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German Pages 238 Year 2020
Kat Lawinia Gorska Claude Cahuns Poesie des Objekts
Image | Band 179
Kat Lawinia Gorska studierte Kunstgeschichte und Medienwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und promovierte dort am Institut für Medienwissenschaft. Sie forscht zu Fotografie sowie zum Verhältnis zwischen Praktiken des Experimentalfilms, der Organisation in Kollektiven und der feministischen Theoriebildung in den 1970er und 1980er Jahren in Europa. Zudem arbeitet sie als freie Autorin, Kuratorin und Übersetzerin und gründete 2014 die Experimentalfilmplattform »Attaque(e)r le visible«.
Kat Lawinia Gorska
Claude Cahuns Poesie des Objekts Über das infizierende Nachleben von Fotografien
Die erste Fassung der vorliegenden Studie ist 2018 von der Fakultät für Philologie an der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen worden. Die Druckkosten des Buches wurden von der Gerda-Weiler-Stiftung e.V. (http:// www.gerda-weiler-stiftung.de/) bezuschusst.
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© 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Claude Cahun, Le Coeur de Pic, variante planche XVI, 1936. (Mit freundlicher Genehmigung von Soizic Audouard.) Korrektorat: Die Zeichen | Manufaktur Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5280-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5280-6 https://doi.org/10.14361/9783839452806 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Danksagung ........................................................................ 7 Einleitung .......................................................................... 9 Zielsetzung ........................................................................ 20 Aufbau............................................................................. 22 1. 1.1 1.2
Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie ....................................... 27 Cahuns kunsttheoretische Texte ............................................... 31 Informe Objekte – eine andere Ökonomie der Dinge............................ 60
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits .............................. 109 Autor_in...................................................................... 116 Die Kollektivität des Blicks .................................................... 118 Fotografische Krankheit: Cahuns anorektischer Körper ........................ 121 Fotografische (Homo-)Sexualität .............................................. 141 Fotografische Selbstbildnisse als Index des Selbst ............................ 165
3.
Das Fotografische? Fotografien des Selbst und der Objekte ..............................................................175 3.1 Die Macht des Index: Selbstportraits ..........................................175 3.2 Objektfotografien: objet-photo oder fotografische Ausdrucksmaterie ......... 184 Schluss........................................................................... 201 Cahun: Fotografin der Selbstportraits .............................................. 202 Medienwissenschaftliche Zugangsweise ........................................... 205 Die Unbestimmtheit der Medien.................................................... 207
Literaturverzeichnis.............................................................. 209 Abbildungsverzeichnis ........................................................... 233
Danksagung
Ein Buch schreibt man nie alleine. Auch dieser Text entstand auf einem langen Weg voller Begegnungen, Erlebnisse, Erfahrungen – und nicht zuletzt durch zahlreiche Zufälle. An dieser Stelle möchte ich all jenen danken, die das vorliegende Buch, dessen erste Version 2018 von der Fakultät für Philologie (Institut für Medienwissenschaft) der Ruhr Universität Bochum als Dissertation angenommen worden ist, ermöglicht haben. Sehr verbunden fühle ich mich Astrid Deuber-Mankowsky für die Betreuung meiner Arbeit und die langjährige Unterstützung. Dafür und auch für ihre Anregung zum letzten Schliff des Titels dieses Buchs danke ich ihr ganz herzlich. Ebenso gilt mein Dank Eva Warth und dem Kolloqium Medien und Gender u.a. Natascha Frankenberg, Jasmin Degeling, Julia Eckel, Maraike Mais, Felix Raczkowski, Jennifer Eickelmann und Sonja Kirschall, denen ich Teile der Arbeit präsentieren und zur Diskussion stellen konnte. Angeregt wurden meine Gedanken durch zahlreiche weitere Gespräche u.a. mit Annette Urban, Marie-Luise Angerer, Louise Downie, Nanda van den Berg, Cooki Snoei, François Leperlier, Florence Pignarre und Émilie Moutsis. Für das Zugänglichmachen ihrer Sammlung und die Bereitstellung einer ihrer Fotografien als Titelfoto dieses Buchs bedanke ich mich bei Soizic Audouard. Auch die Diskussionen über Claude Cahun mit Sarah Pucill, die zu dieser Zeit an ihrem Film Confessions to the Mirror arbeitete, weiß ich sehr zu schätzen. Weiterhin möchte ich für die zeitintensive Begleitung und unersetzliche Hilfe in jedem Teil meines Vorhabens Dominik Merdes von ganzem Herzen danken. Außerdem bedanke ich mich bei Zofia Górska, Elżbieta Górska, Tadeusz Górski, Friederike Merdes und Martin Merdes für ihre motivierende Unterstützung. Ganz wichtig war zudem der Austausch mit dem Team von La Mutinerie, einem queeren Begegnungsort in Paris, wo die Themen Feminismus, Queerness und Transness weniger aus einer akademischen Perspektive theoretisch überlegt, sondern gelebt, besprochen und verhandelt werden.
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
Hier gilt mein besonderer Dank Jo, Ju, Camille le Frieck, Samia, Maria und Kanu Muringi sowie Maïc, Sodium und Gomorrhe, die mich oft in Paris beherbergt haben. Während meiner Forschungsaufenthalte habe ich zahlreiche Archive, Sammlungen und Bibliotheken besucht, deren Mitarbeiter_innen ich für ihre Hilfe und Unterstützung zu Dank verpflichtet bin. Unter anderen waren dies die Jersey Archives, in Paris die Bibliothek des Maison européenne de la photographie, die Bibliothèque Kandinsky, die Bibliothèque Marguerite-Durand und die Bibliothèque Nationale (BNF), insbesondere der Standort Richelieu, in Nantes die Archives Municipales, die Médiathèque Jacques Demy und das Musée d’Arts de Nantes, das wunderschön in einem alten Kloster gelegene Institut Mémoires de l’édition contemporaine in Caen, die Kunstbibliothek in Berlin, das Institut für Zeitgeschichte in München sowie in London die British Library, die Wellcome Library und der Prints and Drawings Room der Tate Britain. Für die finanzielle Unterstützung bedanke ich mich sehr bei der RUB Research School, die mir zwei gebündelte Forschungsaufenthalte u.a. in Paris, Jersey und London, ermöglichte, ohne die ich nicht imstande gewesen wäre, diese Arbeit zu schreiben. In der Abschlussphase hat mich die Gesellschaft der Freunde der Ruhr Universität Bochum großzügig mit einem Wilhelm und Günter Esser Stipendium unterstützt, wofür ich mich an dieser Stelle besonders bedanke. Der Gerda-Weiler-Stiftung danke ich ganz herzlich für die Bezuschussung des Drucks.
Einleitung
Als ich zu Beginn meiner Dissertation mein Vorhaben schilderte, eine Arbeit zum Thema Claude Cahun zu verfassen, rief dies unter Kunstwissenschaftler_innen nicht selten Verwunderung hervor, weil angenommen wurde, dass die Künstlerin kunsthistorisch mittlerweile sehr gut erfasst ist. Tatsächlich wurde Claude Cahuns Fotografien in der Kunstgeschichte große Aufmerksamkeit geschenkt. Nachdem ich begonnen hatte, mich in Cahuns Arbeiten und in die Literatur über sie zu vertiefen, fiel mir auf, dass es besonders ihre Selbstportraits waren, die im Fokus der Forschung standen. Bei der weiteren Analyse der vielen Ausstellungskataloge zu Cahuns Arbeiten stieß ich allerdings auch auf andere Fotografien. Besonders stach ein Katalog aus dem Jahr 2006 hervor. Es handelte sich um Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, den Bestandskatalog des Jersey Archive, wo sich die größte Sammlung von Cahuns Fotografien befindet.1 Einige Fotografien, die in diesem Katalog neben gut bekannten großformatigen Bildern viel kleiner abgedruckt waren, sowie mehrere, zum Teil mit kurzen Beschreibungen versehene, Signaturen, denen keine Reproduktion zur Seite stand, zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Die meisten der kleinen Reproduktionen kannte ich noch nicht. Unter diesen Fotografien befanden sich Selbstportraits, aber auch viele andere Genres. Die Fotografien, die nur über ihre Signatur erwähnt wurden, deuteten darauf hin, dass das Archiv eventuell über weitaus mehr Fotografien verfügte, als bis dato reproduziert worden waren. Daraufhin beschloss ich, dem nachzugehen und das Archiv zu besuchen, um seine Bestände zu durchforsten. Es folgten zwei Forschungsaufenthalte im Jersey Archive in den Jahren 2013 und 2014, die ich dank der großzügigen Unterstützung der Research School der Ruhr-Universität Bochum verwirklichen konnte. Diese Aufenthalte konnten
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Vgl. Downie, Louise [Hg.]: Dont’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006.
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meine Vermutung bestätigen, dass im Archiv noch sehr viele Fotografien verblieben waren, die einem breiteren Publikum unbekannt waren. Die Lage des Archivs und der schwierige Zugang zur Kanalinsel Jersey könnten zum Teil erklären, warum die Fotografien so lange unberücksichtigt blieben. Zudem könnte die junge Geschichte der Sammlung des Archivs, die zum damaligen Zeitpunkt noch keine 20 Jahre zählte, dazu beigetragen haben. Die ersten und für die ganze Forschung um Cahun sehr prägenden Aufsätze zu Cahun waren nämlich zu einer Zeit entstanden, als es das Archiv noch nicht gab und Cahuns Arbeiten vereinzelt in Galerien und privaten Sammlungen zirkulierten. Die Cahun-Sammlung des Archivs auf Jersey wurde 1995 gegründet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.2 Seitdem beherbergt das Jersey Archive die bedeutendste und größte Sammlung an Fotografien, Texten und anderen Dokumenten zu Cahun, unter anderen ihre Briefe und persönliche Gegenstände. Das Musée des Beaux Arts in Nantes ist im Besitz der zweitgrößten Sammlung von Cahuns Arbeiten, aber selbst mit vielen Neuerwerbungen aus dem Jahr 2010 reicht ihr Umfang nicht an die Sammlung des Jersey Archive heran. Der Weg, auf dem Cahun für die kunstgeschichtliche Forschung überhaupt zugänglich wurde, ist äußerst komplex. Unter ihren Zeitgenoss_innen war Cahun eher als Schriftstellerin bekannt. Ihre Fotografien hat sie Zeit ihres Lebens kaum veröffentlicht und ausgestellt, was nach sich zieht, dass nicht sie es war, die veranlasst hatte, dass ihre Fotografien in einem Kunstzusammenhang gezeigt werden. Ihre Fotografien kursierten zwar zu Cahuns Lebzeiten, aber eher auf dem privaten Wege; beispielsweise wurden sie an Freunde verschenkt.3 Einige Fotografien veröffentlichte sie in Druckform in der Zeitschrift Bifur und als Fotoillustrationen für die Bücher Le Coeur de Pic von Lise Deharme und Frontiéres humaines von Georges Ribemont-Dessaignes.4 Wenig 2 3
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Vgl. Downie, Louise: Introduction, in: dies. [Hg.]: Dont’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 7-10, S. 8. Sowohl Sylvia Beach als auch Jacqueline Lamba waren in Besitz von Portraits, die Cahun von ihnen gemacht hatte. Im Jersey Archive befindet sich ein Portrait von Jacqueline Lamba (JHT/1995/00046/063), das Lamba verschenkt hatte und auf dem sie markiert hat, dass es von Claude Cahun aufgenommen wurde. Vgl. Downie, Louise [Hg.]: Dont’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 164. Sylvia Beach notierte auf ihrem Portrait, dass es von Lucie Schwob und Suzanne Malherbe gemacht wurde. Abgebildet in: Latimer, Tirza True: Acting Out: Claude Cahun and Marcel Moore, in: Downie, Louise [Hg.]: Dont’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 56-71, S. 67. Vgl. Ribemont-Dessaignes, Georges: Frontiéres humaines, Paris 1929, Titelseite; Bifur, 5 (1930), Titelseite; Deharme, Lise: Le Coeur de Pic, Paris 1937.
Einleitung
bekannt ist außerdem, dass sich Cahun neben der Fotografie auch anderen Kunstsparten zuwandte, so stellte sie Objekte her und sie versuchte sich als Designerin, indem sie Kostüme für einen Film entwarf.5 1936 fand die einzige Kunstausstellung zu Lebzeiten Cahuns statt, in der ihre Arbeiten gezeigt wurden. Es handelte sich um die Ausstellung Exposition surréaliste d’objets in der Galerie Ratton in Paris. Das Bemerkenswerte an dieser Ausstellung ist, dass es nicht die Fotografien waren, für die Cahun heute bekannt ist, die sie in diesem professionellen Kunstumfeld zeigte, sondern zwei Objekte. Erst im Jahr 1972, nach dem Tod von Suzanne Malherbe,6 Cahuns lebenslanger Begleiterin, der Cahun ihr ganzes Hab und Gut vermacht hatte (Cahun war 1954 gestorben), begannen ihre Arbeiten auf dem Kunstmarkt zu kursieren. Nach Malherbes Tod war nämlich alles, was Cahun hinterlassen hatte, versteigert worden. Man kann sagen, dass Cahuns Weg in die Kunstgeschichte seinen Ausgang vom Kunstmarkt nahm. Die Auktionen fanden auf der Insel Jersey statt, wo sich der feste Wohnsitz von Cahun und Malherbe befand, nachdem sie 1937 von Paris dorthin gezogen waren.7 Bis dahin hatte Cahuns Nachlass lange Zeit in leeren Teedosen und anderen ungeeigneten Behältnissen gelagert.8 Der größte Teil des Versteigerten geriet in die Hände des ortsansässigen Kunstsammlers John Wakeham, der Cahuns Werke teils zeitnah weiterverkaufte, teils behielt.9 Weitere kleinere Teile des Nachlasses gelangten in andere Privatkollektionen auf der Insel Jersey, über die mir nichts Näheres bekannt ist, und auch zu Auktionen in England.10 In den 90er-Jahren
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Cahun entwarf die Kostüme für den Film La Dame masquée (FR 1924, R: Victor Tourjanowsky). Suzanne Malherbe (1892-1972) war Zeichnerin und Illustratorin. Malherbe studierte an der École des Beaux-Arts de Nantes Malerei, Zeichnung und Holzschnitt. Sie verwirklichte Illustrationsaufträge für verschiedene Zeitschriften und Bücher. Ebenfalls als Illustratorin war sie mit der Pariser Avantgarde-Theater- und Tanzszene verbunden. Ähnlich wie Cahun, deren bürgerlicher Name Lucie Schwob lautete, arbeitete Malherbe unter einem Pseudonym, Marcel Moore. Als Malherbes Mutter und Cahuns Vater 1917 heirateten, wurden die Frauen zu Stiefschwestern. Vgl. Oehsen, Kristine von: The Lives of Claude Cahun and Marcel Moore, in: Downie, Louise [Hg.]: Dont’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 10-23. Vgl. Downie (2006), a.a.O., S. 7-9, S. 7. Vgl. ibidem, S. 8. Vgl. ibidem, S. 7f. Vgl. ibidem, S. 8; Leperlier, François: Claude Cahun. L’Exotisme intérieur, Paris 2006, S. 455 u. 458.
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
kaufte das Jersey Archive den überwiegenden Teil des von John Wakeham ersteigerten Cahun-Nachlasses auf. Erst auf diesen Umwegen wurde eine beträchtliche Anzahl an Arbeiten und Dokumenten in einer Kollektion im Jersey Archive vereint und 1995 allgemein zugänglich gemacht. Zuvor zirkulierten sie verstreut im Umfeld des Kunsthandels, was eine wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht gerade begünstigte. In den 70er- und 80er-Jahren wurden die ersten Ausstellungen von Cahuns Fotografien organisiert, die in privaten Galerien stattfanden. Diese Ausstellungen gingen nahezu ohne jegliche kunstgeschichtliche Erfassung der Werke mit dem Ziel des Verkaufs beziehungsweise der Herstellung eines Markts vonstatten. 1964 tauchte in einer Ausstellung zum Surrealismus in der Galerie Charpentier in Paris ein Objekt auf, das damals anonym ausgestellt wurde, heute allerdings Cahun zugeschrieben wird und unter dem Titel La Marseillaise est un chant révolutionnaire, la loi punit le contrefacteur des travaux forcés bekannt ist (Abb. 1).11 Dasselbe Objekt wurde 1978, ebenfalls anonym, in der Ausstellung Dada and Surrealism Reviewed in der Londoner Hayward Gallery gezeigt.12 Im weiteren Verlauf der 80er-Jahre wurden weitere ihrer Arbeiten in privaten Galerien ausgestellt, neben Europa auch in den USA. In diesen Ausstellungen ist zu diesem Zeitpunkt kein besonderer Schwerpunkt bezüglich der Gattung und des Genres zu verzeichnen. Wiederholt wurde das Cahun zugeschriebene Objekt ausgestellt, außerdem Fotomontagen aus ihrem Buch Aveux non avenus, Fotografien ihrer Objekte, die Fotoillustrationen für das Buch Le Coeur de Pic und einige Selbstportraits. Die erste Soloausstellung fand 1980 in der Galerie Givaudan in Genf statt. 1985 folgte die sich der surrealistischen Fotografie widmende Wanderausstellung L’Amour fou. Photography and Surrealism, die in Washington in der Corcoran Gallery, in San Francisco im Museum of Modern Art und in Paris im Centre Pompidou gezeigt wurde und in die sechs von Cahuns Fotografien involviert waren.13 Die Ausstellung war von Rosalind Krauss und Jane Livingstone kuratiert worden. Die Galerie Zabriskie, die einige Werke aus der Kollektion des
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Vgl. Leperlier (2006), a.a.O., S. 328. Vgl. Hayward Gallery [Hg.]: Dada & Surrealism Reviewed (Ausstellungskatalog), London 1978. Vgl. Krauss, Rosalind; Livingstone, Jane [Hg.]: L’Amour fou. Photography and Surrealism (Ausstellungskatalog), Corcoran Gallery Washington 1985, New York 1985.
Einleitung
Abbildung 1: Claude Cahun, La Marseillaise est un chant révolutionnaire, la loi punit le contrefacteur des travaux forcés, Objekt, ca. 1936, Farbfotografie
Jerseyer Sammlers John Wakeham gekauft hatte, stellte Cahun gleich mehrmals aus. 1986 zeigte die Galerie Zabriskie das bereits 1964 in Paris und 1978 in London ausgestellte Objekt, das sie mittlerweile erworben hatte. Die nächsten Ausstellungen der Galerie Zabriskie folgten dann Anfang der 90er-Jahre. 1991 war Cahuns Kunst Teil der Ausstellung Le surréalisme et le livre und 1992 organisierte die Galerie die Soloausstellung Photographies des années 20 et 30 in New York und in Paris. 1993 fand am Vortag der Eröffnung der CahunSammlung des Jersey Archive eine Ausstellung unter dem Titel Surrealist Sisters – An Extraordinary Story of Art and Politics im Jersey Museum statt.14
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Vgl. ibidem. Bei dieser Ausstellung handelte sich um eine gemeinsame Ausstellung der Arbeiten von Claude Cahun und Marcel Moore (Suzanne Malherbe).
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Die schriftlichen Beiträge, die zu den ersten Ausstellungen erschienen, verraten, dass das Wissen über Claude Cahun Ende der 80er-Jahre noch sehr dünn war. Der Name Claude Cahun wurde damals noch nicht so selbstverständlich, wie es heute getan wird, mit der Person Lucie Schwob und auch nicht mit einer Fotografin verbunden. Zu ihren Lebzeiten gab es keine Kritiken ihrer Arbeiten und nur wenige schrieben über sie als bildende Künstlerin. Was überliefert wurde, waren ihre Fotografien und Schriften sowie kürzere Anmerkungen, wie die der Korrespondentin Golda M. Goldman in der europäischen Ausgabe des Chicago Tribune unter der Rubrik Who’s Who Abroad.15 Dort wurde sie als eine ungewöhnliche Schriftstellerin und Dichterin beschrieben, die an jeder Kunstart interessiert ist. Dies waren allerdings nur winzige Informationen und Spuren, die nur wenig Auskunft über Cahun geben konnten. Die 70er- und 80er-Jahre waren eine Zeit, in der die Arbeiten von Surrealisten auf dem Kunstmarkt hohe Summen einbrachten und Cahuns Karriere als Künstlerin begann im Kontext der Ausstellungen surrealistischer Kunst. In den ersten Ausstellungen wurde Cahun als surrealistische Künstlerin, die sowohl Fotografien als auch Objekte hergestellt hat, präsentiert. Beispielsweise wurde Cahun mehrmals im Kontext der surrealistischen Skulptur ausgestellt, 1978 bei der Ausstellung Dada and Surrealism Reviewed in der Hayward Gallery in London, 1986 bei der Ausstellung 1936 Surrealism in der Galerie Zabriskie in Paris und 1992 im Rahmen der Ausstellung Photographie et sculpture am Centre national de la photographie ebenfalls in Paris. Die Galerie Zabriskie beharrte konsequent auf dem Zusammenhang zum Surrealismus, mal brachte sie Cahun mit surrealistischen Objekten (1936 Surrealism, 1986), mal mit dem surrealistischen Buch (Le Surréalisme et le livre, 1991), mal mit der surrealistischen Fotografie (Photographies des années 20 et 30, 1992) in Verbindung. Wenn jedoch in den 70er- und 80er-Jahren so wenig über Cahun bekannt war, wie kam diese Zusammenführung zustande? In den 30er-Jahren hatte Cahun mehrere Pamphlete und Schriften der Surrealisten unterschrieben, zum Beispiel Protestez ! aus dem Jahr 1933 und Contre le fascisme mais aussi contre l’imperialisme français, ebenfalls von 1933, und, wie bereits erwähnt, hatte sie sich 1936 mit zwei Objekten an der Ausstellung Exposition surréaliste d’objets in der Galerie Ratton beteiligt. Zum einen ist es
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Vgl. Goldman, Golda M.: Who’s Who Abroad: Lucie Schwob, in: Chicago Tribune – European Edition 23. Dezember 1929, S. 4.
Einleitung
also gut möglich, dass Cahuns Unterschriften unter diesen Schriften gefunden wurden und ihre Einbindung in den Kontext des Surrealismus begünstigt haben. Aber die Herstellung dieser Verbindung rührte sicherlich auch von Schriften ihrer Zeitgenoss_innen her, die Cahun nach ihrem Tod in ihren Memoiren, Schilderungen, Erinnerungen und Tagebüchern erwähnten. Zwar war Cahun auf einer kunsthistorischen Ebene damals nahezu eine Tabula rasa, doch im Umfeld der Surrealist_innen war sie kein leeres Blatt gewesen. Darauf deuten beispielsweise Berichte von Pierre Caminode (1970), von Henri Béhar und Michel Corassous (1984) oder auch von André Thirion (1987) hin.16 In diesen Berichten wird, was sehr interessant ist, Cahuns schriftstellerisches und vor allem ihr politisches Engagement beschrieben. Maurice Nadeau erwähnt Cahun in seiner Histoire du surréalisme et documents surréalistes als Sympathisantin des Surrealismus und zugleich druckt er den ersten Teil ihres Texts Les Paris sont ouverts ab. Dass ihre Fotografien dort an keiner Stelle Erwähnung finden, lässt darauf schließen, dass Cahun mit ihnen tatsächlich nicht an die Öffentlichkeit gegangen war und ihre Weggefährt_innen diese nicht kannten. Diese Autor_innen machten Cahun zweifellos zu einer surrealistischen Schriftstellerin und ihre Erwähnungen haben sicherlich dazu beigetragen, dass Cahun nach ihrem Tod vor allem im surrealistischen Kontext ausgestellt wurde, eine Fotografin war sie jedoch auch hier nicht. Ein wichtiger und einer der ersten Beiträge zur Etablierung Cahuns als Fotografin war ein Buch über surrealistische Fotografie von Édouard Jaguer von 1982.17 Jaguers Buch ist eine Art Verzeichnis surrealistischer Fotograf_innen, das, meiner Einschätzung nach, als eine erste Wendung im Zugang zu Cahun als Künstlerin verstanden werden kann. Von Jaguer wird nicht einmal das Datum ihrer Geburt und ihres Todes angegeben und überhaupt fehlen – im Gegensatz zu den anderen besprochenen Künstler_innen – jegliche biografischen Details. Dafür wird Cahun nicht nur als politisch engagierte Schriftstellerin, sondern auch als Fotografin der Fotoillustrationen für das Buch Le Coeur de Pic der ebenfalls in der surrealistischen Bewegung engagierten Schriftstellerin Lise Deharme dargestellt. Darüber hinaus erwähnt Jaguer die Fotomontagen aus ihrem Buch Aveux non avenus, die er nicht drucken konnte, weil sie
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Vgl. Caminade, Pierre: Image et métaphore, Paris 1970, S. 25, 123 u. 154; Béhar, Henri; Carassou, Michel: Le Surréalisme. Textes et débats, Paris 1984, S. 90f.; Thirion, André: Révisons déschirantes, Pré-aux-Clercs 1987, S. 20f. Vgl. Jaguer, Édouard: Surrealistische Photographie. Zwischen Traum und Wirklichkeit, Köln 1984 [1982].
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sich dazu technisch nicht eigneten. Jaguers Kontextualisierung von Cahun als Fotografin hat ihre Wirkung sicherlich darin gezeigt, dass Rosalind Krauss und Jane Livingstone Cahun 1985 in die Ausstellung L’Amour fou einbanden, in eine Ausstellung, die kühn behauptete, die Fotografie der Surrealisten sei keine Randerscheinung, sondern eines ihrer Hauptausdrucksmittel gewesen. Trotz dieser Einordnung als surrealistische Fotografin blieb Cahuns Biografie in den 80er-Jahren weiterhin nahezu unbekannt. Cahuns Geschichte musste erst erforscht und geschrieben werden, der Zugang zu ihren Arbeiten musste erst erarbeitet werden. Die 90er-Jahre sind die Zeitspanne, in der das wissenschaftliche Interesse an Cahuns Kunst überhaupt erst aufkam und ihre Arbeiten und ihre Biografie untersucht wurden. Cahuns Dasein im kunsthistorischen Diskurs ist kaum älter als 30 Jahre. 1987 schrieb Nanda van den Berg an der Universität Utrecht unter dem Titel Claude Cahun die erste akademische Abschlussarbeit, die sich mit der Kunst von Claude Cahun beschäftigte. Da diese auf Holländisch verfasst war, wurde sie allerdings international kaum rezipiert. 1990 setzte sich van den Berg in ihrem längeren Artikel La révolution individuelle d’une surréaliste méconnue, diesmal auf Französisch, noch einmal mit Cahuns Arbeiten auseinander.18 1991 folgte François Leperlier mit seiner Dissertation Claude Cahun (Lucie Schwob), 1894-1954 : du symbolisme au surréalisme et à la Résistance, die er an der Sorbonne in Paris verfasst hatte.19 Als Quellenfundus für biografische Fakten dienen der Forschung um Claude Cahun heute vorwiegend Schriften von François Leperlier und insbesondere sein Buch Claude Cahun. LʼÉcart et la métamorphose (1992) und dessen überarbeitete Version Claude Cahun : L ʼ Exotisme intérieur (2006), in denen er die Ergebnisse seiner Forschungen zu Cahun, denen er seit Mitte der 80er-Jahre nachgegangen ist, veröffentlicht hat.20 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass diese Bücher keine, im strikten Sinne, biografischen Schriften sind, beide haben, wie der Autor es selbst benennt, einen Essay-Charakter.21 Zwar beruft sich Leperlier darin auf Briefe und Dokumente von und über Claude Cahun, dennoch ist sein Zugang zu den Quellen eher ein freier. In seinen Büchern beschreibt Leperlier Cahun unter anderen als eine Frau, die unter Anorexie 18 19 20 21
Vgl. Berg, Nanda van den: Claude Cahun: La révolution individuelle d’une surréaliste méconnue, in: Avant-Garde 7 (1990), S. 71-92. Vgl. Leperlier, François: Claude Cahun (Lucie Schwob), 1894-1954 : du symbolisme au surréalisme et à la Résistance, Dissertation Paris Sorbonne, Paris 1991. Vgl. Leperlier, François: Claude Cahun. LʼÉcart et la métamorphose, Paris 1992; Leperlier (2006), a.a.O. Vgl. beispielsweise Leperlier (2006), a.a.O., S. 483.
Einleitung
litt, und als eine Lesbierin, aber auch als eine Frau, die eine große unerfüllte Liebe zu André Breton empfunden haben soll.22 Vor allem die beiden ersten Behauptungen wiegen schwer und sie wurden von der Forschung oft übernommen.23 Heute wird der Name Claude Cahun wie selbstverständlich mit einer französischen Fotokünstlerin des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts assoziiert – mit einer Fotokünstlerin, die Selbstportraits hergestellt hat. Wie sich oben zeigte, ist dies nicht auf die Erwähnungen ihrer Zeitgenoss_innen oder auf die Auswahl der Fotografien in den frühesten Ausstellungen zurückzuführen. Erst die ersten monografischen Analysen, die Anfang der 90er-Jahre aufkamen und die wissenschaftliche Erfassung ihrer Fotografien mit sich brachten, weisen eine Tendenz auf, den Fokus auf Cahuns Selbstportraits und auf ihre Fotomontagen aus dem Buch Aveux non avenus zu legen, die hauptsächlich aus Cahuns Selbstportraits bestehen. Seitdem wurde Claude Cahun und vor allem ihren Fotografien immer mehr Interesse geschenkt, während ihre Texte in den Hintergrund rückten. In diesen Analysen konstituierte sich das Bild Cahuns als Fotografin der Selbstportraits und mit ihnen bildete sich ein allgemeines Interesse an Cahuns Selbstportraits. Dies zeigte sich Mitte 90er-Jahre auch im Ausstellungswesen, wo es zu einem nahezu explosionsartigen Ausstellen ihrer Selbstportraits kam. Anderen Arbeiten wird in den 90er-Jahren und auch heute wenig Interesse geschenkt. Darauf weisen auch die Umstände der Archivierung der Fotografien hin, die meine Aufmerksamkeit während meiner Recherchen im Jersey Archive auf sich zogen. Im Jersey Archive befinden sich viele vergrößerte Neuabzüge von den sehr gefragten Selbstportraits. Die Aufnahmen der zahlreichen anderen Genres, denen sich Cahun neben den Selbstportraits zuwandte, werden dagegen eng nebeneinander in meist sehr kleinen Originalformaten in Einsteckfotoalben verwahrt, was auf das geringe Interesse, das ihnen im Ausstellungswesen zukommt, verweist. Denn nur für die Arbeiten, die besonders oft verliehen, sprich ausgestellt werden, werden neue Abzüge gemacht. Zudem werden die gefragten Selbstportraits in großzügigen Kartonboxen archiviert, in denen die Abzüge teilweise einzeln gelagert sind. Die Art und Weise, wie die Arbeiten archiviert werden, spiegelt ihren Stellenwert in der Kunstwelt wider.
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Vgl. Leperlier (2006), a.a.O., S. 25, 90f. u. 244f. Vgl. beispielsweise Blake, Nancy: Claude Cahun: How to Change the Real, in: Pereira, Frederico [Hg.]: Literature and Psychoanalysis, Lissabon 1998, S. 113-123.
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
Die Frage, die ich mir während dieses Stadiums meiner Recherchen gestellt habe, ist, wie diese Tendenz zu erklären ist, wenn man bedenkt, wie wenige von Cahuns Selbstportraits noch Ende der 80er-Jahre im Umlauf waren, und dass diese in historischen Quellen kaum erwähnt wurden. Das Aufkommen dieses speziellen Interesses an den Selbstportraits von Claude Cahun ist vor allem im englischsprachigen Raum und insbesondere in den USA zu verzeichnen. Dort waren es vorrangig die feministische und die der lesbischen Szene verbundene Forschung, die ihr Augenmerk auf Cahun richteten. In den 90er-Jahren entstanden viele kürzere und einige längere Auseinandersetzungen mit ihren Arbeiten. Zu den einflussreichsten Schriften gehören der Text A Mutable Mirror von Therese Lichtenstein (1992) und der gemeinsame Artikel Surrealist Confessions. Claude Cahun’s Photomontages von Abigail SolomonGodeau und Honor Lasalle (1992).24 Vielen dieser frühen Texte über Cahun ist die Behauptung gemein, ihre Fotografien wären besonders bahnbrechend gewesen und aufgrund dessen könne sie als Pionierin für spätere Generationen von Künstler_innen und insbesondere für die feministische Kunst der 70er- und 80er-Jahre gelten. Schon 1986 bezeichnete Hal Foster Cahun als Präfiguration von Cindy Sherman.25 Dieser Vergleich stieß in späteren Aufsätzen auf große Zustimmung.26 Cahun wurde zu einer Heldin in den Gender- und Queer-Debatten, gerade mit ihren Fotografien soll sie schon damals das Unbehagen der Geschlechter der 90er-Jahre angekündigt haben.27 Dieser Zugang zu den Werken, der sich mit den Jahren etablierte, beruht weniger auf konventionellen kunsthistorischen Analysen der Arbeiten als auf einer neueren Art des kunsthistorischen Schreibens und Forschens, die sich mit sich an den Universitäten immer stärker
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Vgl. Lichtenstein, Therese: A Mutable Mirror. Claude Cahun, in: Artforum, 30:8 (1992), S. 64-67; Lasalle, Honor; Solomon-Godeau, Abigail: Surrealist Confessions: Claude Cahun’s Photomontages, in: Afterimage 19 (1992), S. 10-13. Vgl. Foster, Hal: L’Amour faux, Art in America, Januar 1986, S. 117-128, S. 118. Beispielsweise sehen Therese Lichtenstein, Honor Lasalle, Abigail Solomon-Godeau und Patricia Gozalbez Cantó in Cahun eine Vorläuferin dieser Künstlerin. Vgl. Gonzalbez Cantó, Patricia: Fotografie als subversive Kunst. Zu den fotografischen Strategien von Claude Cahun und Cindy Sherman, in: Ernst; dies.; Richter; Sennewald; Tieke [Hg.]: Subversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik der Gegenwart, Bielefeld 2008, S. 221-241; Leperlier, François: Claude Cahun. L´écrat et métamorphose, Paris 1992; Lichtenstein (1992), a.a.O., S. 64-67; Lasalle, Honor; Solomon-Godeau (1992), a.a.O., S. 10-13. Vgl. Messerschmidt, Dorothee: Claude Cahun. Anmerkungen zu den Maskierungen einer Dissidentin, in: Frauen Kunst Wissenschaft 33 (2002), S. 28-35.
Einleitung
etablierenden feministischen Gedanken entwickelte. Die spärlichen biografischen Details spielten dort eine wichtige Rolle. Rückblickend wurde das vermehrte Interesse an Claude Cahun in den 90er-Jahren immer wieder als die Wiederentdeckung einer vergessenen Künstlerin beschrieben.28 Der obige Abriss der Geschichte von Cahun als Fotografin zeigt jedoch, dass hinsichtlich ihres Auftauchens im Kunst-Diskurs der 90er-Jahre schwerlich von einer »Wiederentdeckung« oder einer Zurückholung aus der Vergessenheit gesprochen werden kann. Folglich verstehe ich diesen Prozess eher als die Etablierung oder Konstruktion einer Künstlerin, die an der Schwelle zu den 90er-Jahren einsetzte. Mit dem Ausstellen von Cahuns Fotografien, mit deren Zirkulation auf dem Kunstmarkt, entstand Cahun überhaupt erst als eine Fotografin und als eine surrealistische Künstlerin. Mit den Analysen von Cahuns Werken der 90er-Jahren verfestigte sich das Bild einer Fotografin, die sich ganz dem Genre Selbstportrait gewidmet hat. Das Bild der Fotokünstlerin mit einem ihr zugehörigen Werk war zu ihren Lebzeiten und auch lange Jahre nach ihrem Tod nicht existent, es ist ein Erzeugnis der etwa letzten 30 Jahre. Es setzte mit der Cahun-Forschung ein, die ebenso jung ist wie das Bild der Künstlerin. Cahun hat sich übrigens selbst auf dem Feld der Fotografie als Amateurin gesehen29 und ihre Arbeiten kaum der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Zugang der Forschung zu Cahuns Arbeiten zeichnet sich durch eine spezifische Leseweise ihrer Arbeiten aus, die ihr Dasein bis heute prägt. Aus der großen Anzahl an Fotografien, die Cahun hinterlassen hat, wurden seit Anfang der 90er-Jahre in Abhandlungen, Artikeln, Filmen und Ausstellungen zu Cahun lediglich einige Fotografien 28
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Vgl. beispielsweise Solomon-Godeau, Abigail: The Equivocal »I«: Claude Cahun as Lesbian Subject, in: Rice, Shelley [Hg.]: Inverted Odysseys. Claude Cahun, Maya Deren, Cindy Sherman (Ausstellungskatalog), Grey Art Gallery New York/Museum of Contemporary Art Miami 1999-2000, Cambridge/London 1999, S. 111-127, S. 112; Cottingham, Laura: Betrachtungen zu Claude Cahun, in: Ander, Heike; Snauwert, Dirk [Hg.]: Claude Cahun. Bilder (Ausstellungskatalog), Kunstverein München/Gesellschaft der Freunde der Neuen Galerie Graz/Museum Folkwang Essen, München 1997, S. XIX–XXXI, S. XIX; Peterle, Astrid: Subversiv? Politische Potentiale von Körperdarstellungen bei Claude Cahun, Marcel Moore, Karen Finley und Mette Ingvartsen, Dissertation Universität Wien 2009, S. 89; Colvile, Georgiana: Je est un(e) autre: structures de l’anorexie dans les autoportraits de Claude Cahun, in: Mélusine 18 (1998), S. 252-260, S. 252. Vgl. Leperlier, François: Der innere Exotismus, in: Ander, Heike; Snauwert, Dirk [Hg.]: Claude Cahun. Bilder (Ausstellungskatalog), Kunstverein München/Gesellschaft der Freunde der Neuen Galerie Graz/Museum Folkwang Essen, München 1997, S. XI–XVIII, S. XV.
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
berücksichtigt.30 Alleine das Archiv des Jersey Heritage Trust, das die größte Sammlung an Bildern und Dokumenten über Claude Cahun beherbergt, verfügt über mehr als 300 Fotografien der Künstlerin, wobei sich die Forscher_innen höchstens auf 5 % der bekannten Bilder beziehen – Arbeiten, die sich in Privatbesitz und in Galerien befinden, nicht mitgerechnet. Auf diese Weise bildete sich ein Konvolut an Bildern heraus, das heutzutage als Werk der Künstlerin Claude Cahun fungiert. Die Wahl der Fotografien hat zur Entstehung mehrerer Körper beigetragen, die unter dem Namen Claude Cahun vereinigt werden, zur Entstehung des Werkkörpers von Cahun und auch des Körpers der Fotografin der Selbstportraits. Wird jedoch vor allem ihr Werkkörper mit dem Bestand des Jersey Archive verglichen, finden sich nur wenige Übereinstimmungen. Führt man sich die posthume Ausstellungsgeschichte von Cahuns Arbeiten vor Augen, dann fällt auf, dass Cahun auch dort anfänglich nicht unbedingt als Fotografin der Selbstportraits und auch nicht als Fotografin überhaupt auftaucht. Die allererste Arbeit, die nach ihrem Tod ausgestellt wurde, war ein Objekt und die beiden einzigen Arbeiten, die sie persönlich für die Ausstellung in der Galerie Ratton im Jahr 1936 beigesteuert hatte, waren ebenfalls Objekte. Waren dies Zufälle oder bedeutende Details? Diese Beobachtung hat mich zu Beginn meiner Auseinandersetzung mit Cahun sehr beschäftigt und dahin gebracht, zu fragen, warum Cahun im kunsthistorischen Diskurs ausgerechnet zur Fotografin der Selbstportraits wurde und nicht auch zu einer Objektkünstlerin. Ich fing an, über das heutige Bild Cahuns zu reflektieren und Cahuns Objekten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Hieraus formulierte ich zwei Ziele für die vorliegende Untersuchung.
Zielsetzung Das erste Ziel dieser Arbeit ist eine Genealogie des in den Anfängen der Forschung um Cahun entstandenen Bilds von Cahun als Fotografin von Selbstportraits. Seit dem Ende der 80er-Jahre, einer Zeit, in der Cahun der Kunstge-
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Astrid Peterle beobachtet diese Tendenz treffend in ihrer Dissertation Subversiv? Politische Potentiale von Körperdarstellungen bei Claude Cahun, Marcel Moore, Karen Finley und Mette Ingvartsen, ohne dem jedoch weiter nachzugehen. Vgl. Peterle, Astrid: Subversiv? Politische Potentiale von Körperdarstellungen bei Claude Cahun, Marcel Moore, Karen Finley und Mette Ingvartsen, Dissertation Universität Wien 2009, S. 127.
Einleitung
schichte nahezu unbekannt war und das Wissen über sie sehr gering war, sind nunmehr etliche Jahre der Forschung vergangen, in der sich ein bestimmtes Bild von Cahun etabliert hat. Motiviert ist die Erstellung der Genealogie durch die Beobachtung der seit Anfang der 90er-Jahre andauernden Konzentration der Forschung und der Ausstellungen zu Cahun auf die Selbstportraits der Künstlerin, die in Beziehung zu Versuchen der Beschreibung ihres biologischen Körpers stehen. Das Aufkommen vor allem zweier Eigenschaften ihres Körpers, seiner vermeintlichen Anorexie und seines vermeintlichen lesbischen Begehrens, sowie die Konzentration auf die Selbstportraits in den 90erJahren scheint sich nicht zufällig ereignet zu haben. Aus einer politisch engagierten Schriftstellerin und Sympathisantin der Surrealisten, die Cahun in den Texten ihrer Zeitgenoss_innen noch bis Anfang der 80er-Jahre war, wurde Anfang der 90er-Jahre eine lesbische und anorektische Fotografin, die mit ihren fotografischen Selbstportraits eine andere Deklination der Geschlechter anstrebte, womit sie sich gegen die rigiden Normen der Zweigeschlechtlichkeit stellte. Die ersten Untersuchungen zu Cahun aus den 90er-Jahren und ihre Spezifik werden in dieser Arbeit detailliert analysiert, um die Entstehung der heute so selbstverständlichen Fotokünstlerin Claude Cahun und die damit einhergehende Herausbildung des Bilderkonvoluts nachzuvollziehen. Die Durchforstung der Bestände des Jersey Archive, aber auch anderer Sammlungen wie der des Musée des Beaux Arts in Nantes, erlaubte es mir festzustellen, dass das Bild, das von Claude Cahun als Fotografin zirkuliert, ein einseitiges ist, weil es lediglich auf wenigen ihrer Arbeiten und hauptsächlich auf einem Genre basiert. Fotografische Selbstbildnisse sind mit aller Sicherheit nicht das einzige fotografische Genre, dem sich Cahun zugewendet hat. Die Thematik von Cahuns Fotografien ist viel heterogener, sie umfasst Portraits, Landschaften, Akte, Stadtansichten und Darstellungen des Alltags. Cahun fotografierte zudem von ihr hergestellte Objekte. Außerdem beinhaltet ihr Werk Fotoillustrationen, die im Kontext eines Kinderbuchs entstanden sind. Auffällig ist in Cahuns vielen Arbeiten das rege Interesse für das Materielle, für Gegenstände, für Gebasteltes und dessen Formen. Die Berücksichtigung dieser Arbeiten in den frühen Untersuchungen hätte zweifellos zu einem anderen Bild der Künstlerin geführt, das breiter angelegt wäre als das heutige. Aus dieser Beobachtung ergibt sich das zweite Ziel, die Einbeziehung einiger dieser Arbeiten und, darauf aufbauend, die Öffnung eines neuen Zugangs zu den Arbeiten von Claude Cahun und auch zu Cahun als Künstlerin.
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
Aufbau Die beiden oben genannten Ziele verteilen sich über die drei Kapitel, in die diese Arbeit gegliedert ist. Während sich die neue Sicht auf Cahun, die ich anstreben möchte, über das erste und das dritte Kapitel erstreckt, konzentriert sich die Genealogie des Bilds Cahuns im zweiten Kapitel. Mit einer Auseinandersetzung mit Cahuns Arbeiten, die bisher in der Forschung um Cahun kaum Beachtung fanden, wird dieses Buch im ersten Kapitel einsetzen. Dabei richtet sich das Hauptaugenmerk auf Cahuns Objekte, eine Gattung, die für Cahun von hohem Stellenwert gewesen zu sein scheint, worauf beispielsweise der Fakt hinweist, dass Cahuns Objekte und nicht ihre Fotografien 1936 in der einzigen Ausstellung ihrer Kunst zu ihren Lebzeiten in der Galerie Ratton gezeigt wurden. Nach den Selbstportraits sind die Objekte unter Cahuns überlieferten Werken die zahlreichste Arbeitengruppe, was ebenfalls dafür spricht, dass die Objektherstellung für sie von großer Bedeutung war. Eine Herausforderung bei der Behandlung der Objekte liegt in dem Umstand, dass sie selbst heute überwiegend nicht mehr vorhanden sind, sondern in ihrer überlieferten Form als Fotografien vorliegen. Es besteht nämlich eine gewisse Schwierigkeit beim Sprechen von den Objekten, zwischen Objekt und Fotografie zu differenzieren. Dieser Aspekt machte es für mich auch geradezu erforderlich, diesen Arbeiten mit einer medienwissenschaftlichen Perspektive zu begegnen, die nach den Auswirkungen des Zusammentreffens von Objekt und Fotografie sowie nach der Medialität, die die Fotografie in dieser Konstellation entfaltet, fragt. Worüber spreche ich eigentlich bezüglich dieser Arbeiten? Von Objekten oder von Fotografien der Objekte? Diese Frage drängte sich mir bereits in den frühen Stadien dieser Studie auf und als ständige Unruhestifterin begleitete sie mich lange Zeit. Schließlich bin ich zur Überzeugung gelangt, dass die Schwierigkeit der Unterscheidung unbedingt in die Untersuchung einbezogen werden muss und es unumgänglich ist, von beidem zu sprechen. Beim Sprechen über die Objekte muss also auch ihre Überlieferung als Fotografie, ihr Fotografiertwordensein berücksichtigt werden. Deshalb folgt der Untersuchung und Kontextualisierung von Cahuns Interesse an der Objektherstellung des ersten Kapitels im dritten Kapitel eine Analyse ihrer heutigen fotografischen Gestalt und der Bedeutung dieser Transformation. Indem andere Arbeiten als in der bisherigen Forschung in die Untersuchung aufgenommen werden, werden das erste und das dritte Kapitel dezidiert das seit den 90er-Jahren zirkulierende Bilderkonvolut überschreiten.
