; 3, 37ff. Thukydides scheut sich nicht, die dunklen Seiten der athenischen Demokratie darzustellen. Weit davon entfernt sich hinter Rechtfertigungen zu verstecken, distanziert er sich vom aggressiven Gesicht des athenischen Imperialismus und fordert zur Reflexion und zur Mäßigung auf. Barceló (1990) 419–424. Dass die athenische Herrschaft in Athen kritisch beurteilt werden konnte, zeigt eine Reihe von Aussagen aus den Komödien des Aristophanes, in denen sie zum Ziel burlesker Anspielungen wird. Raaflaub (1984) 45–86. Thukydides 2, 63. Thukydides 3, 37. Kleons Argumentation bedeutet eine Steigerung gegenüber der des Perikles. Schwang in dessen Worten noch ein Zweifel über die moralische Berechtigung der zur Tyrannis gewordenen athenischen Herrschaft mit, so sind bei Kleon alle Skrupel verschwunden. Dazu Lévy (1976) 117 ff. Ein weiteres Paradigma hierfür ist der Epitaphios des Perikles (Thukydides 2, 34–46). Meinte Gaiser (1975) 76, in dem Epitaphios den Versuch eines Staatsmodells zu sehen, in dem der Idealzustand des besten Staates mit der unvollkommenen Wirklichkeit kontrastiert würde, so beurteilt Strasburger (1968) 523 die Passage nüchterner: „Auch diese Rede hat die Funktion der Enthüllung (…) Statt der Phrasen von panhellenischer Nächstenliebe, die sonst von den Lippen athenischer Redner troffen, werden die echten Antriebe der athenischen Tatkraft gezeigt: der berauschende Selbstgenuß der eigenen Kraft (…), für die Außenwelt aber: Härte, Hochmut, Hohn, Feindschaft in ihrer ganzen Pracht.“ Euripides, Phönikerinnen 524 f. Das Problem, vernünftig zu handeln und bei der Machtausübung Gerechtigkeit walten zu lassen, ist ein Hauptthema der attischen Dichtung seit Ais-

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Anmerkungen

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chylos. Eines der anschaulichsten Beispiele bietet die Rede, die Athena im dritten Teil der Orestie am Hügel des Ares hält (Eumeniden 690 ff. Am prägnantesten wird dies in der Totenrede des Perikles formuliert. Thukydides 2, 37  ff.; dazu Edelmann (1975) 320 ff. Aristophanes, Ritter 1111–14. Thukydides 1, 76; Lévy (1976) 75 ff. Thukydides 1, 126. Nach dem Sieg in Olympia stieg sein Ansehen gewaltig, auch vermochte er die Tochter eines berühmten Mannes (Theagenes von Megara) heimzuführen. Tyrtaios, Fragment 9. Tyrtaios, Fragment 4, 5. Austin, Vidal-Naquet (1984) 65–74. Zu den Lykurgischen Reformen vgl. Ober (2016) 204–212. Zur Frage der Sukzession Carlier (1984) 240–248. Die Fälle, in denen ein Enkel die Nachfolge des Großvaters antrat oder gar nahe Verwandte, sind häufig. Dazu Carlier (1984) 242. Carlier (1984) 248. Herodot 6, 56 ff. Die spartanischen basileis verrichteten die Staatsopfer und besaßen im Felde eine unumschränkte Kommandogewalt (Xen. Lak. Pol. 15, 2; vgl. Thuk. V 66). Vgl. auch Xenophon, Staat der Lakedämonier 15, 9. Herodot 6, 56. Belege bei Carlier (1984) 258–260. Andrewes (1966) 1–20. Daneben gibt es Spuren einer älteren dualistischen Konstruktion wie sie bei Xenophon, Staat der Lakedämonier, 15, 7 sichtbar wird. Über den Forschungsstand zur Rolle der Heeresversammlung vgl. Müller (2003) 17–21. IG I3 89 = StV 2, 186. Zu den Kompetenzen der Könige Hammond (2004) 28. Aristoteles, Politik 5, 1310 b, 32–40. Über die Herkunft der Argeaden vgl. Herodot 8, 137, 1. Ob die Argeaden gute Trinker waren, wie Gehrke (1996) 13 meint, ist fragwürdig. Das Bild des dem Alkohol zugeneigten Alexanders entspringt der Barbaren- und Tyrannentopik. Dazu vermerkt Plutarch, Alexander 23, 1: „Die Neigung zum Weine war bei ihm (Alexander) gar nicht so groß, als man allgemein glaubt; sie schien es nur wegen der Länge der Zeit, die er nicht mit Trinken, sondern mehr mit Plaudern verbrachte, da er immer bei jedem Becher eine lange Unterhaltung anfing, zumal wenn er eben viel Muße hatte.“ Wiemer (2005) 76. Arrian 7, 9, 2. Fernández Nieto (1989) 9–19. Demosthenes, Philippika 6, 16; Borza (1990) 112f., 130f. P. R. Franke, M. Hirmer, Die griechische Münze, Taf. 169. Thukydides 2, 100, 2.

76 Stroheker (1953/4) 406 f. 77 Über Machtkämpfe am makedonischen Königshof Justin 7, 4, 5–8; 5, 1–10. 78 Mossé (1979) 77ff. 79 Diodor 16, 3, 3–6; 4, 1–7; 8, 1–3; Justin 7, 6, 4–7. Dazu Engels (2006) 22 f. 80 Als Ausrüstung der berittenen Kampfgefährten gibt Lauffer (2005) 52 Lanze, Kurzschwert, Helm, Panzer sowie einen kleinen Schild an. Ausführlich dazu Lane Fox (2004) 86 f. 81 Zur Neuorganisation des Heeres Diodor 16, 3, 1–2. Zu den einzelnen Heeresabteilungen der Hetairoi, der Pezhetairoi, der Hypaspisten, der leichten Kavallerie und der leichten Infanterie vgl. Borza (1990) 202–206; Griffith (1997) 408  ff., 414–418, 705–713; Lane Fox (2004) 83–93. 82 Meier (1995) 435–501. 83 Meister (1997) 152–164. 84 Bengtson (1983) 120–122. 85 Plutarch, Perikles 12. 86 Bengtson (1983) 128–132. 87 Thukydides 2, 65, 9. 88 Thukydides 2, 65, 8. 89 Bengtson (1983) 124–127. 90 Wendet man das Wort Christian Meiers von der „Krise ohne Alternative“ hier an, dann wäre, nach Christ, Pompeius die Alternative zur Krise gewesen, die letzte Chance der Repu­blik und ihrer Führungsschicht. Vgl. den Forschungsbericht von E. Hermann-Otto, in: M. Gelzer,: Pompeius. Lebensbild eines Römers, Stuttgart 2005, 10. 91 Siehe unten Kapitel V 5.1, 5.2. 92 Empfehlenswert ist die Pompeiusbiographie von Christ (2004). 93 Dahlheim (2000) 232–234. 94 Plutarch, Pompeius 17. 95 Plutarch, Pompeius 25; Cassius Dio 36, 36. 96 Siehe Kapitel I 6. 97 Cicero, Über den Oberbefehl des Gnaeus Pompeius 2, 4–5; Dahlheim (2000) 236 f. 98 Diodor 40, 4. 99 Meier (1982) 183–188. 100 Cicero, Pro Balbo 13. 101 Dahlheim (2000) 240–242. 102 Velleius Paterculus 2, 40; Plutarch, Pompeius 43; Cassius Dio 37, 20, 4–5. 103 Plutarch, Pompeius 46; Appian, Bürgerkriege 2, 1; Cassius Dio 37, 49. 104 Plutarch, Crassus 31, 5. 105 Dahlheim (2000) 243 f. 106 Cassius Dio 39, 39, 4. 107 Siehe Kapitel VI 5. 108 Unter anderem in den orationes consulares oder in den drei Büchern de consulato suo. 109 Cicero, Über das Siedlergesetz 2, 3; Cicero, Vom rechten Handeln 2, 59. 110 Cicero, Gegen Verres 2, 5, 180; vgl. auch Sallust, Über die Verschwörung des Catilina 23. 111 Sallust, Invektive gegen Cicero 7. 112 Quintus Cicero, Kleine Denkschrift zur Amtsbewerbung 53.

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Anmerkungen 113 Cicero, Für Publius Sestius 96; Cicero, Über den Staat 1, 43; Cicero, Gegen Verres 2, 151; Cicero, Philippische Reden 11, 18. 114 Quintus Cicero, kleine Denkschrift zur Amtsbewerbung 51. 115 Cicero, An Atticus 1, 2, 2. 116 Cicero, An Atticus 2, 16, 2. 117 Cicero, Gegen Catilina 3, 26; 4, 21; Cicero, An Atticus 1, 14, 4. 118 Cicero, Für Gnaeus Plancio 65; Plutarch, Cicero 6, 3. 119 Cicero, An Atticus 2, 1, 6. 120 Cicero, An Atticus 2, 7, 4; 4–25. 121 Dazu das Urteil des Zeitgenossen Asinius Pollio bei Seneca der Ältere, Ratschläge 6, 24. 122 Cicero, An seine Freunde 1, 7, 7; 1, 9, 21. 123 Cicero, Philippische Reden 4, 16. 124 Cicero, An Brutus 1, 18, 3. 125 Seneca der Ältere, Ratschläge 6, 17. 126 Cicero, An seine Freunde 1, 9, 7. 127 Cicero, An seine Freunde 6, 4, 2. 128 Appian, Bürgerkriege 5, 20, 79–81; 21, 84; 23, 90– 94; Cassius Dio 48, 10, 2; 12, 1–3. 129 Appian, Bürgerkriege 5, 21, 82. 130 Cassius Dio 48, 10, 3.4; Florus 2, 16, 5; Velleius Paterculus 2, 74, 3. 131 CIL XI 2, 6721 Nr. 5 und Nr. 14. 132 Appian, Bürgerkriege 5, 59, 249; Cassius Dio 48, 27, 4. 133 Appian, Bürgerkriege 5, 59, 250; vgl. auch 5, 19, 75. 134 Appian, Bürgerkriege 5, 54, 226–229. 135 Vgl. das Paulusporträt bei Lauster (2015) 43–48. 136 Konziser Überblick bei Clauss (2010 c) 180–187. 137 Apostelgeschichte 4,1–21; 5, 17, 42 passim. 138 Paulus, Galater 1, 15 f. 139 Apostelgeschichte 9, 25. 140 Apostelgeschichte 14, 19. 141 Gnilka (1997) 71–94. 142 Nach der Apostelgeschichte 18, 3 arbeitete Paulus als Zeltmacher. 143 Gnilka (1997) 101–107. 144 Warnecke (2000) 62–74. 145 Paulus, Römer 13, 1–7. 146 Paulus, 1. Korinther 11,1–19; 14, 34–36. 147 Paulus, Galater 2, 2. 148 Paulus, Römer 13; Galater 5. 149 Seiler (1998) 8–9. 150 Ammian 21, 10, 7. 151 Zu Constantius’ II. Lebzeiten bekannte sich Julian nicht öffentlich zum Heidentum. Erst nach Erlangung der Alleinherrschaft wird die neue religionspolitische Orientierung erkennbar, vgl. Bringmann (2004) 75–82; Rosen (2006) 222–225. 152 Diocletian hatte seine Kultpolitik folgendermaßen begründet: „Die unsterblichen Götter geruhen auf Grund ihrer Vorsehung zu bestimmen und anzuordnen, was gut und was wahr ist.“ Ähnlich äußerte sich Julian, Briefe 15, 3 gegenüber dem Statthalter von Africa; nicht viel anders sah die Haltung des Constantius II. aus. Vgl. Codex Theodosianus 16, 2, 16. 153 Bidez (1930) 98–99.

154 Piganiol (1972) 132–133; Barceló (1996) 84–93. 155 Zu Julians herrschaftlichem Selbstverständnis vgl. Bringmann (2004) 83–93; Rosen (2006) 303–306. 156 Julian, Brief an Themistios 258 b, c; 259 a, b; Caesares 336 a-c. 157 Rosen (2007) 200–203. 158 Zu den Grundzügen der julianischen Restaurationspolitik vgl. Bowersock (1978) 79–93. 159 Julian, Gegen die Galiläer 93 e ff. 160 Julian, Gegen die Galiläer 235 b ff. 161 Julian, Gegen die Galiläer 49 a ff. 162 Vgl. die Gegenüberstellung von Celsus und Origines bei Stroumsa (2011) 142–144. 163 Brown (1986) 84–86. Zur feindseligen Rezeption der julianischen Restauration durch die antiochenische Oberschicht vgl. Hahn (2004) 163–168. 164 Arce (1984) 93–176. 165 Zur Kontroverse um Julians historische Persönlichkeit Braun, Richer (1978). 166 Prudentius, Die Vergöttlichung 5, 449 ff. 167 Just (2003) 21–32. 168 Just (2003) 34–48. 169 Piétri (1996) 370. 170 De Vries (1975) 385–389. 171 Zur Theologie des Arius und zum sogenannten arianischen Streit Piétri, Markschies (1996) 289– 300; Just (2003) 20–67. 172 Adam (1992) 329. 173 Zu den Intrigen, der Korruption und den erbitterten Machtkämpfen der Kandidaten bei Bischofswahlen Teja (1999) 78–81. 174 Maraval (2001) 166–213; Hübner (2005) 230–245. 175 Barceló (2011) 23–39. 176 Vgl. den Streit um die Mailänder Basiliken bei Ambrosius, Briefe 75 a, 29 ff. 177 Eck (1980) 127–137, Hübner (2005) 128–137. 178 Brown (1996) 128. 179 Eusebios, Kirchengeschichte 10, 4, 23. 180 Im Konflikt zwischen Paulus von Samosata und den Bischöfen, die ihn seines Amtes enthoben hatten, baten diese Kaiser Aurelian um die Bestätigung seines Nachfolgers auf dem antiochenischen Stuhl. Eusebios, Kirchengeschichte 7, 30, 19; vgl. Piétri (1996) 69 f. 181 Faber (2010) 179–196. 182 Eusebios, Die Offenbarwerdung des Evangeliums 1, 8. Brown (1994) 219–223. 183 Über die priscillianische Lehre vgl. Vilella (1997) 507–516. 184 Lietzmann (1999) 1053–1059. 185 Vilella (1997) 516–530; Fernández Conde (2007); Brown (2012) 211–216. Zur innerkirchlichen Dissidenz Escribano (1990) 29–47. 186 Stroumsa (2011) 154–172. 187 Sokrates, Kirchengeschichte 6, 2, 6–8; Sozomenos Kirchengeschichte 8, 2, 17 f. Leppin (2003) 150. 188 Heuß (1969) 60 ff. 189 Zur Wettbewerbsethik als Charakteristikum der griechischen Adelsgesellschaft vgl. Stein-Hölkeskamp (1989) 52, 59, 65, 95 ff., 119, 137, 200, 205, 231 f.

