Ungebetene Hinterlassenschaften: Zur literarischen Imagination über das familiäre Nachleben des Nationalsozialismus 9783737001236, 9783847101239, 9783847001232


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German Pages [412] Year 2013

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Ungebetene Hinterlassenschaften: Zur literarischen Imagination über das familiäre Nachleben des Nationalsozialismus
 9783737001236, 9783847101239, 9783847001232

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Palaestra Untersuchungen zur europäischen Literatur

Band 338

Begründet von Erich Schmidt und Alois Brandl Herausgegeben von Heinrich Detering, Dieter Lamping und Gerhard Lauer

Editorial Board: Irene Albers, Elisabeth Galvan, Julika Griem, Achim Hölter, Karin Hoff, Frank Kelleter, Katrin Kohl, Paul Michael Lützeler, Maria Moog-Grünewald, Per Øhrgaard

Michael Ostheimer

Ungebetene Hinterlassenschaften Zur literarischen Imagination über das familiäre Nachleben des Nationalsozialismus

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0123-9 ISBN 978-3-8470-0123-2 (E-Book) Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Nadine Rennert: »Selbdritt« Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Renaissance der Familienliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiengeschichte(n) nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generationenüberschreitende Transferprozesse . . . . . . . . . . . . Die generationelle Psychohistorie Deutschlands und die Literatur . Trauma und die Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transgenerationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transgenerationelle Traumatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . Transgenerationelle Übertragung: Opfer vs. Täter . . . . . . . . . . Postgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postgedächtnis und das Imaginäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das teleskopische Imaginäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der historische Roman und das teleskopische Imaginäre . . . . . . Die Erinnerungsliteratur und das teleskopische Imaginäre . . . . . Der Familienroman und das teleskopische Imaginäre . . . . . . . . Herkunftsphantasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drei Formen des teleskopischen Imaginären: eine deskriptive Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symbolischer Modus: Hermann Burgers Brunsleben als Beispiel für das kulturelle Imaginäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indexikalischer Modus: Bernhard Schlinks Der Vorleser als Beispiel für das psycho(-patho)logische Imaginäre . . . . . . . . . . . . . . Ikonischer Modus: Sophokles’ König Ödipus und Shakespeares Hamlet als Beispiele für das soziale Imaginäre . . . . . . . . . . . . Ansätze zu einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte des teleskopischen Imaginären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

1. Hamlet-Palimpseste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Alfred Döblin: Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende . Nachkriegsschauplatz Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabula rasa des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Edwards »Sache« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sehnsuchtsort Ostasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weltkrieg und Familienkonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Grund der Kriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiengeheimnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompatibilitätsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autobiographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modell Hamlet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Hamlet im Fadenkreuz der philosophisch-literarischen Vergangenheitsaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Walter Jens: Herr Meister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Wolfgang Hildesheimers Hamlet-Variationen (Hamlet, Tynset) 1.5 Hamlet-Paradigmen: Metafiktion, Trauma, transgenerationelle Traumatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Metafiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Transgenerationelle Traumatisierung . . . . . . . . . . . . 1.6 Hamlet und die Poetik nach dem Holocaust . . . . . . . . . . 1.7 Stephan Wackwitz: Neue Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhandlungen mit den Vätern . . . . . . . . . . . . . . Die literarisch nachgeholte Familienaufklärung der 68er Der Tod der Väter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Schweigen der Väter . . . . . . . . . . . . . . . . . Unwissen über das Tun der Väter im Dritten Reich . . . Die Väterliteratur in der Debattengeschichte der BRD . Schreibmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Narrative Zeugenschaft – W.G. Sebald: Austerlitz . . . . . Vorbemerkung: Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen Erinnerungsverhandlungen: Luftkrieg und Literatur . . . Traumatische Sprachlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . Poetik der Zeugenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Familienerinnerungsliteratur der Post-DDR . . . . . . . . . . . 4.1 Wolfgang Hilbig: Alte Abdeckerei, Ort der Gewitter und Die Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Reinhard Jirgl: Die Unvollendeten . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog . . . . . 4.4 Nachgeholte Trauerarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Neue Väterliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders . . . . . 5.2 Ulla Hahn: Unscharfe Bilder . . . . . . . . . . . . 5.3 Dagmar Leupold: Nach den Kriegen . . . . . . . . 5.4 Ute Scheub: Das falsche Leben . . . . . . . . . . . 5.5 Geteilte Erinnerung: Nachgeholte Trauerarbeit vs. Selbsthistorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das teleskopische Imaginäre im Kontext von Zeit und Erinnerung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das teleskopische Imaginäre im Spannungsfeld der deutschen Nachkriegsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die diskursive Überformung der psycho(-patho)logischen Narration – Alexandra Senfft: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . An der Grenze zwischen kulturellem und psycho(-patho)logischem Imaginären – Tilman Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater . . . Metonymische Psychohistorie – Svenja Leiber : Schipino . . . . . . . . Einhegung des gespenstischen Eigensinns . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Literarische Erinnerungsosterweiterung (Polen zum Beispiel) . . . 6.1 Transgenerationelle Liebesunfähigkeit – Judith Kuckart: Lenas Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Transgenerationeller Extremismus – Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Repräsentation des Traumas vs. Ausagieren der Generationsdeutungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärtexte und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit wurde im November 2012 von der Fakultät für Philosophie der Technischen Universität Chemnitz als Habilitationsschrift angenommen und für die Veröffentlichung geringfügig überarbeitet. Ich danke Justin Vollmann für anregende Gespräche, Nadine Riß für die kritische Lektüre und Bernadette Malinowski, Wolfgang Neuber sowie Günter Peters für die Begutachtung der Arbeit. Nicht zuletzt danke ich Nadine Rennert für die Abdruckrechte der Cover-Abbildung »Selbdritt« und den Herausgebern der Reihe »Palaestra«.

Einleitung Es gab, so schien es, ja gar keine Männer und Frauen! Es gab nur Familien. Sie wuchsen in Familien auf, sie lebten und kämpften in Familien, sie wurden geformt in Familien. Welche stumme ungeheure pressende Macht, die Familie! (Alfred Döblin: Pardon wird nicht gegeben)

Renaissance der Familienliteratur Die deutschsprachige Literatur verschaffte zu Beginn des 21. Jahrhunderts einer Institution neue Aufmerksamkeit, die in von progressiver Individualisierung, Neuen Medien und Globalisierung geprägten Zeitläuften stark im Rückzug begriffen war : der Familie1. Spätestens seit Günter Grass’ 2002 erschienenem Buch Im Krebsgang reißt der Strom an multigenerationeller Familienliteratur nicht ab.2 So verblüffend diese Renaissance ziemlich genau ein Jahrhundert nach dem Erscheinen von Thomas Manns Buddenbrooks, dem »repräsentative[n] Modell der ›Familie Deutschland‹«3 um 19004, sein mag, so vertraut erscheint mit dem Nationalsozialismus derjenige Phänomenkomplex, der die Familiendynamik in den Texten nachhaltig bestimmt.5 Die zeitgenössische Familienliteratur, die mit Blick auf ihre wirkungsmächtigste Erzählform gerne auch verallgemeinernd als zeitgenössische Spielart des Familienromans6 oder Generationenromans7 bezeichnet wird, beschäftigt sich vor allem mit den familiendynamischen Nachwirkungen der NS-Zeit, also damit, wie Familien von der NS-Geschichte ein1 Vgl. zur »Familie in der modernen Gesellschaft« Hill/Kopp (2006), 305 – 330, und zu »Restfamilien im Wohlfahrtsstaat« Koschorke (2000), 216 – 219. 2 Vgl. zur bereits im Jahr 2003 geführten Feuilleton-Diskussion resümierend Galli/Costagli (2010), 9 f. Bezeichnenderweise reüssierten bei dem seit 2005 vergebenen Deutschen Buchpreis mit Es geht uns gut von Arno Geiger (2005), Die Mittagsfrau von Julia Franck (2007), Tauben fliegen auf von Melinda Nadj Abonji (2007) und In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge (2011) gleich viermal Familienromane. 3 Erhart (2004), 163; vgl. zu der 2002 von der Bundesregierung lancierten Kampagne »Familie Deutschland« ebd., 161. 4 Vgl. Erhart (2004), 163: »So wurde es jedenfalls in der Öffentlichkeit und in der Germanistik überliefert: als die deutsche Familiengeschichte des 19. Jahrhunderts. Bereits 1929 [als Thomas Mann nicht zuletzt für die explizit in der Begründung erwähnten Buddenbrooks den Nobelpreis erhielt; M. O.] war der Roman in mehr als einer Million Exemplaren verbreitet, heute ist er in 31 Sprachen übersetzt.« – Heinrich Breloer schuf dann mit Die Manns – Ein Jahrhundertroman (2001) als filmisches Äquivalent zu Die Buddenbrooks einen televisionären Familienroman für das 20. Jahrhundert (vgl. Bleicher [2005]). 5 Vgl. z. B. – bereits sehr früh zu diesem Aspekt – Welzer (2004a). 6 Vgl. etwa Assmann (2006b), 24 – 28; Assmann (2007), 72 – 76. 7 Vgl. etwa Eigler (2005), 29 – 37.

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Einleitung

geholt und die Folgen von Holocaust, Krieg und Vertreibung inter- bzw. transgenerationell übermittelt8 und aufgearbeitet werden. »In markantem Gegensatz zum Bildungsroman erzählt der Erinnerungsroman keine Geschichte des Werdens und der Identitäts(trans)formation, sondern eine der Traumatisierung und anhaltenden Nachwirkungen.«9 Kaum überraschte, dass der Widerhall des nationalsozialistischen Epochenbruchs, der – in Gestalt der großen Themen Schuld, Trauer und Vergangenheitsbewältigung – eine wechselhafte, gleichwohl unverzichtbare Rolle im familiengeschichtlichen Selbstverständnis nach 1945 spielte, nach der deutschen Wiedervereinigung eine erneute – auch literarische – Konjunktur erfuhr. Hatte die deutsche Teilung in den beiden Staaten doch auch unterschiedliche Erinnerungskulturen samt den damit einhergehenden Fixierungen und Bewertungen hervorgebracht10, die es nun mit Blick auf die Homogenisierung der Geschichtspolitik neu auszuhandeln galt. Die Epochenzäsur, die die Aufhebung des zweigeteilten Deutschlands markiert, besiegelte für viele zugleich das Ende der Nachkriegszeit.11 Nur konsequent erschien es mithin, vor dem Horizont eines im wiedervereinigten Deutschland veränderten Erinnerungsdiskurses12 auch das Ende der Nachkriegsliteratur auszurufen. Denn, so Meike Herrmann resümierend, das »Stadium der Zweistaatlichkeit lag jetzt als ›Puffer‹ zwischen Gegenwart und NS-Vergangenheit, der Nationalsozialismus war nicht mehr unmittelbar zugänglich, eine veränderte Sicht auf die nun geschichtliche Vergangenheit vor 1945 war zu erwarten. Mit der Nachkriegszeit endete auch die Nachkriegsliteratur.«13 Neben der Epochenzäsur von 1989/1990 dürfte für den ab dem Ende des 20. Jahrhunderts zu verzeichnenden Boom von Familienliteratur zu einem nicht geringen Teil die biologisch unvermeidbare, von Salomon Korn als »Gezeitenwechsel«14 bezeichnete Tatsache verantwortlich sein, dass sich mit dem Aussterben der Zeitzeugen des Nationalsozialismus ein Erfahrungsgedächtnis auflöst, das über 50 Jahre lang für die Erinnerungskultur Deutschlands bestimmend war. Einen prägnanten literarischen Ausdruck findet diese Epochenschwelle, an der das Gedächtnis an die NS-Zeit von der Zeitzeugengeneration 8 Im Unterschied zu dem Begriff »intergenerationell«, der die wechselseitige Interaktion zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Generationen betont, akzentuiert »transgenerationell« den vergleichsweise passiven Rezipientenstatus der nachkommenden Generationen. Vgl. dazu Rosenthal (1999a), 11. 9 Assmann (2011), 225. 10 Vgl. exemplarisch Herf (1998). 11 Vgl. zur Debatte über das Ende der Nachkriegszeit Naumann (2001). 12 Vgl. dazu z. B. Jureit/Schneider (2010) und grundsätzlich zum Verhältnis von Politik und Gedächtnis König (2008). 13 Herrmann, M. (2010), 15 (siehe bes. die dort in der Anm. 16 zitierte Literatur). 14 Korn (2006).

Renaissance der Familienliteratur

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endgültig an deren Nachkommen übergeht, in Hanns-Josef Ortheils Romantitel Abschied von den Kriegsteilnehmern15. Nach diesem ›Abschied von der Zeitgenossenschaft‹ obliegt es den nachkommenden Generationen, neue Formen des Erinnerns zu entwickeln.16 Neben der Geschichtsschreibung und deren unterschiedlichen Erinnerungsformen kommt hierbei zumal den Schriftstellern, wie Jorge Semprun im Gespräch über Jonathan Littells kontrovers diskutierten Holocaust-Roman Die Wohlgesinnten erläutert, eine entscheidende Rolle zu: Die Erinnerung an den Genozid wie an die R¦sistance stirbt, wenn sich nicht junge, nachgeborene Schriftsteller dieser Stoffe annehmen. Bald wird es keine überlebenden Zeitzeugen mehr geben. Natürlich haben wir die Zeugnisse der Opfer und die Dokumente in den Archiven. Die Historiker werden weiter über den Zweiten Weltkrieg schreiben. Aber nur die Dichter können das Erinnern erneuern.17

Semprun hat, wenn er innovative Erinnerungsliteratur auf der Basis des kulturellen Gedächtnisses fordert, sicher für die Zukunft recht. Momentan aber, und das kennzeichnet den Anfang des 21. Jahrhunderts als erinnerungsgeschichtliche Übergangszeit, knüpfen viele Autoren an die autobiographischen Familienerfahrungen an, machen das zum Ausgangspunkt, was Aleida Assmann das »soziale Gedächtnis«18 nennt. »Im Angesicht des Todes dieser letzten Zeitzeugen besteht gegenwärtig die letzte Chance, deren erlebte Erfahrung greifbar zu machen.«19 Als das Ende authentischer Zeitzeugenschaft naht, begehrt die zweite und dritte Generation dagegen auf, dass der Holocaust, wie von sozialpsychologischer Seite pointiert wurde, bislang »keinen systematischen Platz im deutschen Familiengedächtnis«20 fand. Kurz: Das Aussterben der Zeitzeugen und der nach dem Mauerfall einsetzende Erinnerungsboom sind zwei Seiten eines sich wechselseitig verstärkenden Gesellschaftswandels, der die Historisierung der NS-Zeit21 im Rahmen einer ebenfalls historisierend-resümierenden Betrachtungsweise der DDR und der alten Bundesrepublik befördert. Aleida Assmann zufolge »musste sich erst ein sozialer Erinnerungsrahmen bilden, in dem die vielen Geschichten Platz finden können, die nun auf Mitteilung drängen; solange die normativen Leitworte Ehre und Vaterland, beziehungsweise Schuld und Nation hießen, gab es für diese

15 Vgl. zu Ortheils Buch als dem literarischen Signum für das Ende der Nachkriegszeit Beßlich/ Grätz/Hildebrand (2006), 8, sowie Schmitz (2004), 27 – 54 und Preußer (2001). 16 Vgl. Horstkotte (2003), 275 f. 17 Semprun (2008). 18 Vgl. zur Unterscheidung von kulturellem und sozialem Gedächtnis Assmann (2006a), 31 – 36. 19 Horstkotte (2006). 20 Welzer/Moller/Tschuggnall (2002), 210. 21 Vgl. zur Frage der Historisierung des Nationalsozialismus Frei (2007).

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Einleitung

Geschichten keine Aufmerksamkeit.«22 Der durch seine Interviews mit Kindern von Nazi-Tätern hervorgetretene israelische Psychologe Dan Bar-on konkretisiert: »Seit 1987 hatte sich die Atmosphäre in Deutschland geändert. Die Verdrängung der Vergangenheit während der Nachkriegszeit hatte sich gelockert: Etliche Zeitungsartikel, einige Leserbriefe, vier Bücher und eine Fernsehsendung sprachen offen über die Kinder der Täter.«23 Der durch die beispiellosen Untaten des Holocausts gestiftete Imperativ des Erinnerns24 – in der BRD vorbereitet durch die seit den 1980er Jahren öffentlichkeitswirksam lancierte These, ohne Erinnerung an die Unmenschlichkeiten der NS-Zeit drohe eine Wiederholungsgefahr25, nach 1989 verstärkt durch die mit dem Ende der DDR einhergehende Stilllegung einer geschichtspolitischen Zukunftsorientierung26 – wird nunmehr ausgeweitet auf den familiären Binnenraum.27 In Anlehnung an einen Slogan der Frauenbewegung könnte man sagen: Das Private der Familie ist erinnerungspolitisch geworden – vorzugsweise auf dem Terrain der literarischen Vergangenheitsrepräsentation.

Familiengeschichte(n) nach 1945 Die Entwicklung, dass das Gebot des Erinnerns seit den 1990er Jahren verstärkt auch in das psychosoziale System der Familie eindringt, basiert, familiensoziologisch betrachtet, grundsätzlich auf der hohen sozialisatorischen Kapazität der Familie, auf der »historische[n] Geschichtetheit von Familienbeziehungen«, die »die übergenerationelle Wirkung von Sinnstrukturen der Intimität auf die Subjektwerdung der Person« bedingt28. Die Familie, deren Wertschätzung unabhängig von dem oft bemühten kulturkritischen Topos von der Wertkrise bzw. dem Niedergang der Familie ungebrochen ist29, fungiert in diesem Zusam22 23 24 25 26

Assmann (2006b), 36. Bar-on (1993), 27. Vgl. Meier (2010), bes. 49 – 80 und 90 – 97. Vgl. etwa Jureit/Schneider (2010), 19 – 37. Vgl. zum Ende des Zeitalters politischer Utopien Fest (1991), zum Utopieverlust ostdeutscher Autoren Welzel (1998). Nach dem Ende des Sozialismus scheint nachgerade demjenigen die Zukunft offenzustehen, der über die Vergangenheit gebietet. 27 Vgl. Reulecke (2005), 79: »Im Grunde handelt es sich also bei fast all diesen seit den neunziger Jahren sprunghaft zunehmenden biographischen Deutungsversuchen um das Bestreben von heute 60- bis 70-Jährigen, mit dem ihnen von ihrer Elterngeneration aufgeladenen, ihnen ›zugemuteten‹ und jetzt erst in seinem vollen Gewicht spürbaren Erbe umzugehen.« 28 Allert (1998), 3. 29 »Insgesamt«, so Lange/Lettke (2007), 14, »dominiert seit dem Zweiten Weltkrieg ein Diskurs, in dem Familie zunehmend als problematisch angesehen, ihr Verfall prognostiziert und beklagt wird.« Vgl. dagegen Hill/Kopp (2006), 323: »Auch wenn andere Lebensformen an

Familiengeschichte(n) nach 1945

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menhang als Scharnier zwischen individueller und nationaler Geschichte, als soziale Gemeinschaft, die zwischen persönlicher Erinnerung und offiziellem Erinnerungsdiskurs vermittelt. Freilich unterliegen auch die Ausprägungen der Familie im nationalgesellschaftlichen Wertehorizont einem historischen Wandel.30 Möchte man die familiären Handlungsformen und Deutungsmuster im Nachkriegsdeutschland rekonstruieren, überrascht es also kaum, wenn der Einfluss, den die Folgen der NS-Zeit auf den intimen Binnenraum der Familie ausüben, ein schwer zu überschätzendes Maß ausmacht. Im Gegensatz zu dem – in der Geschichtswissenschaft bis heute – einflussreichen Soziologen Helmut Schelsky, der zu Anfang der 1950er Jahre in der Familie eine wichtige soziale Einheit erkannte, deren Stabilität durch das gemeinsame Überleben noch verstärkt worden sei31, betont Vera Neumann die »Privatisierung der Kriegsfolgen in der frühen Bundesrepublik«: die enorme, in den Familien geleistete Arbeit der »Bewältigung der Auswirkungen von Nationalsozialismus und Kriegsgeschehen«32. Daran anschließend untersucht Svenja Goltermann in Die Gesellschaft der Überlebenden, wie die deutschen Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg in die Familien Einzug hielten: »Die Familie war die Arena, in der die nationalsozialistische Vergangenheit und das Grauen des Krieges – das Töten und Morden, die Erfahrung der eigenen Todesbedrohung, die Erfahrung des Verlustes und des

Akzeptanz gewonnen haben, ist die Familie – und dies so gut wie unabhängig vom Alter, Geschlecht oder anderen soziodemografischen Merkmalen – immer noch mit Abstand das Lebensmodell mit der höchsten sozialen Erwünschtheit und eine der wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen.« Empirisch wird diese Einschätzung auch von der 16. Shell Jugendstudie zur Familie belegt: »Die Bedeutung der Familie für Jugendliche ist ein weiteres Mal angestiegen. Mehr als drei Viertel der Jugendlichen (76 Prozent) stellen für sich fest, dass man eine Familie braucht, um wirklich glücklich leben zu können. Das bezieht sich nicht nur auf die Gründung einer eigenen Familie, sondern auch auf die Herkunftsfamilie. […] Mehr als 90 Prozent der Jugendlichen haben ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern.« (http://wwwstatic.shell.com/static/deu/downloads/aboutshell/our_commitment/shell_youth_study/ 2010/youth_study_2010_flyer.pdf) (letzter Zugriff: 20. 4. 2011). 30 Vgl. zur Geschichte der Familie (mit Blick auf literarische Familiengeschichten) Erhart (2001), 25 – 31. Für das 20. Jahrhundert konstatiert Erhart (2004), 179: »Statt männlicher Zerfallslinien triumphiert im 20. Jahrhundert – beginnend mit der Psychoanalyse, mit begleitenden glücklichen und unglücklichen Bildern – der emotionale, intime Innenraum der Familie.« Die letzten beiden Jahrhundertwenden markiert er als Drehscheiben in der Geschichte der Familie: »Um 1900 und um 2000 werden […] epochale Familien- und Verwandtschaftsbilder transformiert und verabschiedet: zur Zeit der Buddenbrooks das gleichsam alteuropäische System der männlichen Verwandtschaft, heute das romantischbürgerliche Ideal der nach innen harmonisierten und zeitresistenten Kernfamilie.« (Erhart [2004], 181). 31 Vgl. Goltermann (2009), 128; vgl. auch Lange/Lettke (2007), 15: »In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde der Familie eine sehr große Relevanz zugeschrieben.« 32 Neumann (1999), 167; vgl. hierzu auch die Fallgeschichten in Meyer/Schulze (1985).

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Einleitung

Schmerzes – bewältigt wurden.«33 Im Rückgriff auf die Krankenakten psychiatrisch behandelter Veteranen vermag Goltermann erhebliche Zweifel an der Sichtweise anzumelden, die die deutsche Nachkriegsfamilie als Hort von Geborgenheit und Wärme, von Verständnis und Unterstützung konzeptualisiert. Das umstandslose Vertrauen auf die Heilkraft der Familie, das sich bis heute in der Literatur findet, verdankt sich möglicherweise derselben Projektion, die damals die Familie als letzte Zufluchtsstätte erscheinen ließ, schließlich aber oft von der Erosion des Familienglücks enttäuscht wurde. Das zeigt sich etwa dort, wo die emotionale Entfremdung in den persönlichen Beziehungen, sei es zwischen den Geschlechtern oder zwischen den Generationen, nicht aufgefangen werden konnte, wo die Kriegsheimkehrer ihren ehemaligen sozialen Status eingebüßt hatten und ihnen der berufliche Halt für die familiäre Rolle fehlte oder wo die körperlichen Schädigungen infolge des Kriegs oder der Gefangenschaft zu einer persönlichen und familiären Belastung geworden waren.34

Von entscheidender Bedeutung in diesem Zusammenhang ist Goltermanns methodischer Hinweis, dass die »greifbaren Formen der Erinnerung« nicht unbedingt »eine Folge eines bestimmten Kriegserlebnisses« sein müssen und dass es auch keine »zwangsläufige Reaktion auf eine durchgemachte Erschütterung« gebe: »Die Vergegenwärtigung vergangenen Schreckens, ob imaginiert oder selbst erlebt, ist das historische Problem, und nur dieses ist der historischen Analyse zugänglich.«35 Die von Goltermann für die Sozialgeschichtsschreibung reklamierte Aussichtslosigkeit, zwischen authentischem Erleben und Imagination trennscharf zu unterscheiden, gilt in noch stärkerem Maße für die literarische Repräsentation von geschichtlichen Schreckenserfahrungen und deren Nachwirkungen im familiären Bereich. Die Kriegserfahrung, so formuliert es etwa der Roman Nach den Kriegen von Dagmar Leupold, überschattet alle familiären Generationenbeziehungen: »Der Krieg ging mitten durch die Familie; ihn nicht erlebt zu haben, war eine unverdiente Vergünstigung, die man nur schweigend, verschwindend und schuldbewußt in Anspruch nehmen durfte.«36 Die Einteilung der Familienmitglieder in Kriegsteilnehmer und verschont Gebliebene unterwirft das Familienleben einer dauerhaften Zerreißprobe. Wirft doch die Eingebundenheit von Familienmitgliedern in die NS-Geschichte im Hinblick auf die Nachkommen zumal zwei Fragen auf: Wie kann die Familie angesichts dieser historischen, die Familienmitglieder in zwei Lager spaltenden Trennlinie ihrer 33 Goltermann (2009), 130; vgl. zu den widersprüchlichen Ergebnissen in der historischen und soziologischen Literatur über die deutsche Nachkriegsfamilie Plato/Leh (1997), 45 – 52 (Die erträumte Familie und ihre Wirklichkeit). 34 Goltermann (2009), 131. 35 Goltermann (2009), 161. 36 Leupold (2004), 45.

Familiengeschichte(n) nach 1945

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Funktion als primäre Erziehungs- und Sozialisationsinstanz gerecht werden? Wie gestaltet sich bei dieser dichotomischen Ausgangskonstellation – vorausgesetzt, Familien entwickeln im Miteinander und durch Erzählungen ein besonderes Familiengedächtnis, das neben das individuelle und das kulturelle Gedächtnis tritt37 – eine spezifische Familienidentität als Teil der persönlichen Identität der Nachkommen? Vor allem in diesem Kontext kommt entscheidend zum Tragen, dass die Familie eben keine biologische Tatsache oder eine gesellschaftlich festgelegte Institution ist, »sondern eine kulturelle Erfindung, die sich erst nachträglich als naturgegeben oder als gesellschaftlich notwendig ausgibt, in ihrer Konstruiertheit jedoch nicht weniger, sondern eher größere Realität gewinnt«38. Bezieht man sich in historischer Perspektive auf die Bedeutung von z. B. Erzählungen, Gegenständen und Ritualen als konstitutiven Elementen von Familiengedächtnissen, so ist zu unterscheiden zwischen der Perspektive der individuellen Subjektwerdung39 und der Perspektive der Konstitution einer besonderen imaginären Familiengestalt40. Das wieder erwachte gesellschaftliche, historische und literarische Interesse an Familie und Generation als Querschnittsthemen tut also, anstatt mit einem schablonenhaft vorgefertigten Begriff von Familie zu operieren, gut daran, die kulturell bedingten Vorstellungen von Familie und familiären Generationsbeziehungen als je unterschiedliche historische Größen zu rekonstruieren.41 Gerade die Literaturwissenschaft, so Walter Erhart in seiner Studie Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, scheint »dazu prädestiniert, einen Gegenstandsbereich zu beschreiben, in dem imaginäre und soziale Phänomene in seltener Offensichtlichkeit ineinander übergehen und nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind«42. Kurz: An der Modellierung der Familie haben auch die unterschiedlichen medialen Inszenierungen, nicht zuletzt die der Literatur Anteil. So verweist auch die aktuelle Konjunktur der Familienliteratur, in der sich die historisch-gegenwärtigen Bedürfnisse, Ängste und Normvorstellungen in Bezug auf die Familie manifestieren, nicht notwendigerweise auf eine veränderte Sozialstruktur der Familie, sicher aber auf Verschiebungen oder eine Neuausrichtung im gesellschaftlichen Symbolhaushalt. Vgl. zum Konzept des Familiengedächtnisses Groppe (2007). Erhart (2001), 9. Vgl. Groppe (2007), 419 f. Vgl. Groppe (2007), 412. Vgl. Erhart (2001), 29: »Die familialen Vexierbilder sowie die ihnen entstammenden rhetorischen Muster scheinen bereits Teil einer gesellschaftlichen Phantasie zu sein, deren Funktion weniger in einer Sozialgeschichte der Familie als in einer Kulturgeschichte des Imaginären zu suchen ist.« 42 Erhart (2001), 30.

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Generationenüberschreitende Transferprozesse Wie nun wirken sich Verstrickungen in die nationalsozialistische Herrschaft auf das Familiengedächtnis aus? Und wie lassen sich diese Zusammenhänge konzeptualisieren? Besteht doch »das Familiengedächtnis in der Kontinuität seiner Vergegenwärtigung«, was zur Folge hat, dass die nationalsozialistische Vergangenheit »einem permanenten Prozess der erinnernden Verlebendigung« untersteht.43 Ein profiliertes analytisches Potential für die Übersetzung der Kriegsnachwirkungen in den Bereich des familiären Vorstellungsvermögens beansprucht das Konzept der generationenüberschreitenden Transferbeziehungen.44 Während sich die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern von jeher in mehrererlei Hinsicht als »ein Transferprozess zwischen der jüngeren und der älteren Familiengeneration thematisieren« lassen45, wird in jüngster Zeit vor allem der politisch-kulturelle Transfer in der Familie wissenschaftlich diskutiert.46 Namentlich fragt man »nach der Tradierung von Erfahrungen des Holocaust und der NS-Zeit über drei Familiengenerationen hinweg […], insbesondere nach der ›transgenerationellen Tradierung‹ von Traumata«47. Können doch gerade durch das Verschweigen oder Nichtaufarbeiten von Familienereignissen zwischen 1933 und 1945 Familienstrategien unterbrochen werden bzw. die jüngeren Generationen in die Situation versetzt werden, sich intensiv mit der Vergangenheit der eigenen Familie auseinanderzusetzen, sich von ihr zu distanzieren oder sie schließlich in einem deutlich reflektierteren Modus anzunehmen48.

In seiner 1930 veröffentlichten Projektskizze einer generationengeschichtlichen Literaturgeschichte unterscheidet Julius Petersen

43 Welzer/Moller/Tschuggnall (2002), 210. 44 Vgl. hierzu grundsätzlich Stecher/Zinnecker (2007). 45 Stecher/Zinnecker (2007), 389; vgl. auch Bertaux/Thompson (1993), 1: »Transmission between generations is as old as humanity itself. It arises from the fundamental human condition. Our lives are a fusion of nature and culture; but nature and culture are in contradiction. […] the family remains the main channel for the transmission of language, local social standing, and religion; and beyond that also of social values and aspirations, fears, world views, domestic skills, taken-for-granted ways of behaving, attitudes to the body, models of parenting and marriage«. 46 Vgl. etwa die einflussreiche Studie von Welzer/Moller/Tschuggnall (2002), die auf der Grundlage von multigenerationellen Familieninterviews über die NS-Vergangenheit zu dem Schluss kommen, dass in Deutschland Geschichtswissen und aus der familiären Erinnerungsgemeinschaft resultierende Gewissheiten erheblich divergieren. 47 Stecher/Zinnecker (2007), 401. 48 Groppe (2007), 421.

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zwischen den kulturbildenden und katastrophalen Generationserlebnissen. Die einen wirken auf lange Sicht; sie gehören zu den Bildungselementen, die in mählicher Entwicklung den in andere Verhältnisse geistiger Atmosphäre oder technischer Mittel versetzten Menschen umwandeln; die anderen stellen Gewitter dar, die in Wetterleuchten und Blitzstrahl die verschiedenartige Stellung der Zeitgenossen zueinander erhellen.49

Letztere freilich »haben eine unendlich viel größere Wellenlänge und einen alle Gesellschaftsschichten durchmessenden Tiefgang und sind daher imstande, weit über alle Grenzen der Stände und der Länder Generationsgemeinschaft entstehen zu lassen.«50 Was Petersen hier vor dem Hintergrund eines vehement nachhallenden Ersten Weltkriegs formuliert, gilt in noch weit beträchtlicherem Maße für die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Auch sechzig Jahre später ist die Verbindung noch so eng, »dass wir von diesem Ursprungsereignis aus die Generationen zählen«51. Angesichts einer entwerteten Vergangenheit lautet dementsprechend die entscheidende Frage: Wie viele Generationen beeinträchtigt die Unentrinnbarkeit familiärer Prägungen in der Nachkriegszeit? In der Regel wurde die Frage mit Blick auf die Opfer gestellt: Wie kann ein Erinnerungsvermögen, das sich der NS-Vergangenheit stellt, über die Generationengrenzen hinaus entstehen bzw. bewahrt werden?52 Mithin ging es meistens um die unterschiedlichen Formen einer Selbstthematisierung der Opfer und deren Nachkommen53, wodurch aus dem Blick geriet, dass sich mit der Zeit zwischen Opferund Tätergedächtnis erhebliche Ungleichgewichte etablierten. Je mehr in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust – besonders seit den 1980er Jahren – die Figur des passiven Opfers ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit rückte und sich eine ethische Wende vom heroischen zum traumatischen Opfergedächtnis vollzog54, desto größer wurde das Interesse an Erinnerungszeugnissen der überlebenden Opfer. Auf der Seite der Täter freilich, deren Haltung in der Regel von einer Schuldabwehr durch Verdrängen und Verschweigen gekennzeichnet war, gab es keinen entsprechenden Erinne49 Petersen (1930), 171 f. 50 Petersen (1930), 186. 51 Assmann (2006b), 29. Vgl. zur Problematik dieses Generationenverständnisses, das Überlebende des Nazi-Regimes unabhängig von ihrem damaligen eigenen Alter zu einer Opferbzw. Tätergeneration zusammenfasst und damit eine soziale Gruppierung, deren Identität sich über die Teilnahme an einem herausgehobenen historischen Ereigniszusammenhang bestimmt, zur Gründungsinstanz einer Abstammungslinie macht, den Abschnitt »Der Holocaust und seine Generationen« in: Parnes/Vedder/Willer (2008), 305 – 313. 52 Vgl. mit Blick auf die literarische Repräsentation etwa Schnell (2000). 53 Vgl. grundsätzlich zu diesen vielfältigen Formen in der Holocaustliteratur Dresden (1997), speziell im jüdischen Familienroman nach dem Holocaust Gogos (2005). 54 Vgl. Assmann (2006a), 74 – 81.

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rungsschub. Als Folge davon ergab sich eine signifikante »Gedächtnisasymmetrie«55, die abzubauen sich erst die zweite und dritte Generation bemüht. Die gegenwärtig besonders auf Täterseite zu bemerkende Erinnerungskonjunktur hat ihren Grund darin, dass mit dem Nationalsozialismus verbundene traumatische Geschichtserfahrungen langfristige Spätfolgen zeitigen und mindestens bis in die Enkelgeneration hinein wirken. So gibt es zu dem transgenerationellen Opfertrauma eine gewisse Entsprechung auf der Täterseite: »So problematisch der Begriff des Tätertraumas ist, so unabweisbar ist die Rede von einem ›Trauma der Schuld‹, das auf die nachfolgende(n) Generation(en) übergegangen ist und zu unterschiedlichen Reaktionen der Annahme oder der Verweigerung führen kann.«56 Aus generationengeschichtlicher Perspektive speist sich der Diskurs der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung nach 1945 aus zwei Aspekten: Während für die Generationeneinteilung und die politische Macht bzw. die moralische Definitionsmacht der Bezug zur nationalsozialistischen Vergangenheit (und damit zur Schuldfrage) zentral ist57, hängt der Erfahrungstransfer zwischen den Generationen davon ab, ob – in welcher Form auch immer – Sinn zwischen verschiedenen Epochen überliefert oder desintegriert wird. Demzufolge könnte man »die These aufstellen, eine Epoche sei dann zu Ende gegangen, wenn wir ihren Erfahrungs-, Sprach- und Sinnhorizont nicht mehr verstehen«58. Vor dem Hintergrund der NS-Zeit, die in die Position eines Ursprungsereignisses rückt, und einer transgenerationellen Erfahrungsdynamik, die die Verantwortung der Nachgeborenen »als eine Art ›Fortzeugung‹ von verschwiegener oder abgewehrter Schuld«59 wahrnimmt, wird auch die zeitgenössische Historiographie auf ein Modell der Periodisierung verwiesen, das auf das Zählen von Generationen zurückgreift.60 »Spätestens dann«, resümiert der Historiker Jörn Rüsen den multigenerationellen Geschichtszusammenhang,

55 Assmann (2006a), 103. 56 Assmann (2006a), 98. 57 Vgl. Weigel (2006), 97: »Das Selbstverständnis, Vertreter oder Angehöriger einer bestimmten Generation zu sein, ersetzt und überlagert nämlich durchweg das Paradigma von Opfern und (Mit-)Tätern.« 58 Rauschenbach (1998), 242. 59 Weigel (2006), 102. 60 Vgl. Weigel (2006), 108: »In diesem Zusammenhang dient das Generationenmodell der Periodisierung und funktioniert insofern im kollektiven Gedächtnis als eine Art mythischnarrative Form der Zeitrechnung jenseits von Kalender und Historiographie.«

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wenn die innere mentale Verflechtung sich über drei Generationen erstreckt, ist eine Historisierung unvermeidlich. Dann nämlich müssen die Betroffenen am Ende der Generationenkette dadurch zu sich selber finden, daß sie sich bewußt und angestrengt mit den mentalen Erblasten auseinandersetzen, die ihnen im Aufbau ihres eigenen Selbst zugewachsen sind.61

Mit Bezug auf den Nationalsozialismus markiert diese Schwelle das Sterben der NS-Funktionsgeneration, den Eintritt der Kriegskindergeneration in das Rentenalter und die Übernahme von gesellschaftlich relevanten Positionen durch die dritte Generation. Das Generationenmodell als zeitliche Ordnung der Nachkriegsgeschichte strukturiert freilich nicht allein historiographische Studien zu den unterschiedlichen Formen der Erinnerungsarbeit, sondern stellt auch ein wichtiges Strukturelement fiktionaler Texte dar, die sich in den letzten Jahren zunehmend mit diesem Themenkreis befasst haben. Zugleich heben literarische Texte die Figur des Transgenerationellen auf die Ebene kulturhistorischer Prozesse und machen sie damit einer kulturwissenschaftlichen Analyse zugänglich.62

Dies geschieht zumal dadurch, dass eminent belastende Ereignisse, wie sie in Kriegszeiten zuhauf vorkommen, bei den Nachkommen zu Objekten werden, die erhebliche imaginative, nicht zuletzt literarische Energiepotentiale freizusetzen in der Lage sind. So sehr es einen Allgemeinplatz darstellt, dass das Medium der Literatur auch mit zur Ausbildung eines kulturellen Gedächtnisses beiträgt, so wenig lässt sich diese Funktion der Literatur generalisieren. Wie das nämlich geschieht, lässt sich allein individuell, anhand einzelner Werke und der von ihnen etablierten Formensprache beschreiben. Denn immer, wenn Erinnerung Form annimmt, lässt diese die Erinnerungssubstanz nicht unberührt. Damit verbindet sich, so sehr man den Begriff der Generation auch für die Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsgeschichtsschreibung stark machen kann63, neben einer gewissen Attraktion ein methodischer Vorbehalt gegenüber dem Projekt einer generationsspezifischen Literaturgeschichte. Zwar gibt es durchaus mehrere Möglichkeiten, das Problem der Generationen im Hinblick auf die literarische Entwicklung zu perspektivieren64, entschließt man sich aber 61 Rüsen (2001b), 73 f. 62 Horstkotte (2003), 276 f.; vgl. zur Konjunktur des Generationen-Themas in der Literatur seit 1990 Geier/Süselbeck (2009). Allgemein zum Konzept der Generation in der Literaturwissenschaft vgl. Erhart (2000). 63 Vgl. Erhart (2000), dessen These lautet: »Das Konzept der Generation in der Wissenschaftsforschung führt nicht zur Reduktion komplexer wissenschaftlicher Wandlungsprozesse, sondern zu deren Differenzierung und Perspektivierung.« (105). 64 So lassen sich etwa »Formen literarischer Gruppenbildungen anhand von Strukturdaten nach Alter und Generationszugehörigkeit […] gliedern« (verknüpft mit dem Problem des Mangels an validen Strukturdaten mit einiger Aussagekraft) oder »die Selbstaussagen der Literaten mit dem Instrumentarium der Autobiographieforschung generationsspezifisch

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für die Vorgehensweise, die literarischen Werke selbst als Quelle der Untersuchung zu behandeln, so wird man auf das Verhältnis der Generationen, zumal auf eine konflikthafte Genealogie abstellen müssen. Dabei gilt die heuristische Vermutung, dass sich, wenn das gesellschaftliche Verhältnis der Generationen von Gegensatz und Widerstreit gekennzeichnet ist, dies auch in irgendeiner Form literarisch repräsentiert finden wird.65 Wann also, um hierfür einen einigermaßen vielversprechenden Zeitpunkt zu benennen, kristallisierte sich im Nachkriegsdeutschland der Generationenkonflikt als Gegensatz zweier unvereinbarer Erinnerungsweisen heraus? Zu welchem Zeitpunkt wurden die unterschiedlichen Haltungen zu Krieg und Holocaust zwischen den Generationen unüberbrückbar? Als explizites Medium der Gedächtnispolitik, soviel dürfte unstrittig sein, wurde die Generation erstmals im Zusammenhang der 68erBewegung funktionalisiert.

Die generationelle Psychohistorie Deutschlands und die Literatur Als um 1980 der Ausdruck »68er-Generation« aufkam, ging es den damit Bezeichneten weniger um eine Abschaffung des kapitalistischen Systems als vielmehr um einen Schlussstrich unter eine unzureichende Vergangenheitsbewältigung, speziell, unter eine an der Integration der NS-Belasteten in die BRD-Gesellschaft orientierte Vergangenheitspolitik. Verursacht durch die biographische Zurückverlegung des generationsstiftenden Ursprungszusammenhangs vermehrte sich die 68er-Generation in den 1980er Jahren nicht nur auf wundersame Weise, sondern erfuhr auch eine Psychohistorisierung. Die Protestgeneration von 1968 verwandelte sich »in eine ›Psychoklasse‹ von Kriegskindern, die sich von einer identifikatorischen Gefangennahme durch ihre Tätereltern betroffen sah«66. Die zweite Generation sah sich nunmehr in der psychischen Genealogie der NSNachfolge als Opfer eines generationsübergreifenden Schuld- und Verantwortungskomplexes: »Erst jetzt wurde 1968 in Deutschland als eine auf die nationalsozialistische Vergangenheit antwortende Bewegung des Schuldgefühls und der Traumabearbeitung entschlüsselt.« Daran in selbsthistorisierender Weise anschließend, bemühten sich die 68er, »die vergangenheitspolitische Begründung der Demokratie in Deutschland im Blick auf Auschwitz zum verborgenen Curriculum der politischen Sozialisation und zum metasozialen Kommentar des Gesellschaftsverständnisses« zu machen.67 Mithin erscheint 1968 als psychosoziale […] analysieren« (was das Problem der Stilisierungstendenzen in den Selbstaussagen von Schriftstellern mit sich bringt) (Bügner/Wagner [1991], 179). 65 Vgl. ähnlich Bügner/Wagner (1991), 180. 66 Bude (2005), 427. 67 Bude (2005), 428.

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Revolte, in der sich zwei Motive vereinen: Ein kollektiver Anspruch, nämlich die Übernahme einer historischen Verantwortung in antikapitalistische Weltpolitik zu überführen, verbindet sich mit einem ›Generationszusammenhang‹68 der ›Täterkinder‹69, der für den Einzelnen psychologisch prekär ist. Mit den Kindern der Täter ist nun eine Gruppe bezeichnet, in der die familiäre Genealogie (»Kinder«)70 durch einen historischen Zusammenhang (»Täter«) überlagert wird, so dass man, die Schnittstelle von Natur und Kultur unterstreichend, eine Verknüpfung von familiärer und historischer Generation – statt des üblichen Gegensatzes von Kontinuität vs. Diskontinuität – konstatieren kann.71 Öffenlichkeitswirksam argumentierte mit diesem Vokabular, das zwischen Verantwortung für die Geschichte der eigenen Nation und ethisch-politischer Verpflichtung aus dem Familienerbe changiert, Richard von Weizsäcker in seiner Ansprache als Bundespräsident vor dem Deutschen Bundestag im Rahmen der offiziellen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Kriegsendes vom 8. Mai 1985: Der ganz überwiegende Teil unserer Bevölkerung war zur damaligen Zeit entweder im Kindesalter oder noch gar nicht geboren. Sie konnten nicht eine eigene Schuld bekennen für Taten, die sie gar nicht begangen haben. Kein fühlender Mensch erwartet von ihnen, ein Büßerhemd zu tragen, nur weil sie Deutsche sind. Aber die Vorfahren haben ihnen eine schwere Erbschaft hinterlassen. Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.72 68 Mit dem Terminus »Generationszusammenhang« beziehe ich mich auf Karl Mannheims bis heute für die Konzeptualisierung von historischen Generationsgestalten zentralen Aufsatz Das Problem der Generationen. Mannheim zufolge haben Erlebnisgemeinsamkeiten in der jugendlichen Prägephase das Potential zu einer »Generationslagerung«, aus der sich im Sinne einer Partizipation am gemeinsamen Schicksal ein »Generationszuammenhang« herausbilden könne, der, wenn reale Verbindungen zwischen den Individuen gestiftet werden, in eine »Generationseinheit« zu münden vermag (Mannheim [1964], 543 f.). Unschwer lässt sich erkennen, dass Mannheims »Generationsbegriff gerade gegen die Bedeutung von Familie und Sippe konstruiert ist und unausgesprochen der Annahme folgt, der Stellenwert von Familie in der Moderne würde sich verringern, da ihr etwas Statisches und damit Vormodernes anhafte, wohingegen das Generationskonzept im Sinne historischer Generationen auf die Erfassung gesellschaftlicher Dynamik ziele« (Karstein [2009], 54). 69 Wegen der ab 1933 eingetretenen dichotomischen Aufspaltung der Herkunftsfamilien in Täter- und Opferfamilien verwende ich den Ausdruck »Täterkinder« (bzw. »Kinder der Täter«) in einem weiten Sinne, und zwar für alle Nachkommen von Belasteten und Mitläufern jedweder Couleur (vgl. ähnlich Westernhagen [1991], 89). 70 Vgl. zur Definition von Genealogie Weigel (2006), 26: »Die Genealogie ist die Geschichte der symbolischen, ikonographischen und rhetorischen Praktiken, der Aufschreibesysteme und Kulturtechniken, in denen das Wissen von Geschlechtern und Gattungen oder von der Abfolge des Lebens in der Zeit überliefert ist.« 71 Vgl. zu einem Ansatz, der im Rahmen einer »kommunikativen Konstruktion historischer Generationen am Beispiel ostdeutscher Familien« für eine beide Generationskonzepte verbindende Betrachtung plädiert, Karstein (2009). 72 Weizsäcker (1987), 18.

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Mit »Vorfahren«, »Erbschaft«, »Haftungsnahme« verwendet Weizsäcker für die Unschärfe zwischen alltäglichem und terminologischem Gebrauch und zwischen Wörtlich- und Figürlichkeit symptomatische Vokabeln, die sowohl vom familiären als auch vom juristischen wie historischen Diskurs in Anspruch genommen werden.73 Er operiert mit einer semantischen Vagheit, die durchaus zeittypisch ist, denn bis in die 1980er Jahre brachten weder die Geistes- noch die Sozialwissenschaften für Phänomene des generationenübergreifenden Erfahrungs- und Gedächtnistransfers ein entschiedenes Interesse auf. Spät erst öffnete sich die psychoanalytische Theorie und Praxis dem Phänomen der ›Transposition‹, der Weitergabe unbewußter Signifikanten von einer Generation zur nächsten, das nicht mehr allein im Deutungsrahmen des Freudschen Ödipus-Komplexes, mithin als Element einer endogenen neurotischen Erkrankung gesehen, sondern im Sinne historischer, konkret: nationalsozialistischer Prägung solch generationsüberdauernder ›Palimpseste‹ gedeutet wird74.

Während bereits Walter Benjamin, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihren Arbeiten aus den 1930er und 1940er Jahren die Wechselbeziehungen zwischen politischer und psychologischer Sphäre akzentuierten, popularisierten Alexander Mitscherlich (mit Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie aus dem Jahre 1963)75 und seine Frau Margarete (mit der gemeinsam verfassten, 1967 erschienenen Studie Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens) sozialpsychologische und psychohistorische Fragestellungen wie: Weshalb panzerte sich die NS-belastete Elterngeneration mit künstlicher Stärke gegen die eigene Schwäche, gegen quälende Schuld, Schamgefühle und Trauerreaktionen? Warum verschanzten sich die Eltern, unlebendig und starr, hinter einem verbissenen Schweigen, das die Nachkriegsfamilien wie in einer Blase hermetisch von der NS-Vergangenheit abschottete? Mit dem geschärften Blick, der auf den Zusammenhang vom Nachleben des Nationalsozialismus im Familienkontext abstellt, liegt es nahe zu fragen, »ob und wie die konventionelle Semantik der Übertragung zwischen den Generationen durch den historischen Tatbestand von Nationalsozialismus und Holocaust beeinflußt wird«76. Sprich: Welche psychischen Spuren bzw. seelischen Verformungen hinterließen die NS-Täter ihren Kindern? Resultierte aus der Gefühlskälte und Zurückweisung der Eltern das Gefühl, nie einen echten körperlichen und emotionalen Dialog mit ihnen geführt zu haben? Forderten 73 Vgl. zu der Rede, für deren Aufbau insgesamt charakteristisch ist, dass sie Paradoxien in der Bewertung durch die Kombination von nachdrücklichen Feststellungen mit relativierenden Formulierungen erzielt, Beljan/Lorenz (2007). 74 Blasberg (2002), 467. 75 Vgl. zu Alexander Mitscherlich als sozialpsychologischem Diagnostiker der frühen Bundesrepublik Weissberg (2011). 76 Blasberg (2002), 470.

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die mit Lücken entstellten bzw. mit Lügen befrachteten Eltern-Biographien die heranwachsenden Kinder nicht geradezu zur Entlarvung, Anklage und Entwertung der Eltern heraus? Machte das verzweifelte Bemühen nach Verständigung und nach Befreiung von dem negativen Elternbild die Kinder nicht gleichsam notwendigerweise zu Verfolgern, die wut- und hassgeschwängert einen Prozess anstrengen?77 An dieser Stelle kommt die Literatur ins Spiel: Denn im Rahmen der Entwicklung, die zu einer zunehmenden Akzeptanz von transgenerationellen Zusammenhängen führte, kommt der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur keine unwesentliche Rolle zu. Die Literatur, so die These von Cornelia Blasberg, hat »die Psychologen transgenerationelle Symptome am Körper der ›zweiten Generation‹ buchstäblich zu ›lesen‹ gelehrt«78. Ab den 1980er Jahren arbeiteten die Psychoanalytiker dann das Konzept der transgenerationellen Weitergabe zwischen der nationalsozialistischen Elterngeneration und deren Kindern aus, wobei sie zumal auf die Arbeiten zur Traumatisierung der Kinder der Opfer zurückgriffen.79 Als nach der Wiedervereinigung schließlich die dritte Generation sich im wiederentfachten Gerangel um die symbolische Deutungshoheit über das NS-Erbe bemerkbar machte, wurde ein nochmaliger Wandel angestoßen. Aufgrund der Belastungen und Störungen in der Verschachtelung der Generationen steht für die dritte Generation eine historisierende Aufarbeitung an, die in der Regel die Form einer mühseligen Erinnerungsarbeit annimmt. Nun erleiden die Betroffenen im Prozess der Historisierung die Beschädigung ihrer historischen Identität ebenso, wie sie »das mit diesem Verlust verlorene eigene Selbst zurück[gewinnen], indem es sich vom Verlorenen trennt, um es als Verlorenes sich anzueignen«80. Während sich für den Einzelnen als Staatsbürger in diesem Zusammenhang die Frage stellt, ob und wieviel Verantwortung – für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust – er zu übernehmen bereit ist, sind die Enkel der Nazis in ihrer Rolle als Familienmitglieder mit verschiedensten Phänomenen der Transposition konfrontiert, die bis zur Virulenz von manifesten Schuldvorstellungen reichen. Die historischen Anteile an der Subjektivität lassen sich mithin fassen als ein Dialog aus kollektiver, zumal nationaler, und familiärer Hinterlassenschaft. Just an diesem Punkt der Selbstverständigung über generationelle Anteile an der Historisierung von Subjekten kommt wieder die Literatur zum Zug. 77 Vgl. Westernhagen (1991), 91 f. 78 Blasberg (2002), 468; Blasberg exemplifiziert ihre These zumal an Wolfgang Koeppens Tod in Rom (1954) und Ingeborg Bachmanns Der Fall Franza (1965), vgl. ebd., 474 – 481. 79 Vgl. mit Blick auf die Opfer-Kinder bes. Keilson (1979), mit komparativem Blick auf Opferwie Täter-Kinder die beiden wichtigen Sammelbände von Bergmann/Jucovy/Kestenberg (1998) und Rosenthal (1999a). 80 Rüsen (2001b), 74.

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Argumentationen, die die Figur der transgenerationellen Traumatisierung durch Krieg und Holocaust popularisieren, erfahren seit den 1990er Jahren eine regelrechte Hochkonjunktur. Die Literatur trägt dazu das Ihre bei. Zu diskutieren, welchen Stellenwert sie in diesem Zusammenhang hat, erfordert freilich, sich vorab über einen für die Literaturwissenschaft operationalisierbaren Begriff des Traumas und der Transmission zwischen den Generationen zu verständigen.

Trauma und die Literatur Nach einer wissenschaftlichen Vorgeschichte, die bis auf das im 19. Jahrhundert entwickelte Konzept der traumatischen Neurose zurückreicht81, etablierte sich die Psychotraumatologie in den 1990er Jahren als eigenständiges Praxis- und Forschungsfeld innerhalb der bereits existierenden medizinisch-psychologischen Disziplinen82, und der Begriff des Traumas erfuhr eine enorme Popularisierung. In ihrem zum Standardwerk avancierten Lehrbuch der Psychotraumatologie erarbeiten Gottfried Fischer und Peter Riedesser einen Trauma-Begriff, der auch für diese Untersuchung den Bezugspunkt bildet: Psychische Traumatisierung lässt sich definieren als vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.83

Unübersehbar distanziert sich diese auf individuelle Traumata abzielende und mit empirischen Evidenzen argumentierende Abgrenzung von einem Verständnis, das die Vorstellung von kollektiven Verwundungen (ausgelöst etwa durch Kriege und Genozide)84 und deren Therapierung zu formulieren versucht.85 Jenseits von Vorstellungen einer allgemeinen sozialen Traumatisierung und eines der Dekonstruktion verpflichteten Begriffs vom kulturellen Trauma86, 81 Vgl. zur Wissenschaftsgeschichte des Traumas Leys (2000). 82 Vgl. zur Psychotraumatologie als Forschungs- und Praxisfeld sowie zur Geschichte der Psychotraumatologie Fischer/Riedesser (1999), 15 – 19 und 28 – 40. Im Teil »Spezielle Psychotraumatologie« behandeln Fischer/Riedesser etwa Traumata im Zusammenhang mit dem Holocaust, Folter und Exil, Kindheit, Vergewaltigung, Gewaltkriminalität, Arbeitslosigkeit, lebensbedrohlichen Erkrankungen und Mobbing (232 – 338). 83 Fischer/Riedesser (1999), 351; vgl. die nahezu identische Definition in Fischer (2000), 11, und als Kommentar zu den einzelnen Kriterien der Definition auch 12 f. 84 Vgl. etwa Laub (2001). 85 Vgl. zur Kritik des kollektiven Traumas M¦traux (2001). 86 Vgl. zu dem im Kontext der poststrukturalistischen und psychoanalytischen Literaturtheorie entwickelten Konzept vom ›Trauma als Krise der Repräsentation‹, wonach der Holocaust eine epistemologische, sich auf der Ebene der Sprache manifestierende Krise der Zeugenschaft ausgelöst habe, Caruth (1996) und Leys (2000), 266 – 297. Zur Kritik an Ca-

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demzufolge »Probleme der Repräsentation immer Anteil am Traumatischen haben«87, werden seit den 1990er Jahren wiederholt Versuche unternommen, traumatische Erfahrungen in den Kulturwissenschaften, konkret, in einer interdisziplinär agierenden Literaturwissenschaft zu erforschen.88 Vor allem Hannes Fricke und Harald Weilnböck leisteten im Anschluss an die psychotraumatologische Grundlagenforschung von Fischer und Riedesser Maßgebliches, um das Konzept des Psychotraumas für die philologischen Fächer theoretisch wie praktisch anschlussfähig zu machen.89 Im Kern kreist jede Anwendung traumatheoretischer Erkenntnisse auf die Literatur um die Frage nach den Formen der Repräsentation traumatischer Erfahrungen. »Trauma«, schreibt Aleida Assmann, »das ist die Unmöglichkeit der Narration.«90 Gemäß dieser apodiktischen Behauptung, wonach der überbordende Affekt jegliche Erinnerung zerstört, entzieht sich die traumatische Erfahrung kategorisch der deutenden Bearbeitung in Erzähltexten. Für eine literaturwissenschaftliche Erzählforschung, die sich mit den Formen narrativer Inszenierung von Vergangenheit und Erinnerung beschäftigt, erscheint das Trauma mithin unzugänglich. Dieser Ansicht widerspricht Frickes Überblicksstudie, die Modellanalysen zu den Themen »Das überwältigende Moment«, »Vernachlässigung«, »Krieg«, »Folter und organisierte Gewalt«, »Flucht und Vertreibung«, »Sexualisierte Gewalt« und »Täter« enthält und von Homers Ilias über Herman Melvilles Moby Dick bis zu Bernhard Schlinks Der Vorleser reicht. Fricke analysiert nicht allein wiederkehrende Textstrukturen91, sondern diskutiert auch Theorieprobleme. So verweist er darauf, dass es sich bei der Anwendung traumatheoretischer Erkenntnisse »nicht um einen beliebigen literaturtheoretischen Ansatz unter anderen« handele, sondern um »eine Herangehensweise, die über ihre hirnphysiologische Fundierung und Erfahrungswerte aus der Traumathe-

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ruths Konzept vgl. Weigel (1999), 52 – 54; Kansteiner (2004), 115 – 117; Weilnböck (2007) – ihre Kritik stellt hauptsächlich darauf ab, dass Caruth sich eines metaphorischen Gebrauchs von Trauma bedient, der Geschichte schlechthin als Trauma reformuliert und dadurch den Unterschied zwischen Opfern und Tätern einebnet. Kansteiner (2004), 118. Vgl. etwa Bronfen/Erdle/Weigel (1999); Mülder-Bach (2000). Vgl. Fricke (2004); Weilnböck (2001); Weilnböck (2005). Assmann, A. (1998), 151. Dabei zieht Fricke (2004), 229 f., folgendes Fazit: »Als Strukturen, die eher einzelne Stellen prägen, fielen im Zusammenhang mit der Schilderung traumatischer Erfahrungen Parataxe, einfache Wortwahl, Figuren der Auslassung und des Abbruchs oder der plötzliche Wechsel in eine seltsam schimmernde Form des Präsens auf. Betrachtet man den Text in seiner Gesamtheit, begegneten Klammermotive, bestimmte sprachliche Figuren oder Denkfiguren, sich wiederholende Handlungsschemata, die Möglichkeit, Texte erst auf den zweiten Blick aus der Sicht eines durch eine traumatische Erfahrung vorgeprägten Protagonisten zu verstehen, bestimmte Personenkonstellationen sowie die Möglichkeit – oder Unmöglichkeit –, eine durchgehende wohlgeordnete narrative Struktur aufzubauen und zu halten.«

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rapie ein empirisch überprüfbares Fundament hat«.92 Ferner geht er mit Recht davon aus, dass die Art und Weise der ›Erinnerung‹ traumatischer Ereignisse nicht relativ zur Zeit der Entstehung eines Textes verstanden werden muss, sondern dass die Art und Weise dieser Erinnerung eine anthropologische (hirnphysiologische) Konstante darstellt. Figuren in fiktionalen Texten werden unter den Vorzeichen dieses besonderen Verständnisses von ›Erinnerung‹ als konturierte Figuren verstanden, die Leser vor allem deswegen ansprechen können, weil sie zumindest ähnlich wie diese strukturiert sind bzw. ähnlich funktionieren.93

Auf der Basis dieser Argumentation vermag Fricke denn auch zu schließen, dass das von ihm bereitgestellte Instrumentarium über das von ihm untersuchte Textkorpus hinaus bei anderen literarischen Texten gewinnbringend eingesetzt werden kann.94 Auch Astrid Erll trägt der Produktivität dieser Fragestellung Rechnung, wenn sie mit Blick auf die literaturwissenschaftliche Gedächtnisforschung resümiert: Die Erinnerung an traumatische historische Erfahrungen – wie Krieg, Vertreibung und Völkermord – hat sich als ein zentrales literaturwissenschaftliches Forschungsthema und als eine Art Prüfstein für die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen literarischer Vergangenheitsrepräsentation erwiesen.95

Bedenkt man, dass die Reaktualisierung von traumatischen Erfahrungen in der Regel nicht-intentional geschieht und meist bildhaft ist, sich zudem nicht wie andere Erinnerungen formen und in das Gedächtnis integrieren lässt, so erscheint es nur folgerichtig, dass sich literarische Mittel und Darstellungsformen geradezu anbieten, um die Spuren traumatischer Erfahrung zu repräsentieren. Indem sie Kohärenz vermeiden oder stören, Sinnstiftung unterlaufen, den Wahrheitsgehalt und die Referentialisierbarkeit des Erzählten unklar lassen oder offen anzweifeln, spielen literarische Texte ihre spezifischen Privilegien gegenüber der wissenschaftlichen Vergangenheitsdarstellung aus.96

Eine psychotraumatologisch orientierte Literaturinterpretation geht demgemäß den Versuchen zur Versprachlichung von traumatischen Erfahrungen nach und 92 93 94 95

Fricke (2004), 231. Fricke (2004), 230. Vgl. Fricke (2004), 257. Erll (2010), 295. In Erlls Äußerung lauert zugleich – gleichsam als Pendant zu Assmanns Inkompatibilität von Trauma und Narration – die Gefahr eines inflationären Gebrauchs des Trauma-Begriffs im Kontext von literarischen Vergangenheitsrepräsentationen. Vgl. dazu Kansteiner (2004), 110: »Es ist schwer, sich der Anziehungskraft des Trauma-Paradigmas zu entziehen und neue Kategorien für emotional-psychologisches Engagement und Disengagement zu finden, die subtiler und genauer sind als der gewichtige Trauma-Begriff.« 96 Herrmann, M. (2010), 94.

Transgenerationalität

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ist »keine Psychoanalyse von Texten oder Autoren. Das tertium comparationis ist vielmehr der Kommunikationsprozeß in Psychoanalyse und Kunst.«97 Als heuristische These formuliert geht es darum, die individuellen literarischen Ausdrucksformen von Traumata zu erforschen, eine »neue Sprache« oder »MetaSprache«, die über die bisherigen, traumagebundenen Ausdrucksmittel hinausweist und geeignet erscheint, das Paradoxon der ›traumatischen Information‹ – mit einer Erfahrung zu leben, mit der sich nicht leben läßt – zu entschlüsseln und im dreifachen dialektischen Sinne dieses Wortes ›aufzuheben‹: d. h. sie aufzubewahren (lat. conservare), und zwar als Erinnerung, sie zu eliminieren (tollere) und sie zugleich auf eine neue, eine ›Metaebene‹ des Selbst- und Weltverständnisses hin zu überschreiten (elevare).98

Transgenerationalität Von der breitenwirksamen Durchsetzung des Trauma-Paradigmas in den 1990er Jahren hin zu der zu Anfang des 21. Jahrhunderts so populären Figur der transgenerationellen Traumatisierung99 ist es nur ein kleiner Schritt. Man vollzieht ihn, wenn man das Konzept des Traumas mit dem der Historisierung von Krieg und Holocaust verbindet, sprich um die nach 1989/90 – wie eingangs ausgeführt – boomende multigenerationelle Familienperspektive erweitert. Eine Voraussetzung für diese Entwicklung und damit den wissenschaftlichen Durchbruch der transgenerationellen Traumatisierung ist freilich die Anerkennung der Transgenerationalität als erklärungswürdiges Phänomen. In verschiedenen, zumal sozialwissenschaftlichen Disziplinen findet das Konzept der transgenerationellen Übertragung Anwendung und »wird dabei als explizit nicht-genetische Übertragung begriffen«100, die die Vorstellung von personaler Autonomie relativiert. Ähnlich wie das Wort »Vererbung« in seiner heute dominierenden biologischen Bedeutung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nahezu unbekannt war und stattdessen juristische Vorgänge bezeichnete101, beziehen sich die auf Transgenerationalität basierenden psychologischen und sozialwissenschaftlichen Übertragungskonzepte auf das Vererben von – psychischen! – Gütern an Verwandte (zumal an Kinder und Enkel). Ebenso wie bislang im Rahmen epigenetischer Forschungen nicht nachgewiesen oder ge97 Fischer (2000), 15. 98 Fischer (2000), 16. 99 Vgl. z. B. Radebold/Bohleber/Zinnecker (2008); Friesen (2000) und die vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin unter dem Titel »Transgenerationale Übertragungen« am 5. und 6. November 2010 veranstaltete Konferenz. 100 Parnes/Vedder/Willer (2008), 291. 101 Vgl. Rheinberger/Müller-Wille (2009), 20.

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zeigt werden konnte, auf welche Weise das Konzept einer außergenetischen Vererbung, in »der weniger die Genmutation als vielmehr die Genkontrolle zum Akteur wird, molekularbiologisch funktionieren soll«102, konnte der Modus bzw. die Modi der transgenerationellen Weitergabe bisher nicht eindeutig identifiziert und prozessualisiert werden. In Analogie zu dem epistemischen Raum der Vererbung zu Ende des 19. Jahrhunderts103 und im Rückgriff auf die Grundlagen von Freuds Psychoanalyse lassen sich Prozesse der Transgenerationalität heuristisch beschreiben als Phänomene, die sich in dem epistemischen Raum eines von historischen Geschehnissen beeinflussten multigenerationellen Unbewussten abspielen. Aufgespannt würde ein derartiger epistemischer Raum eines familien- bzw. sozialpsychologischen Transmissionsdenkens, der als Forschungskomplex so unterschiedliche Domänen wie Psychologie, Soziologie, Geschichtswissenschaft und eben auch die Literaturwissenschaft anzieht, durch das Weiterwirken von historischen Erfahrungen in einem genealogisch geordneten Zeitablauf. Während der traditionelle geschichtsphilosophische Begriff der Generation den Schnittpunkt von Kontinuum und Periodisierung markiert, vereinigt die Figur des ›Transgenerationellen‹ dagegen Bruch und Genealogie in sich: nicht als Bruch in der Genealogie, sondern vielmehr als Vorstellung einer Art Vererbung des ›Zivilisationsbruchs‹ und seiner Folgen.104

Die konkrete Auslegungsaufgabe besteht mithin jeweils darin, den Einfluss bestimmter historischer Prozesse auf die Schnittstellen zwischen den Psychen der – genealogisch geordneten – Mitglieder einer Familie »im Muster einer Herkunfts-, Ableitungs- und Folgelogik«105 zu denken; dann darin, die transgenerationellen Wirkungen von Sinnstrukturen der über Intimität vermittelten Geschichte auf die Subjektwerdung der Person darzustellen und zu kartieren. Immer fragloser gewöhnte man sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts an Freuds modellhaften Entwurf des Unbewussten, obwohl dessen »Realitätscharakter nicht definiert und vielleicht überhaupt nicht definierbar ist«106. Wenn der oben angeführte Zusammenhang zwischen Freuds Fundierung der Psychoanalyse und dem Konzept der transgenerationellen Übertragung einige Plausibilität für sich beanspruchen kann, so dürfte auch das Verfahren der Traumdeutung wenn nicht paradigmatischen, so zumindest strukturanalogen Vorbildcharakter besitzen. Die Traumdeutung stellt eine Form der Hermeneutik 102 103 104 105 106

Müller-Jung (2009). Vgl. zur Vererbung als epistemischem Raum Rheinberger/Müller-Wille (2009), 19 – 24. Weigel (2006), 103. Weigel (2006), 15. Matt (2001), 11; vgl. auch 133: »All die schönen Metaphern […], die von Freud und seit Freud für das gebildet wurden, was er ›das Unbewußte‹ nennt, verdecken die Tatsache, daß der Wirklichkeit des Unbewußten gegenüber die Regeln des Denkens selbst versagen.«

Transgenerationelle Traumatisierung

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dar, mit dem Ziel, die verborgenen Traumgedanken aufzuklären. Das Problem besteht – in strukturalistischer Begrifflichkeit – mithin darin, »dass Freud den Traumgedanken (das Signifikat) zu entziffern versucht, indem er den Trauminhalt, also die bildliche Darstellung (den Signifikanten) und deren ›Fügungsgesetze‹ analysiert«107. In Analogie dazu ließe sich die Deutung von Transgenerationalitätsprozessen als Aufgabe beschreiben, die psychischen Inhalte der transgenerationellen Übertragung zu ermitteln (Signifikat), indem man die psychischen Symptome der Nachfahren analysiert (Signifikanten).

Transgenerationelle Traumatisierung Zwar untersuchte Freud, der das wahre Dasein des Erwachsenen mit Vernunft assoziiert, »Übertragung nicht im Wechselverhältnis der Generationen und vernachlässigte die von Generation zu Generation übertragenen nonverbalen Sinne der Abneigung, des Abscheus, der Sympathie und Zugehörigkeit«108. Aber alle neueren Studien zur transgenerationellen Übertragung gehen auf Freuds wegweisenden Grundgedanken einer ›stillen Post zwischen den Generationen‹ zurück, nämlich auf die in Totem und Tabu formulierte Annahme, »daß keine Generation imstande ist, bedeutsame seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen«109. Daher, so Freud, ergeben sich im Zusammenhang mit jener »Gefühlserbschaft« zwei Fragen: »wieviel man der psychischen Kontinuität innerhalb der Generationsreihen zutrauen kann und welcher Mittel und Wege sich die eine Generation bedient, um ihre psychischen Zustände auf die nächste zu übertragen«110. Diesen Fragen auf den Grund zu gehen, ist das grundsätzlich gemeinsame Bestreben von Psychoanalytikern, Historikern und Kulturwissenschaftlern, wenn sie sich den seit den 1990er Jahren sprunghaft angestiegenen biographischen und künstlerischen Deutungsangeboten zuwenden, in denen das von der Elterngeneration ›zugemutete‹ Erbe in seinen umfassenden, nicht zuletzt ethischen Implikationen thematisiert wird.111 Die übereinstimmende 107 108 109 110

Klawitter/Ostheimer (2008), 144. Rauschenbach (1998), 250. Freud (1974a), 441. Freud (1974a), 441. In seiner Studie Der Mann Moses und die monotheistische Religion (erschienen 1939) prägte Freud den Begriff der »archaischen Erbschaft«. In der Überzeugung, »daß im psychischen Leben des Individuums nicht nur selbsterlebte, sondern auch bei der Geburt mitgebrachte Inhalte wirksam sein mögen, Stücke von phylogenetischer Herkunft, eine archaische Erbschaft« (Freud [1974b], 545), wagt Freud die Behauptung, »daß die archaische Erbschaft des Menschen nicht nur Dispositionen, sondern auch Inhalte umfaßt, Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Generationen« (Freud [1974b], 546). 111 Vgl. Weigel (2006), 65: »Insofern stellen sich die Vorstellungen von Erbschaft, Erbe und Vererbung als Schauplatz dar, auf dem nicht nur das Verhältnis von Natur und Kunst

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Prämisse ist dabei die transgenerationelle Wirkung bestimmter historisch sedimentierter Formen der privaten Lebensführung. Mit Blick auf den hier vorrangig interessierenden Übertragungsprozess, für den sich der Ausdruck »transgenerationelle Traumatisierung« etablierte, ist zunächst eine begriffliche Erläuterung vonnöten. So einleuchtend die Kategorie der Transgenerationalität als generative Struktur, die die sozialisatorische Kapazität der Familie maßgeblich mitbestimmt, erscheinen mag, so problematisch erweist sie sich im Zusammenhang mit dem Begriff der Traumatisierung. Gewiss: Auch die transgenerationelle Traumatisierung einer Person vermag stets nur einen von vielen während der Individualentwicklung einwirkenden Faktoren anzuzeigen. Aber eben einen, und das macht die spezifische Differenz aus, dem keine traumatische Eigenerfahrung zugrunde liegt, sondern allenfalls die Symptom-Tradierung eines von den Vorfahren erlebten Traumas. Der Ausdruck »Traumatisierung« suggeriert mithin zu Unrecht eine lebensweltliche Überwältigungserfahrung für die von einer transgenerationellen Traumatisierung Betroffenen. Vielmehr besteht zwischen den in den Übertragungsprozess involvierten Generationen ein ontologischer Hiatus: Auf der einen Seite die traumatisierte Generation (primäre Traumatisierung), die durch Traumata hervorgerufene Wirkungen transferiert; auf der anderen Seite die Nachkommen, die sich durch vielfältige sozialisatorische Transmissionsmechanismen traumatische Nachwirkungen in Gestalt von familienhistorischen Belastungen aneignen (sekundäre Traumatisierung). In der psychoanalytischen Erforschung der familiären Transmission von durch den Nationalsozialismus hervorgerufenen Traumata hat Hayd¦e Faimbergs Fallstudie Teleskopieren der Generationen (1981/1985) einen paradigmatischen Status inne.112 Der Aufsatz skizziert die therapeutische Fallgeschichte von Mario, einem 30-jährigen, in Argentinien aufgewachsenen Studenten, zu dem die Analytikerin lange Zeit keinen Zugang fand. Erst durch einen Zufall realisiert Faimberg, dass der Patient sie zur Trägerin eines Geheimnisses macht, von dem er denkt, »es betreffe ihn nicht«113. Nach langer therapeutischer Arbeit offenbart sich die »psychische Abwesenheit«114 des Patienten als Folge des väterlichen, als schuldbehaftet empfundenen Emigrantenschicksals115 :

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geregelt wird, sondern auch Verhandlungen zwischen Religion und Wissenschaft stattfinden«. Eine historisch-systematische Betrachtung der Kultur- und Wissensgeschichte des ›Erbes‹ unternehmen Willer/Weigel/Jussen (2013). Terminologisch verschiebt Faimberg dabei die von Heinz Kohut gebrauchte ›telescoping‹Metapher, mit der er das psychologische Ineinanderschieben genetisch analoger Erfahrungen bei einer Person bezeichnet (Kohut [1973], 74), auf das ›Ineinander verschiedener Generationen‹. Faimberg (1981/1985), 22. Faimberg (1981/1985), 24. »Seine ganze Familie«, so der Sohn Mario, »blieb in Polen zurück, als er das Land in den

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Auf diese Weise barg Mario in seiner Psyche in erstarrter, kristallisierter Form die Situation ›eines Vaters, der den Tod seiner Familie in Polen nicht anerkennt‹. Um die Familie seines Vaters vor dem Gang der Zeit, der den Tod bedeutet, zu schützen, hielt er sein eigenes psychisches Leben in einem Zustand der Abgestorbenheit.116

Faimberg erklärt sich die psychischen Übertragungsmechanismen im Rückgriff auf Freuds Schrift Zur Einführung des Narzißmus mit der narzisstischen Identifikationslogik der Eltern: Eine solche Logik besagt: ›Alles, was geliebt zu werden verdient, gehört zu mir, auch wenn es von dir, dem Kind, kommt. Was ich als von dir, dem Kind kommend, anerkenne, hasse ich; aber ich werde dir alles aufladen, was ich in mir selbst nicht akzeptiere: Du, das Kind, wirst mein Nicht-Ich sein.‹ […] Ich bezeichne das erste ›Moment‹, die narzisstische Liebe, als die ›Aneignungs‹funktion und das zweite ›Moment‹, den narzisstischen Hass, als die ›Intrusions‹funktion. Aneignungs- und Intrusionsfunktion sind die charakteristischen Merkmale der narzisstischen Objektregulation.117

Konkretisiert an den Austauschprozessen zwischen Historisch-Politischem und Psychischem bemächtigen sich die Eltern des Kindes, indem sie in ihm als Disposition einer ›belasteten‹ Identität deponieren, was sie in ihrer eigenen Lebensgeschichte nicht haben akzeptieren können. Die Aufgabe des Analytikers im psychoanalytischen Prozess besteht nun darin, diese Art der entfremdenden Identifizierung zwischen den Generationen zu historisieren. Um diese »Historisierung, die es dem Patienten ermöglicht, sich zu entidentifizieren und seinen Platz unter Berücksichtigung des Generationenunterschieds zu finden«118, anstoßen zu können, muss der Analytiker für drei Merkmale sensibel sein. Erstens: Für die beschriebene Art der Identifizierung, die Faimberg »teleskopartiges Ineinandergleiten der Generationen«119 oder kurz »Teleskopieren der Generationen«120 nennt, ist »eine zirkuläre, repetitive Zeit charakteristisch«121. Zweitens: Die Geschichte »wird nicht in Form einer expliziten Botschaft weitergegeben, sondern durch die Art und Weise, wie die Eltern sprechen und nicht sprechen«122. Drittens: Die entfremdenden Identifizierungen können, da sie sich der Repräsentation widersetzen, nicht oder nur unzureichend artikuliert wer-

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dreißiger Jahren verließ. […] Ich glaube, die ganze Familie ist umgekommen. Mein Vater hat nie über seine Angehörigen oder über das, was mit ihnen passiert ist, gesprochen.« (Faimberg [1981/1985], 22) Faimberg (1981/1985), 25. Faimberg (1981/1985), 28. Faimberg (1981/1985), 39. Faimberg (1981/1985), 32. Faimberg (1981/1985), 39. Faimberg (1981/1985), 30. Faimberg (1981/1985), 33.

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den. Den Übergang von der Identifizierung zur Repräsentation ermöglicht allein »die deutende Konstruktion«123. »Wissen«, das exemplifiziert Faimbergs Analyse, »ist nur anhand exemplarischer Narrationen zu gewinnen, zu begründen und zu vermitteln.«124 Literaturwissenschaft und Psychologie basieren nicht nur gemeinsam auf Fallgeschichten, sondern durchdringen einander auch methodisch.125 Faimbergs Diagnose wird durch eine hermeneutisierende Interpretation hergestellt und plausibilisiert, die Kohärenz beansprucht126. Was Faimberg als Aufgabe des Analytikers für den therapeutischen Prozess formuliert, das Symptom einer teleskopierenden Übertragung offenzulegen und zugleich zu erklären127, dürfte nach dem Transfer auf den historisch-hermeneutischen Deutungsprozess des in der Textauslegung gefragten Literaturwissenschaftlers in etwa so lauten: Mit geschärftem Blick für nicht-explizite Formen der Familienkommunikation und repetitive Zeitstrukturen die literarische Inszenierung von transgenerationellen Übertragungsprozessen deutend zu historisieren, sprich, die dafür ursächlichen Familienzusammenhänge aufzuklären. Der Historisierungsprozess, als der sich die Analyse von künstlerischen Manifestationen eines Teleskopierens der Generationen beschreiben lässt, basiert auf der nachträglichen Konstruktion der für die narzisstischen Projektionsvorgänge zwischen Eltern und Kind maßgeblichen historisch-politischen Erfahrungen. Eindringlich veranschaulicht Hayd¦e Faimbergs Fallbeispiel, dass das für die Ereignis- wie auch für die Sozialgeschichte zentrale Zeitkonzept der Zäsur (hier zwischen Krieg/Holocaust und deren Nachgeschichte) um die zeitliche Ordnung nach Generationen ergänzt werden muss. Ein zeitgemäßer Begriff von Geschichte kann die innerfamiliären Transmissionen von traumatischen Bedeutungen insofern nicht ignorieren, als sie wie ›eingekapselte Erinnerungen‹ der Auffassung von historischen Entwicklungsprozessen widerstreiten. Eine breitenwirksame Relevanz erhält dieses ›Erbe‹, weil transgenerationelle Tradierungen nicht allein bei Nachkommen von Holocaust-Opfern (und anderer schwer 123 Faimberg (1981/1985), 35. Die Tatsache, dass die Manifestationen von Repräsentation und Konstruktion zeitlich koinzidieren, zeigt das Vorliegen eines hermeneutischen Zirkels an, für den das Vorurteil, womöglich mit einer transgenerationellen Tradierung zu tun zu haben, konstitutiv ist. 124 Pethes (2004), 354. 125 Vgl. zu den methodischen Gemeinsamkeiten von Literaturwissenschaft und Psychoanalyse Ricœur (1993). 126 Vgl. Eco (2005), 75, der in seiner texttheoretischen Fundierung »die interne Kohärenz des Textes als Parameter für eine Interpretation« festlegt. 127 Vgl. Faimberg (1981/1985), 23: »Erst dann, wenn vor dem Hintergrund dieser Angst und des Nichtwissens ein zuvor unbekanntes Fragment aus der Geschichte des Patienten aufgedeckt wird und es ermöglicht, ein durch Übertragung aufgeworfenes Rätsel zu lösen, erlangen wir die klinische Quasi-Gewissheit, dass diese Geschichte Teil der Psyche des Patienten ist.«

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traumatisierter Opfer der NS-Aggression) diagnostiziert werden, sondern ebenfalls bei Kindern und Enkeln von NS-Tätern, Mitläufern und Zuschauern.128 Auch bei diesen Personenkreisen endet die destruktive Macht des Nationalsozialismus nicht mit dem offiziellen Kriegsende129, »gibt es familiäre und generationelle Bande, die als Erbschaften aus der Zeit des Nationalsozialismus verstanden werden müssen«130. Weder auf der Ebene des individuellen Gedächtnisses noch auf der einer nationalen Erinnerungskultur kommt man freilich umhin, die Unvereinbarkeit der Perspektiven von Opfern und Tätern zu markieren. Insofern muß für die Figur des Transgenerationellen in der Gegenwart der Fortbestand der Erinnerungsspuren als Fortzeugung gedacht werden – als asymmetrische Fortzeugung, die nicht nur das Unbewußte von Generationen im telescoping-Verfahren verbindet, sondern auch differente Kollektive, gleichsam verschiedene Gattungen oder Geschlechter konstituiert: die zweite und dritte Generation der Überlebenden hier und der Täter dort.131

Durch die Rede von der zweiten und der dritten Generation sieht Sigrid Weigel die Geschichte nach 1945 in die Nähe zu biblischen Zeitvorstellungen gerückt. Auf Seiten der Täter jedenfalls verbindet sich damit »eine Wiederkehr von Schuldvorstellungen, die – mit einer von den Eltern ererbten Schuld – dem Begriff der ›Erbsünde‹ nahekommen«132. Demgegenüber referiert die historische Verankerung der zweiten Generation nur mittelbar auf eine geschichtliche Schuld und schreibt sich vielmehr aus den Verfehlungen der Elterngeneration in der Nachgeschichte her, »aus deren Trauer- und Schuldabwehr nämlich, d. h. den Verfehlungen einer Auseinandersetzung mit der eigenen Verwicklung in die historische Tat«133. Ungeachtet der ontologischen Differenz existiert in jedem Fall eine typologische Ähnlichkeit zwischen der Traumatisierung der Täterkinder und der Erbsünde bzw. ihrem symbolischen Pendant, dem Geschlechterfluch. 128 Vgl. Fischer/Riedesser (1999), 243 f.: »Die Praktiken in den Familien beider Gruppen sind, so lautet die Diagnose, durch unerwartete Verwandtschaften miteinander verschwistert. Die psychosozialen Leiden und die dazugehörigen Symptome sowie die Reaktionsmuster der Kinder von Opfern und Tätern sind […] einander bis zum Verwechseln ähnlich.« 129 Vgl. Fischer/Riedesser (1999), 242: »Was heute unzweifelhaft ist, ist die Tatsache, daß die Nachkommen von deutschen NS-Tätern unter der häufig verschwiegenen und dennoch tradierten Erbschaft ihrer Eltern leiden können, und zwar erheblich.« 130 Grünberg/Straub (2001), 11. 131 Weigel (1999), 68. 132 Weigel (1999), 66. Die Vorstellung der Erbsünde reaktualisiert im modernen Drama beispielsweise Henrik Ibsen, wenn er in Gespenster Osvald die Ansicht des ihn behandelten Arztes kolportieren lässt: »Die Sünden der Väter werden heimgesucht an ihren Kindern.« (Ibsen [1997], 58) 133 Weigel (1999), 66.

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Auch wenn geschichtswissenschaftliche Studien wie Die Gesellschaft der Überlebenden von Svenja Goltermann mit reichhaltigen Zeugnissen belegen, wie nachhaltig die »Privatisierung der Kriegsfolgen« für die Familien »bis weit in die Zeit der Bundesrepublik hinein« Belastungen mit sich brachte134, ist die These von der Traumatisierung der Täter-Linie mit einem gewissen moralischen Dünkel behaftet.135 Nun gibt es durchaus auch andere als moralisch geartete Vorbehalte gegen die sekundäre Traumatisierung, wird doch für einige Psychotherapeuten und Psychoanalytiker »das Konstrukt eines Holocaustsyndroms in der zweiten Generation durch keinerlei statistischen oder klinischen Beleg abgestützt und verrät mehr über die unbewussten Motive der Therapeuten als über den Gesundheitszustand der Patienten«136. So stehen kritische Spekulationen im Raum, die den Aktivisten einer Sekundärtraumatisierung attestieren, alte Rechnungen mit den Eltern im Zeichen des »Ödipustriumph[s]«137 begleichen zu wollen, und einige vergleichende Forschungsprojekte können »keinen wesentlichen Unterschied in der mentalen Gesundheit der Kinder von Holocaust-Überlebenden und anderen Kindern feststellen, die in einem vergleichbaren sozialen Umfeld leben«138. Die Verfechter eines Sekundärtraumas, die die zweite Generation in den 1980er Jahren zu einer bedeutenden Zielgruppe der psychotherapeutischen Anstrengungen machten139, betonen, »dass selbst dann, wenn die Eltern sich entschieden, nicht offen über ihre Erfahrungen zu sprechen, sie durch Gesten, Stimmungen und Erwartungen nicht aufgearbeitete Trauer und Aggression auf

134 Goltermann (2009), 129. 135 Vgl. Hardtmann (2001), 49: »Der Gedanke, daß der Holocaust nicht nur die Opfer, sondern – allerdings in einer sehr unterschiedlichen Weise – auch die Täter traumatisiert hat, stößt oft auf Ablehnung und findet doch in den Familien der Täter eine Bestätigung.« 136 Kansteiner (2004), 124. 137 Kansteiner (2004), 124. 138 Kansteiner (2004), 124 f. Vgl. auch die dezidiert kritische Position von Brainin/Ligeti/ Teicher (2001), 176: »In vielen Untersuchungen der ›zweiten Generation‹ wird ein dieser Gruppe gemeinsames, pathologisches Moment gesucht, als ginge es darum, mit allen Mitteln zu beweisen, daß auch die Nachkommen der Überlebenden, vermittelt über das Trauma ihrer Eltern, stigmatisiert sind. Bei dieser Generation wird jedoch noch viel deutlicher, daß es keine generalisierbaren Ergebnisse in Bezug auf psychopathologische Entwicklungen gibt.« 139 Vgl. Grünberg/Straub (2001), 15 f.: »Erst in den späten siebziger und achtziger Jahren brachte man den ›Kindern des Holocaust‹ (Epstein 1979) größere (öffentliche) Aufmerksamkeit entgegen. Seit diesem Zeitraum erschien eine ganze Reihe an einschlägigen Arbeiten. Wie schon der von Bergmann, Jucovy und Kestenberg herausgegebene Band anzeigt [1998; EA 1982], haben in jüngerer Zeit auch die Nachkommen von Tätern, Mitläufern und Zuschauern wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen.« Von Publikationen über Täter-Kinder seien exemplarisch genannt: Westernhagen (1991), Eckstaedt (1992), Bar-on (1993).

Transgenerationelle Übertragung: Opfer vs. Täter

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ihre Kinder übertrugen«140. Sicher wäre es zu weit gegangen, durch Krieg und Holocaust bedingte transgenerationelle Dispositionen zum psychologischen Passepartout für die Analyse der Nachkriegsalltagskultur zu machen. Umgekehrt hieße es, die Einsichten in die Prozesse transgenerationeller Transposition der letzten 30 Jahre zu ignorieren, wenn man in psychohistorischer Hinsicht das Sekundärtrauma als speziellen Typus von geschichtlicher Belastung grundsätzlich negierte. Angemessener wäre es statt dessen, terminologisch ein wenig Sorgfalt walten zu lassen und nicht jede individuelle Manifestation einer womöglich transgenerationell vermittelten Belastung sogleich als sekundäre Traumatisierung auszuweisen. Der Ausdruck »transgenerationelle Traumatisierung« sollte – in Anlehnung an die oben vorgestellte Trauma-Definition von Fischer/Riedesser – für die Personen reserviert werden, deren Selbst- und Weltverständnis durch die Übernahme von aus Traumata der Vorfahren resultierenden Symptomen nachhaltig erschüttert wurde.

Transgenerationelle Übertragung: Opfer vs. Täter Von Täter- wie Opferseite beantwortet man in Bezug auf den Nationalsozialismus die Frage, wie die Generationen diachronisch miteinander verknüpft werden, durch die Übertragung von Schuld oder Erinnerung. »Das Nachleben der Toten wird also als familiales bzw. genealogisches Erbe begriffen und als transgenerationelle Übertragung konzipiert.«141 Der Ausgangspunkt für das Bestreben, die eigene Familienvergangenheit zu erforschen, ist das oft unbestimmte Gefühl von Angehörigen der zweiten und dritten Generation, auf unaufgeklärte Weise zum Gegenstand transgenerationeller Übertragungsmechanismen geworden zu sein. Der – zunächst kontraintuitiv anmutende – Zusammenhang aus unbekannter Familienvergangenheit und dadurch zugleich vermuteter Fremdbestimmung wirkt, wenn man ihn mit einem Befund aus der multigenerationellen Biographieforschung beleuchtet, alles andere als unplausibel. Haben doch Fallanalysen auf der Ebene des familiären Dialogs ergeben, daß das Schweigen, die damit verbundenen Familiengeheimnisse und die Familienmythen sowohl in Familien von Verfolgten als auch in denen von MitläuferInnen und TäterInnen zu den wirksamsten Mechanismen beim Fortwirken problematischer Familienvergangenheiten gehören. […] Je geschlossener oder verdeckter der Dialog in der Familie ist, je mehr verheimlicht oder retuschiert wird, desto nachhaltiger wirkt sich die Familienvergangenheit auf die Kinder- und Enkelgeneration aus.142 140 Kansteiner (2004), 124. 141 Parnes/Vedder/Willer (2008), 315. 142 Rosenthal (1999b), 22.

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Zwar gibt es bei den Symptomen von Opfer- und Täternachkommen in dem von der psychoanalytischen Forschung und der empirischen Biographieforschung entwickelten Konzept der transgenerationellen Traumatisierung frappante Übereinstimmungen. Um aber den Besonderheiten bei transgenerationellen Übertragungsprozessen gerecht zu werden, ist es geboten, angesichts der Erbschaften aus der Zeit des Nationalsozialismus so weit als möglich zwischen traumatisierten Nachkommen von Opfern des Holocausts bzw. anderer NSAggression und Kindern bzw. Enkeln von NS-Tätern, Mitläufern und Zuschauern zu unterscheiden.143 Zwei Momente verdienen dabei vor allem Beachtung: Der traumatisierende Sachzusammenhang und der Sinnzusammenhang der psychosozialen Phänomene. Auf der Sachebene muss, ohne damit einer Hierarchisierung oder gar Aufrechnung des Erlittenen das Wort zu reden, zwischen den qualitativ verschiedenen Leiderfahrungen differenziert werden. Eine grundsätzliche Unterscheidung ist die zwischen den »(transgenerationellen) psychosozialen Folgen erlittener und ausgeübter Gewalt«144. Eine Schwierigkeit besteht indes darin, dass diese Unterscheidung nicht einfach mit der in Opfer und Täter kongruiert. Vielmehr finden sich auf der – im weiten Sinne verstandenen – Täter-Seite neben den Zivilisten, die von Vertreibung, Luftkrieg und anderen kriegsbedingten Gewalttaten wie Massenvergewaltigungen betroffen wurden, und den in Gefangenschaft geratenen Soldaten eben auch Gruppen, deren Leben durch die erlittene Gewalt erheblich beschädigt wurde. Diese Binnendifferenzierung ist beständig im Hinterkopf zu bewahren145, wenn man behauptet, dass die für die Nachkommen entscheidende Psychodynamik daraus resultiert, ob die (Groß-) Eltern durch ausgestandene Leiden und Todesängste traumatisiert wurden oder durch die Angst vor Vorwürfen und möglichen Strafen bzw. auch durch nachträgliche Scham- und Schuldgefühle. Anders verhält es sich auf der Sinnebene: Während die NS-Opfer in der ihnen aufgedrängten Perspektive gefangen sind, die für ihr Leiden – sieht man mal von der abwegigen Möglichkeit einer affirmativen Übernahme der Nazi-Ideologie ab – keinerlei Sinn bereithält, können die Täter sich selbst und ihr Leid (für das z. B. Hitlers Wahnsinn, die strategische Unfähigkeit der Generalität oder auch der 143 Vgl. Straub (2001), 250: »Wer seine Aufmerksamkeit beiden Gruppen widmen und aus den komparativen Betrachtungen lernen will, darf aus oberflächlichen Beobachtungen keine übereilten Schlüsse ziehen. Wer den Blick von den Kindern und Kindeskindern der Opfer zu den Nachkommen der Täter schweifen läßt, läuft leicht Gefahr, das vergleichende Denken zu einer bloßen Angleichung des einen ans andere verkommen zu lassen. Wer dieser Gefahr erliegt, unterläuft berechtigte, sowohl epistemisch-kognitive als auch ethischmoralische Ansprüche.« 144 Straub (2001), 243. 145 Vgl. zu den Vorbehalten gegen Täter- und Opfer-Typisierungen Straub (2001), 233 – 237.

Transgenerationelle Übertragung: Opfer vs. Täter

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Fanatismus der Deutschen einstehen müssen) mit anderen Augen sehen. Das ist ein in moralischer, politischer wie psychologischer Hinsicht folgenreicher Gegensatz, der noch bei den Nachkommen Bestand hat. Grundsätzlich jedoch geht die Verklammerung der Generationen mit einer starken Entkonkretisierung bzw. Transformation der Erfahrung einher. D. h. das Erbe der vorausgehenden Generation wird von der folgenden nicht nur aufgenommen, sondern auch bearbeitet. »Was in der ersten Generation konkrete Erfahrung war, beschäftigt die nachfolgende Generation in der Bilder- und Symbolwelt.«146 So wenig sich transgenerationelle Tradierungen ausschlagen lassen, so wenig münden sie in die bloße Reproduktion des von den Eltern Erfahrenen. Vielmehr entfaltet sich diese Erbschaft sequentiell und kumulativ und wird »im Zuge der Verarbeitung jener sequentiellen oder kumulativen Belastungen, denen die Kinder im familiären und außerfamiliären Alltag ausgesetzt sind, transformiert«147. Mag der durch psychodynamische Prozesse transformierte Erfahrungsverlust auch für alle Formen der transgenerationellen Übertragung gültig sein, in Bezug auf den Repräsentationsgehalt des Tradierten besteht die unüberbrückbare Differenz zwischen den Opfer- und den Täter-Nachkommen fort.148 Für die Nazi-Täter und ihre Nachkommen findet sich keine Entsprechung zu den Traumatisierungen der Überlebenden und ihrer Kinder. Während die Nachkommen der Holocaust-Überlebenden von dem heimgesucht werden, was ihre Eltern gesehen und erlebt haben, werden die Kinder der Nationalsozialisten von dem heimgesucht, was ihre Eltern nicht gesehen und aus der Erinnerung verdrängt haben. Sie stehen unter dem Zwang, die blinden Flecken und Lücken im Bewusstsein ihrer Eltern nachträglich auffüllen zu müssen. […] Es ist nicht nur das, was die Älteren sich nicht vorstellen konnten, sondern auch das, wovon sie nach dem Kriege nichts gewusst haben und weiterhin nichts wissen wollten.149

Damit ist eine für das psychodynamische Nachleben des Nationalsozialismus fundamentale Zweiteilung markiert. Während, um es in grammatischer Terminologie zu formulieren, die Opfer-Nachkommen im Erinnerungsmodus des Indikativs von einer historisch verbürgten Erfahrungswelt überwältigt werden, imaginieren die Täter-Nachkommen eine Familienvergangenheit im Modus des Konjunktivs. Ähnlich strikt ist zu unterscheiden zwischen den Motiven für das Schweigen in Opfer- und Täterfamilien. »Während die Opfer meist ihre Kinder und An146 147 148 149

Bohleber (1998), 256. Grünberg/Straub (2001), 10. Vgl. zur ethischen Inkommensurabilität von Täter- und Opfergedächtnissen Diner (1998). Assmann (2006b), 49. Vgl. auch Hardtmann (2001), 47, der davon spricht, dass viele TäterKinder dazu neigten, »die Lücken mit Phantasien zu füllen. […] Auf diese Weise entstanden z. B. ›Phantomväter‹ […], die mit der Realität nichts zu tun hatten.«

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gehörigen schützen wollten, die Kinder vor allem, um ihnen nicht alle Illusionen und allen Lebensmut zu nehmen, wollten die Täter in der Regel sich selbst schützen, um nicht ihr Gesicht zu verlieren.«150 Überdies sind die Wirkungen, die nonverbale Kommunikationsformen wie z. B. das Schweigen bei Opfern und Tätern zeitigen, zwar, da Kinder über eine »hohe Wahrnehmungssensibilität für ›Ungesagtes‹, gleichwohl Handlungswirksames«151 verfügen, gleichermaßen bedeutsamer, aber oft gegensätzlicher Natur. In Täter-Familien machen in der Regel Verleugnungs- und Verdrängungsstrategien152 die Mechanismen aus, mit denen in Bezug auf Krieg und Holocaust jene Schuldabwehr betrieben wird, die für die familiäre Transmission von geschichtlich bedingten Belastungen verantwortlich sind.153 Als Reaktion auf Fronterfahrung, Gefangenschaft und sozialen Abstieg errichteten die Nazitäter »einen recht wirksamen cordon sanitaire um die Vergangenheit, der die Kinder über die Verbrechen der Väter im Unklaren ließ«154. Dagegen stellt das Schweigen der Opfer »vielmehr ein ›Medium‹ dar, in dem sich die traumatische Geschichte der Überlebenden entfaltet«155. Der Transpositions-Vorgang vollzieht sich für die Kinder der Überlebenden als Einfühlung in die nie besprochene Elternwelt.156 Schweigen bedeutet also nicht 150 Hardtmann (2001), 45. 151 Allert (1998), 8. 152 Vgl. Assmann (2006a), 169 – 181, zu den fünf Strategien der Verdrängung: Aufrechnen, Externalisieren, Ausblenden, Schweigen, Umfälschen. 153 Vgl. Grünberg (2001), 212. 154 Kansteiner (2004), 128. 155 Grünberg (2001), 183. Vgl. zur näheren Begründung 202 f.: »Die inhaltsanalytische Auswertung von Interviews der Zweiten Generation und einer nicht-jüdischen deutschen Vergleichsgruppe zu den wesentlichen NS-Erfahrungen der Eltern ergab einen drastischen Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen: In der jüdischen Gruppe brachten im Mittel 90 % der Aussagen zu diesem Bereich eine außerordentliche Klarheit über die Erlebnisse der Eltern im Nationalsozialismus zum Ausdruck, während es in der Vergleichsgruppe durchschnittlich nur 17 % der kategorisierten Aussagen waren […]. Nicht-Sprechen heißt also keineswegs Nicht-Mitteilen. […] In diesem Sinne liegt in Überlebenden-Familien eben kein Familiengeheimnis vor; von einem ›Pakt des Schweigens‹ kann nicht gesprochen werden.« Und 210 f.: »Es ist zudem keineswegs gesichert, daß Kinder, deren Eltern ›sprachen‹, es wirklich leichter hatten. […] Es wurde ebenfalls deutlich, daß alle Nachkommen von Überlebenden – und zwar unabhängig von den manifesten Erzählungen ihrer Eltern – wissen, was ihren Eltern widerfahren ist. […] Das an der Oberfläche wahrnehmbare Schweigen von Überlebenden ist eben kein Ver-Schweigen der Geschichte im Sinne einer Lüge. Überlebende, die ihren Kindern nicht ›alles‹ erzählen, enthalten ihnen nicht notwendig etwas vor, sie produzieren durch ihr Schweigen keine Unwahrheit […]. Aus dem bislang Dargelegten ergibt sich vielmehr, daß Überlebende gerade mit ihrem Schweigen das ›Medium‹ schaffen, in dem sich ihre traumatisierten Erinnerungen ›entfalten‹.« 156 Fischer/Riedesser (1999), 236 f., beschreiben den genauen Transpositions-Vorgang wie folgt: »Die Kinder spüren durch das Schweigen der Eltern hindurch die bedrohliche Vergangenheit und bemühen sich, diese Gesamtstimmung, in der sich Realität und Phantasie nicht länger unterscheiden lassen, zu ›konkretisieren‹. […] Wie durch eine durchlässige Membran werden dem Kind diejenigen Affekte übertragen, die der Elternteil selbst weder

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gleich Schweigen; der im Zusammenhang mit dem NS-Nachleben vielbeschworene ›Pakt des Schweigens‹157 fördert bei den Nachkommen durchaus verschiedene Inhalte zu Tage. Der Identifikation mit den unerträglichen Erlebnissen der Eltern steht auf der Seite der Täter-Kinder jene Bürde gegenüber, die zu entstehen droht, wenn die Eltern aktiv in die Nazi-Verbrechen verstrickt waren und diese Tatsache sich irgendwann nicht mehr verheimlichen lässt. Die fehlende Kommunikationsbereitschaft zwischen den Generationen mag die Kinder zu Stellvertretern der Tätergeneration werden lassen mit einem selektiven, ja belasteten Gedächtnis, das Schamgefühle und die Vorstellungen von Schuldübernahme nach sich zieht – und doch hat der Übertragungsprozess in den meisten Fällen wenig gemein mit der projektiven Identifikation mit den elterlichen Traumata.158

Postgedächtnis Nach dieser überblickshaften Gegenüberstellung von Opfer- und Täter-Linie mit dem Ziel, spezifische Merkmale voneinander abzuheben, werden hinfort wieder die Täter-Nachkommen im Mittelpunkt stehen. Charakteristisch für deren Erziehung ist die Erfahrung einer atmosphärisch vermittelten Gefühlsdiffusion und das Schweigen über die konkrete Familienvergangenheit, das als Entfremdung, ja Enteignung erlebt wird. »Was«, so fragt der Sohn eines für die Spionageabwehr tätigen SS-Soldaten ganz grundlegend, »war mit unseren Eltern? Was tragen wir an Unerkanntem von damals noch heute mit uns herum?«159 Der Metaphernbereich, auf den zurückgreifend sich die Nachkommen als Adressaten bzw. Träger einer ebenso fremden wie unerkannten Macht erfahren, kreist um die beiden Bildspender »Erbe« und »Auftrag«, hat mithin die Vorstellung der unvermeidlichen Übernahme ungebetener Hinterlassenschaften der Eltern (bzw. Großeltern) im Bewusstsein der Kinder (bzw. Enkel) zur Grundlage. Konkret reicht das von der Verpflichtung, das elterliche Verstricktsein in die NSGeschichte aufzuklären160, über die Aufgabe, die Schuldbelastung der Eltern

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für sich behalten (containing), noch aber bewußt besprechen und verarbeiten kann. Unbewußt entlasten die Eltern sich so von unerträglichen eigenen Erlebnissen, die auf dem Wege einer ›projektiven Identifikation‹ mit den Kindern geteilt werden. Dieser Mechanismus ist von allgemeiner Bedeutung in der unbewußten Weitergabe von Traumata«. Z. B. Fischer/Riedesser (1999), 236; vgl. Assmann (2006a), 98 – 103. Vgl. ähnlich Kansteiner (2004), 128, und Grünberg (2001), 218: »Bei den Nazi-Tätern und ihren Nachkommen gibt es keine Entsprechung für die hier beschriebenen Traumatisierungen und Retraumatisierungen der Überlebenden und ihrer Kinder. Weder die Täter noch deren Töchter wurden durch die Taten, durch die von den Nazis verübten Verbrechen traumatisiert.« Westernhagen (1991), 100. Vgl. etwa Westernhagen (1991), 36; Reulecke (2005), 84.

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oder auch deren Traumata auszugleichen161, bis hin zu dem Eindruck, nichts weiter als ein bloßes Supplement-Dasein für den gefallenen Vater zu führen162. Was für die frühere Generation unabänderlich bzw. unerreichbar ist, wird den nachfolgenden Generationen aufgebürdet. Die Familienvergangenheit wird nicht als in sich abgeschlossen erfahren, sondern die Nachkommen verwenden einen Teil ihres aktuellen Bewusstseins auf die Wiederbelebung einer vergangenen Zeit und etablieren so, mit einem Begriff Judith Kestenbergs, einen »Zeittunnel«163. Die nächste Generation macht sich zwangsläufig etwas von ihren Eltern zu eigen. Ein unbewältigt gebliebener Anteil der Eltern bleibt mit den Kindern verwoben und ist in ihrem Unbewußten wirksam. Die zumeist extremen Einstellungen der ›ersten Generation‹ erschienen in der ›zweiten‹ als die paradoxe Struktur von Opfer und Täter in einem.164

Die zwischen den Generationen vorherrschenden Tabu-Bereiche reduplizieren sich in der Psyche der Kinder als verbotene und destruktive Bezirke. Das mentale Gepäck realisiert sich bei der zweiten Generation z. B. in Form von Ablösungskonflikten und projektiven Identifikationen, was insofern noch keine Besonderheit einer Generation ausmacht, als es sich hier um universelle psychische Phänomene handelt. »Die Besonderheit liegt allein in den Phantasieinhalten, die um Verfolgung und Massenmord zentriert sind […]. Phantasien über die Vergangenheit der Eltern werden in den Familienroman der Kinder eingebaut«.165 Durch die »teleskophafte Perspektivenüberlagerung intergenerationeller Erinnerungsarbeit«166 führen die Täter-Nachkommen gleichsam ein Doppelleben, insofern sie zu einer psychischen Deformation genötigt werden, da dem eigenen Potential damit notwendigerweise Raum zur Entfaltung genommen wird. Wie, so lautet die dringliche Frage, ist der Erbzwang aufzuheben, da er den Weg zur menschlichen Selbstbestimmung versperrt? Der entscheidende Ausweg, um diese Selbstentfremdung nicht als unentrinnbares Schicksal zu erfahren, liege, so betonen Psychotherapeuten und Psychoanalytiker einmütig, im Durcharbeiten der generationenübergreifenden Folgen von im Krieg und Holocaust wurzelnden Belastungen. Sei es in Form einer Psychoanalyse oder einer Verhaltenstherapie, allen Therapieformen gemeinsam ist das Credo, dass allein Durcharbeitung beenden kann, was den implizit agierenden Selbstheilungs161 162 163 164 165 166

Vgl. etwa Westernhagen (1991), 37, 61; Hardtmann (2001), 48. Vgl. Westernhagen (1991), 167. Zit. n. Blasberg (2002), 479. Eckstaedt (1992), 496. Brainin/Ligeti/Teicher (2001), 162. Loster-Schneider (2005), 241.

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kräften des Subjekts sich entzieht. Jegliches therapeutische Durcharbeiten versuche den Bann, den das Vergangene umschließt, durch Aufklärung zu brechen. Es gehe darum, aus einer Position der Fremdbestimmung in eine der Selbstbestimmung zu gelangen, das unbewusst Wirksame auf die Ebene des Bewusstseins zu heben, aus einer mimetischen Passivität in einen kreativen Umgang mit den Vergangenheitsbezügen zu finden. Da es für die historischen Untaten gleichsam keine ›Verjährungsfristen‹ gebe, nach denen sich bei den Nachkommen ein innerer Frieden einstellen würde, gelte das Primat, sich das bereits Geschehene zu vergegenwärtigen.167 Welche Rolle kommt der Literatur in diesem Zusammenhang zu? Welche Funktionen vermag sie in der Darstellung von Transmissionsprozessen zwischen den Generationen zu übernehmen? Für die Transformation eines unbewussten Erbes zu einem bewusst angeeigneten prägte die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch den Begriff »postmemory«. Den Terminus, den Hirsch speziell im Hinblick auf die künstlerische Verarbeitung des Holocausts und in Abgrenzung von unspezifischen Gebrauchsweisen des Erinnerungsbegriffes168 konturierte, definiert sie wie folgt: In my reading, postmemory is distinguished from memory by generational distance and from history by deep personal connection. Postmemory is a powerful and very particular form of memory precisely because its connection to its object or source is mediated not through recollection but through an imaginative investment and creation. That is not to say that memory itself is unmediated, but that it is more directly connected to the past. Postmemory characterizes the experience of those who grow up dominated by narratives that preceded their birth, whose own belated stories are evacuated by the stories of the previous generation shaped by traumatic events that can be neither understood nor recreated.169

Am Beispiel von Art Spiegelmans Holocaust-Comic Maus, der freilich weniger um den Holocaust, als vielmehr metafiktional darum kreist, was dem Sohn als Künstler widerfährt, als er die Geschichte seines überlebenden Vaters in Form eines Comics weitergeben möchte, illustriert Hirsch die Merkmale und Erschließungskraft der Kategorie »postmemory« bzw. »Postgedächtnis«170. Dabei 167 Vgl. Westernhagen (1991), 60. 168 Vgl. Cohen-Pfister (2009), 243: »Der Gebrauch des Begriffs ›Erinnerung‹ wird für das in Familien vermittelte Wissen von den traumatischen Erinnerungen der ersten Generation oft angewendet, wenn auch der Begriff im theoretischen Sinne problematisiert werden muss.« 169 Hirsch (1997), 22. 170 Young (2002), 26, übersetzt den Begriff, den Erinnerungsprozess betonend, mit »postmemoriale Erinnerung« bzw. »Nach-Erinnerung«, ähnlich Herrmann, M. (2010), 92, mit »Nacherinnerung«; mit stärkerer, von mir geteilter Akzentuierung des Gedächtnisspeichers übersetzen Schmitz (2006), 254, »Post-Gedächtnis« und Horstkotte (2009), 26, »Postgedächtnis«.

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bildet das Postgedächtnis, obwohl es ursprünglich für die Kinder von HolocaustÜberlebenden entworfen wurde, keine spezielle Subjektposition, die allein deren Nachkommen vorbehalten wäre; nichts spricht – analog zu dem oben diskutierten erweiterten Geltungsbereich transgenerationeller Tradierungsprozesse – gegen die Ausdehnung des Bezugs auf prinzipiell alle Angehörigen der familiengeschichtlich belasteten zweiten Generation.171 Zentral für die Nachkriegsgeneration, deren Leben entscheidend vom Familiengedächtnis beeinflusst wird, formiert sich das Postgedächtnis auf der Basis von Erinnerungen an die Erinnerung, als »Vergangenheit aus zweiter Hand«172, mithin als verspätet, indirekt und sekundär173. Als Postgedächtnis in Bezug auf die eigene Familiengeschichte gestaltet sich insbesondere dasjenige, worüber die von einem unbewussten Auftrag Heimgesuchten, da die belastenden Erfahrungen der vorangegangenen Generation in der Regel nicht versprachlicht wurden, nicht explizit verfügen. Es geht mithin um die Etablierung eines transgenerationellen Gedächtnisraums, der durch eine Kombination von Vergangenheits- und Gegenwartsbezügen dann entsteht, wenn der zeitliche und qualitative Abstand zu den Erfahrungen der Zeitzeugengeneration aufgrund einer ethisch-historischen Verpflichtung in eine ›retrospektive Zeugenschaft durch Adoption‹174 überführt wird. So wie die Zeitzeugen von ihren Erlebnissen Zeugnis ablegten, thematisieren nun deren Kinder und Enkel auf der Basis von Erfahrungsberichten, Fotografien, Geschichtsbüchern, Romanen, Filmen usw. ihre Aneignung des geschichtlichen Familienerbes.175 Indem sie »empfangene Geschichte« narrativieren176, entfalten sie eine »postmemoriale Ästhetik«177, für die m. E. zumal fünf Merkmale von Belang sind: 1. Ein intersubjektiver transgenerationeller Ge171 Marianne Hirsch (1997), 22, formulierte diese Ausweitung vor: »I have developed this notion in relation to children of Holocaust survivors, but I believe it may usefully describe other second-generation memories of cultural or collective traumatic events and experiences.« Ähnlich auch Hirsch (2001), 11. Explizit auf Täter-Kinder bezieht das Postgedächtnis Horstkotte (2003), 281; Horstkotte (2009), 26 f. 172 Young (2002), 8. 173 Vgl. Hirsch (1997), 13. 174 Hirsch (2001), 10: »retrospective witnessing by adoption«. 175 Vgl. Hirsch (2001), 12: »if trauma is recognizable only through its after-effects, then it is not surprising that it is transmitted across generations. Perhaps it is only in subsequent generations that trauma can be witnessed and worked through, by those who were not there to live it but who received its effects, belatedly, through narratives, actions and symptoms of the previous generation.« 176 Young (2002), 26; Young spricht von einem »Erzählhybrid, das Ereignisse des Holocaust und die Formen ihrer Weitergabe an uns ineinanderflicht«. 177 Young (2002), 26. Vgl. bereits Hirsch (1997), 245: »The aesthetics of postmemory, I would like to suggest, is a diasporic aesthetics of temporal and spatial exile that needs simultaneously to (re)build and to mourn.«

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dächtnisraum, für den sowohl auf der Seite der Opfer- wie auf der der TäterAngehörigen eine gewisse identifikatorische Bindung konstitutiv ist.178 Dies aber, ohne dass deshalb das Bewusstsein einer irreduziblen Distanz zwischen der Erlebnisgeneration und den Nachgeborenen in Gefahr gerät, eingeebnet zu werden.179 2. Eine Bestimmung der Subjektivität über die Familienvergangenheit. Diese gestaltet sich, indem sie sich in der Auseinandersetzung und Aneignung von konkreten Vergangenheitszeugnissen entfaltet, »gleichzeitig dialogisch und zutiefst prekär«180. 3. Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als unabschließbarer Prozess.181 Vergleichbar der Rezeptionsgeschichte eines Werks, die nach Hans Robert Jauß »das Erreichen einer Bedeutungsfülle im historischen Prozess« beschreibt182, sind für die Spielarten postmemorialer Ästhetik definitive Gestalten grundsätzlich nicht annehmbar.183 4. Eine Reflexion auf die Konstitutionsbedingungen für das narrative Verfügbarmachen von Geschichte. Gerade weil postmemoriale Artefakte auf persönlichen, wenngleich nicht empirischen Vergangenheitsbezügen basieren, ist es wichtig, neben den historischen Gegebenheiten die Umstände, unter denen etwas erinnert und erzählt wird, selbst zum Thema zu machen, also in die Textur der Geschichte einzuflechten.184 5. Ein nicht trennscharf zu unterscheidendes Changieren zwischen genuinen Erinnerungsvorgängen und einer sich auf Projektion und künstlerische Kreativität stützende Imagination.185 Marianne Hirsch schreibt: »Postmemory is a powerful form of memory precisely because its connection to its object or source is mediated not through recollection but through representation, projection, and creation – often based on silence rather than speech, on the invisible rather than the visible.«186 178 Gleich ob die identifikatorische Bindung aus unbewussten Übertragungsvorgängen resultiert oder sich der bewussten Auseinandersetzung mit der Familienvergangenheit verdankt. Hirsch (2001), 10 f., erklärt das Postgedächtnis-Konzept gar immer dann als triftig, wenn ein ethischer Bezug zu Unterdrückten oder Verfolgten vorliegt: »as I can ›remember‹ my parents’ memories, I can also ›remember‹ the suffering of others«. Nicht ohne sogleich im Anschluss einen gewissen Reflexionsbedarf einzuräumen: »These lines of relation and identification need to be theorized more closely«. 179 Vgl. dazu – freilich nur mit Blick auf die Opfer-Nachkommen – Hirsch (2001), 10. 180 Horstkotte (2003), 293. Vgl. auch Hirsch (1997), 243: »This condition of exile from the space of identity, this diasporic experience, is a characteristic aspect of postmemory.« 181 Vgl. Young (2002), 8. 182 Klawitter/Ostheimer (2008), 78. 183 Die postmemoriale Generation, so Young (2002), 8, »betrachtet Geschichte als einen Vorgang der Aufzeichnung, der aus beidem besteht – aus den Ereignissen und der Weitergabe dieser Ereignisse an die nächste Generation.« 184 Vgl. Young (2002), 10 und 17. 185 Die Arbeit des Postgedächtnisses, so Young (2002), 17, »besteht in dem unendlich schwierigen Versuch, zu wissen, zu imaginieren und Erfahrungen Sinn abzugewinnen, die man nicht selbst gemacht hat.« 186 Hirsch (2001), 9. Mit Blick auf Bücher von Marcel Beyer und Rachel Seiffert spricht

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Während die ersten beiden Punkte bereits diskutiert wurden und die Exemplifikation des dritten und vierten Punktes den Textanalysen vorbehalten sein wird, bedarf der letzte Punkt, da jegliche literarische Repräsentation von Familiengeschichte auf seinem Verständnis aufruht, der nunmehrigen Erläuterung. Immer dann, wenn der Gedächtnistransfer zwischen den Generationen sich nicht nach dem Modell der binnenfamiliären Weitergabe von kommunikativ tradierter Geschichte vollzieht187, wenn also Schweigen, Verdrängen oder Angst (vor z. B. Strafverfolgung) im Umgang mit der NS-Zeit vorherrschen, ergibt sich für die Nachgeborenen »die ambivalente Struktur eines ›postmemory‹ oder Postgedächtnisses, das Wissen und Nicht-Wissen zugleich vereint und dessen Lücken nur durch Imagination und Projektion zu füllen sind«188. Das Postgedächtnis-Konzept, bemerkt Horstkotte zu Recht, »birgt ein erhebliches analytisches Potential für die Untersuchung der Repräsentation und selbstbezüglichen Inszenierung von Erinnerungsprozessen innerhalb literarischer Texte, weil es explizit für mediale Repräsentationen entwickelt wurde.«189 In der Form, in der Hirsch das Konzept präsentiert, hat es indes noch stark provisorischen Charakter. Weder nimmt es Stellung zum Verhältnis von erinnerter Vergangenheit, Fiktion und Imagination noch enthält es Merkmale zur Binnendifferenzierung einschlägiger Texte. Den Grundimpuls von Hirschs Konzept aufgreifend, soll im Folgenden ein Beschreibungsmodell für postmemoriale Texte etabliert werden, das die Lücken des Postgedächtnis-Konzepts durch eine literaturtheoretische Präzisierung, einen terminologischen Vorschlag und eine basale Typologie zu schließen versucht.

Horstkotte (2003), 282, von einem »Projektionsraum« für »eine Auseinandersetzung mit dem Familiengedächtnis […], die weniger durch dokumentarische Faktizität als vielmehr durch imaginative Zugänge und […] durch eine zunehmende Fiktionalisierung der Vergangenheit gekennzeichnet ist, auf die in selbstbezüglicher Weise reflektiert wird.« Vgl. auch Herrmann, M. (2010), 93: »Dass Nacherinnerungen sich häufiger in Imagination als in getreuer Rekonstruktion äußern, belegt dabei ihr kreatives und durchaus kritisches Potenzial.« 187 Zur kommunikativen Tradierung der nationalsozialistischen Vergangenheit im Familiengedächtnis vgl. Roberts (1998), Domansky/Welzer (1999), Welzer/Moller/Tschuggnall (2002). 188 Horstkotte (2009), 26. Das als Postgedächtnis bezeichnete »verspätete und sekundäre Gedächtnis einer zweiten Generation sei besonders wirkungsmächtig, weil es nicht durch Erinnerung mit seinen Objekten verbunden sei, sondern durch Imagination, Projektion und emotionale Investition« (ebd.). 189 Horstkotte (2009), 26.

Postgedächtnis und das Imaginäre

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Postgedächtnis und das Imaginäre Bei dem Versuch, die Mischung aus genuinen Erinnerungsprozessen und fiktionalisierter Vergangenheit im Medium der Literatur zu konzeptualisieren, landet man beim Einsatzpunkt von Wolfgang Isers Entwurf einer literarischen Anthropologie. Tritt Iser doch an, das gewohnte Oppositionsverhältnis von Wirklichkeit und Fiktion aufzubrechen und durch eine Triade aus Realem, Fiktiven und Imaginärem abzulösen: Sind fiktionale Texte wirklich so fiktiv, und sind jene, die man so nicht bezeichnen kann, wirklich ohne Fiktionen? Da sich die Legitimität dieser Frage nicht abweisen läßt, regen sich Zweifel, ob die im ›stummen Wissen‹ vorausgesetzte Opposition von Fiktion und Wirklichkeit zur Beschreibung fiktionaler Texte noch tauglich ist. Denn die in solchen Texten erkennbaren Mischungsverhältnisse von Realem und Fiktivem bringen offensichtlich Gegebenes und Hinzugedachtes in eine Beziehung. Folglich kommt in diesem Verhältnis mehr als nur eine Opposition zum Vorschein, so daß es sich empfiehlt, die Zweistelligkeit von Fiktion und Wirklichkeit durch eine dreistellige Beziehung zu ersetzen. Enthält der Text Reales, ohne sich in dieser Beziehung zu erschöpfen, so hat seine fiktive Komponente wiederum keinen Selbstzweckcharakter, sondern ist als fingierte die Zurüstung eines Imaginären.190

Beansprucht ein fiktionaler Text Wirklichkeiten, ohne sie um ihrer selbst willen zu wiederholen, kommt ein Imaginäres zur Geltung, das an der wiederkehrenden Realität etwas Bestimmtes deutlich macht. Das Fingieren hingegen ist auf das zwecksetzende Reale bezogen, wodurch es das Imaginäre in eine bestimmte Gestalt überführt. Ein Imaginäres, das mit der im Text wiederkehrenden Realität verbunden wird, kommt stets dann zur Geltung, wenn das Fingierte aus der Wirklichkeit nicht ableitbar ist. Ohne diese Verankerung in der triadischen Beziehung erschiene das Imaginäre »diffus, formlos, unfixiert ohne Objektreferenz«191 und ließe sich kaum von unbestimmten »Phantasmen, Projektionen und Tagträumen«192 unterscheiden.193 Als Kategorie, die im Zusammenspiel mit dem Wirklichen und Fiktiven vermittelt, erscheint mir das Imaginäre für die Präzisierung eines Postgedächtnis-Konzepts, das die literarischen Repräsentationen eines transgenerationellen Gedächtnisraums einzuhegen bestrebt ist, wegweisend. Als erhebliches Problem erweist sich nämlich die Unschärfe des Postgedächtnis-Konzepts,

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Iser (1991), 18. Iser (1991), 21. Iser (1991), 21. Vgl. dazu erläuternd Fluck (1997), 20: »Gedacht ist hier vor allem an jenen Strom flüchtiger, dekontextualisierter Assoziationen und Affekte, die unsere Vorstellungswelt ständig simulieren und überfluten, ohne in einen Bedeutungszusammenhang integriert zu sein.«

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das nicht genau genug zwischen genuinen Erinnerungsprozessen und reiner Imagination und künstlerischer Kreation differenziert und für das Hirsch in ihren Arbeiten mehrere Definitionen liefert, die teilweise recht stark voneinander abweichen. Insbesondere betrifft das die Frage, wer überhaupt ein postmemory haben kann: Handelt es sich dabei um eine Identitätsposition, die für die Kinder von Holocaustüberlebenden reserviert ist, oder um einen Erinnerungsraum, der auch anderen Angehörigen der Nachkriegsgeneration offensteht? Ich halte diese beiden Möglichkeiten für durchaus legitim und plädiere daher dafür, zwischen unterschiedlichen Formen von postmemory zu differenzieren, und zwar vor allem hinsichtlich des Anteils von Imagination und Projektion einerseits, genuiner Erinnerung andererseits an einem spezifischen Postgedächtnis.194

Zwar stimme ich mit Silke Horstkotte darin überein, dass das Konzept des Postgedächtnisses gleichermaßen für die Nachkommen der Opfer wie für die der Täter einschlägig ist, nicht teilen aber kann ich ihr Plädoyer dafür, das Postgedächtnis nach dem Grad der authentischen Erinnerung bzw., damit korrespondierend, der Imagination bzw. Fiktion auszudifferenzieren. So intuitiv einleuchtend diese Differenzierung klingen mag, so wünschenswert sie – z. B. für eine Historiographie, die das spezifische Vermittlungsverhältnis zwischen historischen Eigenerfahrungen und Geschichtsverständnis zu charakterisieren unternimmt – sein mag, so methodisch problematisch ist sie. Unterschlägt sie doch zum einen die Eigengesetzlichkeit von sprachlichem Medium bzw. literarischen Formen und basiert zum andern auf einem mentalistischen Verständnis von Repräsentation, wonach das sprachliche Kunstwerk das Wissen (Bewusstseins- und Vorstellungsgehalte195) seines Autors repräsentiert – was durchgängige Bewusstheit bzw. Selbsttransparenz des Autors voraussetzt sowie einer Interpretation bedarf, die das auktoriale Wissen vollumfänglich zu rekonstruieren imstande ist.196 Repräsentiert wird ein bestimmter Textinhalt (von dem man auf ein auktoriales Repräsentiertes schließen könnte) nur duch eine bestimmte sprachlichliterarische Gestaltung. Der Textinhalt darf mithin nicht von der Formierung des Mediums losgelöst werden, denn es gibt keinen repräsentierten Textinhalt, der nicht auch Form wäre. Aus der literarischen Darstellung als Repräsentation einer 194 Horstkotte (2009), 27. 195 Vgl. dagegen zu einem restriktiveren Wissensbegriff, nach dem »Wissen als ›wahre gerechtfertigte Meinung bzw. Überzeugung‹ stets (1.) durch den Bezug auf ein wie auch immer konkretisiertes Wahrheitsverständnis und dies (2.) durch begründende Momente konstituiert« wird, Stiening (2007), 237 f. 196 Vgl. grundsätzlich zu diesem Zusammenhang Danneberg/Spoerhase (2011), die die Frage nach Wissen in Literatur aufspalten in eine epistemologische: Können literarische Werke überhaupt Wissen enthalten?, eine poetologische Frage: Welches Wissen wird bei der Herstellung eines literarischen Textes beansprucht?, und eine hermeneutische: Welches Wissen wird bei der Rezeption eines literarischen Textes beansprucht?

Das teleskopische Imaginäre

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Präsenz lässt sich nicht im Handumdrehen auf deren Konkretisation etwa als transgenerationelles Wissen schließen. Vielmehr verbietet es sich, von einer bestimmten Repräsentation ohne Weiteres ein konkretes – beispielsweise auktorial intendiertes – Repräsentiertes abzuleiten. Daher schlage ich vor, zunächst von der Ebene der Präsenz, also von der Ebene der in die Literatur eingegangenen Wirklichkeit und der mentalen Vorstellungen des Autors Abstand zu nehmen, und auf der Ebene der Repräsentation zu verbleiben.197

Das teleskopische Imaginäre Ein genereller Untersuchungsverzicht im Hinblick auf Phänomene, die allem Anschein nach nicht den Mechanismen eines gänzlich vom Bewusstsein gesteuerten Generationentransfers unterliegen, bedeutete für eine an transgenerationellen Transferprozessen orientierten Literaturbetrachtung eine – gemessen an der Sachlogik – fatale Selbstbeschränkung. Sind doch die literarischen Erzeugnisse einer postmemorialen Ästhetik notwendigerweise auch – und gerade mit der zunehmenden zeitlichen Distanz zum Dritten Reich198 – Produkte der schöpferischen Einbildungskraft. Diese wird Iser zufolge im Vollzug grenzüberschreitender produktionsästhetischer Prozesse »innerhalb der Beziehungstriade des Realen, Fiktiven und Imaginären generiert«199. »Akte des Fingierens« formieren die literarische Manifestation des Imaginären, indem es »mit der im Text wiederkehrenden Realität« zu einer durch Zwecke »bestimmten Gestalt« zusammengeschlossen wird.200 Nach Iser liegt der eigentliche Sinn von literarischen Texten in der durch sie eröffneten »multiplen Verfügbarkeit des Imaginären«, sprich in der von den Rezipienten wahrzunehmenden Möglichkeiten einer vielfältigen »Pragmatisierung des Imaginären«.201 Im Gegensatz zu 197 Um in der literarischen Analyse etwa einen methodisch vergleichbar fragwürdigen Rückweg wie den eines Realismus zu vermeiden, der sich die Wirklichkeit, die er nachzuahmen vorgibt, erst erfindet (vgl. Werber [2006], 272). Denn ein solcher könnte zwar Unmögliches als irreal ausschließen, wie aber ließe sich die modallogische Unterscheidung in Wirkliches und Mögliches, gar die Trennung von Bewusstem und Unbewusstem umweglos auf der Grundlage einer sprachlichen Darstellung vollziehen? 198 Vgl. Kämmerlings (2011), 50: »Das Dritte Reich ist heute […] fast ausschließlich über mediale Dokumente zugänglich. Zugleich kommt der Einbildungskraft eine Rolle zu, die man ihr noch in den siebziger Jahren kaum zugestanden hätte.« 199 Malinowski (2003), 82. 200 Iser (1991), 20. Vgl. dazu Malinowski (2003), 82: »Damit kann der ›Akt des Fingierens‹ näherhin als eine doppelte Grenzüberschreitung beschrieben werden: zum einen ›als Grenzüberschreitung dessen, worauf er sich bezieht‹, also des lebensweltlich Realen, wodurch dieses irrealisiert wird; zum anderen als Grenzüberschreitung ›dessen, was er zur Gestalt erweckt‹, also des Imaginären, wodurch dieses real vorstellbar wird«. 201 Iser (1991), 48.

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nicht-fiktionalen Texten vollzieht sich die Sinnbildung von fiktionalen Texten im Bereich des Imaginären, d. h. im Nicht-Wirklichen mit Ereignischarakter. Die konkrete Gestalt, die das Fiktive dem Imaginären verleiht, wird mithin erst im rezeptionsästhetischen Akt der Semantisierung in eine geschlossene Vorstellungsgestalt überführt. Somit leistet die Semantisierung den gleichen Übersetzungsvorgang auf der Rezipientenseite, den das Fiktive im fiktionalen Text auf der Produzentenseite bewerkstelligt. Ist das Fiktive die Übersetzung des Imaginären in die konkrete Gestalt zum Zweck des Gebrauchs, so ist die Semantisierung die Übersetzung eines erfahrenen Ereignisses in die Verstehbarkeit des Bewirkten.202

Anders, mit Blick auf das Verhältnis von Literatur und Wissen gesagt: Bei der literarischen Repräsentation von transgenerationellem Wissen geht es weder um eine spezifische Ähnlichkeit (mit auktorial Repräsentiertem) noch um die Aktualisierung einer Konvention (die es in diesem Zusammenhang nicht gibt), sondern um einen Mechanismus, der sich als Evokation von Wissensbeständen beschreiben lässt.203 Die Identität von Repräsentation und Repräsentiertem (des transgenerationellen Wissens) wird dabei nicht gleichsam platonisch als Idee verstanden, sondern differenztheoretisch als Effekt von Relationierungen.204 Kurz, statt der Frage: Wie hoch ist der Grad an bewusstem Wissen in der postmemorialen Literatur?, lautet die hier maßgebliche Frage fürs Erste: Wie kann transgenerationelles Wissen literarisch repräsentiert werden? Als Konkretisierung der Operations-, Manifestations- und Wirkungsweisen des Imaginären in seinem Wechselspiel mit dem Fiktiven und Realen versteht sich der folgende terminologische Vorschlag: Nämlich die bewusste und kreative literarische Auseinandersetzung mit der Familienvergangenheit und die Literarisierung von mehr oder weniger unbewusst sich vollziehenden Prozessen eines transgenerationellen Transfers unter dem Begriff des teleskopischen Imaginären zusammenzuführen. Gegenüber dem Begriff des Postgedächtnisses, das als Kompositum das Moment einer unspezifischen Nachträglichkeit mit dem einer nicht konkretisierten Speicherfunktion verknüpft, hat der des teleskopischen Imaginären einen zweifachen Vorteil: Erstens verweist der Begriff auf die transgenerationelle Tradierung von Belastungen (historische Geschichtetheit 202 Iser (1991), 47. 203 Vgl. ähnlich die von Joseph Vogl vorgenommene Beschreibung von »Wissensobjekten«: »Wissenschaftliche oder epistemische Objekte stellen nicht eine ›Natur draußen‹ dar, sie sind vielmehr das Resultat von konkreten Operationen, von materiellen und symbolischen Praktiken, denen sie ihre Existenz im System des Wissens verdanken, d. h. die Möglichkeit, ihren Status und ihre Qualität im Prozess gelehrter wie kultureller Verständigung zu klären.« (Vogl [2007], 254) 204 Vgl. dazu Werber (2006), 279, der dieses Vorgehen als charakteristisch für Ernst Gombrichs Kunstgeschichtsschreibung ausweist.

Das teleskopische Imaginäre

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des Familienbezugs) und die freiwillige Auseinandersetzung mit Erinnerungen bzw. den unterschiedlichsten medialen Zeugnissen der Erinnerung (mentale Aneignung bzw. Transformation der Familienerfahrungen). Zweitens akzentuiert das Imaginäre das Vermittelnde zwischen Realität und Fiktion, das für alle Teleskopierungsprozesse, da sie Selbsterlebtes überschreiten, konstitutiv ist (Repräsentationsweise eines mentalen Gehalts)205, und ist als Ausdruck für die spezifisch literarischen Konfigurationsmechanismen bzw. als Voraussetzung der refigurativen Wirkung von Literatur konkret auf den schriftlich-narrativen Phänomenbereich ausgerichtet206. Als zweigeteilter Terminus vereint er mithin Erscheinungen der Transgenerationalität und des psychologisch Unbewussten (›teleskopisch‹, in Anlehnung an Faimbergs Teleskopieren der Generationen) mit der Fiktionstheorie (›Imaginäres‹ in Anlehnung an Isers literarische Anthropologie). Der Begriff des teleskopischen Imaginären wird als die zentrale Analysekategorie dieser Untersuchung fungieren. Die unter dem Sammelbegriff zu subsumierende Familienliteratur, die transgenerationelle Transferprozesse narrativ vergegenwärtigt, soll zunächst, indem sie mit den sachlich angrenzenden Genres des historischen Romans, der Erinnerungsliteratur und des Familienromans konfrontiert wird, Profil gewinnen. Hernach ist zu erläutern, welche Repräsentationsweisen für eine diesbezügliche Literatur des teleskopischen Imaginären überhaupt in Frage kommen. Dann wird die Frage nach einer Poetik des teleskopischen Imaginären in zwei Hinsichten behandelt: Zum einen durch den Entwurf einer basalen Typologie, die drei durch ihre charakteristischen Repräsentationsweisen unterschiedene Typen skizziert, zum andern durch die den drei Untersuchungstypen des teleskopischen Imaginären korrespondierende Zuordnung von drei verschiedenen Wissensformen. Abschließend dringt ein historisch-epistemologisches Interesse durch, wenn es darum geht, die Typologisierung des teleskopischen Imaginären für eine diachrone Betrachtungsweise fruchtbar zu machen, darum, auf der Grundlage der verschiedenen Er205 Vgl. Titzmann (1991), 426 f.: »Nicht die Französische Revolution oder der Erste Weltkrieg haben transformierende Folgen für das Literatursystem, sondern nur – und allenfalls – die vom Denksystem bedingte und gesteuerte Verarbeitung solcher Ereignisse im kulturellen Wissen. Was den Umgang der ›Literatur‹ mit der ›Realität‹ anlangt, sind also nicht ›Literatur‹ und ›Realität‹ zu vergleichen, sondern ›Literatur‹ und kulturelles Denken und Wissen über die ›Realität‹.« 206 Denn die Darstellung von Teleskopierungsprozessen ist nicht allein der Literatur vorbehalten. So visualisieren beispielsweise die beiden zeitgenössischen Künstlerinnen Nina Sten-Knudsen und Corinne Wasmuht in ihrer Malerei – unter spezifisch anderen medialen und formalen Ausgangsbedingungen – die Verschränkung, sprich, Kollision und Überlappung von verschiedenen Zeiten und Räumen. In Form von polyfokalen Gemälden entstehen so eine Art chronotopische Palimpsest-Konstellationen (so etwa in Sten-Knudsens Balkon aus dem Jahr 2005 oder in Wasmuhts 2007 entstandenem Here Today, Gone Tomorrow).

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Einleitung

klärungsmuster für das Verhältnis von Literatur und historisch geschichteten Familienbeziehungen eine literaturwissenschaftliche Problemgeschichte des teleskopischen Imaginären zu skizzieren.

Der historische Roman und das teleskopische Imaginäre Versteht man den historischen Roman mit Hugo Aust als »Roman, der Geschichtliches verarbeitet«207, so lauten die unmittelbaren Anschlussfragen, was genau denn unter »Geschichte« zu verstehen sei und wie sich die literarische Aneignung von Geschichte im Roman konkret vollziehe. Kein gattungstheoretischer Problemaufriss wird mithin ohne die Problematisierung von außerfiktionaler Wirklichkeit und ohne die Etablierung eines Erzähl- oder Fiktionsmodells auskommen. Um den Status von Realitätsreferenzen in fiktionalen Texten zu bestimmen, operiert beispielsweise Ansgar Nünning in seiner umfassend angelegten Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans208 mit Isers Fiktionsmodell, Hans Vilmar Geppert dagegen beruft sich in seiner Untersuchung Der Historische Roman auf Hayden White, Reinhart Koselleck und Paul Ricœur.209 Maßgeblich geht es beiden um den Stellenwert von »Referenzen auf geschichtlich belegbare Personen, Ereignisse und Prozesse«210, um »historische Deixis«211 und darum, auf welche Weisen sich »fiktionale und historische Diskurse«212 immer wieder trennen und verbinden. Wie man es dreht und wendet: Der historische Roman erscheint als Fiktion, für die, und das macht das Hybride dieser Gattung aus, der Bezug zur außertextuellen Wirklichkeit konstitutiv ist. Daraus resultiert für die Untersuchung von historischen Romanen die Einsicht, dass, auch wenn realgeschichtliche Zusammenhänge auf ihre Vermittlungsformen hin analysiert werden, die Referentialität als autoritatives Prinzip stets präsent ist. Demgegenüber wird gerade in den letzten Jahren – auch von geschichtswissenschaftlicher Seite – verstärkt auf die zentrale Rolle hingewiesen, die literarische Texte als Medien des kulturellen Gedächtnisses im deutschen Erinnerungsdiskurs spielen.213 Literatur besitzt das Potential, als »Geschichtsspei207 208 209 210 211 212 213

Aust (1994), 2. So der Untertitel von Nünning (1995). Vgl. Nünning (1995), 58 – 72; Geppert (2009), 150 – 213. Nünning (1995), 69. Geppert (2009), 160. Geppert (2009), 161. Vgl. Hardtwig (2002), 102: »Was aber den Buchmarkt angeht, so übertrifft unzweifelhaft die Vermittlung historischer Erfahrung und Orientierung durch die fiktionale Literatur diejenige durch geschichtswissenschaftliche Darstellungen um ein Vielfaches.« Daraus schließt Hardtwig für die Geschichtswissenschaft, »daß die literarische Präsentation von

Der historische Roman und das teleskopische Imaginäre

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cher«214 zu fungieren, realhistorische Geschichte in Form von narrativ-fiktionalen Geschichten zu präsentieren, in der Verbindung von Faktizität und Fiktionalität erzählerische Vermittlungsverfahren zur Anwendung zu bringen, die das historisch Vergangene im Medium der Literatur für eine gegenwärtige Kultur erkennbar und erfahrbar machen.215 Fiktionale Texte leisten dies, indem sie die Erfahrung und die Erinnerung individualisieren. »Ist in der Erfahrung des Realen«, so Adorno in der Ästhetischen Theorie zur Komplementarität von realhistorischer und künstlerischer Sphäre, »das Allgemeine das eigentlich Vermittelte, so in der Kunst das Besondere; fragte die nicht-ästhetische Erkenntnis, in Kantischer Formulierung, nach der Möglichkeit des allgemeinen Urteils, so fragt ein jedes Kunstwerk, wie unter der Herrschaft des Allgemeinen ein Besonderes möglich sei.«216 Die Wertschätzung individuell vermittelter Erinnerung macht die Literatur somit auch für eine Geschichtswissenschaft attraktiv, die an einer Rehabilitation des Subjekts interessiert ist. Daher ist es nur konsequent, dass in die Geschichtswissenschaft der letzten Jahre zunehmend die Kategorien der subjektiven Erinnerung und der individuellen Erfahrung Einzug hielten.217 Wie nun wird, um auf das Nachleben des Nationalsozialismus zu kommen, gerade eine am ›subjektiven Blick‹ ausgerichtete Zeitgeschichtsschreibung mit dem ›Ende der Zeitgenossenschaft‹ fertig? Methodisch betrachtet bedeutet nämlich das Sterben der Zeitzeugen auch das Ende der Zeitgeschichte, denn diese ist als ›Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung‹ – nach der klassischen Definition von Hans Rothfels 1953 – gerade davon geprägt, dass Zeitzeugen Einspruch gegen jeweilige Darstellungen erheben können218.

Während der Zeitgeschichte damit sukzessive die Epoche des Dritten Reichs entgleitet, arbeitet ein gegenstrebiger Prozess an der zunehmenden Aneignung und historischen Kontextualisierung der NS-Zeit, so dass spätestens seit den 1990er Jahren der Begriff der Historisierung des Nationalsozialismus keinen

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Vergangenheit in der Öffentlichkeit immer wichtiger geworden ist und daß sie offenkundig einen Bedarf deckt, den die geschichtswissenschaftliche Darstellung nicht befriedigen kann. […] Vielmehr scheint es nützlich, das Verhältnis von geschichtswissenschaftlicher und fiktionaler Erzählung seinerseits ein Stück weit zu historisieren.« (103) Dückers (2004), 307. Vgl. zum gegenwärtigen Verhältnis von Literatur- und Geschichtswissenschaft Fulda (2011), 341 – 346. Adorno (1970), 521. Vgl. dazu paradigmatisch die zweibändige Holocaust-Geschichte Das Dritte Reich und die Juden (1998 und 2006), in der Saul Friedländer einer Fülle von Selbstzeugnissen (vorzugsweise in Form von Erinnerungen, Tagebuchaufzeichnungen und Briefen) Gehör verschafft. Herrmann, M. (2010), 58 f.

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geschichtspolitischen Sprengstoff mehr birgt. Für die gegenwärtig vorherrschende Phase der »Historisierung und Aneignung« des Nationalsozialismus sei, so der Historiker Jörn Rüsen, von entscheidendem Belang, dass in der Nachwendezeit eine »Öffnung der deutschen Geschichtskultur auf einen genealogischen Zusammenhang mit den Tätern« erfolgt sei.219 »Damit erweitert sich die Geschichte des ›Dritten Reichs‹ um die im Zeichen der ›Vergangenheitsbewältigung‹ jahrzehntelang weitgehend verstellt gebliebene Nachgeschichte des Nationalsozialismus.«220 Just im Kontext dieser Nachgeschichte ist die vorliegende Untersuchung anzusiedeln. Je kürzer freilich die zeitliche Distanz der narrativ angeeigneten Geschichtszusammenhänge zur Gegenwart, desto stärker rückt der historische Roman in die Nähe des Zeitromans221 – mag dieser sich nun als Familienroman oder als zeitgeschichtlicher Gesellschaftsroman zur Gegenwart hin öffnen.222 Schließlich erscheint Geschichte »im Roman der Vergangenheitsbewältigung (in den 50er und 60er Jahren) […] so nahe und bedrängend, daß sie, gemessen am Distanz- und Geschlossenheitskriterium, kaum noch das Thema für einen historischen Roman zu geben vermag«223. An dieser Drehscheibe, an der der historische Roman in die unterschiedlichen Formen des Zeitromans übergeht, setzt im Falle der Nachgeschichte des Nationalsozialismus die epische Familienliteratur des teleskopischen Imaginären ein. Als Sachwalterin des historischen Besonderen besteht deren kulturelle Funktion nicht primär in der Darstellung, schon gar nicht realistischen Wiedergabe deutscher Nachkriegswirklichkeit (Prinzip der Referentialität), sondern in der Problematisierung der Frage nach einer geschichtlich definierten Subjektivität, die, weil vielfach geschichtet, eine labile Einheit darstellt. Statt der objektiven historischen Verstrickungen oder gar des selbstzweckhaften Historischen stehen mithin die Struktur der sozialisatorischen Interaktion und die Selbstdeutung der Figuren im Sinne einer Vorgeschichte des Heute im Vordergrund. Diese Literaturform übernimmt, während die Zeitgeschichtsschreibung aufgrund des unaufhaltsamen Aussterbens der Zeitgenossen an Deutungsmacht einbüßt, wogegen die transgenerationellen Übertragungsprozesse von Geschichtserfahrungen nach literarischen Artikulationsformen drängen, zunehmend die Funktion der Reflexion und Historisierung einer im Schatten des Nationalsozialismus stehenden deutschen Nachkriegsgeschichte. Für eine für die Geschichtsmächtigkeit ihres Gegenstandes aufmerksame Literaturwissenschaft erwächst aus dieser Konstellation Rüsen (2001a), 254. Frei (2002), 369. Zur Gattung des Zeitromans vgl. Göttsche (2001). Zum gattungsgeschichtlichen Zusammenhang von Familienroman und Gesellschaftsroman vgl. Göttsche (2001), 465 – 473. 223 Aust (1994), 32. 219 220 221 222

Die Erinnerungsliteratur und das teleskopische Imaginäre

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zugleich eine unmissverständliche Aufgabe: nämlich »ihre eigene historiographische Deutungsmacht«224 wahrzunehmen.