Einleitung
Die Störung der Einheitlichkeit und Selbstverständlichkeit des Bilderkonvoluts wird zweifellos auch das »Körperbild« von Claude Cahun verändern. Damit soll allerdings keinesfalls eine Minderung der Bedeutung ihrer Selbstportraits angestrebt werden. Dieser Schritt ist eher als eine Erweiterung und Heterogenisierung des heutigen Bilds der Künstlerin zu verstehen. Bei der Auseinandersetzung mit Cahuns Objekten und ihrer Tätigkeit der Objektbildung, die im ersten Kapitel visiert wird, wird zudem ihren kunsttheoretischen Texten Aufmerksamkeit geschenkt. Die Berücksichtigung dieser Texte hat einen besonderen Grund. In den 30er-Jahren, zur gleichen Zeit also, in der die meisten von Cahuns Objekten entstanden, schrieb Cahun Texte, die durchaus als kunsttheoretische Schriften zu verstehen sind, allerdings nie als solche konzipiert wurden. Diese Texte waren eng mit den Objekt-Arbeiten verzahnt und ein Ausdruck von Cahuns Interesse an der Reflektion über das Wesen, den Sinn und die Herstellung von Kunst. Cahun scheint darin nämlich, wie ich argumentieren werde, über die zeitgleich entstandenen Objekte nachzudenken. Des Weiteren möchte ich die starke Präsenz von Objekten, Figuren und Gegenständen in den Fotografien von Claude Cahun nach bestehenden Anknüpfungspunkten an politische Theorien und Kunsttheorien des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts, unter anderen von Karl Marx, den Surrealisten oder auch an die Theorie des informe von Georges Bataille, befragen. Im Zusammenhang mit der Zielsetzung dieser Arbeit werde ich verstärkt das fotografische Medium und seine Rolle hinsichtlich der Aussagen über Cahuns Arbeiten, der Aussagen über sie als Künstlerin und Privatperson, aber auch hinsichtlich ihrer Fotografien der Objekte ins Auge fassen, was im Rahmen des zweiten und vor allem des dritten Kapitels erfolgen wird. Dass sich Künstler_innen bestimmter Techniken bedienen, impliziert unabdingbar bestimmte Visionen und Meinungen über diese Techniken und es konstituiert zugleich die Bedeutung der Arbeiten. Dies gilt schließlich ebenfalls hinsichtlich der Rezeption dieser Kunst, auch hier haben Vorannahmen über Medien und Techniken erheblichen Einfluss auf die Leseweisen der Arbeiten. Um zu ergründen, wie das spezifische Wissen über Cahun als Künstlerin und über ihren Körper im Zusammenhang der Interpretationen von Cahuns Arbeiten entstanden ist, ist es deshalb notwendig auch danach zu fragen, wie die Fotografien in diesen Interpretationen agieren. Zusammen mit Cahuns fotografischen Selbstportraits haben sich bestimmte Meinungen etabliert, die heute als Tatsachen fungieren. Die fotografischen Körper wurden zu Referenten, die oft mit der Person Lucie Schwob gleichgesetzt wurden. Diese Praxis
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
blieb nicht ohne Folgen für das heutige Verständnis der Körper der Künstlerin Claude Cahun und von Lucie Schwob, die in neueren Abhandlungen wie selbstverständlich als Fotografin der Selbstportraits beziehungsweise als lesbische und anorektische Frau beschrieben werden. Dass es sich bei Cahuns Selbstportraits um fotografische Selbstportraits handelt, war also nicht unbedeutend für die Art und Weise, in der sie gelesen wurden. In meiner Untersuchung des Entstehens dieser spezifischen Bilder von Cahun soll allerdings nicht die Frage, was eine Fotografie ist, von Belang sein, sondern eher eine Frage, die Jacques Derrida stellt: »Was und wann zeigt ein Bild und was und ab wann bedeutet ein Bild?«31 Bei diesem Vorhaben beziehe ich mich auf die Überlegungen von Judith Butler zur Fotografie, für die die Bedeutung einer Fotografie nicht feststeht, sondern kontextgebunden und von gesellschaftlichen Normen und Ordnungen durchtränkt ist. Im Verlauf dieser Studie wird argumentiert, dass eine Fotografie nicht einfach ein Bild mit fixierten Bedeutungen ist, sondern ein »materiell-semiotischer Erzeugungsknoten« im Sinne von Donna Haraway.32 Das Wissen und Objekte des Wissens sind, wie Haraway unterstreicht, solche Verknotungen, in denen sich sowohl semiotische als auch nicht-semiotische Agent_innen verwickeln. So implizieren auch fotografische Bilder und ihre Bedeutungen verschiedenste Agent_innen, die dazu beitragen, dass dieses bestimmte fotografische Bild auf eine bestimmte Weise bedeutet. Eine Fotografie, die in eine Erzählung eingebunden ist, in der sie bedeutet, ist an gewisse Bedingungen gebunden, denen ich im Zusammenhang von Cahun vor allem im zweiten Kapitel mit Begrifflichkeiten wie den diskursiven Rahmungen von Judith Butler und dem »Trugschluss der unzutreffend platzierten Konkretheit« von Alfred North Whitehead nachgehen werde. Im dritten Kapitel komme ich außerdem auf Cahuns Objekte zurück, diesmal mit besonderer Berücksichtigung ihrer heutigen Daseinsform. Die meisten von ihnen sind nämlich fotografisch überliefert, von den Objekten selbst hat nur eines überdauert. Zudem ist, wie ich vermute, ein Großteil der Objekte überhaupt erst für das Fotografiertwerden entstanden, wie beispielsweise die Fotoillustrationen für das Buch Le Coeur de Pic von Lise Deharme.
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Derrida, Jacques: Recht auf Einsicht, in: ders. (Text); Plissard, Marie-Françoise (Fotografie); Engelmann, Peter [Hg.]: Recht auf Einsicht, Wien 1985, S. I–XXXVI, S. XXII. Vgl. Haraway, Donna: Situiertes Wissen. Die Wissensfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./New York 1995 [1989], S. 73-97, S. 96.
Einleitung
Da das Dasein der Objekte heute dermaßen an die Fotografie gebunden ist, wird die Frage nach der Bedeutung dieses Umstands wichtig sein. In diesem Zusammenhang werde ich mit den Gedanken Jacques Derridas zum Supplement und mit dem Konzept der Ausdrucksmaterie von Gilles Deleuze und Félix Guattari arbeiten. Ich werde nach den Effekten fragen, die das fotografische Medium in dieser spezifischen Konstellation produziert. Die Fotografien sind hier nicht lediglich als Vermittlerinnen anzusehen, sie treffen nicht einfach Aussagen über nicht mehr existierende Objekte, sondern sie ermöglichen erst, dass über die Objekte überhaupt gesprochen werden kann. Sind diese Fotografien einfache Repräsentationen der Objekte oder doch etwas mehr? Meine Herangehensweise an Cahuns Arbeiten wendet eine Perspektive an, die mediale Dispositive und ihre wissensbildende Funktion dezidiert fokussiert, um einen anderen Zugang zum Körper und zur Fotografie in Bezug auf ihre Arbeiten zu ermöglichen. Die Medien vermitteln nicht nur, sie hinterlassen immer einen spezifischen »Überschuss an Information«, wie Kathrin Peters unterstreicht.33 Die Aufgabe meiner Arbeit wird es sein, gerade diesen »Überschuss« zu untersuchen, um die verschiedenartigen Wissensformationen in Cahuns heutigem Dasein als Fotografin und auch in den bisher nicht berücksichtigten Arbeiten nachzuvollziehen. Cahuns Arbeiten aus einer medienwissenschaftlichen und medienphilosophischen Perspektive zu begegnen, wird vielleicht nicht nur dazu beitragen, die Entstehung des spezifischen Wissens über die Künstlerin zu verstehen, sondern möglicherweise auch dazu, ein anderes Wissen aufkeimen zu lassen.
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Vgl. Peters, Kathrin: Rätselbilder des Geschlechts. Körperwissen und Medialität um 1900, Zürich 2010, S. 47ff.
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1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
Heutzutage ist es schwer vorstellbar, doch, wie in der Einleitung bereits angesprochen wurde, hat Cahun ihre Fotografien, abgesehen von einigen Abdrucken in Zeitschriften, während ihres Lebens nicht ausgestellt. Zu ihren Lebzeiten wurde sie nicht als Fotografin wahrgenommen, sondern nahezu durchgehend als Schriftstellerin. Dies verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass Cahun schon sehr früh angefangen hat zu schreiben und zu veröffentlichen. Mit 19 Jahren schrieb sie regelmäßig Texte für die Zeitung Le Phare de la Loire ihres Vaters Maurice Schwob, die er in ihrem Geburtsort Nantes herausgab. Von 1913 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieg erschien dort eine beachtliche Anzahl von über 40 Artikeln. Unter anderen schrieb sie darin über Mode und das kulturelle Geschehen der Stadt. 1914 veröffentlichte sie in der Zeitschrift Mercure de France unter dem Titel Vues et visions ihre eigenen dichterischen Texte, die später, 1919, versammelt unter dem gleichen Titel als Buch mit Illustrationen von Suzanne Malherbe, die unter dem Pseudonym Marcel Moore arbeitete, beim Crés Verlag erschienen.1 Nach dem Ersten Weltkrieg setzte Cahun ihre essayistische Tätigkeit fort, allerdings schrieb sie nun auch für andere Zeitungen und Zeitschriften wie La Garbe, Le Journal littéraire oder Philosophies. 1925 veröffentlichte sie erneut im Mercure de France ihre nächste literarische Arbeit Héroȉnes, worin sie auf eine ironische Weise die Geschichten von Heldinnen, vor allem Heldinnen der griechischen Mythologie, umschrieb.2 1930 erschien ihr nächstes Buch Aveux non avenus, das mit Fotomontagen illustriert war, die unter Mitwirkung von Marcel Moore entstan-
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Vues et visions erschien zunächst unter dem Pseudonym Claude Courlis. Vgl. Courlis, Claude: Vues et visions, in: Mercure de France, Nr. 406, 16. Mai 1914, S. 258-279; Cahun, Claude: Vues et visions, Paris 1919. Cahun, Claude: Héroïnes, in: Mercure de France, Nr. 639, 1. Februar 1925, S. 622-644.
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
den sind.3 Von Anfang publizierte Cahun ihre Texte unter diversen Pseudonymen, fast nie dagegen unter ihrem bürgerlichen Namen Lucie Schwob. Um 1913 schrieb sie nur unter der Initiale M., später nannte sie sich Claude Courlis oder auch Daniel Douglas; »Claude Cahun« wurde jedoch das Pseudonym, unter welchem sie am häufigsten erschien und unter dem auch all ihre Bücher veröffentlicht wurden. Ihre schriftstellerische Tätigkeit scheint nicht vorläufig oder kurzlebig gewesen zu sein, denn Cahun widmete sich ihr mit Inbrunst. Wie bereits angesprochen, ist sie ihren Zeitgenoss_innen aus surrealistischen Kreisen auch als Schriftstellerin in Erinnerung geblieben. In Miroirs du surréalisme aus dem Jahr 1988 erwähnt Yves Brindel Cahun als Autorin des Buchs Veus et Visiones.4 Édouard Jaguer nennt in seiner Kompilation von surrealistischen Fotografien das Buch Aveux non avenus, das er als einen Essayband beschreibt, der sich mit »den problematischen Beziehungen, zwischen Intellektuellen und revolutionären Parteien befaßte«5 . Mit dieser Beschreibung stimme ich nicht überein, ich sehe Aveux non avenus eher als ein livre d’artiste mit dichterischer Prosa, das von Fotomontagen begleitet wird. Ich glaube allerdings, dass Jaguer mit dieser Beschreibung einen ganz anderen Essay von Cahun gemeint hat, nämlich Les Paris sont ouverts, der etwa drei Jahre später als Aveux non avenus entstand. Dieser Essay ist es auch, an den sich viele andere Surrealisten in ihren Büchern erinnern. So druckte Marcel Nadeau (1964) den ersten Teil des Texts ab, wo er unter anderen surrealistischen Texten als ein Teil dieser künstlerischen Bewegung fungiert.6 Henri Béhar und Michel Carassou erwähnen diesen Text ebenfalls und schreiben Folgendes dazu: »Claude Cahun s’attache à montrer combien est irréaliste à thèse ouvriériste appliquée à la poésie«7 . Wenn Cahun also von ihren Zeitgenoss_innen erwähnt wurde, dann zuallermeist als Autorin dieses Texts, der als surrealistisches Engagement in der zeitgenössischen Debatte um das Verhältnis zwischen Kunst und Politik geschildert wird. Neben ihrer Tätigkeit als Dichterin und Essayistin war Cahun nämlich seit den 30er-Jahren vermehrt politisch aktiv. Sie war Mitglied mehrerer kommunistisch beziehungsweise 3
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Dies ist dem Titelblatt zu entnehmen: »Illustré d’héliogravures composées par Moore d’après les projets de l’auteur« in: Cahun, Claude: Aveux non avenus, Paris 1930, Titelblatt. Vgl. Brindel, Yves: Miroirs du surréalisme, Lausanne 1988, S. 33. Jaguer (1984 [1982]), a.a.O., S. 108. Vgl. Nadeau, Marcel: Documents surréalistes, Paris 1948; Nadeau, Marcel: Histoires du surréalisme, Paris 1964, S. 388-395. Béhar; Carassou (1984), a.a.O., S. 90f.
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
marxistisch orientierter Vereinigungen von Künstler_innen wie der Association des écrivains et artistes révolutionnaires oder Contre-Attaque. Sie beteiligte sich auch an den aktivistischen Aktivitäten der Surrealist_innen, worauf ich an späterer Stelle zurückkommen werde. Neben Les Paris sont ouverts schrieb Cahun in diesen Jahren auch andere Texte, die ebenfalls durch bestimmte historische Umstände des Frankreichs der 30er-Jahre gefördert worden waren. Cahun beteiligte sich mit ihren Texten aus diesen Jahren an Debatten über die Stellung, die Methoden und die Ziele der Literatur, des Schreibens, der künstlerischen Tätigkeit an sich, die zu dieser Zeit in marxistischen künstlerischen Kreisen geführt wurden. Hierfür sind neben der schon erwähnten Schrift Les Paris sont ouverts die Texte Pour qui écrivez-vous? und Prenez garde aux objets domestiques von besonderer Wichtigkeit. In den ersten beiden setzt sich Cahun mit der schriftstellerischen beziehungsweise dichterischen Betätigung auseinander, was ihre Verortung als Dichterin besonders anschaulich markiert. Der letztgenannte kann als ein Statement zur ihrer eigenen künstlerischen Tätigkeit der Objektherstellung gelesen werden. Was allerdings von ihren Zeitgenoss_innen nicht erwähnt wurde, ist dass Cahun sich in diesen Jahren simultan dem Bauen von Objekten widmete. Diese Tätigkeit findet auch in heutigen Analysen kaum Erwähnung. Dabei ging sie dieser sehr intensiv nach, die Anzahl der Objekte ist bedeutend in ihrem Oeuvre. Dass dieser Teil ihrer künstlerischen Betätigung nahezu unangetastet belassen wird, ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass die Objekte, bis auf eines, nicht überdauert haben. Glücklicherweise hat Cahun sie fotografiert. Die meisten Fotografien der Objekte besitzt das Jersey Archive, viele finden sich außerdem in privaten Sammlungen, wie der von Robert Shapazian oder auch von Soizic Audouard, und einige sind Teil der Sammlung des Musée des Beaux Arts in Nantes. Wichtig ist an dieser Stelle nochmals zu erwähnen, dass das Cahun zugeschriebene Objekt, das überdauert hat, und auch die Fotografien der Objekte schon in den frühesten Ausstellungen Ende der 70er-Jahre gezeigt wurden. Es war also nicht der Fall, dass Cahuns Praxis der Objekt-Herstellung der Öffentlichkeit total verborgen gewesen wäre. Der Umfang und die Häufigkeit der Objekte, die sich in den 1930er-Jahren verdichteten, lassen darauf schließen, dass diese Tätigkeit für Cahun besonders wichtig war. Ich würde sogar behaupten, dass sie ihr, zumindest in dieser Zeit, wichtiger war als ihre Selbstportraits. Als ein Argument könnte der Fakt dienen, dass Cahun im Zusammenhang der surrealistischen Ausstellung in der Galerie Ratton 1936, Cahuns einziger Ausstellung zu ihren Lebzeiten, nicht ihre Fotografien, sondern zwei ihrer Objekte gezeigt hat. Als fotografische Illustrationen schmücken ih-
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
re Objekte – und nicht ihre Selbstportraits – außerdem das Buch Le Coeur de Pic von Lise Deharme. Mit einer selbstgebastelten Puppe äußerte Cahun Kritik gegenüber dem Vorgehen der Kommunistischen Partei in Frankreich (Abb. 2).
Abbildung 2: Claude Cahun, Poupée 1, 1936, Schwarz-WeißFotografie/Objekt
Cahuns Objekte scheinen keine einfache Bricolage zu sein, sondern ein wichtiges Terrain, auf dem sie sich sowohl zum zeitgenössischen politischen als auch zum künstlerischen Geschehen kritisch äußerte. Die Objekte waren Cahuns Organ der Kritik, eine Art engagierte Kunst zu machen, die mich sehr an die drei oben erwähnten Texte erinnert. Die Gleichzeitigkeit der Entstehung dieser Texte und der Objekte scheint deswegen kein Zufall zu sein. Mehr noch, ich sehe diese Texte als eine Auseinandersetzung mit der künstlerischen Tätigkeit, aber auch mit dem Verhältnis von Kunst und Politik und mit ihren Objekten, was ich in diesem Kapitel aufzuzeigen beabsichtige. Im
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
Folgenden möchte ich erkunden, wie die Thesen oder Aufrufe aus Cahuns Texten in den Objekten verwirklicht beziehungsweise ausprobiert wurden und umgekehrt, wie die Beobachtungen aus Cahuns eigener künstlerischer Praxis in ihre Texte einflossen. Da Cahuns Arbeiten, die hier fokussiert werden sollen, im Rahmen der Aktivitäten der Surrealisten geschrieben beziehungsweise ausgestellt wurden, wird eingangs kurz ihr spezifischer und sehr komplexer politisch-gesellschaftlicher Kontext geschildert.
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Cahuns kunsttheoretische Texte
Der politisch-gesellschaftliche Hintergrund Claude Cahun war Mitglied antifaschistischer, künstlerisch-politischer Gruppierungen wie der Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires (1932-1939), kurz A.É.A.R., und später auch von Contre-Attaque (1935-1936).8 Sie war also Mitglied der zwei größten Gruppierungen dieser Art im damaligen Frankreich. Ihre Teilnahme dort beschränkte sich keineswegs auf eine rein formelle Mitgliedschaft, sie ging zu Versammlungen, sie beteiligte sich aktiv an Diskussionen und sie hielt Reden.9 Cahun wirkte mit am politischen Kampf gegen sich zu dieser Zeit verbreitende Faschismen, Nationalismen und Rassismen, indem sie Texte schrieb und veröffentlichte. In dieser Periode hat sich Cahun offensichtlich sehr dem surrealistischen Lager zugehörig gefühlt.10 Ih8
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Cahuns Mitgliedschaft in der A.É.A.R. bestätigt eine Bemerkung Cahuns in Confidences au miroir: »J’entrai à l’A.É.A.R. Sur le terrain ingrat, le moins congénial à mon être, j’avançai prudente et téméraire.« Cahun, Claude: Confidences au miroir, in: dies.; Leperlier, François [Hg.]: Claude Cahun. Écrits, Paris 2002 [1945], S. 573-623, S. 594. Ihre Mitgliedschaft in der Gruppe Contre-Attaque bezeugt ihre Unterschrift unter dem Gründungsmanifest der Gruppe vom 7.10.1935. Vgl. Contre-Attaque: Contre-Attaque. Union de lutte des intellectuels révolutionnaires, in: Cahun, Claude; Leperlier, François [Hg.]: Claude Cahun. Écrits, Paris 2002 [1936], S. 548-550. Siehe beispielsweise die Transkription der Sitzung der A.É.A.R. vom 28.2.1933, abgedruckt in: Allain, Patrice: Du poétique au politique: les épreuves de la révolution, in: Claude Cahun et ses doubles (Ausstellungskatalog), Musée des Beaux Arts de Nantes, Nantes 2015, S. 86-95, S. 89. In einem Brief an Jean Schuster schreibt Cahun 1953: »Dans l’ensemble de ma vie, je suis ce que j’ai toujours été […] : surréaliste. Essentiellement. Autant qu’on le peut sans se tuer ou tomber au pouvoir des aliénistes«. Zitiert nach: Charlotte, Maria: Correspondances de Claude Cahun: la lettre et l ’ œuvre, Dissertation Université de Caen, Caen 2013,
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
re politische Orientierung ähnelte jener der um André Breton versammelten Surrealist_innen, die sich an Marx und vorübergehend an Lenin anlehnte,11 später aber durch eine entschiedene Hinwendung zu Leo Trotzki gekennzeichnet war. Die A.É.A.R. war eine marxistisch-leninistisch orientierte Vereinigung revolutionärer und proletarischer Schriftsteller_innen. Cahuns Zugehörigkeit zu dieser Vereinigung war allerdings nur von kurzer Dauer. Schon bald nach ihrem Eintritt folgte sie André Breton, René Crevel und Paul Éluard, die die A.É.A.R. 1933 verlassen hatten.12 Mit einigen Surrealist_innen schloss sie sich nach dem Verlassen der A.É.A.R. im Jahr 1935 der Gruppe Contre-Attaque an.13 »Contre-Attaque. Union de lutte des intelectuels révolutionnaires« – so der volle Name der Vereinigung – war eine Gruppe der politischen Intervention, die von Georges Bataille, Roger Caillois und André Breton initiiert worden war.14 Vom Programm und von den Aktionen der sich um André Breton scharenden surrealistischen Künstler_innengruppe scheint Cahun sehr überzeugt gewesen zu sein, schon deswegen, da sie gemeinsame Pamphlete und Flugblätter unterschrieben hat.15 In das Programm der Surrealist_innen waren aktivistische Tätigkeiten auf einer politischen Ebene quasi von Anfang an eingeschrieben. Gegen Ende der 20er-Jahre jedoch intensivierten sich diese. Um 1927 traten die meisten Surrealist_innen in die Kommunistische Partei Frankreichs ein, genauer gesagt in die französische Sektion der III. Kommunisti-
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S. 331. In Confidences au miroir schreibt Cahun, wann sie sich für den Beitritt zu den Surrealist_innen entschieden hat: »Appuyer ma thèse au surréalisme allait de soi pour moi. J’avais (autant qu’on peut décider de son sort) choisi le mois de mars 1932 pour me mettre au service du groupe«. Cahun, Claude: Confidences au miroir, in: dies.; Leperlier, François [Hg.]: Claude Cahun. Écrits, Paris 2002 [1945], S. 573-623, S. 594. Siehe beispielsweise das Pamphlet Zuerst und immer die Revolution von 1925, in: Becker, Heribert [Hg.]: Es brennt! Politische Schriften der Surrealisten, Hamburg 1998 [1925], S. 3540. Vgl. Münster, Arno: Antifaschismus, Volksfront und Literatur, Berlin 1977, S. 40. Vgl. Chaigne, Marion; Lebossé, Claire: Repères chronologiques, in: Claude Cahun et ses doubles (Ausstellungskatalog), Musée des Beaux Arts de Nantes 2015, Nantes 2015, S. 106-110, S. 109. Vgl. Becker, Heribert: Eine kleine Fraktion freien Denkens, in: ders. [Hg.]: Es brennt! Politische Schriften der Surrealisten, Hamburg 1998, S. 5-23, S. 20. Gegen Mitte der 30er Jahre unterschrieb Cahun von den Surrealist_innen herausgegebene Manifeste, Protestbriefe und Pamphlete. Vgl. beispielsweise Declarations collectives 1933-1943, in: Cahun, Claude; Leperlier, François [Hg.]: Claude Cahun. Écrits, Paris 2002, S. 545-556.
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
schen Internationale.16 Die Verbindung der Surrealist_innen zur Kommunistischen Partei war eine komplizierte und schon früh von Spannungen geprägt. Die Allianz mit der Kommunistischen Partei ist laut Steven Harris für die Surrealist_innen so etwas wie ein Garant dafür gewesen, als Verbündete der Arbeiter_innenkämpfe angesehen zu werden.17 Wie Harris unterstreicht, war der Gruppe sehr daran gelegen, dass ihre Aktionen auch als politische Aktionen angesehen werden.18 Zwar distanzierten sich die Surrealist_innen von einem direkten parteipolitischen Engagement, aber die Kritik der aktuellen politischen Situation war ein zentrales Anliegen ihrer Anstrengungen. Die surrealistische Kunst haben sie als eine engagierte Kunst verstanden, als eine Waffe gegen die Dominanz der Bourgeoisie sowohl auf dem ästhetischen als auch auf dem politischen Feld. In ihrem Programm verkündeten die Surrealist_innen eine radikale Antibürgerlichkeit in Kunst und Gesellschaft.19 Dennoch mussten sie sich ständig schwer um die Anerkennung ihrer Parteinahme für das Proletariat bemühen. Die Kommunistische Partei Frankreichs hatte des Öfteren ihr Misstrauen gegenüber der Gruppe und ihren Tätigkeiten geäußert. Beispielsweise wurde ihnen das Fehlen eines proletarischen Ursprungs vorgeworfen, weswegen ihre Postulate, Manifeste und Pamphlete als leere Worte ohne Deckung abgetan wurden.20 Die Kommunistische Partei hatte eine Verschmelzung zwischen dem Leben und der Kunst gefordert, wobei sie die Rolle der Kunst an sich vor allem als Instrument der Propaganda sah. In diesem Zusammenhang entstand die Proletkult-Bewegung, die sich der Entwicklung einer autonomen proletarischen Kultur widmete.21 Mit der Zeit wandelte sie sich in eine Organisation um, die die realistische Kunst unter der Führung der Kommunistischen Partei befürwortete.22 Das Ziel war es, Arbeiter_innen zu mobilisieren, sich selbst in Gruppen zu organisieren, wo unter anderen Texte über den Bau des Sozialismus geschrieben werden sollten.23 In
16
17 18 19 20 21 22 23
Vgl. Krause, Ingrid; Waldberg, Patrick [Hg.]: Der Surrealismus (Ausstellungskatalog), Haus der Kunst München/Museé des Arts Décoratifs Paris, München 1972, S. 18; Becker (1998), a.a.O., S. 8. Vgl. Harris, Steven: Surrealist Art and Thought in the 1930s. Art, Politics, and the Psyche, Cambridge 2004, S. 49. Vgl. ibidem. Vgl. Becker (1998), a.a.O., S. 5; Münster (1977), a.a.O., S. 13f. Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 74. Vgl. ibidem, S. 55. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem.
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Russland entstand beispielsweise die Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller (RAPP) – eine Vereinigung der sowjetischen Literatur nach den Vorgaben der KP, die von 1925 bis 1932 bestand. Diese sah in den Arbeiter_innen Vorreiter_innen des revolutionären Kampfs und Leiter_innen kultureller Einrichtungen.24 Die Abteilung für proletarische Kultur sollte von Arbeiter_inkorrespondent_innen geführt werden. Nach Ansicht der RAPP konnten nur Arbeiter_inkorrespondent_innen eine sozialistisch neu orientierte Literatur liefern, denn ausschließlich sie seien imstande, direkt aus den Fabriken und Farmen kommende Informationen zu sichern und weiterzugeben.25 Es ging um Informationen, zu denen Schriftsteller_innen anderer sozialer Herkunft quasi keinen unmittelbaren Zugang hatten. Vor allem aus diesem Grund konnten und sollten ausschließlich Arbeiter_inkorrespondent_innen, so der Gedanke der RAPP, die Bestrebungen der Arbeiter_innenklasse äußern und vertreten.26 In diesem Zusammenhang kam es in diesen Kreisen in den Jahren von 1928 bis 1931 zu einer massiven Ablehnung bürgerlicher Schriftsteller_innen.27 Um 1931 gab es in der Sowjetunion etwa zwei Millionen Arbeiter_inkorrespondent_innen.28 In Frankreich erfolgten in den 30er-Jahren Änderungen in den kommunistischen Organisationen. Mitte der 30er-Jahre wandelte sich die KPF von einer Partei, die einen proletarischen Internationalismus gepredigt hatte, zu einer Partei, die eine spezifisch französische Kultur, regionale und kulturelle Traditionen, Folklore und nationalisierte Werte unterstrich.29 Von 1931 an weitete die KPF ihren Einfluss auf Kultureinrichtungen in Frankreich aus, jegliche Entwicklung der proletarischen Kultur stand von nun an unter strenger Aufsicht der Partei.30 Die Partei drohte jede_n auszuschließen, die ihren Richtlinien nicht folgte.31 Gegenüber konkreten Künstlern wie Tristan Tzara, André Breton und Salvador Dali hatte die KPF offen Vorwürfe geäußert.32 Wie bereits erwähnt, warf die KPF den Surrealist_innen im Allgemeinen vor, 24 25 26 27 28 29 30 31 32
Vgl. ibidem, S. 56. Vgl. ibidem, S. 57. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem, S. 139f.; Münster (1977), a.a.O., S. 99-110. Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 63. Vgl. ibidem, S. 72. So wurde zum Beispiel Tristan Tzara für seine Definition der Kunst getadelt. Gegenüber André Breton wurde der Vorwurf des taktischen Missbrauchs des Vertrauens, das seitens der Partei in ihn gelegt worden sei, erhoben. Salvador Dalis Kunst dagegen war
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mit leeren Phrasen zu handeln, ohne revolutionär-aktivistisch zu sein.33 Die Surrealist_innen ihrerseits waren bereit, die politische Vorhut der Partei zu akzeptieren, jedoch nicht im kulturellen Bereich. Dass die Surrealist_innen mit diesen Richtlinien oft nicht einverstanden waren, erschwerte ihr Bemühen als Teil der proletarischen Kämpfe im kulturellen Bereich anerkannt zu werden. In der Schrift À propos du concours de littéreature prolétarienne organise par »L’Humanité« aus dem Jahr 1932 verkündet André Breton, eine proletarische Literatur könne nicht spontan von der Arbeiter_innenklasse ausgehen, sondern an ihr müsse kollektiv-gesellschaftlich gearbeitet werden, wobei das allgemeine Wissen aus der Schule und aus Tageszeitungen nichts tauge.34 Anstatt einer literarischen Ausbildung der Arbeiter_innen schlägt Breton vor, das Wissen des alternativen Schreibens zu nutzen, über das manche bürgerliche Schriftsteller_innen schon verfügten.35 Nicht eine Trennung und Unterteilung der Schreibenden erachtete er für sinnvoll, sondern, im Gegenteil, eine enge Zusammenarbeit zwischen professionellen Schriftsteller_innen und den Arbeiter_inkorrespondent_innen.36 Für ihn gab es keine separate proletarische Kultur, die einfach von Proletarier_innen geschaffen werden könnte.37 Trotzki folgend behauptet Breton, dass eigentlich niemand imstande sei, die proletarischen Bedürfnisse zu artikulieren, genauso wie es niemand anstreben könne, Teil der proletarischen Kultur zu sein, weil eine solche noch nicht existiere.38 Für Breton sollte die Position der revolutionären Schriftsteller_in nicht ausschließlich Arbeiter_innen zukommen. Damit stellte sich Breton gegen die Meinung der KPF. Die Diskreditierung bürgerlicher Schriftsteller_innen durch die KPF sah Breton als großen Fehler an, denn unter ihnen gab es für ihn auch solche, die sich mit den Klassenverhältnissen auseinandersetzten, sich für die Situation der Arbeiter_innenklasse interessierten und sich mit ihr identifizierten.39 Breton sah die Meinungsunterschiede zwischen den
33 34 35 36 37 38 39
nach Ansicht der KPF pornografisch und deswegen moralisch nicht tragbar. Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 76. Vgl. Münster (1977), a.a.O., S. 30. Vgl. Breton, André: À propos du concours de littérature prolétarienne organise par »L’Humanité«, in: Le Surréalisme au service de la Révolution, 5 (1933), S. 16-18, S. 17. Vgl. ibidem, S. 17f. Vgl. ibidem, S. 18. Vgl. ibidem, S. 16. Vgl. ibidem, S. 16f. Vgl. ibidem.
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Surrealist_innen und der KPF im kulturellen und nicht im politischen Bereich.40 Schon seit 1929 war die Distanz zwischen den Surrealist_innen und dem KPF-Umkreis immer größer geworden. Besonders anschaulich wurde dies 1930 auf dem internationalen Kongress revolutionärer Schriftsteller in Charkow in der heutigen Ukraine, wohin Louis Aragon und Georges Sadoul, zwei langjährige Mitglieder der Surrealist_innen, als französische Delegation geschickt wurden.41 Auf dem Kongress, der sich als Stätte für Literatur auf einer prärevolutionären Ebene verstand, wurde die materialistische Dialektik zur allgemein anerkannten Methode erklärt.42 Dort wurde die Meinung vertreten, dass die proletarische Kultur von der Partei selbst kommen und von ihr gesteuert und überwacht werden soll.43 In Charkow kam es schließlich zu einem Eklat, bei dem der französische Delegierte Louis Aragon, Surrealist der ersten Stunde und ein enger Freund von André Breton, die Hauptrolle spielte. In seinen Schriften beschreibt Aragon den Surrealismus noch kurz vor dem Kongress als eine Bewegung, die auf dem dialektischen Materialismus basierend imstande sei, die Welt materialistisch zu sehen und sie zu begreifen.44 Dies erlaube es dem Surrealismus eine Position außerhalb der Literatur einzunehmen und einen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus zu leisten.45 Nach Aragon war gerade niemand anderes als die Surrealist_innen in der Lage, die Schriftsteller_innen in Frankreich leiten zu können. Den Surrealismus sah er dabei zugleich als materialistische und wissenschaftliche Aktivität.46 Auf dem Kongress in Charkow kam es jedoch zu einer überraschenden Wende. Aragon änderte abrupt seine Meinung, er verleugnete seine früheren Schriften und verkündete den Bruch mit den Surrealist_innen, um der KPF zu dienen.47 Seine Texte orientierten sich fortan an denen des Schriftstellers Wladimir Wladimirowitsch Majakowsky, außerdem plädierte er für die Organisation des Proletariats durch die Kommunistische Partei.48 Darüber hinaus sprach sich Aragon für eine proletarische Kultur aus, die der Avantgarde des Proletariats 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 76. Vgl. Münster (1977), a.a.O., S. 23f. Vgl. ibidem, S. 23. Vgl. ibidem. Vgl. beispielsweise Aragon, Louis: Le Surréalisme et le devenir révolutionnaire, in: Le Surréalisme au service de la révolution, 4 (1930), S. 2-8, S. 8. Vgl. ibidem, S. 4. Vgl. Aragon (1930), a.a.O., S. 8. Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 67. Vgl. Aragon, Louis: Pour un réalisme socialiste, Paris 1935, S. 84.
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
überlassen werden solle.49 In seiner Rede auf dem Kongress machte Aragon seine Postulate deutlich: Ihre Basis [der proletarischen Kultur, KG] muß vielmehr rein proletarisch sein. Sie muß unter der Kontrolle der Avantgarde des Proletariats und seines besten Verteidigers, der Kommunistischen Partei, stehen. Sie muß sich völlig autonom und selbständig von der bürgerlichen Literatur entwickeln, mit der weitere Beziehungen zu unterhalten nur schädlich wäre.50 Die proletarische Literaturbewegung sollte vor allem durch Arbeiter_inkorrespondent_innen gebildet werden. Dabei bedauert Aragon die miserable Situation der proletarischen Literatur in Frankreich, dass das Bürgertum sich nicht radikalisieren lasse, und dass es das Proletariat nicht unterstütze.51 Seine Rede beinhaltete das Versprechen der Bemühung der Schaffung einer Schriftsteller_innenvereinigung, die sich unmissverständlich der proletarischen Revolution verpflichtet fühlt.52 Diese sollte dann die Vereinigung Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires, kurz A.É.A.R., sein, die 1932 in Paris gegründet wurde. Die Entstehung der Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires hatte also eine ziemlich angespannte Atmosphäre in den Kreisen der Surrealist_innen zur Grundlage. Die A.É.A.R. verstand sich als Ort, an dem sich dem Proletariat verbundene Schriftsteller_innen versammeln können und Unterstützung und Förderung erfahren.53 Ihre politische Ausrichtung bedeutete allerdings nicht, dass ihre Mitglieder gleichzeitig und automatisch Mitglieder der Partei waren. Es handelte sich um eine sehr heterogene Gruppierung, der sowohl Kommunist_innen, radikale Sozialist_innen als auch Sozialdemokrat_innen angehörten. Was sie vereinigte, war der gemeinsame Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung der Arbeiter_innen und auch die Manifestation ihrer antifaschistischen Positionierungen.54 Folgendes Zitat macht die Zielsetzung der A.É.A.R. anschaulich: Wir revolutionäre Schriftsteller, wir, die wir heute zur Feder und morgen zum Gewehr greifen, wir wissen genau, auf welcher Seite in dem unvermeidlichen Konflikt zwischen der proletarischen und der imperialistischen Welt
49 50 51 52 53 54
Vgl. Münster (1977), a.a.O., S. 23. Louis Aragon zitiert nach Münster in: Münster (1977), a.a.O., S. 184. Vgl. Münster (1977), a.a.O., S. 26. Vgl. ibidem, S. 29. Vgl. ibidem, S. 34f. Vgl. ibidem, S. 30.
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der Feind steht. Wir werden dem Geist der Bolschewiki aus dem Jahre 1917 folgen. Wir können hier nur die Worte Lenins unterstreichen und unser machen, die lauten: »Der Kampf für den Frieden ohne revolutionäre Aktion ist eine heuchlerische leere Phase. … Wir werden mittels eines bewussten und gut organisierten Defaitismus für die Umwandlung des imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg kämpfen.«55 Die Vereinigung war entschieden marxistisch-leninistisch geprägt und sehr engmaschig von der KPF kontrolliert.56 Die A.É.A.R. verpönt in ihrem Manifest den Pazifismus an sich, weil der Imperialismus auf friedlichem Wege nicht überwältigt werden könne.57 Dort wird auch die Überwindung des Individualismus deklariert. Außerdem sei es das Ziel der A.É.A.R. gewesen, diejenigen Künstler_innen zu unterstützen, die ihren bürgerlichen Ursprung verkannten, ihn ablehnten oder kritisch betrachteten.58 Die A.É.A.R. sah sich also auch zu einer erzieherischen Arbeit der bürgerlichen Künstler_innen verpflichtet: »Man muß ihnen daher dabei behilflich sein, neue Menschen zu werden, sie umzuerziehen, ihre Vorurteile abzubauen und sie auf den Weg der proletarischen Ideologie zu führen«59 . Die Kunst, die von der A.É.A.R. erwartet wurde, war keinesfalls eine freie Kunst, sondern ganz im Sinne von Lenin eine, die die Unterdrückung der Proletarier_innen und die proletarische Revolution thematisierte. Ganz entschieden sollte Kunst ein Propagandawerkzeug sein. Das Hauptziel war es jedoch, schriftstellerische und künstlerische Kreise in Fabriken, Kasernen, in kolonisierten Gebieten und auch auf dem Land zu gründen.60 Denn nur diese Menschen konnten nach Ansicht der A.É.A.R. angemessen aus einer persönlichen Perspektive über die Ungerechtigkeit und die Unterdrückung des Proletariats berichten und dem Monopol des Bürgertums auf den kulturellen Bereich entgegenwirken.61 Zwar waren Surrealist_innen seit ihrer Gründung in die A.É.A.R. involviert, sehr schnell jedoch, nach etwa einem Jahr, waren sie 1933 nicht nur aus
55 56 57
58 59 60 61
Die erste öffentliche Äußerung der A.É.A.R. zitiert nach Münster in: Münster (1977), a.a.O., S. 30. Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 80. Vgl. Münster (1977), a.a.O., S. 36; vgl. auch: Das Manifest der Vereinigung revolutionärer Schriftsteller und Künstler (A.É.A.R.), abgedruckt in: Münster (1977), a.a.O., S. 184-187, S. 185. Vgl. Münster (1977), Das Manifest …, S. 185. Ibidem, S. 186. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem.
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der KPF ausgeschlossen worden, sondern in der Folge hatten sie auch die A.É.A.R. verlassen.62 Zu dieser Zeit fühlten sich die um Breton versammelten Surrealist_innen eher der Theorie Trotzkis und seiner permanenten Revolution verbunden.63 1935 fand in Paris der erste internationale Schriftsteller_innenkongress statt, dessen Prämisse die Verteidigung der Kultur war.64 Dieser Kongress war eine Initiative der A.É.A.R. und des Comité de Vigilance des Intellectuels Antifascistes. Was die sehr verschiedenen Einzelparteien zusammengebracht hatte, war der Kampf gegen den Faschismus. Auf dem Kongress wurde die Notwendigkeit der Unterstützung des proletarischen Kampfs geäußert, außerdem war dort eine entschieden kommunistische Tendenz zu bemerken.65 Auch dort bemühten sich linke Schriftsteller_innenorganisationen, sich von den Surrealist_innen abzugrenzen. Im Jahr 1936 ist bei den Surrealist_innen um André Breton schließlich eine entschiedene Identifizierung mit Trotzkis Theoriebildung und der Anerkennung der Unmöglichkeit der Revolution, zumindest in unmittelbarer Zeit, zu verzeichnen.66 Die Surrealist_innen setzten sich offen für ein Bleiberecht für Trotzki in Frankreich ein, was allerdings nicht durchgesetzt werden konnte.67 Diese Zuneigung kulminierte im gemeinsam von Breton, Trotzki und Diego Rivera verfassten Manifest Pour un art révolutionnaire indépendant aus dem Jahr 1938. In diesem Manifest wird die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen der zentralisierten sozialistischen Ökonomie und dem anarchistischen Bereich der individuellen Freiheit für intellektuelle und künstlerische Aktivitäten unterstrichen.68 Dieses Manifest zog die Gründung der Organisation Fédération internationale de l’art révolutionnaire indépendant (F.I.A.R.I.) nach sich, mit der Claude Cahun sympathisierte.69
62 63 64 65 66 67 68 69
Vgl. Münster (1977), a.a.O., S. 40. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem, S. 93. Vgl. ibidem, S. 97. Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 225. Vgl. Becker (1998), a.a.O., S. 21. Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 226. Cahun unterschrieb 1939 deren Pamphlet Nieder mit den Lettres de cachet, nieder mit dem grauen Horror. Vgl. Becker, Heribert [Hg.]: Es brennt! Pamphlete der Surrealisten, Hamburg 1998, S. 153-156.
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Les poèmes de circonstance – situationsbedingte Kunst In der angespannten Stimmung zwischen der Kommunistischen Partei und marxistisch und kommunistisch orientierten künstlerischen Bewegungen der 30er-Jahre, die sowohl in Frankreich als auch in Russland spürbar war, ist Cahuns Schrift Les Paris sont ouverts (dt. Die Wette gilt) entstanden. Sie wurde zwischen 1933 und 1934 inmitten der Debatten um die Rolle der Kommunistischen Partei in der Revolution, die Methoden und Wege zum Erreichen des Kommunismus und die Rolle der Kunst beziehungsweise der Poesie innerhalb dieser Umwälzungen verfasst. Unter den marxistisch orientierten Künstler_innen waren zu dieser Zeit mehrere Fragen virulent: Welchen Stellenwert sollte die Kunst in den revolutionären Kämpfen einnehmen? Welche Rolle sollte die Partei gegenüber der Kunst spielen? Und wer soll die Kunst und Literatur eigentlich herstellen? Dass sich auch Cahun mit diesen Fragen beschäftigte, zeigt sich gleich zu Beginn ihres Texts, wenn sie schreibt: »Quel parti prenez-vous pour en finir avec l’exploitation de l’homme par l’homme avec votre propre dilemme: exploité exploiteur? Exploités, exploiteurs jusque dans l’amour la poésie et la défense de la cause prolétarienne«70 . Mit dieser Frage markiert Cahun ihre Reflektion darüber, was eine Künstler_in tun kann, welche Art der künstlerischen Betätigung und vor allem welche Inhalte am üblen Fakt der Ausbeutung der Menschen durch die Menschen etwas ändern oder ihn zumindest markieren können. Wie Cahun später selbstreflexiv schreibt, ist ihre theoretische Auseinandersetzung mit der Kunst und der Kunstherstellung zustande gekommen, weil die politischen und gesellschaftlichen Umstände dies nötig machten.71 Der erste Teil von Les Paris sont ouverts entstand 1933, wie Cahun in einer Fußnote anfügt, als eine Antwort auf den Vorschlag der Gründung einer Abteilung für Dichtung in der A.É.A.R. – als ein Plädoyer für die Schaffung dieser Abteilung.72 Darin konzentriert sie sich auf die Aufgaben der schriftstellerischen Tätigkeit und die Rolle der Schriftsteller_in. Cahun stellt sich gegen die Meinung, dass in der zukünftigen Gesellschaft nur eine praktische Dichtkunst einen Platz hat und sich jegliche andersgeartete Dichtung selbst zerstören wird.73 Eine solche Dichtung begreift Cahun als reaktionäre künst70 71 72 73
Cahun, Claude: Les Paris sont ouverts, Paris 1934, S. 3. Vgl. Cahun, Claude: Lettre à Paul Levy, in: dies.; Leperlier, François [Hg.]: Claude Cahun. Écrits, Paris 2002 [1950], S. 715f. Vgl. Cahun (1934), a.a.O., S. 7. Vgl. ibidem, S. 7, Fußnote 1.