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Anmerkungen 190 Die innerhalb eines politischen Verbandes konkurrierenden Adelshäuser verengten die Räume für die Monarchie, die eine Monopolisierung der staatlichen Macht bei gleichzeitiger Verdrängung des Adels bedeutet hätte. Die Gestaltung der Politik war daher Sache aller, genauer: derer, die aufgrund ihres Vermögens, ihrer sozialen Stellung und ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit in der Lage waren, aktiv die Staatsgeschäfte zu leiten. Stein-Hölkeskamp (1989) 94 ff. 191 Ehrenberg (1943) 14–18; derselbe (1937) 147–159. 192 Zur Aristokratie der archaischen Zeit Arnheim (1977) 39–129. 193 Athenaios, Das Gastmahl der Gelehrten 15, 695 f – 696 a. 194 Herodot 6, 12. 195 Payne, Mackworth-Young (21950). 196 Hautumm (1987) 85–89; Alscher (1961) 23–26; Martini (1990) 61 mit Abb. 17. 197 Fuchs (1983) 28–32 mit Abb. 11. 198 Gemäß semitischer Kulttradition opferte Hamilkar während der Schlacht bei Himera. Nach der Niederlage des karthagischen Heeres warf er sich in die Flammen und beging Selbstmord. Damit befolgte er das Melkartritual, das an den Opfertod des Gottes und dessen Auferstehung erinnerte. 199 Zu Mago Herodot 1, 165, 1–167, 1; 8, 165; Justin 18, 7, 18–19, 1, 2, zu Hanno (Sohn des Mago) Herodot 7, 165; Iustin 19, 1, 1–2, 1, zu Hamilkar (Sohn des Hanno) Herodot 7, 153–167; Diodor 11, 1, 4f.; 20–22; 34, 3; 25, 1; 13, 59, 4f.; 94, 5; 14, 67, 1; 37, 1, 3; Justin 4, 2, 6f.; 19, 1, 1–2, 1. 200 Herodot 7, 165. 201 Zu Recht hat Ameling (1993) 23ff. auf die Problematik der Söldneranwerbung hingewiesen, die bei diesem Feldzug eine untergeordnete Rolle gespielt haben dürfte. 202 Herodot 7, 167. 203 Thukydides 6, 6–7; 30 ff.; Barceló (1994) 5–7. 204 Zu Hannibal vgl. Geus (1994) 66–70. 205 Zu Himilko vgl. Geus (1994) 159–166. 206 Diodor 13, 59, 4f. 207 Polybios 1, 34, 6; 73, 75, 87; 7, 9, 1; Diodor 11, 1, 5; 13, 44, 8; 14, 75, 2–4; 20, 17, 2. 208 Ameling (1993), 169  ff.; González Wagner (2006) 106, 110 ff. 209 Als Beispiel mag der Umsturzversuch des Bomilkar 309 v. Chr. genügen, dazu Diodor 20, 44. 210 Zum Landbesitz der Barkiden Barceló (2004) 204. 211 Polybios 3, 27. 212 Zu den Beziehungen zwischen Karthago und Ägypten vgl. Huß (1979) 119–137. 213 Geus (1994) 116–118. 214 Barceló (2004) 65 ff. 215 Diodor 25, 8. 216 Geus (1994) 133; zur barkidischen Heiratspolitik Hoyos (2003) 2. 217 González Wagner (2006) 104f. 218 Cornelius Nepos, Hannibal 13, 3. 219 Hoyos (2003) 87. Hannibals adliges Selbstverständnis wird durch die im Tempel der Hera Lakinia in der Nähe von Kroton angebrachte grie-

chisch-punische In­schrift sichtbar, die von seinen Taten kündete. Lancel (1998) 259. 220 Polybios 3, 13, 4; Livius 21, 3, 1. 221 Gegen eine autonome Herrscherstellung der Barkiden spricht der Verlauf des 2. Römisch-karthagischen Krieges. Die Entscheidungen wurden in Karthago getroffen, und Hannibal, bei dem sich ein Teil des Rates von Karthago aufhielt, führte sie ebenso aus wie die anderen karthagischen Befehlshaber. Als die barkidische Machtbasis in Hispanien 206 v. Chr. verloren ging, gab Hannibal keineswegs auf. Er ging erst, als er von Italien abberufen wurde, nach Karthago und stellte sich in den Dienst der Regierung. Ameling (1993) 99–119. 222 Lancel (1998) 72–75. 223 Zu Recht bemerkt Christ (2003) 190, dass Hannibal, anders als Alexander der Große oder Napoleon, nicht über die Gesamtheit der Streitkräfte Karthagos gebot, sondern lediglich die militärische Leitung in einem Kriegsschauplatz innehatte. 224 Ein wichtiges Zeugnis dafür bietet der aus der westpunischen Stadt Tingetera stammende Pomponius Mela 1, 65. Bei dessen Würdigung des phönikischen Beitrags zur Geschichte der Mittelmeervölker zählt er die Schrift, die Seefahrt und die Kriegskunst auf. Letzter Punkt ist von Bedeutung, weil hier eine neutrale Stimme zu uns spricht, die aus rückblickender Perspektive die Bedeutung des Militärs bei den phönikischen Völkern unterstreicht. 225 Barceló (1994) 1–14; Waldherr (2000) 193–222. 226 Polybios 29, 27. 227 Bleicken (1975) 40–60. 228 ILS 6 (Dessau). 229 Adcock (1967) 40–56. 230 Bleicken (1975) 120–138. 231 Plutarch, Pyrrhos 18 f. 232 Plutarch, Pyrrhos 19. 233 Bengtson (1983) 49–66. 234 Zinserling (1960) 87 ff.; Metzler (1971) 182. 235 Metzler (1971) 366; Fittschen (1988) 15 f. 236 Lehrreich hierfür ist eine Bronzemünze, auf der Themistokles weniger moderat abgebildet wird: Sie zeigt den Befreier Griechenlands in der Pose des Siegers, der unbekleidet, eine Trophäe in der Linken, einen am Boden kauernden (persischen?) Gefangenen niederhält. Richter (1984) 212, Taf. 174. 237 Datierung nach Metzler (1971) 196. Demnach wurde das Porträt zwischen der Schlacht von Salamis (479 v.  Chr.) und Temistokles’ Verbannung (471 v. Chr.) geschaffen. 238 Fittschen (1988) Taf.  9,2–12,1; Drerupp (1988) 286–293; Sichtermann (1988) 302–336. 239 Nach Fittschen (1988) 18 ist dies das erste rundplastische Beispiel für den Versuch, einen bestimmten Menschen in einer von der herrschenden Idealnorm stark abweichenden Weise wiederzugeben. 240 Metzler (1971) 366. 241 Metzler (1971) 206. 242 Bengtson (1983) 67–72. 243 Siehe Kapitel IV 6.2.

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Anmerkungen 244 Siehe Kapitel II 7.4. 245 Siehe Kapitel V 3.2. 246 Zur Hannibalrezeption vgl. Barceló (2004) 246–258. 247 Grundlegend für die politische Biographie Catos Fehrle (1983). 248 Sallust, Verschwörung des Catilina 52. 249 Stein-Hölkeskamp (2000) 292–293. 250 Seinen Epigonen Favonius bezeichnete Mommsen demnach als Sancho Pansa. 251 In diesem Zusammenhang gehört Catos schroffe Weigerung, ein politisches Bündnis mit Pompeius einzugehen, der um die Hand einer Dame aus Catos Verwandtschaft warb. 252 Plutarch, Cato 31, 5. 253 Meier (1982) 418–420. 254 Zur politischen Positionierung Catos vgl. Fehrle (1983) 83 ff.; Stein-Hölkeskamp (2000) 295–304.

V Krieg und Gewalt, S. 360–431 1 2 3 4 5 6 7 8 9

10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

22 23 24 25 26 27 28

Thukydides 3, 36. Thukydides 3, 68. Thukydides 5, 116. Thukydides 7, 86f. Polybios 1, 80 f. Polybios 1, 81. Caesar, Gallischer Krieg 8, 44, 1. Ammian 19, 11, 1. Ammian 19, 11. Die Ausrottung der Limiganten war aus strategischen Gründen motiviert. Sie hatten sich in einem Raum angesiedelt, der als neuralgisch für das Sicherheitsbedürfnis des Reiches galt. Ammian. 19, 11, 15. Herodot 8, 74–89 und Aschylos’ Tragödie Die Perser sind die zeitnahen Quellen zu den Ereignissen um Salamis. Plutarch, Themistokles 3,5–4,6. Meister (1997) 99–111. Beike (1990) 59–65. Gehrke (2003) 32–47; Lane Fox (2004) 296–311; Hammond (2004) 160–165; Wiemer (2005) 112 f. Zur persischen Formation Arrian 3, 11, 3–7; Gehrke (2003) 38 f. Alexander soll über 40 000 Fußsoldaten und 7000 Reiter verfügt haben. Arrian 3, 12, 5. Plutarch, Alexander 33, 1. Plutarch, Alexander 32, 8–12. Zur Unhaltbarkeit der Vorwürfe gegen Parmenion Müller (2003) 68–72. Zu Recht betont Lane Fox (2004) 301  f., wie die Staubwolke von Gaugamela zu einer weitgehenden Unübersichtlichkeit der Kampfhandlungen geführt haben muss. Arrian 3, 14, 4–6; Gehrke (2003) 46. Arrian 3, 15, 1. Plutarch, Alexander 34, 1. Plutarch, Alexander 34, 3. Bleicken (1998) 266–274. Ladewig (2014) 233–241. Zum Schlachtverlauf Beike (1990) 139–148; Bleicken (1998) 275–287.

29 Zur Begründung der maritimen Hegemonie durch Agrippa im westlichen Mittelmeerraum nach der Ausschaltung des Sextus Pompeius vgl. Ladewig (2014) 218–232. 30 Faber (2014) 130–136. 31 Ammian 31, 3, 1–8; Heather (2007) 179–187. 32 Ammian 31, 4, 1–8. 33 Ammian 31, 4, 9–13. 34 Ammian 31, 5, 9. 35 Ammian 31, 12, 1–7. 36 Zum Schlachtverlauf Ammian 31, 13, 1–19; Heather (2007) 202–218. 37 Faber (2014) 195–218. 38 Faber (2014) 219–237. 39 Meister (1997) 62–70. 40 Ober (2016) 282–293. 41 Thukydides 1, 23. 42 Thukydides 2, 8, 4–5. 43 Ober (2016) 284. 44 Ober (2016) 300–312. 45 Thukydides 2, 47–57. 46 Bengtson (1983) 147–157. 47 Bengtson (1983) 155–157. 48 Bengtson (1983) 161–164. 49 Siehe Kapitel III 2.2. 50 Ober (2016) 312–315. 51 Zur Vorgeschichte des 1. Römisch-karthagischen Krieges Huß (1985) 217–222.; Hoyos (1998) 5–66; Christ (2003) 32 f. 52 Barceló (1996) 49–55. 53 Polybios 1, 10. 54 Meister (1999) 33. 55 Seibert (1993) 84–87. 56 Für Fabius Pictor war Hasdrubal, dessen Herrschsucht und Machtgier angeprangert werden, die ­eigentliche Triebkraft des Kriegsausbruchs, für Polybios 3, 8–11 trug dagegen Hamilkar die Verantwortung. 57 Momigliano (1975) 333–345. 58 Livius 22, 51, 4. Das Urteil Maharbals macht sich Seibert (1993) 484 zu eigen. 59 Polybios 3, 10. 60 Vollmer (1990) 128 f. 61 Hoyos (1998) 233–279; Roldán Hervás, Wulff Alonso (2001) 46–54; Christ (2003) 51 f. 62 Seibert (1993) 57. 63 Vollmer (1990) 131 führt dazu aus: „Der Krieg entstand nicht, wie die Quellen dies darstellen, aus dem unabänderlichen Gegensatz der Römer zu den Karthagern oder der Furcht vor einer Verbindung der Kelten mit den Karthagern, sondern er wurde ausgelöst durch das Rollen eines kleinen Steines, der durch seinen Vorwärtsdrang eine Steinlawine ausgelöst hatte.“ 64 Livius 21, 10, 11–13. 65 Seibert (1993) 59. 66 Gelzer (1964) 81–85, der diesen Zusammenhang treffend erörtert, zieht jedoch die falsche Schlussfolgerung daraus, da für ihn die Glaubwürdigkeit des Fabius Pictor außer Frage steht. 67 Polybios 3, 21. 68 Polybios 3, 15, 7; Lancel (1998) 88 ff.