Die Erinnerungsliteratur und das teleskopische Imaginäre Erinnerung und Gedächtnis, die – im deutschsprachigen Bereich maßgeblich durch die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann befördert225 – seit den 1990er Jahren zum unverzichtbaren Begriffsinventar der Kulturwissenschaften gehören226, sind auch in einer für kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Konzepte offenen Literaturwissenschaft nicht mehr wegzudenken227. Führt man sich eine von den Nachwirkungen des Nationalsozialismus charakterisierte Literatur vor Augen, so erscheint das Begriffspaar aus Erinnerung und Gedächtnis unbedingt einschlägig. Während die frühe Nachkriegsliteratur Geschichte noch vorwiegend in mythischen Strukturen reflektierte228, verschob sich der Schwerpunkt in Richtung Literatur als Medium der Repräsentation von Erinnerung und der Identitätsbildung229. Günter Butzer zufolge lässt sich zeigen, »daß die nationalsozialistische Judenvernichtung den unhintergehbaren Bruch zwischen Gegenwart und Vergangenheit konstituiert, der als verborgenes Zentrum die Verfahren epischen Erinnerns fundiert.« So avancieren die »Unverfügbarkeit des Vergangenen, Unangemessenheit der Darstellung und Unmöglichkeit einer vereindeutigenden Sinnzuschreibung« zu den Voraussetzungen eines »Modell[s] des paradoxen Eingedenkens«, das sich für die kanonische literarische Produktion von der Mitte der 1960er Jahre bis an die Schwelle der 1990er Jahre als verbindlich erweise. »Für die epische Erinnerungsliteratur dieser Zeit ist der Rückgang zu einer kontinuierlichen und identitätsstiftenden Erinnerungsarbeit ausgeschlossen.«230 In Analogie zu der Entwicklung in der deutschen Geschichtskultur231 vollzog sich in der Literatur zunehmend eine Abkehr von moralisch fundierter Argumentation, wie sie für die unmittelbare Nachkriegszeit und die 68er-Generation 224 Brüns (2006), 16. 225 Vgl. etwa Assmann, J. (1992) und Assmann, A. (1999a). 226 Vgl. als Überblick das interdisziplinäre Handbuch Gedächtnis und Erinnerung von Gudehus/Eichenberg/Welzer (2010). 227 Vgl. als Kurzaufriss Erll (2010), ausführlicher und kontextualisierend Erll (2005a). 228 Vgl. Herrmann, M. (2010), 38. 229 Vgl. zur theoretischen Bestimmung der Begriffstrias aus Literatur, Erinnerung und Identität den Sammelband von Erll/Gymnich/Nünning (2003) und Neumann (2005). 230 Butzer (1998), 61 f. 231 Vgl. Rüsen (2001a), der für die deutsche Geschichte nach 1945 drei periodisierende Charakterisierungen konzipiert: »Beschweigen und Exterritorialisieren«, »Moralische Distanzierung« und »Historisierung und Aneignung«.

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typisch war. »Ist die Nachkriegsliteratur über den Nationalsozialismus als ›Vergangenheitsbewältigungsliteratur‹ treffend charakterisiert«, pointiert Meike Herrmann, »so passt aus demselben Grund ›Erinnerungsliteratur‹ seit 1990 besser.«232 Nicht dass kritische Geschichtsanalyse und pädagogisches Mahnen inzwischen in der Literatur obsolet wären, nur werden sie, seitdem ab den 1990er Jahren eine Historisierung der NS-Zeit, sprich, eine Aneignung und Einordnung der jüngsten deutschen Vergangenheit aus einer dezidiert gegenwärtigen Perspektive weithin Anerkennung fand, dominiert von Geschichte als Determinante für das individuelle Selbstverständnis und Geschichte als Objekt theoretisierender Reflexion. Zum einen erscheinen seit der in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre aufkommenden Väterliteratur233 kaum noch Erzählwerke, die die (Nachgeschichte der) NS-Zeit ohne expliziten Bezug zur Gegenwart thematisieren. Zum anderen perspektivieren Angehörige der Kinder- und Enkelgeneration ihre narrativ-fiktionalen Geschichtsdarstellungen oft, weil ihre Erlebnisse hauptsächlich Zeugenaussagen, Geschichtsbüchern, Romanen, Filmen und Fotografien entstammen, metafiktional234, indem sie die Konstitutionsbedingungen ihres künstlerischen Vorgehens reflektieren, oder metahistorisch bzw. metahistoriographisch235. Kurz: Als Sozialsystem positioniert sich Erinnerungsliteratur »an der Schnittstelle zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis, zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein, zwischen biografischer Ich-Erinnerung und den Erinnerungskulturen, zwischen

232 Herrmann, M. (2010), 18. Im Gegensatz zum Begriff der Erinnerungsliteratur, der auf eine individualgeschichtliche Strategie der Textinszenierung abzielt, definiert Astrid Erll den Gedächtnisroman als ein funktionsgeschichtliches Rezeptionsphänomen der Erinnerungskultur, das ebenso von Erinnerungen wie von kollektiver Gedächtnisbildung handelt: »Mit dem Begriff ›Gedächtnisroman‹ sollen narrativ-fiktionale Texte bezeichnet werden, die auf zeitgenössische Erinnerungskulturen und ihre Herausforderungslagen in deutlicher Weise Bezug nehmen, Modelle für und von Kollektivgedächtnis inszenieren und anhand einer ausgeprägten Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses perspektivieren, welche im Sinne eines Wirkungspotentials eine Rezeptionshaltung nahelegt, bei der das Dargestellte vom Leser auf die Wirklichkeit der Kollektivgedächtnisse bezogen wird.« (Erll [2003], 181) Gedächtnisromane bringen mithin Literatur- und Geschichtswissenschaft einander näher, mit dem Ergebnis, dass Literatur inzwischen nicht nur als historische Quelle zum geschichtswissenschaftlichen Untersuchungsbereich gehört, sondern auch als eine für die kollektive Gedächtnisbildung konstitutive Instanz. 233 Vgl. zu einem expansiven Begriff von Väterliteratur und einer zeitlichen Ausdehnung des Genres auf den Zeitraum von 1960 bis zur unmittelbaren Gegenwart Brandstädter (2010), bes. 31 f; vgl. zu einer grundsätzlichen Kritik des Konzepts »Väterliteratur« Reidy (2012). 234 Vgl. zum Begriff der Metafiktion Köppe (2010), 115 – 126; zur Neigung der Kinder- und Enkelgeneration zur ästhetischen Selbstreflexivität Young (2002). 235 Ansgar Nünning (1995), 276 – 291, unterscheidet in seiner Typologie des historischen Romans zwischen Schreibweisen, die Geschichte reflektieren (»metahistorischer Roman«), und solchen, die reflexiv auf Geschichtsschreibung Bezug nehmen (»historiographische Metafiktionen«).

Die Erinnerungsliteratur und das teleskopische Imaginäre

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kollektiver und individueller Identität«236. Demgemäß übernimmt sie durch das Zusammenspiel von Erinnerung, Identität und erinnerungstheoretischen Erwägungen »zentrale Orientierungsleistungen bei der individuellen und kollektiven Erfahrungsverarbeitung«237. Unternimmt man mit Blick auf die Familie als mnemonische Bezugsgruppe eine Ortsbestimmung der Literatur, so verspricht eine Fixierung auf die Frage der Faktizität oder Veridikalität der Erinnerung weniger Aufschluss als eine Orientierung an den unterschiedlichen Arten, wie die entsprechende Familienvergangenheit je gegenwärtig instrumentalisiert, d. h. durch die Gegenwart rekonstruiert, geformt und erfunden wird. Um gegenwärtige Probleme und Konflikte verstehen zu können, kommt es statt auf historisch getreue auf plausible Rekonstruktion des individuellen Vergangenen im Kraftfeld aus Familie und Geschichte an. Auch für das literarische Familiengedächtnis gilt, was Jan Assmann dem Gedächtnis als individuelles wie kollektives Vermögen attestiert: Es ist nicht einfach die Speicherung vergangener Fakten, sondern die fortlaufende Arbeit rekonstruktiver Imagination. Die Vergangenheit, mit anderen Worten, läßt sich nicht speichern, sondern muß immerfort angeeignet und vermittelt werden. Diese Vermittlung hängt ab von den Sinnbedürfnissen und Sinnrahmen eines gegebenen Individuums oder einer Gruppe innerhalb einer gegebenen Gegenwart.238

Zumal für die Herausbildung eines transgenerationellen Gedächtnisraums ist die Vermischung von Vergangenheits- und Gegenwartsbezügen in Gestalt eines Aufeinandertreffens zweier gegenstrebiger Prozesse charakteristisch. So unverzichtbar eine kulturwissenschaftlich fundierte Konzeptualisierung der Erinnerungsliteratur ist239, so wenig reicht die Erinnerungskategorie hin, um die Nachgeschichte des Nationalsozialismus im transgenerationellen Familienkontext zu fokussieren240. Sicher sind durch Rückbezug auf Vergangenheitserfahrung und Erinnerung initiierte Selbstverständnisprozesse, die biographische Kontinuität und moralische wie politische Orientierung stiften, hier gleichermaßen von Belang. Doch einer Literatur des teleskopischen Imaginären geht es 236 Griese (2009), 20. 237 Neumann (2005), 163. Vgl. zur sprachlich-narrativen Verfasstheit von Erinnerung und damit der Bedeutung des Erzählens für die – individuelle wie kollektive – Identitätsentwicklung auch Griese (2009), 29 – 60. 238 Assmann, J. (1998), 34. 239 Vgl. etwa die – in Bezug auf Theoriebildung wie auf Anwendung (mit Schwerpunkt auf der inhaltlichen und formästhetischen Umsetzung von Erinnerungen an die NS-Zeit in der Literatur seit den 1990er Jahren) – vorzügliche Studie von Herrmann, M. (2010). 240 Die Unzulänglichkeit des Erinnerungsbegriffs als Desiderat beschreibt Cohen-Pfister (2009), 243: »Der Gebrauch des Begriffs ›Erinnerung‹ wird für das in Familien vermittelte Wissen von den traumatisierten Erinnerungen der ersten Generation oft angewendet, wenn auch der Begriff im theoretischen Sinne problematisiert werden muss.«

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weniger um die Rekonstruktion von Erinnerungen241, weniger darum, was tatsächlich geschehen ist, als um ein schwerpunktmäßig auf die Gegenwartsperspektive verpflichtetes Umkreisen von Geheimnissen, Nicht-Wissen und Leerstellen im familiären Mikrokosmos. Deren Texte handeln nicht vom Finden, sondern von der Suche um der Suchenden willen.242 Ihnen eignet ein anti-memorialer Zug insofern, als sie die Familienvergangenheit daraufhin befragen, warum sie Auseinandersetzungen mit der Geschichte eher verhinderte als beförderte. Zugespitzt könnte man gar von einer Anti-Erinnerungsliteratur sprechen, die dazu verdammt ist, die Lücken der privaten Geschichte, die innerfamiliäres Schweigen und Verdrängen hinterließ, mit eigenen Worten und Imaginationen zu füllen.

Der Familienroman und das teleskopische Imaginäre Der Familienroman, dessen konjunkturelle Renaissance in den Feuilletons der letzten Jahre gerne beschworen wurde243, erscheint als Gattungsbegriff intuitiv evident, was zu einer gewissen terminologischen Sorglosigkeit verleitet, von der auch die Literaturwissenschaft nicht unberührt blieb. Denn obwohl der Familienroman, wie Matteo Galli und Simone Costagli in ihrem Forschungsüberblick konstatieren, »als eine der populärsten literarischen Gattungen der letzten Jahre betrachtet werden kann, ist der Terminus kein in der Literaturwissenschaft allzu festgelegter Begriff«244. Mit einer gewissen Konstanz freilich hält sich in den unterschiedlichen Definitionsversuchen der Konnex aus Familie und Zeitgeschichte. So versteht Dirk Göttsche mit Blick auf den Familienroman um 1800 darunter die Darstellung »eines geselligen Mikrokosmos der Gesellschaft als Reflexionsraum geschichtlicher Erfahrung«245, während Sebastian Griese in seiner zeitgenössischen Spielart einen Roman erkennt, »der das Potential hat, Zeitgeschichte als sich über mehrere Generationen erstreckende Familienge241 Auch Herrmann, M. (2010), 13, muss konzedieren: »In der Literatur nichtjüdischer deutscher Autoren entsteht also eine ›Erinnerungsliteratur‹, die der Form nach überwiegend nicht, zumindest nicht direkt, als Erinnerung erzählt ist.« 242 Nicht selten mit folgendem paradoxen Ergebnis: »Angesichts des ausweichenden Schweigens der Erlebnisgenerationen bleibt den erzählenden Kindern bzw. Enkeln bei allen Bemühungen um Überblick oft nur die Erkenntnis, dass sie sich erinnern, ohne sich an etwas erinnern zu können.« (Griese [2009], 85) 243 Vgl. etwa Hage (2003a); März (2003); Löffler (2005). 244 Galli/Costagli (2010), 7. In dem einleitenden Beitrag zu dem Sammelband Deutsche Familienromane bereiten die Herausgeber Matteo Galli und Simone Costagli kompakt die gattungstypologische Forschung auf. Vgl. dazu ferner mit komparatistischer Perspektive Hillmann/Hühn (2012). 245 Göttsche (2001), 222.

Der Familienroman und das teleskopische Imaginäre

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schichte zu erzählen«246. Im Familienroman, dessen Struktur und Produktivität in der Geschichte des deutschen Romans noch längst nicht hinreichend erforscht ist247, wird, so lässt sich resümieren, Geschichte als Familiengeschichte erzählt.248 Doch, und in Grieses Bestimmung deutet sich das Problem bereits an, gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen dem Familien- und dem Generationenroman? Oft nämlich werden beide schlichtweg synonym gebraucht.249 Galli und Costagli differenzieren kurz und knapp: »Ersterer [der Familienroman; M. O.] kann als allgemeine Bezeichnung für Texte mit Handlungsfokus innerhalb einer Familie gelten, während der zweite [der Generationenroman; M. O.] Romane betrifft, die chronologisch mehrere Generationen umfassen.«250 Wenn Letzteres bedeuten soll, dass der Generationenroman – wie dies in den Buddenbrooks der Fall ist – unter Wahrung der Chronologie mehrere Generationen im genealogischen Nacheinander erzählerisch abschreitet, dann erscheint mir diese Abgrenzung zum Familienroman probat. Bleibt freilich, wenn man dem Familienroman definitorisch zu Leibe rücken möchte, die unvermeidliche Frage: Was eigentlich ist eine Familie? Ist sie zu identifizieren mit der bloßen realen Sozialstruktur (wie dies im Ausdruck »Kernfamilie« geschieht)? Oder inhärieren ihr überdies bestimmte substantielle Charakteristika wie eine bestimmte »körperbezogene[] Kommunikationsform«251? Fragen, die hier nicht nur nicht beantwortet werden können, sondern auch nicht beantwortet werden müssen. Erweist es sich doch bei unserem Er246 Griese (2009), 95; zum »Erzählmodell Familienroman« vgl. 75 – 95. 247 Vgl. Göttsche (2001), 63. Das Ergebnis seiner eigenen diesbezüglichen Forschungen fasst Göttsche so: »Als eine grundlegende gattungsgeschichtliche Linie konnte für die Jahrhundertwende 1800 und das frühe 19. Jahrhundert die Transformation des Familienromans in ein Modell des frühen Zeitromans herausgearbeitet werden.« (465) Komplementär dazu zeigt Walter Erhart im Verlauf seiner Abhandlung Familienmänner mit Blick auf das 19. Jahrhundert, »daß von der Marginalität dieser Gattung [dem Familienroman; M. O.] ebenso wenig die Rede sein kann wie von ihrem scheinbaren Mangel an Modernität. In ihr verbirgt sich vielmehr der Ursprung einer genuin modernen Form des Erzählens über Familie« (Erhart [2001], 404). 248 Walter Erhart macht die Unterbestimmtheit, die bei jeder neuen Gattungsdefinition notwendig als Schwäche auftritt, zur Stärke, indem er den Familienroman zum heuristischen Modell für die europäische Erzählliteratur schlechthin erklärt: »Was den Familienroman einerseits für eine Gattungsbestimmung gänzlich untauglich zu machen scheint – da er sich nur inhaltlich bestimmen und strukturell kaum von anderen Erzählformen abgrenzen läßt –, scheint ihn andererseits als ein paradigmatisches Muster jeglichen Erzählens prädestinieren zu können. Die narrative Struktur einer Abfolge von Generationen sowie die Erzählung der Nachkommen über ihre Vorfahren markiert zweiffellos ein grundlegendes abendländisches Erzählmuster.« (Erhart [2001], 102) 249 So etwa bei Ru (1992), 2. Auch Eigler (2005) differenziert, obwohl ihr Titel Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende terminologische Präzision erwarten lässt, nicht klar zwischen Familien- und Generationenroman. 250 Galli/Costagli (2010), 8 f. 251 Allert (1998), 10.

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kenntnisinteresse als wenig sinnvoll, das Sozialsystem »Familie« und das Symbolsystem »Literatur« getrennt voneinander zu betrachten.252 Entgegen einem methodischen Vorgehen, das eine – in der Regel soziologische – Definition des Begriffs »Familie« als notwendige Voraussetzung (Definiens) einer Bestimmung der literaturwissenschaftlichen Gattung »Familienroman« (Definiendum) begreift, wird hier für eine Betrachtungsweise plädiert, die eine Relationierung der beiden Systeme auf der Grundlage wechselseitiger Interaktion vornimmt.253 Konkret: Ein sich literarisch artikulierendes Familienbild beruht auf einer dynamischen Relation zwischen innerfamiliären Beobachtungen und einer gesellschaftlichen Norm, die ihrerseits als dem Wandel unterliegende Konstruktion aufzufassen ist. Ein gesellschaftliches Familienverständnis wirkt mithin ebenso auf die Konstruktion einer literarischen Familiengestalt ein, wie es von dieser subvertiert oder transzendiert werden kann.254 Jedes normative Familienmodell reflektiert bestimmte Wünsche und Ängste einer Gesellschaft. Geformt wird dieses Modell im Rahmen von kulturellen Aushandlungsprozessen, an denen nicht zuletzt literarische Entwürfe mit innerfamiliärem Handlungsfokus beteiligt sind. Dergestalt zeichnet die Literatur mit ihrer Problematisierung der Familie

252 Vgl. Erhart (2001), 42: »Der Diskurs über die Familie ist nicht nur vielfältig, sondern wird durch die verschiedenen Orte erst hergestellt, an denen er jeweils praktiziert wird: in Romanen, die von Familien erzählen, in Wissenschaften, die ein bestimmtes veränderbares Wissen über Familien produzieren, in Geschlechter-Konstruktionen, die sich innerhalb dieses familialen Textes bewegen.« 253 Vgl. Erhart (2001), 19, der methodisch Stephen Greenblatts Verfahren einer ›Poetik der Kultur‹ folgt und »statt einsinniger Abbildungen von ›Geschichte‹ und ›Text‹ die ihnen gemeinsamen rhetorischen Figuren und die sie verbindenden Erzählstrukturen in den Blick nimmt. Statt eine sozioökonomische Geschichte der Familie zu unterstellen, um dann deren literarische Spiegelungen vorzuführen, gehe ich also von parallel geführten Diskursen aus, die sich gegenseitig überlagern und das Phänomen ›Familie‹ erst hervorbringen.« 254 Ähnlich argumentiert Britta Herrmann, um die gegenwärtige Konjunktur von Familienromanen in ihrer Eigenlogik nachvollziehen zu können. Sie will die Familie nicht als unmittelbaren Bestandteil der sozialen Wirklichkeit aufgefasst wissen, sondern als Werkzeug zur Herstellung eben dieser Wirklichkeit: »Es gibt die These, dies sei so, weil die Ordnung der Familie im Rückzug begriffen sei und das bürgerlich-patriarchale Modell ausgedient habe. Aber möglicherweise ist es genau andersherum: Je mehr sich die Familie in und als Fiktion zeigt, desto weniger mag ihr zwar eine reale soziale Struktur korrespondieren – doch umso stärker funktioniert ›Familie‹ als ein gesellschaftspolitisches Ordnungswort, mit denen [sic!] die symbolischen Kräfteverhältnisse und kulturellen Imaginationen neu ausgerichtet werden.« (Herrmann, B. [2010], 47)

Herkunftsphantasien

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Dynamiken der Umstrukturierung oder Aushandlung gesellschaftlicher Verhältnisse nicht nur nach, sondern hat auf zweifache Weise Teil daran – einmal in sozialgeschichtlicher und einmal in poetologischer Hinsicht: Sie trägt dazu bei, den Bewusstseinszustand ›Familie‹ zu plausibilisieren, ihn im kulturellen Imaginären festzuschreiben und in soziale Praxis zu überführen; im Gegenzug begründen und etablieren sich im Erzählen über Familie literarische Formen und Schreibweisen.255

Zwar scheint nunmehr keine handhabbare Gattungsbestimmung des Familienromans mehr in Sicht, dafür ebnet der vorstehende Argumentationsweg aber eine begründete Rückkehr zum literarischen Erzählen von der ›genealogischen Kontamination‹ durch die nationalsozialistische Vergangenheit. Sollen Narrationen über Familie in den kulturellen Verhandlungen über ein normatives Familienverständnis eine auch nur mehr als marginale Rolle spielen, ist es unverzichtbar, dass sie sich im kollektiven Imaginären verankern. Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses256 vermag nämlich nur dann eine gesellschaftlich bedeutsame Vorstellung zu generieren – von einem Mythos ganz zu schweigen –, wenn ein individuelles Imaginäres, ein Phantasma allgemein wird.257

Herkunftsphantasien Ich zeugte mir den Vater, und er nahm mich An Sohnes Statt. So waren wir verkabelt Mehr auf Verderb als auf Gedeih. Entkam ich? Der Alte hat sich von mir abgenabelt. (Richard Leising)

Eben ein solches phantasmatisches Modell entwarf Freud in seiner kurzen Schrift mit dem Titel Der Familienroman der Neurotiker aus dem Jahr 1909. Im Gegensatz zum Familienroman als Bezeichnung für eine literarische Gattung geht Freuds psychoanalytische Reformulierung auf »die alte Bedeutung des Romanhaften, d. h. Erfundenen, Ersponnenen oder Ersonnenen«258 zurück. Der Ausdruck bezeichnet im Ödipuskomplex begründete Phantasien, in denen »das Subjekt imaginär die Bande mit seinen Eltern modifiziert (es imaginiert zum 255 Herrmann, B. (2010), 58. 256 Vgl. zur Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses Erll (2005b). 257 Die nicht zu unterschätzende Öffentlichkeitswirksamkeit, die der Familienerinnerungsliteratur aktuell zuteil wird, markiert Griese (2009), 15: »Gerade die Tatsache aber, dass sich das Erzählen von Geschichte als Familiengeschichte als das bei Produzenten wie Rezipienten gleichermaßen beliebte Mittel dieses Vorgangs etabliert hat, verweist auf die neue Bedeutung, die der ganz privaten Erinnerung im Rahmen der Erinnerungskulturen beigemessen wird.« 258 Weigel (2006), 76.

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Beispiel, es sei ein Findelkind)«259 und sich so eine neuartige Familienkonstellation erschafft. Die Entfremdung von den Eltern, so Freud, findet seinen Ausdruck in der Romanphantasie des Kindes, »die geringgeschätzten Eltern loszuwerden und durch in der Regel sozial höher stehende zu ersetzen«260. Freuds Modell des Familienromans formuliert eine Struktur familiärer Phantasien, deren kulturelle Reichweite zwei maßgebliche Aspekte umfasst: Zum einen verbindet der psychoanalytische Familienroman die jeweils soziale Realität der Familie mit den darin entstehenden und darüber hinaus weisenden kulturellen Imaginationen: Das bloße Spiegelverhältnis zwischen Familie und Familienbildern ist dadurch in ein Modell psychischer und kultureller Vermittlung überführt. Zum anderen macht Freuds Text die Familienphantasie als ein Erzählmuster kenntlich, das fortlaufend gebildet wird und jede ›reale‹ Erfahrung von Familie immer schon narrativ überformt.261

Folgt man Freuds einleitenden Prämissen, wonach der »Fortschritt der Gesellschaft« auf der »Ablösung des heranwachsenden Individuums von der Autorität der Eltern«, der »Gegensätzlichkeit der beiden Generationen« basiert262, dann gehört dieses Ersetzen und Fingieren von Elternfiguren zu dem innersten Prozeß jeder Kultur, und jede Sozialgeschichte der Familie formiert nur die Basis zu einer Erzählung über Familie, mit der sich die Individuen von ihrem Ursprung entfernen und ihr Begehren wie ihre Identität narrativ artikulieren.263

Gerade die zeitgenössische Entwicklung des Familienromans aktualisiert in ihren unterschiedlichen Spielarten Freuds psychoanalytisches Muster. Im Gegensatz zum Narrativ der moralisierenden Anklage oder des Traums264 dient die Wiederkehr genealogischer Erkundungen, die die Literatur der Kinder- und Enkelgeneration vollzieht, vornehmlich dazu, die bewusste Version der Familiengeschichte zu hinterfragen und dem verschwiegenen, aber wirkmächtigen Wissen der Geschichte nachzuspüren. Häufiger als zur Aneignung der Vergangenheit über die familiäre Tradierung von Geschichte führt die Wiederentdeckung der Herkunft aber zur Auseinandersetzung mit einer unheimlichen Erbschaft, zur Erkenntnis, in einer geisterhaften Realität aufgewachsen zu sein. Das Unbehagen über die Herkunft wird bearbeitet, indem lebensgeschichtliche Lücken mit Phantasien aufgefüllt und Geheimnisse mit Phantombildungen 259 260 261 262 263 264

Laplanche/Pontalis (1973), 152. Freud (1997a), 224. Erhart (2001), 103. Freud (1997a), 223. Erhart (2001), 104. Vgl. etwa Weigel (2006), 90: »Einer vorausgegangenen Generation war es nur möglich gewesen, die unheimliche Verwicklung in eine schuldbeladene Geschichte im Medium der familialen Genealogie zu thematisieren, indem deren Reflexion, wie in Ingeborg Bachmanns Roman Malina (1972), in die Sprache des Traums verlegt wurde.«

Drei Formen des teleskopischen Imaginären: eine deskriptive Typologie

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aufgeklärt werden. Überspitzt gesagt: Der zeitgenössische Familienroman narrativiert Herkunftsphantasien. Um zusammenzufassen: Der Begriff des teleskopischen Imaginären beschreibt die literarische Verarbeitung des Einbruchs der NS-Geschichte in die Transmission zwischen den Familiengenerationen. In der konkreten Analyse kommt die Kategorie dann in Betracht, wenn literarische Figuren charakteristische Merkmale aufweisen, die sich zwar auf den Familienkontext beziehen, aber nicht allein auf Eigenerfahrungen zurückführen lassen, sondern überdies auf Ereignisse, die vor der Geburt der Figur stattgefunden haben müssen. Die vorstehenden Ausführungen zu hauptsächlich historischen, kulturwissenschaftlichen und psychologisch-soziologischen Konzeptualisierungen hatten zum Ziel, inhaltliche Unterschiede zu sowie Überschneidungen mit einer Literatur des teleskopischen Imaginären zu markieren (Referentialitätsprinzip, Erinnerung, Familie), für die das Kompositum historisierende Familienerinnerungsliteratur wenn schon nicht ein Synonym, dann zumindest eine näherungsweise Umschreibung darstellt.

Drei Formen des teleskopischen Imaginären: eine deskriptive Typologie Der Sammelbegriff des teleskopischen Imaginären als dem durch imaginäre und emotionale Investition angereicherten Bedeutungsraum sprachlich-narrativer Familiengeschichte impliziert – wie auch die Diskussion von Freuds Familienroman der Neurotiker zeigte – bereits die Darstellungspraxis. Welche Formen der Darstellung aber ergeben sich für Produkte eines teleskopischen Imaginären, die – im Gegensatz zu den philosophischen Metaerzählungen Empirismus und Rationalismus265 – grundsätzlich nicht mit dem Anspruch antreten, die wirkliche Welt, wie sie ist, zu repräsentieren. Überhaupt scheinen bei den Darstellungspraktiken des teleskopischen Imaginären weniger Repräsentationen einschlägig, die die Vorsilbe »re-« rechtfertigen, also nicht Stellvertretungen oder Wiedervergegenwärtigungen einer Präsenz, die etwas wiedergeben oder kopieren, was bereits da ist. Im Gegensatz dazu geht es bei den literarischen Manifestationen des teleskopischen Imaginären um Verweisungen, um Dinge, die z. B. in Form von Ähnlichkeiten oder Strukturanalogien etwas repräsentieren, das auch außerhalb ihrer selbst liegen kann.266 Dies betrifft mitunter Gegenstände, die erst im Entstehen Gestalt annehmen, um »Objekte, die«, wie 265 Vgl. Rheinberger (2006), 126. 266 Vgl. zu diesen zwei distinkten Gebrauchsweisen von »Repräsentation« sowie zu den Problemen des Begriffs in der Ästhetik Werber (2006), 266.

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Lorraine Daston und Peter Galison dies z. B. für Bilder im Bereich der Nanotechnologie zeigen konnten, »gemacht, nicht gefunden werden«267. Betrachtet man den Sprachgebrauch im Hinblick auf die semantischen Unterschiede des Ausdrucks »Repräsentation« bzw. »Darstellung«, so deckt er, basierend auf der Vorstellung einer Sache, worauf die Darstellung verweist, einen Bereich ab, der von einer Stellvertretung (Ähnlichkeitsbezug aufgrund einer Kodierungskonvention) über eine Verkörperung (bei gleichzeitiger Stellvertretung) bis zur Realisierung (herstellende Verkörperung) einer Sache reicht. »Zu allen drei Konnotationen, die der Ausdruck ›Darstellung‹ im alltäglichen Sprachgebrauch hat«, so der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger, findet sich eine Entsprechung, wenn wir in der Praxis der Wissenschaften von Repräsentation oder Darstellung sprechen. Grob gesprochen und ohne die Parallele allzu stark strapazieren zu wollen, haben wir es im ersten Fall mit Analogien zu tun, mit hypothetischen, mehr oder weniger willkürlichen Konstrukten, die man auch mit den Peirceschen Symbolen in Verbindung bringen kann. Im zweiten Fall sprechen wir von Modellen oder Simulationen, also gemäß Peirces Einteilung von Ikonen. Im dritten Fall schließlich handelt es sich um experimentell realisierte Spuren. Diese sind in Peirces semiotischem System vergleichbar mit einem Index.268

Meines Erachtens lassen sich diese drei – von Peirces dreistelliger Semiotik inspirierten – Modi der Darstellung gewinnbringend auf die Repräsentationsproblematik in der postmemorialen Literaturpraxis übertragen.269 Jedem Begriff der nach dem peirceschen Zeichenmodell konzipierten Trias wird im Folgenden eine unterschiedliche Darstellungsweise des teleskopischen Imaginären zugeordnet (Index: psycho(-patho)logisches Imaginäres, Symbol: kulturelles Imaginäres, Ikon: soziales Imaginäres). Die Dreiteilung in psycho(-patho)logisches, kulturelles und soziales Imaginäres bildet mithin eine basale deskriptive Typologie, um die literarischen Darstellungen eines transgenerationellen Gedächtnisraums nach den spezifischen Erklärungsmustern für das Verhältnis von Textgestaltung und historisch geschichteten Familienbeziehungen einzuteilen.270 Diese Typologisierung des teleskopischen Imaginären korrespondiert, 267 Daston/Galison (2007), 417. 268 Rheinberger (2006), 128. 269 Zu den Möglichkeiten, die Peirces Semiotik für die Literaturwissenschaft, zumal für die Verbindung von Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft eröffnet, vgl. Geppert (2003). 270 Ohne dass freilich die typologische Zuordnung bereits mit dem Vollzug des Bedeutungsprozesses gleichzusetzen wäre. Stattdessen gilt: »Die ›konkrete Gestalt‹, die das Fiktive dem Imaginären verleiht, muß demnach als eine offene, gleichwohl aber ›indexikalisierte‹ VorGestalt aufgefaßt werden, die im rezeptionsästhetischen Vorgang der Semantisierung in eine je singuläre geschlossene Gestalt überführt und dadurch erst vorstellbar wird.« (Malinowski [2003], 84)

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wie zu zeigen sein wird, mit ästhetischen Vorentscheidungen für bestimmte Erzählformen bzw. Schreibweisen.271

Symbolischer Modus: Hermann Burgers Brunsleben als Beispiel für das kulturelle Imaginäre Die Gemeinsamkeit in der Repräsentationspraxis »mit hypothetischen, mehr oder weniger willkürlichen Konstrukten, die man auch mit Peirceschen Symbolen in Verbindung bringen kann«272, soll am Beispiel von Brunsleben, dem 1989 erschienenen ersten Band der von dem Schweizer Schriftsteller Hermann Burger geplanten Brenner-Tetralogie illustriert werden.273 Genauer gesagt richtet sich das Augenmerk nur auf einen einzigen metaphorischen Ausdruck des autofiktionalen Familienromans274, nämlich: »Kinderheim-KZ«275. Die Erfahrungsgrundlage für die, um das Mindeste zu sagen, kühn anmutende Metapher276 bildet ein Aufenthalt des Ich-Erzählers Hermann Arbogast Brenner in dem für das 23. Kapitel titelspendenden Kinderheim Amden im Kanton St. Gallen. Verantwortlich für »die verfluchteste Zeit meiner Kindheit«, deren Erinnerung brennt »wie eine Schmantwunde am Knie«277, sind laut Erzähler die Eltern, die »an einer Konferenz der Moralischen Aufrüstung in Caux« weilten278, während ihr Sohn »ein Stück Hölle, ein kindliches Lager-Martyrium« erlebt279. Die 271 Das Untersuchungsinteresse berührt sich mit dem »Forschungsprojekt einer ›Wissenspoetik‹« (Pethes [2004], 341) bzw. Joseph Vogls Konzept einer ›Poetologie des Wissens‹, die »Wissensobjekte mit der Form ihrer Darstellung verknüpft und der Annahme folgt, dass epistemische Sachlagen ästhetische Entscheidungen – und umgekehrt implizieren« (Vogl [2007], 254). 272 Rheinberger (2006), 128. 273 Hermann Burger starb am 28. Februar 1989, 1992 erschien aus dem Nachlass der – unvollendet gebliebene – zweite Band unter dem Titel Menzenmang. 274 Vgl. zu Brunsleben als autofiktionaler Prosa, deren retrospektive Formierung des ErzählerIchs weniger einem Prozess der Selbstfindung als vielmehr einem Prozess der Selbsterfindung gleicht, Ostheimer (2001). 275 Die Metapher findet sich auf den Seiten 35, 96, 228, 303 und 314 (Burger [1989]). In dem 1982 publizierten Roman Die künstliche Mutter gebrauchte Burger schon einmal die Metapher »Kinder-KZ« (Burger [1982], 145; vgl. dazu Wünsche [2000], 390). Burger könnte die Metapher von E. A. Rauter übernommen haben, der in seinem 1979 erschienenen Brief an meine Erzieher das Erziehungsheim, in das er verbracht wurde, zweimal »Kinder-KZ« nennt (Rauter [1979], 15 und 84). 276 Die Metapher basiert auf dem KZ als Bildspender und dem Kinderheim als Bildempfänger. Vgl. zur Semantik der kühnen Metapher Weinrich (1963). 277 Burger (1989), 297. 278 Burger (1989), 301. Vgl. zur Bewegung von Caux Gillessen (1996). 279 Burger (1989), 302. Gleichwohl fragt sich der Erzähler, »ob ich denn, wenn ich meinen

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Zöglinge schikanieren den 5-jährigen Hermann, der bereits als einziger Anderskonfessioneller in einem katholischen Kinderheim einen Außenseiter darstellt, während die Schwestern den Bettnässer mit Strafphantasien der Schwarzen Pädagogik traktieren: Du bist der einzige, der bei uns noch ins Leintuch pißt, das kommt von deinen schmutzigen Gedanken. Wenn das so weitergeht, werden dich deine Eltern in eine Anstalt stecken müssen. Das Ding wird eines Tages dick geschwollen werden und voller Eiter stecken, dann muß man es abschneiden, weil es sonst den ganzen Körper vergiftet.280

So schlimm, ja traumatisch der Aufenthalt für den Erzähler gewesen sein mag, legitimieren diese Erlebnisse die Stilisierung des Kinderheims zum KZ?281 Der Roman nimmt diese Frage selbst auf: Adam Nautilus Rauch [ein gelehrter Freund des Erzählers; M. O.] rügte in einem Gespräch am Hallwilersee, daß ich das Amdener Kinderheim als KZ bezeichnete, meinte, wer diesen Ausdruck gebrauche, wisse nicht, wovon er rede. Gewiß, was ich zwei Jahre nach den grausigen Entdeckungen in Auschwitz, Buchenwald und BergenBelsen erlitten habe, ist nicht vergleichbar mit der gigantischen Tötungs- und InfernoMaschinerie der Nazis. Gewiß trifft zu, daß das Wort ›Konzentrationslager‹ so randvoll von spezifischen Greueltaten ist, daß sich jede metaphorische Parallele verbietet. Wir aßen keine Suppe aus Kartoffelschalen, uns wurden nicht die Goldzähne herausgebrochen, nein, es war alles nur viel schlimmer. Amden ein Kinder-KZ zu nennen ist eine unzulässige Untertreibung. Wenn ich in eine Dusche geführt werde, weiß ich zwar auch nicht, was mir blüht, doch der Schreck ist nach dem Ausströmen des Gases vorbei. Diese Wochen des von der Moralischen Aufrüstung indirekt eingebrockten WillkürTerrors über dem Walensee dauerten endlos, und die perverse Grausamkeit des kindlichen Sadismus lag darin, daß er sich unter den Augen der Flügelschwestern abspielen konnte. Für die Häftlinge in Auschwitz gab es keine Instanz, an die sie sich hätten wenden können, das Fatum erfüllte sich ohne Gerichtsbarkeit. Das Morden hinter den Stacheldrahtzäunen war wenigstens eindeutig, unmißverständlich wie der Krebs im Vergleich zur Depression.282

Obwohl der Ich-Erzähler Hermann Arbogast Brenner nie direkt mit dem Nationalsozialismus oder Ereignissen des Zweiten Weltkriegs in Berührung gekommen ist, bringt er seine Existenz mit diesem historischen Geschehen in Eltern diesen gravierenden Erziehungsfehler vorhielt, nicht zu dick auftrug« (Burger [1989], 315). 280 Burger (1989), 310. 281 Bezeichnenderweise sind es mit E. A. Rauter und Hermann Burger zwei Schweizer, die die Metapher »Kinder(heim)-KZ« für ihre Figuren reklamieren. Zwar trug dies auch Burger in der Literaturkritik den Vorwurf schockhafter »Tabuverletzung« ein (vgl. Großpietsch [1994], 247), aber er erfuhr als Schweizer Autor – im Vergleich zu dem, was ein deutscher Schriftsteller bei identischer Formulierung an moralischer Entrüstung zu gewärtigen gehabt hätte – gleichsam mildernde Umstände. 282 Burger (1989), 303.

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Verbindung, indem er einen Kindheitsaufenthalt samt der dabei gemachten Erfahrungen retrospektiv mit einer Metapher versieht, die auf die Menschheitsverbrechen der Nazis referiert. Nun liegt, folgt man der Gedächtnistheorie, die Funktion des Gedächtnisses nicht in der Bewahrung des Vergangenen, sondern darin, früheren Erlebnissen im aktuellen Erlebniskontext Bedeutung zu verleihen. Dem autobiographischen Gedächtnis kommt die Aufgabe zu, durch produktive Prozesse der Selektion und Interpretation neue, selbstrelevante Informationen an bestehende Gedächtnisbestände zu assimilieren und auf diese Weise die Grundlage für das subjektive Gefühl der biographischen Kontinuität zu schaffen. Da sich die Rahmenbedingungen für Kontinuität im Laufe des Lebens verändern, müssen auch die vergangenen Ereignisse gemäß zwischenzeitlich erworbener Deutungsmuster reinterpretiert werden […]. Dieser konstruktive Gestaltungsspielraum ist allerdings keineswegs beliebig dehnbar. Kognitionspsychologische Ansätze akzentuieren, dass die in der Gegenwart aktualisierten Erinnerungen auf Gedächtnisspuren vergangener Erfahrungen basieren. ›Erinnerungen‹, die keinerlei Grundlage in der Vergangenheit haben, die lediglich auf gegenwärtige Bedürfnisse einer Person antworten, mögen zwar eine innere Realität beanspruchen, dennoch verlassen sie den Bereich des Gedächtnisses und betreten das Reich idiosynkratischer Phantasien […].283

Brunsleben lässt einerseits keinen Zweifel daran, dass Brenners Kinderheimaufenthalt in Amden auf »Gedächtnisspuren vergangener Erfahrungen« basiert, andererseits streift die KZ-Metapher entschieden »das Reich idiosynkratischer Phantasien«. Was das Beispiel, gerade weil es moralisch hoch problematisch und von provokativer Sprengkraft ist, nachdrücklich verdeutlicht, ist, dass Hermann Burger hier seinen Ich-Erzähler eine poetologische Extremposition vertreten lässt: Für die Markierung existentieller Dringlichkeit sind alle Mittel erlaubt. Alles, was für Hermann Arbogast Brenner in der Frage nach dem autobiographischen Gedächtnis und der Wahrheit der Erinnerung zählt, ist »unsere innere Wahrheit«284. Diese Position kongruiert mit Forschungsrichtungen wie der Psychoanalyse und der Sozialpsychologie, die sich nicht so sehr dafür interessieren, ob Erinnerungen der Wahrheit entsprechen, sondern vielmehr »für die subjektive Wahrheit, die einen Hinweis darauf erlaubt, wie die jeweilige Person ihr Leben und die Welt deutet und erinnert«285. Zwar liegt, dadurch dass die Eltern den Jungen für einige Wochen ins Kinderheim geben, ein transgenerationeller Familienzusammenhang vor, dieser aber weist keinerlei Referenz zur NS-Zeit auf – gleichwohl verleiht der Erzähler seinem Kinderheimaufenthalt durch die Metaphorisierung mit der Semantik des 283 Neumann (2005), 154. 284 Burger (1989), 315. 285 Pohl (2010), 78.

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NS-Vernichtungsprogramms ein historisches Pathos, das – angesichts der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen – kaum zu überbieten ist. Der Ausdruck »Kinderheim-KZ« avanciert zur absoluten Metaper, die sich Hans Blumenberg zufolge »gegenüber dem terminologischen Anspruch als resistent« erweist und »nicht in Begrifflichkeit aufgelöst werden« kann286. Damit nutzt er die sprachliche Kreativität der Metapher, um auf der Grundlage einer Ähnlichkeitsbeziehung eine semantische Innovation zu etablieren, die Vermittlung eines »Etwas-als-etwas-anderes-Sehen«287. Die Literatur schafft, indem sie – wie Paul Ricœurs Metapherntheorie ebenso detailliert wie konsequent aufzeigt288 – die Dynamik des metaphorischen Sprechens kreativ ausschöpft, den Zugang zu einem dynamischen Realitätskonzept, das etwa ein dezidiert terminologisches Systemdenken, wie es in den Wissenschaften üblich ist, auch ein Stück weit zu relativieren vermag. Denn »Literatur wird zwar im Rahmen eines bestimmten Denk- und Wissenssystems produziert, aber sie trägt selbst auch zu diesem bei«289. In ihr kann etwa empfunden, gedacht und besprochen werden, was im Denk- und Wissenssystem nicht mehr oder noch nicht empfunden, gedacht und besprochen werden kann. Denn als Literatur artikulierbar wird das, was aus der Perspektive des Individuums »bisher nur als diffuser Strom von Bildern, Stimmungen und Sehnsüchten existierte«290, durch die imaginäre Anreicherung bzw. Hyperbolisierung der Realität. Burgers Erzähler vollzieht die imaginäre Überformung seiner Kindheitsvergangenheit sehr bewusst, hält er doch Adam Nautilus Rauch, seinem Freund und Kritiker der KZ-Metaphorik, entgegen, daß Hermann Arbogast Brenner kein Historiker ist, der in Relationen zu denken hat. Er gewinnt seine Überzeugungskraft durch die Verknüpfung dessen, was der Wissenschaftler in verschiedene Schubladen zu ordnen hat. Dabei weiß ich um das Recht auf Subjektivität. Es schränkt meine Aussage nicht ein, der persönliche Blickpunkt, meine ureigene Perspektive ist meine Waffe.291

Indem Brenner sich vom wissenschaftlichen Analyseverfahren des Historikers abgrenzt, gibt er sich als jemand zu verstehen, dem durchaus bewusst ist, dass er auf kulturelles Wissen zurückgreift – kulturelles Wissen verstanden als epistemische Dimension einer Gesellschaft bzw. Kultur, die u. a. wissenschaftliche Theorien und Konzepte vermittelt und verbreitet292. Dies jedoch nur, um das 286 287 288 289 290 291 292

Blumenberg (1998), 12. Ricœur (1986), 207. Vgl. Ricœur (1986). Titzmann (1991), 427. Fluck (1997), 20. Burger (1989), 303. Vgl. zur Begriffsbestimmung Titzmann (1989), 48: »›Kulturelles Wissen‹ sei nun die Gesamtmenge der Propositionen, die die Mitglieder der Kultur für wahr halten bzw. die eine

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kulturelle Wissen, das hier in Form der These von der Singularität des Holocausts unausgesprochen vorausgesetzt wird293, durch die Instanz der subjektiven Wahrheit zu relativieren. Damit wird keine Holocaust-Revision betrieben, wohl aber eine enge, politische korrekte Auslegung der Singularitätsthese, die jeglichen Ähnlichkeitsbezug auf das Vernichtungsgeschehen der Nazis verbietet, negiert. Kurz: Eben dasjenige kulturelle Wissen, auf das die Metapher »Kinderheim-KZ« referiert, wird durch die Verbindung mit dem individuellen Imaginären in Frage gestellt. Im Anschluss an Winfried Fluck möchte ich die literarische Repräsentation dieses individuellen Imaginären, das auf der Aneignung und Transformation kulturellen Wissens basiert und im Prozess des Realwerdens »die Realität durch den Zuschuß des Imaginären redefiniert«, als »kulturelles Imaginäres« bezeichnen294. Das kulturelle Imaginäre hat eine doppelte Funktion: Es richtet die individuelle Affekt- und Vorstellungswelt zu, stachelt sie aber auch immer wieder an. Die Unbestimmtheit, Unersättlichkeit und Unerschöpflichkeit des Imaginären wird zum Ausgangspunkt eines Prozesses des ständigen Neuentwurfs. Das kulturelle Imaginäre ist dabei beides: Ort imaginierter Bedeutungen, die zur Artikulation drängen und kulturellen Geltungsanspruch anmelden, und zugleich Fundus von Bildern, Affekten und Sehnsüchten, die das individuelle Imaginäre neuerlich stimulieren und in diesem Prozeß unser Wirklichkeitsverständnis fortwährend herausfordern.295

Wenn das kulturelle Imaginäre hier, nicht zuletzt der Prägnanz halber, am Beispiel einer Metapher exemplifiziert wurde, heißt dies nicht, dass es Darstellungsrestriktionen unterläge und notwendigerweise an Tropen, Figuren oder bestimmte literarische Kleinformen geknüpft wäre. Was Metaphern auf der paradigmatischen Ebene zu leisten imstande sind, nämlich eine Veranschaulichung von Konzepten des kulturellen Imaginären, vollbringt die Narration auf der syntagmatischen Ebene der kausalen und temporalen Erstreckung dieser Konzepte. Als individuelle Familienrückschau gepaart mit kulturellem Wissen und Sprachenergie vermag sich das kulturelle Imaginäre auf der Handlungsebene in unterschiedlichen Erzählformen (die von der Kurzgeschichte bis zum Roman reichen mögen), aber eben auch in einer einzelnen Metapher zu bezeugen.

hinreichende Anzahl von Texten der Kultur als wahr setzt«; zur Erläuterung dieses in der Tradition der Wissenssoziologie stehenden Wissensbegriffs 47 – 50. 293 Vgl. zur These von der Singularität des Holocausts, die im 1986 ausgetragenen Historikerstreit – 1989 erschien Brunsleben – eine prominente Rolle spielte, Knäpple (2007). 294 Fluck (1997), 20. 295 Fluck (1997), 21.

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Indexikalischer Modus: Bernhard Schlinks Der Vorleser als Beispiel für das psycho(-patho)logische Imaginäre Der indexikalische Modus, der durch »herstellende Verkörperung« Spuren realisiert, soll am Beispiel von Bernhard Schlinks Der Vorleser – und Hannes Frickes auf traumatischen Strukturen des Buches fokussierte Interpretation – erläutert werden. Der 1995 erschienene Roman, der innerhalb kurzer Zeit zum international erfolgreichen Bestseller avancierte, wurde zum Auslöser für eine nicht nur um literaturästhetische Fragen kreisende Debatte296. In drei Teilen entfaltet das Buch die Geschichte zwischen dem Erzähler Michael Berg und der Analphabetin Hanna Schmitz. Aus der Rückschau erzählt im ersten Teil Michael, wie er Ende der 1950er Jahre ein Verhältnis mit der über 20 Jahre älteren Hanna hatte. Ihre Beziehung, die sich nahezu ausschließlich in Hannas Wohnung abspielt, ist geprägt durch einen immer wiederkehrenden Ablauf: »Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bißchen beieinanderliegen – das wurde das Ritual unserer Treffen.«297 Im zweiten Teil setzt Michael, erneut rückblickend, auseinander, wie er als Jurastudent die in einem KZ-Prozess angeklagte Hanna wiedertrifft. Man wirft ihr vor, für Selektionen verantwortlich zu sein und für den Tod von auf einem Todesmarsch befindlichen Häftlingen, die nachts, von einer Fliegerbombe getroffen, in einer Kirche eingeschlossen verbrannten. Im Verlauf des Prozesses, in dem Hanna fälschlicherweise zugibt, einen Bericht über den Brand verfasst zu haben, realisiert Michael Hannas Analphabetismus, behält dies aber für sich. Hanna wird zu einer lebenslänglichen Haft verurteilt. Sein und Hannas weiteres Leben schildert Michael im dritten Teil. Da er nie aufhören konnte, seine Beziehung zu anderen Frauen »mit dem Zusammensein mit Hanna zu vergleichen«298, scheitert nicht allein seine Ehe. Hanna schickt er mit Literatur besprochene Kassetten ins Gefängnis, die sie samt den dazugehörigen Büchern zum Lesenlernen nutzt. Ihre Briefe freilich beantwortet er nie. Auf die eindringliche Bitte der Gefängnisleiterin besucht Michael sie kurz vor ihrer – nach 18 Jahren – bevorstehenden Entlassung. Zu dieser kommt es indes nicht, da Hanna sich in der Nacht zuvor erhängt. Der Vorleser provozierte eine Vielzahl kontroverser Reaktionen, wozu sowohl die Figur der Hanna als auch die des Michael Anlass gab. Hanna, weil sie Lesen lernt, um sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen299, mithin, da 296 297 298 299

Vgl. Hahn (2007); Heigenmoser (2005), 117 – 135. Schlink (1997), 43. Schlink (1997), 164. Vgl. Schlink (1997), 193: »Ich trat an das Regal. Primo Levi, Elie Wiesel, Tadeusz Borowski, Jean Am¦ry – die Literatur der Opfer neben den autobiographischen Aufzeichnungen von

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ein »solches Verhalten in der Haft […] von keinem der verurteilten NS-Täter bekannt« ist, »geradezu utopische Züge« verliehen bekommt300. Mit Blick auf die oben zugrundegelegte Trauma-Definition kann man überdies aus Hannas Verhalten schließen, »dass sie in einer sie völlig überfordernden Situation stand, als sie die Frauen und Kinder in der Kirche verbrennen ließ«301. Die These der TäterTraumatisierung bildet indes nur den Ausgangspunkt für den hier zur Diskussion stehenden transgenerationellen Zusammenhang, nämlich »die Behandlung von Traumastrukturen, die über Generationen an die an sich unschuldigen Kinder der Täter weiter[ge]geben [sic!] wurden […]. Wie für Hanna ihre Taten ist für Michael die Beziehung zu Hanna prägend.«302 Beispielhaft für das Schweigen zwischen der Tätergeneration (aus Angst vor Vorwürfen und Strafen) und deren Nachkommen (aus Scham und Schuldübernahme) ist das Verhältnis zwischen Hanna und Michael, dem eine grundsätzliche Konflikt- oder gar Kommunikationsbereitschaft mangelt. »Kinder werden so zu Stellvertretern der Tätergeneration, die Tätergeneration reagiert auf Nachfrage aus dieser Gruppe oft paranoid oder mit Kontaktabbruch.«303 Michael gelingt es nicht, eine engere Beziehung aufzubauen, sei es durch eindeutige Zuwendung oder durch entschiedene Distanznahme: Aber ich erkenne heute im damaligen Geschehen das Muster, nach dem sich mein Leben lang Denken und Handeln zueinander gefügt haben. Ich denke, komme zu einem Ergebnis, halte das Ergebnis in einer Entscheidung fest und erfahre, daß das Handeln eine Sache für sich ist und der Entscheidung folgen kann, aber nicht folgen muß. Oft genug habe ich im Lauf meines Lebens getan, wofür ich mich nicht entschieden hatte.304

Michael ist unfähig, ein stabiles Selbstvertrauen als Garanten für emotionale Zuverlässigkeit aufzubauen:

300 301

302 303 304

Rudolf Höss, Hannah Arendts Bericht über Eichmann in Jerusalem und wissenschaftliche Literatur über Konzentrationslager.« Fricke (2004), 196. Fricke (2004), 197. Vgl. weiter zum Problem der Täter-Traumatisierung ebd.: »Darauf weist etwa die Tatsache hin, dass die Intimität zwischen Hanna und Michael zuerst und immer durch das Vorlesen hergestellt wird, also möglicherweise durch eine unreflektierte Reinszenierung der für Hanna aufgeladenen und letztlich unlösbaren Situation, den Kindern im Lager kurz vor deren Tod dadurch den Rest ihres Lebens zu erleichtern, dass sie die Kinder ihr vorlesen ließ. In der Verhandlung wurde ihre Geste als der Gipfel der zynischen Grausamkeit angeprangert – und nicht als Geste der hilflosen Fürsorge, als die sie auch verstanden werden kann.« Fricke (2004), 197. Fricke (2004), 196. Schlink (1997), 21 f.

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Ich fühlte mich, als ich jung war, immer entweder zu sicher oder zu unsicher. Entweder kam ich mir völlig unfähig, unansehnlich und nichtswürdig vor, oder ich meinte, ich sei alles in allem gelungen und mir müsse auch alles gelingen. Fühlte ich mich sicher, dann bewältigte ich die größten Schwierigkeiten. Aber das kleinste Scheitern genügte, mich von meiner Nichtswürdigkeit zu überzeugen.305

So liegt es nahe, dass »Michael durch die missbrauchähnliche Situation und durch Hannas plötzliches Verschwinden möglicherweise selbst traumatisiert wurde«: »Albträume quälen ihn, er kann seine Affekte nur schlecht steuern und hat eine eingeschränkte Bandbreite des Affekts, er ist sozial und beruflich beeinträchtigt, zu keiner tieferen Beziehung fähig und zieht sich immer mehr zurück.«306 Die Besonderheit der von Hannes Fricke diagnostizierten transgenerationellen Tätertraumatisierung zeigt sich darin, dass zwischen Hanna und Michael keine Familienbeziehung besteht; transgenerationelle Übertragungsprozesse, so ist daraus zu schließen, setzen nicht notwendigerweise eine familiäre Bindung, sondern allein eine enge Beziehung der Akteure voraus. Schlinks Der Vorleser gehört, indem er mit einer transgenerationellen Symptom-Tradierung die auf Spuren basierende indexikalische Funktion von Peirce darstellt, zu denjenigen literarischen Manifestationen, die ich das psycho (-patho)logische Imaginäre nennen möchte. Der Ausdruck, der bewusst weiträumig angelegt wurde, damit sein Umfang die gesamte Bandbreite seelischer Nachwirkungen transgenerationell vermittelter NS-Geschichte (von psychischer Belastung bis psychischer Erkrankung) umfasst, ist deskriptiv zu verstehen; er bezieht sich schlicht darauf, dass sich unterschiedlichste Ergebnisse der mit der Traumaforschung befassten psychologischen Disziplinen in Texten wiederfinden, die sich der Fiktion bedienen.307 Damit verbindet sich keine wie auch immer geartete Beurteilung der in Rede stehenden Figuren308, vielmehr impliziert der 305 Schlink (1997), 64 f. 306 Fricke (2004), 197. 307 Vgl. zur Differenzierung von literarischem und außerliterarischem Wissen, die beide auf die für jegliche Erkenntnis unverzichtbare Leistung der Imagination angewiesen sind, Alt (2004), 191: »Es ist mithin nicht die imaginative Dimension, die das literarische vom außerliterarischen Wissen trennt, sondern deren Formung durch die Fiktion. Die Imagination versieht in sämtlichen Bereichen unserer Wissensordnung die Aufgabe der Vorstellungssimulation durch Bildproduktion, unabhängig von den topologischen Orten, an den sich Wissen sammelt und organisiert – Zeichenordnungen, Archive, Systeme, Diskurse. Erst in dem Moment, da diese Bildproduktion vom Akt des Fingierens instrumentalisiert und mit den Funktionsmodellen poetischer Gattungen bzw. Stilmittel verknüpft wird, gewinnt sie literarische Qualität.« 308 Vgl. dagegen beispielhaft Türcke (2009), 153, der die kulturstiftende Funktion des Traumas herausstellt: »Jesus ist ohne Johannes-Trauma ebenso undenkbar wie das Urchristentum ohne Jesus-Trauma. […] Nur dank einer spezifischen ›Pathologie‹ ist die Menschheit über das Tierreich hinausgewachsen: dank des Kunstgriffs, traumatische Schocks durch eine

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Begriff des psycho(-patho)logischen Imaginären die Wahl und Ausgestaltung einer Figurenkonzeption, die, sei es vom Autor als personalem Wissensträger bewusst intendiert oder nicht309, auf das Wissen der Psychologie bzw. der sich mit der Traumatherapie auseinandersetzenden Ansätze, Modelle und Methoden Bezug nimmt. Anders gesagt: Das psycho(-patho)logische Imaginäre basiert auf dem Ausdruck von Elementen des psycho(-patho)logischen Wissens in fiktionalen Darstellungsszenarien. Diese tendieren, wenn sie das fachspezifische Wissen in ausgearbeiteten Figurenmodellierungen zur Entfaltung bringen, zu größeren Erzählstrukturen.

Ikonischer Modus: Sophokles’ König Ödipus und Shakespeares Hamlet als Beispiele für das soziale Imaginäre In ihrem Forschungsüberblick zum deutschsprachigen Familienroman stellen Matteo Galli und Simone Costagli verwundert fest, dass »die Frage nach den literaturgeschichtlichen Modellen, auf welche die zeitgenössischen Texte angesichts einer historischen Kontinuität zurückbezogen werden können«310, kaum Beachtung finde. Umso erstaunlicher ist dieses Manko, als Familienbeziehungen, die von transgenerationellen Schuldzusammenhängen erschüttert werden, bereits in der griechischen Tragödie intensiv diskutiert werden. Schon Solon (ca. 640 bis etwa 560 v. Chr.) hegte die Vorstellung, dass die Gerechtigkeit langfristig, über Generationen hinweg wirkt, mit der Konsequenz, dass auch moralisch Unschuldige vom Leid betroffen werden können.311 Noch über 100 Jahre später beunruhigte die Tragiker, dass schuldlose Angehörige eines Geschlechts für die Schuld der Väter büßen müssen. Bis dann Aischylos mit der Orestie die Befreiung der Atriden vom Geschlechtsfluch zum Thema macht und somit die moralische Anstößigkeit durch die Überzeugung relativiert, dass der Erbfluch überwunden werden kann.312 Die Tatsache freilich, dass die Vorstellung von der Erblichkeit der Schuld zur kontrovers diskutierten Angelegenheit der

309 310 311

312

bestimmte Art der wiederholenden, zusammenfassenden Umkehrung zu bearbeiten. Das Christentum hat diesem Kunstgriff eine weltgeschichtlich neue Virtuosität angedeihen lassen.« Vgl. dazu Danneberg/Spoerhase (2011), 71 – 76. Galli/Costagli (2010), 15. Vgl. Solon, Fr. 1. 25 – 32 D. = Fr. 13. 25 – 32 W., zit. nach Szlez‚k (2010), 143: »So bringt Zeus die Vergeltung; doch nicht wie sterbliche Menschen/ Rächt er im Jähzorn gleich jeweils die einzelne Schuld;/ Aber für immer entgeht ihm keiner, der arge Gedanken/ Birgt in der Brust – zuletzt kommen sie sicher ans Licht./ Einer büßt sie sogleich, der andere später ; und wer sich/ Selber der Strafe entzieht, rächenden Göttern entgeht:/ Unerbittlich kommen die Moiren, und schuldlose Kinder/ Oder die Enkel sogar büßen die frevelnde Tat.« Vgl. exemplarisch Latacz (1993), 96 – 131; Meier (1988), 117 – 156.

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griechischen Tragödie gerät, beruht auf zwei grundsätzlichen Voraussetzungen: Zum einen auf der theologischen Konstruktion einer göttlichen Gerechtigkeit, die den Kausalnexus von Vergehen und Strafe, bei dem die Bestrafung des Schuldigen ausgesetzt werden kann, transzendent absichert (über die ZeusReligion und das Wirken der Moiren)313 ; zum anderen auf jenem Glauben an die Einheit der Familie […], den das archaische Griechenland mit anderen frühen Gesellschaften und mit mancher primitiven Kultur unserer Tage teilt. Mochte die Lehre von der Erbschuld auch unbillig sein, so wurde in ihr doch ein Naturgesetz deutlich, das Anerkennung heischte: Die Familie war eine moralische Einheit, das Leben des Sohnes die Fortführung der väterlichen Existenz, und er erbte des Vaters sittliche Schuld genauso wie seine geschäftlichen Schulden.314

Auch wenn die Vorstellung von der stellvertretenden Buße für die Verfehlung eines anderen zunehmend Anstoß erregte, auch wenn moralisch betrachtet »die Reinkarnation eine befriedigendere Antwort auf die spätarchaische Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit als die Erbschuld«315 geben sollte, vollzog sich die Befreiung des Individuums von den Fesseln der Familie nicht abrupt. So verschmilzt im sophokleischen König Ödipus – mustergültig wie in keiner anderen der überlieferten griechischen Tragödien – jener emanzipatorische, der athenischen Demokratie zuzurechnende Rationalismus mit den alten Geistern der Erblichkeit der Schuld und der Familie als moralischer Ganzheit. Man muss nicht mit Jean Bollack die – extreme – These vertreten, dass Laios durch die Übertretung des vom Orakel verfügten absoluten Zeugungsverbots seine Familie ins Unglück stürzt, dass Laios’ Hybris also das Geschick des Sohnes prädestiniert316, um Ödipus von der gänzlichen Selbstverantwortlichkeit als moralisches Subjekt ein Stück weit zu entbinden.317 »Sophokles’ Tragödien«, so kontextualisiert Claudia Benthien, sind in einer Zeit angesiedelt, in der sich der Übergang von einer faktizistischen zu einer voluntaristischen Schuldauffassung vollzieht. Damit wird eine Form der unfreiwilligen, kontingenten und als schmachvoll erlittenen Bürde (genealogische Erbschuld) von einer eher aktiven, vom Subjekt zu verantwortenden Form der Schuld 313 314 315 316

Vgl. Dodds (1991), 21 f. Dodds (1991), 22. Dodds (1991), 85. Vgl. Bollack (1994), 12 – 19 (bes. 17: »Der Grund des Bruchs, auf den der Gott hinweist, ist das exzessive Wachstum der Familie, das sich auch in Ödipus’ Geburt wieder bestätigt.«), 68 – 70 und 150: »Die Taten des tragischen Helden stehen in einem generationsübergreifenden Zusammenhang, ohne den der Grund der Überschreitung, die man als Schuld versteht, nicht faßbar wird. König Ödipus stellt insofern eine sehr eigentümliche Form der Tragödie dar, da sich die menschliche Hybris schon vor seiner Geburt gegen den Helden gekehrt hat.« 317 Eine Kurzzusammenfassung wichtiger Positionen der Interpretationsgeschichte des König Ödipus (von Schelling bis Jean Bollack) bietet Flaig (1998), 17 – 20.

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unterschieden. Die Schuld, die Ödipus unwissentlich und ungewollt auf sich lädt, steht ambivalent zwischen beiden. Sie ist nur bedingt als personale Schuld zu bezeichnen, insofern sie als Generationen übergreifender Fluch und Erbschuld von seinen Eltern übertragen wird und Ödipus sich aktiv aus der familiären Verstrickung und Fatumsbindung loszulösen versucht.318

Ohne hier eine Diskussion über die (Un-)Schuld des Ödipus entfachen zu wollen319, sei nur an das maligne Familienerbe der Kadmos-Nachkommen erinnert, das dem ausgesetzten und verstümmelten Kleinkind Ödipus in Form von feindlichen Impulsen der Eltern leibhaftig eingeschrieben ist. Der transgenerationelle Fluch, dessen körperliche Materialisation die Stigmatisierung ausmacht, lässt sich von dem Begehren nach radikaler Selbsterkenntnis, das sich bei Ödipus als rückhaltloses Aufdecken der eigenen Familiengeschichte realisiert, nicht trennen. Die Gegenwart, die zu klärende Identität des Ödipus, ist mit der Vergangenheit, dem Wissenwollen und der Enthüllung des Familiengeheimnisses, verknüpft. Betrachtet man die Hauptfigur dieser Familientragödie aus psychologisch-psychoanalytischer Perspektive, so erweist sie sich als archetypisches Beispiel einer transgenerationellen Traumatisierung. Schuldlos schuldig zu werden, dieses zentrale Motiv der griechischen Tragödie, erschließt der Psychotraumatologe Gottfried Fischer in seiner psychologischen Bedeutung durch eine transgenerationelle Verständnisperspektive. Um die menschliche Hybris auszugleichen, verkörperten die Götter »ein archaisch rächendes Über-Ich«320. Auf die Ödipus-Figur angewendet, bedeutet dies: »Das transgenerationale Drama von Verbrechen, Tabubruch, Traumatisierung, Strafe und rächender Wiederholung der gesamten Sequenz ist in einen intrapersonalen Konflikt zusammengezogen, den eine einzige, königliche Person durch Selbsterforschung austrägt.«321 Auf individualpsychologischer Ebene erklärt diese Deutungsperspektive, die Ödipus als ungewolltes, verstümmeltes und der Tötung preisgegebenes Kind ins Zentrum rückt, zahlreiche seiner Verhaltensweisen wie seine unmotivierte Aggressivität bzw. Destruktivität, die er z. B. am Dreiweg an den Tag legt, als er mordet, nur weil ein Fremder ihm den Weg versperrt. Gegen Laios schlägt, so könnte man pointieren, diejenige Gewalt zurück, die Ödipus als wehrloses Kind angetan wurde. Angesichts der für die archaische Zeit charakteristischen Lehre von der Erblichkeit der Schuld vermag die Figur des Ödipus auf psychohistorischer Ebene aber zugleich als der Beginn einer Reflexion der transgenerationellen Verstrickungen zu gelten.

318 319 320 321

Benthien (2010), 138 f. Vgl. dazu umfassend Lurje (2004). Fischer (2005), 150. Fischer (2005), 151.

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Dass sich Ödipus seiner eigenen Wünsche und begangenen Taten bewusst wird, kann als ein vernunftbegründeter individueller Ausweg aus generationenalter Verstrickung gesehen werden. Mord an Vater, Mutter oder Geschwistern und Inzest verstoßen gegen die ältesten und mächtigsten Tabus der Menschheit. Ihre Folgen werden, wie die griechischen Mythen verdeutlichen können, wie ein ›Fluch‹ über die Generationen weiter gegeben, unter dem Zwang entweder zur Wiederholung oder zur Selbsterkenntnis.322

Der Erbfluch wird in der sophokleischen Tragödie nicht ungebrochen repräsentiert. Unterwirft man den König Ödipus nämlich einer bifokalen Optik, in der sich die theologische Perspektive in Form eines von göttlichem Recht sanktionierten transgenerationellen Schuldtransfers mit der psychologischen in Gestalt einer transgenerationellen Traumatisierung verbindet, so offenbart sich sein paradigmatischer Charakter für unseren Zusammenhang. In literarhistorischer Perspektive markiert die Tragödie eine frühe Repräsentation des teleskopischen Imaginären, die freilich in ihrer Spannung aus transgenerationellem Wiederholungszwang und Aufklärung überdies einen zentralen Aspekt noch unserer heutigen gesellschaftlichen Dynamik zum Ausdruck bringt. König Ödipus, pointiert Gottfried Fischer, »ist heute so aktuell wie in der europäischen Antike und den klassischen psychoanalytischen Konzepten.«323 Konkret, mit Blick auf den hier interessierenden Zusammenhang gesagt: Für die Genealogie des teleskopischen Imaginären wie für die historische Spezifität, wie sie sich in der literarischen Darstellung innerfamiliärer, aus der NS-Geschichte resultierender Dynamiken ereignet, fungiert der König Ödipus als Referenztext par excellence. Die religions- bzw. geistesgeschichtliche Spannung zwischen diesen beiden Lesarten freilich ist enorm. Basiert die Vorstellung des Erbfluchs bzw. der Erbschuld auf einer eindeutigen Trennung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Wissen, so die Vorstellung von der transgenerationellen Traumatisierung auf der Unterscheidung des Psychischen in Bewusstes und Unbewusstes. Im Gegensatz zu dem überindividuellen, durch göttliches Recht abgesicherten Übertragungsvorgang vollzieht sich die transgenerationelle Traumatisierung als seelische Dynamik, die im Bereich des Unbewussten stattfindet. Kurz, für ein am familiären Weiterwirken von NS-Erfahrungen ausgerichtetes Augenmerk dürfte wohl nur das enttheologisierte Erbe der griechischen Tragödie von Belang sein. Denn wer mag in einer entzauberten Welt noch an einen genealogisch vermittelten Schuldzusammenhang glauben, dessen Wirken auf göttliche Mächte zurückgeht? Aller Aufklärung zum Trotz konnte sich die Vorstellung eines Geschlechterfluchs – in gleichsam säkularisierter Form – bis in die heutige Zeit hinüber322 Fischer (2005), 153. 323 Fischer (2005), 159.

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retten. Zumindest äußerte sich der Autor und Regisseur Thomas Harlan, Sohn des Regisseurs des NS-Propaganda-Films Jud Süß Veit Harlan, in diesem Sinne. Er, dessen Lebensthema das Fortdauern des Dritten Reichs ausmachte, bekannte noch mit fast 80 Jahren in einem Interview: Ich wünschte mir keine Söhne und Töchter, die sagen: ›Ich heiße nicht so, ich habe damit nichts zu tun.‹ Es ist eine verfluchte Geschichte, für die ich mir nicht vorstellen kann, dass noch Kinder meiner Kinder meiner Kinder meiner Kinder nicht auch noch nicht ganz zu Unrecht haftbar gemacht werden können.324

Womöglich vermag man auch noch ein gegen alle Rationalisierungsbestrebungen immunes Schuldgefühl, das die biologische Verwandtschaft mit der moralischen kurzschließt, unter eine moderne Form des Geschlechterfluchs zu subsumieren. Diesen Konnex macht ein anderes Täter-Kind für sich wie folgt geltend: Einer der Gründe, warum ich in die Therapie ging, war das Gefühl, daß ich mich zu stark mit meinem Vater identifizierte. Theoretisch weiß ich, daß die biologische Beziehung zu einem Menschen nicht gleichzusetzen ist mit der Beziehung zu dem, was er tut. Aber ich dachte immer : Was berge ich tief in mir? Zu was bin ich fähig? Ich dachte, daß irgendwie etwas Böses in mir sein müsse.325

Zeitgenössische Fälle freilich, in denen ein Geschlechterfluch oder ein biologisch determinierter Schuldzusammenhang reklamiert wird, bleiben – Thomas Harlan sowie dem psychologischen Befund einer Identifikation mit einem Elternteil zum Trotz326 – die Ausnahme. Dem stehen zwei Motive aus dem König Ödipus gegenüber, die auch für gegenwärtige Versionen des teleskopischen Imaginären konstitutiv sind: eine starke Familienbindung (gleich ob als Sym- oder Antipathie realisiert) und ein Erinnerungsimperativ. 324 Thomas Harlan in: Harlan. Im Schatten von Jud Süß. Ein Film von Felix Moeller (2008), 1:36:00 – 1:36:18. Vgl. auch: »Ich war nicht gegen meinen Vater sein Sohn, ich war mit meinem Vater sein Sohn, und so weit, dass ich mit ihm alle die schändlichen Dinge, die mit seinem Zutun entstanden sind – Verantwortung, dafür die Verantwortung getragen habe. Das schien mir ganz selbstverständlich, mit ihm verantwortlich zu sein und nicht gegen ihn.« (ebd., 1:25:43 – 1:26:15) Die Verantwortungsübernahme resultierte, so stellt es Thomas Harlan dar, nicht aus der Verfügung einer göttlichen Instanz, sondern aus der Verantwortungsabwehr des Vaters: »Ich erinnere mich eben doch an jemand, der sich gegen seine Veantwortung gewehrt hat. Und ich wäre beruhigt, wenn ich wüsste, dass er mit der Verantwortung im Herzen gestorben ist. […] Ich wäre ruhiger, es wäre weniger Aufruhr in meiner Welt, wenn er eine bessere Hinterlassenschaft organisiert hätte, aus seinem Leben heraus.« (ebd., 1:29:29 – 1:29:59) 325 Bar-on (1993), 244. 326 In dem postum erschienenen Vater-Buch Veit geht Thomas Harlan in seiner Selbststilisierung sogar so weit, dass er sich in – offensichtlicher Anlehnung an Jesu – als eine Art Erlöserfigur imaginiert, die die vom Vater nicht empfundene Schuld auf sich nimmt, um die kommenden Generationen zu befreien (vgl. Harlan [2011], 92 – 94).

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Beide Motive verbinden den König Ödipus mit Shakespeares Hamlet, jener dramatischen Umsetzung einer literarischen Familienkonstellation, deren moralische Vertracktheit als ebenso notorisch gilt, wie ihre Vorbildfunktion für bis heute vielfältige Adaptionen ungebrochen ist.327 Während sich Iokaste im König Ödipus vergeblich gegen das fluchartige Erinnernmüssen des – zunehmend von ›Geistern‹ aus der Vergangenheit umgebenen – Ödipus zu stemmen versucht328, führt Shakespeares moderne Tragödie den in seiner Ambivalenz schwer lesbaren Geist des Vaters ein. Es ist unklar, ob er vom Himmel oder von der Hölle geschickt wurde, er wird sowohl als meuchlings gemordetes Opfer als auch als schuldbeladener Täter dargestellt. Diese Unklarheiten und Fragen deuten an, dass die Vorgeschichte des Dramas uferlos und unabgeschlossen ist; sie kehrt noch einmal zurück und sucht die zweite Generation heim.329

Für die Konzeption des Hamlet, so die Zentralthese von Stephen Greenblatts Studie Hamlet im Fegefeuer, der ich hier folge, ist die Aneignung der Kontroverse um das Fegefeuer von entscheidender Bedeutung.330 Die Lehre vom Fegefeuer, die, obwohl sie erst ziemlich spät – wohl in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts – ausformuliert wurde, bald als Vorstellung eines Zwischenreichs zwischen Himmel und Hölle zum wesentlichen Bestandteil für die Macht und Autorität der katholischen Kirche geriet (knüpfte sich daran doch ein System von Ablass und Begnadigung für die dort eingesperrten Seelen)331, wurde von den Protestanten in der englischen Gesellschaft zu Ende des 16. Jahrhunderts angefeindet. Deren Angriff zielte, nachdem Heinrich VIII. dem Katholizismus in England ein gewaltsames Ende bereitete, auf die Imagination: »Das Fegefeuer sei, so der Vorwurf, nicht nur ein Betrug, sondern auch ein Stück Poesie.«332 Greenblatt wendet sich dem gesellschaftlich-theologischen Hintergrund von Shakespeares Hamlet zu, um zu zeigen, dass das Stück »eben auch die unbeabsichtigte Konsequenz der theologischen Streitigkeiten« seiner Zeit ausmacht333. Mit ihrem Vorwurf, das Fegefeuer sei ein großes Stück Dichtung, 327 George Steiner bezeichnet, wie ich meine zu Recht, den Hamlet-Stoff neben denen, die um Faust, Don Quichotte und Don Juan kreisen, als einen der in der Moderne seltenen Erfindungen »archetypischer Personae oder Gestaltungen von Handlungen, die in zeugendem Potential mit denen der Antike vergleichbar wären. Mir fallen nur vier ernst zu nehmende Beispiele ein.« (Steiner 1994) Vgl. zur deutschsprachigen Hamlet-Rezeption in der Prosa Loquai (1993), in der Lyrik Sessler (2008). 328 Vgl. Gutjahr (2010), 126. 329 Assmann (2008), 38. 330 Vgl. Greenblatt (2008), 9. 331 Vgl. Greenblatt (2008), 23 f. 332 Greenblatt (2008), 9. 333 Greenblatt (2008), 12.

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haben die Protestanten, gleichsam »eine Poetik des Purgatoriums entwickelt«334. Shakespeare nun machte die theologische Kontroverse um das Fegefeuer und die Ambivalenz aus Angst und Neugierde, die die Wiederkehr eines Toten in der Regel heraufbeschwört335, für seine Dramatik fruchtbar. Er erkannte, dass das Gebiet des katholischen Fegefeuers und allein schon die Zweifel, ob es solche Geister überhaupt geben kann, ein enormes theatralisches Potential bieten. »Mehr als jeder andere Autor seiner Generation hat Shakespeare begriffen, daß mächtige Verbindungen bestanden zwischen seiner Kunst und Geistererscheinungen.«336 Nicht nur im Hamlet, in dem das Geistermotiv samt dem darin enthaltenen Potential am vielschichtigsten entfaltet wird, greift Shakespeare wiederholt auf drei grundsätzliche Perspektiven zurück: den »Geist als Gestalt falscher Mutmaßungen, als Gestalt historischer Albträume und als Gestalt tiefer psychischer Erregung und Beunruhigung. Und ziemlich verborgen finden wir auch noch eine vierte Perspektive: der Geist als Gestalt des Theaters.«337 Greenblatts Lektüre von Shakespeares Hamlet führt vor, in welch eminentem Sinne Geister als Bestandteile des Geflechts der historischen Aktualität fungieren. Gerade nachdem im 20. Jahrhundert die psychologische Dimension von Shakespeares bekanntester Tragödie betont wurde und in der Folge die psychoanalytische Lesart den Geist in eine traumatische Erinnerung des Prinzen umdeutete, ist es notwendig zu erkennen, dass das Psychologische im Hamlet »fast ausschließlich aus dem Theologischen heraus konstruiert ist«, in dessen Mittelpunkt die kontroversen Debatten stehen, »die Anfang des sechzehnten Jahrhunderts um das Fegefeuer ausgefochten wurden«.338 Inwiefern nun handelt es sich bei König Ödipus und Hamlet um ikonische Repräsentationsformen, um Modelle, die transgenerationelles Wissen bei gleichzeitiger Stellvertretung verkörpern? Sophokles dramatisiert den Erbfluch, verkörpert durch die kontrovers diskutierte Orakelpraxis von Delphi339, Shakespeare semantisiert die Fegefeuer-Debatte, indem er einen Protagonisten entwirft, der vom Geist seines Vaters bedrängt wird. Beide Tragödien transformieren – in einem für das Textverständnis wesentlichen Sinne – sozial kodierte Bedeutungszusammenhänge, für die ich Stephen Greenblatts Begriff der »so334 Grennblatt (2008), 63. 335 Vgl. Greenblatt (2008), 146: »Die Wiederkehr eines Toten erregt panische Angst, und doch ist der kollektive Impuls der Leute nicht, die unheimliche Erscheinung zu fliehen oder sie abzuwehren, vielmehr will man sich ihr nähern und herausfinden, wer sie ist und was sie will. Gleichzeitig sind sich alle darin einig, daß eine solche Annäherung äußerste Vorsicht erfordert.« 336 Greenblatt (2008), 210. 337 Greenblatt (2008), 210 f. 338 Greenblatt (2008), 295. 339 Vgl. zur Rolle des Orakels von Delphi in der griechischen Tragödie Vogt, S. (1998).

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zialen Energie« übernehme. Greenblatt, der die »Analyse der kulturellen Zirkulation sozialer Energie«340 und »das Studium der kollektiven Erzeugung unterschiedlicher kultureller Praktiken und die Erforschung der Beziehungen zwischen ihnen […] als Kulturpoetik bezeichnet«341, charakterisiert die soziale Energie, die im elisabethanischen Theater im Umlauf ist, beispielhaft als: »Macht, Charisma, sexuelle Erregung, kollektive Träume, Staunen, Begehren, Angst, religiöse Ehrfurcht, zufällige, intensive Erlebnisse«342. Greenblatts großräumige metaphorisch-dynamisierende Rede von der »sozialen Energie«, die Wolfgang Behschnitt »im Sinne einer diskursiven Figuration« reformuliert, »die gesellschaftliche Bedürfnisse, Wünsche, Ängste und Fantasien repräsentiert«343, soll hier mit Blick auf das teleskopische Imaginäre begrenzt und auf soziale Ausformungen transgenerationeller Bezüge bestimmt werden. Ferner möchte ich als Sammelbezeichnung für die literarischen Manifestationen, die diese spezielle soziale Energie umsetzen344, einen Begriff vorschlagen, den – wenn auch mit anderer Abgrenzung – Cornelius Castoriadis prägte: das soziale Imaginäre345. Als Beispiele für das soziale Imaginäre variieren sowohl König Ödipus als auch Hamlet, indem sie in Gestalt der Orakelpraxis bzw. des Geists von Hamlets Vater die Vorstellung der transgenerationellen Determination literarisch umsetzen, eine Spezifikation der sozialen Energie. Insofern mögen sie als Paradigma für alle diejenigen Serien von Texten gelten, die die Nachwirkungen der NS-Familiengeschichte auf der Basis eines gemeinsamen Themas346 und einer spezifischen sozialen Energie als literarische Narration realisieren. Denn eine Arbeitsweise, die am sozialen Imaginären interessiert ist, wird in der 340 341 342 343

Greenblatt (1993), 24. Greenblatt (1993), 14. Greenblatt (1993), 31. Behschnitt (1999), 161; vgl. auch Eder (2003), 214: »Soziale Energie als Untersuchungsparameter will die Bewegung des Sinns von kulturellen Formationen durch die Zeit hindurch reflektieren.« Zur kritischen Diskussion des Ausdrucks »soziale Energie« vgl. Baßler (2005), 47 – 49. 344 Vgl. zum Zusammenhang von sozialer Energie und Kunstwerk Eder (2003), 213. 345 Bei Castoriadis referiert das soziale Imaginäre nämlich nicht auf die Ebene der literarischen Repräsentation, sondern deckt sich zu einem Großteil mit Greenblatts Begriff der sozialen Energie. Castoriadis zufolge bezeichnet das soziale Imaginäre etwas, das, ohne »auf Wahrnehmbares (Reales) noch auf ein Gedachtes (Rationales) bezogen« sein zu müssen (Castoriadis [1990], 241), »in der Praxis und im Tun der betreffenden Gesellschaft« als »sinnstiftende Organisation des menschlichen Verhaltens und der gesellschaftlichen Beziehungen« wirkt (Castoriadis [1990], 243). Soziale imaginäre Bedeutungen sind demgemäß zu verstehen »als der unsichtbare Zement, der den ungeheuren Plunder des Realen, Rationalen und Symbolischen zusammenhält, aus dem sich jede Gesellschaft zusammensetzt« (Castoriadis [1990], 246). 346 Verstanden als semantische Großeinheit in genetischer wie analytischer Hinsicht, als die die Gesamtstruktur des Textes organisierende Konfliktkonstellation bzw. Idee (vgl. Daemmrich [1987], 305 – 309; Lahn/Meister [2008], 204 f.).

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Regel keine isolierten Einzeltexte, sondern Textgruppen analysieren. Lässt sich doch eine spezifische soziale Energie erst aus einer Konstellation von Texten ermitteln, die sich um eine gemeinsame Fragestellung versammeln.

Ansätze zu einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte des teleskopischen Imaginären Um zu rekapitulieren: Das teleskopische Imaginäre beschreibt – nach meinem Versuch einer Unterscheidung von drei durch ihre Erklärungsmuster für das Verhältnis von Text und familiärer Psychohistorie charakterisierten Typen – drei verschiedene Formen der literarischen Repräsentation von transgenerationellen Familienzusammenhängen im NS-Kontext: das psycho(-patho)logische Imaginäre (Stichwort: Symptomtransfer), das kulturelle Imaginäre (Stichwort: individuelle kreative Redefinition von Vergangenheit) und das soziale Imaginäre (Stichwort: soziale Modellierung des Weiterwirkens der Vergangenheit). Die drei Formen stellen, basierend auf den drei unterschiedenen Kontexten, psychologisches Wissen, kulturelles Wissen und soziale Energie, idealtypische Ausprägungen dar. Weder soll behauptet werden, dass sich jegliche Familienerinnerungsprosa, die transgenerationelle Transferprozesse narrativ veranschaulicht, problemlos einem der drei Typen zuordnen lässt, noch, dass in diesen Texten immer nur ein Typus realisiert werden kann. Stattdessen ist mit Misch- und Grenzfällen zu rechnen, mit Texten also, die unterschiedliche Darstellungsformen miteinander verbinden bzw. an der Grenze zwischen ihnen angesiedelt sind. Die Absicht der vorstehenden Klassifizierung besteht lediglich darin, einige Basistypen der narrativen Veranschaulichung transgenerationeller Transferprozesse herauszuarbeiten, die für das Forschungsgebiet des teleskopischen Imaginären von systematischem Interesse und damit auch für die Zuordnung bzw. dem typologischen Vergleich der Modellanalysen dieser Untersuchung von grundsätzlicher Bedeutung sind. Das Konzept des teleskopischen Imaginären zieht zum einen die Konsequenz aus der methodischen Notlage, den genauen Erinnerungs- bzw. Phantasieanteil von postmemorialer Literatur nicht bestimmen zu können. Zum andern bietet es eine den spezifischen Bedingungen und Leistungen des Gedächtnismediums Literatur Rechnung tragende basale Typologie, um die Möglichkeiten der Literatur als Instrument zur Durcharbeitung der weiterwirkenden Vergangenheit für die postmemoriale Generation auseinanderzusetzen. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht mithin weder die Betrachtungsebene der Literatur als Me-

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dium des Gedächtnisses347 noch die narratologische Ebene nach der formästhetischen Umsetzung von Gedächtnis und Erinnerung in der Literatur348, sondern eine Kombination aus textanalytischen und kultur- bzw. wissenspoetischen Fragestellungen349. Auf der Ebene des Untersuchungsinteresses korrespondiert die vorliegende Dreiteilung des teleskopischen Imaginären mit der von Olav Krämer vorgenommenen Typologisierung der Erklärungsweisen, die Arbeiten aus dem Gebiet von Literatur und Wissenschaft mit den drei Ausdrücken »Intention«, »Korrelation« und »Zirkulation« beschreibt. Weil das psycho(-patho)logische, kulturelle und soziale Imaginäre wissenschaftliches und kulturelles Wissen transformieren bzw. an sozialer Energie partizipieren, ergeben sich ähnliche Untersuchungsziele und Erklärungsmuster wie bei der Frage nach den verschiedenen Ansätzen für die Relationierung von Literatur und Wissen. Diese Korrespondenz ist dann von heuristischem Wert, wenn man eine diachrone Perspektivierung vornehmen, also an ein Textkorpus des teleskopischen Imaginären die Fragestellungen nach Regularitäten bzw. dem Wandel von Strukturen und Funktionen herantragen möchte350. Im Hinblick auf die Zielvorstellung einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte, die Texte von der frühen Nachkriegszeit bis in die Gegenwart daraufhin untersucht, wie sie im weitesten Sinn Lösungsangebote für das Problem der Nachwirkungen der NS-Familiengeschichte entwirft351, sind die folgenden kurzen Hinweise zu verstehen. Mit der Überschrift »Intention« versieht Krämer einen Untersuchungsansatz, der die Beziehungen zwischen Literatur und Wissen »durch den Rekurs auf die Kenntnisse und die angenommenen Intentionen des Autors des literarischen Textes erklärt«352. Dieser Ansatz korrespondiert mit dem Untersuchungstyp des kulturellen Imaginären, der sich für transgenerationelle Belastungen in Gestalt von Konstruktionen eines individuell angeeigneten und zugerichteten kulturellen Wissens interessiert, die sich autorintentional erklären lassen. Um auf der Basis dieses Untersuchungstyps Argumente für die Rekonstruktion einer problemgeschichtlichen Periodisierung erhalten zu können, bedarf es eines Text-

347 Vgl. zu dieser Perspektive Erll (2005b). 348 Vgl. Herrmann, M. (2010), 86: »Die gegenwärtig prominenteste Betrachtungsebene dürfte die der Literatur als Medium des Gedächtnisses sein. […] Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen demgegenüber narratologische und textanalytische Fragestellungen: Welche Rolle spielen Gedächtnis und Erinnerung in der Literatur, im Text, wie werden sie in Inhalt und Form inszeniert?« 349 Vgl. zur Literaturwissenschaft als Wissenspoetik Malinowski/Ostheimer (2013). 350 Vgl. zu diesen Fragestellungen Titzmann (1991), bes. 416 und 429. 351 Vgl. zu einer zeitgemäßen Konzeption literaturwissenschaftlicher Problemgeschichte und den damit verbundenen methodischen Anforderungen Werle (2006). 352 Krämer (2011), 80.

Ansätze zu einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte

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korpus, das auf eine historisch spezifische, wandelbare Problemlage mit vergleichbaren Lösungsangeboten reagiert. Bei dem Ansatz der »Korrelation« geht es Krämer zufolge auf der einen Seite um die Darstellung bestimmter Phänomene in der Literatur, auf der anderen Seite um zeitgenössische wissenschaftliche Theorien über diese Phänomene. Diese literarischen und wissenschaftlichen Systemzustände oder Entwicklungsreihen werden in den Untersuchungen in einen erklärenden Zusammenhang gebracht.353

Dieser Ansatz kann, da er die Vorgänge in der Wissenschaft zu Bedingungen von literarischen Trends erklärt, auch für die Erklärung des psycho(-patho)logischen Imaginären in Anspruch genommen werden. Ungeachtet der Voraussetzung einer relativen Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit von Literatur und Wissenschaft354 trägt die Verbreitung des wissenschaftlichen Konzepts der Psychotraumatologie demnach dazu bei, gewisse Merkmale und Veränderungen in einer bestimmten Literaturphase zu erklären und somit auch das spezifische Verhältnis von Literatur und psychologischem Wissen in dieser Zeit als »zugleich miteinander ›gekoppelte‹ und relativ autonome Bereiche«355 zu bestimmen. Unter dem Etikett »Zirkulation« fasst Krämer jene Ansätze zusammen, deren grundlegende Annahmen über Wissen besagen, dass Wissen stets innerhalb von Wissensordnungen hervorgebracht werde, die durch bestimmte Regeln und Verfahren der Aussagenbildung und insbesondere durch bestimmte Darstellungsformen charakterisiert seien, und dass diese Formen das hervorgebrachte Wissen entscheidend prägen, indem sie etwa mögliche Objekte des Wissens und Zugangsweisen zu ihnen festlegen356.

Im Anschluss an Stephen Greenblatts theoretische Grundannahme der Enthierarchisierung von Text und Kontext propagiert dieser Untersuchungstyp grundlegende Ähnlichkeiten zwischen Literatur und Wissenschaften, so dass sich für einen bestimmten Zeitabschnitt von deren Situierung in einem gemeinsamen Wissensraum sprechen lässt.357 Darin korrespondiert der Zirkulations-Ansatz mit dem sozialen Imaginären, akkumuliert sich doch gleichermaßen die soziale Energie in textuellen, bevorzugt in literarischen Repräsentationsweisen ›großer‹ Autoren358 wie umgekehrt auch die gesellschaftlichen 353 Krämer (2011), 86. 354 Pethes (2004), 354, spricht diesbezüglich von einer »Koevolution zwischen Wissenschaft und Literatur«. 355 Krämer (2011), 95. 356 Krämer (2011), 99. 357 Vgl. Krämer (2011), 102. 358 Vgl. Greenblatt (2001), 55: »Große Autoren sind Meister genau dieser [sc. herrschenden] Codes, Spezialisten im kulturellen Austausch. Die von ihnen geschaffenen Werke sind

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Einleitung

Kräfte von diesem Modus der Repräsentation mitgestaltet werden. Für eine Historisierung des teleskopischen Imaginären ist dabei die Annahme von Belang, dass die Literatur verborgene Austauschbeziehungen zu den zeitgenössischen Wissenschaften unterhält, die bis hin zu der ihren Sonderstatus auszeichnenden Fähigkeit reichen können, »das ›Ungesagte‹ einer Wissensordnung oder das ›Unbewusste‹ des wissenschaftlichen Wissens sichtbar werden zu lassen«359. Die zwei Hauptinteressen dieser Studie werden manifest, wenn man die drei von Krämer herausgearbeiteten Untersuchungsansätze, die insofern nicht miteinander konkurrieren, als sie nicht die gleichen Arten von Beziehungen zwischen Literatur und Wissen zum Gegenstand haben, mit der Dreiteilung des teleskopischen Imaginären verbindet: ein typologisches und ein literarhistorisches Interesse. Um als Abschluss der einleitenden Ausführungen wenn schon nicht eine Leitlinie oder eine entwicklungsgeschichtliche These – derlei wird sich in Ansätzen erst im sukzessiven Vollzug einstellen –, so doch zumindest die Auswahlkriterien kurz zu erläutern, die für das Korpus der nun zu behandelnden Erzähltexte leitend waren: In Frage kamen narrative Texte deutschsprachiger Autoren, in denen die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in Täterfamilien das thematische Epizentrum ausmachen.360 Während bei der Entstehungszeit keine restriktiven Vorgaben gesetzt wurden (der zeitliche Rahmen reicht von Alfred Döblins 1956 erschienenem Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende bis zu Svenja Leibers 2010 publiziertem Roman Schipino), verdankt sich die Begrenzung auf deutschsprachige Autoren erstens der entschieden deutsch-österreichischen Problemlage und zweitens der, abgesehen vom ersten Kapitel, Einschränkung auf die Täterlinie, die aus den sich auch in der Familientradierung fortschreibenden fundamentalen Erfahrungsdifferenzen zwischen Tätern und Opfern resultiert. Der Analyse-Teil beginnt mit einigen Stationen der Hamlet-Rezeption in der Nachkriegsliteratur (bis Mitte der 1960er Jahre), die um grundsätzliche Darstellungsprobleme von familiären Nachwirkungen der NS-Geschichte kreisen. An eine überblickshafte Inspektion der Väterliteratur (um 1980) schließt sich die Beschäftigung mit W.G. Sebalds Austerlitz an, die insofern eine Sonderrolle innehat, als sie der speziellen Symbiose zwischen einem Opfer- und einem Täterkind nachgeht. Darauf folgt, die Gefahr einer vorschnellen Nivellierung des Ost-West-Gegensatzes reflektierend, Strukturen zur Akkumulation, Transformation, Repräsentation und Kommunikation gesellschaftlicher Energien und Praktiken.« 359 Krämer (2011), 101. 360 Nicht berücksichtigt wurden Generationenromane, in denen das Erbe der NS-Zeit nur einen, aber nicht den zentralen Aspekt der Familienüberlieferung ausmacht (z. B. Arno Geiger : Es geht uns gut [2005]; Sabine Schiffner: Kindbettfieber [2005]; Julia Franck: Die Mittagsfrau [2007]; Jan Koneffke: Eine nie vergessene Geschichte [2008]; Jenny Erpenbeck: Heimsuchung [2008]; Reinhard Jirgl: Die Stille [2009]).

Ansätze zu einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte

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eine Zweiteilung in eine ostdeutsche und eine westdeutsche Familienerinnerungsliteratur nach 1990361, um nach einer Verlagerung des literarischen Handlungsraums in das heutige Polen mit einem Ausblick auf jüngste Phänomene des teleskopischen Imaginären zu schließen. Die Untersuchung beansprucht kein quantitativ wie qualitativ repräsentatives Textkorpus, wie es für eine literarhistorische Periodisierung vonnöten wäre362, die die Veränderungen von Mitteln und Funktionen einer auf die Nachwirkungen der NS-Geschichte fokussierten Familienliteratur zu rekonstruieren beabsichtigt. Aber sie liefert eine Vielzahl von Einzelanalysen als Bedingung für eine am historischen Wandel ausgerichtete Überschau bzw. die Subsumtion unter ein historisches Allgemeines (z. B. Funktionsverschiebungen bzw. Repräsentationspraktiken), kurz: Elemente zu einer Poetik und Problemgeschichte des teleskopischen Imaginären.

361 Vgl. ähnlich Taberner (2005), 33 – 105. 362 Vgl. Titzmann (1991), 405.

1. Hamlet-Palimpseste Das Schweigen unseres Volkes über diese tausende und zehntausende Verbrechen ist von allen Verbrechen das größte, sagte ich zu den Schwestern. Das Schweigen dieses Volkes ist das Unheimliche, sagte ich. (Thomas Bernhard: Auslöschung)

Alles begann mit einer Recherche nach Erzähltexten aus der frühen Nachkriegszeit, die die Folgen der NS-Zeit im Sozialsystem Familie thematisieren. Mein Versuch, Döblins Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende vergleichbar prägnante Werke zur Seite zu stellen, wurde nicht wirklich von Erfolg gekrönt. Nach einiger Zeit der wilden, aber für meine Zwecke eher unergiebigen Lektüre, kam ich ins Grübeln. Konnte es sein, dass das ernüchternde Ergebnis durchaus symptomatischen Charakter hatte? Dass Döblins früher Nachkriegsroman selbst einen Hinweis auf meine magere Ausbeute gab? Dass der HamletStoff363 in der Literatur nach 1945 eine Funktion übernahm, die das direkte Ansprechen der NS-Massenvernichtung und der Kriegsgräuel samt deren Nachwirkungen überdeckte? Ließ sich der psychohistorischen Genealogie, wie sie die Einleitung in der Linie König Ödipus – Hamlet skizziert364, durch die Erzählliteratur der Nachkriegszeit ein weiteres Kapitel hinzufügen?365 Irritiert machte ich eine Kehrtwendung und hielt nunmehr nach Prosawerken 363 Vgl. zur Hamlet-Sage und ihrer Stoffgeschichte Frenzel (2005), 340 – 347. 364 Shakespeares Hamlet befindet sich, wenn man ihn auf der Ebene der transgenerationellen Psychodynamik neben Sophokles’ König Ödipus stellt, auf ein und derselben »abendländischen Linie von Aufklärung, verinnerlichtem Konflikt und Neurose. Während ein antiker Herrscher kaum gezögert hätte, den im Sinne der Labdakiden ›nun einmal erforderlichen‹ Mord am Bruder des Vaters zu begehen und die Mutter für ihre Untreue zu bestrafen, verfällt der dänische Königssohn, von des Gedankens Blässe angekränkelt, in endloses Zögern […]. Im psychohistorischen Kontext hat Hamlet die Reflexionsstufe des späten Ödipus erreicht.« (Fischer [2005], 151 f.) 365 Vgl. zur Möglichkeit der Aktualisierung sozialer Energien in der Rezeption Behschnitt (1999), 166: »Voraussetzung dafür ist […] die These, daß ›social energy‹ als diskursive Figuration aufzufassen ist. In der Begegnung mit dem literarischen Kunstwerk könnte diese mit den ihrer ursprünglichen konkreten Bedeutung entleerten Figurationen des Textes in Austausch treten. Der Leser wäre in der Lage, im Prozeß der Aktualisierung bei der Rezeption diskursive Energien der zeitgenössischen Kultur in die relativ bedeutungsoffenen Strukturen des Kunstwerks zu projizieren. ›Bedeutungsoffen‹ meint hier nicht, daß der literarische Text mit beliebigen Bedeutungen gefüllt werden kann. Gemeint ist vielmehr, daß die relativierten, in einen Schwebezustand versetzten Textfigurationen neu durch aktuelle Bedeutungen konkretisiert werden können.«

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Hamlet-Palimpseste

Ausschau, in denen der Hamlet-Stoff bearbeitet wurde, in der Vermutung, in ihnen würde etwas über die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im Familienkontext zur Sprache kommen. Das erste Kapitel versammelt Texte, die sich auf meine Ausgangsvermutung hin einstellten. Es bildet, da in ihnen allen das Problem der Sagbarkeit der NS-Nachwirkungen greifbar wird, das Präludium zu einer Historisierung der Familienliteratur der Täternachkommen, die mit dem zweiten Kapitel einsetzt.

1.1

Alfred Döblin: Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende

Nachkriegsschauplatz Familie Der Nachkrieg hat viele Schauplätze. Auf der individuellen Ebene rücken Einschreibungen in den Körper und den psychischen Apparat in den Blick, auf der sozialen Ebene zumal die Familie als der Ort, an dem die unterschiedlichen Lebenswege von mehreren Generationen sich kreuzen. Das Familienleben bildet, so die Hintergrundannahme der vorliegenden Arbeit, die ausgezeichnete soziale Konstellation, innerhalb derer die Nachwirkungen des Krieges akut werden.366 Zugespitzt ausgedrückt: Wenn der Krieg der Staaten und Völker vorüber ist, dann beginnt der Familienkrieg. Mit dieser These könnte man auch Alfred Döblins letzten Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende auf den Punkt bringen.367 Und zwar als Konkretisierung eines allgemeineren Grundsatzes, der gleich zu Anfang des Buches unterbreitet wird: »Wenn die Front zurückkommt, hat sie immer mit der Heimat abzurechnen.« (26) Döblins Hamlet368, der 1945 im Exil in Hollywood begonnen und 1946 in Baden-Baden beendet wurde, verdient die Bezeichnung »Nachkriegsfamilienroman«: Kaum dass der Zweite Weltkrieg vorüber ist, wendet er sich dem Thema der Familie, speziell demjenigen Nachkrieg in den Köpfen zu, der als Konfliktstoff unter Familienmitgliedern zum Austrag gelangt. Nach den grundstürzenden moralischen und politischen Erschütterungen der jüngsten Vergangenheit richtet Döblin seinen Blick auf die Keimzelle des Sozialen und lässt seinen Protagonisten freimütig fragen: »Was ist eine Familie […]?« (205) Auf diese Frage antwortet keine Definition mit einem Merkmalskatalog, sondern das Buch liefert die umfassende Fallbeschreibung der englischen Familie Allison. Deren Mitglieder sehen sich mit der doppelten Herausforderung konfrontiert, mit 366 Vgl. zum Familienleben in der Nachkriegszeit etwa Meyer/Schulze (1985). 367 Döblin (1987). Zitate aus dem jeweils besprochenen Primärtext werden durch die Angabe von Ziffern in runden Klammern nachgewiesen. 368 Hinfort bezieht sich Hamlet, falls nicht ausdrücklich von Shakespeares Drama die Rede ist, auf Döblins Roman.

Nachkriegsschauplatz Familie

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der nachhaltigen Beschädigung der für das Familienleben bis dato vorherrschenden Gewohnheiten sowie Kommunikationsregeln auszukommen und eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Mit dem Programm, den Zerrüttungen einer Familie im Nachkrieg nachzuspüren, stieß Döblin bei seinen Zeitgenossen auf wenig Gegenliebe.369 Sein Manuskript musste ganze zehn Jahre auf eine Veröffentlichung warten, bis es dann endlich 1956 auf Fürsprache und Vermittlung von Peter Huchel in der DDR beim Verlag Rütten & Loening erschien370 (auf den sich im Osten sogleich einstellenden Publikumserfolg erfolgte 1957 eine Lizenzausgabe des Romans im Langen-Müller Verlag, München; 1966 erschien der Band als Teil der Werkausgabe im Walter Verlag, Olten371). Obwohl der Hamlet seit den 1970er Jahren von der literaturwissenschaftlichen Forschung ausgiebig beachtet wird372, wirkt der Roman, so Herbert Kaiser prägnant, »in der deutschen Nachkriegsliteratur wie ein Fremdkörper«373. Auch in den Literaturgeschichten führt das Werk ein Schattendasein. In der von Winfried Barner herausgegebenen Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart wird der Hamlet-Roman ebenso wenig erwähnt wie in der von Viktor Zˇmegacˇ verantworteten Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.374 In dem Band Literatur der BRD, der repräsentativen Geschichte der Literatur der DDR-Germanistik, findet sich folgende knappe Notiz: »Sein [Alfred Döblins; M. O.] letzter Roman, Hamlet oder die [sic!] lange Nacht nimmt ein Ende, fand in der BRD keinen Verleger. 1956 erschien diese psychologisch diffizile Geschichte eines englischen Kriegsheimkehrers, die mit Krieg und Faschismus abrechnet, in der DDR.«375 Diese ausgebliebene Breitenwirkung überrascht umso mehr, als die Fragestellung von brisanter Aktualität war und zu dieser Zeit von den prominenteren Autoren allenfalls Wolfgang Borchert, Heinrich Böll und Walter Kolbenhoff in eine ähnliche thematische Richtung gingen.376 Kurz, als maßgebliches Erzählwerk, das bereits unmittelbar nach 1945 die Folgen des Zweiten Weltkriegs familiarisiert, ist das Werk alles andere als (an-) 369 Vgl. zu der von Döblin nach 1945 vorgefundenen und im Vergleich zu den Jahren vor 1933 vollständig gewandelten literarischen und kulturpolitischen Situation Müller-Salget (1990). 370 Vgl. Meyer (1978), 486 – 490. 371 Vgl. Graber (1987), 580. 372 Vgl. bes. die Monographien von Steinmann (1971); Grand (1974); Auer (1977); Xu (1992); Wambsganz (1999) und aus jüngerer Zeit die Aufsätze von Kaiser (2004) und Nell (2007). 373 Kaiser (2004), 222. 374 Barner (2006); Zˇmegacˇ (1994). 375 Bernhard (1983), 88. 376 Vgl. dazu Barner (2006), 56 – 59; allgemein zur vielschichtigen literarischen Konstellation im frühen Nachkriegsdeutschland die beiden Begleitbände zur Ausstellung »Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland« Böttiger (2009) und Busch/Combrink (2009).

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Hamlet-Palimpseste

erkannt. Eine textanalytisch fundierte Deutungsperspektive, die Döblins Hamlet als an die literarische Tradition anschließendes Gründungsdokument einer bis heute anhaltenden literarischen Aufarbeitung der NS-Zeit im Familienkontext zu perspektivieren versucht, hat, zumal angesichts einer in der Forschungsliteratur verbreiteten Tendenz zur rhapsodischen Aneinanderreihung von Detailerläuterungen377, vor allem zwei Anforderungen zu genügen: Erstens vermittels der keineswegs offen zu Tage liegenden Motivationen der Hauptfiguren die Familienkonstellation aufzuhellen378, zweitens den Hamlet-Bezug zu exponieren379.

Tabula rasa des Bewusstseins Den Auftakt des Buches bildet ein brutales Szenario: Japanische Kamikaze-Flieger stürzen sich auf einen alliierten Kreuzer im Pazifik. Auch wenn das erste Kapitel mit Die Heimkehr überschrieben ist, wird der Hoffnung auf eine unbeschadete Rückkehr aus kriegerischen in heimatliche Gefilde bereits zu Anfang eine Absage erteilt.380 Vom Einschlag des ersten Flugzeugs noch knapp verschont, wird der Protagonist Edward Allison, ein junger englischer Kriegsfreiwilliger, von der durch das zweite Flugzeug ausgelösten Explosion schwer getroffen: Die Menschenbombe sauste aus der schweren Wolke herab, die wie eine trächtige Kuh oben hinzog, schmetterte durch das Deck und wühlte sich in den Maschinenraum ein. Er 377 Vgl. besonders Grand (1974) und Auer (1977). 378 Eine das Romanpersonal übergreifende – allerdings auf konkrete Textarbeit nahezu vollständig verzichtende – Deutungssynthese wagte als Erstes Geißler (1982), 127 f., indem er dem Roman nichts Geringeres »als die Zurücknahme einer neuzeitlichen Wahrheitsauffassung« attestiert. »In der Hingabe bleibt das Ich ein Ich. Das ist der wahre Zusammenhang von Liebe und Wahrheit. Identität gibt es nur in der Hinwendung und zwar in der schenkenden Hinwendung zum Du. Das abgekapselte Ich, das objektivierte, verkommt in seiner eigenen Verdinglichung.« Als Autorstrategie erkennt Geißler im autobiographischen Rekurs auf Döblins Konversion zum Katholizismus 1941 »den Grund für die Möglichkeit einer solchen Wahrheit in der christlichen Religion. In ihr ist sie nicht objektiviert abgesichert, sondern transzendent gegeben. Wie der christliche Gott erst in sein Wesen tritt als der, der für uns da ist, wenn er seinen Sohn Jesus Christus in die Welt und in den Tod schickt, wie er nur vollkommen ist, wenn er sich in Gnade und Liebe ausgibt, so soll sich auch der Mensch, Gottes Ebenbild, verstehen. Diese Art Hingabe ist die gesuchte Form personaler Wahrheit, die den Menschen füllt und damit jeden Kriegsgrund beseitigt.« 379 Erste Ansätze dazu finden sich bei Loquai (1993) und Nell (2007). 380 Vgl. zur Heimkehr als zentraler Kategorie der Nachkriegszeit Agazzi/Schütz (2010). Döblin hegte prinzipielle Zweifel an der Möglichkeit einer – emphatisch verstandenen – Heimkehr, wie er 1946 in einem Beitrag für die Badische Zeitung notierte: »Und als ich wiederkam, da – kam ich nicht wieder. Es gibt einen schönen amerikanischen Roman mit dem Titel ›Du kannst nicht nach Hause zurück‹ [Thomas Wolfe: You Can’t Go Home Again, EA 1940; M. O.]. Warum kann man nicht? Du bist nicht mehr der, der wegging, und du findest das Haus nicht mehr, das du verließest.« (Döblin [1993a], 267 f.)

Tabula rasa des Bewusstseins

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[Edward Allison; M. O.] wurde aufgehoben wie eine Puppe, um sich und über sich gedreht und flog in Flammen und schwarzem Rauch mit Maschinenteilen, Sprengstücken, Holzfragmenten, mit Leichen, Verwundeten und abgerissenen Gliedern. Nichts hatte Bewußtsein in dem heißen Wirbel. (9)

Auf die Beschreibungskunst seiner frühen expressionistischen Prosa zurückgreifend, veranschaulicht Döblin die Zerstörungskraft, die entsteht, wenn ein Mensch sich zum Ziele der Vernichtung mit der Technik vereint. Zugleich gelingt es ihm, mit der Metapher »Menschenbombe«381 die krude Logik des Selbstmordattentats auf den Punkt zu bringen: das Sterben des Attentäters erfährt seinen Sinn dadurch, dass er (möglichst viele) andere mit sich in den Tod reißt.382 Das durch die Explosion hervorgerufene Chaos beschreibt Döblin als totale Innenwelt-Zerstörung der Betroffenen: »Nichts hatte Bewußtsein in dem heißen Wirbel.« (9) Nach diesem Einbruch der Bewusstlosigkeit kommt der Protagonist Edward Allison, der sein linkes Bein verlor und daraufhin operiert wurde, erst auf der Rückkehr des Schiffes nach Europa wieder zu sich: Es war am Nachmittag eines ungewöhnlich stillen Tages, als sich von einem der Betten auf Deck ein durchdringend schriller Schrei erhob, ein Schrei, wie ihn jemand ausstößt, der den Mord auf sich zukommen sieht. Der Schrei, der sich überschlug, ging in ein langes helles Kreischen über. […] Der Amputierte Edward Allison keuchte auf seinem Bett, blau-rot, als wenn er erstickte, zerrte an seinen Decken und hatte sich einen Teil seiner Verbände abgerissen. […] Er kreischte den Feind in einer unbekannten Sprache an. (11 f.)

Durch die Verletzung seinem früheren Selbst entfremdet, weiß Edward weder, was geschehen ist, noch, wo er sich befindet (»Was ist? Wo bin ich?« [12]). Als er von einer Krankenschwester mit seinem Namen angesprochen wird, fragt er : »Wer ist Edward Allison?« (13) Wie beschwörend Döblin mit Hilfe von bildmächtigen Vergleichen darauf aus ist, eine Tabula rasa des Bewusstseins zu inszenieren, wird in der Beschreibung spürbar, die Edward zeigt, kurz bevor er wieder den Boden Europas betritt. Im Bett liegend, wirkt er, als sei er in einen »Abgrund gerutscht, mit dem leeren, glatten Gesicht eines Säuglings, wie ein Naturgegenstand, ein Baumstamm, die Oberfläche eines Teichs« (13).383 Em381 Döblin nennt die Flugzeuge auch »Selbstmordflugzeuge« (19) und »Selbstmordbomber« (22). 382 Das Kompositum »Menschenbombe« beinhaltet diese beiden Aspekte, indem es die Bedeutung des Genitivus subiectivus (Bombe, bestehend aus bzw. gelenkt von Menschen) mit der des Genitivus obiectivus (Bombe zur Vernichtung von Menschen) verbindet: das vollgetankte Flugzeug wird mitsamt dem Piloten zu einer tödlichen Waffe für die Schiffsbesatzung. 383 Ähnlich heißt es kurz danach: »Im Donner der Explosion auf dem Kreuzer, während sein Körper zerrissen, von Splittern gespickt, in Dampf und Feuer aufgehoben und davonge-

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phatischer lassen sich psychische Beschädigung und Hilflosigkeit kaum darstellen denn als Regression auf die von der menschlichen Kultur noch weithin unberührte Entwicklungsstufe eines Kleinkinds. Auf den ersten fünf (von weit über fünfhundert) Seiten stellt Döblin in aller Vehemenz und zuweilen nicht um rhetorischen Bombast verlegen das traumatische Kriegsgeschehen aus, dessen Nachbearbeitung im Familienverband den Roman vorantreibt.384 Vom Kriegsheimkehrerroman, der die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs behandelt, führt ein langer Weg bis zu der kategorischen Verheißung, die den Schlusssatz des Werks bildet: »Ein neues Leben begann.« (573) Eine Wegstrecke, auf der vor allem darüber verhandelt wird, wer die Schuld an dem gerade zu Ende gegangenen Krieg trägt, in dem Edward mit seinem Bein zugleich auch sein seelisches Heil einbüßte. Maßgeblich von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, ob Edwards Selbst(er)findungsprozess ohne fortdauernde Belastung durch die Vergangenheit zu einem Abschluss gelangen wird. Die Unbedingtheit, mit der Edward danach verlangt, eine (möglichst triftige) Erklärung für den Zweiten Weltkrieg zu erhalten, ist eine besondere Ausformung des nach dem Kriegsende in Europa – und vorzugsweise in Deutschland – weithin vorherrschenden Bewusstseins, eine politische und moralische Neubegründung einleiten zu können.385 Ohne eine schonungslose Offenlegung der Kriegsschuld lässt sich Edward zufolge kein gesellschaftlicher Neuanfang realisieren, ohne eine Verantwortungszuschreibung keine Umkehr einleiten.386 Davon hängt auch ab, ob der Einzelne zu einer neuen Stufe der Selbstverständigung und des Weltverhältnisses gelangen kann. Bevor jedoch darüber zu reden blasen wurde, war sein Bewußtsein ausgelöscht, seine Seele gelähmt worden. Vor dem Vernichtungsschrecken war sie in den Tod gekrochen, den sie beinahe wirklich erlitten hatte, und hatte sich wie ein flüchtendes Wild totgestellt. Die Todesstarre hatte sie noch immer nicht abgeworfen.« (19) Das Bild der Teichoberfläche wird in Bezug auf Edwards Seele auch wieder aufgenommen: »Wie ein Stein, der in einen Teich fällt: er sinkt und ist nicht mehr sichtbar, aber er wirft oben weiter Ringe.« (29) 384 Die problematische Wiedereingliederung in die heimatliche Lebenswelt ist ein Motiv, das die Kriegsheimkehrergeschichten seit Homers Odyssee bestimmt. Für die Nachkriegsliteratur vgl. Trinks (2002) und Winter (2001). – Auch den deutschen Nachkriegsfilm durchzieht dieses Motiv, von Helmut Käutners Der Rest ist Schweigen (1959) über Rainer Werner Fassbinders Die Ehe der Maria Braun (1979) bis hin zu Sönke Wortmanns Das Wunder von Bern (2003). 385 Vgl. etwa Gerhardt (2005). 386 Vgl. dazu im deutschen Kontext exemplarisch Karl Jaspers’ 1946 gehaltene Vorlesung an der neu begründeteten Universität Heidelberg: »Was geschieht, ist eine Krise der Menschheit. Der Beitrag einzelner Völker und Staaten, der verhängnisvolle oder rettende, kann nur im Rahmen des Ganzen gesehen werden, so auch die Zusammenhänge, die zu diesem Kriege geführt haben, und die Erscheinungen, die in ihm auf grauenvolle Weise offenbar machten, was der Mensch sein kann. Nur in solchem Gesamtzusammenhang kann auch die Schuldfrage gerecht zugleich und unerbittlich erörtert werden.« (Jaspers [1946], 24 f.)

Edwards »Sache«

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ist, wie dieses andere Gesamt von Daseins- und Handlungsorientierung aussehen könnte, gilt es, eines basalen Einblicks in die Persönlichkeitsstruktur Edwards wegen, vorübergehend einen Schritt zurückzutreten. Sprich: Was erfährt der Leser über den Edward der Vorkriegs- bzw. Kriegszeit, über seine diesbezüglichen Denk- und Lebensgewohnheiten sowie ethischen Präferenzen und Zukunftsvorstellungen? – Um es mit einem Wort vorwegzunehmen: Wenig!387 Aber gerade, weil es so wenig ist, will dieses Wenige genau angesehen werden.

Edwards »Sache« Edward Allison, der »zwanzigjährige[] Mann« (10), der schließlich sein »linkes Bein« (10) verlieren sollte, hatte sich während seines Studiums freiwillig zum Kriegseinsatz gemeldet. Er ging in einen Krieg, den er – mag man sich auch ob seiner Jugend wundern – »von Anfang an mitgemacht« hat, »bei der Abwehr des Blitzbombardements, im Signalkorps, bei der Vorbereitung der Invasion des Festlandes. Er nahm teil am Kampf in der Normandie, am Vormarsch durch Frankreich und Belgien.« (11) Doch warum meldete er sich freiwillig zum Krieg? Statt klarer Antworten hält das Buch in dieser Frage nur nebulöse Andeutungen bereit. Versammelt man die Indizien, ergibt sich ein Textmosaik der kalkulierten Uneindeutigkeit. Edwards Mutter etwa hegt eine Vermutung, deren Inhalt aber verbirgt sie symptomatischerweise (auch der Erzähler trägt ihn nicht nach): »Ich habe erst spät erfahren, daß er sich selbst gemeldet hatte. Es gab mir einen Stich. Ich ahnte, was dahintersteckt. Es hat mich dann nicht mehr losgelassen.« (344) Hier wird Betroffenheit suggeriert, dem Leser aber die Aufklärung verweigert. Der muss sich zur Füllung dieser Leerstelle ansonsten auf Edwards Selbstaussagen verlegen. Als Edward zwischenzeitlich bei den Eltern seines bei dem Kamikaze-Angriff ums Leben gekommenen Freundes Jonny Unterschlupf findet, reflektiert er über sein früheres Leben: »Hier habe ich auch gelebt, habe studiert, hatte ein Examen vor. Der Krieg kam. Ich trug da eine Unruhe in mir. Ich war wie ein alter Schlachtgaul im Stall, der die Trompete rufen hört. Eine neue Bühne, ich legte Uniform an« (485). Die Stelle vermittelt den Eindruck, als habe Edward die erstbeste Gelegenheit ergriffen, um dem unbefriedigenden Studienalltag zu entfliehen und sich statt dessen in ein Abenteuer zu stürzen, bei dem statt intellektuellem Interesse388 körperliche Anstrengung, Kameradschaft und Mut 387 Vgl. dazu m. E. über das Ziel hinausschießend Xu (1992), 148, Anm. 35: »Edward fehlt eine individuelle Charakterisierung. Er ist eine Gestalt ohne Gesicht, wird von daher zum Prinzip des Fragens.« 388 Edwards Studienfach bzw. -fächer verschweigt uns Döblin leider.

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gefragt sind. Sich von der heimatlichen Studienlangeweile verabschieden zu können, war sicher ein willkommener Nebeneffekt der freiwilligen Verpflichtung, als deren Ursache (»Unruhe«) aber scheidet sie aus. Im Gespräch mit seiner Mutter erkennt der rekonvaleszente Edward, dass er früher unwissentlich zum Spielball fremder Interessen wurde. Warum spricht sie so zu mir. Sie spricht sich aus. Die Zeit, wo man so zu mir sprach, ist vorbei. Jetzt will man mich nicht mehr zerstreuen. Sie fühlt sich frei. Ich habe dabei mitgewirkt. Habe ich aber dieses gewollt. Ich wollte Wahrheit und Redlichkeit. Man hat mich mißbraucht. Ich bin in den Krieg gezogen für eine Sache, die ich nicht kannte. (453)

Worin freilich besteht die Edward einst unbekannte, jetzt vertraute »Sache«? Gemeinhin zielt die Wendung »für eine Sache in den Krieg ziehen« auf die streitbare Konsequenz einer religiösen oder auch ethisch-politischen Überzeugung. Letztere aber, etwa in Gestalt einer antitotalitären, liberaldemokratischen Haltung, kann hier schlecht gemeint sein. Kaum glaublich, dass Edward die nationalsozialistische Ideologie vor seinem Kriegseinsatz fremd war, noch weniger dürfte er, sollte dies doch der Fall sein, seinen Einsatz gegen die Achsenmächte im Nachhinein als persönlichen Missbrauch ausstellen. Überhaupt wird der konkrete historisch-politische Hintergrund im Hamlet, und das ist für einen Heimkehrerroman, der sich um den Ursprung der Kriegsschuldfrage dreht, schon verblüffend, nahezu komplett abgeblendet.389 Nur an einer Stelle werden die »Nazis« (188) genannt, die Japaner erscheinen bloß in Gestalt von Kamikaze-Bombern (9), die Alliierten allein als deren Kontrahenten zur See. Historische Ereigniszusammenhänge, Bemerkungen zur Kriegsführung oder auch Diskussionen bzw. Kommentare zu zeitgeschichtlichen und politischen Vorgängen: Fehlanzeige.390 Zusammengenommen ist es also höchst unwahrscheinlich, dass Edwards »Sache« mit »Antifaschismus« deckungsgleich ist. Man darf mindestens noch von einem anderen, wohl privaten, den vertraulichen Familienbereich tangierenden Motiv ausgehen.391 389 Die, wie Clausen (1992) darlegt, für die Gattung des Heimkehrerromans typische Aussparung konkreter Kämpfe zugunsten einer Themenverlagerung auf deren Folgen wird von Döblin gleichermaßen ausgeweitet wie modifiziert. Er schattet die historisch-politischen Kriegsursachen ab, um die Verantwortlichkeit der Einzelnen, hier der Mitglieder der Familie Allison, ins Licht zu rücken. 390 Vgl. Wambsganz (1999), 148: »Daß in der geschichtlichen Realität ein aggressiver Nationalismus und Totalitarismus in Gestalt des den Zweiten Weltkrieg entfesselnden HitlerDeutschlands niedergerungen werden mußte und die angegriffenen Staaten ein Recht auf territoriale Selbstverteidigung hatten, wird nur kurz gestreift, doch nirgends weiter problematisiert.« 391 Auch in seinem Journal 1952/53 wird Döblin nicht expliziter und attestiert Edward bloß ein »düsteres Gefühl«, das »ihn schon vor dem Krieg aus dem Haus getrieben« hatte (Döblin [1993d], 403).

Sehnsuchtsort Ostasien

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Neben der finalen Bedeutung wäre »für eine Sache« hier mithin kausal zu verstehen, bedeutete auch »wegen einer vergangenen Sache«. Somit ergäbe sich nicht nur eine Beziehung zwischen der »Unruhe«/»Sache« und dem von Edward reklamierten »Missbrauch«, sondern auch ein plausibler Ausgangspunkt, um mittels »Wahrheit und Redlichkeit« ein aufklärendes Licht auf die Familienvergangenheit (und also auch auf die Kriegsschuldfrage) zu werfen. Diese Argumentation brächte freilich eine nicht ganz unerhebliche Deutungskonsequenz mit sich. Hätte doch dann die Familiensituation sowohl als ursächlich für Edwards Eintritt in die Armee zu gelten als auch zumindest eine Mitverantwortung für den Krieg zu tragen. Eine Verflechtung, die auf den ersten Blick sehr befremdlich anmutet. Bislang kam es jedoch – das verschlungene Knäuel aus Familie und Krieg zu entwirren, wird die Aufgabe späterer Überlegungen sein – allein darauf an, Edwards Motivation für den Armeeeintritt zu beleuchten.

Sehnsuchtsort Ostasien Im Verlauf des Krieges avanciert eine geographische Region zum Gegenentwurf zu Europa: Ostasien. Edward »wurde auf eigenen Wunsch nach dem Fernen Osten abkommandiert, als man sich zum Sturm auf Japan rüstete« (11). Und nach der »Landung auf dem Kontinent, Normandie, Belgien, Holland, der Vormarsch, immer mit dem jungen Jonny« (485), beschlossen die beiden, »nach Ostasien, nach Indien, nach Birma zu gehen« (485)392. Doch was trieb sie nach Fernost? Ostasien, das kristallisiert sich heraus, wenn man die doch stattliche Anzahl diesbezüglicher Stellen nebeneinanderlegt, hat für Edward und Jonny die Funktion eines Sehnsuchtsraums. Einerseits haben die beiden eine ziemlich verschwommene Vorstellung von dem Fernen Osten – schließlich ist es nicht einerlei, ob man sich nach Indien, Burma, Hongkong oder Schanghai aufmacht393 –, andererseits sind sie sich in der pauschalen Verdammung ihres Herkunftskontinents sicher : »Wir fahren nach Asien, Jonny, wir lassen das elende Europa hinter uns« (452). Zweifellos spricht aus diesen Worten der jugendliche Übermut des zu Kriegsende gerade einmal Zwanzigjährigen (vgl. 10), der in Erwartung des ganz Anderen das unbekannte Fremde um so verlockender zeichnet, je vehementer die Aversion gegen das Bekannte zum Ausdruck drängt. 392 Präzisierend heißt es – bei veränderter Schreibweise von »Birma« – zu Beginn: »Wir eskortierten einen Konvoi nach Asien. Es sollte nach Burma gehen.« (22) 393 »Wir bleiben in Hongkong oder Shanghai oder gehen nach Mandalay.« (452) Mandalay liegt in Burma, dem heutigen Myanmar.

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Komplementär dazu firmiert »europäischer Boden«, der, statt »der ersehnte des wunderreichen Asiens« (13), den verstümmelten Edward wieder aufnimmt, für das abgewirtschaftete Alte, für weltgeschichtliche Obsoleszenz. Im Gespräch mit seinem Arzt erklärt Edward demonstrativ : »›Laßt mich zufrieden mit eurem Europa.‹ ›Was hat Ihnen Europa getan? Sie sind Engländer?‹ ›Verfluchtes Europa. Wenn es erst zerstört wäre.‹ Pause. Der Arzt: ›Sie haben schlechte Erfahrungen gemacht?‹ ›Ich habe genug von Europa. […]‹« (23)394 Überdies gibt es einige, nicht allein auf Edward und Jonny gemünzte Stellen mit Ostasienbezug. Kurz, der Ferne Osten als Antithese zu Europa scheint im Hamlet symptomatischen Charakter zu besitzen. So ist Edwards ostasiatische Spur bereits mütterlicherseits vorgeprägt. Zwar weilte Alice nicht in asiatischen Gefilden, aber ihre große, unerfüllt gebliebene Liebe Glenn Washtrook reiste »nach Indien und Ostasien« (452). Seine von dort mitgebrachten Geschenke werden zur magischen Verheißung eines ganz anderen Lebens und später zum Objekt der Liebesmelancholie. Mithin bedeutet die Leidenschaft, die bei Edward angesichts Ostasiens aufbricht, für Alice ein untrügliches Zeichen für die ausgezeichnete Mutter-Sohn-Beziehung: Du gingst zuletzt nach Ostasien, Edward. Als du hingingst, kam mir vor, du fühltest etwas und folgtest; es zog dich auf seine Spuren. Von drüben, aus China, brachte er mir Kleider. Ich trug sie. […] Was ich trug, was ich an meinem Körper fühlte, war lange Zeit Stück für Stück von ihm gewählt; so war ich nicht in seinem Haus und nicht mit ihm, aber dennoch von ihm umhüllt. Und so gab ich ihm alles. (452)

Überdies fungiert das Fernziel Ostasien als festes Bindeglied zwischen Edward und Jonny. Beider Beziehung schwankt zwischen Aufdringlichkeit seitens Jonnys (»Er läuft mir nach. […] Der drängte sich in Belgien an uns.« [21]), väterlicher Fürsorge des Älteren für den Jüngeren (»Ich habe seinem Vater versprochen, auf ihn aufzupassen. Das Bürschchen ist achtzehn Jahre alt, sagt er ; wahrscheinlich ist er erst sechzehn.« [21]) und gemeinsamen Neigungen. Vermutlich lernte Edward erst über Jonny die Reize des Fernen Ostens kennen: »Sein Vater war früher Konsul in Shanghai; alles zu Haus bei ihnen in Birmingham voller Drachen, Pagoden, Schwerter, Porzellan, sogar Medizin, spaßhaft. Er mochte das. Ich auch.« (21) Edward fühlt sich einerseits ein Stück weit für Jonnys Tod verantwortlich, obwohl dieser sich gegen das ausdrückliche Verbot auf das Deck wagte: »›Was tust du hier, Jonny? Mir immer auf den Fersen. Du hast auf Deck nichts zu suchen.‹ […] ›Er war an Bord der beste Schachspieler, der Junge. Er sollte unten bleiben. Da muß ihm einer geflüstert haben: wir sitzen oben bei einer Partie. Kommt er herauf.‹« (21) Andererseits lassen die Art und 394 Kurz danach heißt es: »Aber daneben gab es noch dunkle Vorwürfe und Anklagen gegen Europa, gegen die Heimat. Ihr hatte er den Rücken gekehrt, zu ihr wollte er nicht mehr zurück.« (24)

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Weise, wie Edward später bei Jonnys Eltern aufgenommen wird (»Er war der Freund des Gefallenen. […] Er hielt sich in Jonnys Zimmer auf. Man ließ ihn, freute sich. Man war glücklich, ihn im Haus zu haben, es war eine Art Wiederkehr Jonnys.« [483]), und Edwards Trauer über Jonny auf eine überaus intensive Freundschaft zwischen den beiden schließen: »Es war klar : er befaßte sich viel mit dem Toten, er identifizierte sich zum Teil mit Jonny, diesem fröhlichen Bruder, in dem er alles sah, was er liebte.« (24) Der Tod Jonnys besiegelt für Edward das Zerplatzen all jener Hoffnungen, die er an eine künftige Existenz in Ostasien knüpfte. Mit der Mischung aus enger Vertrautheit und abrupter, kriegsbedingter Vereinzelung entwirft Döblin zwischen Edward und Jonny ein Freundschaftsschicksal, das ausgiebig an das von Achill und Patroklos gemahnt. Achill vergleichbar, der sich, nachdem der Gefährte im Kampf getötet wurde, zum rachegeleiteten Berserker entwickelt395, fixiert sich Edward, während ihm nach Jonnys Ableben der Kontakt zur Nachkriegswelt zunehmend abhanden kommt, radikal auf die Kriegsschuldfrage.

Weltkrieg und Familienkonflikt Edwards Vorgeschichte, d. h. die Zeit bis zu seiner Verletzung, auf deren minutiöse Rekonstruktion die Forschungsliteratur bislang verzichtete, bedingt maßgeblich – so meine These – die weitere Romanhandlung. Sukzessive offenbart das Figurenhandeln einen unausgestandenen Familienkonflikt. Maßgeblich vorangetrieben wird diese Enthüllung von Edward, der nach Verantwortlichen für das Geschehen sucht, das ihn seiner Zukunftspläne beraubte. Mit diesem Verlangen gehorcht er, folgt man seinem behandelnden Arzt Dr. King, einer historischen Regel: »Wenn die Front zurückkommt, hat sie immer mit der Heimat abzurechnen.« (26) Die Hauptursache für eine derartige Abrechnung liege in dem Verlangen nach einer retrospektiven Sinnstiftung für das erfahrene Leid. Im vorliegenden Fall kann es dabei plausiblerweise weder um den Kriegsanlass (Großbritannien reagierte auf den Überfall des Deutschen Reichs auf Polen) noch um die Modalität der Rekrutierung gehen (Edward meldete sich freiwillig). Zum Gegenstand für Kontroversen dürften allenfalls die Kriegsideologie (z. B. der propagandistische Umgang mit dem Gegner) oder die Kriegsstrategie gereichen. Edward aber sucht die Verantwortlichen weder in der Politik noch beim Militär, sondern in der eigenen Familie. Dies ist mindestens aus zwei Gründen hochgradig befremdlich. Zum einen 395 Vgl. zu Achills durch den Verlust des Freundes hervorgerufenes Trauma und seinem Berserkertum Shay (1998) und Fricke (2004), 105 – 109.

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kommen in Edwards Betrachtungen die Kriegsgegner, also das Deutsche Reich und die Achsenmächte, so gut wie nicht vor396 – und eine aus britischer Perspektive vorgenommene Ursachenanalyse für den Zweiten Weltkrieg, die die weltpolitische Konstellation ignoriert, spottet so ziemlich jeder historisch ernstzunehmenden Betrachtung.397 Zum andern war keines der Familienmitglieder an der Kriegsvorbereitung oder den Kriegshandlungen beteiligt. Edwards Verantwortungssuche verknüpft eine ausnehmend konkrete mit einer ungewöhnlich abstrakten Betrachtungsweise. Konkret ist sie, insofern er die Verantwortlichen – nur – in seinem familiären Umfeld sucht398, abstrakt, weil die Verantwortungszuschreibung in Bezug auf Personen, die weder aktiv in die Vorbereitung noch Durchführung des Krieges involviert waren, sich allenfalls ausgesprochen vage auf der Basis einer moralischen Verantwortung (z. B. als Ausdruck einer sogenannten Kollektivschuld) vornehmen lässt.399 Wenn Edward seinen Eltern auch keine Verantwortung für mit dem Krieg in Verbindung stehende Handlungsfolgen zuschreibt, also keine Ursächlichkeit im Rahmen eines Handlungsbereiches herzustellen sucht, so scheint er sie für etwas haftbar machen zu wollen, das sie nicht selbst verursacht haben. Auf der Grundlage einer »erweiterten Verantwortlichkeit« käme da ein moralisch tadelnswürdiges Verhalten in Frage, etwa in Form einer Mitverantwortung für den Verlauf der Geschichte oder einer als »konkrete Humanität« gefassten Verantwortlichkeit.400 396 Vgl. Wambsganz (1999), 89: »Es ist offensichtlich, daß der Autor das Thema Kriegsschuld in der historisch-politischen Valenz heraushalten wollte und deshalb eine Fragestellung Edwards vermeidet, wie sie von der faktischen, realhistorischen Konstellation her sich anböte«. 397 Indirekt wird der offiziell verlautbarte Kriegsgrund zwar einmal wiedergegeben, aber nur, um ihn gegen die wahre Wurzel aller Kriegsübel auszuspielen : »Ich las: Gegen Diktatur und Grausamkeit habe man den Krieg geführt. Man hat die Sache am falschen Ende angefaßt. Wovor schauert man? Sie machen Filme davon und führen den Leuten Greuel vor. Wem will man Sand in die Augen streuen? Oder ist man wirklich so dumm, daß man nichts bemerkt? Man braucht keine Expeditionen in fremde Länder zu machen, um diesen Krieg zu führen. Man braucht nicht einmal ins Kino dafür zu gehen: man findet alles bequem zu Hause. Da hätten wir den Grund der Kriege.« (411) Ignorant gegenüber einer historisch-politischen Ursachenanalyse ist Edward nur insofern an einer Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs interessiert, als sie auf eine Erforschung der gleichsam anthropologischen Kriegsursachen zielt. Konsequenterweise bezweifelt er in seiner Anspielung auf die NS-Gräuel und auf die Reeducation-Bestrebungen der Alliierten den Erfolg solcher Erziehungsmaßnahmen. Nicht erst im Rassenwahn der Nazis (in konkreten ideologischen Motiven) seien die Ursachen für diese Verbrechen zu suchen, sondern bereits im Sozialverhalten jeder Familie (im allgemein-menschlichen Bösen). 398 Verantwortungsträger in Politik oder Militär kommen in dem Buch an keiner Stelle in den Blick. 399 Zur Verantwortung als ethischer Schlüsselkategorie des 20. Jahrhunderts vgl. Lenk/Maring (2001). 400 Vgl. zu den Begriffen »erweiterte Verantwortlichkeit« und »konkrete Humanität« Lenk/ Maring (2001), 570 f.

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Wie nun wird der Nexus zwischen Krieg und Familie von Döblin narrativ entfaltet? Welche Rolle spielt Edward in diesem Prozess, die des passiven Beobachters oder die des aktiven Enthüllers? In der Familie Allison wird der gerade zu Ende gegangene Krieg vor allem auf zwei Ebenen thematisiert: Zum einen gilt der Krieg als Gesprächsstoff, über den hauptsächlich im als Schauplatz der Handlung fungierenden Kreis der Familie Allison dauernd geredet, diskutiert und reflektiert wird. Zum anderen wird der Krieg als Metapher zur Darstellung der Kämpfe auf der gesellschaftlichen Ebene, vor allem zwischen den Familienmitgliedern eingesetzt, wobei dies sowohl als Erzählerbericht als auch aus der Perspektive der Protagonisten geschieht.401

Während es als keineswegs ungewöhnlich gelten darf, dass kurz nach dem Ende eines verlustreichen Weltkriegs dieser im Familienkreis weiterhin auf der Tagesordnung steht, ist die persistente Kriegsmetaphorik, mit der innerfamiliäre Auseinandersetzungen charakterisiert werden, bemerkenswert. Dadurch wird rhetorisch-stilistisch evoziert, dass der Krieg ungebrochen weitergeht, zwar auf der weltpolitischen Bühne ein Ende nahm, nicht aber auf der des Sozialsystems Familie. Verdichtet wie in einem Motto findet sich diese Metaphorisierungstendenz, die die Handlung mit Kriegs- und Kampfbildern durchsetzt, in den Schlussworten des Erzählerberichts, der die Heimkehr Edwards und seinen Krankenhausaufenthalt Revue passieren lässt: »Er kam in die Heimat. Die Bombe fiel weiter.« (24) Das wichtigste der Indizien dafür, die Folgen des Kriegs auf die familiären Verhältnisse auszudehnen, hat direkt mit der Nachwirkung einer speziellen »Bombe« zu tun, nämlich mit Edwards oft wiederkehrenden Kriegsvisionen, die ihn im Verbund mit körperlichen Anfällen überwältigen. »Im Hamlet können sieben Anfälle gezählt werden, die eruptiv und ohne sichtbare Gründe Edward überkommen, deren Verweischarakter erst im nachhinein erkannt werden kann.«402 Individualpsychologisch sind diese Ausbrüche als Symptome »einer merkwürdigen Kriegsneurose« (31) zu charakterisieren. In seiner Modellierung der Edward-Figur greift Döblin auf Freuds Konzept der Unfallbzw. Kriegsneurose zurück, das dieser in seiner 1920 erschienenen Abhandlung Jenseits des Lustprinzips ausführte.403 Kriegstraumatisierte, so Freud, 401 Xu (1992), 126. 402 Xu (1992), 128. 403 Das Nachwirken von traumatischen Kriegserfahrungen ließ Döblin nicht allein in die Konzeption seiner Biberkopf-Figur einfließen (vgl. zur Rolle des Traumas in dem 1929 erschienenen Berlin Alexanderplatz Honold [2003]), sondern er reflektiert diesen Zusammenhang auch in seinem autobiographischen Essay Erster Rückblick von 1928: »Im Krieg sind viele erkrankt nach Erschütterungen, Granatexplosionen, Bombenabwürfen. In ihren Träumen trat immer diese Situation vor sie; beängstigte sie. Warum? Es sind keine Mörder. Die Leute sucht im Traum wieder die Situation heim, die sie überrascht hat. Das ist

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leiden an einem hartnäckigen Wiederholungszwang, der die Betroffenen im Traum immer wieder in die Unfallsituation zurückführt. Derlei Träume deutet Freud als Selbstheilungsversuche, in denen das Nervensystem den Schrecken, auf den es sich nicht vorbereiten konnte, durch nachholende Angstentwicklung zu bewältigen versucht.404 Die schweren Schädigungen, die Edward bei dem schockartig erlittenen Kamikaze-Angriff erlitt, werden mithin imaginativ aufgerufen, um sie sukzessive in dessen psychisches System zu integrieren. Der Gesundungsprozess nun wird entscheidend davon abhängen, ob der traumatische biographische Bruch nur performativ wiederholt wird (sei es in der Imagination oder im Traum) oder aber, als Antwort auf die Nichtäquivalenz des biographischen Bruchs, durchgearbeitet werden kann (sei es durch Familienkommunikation oder spezielle Therapieformen).405 Bildete die von dem Kamikaze-Angriff verursachte Explosion für Edwards Nervensystem jene unbewältigte Schrecksituation, die er hernach im Traum immer wieder halluziniert, so ist der Ort, an dem Edward seine Kriegsneurose ausagieren und auskurieren soll, der abgegrenzte familiäre Lebensraum. Insofern kommt dem Satz »Die Bombe fiel weiter« in seiner metaphorischen Lesart eine Schlüsselfunktion zu, nämlich die Transformation der Schauplätze von einem Weltkrieg hin zu dem konfliktträchtigen intimen Bezugssystem der Familie anzuzeigen. Die Abfolge der familiären Auseinandersetzung vollzieht sich in drei Abschnitten: Auf die Rückkehr Edwards folgt die Phase der Konfliktaustragung, die in der Auflösung der Familie endet.406 Dabei antizipiert die das Schiff durchbohrende »Menschenbombe« des Romananfangs bereits in Form einer strukturellen Analogie die weitere Handlung:

die Gegenreaktion ihrer Seele. Sie ist erkrankt, weil sie sich damals nicht wehren konnte, weil sie zu heftig, zu plötzlich überrumpelt, überrascht wurde. Jetzt zaubert sie sich im Traum die Situation vor, geht sie von neuem an, und allmählich erstarkt sie daran. Der Schock heilt aus, das Gleichgewicht zwischen innerer Kraft und äußerem Stoß wird wieder hergestellt.« (Döblin [1993b], 148 f.) 404 Freud (2001), 241 f. 405 Vgl. allgemein zur Bedeutung des Traumas für den Kriegsroman nach 1918 Horn (2000), ausführlich zum Verhältnis von Krieg und Psychiatrie bei Döblin Schäffner (1995), 358 – 381. 406 Vgl. ähnlich Xu (1992), 129: »Die 1. Phase (3. Kap. des 1. Buches bis Ende des 2. Buches) wird gekennzeichnet durch die von Kriegspolemik ausgelöste Vater-Sohn-Konfrontation. […] Die 2. Phase (3. Buch – 2. Kap. des 4. Buches) ist bedingt durch die noch intensivere Suche des auch physisch in Bewegung gesetzten Sohnes im Hause nach Spuren der Vergangenheit (Dachbodeninspektion, Ausfragen und Erinnerungsversuche) und mit dem Aktivwerden der Beteiligten, was schnell zur Offenlegung und Eskalation des Ehekonfliktes (Handgreiflichkeit auf dem Dachboden) führt. […] Die 3. Phase steht im Zeichen der Belichtung der vollen Dimension des Konfliktes, der, als ein zweiter Höhepunkt, auch zwischen Edward und Alice ausgetragen wird.«

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Ein aggressiver Fremdkörper (Bombe – Edward) dringt in ein tragendes Objekt (Schiff – Familie) ein, das an sich schon die Konfliktbasis liefert (Kriegsschiff – Ehestreit), und gibt den Anstoß zu dessen Auflösung mit Konsequenzen (Zersprengung des Schiffes – Zerstörung der Familie; Kriegsopfer – Tod der Eltern).407

Entspricht der initialen Bombenangriffsszene der Status einer allegorischen Exposition, so der folgenden Familienhandlung der einer thematischen Variation. Eingrenzung der Kampfzone gleichsam. Bereits in der Klinik reagiert Edward auf Mutter und Schwester mit Abscheu: »Die Augen öffneten sich, warfen einen Blick voll Haß und Qual herüber.« (17) Seine Rückkehr in das Elternhaus gleicht einer Expedition in Feindesland: Und so zog Edward Allison – nach der Normandie, nach Frankreich, Belgien und Deutschland, nach dem Pazifischen Ozean – wieder in das elterliche Haus, zwar lebend, aber verstümmelt, sehr ernst, gespannt und verschlossen, als wenn er sich in eine Gefahrenzone begebe. (27)

Die Auffassung von der Familie als Schon- und Schutzraum vor den gesellschaftlichen Zumutungen wird auf den Kopf gestellt. Nur kurzzeitig vermag sich Edward wieder in die Familienidylle einzupassen: »Er ließ es sich ein paar Tage gefallen.« (29) Bereits kurze Zeit später bedrängt der von den traumatischen Kriegserlebnissen gezeichnete Sohn mit einer »berserkerhaften Hartnäckigkeit« (32) seine Eltern und gebiert sich dabei, das veranschaulicht die Gerichtsmetaphorik, wie ein Staatsanwalt vor Gericht, der mit seinen Fragen um die Kriegsschuld kreist: »Es waren Kreuzverhöre, ein Prozeß im eigenen Haus.« (33) Der durch die psycho-physische Kriegsverletzung »überwach und unruhig« (37) gewordene Edward versucht vermittels der Kriegsschuldfrage eine Aufklärung der Familienvergangenheit zu betreiben. Zwischen Weltkrieg und Familienkonflikt, allgemeinem moralischem Tiefstand und speziell familiären Zerwürfnissen zog Döblin in seinem 1948 veröffentlichten Epilog eine entschiedene Parallele. Darin ähnelt er den HamletRoman dem Muster einer Enthüllungstragödie an, in deren Verlauf sukzessive die Familiengeheimnisse ans Tageslicht gelangen: Er lag krank, war verwirrt, zerrissen – es war Edward, der vom Kriege heimkehrend sich nicht mehr in sich zurechtfindet. Er wird ein ›Hamlet‹, der seine Umgebung befragt. Er will nicht richten, er will etwas Ernstes und Dringliches: er will erkennen, was ihn und alle krank und schlecht gemacht hat. Und in der Tat: da liegt eine 407 Xu (1992), 130 f. – Unter den in der Familienpsychologie gängigen Familientheorien kongruiert die Familienstresstheorie (vgl. Schneewind [1999], 100 – 104) sowohl historischgenetisch – sie entstand als Reaktion auf die Folgen kriegsbedingter familiärer Trennung und Wiedervereinigung während und nach dem Zweiten Weltkrieg – als auch inhaltlich – in Gestalt des von ihr entwickelten Familienkrisenmodells – mit der von Döblin beschriebenen Familienkonstellation.