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lerische Tätigkeit.74 Sie spricht sich aus gegen eine derartige Instrumentalisierung der Poesie. An dieser Stelle besteht ein anschaulicher Unterschied zur Auffassung der Kunst bei der A.É.A.R. oder bei der KP selbst, für die die Kunst als rein politisches Mittel dient. Cahun tendiert eher zu einer Positionierung für eine »Befreiung« der Wörter von ihrer instrumentellen Funktion und ihrer Bedeutung, für ihre freie Entfaltung: Il ne saurait exister de trucs idéologiques ni de recettes techniques pour écrire des poèmes révolutionnaires. Les poèmes ne peuvent être dits révolutionnaires ou non qu’autant qu’au plus secret d’eux-mêmes ils représentent des hommes, les poètes qui les ont faits. Tous les poèmes sont des poèmes de circonstance.75 Gedichte sind demnach situationsgebunden, sie sind engagiert, sie entstehen aufgrund bestimmter Umstände und sie entsprechen den spezifischen Verhältnissen, aus denen sie hervorgegangen sind, wobei sie weder von Gesetzen noch von Anleitungen bestimmt werden. Gedichte seien Resultate besonderer Vorkommnisse, deren Effekte und Reaktion auf diese, ihre Entstehung sei eher spontan als geplant.76 Diese Umstände versteht Cahun als einen Ansporn, einen Trigger, als den Beginn einer Synergie, ohne von vornherein klar erkennbares Ergebnis. Die Autorin markiert einen großen Unterschied zwischen einem Gedicht, dessen Thema jemandem aufgezwungen worden ist, und einem, dessen Thema sich aus einer spezifischen Situation ereignet.77 Cahun schlägt vor, für das bessere Verständnis dieses Unterschieds eine Begrifflichkeit von Tristan Tzara zu verwenden. Tzara unterscheidet nämlich zwischen dem offensichtlichen Inhalt (le contenu manifeste) und dem versteckten Inhalt (le contenu latent) eines Gedichts.78 Die Propaganda bedient sich nach Cahun offensichtlicher Inhalte, weshalb sie auch unter ihrem Formalismus leide.79 Offensichtliche Inhalte und solche, die nach formalen Vorgaben entstehen, können nach Cahun niemals revolutionär wirken.80 Propaganda offenbare ihre Inhalte auf direktem und formalisiertem Wege, um bestimmte Ziele zu erreichen. Die Dichtung sei dagegen ein Ergebnis von Emp74 75 76 77 78 79 80
Vgl. ibidem, S. 7. Ibidem, S. 8. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem, S. 9. Vgl. ibidem, S. 8.
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findungen, die ephemer sind, da der Auslöser dieses Gefühls vergehe.81 Für Cahun ist Dichtung ambivalent, weil sie ihren Inhalt verbirgt und gleichzeitig offenbart. Dies untermauert die Anwendung der in unterschiedlicher typografischer Ausführung durchgängig jede Seite des Texts übertitelnden Überschriften »La poésie garde son secret« und »La poésie livre son secret« (Abb. 3, 4, 5 u. 6). Dichtung ist nicht einfach, sie verlangt nach einer intellektuellen Anstrengung.
Abbildung 3 (links): Fotografien einzelner Seiten des Texts Les Paris sont ouverts von Claude Cahun. Abbildung 4 (rechts): Fotografien einzelner Seiten des Texts Les Paris sont ouverts von Claude Cahun
Dass die Dichtung für Cahun situationsgebunden ist, zieht nach sich, dass die Inhalte der Dichtung an Aktualität verlieren, wenn die Sachlage, in der sie entstanden sind, sich wandelt und sie einer späteren aktuellen Situation überhaupt nicht gerecht werden können.82 Als Beispiel nennt Cahun die französische Nationalhymne La Marseillaise, die sie zu ihrer Zeit als konterrevolutionär einschätzt: »Il cessera d’être révolutionnaire, il pourra même devenir contre-révolutionnaire (La Marseillaise) lorsque la situation qui l’a 81 82
Vgl. ibidem. Vgl. ibidem.
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
inspiré sera modifiée«83 . Für Cahun ist es wichtig, bei der Betrachtung eines Gedichts die Konstellationen, die zu seiner Entstehung geführt haben, zu berücksichtigen. Eine ähnliche Linie verfolgt 1919 Rosa Luxemburg in der Einleitung zu Wladimir Korolenkos Die Geschichte meines Zeitgenossen: »Doch beim wahren Künstler ist das soziale Rezept, das er empfiehlt, Nebensache: die Quelle seiner Kunst, ihr belebender Geist, nicht das Ziel, das er sich bewusst steckt, ist das Ausschlaggebende«84 . Cahuns Bestehen auf der Wichtigkeit der Berücksichtigung des Moments, in dem ein Gedicht entstanden ist, kommt Luxemburgs Hervorhebung der Bedeutung der Quelle der Kunst nahe. Für beide sind die spezifischen Umstände, die zu einer künstlerischen Arbeit führen, essenziell, denn, wie Cahun unterstreicht, wenn sich die Umstände ändern, wenn das auslösende Moment vorüber ist, ist die Aussage der Arbeit womöglich eine gegensätzliche, auf jeden Fall eine andere. Nicht das Ziel, sondern der Geist der aktuellen Situation ist demnach die Beraterin, von der sich die Künstler_in einzig leiten lassen soll. Besonders deutlich wird dies, wenn Cahun über die wissenschaftliche Forschung schreibt: »Les recherches scientifiques ont assez souvent prouvé qu’en matière de recherche, le point de départ ne permet en rien de présumer du point d’arrivée«85 . Nicht nach einem Ergebnis solle sich kreative Tätigkeit richten, weil dieses gar nicht erst vorherzusehen sei. Dann erlangen Gedichte, deren Inhalte von flüchtigem Charakter sind, nach Cahun eine Kraft, die keine Propaganda erreichen kann.86 Die Dichtung lässt sich keinen Regeln und Normen unterwerfen: »La libération du formalisme est précieuse parce qu’elle empêche que la poésie en soit réduite à des jeux de lettrés. Par contre l’exigence des conformismes idéologiques serait la négation même de toute poésie«87 . Für Cahun ist die Poesie eine spontane, kritische Tätigkeit, die einem ideologischen Konformismus widerstrebt. Täte sie das nicht, wäre sie für Cahun nur Propaganda, eine Schrift also, die nicht versucht oder eben aufgehört hat kritisch zu sein. In Les Paris sont ouverts werden drei Arten, in denen sich Gedichte manifestieren können, unterschieden: L’action directe – eine moralisierende Aktion, deren
83 84
85 86 87
Ibidem, Fußnote 1, Hervorhebung i. O. Walsh, David: Siebter Vortrag: Marxismus Kunst und die sowjetische Debatte über »proletarische Kultur«, online: https://www.wsws.org/de/articles/2005/12/dw1-d06.html (zuletzt besucht am 23.2.2016). Cahun (1934), a.a.O., S. 27. Vgl. ibidem, S. 8 u. 11. Ibidem, S. 9.
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Charakteristika Affirmation und Wiederholung sind. Hierbei werden politische Absichten nicht versteckt. Die zweite Art, L’action directe à contre-sens, ist eine Aktion, die auf einer Provokation basiert und einen Aufstand bei der Leser_innenschaft hervorruft. L’action indirecte, die dritte Art, lässt der Leser_in die größte Freiheit.88 Cahun plädiert entschieden für die letztgenannte, wenn sie schreibt: »L’action indirecte me semble la seule efficace, et du point de vue de la propagande, et du point de vue de la poésie«89 . Sie unterstreicht, dass einzig die action indirecte Sinn macht, im Gegensatz zu einer lediglich plakativen, unmittelbar verständlichen Schreibweise. Die Essenz und die Stärke der Dichtung erblickt sie im Spiel mit der Sprache und mit Bedeutungen, in metaphorischen Wendungen und im Unausgesprochen-Bleibenden.90 Im zweiten Teil des Texts bezieht sich Cahun direkt auf die Situation, die um die Person von Louis Aragon und seine Abkehr von den Surrealist_innen entstanden war. Sich im Sinne von Breton und Trotzki aussprechend formuliert Cahun Vorwürfe gegen das Vorgehen von Louis Aragon. In seinen Gedichten habe Aragon die Surrealist_innen verraten, indem er sich nicht von der Inspiration und den Umständen, sondern von den Vorgaben der KP leiten haben lasse.91 Für Cahun war Aragons Handeln dem Zweck geschuldet, die Anerkennung der dominanten Parteiführung zu gewinnen. Diese Unterordnung nennt Cahun eine »prostitution au prolétariat«92 , seine Schreibweise bezeichnet sie als dienerisch.93 Auf diese Art schreibende Dichter_innen seien »Parasiten der Revolution«, weil sie lediglich mit leeren Worten handelten: Ces parasites de la révolution, ces exploiteurs d’une interprétation primaire du marxisme, d’une interprétation de commande (utopique et réactionnaire), du jour où ils ont adhéré à un Credo, se donnent, contre toute vérité matérialiste, pour des enfants du miracle, échappant à leur origine, à toutes leurs déterminations passées, à leurs tics bourgeois, cessant de reveler de la critique même qu’ils affectaient d’instituer.94 Wie Cahun feststellt, sieht Aragon in der Poesie nur ein Instrument des Klassenkampfs, das bei der Formulierung der Bedürfnisse der Arbeiter_innen88 89 90 91 92 93 94
Vgl. ibidem, S. 11-15. Ibidem, S. 15. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem, S. 25. Ibidem, S. 26. Vgl. ibidem. Ibidem.
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klasse hilfreich sei.95 Während Aragon seinerseits seine eigenen Gedichte als revolutionär und der Revolution dienend beschreibe, gestehe er zugleich ein, dass die bisherigen Revolutionen an sich keinesfalls Ergebnisse revolutionärer Dichtung gewesen seien: »il n’est pas vraisemblable que les révolutions soient le produit de la poésie révolutionnaire«96 . Cahun kommentiert diese Feststellung folgerndermaßen: »Sans doute!… mais cette constatation élémentaire et qu’il pousse à l’absurde, est remarquable de la part d’un homme qui se proclame poète militant révolutionnaire. Quelle crise de conscience déchirante!«97 Diese sogenannte revolutionäre Dichtung von Aragon sei, so Cahun, das Ergebnis der Gesetze, des Diktums der Partei, die über allem ihre Aufsicht ausübe. Konkret zeigt sich dies für Cahun in seinen Schriften, wenn er zwischen den Versen ständig eine Parole, einen »mot d’ordre« benutzt, die seine Texte determiniere.98 Dichtung habe eigene Wege sich auszudrücken, die nicht mit den Mitteln der Politik zusammenfallen sollten. Somit erlaube das Etikett »revolutionär« ziemlich wenig auszudrücken, was Poesie eigentlich sei.99 Für Cahun gibt es nicht einfach »revolutionäre« oder »nicht revolutionäre« Gedichte, so etwas wie ein poetisches Genre »revolutionäres Gedicht« existiert für sie nicht.100 Die Revolution machen nicht die Gedichte an sich, sondern sie ergibt sich zu einer bestimmten Zeit und aus einer bestimmten Situation, aus einem Zusammentreffen verschiedenartiger Kräfte, woraus sich auch Gedichte ereignen können: »Tous les poèmes sont des poèmes de circonstance«101 . Die Kunst, die Dichtung, werde gebraucht, weil sie das Leben der Menschen, sowohl direkt als auch indirekt, beeinflusse, an sich jedoch würde sie keine Revolution verwirklichen.102 Für Cahun spielt eine Dichtung ein Spiel, das nie von vornherein abgesteckt ist, sondern immer aufs Neue entdeckt werden muss: Que la fonction de la poésie soit d’épuiser toute interprétation délirante, les poètes ne l’admettront pas sans réserves. Mieux vaut qu’il en soit ainsi ; car, à trop insister sur cette tendance essentielle. on (sic!) perd de vue par quel prodigieux détour s’opère le désenchantement. Découvrir comment joue la 95 96 97 98 99 100 101 102
Vgl. ibidem, S. 20. Louis Aragon zitiert nach Cahun: Cahun (1934), a.a.O., S. 20. Ibidem. Vgl. ibidem, S. 25. Vgl. ibidem, S. 21. Vgl. ibidem, S. 8. Ibidem. Vgl. ibidem, S. 21.
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poésie et comment faire son jeu, voilà ce qui nous importe. Le débat reste ouvert …103 Es lässt sich eben keine allgemeine Formel finden, die der Produktion eines Gedichts (geschweige denn eines revolutionären Gedichts) zugrunde gelegt werden könnte. Vor dem Hintergrund dieser Behauptung können auch die Überschriften, die auf den Seiten des Texts Les Paris sont ouverts erscheinen, als ein Gedicht und zusätzlich als eine visuelle Auseinandersetzung mit dem Thema verstanden werden, als ein visuelles Spiel mit Buchstaben und Bedeutungen, die, auf jeder Seite unterschiedlich angeordnet, zugleich Rätsel und allgemein verständliche Sätze sind. Manchmal sind die Buchstaben dieser in unterschiedlicher typografischer Ausführung am oberen Rand jeder einzelnen Seite von Les Paris sont ouverts platzierten Überschriften (Abb. 5 u. 6) sehr eng zusammengerückt, ohne auf Leerstellen, Interpunktion und Grammatik zu achten, wodurch der Lesevorgang erschwert wird. In anderen Überschriften sind die Buchstaben weit auseinandergezogen, sodass nur einzelne Wörter beziehungsweise Buchstaben dieser Sentenzen sichtbar werden; auch in dieser Ausführung sind die Sätze schwer lesbar. Les Paris sont ouverts ist sowohl Leo Trotzki als auch Karl Marx gewidmet. Der Einfluss Trotzkis durchzieht deutlich den ganzen Text. Dies mag so manche verwundern, denn Les Paris sont ouverts ist im Zusammenhang einer Diskussion entstanden, die innerhalb der Kreise der A.É.A.R. geführt wurde, die bekanntermaßen marxistisch-leninistisch orientiert war. Die Lektüre des Texts zeigt jedoch, dass dieser Text eine klare Positionierung entlang der Theorie von Trotzki darstellt und zudem Cahun als eine Sympathisantin der Surrealist_innen um Breton offenbart. Les Paris sont ouverts kann eher als Bruch und Abrechnung mit der A.É.A.R. und ihren Mitgliedern, aus der sie später austrat, gelten.104 Die Stellung Leo Trotzkis gegenüber dem kulturellen Bereich unterschied sich von der der A.É.A.R. gleich auf mehreren Ebenen diametral. An zwei Punkten werden die Differenzen besonders deutlich, zum einen, wenn es um die Rolle der Kommunistischen Partei geht, zum anderen hinsichtlich der Entscheidung, wem die Arbeit der Herstellung der Kultur zukommen soll. Für 103 Ibidem, S. 32, Hervorhebung i. O. 104 Siehe die Stellungnahme Cahuns in ihrem Brief vom 3.7.1950 an Paul Levy: »J’avais travaillé avec Nizan en 32-33 à la stalinisante AEAR dont j’avais été »exclue"…au reçu de ma lettre démission«. Cahun, Claude: Lettre à Paul Levy, in: dies.; Leperlier, François [Hg.]: Claude Cahun. Écrits, Paris 2002, S. 709-757, S. 718.
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Abbildung 5 (links): Fotografien einzelner Seiten des Texts Les Paris sont ouverts von Claude Cahun. Abbildung 6 (rechts): Fotografien einzelner Seiten des Texts Les Paris sont ouverts von Claude Cahun.
Trotzki sollte die Kommunistische Partei zwar Möglichkeiten für die Existenz des künstlerischen Bereichs schaffen, sie sollte ihn allerdings nicht überwachen. Ein Eingreifen der Partei in die Belange der Kunst, deren Aufgaben er vor allem in der Organisation des politischen Felds und der Revolution sieht, lehnt er ab: Es gibt Gebiete, auf denen die Partei unmittelbar und gebieterisch führt. Es gibt Gebiete, auf denen sie kontrolliert und fördert. Und es gibt Gebiete, auf denen sie nur fördert. Es gibt schließlich Gebiete, auf denen sie sich nur orientiert. Auf dem Gebiet der Kunst ist die Partei nicht berufen zu kommandieren. Sie kann und soll schützen, fördern und lediglich indirekt lenken. Sie kann und soll den verschiedenen Künstlergruppen, die sich aufrichtig um eine Annäherung an die Revolution bemühen, den bedingten Kredit ihres Vertrauens gewähren, um ihre künstlerische Gestaltung zu fördern.105
105 Trotzki, Leo: Literatur und Revolution, München 1972 [1924], S. 182.
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Ganz in diesem Sinne meint Cahun, dass eine Leitung beziehungsweise Vorgaben beispielsweise durch die KPF, die Dichtung vernichtet: »Si la spécialisation poétique tend à sa propre ruine, ce n’est pas que la poésie doive disparaître. Au contraire. C’est parce qu’elle ›doit être faite par tous. Non par un‹ (Lautréamont)«106 . Cahuns Bezugnahme auf die Worte von Lautréamont kann hier in einem doppelten Sinn gelesen werden. Einerseits wird die Dichtung als eine Form der kollektiven Tätigkeit und Aktivität beschrieben; die Dichtung sollte eben von allen gemacht werden und nicht von einer_m. Cahun befürwortet eine egalitärere Dichtung, die die Exklusivität der bürgerlichen Dichtkunst hinter sich lässt. Dies kommt in ihren Texten beispielsweise dann zum Ausdruck, wenn sie Arbeiter_innen wie selbstverständlich als Kunstproduzent_innen ansieht, worauf ich weiter unten im Zusammenhang des Texts Prenez garde aux objets domestiques ausführlicher zu sprechen komme. Andererseits verweist dieser Satz auf eine politische Forderung, der nach die Dichtung nicht von einer einzigen Institution, Gruppe etc. geleitet und produziert werden soll, und deren implizite Kritik gegenüber den zentralisierenden Tendenzen in der Kommunistischen Partei. Für Trotzki ist revolutionäre Kunst beziehungsweise Kultur erst nach der Revolution möglich.107 An dieser Stelle ist auch der Unterschied zu Lenin ersichtlich, für welchen die Kunst eines der Instrumente der Revolution war.108 Während Marx und auch Trotzki die Materie zum Ausgang der Gedanken erklären, tendiert Lenin zum Idealismus, indem er behauptet, dass eine Revolution ohne revolutionäre Theorie überhaupt nicht möglich wäre. Dagegen schildert der folgende Satz von Trotzki seine Verbundenheit mit dem Marx’schen dialektischen Materialismus besonders deutlich: »Für uns aber stand am Anfang die Tat. Das Wort folgte ihr als ihr Klangschatten«109 . Auf diesen grundsätzlichen Unterschied zwischen Lenin und Trotzki verweist Cahun selbst, indem sie der leninistischen Parole »Sans théorie révolutionnaire,
106 Cahun (1934), a.a.O., S. 7. Mit »la spécialisation poétique« meint Cahun eine Abgrenzung der Dichtung von der Propaganda. An dieser Stelle wird außerdem ihre Rezeption Tristan Tzaras sichtbar, denn auch er hatte zwei Jahre zuvor das gleiche Zitat für seine Schrift verwendet. Siehe Tzara, Tristan: Versuch über die Lage der Poesie, in: Metken, Günter [Hg.]: Als die Surrealisten noch recht hatten, Hofheim 1983 [1931], S. 234-250, S. 250. 107 Vgl. Trotzki (1972 [1924]), a.a.O., S. 155f., 159 u. 191f. 108 Vgl. Lenin, Wladimir Iljitsch: Über proletarische Kultur, in: ders.:Werke, Bd. 31, Berlin 1966 [1920], S. 307-308, S. 307. 109 Trotzki (1972 [1924]), a.a.O., S. 154.
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pas d’action révolutionnaire« die Marx’sche »Le mot suit la chose« gegenüberstellt, eine Geste, die eine Kritik gegenüber der A.É.A.R. und auch gegenüber Louis Aragon beinhaltet.110 Im Gegensatz zu Lenin gibt es für Trotzki keine proletarische Kultur an sich, erstens, da diese erst nach der Revolution möglich sei und zweitens, da das Proletariat nach der Revolution logischerweise aufhöre zu existieren. Denn das Ziel der Revolution sei schließlich eine klassenlose Gesellschaft, in der es ein Proletariat per definitionem nicht geben könne und die Kunst als Volkskunst in Erscheinung treten würde.111 In seinen Schriften zur Kultur konzentriert sich Trotzki vor allem auf die Literatur. Diesen hohen Stellenwert nimmt sie ein, da Trotzki der Literatur während der Periode der Revolution, also während der Übergangsphase, eine unterstützende und festigende Rolle zuschreibt.112 Auch bei Cahun ist die Literatur und insbesondere die Dichtung in den revolutionären Prozessen von zentraler Bedeutung, vorausgesetzt sie kann sich frei, ohne inhaltliche und formale Zwänge, entwickeln: Il en est parmi nous qui penseront peut-être que l’activité poétique étant dénuée d’utilité pratique ne peut désormais que tendre à se détruire et n’aura pas place dans la société future. Ils ne verront que des vestiges de la civilisation capitaliste dans les tentatives poétiques, même prolétariennes, et jugeront que nous devons diriger ces camarades égarés vers les tâches précises de la propagande marxiste.113 Für Trotzki soll die Ästhetik, im Gegensatz zu Lenin, nicht von oben aufgedrängt werden. »Der Stil – das ist die Klasse«114 , schreibt Trotzki. Der Stil entwickele sich in einer organischen Synergie der spezifischen Situation einer bestimmten Klasse. Jede Klasse habe einen spezifischen Hintergrund, befinde sich in einer bestimmten Situation, woraus ein eigener Stil entstehen könne. Die Form der Kunst sei also nicht in einem Keim vorgebildet, sondern sie bilde sich als Antwort auf die Bedürfnisse der jeweiligen Klasse.115 In Les Paris sont ouverts schreibt Cahun, die Dichtung habe ein eigenes Geheimnis,
110 111 112 113 114 115
Vgl. Cahun (1934), a.a.O., S. 20. Vgl. Trotzki (1972 [1924]), a.a.O., S. 156f. u. 162. Vgl. ibidem, S. 191f. Cahun (1934), a.a.O., S. 7. Trotzki (1972 [1924]), a.a.O., S. 172. Vgl. ibidem.
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das sich zugleich verstecke und zeige.116 Die Sprüche »La poésie garde son secret« und »La poésie livre son secret« treten, wie schon erwähnt, im eigentlichen Text und auch auf den Seitenköpfen als Wortspiele und als typografische Spiele auf. Das Geheimnis der Kunst beziehungsweise der Dichtung, von dem Cahun schreibt, könnte als genau dieser Stil, den Trotzki erwähnte, begriffen werden, der sich frei entwickelt und nicht aus Vorgaben hervorgeht. Diese Dichtung ist aus den Umständen erwachsen, weswegen sie auch unbeständig bleibt und sich nicht formalisieren lässt. In der Dichtung steckt für Cahun eine Kraft, die nicht einfach von außen aktiviert wird. Sie ist etwas, das selbst aktiv wird und selbst wirkt: Le mystère de la poésie, c’en est toujours un autre. Ses avatars ne sont pas le secret de Polichinelle. Inconnue malgré nous, et jusque dans vos bras, la subversive est agie par l’histoire (par l’histoire dont elle fait partie : par ellemême), par l’ensemble mouvant sur lequel elle agit. Elle a g i t. Mais qu’elle garde ou qu’elle perde, qu’elle perde ses derniers jamais derniers voiles, il n’est pas d’événements au monde qui la puissent réduire à l’indignité mercenaire, et somme toute inefficace, d’un rôle, de ce grand premier rôle que joue glorieusement la ›poésie‹ de propagande.117 In der Poesie sei es wichtig, ihr Spiel zu entdecken. Die Betonung liegt hier auf der Entdeckung, weil es für Cahun keine Anleitung für das Zustandekommen eines Gedichts geben kann: »Découvrir comment joue la poésie et comment faire son jeu, voilà ce qui nous importe«118 . Dichtung kommt spontan und unbedrängt zustande. Dies findet sich in folgendem Satz von Trotzki wieder: »Ohne die elastische Atmosphäre eines sie umgebenden Mitfühlens kann die Kunst weder existieren noch sich entfalten«119 . Die Postulate aus Les Paris sont ouverts lassen zudem anlauten, was André Breton, Diego Rivera und Leo Trotzki 1938 gemeinsam in der Schrift Für eine unabhängige revolutionäre Kunst schreiben werden: Wenn die Revolution für die Entwicklung der materiellen Produktivitätskräfte gehalten ist, eine zentral gesteuerte, sozialistische Staatsform aufzubauen, so muss sie für das intellektuelle Schaffen von vornherein eine anarchistische Form individueller Freiheiten geradezu etablieren und sicherstel116 117 118 119
Vgl. die Überschriften in: Cahun (1934), a.a.O., S. 7 u. 19. Ibidem, S. 29f., Hervorhebung i. O. Ibidem, S. 32. Trotzki (1972 [1924]), a.a.O., S. 133.
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len. Keinerlei Autorität, keinerlei Zwang, nicht die leiseste Spur einer Vorschrift!120 Auch hier, vier Jahre nach Les Paris sont ouverts und unmittelbar vor dem Einbruch des Zweiten Weltkriegs, ist die Priorität weiterhin, mag dies auch utopisch anmuten, die Ungezwungenheit der künstlerischen Tätigkeit.
Für wen die Kunst? Fast zeitgleich zur Entstehung von Les Paris sont ouverts und ihren Gedanken darüber, was die Dichtung ausmacht, was ihre Inhalte und Formen sein sollen, hat sich Cahun mit den Rezipient_innen beschäftigt, mit der Frage, für wen Dichter_innen eigentlich schreiben. Der Text Pour qui écrivez-vous? (dt. Für wen schreibt ihr?) von 1933 entstand im Zusammenhang einer Umfrage der Zeitschrift Commune, dem Sprachrohr der Vereinigung A.É.A.R.121 Cahun führt dort eine kleine Monodebatte, die sie in Les Paris sont ouverts bereits begonnen hatte.122 Sie prüft verschiedene Antworten auf die im Titel gestellte Frage: Für wen schreiben? Eine ihrer Antworten lautet, wer schreibt, tut dies für die, die lesen können.123 Diese Antwort scheint auf den ersten Blick selbstverständlich und nachvollziehbar zu sein. Bei längerer Überlegung zeigt sich Cahun jedoch, dass diejenigen, die lesen können, auch über die Zeit verfügen müssen, sich dieser Tätigkeit hingeben zu können und, was noch wichtiger ist, sie müssen imstande sein, zu den Texten zu kommen, sich diese also leisten können. Diese Antwort sei mit einer indirekten sozialen Sortierung der Menschen verbunden, die einer Zuwendung zu einer bestimmten sozialen Klasse gleichkäme, die mit aller Sicherheit nicht die der Arbeiter_innen sei. Denn lediglich die Menschen, die Zeit haben diese Texte zu lesen und über Geld verfügen, um sie zu kaufen, sieht Cahun hier angesprochen.124 Der Sinn der Kunst und des Schreibens, ihre Brauchbarkeit und ihre gesellschaftliche Wirksamkeit werden hier reflektiert.
120 Breton, André; Rivera, Diego [Trotzki, Leo]: Für eine unabhängige revolutionäre Kunst, in: Metken, Günter [Hg.]: Als die Surrealisten noch recht hatten, Hofheim 1983 [1938], S. 183-187, S. 185. 121 Vgl. Cahun, Claude: Pour qui écrivez-vous?, in: Commune, 4 (1933), S. 341-342. 122 In Les Paris sont ouverts äußert sich Cahun zu diesem Thema in einer Fußnote. Vgl. Cahun (1934), a.a.O., S. 26, Fußnote 3. 123 Cahun (1933), a.a.O., S. 341. 124 Vgl. ibidem.
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Die Frage »Für wen schreiben?« für sich ist für Cahun eigentlich eine schlecht gestellte Frage. Viel sinnvoller und aufschlussreicher findet sie die Frage »Gegen wen schreiben?«125 . Denn nur an der Reaktion der Opposition könnten Erfolge erkannt werden und eben gerade dort, nicht unter Gleichgesinnten, sei die größte Überzeugungsarbeit zu leisten. Dies bedeute zugleich, man müsse gegen sich selbst schreiben und das Geschriebene immer kritisch hinterfragen und prüfen: »L’essentiel est de ne pas s’entretenir avec des morts et de ne jamais signer de chèque sans provision«126 . Die formulierten Gedanken müssen nach Cahun bei der Autor_in eine Deckung finden, sie müsse in diesem Moment mit ihnen vereint sein und falls nötig, müsse es für sie auch denkbar sein, sie wieder zu verwerfen.127 Beim Schreiben gehe es also nicht darum, sich ein Publikum auszuwählen, sein Publikum zu sortieren, es gehe um eine kleine Hinterlist, die der Wirkung einer Arznei oder eines Gifts auf einem »feindlichen« Gebiet gleiche, die nicht sofort sichtbar sei, aber auf Dauer Veränderungen mit sich bringe: »En fin de compte, le choix de la personne, de la collectivité à qui l’on s’adresse a bien peu d’importance. C’est comme un remède, un poison, qu’on a soigneusement préparé pour un proche et qui tue ou guérit l’inconnu à l’autre bout du monde«128 . Die Mitgliedschaft Cahuns in der A.É.A.R. wird an dieser Stelle plausibler. Vor dem Hintergrund dieses Zitats lässt sich mutmaßen, dass Cahun nicht unbedingt die Übereinstimmung mit den Ideen der A.É.A.R. in diese Kreise geführt hat, sondern vielleicht doch eher der Versuch, durch eine List andere Ideen in diese Kreise einzuschleusen. Die Poesie behält ihr Geheimnis und manchmal offenbart sie es. Im Text bekommt das Geschriebene eine dritte Dimension, von der schon Paul Éluard und Tristan Tzara gesprochen haben. Für die beiden Schriftsteller trägt die neue Kunst nämlich den Namen Poesie. Poesie ist die neue Kunst überhaupt. Die Poesie wird in surrealistischen Kreisen nicht einfach als geschriebenes Wort, sondern als eine Art kreativen Tuns verstanden. Sie ist die Kunst, sie ist alles, was Surrealist_innen schaffen, sie lässt sich nicht auf eine Ansammlung von Buchstaben begrenzen. Paul Éluard macht deutlich, dass sie die Methode derer ist, die sich kritisch mit ihrer Umgebung auseinandersetzen: »Die wahre Poesie ist enthalten in allem, was sich jener Moral nicht unterwirft, die, um ihre Ordnung und ihr Prestige aufrechtzuerhalten, nichts anderes
125 126 127 128
Vgl. ibidem. Ibidem, S. 342. Vgl. ibidem. Ibidem.
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bauen kann als Banken, Kasernen, Gefängnisse, Kirchen und Bordelle«129 . An anderer Stelle macht er ebenfalls klar, dass Dichtung hier nicht gleichbedeutend mit einer schriftstellerischen Tätigkeit ist: »Denn wenn die Poesie, von der ich spreche, sich auch häufig durch Wörter ausdrückt, so läßt sich doch nicht behaupten, daß irgendein Ausdrucksmittel ihr versagt wäre«130 . Auch für Tristan Tzara muss die Poesie nicht unbedingt eine schriftliche Form haben und eine Dichter_in muss nicht zwangsläufig etwas geschrieben haben. In der Dichtung gehe es vielmehr um ein Transportieren, um ein Übertragen von Inhalten in das tägliche Leben, weswegen die Poesie nicht ausschließlich in Form eines geschriebenen Gedichts funktioniere.131 Genauso gut könnte sie auch auf der Straße gefunden werden: »Man ist sich heute durchaus einig, daß man Dichter sein kann, ohne je einen Vers geschrieben zu haben, daß poetische Qualität auf der Straße liegt oder in einer kommerziellen Vorstellung; überall ist die Verwirrung groß, ist sie ›poetisch‹«132 . Die Form und die Sprache werden hier nicht als determinierend verstanden. Die Poesie entsteht durch verschiedenartige Regungen der Künstler_in und die Poesie ist es auch, die solche Regungen hervorruft. Spätestens in Pour qui écrivez-vous? wird deutlich, dass sich auch für Cahun ein Text beziehungsweise ein Gedicht nicht auf Buchstaben und Bedeutungen beschränkt, der Text wird zu Taten und Gegenständen, die gemeinsam zum Gedicht werden. An dieser Stelle scheint es ebenfalls eine Verbindung zum Gedanken einer dichterischen Dekonstruktion alltäglicher Gegenstände und des Kunstwerks an sich aus dem Text Prenez garde aux objets domestiques zu geben.
Nehmt euch in Acht vor Alltagsgegenständen! Prenez garde aux objets domestiques (dt. Nehmt euch in Acht vor Alltagsgegenständen), so betitelt Cahun eine Schrift, die als ein Aufruf zum Neudenken von alltäglichen Gegenständen und der Herstellung von Kunst zu verstehen ist. Dieser Text ist 1936, zwei Jahre nach Les Paris sont ouverts und drei Jahre nach Pour qui ecrivez-vous?, entstanden und er erscheint wie eine Fortsetzung und gleichzeitig eine Erweiterung der in diesen beiden Texten entwickelten Überlegungen. In Prenez garde aux objets domestiques konzentriert sich Cahun Éluard, Paul: Die poetische Evidenz, in: Metken, Günter [Hg.]: Als die Surrealisten noch recht hatten, Hofheim 1983 [1936], S. 253-259, S. 258-259. 130 Ibidem, S. 255. 131 Vgl. Tzara (1983 [1931]), a.a.O., S. 236. 132 Ibidem. 129
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allerdings nicht mehr alleine auf die Kunstproduktion, was sie hier zusätzlich interessiert und was den Text so spannend macht, ist die Thematisierung der industriellen Massenproduktion, ihrer Abläufe, Effekte und Auswirkungen auf die Gesellschaft und somit auch auf die Kunst. Prenez garde aux objets domestiques ist eine experimentelle Abrechnung mit der kapitalistischen (Über-)Produktion, die die Entfremdung und Zurichtung der Arbeiter_in im Produktionsprozess herausfordert: il ne nous reste après l’affreuse fête où la raison n’a su nous découvrir que l’asservissement de l’homme par l’homme, par la matière, par les systèmes, mais il nous reste à découvrir où la raison s’arrête, à saisir et ne plus lâcher la matière avec le sentiment de notre libération.133 Der Abhängigkeit der Menschen von den kapitalistischen Marktgesetzen, der Habgier und der Ausbeutung stellt Cahun das Neubedenken der eigenen Umgebung, wo alltägliche Gegenstände neu entdeckt, benannt und konnotiert werden können, gegenüber. Anstelle der Sklavenarbeit in den Fabriken, die unnötige Dinge im Überschuss produziert, schlägt Cahun andere Wege vor, die die Netze der Abhängigkeit sprengen und zu neuen Lebensarten, Denkweisen und Produktionsweisen führen sollen. »J’insiste sur une vérité première: il faut découvrir, manier, apprivoiser, fabriquer soi-même des objets irrationnels pour apprécier la valeur particulière ou générale de ceux que nous avons sous les yeux«134 . Anstatt den gewöhnlichen, unwissentlichen Konsum zu perpetuieren, lädt Cahun beispielsweise dazu ein, alltägliche Gegenstände in völliger Dunkelheit anzufassen: »Je n’en finirais pas de vous parler des ces objets qui vous parleront mieux eux-mêmes, qui nous parleraient mieux encore si nous pouvions y toucher et dans l’obscuritié«135 . Ein willkürlich ungewohnter Umgang mit den Gegenständen könne der kapitalistischen Unterdrückung entgegenwirken, wenn diese nicht mehr als Waren betrachtet werden, weil sie beispielsweise durch die Dunkelheit verfremdet werden. Eine kritische Aktivierung der Konsumwelt ist es, die Cahun mit ihrem Text sucht. Auf diese Weise würde die Alltäglichkeit von Sehgewohnheiten befreit und im Endeffekt ganz anders erfahrbar.136 Diese Methode stellt althergebrachte Bräuche bloß und verhilft dazu, diese zu verstehen: 133 134 135 136
Cahun, Claude: Prenez garde aux objets domestiques, in: Cahiers d’art, 11 (1936), S. 4548, S. 45. Ibidem, S. 46, Hervorhebung i. O. Ibidem, S. 45f. Vgl. ibidem.
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Mais, entre autres symptômes, la surproduction d’objets de moins en moins usuels (comme la pince microscopique, seulement utilisable sous le microscope) nous garantit que, de toutes parts, notre actualité craque: la chaîne des travaux forcés, abrutissants, le frein d’or des passions seront brisés et rebrisés avant peut-être que pâlissent les photographies d’objets périssables étalés sous mes yeux.137 Die Zange, die so speziell ist, dass sie nirgendwo sonst angewendet werden kann als nur unter dem Mikroskop, kann als eine Anspielung auf Marx’ Kritik der Spezialisierung, die die Ausbeutung der Arbeiter_innen in der Fabrik forciert, verstanden werden.138 Die Spezialisierung beginnt nach Marx in der Manufaktur, wo die Arbeiter_innen nie eine Ware als Ganzes herstellen, sondern lediglich deren Teile.139 Die Abläufe dieser Teilproduktion, die Bewegungen der Arbeiter_innen und Instrumente, sind auf die Herstellung eines einzigen Teils abgestimmt. Marx nennt die Arbeiter_innen der Manufaktur deshalb Detailarbeiter_innen.140 Ihre Instrumente und Arbeitsbewegungen sind nicht beliebig und nicht überall universell anwendbar, im Gegenteil, sie sind determiniert durch die Exklusivität der Spezialisierung. Durch diese Art der Produktion werden die Arbeiter_innen nach Marx verunselbstständigt, denn die Fertigkeiten und Werkzeuge sind in anderen Produktionssparten unbrauchbar.141 Cahuns Hinweis auf die Zange, die nur unter dem Mikroskop verwendet werden kann, kann als eine Markierung der Absurdität der Spezialisierung und der mit ihr einhergehenden Zurichtung der Arbeiter_innen gelesen werden. An einer anderen Stelle zeigt sich Cahuns Negation der selbstverständlichen, rationalen Existenz und Daseinsberechtigung alltäglicher Objekte, deren Nutzung und Bedeutung. Ihre Methode dabei ist die Verfremdung: Prenez un miroir ; grattez le tain à hauteur de l’oeil droit sur quelques centimètres ; passez derrière l’endroit éclairci une bande sur laquelle vous aurez fixé de petits objets hétéroclites, et regardez-vous au passage les yeux dans les yeux. C’est le jeu de l’escarbille.142
137 138 139 140 141 142
Ibidem, S. 45. Vgl. Marx, Karl: Das Kapital, Stuttgart 1969 [1867], S. 223ff. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem, S. 223. Vgl. ibidem, S. 224f. Cahun (1936), a.a.O., S. 46.
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Sich auf Friedrich Engels berufend, spricht Tristan Tzara in Versuch über die Lage der Poesie davon, dass eine Negation der Negation neue Perfektion produziert: »Aus dieser Negation der Negation muß eine neue Poesie hervorgehen, die sich zu einer Macht emporschwingt, wie man sie sonst nur auf der psychischen Ebene der Gemeinschaft finden kann«143 . Indem die Negation der Negation negiere, vervielfältige sie auch, sie sei produktiv und führe zu neuen Denkweisen, die sich nicht in den gewohnten Kategorien und Normen bewegen würden.144 Nach Tzara lässt sie etwas Drittes entstehen, das »etwas ganz Neues zum Ausdruck bringt«145 . Auch in Prenez garde aux objets domestiques könnte diese Negation der Negation in der Poesie, die Tzara beschreibt, nachgezeichnet werden. Die Negation der Negation würde sich dort in Cahuns Streben nach Verfremdung von Alltagsgegenständen, aber auch der künstlerischen Tätigkeit, ihrer Gewohnheiten, Gesetze und Normen, äußern. Diese Negation wäre ebenfalls ein ganz entscheidendes Moment, das sich gegen Grenzen setzende und unterdrückende kapitalistische Verwertungsprozesse richtet, die sowohl in der Kunst als auch in Alltagsgegenständen wirksam sind. Wird der Mut aufgebracht etwas zu tun, was gewöhnlich nicht getan wird, oder gar verboten ist, kommt es zu einer Negation bestehender Normen. Negiert werden von Cahun intelligible Tätigkeiten, die von hegemonialen Ordnungen regiert werden, Tätigkeiten, die nur in bestimmten Diskursen funktionieren, was sich offenbart, sobald diese aus ihren Kontexten extrahiert werden; wie zum Beispiel die Nützlichkeit einer mikroskopischen Zange, die in die Hände von jemandem fällt, die mit Mikroskopen nicht vertraut ist, oder aber die ungeschriebene Übereinkunft darüber, wer Kunst machen kann: »C’est pourquoi, à certains égards, les travailleurs manuels seraient mieux placés que les intellectuels pour en saisir le sens, si tout dans la société capitaliste, y compris la propagande communiste, ne les en détournait«146 . Betont wird hier die sinnliche Dimension von Objekten, die eng mit ihrer Herstellung verbunden ist.147 Mit ihren Überlegungen spielt Cahun auf den Tastsinn und auf eine Verbindung, die in industriellen Herstellungsprozessen verloren geht, an, worauf Marx aufmerksam gemacht hat – die Verbindung der Arbeiter_in mit dem von ihr hergestellten Produkt. Arbeiter_innen sind nach Ca143 Tzara (1983 [1931]), a.a.O., S. 247. 144 Vgl. ibidem. 145 Tzara, Tristan: Max Ernst und die umkehrbaren Bilder, in: Metken, Günter [Hg.]: Als die Surrealisten noch recht hatten, Hofheim 1983 [1934], S. 318-323, S. 321. 146 Cahun (1936), a.a.O., S. 46, Hervorhebung i. O. 147 Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 162.
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hun bestens dazu befähigt, eine nicht-professionelle, kreative Aktivität, oder vielleicht eine künstlerische Tätigkeit, zu übernehmen, indem sie fühlen und anfassen, allerdings weit entfernt von der Produktion im herkömmlichen Sinne. Sie schlägt also etwas vor, das sich den üblichen Gedanken der Lohnarbeit entgegenstellt. Ab jetzt ist Sensibilität der entscheidende Faktor der Kunstproduktion und nicht bestimmte normierte Fähigkeiten, erlernte Techniken oder das erlesene Material. Es gibt für Cahun verschiedene Arten der Kunstherstellung, von denen keine geringer geschätzt werden sollte als die Kunst von ausgebildeten Künstler_innen. Prenez garde aux objets domestiques ist eine Reflexion über die Verteilung von Fähigkeiten und Annahmen über Prädispositionen. Das Herstellen von Objekten, das Erfahren von Alltagsgegenständen auf ungewohnte Weise, beispielsweise durch Konzentration auf den Tastsinn, bietet neue Möglichkeiten für die künstlerische Betätigung und gleichzeitig macht es das Herstellen von Kunst offener für die, die bisher mit dieser Materie nicht vertraut waren. Ähnlich wie Les Paris sont ouverts könnte auch dieser Text als ein kritischer Kommentar zum Anspruch der A.É.A.R., dass revolutionäre Kunst, wie sie es in ihrem Sechs Programmpunkten von 1933 ausdrückt, von »spezialisierten Intellektuellen«148 gemacht wird, gelesen werden. Cahun scheint die Forderung, proletarische Schriftsteller_innen zu unterrichten und zu disziplinieren, kritisch gesehen zu haben, denn wie sie zeigt, kann sich jede_r kreativ ausdrücken, die Tücke liegt für jede_n darin, für sich herauszufinden, wie dies zu machen ist, da es keine universelle Methode gibt. Prenez garde aux objets domestiques ist ein Aufruf Cahuns zur Destabilisierung des Kunstobjekts und des Konsumprodukts, die durch das Zerlegen des Status quo der professionellen Künstler_in und der künstlerischen Praxis führt – diese Situation bietet die Gelegenheit der Um-Ordnung, eines produktiven Chaos des Denkens, der Arbeit und der Kunst. Die Affirmation, die Cahuns Text beinhaltet, betrifft das ungewohnte beziehungsweise unerlaubte, bisher vielleicht negierte, Fühlen, Anfassen oder auch Hören, beispielsweise das Tasten im Dunklen oder den Blick in einen Spiegel ohne Silberfolie. Diese zugleich negierenden und affirmierenden Vorgänge bringen neue und unerwartete, aber auch vorhandene, doch nicht wahrgenommene, Gedichte, Gefühle, Bilder oder auch Objekte hervor. Vielleicht auch deswegen schreibt Cahun später:
148 A.É.A.R.: Die sechs Programmpunkte der AEAR, in: Münster, Arno: Antifaschismus, Volksfront und Literatur, Berlin 1977 [1933], S. 187-188, S. 188.