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Anmerkungen 69 Dies taten die Römer nicht zum ersten Mal. Bereits im Jahr 233 v. Chr. war, als sich die Sarden gegen die Römer erhoben hatten, eine Gesandtschaft nach Karthago gereist, um durch Kriegsandrohung die Karthager zu erpressen, was sich diese jedoch nicht gefallen ließen; Zonaras 8, 18. 70 Livius 21, 44, 5. 71 Hoyos (2003) 81. 72 Hoyos (2003) 107 geht davon aus, dass 218 v. Chr. die Römer mit insgesamt nur 71 000 Mann (sechs Legionen mit Bundesgenossen) einer geschätzten Gesamtstärke der karthagischen Truppen von 122 000 Mann unterlegen waren. Für solche Zahlenverhältnisse gibt es in den Quellen keine tragfähige Basis. 73 Seibert (1993) 48 f. 74 Noch etwas anderes konnte Hannibal aus der Beobachtung dieser Vorgänge erkennen: Zweimal waren keltische Heerhaufen vom Rhônetal nach Italien gelangt und hatten dabei die Alpen bezwungen; Polybios 2, 22, 23. 75 Lancel (1998) 94–97. 76 Seibert (1993) 80–82. 77 Polybios 3, 33; Livius 21, 18–20; Florus 1, 22; Silius Italicus 2, 283; Appian, Iberische Geschichte 13; Cassius Dio, Fragment 55, 9; Zonaras 8, 12. 78 Zu den römischen Kriegsvorbereitungen Polybios 3, 20, 40; Livius 21, 16 f. 79 Siehe Kapitel II 6.4. 80 Meister (1999) 133 f. 81 Plutarch, Tiberius und Gaius Gracchus 9. 82 Plutarch, Tiberius und Gaius Gracchus 8 f. 83 Plutarch, Tiberius und Gaius Gracchus 25–27. Meister (1999) 141–149. 84 Das abrupte Einschreiten der Exekutive verdeutlichte, wer in einer Notlage die faktische Macht im Staate an sich reißen konnte. Bezugnehmend darauf hat Carl Schmitt, ohne auf das Beispiel des senatus consultum ultimum zu verweisen, im ersten Satz seine Politischen Theologie apodiktisch formuliert: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. 85 Thomen (2000) 187–198. 86 Meister (1999) 150–165. 87 Volkmann (1973) 7–30. 88 Christ (2002) 122–139. 89 Christ (2002) 140–194. 90 Zur wirtschaftlichen Attraktivität Hispaniens vgl. Strabo 3, 1, 6. 2, 1; 2, 3–6. 2, 8–11. 91 Ferrer Maestro (2001) 85–90. 92 Polybios 3, 33, 5–6; Livius 21 ,22, 1. 93 Ferrer Maestro (2006) 107–126. 94 Livius 33, 47, 2. 95 Livius 34, 9, 12. 96 Cicero, Gegen Verres 2, 3, 12. 97 Ferrer Maestro (2001) 82–93. 98 Ferrer Maestro (2014) 113–161. 99 Die Bevölkerungszahl stieg an. Es ist vorstellbar, dass viele Rückkehrer aus dem ehemaligen karthagischen Herrschaftsbereich (sie gehörten zum dynamischen Teil der Bürgerschaft) in die Mutter-

stadt kamen und zu deren wirtschaftlichen Aufschwung beitrugen. 100 Polybios 1, 71, 1 berichtet, dass die Einnahmen aus den afrikanischen Besitzungen Karthagos zur Finanzierung der Außenpolitik herangezogen worden waren. Nun konnten diese Mittel friedlicheren Zwecken zugeführt werden. 101 Plutarch, Cato 26. Damals gelang es der karthagischen Landwirtschaft, riesige Exportüberschüsse zu produzieren, Livius 31, 19, 2; 36, 4, 9; 43, 6. Lancel (1998) 301–307. 102 Hannibal wird mit den umfangreichen Baumaßnahmen in Verbindung gebracht. Dies betrifft das planvoll angelegte Wohngebiet am Südhang der Byrsa, das die Archäologen als Quartier Hannibal bezeichnen. Lancel (1992) 172 ff.; Le Bohec (1996) 262–264. 103 Zum neuen Hafen Appian, Libysche Geschichte 96; Lancel (1992) 192–212; Lancel (1998) 171–221. 104 Livius 36, 4, 5–7. 105 Gewiss gab es für das westdeutsche Wirtschaftswunder eine Reihe weiterer Gründe, die es ermöglichten. Da wäre ein Industriepotenzial, das durch den Krieg nur bedingt gelitten hatte, gepaart mit dem Ausbleiben einer Demontage durch die ­Siegermächte. Auf eine Kurzformel gebracht: Die deutschen Industriekapazitäten waren am Ende des Krieges nicht viel geringer als zu Beginn, denn die Zerstörungen betrafen vor allem Wohnquartiere und Waffenarsenale, weniger die Produktionszentren. Ebenso spielte der Marshall-Plan eine wichtige Rolle. 106 Ausführlicher Überblick bei Meier (1982) 277– 402. 107 Jehne (1997) 34. 108 Will (2009) 96. 109 Dahlheim (2011) 101 f. 110 Meier (1982). 111 Caesar, Gallischer Krieg 1, 31, 10. 112 Dahlheim (2011) 104. 113 Caesar, Gallischer Krieg 2, 35, 4; Cassius Dio 39, 5, 1. 114 Will (2009) 110 f. 115 Caesar, Gallischer Krieg 5, 26, 1. 116 Caesar, Gallischer Krieg 5, 58, 6; Dahlheim (2011)106. 117 Caesar, Gallischer Krieg 7, 4, 1–10. 118 Caesar, Gallischer Krieg 7, 14, 2. 119 Caesar, Gallischer Krieg 7, 69, 6. 120 Caesar, Gallischer Krieg 7, 74, 1. 121 Dahlheim (2011) 111. 122 Plutarch, Caesar 27. 123 Sueton, Caesar 25. 124 Sueton, Caesar 54, 2. 125 Caesar, Gallischer Krieg 7, 11, 9. 126 Plutarch, Caesar 29. 127 Sueton, Caesar 27. 128 Die folgenden Passagen sind ganz entscheidend durch einen Vortrag von Adalberto Giovannini angeregt worden, der in einem von mir heraus­ gegebenen Bändchen nachträglich veröffentlicht wurde. Vgl. Giovannini (1996) 11–34. Damals wie

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Anmerkungen heute bin ich von der Stichhaltigkeit seiner Thesen überzeugt. 129 Flavius Josephus, Der jüdische Krieg 6, 414–420. 130 Jones (1964) 694; Aja Sánchez (1998); Hahn (2004) 9; Krause (2014) 79. 131 Browning (1952)13–20. 132 Krause (2014) 81. 133 Demandt (1989) 105–106. 134 Libanios, Oratio 23, 25. 135 Kiel-Freytag (2012) 98. 136 Kohns (1961). 137 Krause (2014. 79–80. 138 Krause (2014) 80. 139 Sokrates, Kirchengeschichte 2, 6; Sozomenos, Kirchengeschichte 3, 3–4. 140 Sokrates, Kirchengeschichte 2, 6, 3–7. 141 Isele (2010) 38–39. 142 Ammian 27, 3, 11–15 gibt die Zahl von 137 Menschen an, die bei diesen Machtkämpfen den Tod gefunden haben sollen. 143 Hahn (2004) 66–69. 144 Hahn (2004) 71. 145 Ammian 22, 11, 9. 146 Lotz (2010) 197–208. 147 Sokrates, Kirchengeschichte 7, 13, 4. 148 Die Lage war politisch angespannt, da sich Theodosius mit den in Thrakien seit 382 sesshaften Goten, die eine ernstzunehmende militärische Größe darstellten, auseinandersetzen musste. 149 Ähnlich hatte Theodosius bereits in Antiochia agiert, Theodoret, Kirchengeschichte 5, 20, 1. 150 Die Überlieferung zum Blutbad von Thessalonike ist tendenziös und vielfach verformt, vgl. Larson (1970) 297–301; Just (2003) 200. 151 Meier (2003) 273–300; Pfeilschifter (2013) 178–210. 152 Die Gesamtzahl der Toten während des Nika-Aufstandes und der anschließenden Justiz des Kaisers beläuft sich auf 30 000–35 000. 153 Meier (2003) 295 ff. 154 Krause (2014) 88.

VI Regierungsstile – Herrschaftsformen, S. 432–512 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Meier (1995) 65–68. Aristoteles, Staat der Athener 2. Meier (1995) 69–85; Ober (2016) 212–224. Solon, Fragment 3. Zu den solonischen Initiativen Bleicken (1986) 15–22. Solon, Fragment 2 D. Ruschenbusch (1995) 440–444. Aristoteles, Staat der Athener 7. Solon, Fragment 24. Stahl (2003) I, 176–200. Aristoteles, Staat der Athener 8, 5. Dazu Stahl (2003) I, 228–251. Solon, Fragment 3. Zu den solonischen Gesetzen vgl. Aristoteles, Staat der Athener 5–10. Gomá (2009).

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Solon, Fragment 5 D. Dazu Murray (1982) 244. Hernández de la Fuente (2008) 149–150. Ruschenbusch (1995) 432 f. Bleicken (1986) 23. Ryffel (1973) 60. Zu Medien und Deiokes vgl. Sancisi-Weerdenburg (1988). Herodot 1, 96–99. Herodot 1, 107–130. Herodot 5, 92. Herodot 1, 59. Herodot 1, 97. Peisistratos’ Beispiel blieb nicht ohne Wirkung. Seine Kult-, Finanz- und Baupolitik machten aus der gentilizischen Organisation Attikas einen Staat; Stahl (1987) 138 ff; Bleicken (1986) 21–28, 40 f. Zu erwähnen wäre etwa die Verschlagenheit des Polykrates, als er seine Brüder beseitigte und in Samos die Macht übernahm (Herodot 3, 39), oder die Rücksichtslosigkeit des Kypselos bei der Errichtung seiner Herrschaft (Herodot 5, 92). Zitiert nach der Edition Ed. des Places, Jamblique, Protreptique, Paris 1889, 20, 12 ff., 130. Walter (2004) 75–92. Ryffel (1973) 15; vgl. auch Lévy (1976) 166 f. Herodot 3, 80–88. Herodot 3, 61–79. Inschrift bei : F. H. Weissbach (Ed.), Die Keilinschriften der Achaimeniden, Leipzig 1911; zur Forschungsgeschichte der Inschrift Wiesehöfer (1978) 3 ff. Platon, Gesetze 695 b. Gschnitzer (1977). Herodot 3, 88 ff. Gschnitzer (1977) 7 f. Herodot 3, 84. Herodot 3, 68 ff., 118 ff.; Gschnitzer (1977) 24 ff. Ein Reflex davon hat sich in Platon, Gesetze 696 a erhalten. Dort heißt es: „Als er (Dareios) an die Herrschaft kam und sie mit sechs anderen erlangt hatte, teilte er das Reich in sieben Teile – von dieser Einteilung ist noch heute eine schwache Spur vorhanden  – und wollte regieren, indem er Gesetze aufstellte, mit denen er eine gewisse allgemeine Gleichheit einführte“. Einige Anspielungen, wie die Besetzung der Ämter durch das Los oder die Betonung der Volkssouveränität, verweisen auf die athenische Verfassung von 487/6 v. Chr. Herodot 3, 84. Das Wort demokratia verwendet Herodot äußerst spärlich. Dazu Edelmann (1975) 316–320. Isokrates, Nikokles 3, 15 ff. Thukydides 1, 13. Aristoteles, Politik 1297 b; 1305 a. Kinz1 (1979) Vorwort. Zur Chronologie der Kypseliden vgl. Mossé (1969) 30. Herodot 5, 92: Ob Kypselos an der Spitze einer Privattruppe die Herrschaft errang, muss offenbleiben. Jedenfalls scheint bei den späteren Quellen (Nikolaos von Damaskus [Jacoby, FGrHist. F 57; Aristoteles Politik 1315 b], der auf Ephoros zu-