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furchtbare Situation vor, und er hellt sie langsam auf. Die Wahrheit, nur die Wahrheit kann ihn gesund machen. Und aus vielen Zerstreuungs- und Ablenkungserzählungen werden indirekte und immer mehr direkte Mitteilungen, schließlich Bekenntnisse und Geständnisse. Ein fauler, träger Zustand enthüllt sich, die Familie kommt mehr und mehr in Gärung. Schließlich ist die Tragödie da, aber mit ihr die Katharsis.408

Döblins Selbstdeutung der Krankheit als Wahrheitsentzug erinnert an Schillers oft zitiertes Urteil über den König Ödipus, wonach Sophokles’ Tragödie »gleichsam nur eine tragische Analysis« ausmache: »Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt.«409 Demnach kommt es vor allem darauf an, die Art und Weise herauszustellen, wie das Verborgene offenbar, Nichtwissen zu Wissen wird.410 Vom Verlauf des Romans sind Antworten zu erwarten, die Suchbewegung bzw. das Enthüllungsgeschehen wird zur Strukturvorgabe der Interpretation.

Der Grund der Kriege Edwards Wahrheitsverlangen richtet sich zunächst auf seinen Vater. Der »war ein freundlicher, durch sein Fett auseinandergeratener Mann, der dafür hielt, daß Kriege, im Licht der Weltgeschichte gesehen, sich von Zeit zu Zeit unter Menschen ereignen wie Grippe, Typhus, Scharlach, gegen die man ja auch kein Kraut gefunden hätte.« (30) Gordon, davon überzeugt, dass das menschliche Handeln von den geschichtlichen Umständen und sozialen Vorstellungen determiniert wird, gelingt es nicht, seinem Sohn zu Hause auszuweichen. Edward, den der Erzähler mit einer »rätselhafte[n] Sphinx« (32) vergleicht, beginnt mit seinen Fragen »um ein dunkles Thema zu kreisen, um die Schuld am Kriege. Begreiflich, daß ein armer Kriegsverletzter daran denkt. Doch was hatte das Haus Allison damit zu tun? Und warum wandte sich Edward deswegen gerade noch an den Vater, dessen Unschuld am Krieg auf der Hand lag?« (32) Fragen, denen Edward, der in seiner unbeirrbaren Insistenz einiges mit dem tragischen Wahrheitssucher Ödipus gemein hat, auf den Grund zu gehen beabsichtigt. Dabei wird Gordon immer mehr klar, dass sein Sohn von einer bestimmten »These« ergriffen ist, nämlich: »am Krieg und seinem Unglück waren gewisse Personen schuld« (33). Um diese in den Augen von Gordon »unsäglich kindliche 408 Döblin (1993c), 318 f. 409 Schiller (1977), 141. Vgl. zu der Parallele auch Xu (1992), 148. 410 Denn der Krieg hat Döblin zufolge bei Edward nur dasjenige verstärkend aktualisiert, was ihn bereits seit seiner Kindheit umtreibt: »Ein unbeschreibbares schweres Schreckgefühl [sic!] das er nicht abschütteln kann, sitzt seit der Kindheit in der Brust des jungen Mannes, des Hamlet, der hier Edward heißt, und das ihn jetzt, als er verstümmelt aus dem Krieg heimkehrt, völlig lähmt und irre macht.« (Döblin [1993d], 403)

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Auffassung« (33) zu bekämpfen, bringt er »seine große Idee ein: statt zu diskutieren – zu erzählen« (36). Mit dem Erzählen als Kur biegt der Vater, obwohl er behauptet, dass es ihm durchaus darum ginge, »die Wahrheit zu ermitteln, die Wahrheit, die reine, ungeschminkte, vollständige Wahrheit« (36), den von Edward vorgebrachten Kampf um Wahrheit in zweierlei Hinsicht ab: Wählt so doch der Vortragende das Thema, während es Edward ausschließlich um die Verantwortung am gerade beendeten Krieg geht; obendrein gibt das mündliche Erzählen, während Edward auf inquisitorische »Kreuzverhöre« (33) aus ist, die Form vor. Gordon zufolge kommt man angesichts der Komplexität der modernen Welt mit simplen Ursache-Wirkungs-Beziehungen in Bezug auf die Entstehung von Kriegen nicht weiter, auch ideologische oder ökonomische Begründungen vermögen da keine Aufklärung zu schaffen: Der Krieg liegt hinter uns – warum soll man jetzt die Dinge nicht so nennen, wie sie sind? Warum sich anstrengen und etwas behaupten, was der Kritik nicht standhält? Einige reden kühn von Personen, die den Krieg ›verursacht‹ hätten – andere möchten den Krieg naturgesetzlich begründen. Die Ökonomie soll schuld sein. Wer oder was ist aber die Wirtschaft? […] Alles ist bloß Phantasie. Man soll sich nichts vormachen. Berechnungen stimmen nicht. Alles ist möglich. Der Krieg hätte ganz gut auch anders verlaufen können. (133)

Gegen den Fatalismus und Agnostizismus seines Vaters versucht Edward stets von Neuem die Zuschreibung einer persönlichen Verantwortung für die men made desasters in Stellung zu bringen. Als Verbündeten auf seiner Suche nach »Wahrheit« und »Redlichkeit« erwählt er Kierkegaard, aus dessen Werk Was ich will? er vorliest (169 – 178)411. Gegen womöglich den Einzelnen entlastende kollektive Beweggründe beharrt Edward, da Kriege »von Menschen veranstaltet« (353) werden, darauf, dass jeder Einzelne sich seiner Verantwortung zu stellen habe: Erst sollen es Sitten sein, Moden, Gepflogenheiten, gewisse Anwandlungen, die von Zeit zu Zeit die Menschheit befallen. Verneblung. Dann sollte es die Gesellschaft sein. Wer noch, was noch. Alles, alles, nur nicht – ich! […] Warum sagt das nicht: Ich bin’s!, sondern zeigt mit dem Finger auf den Nebenmann oder erfindet eine Abstraktion, Sitten, die Gesellschaft? Schließlich ist es Adam, und ich kann ruhig mein Handwerk weiter treiben. Feiglinge, Schwächlinge, nur nichts auf sich nehmen, nur nicht für sich einstehen und sich selbst vertreten. (411)

Alles läuft auf die Insistenz hinaus, mit der Edward jede Form von Schuldabwieglung und -entlastung verwirft, dagegen die Eigenverantwortlichkeit eines

411 Vgl. zum Kierkegaard-Bezug Geißler (1982), 117.

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jeden Individuums herausstellt: »Die Kriege? Der Grund der Kriege, was ist er? Der Abgrund der Feigheit und Verlogenheit.« (412)

Familiengeheimnisse Das Geschichtenerzählen, von Gordon angezettelt, um Diskussionen über Schuld und Verantwortung aus dem Weg zu gehen, erfüllt seinen Zweck. Zwar kommen in den Binnenerzählungen auch (Familien-)Konflikte vor, dort aber werden sie lediglich narrativ vermittelt auf den Prüfstand gestellt. Als Wiederholungen und Variationen sind sie assoziativ auf die Rahmenhandlung zu beziehen412, werden aber nicht offen und kontrovers ausgetragen. Die Binnenerzählungen haben hauptsächlich eine retardierende Funktion und dienen, indem sie die Rahmenhandlung unterbrechen, vornehmlich der Spannungssteigerung.413 Weil die novellenartigen epischen Digressionen nicht direkt zur Klärung der Kriegsschuldfrage und der Familienkonflikte beitragen414, werden sie hier auch nicht eigens thematisiert. In seinem Journal 1952/53 zielt Döblin auf die Hauptfunktion der Erzählungen, nämlich ihren andeutenden und aufschiebenden Charakter : Sie [die Erzähler der Geschichten; M. O.] ergehen sich alle breit. Man will ja den unruhigen Helden, den kranken, unterhalten. Schließlich ist man durch die Erzählungen an einen Kernpunkt geführt, und die letzte Aufklärung gibt dann das Leben. Die Schuld der Väter, nein, die Schuld der Eltern wurde aufgedeckt. Die Familie bricht auseinander.415

Schreiten wir sogleich zum »Kernpunkt«, um uns danach der »letzten Aufklärung« zu widmen, die, wie Döblin so unverhohlen sphinxhaft formuliert, »das Leben« bereithält. Worauf also bezieht sich »die Schuld der Eltern«? Auf eine tabubesetzte Situation in der Familiengeschichte, wie eine Äußerung Dr. Kings vermuten lässt, der den Eltern »ein besonderes Geheimnis« attestiert (489), auf ein Familiengeheimnis?416 412 Vgl. dazu Geißler (1982), 113 – 124. 413 Vgl. zur Funktion der Binnenerzählungen Xu (1992), 162, und Nell (2007), 78 – 80. 414 Nach Kaiser (2004), 230, fügen sie sich »insgesamt zu einem Argumentationsmodell von trial and error, das man für die Figuren auch psychisch oder religiös als therapeutischen Prozeß oder Purgatorium deuten kann.« 415 Döblin (1993d), 404. 416 Karpel (1980) zufolge sind Familiengeheimnisse Informationen, die entweder zurückgehalten oder in einer Gruppe von Menschen unterschiedlich geteilt werden. Er unterscheidet zwischen »individuellen Geheimnissen«, bei denen eine Person etwas vor anderen Familienmitgliedern geheimhält, »internen Familiengeheimnissen«, wenn mindestens zwei Personen Geheimnisträger sind, und »geteilten Familiengheimnissen«, Informationen, die von allen Mitgliedern einer Familie geteilt werden, aber an niemand außerhalb der Familie

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Schon zu Beginn des Romans notiert der Erzähler, dass sich an Alice eine Veränderung vollzogen habe: »Sie war, seit Edward im Sanatorium lag, nicht wie früher. Sie verheimlichte etwas.« (19) Ihr Mann, der seinen Sohn lieber weiter in der Klinik gesehen hätte, vermutet hinter dem Betreiben von Edwards Rückkehr in die Familie eine bestimmte Absicht. Er gibt sich gegenüber seinem Freund, Dr. King, sicher : »Ich weiß, Alice steckt dahinter.« (39) Im weiteren Verlauf finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass Alice »die Entscheidung ihres Lebens« (160) sucht und dass ihr Sohn in diesen Prozess involviert ist. Sie versucht, wie sie im Streitgespräch gegenüber ihrem Mann bekennt (vgl. 340 – 345), ihre und ihres Sohnes »Sache« (344) auszufechten. Sie, die »das Kriegsbeil wieder ausgegraben« (354) hat, zweifelt jedoch zwischenzeitlich an ihren eigenen Beweggründen: Was will ich nur, was will ich nur. Ich habe es gewollt. Nein, es war Edward, der es betrieb. Ich? Nein! Ich tat es für ihn. Nein, es war nicht zu vermeiden, das Schicksal hat ihn mir ins Haus geschickt. […] Ich erkenne ihn wieder in dem Anzug, mit dem goldenen Armband und der Zigarette, und zittere, wenn ich daran denke. So war ich ihm verfallen. Es läuft mir über die Haut und rieselt mir in die Finger. So hat er mich damals überfallen und mich in meinem Zimmer genommen. Ich habe um mich geschlagen, habe ihm die Stirn zerkratzt. (355)

Geht es Alice um die Rache dafür, dass Gordon sie einst vergewaltigte? Einiges (»überfallen«, »genommen«) spricht dafür.417 Ist Edward gar das Produkt dieser Vergewaltigung?418 In dem Kapitel Enthüllung zieht es Edward auf den Dachboden, wo er auf dem »Diwan« (414) tagträumt. »Bilder wehten, und auch Stimmen klangen, Rufe« (414), plötzlich verspürt er Angst: »Das ist es, das ist das Geheimnis, nun sprich weitergegeben werden. Demnach beschreibt Dr. King ein von Alice und Gordon gehütetes internes Familiengeheimnis. 417 Zumindest für Dr. King, der »erkannte: Alice hatte ihn [Edward; M. O.] benützt. […] Sie hatte einen alten Rachewunsch endlich befriedigt. […] Sie hat ihn ins Haus gelockt, um ihre Tat zu verüben. Sie ist eine Verbrecherin. Mich schauert vor dieser Frau.« (424 f.) 418 Karpel (1980), 299, zufolge sind Ängste die übliche Folge von Familiengeheimnissen. Bei den Geheimnisträgern, da sie eine Entdeckung befürchten müssen, bei den Nichteingeweihten, da das Verschwiegene bei ihnen einen Vertrauensverlust erzeugt. Diese Diagnose könnte die instabile Vater-Sohn-Beziehung erklären, fragt Edward sich doch beständig, warum sein Vater ihn hasst: »Was kann es sein, womit habe ich seinen Haß auf mich gezogen? Es muß etwas Schweres sein. Ich selbst kann nicht schuld daran sein, durch Taten, denn ich muß damals ein Kind gewesen sein, ganz jung. Und wenn es nicht meine Taten waren, so muß es mein bloßes Dasein gewesen sein. Warum mein Dasein? War ich ein uneheliches Kind? Ich kenne ihren Hochzeitstag. Ich kam erst anderthalb Jahre danach.« (339) Das Problem seines »bloßen Daseins«, das Edward anspricht, könnte auf seine ungewollte Existenz – als Produkt einer Vergewaltigung – anspielen. Der Hass seines Vaters setzte sich bei ihm als Unsicherheit und mangelndes Vertrauen fort: »Und dies – habe ich schon erlebt, als ich ein kleines Kind war. Es ist in mir steckengeblieben und wurde der Pfahl in meinem Körper, um den ich herumgewachsen bin.« (430)

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zu mir, zerreiß mich.« (414) Ungewollt wird er Zeuge eines Disputs zwischen seinen Eltern, in dem Alice Gordon ihren Haß bekennt (»Ich hasse dich.« [415]), ihn »Bestie« (416) zeiht und von ihm ihre Freigabe verlangt (»Gib mich frei.« [415]). Gordon denkt nicht daran, Alice tobt und schreit: »Hilfe! Mörder!« (417), worauf Edward einschreitet. Gordon begrüßt seinen Sohn auf dem »Kriegsschauplatz« (417) und schleudert ihm wuterfüllt entgegen: »Der kranke, elende Teufel, die Mißgeburt, ich bring ihn um.« (417) Es kommt zum Handgemenge: Edward hat jedes Wort aufgefangen. Er kennt jedes Wort. Er kennt diesen Tonfall, diese Stimme, diesen Ausdruck. Sie sind tausendmal vor ihn getreten und haben bedeutet: Mord. Der fette tobsüchtige Mann ist auf ihn zugetreten und holt mit dem rechten Arm, dem Mordhammer, aus, um auf ihn einzuschlagen. Ein Ballen dunkler Frauenhaare fällt aus der Hand. Edwards freier Arm hebt sich schützend, biegt sich vor und legt sich über sein Gesicht, wie er es tausendmal im Traum getan hat. Aber Edward empfindet keinen Schrecken. Keine Todesangst stellt sich ein. Er steht auf dem Schiffsdeck. Der japanische Selbstmordflieger senkrecht herunter. Er knatterte, schlagprasselte durch das Deck, barst und zerschmetterte den Schiffsraum, das Schiff gab ein grauenhaftes tierisches Brüllen von sich. Ein Geysir stieg auf, setzte Planken, Menschen, Schornsteine in Bewegung, wirbelte sie in schwarze Qualmballen ein, eine rote Stichflamme dazwischen Metallstücke, Körper, abgerissene Glieder. Ein ersticktes ›Ah‹ aus Edwards offenem Mund. (417 f.)

Das ausführliche Zitat, in dem Edwards Kampf gegen seinen Vater mit dem japanischen Bomberangriff überblendet wird, markiert eine Schlüsselstelle. Das einzige Mal werden in dem Roman Familien- und Weltkrieg explizit miteinander verklammert.419 Diese Stelle dürfte Döblin im Sinn gehabt haben, als er in seinem Journal 1952/53 von dem »Kernpunkt« sprach, an den die Erzählungen führen. Edward erlebt den Gewaltausbruch seines Vaters als Retraumatisierung in einem doppelten Sinne, als Wiederaufleben der bereits als Kind erlebten familiären Entfremdung und des Kamikaze-Angriffes.420 In der Folge flieht zunächst Gordon aus dem Haus (419)421, hernach seine Schwester Kathleen (422)422, dann Edward (459), schließlich Alice (467)423. Der 419 Vgl. Kaiser (2004): »Die Mordattacke des Vaters gegen Edward überblendet Döblin mit dessen Angsttrauma aus dem Erlebnis der japanischen Fliegerangriffe: Die Familienhandlung erscheint als der fortgesetzte Krieg. Der Weltkrieg fängt vor 1939 im Hause der Familie Allison an und wird nach 1945 dort weitergeführt. In dieser Szene explodiert gleichsam das Subjektive der Figuren.« 420 Vgl. zur psychoanalytischen Implikation dieser Wiederholung Wambsganz (1999), 161 f. 421 Er hinterlässt seinen Trauring in seinem Schreibtisch zusammen mit der Nachricht: »Donnerstag nachmittag. Alice, dies ist mein Trauring. Du hast, was du willst. Ich geh aus dem Haus.« (426) 422 Nach dem Versuch einer Aussprache mit Alice spürte sie »einen Haß auf die Mutter. Sie gelobte sich, alles dranzusetzen, um den Vater zu finden und ihn an Edward und der Mutter zu rächen.« (422) 423 Unter den Text von Gordon schreibt sie Folgendes: »Dienstag vormittag. Und dies ist mein

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Erzähler kommentiert die Zäsur mit: »Das Haus war nach der Szene auf dem Dachboden nicht mehr das alte« (420). Mit einer doppelten – sich selbst überreden wollenden – Bestätigung reklamiert Alice den Sieg für sich: »Ich habe den Krieg gewonnen. Ich habe den Krieg gewonnen.« (426 f.) Zwar vermeldet der Erzähler : »Die lange Nacht der Lüge ist vorbei« (428), das aber heißt nicht, dass alle Beteiligten nun im Besitz der vollen Familienwahrheit wären. Alice nämlich beginnt gleich mit einem neuen Lügengespinst. So verspricht sie Edward »Aufklärung« (431), eröffnet ihm ihre Liebesgeschichte mit dem inzwischen toten Franklin Glenn Washtrook (451 f.)424 und, dass Glenn sein Vater sei (458)425. Gegen ihre Lebenslüge, die darin bestehe, dass sie ihr Liebesideal wegen Gordon habe fallen lassen (aufgrund der Vergewaltigung, aus der Edward entsprang?), kämpft sie – zu einem Zeitpunkt, als Glenn bereits längst tot ist – an, indem sie die offene Auseinandersetzung mit Gordon sucht und von Neuem lügt. Auch ohne zunächst zu wissen, dass ihre Ausführungen nicht den Tatsachen entsprechen426, vermutet Edward sogleich, von seiner Mutter instrumentalisiert worden zu sein. Statt über die Verantwortung für den Krieg wurde er über die Verlogenheit seiner Familie aufgeklärt: »Ich wollte Wahrheit, Redlichkeit. Man hat mich mißbraucht.« (453) Missbraucht für den mit Rachemotiven gespeisten Austrag des elterlichen Zerwürfnisses, das erst durch Gordons und Alices Akzeptanz ihrer eigenen Unzulänglichkeit wie durch ihre letzliche Versöhnung beendet wird. Nachdem beide einen rasanten Abstieg hinter sich haben (Gordon degeneriert psychisch wie physisch; Alice verfällt zunächst in ein selbstgewähltes Prostituiertendasein, später verwahrlost sie – aus freien Stücken – zum willenlosen Objekt eines Pariser Variet¦-Dresseurs), kommen sie noch einmal zusammen, wie Alice abschließend Edward mitteilt: »Verzeih mir, was ich an Dir und an Kathleen verschuldet habe. Verzeiht es mir beide, wie es Euer Vater getan hat, dem ich Arme, Unglückliche, Verlassene die Augen zugedrückt habe. […] Ich sprach mit ihm, mit Deinem Vater, Edward, Deinem guten entschlafenen Trauring, Gordon. Hier liegen sie alle beide. Ich danke dir von Herzen. Ich gehe auch aus dem Haus.« (427) 424 Der Erzähler spricht von dem »verstorbenen, längst auf dem Grund der Nordsee liegenden und in Stücke zerfallenen, von Fischen davongetragenen kindlich süßen Glenn« (551); vgl. ferner 498 und 553. 425 Alice: »Gordon Allison ist nicht dein Vater. […] Kathleen ist seine Tochter, aber du bist nicht sein Sohn. Diesen Triumph habe ich doch in meine Ehe herübergerettet. Dich habe ich doch noch gehabt – von Glenn.« (458) 426 Zwischen Alice und Glenn bestand – wenn überhaupt – eine platonische Liebe. Von Glenn sagt der Erzähler, dass er Alice »nie berührt hatte« (551). Im inneren Monolog bekennt Alice: »Und warum sehnst du dich nach ihm, Alice? Ihr habt euch nie geküßt, habt euch die Hände gedrückt und euch selig angeblickt, und das war der Himmel von damals, Sommertage an der See.« (498) Und ferner : »Ich habe ihn geliebt. Wußte er es überhaupt? […] Wir liebten uns, ohne es uns zu gestehen, und zuletzt – war er weg.« (552)

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Vater. Ich konnte ihm noch alles abbitten, was ich ihm und Euch in meiner Verblendung und Raserei antat. Er hat mir verziehen.« (564) Kurz darauf stirbt auch Alice, und es heißt: »Das war das Ende des Lebens von Gordon Allison, genannt Lord Crenshaw, des vielgenannten Schriftstellers, und Alice Mackenzies. Sie lagen im Tode nicht auf demselben Friedhof.« (569) Für Franz Loquai ergibt sich nach all den Lügen eine ernüchternde Wahrheit: Glenn und den Ehebruch erfand eine Wunschphantasie der Mutter, Gordons Eskapismus war seine Reaktion auf die ehelichen Mißverständnisse. Dies nimmt dem Roman aber einiges von seiner Glaubwürdigkeit. Um es der Deutlichkeit willen einmal boshaft auszudrücken: Die Katastrophe in der Familie kam möglicherweise gerade dadurch zustande, daß die Eltern ihre Phantasien nicht besprochen, wenn schon nicht sogar ausgelebt haben. Fast möchte man Alice therapeutisch hinterherwünschen, sie hätte über den eigenen Schatten und zur Seite springen sollen. Vermutlich wäre ihr, ihrem Mann und dem Sohn einiges erspart geblieben.427

Loquais Erwartungsenttäuschung über den Handlungsverlauf samt seinem retrospektiven Therapievorschlag ist symptomatisch für die Ratlosigkeit der Interpreten angesichts des Entzugs eines manifesten Familiengeheimnisses. Döblin arrangiert ein komplexes Indizien-Mosaik, das auf eine vermutliche Vergewaltigung bzw. auf das geheime Wissen Alices, dass ihr Mann nicht der Vater von Edward sei, zu zielen scheint. Allein, die Enthüllung eines derartigen Familiengeheimnisses unterbleibt. Zu konstatieren sind stattdessen gestörte Kommunikation und ein rüder Umgang zwischen den Ehepartnern. Viel Rauch um nahezu nichts? Nicht ganz, spricht doch die Unzulänglichkeit der »Aufdeckungswahrheit«428, die Verweigerung eines passepartoutartigen Signifikats aus der Familiengeschichte der Allisons für sich. Der Leser kann sich nicht im sicheren Glauben wiegen, der Fall der auseinanderbrechenden Familie sei mit der »Schuld der Eltern« bzw. deren Untergang (»Tragödie«) gelöst. Vielmehr stellt sich die Ausgangsfrage nach dem Zusammenhang von privater Schuld und Verantwortung für den Krieg auf neuer Grundlage mit erhöhter Dringlichkeit.

Kompatibilitätsproblem Edwards Bekenntnis nach der Dachboden-Affäre: »Ich bin in den Krieg gezogen für eine Sache, die ich nicht kannte« (453), bürdet dem Leser unmissverständlich die Frage auf, ob und, wenn ja, inwiefern sich die konfliktbehaftete Familiengeschichte mit Edwards Ausgangsbegehren verbinden lässt. Gibt es einen namhaft zu machenden Konnex oder wird die Suche nach der Kriegsschuld 427 Loquai (1993), 125 f. 428 Geißler (1982), 124.

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erzähl(chrono)logisch von der nach der Ursache für die Entfremdung der Familienmitglieder untereinander abgelöst. In der Forschungsliteratur firmiert diese Frage seit Helmut Kiesels treffender Formulierung als »Kompatibilitätsproblem«, das sich jedem Interpreten des Romans unweigerlich stelle: Versucht man nun, die Bedeutung der Allisonschen Familienaffäre für die Kriegsschuldfrage zu bestimmen, stößt man allerdings auf ein vielleicht nicht ganz ausräumbares Kompatibilitätsproblem. Nicht zu Unrecht hat Manfred Auer angemerkt, daß im Hamlet-Roman zwei verschiedene Themen miteinander konkurrieren, und daß sich, je weiter der Roman fortschreitet, die Familiengeschichte von der Kriegsschuldfrage emanzipiert. Vor allem aber liegt zwischen der globalen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Allisonschen Familientragödie ein Gefälle, das den Sprung aus den Niederungen, in die der Familienstreit absinkt, zurück auf die Höhe, auf der die Ausgangsfrage nach den Verantwortung für den Krieg angesiedelt war, fast unmöglich erscheinen läßt. Das Elternpaar Gordon und Alice Allison (und Döblin betonte, daß im Hamlet-Roman nicht nur von der »Schuld der Väter«, sondern von der »Schuld der Eltern« die Rede ist) hat, wie der häusliche ›Nachkriegsstreit‹ enthüllt, zwar den Sohn veranlaßt, aus der lieblosen familiären Atmosphäre in den Krieg zu flüchten, hat aber doch nicht den Weltkrieg angezettelt. Was also kann die Beobachtung der familiären Tragödie zur Erklärung der allgemeinen Unheilsgeschichte beitragen? Weltkrieg und Familienkrieg gleichen sich, wie der Leser mit dem leidenden Helden des Romans schließlich festzustellen hat, darin, daß beide durch ein und denselben Eskapismus ermöglicht und begünstigt wurden.429

Bevor man mit Edward eine einseitige Schuldverteilung vornimmt (»Schuld der Eltern«), gilt es schlicht daran zu erinnern, dass Edward geradezu in den Krieg flieht.430 Dabei ist ihm der Krieg willkommener Anlass, seiner heimatlichen Sphäre den Rücken zu kehren. Ein moralischer Zusammenhang zwischen Familie und Krieg ist herstellbar, wenn man – Edwards Perspektive rekonstruierend – seine Eltern als Exponenten des ›europäischen Systems‹ begreift, das auch für den Krieg verantwortlich sei. Bleibt freilich folgendes Paradox: Edward, der einerseits den ›Geist Europas‹ überwinden möchte, um sich der pazifistischen Gegenwelt Ostasiens zuzuwenden, wird andererseits freiwillig zum Teilnehmer des ›europäischen‹ Kriegs. Wenn er nun, verstümmelt aus dem Krieg zurückgekehrt, seine Eltern für das Kriegsgeschehen zur Rechenschaft ziehen will, so mag das als individualpsychologisches Entlastungsgebaren nachvollziehbar sein, zu seiner ursprünglichen, aus der Emanzipation von den Eltern resultierenden Handlungsmotivation steht es quer. In der Konsequenz ließe sich also behaupten, dass schon allein Edwards Flucht in den Krieg ein Kompatibilitäts429 Kiesel (1986), 495 f. 430 Vgl. Gordon im Gespräch mit Alice: »Habe ich […] ihn in den Krieg geschickt? Du weißt, er hat sich dazu gedrängt. Wenn er sich nicht gemeldet hätte, hätte man ihn friedlich weiterstudieren lassen«. (39)

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problem aufwirft, eines, das dann nach Ende des Kriegs nur – in jetzt (nach dem Tod Jonnys und der Verstümmelung) verschärfter Form – aktualisiert wird. Sicher erscheint Edward insofern als Opfer, als seine Eltern sich geweigert haben bzw. weiterhin weigern, Verantwortung im politischen wie privaten Bereich des Lebens zu übernehmen. Einen ähnlichen Vorwurf könnte man allerdings auch Edward machen, hat doch auch er sich mit seiner Flucht aus den familiären Bezügen in den Krieg »einer – wenngleich psychologisch verständlichen – eskapistischen Haltung schuldig gemacht«431. Mangelnde Verantwortungsübernahme und Eskapismus sind als Diagnosen persönlichen Fehlverhaltens der Protagonisten Gordon, Alice und Edward sicherlich zutreffend, diese Attribuierungen lösen aber noch nicht das Kompatibilitätsproblem. Ein plausibles Lösungsangebot ergäbe sich erst dann, wenn die das Familiensystem gefährdenden Verfehlungen den Krieg entweder in irgendeiner Form (mit-)verursacht oder zumindest befördert hätten. Familienspezifische Aspekte, die für den Nachkrieg insofern Gültigkeit beanspruchen können, als hier der Staatenkrieg im Familienkrieg seine Fortsetzung findet, wären gleichermaßen für die Vorkriegszeit namhaft zu machen.432 Ein derartiger Lösungsansatz ist aber nicht in Sicht. Womöglich ist Edwards moralischer Idealismus, der über die Kriegsschuldfrage zur Klärung der Familienvergangenheit zu gelangen beansprucht, auch nur einer fehlenden Ambiguitätstoleranz geschuldet.433 Sein Versuch, um jeden Preis zwischen seiner unbefriedigenden Herkunftsgeschichte und seinem Kriegseinsatz (seinem Beinverlust und dem Verlust seines Freundes Jonny) einen Kausalzusammenhang herzustellen, hätte dann zum Ziel, die – schwer überbrückbare – Spannung zwischen der Vergangenheit (Nicht-Idenität aufgrund der familiären Entfremdung) und der Gegenwart (fehlende körperliche Integrität aufgrund der Verstümmelung) nicht in ihrer ganzen Härte ertragen zu müssen.434 Überdies führt die Erinnerung daran, dass es im Hamlet nicht um die vom Dritten Reich ausgelöste Katastrophe geht, einen weiteren Schritt weg von der allein auf die Eltern Gordon und Alice Allision fixierte Schuldzuschreibung hin zu einer Entzerrung des Kompatibilitätsproblems. Der Roman betreibt keine historische Ursachenforschung für den von den Nationalsozialisten angezettelten Zweiten Weltkrieg, sondern die »Frage nach dem Krieg bezieht sich auf 431 Loquai (1993), 124. 432 Vgl. dazu Düsing (1982), 157. 433 Das Konzept der Ambiguitätstoleranz wurde von Frenkel-Brunswik im Jahre 1949 unter Bezug auf die Arbeiten zum autoritären Charakter eingeführt. Es beschreibt das Ertragenkönnen von Mehrdeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten, ungewissen und unstrukturierten Situationen oder unterschiedlichen Erwartungen und Rollen, die an die eigene Person gerichtet sind. Vgl. Reis (1997). 434 Auch seine Mutter Alice ist ambiguitätsintolerant, vgl. dazu 506, 509, 514, 525.

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eine gleichsam allgemeine, historisch invariante Konstante«435. Demnach könnte man von einer Verklammerung von Familienleben und Krieg sinnvollerweise eher auf der allgemeinen Ebene der moralischen Verantwortung sprechen. Dazu würde dann auch der eigentlich befremdliche Handlungsraum, »das englische ›Setting‹ des Romans«436, passen, den man Loquai zufolge in der Forschung bisher ebenso ignorierte wie seine interpretatorische Konsequenzen: »Edward Allison ist Soldat der Alliierten, Angehöriger der Siegermächte, und er kehrt nach England heim. Die Fragen nach Schuld und Verantwortung werden in England gestellt.«437 Die räumliche Transposition der Romanhandlung nach England bewirkt eine Verfremdung, die eine Distanzierung der Erzählhandlung nach sich zieht. Das nachkriegsdeutsche Lesepublikum, für das Hamlet zweifellos geschrieben wurde438, wurde aus seiner damaligen Existenz in ein fremdes Land versetzt, von dem aus es auf den Zweiten Weltkrieg aus dem Blickwinkel eines ursprünglichen Kriegsgegners zurückblickt. Nun könnte man annehmen, dass für Döblin die NS-Zeit, die Zerstörungen und der aufreibende Alltag im Trümmerdeutschland noch zu sehr auf den Deutschen lasteten, als dass sie sogleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schon dafür bereit gewesen wären, sich direkt mit der Schuldfrage in Deutschland auseinanderzusetzen.439 Die räumliche Verfremdung wäre demnach das Ergebnis der autorstrategischen Hoffnung, einer kollektiven Abwehr des Kriegsthemas und der Schuldfrage vorzubauen. Was aber, wenn die räumliche Verfremdung, die Abstraktion des Kriegsheimkehrerromans vom Nationalsozialismus und von der von Deutschland ausgelösten Katastrophe System hätte? Wenn sich daran nicht allein die Erwartung knüpfen würde, durch die Abstandnahme von der konkreten historisch-politischen Situation im Nachkriegsdeutschland eine erhöhte Leserbereitschaft zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zu erzielen? Wenn sich durch den Bezug des Kriegsgeschehens zur Familienmoral nunmehr für jeden Einzelnen die grundsätzliche Frage nach der Verantwortung für Gewaltgeschichte stellte?440 Wenn auch ein seiner Herkunft nach jüdischer Schriftsteller, obwohl Exilant und er435 436 437 438

Loquai (1993), 128. Loquai (1993), 128. Loquai (1993), 128. Zumindest existieren von Döblin keine Äußerungen, die, soweit ich sehe, Abweichendes vermuten lassen. 439 Vgl. die entsprechenden Einschätzungen, worin Döblin (1996), 312 – 322, die Eindrücke seiner Deutschlandreise kurz nach Kriegsende bündelt. 440 Vgl. in die gleiche Richtung zielend, wenngleich unspezifischer Wambsganz (1999), 148 f.: »Die Situierung der Hauptfigur in England hat aus der Warte des Autors also nur die Aufgabe, den Komplex des Dritten Reiches mit der Befrachtung durch Faschismus und Rassismus aus der politischen Erörterung herauszuhalten, um primär das ins Allgemeine zielende ethische In-Frage-Stellen der kriegerischen Mentalität aller Völker zu betreiben.«

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klärter Gegner des NS-Regimes, sich zum Kriegsende von dieser Frage nicht ausgenommen hätte?

Autobiographisches Am 20. März 1945 erreichte Alfred und Erna Döblin die briefliche Mitteilung, dass ihr Sohn Wolfgang am 21. Juni 1940 in Housseras (in den Vogesen) gefallen sei.441 Aufgrund der seit 1940 ausbleibenden Lebenszeichen sorgten sich die beiden bereits längere Zeit um das Schicksal ihres Zweitältesten, der als begabter Mathematiker galt442 und als Soldat in der französischen Armee seinen Dienst versah. Schuldgefühle marterten die 1940 nach Amerika ausgewanderten Eltern ob der Unsicherheit über den Verbleib Wolfgangs (und auch den des anderen Sohns Klaus)443, von dem nun zweifelsfrei feststand, dass er seinem Leben zu dem Zeitpunkt, als die Überreste seines Regiments sich den anstürmenden Deutschen ergaben, ein Ende setzte444. Erna und Alfred erkannten, obwohl sie von den tatsächlichen Umständen des Todes ihres Sohnes erfuhren, zu Lebzeiten indes nur die Version an, wonach Wolfgang mit der Waffe in der Hand im Kampf starb.445 »Indem Erna und Alfred die Tatsachen leugneten, gaben sie in einer Art magischem Vorgang dieser mystischen Vision Gestalt.«446 Erna, die im Gegensatz zu Alfred stets ein betont enges Verhältnis zu ihrem zweitältesten Sohn unterhielt447, scheint bis zu ihrem nicht allzu lange nach ihres Mannes Tod begangenen Selbstmord im September 1957 geradezu einen Kult um Wolfgangs Person betrieben zu haben.448 Aber auch Alfred bereitete der Verlust einen nachhaltigen, schwer zu bewältigenden Schmerz, wie er seinem Tagebuch an441 Vgl. Döblin (1996), 292 f.: »Und nun konnten wir endlich, endlich auch etwas über unsern Zweitältesten, Wolfgang, Vincent genannt, erfahren. Wir hatten die langen Jahre nichts von ihm gehört. Wir dachten, er sei in Gefangenschaft. Meine Frau hatte in Gedanken an ihn laufend für die Gefangenenhilfe gespendet. Jetzt war Frankreich befreit und es kamen Briefe. Man hatte ihn auch in Frankreich gesucht. Es war keine Spur zu ermitteln. Nun war der Brief da, von der Hand einer Studienfreundin. Der Brief gab Aufschluß. Es war die Aufhellung, die ein Blitz gibt, der in ein Haus schlägt. Sein Grab lag in den Vogesen. Er war vor dem Feind gefallen, 1940 im Juni, am 21. Juni.« 442 Vgl. Petit (2005). 443 Vgl. Döblin (1996), 221: »oh großer Gott, himmlischer Vater, wo waren unsere beiden Söhne, die Soldaten, was war mit ihnen?« 444 Vgl. Petit (2005), 294 – 307. 445 Vgl. Döblin (1993 f), 336: »der zweitälteste ist 1940 als französischer Soldat im Kampf gegen die Nazis gefallen«; Petit (2005), 338. 446 Petit (2005), 341. 447 Vgl. Döblin (1993e), 260: »ich war früher so hart gegen ihn; ich höre noch, wie er einmal als Kind sagte: ›Papa haßt mich furchtbar.[‹] Um so mehr war er mit E[rna] verbunden.« 448 Vgl. Petit (2005), 340.

Autobiographisches

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vertraute: »Immer der Gedanke an das schreckliche Unglück unseres Wolfgang. […] Es ist unfaßbar. Ich bete 3x am Tage für ihn. Wie damit fertig werden[?] – Mein neues Buch wird ihm gewidmet werden, – natürlich, – ich rühre an seine (und meine) Geschichte.«449 Zwar verzichtete er letztlich darauf, den HamletRoman seinem Sohn zu widmen – wohl, weil er den Anschein eines Schlüsselromans, sprich überstürzte Identifikationen von Edward mit Wolfgang, von Alice mit Erna und von Gordon mit sich selbst vermeiden wollte. Das ändert aber nichts daran, dass Edward – gleichsam als Wiedergänger Wolfgangs – Züge des Geistes eines Toten aufweist, der zurückgekehrt ist, um die Lebenden heimzusuchen und von ihnen Wiedergutmachung für dasjenige Unrecht zu verlangen, das ihm zuteil wurde. Dergestalt prangert er die frühere Generation an und fordert Gerechtigkeit für alle Lügen und Feigheiten in seiner Familie.450 Bereits in dem Roman Pardon wird nicht gegeben aus dem Jahr 1935 finden sich einige erstaunliche Reflexionen über die Familie451, aus deren Intensität man schließen könnte, dass hier nicht zuletzt ein gewisses subjektives Engagement des Autors mitschwingt. Wie dem auch sei, Döblin machte nie einen Hehl daraus, dass er zeit seines Lebens kein rein literarisches Verhältnis zu Familienkonflikten hatte.452 Die entscheidende Zäsur bildete die Entscheidung des Vaters Max Döblin, 1888 Frau und Kinder zu verlassen und mit einer zwanzig Jahre jüngeren Schneiderin ein neues Leben (erst in New York, dann in Hamburg) anzufangen.453 Der von der Flucht des Vaters ausgelöste Wegzug aus der Geburtsstadt Stettin kam für den knapp 10-Jährigen dem Verlust des Kindheitsparadieses gleich.454 In autobiographischer Form setzte sich Döblin 40 Jahre danach in dem Text Erster Rückblick zum ersten Mal mit der psychischen Dynamik seiner »Familienkatastrophe«455 auseinander. Die Zweckheirat der grundsätzlich unterschiedlichen Charaktere (der Vater vielseitig begabt und mit künstlerischen Neigungen, die Mutter eine »einfache Frau«456 und kulturell desinteressiert) mündete in eine Ehekrise: »Tätlichkeiten waren vorgekommen 449 Döblin (1993e), 260. 450 So sehr Petit m. E. zu Recht auf dem Bezug von Edward zu Wolfgang Döblin insistiert, so sehr verliert er die nötige Bodenhaftung, um sich in nebulösen metaphysischen Spekulationen zu ergehen, wenn er familiäre Verfehlungen aufsummiert und mit dem Konzept der Erbsünde in einer Art globalem Unheilszusammenhang gipfeln lässt: »Doch das kollektive Böse ist nur die aufgelaufene Summe der intimen Zerstörungen, der verborgenen Verbrechen, die in den Familien von Generation zu Generation insgeheim weiterbestehen und die Erbsünde neu aufleben lassen.« (Petit [2005], 345) 451 Vgl. Döblin (1990), 267 f., 278 f., 282. 452 Vgl. zur Prägung von Döblins Werk durch traumatische, besonders durch die Familiengeschichte ausgelöste Kindheitserfahrungen Kiesel (1986), 29 – 54. 453 Vgl. hierzu Sander (2001), 14 f. 454 Vgl. Döblin (1993b), 111: »Wir waren aus einem kleinen Paradiese vertrieben worden.« 455 Döblin (1993b), 139. 456 Döblin (1993b), 114.

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– wenn ich mich recht besinne, auch zwischen den Eheleuten«457. Mit dem Vater rechnet Döblin in aller Deutlichkeit ab: »Er war ein Lump«458, »das Wort Pflicht kam in seinem Lexikon nicht vor«459, ein Mann, der »sich in verbrecherischer Weise aus einer wahrscheinlich schweren Situation gerettet« hat460. Dem zurückgelassenen Sohn bleibt nur die Möglichkeit, sich im Nachhinein für das Verschwinden des Vaters zu revanchieren, indem er diese belastende Lebenserfahrung im literarischen Werk bearbeitete. »Ich kann so urteilen nur mit Worten, er hat mit Taten über uns geurteilt so streng wie möglich: Ihr seid mir schlechte Luft, und er hat sich allen Herzenspflichten und juristischen Pflichten eines Vaters entzogen.«461 Um das Trauma zu bewältigen, müsse, so Döblin, die erschütternde Erfahrung im Traum bzw. in der Vorstellung wiederholt und durchgearbeitet werden462, wozu es therapeutisch unabdingbar sei, die Verantwortlichen und ihre Schuld klar zu benennen: »Wenn die Sünden der Väter heimgesucht werden an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, so haben die Kinder das Recht, die Väter vor ihr Tribunal zu ziehen und Klage zu erheben.«463 In Ahnlehnung an die alttestamentarische Vorstellung464, dass sich die Sünden der Väter auf die künftigen Generationen auswirkten, formuliert Döblin nicht nur seine Geistesverwandtschaft mit diesem speziellen Konzept einer transgenerationellen Belastung, sondern auch, mit welchen Mitteln die Nachkommen gegen dieses negative Erbe anzukämpfen berechtigt sind. Die von Döblin als nur folgerichtig erachtete Lizenz, den ihren Pflichten nicht hinreichend nachgekommenen Eltern ›den Prozess zu machen‹, lässt auf zweierlei schließen: Erstens darauf, dass seine Kindheitserfahrungen »offensichtlich zu einer von Döblin selbst als belastend empfundenen psychischen Grunddisposition geführt« haben465, zweitens darauf, dass er nicht willens war, sich mit dem belastenden biographischen Erfahrungshintergrund schlicht und einfach abzufinden. So zeugt auch der Hamlet-Roman von Döblins Bestreben, gegen zweierlei anzuschreiben. Gegen die Gefahr – zumal mit dem jahrelangen außerehelichen Verhältnis zu Charlotte (Yolla) Niclas466 –, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, und gegen das schlechte Gewissen, das der Tod des in Frankreich zurückgelassenen Sohnes Wolfgang nach sich zog: 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466

Döblin (1993b), 117. Döblin (1993b), 119. Döblin (1993b), 118. Döblin (1993b), 118. Döblin (1993b), 119. So Döblin (1993b), 148 f., in argumentativer Nähe zu Freud. Döblin (1993b), 119. Vgl. 2.Moses 20,5; 4.Moses 14,18 und 5.Moses 5,9. Kiesel (1986), 30. Vgl. Sander (2001), 31 – 33.

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Ich betete damals in Baden[-]Baden Tag um Tag für ihn, morgens und abends. Ich bat ihn, der so entsetzlich rasch und ohne Wort verschwunden war, um Verzeihung für alles, worin ich ihm gegenüber versagt hatte, nochmal um Verzeihung, nochmal um Verzeihung. Ja, so betete ich und warb um ihn und rief ihn morgens und abends, noch nachts, wenn ich erwachte. Ich habe als Erwachsener selten in meinem Leben geweint, auch der Tod meiner Mutter griff mich nicht so an. Jetzt, bei dem Schwinden dieses Sohnes kamen mir oft die Tränen, ich konnte mich lange nicht beruhigen.467

Es wäre verwegen zu behaupten, dass Hamlet oder Die lange Nacht hat ein Ende gleichsam Döblins Abrechnung mit dem eigenen Vater, wie sie sich in Erster Rückblick manifestiert, um eine Generation verschoben und im Gestus der autotherapeutischen Selbstanklage als Romanhandlung reinszeniert. Dass Döblin, der im Exil überlebte, seinem verstorbenen Sohn Wolfgang in Gestalt eines jungen Kriegsheimkehrers eine postume Stimme verliehen habe, um ein gerichtsähnliches Szenario zu entwerfen, in dem die »Front« mit der »Heimat« (vgl. 26) abrechnet. Um mit der These, dass nicht zuletzt Konflikte im Familiensystem für den desolaten Weltzustand mitverantwortlich seien, der im Zweiten Weltkrieg kulminierte, gegen die Eltern – und synekdochisch die ElternGeneration – Anklage zu erheben. All das soll nicht behauptet werden. Gleichwohl soll darauf hingewiesen werden, dass das von der Forschung in Döblins letztem Roman herausgearbeitete Kompatibilitätsproblem (zwischen Familienzerrüttung und Nachwirkungen des Weltkriegs) auch den realen Autor bedrängte. Schließlich soll zumindest erwähnt werden, dass Döblins biographische Situation zu Kriegsende auch einen existenziellen Anknüpfungspunkt für die Rezeption von Shakespeares berühmtester Tragödie bereit gehalten haben könnte. So wie Shakespeares Empfänglichkeit für den Status der Toten womöglich durch den Tod seines Sohns Hamnet im Jahr 1596 verstärkt wurde468, dürfte die Anziehungskraft des Hamlet-Stoffs für Döblin nach dem Tod seines Sohnes Wolfgang gestiegen sein.

Modell Hamlet Eine Deutung von Döblins Hamlet oder Die lange Nacht hat ein Ende – das Typoskript des Romans ist nur mit Hamlet überschrieben, Döblin änderte den Titel offenbar erst bei der Neufassung des Schlusses469 – wird man aus gutem Grund solange als unzureichend erachten, bis sie nicht zu der mit dem Titel vom Autor vollzogenen Rahmung und den vielfältigen Bezugnahmen auf Shake467 Vgl. Döblin (1993d), 350 f. 468 Vgl. dazu Greenblatt (2008), 319. 469 Vgl. Graber (1987), 589.

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speares Hamlet im Erzähltext Stellung bezieht. Im Hinblick auf die intertextuellen Bezüge ist die Forschung, wie Loquai bemerkt, »kaum über wenige Bemerkungen hinausgegangen«470. Freilich belässt auch er es bei der bloßen Feststellung von einigen Figuren-Analogien und wenigen motivischen Übereinstimmungen bzw. Differenzen. Edward Allison werde mit Hamlet gleichgesetzt, dessen »Wahnsinn ist hier eine ›Kriegsneurose‹«471. Döblins Hamlet/Edward, dem es nicht um die Rache für einen Königsmord, sondern um sein Unglück und die Verantwortung für die Millionen Toten des Krieges gehe, erscheine »kein väterlicher Geist, der ihn auf die richtige Spur bringen könnte«472. Döblins Stück im Stück »sind die Novellen im Roman. Es ist also nicht Edward, der die Täter überführt, sondern es sind die Täter selbst, die sich erzählend entlarven.«473 Auch zeige sich im Verlauf des Romans, dass sich die Mutter Edward als Verbündeten heimgeholt hat, um den Vater zu stürzen. Für die Hamlet-Fabel bedeutet dies eine Verschiebung der aus Shakespeare bekannten Konstellation. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Kriegsschuld und den immer häufiger Edward von der Mutter angedeuteten Vorwürfen gegen den Vater stellt sich heraus, daß Gordon eigentlich die Position eines Claudius einnimmt, der Alice gegen ihren Willen in Besitz genommen und eingesperrt hat. Claudius gleichsam in der Verkleidung von Hamlets Vater.474

Weiter : Es ist nicht mehr Hamlet, der nach der Wahrheit forscht. Die Wahrheit selbst versucht, ihn einzuholen […]: die Wahrheit über eine völlig zerrüttete Familie. Vor dieser Familie ist Edward in den Krieg geflüchtet. Damit hat Edward auch die Antwort auf seine Frage nach der Schuld. Er erscheint somit als Opfer der elterlichen Weigerung, Verantwortung im politischen wie im privaten Bereich des Lebens zu übernehmen.475

Ganz zum Schluss beginne der Hamlet des Romans »seine Rolle selber zu schreiben, deshalb verabschiedet er sich sowohl aus dem Stück des Vaters als auch von Shakespeares Hamlet«476. Obwohl ich grundsätzlich mit Loquais Analyse der intertextuellen Beziehungen übereinstimme, bleiben m. E. vor allem drei Fragen offen: 1. Ist eine Analogie zu der Shakespeare’schen Geistererscheinung notwendigerweise daran gekoppelt, dass sich Edward/Hamlet ein väterlicher Geist zeigt? Entscheidet 470 471 472 473 474 475 476

Loquai (1993), 117. Loquai (1993), 118. Loquai (1993), 118. Loquai (1993), 121. Loquai (1993), 122. Loquai (1993), 124. Loquai (1993), 126.

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nicht vielmehr, ob überhaupt ein Geist erscheint, gleich in welcher Gestalt? 2. Warum wird, wenn die Novellen im Roman Döblins die Parallele zu Shakespeares Spiel im Spiel bilden, gerade das Hamlet-Drama, obwohl Edward sich doch mit aller Macht für seine Wiedergabe einsetzt, nicht erzählt? Geschieht dies womöglich aus Rücksicht auf die Gesamtkomposition des Romans? 3. Was impliziert Döblins Modifikation, Edward/Hamlet überleben und ein »neues Leben« (573) beginnen zu lassen, für den Referenzcharakter der ShakespeareTragödie? Ad 1. und damit zur Geistererscheinung: Über 200 Seiten vergehen, also mehr als ein Drittel des Textes, bis – sieht man von der paratextuellen Referenz des Titels ab – das erste Mal explizit auf Shakespeares Hamlet Bezug genommen wird. Edward bespricht mit seinem Onkel James Mackenzie die Familienkrise und äußert den Verdacht, dass alle ihn Umgebenden an seiner Täuschung interessiert seien. Plötzlich sieht er sich in einer dem Dänenprinzen vergleichbaren Rolle: Ich komme mir vor wie Hamlet, den man belügt, den man zerstreuen will und den man schließlich auf Reisen schickt – weil man ihn fürchtet –, weil er weiß, was geschehen ist. Ich weiß nicht. Mir ist kein Geist aus dem Hades erschienen, um mir sein fürchterliches Geheimnis anzuvertrauen. Zu mir spricht keiner. Ich ahne nur. Sie verraten sich doch zu deutlich. (206)477

Im selben Atemzug, in dem Shakespeares Tragödie zum Muster erklärt wird, wird auch eine Differenz markiert: Zum erscheinenden Geist des ermordeten Königs gebe es allenfalls eine vage Parallele, eine Ahnung. Betrachten wir die unterschiedlichen Ausgangssituationen: Shakespeares Held kehrt von seinem Studienort Wittenberg in seine dänische Heimat zurück, um erfahren zu müssen, dass sein Vater ermordet wurde. Hamlets Onkel Claudius, der jetzt die Königswürde innehat und überdies die angestammte Königin Gertrude ehelichte, macht der Geist als Mörder aus und beauftragt Hamlet, diesen Mord zu rächen. Wie anders bei Döblin: Eine strukturelle Entsprechung zu des alten Königs Ermordung ließe sich allenfalls in dem ›mörderischen Weltkrieg‹, katexochen in der Tötung Jonnys durch den Kamikaze-Angriff herstellen. Das bedeutet, dass sich einerseits ein Mord im Familienkontext mit Racheauftrag durch den Ermordeten und andererseits ein im Krieg Gefallener – der in seiner Rolle als Busenfreund des Protagonisten an Horatio erinnert – samt der Ahnung eines Familiengeheimnisses durch den Freund des Toten gegenüberstünden. 477 Vgl. ferner : »Warum gab Edward nicht nach? Er wollte einen wahnsinnigen Weg gehen: den eines Hamlet, dem aber kein Gespenst eines toten Vaters den Auftrag zu handeln gab, sondern sein eigener krankhafter innerer Drang, ein schrecklich trüber Trieb.« (412)

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Bleibt man auf dieser Spur, macht also die Substitution von Hamlets Vater durch Jonny probehalber mit, erscheinen ›geisterhafte‹ Auftritte im HamletRoman einschlägig, also diejenigen Stellen, in denen Edward versucht, mit dem toten Jonny Kontakt aufzunehmen. Gleich zu Beginn des Romans wird deutlich, dass Edward sich nicht damit abfindet, mit dem physischen Ableben seines Freundes eine ontologisch unüberbrückbare Kluft zwischen Lebenden und Toten zu akzeptieren: »Darum hängte er [Edward; M. O.] sich an ihn [Jonny ; M. O.], folgte ihm in das Totenreich, spielte den Toten.« (24) Über metaphorisch verklausulierte Transgressionen in den Bereich des Jenseitigen geht der Text nicht hinaus, verweigert konsequent eine Auskunft, ob und, wenn ja, in welcher Form Edward und Jonny imstande gewesen wären, miteinander zu kommunizieren. Die Zukunft, die den beiden verwehrt wurde, sollte – das wurde oben ausführlich dargestellt – in Ostasien stattfinden. Ostasien bleibt auch das verbindende Element zwischen den beiden: als Totenkult, der in der Tradition ostasiatischer Praktiken steht. Im festen Vertrauen auf den idealistischen Grundsatz »Im Denken ist Wahrheit und Existenz« (167) ist Edward überzeugt, mit seinen abwesenden Freunden stets dann zusammenzusein, wenn er an sie denkt: »Meine Freunde, meine toten Freunde, meine Weggenossen, schweigende Tote – weggerissen von den Bäumen, von der Atmung, vom Essen und Trinken, vom Umgang mit euren Körpern, vom Umgang mit uns –, ihr seid nicht verblichen. Wir tauchen in euer Reich ein, ein geistiges Reich.« (167) Er feiert »seine toten Freunde«, indem er »eine Art chinesischen Ahnenkult« betreibt, »aber ohne das demütige Zeremoniell, nur eine freundliche, herzliche Bewillkommnung von Gästen, mit Aufwartung und Bewirtung« (167; vgl. ähnlich auch 202). Seine enge Beziehung zu Jonny führt Edward im Geist fort, wenn er Jonnys Nähe in mit der chinesischen Ahnenverehrung vergleichbaren Riten sucht. Jonny wird somit gleichsam in ein ›ostasiatisches Totenreich‹ überführt, während es Edward, wie es im zweiten Satz des Buches heißt, nicht zufiel, »den asiatischen Kontinent zu betreten« (9). Hält man es für plausibel, dass Döblin in seinem Roman das Band zwischen Edward und dem verstorbenen Jonny in Anlehnung an die Kommunikation Hamlets mit dem Geist seines Vaters gestaltete, so sollte es nicht verwundern, dass es dem Hamlet des 20. Jahrhunderts nicht um Rache geht, sondern um die Verantwortung für den Weltkrieg (und somit auch – wenngleich in einem sehr abstrakten Sinne – für Jonnys Tod) und um einen Gegenentwurf zu dem in Edwards Perspektive diskreditierten politisch-kulturellen Selbstverständnis Europas. Döblin setzte zeitlebens große Hoffnungen auf die geistige Befruchtung des Westens durch Ostasien, speziell durch China. Zeugnis davon legen sein früher Roman Die drei Sprünge des Wang-lun (1915/16) ebenso ab wie sein Versepos Manas (1927) und seine 1940 erschienene Einleitung zu dem von ihm zusammengestellten Auswahlband The Living Thoughts of Confucius. In der Einleitung setzte sich Döblin explizit mit chinesischer Tradition auseinander, um daraus

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Therapieangebote für die in eine fundamentale Krise geratene westliche Zivilisation zu entwickeln.478 Den Ausgangspunkt für seine Beschäftigung mit dem Konfuzianismus bildete dabei, den Westen mit einem Denkgebäude zu konfrontieren, das Natur und Moral mit der Vorstellung einer Weltordnung in Einklang bringt. Eine Gesellschaft, die auf einer natürlich-moralischen Ordnung beruht und in der die Voraussetzungen für die individuelle Selbstentfaltung, soziale Harmonie und Stabilität geschaffen sind, wird Döblin zufolge durch eine Reihe moderner Entwicklungen verunmöglicht: Durch eine übersteigerte Individualitätskultur, die Vorherrschaft des Materialismus in Verbindung mit einem mechanistisch-naturwissenschaftlich geprägten Weltbild und eine Neigung zur Autokratenherrschaft, kurz, durch den Verlust einer moralischen Ordnung mit ganzheitlicher Perspektive. Wie in seiner Konfuzius-Einleitung zu Beginn des Krieges beabsichtigte Döblin auch im Hamlet-Roman nicht, eine politische Gegenwartsanalyse zu liefern – ansonsten hätte er ja z. B. durchaus Ross und Reiter nennen können –, vielmehr zielte er mit seiner großräumigen Moderne- und Zeitkritik auf die konkrete Gegenwart nur als Symptom, als Ausdruck für tieferliegende Fehlentwicklungen. So kommt es nicht unvorbereitet, dass Europa in Döblins letztem Roman für eine durch Individualisierung bewirkte Atomisierung der Gesellschaft, für Materialismus und Krieg steht, Ostasien dagegen – Japan allem Anschein nach ausgenommen, immerhin ist ein Kamikaze-Flieger für Jonnys Tod und Edwards Verwundung verantwortlich – für Frieden, Spiritualität und Alleinheit. Während Shakespeares Hamlet sich selbst als Garanten für die Überwindung der über die Familie hinausgehenden gesellschaftlichen Krise begreift (»Die Zeit ist aus den Fugen, o verfluchte Schicksalstücken, dass jemals ich geboren ward, um sie zurechtzurücken!«479), erkennt Döblins NachkriegsHamlet ein vielversprechendes Angebot, wenn nicht ein Antidot gegen das verkommene Europa im ostasiatischen Geist. Ad 2. und damit zur verweigerten Erzählung von Shakespeares Hamlet-Fabel: Die an den Erzählabenden präsentierten Geschichten (so z. B. eine Liebesgeschichte aus der Zeit der Trobadoure, eine Nacherzählung der Geschichte King Lears und kleinere Erzählungen, die vom Erzengel Michael und Michelangelos Liebesverzweiflung handeln) werden »nicht in der von Gordon angebotenen Intention aufgenommen, die Diskrepanzen zwischen einem Leben und den davon erzählten Geschichten zu erkennen, sich also mit der Unbezüglichkeit zwischen historischer Wahrheit und historischem bzw. moralischem und literarischem Bericht bzw. Urteil abzufinden«480. Stattdessen wirken die Geschich478 Vgl. ausführlich zu Döblins Konfuzius-Rezeption Ostheimer (2008a). 479 Shakespeare (1984), 109 (1.5.188 f.). 480 Nell (2007), 71.

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ten zunehmend aufreizend auf Edward und haben zur Folge, »dass auch andere Personen, nicht zuletzt Alice selbst, sich immer tiefer im Spiegel dieser und anderer Geschichten interpretieren und dazu auch noch eigene Legitimationserzählungen aufbieten, die dann von Edward wieder gegen den Strich, also im Hinblick auf mögliche darin versteckte Schuldzusammenhänge und Verbrechen untersucht werden«481. Die von den unterschiedlichen Geschichten etablierten vielstimmigen Erzählstränge bestärken Edward in dem Gedanken, dass es nicht um das narrativ Dargebotene geht, sondern um das tabuisierte Verborgene, um die Wahrheit ›hinter‹ den Erzählungen. Es ist das Motiv des grüblerischen und Verdacht schöpfenden Sohnes, den seine Mitwelt gerne unterhalten und zerstreuen möchte, das in Edward überhaupt erst eine Parallele zu dem dänischen Königssohn aufkommen lässt, ja, zu seiner Selbststilisierung als Nachfahre Hamlets führt (vgl. 206). Seinem Onkel versucht er die Erzählung eines »Hamlet unter heutigen Umständen« (208) abzutrotzen: ›Ich möchte, daß du es tust. Erzähl, wie es sich für einen Erzähler gehört, hintereinander : wie es früher im Hause des Königspaares zuging, wie sie mit Hamlet verfuhren, welche Rolle er zu Hause spielte – bis etwas Widerwärtiges, etwas Schreckliches, Unaussprechliches sich ereignete, heimlich, meinetwegen etwas Ekelhaftes, das ihn nicht ruhen läßt, etwa – wie die Mutter geschändet wurde, schlimmer : wie die Mutter sich schänden ließ.‹ James Mackenzie hielt sich die Ohren zu: ›Schauerlich. Hör auf. Das wäre deine Erzählung. Sei mir nicht böse: ich könnte sie nicht erfinden, ich möchte nicht einmal zuhören.‹ (208 f.)

Die Geschichte des Shakespeare’schen Hamlet spielt im Roman insofern eine Sonderrolle, als sie gegenüber den novellenartigen Erzählungen als einzige nicht in der Form einer in sich geschlossenen Narration vorgestellt wird. Auf sie wird angespielt, sie wird bruchstückhaft dargestellt und kommentiert, aber eben nicht auserzählt. Das freilich bedeutet nicht, dass im Roman keine aktualisierte Version der Hamlet-Tragödie präsentiert würde. Edwards zwischen anfänglicher Identifikation und letztendlicher Distanzierung changierende Hamlet-Vergleiche bilden insofern »ein Gegengewicht zur Mythen-, Legenden- und Ideologiebildung der anderen Romanfiguren«482, als der Protagonist im Verlauf der Romanhandlung sukzessive im Abgleich mit dem Figurentypus des Hamlet Kontur gewinnt. Mit anderen Worten: Die Fabel von Shakespeares HamletTragödie wird deshalb nicht als Binnenerzählung wiedergegeben, weil sie den Ausnahmestatus einer »Art Metaerzählung im Roman«483 innehat, die auf der

481 Nell (2007), 71 f. 482 Nell (2007), 74. 483 Nell (2007), 74.

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Ebene der Rahmenhandlung aufgenommen, modifiziert und – wie nun zu zeigen sein wird – umfunktionalisiert wird. Ad 3. und damit zum Referenzcharakter der Shakespeare-Tragödie: Nüchtern fasst der Erzähler am Beginn des letzten, Das Ende der langen Nacht betitelten Kapitels das Familiengeschehen der Allisons zusammen: »Wie ein Steinschlag war es über die Familie Allison gekommen. Es gab Tote«, und fragt zugleich, die Hamlet-Parallele wieder aufgreifend, in gespielter Ahnungslosigkeit, die den Leser auf das Finale vorbereiten soll: »Einer war verschwunden: Edward, der Sohn, Hamlet. Bei dem Gefecht am Schluß des Dramas ›Hamlet‹ von Shakespeare wird der dänische Prinz tödlich verwundet und sinkt um. Was war nach der restlosen Aufklärung mit Edward geschehen?« (570) Edward zog sich in die Londoner Villa, den alten Wohnsitz der Familie zurück, wo er von Dr. King und James Mackenzie, die seinem Schicksal nachforschen, aufgesucht wird. Im Gespräch weist er nun mit Nachdruck die Hamlet-Ähnlichkeit von sich: »Ich mache […] nicht ›Hamlet‹ mit und warte auf einen nordischen König Fortinbras, der mein Dänemark mit einem starken Heer überzieht.« (571) Anstatt auf den Spuren einer Tragödien-Figur zu wandeln, beharrt er auf der grundsätzlichen Nichtdeterminiertheit der Lebenswirklichkeit und vergleicht sich mit dem Entdecker der Neuen Welt: Ich stelle fest, ich bin nicht im Spiel. Wenn dies ein Theaterstück sein soll und Schicksale darstellen, meines ist nicht dabei, höchstens als eines Mannes, der im Verlauf des Stückes überfahren wird. Aber ich lebe noch, ich bin sogar noch im Entstehen, ich bin ein Fötus, der noch nicht sprechen gelernt hat. Darum gehe ich jetzt aus und entdecke mich. […] Tatsächlich ist nichts geschehen. Ich bin wie ein neuer Kolumbus auf ein unbekanntes Festland gestoßen und stehe eben im Begriff, es zu betreten. (572)484

Als Entdecker seines eigenen, noch im Werden begriffenen Daseins verwahrt er sich gegen die Wirkungsmächtigkeit des von dem Dänenprinzen verkörperten Erbes der Rache, der Intrige und des gewaltsamen Todes. »Ich habe meine Erbschaft noch nicht angetreten« (573), behauptet er und votiert dafür, dem »Hamlet-Spuk« (573) ein Ende zu bereiten. Schließlich befreit er sich von dem materiellen Vermächtnis, indem »er den ganzen großen Besitz des Vaters verschenkt«, und fährt mit seinem Onkel »in die wimmelnde und geräuschvolle Stadt hinein. Ein neues Leben begann.« (573)485

484 1977 wird Heiner Müller die Ablehnung des literarischen, eine paternalistische Familientradition verkörpernden Modells zu Beginn seines Stücks Hamletmaschine als radikalen Bruch mit der Tradition von Theater und Geschichte auf den Punkt bringen: »Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.« (Müller [2001], 545) 485 Vgl. zur Problematik des doppelten Schlusses – Döblin wandelte das ursprüngliche Ende,

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Entschiedener als in der Form dieses Dementis, das ex negativo Edwards Neubeginn demonstriert, hätte sich Döblin von der Modellhaftigkeit der Shakespeare-Tragödie kaum lösen können. Edward revoziert das SchauspielerDasein, gibt das »Textbuch« (487), das ihm als bereits Beschriebener seine Worte und Handlungen vorgibt, zugunsten einer Neubeschreibung zurück.486 Konsequent auf der Folie der Tragödie gelesen, ist Döblins Roman – in G¦rard Genettes Terminologie der Transtextualität487 – das Ergebnis einer »pragmatischen Transformation«488, die zum Schluss in ihrer Abwendung vom Hypotext ein Extrem beschreibt, nämlich in eine »absolute[] pragmatische[] Umkehrung«489 mündet. Anstelle der Auslöschung der Königsfamilie und der Machtübernahme von Fortinbras bei Shakespeare beginnt Döblins Protagonist Edward Allison, nach einem existentiellen Knacks490 wieder souverän geworden, ein neuartiges psychisches wie soziales Dasein.491 »Schließlich ist«, um noch einmal Döblins Epilog zu zitieren, »die Tragödie da, aber mit ihr die Katharsis«492. Auf die »Tragödie«, nicht verstanden als Dramenform, sondern – wie oben bereits ausgeführt – als tragisches Geschehen (»Schuld der Eltern« und in der Folge die Auflösung der Familie Allison), folgt mithin die »Katharsis«, ein als Wiedergeburt (»Fötus«) konzeptualisierter Reinigungsprozess493, der die Verweigerung der linearen Fortschreibung gesellschaftlicher Strukturen, insbesondere der Übernahme der familiären Hinterlassenschaft, zur Voraussetzung hat und aus dem die Neuerarbeitung eines verantwortlichen Selbst- und Weltverständnisses als Aufgabe resultiert.494 Damit verweist der Roman nach der Zäsur des Jahres 1945 auf eine anthropologisch-existenzielle Dimension, für die das Durcharbeiten der Vergangenheit

486 487 488 489 490 491

492 493 494

das Edwards Eintritt in ein Kloster vorsah, auf die Anregung bzw. Bitte von Wolfgang Richter, dem Lektor von Rütten & Loening, ab – Riley (1972) und Graber (1987). Vgl. zu Prozessen der (Neu-)Beschreibung der Individualität Rorty (1992), 52 – 83; Thomä (1998), 121 – 140. Vgl. dazu Klawitter/Ostheimer (2008), 100 – 105. Genette (1993), 425 ff. Genette (1993), 502. Vgl. zur biographischen Figur des Knackses und ihrer narrativen Logik Willemsen (2008). Exemplarisch wird dadurch zugleich die Vorbildhaftigkeit des kulturellen Erbes relativiert. Während an den Erzählabenden das Überlieferte nur reproduziert wurde, daraus aber keine Orientierungsangebote für die Gegenwart gewonnen wurden, entscheidet sich Edward für den Bruch mit der Tradition und den ›großen Erzählungen‹ (Lyotard). Döblin (1993c), 318 f. Hier zeigt sich eine Strukturparallele zu Döblins Biberkopf-Figur, die ebenfalls nach einem Kriegstrauma und einer Verstümmelung (Armverlust) eine Katharsis (›Sterben‹ und ›Neugeburt‹) erfährt. Vgl. Schäffner (1995), 379 – 381; Honold (2003). Ohne Döblins Gebrauch von »Katharsis« terminologisch überbeanspruchen zu wollen – eine genauere Analyse hätte die Döblin’sche Aristoteles-Rezeption zu berücksichtigen –, deutet er diesem Verständnis zufolge die literaturkritische Tradition insofern um, als die Katharsis gemeinhin als Kategorie der Rezeptions-, nicht der Figurenebene gilt (vgl. Aristoteles [1982], 161 – 166; Luserke [1991]).

Hamlet im Fadenkreuz der philosophisch-literarischen Vergangenheitsaufklärung

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die Voraussetzung für eine kritische Selbstbesinnung der Subjekte darstellt.495 Statt überindividueller Sinnangebote in Gestalt der überkommenen ethischpolitischen Setzungen oder einer geschichtsphilosophischen Theorie der Bestimmung des Menschen496 zielt er auf individuelle Sinnsetzung und auf den nicht-festgelegten Menschen in einer polyvalenten, dem beständigen Wandel unterworfenen Welt.

1.2

Hamlet im Fadenkreuz der philosophisch-literarischen Vergangenheitsaufklärung

Nach dem Zivilisationsbruch und der grundsätzlichen Infragestellung überkommener Werte sucht Döblin den Anschluss an »das Geniale Hamlets«, das Jan Kott zufolge darin besteht, »daß man durch den Shakespeare’schen Text hindurch zu den Erfahrungen unserer Zeit findet, zu unserer Unruhe und unserer Sensibilität«497. Womöglich auch auf die ästhetischen Limitierungen durch die moralisch-gesellschaftlichen Sagbarkeitsvorbehalte in der frühen Nachkriegszeit reagierend, gelangt Döblin in der Auseinandersetzung mit dem HamletStoff bereits 1946 dazu, eine narrative Darstellungsform für die Folgen des Kriegs im Familiensystem zu entwickeln. Damit steckte er ein Thema ab, das bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts nichts an privater wie öffentlicher Dringlichkeit verlieren, an ästhetischer Verarbeitungsvielfalt aber entscheidend hinzugewinnen sollte. Gleichwohl ist Döblins erzählerisch innovative Leistung, indem er eine Generationenpsychomachie in Romanform etabliert, kaum hoch genug einzuschätzen. Einerseits macht er das Nachbeben der unmittelbaren Kriegsauswirkungen im Intimbereich der Familie zum die Gesamstruktur des Erzähltextes organisierenden Problem, das er in kritischer Anverwandlung der literarischen Tradition – und vermutlich nicht ganz frei von autobiographischen 495 Vgl. Nell (2007), 85, der hier eine Nähe zu Adornos Programm der Vergangenheitsaufarbeitung ausmacht. 496 Vgl. dagegen ebenso emphatisch wie großräumig Wambsganz (1999), 149: »Der Autor fordert im Grunde ein Weltethos ein, das die traditionellen Erziehungsmuster, in denen die Vorbereitung auf den Kriegsfall ihren selbstverständlichen Platz hatte, der Kritik aussetzt.« 497 Kott (1989), 73. Vgl. ähnlich Jirgl (2008), 184: »Die Aufladbarkeit mit je Gegenwärtigem; auch jenseits aller Schuld-Fragen die Präsenz des Alten im Neuen – das macht den unverbrauchbaren Bestand des Dramas aus; von entmythisierter Geschichte hin zu deren eigenem Mythos. Wie im Hologrammsplitter die gesamte Bildinformation enthalten ist, so liegt in jeder einzelnen dieser Dramenfiguren ein abendländisch historisches Kapital begründet, das auch in dieser Gegenwart in politischen Mehrwert sich verwandelt. Das verpflichtet zu Lesarten auf zwei fortwährend ineinander übergehenden Ebenen zugleich: auf der Ebene der Wirklichkeit des Textes und der der Wirklichkeit des je gegenwärtigen Außen.«

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Hamlet-Palimpseste

Impulsen – ästhetisch einhegt. Andererseits spielt er neben der Rezeption des Hamlet-Stoffs eine Reihe von Motiven frei, die bis heute für eine Literatur des teleskopischen Imaginären einschlägig sind: Trauma, Wahrheitssuche, Verantwortungszuschreibung, Anklage der Eltern, Familiengeheimnis. Mit der sich hauptsächlich zeitgenössischen Impulsen verdankenden Indienstnahme des Hamlet-Stoffs steht Döblin um 1945 keineswegs alleine dar.498 Auch bei Karl Jaspers fungiert die Hamlet-Figur als Ausgangspunkt, um sich das moralische Erbe des bis vor kurzem Unvorstellbaren – ästhetisch vermittelt – zu vergegenwärtigen. In dem 1947 veröffentlichten Band Von der Wahrheit, dem ersten Band seines mehrbändig geplanten Hauptwerks Philosophische Logik, perspektiviert Jaspers, der schon 1945 die Schuldfrage ins Zentrum seiner philosophischen Überlegungen stellte499, den Shakespeare’schen Helden im Kontext von Tragik und Schuld als Wahrheitssucher : »Das ganze Drama ist das Wahrheitssuchen Hamlets. Die Wahrheit ist aber nicht allein die Antwort auf die isolierte Frage nach dem Tatbestand des Verbrechens, sondern mehr : der gesamte Weltzustand ist derart, daß dies geschehen konnte, daß es verborgen bleiben konnte, daß es jetzt sich der Offenbarmachung entzieht.«500 Jaspers akzentuiert, ohne freilich den Bezug auf den Nationalsozialismus bzw. den Zweiten Weltkrieg explizit zu machen, die Interdependenz zwischen den Vergangenheitsverhältnissen und der Aufklärungssehnsucht. Getrieben von einem »uneingeschränkten Wahrheitswillen«501, versucht Hamlet gerade deshalb die geschichtlichen Ereignisse offenzulegen und die Verantwortung für die Vergangenheit namhaft zu machen, weil er sich ihrem Erbe nicht entziehen kann. Insofern behauptet Hamlet, den sein Drang nach Wahrheit von seinen Mitmenschen separiert, eine Ausnahmestellung: »Hamlets Wissen und Wissenwollen trennt ihn von der Welt.«502 Jaspers marginalisiert in seiner Deutung das Rachemotiv und mildert die Unbeherrschtheiten Hamlets (wie den Mord an Polonius) in einem so hohen Maße ab, dass er das Stück als Wissenstragödie ausstellen kann, die vor unbedachtem Handeln warnt: »Aber das ist ja der Grundzug der Tragödie: daß Hamlet ständig aktiv ist auf das Ziel der Wahrheit und des wahrheitsgemäßen Handelns hin – daß seine Gründe des Zögerns

498 Vgl. dazu grundsätzlich die literarhistorische Perspektivierung von Titzmann (1991), 409: »Wenn Systeme einer anderen Phase noch zur intellektuellen Synchronie gehören, muß sich das natürlich in den Texten manifestieren, die die Phase selbst hervorgebracht hat: d. h. in den phaseneigenen Texten muß eine Rezeption phasenfremder Texte/Theorien/Wissensmengen/Diskurse nachweisbar sein; es muß zumindest eine eindeutige Referenz auf diese Texte bzw. Systeme geben.« 499 Vgl. Jaspers (1946). 500 Jaspers (1991), 937. 501 Jaspers (1991), 940. 502 Jaspers (1991), 937.

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durchaus und ganz berechtigt sind gerade an dem eigentlichen Maßstab des Wahrseins.«503 Und: Mißt man an der Drastik durchschnittlich blinden Zugreifens sogenannter entschlossener Menschen, so handelt Hamlet nicht, d. h. nicht in gedankenloser Unmittelbarkeit: Er ist gleichsam befangen im Wissen und im Wissen des Nichtwissens, während die nur Entschlossenen in ihrem starken Behaupten, ihrem gedankenlosen Gehorsam, ihrem fraglosen Zuschlagen, ihrer brutalen Gewalt real befangen sind durch die Enge ihrer Illusionen. Nur eine stumpfe Begeisterung für jene drastische unmittelbare Täterschaft der im Selbstsein passiven Menschen könnte Hamlet wegen Untätigkeit schelten.504

Ganz im Gegensatz dazu ist Fortinbras »der Mann, der fraglos in der unbefangenen Illusion der Weltrealität und in der Aktivität in bezug auf sie lebt«505. Jaspers zufolge sinnt Hamlet nicht eigentlich auf Rache, sondern auf die Überführung des Täters und damit die Öffentlichmachung des vergangenen Verbrechens. Eine Erfüllung in der Tat scheint für ihn, nachdem die Wahrheitsfrage aufgebrochen ist, nicht anders mehr möglich außer »als nur Negatives«506. Jaspers deutet die Aufklärung der Vergangenheit im Namen der Wahrheit als Hamlets Hauptmotiv. Weiterführende Handlungsmotivationen leitet er aus dieser wahrheitssuchenden Haltung indes nicht ab: Hamlets Weg der Wahrheit zeigt keine Erlösung. Es ist ein Raum des Nichtwissens, ein ständiges Fühlen der Grenzen, das dieses Schicksal aufnimmt. Ist an der Grenze das Nichts? Daß die Grenzen nicht nichts ankündigen, geht in leisen Andeutungen, die doch das Ganze zu tragen scheinen, durch diese Dichtung.507

Ganz wie in Döblins Hamlet-Roman koppelt Jaspers den unbedingten Wille zur Wahrheit an eine Handlungszurückhaltung. Man könnte die beiden Aktualisierungen der Hamlet-Figur insofern engführen, als aus der Einsicht in die Relativität der Erkenntnis eine wohlüberlegte Selbstbegrenzung in der ethischpolitischen Praxis resultiert. Mit Blick auf die Vergangenheit also heißt die Aufgabe: Wahrheitssuche, mit Blick auf die Zukunft beansprucht Hamlets berühmter Ausspruch weiterhin seine Gültigkeit: »Bereitsein ist alles.«508 Die Namen Alfred Döblin und Karl Jaspers stehen für zwei frühe Stationen einer Hamlet-Rezeption nach 1945. Einer Rezeption, deren unterschiedliche Anknüpfungspunkte und verschlungene Wege Franz Loquai und Brigitte Sessler 503 504 505 506 507 508

Jaspers (1991), 938. Jaspers (1991), 939. Jaspers (1991), 940. Jaspers (1991), 941. Jaspers (1991), 941 f. Shakespeare (1984), 299 (5.2.212).

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in zahlreichen Einzelanalysen nachzeichnen.509 Dabei verzichten sie weitgehend auf übergreifende Fragestellungen und synthetisierende Deutungsperspektiven. Zwar wagt Loquai einmal einen Überblick: So wurde Hamlet bei den deutschen Schriftstellern im 20. Jahrhundert zu einer paradigmatischen Figur innerhalb der literarischen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte von den beiden Weltkriegen und dem Dritten Reich bis hin zur Nachkriegszeit und ihren Versuchen des Neuanfangs und der trauernden Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus.510

Aber Reflexionen auf die strukturellen Aspekte des Hamlet-Stoffs, die ihn für die deutschsprachige Nachkriegsliteratur attraktiv machten, unterbleiben. Letzeres soll nunmehr, wohl wissend um die auch für die Interpretation problembehaftete Implikation, dass die Semantik bei der Arbeit mit vorgefundenem Material auktorial niemals vollständig kontrolliert werden kann511, nach der Behandlung von Walter Jens’ Herr Meister, Wolfgang Hildesheimers Tynset und Stephan Wackwitz’ Neue Menschen unternommen werden. Die drei Texte wandeln insofern auf den Spuren von Döblins Hamlet, als sie ebenfalls Motiven der Wahrheitssuche und Verantwortungszuschreibung in Bezug auf die NS-Zeit Ausdruck verleihen. Die literarische Hamlet-Rezeption vermag somit für den Prätext konstitutive Strukturen freizulegen, die zur Bearbeitung von Fragestellungen geeignet sind, welche um die Nachwirkungen des Nationalsozialismus im Familienzusammenhang kreisen. Hierin besteht das eine Ziel dieses Kapitels, zu zeigen, inwiefern Shakespeares Tragödie ein zentraler Selbstverständigungstext für die literarische Vergangenheitsaufarbeitung nach 1945 ist. Darauf aufbauend soll – ebenfalls im Rückgriff auf den Hamlet-Stoff – anhand des von Nicolas Abraham entworfenen Begriffs des »transgenerationellen Phantoms« die für die Literatur des teleskopischen Imaginären grundlegende Figur der transgenerationellen Traumatisierung entwickelt werden. Womit die Grundlage für das andere Ziel des Kapitels bereitet wäre, zu zeigen, inwiefern sich das soziale Imaginäre der Nachkriegsliteratur und die Generierung psychotraumatologischen Wissens wechselseitig durchdringen.

509 Loquai (1993), 113 – 214, behandelt u. a. Prosatexte und Dramen von Günter Grass, Günter Kunert, Martin Walser und Heiner Müller ; Sessler (2008) u. a. Gedichte von Heiner Müller, Volker Braun, Peter Henisch und Durs Grünbein. 510 Loquai (1993), 13. 511 Vgl. Baßler (2005), 15.

Walter Jens: Herr Meister

1.3

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Walter Jens: Herr Meister

Bei dem 1963 erschienenen Buch Herr Meister von Walter Jens512, das im Untertitel Dialog über einen Roman heißt, handelt es sich – gemäß der Herausgeberfiktion – um einen von Jens herausgegebenen, fiktiven Briefwechsel zwischen dem Autor A. und dem Literaturkritiker und Literaturprofessor B.513 Die von A. aufgeworfene Ausgangsfrage lautet, wie sich die »Grundidee« für sein neues Buch, nämlich die »Diktatur als eine höchst moderne Pestilenz, die eine reinliche Scheidung der Geister bewirkt« (10), in eine angemessene Romanform überführen lasse. Es geht ihm, dem »Emigranten« (10), der Deutschland bereits 1932 verließ (vgl. 11), darum, »von jenen Frühlingstagen des Jahres 33 zu erzählen« (9), von den radikalen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die neue Maßstäbe für die zwischenmenschlichen Verhältnisse etablierten: Freunde werden über Nacht zu Feinden; die ältesten Gegner geben einander die Hand. Nachbarn weichen sich tagsüber aus, blicken zur Seite, vermeiden den Gruß, um sich dann nachts, als wäre nicht das Geringste geschehen, zu besuchen […]. Das schlechte Gewissen regiert, viele machen Abschiedsbesuche oder gehen, wenn ein Jude vorbeikommt, auf die andere Seite. Manche verlassen ihre Häuser nicht mehr, niemand ist sicher. Möbelwagen fahren durch die Stadt, Villen und Gärten stehen leer, man wechselt seine Adresse. Die Worte beginnen zu schillern; jeder Satz hat einen doppelten Boden. Auch Namen und Begriffe ändern sich schnell, und was gestern noch galt, ist heute vertan. (9)

A.’s Vorhaben zielt auf die Darstellung eines abrupt in das Alltagsgeschehen einbrechenden totalitären Terrorregimes, darauf zu zeigen, wie sich innerhalb kürzester Zeit epidemisch die Angst ausbreitet und hinfort die Steuerung des menschlichen Verhaltens übernimmt. Das Material für die romantheoretische Diskussion, »wie ein Roman über das ›Dritte Reich‹ geschrieben werden könne«514, liefert A. in einer Reihe von Skizzen und Fabeln. Diese reichen von der in einer »kleine[n] Universitätsstadt« (9) angesiedelten Erzählung kurz nach der Machtergreifung der Nazis mit einem Philosophen als »Hauptfigur« (11) über verschiedene Parabeln, die gleichnishaft soziale Phänomene der NS-Zeit zu pointieren versuchen, bis hin zu einer anderen indirekten Vorgehensweise, in der »Hamlet schließlich zu Odysseus als 512 Jens (1974). 513 Nach Loquai (1993), 141, sprechen eine Reihe von Indizien für die Identifikation von A. mit Wolfgang Hildesheimer und B. mit Walter Jens. Dies lässt sich durch eine spätere Aussage Jens’ (1993), 109, bekräftigen, in der er betont, dass Hamlet die Hildesheimer und ihm »gemeinsame Lieblingsfigur« gewesen sei, die »mir nahezubringen Hildesheimer seit jenen Tagen nicht müde wurde, als ich einen hamletischen Melancholiker – Herr Meister hieß er […] – er hingegen Hamlet selbst beschrieb«. 514 Kraft (1975), 78.

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dem homunculus tristis verdichtet«515 wird. Die poetische Ebene, die A. mit seinen narrativen Versuchen etabliert, ergänzt B. um eine philologisch-poetologische Ebene, auf der vor allem kommentiert und literaturkritisch reflektiert und argumentiert wird. Die wechselseitige Durchdringung von Poesie und Philologie führt jedoch nicht zu der von A. ersehnten – und von beiden Dialogpartnern als gelungen erklärten – Romankonzeption, sondern zu einem Prozess der Ernüchterung, der in eine Aporie mündet: »Einstweilen sind meine Möglichkeiten erschöpft; wir haben alles durchgespielt, aber die gesuchte, mir einzig angemessene Form des Romans nicht entdeckt.« (91) Dies freilich ist kein endgültiges Fazit, das ein umfängliches Scheitern, d. h. die prinzipielle Unmöglichkeit, mit den Mitteln des Romans der NS-Zeit gerecht werden zu können, eingesteht, sondern allenfalls ein Zwischenfazit, das konzediert, dass A. und B. nicht über ein hinreichend überzeugendes ästhetisches Konzept verfügen, um dieser Aufgabe zu genügen. In dem Sinne ist auch der fiktive Dialog über einen ungeschriebenen Roman nicht nutz- oder ergebnislos; vielmehr liefert er Einblicke in das ästhetische Laboratorium und zeigt – hierin ganz modern516 – wie Zweifel an der Verfertigung von Literatur selbst zur Literatur werden. Denn A. schlägt im letzten Brief nicht nur die Veröffentlichung der Brief-Diskussion vor: »Was dächten Sie zu einer Publikation unserer Korrespondenz? Sie machen entschieden eine gute Figur, und was mich selber betrifft, so könnten gerade meine Skrupel und Irrtümer zeigen, wie man besser und richtiger schreibt« (92), sondern geht sogar so weit zu behaupten, dass »der ›Roman‹, als Dialog in Briefen, jetzt vollendet ist« (92). Kurzum, der eigentlich zu schreibende Roman über das Dritte Reich wird suspendiert und – bis auf Weiteres! – vertreten durch die Dokumentation der unzureichenden Versuche und der diese Bemühungen flankierenden poetologischen Reflexionen.517 Welche Rolle spielt nun innerhalb der romantheoretischen Diskussion die Figur des Hamlet? Eingeführt wird sie, nachdem A. am Beispiel einer von ihm entworfenen Luther-Parabel veranschaulichte, wie sich die Menschen angesichts der Pest, also einer sozialen Extremsituation als »Seelenkatalysator« (27) verhalten: 515 Kraft (1975), 89; vgl. zur sukzessiven Interpretation der verschiedenen Versuche Kraft (1975), 80 – 89. 516 Vgl. zur Einordnung von Herr Meister in die Tradition des modernen Romans Lauffs (1980), 66. 517 Vgl. ähnlich Kraft (1975), 90: »In der Diskussion wird eine Theorie des modernen Erzählens schrittweise entwickelt, und zugleich werden – in Parabeln und Skizzen – Beispiele der neuen epischen Dichtung vorgeführt. Als aufgegeben gelten die verschiedenen Argumente und Darstellungsversuche nur immanent, d. h. sie konstituieren als aufgegebene, auch aufgehobene den abgeschlossenen Roman und bilden in solcher Einheit dessen Aussage.«

Walter Jens: Herr Meister

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Eine Stelle in Gides Tagebüchern wies mir den Weg: ›Hat man bei der Erklärung von Hamlets Charakter schon einmal in Betracht gezogen, daß er von einer deutschen Universität zurückkommt?‹ – Nur war es nicht allein, wie Gide vermutete, die deutsche Metaphysik, die Spekulation und der abstrakte Gedanke, denen Hamlets Geist zum Opfer fiel, nein, seine Schwermut war vielmehr identisch mit Luthers Traurigkeit, identisch auch – jetzt kommt die Pointe – mit jener Dürer’schen Melancholie, derer Philipp Melanchthon in seinem Buch über die Seele an erlauchter Stelle gedenkt. Nicht wahr, nun rundet sich der Kreis? Hamlet, ein dänischer Prinz, der mit seinem Gefolge nach Wittenberg kommt […], Hamlet studiert an der Universität Theologie, hört Luther Jesaja auslegen und Bugenhagen den Korinther-Brief deuten, exzerpiert Melanchthons Aristoteles-Kolleg und promoviert endlich, mit Barett und Ring gekleidet, im Kollegium zum Doktor der Gottesgelehrtheit. Die Pest, ein Jahr später, sieht ihn an Luthers Seite in der Stadt; die Kranken aufopfernd pflegend, infiziert er sich am Ende selbst und behält auch nach seiner Genesung jenen Zungenfehler und das Gesichtszucken bei, das ihn auch in Helsingör nicht mehr verläßt. Früh gealtert, traurig und stotternd, ein Opfer der Pest und der Wittenberger Melancholie: so kehrt er nach Dänemark heim – und schreibt dann, ein elegisches Memorial, den Bericht vom großen Sterben, schreibt über die Pest und jenen Herrn Meister, der sein Schicksal bestimmte. (33 f.)

Hamlet, der aristokratische Däne mit den Attributen der theologischen Gelehrsamkeit und des tatkräftigen Altruismus, der infolge der Krankheit zum einsamen Melancholiker wird, soll als Erzähler Zeugnis ablegen über das pestverwüstete Deutschland und die Lichtgestalt Luther. Das ästhetische Schlüsselkonzept, mit dem A. sich imstande sieht, der nationalsozialistischen Vergangenheit literarisch zu begegnen, lautet »historische Transposition« (31). Dabei wird A. »der traurige Hamlet immer wichtiger« (35), soll er doch die Funktion übernehmen, »die Wahrheit der Dinge« (38) zu enthüllen. Die Offenlegung der Wahrheit jedoch bedarf A. zufolge zum einen einer distanzierenden Verallgemeinerung des Geschehens, zum andern einer Typisierung der Figuren, weshalb Luther als Protagonist schließlich verworfen wird und sich auch der Zuschnitt der Hamlet-Figur wandelt: Je mehr Hamlet die Aufgabe des kollektiven Gedächtnisses im Rahmen der ›Vergegenwärtigung‹ […] übernehmen muß, desto mehr tritt er als Person in den Hintergrund, wird zur anonymen Instanz zurückgenommen. A. versucht der Reihe nach, ihn zum Historiker zu machen, zu Odysseus, zu einem Niemand in ›Tausend-MaskenGestalt‹ […]. Diese Universalisierung der Hamlet-Meister-Figur bedarf der Entindividualisierung. Das den Roman tragende Subjekt wird folglich in die Anonymität verwiesen, der Held verabschiedet.518

Wie Döblin stellt auch Jens die Hamlet-Figur auf den Prüfstand und begutachtet sie daraufhin, ob sie sich paradigmatisch zur literarischen Vergangenheitsauf518 Loquai (1993), 144.

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arbeitung eigne. Döblin vergleichbar spricht auch Jens der Hamlet-Figur letztlich diese Mustergültigkeit ab. Ja, B. hält A. nach all den epischen Experimenten mit den unterschiedlichen Protagonisten den Spiegel vor: Machen wir doch endlich ernst: Sie heißen Herr Meister ; meinen Sie, ich hätte nicht geahnt, daß Hamlet und Luther, Nagel und Jones – immer nur Sie selber sind? […] Der homunculus tristis, Ihr Schatten, wird Ihnen folgen, wohin Sie auch gehen: nur ihn, mein Freund, können Sie mit all den Gewändern und Masken, Gedanken und Tränen belasten, die eine nach Gesetzen der Psychologie geformte Figur niemals ertrüge. Denn auch die mythische Gestalt will nicht beliebig oft gebrochen sein, und selbst ein Odysseus kann nicht zu gleicher Zeit Vergil, Mazarin und Lorenzo de Medici spielen. Sagen Sie also dem Helden Adieu […], geben Sie ihrem Roman einen echten Protagonisten. (86 f.)

Die Rezeption der Hamlet-Figur ist mit einer Vielzahl von inhaltlichen und ästhetischen Implikationen verbunden, die dann zu einem Gestaltungs- und Glaubwürdigkeitsproblem avancieren, wenn man versucht, die Figur psychologisch oder thematisch zu überfrachten. Bei der Rezeption mythologischer Figuren verhält es sich ähnlich wie bei der Begriffsbildung: Ebenso wie Begriffe an Unterscheidungskraft einbüßen, wenn man ihren Inhalt übermäßig ausdehnt, verblasst die Strahlkraft mythologischer Figuren, wenn man ihnen zu viele mit der Tradition nicht vereinbare Attribute andichtet oder sie über Gebühr neuen Konstellationen aussetzt. Jens’ Versuch, mit einer überlieferten Kunstfigur und konventionellen ästhetischen Formen »den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken und – im Namen der Wahrheit – die Täter zu ermitteln«519, ist vordergründig gescheitert, was bleibt, ist eine Inventur der Aufgaben und potentiellen Lösungsangebote, mit denen sich ein einschlägiger Prosatext konfrontiert sieht. Soviel wird evident: Als paradigmatische Symbolfigur für das kollektive Gedächtnis und neue künstlerische Möglichkeiten, »die Schneeschrift von Hiroshima« (37) auszubuchstabieren, eignet sich Hamlet Jens zufolge nicht. Das verweist einmal mehr darauf, dass derjenige, der den Epochenbruch, für den das Dritte Reich steht, ästhetisch einzuholen versucht, die Grenzen der konventionellen Mittel einer im weitesten Sinn mimetisch-dokumentarisch verfahrenden Literatur überschreiten muss.520 Um diese Erkenntnis jedoch zu formulieren, und zwar 1963, also zu der Zeit, als der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess begann, um wie kein anderes Ereignis zuvor den Holocaust und die NS-Vernichtungspolitik ins Zentrum der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu 519 Loquai (1993), 146. 520 Die Literatur zur Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Darstellung des Holocausts ist kaum noch zu überschauen, gerade im deutschen Sprachraum merklich befördert durch Adorno (1951), 30, der es – zeitweilig – schon für »barbarisch« hielt, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben«. Vgl. zum Undarstellbarkeitstopos für den Bereich der Literatur exemplarisch Dresden (1997) und Zangl (2009).

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rücken, war die Hamlet-Figur durchaus vonnöten. Und so gilt auch für Herr Meister, was Walter Jens 30 Jahre später mit Blick auf die Hamlet-Gestalt so formulierte: »wer wissen will, wes Geistes Kinder wir sind und wie die Welt aussieht, in der wir leben, der vergegenwärtige sich die Mythenfiguren in ihrer jeweiligen Variation«521. Mit anderen Worten: Erst der historisierende Blick vermag einer Mythosadaption ihre Motivation zu entlocken, die im vorliegenden Fall der poetologischen Aporie entspringt, schreibend der Haltung der Nicht-Repräsentierbarkeit der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft zu entrinnen.

1.4

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In seinen Mythen der Dichter bekundete Walter Jens nicht nur, dass Wolfgang Hildesheimer »Hamlet, den sprachmächtigen Bruder Kassandras, als Leitfigur wählte«522, sondern auch, welche Grundintention ihn augenscheinlich dabei leitete: »Hüben die Väterwelt mit ihrer Brutalität und ihren penetrierenden Imperativen, und drüben Hamlets und Ophelias Reich, in dem man nach Auswegen sucht, nach Yorick-Wegen und Pfaden, die in ein Ungebahntes führen, das, möge es sein, wie es wolle, auf jeden Fall besser ist als die Mordwelt der Väter.«523 Diese geradezu manichäische Diskrepanz im Generationen-Bezug versuchte Hildesheimer erstmals in seinem 1961 aufgegebenen Hamlet-Roman Ausdruck zu verleihen. Im Zentrum von Hildesheimers Hamlet524, mit dem Untertitel Ein Fragment, stehen ein Gespräch zwischen dem König und seinem Sohn sowie die Reaktionen auf den Giftanschlag, dem der Herrscher kurz darauf zum Opfer fällt. Als der Königssohn von seinem Vater gerufen wird, ist er festen Willens, alle väterlichen Ansprüche zurückzuweisen: »Ich war jetzt bereit, alles vor ihm auszubreiten, mich endlich, hier und jetzt, als Thronanwärter auszulöschen, seine ohnehin getrübten Pläne von mir weg in andere Bahnen zu leiten« (263). Statt sich, wie der Vater das wünscht, als tatenhungriger Macher und begieriger Machthaber in spe zu präsentieren, gräbt sich Hamlet ganz in die Vergangenheit hinein: »Schlachten lassen mich kalt, mich interessieren andere Schichten, und auf die bin ich auch gestoßen« (264 f.). Nämlich: »Zuerst habe ich ein paar menschliche Skelette ausgegraben, zum Teil vollständig, die Schädel waren gespalten. Es muß dort eine Schlacht stattgefunden haben.« (264) 521 522 523 524

Jens (1993), 107. Jens (1993), 125. Jens (1993), 111. Hildesheimer (1991a).

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Der Vater ist entsetzt. Hamlet lebt nicht der Zukunft zugewandt, sondern erweist sich als Archäologe der menschlichen Katastrophengeschichte. Auch vom Tod seines Vaters zeigt sich der Thronanwärter unbeeindruckt und formuliert, anstatt auf Aufklärung und Rache zu sinnen, ein dezidiertes Credo des Rückzugs und Verzichts: Für mich gab es hier nichts mehr zu tun, ich wurde nicht gebraucht, Anweisungen wollte ich nicht geben. Jetzt war für mich der Moment gekommen, mich aller Verantwortung zu entziehen, zu zeigen, daß ich nicht gewillt war, die Welt, so wie sie ist, hinzunehmen, mich darin einzurichten. Der Sohn wird die Geschäfte des Vaters nicht übernehmen. (272)

Hamlet avanciert zum Aussteiger aus der (Macht-)Geschichte und zeigt eine Haltung, die Unschuld ebenso umfaßt wie Handlungslosigkeit, Vergeblichkeit und die anklagende Moral des Friedfertigen. […] Die bohrenden Fragen, die Zweifel, die Shakespeares Hamlet treiben, sind auch seine Fragen und Zweifel: Wo sind die Täter, wer sind die Opfer? Hildesheimers Hamlet-Fragment schafft eine literarische Figur (nach) und eine literarische Haltung, die für das kommende Werk von wichtiger Bedeutung sind. Diese Haltung des zu spät gekommenen oder des verantwortungs- und schuldlosen Hamlet ist dabei nicht nur ein Verhalten gegenüber historischen Ereignissen und gegenüber den ›Geschäfte[n] des Vaters‹, sondern bedeutet auch eine poetologische Neuorientierung.525

Im Grunde muss jeder literarische Versuch, den Holocaust sowie seine Folgen für die ihm Entronnenen darzustellen, mögen die Ursachen auch vielfältiger, also ethischer, philosophischer, politischer und semiotischer Natur sein, an der Kluft zwischen der Wirklichkeit der nationalsozialistischen Massenvernichtung und seiner ästhetischen Repräsentation scheitern.526 Und doch etablierte sich ab den 1960er Jahren – in etwa zeitgleich zum Beginn einer intensiveren literarischen Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte527 – eine Holocaust-Literatur, die zwar kein eigenes Genre hervorbrachte, aber eine Vielzahl von Erzähl- und Darstellungsstrategien, die allesamt eben das Moment des Scheiterns oder der Unterbrechung betonten.528 Damit reagierte sie zum einen auf die Sinnlosigkeit des Holocausts, der sich auch in der ästhetischen Reflexion jeglicher Sinnstiftung verweigerte. Zum anderen wurde in ihr mit dem Trauma eine Kategorie psychologischer Provenienz manifest, zu deren Definition die nachhaltige Erschütterung der Wahrnehmung gehört. Eine Erklärung für die ›verspäteten‹ Bemühungen, den Holocaust literarisch zu bewältigen, bestünde mithin in der Fortdauer der traumatischen Fixierung auf das Ereignis. Anders gesagt: »Die Leerstelle hinter dem Nicht-Darstellbaren, Nicht-Sagbaren und dem Schweigen wird gleichsam trau525 526 527 528

Hanenberg (1989), 89 f. Zangl (2009), 182. Vgl. für die deutschsprachige Literatur etwa Schlant (2001), 71 – 77. Vgl. Zangl (2009), 181 – 213.

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matisch besetzt und einer dem Trauma inhärenten Nachträglichkeit überantwortet.«529 Wie die im Trauma implizierte Verzögerung in der Bearbeitung des überwältigenden Geschehens sich mit der für die Holocaust-Literatur typischen Mischung aus Rückgriff auf und Zurückweisung von klassischen Konzepten der Poetik verbindet, lässt sich prägnant an Hildesheimers 1965 erschienenem Werk Tynset530 ablesen: Einerseits als deutliche Absetzung von tradierten Erzählformen, um zu veranschaulichen, inwiefern die angestrebte Kontrolle über das Alltagsleben von den Nachwirkungen eines Verfolgungstraumas unterminiert wird; andererseits als Ausrichtung des Hamlet-Stoffes auf die Frage, ob und, wenn ja, wie der Holocaust das ethisch-politische Selbst- und Weltverständnis des Menschen nachhaltig veränderte531. Tynset, aus, wie es W.G. Sebald einmal ausdrückte, »dem Zentrum der Trauer selber entstanden«532, besteht aus einer Abfolge von Gedankensplittern und rudimentären Versuchen, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen, die ein monologisierender Ich-Erzähler innerhalb einer einzigen Nacht gegen seine Schlaflosigkeit vorbringt.533 Die charakteristischen Merkmale des Tynset-Monologs als Rede eines Überlebenden der NS-Massensvernichtung sind »beschädigte Erinnerung; Bilder von Stigmatisierung und Verfolgung; Erschütterung der Beziehung zu Gott; das Schuldgefühl des Überlebenden; die Wahrnehmung der Gegenwart als Zeit ohne Fragen und als veränderte, anhaltend gefährliche Gestalt der Vergangenheit«534. Tynset ist das Ergebnis eines ob seiner Zerrissenheit unablässig reflektierenden Ichs, das sich zum einen verzweifelt gegen eine grassierende Geschichtsvergessenheit zu stemmen versucht, sich zum andern gerade wegen der unzulänglichen Verfasstheit speziell der deutschen Gegenwartsgesellschaft ganz aus dem Weltgeschehen zurückziehen möchte. Das namenlose Ich, das von der »Judengasse« (69) als dem Ort spricht, »wo ich hingehöre« (70), verließ Deutschland »vor elf Jahren« (30), um in ein von einem Onkel geerbtes Haus in den Süden, in die italienischen Alpenausläufer535 zu ziehen. Der Grund für den Wegzug bildete eine Verfolgungsangst, die aus einem höchst eigenwilligen Umgang mit dem Telefon resultierte: Als jemand, der nachts »gern im Telefonbuch gelesen« hat (20), »konnte ich es mir nicht versagen, hin und wieder zum Telefon zu greifen, um diesen oder jenen anzurufen« (22). Eines 529 Zangl (2009), 173. 530 Hildesheimer (1991b). 531 Zur Einordnung von Tynset als Werk der Holocaust-Literatur, das die von einem Trauma verursachte Lücke zwischen Erfahrung und Verstehen inszeniert, vgl. Garloff (2005). 532 Sebald (2006), 119. 533 Vgl. Jehle (1990), 92 f. 534 Braese (2001), 291. 535 Vgl. die folgende Routenangabe, aus der sich näherungsweise auf den Standort des Sprechers schließen lässt: »Tynset ist das einzig mögliche Ziel. Ich werde also die Städte umfahren, als da sind Prada, Chur und Stuttgart, Hannover und –« (66).

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Nachts stieß der Erzähler dabei auf einen Mann namens Huncke, der im gegenüberliegenden Haus wohnte. Als der Angerufene sich nach dem Anlass der Störung erkundigt, kommt die Frage: »Fühlen Sie sich schuldig, Herr Huncke?« (23) Hunckes »Schuld war aufgerufen« und der so inquisitorisch Gefragte zischt atemlos: »Warte nur! Bald sind wir wieder da! Dann geht es euch an den Kragen!« (23) Hinfort wiederholte der Erzähler »dieses Spiel dann noch einige Male« (23), bis er an Kabasta gerät, den der Anruf nicht überraschte und der sogleich eine weitere Nummer wählt, um den anonymen Anrufer ermitteln zu lassen: »dann hängte ich ab und war von diesem Augenblick an verfolgt« (29 f.). »Schon am nächsten Tag knackte es in der Leitung […], und am übernächsten Tag kamen zwei Arbeiter vom Telefonamt, die sagten, mein Telefon sei nicht in Ordnung, sie müßten es prüfen.« (30) Als Konsequenz stellt der Erzähler abrupt das Telefonieren ein und kehrt alsbald Deutschland den Rücken, um in den Süden zu ziehen. Das Telefon-Experiment enthält bereits im Kern die »Dialektik von Opfer und Verfolgung«536, die – antizipierend gesagt – die Triebfeder von Tynset ausmacht. Als jüdischer Überlebender des Holocausts, dessen Vater »von christlichen Familienvätern aus Wien oder aus dem Weserland« (90) erschlagen wurde, erscheint dem Erzähler nachts im Treppenhaus Hamlets Vater-Geist: er steht oben, am obersten Treppenabsatz und sieht auf mich herab, in müßiger Erwartung, daß ich mich ihm nähere, mein Knie beuge und seine Hand küsse und somit eine Beziehung anknüpfe, die damit enden würde, daß er mich an Sohnes Statt annähme, denn sein eigener Sohn hat ihn enttäuscht. Darauf wartet er, der alte Krieger. Er sieht mich an, als wolle er mir bedeuten, daß ich ihm etwas schulde, aber er irrt, ich schulde ihm nichts. Ich werde ihn aber nicht auf seinen Irrtum hinweisen, denn damit wäre eine Beziehung angeknüpft, und er hätte das Spiel gewonnen. (16)

Immer wieder taucht der Geist auf, dessen Schweigen der Einbildungskraft viel Entfaltungsraum zugesteht und womöglich das mit der Unglaublichkeit des Holocausts verbundene Darstellungsproblem indiziert. Unablässig mahnt Hamlets Vater-Geist zur Sühne. Und nach seinem Verschwinden bleibt stellvertretend »der Vorwurf, aber ich nehme ihn nicht an, ich lasse ihn stehen, und er löst sich in Schwaden auf, Fetzen, in denen ich, wie immer, den lange verhallten Ruf zur Tat noch höre, zur Handlung, aber ich beachte ihn nicht, ich nicht« (107). Mit aller Macht versucht der Erzähler den Racheauftrag, der sich für ihn mit der Erscheinung von Hamlets Vater verbindet, zurückzuweisen; seine Haltung begründet er mit der Vorbildhaftigkeit seines eigenen Vaters. Denn:

536 Sebald (2006), 121.

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mein Vater war ein besserer Mann als dieser da, sein Geist steht nicht an einem Treppenabsatz, er hat vielmehr diese Erde endgültig und ohne Bedauern verlassen, er hält nicht, wie dieser hier, nach Möglichkeiten einer Rache Ausschau, obgleich sein Ende nicht so sanft war wie das Ende dieses Mannes hier. (90)

Ungeachtet der Tatsache, dass sein Vater Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen wurde und die Täter – wie die Telefonepisode zeigt – unbehelligt unter dem Anstrich bürgerlicher Wohlanständigkeit ihr Dasein fristen, enträt der Sohn konsequent der Vergeltung. Denn auf Rache zu sinnen, würde den Vorwurf der Schuldhaftigkeit nach sich ziehen, und damit den Erzähler in eine Situation bringen, in der er nicht mehr legitimerweise von sich sagen könnte: ich bin ohne Schuld – besser vielleicht, vorsichtiger gesagt: ohne wesentliche Schuld –, daher auch ohne Pflicht. Ich habe nichts gutzumachen, nichts reinzuwaschen, jedenfalls wüßte ich nicht was. Niemand hat, soweit ich weiß, durch mich gelitten. Ich bin ohne Last außer der Last des Lebens (59).

Der Erzähler agiert nicht, kaum reagiert er noch; Tynset ist, wie Hilde Domin es formulierte, das Buch »eines aus dem Zentrum verstoßenen Zeitgenossen«537. Als Monolog eines Überlebenden bestimmt den Gang der Reflexion die Frage, was noch bleibt, wenn man, um sich nicht in die Gefahr schuldhaften Tuns zu begeben, zur Tatenlosigkeit verdammt ist, aber der Erinnerung an die NS-Verbrechen nicht entsagen kann. Letzteres verdeutlicht besonders die allnächtliche Wiederkehr des Geistes von Hamlets Vater; und wie bei Shakespeare, so ist es auch bei Hildesheimer: erst mit dem Krähen der Hähne legen sich die Geister (vgl. 25, 99)538. Das Auftreten des Geists ruft beim Erzähler unweigerlich ein schlechtes Gewissen auf; zwar arbeitet er dagegen an, aber ein Erfolg ist ihm nicht beschieden. In einer Anstrengung, die Suggestivität der Erscheinung des ›Geistes‹ zurückzuweisen, ›besinnt‹ sich der Sprechende auf seinen wirklichen Vater – und stößt auf ein mörderisches Ende, das noch ausdrücklicher als das von Hamlets Vater nach einer Vergeltung verlangt. Der Anspruch der Opfer einer tödlichen, einer mörderischen Vergangenheit nicht nur auf eine späte Gerechtigkeit, sondern auf eine aus dieser Vergangenheit resultierende genuine ›Rechtfertigung‹ der Existenz ihrer Nachfahren bleibt uneingelöst; aber auch deren Versuche einer Abdichtung gegenüber dem ›Vorwurf‹ bleiben untauglich.539

Der Erzähler steckt in einem Dilemma, aus dem keine Erlösung möglich scheint. Da der Tod des Vaters und damit die NS-Verbrechen durch das Erscheinen des Geists stets wieder im Bewusstsein des Erzählers wachgerufen werden, kann er 537 Zit. nach Braese (2001), 315. 538 Der zwischenzeitlich vom Erzähler unternommene Versuch, sich mit einem Konzert der »Hähne Attikas« von den Geistern der Vergangenheit endgültig zu befreien, misslingt (vgl. 40 – 43). 539 Braese (2001), 294.

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nicht nicht daran denken, ist es ihm nicht möglich, sich vom Spuk der Vergangenheit zu befreien. Erinnert er sich der jüngsten Geschichte und handelt, z. B. indem er die Mörder seines Vaters in nächtlichen Telefonanrufen mit ihren Verfehlungen konfrontiert, wird er verfolgt; erinnert er sich und handelt nicht, wird er von einem schlechten Gewissen geplagt, das ihn dazu drängt, angesichts der vielfach beschwiegenen und ungesühnten NS-Verbrechen etwas zu unternehmen. Um dieser aporetischen Situation zu entkommen bzw. um sie zumindest zu überspielen, klammert sich der Erzähler an den Namen einer Kleinstadt, auf den er im Kursbuch der norwegischen Staatsbahnen des Jahres 1963 stieß (vgl. 10 – 12). Da ihn die geschichtlichen Gräueltaten überall auf seinen Wanderungen durch die Räume des Hauses verfolgen, seine Reflexionen und Phantasien ihn allenthalben an die Schatten der Vergangenheit erinnern, wird der Name der norwegischen Kleinstadt zu einer Art Utopie: Nichts mehr davon, keine Bilder mehr, keine Gespräche und keine Stimmen. Keine dieser Augenblicke, das ist jetzt endgültig vorbei. Hier liege ich, hier sind meine Betten, ist mein Haus, in dem ich bleibe, und sollte ich es je verlassen, so verlasse ich es, um nach Tynset zu fahren, aus einem anderen Grunde verlasse ich es nicht. Tynset, mein einziger Plan, das einzig mögliche Ziel. (59)

Doch Tynset, das für den Erzähler zunächst zu einem Ort avancierte, an dem die Geschichte sistiert, ja negiert wird540, verliert sukzessive seine Faszination, erweist sich schließlich als Illusion: Und Tynset? Wie ist es jetzt mit Tynset? Vorbei, erledigt. Es ist zu spät. Nichts mehr davon. In diesem Schnee wäre ich nicht nach Tynset gekommen, niemals. Ich habe mir wohl ohnehin zuviel davon versprochen, obgleich ich mich jetzt nicht erinnere, was es eigentlich war, das ich mir davon versprochen habe. Irgend etwas muß es wohl gewesen sein. Was es auch sei, viel kann es ja nicht sein, ich habe mich gewiß Trugbildern hingegeben, falschen Erwartungen. Gewiß ist es alles andere als ein Ort der Erfüllung. (146)

Und so endet dieser Monolog eines über das Grauen vor der Geschichte reflektierenden Ichs mit dem Eingeständnis einer vergeblichen Hoffnung: »Tynset ist hinfällig. Ich werde nicht mehr nach Tynset kommen, ich werde es auch gar nicht versuchen, ich werde dieses Haus nicht verlassen […]. Ich werde Tynset entfliehen lassen, werde es vergessen, verdrängen« (152). Angesichts der übermächtigen Last der Geschichte ist der Versuch, sich mit Fiktionen von den Schrecken der Realität zu befreien, hinfällig. Tynset betreibt keine positivistisch-dokumentarische Darstellung des Holocausts – abgesehen von der Ermordung des Vaters erfährt der Leser nichts über andere Familienangehörige sowie über die konkrete Lebenssituation des Erzählers während der Jahre 540 Vgl. Hanenberg (1989), 125.

Hamlet-Paradigmen: Metafiktion, Trauma, transgenerationelle Traumatisierung

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1933 bis 1945 – und dennoch »wird die Faktizität der NS-Verbrechen, ihrer Täter und beider Gegenwart unmittelbar aufgerufen«541. Poetologisch erreicht der Text das, indem er das traumatisierte Bewusstsein eines NS-Überlebenden in seinem scheiternden Bemühen abbildet, reflektierend und erzählend die Schrecken der Vergangenheit zu bannen, ja zu fliehen.542 Tynset handelt von einem »um die Dimension Auschwitz erweiterten menschlichen Bewusstsein[]«543, dem es trotz aller Anstrengungen nicht gelingt, aus der Geschichte auszusteigen, da es der überwältigenden und allenthalben gegenwärtigen Macht der Geschichte nichts entgegenzusetzen hat. In Hildesheimers Gesamtwerk, in dem die Hamlet-Figur den »Generalbaß«544 ausmacht bzw. das Franz Loquai zufolge sich als einzigartige »Hamlet-Paraphrase«545 konstituiert, spielt der Erzähler in Tynset insofern eine besondere Rolle, als er, der nächtens rastlos durch die Räume wandelt, gleichsam selbst eine geisterhafte Existenz annimmt. Was dem Protagonisten in Hildesheimers HamletFragment noch gelang, die Emanzipation von der Väterwelt, wird in Tynset im Schatten des Holocausts dementiert.546 Der Alp der Vergangenheit ist so drückend, dass der Geist von Hamlets Vater, der zwar eine Vielzahl plausibler symbolischer Konkretisierungen zulässt, auf jeden Fall aber, um nur den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bezeichnen, die Unabgegoltenheit bzw. Unerlöstheit der Vergangenheit repräsentiert, nicht zur Ruhe kommt.

1.5

Hamlet-Paradigmen: Metafiktion, Trauma, transgenerationelle Traumatisierung

Treten wir einen Schritt zurück: Die Hamlet-Figurationen entwerfen allesamt Möglichkeiten, wie Menschen, die im Bann einer mörderischen Vergangenheit stehen, wieder zukunftsfähig werden können. Warum aber gerade der Rückgriff auf den Hamlet? Eine rezeptionstheoretische Grundregel lautet, dass ein Text bereits die Strukturen seiner Rezeption in sich trägt, die er seiner Nachwelt gleichsam als Anleitung zu einer kreativen Aneignung nahe legt. Anders gesagt: Ein Text gestaltet seinen Rezeptionsprozess insofern mit, als er sich durch ge541 542 543 544 545 546

Braese (2001), 297. Vgl. Garloff (2005), 66 und 73. Braese (2001), 287. Jens (1993), 109. Loquai (1993), 197. Garloff (2005), 63 f., bringt die gescheiterte Abkopplung von der Väterwelt mit den ›Spätwirkungen‹ von Hildesheimers Übersetzertätigkeit bei den Nürnberger Prozessen und mit seinen enttäuschenden Erfahrungen mit der westdeutschen Gesellschaft in den 1950er Jahren in Verbindung.

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wisse Textsignale gegen einige Deutungen sperrt, andere hingegen befördert.547 Welche strukturellen Präfigurationen der Hamlet-Tragödie aktualisiert die literarische Rezeption nach 1945? Angesichts der zahlreichen strukturellen und motivischen Anschlussmöglichkeiten möchte ich das Spiel im Spiel, die intergenerationelle Familienkonstellation und den Racheauftrag des Geistes hervorheben, um drei in Shakespeares Drama präfigurierte Paradigmen548 explizit zu machen: 1. die Kategorie der Metafiktion; 2. das Konzept des Traumas; 3. die Figur des transgenerationellen Traumas.

1.5.1 Metafiktion Der Begriff der Metatheatralität, der die Phänomene eines Theaters umfasst, das sich selbst thematisiert, beschreibt einen Teilbereich der Metafiktion, die, in einem weiten Sinne verstanden, alle Formen von literarischer Selbstreferentialität abdeckt549. »Dass Shakespeares Werke generell voller Anspielungen auf das Theater sind, ist Gemeingut. Und auch der Hinweis auf die besonders stark ausgeprägte metatheatrale Dimension im Hamlet fehlt in kaum einem Kommentar.«550 Dies meint zum einen die häufige Verwendung von Begriffen aus der Spielterminologie (v. a. »show«, »act«, »play« und deren Ableitungen), wodurch Shakespeare im theatralen Vorgang sein eigenes Medium reflektiert, zum anderen die Wechselbeziehung zwischen dem Schein des Spiels, der Dramenrealität, und der außerdramatischen Wirklichkeit. Die unterschiedlichen Bedeutungsschichten des ›Spiels‹ werden zumal an der Stelle aufgerufen, an der Hamlet in der ersten Begegnung mit dem Geist dessen imperativische Schlussworte: »Ade, ade, ade, gedenke mein.«551 beantwortet mit: »Ja, du armer Geist, solange das Gedächtnis einen Sitz behält in diesem qualverstörten Rund« (›Ay, thou poor ghost, whiles memory holds a seat / In this distracted globe‹).552 »Globe« bezeichnet hier dreierlei, Hamlets durch die Konfrontation mit dem Geist erschüttertes Inneres, seinen Kopf als Mikrokosmos, dann die reale Welt, den Erdball als Makrokosmos, und schließlich die Theaterwelt, in der das Stück

547 Vgl. Klawitter/Ostheimer (2008), 74 – 79, bes. Hans Robert Jauß’ Konzept des Erwartungshorizonts, 77 – 79. 548 Vgl. zu den verschiedenen Richtungen und Ansätzen der Hamlet-Rezeption bis in die 1980er Jahre Steiger (1987), 128 – 176. 549 Vgl. Wolf (1998). 550 Walch (2004), 131; vgl. ferner zur Metatheatralität im Hamlet Pfister (1978/79). 551 Shakespeare (1984), 103 (1.5.91). 552 Shakespeare (1984), 102 f. (1.5.95 f.).

Hamlet-Paradigmen: Metafiktion, Trauma, transgenerationelle Traumatisierung

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gespielt wird, das Globe Theatre, das seinen Namen dem »All the world’s a stage«-Topos verdankt.553 Die durchgängige Strategie der Selbstreflexion des Mediums Theater kulminiert in der Mausefalle-Szene, im Stück im Stück (3.2).554 In Der Mord an Gonzago verdichten sich die metatheatralen Bezüge zu einem Theater auf dem und über das Theater, das die Möglichkeit offenbart, die Wahrheit über die Ermordung von König Hamlet öffentlich zu machen. Konstitutiv für diesen Enthüllungsvorgang ist der Spiegel, der den Elisabethanern als die Zentralmetapher für die Kunst galt. Gerade weil das Theater Erfundenes präsentiert, bietet es die geeignete Metaphorik, um das trügerische Rollenspiel von Claudius widerzuspiegeln und damit durchschaubar zu machen. Indem Claudius den mordenden Schauspieler beobachtet, wird er gezwungen, sich selbst zu beobachten; der Anblick überwältigt ihn und er flieht. Das Schauspiel konfrontiert also nicht allein Claudius mit sich selbst, mit seinem vergangenen Verbrechen, sondern auch die anderen Zuschauer mit seiner Reaktion auf den gespielten Gift-Mord. »Mit dieser Szene und nie vorher wurde das in so komplexer Weise gezeigt – führt das Drama die Wirkung des Dramas vor Augen.«555 Zwar ist es richtig, die ästhetische Logik eines sich in Form einer internen Selbstverdoppelung reflektierenden Theaters herauszustreichen, die andere Seite aber ist die drameninterne Funktion des Spiels im Spiel. Hamlet inszeniert ja das Metatheater, um die Reaktionen von Claudius auf das Mord-Drama beobachten zu können, um Gewissheit darüber zu erlangen, dass der neue König der Mörder seines Vaters ist. Das Vorhaben gelingt; Hamlet weiß nun, dass sein Onkel König Hamlet ermordete, und Claudius weiß, dass sein Neffe über seine Mordtat Bescheid weiß. »Jetzt«, markiert Dietrich Schwanitz den Wendepunkt des Dramas, »müßte Hamlet handeln. Sonst wird der König eher handeln als er. Die Frage erhebt sich, warum Hamlet nicht sofort zur Tat schreitet und den König umbringt.«556

553 Vgl. Forker (1963), 221. 554 Pfister (1978/79), 148 f.: »Das Spiel im Spiel selbst ist die deutlichste metakommunikative Selbstthematisierung des Theaters im Hamlet: es ist nicht rein verbal, sondern wiederholt auf der Bühne fiktiv die reale Aufführungssituation mit ihrer Zuordnung von Schauspielern und Publikum, von Bühne und Zuschauerraum.« 555 Schwanitz (2006), 85. Das Explizitwerden der selbstreflexiven Funktion des Theaters versteht Schwanitz gleichsam als kulturgeschichtliche Zäsur : »Daran zeigt sich die plötzliche Blüte des Renaissance-Dramas als eine neue kulturelle Erfahrung. Beobachtungen werden beobachtbar. Das ist der Aufbruch in der [sic!] Moderne, das Sein enthüllt sich nicht mehr von selbst in der Ontologie, in unmittelbarer Evidenz; was wir sehen, ist vielmehr abhängig von einer standortgebundenen Optik. Das Modell hierfür ist der Spiegel.« (Schwanitz [2006], 86) 556 Schwanitz (2006), 89.

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Aus der Rezeptionsperspektive ist überdies zu fragen, warum alle betrachteten Hamlet-Figurationen eben diese Strukturanalogie aus Metafiktion und Handlungszurückhaltung reproduzieren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sahen sich die Schriftsteller, wenn sie nicht die jüngst vergangenen, für das materiell wie moralisch in Trümmern liegende Europa verantwortlichen Ereignisse bewusst auszublenden bestrebt waren, mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert, nämlich »retrospektiv eine Wirklichkeit zur Sprache bringen sowie prospektiv eine Wirklichkeit entwerfen zu wollen/müssen«557. Döblin, Jens und Hildesheimer bewältigen diese Aufgabe, indem sie, intertextuell auf Shakespeares Hamlet Bezug nehmend, von der Metafiktion als Textstrategie Gebrauch machen558 und sogleich die für ihre Hamlet-Figuren naheliegenden metafiktionalen Handlungsimplikationen (analog zu Shakespeares Helden nach dem Stück im Stück) zurückweisen: Döblins Edward verwirft sein »Textbuch« und beginnt ein »neues Leben«, Jens’ Hamlet wird als paradigmatische Symbolfigur verabschiedet, Hildesheimers Hamlet-Figuren steigen aus der Geschichte aus und ziehen sich ganz auf sich selbst zurück. Die Bedeutungsstrukturen des Hamlet-Stoffs bieten auf der einen Seite ausreichend Attraktionspotential, um die mit der jüngsten Geschichtskatastrophe aufgekommenen Bedenken gegenüber dem Überkommenen – zumindest provisorisch – zu beseitigen; auf der anderen Seite kann die Hamlet-Figur als Leitfigur für eine zukunftsfähige ethisch-politische Selbstverständigung nicht genügen. Formuliert als Prinzip einer dialektischen Mythopoetik: Der Hamlet-Stoff wird rezipiert und aktualisiert, um in seiner Vorbildhaftigkeit letztendlich dementiert zu werden. Ausgangspunkt unserer Rezeptionsüberlegungen zur Metafiktion war die (große) Frage nach dem Nicht-Handeln Hamlets. An dieser Frage setzen auch alle psychologischen Ansätze an, die beabsichtigen, in Hamlet die Symptome eines Traumas bzw. einer transgenerationellen Traumatisierung zu diagnostizieren.

1.5.2 Trauma Zumal psychologische Disziplinen machen ausgiebig von dem Verfahren Gebrauch, literarische Figuren bzw. Figurenkonstellationen der wissenschaftlichen Konzeptualisierung zuzuführen. So

557 Zangl (2009), 217. 558 Zur Intertextualität als Form der Metafiktion vgl. Wolf (1998).

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finden sich in zahlreichen Texten der Literaturgeschichte Beispiele literarischer Gedächtnisfiguren, Bruchstücke einer Genese und Vorgeschichte eben jener Figuren, die in den theoretischen Anstrengungen der Psychoanalyse auf den Begriff gebracht werden sollten, denen also in den Schriften Freuds nachträglich ihre theoretische Bedeutung zugeschrieben wurde559.

Im Anschluss an die psychotraumatologische Literaturinterpretation und getreu dem rezeptionsgeschichtlichen Diktum von Hans Robert Jauß, dass sich die im Text enthaltene Bedeutungspotentiale erst im historischen Prozess entfalten560, lässt sich zeigen, dass Shakespeares Hamlet auch das Potential für eine am Konzept des Traumas interessierte literarische Rezeption enthält. Theoriegeschichtlich betrachtet hat die psychotraumatologische HamletDeutung ihren Wegbereiter in der Psychoanalyse, die in dem Drama eine ödipale Konstellation erkennt und dem Helden eine Neurose attestiert561: Die in Hamlet nach einer Phase kindlicher Liebe heranreifenden Wunschträume, in denen der Vater zum Rivalen um die Liebe der Mutter wird, werden zunächst verdrängt. Als Claudius seinen Vater ermordet und zugleich seine Mutter ehelicht, befindet sich Hamlet in dem Dilemma, sich einerseits mit seinem Onkel zu identifizieren, da dieser Hamlets Wünsche verwirklichte, andererseits in Claudius die neue Vaterfigur zu sehen, auf die er nunmehr seine Tötungswünsche projiziert. Hinfort schwankt Hamlet zwischen der Erfüllung des Rachegebots und Selbstmord. Erst Gertrudes Tod bewirkt die Auflösung seiner Neurose, nunmehr ist Hamlet imstande, die Rache an Claudius zu vollziehen. Nicht über die Stimmigkeit dieser Deutung bzw. ihrer Vorannahmen (den Ödipus-Komplex und seine Auswirkung auf das spätere menschliche Verhalten) ist hier zu befinden562, die kurze Inter559 Weigel (1999), 61; vgl. zum Zusammenhang von Belletristik und Psychoanalyse umfassend Matt (2001). 560 Dem Pol einer latenten Traditionsbildung und Kanonisierung steht Jauß zufolge ein bewusst vollzogener Horizontwandel ästhetischer Erfahrung gegenüber, »wo die geschichtliche Bewegung vom rezipierenden Subjekt in Gang gehalten, die Reproduktion des Vergangenen durch die Produktion des Neuen bestimmt, der verfestigte Horizont einer Tradition durch Antizipationen möglicher Erfahrung durchbrochen wird« (Jauß [1982], 744). 561 Siehe dazu Freud (1991): »Ich meine, der Oedipuskomplex – wenn er besteht – ist etwas so Uraltes, dass die zeitlichen Unterschiede zwischen der Produktion der Odyssee und der des Sophokleischen Oedipus dagegen nicht in Betracht kommen. Der König Oedipus zeigt uns die direkteste Darstellung des erschreckenden Stoffes, dem aber dadurch der Stachel benommen wird, dass die inneren Triebe als Schicksal, Orakel, hinausprojiziert werden. In der Sage von Orest liegt uns eine machtvolle Reaktionsbildung auf denselben Stoff vor. Der Sohn wird anstatt der Mörder des Vaters der Rächer seines Mordes. Von da aus führt der Weg zur Hamletsage, in deren Bearbeitung durch Shakespeare der Sohn wiederum durch innere Motive an der Ausführung der Rache verhindert wird.« – Vgl. zur psychologischen bzw. psychoanalytischen Hamlet-Auslegung ferner Steiger (1987), 150 – 153. 562 Vgl. dazu prägnant Steiger (1987), 152: »Was die erotische Komponente in Hamlets Verhältnis zur Mutter und folglich seine niedrige Toleranzgrenze gegenüber dem Onkel betrifft, so läßt der Text eine solche Auslegung zu. Um allerdings den Vaterhaß zu beglaubigen,

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pretationsskizze dient allein dem Zweck zu zeigen, was eine psychotraumologische Hamlet-Deutung theoriegeschichtlich zur Voraussetzung hat und wovon sie sich zugleich abhebt. Die für einen an traumatisierenden Phänomenen geschulten Beobachter entscheidende Stelle ist Hamlets erste Begegnung mit dem Geist (in der vierten bzw. fünften Szene des ersten Aktes). Aufgewühlt durch den Tod des Vaters, verstört aufgrund der Thronerlangung seines Onkels und der aus seiner Sicht viel zu raschen Wiederheirat der Mutter, lässt sich Hamlet bereitwillig auf die Mitteilungen des Geistes ein. Dessen mehrdeutige Erscheinung im Verbund mit dem offenbarten Wissen, dass der König einem Mord zum Opfer gefallen sei, den Claudius zu verantworten habe und in den auch Gertrude mit verwickelt sei, markiert Hamlets zentrale Überwältigungserfahrung. Ungeachtet der bis heute umstrittenen Frage danach, um was für eine Art von Geist es sich dabei handelt, ungeachtet also der Frage nach dem onto-theologischen Status des Geistes563, hätte eine psychotraumatologisch orientierte Interpretation von Hamlets weiterem Verhalten ursächlich an dieser Stelle einzusetzen. Sie würde dann, wie z. B. Bennett Simon das in ihrer auf der Traumatheorie basierenden Lesart entfaltet, die Folgen ausbuchstabieren, die sich aus der traumatisierenden Begegnung mit dem Geist entwickeln564 : also Hamlets Oszillieren zwischen Gefühlsbetäubung und emotionalem Überschwang, seine Schwierigkeiten, zwischen Phantasie und Realität zu unterscheiden, das Schwanken zwischen seinem Zögern und Zaudern bei der Erfüllung des Racheauftrags und dem überstürzten Handeln (z. B. beim Mord an Polonius)565. So zu verfahren, müsste andere Ansätze, seien sie historischer oder eher gegenwartsbezogener Natur566, nicht notwendigerweise verdrängen567, könnte sie aber auf die Basis traumatheoretischer Erkenntnisse stellen. Die Traumatheorie als Interpretament der Hamlet-Deutung verweist nicht nur auf eine Reihe von Interpretationsangeboten (z. B. auch für die Figur der Ophelia568), sondern markiert auch Anschlussstellen für die Rezeption.

563 564

565 566 567 568

muß schon sehr viel Verdrängung mobilisiert werden. Der Text deutet eher auf eine Überhöhung des Vaterbildes, die als Verdrängung der bösen Gefühlsregungen allerdings wieder erklärbar würde. Vollständig fehlt die Textgrundlage nur für die notwendigen Identifizierungen in der Personenkonstellation. Als Identifikationsfigur für Hamlet versagt Shakespeares Claudius zum Beispiel völlig.« Vgl. Walch (2004), 44 – 57, und jüngst umfassend Greenblatt (2008). Simon (2001), 714: »Hamlet, the character, is severely traumatized by the Ghost’s recollections, leaving him, as it were, both certain and uncertain that his father was killed by his uncle as well as of his mother’s collusion with him or, at least, of her betrayal of the memory of her recently deceased husband.« Vgl. Simon (2001), 714 f. Vgl. zu dieser Unterscheidung Steiger (1987), 128 – 131. Vgl. etwa zur Verbindung von theologischer und psychologischer Terminologie in der Hamlet-Interpretation Hirschfeld (2003). Vgl. Simon (2001), 715 f.

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Angesichts einer weltgeschichtlichen Krisensituation, der mit dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg für unzählige Menschen eine traumatogene Epoche vorausging, verwundert es kaum, dass in der Literatur nach 1945 die Kategorie des Traumas an Bedeutung gewinnt. Noch weniger erstaunt, dass Alfred Döblin, der spätestens seit seiner Doktorarbeit über Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose569 auf eine die Entwicklungen der modernen Wissenschaften integrierende Poetik aus ist570, bereits in seinem 1929 erschienenen Berlin Alexanderplatz einen Kriegsneurotiker zum Protagonisten seines Großstadtromans machte. In seinem Hamlet-Roman nun profiliert Döblin das Trauma, im physischen (Beinverlust) wie – stärker noch – psychischen Bereich (hervorgerufen durch den Kamikaze-Angriff), als die durchschlagende Figur, um das Nachbeben des Zweiten Weltkriegs auf den Punkt bzw. den Begriff zu bringen. Das Trauma der Ausgrenzung und der Verfolgung der Juden hingegen steht bei Jens wie bei Hildesheimer im Zentrum (in Tynset kommt noch der von den Nazis begangene Mord an dem Vater des Erzählers verschärfend hinzu): als Exklusionserfahrung, indem ein totalitäres Terrorregime schlagartig das Alltagsleben auf manichäische Art und Weise in Gut (arisch) und Böse (jüdisch) einteilt.571

1.5.3 Transgenerationelle Traumatisierung Nicolas Abraham hat in seinen erstmals 1978 erschienenen Aufzeichnungen über das Phantom. Ergänzung zu Freuds Metapsychologie den genealogischen Gedächtnistransfer, der entsteht, wenn Erinnerungsspuren die Biographie eines Individuums und seines psychischen Apparates überschreiten und auf das Nacheinander der Generationen projiziert werden, in Bezug auf das generationelle Gefüge im Familienverband konkretisiert. Abraham gründet sein Konzept der familiengenealogischen Erinnerungstransmission auf den Begriff des Phantoms. Darunter versteht er ein Geheimnis, das innerfamiliär von einer Generation an die nächste unbewusst weitergereicht wird. Doch das Phantom wird nicht von der älteren Generation erzeugt und an die nächste übertragen, sondern das ›Phantom‹ (le fantúme, das Gespenst, der Geist) – in allen seinen Formen – ist eine Erfindung der Lebenden. Eine Erfindung in dem Sinne, daß es, wenn auch auf halluzinatorische Weise, individuell oder kollektiv, die Lücke vergegenständlichen muß, die die Verdunkelung eines Abschnitts im Leben eines Liebesobjekts in uns erzeugt hat. Das Phantom ist demnach auch ein metapsychologisches Faktum572. Das heißt, nicht die 569 570 571 572

Döblin (2006). Vgl. dazu umfassend Schäffner (1995). Vgl. zum Trauma der Exklusion Fischer/Riedesser (1999), 232 – 238. Den Begriff »Metapsychologie« gebraucht Freud synonym zu »Psychologie des Unbewussten«.

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Gestorbenen sind es, die uns heimsuchen, sondern die Lücken, die aufgrund von Geheimnissen anderer in uns zurückbleiben. […] Ihren Kindern oder Nachkommen aber fällt das Schicksal anheim, solche verborgenen Gräber in der Gestalt eines Phantoms zu vergegenständlichen. Diese Gräber der anderen sind es nämlich, die die Überlebenden in Form von Phantomen heimsuchen.573 Als eine Bildung des Unbewussten, das aus dem Unbewussten eines Elternteils ins Unbewusste eines Kindes übergeht, lässt sich das Phantom als Heimsuchung eines wiederkehrenden Toten nicht mit den Mitteln der klassischen Analyse auflösen. Zum Verschwinden gebracht werden kann es vielmehr erst dann, wenn seine Eigenart der radikalen Heterogenität hinsichtlich des Patienten erkannt wird, zu dem es keinerlei direkten Bezug hat und demgegenüber es sich niemals wie dessen eigenes verdrängtes Erlebnis verhalten kann […].574

Die wissenschaftsgeschichtliche Beobachtung bestätigend, dass Psychologie auf »Fallgeschichten« basiert, »die in unmittelbarer Wechselwirkung mit literarischen Gestaltungen stehen«575, plausibilisiert Abraham seine These der phantomatischen Heimsuchung durch eine Lektüre von Shakespeares Hamlet. Dabei versteht er das Drama weniger mit Freuds Deutung des Ödipuskomplexes als mit Hilfe der Annahme, dass vor Hamlets Geburt ein verheimlichtes blutiges Geheimnis stattgefunden haben muss, das in Form unbewusster Symptome gleichsam als Phantom transgenerationell an Hamlet übermittelt wurde. Abraham führte diese Vermutung in einem Text namens Hamlets Phantom aus, den er gleichsam als den sechsten Akt des Shakespeare’schen Dramas versteht.576 Dessen erklärtes Ziel ist es, das Motiv für Hamlets Gefühlsverwirrung und Zögern zu finden, selbst, wenn es jenseits der von Shakespeares Drama präsentierten Fakten liegen sollte. Hamlets des Öfteren einbekannte Verwirrung sei ein Symptom dafür, dass der geheime Einfluss eines anderen im Verhalten des Prinzen wirksam ist, dass Hamlet als unfreiwilliges Werkzeug eines anderen fungiert. Wenn man nun die Annahme, dass dem Hamlet ein verborgenes Geheimnis zugrunde liege, mit der SymptomAnalyse für Hamlets Zaudern verbindet, führt das zu der methodischen Prämisse, dass (mindestens) ein für die Personen des Dramas entscheidendes Ereignis der ersten Szene des Stücks vorausgegangen sein muss. Eine für Abrahams Argumentation zentrale Rolle spielt das von Hamlet verfügte Schweigegelübde, auf das 573 Abraham (1991), 691 f. 574 Abraham (1991), 696. 575 Pethes (2004), 363. Vgl. Pethes (2003), 223 f.: »Die Gattung der ›Fallgeschichte‹, die Moritz mitbegründet und die dann zum Prinzip der Krankheitsbeschreibung avanciert, bevor sie schließlich von Sigmund Freud zur Vollendung gebracht wird, ist das Paradebeispiel einer Schreibweise auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Literatur. […] Literarische Fallgeschichten sind obendrein nicht allein Abbildungen wissenschaftlicher Beobachtungen und Diagnosen, sondern Szenarien, die Bedingungen und Paradoxien der Entstehung solcher Diagnosen und Urteile offenlegen.« 576 Abraham/Törok (1987), 447 – 474.