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»C′est pourquoi vous commencez à tripoter dans vos poches, et peut-être à les vider sur la table«149 . Die alltäglichen Produkte ausgebeuteter Arbeit könnten auch als solche Gegenstände gesehen werden, die ohne Sinn sind, aufs Neue zu entdecken wären und vor allem als solche, die den Menschen Würde zurückgeben, indem sie eine andere Art zu leben vorschlagen.150 Prenez garde aux objets domestiques ist eine Aufforderung mit Objekten zu verkehren, nicht wie bisher, zuallererst durch den privilegierten Sehsinn, sondern auch durch Anfassen oder Riechen. Cahun deutet an dieser Stelle die Möglichkeit an, Dinge anders wahrzunehmen, die Möglichkeit, sich in einem Dialog auf anderen Ebenen mit anderen Sinnen auszutauschen, ohne von vornherein zu wissen, was sich daraus entwickeln wird. Es soll hier nicht vorenthalten werden, dass dieser Text in Verbindung mit der Ausstellung surrealistischer Objekte Exposition surréaliste d’objets in der Galerie Charles Ratton 1936 in Paris entstanden ist, wo Cahun selbst zwei Arbeiten beigesteuert hat.151 Prenez garde aux objets domestiques entstand also im Rahmen einer Kunstausstellung und ist zweifellos als eine Kritik zeitgenössischer Kunstdiskurse zu verstehen.152 Es sind dies die Rahmen des hegemonialen Kunstdiskurses, der Kunstauffassung der KP und auch der kapitalistischen Konsumption, die Cahun hier angreift. Wo endet die Kunst und wo beginnt die Alltäglichkeit einer Arbeiter_in? Eine alltägliche Tätigkeit kann zu einer künstlerischen Tätigkeit werden, ohne zuvor als solche angesehen worden zu sein und umgekehrt. Der Gegenstand von Prenez garde aux objects domestiques ist auch eine Abrechnung mit der künstlerischen Tätigkeit. Cahun spricht sich dafür aus, Kunst anders zu machen und vor allem anders aufzufassen. Sie wirft Fragen nach der Form und dem Wesen eines Kunstwerks, nach seiner Herstellung und nicht zuletzt nach der Autor_in auf. Wer kann eigentlich ein Kunstwerk herstellen und wie wäre dies zu bewerkstelligen? Sie macht deutlich, dass andere Sinne als nur der Sehsinn an der Kunstproduktion und -rezeption beteiligt sein können. Gefragt sind andere Dispositive des 149 Cahun (1936), a.a.O., S. 46. 150 Vgl. ibidem. 151 Siehe Ausstellungsbroschüre der Galerie Ratton, online: www.andrebreton.fr/work/ 56600100858821 (zuletzt besucht am 11.11.2016). 152 Cahun wurde von André Breton persönlich dazu eingeladen, diesen Text zu schreiben, und wurde von Breton sogar als die perfekte Person bezeichnet, die über surrealistische Objekte schreiben könne: »J’ai pensé que vous seule seriez capable de traiter d’une manière parfaite un pareil sujet«. André Breton zitiert nach Maria Charlotte: Charlotte (2013), a.a.O., S. 323.
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
Umgangs mit Objekten des Alltags und auch der Kunst. In diesem kurzen Text zeigt Cahun, dass Dinge des Alltags auch andere Leben leben können als die Erfüllung ihrer Bestimmung, ihres Zwecks, was durch eine andere Gewichtung oder Betonung des Umgangs mit ihnen erfolgen kann. Sowohl dieser Text als auch die beiden anderen hier besprochenen Texte untermauern Cahuns Plädoyer für eine Kunst ohne Zwänge, für eine Kunst, die nicht mit nur einer Definition abgesteckt werden kann. Die Kunst scheint für Cahun kein Eigenes, keine vorgegebene Ordnung besitzen zu können, weil sie ein Ereignis ist. Für Cahun ereignet sich die Kunst, weshalb sich ihr keine Definition aufzwingen lässt, die sie erfassen könnte. Warum sonst sollte sie die Propaganda mit ihren Parolen, formalen Vorgaben und ihrer inhaltlichen Starrheit in Les Paris sont ouverts so heftig verpönen? Cahun zeigt auf, wie Dinge in unterschiedlichen Kontexten andere Bedeutungen und Gestalten annehmen können und anders wirken können. Sie ruft auf zur Offenheit, wodurch einengende Kategorien und Normen reflektiert und transzendiert werden können. Nur auf diese Weise ergibt Kunst für Cahun einen Sinn. Cahun geht es nicht um Kunstwerke im herkömmlichen Sinne, also nicht um Kunst im Sinne von abgeschotteten, luxuriösen Gegenständen. Für so eine Kunst plädiert sie nicht. Die Kunst, die sie beschreibt, ist paradoxerweise ein Teil des Lebens und ihm zugleich völlig fremd. Sie fordert eine neue Weltordnung, in der die vorherrschende Definition der Kunst und auch die Instrumentalisierung der Kunst außer Kraft gesetzt werden. Cahun verficht eine Kunst, die auf eine andere Weise am Leben teilnimmt. In dieser Kunst gibt es kein konkretes Ziel und keinen bestimmten Wert der Objekte, keine festgesetzten Urheber_innen, Besitzer_innen und Ordnungen. Cahuns Texte, ihre Form und ihre Inhalte, zeigen, dass die Autorin die künstlerische Tätigkeit reflektierte, dass sie sich theoretisch mit ihr auseinandersetzte. Ihre Hinwendung zur Theorie macht mehr als deutlich, dass ihr Schaffen für sie keinesfalls eine narzisstische Beschäftigung mit der eigenen Person war. Es offenbart sich eine andere Facette von Cahuns künstlerischer Tätigkeit, als es das heutige Bild Cahuns als Fotografin der Selbstportraits, deren Genealogie ich mich im 2. Kapitel widmen werde, vorsieht. Wie ihre Texte zeigen, war Kunst für Cahun viel mehr als eine Erforschung des eigenen Selbst. Sie verstand Kunst nicht als repräsentative Darstellung, sondern als ereignishaften Erzeugungsknoten, der von vielen Faktoren abhängt und nicht alleine im Selbst der Künstlerin zu lokalisieren wäre. Wie Alfred Whitehead in Prozeß und Realität darlegt, gibt es keine selbstständigen Tatsachen, die im Nichts treiben. Nichts gedeiht in Einsamkeit, sondern immer in Gefügen, im stän-
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digen Austausch mit der Mitwelt.153 Eine so aufgefasste Kunst war für Cahun schließlich deshalb wichtig, weil sie auch eine revolutionäre Kraft beinhaltet. Sie birgt das Potenzial gesellschaftlich wirksam zu werden, weil sie nach anderen, egalitäreren zwischenmenschlichen Beziehungen und nach Partizipation sucht. Sie ist politisch aktiv, jedoch in anderer Weise als die Propaganda. Diese Texte sind als Manifeste ihrer eigenen Kunstauffassung zu verstehen, die von ihr auch gelebt wurde. Sie sind Manifeste der eigenen Kunstpraxis Cahuns, die, so möchte ich behaupten, sich insbesondere mit dem Bauen der Objekte verweben, was ich im nächsten Unterkapitel aufzeigen werde.
1.2
Informe Objekte – eine andere Ökonomie der Dinge
In den 30er-Jahren, zeitgleich mit ihren kunsttheoretischen Schriften, ist bei Cahun ein Interesse an der Fertigung von Objekten als künstlerische Tätigkeit erkennbar. Sowohl vorher als auch nachher ist diese Gattung unter ihren Arbeiten nicht in diesem Ausmaß präsent. Diese Tatsache bringt mich dazu, nach einer Verbindung zwischen diesen beiden Aktivitäten zu suchen und nach eventuellen reziproken Abhängigkeiten und Wirkungen zu fragen. Wie bereits gezeigt wurde, hat sich Cahun an den (kunst-)politischen Aktivitäten der Surrealist_innen beteiligt und ihre Schriften zeigen eine enge Verwandtschaft mit den Gedanken der Gruppe. Das rege Interesse an der Objektkunst ist eine weitere Verbindungsstelle.
Surrealistische Objekte Surrealist_innen haben sich gegen die traditionelle Art der Kunst-/Poesieherstellung gewendet und darauf bestanden, solche Techniken zu entwerfen, der sich jede_r bedienen kann, um selbst Kunst zu machen. In diesem Zusammenhang wurde der schon erwähnte Spruch von Lautréamont adaptiert, den Cahun ebenfalls als ihr Motto nutzte: Die Poesie wird von allen gemacht und nicht von einer_m.154 Als künstlerische Gruppe strebten die Surrealist_innen in ihren Postulaten eine Kreativität an, die allen möglich sei, auch denen, die 153 154
Vgl. Whitehead, Alfred North: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a.M. 2011 [1929], S. 34f., 390ff., 446 u. 588. Dieser Spruch findet sich beispielsweise bei Paul Èluard, bei Tristan Tzara und auch bei Claude Cahun. Vgl. Éluard (1983 [1936]), a.a.O., S. 254; Tzara (1983 [1931]), a.a.O., S. 250; Cahun (1934), a.a.O., S. 7.
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
außerhalb der existierenden sozialen Kunstverhältnisse lebten, und die auch in der kommenden Gesellschaft gelten würde.155 Ein Ziel war es, die fetischisierende Zelebrierung und Exklusivität der Künste zu bekämpfen, denn Kunst sollte einem breiten Publikum zugänglich sein.156 Paul Éluard äußert sich dazu wie folgt: »Poesie pure? Die absolute Kraft der Poesie wird die Menschen läutern, alle Menschen«157 . Auch für Breton sollten alle Menschen gleichen Zugang zur Poesie/Kunst haben.158 Diese Intervention in die Welt sollte konkret anhand von Objekten, Objektkunst im heutigen Kunstjargon, passieren. Die Objektkunst wurde zur Grundtechnik der Surrealist_innen, wobei Narrativität vermieden wurde und das Auswahlprinzip der Teilstücke, die ein Objekt ausmachen, vom Zufall beherrscht war.159 Ein Objekt war also eher akzidentelle Begegnung als absichtliche, bewusste Intervention, mehr gefunden als gemacht.160 Die Objektkunst wurde in den 30er-Jahren, ähnlich wie bei Cahun, zu einem zentralen Anliegen der Surrealist_innen.161 Die Hochphase der surrealistischen Objekte ordnet Steven Harris in den Jahren 1931-1936 ein.162 Diese Einschätzung trifft auf Cahun ebenfalls zu. Wenn die Surrealist_innen dies auch bestimmt nicht gerne zugegeben hätten, sieht Julia Kelly die Ursprünge dieser Gattung jedoch schon mindestens 10-15 Jahre früher, nämlich in der Dada-Bewegung und in deren entschiedener Anti-Kunst-Stimmung.163 Denn es sei schon einige Jahre zuvor gewesen, als sich Dada-Künstler_innen für einen ähnlichen Gebrauch sogenannter niederer Materialien und Techniken eingesetzt hätten.164 Wo auch immer die Ursprünge dieser Kunstgattung liegen mögen, ist es wichtig festzuhalten, dass die Objektkunst zu dieser Zeit
155 156 157 158
Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 229. Vgl. ibidem. Éluard, (1983 [1936]), a.a.O., S. 254. Vgl. Breton, André: Der politische Standort der heutigen Kunst, in: Metken, Günter: Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, Stuttgart 1976 [1935], S. 164-182, S. 178. 159 Vgl. Waldman, Diane: Collage und Objektkunst. Vom Kubismus bis heute, Köln 1993, S. 159. 160 Vgl. Harris, Steven: Voluntary and Involuntary Sculpture, in: Dezeuze, Anna [Hg.]: Found Sculpture and Photography from Surrealism to Contemporary Art, Oxford 2013, S. 15-37, S. 28. 161 Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 93. 162 Vgl. ibidem, S. 218. 163 Vgl. Kelly, Julia: The Found, the Made and The Functional: Surrealism, Objects and Sculpture, in: Dezeuze, Anna [Hg.]: Found Sculpture and Photography from Surrealism to Contemporary Art, Oxford 2013, S. 39-57, S. 40. 164 Vgl. ibidem.
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ein Novum war und für den Kunstdiskurs eher eine unbequeme, »niedere« Erweiterung darstellte. In der surrealistischen Praxis gab es die surrealistische Objektkunst eigentlich nicht; es handelte sich um unterschiedliche Objektpraktiken, bei denen die Künstler_in mal mehr, mal weniger eingriff. Julia Kelly unterscheidet beispielsweise zwischen objets trouvés, also gefundenen Objekten, Objekten, die von der Natur geschaffen und geformt wurden, Objekten anonymer Kunstgewerbler_innen und Objekten ungewissen Ursprungs.165 Salvador Dali macht eine andere Unterscheidung und zählt sechs Objektgruppen auf: symbolisch funktionierende, transsubstanziierte, zu entwerfende, verhüllte, mechanische Objekte und Abgussobjekte.166 Wie man sie auch unterteilen mag, haftet den surrealistischen Objekten in ihrer ganzen Vielfalt eine Leidenschaft für zufällig gefundene Dinge an, ob auf der Straße, auf einem Flohmarkt oder sonst wo. Diese wurden mit den Namen »la trouvaille« oder einfach »objet trouvé« versehen.167 Oft wurden mehrere objets trouvés in Assemblagen zusammengebracht. Folgender Satz von Louis Aragon schildert gut, was unter derartigen Objekten vorgestellt werden kann: Solcherart sind die gesellschaftlichen Kunststückchen, deren Material ein Taschentuch ist, ein Zündholz, ein Bindfaden, Schlüssel …, die weder weinen noch lachen machen, die kaum dem Auge etwas bieten, ein wenig die Hände beschäftigen, und zunächst den Geist gleichgültig zu lassen scheinen.168 Wie Breton anmerkt, sollte die Herstellung der Objekte keine bewusste Tätigkeit sein.169 Jegliche Ausrichtung an rationalen, logischen Regeln wurde vermieden und dafür vieles dem, was man Zufall nennt, überlassen. Eine der beliebtesten surrealistischen Methoden, der auf dem Zufall basierende Automatismus, wurde mit dem Prinzip des objet trouvé, der zufälligen Begegnung oder des Findens von Dingen, assoziiert.170 Der Automatismus war auf das Herstellen von Kunst durch Begegnungen mit Dingen und das Empfangen von Gedanken und Bildern ausgerichtet. Anders ausgedrückt, die künst165 Vgl. ibidem, S. 39. 166 Vgl. Dali, Salvador: Surrealistische Objekte, in: Metken, Günter [Hg.]: Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, Stuttgart 1983 [1931], S. 358-361. 167 Vgl. Kelly (2013), a.a.O., S. 40. 168 Aragon, Louis: Der Schatten des Erfinders, in: Metken, Günter [Hg.]:Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, Stuttgart 1983 [1924], S. 50-53, S. 52f. 169 Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 32 u. 35. 170 Vgl. Kelly (2013), a.a.O., S. 43.
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
lerische Praxis sollte durch Denken und Tun entstehen, das nicht bewusst operierte: »Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung«171 – so wird die surrealistische Kunstpraxis im ersten Manifest des Surrealismus präzisiert. Eine Surrealist_in empfängt und begegnet eher, als dass sie sich selbst aktiv und bewusst am kreativen Prozess beteiligt. Eine Anleitung steuert André Breton bei: Lassen Sie sich zum Schreiben bringen, nachdem Sie es sich irgendwo bequem gemacht haben, wo Sie Ihren Geist soweit wie möglich auf sich selber konzentrieren können. Versetzen Sie sich in den passivsten oder den rezeptivsten Zustand, dessen Sie fähig sind. Sehen Sie ganz ab von Ihrer Genialität, von Ihren Talenten und denen aller anderen.172 Das Ziel der Objektkunst war eine totale Revolution der Skulptur, die im Pervertieren der Grundregeln bezüglich der Technik und des Materials und in der formalen und inhaltlichen Ausführung markiert wird. In einem gefundenen Objekt, das zugleich auch ein verlorenes Objekt sei,173 sah Breton eine Wiederkehr der Aura, die die Kunst nach Walter Benjamin durch das technische Reproduzieren im großen Maßstab verlorenen hatte: »Objet dénué de valeur par excellence, il se recharge auratiquement grâce aux principes de l’association, de l’analogie et de la complémentarité«174 . In seinem Text Crise de l’objet (1936) beschreibt Breton die surrealistischen Objekte als eine Art »physique de la poésie«175 . Sie seien Artefakte, die nicht mehr Schönheit ausdrückten, sondern das dichterische Denken.176 Notabene ein weiterer Hinweis darauf, dass für die Surrealist_innen Poesie ein neuer Begriff für Kunst war. Objets trouvés haben für Breton keine Urheber_in und sie lassen für ihn auch keine Schlussfolgerung zu, weswegen sie nach Belieben fortgesetzt und erweitert werden könnten.177 Diese Art des Denkens des Objekts als unabgeschlosse171 172 173
174 175 176 177
Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, in: Metken, Günter: Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, Stuttgart 1983 [1924], S. 21-50, S. 36. Ibidem, S. 38. Vgl. Puff-Trojan, Andreas: L’art considéré comme ›art de la guérison‹. L’aura de l’objet trouvé chez André Breton, Joseph Beuys, Hermann Nitsch et Rudolf Schwarzkogler, in: Asholt, Wolfgang; Siepe, Hans [Hg.]: Surréalisme et politique. Politique du surréalisme, Amsterdam 2007, S. 235-247, S. 240 u. 244. Breton zitiert nach Puff-Trojan: Puff-Trojan (2007), a.a.O., S. 247. Vgl. Breton, André: Crise de l’objet, in: ders.: Le Surréalisme et la peinture, Paris 1965 [1936], S. 275-280. Vgl. Harris (2004), a.a.O., S. 156. Vgl. Puff-Trojan (2007), a.a.O., S. 246.
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nen wird bei Cahun noch eine wichtige Rolle spielen. Viele Gedanken der Surrealist_innen sind in Cahuns Objekten erkennbar, aber, wie ich im weiteren Verlauf zeigen werde, waren diese nicht die einzigen, die ihre Arbeiten beeinflussten.
Objet inventé – Cahuns ge- und erfundene Objekte Da Cahuns Objekte nicht mehr erhalten sind, hat sich der größte Teil des Wissens über sie anhand fotografischer Aufnahmen entwickelt. Cahun hatte die Objekte oft fotografiert, sie dienten ihr als Modelle und von einem Objekt existieren meistens mehrere Aufnahmen aus unterschiedlichen Winkeln und in variierender Anordnung. Ansonsten gibt es auch kaum schriftliche Quellen, die die Objekte selbst oder ihre Entstehung beschreiben. Obgleich ich die Objekte selbst nie zu Gesicht bekommen habe und ich mein ganzes Wissen über sie aus den Begegnungen mit den Fotografien geschöpft habe, werde ich im Folgenden von Cahuns Objekten als selbstständiger künstlerischer Gattung sprechen. Der Spezifik der Überlieferung in Form von Fotografien werde ich erst im Anschluss daran, im dritten Kapitel, Rechnung tragen. Es ist nicht einfach, das Charakteristische von Cahuns Objekten auszumachen, so wie es im Allgemeinen schwierig ist, objets trouvés und surrealistische Objekte zu charakterisieren, die vieles mit Cahuns Objekten gemeinsam haben. Es gibt jedoch ein Merkmal, das alle ihre Objekte verbindet, nämlich dass die Objekte weder vollständig durch die Künstlerin gefertigt wurden noch einfach eine gefundene Sache sind. Eher stellen sie etwas dar, das sich im Zwischenraum bewegt. Vielleicht wäre es im Fall von Cahuns Objekten passend, von objets inventés zu sprechen, in denen die Vorgänge des Findens und Erfindens eng verflochten sind – ein Begriff, den Cahun selbst erwähnte.178 Einerseits operierte Cahun mit gefundenem Material, mit objets trouvés, aber indem sie es zusammenstellte, erfand sie das Gefundene neu. Cahuns Objekte lassen sich nicht leicht beschreiben, bestenfalls lassen sie sich grob in ein paar Gruppen einteilen. Eine große Gruppe, wenn nicht die größte, stellt eine Serie von Objekten dar, die unter einer Glasglocke platziert wurden. Ein häufig wiederkehrender Gegenstand in diesen Arbeiten ist eine hölzerne, modellierbare Figur, die grob anthropomorphe Züge aufweist. Hinzu gesellen sich weitere Gegenstände, beispielsweise Puppenköpfe, Haarbüschel, frische Blumen und Blätter. Diese Assemblagen scheinen eher locke178
Vgl. Cahun (1936), a.a.O., S. 45.
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
ren, aber dennoch narratologischen, Absichten zu folgen. Die hölzerne Figur bildet meist das Zentrum, das von Gegenständen umgeben ist, mit denen bestimmte Inhalte transportiert werden; zum Beispiel stellen sie eine Personifikation oder eine Situation dar. Oft behilft sich Cahun bei dieser Serie mit Schrifttäfelchen, auf welchen ganze Sätze oder auch einzelne Buchstaben erscheinen. Diese Objekte sind meistens klar und übersichtlich strukturiert, ohne die chaotischen Ansammlungen, die bei einigen anderen Objekten von Cahun zu finden sind. Die formale Lösung dieser Serie folgt immer einem ähnlichen Muster: Eine Assemblage wird vor hellem Hintergrund unter eine Glasglocke gestellt. Durch ihre formale Schlichtheit und die Anwendung von Glas und dunklem Holz wirken die Assemblagen sehr elegant. Die hölzerne Figur ist sehr einfach gehalten und dem menschlichen Körper grob nachgeahmt, durch Kugelgelenke lässt sie sich bewegen, wodurch ihre Haltung verändert werden kann. Aufgrund der Vereinfachung der Körperform der Figuren sind keine primären und sekundären Geschlechtsmerkmale der heteronormativen Matrix vorhanden. Ein Beispiel dieser Objektgruppe stellt Justitia dar (Abb. 7). Dieses Objekt wird, wie alle Objekte dieser Serie, auf das Jahr 1936 datiert. Was diese Arbeit als Justitia markiert, ist ein Schwert in der einen Hand, eine Waage in der anderen und eine Binde, die der Figur die Augen verschließt. Durch den Einsatz der Holzfigur wird Justitia zu einer geschlechtslosen Gestalt. Unter Cahuns Arbeiten gibt es noch eine andere Figur, die ähnlich geschlechtslos erscheint. Es ist eine Papierfigur, die aus der Zeitung L’Humanité, dem Sprachrohr der KPF, angefertigt wurde (Abb. 2). Das »Baumaterial« erlaubte es Cahun, neben dem Spiel mit dem Material Papier auch mit Wörtern zu spielen und den Körper der Figur zu einer Wortcollage zu machen. Zum Ausdruck kommt eine ähnliche Lust an semantischen Spielen wie bei den durchgängig jede Seite des Texts Les Paris sont ouverts übertitelnden Überschriften »La poésie garde son secret« und »La poésie livre son secret«. Diese Figur findet sich, so wie die hölzerne Figur, in mehreren von Cahuns Objektund Fotoarbeiten, in denen ihr durch Modifizierung der Umgebung oder von Kleidungsaccessoires verschiedene Rollen zukommen. Der Unterschied zwischen den beiden Serien ist, dass die hölzerne Figur viel mehr als Teil des Ensembles agiert, in dem die Figur mit anderen Elementen verschmolzen ist, wogegen die Papierfigur eher als Einzelfigur konzipiert zu sein scheint. Eine andere Gruppe bilden Objekte, die keiner formalen Ordnung folgen. Hierunter zähle ich jene Objekte, die vielfältiger sind. Sie hängen räumlich
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Abbildung 7: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-WeißFotografie/Objekt
enger zusammen, Narrative treten in den Hintergrund oder sie sind gar nicht richtig auszumachen und das Auseinanderhalten der einzelnen Teile fällt viel schwerer. Diese Arbeiten werden ebenfalls auf 1936 datiert. Sie bestehen aus Ansammlungen sowohl ganzer als auch kaputter beziehungsweise gebrochener Gegenstände. Auch hier finden sich neben Industriegegenständen Elemente der Fauna und Flora wie Blätter, Blumen, Knochen und Hörner. Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit Portrait d’André Gide par Benjamin Péret (Abb. 8). Auf einem dunkel gerahmten Handspiegel sind Gegenstände wie diverse Kunststoffspielzeuge beziehungsweise deren Teile, künstliche Vampirgebisse, Meeresfauna, Pfaufedern, Uhrwerke und andere weniger leicht identifizierbare Gegenstände zusammenmontiert. Gemeinsam bilden sie, dem Titel nach, ein Portrait des Schriftstellers André Gide. Von diesem Objekt gibt es
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Abbildung 8: Claude Cahun, Portrait d’André Gide par Benjamin Péret, ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt
mehrere Aufnahmen, die aus verschiedenen Winkeln erfolgten, wodurch sich das Wesen des ganzen Objekts ändert. Eine Variante in dieser Gruppe stellen Fotografien dar, die Fotomontagen aus existierenden Objektfotografien sind. Unter Cahuns Arbeiten gibt es weiterhin auch solche Objekte, die ephemer waren, nämlich diverse Skulpturen beziehungsweise Assemblagen aus Sand und Meeresflora. Diese werden zumeist auf das Jahr 1932 datiert, einige auch schon auf das Jahr 1926. Auch hier gibt es fotografische Variationen, vor allem in der Technik der Fotomontage. Auf Entre nous (1926) (Abb. 9) sind zwei an einem Strand liegende Köpfe aus Sand zu sehen. Die Spezifikation der Gesichter erfolgte durch schwarze Masken, die an die Stelle der Augenpartie, und durch Muscheln, die an die Stelle von Nase
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Abbildung 9: Claude Cahun, Entre nous, ca. 1926, SchwarzWeiß-Fotografie/Objekt
und Mund gesetzt wurden. Haare wurden durch Algen und Federn imitiert. Die Arbeit Le Père (Abb. 10) wird auf das Jahr 1932 datiert und wie schon Entre nous stellt sie eine anthropomorphe Gestalt aus Elementen der Meeresfauna und -flora dar, die an einem Strand liegt. Wie Entre nous ist auch dieses Objekt horizontal ausgerichtet, lediglich ein Stab, der einen Penis symbolisiert, folgt der Vertikalen. Die Assemblagen bestanden größtenteils aus am Strand gefundenen Gegenständen, was eine infantile Ausstrahlung erzeugt.
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
Abbildung 10: Claude Cahun, Le Père, ca. 1932, SchwarzWeiß-Fotografie/Objekt
Ebenfalls ephemer waren jene Objekte, die aus einer »Verschmelzung« eines lebendigen Körperteils mit anderen Objekten, die nur für die Dauer der fotografischen Aufnahme zusammen kamen, resultierten. In diese Arbeiten waren Elemente wie Sand und Flora involviert, seltener auch industrielle Erzeugnisse, beispielsweise Plastikhände und Puppenteile. Letzteres ist auf einer Abbildung von 1939 der Fall, wo sich mittig vor fast einheitlich schwarzem Hintergrund vier übereinander gestapelte Hände von verschiedener Farbgebung und Größe befinden (Abb. 11). Lediglich die Handrücken sind zu sehen. Die oberste und die unterste scheinen menschliche Hände zu sein, deren zugehörige Arme und restlicher
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Abbildung 11: Claude Cahun, o. T., ca. 1939, Schwarz-WeißFotografie/Objekt
Körper in der Dunkelheit verschwinden. Zwischen den beiden Händen befindet sich eine dunkle Kunsthand, deren Zeigefinger mit einem Ring geschmückt ist. Die vierte Hand, die auf den kleinen Finger der obersten Hand aufgesteckt ist, ist die kleinste. In anderen Arbeiten wird die Fauna und Flora der Insel Jersey selbst zum Hintergrund (Abb. 12). Hierbei wurden vor allem Felswände beziehungsweise Felskonstellationen als Kulisse für meist kleine Kunststofffiguren gewählt. In einer weiteren Gruppe lassen sich Arbeiten zusammenfassen, die für das schon erwähnte 1937 erschienene Kindergedichtsbuch Le Coeur de Pic von Lise Deharme entstanden sind. Bei dem Buch handelt es sich um eine künst-
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
Abbildung 12: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-WeißFotografie/Objekt
lerische Kooperation zwischen Cahun und Deharme, die, wie Deharme selbst schreibt, eine Ansammlung von Gedichten für Kinder und 20 Fotografien von Claude Cahun beinhaltet.179 Die Gedichte erzählen vom Leben der Blumen. Formal sind die abgebildeten Objekte sehr unterschiedlich, viele ließen sich den bereits genannten Gruppen hinzufügen. Sie werden hier deshalb als eine Gruppe angesehen, weil sie im Auftrag dieses Buchs entstanden sind. Eine inhaltliche Verbindung zwischen den Texten und den Bildern besteht nicht unbedingt. So zeigt beispielsweise die erste Tafel eine Jean-Jacques Rousseau darstellende Porzellanfigur im Freien, inmitten von Blumen und Gräsern 179
Vgl. Deharme, Lise: Le Coeur de Pic. Illustré de vingt photographies par Claude Cahun, Rennes 2004 [1937]. In diesem Buch gibt es keine Seitenzahlen, die Fototafeln wurden von mir [KG] nummeriert.
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(Abb. 13); also an einem Ort, an dem man sich eine solche Figur nicht unbedingt vorstellt.
Abbildung 13: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-WeißFotografie/Objekt (Fotoillustration für das Buch Le Coeur de Pic von Lise Deharme, Tafel I)
Das zugehörige Gedicht erzählt vom Kräutersammeln im Wald. Während diese Tafel eventuell noch nachvollziehbar machen könnte, dass es sich hier um Rousseau handelt, der gerade Kräuter pflückt, wäre es bei den nachfolgenden Tafeln deutlich schwieriger, eine inhaltliche Entsprechung zu finden. Unter freiem Himmel sind auf der zweiten Tafel Blumen und eine aus Blumen und Blättern konstruierte Figur zu sehen (Abb. 14).
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
Abbildung 14: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-WeißFotografie/Objekt (Fotoillustration für das Buch Le Coeur de Pic von Lise Deharme, Tafel II)
Ein deutlich anthropomorphes Element dieser Figur ist eine kleine künstliche Hand, die sich in Richtung einer Blume streckt. Das Gedicht erzählt vom Bildhauer Jehan du Seigneur, der seine Skulptur zum Leben zu erwecken begehrt und dafür sein eigenes Leben anbietet. Die dritte Tafel ist ebenso schwierig vereinbar mit der Behauptung der tiefen Verzahnung zwischen den Bildern und den Texten des Buchs (Abb. 15). Sie zeigt eine sonderbare Anordnung: In der Mitte des Bilds ist ein hängender Vogelkäfig zu sehen, in dem Blumen mitsamt künstlichen Lippen platziert sind. Darunter befindet sich eine Souvenir-Figur aus Jersey, die drei lächelnde, auf einer Holzbank sitzende, eiförmige Gestalten zeigt. Der zugehörige Text preist die Schönheit der Blume Immortelle. Die vierte Tafel zeigt die weiße Porzellan-Figur eines sitzenden Jungen, der, umgeben von Kapuzinerkresse, seine Fußsohle betrachtet (Abb. 16).
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Abbildung 15: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-WeißFotografie/Objekt (Fotoillustration für das Buch Le Coeur de Pic von Lise Deharme, Tafel III)
Im nebenstehenden Text erfährt die Leser_in über einen weinenden Kapuziner. Der Anlass der Traurigkeit ist der Tod seines Liebhabers Schmetterling. Weiter begeistert sich der Text der neunten Tafel für Pflanzenduft. Auf der Tafel, die dazugehört, ist eine in einem Kreis angeordnete Ansammlung diverser Blumen abgebildet, über denen ein weißer Vogel schwebt. Die ganze Anordnung ist im Freien platziert. Cahuns Objekte, die in einem spezifischen Zusammenhang entstanden sind, müssen hier eher als visuelle Metaphern denn als exakte Illustrationen gelesen werden. Es sind einzelne Aspekte oder Gestalten, wie zum Beispiel die in den Gedichten erwähnten Pflanzen, und nicht unbedingt die dort erzählten Geschichten in ihrer Gänze, die Cahun bei
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Abbildung 16: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-WeißFotografie/Objekt (Fotoillustration für das Buch Le Coeur de Pic von Lise Deharme, Tafel IV)
der Herstellung der Objekte inspiriert zu haben scheinen. Mit der lockeren Verbundenheit zwischen dem Visuellen und dem Text, die Cahun und Deharme generierten, lässt dieses Buch die Imagination der Leser_in spielen, es lädt zu Gedankenexperimenten ein. Unter Cahuns Objekten finden sich auch solche, die eher als Einzelstücke auftreten und sich keiner der genannten Serien zuordnen lassen. So ein Objekt ist ein Netzmannequin aus Draht, der mit unterschiedlichen Kleidungsstücken wie einem Handschuh, einem Schuh und einem Schal und außerdem mit einer echten Blume bestückt ist. Von diesem Objekt existieren meines Wissens lediglich zwei unterschiedliche Aufnahmen (Abb. 17).
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Abbildung 17: Claude Cahun, o. T., ca. 1935, Schwarz-WeißFotografie/Objekt
Die erwähnten Objektgruppen und auch Cahuns Objekte im Allgemein zeichnen sich durch eine vielfältige Heterogenität aus, hinter der keine generelle formale Lösung zu stehen scheint. Aber ist dies verwunderlich, nachdem sich Cahun schon in dem in Kapitel 1.1 behandelten Text Les Paris sont overts so verachtend über Aragons Technik, Formalismus und Disziplinbesessenheit geäußert hat?180 Nachdem sie sich als Gegnerin einer Kunst, die unter formalem Zwang entsteht, einer Kunst, in der nur das »Wesentliche« erscheint,
180 Vgl. Cahun (1934), a.a.O., S. 9, Fußnoten 1 u. 2.
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gezeigt hat? Auch nach Cahuns entschiedener Positionierung für eine spielerische, nonkonforme künstlerische Tätigkeit in Prenez garde aux objets domestiques sollte die Absenz einer homogenen Formgebung ihrer Objekte nicht verwundern. Dort schreibt Cahun: »Il faut découvrir, manier, apprivoiser, fabriquer soi-même des objets irrationnels pour apprécier la valeur particulière ou générale de ceux que nous avons sous les yeux«181 . Diese Aufforderung scheint vor dem Hintergrund ihrer zahlreichen objets inventés keine leere Phrase zu sein und nicht ausschließlich an andere gerichtet zu sein. Ihre eigenen Objekte scheinen eine konsequente Anwendung ihrer verschriftlichten Gedanken zu sein. Die formale Heterogenität, die die Objekte charakterisiert, verbindet sie jedoch, meiner Ansicht nach, nicht in erster Linie mit den Postulaten der Surrealist_innen um Breton, wie es den Anschein erwecken mag, sondern eher mit einer Gegenpostion.
Informe Ungestalt Immer wenn mich jemand danach fragt, Cahuns Objekte zu beschreiben, kommt ein Unbehagen auf, da diese heikle Aufgabe schwierig zu bewältigen ist, ohne ausufernd oder kompliziert zu sein. Ohne ins Detail zu gehen, einzelne Elemente zu nennen und ihre Verbindungen zu kennzeichnen, ist es schwer, sie angemessen darzustellen und die Zuhörer_innen gewinnen durch meine ausgiebige Darstellung meistens keine Vorstellung davon, worum es sich bei diesen Objekten eigentlich handelt. Es lässt sich beispielsweise nicht so einfach wie im Falle von Meret Oppenheims Objekt Traccia sagen, dass es ein Bronzetisch ist, der auf Vogelfüßen steht. Was die Beschreibung von Cahuns objets inventés so schwierig macht, ist vor allem die formale Vielfalt, die Möglichkeiten des Vergleichs mit etwas anderem, allgemein Bekannten, im Wege steht. Diese Formen und folglich ihre Beschreibungen rufen meistens kaum Assoziationen mit etwas hervor, das die Zuhörer_innen schon kennen. Informe (frz. formlos, unförmig) ist hier vielleicht ein Adjektiv, das diese Objekt-Arbeiten kurz und gut fassen könnte. Georges Bataille definiert informe 1929 in der Zeitschrift Documents in der Rubrik »Dictionnaire critique« folgendermaßen: Un dictionnaire commencerait à partir du moment où il ne donnerait plus le sens mais les besognes des mots. Ainsi informe n’est pas seulement un
181
Cahun (1936), a.a.O., S. 46, Hervorhebung i. O.
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adjectif ayant tel sens mais un terme servant à déclasser, exigeant généralement que chaque chose ait sa forme. Ce qu’il désigne n’a ses droits dans aucun sens et se fait écraser partout comme une araignée ou un ver de terre. Il faudrait en effet, pur que les hommes académiques soient contents, que l’univers prenne forme. La philosophie entière n’a pas d’autre but : il s’agit de donner une redingote à ce qui est, une redingote mathématique. Par contre affirmer que l’univers ne ressemble à rien et n’est qu’informe revient à dire que l’univers est quelque chose comme une araignée ou un crachat.182 Einige Monate vor der Veröffentlichung von Batailles Text war es in den Kreisen der Surrealist_innen wegen Meinungsverschiedenheiten bezüglich der künstlerischen Praxis zu einer großen Krise gekommen.183 Personen wie unter anderen Raymond Queneau, Michel Leris und Robert Desnos wurden daraufhin von André Breton aus der Gruppe ausgeschlossen. In dieser Zeit gründete Bataille die Zeitschrift Documents, deren Redaktion sich viele dieser surrealistischen »Dissident_innen« anschlossen. Seitdem standen Bataille und Breton »offiziell« in einem Konkurrenzverhältnis, gar in einem feindlichen Verhältnis.184 Bataille bezeichnete sich selbst als »alten Intimfeind des Surrealismus« und Breton nannte er, aufgrund seines autoritären Einwirkens auf die Gruppe, einen »Polizist« oder auch einen »komischen Gefängniswächter«185 . Hinsichtlich der Fotografien von Cahun gab es bereits Bemühungen, den Bataill’schen Begriff des informe zur Geltung zu bringen. Es waren Rosalind Krauss und Natalya Lusty, die diesen Versuch gewagt haben, und ebendies möchte ich im Folgenden schildern, um im Anschluss meine eigene differenzierende Leseweise des Begriffs in Bezug auf Cahuns Objekte zu entwickeln.
Das informe bei Rosalind Krauss und Natalya Lusty Obwohl Georges Batailles Begriff informe zu einem Zeitpunkt auftauchte, als sich Bataille entschieden von den Gedanken der Surrealist_innen distanziert Bataille, Georges: Informe (Dictionnaire), Documents, 7 (1929), S. 382. Vgl. Bitsch, Annette: Georges Batailles Heterologie und die Documents, 2003, online: http:// annettebitsch.de/download/Bitsch___Bataille_Documents.pdf, S. 18f. (zuletzt besucht am 9.12.2016). 184 Vgl. ibidem, S. 5; Breton, André: Second manifeste du surréalism, in: ders.: Manifestes du surréalisme, Paris 1985 [1930], S. 67-139, S. 132-136; siehe auch die Antwort auf Bretons zweites Manifest im unter anderen von Bataille, Robert Desnos, Raymond Queneau und Michel Leiris unterschriebenen Pamphlet Un cadavre vom 15. Januar 1930. 185 Vgl. Bitsch (2003), a.a.O., S. 6. 182 183
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hatte, beschreibt Rosalind Krauss das informe als einen leitenden Faktor der surrealistischen Kunstpraxis.186 Sie bezeichnet die surrealistischen Künstler_innen sogar als »Meister des informe«187 . Das informe betrachtet sie als Antipode zur programmatischen surrealistischen Methode des Automatismus.188 Der Unterschied bestehe darin, dass es nicht die Passivität des Empfangens der automatischen Methode aufweise, sondern auf einer bewussten und absichtsvollen künstlerischen Tätigkeit des Trübens, Unscharf-Machens und Destabilisierens beruhe.189 Das informe in der surrealistischen Kunst äußere sich nicht im Einsatz eines einzigen Verfahrens, sondern es wird von Krauss als ein Bündel mehrerer Techniken wie beispielsweise Solarisation, Doppelbelichtung und Sandwichmontage aufgefasst, die eine Verletzung der gewohnten, sachlichen und klaren Darstellung der Realität bewirken. Krauss schließt das informe mit dem Begriff »blurring« (Verwischen, Trüben) zusammen. Informe/blurring bewirkt eine tiefe Verwischung der Grenzen zwischen Kategorien, die in einem binären Verhältnis zueinanderstehen wie zum Beispiel Frau und Mann oder auch Mensch und Tier.190 Diese Verwischung der Kategorien beobachtet Krauss auch auf anderen Ebenen, beispielsweise wenn eine Solarisation den Unterschied zwischen einer Malerei und einer Fotografie oder zwischen Film und Fotografie unscharf macht.191 Den deutlichsten Gegensatz zum informe/blurring sieht Krauss allerdings nicht im Automatismus, sondern in der Straight Photography, einer dem Surrealismus zeitgenössischen fotografischen Stilrichtung, die »reine«, nicht manipulierte Bilder anstrebte, denen alleine sie einen Anspruch auf Authentizität zugesteht. Die Straight Photography ist für die Autorin eine Verkörperung der Männlichkeit und ihr zugeschriebener Charakteristika wie Rationalität, Vernunft und Bodenständigkeit auf dem künstlerischen Gebiet.192 Als veranschaulichendes Beispiel wählt sie Bilder von Edward Weston. Krauss skizziert hier eine Dichotomie zwischen einer Männlichkeit,
186 Hierfür sind vor allem zwei Texte von Krauss von Belang: Krauss, Rosalind: Corpus Delicti, in: dies.: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998, S. 165-199; Krauss, Rosalind: Claude Cahun and Dora Maar: By Way of Introduction, in: dies.: Bachelors, Cambridge/London 1999, S. 1-51. 187 Vgl. Krauss (1998), a.a.O., S. 168. 188 Vgl. ibidem, S. 169f. 189 Vgl. Krauss (1999), a.a.O., S. 13. 190 Vgl. ibidem, S. 6-13. 191 Vgl. ibidem, S. 8. 192 Vgl. Krauss (1998), a.a.O., S. 197.
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die die Züge autoritärer, wissenschaftlicher, aperspektivischer Objektivität trägt und einem nach dem »Unheimlichen« suchenden und positivistische Denkschemata überschreitenden Surrealismus. Das informe bezeichnet für Krauss das Angreifen der Kategorien, die die Essenz der Straight Photography ausmachen, und an dieser Stelle operiert sie mit einem weiteren Begriff, »feminization«: As a blurring of the distinction between photograph and painting, or photograph and film, they constituted a perverse feminization if you will of the masculinist values of ›straightness‹ itself: clarity, decisiveness and visual mastery ‒ all of them the source of the photograph’s ›authority‹.193 Es ergibt sich folgende Gleichung: informe ist gleich blurring, ist gleich feminization. Während in der Kunst bisher die »männliche« Ordnung der Sachlichkeit, die die Straight Photography für Krauss bestens vertritt, vorgeherrscht habe, hätten Surrealist_innen mit Unentschlossenheit, Vagheit und Verworrenheit – Eigenschaften, die »der Frau« zugeschrieben wurden – geantwortet. Als wichtiger Antrieb der surrealistischen Kunstpraxis bedeutet informe als »feminization« bei Krauss eine Unterminierung der Eigenschaften, die der Männlichkeit zugeordnet werden, indem ihnen mit dem Gegenteil begegnet wird. Das informe der surrealistischen Produktion bewirkt für Krauss eine Störung patriarchaler Strukturen. Manchmal wird diese Feminisierung von ihr gar eine »perverse feminization« genannt, die die Kunst nicht ausschließlich auf der Ebene des Kunstherstellens, sondern auch über eine Feminisierung der Betrachter_in erschüttert.194 Demnach verweiblicht die surrealistische Kunst die Betrachter_in, weil sie diese verwirre und orientierungslos mache.195 Krauss beschreibt sie als »stripped of authority and dispossessed of privilege«196 . Die Arbeiten der Straight Photography lassen sich allerdings auch anders lesen, was ich am Beispiel der Arbeiten von Edward Weston verdeutlichen möchte. Auf Westons Fotografien ist das Fotografierte scharf, klar und gut beleuchtet dargestellt, ohne zusätzliche manipulative Eingriffe. Aber diese »reine« Technik garantiert keinesfalls, dass die Gegenstände ebenso klar erkennbar sind, selbst dann nicht, wenn Weston in seinem Tagebuch beschwört,
193 194 195 196
Krauss (1999), a.a.O., S. 13. Vgl. ibidem., S. 17. Vgl. ibidem, S. 15. Ibidem, S. 17.
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»die Dinge zu sehen oder zu erkennen, wie sie sind, ihre wahre Beschaffenheit, so daß meine Aufnahmen keine Interpretationen mehr sind«197 . Wenn man Westons Aufnahmen einer Paprika (Abb. 18) oder einer Toilettenschüssel (Abb. 19) als Beispiel nimmt, sind sie alles andere als auf Anhieb als solche erkennbar. Das Licht beleuchtet die fotografierten Gegenstände zwar, aber es trägt auch zu deren Verfremdung bei.
Abbildung 18: Weston, Edward, Paprika, 1930, Schwarz-WeißFotografie; Abbildung 19: Weston, Edward, Excusado, 1925, Schwarz-Weiß-Fotografie
Trotz Westons Absicht einer nicht manipulierten und »naturgetreuen« Wiedergabe waren seine Fotografien oft das Gegenteil davon. Auch diese Fotografien sind Interpretationen, auch diese Fotografien gestalten das Fotografierte und generieren es zugleich. Weston experimentierte zwar nicht mit Techniken, wie dies bei surrealistischen Fotografien der Fall war, die Krauss als Gegenbeispiel aufführt, aber durch Nahaufnahmen, bestimmte Beleuchtungs- und Aufnahmewinkel erreichte auch Weston eine Art »blurring« des Dargestellten. Die Fotografien von Weston kamen dem, was Bataille unter dem Begriff informe verstanden haben könnte, vielleicht näher als die Solarisationen von
197
Weston, Edward: Präsentation statt Interpretation, Tagebucheintragungen (1924-1932), in: Kemp, Wolfgang [Hg.]: Theorie der Fotografie Bd. II, S. 65-70, S. 67.