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rückgeht) die von Peisistratos angewandte Methode auf Kypselos projiziert worden zu sein. Berve (1967) 17. Allerdings hatte Korinth schon unter den Bakchiaden eine nicht unerhebliche Rolle als Handelsmacht und Mittelpunkt einer ausgedehnten Kolonisationstätigkeit gespielt. Strabo 5, 6, 20. Herodot 5, 92. Berve (1967) 19 f., 525 f. Aufschlussreich ist die im 4. Jahrhundert v. Chr. errichtete Periander-Herme, vgl. Richter (1984) 172 f. und die Abbildung Perianders in Kapitel VIII 4. Seinem Schiedsspruch war es zu verdanken, dass die Konflikte zwischen Athen und Mytilene und zwischen dem Lyderkönig Alyattes und Milet beigelegt wurden. Zur Außenpolitik der Kypseliden Berve (1967) 20 f., 526 f. Zu Person und Lebenswerk Berve (1967) 107–114; 582–587. Herodot 3, 122. Herodot 2, 182, 3, 39, 45, 120, 122; Thukydides 1, 13, 6; 3, 104, 2. Herodot 3, 125. Polykrates’ Hof wurde von den berühmtesten Persönlichkeiten Griechenlands aufgesucht. Der Arzt Deomedes aus Kroton (Herodot 3, 125, 131), die Ingenieure und Architekten Eupalinos aus Megara und Rhoikos (Herodot 3, 60) und der Lyriker Anakreon von Teos (Herodot 3, 121) sind nur die bekanntesten Namen einer wesentlich längeren Reihe. Thukydides 1 13. Hafenanlagen, Heraion, Stadtmauern, Wasserleitungen etc. Die Wohnstätte des Polykrates war ein prächtiger Palast, der auf Befehl Caligulas wiederhergestellt wurde, Sueton, Caligula 21. Herodot 142; zur politischen Entwicklung in Samos unter Maiandrios Berve (1967) 114–116. Die Beschwörung der Isonomie in der herodoteischen Maiandriosrede (3, 142  f.) ist nicht ohne weiteres mit der Berufung auf die Demokratie anlässlich der kleisthenischen Phylenreform (5, 66) in Einklang zu bringen. Herodot 1, 59–64, 91–94, 96; 5, 55–57, 62  f., 65, 70 f., 76, 90, 91, 93 f.; 6, 35, 39, 94, 102 f., 107–109, 121, 123; 7, 6; 8, 52; Thukydides 1, 20; 4, 104; 5, 55; 6, 53–59. Zu Person und Lebenswerk des Peisistratos vgl. Berve (1967) 47–63, 543–554. Zu den außerathenischen Besitzungen der Peisistratiden Stahl (1987) 201 ff. Darin sieht Bleicken (1986) 22 ff. eine wichtige Voraussetzung auf dem Weg zur Demokratie. Gerade das Herausdrängen der Vornehmen aus der Leitung der Staatsgeschäfte habe ein Vakuum geschaffen, das zur Entpolitisierung des Adels führte. Nach Cornelius (1929) 23 ff. bildete das von Peisistratos kontrollierte Archontat das wichtigste Werkzeug seiner Herrschaft. Am bedeutendsten war die Förderung der einheimischen Kulte, die Stiftung der großen Dionysien

sowie die Begründung des Panathenäen-Festes. Cornelius (1929) 68–76. 70 Kolb (1977) 99–138. 71 Stahl (1987) 201 ff. 72 Cornelius (1929) 60. 73 Zu den verschiedenen Positionen in dieser Kontroverse vgl. Berve (1967) 547 f. 74 Die wichtigsten Belege bei Cobet (1981) 47 ff. 75 Aristoteles, Politik 1310 b. 76 Platon, Politik 8, 15–19; 9, 1–11. 77 Aristoteles, Politik 6, 2. 78 Barceló, Hernández de la Fuente (2014) 51–59. 79 Austin, Vidal-Naquet (1984) 75–83. 80 Zu den Organen des athenischen Staates Bleicken (1986) 128–215. 81 Ober (2016) 233–253. 82 Bleicken (1986) 33–38; Meier (1995) 182–218. 83 Bleicken (1986) 30–32. 84 Plutarch, Themistokles 3, 5–4, 6. 85 Xenophon, Oikonomikos 2, 5–8. 86 Meister (1997) 56–60. 87 Thukydides 1, 96–102. 88 Thukydides 2, 13; Diodor 12, 38–40. 89 Zum Militärwesen der Athener vgl. Bleicken (1986) 101–121. 90 Herodot 5, 78. 91 Gelzer (1962) 62–135. 92 Adcock (1967) 40–56; Siehe Kapitel IV 6.3. 93 Polybios 6, 10 f., 18. 94 Zum römischen Staatsaufbau Gelzer (1962) 19–61; Bleicken (1975); Hölkeskamp (2000) 11–35. 94 Livius 2, 32 f. 96 Hölkeskamp (2000) 17–25. 97 Bleicken (1975) 138–143. 98 Hölkeskamp (2000) 25–30; siehe auch Kapitel V 5.1. 99 Cicero, An Atticus 9, 8 (7) C. 100 Meier (1982) 446–450. 101 Meier (1982) 448. 102 Cicero, An Atticus 8, 13, 1–4: „Mit höchster Spannung sehe ich Nachrichten aus Brindisi entgegen. Hat Er unsern Gnaeus dort noch erreicht, so besteht ein schwacher Schimmer von Friedensaussichten; ist er aber vorher übergesetzt, so haben wir mit einem verheerenden Kriege zu rechnen. Aber siehst Du, was für ein Mann das ist, dem der Staat in die Hände gefallen ist? Wie scharfsinnig, wie rege, wie wohlvorbereitet! Wenn er nur niemanden ermordet, niemanden ausplündert, werden die, die ihn am meisten gefürchtet haben, ihn weiß Gott noch am meisten lieben. Oft unterhalten sich Leute aus der Kleinstadt und vom Lande mit mir: ihnen ist es überhaupt nur um ihre Felder, ihre Katen und ihr bisschen Geld zu tun. Sieh nur, wie sich das Blatt gewendet hat: den andern, dem sie früher ihr Vertrauen schenkten, fürchten sie jetzt, während sie diesen lieben, vor dem sie bisher Angst hatten, Wie sehr unsere eigenen Sünden und Fehler daran Schuld sind, daran kann ich nicht ohne Verdruss denken.“ 103 Obwohl Caelius zum Lager Caesars gehörte, sind seine Beteuerungen nicht wertlos. Cicero, An seine

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Anmerkungen Freunde 8, 15: Hast Du jemals einen einfältigeren Menschen gesehen als Deinen Gnaeus Pompeius, dass er trotz all seiner Unbedeutendheit solche Geschichten gemacht hat? Oder jemals von jemand gelesen oder gehört, der schärfer im Zupacken und doch wieder maßvoller im Siege gewesen wäre als unser Caesar? 104 Meier (1982) 452 f. 105 Meier (1982) 438–440. 106 Ortega y Gasset (1964) 174. 107 Zanker (1987), vgl. auch Galinsky (1996). 108 Der vom Zen­ trum des Reiches aus regierende Princeps wird zum Imperator schlechthin, wie dies die kaiserlichen Autoren bestätigen. So schreibt diesbezüglich Cassius Dio 52, 41, 3  f.: Er (Augustus) legte sich den Titel Imperator bei. Damit meine ich aber nicht den Titel, der nach altem Herkommen gelegentlich Feldherren wegen ihrer Siege verliehen worden war (…) ich meine vielmehr den Titel in seiner anderen Bedeutung, der den Besitz der obersten Gewalt ausdrückt. 109 Sueton, Augustus 15. 110 Bleicken (1998) 149. 111 Horaz, Epoden 1–14. 112 Siehe Kapitel V 2.3. 113 Cassius Dio 50, 5. 114 Zu den Vollmachten des Augustus Meister (1999) 291–302. 115 Augustus, Tatenbericht 13. 116 Augustus, Tatenbericht 34. 117 Nikolaos von Damaskus 1, 1. 118 Siehe Kapitel VI 4. 119 Siehe Kapitel IV 7.3. 120 Sueton, Augustus 98. 121 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 7, 4. 122 Chronica Minora I 230. 123 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 7, 6 f. 124 Panegyricus 7, 8, 7 f. 125 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 19. 126 Eutrop 9, 27. 127 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 20, 1. 128 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 19, 5. 129 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 29, 1. 130 Eutrop 9, 26; Aurelius Victor, Die römischen Kaiser 39, 2–4; Ammian 15, 5, 18 Piganiol (1972) 70  f.; Martin (1995) 84 ff.; Clauss (1996) 58–71; Gutsfeld (1998) 78 ff.; Teja (1999) 39–71. 131 Seiler (1998) 117 ff. 132 Rosen (1982) 60 ff. 133 Martin (1995) 84 ff.; Clauss (1996) 58–71; Gutsfeld (1998) 78 ff. 134 Piganiol (1972) 386–388. 135 Piganiol (1972) 361–371. 136 Clauss (1980) 40–45; Demandt (1989) 232–235. 137 Piepenbrink (2002) 66–73. 138 Demandt (1989) 241 f. 139 Demandt (1989) 235 f. 140 Demandt (1989) 233. 141 Demandt (1989) 236–240. 142 Martin (1995) 185. Vgl. das anschauliche Schema der Staatsverwaltung bei Clauss (1980) 131.

143 Zum Itinerar des Constantius II. vgl. Barnes (1993) 220–222. 144 Zur militären Rolle des praefectus praetorio vgl. Gutsfeld (1998) 81 ff. 145 Im liber pontificalis findet sich für das „Epochenjahr“ 476, das ins Pontifikat von Simplicius (468– 483) fällt, keine Erwähnung über die Absetzung des Romulus Augustulus durch den magister militum Odoaker. Das Ende des weströmischen Kaisertums erschien derart folgerichtig und unspektakulär, dass der Chronist dieses Ereignis in seine Aufzeichnungen nicht vermerkte. 146 Ammian 30, 4, 1–2. 147 Zur Funktion der Armee in der späten Kaiserzeit Alföldy (1987) 26–42; Demandt (1989) 255–272; LeBohec (1990). 148 Whitby (2004) 156–158. Am deutlichsten wird dieser Zusammenhang von Ammian 27, 6, 12 formuliert. In einer Rede, die er Valentinian halten lässt, werden die Herrscheraufgaben des gerade zum Augustus proklamierten Gratian umrissen: Rüste dich nun in Anbetracht der Last dringender Umstände als Kollegen deines Vaters und Onkels und bereite dich darauf vor, unerschrocken mit den Abteilungen der Fußsoldaten über das Eis der Donau und des Rheins zu gehen, in nächster Nähe deiner Krieger zu stehen und Blut und Leben entschlossen für die hinzugeben, die du führst, und nichts als nebensächlich anzusehen, was zum Bestand des römischen Reiches gehört. 149 Aurelius Victor, Die römischen Kaiser 41, 23; Eutrop 10, 9, 3. 150 Zosimos 4, 53. 151 Arbogasts starke Persönlichkeit bestätigt der Kirchenhistoriker Orosius 7, 35, 11, der ihn folgendermaßen beschreibt: (Arbogast) selbst ein Barbar, sehr stark an Denkkraft, Rat, Tapferkeit und Macht, sollte die Herrschaft ausüben. 152 Vgl. hierzu die Eloge des Claudian auf Stilicho, der den magister militum auf das Niveau des Kaisers hebt (Über das Consulat des Stilicho I, 376–385). 153 Martin (1995) 36–37; Demandt (1989) 261–262. 154 Zu den priesterlichen Funktionen der Kaiser vgl. den Tätigkeits-Katalog bei Stepper (2003). 155 So bei Elagabal und Baal von Emesa; Aurelian und Sol Invictus; Con­stantin und Christus. 156 Wie Augustus den Isiskult, Valerian das Christentum, Diocletian den Manichäismus. 157 Barceló (1996) 84–100. 158 Kolb (1987) 88–90. 159 Barceló (2008) 32–41. 160 Herrmann-Otto (2007) 48–50. 161 Die Kirche zog zunehmend juristische Kompetenzen an sich, die der Bischof im Rahmen der episcopalis audientia ausübte, wobei ausdrücklich nichtkirchliche Fälle eingeschlossen waren. Cimma (1989); Harries (2001) 62–82. 162 Brown (1986) 87–138. 163 Barceló (2004) 65–67; Martínez Maza (2009) 224– 275. 164 Groß-Albenhausen (1999) 63–78.

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Anmerkungen 165 Vgl. etwa Ambrosius’ Haltung gegenüber Gratian; Ambrosius, Briefe 4; Leppin (2008) 33–49. 166 Kyrill von Alexandria, Vom rechten Glauben 1. 167 Zur politischen und sozialen Entwicklung der westlichen Provinzen Martin (1995) 37–48; Heather (2007) 294–493. 168 Heather (2007) 405–407. 169 Im Sonderfall der Provinz Hispania ging der General Gerontius, der zur Kontrolle und Verteidigung dieses Gebietes eingesetzt worden war, sogar so weit, einen neuen Kaiser auszurufen, den Hispanier Maximus, vgl. Sozomenos, Kirchengeschichte 9, 12–13; Orosius, Die antike Weltgeschichte in christlicher Sicht 7, 42. 170 Zur Fortwirkung des christlichen Kulturerbes in der Spät­antike Brown (1996). 171 Der Historiker Aurelius Victor führt zur Regierungstätigkeit des Constantius  II. folgendes aus (Die römischen Kaiser 42, 25): „Und um in Kürze der Wahrheit zu genügen: wie es nichts Vortrefflicheres gibt als den Kaiser selbst, so nichts Abscheulicheres als die meisten seiner Gehilfen.“ 172 Ammian 14, 6, 4–5. Zur imperialen Ideologie Kolb (2001). Zum profanen und religiösen Zeitbegriff der Spät­ antike vgl. die Aufsatzsammlung in de Salvo, Martínez Maza (2006) 209–228.