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er seine drei Begleiter Horatio, Marcellus und Bernardo verpflichtet (vgl. 1.5.143 – 161). Mit dem Beharren auf Verschwiegenheit verbündet sich Hamlet mit dem Geist des Vaters, mit dem – so Abraham, der die Aufrufe zur Geheimhaltung als verräterische Signale für das Vorhandensein eines Geheimnisses deutet – unbewussten Effekt, dass ein selbst Hamlet verborgenes Geheimnis bewahrt wird. Was der Geist erzählte (Claudius ist ein Mörder), sei nur die Spur eines Schweigens; dieses Schweigen aber umhülle das Geheimnis, weshalb der Geist zum Umgehen verdammt sei. Mit Hamlets Phantom, erläutert Nicholas Rand, erschafft Abraham »eine Vorgeschichte für Shakespeares Hamlet, um aus dem Drama eine fiktive dramatische und psychologische Situation zu extrapolieren, die das Symptom der abgestumpften Rache Hamlets motiviert«577. In Polonius’ Racheakten situiert Abraham die eigentliche Quelle des Dramas. Demnach avanciert Polonius zu einer Zentralfigur und zum Anstifter zweier Morde: zu dem an König Fortinbras und dem an König Hamlet. Das Motiv für diese Verbrechen ist Abraham zufolge ein politisches, nämlich Polen, das Land seiner Herkunft, zu rächen, das bereits mehrfach von König Hamlets Dänemark und Fortinbras’ Norwegen erobert worden war. Den Ränken des Polonius entspringt das manipulierte Duell zwischen König Hamlet und König Fortinbras, das zur Ermordung von Fortinbras führt. Am Tag des niederträchtigen Zweikampfes wurde Prinz Hamlet geboren, der ahnungslose Erbe eines Verbrechens, das sein Vater insgeheim begangen hatte. Hamlet wird das Geheimnis durch die stillschweigende Vermittlung der Mutter psychisch weitervererbt, deren verhinderte Liebe zum toten Fortinbras von Norwegen die Komplizenschaft bei der Vergiftung König Hamlets motiviert. Die Heimsuchung Hamlets durch Verwirrung oder das ›Phantom‹ geschieht durch den ihm unbegreiflich dämmernden Verdacht, daß zu Lebzeiten des Verstorbenen etwas Schändliches ungesagt blieb. Die Sphinxhaftigkeit des ShakespeareDramas hat ihren Ursprung in der leisen, aber alles durchdringenden Gegenwart eines Geheimnisses, das schweigend von einigen geteilt wird (Polonius, Claudius, Gertrude) und andere hartnäckig quält (Hamlet, Ophelia, Laertes).578

Zwar ist eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Interpretationen angebracht, die irritierende Aspekte, Leerstellen oder Ungereimtheiten von Kunstwerken dadurch aufzulösen unternehmen, dass sie auf Ereignisse hinauslaufen, die in dem Werk nicht dargestellt oder allenfalls in Spurenelementen angedeutet werden, aber Abrahams Lesart besticht durch Kohärenz. Mit seinem Postulat, dass Traumata von einer Generation auf die nächste vererbt werden können, erweitert Abraham nicht nur das Freud’sche Konzept des Symptoms als Erinnerungsspur

577 Rand (1991), 685. 578 Rand (1991), 685 f.

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eines Traumas579 um den von ihm geprägten Begriff »des trans-generationellen Phantoms«580, sondern lanciert überdies ein bemerkenswertes Deutungsangebot für Hamlets verwirrtes Zögern. Demnach besteht die unbewusste psychologische Grundlage für Hamlets Lähmung in dem echten Wunsch zu handeln; einem Wunsch, der freilich gehemmt wird. Direkt gesagt: Hamlet kann seinen Vater nicht rächen, weil dieser selbst ein Mörder war. Das ist die Pointe von Abrahams Versuch, Shakespeares literarischen Text als therapeutische Anleitung zu lesen581 und auf den Begriff des Phantoms zu bringen: Er führt in die familiendynamische Konstellation des Stücks ein transgenerationell wirksames Geheimnis ein, das von der einen Generation auf die andere als Trauma (das auch auf ein Verbrechen zurückgehen kann) übertragen wird. Sigrid Weigel gebührt das Verdienst, das Konzept des transgenerationellen Traumas, also eine genuin psychoanalytische Begrifflichkeit, für den sprachlichkulturellen Bereich nach 1945 in seiner systematischen Bedeutung reflektiert zu haben. Ihr für die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Trauma inzwischen nachgerade klassischer Aufsatz T¦lescopage im Unbewußten perspektiviert das ›Denken nach Auschwitz‹ als traumatisiertes Denken, als eines, das von einer unablässigen Reproduktion der Schuld gekennzeichnet ist. Damit nimmt es eine Gedächtnisfigur vorweg, die in der psychoanalytischen Erkenntnis der 1980er Jahre (im Anschluss an Nicolas Abrahams PhantomTheorie) als transgenerationelle Traumatisierung das Fortwirken des Nationalsozialismus im Unbewussten repräsentiert.582 Für die Erinnerungsliteratur von besonderem Interesse sind mithin »die Familiengeheimnisse ›nach Auschwitz‹, die den phantomatischen Charakter der Geschichtsbilder in den Diskursen und Texten der Nachgeborenen ausmachen«583. Poetologisch betrachtet geht es darum, die verschwiegenen Familiengeheimnisse, also die ›Lücken im Aussprechbaren‹, die als Schweigen oder phantomatische Besetzungen von der nachkommenden Generationen realisiert wurden, durch Deutungen und Symbolisierungsweisen der literarischen Erinnerungen dem Gedächtnis der Nachgeschichte aufzuschließen bzw. verfügbar zu machen. Mit Shakespeares Hamlet als Prätext beschreitet Döblin in seinem Kriegsheimkehrerroman bereits kurz nach 1945 diesen Weg. Das von Edward ver579 Vgl. Freud (2001), 235. 580 Rand (1991), 690. 581 Vgl. zu der Verschlingung einer poetologisch strukturierten Wissenschaft und einer auf Wissen basierenden Literatur im Hinblick auf psychologisches Wissen Schäffner (1995), 8: »Literarische Texte beginnen als psychiatrische Anleitungen zu funktionieren, wahnsinnige Texte, wie im Falle Raymond Roussels, werden nach einer bestimmten Zeit als literarische gelesen«. 582 Vgl. Weigel (2006), 73 – 76. 583 Weigel (1999), 70.

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mutete Familiengeheimnis avanciert zum Hauptmotiv, um die Kriegsschuldfrage zu erforschen. Den verborgenen Familienkonflikt parallelisiert Edward mit dem traumatischen Kriegsszenario; in der Bombenexplosion reaktualisiert sich für ihn eine frühkindliche Urszene der Überwältigung: der Streit zwischen dem gewalttätigen Vater und der Mutter.584 So wirksam Döblin in Gestalt einer palimpsestuösen Trauma-Überlagerung eine transgenerationelle Traumatisierung literarisiert585, so vehement weist sein Protagonist eine dauerhafte Gültigkeit dieser generationenüberschreitenden Vergangenheitsfixierung zurück. Aus der Auflösung des Familienkonflikts ergeben sich für Edward keine verpflichtenden Handlungsanweisungen, sondern nur der Imperativ, das Hamlet-Modell zu verabschieden. Ähnlich ergeht es – während Walter Jens’ Herr Meister nicht zur Ausgestaltung des transgenerationellen Aspekts gelangt, da die Allegorie auf den NS-Staat mit der Hamlet-Figur als Protagonisten im Planungsstadium stecken bleibt – dem Ich-Erzähler in Wolfgang Hildesheimers Tynset. Mit der immer wiederkehrenden, stets von Neuem den Mord an seinem Vater aufrufenden Geistererscheinung vermag er nicht dauerhaft zu leben. Um der ihn fortwährend quälenden Aporie aus schlechtem Gewissen und scheiterndem Bemühen, gegen das Verschweigen und die Verdrängung der NS-Verbrechen vorzugehen, zu entkommen, versucht er an den utopischen Ort Tynset zu entfliehen, sprich, aus den Gegenwartszusammenhängen als Nachwirkungen der katastrophischen Vergangenheit auszusteigen.

1.6

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Mein Ausgangspunkt bei diesem Kapitel war die Vermutung, dass der Rekurs auf ein unspezifisches Hamletgefühl für die Nachkriegsliteratur mehr als kontingent sein könne. Inzwischen würde ich meine These wie folgt präzisieren: Shakespeares Hamlet grundiert insofern die familienliterarische NS-Nachgeschichte, als die Hamlet-Transformationen von Döblin, Jens und Hildesheimer mit der Metafiktion, dem Trauma und der transgenerationellen Traumatisierung bereits diejenigen Zentralkategorien freilegen, die für die späteren Literarisierungen der pathogenen Wirkungen von Nationalsozialismus und Holocaust unverzichtbar werden sollen. Wendet man die Gedächtnisfigur des Traumas, die so strukturiert ist, »dass eine fremdkörperartige Erinnerung die Lücke markiert und den Bezug zu ihr, 584 Vgl. zu der Parallele Schäffner (1995), 368. 585 Wambsganz (1999), 159 f., betont, wie sehr Döblin die genealogische, transgenerationelle Betrachtungsweise an Freud geschätzt habe.

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bzw. zu dem darin Fehlenden, zugleich verdeckt«586, ins Poetologische587, so folgt daraus für die in Augenschein genommene Hamlet-Rezeption ein ambivalenter Wirklichkeitskonnex. Die Transformationen von Shakespeares Tragödie markieren zwar die Notwendigkeit, die einschneidenden Geschichtsereignisse, also Weltkrieg und Holocaust zu repräsentieren, überlagern diese aber zugleich. Mit anderen Worten: Als »Phantasma der Unlesbarkeit«588 bezeugt der HamletBezug die für die Aufarbeitung der Geschichte unverzichtbare Rolle des Traumas ebenso sehr, wie er die Ausbuchstabierung der historischen Referenzen des Traumas überdeckt. Inhärieren ihm doch zum einen die strukturelle Vorgängigkeit der (Familien-)Katastrophe (Krieg und Holocaust werden mit dem Mord an Hamlets Vater parallelisiert) und zum andern die Fragwürdigkeit der ZeugenInstanz bzw. die Unglaublichkeit des Bezeugten (die Probleme der Darstellbarkeit einer unglaublichen Katastrophenerfahrung reflektieren die Schwierigkeiten, dem Geist Vertrauen zu schenken). Im Hinblick auf die Literatur des teleskopischen Imaginären könnte man, den Repräsentationsgedanken aufgreifend, der für die Poetik nach 1945 so wichtig werden sollte589, pointieren: Der Hamlet-Bezug ist die intertextuelle Antwort auf die familiendynamische Zuspitzung des Darstellungsproblems nach Auschwitz. Er kompensiert die Reserve gegenüber einem historisch-dokumentarischen Zugriff, indem er dem literarisch schwer einhegbaren unheimlichen Nachwirken der NS-Zeit einen mythologischen Resonanzraum bietet. Die Umdeutung des Geistes zur traumatisch-phantasmatischen Erinnerung des Sohns an die Schrecken der NS-Geschichte (Döblin, Hildesheimer)590 etabliert eine testimoniale Perspektive und konzediert zugleich, die individuelle Bezeugung dieser Überwältigung mental nicht kontrollieren zu können.591 586 Weigel (1999), 65 – im Anschluss an die Studien über Hysterie von Sigmund Freud und Josef Breuer. 587 Vgl. zur Rolle des Traumas für eine Poetik nach dem Holocaust Zangl (2009), 167 – 178. 588 Erdle (2000), 259. 589 Vgl. Zangl (2009), 178 – 213. 590 Vgl. zum Zusammenhang von Gespenstern und Erinnerung Binczek (2001); zu Hamlets Geist als Gedächtnismetapher für die unabgegoltene Vergangenheit vgl. Assmann (1999a), 175, und Jirgl (2008), 190: »Mithin das Alte, in Gestalt des Vater-Geistes, fungiert als Platzhalter für je Neues, das den Kern des Alten stets in sich birgt, und, seinerseits zur Wirksamkeit gelangend, mit dem Substrat des Neuen reagierend als das Uralte (wieder) sich entfaltet: Dialektik von neu und alt (Avantgarde und Konvention) als eine Chiffre für stets unbefriedeten Gesellschaftskrieg.« 591 Der Hamlet-Stoff avanciert als mythologische Gussform für die geisterhaft-phantasmatisch wuchernden Schockwellen der NS-Zeit gleichsam zum kollektiven wie posterioren Gegenstück zu der individuellen Antizipation des Terrors im Traumhaft-Phantasmatischen, wie sie die Traumsammlung von Charlotte Beradt aus den 1930er Jahren imaginiert (vgl. Beradt [1994] und zum Zusammenhang der Beradt-Sammlung und Shakespeares Hamlet auch Greenblatt [2008], 219 – 222).

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Wenn zutrifft, dass die Einbildungskraft »stets unter solchen realhistorischen Bedingungen eine Renaissance« erfährt, »die durch einen politischen, ideologischen, wissenschaftlichen oder auch ästhetischen Macht- und damit Unterdrückungszusammenhang gekennzeichnet sind«592, dass gerade die »problematische und tief traumatische Historie« der NS-Zeit der Ausbildung »kreativ freier literarischer Erkenntnisformen« bedarf593, eignet sich die Inanspruchnahme des Hamlet-Stoffs paradigmatisch für eine ästhetisch ambitionierte Nachkriegsliteratur : Sie kompensiert das dringliche Darstellungsproblem, indem sie das Trauma der jüngsten Geschichte markiert, ohne die historische Repräsentation spezifizieren zu müssen. Damit umgeht sie die ästhetisch limitierten Vertextungsstrategien des literarischen Realismus, dies aber, ohne sich deshalb vorbehaltlos dem Modell der literarischen Tradition zu überantworten. So weisen Döblin, Jens und Hildesheimer, wenn es darum geht, eine entwertete und nicht enden wollende Vergangenheit in eine hoffnungsvolle Zukunft zu überführen, Hamlet als eine längerfristig Orientierung stiftende Vorbildfigur explizit zurück. In der Hamlet-Figur manifestiert sich eine historisch-konkrete Ambivalenz, die sich aus der Einschreibung zweier widersprüchlicher Positionen ergibt (Übermacht der Vergangenheit vs. Sehnsucht nach einem Neuanfang). Darin, dass alle drei Autoren die Gebrauchsfähigkeit der Hamlet-Figur mit einem Index der Vorläufigkeit versehen, kann man bereits einen ersten Hinweis auf eine für die Literatur des teleskopischen Imaginären unvermeidbare Historisierung der Nachwirkungen der NS-Zeit erkennen. Projiziert man Nicolas Abrahams These vom Phantomeffekt, der im Laufe der Übertragung von einer Generation auf die andere immer schwächer wird594, auf die Literatur des teleskopischen Imaginären, so müsste sich der Grad der Historisierung mit zunehmender Entfernung von 1945 immer mehr erhöhen. Ob dies zutrifft, wird der weitere Verlauf dieser Untersuchung zeigen. Eines aber lässt sich bereits hier festhalten: Der Hamlet-Stoff bildet gleichsam eine Drehscheibe für die literarische Aufarbeitung der familiären Nachwirkungen von NS-Zeit und Holocaust. Auf der Ebene der Textualität begegnen sich die Hamlet-Texte als Text und Kontext und treten in Verhandlung miteinander. Als literarische Ausprägungen eines sozialen Imaginären partizipieren die Hamlet-Transformationen von Döblin, Jens und Hildesheimer allesamt an der Zirkulation einer sozialen Energie, die sich – näherungsweise und bewusst metaphorisch formuliert – als gespensterhaftes Familienerbe der NS-Zeit be-

592 Malinowski (2003), 62. 593 Geppert (2009), 5. 594 Abraham (1991), 698.

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zeichnen lässt595. Durch das Symbolsystem Sprache und bestimmte kollektive Repräsentationsformen wirken die Autoren als Schöpfer von Variationen über gegebene Themen, indem sie bestimmten Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Handlungsmodellen Geltung zu verschaffen versuchen, auf das kulturelle Netzwerk zurück.596 Ferner existieren unterschiedliche Austauschbeziehungen zwischen Literatur und Wissenschaft, die man grundsätzlich dem Beziehungstyp der Korrelation zuordnen kann. Indes gehen die Modi des Transfers bis hin zur »Koevolution oder der wechselseitigen Beobachtung zwischen Wissen und Poetik«597 (in einem geteilten Wissensraum), so dass die relative Eigengesetzlichkeit der literarischen und wissenschaftlichen Texte perforiert wird.598 Die Hamlet-Texte und die psychologischen, mit dem Phänomen des Traumas befassten Studien korrelieren miteinander auf der Grundlage relativ eigenständiger Bereiche, während der Hamlet-Stoff und die wissenschaftliche Konzeptualisierung des transgenerationellen Traumas (etwa durch Abraham) ähnliche narrative und argumentative Figuren ausbilden (vergangener Gewaltzusammenhang und Familienkonflikt) und sie sich der gleichen Repräsentationsweise bedienen (Geistererscheinung599). Ausgehend von einer in den psychologischen Disziplinen nach 1945 lange vorherrschenden communis opinio der Nichtanerkennung von psychiatrischen Kriegsfolgen (sowohl auf der Opfer- wie Täterseite)600 ist mit Blick auf die Funktionsbestimmung der betrachteten Hamlet-Rezeption zu vermuten, dass die Literatur in der durch die Wissenschaften geprägten kulturellen und sozialen Umgebung eine komplementäre Funktion ausübt, indem sie dasjenige ausspricht, was in den theoretischen Diskursen noch nicht legitimerweise gesagt werden kann oder darf.

595 Ohne spezifischen Bezug zur Familie, aber mit gleicher Metaphorik, heißt es in Adornos Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit: »Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zu Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.« (Adorno [1977], 555) 596 Vgl. Eder (2003), 215 f. 597 Vgl. zum Konzept der Koevolution zwischen Literatur und Wissenschaft Pethes (2004), 367. 598 Neben der Vorstellung einer Koevolution, das den diskurs- bzw. neuhistorischen Ansätzen bei Foucault oder Greenblatt zugrunde liegt, liegt mit Jürgen Links Interdiskursanalyse (vgl. etwa Link [1988]) ein weiterer Vorschlag vor, die zeitgleichen, aber nicht über eine unmittelbare Rezeption verlaufenden Austauschprozesse zwischen Literatur und Wissenschaft zu untersuchen. 599 Vgl. dazu die beiden Sammelbände von Baßler/Gruber/Wagner-Egelhaaf (2005) und Gamper/Schnyder (2006) sowie zum Schreibverfahren des phantomischen Erzählens in der Gegenwartsliteratur Schumacher (2008). 600 Vgl. Goltermann (2009), 165 – 341.

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Stephan Wackwitz: Neue Menschen Das Erbe ist niemals ein Gegebenes, es ist immer eine Aufgabe. (Jacques Derrida)

Nachdem mit Alfred Döblin, Walter Jens und Wolfgang Hildesheimer drei Autoren benannt wurden, die in den 1940er bis 1960er Jahren den Hamlet-Stoff nutzten, um im Rückgriff auf einen der Mythen des neuzeitlichen Europa die Ungeheuerlichkeit der NS-Verbrechen einer literarischen Trauerarbeit zugänglich zu machen, soll mit Neue Menschen von Stephan Wackwitz der zeitliche Horizont dieser Untersuchung vorgezeichnet werden. Das 2005 veröffentlichte und Bildungsroman untertitelte Werk führt in die unmittelbare Gegenwartsliteratur, während die darin erzählte Nachkriegsfamiliengeschichte die historische Distanz zwischen dem Dritten Reich und der jüngsten deutschen Vergangenheit überbrückt. In Weiterführung des 2003 unter der Gattungsbezeichnung Familienroman vorausgegangenen Bands Ein unsichtbares Land – der im sechsten Kapitel diskutiert wird –, beschäftigt sich in Neue Menschen601 ein stark autobiographisch geprägter Ich-Erzähler mit seinem problematischen Familienerbe. Steht im ersten Teil der Wackwitz’schen Generationenerzählung die Auseinandersetzung mit dem Großvater Andreas im Vordergrund, so liegt der Schwerpunkt des Fortsetzungsbandes auf der Lebensgeschichte des Vaters und dem von der Studentenbewegung inspirierten »Siebziger-Jahre-Bildungsroman[]« (53) des Erzählers. Dabei spielt Shakespeares dänischer Thronprätendent eine doppelte Rolle und fungiert sowohl als Kontrast- wie als Identifikationsfigur. Bringt der Erzähler doch nicht nur die skeptische Haltung, die sein Anfang der 1920er Jahre geborener Vater (vgl. 57) in der unmittelbaren Nachkriegszeit an den Tag legt, mit der Hamlet-Figur in Verbindung, sondern auch seine eigene, zur Zeit des Studiums verspürte Begeisterung für eine zum Totalitarismus neigende Ideologie.602 Das Kapitel Christian Adolf Isermeyer (1908 – 2001) setzt demjenigen Lehrer ein Denkmal, der durch seine in kanadischen Internierungslagern von 1943 bis zum Ende des Krieges ausgeübte pädagogische Tätigkeit die Bildungsgeschichte

601 Wackwitz (2005). 602 So bereits ausdrücklich in Wackwitz (2003), 267: »Denn wenn Bloch und Luk‚cs, Walter Benjamin, Levin¦, Trotzki und Karl Liebknecht unsere Könige und Väter gewesen sind, dann waren wir damals dänische Prinzen. Ein Mord, über den niemand spricht, hat uns den König, unseren Vater geraubt. Aber er findet keine Ruhe. Sein Geist erscheint uns am Meer vor den Toren des Palasts und fordert uns auf, ihn zu rächen. Aber wir können nicht sicher sein, ob der Wiedergänger die Wahrheit sagt. Ist unser Onkel, der neue König, denn wirklich ein Mörder? Unsere Mutter seine Komplizin? Ist das am grauen, rauschenden Meer erscheinende Gespenst wirklich ein Bote des Vaters oder ist es aus der Hölle emporgestiegen, um uns zu täuschen und unser Land und Reich in die Katastrophe zu stürzen?«

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vieler Orientierung suchender Jugendlicher, darunter eben auch die des Vaters des Erzählers, entscheidend beeinflusste. Isermeyer wird, nicht zuletzt aufgrund seiner Homosexualität, zu einem durch die »erotische Modernisierung« (96) hindurchgegangenen Lebenskünstler stilisiert, der sich – wie es in Anlehnung an Richard Rorty heißt – darauf versteht, »Probleme und Identitäten so zu formulieren und zu formatieren, dass man heil durchkommt und ungefähr glücklich wird dabei« (96). In der Abiturientenzeitung verewigten die Schüler ihren »verehrten, vielleicht geliebten und jedenfalls hoch respektierten und geachteten schwulen Schulleiter[]« (100) mit einer Hamlet-Karikatur. Diese, kommentiert der Erzähler, bringe paradigmatisch das spielerische Verhältnis zur Tradition zum Ausdruck, das Isermeyers persönliche Souveränität ausmachte und das durch seinen Unterricht seine Eleven maßgeblich prägte. Auf der Zeichnung steht Isermeyer in einem theatralisch, zugleich aber irgendwie auch sehr nachthemdartig wirkenden fußlangen Talar mit weiten, herabhängenden Ärmeln und einer Art Halskrause unter einer angedeuteten Säulen- und Triumpharchitektur. […] Der Geist seines Vaters ist Hamlet da schon erschienen. Das jenseitige Absolute hat seine Forderungen geltend gemacht. […] In der auf Augenhöhe erhobenen Hand hält Isermeyer Yoricks sehr genau und anatomisch richtig gezeichneten Schädel. Den kahlen Kopf in theaterhaft edler Pose zurückgelegt, sieht er ihm in die leeren Augenhöhlen: ›Alas, poor Yorick!‹ Das Schicksal des Narren (wie das des Alexander, sagt Hamlet) beweist uns nur, wie wenig angesichts des Todes und der allgemeinen Vanitas die Welt und das Leben unserer Mühe wert sind. Aber in Wirklichkeit macht sich der Künstler über all das nur lustig: An einer dünnen Schnur hängt neben der Hand Hamlets/Isermeyers (sie hält die unvermeidliche Zigarette selbstverständlich wieder zwischen Ring- und Mittelfinger) eine grinsende Satyrmaske. Vor ihm steht, verkleinert wie die Stifter auf mittelalterlichen Altarbildern, eine Art Page mit einem kurzen Röckchen über dem wohlgerundeten Po. Er hebt ihm eine überdimensionierte, mehr als totenschädelgroße Teetasse entgegen. Verführerische Duftschwaden und Dampfwolken kringeln sich an Hamlets Nase vorbei. Der Tee, die dandyhaft gehaltene Zigarette, der Pagenpo sind in Wirklichkeit sogar in der tristen Umgebung des Internierungslagers wichtiger und realer als die absoluten Forderungen der jenseitigen Väterwelt. (97 f.)603

Das ausführliche Zitat mag veranschaulichen, in welch hohem Maße der Erzähler die Zeichnung aus der Abiturientenzeitung zur symbolträchtigen Ikone stilisiert; beansprucht er doch mit ihr, gleichsam eine emblematische Signatur für die – von den Kriegswirren weitgehend verschont gebliebene – spätere Aufbaugeneration gefunden zu haben. Eine Generation, die sich, wie es zu Ende

603 Als zweiten Beleg für den ironischen Umgang mit der klassischen Überlieferung führt der Erzähler ein Foto aus dem Jahr 1955 an, auf dem Isermeyer auf einer Exkursion zu einer französischen Kathedrale »als Hamlet mit Yoricks Schädel zu sehen ist« (102).

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des Kapitels generalisierend heißt, darauf verstand, die radikalen Ansprüche und die Übermacht der Vorwelt erfolgreich abzumildern: Die Erscheinung der Toten in ihrem Leben war nie eine Religion für sie. Sie mussten den Stimmen aus dem Jenseits nicht bedingungslos gehorchen. Sie haben sich mit ihnen arrangiert, sie benutzten sie, sich ihr Leben so vorzuerzählen, dass es gelingt (dass es noch gut ausgeht, wenn es eigentlich misslungen ist). Sie formulierten ihre verpönten Wünsche so, dass sie ohne Lebenskatastrophe in Erfüllung gehen. (104)

Der – in der Terminologie von Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung604 – weder monumentalische noch antiquarische, sondern kritische Umgang mit der kulturellen Tradition und dem geschichtlichen Erbe, den Wackwitz’ Erzähler unter Bezugnahme auf den Shakespeare’schen Hamlet formuliert, weist eine Reihe zentraler Berührungspunkte mit Jaques Derridas Essay Marx’ Gespenster auf.605 Auch Derrida beruft sich in seinem Essay durchgängig auf den wohl bekanntesten Geist der Literaturgeschichte – überdies macht er Hamlets Vater als Urform für die in Marx’ Werk allenthalben heraufbeschworenen Gespenster namhaft606. Dabei geht es ihm, abgesehen von seinem speziellen Anliegen, den Marxismus auch im ausgehenden 20. Jahrhundert noch für untot zu erklären, um eine Verantwortungsethik, die das Vergangene grundsätzlich als unfertig begreift. Gespenster : das ist Derridas Zentralmetapher für die Asynchronizität der Generationen und die Unabgeschlossenheit der Vergangenheit: Lernen, mit den Gespenstern zu leben, in der Unterhaltung, der Begleitung oder der gemeinsamen Wanderschaft, im umgangslosen Umgang mit den Gespenstern. Es würde heißen, anders zu leben und besser. Nicht besser, sondern gerechter. […] Und dieses Mitsein mit den Gespenstern wäre auch – nicht nur, aber auch – eine Politik des Gedächtnisses, des Erbes und der Generationen.607

Doch Derrida insistiert nicht nur auf einem verantwortungsvollen Umgang mit der Vergangenheit, sondern dehnt seine Forderung einer respektvollen Rücksichtnahme auf alles Nicht-Gegenwärtige aus: Von da an, wo keine Ethik, keine Politik, ob revolutionär oder nicht, mehr möglich und denkbar und gerecht erscheint, die nicht in ihrem Prinzip den Respekt für diese anderen anerkennt, die nicht mehr oder die noch nicht da sind, gegenwärtig lebend, seien sie schon gestorben oder noch nicht geboren, von da an muß man vom Gespenst sprechen, ja sogar zum Gespenst und mit ihm.608 604 Nietzsche (1998). 605 Vgl. zum Zusammenhang von Wackwitz’ Familienromanen und Derridas Hantologie Horstkotte (2008), 276 f., und Schmitz (2006), 260, der konstatiert, dass sich Wackwitz’ Ein unsichtbares Land »teilweise wie die Praxis zu Derridas Hantologie« lese. 606 Vgl. etwa Derrida (2004), 25. 607 Derrida (2004), 10. 608 Derrida (2004), 11.

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Eine so grundsätzlich am Einbruch einer unabgeschlossenen Vergangenheit in die Gegenwart orientierte Ethik, wie Derrida sie hier mit rhetorischer Verve im Rekurs auf den Phänomenkomplex des Gespenstes skizziert, ließe sich auch fassen als der Versuch eines gerechten Ausgleichs zwischen der Lebenszeit des Einzelnen und der Geschichtszeit der Menschheit609 oder als – mit einem aktuell vor allem wegen der angespannten ökonomisch-demographischen Situation prominenten Begriff – Generationengerechtigkeit. Eine Generationengerechtigkeit, die nicht nur die Gegenwart mit der Zukunft, sondern die zwischen allen drei Zeitekstasen zu vermitteln versucht, mithin anstrebt, die Ansprüche der vergangenen mit denen der gegenwärtigen und der zukünftigen Generationen zu versöhnen. Die »Hantologie«610, wie Derrida seine Lehre von der Heimsuchung (abgeleitet von frz. »hanter« – ›heimsuchen‹) nennt, propagiert eine fundamentale Verantwortlichkeit jenseits des Gegenwärtigen, ohne deshalb freilich die Ansprüche der je eigenen Lebenszeit negieren, allenfalls relativieren zu wollen. Die von Christian Adolf Isermeyer bei seinen Zöglingen allem Anschein nach erfolgreich praktizierte Haltung, ihnen kulturelles und geschichtliches Erbe zu überantworten, ohne sich deshalb davon überwältigen zu lassen, könnte man mit Bezug auf Derrida als moderate, nicht-dogmatische Hantologie bezeichnen. Diese Haltung wäre entschieden abzugrenzen von einer – in Analogie zu Derridas Begriffsschöpfung gebildeten – Hamletologie, die sich durch den Imperativ auszeichnen würde, den geisterhaft sich einstellenden Forderungen der Vorwelt unbedingt Folge zu leisten.611 Freilich ist es gerade eine Spielart dieser Hamletologie, der der Ich-Erzähler aus Neue Menschen – im Gegensatz zu seinem gegenüber den Ansprüchen der Vergangenheit ausgenüchterten Vater – in den 1970er Jahren verfällt. Die Geschichte der literarischen Figur Hamlet, so urteilt er kategorisch, sei ihm »immer als das vollkommene Porträt der politischen Irrungen meiner eigenen Generation um 1968 erschienen« (97). Und ähnlich, bereits in einem früheren Kapitel: Das Irresein meiner eigenen Jugend rankte sich um gesellschaftliche Mythen eines unbestimmten Generalverdachts, um das Hamletgefühl einer dämonisch aus den Fugen geratenen politischen Welt. Wir, glaubten wir damals, waren bestimmt, sie wieder einzurenken und die verborgenen Machinationen eines bösen Weltgeistes, Demiurgen oder Weltgespensts aufzudecken. (67)

Wie viel von diesen Einschätzungen sich verlässlicher Erinnerung (»glaubten wir damals«), wie viel retroaktiver Stilisierung verdankt (die Etikettierung 609 Vgl. zu diesem Verhältnis Blumenberg (1986). 610 Derrida (2004), 25. 611 Die Toten als Verfolger der Lebenden machen Harrison (2006), 149 f., zufolge die anthropologische Grundlage des Hamlet aus.

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»politische Irrungen« verweist auf die Rückprojektion), entzieht sich den Analysetechniken der Literaturinterpretation. Evident dagegen ist, dass Neue Menschen eine auf der gemeinsamen Aktualisierung der Hamlet-Figur basierende intergenerationelle Konstellation etabliert, die drei Zeitstufen miteinander in Beziehung setzt: 1. die Hamlet-Relativierung des Vaters in der frühen Nachkriegszeit; 2. das Hamletgefühl des Post-68ers; 3. die während der Niederschrift zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorgenommene Selbsthistorisierung bzw. Inszenierung des ehemaligen Aktivisten der Studentenbewegung. Ein Befund, der in der Funktion eines Scharniers sich auf den bisherigen Verlauf der Untersuchung rückbezieht und einen Vorausblick auf die Lektüren des zweiten Kapitels wirft: Einerseits bestätigt Stephan Wackwitz’ Generationenroman die Skepsis, die die Hamlet-Figurationen von Döblin, Jens und Hildesheimer der Kriegserlebnisgeneration attestieren, andererseits schreibt er der 68er- bzw. Post-68er-Generation eine Hamlet-Begeisterung zu, die den Dänen-Prinzen als historisch-politische Identifikationsfigur ausweist.

2. Verhandlungen mit den Vätern Manchmal denke ich, daß die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht der Grund, sondern nur der Ausdruck des Generationenkonflikts war, der als treibende Kraft der Studentenbewegung zu spüren war. (Bernhard Schlink: Der Vorleser) Die junge Generation war von Abscheu und Neid erfüllt. Vage wußten seine Studenten davon, welche Drohungen über ihren Eltern und Großeltern geschwebt hatten und wie jämmerlich diese sich angesichts des Risikos betragen hatten. Das erfüllte sie mit Abscheu gegenüber dem Versagen und mit Neid gegenüber der sich ihnen niemals bietenden Möglichkeit, Gewißheit über sich zu finden. (Sibylle Lewitscharoff: Consummatus)

Ein Vierteljahrhundert nach der Veröffentlichung von Alfred Döblins Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende publizierte Manfred Schneider unter dem bilanzierenden Titel Väter und Söhne, posthum. Das beschädigte Verhältnis zweier Generationen612 einen Essay, in dem er Shakespeares HamletTragödie als strukturbildendes Modell für eine NS-Erinnerungsliteratur in familienpolitischer Absicht profilierte613. Den Anstoß für Schneiders Einlassung bildete jene um 1980 im Gefolge des Fernsehfilms Holocaust614 »anrollende Flutwelle von Büchern, in denen sich deutschsprachige Autoren auf die ›Suche nach der verlorenen Zeit‹ ihrer Väter im ›Dritten Reich‹ begeben«615. Mit seinem Essay präsentierte Schneider, indem er vor allem politökonomische und sozialpsychologische Gründe für das Ausbleiben einer umfassenden Aufarbeitung der NS-Vergangenheit anführte, die »bis dahin fundierteste und intensivste Auseinandersetzung mit den ›Väterbüchern‹«616. Damit sondierte er nicht nur als Erster in grundsätzlicher Weise dasjenige Terrain, das später unter dem Sammelnamen »Väterbücher« bzw. »Väterliteratur« literaturgeschichtlich Epoche machen sollte617, sondern parallelisierte die Bestrebungen derjenigen Kinder, deren literarische Familiengeschichtsschreibung um die NS-Verstrickungen 612 Schneider (1981). 613 Das Adjektiv »familienpolitisch« bezieht sich nicht auf die staatliche Familienpolitik, sondern versucht die Schnittstelle zu akzentuieren, an der die familiäre Erinnerungsliteratur angesiedelt ist: die Doppelperspektive auf die Eltern als Väter und Mütter und als politische Subjekte. 614 Vgl. dazu Märthesheimer/Frenzel (1979) und Janssen (2007). 615 Schneider (1981), 8. Vgl. Kenkel (1993), 184: »In fast allen Romanen bildet die Problematik des Mitläufertums das zentrale Thema.« 616 Spooren (2001), 26. 617 Vgl. dazu grundlegend Gehrke (1992); Kenkel (1993); Aurenche (1994); Mauelshagen (1995); Vogt, J. (1998); Blasberg (1998); Kraft (2007); Assmann (2010); Brandstädter (2010); Reidy (2012).

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der Väter kreisten, mit denen des Dänenprinzen Hamlet. Sein Anliegen war es, die Vergangenheitsbewältigung jener Kinder der Wiederaufbaugeneration, deren Blick vor »den Dämonen der Vergangenheit«618 geradezu erstarrte, im Strukturmodell eines der wenigen Stoffe der Moderne zu bannen, die der Wirkungsmacht bedeutsamer antiker Mythen vergleichbar sind: Viele studentische Rebellen gerieten damals in eine Art Hamlet-Situation (sofern man, in einer möglichen psychologischen Interpretation des Hamlet-Stoffes, den Geist des toten Vaters und dessen verbrecherischen Bruder auf dem Thron, Hamlets heuchlerischen Ersatz-Vater, als zwei Seiten ein und derselben Vater-Figur, d. h. als theatralische Vergegenständlichung eines gespaltenen Vater-Bildes begreift): Es war, als wenn ihnen plötzlich der Geist ihrer Väter in Nazi-Uniform erschienen wäre und ihre lebenden Väter, mit denen sie zwanzig Jahre lang brav zu Tisch gesessen, der furchtbarsten kollektiven Verbrechen anklagte, die je eine Generation in diesem Jahrhundert verübt hat. Und wie Hamlet wußten sie oft nicht, ob diese Erscheinung nur ein Gespenst ihrer Einbildung, ihres plötzlich entfesselten Argwohns oder aber eine wirkliche Erscheinung war, die das wahre, vor ihnen nur verheimlichte Wesen ihrer Väter ausdrückte.619

Einmal abgesehen von dem – gemessen an der Handlungslogik der Tragödie – problematischen Aspekt, dass der Vater-Geist in Nazi-Uniform in Personalunion den Täter wie den Ankläger darstellen muss, handelt es sich um einen Vergleich von eminenter Prägnanz und Anschaulichkeit. Ein Vergleich freilich mit Folgen. Wer einen so klassischen Stoff wie den des Dänen-Prinzen für eine Strömung der Gegenwartsliteratur bemüht, nobilitiert diese nicht nur nolens volens, sondern konfrontiert Hamlets heutige Nachfahren auch zugleich mit einer Vielzahl von Deutungsimplikationen bzw. -assoziationen. Schneider gebraucht Hamlet als Kollektivsymbol und den Hamlet-Komplex als heuristisches Modell zum Zwecke der individuellen Selbstverständigung wie der Geschichtsaufarbeitung620. Diese doppelte Inanspruchnahme für eine private und eine historisch-politische Funktion impliziert, wenn man die Väterbücher konkret in Augenschein nimmt, eine Reihe von inhaltlich-strukturellen Merkmalen und ästhetischen, mit der Repräsentationsweise verbundenen Vorentscheidungen. Hinfort sollen die maßgeblichen Charakteristika der Väterliteratur überprüft werden, um im Blick zurück die Brücke nach vorn zur das gespensterhafte Familienerbe der NS-Zeit transportierenden Hamlet-Rezeption einerseits und zur historisierenden Familienerinnerungsliteratur seit den 1990er Jahren andererseits zu schlagen.

618 Schneider (1981), 14. 619 Schneider (1981), 14 f. 620 Zu Hamlet als heuristisches Modell der Geschichtsaufarbeitung vgl. Loquai (1993), 176.

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Die literarisch nachgeholte Familienaufklärung der 68er In der Rückschau betrachtet mutet es seltsam an, dass gerade um 1980 eine große Anzahl von Texten erschien, in denen sich die Generation der während der NS-Zeit Geborenen mit ihren Vätern auseinandersetzte. Warum nicht etwa zehn Jahre früher, also zur Hochphase der Studentenbewegung, warum erst so spät, also ein halbes Jahrzehnt nach dem inzwischen selbst zur Vergangenheit gewordenen Protest? Wenn Hans-Georg Gadamer als hermeneutische Maxime postuliert, dass man einen Text in Wahrheit nur dann verstehen kann, »wenn man die Frage verstanden hat, auf die er eine Antwort ist«621, so gilt dies umso mehr für das kontingente Auftreten einer Serie von Büchern mit gleichem inhaltlichen Fokus. Wozu, lautet die Frage, brauchten die Autoren um 1980 die Väterbücher? Zumal es sich – nahezu durchweg – um Autoren handelt, die der 68er-Generation zugehören und deren studentenbewegte Fraktion die unbewältigte NS-Vergangenheit ihrer Väter zum Mittelpunkt ihrer Kritik an dem System der BRD machte. Waren die Täter- und Mitläufer-Väter nicht schon erledigt, gehörten sie nicht längst zum ideologisch belasteten Alteisen einer obsoleten Geschichtsepoche? Hätte man den Kontakt zu ihnen nicht eher scheuen, denn suchen müssen? Oder war die Abrechnung mit den Vätern auf der politischen Ebene nur eine behauptete Zäsur, die auf der familiendynamischen Ebene unzählige Verdrängungsleistungen der Kinder nach sich zog? Folgte nun auf die Politisierung des Privaten eine Privatisierung des Politischen? Mussten die ehemaligen Rebellen nicht einsehen, dass die moralische Verdammung der Elterngeneration (sowie ein kollektiver Faschismusvorwurf an Establishment und Staat) auf einer gehörigen Abstraktion, um nicht zu sagen, einer Realitätsblindheit basierte, die sie alle mit den Folgekosten eines individualpsychologisch unaufgearbeiteten Generationenbruchs belastete? Kurz, ist die Väterliteratur nicht eine Antwort auf die Frage, wie eine vormals moralisch-ideologisch unter Anathema stehende Familienauseinandersetzung nachgeholt wird? Zumindest als heuristische These scheint mir die Deutung der Väterbücher als literarischer Diskurs über ein familiendynamisch unaufgearbeitetes Generationsschisma einige Plausibilität für sich beanspruchen zu können. Gerade ein an den drängenden Fragen der gegenwärtigen Gesellschaft geschulter Blick wird sich bei dem Versuch, den Übergang zwischen den Generationen zu organisieren (aktuelle Perspektive) bzw. zu historisieren (retrospektive Perspektive), nicht allein auf Maßnahmen und Unterlassungen der Bildungs-, Renten- und Sozialpolitik verlassen können. Über die Art und Weise, wie sich der Staffellauf der Generationen vollzieht, entscheidet vielmehr bislang unangefochten der »weiche Kern« der Gesellschaft: »In den Familien gehen die Generationen 621 Gadamer (1990), 376.

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aufeinander ein – oder gehen sich aus dem Weg«622. Zumal im Deutschland der Nachkriegszeit war diese Alternative von besonderer Brisanz, fiel es doch der Kriegserlebnisgeneration sichtlich schwer, zwischen der gewalterfüllten Vergangenheit und der friedlich-demokratischen Gegenwart eine lebendige Verbindung zu stiften, während sich die Kriegskindergeneration mit der Nichterfüllung ihrer Ansprüche auf Aufklärung über das Geschehene abfinden musste. In vielen Familien saß man um die Vergangenheit wie um eine leere Mitte herum, weil die Väter gefallen waren oder erst Jahre später aus der Gefangenschaft heimkehrten. […] Oft wurde so getan, als gäbe es überhaupt keine Vergangenheit, man legte sich eine irgendwie künstliche, halbseitig gelähmte, auf die Zukunft und den Aufstieg fixierte Identität zu.623

Ein entspanntes Verhältnis zu den Kindern konnte sich schon deshalb nur selten entwickeln, weil die Eltern, zumal die Väter, von innerlicher Erstarrung und Verkrampfung gekennzeichnet waren. Dabei waren die Sehnsucht nach Normalität und die mit einem Wiederaufbaupathos versehenen äußeren Anstrengungen nichts anderes als das Reversbild der Verstörung und inneren Ermüdung, sich der geschichtlichen Verantwortung zu stellen. Auf Dauer freilich konnte es schwerlich genügen, über die vielen Leichen im Keller den Mantel des Schweigens breiten zu wollen.624 Das Verhältnis zwischen den Generationen im Nachkriegsdeutschland war ähnlich vergiftet wie das zwischen Hamlet, seiner Mutter Gertrud und seinem Stiefvater Claudius. Kein Wunder auch, dass dies den Nährboden für allerlei Auswüchse des Imaginären bildete. So lautet eine der entscheidenden Lehren, die aus Nicolas Abrahams transgenerationeller Deutung des Hamlet zu ziehen ist: Je mehr die Eltern angesichts der Vergangenheit auf Schweigen und hinsichtlich der Gegenwart auf Realitätssinn pochen, desto stärker macht sich bei den Kindern eine reizbare Phantasie breit, schlägt die gepriesene Nüchternheit in Empörung und monumentalisierende Vorstellungen elterlicher Verstrickungen um.625 Kurz und in Anlehnung an Goyas Capricho Nr. 43: der Traum des Schweigens gebiert Ungeheuer. Woran es in der Nachkriegszeit nicht mangelte, waren verunsicherte Väter mit Charaktermasken, Väter, die sich schwer damit taten, »Haltungen vorzuleben, an 622 Thomä (2008), 17. 623 Thomä (2008), 229. 624 Vgl. Lange/Lettke (2007), 17: »In den späten 1960er, frühen 1970er Jahren wird die Kernfamilie als Ort der Repression angesehen […]. Die Elterngeneration der seinerzeit jungen Erwachsenen (25- bis 30jährigen) hat sich, so der Vorwurf, in der Zeit des Nationalsozialismus direkt oder zumindest indirekt schuldig gemacht durch aktives Tun, Wegschauen, Unterlassung oder Feigheit. Jedenfalls wurde der elterlichen Autorität hierdurch ein nachhaltiger Stoß versetzt, der unseres Erachtens bis heute nachwirkt.« 625 Vgl. Moser (1985), 49: »Es ist, als ob die Väter, ruhelosen Geistern gleich, noch durch die Welt irrten und endlich dingfest gemacht werden mußten.«

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denen die Kinder wachsen oder sich reiben konnten«626. Aus familientherapeutischer Perspektive erweist sich eine vergangenheitsbezogene Haltung, die auf Verzerrung der Wahrnehmung, Umgehung der Rechenschaftspflicht, Vernebelung der Erinnerung und Rückgriff auf ideologische Ausflüchte setzt, um eine Abwehr von Schuld, Scham und Trauer zu erzeugen, als fatal. Auf diese Weise wird der notwendige Dialog zwischen den Generationen erschwert, ja, verhindert. Dabei läßt sich schwer sagen, wer diesen Dialog mehr brauchte und braucht: die Kinder oder die Eltern. Kommt er nicht zustande, riskieren die Eltern Entfremdung, wenn nicht Verachtung von seiten ihrer Kinder. Aber die Kinder […] riskieren noch mehr. Denn diese brauchen Eltern, die ihnen, den Kindern, sinnstiftende Aufträge und Verpflichtungen vermitteln, Vertrauen ermöglichen sowie Gerechtigkeit, Fairneß und Integrität beweisen.627

Erst der intergenerationelle Dialog bietet die Möglichkeit, sich von den Eltern abzugrenzen und zugleich mit ihnen zu versöhnen. So verdanken sich einige wesentliche Symptome, die in dem Gesamtbild der Studentenbewegung aufgegangen sind, sicher der »Haltungsschäden«628 der Eltern und vor allem der der Väter. Allein das Ende der 1970er Jahre gehäufte Aufkommen der Väterbücher lässt darauf schließen, dass die im Verhältnis zwischen den Generationen von den Kindern erfahrenen Mangelerscheinungen nicht hinreichend im Rahmen der politischen Proteste ausagiert bzw. kompensiert wurden. Ca. zehn Jahre nach dem Höhepunkt der studentenbewegten Abrechnung mit der Nachkriegsgesellschaft reagieren die Väterbücher auf das Bedürfnis, die gleichsam zum väterlichen Erbe gehörenden Leerstellen, Enttäuschungen und Verletzungen retrospektiv und in Gestalt einer autotherapeutischen Selbstaufklärung zu literarisieren. Mit dem Nationalsozialismus als negativer Bezugsinstanz im Fokus leisten die Autoren der Väterliteratur nicht nur »einen Beitrag zur Aufhebung der erfahrenen Tabuisierung der nationalsozialistischen Ära«629, sondern stellen sich auch »der negativen Erblast und artikulieren sie«630. Um die thematische Bandbreite des Selbsterfahrungsschreibens aufzufächern, innerhalb dessen sich die nachträgliche Konfrontation mit den Vätern artikuliert, folgt zunächst ein bloß auf die zentralen Problemkonstellationen fixierter Kurzüberblick über die Texte, auf die im weiteren Verlauf des Kapitels wiederholt Bezug genommen wird. 1) Die Reise, das 1977 erschienene und Romanessay untertitelte Buch des 1971 mit 32 Jahren durch Selbstmord verstorbenen Bernward Vesper bildet den Prototyp, ja, wegen seiner Schonungslosigkeit gar avant la lettre das Paradigma jener 626 627 628 629 630

Thomä (2008), 241. Stierlin (1982), 63. Thomä (2008), 241. Mauelshagen (1995), 285. Mauelshagen (1995), 286.

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Reihe von Texten, die später unter dem Rubrum »Väterliteratur« als Auseinandersetzung schreibender Söhne und Töchter mit ihren (Nazi-)Vätern zusammengefasst werden sollten. In der Verbindung von erzählenden und reflexiven Elementen und als Versuch einer um existentielle Authentizität bemühten Selbsterkundung etabliert Vesper eine Art private und politische Bestandsaufnahme auf drei Erzählebenen. Die Schreibgegenwart wird mit zwei Vergangenheitsebenen verflochten, zum einen der Schilderung einer von dem Autor 1969 unternommenen Reise, die von Dubrovnik über München nach Tübingen führt, zum anderen (und in die physische Reise integriert) die Darstellung eines LSDTrips. Der Auslöser für Vespers Schreibprojekt ist »der Versuch, die Rolle des Vaters […] zu begreifen«631, des früheren Nazi-Dichters Will Vesper, der in der Nachkriegszeit auf einem Gutshof als Patriarch herrschte. Den Mittelpunkt von Vespers autobiographischer Niederschrift bildet eine nachgeholte Revolte gegen die Autorität des Vaters, an den er mit unauflösbarer Hassliebe gekettet scheint. 2) Der 1935 geborene Lyriker und Erzähler Christoph Meckel prägte mit seinem 1980 erschienenen Werk Suchbild eine Leitmetapher der Väterliteratur. Den Ausgangspunkt für die Vaterrecherche und zugleich die Motivation, dieselbe öffentlich zu machen, repräsentieren die dem Sohn bis dato unbekannten Kriegsaufzeichnungen des Vaters, des Lyrikers Eberhard Meckel: Ich hatte nicht die Absicht, mich mit meinem Vater zu beschäftigen. Über ihn zu schreiben, erschien mir nicht nötig. Der Fall, ein Privatfall, war abgeschlossen. […] Seit ich seine Kriegstagebücher las, kann ich den Fall nicht auf sich beruhen lassen; er ist nicht länger privat. Ich entdecke die Notizen eines Mannes, den ich nicht kannte.632

Im Rückblick auf den verstorbenen Vater erkennt Meckel die Unzulänglichkeit der intimen Sohnesperspektive und unternimmt es daher, die historisch-politische Dimension des väterlichen Denkens und Handelns nachzuzeichnen. Bei dem Versuch, ein festgefügtes Vaterbild zu entwickeln, verliert er freilich nicht die – gemessen an den Idealvorstellungen eines dokumentarischen Realismus – Relativität seiner schriftstellerischen Bemühungen aus dem Blick: Über einen Menschen schreiben bedeutet: das Tatsächliche seines Lebens zu vernichten um der Tatsächlichkeit einer Sprache willen. […] Was bleibt übrig vom lebendigen Menschen? Was wird von ihm sichtbar im Triebwerk der Sätze? Vielleicht eine Ahnung von seinem Charakter, die flüchtigen oder festen Konturen eines Suchbildes.633

Meckels Buch – und dies ist nicht sein geringstes Verdienst – betreibt nicht zuletzt Illusionszerstörung, indem es exemplarisch vorführt, dass jede Suche nach dem verlorenen Vater eine retrospektive und mediale Konstruktion darstellt. 631 Vesper (1983), 36. 632 Meckel (1980), 63 f. 633 Meckel (1980), 80.

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3) Der lange Schatten des toten Vaters, konkretisiert in der beharrlich die eigene Vorstellung berückenden Todesangst, nicht älter werden zu können als der mit 39 Jahren verstorbene Vater, gestaltet den Auftakt der 1980 publizierten Erzählung Abschied von einem Mörder des 1932 geborenen Günter Seuren634. Im ersten Kapitel Die Abschußprämie schildert Seuren den willfährigen Aufstieg seines Vaters vom einfachen Arbeiter zum mit Sondereinsätzen betrauten SS-Mitglied. Aus der kindlichen Perspektive erschien die Abwesenheit des Vaters als Versprechen auf eine erfüllte Zukunft: »Ich habe gehofft, eines Tages, wenn er zu den Gewinnern zählte, würde er ein guter Vater sein und alles Versäumte nachholen.«635 Doch der seit Ende des Krieges vermisste Vater kehrte nie wieder. Im zweiten Kapitel, überschrieben mit Die Überlebenden, berichtet der Erzähler davon, wie noch seine Gegenwart von den Idealen seines Vaters belastet wird: »Ich fürchte mich vor den Wünschen, die mein Vater hatte.«636 Über das Konzept historisch-genealogischer Verantwortungszuschreibung geht Seuren damit entschieden hinaus. Er markiert nicht nur die Verantwortung der Nachkommen für das belegbare Tun ihrer Väter, sondern legt eindringlich nahe, dass von den Vätern auch ein ideelles, wegen seiner schweren Fassbarkeit gerade oft umso problematischeres Erbe an die Nachkommen weitergegeben wird. 4) Erstmals 1978 veröffentlicht, beschreibt Paul Kersten (geb. 1943) in seiner Erzählung Der alltägliche Tod meines Vaters, wie erst der qualvolle väterliche Krebstod entscheidende Fragen aufkommen lässt: Je heftiger der Erinnerungsansturm wurde und je öfter mein Vater in meinen Träumen starb, desto quälender fragte ich mich, warum sein Tod mich nachträglich so sehr erschütterte. Zu Lebzeiten hatte es zwischen ihm und mir immer nur ein verkrampftes Distanzgefühl gegeben. Wir waren uns fremd geblieben. Neugierig, meinen Vater kennenzulernen, von dem ich außer ein paar Lebensdaten und Erinnerungen nichts besaß, wurde ich erst, als er tot war. Jetzt, wo er mir selbst nicht mehr antworten konnte, fing ich an, Fragen zu stellen.637

Der Sohn betrachtete seinen Vater stets als belanglose Mitläuferfigur, die dem Milieu beengender Kleinbürgerlichkeit nur dann entkam, wenn sie »Kriegserinnerungen anekdotisch zuspitzen und dramatisieren konnte«638. Kersten macht, ungeachtet der zuvor dominierenden Gemengelage aus unterschiedlichen Überzeugungen und emotionaler Indifferenz, deutlich, dass der Tod des Vaters für den Ich-Erzähler eine Zäsur darstellt: »Denn jetzt, Monate danach, machte mich die Erinnerung an sein Sterben anfällig für die Angst vor dem 634 635 636 637 638

Vgl. Seuren (1980), 11. Seuren (1980), 92. Seuren (1980), 148. Kersten (1978), 30. Kersten (1978), 72.

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eigenen Tod.«639 Wenn vom Vater auch nicht viel bleibt, so hinterlässt sein Ableben doch den existenziellen Appell, sich in das Sterben einzuüben. 5) Der 1945 geborene Sigfrid Gauch veröffentlichte 1978 mit Vaterspuren eine Erzählung, die sich als Rechenschaftsbericht eines Sohnes gestaltet, der die Phase vom Tod des Vaters bis zu dessen Beerdigung reflektiert. Erinnert wird die Karriere eines Mannes, der es vom Oberfeldarzt bis zum Reichsamtsleiter in der Reichsführung SS und Adjutanten Heinrich Himmlers bringt640 ; der nach 1945 beharrlich den Holocaust leugnet641 und seinen Sohn zu einem emotional-kognitiven Spagat verdammt: »den Vater als Person lieben und von seiner Persönlichkeit entsetzt zu sein«642. Der Text gewährt Aufschluss darüber, wie es dem Erzähler sukzessiv gelingt, sich von dem dominanten »Über-Ich«643 zu befreien. 6) Die kleine Figur meines Vaters lautet eine erstmals 1975 publizierte, 1987 überarbeitete und 2003 in aktualisierter Neuauflage erschienene Erzählung des Wiener Autors Peter Henisch (geb. 1943), die auf der Grundlage von einem »Dutzend von Tonbändern«644 geschrieben wurde; Material, das, wie der Prolog notiert, der Erzähler von seinem Vater in dessen letzten Lebensmonaten aufnahm. Porträtiert wird ein opportunistischer Kriegsberichterstatter, den die Nazi-Ästhetik fasziniert und für den der gesamte Zweite Weltkrieg nichts anderes darstellt als einen »riesige[n] Stoß von Bildern«645. Das reflektierende Aufschreiben der väterlichen Lebensgeschichte führt nun beim Erzähler dazu, einerseits den Vater in seiner Eigenart zu verstehen646, andererseits sich von ihm abzusetzen647. Ein Prozess, der so lange andauert, bis der Erzähler selbst Vater wird: »Jetzt, Papa, dachte ich, bin ich wirklich aus deiner Spur heraus, jetzt, Papa, könnte ich anfangen, MEINE Geschichte zu LEBEN.«648 7) »Für meine Kinder« lautet die Widmung des 1980 erschienenen Vatertextes Nachgetragene Liebe von Peter Härtling (geb. 1933). Geschildert wird eine vom frühen Tod des Vaters im Jahr 1945 stark betroffene Kindheit, in der das väterliche Schweigen eine nachhaltige Rolle spielt: »Du straftest nicht nur mit Schweigen, du zogst dich auch zurück. Ich bin nicht sicher, ob du dir im klaren warst, daß dieses Schweigen zur Mitgift wurde.«649 Der Text reflektiert über die Gründe für dieses Schweigen eines Mannes, der als Rechtsanwalt Opfer des Nazi639 640 641 642 643 644 645 646 647 648 649

Kersten (1978), 31. Vgl. Gauch (1982), 11. Vgl. Gauch (1982), 94 und 100. Gauch (1982), 129. Gauch (1982), 104. Henisch (1975), 5. Henisch (1975), 71. Vgl. Henisch (1975), 163. Vgl. Henisch (1975), 91. Henisch (1975), 186. Härtling (1980), 23.

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Regimes verteidigte. Dabei schlägt das Verständnis für den Vater am Ende gar in Liebe um: Ich fange an, dich zu lieben. Ich bin älter als du. Ich rede mit meinen Kindern, wie du nicht mit mir geredet hast, nicht reden konntest. Nun, da ich die Zeit verbrauche, die dir genommen wurde, lerne ich, dich zu verstehen. Kehrtest du zurück, Vater, wie der Mann aus dem Bergwerk von Falun, könntest du mein jüngerer Bruder sein.650

8) Brigitte Schwaiger (geb. 1949) lässt in Lange Abwesenheit (erstveröffentlicht 1980) eine Ich-Erzählerin von dem langsamen Dahinsiechen ihres Vaters im Krankenhaus berichten. Neben Rückblicken in die Kindheit, die den Vater als ordnungs- und pflichtversessenen Patriarchen zeigen, der seine Familie wie ein Offizier seine Truppe führt651, spielt die Liebesbeziehung zu einem älteren jüdischen Mann, einer Art ersehntem Ersatzvater, eine maßgebliche Rolle. Die IchErzählerin schwankt zwischen der Dämonisierung ihres Vaters als eines Tyrannen und seiner Erniedrigung als krankes »Männchen«652, ohne doch, wie sie sich auch selbst in der Gedankenfigur einer fatalen Doppelbindung eingesteht, von ihm wirklich loszukommen: »Ich habe ja nichts gegen meinen Vater, außer daß er mein Vater ist.«653 9) Eigenartigerweise finden sich in den Väterbüchern nur wenige explizite Bezugnahmen auf den politisch-kulturellen Klimawandel, der von der Studentenbewegung maßgeblich befördert wurde. In dem 1976 erschienenen Roman Mitteilung an den Adel von Elisabeth Plessen (geb. 1944) ist dies anders. Im Zentrum steht der Vater-Tochter-Konflikt zwischen der jungen Aristokratin Augusta, die sich als engagierte 68erin versteht, und dem Vater C.A., einem Hitler-Gegner, der gleichwohl nie ernsthaft politischen Widerstand erwog. Den Handlungsrahmen bildet eine Autofahrt von München nach Holstein, wo Augusta, nachdem sie telefonisch vom Tod des Vaters erfahren hat, an dessen Begräbnis teilnehmen möchte. Augusta, deren Erinnerungen an die frühe Nachkriegszeit den Hauptteil des Textes ausmachen, wirft ihrem Vater Feigheit und Phrasenhaftigkeit vor, wovon auch sein – nach dem Krieg verfasster – Rechenschaftsbericht Zeugnis ablege. Zwischen beiden befindet sich ein schier unüberwindbarer Graben, an dem auch der Tod des Vaters nichts ändert: »Ich habe dich oft tot gewünscht. Jetzt bist du tot, aber es erleichtert mich nicht. Ich war ja weggegangen. Als du mir ins Gesicht schriest, daß du mich erschießen werdest, bin ich weggegangen. Du brauchtest nicht zu sterben.«654 Und doch formuliert der Text den Schrei nach einer wirklichen Vaterbeziehung: »Ver650 651 652 653 654

Härtling (1980), 168 f. Vgl. Schwaiger (1982), 19. Schwaiger (1982), 64. Schwaiger (1982), 75. Plessen (1979), 119.

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dammtnocheins, C.A., ich pfeife auf deine Autorität, ich will endlich ein Verhältnis zu dir«655 – ohne dass diese Sehnsucht freilich erfüllt würde. 10) Der 1979 erschienene Roman Der Mann auf der Kanzel fällt insofern ein wenig aus der Reihe, als die 1922 geborene Ruth Rehmann erheblich älter ist als der Durchschnitt der Autoren von Väterbüchern. So nimmt der Text auch bei der Enkelgeneration seinen Ausgang, bei dem Sohn der Ich-Erzählerin, der durch seine Fragen und seine vorverurteilende Haltung an der Integrität des Großvaters zweifelt. Dadurch verunsichert, versucht die Erzählerin das »Familiengedächtnis«656 und vor allem die Haltung des Vaters als Pfarrer im Dritten Reich zu rekonstruieren. Das Streben der Erzählerin nach »Wahrheit«657 wird erschwert durch das nur unzureichend verständlich zu machende Versagen des Vaters gegenüber einem jüdischen Freund und einem zu Unrecht verurteilten Gewerkschaftssekretär. Er fiel seinem Hang zum Wegsehen und seiner unhinterfragten Staatstreue zum Opfer, lernte nie, politische Macht und überhaupt Autoritäten anzuzweifeln, versäumte das, was die Tochter sich zum Ziel gesetzt hat: durch gelebte Auseinandersetzung in der Familie eine demokratische Gesinnung zu etablieren.

Der Tod der Väter Mustert man die Väterliteratur, so scheint es gerade so, als wäre der Tod des Vaters oder zumindest sein Sterben die Voraussetzung für das Verfassen eines Vaterbuches.658 Das hat zum einen sicher mit der biologischen Tatsache zu tun, dass die Kriegskindergeneration zu Ende der 1970er Jahre vermehrt mit dem Tod ihrer Eltern konfrontiert war. Zum anderen setzt der Tod – ganz in Übereinstimmung mit der mnemotechnischen Urszene des Simonides von Keos659 – das Erinnern überhaupt erst in Gang.660

655 656 657 658

Plessen (1979), 38. Rehmann (1982), 18. Rehmann (1982), 199. Vgl. Kenkel (1993), 185. Vgl. zur Rolle des Todes in der Erzählliteratur der 1970er Jahre Steinert (1984). 659 Vgl. Yates (2001), 11. 660 Vgl. Assmann (1992), 61: »Wenn Erinnerungskultur vor allem Vergangenheitsbezug ist, und wenn Vergangenheit entsteht, wo eine Differenz zwischen Gestern und Heute bewußt wird, dann ist der Tod die Urerfahrung solcher Differenz und die an die Toten sich anknüpfende Erinnerung die Urform kultureller Erinnerung.«

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In vielen Fällen ist der Tod des Vaters Auslöser für das Verfassen des ›Vaterbuches‹, so daß es naheliegt, darin auch ein Mittel der psychischen Verarbeitung seines Todes zu sehen. Allerdings mußten die Väter aller Zeiten irgendwann einmal sterben. Warum also ruft ihr Tod gerade in den siebziger Jahren eine so gleichförmige literarische Reaktion der Kinder hervor?661

Dagmar Spooren wirft zu Anfang ihrer Studie über Autorinnen von Väterbüchern durchaus die literarhistorisch entscheidende Frage auf; dadurch aber, dass sie den Kurzschluss sucht zwischen soziologisch-demographischem Faktum und literarischer Entwicklung, entgeht ihr eine basale Dimension. Wer aus sozialhistorischer Perspektive Antworten für die direkte Verbindung von der geschichtlichen zur literarischen Konstellation sucht662, dem verschließt sich die darunter liegende Frage, warum der Tod des Vaters als für die Kinder überhaupt so eminente lebensgeschichtliche Zäsur begriffen wird, dass daraus reihenweise literarische Bewältigungsformen resultierten. Bevor man literarische Strömungen mit sozialhistorischen Ursachen zu erklären versucht, wäre also, da der Tod des Vaters nicht immer und überall ein so großes Verstörungspotential hinterlässt, zunächst die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit aus zivilisations- bzw. modernegeschichtlicher Perspektive zu stellen. So eindeutig der physiologische Befund des Todes für die Medizin sein mag, so vieldeutig bzw. deutungsabhängig ist sein symbolischer Gehalt. Dabei sind die Deutungsmuster historisch, sozial und interkulturell durchaus verschieden.663 Stellt man zum Zwecke des prägnanten Kontrastes das Todesbild indigener Völker dem des modernen Menschen gegenüber, so ergibt sich folgende Polarisierung. Während der Mensch indigener Gesellschaften, nachdem er auf seiner Initiationsreise symbolisch gestorben (dem Ahnenreich übergeben) und wiedergeboren wurde (dem Stamm zurückgegeben wurde), die Gruppe als Kontinuität von Lebenden und Toten und damit seinen Glücksanspruch als kollektive Unsterblichkeit erfüllt sieht, versucht der aufgeklärte, von religiösen Anschauungen nicht mehr ungebrochen überzeugte Mensch, seinen Lebenssinn hauptsächlich vor dem Tod zu erfahren. Die gesteigerte Individualisierung als Signum der Moderne hat ein höchst persönliches Sterben zur Folge, wogegen die 661 Spooren (2001), 7. 662 Vgl. Spooren (2001), 7: »Der Grund dürfte in der nach dem Zweiten Weltkrieg nur zögerlichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, in der Achtundsechziger-Revolte und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen sowie der Neuen Frauenbewegung und dem Abbau patriarchalischer Wertvorstellungen zu suchen sein.« 663 Vgl. AriÀs (2005). AriÀs unterscheidet vier verschiedene Deutungsmuster des Todes, die sich zwar in eine historische Abfolge bringen lassen, aber auch in Mischformen auftreten können. Die kollektive Zähmung des Todes in indigenen Gesellschaften, seine zunehmende Individualisierung ab dem 12. Jahrhundert in der mittelalterlichen Gesellschaft, die Verschiebung der ängstigenden Macht auf das andere Individuum im Bürgertum und die Ausbürgerung des Todes im Industriezeitalter.

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Einbettung in den Generationenzyklus als billiger Trost erscheint, ja als psychosoziale Täuschung entlarvt wird. Während indigene Völker also den Tod kollektiv und in Form von Ritualen des Gabentauschs gezähmt haben, wirken die (ihrerseits magische Praktiken adaptierenden) Todesrituale der christlichen Religionen in der bürgerlichen Gesellschaft zunehmend als archaische Fremdkörper, die ihre Funktionen der Sinnstiftung und der sozialen Kohäsion nur noch rudimentär leisten können. Die bürgerliche Zivilisationsgeschichte hat einer Subjektformation zum Erfolg verholfen, die die Reziprozität des Gabentauschs denunziert und ein Höchstmaß an Individualität sowie die größtmögliche Besitzakkumulation affirmiert. Angesichts des unausweichlichen Lebensendes freilich erweist sich die Fokussierung auf individuelle Bedürfnisse und Befriedigungsfähigkeit als fatal: Vor dem Tod steht das transzendenzfreie bürgerliche Subjekt nackt da. Zivilisationsgeschichtlich betrachtet ist das Aufgehen der Transzendenz in der Immanenz ein »Nebeneffekt des für die abendländische Moderne charakteristischen zwanghaften Anthropozentrismus. Um einen Gegensatz herzustellen, mit dessen Hilfe sich das menschliche Dasein definieren – und gestalten – ließe, ist nichts mehr übrig außer dem Tod.«664 Aus diesem Grund steht der Tod »für eine paradoxe Gleichzeitigkeit, die vielleicht zwischen Immanenz und Transzendenz besteht; und je weniger die Immanenz von der Transzendenz getrennt wird, desto mehr Gedanken und Worte widmen die Menschen dem Tod«665. Wenn eine bis dato grundsätzlich als ›wirklich‹ vorgestellte Sphäre der Transzendenz entwertet wird oder gar verschwindet, avanciert der Tod zum Gegenteil des Lebens. Nimmt man diese profilierte Rolle zusammen mit dem, was Heidegger die »Jemeinigkeit«666 des Todes nennt, also seine ausschließlich individuelle Zurechenbarkeit, seine Nichtrepräsentierbarkeit, so antizipiert der Tod eines Elternteils – aufgrund der ursächlichen Verantwortung für die Existenz eines bzw. mehrerer Menschenleben(s) – nicht nur die Sterblichkeit von dessen Kind(ern), sondern macht auch die Sinnfrage unabweisbar.667 Der Tod von anderen bringt die Historizität des Daseins zu Bewusstsein und macht einen selbst zum Nachkommen; zu einem Nachkommen, an dessen eigenem Tod sich dann diejenigen, die nach einem kommen werden, ihrerseits ihrer Gegenwart versichern werden. Gegen die durch den Tod evozierte Diskontinuitätserfahrung werden in der bürgerlichen Gesellschaft, sieht man einmal von der Religion – die in den Väterbüchern auf Seiten der Nachkommen keine Rolle spielt – und ihren säkula664 665 666 667

Gumbrecht (2001), 415. Gumbrecht (2001), 414. Heidegger (1986), 240. Vgl. Harrison (2006), 143, der betont, dass wir gerade durch den Tod der uns nahestehenden Menschen lernen, »daß wir sterben werden oder auch nur sterben können«.

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risierten Substituten ab, üblicherweise zwei Formen des Kontinuitätsstrebens aufgebracht: Werke und Nachkommen. Betrachtet man dabei die Aufgabe der Nachkommen, so wird ihnen mit dem Tod des Vaters die Frage aufgebürdet, ob sie sich als emphatische, die Hinterlassenschaften des Toten bereitwillig in das eigene Leben integrierende Erben begreifen möchten. Auf diese Weise wird ein Selbstverständigungsprozess angestoßen, der die kritische Durchmusterung des gerade abgeschlossenen väterlichen Lebenslaufs zum Ausgangspunkt hat. Dies umso mehr, als es ab den 1970er Jahren üblich wurde, die Familie als Kernfamilie – sprich als Kleingruppe, in der die Eltern mit ihren Kindern zusammenleben – über ihre Sozialisationsfunktion zu definieren.668 Kommt doch in der bürgerlichen Gesellschaft traditionell dem Vater die Rolle zu, für gesellschaftliche Orientierung zu sorgen und den Austausch zwischen privater, familiärer und öffentlicher, extrafamiliärer Sphäre zu regeln. Umgekehrt sind es diese Funktionen, die ihm die Autorität und den Respekt der anderen Familienmitglieder sichern. An diesem Punkt wird die Verklammerung akut, die zwischen dem Tod des Vaters, seiner Lebensleistung und seinem möglichen Nachleben in den Kindern besteht. Das Ableben des Vaters verpflichtet die Nachkommen zu einer kritischen Prüfung, ob etwas von ihm bleibt und ob ihm womöglich eine positive oder negative Vorbildfunktion für das eigene Leben zuzusprechen ist. Dies fordert eine selbstbezügliche Erinnerungsarbeit heraus, die mit der Schwierigkeit kämpft, einerseits den Tod zu betrauern, also den objektiven Ausschluss (Tod) in einen subjektiven Einschluss (Gedenken) zu überführen, andererseits die unaufgelöste Abhängigkeit, die bislang verhinderte, eine Auseinandersetzung mit dem Vater zu führen, in die Erkenntnis aufzulösen, wie viele Vateranteile in einem selbst weiterleben (auf einer Skala, die vom Stellvertreter bis zum Antagonisten reicht). In dieser Perspektive fungiert die Väterliteratur als Produkt literarischer Selbstaufklärung, mit der Angehörige der Kriegskindergeneration auf die vom Tod des Vaters aufgeworfene Sinnfrage reagieren. So beschreibt Peter Henisch den Tod des Vaters als eine existentielle Erschütterung, die auch keine noch so lange Vorbereitung abmildern könne: Sein Tod war mir durch die ganzen anderthalb Jahre, während der ich an diesem Buch geschrieben habe, GEGENWÄRTIG, ja bis zu einem gewissen Grad habe ich beim Schreiben dieses Buches mit seinem Tod spekuliert. Aber als er wirklich tot war, und der Jugoslawe vom Nebenbett aufstand, langsam herankam und leise fragte: KAPUTT? Da hatte alles eine andere Dimension.669

668 Vgl. Sieder (1998), 228. 669 Henisch (1975), 5.

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Und Paul Kersten notiert, inwiefern im Tod des Vaters die eigene Sterblichkeit gespiegelt wird: »Denn jetzt, Monate danach, machte mich die Erinnerung an sein Sterben anfällig für die Angst vor dem eigenen Tod.«670 Der Tod bzw. der sich durch eine schwere Krankheit abzeichnende Tod des Vaters figuriert gleichsam als die notwendige Bedingung für eine Bilanzierung des Vater-Sohn- bzw. Vater-Tochter-Verhältnisses. Erst konkrete Ausprägungen der Schreibmotivation aber mögen den Weg von der selbstbezüglichen Erinnerungsarbeit zur literarischen Auseinandersetzung mit den Vätern zu ebnen. Ein Motiv ist in dem Abfall der Gefühlsspannungen zu suchen, die aus der Auflösung der negativen Fixiertheit auf den Vater resultiert. Galt die Aufmerksamkeit zuvor den beharrlichen Kommunikationsschwierigkeiten und Distanzierungsmaßnahmen, so tritt nach dem Tod des Vaters eine Gefühlsdiffusion bzw. ein -vakuum ein. Stellt sich so eine Trauer um die Unwiderrufbarkeit der negativen Vatererfahrung ein, kann leicht auch eine Ahnung oder eine Sehnsucht aufkommen, wie es anders hätte sein können.671 Nicht zuletzt das Gewahrwerden, dass es einem selbst noch bevorsteht, vergangen zu sein, könnte dazu motivieren, dem Vater das ungesagt Gebliebene und die ausgesparten Gefühle nachzutragen. Hier eröffnet der zwar autobiographische, aber an der Publikation orientierte Schreibprozess eine Äußerungsform, die an der Schnittstelle zwischen der privaten (reflexive Selbstverständigung) und historisch-politischen Dimension (Kollektivierung der Verlusterfahrung) angesiedelt ist.672 Als »Zeitzeugen zweiter Ordnung, die die traumatischen Wirkungen des Weltkriegs und des Holocaust an ihren stummen Vätern wahrnehmen«673, machen die Kinder die private Angelegenheit der Familiengeschichte zu einer öffentlichen Sache und schreiben deutsche Geschichte im Medium der Familienkommunikation.

Das Schweigen der Väter Das Schweigen der heimgekehrten Kriegsteilnehmer ist zu einem zentralen Topos der kollektiven Erinnerung geworden, der in keiner Aufzählung deutscher Verdrängungsstrategien fehlen darf.674 Zweifellos stellte der Krieg einen Gene670 Kersten (1980), 31. 671 Vgl. Mauelshagen (1995), 130. 672 Dies zumal, wenn sozial akzeptierte und eingeübte Formen der kollektiven Todesbewältigung und Trauer nicht mehr oder nur als Vollzug sinnentleerter bürgerlicher Formen (wie der Leichenschmaus) oder oberflächlicher religiöser Formen (wie die Beerdigung) existieren. 673 Assmann (2010), 214. 674 Vgl. Assmann (2006a), 176 – 179.

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rationszusammenhang dar, der nach der Kapitulation nur noch schwer öffentlich zu vermitteln war. Auch bildete die Wehrmacht eine Generationseinheit aus, die nach 1945 in ihren ideologischen Zielen wie auch in der Anwendung ihrer Mittel gründlich diskreditiert war.675 Dies freilich ändert nichts an der Tatsache, dass zu einer intergenerationellen Sprachlosigkeit immer zwei Parteien gehören: Im vorliegenden Fall Kriegsteilnehmer, die ihre Erlebnisse nicht mitteilen wollen, und deren Kinder, denen es nicht gelingt, das Schweigen, ungeachtet der Reaktion der anderen Seite, zu durchbrechen.676 So verwundert es schon, dass man den Kriegsteilnehmern einerseits eine flächendeckende Verstocktheit attestierte, andererseits – bis Hermann Lübbe 1983 mit seiner These von der sozialpsychologischen und politischen Notwendigkeit des Schweigens für Wirbel sorgte – eigentlich nie wirklich ernsthaft die Motive für ihr Schweigen zu ergründen suchte. Diese Einseitigkeit prägt auch die Väterliteratur.677 »Ein ›Gespräch‹ oder eine ›Aussprache‹ zwischen ihm und mir«, heißt es bei Paul Kersten lapidar, gab es nie. […] Ich wußte nicht einmal, ob es Verbitterung, Müdigkeit, Erschöpfung, Haß, Enttäuschung oder Selbstekel war, was ihn in einem Dauerzustand verkrampften Schweigens verharren ließen. Wenn er nach meinem Studium oder später nach meiner Arbeit in der Redaktion fragte, tat er das ängstlich, zurückhaltend, als koste es ihn Überwindung.678

Spätestens dem erwachsenen Sohn könnte man freilich ein reziprokes Empathie-Defizit zuschreiben, wäre es doch auch an ihm gewesen, das Eis zwischen den Generationen zu brechen. Christoph Meckels Erzähler bemüht sich immerhin – und damit stellt er, soweit ich sehe, innerhalb der Väterliteratur eine Ausnahme dar – ernsthaft um Auskünfte über die Vergangenheit seines Vaters: »Ich habe meinen Vater oft gefragt, was die Dreißiger Jahre für ihn waren und wie er lebte, vor allem: was er und seine Freunde dachten, und keine besonders 675 Vgl. Albrecht (1999), 503. 676 Vgl. Bar-on (1993), 279: »Diese Situation ist, so meine ich, nicht einseitig durch das Schweigen der Eltern geprägt, sondern durch eine Wechselwirkung, das Phänomen einer ›doppelten Mauer‹: Die Eltern haben eine Mauer um ihre Gefühle zu den Greueltaten gebaut, die sie miterlebt oder begangen haben, und die Kinder haben als Reaktion darauf ihre eigene schützende Mauer errichtet. Wenn man auf der einen Seite versucht, sich zu öffnen, begegnet man der Mauer auf der anderen Seite.« Vgl. ähnlich Westernhagen (1991), 183: »Wir beklagen das Schweigen und die Sprachlosigkeit, die zwischen den Generationen herrschen, wenn es um die Vergangenheit der Eltern geht. Aber als die Leiterin meiner Gruppe uns bat, uns vorzustellen, die Eltern wären jetzt anwesend und bereit zu antworten, da wußten wir nicht, welche Fragen wir eigentlich stellen sollten.« 677 Vgl. allgemein zum Phänomen des Schweigens in der Dichtung Lorenz (1989), speziell zum wechselseitig bedingten Schweigen in der Väterliteratur Moser (1985), 50; Kenkel (1993), 184 – 186. 678 Kersten (1978), 36 f.

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erhellende Antwort bekommen.«679 Zurück blieb »der Wunsch nach Gesprächen, die nicht geführt wurden«680. Warum es bei dem frommen Wunsch blieb, darüber reflektiert aber auch Meckels Erzähler nicht. Es wäre verkürzt, das Schweigen als exklusives Merkmal von Täter-Vätern zu begreifen, die ihr moralisches Versagen vor der Familie zu verbergen versuchen; vielmehr ist es Signum einer patriarchalischen Gesellschaft schlechthin. Verschlossenheit, mangelnde Dialogfähigkeit und autoritäre Unnahbarkeit lassen sich auch in solchen Vaterbüchern finden, deren Protagonisten keine NS-Täterbiographie aufweisen. Peter Härtling beispielsweise erzählt von den erheblichen transgenerationellen Belastungen des väterlichen Schweigens: »Wenn ich heute allein mit meinen Ängsten streite, indem ich mit mir selber rede, höre ich nichts als meine Stimme und oft dein Schweigen.«681 Obgleich die mangelnde Kommunikation zwischen Vätern und Kindern zu einem gewissen Teil auf das Konto eines bestimmten Autoritätsmusters geht, so gilt doch insbesondere für die Täter-Väter, dass ihr Schweigen als Schuldverheimlichung gewertet wurde. Sich auf eine womöglich kontroverse Diskussion gar nicht erst einzulassen, hält Sigfrid Gauchs Erzähler für symptomatisch: »als ich jünger war, hielt er [der Vater; M. O.] mir lange Monologe; später, als er sah, daß ich anders dachte, verstummte er«682. Gauchs Erzählung enthält freilich auch eine Stelle, an der deutlich wird, dass der Vater im Nachkriegsdeutschland nicht nur seiner Familie, sondern auch seinen »Bekannten« beim »Nachmittagskaffee« wenig zu sagen hat: »Du hast dich bemüht, aber nach einigen Sätzen wußtest du nichts mehr und alle verfielen in Schweigen.«683 Der Kriegsteilnehmergeneration eignete in der BRD, folgt man Stellen wie dieser, nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch in der privaten Kommunikation überhaupt eine starke Tendenz zum Verstummen.

Unwissen über das Tun der Väter im Dritten Reich So sehr die Autoren die schriftlichen Versuche der selbstreflexiven Konzeptualisierungen des Vater-Kind-Verhältnisses als postume Kompensation des innerfamiliären Schweigediktats ausstellen mögen, so deutlich rückt das Dritte Reich als der historische Abgrund zwischen den Generationen in den Blickpunkt. Dabei ist es nicht so sehr die durch die unterschiedliche Generationszugehörigkeit erzeugte Erfahrungsdiskrepanz, die bei der Kriegskindergene679 680 681 682 683

Meckel (1980), 28. Meckel (1980), 131. Härtling (1980), 23. Gauch (1982), 83. Gauch (1982), 135.

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ration den psychischen Druck aufbaut, sondern vielmehr die Ungewissheit über das Tun ihrer Eltern und besonders ihrer Väter zwischen den Jahren 1933 – 1945. Nach deren Ableben wird für die Nachkommen eine Wissenslücke akut, die sie zu füllen versuchen, indem sie dem (zumeist dunklen) Erbe der Väter-Generation nachspüren. In dieser Konstellation bekommen die Väter etwas »Zombiehaftes: Sie sind zu Lebzeiten als Anwesende abwesend und nach ihrem Tode als Abwesende anwesend.«684 In Analogie zu Nicolas Abrahams Hamlet-Lektüre steht dabei als »psychodynamischer Kern dieser zweiten Generation«685 der menetekelartige Verdacht im Raum, ein mörderisches Erbe der Phantom-Väter in sich zu tragen.686 Stellt man die beiden Generationen in der von Karl Mannheim geprägten Terminologie (»Generationszusammenhang« als die herausragenden Ereignisse, durch die eine Generation ein ähnliches Schicksal hat; »Generationseinheit« als eigene Lebensform oder Habitus einer Generation) idealtypisch gegenüber, so firmiert bei den Jahrgängen zwischen 1900 und 1925, die im Zweiten Weltkrieg den Hauptteil der Soldaten stellten, der Krieg als einschneidender Generationszusammenhang und die Wehrmacht als außerordentliche Generationseinheit. Die Generation der Kriegskinder dagegen, also die zwischen 1930 und 1945 Geborenen, erlebten den Nationalsozialismus nur als (Klein-)Kinder und wurden nicht mehr mit Lebensentscheidungen konfrontiert, die später eine Auseinandersetzung mit dem individuellen Schuldbewusstsein unausweilich machte. Im Zentrum der zeithistorisch und biographisch bedingten Erfahrungen, die die Generation der Kriegskinder formte, stand stattdessen die Aufgabe, ein kollektives Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln, »weil es um die Schuld anderer ging, für die man sich aus unterschiedlichen Gründen verantwortlich fühlte, sei das nun der Vater, der Onkel, die Familie, die Stadt oder die Nation«687. Ausschlaggebend für die Kriegskinder, die abgesehen von diffusen Ängsten und Bedrohungsgefühlen in der Regel keine eigenen Erinnerungen an den Krieg haben, wird, dass diese »als erste ihren Generationszusammenhang in einem politischen Ereignis aus der Geschichte der Bundesrepublik gefunden hat«688, nämlich in den Studentenprotesten von 1968. Relativ gering ist der historische Erkenntniswert, wenn man bei der bloßen Gegenüberstellung der Generationen verbleibt; dies freilich ändert sich, wenn 684 Assmann (2010), 202. 685 Schmidt (2004), 64. 686 Vgl. Blasberg (1998), 22: »Dadurch, daß die Generationenkette durch dieses gemeinsame Schweigen geknüpft war, lebten die Nachgeborenen […] in permanenter Angst vor den eigenen Aggressionen, im Bann eines Erbes, durch das sie, die doch Opfer waren, der Vorstellung nach für die Rolle von Tätern disponiert wurden.« 687 Albrecht (1999), 505. 688 Albrecht (1999), 505.

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man den Holocaust als Generationsobjekt in diachronischer Dimension betrachtet, also eine generationengeschichtliche Perspektive einführt, »die einzelne Generationen als Konfigurationen der Erbschaft und Weitergabe auffasst, die mit bestimmten, nicht immer bewußten Aufträgen versehen sind«689. Erst durch die sozialpsychologische Verklammerung der Generationen wird deutlich, dass ungeachtet ihres je eigenen Zuschnitts Generationen gleichwohl unauflösbar mit dem verbunden bleiben, wovon sie sich in der Regel intentional loszusagen versuchen. Während erste Generationen, generalisierend gesprochen, von der nachhaltigen Wirkungsmacht des Selbsterlebten und – je nach Qualität des geschichtlichen Einschnitts – dem daran geknüpften Selbstbewusstsein bzw. Selbstzweifel eingenommen sind, leiden zweite Generationen unter der Abhängigkeit von der ersten und dem kollektiven Gefühl einer Inauthentizität des eigenen Erlebens. Zweite Generationen pflegen sich im Schatten historischer Zäsuren zu bilden, was ihnen, um der Selbsterhaltung willen, die schwierige Doppelrolle auferlegt, zugleich als Bewahrer des Ereignisses und als historisch Urteilende: als Ankläger oder Verteidiger der historischen Akteure aufzutreten, die sie beerben. Zur Konstitutionslogik zweiter Generationen gehört unweigerlich diese Ambivalenzproblematik, die zu einem zentralen Fokus psychoanalytischer Generationengeschichte wird.690

Die Aufgabe, vor der jede Generation steht, nämlich zwischen dem fremden Übernommenen und dem Eigenen zu vermitteln, geriet für die Kriegskindergeneration aufgrund der Übermacht des Nationalsozialismus zu einem langwierigen Emanzipationsprozess. Eine eigentliche Generationsidentität, die sich in der Regel im Alter zwischen 20 und 30 Jahren einstellt, bildete sich erst im Laufe der 1960er Jahre aus, als die Studentenbewegung den Holocaust zum zentralen historischen und psychologischen Generationsobjekt machte. Aus dem Glauben, dass der Faschismus in den maßgeblichen Institutionen und Personen der BRD weiterlebe, weshalb die Demokratie als stets gefährdet betrachtet wurde, resultierte eine ausgeprägte Wiederholungsangst als grundierendes Gefühl jener Generation, die die Wiederkehr des Verdrängten mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Nur in diesem Kontext wird auch die Überblendung der familiären Nahperspektive durch den internalisierten historisch-gesellschaftlichen Auftrag verständlich. Der persönlich angestrebte Bruch mit den Eltern und ihrer Lebensform geht nahtlos über in den politisch erwünschten Bruch mit der faschistischen Vergangenheit Deutschlands, wodurch der Kampf gegen die Ursachen des Faschismus in die Ge-

689 Schneider (2004), 57. 690 Schneider (2004), 58.

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genwart übertragen und zur gesellschaftspolitischen, ja welthistorischen Aufgabe einer Generation überhöht werden kann.691

Es war vor allem die Frankfurter Schule, die Antworten darauf versprach, wie es zum Nationalsozialismus und zu Auschwitz hatte kommen können, und die die Vergangenheitsbewältigung ins Zentrum ihrer gesellschaftspolitischen Gegenwartsdeutung rückte.692 Während einer Phase des Kriegs und des Zivilisationsbruchs geboren, versuchte die 68er-Generation den Schrecken ihrer Herkunft in Gestalt einer nachholenden Bearbeitung als gesellschaftlichen Auftrag zu bannen. Bereits 1959 hatte Adorno in seinem Aufsatz Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit die beiden Sphären in Form eines Handlungsimperativs enggeführt: Vor allem muß Aufklärung über das Geschehene einem Vergessen entgegenarbeiten, das nur allzu leicht mit der Rechtfertigung des Vergessenen sich zusammenfindet; etwa durch Eltern, die von ihren Kindern die peinliche Frage nach dem Hitler hören müssen, und die daraufhin, schon um sich selbst weißzuwaschen, von den guten Seiten reden und davon, daß es eigentlich gar nicht so schlimm gewesen sei.693

Adornos Diktum impliziert mithin, dass eine ernsthafte Distanzierung von den Eltern, ihrer Generation und Lebenswelt eigentlich erst auf der Grundlage eines hinreichenden Einblicks in die elterlichen Verstrickungen in den Nationalsozialismus vollzogen werden kann. Zu einer Zeit, als die Studentenbewegung ihre Hochphase bereits hinter sich hatte, gestaltete sich dieser Einblick in der Väterliteratur wie folgt: Unmissverständlich, ja plakativ, verweist Günter Seuren bereits in dem Titel seiner Erzählung Abschied von einem Mörder auf die Untaten seines Vaters. Als der Sohn den an der Ostfront in Tilsit stationierten SS-Mann fragte, was er denn dort mache und wie es ihm ergehe, bekam er einen Brief mit der Antwort: Wir haben hier eine Aufgabe zu erfüllen, die sich von allen anderen unterscheidet. Das kann man nicht lernen, das muß man eines Tages tun, weil es nicht auf unseren kleinen Willen ankommt. Man muß einen Halt haben, wenn man das macht. Es ist ja etwas anderes, auf die Schießscheibe abzudrücken oder auf einen Menschen zu schießen. Der steht ja nicht allein da, der Jude, das sind Tausende, Hunderttausende, die uns für dumm gehalten haben. Darin ist der Jude ein Meister. Falsches Mitleid können wir uns jetzt nicht leisten. Wir haben ein neues Leben angefangen, und das teilen wir nicht mit denen, die bis zuletzt hoffen, daß sie nach ein paar mageren Jahren wieder oben sind. […] Das lernt man nicht, dastehen und abdrücken, da wird man hingestellt. […] Es ist kein Glück, daß wir an der richtigen Stelle stehen. Wir haben sie uns erkämpft.694 691 692 693 694

Albrecht (1999), 527. Vgl. etwa Rutschky (1980), 71 – 97; Albrecht (1999), 519 – 529. Adorno (1977), 568. Seuren (1980), 73.

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Unverblümt – und inhaltlich wie im Duktus an Himmlers berüchtigte Posener Rede anschließend695 – wird hier der Massenmord als geschichtlicher Auftrag legitimiert, für den man auserwählt wurde und viele Opfer brachte. Moralische Skrupel, an Erschießungen beteiligt zu sein, werden als Verrat an der großen Sache gebrandmarkt, für die man individuelle Rücksichten hintanstellen müsse (»unser kleiner Wille«). Wenn sich ein rassistischer Sozialdarwinismus mit einem Welterlösungspathos zu einem Völkermord verbindet, ist es für einen Sohn, dessen Vater einerseits von dieser kruden Ideologie überzeugt war, andererseits nie aus dem Krieg zurückgekehrt ist, nicht allzu schwer, sich zu emanzipieren und den Vater mit einer deutlichen Geste der Absetzung aus dem eigenen Leben zu verbannen. Doch liegen die Dinge in der Väterliteratur in der Regel nicht so einfach wie bei Seurens Ich-Erzähler. Zwar verfügt auch Christoph Meckels Erzähler mit einer Reihe von Tagebuchnotizen über Kriegsaufzeichnungen seines Vaters, diese aber sprechen nicht die Sprache eines ideologisch befeuerten Tatendrangs, sondern die einer geistesaristokratischen Reserve gegenüber nackter Gewalt. Als im Januar 1944 eine Frau im Zug »vom KZ in Auschwitz usw.« erzählt, wird dies in die Distanz von Geschehenszusammenhängen gerückt, denen man selbst nicht zugehört: Als Soldat ist man doch so fern all dieser Dinge, die einen im Grunde auch gar nicht interessieren; man steht für ein ganz anderes Deutschland draußen und will später im Kriege sich nicht bereichert haben, sondern ein sauberes Empfinden besitzen. Ich habe nur Verachtung für diesen zivilen Unrat.696

Drei Tage später, als er zufällig Zeuge einer öffentlichen »Erschießung von 28 Polen« wird, erscheint ihm das Ergebnis als ein »wüster Leichenhaufen, in allem Schauerlichen und Unschönen jedoch ein Anblick, der mich äußerst kalt läßt«.697 Die Panzerung des väterlichen Innenlebens erklärt sich der Sohn als Reaktion auf ein vermeintlich unabwendbares weltgeschichtliches Schicksalsgeschehen: »Er war vermutlich kein Antisemit, aber er sah die Beseitigung der Juden als Schicksal, Tragödie und für den einzelnen furchtbar, im ganzen aber als unabänderlich an. Er sah den erschossenen Feind ohne jedes Interesse. Der geschlachtete Partisan ließ ihn friedlich träumen.«698 Was Meckels Suchbild über die Schilderung von gängigen Schuldabwehrstrategien wie bloße Pflichterfüllung, Befehlsgehorsam und Machtlosigkeit an der Verhinderung von Gräueln hinaushebt, ist, dass sein Vaterbuch den ideellen Motiven der moralischen Selbstimmunisierung nachgeht. So kreidet der Vater 695 Vgl. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (1948), 145 f. (Abschnitt »Judenevakuierung«). 696 Meckel (1980), 62. 697 Meckel (1980), 62 f. 698 Meckel (1980), 73.

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im April 1945 der nationalsozialistischen Führung an, nie auf die »Intelligenz […] gehört« zu haben, um sich kurz nach Kriegsende wieder auf das Leben innerhalb seines eigenen geistigen Koordinatensystems zurückzuziehen: »Viel gelesen, vor allem Hölderlin: Hyperion, dessen Sprache mich mit Gewalt ergriff. Goethe, Hölderlin, Stifter, das sind doch wohl die Begrenzungen meiner Welt.«699 Ein abstrakter Idealismus, der sich von den Niederungen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Gewaltgeschichte dispensiert, gerät so, das demonstriert Meckels Buch exemplarisch, nicht nur zum Erfüllungsgehilfen von Krieg und Völkermord, sondern dient auch noch im Nachkriegsdeutschland zur Selbstentlastung und wohlfeilen Vergangenheitsbewältigung: »Es gilt wieder Liebe und Ehrfurcht zu schaffen, europäische Werte zu erhalten.«700 Im Verlauf eines ausgedehnten Erkenntnisprozesses muss Meckels Erzähler akzeptieren lernen, dass sein Vater im Umgang mit den Familienmitgliedern genau dieselben abstrakt-humanistischen Werte zu Maßstäben macht wie als Staatsbürger. Der väterliche Mangel an Empathie und die Unfähigkeit, persönliche Nahverhältnisse mit gelebten Gefühlen auszufüllen – »es fehlte das grenzenlose Verzeihen und also die Liebe«701 –, bildet die Ursache für das politische wie familiäre Versagen und für den – ähnlich abstrakten – Wunsch des Sohnes, die Beziehung zu seinem Vater ungeschehen zu machen: »Die Vaterlosigkeit fehlte, sie fehlte und fehlte.«702 Die Texte von Meckel und Seuren sind insofern untypisch für die Väterliteratur, als sie in Form von authentischen Dokumenten (Tagebuchaufzeichnungen, Frontbriefe) aus einem vergleichsweise zuverlässigen Wissensfundus über das Tun oder eben Nicht-Tun ihrer Väter im Nationalsozialismus schöpfen können. Weit weniger gilt das für die anderen Vatertexte, zu deren charakteristischen Merkmalen es gehört, dass sie sich den Vätern mittels Kolportage oder Spekulationen über etwaige NS-Verstrickungen nähern. So kennt Gauchs IchErzähler zwar die verschiedenen Funktionen, die sein Vater während des Dritten Reichs innehatte (»den Oberfeldarzt außer Diensten, den Reichsamtsleiter in der Reichsführung SS, den Adjutanten Heinrich Himmlers, den Verfasser von ›Neue Grundlagen der Rassenforschung‹, den im Eichmann-Prozeß vom Hauptankläger als Schreibtischmörder Bezeichneten«703), über dessen konkrete Tätigkeiten weiß er allerdings nichts. Daher ist er auf Fremdaussagen angewiesen, die in ihrer offensichtlichen Neigung zur Hyperbolisierung weniger zur Aufklärung als vielmehr zur Verklärung beitragen: »Du seist ein alter Stromer, ein Schreibtischtäter, der Millionen von Juden auf dem Gewissen hat, hat jemand 699 700 701 702 703

Meckel (1980), 85. Meckel (1980), 86. Meckel (1980), 145. Meckel (1980), 147. Gauch (1982), 11.

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gesagt. Du solltest heute bloß nicht so unschuldig tun, du wüßtest genau, was du verbrochen habest.«704 Paul Kerstens Ich-Erzähler dagegen muss sich in vielen Punkten auf die – nachträglichen! – Selbstaussagen seines Vaters verlassen: »Freiwillig meldete er sich zur Wehrmacht, zu einem Pionier-Bataillon in der Garnisonsstadt. ›Doch in die NSDAP bin ich nie eingetreten. Die haben mich sogar mal tagelang eingesperrt, weil ich das Maul nicht halten konnte und auf der Straße oder in der Stammkneipe der Pioniere den Heil Hitler-Gruß nicht erwidern wollte.‹«705 Freilich lässt sich aufgrund des selbstdekuvrierenden Charakters von dessen Selbststilisierungen, rassistischen Ressentiments (»›Juden‹, erklärte er mir, ›haben Hakennasen und heißen meistens Cohn und Sternheim. Daran kann man sie erkennen.‹ So wie man Schwule auch manchmal schon am Namen erkennen könne. ›Wer Detlev heißt‹, sagte mein Vater, ›ist entweder schwul oder katholisch.‹«706) und kolportiertem Arkanwissen über Kriegsverbrechen der Alliierten (»›Hier‹, sagte er, ›liegen nur 14 – 16jährige Jungen. Denen hat man Waffen in die Hand gedrückt und sie vor die Stadt geschickt. Abends, als die Amis fort waren, hat man sie dann gefunden. Alle mit Genickschuß. Über 300 waren es.«707) hinreichend auf die zugrundeliegende ideologische Infrastruktur rückschließen. Auch Elisabeth Plessens Protagonistin kann nicht auf authentische Zeugnisse über das Verhalten ihres Vaters während des Russlandfeldzugs zurückgreifen708, sondern nur auf die tagebuchartigen Aufzeichnungen, die der Vater eineinhalb Jahre nach Kriegsende zu seiner Selbstverständigung verfasste. Sein Versuch, sich Rechenschaft ablegend moralisch für die Zukunft zu wappnen, gelingt jedoch nur unzureichend. Zwar wiederholt er des Öfteren: »Ich hasse Hitler, hasse die Nazis«709, aber »warum etwas geschehen war, und warum er etwas – auch falsch – gemacht hatte, fragte er nicht, während er eine Seite nach der anderen beschrieb«710. Das Buch wird aufgegeben, und auch die Tochter, die sich just davon eine umfassende Aufklärung versprochen hatte, zieht ein unbefriedigendes Fazit: »Augusta mußte zugeben, dass er zuerst das Buch vergaß und danach erst, was er hatte sagen wollen.«711 Gegen welche Phänomenbereiche der NS-Realität sich ihr Vater aufgrund

704 705 706 707 708 709 710 711

Gauch (1982), 43 f. Kersten (1978), 74 f. Kersten (1978), 66. Kersten (1978), 64. Vgl. Plessen (1979), 134. Plessen (1979), 62. Plessen (1979), 62. Plessen (1979), 64.

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seiner selbstgewählten Scheuklappen schlichtweg abschottete, rekonstruiert Ruth Rehmanns Erzählerin: ›KZ!‹ sagte er wegwerfend. ›Sind Sie auch diesen Latrinenparolen zum Opfer gefallen, die aus der gleichen Hexenküche kommen, in der die Lüge über deutsche Verbrechen beim Einmarsch in Belgien gebraut wurden? Diese Leute hören nicht auf, unser armes Vaterland mit Schmutz zu bewerfen. Ehe ich nicht mit eigenen Augen eines dieser – wie haben Sie es genannt? – KZs gesehen habe, glaube ich kein Wort davon.‹712

In einem Fall immerhin kann die Tochter dem Vater nachweisen, dass er als Zeuge eines Verbrechens bewusst geschwiegen hatte, worauf ein unschuldiger Gewerkschaftsaktivist zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.713 Indem sie die Nachgeschichte des Dritten Reichs im privaten Milieu der Familie dokumentieren und damit die Kluft zwischen dem offiziellen und dem familiären Gedächtnis thematisieren, betreiben die Vätertexte, die existentielle Verkettung von Individuum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte anerkennend, »Familienautotherapie«714. Dies in einem doppelten Sinn: Zum einen als generationenübergreifende Selbstaufklärung, die die historische Spurensicherung mit dem Re-Imaginieren verbindet und der Familiengeschichte eine literarische Gestalt verleiht, um die transgenerationellen Übertragungsmechanismen gleichermaßen zu analysieren wie zu bannen. Im Grunde geht es dabei um die tief verunsichernde Wahrnehmung, dass die Person des Vaters einen ganz wesentlichen Anteil der eigenen Identität ausmacht, und den Versuch, diesen Anteil neu zu definieren, sei es, um sich von ihm abzusetzen, sei es, um ihn ins eigene Selbstbild zu integrieren. […] Das Gespräch mit dem Vater wird nachträglich gesucht, weil es nie stattgefunden hat. […] Damit ist die alte Asymmetrie der Kommunikation unter umgekehrten Vorzeichen wieder hergestellt. Während sich zu Lebzeiten der Vater einseitig dem Sohn/der Tochter mitteilte, teilen diese sich nun einseitig dem Vater mit.715

Zum andern als Versuch, durch die Familienhistorisierung zumindest poetische Gerechtigkeit716 walten zu lassen. Ausgehend von der Tatsache, dass ihre Eltern von der juristisch-personellen Vergangenheitsbewältigung (Nürnberger Prozesse, Entnazifizierungsverfahren) nicht oder kaum berührt wurden, versuchen sich die Täter-Kinder an einer um eine Generation verschobenen Aufarbeitung, um im Rahmen eines existenziell-ethischen Diskurses und auf der Basis einer 712 713 714 715 716

Rehmann (1982), 148. Vgl. Rehmann (1982), 151 – 153. Assmann (2010), 201. Assmann (2010), 204. Vgl. zur Historisierung sowie zur bloß kompensatorischen Funktion des Begriffs der poetischen Gerechtigkeit, der »die Mängel der realen Rechtspraxis durch poetische Sinnzusammenhänge und Entwürfe individueller Sittlichkeit überdeckt«, Weitin (2009), 12.

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poetischen Sprache eine »Urteilsfindung jenseits offizieller Jurisdiktion«717 zu betreiben.718 Zudem erklärte der psychoanalytische Mechanismus der Verdrängung auch noch, woran es bei den Eltern gefehlt hatte und wovor man sich im eigenen Leben vorsehen mußte. Die biographische Konkretisierung von individuellen Entscheidungssituationen verwies mit Nachdruck auf die Möglichkeit, die moralische Selbstbehauptung als Lebensaufgabe zu ergreifen.

Die Väterliteratur in der Debattengeschichte der BRD In der Debattengeschichte der BRD719, die ja seit 1959, also spätestens seit Adornos Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit zum Großteil eine Geschichte der Debatten um die – angemessene – Vergangenheitsbewältigung darstellt720, steht die Väterliteratur im historisch-kulturellen Kontext zweier, für das Nachwirken des Nationalsozialismus zentraler Thesen: der von Alexander und Margarete Mitscherlich proklamierten Diagnose von der Unfähigkeit zu trauern, die erstmals 1967 im Rahmen einer Aufsatzsammlung publiziert wurde721, und der 1983 von Hermann Lübbe lancierten Überzeugung von der integrativen Funktion des Schweigens722. Wenn es zutrifft, dass die »NS-Geschichte als eine Art zerstörerisches Introjekt […] das Grundgefühl der zweiten Generation«723 ausmachte, so wäre zu fragen, wieso die Täter-Kinder erst so spät, nämlich ein Jahrzehnt nach der Hochphase der Studentenbewegung, diese biographisch-existentielle Aufklärungsarbeit in Angriff nahmen. Weshalb also versuchten sie nicht schon früher, mit insistierendem Gestus die Vergangenheit ihrer Väter auszuleuchten? Warum gaben sie sich zu deren Lebzeiten stets mit Anekdoten, Phrasen und beharrlich wiederholten Gemeinplätzen zufrieden? Warum führte für so viele Kinder der Täter-Generation der Zugang zu sich selbst gleichsam über die Lebensgeschichte des Vaters in Gestalt eines ästhetischen Stellvertreters für das nicht stattgefundene Gespräch? Weshalb wandten sie sich, als das Gespräch zwischen Vater und 717 Blasberg (1998), 17. 718 Dabei wurde ihnen verschiedentlich vorgeworfen (vgl. etwa Schlant [2001], 111 – 127; Weigel [2006], 100 f.), zur wiederholten Verdrängung des Holocausts und seiner historischen Opfer beizutragen. Ich halte diesen Vorwurf mit Fuchs (2006a), 41 f., für unangemessen, da er an der entscheidenden Leistung der Väterliteratur vorbeigeht, nämlich die intergenerationelle Dynamik im deutschen Nachkriegsfamilienleben zu exponieren. 719 Vgl. Rathgeb (2005). 720 Vgl. Fischer/Lorenz (2007). 721 Mitscherlich (1977), 13 – 85. 722 Vgl. Lübbe (1983) bzw. Lübbe (2007), 11 – 38. 723 Schneider (2004), 66.

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Sohn/Tochter, das der Ort des Verstehens, des Verzeihens und der Versöhnung hätte werden können, definitiv versäumt war, dem Schreiben zu?724 Einer konstruktiven Vergangenheitsbewältigung waren in der innerfamiliären Kommunikationskonstellation zumal zwei – einander wechselseitig verstärkende – Faktoren hinderlich. Zum einen eine bei den Kindern manifeste Angst vor Schuldübertragung, »so daß die kindlichen Fragesteller wegen ihrer ›intimen‹ Fragen bald selbst ein schlechtes Gewissen bekamen. Auf diese Weise hat die Kriegsgeneration die ungeheuren historischen Schuldgefühle (unbewußt) auf die eigenen Kinder verschoben bzw. abgewälzt«725. Zum anderen verunmöglichte die bei der Kriegserlebnisgeneration vorherrschende Tendenz zum Verschweigen der NS-Vergangenheit das befreiende Gespräch zwischen Vätern und Kindern. Die Väterliteratur als im Modus der familiären Erinnerungsarbeit nachgeholtes Generationengespräch lässt sich nur dann hinreichend verstehen, wenn man in Rechnung stellt, dass das Schweigen in den Nachkriegsfamilien die zweite Generation noch in den 1960er Jahren, als sie bereits der Adoleszenz-Phase entwachsen war, daran hinderte, die Erbschaft der Eltern auszuschlagen bzw. diese zumindest zu reflektieren.726 An diese Diagnose schlossen sowohl die Mitscherlichs als auch Hermann Lübbe an. Lübbe betont den »integrativen Sinn des Beschweigens biographischer Vergangenheitslasten im bundesrepublikanischen Alltag«727. Dabei lautet sein Ausgangspunkt, dass die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in der kulturellen Öffentlichkeit nicht trotz der zunehmenden Entfernung, sondern wegen dieser an Intensität gewonnen habe. Ohne einen Rekurs auf den generationsspezifischen Stellenwert des Nationalsozialismus in den jeweiligen Lebensgeschichten müsse der Wandel des Verhältnisses zum Nationalsozialismus unverständlich bleiben.728 Das »Schweigen der Väter«729 erklärt Lübbe wie folgt: »Diese gewisse Stille war das sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland.«730 Zwar mag einiges dafür sprechen,

724 Vgl. zum Schreiben als Sozialverhalten in den 1970er Jahren Rutschky (1980), 249 f. 725 Türkis (1990), 199. 726 Vgl. Reiche (1988), 64: »Das intergenerationelle Trauma bezieht sich auf das Schweigen unserer Eltern und vor allem auf die Art und Weise, wie wir eingebunden wurden, eingebunden werden sollten in ihr großes Nachkriegs-Programm der Verleugnung ihrer wie auch immer beschaffenen Beteiligung an dem kollektiven deutschen nationalsozialistischen Verbrechen.« 727 Lübbe (2007), 9. 728 Vgl. Lübbe (2007), 14. 729 Lübbe (2007), 15. 730 Lübbe (2007), 20.

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dass die gewisse Zurückhaltung in der öffentlichen Thematisierung individueller oder auch institutioneller Nazi-Vergangenheiten, die die Frühgeschichte der Bundesrepublik kennzeichnet, eine Funktion der Bemühung war, zwar nicht diese Vergangenheiten, aber doch ihre Subjekte in den neuen demokratischen Staat zu integrieren.731

Diese institutionellen Integrationsanstrengungen freilich erklären mitnichten die notorischen innerfamiliären Schweigeszenarien, ist es doch an dieser Stelle unabdingbar, die öffentliche von der privaten Sphäre zu unterscheiden. Das Beschweigen von NS-Vergangenheiten in der Öffentlichkeit ist nicht notwendigerweise an ein privates Schweige-Tabu gekoppelt, ja, gerade weil es opportun gewesen sein mag, eine öffentliche Thematisierung seiner NS-Geschichte zu vermeiden, hätte sich die Intimität des Sozialsystems Familie als vor Sanktionen geschützter Kommunikationsraum angeboten. Kurz, als Erklärung für die von den Nachkommen inkriminierte innerfamiliäre Schweigestrategie der Kriegserlebnisgeneration überzeugt Lübbes Auffassung nicht. Die geschichtspolitische Polemik gewinnt Lübbe aus der Frontstellung gegen die, wie er sie bezeichnet, »Verdrängungsthese«732. Womit er, zwar ohne Namen zu nennen, aber dennoch unmissverständlich auf Alexander und Margarete Mitscherlichs sozialpsychologischen Befund zielt: Der Großteil der Deutschen habe nicht über die Leiden der NS-Opfer getrauert, vielmehr sei die NS-Zeit verdrängt worden.733 Die von den Mitscherlichs 1967 publizierte Aufsatzsammlung Die Unfähigkeit zu trauern öffnete vielen Studenten und akademisch Interessierten die Augen dafür, »daß es einen Zusammenhang gab zwischen der unter dem Hitler-Faschismus sich vollziehenden deutschen Katastrophe und der Regulierung intimer Gefühle in der deutschen Familie«734. Darunter dürften sie in der Regel das Ursache-Wirkungs-Verhältnis von Vergangenheitsverdrängung zu innerfamiliärem Schweigen verstanden haben. Diese Bezugnahme war indes ausgesprochen einseitig, weil sie die Rolle der zweiten Generation als z. B. potentieller familiärer Gesprächspartner rundweg ausklammerte. Der Aufsatzband der Mitscherlichs avancierte zu einem »Vademecum der zweiten Generation«735 und zu einem »sakrosankten Demokratietext der deutschen Nachkriegsgesellschaft«736, weil er ein Deutungsangebot für den moralischen Status quo der BRD lieferte. Dabei trat er mit dem Anspruch auf, auf hohem wissenschaftlichen Niveau mittels einer Sozialforschung, die sich psychoanalytischer Erkenntnisse bedient, eine umfassende Diagnose der nachkriegsdeutschen Seelenlage zu stellen. Da Trauer nur dort entstehen könne, wo 731 732 733 734 735 736

Lübbe (2007), 22 f. Lübbe (2007), 23. Gegen diese These führt Lübbe (2007), 23 f., eine Reihe von Argumenten ins Feld. Sebald (2001a), 90. Schneider (2004), 67. Schneider, Ch. (2008), 69.

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ein Individuum zur Einfühlung in ein anderes Individuum fähig gewesen sei, reklamieren die Mitscherlichs drei Reaktionsformen, mit denen die Einsicht in die überwältigende Schuldlast ferngehalten wird. Zunächst ist es eine auffallende Gefühlsstarre, mit der auf die Leichenberge in den Konzentrationslagern, das Verschwinden der deutschen Heere in Gefangenschaft, die Nachrichten über den millionenfachen Mord an den Juden, Polen, Russen, über den Mord an den politischen Gegnern aus den eigenen Reihen geantwortet wurde. […] Diese quasi-stoische Haltung, dieser schlagartig einsetzende Mechanismus der Derealisierung des soeben noch wirklich gewesenen Dritten Reiches, ermöglicht es dann auch im zweiten Schritt, sich ohne Anzeichen gekränkten Stolzes leicht mit den Siegern zu identifizieren. Solcher Identitätswechsel hilft mit, die Gefühle des Betroffenseins abzuwenden, und bereitet auch die dritte Phase, das manische Ungeschehenmachen, die gewaltigen kollektiven Anstrengungen des Wiederaufbaus, vor.737

Es dauerte bis 1992, dass mit Tilmann Moser erstmals öffentliche Kritik aus analytischen Kreisen an dem Mitscherlich-Bestseller geäußert wurde. Moser moniert vor allem zwei Aspekte: das methodische Manko, individualanalytische Erkenntnisse zu verallgemeinern, indem sie auf Großgruppen ausgeweitet werden, und die Vermischung von therapeutischen mit moralisch-politischen Kategorien.738 Eineinhalb Jahrzehnte nach Moser arbeitete Christian Schneider überzeugend heraus, dass es sich bei der »Unfähigkeit zu trauern«, also bei der inkriminierten Tatsache, dass »auch später keine adäquate Trauerarbeit um die Mitmenschen erfolgte, die durch unsere Taten in Massen getötet wurden«739, um eine »metaphorisierende Umdefinition von Trauer« handele, die zwar eine moralisch vertretbare »Forderung nach Erinnerung an und Mitgefühl für die Opfer« impliziert, aber analytisch keinen Sinn ergibt: Trauer ist eben nicht moralisch postulierbar, sie ist überhaupt kein moralischer, sondern auf der Affektebene zunächst ein spontaner, ja kreatürlicher Akt. Wenn sie sich nicht spontan einstellt, bleibt auch aller späterer reflexiver Bezug auf das zu betrauernde Ereignis leer. Die berühmte ›Trauerarbeit‹ als langer kommemorativer Prozess der besonderen Art ist ohne den spontanen Affekt nicht denkbar. Es gibt keine ›Trauerarbeit‹ ohne ihn.740 737 Mitscherlich (1977), 40. 738 Vgl. Moser (1992), 393 f. – Die Mitscherlichs scheinen auch keinen großen Wert darauf gelegt zu haben, ihre methodischen Schwächen zu kaschieren. So heißt es gleich zu Anfang zur Übereinanderblendung von individuellem und kollektivem Verhalten in kaum zu überbietender Unverblümtheit: »Die Grundlagen dieser sozialpsychologischen Analyse sind keine systematischen Untersuchungen, sondern Spontanbeobachtungen, wo immer Verhalten zutage trat, von dem sich sagen ließ, es vertrete nicht nur eine individuelle, sondern eine verbreitete und häufig beobachtbare Reaktion.« (Mitscherlich [1977], 16) 739 Mitscherlich (1977), 35. 740 Schneider, Ch. (2008), 72.

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Es wäre mithin angemessener gewesen, wenn sich die Mitscherlichs nicht auf Freuds Trauertheorie bezogen und statt von Trauerarbeit von Erinnerungsarbeit gesprochen hätten. Letzteres legt übrigens Margarete Mitscherlich-Nielsen 1992 selbst nahe, wenn sie konstatiert: jedes Trauern setzt ein dauerndes Erinnern voraus und ist ohne Kritik und Selbstkritik, ohne Einfühlung in die Verlorenen und das Verlorene nicht denkbar. Die Fähigkeit zu trauern bedeutet, sich erinnernd mit den Opfern, den Verlorenen zu identifizieren und die Fähigkeit zum Mitgefühl zurückzugewinnen.741

Demnach lässt sich die Attraktivität und der Erfolg des Buches für die junge Generation weniger mit der theoretischen Solidität und der analytischen Akkuratesse begründen, als vielmehr mit dem suggestiven Deutungsangebot, das für sich reklamierte, »den Nationalsozialismus nicht nur erklären zu können, sondern auch eine Perspektive bot, wie sich durch die Einnahme bestimmter politischer und moralischer Standpunkte in der Gegenwart die Fehler der Elterngeneration gleichsam kompensieren ließen«742. Im Mantel der klinischen Diagnose avancierte die »Unfähigkeit zu trauern« zu einer moralischen Parole mit manichäischem Zuschnitt, die die Guten von den Bösen schied und zur wirkungsmächtigen Formel der herrschenden Erinnerungskultur wie zur Waffe im Generationskampf geriet.743 Als Kampfbegriff für die zweite Generation legte die Parole eine »kollektive Verurteilung der Elterngeneration und einen kollektivierten Faschismusvorwurf an Eltern, Establishment und Staat geradezu nahe«744. Die Unfähigkeit zu trauern eröffnete den 68ern die willkommene Gelegenheit, sich im Gestus der moralischen Selbsterhöhung von der Masse der Schuldigen abheben und sich im Rekurs auf das singuläre Ereignis Holocaust als Generation des Neuanfangs ausstellen bzw. sich ihrer eigenen Singularität versichern zu können.745 Der Abkoppelung vom schuldbeladenen Ursprung, der Identifikation mit den NS-Opfern und dem Wunsch nach Wiedergutmachung als Ausdruck der historischen Erbschaft entspricht freilich eine intergenerationelle Kommunikationsbarriere, weshalb die politisch bewussten Angehörigen der zweiten Generation »bei einem pauschalen Faschismusvorwurf an die Elterngeneration stehen blieben und ebenso wenig wie die Jugend der 1950er Jahre, die auf kritische Nachfragen ganz verzichtete, eine Form der Verständigung mit ihren Eltern über dieses sensible Thema fand«746. So trug gerade der Text der Mitscherlichs, der dem deutschen Charakter unter anderem Anteil741 742 743 744 745 746

Mitscherlich-Nielsen (1992), 413. Freimüller (2007), 314. Vgl. Albrecht (1999), 517 f. Freimüller (2007), 315. Vgl. Schneider (2004), 69. Freimüller (2007), 318.

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nahmslosigkeit, Gefühlsstarre und Inhumanität attestierte, anstatt zu einem gelingenden Dialog zwischen den Generationen bzw. zu einer generationenverschobenen Trauerarbeit maßgeblich zu einer Verweigerung von Einfühlung in die Kriegserlebnisgeneration – mit ihren Erfahrungen von Bombenkrieg, Vertreibung und Zerstörung – bei.747 Tilmann Moser hat diese Dialektik treffend auf den Punkt gebracht: Die zweite, die Achtundsechziger-Generation hat sich hinter Empörung und Anklage verschanzt […]. Sie fühlte sich sicher, und zwar als verdammendes Kollektiv mit dem Buch Die Unfähigkeit zu trauern im Marschgepäck. Die inquisitorische Verstockung, so möchte ich die Position einer ganzen Generation nennen, bewirkte ein Klima, an dem auch eine sich bildende Gesprächsbereitschaft scheitern konnte.748

Ironischerweise hat mithin die wirkungsmächtige Diagnose des Buches, die Deutschen hätten um die Millionen von Opfern aufgrund einer Mischung aus Verleugnung, Verdrängung, Schuldabwehr und Selbstmitleid nicht getrauert, anstatt zur Entspannung zur Verstärkung des inkriminierten Phänomens beigetragen, da die Parole von der »Unfähigkeit zu trauern« von den 68ern als Kampfbegriff zur Anklage gegen die schuldigen Eltern instrumentalisiert wurde. So bot die vergangenheitsüberwindende Kritik der Söhne an ihren Vätern ein privates Motiv für das öffentliche Engagement, als Anlass für eine private, innerfamiliäre Auseinandersetzung wurde sie jedoch kaum genutzt. Zwar befreiten Texte wie Die Unfähigkeit zu trauern und die der Kritischen Theorie – hier insbesondere die Adornos – die 68er von einer fundamentalen Sprachlosigkeit749, zu einer Entfesselung des intergenerationellen Familien-Dialogs führte dies aber nicht. Statt gegen das Schweigen der Eltern als Strategie einer intergenerationellen Zensur vorzugehen, kam es vielmehr zu einer Adoption der universitären Lehrer Adorno, Horkheimer und Marcuse als ›unschuldiger‹ Ersatzväter750. Erst nach dem Tod der Väter und nachdem die Hochphase der Studentenbewegung einer deutlichen Ernüchterung gewichen war751, kam der ernsthafte 747 Die Studie der Mitscherlichs ignorierte erstaunlicherweise die empirische Tatsache der realen Vaterlosigkeit bzw. der versehrten Väter, weswegen es umso einfacher war, mit ›den Vätern‹ abstrakt abzurechnen. Vgl. dazu auch Brumlik (2006), 71 f. 748 Moser (1992), 401. 749 Vgl. Schneider/Stillke/Leineweber (2000), 175. 750 Vgl. Schneider/Stillke/Leineweber (2000), 177 – 179. 751 Auch hierfür wurde von Seiten der 68er gerne die Elterngeneration (mit-)verantwortlich gemacht: »Für Krahl hing das Scheitern der antiautoritären Bewegung vor allem auch damit zusammen, daß eine Reihe von Leuten der Neuen Linken aus reaktionären, dumpf irrationalen oder nationalsozialistischen Elternhäusern stammten. ›Die so notwendige Auseinandersetzung mit dem Elternhaus, und damit auch die Aufarbeitung der (post-)faschistischen Sozialisation konnte aber aufgrund des tiefen Zerwürfnisses zwischen beiden Generationen nicht stattfinden. Dem kollektiven Scheitern der Revolte lag also auch ein

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Wunsch nach konkreter Vergangenheitsaufklärung auf und musste sich nun mit dem schlechten Gewissen paaren, zu Lebzeiten der Väter den intergenerationellen Familiendialog beharrlich verweigert zu haben. Die Väterliteratur nun ist der Ort, an dem die Spannung aus historischen Vermutungen, unbewältigten Familienkonflikten und ideologischer Ernüchterung zu einem schriftlichen, d. h. einseitig-retrospektiven Austrag kam. Erst aus der Abwendung von lebendigen Gesprächspartnern und der Hinwendung zu einer Wirklichkeit des Schreibens resultieren Ansätze zu einer ethisch motivierten Erinnerungsarbeit, die der größtenteils sprachlosen Familienvergangenheit versagt blieben.

Schreibmotivation Funktional verortet im Grenzgebiet zwischen privater und öffentlicher, familiärer wie sozialer und politischer Sphäre, prägt diese Art von Mediationsstatus auch die Schreibmotive der Väterbücher. Wenn die Leerstelle, die der Tod des Vaters bei seinen Kindern hinterlässt, nicht durch soziale Bewältigungsformen aufgefüllt wird, verlagert sich die Last der Trauerarbeit auf die Ebene des Individuums. Ausgelöst werden dabei gemeinhin emotionale oder intellektuelle Prozesse, die ihrerseits wieder in die soziale Sphäre hineinzuragen vermögen, indem sie vielfältige Äußerungs- und Handlungsformen initiieren. Ein Vaterbuch zu schreiben freilich heißt, die familiäre Verlusterfahrung mit einem intellektuellen, dem Symbolsystem Sprache verpflichteten Produkt zu bewältigen zu versuchen, das die individuelle Beschreibung des Vater-Kind-Verhältnisses verbindet mit dem Wunsch auf eine Verobjektivierung durch eine Leseröffentlichkeit. Wie nun verleihen die Autoren von Väterbüchern ihrer Schreibmotivation konkreten Ausdruck? In dem aus drei kurzen Sätzen bestehenden Prolog, mit dem Brigitte Schwaiger ihr Vaterbuch einleitet, wird die Kälte und die Unausweichlichkeit des Gefangenseins im Vater-Kosmos bildmächtig greifbar : »Die Stirne meines Vaters, ein Eisfeld, auf dem eine winzige Figur läuft. Das bin ich und laufe und laufe ›subjektiver Faktor‹ zugrunde, der im nachhinein, und erst recht vor dem Hintergrund der gesamten Väterliteratur, enorme Bedeutung erhält: Die Tatsache nämlich, ›daß die meisten der studentischen Rebellen und Polit-Kader von 1968 keine oder nur eine äußerst brüchige Identität in ihren Elternhäusern hatten.‹« (Türkis [1990], 226) Diese Einschätzung bleibt freilich solange einseitig, als sie nicht auch die Versäumnisse auf Seiten der Kinder notiert. Sicher hatten die Söhne und Töchter als »psychische[] Langzeitkosten des Faschismus« auch »die historische Hypothek ihrer Väter mitabzutragen«. Fest steht allerdings auch, dass die 68er es versäumt haben, probate innerfamiliäre Gesprächs- bzw. Problembehandlungsstrategien zu entwickeln. »Die kindliche Vorwurfs- und Anklagehaltung gegenüber der Väter-Generation, flankiert vom selbstmitleidigen Blick auf die eigenen Verluste, scheint daher zur Krankheit dieser ›zweiten verlorenen Generation‹ geworden zu sein.« (Schneider [1981], 53)

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und laufe, aber der Kopf dreht sich. So komme ich nicht voran.«752 Der Tod des Vaters ist die notwendige Bedingung, um zur Wirklichkeit, die bislang eine gänzlich von der väterlichen Einhegung abhängige war, neue Beziehungen zu knüpfen. Dem Schreiben kommt hierbei eine wesentliche Funktion zu, stellt es doch zum einen der Flüchtigkeit des alltäglichen Erlebens und der Vergänglichkeit des Daseins – »Vater ist tot. Ich sage es mir vor und begreife es nicht.«753 – die Beständigkeit des sprachlich Gebannten entgegen, zum anderen bietet es einen Proberaum für emanzipative Bewältigungsversuche. Wenn Schwaiger auch noch die postmortale Schicksalsmacht des Vaters betont: »sein Sterben war die letzte Falle, in die ich hineingeriet und in der ich noch immer stecke. Weil mein Vater unsterblich ist«754, so liegt in der Inthronisierung des Vaters zu einer gottähnlichen Instanz zugleich eine Form der Verabschiedung. Die Transzendierung der Vater-Imago bedeutet ja nicht nur, dass er in der sinnlich erfahrbaren Welt nicht mehr existiert, sondern auch, dass seine Macht nunmehr eine rein imaginative ist und allein auf der Zuschreibung der Lebenden basiert. So liegt denn auch in der Performativität des Schreibakts ein quasi magischer Moment des Exorzismus, eine Art Beschwörung der besonderen Vater-Macht, um sie zu vertreiben.755 Im Schreiben koinzidiert somit die apotropäische Vertreibung der Vater-Welt mit der Ebnung eines Zugangs zu einer anders gearteten, einer vaterlosen Wirklichkeit: »Ich sehne mich nach dem Leben.«756 Die emphatische Sehnsucht nach dem Leben impliziert, dass das bisherige Dasein allenfalls als Para-Existenz, eben als defizitäre Wirklichkeit erfahren wurde. Das Schreiben dagegen fungiert nicht allein als Türöffner zu einer anderen Wirklichkeit, vielmehr bietet es selbst, betrachtet als prozessualer Lebensvollzug, eine eigenständige Erfahrungs-, ja, Seinsweise, die man »Schreiben als Lebensform« nennen könnte.757 752 753 754 755

Schwaiger (1982), 5. Schwaiger (1982), 19. Schwaiger (1982), 20. Im Gespräch bestätigt Brigitte Schwaiger die existentielle Triftigkeit des Buches: »Das ist das einzige, was ich bisher wirklich autobiographisch geschrieben habe. Es war ein Buch aus der Verzweiflung. Ich habe gedacht, entweder das Buch oder ich.« Gefragt nach der »Magie des Vaters« und dem Schreiben als Bannen, äußert Schwaiger: »Ja, ich habe zurückgezaubert.« (Koch-Klenske [1984], 158) 756 Schwaiger (1982), 21. 757 Es sind diese beiden Aspekte, die auch Brigitte Schwaiger am Schreibprozess faszinieren: »Meine Wortlosigkeit, die ich im Gespräch habe, kommt mir zugute, wenn ich mich auf Papier äußere. Ich habe dann so ein Gefühl: Na ihr, ihr werdet euch wundern! Ich bin immer so still, kann nie sagen, was in mir vorgeht, und jetzt kann ich’s besser als ihr! Ich kann’s schriftlich besser ausdrücken als ihr im Gespräch! Und wenn ich dann eure Behauptungen gegen meine setze auf Papier, dann sieht man ja eh, wer im Recht ist, oder zumindest, wie sehr ihr an mir vorbeiredet… Ich muß nur Ruhe haben und es darf mir niemand reinreden. […] Und dann hab’ ich gesehen, man kann so schön zaubern mit Worten. Man kann so

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In dieser Form, als ausgezeichnetes Medium der Erkenntnis und Existenzweise, werden dem Schreiben Funktionen zugesprochen, die auch Michael Rutschky in seinem Essay Erfahrungshunger über die 1970er Jahre herausstreicht. Ging es den ernüchterten Protagonisten der Studentenbewegung doch weniger darum, die Wahrheit zu sagen und den Irrtum zu vermeiden, eher ging es uns darum, die Wirklichkeit zu berühren, die sich im Nebel zu verlieren drohte. Es ging darum, endlich eine Erfahrung zu machen – dabei ist die Frage nach der Wahrheit eigentlich ebenso suspendiert wie die nach der Moral, dem richtigen Handeln. Und: es ist das Schreiben, was diese Erfahrung eröffnen soll; Schreiben erscheint als die einzige Handlung, die überhaupt ausgeführt zu werden verdient.758

Es ist erstaunlich zu sehen, wie präzise Rutschky eine generationsspezifische Suchbewegung bereits zu einem Zeitpunkt dokumentiert, als, nämlich 1978759, der Scheitelpunkt der Väterliteratur noch gar nicht erreicht war. Gleichwohl trifft Rutschkys sozialpsychologisch argumentierende Herleitung für die in den 1970ern grassierende Schreibsehnsucht gleichermaßen für die Väterliteratur zu. Am Beispiel eines Buchs von Günter Steffens, in dem der Krebstod von dessen Frau im Zentrum steht, erläutert Rutschky den Zusammenhang von »Zerstörung« und »Schreibwunsch«. Es ist die »katastrophale Berührung mit der Wirklichkeit, aus der in den siebziger Jahren das Schreiben so häufig hervorgeht«760. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass das Programm darin besteht, sich nach der Berührung mit dem Tod gegen dessen kalte, gefühllose Macht zu stemmen, indem man sich im Medium der Sprache einen eigenständigen Wirklichkeitsraum erschreibt. Günter Seuren illustriert, in welch gravierendem, psychologisch-existenziellem Sinn die mit dem Vater assoziierte Vorstellungswelt die eigene Gegenwart überschatten kann: »Ich fürchte mich vor den Wünschen, die mein Vater hatte.«761 Während der Vater einem simplen Sozialdarwinismus huldigte, sieht sich der Sohn in der Gefahr, mit den für ihn tabuisierten Moralvorstellungen des Vaters auch nur in Verbindung gebracht zu werden. Dieses Gefühl vermag in einer schieren Ausweglosigkeit zu kulminieren, wenn, wie bei Seurens Ich-Erzähler und seiner Partnerin Hilde, dadurch nahezu sämtliche Handlungsmöglichkeiten unter dem Vorbehalt der – geradezu paranoid anmutenden – Einflussangst stehen:

758 759 760 761

vieles behaupten, man kann alles sagen, man ist so frei auf Papier. Und man kann auch jemanden schnitzen…« (Koch-Klenske [1984], 157) Rutschky (1980), 112. Vgl. Rutschky (1980), 31. Rutschky (1980), 127. Seuren (1980), 148.

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Wir wünschen uns beide eigentlich, etwas zu erleben, was aus uns neue Menschen macht. Wir haben Angst davor. Es könnte abenteuerlich werden, gefährlich, übermenschlich. Wir haben einen Zustand geselliger Leblosigkeit erreicht, der weder schmerzt noch tief beunruhigt. Alle würden gern etwas Großes machen. Aber was?762

Das Buch als Produkt gelebter Schreiberfahrung ist die Antwort auf die stets mitschwingende »Angst, daß ich nicht mehr aus meinem Leben machen könnte als er«763. Schreiben als Form der Wirklichkeitserschließung und Akt der Emanzipation von der Vaterdominanz charakterisiert auch Sigfrid Gauchs Vaterbuch. Zunächst bekommt der Ich-Erzähler von seinem Freund Herbert, als es um den Umgang mit dem Über-Ich des toten Vaters geht, den Rat: »Mach dich frei von ihm«764. Freilich verfügt er über kein Rezept, das diese gleichsam kathartische Ausscheidung von Vater-Anteilen verheißt. Am Schluss erinnert sich der Sohn, im Begriff, sich im Sterbezimmer von seinem Vater zu verabschieden, noch einmal an die Worte des Freundes: »mach dich frei von ihm. Deshalb schlafe ich in dieser Nacht in Vaters Bett.«765 Das – im Buch durch die Kursivierung hervorgehobene – Zitat fungiert als Lizenz zur Überschreibung des angestammten Hoheitsgebiets des Vaters, während der letzte Satz der Erzählung in Form einer mimetischen Aneignung von dessen Lebenswelt – symbolisch in Szene gesetzt durch die Inbesitznahme der väterlichen Schlafstatt – eine Emanzipation von der patriarchalen Autorität vollzieht. Die literarische Versuchsanordnung aus Emanzipationsverlangen und symbolischem Handlungsvollzug kulminiert (»Deshalb…«) in einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Die Vaterwelt wird literarisch gebannt und zugleich als paradigmatischer Machtfaktor verabschiedet. Letzteres geschieht häufig auch in Form eines nachgeholten Gesprächs.766 Dabei wird die faktische Unmöglichkeit eines Diskurses zwischen den Generationen zum Impulsgeber für eine schonungslose Offenheit seitens der Kinder. Anders gesagt: Ein schriftlicher Nekrolog tritt an die Stelle eines angestauten, aber nie in die Realität umgesetzten Gesprächsbedarfs. Für diese Psychodynamik gibt es verschiedene Gründe. Etwa ein sich erst postum entwickelndes Kommunikationsbedürfnis, wäh-

762 763 764 765 766

Seuren (1980), 149. Seuren (1980), 11. Gauch (1982), 105. Gauch (1982), 142. Erstmalig auf diesen Aspekt hingewiesen haben Ermert/Striegnitz (1981), 2: »Schon die Form des fiktiven Gesprächs, die direkte Anrede des toten Vaters, die in manchen der Bücher zu finden ist (z. B. Härtling, Gauch, Meckel), deutet freilich darauf hin, daß hier ein Gespräch nachgeholt wird, das zu Lebzeiten, warum auch immer, nicht stattgefunden hat.«

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rend zuvor schlichtes Desinteresse vorherrschte, eine hochgradige Beziehungslosigkeit zwischen den Generationen, wie Paul Kersten sie notiert: Zu Lebzeiten hatte es zwischen ihm und mir immer nur ein verkrampftes Distanzgefühl gegeben. Wir waren uns fremd geblieben. Neugierig, meinen Vater kennenzulernen, von dem ich außer ein paar Lebensdaten und Erinnerungen nichts besaß, wurde ich erst, als er tot war. Jetzt, wo er selbst nicht mehr antworten konnte, fing ich an, Fragen zu stellen.767

Stößt hier erst der Tod das Nachdenken über das Vater-Sohn-Verhältnis an, so beschreibt Elisabeth Plessen die unerfüllte Sehnsucht nach einer ernsthaften Unterhaltung bzw. einem mehr als nur oberflächlichen Umgang zu Lebzeiten: »Ich hatte mit dir reden wollen«768, ja, »ich will endlich ein Verhältnis zu dir«769. Der flehend-verzweifelte Ton deutet an, dass die utopische Vorstellung der Väterbücher, »das nachholende, herrschaftsfreie, womöglich befreiende Gespräch zwischen Vätern und Kindern« aufgrund der faktischen Voraussetzungen dieser Literatur nicht mehr gelingen kann; stattdessen »tritt das Protokoll dieses Misslingens an seine Stelle: ›Text‹ statt ›Gespräch‹«.770 Indes gibt es auch Autoren, die diese spezielle erkenntnistheoretische Konstellation reflektieren und ihr Vorgehen und ihre Ansprüche daran ausrichten. So geht die Ich-Erzählerin von Ruth Rehmann den indirekten Weg, indem sie unablässig einen Lehrer um Auskunft über ihren toten Vater bittet, eine Person, die von ihr als zuverlässiger Zeuge betrachtet und geachtet wird. Aufgrund seiner Informationen verspricht sie sich, ihre einseitige Perspektive relativieren, das »Vaterzimmer« verlassen zu können, stärker noch: »Wahrheit«771. Gegen derlei emphatischen Erkenntnisanspruch verwahrt sich Christoph Meckels Ich-Erzähler entschieden. Leben in Literatur zu überführen, meine nicht nur, perspektivgebundene Ausschnitte zu präsentieren, sondern eben auch, sich den Regeln der Sprache und den Anforderungen der Textgestaltung zu unterwerfen. Über einen Menschen schreiben bedeutet: das Tatsächliche seines Lebens zu vernichten um der Tatsächlichkeit einer Sprache willen. Der Satzbau verlangt noch einmal den Tod des Gestorbenen. Ihn zu vernichten und zu erschaffen ist derselbe Arbeitsprozeß. […] Was bleibt übrig vom lebendigen Menschen? Was wird von ihm sichtbar im Triebwerk der Sätze? Vielleicht eine Ahnung von seinem Charakter, die flüchtigen oder festen Konturen eines Suchbildes. Ohne Erfindung ist das nicht zu machen. Ich habe nichts zur Person erfunden, aber ausgewählt und zusammengefaßt (unmöglich, darzustellen ohne

767 768 769 770

Kersten (1980), 30. Plessen (1979), 131. Plessen (1979), 38. Vogt, J. (1998), 386 f.; vgl. ähnlich auch Kraft (2007), 122: »Es entsteht so der Eindruck, als versuchten die Söhne in ihren Texten mit dem Vater noch nach dessen Tod ein Gespräch zu führen, das zu Lebzeiten des Vaters nicht möglich war.« 771 Rehmann (1982), 199.

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Bewertung). Ich habe Sätze gemacht, also: Sprache erfunden. Die Erfindung offenbart und verbirgt den Menschen.772

Meckels ins Grundsätzliche zielende poetologische Reflexion steckt die Rahmenbedingungen ab für eine Väterliteratur, die nicht zuletzt mit dem Anspruch eines nachholenden Gesprächs antritt. Gerne schreibt man der Literatur die – durchaus hehre – Funktion zu, als »Probehandeln im Medium der Fiktion« diejenigen »Möglichkeiten des gesellschaftlichen und individuellen Lebens« zu sichern, »die der praktische gesellschaftliche Prozeß abdrängt und ausscheidet. Damit hält die Literatur die Zukunft des gesellschaftlichen Prozesses offen«.773 Angesichts der frequenten Sehnsucht nach einem nachholenden, zu Lebzeiten nicht zustande gekommenen Dialog fungiert die Väterliteratur als autotherapeutische Entlastung wie als familiensoziologische Verheißung. Als literarische Gattung bilden sie [die Väterbücher; M. O.] ein Scharnier zwischen dem Familiengedächtnis und der Außenwelt. Diese Vermittlung einer pathologischen, eingeschränkten oder stagnierenden Familienkommunikation mit den sich wandelnden öffentlichen Diskursen der Gegenwart ist das Programm, das die Väterbücher mit unterschiedlichem Temperament und auf unterschiedlichem literarischem Niveau umsetzen.774

Im Medium der Literatur stecken sie diejenigen Spielräume des Generationendiskurses ab, die aus innerfamiliären und sozialen Rücksichten zwar tatsächlich keineswegs ausgeschöpft wurden, die es aber mit Blick auf die Möglichkeit gelingender Familienkommunikation und einer entsprechenden Versöhnung zwischen den Generationen wach zu halten gilt. Um die Psychodynamik dieser kontrafaktischen Kommunikationsanordnung auszubuchstabieren, liegt es nahe zu fragen, wie die Väterbücher einerseits ihre Leser konzeptualisieren, welche manifesten Wirkungen andererseits die Auseinandersetzungen mit den Vätern eigentlich auf die Protagonisten haben (Bewältigungstechniken, Entlastungsstrategien). Über einen erwünschten Leser zu spekulieren oder gar einen idealtypischen zu entwerfen, versagen sich die Texte grundsätzlich.775 Allein Peter Härtling und Ruth Rehmann haben ihre Vaterrecherchen ausdrücklich mit der Widmung versehen: Für meine Kinder. Hinter der kommunikativen und affektiven Blockierung, die die Autoren im Verhältnis zu ihren Eltern erfahren haben, wird im Blick auf die eigenen Kinder das Wunschbild eines gelingenden Miteinanders sichtbar – der Wunsch […] nach Gemeinsamkeit und wech772 773 774 775

Meckel (1980), 80 f. Rutschky (1980), 37. Assmann (2010), 213. Allenfalls Brigitte Schwaiger spricht im Interview einmal vage von der Literatur als einem »Brief an viele« (Koch-Klenske [1984], 154).

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selseitiger Anerkennung von Verschiedenheit. Hier ist ein wesentlicher Schreibimpuls, vielleicht sogar der eigentliche Zielpunkt dieser Väterbücher zu fassen, die man insofern auch ›Kinderbücher‹ nennen könnte.776

So recht Jochen Vogt auch haben mag, wenn er der Väterliteratur den dringenden Wunsch nach »wechselseitiger Anerkennung von Verschiedenheit« attestiert, so darf dabei doch nicht vergessen werden, dass diese Differenz zunächst einmal markiert werden muss, bevor sie reflexiv durchdrungen werden kann. Daher basiert eine – wenn nicht die – wesentliche Schreibmotivation auf dem Streben nach Selbstaufklärung.777 »Allen Werken eignet als tertium comparationis der Anspruch der Verfasser, durch ihre biographische Schreib-Arbeit einen Selbst-Findungsprozeß und Selbst-Erkenntnisprozeß zu durchlaufen«778. Die ausgiebige Beschäftigung mit den Vätern ist also insofern nur eine vordergründige, als das genuine Interesse nicht ihnen selbst gilt, sondern den Kindern als den von ihren Vätern sozialisatorisch Abhängigen.779 In den Texten versuchen mithin »die Söhne in einem nachträglichen, paradoxen Dialog mit dem Vater, sich der eigenen Identität zu versichern, indem die Identität des Vaters in all ihren Facetten ausgeleuchtet wird«780. Gleich zu Anfang gesteht der Ich-Erzähler in Henischs Die kleine Figur meines Vaters, nur deshalb die Lebensgeschichte seines Vaters niederschreiben zu wollen, da »ich wissen möchte, wer ER ist, um mir darüber klar zu werden, wer ICH bin«781. Das Wiedererkennen von Eigenem im Fremden dient dabei freilich nur bedingt der Selbstaufklärung. Denn das fremdbestimmte Eigene wird einer Beurteilung unterzogen, um dann, wenn es als problembehaftet identifiziert wurde, möglichst vom eigenen Selbst abgespalten zu werden. »Lieber Papa«, heißt es bei Henisch, ich frage mich, ob ich Deine Geschichte nicht dazu benutze, mich von mir selbst abzusetzen. Nicht total von mir selbst vielleicht, aber zweifellos von einem ganz gewichtigen Teil meines Charakters. Indem ich diesen Teil meines Charakters in Deinem Charakter wiederfinde, kann ich so tun, als hätte ich ihn verloren. Indem ich diesen Teil meines Charakters in Deinem Charakter dingfest mache, kann ich so tun, als wäre ich ihn los.782

776 Vogt, J. (1998), 387. 777 So schon Ermert/Striegnitz (1981), 1: »Die autobiographische Suche nach der eigenen Identität mußte über die Kindheitserinnerung wohl früher oder später zu den Ursprüngen, den ›Wurzeln‹ der eigenen Existenz, zu den Eltern, also auch zu den Vätern führen.« 778 Neuber (1982), 257 779 Vgl. Schneider (1981), 32. 780 Kraft (2007), 122 f. 781 Henisch (1975), 9. 782 Henisch (1975), 91.