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Man Ray oder Raoul Ubac, die Krauss wiederum als exemplarisch für das informe ansieht. Bataille selbst legte eine solche Leseweise nahe, indem er in seiner Zeitschrift Documents als Begleitung einiger seiner Texte, die den Begriff informe direkt und auch indirekt behandeln, Fotografien wählte, die als Straight Photography klassifiziert werden. Es geht hier vor allem um Fotografien von Karl Blossfeldt, der heute zu einem der bekanntesten Vertretern der Straight Photography gezählt wird, die im Zusammenhang mit Batailles Artikel Le langage des fleurs auftauchen,198 und um die fotografischen Arbeiten von Jacques-André Boiffard,199 die dieser für den Artikel Le gros orteil beigesteuert hatte.200 Kraussʼ Gedanken zum informe stehen im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um den Stellenwert der Frau im Surrealismus. Während der 70er-Jahre meldeten sich vor allem in der feministischen Forschung Stimmen zu Wort, die surrealistischen Künstlern Misogynie und Sexismus vorwarfen. Diese Diskussion war schon 1971 von Xavière Gauthier in Frankreich eingeleitet worden. Gauthier sah Misogynie in den Inszenierungen und formalen Lösungen surrealistischer Arbeiten, beispielsweise in der Fragmentierung von Körpern und in der Zelebrierung mentaler Krankheiten von Frauen.201 Später, in den 90er-Jahren, wurde die Diskussion auch in den USA weitergeführt. Whitney Chadwick unterstrich die Präferenz der männlichen Surrealisten für »hallucination and erotic violence«202 . Susan Rubin Suleiman bemängelte die Absenz von Frauen in der Gruppe und den Sadismus der Surrealisten, vor allem auf der literarischen Ebene.203 In ihrem Schreiben über surrealistische Kunst vertrat Krauss eine andere Meinung, wofür sie in dieser Zeit heftig kritisiert wurde.204 Mit dem Begriff informe als eine Feminisierung scheint Krauss indirekt auf diese Vorwürfe zu antworten. 198 Vgl. Bataille, Georges : La langage des fleurs, in: Documents, 3 (1929), S. 160-168. 199 Boiffard gilt zwar als surrealistischer Fotograf, er manipulierte seine Fotografien jedoch kaum. Der Großteil seiner Fotografien kann auch der Ästhetik der Straight Photography zugerechnet werden. 200 Vgl. Bataille, Georges: Le gros orteil, in: Documents, 6 (1929), S. 289-302. 201 Vgl. Gauthier, Xavière: Surrealismus und Sexualität. Inszenierung der Weiblichkeit, Berlin 1980 [1971]. 202 Chadwick, Whitney: Women, Art, and Society, New York 1990, S. 292. 203 Vgl. Suleiman, Susan: Subversive Intent. Gender, Politics, and the Avant-Garde, Harvard 1990, S. 20-28, 33-98. 204 Vgl. Krauss (1999), a.a.O., S. 208, Fußnote 11; vgl. Suleiman (1990), a.a.O., S. 12; vgl. Kuenzli, Rudolf: Surrealism and Misogyny, in: Caws; ders.; Raaberg [Hg.]: Surrealism and Women, Cambridge 1991, S. 17-27, S. 21ff.
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Offenbar vertritt Krauss die Ansicht, dass gerade die Surrealist_innen das Patriarchat mit ihrer Kunst angefochten haben: »the surrealists must be seen to have opened patriarchy’s view of ›woman‹ up to questioning«205 . Den herrschenden Kunstdiskurs, und mit ihm die Straight Photography, verortet Krauss im männlichen Pol der herrschenden Geschlechterordnung, den Surrealismus dagegen im weiblichen, »antipatriarchalen« Pol.206 Formlosigkeit durch »feminization« und nicht Misogynie war nach Krauss der Antrieb surrealistischer Kunstproduktion. Dagegen ließe sich einwenden, dass Weiblichkeit ein unverzichtbarer Teil des Patriarchats ist und der Einsatz surrealistischer Methoden dessen Existenz nicht unbedingt beeinträchtigt, wie sie es darstellt, sondern möglicherweise auch stärkt. Kann eine verfremdende Kunstpraxis in diesem Zusammenhang überhaupt etwas ändern, wenn Frauen in der Kunst allgemein auf die Rolle eines Modells, einer Muse oder einer Liebhaberin reduziert werden, während die Kunstherstellung und die Anerkennung in der Kunstwelt den Männern zukommt? Die surrealistischen Kunstpraxen trübten den klassischen weiblichen Akt, aber gleichzeitig reproduzierten sie ihn auch, weil der ausbeuterisch-sexistische Umgang mit dem Körper der »Frau« in ihrer Kunst deutlich zu vermerken ist, weil sich auf der Ebene geschlechtlicher Machtverteilung wenig an der hierarchischen Achse Künstler/Mann-Modell/Frau geändert hat. Gegenüber patriarchalen Strukturen waren die emanzipatorischen Auswirkungen des informe der surrealistischen Kunst eher gering. Dies wird deutlich, wenn frau sich die männerdominierte interne Strukturierung der Gruppe vor Augen führt, die dermaßen zentralistisch ausgerichtet war, dass alle Entscheidungsmacht bei André Breton lag. Das Verständnis des informe als blurring und als eine künstlerische Methode steht meiner Ansicht nach auch im Widerspruch zu Batailles Auffassung. Denn, wie unten noch deutlich werden wird, ging es Bataille mit informe um eine Heterogenisierung, die keine Kategorien kennt, den Akt einer Definierung unmöglich macht, das signifikante Regime207 außer Kraft setzt. Kann ein Begriff, der etwas bezeichnet, das keinen »Sinn macht«,208 das nicht dem rationalen Denken, mathematischen Regeln und gesellschaftlichen Kategorien folgt, als kategoriale Verwischung in Erscheinung treten?
205 206 207 208
Krauss (1999), a.a.O., S. 17. Vgl. ibidem. Vgl. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Berlin 1992 [1980], S, 156-163. Vgl. Bataille (1929), Informe …, S. 382.
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Rosalind Krauss wendet ihr Konzept des informe/blurring auch auf Cahuns Selbstportraits an.209 Ihrer Argumentation folgend hat auch Cahun mit ihrer Kunstpraxis das informe angestrebt, das in Cahuns Selbstportraits in einem »subjective blurring« zum Ausdruck komme.210 Ihre Selbstportraits sprechen Krauss zufolge von der Dekonstruktion des Subjekts: »Cahun’s deconstructive stance on the position of the subject is continuous with the subjective blurring I have been attributing to much of surrealist production and discussing under the concepts ›formless‹, ›alternation‹ or ›declassing‹«211 . Insbesondere formal erkennt die Autorin in Cahuns Arbeiten Ähnlichkeiten zu den künstlerischen Techniken der Surrealisten, zum Beispiel in Cahuns Attacken auf ihren eigenen Körper, die von einer kraftvollen Frau unternommen werden, die den Blick der Betrachter_in erwidert.212 Bei der Herstellung ihrer Selbstportraits war Cahun allerdings nicht unbedingt an »surrealistischen« Techniken, die Krauss informe nennt, interessiert, worauf Natalya Lusty in ihrem Text Surrealism, Feminism, Psychoanalysis aufmerksam macht: »While some of Cahun’s portraits ›master‹ Surrealist photographic techniques, others ›mimic‹ the authority of straight photography, suggesting that it is precisely the photograph’s ›realism‹ that marks its authority and not a celebration of ›sur-reality‹«213 . Von den technischen Mitteln des blurring machte Cahun nur sporadisch Gebrauch. Insbesondere in ihren frühen Selbstportraits war Cahun laut Lusty gerade nicht am Surrealismus, sondern, im Gegenteil, an »Straightness« und Realismus interessiert.214 Während Krauss die Selbstportraits vor allem bezüglich der Technik und der Ausführung analysiert, richtet Lusty ihr Augenmerk in erster Linie auf die Inhalte der Fotografien. Von diesem Blickwinkel ausgehend ist Lusty hinsichtlich Kraussʼ Anwendung des Begriffs blurring/informe bei Cahun auf der formalen Ebene nicht einverstanden: As such Cahun’s photographs seem to question any complete loss of form, and any complete evacuation of subject/object boundaries but dwell in the possibility of the subject’s transformation, its difference from the other and its difference from itself over time.215 209 210 211 212 213 214 215
Vgl. Krauss (1999), a.a.O., S. 37. Vgl. ibidem. Ibidem, Hervorhebung i. O. Vgl. ibidem. Lusty, Natalya: Surrealism, Feminism, Psychoanalysis, Hampshire 2007, S. 115. Vgl. ibidem. Ibidem.
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Ein informe erkennt die Autorin dagegen im Versuch Cahuns, die Reinheit von binären Kategorien wie Mann/Frau oder Heterosexualität/Homosexualität infrage zu stellen. Wenn Cahuns Selbstportraits von Uneindeutigkeiten sprechen, tun sie das nach Lusty vielmehr bezüglich der Geschlechtsidentifikation als bezüglich formaler Lösungen: »Cahun seems to imagine a world where identity does not fix the individual but radically transforms the culture that would define us«216 . In ihrer Auseinandersetzung mit den Fotografien Cahuns arbeiten sowohl Krauss als auch Lusty mit dem Bataill’schen Begriff des informe. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Leseweisen, die den Begriff auf eine ganz andere Art und Weise anwenden. Bezüglich der Wahl der Bilder ist ihre Vorgehensweise dagegen eher von Ähnlichkeiten geprägt. Es fällt auf, dass sowohl Krauss als auch Lusty sich in ihren Analysen, was in der Cahun-Forschung gängige Praxis ist, ausschließlich auf ihre Selbstportraits konzentrieren, auf Bilder, die in der Forschung und im Ausstellungswesen privilegiert werden. Diese stehen sowohl in der Untersuchung von Krauss als auch in der von Lusty für das ganze Oeuvre Cahuns und auch hier versinnbildlichen sie Cahuns Kampf gegen hegemoniale gesellschaftliche Ordnungen. Es sind gerade diese Fotografien, die, wie ich im zweiten Kapitel zeigen werde, aus einer bestimmten Perspektive gelesen und kategorisiert wurden und die spezifische Ausrichtung des Cahun-Diskurses prägten. Im Folgenden möchte ich einen weiteren Vorschlag unterbreiten, wie Batailles Begriff des informe in Bezug auf Cahuns Arbeiten angewendet werden kann, der sowohl die Inhalte als auch die technische Methodik berücksichtigt. Dass meine Argumentation andere Formen annimmt, mag auch darauf zurückzuführen sein, dass ich mich hierbei völlig anderen Arbeiten zuwenden werde.
Der revolutionäre Gesang von Cahuns Objekten: informe Objekte Eine Blume an der unteren Spitze einer Assemblage, die annähernd ein Dreieck bildet. Ein winziges Figürchen mit einer hohen spitzen Mütze, eine Uhr, eine Miniatur einer Geige oder einer Gitarre, ein Vampirgebiss, ein kleiner Hut, noch eine Uhr und viele andere Gegenstände oder bloß deren Teile, die sehr schwer identifizierbar sind, bilden ein objet inventé, das nicht betitelt ist und unter der Signatur JHT/1995/00039/p (Abb. 20) im Jersey Archive aufbewahrt wird. Dieses Objekt wird auf das Jahr 1936 datiert. 216
Ibidem.
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Abbildung 20: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, SchwarzWeiß-Fotografie/Objekt
Unter den Gegenständen dominieren helle Farben, die wenigen dunklen Gegenstände sind am Rande der Konstellation platziert. Da die Arbeit von oben fotografiert wurde, lässt sich nicht sagen, wie das Objekt in der Vertikalen aufgebaut ist. Ebenso schwer ist erkennbar, wie die Gegenstände zusammenhalten, ob sie sich in einem Gefäß befinden, wie im Falle der ähnlichen Arbeit Qui ne craint pas le grand méchant loup remet la barque sur sa quille et vouge à la dérive (Abb. 21), oder ob sie zusammengeklebt sind. Eine andere Fotografie (Abb. 22), ebenfalls ohne Titel, stellt einen Haufen von Federn dar, die pyramidal angeordnet sind. Aus der Spitze des Federbergs ragt ein fast blätterloser Ast hervor.
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Abbildung 21: Claude Cahun, Qui ne craint pas le grand méchant loup remet la barque sur sa quille et vouge à la dérive, ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt
Mithilfe eines dünnen Drahts sind daran statt Blättern mehrere Schreibfedern angebracht. Bei beiläufigem Schauen könnten die Schreibfedern für junge, kleine Blätter gehalten werden. Neben den Schreibfedern hängt auf der rechten Seite am untersten Ast eine Blume, die an einer der Schreibfedern befestigt zu sein scheint. Die Arbeit Je tends les bras (Abb. 23) zeigt die Steinmauerreste eines verfallenen Gebäudes, die in der Mitte des Bildes platziert sind. Im Hintergrund zeichnen sich ein kleiner Hügel und ein Gebüsch ab. Es ist schwierig auszumachen, welcher Art das Gebäude war und um welchen Teil es sich bei dem Dargestellten handelt. Konkret besteht dieses Mauerwerk aus einem kleine-
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Abbildung 22: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, SchwarzWeiß-Fotografie/Objekt (Fotoillustration für das Buch Le Coeur de Pic von Lise Deharme, Tafel XVI)
ren, sich in die Horizontale ziehenden Teil, der vom Bildrand abgeschnitten wird, sodass nicht ersichtlich ist, wie umfangreich diese Ruine eigentlich ist. Ein zweiter Teil, der in die Höhe ragt, ist mit dem ersten verbunden. In diesen ist der untere Teil eines Tür- oder Fensterbands eingelassen, darüber ist ein viereckiges Loch zu sehen, aus dem ein, mit einem großen Armreif geschmückter, menschlicher Arm hängt. Er ist im Ellbogen geknickt, die Finger der Hand sind in expressiver Manier gespreizt. Handelt es sich um einen künstlichen oder um einen lebendigen Arm? Die Arbeit verrät es nicht. Angenommen, die Herkunft dieser drei Arbeiten wäre nicht bekannt, würde vor dem Hintergrund dieser drei Beschreibungen höchstwahrscheinlich auf drei verschiedene Autor_innen geschlossen, da das Dargestellte
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Abbildung 23: Claude Cahun, Je tends les bras, ca. 1932, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt
kompositorisch so heterogen ist. Die Beschreibungen lassen erahnen, dass die Arbeiten von den jeweiligen Umständen beeinflusst worden sind, die bei ihrer Entstehung herrschten. Keine festgesetzten Ordnungen scheinen das Entstehen dieser Objekte determiniert zu haben, ganz so wie es Cahun in ihrem Text Les Paris sont ouverts bezüglich der Dichtung beschrieben hat: »Tous les poèmes sont des poèmes de circonstance. […] Cet instant peut être parfaitement odieux à la personne consciente et commettre sur elle une sorte d’attantat, mais attantat toujours sans préméditation aucune«217 .
217
Ibidem, S. 508.
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Sollen Cahuns Objekte mit einem Begriff beschrieben werden, dann scheint mir Batailles informe ein Begriff zu sein, der sich besonders gut auf Cahuns Objekte anwenden lässt. Vor dem Hintergrund anderer Beiträge Batailles für die Zeitschrift Documents und seiner Theorie der »Heterologie«218 lässt sich das informe als ein Versuch verstehen, die Welt anders zu deuten. Documents war eine Zeitschrift, die von Bataille unter anderen mit Michel Leris in den Jahren 1929 und 1930 herausgegeben wurde. Annette Bitsch beschreibt Documents als eine Publikation, die »eine Revision klassischer akademischer Theorien sowie bürgerlicher Ideen und Konventionen hinsichtlich Kunst, Philosophie und Archäologie«219 beabsichtigte. Dort wurden Themen behandelt, die in der wissenschaftlichen, akademischen Forschung nicht unbedingt Berücksichtigung fanden.220 Zeigt sich Cahun in ihren Texten nicht auch mehrmals interessiert an einem ähnlichen Programm, zumindest bezüglich der Kunst? In seinen zahlreichen Beiträgen für Documents reflektiert Bataille über Strukturen, die sich auf das alltägliche Leben auswirken. Er hinterfragt als selbstverständlich erscheinende Wahrheiten wie beispielsweise die Symbolisierung des Schönen und Guten durch Blumen,221 Bräuche und Aberglauben verschiedener Kulturen,222 die Prädominanz der Menschen223 oder die Nützlichkeit animalischer Körperformen224 . Eine Bifurkation, die in Batailles Texten immer wiederkehrt, und die für ihn für alle Bereiche des menschlichen Lebens Gültigkeit besitzt, ist eine Unterteilung in geltende und geächtete Lebensweisen. Randformen nähmen zwar wenig Platz in den hegemonialen Strukturen ein, dennoch sind sie für Bataille immer präsent, ihre Geltung sichernd und gleichzeitig negierend.225 Diese Teilung finde entlang einer horizontalen Achse statt, die das Oben/das Gute/das Legitime/das Saubere vom Unten/dem Schlechten/dem Verpönten/dem Dreckigen trenne. Die plastischen Formen, auf die mit Zufriedenheit reagiert werde, würden vorherrschende Lebensordnungen spiegeln, diejenigen Ordnungen
218 219 220 221 222 223 224 225
Vgl. Bataille, Georges: Die psychologische Struktur des Faschismus [1933], in: ders.: Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, München 1978, S. 7-45. Bitsch (2003), a.a.O., S. 5. Vgl. ibidem. Vgl. Bataille (1929), Le langage …, S. 160-168. Vgl. Bataille (1929), Le gros …, S. 289-302. Vgl. Bataille, Georges: Architecture, in: Documents, 2 (1929), S. 117. Vgl. Bataille, Georges: Chameau, in: Documents, 5 (1929), S. 275. Vgl. Bataille, Georges: Le cheval académique, in: Documents, 1 (1929), S. 27-31, S. 31.
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allerdings, die Zorn auf sich zögen, seien inkompatibel mit diesen vorherrschenden Lebensordnungen.226 Diese Gesetzlichkeit beobachtet Bataille in verschieden Teilen der Erde. Die Art der Unterteilung sei allerdings unerklärlich.227 Unter den geltenden Formen wären hier die durch den akademischen Diskurs bevorzugten zu verstehen, die verpönten nennt Bataille dagegen barock, verrückt und barbarisch.228 Wie Bataille feststellt, können plastische Formen als Ausdruck ihrer gesellschaftlichen Konditionen angesehen werden, die aus heutigem Blickwinkel nicht unbedingt verständlich sein müssen, weil der spezifische Zusammenhang fehlt, aus dem sie sich ereigneten und der eventuell nicht mehr nachvollziehbar ist.229 Das Unverständnis dieser Formen könne ebenfalls aus dem hoffnungslosen Bestehen auf einer rationalen Erklärung resultieren, die vielleicht gar nicht möglich ist.230 An dieser Stelle wird verständlich, warum Bataille davon spricht, dass die Welt dem Nichts ähnelt. Die intelligible Welt besteht nach Bataille aus Formen, die allerdings zirkulieren und sich ständig ändern. Form entsteht demnach aufgrund formierender Prozesse, die unzweifelhaft zur Etablierung bestimmter Formen führen, die sich, wenn für sie günstige Verhältnisse bestehen, verfestigen und dominant werden.231 Neben diesen offiziell anerkannten Formen gibt es nach Bataille jedoch immer auch ihr »Unten«, das ihnen zugleich Gefahr und Quelle ist.232 Das Unten ist heterogen, es steht und wirkt der Homogenität des Gültigen und seinen homogenisierenden Tendenzen entgegen. Batailles Theorie der Heterologie, die Theorie des niederen Materialismus, in der das informe anzusiedeln ist, wendet sich direkt gegen jeglichen Idealismus und auch gegen den dialektischen Materialismus.233 Für Bataille ist sowohl der Idealismus als auch der dialektische Materialismus nicht zu trennen von Unterdrückung, Hierarchisierungen, theoretischer Vereinnahmung und auch, was besonders wichtig ist, von Homogenisierungen, die mit einer Selektion und Ausschlüssen verbunden sind.234 Die Heterologie zielt nicht
226 227 228 229 230 231 232 233 234
Vgl. Bataille (1929), Architecture, a.a.O., S. 117. Vgl. Bataille (1929), Le langage …, S. 163. Vgl. Bataille (1929), Le cheval …, S. 27. Vgl. ibidem, S. 31. Vgl. ibidem. Vgl. Bataille (1929), Architecture, a.a.O., S. 117. Vgl. ibidem. Vgl. Bataille, Georges: Matérialisme et la gnose, in: Documents, 1 (1930), S. 1-8, S. 1ff. Vgl. Bataille, Georges: Matérialisme, in: Documents, 3 (1929), S. 170.
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auf eine Umkehrung beziehungsweise auf eine Verwischung, sondern auf eine Vervielfachung, auf eine Störung des Homogenen.235 Das informe ist keine künstlerische Methode und erst recht keine surrealistische Methode, sondern vielmehr ein Konzept, eine Denkfigur, die das Programm von Bataille ausdrückt, das sich entschieden von den Bestrebungen der Surrealist_innen, die sich um Breton versammelten, abhebt. Form an sich gibt es nicht und schon gar nicht nur eine einzige. Eine Form entsteht und in einem weiteren Schritt wird sie dem Heterogenen aufgedrängt. Denn, wie Bitsch feststellt, ihr Ursprung ist immer die Formlosigkeit, das Heterogene.236 Was Bataille in seinen Texten beschreibt und mit dem informe ausdrückt, sind Prozesse der Wandlung und Änderung der Welt, ihres Entstehens und Vergehens, das dualistisch funktioniert. Bataille besteht auf einer Komplizierung der simplifizierenden Sicht auf das Universum, die durch die Regeln der Vernunft regiert wird.237 Mit dieser Definition markiert Bataille die Form-Besessenheit, den Formdrang der herrschenden Weltordnungen, die Dominanz der Formen und ihre moralische Wertung. Das informe, das dem Unten der Heterologie entstammt, steht dieser Ordnung entgegen. Es könnte diese Formen oder noch ganz andere geben, die noch nicht denkbar, aber grundsätzlich möglich sind. Dabei geht es Bataille weniger um eine Unentschiedenheit zwischen Kategorien als um die Infragestellung von Kategorien, indem er ihre Diskontinuitäten, ihre Willkürlichkeit und ihre Widersprüchlichkeit aufzeigt. Nach Bataille ist die Aufgabe des informe die Deklassierung der Überzeugung, dass jede Sache ihre fixe und vorgegebene Form hat.238 Das informe ist »ein Instrument der Dekonstruktion«239 – so Annette Bitsch. An dieser Stelle wird die Ähnlichkeit der Forderungen von Cahun und Bataille sichtbar. Cahun plädiert sowohl in Les Paris sont ouverts als auch in Prenez garde aux objets domestiques für die Formfreiheit der Kunst und ihre Autonomie von bestehenden Ordnungen. Die Poesie, die bei Cahun ebenso als Kunst verallgemeinert werden kann, ergibt sich aus den Umständen, sie entsteht singulär aus einer spezifischen Situation heraus, was einer vorgefertigten Form widerspricht und in ihren Objekten besonders anschaulich wird. Diese Formlosigkeit soll hier keineswegs als ein wortwörtliches Fehlen der Form aufgefasst werden, denn Cahuns Objekte besitzen zweifellos eine Form. Bezüglich ihrer Arbeiten wäre das 235 236 237 238 239
Vgl. Bitsch (2003), a.a.O., S. 13. Vgl. ibidem, S. 27. Vgl. Bataille (1929), Informe, S. 382. Vgl. ibidem. Bitsch (2003), a.a.O., S. 9.
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informe das Fehlen einer Einheitlichkeit, eines Stils, einer formalen Fixiertheit, einer Art und Weise, die den Charakter ihrer objets inventés definieren und ihre künstlerische Praxis homogenisieren, einengen würde. Das informe von Cahuns Objekten äußert sich auch in ihrem nahezu asignifikanten Dasein, in fehlenden Assoziationen beim Betrachten, im Nicht-Wiedererkennen, wie beispielsweise bei der Arbeit Portrait d’André Gide par Benjamin Péret (Abb. 8). Wem oder was ist diese Ansammlung von Blättern, Blumen, Knochen, Hörnern und Plastikteilen ähnlich? Lässt sich die Form, die diese Teile zusammen ergeben, benennen? Die Formlosigkeit wäre das ereignishafte Entstehen ihrer Arbeiten und die Zweckentfremdung der Gegenstände, die sie bewirken. Die Form der Objekte wäre dann nicht das, was von vornherein als solche beabsichtigt und geplant war, sie würde sich aus dem Zusammentreffen verschiedener Gegenstände ergeben, aus einem wechselseitigem Ineinanderwirken, das weder geplant, noch vorhergesehen werden kann. Die Form der Objekte wäre auch nicht die, die ihnen als Marktprodukt zukommen würde. Diese Form ist ein poetisches Werden, das einen Gegenpol zum Marktprodukt bildet. Denn selbst wenn die Arbeiten »vollendet« werden, können sie auf verschiedene Weisen betrachtet werden. Cahuns Objekte könnten beispielsweise angefasst werden, es könnte vielleicht auch an ihnen gerochen oder gehorcht werden oder sie könnten auch fotografiert werden. Würden sie noch existieren, könnten und würden sie immer anders erscheinen, wenn man mit ihnen auf eine »ungewohnte« Weise verkehrt. Darüber schreibt Cahun in Prenez garde aux objets domestiques, wenn sie die Gegenstände im Dunkeln anfassen lässt, aber auch, wenn sie die Heterogenität und verschwenderische Üppigkeit in den Formen des menschlichen Körpers oder gar ihr Fehlen aufzeigt: À l’homme seul appartient un tel bouleversement de la matière que ses organes eux-mêmes ont fleuri en monstruosités et en maladies si nombreuses : à l’homme civilisé, seul, le pouvoir féroce, le luxe effréné de soigner, c’est-àdire de conserver et de cultiver une telle variété dans l’ornementation vaine, d’exhiber ces lèpres, ces tumeurs – terrifiants objets trouvés ou inventés, irrationnels bourgeonnements de chair. L’ornementation ne s’exerce pas seulement au mépris de l’utilité (?), mais en marge. Les couleurs merveilleuses de l’iris humain défient la mémoire des amants. Les structures de racine des petites molaires contraignent un dentiste à conclure que ›l’anatomie n’ex-
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iste pas‹ ; les crises comitiales ne cessent de présenter aux psychiatres les plus déconcertantes hérésies.240 Wie aus diesem Zitat hervorgeht, erfolgt nicht nur bei Bataille eine Umwertung des Biologischen, dessen Formen, Proportionen und Bedeutungen. Auch Cahun scheint sich in der oben zitierten Passage dem Heterogenen im homogenisierten Körper, oder eher dem Heterogenen in einer Illusion des homogenen Körpers, zuzuwenden, eben dem, das den naturwissenschaftlichen Maßeinheiten nicht entspricht. Ähnlich wie bei Bataille in Le langage des fleurs tragen hier unter anderen Wurzeln zur Verwirrung bei.241 Cahun weist darauf hin, dass der formende biologische Diskurs durch die Heterogenität des »Homogenisierten«, durch die Widerspenstigkeit der Materie, ständig unterlaufen wird. Bataille macht an anderer Stelle deutlich, dass das Heterogene beziehungsweise das informe etwas ist, das sich nicht assimilieren lässt und von der Wissenschaft nicht erkannt wird, als homogen bezeichnet er dagegen alles, das produktiv und nützlich ist.242 Er schreibt darüber Folgendes: »Die homogene Realität stellt sich unter dem abstrakten und neutralen Aspekt von Objekten dar, die exakt definierbar und identifizierbar sind (sie haben die eigentliche Realität von geronnenen Objekten). Die heterogene Realität ist die der Kraft oder des Schocks.«243 Da sich diese Heterogenitäten, wie sie auch Cahun im obigen Zitat aufzeigt, nicht in den Diskurs der menschlichen Form fügen und folglich überdrüssig und unnütz erscheinen, werden sie meist als belanglose Details oder als Anomalie abgetan. Das Sonderbare, das Ungewohnte, gefährdet die Homogenisierung, weswegen es marginalisiert wird. Cahun feiert die Formlosigkeit der Materie, die kein Absolutes kennt – und das nicht ausschließlich in diesem Text. Die Iris, ein Zahn, bei Bataille auch der große Zeh,244 scheinen ganz gewöhnliche Organe zu sein, doch bei genauerem Hinsehen zeigen sie
240 Cahun (1936), a.a.O., S. 45f. 241 Bataille schreibt allerdings nicht über Zahnwurzeln, sondern über Wurzeln von Blumen: »En effet, les racines représentant la contre-partie parfaite des parties visibles de la plante. Alors que celles-ci s’élèvent notablement, celles-là, ignobles et gluantes, se vautrent dans l’intérieur du sol, amoureuses de pourriture comme les feuilles de lumière«. Bataille (1929), Le langage …, S. 163f. 242 Vgl. Bataille (1978 [1933]), a.a.O., S. 10-15. 243 Ibidem, S. 17. 244 Vgl. ibidem.
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
ihren Eigensinn, der sich in keine Form fügt und dazu führt, dass sie eventuell keinen Sinn ergeben. Es sind Ordnungen der Biologie des menschlichen Körpers, die hier im Spiel sind und die hier von Cahun und Bataille ins Lächerliche gezogen werden. Diese Gedanken könnten auch die Entstehung der schon erwähnten Arbeit Je tends les bras (Abb. 23) initiiert haben, in der es zu einer Verknüpfung zwischen Mauerüberresten und einem menschlichen Arm kommt. Fast so, als ob sie organisch miteinander verwachsen wären, als ob die Mauer der Rumpf oder eben der Arm ein Türband sein könnte, ragt dieser Arm aus einem Mauerloch. Beide korrespondieren zwar sehr miteinander, sie ergeben jedoch etwas, wofür es in der Biologie und auch im Bauwesen keine Bezeichnung gibt. In ihren Objekten trägt Cahun selbst zur Verfremdung und gleichzeitig zur Negation der Formen der von ihr benutzten Gegenstände bei. Durch ihre Eingriffe rief Cahun Störungen gewohnheitsmäßiger Wahrnehmungsmechanismen der Gegenstände hervor, sie veranlasste die Rezipient_innen, ihnen vielleicht aus dem Alltag wohlbekannte Sachen anders zu erleben: Gewohnte Gegenstände haben doch nicht nur eine Form! Wenn ein Gegenstand plötzlich von den Ordnungen der Kunst beziehungsweise von der Alltagssprache abweicht, dann offenbart sich auch, dass er sich nicht in einer Form und einer Bestimmung fixieren lässt. Alles, was das informe bezeichnet, macht nach Bataille keinen Sinn, es werde missachtet und beweise, dass das Universum formlos sei.245 Die Objekte von Cahun sind formlos, weil sie nichts ähneln, das bekannten Nutzen oder Marktwert hat. Ihre Arbeiten können zwar mit Bezeichnungen wie objet trouvé und objet inventé versehen werden, doch dies besagt nicht viel über die Materialität dieser Objekte und umso weniger über ihre Formen. Die Formlosigkeit dieser Objekte greift das Gewohnte nicht nur auf einer ontologischen und auf einer epistemologischen, sondern auch auf einer ästhetischen und auf einer politischen Ebene an.
Störung der Zweckmäßigkeit Es ist nicht nur die Verbundenheit mit der Theorie von Trotzki, die in den Texten von Cahun und auch praktisch im Prinzip des objet inventé durchschimmert, das informe von Cahuns Objekten lässt außerdem auf eine Reflexion der Marx’schen Werttheorie schließen. Bei der Herstellung dieser Objekte benutzte Cahun verschiedene, oft alltägliche Gebrauchsgegenstände. Ein 245 Vgl. Bataille (1929), Informe, S. 382.
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gutes Beispiel für eine solche Arbeit ist auch hier das Objekt Portrait d’André Gide par Benjamin Péret (Abb. 8) oder auch das erwähnte Objekt, das unter der Signatur JHT/1995/00039/p im Jersey Archive aufbewahrt wird (Abb. 20). Beide weisen Ähnlichkeiten in der Wahl der Einzelteile der Komposition auf. In beiden werden Gebrauchsgegenstände wie eine Uhr, eine Miniatur einer Geige oder einer Gitarre, ein Vampirgebiss, ein kleiner Hut, eine kleine Figur mit spitzem Hut, eine Orchideenblüte, ein Kompass, ein dunkler Stock, der quer aus dieser Komposition hervorragt, sowie viele andere Gegenstände oder lediglich deren Teile gestapelt. In der ersten Arbeit ist dieser Stapel auf einem kleinen, dunkel gerahmten Spiegel platziert. Durch die Involvierung dieser Gegenstände in ihre künstlerische Praxis arbeitete Cahun gegen ihren Marktwert. Eine Ware wird in diesem Verwandlungsprozess vom Alltag, von ihrer gewohnten Benutzung, von ihrer Bestimmung und von ihrem Platz entkoppelt und in einen neuen Kontext transferiert. Eingebunden in künstlerische Produktionsprozesse verliert sie ihren gekannten Gebrauchswert, was ihren Marktwert mindert. Diese Praxis enthüllt den gesellschaftlichen Charakter des Werts von Industriegegenständen. Denn der Wert eines Industrieprodukts ist nach Marx »phantasmagorisch«246 und den Waren nicht »natürlich« anhaftend: Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr […]. Es ist sonnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes zum Beispiel wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres, sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.247 Am Beispiel von Cahuns Spiel mit dem Wert und mit Waren in ihren ge- und erfundenen Objekten zeigt sich deutlich, dass die Wertbestimmung, worauf
246 Marx (1969 [1867]), a.a.O., S. 51. 247 Ibidem, S. 49f.
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Marx hinweist, keineswegs beständig ist. Einst zur Ware gewordene Rohmaterialien oder Dinge können durchaus an Marktwert verlieren und aufhören Ware zu sein. Wird ein Gegenstand nicht mehr gebraucht, hat er sehr geringen Marktwert, folglich kann er nicht mehr für denselben Preis verkauft werden. Geht also der Gebrauchswert eines Gegenstands verloren, geht zugleich auch sein Wert verloren.248 Cahun verwendete für ihre Objekte verschiedene Gegenstände, manche hatten längst keinen Marktwert mehr gehabt, weil sie zu alt waren, nicht funktionierten, oder weil ihre Verwendung nicht mehr bekannt war. Andere Gegenstände, die zwar voll funktionstüchtig waren, verloren an Marktwert, weil sie von Cahun entschieden in andere Zusammenhänge eingebunden wurden, in denen ihr gekannter Gebrauchswert nicht zählte, verleugnet und neu erfunden wurde. In Prenez garde aux objets domestiques hatte sie zur Verfremdung des Alltäglichen aufgerufen: Prenez un miroir ; grattez le tain à hauteur de l’œil droit sur quelques centimètres ; passez derrière l’endroit éclairci une bande sur laquelle vous aurez fixé de petits objets hétéroclites, et regardez-vous au passage les yeux dans les yeux. C’est le jeu de l’escarbille.249 Sie scheute sich nicht, diesem Aufruf selbst nachzukommen und in ihren Objekten auszuprobieren. Die Gegenstände wurden sozusagen ihres Fetischcharakters beraubt, sie verloren ihren gekannten Wert und an dessen Stelle trat eine Materialität, die auf der semantischen Ebene informe war, ein großes Interpretationsspektrum aufwies und zum poetischen Spielen einlud. Dieser Verlust ist hier durchaus positiv zu sehen. In Cahuns objets inventés wird die Prosa der Gebrauchsgegenstände zur Dichtung der Objekte und ihre Zweckmäßigkeit zur informen Gestalt ohne Nutzen. Cahuns Objekte sind ein Spiel, dessen Regeln nicht von vornherein feststehen, ganz wie sie in Les Paris sont ouverts über die Poesie schreibt: »Découvrir comment joue la poésie et comment faire son jeu, voilà ce qui nous importe. Le débat reste ouvert …«250 . Ihr Wert hängt von anderen Regeln ab als von denen des kapitalistischen Markts oder von denen der institutionalisierten Kunst. Das Heterogene, das informe, dieser Objekte besteht darin, dass diese gerade nicht in den kapitalistischen Strukturen des Nützlichen, des Fleißes und des Verwertbaren funktionieren,
248 Vgl. ibidem, S. 164. 249 Cahun (1936), a.a.O., S. 46. 250 Cahun (1934), a.a.O., S. 32, Hervorhebung i. O.
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sondern eher in aus dem rationalen Denken ausgeschlossenen Erkenntnisstrukturen, zu denen für Bataille Träume, mythische Vorstellungen oder Magie gehören.251 Cahuns Objekte zeichnen sich durch Eigenschaften aus, die sie zwar nicht aus der Gesellschaft, allerdings aus »ihrem homogenen Teil« ausschließen.252 Zudem wird meine Behauptung, dass Cahun mit den Objekten anderen Denkweisen als der gesellschaftlichen Intelligibilität oder den kapitalistischen Strukturen des Kunstmarkts gefolgt ist, durch den Umstand gestärkt, dass Cahun zu ihren Lebzeiten öffentlich kaum als Objektkünstlerin und Fotografin auftrat. Sie hat ihre Arbeiten eigentlich nur einmal ausgestellt, geschweige denn wurden ihre Arbeiten verkauft. Sie partizipierte nicht am Kunstmarkt. Lag dies in fehlendem Glück auf dem Markt oder in einer bewussten Entscheidung begründet? Wenn Cahuns heutige Position auf dem Kunstmarkt für einen Moment vergessen werden kann, zeigen sich ihre Objekte als etwas, das dem damaligen Kunstdiskurs fremd war. Im Frankreich der 30er-Jahre waren Objekte in der Kunst keine anerkannte oder gängige Gattung, ganz anders als heute, wo solche Objekte sowohl ausgestellt werden und ihren Platz im Kunstdiskurs haben als auch verkauft werden und einen Marktwert haben wie andere Kunstgattungen auch. In den 30er-Jahren musste ein Zugang zu ihnen, das Sprechen von einem solchen »Erzeugnis«, erst geöffnet werden, um diese Objekte markttauglich zu machen. Cahuns Objekte waren damals also weder verwertbar noch entsprachen sie den Vorgaben des damaligen Kunstdiskurses. Ein Alltagsgegenstand, der schon einen bestimmten Wert und eine spezifische Form hatte, durchlief, in Cahuns Objekte involviert, Prozesse der De- und Re-Valorisierung, die zugleich eine neue Dimension dieses Gegenstands aufzeigten und auch eine ganz neue Körperlichkeit beziehungsweise Materialität generierten, weil sie anderen Gesetzen als den kapitalistischen folgten. Als informes Objekt kam so einem Gegenstand ein anderer Wert zu, der in den Augen des Markts keiner war. Cahuns Objekte wirkten nicht nur wegen ihrer eigenartigen Form fremd, sondern auch, weil sie zudem sowohl in der Kunst als auch im Alltag keinen Platz beanspruchen konnten. In einem objet inventé galten Werte, die bestimmte Körperlichkeiten zu Waren machten, nicht mehr, es erwuchs aus dem Zusammenfinden und -spiel seiner Elemente und Cahuns Begehren nach Herstellung eines Objekts. Cahuns Objekte sind wörtlich eine Aufhebung der Ware, eines intelligiblen Produkts, 251 Vgl. Bataille (1978 [1933]), a.a.O., S. 16-18. 252 Vgl. ibidem, S. 10.
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in einem aktiven, kreativen Akt, der nach einem Vergessen, einer Auflösung des Wissens, das die homogene Gesellschaft bildet, verlangt. Die objektbildende Tätigkeit von Cahun ist eine Art schöpferischer Verlust, ein Versuch die Welt gewitzt neu zu entwerfen.
La poétique de l’objet Cahun versammelt verschiedenartige Gegenstände an einem Ort zu einem objet inventé und durch dieses Tun schafft sie eine neue Erzählung, die sich aus dem Zusammenwirken der einzelnen Teile ereignet. Sie abstrahiert die Einzelteile von den gewohnten und gekannten Zusammenhängen. Sowohl bei ihren Objekten als auch in ihren kunsttheoretischen Texten zeichnet sich eine Verfremdung des Gewohnten ab. Der Aufruf zur Neuentdeckung, zur Neuerfahrung von Gebrauchsgegenständen, den sie in ihrem Text Prenez garde aux objets domestiques unternimmt, stellt den angenommenen Naturcharakter dieser Dinge infrage und offenbart ihn als einen Trugschluss. Wenn Gebrauchsgegenstände im Dunklen anders erscheinen können, können die Bedeutungen, die ihnen in kapitalistischen Verhältnissen aufgezwungen werden, nicht absolut sein. Was ist wahrer: eine logische Schlussfolgerung, eine sozial bedingte Assoziation oder doch ein taktiles Erlebnis? Sicher ist, dass der Realität mit der ungewohnten Rezeptionstechnik und Herstellungsweise der Objekte aus Sicht der Realität eigentlich unmögliche Bereicherungen hinzukommen. Schließlich hat jede Raumzeitlichkeit ihre spezifischen Wahrheiten/Fiktionen, die in einer bestimmten Konstellation konstruiert werden. Cahun zeigt, dass diese, als einzige aufgefasste, Wahrheit lediglich eine unter vielen Möglichen ist. Wenn Cahun in ihrem Text Prenez garde aux objets domestiques dazu aufruft, aktiv zu werden und Objekte herzustellen, kommt sie ihrer Einladung in ihrer Objektherstellung selbst nach. Mit ihren Objekten regt Cahun dazu an, neue Geschichten im Gewohnten zu lesen, wie beispielsweise in der Arbeit Je tends les bras (Abb. 23) oder auch im Objekt Un air de la famille (Abb. 24), das Cahun 1936 im Rahmen der surrealistischen Ausstellung Exposition surréaliste d’objets in der Galerie Charles Ratton ausstellte. Bei diesem handelt es sich um ein Puppenbett, das von einem hellen Brautschleier umschlungen wird. Über das Bett verstreut sind Blumenblätter, eine Schleife, Stöcke und andere nicht näher identifizierbare Gegenstände. Der Schleier ist an einem dünnen Stock vertikal über dem Bett angebracht. An dem Stock ist ebenfalls ein Zettel mit folgender Inschrift befestigt:
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Abbildung 24: Claude Cahun, Un air de la famille, ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt
dANGEr manger m angez menge je mens mange ge manje
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Und obwohl die Arbeit aus Teilen besteht, die teilweise leicht erkennbar sind, wie beispielsweise der Brautschleier, und die Aussage dieser Arbeit scheinbar durch die Inschrift erläutert wird, fällt es nicht leicht, die Arbeit zu lesen. Ähnlich wie in vielen anderen von Cahuns Objekten wird hier ein Ringen zwischen der konventionellen Bedeutung eines Dings und einer neuen Erfahrung, die erst verbalisiert werden muss, in Gang gesetzt. Das Unbehagen, das ich empfinde, wenn es darum geht, Cahuns Objekte zu beschreiben, wenn es sich als so mühsam herausstellt, Worte für diese neuen informen Erzählungen zu finden, beweist nur allzu gut, wie tief bestimmte Denkweisen und Vorstellungen über die Kunst und über Alltagsdinge in mir verwurzelt sind und somit kommt auch die Nichtkompatibilität dieser Objekte mit hegemonialen künstlerischen und gesellschaftlichen Benennungspraktiken und Vorstellungen von Form und Materie zum Ausdruck. Es sind sowohl das semiotische Regime als auch die Ordnungen intelligibler Körperlichkeiten, die hier, beabsichtigt oder nicht, angegriffen und gefährdet werden. In den Arbeiten hallen die Aufrufe aus Prenez garde aux objets domestiques wider. Dieser Text beinhaltet doch den Vorschlag des Dissens gegenüber geltenden Ordnungen sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kunst und besonders gegenüber der kapitalistischen Marktlogik. Konkreter wird dies in Vorschlägen der Affirmation des Ungewohnten oder auch des Unerlaubten, des bisher vielleicht negierten Daseins mit Gegenständen, des Tastens im Dunklen oder des Blicks in einen Spiegel ohne Silberfolie. Allerdings geht es Cahun weniger um einen Umsturz, um die Vernichtung des Vorhandenen, als vielmehr um eine neue Erfahrung und deren Verankerung in der Mitwelt – es handelt sich um eine dekonstruktivistische Geste, was sich in ihren objets inventés unmissverständlich zeigt. Cahun betreibt eine Politik der Objekte, indem sie an der ästhetischen Reinheit zweifelt und die kapitalistische Nützlichkeit belächelt, indem sie eine Art der sinnlichen Erfahrung definiert, die von den »normalen« Bedingungen der sinnlichen Erfahrung sowie vom semiotischen Regime und seinen Hierarchien losgelöst ist. Georges Bataille behauptet, dass so etwas wie eine universelle Definition dessen, was für einen Menschen nützlich ist, nicht möglich ist.253 Dennoch würde gerade das als wertvoll und nützlich erachtet, was auf die Bedürfnisse der kapitalistischen Produktion und deren Erhaltung antwortet.254 Zu den 253 Vgl. Bataille, Georges: La notion de dépense, in: ders.: La Part maudite, Paris 1967 [1949], S. 25-45, S. 25. 254 Vgl. ibidem, S. 26.
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unproduktiven Tätigkeiten zählt Bataille beispielsweise die Poesie, die sich nur sehr wenig von den Vorgaben und Grundsätzen der Literatur und des Akademismus leiten lässt.255 Wie oben bereits erwähnt, war Poesie bei den Surrealist_innen ein neuer Name für jegliche künstlerische Tätigkeit, worunter auch Cahuns Objekte fallen würden. Cahuns informe, poetische Objekte sind unassimiliert, sie folgen nicht den Gesetzen des homogenisierenden, rationalen Denkens der industrialisierten Gesellschaft. Im Rahmen des Rationalen sind sie unproduktiv und nutzlos, ganz wie sie es in Prenez garde aux objets domestiques gefordert hat. Aus der Sicht der kapitalistischen Produktion sind diese Objekte irrationale Produkte. Könnte es sein, dass diese Objekte eine neue Dimension der Dinge aufkommen lassen, die gültige Wahrnehmungsordnungen, Perzeptionen und semiotische Regimes außer Kraft setzt, weil Kategorien beziehungsweise Wörter für die Objekte fehlen? Mein Unbehagen bei der Beschreibung der Objekte und auch die Missachtung dieser Arbeiten durch die Forschung um Cahun könnten Verweise darauf sein. Cahuns Objekte sind keine dienenden Dinge mehr, sie sind anderen Denkweisen verpflichtet, sie sind dem Werden näher als dem Verharren in der Bereitschaft nützlich zu sein. Sie sind nicht mehr organisch mit dem Markt verbunden, sondern sie stehen ihm gewitzt entgegen, weil sie nicht klassifizierbar sind, weil sie anderen, irrationalen Bahnen folgen. Sie sind Erzeugnisse einer Produktion, die über nicht intelligible Vorgänge und Verknüpfungen erfolgt, die ungekannt sind. Die Objekte von Cahun gründen auf einer anderen Zeitlichkeit, auf einem Werden, und nicht auf dem rationalen Prinzip der Nützlichkeit.