VII Monotheismus als politisches Problem, S. 513–570 1

Dieser grundsätzliche Anspruch schloss allerdings nicht aus, dass Con­stantin weiterhin den Kaiserkult duldete (CIL II, 5265) oder sich als Jupiter oder Sol (RIC V 1 [1927]; V 2 [1933]; VI [1967]; VII [1966]) darstellen ließ wie auf dem Con­ stantinsbogen, L’Orange, Gerkan (1939). 2 Seine Opfer nutzten Licinius (Eusebios, Leben Con­stantins 2, 4; 11) so wenig wie Maxentius seine magischen Praktiken (Eusebios, Leben Con­ stantins 1, 26). 3 Als bedeutsam in dieser Hinsicht erweist sich die Regierungszeit der Con­stantinssöhne, die prononcierte Christen waren. Dazu Klein (1977); Pietri (1989) 113–172. 4 Fögen (1993) 215 f. 5 Lactanz, Institutionen 1, 3, 3 ff. 6 Eusebios, Demonstratio Evangelica 3, 7,30–35; 8, 3,13–15. 7 Vgl. auch Eusebios, Leben Con­stantins 4, 40, 2: Da so der Kaiser, an die Dreieinigkeit gemahnend, eine Nachkommenschaft von drei gottgeliebten Söhnen besaß und diese je in der Zeit von einem Jahrzehnt durch Aufnahme zur Mitregierung ausgezeichnet hatte. 8 Fögen (1993) 270 f. 9 So überrascht es nicht, daß ein prononcierter Heide wie Zosimos den Principat negativ beurteilte. Noch im 2. Jahrhundert hatte der Platoniker Celsus (5, 25 vgl. auch 8, 69) betont, dass sich das Imperium Romanum aufgrund seines Vielvölkercharakters dem Monotheismus des Christentums

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verschließen müsse. Dem hielt Origines entgegen, dass die monotheistische Lehre Christi dem Imperium angemessener sei als der überkommene Polytheismus (2, 30; 8, 72). Dazu Peterson (1935) 79– 85. Orosius 6, 20, 3–9; 22, 5–11. Gottlieb, Barceló (1993) 409 ff. Der Staat gerät in Gefahr, wenn er die Religion mißachtet (Con­stantin an Anullinus, Proconsul von Africa 313; Eusebios, Kirchengeschichte 10, 7, 1). In einem weiteren Schreiben an Celsus, den Vicarius von Africa 316, stellte er seine kaiserliche Verantwortung unmissverständlich klar: Dann werde ich dem Caecilian und seinen Gegnern durch ein ganz deutliches Urteil zeigen, welche und was für eine Verehrung der höchsten Gottheit zukommt und welche Art Gottesdienst ihr Freude macht. Auch werde ich durch sorgfältige Untersuchung vollständig erfahren und ans Licht bringen, was jetzt diese törichten, unwissenden Menschen verbergen zu können meinen. Die Leute aber, die diese Dinge ins Werk setzen und bewirken, daß dem höchsten Gott nicht mit der ihm gebührenden Verehrung gedient wird, werde ich vernichten und zerschmettern. (Optatus von Mileve, Wider den Donatisten Parmenian, Anhang 7). Er verhielt sich damit nicht anders als Diocletian, der dieses Programm noch einmal auf die Gesamtheit des altrömischen Götterpantheons bezogen wissen wollte. Girardet (1991). Ambrosius, Obit. Theod. 34; Theodoret, Kirchengeschichte 5,18,19 ff. Dihle (1989) 13. Angenendt (2007). Lauster (2015) 48–55. Zum Donatistenstreit vgl. Eusebios, Kirchengeschichte 10, 5, 18–20; der Brief des Statthalters Anullinus bei Eusebios, Kirchengeschichte 10, 7, 2; Brown (1963) 283–305; Girardet (1975); Dossey (2001) 98–114; Fernández Ubiña (2003); Gottlieb, Rosenberger (2003) 30–32; Escribano (2003) 40– 417; Whitby (2004) 180–184; Herrmann-Otto (2007) 80–93. Eusebios, Kirchengeschichte 10, 6, 1–4. Barceló (1991/2) 154–156. Eck (2007) 76–79. Zur Lateransynode vgl. Optatus, Gegen die Donatisten 1, 23–25. Girardet (1975) 66–79. Ob die Versammlung in der Lateranbasilika tagte, ist zweifelhaft, da diese zum damaligen Zeitpunkt noch nicht bezugsfertig gewesen sein dürfte. Lorenz (1970) 9–10; Aja Sánchez (1998) 90. Zur Synode von Arles vgl. Optatus, Gegen die Donatisten Appendix 4; Brief an den Vikar Celsius: Optatus, Gegen die Donatisten Appendix 7, 34 a; Lietzmann (1932) 721–733; Noethlichs (2006) 115–215. Frend (1952); Grasmück (1964). Rosen (2011) 28. Scheid (1989) 65–66. Lippold (1981) 1–15; Just (2003) 80–84.

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Anmerkungen 29 Bereits Con­stantin musste sich mit den Donatisten auseinandersetzen. Der Konflikt spitzte sich unter seinem Sohn Constans zu, der mit repressiven Maßnahmen gegen die Dissidenten vorging. Dazu Girardet (1975) 6–43; Barnes (1993) 176–179; Piétri (1996 c) 242–270. 30 Brown (1986) 28. 31 Teja (1999) 97–107. 32 Zum Mailänder Toleranzedikt (313) HerrmannOtto (2007) 70–80. 33 Dihle (1989) 3–5. 34 Martin (1984) 118. 35 Girardet (1980) 569–592. 36 Eusebios, Das Leben Con­stantins 3, 13. 37 Eusebios, Das Leben Con­stantins 3, 14. Die Akten des Konzils von Nicaea sind nicht erhalten; das Synodalschreiben wird wiedergegeben von Theodoret, Kirchengeschichte 1, 9; Sokrates, Kirchengeschichte 1, 9; Gelasios Kyzikenos, Kirchengeschichte 2, 33. Dazu Beck (1977) 44; Demandt (1989) 72– 74; Herrmann-Otto (2007) 118–134. 38 Girardet (1975) 28, 33–34. Von einer Autonomie kirchlicher Synoden konnte keine Rede mehr sein. Der Kaiser lud zur Versammlung ein, beteiligte sich bei der Beschlussfindung und behielt sich vor, getroffene Entscheidungen zu bestätigen. 39 Monarchianismus steht gewöhnlich für unterschiedliche Konzeptionen: Sabelianismus, Modalismus oder Adoptianismus. Gemeinsam ist ihnen die Betonung des Vorrangs des Vaters. Der Einspruch des Arius speiste sich nicht aus der jüdischen, sondern aus der neuplatonischen Tradition der Einheit. Hätte er sich durchgesetzt, wäre das Christentum hellenisiert worden. Dagegen sträubt sich die Synode von Nicaea mit dem problematischen Begriff des homoousios, der die Wesenseinheit zwischen Vater und Sohn (Logos) einschließt. 40 Paulus, Römer 8,6; 11,3 etc. 41 Lietzmann (1932) 734–747; Piétri, Markschies (1996) 271–285. 42 Barnes (1993) 14–16; Piétri, Markschies (1996) 285–294. 43 Schatz (1997) 27–29. 44 Piétri, Markschies (1996) 294–300. 45 Nach Just (2003) 84 weisen die Beschlüsse von Nicaea auf eine Dominanz des Hosius von Córdoba über Con­stantin hin. 46 Sulpicius Severus, Chronik 2, 40,1 zeigt auf, dass man das Ergebnis von Nicaea auch arianisch deuten konnte. Dazu Piétri, Markschies (1996) 302– 317; Schatz (1997) 30–36. 47 Da er sich aber weigerte, Arius zu verdammen, musste auch er ins Exil gehen. Dazu Piganiol (1972) 34–35. 48 Alberigo (1993) 47–49. Vgl. auch das differenzierte Bild des Eusebios von Nikomedia bei Just (2003) 34–38, 147–152. 49 Sokrates, Kirchengeschichte 1, 24; Sozomenos, Kirchengeschichte 2, 19, 2; Piganiol (1972) 45–47; Hahn (2004) 157–160. 50 Zur Theologie des Marcellus von Ancyra vgl. Seibt (1994).

51 Marcellus wurde auf der Synode zu Con­stantinopel (336) verurteilt, weil er die als Ketzerei verdammte Lehre des Paulus von Samosata vertreten hatte. Als Nachfolger wurde Basilios gewählt, der in der Kirchenpolitik der nächsten Jahrzehnte eine wichtige Rolle spielen sollte. Eusebios, Gegen Marcellus 2, 4, 29; Sozomenos, Kirchengeschichte 2, 33, 1–2. Dazu Klein (1977) 38–39, 41–42; Seibt (1994) 241–244. 52 Eusebios von Nikomedia und Theognis von Nicaea wurden zwei Jahre später auf einer Nachsynode zu Nicaea (November 327) kraft kaiserlichen Beschlusses restituiert, ebenso, allerdings erst 335 auf der Synode von Tyros, Arius selbst. Der Grund für diese, manchen modernen Kirchenhistorikern schleierhafte Kehrtwendung Con­ stantins (Beck [1973] 30) war primär die Bereitschaft der Verbannten, sich dem kaiserlichen Kirchenkurs zu unterwerfen. Dazu Lorenz (1979) 22–40. 53 Barnard (1974) 131–133; Barnes (1993) 20–22; Piétri, Markschies (1996) 327–329; Just (2003) 34– 41, 50–56. 54 Piganiol (1972) 64–65; Barnes (1993) 21–22. 55 Eusebios, Leben Con­stantins 4, 13. Bemerkenswert war die Durchsetzung deshalb, weil die östlichen wie auch die in geringerer Zahl erschienenen westlichen Synodalteilnehmer mit der Formel wenig anfangen konnten. Das nicaenische Symbolon erfuhr eine verzögerte Rezeption. 56 Lietzmann (1932) 10; von Campenhausen (1976 b) 14–21. 57 Zu den Pontifikalfunktionen Szemler (1976) 53– 58; Szemler (1978) 331–396; Stepper (2003) 228– 242; Ronning (2007) 125–149. 58 Girardet (1975) 41. 59 Con­ stantin, selbst an theologischen Fragen nur mäßig interessiert, sah in dem ständigen kirchlichen Disput eine Gefahr für seine Einheitspolitik. Mit Kritik an den für ihn unverständlichen theologischen Spekulationen hielt er sich nicht zurück. Dazu Theodoret, Kirchengeschichte I 10; Gottlieb (1973) 23. 60 Klausers (1948) Hypothese, dass eine entwicklungsgeschichtliche Kongruenz bestehe zwischen staatlichen Rangabstufungen und denen kirchlicher Würdenträger, die im Zeremoniell und Ornat zum Ausdruck komme und eine Teilhabe an wichtigen staatlichen Hoheitsrechten (etwa die audientia episcopalis) signalisiere, ist nicht unwidersprochen geblieben. Dazu Kraft (1957) 40; Chrysos (1969) 119–128. 61 Aja Sánchez (1998) 82–84. Hahn (2004) 281–283. 62 Siehe Kapitel VII 5. 63 von Campenhausen (1981) 156–157. 64 Wickham (1994) 276–286; Hainthaler (2004) 283– 312. 65 Adam (1992) 305–310. 66 Clauss (2010) 86. 67 Sozomenos, Kirchengeschichte 9, 3, 2. 68 Maraval (2001) 353–354. 69 So schrieb Kyrill an Nestorios, Acta Conciliorum Oecumenicorum I 1, 1: „Wir bekennen einen Christus und Herrn. Dabei beten wir nicht einen

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Menschen zusammen mit dem Logos an, damit sich nicht durch das Wort ‚mit’ der Gedanke an eine Scheidung einschleiche, sondern wir beten ihn als einen und denselben an (…) Genau so haben die heiligen Väter gedacht, weshalb sie sich auch die Freiheit nahmen, die heilige Jungfrau Gottgebärerin zu nennen, nicht als hätte die Natur des Logos oder seine Gottheit aus der Jungfrau ihren Ursprung genommen, sondern weil aus ihr der heilige mit einer Vernunftseele ausgestattete Leib geboren wurde, mit dem sich der Logos hypostatisch geeint hat, so dass man sagen konnte, er sei dem Fleische nach geboren worden.“ Darauf antwortete Nestorios (ebenda 29–32): „Überall da, wo die göttliche Schrift das Heilswerk des Herrn erwähnt, schreibt sie Geburt und Leiden nicht der Gottheit, sondern der Menschheit zu, so dass, will man sich ganz genau ausdrücken, die heilige Jungfrau ‚Christus’-, nicht Gottgebärerin heißen muss. Es ist den evangelischen Überlieferungen angemessen, zu bekennen, der Leib sei der Tempel der Gottheit des Sohnes, ein Tempel, der in einer unüberbietbaren, göttlichen Verbindung derart geeint ist, dass die Natur der Gottheit sich das zueigen macht, was dieses Tempels ist. Will aber jemand unter dem Begriff Zueignung auch die Eigentümlichkeiten des verbundenen Fleisches: Geburt, Leiden und Tod, mit einbeziehen, so zeugt dies, mein Bruder, von einer durch griechisches Denken irregeleiteten oder vom Wahnsinn des Apollinaris und Arius infizierten Sinnesart.“ Zum Konzil von Ephesos von 431 Maraval (2001) 358–362; Harreither (2002) 82–87. Über ihn soll Nestorios geäußert haben, dass der römische Bischof zu einfältig sei, um in die feinere Bedeutung der Lehrwahrheiten einzudringen. Vgl. Acta Conciliorum Oecumenicorum 1, 1, 4. Teja (1999) 123–134. Maraval (2001) 365–367; Acerbi (2001) 60–106. Zur Synode von Ephesos 449 de Vries (1975) 357– 398; Acerbi (2001) 109–148; Harreither (2002) 89– 91; Clauss (2010) 95–107. In einem Brief an Flavianos präzisierte Leo seine theologische Position folgendermaßen: „Die Eigentümlichkeiten beider Naturen blieben also gewahrt und verbanden sich zu einer Person. Um unsere Schuld zu tilgen, wurde die unverletzliche Natur vereinigt mit der leidensfähigen. Wie es zu unserer Rettung notwendig war, sollte ein und derselbe Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus, einerseits sterben, andererseits aber auch nicht sterben können. In der unversehrten und vollkommenen Natur eines wahren Menschen ist daher der wahre Gott geboren, vollkommen in dem Seinen, vollkommen in dem Unseren. Das Unsere nennen wir das, was der Schöpfer ursprünglich in uns erschaffen und was er wiederherzustellen übernommen hat.“ Acta Conciliorum Oecumenicorum II 2, 1. Acerbi (2001) 224–297. Harreither (2002) 90–92. Maraval (2001) 369; Acerbi (2001) 149–173.