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Allem Anschein nach geht die Denkfigur des charakterologischen Erbes selbst auf den Vater zurück, der seinem Sohn einmal anvertraute: »Du bist ein Seiltänzer, ganz wie ich – dieser Satz, mit dem er mir eine ebenso deutliche, wie seltsame Identifikationsmöglichkeit gegeben hatte, lief den Rest des Tages wie eine Endlosschleife durch mein Gehirn.«783 »Was ist euer Werk?«, fragt E. A. Rauter seine Erzieher und antwortet: »Was am längsten Bestand haben wird von euren Werken, werden meine Schwächen sein.«784 Sicher ist der Blick zurück auf die Väter/Erzieher »zugleich Retrospektive auf die Wurzeln des eigenen Gefühlslebens, auf jene Prägungen und Programmierungen, auf jene psychischen Erbschaften, Schäden und Defizite, die im Lebensgefühl dieser Autoren […] immer wieder durchzuschlagen scheinen«785. Indes geht es nicht nur um die Diagnose problematischer Fremdprägungen, sondern eben auch um deren reflexive Durchdringung, deren Ziel es ist, in einem Prozess »autotherapeutischer Selbstfindung«786 gegen diese Prägungen aufbegehren zu können. Nach dem »therapeutischen Effekt« ihres Schreibens befragt, zeigt sich Brigitte Schwaiger überzeugt: Bestimmt. So wie Sprechen auch. Wirkliches Sprechen, bei dem innerster Gedanke und innerstes Fühlen mit dem übereinstimmen, was man sagt. Solches Sprechen ist auch eine Heilung. Ich würde zwischen Literatur und dieser Art des Sprechens gar nicht soviel Unterschied machen.787

Ähnlich äußert sich Elisabeth Plessen: Ich hatte zu meinem Vater ein extrem kompliziertes Verhältnis. Er war noch nicht tot, da hatte ich ihm schon meine Liebe aufgesagt, fristlos, wortlos, enttäuscht, angeekelt gekündigt. […] Sein Tod warf mich so nachhaltig aus der Bahn, daß ich jedes Liebesband, welches mich bis dahin getragen hatte, erst einmal (auch) zerriß und der Vergangenheit zuwarf, auch aus Scham, so wurde ich zur Verräterin an meinen engsten Freunden. Ich war allein und befreit, aber in die Leere befreit, nicht in eine Zukunft, in die ich heiteren Auges hätte blicken können. Um die Krise zu überleben, besann ich mich – schreibend. Ich schrieb meinen ersten Roman ›Mitteilung an den Adel‹. Darin ließ ich eine junge Frau ähnliche Konflikte mit ihrem Vater haben, wie ich sie mit

783 Henisch (1975), 15. In den Vatertexten klingen gelegentlich Denkfiguren an, die an den Lamarckismus als die Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften gemahnen. Dieser erfährt übrigens gerade durch die Konjunktur einer neuen Disziplin namens Epigenetik, die sich mit den Mechanismen der Genregulation befasst, eine gewisse Rehabilitation. Vgl. Lenzen (2009). 784 Rauter (1979), 28. 785 Schneider (1981), 32. 786 Assmann (2010), 201. 787 Koch-Klenske (1984), 157 f.

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meinem gehabt oder bei anderen Töchtern beobachtet hatte, die aus vergleichbaren konservativen, vaterbe- oder überherrschten Familien stammten.788

Gerade die schriftliche Selbstvergewisserung scheint in der Lage zu sein, schier unüberwindbare Familiendifferenzen in ein bewusstes Verhältnis zu überführen789 und als Gegenmittel gegen transgenerationelle Tradierungen zu wirken. Damit exemplifiziert die Väterliteratur eine spezifische Spielart jener Funktion, die Adolf Muschg in seinen 1980 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen angesichts einer gesellschaftspolitisch ausgenüchterten 68er-Generation unter dem Titel Literatur als Therapie? zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen über das lebensverändernde Potential der Phantasie machte.790 Das narrative Muster, das diesem therapeutischen Effekt zugrundeliegt, gleicht allerdings keinem zwischen Therapeuten und Patienten, sondern dem zwischen Ankläger und Angeklagtem. In der Art und Weise, wie die Vätergeneration in den autobiographischen Romanen um 1980 vor die Richterschränke der eigenen Söhne und Töchter gezogen wurde, kommt die moralische Überzeugung der Jüngeren gegenüber den Älteren zum Ausdruck.791 Aus der moralischen Vorrangstellung leiten die Kinder die Lizenz ab, die herkömmliche Situation des Familiengerichts einfach umzukehren und selbst als Ankläger und Richter aufzutreten.792 Die Legitimationsbasis für die familiären Gerichtsverfahren scheint mir indes nicht, wie Peter von Matt kurzerhand vermutet, das

788 Plessen (1982), 31. 789 Vgl. Westernhagen (1991), 103: »Die Frage ist […] nicht, wie man der Verkettung mit den Eltern entgehen kann, sondern ob man sich ihrer bewußt wird, das heißt über die Einsicht in das Unvermeidliche und das Sich-Abfinden mit ihm zu mehr innerer Bewegungsfreiheit findet.« 790 Vgl. Muschg (1989), 337 f.: »Es lag mir daran, die Hinwendung zur Literatur vom Odium der Flucht und des Verrats zu befreien, ihr womöglich den Sinn des Standhaltens zu geben. Im Lob der literarischen Einzelheit (und was wäre Literatur, wenn nicht beglaubigte Einzelheit) verbarg sich der Wunsch, den Vereinzelten der 68er Generation die Widerstandsfähigkeit, die Tragweite einer bestimmten Art von Arbeit zu suggerieren – einer Arbeit nach einem Stück verpatzter Geschichte und Lebensgeschichte; einer wo nicht sinn-gebenden, so doch sinnlichen Arbeit. Ihre Zweideutigkeit war nicht zu verschleiern, sondern zu begründen – nachdem die andere Zweideutigkeit dessen, was wir so lange ›Engagement‹ genannt hatten, für viele von uns nicht mehr zu rechtfertigen und nicht mehr zu ertragen war. Literatur als Therapie – damit war diese Arbeit, also unvermeidlich: Trauerarbeit gemeint. Der Überbau ›gesellschaftlichen‹ Bewußtseins, mit dem meine Generation ihr persönliches Sein so erfolgreich zugedeckt hatte, sollte zumindest ein wenig durchsichtig werden. In diesem Sinne traute ich der Literatur in der Tat eine therapeutische Wirkung zu, auch wenn sie gegen die erdrückende Erwartung der ›Lebenshilfe‹ in Schutz zu nehmen war.« 791 Vgl. Matt (1995), 342. 792 Vgl. dazu skeptisch Matt (1995), 342: »Die neue Autorität aber ist zuletzt doch nur die unbegriffene Reproduktion der verworfenen Vatermacht.«

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bloße »Lebensalter« (»sie haben Recht, weil sie jung sind«)793 in Kombination mit einem »ausgeprägten geschichtsphilosophischen Optimismus«794 zu sein. Vielmehr möchte ich getreu dem sozialpsychologischen Leitgedanken, in den kollektiven Veränderungen der Konfliktlagen und Triebkonstellationen den historischen Stand möglicher Lösungen zu begreifen, auf zwei andere, historisch spezifischere Aspekte aufmerksam machen, die die Familiarisierung des Rechts in den Väterbüchern wesentlich mitbestimmt haben dürften: der in den 1960er Jahren aufgekommene gerichtsförmige Holocaust-Diskurs und die Vorstellung von einer intergenerationellen Gerechtigkeitsbilanz.795 Die juristischen Kristallisationspunkte der Nachgeschichte von Holocaust und NS-Vernichtungspolitik (Ulmer Einsatzgruppen-Prozess [1958], Eichmann-Prozess in Jerusalem [1961], Frankfurter Auschwitz-Prozess [1963 – 1965]) versteht Mirjam Wenzel im Rekurs auf Michel Foucault als »diskursive Ereignisse«, die die »Formationsregeln« eines sich herausbildenden Erinnerungsdiskurses entscheidend mitbedingten.796 Hannah Arendts Prozessbericht Eichmann in Jerusalem (1963), der seinen Gegenstand strukturell verdoppelt, indem er Bericht und zugleich Gericht ist, habe maßgeblich zur Konsolidierung einer diskursiven Formation beigetragen, in der in der ersten Hälfte der 1960er Jahre die Vernichtung der europäischen Juden dargestellt und beurteilt wird: zur »Gerichtsformation des Holocaust-Diskurses«797. Analog zu der Stärke von Arendts multiperspektivischer Ausrichtung als beobachtende, analysierende und auch richtende Zuschauerin adaptiere das dokumentarische Theater Mitte der 1960er Jahre (etwa In der Sache J. Robert Oppenheimer von Heiner Kipphardt [1964], Die Ermittlung von Peter Weiss [1965] oder prozeß in nürnberg von Rolf Schneider [1967]) das Modell des strafrechtlichen Verfahrens und behaupte die Stellung des Beobachtenden und Analysierenden. Das Dokumentartheater der sechziger Jahre involviert seine deutschen Zuschauer in einen Prozess der Meinungsbildung, an dessen Ende ein eindeutiges Urteil stehen soll. In ihm tritt der Aufklärungs- und Erziehungsanspruch der ›Gerichtsformation‹ und deren Ziel zutage, politische Handlungen initiieren zu wollen.798

Aus der Analogie zwischen Gericht und Theater formieren die Autoren theatrale Auseinandersetzungen in der Tradition der griechischen Tragödie, die um die – ebenfalls im Zentrum von Gerichtsverfahren stehenden – Begriffe der Schuld und Verantwortung kreisen. Damit verstricken sie die Zuschauer in einen Prozess, den 793 794 795 796 797 798

Matt (1995), 342. Matt (1995), 343. Vgl. zu den vielfältigen Beziehungen von Recht und Literatur zueinander Weitin (2010). Vgl. Wenzel (2009), 12. Wenzel (2009), 25. Wenzel (2009), 16.

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jeder vor und mit seinem eigenen Gewissen zu führen habe, um – gleichsam als kathartischer Effekt – eine politisch-moralische Wandlung zu vollziehen. Dem gerichtsförmigen Dokumentartheater vergleichbar, das sich mit Niklas Luhmann als Beobachtung zweiter Ordnung beschreiben lässt799 und die Abstandnahme mit allgemeinverbindlicher Lehre zu verbinden sucht800, lanciert auch die Väterliteratur pädagogische Vorstellungen: Erzählende Beobachter zweiter Ordnung801 inszenieren mit der Frage, wie sich ihre Väter mit ihrer NSVergangenheit haben arrangieren können, ein narratives Tribunal, um nicht zuletzt dem Leser nahezulegen, Verantwortung zu übernehmen. Mit dem Verlangen nach historischer Verantwortungsübernahme antizipiert die Väterliteratur einen didaktischen Auftrag, der in den 1980er und 1990er Jahren, nachdem die ›Gerichtsformation des Holocaust-Diskurses‹ nicht zuletzt aufgrund einer »mangelnden Verankerung in einem gesellschaftlichen Konsens«802 abgelöst wurde, an Popularität gewinnt (vgl. z. B. die Weizsäcker-Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985). Die Väterbücher stehen an der Nahtstelle zwischen einem politisch-juristischen Interesse, das den Diskurs der 1960er Jahre dominierte, und einer Perspektive, die die sozialpsychologischen Zusammenhänge in den Blick rückt. Sie vermitteln zwischen der diskursiven Gerichtsformation und einem Holocaust-Diskurs, der seit den 1980er Jahren, nachdem die 1979 in Deutschland ausgestrahlte amerikanische Fernsehserie Holocaust das Schicksal der Juden personalisierte und sentimentalisierte803, vor allem von subjektivierten Narrationen wie Zeugenberichten und Autobiographien geprägt wird. Anstatt auf die vielfältigen narrativen Techniken der Adaption juristischer Praktiken in der Väterliteratur eingehen zu wollen (etwa: Imperativ der Wahrheitsermittlung, bestimmte juristische Verfahrensweisen wie forensische Rhetorik und die herausragende Bedeutung des Urteils)804, möchte ich schließlich mit der Vorstellung der intergenerationellen Gerechtigkeit noch ein subjektives Motiv für die Familiarisierung des Rechts im Medium der Literatur anführen, das die Väterliteratur als teleskopisches Imaginäres spürbar charakterisiert. Die systemische Familientherapie erachtet die Kategorie der Gerechtigkeit als »ein wesentliches

799 Vgl. Luhmann (1995), 94: »Als Beobachtung zweiter Ordnung wollen wir die Beobachtung von Beobachtungen bezeichnen.« 800 Vgl. Wenzel (2009), 10. 801 Vgl. Luhmann (1995), 153: »Wenn Individuen sich an Kunst beteiligen […] erhalten sie dadurch eine Gelegenheit, sich als Beobachter zu beobachten, sich als Individuen zu erfahren. Und da dies unausweichlich durch Wahrnehmung von Unwahrscheinlichem vermittelt wird, besteht mehr als bei sprachlicher Kommunikation die Chance der Selbstbeobachtung im Beobachten.« 802 Wenzel (2009), 250. 803 Vgl. dazu Märthesheimer/Frenzel (1979). 804 Deren genaue Analyse durchaus eine eigenständige Untersuchung verdiente.

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Element der Struktur familiärer Erwartungen und Verpflichtungen«805. Die Familie als generationenübergreifendes Beziehungssystem bilde »Mehrgenerationen-Gerechtigkeitskonten«806 aus, mit deren Hilfe die jeweiligen Verdienste, Guthaben, Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen gegeneinander in eine Gesamtrechnung überführt werden. »Das Konto des einzelnen Familienmitglieds ist sozusagen schon belastet, bevor es zu handeln beginnt.«807 Gleichwohl funktioniert das intergenerationelle Verpflichtungssystem immer dann vergleichsweise störungsfrei, wenn es möglich ist, einerseits Verpflichtungen auf Kinder auszudehnen, diese andererseits in Einklang zu bringen mit der psychischen Individuation der Familienmitglieder. Letzteres wird immer dann problematisch, wenn das Erbe der Eltern und Großeltern düster und belastet ist. Auch politische Prinzipien können auf diese Weise das Familienleben beherrschen808, indem Nachkommen dazu verpflichtet werden, ein Mehrgenerationen-Gerechtigkeitskonto auszugleichen, sprich, eine vorgängige Familienschuld zu tilgen. Eben eine solche historische Konstellation, in der generationenübergreifende Familienbeziehungen den Individuen die kommunikativen Lebensformen verwehren, um eine selbstbestimmte Ich-Identität ausbilden zu können, fand die Generation der Täter-Kinder vor. Die Gerichtsformation der Väterliteratur809, ihre rigide Tribunal-Struktur aus angeklagten Vätern, die der historischen Schuld verdächtig sind, und richtenden Kindern, die durch die Geschichte ins moralische Recht des Urteilens versetzt wurden, sowie ihr gereizter bis inquisitorischer Ton sind im Kontext der Gerichtsförmigkeit des frühen Holocaust-Diskurses und der Orientierung an einer Mehrgenerationen-Gerechtigkeit zu sehen. Verhandlungen mit den Vätern werden wegen der fundamentalen Skepsis gegen die staatliche Gerichtsbarkeit gleichsam als Gerichtsprozess im Medium der Literatur geführt, aber auch im Sinn von Greenblatts Verhandlungen mit Shakespeare, um »das komplexe und spannungsgeladene Verhältnis von Kunstwerken und ihrem kulturellen und sozialen Kontext, das es zu rekonstruieren gilt, um die anhaltende Lebendigkeit und Wirkung bestimmter Artefakte erklären zu können«810. Im Gewand der Richter verbinden die vorbelasteten, in ihrer individuellen Autonomie eingeschränkten Täter-Kinder – in der Manier des Teiresias und in Entsprechung zu Hamlet, dem

805 806 807 808

Boszormenyi-Nagy/Spark (1992), 16. Boszormenyi-Nagy/Spark (1992), 31. Boszormenyi-Nagy/Spark (1992), 85. Vgl. zum Zusammenhang von systemischer Familientherapie und Historiographie Mulsow (2011). 809 Dazu, dass in der Väterliteratur die Vorstellung von Gerichtsprozessen evoziert werden, vgl. etwa Moser (1985), 75 f.; Blasberg (1998), 20 f. 810 Heitmann (1999), 10.

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Regisseur der metatheatralen Mausefallen-Szene811 – eine historisch-politische Mission mit einer familiären Verpflichtung. Dadurch dass die Väterbücher ausgehend von einer transgenerationellen Verpflichtungsdynamik ausgiebig den Topos von der Familie als Ort des Gerichts variieren812, schließen sie an die in der Einleitung und im ersten Kapitel umrissene psychohistorische Genealogie (in der Linie König Ödipus – Hamlet) an. Bereits Franz Kafkas Das Urteil, einer der Modelltexte der Moderne, inszeniert die Situation eines Familiengerichts auf der Grundlage einer wesensmäßigen Verstrickung von Vater und Sohn. Dabei umschreibt die unschuldige Schuld des Sohnes eine moralische Ambivalenz, die die Prädisposition der Figur einbezieht, ohne ihre Verantwortlichkeit zu reduzieren. […] Im Blick auf die Ambivalenz der Schuld wie auf den Begründungszusammenhang von Verfehlung und Untergang zeigen Kafkas Texte tragische Strukturen, wenn auch seinen epischen Figuren jedes tragische Bewusstsein mangelt.813

Können diese tragischen Strukturen auch noch für die Erzählfiguren des teleskopischen Imaginären reklamiert werden? Gleichsam als Relitearisierung einer sich auf den Geschlechterfluch der griechischen Tragödie berufenden Vermutung? Denn eine gewisse »Tragik liegt darin, daß das Grauenvolle der NS-Verbrechen auch in die nächste Generation hineinwirkte. Das Leid der Eltern zeugte sich oft in deren Kindern und Kindeskindern fort.«814 In Anlehnung an eine von Gerhard Kaiser formulierte Parallele, dergemäß sich die Krise der europäischen Familie in die Krise des europäischen Romans einfüge, indem der gesellschaftliche Diskurs über Familienmodelle und die Entwicklung literarischer Gattungen miteinander korrespondieren815, lässt sich die Väterliteratur durch ein verändertes Erzählen über Familie perspektivieren. In der Gerichtsformation zeigt sich das gemeinsame narrative Muster von Familie und Roman, das die Väterliteratur hervorbringt. Die literarische Inszenierung eines Gerichtsnarrativs, das die von Schuldgefühlen geplagten Kinder über die toten Väter zu Gericht sitzen lässt, ist als soziales Imaginäres das ästhetische Gegenstück 811 Zu Hamlet als Beobachter fremder Beobachtung, der das Stück im Stück um der Wahrheitsfindung willen inszeniert, vgl. Schwanitz (2006), 76 – 89. 812 Vgl. zu dem Topos Matt (1995), bes. 39 – 41. 813 Ritzer (2008), 161. Vgl. auch Alt (2008), 325: »Die Schuld des Sohnes läßt sich nicht aus seinem Handeln, sondern aus seiner Funktion im Familiengefüge ableiten. Sie bildet keine moralische, vielmehr eine strukturelle Kategorie, die durch die Ordnung der Familie bedingt wird.« 814 Westernhagen (1991), 87. 815 Vgl. Kaiser (1984), 22: »Entstehung und Krise der modernen Familie sind epochengleich der Entstehung und Krise des modernen Romans. In beiden geht es um die Fragwürdigkeit des Individuums und die Schwierigkeit der Geschlechterbeziehung.« Vgl. dazu ferner Erhart (2001), 56; Herrmann, B. (2010), 58.

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zu einem aufgrund der Vorbelastung der Täter-Kinder durch eine nicht selbst verursachte Schuld gewandelten Familiendiskurs. Die Erzähler der Väterbücher, in ihrem psychischen Haushalt determiniert durch die NS-Familiengeschichte, beanspruchen eine soziale Energie, die sich als intergenerationelle Gerechtigkeit fassen lässt, eine Vorstellung, die es vermag, Einzel-, Familien- und Gesellschaftsdynamik in Form eines gemeinsamen Nenners zu verklammern. Die These wird in der argumentativen Strategie und im Darstellungsverfahren gespiegelt: Nach dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit vergilt die Väterliteratur unbeglichene Familienverpflichtungen aus der Vergangenheit in Form eines medialen, in der Realität unterbliebenen Tribunals über die Väter. Damit leistet sie, affirmativ formuliert, in erster Linie für die Täter-Kinder als Erben generationenübergreifender Verpflichtungen einen familientherapeutischen Beitrag, in zweiter Linie einen sozio-ethischen Beitrag zur Aufarbeitung der NSVergangenheit im Rahmen einer zu stiftenden menschlichen Gerechtigkeitsordnung. Kritisch formuliert unternimmt sie in Gestalt der Schuldigsprechung der Väter einen Exorzismus, der die väterlichen Anteile im familiären Erbe abzuspalten versucht, um Verantwortungsentlastung zu betreiben. Was das Risiko nach sich zieht, dass sich durch die im Rahmen der imaginativen Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte vollzogene Negation des Vaters eine Gegenidentität entwickelt, so dass das Abgelehnte erst recht in Gestalt von Phantasmagorien des väterlichen Tuns über die Psyche der Kinder Macht gewinnt. Kommt doch Reimut Reiche zufolge in dem »manisch-gewalttätigen Rigorismus«, in dem das Band zwischen Eltern und Kindern durchtrennt wird, »das unbewußte intergenerationelle Schuld-Thema der Revolte unverstellt zum Ausdruck«, bestätigt gerade »die Grausamkeit der Abrechnung […] die Bindung dessen an die Schuld, der von ihr per Handstreich sich freisprechen will«.816 Unabhängig von der Bewertung: Ist die Familienherkunft das Schicksal, so gleicht die Väterliteratur dem Versuch, aus dem Zustand des Beschriebenwordenseins in eine Position der Selbstbeschreibung zu gelangen, das Schicksal in einer zum literarischen Text transformierten Vergeltungsdynamik abzustreifen.

816 Reiche (1988), 67.

3. Narrative Zeugenschaft – W.G. Sebald: Austerlitz Wir werden eine neue Ruinenmalerei und -dichtung bekommen, aber sie wird anders sein als die des achtzehnten Jahrhunderts. (Victor Klemperer : LTI) Die Beschreibung des Unglücks schließt in sich die Möglichkeit seiner Überwindung ein. (W.G. Sebald: Beschreibung des Unglücks)

Vorbemerkung: Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen Gemessen an den politromantischen Vorstellungen der 68er-Bewegung mit einem zu erkämpfenden Reich der Freiheit, das sich durch eine »Rätedemokratie auf allen Ebenen und in allen Bereichen, nichtentfremdete Arbeit, selbstbestimmtes Leben und Lernen, antiautoritäre Erziehung, eine Welt ohne Gewalt und gleichwohl ohne Triebverzicht«817 auszeichnen sollte, musste die seit dem Beginn des Wintersemesters 1968/69 ins Stocken geratene Revolte zunehmend ernüchternd wirken. Ein Zeichen dafür waren die wachsenden Querelen innerhalb des SDS, dessen Selbstauflösung im Frühjahr 1970 nur noch organisatorisch vollzog, was im Ideologischen längst stattgefunden hatte: eine Zersplitterung nämlich, die sehr viel weiter ging als der bekannte Grundkonflikt zwischen Traditionalisten und Antiautoritären. Auf der Suche nach politischen Bündnispartnern drehte sich letztlich alles um die Frage der Gewalt.818

Während also für einen kleinen Teil der Rebellierenden der Weg in die Gewalt, konkret, in den Untergrund einer terroristischen Stadtguerilla führte, ließ sich der größere Teil geleitet von dem Wahlversprechen eines »modernen Deutschland« in die Realpolitik der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt einbinden oder ging in den Neuen sozialen Bewegungen (Frauen-, Ökologie- oder Friedensbewegung) auf. Bedenkt man, dass die deutsche Eigenart der Jugendbewegung um 1968 hauptsächlich auf den Umgang mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen zurückgeht, so geraten die nicht gewaltbereiten Kritiker der ›unbewältigten Vergangenheit‹ nach 1970 in ein sich zuspitzendes Dilemma: Die Haltung, es handle sich bei der BRD um einen faschistischen Nachfolgestaat, wird zunehmend von maoistischen, trotzkistischen und gewaltbereiten Split817 Frei (2008), 218. 818 Frei (2008), 149.

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tergruppen mit dem Postulat monopolisiert, dass ein Kampf gegen den Faschismus nur über einen Kampf für den Sozialismus führe. Umgekehrt bedeutet das für diejenigen, die sich nicht von extremistischen Sektierern vereinnahmen lassen möchten, dass sie ihre Unzufriedenheit über die unaufgeräumten Lasten der NS-Vergangenheit entweder im Rahmen der etablierten Parteienlandschaft oder als individuellen moralischen Protest zum Ausdruck bringen müssen. So verwundert es nicht, dass in der Väterliteratur zwei Motive einer moralischpolitischen Selbstpositionierung ineinandergreifen: Eine Enttäuschung über das Scheitern eines gesellschaftlichen Selbstreinigungsprozesses, der die vom Dritten Reich herrührende Kontinuität der Funktionseliten, des politischen Systems und seiner Institutionen durchbricht, gepaart mit dem Wunsch nach einer zumindest vor dem eigenen Familienhintergrund vollzogenen Distanzierung von der NS-Last. Anders gesagt: Das Gefühl, fortwährend in einem gesellschaftlichen Umfeld schuldhafter und ungesühnter Vergangenheit leben zu müssen, steigerte das Bedürfnis nach einer größtmöglichen Zurückweisung der biokulturellen Abstammung. Wenn schon durch ein kritisches Bewusstsein kein gesellschaftlich umfassender aufklärerischer Umgang mit der Vergangenheit etabliert werden konnte, wenn zudem auch der intergenerationelle Familiendialog aufgrund affektiver und kommunikativer Blockaden keinen Erfolg versprach, so sollte zumindest in der ästhetisch-literarischen Sphäre der NS-Geist der Väter gebannt werden. Wie gezeigt: In der Väterliteratur wird den familiären Erblassern der NS-Zeit der Prozess gemacht. Berücksichtigt man den Abstand von etwa einem Jahrzehnt zwischen der Hochphase der Studentenbewegung und der Konjunktur der Väterliteratur, so fällt es schwer, die nachgerade manische Fixierung der schreibenden Kinder auf ihre NS-verstrickten Eltern zu übersehen. Und das, obwohl es sich bei nahezu allen von ihnen um Kriegskinder handelt, also um zwischen 1930 und 1945 Geborene819. Mit anderen Worten: So sehr sie sich um ein lückenloses Porträt ihrer elterlichen NS-Vergangenheit bemühten, so sehr ignorierten sie ihren Status als Kriegskinder und damit ihre eigene Involviertheit in die NS-Geschichte samt der damit verbundenen Beschädigungen. Man könnte die Nichtthematisierung der eigenen Kriegskindheit im politisch-moralischen Vergangenheitsdiskurs als blinden Fleck der 68er-Generation diagnostizieren, wäre da nicht mit Michael Rutschky eine wichtige Ausnahme zu verzeichnen. In seinem 1980 publizierten Essay Erfahrungshunger unternimmt Rutschky den Versuch, die »zahllosen unruhigen Suchbewegungen, die geradezu

819 Vgl. zur Abgrenzung der Angehörigen der Jahrgänge 1930 bis 1945 sowie zu einer soziologischen Analyseperspektive auf die Kriegskindergeneration Grundmann/Hoffmeister (2007).

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programmatisch verwirrenden Tätigkeiten und Tendenzen«820 der 68er-Generation zu bilanzieren. Er besinnt sich in diesem Zusammenhang auf seine frühe Kindheit: Als der Krieg zu Ende, als der Hitlersche Staat besiegt worden war, bin ich zwei Jahre alt gewesen. Man traut der Wahrnehmung so kleiner Kinder im allgemeinen nicht viel zu, und ich will auch nicht behaupten, daß ich damals die Bedeutung der Panzerkolonne verstanden hätte, der amerikanischen Panzerkolonne, die die Kleinstadt in Norddeutschland en passant eingenommen hatte. […] Jedenfalls ist eine ebenso leise wie tiefreichende Angst vor Sirenengeheul und Explosionslärm geblieben, und ein Hund, der sich am Silvesterabend jaulend in eine Ecke zu verkriechen sucht, die von dem Geräusch frei wäre, kann mich mit übertrieben mitleidiger Anteilnahme erfüllen. Ich will nicht zuviel aus dieser Empfindlichkeit machen. Aber sie verweist doch auf Reste dieses Krieges bei einer Generation, von der man lange angenommen hat, sie sei unbefangen, unbelastet, brauche keine Angst und Schuld zu empfinden. In andern Fällen als dem meinen sind diese Erfahrungen unvergleichbar schwerer, traumatisch gewesen.821

Rutschky verleiht der Überzeugung Ausdruck, dass sich bestimmte, auf Kindheitserlebnisse des Zweiten Weltkriegs zurückgehende Nachwirkungen und Prägungen nicht sinnvoll als bloß individuelle Erfahrungen oder Idiosynkrasien auflösen lassen, sondern als generationsspezifische Erfahrungen (etwa Flucht und Vertreibung, Erleben von Tod und Zerstörung, dann Desorganisation und Vaterlosigkeit in der Nachkriegszeit) samt der Gehalte eines daraus resultierenden Lebensgefühls in Augenschein genommen werden müssen. So wurde die Generation der Kriegskinder ja nicht nur von dem Bewusstsein bestimmt, nach 1945 noch einmal von vorn anzufangen, sondern eben auch von innerfamiliären Abwehraffekten und dem Versuch, deutsche Traditionen abzuscheiden. Das dialektische Ineinanderwirken dieser beiden Aspekte bereits zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt reflektiert zu haben822, macht Rutschkys Essay zu einem bedeutenden Zeugnis für eine am teleskopischen Imaginären orientierte 820 Rutschky (1980), 68. 821 Rutschky (1980), 184 f. Vgl. dazu folgende, eine ähnliche Phänomenologie aufweisende Beschreibung aus Christa Wolfs Kindheitsmuster : »In diesem Augenblick gehen im Nachbarort lange die Feuersirenen, und kurz darauf kommen von der Hauptverkehrsstraße her die Signalhörner mehrerer Feuerwehrwagen. Daß euch – Leuten deines Alters – jede Sirene immer noch in die Glieder fährt, braucht nicht gesagt zu werden. Wieder – blasser natürlich als in den ersten Jahren nach dem Krieg – geht es im Halbschlaf die Kellertreppe hinunter, legt sich die dumpfe Kühle des Luftschutzkellers, des einstigen Bierkellers, auf die Brust.« (Wolf [2000], 441) 822 Wenn auch auf eine suchende, vorläufige Weise, wie der Autor selbst am Ende des einschlägigen Kapitels Stücke zu einer Theorie des hermeneutischen Raubbaus eingesteht: »Ich werde ungenau, ich will zuviel auf einmal sagen, ich sollte aufhören.« (Rutschky [1980], 192)

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Wirkungsforschung des Nationalsozialismus.823 Erstaunlich nur, dass Rutschky mit dieser Diagnose ziemlich allein dastand, dass sich die Angehörigen der 68erGeneration hinter einer Mauer aus Empörung und Anklage verschanzten und den langfristigen Spuren, welche die Kriegserschütterungen in ihren (früh-) kindlichen Psychen vermutlich hinterließen, grundsätzlich nicht nachgehen wollten.824 Von einem psycho- bzw. familientherapeutischen Standpunkt aus betrachtet, formuliert Tilmann Moser die Konsequenzen dieser Argumentationslinie wie folgt: »Selbst die zweite Generation, die Kriegs- und Nachkriegskinder, hätte noch Hilfe gebraucht für den Umgang mit dem vergifteten Untergrund.«825 Es spricht also einiges dafür, dass man der 68er-Generation ihrerseits eine unzureichende Aufarbeitung der Geschichte attestieren könnte, dass nicht zuletzt die fehlende Sensibilität für die eigenen Kriegserschütterungen in Beziehung zu setzen wäre zu dem empathiefreien Rigorismus, der die Elterngeneration vor den Richterstuhl zog. Die meisten 68er ließen mithin die Gelegenheit, über das private Gespräch und den persönlichen Erfahrungsaustausch im intimen Rahmen einen vor den Maßstäben der öffentlichen Moral geschützten Raum zur Entwicklung eines auf Familienerlebnissen basierten Geschichtsbewusstseins zu etablieren, ungenutzt verstreichen. Wäre diese Chance nicht vergeben worden, so hätten, darf man vermuten, einige Verhärtungen im Sozialsystem Familie wohl abgemildert oder gar vermieden werden können.826 Folgt man Adornos Postulat, wonach »das Bewußte niemals so viel Verhängnis mit sich führen [könne] wie das Unbewusste, 823 Komplementär dazu stellte Adolf Muschg mit seinen Frankfurter Poetikvorlesungen über Literatur und Therapie (ebenfalls 1980) die autortherapeutischen Zwecke heraus, die eine literarische Behandlung von autobiographisch grundierten transgenerationellen Transfers beanspruchen konnte. 824 Vgl. – mit Blick auf Rutschky – Bude (1997), 295: »Wir stoßen hier auf eine andere Geschichte der Achtundsechziger-Generation, die frühere Ursprünge und tiefere Lagerungen des gemeinsamen Lebensgefühls und Problembewußtseins der um 1940 Geborenen an den Tag legt. Diese Geschichte beginnt in den Luftschutzkellern des Endkriegs.« Brinkmann (1979), 356, spricht von seiner Generation als »Ruinenkinder, Bombensplitterkinder«, als »Gerümpel-Generation, hastig und mit Angst vor dem Krieg oder in den ersten Kriegstagen zusammengefickt«. 825 Moser (1992), 401. 826 So bedauert es Peter Schneider 40 Jahre nach seiner Hochphase als Aktivist der Berliner Studentenbewegung, dass er – ganz in Einklang mit dem historischen Satz von Gudrun Ensslin: »Mit einer Generation, die für Auschwitz verantwortlich ist, kann man nicht diskutieren.« – damals in seinem Vater »nur noch einen Vertreter der ›Tätergeneration‹ erkennen wollte«. Stellvertretend für das Ganze der Bewegung bekennt Schneider retrospektiv : »Trotz oder wegen ihres mangelhaften Wissens war den 68ern im Prinzip jeder, der in Amt und Würden war, ja eigentlich jeder über vierzig verdächtig und der stummen Frage ausgesetzt: Was hast du damals gemacht, damals vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren? Zugegeben, man stellte diese Frage lieber Passanten, die die Demonstranten ins ›Lager‹ oder ins ›Gas‹ schicken wollten, als den eigenen Eltern – wir schonten unsere Eltern, um uns selbst zu schonen.« (Schneider, P. [2008], 186, 126)

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das Halb- und Vorbewußte«827, so ergibt sich, wenn man die Nichtthematisierung der kriegsbedingten Beschädigungserfahrungen der 68er auf das Unbewusste (der Traumatisierungen) zurückführt, folgende Frage: Was resultierte aus dieser Abschattung von persönlichen Geschichtsanteilen828 und inwieweit gelang es der 68er-Generation in den nachfolgenden Jahrzehnten, diese untergründigen Schrecken der Vergangenheit in die Dimension des Bewussten zu überführen? Die 68er haben selbst einiges dazu beigetragen, dass sie in ihrer aktiven Prominenzphase nicht als Kriegskinder wahrgenommen wurden; ging es ihnen doch nicht um historisch-psychologische Selbstaufklärung, sondern um die Anprangerung einer unaufgearbeiteten Vergangenheit, sprich, einer personellen wie institutionellen Kontinuität vom Nationalsozialismus zur BRD. So attestiert Ulla Roberts dieser Generation, die von den Älteren jene rückhaltlose Transparenz forderte, welche sie im Selbstumgang vermied, dass ein Dialog zwischen den Generationen auf diese Weise nicht gelingen konnte: »Gefühle und Fragen über die eigene Betroffenheit als Kinder von den Kriegserlebnissen an der deutschen ›Heimatfront‹ zuzulassen, war für diese Generation damals aufgrund der unaufgearbeiteten NS-Geschichte sehr schwer; es wäre politisch nicht korrekt gewesen.«829 Je nach Perspektive kann man es, wie Tilmann Moser das tut, als »tragisch« bezeichnen, dass durch die inquisitorische Haltung der Täter- und Mitläufer-Kinder und die – nicht zuletzt dadurch sich reaktiv verhärtende – Schweigefront der Eltern »die Bewältigung im Sinne eines Sprechen-Könnens in einem geschützten Raum noch einmal um ein oder zwei Jahrzehnte hinausgeschoben«830 wurde. Oder aber man beschreibt, wie Micha Brumlik dies tut, die Kriegskindergeneration als Opfer einer sich erst allmählich lösenden Traumatisierung, einer Traumatisierung, die über das, was Alexander und Margarete Mitscherlich bezüglich der ›Unfähigkeit zu trauern‹ feststellten, insofern hinausgeht, »als hier nicht Verdrängungsleistungen von Erwachsenen zur Debatte stehen, sondern die Traumata von Kindern«831. Geprägt durch den äußerst komplexen Zusammenhang »von transgenerationaler Delegation, von Abwehridentifikation, 827 Vgl. im Zusammenhang: »Mir selbst will es eher scheinen, das Bewußte könne niemals so viel Verhängnis mit sich führen wie das Unbewußte, das Halb- und Vorbewußte. Es kommt wohl wesentlich darauf an, in welcher Weise das Vergangene vergegenwärtigt wird; ob man beim bloßen Vorwurf stehen bleibt oder dem Entsetzen standhält durch die Kraft, selbst das Unbegreifbare noch zu begreifen.« (Adorno [1977], 569) 828 Norbert Frei (2008), 109, vermutet in diesem Zusammenhang z. B., »dass in dem Eintreten für ein geschundenes Volk [sc. den Vietnamesen; M. O.] und in der Wahrnehmung der USA als Aggressor zum Teil auch unbewusste Identifikationsbedürfnisse und Momente des Kompensatorischen eine Rolle spielten, deren tiefere Wurzeln in generationsspezifischen Erfahrungen lagen«. 829 Roberts (2007), 319. 830 Moser (1992), 401. 831 Brumlik (2005), 156.

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scheiternder Empathie«832, wurden die 68er als Kriegskindergeneration, obwohl viele ihrer einflussreichen Persönlichkeiten – wie Rudi Dutschke (1940 – 1979) oder Hans-Jürgen Krahl (1943 – 1970) – Kriegskinder waren, recht eigentlich erst seit der Wiedervereinigung Deutschlands entdeckt. Mit diesem Rückblick auf die 68er-Generation unter neuen Vorzeichen koinzidiert ein gehäuftes Auftreten multigenerationeller Erinnerungsliteratur, ein Strom, der seit der Wende 1989/1990 bis heute nicht abreißt. Die Väterliteratur bildet, wie im vorigen Kapitel dargestellt, mit ihren auf das Tun des Vaters während der NS-Zeit sowie sein Verhalten nach dem Krieg fokussierten Formen der Auseinandersetzungen einen ersten literarischen Höhepunkt der familiendynamischen Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Zum Austrag kommt bei der Erinnerungsliteratur nach der Wende, die – unter literaturgeschichtlichen Vorzeichen betrachtet – eine Transformation der Väterliteratur ausmacht, wie die mit dem Holocaust, Krieg und Vertreibung verknüpften Erfahrungen innerfamiliär bearbeitet und tradiert werden.833 Seit dem Übergang von der Bonner zur Berliner Republik nämlich vollzieht sich eine Erinnerungswende, geht die Erinnerung der Zeitzeugen des Nationalsozialismus (Opfer- wie Tätergeneration) in die verschiedenen Formen des kulturellen Gedächtnisses über. Konsequenterweise richtet sich die Aufmerksamkeit während dieser erinnerungspolitischen Übergangszeit besonders auf die Generation der Kriegskinder, die weder über den authentischen Erfahrungsschatz der Elterngeneration verfügt noch über die historische Distanz der Enkelgeneration834. Den eigentümlichen Zwischenstatus dieser Generation bestätigt auch Gabriele Rosenthal mit ihren Befunden aus der Biographieforschung: Die Kriegskinder können sich kaum an ihre Kriegserlebnisse erinnern, meist verfügen sie über nur einzelne isolierte Erinnerungsbilder und selten über in Erzählungen übersetzbare Erinnerungen. Die Spuren ihrer Kriegserlebnisse, die sie selbst oft gar nicht als solche verstehen, finden wir in ihren bis heute auftretenden Ängsten bei Probealarm von Sirenen, bei Flugzeuggeräuschen, bei Brandgeruch oder vor dunklen Kellerräumen.835

Blickt man von heute aus auf den Erinnerungsdiskurs der Kriegskinder zurück, dann macht die von der 68er-Bewegung in Szene gesetzte Abrechnung mit den im Nationalsozialismus verstrickten Vätern das Herzstück aus. Diese Betrachtungsweise, die die westdeutsche Perspektive (der Nachkommen von Nazi-Tätern bzw. -Mitläufern) zum Maßstab einer retrospektiven Verallgemeinerung macht, erweist sich spätestens nach 1989 als obsolet. Die erinnerungskulturelle Konstellation verändert sich nämlich erheblich, wenn man die Perspektive der Opfer des 832 833 834 835

Brumlik (2005), 152. Vgl. dazu besonders Welzer (2004a); Eigler (2005); Assmann (2007). Vgl. zu der Generationenabfolge Assmann (2007), 31 – 69; Rosenthal (1997). Rosenthal (1997), 70.

Erinnerungsverhandlungen: Luftkrieg und Literatur

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NS-Regimes bzw. die spezifisch ostdeutsche Perspektive mit einbezieht. Mit Blick auf die Literatur gesagt: In der die NS-Nachwirkungen von Kriegskindern thematisierenden Prosaliteratur sind zwei Unterscheidungen unverzichtbar, die zwischen den Opfern des NS-Regimes und den Täter- bzw. Mitläufer-Kindern, dann die zwischen den Protagonisten west- und ostdeutscher Provenienz. Denn die Art der persönlichen Belastung bzw. die gesellschaftspolitische Nachkriegskonstellation bildet die Ausgangssituation und den Rahmen für die Aufarbeitung der prägenden Kindheitserfahrungen. In diesem und den nächsten beiden Kapiteln sollen drei verschiedene Aspekte der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der historisierenden Familienerinnerungsliteratur der Nachwendezeit dargestellt werden. Zunächst wird anhand von W.G. Sebalds Austerlitz ein jüdisches Kriegskinderschicksal vermittels der Zeugenschaft eines Täterkind-Erzählers nachgezeichnet. Dann wird am Beispiel von Prosatexten Wolfgang Hilbigs (v. a. Alte Abdeckerei), Reinhard Jirgls Die Unvollendeten sowie Kurt Drawerts Spiegelland die nachgeholte Trauerarbeit von in Ostdeutschland sozialisierten (Nach-)Kriegskindern verdeutlicht. Dem wird schließlich mit Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders, Ulla Hahns Unscharfe Bilder, Dagmar Leupolds Nach den Kriegen und Ute Scheubs Das falsche Leben die Darstellung von spezifisch westdeutschen Familiengeschichten gegenübergestellt, in denen zumal die Selbsthistorisierung von Angehörigen der 68er-Generation manifest wird.

Erinnerungsverhandlungen: Luftkrieg und Literatur836 Kriegskinder sind in. Sie gründen Vereine und organisieren sich in Internetforen837, sind begehrtes Objekt des wissenschaftlichen Interesses838 und avancierten zum populären Sachbuchthema, über das sich vollmundige Schicksalsporträts schreiben lassen839. So verwundert es kaum, dass zu einem Zeitpunkt, zu dem die Kriegskindergeneration ins Rentenalter gekommen ist, die Kinder der Kriegskinder ihren Beschädigtenstatus anmelden und diesen mit transgenerationellen Traumatisierungen begründen840. Während das öffentliche Interesse an den Kriegskindern in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zunahm, machte man nicht immer viele Worte um die frühen Erfahrungen dieser Generation. Erfinden sich in diesem Zusammenhang auch die 68er, nämlich als Kriegskinder, neu? 836 Teile dieses Abschnitts (»Erinnerungsverhandlungen«) und des darauffolgenden Abschnitts (»Traumatische Sprachlosigkeit«) basieren auf meinem Aufsatz Ostheimer (2009a). 837 Vgl. http://www.kriegskinder.de. 838 Vgl. etwa Janus (2006); Fooken/Heuft/Radebold (2006). 839 Vgl. z. B. Lorenz (2003); Bode (2005). 840 Vgl. Ustorf (2008).

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Narrative Zeugenschaft – W.G. Sebald: Austerlitz

Ulrike Vedder konstatiert: »Die ›Generation der 68er‹ […], die sich zunächst – auch literarisch – als Kinder der ›Täter-Väter‹ definierte und dadurch von diesen absetzte, trägt nun vielfach das Label (und Selbstbild) einer ›Generation der Kriegskinder‹.«841 Fest steht, dass das nach der Wende von 1989/1990 sich steigernde öffentliche Interesse an den Kriegskindern Teil einer größer angelegten Veränderung in der deutschen Erinnerungskultur ist. Die mit der Wiedervereinigung verbundene Aufhebung der Nachkriegsordnung bildete eine Zäsur, die einen neuen Umgang mit der Epoche des Nationalsozialismus bewirkte. Fortan kreist die Erinnerungspolitik nicht mehr nur um die Schuld der Deutschen, um die eigene Täterschaft, sondern »richtet sich seit der Mitte der 1990er Jahre zunehmend auf die eigene Opferrolle, auf die traumatischen Kollektiverfahrungen der Deutschen während der alliierten Luftangriffe und auf die Opfer von Flucht und Vertreibung«842. Aufgrund des in der deutschen Nachkriegsgeschichte tradierten Dilemmas, »das ehrenhafte Verlierergedächtnis nicht vom traumatischen Tätergedächtnis trennen zu können«843, existierte bis in die 1990er Jahre bei Historikern wie Schriftstellern eine große Zurückhaltung, eigene Opfererfahrungen zu würdigen. Auf der Stelle drohte der Verdacht der Entlastung oder gar der moralischen Schuldaufrechnung. Aus der historischen Distanz von mehr als 50 Jahren sollte nun im Namen der Berliner Republik ein möglichst unvoreingenommener Blick auf die historischen Phänomene ermöglicht werden und die Fixierung auf die Schuldfrage in den Hintergrund rücken. Mit diesem Versuch, langgehegte Tabuisierungen abzuschütteln, geht jedoch, wie Ulrike Vedder betont, keine objektivierte, mit rationaler Urteilskraft erarbeitete aufgeklärte Distanz zum Endgültigvergangenen einher, sondern eine starke Emotionalisierung (und das heißt auch ›unkontrollierte‹ Vergegenwärtigung). Diese speist sich wohl v. a. aus drei Quellen: zum einen aus der unerwarteten Aktualisierung längst vergangener Vertreibungs- und Bombenkriegserfahrungen durch die nahen Kriege im Europa der 90er Jahre, in Jugoslawien bzw. im Kosovo; zum zweiten aus der Dynamik von Traumatisierungen, in deren Perspektive mehrere Jahrzehnte des Verharrens im Trauma keine lange Zeit sind und deren Auflösung bzw. Zum-Sprechen-Bringen ohne Emotionen undenkbar ist; zum dritten aus den familialen Verstrickungen, die mit der neuen Perspektive auf die Elternund Großelterngeneration und deren Täter- und Opferschaft einhergehen und die sich besonders in der Literatur erkennen lassen, die in den letzten Jahren so auffällig oft Geschichte als Familiengeschichten – und als deutsche Opfergeschichten – erzählt.844

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Vgl. Vedder (2005), 70 f. Beßlich/Grätz/Hildebrand (2006), 10. Assmann/Frevert (1999), 48. Vedder (2005), 70.

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Die Schwerpunktverlagerung von der Aufarbeitung des Holocausts hin zu persönlichen Erlebnisberichten und Erinnerungsgeschichten, vom Täter- zum Opferdiskurs, hat der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler W.G. Sebald mit seiner im Herbst 1997 in Zürich gehaltenen Vortragsreihe zum Thema Luftkrieg und Literatur wenn nicht ausgelöst, so doch entscheidend befördert845. Ohne Sebalds Poetikvorlesungen und die sich daran anschließende Debatte aufarbeiten zu wollen846, seien doch zumindest seine Ausgangsthese und seine zentralen Argumente kurz resümiert. Den Stein des Anstoßes bildet für Sebald der Luftkrieg insofern, als in Deutschland fast 600.000 Zivilpersonen ums Leben kamen und rund 7,5 Millionen Menschen obdachlos wurden847, diese Katastrophe aber »kaum eine Schmerzensspur hinterlassen zu haben [scheint] im kollektiven Bewußtsein«848. Die diagnostizierte Diskrepanz zwischen dem objektiven Vernichtungsgeschehen und der unverhältnismäßig geringen Einschreibung ins nationale Gedächtnis führt Sebald in der Hauptsache darauf zurück, dass die mit den alliierten Bombenangriffen gemachten Zerstörungserfahrungen »ein schandbares, mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis«849 ausmachten. Das Schweigen über den Luftkrieg, über den Sebald zufolge ein unausgesprochenes Darstellungstabu verhängt wurde, beklagt er zumal hinsichtlich der Literatur. So moniert er »die Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren, das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis«850, und kommt zu dem Fazit: »Gewiß gibt es den einen oder anderen einschlägigen Text, doch steht das wenige uns in der Literatur Überlieferte sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht in keinem Verhältnis zu den extremen kollektiven Erfahrungen jener Zeit.«851 Für das Sich-Ausschweigen bringt Sebald, ohne dies zu systematisieren, unterschiedliche Gründe in Anschlag, wobei ihm vor allem ein individual- und ein sozialpsychologischer Aspekt wichtig zu sein scheinen: Zum einen sei bei 845 Die Vorlesungen erschienen 1999 in überarbeiteter und ergänzter Version als Buch. 846 Umfassend tat dies Hage (2003b); ein Wiederabdruck der wichtigsten Feuilleton-Artikel zu dieser Debatte findet sich bei Hage/Moritz/Winkels (1999), 249 – 290. Vgl. überdies Vedder (2005); Arnold-de Simine (2006); Baumgärtel (2010), 145 – 174. 847 Sebald (2001a), 11. 848 Sebald (2001a), 12. 849 Sebald (2001a), 17. Noch die 1990 publizierte Studie des DDR-Historikers Olaf Groehler Bombenkrieg in Deutschland wurde kaum wahrgenommen. Dagegen stieg das Interesse am Luftkrieg in Deutschland nach der Sebald-Debatte sprunghaft an, was sich am Verkaufserfolg und der in der breiten Medienöffentlichkeit geführten Kontroverse über das 2002 erschienene Buch von Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 – 1945 ablesen lässt. Vgl. zur Dokumentation der Debatte über Der Brand Kettenacker (2003). 850 Sebald (2001a), 7. 851 Sebald (2001a), 75 f. Zur Frage nach der Triftigkeit von Sebalds These, die hier nicht diskutiert wird, vgl. bes. Hage (2003b), 113 – 130.

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den unmittelbar Betroffenen, denen es noch gelang, sich zu retten, eine traumatische Überwältigungserfahrung zu konstatieren, eine »Überladung und Lähmung der Denk- und Gefühlskapazität«852, die eine Rekapitulierung der Erfahrung entweder gar nicht mehr oder nur noch in stereotypen Sprech- und Erzählmustern ermöglicht. Zum andern finde sich neben diesem Inkommensurablen des Erlebten bzw. der klischierten Artikulationsformen im kollektiven Seelenhaushalt der Deutschen ein Moment der Schuld- und Schamangst. Demnach erkläre sich das ungeschriebene Verbot, sich öffentlich über die Vernichtung des eigenen Lebensraums zu äußern, aus der Angst vor der Demütigung und aus einem impliziten Schuldeingeständnis; dies zumal, »wenn man bedenkt, daß die Deutschen, die doch die vollständige Säuberung und Hygienisierung Europas sich vorgesetzt hatten, sich wehren mußten gegen die jetzt in ihnen aufkommende Angst, sie seien in Wahrheit selber das Rattenvolk«853. Indem Sebald kritisiert, dass die Deutschen die eingeübte Haltung des Wegschauens im Nachkrieg beibehielten, um nicht erkennen zu müssen, dass sie die Vernichtung ihrer Städte selbst provozierten, schließt er an eine wesentliche Argumentationsfigur der Mitscherlichs an; brachten diese doch vor, dass »die natürliche Konsequenz«854 von Verlusten Trauer sei, auf die Verletzung von Idealen hingegen Scham folge. Bei den Deutschen nach 1945 sei dieser psychologische Mechanismus durch ein Vermeiden von Schuld, Trauer und Scham außer Kraft gesetzt worden; wenn sich bei ihnen überhaupt Erinnerung einstellte, dann versuchten sie die eigene Schuld gegen die der anderen aufzurechnen. »Bei diesen Versuchen, Schuld abzuschütteln, wird bemerkenswert wenig der Opfer gedacht – gleichgültig, ob es sich um die eigenen oder um die der Gegenseite handelt.«855 Das bereits von den Mitscherlichs markierte Versagen des kommunikativen Gedächtnisses der Deutschen ergänzt Sebald nun Ende der 1990er Jahre856 um ein – für ihn maßgebliches – Versäumnis im kulturellen Gedächtnis. Denn die Verve und der Nachdruck, mit denen er die Vernachlässigung des Luftkriegs als literarisches Thema beklagt, werden nur dann plausibel, wenn er den Schriftstellern eine besondere Aufgabe bei der Konstitution des nationalen Gedächtnisses zuschreibt. So war Sebald zufolge

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Sebald (2001a), 33. Sebald (2001a), 41. Mitscherlich (1977), 36. Mitscherlich (1977), 36 f. Sebald trug das Thema freilich schon eine lange Zeit mit sich herum und legte bereits 1982 in dem Aufsatz Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung eine Vorform seiner Thesen zu Luftkrieg und Literatur vor (jetzt abgedruckt in: Sebald [2006], 69 – 100).

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die jüngere Generation der gerade heimgekehrten Autoren dermaßen fixiert auf ihre eigenen, immer wieder in Sentimentalität und Larmoyanz abgleitenden Erlebnisberichte aus dem Krieg, daß sie kaum ein Auge zu haben schien für die allerorten sichtbaren Schrecken der Zeit. Selbst die vielberufene, programmatisch einen unbestechlichen Wirklichkeitssinn sich vorsetzende Trümmerliteratur, in der es nach Heinrich Bölls Bekenntnis hauptsächlich um das ging, ›was wir … bei der Heimkehr vorfanden‹, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein auf individuelle und kollektive Amnesie bereits eingestimmtes, wahrscheinlich von vorbewußten Prozessen der Selbstzensur gesteuertes Instrument zur Verschleierung einer auf keinen Begriff mehr zu bringenden Welt.857

Die ästhetisch-moralische Verpflichtung der Nachkriegsschriftsteller auf eine Literatur, die »einigen Aufschluß über die wahre Lage«858 zu erkennen gibt, führt zum Kern von Sebalds literarischem Selbstverständnis: zu einer Poetik der Erinnerung nämlich, die darauf zielt, Dichtungsformen zu etablieren, kraft derer die Schrecken der Menschheitsgeschichte angemessen aufgehoben werden können. Das Problem an Sebalds grundsätzlich normativ vorgetragenen Überlegungen besteht darin, dass er zwar mit Negativbeispielen nicht geizt, aber kaum positiv zu verstehende Hinweise für eine Poetik der Zerstörung gibt.859 So wendet er sich gegen »die Herstellung von ästhetischen oder pseudoästhetischen Effekten«860, gegen die Aufbietung von »pseudohumanistischen und fernöstlichen Philosophismen«861, und gegen eine »fatale[] Neigung zur philosophischen Überhöhung und falschen Transzendenz«862, die er z. B. in Hermann Kasacks Roman Die Stadt hinter dem Strom (1947) und in Hans Erich Nossacks Rechenschaftsbericht Der Untergang (1948) am Werke sieht. Stattdessen fordert er, »die unerhörte Realität der kollektiven Katastrophe«863 zu präsentieren, und propagiert angesichts der totalen Zerstörung ein »Ideal des Wahren, das in seiner […] gänzlich unprätentiösen Sachlichkeit beschlossen ist«864. Anstatt einer Poetik der Tabuisierung und Mythologisierung, die die Gräuel und die Zerstörung wegeskamotiert und die menschengemachte Katastrophe zu einer Apokalypse stilisiert, votiert Sebald für einen literarischen Realismus, der ungeachtet aller Widrigkeiten seiner Vermittlerrolle von Wissen und Erfahrung im Sinn einer Zeugenschaft verpflichtet ist865 und vor einer Wirklichkeit, die einem 857 Sebald (2001a), 17. 858 Sebald (2001a), 17. 859 Vgl. zur Rekonstruktion einer Poetik, in deren Zentrum die Erinnerung an die »Naturgeschichte der Zerstörung« steht, Baumgärtel (2010). 860 Sebald (2001a), 59. 861 Sebald (2001a), 56. 862 Sebald (2001a), 57. 863 Sebald (2001a), 56. 864 Sebald (2001a), 59. 865 Vgl. Baumgärtel (2010), 165 – 174.

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die Sprache zu verschlagen droht, nicht durch Wegschauen und Verdrängung kapituliert. Mit dem Text Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945866 des 1932 geborenen Alexander Kluge liefert Sebald schließlich auch ein Beispiel für eine gelungene »archäologische Arbeit«867. Kluge versuche anhand seiner »authentischen Fundstücke«868 zu zeigen, dass die Halberstädter in Bezug auf den Luftangriff noch gar nicht über das menschliche Vermögen verfügt hätten, um das Ausmaß der Katastrophe zu taxieren und zu verarbeiten. Dies jedoch heißt für Kluge nicht, daß, umgekehrt, auch jede retrospektive Untersuchung der Geschichte solcher Katastrophen vergebens wäre. Der Lernprozeß, der sich im nachhinein vollzieht, ist vielmehr – und das ist die raison d’Þtre von Kluges dreißig Jahre nach dem Ereignis zusammengesetztem Text – die einzige Möglichkeit, die in den Menschen sich regenden Wunschvorstellungen umzubiegen auf die Antizipation einer Zukunft, die nicht schon von der aus verdrängter Erfahrung resultierenden Angst besetzt wäre.869

Die poetologische Prägnanz, die Sebald hier an den Tag legt, hat in seinem Werk Seltenheitswert. Ob sich hinter der emphatischen Fremddeutung nicht auch ein Gutteil einer Selbstaussage verbirgt, ob Sebald nicht zugleich auch von seiner eigenen Erinnerungsprosa spricht, wird hinfort zu zeigen sein. Soviel freilich lässt sich jetzt schon sagen: Sebald skizziert die individuelle geschichtliche Überwältigungserfahrung (hier beispielhaft der vom Luftangriff betroffenen Halberstädter) als Bedingung für die Einsicht in die Logik der kollektiven menschengemachten Katastrophe(n).870 Nur wenn diese Überwältigungserfahrung nicht verdrängt werde, könne eine angstfreie Zukunftsgestaltung einsetzen, da nur ein Lernprozess, der »die gesellschaftliche Organisation des Unglücks«871 möglichst detailliert beschreibe und transparent mache, die Wiederkehr des Verdrängten, so Sebalds implizites Argument, zu vermeiden in der Lage sei. Sebald insistiert auf einer historischen Dialektik, deren moralpolitisch erstes Gebot lautet, »daß ein richtiges Verständnis der von uns in einem fort inszenierten Katastrophen die erste Voraussetzung darstellt für die gesellschaftliche Organisation des Glücks«872. Erstveröffentlicht im Jahr 1977, jetzt auch in Kluge (2000), 27 – 82. Sebald (2001a), 67. Sebald (2001a), 69. Sebald (2001a), 69. Vgl. dazu Mitscherlich (1977), 64: »Die Geschichte wiederholt sich nicht, und doch verwirklicht sich in ihr ein Wiederholungszwang. Zu durchbrechen ist er nur, wo historische Ereignisse eine Bewußtseinsveränderung hervorrufen. Das soll heißen, daß es gelingt, bisher unkontrollierbar Wirksames in seiner Motivation vollkommener und zutreffender zu verstehen.« 871 Sebald (2001a), 70. 872 Sebald (2001a), 70.

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Damit verkoppelt Sebald nicht nur die individual- und sozialpsychologische Ebene geschichtlicher Leiderfahrung miteinander, sondern er installiert überdies den Schriftsteller als modellhaftes moralisch-ästhetisches Gewissen, das er mit dem Aufklärungsauftrag der historischen Reflexion versieht, um innerhalb der Gesellschaft geschichtliche Lernprozesse zu initiieren. Welche Literaten sollten sich dafür besser eignen als solche, deren Biographie selbst von überwältigenden Geschichtserlebnissen grundiert ist?873 So verwundert es auch kaum, dass Sebald mit Alexander Kluge einen Autor exemplarisch hervorhebt, der als Kind seinerseits vom Bombenkrieg betroffen war : »Solche Erlebnisse«, so Kluge im Interview zu der prägenden Erfahrung, »wirken lange nach. Zunächst einmal macht so etwas träge. […] Aber 20 Jahre danach wird das immer intensiver, nun erschüttert mich das«874. Er formuliert die aus der Psychotraumatologie bekannte Dynamik, dass ein Verharren im Trauma auch über mehrere Jahrzehnte keine Seltenheit ist, die Wiederkehr starker Emotionen und fragmentierter Sinneseindrücke (sogenannte flash backs oder Rückblenden vom Traumageschehen) dagegen die Ausgangsvoraussetzung zu einem sprachlichen Ausdruck bzw. einer anderweitigen Aufarbeitung der traumatischen Erfahrung darstellt.875 Folgt man der Textchronologie von Luftkrieg und Literatur, so erscheint es nur konsequent, dass Sebald, der im Mai 1944 geboren wurde, im Anschluss an seine affirmativen Ausführungen zu dem Gefühlschronisten Alexander Kluge876, nunmehr einer autobiographischen Spur folgt und auf eigene Eindrücke aus der Kriegs- bzw. frühen Nachkriegszeit zu sprechen kommt. Wie ein später Widerhall von Rutschkys oben zitiertem Essay aus dem Jahr 1980 klingt es, wenn W.G. Sebald fast zwanzig Jahre später in den Züricher Poetikvorlesungen seine Kriegskindheit heraufbeschwört:

873 Vgl. hierzu beispielhaft die von Drewitz (1978), 112, geschilderte psychoökonomische Kathartik aus traumatischer Erfahrung und literarischem Bewältigungsimpuls: »Damals in den trümmerübersäten Straßen, im Niemandsland der toten Häuser, der ersoffenen SBahnschächte, der Volkssturmkolonnen, die in die Lager getrieben wurden, der kleinen Gruppen, die aus den KZ-Lagern und Zuchthäusern zurückkamen, in diesem Sommer, in dem jeder in abgerissener Uniform von Fragenden umdrängt wurde, in dem die blauen und grünen Fliegen und die braunen Ratten und die streunenden Katzen und die entsetzliche Wahrheit der Ermordung der Juden und der Brutalität der nazistischen Kriegsführung das Elend zum Inferno verwandelten und Mitleid und Mut nicht voneinander zu lösen waren, der Wunsch, nein, Zwang zu schreiben, diesen Widersinn zu entlarven und hinter dem Schmerz den Anfang zu finden.« 874 Hage (2003b), 203; vgl. ferner zu weiteren Schriftstellern mit nachwirkenden Kriegskindfahrungen das Kapitel »Die Kinder des Bombenkriegs«, 84 – 96, und die Autoren-Interviews in demselben Band, 135 – 286. 875 Vgl. Fischer (2000), 14 f. 876 Vgl. dessen zweibändiges Opus magnum mit dem Titel Chronik der Gefühle (2000).

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Bei Kriegsende war ich gerade ein Jahr alt und kann also schwerlich auf realen Ereignissen beruhende Eindrücke aus jener Zeit der Zerstörung bewahrt haben. Dennoch ist es mir bis heute, wenn ich Photographien oder dokumentarische Filme aus dem Krieg sehe, als stammte ich, sozusagen, von ihm ab und als fiele von dorther, von diesen von mir gar nicht erlebten Schrecknissen, ein Schatten auf mich, unter dem ich nie ganz herauskommen werde.877

Ähnlich äußert sich Sebald in einem im Jahr 2000 mit Volker Hage geführten Interview: »Ich hatte immer den Eindruck und habe den Eindruck in zunehmendem Maße, daß ich aus dieser Zeit stamme. Wenn man von Zeitheimat sprechen könnte, dann sind es für mich die Jahre 1944 und 1950, die mich am meisten interessieren.«878 Dieses Interesse, das sich bei dokumentarischen Aufnahmen aus dieser Zeit steigern könne bis zu dem »Gefühl einer Identität, eines Ursprungs […] – eines Ursprungs, von dem man sich herschreibt«879, verdanke sich dem ausgeprägten Gespür für eine Bewusstseinslücke: »Das alles überziehende Schweigen in den Familien und den Schulen über diese Zeit, zum Teil auch in der Literatur, hat mich dazu geführt, mit einer Art privaten Archäologie zu beginnen.«880 Der Rückgriff auf die eigenen, zum Teil vor- oder halbbewussten Kindheitserinnerungen resultiert also aus einer auf privater wie öffentlicher Ebene gleichermaßen gültigen Aussparung: Die damals, wie man meinen müßte, wahrhaftig nicht zu übersehende und die Physiognomie Deutschlands bis heute bestimmende Tatsache der Zerstörung fast all seiner größeren und zahlreicher kleineren Städte konstituierte sich in den nach 1945 entstandenen Werken als ein Sich-Ausschweigen, als eine Absenz, die auch für andere Diskursbereiche vom Familiengespräch bis hin zur Geschichtsschreibung bezeichnend ist.881

Als besonders stark empfindet Sebald dieses skandalöse Defizit in Bezug auf die Literatur, sei er doch aufgewachsen »mit dem Gefühl, es würde mir etwas vorenthalten, zu Hause, in der Schule und auch von deutschen Schriftstellern, deren Bücher ich in der Hoffnung las, mehr über die Ungeheuerlichkeiten im Hintergrund meines eigenen Lebens erfahren zu können«882. Sebalds Erinnerungen illustrieren exemplarisch, dass ein Schweige-Tabu bei 877 Sebald (2001a), 76 – 78. 878 Hage (2003b), 261. – Inzwischen hat sich über Sebalds Desinteresse an bzw. Entwertung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit seit den 1950er Jahren eine lebhafte Forschungsdiskussion entwickelt, die nun ihrerseits Sebald eine gewisse historische Ignoranz attestiert (vgl. Johannsen [2008], 61, 97, 102, 106; Fuchs [2004], 165; Medicus [2008], 68 f.; Krauß [2007], 505). 879 Hage (2003b), 260. 880 Hage (2003b), 260. 881 Sebald (2001a), 76. 882 Sebald (2001a), 76.

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den Kindern, die ahnungslos tagtäglich der Trümmer- und Ruinentopographie des Dritten Reichs ausgesetzt waren, gewaltige Verdachtsszenarien hervorrufen musste. Statt Aufklärung durch diskursive Aufarbeitung zu befördern, schlich sich bei den nicht-eingeweihten, wenngleich nach Erklärungen gierenden Heranwachsenden ein, sozialpsychologisch befördert, kaum zu kontrollierendes Imaginäres ein.883 Kurz gesagt: das Schweigen erzeugte – was Shakespeares Hamlet gleichsam archetypisch exemplifiziert – Phantasmen, monströse Vergangenheitsszenarien, die die Kriegskindergeneration mangels entsprechender Geschichtsaufklärung kreierten. Spätestens an dieser Stelle der Poetikvorlesungen, an der Sebald nach seiner Diagnose von einer vom Schweigetabu geprägten Nachkriegsgesellschaft und von einer – mit der Ausnahme von Alexander Kluge – die Bezeichnung »Trümmerliteratur« nicht verdienenden Nachkriegsliteratur schließlich bei der Archäologie seiner eigenen Poetik angekommen ist, tut es not, die Argumentation zu bündeln und mit allem Nachdruck auf Mitscherlichs Die Unfähigkeit zu trauern als Stichwortgeber im Hintergrund hinzuweisen.884 Legt man die in dem Aufsatz Konstruktionen der Trauer. Günter Grass und Wolfgang Hildesheimer aus dem Jahr 1983885 zu Beginn gemachten Ausführungen über Die Unfähigkeit zu trauern. Defizite in der Nachkriegsliteratur neben diejenigen von Luftkrieg und Literatur, so erscheint Sebalds Genese als literarischer Autor maßgeblich motiviert von dem Impuls, gegen folgende Klage anzuschreiben: »Der Abgrund zwischen Literatur und Politik in unserem Lande ist erhalten geblieben. Bisher scheint es noch keinem unserer Schriftsteller gelungen zu sein, mit seinen Werken ein Stück weit das politische Bewußtsein, die Sozialkultur unserer Bundesrepublik zu beeinflussen.«886 Während die Absenz von Trauer in der frühen Nachkriegszeit noch als »Notfallreaktionen« zu verstehen seien, ist es nicht weniger als fatal, dass »auch später keine adäquate Trauerarbeit um die Mitmenschen erfolgte, die durch unsere Taten in Massen getötet wurden«887. Für den geschichtsbewussten und verantwortungsvollen Schriftsteller ergibt sich mithin die Aufgabe, gegen die Gedächtnislosigkeit der Zeitgenossen eine literarische Trauerarbeit aufzubieten, die das Vergessen und Verdrängen sowie traumatisierende Erfahrungen durch die Rekonstruktion von Lebensgeschichten, die verloren zu gehen drohen, poetisch aufhebt und so zu einem Teil des 883 Vgl. zu der psychischen Dynamik von – besonders familiärem – Schweigen und Phantasiebildungen Rosenthal (1999b). 884 Einmal sogar nennt und bezieht sich Sebald direkt auf die Mitscherlichs, vgl. Sebald (2001a), 90. – Vgl. zum Zusammenhang von Lufkriegsessay und Die Unfähigkeit zu trauern auch Hahn (2004) und Mosbach (2008), 47 f. 885 Sebald (2006), 101 – 127. 886 Mitscherlich (1977), 57; ebenso zitiert in: Sebald (2006), 106. 887 Mitscherlich (1977), 35; ebenso zitiert in: Sebald (2006), 103.

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kulturellen Gedächtnisses macht. Resümiert man auf diese Weise die Poetik, die Sebald in Luftkrieg und Literatur entfaltet, so mag sie für alle seine seit Die Ausgewanderten von 1992 unternommenen Versuche, Lebensgeschichten von Außenseitern zumindest literarisch zu ›retten‹, gültig sein.888 Es finden sich jedoch darüber hinaus zwei Motive, die direkt zu seinem letzten, 2001 erschienenen Roman Austerlitz889 führen und die seine Zürcher Vorlesungen zu einem poetologischen Selbstverständigungs- und Vorbereitungstext für sein Opus magnum werden lassen. Erstens das Motiv des traumatischen Schweigens, das bei dem Protagonisten Austerlitz konkretisiert wird als ein durch ein Kindheitstrauma bewirkter Erinnerungsverlust, der in einer Sprachlosigkeit kulminiert.890 Zweitens das Motiv der Faszination durch das Unheimliche, die bei dem Ich-Erzähler das Interesse an den Beschädigten und den durch die menschliche Zerstörungsgeschichte hervorgerufenen Beschädigungen begründet. Am Leitfaden dieser beiden Motive wird hinfort eine zweistufige Analyse des Romans entfaltet, in der zunächst die Wiedergewinnung der traumatisch dissoziierten Kindheitsgeschichte des Protagonisten und dann die Spezifik des Erzählverfahrens behandelt wird. Beide Motive werden schließlich in einer Reflexion über die Poetik der Zeugenschaft zusammengeführt.

Traumatische Sprachlosigkeit In Luftkrieg und Literatur gibt Sebald die Erzählung einer Hebamme wieder, die im Sommer 1943 auf dem Bahnhof von Stralsund mehreren, dem Feuersturm in Hamburg entflohenen Flüchtlingen half. Zum Teil hätten die Mütter in ihren Gepäckstücken ihre ums Leben gekommenen Kinder dabei gehabt, was Sebald damit kommentiert, »dass es unmöglich ist, die Tiefen der Traumatisierung in den Seelen derer auszuloten, die aus den Epizentren der Katastrophe entkamen. Das Recht zu schweigen, das diese Personen in ihrer Mehrzahl sich nahmen, ist […] 888 Bereits Ernestine Schlant (2001), 288, bezeichnet in ihrer Deutung von Sebalds Die Ausgewanderten sein Schreiben als »Trauerarbeit. Sebald gedenkt der letzten hundert Jahre des Zusammenlebens von deutschen Juden und Nichtjuden und trauert um dessen unwiederbringlichen Verlust. Mit diesen vier Erzählungen hat er auf die von Alexander und Margarete Mitscherlich gestellte Diagnose der ›Unfähigkeit zu trauern‹ geantwortet und gibt zu verstehen, daß – wenigstens für sein Schreiben – die Zeit der Trauer gekommen ist.« 889 Sebald (2001b). 890 Dass es auch – gewissermaßen komplementär dazu – eine Sprachlosigkeit aus Angepasstheit gibt, betont Alexander Mitscherlich (1973), 373: »Der Neurotiker leidet mehr als der Wohlangepaßte; in vielem leidet er aber am Gleichen, was in der Angepaßtheit stumm geworden ist. Diese vegetative Sprachlosigkeit, zu der gesellschaftliches Dasein unter den Herrschaftsverhältnissen regrediert, ist ein zentraler, der Forschung würdiger Tatbestand, denn er ist das große Hindernis für die Emanzipation.«

Traumatische Sprachlosigkeit

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unantastbar«891. Die Dynamik psychischer Überwältigungserfahrungen sieht Sebald in ähnlicher Weise wie bei Opfern des Bombenkriegs auch bei Überlebenden des Holocausts am Werk.892 Wenn schwere Traumatisierungen geschehen, gibt es einen psychischen Mechanismus, der diese Erfahrungen im Schockerlebnis auslöscht, so daß sie nicht mehr zugänglich sind. Die Personen, die so etwas miterlebt hatten, fanden es schwer, darüber zu schreiben, aus verständlichen Gründen der Selbsterhaltung. Das heißt aber nicht, dass wir, die eine halbe Generation später Geborenen, diesen Modus weiterführen müssen. Wir können uns in der Retrospektive, aus der Distanz heraus rekonstruierend mit diesen Dingen auseinandersetzen.893

Just diese Konstellation, die Sprachlosigkeit des titelgebenden Protagonisten als einen traumatischen (Übergangs-)Zustand zu rekonstruieren, führt Austerlitz vor. Im Sinne einer formalen Anzeige lässt sich der individualpsychologische Prozess, den der Text vorstellt, wie folgt skizzieren: Eine über 50 Jahre lang praktizierte Erinnerungsabwehr in Bezug auf die eigene Lebensgeschichte führt bei Austerlitz zu einem Zusammenbruch mit einer »fast vollkommenen Lähmung [s]eines Sprachvermögens« (202). In Analogie dazu vollzieht sich die Wiedererlangung des Sprachvermögens durch lebensgeschichtliche Erinnerungen, durch die Rekonstruktion der vergessenen Kindheitsgeschichte. Der namenlose Ich-Erzähler spricht 1967 (vgl. 10) im Wartesaal des Hauptbahnhofs von Antwerpen einen einsamen jugendlich-blonden Mann namens Austerlitz an, der mit dem Sammeln von Materialien für seine kunsthistorische Dissertation beschäftigt ist. Über einen Zeitraum von 30 Jahren, also bis ins Jahr 1996, erstrecken sich hinfort die märchenhaft anmutenden Wiederbegegnungen der beiden, bei denen ein Thema dominant wird: Austerlitz’ Spurensuche nach seiner Kindheit. Austerlitz wusste nichts von seiner Herkunft und seinen Eltern. Der Dafydd Elias, als der er von einem strenggläubigen und schweigsamen Pfarrerspaar in Wales aufgezogen wurde, erfährt erst nach dem Tod der Zieheltern, die alle Spuren verwischt haben, im College davon, dass er eigentlich Jacques Austerlitz heißt und als viereinhalbjähriger Junge 1939 (vgl. 198) in einem Kindertransport von seinen jüdischen Eltern aus Prag ins rettende England geschickt wurde. Im Anschluss an sein Studium lehrt er von Beginn der 1960er Jahre bis 1991 Kunstgeschichte in London. Statt aber nach seinem Abschied von der Hochschule seine »bau- und zivilisationsgeschichtlichen Untersuchungen […] zu Papier bringen zu können« (174), erfüllt ihn das Lesen und Schreiben, das »immer seine liebste Beschäftigung« (176) war, nunmehr mit Widerwillen und Ekel und er 891 Sebald (2001a), 95. 892 Vgl. Hage (2003b), 277: »Im psychischen Bereich gibt es ähnliche Reaktionen, etwa daß alles jahrzehntelang verdeckt ist und erst spät zum Ausbruch kommt.« 893 Hage (2003b), 277.

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verscharrt seine »sämtlichen gebündelten und losen Papiere, die Notizbücher und Notizhefte, die Aktenordner und Vorlesungsfaszikel, alles, was bedeckt war mit [s]einer Schrift« (180), im Garten. Die Erleichterung währt nicht lange. Denn der Prozess, von dem Austerlitz übermannt wird, ist einer der fortschreitenden sprachlichen Desintegration, anders gesagt, er verliert sukzessive seine sprachliche Identität. Was damit beginnt, dass Austerlitz das Schreiben zunehmend schwer fällt und »die peinliche Unwahrheit [s]einer Konstruktionen und die Unangemessenheit sämtlicher von [ihm] verwendeten Wörter« (176) erkennt, setzt sich fort zu einem grundsätzlichen Zweifel, Vorstellung und sprachlichen Ausdruck zu einer zufriedenstellenden Deckung zu bringen. Für Austerlitz büßt die Sprache ihre vormals gewohnte Selbstverständlichkeit ein: Hie und da geschah es noch, daß sich ein Gedankengang in meinem Kopf abzeichnete in schöner Klarheit, doch wußte ich schon, indem dies geschah, daß ich außerstande war, ihn festzuhalten, denn sowie ich nur den Bleistift ergriff, schrumpften die unendlichen Möglichkeiten der Sprache, der ich mich früher doch getrost überlassen konnte, zu einem Sammelsurium der abgeschmacktesten Phrasen zusammen. Keine Wendung im Satz, die sich dann nicht als eine jämmerliche Krücke erwies, kein Wort, das nicht ausgehöhlt klang und verlogen. (177)

Was hier noch als ein subjektives Unvermögen zur Textproduktion erscheint – immerhin spricht Austerlitz von den »unendlichen Möglichkeiten der Sprache« –, weitet sich aus auf das »Geschäft des Lesens« (178) und mündet in einen fundamentalen Zweifel an der Sprache als sinnvollem System von Zeichen: »Nirgends sah ich mehr einen Zusammenhang, die Sätze lösten sich auf in lauter einzelne Worte, die Worte in eine willkürliche Folge von Buchstaben, die Buchstaben in zerbrochene Zeichen und diese in eine bleigraue, da und dort silbrig glänzende Spur« (180). Die Sprachkrise erweist sich als der Ausdruck einer bereits weit fortgeschrittenen Erinnerungs- und Identitätskrise: Es war, als drängte eine seit langem in mir bereits wirkende Krankheit zum Ausbruch, als habe sich etwas Stumpfsinniges und Verbohrtes in mir festgesetzt, das nach und nach alles lahm legen würde. Schon spürte ich hinter meiner Stirn die infame Dumpfheit, die dem Persönlichkeitsverfall voraufgeht, ahnte, daß ich in Wahrheit weder Gedächtnis noch Denkvermögen, noch eigentlich eine Existenz besaß, daß ich mein ganzes Leben hindurch mich immer nur ausgelöscht und von der Welt und mir selber abgekehrt hatte. (178)894 894 Austerlitz, dessen lebensfeindliches Dasein bei seinen Pflegeeltern bereits Erinnerungen an das Schicksal von Kaspar Hauser zu wecken vermag, lässt sich hier – mutatis mutandis – als dessen Spiegelfigur beschreiben. Während Hauser sich in die Beschränktheit seines einsamen und sprachlosen Daseins in einem dunklen Loch zurücksehnt, weil er dort vor den Zumutungen der Welt (vielfältige Eindrücke, neugierige Besucher, Fragen nach seiner Vergangenheit und Experimente) geschützt war (vgl. Feuerbach [1979], 155), wird Aus-

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Austerlitz’ Abscheu vor anderen Menschen und sprachlicher Kommunikation bringen ihn dazu, einen Zusammenhang zwischen seiner sozialen Entfremdung und seiner unbekannten Herkunft herzustellen: »Es hat mir davor gegraust, sagte Austerlitz, jemandem zuzuhören, und mehr noch davor, selber zu reden, und indem das fortging, begriff ich allmählich, wie vereinzelt ich war und von jeher gewesen bin, unter den Walisern ebenso wie unter den Engländern und den Franzosen.« (181) Was Austerlitz hier Anfang 1997, etwa 5 Jahre nach den beschriebenen Ereignissen, als retrospektive Einsicht in die eigene Leidens- und Zerrüttungsgeschichte formuliert, kam ihm freilich erst Stück für Stück nach der Rekonstruktion seiner verlorengegangenen Kindheit zu Bewusstsein. Den Umschlagspunkt, mit dem diese Entwicklung der Wiedererlangung des Sprachvermögens und der Kindheitserinnerung einsetzt, erfährt Austerlitz zunächst als Nullpunkt, nämlich – wenn man die entscheidenden Momente bündelt – als »fast vollkommene[] Lähmung [s]eines Sprachvermögens«, als »Vernichtung [s]einer sämtlichen Aufzeichnungen und Notizen«, als »endlose[] Nachtwanderungen durch London und den immer öfter [ihn] heimsuchenden Halluzinationen«, bis zu dem »im Sommer 1992 erfolgten Zusammenbruch« (202). In der Symptomatik aus Sprachlosigkeit und körperlichem Zusammenbruch kulminiert Austerlitz’ Trauma der Waisenschaft. Dabei besteht die sozialpsychologische Besonderheit für ihn als Überlebender des Holocausts darin, dass der Verlust seiner Eltern das Ziel einer planmäßigen Ausrottung war. Nach Hans Keilsons Studien mussten jüdische Kinder wie Austerlitz, die ihre Eltern überlebt haben, drei traumatische Sequenzen durchlaufen: Erstens einen Angriff auf die Würde und Integrität ihrer Familie; zweitens eine Pflegekindschaft, die danach strebt, ihren Namen wie ihre frühere Identität zu unterdrücken und ihnen einen Adaptionsprozess abzuverlangen; drittens das Auftauchen in eine andere Welt, das in der Regel als Verdrängen der Herkunft erfahren wird.895 Die kumulative Traumatisierung führt zu einer Entwurzelungsproblematik, deren Kern die Erinnerungslosigkeit ist.896 Gegen diese gilt es für den Traumatisierten anzukämpfen, denn »Trauerarbeit ist aufs engste mit der Verarbeitung der persönlichen Erinnerungsreste verknüpft«897. Den körperlichen Zusammenbruch erfährt Austerlitz genau zu dem Zeitpunkt, als er seine verdrängte Vorgeschichte zu entdecken beginnt, als er anfängt, sein Trauma der Herkunftslosigkeit und das darauf folgende jahrelange Schweigen zu terlitz’ Lebensvollzug immer mehr von einer sich schmerzhaft ausbreitenden, wenngleich unbewussten Erinnerungsabwehr blockiert. Hauser zieht die karge Vergangenheit dem Reichtum einer ungeliebten Gegenwart vor, Austerlitz sieht sich einer immer stärker eingeschränkten Gegenwart ausgesetzt, die sich der ausgeschlossenen Vergangenheit verdankt. 895 Vgl. Keilson (1979), 55 – 58. 896 Vgl. dazu auch Johannsen (2008), 33 – 35. 897 Keilson (1979), 178.

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realisieren. Diesen Zusammenhang aus traumatischer Erfahrung und sprachlicher Ohnmacht reflektiert auch die jüngere Traumatheorie, die aufzeigt, dass diese zumeist latent wirkende Erinnerung an erlittene Traumata eine Sprache der Gestikulierung spricht, die sich der narrativen Repräsentation zunächst entzieht. Schauplatz der traumatischen Erinnerung ist daher nicht die Geschichtsschreibung, sondern viel häufiger der Körper des Individuums, dessen Somatik einen Kode zur Aufführung bringt, der sich den Regeln des geordneten Diskurses widersetzt.898

Der Zusammenbruch markiert zugleich einen Umschlagspunkt in Austerlitz’ Lebensgeschichte, wird doch dadurch ein Prozess eingeleitet, der seine Amnesie sukzessiv aufhebt. Ihren Anfang nimmt die Wiedergewinnung des verlorenen Selbst in dem Wartesaal des Bahnhofs von Liverpool Street. Ist der Bahnhof schon an sich ein Transit-Ort, wo sich die Räume (der Ankommenden und der Abfahrenden) in der Horizontalen überlagern899, so ist er in diesem Fall zudem der Ort, wo Austerlitz selbst vor über 50 Jahren in London ankam.900 An einem für Austerlitz’ Lebensgeschichte zentralen raum-zeitlichen Kreuzungspunkt901, bricht die verschüttete Vergangenheit auf und beginnt überzugehen in den Beginn eines Erinnerungsprozesses. In einen Erinnerungsprozess, der den »alten Wartesaal in der Liverpool Street Station […], ein paar Wochen höchstens ehe er im Zuge der Umbauarbeiten für immer verschwand« (199), zu einem Ort der Revitalisierung des Erlebten werden lässt.902 In Form des in der Liverpool Street im Umbauprozess befindlichen neuen Bahnhofs, der »förmlich aus dem Bruchwerk des alten herauswuchs« (195), wird der von seiner Erinnerungshemmung erstmals befreite, gleichsam ›neue‹ Austerlitz gespiegelt. Dieses Strukturmodell, in dem Raumordnungen und Zeitverhältnisse so ausgedrückt werden, dass eine Temporalisierung des stratifikatorisch geordneten Raums zum Auslöser einer retrospektiven In898 Fuchs (2004), 23. 899 Vgl. zu Bahnhöfen als Schnitt- und Knotenpunkte von Raum und Zeit Öhlschläger (2006), 138 – 141, die hier auf Michel Foucaults und Marc Aug¦s Raumtheorien zurückgreift; ferner Künzli (2007). 900 Vgl. 197 f.: »Ja, und nicht nur den Priester sah ich und seine Frau, sagte Austerlitz, sondern ich sah auch den Knaben, den sie abholen gekommen waren. […] Den Zustand, in den ich darüber geriet, sagte Austerlitz, weiß ich, wie so vieles, nicht genau zu beschreiben; es war ein Reißen, das ich in mir verspürte, und Scham und Kummer, oder ganz etwas anderes, worüber man nicht reden kann, weil dafür die Worte fehlen, so wie mir die Worte damals gefehlt haben, als die zwei fremden Leute auf mich zutraten, deren Sprache ich nicht verstand. Ich entsinne mich nur, daß mir, indem ich den Knaben auf der Bank sitzen sah, durch eine dumpfe Benommenheit hindurch die Zerstörung bewußt wurde, die das Verlassensein in mir angerichtet hatte im Verlauf der vielen vergangenen Jahre, und daß mich eine furchtbare Müdigkeit überkam bei dem Gedanken, nie wirklich am Leben gewesen zu sein oder jetzt erst geboren zu werden, gewissermaßen am Vortag meines Todes.« – Die frühe Exilierung dürfte wohl auch für Austerlitz’ Bahnhof-Obsession verantwortlich sein. 901 Vgl. dazu Fuchs (2004), 47 – 49. 902 Vgl. zur psychotopologischen Dimension des Warteraums Johannsen (2008), 30 – 36.

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nenschau wird, das also einen Ort zum Medium der Erinnerung macht903, ist für Sebalds Poetik zentral. Auf einen erzähltheoretischen Begriff lässt sich der Wartesaal der Liverpool Street Station mit Michail Bachtins Konzept des Chronotopos bringen. Der Begriff »Chronotopos« bezieht sich – in einem allgemeinen Sinne – auf die wechselseitige Beziehung von Raum und Zeit. Er kann sowohl eine Verräumlichung der Zeit meinen (z. B. eine Straße, auf der sich die dargestellten Ereignisse abspielen) als auch eine Verzeitlichung des Raums (z. B. ein Schloss, in »dem sich in sichtbarer Form die Spuren der Jahrhunderte und Geschlechter abgelagert haben«904, etwa in Gestalt des Mobiliars oder einer Ahnengalerie). In dieser Perspektive liest sich Austerlitz als eine narrative Aneinanderreihung von paradigmatischen Chronotopoi. Der Text beginnt am Bahnhof von Antwerpen, um nach der Exploration einer Vielzahl von Erinnerungsorten – wie einigen Kindheitsorten in Austerlitz’ Heimatstadt Prag; wie Theresienstadt, wo seine Mutter vermutlich zu Tode kam; wie der für seine Arbeit wichtigen Pariser Nationalbibliothek – wieder in der Nähe von Antwerpen zu enden, und zwar in der von den Nazis einst als Straflager genutzten Festung Breendonk. Orte werden so zu Geschichtsvermittlern, indem das zeitliche Nacheinander als räumliches Über- und Untereinander entfaltet wird. Der Protagonist Austerlitz forciert gar in einer programmatischen Äußerung die Verräumlichung der Zeit so sehr, dass er Anschauungsformen etabliert, die an ein mythisches, das Raum-Zeit-Kontinuum der Physik bewusst durchbrechendes sowie Raum und Zeit nicht als allgemeine Medien betrachtendes Wirklichkeitsverständnis gemahnen905 : Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können, und je länger ich es bedenke, desto mehr kommt mir vor, daß wir, die wir uns noch am Leben befinden, in den Augen der Toten irreale und nur manchmal, unter bestimmten Lichtverhältnissen und atmosphärischen Bedingungen sichtbar werdende Wesen sind. (265)

Austerlitz’ ›Ahnung‹, die die Existenz der Zeit in Frage stellt, lässt sich einerseits anschließen an den psychotraumatologischen Befund, wonach bei Traumatisierten die Strukturen des Zeiterlebens in Unordnung geraten können, erfahrbar als »mehrdimensionale durchlöcherte Zeit«906 und narrativ inszenierbar als Haltlo903 Vgl. dazu Atze (2005), 205 – 207, der für dieses Verfahren – mit guten Argumenten – Maurice Halbwachs als Konzept- und Stichwortlieferanten namhaft macht. 904 Bachtin (2008), 183. 905 Vgl. dazu Hübner (1985), 157 und 170. 906 Adorno (1986), 548.

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sigkeit in der oder freies Traversieren durch die Zeit907; andererseits an eine Theorie der Geister als sozialer Konstruktionen, die – wie Michael Mayerfeld Bell in dem 1997 unter dem Titel The ghosts of place erschienenen Aufsatz programmatisch skizzierte – die frühere Anwesenheit von Personen in Form einer geisterhaften Präsenz von demjenigen, was nicht materiell vorhanden ist, als unverzichtbaren Aspekt einer Phänomenologie des Ortes begreift908. Die Erfahrung einer geisterhaften Beseelung der Dinge, die den linearen Geschichtsverlauf durch die Vorstellung einer Koexistenz der Zeiten substituiert, macht Austerlitz, als er seine Bahnreise von Prag nach London nach 50 Jahren wiederholt. Während eines Aufenthalts auf dem Bahnhof von Pilsen kommt ihm beim Anblick des Kapitells einer gusseisernen Tragsäule nicht allein die Frage, ob sich die von einem lederfarbenen Schorf überzogenen komplizierten Formen des Kapitells tatsächlich meinem Gedächtnis eingeprägt hatten, als ich seinerzeit, im Sommer 1939, mit dem Kindertransport durch Pilsen gekommen war, sondern die an sich unsinnige Vorstellung, daß diese durch die Verschuppung ihrer Oberfläche gewissermaßen ans Lebendige heranreichende gußeiserne Säule sich erinnerte an mich und, wenn man so sagen kann, […] Zeugnis ablegte von dem, was ich selbst nicht mehr wußte. (315 f.)909

An dieser Stelle geht Sebald von einer topologischen Poetik910, einer Chronotopik mit Orten als Erinnerungsauslösern und -speichern über zu einer der Anschauung des Animismus ähnelnden Beseelung ›unheimlicher‹ Dinge911. Letztere basiert auf der Anschauung, dass die Dinge als potentielle Zeugen für die Vergangenheit fungieren, als Erinnerungsspeicher, deren Erinnerungsbilder dann später, bei nachmaliger Interaktion mit Menschen von diesen reaktiviert werden können. Anders gesagt: Chronotopoi müssen nicht notwendigerweise zu Reaktualisierungen von Traumata führen, sondern sie können im Gegenteil auch zu Ausgangspunkten für eine Traumadurcharbeitung im Sinne einer heilsamen Therapie werden. Genau diese Doppelfunktion nehmen die Chronotopoi wie der Wartesaal

907 Vgl. Fricke (2004), 97 – 100. 908 Vgl. Mayerfeld Bell (1997). 909 Vgl. dazu Fuchs (2004), 170: »Sebald zufolge tragen die Dinge, ›die Erfahrungen, die sie mit uns gemacht haben, in sich und sind – tatsächlich – das vor uns aufgeschlagene Buch unserer Geschichte‹. Die vergessenen Objekte legen damit eben jene Erinnerungsspuren aus, die noch nicht vom Bewusstsein erfasst worden sind und die deshalb das Vorbewusste und Nichtrationale an der Geschichtserfahrung offen halten können.« 910 Vgl. dazu Johannsen (2008), 21 f. 911 Vgl. dazu Freud (1997b), 263: »Die Analyse der Fälle des Unheimlichen hat uns zur alten Weltauffassung des Animismus zurückgeführt, die ausgezeichnet war durch die Erfüllung der Welt mit Menschengeistern […], die Zuteilung von sorgfältig abgestuften Zauberkräften an fremde Personen und Dinge (Mana), sowie durch alle die Schöpfungen, mit denen sich der uneingeschränkte Narzißmus jener Entwicklungsperiode gegen den unverkennbaren Einspruch der Realität zur Wehr setzte.«

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der Liverpool Street Station oder das Säulenkapitell auf dem Pilsener Bahnhof in Austerlitz ein.912 In der vorliegenden Argumentation wird Bachtins Konzept des Chronotopos mit dem einer psychotraumatologisch orientierten Literaturinterpretation verbunden. Im Nachwort der 2008 erschienenen Neuausgabe von Bachtins Text Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman wird zwischen sechs Funktionen des Chronotopos-Konzepts bei Bachtin unterschieden.913 Auf zwei dieser Funktionen habe ich mich in meinen Ausführungen bezogen: Zum einen auf den Chronotopos als erzähltheoretische Kategorie, als »Form-Inhalt-Kategorie«914, die als Bestandteil der raumzeitlichen Organisation der Handlung zugleich deren Inhalt prägt und die »grundlegenden Sujetereignisse«915 in eine bestimmte Bahn lenkt.916 Zum andern auf den Chronotopos als entscheidend für die literarische Darstellung des Menschen, determiniert doch die szenische Ausgestaltung auch maßgeblich die Darstellung des Menschen, der sich innerhalb des betreffenden Raum-Zeit-Gefüges bewegt.917 Sebalds Austerlitz-Text verlangt geradezu danach, eine chronotopographische Lektüre, die die Phänomene der Verzeitlichung des Raums akzentuiert, mit einer traumatologischen Lektüre zu verknüpfen.918 Erst mit dieser bifokalen, gleichsam traumatochronotopographischen Lektüre lässt sich meiner Einschätzung nach die Entwicklung des Protagonisten Austerlitz plausibel nachvollziehen. Austerlitz wird hier zunächst perspektiviert als ein aufgrund seiner Traumatisierung zur Nichterinnerung Verdammter, als ein in der Zeit Haltloser. Halt spendet dagegen die Narration von geschichtsträchtigen Orten. Die Geschichten wiederzugewinnen, die in – nicht zuletzt für seine eigene Biographie maßgebliche – urbane Orte eingeschrieben sind, heißt für Austerlitz, eine neuartige, supplementäre Identität 912 Vgl. Rupp (2009), 182: »Die Darstellung und Inszenierung von Erinnerungsräumen in der Erzählliteratur ist keine bloße Widerspiegelung außerliterarischer Orte, sondern eine konstruktive, oft konflikthafte Aushandlung über die Orte des kollektiven Gedächtnisses.« 913 Vgl. Bachtin (2008), 205 – 207. 914 Bachtin (2008), 8. 915 Bachtin (2008), 187. 916 Vgl. Bachtin (2008), 187: »Im Chronotopos werden die Knoten des Sujets geschürzt und gelöst.« 917 Vgl. Frank (2009), 73, der auf »die Gegebenheit epochenspezifischer Semantiken des Raumes und der Zeit« verweist. »Jeder Autor konkretisiert, wenn auch auf jeweils unterschiedliche Weise, die ihm vorgegebenen Vorstellungen von Raum und Zeit, die solcherart das literarische Menschenbild determinieren.« 918 Sigrid Weigel unternimmt in dem »Topographische Poetologie« überschriebenen Kapitel ihrer Bachmann-Studie eine ähnliche Lektüre, wenn sie – im Rekurs auf Freuds topographisches Gedächtnis-Modell und Walter Benjamins Aneignung desselben (vgl. Weigel [1997], 27 – 51 mit 248 – 250) – schreibt: »Städte sind in Bachmanns Schriften die herausragenden Schauplätze einer Gedächtnistopographie, in der die Bilder aus dem Unbewußten der Kultur mit den Erinnerungsspuren des Subjekts korrespondieren.« (Weigel [2003], 364)

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zu erlangen. Und zwar, indem er Orte als Gedächtnismedien begreift, die auf eine unsichtbare Vergangenheit verweisen, mit der er erzählend in Kontakt tritt. In Form eines selbstreferentiellen Ähnlichkeitsverhältnisses, das sich als Mise en ab„me oder, folgt man Michael Scheffels Typologie, als »einfache Spiegelung« konkretisieren lässt919, erscheint die Rekonstruktion und Narration der Geschichte von Orten zugleich als eine Aufbauarbeit am Selbst des Protagonisten. Auf diese Weise arbeitet Austerlitz, der aufgrund seines Heimat-, Familien- und Sprachverlusts traumatisch aus der Zeit Gefallene, indem er Orte als stumme Zeugen der Vergangenheit wieder zum Sprechen bringt, sein Trauma durch, und es stellen sich Stück für Stück auch wieder Erinnerungen an seine verlorene Kindheit ein. Entscheidend dafür, dass der sich seine Lebensgeschichte Stück für Stück wieder aneignende Austerlitz sich in den Erinnerungsräumen nicht verliert, ist freilich die Seelenverwandtschaft zwischen Austerlitz und dem Ich-Erzähler. In einem Zeitraum von über 30 Jahren entwickelt sich zwischen den beiden eine Art von Schicksalsgemeinschaft, die durch eine Reihe betont zufälliger Wiederbegegnungen genährt wird. Das dabei zentrale Gesprächsthema, Austerlitz’ Spurensuche nach seiner Kindheit und die von Überlagerung, Verlust und Vergessen bedrohten Erinnerungsorte der NS-Vergangenheit, kann dieser allerdings nicht selbst zu Papier bringen. Diese Aufgabe wächst in der Zweierbeziehung dem IchErzähler zu: In einer Mischung aus – psychologisch gesprochen – Gesprächstherapeut (mit Austerlitz in der Rolle des Trauma-Patienten)920 und »Aufschreibemedium wird er zum Autor und sogar zum Erbe dessen, was Austerlitz an Erinnerungs- und Fundstücken zusammengetragen hat«921.

Poetik der Zeugenschaft In Luftkrieg und Literatur erzählt Sebald davon, wie er als kleiner Junge in den Ruinenlandschaften der frühen Nachkriegszeit gespielt habe und besonders von einer »Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende« angezogen worden sei: Ich entsinne mich, daß es mir nie recht geheuer war, über die Treppe in die Kellerräume hinabzusteigen. Es roch dort faulig und feucht, und ich fürchtete immer, auf einen Tierkadaver zu stoßen oder auf eine Menschenleiche. Ein paar Jahre später ist auf dem Grundstück des Herz-Schlosses dann ein Selbstbedienungsladen eröffnet worden, in einem ebenerdigen, fensterlosen, scheußlichen Bau, und der einstmals schöne Garten der Villa verschwand endgültig unter einem geteerten Parkplatz. Das ist, auf den niedrigsten Nenner gebracht, das Hauptkapitel in der Geschichte der deutschen Nachkriegszeit.922 919 920 921 922

Vgl. Scheffel (1997), 54 – 56 und 71 – 85. Vgl. zur Traumatherapie Fischer/Riedesser (1999), 180 – 223. Renner (2005), 16. Sebald (2001a), 82.

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Liest man diese autobiographische Erinnerung, und der einer emblematischen Subscriptio ähnelnde Nachsatz legt es nahe, als eine Allegorie auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland, so lässt sich pointieren: aus Trümmern werden Märkte, die Überbleibsel der vom NS-Regime provozierten Zerstörung der deutschen Städte wurden unter den Teppich des Wirtschaftswunders gekehrt. Nun lässt sich die Kombination aus einem Kindheitserlebnis und dem Bau eines Lebensmittelmarkts nicht ohne eine gewisse synekdochischanalogische Modellierung923 zur Grundlage einer sozialpsychologischen These machen, die auf die kollektiven Abwehrmechanismen gegen die NS-Vergangenheit zielt. Bei diesem Verfahren sind zwei Merkmale hervorzuheben: Einmal die vertikale Schichtung des Raums, die auf der Analogie von oben/neu/errichtet vs. unten/alt/zerstört basiert. Ohne diese Analogie und die geflissentliche Unterstellung, dass die Zeugnisse der Vergangenheit planiert wurden, um für die Befriedigung der aktuellen Konsumbedürfnisse Platz zu machen, ließe sich nicht auf den psychologischen Mechanismus der Unterdrückung bzw. der Verdrängung von Erfahrungen schließen – der ja seinerseits die vertikale Verräumlichung des Seelenlebens zur Voraussetzung hat. Die allegorische Versinnbildlichung eines Epochenwechsels erinnert von fernher ein wenig an den Mythos vom Titanenkampf, der ja mit dem Ergebnis schließt, dass Zeus das alte Göttergeschlecht der Titanen zwar in den Tartaros verbannte, diese aber – »ein Grauen selbst den ewigen Göttern«924 – dadurch keineswegs für alle Zeit besiegt wurden. Der Schrecken, der mit der alten Zeit verbunden wird, leitet über zum zweiten Merkmal, das sich als Faszination des Unheimlichen auf den Punkt bringen lässt. Die Art und Weise, wie Sebald die Villa, den »gußeiserne[n] Gartenzaun« und das »Grundstück, auf dem ein paar schöne Bäume die Katastrophe überstanden hatten« (82), als einen Ort der eingehegten Sicherheit und des angenehmen Vertrauten beschreibt, kontrastiert der Schilderung des Kellergeschosses, der dem Erzähler »nie recht geheuer war« (82), als eines furchterregenden, mit Todesahnung konnotierten Ortes. Durch die Evokation der »faulig« und »feucht« riechenden »Kellerräume« (82) unterläuft Sebald die Vorstellung von Heimat als einer vertrauten Örtlichkeit, die bei der Beschreibung des Villengrundstücks hat aufkommen können, und deckt die angstbesetzte Kehrseite des Altbekannten auf: die Angst vor dem Unheimlichen als heimlichem und verdrängtem Untergrund des Heimischen. Eine Wechselbeziehung, die Freud auf den Begriff brachte, indem er das Unheimliche als »nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den

923 Vgl. zur Begrifflichkeit Kurz (1993), 66 – 70. 924 Hesiod (1994), 32, V. 743.

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Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist«925, verstand. Sebald zeichnet dem kindlichen Streunen und Spielen in den Nachkriegsruinen eine Ambivalenz ein, die auf das Verdrängte reflektiert und die Doppeldeutigkeit des HeimatBegriffs herausstreicht. »Steht der kritische Anti-Heimatdiskurs«, so Anne Fuchs, in einer offenen Spannung zur sentimentalischen Sehnsucht nach einem utopischen Ort, so verbinden sich beide Impulse in Sebalds drittem Heimatkonzept, das ich als archäologisches Heimatmodell bezeichnen möchte. Heimat wird hier als ein historisch und kulturell angereicherter bzw. belasteter Raum entworfen, der einen kritisch-archäologischen Bezugsmodus erfordert. Schließlich mündet Sebalds Heimatdiskurs in den Entwurf eines wesentlich entterritorialisierten Heimatkonzepts, das die Nachkriegsjahre als instabile Schwellenzeit zur Heimat macht.926

Anne Fuchs, die Sebalds Heimatkonzept auf der Grundlage einer breiten Textbasis rekonstruierte927, liest seinen Luftkrieg-Essay mit Recht als eine »verdeckt geführte autobiographische Reflexion«928, als »eine autobiographische lamentatio über den Verlust von Heimat im Krieg«929. Eine mit der in Luftkrieg und Literatur vergleichbare Konstellation lässt sich auch für den Ich-Erzähler in Austerlitz namhaft machen. Nachdem er – ganz zu Beginn des Buches – Austerlitz im Wartesaal der Antwerpener Centraal Station kennenlernte, besucht er tags darauf die im Gespräch mit Austerlitz erwähnte Festung Breendonk, in der die Deutschen zwischen 1940 und 1944 ein Auffangund Straflager einrichteten und die seit 1947 als Gedenkstätte dient. Bei der Besichtigung der Kasematten, in denen sich die von den Nazis zur Folter verwendeten Kellerräume befanden, hebt sich beim Anblick des »glattgrauen Steinboden[s]«, des »Abflußgitter[s]« und des »Blechkübel[s]« aus der Untiefe das Bild unseres Waschhauses in W. empor und zugleich, hervorgerufen von dem eisernen Haken, der an einem Strick von der Decke hing, das der Metzgerei, an der ich immer vorbeimußte auf dem Weg in die Schule und wo man am Mittag oft den Benedikt sah in einem Gummischurz, wie er die Kacheln abspritzte mit einem dicken Schlauch. (37)

Der Ort des Verbrechens evoziert aufgrund seiner gegenständlichen Nähe zum Kindheitsalltag des Ich-Erzählers gleichsam eine Durchsicht auf die sich hinter der Vertrautheit der Kinderheimat verbergende Wirklichkeit:

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Freud (1997b), 264. Fuchs (2004), 111. Vgl. Fuchs (2004), 109 – 163. Fuchs (2004), 156. Fuchs (2004), 157.

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Genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind. Aber ich weiß noch, daß mir damals in der Kasematte von Breendonk ein ekelhafter Schmierseifengeruch in die Nase stieg, daß dieser Geruch sich, an einer irren Stelle in meinem Kopf, mit der mir immer zuwider gewesenen und vom Vater mit Vorliebe gebrauchten Wort ›Wurzelbürste‹ verband, dass ein schwarzes Gestrichel mir vor den Augen zu zittern begann und ich gezwungen war, mit der Stirn mich anzulehnen an die von bläulichen Flecken unterlaufene, griesige und, wie mir vorkam, von kalten Schweißperlen überzogene Wand. (37)

Überwölbt von einer dicken Betonschicht und gefangen von der Schreckens-Aura des Ortes mündet das Aufflackern der Kindheitsvergangenheit in eine psychophysische Überwältigungserfahrung, in Ekel, Schwindel und Übelkeit, die an den Rand einer Ohnmacht führen. Gleichsam als Kontrafaktur zu Prousts Madeleine-Effekt930 liest sich des Erzählers epiphanieartige Evokation des kindlichen Schreckens931 in Form eines synästhetischen Phänomens (die olfaktorische Empfindung ruft visuelle Vorstellungen hervor)932. Motivisch variiert sein Breendonk-Schock den der Königin in Blaubarts Kammer. Im Märchen von Blaubart legt erst das Öffnen der »heimlichen Kammer« die Vergangenheit des Königs und die Kehrseite seines Reichtums frei: »und wie die Türe aufging, schwomm ihr [sc. der Königin; M. O.] ein Strom Blut entgegen, und an den Wänden herum sah sie tote Weiber hängen, und von einigen waren nur die Gerippe noch übrig«.933 Das Negativ von Blaubarts Reichtum wie von dem gesäuberten Schlachthaus des Metzgers heißt: Blut und Tod. Über diese motivische Gemeinsamkeit (s. auch die »bläulichen Flecken«) hinaus evoziert die Austerlitz-Passage, vermittelt durch den räumlich-sinnlichen Zusammenhang zum vorgängigen Kindheitserlebnis, eine unheilvolle Synästhesie-Erfahrung (»ekelhafter Schmierseifengeruch«), die mit dem Holocaust und der Vergangenheitsverdrängung konnotiert wird. Ohne nun das von Sebald in Luftkrieg und Literatur geschilderte, auf der Ambivalenz des Unheimlichen als Verkopplung des Schreckhaften mit dem Altvertrauten gründende Kindheitserlebnis mit dem Beinahe-Zusammenbruch des Ich-Erzählers in Breendonk gleichsetzen zu wollen; ohne insinuieren zu wollen, dass man nur die autobiographischen Spuren der Luftkrieg-Abhandlung mit einschlägigen Stellen von Austerlitz verrechnen müsse, um zur Identität des Erzählers als Alter Ego des Autors Sebald zu gelangen934, ist eines offensichtlich: 930 Bei Proust (2004), 67 – 71, setzt die Verbindung von Madeleines mit Lindenblütentee visuelle Kindheitserinnerungen frei. 931 Vgl. zu einer ›Ästhetik des Schreckens‹, die den Begriff des Schocks, der eine emphatische Wahrnehmung allererst eröffnet, mit der Zeitstruktur von Ereignissen epiphaniehafter Erscheinung kombiniert, Zelle (2003). 932 Vgl. zum Begriff der Synästhesie Paetzold (2003). 933 Grimm (1985), 823. 934 Zur (auto-)biographischen Spur von Austerlitz äußert sich Sebald beziehungsreich, um

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Beide haben eine in der frühen Nachkriegszeit Deutschlands angesiedelte Kindheit gemein, deren ambivalente, zwischen Vertrautheit und Schrecken oszillierende Grundstruktur entscheidend mit dem Grund ihrer literarischen Betätigung zu tun hat.935 Diese poetologische Verklammerung von individueller und kollektiver Geschichte kommt auch in der Metaphorik der Sauberkeit zum Ausdruck, die der Austerlitz-Erzähler in der Breendonk-Episode gebraucht. Mag man den »Schmierseifengeruch« auf die – in ihrem Wahrheitsgehalt bis heute umstrittenen – Berichte beziehen, dass die Nazis menschliches Fett von ermordeten KZ-Insassen zur Herstellung von Seife verwendeten936, konnotiert die dem Vater so liebe »Wurzelbürste« einerseits die NS-Ideologie der ›Hygienisierung‹, andererseits den Reinlichkeitswahn, mit dem die Deutschen während des Wiederaufbaus die materiellen und geistigen Hinterlassenschaften des Dritten Reichs entsorgten bzw. zum Gegenstand einer Konspiration des Schweigens machten. »Metonymisch bezeichnet die ›Wurzelbürste‹ den rigoros abgeschrubbten ›Schandfleck‹ auf der ›deutschen Identität‹, mit dessen Beseitigung die Spur des kollektiven Verbrechens getilgt und zugleich die Reflexion auf dessen Genese verhindert wurde.«937 Damit lokalisiert der Erzähler die Familie als die Keimzelle der unheilvollen Kontinuität in Gestalt eines zweifelhaften nationalen Neubeginns und verfolgt das von Sebald in seinem Luftkrieg-Essay inkriminierte – und synekdochisch auf das Kollektiv der Deutschen ausgedehnte – »Familiengeheimnis«938 an seinen Ursprung zurück. Bettina Mosbach konnte im Rückgriff auf Nicolas Abrahams metapsychologischen Begriff des Phantoms (vgl. dazu 1.5.3) eindringlich zeigen, wie die ›hy-

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nicht zu sagen maliziös zwischen ironisch und enigmatisch changierend: »Nun verhält sich das in diesem Fall so, daß der Lebenslauf der Erzählfigur in sehr vielem und sehr eng dem Lebenslauf einer Person entspricht, die mir bekannt ist.« (Sebald [2011], 212) Vgl. dazu ferner Niehaus (2008), 102 f. und 112. In den Interviews postuliert Sebald verschiedentlich, »daß man heute nicht mehr so schreiben kann, als sei der Erzähler eine wertfreie Instanz. Der Erzähler muß die Karten auf den Tisch legen, aber auf möglichst diskrete Art.« (Sebald [2011], 95) Nur dann könne »dem Erzählten so etwas wie moralische Authentizität« zuwachsen, wenn der Leser wisse, welches Bewusstsein mit dem Erzähler zu ihm spricht: »Und dieses Bewußtsein muß ein betroffenes Bewußtsein sein, auf irgendeine Weise, vor allem in unserer historischen Position.« (Sebald [2011], 236) Vgl. dazu Fricke (2004), 226, der betont, dass im Zusammenhang mit der literarischen Umsetzung traumatischer Inhalte »die Wahl des Erzählerstandpunktes als eine den gesamten Text makrokosmisch und damit auch mikrokosmisch prägende Struktur« nicht unterschätzt werden dürfe. »Eine Ich-Erzählung wirkt meist eindrücklicher in der Schilderung traumatisierenden Leides als die Wiedergabe solchen Geschehens, die durch einen auktorialen, allwissenden, aber nicht direkt am Geschehen beteiligten Erzähler gefiltert wird.« Vgl. dazu Neander (2006). Mosbach (2008), 310. Sebald (2001a), 17.

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gienische‹ Obsession der Väter als unbewusst weitergereichtes Erbe bei den Nachfahren Heimsuchungen von phantomhafter Qualität bewirkt. Das Konzept des Phantoms als einer transgenerational übertragenen Bewusstseinslücke, die sich in ›verborgenen‹ Wörtern artikuliert, wird in Austerlitz so nicht als Figuration des Opfertraumas reflektiert, sondern als Figur einer unbewussten Überlieferung der Ursprünge des Verbrechens an die Nachfahren der Täter.939

Der Seifengeruch fungiert als Schlüsselreiz, als – psychologisch gesprochen – Trigger (engl. ›Auslöser‹), der Erinnerungen an eine traumatische Konstellation so weckt, dass die traumatische Erfahrung mit den damaligen Gefühlen noch einmal neu in der Art eines flash back durchlebt wird. Da es beim Phantom nicht um das eigene Verdrängte, sondern um das eines Anderen geht, führt der olfaktorische Sinneseindruck in Verbindung mit der »Wurzelbürste« zu einer phantomhaften Heimsuchung im Sinne einer wiederholungshaft ausagierten traumatischen Überwältigungserfahrung, die aller Wahrscheinlichkeit nach durch die Proliferation eines Familiengeheimnisses begründet wurde. Was erfährt der Leser überdies von dem Erzähler? Bündelt man die verstreuten Informationen, so ergibt sich ein reichlich lückenhafter Lebenslauf: Ein während des Zweiten Weltkriegs geborener Deutscher, der nach dem Beginn seines für ihn unbefriedigenden geisteswissenschaftlichen Studiums Deutschland verließ und nach einem 1975 für ein paar Monate unternommenen Versuch, sich wieder in der Heimat niederzulassen, endgültig nach Großbritannien auswanderte (vgl. 37 f., 47 – 50). Er, der viel auf Reisen durch Europa unterwegs ist, lernt in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in Antwerpen Austerlitz kennen, mit dem ihn ein reger Kontakt verbindet – in der Regel trifft man sich in Austerlitz’ Büro in London –, bis Mitte der 1970er Jahre der Kontakt abreißt und erst 1996 wiederaufgenommen wird (vgl. 5, 47, 50). Nach einer – sich über mehrere Monate erstreckenden – Phase der häufigen Besuche und des intensiv geführten Austauschs, während derer der Erzähler sich immer wieder Notizen zu der von seinem Gesprächspartner mündlich vorgetragenen Lebensgeschichte macht, verabschiedet sich Austerlitz, um nach seinem verschollenen Vater zu suchen, und übergibt dem Erzähler die Schlüssel seines Londoner Hauses (vgl. 142, 410). Gerade weil der Erzähler nur so rudimentär entfaltet wird, kommt der Breendonk-Episode der Charakter einer Schlüsselszene zu. In ihr wird dem Leser nahegelegt, dass auch der Erzähler – wie Austerlitz – bereits als Kind zum Opfer geworden sei, dass es die Schrecken der Kindheit und der Familie seien, vor denen er die Flucht aus Deutschland angetreten habe.940 Das hebt freilich keineswegs den 939 Mosbach (2008), 311. 940 Vgl. Mosbach (2008), 291: »Das Thema der gespenstischen Präsenz des Verdrängten, um das sich Austerlitz’ Biographie organisiert, verschränkt im Text die Geschichte des Protagonisten mit der des Ich-Erzählers.«

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kategorialen Unterschied zwischen einem jüdischen Flüchtlingskind und einem Nachfahren der Täter auf.941 Es nähert sie aber insofern aneinander an, als die beiden – wenn auch in unterschiedlichem Maße – der Hilfe bedürfen und in ihren traumatische Erinnerungen freisetzenden Kindheitserfahrungen wechselseitig aufeinander bezogen sind.942 Die reziproke Herkunft (Opfer- vs. Täterkind), d. h. die inkommensurablen Erfahrungswelten bei gleichzeitiger Annäherung durch die von der NS-Herrschaft bzw. ihren Nachwirkungen beschädigten Familienverhältnisse, wird zum Ausgangspunkt einer Solidarität von Erzähler und Held, ja, einer Symbiose: Während Austerlitz für den Erzähler »seit meiner Volksschulzeit der erste Lehrer überhaupt gewesen [ist], dem ich zuhören konnte« (48), avanciert der Erzähler in Austerlitz’ nachtraumatischer Phase zu einem emphatischen Zuhörer, der – einem Gesprächstherapeuten ähnlich – den inneren Dialog fördert und das Trauma wieder in eine Kommunikationsgemeinschaft einbindet. In der Folge realisiert der Erzähler eine auf freundschaftlich-empathischer Verbundenheit basierende retrospektive Zeugenschaft durch Aneignung und Narration der rekonstruierten Kindheitsgeschichte. Anne Fuchs, die sich dazu von Dori Laubs psychoanalytisch geprägtem Begriff des witnessing anregen ließ943, charakterisierte die Rolle des Erzählers in Austerlitz als auf vorbehaltloser Zuhörerschaft und Protokolltätigkeit basierende Zeugenschaft.944 Silke Horstkotte, die mit Fuchs’ Deutung einer teilnehmenden »Zuhörerschaft im Rahmen einer ethischen und therapeutischen Beziehung des Erzählers zu seiner Figur« grundsätzlich einverstanden ist, schränkt freilich ein: Der Erzähler ist nämlich Zeuge nur in einem höchst indirekten Sinne: Weder ist er einer der ›Untergegangenen‹ im Sinne Primo Levis und Giorgio Agambens, noch verkörpert er den Typus des ›moralischen Zeugen‹, dem Avishai Margalit ein Kapitel seines Buches The Ethics of Memory gewidmet hat. Denn auch der moralische Zeuge steht, wie Aleida Assmann hervorgehoben hat, in einer noch ›unmittelbaren Verbindung zum Holocaust‹ und bekräftigt die Wahrheit seines Zeugnisses ›in der unveräußerlichen körperlichen Erfahrung von Gewalt‹. Wenn überhaupt, handelt es sich bei dem Erzähler in Austerlitz um einen sekundären Zeugen: die Verkörperung einer Öffentlichkeit, die das Zeugnis der Überlebenden aufnimmt und, mit Paul Celan gesprochen, ›für den Zeugen zeugt‹.945

941 Vgl. dazu aber den grundsätzlichen Vorbehalt von Mosbach (2008), 291: »Die Relation, die der Text zwischen der Opferbiographie des Protagonisten und der unausgeführten Biographie des Erzählers etabliert, erscheint in jedem Fall als Skandalon.« 942 Vgl. Garloff (2006), 160 f. 943 Laub (1992). 944 Fuchs (2004), 41 f. 945 Horstkotte (2009), 249.

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Zwar verzichtet Horstkotte darauf, den Begriff der »sekundären Zeugenschaft« auszuführen946, mir aber scheint er in seinen poetologischen Implikationen für Austerlitz von erheblicher Relevanz. Zeugen eigener traumatischer Erfahrungen benötigen, wenn man ihnen deren Überlieferung nicht auch noch aufbürden möchte, eine Art der zweiten oder sekundären Zeugenschaft. Indem von dieser Wirklichkeit vor einer anderen Person Zeugnis abgelegt wird, kann die einzelne Person durch die Mitteilung vom psychischen Druck der Erinnerung zumindest teilweise entlastet werden. Um das Zeugnis überhaupt hervorzubringen und um diese Erleichterung zu ermöglichen, bedarf es dieser zuhörenden Person, die eine Art der zweiten Zeugenschaft übernimmt.947

Also eine Zuhörerschaft, die sich durch Vorstellungskraft und Erinnerung eine Mitverantwortung für die Vergangenheit zu eigen macht. Diese stellvertretende Zeugenschaft kann auch, indem die Augenzeugenberichte in medial verfügbare Narrative überführt werden, so verstanden werden, dass jemand ›für den Zeugen zeugt‹, mithin für die Wahrheit des nicht Selbsterlebten verantwortlich zeichnet. Die sekundäre Zeugenschaft charakterisiert nun die Verantwortung, die Authentizität des zeugnishaft Mitgeteilten durch kritische Rezeption und eine verantwortungsvolle Gestaltung, die den Unterschied zwischen authentischer Erfahrung und konstruierter Nacherzählung, zwischen Realität und Fiktion nicht einzuebnen sucht, für spätere Generationen zu überliefern. Diese sekundäre Form der Zeugenschaft, wenn sie nicht usurpatorisch die Erfahrungen von anderen vereinnahmt, sondern durch das Ablegen des Zeugnisses Verantwortung mit den Zeuginnen und Zeugen teilt, wäre eine Antwort auf die Gefahr einer zweiten Traumatisierung dieser Zeugen.948

Just diese, gleichsam therapeutische Funktion der sekundären Zeugenschaft (basierend auf Zuhören, Empathie und Überlieferung) setzt Sebald mit dem Verhältnis zwischen Erzähler und Titelhelden literarisch in Szene, haben wir es doch in Austerlitz mit einer Traumabearbeitung in zwei verschiedenen Formen zu tun: Einerseits mit dem, wie oben gezeigt, chronotopographisch vermittelten innerpsychischen Prozess, in dessen Verlauf Austerlitz die Erinnerungen an seine Kindheit wiedererlangt; andererseits mit einer, wie Katja Garloff bemerkte, Transposition der Trauma-Logik von der psychischen Ebene auf die der Interaktion zwischen Erzähler und Protagonist: »The accidental encounters between narrator and protagonist mime the disjunctive rhythm in which traumatic 946 Vgl. dazu Baer (2000). 947 Baer (2000), 15. 948 Baer (2000), 17.

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memories come to the fore.«949 Folgt man der narrativen Konstruktion, so erlangt der Erzähler nie die Herrschaft über den lebensgeschichtlichen Rekonstruktionsprozess, sondern ist vielmehr auf den Zufall und die Gesprächsbereitschaft auf Seiten von Austerlitz angewiesen. Gleichwohl ist – in Entsprechung zu dem in Ulrich Baers Konzept der sekundären Zeugenschaft formulierten Vorbehalt der ursupatorischen Vereinnahmung – die Frage zu stellen, ob die Rolle des Erzählers in Austerlitz nicht auch problematisch ist. Polemisch gefragt: Erteilt sich ein Nachfahre des Täterkollektivs hier nicht auf dem Weg einer identifikatorischen Vereinnahmung die Lizenz zur Expropriation einer jüdischen Biographie?950 Dagegen, so möchte ich abschließend argumentieren, sprechen vor allem zwei Momente der Erzählkonstruktion, nämlich die Verschachtelung der Erzählebenen als markantestes narratives Verfahren und die symbolische Einsetzung des Erzählers durch Austerlitz. Austerlitz wird durchgängig dominiert von dem Prinzip der narrativen Schachtelung, d. h. in dem Bericht des Erzählers finden sich, ineinander verschachtelt, dessen Erzählung von seinen Begegnungen mit Austerlitz, in diese eingebettet Austerlitz’ Schilderung der Rekonstruktion seiner Geschichte sowie innerhalb derselben – in Fragmenten – die rekonstruierte Geschichte selbst.951

Das Verfahren der verschachtelten Erzählebenen – von Sebald selbst mit Blick auf sein Vorbild Thomas Bernhard mehrfach als »periskopisches Erzählen« benannt952 – betont im Verbund mit der Tatsache, dass die eingebettete Erzählung des Protagonisten größtenteils als unmarkierte, direkte Rede wiedergegeben wird, beide Erzählstimmen aber stilistisch nicht zu unterscheiden sind, das Gemachte des literarischen Textes. Anstatt eine Authentizität der Überlieferung zu suggerieren bzw. zu simulieren, setzt Sebald darauf, die Bedingungen und Verzerrungen der Erinnerungsweitergabe zu markieren, um eben dadurch ein Stück weit dem Vorwurf vorzubauen, ein deutscher Erzähler enteigne auf der Grundlage einer empathischen Einfühlungsgeste den jüdischen Opfern nun auch noch ihre Lebensgeschichten.953 949 Garloff (2006), 166. 950 Vgl. Horstkotte (2009), 28: »Vielfach ist Sebald dafür gelobt worden, daß er die Perspektive der Opfer einnimmt und die Weitergabe ihres Gedächtnisses durch mündliche Berichte und durch Fotografien als Memorialobjekte in beispielhafter Weise verkörpert. Doch ist es wirklich ethisch so vorbildlich, wenn sich die Kinder der Täter und Mitläufer […] Perspektive und Erinnerung der Opfer und Überlebenden aneignen?« Stuart Taberner (2004) etwa warf Sebald vor, er betreibe eine geschichtsvergessene Ausprägung deutscher Nostalgie. 951 Johannsen (2008), 27. 952 Vgl. Sebald (2011), 108, 204, 235. 953 Hutchinson (2008), 125, beschreibt die verschiedenen Schichten der narrativen Struktur

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Vielmehr mündet die komplexe Erzählkonstruktion von Austerlitz in einen Akt der Delegation, in dem der Protagonist seinem langjährigen Geprächspartner die Verwahrung und Pflege seines materiellen wie geistigen Erbes überträgt. Nachdem ihm Austerlitz die Schlüssel seines Hauses überreicht hat, bedeutet er ihm, dort immer sein »Quartier aufschlagen und die schwarzweißen Bilder studieren« zu können, »die als einziges übrigbleiben würden von seinem Leben« (410). Damit macht er in Gestalt einer symbolischen Schenkung den jüngeren Freund zum Nachlassverwalter und zur Deutungsautorität über seine Biographie.954 Zugleich erteilt er, indem er die Fotografien als die einzigen wirklichen Überbleibsel seiner Existenz annonciert, mit einer Geste der (kalkulierten?) Bescheidenheit eine Lizenz zum Erzählen. Diese nimmt der Erzähler dadurch wahr, dass er zum Schluss des Romans in einer Art Ringkomposition nach Breendonk zurückkehrt und dort in einem Geschenk von Austerlitz liest, in Dan Jacobsons autobiographischem Roman Heshel’s Kingdom. Die Lektüre entfaltet nicht nur eine Parallelgeschichte zur Biographie des Protagonisten, sondern leitet als literarisches Paradigma für die Rekonstruktion eines verlorenen jüdischen Lebenslaufs gewissermaßen direkt über zur Verfertigung des Buches, das wir mit Austerlitz in den Händen halten.955 Um zu resümieren: Ungeachtet der Täter-Opfer-Dichotomie sind Austerlitz, der 1934 in Prag geborene Jude, und der Ich-Erzähler, der Mitte der 1940er Jahre geborene Deutsche, durch ihre frühkindliche Traumatisierung (Verlust von Heimat und Familie als Trennungstrauma eines jüdischen Opfers vs. transgenerationelle Traumatisierung eines Täterkindes durch ein familiäres Schweigetabu) wie Wahlverwandte wechselseitig aufeinander bezogen. An beiden, die von einer Haltlosigkeit geprägt sind, die sie zuweilen wie aus der Welt Gefallene erscheinen lässt, vollzieht sich im Verlauf ihrer über 30 Jahre währenden Freundschaft eine Art symbiotische Traumadurcharbeitung. Für die Bearbeitung von Austerlitz’ familiärem Trennungstrauma ist die narrative Versprach(»sagte Veˇra, sagte Austerlitz« usw.) als mehrfach vermittelte Darstellung in der Art eines »Palimpsest[s]«. 954 Garloff (2006), 166, spricht hier von einer »symbolic investiture«; Mosbach (2008), 231, von einer »symbolische[n] Übereignung der […] Autobiographie«. 955 Mit Ingeborg Bachmanns 1971 geschriebener Erzählung Drei Wege zum See hat Austerlitz neben den Motiven des Topographischen, des Verfolgungstraumas und des Niegelebthabens auch die durch die Lektüre der Protagonisten vermittelte Perspektive der Opfererfahrung gemein. Elisabeth wird die Bedeutung der Herkunft ihres ehemaligen Geliebten Trotta erst nachträglich deutlich. Nicht eher als sie Jean Am¦rys Essay Über die Tortur, also die Zerstörungserfahrung eines Überlebenden gelesen hat (vgl. Bachmann [1978], 421; auch der Ich-Erzähler in Austerlitz liest diesen Essay, vgl. Sebald [2001], 38), versteht sie die Erfahrung der jüdischen Herkunft, ist sie in der Lage, eine indirekte Zeugenschaft abzulegen (vgl. auch Weigel [2003], 404 – 406). Zwar wurde der Einfluss Jean Am¦rys auf W.G. Sebalds Werk des Öfteren markiert (vgl. zusammenfassend Poetini [2008]), eine Nähe zur Poetik der Zeugenschaft in der Erzählprosa Ingeborg Bachmanns bisher, soweit ich sehe, aber noch nicht gesehen.

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lichung gegenüber dem Erzähler von grundlegender Bedeutung: Erst durch sie, also durch die sprachliche Verobjektivierung, vergewissert sich Austerlitz seines eigenen Daseins bzw. der wiedergewonnenen Vergangenheit. In der Traumabeschreibung (durch das Erzählen der rekonstruierten Kindheitsgeschichte) kulminiert, da das Traumatische nur narrativ, nicht aber in seiner affektiven Qualität tradiert werden kann, sein Prozess der Traumadurcharbeitung (durch die Wiederaneignung der verdrängten Orte, Menschen und Muttersprache).956 Für den Erzähler indes bedeutet die Auseinandersetzung mit Austerlitz’ Familienbiographie nicht nur eine Bezeugung des Widersinns (Nazismus und Holocaust), dessen Historie man im Verlauf seiner Nachkriegssozialisation tunlichst von ihm fernzuhalten versuchte, sondern eben auch eine – nicht zuletzt durch die Niederschrift selbstaufklärerische – Bearbeitung der ihn gespenstisch heimsuchenden (Familien-)Vergangenheit.957 Eine historisch-kulturelle Ordnung, die abrupt abbricht, generiert Gespenster – das ist ein Zusammenhang, der nicht nur die Wirkungsmacht des Hamlet maßgeblich begründete, sondern auch von Sebald in seinem Nabokov-Essay bestätigt wird, wenn er »die Spekulationen Nabokovs über die Grenzgänger zwischen der jenseitigen Welt und dem Leben in dem mit der Oktoberrevolution spurlos verschwundenen Reich seiner Kindheit«958 seinen Ausgang nehmen lässt. Die Poetik von Austerlitz nun basiert auf zwei Raumfigurationen, die auf eine Reintegration des (in das Reich der Geister) Verdrängten hinarbeiten: Auf einem traumatochronotopographischen Verfahren, das die Vertikalität des ge956 Vgl. dazu Habermas (2010), 70, der im Rückgriff auf Laub/Auerhahn (1993) ausführt, dass »das Ausmaß der traumatischen Wirkung von Erlebnissen an den Grad ihrer Darstellbarkeit und Erzählbarkeit gebunden sei« und »die Schwierigkeiten des Versprachlichens und Erzählens insbesondere bei Holocaust-Überlebenden und ihren Kindern mit der zerstörerischen Erfahrung des Verlusts jeglichen menschlichen Gegenübers« zusammenhänge. Aufgabe des geneigten Gesprächspartners bzw. Analytikers sei es mithin, »einen sicheren, empathischen Anderen zu ermöglichen, der mit dem Patienten auch aufgrund eigener historischer Kenntnisse gemeinsam eine Vergangenheit konstruiert, die der Patient so noch nie repräsentiert hat. Hier wird nicht eine bereits versprachlichte und dann verdrängte Erfahrung erinnert, sondern eine Vergangenheit aufgrund von nichtsprachlichen Erinnerungen und Erinnerungsfragmenten sowie zusätzlichen Kenntnissen aus anderen Quellen erstmals sprachfähig gemacht.« Im Ergebnis gehe es »nicht um die völlige Rückkehr der Erinnerung«, sondern um »die Rekonstruktion wahrscheinlicher traumatischer Kontexte für Erinnerungsfragmente in extrem traumatisierenden historischen Umständen«. 957 Vgl. zum Schreiben als Traumatherapie Fricke (2004), 240 – 248. Mit seinem Schreiben versucht der Erzähler ein Stück weit aufzubegehren gegen den niederschmetternden »Gedanken, wie wenig wir festhalten können, was alles und wieviel ständig in Vergessenheit gerät, mit jedem ausgelöschten Leben, wie die Welt sich sozusagen von selber ausleert, indem die Geschichten, die an den ungezählten Orten und Gegenständen haften, welche selbst keine Fähigkeit zur Erinnerung haben, von niemandem je gehört, aufgezeichnet oder weitererzählt werden« (Sebald [2001], 35). 958 Sebald (2006), 185.

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schichteten Raumes mit der Geschichte, konkret, mit der Entbergung der traumatisch verschütteten Vergangenheit in Bezug setzt, und auf dem narrativen Verfahren der Zeugenschaft, das mit verschachtelten Erzählebenen operiert. Mit diesem doppelten Schichtungsverfahren959 antwortet Sebald auf das in seinem Luftkrieg-Essay aufgeworfene ethisch-ästhetische Problem der Repräsentation von Gewalt und Zerstörung und auf die von den Mitscherlichs eingeklagte »adäquate Trauerarbeit«960, die sowohl der eigenen Opfer wie der Gegenseite gedenkt961. Mit dem Erzähler entwirft Sebald einen geschichts- und verantwortungsbewussten Deutschen, wie ihn sich die Mitscherlichs kaum idealtypischer hätten wünschen können.962 Die Pointe besteht freilich darin, dass diese geschichtsbewusste Verantwortungsübernahme sich paradigmatisch in Form einer literarischen Trauerarbeit verwirklichen lässt, also zu einer Poetik der Buße tendiert.963 Denn die Bezeugung der traumatischen Erfahrungen ist mit dem Wissen um die narrative Konstruiertheit verkoppelt, was zumal in Form von indirekten Repräsentationsweisen wie denen der topologischen und narrativen Schichtung zum Ausdruck kommt.964 Prägten die Prozesse gegen nationalsozialistische Verantwortungsträger der 1960er Jahre sowie deren Kategorien und Fragestellungen die ›Gerichtsformation des Holocaust-Diskurses‹, so entstand zu Beginn der 1980er Jahre eine

959 Man könnte als Genrebezeichnung geradezu – wie Reinhard Jirgl seinen 1991 veröffentlichten Text Im offenen Meer annoncierte – von einem »Schichtungsroman« sprechen. 960 Mitscherlich (1977), 35. 961 Vgl. Mitscherlich (1977), 36 f. und zur Erläuterung der doppelten Opfer-Verdrängung Mosbach (2008), 92 – 94. 962 In den Jahrestagen nimmt Uwe Johnson Alexander Mitscherlich als Spezialisten für Trauerarbeit in Anspruch, an den sich Gesine voller Sorge, sie könne schmerzhafte, zumal familiäre Verlusterfahrungen wiederholen, mit der Bitte um Rat wendet. Das psychoanalytische Modell der Trauerarbeit, sprich die Möglichkeit des heilenden Erzählbarmachens von schmerzenden biographischen Elementen, wird dabei allerdings zur Disposition gestellt: »Ganz im Sinne der von Mitscherlich empfohlenen Trauerarbeit versucht sich Gesine, die erlittenen Verletzungen, da sie nicht zu vergessen sind, mit Hilfe der Erinnerung ins Bewußtsein zu rufen, um sie dem ›Genossen Schriftsteller‹ zu Gehör zu bringen, der sie schriftlich fixiert. Ziel ist dabei eine heilend aufklärende – eine ungebrochene, ganz machende Bio-Graphie […]. Die Lektüre dieser gemeinschaftlichen Bemühungen um Heilung macht uns ihr schmerzhaftes Scheitern deutlich. In den Jahrestagen mißlingt eine Trauerarbeit, die erlittene Schmerzen stillstellt. Mit der Vergangenheit ist nicht ›fertig zu werden‹.« (Elben [2002], 258) 963 Vgl. Arnold-de Simine (2006), 131: »Es drängt sich das Gefühl auf, dass es Sebald bei der Sammlung von Fakten und der Rekonstruktion der Ereignisse nicht um die Einsicht in rational durchschaubare politische, ökonomische und historische Zusammenhänge geht, sondern dass die literarische Gedächtnisarbeit dazu dient, Buße zu tun.« 964 Vgl. zu Sebalds komplexer Poetik, die zwischen Trauma und Narration vermittelt, auch Krauß (2007), 514 f., und Mosbach (2008), 50 – 61, die Sebalds Konzept der retrospektiven Zeugenschaft als eines der tangentiellen Beschreibung entfaltet.

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diskursive Formation, in der Erzählungen von Zeitzeugen von zentraler Bedeutung sind. Nach Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust gerieten die Biografien einzelner Personen zunehmend ins Zentrum öffentlicher und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. […] Während die ›Gerichtsformation‹ öffentlichkeitswirksam auf den gesellschaftlichen Konsens einwirken, ja diesen demonstrativ erziehen wollte und an die Programmatik des politischen Theaters anknüpfte, prägten fortan vor allem personalisierte Narrationen, wie etwa Testimonies, Memoiren und Biografien, den Holocaust-Diskurs. Die Subjektivität, von der diese Texte, Fernseh- und Kinofilme zeugen oder erzählen, bahnte einer Konfiguration den Weg, in der nicht mehr die Lehre aus dem Vergangenen, sondern der Versuch im Zentrum stand, die Bedeutung des Geschehens im Leben einzelner Menschen zu verstehen.965

Im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre löste sich die Kategorie der Zeugenschaft zunehmend von ihrer juristischen Definition bzw. dem Geschehen im Gerichtssaal, und zu dem Augenzeugen im Zeugenstand gesellte sich die Vorstellung des moralischen Zeugen (Avishai Margalit) oder des Märtyrers (Giorgio Agamben). Mit dieser Entwicklung verband sich die Verschiebung des Interesses von der Frage nach der historischen Wahrheit und der Schuld hin zu der Frage nach einer Ethik nach Auschwitz und einem Diskurs über Scham.966 Während in der kulturwissenschaftlichen Holocaust-Forschung der Zeuge und das Zeugnis inzwischen eine zentrale Rolle spielen, Zeugenschaft zuweilen zum EpochenSignum ausgerufen wird967, überschreitet der Zeugenschaftsdiskurs in der Literaturwissenschaft inzwischen bereits den engeren Bereich der Holocaust-Literatur968. In diesem Zusammenhang ist Sebalds Austerlitz zu verorten, dessen narratologische Pointe darin besteht, dass der Erzähler über eine zwischen Opfer und Täternachkommen vermittelnde traumatische Vorgeschichte sowie eine sekundäre Zeugenschaft legitimiert wird. Das psycho(-patho)logische Imaginäre, das in dem traumatochronotopographischen Erzählverfahren zum Ausdruck kommt, wird integrierend aufgehoben in einem kulturellen Imaginären, in einer der Poetik der sekundären Zeugenschaft verpflichteten Erzählkonstruktion, die die personalisierte Narration traumatischer Geschehenszusammenhänge mit deren potentieller Überwindung vermittelt.969 Dadurch wird in Austerlitz der 965 966 967 968

Wenzel (2009), 362. Vgl. Wenzel (2009), 364. Vgl. Felman (1992), 5: »our era can precisely be defined als the age of testimony«. Vgl. etwa zur historischen Konstruktion von Zeugenschaft durch den wechselseitigen Wissensaustausch zwischen Literatur und Recht im 18. und 19. Jahrhundert Weitin (2009), zum Verhältnis von Erzähler und Zeuge (im Hinblick auf Thomas Bernhard, Imre Kert¦sz und W.G. Sebald) Schönthaler (2011), 25 – 63. 969 Roth (1998), 168: »Wenn das Trauma unvergeßlich ist, dann paradoxerweise doch deshalb,

Poetik der Zeugenschaft

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Verantwortung für den Anderen Rechnung getragen und dessen Alterität als historischer Aufgabe gedacht, mit dem Ziel, den Gegensatz zwischen historischer Genauigkeit und ästhetischem Engagement so weit als möglich zum Verschwinden zu bringen. Die narrative Überlagerung von Täter- und Opfergedächtnis arbeitet damit aber nicht an der Auflösung der Täter-Opfer-Dichotomie, sondern macht vor, wie beiderseitiges, wenn auch nicht symmetrisches existenzielles Betroffensein die personale Grundlage für ein Modell der zeugenschaftlichen Erzähl- sowie Schreibweise stiftet, mit deren Hilfe ein ethisch wohl überlegter Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis vollzogen werden kann.

weil es nicht erinnert, nicht wiedererzählt werden konnte. Sobald es zum Teil des historischen Bewußtseins wird, kann es allmählich verlorengehen.«

4. Familienerinnerungsliteratur der Post-DDR Nicht neu kann sein was du beginnst –/ denn immer nimmst du was dir längst gegeben/ und gibst es hin. (Wolfgang Hilbig: Blätter und Schatten)

Viel zu selten noch wird Sebalds literarische Archäologie des historischen Schreckens mit ihren beiden Leitthemen, die Verfolgung sowie versuchte Ausrottung des jüdischen Volks und die historisch kontaminierten Stadträume und Landschaften, im Kontext der zeitgenössischen Literatur betrachtet. Dem Eindruck, Sebalds Werk stehe als erratischer Block gleichsam außerhalb der Gegenwartsliteratur bzw. -kultur, versucht freilich nicht nur – um zwei Ausnahmen zu nennen – Anne Fuchs vorzubauen, indem sie Sebalds Erzähltexte als »Ausdruck der […] obsessiven Erinnerungsexplosion der neunziger Jahre« erkennt970, sondern auch Anja K. Johannsen, die Raumkonzepte und -figurationen in Sebalds Prosa mit denen im Werk von Anne Duden und Herta Müller konfrontiert971. Unter der Voraussetzung, dass sich die konkreten Ausmaße von poetologischen Entscheidungen erst in ihrem literatur- bzw. diskurstheoretischen Kontext zeigen, möchte ich Austerlitz exemplarisch mit einigen die Nachwirkungen der NS-Zeit im familiären Zusammenhang thematisierenden Erzähltexten aus der Nachwendezeit kontrastieren, die von in der DDR sozialisierten und enkulturalisierten Autoren972 stammen. Neben Texten von Reinhard Jirgl und Kurt Drawert erscheint mir zumal das Werk des 1941 in Meuselwitz/Sachsen geborenen und 2007 verstorbenen Wolfgang Hilbig, für den seinerseits gerne eine literarische Sonderstellung oder gar Inkommensurabilität in der Gegenwarts-

970 Fuchs (2004), 165. In der Zurückhaltung der Forschung, Sebalds Werk vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Literatur zu kontextualisieren, schreibt sich Fuchs zufolge das Vorgehen des Autors fort: »Weil Sebald […] seine eigene Gegenwart fast ausschließlich unter dem Vorzeichen des historischen Verlusts registriert, reflektiert er nur selten auf die historischen Bedingungen der Jetztzeit, die den Erinnerungsboom der 90er überhaupt erst eingeläutet haben.« (ebd.) 971 Vgl. Johannsen (2008). 972 Vgl. zum Zusammenhang von Habitus und Generation in der ostdeutschen Literatur nach 1989 Emmerich (2007).