Materie der Kunst Mit ihren Texten und ebenso mit ihren Objekten rüttelte Claude Cahun an gesellschaftlichen Hierarchien, die in Bezug auf die Arbeit galten; dies betraf wohlgemerkt ebenfalls das bürgerliche Verständnis von dem, was eine Kunstarbeit ist. Cahuns künstlerische Praxis der Objektherstellung bedeutete neben einer Devaluierung der Alltagsgegenstände auch eine Entmystifizierung der Kunst. Nach Jacques Rancière setzt der Kult der Kunst eine Aufwertung der Fähigkei-
255 Vgl. ibidem, S. 30f.
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ten voraus, die mit der Vorstellung vom Wesen der Arbeit verbunden sind.256 Laut Ranciere basiert dieser Kult auf der Überzeugung, dass es Tätigkeiten gibt, die besonders geeignet für die Kunst sind, dass es diesbezüglich eine bestimmte Art der Ausübung gibt und auch, dass es Personen gibt, die besser geeignet sind als andere, um diese Tätigkeiten auszuüben.257 Cahun wehrte sich gegen eine derartige Aufteilung, ihre Ablehnung kommt gleich an mehreren Stellen zum Vorschein. Die Produktionsbedingungen, die Art der Herstellung von Kunst, waren für Cahun wichtige Anliegen, die sowohl in Les Paris sont ouverts, in Prenez garde aux objets domestiques als auch in Pour qui écrivez-vous? thematisiert wurden. Sie störte die Aufwertung der Fähigkeiten »des Kunstherstellens« und auch des Kunstwerks an sich, indem sie selbst quasi nichts beziehungsweise kaum etwas herstellte, sondern sich dem schon Produzierten bediente. Auch die von ihr verwendeten Stoffe und Materialien verstießen oft gegen die Vorgaben des klassischen Kunstdiskurses. Denn welcher ästhetische Wert kommt einer Assemblage aus losen Gegenständen zu, die noch dazu unter einer Glasglocke steckt? Und wie kann eine solche Assemblage überhaupt ausgestellt werden, wenn sie sich sehr schlecht auf einen Sockel aufbringen lässt, weil sie beispielsweise entweder nicht transportabel ist oder in kleine Teile zerfällt, sobald sie bewegt wird? Und ganz wichtig, wer soll hier überhaupt als Autor_in benannt werden, wenn nirgends eine Signatur zu sehen ist? Cahun, die mit gefundenen Gegenständen und deren collageartiger Zusammensetzung hantiert, spielt nicht bloß mit dem imaginierten Wert der Objekte, sie stellt ebenfalls die Individualität der Künstler_in, die künstlerische Kreativität und die Originalität des Kunstwerks an sich infrage. Sie spielt mit der Frage der Urheber_in und der Autor_inschaft. Die Objektkunst ist nämlich eine Tätigkeit, wo verschiedene Arbeitsarten und Kooperationen zusammenwirken. Diese Vorstellung von der künstlerischen Kollektivität weist hier auf den ersten Blick große Ähnlichkeiten zu den Regeln der Arbeitsteilung der kapitalistischen Produktion auf. Denn gerade der Anstieg der Anzahl der Personen, die an der Produktion eines Produkts beteiligt sind, markiert für Marx den Anfang der kapitalistischen Produktion.258 Der Produktionsprozess beruhe auf einem Zusammenwirken von Arbeiter_innen, ohne das die kapitalistische Produktion gar nicht möglich wäre.259 Dieses Zusam256 Vgl. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008, S. 70. 257 Vgl. ibidem. 258 Vgl. Marx (1969 [1867]), a.a.O., S. 212. 259 Vgl. ibidem, S. 215ff.
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menwirken nennt Marx Kooperation.260 Wie er feststellt, veränderten sich die Arbeitsbedingungen ehemals in Zünften organisierter Handwerker in der Manufaktur und später in der Fabrik derart, dass eine Teilung der Arbeit in einzelne Arbeitsabschnitte, die nicht von ein und derselben Person ausgeübt werden, unternommen wurde.261 Diese Veränderung habe Hierarchien unter den Arbeiter_innen geschaffen (beispielsweise zwischen gelernten Arbeiter_innen, die komplexe Aufgaben ausüben, und ungelernten Arbeiter_innen, die keine besonderen Fähigkeiten mit sich bringen müssen), was sich auch im Lohn widergespiegelt habe.262 Arbeitsteilungen innerhalb der Manufaktur hätten sich weiterhin auf die Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft ausgewirkt, indem festgelegt worden sei, wer wo in welchem Berufsfeld tätig werden darf.263 Die gesellschaftliche Arbeitsteilung wirkte sich nach Marx allerdings ebenfalls auf die Teilung der Arbeit in der Manufaktur aus, denn nicht alle durften, konnten oder sollten in einer Manufaktur arbeiten, beispielsweise aufgrund des Alters, des Geschlechts oder der Abstammung.264 Ein besonders wichtiger Effekt der Arbeitsteilung, den Marx nennt, ist eine Verunselbstständigung der Arbeiter_in durch die Abhängigkeit von der Arbeit anderer kollaborierender Arbeiter_innen und natürlich von den Kapitalist_innen.265 Die Arbeiter_innen könnten des Weiteren ihre ausgeübte Tätigkeit gar nicht mehr zusammen mit dem fertigen Produkt denken, da ihre Arbeit jetzt nur noch einen Teil des gesamten Herstellungsprozesses ausmache.266 Die einzelne Arbeiter_in produziere nur einen Teil des Produkts, als Ganzes sei es ein Produkt kollektiver Arbeit.267 In diesem spezifischen Verhältnis ist die Arbeiter_in keine Autor_in, während die Handwerker_in noch als eine solche bezeichnet werden kann. Diese spezifische Autor_inlosigkeit, diese Kooperation der Arbeiter_innen, ist zugleich Wirkung und Bedingung des Kapitals, was jedoch keinesfalls bedeutet, dass jede Kooperation kapitalistischen Regeln folgen muss. Wenn auch jede Kooperation autor_inlos ist, muss sie des Weiteren nicht zwangsläufig ein Zeichen der Ausbeutung sein, was an den Arbeiten beziehungsweise an den Arbeitsweisen von Cahun deutlich wird. Ein
260 261 262 263 264 265 266 267
Vgl. ibidem, S. 215. Vgl. ibidem, S. 221ff. Vgl. ibidem, S. 229f. Vgl. ibidem, S. 232f. Vgl. ibidem, S. 231f. Vgl. ibidem, S. 232. Vgl. ibidem, S. 233. Vgl. ibidem, S. 232f.
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
Objekt, das aus alten Gegenständen besteht, aus Industrieprodukten, hätte nach obigen Ausführungen zur kapitalistischen Kooperation keine Autor_in und die Eingebundenheit mehrerer Gegenstände mit ähnlicher Vergangenheit in eine Assemblage verstärkt seine Autor_inlosigkeit zusätzlich. In Cahuns Arbeiten und auch bei objets trouvés und surrealistischen Objekten allgemein ist eine Bewegung von der Anonymität der Arbeiter_in hin zu einer Anonymität der Künstler_in zu beobachten. Die vorhergegangene Kollektivität der Produktion der Gegenstände entwickelt sich über die individuelle Tätigkeit der Künstler_in zu einer Kollektivität der Kunst, die allerdings auch als eine Arbeit beziehungsweise als das Leben betrachtet werden könnte, weil die Gegenstände, die in die Kunstwelt eingehen, aus dem Alltag stammen. Die Kunst macht ein Stück Leben zum Kunstwerk und durch das Stück Leben wird auch die Kunst zu Leben. Cahun strebt sowohl theoretisch als auch praktisch eine Enthierarchisierung von gleich zwei verschiedenen Produktionssphären an, der Kunst und der Industrieherstellung. Die Künstler_in schafft nicht mehr in einem von Magie umhüllten Moment der Inspiration, ihre künstlerische Tätigkeit ist eine Arbeit, die nicht besser als die einer Arbeiter_in in der Fabrik ist, und manchmal ist sie sogar auch vom technischen Ablauf her sehr ähnlich. Die Ergebnisse der Arbeit einer Künstler_in wären dann nicht feine Illusionen, sondern materielle Gegenstände, die allerdings im Unterschied zu den Erzeugnissen der Arbeit einer Fabrikarbeiter_in nicht als Gebrauchsgegenstände im herkömmlichen Sinne bezeichnet werden können, weil diese keine Anwendung im Alltag zu haben scheinen. Paradoxerweise entsprechen sie den klassischen Vorstellungen von einem Kunstwerk ebenfalls nicht. In ihrem Text Prenez garde aux objets domestiques stellt Cahun fest, dass Arbeiter_innen besser geeignet sind als Intellektuelle, um Objekte zu entdecken, herzustellen und auch zu fühlen: »C’est pourquoi à certains égards, les travailleurs manuels seraient mieux placés que les intellectuels pour saisir le sens, si tout dans la société capitaliste, y compris la propagande communiste, ne les en détournait«268 . Für Georges Bataille ist die kapitalistische Gesellschaft eine homogenisierte Gesellschaft, in die die Arbeiter_innenklasse nur teilweise involviert ist.269 Zwar wäre sie an der Homogenisierung beteiligt, aber lediglich durch
268 Cahun (1936), a.a.O., S. 46, Hervorhebung i. O. 269 Vgl. Bataille (1978 [1933]), a.a.O., S. 11.
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ihre Tätigkeit und nicht, wie er sagt, als Menschen. Die Arbeiter_innen bezeichnet Bataille als »Agenten der Produktion« und selbst wenn ihre Arbeit homogenisiert ist, sind sie selbst es nicht. Die Homogenisierung ist für Bataille eine Reduktion, der Arbeiter_innen außerhalb der Fabrik nicht unterworfen waren, er nennt diese gar »von anderer Natur, einer Natur, die nicht reduziert«270 . Vielleicht hatte Cahun eine solche Auffassung der Arbeiter_innen vor Augen, als sie von ihrer besonderen Begabungen sprach.271 – Arbeiter_innen hätten dann aufgrund ihres Ausgeschlossen-Seins aus dem homogenen Teil der Gesellschaft einen anderen, kreativeren Zugang zu den Dingen, einen Zugang fern der intellektuellen Reduktion. Für Bataille sind die Arbeiter_innen soziale Wesen von heterogenem Charakter. Bei Cahun gewährleisten sie schließlich einen heterogenen Zugang zur Materie. Trotz des leichten Pessimismus, den Cahun hinsichtlich der verblendenden und berauschenden Macht und Kraft des Kapitalismus äußert, könnten für Cahun die Arbeitenden genauso wie ausgebildete Künstler_innen die neuen künstlerischen Akteur_innen sein, die die damalige Kunst nicht kannte. Zweifellos wurden diese Gedanken von der damaligen Debatte darüber, wer die Kunst eigentlich herstellen soll und ob es eine proletarische Kunst geben kann und soll, getragen. Einer schwierigen und heftigen Debatte, die viele Gruppen gespalten hatte. Cahun liefert hier keinen eindeutigen Vorschlag einer Lösung, sie zählt eher Möglichkeiten und Potenziale auf, die sich mit den neuen Akteur_innen der Kunst auftun. Cahun ist keine Anhängerin der klassischen Vorstellung von der hohen Kunst. Die Kunst, die Poesie muss ab jetzt anders sein – und sie wird anders. In ihren Äußerungen markiert Cahun, dass sie nach einem neuen Umgang mit den Dingen sucht, den sie eventuell in der Geste der Berührung sieht – in der Berührung scheint sie ein emanzipatorisches, weil unproduktives Potenzial zu lokalisieren; denn wozu ist eine bloße Berührung und eine Empfindung in einer kapitalistischen Welt eigentlich nutzbar? Cahuns Objektfertigung kann auf jeden Fall als ein Vorgehen angesehen werden, das zeitgenössische Kategorisierungen, Vorschriften, Grammatiken, Rhetoriken, Kodierungen und Grenzen störte. Sowohl auf einer künstlerischen als auch auf einer gesellschaftlichen Ebene wurden auf diese Weise herrschende Ordnungen beeinträchtigt. In Cahuns Arbeiten verweilen Elemente miteinander, die davor so nicht zusammengehörten. Der Schwerpunkt liegt keinesfalls auf
270 Ibidem. 271 Vgl. Cahun (1936), a.a.O., S. 46.
1. Dichterische Ungestalten: Cahuns Objekte und ihre Kunsttheorie
Einzelelementen, sondern gerade auf der informen Assemblage, einer Körperlichkeit, die diese Elemente gemeinsam bilden. Von der Betrachter_in wird zumeist kein Wissen über die Nutzung und den Wert der Einzelelemente erwartet, sondern ein offenes Sich-Einlassen auf das konkrete Ensemble in dieser spezifischen Konstellation, das großen Raum für Interpretationen zulässt – genau das also, was Cahun in Les Paris sont ouverts, Pour qui écrivez-vous? und Pernez garde aux objets domestiques schon schriftlich postuliert hat. Die Verbindung eines vertrauten, bekannten Gegenstands mit einer für ihn ungewöhnlichen Umgebung, sei es aufgrund seiner Platzierung oder seiner Relationen mit anderen Gegenständen, wirkt verwirrend und desorientierend. Es sind neue Körperlichkeiten, Materialitäten und Bedeutungen, die in dieser Praxis entstehen. Cahuns Objekte gehorchen keinem funktionellen Kalkül. Sie operieren in einer informen Ökonomie der Dinge, wo andere Konstellationen und Kräfte als bisher wirken, die sich im Zusammentreffen der Einzelelemente ereignen. Mit einem objet inventé werden verschiedene Ordnungen, Anordnungen und Werte verschoben. An dieser Stelle lässt sich ein Zitat von Hélène Cixous anführen, denn auch die Tätigkeit der Objektherstellung kann als eine Art emanzipatorischer und diebischer Akt angesehen werden: »[S]ie freuen sich diebisch, weiblich-männlich, die räumliche Anordnung durcheinander zu bringen, in der Orientierung zu stören, die Möbel, Dinge, Werte zu verschieben, einzubrechen, die Rahmenstrukturen zu leeren, Eigentum umzustürzen«272 . Zweifelsohne basieren Cahuns Objekte auf etwas, das als geklaut, zerstört und gestört betrachtet werden kann, das aber in dieser Konstellation zu etwas Neuem wird. Objekte-Machen ist hier unleugbar ein politischer Akt des Widerstands, denn aus losen Gegenständen, die früher in Konkurrenz gegeneinander wirkten, werden informe Konstellationen, die in ihrem Zusammenwirken produktiv sind und nicht dem Intelligiblen dienen. Dies zieht nach sich, dass sie kaum Platz im Werkkörper von Claude Cahun haben. Im Verbund mit der Betrachter_in schaffen diese Objekte eine neue Ökonomie der Dinge, sie fordern neue Denkweisen, eine andere Art des Sprechens und des Wahrnehmens. Diese Objekte sind kein unbedeutendes Spiel, kein reiner Zeitvertreib, es sind emanzipatorische Akte, die dort, in den Objekten, zur Sprache kommen. Die Betrachter_innen müssen eine Offenheit aufbringen, sich gedanklich neu justieren, um ihre Sprache
272 Cixous, Hélène: Das Lachen der Medusa [1975], in: Hutfless, Esther; Postl, Gertrude; Schäfer, Elisabeth [Hg.]: Hélène Cixous. Das Lachen der Medusa, Wien 2013, S. 39-63, S. 53.
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entdecken und hören zu können. Die Rezeption dieser Kunst ist nicht einfach, da sie eine Veränderung der Denkmuster erfordert. Cahuns Überlegungen aus den Texten weisen zudem darauf hin, dass sie die Kunst, die sie herstellte, als eine Art Antwort auf damals drängende Fragen verstand. Es gab anscheinend ein dringendes Bedürfnis, die Lebensumstände der Menschen zu reflektieren und Aktionen vorzuschlagen, die ihre Lage ändern konnten. Cahuns politisch-künstlerisches Engagement in Gestalt der Objekte und ihr kunsttheoretisches Engagement waren zweifellos durch die damaligen Umstände aktiviert worden. Ihre objets inventés können keinesfalls auf einen Ästhetizismus reduziert werden. Sie sind Vorschläge für gesellschaftliche Umwälzungen. Die Objektkunst, eine Gattung, die heute selbstverständlich zum Kunstkanon gehört, war zu dieser Zeit etwas Neues, eine mutige, heterogene Intervention in die Vorstellungen von Kunst, sowohl des akademischen Diskurses, als auch der KP – ähnlich dem Programm, das sich Bataille mit seinen Artikeln in Documents vorgenommen hat.273 Durchaus kann heute gesagt werden, dass Cahun mit ihren Objekten und mit ihren kunsttheoretischen Schriften gegen Ausbeutung und Ungleichheiten – ganz gleich von welchem politischen Lager – kämpfte, um zu positiven Veränderungen in der Gesellschaft beizutragen. In dieser Hinsicht hatte ihr in diesem Kapitel thematisiertes Schaffen eine feministische Grundlage.
273 Siehe Kapitel 1.2, S. 81-84.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits Jedes Zeichen [signe], sprachlich oder nicht, gesprochen oder geschrieben (im geläufigen Sinn dieser Opposition), als kleine oder große Einheit, kann zitiert – in Anführungszeichen gesetzt – werden; von dort aus kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sagbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen. Das heißt nicht, daß das Zeichen [marque] außerhalb eines Kontexts gilt, sondern ganz im Gegenteil, daß es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt.1
Claude Cahun ist ein Kuriosum der Kunstgeschichte. Während ihres Lebens war Cahun vor allem als Schriftstellerin und Autorin bekannt, zur Fotokünstlerin, für die ihr Name heute hauptsächlich steht, ist sie erst fast vierzig Jahre nach ihrem Tod geworden. Während ihres Lebens waren ihre fotografischen Arbeiten kaum bekannt. Anscheinend lag ihr nicht viel daran, sie auszustellen. Es kann gemutmaßt werden, dass sie das Fotografieren eher als ein faszinierendes Hobby betrachtete und weniger als eine künstlerische Tätigkeit. Bis Anfang der 80er-Jahre blieben Cahuns Fotografien einer breiteren Öffentlichkeit vorbehalten. Erst an der Schwelle zu den 90er-Jahren erschienen erste wissenschaftliche Analysen ihrer Fotografien, die ihre Arbeiten, neben den Ausstellungen, bekannt machten. Und wenngleich ausführliche Annäherungen an ihre Biografie in Europa erfolgten, waren es vor allem die feministische und die der lesbischen Szene verbundene Forschung in den USA, die 1
Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.:Die différance, Stuttgart 2004, S. 68-110, S. 89.
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
maßgeblich zu Cahuns Bekanntheit als Fotografin beitrugen.2 Unter denjenigen, die sich mit ihren Fotografien beschäftigten, sind bekannte Namen der feministischen Forschung wie Abigail Solomon-Godeau oder Laura Cottingham zu nennen. Schon in frühen Untersuchungen wurde immer wieder die Wichtigkeit von Cahuns Arbeiten für die feministische und queere Forschung und den queerfeministischen Aktivismus betont, allerdings, was hier unterstrichen werden muss, ausschließlich bezüglich ihrer Selbstportraits. Eine Handvoll ihrer Selbstportraits aus den 20er-Jahren, die in den frühesten Untersuchungen zirkulierten und die ich als Bilderkonvolut bezeichne, fungiert heute als Werkkörper von Cahun. Diese wurden dann mit dem Thema Sexualität, den Eigenschaften ihres Körpers, ihrer Gesundheit, ihrer Auffassung der Geschlechter oder auch mit feministischen Kämpfen in Verbindung gebracht. Es ist wichtig, dies festzuhalten, denn bereits vor ihrer Popularisierung Anfang der 90er-Jahre wurde der Name Cahun immer wieder erwähnt, vor allem in Frankreich im Kontext der Memoiren von Surrealisten. In deren Ausführungen wurden jedoch vor allem ihr Engagement in den politischen Aktivitäten der Surrealisten und ihre Schriften genannt, ihr Körper, ihr Geschlecht, ihr sexuelles Begehren und auch ihre Selbstportraits waren bis in die 90er-Jahre hinein kein Thema. Ein Wendepunkt in der Anschauung von Cahuns Arbeiten ist um die von Rosalind Krauss und Jane Livingstone kuratierte Wanderausstellung L’Amour fou, die 1985 in Washington, San Francisco und in Paris gezeigt wurde, zu konstatieren. Im Anschluss an diese schrieb Hal Foster 1986 den längeren Essay L’Amour faux, in dem er in einer in Klammern gesetzten kurzen Anmerkung Cahun als eine Fotografin darstellt, die in den Kreisen der Surrealisten mit ihren Selbstportraits Widerstand gegenüber der Fetischisierung des weiblichen Körpers leistete. Foster verbindet Cahuns Arbeiten mit der feministischen Kunst der 80er-Jahre und nennt sie »Cindy Sherman avant la lettre«3 . In der genannten Ausstellung waren sechs ganz unterschiedliche Fotografien von Cahun ausgestellt worden: eine Fotocollage (Abb. 25), ein Foto Cahuns, das während ihres Engagements in der Theatergruppe Le Plateau aufgenommen worden war (Abb. 26), ein Selbstportrait (Abb. 2
3
1987 schrieb Nanda van den Berg an der Universität in Utrecht unter dem Titel Claude Cahun die erste akademische Abschlussarbeit, die sich mit der Kunst von Claude Cahun beschäftigte. 1991 folgte François Leperlier mit seiner Dissertation Claude Cahun (Lucie Schwob), 1894-1954 : du symbolisme au surréalisme et à la Résistance, die er an der Sorbonne in Paris verfasst hatte. Vgl. Leperlier, François: Claude Cahun. LʼÉcart et la métamorphose, Paris 1992. Vgl. Foster (1986), a.a.O., S. 188 u. 127.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
27) und die übrigen drei waren Fotografien von Cahuns Objekten (Abb. 28, 29 u. 30).4
Abbildung 25: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-WeißFotomontage;Abbildung 26: Claude Cahun (?), o. T., ca. 1929, Schwarz-Weiß-Fotografie
Bezeichnend ist, dass Foster aus diesen sechs Fotografien zwei herauspickt, die Cahun zeigen, und nur diese mit der zeitgenössischen feministischen Kunst, die ebenfalls mit Selbstportraits arbeitete, verbindet. Dieser Aufsatz kann durchaus als ein Auslösemoment für die Zuspitzung des Interesses an Cahuns Selbstportraits gesehen werden. Die ersten ausführlichen Artikel zu Cahuns Arbeiten erschienen erst Anfang der 90er-Jahre, die von Hal Foster geäußerte Assoziation mit der zeitgenössischen Kunst der 80er-Jahre und vor allem mit dem feministischen Denken hallte dort jedoch deutlich nach, sie wurde zum vorherrschenden Kontext, in dem Cahuns Arbeiten in den 90er-Jahren betrachtet wurden. Seit den Artikeln der 90er-Jahre steht der Name Claude Cahun nahezu immer für fotografische Selbstportraits und die Selbstportraits stehen für sie. Fast nie wurden dagegen jene Genres betrachtet, denen sich Cahun außerdem zugewendet hat. Bei meinen Recherchen im 4
Vgl. Krauss, Rosalind; Livingstone, Jane [Hg.]:L’Amour fou. Photography and Surrealism (Ausstellungskatalog), Corcoran Gallery Washington 1985, New York 1985, S. 108f. u. 205.
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
Abbildung 27: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1929, SchwarzWeiß-Fotografie; Abbildung 28: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt
Abbildung 29: Claude Cahun, Je donnerais ma vie, ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt; Abbildung 30: Claude Cahun, Entre nous (II), ca. 1926, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt
Jersey Archive und auch bei der Analyse der Ausstellungen von Cahuns Arbeiten, die zwischen den 70er- und den 90er-Jahren stattfanden, zeigte sich mir deutlich, dass das Genre Selbstportrait nicht das einzige war, dem sich Cahun widmete. Unter Hunderten von Fotografien, die im Jersey Archive archiviert
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
werden, finden sich Fotografien von Objekten, Landschaftsaufnahmen, wie Fotografien von Felsenformationen der Insel Jersey, oder beispielsweise Fotografien von Baumaschinen. Im Cahun-Diskurs der 90er-Jahre treten diese Bilder kaum in Erscheinung. Die Beschäftigung der Forschung mit Cahuns Selbstportraits ist sicherlich zum Teil in der außerordentlichen Anziehungskraft der Aufnahmen begründet, die sie bis heute nicht verloren haben. Ohne den Verdienst der Bekanntmachung von Cahuns Kunst und der Untersuchung der subversiven Kraft, die Cahuns Selbstportraits ausstrahlen, schmälern zu wollen, stellt sich jedoch die Frage, warum das Widerstandspotenzial von Cahuns Kunst bisher nicht außerhalb dieses Genres, beispielsweise in ihren Objekten, gesucht wurde. Weswegen waren ausgerechnet die Selbstportraits für die Kunstforschung dieser Jahre so bedeutungsvoll? Waren ihre anderen Arbeiten der Forschung nicht bekannt? Wie ist es dazu gekommen, dass Cahun lediglich in Zusammenhang mit den Selbstportraits als Autorin auftritt, warum fungieren ausschließlich diese als ihr Werk? Diese Fragen zu stellen erachte ich für äußerst wichtig, weil sich die Konzentration der frühen Forschung auf die Selbstportraits wesentlich auf die Gestalt dessen, was man das Werk der Autor_in nennt, ausgewirkt hat. Das bedeutet, dass Cahuns Werk heutzutage diejenigen Fotografien bilden, die damals, in den 90er-Jahren, im Fokus der Forschung standen. Die Reduzierung ihres Werks auf nur wenige Selbstportraits ist heute auf vielen Feldern zu beobachten, in welchen man sich für Claude Cahun interessiert, von der akademischen Forschung über das Ausstellungswesen und die Kunst bis hin zum feministischen oder queeren Aktivismus. Sehr anschaulich wird dies bei verschiedenen von LGBTQAI-Communities organisierten Veranstaltungen, die mit Cahuns Selbstportraits beworben werden (Abb. 31, 32 u. 33). Dort erscheint Cahun als Künstlerin eines sehr homogenen Werks. Es tauchen immer wieder die gleichen Fotografien auf, die aus den Analysen der 90er-Jahre bekannt sind. Mittlerweile bedient sich auch die Werbung und die Mode-Industrie des Körperbilds der Selbstportraits. Erst kürzlich erklärte die Designerin Maria Grazia Chiuri Claude Cahun zur Muse der Pre-Fall 2018 Kollektion des Modehauses Christian Dior.5 Solche Beispiele häufen sich und
5
Vgl. Borrelli-Persson, Laird: Who Was Claude Cahun, Muse of Dior’s Pre-Fall Collection?, online: https://www.vogue.com/article/claude-cahun-gender-muse-pre-fall2018-christian-dior (zuletzt besucht am 12.2.2018); Cuby, Michael: Dior’s New Collection Was Inspired By a Genderqueer Artist and We Are Here For It,
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
Abbildung 31: Poster des Festivals Printemps lesbienne Toulouse (2018), 2018; Abbildung 31 a: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1927, Schwarz-Weiß-Fotografie
Abbildung 32: O. A., Don’t Fuck With Queer Kids; Abbildung 32 a: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1927, Schwarz-WeißFotografie
bezüglich der Wahl der Bilder fällt auf, dass dort bestimmte Selbstportraits immer wieder zitiert werden. in: them, online: https://www.them.us/story/diors-new-collection-was-inspired-by-agenderqueer-artist (zuletzt besucht am 23.3.2018). In diesen Artikeln werden die Selbstportraits des Bilderkonvoluts ebenfalls abgebildet.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
Abbildung 33: Pinterest-Seite Lesbians Visible; Abbildung 33 a: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1928, Schwarz-Weiß-Fotografie
Wie ich in meinen obigen Ausführungen schon angedeutet habe, möchte ich die Frage nach der Unkenntnis der Fotografien, die keine Selbstportraits waren, verneinen. Eine der ersten Erwähnungen von Cahuns Fotografien findet sich im Buch Les Mystères de la chambre noire von Édouard Jaguer aus dem Jahr 1982. Dort bildet Jaguer Cahuns Fotoillustrationen für das Buch Le Coeur de Pic der Schriftstellerin Lise Deharme ab, die Fotografien von Objekten sind, und er erwähnt auch die Fotomontagen aus Cahuns Buch Aveux non avenus.6 Drei Jahre später wurden in der oben erwähnten Wanderausstellung L’Amour fou ganz unterschiedliche Fotografien von Cahun gezeigt, wobei es sich lediglich bei einem um ein Selbstportrait handelte. In gleich mehreren der frühen Ausstellungen war ein Objekt Cahuns aus dem Jahr 1936 ausgestellt worden. Daraus geht hervor, dass der frühen Forschung andere Sujets und Gattungen, denen sich Cahun zugewendet hatte, nicht gänzlich unbekannt waren. Warum also richtete sich dann der Fokus so hartnäckig auf Cahuns Selbstportraits, die letztendlich zu ihrem Werkkörper wurden?
6
Vgl. Jaguer (1984 [1983]), a.a.O., S. 108-109.
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
2.1
Autor_in
Das Werk eine_r Autor_in ist, wie Michel Foucault in seinem Vortrag Was ist ein Autor darlegt, nichts, das sich selbstständig und selbstverständlich bildet.7 Von der These über den Tod des Autors von Roland Barthes ausgehend, unternimmt Foucault eine kritische Analyse zweier Begriffe, die von Barthes anstelle des toten Autors vorgeschlagen worden sind, der Begriffe des Werks und des Schreibens. Während diese beiden Begriffe für Barthes eine Lösung für die problematische Kategorie der Autor_in darstellen, sind sie für Foucault ebenso problematisch wie die »Individualität des Autors«8 . Für Foucault liegt die Einheit des Texts eines Werks keineswegs in seinem Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt. Ein Werk spiegelt also nicht einfach die Gesamttätigkeit einer Autor_in, sondern es ist genauso wie sie_er eine Konstruktion. Der Begriff »Werk« erscheint Foucault problematisch, denn es sei nicht immer klar, was zum Werk gehören kann und was nicht, was als wertvoll genug angesehen wird, um in das »Inventar« des_r Autors_in eingeschlossen zu werden.9 Für Foucault sind Zuschreibungsverfahren ein wesentlicher Teil des Autor_inWerdens.10 Auch was Claude Cahun anbelangt, ist eine solche Bifurkation zu beobachten. Nicht alle Fotografien gelten als solche, die wichtig oder informativ genug sind, um in den Werkkörper von Cahun aufgenommen zu werden. Die Einheit und die Homogenität des Bilderkonvoluts der Künstlerin Claude Cahun ist zweifellos das Resultat eines bestimmten Tuns, bestimmter Leseweisen, bestimmter Interaktionen mit diesen Arbeiten. Im Falle von Cahun bestätigt sich, was Foucault über die prozesshafte Entstehung einer Autor_in schreibt, und was ich im Folgenden aufzeigen möchte. Die Schriftstellerin und Fotografin Claude Cahun ist zweifellos als ein Resultat des spezifischen kunsthistorischen Interesses der 90er-Jahre zu sehen, es kann von einem Prozess der Konstruktion einer Künstlerin, der in dieser Zeit erfolgte, gesprochen werden, einer Konstruktion, die auf einer Selektion ihrer Arbeiten basierte, die allerdings nicht als ein willkürlicher Akt misszuverstehen ist. Infolge dieser Prozesse wurde eine bestimmte Vorstellung mit Cahun assoziiert, die sich
7 8 9 10
Vgl. Foucault, Michel: Was ist ein Autor, in: Jannidis; Lauer; Martinez; Winko [Hg.]: Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 198-230, S. 205. Vgl. ibidem, S. 206. Vgl. ibidem, S. 203. Vgl. ibidem, S. 198.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
nicht zuletzt mit dem Schreiben über sie und dem Zeigen ihrer Werke entwickelt hat, eine Vorstellung von einer Künstlerin, die als gesättigte Einheit erscheint. Aus Millionen von Spuren,11 um mit Foucault zu sprechen, die Cahun hinterlassen hat, wurde ein Werk bestimmt, das vor allem durch ihre Selbstbildnisse gezeichnet ist. Die Praxis der Bestimmung des Oeuvres war mit gravierenden Auslassungen verbunden – was mir während meiner Archivbesuche sehr deutlich wurde –, deren Folge die Etablierung einer dominierenden Leseweise ihrer Bilder und ihres Selbst sowie eine Blockierung anderer Wege und Zugänge zu den Arbeiten von Cahun war. Die Autor_in wie auch ihr Werk sind, so möchte ich nach Foucault behaupten, nicht einfach da, sie sind Produkte, deren Entstehungsgeschichte ausgeblendet wird. Im Folgenden wird das Augenmerk neben den spezifischen Mechanismen, die Cahun zur Fotografin des Selbstportraits werden ließen, auch auf das Problem der »Limitierung von Bedeutung«,12 das unweigerlich mit dem Aufkommen einer Autor_in verbunden ist, gelegt. Den Begriff des Werks und vor allem die Uniformität, die Einheitlichkeit, die er impliziert, gilt es für Foucault zu problematisieren, denn ein_e Autor_in und das zugehörige Werk festzulegen ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Angelegenheit, die mit Reduzierungen und Glättungen zu tun hat. Am Beispiel Claude Cahun lässt sich die Formierung eines Werks gut beobachten. Vor allem in den frühen Jahren der Cahun-Forschung ist ein Zuschneiden und Abrunden ausgewählter Fotografien in ein Werk, das Werk von Claude Cahun, zu verzeichnen. Der Name Cahun verweist heute also auf ein »systematisches Ganzes«13 , auf das Bilderkonvolut, das allerdings keineswegs alles ist. Dies bestätigte sich mir immer wieder, wenn ich von meiner Forschung erzählte und sich die meisten meiner Gesprächspartner_innen ausschließlich über ihre Selbstportraits an Claude Cahun erinnerten. Sowohl die Schriften als auch andere fotografische Arbeiten oder Objekte von Cahun sind keineswegs ein Begriff für all jene, die sich nicht ausführlich mit ihren Arbeiten befasst haben. Cahuns heute selbstverständliches Dasein als Autorin der Selbstportraits ist auch deshalb zu problematisieren, da es vermutlich aus der Annahme resultiert, dass das Werk einer Autor_in ein natürliches Resultat der kreativen Tätigkeit einer Autor_in ist, ein organisch mit ihr verbundener Teil, der sich alleine aus ihrem künstlerischen Tun kristallisiert hat. Dagegen möchte ich
11 12 13
Vgl. ibidem, S. 203. Vgl. ibidem, S. 228. Ibidem, S. 212.
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Claude Cahuns Poesie des Objekts
argumentieren, dass der Autorinstatus von Claude Cahun komplexen Formierungsprozessen entsprang, einem Gefüge aus Zeigen, Schreiben, Auswählen, Forschen und diskursiven Rahmen, die in den 90er-Jahren vorherrschten; denn es ist nicht die Autorin alleine, die bestimmt, was als ihr Werk zählt. Dem Dasein von Cahun als Autorin der Selbstportraits liegt ein solcher Formierungsprozess zugrunde, worauf die Existenz der Fotografien, die nicht gezeigt und untersucht werden und somit unbekannt in den Archiven verbleiben, hindeuten. Heute verweist der Name Cahun auf ein ihr zugeschriebenes Werk, auf eine Konstruktion, die eine unter vielen möglichen ist, was ich in diesem Kapitel zu zeigen beabsichtige. In wissenschaftlichen Artikeln zu Cahun wurde ihr Pseudonym zu einem Namen, der eine Künstlerin mit einem bestimmten »Werkkörper« markiert.
2.2
Die Kollektivität des Blicks
Es soll hier nicht vorenthalten bleiben, dass das Dasein Cahuns als Fotografin der Selbstportraits im Cahun-Diskurs nicht auch infrage gestellt worden ist. In den 2000er-Jahren mehrten sich Stimmen, die erklärten, Suzanne Malherbe aka Marcel Moore, Cahuns langwierige Lebensbegleiterin, sei ein Teil der Prozesse der Selbstfotografie Cahuns. Hier wurde also nicht die Wahl der Fotografien hinterfragt, die ich im Folgenden analysieren möchte, sondern die alleinige Autor_inschaft Cahuns bezüglich der Fotografien. Die Ungewissheit, wer eigentlich den Auslöser des Fotoapparats betätigt hat, ist bis heute ein großes Streitthema. Die Bemühungen, diesen Sachverhalt zu klären, haben bedeutenden Anteil am Prozess des Autor_in-Werdens. Nirgendwo ist nämlich gesichert, dass Cahun sich selbst fotografiert hat, sprich, es ist unsicher, ob sie selbst den Fotoapparat betätigt hat. Es gibt keinerlei Verweise auf das Benutzen eines Fernauslösers, nicht in den Bildern selbst und auch sonst nicht. Kann ein Selbstportrait als ein Selbstportrait gelten, wenn die Künstler_in nicht selber auf den Auslöser gedrückt hat? Zudem signierte Cahun ihre Arbeiten fast nie, was Schlüsse auf die Autor_inschaft deutlich erschwert. Immer öfters neigen Wissenschaftler_innen dazu, in der Person von Marcel Moore eine gleichwertige Autorin dieser Fotografien zu sehen, die den Auslöser gedrückt haben soll, sie sprechen von einer kollektiven Autor_innen-
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
schaft.14 Jedoch wird nicht alleine hinsichtlich des mechanischen Verfahrens des Fotografierens nach Argumenten gesucht. Beispielsweise wird auch eine sehr wichtige Anmerkung auf der Titelseite von Cahuns Buchs »Aveux non avenus« aus dem Jahre 1930 herangezogen: »Illustré d’héliogravures composées par Moore d’apres le projects de l’autor«15 . Diese Anmerkung besagt, dass die Buchillustrationen als eine Zusammenarbeit zwischen Cahun und Moore zu verstehen sind. Sie ist ein direkter Verweis auf die Zusammenarbeit der beiden Frauen, auf ihre kollaborative künstlerische Praxis. Bei anderen kollaborativen Konstellationen finden sich tatsächlich weitere Verweise auf die enge Zusammenarbeit von Cahun und Malherbe. Beim Buchprojekt Le Coeur de Pic von Lise Deharme hat Cahun Fotografien der Objekte beigesteuert und Lise Deharme den Text geschrieben. Bei diesem Projekt gibt es ebenfalls Hinweise darauf, dass Deharme und Cahun im Zusammenhang dieses Buchs nicht die einzigen Kollaborateurinnen waren. Denn in einem Brief an Marianne Ashridge merkt Cahun an, dass sie die Arbeiten zusammen mit Suzanne Malherbe angefertigt hat.16 Maria Charlotte zeigt dies ebenfalls anhand einer Äußerung Cahuns in einem Brief an Charles-Henri Barbier auf: »illustré de photographies, par Suzanne et moi«17 . Außerdem verweist Tirza True Latimer in ihrem Text Acting Out auf eine Fotografie von Silvia Beach von 1919, die folgende Inschrift aufweist: »Photograph by Lucie Schwob and Suzanne Malherbe. Sylvia at bookshop Shakespeare and Company, 8, Rue Dupytren 1919«18 . Damit gibt es sogar Verweise auf eine Kollaboration bei einem Portrait. Die künstlerische Zusammenarbeit hat also unterschiedliche Ausrichtungen angenommen. Die Ausweitung der Autor_inschaft auf zwei Personen verharrt jedoch weiterhin in der problematischen Vorstellung der souveränen Autor_inschaft. Ich möchte den Begriff der Autor_in hier nicht auf ein oder zwei Individuen festlegen, wenn ich also von Cahun spreche, ist damit der ganze kollaborative Hintergrund, den ich oben erwähnt habe und über den Cahun selbst in Prenez garde aux objets domestiques gesprochen hat, mitgemeint. Wird diese spezielle Situation mit der Theorie von Barthes gelesen, 14
15 16 17 18
Vgl. beispielsweise Latimer, Tirza True: Acting Out: Claude Cahun and Marcel Moore, in: Downie, Louise [Hg.]: Dont’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 56-71, S. 56. Cahun, Claude: Aveux non avenus, Paris 2011 [1930], S. 5. Vgl. Doy, Gen: Claude Cahun. A Sensual Politics of Photography, London 2007, S. 109. Dort bezieht sich Doy auf einen Tagebuch-Brief an Marianne Ashridge vom 13.8.1948. Charlotte (2013), a.a.O., S. 311– 312. Vgl. Latimer (2006), a.a.O., S. 67, Fig. 65.
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erscheint die Frage, wer eigentlich den Auslöser gedrückt hat, weniger relevant. Denn in seinem Essay Tod des Autors aus dem Jahr 1968 schreibt Roland Barthes, ein Text sei eine Überlagerung von schon Vorhandenem, ein »Gewebe von Zitaten«, was in den Cahun zugesprochenen Werken besonders gut nachzuvollziehen ist.19 Deswegen findet es Barthes problematisch, überhaupt von einem Autor zu sprechen. Barthes ist es wichtig zu zeigen, dass ein Text nicht alleine das Ich des Künstlers als Ursprung hat. Wird von einer Kollaboration zwischen Cahun und Malherbe ausgegangen, könnte man von einer verstreuten Autor_in sprechen, die niemals als einheitliches Ganzes aus sich selbst schöpft. Sowohl innerhalb des Bilderkonvoluts als auch darüber hinaus sind diese Arbeiten multidimensionale Räume, in denen sich verschiedenste Denkweisen, Tätigkeiten, Texte und Bilder treffen – ein Gewebe von Zitaten eben. Das Werk ist, wie ich im Weiteren zeigen möchte, nicht alleine bei den Macher_innen zu suchen, sondern auch bei denen, die sich für ihr Tun interessiert haben. Vor allem in wissenschaftlichen Artikeln zu Cahun wurde ihr Pseudonym zu einem Namen, der eine Künstlerin mit einem bestimmten »Werkkörper« markiert. In symbiotischen Beziehungen entstanden in den 90er-Jahren zwei Arten von Körpern, ein Werkkörper, der aus Selbstportraits bestand, und ein bestimmter physischer Körper von Claude Cahun. Im Zuge der frühen Untersuchungen und Analysen ihrer Arbeiten wurde der damals noch ziemlich leere Name Claude Cahun mit Eigenschaften ausgestattet, die diesem Namen zuvor so nicht verhaftet waren, beispielsweise mit der Essstörung Anorexie oder mit einem lesbischen Begehren. Die Herausbildung dieser beiden häufig genannten Eigenschaften von Lucie Schwobs Körper spielt, meiner Meinung nach, eine besonders signifikante Rolle in der Entstehung Cahuns als Fotografin der Selbstportraits. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werde ich eine kritische Genealogie der Erschaffung von Cahun als Fotografin der Selbstportraits und ihres Werkkörpers anstreben – unter besonderer Berücksichtigung der Entstehung und Festigung des mit den genannten Eigenschaften versehenen Körpers. Die Erschließung einer solchen Genealogie soll dazu dienen, die Prozesse, die zu ihrer Entstehung geführt haben, nachzuvollziehen und das damit verbundene Interesse der Forschung am Genre Selbstportrait zu beleuchten.
19
Vgl. Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: Jannidis; Lauer; Martinez; Winko [Hg.]:Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185-198, S. 190.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
2.3
Fotografische Krankheit: Cahuns anorektischer Körper
1992 beschreibt François Leperliers Claude Cahun in seinem Buch Claude Cahun. L’Écart et la métamorphose als eine Person, die Symptome einer Anorexie aufweist: Nous insisterons sur l’extrême complexité de la relation intrapersonnelle, sur le déni du corps propre et de la différence sexuelle qui, vraisemblablement, s’articulent sur une forme assez caractérisée d’anorexie mentale dont les prolongements psychosomatiques seront considérables (grandes variations morphologiques, syndrome phobique, hypernarcissime, aménorrhée et troubles gynécologiques qui conduiront, semble-t-il, a une hystérectomie partielle).20 Diese Aussage bleibt hier unbelegt, doch 1994 nennt er einen längeren Brief von Claude Cahun an Charles-Henri Barbier vom 21. Januar 1951 als Quelle.21 In dem besagten Brief an Charles-Henri Barbier, in den wenigen Sätzen, anhand derer Leperlier eine Anorexie diagnostiziert, schreibt Cahun von freiwilligem Fasten: »Je jeûnai délibérément. D´ailleurs la mort n’était-elle pas la seule voie qui me restât ouverte? Tentée de me séparer brusquement (et non plus graduellement) de la vie, je longeais parfois les quais au crépuscule«22 . Dieses Fasten, dessen Zusammenhang und Einbettung unklar bleiben, wird von Leperlier als eine Essstörung, als Anorexia nervosa, interpretiert: »La santé se détériore gravement, l’anorexie est caractérisée«23 . – schreibt Leperlier, womit er Cahuns gesundheitlichen Zustand quasi als bewiesenes Faktum darstellt. In seinem späteren Buch Claude Cahun : L’Exotisme intérieur von 2006, einer überarbeiteten Version des Buchs von 1992, wird der oben zitierten Satz ein wenig modifiziert.24 Es verschwinden angebliche Symptome einer Anorexie wie Ängste, Hypernarzissmus oder Probleme gynäkologischer
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Leperlier (1992), a.a.O., S. 19. Vgl. Leperlier, François: Claude Cahun. La gravité des apparences, in: Cousseau, HenryClaude [Hg.]: Le Rêve d’une ville (Ausstellungskatalog), Musée des Beaux-Arts de Nantes 1994, Nantes 1994, S. 261-290, S. 290, Fußnote 1. Claude Cahuns Brief an Charles-Henri Barbier vom 21. Januar 1951, zitiert nach: Leperlier (1994), a.a.O., S. 264. Leperlier (1994), a.a.O., S. 264; dieser Satz wird von Colvile zitiert in: Colvile, Georgiana: Je est un(e) autre: structures de l’anorexie dans les autoportraits de Claude Cahun, in: Mélusine 18 (1998), S. 252-260, S. 254. Vgl. Leperlier (2006), a.a.O., S. 25f.