79 Grundlegend zum Konzil von Chalkedon Grillmeier, Bacht (1979). 80 Adam (1992) 333–341. 81 Haacke (1953) 96–175. 82 Zum Glaubensbekenntnis des Konzils von Chalkedon Wohlmuth (1998) 86. 83 Dazu äußerte Philoxenos von Mabbug „Wir verdammen das Konzil von Chalkedon, weil es in dem einen Herrn Jesus Christus, den einziggeborenen Sohn Gottes, eine Unterbrechung vornimmt in Naturen, Attribute und Tätigkeiten, in himmlische und irdische Merkmale, göttliche und menschliche Eigenschaften. Es sieht ihn an, als sei er zwei, und führt so die Vorstellung von vier (Personen in die Dreieinigkeit) ein. Es betet einen gewöhnlichen Menschen an, und in jeder Einzelheit umschreibt es ihn als ein Geschöpf; es stimmt mit dem verderblichen Nestorius überein, der verflucht und zur Vernichtung bestimmt ist. Aus diesen und vielen anderen ähnlichen Gründen haben wir das Konzil von Chalkedon verdammt und werden es (stets) verdammen.“ Budge (1894) 35; Adam (1992) 354–356. 84 Maraval (2001) 394–404. 85 Herman (1979) 486–490. 86 Seeck (1919); Noethlichs (1971); Anton (1977) 38–84; Harries (2001) 62–82; Noethlichs (2006) 115–125. 87 Zur Religionspolitik der Con­stantinischen Dynastie Bowersock (1978) 79–93; Barnes (1989) 301 ff.; Bleicken (1992); Corcoran (1996); Lieu, Montserrat (1996). 88 Piétri (1989) 113–172; Barceló (2004) 168–177. 89 Grégoire (1930/1) 231–272; Kuhoff (2001) 246– 248. 90 Halsberghe (1984) 2193. 91 Josephus Flavius, Der jüdische Krieg 7, 123–124; CIL 6, 8, 2; RIC II (2), Vespasian 116, 117, 204. 92 Zu Commodus als Hercules und zu Elagabal als Sonnengott von Emessa Barceló (1996) 87–89. 93 Brown (1986) 58; Derselbe (1989) 245–247. 94 Deutlich kommt dies in den religionspolitischen Maßnahmen der Tetrarchen zum Ausdruck, Kolb (1988) 17–19; Derselbe (2001) 25–27. 95 Rosen (2007) 200–203. 96 Zu den Grundzügen der julianischen Restaurationspolitik Bowersock (1978) 79–93. 97 Symptomatisch dafür ist die zurückhaltende Rezeption der julianischen Religionspolitik in Antiochia. Downey (1961) 162–164; Gleason (1986) 106–119. 98 Über Julians Opferpraktiken äußerte sich Ammian 22, 12, 6; 25, 4, 20 durchaus kritisch. 99 Zur julianischen Theologie Rosen (2006) 231–236. 100 Es liegt eine köstliche persönliche Mitteilung des Libanios (Briefe 1411) vor, die ein Stimmungsbild zu der julianischen Restaurationspolitik abgibt. In einem Brief an den consularis Syriae, den Heiden Alexander, vermerkte Libanios: „Dass Du vom Eifer um die Götter erfüllt bist und viele unter ihr Gesetz bringen möchtest, das wünsche ich sehr, doch sollte es Dich nicht wundern, wenn mancher,

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Anmerkungen kaum dass er geopfert hat, sein Tun verabscheut und wiederum das Nichtopfern preist. Draußen nämlich folgen sie Deinen allerbesten Ratschlägen und treten vor die Altäre, zu Hause aber ist die Frau, und da gibt es Tränen, und die Nacht stimmt sie um und zieht sie weg von den Altären.“ 101 Dies wird durch die Tatsache erhärtet, dass der Alternativkandidat auf dem römischen Kaiserthron der von Christen und Heiden zugleich geschätzte Secundus Salutius war. Dazu von Haehling (1977) 347–358. 102 Sozomenos, Kirchengeschichte 2, 25, 2–7. Zum militianischen Schisma in der ägyptischen Kirche Piétri (1996) 286–289. 103 Zur Zusammensetzung der in Tyros versammelten Bischofsgruppierung Just (2003) 156. 104 Athanasios, Apologia secunda 42, 5; dazu Piétri (1996 d) 351–352; Brennecke (2006) 72. 105 Zu den Beziehungen zwischen Constans und Athanasios, Just (2003) 59–63. 106 Girardet (1975) 99; Just (2003) 98–102. 107 Girardet (1975) 104. 108 Datierung nach Joannou (1972) 64–65, Urkunde 16. 109 Athanasios nahm an der Synode nicht teil. Die Kompetenz des römischen Bischofsstuhls, um diesen Fall zu entscheiden, war mehr als umstritten. Dazu Caspar (1930) 144; Girardet (1975) 81, 92. 110 Zu den Beziehungen zwischen Athanasios und Constans Barnes (1993) 63–65. 111 Athanasios, Historia Arianorum 15; Lorenz (1970) 20; Piétri (1974) 104–108. 112 Barceló (2004) 80–82. 113 Schneemelcher (1977) 330; Barnes (1993) 163. 114 Athanasios, De synodis 22–26; Sokrates, Kirchengeschichte 2, 8; Sozomenos, Kirchengeschichte 3, 5. Nach Athanasios, De synodis 25, berief Constantius II. die Synode ein und nahm an ihr teil. 115 Klein (1977) 42 stellt fest, dass in dem antiochenischen Credo keine Gedanken des Arius zu finden sind, wie es Athanasios behauptete. Kernpunkt des Bekenntnisses war eine Differenzierung der Wesenheit Gottes. Dazu Piétri (1974) 109; Just (2003) 45–47. 116 Piétri (1996 d) 371–372. 117 Zum Todesdatum Brennecke (1984) 16. 118 Sokrates, Kirchengeschichte 2, 16. Er ging nach Trier, wo er von Bischof Maximin in die Kirchengemeinde aufgenommen wurde. 119 Die Datierung ist umstritten. Girardet (1975) 108; Schneemelcher (1977) 338–364; Brennecke (1984) 25–29; Klein (1977) 6–51; Barnard (1983) 215–231; Barnes (1993) 72; Piétri (1996 d) 357–365. 120 Girardet (1975) 112–113; Brennecke (1984) 33–34. Zur Ablehnung der arianischen Positionen durch Hosius und seinen Anhang Just (2003) 85–88. 121 Athanasios, Geschichte der Arianer 15; vgl. Barnard (1983) 215–220. 122 Kanon 3 bei Girardet (1975) 120–122; vgl. Joannou (1972) 83–87, Urkunde Nr.  23; vgl. auch Hess (1958) 76–136.

123 Caspar (1930) 162–163; Piétri (1974) 114–116; Girardet (1975) 128–129, 134. 124 Lucifer von Calaris, Moriendum. 125 Das Synodalschreiben der Orientalen bei Hilarius von Poitiers, De synodis 48–78; das der Westbischöfe bei Hilarius von Poitiers, De synodis 103– 126; dazu Athanasios, Apologia secunda 42–47; Theodoret, Kirchengeschichte 2, 8. 126 Theodoret, Kirchengeschichte 2, 8, 54. Demandt (1970) 566–580, 785–786. 127 Hilarius von Poitiers, De synodis 181–184. 128 Brennecke (1984) 45–46. 129 Girardet (1975) 138–139. 130 Zur politischen Lage zu Beginn der fünfziger Jahre des 4. Jahrhunderts Barceló (2004) 92–112. 131 Girardet (1974) 63–91; Lorenz (1979) 24; Barnes (1993) 115–116; Piétri (1996 d) 377–378. 132 Athanasios, Apologia secunda 9 (Erwähnung der Gesandtschaft); Athanasios, Apologia ad Constantium 11; dazu Barnes (1993) 102–104; Brennecke (2006) 75. 133 Ammian 14, 5, 1–9 ist die einzige Quelle, die uns über diese Vorgänge berichtet. 134 Sokrates, Kirchengeschichte 2, 36; Sozomenos, Kirchengeschichte 4, 9; Theodoret, Kirchengeschichte 2, 15; Rufinus, Kirchengeschichte 10, 21. Brennecke (1984) 147–195; Barnes (1993) 117–118; Piétri (1996 d) 378–379. 135 Sulpicius Severus, Chronik 2, 38, 5. Just (2003) 73–74. 136 Lucifer von Calaris, Moriendum 1–4. Tietze (1976) 34–38. 137 Athanasios, Historia Arianorum 31–33; 46; 76; Apologia de fuga 4. Lorenz (1970) 24; Brennecke (1984) 183; Piétri (1996 d) 379–382. 138 Sokrates, Kirchengeschichte 5, 6. 139 Theodoret, Kirchengeschichte 5, 17; Sozomenos, Kirchengeschichte 7, 25, 4; Paulinus von Mailand, Das Leben des Heiligen Ambrosius 24; Augustinus, Gottesstaat 5, 26; Rufinus, Kirchengeschichte 11, 18. 140 Ähnlich hatte Ambrosius auch in der Kontroverse um den Viktoriaaltar gehandelt, siehe Kapitel III 7. 141 Ambrosius, Briefe 1a, 5, 14, 20, 31. Dazu GroßAlbenhausen (1999) 101–110. 142 Just (2003) 199. 143 Ambrosius, Briefe 41, 27–28; 1 (41). Zur Wertung der Ereignisse in Kallinikum Groß-Albenhausen (1999) 99–112; Leppin (2003) 139–143. 144 Ambrosius, Briefe 74 [40]. 145 Neuerdings hat sich eine differenzierte Sichtweise der Kallinikum-Affäre durchgesetzt, die keinesfalls Ambrosius als Sieger erachtet. Groß-Albenhausen (1999) 112; Just (2003) 128–129, 199. 146 Ambrosius, Briefe 11 (51) 9; 11–12. Zum Bußakt von Mailand Groß-Albenhausen (1999) 113–119; Leppin (2003) 153–167. 147 Außer den hier zitierten christlichen Quellen erwähnte kein weiterer Autor, wie etwa Zosimos, den Vorfall; daher zweifelt Bergmeier (2010) 67–68 die Historizität des Mailänder Bußaktes an.

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Anmerkungen 148 Kolb (1980) 41–74; Ernesti (1998) 174–190; GroßAlbenhausen (1999) 113–119; Just (2003) 200–201. 149 Leppin (2008) 47–48. 150 Errington (1996) 1–27; Leppin (2003) 158. 151 Theodoret, Kirchengeschichte 5, 18, 20. Groß-Albenhausen (1999) 99; Leppin (2003) 138–143; 153–167. 152 Theodoret, Kirchengeschichte 5, 18; Sozomenos, Kirchengeschichte 7, 25; Leppin (2003) 115–117. 153 Zu der spannungsgeladenen Beziehung zwischen Theodosius und Ambrosius Just (2003) 125–130, 153–155. 154 Ambrosius, Briefe 75, 4. 155 Athanasios, Die Geschichte der Arianer 22; Sokrates, Kirchengeschichte 2, 23; Sozomenos, Kirchengeschichte 3, 20. 156 Ambrosius, Briefe 20, 8, 16. 157 Ambrosius, Briefe 17, 13. 158 Lietzmann (1932) 1060–1061. 159 Über den Stellenwert des Bischofs in der Gesellschaft der theodosianischen Ära vgl. Augustinus, Briefe 21, 1. Dazu Teja (1999) 97–107. 160 Dass ein Vertreter des höchsten Amtsadels wie Ambrosius Bischof wurde, war die Ausnahme, gleichwohl rekrutierte sich der höhere Klerus mehrheitlich aus den municipalen Bildungsschichten. Zum aristokratischen Standesbewusstsein führender Bischöfe dieser Zeit vgl. die bei Teja (1999) 82–86 gesammelten Äußerungen des Gregor von Nazianz oder Basilios von Caesarea. 161 von Campenhausen (1978) 77–108; Leppin (2000) 61–74. 162 Der Westen und hier besonders die Landbevölkerung blieben noch großenteils heidnisch. Auch traditionelle pagane Hochburgen wie Rom und Antiochia (vgl. Ammian 22, 9, 15) setzten den verschiedenen Wellen christlicher Mission lange Zeit Widerstand entgegen. Dazu Haehling (1980) 82–95. 163 Haehling (1978) 522  f. (Con­stantin  II.); 524–526 (Constans); 527–536 (Constantius II.). 164 Haehling (1978) 614. 165 Haehling (1978) 533, 614 f. 166 Haehling (1978) 615, 531–533: Drei Heiden standen drei Christen gegenüber; dazu Chastagnol (1960) 139–149, 426. 167 Haehling (1978) 615. Haehlings statistische Auswertung der Anteile von Heiden und Christen in den hohen Staatsämtern zeigt, dass sich die Anzahl von Christen und ihrer heidnischen Kollegen von Con­stantin bis zu Constantius  II. nicht nennenswert verändert hat. 168 von Haehling (1978) 73. 169 von Haehling (1978) 121. 170 PLRE 1, 723. 171 PLRE 1, 867–868. 172 PLRE 1, 348. 173 PLRE 1, 506. 174 Julian, Brief 39 (ed. Weis): Die hellenische Sache gedeiht noch nicht so, wie man es erwarten dürfte,  – durch unser, ihrer Anhänger Verschul-