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Familienerinnerungsliteratur der Post-DDR

literatur reklamiert wird973, als ein einschlägiger Kandidat, um es mit Texten von W.G. Sebald zu konfrontieren. Die Prosa beider Autoren zeichnet sich nicht allein durch die elaborierte Sprache eines – eine unabweisbare Nähe zur Biographie des Autors aufweisenden – Ich-Erzählers aus, sondern auch durch eine Reihe von gemeinsamen Motiven: so z. B. das beständige Unterwegssein des IchErzählers (i. d. R. zu Fuß), die Interferenz von Erfahrung, Erinnerung und Traum, das Durchleben unterschiedlichster Bewusstseinszustände (Tagträume, Trancezustände, Visionen usw.), die Demontage des Raum-Zeit-Kontinuums, die Vorstellung von einer geschichteten Vergangenheit (konkretisiert als Katastrophengeschichte) und die Obsession einer vom Prinzip der Verbrennung dominierten Menschheitszivilisation974. Obgleich Sebald und Hilbig der Generation der Kriegskinder angehören, weisen die soziokulturellen Räume, in denen sie ihre maßgeblichen Generationsprägungen in Form »eines als ›natürlich‹ empfundenen Weltbildes bzw. von Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Handlungsmustern«975 erfuhren, signifikante Unterschiede auf. Dies gilt in besonderem Maße für den Umgang mit der NSVergangenheit. Sebald, der nicht nur – wie oben ausgeführt – im Einklang mit der Mitscherlich-These die Zeit nach 1945 als eine der Amnesie und großen Leere ausstellte, sondern sich auch zeitlebens von der eigenen Gegenwart abschottete und sogar dem Nachwendedeutschland eine schwer zu ertragende Verdrängungskultur und Geschichtsvergessenheit attestierte976, argumentiert aus einer dezidiert westdeutschen Perspektive. Ohne die der BRD zugewiesene erinnerungspolitische Versteifung lässt sich weder seine – wie er es selbst formulierte – »freiwillige[] Expatriierung«977 hinreichend verstehen noch, dass er die empathische Vergegenwärtigung jüdischer Lebensschicksale zum Zentrum seiner Poetik machte. Man braucht sich indes nur vor Augen zu halten, dass sich die DDR auf der Grundlage einer sozialistischen Einparteiendiktatur als Nachfolgestaat des antifaschistischen Widerstands behauptete, um die grundlegend andere erinnerungspolitische Situation nach 1945 in Ostdeutschland zu sehen. Während bis zum Mauerfall das Widerstandsnarrativ dominierte, wurden Holocaust, trau-

973 Vgl. dazu Dahlke (2011), bes. 81 – 87. 974 Vgl. zu den Motiven Wittstock (1994), ferner zum Zivilisationsprinzip der Verbrennung, das als einziges der genannten Motive in Austerlitz keine Rolle spielt, Sebald (1997), 202 f. – Seit der Veröffentlichung von Schläfriges Gras, Hilbigs aus dem Nachlass veröffentlichter frühester Erzählung aus dem Jahr 1968 (Hilbig [2009], 639 – 646), kann man nachvollziehen, dass nahezu alle diese Motive von Beginn seines Prosaschreibens an bereits da sind. 975 Emmerich (2007), 275. 976 Vgl. dazu Johannsen (2008), 97; Medicus (2008), 63 f. 977 Sebald (2011), 209.

Wolfgang Hilbig: Alte Abdeckerei, Ort der Gewitter und Die Erinnerungen

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matische Kriegserfahrungen sowie Flucht und Vertreibung marginalisiert978. Diese von Staats wegen betriebene Erinnerungsmonopolisierung verliert mit der Wende ihren institutionellen Rückhalt und führt, soviel sei schon vorweggenommen, vor allem in der Literatur zu einer gleichsam nachgeholten Trauerarbeit979, bei der naturgemäß auch die staatlichen Repressionserfahrungen und die spezifisch ostdeutsche soziokulturelle Rahmung reflektiert werden. Um so mehr gilt es zu verstehen, »welche tiefgreifenden Differenzen zwischen Autoren (Autorengruppen) in West und Ost«980 – auch bei gleicher Generationszugehörigkeit – bestehen, aber auch welche unterschiedlichen Resonanzräume »zwischen verschiedenen Lesern (Lesergemeinschaften) in West und Ost«981 existieren.

4.1

Wolfgang Hilbig: Alte Abdeckerei, Ort der Gewitter und Die Erinnerungen982

Auf ähnliche Weise wie Michael Rutschky und W.G. Sebald ihre autobiographischen Kriegskinderfahrungen als früheste Prägungen dokumentieren, bestätigt Wolfgang Hilbig Luftkriegserlebnisse als – wohlweislich – früheste Erinnerungsspuren: »Meine ersten Erinnerungen, die ich zu haben glaube, sind fast immer geprägt vom Feuerschein und Rauch der Bombenangriffe auf die kleine Industriestadt, in der wir wohnten.«983 Bei der kleinen Industriestadt handelt es sich um – das damals zu Sachsen, heute zu Thüringen gehörige – Meuselwitz, das durch mehrere Bombenangriffe der Alliierten nahezu seine gesamte Altstadt verlor.984 Die zerstörten Häuser der Innenstadt wurden größtenteils nicht wieder aufgebaut. Ihrer baulichen Vergangenheit beraubt, bekam die Stadt ein völlig neues Gesicht. Die Vergangenheit hatte sich in Müll verwandelt. Mit dem Trümmerschutt der Stadt wurden die Tagebaue der Umgebung verfüllt.985 978 Vgl. zur Erinnerung an Flucht- und Vertreibungserfahrungen in der DDR Hahn/Hahn (2010), 567 – 583. 979 Vgl. zur Herkunft des Begriffs (Freud) und seiner Problematik (bei Alexander und Margarete Mitscherlich und Norbert Elias) sowie zum Versuch, Trauerarbeit als »Selbstreflexion im verlorenen Anderen« zu konzeptualisieren, Jureit/Schneider (2010), 128 – 196; vgl. ferner zum Begriff mit besonderer Perspektive auf die historische Bewältigung der traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts Rüsen (2001b), 65 – 71. 980 Emmerich (2007), 270. 981 Emmerich (2007), 270. 982 Teile der Ausführungen zu Wolfgang Hilbig basieren auf meinem Aufsatz Ostheimer (2013). 983 Zit. nach Hage (2003b), 109. 984 Vgl. Dahlke (2011), 13. 985 Lohse (2008), 30.

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So verwundert es auch kaum, dass gerade in Hilbigs Nachwendetexten Luftkriegsszenarien bzw. die materielle und geistige Zerstörung kurz nach 1945 einen Widerhall finden. Beispielsweise erinnert den Protagonisten von Hilbigs 1993 erschienenem Roman Ich der Knall einer zerspringenden Lampe an frühe Kriegserlebnisse: so tief dieser [sc. Knall; M. O.] auch gewesen war : dunkel glaubte er sich der Explosion zu entsinnen, die schwach hereingedrungen war wie aus einem entfernten Gelände…so ähnlich mußten sich in den letzten Kriegsjahren die in den Straßen zerplatzenden Luftminen angehört haben, wenn er mit seiner Mutter im Keller Schutz gesucht hatte…wahrscheinlich konnte er sich nicht wirklich an diese Zeit erinnern; es war dies in den ersten drei Jahren nach seiner Geburt gewesen…gut erinnerte er sich aber an das Ziel dieser Luftangriffe, an die zertrümmerten Industrieanlagen hinter der Kleinstadt, die der Spielplatz und das Forschungsgebiet seiner Kindheit gewesen waren.986

Eine vergleichbare Suchbewegung durch eine Industrieruinenlandschaft hinein in die Alpträume der Kindheit entfaltet Hilbigs Alte Abdeckerei (erschienen 1991)987. Die Erzählung, die mit den Worten beginnt: »Ich besann mich auf ein Flüßchen hinter der Stadt« (7), ist eine zwischen einem »iterativen Erinnerungsraum«988 und Gegenwartsschilderungen989 changierende Reflexion eines Ich-Erzählers990. Es handelt sich um den Versuch, einen traumatischen Erfahrungskomplex mittels tastender Schreibversuche im Rahmen einer retrospektiven Selbstverständigungsbemühung einzuholen.991 Der Text kreist um Kindheitserlebnisse aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bzw. der frühen Nachkriegszeit. Sowohl die Vehemenz der Überwältigungserfahrungen als auch die Tatsache, dass sie in der Kindheit angesiedelt sind, verstärken einander in der Sehnsucht des Ich-Erzählers nach einer Gewissheit in der Erinnerungsrekonstruktion – ist die Kindheit doch der Zeitraum, der alle Erinnerung fundiert. So fühlt sich der Ich-Erzähler zum einen »jeden Abend wieder […] an die einst in unserem Viertel wütenden Kriegsbrände erinnert« (35), zum andern versucht er sich die geradezu magische Anziehungskraft für die »kriegszerstörten Stätten« (16) zu erklären, von denen eine Fabrik namens Germania II auf ihn als kleinen Jungen eine besondere Faszination ausübte. Aus, wie er selbst sagt, »Interesse an unguten Orten« (65) sucht er immer wieder die Nähe dieses 986 987 988 989

Hilbig (1993), 139. Hilbig (1991). Butzer (1998), 332. Einiges deutet auf das Wendejahr 1989 als Erzählgegenwart hin, vgl. Heising (1996), 144; Lohse (2008), 31. 990 Vgl. zu den autobiographischen Zügen des Ich-Erzählers Lohse (2008), 31 f.; Stillmark (2003), 362. 991 Vgl. Krellner (2002), 44, der das Spezifikum von Hilbigs Schreiben darin erkennt, dass er »die traumatisierenden Folgen [sc. der Vergangenheit; M. O.] ganz in den Mittelpunkt rückt«.

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zu einer ehemaligen Braunkohlefabrik gehörenden Werks, das mit der Produktion von Seife oder »irgendeiner Vorform von Waschmitteln« (77) beschäftigt war992 und zugleich als »Inbegriff des Dunklen, Schmierigen, Ungesunden« (77), als symbolischer Unheilsort der modernen Zivilisationsgeschichte erscheint. Nachdem der Erzähler unzählige Male mit ansehen musste, wie reihenweise krankes Vieh und »Tierkadaver« an der »Rampe« ausgeladen wurden (67 f.), fühlte er sich verwandelt »in einen Mitwisser […], in den Teilhaber irgendeines Tausendjährigen Reichs und seiner Historie« (72), dessen Wege nunmehr vom »Leichengeruch« (73) begleitet wurden.993 Als er in der Schule schließlich nach seinem Berufswunsch gefragt wird, sind ihm alle »Loblieder[] auf die Sicherheiten eines produktiven Lebens zur Stärkung der Republik« (75) zuwider und er entgegnet: »ich habe die Absicht in Germania II zu arbeiten« (76). Mit dieser Absicht trifft er nicht nur auf Entrüstung bei seinen Eltern994, sondern scheint Gefahr zu laufen »aus der Welt zu fallen, wenn man sich für das Allereinfachste interessierte … und vielleicht sogar Gefahr, aus der Welt zu verschwinden.« (78) Will man die Motivationsgrundlage dieser auf den ersten Blick doch recht absonderlichen Absicht nachvollziehen, rührt man an das auf Anhieb alles andere als transparente Zentrum dieser Erzählung: Nämlich erstens an die Sprachlosigkeit des Erzählers, die aus einer Gemengelage aus Kriegserfahrungen, familiärer Entfremdung und einer Abneigung gegen das ubiquitäre gesellschaftliche Fortschrittspathos resultiert995 ; und zweitens dem Antidot gegen diese Sprachlosigkeit, das in einem Verfahren besteht, das sich als literarische Entfaltung von Orten als Erinnerungsauslösern bzw. als narrative Aneignung der diachronen Geschichtetheit von Orten realisiert. Die familiäre Entfremdung des Erzählers zeigt sich darin, dass er, der von seiner Familie in Distanz markierenden Synonymen als »Anhang« (22) oder »Anverwandten« (73) zu sprechen pflegt, nachdem »beinah jede Form von Auseinandersetzung zwischen meinen Angehörigen und mir erlosch[en ist]« (27), allabendlich als »ein aus unserem Kreis Entschwundener« ein »Schweigen« betritt, »das zu durchbrechen verboten schien und in dem ich mich wie ein Unsichtbarer bewegte« (27). Die schwere Kränkung, die der Erzähler durch den 992 In Sebalds Austerlitz ist es der Geruch von Seife, hier die Produktion von Seife, die auf die Vernichtungslager der NS-Zeit verweisen (vgl. Heising [1996], 157 f.; Schoor/Bauer [2000], 247). 993 Vgl. zu den Anspielungen auf das Naziregime, konkret auf Konzentrations- und Vernichtungslager, zumal auf »die Rampe von Auschwitz« Hinck (1994), 185; Wittstock (1994), 237; Butzer (1998), 334. 994 Die in ihrer fraglosen Übereinstimmung mit den jeweils vorherrschenden Übereinkünften der Mächtigen als geradezu paradigmatisch außengeleitete Personen zu bezeichnen sind. 995 Vgl. zur autobiographischen Fundierung des in Hilbigs Werk häufig wiederkehrenden Motivs der Sprachlosigkeit Dahlke (2011), 14 f.

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familiären Liebesentzug erleidet, geht als Verlust in die Entwicklung des Selbst ein, der allererst durch die Bewusstmachung realisiert und durchgearbeitet werden kann. Von den »schweigenden und furchtsamen Alten« (52) allenfalls noch geduldet, entwickelt sich das Verhältnis schließlich so, daß man mich überhaupt nicht mehr erwartet hatte … die beklommene Einsilbigkeit der Erwachsenen, die dort vor schon zur Mitte geschobenen Tellern am Tisch saßen, schien doch in der unverhofften Anwesenheit eines unheimlichen und lästigen, wenn auch kaum sichtbaren Eindringlings begründet; irgendein fremder Gast, ein schweigsamer und gespenstischer Jüngling, der sich benahm, als sei er schon lange hiergewesen, war da herangetreten, um in den Resten des Nachtmahls zu stochern, eine Erscheinung, ein Phantom, ein ärgerlich aufdringlicher Geist, den man allabendlich losgeworden zu sein hoffte, und der doch, einem bösen Fluch vergleichbar, von dieser traurigen Familie nicht mehr abließ. (27 f.)

Ein maßgeblicher Grund für diese Anti-Familienidylle besteht darin, dass sich die anderen Familienmitglieder für ihre Umgebung (bes. die alte Abdeckerei namens Germania II) und deren Geschichte (bes. die unterschiedlichen Schichten historischer Gewalterfahrung) – im Gegensatz zu dem Erzähler – in keiner Weise interessieren. Notwendige intergenerationelle Anschlussmöglichkeiten, die für den Bildungsprozess historischer Identität unabdingbar sind, fehlen mithin.996 Die kollektive Verdrängung bzw. Ignoranz gegenüber der katastrophischen Vergangenheit997 drückt sich nicht allein in dem mehrfach angemahnten Blick unter die Oberfläche aus (»auferstanden aus Ruinen über den Massengräbern, über den Massengräbern der Diktatur des Proletariats, über den Massengräbern der allmächtigen Lehre Lenins, oh über den Massengräbern von ›Wissen ist Macht‹« [82 f.]998), sondern avanciert zum Ende der Erzählung zu einem allgemeinen Nicht-wissen-Wollen999. Dieses kulminiert, als es nicht mehr steigerbar scheint (»Niemands Wissen klapperte hölzern und monoton an der Schädeldecke der Erde« [114]), in einer von einem Stolleneinbruch verursachten gewaltigen Eruption, so dass in einem »Schlußbild des Vergessens, das in die 996 Vgl. Rüsen (2001b), 76, der solche »schweren Brüche im Generationsverhältnis« in der jüngsten Zeitgeschichte nicht zuletzt »bei den Kindern und Kindeskindern der Tätergeneration des Nationalsozialismus« konstatiert: »Der faktische Zusammenhang der Generationen ist gestört; die Jüngeren können nicht mehr an die Errungenschaften der Älteren anknüpfen; es gibt keine zeitübergreifende Gemeinsamkeit, keine Entwicklung, die die jüngste Generation auf sich beziehen und die sie sich als historisches Fundament zu eigen machen könnte.« 997 Vgl. Butzer (1998), 334: »Das Gebäude, das zu einer ehemaligen Braunkohlefabrik gehört und auf einem weitverzweigten System unterirdischer Stollen erbaut ist, erweist sich in der Imagination des Ich als Ort, an dem die kollektiv verdrängte Vergangenheit der ostdeutschen Gesellschaft aufbewahrt liegt.« 998 Vgl. zu den Verweisen auf die SED-Herrschaft Hinck (1994), 185. 999 Vgl. dazu Schoor/Bauer (2000), 249 f.; Stillmark (2003), 365.

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Aufarbeitung der Vergangenheit keine Hoffnung mehr zu setzen vermag«1000, die untergegangenen Ruinen von Germania II schließlich vom flutenden Wasser überspült werden.1001 Aufgrund der sozialen Isolation des Erzählers, der den Erwartungshaltungen von Familie sowie Gesellschaft nicht entspricht, »verschiebt sich die identitätsstiftende und -erhaltende Bindung auf die Räume von Natur und Literatur«1002. Gegen die Sprachlosigkeit, die ja zum Großteil ein Resultat des familiären Desinteresses und dem in der Gesellschaft wirksamen Schweigen in Bezug auf die Vergangenheit darstellt, geht er als doppelt Ausgeschlossener vor, als Angehöriger einer Familie von »Exilanten« (65), der entgegen dem Bestreben seiner Familie ein »ebenso uneingestandene[s] wie unklare[s] Interesse an unserer Herkunft« (65) hat. Das Erstaunliche nun an dem Programm einer Überwindung der Sprachlosigkeit und des familiären Desinteresses besteht darin, dass der Erzähler versucht, mit den Toten und Verbannten zu denken, mit den wesenlosen Dingen, mit den Erden, mit Gestein und Flüssen, mit den sprach- und lautlosen Tierwesen, die dem Menschen feind waren. […] es war eine Sprache, in der die Substantive ihre Bedeutung verloren hatten, es war die Sprache einer Wahrnehmung, die allein auf wortlose und flüchtige Augenblicke reagierte. (31 f.)

Während Hilbig hier sprachtheoretisch an Hofmannsthals Chandos-Erfahrung anknüpft1003, so gilt für den Erzähler, will er denn die Sprachmächtigkeit wieder 1000 Butzer (1998), 335. 1001 Hilbigs Erinnerungslandschaften verweisen stets, auch wenn sie eindeutig regional verankert sind, über sich hinaus. Vgl. dazu die ähnlich apokalyptisch anmutende Schlussvision in Hilbigs Gedicht das meer in sachsen aus dem Jahr 1977: »ich weiß das meer kommt wieder nach sachsen / es verschlingt die arche / stürzt den ararat.« (Hilbig [2008], 84) So verfehlt auch Corkhill (2008), 154, die Pointe von Hilbigs Schreiben, wenn er behauptet, dass der »Blick aufs Große in diesem Autor abhanden gekommen sei« und dagegen »die Regionalität von Hilbigs literarisierten Erinnerungsloci als eine Stärke« notiert. Vielmehr ist es so, dass die Besonderheit gerade in der Kombination von Regionalität mit geschichtlichem bzw. geschichtsphilosophischem Weitblick besteht. 1002 Symmank (2001), 222. 1003 In Hilbigs Werk spielt die Chandos-Erfahrung der Sprachskepsis eine zentrale Rolle (vgl. bereits Wittstock [1994], 233). In dem Text Aufruf zum Widerstand. Warum wir dem Zerfall trotzen müssen, den Hilbig anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von Hofmannsthals Chandos-Brief als fiktive Antwort an den Lord formulierte, werden die Historisierung des eigenen Daseins und die persönliche Sprachnot miteinander verknüpft: »Mein Fall ist, in Kürze, ebenderjenige, den Sie beschrieben haben: Es sei Ihnen völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. – Mit einem Unterschied: Es ist mir nie gelungen, eine solche Fähigkeit zu erlangen. Ich bin aufgewachsen mit dem Verlust dieser Fähigkeit, ich bin beinahe ohne diese Fähigkeit geboren. / Das Jahr, in dem ich zur Welt kam, war ein furchtbares Jahr. Am selben Tag, an dem ich geboren wurde, hat man… Nein, ich muß genauer sein, das unbestimmte Wörtchen ›man‹ ist hier nicht zulässig, ich muß die Dinge beim Namen

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erlangen, die fatale Diagnose: »Schicht um Schicht hatte der Verfall der Arten die Erde bedeckt« (93), schlichtweg umzukehren. Also auf den Spuren geschichtlicher Zerstörung sich Schicht für Schicht die verdrängten bzw. – geradezu wörtlich zu verstehenden – unterdrückten historischen Sinnebenen in Form einer kritischen Heimatarchäologie1004 anzueignen. Um dies zu bewerkstelligen, macht er sich gemein mit den von der Gesellschaft ausgestoßenen Arbeitern von Germania II, denn diese scheinen durch ihre Arbeit an dem tabuisierten Ort, auch wenn sie »Trinker« sind und »immer unter ihresgleichen« (80) verkehren, über eine Art Geheimwissen zu verfügen: vielleicht wußten die Gedanken der Männer von Germania II besser, woraus das Leben ersproß … und wenn sie kaum noch standen, wußten sie besser als jede andere Sprache, aus welchen Absenzen die Worte waren, und wenn ihre Gedanken kaum noch aufrecht gingen, wußten sie deutlicher als gewöhnlich, woraus auch sie erkoren waren … und Germania II war die Stätte der Erfahrung von Fleisch und Blut, wie keine andere die Stätte der Erfahrung der Seele … des Ruchs der Seele … des Wesens von Sein und Zeit. (93)

Orten wohnt, das führte Aleida Assmann in ihrem Buch Erinnerungsräume aus, kein immanentes Gedächtnis inne, aber für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräume sind sie von konstitutiver Bedeutung. Das sieht man vor allem dann, wenn im Zuge von Kriegen, Migration oder Modernisierungen die Erinnerungen von bestimmten Orten durch Überschreibung gelöscht und neue Erinnerungen konstruiert werden.1005 Nicht mehr existierende Lebenskonstellationen gar können nur narrativ kompensiert werden, indem eine Geschichte erzählt wird, die, mit den Worten Aleida Assmanns, das verlorene Milieu supplementär ersetzt. Erinnerungsorte sind zersprengte Fragmente eines verlorenen oder zerstörten Lebenszusammenhangs. Denn mit der Aufgabe nennen: Am 31. August 1941, an meinem Geburtstage, wurde durch das deutsche Polizeibataillon 320 in der Minkowzy eine Erschießung durchgeführt, es wurden Juden erschossen, die Zahl der Gemordeten belief sich auf 2200 Männer, Frauen und Kinder.« Hilbig geht so weit, sich als solitär zu begreifen: »Da, wo ich lebe, weiß ich niemanden, der so denkt wie ich … Und sollte es da noch den oder jenen geben, so weiß er es nicht von mir. – Die Menschen, die ich reden höre, bedienen sich fließender Sätze, sprechen in logischer Abfolge, geben ihrer Freude, oder auch ihren Verstimmungen, erstaunlich sicheren Ausdruck, sie verstehen, was sie sagen, und lassen andere an ihrem Verständnis teilhaben, auf das sie vertrauen: Ich kann das nicht, und vielleicht, Mylord, habe ich es nie gekonnt.« Hilbig erkennt seine Aufgabe darin, mit den Mitteln der Literatur gegen den Sprachzerfall anzuarbeiten: »Und so interpretiere ich Ihren Brief, Philipp Lord Chandos: als einen Versuch, eine Verneinung Ihres Briefs zu mobilisieren und den Widerstand dagegen reifen zu lassen.« (Hilbig [2002]) – Vgl. dazu auch Stillmark (2003), 361 f. 1004 Vgl. zu dem Begriff in Bezug auf Sebalds Werk Fuchs (2004), 143. 1005 Vgl. Assmann (1999a), 299 und 304; vgl. 300 zur Differenzierung von Orten (die in der Vertikalen erforscht werden) und Räumen (die in der Horizontalen entdeckt und erschlossen werden).

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und Zerstörung eines Ortes ist seine Geschichte noch nicht vorbei; er hält materielle Relikte fest, die zu Elementen von Erzählungen und damit wiederum zu Bezugspunkten eines neuen kulturellen Gedächtnisses werden. Diese Orte sind allerdings erklärungsbedürftig; ihre Bedeutung muß zusätzlich durch sprachliche Überlieferungen gesichert werden.1006

Diese Überlieferungssicherung übernehmen nicht zuletzt Schriftsteller wie Wolfgang Hilbig, die es für eine vordringliche Aufgabe halten, gegen die Gedächtnislosigkeit der Zeitgenossen eine literarische Trauerarbeit aufzubieten. Eine Trauerarbeit, die das Vergessen und Verdrängen von geschichtlichen Zerstörungserfahrungen und die dadurch hervorgerufenen Traumata durch die Rekonstruktion von Erinnerungsräumen und Lebensgeschichten, die zu verloren gehen drohen, poetisch aufhebt und so zu einem Teil des kulturellen Gedächtnisses macht. Den individualpsychologischen Prozess, den diese Erinnerungspoetik umfasst, entfaltet Hilbig, indem die durch ein Kindheitstrauma bewirkte Sprachlosigkeit des Ich-Erzählers verkoppelt wird mit der narrativen Erschließung von durch Vergessen oder Verdrängen bedrohten Erinnerungsorten. Thesenhaft und in der größtmöglichen Verknappung lautet das poetologische Programm: Durcharbeitung einer individuellen traumatischen Fixierung durch das narrative Wiederauflebenlassen von geschichtsträchtigen Orten. Oder, mit einer etwas anderen Perspektive: Die Suche nach der verlorenen Sprache wird inszeniert als eine Trauma-Therapie.1007 In Analogie dazu vollzieht sich die Wiedererlangung des Sprachvermögens durch die sinnstiftende Integration der negativen Überwältigungserfahrungen in das Kontinuum der eigenen Biographie, durch die Rekonstruktion der Nachkriegskindheit, die sich zuvor nicht reflektieren und versprachlichen ließ und die daher der Erinnerung widerstrebte. In der Topographie der von Zerstörung geprägten Nachkriegslandschaft fungiert Germania II als Schlüsselreiz, der bei dem Ich-Erzähler die durch die Kriegsereignisse entscheidend beförderte intrafamiliäre Traumatisierung durch Vernachlässigung wachruft. Neben seiner psychotraumatologischen TriggerFunktion, zwanghaft die traumatischen Kriegs- und Familienerfahrungen aufzurufen, besitzt Germania II als Chronotopos, der die Gegenwart des Vergan1006 Assmann (1999a), 309. 1007 Vgl. dazu auch Barwinski-Fäh (2000), 190: »Wolfgang Hilbig lässt seine Protagonisten darstellen, welche psychischen Wirkungen die traumatische Erfahrung der sozialen Negierung der eigenen Identität haben können: Seine Hauptfiguren zeigen frühe Abwehrmechanismen wie dissoziative Prozesse und Ansätze einer multiplen Persönlichkeit […]. Sie fühlen sich hilflos und ohnmächtig und versuchen ihre Hoffnungslosigkeit im Alkohol zu ertränken. Affektregression, die immer mit Traumatisierung einhergeht, d. h. die Entdifferenzierung, Deverbalisierung und Resomatisierung der Affekte, prägt über weite Teile seiner Romane den Gefühlsausdruck seiner Erzähler.«

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genen für das wahrnehmende Subjekt im Landschaftsraum signalisiert, zugleich aber auch eine traumakompensatorische Funktion. Nachdem der Ich-Erzähler sich das Fabrikgelände von Germania II nämlich auf unzähligen Erkundungstouren erschloss und beharrlich die Nähe zu den dort tätigen Arbeitern suchte, wird er sprachmächtig und verwandelt sich vom schweigenden Einzelgänger zum literarisch-philosophischen, sich auf Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit berufenden Erinnerungsarbeiter im Steinbruch der deutschen Zivilisations- als Katastrophengeschichte: »Und wenn ich fortan gebeugt war über das Papier, um es mit Tinte zu besudeln, spürte ich, wie die Ebenen zu gähnen begannen …« (95) Es ist die fundamentale Erfahrung der Überwindung eines familiären Trennungstraumas und einer dadurch hervorgerufenen Sprachlosigkeit durch die Annäherung an das Gedächtnis eines Ortes1008, das Sebalds Figur Austerlitz mit Hilbigs Ich-Erzähler gemein hat1009. Was dem einen die Liverpool Street Station, ist dem anderen Germania II, ein Chronotopos, an dem gleichermaßen die individuelle und kollektive Geschichte enggeführt werden. Beide Male kommt die Trauer als besondere Form einer historischen Erinnerungsarbeit in ihrer Doppelnatur als Erfahrung eines Verlusts (Reaktualisierung des Traumas) und Gewinns (Bearbeitung des Traumas) zum Tragen.1010 Beide Male wird im Rahmen einer traumatochronotopographischen Poetik die Temporalisierung von Orten zum Ausgangspunkt, um die familiären bzw. historischen Verlusterfahrungen der Protagonisten sowie deren defizienten Kommunikationsmodus eines Rückzugs aus der Sprache aufzuheben. Die Entfremdung der Kriegskinder von der (Zieh-)Familie und der Sprache ist bei Sebald wie bei Hilbig Symptom für eine massive Verlusterfahrung, die den 1008 Vgl. Symmank (2001), 219. 1009 Freilich mit dem Unterschied, dass wir es hier mit einem Kriegskind zu tun haben, das – im Gegensatz zu dem Protagonisten sowie dem Ich-Erzähler in Austerlitz – auf mysteriöse Weise an seine Heimat und Familie gekettet zu sein scheint. Den einzigen Ausbruchsversuch, den der Ich-Erzähler unternimmt, bricht er nach wenigen Tagen ab, um wieder zu seinen Angehörigen und an seinen angestammten Wohnort zurückzukehren (vgl. 43 – 45). Der Auslöser für diese Rückkehr ist ein Erlebnis, dessen phantomatische Qualität an die Breendonk-Episode in Austerlitz erinnert: »Im Traum war ich überzeugt, in der Finsternis auf eine tote Ratte getreten zu sein, auf den prallen Leib einer ersoffenen Wasserratte, sagte ich mir mit Eiseskälte im Traum… […] Wer beschreibt mein Entsetzen, als ich sah, daß ich nicht geträumt hatte, oder daß ich die Wahrheit geträumt hatte: unten im Flur lag tatsächlich der aufgerissene Kadaver einer riesigen Ratte, die mich mit weit aufgesperrtem Rachen anstarrte, als habe sie soeben einen klagenden Schrei ausgestoßen … und als habe mich dieser Schrei hinausgerufen, schienen sich unsere Blicke einen Moment lang voller Haß ineinander zu senken.« (44) 1010 Vgl. Rüsen (2001b), 74: »Die Betroffenen erleiden im Trauern den Mangel des eigenen Selbst, die Beschädigung ihrer historischen Identität, und andererseits gewinnen sie das mit diesem Verlust verlorene eigene Selbst zurück, indem es sich vom Verlorenen trennt, um es als Verlorenes sich anzueignen.«

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Sinn der Geschichte selbst betrifft, für ein mangelndes Vertrauen in die fundamentalen Sinnkonzepte der – durch den Nationalsozialismus und bei Hilbig überdies durch die SED-Herrschaft – nachhaltig erschütterten europäischen Zivilisation1011. Das Schweigen als – interimistische – Lebensform, das angesichts der geschichtlichen Sinnlosigkeitserfahrungen einer paradoxen Doppelanforderung zu genügen versucht, nämlich Authentizität zu garantieren (durch den Ich-Erzähler) und zugleich die Inkommunikabilität des Geschehens ständig wachzuhalten (durch Mittel der Textgestaltung wie Allusion oder Allegorisierung)1012, und das Wieder-neu-zur-Sprache-Finden wenden sich auf spezifische Weise gegen die sprachliche Repräsentation des Holocausts als eines historischen Ereignisses unter anderen (vgl. dazu Kap. 1.6). Bilanzieren lässt sich eine Doppelfunktion der Sprachlosigkeit bzw. ihrer Überwindung, die ins Zentrum von Sebalds wie Hilbigs Poetik des psycho(-patho)logischen Imaginären führt und traumatische Langzeitwirkungen des Totalitarismus reflektiert. So fungiert die Sprachlosigkeit einerseits als (Spät-)Folge der traumatischen Überwältigungserfahrung und steht damit für einen referentiellen Bezug auf die historischen Ereignisse. Andererseits fungiert sie als rhetorische Strategie, die für den Leser die Unmöglichkeit markiert, autoritativ Zeugnis abzulegen im Sinne eines Berichtens der Wahrheit. Die geschilderte Sprachlosigkeit der literarischen Protagonisten verkoppelt die Bezeugung der traumatischen Erfahrungen mit dem Wissen um die narrative Konstruiertheit der Erinnerung, fungiert mithin als Repräsentation der Nicht-Repräsentierbarkeit (des Holocausts, des Kriegstraumas). Menschliches Leiden und der Tod, so die Logik, bleiben sprachlich inkommensurabel, der Versuch ihrer Darstellung stößt an die Grenzen eines dokumentarischen Realismus.1013 So sehr Sebald und Hilbig in ihrer traumatochronotopographischen Poetik übereinstimmen, was die Diagnose (Wechselbeziehung von Trauma und Raum) und Therapie (Narrativierung von Orten als Gedächtnismedien) anbetrifft, so sehr unterscheiden sie sich in der Wahl des Äußerungsmodus (Gesprächs- vs. 1011 Vgl. Rüsen (2001b), 64: »Genau darin besteht der traumatische Charakter des Holocaust und der ihm ähnlichen sinnzerstörenden Massenverbrechen. Sie verzehren den Sinn, den sie im historischen Haushalt der menschlichen Kultur machen müssen.« Mit prägnantem Blick auf die ideologischen wie landschaftlichen Hinterlassenschaften der SED-Diktatur (Entwertung des Utopie-Begriffs, wüstenartige Tagebaugebiete) perspektiviert Hilbigs Erzählung Die elfte These über Feuerbach (Hilbig [2009], 460 – 476) aus dem Jahr 1992 die literarische Trauerarbeit als Reflexion der verlorengegangenen historischen Sinnkriterien, als Verlust einer geschichtsphilosophischen Perspektive. In Bezug auf die Historisierung des sozialistischen Epochenprojekts scheint mir diese Erzählung ein Schlüsseltext zu sein. 1012 Vgl. mit Blick auf die Holocaust-Literatur Lauer (1999), 220: »Kommunikation über die Geschehnisse der Judenvernichtung sind in dieser Widersprüchlichkeit ein Exemplum für die Inkommunikabilität der Welt und darum für die Literaturwissenschaft so interessant.« 1013 Vgl. Fuchs (2004), 38.

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Schreibtherapie). Mit der Installierung eines empathischen Erzählers, der sich vom unbeteiligten Zeugen unterscheidet und eine Ethik der Statthalterschaft etabliert, die in Akten des Eingedenkens der Opfer zum Ausdruck kommt, überführt Sebald den Zeugenschaftsdiskurs in sein Erzählverfahren und verkoppelt psycho(-patho)logisches und kulturelles Imaginäres. Hilbig dagegen überschreitet, indem er einen Erzähler entwirft, der seine eigene Geschichte in der ihn umgebenden Verfalls- sowie ihn bedrängenden Seelenlandschaft schriftlich zu fixieren versucht, um sich über das traumatische Geschehen der Vergangenheit und sich selbst Klarheit zu verschaffen, das Paradigma des psycho(-patho)logischen Imaginären nicht. Vielmehr bestätigt Hilbigs Erzähler mit dem Schreiben als quasi-therapeutischem Selbstverortungsverfahren grundsätzlich die Forschungsergebnisse der psychotraumatologisch orientierten Literaturinterpretation.1014 Damit wird zugleich ein prinzipieller Charakterzug von Hilbigs Schreiben markiert. Seine Erzähler sind geradezu fixiert auf geschichtliche Unheilsorte, in denen sich historische Sinnschichten symbolisch überlagern, um eine auf Selbstverständigung in einer unwirtlichen Um- bzw. Mitwelt und auf Sicherung des Verlustraums »Heimat« zielende Wortkunst der approximativen Erinnerungsarchäologie zu etablieren. Meistens verkörpern Hilbigs Erzähler im proletarischen Milieu sozialisierte Arbeiter mit schriftstellerischen Ambitionen, die alle mehr oder minder unter einer Art »Kaspar-Hauser-Komplex«1015 leiden. Damit wird auf eine Grundstimmung verwiesen, die das Unbehaustsein, das der Welt Ausgeliefertsein akzentuiert, ein Leiden, wie Alexander Mitscherlich es formuliert, an der »Fremdheit und Bedrohlichkeit von Mensch und Ding«1016. Die Figur des Kaspar Hauser exemplifiziert den »Prototyp eines Menschen mit von Geburt an verarmten Beziehungen zu einer kulturellen Menschenwelt«1017 und steht für das passive Verharren in einer sprachlosen Phantasiewelt. Das mangelnde »Durchleiden der ödipalen Erlebnisse mit ihrer voll entwickelten Ambivalenz der Gefühlsbeziehungen ein und derselben Person gegenüber«1018 verhindert nicht nur die Anbahnung kultureller Bindungen, sondern führt überdies zu einer »Phantasiehypertrophie«1019. Dieser aufgrund der fehlenden Beziehungspersonen die Kulturwerdung des Einzelnen erschwerende bis verhindernde Kaspar-Hauser-Komplex1020 soll nunmehr am Beispiel von zwei Hilbig-Erzählungen aus dem 2003 erschienenen Band Der Schlaf der Gerechten weiter entfaltet 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020

Vgl. Fricke (2004), 240 – 242. Mitscherlich (1973), 200. Mitscherlich (1973), 200. Mitscherlich (1973), 200. Mitscherlich (1973), 200. Mitscherlich (1973), 201. Vgl. dazu Hoyer (2008), 251.

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werden: Zum einen in Gestalt einer Vaterlosigkeit, wie sie in Ort der Gewitter vorherrscht, zum andern, noch tiefer in die Familienvergangenheit der Protagonisten vordringend, als ein multigenerationeller Wirkungszusammenhang in Die Erinnerungen. Die 2003 erstmals veröffentlichte Erzählung Ort der Gewitter1021 schildert die Nachkriegszeit um 1950 in einer DDR-Kleinstadt aus der Sicht eines etwa 10jährigen Jungen1022. Vor der Stadt liegen »Trümmerfelder« und »die Reste ehemaliger Munitionsfabriken, in denen während des Krieges die Gefangenen eines Konzentrationslagers gearbeitet hatten« (612); die Unebenheiten in den Straßen füllt man mit dem »Schutt der ausgebombten Häuser« (612) aus. Die Menschen sind gezeichnet von den Spuren der Verwüstung, die der Krieg in ihnen hinterließ. Es ist just diese Mischung aus Ausnahmezustand und zerstörter Lebenswelt, der Zusammenhang von einem »unwirklichen Krieg« (626) und dem »kontrollierte[n] Dasein« (618) im Nachkrieg, der Hilbigs Protagonisten umtreibt: »Der Frieden, das war deutlich, wurde von den Uhren beherrscht, die Uhrzeiten hatten die Macht übernommen, und sehr schnell war zu bemerken, daß man der Macht der in Ordnung gebrachten Zeitabschnitte nicht mehr entging.« (618) Die Kinder lungern in den alten Tagebauen herum oder vertreiben sich die Zeit mit Bandenspielen, die Mütter sorgen mit ihrer Arbeit für den kargen Lebensunterhalt, und die Väter sind abwesend. »Es mangelte zu dieser Zeit an Männern in der Stadt, die meisten der Kinder waren vaterlos, viele blieben es für immer ; die Zeit, die nicht vergehen wollte, lag auf ihnen wie ein Gewicht, das ihrem Wachstum hinderlich war.« (613) Eines dieser vaterlosen Kinder ist der Ich-Erzähler, der sich in einem Autoritäts- und Orientierungsvakuum zurechtfinden muss. Während die Mutter allenfalls wohlmeinende, wenn auch realitätsfremde Ratschläge erteilt, der Großvater »wegen ›illegalen Waffenbesitzes‹« von den russischen Besatzungstruppen verwarnt wird und sich von nun an nur noch in Beschimpfungen über den »Russenstaat« ergeht (630), versucht der Ich-Erzähler die Aufmerksamkeit, besser noch, Wertschätzung der größeren Jungen zu erlangen. Diese freilich ignorieren ihn, und da auch die Altersgenossen in Schule und Nachbarschaft keine entscheidenden Unterweisungs- oder auch nur Orientierungsfunktionen übernehmen können, wird die Lücke, die der im Krieg gefallene Vater hinterließ, schier unüberwindbar. Der Wegfall der Vaterautorität und die Erfolglosigkeit der Suche nach einem neuen Halt gebenden Vater lösen bei dem Ich-Erzähler beständige Zweifel am Realitätsgehalt seiner Lebenswelt aus bzw. setzen weitreichende Spekulationen und Imaginationen frei – ganz so, als luxuriere seine Phantasie in Richtung jener 1021 Hilbig (2009), 612 – 635. 1022 Vgl. 631, wo von dem bald beginnenden »fünfte[n]« Schuljahr des Ich-Erzählers die Rede ist.

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Hypertrophie, die Alexander Mitscherlich für den Kaspar-Hauser-Komplex namhaft macht. »Unwirklichkeit und Schein beherrschten die ganze Gegend«, und so kann der junge Erzähler auch nicht an die »Wahrheiten der Wirklichkeit glauben«, auch wenn sie von der nunmehr herrschenden »russischen Besatzungsmacht« mit noch so großem Nachdruck behauptet werden (625). Die russischen Besatzer vermögen nicht, die vakante Vaterrolle zu übernehmen1023 und die bis zu Unwirklichkeitsphantasien reichende Verunsicherung des Jungen abzuwenden. Dem wurde die Vaterlosigkeit zur Vorbild-, Überzeugungs- und Haltlosigkeit – bis hin zum Gefühl des Wirklichkeitsentzugs. Wie sehr die Vergangenheit des – fehlenden, weil gefallenen – Vaters die leere Mitte ausmacht, um die sich das gegenwärtige Familienleben in Form der übriggebliebenen Mutter-Kind-Dyade dreht, verdeutlicht Hilbig in der Schlüsselszene der Erzählung: Nein, wenn ich am Morgen in dem viel zu großen Bett erwachte, im ehemaligen Bett meines Vaters – der auch eine vergleichsweise unwirkliche Figur für mich war : es gab in der Wohnung nur eine einzige Fotografie von meinem Vater, ein bräunliches Porträtbild, auf dem er einen Stahlhelm trug … und er war, wie man sagte, im Krieg geblieben, in einem Krieg, der mir fast unbekannt war … er hatte, wie es schien, den Krieg der Unwirklichkeit des Friedens, in der ich lebte, vorgezogen … wenn ich morgens die Augen auftat, erkannte ich im Spiel der Lichtflecken und Schatten an der Zimmerdecke sofort den nur vorgetäuschten, den scheinbaren, nur aus eingebildeten Wahrnehmungen zusammengesetzten Charakter der Zeit, in der ich mich befand … vorausgesetzt, ich befand mich überhaupt in dieser Zeit. Ich erkannte mich in dem großen Toilettenspiegel auf der anderen Zimmerseite: ich sah, daß ich nicht mein Vater war, daß ich ihm nur sehr wenig ähnlich war … obwohl dies von den Leuten immerfort behauptet wurde … ich hatte nichts mit meinem Vater zu tun, ich erkannte, dass ich in einem falschen Bett lag. (625 f.)

Die Erkenntnis, die Entwicklung zum ödipalen Konflikt nie erreicht zu haben, weder den leergewordenen Platz neben der Mutter – der Erzähler liegt hier allem Anschein nach im elterlichen Doppelbett an seines Vaters Stelle – einnehmen zu können, noch dem Spiegelbild des Vaters überhaupt nur ähnlich zu sein, bewirkt einen Selbstverlust und ein Brüchigwerden des Weltbezuges. Die libidinöse Verankerung in der Familie gerät ebenso ins Wanken wie der Handlungsraum der eingeübten Bezüge zu den Dingen und den Mitmenschen als Grundlage für ein Heimatgefühl bzw. eine Zugehörigkeit zur Wirklichkeit. Hier kommt auf engstem Raum in bildhaft-metaphorischer Sprachverdichtung der umfassende Verlust zum Ausdruck, der für die Generation der vaterlos aufwachsenden Kriegskinder eine nachhaltige Lebensverunsicherung in Gang setzte. 1023 Vgl. zum Zusammenhang zwischen dem Vater und der vaterähnlichen Instanz Staat Koschorke (2000), 117 – 124.

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Alexander Mitscherlich hat in seiner Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft betitelten, erstmals 1963 publizierten sozialpsychologischen Zeitanalyse1024 nachdrücklich hervorgehoben, welche Spuren der Vaterverlust bei den Kindern hinterlässt: Weder komme es zu einer hinreichenden Entfaltung des Gewissens (»Über-Ichs«) noch zu einer am Vorbild und im Miteinander mit dem Vater eingeübten Bewältigungspraxis des Lebens.1025 Im Ergebnis begründeten diese Versäumnisse eine »gescheiterte Sozialentwicklung« und gesteigerte »Phantasiebildungen« bzw. »Halluzinationstendenzen der primären Triebwünsche«.1026 Nun hatte Mitscherlich mit seiner Verlustanzeige weder »einen imaginierten allmächtigen Gottvater, der unsichtbar überall zugegen ist«, noch den »verlorenen Vater […], den der Krieg getötet hat«, im Sinn.1027 »Es ist vielmehr an ein Erlöschen des Vaterbildes zu denken, das im Wesen unserer Zivilisation selbt begründet ist und das die unterweisende Funktion des Vaters betrifft: Das Arbeitsbild des Vaters verschwindet, wird unbekannt.«1028 Diese Einschätzung ist vor dem Hintergrund der demographischen Bilanz des NS-Reiches von 5,32 Millionen ermittelten Toten im deutschen Heer1029, um es nüchtern zu sagen, bemerkenswert.1030 Anstatt jedoch das empirisch unübersehbare Männersterben im Zweiten Weltkrieg zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu machen, versieht Mitscherlich seine These von der Vaterlosigkeit mit einer geschichtsphilosophischen Begründung, die das Terrain der neuzeitlichen Ökonomie betritt.1031 Mag die modernitätskritische Herleitung auch problematisch sein, die zeitdiagnostische Qualität des von sozialpsychologischer Seite beklagten Vaterverlusts ist schlagend. Zu der fundamentalen Verstörungserfahrung von Hilbigs kindlichem IchErzähler in Ort des Gewitters jedenfalls passt Mitscherlichs Beschreibung der fatalen Konsequenzen des Vaterverlusts nur zu gut. Damit liefert Hilbig gleichsam eine Kontrafaktur zu Christoph Meckels Text Suchbild, in dem es programmatisch – und mit Bezug auf Mitscherlichs Buch – heißt: »Die Vaterlosigkeit fehlte, sie fehlte und fehlte. Es fehlen Verschütten, Zerschlagen und Überschäumen. Es fehlte die gute und schöne Maßlosigkeit, aber der Mehltau, 1024 1025 1026 1027 1028 1029

Vgl. dazu Hoyer (2008), 56 – 59. Vgl. Mitscherlich (1973), 179. Mitscherlich (1973), 179. Mitscherlich (1973), 176. Mitscherlich (1973), 177. Vgl. Wehler (2008), 942: »Die bisher genaueste empirische Ermittlung der Todesfälle ergibt in abgerundeten Zahlen 5,32 Millionen Tote […]. Die Todesquote schwankte je nach den Geburtsjahrgängen erheblich. Für die Jahrgänge 1910 bis 1925 lag sie durchschnittlich zwischen 20 und 40 Prozent. Mindestens zwei Fünftel der Jahrgänge 1920 bis 1925 wurden förmlich ausgelöscht.« 1030 Vgl. Brumlik (2006). 1031 Vgl. hierzu Thomä (2008), 243 – 245.

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der Mehltau war immer da.«1032 Meckels Erzähler sucht Sinnlichkeit, Leidenschaft und Übermut, findet aber allenthalben nur die Entwertung des Lebens durch den Vater ; Hilbigs Erzähler dagegen sehnt sich nach der Welt des abwesenden Vaters, um der Unwirklichkeit des eigenen alltäglichen Daseins zu entkommen. Mögen die Ausgangssituationen und Sehnsüchte auch noch so unterschiedlich sein, beide suchen ihr Heil im Schreiben. Aber auch hier könnte ihre Zielrichtung kaum unterschiedlicher sein: »Über einen Menschen schreiben bedeutet«, so weiß Meckels Erzähler, »das Tatsächliche seines Lebens zu vernichten um der Tatsächlichkeit einer Sprache willen.«1033 Kurz: Schreiben transformiert Lebens- zu Sprachwirklichkeit. Wie anders bei Hilbig: Sein Erzähler setzt ganz auf das Schreiben, erhofft in ihm den Zugang zur Vater-Welt und den Garanten für eine Selbst- und Wirklichkeitsversicherung: Mein Vater, so meinte ich, habe sich einer ganz anderen Welt hingegeben oder hingeben müssen, der Welt der Eisfelder vor der Stadt Stalingrad, und von dort war er nicht zurückgekommen … vielleicht konnte ich eines Tages in diese Welt eindringen, wenn ich über sie schrieb, wenn ich mir darüber Notizen machte, schriftliche Ausführungen, die das Bild jener Zeit noch einmal in die Wirklichkeit zurückriefen, gleichsam so, als könne die gegenwärtige Zeit damit wirklicher werden. (626)

Dem für ihn verstörenden Zeitenwandel versucht der Ich-Erzähler in Ort der Gewitter entgegenzuarbeiten, indem er die »unwirkliche Figur« (625) seines Vaters, der bei Stalingrad fiel, mit den Mitteln der literarischen Imagination heraufbeschwört1034. Thesenhaft formuliert: Der Schreibprozess ist als individuelle Bewältigungs- und Verarbeitungsmodalität eines gestörten Miteinanders in Familienbeziehungen dazu bestimmt, die Leerstellen der familiären Geschichte zu füllen. Wie tief in die Familiengeschichte hinein ein derartiger Kompensationsmechanismus, der die Störung des intergenerationellen Erinnerungszusammenhangs durch literarische Spurensuche aufzuheben bestrebt ist, hineinzuragen vermag, exemplifiziert Wolfgang Hilbigs Erzählung Die Erinnerungen1035. Im Deutschland der Nachwendezeit besucht der schriftstellernde Protagonist C./ Ich-Erzähler1036 seine mittlerweile stark von der Arbeitslosigkeit und Abwanderung geprägte Heimatstadt südlich von Leipzig1037. Dabei erinnert er sich an die inzwischen schon Jahrzehnte zurückliegende Zeit, als er als Heizer mit einem »alten Polen« (551) namens Gunsch zusammenarbeitete. Gunsch, der »jeden 1032 Meckel (1980), 147. 1033 Meckel (1980), 80. 1034 Vgl. zu Hilbigs imaginärem Verhältnis zu seinem Vater, der 1942 in Stalingrad vermisst gemeldet wurde, Dahlke (2011), 12 f. 1035 Hilbig (2009), 546 – 565. 1036 Die Erzählung wechselt mehrfach zwischen auktorialer und Ich-Erzählsituation. 1037 Vgl. zur geographischen Situierung 561.

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Verständigungsversuch von vorneherein für sinnlos« hält und in einem »Niemandsland« wohnt, »aus dem er sich seit dem Kriegsende nicht weggerührt hatte«, gemahnt ihn an seinen Großvater, der ebenfalls »um die Jahrhundertwende« »aus dem Osten« eingewandert war (551). Im Verlauf der Erinnerungen an Gunsch wird ihm klar, dass sein mangelnder Wirklichkeitsbezug, seine Unzufriedenheit, ja, sein »Jähzorn« Dinge sind, die er, wie er selbst sagt, »von seinem Großvater geerbt hatte« (553): »Und daß diese Wut aus Erinnerungen besteht, die vielleicht gar nicht deine eigenen Erinnerungen sind, Ahnungen oder Erinnerungen, die in dir versenkt worden sind, ohne daß du wirklich etwas darüber weißt.« (553 f.) Seit er als Schriftsteller tätig war, hatte er immer ein Problem, nämlich an ihm fraß »der Verdacht, daß es das Fehlen von Erinnerungen war, was ihn als Schriftsteller behinderte, was ihn geradezu an den Rand des Scheiterns brachte: die Löcher in seinen Erinnerungen, die Zusammenhangslosigkeiten, die Unmöglichkeit, Räume und Zeiten zusammenzubringen …« (560). Jahrzehnte später gelangt er nun zu der Erkenntnis, dass seine Aufgabe als Schriftsteller darin besteht, gegen das Aufgehen seiner Zeitgenossen in der Selbsterhaltung und gegen ihre Erinnerungslosigkeit anzuschreiben (vgl. 560 und 563), konkret, seine eigene Familiengeschichte literarisch zu erschließen und dabei besonders den noch ihn selbst determinierenden transgenerationellen Wirkungszusammenhang auszuleuchten.1038 Denn seine Vorfahren »verfügten über keine Abstammung, sie dachten nicht an ihre Abstammung, sie hatten sie vergessen, sie hatten ihre Erinnerungen vergessen, ihre Erinnerungen lagen alle unter der Erde« (549). Jetzt stellt er sich der Herausforderung, dass »in uns eingeschlossen das Wissen um so viele namenlose Generationen vor uns« lagert (549), indem er erklärt, sich den Erinnerungen seiner Vorfahren und besonders denen seiner Mutter1039 zu widmen – also den Verlust des Vergessenen und Verdrängten durch eine Trauerarbeit leistende literarische Imagination zu 1038 Anderson (2010), 32, verbindet »das Schrumpfen des Namens auf eine einzelne Initiale (gehört sie dem Familiennamen oder dem Vornamen?)«, die Hilbigs Werk durchzieht, mit »dem fast restlosen Verschwinden der Familienherkunft« zu folgender Konsequenz: »Es gibt im Grunde keine Geschichte mehr und infolgedessen verschwindet die Verbindung zwischen fiktiver Einzelgeschichte und Historie, die die Basis des echten Familienromans seit jeher ausmacht.« 1039 Vgl. Hilbig (2009), 556 f.: »Sie [sc. die Mutter ; M. O.] erschien ihm […] wie ein Gefäß voller zerfallender Erinnerungen, die unbearbeitet waren, unausgesprochen, nach denen niemand fragte, von denen niemand etwas wissen wollte, und die gleich brachliegenden Brennstoffen zu verwittern begannen. […] Irgendwie, dachte er, hing er mit diesen Erinnerungen zusammen, die dort in dicke, abgenutzte Kleider gehüllt lagen, und die begraben waren unter wollenen Decken, die nach Kohle rochen. – Irgendwie, auf sonderbare, kaum erklärliche Weise hänge ich mit diesen Erinnerungen zusammen, und wahrscheinlich fürchte ich den Augenblick, in dem sie sich vollends verwirren, in dem sie verlöschen, um in das Nichts zu verschwinden.«

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Familienerinnerungsliteratur der Post-DDR

substituieren. Die schriftstellerische Einbildungskraft vermag die transgenerationellen Brückenschläge an die eigene Herkunft zwar nicht zu garantieren, aber zumindest dem familiären Erbe der Sprach- und Erinnerungshemmung ein Ende zu bereiten.

4.2

Reinhard Jirgl: Die Unvollendeten

Kriegs- und Familientraumata, insbesondere mit dem Kriegsgeschehen zusammenhängende transgenerationell vermittelte Erblasten, das sind die beiden Themen, um die herum Hilbig seine Erzählungen Alte Abdeckerei, Ort der Gewitter und Die Erinnerungen organisiert; es sind zugleich die beiden Themen, die der 1953 in Ost-Berlin geborene Reinhard Jirgl zu den strukturbildenden Elementen seines 2003 erschienenen Vertriebenenromans Die Unvollendeten macht1040. Jirgl, der zum Eletromechaniker ausgebildet wurde und sein Studium der Elektromechanik an der Humboldt-Universität 1975 abschloss, schreibt seit den 1970er Jahren (von 1978 bis 1995 arbeitete er als Beleuchtungstechniker an der Volksbühne), gelangte aber trotz der Fürsprache Heiner Müllers in der DDR nicht über eine kurze Publikation in der Zeitschrift Sinn und Form 1987 hinaus.1041 Erst 1990 erreichte sein MutterVaterRoman im Aufbau Verlag die Öffentlichkeit, seither erschienen von ihm einschließlich des 2009 publizierten Familienromans Die Stille nicht weniger als acht Romane.1042 Jirgls Werke, die eine Reihe von Merkmalen der literarischen Moderne aufweisen (z. B. häufige intertextuelle Bezüge, Bezugnahmen auf moderne Philosophie und Gesellschaftstheorie, multiperspektivisches Erzählen, eigenständige Orthographie und Grammatik), präsentieren allesamt die Wechselbeziehungen von menschlichen Deformationen und der politischgesellschaftlichen Geschichte. Es ist zumal die Unheilsgeschichte »im Ewigen20.–Jahrhundert«1043, die Jirgl unablässig traktiert und in dem Zuge – hierin durchaus Hilbig ähnlich1044 – in einer Art schwarzen Geschichtspädagogik herausstellt, wie die beiden Weltkriege, wie der Nationalsozialismus und der Staatssozialismus jegliche humanen Werte und utopischen Hoffnungen zuschanden machten. Im Vordergrund stehen dabei seit seinem MutterVaterRoman1045 zwei Pfeiler menschlicher Identitätsverankerung, ein geographischer, die Heimat, und ein genetisch-sozialer, die Familie. Beide spannen das 1040 1041 1042 1043 1044 1045

Jirgl (2003). Vgl. zur Biographie Clarke (2007). Vgl. zur Bibliographie De Winde (2007). Jirgl (2009), 52. Vgl. zur Nähe von Jirgl zu Hilbig Böttiger (2007), 14. Vgl. dazu De Winde (2008).

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Koordinatensystem des nunmehr zu betrachtenden Romans Die Unvollendeten auf, umgesetzt in der Sehnsucht der Figuren nach Heimat und Familienheil und der durchgängig zu gewärtigenden Realität von Heimatverlust und Familienzerrüttung. An verschiedenen Stellen macht Jirgl darauf aufmerksam, dass, obwohl selbst ein Nachkriegskind, auch sein eigenes Familienschicksal eng mit der Trauer über eine verlorengegangene Heimat verwoben ist, und zwar durch die Erzählungen der Großeltern über deren Vertreibung aus dem Sudetenland. »Nahezu der gesamte Alltag«, notiert Jirgl in einem Artikel aus dem Jahr 2004, der die besondere Rolle der Literatur für die Erinnerung an das vielfältige Vertreibungsgeschehen des vergangenen Jahrhunderts herausstellt, »fand im innerfamiliären Raum sich verwoben mit dieser Thematik. So entstand mir über die Jahre eine vielschichtige Familienerzählung, ein kleines Archiv.«1046 Im Nachwort zur 2002 erschienenen Genealogie des Tötens, die der alltäglichen Gewalt in der DDR gewidmet ist, hatte Jirgl seinen Vertreibungsroman und den Zusammenhang zwischen beiden Texten bereits angekündigt: seit einiger Zeit beschäftigt mich ein Schreibprojekt besonderer Art. In direkter Folge des Zweiten Weltkrieges war zunächst eine Unzahl von Familien deutscher Herkunft aus ihrer angestammten Heimat in Osteuropa vertrieben worden; viele überlebten diesen Treck nicht. Die übrigen waren gezwungen, in fremden Lebensräumen unter vollkommen veränderten Umständen neben ihnen keineswegs freundlich gesinnten Einheimischen neu sich anzusiedeln; sie blieben oftmals für die restliche Lebenszeit ›Die Unvollendeten‹. – Die Zeit für ihr Leben aber ist der Menschen ursprünglicher Besitz. Vielen war niemals ihre Zeit gegeben, vielmehr durch alle Vorkommnisse im 20. Jahrhundert ist diesen Menschen stets ihre Zeit genommen worden.1047

Mit der Vertreibung der Deutschen und den damit verbundenen Folgen greift Jirgl ein Thema auf, von dem bis heute gerne wiederholt wird, dass es zu den verdrängten Kapiteln oder Tabus der deutschen Nachkriegsgeschichte gehöre. Das trifft – in dieser verallgemeinerten Form – nicht zu.1048 Richtig ist einerseits, dass die gesellschaftliche Integration der Vertriebenen und die Erinnerungsbemühungen an ihr Schicksal in Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedlich verlaufen sind1049, andererseits, dass der geschichtspolitische Streit um die Vertreibung (um nur ein Stichwort zu nennen: Zentrum gegen Vertreibungen) bis heute anhält1050. Jirgl wendet sich entschieden gegen die In1046 1047 1048 1049 1050

Jirgl (2004). Jirgl (2002), 821. Vgl. zur Geschichte der deutschen Heimatvertriebenen Kossert (2008). Vgl. dazu umfassend Hahn/Hahn (2010). Vor allem vier Fragen stehen dabei nach Brumlik (2005), 15, zur Debatte: 1. die nach den historischen Ursachen der Vertreibung; 2. die nach den Gründen für die Vertreibung; 3.

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stallierung eines neuen, Ost und West verbindenden nationalen Mythos, der eine repräsentative Opfergeschichte der Deutschen erzählt, und plädiert in der Vertreibungsdebatte vielmehr für das Aufzeigen der Verschränkungen von Historie eines Landes, einer Nation mit der Geschichte von Einzelmenschen und deren Familien. Angesichts von Krieg, Genozid, Vertreibungen erweist die fatale Aufrechnung von Schuld gegen Schuld, Leid für Leid ihre historische, moralische und politische Untauglichkeit; damit kommt man heute keinen Schritt weiter.1051

In dem Bewusstsein, dass »ein literarisches wie jedes andere ästhetische Werk durch seine Eigengesetztlichkeit zur Untermauerung außerästhetischer Theorien prinzipiell untauglich ist«1052, schreibt er sich in eine literarische Tradition ein, die von Arno Schmidt und Uwe Johnson über Heinrich Böll, Walter Kempowski, Heiner Müller und Christa Wolf bis hin zu Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang reicht.1053 Zum Handlungsverlauf von Die Unvollendeten in Kürze: Der Roman erzählt von dem sich über vier Generationen erstreckenden Schicksal der sudetendeutschen Familie Rosenbach – Großmutter Johanna, die beiden Töchter Hanna und Maria, die Enkelin Anna und der Urenkel Reiner –, die im Nachkriegssommer 1945 aus ihrer Heimatstadt Komotau vertrieben wurde und sich darauf in der SBZ/DDR ansiedelt. In den drei Teilen des Buches wird entfaltet, wie diese Vertreibung über die Jahrzehnte und Generationen hinweg als Stigmatisierung und Beschädigung der persönlichen Integrität der Familienmitglieder fortwirkt. Der erste Teil, »Vor Hunden und Menschen«, präsentiert die beiden Schwestern Hanna (Mitte 40, deren Ehemann, ein Tscheche, bereits 1940 verstarb) und Maria (Mitte 30, unverheiratet), wie sie sich mit ihrer 70-jährigen Mutter innerhalb von 30 Minuten mit nur 8 Kilo Gepäck am Bahnhof einfinden müssen. Hannas 18-jährige Tochter Anna, die sich gerade auf dem Fußmarsch vom Arbeitslager nach Hause befindet, wird trotz des von Hanna unablässig wiederholten Grundsatzes: »Wer seiner Familie den Rücken kehrt, der taugt Nichts« (erstmals 8 f.), zurückgelassen. Bei dem Versuch, sich alleine zu ihrer Familie, die inzwischen in Birkheim in der Altmark eine neue Bleibe gefunden hat, durchzuschlagen, lernt sie den ehemals der SS angehörenden Erich kennen. Mit diesem verbindet sie in der Folge eine lose, sich nur auf wenige kurze Treffen

die nach der moralischen Legitimität der politischen Ziele der Vertriebenen; 4. die nach dem Verhältnis von Holocaust und Vertreibung. 1051 Jirgl (2004). 1052 Jirgl (2004). 1053 Vgl. dazu die Studie von Helbig (1989), die Aufsatzsammlungen von Kroll (1997) und Mehnert (2001) sowie die Bibliographie von Dornemann (2005); zur Flucht- und Vertreibungsliteratur in der DDR bes. Hähnel-Mesnard (2009) und Hartleb (2011).

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beschränkende Beziehung sowie ihr daraus entwachsender gemeinsamer Sohn Reiner. Der zweite Teil, »Unter Glas«, schildert das Dilemma, sich einerseits eine neue Existenz aufbauen zu müssen, andererseits aber die alte Heimat nicht aufgeben zu wollen. Im Ergebnis bewirkt das Festhaltenwollen an der Vergangenheit eine doppelte Entfremdung: Auf die Weigerung, sich den Heimatverlust einzugestehen und eine zweite Heimat in der Fremde zu akzeptieren, reagieren die Alteingesessenen mit Ressentiments und willkürlichen Anfeindungen.1054 Im letzten Teil, »Jagen Jagen«, liegt der 1953 geborene letzte Spross Reiner der – von starken Frauen und schwachen oder abwesenden Männern dominierten – Familie mit der infausten Prognose »Krebs im Endstadium« in der Berliner Charit¦ und schreibt an seine Frau die Bilanz seines gescheiterten Lebens nieder. Der leitmotivisch wiederkehrende Satz: »1 Mal Flüchtling, immer Flüchtling« (erstmals 63), grundiert seine Aufzeichnungen, in denen er, der selbst die Vertreibung nicht unmittelbar erlebte, nachspürt, inwiefern auch er ein ›Unvollendeter‹ ist, inwiefern die familiäre Vertreibungserfahrung in Form eines transgenerationellen Wirkungszusammenhangs noch auf sein Leben ausgriff. Der Begriff der Heimat, der für die drei vertriebenen Frauen Johanna, Maria und Hanna (die hier die treibende Kraft ist) mit der Vorstellung von der bis 1945 angestammten Lebenswelt im Sudetenland bzw. Komotau einhergeht, bildet in dem Roman das Zentrum, das gleichsam sukzessiv entleert wird. Zu Anfang reden sich die drei Frauen ihre unfreiwillige Entwurzelung noch dadurch schön, dass sie sie als vorläufig behaupten: »Bald geht es wieder zurück in die Heimat« (12), lautet die Besänftigungsparole, oder sie quittieren die Unfreundlichkeit und Bösartigkeiten der Dörfler mit ihrem Übergangsstatus: Die 3 wollten offenkundig von-Anfang-an, seit der 1. Stunde ihrer Ankunft=hier, sich zurückziehen, am liebsten klein sich machen, kleiner als der kleinste Käfer vor lauter Demut u Gewissensangst; wollten auf Nichts u Niemanden hier sich einlassen. ?Wozu auch (mochten die sich denken), denn das=hier ist ja nur vorübergehend, ist nur Provisorium, und schon Bald – vielleicht schon gleich=Morgen – gehts wieder zurück, in die-!Heimat. !Ja, die-!Heimat ist unser !wahres=!einziges Zuhause (so gewiß die Überzeugung dieser Flüchtlinge mit aller Überheblichkeit u Arroganz der Demütigen). (56)

Damit legen sie ein Heimatverständnis an den Tag, das die Heimat als etwas Einzigartiges, nicht Ersetzbares bzw. neu zu Besetzendes begreift. Vor diesem 1054 Vgl. Jürgensen (2006), 46: »Auf diesem Wege gerät die Familie in eine unauflösliche Ambivalenz: Einerseits fungiert der Familienverbund als identitätsstiftendes Zentrum, das gegen die Erfahrung der Fremde und des Verlusts gesetzt wird, andererseits prolongieren sie durch ihr Verhalten bewusst den Zustand der Fremdheit und vereiteln so ihre Eingliederung in einen neuen gesellschaftlichen Zusammenhang und damit eine Aufhebung der Exilsituation.«

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Hintergrund muss jegliche Entfernung von der raumzeitlichen Heimat als subjektive Entfremdung, als Verharren im Zustand der Nichtidentität erscheinen. Erk Grimm geht so weit, die »Grundannahme einer prinzipiell unaufhebbaren Heimlosigkeit und Fremdheit unter Menschen, die als weltanschauliche petitio principii den Jirglschen Erzählkosmos so markant durchwaltet«, für das ständige und unweigerliche »Scheitern« des »Erzählpersonals« verantwortlich zu machen, was er als »eine Reaktion auf erworbene Idealismusbindung in der DDR« namhaft macht.1055 Das schießt m. E. über das Ziel hinaus und wird den Figuren in Die Unvollendeten kaum gerecht, da sie ja diese Ansicht gerade vor ihrer Umsiedlung samt dazugehöriger DDR-Umsozialisation an den Tag legen. Fraglos ist die Heimatvorstellung der drei vertriebenen Frauen insofern problematisch, als sie an der Heimat als einzigartiger emotional-geistiger Verankerung im ursprünglichen sozialen Handlungsraum festhalten. Diese Negation der Möglichkeit, sich anderswo emotional einzuleben, also in einem neuen Umfeld heimisch zu werden, ist nämlich die Grundlage für die von dem Buch als fatal ausgestellte Konsequenz, die Familie zur interimistischen Ersatzwelt zu erklären. Gerade weil Anna, die in Komotau (zunächst) Zurückgelassene, leibhaftig hat erfahren müssen, dass das von Mutter, Großmutter und Großtante als sakrosankt erklärte Grundgesetz, der Familie den Rücken nicht kehren zu dürfen, gebrochen wurde, hält sie den idealisierten Heimatbegriff für realitätsuntauglich, ja, für eine retroaktive Ikonisierung des Gewesenen, um sich auf die Komplexität einer ergebnisoffenen Zukunft möglichst nicht einlassen zu müssen. Anna versucht diese Haltung, das Kommende stets gegenüber dem früher Erlebten abzuwerten, von Beginn an zu unterlaufen, indem sie Heimat – interpretiert in der starken Version der drei Frauen – nie anders denn als hemmend in unübersichtlichen und fährnisreichen Zeitläuften begreift: »Heimat, dachte sie, wütend über dieses Wort, das ihre Mutter u die Verwandten aussprachen, als läge Plüsch auf ihren Stimmen, Heimat: das ist nichts als 1 wundgeriebene Ferse.« (39) Daher kann sie dem vor allem von ihrer Mutter geforderten Gruppenverhalten, sich von der Mitwelt grundsätzlich sozial als ›den Anderen‹, ›den Fremden‹ abzugrenzen, um die Kohäsion der weiblichen Restfamilie dadurch zu erhöhen, nichts abgewinnen. Ihr Verhältnis zu Erich (aus dem ihr Sohn Reiner entsteht) und ihre Heirat mit – dem von der Familie verachteten – Günter sind in der Hauptsache eine Reaktion auf die in Komotau gemachte traumatische Trennungserfahrung. Gewissermaßen ist die Heimat in einem starken Sinne damit für sie bereits endgültig verloren. Anna steht für ein pragmatisches Realitätsprinzip und in Opposition zu begriffsidealistischen Verklärungen in der Familienethik. 1055 Grimm (2007), 203.

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Zwischen Anna und ihrer Mutter bzw. ihrer Tante wird ein Geltungskampf ausgetragen, der für die familiäre Binnendynamik von entscheidender Bedeutung ist – und von der Forschungsliteratur bislang ignoriert wurde1056. Während Hanna und Maria versuchen, den Familienverband als Übergangsheimat zu installieren, was eine neurotisch anmutende Sozialhygiene zur Folge hat, lässt Anna keine Möglichkeit aus, sich der Familienwelt zu entziehen. Mit aller Macht opponiert sie gegen die Tradierung des Familienmythos namens Heimat, in die zurückzukehren sie für eine blanke Illusion hält. Es ist dieser Zusammenhang, den der moribunde Reiner – an einer Schlüsselstelle des Buches – für seine Frau als späte Einsicht in die familiäre Psychodynamik formuliert: Je weiter Hanna & Maria das Lebenmüssen in Birkheim als ihr Leben hinnahmen u der Traum von Rückkehr in die-Heimat verblasste, desto weiter geriet Anna, meine Mutter, in die Abhängigkeit von diesem Mann. Als hätt Anna ihr bisheriges Leben hauptsächlich geführt gegen ihren höchsten Feind: ihrer Mutter tiefsten Wunsch: Rückkehr in die-Heimat. Denn Alles was Anna getan hatte, seit sie von Birkheim weg nach Leipzig ging, an der Dolmetscherschule studierte und später vom Außenministerium der DeDeR weg als Sekretärin zum Schwermaschinenbau, weil sie von einem Industriebetrieb die Delegation fürs Fremdsprachenstudium benötigte, um schließlich als Dolmetscherin zu arbeiten, geschah im Wissen, jeder weitere Tag ist ein-Tag=weiterweg von dieser-Heimat….. Dafür nahm Anna Vieles in-Kauf. (185 f.)

An dieser Stelle erfährt der Leser zum ersten Mal – und zwar auf indirekte Weise – davon, dass Hanna und Maria letztendlich wenn schon nicht das Leben in der Fremde akzeptiert, sich so doch zumindest darin gefügt haben (vgl. 206 und 220 f., wo dies explizit ausgeführt wird). Zuvor nämlich, als nach vielen Jahren die einst eherne Zuversicht, in die Heimat zurückzukehren, zunächst von Johanna angezweifelt wurde: »Nie kommen wir wieder zurück in die-Heimat. !Niemals« (123; vgl. ähnlich 96), konterte Hanna unverdrossen: »!Das werden wir ja sehn.« (123) Es mag auf den ersten Blick befremdlich klingen, aber man kann einige Gründe dafür anführen, dass gerade der 1953 geborene Reiner derjenige ist, der von den indirekten Auswirkungen der Vertreibung in seiner Selbstbestimmung bzw. -entfaltung am stärksten beeinträchtigt wird.1057 Zwischen den beiden sich mit Hanna und Maria auf der einen Seite und seiner Mutter Anna auf der anderen Seite gegenüberstehenden Fronten wird er im Verlauf seiner (Familien-) Sozialisation förmlich zerrieben. Reiner, der Erzähler des 3. Teils, wird als Säugling von seiner Großmutter aus einer Berliner Kinderkrippe – seine Mutter ist zu dem Zeitpunkt in Berlin als Dolmetscherin tätig – abgeholt und nach Birkheim gebracht, zu einem Zeit1056 Nur Jürgensen (2006), 47, spricht, wenn ich recht sehe, diesen Punkt kurz an. 1057 Vgl. zu den psychischen Spätfolgen für die Nachkommen von Vertriebenen Friesen (2000).

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punkt, als er – vermutlich wegen einer Pneumonie – von den Pflegerinnen bereits aufgegeben wurde (vgl. 153 f.). In Birkheim wächst er auf und muss jedoch als 11-Jähriger – wegen einer zwischen Hanna und Anna geschlossenen Übereinkunft – zu seiner Mutter und seinem Stiefvater nach Berlin übersiedeln: »Hanna, windbleich & hastig: –Wir wollten immer nur dein Bestes. :Also haben sie mein Bestes mir genommen: Birkheim=!meine-Heimat –.« (207) Hier wiederholt sich in der nächsten Generation – und unter veränderten Vorzeichen – eine Konstellation der Entwurzelung1058, die auch das Nachkriegskind eine »vertreibungsartige Situation«1059 erleben lässt und es zum Heimatlosen macht. Das ist die eine Erblast, die der Erzähler zu tragen hat (zur Erinnerung: seine Existenz und auch sein späteres Herausgerissenwerden aus dem Vertrauten verdanken sich ursächlich der systematischen Opposition seiner Mutter gegen alle familiären Vereinnahmungsversuche).1060 Die andere Erblast ist die Vaterlosigkeit – eine Leerstelle strukturell analog derjenigen, die für die anderen Familienmitglieder die alte Heimat Komotau ausmacht. Reiner hatte nie die Gelegenheit, seinen Vater Erich, ungeachtet des seiner schwangeren Freundin gegebenen Versprechens von einer späteren Familienvereinigung (vgl. 151), kennenzulernen: »So war 1 Anfang: ?meiner….. Niemand’s Sohn, von=Anbeginn hartnäckig & zäh wie altes Fleisch & alte Geschichten…..« (152) Das (ungeklärte) Verschwinden des leiblichen Vaters hinterlässt, so stellt es der Roman dar, eine nicht kompensierbare Lücke, nämlich das Fehlen der für die Identitätsbildung des Kindes unverzichtbaren Orientierungs- und Unterweisungsinstanz. Die Einmaligkeit der eigenen Existenz, die Möglichkeit von Identität, wird durch die Ziffer (›1 Anfang‹) und das Fragezeichen (›?meiner‹) in Frage gestellt – und es ist das Nichtvorhandensein des Vaters im Leben des Sohnes, das sie fragwürdig macht. Gerade durch seine Abwesenheit gewinnt der Vater destruktive Macht im Leben des Sohnes – vgl. das gegen die orthographische Konvention groß geschriebene Wort ›Niemand‹.1061

Zu dem Vaterentzug kommt – Stichwort: »alte Geschichten« – überdies die Abstammung von einem ehemaligen SS-Angehörigen, also gewissermaßen eine stigmatisierte Genealogie, die auch das Nachkriegskind noch mit dem geschichtlichen Horizont des Nationalsozialismus und des Krieges verklammert. 1058 Grimm (2007), 201, spricht von der »vom Sohn wie ein Trauma erlebte[n] Heimholung nach Berlin«. 1059 Cohen-Pfister (2009), 252. 1060 Das Kind visualisiert die teleskopischen Imaginationen über die Vertreibung wie folgt: »saß ich tag-für-tag am braunglänzenden Tisch […] & malte mit 3 Buntstiften rot grün blau auf die Rückseiten alter Formulare, was ich gehört hatte von der-Heimat-Komotau den-Nazis & der-Vertreibung –: In mir geweckte abstruse Ungeheuer, Massaker-Szenen« (176). 1061 Kammler (2007), 232.

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So wird der Vater – der Stiefvater wurde von Reiner nie ernst genommen (vgl. 189) – zu einer doppelt negativen Instanz: moralisch pervertiert und zudem nie präsent, wodurch auch eine Gelegenheit zur Einordnung oder Relativierung seiner historischen Rolle in der NS-Zeit verunmöglicht wird. Angesichts dieser Konstellation aus einer gleichsam vererbten Heimat- und einer zudem ideologisch vorbelasteten Vaterlosigkeit1062 erscheinen einschlägige negative Auswirkungen auf die Sozialisation und Persönlichkeitsbildung1063 nur zu plausibel.1064 Ein Moment, das von dieser Konstellation wenn nicht bewirkt, so doch maßgeblich mitbefördert wurde, ist die Zerrissenheit zwischen dem ungeliebten Brotberuf des Zahnarztes und dem – in der Nachwendezeit in den Rahmen des Möglichen rückende – Wunschberuf des Buchhändlers (vgl. 166). Spät, angesichts der infausten Prognose zu spät, wird Reiner seine familiengeschichtliche Verstrickung offenbar, versteht er seinen bevorstehenden Tod als ultimativen Ausdruck des in ihm wirksamen transgenerationellen Vertriebenenschicksals: »30 MINUTEN ZEIT – MIT HÖCHSTENS 8 KILO GEPÄCK ZUM BAHNHOF –.! Keine Pointen mehr. Auch Das ist durch mich hindurchgegangen. Ich gehe FÜR= IMMER. Und kehre ein ins Fleisch der Provinz.« (251) Hier gilt einmal mehr das Wort von der »Familienhölle«1065, das Helmut Böttiger zum Kernthema von Jirgls Schreiben erklärte: »Familienkonstellationen stehen bei Jirgl immer im Mittelpunkt, im kleinen spiegelt sich die große Brache wider.«1066 Heißt: Im Mikrokosmos der Familie verdichten sich auf engstem Raum die grundsätzlichen Wirkungsweisen der Geschichte.1067 Jirgl entfaltet in Die Unvollendeten einen Modellfall einer drei Generationen übergreifenden familiären Traumatisierung1068, der sich sowohl gegen das existenzielle Pathos eines mit jedem Menschenleben verbundenen Neubeginns verwahrt als auch die Rhetorik der geschichtlichen Zäsur und damit von histori1062 Vgl. die schwer steigerbare Distanzierung: »DIE VÄTER SIND VON DEN KINDERN NICHT MAL DIE VERACHTUNG WERT.« (189) 1063 Vgl. Cohen-Pfister (2009), 253: »Im Erwachsenen bleibt als Nachwirkung dieses Traumas die Entschlossenheit, sich an niemanden und nirgends emotional zu binden.« 1064 Diese Form der familiären Erblast hat Jirgl in dem 2009 erschienen Familienroman Die Stille, noch extremiert, indem er einen der Protagonisten zum Produkt eines Inzests machte. Der wird – dass er seine Existenz einem Inzest verdankt, schwingt stets im Hintergrund mit – seines Lebens nicht froh, ermordet zwei Menschen und stirbt schließlich erbärmlich an Krebs. 1065 Böttiger (2007), 14. 1066 Böttiger (2007), 14. 1067 Vgl. auch Böttiger (2007), 18: »Die Familie wird in ihren verqueren Gefühlssträngen, in ihren Dumpf- und Gemeinheiten als zerstörerischer Staat im kleinen gezeigt, in ihr ist die Monstrosität der DDR bereits angelegt.« 1068 Vgl. Cohen-Pfister (2009), 246: »Die Privatisierung und Familiarisierung der Folgen der Vertreibung decken geschichtliche und familiale Traumata auf, welche die Familienidentität bis in die Enkelgeneration überschatten.«

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schen Neuanfängen als problematisch entlarvt.1069 Damit gestaltet er eine Version des psycho(-patho)logischen Imaginären, in der das räumlich, zeitlich und wesensmäßig von den Ursprüngen Entfernte über die Genealogie dennoch an der unbedingten Macht des Ursprungs teilhat.1070 »So werden«, schreibt Ulrike Vedder, Jirgls Erzählkonzept resümierend, die unter- und abgründigen Verbindungen zwischen NS-Zeit, Nachkriegszeit, DDR und BRD und der neuen Bundesrepublik nach der Wende durchsichtig – anders gesagt: Dem archäologischen Blick, der in den familial organisierten Erinnerungen seinen Ausgangspunkt nimmt, wird erkennbar, dass die jeweilige vergangenheitsblinde Rede von Aufbau und Neubeginn an die Traumatisierungen der Vergangenheit anschließt und diese auf verdeckte Weise zu wiederholen zwingt.1071

Die Unvollendeten transportiert nicht allein »den untergründig tödlichen Schrecken der Vergangenheit in die Gegenwart und bringt ihn in ihr zur Sichtbarkeit, ohne dass einfache Kausalitäten behauptet oder Opferpositionen etabliert würden«1072, sondern zeigt darüber hinaus, dass dafür »das Genre des Familienromans […] in besonderer Weise geeignet ist, eben weil es – in der Darstellung von familialen Strukturen mit ihren zeitlichen, sprachlichen und erinnerungslogischen Dimensionen – Tod und Tradierung aufs engste zu verknüpfen vermag«1073. Der Familienroman ist gleichsam dazu prädestiniert, transgenerationelle Geschichtstraumatisierungen zu seinem Gegenstand zu machen, bildet doch die Familie die paradigmatische Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft, insofern sie als Folge von Generationen konzipiert ist, die biologisch, sozial und rechtlich miteinander verbunden ist. Jirgls »grundsätzlicher Geschichtspessimismus, der von einer ewigen Wiederkehr der immergleichen Feindschaft unter den Menschen handelt«1074, realisiert sich über den Transmissionsriemen der Familie beim Einzelnen als ein Gefüge biologisch-historischer Schichten, also als eine Struktur, die zwischen Natur und Kultur vermittelt (vgl. den Abschnitt »Transgenerationalität« in der Einleitung). Jirgl verkoppelt zwei poetologische Verfahren zu einer Art ›Archäologie des Subjekts‹: Er legt historische Schichten frei1075 und zeigt, wie diese über Fami1069 Vgl. zum Fluchttrauma Fischer-Riedesser (1999), 242 f., und zu dessen Literarisierung Fricke (2004), 155 – 168. 1070 Vgl. Heinrich (1982), 12: »Die Funktion der Genealogie im Mythos ist es, die Macht der heiligen Ursprünge zu übertragen auf das von ihnen Abstammende, aus ihnen Abgeleitete.« 1071 Vedder (2005), 78. 1072 Vedder (2005), 77 f. 1073 Vedder (2005), 78. 1074 Jürgensen (2006), 43. 1075 Hier passt die Genrebezeichnung des 1991 veröffentlichten Romans Im offenen Meer mit dem Untertitel Schichtungsroman.

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lienbeziehungen in Individuen aktualisiert werden, verklammert mithin die historische mit der synchronen Ebene und veranschaulicht dadurch die Gleichzeitigkeit des historisch Ungleichzeitigen. Diese Poetik der IneinanderSchichtung realisiert Jirgl, indem er die Selbsterfahrung als Exploration der im Individuum abgelagerten Schichten darstellt, programmatisch von ihm selbst formuliert: Stilisierung! Nicht das-Leben steigern, sondern Schichtungen des Ich – und jedem Element seines Selbst den zugehörigen Raum : Da-Sein ist Begehen : nichts bekämpfen, alles zulassen – aus den Schichten ihrer Verknüpfungen steigend Zuströmungen der Gluträume des Werdens, aus den kristallisierten Entwürfen endogener Bilder und deren Gewordenem in der Entität ihrer Erscheinung : FORMEN : ARCHÄOLOGIE DES SELBST : ammonidisch u: stratosfär, anubisch u: transparent, Pan u: Äther, – Die Welt verbrennt, sei darin Du Dein Feuer – :Fallen u: Steigen, Milton The world was all before them, where to choose …, und jeder Schnitt entscheidet.1076

Was für Jirgls erzählerisches Werk als durchgängiges Charakteristikum gilt, nämlich, »wie sich existentielle Situationen geradezu ins genetische Material einlagern und somit von Generation zu Generation vererbt werden«1077, zeigt am Beispiel der Vertriebenenproblematik in Die Unvollendeten eine Szene, die mustergültig das lineare Fortschreiten – des Lebens und der Literatur (qua ihrer schriftlichen Anordnung) – mit der Durchbrechung des linearen Zeitgefüges als Verbindung differenter Zeitebenen realisiert. So teilt der Zimmernachbar in der Charit¦ dem Erzähler (des dritten Teils) einmal mit: Ich hab gehört, wie Sie beim Schreiben mit=sich gesprochen haben: KOMM – das sagten Sie oft, und WEIHRAUCH U STAUB – DAVONGEGANGEN FÜR=IMMER – !ah und die AUSGEBLICHENEN SOCKEN – HAMMERSCHLÄGE – KRÜMELN ERDE IN MEINEN FINGERN – ERDLOCH – DAS SCHWARZE O –:Das müssen für Sie ZeitTunnel sein zwischen Heute u: Damals, Orte, an denen Alles wiederkehrt. (210)

Um nur das prominenteste Motiv aufzugreifen, »das schwarze O«: Immer wieder taucht es in Die Unvollendeten auf und verbindet die unterschiedlichsten historischen Konstellationen im Zeichen des Todes.1078 Es gibt verschiedene Formen der teleskopischen Ineinanderverschränkung von historischen Schichten (Spolien, Museen, Familienalben usw.); Jirgls literarische Umsetzung basiert auf einer Schichtungspoetik, die die Wiederkehr vergangener Schreckenserfahrungen beglaubigt, indem sie sie – vermittelt über die Familie und geronnen zum geflissentlich wiederholten Familienmythos1079 – 1076 Jirgl (1991), 13. Bereits im MutterVaterRoman erklärt der Protagonist programmatisch: »Mein Film ein Querschnitt durch Schichten des Erinnerns.« (Jirgl [1990], 14) 1077 Jürgensen (2006), 43. 1078 Vgl. dazu De Winde (2007), 123 f. 1079 Vgl. Cohen-Pfister (2009), 246: »Durch wiederholtes Erzählen im Familienkreis lösen sich

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in den biologisch-kulturellen Existenzhaushalt des Einzelnen implantiert, in jenes Reservoir, das über Selbstverständnis, Lebensführung und Gesundheit entscheidet. Die genealogische Rückbindung an den Heimatverlust und die Vertreibungserfahrung, verstanden als Entfernung vom Ursprung, vom heimatlichen Boden und Schoß der Familie, ist in der Lage, eine Antwort zu geben auf Reiners Nichtidentität und die sein Leben zerstörende Krebskrankheit. Die Angst vor der Bedrohung vermag die Genealogisierung des Ursprungs allerdings nur zu nehmen, wenn sich der betroffene Mensch in einer »ursprungsmythischen Geisteslage«1080 des zu überbrückenden Bruchs zwischen ihm und der gleichsam heiligen Ursprungsmacht beständig versichert. So weit geht Reiner nicht, von einer affirmativen Opferung des Selbst an den es verschlingenden Ursprung (des familiären Übels) ist er weit entfernt. Vielmehr wird er – wie in einer vom Geschlechterfluch durchherrschten Tragödie (vgl. den Abschnitt »Ikonischer Modus« der Einleitung) – zerrissen zwischen dem Streben nach Selbständigkeit und dem zwanghaften Festgebundensein an die familiären, immerzu reproduzierten Vorstellungen von Verlust und Verfall, von, wörtlich verstanden: Degeneration. So viele Argumente in Die Unvollendeten auch gegen die Transformation eines »ursprungsmythischen Bewußtseins«1081, eben einer möglichen Heimatrestitution ins Feld geführt werden, der Verdacht, dass Verderben und Tod den ereilt, der sich ›unrechtmäßig‹ vom Ursprung (der Heimat) entfernte, wird keineswegs entkräftet. Vielmehr scheint es, als kenne Jirgls psycho(-patho)logisches Imaginäres nur die folgende Alternative: Unterwerfung unter die Schicksalsmacht oder Sich-Erheben über das Schicksal. Womöglich liegt in der literarischen Inszenierung gerade dieses unversöhnlichen Dualismus, den zu verabschieden eine sich vom ursprungsmythischen Denken emanzipierende Rationalität ebenso antritt wie »die Erkenntnis des Rückfalls oder des Beharrens auf einer ursprungsmythischen Geisteslage in der Profanität«1082, genau das Problem.

Leidens- und Heimatgeschichten von ihrer zeitlichen Fixierung, indem sie mythologisiert werden, was ihnen eine gewisse Unmittelbarkeit im Familienkreis verleiht.« 1080 Heinrich (1982), 14. 1081 Heinrich (1982), 18. 1082 Heinrich (1982), 24.

Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog

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Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog

Ebenfalls über drei Generationen erstreckt sich die Familiengeschichte, die von dem 1952 geborenen Kurt Drawert als essayistischer Roman 1992 unter dem Titel Spiegelland publiziert wurde1083. 19 kurze, lose die Vorgeschichte der von Drawert als gescheitert beurteilten Revolution in der DDR vergegenwärtigende Kapitel1084 präsentieren ein »in seiner Rhetorizität hoch komplexes anti-narratives Erzählverfahren«1085, eine anscheinend assoziative, tatsächlich extrem verdichtete monologische Prosa, die stilistisch stark an Thomas Bernhards Erzähltexte anschließt1086 und um die semantischen Felder Familie, Sprache, Staat kreist. Drawerts offensichtlich autobiographisch geprägter IchErzähler1087 schildert seine Sozialisation in der DDR als Einübung in eine »Sprache, die nur die Ordnung des Vaters repräsentierte und von ihm verlangte, daß es [sc. das Kind; M. O.] würde wie er« (34). Aufgewachsen als einer der »verkommenen Söhne hochbeamteter Väter« (12), erscheint ihm die Sprache als fataler Transmissionsriemen, mit der die »Welt der Väter« (156) an die jeweils nachkommende Generation übermittelt wird. Unablässig ist der Erzähler, der »vor allem als reflektierendes Bewusstsein, weniger als handelndes Subjekt auftritt«1088, bemüht, die familiären »Hinterlassenschaften« (8), insbesondere die uneingestandene NS-Vergangenheit des Großvaters und die Kaderkarriere des Vaters in der DDR, in eine fassbare Form zu bringen. Insofern hat Spiegelland eine doppelte Intention, möchte zugleich ein an dem Genre des Familienromans angelehnter, die Privatsphäre transzendierender Rechenschaftsbericht über die familiären Verstrickungen in die NS- und SEDDiktatur sein wie auch ein Selbstverständigungstext, durch den der Erzähler seine Sprachkrise, die vom Ende der DDR ausgelöst wurde, überwindet. Während der Erzähler, der »mit Dutzenden von verlogenen Begriffen aufgewachsen« (14) ist, von Jugend an versuchte, sich der Sprache der Väter entschieden zu verweigern, sieht er sich nun vor die Aufgabe gestellt, »sich dieser Begriffe zu entledigen« (14). »[D]ie Wahrheit der Welt meiner Väter«, heißt es in Text1, der die bei einem Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz gemachten Erfahrungen mit einem 1083 Drawert (1992). 1084 Drawert selbst bezeichnet Spiegelland als »kein einheitliches Buch. Die unterschiedlichen Texte, innerhalb von 14 Monaten entstanden, sind in sich geschlossene Gebilde, Monologe, die durch leise weiterführende Elemente miteinander verbunden sind.« (Drawert [1994a], 63) 1085 Brüns (2006), 135. 1086 Vgl. zum Bernhard-Bezug Horstkotte (2009), 190 f. 1087 Vgl. dazu die Ausführungen in Drawert (1994a), 63 f. 1088 Horstkotte (2009), 190.

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ständigen Umkreisen und Neuansetzen sprachlich einzuhegen versucht, »kenne ich nicht – eine Last, die sehr schwer wiegt«1089. Das ist der biographisch-epistemische Ausgangspunkt für die rückwärts gerichteten Aufklärungsbemühungen in Spiegelland, die einsetzen mit dem unspezifischen Gefühl des Kindes, »heimatlos zu sein« (9), und – nach dem Ende der DDR und der Rekonstruktion der Familiengeschichte – enden mit der Sehnsucht nach einer Auslöschung der Herkunftswelt : ich wollte alle Flüchtlingsbilder und alle Straßenbilder und alle Mauerbilder und alle Vereinigungsbilder vergessen, ich wollte meine Herkunft vergessen, die Bilder meiner Kindheit wollte ich entschieden vergessen, die Geschichte meines Vaters und die Geschichte meines Großvaters, einmal aufgeschrieben und dann für immer vergessen. (154)

Die erinnernde Rekonstruktion des Erzählers verfolgt mithin das Ziel einer archäologischen Beschreibung des beschädigten Selbst, um dann die politischen wie familiären Hinterlassenschaften kathartisch ausscheiden und die topographisch vergegenwärtigte Erinnerungslandschaft zugunsten einer Tabula rasa einebnen zu können. Im Zentrum der familiengeschichtlichen Rekonstruktion steht das Verhältnis des Erzählers zu seinem Vater und seinem Großvater. Die Beziehung zu dem Vater, einem Funktionär des SED-Regimes, der, während die DDR in Auflösung begriffen ist, einen Herzinfarkt erleidet, ist eine vollständig zerrüttete: Alles, dachte ich im Gehen, hat er dir zerstört, was du gerade zu lieben begonnen hattest, ich bekam Fotos geschenkt, aber es waren feindliche Fotos, und er hat sie zerrissen, ich las Bücher, die feindliche Bücher waren und die er verbrannte, ich trug die Haare zu lang und den Schal zu lässig und die Mütze zu weit in die Stirn gezogen, die Haare hatten immer in der Länge eines Streichholzes zu sein, und der Schal hatte in einem einfachen Überschlag auf der Brust unterhalb des Mantels zu liegen, und die Mütze mußte mit ihrem Rand die Augenbrauen bedecken, ich hatte eine kranke Haltung, eine fehlerhafte Aussprache und einen schlechten Charakter, später wird er selbst meine Erfahrungen beschimpfen und meine Erinnerungen bezweifeln. (110)

Erst als der Vater, der zunächst die Ansicht vertrat, dass man die Demonstranten im Jahr 1989 von der Straße holen müsse, ja, dass es sich »um eine fremdgesteuerte Konterrevolution handele« (111), nicht mehr umhin konnte, die Geschichtsmächtigkeit der Bewegung anzuerkennen, begann er »den sogenannten revolutionären Gehalt zu entdecken und die Veränderungen richtig zu finden und zu sagen, daß es so nicht weitergegangen wäre und daß man

1089 Drawert (1994b), 146.

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betrogen worden sei von einer Verbrecherclique und daß man nur seine Pflicht getan habe« (111). Zumal zwei Dinge lastet der Erzähler seinem Vater an: Erstens eine opportunistische Haltung, die sich darin äußert, dass der Vater seine vormaligen Überzeugungen auf dem Altar der ›Wende‹ opfert und seine Involviertheit in das DDR-System kleinredet. Zweitens eine ideologische Verbohrtheit, die stärker war als jegliche Familienloyalität. Als der Erzähler »die paramilitärische Ausbildung« (112) verweigerte und exmatrikuliert werden sollte, stimmt der Vater in der dafür anberaumten »Aussprache« (114) in den Chor der Ankläger ein: »und es war, dachte ich im Gehen, nichts anderes als fehlende Anteilnahme und mangelnde Liebe gewesen, die es meinem Vater ermöglicht gehabt hat, mich so behandeln zu lassen und neben den geistestoten Leuten sitzen zu bleiben und ihnen gestenreich beizupflichten« (116). Das Verhältnis des Erzählers zu seinem Großvater dagegen macht eine entscheidende Kehrtwende. Im Familiengedächtnis verankert als ideologisch und moralisch standhafter Kommunist, verflüchtigt sich des Erzählers Verehrung für den Großvater in dem Moment, als er eine Fotografie findet, »die Großvater in Uniform im Kreise seiner blonden Familie zeigt und die den stolzen Vermerk auf der Rückseite hat: ›Für Führer, Volk und Vaterland – Weihnachten 1941‹« (42). Der Fotografie misst der Erzähler eine dokumentarische Evidenz, ja, eine unfehlbare Beweiskraft zu1090, die zugleich die Familienchronik, an der der Großvater aus Anlass des Todes seiner Frau schreibt, zu einer »vollkommen erfundene[n] Geschichte« (45) entwertet.1091 Als »wahnhafte Erfindungen« (52) erweisen sich die niedergeschriebenen Erinnerungen des ehemaligen Kriegsteilnehmers und die Vorstellungen des Enkels von einem Widerstandskämpfer bzw. davon, warum er im Krieg war : »nun, man mußte, man hatte Familie und mußte, um sie zu schützen, auch dies war verständlich, dann Desertion und frühzeitige Kriegsgefangenschaft als Form der Verweigerung, dann Heimkehr und Wiederaufbau, Parteiarbeit, ein ungebrochener Marxist« (60). Der Erzähler entzieht seinem Großvater freilich nicht deshalb die Sympathie und kündigt ihm das Vertrauen, weil dieser die eine totalitäre Ideologie durch einen neuen politischen Extremismus ersetzte, sondern wegen dessen verlogenem Umgang mit seiner eigenen Vergangenheit, 1090 Vgl. dazu Horstkotte (2009), 197 – 200. 1091 Vgl. Brüns (2006), 137: »Dem Photo als Offenbarung eines gleichermaßen faktischen wie banalen So-und-Nicht-Anders eignet der von Roland Barthes charakterisierte Evidenzund Dokumentarcharakter der Photographie, die er als ›r¦f¦rent sans code‹ gegen die immer schon in Zeichensysteme und Sprachspiele verstrickte Schrift und ihre Lektüre abgrenzt. Durchbricht das punctum – das ›verletzende‹ Detail eines Photos – Barthes zufolge alle Zusammenhänge, so zerreißt hier das biographische brutum factum die Inszenarien und Textur einer falschen Lebensgeschichte.«

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zu dem wie selbstverständlich »das Vergessen und Verleugnen von Tatsachen und das Erfinden von anderen Tatsachen« (61) gehört. Viel Mühe verwendet der Erzähler auf seine diagnostische Kernthese, dass die Abhängigkeit des Einzelnen von einem Autorität verkörpernden politischen System über eine ideologisch korrumpierte Sprache hergestellt wird.1092 Dabei setzt die ideologische Zurichtung der Sprache zu einem Herrschaftsinstrument eine bestimmte individualpsychologische Subjektgenese voraus, deren Wirkungsmechanismus mit dem bereits im Titel vorkommenden und des Weiteren den gesamten Text grundierenden Spiegelmotiv zusammenhängt.1093 Drawerts radikale Sprachkritik basiert auf Lacans Theorie des Spiegelstadiums.1094 Lacan zufolge identifiziert sich das Kleinkind beim Blick in den Spiegel einerseits mit dem eigenen Spiegelbild und lernt sich als Ganzes wahrzunehmen, andererseits ruft dieser Vorgang eine Spaltung des Subjekts hervor.1095 Das Spiegelstadium veranschaulicht in Form einer prägenden Urszene den Eintritt des Subjekts in eine symbolische Ordnung, deren Regeln es sich fortan zu unterwerfen hat. Es illustriert die Begegnung mit dem Ich als dem Anderen und die Bildung eines Ich-Bildes in der Distanz zu sich selbst als »das ursprüngliche Abenteuer, in dem der Mensch zum erstenmal die Erfahrung macht, daß er sich sieht, sich reflektiert und sich als anders begreift, als er ist – die wesentliche Dimension des Menschlichen, die sein ganzes Phantasieleben strukturiert«1096. Die konstitutive Distanz veranlasst Lacan zu der Aufspaltung des Begriffs des »Ichs« in »je« und »moi«, um festzustellen: »Das ich (je) ist nicht das Ich (moi), das Subjekt ist nicht das Individuum«1097. Die Instanz des Ich (»moi«) situiert Lacan auf der Ebene des Imaginären, was

1092 Vgl. Garbe (2002), 122: »Die Ausübung der Macht ist mit Sprache verbunden und Sprache ist das eigentliche Thema in Drawerts Text.« – Horstkotte (2009), 191, verweist in diesem Zusammenhang auf »die auch für Bernhard zentrale, frühe Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins«. Allerdings scheint mir für die Aussage, dass die SED-Diktatur »für den Erzähler in Spiegelland ein unsinniges Sprachsystem« begründet, »in dem die Zeichen konsequent von ihrem Sinn abgetrennt sind«, nicht zwangsläufig »die Wittgenstein-Rezeption bei Drawert« (ebd., 193) verantwortlich zu sein. Die Haltlosigkeit der offiziellen Sprache in der DDR ließe sich bereits dadurch plausibilisieren, dass man das die Sprache des Dritten Reichs analysierende – und in der DDR ubiquitär verbreitete – Buch LTI. Notizbuch eines Philologen von Victor Klemperer auf die SED-Botschaften überträgt. 1093 Vgl. zum Spiegelmotiv ausführlich Jopp (2000), 89 – 102. 1094 Erstmalig auf diesen Zusammenhang verweist Jopp (2000), 111 f. (versehen mit einem Appell an die künftige Forschung); Horstkotte (2009), 194 f., schließlich beteutert angesichts ihrer Analyse des Lacan-Bezugs: »Bis in einzelne Formulierungen hinein läßt sich der Einfluß dieser Subjekttheorie in Spiegelland nachvollziehen.« 1095 Vgl. Lacan (1991a), 61 – 70. 1096 Lacan (1990), 105. 1097 Lacan (1980), 9.

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nichts anderes heißt, als dass es weniger der Selbsterkenntnis verhaftet als vielmehr einem notwendigen Verkennen ausgeliefert ist. Während das Ich sich in Lacans Subjekttheorie als symbolische Struktur der Fragmentiertheit erfährt, wird die Konstruktion des Imaginären in der Kommunikationssituation durch den Anderen determiniert. So betreibt das Subjekt im Sprechen die Enteignung seines Seins, von dem es endlich erkennt, daß es nie etwas anderes war als sein imaginäres Werk und daß dieses Werk es um alle Sicherheit bringt. Denn in der Anstrengung, die das Subjekt unternimmt, es für einen anderen wiederaufzubauen, findet es die grundlegende Entfremdung wieder, die es jenes Werk als ein anderes hat entwerfen lassen und die es schon dazu bestimmt hat, ihm durch einen anderen entrissen zu werden.1098

Die Erfahrung konstitutiver Entfremdung im Kommunikationsprozess wird ferner von Lacans Überlegungen zur Sprache verstärkt. Lacans These vom »Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten«1099 setzt voraus, dass Signifikant und Signifikat voneinander getrennt sind, und kehrt die – noch für Saussure gültige – Beziehung zwischen beiden um, so dass der Signifikant dominiert. Der Bedeutungsprozess vollzieht sich als eine signifikante Kette, eine unentwegte Verschiebung, die eine fundamentale Leere indiziert, nämlich die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats. Im Ergebnis ist das Signifikat ein Effekt des Signifikanten1100, entstehen Bedeutungen aus einer Kombination differentieller Elemente innerhalb eines geschlossenen Systems, sind die so zustande gekommenen Bedeutungseffekte ebenso flüchtig wie ungreifbar. Lacans Subjekt- und Sprachtheorie ergänzen einander insofern, als die konstitutive Ich-Spaltung von einer Sprache, die einen stabilen Sinn nie erreichen kann, noch verstärkt wird zu einer Erfahrung, in der dem Subjekt die eigene sprachliche Äußerung notwendigerweise als verfremdete, nicht-authentische Selbstmitteilung gegenübertritt. Der Erzähler in Spiegelland nun überführt Lacans Konzeptualisierung von Subjekt und Sprache in eine sprachlich fundierte Ideologiekritik, wenn er verdeutlicht, dass »die Sprache der Macht« (41) so basal in der Sprache des Vaters und des Großvaters sedimentiert ist, dass in deren Sprachäußerungen die Beziehung zwischen den Zeichen und den von ihnen bezeichneten Objekten, also die Referenz, systematisch gestört ist. Das bedingt zum einen für den Sprecher eine Fremdbestimmung dergestalt, dass sich »etwas Fernes, Fremdes, Äußeres« (26) bei ihm eingenistet hat, »das sich lediglich seiner […] Stimme bediente« (26); zum anderen hat es für ihn als Adressaten zur Folge, 1098 Lacan (1991a), 87. 1099 Lacan (1991b), 36. 1100 Vgl. Lacan (1991b), 22 u. 27.

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dass seine Kompetenz zum Entschlüsseln von Nachrichten nachhaltig in Frage gestellt wird bzw. sich gar nicht erst richtig ausbilden konnte: Ich hörte, vielleicht gerade noch rechtzeitig, einen jeweils anderen heraus, sobald (beispielsweise) Vater zu sprechen begann, und das Mitgeteilte, hörte ich heraus, ist etwas anderes als die Mitteilung, die mich (oder einen anderen) erreichen sollte, und gelegentlich war das Mitgeteilte der Mitteilung so eng verwandt, dass sie sich annähernd richtig erahnen ließ, dann aber war das Mitgeteilte der Mitteilung wieder vollkommen unähnlich. (26)

Dauerhaft diesen brüchigen Zuschreibungs- und Bedeutungsbeziehungen ausgesetzt, empfindet der Erzähler die Sprache als nichts anderes als »eine üble Gemeinheit des Vaters (oder des Großvaters, beispielsweise)« (26), die dem herrschenden System hauptsächlich zum Machterhalt dient.1101 Lassen sich doch in dieser Sprache keine stabilen Überzeugungen, Erkenntnisse, gar Wahrheiten fixieren, wenn es die jeweiligen Repräsentanten der Macht sind, die die Deutungshoheit für sich beanspruchen. In »dieser Situation eines beschädigten Sprechens« (27), die aus dem »aus einer Perspektive der Herrschaft« (27) etablierten Sprachgebrauch resultiert, der eindeutige Sinnbezüge systematisch unterminiert, entschließt sich der Erzähler, dem Fremden seine Stimme zu verweigern: »ich war das Kind, das plötzlich verstummte, das schon so gut sprechen konnte und das Sprechen wieder verlernte« (28). Das Kind, dem es zwar beträchtliche Schwierigkeiten bereitete, Vokabeln des Politjargons wie »Revolution« oder »Arbeiter- und Bauernstaat« niederzuschreiben (10), das aber späterhin bei dem von der Großmutter initiierten weihnachtlichen Aufsagewettbewerb mit perfekter Rezitation triumphiert, ist verwirrt von einer Sprache, die nur die Ordnung des Vaters repräsentierte und von ihm verlangte, daß es würde wie er. Das Kind fühlt sich durch die Sprache beherrscht, soll er gesagt haben. Es spürt, daß in ihr ein Herrschaftsanspruch eingelöst werden soll, durch den es sich und seinen Körper aufzugeben hat. (34 f.)

Die Einsicht, die aus der mit dem Verstummen einhergehenden fundamentalen Verweigerung eines permanenten Gesprochenwerdens resultiert, ist, dass ein eigentliches Sprechen nur »außerhalb der Ordnung des Vaters (oder des Großvaters, beispielsweise) erfolgen« (35) kann. Just diese Einsicht stellt sich beim 1101 Dem Vater attestiert der Erzähler, »daß er zwar ein aufgeklärter, an die Kraft der Vernunft glaubender Mensch gewesen ist, aber nicht über ein Wort eigene Sprache verfügte, durch die er ein aufgeklärter, an die Kraft der Vernunft glaubender Mensch hatte sein können, er ist derart sprachlos gewesen und hat die ganze Sprachlosigkeit der Gesellschaft wiederholt, daß er tatsächlich immer nur auf Überführungen hinauslaufende Aussprachen führen konnte, er konnte nie ein Gespräch führen, er konnte immer nur Aussprachen führen« (120).

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Erzähler erneut ein, als er zur Wendezeit nach einer »Art Chandos-Erlebnis«1102 abermals in eine Phase des Schweigens stürzt. Zumal auf die überwältigende Wucht der offenbarten Wahrheit über die Familienvergangenheit reagiert er mit Sprachlosigkeit. Sein leitender Erzählimpuls ist nunmehr, nach dem Ende der SED-Diktatur, ein für alle Mal aus der »Ersatzwirklichkeit« (136), in der man sich aufgrund der deformierten Sprache befunden habe, auszubrechen. Es sind Stellen wie die eben angeführten, die Clemens Murath zu der Kritik veranlassten, Spiegelland verstricke sich in einen Selbstwiderspruch: Einerseits handelt es sich um eine schonungslose Abrechnung mit der DDR, andererseits betont der Autor durchgängig, wohl unter dem Einfluß poststrukturalistischer Theorien, die Rhetorizität des Textes, die die Möglichkeit eindeutiger Aussagen unterläuft und letztendlich gar das erzählende Subjekt zur rhetorischen Fiktion werden läßt. Damit stellt der Text sich selbst in Frage und unterminiert sein eigenes Anliegen, nämlich die Gültigkeit eines ›anderen Sprechens‹ zu bezeugen und die Schuldigen zu benennen.1103

Basierend auf der These einer Strukturanalogie zwischen Familie und Staat1104, in denen gleichermaßen statt Aufrichtigkeit, Geradheit und freimütige Aussprache Unwahrheit, Verdrängung und Schweigen dominieren, konzeptualisiert Drawerts Ich-Erzähler seine familiäre und sprachliche Sozialisation – Hilbigs Ich-Erzähler in Alte Abdeckerei vergleichbar – als Kindheitstrauma. Die existenzielle Sprachnot wird im Verlauf der rekonstruktiven Erinnerungsarbeit, insofern hat Murath recht, nur reflektiert, nicht aber im Rahmen einer therapeutischen Durcharbeitung aufgehoben1105. Der bedingten Reichweite seines selbstaufklärerischen Unternehmens ist sich indes auch der Erzähler bewusst, wenn er formuliert: »der genaue Gedanke müsse sich semantisch zerstören und zur Unsprechbarkeit oder Unlesbarkeit führen, und so war der gültige, brauchbare Satz, von dem ich in rhetorischer Weise sprach, genaugenommen das Schweigen« (136).1106 Nachdem nämlich die politische Wirklichkeit über das Ideal eines dritten Weges für die DDR hinwegging und sich für den Erzähler die Sehnsucht nach einer unentfremdeten Sprache, die die Sprache des alten Systems nicht bloß schlicht umkehrt1107, im wiedervereinigten Deutschland als il1102 1103 1104 1105 1106

Horstkotte (2009), 194. Murath (1995), 380. Vgl. Garbe (2002), 122. Vgl. Brüns (2006), 141 f. Der Erzähler bezieht sich hier auf die Einsicht, dass sich der individuelle Sprachbesitz stets zwischen den Polen von Tradition und Freiheit bewegt, mithin jede Sprachäußerung nur in einem stärkeren oder schwächeren Maße authentisch sein kann, so dass jeder Versuch, aus dieser Wechselbeziehung auszuscheren, nur im Verstummen enden kann. Vgl. dazu Gauger (1995), 7 – 18. 1107 Vgl. Drawert (1992), 23: »So ist diese Revolution eine von Anfang an zum Scheitern verurteilte Revolution gewesen, da sie die Sprache des Systems nicht verließ und lediglich

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lusorisch herausstellte1108, arbeitet er mit der Haltung eines vom Sprachzweifel Durchdrungenen konsequent sowohl gegen die sprachliche Fremdbestimmung wie gegen das Verstummen bzw. die Schreibblockade an. Anders gesagt: Der Text weiß um die Unerfüllbarkeit der im Motto formulierten Utopie von einer »andere[n] Sprache« (8), was ihn aber nicht davon abhält, in der gegebenen Sprache sich so weit als möglich von der ›väterlichen Ordnung‹ zu distanzieren: Denn der Gegenstand des Denkens ist die Welt der Väter gewesen, von ihr sollte berichtet werden, und wie verloren sie machte und wie verloren sie war – als herrschende Ordnung, als Sprache, als beschädigtes Leben. Doch sobald ich ins Erzählen geriet und meine Geschichte, um sie zu verstehen, in die Vergangenheit holte, kam mir eine zweite und dennoch zu mir gehörende Person wie aus der Zukunft entgegen und forderte mich auf, eine andere Wirklichkeit zu übernehmen, von der die erfahrene Wirklichkeit sich auszulöschen schien. (156)

Die Verabschiedung der Väterwelt geht einher mit der Hoffnung auf einen »Anderen im Ich«1109 und letztlich auf eine »andere Wirklichkeit«, sprich auf »eine Erschaffung der Zusammenhänge« (157), die der nachkommenden Generationen bedarf – und konsequenterweise Ausdruck findet in der Widmung: »Meinen Söhnen Lars und Tilman im Sinne einer Erklärung.« (7) Wolfgang Emmerich macht auf die in der Nachwendezeit auffällige Renaissance der »Väterbücher« aufmerksam, »die sich wie ein Pendant zu den westund ostdeutschen Naziväter-Büchern der 70er und frühen 80er Jahre ausnehmen«1110. Zwar begegnen autoritäre »kommunistische Väter« als »bedeutsame Prägefiguren der DDR« in der Literatur schon früher (z. B. in Volker Brauns Unvollendete Geschichte, in Thomas Braschs Vor den Vätern sterben die Söhne oder in Heiner Müllers Szene Der Findling)1111, aber es gibt, sieht man von Klaus Schlesingers Roman Michael ab1112, in der ostdeutschen Literatur bis 1989, soweit ich sehe, keine relevanten Auseinandersetzungen mit der väterlichen NSGeschichte1113. Das in der Post-DDR-Literatur sich nunmehr durchsetzende te-

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versuchte, sie umzukehren, so daß das System kein gestürztes System, sondern lediglich ein umgekehrtes System geworden ist.« Vgl. Horstkotte (2009), 196: »Er muß nun einsehen, daß die Trennung der Zeichen von ihrem Sinn sich auch unter dem neuen politischen System nicht beheben läßt.« Brüns (2006), 136. Emmerich (1996), 489. Emmerich (1996), 489. Heiner Müllers Findling bezieht sich auf eine biographische Episode von Thomas Brasch, der, nachdem er sich 1968 wegen einer Flugblattaktion vor der drohenden Verhaftung versteckt gehalten hatte, schließlich seinen Vater um Hilfe bat und von diesem an die Polizei verraten wurde (vgl. Wilke [2010], 199). Im – ideologisch motivierten – Verrat der Väter an den Söhnen klingt gleichsam ein DDR-spezifisches Pendant zu der für die westdeutsche Literatur kennzeichnende Väterliteratur an. Schlesinger (1971). Vgl. zu dem Roman Köhler (2007), 51 – 54. Vgl. zu dem – bescheidenen – Beitrag der DDR-Autoren zur deutschsprachigen Väterliteratur Köhler (2007), 218 f.

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leskopische Imaginäre schließt an zwei literarische Strömungen an, deren Merkmale es miteinander verquickt: An die westdeutsche Täter-Väterliteratur, indem es explizit die NS-Verstrickungen in den Familiengeschichten ausleuchtet, und an die ostdeutsche Kader-Väterliteratur, indem es die biographischen Beschädigungen durch die kommunistische Väterwelt zur Sprache bringt. Bloß um die jeweilige Geschichte des Vaters kreisen freilich nur wenige PostDDR-Prosatexte, etwa die beiden autobiographischen Erzählungen Der Dienst von Angela Krauß (erschienen 1990) und – nur als Fragment überliefert – Im Herbst 197.. starb … von Heiner Müller (geschrieben nach 1992)1114. In der Regel – und das ist bei Drawert wie bei den zuvor betrachteten Texten von Hilbig und Jirgl der Fall – erweitern sie den Horizont der retrospektiven Familienbetrachtung von der Eltern- um die Großelterngeneration und ermöglichen so eine multigenerationelle Zusammenschau, die die Determination der Familienbeziehungen durch Nationalsozialismus und SED-Regime offenlegt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass in Spiegelland, worin die Väterwelt systematisch mit der Großväterwelt verklammert wird (z. B. in der Wendung »Ordnung des Vaters (oder des Großvaters, beispielsweise)« [35]), die Ansätze zu einer sozialpsychologischen Ursachenforschung für die Deformation und das Ende der sozialistischen Parteidiktatur bereits beim problembehafteten Anfang der DDR, bei ihrem antifaschistischen Gründungsmythos beginnen. Gerade für die zweite Generation, die ja, wie Drawert in einem Interview 1994 pointiert, »von vornherein eine rein verwaltete Generation«1115 war, lässt sich im Sinne einer Selbstvergewisserung die Gegenwart nur aus der Vergangenheit heraus sehen, das heißt, ich schaue auf die Bundesrepublik wie aus dem Fenster einer Zelle. Und mit diesem Blick und mit allem, was mein Leben in der DDR war, bin ich so sehr beschäftigt, daß mich das gegenwärtige Deutschland nur in seiner Verweisung, in seiner Differenz zu meinen Erfahrungen interessiert.1116

Es hat somit durchaus einige Plausibilität für sich, wenn Drawert, für eine Phase des Innehaltens und der reflexiven Rückwendung plädierend, in demselben Interview behauptet: »Das aktuellste Buch, das es derzeit wahrscheinlich gibt, ist wohl wieder einmal Mitscherlichs Die Unfähigkeit zu trauern.«1117 Dieser Verweis auf eine – nach der Rezeption des Buches in der Studentenbewegung – in der Nachwendezeit dringliche zweite Rezeption ist insofern aufschlussreich, als Drawert den Geltungsbereich der Mitscherlich’schen Analyse auf die ehemalige DDR ausweitet. 1114 1115 1116 1117

Vgl. zu dem Müller-Fragment Oh (2008), 93 – 98. Drawert (1994a), 66. Drawert (1994a), 71. Drawert (1994a), 67.

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Ein Verweis übrigens, der einen diagnostischen und einen therapeutischen Aspekt enthält. Der Geltungsbereich der Mitscherlich’schen Diagnose, die den Westdeutschen eine unzureichende Vergangenheitsaufarbeitung attestiert, namentlich eine »Gefühlsstarre« gegenüber den Opfern sowie die rasche Identifikation mit den Siegern und »das manische Ungeschehenmachen, die gewaltigen kollektiven Anstrengungen des Wiederaufbaus«1118, wird auf die in der DDR sozialisierten Deutschen ausgeweitet. Die ideologisch motivierte Zukunftsfixiertheit schattete die Vergangenheit, so sie nicht argumentativer Bestandteil eines übergeordneten Plans zur Schaffung einer kommenden Gerechtigkeitsordnung war, weitgehend ab. Stattdessen erzeugt die Blindheit für die Opfer eines vergangenen Systems, von dem man sich mit aller Macht absetzen möchte, eine neue Blindheit: nun freilich für all diejenigen, die einer Verwirklichung der utopischen, mit religiösem Eifer betriebenen Heilserwartungen im Weg stehen könnten. Kurz: Die Vorwärtsorientierung provoziert im Verbund mit der Erinnerungsabwehr – getreu dem Argument, dass rigoristische Denkstrukturen gerade dann reproduziert werden, wenn man sich mit aller Macht gegen sie stellt – einen erneuten Extremismus. Erst mit dem Ende der DDR, so der sozialtherapeutische Aspekt, ist der Boden bereitet für eine Aufhebung der Opfer-Amnesie, für eine ernsthafte Erinnerungs- und Trauerarbeit in Bezug auf die Opfer des Nationalsozialismus.1119 Anders gesagt: Drawert nimmt die Geschichtszäsur 1989/90 zum Ausgangspunkt, um für eine opferzentrierte Gesamtrückschau auf die vergangenen 60 Jahre in Deutschland zu plädieren, für eine Perspektive, die NS- und DDR-Geschichte miteinander verklammert.

4.4

Nachgeholte Trauerarbeit

Für ostdeutsche Autoren wie Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl und Kurt Drawert ist, das haben die Textanalysen ergeben, mit der Wende 1989/90 ein enormes Bedürfnis entstanden, bisher ausgeklammerte Familiengeschichten in Form von noch fortwirkenden Leidenserfahrungen artikulieren zu können. Wie lässt sich nach der Maueröffnung die Kombination aus Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und kritischer Bearbeitung der DDR-Vergangenheit erklären? Führten die mit der historischen Zäsur sich im Diskurs um die deutsche 1118 Mitscherlich (1977), 40. 1119 Vgl. Geier (2008), 285 f.: »Die überindividuelle Aussagekraft der biographischen Schilderungen ist um so wichtiger, als der Rückblick auf die Versäumnisse der Vergangenheits›Bewältigung‹ dazu dient, die sich abzeichnenden Probleme in der Aufarbeitung der SEDDiktatur zu thematisieren. In den Abwehrhaltungen des Großvaters und Vaters gegen jede Selbstkritik stellt Spiegelland eine Kontinuität zwischen 1945 und 1989 her.«

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Vergangenheit nach 1945 ergebenden Umschichtungen, Neubewertungen und Deutungskämpfe zu in der DDR-Literatur nicht existierenden – und bis dato auch nicht vorstellbaren – Gegenständen und Formen der literarischen Sagbarkeit? Etablierte sich, um es einmal thesenhaft auszudrücken, in der PostDDR-Literatur eine – durch die nunmehr offene Hinwendung zur Familiengeschichte zumal familiär perspektivierte – nachgeholte Trauerarbeit? Eine Trauerarbeit, die eine spezifisch historische Dimension des Trauerns freilegt1120 und zwischen der persönlichen Verlusterfahrung (Trauerfall) und einem auf Sinnentzug oder -verborgenheit basierenden Weltverhältnis (philosophische Anschauung) anzusiedeln ist? 1989 setzte in der Vergangenheitsorientierung der ostdeutschen Literatur eine nachhaltige Wende ein. Einem Dammbruch gleich öffneten sich die zuvor geheimsten Archive, fielen die Tabus, die die DDR-Schriftsteller zuvor auf das Verschweigen und Verdrängen verpflichteten.1121 Unter den zahlreichen Exponenten des öffentlichen Lebens, die die gewendeten Verhältnisse dazu nutzten, in autobiographischen Texten ihre Rolle in den bislang ausgeblendeten Abschnitten der DDR-Vergangenheit zu beschreiben, befand sich auch eine Reihe von Schriftstellern.1122 Der Systemwandel forderte gleichsam dazu auf, sich dessen zu vergewissern, was war, und es sich schreibend anzueignen. Da schlug zum einen das autobiographische Motiv durch, sich auf der Grundlage eines nunmehr vorbehaltlosen Selbstausdrucks eine stimmige, sich durch innere Kohärenz auszeichnende individuelle Entwicklungsgeschichte zu verleihen; zum andern wurde, weil jede Versprachlichung aufgrund der Gleichzeitigkeit von individuellen und kollektiven Erinnerungen zur Kongruenz der beiden Erinnerungsformen auffordert1123, das Begehren spürbar, ideologisch begründete Verdrängungsmechanismen offenzulegen. Ohne die tabufreie Hinwendung zur Vergangenheit war für die in der DDR sozialisierten Autoren der zweiten und dritten Generation nach dem Ende des Kalten Krieges keine Reflexion über die eigene Gewordenheit bzw. keine Voraussetzung für einen Neuanfang vorstellbar.1124

1120 Vgl. Rüsen (2001b), 69: »Das Wissen um den Tod einer Person oder Personengruppe, ja eines ganzen Kulturkomplexes, in der abständigen Vergangenheit kann wie die Erfahrung des Verlustes einer geliebten Person angesehen, selber erfahren und psychisch ›bearbeitet‹ werden.« 1121 Vgl. Emmerich (1996), 479. 1122 Vgl. Emmerich (1996), 481; Kormann (1999), 235 – 252; Niethammer (2004), 326 – 332. 1123 Vgl. Niethammer (2004), 331. 1124 Vgl. Assmann (2004), 28: »wenn man etwas ständig beredet, flacht es langsam ab, dann wird es fast zu einer anekdotischen Routine. Wenn dagegen etwas längere Zeit beschwiegen wird, aus welchen Gründen auch immer, erhält sich der emotionale Gehalt, und es kommt zu explosiven Ausbrüchen.«

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Nachdem mit der Wiedervereinigung sich das Bedürfnis nach kritischen Stellungnahmen zu Gegenwartsproblemen der DDR erledigt hatte, verquickte sich der gesteigerte Nachholbedarf, sich zu erinnern, mit dem Bestreben, den Leerstellen des offiziellen Geschichtsverständnisses nachzuspüren. Im Zuge der sich der Perspektive des wiedervereinigten Deutschlands verdankenden Tendenz zur Historisierung und Neubewertung, die die Geschichte der beiden deutschen Staaten erfasste, wurde besonders der Umgang mit dem Nationalsozialismus einer Revision unterzogen. Inwiefern ist nun auch die Familienliteratur von Autoren mit DDR-Hintergrund von diesem Zusammenhang betroffen? Nachdem sich der Rauch des deutsch-deutschen Literaturstreits, ausgelöst durch die Kritik an Christa Wolfs Erzählung Was bleibt (1990) und vorangetrieben mit der Stoßrichtung, die kritisch-loyale DDR-Literatur nachhaltig zu diskreditieren1125, verflüchtigt hatte, wandten sich Literaturkritik wie Literaturwissenschaft zunehmend der Historisierung der DDR-Literatur zu1126. Fragen wie, ob es aus literarhistorischer Perspektive überhaupt sinnvoll sei, DDR-Literatur und BRD-Literatur als getrennte Gegenstände voneinander zu behandeln, oder welche Gründe es gebe, von einer »DDR-Literatur nach dem Ende der DDR«1127 zu sprechen, rückten in den Vordergrund. Von journalistisch-publizistischer Seite dekretierte Iris Radisch 2000 vollmundig »[z]wei getrennte Literaturgebiete«1128, während Alexander Cammann 2009 im Brustton der Überzeugung behauptete: »Wenn es eine unteilbare Kulturnation gegeben hat, dann doch wohl in der deutschen Literatur nach 1945.«1129 Es ist hier nicht der Ort, diese großräumige – und sicher auch die Literaturwissenschaft noch eine Weile beschäftigende – Frage zu diskutieren1130, vielmehr gilt es, den Blick zu verengen 1125 Vgl. die Dokumentation von Anz (1991). 1126 Vgl. den instruktiven Forschungsbericht zu neueren Forschungen zur DDR- und Nachwende-Literatur von Albert (2009). 1127 So der Untertitel von Helbig (2007). 1128 Radisch (2000), 13; Radisch spricht von einem »ost-westlichen Kulturkampf« (17) und von »zwei deutschen Literaturen«, die nichts miteinander gemein haben: »Sie existieren völlig getrennt voneinander.« (23) Den Ost-West-Vergleich pointiert sie so: »Im Westen dominiert der Beschreibungsfetischismus, der Kult des Hier und Jetzt, das Dogma des Reflexionsverbots, der Mix geborgter Töne. Im Osten gibt es eine poetische, tragische, im besten Sinn politische Literatur, die nicht Stellung bezieht, aber durch die machtvolle Bergwerksarbeit ihrer originellen und expressiven Sprache deutsche Wirklichkeit decouvriert, dekonstruiert, destabilisiert – mit einem Wort: literarisch kommentiert. […] Die einfache Frage, welcher deutsche Satz auf eine literarische Weise gut ist, wird in den zwei deutschen Literaturgebieten heute so verschieden beantwortet wie eh und je.« (25 f.) 1129 Cammann (2009). 1130 Vgl. zur Bestimmung einer eigenständigen DDR-Literatur den instruktiven Beitrag von Ludwig/Meuser (2009). In ihrer Skizze zur »Geschichte der DDR-Literatur in vier Generationen engagierter Literaten« problematisieren sie die Bestimmungsversuche über die Kriterien Entstehungsort (Stichwort: Literatur in der DDR), Biographie (Literatur von

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und darauf zu konzentrieren, ob die notorischen Erfahrungsdifferenzen in den beiden deutschen Teilstaaten auch von einer »gespaltenen Erinnerung«1131 begleitet wurden, die auch im Ost-West-Vergleich der Literatur nach 1989 noch deutlich spürbar ist. Denn auch in der erinnerungskulturellen Literaturforschung sollte der Ost-West-Gegensatz als heuristischer Ausgangspunkt nicht vorschnell zugunsten einer einseitigen Synthetisierung aufgelöst werden.1132 In der Einleitung zu ihrem Sammelband Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989 fassen die Herausgeber den Ost-West-Gegensatz als eine lange nachwirkende Entzweiung in der deutschen Literatur : »Es bildeten sich zwei getrennte Erinnerungskulturen aus, die zwar Berührungsmomente aufweisen, deren Differenzen aber bedeutsamer sind.«1133 Den von Jürgen Link geprägten Begriff der »Diskulturalität« aufgreifend, spricht Wolfgang Emmerich von einem geteilten kulturellen Gedächtnis, das sich zwischen der DDR und der BRD herausbildete und noch deren Wiedervereinigung überdauert.1134 Während, so lauten die zentralen Argumente für die Erinnerungsspaltung zwischen den beiden deutschen Staaten, in der SBZ und späteren DDR der Gründungsmythos vom Antifaschismus als Rechtfertigung für den Sozialismus als gesellschaftliche Grundlage für den Aufbau eines zweiten

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DDR-Autoren), Thema (Literatur über die DDR) und typische Sujets (Literatur, die den Machtapparat oder den Verlauf der Geschichte ins Zentrum stellt). Danach fassen sie die DDR-Literatur als »singuläres Phänomen, das auf einem utopisch-politischen Konzept fußte und wesentlich von diesem geprägt war« (29). Vgl. Domansky (1993). – Salomon Korn (1999) spricht mit Blick auf die unterschiedlichen Erinnerungskulturen von Juden und Nicht-Juden in Deutschland von »geteilter Erinnerung«. Herrmann, M. (2010), 28, etwa weist auf die generationengeschichtliche Ost-West-Differenz nach 1945 hin (»Der Einschnitt 1968 fehlt fast ganz, der Einschnitt 1989 ist als viel wichtiger zu erachten.«), macht sie aber nicht für ihre Untersuchung fruchtbar : »Die im Folgenden aufgeführten Phänomene sollen trotzdem umfassend gelten, da sie an biographischen Umbruchssituationen wie dem Eintritt in eine bestimmte Altersgruppe festgemacht sind.« Des ungeachtet markiert Herrmann einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den literarischen Situationen in der frühen Nachkriegszeit und der Nachwendezeit: »Die Tatsache, dass die Erfahrungsdifferenz zwischen den Generationen durch die unterschiedliche biographische Gewichtung der ost-, west- oder gesamtdeutschen Lebensabschnitte sowie vor dem Hintergrund des Medienwandels und der Ausdifferenzierung des Literaturbetriebs eher größer geworden ist, die verschiedenen Autorengenerationen aber – im Medium des Buchs vereinheitlicht – nebeneinander auf dem Markt präsent bleiben, führt zu einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wie es sie in dem Maße etwa in der Literatur unmittelbar nach 1945 nicht gegeben hat.« Beßlich/Grätz/Hildebrand (2006), 13. Vgl. Emmerich (2009), bes. 250, wo Emmerich seine These mit einer Zukunftsprognose abrundet: »There can be no doubt, in my view, that the ›Diskulturalität‹ between East and West Germans at and after the Wende has proven to be much stronger than had been expected. My thesis is as follows: the cultural estrangement between East and West is great and will remain so for a long time. It will become the history of at least three generations.«

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deutschen Staates diente1135, war ›1968‹ nur ein marginales Ereignis in der DDR, das keinen relevanten Einfluss auf die Bevölkerung ausübte und auch im kulturellen Gedächtnis des Staates vergleichsweise folgenlos blieb1136. Der antifaschistische Gründungsmythos offerierte der ostdeutschen Bevölkerung »eine psychologische Entlastungsstrategie, sich durch die Identifikation mit den antifaschistischen Widerstandskämpfern und Opfern des Dritten Reiches rückwirkend symbolisch in deren Reihen einordnen und damit der Frage nach der eigenen Verantwortlichkeit für und Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus aus dem Wege gehen zu können«1137. Da auch die BRD in den 1950er und frühen 1960er Jahren aufgrund der Westintegration, des Antikommunismus und der eigenwilligen Interpretation des Nationalsozialismus, wonach die Nazis als kleine Gruppe Krimineller das deutsche Volk verführt, manipuliert und durch Terror zum Mitmachen gezwungen hätte, die einst gemeinsame Vergangenheit in vergleichbarer Weise wie die DDR behandelte, wurde das Dritte Reich »aus der jeweiligen Geschichte beider Staaten herausund in die des jeweils anderen Staates hineinmanövriert«1138. Erst ab den 1970er bzw. 1980er Jahren beschäftigte man sich in der BRD nachhaltig mit den Opfern des und den Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus. Diese, die westdeutsche Gesellschaft nunmehr überwölbende Erinnerung an den Holocaust vertiefte jedoch »die Erinnerungsspaltung zwischen den beiden Teilen Deutschlands, da in der DDR die Erinnerungsmuster der fünfziger und sechziger Jahre nicht neu arrangiert wurden. Der Holocaust blieb dort bis zur Mitte der achtziger Jahre (nahezu) vollständig vergessen.«1139 Mit Blick auf ›1968‹ könnte man Folgendes resümieren: Während sich in Westdeutschland eine opferzentrierte Erinnerungskultur etablierte, die maßgeblich von der 68er-Bewegung angestoßen wurde1140, führte just deren Fehlen in der DDR1141 zu einem Festhalten der ostdeutschen Bevölkerung am Mythos des Antifaschismus – auch über das Jahr 1990 hinaus1142. 1135 Vgl. zum Mythos des antifaschistischen Widerstandes Leo (2009); Münkler (2009), 421 – 441. 1136 Vgl. Wolle (2008). 1137 Domansky (1993), 182. 1138 Domansky (1993), 185. 1139 Domansky (1993), 188. 1140 Vgl. Jureit/Schneider (2010), 26 f. 1141 Vgl. Koenen (2002), 23: »Und als ein wesentlicher Unterschied zwischen den Gesellschaften der Bundesrepublik und der DDR gilt […], daß es eben dort kein ›68‹ gegeben hat; oder, noch apodiktischer : ›daß die DDR eine deutsche Geschichte minus 1968 war‹.« 1142 Vgl. Domansky (1993), 192; Leo (2009), 30 – 36 u. 40 – 42. Auf der Basis »einer großen repräsentativen Studie der deutschen Bevölkerung zwischen 40 und 85 Jahren« konstatiert Martin Kohli, »wie sehr Deutschland Mitte der 1990er Jahre auch in dieser geschichtlichen Verankerung noch eine gespaltene Gesellschaft war. Eine solche Spaltung ist keineswegs harmlos, für Deutschland noch weniger als für andere Länder. Deutschland hat ein ver-

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Auch in Bezug auf das Familiengedächtnis bestehen im Ost-West-Vergleich nach 1989, dies zeigen generationengeschichtlich und familiensoziologisch orientierte Untersuchungen1143, erhebliche Unterschiede im Umgang mit dem Nationalsozialismus. Um nur zwei Aspekte zu nennen: Erstens wurden und werden durch das weiterwirkende antifaschistische Selbstverständnis und durch die fehlenden multigenerationellen Aushandlungsprozesse über das NS-Erbe in der DDR »die elterlichen Bekundungen eigener Unwissenheit und Unschuld von der Kindergeneration fragloser akzeptiert«1144. Zweitens verdeutlicht die Gegenüberstellung von Familien aus Ost- und Westdeutschland, »daß in ostdeutschen Familien die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit eng mit der Auseinandersetzung mit der DDR verbunden ist«1145. So fungieren die Erfahrungen in der DDR gleichsam »als vermittelndes Glied zwischen der NS-Zeit und der Gegenwart«1146. Zusammengenommen besteht die »Phase konkurrierender Geschichtsbilder in Ost und West«1147 insofern fort, als ostdeutsche Familien vor dem Hintergrund sich verändernder sozialer Normen (Demontage des ›DDRGeschichtsbildes‹, emotionsgeladene ›Stasi-Debatte‹ usw.) genötigt werden, ihren Umgang mit der NS-Vergangenheit zu refigurieren. Indes: Führt die seitens der zeithistorischen und soziologischen Forschung wohlbegründete und mit Wolfgang Emmerich von einem prominenten Erforscher der DDR-Literatur vertretene These von den zwei unterschiedlichen Erinnerungskulturen notwendigerweise auch zu einer spezifischen Post-DDR-Literatur? Um etwa das von Helmut Peitsch initiierte Potsdamer Projekt »Literarische Vergangenheitsbewältigung im Ost-West-Vergleich (1945 – 1970)«1148 über die Zeit nach 1989 ausdehnen zu können, ginge es mithin darum, Argumente für die fortwirkende literarische Relevanz des asymmetrischen Geschichtsdiskurses zwischen der DDR und der BRD zu formulieren. Der Zweite Weltkrieg und seine Literarisierung bildeten in der DDR »ein äußerst heikles und problematisches Thema«1149. Basierend auf der von Alfred Kurella 1957 lancierten These vom Zweiten Weltkrieg als »Zweiweltenkrieg«1150 erging an die DDR-Autoren die Aufgabe, »die Kriegsliteratur als Teil des antifaschistischen Widerstands zu begreifen und sie vorrangig auf die Wandlung der

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gleichsweise kurzes historisches und ein um so intensiveres zeitgeschichtliches Gedächtnis, und wenn letzteres zwischen Ost und West derart auseinanderklafft, kommt dies einer starken Belastung für die Integration der beiden Gesellschaften gleich.« (Kohli [2007], 51 f.) Vgl. bes. Welzer/Moller/Tschuggnall (2002), 162 – 194; Leonhard (2006); Moller (2006). Moller (2006), 408. Leonhard (2006), 412. Leonhard (2006), 424. Welzer/Moller/Tschuggnall (2002), 162. Vgl. Peitsch (2006). Häntzschel (2007), 67. Zit. nach Häntzschel (2007), 70.

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in den Faschismus Verstrickten zu ›freien‹ Sozialisten zu konzentrieren«1151. Da in der DDR eine 68er-Bewegung samt dem damit zusammenhängenden umfassenden soziokulturellen Wandel ausblieb, dominierte dieses Widerstandsnarrativ in der DDR-Literatur, konnten wegen der mit der antifaschistischen Legitimationsideologie einhergehenden Tabuisierung von traumatischen Kriegserfahrungen, Flucht und Vertreibung auch deren familiendynamische Nachwirkungen literarisch nur unzureichend artikuliert werden. Bei allen hier im Kontext der binnenfamiliären Weitergabe von NS-Geschichte in der Post-DDR-Literatur behandelten Ich-Erzählern brach sich eine mitunter jahrzehntelange Erinnerungsunterdrückung Bahn, um dann im Rahmen einer literarischen Reflexion mittels der Familiarität als konstitutiver Dimension des Selbstverständnisses eingehegt und in Gestalt von Bruchstücken des größtenteils abgeschatteten Familiengedächtnisses zu einem Mosaik zusammengefügt zu werden. Weder Hilbig, der die Kriegsfolgen als familiäres Anathema vergegenwärtigt, noch Jirgl, der die Vertreibung in der Fremderinnerungsbelastung eines Nachkriegskindes kulminieren lässt, noch Drawert, der die Aussparung der NS-Geschichte in der Familienkommunikation mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit verkoppelt, präsentiert einen selbstgewissen Erzähler mit einer linear chronologisch dargestellten Biographie. Stattdessen wird die narrative Erschließung immer wieder neu ansetzender Suchbewegungen im familiären Gedächtnisraum ausgestellt. Um der DDR-Literaturforschung einen Impuls durch das noch vergleichsweise neue theoretische Paradigma der Generationenanalyse zu geben, klagte Wolfgang Emmerich über 15 Jahre nach dem Mauerfall Untersuchungen ein, die die tiefgreifenden generationellen Differenzen zwischen ostdeutschen Autorengruppen akzentuieren. Schwerlich keine Rolle dürfte es spielen, mit welchen habitualisierten Verhaltensdispositionen, mit welchem sozialen, kulturellen und symbolischen Kapital Ostdeutsche in die Wende- und Nachwendezeit eingetreten sind. All das ist wiederum stark abhängig davon, wie alt – 70, 50, 30, 10 Jahre oder kaum geboren? – ein Mensch damals, 1989/90 war.1152

Emmerich, der sich mit seinem Vorgehen »Einsichten in literaturgeschichtliche und -gesellschaftliche Prozesse« verspricht, »die auf anderen Wegen kaum zu leisten sind«1153, unterscheidet nach der Generationszugehörigkeit fünf in der DDR sozialisierte Autorengruppen1154. Allerdings muss er gerade für die hier einschlägige Gruppe der zwischen Mitte der 1930er Jahre und ca. 1960 geborenen Autoren (u. a. nennt er Wolfgang Hilbig und Reinhard Jirgl) konzedieren, 1151 1152 1153 1154

Häntzschel (2007), 70. Emmerich (2007), 270 f. Emmerich (2007), 273. Vgl. Emmerich (2007), 279 – 281.

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dass sie »beispielhaft für eine Prägung von Autorschaft« stehen, »in die sehr wohl zentrale Markierungen von Generationszugehörigkeit eingegangen sind, die aber mittels dieser Kategorie nur gewaltsam auf einen Nenner zu bringen wären«1155. Zunächst einmal würde ich diesen Ansatz, um ein zusätzliches Interpretament zu erzielen, noch um eine Kategorie, nämlich um die generationengeschichtliche Differenzierung der Erzähler erweitern (in den Texten von Hilbig, Jirgl und Drawert freilich haben wir es mit dem – gar nicht so seltenen Fall – zu tun, dass die Autoren und ihre Ich-Erzähler jeweils gleichen Jahrgangs sind). Dann zeigt sich, dass die Erzähler der hier behandelten ostdeutschen Autorengruppe insofern eine Gemeinsamkeit aufweisen, als bei ihnen allen vor der Wende kein innerfamiliär gelagerter Generationenkonflikt über den Umgang mit der NS-Geschichte stattfand. Eine nüchterne Bilanzierung des Gewesenen ist, da die psychische Bewältigung des jahr(zehnt)elang Unterdrückten drängt, keinem von ihnen möglich, vielmehr literarisieren sie die pathogenen Spätwirkungen der unaufgearbeiteten NS-Familiengeschichte vor dem Hintergrund des im Niedergang begriffenen (Hilbig) bzw. bereits untergegangenen DDR-Staates (Jirgl, Drawert) als verschiedene Spielarten des psycho(-patho) logischen Imaginären. Unter der Kategorie des Geständniszwangs rubriziert Hyunseon Lee Texte der DDR-Literatur, die als Ersatz für fehlende Formen der Intimität dienen, Texte, die »die nicht bewältigte Vergangenheit und das angstvolle Bemühen, die Tabus der Herrschenden zu brechen«1156, zum Gegenstand haben. So konstatiert Lee, die herausarbeitet, dass die Literatur bzw. das Schreiben in der DDR »als ein Raum für das Selbstverhör« fungierte und »eine psychoanalytische Rolle als eine Institution des Geständnisses« spielte1157, für die Nachwendezeit »ein fundamentales Begehren nach einem wirklich-wahren Geständnis, in dem man endlich ›alles sagen‹ und ›offen aussprechen‹ kann, was man wirklich denkt, und sich nicht mehr verstellen muß«1158. Statt Phrasen und verlogener Bekenntnisse galt es nun, sich mit Fragen wie »Was war die DDR für mich?« und »Wie soll ich mit der Vergangenheit umgehen?«1159 auseinanderzusetzen. Weiter : »Der Geständniszwang, in Verbindung mit dem Identitätszwang bzw. der Spurensuche, führt meistens zu der Auseinandersetzung mit der deutschen faschistischen,

1155 Emmerich (2007), 281. 1156 Lee (2000), 25. 1157 Lee (2000), 448; vgl. auch: »Die Dialektik des erzwungenen und des freiwilligen Geständnisses stellt […] nach meiner Arbeitshypothese eine der fundamentalen Strukturen der DDR-Literatur dar, die bisher durch die offizielle DDR-Ästhetik und die westliche Literaturforschung kaum beachtet worden sind.« (21) 1158 Lee (2000), 14. 1159 Lee (2000), 15.