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Natur; dafür ergänzt Leperlier seine Behauptung um die Annahme, Cahuns Krankheit spiegele sich in ihren Selbstportraits wider, was für die Argumentation dieser Arbeit von essenzieller Bedeutung ist: Nous insisterons sur l’extrême complexité de la relation intrapersonnelle, sur le déni du corps propre et de la différence sexuelle qui peuvent être associés à une forme caractérisée d’anorexie mentale dont les prolongements psychosomatiques seront considérables, autant sur le plan morphologique que fonctionnel. À sa manière, elle saura en tirer parti dans ses autoportraits photographiques.25 Georgiana Colvile und Florence Brauer sind weitere Forscherinnen, die sich Ende der 90er-Jahre explizit mit Claude Cahun und dem Thema Anorexie beschäftigten. Während François Leperlier feststellte, dass eine Anorexie in Cahuns Selbstportraits erkennbar sei, entwickelten die Autor_innen – und hier insbesondere Georgiana Colvile, eine französische Literaturwissenschaftlerin, die sich in ihrer Forschung auf Frauen im Surrealismus konzentriert – diese Erzählung fort, indem sie weitere Texte Cahuns und vor allem bestimmte ihrer Selbstportraits einbezogen. Colvile beruft sich in dieser Hinsicht auf Leperlier und seine Kenntnis des Briefs von Cahun an Charles-Henri Barbier.26 Sie teilt die Ansicht Leperliers, Cahuns Erkrankung sei aus den Selbstportraits ablesbar. Mit dem Einfließen zeitgenössischer Theorien über die Anorexia nervosa erhielt der anorektische Körper Cahuns, der mit dieser Erzählung entstand, weitere Konturen.
Anorexia nervosa Für das Verständnis von Cahuns anorektischem Körper ist es von Bedeutung, dass die Analysen und Behauptungen in den 90er-Jahren entstanden sind, als die Anorexia nervosa ein Thema war, das in mehreren Forschungsfeldern rege diskutiert wurde. Wenngleich sich noch Anfang der 60er-Jahre kaum je-
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Ibidem. Colvile bezieht sich auf folgende Stelle: Leperlier (1994), a.a.O., S. 290, Fußnote 1; vgl. Colvile, Georgiana: Self-Representation as Symptom. The Case of Claude Cahun, in: Smith, Sidonie; Watson, Julia [Hg.]: Interfaces: Women, Autobiography, Image, Performance, Michigan 2002, S. 269f.; vgl. Colvile, Georgiana: Je est un(e) autre: structures de l’anorexie dans les autoportraits de Claude Cahun, in: Mélusine 18 (1998), S. 252-260, S. 254.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
mand für die Krankheit Anorexie interessiert hatte,27 wurde sie Ende 70erJahre und vor allem in den 80er- und 90er-Jahren zu einem wichtigen Gegenstand mehrerer Diskurse. Fiel sie in den 70er-Jahren vor allem in den Bereich der Psychiatrie, so richtete sich das Interesse nun vermehrt auf soziokulturelle Faktoren, die in Zusammenhang mit der Krankheit gebracht wurden; die Ätiologie der Anorexie wurde schließlich um soziologische und feministische Perspektiven erweitert. Im Jahr 1873 war das Krankheitsbild der Anorexie durch die Mediziner William Gull und Ernest-Charles Lasègue als eine psychische Störung, die zu einer verminderten Nahrungsaufnahme und zu extremer Abmagerung (Kachexie) führte, unter dem Namen Anorexia nervosa beziehungsweise Anorexia hysterica (gr. orexie Esslust, Verlangen nach Nahrung) beschrieben worden.28 Seitdem war die Anorexie, die in den Beschreibungen vor allem Frauen betraf, als »individuelle Devianz« gedeutet worden.29 Etwa 100 Jahre später, nachdem die Anorexia nervosa in westlichen Gesellschaften seit den 60er-Jahren plötzlich vermehrt diagnostiziert worden war, kam es nun mit einigen Studien, die sich mit der Magersucht beschäftigten, zu so etwas wie einem »social turn«30 . Denn anstatt die Krankheit alleine aus der Psyche der Patient_innen zu erklären, wurde die soziokulturelle Umgebung der Patient_innen vermehrt und auf unterschiedliche Weise in Betracht gezogen. Ende der 60er- und während der 70er-Jahre entstanden die entsprechenden Untersuchungen und Erklärungen vorrangig im biomedizinischen und psychologischen Bereich, wo die Autor_innen selbst in die Behandlung der Betroffenen involviert waren. Die sozialen Faktoren in der Entwicklung der Anorexia nervosa wurden zuerst in der spezifischen Familiendynamik gesucht, der Schwerpunkt lag auf den Verhältnissen und Konflik-
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Vgl. MacSween, Morag: The Anorexic Body: A Feminist and Sociological Perspective On Anorexia Nervosa, Dissertation University of Glasgow, Glasgow 1989, S. 1. 1873 benutzte Ernest-Charles Lasègue den Namen »Anorexia hysterica« bezüglich eines Phänomens der Nahrungsverweigerung, das eine psychische Störung zur Ursache haben sollte. Fast zeitgleich verwendete William Gull dieselbe Bezeichnung. Bereits 1868 hatte Gull die Krankheit »Apepsia hysterica« als eine hysterische Erkrankung beschrieben, die den Pepsin-Haushalt beinträchtigt und auf diese Weise eine Kachexie hervorruft. 1873 änderte Gull die Benennung zunächst in »Anorexia hysterica« und später in »Anorexia nervosa«, allerdings noch bevor, so versicherte er, er die Schriften von Lasègue zur Kenntnis genommen hatte. Vgl. Hepworth, Julie: The Construction of Anorexia Nervosa, London 1999, S. 38-43 u. MacSween (1989), a.a.O., S. 15-19. Vgl. MacSween (1989), a.a.O., S. 33. Vgl. ibidem, S. 1-7.
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ten innerhalb der Kernfamilie.31 Wichtige Arbeiten im hiesigen Zusammenhang stammen von Hilde Bruch, Arthur Crisp und von Mara Palazzoli. Die Psychiaterin Hilde Bruch, um hier ein sehr einflussreiches Beispiel anzuführen, konzentriert sich auf das Mutter-Tochter-Verhältnis, wobei sie die Probleme im Zusammenhang mit einer besonderen Dominanz der Mutter sieht. Bruch spricht von einer ungeeigneten Qualität der mütterlichen Fürsorge, wenn die Mutter dem Kind ihren Willen aufdrängt.32 Anorektische Personen werden von Bruch als Personen dargestellt, die es von klein an gewohnt gewesen seien, den Wünschen anderer zu entsprechen, und selbst quasi eine Spiegelung der Wünsche der anderen sind. Da sie nicht zwischen den Wünschen der anderen und eigenen Wünschen differenzieren könnten, seien sie schließlich auch gegenüber den Einflüssen der Kulturindustrie nicht resistent.33 Bruch deutet die Betroffenen meist als Personen, die nicht imstande sind, ihre eigenen Bedürfnisse und Begehren zu akzeptieren beziehungsweise dies nicht wollen und die Minimierung der Nahrungsaufnahme als ein Werkzeug und als einen Beweis ihrer Unabhängigkeit und Autonomie verstehen.34 Die Essensverweigerung wird als eine Reaktion auf einen Stimulus angesehen, als Abwehrmechanismus, der über die Wiedererlangung der Kontrolle über den eigenen Körper funktioniert. Die Probleme, die nun nicht mehr aus der magersüchtigen Person selbst heraus erklärt wurden, wurden nun als ein Problem der westlichen Kernfamilien aufgefasst. In den Analysen wurden oft psychoanalytische Erklärungsmuster angewendet, um Familiendynamiken zu erklären. Insbesondere waren die Schriften Sigmund Freuds in diesen Jahren einflussreich.35 Es wurde mit dem spezifischen Modell des familiären Dreiecks (Mutter, Vater, Kind) gearbeitet, dessen Struktur ein entscheidender Einfluss auf die psychosexuelle Entwicklung und auf die Persönlichkeit zugesprochen wurde. Anorexie-Patient_innen wurden als Opfer sozialer, hier familiärer, Strukturen dargestellt, die für individuelle Störungen der Psyche verantwortlich gemacht wurden. Jene Studien, die mit psychoanalytischen Modellen arbeiteten, legten ihr Augenmerk auf die Ängste der Betroffenen, die mit einem sexuellen Hintergrund erklärt wurden. Der psychoanalytische Zugang wurde oft kritisiert, beispielsweise von Noelle Caskey, 31 32 33 34 35
Vgl. ibidem, S. 31. Vgl. Bruch, Hilde: The Golden Cage. The Enigma of Anorexia Nervosa, Harward 2001 [1978], S. 40. Vgl. ibidem, S. 42-45. Vgl. ibidem, S. 40-42. Vgl. Hepworth (1999), a.a.O., S. 48ff.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
auf die sich übrigens die Analyse von Georgiana Colvile stützt, die auf das Vergessen psychosozialer Einflüsse und die Überbetonung der psychosexuellen Entwicklung des Kinds hinwies.36 In den 80er-Jahren wurde ein breiteres soziokulturelles Feld, das über die Institution der Familie hinausgeht, immer bedeutender, wobei feministische Argumentationen im Zusammenhang der Untersuchungen des Phänomens der reduzierten Nahrungszufuhr immer mehr Raum einnahmen. Dabei wurden psychoanalytische Begriffe und die Ergebnisse früherer Studien – und hier insbesondere die von Hilde Bruch vorgeschlagene Erklärung – keinesfalls gänzlich verworfen, oft fungierten sie als Grundlagen, auf denen neue Erkenntnisse ausgearbeitet wurden. Im Verlauf der 80er-Jahren erschienen neben psychologischen Studien, wie denen von Susie Orbach oder Marilyn Lawrence, die die Sicht um nichtnormative Sexualitäten und nicht-weiße Perspektiven erweiterten, auch Studien, die durch eigene Erfahrungen motiviert waren, beispielsweise von Naomi Wolf.37 Zudem trug Susan Bordo eine philosophische Reflexion bei, die in der Diskussion sehr einflussreich war.38 Die feministisch orientierte Forschung überschritt die individuelle und familiäre Ebene, um sich Frauen als einer sozialen Gruppe zuzuwenden. Ein großer Unterschied in der Sicht auf die Anorexie war die Auffassung des Geschlechts als soziale Konstruktion und nicht als biologisch determinierte Kategorie. Die Familie und die Ungleichbehandlung der Frau wurden kritisch betrachtet, als ein Ergebnis spezifischer Machtverhältnisse, die westliche Gesellschaften seit langem prägten – hier lag ein wichtiger Unterschied zu den früheren Studien aus den 70er-Jahren. Ähnlich wie schon bei Hilde Bruch wurde die Verweigerung der Nahrung sehr oft als Protest, als eine rebellische Geste von Frauen gegenüber den sozialen Verhältnissen, aufgefasst. Dünnsein wurde hier nicht als das alleinige Ziel beschrieben, sondern als ein Resultat der Kontrolle über den weiblichen Appetit. Die Anorexie wurde zu einem Protest, zu einer Ermächtigung von Frauen gegenüber patriarchalen gesellschaftlichen Konditionen, in denen Frauen auf diese Weise zugerichtet wurden. So schreibt beispielsweise Susie Orbach: »There is an ur-
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38
Vgl. Caskey, Noelle: Interpreting Anorexia Nervosa, in: Suleiman, Susan Rubin [Hg.]: The Female Body in Western Culture, Cambridge 1988, S. 175-189, S. 180. Vgl. Orbach, Susie: Hunger Strike. The Anorectic’s Struggle As a Metaphor For Our Age, London 1986; Wolf, Naomi: The Beauty Myth. How Images of Beauty are Used Against Women, New York 1990. Vgl. Bordo, Susan: Unbearable Weight. Feminism, Western Culture, and the Body. Berkeley 1993.
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gency and a strength in the refusal to eat«39 . Im Gegensatz zu Susie Orbach oder Marliyn Lawrence sah Susan Bordo allerdings in diesem Protest keine Ermächtigung, sondern eher eine Illusion des Erlangens von Kontrolle, da die Essensreduzierung zum Zwang wird und sich letztlich der Kontrolle der anorektischen Person entzieht. Die Nahrungsverweigerung ziehe nach sich, dass die betroffenen Personen sich zu Wesen machen, die Hilfe brauchen und alles andere als stark seien.40 Diese Wahl, die zum Teil als Rebellion beschrieben wird, wird daher von Bordo eher als eine Unterwerfung interpretiert. Ähnlich desillusioniert sieht die Anorexie Morag MacSween, die den Hunger einer anorektischen Frau zugleich als etwas, das von außen kommt und abgewehrt werden muss, und als etwas, das aus ihrem Inneren kommt, auffasst.41 Den Hunger, das Verlangen, versteht MacSween als Abwehr gegen die kulturelle Konstruktion der Weiblichkeit, allerdings sieht sie diese Abwehr als einen utopischen Kampf: »She continues to elaborate her rituals of denial in a never-ending spiral, and can never finally or securely reaches [sic!] the place where, with personal control of her body as an object, she might begin to act as a subject. The anorexic sees hunger as an alien, as body, because self (male) has no appetite and no body«42 . Entsprechend der Krankheitserklärung wird die Therapie ebenfalls anders gedacht, die Änderungen der gesellschaftlichen Strukturen voraussetze.43 Eine unter vielen Wissenschaftler_innen, die in den 80er-Jahren über die Anorexie nachdachten, ist Noelle Caskey, deren Schriften sich deutlich in den Cahun-Diskurs eingeschrieben haben. Caskey selbst hat nicht viel über die Anorexie veröffentlicht, es ist vor allem ihr Aufsatz Interpreting Anorexia Nervosa, der viel gelesen wurde.44 In diesem Aufsatz legt sie eine gewisse Unzufriedenheit mit dem psychoanalytischen Zugang zur Anorexie an den Tag, der kulturelle Faktoren und eventuelle kognitive Störungen vernachlässige. Diese Lücke gedenkt Caskey mit Überlegungen von Carl Gustav Jung zu füllen.45 Caskey versteht die Anorexie als »thought disorder«46 , denn was den Essensverweigernden meistens widerfahre, sei eine Störung in der Betrachtung
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Orbach (1986), a.a.O., S. 83. Vgl. Bordo (1993), a.a.O., S. 160 u. 175f. Vgl. MacSween (1989), a.a.O., S. 355 u. 360f. Ibidem, S. 360. Vgl. ibidem, S. 366; Bordo (1993), a.a.O., S. 31. Vgl. Caskey (1988), a.a.O. Vgl. ibidem, S. 175. Ibidem, S. 181.
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beziehungsweise im Denken des eigenen Körpers. Die_der Erkrankte könne ihren Körper, der immer vor dem Hintergrund der Vision eines Wunschkörpers gesehen werde, und seine Formen nicht richtig wahrnehmen und beurteilen. Anorektische Frauen, so die Vorstellung Caskeys, imaginieren einen neuen Körper und das Verweigern des Essens soll ihnen dabei helfen, diesen zu erreichen und den aktuellen Körper zu überwinden.47 Zu den möglichen Auslösern der Anorexie rechnet Caskey außerdem dominante und überwältigende Wünsche der Familie beziehungsweise des weiteren Umfelds, die auf die betroffene Person projiziert werden: »The anorexic perceives her body and its appetites as imposing alien necessities against which she rebels, while at the same time experiencing the desires of others towards her as indistinguishable from her own images of desire«48 . Die Wünsche von außen, mit denen sie konfrontiert wird, fließen demnach ein in ein Körperbild, das die Betroffene aufgrund dieser Wünsche kreiert und dem sie folgt, indem sie das Essen verweigert. Das Nacheifern des kreierten Bilds zeige sich beispielsweise in der Verweigerung, Auslöschung und Austreibung der Weiblichkeit durch das Dünnwerden, denn nach Caskey wird das Weibliche meistens mit Fett assoziiert.49 Leperliers Anmerkungen zu Cahuns Anorexie aus den frühen 90er-Jahren wurden zum Ende des Jahrzehnts vor allem durch Georgiana Colvile um zeitgenössische Diskussionen zur Anorexie ergänzt. Colvile war es auch, die bestimmte Selbstportraits Cahuns in ihre Abhandlung zu Cahun SelfRepresentation as Symptom. The Case of Claude Cahun einband. Dabei ging es jedoch kaum um eine kunsthistorische Analyse dieser Fotografien. Cahuns Selbstportraits wurden zur Bühne von Cahuns fortschreitender Anorexie. Noelle Caskey folgend schreibt Georgiana Colvile von einem Selbstbild, das die Kranken von sich kreieren und kultivieren, und diesen Prozess sieht sie eng verbunden mit der Person des Vaters.50 Colvile nimmt Caskeys Erklärung der Anorexie als Prozess des Kreierens eines Bilds beim Wort und beschreibt das fotografische Schaffen von Cahun überhaupt und insbesondere die Inszenierungen in ihren Selbstportraits als solche Akte: »Je vais donc tenter de démontrer ici comment diverses structures de l’anorexie mentale se dégagent du corpus iconographique des autoportraits de Claude Cahun«51 . Das Genre 47 48 49 50 51
Vgl. Colvile (2002), a.a.O., S. 271. Caskey (1988), a.a.O., S. 179. Vgl. ibidem, S. 175-178. Vgl. Colvile (2002), a.a.O., S. 271. Colvile (1998), a.a.O., S. 254.
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des Selbstportraits und die implizite Tätigkeit des sich selbst Fotografierens, die Colvile mit der Überzeugung das Selbst fotografisch »festzuhalten« verbunden sieht, seien auf ein Verlangen nach Auslöschung des Selbst und gleichzeitig auf das Verlangen nach Errichtung eines neuen Selbst zurückzuführen.52 Für Colvile ist Cahuns permanente Inszenierung des Selbst, Cahuns vermeintliche Tätigkeit des Selbstporträtierens, ein krankheitsbedingter Akt des Kreierens eines neuen Bilds des Selbst. Das fotografische Selbstportrait wird hier einerseits als eine Therapie des Zu-sich-Kommens verstanden und andererseits auch als ein Mittel eine neue, gewünschte Identität, die als inneres Bedürfnis geschildert wird, zu erlangen.53 Es ist einerseits Ausdruck einer Arbeit der Gestaltung des Selbst, wo sich das Selbst aktiv an der Kreation des Selbst beteiligt; anderseits wird das Selbstportrait als ein visueller Verweis auf das wahre, kranke und verletzte Selbst von Cahun beschrieben. Das fotografische Selbstportrait wird als ein Mittel der Stabilisierung des unstabilen Selbst dargestellt und zugleich fungiert es paradoxerweise als Beweis für die Krankheit. In ihren Ausführungen konzentriert sich Colvile vor allem auf ein bestimmtes Selbstportrait (Abb. 34). Es handelt sich hier um ein Portrait aus dem Jahr 1919, worauf Cahun im strengen Profil zu sehen ist. Ihre helle Haut und ihr kurzrasiertes helles Haar heben sich deutlich ab vom dunkel gehaltenen Hintergrund und vom dunklen Cord-Sakko, den sie trägt. Die Hände hält sie verschränkt auf der Brust, nur die Finger ihrer linken Hand sind sichtbar. Ihren Oberkopf hervorhebend und die Gesichtsoberfläche durch Schatten modellierend, fällt das Licht von oben rechts ins Bild. Der Hinterkopf löst sich fast vollständig im Dunklen auf. Besonders interessant wird dieses Selbstportrait, wenn man von der Existenz eines Portraits von Maurice Schwob, Cahuns Vaters, weiß (Abb. 35).54 Dieses ähnelt dem oben beschriebenen Selbstportrait im Arrangement, in der Pose und in der Inszenierung sehr. Es gibt nur kleine Details, die die Fotografien unterscheiden und bei flüchtiger Betrachtung leicht übersehen werden können. Die Haltung der Hände ist anders, die Beleuchtung ist greller und die Blickrichtung der beiden ist unterschiedlich. Der Oberkörper von Maurice Schwob füllt den Kader sehr dicht aus und scheint den Rahmen zu 52 53 54
Vgl. ibidem. Vgl. Colvile (2002), a.a.O., S. 271. Laut Colvile ist dieses Portrait circa ein Jahr später, im Jahr 1920, aufgenommen worden. Allerdings deutet ihre Interpretation dieser beiden Fotografien darauf hin, dass sie doch davon ausgeht, dass das Portrait von Maurice Schwob früher entstanden war als das von Cahun. Vermutlich ist ihr bei der Datierung ein Fehler unterlaufen.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
Abbildung 34: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1920, Schwarz-Weiß-Fotografie
überschreiten, wogegen Claude Cahun schmal wirkt und den Rahmen nicht berührt. Diese Unterschiede sind zwar ersichtlich, dennoch überwiegen beim Vergleichen dieser Portraits die Ähnlichkeiten. Bei der Interpretation dieses fotografischen Selbstportraits, beziehungsweise des Portraits im Falle von Maurice Schwob, folgt Colvile eng den Ausführungen Noelle Caskeys. Nach Caskey versuchen die meisten anorektischen Personen das sie nicht zufriedenstellende Eigenbild mit einem anderen zu ersetzen – und dieses sei meistens das Bild des Vaters.55 Hier beruft sich Caskey auf die psychoanalytische Theorie und führt den Begriff des »psychic 55
Vgl. Colvile (2002), a.a.O., S. 271.
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Abbildung 35: O. A., Portrait von Maurice Schwob, ca. 1917, Schwarz-Weiß-Fotografie
incest« von Carl Gustav Jung ein.56 Dieser Begriff geht auf Jungs Theorie des Unbewussten zurück, die eine bestimmte innere Einstellung vorsieht, die geschlechtsabhängig ist. Wie Caskey erläutert, heißt diese bei der Frau »Animus« und beim Mann »Anima«57 . Entsprechend der Jung’schen Theorie diktiert der Animus der Frau Meinungen, denn bei der Frau werde von Jung ein
56 57
Vgl. Caskey (1988), a.a.O., S. 185. Vgl. ibidem.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
Mangel an individuellem Denken angenommen. Die Frau wiederholt also unbewusst Denkschemata, die sie meistens vom Vater übernommen hat.58 Mit der Bezeichnung »psychischer Inzest« ist eine unbewusste, seelische Vereinigung zwischen Tochter und Vater gemeint.59 Das Verlangen nach dem Vater gehe nur über das Verstoßen der Mutter und all dem, was mit ihr verbunden sei. Alles, was mit Weiblichkeit assoziiert wird, werde deswegen verweigert.60 Der Vater wird zum verbotenen Lustobjekt und zum Verbündeten: »It is unity with the father against the mother and all that the mother represents«61 . Caskey inkorporiert diese Theorie in die der Anorexia und interpretiert sie gleichzeitig als Verlangen nach einem geistig-inzestuösen Verhältnis mit dem Vater und als verzweifelten Hilferuf an die Mutter.62 Georgiana Colvile übernimmt den Begriff »psychic incest« und wendet ihn auf die oben beschriebene Fotografie Cahuns an: »The image used as a model by the anorexic is usually a male figure, which is interiorized or introjected by the young girl and which she simultaneously projects onto her father, with whom she entertains a form of ›psychic incest‹«63 . Vor allem bringt sie jedoch die Existenz der Fotografie von Cahuns Vater dazu, mit dem psychoanalytischen Modell des »psychic incest« zu arbeiten. Sie beschreibt die Existenz beider Fotografien als eine visuelle Verkörperung der Jung’schen Theorie und stellt sie in Relation zu den Theorien, die um die Anorexia nervosa aufgestellt wurden. Indem Cahun den Vater aus der Fotografie nachahmt, soll sie sich nach Colvile geistig mit ihm identifizieren.64 Cahuns Selbstportrait sei ein Versuch, das verhasste Eigenbild durch das des Vaters zu ersetzen. Wie bereits erwähnt, ist das männliche Vorbild für die meisten anorektischen Frauen nach Caskey der eigene Vater. Das Bild der Frau wird hier, so die Argumentation, mit dem des Mannes ersetzt, was krankhafte Züge aufweise.65 Das Detail aus Cahuns privatem Leben, dass sie ohne Mutter aufgewachsen ist,66 unterstützt für Colvile die Rich58 59 60 61 62 63 64 65 66
Vgl. ibidem. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem. Ibidem, S. 187. Vgl. ibidem, S. 188. Colvile (2002), a.a.O., S. 271. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem, S. 265. Die Forschung berichtet über zahlreiche Aufenthalte von MarieAntoinette Courbebaisse, Cahuns Mutter, in Krankenhäusern und Sanatorien aufgrund psychischer Probleme. Vgl. Doy (2007), a.a.O., S. XV; Chaigne, Marion; Lebossé, Claire: Repères chronologiques, in: Claude Cahun et ses doubles (Ausstellungskatalog), Musée
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tigkeit der Zusammenführung der Anorexie mit der Jung’schen Theorie und mit Cahuns Selbstportraits und es ist für sie ein klarer Grund für die Entwicklung einer Anorexie bei Cahun.67 Das Fehlen der Mutter, die ohnehin nie eine gute Mutter gewesen sein soll, weil sie kaum für ihre Tochter da war, war nach Colvile ein Mangel, der die Krankheit verursacht haben und durch die innige Vereinigung mit dem Vater ersetzt worden sein soll.68 Der psychische Inzest, das Verlangen nach dem Vater, erfolge über das Verstoßen der Mutter und alldem, was mit ihr verbunden sei.69 Alles, was mit Weiblichkeit assoziiert wird, wird demnach verweigert. Der Vater wird zum verbotenen Lustobjekt und zum Verbündeten. Für Colvile wird dieses anorektische Begehren nach Veränderung in der Tätigkeit der Verkleidung sichtbar.70 Verkleidung meint hier die Beseitigung des Weiblichen im Äußeren einer Frau. Im Oeuvre von Cahun macht Colvile allerdings auch solche Bilder aus, die die gesunde Künstlerin zeigen. Sie bezieht sich insbesondere auf ein Bild, das vor ihrer vermeintlichen Erkrankung gemacht wurde.71 Bei diesem Bild, das auf das Jahr 1917 datiert wird, handelt es sich um ein Kopfportrait (Abb. 36). Es zeigt Cahun en face mit einem entschiedenen Blick nach vorne. Ihre dunklen, lockigen Haare sind fast vollständig unter einer stoffreichen Kopfbedeckung, die an einen Turban erinnert, versteckt, nur einige Strähnen kommen an der Stirnseite hervor. Ihre Kopfbedeckung ziert eine große repräsentative Brosche. Colvile beschreibt diese Fotografie auf folgende Weise: One of Claude Cahun’s earliest self-portraits (1917) [.] shows her as a ›normal‹ young girl with a fine head of hair and healthy cheeks; yet like other early portraits it inevitably includes a subversive detail, here a large brooch seemingly pinned to her forehead and an aggressively intense gaze, that already begins to suggest her rebellious tendencies.72 Das im Vergleich zu späteren Selbstportraits rundlichere Erscheinungsbild Cahuns bezeugt für Colvile, dass Cahun nicht immer unter Anorexie gelitten hat.
67 68 69 70 71 72
des Beaux Arts de Nantes 2015, Nantes 2015, S. 106-110, S. 106; Leperlier (2006), a.a.O., S. 24. Vgl. Colvile (2002), a.a.O., S. 274. Vgl. ibidem, S. 271. Vgl. Caskey (1988), a.a.O., S. 187. Vgl. Colvile (2002), a.a.O., S. 274. Vgl. ibidem, S. 272f. Ibidem, S. 272.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
Abbildung 36: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1912, Schwarz-Weiß-Fotografie
Für Colvile offenbaren aber auch andere Selbstportraits Cahuns Anorexie. Vor allem jene Bilder, auf denen sich Cahun auf irgendeine Weise verstellt oder inszeniert, werden auf diese Weise gelesen: »The whole process of metamorphosis and transvestism developed in Claude Cahun’s self-portraits emulates that of anorexia«73 . Jene Selbstportraits, die zwischen 1923 und 1930 entstanden sind, zeigen nach Colvile das durch Anorexie bedingte Verlangen nach der Auslöschung des eigenen Körpers und nach dem Ersetzen durch ein
73
Ibidem, S. 271.
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anderes Bild.74 Die permanente Inszenierung des Selbst, Cahuns vermeintliche Tätigkeit der Selbstportraitierung, werden als ein Akt der Bildkreation, der aus ihrer Krankheit resultiert, gedeutet. Die drastische Reduzierung der Nahrungsaufnahme wurde in den Studien zur Anorexia nervosa oft als eine Art Sprache gelesen, als ein Versuch etwas zu kommunizieren; als ein Signal, das sonst nicht anders zu artikulieren wäre.75 Dieser Weg, eine neue Sprache zu suchen beziehungsweise zu erfinden, um eigene Wünsche und Gefühle auszudrücken, kommt, wie Noelle Caskey schreibt, aufgrund einer »communicative disorder« zustande.76 Es handelt sich somit sozusagen um eine Übersetzung in eine andere Sprache, in ein anderes Zeichensystem. Da es den Betroffenen nicht möglich war, über ihre Probleme zu sprechen, versuchen sie es, indem sie das Essen verweigern. Colvile findet diese neue Sprache bei Cahun im Akt des Fotografierens. Die Selbstbildnisse funktionieren für Colvile wie ein Kommunikationsversuch und sie sind es auch – und bemerkenswerterweise nicht die Verweigerung von Nahrung – die von Cahuns vermeintlicher Anorexie sprechen. Die Bilder sind zugleich eine Methode, um Wünsche auszudrücken, also eine Art Therapie, und ein Symptom, ein Hinweis auf die Krankheit. Eine ähnliche Zugangsweise zu Cahuns fotografischen Selbstportraits ist bei Florence Brauer, einer weiteren Forscherin, die in den 90er-Jahren über Cahuns Anorexie geschrieben hat, zu beobachten, die Cahuns Anorexie auch in einer, wie sie es ausdrückt, »distorsion de l’image« erkennt.77 Auch für Brauer ist das Herstellen der fotografierten oder fotomontierten Bilder des Selbst eine Therapie, ja gar eine Art Exorzismus: »La création sera pour elle un moyen thérapeutique, qui du moins lui [Cahun] permettra d’exorcirer un certain malaise identitaire«78 . Beide Autorinnen vertreten die Ansicht, dass die Fotografien nicht nur Symptome sind, sondern auch die Komplexität der Erkrankung widerspiegeln.79 In beiden Analysen werden die Selbstportraits zum Medium, das Cahuns Anorexie und ihren Körper vermittelt.
74 75 76 77
78 79
Vgl. ibidem, S. 274. Vgl. Caskey (1988), a.a.O., S. 178 u. 181. Vgl. ibidem, S. 178. Vgl. Brauer, Florence: L’Amer/La mère chez Claude Cahun, in: Colvile, Georgiana; Conley, Katherine [Hg.]: La Femme s’entête. La part du féminin dans le surréalisme, Paris 1998, S. 117-125, S. 119. Ibidem, S. 120. Vgl. Colvile (2002), a.a.O., S. 270ff.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
Die Frage, die sich an diesem Punkt auftut, ist, wie es den Forschenden eigentlich möglich war, die Anorexie post mortem zu diagnostizieren. Um diesen Fragen nachzugehen, möchte ich am Anfang des nächsten Abschnitts einen kurzen Exkurs zu Judith Butlers Gedanken über die Fotografien von Abu Ghraib und die Kriegsfotografie unternehmen.80 Denn ihre Ausführungen erachte ich als einen guten Startpunkt für weitere Überlegungen hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen der bestimmten Wahl der Fotografien Cahuns, dem Thema der Anorexie und dem Verlangen nach Wissen über Cahuns Körper.
Gerahmte Körper Ob als Bild, als Beweis, als historische Quelle, als Sprache oder als Kunstwerk – fotografische Bilder werden auf unterschiedliche Weisen benutzt und gelesen. In Bezug auf die Bilder von Claude Cahun lässt sich besonders in den frühen Untersuchungen der 90er-Jahre beobachten, wie ihre Selbstportraits nicht nur als künstlerische Arbeiten gelesen wurden, sondern, wie oben ersichtlich wurde, auch als biografische Spuren. Judith Butler geht in ihrem Aufsatz Torture and the Ethics of Photography: Thinking with Sontag der Frage nach, wie die Art und Weise, wie etwas dargeboten wird, beeinflusst, wie dieses etwas sich auf unsere Ansprechbarkeit (responsiveness) auswirkt.81 Die Frage danach, wie aktuelle Kriege, konkret geht es um den Irakkrieg unter George W. Bush, in den Massenmedien dargestellt werden und nach den Mechanismen, die dazu führen, dass etwas, und hier insbesondere ein fotografisches Bild, Realität genannt wird, stellt den Ausgangspunkt der Überlegungen von Butler dar. Angeregt hatte Butlers Reflexion Susan Sontags Beschreibung der Fotografie als »partial ›imprint‹ of reality«, der auf der Ebene des bloßen, fragmentarischen Fakts verbleibt und das Gezeigte nicht interpretiert.82 Butler zitiert in diesem Zusammenhang folgenden Textausschnitt aus Sontags Buch Regarding the Pain of Others: while a painting, even one that achieves photographic standards of resemblance, is never more than the stating of an interpretation, a photograph is 80 81 82
Vgl. Butler, Judith: Frames of War. When is Life Grievable?, London/New York 2010, S. 63100. Vgl. ibidem, S. 63. Vgl. ibidem, S. 66f.
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never less than an emanation (light waves reflected by objects) – a material vestige of its subject in a way that no painting can be.83 Für Sontag ist eine Fotografie lediglich eine Spur dessen, was fotografiert wurde, ein Ausschnitt, dem es an jeglicher narrativer Kohärenz mangelt.84 Dementsprechend wäre eine Fotografie ein Rahmen, der unter anderen von der Wahl des Kaders abhängt. Auf der Ebene der Kadrierung lokalisiert Sontag die Interpretation, deren Trägerin eine Fotografie sei, an sich allerdings interpretiere eine Fotografie nicht.85 Für Butler ist eine Fotografie ebenfalls Rahmen, jedoch anderer und nicht ausschließlich fotografischer Art. In einer Fotografie können nämlich mehrere Rahmen wirken und die Rahmungen, von denen Butler spricht, finden sowohl im Bild selbst als auch noch vor der fotografischen Rahmung statt.86 Dadurch ist mit einer Fotografie ein »Interpretieren im Voraus« verbunden, das, wie im Falle der US-Kriegsberichterstattung, so ausgeprägt sein kann, dass es sich wesentlich auf die Bewertung des Lebens auswirkt.87 Derartige Interpretationen werden von hegemonialen gesellschaftlichen Ordnungen gestaltet und sie konstituieren sowohl die fotografischen Rahmen selbst als auch deren Rezeption.88 Jedoch ist diese Art der Interpretationen nicht als ein rein subjektiver und bewusster Akt aufzufassen.89 Eine Fotografie ist für Butler eine Bühne, auf der Interpretationsakte auf unterschiedlichen Ebenen interagieren, sie nennt die Fotografie eine »structuring scene of interpretation«90 . Während des Betrachtens wird das fotografische Bild dann nicht so sehr als ein Ausschnitt wahrgenommen, wie es Susan Sontag möchte, sondern es erscheint eher als eine informatives Ganzes. Es ist die Fotografie, in der die Informationsbildung stattfindet. Die Quelle der Information ist allerdings nicht alleine die Fotografie oder das Fotografierte. Das fotografische Bild ist für Butler etwas Zugerichtetes, etwas, das eine Interpretation durchlaufen hat, in die beispielsweise gesellschaftliche Ordnungen implementiert sind. Die Lesevorgänge dieser Interpretationen sind Prozesse, die nicht immer
83 84 85 86 87 88 89 90
Susan Sontag zitiert nach Judith Butler, ibidem, S. 66f. Vgl. ibidem, S. 67. Vgl. ibidem, S. 66f. Vgl. ibidem, S. 73ff. Vgl. ibidem, S. 66. Vgl. ibidem, S. 72. Vgl. ibidem, S. 67. Vgl. ibidem, S. 67 u. 74.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
bewusst erfolgen.91 Das als wahr eingestufte Gezeigte wird nicht passiv rezipiert, sondern es regt in seinem spezifischen Zusammenhang dazu an, in einer bestimmten Weise gelesen zu werden. Die Leseweise einer Fotografie hängt nicht alleine davon ab, was eine Fotografie darstellt, sondern auch davon, in welchem Kontext gelesen und gezeigt wird. Aus diesem Grund nennt Butler das, was eine Fotografie darstellt, die als ein Beweis präsentiert wird (beispielsweise Kriegsfotografien des Embedded Journalism), nicht einfach das Repräsentierte, sondern das Repräsentierbare, etwas also, das sich in hegemoniale Normen und Ordnungen einfügt, in denen es agiert.92 Das Fotografierte, das als Beweis fungiert, ist sozusagen schon für die fotografische »Repräsentation« ausgearbeitet und vorbereitet und deswegen erkennbar, es ist kaum willkürlich oder zufällig. Eine Anerkennung der Ordnungen, in denen etwas als Norm gilt, ist Voraussetzung für das Erkennen in einer fotografischen Darstellung. Beispielsweise stellen Fotografien keine bloßen Körper dar, sondern Körpervorstellungen und Körperurteile, deren Grundlage gesellschaftliche Diskurse und Strukturen sind, die dann als normal, schön, hässlich oder krank gedeutet werden. Diese Interpretationen sind keine rein subjektiven und spontanen Urteile. Denn darüber, was beispielsweise in einem bestimmten kulturellen Feld als menschlicher Körper zählt und als solcher repräsentierbar ist, ist schon entschieden – und zwar noch bevor fotografisch eingerahmt wird. Der Inhalt einer Fotografie wird als real gelesen, weil sie mit bekannten und anerkannten visuellen Zeichen operiert, wobei ihre Geschichtlichkeit unsichtbar bleibt. Auf diese Weise hat ein fotografisches Bild, wie Butler unterstreicht, Anteil an naturalisierenden Operationen, die beispielsweise darüber entscheiden, wer als Mensch zählt und wer nicht oder welches Leben betrauert wird und welches nicht.93 Auf das Repräsentierbare üben Fotografien wiederum einen naturalisierenden Effekt aus. In einer Fotografie sind nach Judith Butler soziale und politische Rahmen am Werk, die einer bestimmten Ordnung zugehören und die Interpretation dieser Fotografie strukturieren. Fotografien zeigen nicht einfach das, was sich damals vor dem Objektiv befand, sondern sie sind geprägt von bestimmten Interpretationen der Welt, die beim Betrachten als wahre und unvermittelte Realität oder eben, im Gegenteil, als unwahr eingestuft werden:
91 92 93
Vgl. ibidem, S. 72f. Vgl. ibidem, S. 73f. Vgl. ibidem, S. 77.
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Even the most transparent of documentary images is framed, and framed for the purpose, carrying that purpose within its frame and implementing it through the frame. If we take such a purpose to be interpretative, then it would appear that the photograph still interprets the reality it registers, and this dual function is preserved even when it is offered as ›evidence‹ for another interpretation presented in written or verbal form.94 Das was fotografisch eingerahmt wird, ist in gewisser Weise schon in anderen Rahmen gerahmt. Fotografien wirken nach Butler also nicht einfach nur auf der Ebene des Affekts, wie Susan Sontag schreibt, sondern auch auf einer kognitiven Ebene, die über die Anerkennung einer Ordnung funktioniert.95 Diese instituiert den Realitätscharakter des Abgebildeten und legitimiert das, was innerhalb geltender Ordnungen entsteht. Die Operationen der nicht-fotografischen Rahmung eines fotografischen Bilds finden in aller Stille statt; sie agieren leise und unbemerkt, hinter dem Gezeigten verschwindend. Dabei ist das, was auf einer Fotografie erkannt, benannt oder in ihr gelesen wird, den Bildern nicht einfach inhärent, denn fotografische Bilder haben keine selbstverständliche und feststehende Aussage. Die Aussagen hängen von komplexen Gefügen diskursiver Rahmungen ab, die in diesen Bildern wirken, wenn sie unter bestimmten Bedingungen gezeigt, beschrieben oder gelesen werden. Obgleich die Bildwahl, wie im Falle der Aufnahmen des Embedded Journalism, erheblich durch die Absichten der Fotograf_in und die Auftraggeber_in strukturiert sein kann, geht sie über deren Intention hinaus. Die fotografische Rahmung lebt fort und transformiert mit unterschiedlichen Anordnungen des Betrachtens und des Zeigens. Wenn Cahuns Selbstporträt im Cord-Sakko (Abb. 34) als ein Bild ihrer Anorexie präsentiert wird oder eben eine Fotografie Cahuns mit vollem, langem Haar und runderen Gesichtszügen als ein Bild gelesen wird, das sie noch vor ihrer Anorexie zeigt, dann ist die Wahl der Fotografien unabdingbar mit einer bestimmten zeitgenössischen Auffassung der Anorexie und mit ihr verbundenen Diskursen verknüpft, selbst wenn die Interpretationen bezüglich der Ursachen von Cahuns Anorexie in der Forschung unterschiedlich ausfallen. Julie Hepworth zufolge kann die Anorexia nervosa nicht losgelöst von anderen, schon etablierten Diskursen, wie den Diskurs der Frau oder Diskursen psychischer Krankheiten, gedacht werden.96 Die Verfangenheit in 94 95 96
Ibidem, S. 70. Vgl. ibidem, S. 98. Vgl. Hepworth (1999), a.a.O., S. 6.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
bestimmten Vorstellungen von der Frau hatte erheblichen Einfluss darauf, welche Fotografien in den Erzählungen über ihre Anorexie mitwirkten. So wird das erwähnte Selbstbild im Cord-Sakko als ein besonders gutes Beispiel für »Entweiblichung« durch Cross-Dressing präsentiert. Cahun sei dort sehr maskulin, jeglichem Zeichen der Weiblichkeit beraubt – es finde sich »aucune trace du sujet féminin«97 . Darin und besonders auch dann, wenn Cahuns »Verkleiden als Mann« als »Sich-hässlich-Machen« beschrieben wird,98 kommen gesellschaftlich tief verankerte Rahmungen der intelligiblen Weiblichkeit zum Ausdruck: Schönheit wird mit einem abgerundeten Erscheinungsbild und langem Haar verbunden, ein rasierter Kopf und eine magere Statur auf der anderen Seite mit ihrem Gegenteil. Auch in der Argumentationsstrategie der Cahun-Forschung, die sich einer Gegenüberstellung von Selbstportraits der gesunden und kranken Cahun bedient, wird die Vorstellung eines »natürlichen« und damit auch »richtigen« Körpers einer Frau markiert, die im westlichen Diskurs seit Mitte des 18. Jahrhunderts tief verankert ist.99 In den Leseweisen der Forschung, die die Erzählung von Cahuns Anorexie unterstützen, wirken Diskurse, die den menschlichen Körper betreffen, seine Formen, sein Befinden, und Annahmen darüber, wen sie_er liebt und wie sie_er lebt. Die Wahl der Fotografien, die in diesen Texten die These von Cahuns Anorexie unterstützen, sind von bestimmten gesellschaftlichen Rahmungen geleitet, die die intelligiblen Konturen einer anorektischen Frau umreißen, in denen sie erscheint, fühlt und handelt, von Rahmungen, die keinesfalls mit dem bewussten Tun Cahuns zusammenfallen. Die Verbindung von Leperliers Schilderung von Cahun als anorektische Person und wissenschaftlichen Abhandlungen zur Anorexie, insbesondere populären Erklärungsmustern der Psychoanalyse und der analytischen Psychologie, machten die genannten Selbstportraits zu Beweisen und zu Wissensquellen über die Spezifik von Cahuns Erkrankung. In Cahuns Selbstportraits wirken ungeschriebene, aber weitverbreitete Übereinkünfte, wenn sie im Zusammenhang der Beschreibung ihrer Anorexie gezeigt werden. Es war eine spezifische historische Formation von Wissensstrukturen und Konzepten von Krankheit, Weiblichkeit und des Menschen, die in der Diskussion um Cahuns Anorexie ausgehandelt wurde und in der Auswahl der
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Colvile (1998), a.a.O., S. 255. Vgl. Colvile (2002), a.a.O., S. 273f. Vgl. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1996 [1991], insbesondere den zweiten Hauptteil.