den. Der Brief war an Anakios, Oberpriester von Galatien, gerichtet. 175 „Das goldene Kapitol strotzt von Schmutz, und alle Tempel Roms sind mit Ruß und Spinngeweben bedeckt…Das Heidentum ist nur noch eine vereinzelte Erscheinung. Die alten Götter, denen ganze Völker huldigten, fristen ihr Dasein nur noch auf den Dachgiebeln zusammen mit Kauz und Uhu. Die Fahnen der Soldaten zeigen das Zeichen des Kreuzes“ (Hieronymus, Brief an Laeta, Nr.  107, 1  f.). Der Brief wurde um 400 geschrieben. Vgl. Codex Theodosianus 16, 10, 21 vom 7. Dezember 416. 176 Einen Disput zur Rolle der Demut bei Origines, Gegen Celsus 6, 15. 177 So beispielsweise in: Eusebios, Leben Con­stantins 1, 1, 1; 1, 3, 1; 1, 3–7; 1, 39, 1. 178 Vgl. auch Brown (2012) 221–223. 179 Dieser Zusammenhang war keineswegs neu. Wenn sich bestimmte Kaiser in die Eleusischen Mysterien einweihen ließen, mochte dies eine gewisse Aufregung verursachen, doch ihr Recht, so zu handeln, wurde von niemandem bestritten. Hier liegt eine Parallele zu Theodosius’ Verhalten. 180 Sokrates, Kirchengeschichte 5, 10. 181 Leppin (2007) 216–218. 182 Vgl. die Briefe des Paulus an die Römer, Korinther, Galater etc., Apostelgeschichte 17, 16–34; 19, 23– 40; dazu Lippold (1965) 510–520. 183 Stroumsa (2011) 53–85, 147–149. 184 Apostelgeschichte 7, 48. 185 Chenoll Alfaro (2002) 161–182. 186 Plinius, Briefe 10, 96. Dazu Teja (1999) 17–38. 187 Minucius Felix, Octavius 8, 4: „Ihre Verbrüderung besteht in nächtlichen Zusammenkünften, bei feierlichen Festen und unmenschlichen Gelagen. An Stelle heiliger Zeremonien setzen sie unsühnbares Verbrechen.“ 188 Walsh, Gottlieb (1992) 25–27. 189 Die Christen wurden nicht nur des Atheismus bezichtigt, sondern auch des Umsturzes. Justin, Apologie 1, 6; 9; Apuleius, Metamorphosen 9, 14; Tertullian, Apologeticum 10, 1; 35–36, 1; Minucius Felix, Octavius 8, 1–2; 8, 3–5; Origenes, Gegen Celsus 1, 1–2, 3, 5. 190 Über den frühchristlichen Kultbau von Dura Europos vgl. Kraeling (1967). 191 Lohse (1980) 58–73. Nach der Meinung Cyprians von Karthago, Briefe 66, 8 war die Identifikation zwischen Bischof und Kirche vollkommen. Wer den Bischof nicht bedingungsslos anerkannte, stellte sich außerhalb der Kirche. Dazu Saxer (1996) 35–42. 192 Cyprian, Briefe 80; Acta Proconsularia S. Cypriani 1–5; Eusebios, Kirchengeschichte 7, 11, 2–11. 193 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 15, 7. 194 Codex Theodosianus 16, 2, 2. Über die Privilegierung der Kirchen und des Klerus unter Con­stantin und seinen Nachfolgern Chrysos (1969) 119–128; Cimma (1989); Schweizer (1991) 133–169; Maraval (2001) 178–185; Herrmann-Otto (2007) 164– 174.

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Anmerkungen 195 Optatus von Mileve, Gegen den Donatisten Parmenias 3, 3. Scheinbar wird hier die kaiserliche Autorität in kirchlichen Belangen in Frage gestellt. Doch sollte man nicht übersehen, dass dieses „stolze Wort“ erst verkündet wurde, nachdem die dreimalige Anklage gegen Bischof Caecilianus, darunter eine direkte Appellation an den Kaiser, abgewiesen worden war. Die Einflussnahme des Kaisers wurde keineswegs grundsätzlich bezweifelt, wie es der isolierte Satz nahelegen könnte. Man wandte sich durchaus an staatliche Stellen, wie im Falle des Caecilianus zuerst an den afrikanischen Proconsul, dann, als die Sache abschlägig beschieden wurde, an den Kaiser, der hierfür Synoden einberufen (313 Lateransynode; 314 Synode zu Arles) und schließlich selbst eine Entscheidung fällen sollte. Erst als diesem Gang durch die (staatlichen!) Instanzen kein Erfolg beschieden war, schickten sich die Donatisten an, das Kompetenzrecht des Kaisers zu bezweifeln. Dazu Frend (1952) 169–187; Grasmück (1964) 26–132; Girardet (1975) 6–43. 196 Bering (2007) 182–184; Diefenbach (2007) 38–212. Zum Kirchenbauprogramm der Con­stantinischen Dynastie Keil (1989) 90–95. 197 Sebag Montefiore (2011) 225–229. 198 Maraval (2001) 215–248. Zur christlichen Sakraltopographie Roms vgl. Diefenbach (2007). 199 Zur politischen Bedeutung des Oberpontifikats bei Con­ stantin Stepper (2003) 194–197; Ronning (2007) 125–149: Girardet (1991) 548–560. 200 Bereits im Jahr 318 wird die audientia episcopalis geschaffen, ein Gerichtshof, der innerhalb der Kirchenmauern einberufen wurde und dem Bischof beträchtliche richterliche Kompetenzen in sakralen und profanen Angelegenheiten verlieh. Dazu Codex Theodosianus 1, 27, 1. 201 Über die feierliche Einweihung des Konzils von Nicaea und die Rolle, die dabei Con­stantin zukam, siehe Eusebios , Das Leben Con­stantins 3, 10, 11. Just (2003) 23–25. 202 Eusebios, Das Leben Con­stantins 3, 64–75; 4, 60; Clauss (1996) 97; Bergmeier (2010) 208–212. 203 Just (2003) 146–147: „Tatsächlich war gerade im Gegenteil die Desillusionierung des Con­stantinus angesichts der immer noch ungelösten dogmatischen Probleme die Ursache dafür, dass er entgegen seines Vertrauens zu Ossius noch vor dem Konzil dessen Mitverantwortlichkeit für die offensichtlich doch nicht mehrheitsfähigen Beschlüsse erkannte und aus diesem Grund Ossius mit weiteren Aufgaben nicht mehr betraute.“ 204 Bergmeier (2010) 122–137. 205 Eusebios , Kirchengeschichte 10, 4, 37–45. 206 Lietzmann (1999) 946–990. 207 Zur Abhängigkeit der Liturgie vom Zeremoniell am Kaiserhof und zum Auftreten der Bischöfe in der Öffentlichkeit Teja (1999) 57–68. 208 Zur Struktur, Herkunft und Organisation des Klerus vgl. die Ergebnisse der auf Kleinasien fokussierten Studie von Hübner (2005), die aber auf andere Regionen des Reiches übertragbar sind. Vgl. auch Schweizer (1991) 27–96. Zu den Hierarchisie-

rungstendenzen des Klerus nach den Synoden von Elvira, Nicaea und Sirmium Fernández Ubiña, Sotomayor (2005) 170–176. 209 Augustinus, Gottesstaat 19, 19. Über den Lebensstil der Bischöfe der großen Metropolen, wie etwa Rom, äußert sich der zeitgenössische Historiker Ammian 27, 3, 14–15 sehr kritisch und kontrastiert ihre Sucht nach Prunk und Geltung mit dem Verhalten einfacher Provinzbischöfe. 210 Alföldy (2011) 273–319. 211 Hieronymus, Briefe 130, 14.

VIII Ikonographie der Macht, S. 571–653 1

Ghirshman (1964) 207, Abb. 255. Zum geschichtlichen Hintergrund Altheim (1962). 2 Cobet (1981) 11–66; Schulz (1981) 67–155. 3 Hadot (1972); grundlegend, wenn auch die Antike aussparend, P. Marow, H. Günther, K.-H. Ilting, R. Koselleck, D. Hilger, Geschichtliche Grundbegriffe 3 (Stuttgart 1982), s. v. Herrschaft, 1–102. 4 Zum Stand der Forschung vgl. Fittschen (1988) 1–38; Fuchs (1983) 5–16 (Einleitung). 5 Gschnitzer (1960) 34–43; Friedell (1988) 102. 6 Schachermeyr (1962) 25–68. 7 Preziosi (1983). 8 Matz (1965); Mylonas (1966). 9 Marinatos, Hirmer (1986) 171 mit Taf. 184–189. 10 Homer, Ilias 2, 203–206; 9, 96–99; 149–156; Odyssee 1, 386 ff.; 8, 390 ff. 11 Beispielsweise als dikaspoloi (rechtsprechende Schiedsrichter), Hesiod, Theogonie 87–96; 433  f.; Werke und Tage 37–39; 202–221 (Gleichnis vom Habicht und der Nachtigall); 260–264. 12 Strasburger (1953) 97–114. 13 Schweitzer (1969). 14 Einen konzisen Überblick bieten Gschnitzer (1981) 48–160; Bleicken (1985) 13–63. 15 Stroheker (1953/54) 381–412. 16 Demakopoulou (1988) 210 f. Nr. 191. 17 Aufschlussreich für diese Analogie Finley (1980) 7–42. 18 Hölscher (1973). 19 Drews (1983) 102–104. 20 Veyne (1987). 21 Nach anderen Interpretationen handelte es sich dabei um ein Kultwerkzeug (aspergillum) oder um einen zum Helm gehörigen Büschel. 22 Auflistung der verschiedenen Deutungsansätze bei Buchholz, Karageorghis Altägäis (1971) Nr. 1166. 23 In der minoischen Kunst war es durchaus möglich, die Altersstufen genau wiederzugeben, vgl. sog. „Schnittervase“ (um 1550 v.  Chr.). Dazu Marinatos, Hirmer (1986) 144 mit Taf. 103–105. 24 Marinatos, Hirmer (1986) 144, Nr. 100–102. 25 Rühfel (1984) 20 f. mit Taf. 5 ab. 26 Iakovidis (1979) 55–65 mit Abb.  33; Mylonas (1981) Abb. 17. 27 Arias, Hirmer (1960) 21 mit Taf. 4; Simon (1976) 30 f. mit Taf. 4 u. 5.

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Anmerkungen 28 Simon (1976) 34  f. mit Taf.  8 u. 9; Arias, Hirmer (1960) 23 mit Taf. 5. 29 Von ähnlich aufwändigen Leichenfeiern hören wir bei Homer, Ilias 23, 7 ff. zu Ehren des Patroklos. 30 Kiechle, Kl. Pauly I, s. v. Arkesilaos (2), Sp. 595 f. 31 Simon (1976) 59–61 mit Taf.  15; Arias, Hirmer (1960) 54 f. mit Taf. 24. 32 Plinius, Naturgeschichte 19, 40. 33 Kleine Gestalt neben König als phylakos; Figur in der Mitte in devoter Haltung als [epist]athmos (Wäge-Inspektor), der für Unregelmäßigkeiten beim Silphionhandel haftbar gemacht würde und nun um Gnade bittet. Die dargestellten Vögel (Kranich von rechts kommend) seien symbolhaft: Der Brocken in den Klauen soll Prüfstein für die richtige Wägung sein. 34 Hautumm (1987) 78. 35 Es ist kein Zufall, daß Thukydides 6, 53–59 der Richtigstellung dieser Fehlinterpretation einen auffällig langen Exkurs widmet. Die Skolien auf die Tyrannenmörder geben von der damaligen Stimmung einen anschaulichen Eindruck. Dazu Ehrenberg (1956). 36 Das Standbild ist um 510 v. Chr. begonnen worden, vgl. Plinius, Naturgeschichte 38, 17. 37 Pausanias 1, 8, 5. 38 Hölscher (1973) 85. 39 Hölscher (1973) 213. 40 Demosthenes 20, 70. 41 Langlotz (1968) 103 mit Taf. 182. 42 Plinius, Naturgeschichte 34, 74; vgl. Pausanias 1, 21, l; 28, 2. 43 Pausanias 1, 28, 1; 1 25, 1. 44 Pandermalis (1969) 28; Hölscher (1973) 382. 45 Metzler (1971) 220. Vgl. Thukydides 2, 39, 4; 62, 4–5. 46 Hölscher (1971) 22 f. 47 Trotz des Einwandes von Metzler (1971) 213 f., es habe keinen festen Typus des „Strategenkopfes“ gegeben, und Perikles sei nur aufgrund seines „Zwiebelkopfes“, d. h. aus dekorativen Gründen behelmt dargestellt worden, folge ich Pandermalis (1969). 48 Fittschen (1988), Taf. 20,1; Richter (1984) 171–175 mit Taf. 136. 49 Fittschen (1988), Taf. 19,1–2. 50 Die Relevanz des Aufstellungsortes betont Pandermalis (1969) 98 f. 51 Demosthenes 20, 70. 52 Pausanias 1, 18, 3. 53 Lykurg, Leokrat. 51. 54 Hölscher (1971) 215. 55 Pandermalis (1969) 92–94 (so im Fall von Agamemnon, Ajax, Hektor, Achilleus und Aeneas). 56 Pandermalis (1969) 95 mit Anm.  1 (Skythenkammgriff); Anm. 2 (Münzprägung des Dynasten von Side [370 v. Chr.]). 57 Richter (1984) 172 f. 58 Plutarch, Perikles 16. 59 Berve (1967) 198 f. 60 Herodot 30, 80–89 (Verfassungsdebatte). 61 Plinius, Naturgeschichte 34, 16.