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Familienerinnerungsliteratur der Post-DDR

nationalsozialistischen Vergangenheit.«1160 Die Geltungskraft von Lees These, zu deren Plausibilisierung die Autorin mit Monika Marons Stille Zeile Sechs (1991) nur ein nach 1989 publiziertes Werk heranzieht, ließe sich mithin erweitern: Denn alle im vorliegenden Kapitel betrachteten Texte präsentieren Erzähler, die in hohem Maße das Bedürfnis nach einer identitätsstiftenden Funktion der familienliterarischen Exploration akzentuieren. Überdies gehören ihre zwischen 1941 und 1953 geborenen Autoren alle zu einer Gruppe, die eine allenfalls schwache Affinität zum Sozialismus aufwiesen. Insofern könnte man sie als Gegenstück zu der Gruppe älterer Autoren (zwischen Ende der 1920er und Anfang der 1940er geboren)1161 auffassen, denen Emmerich – nicht durchgängig, aber symptomatischerweise – im Rückgriff auf Freuds Melancholiebegriff einen Furor melancholicus attestiert1162. Um zu resümieren: Nach einer Phase der staatssozialistischen Deutungshoheit, in der die Energien der familiendynamischen NS-Aufarbeitung aufgestaut wurden, wanderten diese Energien in die Kulturkritik und die Kunst ab. So war nach dem Mauerfall die Zeit reif, um die mit Krieg und Flucht verknüpften und über Jahrzehnte belastenden Familien-Erfahrungstransfers – besonders auf literarische Weise – zu bearbeiten.1163 Damit ereignete sich in der Post-DDRLiteratur gleichsam eine Transformation des Geständniszwangs (vor gesamtdeutscher Öffentlichkeit) mit dem Ergebnis einer – zumal in familienliterarischer Form – nachgeholten Trauerarbeit. 1968 und seine Folgen, zu denen gehört, dass die BRD das Dritte Reich als Teil seiner Geschichte akzeptierte und den Holocaust erinnerte, der in der DDR ebenso wie die Kriegsfolgen, wie Flucht und Vertreibung weiterhin weitgehend 1160 Lee (2000), 15; vgl. auch: »Nach dem Untergang der DDR entstand das Gefühl der ›Freiheit vom Zwang‹, das sich allerdings mit dem Bedürfnis nach offenen, freien Geständnissen in einen neuen Zwang verwandelt hat. Es schien, als ob eine ganze Gesellschaft durch die Wende dem Geständniszwang, dem Rechtfertigungs- bzw. Rechenschaftszwang und dem Identitätszwang, dem Zwang zur ›Wahrheit des Charakters‹ verfallen würde, und zwar vor dem Gericht der Öffentlichkeit. […] Im Gegensatz zu dem äußerlichen Geständniszwang, der im Stalinismus üblich war, handelte es sich in den ostdeutschen Geständnissen der Wendezeit um einen inneren Zwang, der vor einer richtenden Instanz u. a. in autobiographischen Diskursen zur Sprache kommt. Darin ist deutlich der Verlust bzw. die Infragestellung der bisherigen öffentlichen und privaten Identität zu erkennen, der zwangsläufig zur Rechtfertigung führt. Hier tritt anstelle des Begriffs Charakter meist der Begriff Identität und zeigt es [sic!] sich die identitätsstiftende Funktion der autobiographischen Diskurse.« (437 f.) – Vgl. zur »Wiederaneignung des Verschwiegenen in Autobiographie und Dokument« auch Emmerich (1996), 479 – 487. 1161 Emmerich (2007), 279. 1162 Vgl. Emmerich (1996), 460. Zur ausführlichen Abgrenzung einer literarischen Trauerarbeit von der Melancholie vgl. Kormann (1999), 153 – 163. 1163 Die 1990 erschienene Vatererzählung Der Dienst von Angela Krauß ist einer der ersten – wenn nicht der erste – für diesen Zusammenhang einschlägigen Texte. Vgl. zu der Erzählung Köhler (2007), 165 – 168.

Nachgeholte Trauerarbeit

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vergessen blieb, etablierten eine neue Erinnerungsspaltung im geteilten Deutschland (vorher : Interpretation des Dritten Reiches als Terrorherrschaft einer kleinen Gruppe Krimineller im Westen vs. psychologische Selbstentlastung durch den Antifaschismus-Mythos im Osten). Diese Erinnerungsspaltung markiert nicht nur eines der Haupthindernisse auf dem Weg zu einer politisch wie publizistisch gerne heraufbeschworenen ›Einheit der Nation‹, sondern bewirkte auch eine Unterdrückung der familiären Überlieferungen im offiziellen Geschichtsdiskurs. Vor allem die Literatur – und hier besonders die autobiographisch geprägte – übernahm nach der politischen Wende die Funktion, die unausgesprochenen oder unbewusst bleibenden Aspekte des Vergangenen der öffentlichen Reflexion zugänglich zu machen, die facettenreichen Familiengeschichten aus der privaten Intimsphäre zu befreien und in Form einer – zumal Impulse von Mitscherlichs Unfähigkeit zu trauern aufnehmenden – literarischreflexiven Trauerarbeit als psycho(-patho)logisches Imaginäres in das kulturelle Gedächtnis des vereinigten Deutschland einzuschreiben.

5. Neue Väterliteratur Nirgendwo wird so abgrundtief geschwiegen wie in deutschen Familien. (Christa Wolf: Kindheitsmuster)

Einer nachgeholten Trauerarbeit in der Post-DDR-Literatur, die das NS-Familienerbe über die Thematisierung der familiären Involviertheit in die SEDDiktatur einholt, entspricht auf der westdeutschen Seite nach 1989 eine vergangenheitsorientierte Familienliteratur, deren literarhistorischer Vorgänger namens Väterliteratur die Hintergrundfolie sowie die Vergleichsmerkmale vorgibt. Ausgehend von dieser komparativen Perspektive wäre zumal zu fragen, wie Vertreter der 68er-Generation aus einem Abstand von mindestens 20 Jahren nach der Revolte ihr literarisches Familien- und Selbstbild entwerfen, sprich: wie gegebenenfalls der Generationenkonflikt ausgetragen und die Schuldfrage thematisiert wird. Überdies, ob die Verschwörung des Schweigens, die ja nicht nur von der Kriegsgeneration gegenüber der Nachkriegsgeneration, sondern auch umgekehrt zwischen diesen beiden Generationen bestand1164, ob dieses Erbe der Eltern im Schweigen der Kinder über die Taten der Eltern oder auch über die eigene politisch bewegte Vergangenheit (Stichwort: Abrechnung mit dem Vater, radikaler Bruch mit der genealogischen Kette, Opferfunktionalisierung) fortbesteht.

5.1

Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders

Nahezu gänzlich auf die Medien des Postgedächtnisses angewiesen zu sein, das ist die Ausgangskonstellation für den autobiographischen Ich-Erzähler in dem 2003 erschienenen Erinnerungsbuch Am Beispiel meines Bruders von Uwe Timm1165. Auf der Suche nach Einsichten über seinen 16 Jahre älteren Bruder, der Ende 1942 mit 18 Jahren in die Waffen-SS eintrat, an der Rückeroberung von Charkow beteiligt war und nach einer verwundungsbedingten doppelten Beinamputation im Oktober 1943 verstarb, kann er zwar auf verschiedene Ta1164 Vgl. z. B. Arnim (1989). 1165 Timm (2003).

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Neue Väterliteratur

gebuchaufzeichnungen, Briefe, Familienerzählungen sowie historiographische und literarische Zeugnisse zurückgreifen, aber nur auf eine einzige Erinnerung an den Bruder1166, mit deren Vergegenwärtigung das Buch einsetzt: Erhoben werden – Lachen, Jubel, eine unbändige Freude – diese Empfindung begleitet die Erinnerung an ein Erlebnis, ein Bild, das erste, das sich mir eingeprägt hat, mit ihm beginnt für mich das Wissen von mir selbst, das Gedächtnis: Ich komme aus dem Garten in die Küche, wo die Erwachsenen stehen, meine Mutter, mein Vater, meine Schwester. Sie stehen da und sehen mich an. Sie werden etwas gesagt haben, woran ich mich nicht mehr erinnere, vielleicht: Schau mal, oder sie werden gefragt haben: Siehst du etwas? Und sie werden zu dem weißen Schrank geblickt haben, von dem mir später erzählt wurde, es sei ein Besenschrank gewesen. Dort, das hat sich als Bild mir genau eingeprägt, über dem Schrank, sind Haare zu sehen, blonde Haare. Dahinter hat sich jemand versteckt – und dann kommt er hervor, der Bruder, und hebt mich hoch. An sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern, und auch nicht an das, was er trug, wahrscheinlich Uniform, aber ganz deutlich ist diese Situation: Wie mich alle ansehen, wie ich das blonde Haar hinter dem Schrank entdecke, und dann dieses Gefühl, ich werde hochgehoben – ich schwebe. (9)1167

Der autobiographische Text beginnt mit der ersten bewussten, emotional stark aufgeladenen Erinnerung des schreibenden Ichs1168 und folgt darin Vladimir Nabokovs Autobiographie Erinnerung, sprich, deren Titel dann auch wenig später zitiert wird (vgl. 38)1169. Der Erzähler beschreibt die Geburt des Ichs aus der Formierung des Gedächtnisses, die mit der Bewahrung des ersten episodischen Erinnerungsbilds und einem ausgeprägten Selbstbezug seinen Ausgang nimmt. Diese für das autobiographische Gedächtnis als ursprünglich kon1166 Vgl. zur Komplementarität von Familiengedächtnis und kulturellem Gedächtnis Albrecht (2007), 88 f.; Braun, M. (2007), 58. 1167 Zum autobiographischen und gattungstheoretischen Status des Texts, dem seitens des Autors bzw. des Verlags keine Gattungskennzeichnung verliehen wurde, vgl. Müller (2006). 1168 Der Erzähler ist zum Zeitpunkt, als die Szene sich ereignet, ca. drei Jahre alt. Befragt man die Gedächtnispsychologie nach einem Kriterium für die Plausibilität der autobiographischen Erinnerung, so heißt es: »Kinder verfügen vorsprachlich noch nicht über ein episodisches Gedächtnis; ein solches beginnt sich erst im Prozeß des Spracherwerbs zu entwickeln.« (Welzer [2005a], 92) Ab dem dritten Lebensjahr kann man mithin von dem Vorhandensein autobiographischer Erinnerungen ausgehen. Somit steht der Verlässlichkeit der Erinnerung nichts im Wege, zumal ihre Kombination mit einem körperlichen Gefühl von der Erinnerungstheorie als besonders plausibel charakterisiert wird: »Emotionen sind die zentralen Operatoren, mit deren Hilfe wir Erfahrungen als gut, schlecht, neutral usw. bewerten und entsprechend in unserem Gedächtnis abspeichern. Autobiographische Gedächtnisinhalte können nur selbstbezogene Inhalte sein, und diese sind ohne ein emotionales Register nicht denkbar. Emotionen, Erinnerungen an Emotionen und emotionale Erinnerungen haben immer eine körperliche Signatur – insofern ist das autobiographische Gedächtnis immer auch ein Gedächtnis, das auf unser Körper-Selbst bezogen ist.« (Welzer [2005a], 150) 1169 Vgl. zum Nabokov-Bezug Marx, F. (2007), 28 f.

Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders

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zeptualisierte Erfahrungsepisode hat nicht allein einen identitätsstiftenden Stellenwert, sondern knüpft darüber hinaus die Ich-Konstitution des Erzählers an die Person des Bruders.1170 Gleich zu Beginn wird mithin exemplarisch vorgeführt, was für die Poetik des Erzählprojekts von zentraler Bedeutung ist, nämlich dass die schreibende Annäherung an die Familiengeschichte – neben dem gefallenen Bruder widmet sich das Buch auch dem Vater, der Mutter und der 18 Jahre älteren Schwester – dem Erzähler zur individuellen Identitätsformierung dient. In Übereinstimmung mit Ansätzen zur narrativen Identität1171, die davon ausgehen, »dass eine Erzählung nicht nur pragmatisch-interaktive oder ästhetische Funktionen erfüllt, sondern als elementarer anthropologischer Modus der Orientierungsbildung spezifische Funktionen für die Identitätsformation erfüllt«1172, betont Am Beispiel meines Bruders, »dass ›Identität‹ und ›Kontinuität‹ kein unveränderliches Substrat voraussetzen, sondern bis zu einem gewissen Grad erst durch den Akt der Narration geschaffen werden«1173. Impliziert wird damit nicht nur, dass Selbstnarrationen grundsätzlich variabler und vorläufiger Natur sind, sondern auch, dass es, um die temporale Kontinuität und Identität eines unterschiedlichen Erfahrungen ausgesetzten Subjekts zu bewerkstelligen, einer beständigen Neudeutung und Rekonfiguration der eigenen Geschichte aus der gegenwärtigen Perspektive bedarf. Demgemäß ist der Zeitpunkt des Schreibens von immenser Bedeutung, besonders, da der Erzähler betont, dass er bereits mehrmals – vergeblich – versucht habe, über den Bruder zu schreiben (vgl. 10). Erst nachdem mit der Schwester auch das letzte Familienmitglied gestorben war, »war ich frei, über ihn [sc. den Bruder ; M. O.] zu schreiben, und frei meint, alle Fragen stellen zu können, auf nichts, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen« (12). Neben dem – später noch eingehender zu behandelnden – Zusammenhang von Literatur, Erinnerung und Identität kommen in der Anfangsszene auch die beiden maßgeblichen Perspektiven narrativer Erinnerungsvermittlung zum Einsatz. Denn um Timms Am Beispiel meines Bruders erzählanalytisch gerecht zu werden, reicht es nicht, auf die Ich-Erzählung als klassische Vermittlungsform von Erinnerungen in Erzähltexten zu verweisen; hier ist ferner auf G¦rard Genettes Kategorie der Fokalisierung zurückzugreifen, die danach fragt, aus wessen Perspektive das Geschehen geschildert wird, aus der des erzählenden/erinnernden Ichs oder aus der des erinnerten/erlebenden Ichs. Während die Szene eines Zusammentreffens der beiden Brüder, die in ihrer übermütigen Ausgelassenheit ein symbiotisches Miteinander verheißt, solitär bleibt, sind die an der 1170 1171 1172 1173

Vgl. Friedrich (2010), 171. Vgl. dazu Neumann (2005), 155 – 158. Neumann (2005), 155. Neumann (2005), 156.

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Neue Väterliteratur

Gestalt des Bruders ausgerichteten Suchbewegungen des Erzählers charakteristisch für das gesamte Buch. Bezeichnend ist überdies das ständige Oszillieren, ja die unauflösliche Überlagerung der Perspektiven des erinnernden und des erinnerten/erlebenden Ichs.1174 Dieses Nebeneinander der Perspektiven, das sich als doppelte Fokalisierung fassen lässt1175, kombiniert auf symbolisch verdichtete Weise, wie sich für das erinnernde Ich das Objekt der Erinnerungsanstrengung fortan permanent entzieht (»an sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern«), während das erinnerte Ich immer wieder – in Träumen oder am Anfang, wo sich durch das Hochgehobenwerden nachgerade das Gefühl einer Levitation einstellt – zum Objekt nicht bewusst gesteuerten Erlebens wird (»ganz deutlich ist diese Situation: Wie mich alle ansehen […], ich werde hochgehoben – ich schwebe«). Auch deutet sich bereits in der Auftaktszene mit ihren häufigen Wechseln zwischen den Zeitebenen und den eindeutig dem Erzähler zuzuordnenden Kommentaren eine – im weiteren Verlauf des Buches noch manifester werdende – Dominanz des erinnernden Ichs an.1176 Metanarrative Kommentare, die Probleme des Schreib- und Erinnerungsprozesses reflektieren, gehören bei Timms Am Beispiel meines Bruders integral zur erzählten Geschichte: »Die Gefahr, glättend zu erzählen. […] Nur von heute aus gesehen sind es Kausalketten, die alles einordnen und faßlich machen.« (38) Timms aus einer Vielzahl von Kleinstabschnitten arrangiertes Erinnerungsmosaik mit essayistischen Einsprengseln1177, das mit Doppelfokalisierung laufend zwischen den Zeitebenen changiert, hat weniger das historiographische Ziel, »den linearen, chronologischen Fortgang des historischen Geschehens zu konstruieren als vielmehr den nicht linearen Prozess, in Benjamins Worten: die ›produktive[] Unordnung‹ des individuellen Erinnerns, nachzubilden«1178. Das hat zum einen mit den Lücken in der Überlieferung zu tun, ist doch die das Leben des gefallenen Bruders Karl-Heinz betreffende Faktenlage reichlich mager. Neben einem Tagebuch, das sich auf knappe und unpersönliche, einzig das tägliche Kriegsgeschehen rapportierende Eintragungen zwischen dem 14. Februar und dem 6. August 1943 (»sechs Wochen vor seiner Verwundung, zehn Wochen vor seinem Tod« [17]) beschränkt1179, gibt es von ihm einige Feldpostbriefe an die Eltern. Indem Timm Tagebuch- und Briefpassagen als 1174 Vgl. dazu Müller (2006), 47. 1175 Vgl. zu diesem Begriff Basseler/Birke (2005), 136. 1176 Vgl. zu textuellen Signalen, die auf ein erinnerndes Ich hindeuten, Basseler/Birke (2005), 138. 1177 Vgl. zur Montagetechnik Kammler (2006), 26 – 28. 1178 Albrecht (2007), 86 f. – Vgl. zur erzählten Zeit im Überblick Kammler (2006), 23 – 25. 1179 Vgl. 145: »Der Hintergrund der lakonischen Eintragungen lässt sich fast nie aufhellen, ihn, den Bruder, nicht sichtbar werden, seine Ängste, Freude, das, was ihn bewegt hat, Schmerzen, nicht einmal Körperliches wird angesprochen, er klagt nicht, registriert nur.«

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authentisch gekennzeichnete Dokumente verwendet, bekommt der Text Züge eines faktualen Schreibens. Zum anderen kann sich der Erzähler neben den überlieferten Dokumenten und seiner einzigen Erinnerung an den Bruder nur noch auf einige wenige in der Familie kursierende Geschichten (wie er sich zur Waffen-SS meldete [13 f.], wie er gelegentlich grundlos in der Wohnung verschwand [15 f.]) und Zuschreibungen stützen. Letztere sind von einer fossilierten Formelhaftigkeit, »wörtliche Festlegungen« (17), die das, was den Bruder ausgezeichnet haben mag (Leidenschaften und Sehnsüchte, Objekte des Begehrens und der Angst, Liebschaften und Geheimnisse), mehr verstellen als erhellen: »Er war ein eher ängstliches Kind, sagte die Mutter. Er log nicht. Er war anständig. Und vor allem, er war tapfer, sagte der Vater, schon als Kind. Der tapfere Junge. So wurde er beschrieben, auch von entfernten Verwandten.« (16 f.) Es ist dieses Dilemma aus mangelhaften persönlichen Dokumenten und seiner typisierten Omnipräsenz in der Familienkommunikation – kulminierend im Stoßseufzer : »Wenn der Karl-Heinz da wäre.« (89) –, die dem Bruder eine phantomatische Gestalt in der mentalen Infrastruktur der Nachkriegsfamilie verleiht. Bei dem Erzähler führt die Asymmetrie aus idealisierter Vorbildhaftigkeit (»Der Bruder, das war der Junge, der nicht log, der immer aufrecht war, der nicht weinte, der tapfer war, der gehorchte. Das Vorbild.« [21]) und fehlenden Erinnerungen an den Bruder, die auch nicht durch die wenigen Lebenszeugnisse kompensiert werden können, dazu, dass ihm von den Eltern eine bestimmte Rollenerwartung nahegelegt wird: dem Erstgeborenen nachzueifern bzw. ihn zu ersetzen – dies jedoch, ohne von dem gefallenen Bruder eine wirkliche Vorstellung zu haben. Der Bruder, darauf deutet bereits das Versteckspiel hin (vgl. 16, 29), tritt stets als anwesend Abwesender in Erscheinung1180, in den Träumen des Erzählers figuriert er als Gestalt ohne Gesicht (vgl. 12, 141). An dem Aspekt der Geisterhaftigkeit lässt sich auch die doppelte Funktion der narrativen Bruder-Exploration veranschaulichen, nämlich das Schicksal des Toten als (für junge Überzeugungstäter des NS) exemplarisch heraufzubeschwören, um das an seine Person geknüpfte Ideal in einem Akt des Exorzismus zu bannen.1181 Das Buch, das bereits im Titel die Lesart einer paradigmatischen (»am Beispiel«) mit einer subjektiven Dimension (»meines Bruders«) kombiniert1182, legt eine Unterscheidung von drei Zeitebenen nahe: der Kriegszeit, der Nachkriegszeit und der Zeit der Basiserzählung. Jeder Ebene kann jeweils eine im 1180 Vgl. dazu Galli (2007), 109. 1181 Vgl. Fuchs (2006b), 184: »Narration becomes an act of exorcism that undoes the incorporation of the paternal command to be the ideal son.« 1182 Vgl. Niefanger (2007), 46; Braun, M. (2007), 52 f.

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Neue Väterliteratur

Zentrum stehende Person zugeordnet werden: der Kriegszeit der gefallene Bruder, der Nachkriegszeit der Vater (der 1958 starb; zwar werden Mutter und Schwester nicht gänzlich ausgeblendet, die Rolle des Vaters ist jedoch eindeutig dominant)1183, der Basiserzählung (die – Terminus post quem ist der Tod der Schwester – frühestens 1996 anzusetzen ist [vgl. 143 f.]) der Erzähler (der u. a. von seinem Alltag, seiner Lektüre, seinen Recherche- und Lesereisen während der Abfassung des Texts erzählt). Verklammert werden alle drei Ebenen, die im Folgenden nacheinander behandelt werden sollen, durch die Absicht des Erzählers, im Rahmen der Narration nicht nur die Familiengeschichte weitmöglichst offenzulegen, sondern auch im Lichte dieser rückwärtsgewandten Fragestellung das eigene Selbstverständnis entscheidend aufzuhellen, sprich in seiner Genese zu erklären, ja, nachjustieren zu können: »Über den Bruder schreiben, heißt auch über ihn schreiben, den Vater. Die Ähnlichkeit zu ihm, meine, ist zu erkennen über die Ähnlichkeit, meine, zum Bruder. Sich ihnen schreibend anzunähern, ist der Versuch, das bloß Behaltene in Erinnerung aufzulösen, sich neu zu finden.« (21) Was hier Ausdruck findet, ist ein dynamisches Selbstverständnis, eine Liquidisierung der eigenen Identität, von der behauptet wird, dass sie in Wechselwirkung trete mit dem Prozess der Selbstnarration1184. Das ist insofern von Belang, als der Erzähler in dieser Hinsicht eine Sonderstellung im Familiengefüge innehat. Einerseits ist außer ihm, dem einzigen Überlebenden der Kernfamilie, schon rein faktisch keinem anderen Familienmitglied diese Gelegenheit gegeben, andererseits spricht das Leben des Bruders »nur aus den wenigen erhaltenen Briefen und aus dem Tagebuch. Das ist die festgeschriebene Erinnerung.« (35) D. h. wenn denn im Rahmen einer ungehemmten Erinnerungstätigkeit die Möglichkeit für eine narrative Neufindung freigespielt werden sollte, so kommen als Objekte der Erinnerung, da über den Bruder außer dem von ihm selbst »Festgeschriebenen« (19) von dem Erzähler mangels eigener Erinnerungen nur Hypothesen anzustellen sind, recht eigentlich nur die anderen Familienmitglieder in Frage. Was das Kriegsgeschehen anbetrifft, so ragt beim Erzähler eine (individualgeschichtlich ganz frühe) Erinnerung heraus, nämlich die an die Bombardierung Hamburgs am 25. Juli 1943: die riesigen Fackeln, rechts und links der Straße, die brennenden Bäume. Und dieses: In der Luft schweben kleine Flämmchen. […] Die in der Luft schwebenden Flämmchen 1183 Vgl. Fuchs (2006a), 49: »Timm includes all family members: the story about his brother is primarily a story about the brother’s phantomlike existence in the postwar family. Notwithstanding this important widening of scope, the book can be read as a variant of Väterliteratur because it too unmasks the patriarchal underpinnings of postwar German society.« 1184 Vgl. zum Akt der (Neu-)Beschreibung des Selbst Rorty (1992), 52 – 83; Thomä (1998), 121 – 140.

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fanden erst später im Erzählen ihre Erklärung. Es waren die vom Feuersturm aus den brennenden Häusern gerissenen Gardinenfetzen. (38 f.)

Neben dieser Einzelepisode spielen markante Kriegskindfahrungen des Erzählers keine Rolle1185, statt dessen wird die narrative Präsentation der Kriegszeit dominiert von der Figur des Bruders und hier zumal von der Frage, ob er »an der Erschießung von Zivilisten, von Juden, von Geiseln beteiligt war« (102; vgl. ähnlich 27).1186 Es sind Stellen wie diese: »Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG« (19), die der Erzähler als Zeugnisse moralischer Verrohung, besonders der perfiden Verdinglichung des Gegners deutete und die ihn wiederholt die Lektüre abbrechen bzw. ihn noch erheblich schlimmere Taten befürchten ließen. Auch wenn der Erzähler weder bei seinen historischen Recherchen für Kriegsverbrechen Belege finden konnte, noch die Notizen, Briefe und Tagebucheinträge des Bruders dazu Konkretes enthalten, wird dem Bruder angelastet, keine Verbindung zwischen den zerstörten Häusern in der Ukraine und den zerbombten Häusern in Hamburg zu sehen … bloß die Sorgen an zu Hause bleiben dann, täglich werden hier Fliegerangriffe der Engländer gemeldet. Wenn der Sachs bloß den Mißt [sic!] nachlassen würde. Das ist doch kein Krieg, das ist ja Mord an Frauen und Kinder [sic!] – und das ist nicht human. (93)

Ja, der Erzähler findet es »schwer verständlich und nicht nachvollziehbar«, wie bei einem in der Herrenmenschideologie des Nationalsozialismus erzogenen 19jährigen SS-Soldaten »Teilnahme und Mitgefühl im Angesicht des Leids ausgeblendet wurden, wie es zu dieser Trennung von inhuman zu Hause und human hier, in Rußland, kommt. Die Tötung von Zivilisten hier normaler Alltag, nicht einmal erwähnenswert, dort hingegen Mord.« (93) Zum Entlastungsdiskurs, der nach den Untersuchungsergebnissen von Welzer et alii in deutschen Familien gepflegt wird1187, steht die Inkriminierung, ja, zuweilen Dramatisierung der brüderlichen Täterrolle im Gegensatz.1188 Weshalb freilich insistiert der Erzähler mit einer solchen Vehemenz auf der Täter-Geschichte des Bruders? Für die Beantwortung dieser Frage scheinen mir zwei Momente von Belang zu sein: 1185 Vgl. zum Stellenwert dieser Kriegskinderfahrung Marx, F. (2007), 30 – 32. 1186 Gerade diese Kombination aus Erfahrungsarmut und Unwissen, so Micha Brumlik mit Blick auf Uwe Timm, ergibt den Sprengsatz für die Traumatisierung der um 1940 geborenen Deutschen: »Die Kinder der Täter haben es schwerer. Sie leiden an einem Alp, weil sie keine realen Erfahrungen machen können. Das Unheimliche sucht sie heim.« (Brumlik [2005], 162) 1187 Vgl. Welzer/Moller/Tschuggnall (2002), 246 – 248, nach deren Befragungsergebnissen zur intergenerationellen Tradierung der NS-Geschichte die deutsche Bevölkerung vorwiegend aus Widerstandskämpfern und Opfern des NS-Systems bestand. 1188 Vgl. dazu auch Niefanger (2007), 49 – 52; Albrecht (2007), 78.

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Einmal des Erzählers Vermutung, einem Familiengeheimnis auf der Spur zu sein; dann die Zurückweisung jener Nachkriegsfamilienkonstellation, in der der gefallene Bruder als Lieblingssohn dem Erzähler vorgezogen und insbesondere durch den Vater zu einer sakrosankten Ikone stilisiert wird. Des Öfteren schon, berichtet der Erzähler, habe er versucht, über den Bruder zu schreiben; stets freilich habe er die Lektüre der Tagebuchaufzeichnungen und Briefe des Bruders, kaum dass er sich hineingelesen habe, wieder abgebrochen und das Schreibunterfangen aufgegeben. Diese häufiger gemachte Erfahrung vergleicht der Erzähler mit seinem kindlichen Widerwillen gegen den Ausgang der Blaubart-Geschichte: Ein ängstliches Zurückweichen, wie ich es als Kind von einem Märchen her kannte, der Geschichte von Ritter Blaubart. Die Mutter las mir abends die Märchen der Gebrüder Grimm vor, viele mehrmals, auch das Märchen von Blaubart, doch nur bei diesem mochte ich den Schluß nie hören. So unheimlich war es, wenn Blaubarts Frau nach dessen Abreise, trotz des Verbots, in das verschlossene Zimmer eindringen will. An der Stelle bat ich die Mutter, nicht weiterzulesen. Erst Jahre später, ich war schon erwachsen, habe ich das Märchen zu Ende gelesen. Da schloß sie auf, und wie die Türe aufging, schwomm ihr ein Strom Blut entgegen, und an den Wänden herum sah sie tote Weiber hängen, und von einigen waren nur die Gerippe noch übrig. (11)

Die gegenseitige Durchdringung von erinnerndem und erinnertem Ich ist hier insofern aufschlussreich, als die erinnerte Kindheitsperspektive noch gänzlich frei war von Assoziationen an den Bruder. Die retrospektive Parallelisierung von Blaubarts Kammer mit den Ostfronterfahrungen des Bruders aber legt nahe, dass schon das Kind, indem es vor dem neugierigen Ungehorsam von Blaubarts Frau zurückschreckte, die Existenz eines schrecklichen Familiengeheimnisses in der eigenen Familie gespürt habe.1189 Wenn man der Logik des Vergleichs weiter folgt, so installiert die Öffnung von Blaubarts Kammer, der sich der Erzähler dann als Erwachsener lesend stellte, die Enthüllung eines Familientabus, das eine Gräueltat zum Gegenstand hat. Ein Vergehen, bei dem es sich, da es im Zusammenhang mit den Kriegserlebnissen des Bruders steht, nur um die von deutschen Soldaten an der Ostfront begangenen Verbrechen handeln kann. Und in der Tat fürchtet der Erzähler, wie oben bereits ausgeführt, bei der Durchsicht der von seinem Bruder stammenden Dokumente wenig mehr, als diesen mit Exekutionen von Juden, Partisanen und Zivilisten in Verbindung bringen zu müssen. Vorausgesetzt als Tertium comparationis ist dabei, dass der pathologische Wahnsinn von Blaubarts Schlächterei gleichsam ein Vorbote der natio1189 Vgl. ähnlich Rossbacher (2005), 252; Braun, M. (2007), 63. Der Erzähler insinuiert hier, folgt man der Typologie von Familiengeheimnissen gemäß Karpel (1980), ein »internes Familiengeheimnis«, demzufolge Vater und Mutter (sowie womöglich auch die Schwester) Geheimnisträger sind.

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nalsozialistischen Kriegsverbrechen sei oder wie Jürgen Wertheimer es mit Blick auf Ingeborg Bachmanns Der Fall Franza und Pier Paolo Pasolinis Die 120 Tage von Sodom zuspitzt: Das Schlachthaus der Frauen ist die patriarchale, modellhafte Vorwegnahme der Gaskammern der Nazis: In beiden Fällen ist es um die möglichst effiziente und unbemerkte Vernichtung der Unterworfenen in möglichst großer Zahl zu tun. Entsprechend ist Blaubart die Vorwegnahme eines bürokratischen Vernichtertypus in der Art Eichmanns: ungerührt, kalt und von jener unbeirrten Selbstsicherheit, die es versteht, die eigene Pathologie zur verbindlichen Regel umzudeuten, um dann strikt nach ihr zu verfahren.1190

Zwei Momente des Vergleichs verdienen es, besonders akzentuiert zu werden. Zum einen verrät das kindliche Zurückweichen vor Blaubarts Kammer die Internalisierung der von den Eltern betriebenen Scheu, den Bruder anders als mit geronnenen Hohlformeln oder mit einer verschleiernden und mit vielen Auslassungstabus behafteten Erzählung zu vergegenwärtigen. »Der Vergleich der Schwierigkeiten des Ich-Erzählers«, schreibt Yvonne Pietsch, sich dieser familieninternen ›traumatisierten‹ Geschichte zu nähern, mit der verfehlten Märchenlektüre in dessen Kindheit ist damit der Versuch, eine Chiffre für die deutschen Verbrechen und deren Verdrängung zu finden und zeigt die Abhängigkeit des individuellen Erinnerns von Bildern und Narrativen.1191

So zutreffend diese Einschätzung für das erinnerte Ich bis zu womöglich dessen Adoleszenz sein mag, so suggestiv ist zum andern die Präsentation der BlaubartEpisode direkt nach dem explizit dargestellten Ansinnen des Erzählers, mehr als die dürftigen Stichworte im Kriegstagebuch des Bruders in Bezug auf die Taten seiner SS-Division in Erfahrung zu bringen. Der Erinnernde der Basiserzählung nimmt, obwohl er nach allerlei Recherchen kein stichhaltiges Indiz für die Beteiligung des Bruders an Kriegsverbrechen ausfindig machen konnte, die beklemmende Fassungslosigkeit durch Blaubarts Totenkammer nicht zurück oder relativiert sie zumindest; wodurch der Eindruck erweckt wird, dass der Erzähler an einem tabuisierten Bezirk des an die Grenzen der Vorstellungskraft Vordringenden, ja, des grauenhaft Bösen, in den der Bruder involviert war, festhalten möchte – auch wenn sich dafür keinerlei Beweise finden lassen. Dadurch dass ein längeres Zitat aus dem Blaubart-Märchen der Grimms, worin die blutige Vergangenheit des Ritters zum Vorschein kommt, auf das Aufklärungsverlangen des Erzählers bezüglich der brüderlichen Kriegserlebnisse antwortet, wird die kommunikative Leerstelle innerhalb des Familiengedächtnisses psychotraumatisch aufgeladen. Die tatsächlichen Kriegsgeschehnisse um die SS-Toten1190 Wertheimer (1999), 99. 1191 Pietsch (2009), 262.

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kopfdivision, deren Mitglied der Bruder war, werden – in Übereinstimmung mit dem von Nicolas Abraham am Beispiel des Hamlet entwickelten Konzepts des transgenerationellen Phantoms (vgl. 1.5.3) – phantomatisch überschrieben durch das Öffnen der symbolträchtigen Tür aus dem Blaubart-Märchen. Anders gesagt, die mit den Mitteln der Erinnerung und der historischen Recherche nicht zu füllende Lücke in der Familien- bzw. Kriegsgeschichte wird individualpsychologisch durch die Heimsuchung eines von einem Text des kulturellen Gedächtnisses evozierten Horrorszenarios vergegenständlicht. Ähnlich wie durch den Schmierseifengeruch für den Ich-Erzähler in Sebalds Austerlitz »die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind«1192, fungiert die Märchenlektüre in Timms Am Beispiel meines Bruders als Trigger. Als Trigger eines freilich bloß vermuteten Familiengeheimnisses, da sich für eventuelle Kriegsverbrechen des Bruders auf dem Russlandfeldzug kein Nachweis erbringen lässt. Die mangelnde historische Konkretisierung wird vom Erzähler durch den Hinweis auf das Grimm’sche Märchen überdeckt, gleichsam versehen mit der rezeptionsästhetischen Aufgabe an den Leser, im Aktualisierungsprozess des Lesens die unausgesprochene Komplettierung des anscheinend transgenerationell wirksamen Geheimnisses zu vollziehen, sprich die familiendynamische Leerstelle imaginativ mit phantomatischen Besetzungen des Schreckens auszufüllen. Die blutigen Hinterlassenschaften des serientötenden Exekutors namens Blaubart werden so zum phantasmatischen Fixpunkt einer vom kommunikativen Beschweigen des Sohn-Schicksals bzw. der Nazi-Zeit überhaupt geprägten Nachkriegsfamilienkonstellation. Die Lücke in der familiären bzw. historischen Aufklärung wird überdeckt vom psycho(-patho)logischen Imaginären, vom Märchen eines pathologischen Massenmörders. Wie freilich kam es überhaupt zu dieser vom Schicksal des gefallenen Sohnes markierten Leerstelle in der Familienkommunikation? Sucht man hier nach Antworten, ist zunächst noch einmal an die familienpsychologische Grundeinsicht des Erzählers zu erinnern: »Über den Bruder schreiben, heißt auch über ihn schreiben, den Vater.« (21) Gerade weil es über den Bruder nur wenige und zumal unbefriedigende Selbstaussagen gibt, ist es notwendig, die Perspektive des Vaters auf seinen Lieblingssohn Karl-Heinz mit in Betracht zu ziehen.1193 Jedoch stößt der Erzähler bei dem Versuch, ein Psychogramm seines Vaters zu erstellen, auf ähnliche Schwierigkeiten wie bei den Bemühungen, die Person seines Bruders zu erforschen. Des Vaters schillernder Lebenslauf bis zu den 1192 Sebald (2001b), 37. 1193 Horstkotte (2009), 118, mutmaßt gar, dass »die Funktion des Bruders vor allem in der Katalysation von Gedächtniskonflikten zwischen Uwe Timm und seinen Eltern besteht«. Das schießt m. E. über das Ziel hinaus. Man sollte die Erforschung der Beziehungen zu dem Bruder und zu den Eltern als zwei Seiten einer Münze betrachten und nicht die eine Seite gegen die andere ausspielen.

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1920er Jahren lässt keine klaren Rückschlüsse auf seine Wünsche zu (vgl. 43). Als er in den 1930er Jahren das Angebot bekam, »als Präparator an das naturkundliche Museum in Chicago zu gehen« (65), lehnte er wegen der Familie und weil er Deutschland, auf das er stolz war, nicht verlassen wollte, ab (vgl. 66). Die Tätigkeit als Kürschner, der er nach dem Zweiten Weltkrieg nachging, verachtete er insgeheim (vgl. 46); seine Sorge richtete er stets an dem aus, was die Leute über ihn dachten, was zugleich die Quelle seines Selbstverständnisses war (vgl. 82). Nach seinem ersten Herzinfarkt im Jahr 1956 galt er, zwei Jahre vor seinem Tod, als »ein gebrochener Mann« (86), das Pelzgeschäft ging stetig bergab und die kurze Phase nach 1945, in der der Glanz des Geschäftserfolgs sein kleinbürgerliches Dasein überstrahlen konnte, war endgültig vorbei. Betrachtet man die Kategorien, mit denen der Erzähler sein und seines Vaters Verhältnis zur Vergangenheit konzeptualisiert, so könnte die Diskrepanz kaum größer sein. Während er sich selbst ein flexibles Selbstverständnis attestiert, das darauf basiert, im Rahmen einer unabschließbaren Erinnerungsarbeit immer wieder neu formiert zu werden, schreibt er seinen Eltern zu, anstatt zu fragen, zu reflektieren und nachzuforschen, in der Schockstarre zu verharren und die einmal gefassten Ansichten in immergleicher Gestalt zu repetieren: Die formelhafte Zusammenfassung der Eltern für das Geschehen war der Schicksalsschlag, ein Schicksal, worauf man persönlich keinen Einfluß hatte nehmen können. Den Jungen verloren und das Heim, das war einer der Sätze, mit denen man sich aus dem Nachdenken über die Gründe entzog. (91)

Gerade in Bezug auf das Verhältnis seines Vaters zu Karl-Heinz beansprucht der Erzähler diejenige Reflexionsarbeit zu leisten, die sein Vater zeitlebens versäumt habe: Der Karlmann fehlte. Er fehlte nicht nur als Fachmann, der ja der Vater nicht war, sondern als Stütze, der Junge, der nicht nur Sohn war, sondern auch Freund und Kamerad, jemand, der all die eigenen Wünsche verwirklichte und doch voller Achtung, ja Liebe an einem hing – so blieb er, der große Junge, für immer in der Erinnerung des Vaters aufgehoben. […] Eben die Abwesenheit des Bruders bewahrte dessen bewundernden Blick auf ihn, den Vater, und damit auch das Bild, das er einmal von sich selbst gehabt hatte. Es war nicht nur der Vater gescheitert, sondern mit ihm das kollektive Wertesystem. Und er selbst war, wie die vielen anderen – wie fast alle, bis auf die wenigen, die Widerstand geleistet hatten –, an der Zerstörung dieser Werte beteiligt gewesen. Die Reaktion darauf waren Trotz oder Verdrängung. (108 f.)

In der Vieldeutigkeit und in der Nichtfestlegung auf eine bestimmte Vergangenheitsversion, die den Gedenkprozess des Erzählers auszeichnet, besteht der wesentliche Unterschied zum »heroischen Gedächtnisnarrativ«1194 des Vaters, 1194 Horstkotte (2009), 126.

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das aus wunschgelenkten und abgeschliffenen Bildern der Vergangenheit besteht. Auch wenn man die hartnäckigen Erinnerungs- und Reflexionsbemühungen des Erzählers grundsätzlich gutheißen mag, so stellt sich bei dieser retrospektiven Pauschalkritik doch der Eindruck einer gewissen Selbstgerechtigkeit bzw. eines Mangels an Empathie ein (immerhin verloren die Eltern im Krieg nicht nur ihren ältesten Sohn, sondern im Hamburger Feuersturm auch noch all ihren Besitz). Spürt man diesem Eindruck nach, so fällt einerseits auf, dass der Erzähler seine Eltern entindividualisiert, sie weniger als Individuen betrachtet, als vielmehr mit dem Blick des sozialpsychologischen Gesellschaftsdiagnostikers als typische Vertreter der Wiederaufbaugeneration taxiert; andererseits spielt er seine eigene Rolle als (womöglich differenzierend auftretender) Dialogpartner in der Familienkommunikation herunter und reflektiert nur unzulänglich und alles andere als selbstkritisch, wie er sich zum überzeugten 68er entwickelte. Diesen beiden Aspekten möchte ich abschließend nachgehen. Während der Erzähler mit Akribie und Insistenz die eigene Identität als »Nachgeborene[r]« (47) zu entfalten sucht, gipfeln die von ihm angefertigten Psychogramme der Eltern nicht im Nachzeichnen von individuellen Profilen, sondern in der Zuschreibung generationsspezifischer Denk- und Verhaltensweisen. Von den Eltern als Teil »eine[r] kranke[n] Generation, die ihr Trauma in einem lärmenden Wiederaufbau verdrängt hatte« (106), spricht weniger der einfühlende Sohn als vielmehr der eingefleischte Leser von Alexander und Margarete Mitscherlichs sozialpsychologischem Klassiker Die Unfähigkeit zu trauern. Die Tatsache, dass der Erzähler mit seinem Urteil seinerseits einem generationsspezifischen Phänomen erliegt – vgl. den Abschnitt »Die Väterliteratur in der Debattengeschichte der BRD« im zweiten Kapitel –, bleibt unreflektiert. Unbeachtet bleiben überdies die Handlungsmotive. Wenn man schon die Lebensgeschichten seiner Eltern auf einer sozialpsychologischen Ebene verhandelt, sollte zumindest die Ätiologie der emotionalen, moralischen und politischen Haltungen nuanciert beleuchtet werden. Stattdessen beschränkt sich der Erzähler auf eine Argumentation mit Binäroppositionen: Die Vätergeneration, die Tätergeneration, lebte vom Erzählen oder vom Verschweigen. Nur diese zwei Möglichkeiten schien es zu geben, entweder ständig davon zu reden oder gar nicht. Je nachdem, wie bedrückend, wie verstörend die Erinnerungen empfunden wurden. Die Frauen und Alten erzählten von den Bombennächten in der Heimat. Das Fürchterliche wurde damit in Details aufgelöst, wurde verständlich gemacht, domestiziert. (102)

Über die beiden vom Erzähler inkriminierten Praxen, nämlich dem Beschweigen und dem schematisch repetitiven Erzählen, wird hier implizit ein dritter Modus der Vergangenheitskommunikation eingeklagt, ein, so ist zu vermuten,

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kritisch-reflexiver. Nach Stellen, die darüber Auskunft geben könnten, dass sich der Erzähler in der Familienkommunikation dieses Modus befleißigt hätte, sucht man freilich vergebens. Ganz im Gegenteil wird das Gespräch zwischen Vater und Sohn – gerade wenn es um Politik geht – als frontale Konfrontation geschildert: »Es ging ums Rechthaben. Wir stritten uns immer lauter, schließlich brüllten wir uns an.« (109) Die Charakterisierung kann man durchaus so verstehen, dass der Erzähler hier nicht nur seinen Vater, sondern auch sein jugendliches Kommunikationsverhalten – der Vater starb 1958, als der Erzähler 18 Jahre alt war –, das er direkt, also unreflektiert von seinem Vater übernommen hatte, kritisiert. Verlängert man diese Perspektive, würde man erwarten, dass der Erzähler eine vergleichbar aufklärerische und selbstkritische Einstellung auch zum Maßstab seiner retrospektiven Selbstcharakterisierung als Anhänger der Studentenbewegung machte.1195 Doch so minutiös er die lebensgeschichtlichen Wendepunkte seiner Familienmitglieder nachzeichnet, so reserviert zeigt er sich beim Blick auf die eigene 68er-Vergangenheit. Abgesehen von einigen – gleichsam unvermittelt eingestreuten – Bemerkungen kommt diese nicht vor. Kaum weniger erstaunlich als diese Reserviertheit ist die Tatsache, dass sie von der Kritik so gut wie gar nicht wahrgenommen wurde.1196 Müsste man doch bei mindestens zwei Stellen stutzig werden angesichts des Versuchs, Ursache und Leistung der 68er-Bewegung vage und auf sehr hohem Abstraktionsniveau zu artikulieren, um im Gegenzug auf die eigene Involviertheit in die Bewegung zu verzichten. Zum einen macht der Erzähler den Autoritätsverlust, den die Vätergeneration mit dem Ende des Krieges erlitt, zum vermuteten Ausgangspunkt für die Studentenbewegung: Von einem Tag auf den anderen waren die Großen, die Erwachsenen, klein geworden. Eine Erfahrung, die ich mit vielen anderen meiner Generation teilen sollte. Wahrscheinlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dieser Erfahrung und der antiau1195 Die Missachtung der Tatsache, dass der Vater bereits starb, als sein jüngerer Sohn 18 Jahre alt war, führt Pietsch (2009), 264, zu der fälschlichen Annahme, dass der Erzähler sich von seinen 68er-Überzeugungen verabschiedet habe: »Zu Lebzeiten des Vaters war Timm als überzeugtes, aktives Mitglied der ›Achtundsechziger‹-Bewegung noch stark auf Konfrontation ausgerichtet. Wenn es in Gesprächen mit dem Vater um politische Fragen ging, berichtet der Ich-Erzähler, stritten ›wir […] uns immer lauter, schließlich brüllten wir uns an‹ […]. Nach dem Tod aller Beteiligten ist der selbst auferlegte Auftrag des Ich-Erzählers, als Revolutionär aufzutreten, nicht mehr relevant.« 1196 Einzig Tilman Krause und Harald Welzer beklagen, wenn ich recht sehe, dieses Defizit. So moniert Krause (2003) in seiner Kritik die fehlende Problematisierung des auch für die 68er typischen Opportunismus und Extremismus, während Harald Welzer (2004b), 31, den blinden Fleck so markiert: »Wenn man dieses Buch als quälerische Reflektion über das eigene Verhältnis zur Geschichte liest – so tritt der Autor ja auf –, dann kann man sich die Frage stellen, warum Timm kein einziges Wort darüber verliert, dass er selbst einmal totalitäres Gedankengut geteilt hat. Er hat ja selbst eine kommunistische Vergangenheit, wie so viele aus dieser Generation.«

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toritären Bewegung der Studentenrevolte, die sich gegen die Vätergeneration richtete. (68 f.)

Zum andern etikettiert er die 68er-Revolte als Kulturrevolution, deren Fehlen der DDR als maßgebliches Manko zuerkannt wird: Die ökonomischen Verhältnisse waren revolutioniert worden, allerdings von außen, durch die Rote Armee, durch die Sowjetunion. Es gab keine die ökonomische Umwälzung begleitende Kulturrevolution, also keine Revolte gegen die Lebensform der schuldig gewordenen Vätergeneration. (71)

Der Erzähler unterzieht die Studentenbewegung einer expliziten Historisierung unter Aussparung seiner eigenen Rolle als 68er. Diese Nichtthematisierung kongruiert indes nicht wirklich mit dem eingangs postulierten Begehren nach einer abermaligen, nunmehr narrativen Identitätsfindung: »Sich ihnen [sc. dem Vater und dem Bruder ; M. O.] schreibend anzunähern, ist der Versuch, das bloß Behaltene in Erinnerung aufzulösen, sich neu zu finden.« (21) Dass »der verlorene Bruder weniger das Ziel der Reise als der gefundene Schreibanlass für einen narzisstischen Autor ist«1197, verdeutlicht die Erzählchronologie unmissverständlich. Es geht nicht in erster Linie darum, »aus der Distanz von 60 Jahren« (159) die Wahrheit über den verschollenen Bruder oder den Vater im Kontext ihrer Zeit zu ermitteln, sondern um die Selbstdeutung des Autors in seiner Zeit. Am Beispiel meines Bruders ist weniger ein Erinnerungstext als vielmehr ein Gegenwartsbewältigungsnarrativ. Zu Hauf finden sich metanarrative Passagen, in denen der Erzähler auf den Akt des Erzählens verweist, indem er Kriterien für die historische Perspektivierung des Vaters und für die bewusste Auswahl der Erinnerungen formuliert (vgl. 24, 67 – 69, 71, 102 f., 106 f., 134, 153, 158).1198 Timm mobilisiert Merkmale einer metahistorischen Schreibweise, die die Vermittlung von Geschichte reflektiert bzw. kommentiert, und einer Erzählform mit Bilanzierungs- und Orientierungsfunktion (die den Erzähltext als Medium der Erinnerung sowie der Geschichts- und Zeitkritik begreift).1199 Umso mehr erstaunt die Asymmetrie, mit der der Erzähler zwar bei der Beurteilung der Vätergeneration an der moralischen Fundamentalkritik der 68er-Generation festhält (die Tätergeneration verstehe es nur, zu verschweigen oder verharmlosende Stereotypen zum Besten zu geben), sich selbst als Exponent der 68er1197 Raulff (2004), 11. 1198 Roth (1998), 172: »Das narrative Gedächtnis, das den Kern der historischen Repräsentation in schriftlicher oder filmischer Form bildet, verwandelt die Vergangenheit als Bedingung für ihre Bewahrung. Die Anerkennung dieser Verwandlung muß nicht zu einer generell anti-narrativen Position führen, vielmehr könnte sie die Entwicklung von Formen der Geschichtsschreibung fördern, die im Moment des Schreibens diesen Prozeß anerkennen; die uns vermitteln, daß historisches Bewußtsein immer eine unerledigte Angelegenheit ist.« 1199 Vgl. zum metahistorischen Schreiben Herrmann, M. (2010), 83 – 86.

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Bewegung aber nicht thematisiert.1200 Die bei der Familienrecherche angesichts der anderen Familienmitglieder an den Tag gelegte unbequeme Fragehaltung macht vor der Selbstbefragung halt. Timms Am Beispiel meines Bruders setzt die Väterliteratur der späten 1970er und 1980er Jahre in mehrfacher Hinsicht fort: Auch hier setzt das Schreiben erst ein, als der Erzähler seinen Vater (und alle anderen Familienmitglieder) überlebt hat. Auch hier kompensiert es die versäumte Familienkommunikation, ohne jedoch – zudem im Abstand von mehreren Jahrzehnten – die Chance zu ergreifen, das Schweigen des Vaters durch die rekonstruktive Vergegenwärtigung der eigenen Verhaltensweise im gescheiterten Dialog zwischen den Generationen zu kontextualisieren bzw. zu relativieren. In einem Punkt geht der Erzähler allerdings über die frühere Väterliteratur hinaus: Er historisiert die 68er-Revolte. Einmal, indem er sozialpsychologisch die Genese der Studentenbewegung an den Autoritätsverlust der Tätergeneration anschließt. Dann, indem er sein eigenes Aufbegehren gegen die Vätergeneration auf die mögliche Wirkung eines transgenerationellen Traumas zurückführt, auf die Imagination eines monströsen Familienerbes, das als Familiengeheimnis tradiert wurde. Die Präsenz des Abwesenden als Weiterwirken der NS-Geschichte in einer Mischung aus kulturellem und psycho(-patho)logischem Imaginären ist es, mit der Timm die Väterliteratur im Modus der Pauschalkritik und familiendynamischen Verstrickung neu auflegt.

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Ulla Hahn: Unscharfe Bilder

Unscharfe Bilder heißt der 2003 erschienene Roman von Ulla Hahn1201, dessen Titel Stoff für Provokationen lieferte. Zurückgehend auf eine – wie das Motto verrät – Überlegung Ludwig Wittgensteins (»Ist eine unscharfe Fotografie überhaupt ein Bild eines Menschen? Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?« [7]), lanciert der Titel eine Unschärfe, die sich im Kontext des Romangeschehens als Vagheit der Geschichten im Familiengedächtnis konkretisiert. Wenig verwunderlich, dass diese Unschärfe als explizites Plädoyer für den milden Frieden der Nachgeborenen mit den Rollen und Taten der Familienangehörigen zur NS-Zeit aufgefasst und entsprechend kritisiert wurde. Der Roman wirft die Frage auf, was gerade die Vertreter der 68er-Generation dazu gebracht hat, sich in einem Akt nachholender Überidentifikation die Sicht ihrer 1200 Vgl. zur 68er-Revolte im Werk von Uwe Timm (ausgenommen Am Beispiel meines Bruders) Weisz (2009). 1201 Hahn (2005).

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Eltern und Großeltern zu eigen gemacht zu haben (die diese, Ironie der Geschichte, selbst oft gar nicht mehr haben) und – nicht genug – zudem noch rückblickend das Handeln ebenjener Akteure gutzuheißen, die sie früher gar nicht scharf genug kritisieren konnten.1202

Hahns Roman verarbeitet zwar zahlreiche historische Ereignisse1203, dies aber, ohne augenscheinlich autobiographische Züge aufzuweisen1204. Seine Ausgangslage ist die problematische Erbschaft, die Hans Musbach (Jahrgang 1920 [vgl. 33, 59]) – ehemaliger Teilnehmer des Russland-Feldzuges, der später als Oberstudienrat für Griechisch, Latein und Alte Geschichte an einem Hamburger Gymnasium wirkte und jetzt seinen Lebensabend in einer noblen Seniorenresidenz verbringt – seiner Tochter Katja Wild, Studienrätin für Deutsch, hinterlässt: Wenn wir die Erben der Verstrickung unserer Väter und Mütter in die Nazijahre sein wollen, wenn wir ehrlich Verantwortung für diese Geschichte mit übernehmen wollen, dann müssen wir auch die Erben der Leiden, der Verletzungen werden, all der zerstörten Lebenspläne der Deutschen dieser Jahre, dachte Katja. (145)

Als konkreter Anlass für die den Roman prägenden intergenerationellen Erinnerungsgespräche zwischen Vater und Tochter1205 fungiert die von Katja besuchte Wehrmachtsausstellung (Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 1944 [1995 ff.])1206, die zum Auslöser für eine in der deutschen Öffentlichkeit kontrovers geführte Debatte wurde1207. Überwältigt von den fotografisch dokumentierten Verbrechen1208 und nachhaltig irritiert von den narrativ unzureichend kontextualisierten Bildern, zeigt sich Katja Wild zu Anfang des Romans überzeugt, auf einer der Ausstellungsfotografien ihren Vater erkannt zu haben.1209 Diese Überzeugung wird freilich im Verlauf der Handlung ebenso 1202 Welzer (2004a), 56 f. 1203 Die für die Abfassung des Romans wesentlichen Quellen hat Hahn am Ende des Romans aufgelistet (vgl. 281). 1204 Vgl. Rau (2007), 63; Stephan (2007), 25. 1205 Vgl. Fischer-Kania (2004), 78: »Mit ›Erinnerungsgesprächen‹ sind […] Gespräche gemeint, die Erinnerungen generieren und diskutieren.« 1206 Vgl. Heer/Neumann (1995). 1207 Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung (1999); Hartmann/Hürter/Jureit (2005). 1208 Silke Horstkotte (2009), 132, attestiert Hahns Protagonistin – im Rückgriff auf Dominick LaCapras Traumamodell – eine »traumatische Bildwahrnehmung«: »Ein strukturelles Trauma, so LaCapra, liegt dann vor, wenn die traumatische Wiederkehr nicht durch historische Verlusterfahrungen, sondern durch strukturelle Abwesenheit – ›absence‹, nicht ›loss‹ – verursacht wurde. Zwar ist die von Katja erfahrene Abwesenheit – nämlich die Abwesenheit jüdischer Opfer – nicht strukturell, sondern historisch, doch ist sie nicht der Verlust Katjas und wird insofern als Abwesenheit, nicht als Verlust erfahren. Erst durch fetischisierte Gedächtnisikonen (Holocaust-Fotos) wird Katja in die Lage versetzt, sich den Verlust der Opfer anzueignen und gegenüber dem Vater zu vertreten.« 1209 Vgl. Griese (2009), 142 f.: »Wichtiger ist, dass Hahns Detektivfigur nicht mit der Ver-

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brüchig, wie sich die Fotografien der Wehrmachtsausstellung – nicht zuletzt durch die mündlichen Erzählungen des Vaters über den Krieg an der Ostfront – als zunehmend ›unscharf‹, d. h. schwer interpretierbar erweisen. So bezieht Hahns Unscharfe Bilder zwar – ähnlich wie Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders – seinen entscheidenden Impuls aus der Frage, wie überlieferte Dokumente des Russland-Feldzuges im Familienzusammenhang zu deuten bzw. zu erklären sind. Mit den »Bildern« aus dem Titel aber sind nicht allein die Fotos der Wehrmachtsausstellung gemeint, entwickelt doch der Roman auch immer mehr ›unscharfe‹ Erinnerungsbilder der Tätergeneration und Vorstellungsbilder der Nachgeborenen. Indem der Besuch der Wehrmachtsausstellung Katja Wild dazu bewegt, ihren Vater in Erinnerungsgespräche über seine Erfahrungen an der Ostfront zu verwickeln, perforiert der Roman die trennscharfe Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre1210, genauer, er macht deutlich, inwiefern die öffentlichen und privaten Sagbarkeitsregeln – gerade am Beispiel des Nationalsozialismus – ineinander verschränkt sind. In Anlehnung an das Vokabular der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung formuliert: Unscharfe Bilder diskutiert Formen der individuellen Erinnerung und des kommunikativen Gedächtnisses und setzt diese in Bezug zum kulturellen Gedächtnis.1211 Private Erinnerungsgespräche werden mit dem offiziellen Diskurs der Wehrmachtsausstellung enggeführt. Versucht man die tendenzielle Aufhebung von öffentlicher und privater Sphäre mit dem Charakter der Erinnerungsgespräche zwischen Vater und Tochter zu verbinden, so lässt sich dieser als ›familiäres Gerichtsverfahren‹ beschreiben. Die Gespräche gleichen oft Verhören. Wie eine Anklägerin stellt die Tochter gezielt Fragen und unterzieht ihren Vater gleichsam Kreuzverhören, während sich dieser wie ein Angeklagter zu erklären bzw. zu legitimieren versucht.1212 Durch die nach dem Muster des Gerichtsverfahrens gelenkte Familienkommunikation wird – analog zur Gerichtsförmigkeit der Väterliteratur (vgl. den Abschnitt »Schreibmotivation« im zweiten Kapitel) – auf das öffentlich institutionalisierte Verfahren, Recht zu sprechen, Bezug genommen, um ausgehend von einem transgenerationellen Gerechtigkeitsverständnis und quasi in Vertretung der staatlichen Gerichtsbarkeit eine Familiarisierung des Rechts zu betreiben. Katjas Bestreben, im Gespräch mit ihrem Vater kommunikatives und kulturelles Gedächtnis zur Übereinstimmung zu bringen, ist von einem hartnäckigen gangenheit, sondern mit sich selbst beschäftigt ist. Die Enthüllung des Geheimnisses betrifft Katja Wild im Kern ihrer Identität.« 1210 Auf dem vermeintlichen Paradox, monströser NS-Verbrecher und zugleich im Familienkreis wohlsorgender Vater und sensibler Ästhet sein zu können, basiert auch Unscharfe Bilder – wenngleich nur in der Form eines von der Tochter geäußerten Verdachts. 1211 Vgl. Fischer-Kania (2004), 74; Höfer (2005), 156 f. 1212 Vgl. Fischer-Kania (2004), 82.

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Hang zur Rechthaberei gekennzeichnet. Von Beginn an befindet sie sich »in einer eigentümlichen Spannung, als wolle sie einen Kampf mit ihm aufnehmen« (18), beharrt auf ihren vorgefassten Meinungen (»Er sollte erzählen, was sie hören wollte.« [81]) und lenkt die Kommunikation als Entlarvungsdiskurs. Die Worte, mit denen sie ihrem Vater den Katalog der Wehrmachtsausstellung präsentiert: »Schau dir das Buch bitte an. Dein Bild wirst du ja nicht drin finden« (19), sind keine Beschwichtigung, sondern eine Kampfansage, die auf ein Schuldeingeständnis aus ist. Zwar verwahrt sich Katja gegen Allgemeinplätze (»Laß die Allgemeinheiten, bitte.« [54]) und nötigt ihren Vater stets zu individuellen Erinnerungen, als Ziel der Erinnerungsarbeit akzeptiert sie aber nur ein Bekenntnis zur persönlichen Schuld: »Die Bilder, die sie dem Vater gebracht hatte, waren nun auch in ihr überschattet von den seinen, den blutigen Bildern seiner Erinnerung. Sie durfte das nicht zulassen. Wo waren die Mörder geblieben? Auf diese Frage suchte sie Antwort. Der Vater durfte nicht ausweichen.« (43)1213 Auf die Zumutungen seiner Tochter, auf nichts anderes als auf die Verantwortungsübernahme für an der Ostfront von den deutschen Soldaten begangenes Unrecht fokussiert zu sein, reagiert Musbach mit zwei Strategien: Zum einen zieht er sich aufs Schweigen zurück (»›Ich denke‹, sagte Musbach, jedes Wort abwägend, ›wir haben ein Recht zu reden, aber auch zu schweigen über unser Leben. Ihr habt ein Recht zu fragen, aber nicht immer ein Recht auf eine Antwort. Jeder hat ein Recht auf sein Lebensgeheimnis.‹« [66]), zum andern argumentiert er mit dem spezifischen Wissensstand der Zeitzeugen, um seine individuellen Handlungen zu erläutern (»›Vergiß nicht‹, sagte er, ›ich erzähle von 1941. Wir sind im Krieg, mit Überleben beschäftigt. Von den Deportationen, den Massenvernichtungen wußten wir an der Front doch damals nichts.‹« [98]). Stück für Stück wird jedoch auch Musbachs Sichtweise vom einfachen Soldaten als Opfer des NS-Terrorregimes relativiert, z. B. dort, wo Musbach sich an Abgrenzungstaten und Verweigerungen erinnert (vgl. 45, 95, 217, 224) und dadurch (indirekt) Handlungsspielräume offen gelegt werden. Ulla Hahn rekurriert hier (wie auch mit ihrer versprachlichten/literarisierten ›Wehrmachtsausstellung‹ insgesamt) auf zentrale Debatten, die den Erinnerungsdiskurs seit den 90er-Jahren prägen, genauer : auf die Diskussion um Handlungsspielräume der ›einfachen‹ bzw. ›normalen‹ Deutschen, die nicht nur auf die erste ›Wehrmachtsausstellung‹, sondern auch auf die Rezeption von Schindlers Liste, der Tagebücher Victor Klemperers und vor allem auf Daniel Goldhagens Buch Hitler’s Willing Executioners folgte.1214 1213 Vgl. auch 109: »Noch immer, dachte Katja, während sie im Weitergehen nach ihrer Buskarte kramte, war er nicht bei der Sache, nicht bei den Fotos im Katalog. Seine Bilder waren anders, ganz anders als die der Ausstellung.« 1214 Fischer-Kania (2004), 82.

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Ein maßgebliches Merkmal von Unscharfe Bilder besteht darin, dass sich im Verlauf der Erinnerungsgespräche die Rollen von Vater und Tochter erheblich verschieben. Während zunächst Katja die Gespräche in Gang bringt, deren Themen sowie Anfang und Ende vorgibt und sich das Recht, jederzeit zu unterbrechen und nachzufragen herausnimmt, wird zunehmend der Vater zum Motor des Gesprächs (vgl. 70, 140, 152, 166, 178, 206) […]. Musbach erzählt nun oftmals unaufgefordert, bestimmt das Thema (vgl. 140, 144, 166, 186, 205) und stellt Nachfragen (vgl. 152). Die anfängliche Abwehrhaltung und Verleugnungsarbeit wird durch die Erinnerungsgespräche durchbrochen.1215

Ließ sich die von der Tochter anfänglich hergestellte Kommunikationssituation mit der vor Gericht vergleichen, so ähnelt die Konstellation immer mehr dem psychoanalytischen Modell der Erinnerungs- und Trauerarbeit (vgl. dazu das vierte Kapitel) bzw. der einer Wahrheitskommission (mit aufklärendem Schauprozess ohne Urteil als weiche Alternative zur Justiz)1216. Zunächst lernt Katja Bilder zu ertragen, die nicht in ihre Ausgangsperspektive, nämlich die Schuld des Vaters zu dekuvrieren, passen; zuletzt ist es der Vater, auf den die Argumentationshoheit übergegangen zu sein scheint, wenn er behauptet, dass historisches Verstehen die Übernahme einer zeitgenössischen Erlebnisperspektive voraussetze: »›Jeder, der nicht dabeigewesen ist, muß sich diese Frage stellen: Und ich?‹« (259) Katjas selbstgerechte Haltung bzw. ihre Schuldzuweisungen werden durch die Konfrontation ihrer Bilderfahrungen (besonders die der Wehrmachtsausstellung) mit den Nachbildern des Vaters relativiert.1217 In den Erinnerungsgesprächen tritt ein Erfahrungshiatus zwischen den beiden Generationen zu Tage (authentische Lebenserfahrung vs. mediale Repräsentation der Vergangenheit), der sich kaum überbrücken lässt. Und das, weil beide Seiten jeweils für sich das Recht der historischen Wahrheit in Anspruch nehmen. Die Kriegserlebnisgeneration mit dem Argument, auf Eigenerfahrungen basierende Erinnerungen zu besitzen, die Nachfolgegeneration im Bewusstsein, durch den Rückgriff auf die vielfältigen Medien der Erinnerungskulturen wie Historiographie, Foto, Kino, Fernsehen das historische Geschehen nahezu lückenlos aufklären zu können. Es kommt zum »Zusammenstoß von Primärerfahrungen und -erinnerungen der Zeitzeuginnen/Zeitzeugen und Sekundärerfahrungen und Sekundärerinnerungen der nachfolgenden Generationen«1218. Dieser Zusammenstoß birgt erhebliches Konfliktpotential, neigen doch die Zeitzeugen dazu, ihre Eigenerfahrungen zu verabsolutieren, während die nachfolgenden Generationen zu über1215 1216 1217 1218

Fischer-Kania (2004), 83. Vgl. Marx, Ch. (2007). Vgl. Horstkotte (2009), 133 f. Fischer-Kania (2004), 93.

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schießenden Projektionen und generalisierenden Schuldzuschreibungen tendieren, mit denen versucht wird, die – im Vergleich zu den Zeitzeugen – eigene Erfahrungsarmut (bzw. Lückenhaftigkeit der historischen Kenntnisse) zu kompensieren oder zu überspielen. Je mehr sich Vater und Tochter in den von ihnen in den Erinnerungsgesprächen eingenommenen Haltungen zur Vergangenheitsaufarbeitung einander annähern, desto weniger entsprechen sie dem Bild von der Frontstellung zwischen Kriegserlebnisgeneration (Täter) und Nachkommen (Opfer-Anwälte), das zwischen den 1960er und den 1980er Jahren für den bundesrepublikanischen Erinnerungsdiskurs (in Bezug auf den Nationalsozialismus) vorherrschte. Von pauschalisierenden und anklagenden Fragestellungen sowie stereotypen Vorverurteilungen, dass sie sich mit der Elterngeneration aus prinzipiellen Gründen nicht verstehen könne (vgl. 52, 128, 134 f.), rückt Katja immer stärker ab, um dem Vater aktiver und gewogener zuzuhören, um Einfühlungsvermögen, ja, auch Verständnis für die Position des Vaters zu zeigen (vgl. 156, 167, 170 f.). Das zunehmend offen geführte intergenerationelle Gespräch kulminiert für Katja in der grundsätzlichen Einsicht, dass es bei der Thematisierung der Nachwirkungen des Nationalsozialismus für ein mögliches Verständnis der Generationen unerlässlich ist, die unterschiedlichen Erfahrungskontexte wechselseitig aufeinander wirken zu lassen: Konnte jemand, der nicht dabeigewesen war, jemals den Vater verstehen? Begreifen? Blieb ihr nicht alles, was der Vater erzählte, nur Wissen, nur der Versuch einer Vorstellung? Selbst, wenn sie sich vorzustellen bemühte, sie kröche durch einen eisigschlammigen Graben, zwanzig Meter vor ihr ein Panzer – aber da stockte sie schon. Hatte sie jemals, außer auf Fotos, im Kino, im Fernsehen, Panzer gesehen? Ja, einmal, nachts auf der Autobahn, als Raupenschlepper Panzer ins Manöver transportierten. So etwas hätte zwanzig Meter vor ihr gestanden, zwanzig Meter, kaum weiter als von der Wandtafel bis zum anderen Ende des Klassenraumes. Und da kroch sie nun, und da lag eine Kollegin, irgendeine, aus einer anderen Schule, schwerverletzt – halt: wie sieht ein Schwerverletzter aus? Auch das kannte sie nur von Bildern, kurz eingeblendet in Krimis. Sicher auch von Kriegsfilmen; aber die hatten Katja nie interessiert. Eine schwerverletzte, junge Frau also hatte sie sich vorzustellen. Katja versuchte es, sie wollte es fühlen, wollte diese verwundete Frau erleben, ihre Nähe spüren, ihr Flehen hören. Aber das Bild in ihrem Kopf blieb ein Bild, stumm, geruchlos. Unscharf. (174 f.)

Verständnis und Empathie jedoch, die Katja zunehmend an den Tag legt, stehen konträr zu denjenigen Modi, mit denen ihre Generationsgenossen vor allem in den 1960er Jahren ihre Eltern behandelten. Deren Generationskonflikt wurde auf der Grundlage von Unverständnis und Antipathie vollzogen: Die Kinder erhoben als Anwälte der Opfer nicht nur Anklage, sondern sprachen als Richter zugleich auch das Schuldurteil. So wundert es auch nicht, dass sich Katja im Verlauf des Romans von dieser einseitigen Praxis des Verurteilens in aller

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Deutlichkeit distanziert. Sie opponiert gegen eine vorschnelle, vorurteilsbeladene Verurteilung der Eltern, gegen ein durch forciertes Unverständnis auf beiden Seiten bewusst herbeigeführtes Schweigen.1219 In dem Zuge geht sie nicht nur mit ihrem eigenen, in der Vergangenheit gezeigten zurückgenommenen Verhalten ins Gericht, sondern auch mit dem inquisitorischen Vorgehen ihrer Generation: Warum hatte sie nicht schon damals in ihrer Studentenzeit auf klaren Antworten bestanden? Und auch danach nie wieder? Sie hatte geschwiegen. Genau wie der Vater. Und die anderen? Die gefragt hatten? Hatten die ihre Väter nicht zu erbarmungslos, voller Vorurteile gefragt? Ihnen keine Chance gegeben, offen zu reden? Hatten sie nicht allzu schnell die eigene Unschuld sichern wollen, indem sie ohne Unterschied eine ganze Generation zu Tätern, Mitläufern, Zuschauern machten, um ja nichts mit ihnen zu tun zu haben? Für die Väter galt dann: schuldig; für sie selbst: gewissenhaft. Sogar als Opfer konnte man sich sehen, als Opfer der Täter-Väter. (255)

Mit ihrer rhetorischen Schlussfrage formuliert Katja hier, kurz vor Ende des Buchs, eine zweite entscheidende Einsicht. Hatte sie zunächst – am Beispiel der eigenen Familienkommunikation – erkannt, dass die Nicht-Dabeigewesenen den Zeitzeugen des Nationalsozialismus gegenüber Verständnis und Empathie an den Tag legen sollten, damit ein Dialog zwischen den Generationen zustande kommt und nicht eine Verhärtung der Positionen bzw. gegenseitiges Schweigen, so vollzieht sie nun eine Rückschau auf die von der Studentenbewegung gepflegten familiären Kommunikationsstrukturen. Damit begibt sie sich nicht nur von der Gegenwarts- auf die Vergangenheitsebene, sondern auch von der individual- auf die sozialpsychologische Ebene – ohne übrigens die Übergänge explizit zu plausibilisieren. Allenfalls ließe sich implizit, wenn man die im Zitat aufeinanderfolgenden Kommunikationsweisen (Schweigen und Anklage) als gleichermaßen defizitär annimmt und Katjas maßgebliche erste Einsicht (kein gelingendes intergenerationelles Erinnerungsgespräch ohne Zuhören, Empathie und Verständnis auf beiden Seiten) sozialpsychologisch ausweitet und historisch zurückprojiziert, folgendes Argument rekonstruieren: Hätten die 68er nicht innerhalb der Familie – in der Realität ausgebliebene – Gerichtsverhandlungen inszeniert, hätte es womöglich schon früher zu kritischer intergenerationeller Erinnerungsarbeit kommen können. Zugegeben: Diese im historischen Irrealis ausgedrückte Erkenntnis wird nirgends explizit formuliert, doch der Handlungsverlauf und die Entwicklung der Figuren laufen auf sie hinaus. Wird die retrospektive Einsicht doch durch zwei Stellen vorbereitet (einmal am Anfang, einmal in der Mitte des Buches), in denen die studentenbewegten 68er als vorurteilsbeladene Inquisitoren auftreten. An der einen Stelle wird geschildert, wie ein Sohn seinen Vater, einen von 1219 Vgl. Fischer-Kania (2004), 87 f.

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Musbachs Kollegen, während einer Beförderungsfeier – man unterhält sich über die öffentlichen Angriffe auf den damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger wegen dessen Tätigkeit als Marinerichter in Norwegen – unvermittelt mit den Worten anblafft: »›Und du, warst du ein Hitlerheld in Afrika?‹« (64) Die zweite Stelle bildet eine Tagebuchnotiz aus Katjas Studienzeit: Heute sehr unangenehme Sache. Bei Melker – ›1848 im europäischen Vergleich‹ – machten wieder die K-Leute Krawall. M. war gut, kritische SPD, man versteht vieles unter Wilh. II. besser. Es ging um ein Zitat. M. hatte in Habilschrift Vorwort so was wie ›hätte das Volk damals einen Führer gehabt, wäre Deutschland nie in Schande geraten‹ geschrieben. So jedenfalls die K-ler. Auf dem Spruchband: ›Melker ist – Krawattenfaschist.‹ Dasselbe im Sprechchor. Vergeblich M.s Versuche, mit ihnen zu reden. Die Vorlesung brach ab. M. wie aus dem Wasser gezogen. Alle mögen ihn, aber keiner sagte was, ich auch nicht. Hinterher mit M. in einer kleinen Gruppe, er : Die ganze Habilschrift ist doch ein Denkmal für die Achtundvierziger! Hätte ich wegen der paar Worte das lieber gar nicht schreiben und publizieren sollen? (130)

Wegen dieser kritischen Selbsthistorisierung der 68er wurde Ulla Hahns Unscharfe Bilder mit dem Vorwurf konfrontiert, einer moralisch fragwürdigen Schuldumakzentuierung zwischen der ersten und der zweiten Generation Vorschub zu leisten. So attestierte Harald Welzer dem Buch: »Denn jetzt handelt es sich nicht mehr um die Schuld der Elterngeneration an dem, was im Dritten Reich geschehen war, sondern […] um die Schuld der Kinder, ihr gegenüber die gebührende Empathie verweigert zu haben.«1220 Sabine Fischer-Kania hält dem entgegen, dass das Bemühen um Verständnis und Empathie notwendigerweise »weder eine Verringerung der moralischen und metaphysischen Schuld der Elterngeneration noch eine Schuldverlagerung« hin zur Kindergeneration impliziere. Vielmehr habe ein Gespräch stattgefunden, das Erinnerungen freilegt bzw. zu Wiedererinnerungen geführt hat […]. Das Gespräch zwischen der ersten und zweiten Generation wird in Unscharfe Bilder demnach als eine ›Stütze des Denkens‹ charakterisiert, die hilft, Erfahrungen, Erinnerungen und Wissen verfügbar zu machen. […] Das Sprechen (bzw. Erzählen) wird dergestalt als eine Bedingung der Erinnerung kenntlich gemacht. Das Gespräch hat über den Weg der Wiedererinnerung zur Selbstreflexion, zur Entwicklung eines Unrechts- bzw. Verantwortungsbewusstseins geführt und mündet in ein Benennen der eigenen Schuld.1221

Abschließend möchte ich indes nicht die Schuldfrage akzentuieren, auch nicht den Konstruktcharakter der Figurenkonstellation und die Kolportagehaftigkeit 1220 Welzer (2004a), 57; vgl. auch Rau (2007), 69: »Als problematisch erscheint bei Hahn nicht mehr der Vater – dessen Unschuld wird auf 280 Seiten beteuert; als problematisch erscheint jetzt die Fragende, die kein Mitgefühl empfindet und die Leiden der Kriegsgeneration ignoriert.« 1221 Fischer-Kania (2004), 88.

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einiger Partien1222, sondern die Semantisierung der Erzählform1223. Zweifellos rekurriert der Roman auf »psychoanalytische Erinnerungs- und Erzählmodelle im Sinne Sigmund Freuds […] und Margarete und Alexander Mitscherlichs«1224, mit dem Ziel, das Erinnerungsgespräch als Mittel zur Trauerarbeit und Durcharbeitung von Verlusten zu kennzeichnen. Ganz dieser Entwicklungslinie ist auch das Ende des Buches verpflichtet, an dem sich Katja entschließt, ihrem von ihr getrennt lebenden Mann (nach einer langen Phase des Schweigens) endlich einen Brief zu schreiben. Darauf folgen die abschließenden Sätze: »Miteinander reden, die rechten Worte finden. Beide Seiten. Der Wahrheit so nah wie möglich. Das Reden würde nicht enden.« (276) In diesem dialogisch formulierten historisch selbstreflexiven Programm besteht die spezifische Antwort des Romans nicht nur auf die Eheprobleme, sondern auch auf den – nicht nur innerfamiliären – Umgang mit der NS-Geschichte.1225 Im Vergleich zu den empirischen Befunden von Welzer et alii1226 besitzt die Konzeption einen durchaus utopischen Anstrich.1227 Vergleicht man den hier postulierten Dialog als an der Rekonstruktion der historischen Wahrheit orientiertes Dauergespräch der Generationen1228, die sich gleichsam stetig einander annähern, mit der Väterliteratur um 1980, deren maßgebliche Kommunikationsmodi Schweigen und Anklage lauten, so könnte der Kontrast kaum größer sein. Als Gegenwartsbewältigungsstrategie postuliert Ulla Hahn das Gedächtnisnarrativ der historisierenden Selbstthematisierung. Damit lässt sich durch die rekonstruktive Vergegenwärtigung als Ausdruck aktuell geltender Deutungsmuster Kontinuität in der lebensgeschichtlichen Diskontinuität sichern. Unscharfe Bilder entwirft im Rekurs auf metahistorisch-metahistoriographische Merkmale1229 ein kulturelles Imaginäres, das nicht nur den abrechnenden Gestus der Väterliteratur dementiert, sondern überdies eine kritische Selbstdeutung der 68er-Aktivitäten betreibt – die nicht zuletzt konträr zu der von Timm in Am Beispiel meines Bruders steht.

1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228

1229

Vgl. dazu Welzer (2004a), 55 f.; Rau (2007), 65. Vgl. dazu methodisch Nünning (1995), 57. Fischer-Kania (2004), 88. Vgl. zum spezifischen Antwortpotential von fiktionalen Geschichtsbildern auf historische Referenzwelten Nünning (1995), 55. Vgl. Welzer/Moller/Tschuggnall (2002). In Bezug auf die Diskurse der Historiographie bedeutet das freilich eine Privilegierung der Zeitzeugen auf der einen, eine Dekontextualisierung des Einzelgeschehens auf der anderen Seite. Beides sind problematische Tendenzen. Griese (2010), 145: »Ulla Hahns Text bestätigt vor allem, dass der Vorgang des erinnernden Vergangenheitsbezugs zu einem Wert an sich, zur wünschenswerten Verhaltensweise geworden ist. Die Inhalte, in Hahns Fall die romantisierte Geschichte der Liebe eines Wehrmachtssoldaten zu einer russischen Partisanin, sind dabei offensichtlich sekundär«. Vgl. dazu Nünning (1995), 276 – 291.

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5.3

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Versöhnung zu Lebzeiten, so lautet das Programm der von Ulla Hahn in Unscharfe Bilder inszenierten Erinnerungsgespräche zwischen Tochter und Vater. Dementgegen schließen die beiden 1955 geborenen Autorinnen Dagmar Leupold und Ute Scheub mit ihren autobiographisch grundierten Erzähltexten Nach den Kriegen. Roman eines Lebens1230 und Das falsche Leben. Eine Vatersuche1231 an eine Konstellation der Väterliteratur an, die Uwe Timm als konstitutiv schildert: an die mit dem Tod des Vaters dringlich gewordenen Fragen nach den Leerstellen in dessen Biographie, nach dessen moralischer Lebensführung und politischem Selbstverständnis, Fragen, auf die nun die Töchter als Erzählerinnen zu antworten versuchen1232. Die beiden narrativen Rekonstruktionen väterlicher Lebensläufe folgen hierbei keinem – soviel sei schon vorweggenommen – Geist der schonungslosen Ahndung, sondern vielmehr dem historiographischen Grundsatz »ohne Ressentiment und Beschönigung« (Tacitus). Mit welchen Mitteln (Erinnerungen, persönliche Zeugnisse, historische Dokumente usw.) gehen sie die Leerstellen und Ungereimtheiten in den Väterbiographien an und, so die Leitfrage, welche historisierenden Selbstthematisierungen resultieren daraus? »Ich wußte fast nichts über ihn.« (31) – diese Aussage der autobiographischen Ich-Erzählerin in Dagmar Leupolds Nach den Kriegen1233 ist das Eingeständnis, dem Vater zu seinen Lebzeiten kaum nahe gekommen zu sein, und – ex negativo – Aufklärungs- und Schreibmotiv zugleich. Mit den zwei verschiedenen Lebensphasen (vor und nach dem Tod des Vaters) bzw. unterschiedlichen Haltungen zum Vater (Desinteresse vs. Aufklärungswille) korrespondieren die beiden distinkten Erzählsituationen. Zu Anfang (bis 34) und in der zweiten Hälfte (von 111 bis zum Schluss) arrangiert eine Ich-Erzählerin das Geschehen, deren Rolle als Tochter zeitweilig von der als Literaturwissenschaftlerin und Historikerin überlagert wird, die die nachgelassenen Tagebücher und literarischen Versuche des Vaters (auch R. L. genannt) interpretiert und kommentiert sowie archivalische Quellen und historiographische Literatur studiert. Im 3., 4. und 5. von 10 Kapiteln dagegen wird vorwiegend personal, aus der Perspektive eines Kindes (das stets auch einfach »das Kind« oder »die Tochter« genannt wird) der Alltag einer Familie in den 1960er und frühen 1970er Jahren erzählt. 1230 Leupold (2004). 1231 Scheub (2006). 1232 Die Ich-Erzählerinnen sind – wie die Autorinnen – beide Jahrgang 1955 (vgl. Leupold [2004], 21 u. 28; Scheub [2006], 161). 1233 Vgl. zur autobiographischen Dimension den paratextuellen Hinweis auf dem Buchumschlag »Dagmar Leupolds neuer Roman über ihren Vater Rudolf Leupold (1913 – 1986)« sowie die Bestätigung dieser persönlichen Angaben im Text (28, 86).

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»Der Krieg«, so reflektiert die Ich-Erzählerin, »geht mitten durch die Familie, ein Graben. Auf der einen Seite diejenigen, die ihn erlebt, und auf der anderen diejenigen, die ihn nicht erlebt haben.« (7) Aus dieser durch den Krieg verursachten fundamentalen Erfahrungsasymmetrie geht hervor, dass es in Bezug auf die NS-Zeit eigentlich nur zwei Modi der väterlichen Familienkommunikation geben kann: Schweigen oder Monologisieren. Bereits das von Benn stammende Motto des Romans akzentuiert die Gefahr eines zur sukzessiven Omnipräsenz sich ausdehnenden Schweigens: »Das Schweigende ist soweit fortgeschritten/ Und füllt den Raum und denkt sich selber zu« (5; vgl. auch 108). Dem stehen die »gefürchteten Vorträge« des Vaters gegenüber, »die anstelle eines Gesprächs traten« (98; vgl. auch 111) und »unaufhaltsam wie Dauerregen« (44) strömten, was nunmehr die Zuhörer zum Sprechverzicht verdammte: »Der Krieg beherrschte die Gespräche – vielmehr das Reden des Vaters – derartig, daß die Tochter das, was sie selbst erlebte, nicht für wirklich, also für erzählbar, hielt.« (45) Es sind zumal diese beiden Modi der defizitären Familienkommunikation, die dazu führen, dass die Tochter sich allein gelassen und isoliert fühlt. Scheint es ihr doch, »daß Familie die Lebensform der Einsamkeit war« (101). Über die Diagnose einer sehr schwach ausgeprägten Familienkohäsion hinaus geht die Tochter, wenn sie – ganz im Stile einer Familienpsychologin – die Vor- und Nachteile dieses über Jahrzehnte hinweg gültigen Rollenverhaltens analysiert1234 : Das Schweigen hat uns beiden genutzt. Er blieb für mich der aufgeklärte, unkonventionelle Liberale, der sich allem Etablierten gegenüber – zum Beispiel der christdemokratischen Regierung – kritisch, sogar spöttisch verhält. Und er war der Notwendigkeit entbunden, den ideologischen Spagat zu erklären, den Nazis zwar in ihrer Verblendung gefolgt zu sein, sich aber nach dem Krieg – mit der neuen Erfahrung – politisch vom Nationalismus und Konservatismus zu lösen, ohne sich je von den verübten Greueln zu distanzieren. (157)

Das Versäumnis, das sich die Tochter nicht verzeihen möchte1235, spielt die in Bezug auf den Vater entscheidende Frage frei, nämlich ob es denn unvermeidlich gewesen sei, die »Umwelt als eine gegen ihn verschworene Macht« (167) zu betrachten anstatt als eigene Lebensgeschichte, und die politische Geschichte »als Summe oder Resultat individuellen und kollektiven Handelns und Entscheidens« (167).1236 Ferner Fragen wie:

1234 Vgl. zu Familientypen in psychologischer Hinsicht Schneewind (1999), 104 – 109. 1235 Vgl. Fiedler (2007), 10 und 13. 1236 Vgl. Assmann (2007), 81: »Symptomatisch für diese Haltung war die Depersonalisierung und Naturalisierung der Geschichte als Geschick und Schicksal.«

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Hätte er einen anderen Blick darauf werfen können? Hätte er so frei sein können? Gab es Spielräume? Hätte er sie nutzen können? All das habe ich nie gefragt, und so weiß ich noch immer nicht, ob die Erfahrung des Kriegs, die Erfahrung einer Fernsteuerung also (selbst wenn sie begrüßt wird, bleibt sie das), diesen Fragen ihre Berechtigung nimmt. Mich empören zu können ist womöglich ein historisches Privileg, das mir – durch die Zugehörigkeit zu einer Generation, die den Krieg im eigenen Land nicht aus persönlicher Erfahrung kennt – unverdient in den Schoß gefallen ist. (168)

Das Wissen um die Gnade der späten Geburt in Kombination mit dem selbstkritischen Nachdenken über die vielen verpassten Dialogchancen – als der Vater starb, war die Tochter bereits über 30 Jahre alt – bilden den Bodensatz für die literarische Rekonstruktion der Vater-Imago1237. Eine Rekonstruktion, deren Poetik lautet: »Aus Bruchstücken ein Vater, aus Bruchstücken die Tochter, die Risse sichtbar und erhellend. Und mit jedem Wort wächst das Vertrauen ins Artefakt. Vielleicht, weil Kunststücke immer einen Umriß haben.« (34) Diese Sehnsucht nach einem – wenn auch nur skizzenhaft – greifbaren Vaterbild im Kunstwerk koinzidiert mit der Lizenz zum Füllen der Wissenslücken durch Mutmaßungen: »Erst in der Imagination gewinnt Gestalt, was mir in der Wirklichkeit entging.« (7) Immer wieder, wenn es darum geht, Überzeugungen des Vaters sowie seine Lebensführung und maßgeblichen Taten zu markieren, kommen Adverbien zum Einsatz, die die zweifelhafte Realitätsreferenz des Niedergeschriebenen zum Ausdruck bringen (»vermutlich« [83], »vielleicht« [115], »anscheinend« [136], »wahrscheinlich« [154]), wird der Konjunktiv virulent (z. B. 137, 174), dominieren statt Aussagesätzen Fragen (z. B. 129, 134 f., 137, 144, 146). Und wenn es um Erinnerungen und fixierte Lebenszeugnisse geht, so breiten sie sich wie »von der falschen Seite des Magneten in alle Richtungen zerstreute, zerstohlene Späne« aus (113). Kurz, es will sich in der Narration, ungeachtet aller Anstrengungen, keine kohärente und konsistente Biographie einstellen. Was die Erzählerin zu dem poetologischen Diktum verführt: »Legenden machen den Anfang, Legenden machen den Schluß.« (217) Eine Devise, der sie sogar in der Selbstanwendung ihr Recht einräumt1238, die sie 1237 Vgl. zum Imago-Begriff Laplanche/Pontalis (1973), 229: »Imago wird oft als ›unbewußte Vorstellung‹ definiert; aber viel mehr als ein Bild muß man ein erworbenes imaginäres Schema darin sehen, ein statisches Klischee, nach dem das Subjekt den anderen erfaßt. Die Imago läßt sich demnach ebensogut durch Gefühle und Verhaltensweisen objektivieren wie durch Bilder. Fügen wir noch hinzu, daß sie nicht als eine Widerspiegelung des Realen, auch nicht des mehr oder weniger entstellten Realen verstanden werden darf; so kann die Imago eines schrecklichen Vaters sehr wohl mit einem real farblosen Vater übereinstimmen.« 1238 Vgl. 221: »Auch mir gehört eine Legende: Als ich, zusammen mit der Zwillingsschwester, zwischen mit Rheinkieseln gefüllten Säcken unter der Infrarotlampe lag, Frühgeburt im Niederlahnsteiner Krankenhaus ohne Brutkasten, da sei er es gewesen, der mich gefüttert habe, ebenso habe er, zwei Monate später, nach unserem Einzug zu Hause, in der Nachtschicht mich übernommen, in seinen Schoß gebettet, den großen Glatzkopf in der

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schließlich darin kulminieren lässt, dass es nicht so sehr auf die Tatsächlichkeit des Erzählten ankomme als vielmehr auf seine ästhetische Überzeugungskraft: »Im Grunde spielt es keine Rolle, ob es so war oder nicht. Es ist der Anfang einer Geschichte.« (221) Bündelt man diese skizzenhaften Aussagen zu einer Poetik der biographischen Erzählung, so zeichnet sich diese durch zumal zwei Elemente aus: Erstens Wissens- und Erinnerungslücken durch die Imagination des psychologisch Plausiblen aufzufüllen und zweitens der historischen Wahrheit die poetische Kohärenz vorzuziehen. Angesichts dieses rezeptionsstrategisch motivierten Rückgriffs auf Fiktionalisierung des Lebensgeschichtlichen überrascht es kaum, dass die Frage nach der Schuld bzw. der Unschuld des Vaters nicht im Zentrum der literarisch-biographischen Anstrengungen der Tochter steht. Der Vater wird beschrieben als ein begabter und ehrgeiziger Mathematiker, dessen Sehnsucht nach Geltung und Macht (vgl. 34) keine moralischen Rücksichten kennt. Am Anfang steht die Frage der Tochter : »Wie kann ein kluger, gebildeter Mann so verblendet sein, daß er Krieg und Völkermord nicht mit einem einzigen kritischen Wort kommentiert, sondern diese als eine Wegbereitung wahrnimmt, die ihm das Erreichen seiner ehrgeizigen Ziele wesentlich erleichtert.« (134) Am Ende attestiert sie dem Vater, »im Krieg die Berechtigung einer kollektiven Lizenz zum Töten anerkannt und sich selbst damit der Möglichkeit eines individuell verantworteten und begründeten Handelns beraubt« (157) zu haben. Zudem verdanke sich die väterliche Haltung zum Krieg, zur NS-Ideologie und ihren katastrophalen Folgen nicht so sehr einer ethisch-politischen Wahl als vielmehr einer ästhetischen Pose.1239 In Anlehnung an den Historiker Christopher Browning versteht die Erzählerin diese chauvinistische Menschenverachtung als Produkt einer strukturell empfundenen Zurücksetzung, als Ergebnis eines »gedemütigte[n] Nationalismus« (136). Sie übernimmt nicht nur Brownings sozialpsychologische These, die auf die Nachwirkungen des I. Weltkriegs und das Aufkommen des Nationalsozialismus gemünzt ist, sondern weitet diese in ihrer Geltungskraft auf die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft aus. So erklärt sie sich die mangelnde Bereitschaft ihres Vaters, sich selbst als (mit-)verantwortlich zu sehen für die Richtungsänderungen, Neuansätze und Beschädigungen in der eigenen Biographie, hauptsächlich aus der vornehmlich subjektiv gefühlten Diskriminierungserfahrung. Anstatt sich selbstkritisch zur Rechenschaft zu Armbeuge – das machte er pantomimisch vor –, habe gestaunt über das häßliche Kind, dem Wimpern, Haare und Nägel fehlten. Grottenmolch, sagte er, du sahst aus wie ein Grottenmolch. Bei einem Ausflug von Kärnten nach Slowenien besuchten wir eine Tropfsteinhöhle; in den Tümpeln darin zeigte er mir die transparenten, nachtschattigen Molche und wiederholte: So hast du ausgesehen. Ich habe dich trotzdem gefüttert.« (221) 1239 Hierin der Haltung vergleichbar, die aus den Tagebuchnotizen des Vaters in Christoph Meckels Suchbild spricht (vgl. das zweite Kapitel).

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ziehen, nimmt er die »Umwelt als eine gegen ihn verschworene Macht« (167) wahr und erkennt eine »Kontinuität der Kränkungen: als Deutscher in Polen, als Flüchtling in Deutschland, später, im gehobenen Schuldienst, als progressiver […] unter konservativen Pädagogen« (167).1240 Mit Jünger und Benn als literarischen Gewährsleuten bemüht sich der Vater, der im Krieg zwar mehrere Finger durch Granatbeschuss verlor, aber nur drei Monate an vorderster Front eingesetzt war, in seinen Tagebuchaufzeichnungen und literarischen Versuchen um eine stoisch-zynische Grundhaltung, die das moralische Sensorium zugunsten einer ästhetischen Distanz preisgibt. Letztlich führe insbesondere diese Haltung, so reflektiert die Tochter, zu einer Unfähigkeit zur Gegenwart, vielleicht das Kennzeichen einer Generation, die beide Weltkriege erlebt hat und der zwischen nostalgischem Verherrlichen oder Verdrängung der Vergangenheit einerseits und größenwahnsinnigem Entwerfen der Zukunft andererseits die Gegenwart abhanden gekommen ist. (193)

In der kritischen Auseinandersetzung mit dem Vater zeigt Leupolds Nach den Kriegen – ähnlich wie Ulla Hahns Unscharfe Bilder – durchaus Verständnis und Empathie, hie und da sogar Nachsicht, ohne deshalb grundsätzlich an der Verantwortungszuschreibung zu rütteln oder gar entschuldigen zu wollen. Zusammengenommen geht es der fragend-forschenden Tochter nicht darum, anzuklagen und Schuldurteile zu fällen, sondern den versäumten Dialog zwischen den Generationen literarisch im Modus der teleskopischen Imagination aufzuarbeiten.1241 Der Dialog, der zu Lebzeiten nicht zustande kam, wird durch Formen der Erinnerung, durch Lektüre des väterlichen Tagebuchs sowie seiner literarischen Versuche und das Quellenstudium nachgeholt. Das Schreiben selbst wird zum Medium einer biographisch notwendigen Identitätsarbeit.1242

Indem die Ich-Erzählerin die Darstellung und deren Voraussetzungen in Form eines zwar erzählenden, sich seiner Identität aber ungewissen Ichs problematisiert, nimmt sie einen Impuls des Vaters auf. Einen Drang, den dieser lebenslang verspürte, den narrativ zu bändigen indes sein reflexives und schriftstellerisches Vermögen nicht hinreichte. So stellt die Tochter die poetologischen Prämissen des Vaters vom Kopf auf die Füße. Während der Vater eine Poetik der zielgerichteten Selbst-Camouflage praktiziert (»Es gibt ein Erzählen, 1240 Vgl. Assmann (2007), 80: »Durch den verlorenen Krieg wurden diese Machtphantasien freilich mit neuen Kränkungen bezahlt und setzten in dieser Generation abermals neue Ressentiments frei. Genau deshalb wütete der Krieg nach 1945 […] in der Familie weiter: als Endlosgeschichte eines Verlierers, der sich mit seinem Los nicht abfinden konnte.« 1241 Vgl. Fiedler (2007), 14 f. – Zur Väterliteratur als im Modus der familiären Erinnerungsarbeit nachgeholtes Generationengespräch vgl. das zweite Kapitel. 1242 Assmann (2007), 76.

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das darauf abzielt, den Zuhörer von der berichteten Erfahrung auszuschließen, statt ihn daran teilnehmen zu lassen. Ein Erzählen, hinter dem der Erzähler in Deckung geht, in dem er sich nicht ausdrückt, sondern verdrückt.« [111]1243), propagiert die Tochter schonungslose Aufklärungsarbeit. Die Tatsache, dass sie die vom Vater präfigurierten Topoi der Selbstnarration revidiert, wiederholt bloß das intergenerationelle Verhaltensmuster, wonach die Erwartungshaltung der Eltern beständig zu konterkarieren sei.1244 Unabhängig davon, wie man das Prinzip einer am Maßstab der familiengeschichtlichen Konvention ausgerichteten konsequenten Erwartungsenttäuschung zu bewerten geneigt ist, indem die Tochter das Schreibprojekt von R. L. übernimmt und zur Ausführung bringt, stellt sie sich in den Dienst einer familiengenealogischen Rückbindung: »Im Roman hätte sein Leben eine Form und ein Format erhalten, da er ungeschrieben blieb, schien es ihm immer vergeblicher und ungestalter.« (7) Die (Tagebuch-) Notizen und erzählerischen Versuche des Vaters sind ebenso Legion – und werden von der Tochter immer wieder eingearbeitet (vgl. etwa 112, 119 – 136, 150 f., 152, 166, 172, 174, 185 f., 190 – 192, 195 – 214) –, wie die an den zu vollendenden Zeitroman geknüpften Erfolgserwartungen maßlos: Bei der Vorstellung seiner Entwürfe, wie immer bei Tisch, wuchsen seine Begeisterung und seine Zuversicht. Die längste Zeit malte er sich die Aufnahme seines Buchs aus, das alles Vorangegangene in den Schatten stellen würde, es würde erkannt werden, daß die Umwälzungen und Ereignisse seines Lebenszeitraums – der zweier Kriege – noch nie so epochal erfaßt worden seien, wie es in seinem Roman der Fall sein werde. Er hatte ein glückliches Gesicht dabei. (103)

Zu einem Abschluss des väterlichen Manuskripts – von einer Veröffentlichung ganz zu schweigen – sollte es nie kommen. Diese Aufgabe, die eigene Lebensgeschichte in einen Roman zu überführen, der die Kontingenz der Lebensumstände einer narrativen Passform untertan macht1245, wurde gleichsam an die Tochter weitergegeben: »Auch mir geht es hier um diese vermißte Gestalt« (7). Was die Genese der Schreibmotivation anbetrifft, schwankt die Erzählerin zwischen lebensgeschichtlich autonomer Wunschentfaltung und transgenerationeller Determination durch väterliche Wunschproliferation: »Bereits als Kind verkündete ich, Schriftstellerin werden zu wollen. War das meine Idee? Oder war das der Reflex auf das vom Vater so beharrlich betriebene, so beharrlich ver1243 Für das Schreiben gelten die beiden gleichen Züge, die die Tochter auch grundsätzlich für das Psychogramm von R. L. herausarbeitet: »strategische Gefühllosigkeit und mystisches Sendungsbewusstsein« (Assmann [2007], 79). 1244 Vgl. 24: »Ich ging nach Italien; eine von vielen Entscheidungen, die aus dem Wunsch geboren waren, das genaue Gegenteil dessen zu tun, was über die Familiengeschichte gewissermaßen standardisiert, als Norm vorgegeben war.« 1245 Vgl. 189: »Sein Leben jedenfalls sollte ein Roman werden und darin unbestreitbar – richtig.«

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miedene Streben nach Form und Format?« (189) Die Frage wird nicht explizit entschieden, doch bereits auf der ersten Seite spricht die Erzählerin angesichts des von ihrem Vater auf sie übergegangenen Stempels – von dessen Verfertigung sich der Vater die nachgerade magische Hoffnung erhoffte, dass nun der Roman im Nu nachfolge – von einem »Auftrag«: »Der Stempel liegt vor mir, mit seinem wunderlichen Auftrag. Ich nehme ihn mir zu Herzen.« (7) Demnach begreift die Erzählerin ihr Schreibunternehmen so, als wäre sie – die Stempelweitergabe steht für die symbolische Tradierung – von ihrem Vater mit einem Schreibauftrag betraut worden. Wenn auch auf die Tochter übergeht bzw. übertragen wird, was vom Vater versäumt wurde, nämlich die Lebensformung durch die Aufgabe, einen autobiographisch gefärbten Zeitroman zu verfassen, so bringt es der Delegationsprozess mit sich, dass die ursprüngliche Schreibintention nicht unangetastet bleibt. Dafür sorgt die Delegationsdynamik, die bei Kindern, welche ihren Vätern als Delegierte dienen, zwischen den Gefühlspolen einer hohen Selbstachtung und einer massiven Überforderung anzusiedeln ist.1246 Was R. L. zur öffentlichen Anerkennung seines zutiefst gekränkten Charakters verhelfen sollte1247, wird von der Tochter als Repräsentantin des gescheiterten Dialogs zwischen den Generationen in einer Mischung aus selbstreflexiver Lebensgeschichte (Problematisierung der Möglichkeit der Kontinuität und damit der IchErzählung) und fragmentarischer, mit Fragen, Zweifeln und imaginären Anteilen versehenen Vater-Biographie nachgereicht. Damit entledigt sie sich zum einen des übertragenen Schreibprojekts und vergewissert sich zum andern im Sinne einer Selbstklärung der eigenen Emanzipationsgeschichte. Die zwischen den Generationen vollstreckte Arbeitsteilung des auktorialen Prozesses (Vater: Plan, Tochter : Umsetzung) birgt die Möglichkeit zu einer retrospektiven, wenn auch nur einseitigen Aussöhnung. Zwar kann die Tochter postum keine Anerkennung mehr von ihrem Vater erlangen, aber sie kann den lebendigen Beweis für eine familiäre Diskontinuität liefern (im Gegensatz zum Vater beweist sie sich als Schriftstellerin) bei gleichzeitiger familiengeschichtlicher Kontinuitätssicherung (gewährleistet durch ein die familiären Hinterlassenschaften integrierendes Selbstverständnis). Die intergenerationelle Asymmetrie (tot vs. lebendig) ist die Voraussetzung dafür, dass dasjenige, was dem Vater als bloß subjektiver Entlastungsmechanismus verwehrt blieb, nämlich das Verfassen einer kohärenten Lebensgeschichte, von der Tochter als transgenerationell delegierter 1246 Vgl. zur Delegationsdynamik in Bezug auf die familiär tradierte NS-Geschichte Stierlin (1989), 159 – 180. 1247 Vgl. Assmann (2007), 78: »Was der Vater in seiner Endloserzählung vom Krieg vor widerwilligen Zeugen wiederholte, hätte eigentlich die Form eines Romans annehmen sollen, ein Projekt, von dem er sich den großen Durchbruch an Anerkennung und Geltung erhoffte, das er aber nicht wirklich angepackt hat.«

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Schreibauftrag vollzogen wird mit der Chance, sich vom Vater abzugrenzen und zugleich mit ihm zu versöhnen. Die Ich-Erzählerin erscheint somit in einer Doppelfunktion als Agentin der verhinderten Wunscherfüllung (in der verlängerten Vater-Perspektive) und der reflexiven Aufarbeitung der Familiengeschichte (in der Perspektive einer Vertreterin der Nachkriegsgeneration, die am kritisch-pluralistischen Erinnerungsdiskurs der Berliner Republik teilhat). Im Gegensatz zur Väterliteratur um 1980 geht es ihr dabei nicht um einen abstrakten Rechtsmaßstab, um eine gerichtsförmige Verurteilung (wegen Verstrickung in die Naziverbrechen durch Taten oder Unterlassung), sondern darum, dem Vater (als Täter bzw. Mitläufer) in seiner spezifischen Zeitbedingtheit historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Womöglich konnte die Ich-Erzählerin ihrem Vater – wie auch sich selbst in ihrer Rolle als Tochter – nie näherkommen als durch das Verfassen dieses VaterTochter-Romans. Eines Romans, der aufgrund seiner charakteristischen Doppelstruktur aus Individual- und Sozialpsychologie beständig metonymisch zwischen den beiden Ebenen Familien- und Nationalgeschichte changiert. Eines Romans, der einerseits am Beispiel eines 1913 geborenen und sich zeit seines Lebens um seine ehrgeizigen Ambitionen betrogen gefühlten Schlesiers einen Baustein zu einer männlichen Mentalitätsgeschichte der NS-Zeit und der frühen Bundesrepublik liefert, andererseits das vom Vater hinterlassene Doppel-Erbe (moralische Ignoranz und schriftstellerisches Scheitern) im Rahmen eines polyperspektivischen, reflexiv-aufklärerischen Schreibprojekts aufhebt – um als Roman eines Lebens (so der Untertitel) gleichermaßen die einstige Sehnsucht des Vaters nach einer in Erzählform geronnenen Lebensgeschichte zu stillen und den Wunsch nach einer klar konturierten Vater-Imago zu befriedigen.

5.4

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Das falsche Leben (erschienen 2006) von Ute Scheub1248 verspricht eine autobiographisch motivierte Vatersuche (so der Untertitel). Der Vater nahm sich auf dem evangelischen Kirchentag des Jahres 1969 auf offener Bühne vor etwa 2000 Menschen mit Zyankali das Leben. Sein letzter Satz lautete: »Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden der SS.« (7) Unmittelbar davor hatte Günter Grass aus seinem noch unveröffentlichten Roman Örtlich betäubt gelesen und vor dem Hintergrund von Jan Palachs ein paar Monate vorher stattgefundener Selbstverbrennung gegen ritualisierten Protest plädiert. 35 Jahre danach findet die Tochter auf dem Dachboden zahllose Zettel und Aufzeichnungen ihres Vaters 1248 Scheub (2006).

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sowie mehrere Abschiedsbriefe.1249 Während sie, als der Vater starb, diesem mit ihren 13 Jahren keine Träne nachweinte, sich vielmehr plötzlich befreit fühlte, wird der Dachbodenfund zum Anlass, der Geschichte des Vaters nachzuspüren. Augst, Jahrgang 1913, wird nach einer wegen Kurzsichtigkeit erfolglosen Bewerbung bei der SS zu Anfang des Krieges eingezogen und dient als Flak-Kanonier im »Wachbataillon General Göring«. Im Ausland nimmt er an – nicht näher aufzuklärenden – »Sonderkommandierungen« teil, kämpft 1942 in Rommels Afrika-Korps und erlebt das Kriegsende in Norditalien. Nach der Entnazifizierung gründen Augst, der als Apothekerassistent arbeitet, und seine Frau in Tübingen eine Familie mit schließlich drei Söhnen und einer Tochter. Diese beschreibt ihren Vater, dessen Fronteinsätze ihn offenbar dazu gebracht haben, sich dem Frieden zu verschreiben, als einen »Mann voller Widersprüche: Nazi, Christ und Pazifist« (36). Einerseits sozial inkompetent, kalt und schweigsam, andererseits getrieben von der Sehnsucht nach dem Verstandenwerden, die jedoch fatalerweise nicht in Dialogen auf Augenhöhe mündete, sondern in verkrampftes, unverbindliches, stammelndes Monologisieren.1250 Die ideologische Versteifung, das Festhalten am »Nationalsozialismus als Idee« (19), verdankt sich paradoxerweise, so vermutet die Tochter, nicht zuletzt dem Gefühl, nirgendwo Gehör zu finden, einer gesellschaftlichen Ignoranz ausgesetzt zu sein, die von den seelischen Nöten von NS-Opfern nichts wissen wollte – geschweige denn von den psychischen Folgen bei den NS-Tätern: Man wollte die furchtbaren Leiden der überlebenden Opfer nicht sehen, ihre Angst, ihre Panikattacken, ihre Albträume, ihre Schwierigkeiten, ein normales Leben zu führen. Was dazu führte, dass man auch die Leiden der Täter übersah. Es waren nicht die gleichen Leiden, weder quantitativ noch qualitativ. Aber es gab sie. (44)1251

Die Kehrseite des Verlangens danach, umfassend verstanden zu werden, lautet indes: Sehnsucht nach dem Absoluten und nach Erlösung (vgl. 65) gepaart mit einem habitualisierten Beschweigen der eigenen Vergangenheit. Scheub selbst, die für ihr Buch – schenkt man der vier Seiten langen Liste »Verwendete und verwandte Literatur« Glauben (288 – 291) – sowohl literarische wie historio1249 Grass hat Manfred Augst (so nennt er den öffentlichen Selbstmörder und Ute Scheub behält diesen Namen für Das falsche Leben bei), Apotheker, verheiratet und Vater von vier Kindern, später zu einer Figur in seinem Buch Aus dem Tagebuch einer Schnecke gemacht. 1250 Vgl. dazu paradigmatisch den Schluss seines letzten Abschiedsbriefs: »An was ich, ist der Mangel an Antwort, der meine Sprach- und Ausdrucksfähigkeit verkümmern ließ, so dass sie den andern Menschen nicht mehr erreichte, dass ich niemand mehr das sein konnte, was meine eigentliche Aufgabe war. Das hätte nicht so sein brauchen! Das sei meine Warnung: Im Wort, im Antworten sich selber zu geben, das ist das Höchste und Schönste, das wir begreifen müssen, und an dem wir alle unser Lebtag lernen müssen. Das ist zutiefst menschlich und christlich zugleich!« (147) 1251 Vgl. zu den Leiden der deutschen Kriegsheimkehrer ausführlich Goltermann (2009).

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graphische als auch psychologische und philosophische Recherchen unternahm, schließt Augsts Schicksal an den sozialpsychologischen Befund der Mitscherlichs an: In den sechziger Jahren schwiegen die Deutschen weiter und wurden immer unfreundlicher, immer kranker : ›Die Nazi-Vergangenheit wurde derealisiert, entwirklicht‹, schrieben Margarete und Alexander Mitscherlich in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern. In den Augen der großen Mehrheit war Hitler an allem schuld, der Führer hatte sie ver-führt. Da sie um den einstmals Geliebten nicht trauern durften, argumentierten die Mitscherlichs, wehrten sie auch jede Trauer um die Opfer ab. ›Die Gefühle reichen nur noch zur Besetzung der eigenen Person, kaum zu Mitgefühlen irgendwelcher Art aus. Wenn irgendwo überhaupt ein bedauernswertes Objekt auftaucht, dann ist es meist niemand anderer als man selbst.‹ Eine Beschreibung, die auf Millionen zutraf. Eine exakte Beschreibung meines Vaters. (196)

Dagmar Leupolds Nach den Kriegen vergleichbar, oszilliert Ute Scheubs Schreibweise zwischen psychologisierender Familiengeschichte und nationaler Gefühlsgeschichte.1252 Der historisch-soziologischen Einordnung des väterlichen Lebenswegs ging ein jahrzehntelanger – teils unterschwellig gärender, teils explizit vorangetriebener – Reflexions- und Aufklärungsprozess voraus. Ein Prozess, der mit dem Tod des Vaters ins Rollen kam und sich nie allein auf die Historisierung von Augsts Haltung bzw. seinen Idealen, sondern eben immer auch auf das in Bewegung befindliche Selbstbewusstsein der Tochter bezog. Die nämlich musste sich auch nach dem Tod des Vaters mit der Verinnerlichung seines Erbes auseinandersetzen. Verfolgt wird sie von einem immer wiederkehrenden Traum: Mein Vater kommt zurück, ein dunkler, hagerer, faltiger Mann mit verkniffenen Lippen und einer riesigen Hornbrille. Er sagt, er sei nicht gestorben, er sei nur lange verreist gewesen, in Australien oder in Island. […] Er verlange, wieder in seine Rechte eingesetzt zu werden. Er verlange Achtung und Beachtung. Wir, seine Kinder, schuldeten ihm Gehorsam. Ich versuche zu fliehen, vor diesem größten aller Schrecken, aber es geht nicht. (26)

Die Szene des unablässig in den Träumen wiederkehrenden Vaters, der verlangt, wieder in seine früheren Rechte eingesetzt zu werden, gemahnt in aller Deutlichkeit an die Familienkonstellation in Hamlet. Sie bezeugt die von Nicolas Abraham am Beispiel der Hamlet-Lektüre konzeptualisierte Psychodynamik der familiengenealogischen Erinnerungstransmission, wonach die Geheimnisse der älteren Generation von den Nachkommen in Gestalt von Phantomen vergegenständlicht werden (vgl. dazu ausführlich 1.5.3). Präzise diagnostiziert die 1252 Vgl. zu dieser polaren Struktur, die als Erzählverfahren den gesamten Text durchzieht, Eichenberg (2009), 139 – 144.

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Erzählerin – aus dem Abstand der Jahrzehnte –, wie sie einstmals von einem transgenerationell tradierten Familientabu heimgesucht wurde: Ich ahnte, dass sich in unserer Familie etwas Lügenhaftes eingenistet hatte, ohne dass ich es hätte benennen können. Kinder spüren, wenn ihnen Familiengeheimnisse vorenthalten werden, und schmücken die Leerstellen so eifrig mit ihrer Fantasie aus, dass aus Eltern und Verwandten Monster werden. Die Folgen des Schweigens sind schlimmer als die Folgen der Wahrheit. (187)

Denn das Kommunizierte kann bewusst bearbeitet werden, das Schweigen aber gebiert auf halluzinatorische Weise monströse Phantasien. Konsequenterweise hatte denn das Täterkind auch die größte Angst davor, wie Scheub im Rekurs auf den Psychoanalytiker Tilmann Moser schreibt, »die Tür zu den Gaskammern zu öffnen« (256). Kurz nach dem Tod des Vaters war die Teenager-Tochter noch weit davon entfernt, sich von den in ihrer Restfamilie herumspukenden Erbanteilen zu lösen. Wie kann es gelingen, sich von den belastenden Hinterlassenschaften des Vaters zu befreien? Als Jugendliche beantwortet die Erzählerin diese Frage für sich, indem sie es zu ihrem Lebensziel erklärt, das genaue Gegenteil ihres Vaters zu verkörpern: So, als ob er das Sandförmchen sei und ich seine Negativform, der Sandkuchen, sein Abdruck ins Gegenteil. Er stand politisch rechts, also wandte ich mich nach links. Er war autoritär, also wurde ich antiautoritär. Er war Rassist, also versuchte ich mich als Antirassistin. Er war Deutschnationalist, also wurde ich Internationalistin. Er war heimatverwurzelt, also sah ich zu, mich nirgendwo fest anzusiedeln. Er war gläubiger Kirchgänger, also wurde ich zur ungläubigen Kirchenkritikerin. Er war Patriarch, also wurde ich Feministin. Er war mittelblond, also gefielen mir nur schwarzhaarige Männer. Er konnte nicht schreiben, sich nicht ausdrücken, also beschloss ich irgendwann, das Schreiben zu meinem Beruf zu machen. Er war ein Kopfmensch, also legte ich Wert darauf, meine Gefühle auszuleben. Er konnte nur ein Gefühl empfinden, das Mitleid mit sich selbst, also versuchte ich, Mitgefühl und Solidarität zu Grundprinzipien meines Lebens zu machen. Er glaubte, dass sich am Ende immer die Starken durchsetzen müssen, also engagierte ich mich für die Schwachen. Er zählte die Pfennige, also ging ich mit Geld großzügig um. Er hasste Musik, also lernte ich Klavier und Orgel, spielte in Bands und sang in Chören. Er war einsam, also beschloss ich, gesellig zu werden. Er mochte das Gebirge, die eisigen Höhen, also entwickelte ich eine unüberwindliche Abneigung gegen Berge aller Art und wurde Meerliebhaberin. Er war immer verkrampft, also wurde ich krampfhaft locker. Er war humorlos, also lernte ich so laut zu lachen, dass meine Freunde behaupteten, man könne mich meilenweit daran erkennen. Selbst bei den Himmelsrichtungen orientierte ich mich in entgegengesetzter Weise. Er fühlte sich vom ›arisch‹ besiedelten Norden angezogen, also zieht es mich gen Süden. (34 f.)

Später freilich muss sie erkennen, dass es nicht rundum befriedigend ist, »der Negativabdruck eines Menschen« (35) zu sein. Im Bestreben, die väterlichen

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Vorstellungen und Eigenschaften rigoros zu suspendieren, wird nämlich die Persönlichkeit des Vaters spiegelbildlich reproduziert. Anders gesagt: Wer während der gesamten Sozialisation versucht, sich als Kontrafaktur der über der eigenen Existenz schwebenden negativen Vater-Imago zu profilieren, macht den Menschen, von dem er sich abgrenzt, ungewollt zum Teil der eigenen Identität. Eine Autonomie-Entwicklung, innerhalb derer man sich selbständig definiert, lässt sich auf diese Weise jedenfalls nicht realisieren. So sozialpsychologisch zutreffend es sein mag, die Rebellion von 1968 zu einem Gutteil auf das »Schweigen und d[ie] Lügen in unzähligen Familien« (188) zurückzuführen, so unverzichtbar ist es, nicht bei der Verkörperung des gegenteiligen Extrems stehenzubleiben. Ute Scheub geht entschieden über die oft plakativen Vereinseitigungen der Väterliteratur hinaus, wenn sie mit selbstkritischem Blick notiert, welche Anmaßung hinter der Opferidentifikation der 68er steckte: Rudi Dutschke fantasierte als Jugendlicher, er sei in Wirklichkeit der Sohn eines versteckten Juden, und er glaubte, die Herrschenden wollten die Studenten ›zu Juden‹ machen. Auch ich fühlte mich als Opfer meines Nazi-Vaters. Ich durchschaute nicht, was für eine Selbstanmaßung es war, mich mit KZ-Überlebenden in eine Reihe zu stellen. (201)1253

Das falsche Leben ist eben nicht nur eine Vatersuche, sondern reflektiert in gleichem Maße, wie man aus Abkehr von erstarrten Verhaltensmustern zur Negativkopie des Nichtgewollten avanciert. Es dauerte, so stellt es die erzählende Tochter dar, viele Jahre, bis sie Skepsis und selbstkritische Zweifel schätzen gelernt habe, bis ihr »alle Menschen mit ›heiligen Missionen‹ widerwärtig« (148) geworden seien. Erst nach dieser Schule der Aufklärung habe sie durchschaut, dass der Vater wie in einem Gefängnis von einer durch und durch ideologiegetränkten Sprache eingeschlossen war. Nachhaltig geprägt durch die Sprache des Dritten Reichs, habe die Mischung aus mystisch-sentimentaler »Gefühligkeit« (99) und abstrakter »Schwurbeligkeit« (162) – neben dem notorischen Schweigen – entscheidend dazu beigetragen, dass der Vater sich unter Vermeidung von rational nachvollziehbaren Argumentationszusammenhängen und konkreten Gegenwartsbezügen in seinem ideologisierten Theoriekauderwelsch einbetonierte.1254 Manfred Augst verkörpert den Paradefall eines von der »Lingua Tertii Imperii« (177) Durchdrungenen1255, dem es nicht gelingen will, sich nach 1945 ein neues 1253 Vgl. zur Opferidentifizierung der 68er Schneider (2004). 1254 Vgl. 98: »Es war unmöglich, in diesem Neusprech frei zu denken, in dieser Ersatz- und Versatzsprache für Menschen, die nicht denken sollen. Es gab in ihr keine nüchternen Begriffe, mit denen man Realität analysieren, Gedankensysteme entwickeln und vergleichen konnte. Ihre Worte waren bombastisch, überladen und gleichzeitig wie verwackelt, ohne scharfe Grenzen.« Vgl. ähnlich 101, 162, 176 f. 1255 Vgl. Klemperer (1990).

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Vokabular zur Selbstbeschreibung anzueignen.1256 Zeitlebens bleibt er Gefangener eines Jargons, der der Realität Ungenügen vorwirft, wenn sie sich nicht nach den eigenen apodiktischen Behauptungen richtet, der zugleich aber so praxisuntauglich und emotional verarmt ist, dass sich mit ihm der Lebensalltag in der bundesrepublikanischen Nachkriegswirklichkeit nicht zufriedenstellend bewerkstelligen lässt. Eine der wichtigen, wenn nicht die zentrale Wunschvorstellung der Tochter zielt denn auch darauf, dass der Vater die Schweigestarre durchbricht und seinen korrumpierten Sprachgebrauch ablegt, kurz, dass er im Familienkreis in aller Offen- und Direktheit über seine Taten während des Zweiten Weltkriegs Rechenschaft ablegt. Die Tochter imaginiert ein rückhaltloses Geständnis, das, so vermutet sie, zwar sicher für die Familienmitglieder nur schwer erträglich gewesen wäre – gerade wenn der Vater sich als Mörder von Zivilisten erwiesen hätte –, aber auf jeden Fall die bessere Alternative zum Schweigen dargestellt hätte: Am Ende war es schlimmer als jede Haftstrafe, es war die Todesstrafe. Es stieg in ihm auf wie Nebel, füllte sein Inneres aus, verschloss ihm den Mund und alle Sinne, nahm ihm die Fähigkeit zum Sprechen, zum Lachen, zum Leben, und von jedem Redefluss abgeschieden, vertrocknete er. (210)

Mit aller Entschiedenheit unternimmt es die Erzählerin in Das falsche Leben, den nicht stattgefundenen Dialog mit ihrem Vater nachträglich zu kompensieren. Lautet doch die entscheidende Erkenntnis, das väterliche Schweigen auf keinen Fall zu perpetuieren: »Und was ist mein ›Auftrag‹? Vielleicht dieses Buch?« (140) Kein Zweifel: Eine rhetorische Frage. Unterschwellig fühlte sich die Tochter mit dem Auftrag betraut, diejenige existentielle Selbstoffenbarung zu vollbringen, zu der die Tätergeneration aufgrund ihres notorischen Schwankens zwischen Selbstüberschätzung und Selbstverachtung nicht in der Lage war. Um eine ausbeuterische Delegation handelt es sich dabei insofern nicht, als die Erzählerin dadurch, dass sie eine sinnstiftende Kontinuität zwischen den Generationen herstellt, sogleich ihre Familiensozialisation aufarbeiten und historisieren kann. Zweifelsohne sind als zwei Motive für Vatersuche die Verantwortung gegenüber den Opfern und die Scham angesichts des Vaters ausschlaggebend (vgl. 198 f.), die literarische Rekonstruktion der Familiengeschichte besitzt aber obendrein eine autotherapeutische Funktion und deckt einen persönlichen Selbstklärungsbedarf: Die Geschichte der eigenen Familie zu recherchieren und aufzuschreiben, das bedeutete für mich, so viele Albträume zu haben wie noch nie in meinem Leben. Ich träumte von Gaskammern und Kriegsgräueln. Von Giftkapseln, die bei Berührung tödlich wirkten. Von Nazi-Opfern oder Verwandten, die sich an mir rächen wollten. Oder, immer wieder, 1256 Vgl. zur Vorläufigkeit und Variabilität von Selbstnarrationen Neumann (2005).

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von Orten voller brauner Scheiße. Aber irgendwann, als das Kapitel über den ›Opfertod‹ meines Vaters beendet war, träumte ich auch, nun wäre ich mit allem ›durch‹. Ich wachte auf, erfrischt, lebenslustig, voll mit prickelndem Sauerstoff. Schlagartig wusste ich: Das Gefühl, bedroht zu werden, hatte aufgehört. Mein Vater hatte aufgehört, mir Angst zu machen. Das blausaure Gespenst hatte aufgehört, herumzugiften. (260 f.)

Die Erzählerin zehrt nicht zuletzt von dem – magisch inspirierten – Glauben, dass man mit den unwillkommenen, aber unvermeidbaren Hinterlassenschaften der Vorfahren besonders dadurch fertig wird, dass man sie in ein Buch verbannt und sich zudem dem Gegenteil des Inkriminierten, d. h. im vorliegenden Fall einem weltoffenen Anti-Rigorismus verschreibt. So lassen sich auf der einen Seite die eigenen ideologischen Verfehlungen in der Vergangenheit als Überschusshandlungen historisieren, die aus Naivität – bei gegenteiliger, antimimetischer Absicht – den transgenerationell verinnerlichten Extremismus unter umgekehrten Vorzeichen reproduzierten; so kann auf der anderen Seite sogar gelingen, was zu Lebzeiten des Vaters unmöglich war : Versöhnung. »Habe ich mich«, fragt die Erzählerin zu Ende des Buchs, »mit meinem Vater versöhnt?« (261) Und antwortet: »Ja, ich habe mich mit meinem Vater versöhnt, ich habe ihm verziehen, was er mir angetan hat. Das war leichter und schwerer, als es klingt.« (262) Nach der Lektüre sieht man das Foto auf dem Buchcover mit anderen Augen: Hier schaut nicht mehr das arglose Mädchen mit verschränkten Armen in den Spiegel und beobachtet, wie ihr Vater (mit Hingabe) ihre Zöpfe flicht; nein, hier erscheint der Vater bereits als Organ des Kinderwillens, als Medium, um das angestrebte Spiegelbild zu verwirklichen. Die Überwindung des Spiegelstadiums, um mit Lacan zu sprechen (vgl. zum Lacan’schen Spiegelstadium 4.3), kündigt sich bereits an, jene noch ferne Zeit, in der die Tochter vom Vater – von dem nur haufenweise Manuskript-Fragmente überliefert sind – den Rede- und Schreibauftrag übernommen haben wird und ihm den Nekrolog flicht.

5.5

Geteilte Erinnerung: Nachgeholte Trauerarbeit vs. Selbsthistorisierung

Für die zeitgenössische Väterliteratur sind vornehmlich zwei Merkmale signifikant: die Schreibdelegation und die Selbsthistorisierung. Kinder fungieren als Delegierte ihrer Eltern, treten in den Dienst des elterlichen Ich-Ideals ein, »d. h. in die unbewußten Triebkräfte ihres Handelns gehen oftmals Wünsche ihrer Eltern ein, die den Beteiligten nicht bewußt sind, da sie nicht eingestanden und nicht gelebt werden können«1257. So kehrt Uwe Timm mit Am Beispiel meines 1257 Rüsen (2001b), 72.

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Bruders den Schreibstopp seines Bruders, der im Herbst 1943 wegen der Kriegsgräuel abrupt sein Kriegstagebuch beschließt1258, um (aufgrund des Altersunterschieds von 16 Jahren gehört er für den Erzähler gewissermaßen einer älteren Generation an). Dagmar Leupold vollendet mit Nach den Kriegen denjenigen Nachkriegsroman, nach dem sich ihr Vater unablässig verzehrte, Ute Scheub reklamiert für sich, den Schreibauftrag vom Vater übernommen zu haben (beides explizite Schreibdelegationen). Die Begründungsfigur für diese Spielarten der Schreibdelegation, die in der Väterliteratur um 1980 noch nicht zu finden war1259, bildet das Teleskoping als spezifische Form des Ausagierens einer transgenerationellen Psychodynamik (für die zumal unbewusste Bindungen, Familienloyalität und Erinnerungen verantwortlich sind).1260 Überdies etablieren Uwe Timms Am Beispiel meines Bruder und Ulla Hans Unscharfe Bilder Ansätze zu einer Historisierung der 68er-Bewegung. Während Timms autobiographischer Ich-Erzähler den Autoritätsverlust, den die Vätergeneration mit dem Ende des Krieges erlitt, zum vermuteten Ausgangspunkt für die Studentenbewegung macht1261, erklärt Hahns Protagonistin Katja Wild, dass man die Elterngeneration zu schnell und undifferenziert schuldig gesprochen habe, dies auch, um sich selbst leichterdings als Opfer sehen zu können. Durchaus repräsentativ für die familiäre Erinnerungsliteratur westdeutscher Provenienz findet sich in beiden Texten ein Verständnis- und Versöhnungsgestus, ja, eine Tendenz zum Generationenschulterschluss als Wiedergutmachung für die Vorwürfe, die man in der Vergangenheit in studentenbewegten Jahren – vorschnell und überzogen – erhoben hatte.1262 Die Kommunikation, die aufgrund des starken Abgrenzungswillens in den sechziger und siebziger Jahren vor allem konfrontativ und ideologisch aufgeladen stattfand, kurzum, rudi1258 Vgl. Timm (2003), 124: »Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen.« 1259 Vgl. Horstkotte (2008), 280. – Im Gegensatz dazu erfüllt es den Vater in Christoph Meckels Suchbild zwar mit Stolz, dass der Sohn in Verlängerung seines Egos zum erfolgreichen Lyriker avancierte, er erfährt dies aber auch als bedrohlichen Ich-Verlust: »Du schreibst die Gedichte, die ich schreiben wollte.« (Meckel [1980], 156) 1260 Vgl. Bude (1997), 296 f.: »Für die Kriegskinder stellt die Geschichte ihrer Eltern daher eine Last dar, die ihre eigene Geschichte zu erdrücken droht. Sie bilden einen Behälter für Erwartungen, die nicht ihr eigenes, sondern das Leben ihrer Eltern betreffen. […] Es handelt sich um eine besondere Form der Identifizierung, durch die eine verborgene Geschichte der vorhergehenden zur beherrschenden Geschichte der nachfolgenden Generation wird. Der Mechanismus dieses Ineinanderrückens der Generationenfolge besteht in einer identifikatorischen Gefangennahme. In Umkehrung des Gesetzes der Sozialisation muß das Kind stellvertretend die Deutung gewisser Probleme seiner Eltern übernehmen. […] Das ist etwas ganz anderes als die mehr oder minder normale Delegation überschüssiger Affekte und unausgelebter Wünsche von seiten der Eltern auf ihre Nachkommen. Es geht vielmehr um die Übertragung der Interpretationsaufgabe.« 1261 Vgl. Brumlik (2006), 71 f. 1262 Vgl. Assmann (2007), 75 f.

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mentär und gestört war, wird nun von den in die Jahren gekommenen Kriegskindern in aller Ausführlichkeit und mit dem Willen zur Ausgewogenheit schriftlich nachgeholt. Die Opfer der NS-Zeit freilich geraten gegenwärtig bei westdeutschen Autoren der Kriegskindergeneration, wenn überhaupt, vorzugsweise in Bezug auf die Geschichtsschreibung in eigener Sache in den Blick, ja, es wird eine Selbsthistorisierung betrieben, die mit einem ähnlich entschiedenen Anspruch auf historische Deutungshoheit wie die 68er-Bewegung auftritt und suggeriert, dass sich mit der Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte auch der Abschluss der – nicht nur persönlichen – Nachkriegsgeschichte vollziehe. Die Deutungskämpfe um ›1968‹, die mit der allein aus biologischen Gründen schon (wegen des nahenden Abtretens der Zeitzeugen) unumgänglichen Historisierung der geschichtlichen Ereignisse an Schärfe zunahmen, halten an.1263 Sicher trug die 68er-Generation entscheidend dazu bei, dass die NS-Vergangenheit und die aus ihr zu ziehenden Lehren zu einem omnipräsenten Gesellschaftsthema avancierten. Bezieht man jedoch weitere vergangenheitspolitische Faktoren aus den Jahren um 1960 ein (NS-Prozesse, eine sich zunehmend mit der NS-Vernichtungsmaschinerie auseinandersetzende Geschichtswissenschaft, die massenmedialen Repräsentationen der NS-Verbrechen), so ist die Rede von der »zweiten Gründung« der BRD um 1968, basierend auf einer demokratischen Kultur, deren Selbstverständnis sich aus dem Gedenken an den Holocaust speist, zumindest nicht unkontrovers.1264 Unstrittig indes dürfte sein, dass die 68erBewegung als Katalysator eines kulturellen Umbruchs fungierte. Die Kulturrevolte erscheint, auf diesen gemeinsamen Nenner lassen sich die von Heinz Bude erstellten Porträts einzelner 68er-Lebensläufe bringen1265, im musealen Blick zurück als Erfolgsgeschichte, die die Erfolglosigkeit des vorwärtsgewandten utopischen Aufbruchs der außerparlamentarischen Revolte (1967 – 1969) rückwirkend mit Sinn versieht. Die grundsätzliche Oppositionshaltung verkehrt sich in den retrospektiven Selbstentwürfen der 68er geläufig in die Konstruktion einer historischen Zäsur, eines Austritts aus der herrschenden Geschichte, der durch eine radikale Verabschiedung der Vergangenheit vollzogen wurde. Dass sich diese Figur der nachherigen generationellen Leistungszuschreibung besonders im historisierenden Ost-West-Vergleich prominent ausstellen lässt, zeigt das folgende – nochmalig zitierte – Urteil aus Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders: »Es gab [in der DDR; M. O.] keine die ökonomische Umwälzung begleitende Kulturrevolution, also keine Revolte gegen die Lebensform der

1263 Vgl. Gassert (2010), 1. 1264 Vgl. Mausbach (2006), 37. 1265 Vgl. Bude (1995).

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schuldig gewordenen Vätergeneration.«1266 Aus der Einschätzung spricht weniger das Bedauern über das Fehlen eines vergleichbaren soziokulturellen Umbruchs im anderen deutschen Teilstaat als vielmehr die erfolgsgewisse Zurschaustellung des Erzählers, mit beteiligt gewesen zu sein, als der Elterngeneration, die durch ihre Verantwortung für den Zivilisationsbruch des Holocausts in toto verwirkt hatte, die Definitionsmacht für die politische, kulturelle und auch private Sphäre entzogen wurde. Wie steht es mithin um den spezifischen Beitrag der 68er-Generation zum teleskopischen Imaginären? Um dessen Eigenart profilieren zu können, wird es notwendig sein, die Ergebnisse der in diesem Kapitel behandelten Texte zu bündeln und mit den Strukturmerkmalen der Väterliteratur und der Familienerinnerungsliteratur der Post-DDR zu konfrontieren. Resümiert man die hier besprochenen vier Romane, bei denen jeweils das sich Abarbeiten an der zweifachen Rolle des Vaters als intimer Privatperson und Repräsentant einer durch historische Schuld diskreditierten Welt das Geschehen bestimmt, so kann man von einer Fortsetzung der Väterliteratur unter anderen Vorzeichen, ja, von einer neuen, einer Nachwende-Väterliteratur sprechen.1267 Die zentrale Gemeinsamkeit beider Genres besteht in einem fiktiven bis autobiographischen, meist autofiktionalen Ich-Erzähler (Hahns auktorial erzählte Unscharfe Bilder bildet die Ausnahme), der sein Selbstverständnis aus der Auseinandersetzung mit der eigenen Familie und der deutschen, zumal der NS-Geschichte formiert. Die Muster der Selbstvergewisserung variieren jedoch erheblich.1268 Während sich die Väterliteratur durch die Modi der Anklage und des Bruchs auszeichnet, so deren Renaissance durch Empathie, dem Verlangen nach Verständnis und einem Bedürfnis nach Kontinuität. Der Wechsel lässt sich als eine Verschiebung von juristisch geprägten zu therapeutisierenden und selbsthistorisierenden Sinnschemata beschreiben, als Wechsel vom sozialen hin zum psycho(-patho)logisch und kulturell dominierten Imaginären. Die durchgängig konfrontativen Vater-Auseinandersetzungen werden abgelöst durch eine Dialektik aus ethisch-politischer Abgrenzung und manifestem Versöhnungswillen, subjektiver Erinnerung und historischer Analyse, mit dem Bedürfnis, sich wenn schon nicht nachträglich störungsfrei in den Familien-, dann zumindest in den 1266 Timm (2003), 71. 1267 Vgl. hinsichtlich der jüngeren Familienromane und mit explizitem Bezug auf Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders Herrmann, M. (2010), 191: »Literaturgeschichtlich betrachtet knüpfen die Werke an die westdeutschen Väterbücher der siebziger/achtziger Jahre an. Von den Jahrgängen her sind die Autoren im Schnitt wenig jünger als jene der Väterbücher. Die Erzählformen weisen deutliche Parallelen auf.« 1268 Vgl. auch die Gegenüberstellung von Väterliteratur und Familienroman der Nachwendezeit, die Assmann (2007), 73 – 75, vornimmt und die im Folgenden modifiziert, präzisiert und erweitert wird.

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Geschichtszusammenhang einpassen zu können. Die Privatisierung der Geschichte in der neuen Väterliteratur verfolgt indes mitnichten eine Harmonisierung oder gar Versöhnung um jeden Preis, sie hebt sich aber markant von ihren Vorgängertexten ab. Deren Ich-Erzähler legten eine Unerbittlichkeit gegenüber der NS-Vergangenheit ihrer Elterngeneration an den Tag, die auf der selbstgewissen Sicherheit basierte, dass sie unter gleichen Bedingungen nicht ebenfalls versagt hätten. Die Entschärfungen der generationellen Grenzziehungen und Relativierungen des moralisch-politischen Rigorismus verdanken sich zu einem Gutteil dem Einbezug (familien-)historischer Recherchen samt damit verbundener vielfältiger Dokumente (aus dem Familienarchiv sowie historiographischer Natur). Durch die Pluralisierung der Stimmen und Textsorten ergibt sich eine hybride Schreibweise, die die »klaren Grenzen von Fiktion und Dokumentation unterläuft«1269. Der neugierig-forschende und kritisch-abwägende Gestus, der für die investigativen Unternehmungen der Protagonisten bezeichnend ist, macht sie zu Entdeckungsreisenden in familienhistorischer Absicht, die erkannt haben, dass nicht wenige Charakteristika der eigenen Person (Wertehaushalt, Interessen, Schreibneigung) auf die Einflüsse der Familiengeschichte zurückgehen (transgenerationelle Psychodynamik). Trotz der in der neuen Väterliteratur angestrengten Bemühungen, den prototypischen familiendyadischen Konflikt mit den unterschiedlichsten Mitteln zu kontextualisieren, wäre es verfehlt, diese Relativierungs- und Entspannungssignale mit einem unbedingten Willen zur Versöhnung zu identifizieren. Der über die Aneignung der Familiengeschichte vermittelten Selbstverständigung geht es, was den Weg anbetrifft, um ein (zumal an der historischen und psychoanalytischen Forschung ausgerichtetes) Verstehenwollen, was das Ziel anlangt, um ein sich Einfügen in die vorgegebenen Familienstrukturen, ohne indes den charakteristischen Eigensinn aufzugeben. Zusammengenommen lässt sich der Einstellungswechsel in der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Erbe prägnant mit einem von Rainer M. Lepsius in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingebrachten Begriffspaar als Abwendung von der Externalisierung (Abspaltung des Fremden, das einem anderen zugeschrieben wird) und Hinwendung zur Internalisierung (Aneignung des Fremden) begreifen.1270 Die neue Väterliteratur vollzieht eine »Intimisierung des Nationalsozialismus«1271. Doch damit nicht genug. Die Transformation des Genres »Väterliteratur« würde nicht hinreichend beschrieben, wenn neben der Epoche des Dritten Reichs nicht noch eine andere Zeitebene 1269 Assmann (2007), 73. 1270 Vgl. Lepsius (1989). 1271 Assmann (2007), 75.

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Berücksichtigung fände, nämlich die vom Ende der 1960er bis etwa Ende der 1970er Jahre. Bei den Angehörigen der 68er- bzw. Post-68er-Generation ist das Motiv, die familiären Nachwirkungen des Nationalsozialismus literarisch aufzuarbeiten, direkt verknüpft mit einer Selbstbeobachtung zweiter Ordnung. In der Rückschau erhebt sich die Frage, inwiefern man an der Schnittstelle zwischen Familiengedächtnis und deutscher Geschichte nur eine generationstypische symptomatologische Rolle einnahm; ob man in der Rebellion gegen die Väterwelt nicht eine historische Psychodynamik ausagierte, in die man involviert war, ohne sich über die Genese und historische Dimension des Bruchs sowie über die eigene Rolle in dem gesamten Geschehenszusammenhang umfassend Rechenschaft ablegen zu können.1272 Entgegen dem in der Väterliteratur vordringlichen Wunsch nach »autotherapeutischer Selbstfindung«1273 geht es in der reflexiven Wiederaneignung der eigenen Person um das Durchsichtigmachen der damals handlungsleitenden Motive sowie deren Bewertung, um die Spannung zwischen der Konstruktion eines geschichtlichen Verlaufs und der sinnlich-ästhetischen Vergegenwärtigung, kurz, es geht um die Befriedigung eines Orientierungsbedarfs durch Selbsthistorisierung. Mit kaum zu überbietender Deutlichkeit stellt Hanns-Josef Ortheil in seinem Roman Abschied von den Kriegsteilnehmern1274 diese Doppelbewegung aus Selbstklärung und Einordnung der eigenen Geschichte in den übergeordneten historischen Zusammenhang dar. Ortheils allegorisch angelegte Narration verbindet zwei Textebenen: Auf der persönlichen Ebene verabschiedet ein IchErzähler seinen verstorbenen Vater, indem er sich von der väterlichen Mythologisierung des Westens (der Osten steht für Krieg, von dem sich der Vater zeitlebens abzugrenzen versuchte) dadurch löst, dass er selbst eine Reise in die USA und in die Dominikanische Republik unternimmt.1275 Auf der anderen Ebene steht der (über einige Nebenfiguren in die Handlung integrierte) Zusammenbruch der DDR für eine Epochenschwelle, nämlich das Ende der Nachkriegsordnung und damit für das Abtreten einer ganzen Generation, eben der titelgebenden Kriegsteilnehmer. Exakt zwischen diesen beiden Ebenen vermitteln diejenigen Partien, in denen der Erzähler reflektiert, wie er als Jugendlicher bzw. junger Erwachsener seinen Vater mit Fragen zu dessen Tun während der NS-Zeit bedrängte: Ich hatte aus meinem Vater jedoch ein genaues Wissen über das Lager Auschwitz heraushören, ja, ich hatte ihn zwingen wollen, dieses Wissen zuzugeben, so als sei mein Vater mitschuldig an dem, was in Auschwitz geschehen war, und als sei ich der Richter, 1272 1273 1274 1275

Vgl. Assmann (2010) 199. Assmann (2010), 213. Ortheil (2005). Vgl. Preußer (2001), 123.