62 Nestle (1941) 15  f. Darstellungen von den Sieben Weisen, Periander mit eingerechnet, findet man in der Mosaikkunst durchaus häufig. 63 Franke, Hirmer (1972) 134. 64 Franke, Hirmer (1972) 134 f. mit Taf. 184. 65 Franke, Hirmer (1972) Taf. 184, 623. 66 Herodot 1, 44. 67 Zur Münzpropaganda und Münzpolitik Alexanders I. vgl. Borza (1990) 126 ff. 68 Karageorghis (1975), Taf.  106. Allgemein zu Zypern: Karageorghis (1968); Gunnis (1947). 69 Drews (1983) 6; Andreev (1975) 379, Anm. 44. 70 Karageorghis (1975) 99 (Abb. 20). 71 Fittschen (1988) 25. 72 Über die genaue Anzahl der Steine herrscht Unklarheit. Man rechnet mit etwa 4 Millionen Tessellae. 73 Das „Alexandermosaik“ dürfte die Wiedergabe eines Gemäldes sein, das von Philoxenes aus Eretreia wohl noch zu Lebzeiten Alexanders oder unmittelbar nach seinem Tod im Auftrag des Diadochen Kassander geschaffen wurde. Zum Bildprogramm vgl. Charbonneaux, Martin, Villard (1971) Abb.  115–117; Cohen (1997). Es wurde nicht in der Casa del Fauno gefertigt, sondern wahrscheinlich im hellenistischen Osten. Beim Transport nach Pompeji zerlegte man es in mehrere Teile und setzte es an einigen Stellen falsch wieder zusammen. 74 Plutarch, Alexander 16, 32. 75 Hölscher (1973) 146. 76 So etwa Hölscher (1973) 150. 77 Diodor 17, 6, 3. 78 Hahicht (1970) 195 ff.; 235 f. 79 Hölscher (1971) 40. 80 Arrian 3, 2  ff.; Strabo 17, 1, 43; Instinsky (1949) 9 ff. (Alexanders Troja-Besuch). 81 Nach Cicero, De divinatione 1, 23, 47 erschien bei Alexanders Geburt ein Stern. 82 Vgl. auch Silberdrachmon Alexanders (Priv. besitz), Kyrieleis (1975), Taf. 1,1. 83 Hölscher (1971) 43. 84 Alexander als Apollon: Marmorstatue des Bildhauers Menas (Mitte 2. Jhs. v. Chr.), Istanbul, Archäol. Mus. Vgl. Akurgal (1987), Taf. 177. 85 Brunt (1965). 86 Vgl. Fresko aus einer Villa in Pompeji: Chiron unterweist Achilles, der die unverkennbaren Züge Alexanders trägt (Neapel, Mus. Naz.). Dazu Kraus, Matt (1977), Abb. 159. 87 Hervorzuheben ist der Löwenhelm. 88 Hölscher (1973) 122. 89 Plinius, Naturgeschichte 35, 106. 90 Akurgal (1987) 69–72 mit Taf. 134–138. 91 Ein Makedone kämpft sogar nackt gegen einen heranrückenden persischen Reiter. 92 Vgl. etwa Hölscher (1973) 191. 93 Graeve (1970) 136  f.; 146 Anm.  118; Akurgal (1987) 70; groß abgebildet, aber anders identifiziert in: Charbonneaux (1971) Abb. 248. 94 Hölscher (1973) 219. 94 Imhoof-Blumer (1845) 28 mit Taf. I 3; Head (1967) 755 ff.

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Anmerkungen 96 Vgl. auch Funck (1974). 97 Delbrück (1912), Taf.  22; Fittschen (1988), Taf. 84,3–4 u. 85,1–2. 98 Kyrieleis (1975) Taf.  2; Delbrück (1912), Taf.  23; Fittschen (1988), Taf. 86, 2–3. 99 Kyrieleis (1975), Taf. 1, 2. 100 Abwegig erscheint die Meinung von Kyrieleis (1975) 8, dass Folgendes miteinander korrespondieren soll: Diadem und weiche füllige Gesichtsform = imitatio Dionysi; athletisches Ambiente (?) = Herakles; auffahrender Blick = Helios. 101 Delbrück (1912), Taf.  30; Fuchs (1983) 138  f. mit Abb. 132; Charbonneaux (1971), Abb. 323. 102 Vgl. dagegen die Auffassung von Zanker (1987) 15 mit Taf. 1, der in der Statue einen römischen Feldherrn erblicken will. 103 Fittschen (1988), Taf. 64, 3. 104 Kyrieleis (1975) 22 mit Taf. 10,1–3. 105 Vgl. Rühfel (1984), Taf. 125. 106 Kyrieleis (1975), Taf. 1,1 (Silberdrachmon Alexanders mit der Elefantenhaut , Priv. besitz). 107 J. Opelt, RAC 4 (Stuttgart 1959), s. v. Elefant, Sp. 1001–1026, spez. 1015–1018. 108 Letztes datierbares Münzporträt 142 v.  Chr. vgl. Newell (1978) 65 f. 109 London Brit. Mus.; Rühfel (1984) 298–300 mit Taf. 124. 110 Wie nach ihm Antiochos VI. hatte er sich mit seinem Cousin Demetrios und der Großmachtpolitik Roms auseinanderzusetzen (Polybios 31, 12). Auch er ging im politischen Kampf unter. 111 Rühfel (1984) 304. 112 Kyrieleis (1975), Taf. 17,2. 113 E. Buschor, Das hellenistische Bildnis, München 2 1971, 35. 114 Akurgal (1985) 346–352; Dörner (1978); Schwert­ heim (1975) 63–68. 115 Anthologia Palatina 9, 177. 116 Akurgal (1987) 118, Taf. 192–195. 117 Clauss (1990) 15 f. 118 Picard (1964) 568 ff.; Bonnet (1983) 195 ff.; Manfredi (1999) 77 weisen darauf hin, dass die barkidische Münzprägung auf frühere Münzmotive zurückgriff, um dem Wiedererstarken Karthagos Ausdruck zu verleihen. 119 López Castro (1995) 29–32, 73–84; Roldán Hervás, Wulff Alonso (2001) 45. 120 Zanker (1987) 24–28. 121 L’Orange, Gerkam (1939) 4  ff.; Koeppel (1982) 505 f. 122 Zu den einzelnen Abbildungen vgl. Giuliano (1956). 123 L’Orange, Gerkam (1939) 83, 88 f. 124 Petersen (1890) 73  ff.; E. Angelicoussis (1984) 141 ff. 125 Oppermann (1985) 163 f. 126 Panegyricus 9, 3, 1–3. 127 Koeppel (1986) 26 ff.; Holloway (1985) 265 f. 128 Für Coarelli (1989) 165 ist die Verwendung von Bauteilen anderer Monumente ein Zeichen der großen materiellen Verlegenheit, die im spät­ antiken Rom vorherrschte; er sieht diese Praxis im

Zusammenhang mit der seit dem Mittelalter einsetzenden Demontage der klassischen Bausubstanz (162 f.). Dieser Ansicht muss widersprochen werden. Die Verwendung bereits vorhandener Bauteile geschah in der bewussten Absicht, sich Ausdrucksformen dieser Epochen anzueignen, in das eigene Selbstverständnis von Zeit, Raum und Kunst zu integrieren und sie so erneut zum Leben zu erwecken. Das Endergebnis ist nicht eine bloße Addition von Versatzstücken, sondern ein neues Kunstwerk, das Vergangenes und Gegenwärtiges vereint. 129 Zanker (1970) 499 ff. 130 Stucchi (1989) 267. 131 Die Höhe beträgt 2,98 m., die erhaltene Länge 20,52 m. Dazu Oppermann (1985) 64. 132 Ammian 16, 10, 15. 133 Coarelli (1989) 163 f. 134 Abgesehen vom ammianischen Bericht gibt es weitere literarische Erwähnungen des Trajanforums, das Apollodoros von Damaskus (Cassius Dio 69, 4, 1 = Xiphilinos 244, 1 f.) entwarf. Aufgrund dieser Berichte in Verbindung mit den erhaltenen archäologischen Überresten lässt sich eine Vorstellung über Ausmaße und Aussehen des Bauwerks gewinnen, Coarelli (1989) 112 ff. 135 Im Museum della Civiltà Romana in Rom wurde der Fries in seiner ursprünglichen Anordnung aus Abgüssen der einzelnen Reliefsstücke rekonstruiert. 136 Zanker (1970) 514 f. mit Anm. 48. 137 Zanker (1970) 514. 138 Sueton, Galba 12. 139 Speidel (1965). 140 Speidel (1965) 38, 84  ff., 88, hat aufgrund der Übereinstimmungen mit den auf der Trajanssäule dargestellten Soldaten sowie wegen des vorkommenden Vexillum-Trägers die These postuliert, dass es sich um equites singulares handelt. In diesem Sinne auch Junkelmann (1990) Abb. 187, 188. 141 Natürlich ist das Gesicht des Kaisers Trajan umgearbeitet worden, sodass wir heute auf dem Bogen eines der frühesten Porträts Con­stantins erblicken. 142 ILS, H. Dessau, III,1, Berlin, 1962, s. Index s.v. Equites singulares Augusti, 445. 143 Cassius Dio 68, 33, 3 = Xiphilinos 240, 15 ff. 144 Zu den stadtrömischen Lagern der equites singulares vgl. M. Speidel (1965) 26 f., 88. 145 Bekanntlich zog Trajan zweimal (101/2 und 105/6) gegen die Daker. Zur Chronologie der Dakerkriege Strobel (1984) 162 f. 146 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 26, 2.3. 147 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 26, 5 f. 148 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 28, 3 f.; Zonaras 12, 33. 149 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 26, 6, 9; Eutrop 10, 2, 4; Aurelius Victor 40, 2; Zosimos 2, 10. 150 Dass Maxentius die weitaus überlegene Truppenmacht besaß, berichtet Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 44, 2. Zosimos, 2, 15, 2. 151 Panegyricus 12, 11–13. 152 Panegyricus 12, 16, 1.

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Anmerkungen 153 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 44; Eusebios, Kirchengeschichte 1, 27–32. 154 Brandenburg (1979) 22. 155 In den Quellen der con­stantinischen Zeit (Eusebios, Kirchengeschichte 9, 9, Derselbe, Das Leben Con­ stantins 1, 27, 1; Rufinus 9, 9, 1) wird der Begriff Tyrann zur Bezeichnung eines gestürzten Thronprätendenten, hier Maxentius, verwendet. Selbst in zwei Gesetzen aus dem Jahre 313 findet der Begriff Eingang. Die Inschrift auf den Con­stantinsbogen benutzt wohlüberlegt ein kontrastives Vokabular und setzt Con­stantin, der als liberator urbis beziehungsweise fundator quietis glorifiziert wird, von dem als Tyrann apostrophierten Maxentius ab. 156 ILS 694. 157 Vor allem Trier, Mailand, Sirmium, Serdica, Con­ stantinopel, Nicomedia und Antiochia vermochten sich als kaiserliche Residenzen zu behaupten. 158 Lactanz, Von den Todesarten der Verfolger 17, 2–3. 159 Julian, Reden 2, 97 b f. 160 Zum Anlass des Besuches vgl. Klein (1979) 99– 103. 161 Ammians Rombild veranschaulicht eine Fülle von Eindrücken, individuellen Erfahrungen und historischen Reflexionen, die ein farbenprächtiges Mosaik ergeben. Dabei spielt die Ehrfurcht vor der historischen Bedeutung der Stadt eine durchaus ambivalente Rolle. Einerseits verdeutlicht sie die Disproportion zwischen der glanzvollen Vergangenheit und der trüben Realität, andererseits vermag gerade diese Rückbesinnung die Beschwernisse der Gegenwart abzumildern. 162 Ammian 16, 10, 1–17. Dazu Klein (1979) 98–115; Hartke (1972) 308. Bereits beim Einzug enthüllt sich Ammians Antithetik: Erst bückt sich der kleinwüchsige (Ammian 21, 16, 19) Constantius II., als ob seine Majestät nicht durch das Stadttor passen würde, dann wird er von der Majestät Roms niedergedrückt. Wie Klein plausibel gemacht hat, erfüllte der Rombesuch mehrere Ziele: 1. Demonstration außenpolitischer Erfolge (Germanen, Perser), 2. Signalisierung eines gemäßigten religionspolitischen Kurses gegenüber den Westbi-

schöfen (Rückkehr des Liberius) und den Heiden (Verzicht auf die Durchführung antiheidnischer Maßnahmen) und 3. Verdeutlichung politischer Realitäten, d. h. den römischen Senatoren und dem römischen Volk sollte auf diplomatischem Weg die de facto bestehende Gleichrangigkeit Roms und Con­stantinopels vor Augen geführt werden. 163 Ammian 16, 10, 6–10. 164 Piganiol (1972) 109. Bei dieser Gelegenheit erreichte Themistios, dass Constantius II. die im Jahr 342 verfügte Kürzung der Getreidezuweisung für Con­stantinopel aufhob; vgl. Herz (1988) 304 f. 165 Zum paulinischen Bild des unsichtbaren Gottes vgl. Briefe, 2. Korinther 4, 4; Kolosser 1, 15; Hebräer 1, 3. 166 Zum byzantinischen Bilderstreit Ostrogorsky (1964); Brubaker, Haldon (2011). 167 Die Christusdarstellungen waren prinzipiell vom alttestamentlichen Bildverbot nicht betroffen, dieses galt vielmehr dem unsichtbaren Vater. Die alttestamentlichen Theophanien bezogen sich auf Christus beziehungsweise auf den Logos. Gerade die Bildtheologie wollte eine Erklärung des Wesens des Logos bieten. 168 Schneider (1970) 455–457; Dulaey (2004) 29–51. 169 Eusebios, Kirchengeschichte 7, 18. 170 Brenk (1977) 23; Dulaey (2004) 52–69. 171 Gómez de Liaño (1998) 559–565. 172 Grillmeier (1997); Deckers (2007) 10. 173 Zu dieser Thematik Eich (2011), der ausgehend von der Untersuchung griechischer Beispiele die phänomenologischen Grundlagen des antiken Kultbildes beleuchtet. 174 Henderson (2010) 157–184. 175 Hahn (2004) 282–284. 176 Garbsch, Overbeck (1989) 124–164. 177 Jensen (2000). 178 Siehe Kapitel VII 2 und 3. 179 Stroumsa (2011) 70–72. 180 Johannesevangelium 1, 1–3. Auch Paulus wäre hier zu nennen, vgl. Lauster (2015) 60 f. 181 Zum reichhaltigen Repertoire biblischer Motive vgl. Dulaey (2004) 70–209.

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Abbildungsnachweis Karten: Peter Palm, Berlin: S. 20, 25, 40, 43, 54, 60, 66, 73, 76, 124. Akg images: S. 116, 153, 188, 190, 218, 228, 280, 294, 303, 326, 333, 349, 414, 491, 497, 553, 568, 569, 582, 584, 585, 587, 589, 594 (links u. rechts), 602, 603, 604, 607, 608, 609, 611, 612, 614, 619, 627, 629, 632, 636, 651, 652; Alamy: S. 647, 650; wbg ­Archiv: S. 87, 109, 122, 198, 229, 230, 270, 286, 492, 562, 563, 565, 575, 580, 592, 595, 598, 599, 615, 616, 617, 618, 623, 625, 626, 634, 637, 642.

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