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der über diese Schuld das Urteil zu sprechen hätte. Und so hatten wir uns wie der Angeklagte und der Richter gegenübergesessen, und doch war ich mir in meiner richterlichen Rolle ganz fehl am Platz vorgekommen. Das wiederum aber hatte ich nicht zugeben wollen, ich hatte mich in aller Starrheit immer wieder als Richter aufgeführt und meinen Vater zwingen wollen, den unterlegenen Angeklagten zu spielen.1276

Der Erzähler beschreibt sein Verhalten einerseits stilistisch im Gestus der Distanznahme (wofür der Gebrauch des Plusquamperfekts und des Konjunktivs steht), andererseits thematisch mit genau dem Muster der Gerichtsformation, das für die Väterliteratur charakteristisch ist. Auch wenn dem Vater keine persönliche Schuld nachzuweisen war, so wurde ihm gleichwohl entweder vorgeworfen, sich »nicht um das Schicksal der Juden gekümmert« zu haben, oder er wurde schlichtweg »als lebendes Überbleibsel der Vergangenheit gehaßt«1277. Und so war unser Gerichtsverfahren ein ewiges Verfahren in der Schwebe geblieben, manchmal hatte schon ein einziges Wort genügt, das ganze Verfahren wieder in Gang zu setzen, und dann hatten wir uns wochenlang nicht anschauen können, so erbittert hatten wir an unseren Positionen festgehalten.1278

Die Notwendigkeit, sich von dem gerade verstorbenen Vater trennen und sich ihm gegenüber sogleich behaupten zu müssen, konzentriert sich im Verbund mit der Überzeugung, mit dem Ende der DDR an einer Epochenscheide zu stehen, in einer bifokalen Perspektive auf die eigene Vergangenheit. Die persönlich-familiäre geht mit der historisierenden Perspektive ein Amalgam ein, aus der eine Selbsthistorisierung resultiert mit dem Ziel einer klärenden Analyse, um sich von der (Familien-)Geschichte ein für alle Mal ablösen zu können. Die genaue Ausformung der retrospektiven Standortbestimmung im familiär-historischen Kontext hängt indes wesentlich von dem früheren politischgesellschaftlichen Selbstverständnis ab. Konkret: Wer sich – und sei es auch in Gestalt einer retroaktiven Zuschreibung – in irgendeiner Art und Weise dem Geist der 68er-Bewegung verpflichtet fühlt (sei es, dass er sich dem Kern, dem Umfeld oder auch nur den Spätausläufern zurechnet), wird den Aspekt in der Regel auch in seiner historisierenden Selbstvergegenwärtigung markieren. In diesem Fall ließe sich nachgerade von einer Väterliteratur auf zweiter Stufe sprechen: Was einst die Väterliteratur anstieß (das Aufbegehren gegen die NSVäter im Dunstkreis der 68er-Revolte)1279, wird nun in Form einer Wiederaufnahme des literarischen Genres – mehr oder weniger – reflexiv durchgearbeitet 1276 1277 1278 1279

Ortheil (2005), 91. Ortheil (2005), 93. Ortheil (2005), 94. Vgl. zur literarischen Aufarbeitung der 1968er-Bewegung im engeren Sinne die Studie von Hubert (1992).

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und in historisierender Absicht gedeutet (so bei Timm, Hahn, Scheub).1280 Erinnerungskulturell gewendet: Auch die neue Väterliteratur hat einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der »allmählichen Einwurzelung von ›1968‹ ins kulturelle Gedächtnis«1281, agonaler formuliert, auch sie tummelt sich auf dem protagonistenreichen Kampfplatz um die kulturelle Vorherrschaft über das Erbe von ›1968‹. Zu Recht wird in der neueren geschichtswissenschaftlichen Forschung zur Protestgeschichte der 1960er Jahre angemahnt, dem erinnerungskulturellen making of ’68 künftig mehr Aufmerksamkeit zu schenken. […] Die Frage, wer, was, wann, wie an ›1968‹ erinnerte und was er oder sie vergessen hat, dürfte ungeachtet einer gewissen Erlahmung des erinnerungsgeschichtlichen Impulses in der Historie noch auf Jahre ein zentrales Forschungsfeld für Untersuchungen zu ›1968‹ bieten.1282

Wie am Beispiel der Texte von Timm und Hahn zu beobachten ist, sind es nicht notwendigerweise ausufernde analytische Passagen, sondern oft einsprengselartige Bemerkungen, die just wegen ihrer beiläufigen, wenn auch wohlkalkulierten Unaufdringlichkeit für eine Dokumentation der Selbsthistorisierung der 68er, welche auch vor imaginierten Positionen nicht Halt machte, von höchster Relevanz sind. Schließlich ist nicht zuletzt die jüngere Väterliteratur einer der Orte, an denen ausgehandelt wird, welche Anteile des zentralen Generationenprojekts des 20. Jahrhunderts in der Epoche nach der Nachkriegsära der ideologischen Verirrung und der Furie des Verschwindens überantwortet werden und was als positive Errungenschaften im kulturellen Gedächtnis aufbewahrt wird. Mit dem von der neuen Väterliteratur entfalteten kulturellen Imaginären verbindet sich auf der Ebene der Ich-Erzähler die Intention, dass die telesko1280 Assmann (2010) unterteilt im Rückblick auf vier Jahrzehnte Generationenliteratur drei – abhängig vom Lebensabschnitt – unterschiedliche Phasen im Generationenkonflikt der 68er : »Aus der Perspektive des hilflosen Kindes verkörpert der Vater einerseits ein überhöhtes Wunschbild und Ideal […] und andererseits einen Despoten […]. In der Phase jugendlicher Selbstbestimmung dagegen stehen Abwehr und Widerstand im Mittelpunkt. […] Der Vater ist in dieser Phase keine intime Privatperson, sondern der Repräsentant einer verhassten Welt, der man auf keinen Fall angehören möchte. […] In der dritten Lebensphase, in der die 68er selbst Väter und Mütter geworden sind, nimmt die Auseinandersetzung mit der älteren Generation noch einmal eine andere Qualität an. […] Jetzt geht es nicht mehr um Inszenierungen der Abwehr, sondern um die Aneignung der deutschen Geschichte in Gestalt der Familiengeschichte im Rahmen der eigenen Biographie. Der Vater ist nicht mehr der ganz Andere, sondern wird nach intensiver Auseinandersetzung als Teil der eigenen Identität erkannt und integriert. Die große Herausforderung dieser Phase besteht darin, die Gefühlsseite mit dem Wissen und Bewusstsein zusammenzuführen.« (200 f.) 1281 Gassert (2010), 2. 1282 Gassert (2010), 6.

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pische Gefangennahme der 68er-Generation durch die empathische Beschäftigung mit der Geschichte ihrer Eltern eine historisierende Aufarbeitung erfahre und genealogisch damit an ein Ende gelangt sei. Als von hoher Selbstreflexivität geprägte familienbiographische Deutungsmuster oszillieren die Texte zwischen gefühlter Geschichte, Geschichtswissen und metanarrativen Reflexionen. In Gestalt von literarischen Lebensbilanzen geht es, ohne den Krieg aus dem Blick zu verlieren, um das persönliche, von metahistorisch bis metahistoriographisch geprägten Bewältigungsstrategien flankierte Beschließen der Nachkriegsära. Fazit: Die zeitgenössische Familienerinnerungsliteratur, die die Rückwendung auf die eigene Lebensgeschichte als Teil einer allgemeinen Rehistorisierung nach 1989 und eines Orientierungsverlusts in zunehmend globalisierten Geschehenszusammenhängen betreibt, gibt Auskunft darüber, wie die im Rahmen des sozialen Gedächtnisses in Bezug auf die NS-Geschichte nicht ausagierten Fragen zwischen den Kriegskindern und deren Eltern je nach Sozialisation (in Ost- oder Westdeutschland) unterschiedlich bewältigt wurden. Zwischen Ostund Westdeutschland gelten für die Literatur weiterhin große Unterschiede im Umgang mit dem Nationalsozialismus, mithin scheint die von Jeffrey Herf popularisierte These von der geteilten Erinnerung an die NS-Vergangenheit auch nach der Wiedervereinigung ihre Gültigkeit nicht verloren zu haben1283. Spitzt man die in diesem und dem vorhergehenden Kapitel herausgearbeiteten Orientierungsmuster zu, zeichnen sich zwischen der Post-DDR-Familienerinnerungsliteratur und der neuen Väterliteratur folgende Gegensätze ab: 1. Dominanz des psycho(-patho)logischen Imaginären vs. Übergewicht des kulturellen Imaginären; 2. Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Kontext einer kritischen Bearbeitung der DDR-Vergangenheit vs. Thematisierung der NSErbschaften mit einem Rückblick auf die Rolle der westdeutschen Protestbewegungen der 68er ; 3. Unversöhntheit mit der (Familien-)Geschichte vs. Verständnis für die historischen Akteure bzw. Versöhnung mit der (Familien-)Geschichte; 4. eine dem Verstummen abgerungene Artikulation der eigenen Vergangenheit vs. eine sprach- und auch oft theoriemächtige Vergangenheitsbewältigung aus einer Position der reklamierten Deutungshoheit; 5. eine Beschädigung des individuellen Daseins mit der Folge einer dauerhaften Außenseiterrolle vs. ein selbstgewisses Angekommensein in der Nachkriegsbzw. Nachwende-BRD; 6. traumatische Langzeitwirkungen der NS-Zeit vs. ein historisierend festgestelltes Ende der Nachkriegszeit.

1283 Vgl. Herf (1998).

6. Literarische Erinnerungsosterweiterung (Polen zum Beispiel) Denn man kann seine Väter nicht wechseln nach Bedarf – und von den Eltern kommen wir immer. Nur vorstellen manchmal, das schon. (Werner Bräunig: Rummelplatz) None of us ever knows the world of our parents. We can say that the motor of the fictional imagination is fueled in great part by the desire to know the world as it looked and felt before our birth. How much more ambivalent is this curiosity for children of Holocaust survivors, exiled from a world that has ceased to exist, that has been violently erased. Theirs is a different desire, at once more powerful and more conflicted: the need not just to feel and to know, but also to re-member, to re-build, to re-incarnate, to replace, and to repair.1284

Den Wunsch der Kinder, die Welt ihrer Eltern kennenzulernen bzw. wiederauferstehen zu lassen, den Marianne Hirsch hier mit Nachdruck für die Nachkommen von Holocaust-Überlebenden reklamiert und zum Ausgangspunkt von deren imaginativen Erkundungen macht, dürfte in abgemilderter, wenngleich auch stark emotional aufgeladener Form für alle Kinder gelten, deren Familien ihre alte Heimat – sei es zwangsweise wie wegen Krieg, Flucht, Vertreibung, Diskriminierung usw., sei es aus rationalen Gründen wie wegen mangelnder Arbeit oder anderer struktureller Schwächen – haben verlassen müssen. So war auch nach der Epochenzäsur von 1989/1990 für viele Deutsche der langersehnte Zeitpunkt gekommen, ehemalige deutsche Siedlungsgebiete in den früheren Staaten des Warschauer Pakts (v. a. in Polen und der Tschechoslowakei) umfassend wiederentdecken zu können. Denn nach den Erschütterungen von 1989 hatte sich nicht nur ein Imperium aufgelöst, sondern, so Karl Schlögel, »auch der Raum, der Ostblock hieß. Nicht nur eine politische Revolution hatte sich ereignet, sondern eine ›Raumrevolution‹, die keinen Aspekt des Lebens unberührt gelassen hatte.«1285 Gerade für diejenigen, deren Familienhorizont sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – in der Regel durch Flucht oder Vertreibung – westwärts verlagerte, ergab sich nun die Gelegenheit, den Raum der ehemaligen Familienverankerung, von dem man bislang abgeschnitten war, in Augenschein zu nehmen. Über die Entdistanzierung des Raums vollzog sich für die Nachkommen mit dem eingeübt diasporaartigen Existenzgefühl plötzlich eine teleskopische Verschränkung der Familiengenealogie, die zumal die dichterische Einbildungskraft zu neuartigen narrativen Formen und ästhetischen Darstel1284 Hirsch (1997), 242 f. 1285 Schlögel (2006), 25.

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lungsweisen provozierte. Ein teleskopisches Imaginäres, das das Moment der jahrzehntelangen räumlichen Trennung von der ursprünglichen Familienherkunft reflektiert, hat mithin zur Voraussetzung, die zeiträumliche Kluft sowie die genealogische Distanz durch rekonstruktive Vergegenwärtigung und Bemühungen zur Aneignung der Familiengeschichte zu schließen. In diesem Kapitel soll es exemplarisch um die Wiederentdeckung des ehemaligen ›deutschen Ostens‹ gehen, mithin um die Semantisierung von räumlichen Sachverhalten in der Erzählliteratur1286, genauer, um die familiäre Beziehungsdynamik im Spannungsfeld aus Erinnerungsrekonstruktion und topographischer Hermeneutik1287. Nachdem mit Reinhard Jirgls Die Unvollendeten eine aus dem Sudetengebiet vertriebene Familie in ihrem Fortleben in der DDR betrachtet wurde, verbindet sich nun eine westdeutsche Nachwendeperspektive mit schlaglichtartigen Rückblicken auf die deutsch-polnische Geschichte. Dass der Holocaust und die Vertreibung, die beiden Phänomene, in denen die problematische Geschichte zwischen Polen und Deutschland im 20. Jahrhundert kulminiert, auch in der Literatur einen entsprechenden Widerhall finden, dürfte kaum verwundern.1288 Die Reise von Deutschen nach Polen, um dort die frühere Heimat zu besuchen, Familienvergangenheit zu erforschen oder sich mit dem Zweiten Weltkrieg bzw. dem Holocaust auseinanderzusetzen, ist in der deutschsprachigen Literatur – sowohl der BRD wie auch der DDR1289 – seit den 1970er Jahren ein Thema.1290 Während Christa Wolf mit ihrem 1976 publizierten Roman Kindheitsmuster gleichsam den Archetypus der literarischen Auseinandersetzung mit der deutsch-polnischen Vergangenheit lieferte, steigerte gerade die Wiedervereinigung das Interesse an der Vergangenheit im Osten in einem bisher ungekannten Maße.1291 Reisen nach Polen werden zu Reisen in die Vergangenheit, erlauben sie doch durch Vor-Ort-Recherche, die Lücken des in der Regel abrupt unterbrochenen Familiengedächtnisses – zumindest ein Stück weit – zu schließen.1292 Der Raum wird – wie für W.G. Sebalds Austerlitz und Wolfgang Hilbigs Alte Abdeckerei oben gezeigt, vgl. 3. und 4.1 – zum Erinne1286 Vgl. dazu grundlegend Lotman (1973), 327 – 347; zu einer systematischen Narratologie des Raums Dennerlein (2009). 1287 Vgl. zu einer »topographischen Hermeneutik« Karl Schlögel (2006), 39: »Sinnmuster werden in räumlich-geographischen Beziehungen und Bereichen gesucht«. 1288 Vgl. dazu für die deutschsprachige Literatur Maliszewska (2009), 5 f.; komplementär dazu konstatiert Szaruga (2005), 487, »dass in der polnischen Literatur die Zeichnung der Deutschen und der deutschen Kultur weiterhin vom Bezug auf das Trauma des Krieges geprägt wird – die Erfahrung des Nationalsozialismus steckt immer noch das Verhältnis der Polen zu den Deutschen ab.« 1289 Vgl. zu den Unterschieden Maliszewska (2009), 7 – 9. 1290 Vgl. Zimniak (2009); vgl. zum Bild der Deutschen in der polnischen Literatur der 1980er und 1990er Jahre Szaruga (2005) und Wehrhahn (2008). 1291 Vgl. Gansel (2009). 1292 Vgl. Gansel (2009), 259 – 261.

Literarische Erinnerungsosterweiterung (Polen zum Beispiel)

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rungsmedium, heißt, über den Kontakt mit dem Raum wird der Kontakt mit der Vergangenheit etabliert, wodurch, um beim hier gewählten Beispiel zu bleiben, Polen zum Erinnerungsraum avanciert. Im Gegensatz zu dem von Pierre Nora geprägten Begriff »Erinnerungsort«, der sich nicht nur auf geographische Orte bezieht, sondern auch auf z. B. mythische oder historische Ereignisse, Institutionen und Kunstwerke, meint »Erinnerungsraum« hier den geographischen Raum als horizontale Ausweitung von Erinnerungsorten in der Definition von Aleida Assmann: Erinnerungsorte sind zersprengte Fragmente eines verlorenen oder zerstörten Lebenszusammenhanges. Denn mit der Aufgabe und Zerstörung eines Ortes ist seine Geschichte noch nicht vorbei; er hält materielle Relikte fest, die zu Elementen von Erzählungen und damit wieder zu Bezugspunkten eines neuen kulturellen Gedächtnisses werden. Diese Orte sind allerdings erklärungsbedürftig; ihre Bedeutung muß zusätzlich durch sprachliche Überlieferungen gesichert werden. Die Kontinuität, die durch Eroberung, Verlust und Vergessen zerstört worden ist, kann nicht nachträglich wiederhergestellt werden, aber es kann im Medium der Erinnerung an sie angeknüpft werden.1293

Am Beispiel von Judith Kuckarts Lenas Liebe und Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land möchte ich zeigen, wie in den 1950er geborene Protagonisten versuchen, das Schweigen der Eltern- bzw. Großelterngeneration durch groß angelegte Erinnerungsreisen gleichsam aufzuheben (im Hegel’schen Sinne).1294 Beide Bücher führen den Leser in oberschlesisches Gebiet, in die unmittelbare Nähe von Auschwitz; beide verbindet ferner ein familiäres Beschweigen von Auschwitz als Erinnerungsort1295 bzw. traumatischem Ort1296 und historischem Bezugspunkt der eigenen Familiengeschichte, wodurch – Jahrzehnte später – ein Selbstverständigungsprozess der Protagonisten ausgelöst wird, der um die transgenerationellen Nachwirkungen dieser Leerstelle im Familiengedächtnis kreist. Kuckarts Protagonistin erkennt auf einer Reise nach Auschwitz, dass auch ihre Familienvergangenheit von den an diesem Ort begangenen Verbrechen 1293 Assmann (1999a), 309. Vgl. zum Ort in der Literatur als Geschichtszeugen sowie zur Bedeutung des literarisch vermittelten Raums für das Geschichtsbewusstsein des Autors ferner Bennholdt-Thomsen (1990). 1294 Teile der Ausführungen zu Judith Kuckarts Lenas Liebe und Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land basieren auf meinen Aufsätzen Ostheimer (2008b), Ostheimer (2009b). 1295 Vgl. zu Auschwitz als Erinnerungsort Reichel (2001). 1296 Vgl. Assmann (1999a), 329: »Während der Erinnerungsort stabilisiert wird durch die Geschichte, die von ihm erzählt wird, wobei der Ort seinerseits diese Erzählung stützt und verifiziert, kennzeichnet den traumatischen Ort, daß seine Geschichte nicht erzählbar ist. Die Erzählung dieser Geschichte ist durch psychischen Druck des Individuums oder soziale Tabus der Gemeinschaft blockiert. Ausdrücke wie Sünde, Schande, Zwang, Schicksalsmacht, Schatten sind solche Tabu-Worte, Deck-Begriffe, die nicht mitteilen, sondern Unaussprechliches abwehren und in seiner Unzugänglichkeit einschließen.«

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Literarische Erinnerungsosterweiterung (Polen zum Beispiel)

beeinflusst wurde, Wackwitz’ Ich-Erzähler spürt der Geschichte seines Großvaters nach, der bis 1933 in der Nähe von Auschwitz Pfarrer war. Jegliche historisierende Familienerinnerungsliteratur siedelt an »der Schnittstelle zwischen privatem und öffentlichem Erinnern«1297. Gerade angesichts der räumlichen Nähe zu den NS-Vernichtungslagern wird allerdings die Frage nach der Ethik der Erinnerung akut: Kann eine Auschwitz umkreisende Literatur des teleskopisch Imaginären1298 zwischen der Perspektive der Opfer (Traumatisierung) und der der Täter oder Mitläufer bzw. deren Nachfahren (Verdrängung und Tabuisierung) vermitteln? Kann sie ferner mit Blick auf eine mögliche deutsch-polnische Erinnerungskultur auch dazu beitragen, eine transnationale Versöhnungsperspektive zu etablieren?

6.1

Transgenerationelle Liebesunfähigkeit – Judith Kuckart: Lenas Liebe

Mit ihrem vierten, nach Wahl der Waffen (1990), Die schöne Frau (1994) und Der Bibliothekar (1998) erschienenen Roman Lenas Liebe1299 ist sich die 1959 in Schwelm (Westfalen) geborene Schriftstellerin Judith Kuckart insofern treu geblieben, als sie darin ihr Leitthema variiert: die Verbindung von romantischer Liebessehnsucht und deutscher Zeitgeschichte.1300 In Lenas Liebe werden die Liebesprobleme der Hauptfiguren mit der Vergangenheit und Gegenwart des Ortes Auschwitz/Os´wie˛cim verknüpft.1301 Es geht darum, wie sich das Vernichtungsgeschehen in Auschwitz nicht nur auf die vor Ort anwesend gewesenen Kinder der Tätergeneration traumatisierend auswirkte, sondern auch noch auf das Selbstverständnis und die Liebesfähigkeit der Enkelgeneration erstreckt. Die Rahmengeschichte bildet eine vom 28. bis zum frühen Morgen des 30. Mai 2000 dauernde Autofahrt von Os´wie˛cim nach Berlin. Eingelagert in diese – im Präsens erzählte – Rahmung (deren Anfang und Ende das erste und letzte der insgesamt 13 Kapitel ausmachen), werden eine Vielzahl von – in Vergangenheitsform erzählten – Handlungssträngen vorgestellt. Die bruchstückhafte und von häufigen Wechseln der Erzählperspektive dominierte narrative Textur bezieht sich auf den Zeitraum von 1943 bis 2000 und spielt vorzugsweise in S., die (im Ruhrgebiet befindliche) Heimatstadt der Titelfigur, und Auschwitz/Os´wie˛cim. Im 1297 Fiedler (2007), 5. 1298 Vgl. zu einer »Literatur um Auschwitz herum« im Gegensatz zu einer »Literatur, die den Holocaust direkt darzustellen und abzubilden versucht«, Dunker (2003), 287 – 298. 1299 Kuckart (2002). 1300 Auch der Erzählungsband Die Autorenwitwe (2003) und der Roman Kaiserstraße (2006) leben von der auf die deutsche Zeitgeschichte zugespitzte Liebesproblematik. 1301 Vgl. dazu Harbers (2006).

Transgenerationelle Liebesunfähigkeit – Judith Kuckart: Lenas Liebe

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Zentrum des mosaikartig ineinander montierten Erzählgefüges stehen die Liebe von Lena und Ludwig und die von Marlis, Lenas Mutter, und Julius Dahlmann. Die beiden Liebesgeschichten, darin besteht die genuine Leistung des Buches, werden über die Verbindung zu Auschwitz in Form von Nachwirkungen und Spiegelungen miteinander vermittelt. Die Engführung beginnt, als Lena, 39-jährig, schlagartig ihr Schauspielengagement in Basel aufkündigt. Nach monatelangem Nichtstun erfährt sie vom Tod ihrer Mutter und kehrt nach mehr als zwanzig Jahren nach S. zurück. Dort gönnt sie sich eine »Verlängerung« (155) ihrer Jugendliebe zu Ludwig und mietet sich bei Julius Dahlmann, dem Kindheitsfreund ihrer Mutter ein. Lenas Mutter hat sich über ihre frühe Zuneigung, dann plötzliche Abneigung gegenüber Dahlmann nie äußern wollen. Explizite Gründe für diese Abwehrhaltung werden nicht genannt, auf eine entschiedene Verlegenheit bzw. ein Familiengeheimnis aber lässt die symptomatische Rolle schließen, die die elterliche Redescheu in Lenas Jugend spielt: »Schweigen, das kenne ich schon, denkt Lena, so bin ich erzogen worden.« (161) Nach dem Tod ihrer Mutter versucht sie nunmehr, Aufklärung von Dahlmann zu erhalten. Dieser setzt sich, indem er von seinen Kindheitserlebnissen in Auschwitz erzählt, erstmals mit seiner Vergangenheit auseinander, was für Lena zum Anlass wird, Dahlmanns Trauma nachzuspüren und die familiengeschichtliche Leerstelle zu füllen. Gerne sprach Lenas Mutter, »wenn sie etwas Komisches erzählen wollte«, über Dahlmann: »Es sei in O. passiert, es sei alles in O. passiert.« (92) Damit bezieht sie sich auf die Zeit, die dieser als junger Sohn1302 eines Dorfgendarmen und späteren Hundeführers im KZ (vgl. 41) zwischen Frühling 1942 und Weihnachten 1944 (vgl. 198) in Auschwitz verbrachte. Konkret bezieht sie sich auf eine von Dahlmann versandte Postkarte mit »Osterblumen«, die »Weihnachten 1943 in S.« ankam: Liebe Marlis, weine nicht, ich weine auch nicht. Hier ist es ganz schön, nur bei Westwind stinkt es aus dem Lager. Robbi Bolz sagt dann: »Ach, immer diese Juden.« Robbi Bolz ist nicht mein Freund. Kannst Du nicht kommen? Dein Julius. Ich liebe dich sehr. Von dem Tag an war Marlis überzeugt gewesen, daß Dahlmann in O. komisch geworden war. (92)

Über einschlägige Gründe, angesichts des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau in unmittelbarer Nähe und verständnisloser Altersgenossen — la Robbi Bolz ›komisch‹ zu werden, macht sich Marlis keine Gedanken. Für die Zuschreibung eines abnormen Geisteszustandes reicht ihr allein das falsche Motiv auf der Weihnachtskarte: »Kein Zweifel. Umgeben von ödem Brachland und Fichten am Horizont, eingesperrt jenseits dieses schwarzgrünen Zackenbands, war er ein komischer Vogel geworden. Denn nur wer komisch geworden war, schickte zu 1302 Dahlmann ist an Weihnachten 1944 zwölf Jahre alt (vgl. 138), Marlis feiert im Spätsommer 1944 ihren zwölften Geburtstag (vgl. 135).

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Literarische Erinnerungsosterweiterung (Polen zum Beispiel)

Weihnachten unbefangene Osterblumen.« (92) In Anlehnung an das Verfahren der Deckerinnerung1303 greift der Text das Grauen des Holocausts und seine Wirkungen bei den Täterkindern stellvertretend auf, ohne sie durch konkrete Benennung oder Visualisierung direkt repräsentieren zu müssen. Die ›weihnachtlichen Osterblumen‹ veranschaulichen das indirekte, metonymische Sprechen über den Holocaust und kommentieren zugleich die Beurteilung Dahlmanns, die einer Rückprojektion der älteren Marlis geschuldet sein dürfte. Denn noch im Sommer 1944 kommt es, als Julius in den Ferien in S. zu Besuch ist, ihrerseits zu einem Liebesbeweis. Julius, der von einer Bande Jugendlicher wegen seines effeminierten Verhaltens herausgefordert wird, seine Männlichkeit mit einem Gang über ein Eisenbahngeländer unter Beweis zu stellen, verharrt ängstlich nach dem ersten Schritt. Marlis dagegen wird auf Julius’ Zuruf: »Wer kommt in meine Arme« (135), zu ihm hinüberlaufen. Während der Überquerung bekommt sie, als ein Zug unter ihr hindurchfährt, einen Orgasmus (vermutlich vor Anspannung und nervöser Erregung) und ruft: »Julius ist mein Mann. Also ist er ein Mann. Verstanden!« (135) Im Winter desselben Jahres unterschreiben sie, nachdem Julius endgültig aus Auschwitz nach S. zurückkehrte, »mit Namen und Geburtsdatum« ihr Liebesgelöbnis: »Wir sind schon mal Mann und Frau, wir sind es schon richtig.« (139) In der Folgezeit scheinen sie unzertrennlich, doch als Marlis im letzten Schuljahr vom Direktor gefragt wird, ob Julius ihr »Freund« sei, antwortet sie: »Aber der doch nicht. Der hat doch einen Vogel.« (139) Die auktoriale Erzählinstanz, die ansonsten mit Urteilen über das Verhalten der Figuren geizt, ist hier überdeutlich und deklariert den Vorgang als »Verrat« (139). Besonders demütigend daran ist, dass Julius davon erfährt, als Marlis in Gesellschaft die Szene mit dem Direktor wiederholt, um etwas »Lustiges« (139) zum Besten zu geben. Darüber, wie sich die Beziehung zwischen Marlis und Dahlmann nach dem Krieg entwickelt hat, schweigt sich der Roman aus. Der Leser erfährt einzig, dass Marlis am 2. Mai 1956 einen anderen Mann heiratete (vgl. 265) und von Dahlmann danach alljährlich am Hochzeitstag besucht wurde.1304 Der »komische« Julius mit dem »Vogel« war für Marlis als Lebenspartner erledigt. Nach Gründen für seine einschneidende, Marlis’ Verstandes- und Affekthaushalt allem Anschein nach überfordernde Verhaltensveränderung hat sie, folgt man dem Text, seltsamerweise nie gefragt. Diese Wissenslücke hat sie transge1303 Vgl. Laplanche/Pontalis (1973), 113 f. 1304 Vgl. 141: »An jedem zweiten Mai war Hochzeitstag, zu dem Dahlmann nachmittags kam.« – Bei Lenas Mutter scheint eine Doppelbindung vorzuliegen: Einerseits verschmäht sie Dahlmann als Ehemann, andererseits goutiert sie seinen Besuch zum alljährlichen Hochzeitstag. Interessant daran ist, dass Doppelbindungen »als Relais der transgenerationalen Weitergabe von Psychotraumatik fungieren« und »hohe Risiken der Re-Inszenierung und Übertragung von destruktiven Interaktionsdynamiken« in sich tragen (Weilnböck [2005], 139 f.).

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nerationell vermittelt an Lena weitergegeben, in deren Vorstellungen sich immer wieder folgendes Bild einstellt: »Ein kleines Fenster, im dritten Stock, jemand beugt sich heraus, vor langer Zeit.« (109, 117, 145) Das Bild bezieht sich auf ein Ereignis, das vor Lenas Geburt stattfand und für das Verhältnis zwischen Julius und Marlis eine Schlüsselszene darstellt. An dem Tag, als Julius am Sylvestertag 1944 aus Auschwitz zurückkehrt, ruft er Marlis, die aus dem Fenster schaut, wie ein Jahr zuvor auf dem Brückengeländer zu: »Wer kommt in meine Arme« (145). Diesmal aber kommt Marlis nicht selbst, sondern wirft ihm ihre Puppe Martha zu: Sie lag auf der Luft, bis Julius den Schritt beiseite ging. Martha schlug auf. Der Schnee lag dünn, und sie zerbrach. / Wenn Marlis heruntergefallen wäre, er wäre nicht beiseite getreten, sagte Julius später. / Ein kleines Fenster, im dritten Stock, Marlis beugte sich heraus, vor langer Zeit. / Du hast ja wohl einen Vogel, hatte sie geschrien. (145)

Julius’ Verhalten wird nicht nachträglich aufgeklärt, allerdings findet sich im Text eine Stelle, die hierfür augenscheinlich das Vorbild geliefert haben dürfte. Im Sommer 1944 findet Julius auf dem Dachboden des Hauses in Auschwitz einen siebenarmigen Leuchter mit einem goldenen Stern in der Mitte. Als Strafe dafür, dass Julius mit dem Leuchter – ohne dessen kulturell-religiöse Bedeutung zu kennen – spielt, droht der Vater ihn aus dem Fenster zu werfen. Julius aber kann sich losmachen und »warf sich zurück in den Raum. Er fiel hart und […] krabbelte ein Stück, panisch, ein Tier ohne Würde, ohne Stolz. In dem Moment wußte er, wie es da drüben, auf der anderen Seite vom Fluß war. Wo der Vater zur Arbeit ging.« (235)1305 Der Text geht hier ein großes Wagnis ein. Immerhin parallelisiert er Julius’ Erfahrung des schutzlosen Ausgeliefertseins, der Angst und Nahtodeserwartung mit der der Insassen des Vernichtungslagers. Julius überlebt, doch als Gezeichneter: »Ganz hinten im Hausflur […] stürzte er in jene Hocke, in der ein Teil von ihm für den Rest seines Lebens verschwand.« (235) Man muss Julius’ Erlebnis nicht unbedingt mit den Vorgängen in den Vernichtungslagern vergleichen – »Alle schauten hinauf und machten Platz« (235), variiert einen Topos im Umgang der Deutschen mit den KZs: Viele haben zugeschaut und ließen es geschehen –, um hier von einem sein Leben überschattenden Kindheitstrauma zu sprechen1306. Es hat den Anschein, als wollte Julius, wenn er Marlis’ Puppe auf dem Boden zerschellen lässt, die Nachwirkungen dieser traumatischen Erfahrung zumindest nonverbal andeuten. Gewissermaßen wird hier in effigie und mit vertauschten Rollen ein Vertrauensverrat nachgespielt, wie er zuvor in ähnlicher Weise ihm selbst zuteil wurde. Marlis aber hat für seine seelische Verletzung kein Gespür, sie 1305 Auch Harbers (2006), 94, weist auf die Zusammengehörigkeit der beiden Szenen hin, allerdings entfaltet er sie nicht als das Trauma, das sich in seinen – indirekten – Wirkungen bis hin zu Lenas Verhalten fortsetzt. 1306 Vgl. Fischer/Riedesser (1999), 251.

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geht auf das ›Kommunikationsangebot‹ nicht ein. Ohne nach einem Grund für sein Verhalten zu fragen, etikettiert sie ihn sogleich als einen psychisch Gestörten mit einem »Vogel«. Auch später haben weder die beiden noch Lena und ihre Mutter über Julius’ Erfahrungen in Auschwitz gesprochen.1307 Familiär beschwiegen und tabuisiert wurde also der Erfahrungshintergrund1308, der dafür verantwortlich war, dass Julius in Marlis’ Augen als Partner nicht mehr in Frage kam und damit seine Lebensliebe verlor.1309 Ein Verlust, von dem der lebenslange Junggeselle und Alkoholiker, der immer wieder vom unintentionalen Aufblitzen traumatischer Erinnerung gepeinigt wird, sich nicht mehr erholen sollte. Über das Bild der Person am Fenster also hat Lena, die mit dem Schweigen über die Gründe für den Liebesverrat ihrer Mutter groß wurde1310, transgenerationell vermittelt an Dahlmanns traumatischen Erfahrungen teil.1311 55 Jahre später nun machen sich beide auf den Weg nach Os´wie˛cim. Lena, weil sie sich, indem sie auf den Spuren von Dahlmanns Erzählungen wandelt, zugleich Aufklärung über ihre eigene Person verspricht: Wer erzählt, hat eine Frage. Hat Dahlmann seine Fragen an sie weitergegeben? Dahlmann hat noch Gepäck in O., und sie will es aufmachen. Will sehen, was Dahlmann eigentlich zu 1307 Marlis’ rituell wiederholte Zuschreibung, Julius sei »komisch« und habe einen »Vogel«, verdrängt das Thema »Auschwitz« aus der Familienkommunikation und hat daher eine ähnliche Funktion wie das Schweigen. Mit dem Unterschied freilich, dass das Schweigen bei den Familienmitgliedern bloßes Nichtwissen hinterlässt, die formelhafte Wiederholung dagegen auf eine zu füllende Leerstelle im Familiengedächtnis verweist. 1308 Ergänzend wären noch zu nennen: die öffentliche Hinrichtung, der er beiwohnen musste (vgl. 44 f.), die Scham nach 1945 beim Einwohnermeldeamt – vor der ehemaligen Geliebten des einzigen Kommunisten am Ort – zugeben zu müssen, aus Auschwitz zu kommen (vgl. 105 f.). 1309 So kontrafaktisch wie treffend heißt es dazu einmal: »Dahlmann und seine Marlis waren nur in einer unsichtbaren Ordnung füreinander bestimmt gewesen.« (116) Dass es sich dabei um eine paraphysikalische Ordnung bzw. um eine Geisterwelt handeln könnte, deutet Dahlmann einmal an, als er Lena gegenüber berichtet, dass ihre Mutter einmal »aus der Ecke beim Fernseher gekommen« sei und er sich mit ihr unterhalten habe (264). 1310 Paradigmatisch ist der folgende Dialog über Dahlmann zwischen Lena und ihrer Mutter : »Ist er ein Freund von dir, Mama? / So etwas Ähnliches, und nur bis dein Vater kam. / Und dann? / Dann weniger. / Warum? / Darum. / Weil er so komisch ist? / Wieso ist er komisch? / Weil du das sagst. Weil alle das sagen.« (90) Eine sachliche Begründung geht nie über die Nennung des folgenden Zusammenhangs hinaus: »Lena fällt der Satz ein, in den für ihre Mutter der ganze Dahlmann paßte: Der hat einen Vogel, der ist ja auch in Polen gewesen.« (162) 1311 Die transgenerationelle Weitergabe von Traumatik vollzieht sich dadurch, dass die intrapsychisch nicht zu bewältigenden Affekte interpersonalen Abwehrkonstellationen zugeführt werden, so dass sie interaktional mit den umgebenden Personen, und da vor allem mit den Kindern, ausagiert werden. – Der Text deutet die transgenerationellen Übertragungsprozesse stets nur an, ohne sie explizit zu machen. So heißt es auch zur Herkunft von Lenas ›Fenster-Bild‹ fragend: »Aus welchem Material war das Bild gemacht? War es Erinnerung? War es nur erzählt, und später wie eigene Erinnerung erinnert, weil es so festsaß?« (117)

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tragen hat. Das soll ihr erklären, warum ihr kleines Leben manchmal so schwer ist. Daß es schwer ist, weil es leer ist. (199)

Dahlmann fährt ihr hinterher, um seine »alte Heimat« (198) wiederzusehen. Da traumatisierende Erlebnisse Vorstellungen von Zeit und Chronologie durchbrechen, liegt in der sprachlichen bzw. literarischen Annäherung an Orte eine Alternative zur Narration. Während Erzählen ein mehr oder weniger sinnvolles Nacheinander von Ereignissen voraussetzt bzw. evoziert, kann die Beschreibung traumatischer Orte die Zerstörung von Temporalität, wie sie traumatische Erlebnisse auszeichnet, nachvollziehbarer machen.1312

Enggeführt wird die beziehungsreiche Konstellation aus Erinnertem, Verdrängtem und Halb- bzw. Unbewusstem dadurch, dass Lena im Flur von Dahlmanns ehemaligem Wohnort in Auschwitz, dem früheren SS-Kasino gegenüber dem Bahnhof (vgl. 222), Ludwig mit dem 24-jährigen (vgl. 193) deutschen Fußballtorhüter Adrian betrügt (vgl. 192 – 195). Damit wiederholt sie nicht nur den Liebesverrat ihrer Mutter an Dahlmanns traumatischem Ort par excellence, sondern lässt ihre eigene Angst vor Fluren mit ihrer Sehnsucht koinzidieren, wahrhaft sich selbst zu spüren. Braucht sie doch »eine Affäre« und »ein heimliches und ungeordnetes Leben«, »um sich lebendig zu fühlen.« (198) Die Logik dieses hoch aufgeladenen, um nicht zu sagen überdeterminierten Prozesses vollzieht sich wie folgt: Dahlmann hatte hier gewohnt. Weil er hier gewohnt hatte, war es sein Ort. Weil sie eine Zeitlang bei ihm gewohnt hatte, hatte er erzählt. Hatte sie Bilder von diesem Ort. Deshalb war sie noch einmal hergekommen. Zuerst waren es noch Dahlmanns Bilder gewesen. Seine Erinnerungen. Daraus waren ihre geworden. Ihre schwarzweißen Erfindungen. (194)

Indem Lena Dahlmann zuhört und seinen Erzählungen nachlebt, werden fremde Erinnerungen auf sie übertragen. Der Text verschweigt jedoch auch nicht, »Erinnerungen« mit »Erfindungen« zusammenbringend, die subjektiv-produktive Komponente dieses teleskopischen Übertragungs- und zugleich Entwicklungsprozesses, der aus Dahlmanns über 50 Jahre zurückliegenden Erlebnissen Lenas imaginäre Erinnerungsakte entstehen lässt. Während des Geschlechtsverkehrs erscheinen vor ihrem geistigen Auge jene Bilder, die wahrzunehmen sich ihre Mutter zeitlebens gesträubt hatte. Die Vereinigung, innerhalb derer in Übereinstimmung mit Nicolas Abrahams Phantom-Konzept jene Lücke, die aufgrund eines Geheimnisses innerfamiliär von einer Generation an die nächste unbewusst weitergegeben wurde, phantomatisch vergegenständlicht wird (vgl. 1.5.3), kulminiert in einer erschreckenden Bilderserie: »Bild vier. Ein Mann, eine Frau, ein Kind, so gestapelt. Weil der Stapel so besser brennt? / Bild fünf. Danach fällt Schnee 1312 Eigler (2008), 173.

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auf den Stapel. / Bild sechs. Dann Schnee auf Schnee.« (195) Der Höhepunkt ist also keiner der rein leidenschaftlichen Lusterfüllung, sondern verknüpft mit Vorstellungen des Menschenvernichtungsgeschehens und – der Schnee steht wohl symbolisch für das Übertünchen und Unsichtbarmachen – des Vergessenwollens desselben. Um im Bild zu bleiben: Lena bringt den Schnee, der auf Dahlmanns Vergangenheit lastet und den ihre Mutter unangetastet ließ, zum Schmelzen. Gleichwohl bleibt der Vorgang ambivalent. Einerseits könnte man sagen, dass sie damit in demselben »Hausflur« (235), in dem Dahlmann sich als Kind nach seiner Schreckenserfahrung verkroch, ihre Treue zu Ludwig opfert, um diejenigen traumatischen Geschehnisse aus Dahlmanns Auschwitzer Kindheit nachzuvollziehen (Konfrontation mit dem Menschenvernichtungsgeschehen), die ihre Mutter zeitlebens systematisch ausblendete – also die von ihrer Mutter verweigerte Empathie als transgenerationell Traumatisches erinnert und narrativ erschließt. Andererseits ließe sich argumentieren, dass es sich – gerade weil sie sich eher widerwillig einem von ihr nicht geliebten Mann hingibt – bloß um eine dissoziative »Pseudo-Identifikation mit den Opfern« handelt (es erscheinen ja nur schlaglichtartige, von ihrem Selbst abgespaltene Vorstellungsbilder), die eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Tätern ebenso vermeidet wie sie sich »vor einer Empathie und Perspektivenübernahme mit den Opfern der Nazi-Verfolgung« schützt.1313 Dabei weist der Ort, also der Flur, nicht nur eine persönliche Beziehung zu Dahlmann auf, sondern auch eine metonymische Verbindung zu dem Zivilisationsbruch der Nazis. Lena hat »ihr Leben lang Angst vor Fluren gehabt und es sich nicht erklären können« (192). Ein Flur ist für Lena »ein Raum zwischen den Räumen« (80).1314 Mit der gleichen Bestimmung argumentiert sie an anderer Stelle dagegen, dass das Lagergelände von Auschwitz als Museum genutzt wird: Es soll ein Raum zwischen den Räumen bleiben dürfen, den nur Tote betreten […] Man muß einen Zaun ziehen um den Zaun, der schon da ist […], um den Ort als unbegreiflichen Raum stehen zu lassen. Er gehört uns nicht. Auch die Haare in den Vitrinen, auch die nicht. Der Ort soll mit sich allein bleiben und vergehen dürfen. Er soll alles dürfen, vor allem vergehen. Damit er weiter leben kann. (160 f.)1315

1313 Rosenthal (1999c), 353. – Dieser Argumentation zufolge wird das Trauma von Lena nicht durchgearbeitet, sondern nur metonymisch verschoben und damit perpetuiert. 1314 Vgl. zur »Topo-Analyse« als phänomenologische Untersuchung über die dichterische Einbildungskraft des Raumes Bachelard (1987). In Bezug auf das Haus (vgl. bes. 30 – 59) untersucht die »Topo-Analyse« die vielfältigen Räume als »verdichtete Zeit« und betreibt damit »das systematische psychologische Studium der Örtlichkeit unseres inneren Lebens« (35). 1315 Ein weiterer metonymischer Bezug des Flurs zu dem Genozid der Nazis besteht in Lenas Ansicht, »Züge seien ein fahrender Flur« (150).

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Lenas Vorschlag erinnert an den einer Gruppe polnischer Architekten und Bildhauer unter der Leitung von Oskar und Zofia Hansen. Ende der fünfziger Jahre schlugen sie vor, das Lager zu verschließen. So sollte der unüberschreitbaren Kluft zwischen den über eine Million Toten und den Lebenden Ausdruck verliehen und eine Vereinnahmung der Lagerruinen verhindert werden. Über 40 Jahre später nun richtet sich Lenas Vorschlag auch gegen einen schablonierten Gedenkstättentourismus, der vorschnell unterstellt, dass die »Lebenden den Schritten der Opfer nachgehen, ihre Erfahrungen verstehen oder ihr Gedächtnis teilen können«1316. Lenas Flurangst hat also eine (erinnerungs-)politische und eine private Dimension. Die im Text gestellte Frage: »Hatte sie durch Dahlmanns Flur bis vor eine eigene, verschlossene Tür geraten wollen?« (230), erweist sich bei näherem Hinsehen als eine rhetorische. Lena überwindet in diesem Fall die traumatische Besetzung des Flurs, um die Tür zu ihrer familiären Vergangenheit aufzustoßen und damit auch ein Stück weit ein ihr unbekanntes Selbst zu erkennen. »Das von früher, das geht nicht mehr« (69, 76, 172), lautet ein von Ludwig mehrfach geäußerter Schlüsselsatz des Romans. Während Ludwig damit ganz pragmatisch die Zeitverhaftetheit des menschlichen Daseins akzentuiert, bedeutet das für Lena, dass sie durch die Aufklärung des transgenerationellen Übertragungsprozesses eine neue Stufe in ihrem Selbstverständnis erreicht. Ist ihrem Leben doch die Liebesunfähigkeit und – zumindest indirekt – der Holocaust eingeschrieben, da sie ihr Dasein der Zurücksetzung Dahlmanns durch ihre Mutter verdankt.1317 Dahlmann repräsentiert für Lena den – bislang uneingelösten – Anspruch auf authentische Liebe; dieser Anspruch korreliert mit der Einlösung der von der Mutter verdrängten Erinnerungsschuld, anders gesagt, mit der Bearbeitung des unbewusst übertragenen Familiengeheimnisses. Dass ihre Mutter die Liebesbeziehung zu Dahlmann mangels Empathie gegenüber dessen traumatischen Erfahrungen aufkündigte und diesen Zusammenhang lebenslang verschwieg, macht Lena ihre Destruktivität in Liebesverhältnissen schließlich transparent. Kurz bevor sie in Berlin-Kreuzberg Ludwig wiedersehen wird, träumt Lena, wie sie im Auto und Ludwig auf einem Motorrad aufeinander zurasen. »Sie muß sich entscheiden«, fordert der Text, »für eine der beiden Möglichkeiten von 1316 Pelt/Dwork (1998), 414. – Vgl. zu Lenas Bedenken gegenüber einer Lager-Gedenkstätte, die Konservierung mit Authentizität gleichsetzt, Assmann (1999a), 334: »Der Hiat zwischen dem Ort der Opfer und dem der Besucher muß sinnfällig gemacht werden, wenn das affektive Potential, das der Erinnerungsort mobilisiert, nicht zu einer ›Horizontverschmelzung‹ und illusionären Identifikation führen soll.« 1317 Traumata greifen »an einer ›Sollbruchstelle‹ der individuellen Persönlichkeit an« (Fischer [2000], 18) und stellen die Autonomie der Person, d. h. deren Entscheidungs- und Handlungsfreiheit sowie Selbstbestimmtheit in Frage.

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Liebe. Beschützen oder töten.« (301) Zumindest weiß sie nach ihrer in Polen erfolgten Selbstaufklärung, warum ihr bisheriges Leben von der Ambivalenz aus Lieben und Zerstören bestimmt wurde und nun in eine Entweder-Oder-Entscheidung überführt werden muss. Wie sich Lena in Bezug auf Ludwig entscheidet, erfährt der Leser nicht. Der Roman endet offen mit Ludwigs Frage: »Weißt du, was mir fast passiert wäre?« (303) Damit schließt er mit einem Votum für das Erzählen. Zugleich dementiert er die Haltung des in Os´wie˛cim praktizierenden deutschen Priesters Richard Franzen, der Lena einmal anschreit: »Was hier geschehen ist, ist schlimm genug. Darüber brauchen wir keine Romane« (284). Lenas Liebe plädiert angesichts der Verbrechen von Auschwitz und deren Beschweigen eindeutig für das Erzählen und seine therapeutisch-kathartische Wirkung, die sich an Dahlmann und Lena studieren lassen. »Wer erzählt, hat eine Frage.« (199, 221) Wer erzählt, der – um das Mindeste zu sagen – verbindet und gibt dem Ungeordneten eine Ordnung. »Alle Geschichten […], alle Geschichten gehören irgendwie zusammen.« (83) Der Roman ist die Antwort auf die Frage, wie die vermeintlich unzusammenhängenden Geschichten einer desillusionierten Schauspielerin mit der Kindheitsliebe ihrer Mutter »irgendwie zusammengehören«. Wie erfährt der Leser freilich erst, wenn er sich darauf einlässt, die in die Familiengeschichte der Protagonistin hineinwirkenden traumatischen Geschichtserfahrungen bewusst zu machen. Also genau das entgegengesetzte Verhalten von Lenas Mutter an den Tag legt, die sich zeitlebens mit Abwehrmechanismen wie Beschweigen oder Nichtwissenwollen begnügte. Höchst selten passt einer Roman-Lektüre die theoretische Konzeptualisierung wie angegossen. Lenas Liebe gleicht einer experimentellen Versuchsanordnung, die die Eigenlogik der transgenerationellen Reinszenierung des Traumas aus ursprünglicher Traumatisierung, Symptomweitergabe an eine spätere Generation und nachheriger Symptommanifestation narrativ so genau verzahnt in Szene setzt, dass ein Rezipient, der die Rahmenannahmen der Psychotraumatologie für die sekundäre Traumatisierung kennt1318, gar nicht anders kann, als in die Rolle des Therapeuten für die Figuren gedrängt zu werden. Reinhard Jirgls archäologisierender Schichtungs-Poetik vergleichbar (vgl. 4.2), erzählt Kuckart eine Familiengeschichte, indem sie Ereignisse der Rahmenhandlung mit über 50 Jahre zurückliegenden Geschehnissen und Personenkonstellationen überblendet, wodurch das Vernichtungsgeschehen in Auschwitz über Familienbeziehungen vermittelt in einer Angehörigen der dritten Generation aktualisiert wird. Damit gestaltet sie gleichsam das narrative Pendant zu der fotografischen Arbeit Past Lives (1987) der jüdisch-amerikanischen Künstlerin Lorie Novak, die eines ihrer Kindheitsbilder, auf dem ihre Mutter sie hält, mit dem Bild von jüdischen, späterhin deportierten Kindern 1318 Vgl. etwa Fischer/Riedesser (1999), 236 f.

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überblendet.1319 Die Perspektiven unterschiedlicher Generationen und Lebensstationen werden, das ist das kompositionelle Grundprinzip des Erzählverfahrens, so ineinandergeschoben, dass die materielle Präsenz der Erinnerung und das Weiterwirken der Vergangenheit in der Gegenwart mit den ästhetischen Mitteln des psycho(-patho)logischen Imaginären koinzidiert und sich wechselseitig erhellt.

6.2

Transgenerationeller Extremismus – Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land

Die Bücher des 1952 in Stuttgart geborenen und seit 1985 für das Goethe-Institut tätigen Essayisten und Romanciers Stephan Wackwitz verdanken sich zu einem Großteil seinen langjährigen Auslandsaufenthalten. An sein literarisches Debüt Walkers Gleichung (1995), einen satirischen Kolportageroman über die im Auslandsdienst tätige deutsche Kulturdiplomatie, schließt er mit Ein unsichtbares Land1320 insofern an, als erneut eine Tätigkeit im Ausland den Ausgangspunkt bildet. Die vom Autor im Untertitel gewählte Gattungsbezeichnung Familienroman1321 referiert einerseits auf Freuds Familienroman der Neurotiker (vgl. 123), andererseits verweist sie auf die autofiktionale Geschichte der Familie Wackwitz1322. Bereits die Pluralität der Textsorten (Passagen aus den Memoiren des Großvaters, aus philosophischen und kulturgeschichtlichen Werken werden ebenso integriert wie eine das Buch beschließende biographische Skizze des Vaters über einen von ihm verehrten Lehrer [vgl. 277 – 286]) spricht für die Konstrukthaftigkeit und gegen den Anspruch einer auf ein Großnarrativ setzenden nicht-fiktionalisierten Wirklichkeitsbeschreibung.1323 1319 1320 1321 1322

Vgl. Hirsch (1997), 246. Wackwitz (2003). Auch der Ich-Erzähler spricht von »der Abfassung meines Familienromans« (179). Zur Autofiktion als Kombination von autobiographischem Pakt (Autor = Erzähler) und Fiktions-Pakt Zipfel (2009), 304 – 311. 1323 Solheim (2005), 248, verwehrt dem Text das Prädikat »klassischer Familienroman, der in einem logischen, linearen Verlauf eine Handlung nacherzählt« und spricht stattdessen von einem »erforschenden Familienroman«. Als Verknüpfung von referentieller Praxis (autobiographische Familiengeschichte) und Fiktions-Praxis lässt sich der Text als Autofiktion beschreiben. Diese, und auch das trifft auf Ein unsichtbares Land in einem starken Maße zu, ist nicht allein durch eine profunde Skepsis gegenüber dem Konzept der Selbstfindung und durch eine »(post)moderne Kritik am Konzept eines homogenen, kohärenten, autonomen, selbstbewussten und sich selbst transparenten Subjekts« geprägt, sondern auch durch eine »oft unchronologisch assoziative Erzählweise und die damit einhergehende Fragmentierung des Textes wie auch der Darstellung der Lebensgeschichte« (Zipfel [2009], 307).

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1999 geht der Ich-Erzähler nach Krakau, um dort »ein paar Jahre lang zu arbeiten« (34; vgl. ferner 178). Die zunächst einmal rein geographische Nähe zu dem »Ort des Jahrhundertverbrechens« (10) wird zum Anlass für eine familiengeschichtliche Tiefenbohrung, deren Gravitationszentrum in der Gegend um Auschwitz liegt. Der Erzähler versucht im Rahmen eines breit angelegten Selbstaufklärungsprozesses zu verstehen, inwiefern der eigene Hang zum Linksextremismus, dem er sich als Post-68er in den 1970er Jahren hingab1324, letztlich einem Familienzusammenhang entspringt, der einiges mit der »welthistorischen Gespensterlandschaft« (34) zu tun hat, in die er nun geraten ist. Der deutschnational gesinnte Großvater des Ich-Erzählers war zwischen 1921 und 1933 Pfarrer der deutschen Gemeinde im »damals schon polnischen Ort« (8) Anhalt, knapp zehn Kilometer nördlich von Auschwitz. 1921 wurde dort der Vater des Ich-Erzählers geboren. 1933 zog die Familie ins ehemalige DeutschSüdwestafrika. Obwohl der Großvater nach dem Krieg die gesamte – inzwischen in Stuttgart ansässige – Familie beständig mit seinen Memoiren versorgte, wurde Auschwitz in den Familienerzählungen nie erwähnt. »Sie haben nie darüber gesprochen, dass der Schauplatz ihrer Kindheit und der Ort des Jahrhundertverbrechens einen längeren Spaziergang und ein knappes Jahrzehnt voneinander entfernt sind.« (10 f.) Während der Ich-Erzähler für das Verhalten der Elterngeneration sogar noch Verständnis aufbringt – »Vielleicht haben sie nicht darüber nachdenken wollen. Jeder Mensch hat ein Recht auf eine geschichtslose Kindheit.« (11) –, gilt dies nicht für seinen Großvater, der zwischen »1964 und 1965 […] seine Erinnerungen an Anhalt und Auschwitz niederschrieb« (139), also genau zu jener Zeit, als in Frankfurt die Auschwitz-Prozesse stattfanden.1325 Das schwarze Loch in der Geschichte des Jahrhunderts hatte zu Beginn der sechziger Jahre die geographische Lage des Ortes in sich hineingerissen und zugleich war in die Gespräche unserer Familie ein kleines, bedeutsames Schweigen eingeschleppt worden. Je deutlicher der Gesellschaft um uns wurde, auf welches Ereignis sich dieses Schweigen bezog, desto umfassender hat es sich unter uns ausgebreitet, desto mehr Themen und Gegenstände, Personen und Orte wurden von ihm erfasst – bis wir offenbar nur noch unter Einhaltung strenger Regeln, Sicherheitsabstände und Rituale überhaupt über etwas reden konnten. (148)

Die Position, die in den Vaterbüchern der 68er den Vätern und dem Vater-SohnKonflikt zukam, wird hier von dem Großvater und dem Großvater-Enkel-Konflikt eingenommen. So vollzieht Wackwitz eine Öffnung der für die Väterlite-

1324 Ausführlich legt er seinen eigenen Werdegang in dem mit der Gattungsbezeichnung »Bildungsroman« versehenen Folgeroman Neue Menschen (2005) dar. 1325 Vgl. zur Dehumanisierung der Opfer durch das Schweigen der Tätergeneration im transgenerationellen Tradierungsprozess Rosenthal (1999c), 348.

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ratur konstitutiven »bipolaren Konstellation der Generationen«1326 (schuldige Kriegsgeneration vs. schuldlose Nachkommen) hin zu einer mehrere Generationen umschließenden Familienperspektive. Bestand die – auch für den Enkel gültige – typische Schuldvermutung der (Post-)68er-Generation darin, das über die NS-Zeit verhängte familiäre Schweigetabu als Schuldeingeständnis zu werten, von dem man sich durch eine Fixierung auf die Opfer absetzt, erkennt der Erzähler, als er über 30 Jahre später seine Familiengeschichte umfassend aufrollt, dass diese manichäische Zweiteilung ihrerseits zu historisieren wäre. Hinfort rekonstruiert er in einer Mischung aus Recherche vor Ort, Gesprächen und Lektüre die politische Haltung seines Großvaters sowie seine eigene ideologische Verbohrtheit in den 1970er Jahren und entwickelt ein dem philosophischen Pragmatismus verpflichtetes Geschichts- und Nationalverständnis. Ihm wird klar, dass das Schweigekartell in der Familie strukturell eine ähnlich fatale Funktion spielte wie die Verdammung der Kriegserlebnis- als Tätergeneration. Beide Male wurde historisches Geschehen aus der Erfahrungswirklichkeit herausgedrängt. Dieses sich wiederholende Muster erscheint ihm als eine Art extremistischer Generationenvertrag, dessen Grundlage das Schweigen (vgl. bes. das Kapitel »Das Schweigen«, 19 – 36) bzw. die Dialogunfähigkeit zwischen den Generationen (vgl. das Kapitel »Die Transusigkeit«, 52 – 59) darstellt. Die Kommunikation zwischen dem »Familienoberhaupt« (20) und dem Enkel ist in mehrfacher Hinsicht gestört. So spricht der Ich-Erzähler vom »familiären Totstellreflex« (19), der »trotzige[n] Schweigsamkeit« (24) und »den familiären Erstarrungszuständen meines Großvaters« (21), wofür er vor allem die Tatsache verantwortlich macht, dass dieser »1939 für den Rest seines Lebens ein Schiffbrüchiger geworden war und mit dem Land, in dem er lebte, so wenig anfangen konnte wie mit seinem Enkel« (26). Der Großvater erkannte selbst, dass seine Person »geschichtlich erklärungsbedürftig« (25) wurde, weshalb er begann, seine Lebensgeschichte ausführlich zu beschreiben und zu erläutern, »allerdings nicht mündlich, sondern mithilfe eines ausgedehnten schriftlich-literarischen Unternehmens« (25). Dieses familiäre Schweigen, zugleich (dissoziatives) Verleugnen der ungeheuerlichen Faktizität des Geschehens und Ausdruck eines Verlangens, sich vor der Gegenwart und ihren Ansprüchen abzukapseln, führte bei der Enkelgeneration nicht nur zur persönlichen Ablehnung, sondern auch zu einem »dramatischen Autoritätsverlust« (29)1327. Anfänglich beschäftigt den 1326 Assmann (2007), 74. 1327 Hier erscheint erneut die These, dass die Revolte der 68er gegen die Eltern (und auch Großeltern) nicht zuletzt auf deren Schwäche und Verdrängungsleistungen zurückgeht bzw. auf deren Nicht-ernst-Nehmen der zeitgenössischen Wirklichkeit. Vgl. dazu die – bereits in 5.1 zitierte – Stelle von Uwe Timm (2003), 68 f.: »Von einem Tag auf den anderen waren die Großen, die Erwachsenen, klein geworden. Eine Erfahrung, die ich mit vielen

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Enkel noch die Ablehnung seines Großvaters, später kommentiert er, der zunehmend »maulfaul und vage aufsässig neben ihm am Frühstückstisch saß« (47), dessen immer geringer werdenden Einfluss auf ihn desillusioniert mit: »Mein Erwachsenwerden verdarb ihm die Laune« (24). Sukzessives Desinteresse und Ignoranz steigern sich wechselseitig bis zu einem intergenerationellen Kommunikationsfiasko. Der Enkel verbittet sich energisch Ratschläge wie denjenigen, den Abiturienten »zum Eintritt in eine möglichst nationale und […] natürlich notwendigerweise auch schlagende Studentenverbindung zu überreden« (58), der Großvater wirft dem Enkel »Transusigkeit« (55) vor. Der Vorwurf der Transusigkeit attestiert dem Enkel nicht allein eine gewisse Lebensuntauglichkeit, sondern auch, indem dieser die Fremdzuschreibung als zutreffend akzeptiert1328, dass seine massive Ablehnung des Großvaters zugleich als eine starke Bindung zu verstehen ist, die sich in Selbsthass ausdrückt. Darein spielt auch das Erfahrungsungleichgewicht, das die zweite oder dritte Generation angesichts der tiefgreifenden historisch-politischen Erfahrungen der Kriegserlebnisgeneration als kollektives Unbehagen (an der mangelnden ›Authentizität‹ des eigenen Daseins), um nicht zu sagen, als strukturelles Minderwertigkeitsgefühl empfindet.1329 Am Ende herrscht zwischen den beiden Familienmitgliedern eine »monumentale Verhältnislosigkeit« (56), kulminierend in einem »Na ja« (158), womit der Großvater nach der Inaugenscheinnahme der Freundin des inzwischen über zwanzig Jahre alten Enkels sein Urteil spricht.1330 anderen meiner Generation teilen sollte. Wahrscheinlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dieser Erfahrung und der antiautoritären Bewegung der Studentenrevolte, die sich gegen die Vätergeneration richtete.« 1328 Vgl. 55 f.: »Die Transusigkeit, ein eigentümlicher und mir selber sehr unangenehmer und peinlicher Zustand aus Gelähmtheit, resignierter Subordinationsbereitschaft, zugleich aber Insuffizienz, Verträumtheit, Scham und unterdrückter Auflehnung, die alles nur noch schlimmer macht, überfiel mich angesichts meines Großvaters und seiner Erwartungen regelmäßig.« 1329 Ein zwar überraschendes, aber, wenn man sich in der einschlägigen Literatur umschaut, frequentes sozialpsychologisches Motiv, das durchaus einer weiteren Beschäftigung wert wäre. Vgl. z. B. Braun, Ch. (2007), 16: »Manchmal habe ich den Eindruck, als gäbe es in meiner Generation [die Autorin ist Jahrgang 1944; M. O.] eine Art von Neid auf die existenziellen Erfahrungen, die diese Generationen haben machen müssen.« Zu den 68ern als strukturellen Wiederholungstätern vgl. kritisch Welzer (2004a), 57: »Mit der Wiederaufführung von Kriegsereignissen im freilich verkleinerten Maßstab großstädtischer Straßenkämpfe gegen Polizei und Wasserwerfer holte sich die Protestgeneration jenen Geschmack von Freiheit und Abenteuer, den der Krieg den Vätern offeriert hatte.« Ferner spekulativ Welzer (2005b), 71: »In den 182 Interviews und Familiengesprächen finden sich insgesamt 1130 Opfergeschichten; sie bilden nahezu 50 % aller erzählten Geschichten. Aber natürlich finden sich auch, wenn auch in geringerem Ausmaß, Abenteuer- und Heldengeschichten im Material, die durchaus geeignet sind, bei den jüngeren Zuhörerinnen und Zuhörern Faszination und gelegentlich auch etwas wie Neid darüber zu erwecken, daß man selbst nicht in so aufregenden Zeiten aufgewachsen ist.« 1330 Vgl. 158: »Schließlich ist dieses ›Na ja‹ so etwas wie sein Vermächtnis an mich geworden.

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Die moralisch-politische Haltung des Großvaters, die sich nach 1945 »in jene geschosshafte Starre verwandelt hat, mit der dann sein Enkel zu tun bekam« (48), führt der Ich-Erzähler auf ein essentialistisches Nationalverständnis zurück, das an eine von Fichte begründete Tradition anschließe. Fichtes Reden an die deutsche Nation1331 repräsentieren demnach eine Position, die »behauptet, den Ursprung des Deutschseins im Nationalcharakter gefunden zu haben, in der Sprache, in einer völkischen Substanz, die weder die Römer erobern konnten noch Napoleon dauerhaft besiegt hat« (179). Indem er Fichtes ontologisierender Geschichtsmetaphysik den protestantischen Theologen und Philosophen Schleiermacher1332 gegenüberstellt, (re-) konstruiert der Ich-Erzähler ein seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschendes geistesgeschichtliches Schisma, »zwei grundlegend verschiedene Möglichkeiten deutscher Tradition« (179). Schleiermacher verkörpere »das Erfinden unserer Tradition«, Fichte das »Finden ihres Ursprungs« (180). Schleiermacher sei im frühen neunzehnten Jahrhundert so etwas wie unser Rorty gewesen, ein preußischer pragmatist liberal. […] Jedenfalls hat Friedrich Schleiermacher gewusst, dass wir uns im Verstehen der Vergangenheit und der alten Texte selber verstehen und dass nicht von jeher zwangsläufig ausgemacht ist, wie wir sind und wohin wir gehen müssen. (180)

Es ist genau jener Prozess der Aneignung der Familiengeschichte, die dem Erzähler seine eigene Entwicklung transparent macht. Erst jetzt versteht er, dass das Schweigen über den Holocaust und die »deutschnationale Behinderung« (175) seines Großvaters auch noch auf ihn erhebliche Auswirkungen hat1333 : »Wie die Rohre eines ausziehbaren Fernrohrs, sagen die Generationssoziologen, seien die Erinnerungen und Träume der Väter und Söhne und Enkel ineinander geschoben, und wahrscheinlich lebt wirklich keiner sein innerstes Leben nur für sich.« (188 f.) Durch diese »teleskopische[] Verschränkung von Erinnerungen zwischen den Generationen«1334 erklärt sich der Erzähler retrospektiv seine Sympathien für den Linksextremismus in den 70er Jahren, seinen »Flirt[] mit dem anderen Totalitarismus«(233)1335. Die ideologische Verhärtung basierte auf

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1334 1335

Es waren, zumindest für mich, seine letzten Worte. Denn er ist im gleichen Jahr noch gestorben, ohne dass ich ihn wieder gesehen hätte.« Fichte (2005). Der dadurch, dass sein Vater der erste Pastor in Anhalt und damit also ein Vorgänger von Andreas Wackwitz war, gleichsam auch einen Teil der Familiengeschichte ausmacht. Bude (1997), 296 f. und 300, zufolge, der die ursprünglich psychoanalytische ContainerTheorie in Bezug auf die 68er-Generation sozialpsychologisch ausweitet, tragen die 68er die belastete Vergangenheit ihrer (Groß-)Eltern aus (vgl. den Abschnitt »Transgenerationelle Übertragung: Opfer vs. Täter« in der Einleitung). Horstkotte (2008), 283. Traumatheoretisch handelt es sich dabei um eine posttraumatische Reaktion in Form

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Literarische Erinnerungsosterweiterung (Polen zum Beispiel)

einem pauschalisierten Schuldurteil über die Kriegserlebnisgeneration, die für den Holocaust stand, während man sich selbst zu den Opfern hinwendete.1336 Die 68er-Generation reagierte demnach auf die Essentialisierung des Nationenbegriffs, die vorhergehende Generationen vorgemacht hatten, mit einem spiegelbildlichen Rigorismus, als sie Auschwitz ihrerseits zur negativen Identität der BRD umformte: Das Geheimnis meiner eigenen Zukunftslosigkeit zu Beginn der siebziger Jahre jedoch scheint mir […] verborgen zu liegen […] in jenem gespenstischen Landstrich zwischen Weichsel und Sola, zwischen Karpaten und Sumpf, zwischen Kattowitz und Auschwitz. (59)1337

In seiner großräumigen Deutschlandbetrachtung spannt Wackwitz’ Ich-Erzähler den Bogen vom späten 18. Jahrhundert bis zur Jahrtausendwende, wobei Auschwitz die Drehscheibe dieses Geschehens ausmacht. Die maßgebliche Einsicht des Ich-Erzählers besteht darin, dass sich hinter dem sprachlosen Kampf zwischen den Generationen die transgenerationelle Übertragung eines politischen Extremismus vollzog, der auf der Essentialisierung der (negativen) Identität der Nation basiert.1338 Erst die politische Wende 1989 bahnt den Weg für eine ›Normalisierung‹ des Nationalverständnisses in Deutschland und eine offen-dialogische, multiperspektivische Geschichtsaufassung. Im Zuge dieser Veränderungen verwandelt sich der Ich-Erzähler von einem linksradikalen Utopiker der 1970er Jahre zu einem liberalen Pragmatiker des neuen Jahrtausends. Es macht zweifellos das besondere Irritationspotential des Texts aus – nicht zuletzt im Vergleich zur Väterliteratur um 1980 –, dass er bei der Suche nach Erklärungen für die Erlösungsphantasien der 68er nicht auf die politischen eines Ausagierens von reaktiven Aggressionsübertragungen als destruktiver Wiederholungsdynamik. Wackwitz’ Ich-Erzähler steht im unbewussten transgenerationellen Schatten seines Großvaters, in einem Gegenübertragungsverhältnis. So wird vor dem Hintergrund der in der Familie wie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit allenthalben wirksamen Verleugnung des Holocausts der intellektuelle Extremismus und die Haltung der Subversion nachvollziehbar. 1336 Vgl. als Extremfall die von Wackwitz geschilderten identifikatorischen Juden- und Opferphantasien Rudi Dutschkes (258 – 260, 267). 1337 Vgl. zu diesen imaginierten Identitäten im Bezug zu den verschiedenen Phasen des politischen Messianismus der 68er-Bewegung Schmidt (2011), bes. 69: »Meine erste Annahme besagt […], dass die imaginierte Identität faktisch eine messianische war, die gewöhnlich in Gestalt einer Selbstidentifikation mit dem ›Juden‹ auftrat. […] Meine zweite Annahme geht davon aus, dass die Konversion zur imaginierten Identität mit jüdischen Vätern ein messianisches Zukunftsbewusstsein erzeugte«. 1338 Die Argumentation korrespondiert mit der geistesgeschichtlichen, auf die Romantik rekurrierenden Sichtweise von 1968 als »ursprungsmythologisch aufgeladene[r] Form der Radikalität«, die Kraushaar (2008), 284, in seinem Buch Achtundsechzig. Eine Bilanz vertritt (vgl. dazu kritisch Söllner [2008/09], 44).

Transgenerationeller Extremismus – Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land

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Verhältnisse der 1960er und 1970er Jahre Bezug nimmt, sondern »transgenerationelle Kontinuitäten über alle ideologischen Differenzen hinweg in den Vordergrund rückt«1339. Suggeriert er doch, dass in dem Versuch, sich von der schuldbesetzten deutschen Geschichte loszulösen, unter der Hand ein NS-Erbe in Gestalt von totalitären Ideologemen und Strukturen reproduziert wird. Wie gelingt ihm das? Durch welche Hintergrundargumente und motivischen wie narrativen Mittel plausibilisiert er diese unheimliche Wiederholungsstruktur? Abstrakt gesagt: Er macht sich Schleiermachers Lizenz zur Traditionserfindung zu eigen und projiziert sie auf eine Kreuzung aus National- und Familiengeschichte. Konkret: Er greift sich die Eltern-Kind-Konstellation aus Freuds FamilienromanArtikel heraus, weitet sie zum sozialpsychologischen Befund einer gesamten Generation aus, reichert diesen Befund mit Hamlet-Motivik an, um daraus schließlich ein allegorisierendes Erzählmodell zu kreieren, das mit den Geistern von Auschwitz beginnt und mit der Re-Installierung der Vaterautorität endet. Der Reihe nach: Freud entwirft in seiner Abhandlung Der Familienroman der Neurotiker den Typus des heranwachsenden Neurotikers, der auf Zurücksetzungen und narzisstische Kränkungen mit der Ersetzung des Vaters oder auch beider Elternteile durch bedeutendere Personen reagiert (vgl. den Abschnitt »Herkunftsphantasien« in der Einleitung). Diese von Freud als »Romanphantasien«1340 bezeichneten Imaginationen (daher der metaphorische Ausdruck »Familienroman«) macht der Erzähler mutatis mutandis auch bei der studentischen Protestgeneration namhaft, die sich der belasteten Naziväter zu entledigen suchte und sich stattdessen (zumal jüdische) Intellektuelle und Philosophen zu geistigen Ersatzvätern wählte (vgl. 258 – 260, 263: »Aus uns sprachen die Toten«).1341 In Entsprechung zu der psychoanalytischen Lehre vom Ödipuskomplex hat die Studentenrevolte wie König Ödipus »›den Mörder‹ immer nur außer sich gesucht«1342, war die in der Phantasie begangene Triebtat des Elternmords der »Ausdruck einer kollektiven unbewußten Tendenz der gesamten Studentenbewegung«1343. Weil das Unbewusste in der 68er-Rezeption der Psychoanalyse überhaupt kein Thema war, ist es auch nur, so Reimut Reiche im Gestus retrospektiver Selbstanalyse, im Nachhinein erstaunlich, daß wir uns darum niemals einen wirklichen Begriff davon machen konnten, daß die mit der Zerschlagung des deutschen Nationalsozialismus der Verdrängung anheimgefallenen omnipotenten, destruktiven, grausamen und mörderischen Taten und Phantasien im dynamischen Unbewußten des Einzelnen und des Kollektivs fortexis-

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Eigler (2005), 187 Freud (1997a), 226. Vgl. Eigler (2005), 188 und 218 f.; Schmitz (2006), 252 f. Reiche (1988), 68. Reiche (1988), 69.

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Literarische Erinnerungsosterweiterung (Polen zum Beispiel)

tieren und auf dem Wege des Verschiebungsersatzes zwanghaft wiederholt werden müssen1344.

Freuds individualpsychologisches Modell des Neurotikers mutiert so durch Ausweitung (Anwendung auf eine gesamte Generation) und Verschiebung (Überführung in eine spezifisch zeithistorische Konstellation) zum »politischen Familienroman« (257). Erst dann jedoch, wenn man die affektbesetzten Unzulänglichkeiten der (Post-)68er, mit der eigenen Landes- wie Familiengeschichte fertig zu werden, mit Hamlet-Motivik versieht, avanciert das sozialpsychologische Generationenmodell einer zeit- bzw. epochentypischen seelischen Kollektiverfahrung, zu einer psychohistorischen Allegorie auf die BRD um 1970: Denn wenn Bloch und Luk‚cs, Walter Benjamin, Levin¦, Trotzki und Karl Liebknecht unsere Könige und Väter gewesen sind, dann waren wir damals dänische Prinzen. Ein Mord, über den niemand spricht, hat uns den König, unseren Vater geraubt. Aber er findet keine Ruhe. Sein Geist erscheint uns am Meer vor den Toren des Palasts und fordert uns auf, ihn zu rächen. Aber wir können nicht sicher sein, ob der Wiedergänger die Wahrheit sagt. Ist unser Onkel, der neue König, denn wirklich ein Mörder? Unsere Mutter seine Komplizin? Ist das am grauen, rauschenden Meer erscheinende Gespenst wirklich ein Bote des Vaters oder ist es aus der Hölle emporgestiegen, um uns zu täuschen und unser Land und Reich in die Katastrophe zu stürzen? (267)

Das allegorische Rollenspiel hat eine dreifache Identifikation zur Voraussetzung: Die protestierenden Studenten werden mit Hamlet identifiziert, die NaziVäter mit Claudius, die Holocaust-Opfer mit Hamlets Vater. So schlüssig der Erzähler mit dieser parabolischen Konstruktion die familien- und nationalgeschichtliche Darstellung zu überformen vermag, so intrikat gestaltet sich doch die Narrativierung des Geistes. Der Erzähler löst diese Aufgabe in einem doppelten Schritt. Erstens erklärt er Auschwitz zum »unsichtbaren Zentrum« des Romans (18) und inszeniert die geographische Nähe zum einstigen Familiensitz: »Auschwitz wird damit in einem ganz konkreten Sinne zur unheimlichen Kehrseite von Heimat.«1345 Zweitens verwendet er Spuk- und Geister-Motivik sowie deren Metaphorik, um die räumliche Konstellation aus Familienheimat und NS-Vernichtungslager mit der Hamlet-Geschichte in Gestalt einer topographisch-intertextuellen Narration zusammenzudenken. Auf eine für den weiteren Erzählverlauf paradigmatische Weise verquickt ja bereits der erste Satz des Romans das Spuk-Motiv mit dem – späteren – Ort der Massenvernichtung: »Im neunzehnten und noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein hat es in der Gegend um die alte galizische Residenzstadt Auschwitz viel gespukt.« (7) Die Gegend um Auschwitz wird mit dem Geisterhaften belegt, die denjenigen, der sie betritt, mit einem gespenstischen Erinnerungsauftrag versieht, der die 1344 Reiche (1988), 50. 1345 Eigler (2008), 162.

Transgenerationeller Extremismus – Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land

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Vernichtung der europäischen Juden vergegenwärtigt.1346 So gerät der Erzähler, sogleich als er zu Beginn den einstigen schlesischen Familiensitz besucht, in den Bann eines geisterhaften Erinnerungsraums, der kontaminiert ist durch den geschichtlichen Bezug zu NS-Zeit und Holocaust. In unmittelbarem Kontrast zu dem familiären Schweigetabu über Auschwitz erweist sich die topographische Erkundung der früheren Familienheimat als Kontaktaufnahme mit den Geistern des Ortes1347 und also auch den unerlösten Toten von Auschwitz1348. Somit schlüpft der Erzähler ca. 30 Jahre nach seiner studentischen Protestvergangenheit ein zweites Mal in die Rolle des Hamlet – jetzt freilich mit dem Unterschied, dass es nicht die Stimmen der (jüdischen) Philosophen und Intellektuellen sind, die ihn zu einem marxistisch orientierten Projekt der Gesellschaftsutopie inspirieren, sondern die unheimlichen Stimmen der Nazi-Opfer, die ihn in der Art von Derrida’schen Gespenstern heimsuchen, um ihn an eine verantwortungsvolle »Politik des Gedächtnisses, des Erbes und der Generationen«1349 zu gemahnen. Aber auch der Wackwitz’sche Familienroman der Nachwendeära, mit dem der Erzähler seine Lebensgeschichte getreu dem Freud’schen Modell reinszeniert, kommt ohne den Beistand der kulturellen Archive in Form von philosophischen Ratgebern nicht aus. In dem Kapitel »Fünf Professoren/Träume von Jürgen Habermas« (150 – 185) wird die historisch-politische Neuformierung des wiedervereinigten Deutschlands zum Anlass für eine ethisch-politische Neuorientierung des Erzählers. Der erhebt nun, wobei der selbstironische Unterton versichern soll, dass dieses Mal nichts unter der Hand geschieht, sondern sich bewusstem Rollenspiel verdankt, Rorty und Habermas zu seinen Säulenheiligen, imaginiert sie in einer »Phantasiebeziehung« (153) zu seinen neuen Wunschvätern.1350 Damit wiederholt er die Vorgehensweise der 68er, sich Ersatzväter zu wählen, und historisiert wie korrigiert deren Extremismus zugleich. Ist die Emanzipation des Erzählers von linksradikaler Ideologie und seine Hinwendung zu liberalen Traditionen doch auch das Ergebnis einer langfristigen intellektuellen Auseinandersetzung und nicht die bloße Ausgeburt geisterhafter Einflüsterungen. Er revoziert mithin die Hamlet-Rolle, die noch einmal zu übernehmen 1346 Vgl. Eigler (2005), 208; Horstkotte (2008), 275 f. 1347 Im Anhalter Pfarrhaus der Familie Wackwitz kam es zu verschiedenen Spukerscheinungen unklarer Herkunft. 1348 Geister, deren Kommunikation aus dem Jenseits ins Diesseits ›übertragen‹ werden muss, »widerlegen eine Zeitauffassung, die den Zeithorizont als vergangene und zukünftige Modalisierungen der Gegenwart differenziert, indem sie als Totengeister unerlöster Seelen aus der Vergangenheit heraus […] in die präsente Aktualität einbrechen, um diese als gleichzeitige Ungleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeithorizonte und -schichten zu spalten.« (Binczek [2001], 234) 1349 Derrida (2004), 10. 1350 Vgl. Eigler (2005), 201.

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Literarische Erinnerungsosterweiterung (Polen zum Beispiel)

er aufgrund der geographischen Nähe zu Auschwitz gedrängt wurde, begibt sich diesmal nicht mehr auf den Kampfplatz der radikalen Ideologien, reklamiert stattdessen für sich den Part des abwägenden Historikers, der ein sozialpsychologisches Generationenphänomen rekonstruiert.1351 Obwohl der Erzähler die Besonderheit der Nachwendezeit im Vergleich zu dem Deutschland der 1960er und 1970er Jahre dadurch markiert, dass er die Gültigkeit des Hamlet-Modells für die politische Alltagswirklichkeit negiert, darf man nicht vergessen, dass er »das Psychogramm seiner Generation mit einer (familien-)geschichtlichen Tiefenperspektive verknüpft«1352. Die für Deutschland als verhängnisvoll deklarierte geistesgeschichtliche Fichte-Tradition wird durch die Einschreibung in eine intellektuelle Genealogie, die sich maßgeblich auf die Philosophie des Begründers der modernen Hermeneutik zu berufen weiß, ersetzt. Darüber hinaus imaginiert der Erzähler in dem Schlussbild des Kapitels »Fünf Philosophen/Träume von Jürgen Habermas«, wie der eigene Vater als Kind im Anhalter Pfarrgarten »mit dem Jungen aus dem achtzehnten Jahrhundert« (184) spielt. »Die ›Phantasiebeziehung‹ zu dem Wunschvater Schleiermacher ist hier also in die eigene Familiengeschichte integriert. Wunschvater und biologischer Vater sind in diesem Erinnerungsbild miteinander versöhnt.«1353 Versöhnung ist auch das Stichwort, mit dem sich das abschließende VaterSohn-Verhältnis charakterisieren lässt. Während sich der Erzähler zweimal geistige Ersatzväter suchte – einmal, um sich einer linksextremen Ideologie zu überantworten, das andere Mal, um eben diese Phase durch die Aneignung liberaler Traditionslinien zu relativieren –, kommt sein leiblicher Vater nur als kaum entwickelte Figur in der Familiengeschichte vor (die Rolle des Gegenspielers hat ja der Großvater inne). So ist es für die Erzählkonstruktion umso mehr von Belang, dass der Familienroman, der mit den die jüdischen Opfer konnotierenden Geistern von Auschwitz einsetzt, mit der Stimme des Vaters endet. Dessen autobiographische Erzählung, die den sich während der Überfahrt von Afrika nach England zu Anfang des Zweiten Weltkriegs und in der späteren kanadischen Kriegsgefangenschaft als Helfer und Ratgeber des Vaters erweisenden Lehfeld porträtiert, stellt eine Hommage an eine ganz dem Diesseitigen verhaftete Figur dar. Die Vatergeschichte entwirft eine »Gegenfigur zu meinem Großvater […], damit wir alle in Zukunft nicht kentern« (275), und verleiht dem Roman ein offenes Ende. Mit der den Gesamttext beschließenden Lehfeld-Erzählung wird der reale Vater als die Erzählinstanz, die das letzte Wort 1351 Zur Kontextualisierung von Ein unsichtbares Land im Rahmen der literarischen Aufarbeitung von ›1968‹ durch ihre eigenen Protagonisten vgl. Eigler (2005), 213 – 225. 1352 Eigler (2005), 216. 1353 Eigler (2005), 204.

Transgenerationeller Extremismus – Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land

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hat, ausgestellt, mithin die väterliche Autorität wieder eingesetzt – und also das Modell des Freud’schen Familienromans abschließend umgekehrt.1354 Um zu resümieren: Im Rückgriff auf Bestände des kulturellen Wissens (zumal der Familiengeschichte1355, der deutschen Kulturgeschichte und der Sozialgeschichte der BRD) sowie im intertextuellen Bezug auf Freuds Aufsatz Der Familienroman der Neurotiker und die Hamlet-Geschichte gestaltet Stephan Wackwitz ein allegorisches Erzählmodell, das – in Analogie zu dem Mitscherlich’schen Vorgehen in Die Unfähigkeit zu trauern – psychoanalytisches Wissen sozialpsychologisch ausdehnt und auf die zeithistorisch-politische Ebene verschiebt. In Wackwitz’ Spielart des kulturellen Imaginären wird in einer nationale und Familiengeschichte zusammendenkenden Erzählbewegung einerseits die Ideologisierung der Protestgeneration der 1960er/1970er Jahre in den größeren Kontext der Langzeitfolgen des Holocaust gestellt, sprich historisiert1356, andererseits die ›neurotische Pathographie‹ des Erzählers in Form einer schriftlichreflexiven Autotherapie aufgearbeitet1357. Indes bleibt, wirft man einen letzten Blick auf die allegorische Konstruktion, ein Restunbehagen. Während Freuds Familienneurotiker letztlich kollektiv historisiert werden und auch der Erzähler von seinen überschießenden Übervater-Phantasmen kuriert wird, so bleiben die eigentlichen Geister von Auschwitz unerhört. In der Erinnerungslandschaft um Auschwitz sind es nicht die ermordeten Juden, die bei dem Erzähler Gehör finden, sondern allein seine Familienangehörigen.1358 Während der Erzähler seine Familiengenealogie aufruft, um sich mit seiner Bildungsgeschichte in sie einzuschreiben, bleiben die NS-Opfer stumm in der gespenstischen Erinnerungslandschaft um Auschwitz zurück.1359 1354 In dem auf Ein unsichtbares Land folgenden Fortsetzungsband Neue Menschen kommt dem Vater eine zentrale Rolle zu. Wie im 1. Kapitel ausgeführt, sind es, so stellt es der Erzähler dar, der Vater und die anderen von Isermeyer unterwiesenen Zöglinge, die den Hamlet als Rollenmodell für ihre Nachkriegsgegenwart ironisch, gleichwohl energisch ablehnen. 1355 Vgl. etwa zur Biographie des Großvaters Andreas Wackwitz Zirlewagen (2005). 1356 Vgl. Eigler (2005), 233: »Der Familienroman von Wackwitz lässt sich […] als Versuch sehen, die mit der 68er-Generation verbundene ›Ursprungslegende‹ der westdeutschen Demokratie durch eine Auseinandersetzung mit den Brüchen in den Biographien der 68er sowie mit dem Porträt einer ›gebrochenen Gesellschaft‹ zu ersetzen.« 1357 Vgl. Schmitz (2006), 262: »Dies bedeutet einen entspannteren Umgang mit dem Zivilisationsbruch von Auschwitz, geschuldet der integrativen Absicht hermeneutischer und psychoanalytischer Praxis.« 1358 Vgl. Horstkotte (2008), 297: »Die wahren Geister von Auschwitz bleiben ungesehen.« 1359 Eine Konstellation übrigens, die sich zu der zynisch anmutenden Asymmetrie verallgemeinern ließe, dass der Holocaust einerseits zu einer irreversiblen Trennung der Generationen auf Seiten der Opfer führt, andererseits die Täter- und Mitläufer-Generationen über die Erinnerung miteinander verbindet.

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6.3

Literarische Erinnerungsosterweiterung (Polen zum Beispiel)

Repräsentation des Traumas vs. Ausagieren der Generationsdeutungshoheit

Mit Judith Kuckarts Lenas Liebe und Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land stehen einander zwei Familienromane des beginnenden 21. Jahrhunderts gegenüber, die das psycho(-patho)logische Imaginäre und das kulturelle Imaginäre so repräsentieren, wie es sich in dieser Studie wiederholt in Form von zwei seit der Epochenzäsur 1989/90 manifesten Tendenzen abzeichnet. Judith Kuckart führt vor, wie der über traumatische Holocaust-Erfahrungen vermittelte und familiär beschwiegene Liebesverzicht der Mutter ein Syndrom aus Unfähigkeit zu authentischer Liebe und Beschädigung in der Autonomieentwicklung bei der Tochter hervorruft. Offen bleibt freilich, in welchem Ausmaß die Aufklärung über das transgenerationelle Trauma auch eine therapeutische Bewältigungsleistung Lenas nach sich zieht. Stephan Wackwitz entfaltet, wie die Transusigkeit als nicht-intendierte Abwehrhaltung eines Nachgeborenen den großväterlichen Extremismus – in jetzt gewendeter Gestalt – wiederholt. Sigrid Weigel mahnte bereits vor einigen Jahren an, dass es an der Zeit sei, »die Philosophie über das Schweigen, über die Lücke und die Zäsur durch Lektüren und Deutungen der diskursiven und literarischen Erinnerungen und der vielfältigen Symbolisierungsweisen im Gedächtnis der Nachgeschichte abzulösen«1360. Sicher, Ein unsichtbares Land legt seine Verfahren des Erzählens, des Wissenserwerbs und der historischen Deutung offen und macht aus seiner Komposition als metahistoriographischer Familienroman keinen Hehl.1361 Mit seiner Instrumentalisierung der Hamlet-Figur schließt das Buch aber nicht nur ringkompositorisch an das erste Kapitel dieser Studie an, sondern auch an die blinden Flecken der NS-Aufarbeitung in der frühen Nachkriegszeit. Die Ignoranz gegenüber den zeitpolitischen Umständen der 1960er und 1970er Jahre, mit der ein Konvertit sich von seiner eigenen Vergangenheit lossagt1362, korrespondiert mit einer erheblichen vergangenheitspolitischen Implikation. Der Versuch, mit dem Hamlet-Modell die eigene Generationsrolle in der Geschichte der BRD festzuschreiben, ist nicht von seinem selbstlegitimatorischen Anspruch zu lösen. Er enthält die Stilisierung der 68er-Generation, als Nachgeborene des Holocausts zu einem nicht unbeträchtlichen Teil fremdbestimmt und – durch die daraus resultierende mangelnde Autonomie – zugleich auch entlastet zu sein. Diese Positionierung, die die deutsche Sohn- bzw. Enkelschaft in einer Mischung aus mythologisierender 1360 Weigel (1999), 71. 1361 Vgl. zu den Merkmalen metahistoriographischen Erzählens Herrmann, M. (2010), 266 – 269. 1362 Vgl. Eigler (2005), 224.

Repräsentation des Traumas vs. Ausagieren der Generationsdeutungshoheit

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Tragödien-Optik und sozialpsychologischem Wiederholungszwang beschreibt, liebäugelt unverhohlen mit der Selbstexkulpation durch geschichtliche Schicksalhaftigkeit. Das teleskopische Imaginäre steht bei Kuckarts Lenas Liebe und Wackwitz’ Ein unsichtbares Land eindeutig im Dienst der therapeutisierenden und historisierenden Familienaufklärung. Geheimnisvolle und widersprüchliche Familienerinnerungen können allem Anschein nach besonders gut in Polen enträtselt werden; der lange Schatten von Auschwitz ist zumal dann von Interesse, wenn er zur Familiengeschichtsschreibung beizutragen vermag. Die Opfer bzw. deren Nachfahren, und das lässt zuweilen den Beigeschmack eines Nabelschau betreibenden genealogischen Erinnerungssolipsismus aufkommen, geraten, wenn überhaupt, als Randerscheinungen der Tätergeschichte in den Blick. Von hier aus scheint es noch weit bis zu einer transnationalen Versöhnungsperspektive, wie Levy/Sznaider sie formulieren: So geht es in vielerlei Beziehung nicht mehr nur um die eigentlichen Unrechtstaten (sind die Betroffenen oft schon der biologischen Zeit zum Opfer gefallen), sondern darum, wie deren Nachkommen sich mit diesen Geschichten und Erinnerungen auseinandersetzen. Mit anderen Worten, der Einbezug des Anderen entschärft die Unterscheidung zwischen den Erinnerungen der Täter und der Opfer. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte.1363

Den Einbezug des Anderen als Ausdruck einer transnationalen Erinnerung1364 oder einer kosmopolitischen Perspektive des Gedächtnisraums Europa1365 findet man – und in dieser Hinsicht sind Kuckarts und Wackwitz’ Texte durchaus repräsentativ – in der zeitgenössischen Familienerinnerungsliteratur noch kaum. Allerdings gelingt es ihr, zunächst einmal die inneren Konflikte, die der versäumte Dialog zwischen den Generationen heraufbeschwor, zu schlichten; und damit, wenn man die literarische Erinnerungsarbeit einmal für kollektive Bewusstseinslagen in Anspruch nehmen möchte, keine schlechte Ausgangsbasis für mögliche transnationale Versöhnungsbemühungen bereitzustellen. Vorausgesetzt freilich, dass man sich »an eine gemeinsame Geschichte« überhaupt erinnern will. Binationale Generationsschieflagen nämlich, ein Beispiel aus Lenas Liebe mag das abschließend illustrieren, finden sich ohne Weiteres: Als Nebenfigur taucht in dem Roman die junge polnische Tramperin Beata auf, die in Deutschland eine Schauspielerinnenkarriere machen möchte und das Auto auf dem letzten Teilstück nach Berlin lenkt.1366 Man mag die – nahezu dialogfreie – 1363 1364 1365 1366

Levy/Sznaider (2001), 236. Vgl. Kroh (2008). Vgl. Sznaider (2008). Vgl. Kuckart (2002), 291 – 302.

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Literarische Erinnerungsosterweiterung (Polen zum Beispiel)

deutsch-polnische Fahrgemeinschaft von Ost nach West gleichsam symbolisch für die Periode nach dem Zusammenbruch des Kommunismus verstehen: für die zaghaften Annäherungsbemühungen zwischen Polen und Deutschen bzw. für die Westintegration Polens. Der Text legt freilich auch noch eine andere Deutung nahe: Polen und Deutsche haben am jeweils anderen Land ein gegenteiliges Interesse. Die Deutschen suchen in Polen ihre Vergangenheit, die Polen in Deutschland ihre Zukunft.

Ausblick Auslöschung werde ich diesen Bericht nennen, hatte ich zu Gambetti gesagt, denn ich lösche in diesem Bericht tatsächlich alles aus, alles, das ich in diesem Bericht aufschreibe, wird ausgelöscht, meine ganze Familie wird in ihm ausgelöscht, ihre Zeit wird darin ausgelöscht. (Thomas Bernhard: Auslöschung)

Das teleskopische Imaginäre im Kontext von Zeit und Erinnerung in der Literatur1367 Nachdem bereits Aristoteles in Über Gedächtnis und Erinnerung den inneren Zusammenhang von Zeit und Gedächtnis herausarbeitete und Augustinus in den Büchern X und XI der Bekenntnisse grundlegend und wirkungsmächtig über Erinnerung, Gedächtnis und die Struktur des menschlichen Zeitbewusstseins reflektierte, wird zu Ende des 18. Jahrhundert eine grundlegende »Verzeitlichung des Denkens« (Reinhart Koselleck) etabliert. Die Dynamisierung der Geschichte einer sich als eigenständiges Zeitalter verstehenden Gegenwart führt zur Entstehung der Geschichtsphilosophie (Herder, Kant, Hegel) und zur Etablierung des Kollektivsingulars »Geschichte«. Parallel dazu vollzieht sich die »Entdeckung der Zeit« (Stephen Toulmin/June Goodfield) in den Naturwissenschaften, die Erforschung des inneren Zeitbewusstseins in der Anthropologie, die einen Paradigmenwechsel vom Gedächtnis der Mnemonik und der Memoria-Tradition zu Einbildungskraft und Erinnerung nach sich zieht, und die philosophische Reflexion der Wechselbeziehung von Zeit, Bewusstsein und Identität. Während insbesondere die Krise der Aufklärung nach der Französischen Revolution das Epochenbewusstsein sensibilisiert, hebt mit der Rationalisierung der Zeit um 1800 ein gesellschaftlicher Modernisierungsprozess an, der schließlich in eine Beschleunigung aller Lebensverhältnisse mündet (Industrialisierung, Eisenbahn). Grundlegend für die Temporalisierungserfahrungen der beginnenden Moderne ist die Erkenntnis, dass Zeitkonzepte dem geschichtlichen Wandel unterworfene Kulturkonzepte darstellen. Dieser Umbruch in der Geschichte des europäischen Zeitbewusstseins verändert alle Bereiche der Kulturgeschichte, und damit auch die Strukturen, Themen und Motive literarischer Zeitreflexion auf fundamentale Weise. Vor allem für den Roman werden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Zeit und 1367 Dieser Abschnitt lehnt sich an die Argumentation von Göttsche (2001), 9 – 41, an.

360

Ausblick

Zeitgeschichte zu maßgeblichen Problemstellungen. In der Erzählprosa macht sich das modifizierte Zeitbewusstsein einerseits thematisch-motivisch, andererseits als Motor für neue ästhetische Verfahren des Erzählens bemerkbar. Ansatzweise wurden bereits im Roman der Spätaufklärung und seinen Weiterentwicklungen unter den Problemstellungen »Zeit und Identität« und »Zeit und Sozialität« die Verzeitlichungsprozesse der bürgerlichen Lebenswelt reflektiert (z. B. in Wielands Geschichte des Agathon, in Moritz’ Anton Reiser und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre). Um 1800 dann ändern sich nicht nur die Chronotopoi des Erzählens, also die motivischen Temporalstrukturen des Erzählens (weg von Abenteuer, Lebensweg und Schwelle hin zu Augenblick der Liebe, jugendlicher Aufbruch aus der Heimat und Heimkehr), sondern es entsteht als eine neue Form des Romans auch der Zeitroman, in dem die Zeitgeschichte als Darstellung und Kritik der eigenen Gegenwart erstmals zentrales Thema wird (z. B. in Arnims Gräfin Dolores, Eichendorffs Ahnung und Gegenwart). Der Zeitroman entwickelt sich im 19. Jahrhundert vom Gesellschaftsroman (z. B. Immermanns Die Epigonen, Gutzkows Die Ritter vom Geiste), über realistische Mischformen von Individual- und Gesellschaftsroman (z. B. Freytags Soll und Haben) bis hin zum dialogischen Gesellschaftsroman Fontanes und zur wechselseitigen Verschränkung von Lebens- und Zeitgeschichte in den Romanen Wilhelm Raabes. Obwohl auch das 20. Jahrhundert mit seinen neuen Beschleunigungserfahrungen durch die technische Durchdringung des Alltags noch in der Nachfolge der Verzeitlichung des Denkens im ausgehenden 18. Jahrhundert steht, wird mit den Neuansätzen in den Naturwissenschaften (Mach, Einstein), der Psychologie (Freud), der Philosophie (Bergson, Husserl) und der Literatur (Proust, Musil) eine neue Epoche des Zeitbewusstseins eingeleitet. Während die Literatur um 1900 eine sprach- und bewusstseinskritische Transformation erfährt, wird der Zusammenhang von Zeit und Erinnerung in der Literatur mit den Katastrophenerfahrungen der beiden Weltkriege und dem Epochenbruch des Holocausts unter neue Voraussetzungen gestellt. Als Textkorpus, das unterschiedliche Weisen, die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in Täterfamilien zu narrativieren, bündelt, machen die Schreibverfahren des teleskopischen Imaginären, die national- wie familiengeschichtlich reflektierte Subjektpositionen einer »narrativen Identität«1368 im Zusammenspiel aus Chrono-Logik, Erzählverfahren und Historizität der Phantasie formulieren, ein nicht unerhebliches Kapitel in der literarischen Zeitreflexion im 20. bzw. 21. Jahrhundert aus.

1368 Ricœur (1991), 395.

Das teleskopische Imaginäre im Spannungsfeld der deutschen Nachkriegsgeschichte 361

Das teleskopische Imaginäre im Spannungsfeld der deutschen Nachkriegsgeschichte Es gibt Themen, die sich offensichtlich der Darstellung in wissenschaftlicher Prosa entziehen und vielmehr nach einer literarischen Darstellung verlangen. So ein Thema scheint die Liebe in ihren vielfältigen Ausdrucksformen zu sein, aber eben auch die Nachwirkungen der NS-Familiengeschichte. Als hochgradig parasitäres Kommunikationssystem kappt diejenige Literatur, die Familiengeschichte durch Plots, Figurengestaltungen und Metaphern als imaginäre Verbildlichungen strukturell formt, ja nicht alle Bezüge zur Wahrheit, sondern partizipiert bei ihrer Erschaffung von zwischen Fakten und Fiktionen changierenden Lebenswelten am Wissen der ›Realität‹, ohne deren Verbindlichkeitsund Stringenzanforderungen zu unterliegen.1369 Texte des teleskopischen Imaginären entziehen sich aus systematischen Gründen einer differenzierenden Zuordnung in den Bereich des Fiktiven oder Faktischen. Sie zeichnet aus, dass Darstellungs- und Wissensform einander wechselseitig bedingen. Grenzt man das entsprechende literarische Wissen von dem der empirisch ausgerichteten Familiensoziologie, der Historiographie bzw. der an einem personalen Wissensbegriff orientierten Literaturwissenschaft ab1370, so ließe sich argumentieren, dass das teleskopische Imaginäre in seiner Mischung aus sozialer Energie, kulturellem bzw. psychologischem Wissen und produktiver Einbildungskraft über originäre Erkenntnispotentiale verfügt. Im Falle einer Divergenz zwischen einem so formulierten literarischen Wissen und dem Wissen anderer Diskurse kann »das literarische Wissen entweder ein älteres Wissen gegen ein neueres aufrechterhalten oder gegenüber einem älteren Wissen ein neues Wissen vorbereiten«1371. Daher versteht sich diese Untersuchung mit ihrer Ausrichtung auf das Nachleben der NS-Familiengeschichte auch als ein Beitrag zu einer literarischen Epistemologie, »einer nicht-empirischen Epistemologie, deren Gegenstand die Formen der Weltdarstellung sind«1372. Als Objekt einer literaturwissenschaftlichen Wissensgeschichte, die das Projekt einer Sozialgeschichte der Literatur fortführt (mit dem Begriff des literarischen Wissens als Verknüpfung zwischen Symbol- und Sozialsystem Literatur1373), ist das teleskopische Imagi1369 Vgl. Assmann (2011), 222: »Die neue Erinnerungsliteratur stellt eine besondere Herausforderung für die Literaturwissenschaft dar, weil sich in ihr die klaren Unterscheidungslinien zwischen Literatur und Leben sowie zwischen Fakten und Fiktionen verwischen.« 1370 Vgl. zum Programm einer an einem personalen Wissensbegriff ausgerichteten Literaturwissenschaft Köppe (2007). 1371 Titzmann (1989), 58. 1372 Kohlross (2010), 27. 1373 Vgl. zum Vermittlungsproblem Fulda (2011), 351.

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näre an der Schnittstelle von zeichen- und sozialsystemischer Referenz angesiedelt, zwischen Semantik und individueller bzw. kollektiver Praxis1374 – und bietet auch für eine Wissenssoziologie Anknüpfungsmöglichkeiten, die sich für jene imaginären Muster der Wahrnehmung, Mentalitäten und Diskurse interessiert, die Welterschließung und Handlungsorientierung regeln. Das teleskopische Imaginäre bildet nicht allein einen Gegenstand der literarischen Epistemologie, sondern auch eine historiographische Kategorie der Literaturgeschichtsschreibung. Als spezifischer, Wissensbestände mit imaginativen Verfahrensweisen verbindender Darstellungsmodus der Literatur leistet es einen Beitrag dazu, die Funktion der Literatur einerseits im Ensemble der mit der Geschichtsrekonstruktion beschäftigten Kulturtechniken, anderseits bei der Welterschließung und Handlungsorientierung differenzierter zu bestimmen.1375 Da die Darstellungsweisen und Wissensformen interagieren, lässt sich auch ein Zusammenhang zwischen dem Typ des Imaginären und dem Beziehungsmodus zwischen Literatur und Wissen herstellen. Wenn Michael Titzmann recht hat mit seiner These zur Literaturgeschichtsschreibung, dass für »die Beschreibung aller Prozesse literarischen Wandels, die sich nicht als rein systemintern bedingter Wandel aus den Prämissen des Literatursystems darstellen lassen«, als »relevante Faktoren nur die Relationen der Literatur zu Diskursen, Wissenssystemen, Denkstrukturen in Betracht« kommen1376, dann lassen sich die von Olav Krämer herausgearbeiteten Erklärungsmuster zum Verhältnis von Literatur und Wissen (Intention, Korrelation, Zirkulation) auch in literarhistorischer Perspektive auf Textgruppen des teleskopischen Imaginären übertragen (kulturell, psycho [-patho]logisch, sozial). Wollte man die hier analysierten Fallbeispiele zu einer literaturgeschichtlichen Entwicklungshypothese verdichten, so könnte man resümieren, dass die literarische Vergegenwärtigung des NS-Familienerbes bis in die 1980er Jahre im Zeichen der Zirkulation steht, während sich hinfort eine Ost-West-Teilung abzeichnet, dass das teleskopische Imaginäre ostdeutscher Autoren vom Relationierungstypus der Korrelation, das westdeutscher Autoren von dem der Intention dominiert wird. Anders gesagt: Nach den von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre begegnenden Hamlet-Transformationen und der Väterliteratur um 1980 als literarischen Ausprägungen eines sozialen Imaginären überwiegen in der literarischen Repräsentation des NS-Familienerbes seit der Wende die beiden Modi des Indexikalischen und des Symbolischen, 1374 Vgl. zur sozialen Dimension des Wissens Ort (2011), bes. 170 – 173. 1375 Wobei zu beachten ist, dass »Funktion« ein Dispositionsbegriff darstellt, der nicht auf der beabsichtigten oder faktisch eingetretenen Wirkung von Textmerkmalen beruht, sondern auf dem Nachweis, dass dieses Merkmal grundsätzlich dazu geeignet ist, die genannte Funktion zu erfüllen. 1376 Titzmann (1989), 59.

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sprich das psycho(-patho)logische und das kulturelle Imaginäre. Dabei verbinden sich mit den drei unterschiedlichen Modi einer im Medium der Literatur betriebenen Familiarisierung der NS-Geschichte gewisse ethisch-politische Implikationen bzw. stillschweigende psychologische bis philosophische Hintergrundmotive. Die literarische Verbreitung einer sozialen Energie, die das gespensterhafte Erbe der NS-Zeit mit dem Vorbehalt vergegenwärtigt, dass Hamlet als eine Orientierung stiftende Vorbildfigur ausgedient habe, verklammert eine rückwärts gewandte Solidarität mit den Opfern mit dem Habitus einer geschichtlichen Skepsis, ohne deshalb eine geschichtlich aufgeklärte Hoffnung auf Emanzipation preiszugeben. Wogegen der narrativen Vergegenwärtigung von (transgenerationellen) Traumatisierungen im Familienkontext grundsätzlich ein Gestus der anklägerischen Fremdbestimmtheit eignet, der trotzigen Verweigerung, angesichts der durch die ungute Verquickung aus National- und Familiengeschichte selbst belasteten Existenz umfassend individuelle Verantwortung für die kritische Realpolitik eines geschichtsbewussten Gemeinwesens zu übernehmen. In dieser Haltung verdichten sich all diejenigen Motive, die Klage über die biologischen und historischen Vorfahren führen, über innerfamiliäre Genealogien und Schuldübertragungen, die sich im Syndrom einer historischen Unausweichlichkeit bündeln. Zur lebenslangen Fortexistenz im Schatten einer unverfügbaren Familiengeschichte verurteilt zu sein, birgt, ungeachtet der resignativen Potentiale, in sich die Möglichkeit, auch sich selbst zum Geschichtsopfer zu stilisieren. Als literarische Gattung, die die schuldlos schuldig gewordenen Kinder der NS-Täter porträtiert, promoviert diese Deutungsperspektive das teleskopische Imaginäre zum zeitgenössischen Pendant der – nicht erst seit George Steiners einflussreichem Buch Tod der Tragödie1377 gerne als obsolet betrachteten Gattung – Tragödie. In der poetischen Kollision der drei Prinzipien Familie, Geschichtsbewusstsein und Individualität kulminiert demnach unter der mythischen Optik einer genealogischen Verstrickung die Tragik des geschichtlichen Daseins. Damit nähert sich das psycho(-patho)logische Imaginäre der Zeitdiagnostik einer aufgezwungenen Geschichte, die – ähnlich wie Giorgio Agamben dies charakterisiert in seiner Deutung des Lagers als »verborgener Matrix der Politik, in der wie auch heute noch leben«1378 – noch die Gegenwart als Ausläufer einer verabsolutierten, in Gänze denunzierten Vergangenheit beschreibt. Dem steht mit dem literarisch ausgedrückten Verlangen, das belastete Erbe in Täterfamilien zu historisieren, ein Gestus der aufgeklärten Emanzipation ge1377 Steiner (1962). 1378 Agamben (2002), 185.

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genüber, des bewussten Erbes, angesichts der von den Vorfahren verfügten Schuld nicht aus der Verantwortung für die Vergangenheit entlassen werden zu wollen. Den Nachgeborenen obliegt es demnach, die Beziehung zwischen Freiheit und Schuld in einer Lebensform ziviler Freiheit auszutarieren. Da deren Lebensform mit derjenigen ihrer Eltern und Großeltern verbunden war durch ein schwer entwirrbares Geflecht von familiären, politischen und örtlichen Überlieferungen, das sie erst zu dem machte, was sie später wurden, ergibt sich notwendig ein Bewusstsein geschichtlicher Verantwortung, das sich einer individuellen oder kollektiven Entsorgung der Vergangenheit verweigert. Auch wenn das (Unterlassungs-)Handeln ihrer Eltern und Großeltern den Nachgeborenen, anders als es das ursprungsmythische Denken der Tragödie mit dem Konzept der Schuldvererbung suggeriert, nicht zur Last gelegt werden kann, überträgt sich, wie Jürgen Habermas postuliert, »etwas von dieser Haftung auch noch auf die nächste und die übernächste Generation«1379. Zunächst durch die Verpflichtung, dass die Deutschen die Erinnerung an das Leiden der von deutschen Händen Hingemordeten wachhalten müssen. Diese Toten haben erst recht einen Anspruch auf die schwache anamnetische Kraft einer Solidarität, die Nachgeborene nur noch im Medium der immer wieder erneuerten, oft verzweifelten, jedenfalls umtreibenden Erinnerung üben können.1380

Dann durch die Ausbildung eines nationalen Selbstverständnisses, das allein aus den besseren Traditionen einer kritisch angeeigneten Geschichte schöpft. Die Deutschen können einen nationalen Lebenszusammenhang, der einmal eine unvergleichliche Versehrung der Substanz menschlicher Zusammengehörigkeit zugelassen hat, einzig im Lichte von solchen Traditionen fortbilden, die einem durch die moralische Katastrophe belehrten, ja argwöhnischen Blick standhalten1381.

Die vorliegende Studie diskutierte bislang Fallbeispiele des teleskopischen Imaginären, die bis 2006 erschienen sind. Wie werden die familiendynamischen Nachwirkungen der NS-Zeit in der jüngsten Literatur intergenerationell kommuniziert? Dies soll abschließend anhand dreier exemplarisch ausgewählter Texte angedeutet werden (Alexandra Senfft: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte; Tilman Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater ; Svenja Leiber : Schipino).

1379 Habermas (1987), 141. 1380 Habermas (1987), 141. 1381 Habermas (1987), 142.

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Die diskursive Überformung der psycho(-patho)logischen Narration – Alexandra Senfft: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte1382 ›Für dich und dein Leben, für das, was du aus dir und deinem Leben machst, bist du ganz allein verantwortlich. Wenn es schiefgeht, hast du kein Recht, dich über irgendjemanden und irgendetwas zu beklagen; das ist eine harte, aber klare und notwendige Erkenntnis. Je früher man von ihr durchdrungen ist und entsprechend handelt, desto besser.‹ (163)

So lauten die ernsten Ratschläge des besorgten Vaters Hanns Ludin, der von Ende 1940 bis 1945 Gesandter des Dritten Reichs in der Slowakei war, an sein ältestes Kind, seine 1933 geborene Tochter Erika. Ludin war zu dem Zeitpunkt der Niederschrift, 1946, Insasse des Gefangenenlagers im bayerischen Plattling, seine Tochter Internatsschülerin in Salem. Der Vater, der am 9. Dezember 1947 gehenkt wurde, gab sich alles andere als naiv und wusste durchaus um den »bedingten Wert« (163) seiner Ratschläge: »›Du kannst sie befolgen oder auch nicht.‹« (163) Sie sollte die hohen Ansprüche nicht befolgen. Warum sie dies nicht tat und wie sich Erikas Tochter die lebenslange Nichtbefolgung dieser Botschaften zu erklären versucht, davon handelt Alexandra Senffts 2007 erschienenes Buch Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte. Sieben Jahre brauchte die Ich-Erzählerin, um sich nach dem Tod ihrer mit 64 Jahren verstorbenen Mutter Erika mit deren materiellen Hinterlassenschaften, also mit Fotos, Briefen und sonstigen persönlichen Habseligkeiten auseinanderzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt glaubt die – selbst schon weit über 40 Jahre alte – Erzählerin nicht mehr an die in der Familie kolportierten Legenden ihrer Mutter, wonach die »schwachen Schulleistungen« (14), die Verführung zum Trinken durch ihren Mann oder die genetische Disposition zur Schwermut für ihre selbstzerstörerische Neigung, den »schleichenden Selbstmord« (14), verantwortlich waren. Die Tochter tritt diesen Erklärungsversuchen, die ihres Erachtens von einer Mischung aus Scheuklappendenken und Selbstbetrug zeugen, mit einer starken Vermutung entgegen: »Ich sehe den Auslöser ihres Leidens bei ihrem Vater.« (15 f.) Das gesamte Buch dient dem Versuch, diese These zu entfalten. Hanns Ludin trägt der Enkelin zufolge nicht nur »die politisch-diplomatische Verantwortung für den Tod von nahezu 70000 Juden« (16), sondern hat indirekt auch meine Mutter auf dem Gewissen, denn sie hat seine Schuld unbewusst übernommen, ja fast internalisiert und damit nicht leben können. […] 2007 sind sechzig Jahre vergangen, seit mein Großvater gehenkt wurde – fast ein Menschenleben. 1382 Senfft (2007).

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Wenn ich bedenke, wie sehr die Schuld von damals noch heute in uns, den Nachkommen, weiterwirkt – unbemerkt, versteckt, verdeckt, verschwiegen –, dann sind diese Jahre keine Zeit. (16)

Eine Angehörige der dritten Generation möchte schonungslos die Rolle ihrer Familie in der NS-Zeit ausleuchten und die psychosozialen Auswirkungen dieser Verstrickungen auf die Nachkommen aufarbeiten. Beides zusammengenommen hält sie für die Voraussetzung, um für die kommenden Generationen reinen Tisch zu machen und sie von den unzureichend aufgeklärten Erblasten zu verschonen. Dies sind anspruchsvolle Ziele, wie sie von der intergenerationellen Familienpsychologie und von dem in Deutschland seit der Nachwendezeit vorherrschenden Erinnerungsdiskurs in den unterschiedlichsten Formen zum Ausdruck kommen. Das ist nicht zu kritisieren. Problematisch hingegen ist die insistente kausallogische Verknüpfung zwischen Familien- und NS-Geschichte. Variiert die Erzählerin doch immer wieder ihre Ausgangsthese: »Die Traumata, die die politischen Verstrickungen meines Großvaters und sein erschreckender Tod bei uns Nachkommen direkt oder indirekt erzeugt haben, sind nicht zu bestreiten.« (18) Angesichts der gegenwärtigen Konjunktur des Trauma-Begriffs erstaunt es nicht, dass Alexandra Senfft, die – wovon die »Ausgewählte Literatur« überschriebene Liste am Ende des Buches zeugt (vgl. 349 – 351) – ausgiebige psychologische und historische Studien betrieb und überdies mit dem israelischen Psychologen Dan Bar-on zusammenarbeitete (vgl. 303), sich auf das psychotraumatologische Konzept der transgenerationellen Traumatisierung verlegt: In den Wissenschaften generiertes Wissen wird in Form von psychologischen Wissensbeständen von der Autorin explizit in die Literatur importiert. Überraschend ist vielmehr, dass die familiengeschichtlichen Argumentationen, die die Wechselwirkungen zwischen privater und öffentlicher Geschichte akzentuieren, beharrlich auf das Trauma-Paradigma hinauslaufen. Für die Erzählerin erledigt sich das Kapitel der Nachwirkungen der NS-Familiengeschichte mit ihren Ausführungen und kann in dieser (Buch-)Form als Paradebeispiel für eine aufgeklärte, familiäre Selbsthistorisierung an die eigenen Nachkommen – das Motto lautet: »Für meine Kinder« (5) – weitergegeben werden. Mag man auch die von der Tochter eingeschlagene Richtung, das Lebensleid bzw. die selbstzerstörerische Neigung ihrer Mutter erklären zu wollen, grundsätzlich gutheißen (früher und gewaltsamer Tod des Vaters; Unmöglichkeit, den Vater zu betrauern; Identifikation mit der Schuld des Vaters)1383, so lohnen doch zwei Aspekte ein kritisches Hinsehen: Einerseits die Distanzaufhebung (zwischen der analysierenden Tochter und der zum Opfer stilisierten Mutter), an1383 Vgl. Müller-Hohagen (2008), 159: »Die Aggression von Täterkindern richtet sich in der Regel gegen sich selbst.«

Die diskursive Überformung der psycho(-patho)logischen Narration

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dererseits die durchgängige Präsenz des Trauma-Narrativs1384, das zum Erklärungsmuster für jegliche Form – und mögen sie auch in der Hauptsache selbstinduziert sein wie die Alkoholsucht – der mütterlichen Lebensprobleme avanciert.1385 Eine ethisch fragwürdige Opferidentifikation1386, die auf der hysterischen Identifizierung mit dem Leiden der, so Senffts Prämisse, transgenerationell traumatisierten Mutter basiert1387, fokussiert im Trauma die im kausallogischen Sinn zu definierende Ursache (bei Abschattung aller anderen in Frage kommenden Gründe) für das Lebensunglück der Betroffenen. Den genauen Punkt festzulegen, von dem an emotionales Einfühlungsvermögen oder therapeutischer bzw. philosophischer Ehrgeiz eine metaphorisch falsche Darstellung erzeugen, ist unmöglich.1388 Die Applikation des Trauma-Paradigmas unterliegt dem Angemessenheitsvorbehalt. Indes spricht einiges dafür, dass hier psychologisches Wissen zur Plausibilisierung eines lebensgeschichtlichen Niedergangs instrumentalisiert wird, ohne dass die Darstellung der individuellen Fallgeschichte damit spannungsfrei in Einklang zu bringen wäre. Im Vergleich zu den anderen in dieser Studie behandelten Varianten des psycho(-patho)logischen Imaginären, die psychologisches Wissen nicht als personales Wissen der Figuren entfalten, sondern als Wissensbestände, die in die Handlungsorganisation und Figurenentwicklung eingegangen sind, prätendiert Senffts Erzählerin personales Wissen. Gerade weil sie ihre These zumal diskursiv darlegt, aber nicht eingehend narrativ exemplifiziert, wären hinreichend rechtfertigende Gründe für die Wahrheit ihrer Überzeugung notwendig. Diese aber fehlen. Polemisch gesagt: Senfft entwirft eine holistische Argumentation, die das gesamte Leben ihrer Mutter dem – ursprungsmythisch gedachten – transgenerationell traumatisierenden Vaterschicksal unterwirft. Bereitwillig negiert sie alle Potentiale eines schöpferischen Prozesses der Lebenswirklichkeit, der mit 1384 Vgl. dazu provokativ Kansteiner (2004), 124: »Die Traumametapher ist zu dem beruhigenden Mythos einer akademischen Subkultur verkommen.« 1385 Vgl. auch die Passagen der Trauerrede: »Eri, im Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten geboren, die bewusst den Krieg erlebt und anschließend ihren als Naziverbrecher hingerichteten, geliebten Vater verloren hatte, hat unter diesem traumatischen Kindheitserlebnis Zeit [sic!] ihres Lebens gelitten. Es war ihr deshalb auch nicht gegeben, andere schmerzhafte Erfahrungen, wie insbesondere den Verlust unseres Vaters, zu verarbeiten. Als nach Hanns auch noch ihre zweite große Liebe, Heiner, gegangen war, standen bei ihr die Uhren still«. (332) – Ähnlich auch 336; zwar gesteht die Tochter auch einmal ein, dass es »keine monokausale Erklärung für ihr Leiden [das Leiden der Mutter; M. O.]« (337 f.) gibt, nur um freilich im gleichen Atemzug zu behaupten: »Die eigentlichen Ursachen liegen in der verletzten Psyche begraben, deren ursprüngliche, nie überwundene Traumatisierung durch viele neue Belastungen immer wieder entfacht wurde.« (338) 1386 Vgl. Baer (2000), 19. 1387 Vgl. zur hysterischen Identifikation mit dem Leiden der Eltern Brainin/Ligeti/Teicher (2001), 161. 1388 Vgl. Kansteiner (2004), 133.

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der Betonung stets neuer Ziele entschieden gegen ein ursprungsmythisches Denken protestiert. Retrospektiv verweigert sie ihrer Mutter damit jegliche Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben zugunsten einer genealogisierenden Rückbindung an die Macht des Familientraumas. Egal, ob man Hanns Ludin für einen naiven Schreibtischtäter oder einen skrupellosen Verbrecher hält, man wird ihm kaum absprechen können, dass er am Beispiel seiner Tochter seine Nachkommen nicht davor gewarnt hätte, die geistige Hoheit über die selbstbestimmte Lebensführung allzu bereitwillig aufs Spiel zu setzen: »Für dich und dein Leben, für das, was du aus dir und deinem Leben machst, bist du ganz allein verantwortlich.« (163)

An der Grenze zwischen kulturellem und psycho(-patho)logischem Imaginären – Tilman Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater Ein anderes Zeugnis von resolut praktizierter Deutungshoheit über die ElternGeneration liefert Tilman Jens’ 2009 publiziertes Buch Demenz. Abschied von meinem Vater1389. Es schildert, wie der mitreißende Rhetor von einst, der nicht zuletzt auch als Homo politicus, Kritiker und Schriftsteller tätig war (vgl. 1.3), unter dem Einfluss fortschreitender Demenz Sprache und Gedächtnis verliert. Über die Motive des Sohns, der die Krankenakte schreibt, zu befinden, ist kein Leichtes. Folgt doch auf die Respektsbezeugung (»mein Vater, der mein Vorbild war und dies immer bleibt« [63 f.]) der Betrugsvorwurf (»Aber ich, sein erstgeborener Sohn, fühle mich von ihm um seine Geschichte betrogen.« [74]), auf das Eingeständnis der Gutgläubigkeit (»Ich beschließe – und könnte mich heute ohrfeigen dafür –, wider besseres Wissen meinen Frieden zu machen mit seiner Legende von der unwissentlichen Aufnahme in Hitlers Partei.« [79]) die fatale Diagnose (»Mein Vater weiß heute nicht mehr, wer er ist.« [89]). So undurchsichtig die Vater-Sohn-Problematik sein mag, so entschieden steuert Tilman Jens auf seine Kernthese zu: War es wirklich ein Zufall – an den Du, der Kenner, Interpret und Übersetzer antiker Tragödien ohnehin nie geglaubt hast –, dass Dich das große Vergessen, die Demenz, der heimtückische Nebel, so hat es John Bayley gesagt, just in dem Augenblick überkam, als ein philologisches Fachlexikon die Existenz der NSDAP-Mitgliedskarte 9265911 offenbarte? (123)

Das Fragezeichen puffert allenfalls rhetorisch ab, was als fixe Idee das Epizentrum des Buchs ausmacht: Tilman Jens zeigt sich davon überzeugt, dass sein Vater sich aus Scham über die verschwiegene Mitgliedschaft in die Demenz 1389 Jens (2009).

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geflüchtet habe. Die faktuale Schreibweise wird durchsetzt mit einer auf auktorialer Imagination basierenden Hypothese. Dem Leser wird damit eine psychologische Erklärung der Krankheit suggeriert: Erst als Walter Jens 2003 mit einer Karteikarte konfrontiert wurde, die seine Mitgliedschaft in der NSDAP belegte, und er damit nicht an die Öffentlichkeit ging, sondern sich ins Schweigen zurückzog, habe die Krankheit eingesetzt. Die »fatale SchweigeKrankheit« (89) sei ursächlich für die Demenz; aufgrund seiner Verdrängungsleistung sei der Demenzkranke gleichsam selbst verantwortlich für seine Lage. Soll hier die griechische Scham-Tragödie par excellence auf bildungsbürgerlicher Bühne nachgespielt werden? Der legendäre Rhetor der Nation, homme de lettres durch und durch, anstelle von Aias, dem kampfeslustigen und ehrversessenen Idealtypus einer heroischen Weltordnung?1390 Tübingen übernimmt die Rolle von Troja? Flucht in die Demenz statt in den Selbstmord? Tilman Jens gibt den Regisseur einer fulminanten Geschichtstragödie und kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine ans Zynische grenzende Argumentation von der selbstverschuldeten Demenz auf einem esoterischen Psychobiologismus aufruht, dass hier ein kulturelles Imaginäres vorliegt, das psychologisches Wissen allein prätendiert, aber von dem gegenwärtigen Kenntnisstand der medizinischen Forschung nicht bestätigt wird. Die Suche nach den Gründen für Walter Jens’ Demenz wird wohl offen bleiben müssen. Aus der Tatsache, dass diese quälende Frage nicht abschließend beantwortet werden kann, zieht die These des Sohnes ihr suggestives Potential. Ein Gedankenspiel: Sollte die medizinische Forschung eines Tags den seelischen Ursachen die Oberhand über die organischen Gründe der Demenz verleihen, so dürfte Tilman Jens mit seiner Erklärung der väterlichen Krankheit (Konsequenz der Schamvermeidung, die eigene NS-Vergangenheit gesellschaftlich offenbart zu wissen) einst als Prophet eines psycho(-patho)logischen Imaginären gelten: Demenz als psychosomatischer Ausdruck seelischer Nöte. In dieser Zukunftsvision verkörpern Nachkommen von Nazi-Parteigängern wie Tilman Jens die Figur eines Hamlet, der seine Rolle usurpiert. Statt als Delegierter des Vaters aufzutreten, wird die Deutungsmacht über die Aitiologie des väterlichen Auftretens und über dessen eigentlichen Willen reklamiert. So beunruhigend die Demenz-Krankheit von Walter Jens sein mag, seine Demenz als Metapher zu beschreiben1391, hieße, die Kulturalisierung der Natur

1390 Vgl. Meier (1988), 197: »Sophokles hat Aias zur geradezu idealtypischen Ausprägung des archaischen Heldenideals gemacht. Er ist groß, gewaltig, hat für sich allein ungeheure Taten vollbracht. Im Zentrum seines Denkens steht die Ehre.« 1391 Zur Krankheit als Metapher vgl. Sontag (1981).

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auf die Spitze zu treiben1392. Tilman Jens arbeitet mit dem kulturellen DemenzWissen und möchte dieses um eine psychologisierende Erklärungshypothese erweitern. Durch seine Hypothese, die auf Akzeptanz der psychologischen Wissenschaften und zukünftige Integration in deren Wissensbestände aspiriert, ist am Übergang vom kulturellen zum psycho(-patho)logischen Imaginären angesiedelt. Womöglich variieren Vertreter der dritten oder einer späteren Generation dereinst ein psycho(-patho)logisches Imaginäres namens »Psychosomatologie der NS-Verdrängung«.1393 Damit würden sie die Figur der transgenerationellen Traumatisierung, die auf der psychologischen Beeinflussung der nachfolgenden Generationen aufruht, in Form einer psycho(-patho)logisierenden Vorfahren-Deutung gleichsam umkehren. Im zeitgenössischen Diskursrahmen jedoch steht Tilman Jens, obwohl auch Arno Geiger sich in seinem vielgelobten Buch über seinen dementen Vater (Der alte König im Exil, erschienen 2011) der Spekulationen über die psychischen Folgen der während der NS-Zeit gemachten väterlichen Schreckenserfahrungen befleißigt1394, damit (noch) ziemlich allein da.

Metonymische Psychohistorie – Svenja Leiber: Schipino Während Alexandra Senfft und Tilman Jens in ihren Versuchen, die Deutungshoheit über die Eltern-Generation zu gewinnen, wortreich SymptomAnalyse betreiben und eindeutige Diagnosen formulieren, entwirft Svenja Leiber in ihrem 2010 erschienenen Debütroman Schipino1395 eine sich über drei Generationen erstreckende Familienbeziehung, wie sie unausgesprochener kaum sein könnte. Der traurige Held Jan Riba lässt sein deutsches Leben hinter sich und flieht im Zug nach Russland. Dort lebt er, eingeführt durch seinen russischen Freund Viktor, fortan als Teil einer lockeren Gemeinschaft rätselhafter Sonderlinge in einer kleinen Siedlung zwischen Petersburg und Moskau. Unklar ist, warum der Neununddreißigjährige »aus dem Fahrzeug der Pflichten« (41) ausstieg, um in der russischen Einöde seine kindliche Sehnsucht nach Ganzheit auszuleben. Klar hingegen ist, dass er, der sich selbst ein großes Rätsel darstellt, für sein naturnahes Alternativleben seine bürgerliche Lebensform 1392 Vgl. grundlegend zum Zusammenhang von Hirnforschung und Sprachgebrauch Janich (2009). 1393 Vgl. zu dem therapeutischen Selbstermächtigungsfuror polemisch Rutschky (1998), 267: »die therapeutische Gesellschaft entwirft die restlose Kontrolle der Welt durch Verständnis«. 1394 Geiger (2011), 164 – 167. 1395 Leiber (2010).

Metonymische Psychohistorie

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eintauschte, sich von seiner Ehefrau verabschiedete1396 und Knall auf Fall seine Arbeitstelle hinter sich ließ1397. Svenja Leiber inszeniert das Russland-Abenteuer ihres zwischen Indifferenz und Melancholie changierenden Helden so, dass der Leser zwar beständig nach Erklärungsangeboten für die Leerstelle Ausschau hält, die mit Ribas plötzlicher Flucht aus Deutschland klafft, aber keine explizite retrospektive Entwicklungslogik im Stil eines Bildungsromans geliefert bekommt. In Ribas Perspektive liest sich das so: »Keine Vergangenheit, denkt Riba. Keine Erinnerung, keine Vorstellung, keine Wünsche.« (168) Im letzten Viertel des Buchs indes legt die Autorin an verschiedenen Stellen Spuren aus, die mit des Protagonisten Sehnsucht nach einer Tabula rasa des Bewusstseins korrelieren, und überantwortet dem Leser die Aufgabe, die Motive für die textinterne Ausrichtung auf die Tilgung von Vergangenheit zu ergründen. Diese haben, nicht wirklich überraschend, mit eben jener Vergangenheit zu tun, die Riba auslöschen möchte, konkret, mit seiner Familiengeschichte. Die einzigen materiellen Zeugnisse, die Riba in der russischen Provinz noch mit seiner Lebensgeschichte verbinden, sind das Kriegstagebuch und die Feldbriefe seines Großvaters mütterlicherseits, die dieser während des Russlandfeldzugs im Zweiten Weltkrieg verfasste. Ribas Mutter schickt sie ihm, da sie selbst mit der Frage nach seinem Ausstieg nicht weiterkommt: »Vielleicht hast Du schon in dem Buch gelesen. […] Ich weiß ja nicht, ob das etwas bringt. Und ich habe es Dir ja schon einmal geschrieben: Vielleicht nur einfach irgendjemanden dort liebhaben« (169). Riba liest in den Briefen an die Eltern und die Schwester, in den Beschreibungen von Marschrouten und Kriegsgräueln, »liest zwei Stunden lang« (170)1398, danach heißt es: Mämi. Liebe Mämi. Riba führt Krieg. Er hat keine Vorstellung, nur Szenen. Aber die sind nie so, dass einem das Trommelfell platzt. Und nie tut was weh, äußerlich, so dass es blutet. Nie hat es was von diesem Moment, wo einem wirklich was blutet. Er versteht nichts vom Krieg, vom Exzess, in Tonnen von Mahnung gegossen. Aber weh tut es ja trotzdem, wo es innen stecken bleibt. Der ungekaute Beton im Hals. Eine Betonseele. Seine Seele, die ihm längst die Luft nimmt, und das Gebot zu schweigen, das Gebot vor dem Nichts, nichts mehr zu sein. Und wenn es…? Und wie lange noch? (172)

1396 Vgl. 135 f.: »Sein Leben ist belanglos. Er erinnert sich schlecht. Sein Leben ist wie die Leben seiner Freunde, seine Wohnung gleicht den Wohnungen der anderen, von Reisen gibt es nichts zu erzählen, denn sie unterscheiden sich nicht von denen der Kollegen. […] Er hat seinen Vater weder an Reichtum noch an Intelligenz eingeholt und seine Frau hat er nur geliebt, weil er gedacht hat, das werde von ihm verlangt.« 1397 Vgl. 168 (einem Brief seiner Mutter entstammend): »Hier hat sich einiges bewegt. Deine Kollegen haben angerufen. Du brauchst nicht mehr wiederzukommen.« 1398 In Entsprechung zu den exakt zwei Seiten Auszügen aus den großväterlichen Schriften (vgl. 170 – 172).

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Über das Schicksal von Ribas Großvater – ob er im Verlauf des Russlandfeldzugs fiel oder den Krieg überlebte – schweigt sich der Roman aus. Offensichtlich aber wandelt Riba in zweierlei Hinsicht in seiner Spur : Er bricht jäh die Brücken hinter seinem alltäglichen Dasein in Deutschland ab und taucht in der russischen Landschaft unter. Doch die persönlichen Motive von Großvater und Enkel sind grundverschieden: Der Großvater verließ seine Familie, nach der er sich unablässig sehnte, um in Russland zu töten; der Enkel sprengt das eigene Lebenskontinuum auf und entflieht seiner kleinbürgerlichen Existenz, um im russischen Hinterland neu zu beginnen. Ribas Lebensgeschichte und die seines Großvaters stehen in einem metonymischen Verhältnis zueinander. Es hat den Anschein, als ob die NS-Familiengeschichte, obwohl deren Nachwirkungen ausdrücklich nicht thematisiert werden, nicht vergessen sei, sondern als unbewusste, wenngleich schmerzhafte Gedächtnisspur in Ribas Kleinbürgerexistenz wieder auftaucht. Noch einmal der entscheidende Satz: »Aber weh tut es ja trotzdem, wo es innen stecken bleibt.« (172) Ebenso wenig wie sich Axel Dunker zufolge heute eine »bedeutende Literatur zum Holocaust« vorstellen lässt, »die das Problem der Repräsentierbarkeit und den zunehmenden zeitlichen Abstand nicht reflektiert«1399, gilt dies für ernstzunehmende Literarisierungen des teleskopischen Imaginären. Der Epochenbruch, den der Holocaust auch für die Literatur markiert, macht sich just zu dem Zeitpunkt erneut bemerkbar, zu dem die Zeitzeugengeneration im Verschwinden begriffen ist. Damit »fallen eine ganze Reihe von literarischen Schreibweisen weg, die nur um den Preis der Unglaubwürdigkeit zu ersetzen wären«1400. Gerade die Metonymie, die Reales, Psychologisches oder Sprachliches in Form von Ähnlichkeitsbeziehungen bündelt, scheint sich jedoch für Formen des teleskopischen Imaginären zu eignen, die nicht mehr auf signifikante, das NS-Erbe kommunikativ tradierende Eigenerfahrungen zurückgreifen kann. Auf dem Weg der metonymischen Verschiebung bietet sich nämlich die Chance, bloße Spuren der Familiengeschichte im Erfahrungsraum der nachfolgenden Generationen blitzartig auftauchen zu lassen. Prosa-Schreibverfahren, die mit der rhetorischen Figur der Metonymie arbeiten, kennzeichnen aufgrund der ihnen eigenen Umwegigkeit nicht nur eine »Literatur um Auschwitz herum«1401, sondern auch eine Literatur um das NS-Familienerbe herum. Jan Riba, der familiengeschichtlich vorbelastete Protagonist aus Svenja Leibers Roman Schipino, findet schließlich einen Ausweg aus seiner melancholischen Gemütsverfassung und erscheint im letzten Kapitel als ein Geläuterter (angedeutet nicht zuletzt durch einen Wechsel vom auktorialen zum Ich-Er1399 Dunker (2003), 289. 1400 Dunker (2003), 296. 1401 Dunker (2003), 287.

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zähler). Erleichtert stellt er fest: »Ich bin geschichtslos.« (196) Riba macht sich auf dem Weg einer Lebensführung, die metonymisch entscheidende Markierungspunkte der großväterlichen Lebensgeschichte nachvollzieht, von der transgenerationellen Beeinflussung frei. Zwar ist diese ausgelöschte Vergangenheit eng mit der seiner Eltern und Großeltern verknüpft – und insofern auch psychologisch nicht von den Ostfronterfahrungen des Großvaters zu trennen –, aber es gilt auch, an der faktischen Differenz festzuhalten, die zwischen der Geschichte der Vorfahren und der eigenen existiert. Erst wenn diese Trennung verstanden ist, wird es möglich, die eigenen Identifizierungsnöte zu realisieren und durchzuarbeiten. Erst dann können die Gegenidentifizierungen und genealogischen Wunschmanöver Gegenstand der unverstellten Wahrnehmung und des Denkens werden. Das aber wäre die Voraussetzung dafür, die ›Gewalt-Erbschaft‹ als eine Realität anzuerkennen, die das eigene Handeln, die intellektuelle und psychische Selbstverortung bestimmt – und zu Teilen zur Verzerrung der Realitätswahrnehmung führt.1402

Im Verlauf seines Russlandaufenthalts erwirbt Riba praktisches Wissen1403, konkret, Fertigkeiten, wie sein Leben subjektiv zufriedenstellend zu bestellen sei. Wodurch nicht zuletzt, so könnte man schlussfolgern, über die formalen Gestaltungselemente (v. a. die Metonymie) vermittelt die Urteilsfähigkeit des Lesers geschärft bzw. dessen Repertoire an Vergangenheitsbewältigungsstrategien erweitert wird. Entzieht sich Riba doch dem Primat einer kritisch-reflexiven Durcharbeitung der eigenen Familiengeschichte, um auf dem Weg einer metonymischen Ähnlichkeitsbeziehung die Akzeptanz der familiären NS-Geschichte als notwendige Bedingung zur Abspaltung der lebensverhindernden Vergangenheitsanteile zu betreiben.

Einhegung des gespenstischen Eigensinns Jeder Lebenslauf partizipiert an einem intergenerationellen Familienerzählraum. Die Kräfte des teleskopischen Imaginären liefern ein wenn nicht privilegiertes, so zumindest einflussreiches Bildreservoir, aus dem geschichtsversessene Gesellschaften wie die der deutschen Gegenwart ihre Selbstrepräsentationen modellieren. Als Medium alternativer Möglichkeitsräume des Wissens greift die teleskopisch-imaginative Literatur nicht nur, um ihre eigenen Erinnerungen und Vorstellungen zu materialisieren, auf das Archiv überlieferter Bilder (speziell dessen rhetorisches, narratives und ikonographisches Repertoire) zurück, sondern sie erweitert das kulturelle Gedächtnis auch um zahlreiche genealogisch 1402 Jureit/Schneider (2010), 208. 1403 Vgl. zur Explikation des Begriffs Köppe (2008), 157 – 169.

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Ausblick

orientierte Familienperspektiven.1404 Diese mediatisierte Version von Familiengeschichte akzentuiert, differenziert man zwischen dem, was geschehen ist und wie es weitergegeben wird, zum einen die Verhältnisse aus genuiner und projektiver Erinnerung sowie die Beziehungen zwischen konkreten Vergangenheitszeugnissen und künstlerisch kreativer Imagination; zum anderen, wie im Familienzusammenhang mit dem Nationalsozialismus in Verbindung stehende Geschichtszusammenhänge tradiert und repräsentiert werden, mithin die Übertragungswege und Formierungsmöglichkeiten von Familiengeschichte1405. Dabei mag das ›Gespenst der NS-Familiengeschichte‹ als Chiffre für all jene Kräfte dienen, von denen auch die Gegenwartsliteratur noch maßgebliche Impulse empfängt.1406 Diese Literatur bezeugt, dass das, was die Elterngeneration durch Euphemismen, Schweigen, Schuldabwehr und andere Selbstimmunisierungsreflexe eingekapselt und von sich fern gehalten hatte, dennoch auf subkutanem Wege an die zweite und dritte Generation weitergeleitet worden ist. Es ist diese nicht weitergereichte aber weitergeleitete Geschichte, mit der sich die Autorinnen zum Teil auf sehr persönliche Weise auseinandersetzen.1407

Wenn man unterstreicht, dass es auch in der Literaturgeschichte um »die Herstellung von Phantombildern« geht, wird doch »aus den Erinnerungen verschiedener Autoren das Bild einer Epoche hergestellt«, so können die Phantombilder der teleskopischen Familienimaginationsliteratur als »Allegorie für das Aufschreibesystem Literaturgeschichte« verstanden werden1408. Als ästhetisch eingehegte Formierungen eines gespenstischen Eigensinns bilden sie zudem Elemente zu einer Problemgeschichte des teleskopischen Imaginären nach 1945, das mit seiner Basisvoraussetzung von der Unumgänglichkeit des Familiären spürbar in der psychohistorischen Tradition der Tragödie steht. Allen Darstellungsformen des teleskopischen Imaginären wohnen, gleich ob sie als Varianten eines hamletologischen, gerichtsförmigen, therapeutisierenden, 1404 Ein diesbezüglich wichtiges Desiderat besteht Levy (2010), 101, zufolge darin, die kulturellen Praktiken und Medien im Hinblick auf ihre (sozial-)psychologische Wirksamkeit zu untersuchen, also Repräsentation und Rezeption zu verbinden. 1405 Vgl. im Hinblick auf die Erinnerungsliteratur im Allgemeinen Herrmann, M. (2010), 266: »Wenn […] der Prozess der Einschreibung ins kulturelle Gedächtnis die Form für die weitere Erinnerung mit bestimmt, so gehören zur erinnerten Vergangenheit nun auch die Erinnerungsmodi selbst. Mit den Romanen als Gedächtnismedien werden dem kulturellen Gedächtnis die Prozesse der Erinnerung, Rekonstruktion und Spurensuche und die Probleme der Repräsentation eingschrieben.« 1406 Als weiterer einschlägiger Kandidat für das literarische Imaginäre kommt das ›Gespenst des Kapitals‹ in Frage, vgl. zu dessen Geschichte und Einfluss auf die globalisierte Gegenwart Vogl (2010/2011). 1407 Assmann (2011), 216 f. 1408 Weigel (2006), 72.

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historisierenden oder metonymisierenden Deutungsmusters auftreten1409, zwei entscheidende Motive inne: eine Durcharbeitung der ›ungebetenen Hinterlassenschaften‹ der NS-Familiengeschichte und ein diesem Prozess immanentes Telos.1410 Mit Derrida gesagt: »Niemals erbt man, ohne sich mit Gespenstigem auseinanderzusetzen«1411. Und: »Dieses Messianische bleibt […] ein Kennzeichen des Erbens, der Erfahrung des Erbes im allgemeinen.«1412 Es sind diese beiden Motive des teleskopischen Imaginären, die, legt man die Erzähltexte dieser Studie zugrunde, die Verwandlungskraft der intergenerationell tradierten NS-Geschichte im Zusammenspiel mit ihren literarischen Darstellungsmöglichkeiten begründen und bis in die Gegenwart dominieren. Der psychodynamischen Belastung durch das familiengeschichtliche Ungewisse korrespondiert eine Sehnsucht nach Entlastung durch Ankunft: individuell im begründeten Wissen oder in der Geschichtslosigkeit, kollektiv in der aufgeklärten und gerechten Gesellschaft.

1409 Vgl. zu Deutungsmustern, mit deren Hilfe »die Welt kategorial erschlossen, strukturiert und interpretiert wird«, Fulda (2011), 348. 1410 Griese (2009), 271, zufolge behaupten die Autoren zeitgenössischer Familienerinnerungsliteratur »mehrheitlich, dass die Auseinandersetzung mit den historischen Tatsachen notwendig bleibt, gleichzeitig aber, dass dieser Prozess zu einem erfolgreichen Ende geführt und prinzipiell abgeschlossen werden kann«. 1411 Derrida (2004), 39. 1412 Derrida (2004), 48.

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