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Arbeiten von Cahun wirkte. In Cahuns anorektischem Körper ihrer Selbstportraits tritt die Macht rahmender diskursiver Operationen zutage, denn erst mit ihnen gedacht, können die Bilder von Cahuns Anorexie überzeugen beziehungsweise sie bezeugen. Die Einbindung dieser Bilder in eine bestimmte Narration, hier die der Anorexie, lässt eine spezifische Leseweise zu. Im Zusammenhang der Anorexia nervosa erfüllen die ausgewählten Selbstbildnisse nicht nur die Funktion der Naturalisierung des Repräsentierbaren, das hier der anorektische, un-weibliche Körper der Frau ist, sondern sie zementieren auch die These über Cahuns Anorexie. Die gewählten Selbstportraits agieren innerhalb schon etablierter gesellschaftlicher Diskurse und ihre Rolle ist in erster Linie eine interpretierende und legitimierende und keinesfalls einfach eine bestätigende oder zeigende.100 Diese Fotografien zeigen in diesem Zusammenhang nicht einfach, sondern vielmehr ermöglichen sie in einem bestimmten Kontext eine bestimmte Visualisierung, die auf bestimmte Schlussfolgerungen abzielt. Die Signifikanz dieser Bilder entstand innerhalb einer Pragmatik, einer bestimmten Situation und Anwendung, was nicht bedeutet, dass sie als solche konstant bleibt, denn sie bildet sich auch immer aufs Neue zwischen den Bildern und den Betrachtenden. Butler spricht einer Fotografie eine realitätsstiftende Kraft zu; jedoch sei diese Kraft keineswegs ihr ontologisches Charakteristikum, denn über diese verfüge sie dank der in ihr, in mehrfacher Hinsicht, aktiven Rahmen, die vor allem durch Wiedererkennen funktionieren.101 So wurden beispielsweise die Bilder, auf deren Grundlage Cahun als anorektisch beschrieben wurde, nicht immer und in jeder Studie zu Bildern der anorektischen Cahun. Die Bedeutungen und der Beweischarakter einer Fotografie sind ohne ihre Mitwelt nicht intelligibel, sie bestehen nur in einem bedeutenden Beziehungsnetz. Die fotografische Realität beruht auf einer bestimmten diskursiven Grundlage, sie ist das Erzeugnis einer verknoteten materiell-semiotischen Aktivität. Nur auf diese Weise, nur in ihrer Existenz als eine Verknotung von Rahmungen, eine Verknotung, die sich so nur in diesem einen fotografischen Bild in einer bestimmten Raumzeitlichkeit ereignet, wird eine Fotografie zu einem Beweis, wie im Fall des Bilds Cahuns im Cord-Sakko, das für ihre Anorexie steht. Die Selbstportraits, die in der Diskussion um Cahuns Anorexie mitwirkten, wurden einerseits aufgrund ihrer Übereinstimmung mit damaligen Vor100 Butler konstatiert dies im Hinblick auf die Bilder von Abu Ghraib. Vgl. Butler (2010), a.a.O., S. 66f. 101 Vgl. ibidem, S. 70-77.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
stellungen darüber, was eine anorektische Frau auszeichnet, ausgewählt, eine Wahl, die nicht unbedingt bewusst erfolgte. Diese Bilder wurden allerdings ebenfalls entlang weiterer Rahmen gewählt, die in diesem Zusammenhang nicht weniger wichtig sind. Auf diese Rahmen, die spezifisch mit dem Medium Fotografie verbunden sind, werde ich in Unterkapitel 2.3 eingehen. Zuvor komme ich auf eine andere Erzählung über Cahuns Körper zu sprechen.
2.4
Fotografische (Homo-)Sexualität »Das Benennen setzt zugleich eine Grenze und wiederholt einschärfend eine Norm.«102
2.4.1
Lesbismus denken
Zeitgleich zur Erzählung über den anorektischen Körper Cahuns ist Anfang der 90er Jahre eine weitere Erzählung aufgekommen, die noch viel populärer wurde, nämlich die von der Homosexualität der Künstlerin. Auch zu ihrer sexuellen Orientierung hat sich Cahun jedoch nie explizit geäußert.103 Dabei ist es nicht die Zurückweisung der Behauptung Cahun sei eine Lesbierin an sich, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll, meine Aufmerksamkeit gilt hier, ähnlich wie im Fall der Erzählung über Cahuns Anorexie, insbesondere der Art und Weise der Einbindung von Cahuns Fotografien in diese Erzählung. Welche Rolle spielten diese Fotografien darin und welche Bedeutung wurde ihnen zugesprochen? Wie wurden sie gelesen und warum richtete sich das Interesse der Forschung, ähnlich wie im Falle der Analysen bezüglich ihrer Anorexie, ausgerechnet auf die Selbstportraits? 102 Butler, Judith: Körper von Gewicht, Frankfurt a.M. 1995, S. 29. 103 Cahun führte regelmäßig briefliche Korrespondenz, woher die meisten Informationen über sie als Privatperson stammen. Beispielsweise sind viele Details über ihre AntiNazi-Propagandaaktionen auf diese Quellen zurückzuführen. Diese geben außerdem Aufschluss darüber, dass sie mit Suzanne Malherbe zusammengelebt hat – die Art der Beziehung wird jedoch in diesen Briefen nicht genannt. Einen guten Überblick über den Briefverkehr von Cahun bietet Maria Charlotte in ihrer Dissertation Correspondances de Claude Cahun: la lettre et l`œuvre. Vgl. Charlotte (2013), a.a.O.; manche Autor_innen merken selbst an, dass Cahun sich nie zu ihrer sexuellen Orientierung geäußert hat, vgl. beispielsweise Monahan, Laurie: Claude Cahuns radikale Transformationen, in: Texte zur Kunst 11 (1993), S. 100-109, S. 107.
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Die Annahme ihrer Homosexualität wurde relativ früh geäußert, eine vorsichtige Andeutung findet sich bei Nanda van den Berg und später erscheint sie in Form einer Feststellung in François Leperliers Text LʼÉcart et la métamorphose.104 Dieses Detail scheint jedoch für die frühe Forschung bis Anfang der 90er-Jahre keine besonders große Rolle gespielt zu haben. Zwar wurde es immer wieder erwähnt, doch wurde es, wie Abigail Solomon-Godeau es ausdrückt, eher als eine Anekdote behandelt.105 Die Aufmerksamkeit richtete sich damals eher auf die Kategorie des Geschlechts. Erst Mitte der 90er-Jahre erregte Cahuns sexuelle Orientierung deutlich mehr Aufsehen. Das Aufkommen von Cahuns Fotografien Ende der 80er-Jahre fällt in eine Zeit, in der die feministische kunsthistorische Forschung von poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Ansätzen geprägt war. Der Einfluss dieser Denkweisen zeichnet sich in den frühesten Analysen von Cahuns Fotografien deutlich ab. Hervorgehoben wird die Unabgeschlossenheit und Instabilität von Geschlecht und Körper, die Cahun mit ihren Bildern vermittelt habe. Beispielsweise werden Cahuns Selbstportraits von Therese Lichtenstein als »contingent and mutable destabilised self-portrait[s]«106 , als »courageous alternative understanding of what it meant to be a woman«107 oder auch als »constant becoming«108 beschrieben. In Claude Cahuns radikale Transformationen adressiert Laurie Monahan sowohl Cahuns Selbstportraits als auch ihre Fotomontagen, in denen vor allem Fragmente ihrer Selbstportraits vorkommen, ebenfalls als einen Ausdruck ihres Willens nach Befreiung aus dem einzwängenden Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit und von Cahuns Positionierung gegen die »›normativen Ideale‹ von Weiblichkeit«109 .110 Sie hebt ihren Mut zur »radikalen Neubestimmung des Subjekts«111 hervor, die sie mit ihren Fotografien angestrebt habe. In den frühen Abhandlungen zu Cahun ist kaum noch die Rede von einer biologisch fundierten Natur der Geschlechter 104 Vgl. Berg, Nanda van den (1990), a.a.O., S. 85; Leperlier (1992), a.a.O., S. 19. 105 Vgl. Solomon-Godeau, Abigail: The Equivocal »I«: Claude Cahun as Lesbian Subject, in: Rice, Shelley [Hg.]: Inverted Odysseys. Claude Cahun, Maya Deren, Cindy Sherman (Ausstellungskatalog), Grey Art Gallery New York/Museum of Contemporary Art Miami 19992000, Cambridge/London 1999, S. 111-127, S. 116. 106 Lichtenstein, Therese: A Mutable Mirror. Claude Cahun, in: Artforum 30:8 (1992), S. 6467, S. 66. 107 Ibidem, S. 65. 108 Ibidem, S. 66. 109 Monahan (1993), a.a.O., S. 103. 110 Vgl. ibidem, S. 103ff. 111 Ibidem, S. 108.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
oder einer weiblichen Essenz. Geschlecht wird als eine gesellschaftliche Konstruktion verstanden, deren Unbeständigkeit in den visuellen Inszenierungen der Selbstportraits zum Ausdruck kommt. Die Inszenierungen Cahuns werden nicht als einfache Umkehrung der Geschlechterrollen aufgefasst, sondern eher als Markierung der Unbeständigkeit und Veränderlichkeit der Begriffe. Mitte der 90er-Jahre vollzog sich mit der Behauptung, es sei ohne die Berücksichtigung ihrer sexuellen Orientierung unmöglich ihre Arbeiten zu verstehen, eine Wende im Schreiben über Cahuns Fotografien – eine These, die sich in erster Linie auf ihre Selbstportraits bezog. Cahuns Sexualität nahm immer mehr Raum in den Analysen ihrer Bilder ein. Die nicht belegte Übereinkunft, dass Cahun ein Lesbierin war, bestand weiter, von nun an wurde allerdings ihre homosexuelle Orientierung und deren Bedeutung für das Verständnis ihrer Arbeiten anders gedeutet. Geführt wurde diese Diskussion besonders in den USA, wo Cahun damals, neben Frankreich, die größte Aufmerksamkeit zukam. Vor dem Hintergrund der Politik der lesbischen Sichtbarkeit der 90er-Jahre verwundert die Aufmerksamkeit, die Cahuns vermeintlicher Homosexualität in den USA geschenkt wurde, jedoch keineswegs. In diesen Jahren gab es ein großes Bemühen verschiedener aktivistischer und künstlerischer Gruppierungen, sich als lesbisch identifizierenden Personen mehr Sichtbarkeit in der Gesellschaft zu verschaffen.112 Auch die Hervorhebung von Cahuns Homosexualität als prägender Faktor ihrer Kunst kann als Teil dieser Politik gesehen werden. Die Debatte um Cahun war von Stimmen initiiert worden, die bisherige Deutungen für die Vermännlichung von Cahun und auch für eine Stereotypisierung des lesbischen Begehrens kritisierten.113 So stört vor allem Laura Cottingham wie Cahuns Selbstportraits beschrieben werden: »Viele suchen ihre Zuflucht darin, Cahuns Widerständigkeit in einen Beweis ihrer ›Männlichkeit‹ zu überführen«114 . Carolyn Dean bedauert, dass bezüglich Cahun aus einer einst subversiven Homosexualität eine fixierte und
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Vgl. Cvetkovich, Ann: Fierce Pussies and Lesbian Avengers: Dyke Activism Meets Celebrity Culture, in: Bronfen, Elisabeth; Kavka, Misha [Hg.]: Feminist Consequences. Theory for the New Century, New York 2000, S. 283-318. Hier sind vor allem Laura Cottingham und Carolyn Dean zu nennen. Vgl. Cottingham, Laura: Betrachtungen zu Claude Cahun, in: Ander, Heike; Snauwert, Dirk [Hg.]: Claude Cahun. Bilder (Ausstellungskatalog), Kunstverein München/Gesellschaft der Freunde der Neuen Galerie Graz/Museum Folkwang Essen, München 1997, S. XIX–XXXI, S. XIX; Dean, Carolyn: Claude Cahuns’s Double, in: Yale French Studies, 90 (1996), S. 71-95, S. 7174. Cottingham (1997), a.a.O., S. XIX.
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leere Kategorie geworden sei: »they analyze her gender as a site of mobility, while for some inexplicable reason, they make her lesbianism the subject of warning against the theoretical consequences of immobilizing identity ‒ indeed of immobile identity itself«115 . Nach Carolyn Dean und Laura Cottingham liegt in dieser Art des Zugangs zu Cahuns Fotografien ein Paradox, denn diese Analysen, die Cahuns Emanzipation von heteronormativen Geschlechterrollen unterstreichen, sind damit zugleich der binären Geschlechterordnung verfangen, in die sie Cahun einschließen und entlang derer sie sie als Lesbe beschreiben. Bei der Lektüre der frühen Texte zu Cahuns Arbeiten fällt auf, dass diese sich fast ausschließlich auf Cahuns Selbstportraits konzentrieren. Vereinzelt werden auch ihre Fotomontagen miteinbezogen, auf denen allerdings wiederum Teile der Selbstportraits dominieren. Diese Bilder werden als inkongruent mit dem konventionellen Bild von Weiblichkeit beschrieben. Der Fokus der Analysen liegt oft auf der Art und Weise, wie Cahun sich selbst darstellt, zum Beispiel auf der Wahl der Kleidung, ihren Posen oder ihrem Haarschnitt, Einzelheiten, die schließlich männlichen Codes zugeordnet werden. In den frühen Untersuchungen waren diese Details nicht direkt mit Lesbismus konnotiert; Cahuns Lesbismus wurde, wie schon angemerkt, lediglich immer wieder als beiläufiges Detail erwähnt. Zwar können die Beschreibungen solche Assoziationen hervorrufen, doch ist es fraglich, ob die Vermännlichung, die Cottingham der frühen Forschung vorwirft (ohne sie explizit mit Lesbismus in Verbindung zu bringen), eine Absicht der Forschenden zugrunde lag. In diesen Texten wird oft von Crossdressing oder dem Wechsel zwischen weiblichen und männlichen Personae gesprochen,116 in mehreren Aufsätzen ist der Diskurs über Weiblichkeit als Maskerade präsent,117 notabene auch in der von Cottingham. So stellt beispielsweise Sidra Stich fest: »The artist presents an outward-looking close-up of her own face and head reflected in a mirror and displayed to appear suggestively like that of a man«118 . Therese Lichtenstein verknüpft Cahuns Lesbismus mit einer androgynen Aufmachung, worin sie
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Dean (1996), a.a.O., S. 72. Vgl. Lichtenstein (1992), a.a.O., S. 66. Vgl. Lasalle, Honor; Solomon-Godeau, Abigail: Surrealist Confessions: Claude Cahun’s Photomontages, in: Afterimage 19 (1992), S. 10-13, S. 13; Monahan (1993), a.a.O., S. 65-67; Cottingham (1997), a.a.O., S. XXIII. Stich, Sidra: Anxious Visions, in: dies [Hg.]: Anxious Visions (Ausstellungskatalog), University Art Museum Berkeley 1990, New York 1990, S. 11-177, S. 56.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
eine Wendung Cahuns sieht, die sich gegen beschränkte und beschränkende Konstruktionen der Heterosexualität richtet.119 Bei Cahun sei Androgynie Ausdruck ihrer Nichtkonformität: »And in Cahun’s case, her androgyny was deeply linked to her lesbianism. It represented a courageous alternative understanding of what it meant to be woman«120 . Bei Lichtenstein scheint Androgynie der Vermännlichung einer Frau gleichzukommen. Cahuns Androgynie werde dadurch markiert, dass sie sich auf manchen Selbstportraits als »Mann« beziehungsweise »männlich« gebe.121 Auch bei Honor Lasalle und Abigail Solomon-Godeau ist Cahuns Auftreten, vor allem ihr Kopf, androgyn.122 Cottinghams und Deans Vorwürfe gegenüber den frühen Beschreibungen von Cahuns Selbstportraits verweisen indirekt auf die stereotype Figur der mannish lesbian, die die Verbindung zwischen Lesbismus und einem männlich gelesenen Äußeren unterstützte und die westlichen Vorstellungen einer Lesbierin schon seit längerem prägte – die Popularisierung dieser Vorstellung war Claude Cahun zeitgenössisch. Dieses Stereotyp könnte vielleicht zum Teil erklären, warum sich die frühen Beschreibungen von Cahuns Inszenierungen, auf denen Cahun beispielsweise mit kurzem Haarschnitt (Abb. 37, 38 u. 39) oder mit Hose (Abb. 38) abgebildet ist, häufig Begrifflichkeiten wie »drag«, »androgyn« oder eben »männlich« bedienten und warum in die Darstellungen von Cahuns Widerstand gegen Kategorisierungen und auch ihres Lesbismus vor allem jene Inszenierungen einflossen.123
Die mannish lesbian im medizinischen Diskurs Ein wesentlicher Beitrag zur Etablierung der mannish lesbian ist in der naturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Homosexualität zu suchen. In ihrem Buch The Frail Social Body legt Carolyn Dean dar, dass die Wurzeln dieses Bildes mindestens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichen und auch oder vor allem in Bemühungen zu suchen sind, die zumeist männliche Mediziner und Sexualwissenschaftler unternahmen, um der weiblichen Homosexualität auf die Spur zu kommen.124 Wie Kathrin Peters in ihrer Studie 119 120 121 122 123
Vgl. ibidem, S. 67. Lichtenstein (1992), a.a.O., S. 65. Vgl. ibidem. Vgl. Lasalle; Solomon-Godeau (1992), a.a.O., S. 12. Vgl. Stich (1990), a.a.O., S. 56; Lichtenstein (1992), a.a.O., S. 65f.; Lasalle; SolomonGodeau (1992), a.a.O., S. 13; Solomon-Godeau (1999), a.a.O., S. 117. 124 Vgl. Dean, Carolyn: The Frail Social Body, Berkeley 2000, S. 182f. u. 197.
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Abbildung 37 (links): Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1927, Schwarz-WeißFotografie. Abbildung 38 (Mitte): Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1920, Schwarz-Weiß-Fotografie. Abbildung 39 (rechts): Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1928, Schwarz-Weiß-Fotografie.
Rätselbilder des Geschlechts zeigt, war die Sexualwissenschaft bestrebt, einen disziplinären Apparat zu entwickeln, um zwischen Geschlechtertypen und Sexualitäten zu differenzieren und diese dann zu definieren.125 Beabsichtigt war das Aufspüren und die Kategorisierung von Geschlechtern und Sexualitäten, was sehr oft in Begleitung fotografischer Bilder geschah.126 Es entstan-
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Vgl. Peters, Kathrin: Rätselbilder des Geschlechts. Körperwissen und Medialität um 1900, Zürich 2010. Vgl. ibidem, S. 20f. Als Beispiel hierfür kann die heute nicht mehr existierende fotografische Sammlung des Instituts für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld dienen,
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
den Entwürfe und Visualisierungen von Geschlechtern und Sexualitäten, die, wie Peters an mehreren Stellen verdeutlicht, mit repressiven Grenzziehungen, mit Einschlüssen und Ausschlüssen, verbunden waren. In diesen Prozessen wurden Visualisierungen generiert, unter anderen etablierten sich auch bestimmte Bilder von Homosexualität. Carolyn Deans Studie verdeutlicht, wie damals Mediziner, Anthropologen und Physiologen enorme Bemühungen unternahmen, das Geschlecht der lesbischen Frau und ihr Begehren vor allen Dingen in ihrem Körper aufzuspüren.127 Diese Bemühungen seien aufgrund der allgemeinen Überzeugung von der Unsichtbarkeit des Lesbismus so groß gewesen.128 Dean spricht in diesen Zusammenhang von einer Schwierigkeit der eindeutigen Beschreibung einer Lesbierin: interwar commentators of all sorts constructed lesbians as opaque or invisible because they had great difficulty anchoring lesbians in a clearly sexualized (desiring of whom and by whom) identity. Although it served as a pretext to regulate all women’s sexuality, this construction of lesbiansʼ invisibility mirrored the critic’s own oddly present and yet absent sexuality.129 Das, was die Sexualwissenschaftler beunruhigte, war eine visuelle Ununterscheidbarkeit zwischen einer heterosexuellen und einer homosexuellen Frau. Diese Schwierigkeit musste auf irgendeine Weise überwunden werden und sie resultierte in der Auffassung der Lesbierin als einer vermännlichten Frau: »The lesbian is at once a man in a woman’s body and an atavistic, depraved woman«130 . Die Zeit um die Jahrhundertwende kann also als Zeit des »Suchens« und gleichzeitig der Generierung der Homosexualität und des Geschlechts an sich im medizinischen Diskurs gelten, die das gesellschaftliche Verständnis einer lesbischen Frau bis heute prägt. Es waren Wissenschaftler wie Havelock Ellis, Karl Heinrich Ulrichs, Richard von Kraft-Ebbing und Magnus Hirschfeld, die sich insbesondere mit dem »Rätsel« Homosexualität beschäftigt haben. Vor allem anhand von Reflexionen über durchgeführte Feldforschungen näherten sie sich, jeder auf seine Weise, diesem Thema. Tirza True Latimer zählt allen voran Havelock Ellis zu den Sexualwissenschaftlern, die dessen Ziel es war »einmal in zusammenhängender bildlicher Darstellung die Haupttypen der Geschlechterübergänge ad oculos zu demonstrieren«. Magnus Hirschfeld zitiert nach Kathrin Peters, ibidem, S. 164. 127 Vgl. Dean (2000), a.a.O., S. 199. 128 Vgl. ibidem., S. 174f. u. S. 174, Fußnote 1. 129 Ibidem, S. 214. 130 Ibidem, S. 186.
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zum Bild einer Lesbierin als vermännlichten Frau beigetragen haben.131 Zusammen mit John Addington Symonds entwickelte Ellis nämlich die Theorie der sexuellen Inversion, die besagt, dass homosexuelle Personen im gegensätzlichen Geschlecht gefangen sind, wobei die beiden Mediziner die Inversion allerdings nicht pathologisiert haben.132 Für Ellis war Homosexualiät eine Verwirrung (aberration),133 die bei Frauen viel üblicher als bei Männern sei.134 Ellis schreibt über eine Lesbierin Folgendes: The actively inverted woman differs from the woman of the class just mentioned in one fairly essential character: a more or less distinct trace of masculinity. She may not be, and frequently is not, what would be called a ›mannish‹ woman, for the latter may imitate man on grounds of taste and habit unconnected with sexual perversion, while in the inverted woman the masculine traits are part of an organic instinct which she by no means always wishes to accentuate. The inverted woman’s masculine element may, in the last degree, consist only in the fact that she makes advances to the woman to whom she is attracted and treats all men in a cool, direct manner which may not exclude comradeship, but which excludes every sexual relationship, whether of passion or merely of coquetry.135 In dieser Passage bestätigt sich die Behauptung von Dean, dass Sexualwissenschaftler mit ihren Beschreibungen entschiedenen Anteil an der Vermännlichung der Lesben hatten. Ellis unterscheidet in der obigen Passage zwei »Arten« der vermännlichten Frau: die mannish woman, die diesen Stil lediglich als Mode praktiziert, was nicht mit Sexualität verbunden sei, und die andere Art wäre eine männliche Frau, die lesbisch ist und deren »Männlichkeit« ein »organic instict« sei.136 Carolyn Dean spricht im Zusammenhang mit den Forschungen dieser Sexualwissenschaftler von einem »Scopic regime«, weil sie versuchten Homosexuelle visuell, über das Äußere und das Benehmen, zu definieren.137 Havelock Ellis beschreibe zum Beispiel einen breiten Kehlkopf,
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Vgl. Latimer, Tirza True: Women Together/Women Apart. Portraits of Lesbian Paris, New Brunswick/New Jersey/London 2005, S. 61. Vgl. Ellis, Havelock; Symonds, John Addington:Sexual Inversion, London 1896; vgl. Latimer (2005), a.a.O., S. 162, Fußnote 68. Vgl. Ellis, Havelock: Psychology of Sex. Sexual Inversion, London 1901 [1897], S. 122. Vgl. ibidem, S. 121f. Ibidem, S. 133f. Vgl. ibidem, S. 134. Vgl. Dean (2000), a.a.O., S. 181, Fußnote 12.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
weiches Bindegewebe und auch den Drang zu Rauchen als typisch für weibliche Homosexuelle.138 Investigative Befragungen,139 der Voyeurismus dieser Ärzte gegenüber den Frauen und die später daraus hergestellten Narrationen waren offensichtlich an der Konstituierung der mannish lesbian und an ihrer Fixierung beteiligt. Die Verfahren der Sexualwissenschaftler waren nicht einfach beschreibend und klärend, sondern zugleich schaffende und kontrollierende Maßnahmen, die über bestimmte Normen und Regulationen agierten und sich, mittels der resultierenden Bilder und Narrationen, in gesellschaftliche Muster einschrieben.
Das soziokulturelle Gebilde der vermännlichten Frau Die Geschichte der Konnotation von Lesbismus mit Männlichkeit ereignete sich jedoch nicht alleine im medizinischen Bereich. 2001 bestätigt Laura Doan in ihrer Studie Fashioning Sapphism. The Origins of a Modern English Lesbian Culture, dass die Zusammenführung von Lesbismus und Männlichkeit nicht immer bestand, und dass diese Verquickung auch andernorts aufkeimte. In ihrem Buch konzentriert sich die Autorin auf England, sie stellt fest: »That anyone in England ‒ especially in the print media ‒ missed the link between (masculine) dress and (homo)sexuality presented in the figure of the cross-dressed woman, or a woman who seems cross-dressed, is incredible to us today«140 . Wie Doan darlegt, war das »männliche« Auftreten einer Frau in den 20er-Jahren keine Domäne lesbischer Frauen, sondern es wurde während dieser Jahre erst zu einer solchen gemacht. Sich männlich zu kleiden und zu geben sei zu dieser Zeit einfach Mode gewesen und viele Frauen, nicht ausschließlich Lesbierinnen, hätten diesen Stil angenommen.141 Die Presse im damaligen England nannte eine solche Frau »boyette«142 . Zu beobachten war eine derartige Entwicklung zu dieser Zeit nicht nur in London, sondern beispielsweise auch, wie Tirza Latimer zeigt, in Paris oder Berlin, es handelte sich um ein breiteres Phänomen.143 In Paris hatte die Mode nach Latimer um 1900, also circa 20 Jahre bevor die berühmtesten Selbstportraits von Cahun 138 139
Vgl. Ellis (1901 [1897]), a.a.O., S. 144f. Die Ausführungen von Ellis beispielsweise bestehen zum größten Teil aus den Erzählungen der Betroffenen. 140 Doan, Laura: Fashioning Sapphism. The Origins of a Modern English Lesbian Culture, New York 2001, S. 96. 141 Vgl. ibidem. 142 Vgl. ibidem, Ausschnitt Daily Mail, Figure 7. 143 Vgl. Latimer (2005), a.a.O., S. 28.
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entstanden sind, kurze Haare und Hosenträger bei Frauen quasi vorgeschrieben.144 Eine Zeit lang sei diese Mode als eine Art kultureller Schock erfahren worden, aber in den 20er- und 30er-Jahren habe sich dieser Stil kommerzialisiert und auch gut verkauft.145 Auch Latimer hebt hervor, dass die Mode à la garçonne damals eine gängige unter Frauen im Allgemeinen war und kein Indikator für ein lesbisches Begehren.146 Wie Doan betont, waren es lesbische Frauen, die den Modetrends gefolgt sind, und nicht umgekehrt.147 »Sich männlich Geben« und vor allem das Tragen von Hosen sei damals vielmehr mit Jugend, Sportlichkeit und Modisch-Sein verbunden worden.148 Dieser Stil war auf den Straßen von Paris nicht selten anzutreffen, er war beliebt und verbreitet.149 Die These, dass die Verbindung der Lesbe mit Männlichkeit in den 20er-Jahren keine Selbstverständlichkeit war und sich erst bildete, bestärkt Doan mit der Schilderung des Vorfalls von Radclyffe Hall, einer zeitgenössischen Schriftstellerin. Radclyffe Hall ist die Autorin des Romans The Well of Loneliness, der mittlerweile zu den Klassikern der lesbischen Literatur gehört. Hall entwarf, so Doan, ihre Kleider selbst, die damalige männliche Mode nachahmend. Dennoch hat ihr Kleidungsstil keinesfalls großes Aufsehen erregt.150 1928 wurde Radclyffe Hall wegen des als obszön empfundenen Inhalts ihres Buchs verklagt.151 Die große Aufmerksamkeit, die diesem Prozess zukam, hat dazu beigetragen, dass der Buchinhalt das Augenmerk auf die Autorin selbst und nicht zuletzt auf ihr Äußeres gezogen hat. Wie Doan feststellt, sind fotografische Portraits von ihr im Zusammenhang mit diesem Prozess oft in Zeitungsberichterstattungen publiziert worden. Von nun an sei Lesbisch-Sein mit dem Stil einer boyette, den Hall bevorzugt hatte, assoziiert worden. Doan legt dar, dass dieses Kurzschließen erst während des Gerichtsprozesses erfolgte und es diese Verbindung zuvor so nicht gab.152 Eine bestimmte Einbettung dieser Portraits hat dazu beigetragen, dass Halls boyetteStil mit Lesbisch-Sein verbunden wurde.153 Doans Analyse unterstreicht, dass dieses visuelle Dasein einer lesbischen Frau nicht immer und auch nicht nur 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153
Vgl. ibidem, S. 62. Vgl. ibidem, S. 121. Vgl. ibidem, S. 28. Vgl. Doan (2001), a.a.O., S. 107. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem, S. 106. Vgl. ibidem, S. 99. Vgl. ibidem, S. 120ff. Vgl. ibidem, S. 167. Vgl. ibidem.
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auf diese eine Weise existierte. Sie zeigt, dass das Bild einer boyette, das nach dem Prozess mit Lesbisch-Sein verbunden war, zuvor ein anderes Leben geführt hatte. Zudem wird an dieser Stelle deutlich, dass Bedeutungen von Bildern, Körperformen und Lebensformen keine fixierten Assoziationen besitzen, sondern als Verflechtungen vielfältiger kultureller und gesellschaftlicher Ereignisse und Prozesse wandelbar bleiben. Das (Wieder-)Erkennen der Bilder lesbischer Frauen geht, wie die Bilder selbst, aus Verknotungen heterogener Zusammenhänge hervor, die sich verfestigt haben und in die die Interpretierer_innen während der Interpretation selbst eingebunden sind. Am Beispiel von Hall, das Doan präsentiert, und nicht zuletzt in den Ausführungen des Felds der Sexualwissenschaft offenbart sich die Historizität der Bilder, die ein Effekt visuell-diskursiver Rahmungen sind und keine präexistierenden Daseinsformen mit fixierter Bedeutung. Es zeigt sich, dass in den fotografischen Rahmen bestimmte Interpretationen, auch außerfotografischer Art, agieren, die das Verständnis der Fotografien markant strukturieren. Der Fall von Hall hatte die Situation für viele lesbische Frauen und auch für Frauen, die sich einfach »männlich« kleideten, verändert.154 Die Fotografien von ihr spielten nicht nur für Halls Zeitgenosse_innen eine große Rolle, sie haben weiterhin großen Einfluss auf das Denken über eine Lesbierin. Nach Doan haben Halls Bilder so manche Karriere zunichtegemacht, auf der anderen Seite seien sie es allerdings auch gewesen, die zu so etwas wie einer öffentlichen lesbischen Subkultur beigetragen hätten, wenn dies auch mit gefährlich universalisierenden Tendenzen verbunden gewesen sei.155 Letzteres bedauern Cottingham und Dean hinsichtlich der frühen Forschung um Cahun. Sowohl die Untersuchungen von Ellis als auch kulturelle Ereignisse, wie sie Doan beschrieben hat, sind Teil einer Genealogie der Bilder einer Lesbierin als vermännlichte Frau, die sich aus konkreten historischen Umständen ergab und keiner natürlichen Veranlagung der lesbischen Frau entsprach. Zweifellos gibt es in diesem Netz noch unzählige weitere Teile, die an der Etablierung des Bilds einer Lesbierin als vermännlichte Frau beteiligt waren. An dieser Stelle ging es mir vor allem darum zu skizzieren, wie diese Rahmung entstehen konnte. Es scheint, dass sowohl die Beschreibungen, die Cahuns Selbstportraits als männlich verstehen, als auch die Kritik der Vermännlichung Cahuns in der Forschung überhaupt erst auf diese Weise erfolgen konnten, weil in den 90er-Jahren ein bestimmtes Bild einer lesbischen 154 155
Vgl. ibidem, S. 194. Vgl. ibidem.
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Frau existierte, zu dem, wie Doan und Dean gezeigt haben, sowohl die Geschichte von Hall als auch die Sexualwissenschaft beigetragen hatten. Bezüglich bestimmter Fotografien Cahuns wirkten spezifische Rahmungen, die es erlaubten, sie als männlich, in drag oder androgyn zu beschreiben. Hinter der Tendenz der Vermännlichung und der Stereotypisierung des lesbischen Begehrens, die Cottingham und Dean im Cahun-Diskurs konstatierten, standen keine bösen Absichten, sondern sie hing von bestimmten Rahmungen ab, die die lesbische Frau betrafen, die mit bestimmten fotografischen Selbstportraits von Cahun kompatibel waren und eine Wiedererkennung hervorriefen.
2.4.2 Lesbismus anders denken Während Honor Lasalle und Abigail Solomon-Godeau noch Anfang der 90erJahre vor dem Gebrauch biografischer Details bei der Erklärung der Arbeiten von Cahun warnten,156 waren einige Wissenschaftler_innen wenige Jahre später der Überzeugung, dass es ohne die Berücksichtigung dieser Informationen nicht möglich sei, diese nachzuvollziehen. Wie bereits erwähnt, kam es Mitte der 90er-Jahre zu einer besonderen Wertschätzung des angenommenen Lesbismus Cahuns in den Analysen ihrer Arbeiten. So schreibt beispielsweise Laura Cottingham: Tatsächlich muß, ehe eine adäquate Arbeit über und ein größeres Verständnis von Cahuns Kunst einsetzen kann, ein zentraler blinder Fleck auf dem kunsthistorischen Spiegel, der Cahuns Leben und Arbeit entgegengehalten wird, erkannt und entfernt werden. Cahun war eine Lesbe.157 Carolyn Dean, die Cahuns Homosexualität »as the primary site of resistance to normative heterosexuality«158 ansieht, erachtet ihre sexuelle Orientierung ebenfalls für sehr wichtig für das Verständnis ihrer Kunst. Einige Jahre später gibt sich auch Abigail Solomon-Godeau in ihrem Artikel The Equivocal »I«: Claude Cahun as Lesbian Subject davon überzeugt, dass Cahuns Lesbismus mehr als nur eine biografische Anekdote ist: »I am proposing that her [Cahun’s] lesbianism be considered as one of the shaping elements of her art«159 . Schon früher gab es vorsichtige Deutungen in eine ähnliche Richtung. Die Vieldeutigkeit der Begriffe, die Laurie Monahan in Cahuns Selbstportraits sieht, resultiert 156 157 158 159
Vgl. Lasalle; Solomon-Godeau (1992), a.a.O., S. 13, Fußnote 17. Cottingham (1997), a.a.O., S. XX. Dean (1996), a.a.O., S. 74. Solomon-Godeau (1999), a.a.O., S. 117.
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der Autorin zufolge vor allem aus Cahuns eigener Erfahrung als Lesbierin.160 Ihr Lesbismus manifestiere sich im fotografischen Bild und er sei Ausdruck einer Alternative zu hegemonialen Bildern der Geschlechter.161 In dieser sich gegenüber der früheren Forschung deutlich abzeichnenden Wendung äußert sich neben der schon erwähnten Kritik der Stereotypisierung des Lesbismus auch ein Versuch, diesen anders zu theoretisieren. Es ist eine komplizierte Metamorphose, die Cahuns Lesbismus in dieser Zeit durchlaufen hat, bezeichnend in diesem Prozess ist allerdings, dass meistens dieselben Selbstportraits in die Analysen einbezogen wurden wie in früheren Jahren. Für Carolyn Dean sind Cahuns Selbstportraits Zeichen des Zerfalls der stabilen heterosexuellen Identität der damaligen Gesellschaft.162 Deans Überlegungen, die sich hauptsächlich auf Cahuns Zeitungsartikel und ihren Text Heroïnes beziehen, gelten auch den Fotografien, in welchen Cahun die Kategorien der Heterosexualität, die Dean als kulturelle Konstruktionen ansieht, parodiere.163 Cahuns Methode, der sie sich sowohl in ihren Texten und auch in ihren Bildern bedient, ist demnach die Parodie, ein ironisches, gar zynisches, Spiel mit den Betrachtenden.164 Sie parodiert, ersetzt und kopiert, Dean spricht von einem »body double«, um hegemoniale Ordnungen zu unterlaufen: »The parody permits her to remain happily and benignly castrated, to ›be‹ the phallus in order to escape the economy of meaning organized around the phallus«165 . Was Dean in den Bildern sieht, und was neu ist, ist nicht die Konstituierung von unkonventionellen Gender-Konzepten, sondern ein »undoing of any stable binary distinction between genders«166 . Die Homosexualität hat für Dean Anteil an der Erosion der heterosexuellen Hegemonie, weil sie nichts mit ihren Kategorien anfangen kann.167 Der Lesbismus sei das Fehlen von Referenzialität beziehungsweise deren Verlust.168 Die Frau wird hier als eine Kategorie der heterosexuellen Hegemonie verstanden, zu der eine Lesbierin nicht gehört. Folglich kritisiert sie auch die bisherige Forschung
160 Vgl. Monahan (1993), a.a.O., S. 107. 161 Vgl. ibidem. 162 Vgl. Wittig, Monique: The Straight Mind, in: dies.: The Straight Mind, Boston 1992, S. 2132, S. 32. 163 Vgl. Dean (1996), a.a.O., S. 91. 164 Vgl. ibidem, S. 89. 165 Ibidem. 166 Ibidem, S. 91. 167 Vgl. ibidem, S. 74. 168 Vgl. ibidem, S. 86.
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für das Behandeln des Lesbismus als eine stabile und fixierte Kategorie, womit sie das Lesbisch-Sein um seine subversive Wirkung, die es eigentlich hat, beraubt.169 Ein ähnliches Verständnis von Cahuns Lesbismus wie bei Dean findet sich bei Abigail Solomon-Godeau. Cahuns Selbstportraits sind für SolomonGodeau keine Bilder des Selbst von Cahun, vielmehr nutzt sie ihren Körper, um über Normen und Ordnungen zu reflektieren.170 Cahuns Homosexualität lässt sich in ihren Bildern entlang dieser Argumentation nicht so sehr durch Codes und Symbole erkennen, eher formt die sexuelle Orientierung das künstlerische Schaffen entsprechend und auf diese Weise hinterlässt sie einen Abdruck. Solomon-Godeau merkt an, dass ihre Selbstportraits, auf denen sie sich männlich präsentiert, in Verbund mit Äußerungen in ihren Texten über Androgynie dazu führen, dass ihr Lesbismus etwas ist, das isoliert von stereotypisierten Begriffen einer Lesbierin betrachtet werden muss: Such photographs, in tandem with her writings on androgyny (as an ideal), or in her texts featuring androgynes as personnages […], constitute a category somewhat apart from the ›lesbian‹, and although I am proposing that her lesbianism be considered as one of the shaping elements of her art, it must nonetheless be stated that nowhere in her writing (to my knowledge) does she accept or affirm the identity of lesbian.171 Cahun spiele in ihren Fotografien weder mit den Codes des Weiblichen noch mit denen des Männlichen, sie dematerialisiere den Körper eher als ihn zu vergeschlechtlichen.172 Für Solomon-Godeau sind die Fotografien keine Maskeraden, wie sie bis dahin so oft gedeutet worden sind, sondern so etwas wie das »body double« bei Carolyn Dean, eine Mimesis oder ein Akt des Zitierens, wobei dieses Zitat ohne Original wäre.173 the play of imitation no less than the play of identification may in some ways be facilitated, if not fostered, by a lesbian (i.e., ›not woman‹) enunciative position, no matter how provisional, which might furnish the ground from which Cahun ›makes strange‹ ‒ to use an expression popular among
169 170 171 172 173
Vgl. ibidem, S. 73. Vgl. Solomon-Godeau (1999), a.a.O., S. 117. Ibidem. Vgl. ibidem, S. 119. Vgl. ibidem, S. 121f.
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Russian artists in the aftermath of the Revolution ‒ the appearances of gender identity as such.174 Die Verweigerung im Äußeren eine »Frau« zu sein oder sich Lesbierin zu nennen ist für Solomon-Godeau mit der Verweigerung der Heterosexualität verbunden.175 Daraus folgt, dass Cahun auf ihren Fotografien weder weiblich noch männlich ist. Mitte der 90er-Jahre nimmt das Verbinden von Cahun und Lesbismus eine spezielle Form an, denn als Lesbismus gilt nicht einfach eine sexuelle Beziehung zwischen zwei weiblich konnotierten Wesen, eine Auffassung die Cottingham und Dean in der bisherigen Forschung beklagen, sondern eine Sexualität, die die Codes und Normen der Heterosexualität und mit ihr die Bifurkation der Geschlechter und Geschlechterrollen verlässt. Diesen Versuchen, den Lesbismus als eine dekonstruierende und nicht lediglich dekonstruierte Kategorie des Geschlechts zu lesen, scheint der Satz von der feministischen Philosophin Monique Wittig »Eine Lesbierin ist keine Frau«176 , den Solomon-Godeau notabene in ihrem Aufsatz zitiert, vorzuschweben. Wittigs Ausspruch, eine Lesbierin sei keine Frau, stammt aus dem Aufsatz The Straight Mind aus dem Jahr 1980. Eine Erläuterung ihrer Aussage verstreut Wittig über mehrere Texte. Die Autorin sieht die Kategorie des biologischen Geschlechts als das Produkt einer heterosexuellen Gesellschaft, in der Frauen als geschlechtliche Wesen einen festen Platz einnehmen und als solche der Kategorie Geschlecht nicht entkommen können.177 Den weiblichen Körper und das weibliche Denken begreift Wittig als Produkte der heterosexuellen Ideologie.178 Weiblich-Sein und Nicht-Weiß-Sein kommt für Wittig in diesen Strukturen dem Anderen gleich, als die Differenz seien sie ein konstituierender Teil der unterdrückenden Strukturen dessen, was sie »the straight mind« nennt.179 Wittig zählt jedoch nicht auf die Differenz, sondern auf ein Nicht-Sein als eine Art der Verweigerung. Deswegen fordert sie entschieden
174 175 176 177 178 179
Ibidem, S. 123, Hervorhebung i. O. Vgl. ibidem, S. 117. Wittig (1992), The Straight…, S. 32. Vgl. Wittig, Monique: The Category of Sex, in: dies.: The Straight Mind, Boston 1992, S. 1-8, S. 7. Vgl. Wittig, Monique: One Is Not Born a Woman, in: dies.: The Straight Mind, Boston 1992, S. 9-20, S. 9. Vgl. Wittig (1992), The Straight…, S., S. 27ff.
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die Zerstörung, die Destruktion der Hegemonie des straight mind.180 Diese Zerstörung hat nach Wittig einen Bruch mit den Kategorien der Zweigeschlechtlichkeit zur Folge; so wären zum Beispiel Lesbierinnen, die die Regeln der Heterosexualität missachten oder nicht befolgen, keine Frauen mehr.181 Die Lesbierin wäre ein Ausweg aus der hegemonialen Herrschaft der Heterosexualität. Weil sie keine Frau mehr sei, beschäftige eine Lesbierin die Frage danach, was eine Frau ist, nicht mehr: What is woman? Panic, general alarm for and active defence. Frankly, it is a problem that the lesbians do not have because of change of perspective, and it would be incorrect to say that lesbians associate, make love, live with woman, for ›woman‹ has meaning only in heterosexual systems of thought and heterosexual economic systems. Lesbians are not women.182 Deswegen spricht sich Wittig auch entschieden gegen einen Feminismus aus, der im Sinne einer Essenzialisierung der Frau für die Rechte der Frauen kämpft, wobei »Frau« für etwas Besonderes gehalten wird; sie übt Kritik an einem Feminismus, der die Kategorie Frau weitertreibt und die Frauen als homogene soziale Gruppe uniformiert.183 In der Destruktion sieht Wittig einen Ausweg aus einer Situation der Unterdrückung: »we must destroy the sexes as a sociological reality if we want to start to exist«184 . Eine einfache Umkehrung des Patriarchats zu einem Matriarchat stellt für sie keine Lösung dar, denn diese würde den Rahmen der Heterosexualität nicht überwinden: »Matriarchy is no less heterosexual than patriarchy: it is only the sex of the oppressor that changes«185 . Der heterosexuellen Gesellschaft entgegnet Wittig schließlich den Vorschlag einer lesbischen Gesellschaft. Einen ähnlichen Vorschlag scheint für Wissenschaftler_innen wie Carolyn Dean und Abigail Solomon-Godeau Cahun mit ihren Selbstportraits zu unterbreiten. Die Figur der Lesbierin soll die der Frau ersetzen und die heterosexuelle Matrix überschreiten. Denn die Kategorie Lesbierin, so die Argumentation, sei ein Mittel, den herkömmlichen Kategorien zu entfliehen. Diese Gedanken, die seit Mitte der 90er-Jahre in Zusammenhang mit den Selbstportraits und 180 Vgl. Wittig, Monique: The Mark of Gender, in: dies.: The Straight Mind, Boston 1992, S. 76-90, S. 81. 181 Vgl. Wittig (1992), The Straight…, S. 32. 182 Ibidem. 183 Vgl. Wittig (1992), One is Not…, S. 15. 184 Ibidem, S. 8. 185 Ibidem, S. 10.
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teilweise mit den Texten von Cahun gebracht werden, erscheinen durchaus plausibel, allerdings müssen sie bezüglich einer Frage geprüft werden, die sich Judith Butler gestellt hat und die auf die Bedingungen und Schwierigkeiten des antipatriarchalen Kampfs mit den normativen Ordnungen der Heterosexualität aufmerksam macht: Wenn eine Lesbierin werden ein Akt, eine Verschiebung der Heterosexualität, eine Selbst-Benennung ist, die die Zwangsbedeutung der heterosexuellen Kategorien Frauen und Männer anficht, was verhindert dann, daß der Name Lesbierin eine ebenso zwanghafte Kategorie wird? Was zeichnet eine Lesbierin aus?186 Ähnlich wie Wittig findet die Forschung um Cahun in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre im Lesbismus ein Potenzial der Bekämpfung des heterosexuellen Regimes, das außerhalb der heterosexuellen Ordnung lokalisierbar ist. Doch wird dabei übersehen, dass die Heterosexualität, wie Judith Butler darlegt, ein integraler, geradezu unabdingbarer Teil des homosexuellen Diskurses ist.187 Was an dieser Denkweise einer die Heterosexualität transzendierenden lesbischen Sexualität problematisch ist, ist nach Butler das Bestehen auf dem Lesbismus als einer Sexualität, die nichts mit einem eventuellen neuen Zwangssystem zu tun hat. Lesbismus werde bei Wittig als eine utopische Befreiungskategorie dargestellt: »Lesbisch oder schwul sein, bedeutet nach Wittig nicht mehr zu wissen, was das eigene Geschlecht ist, d.h. an einer Verwirrung und Vervielfältigung der Kategorien teilzunehmen, die das Geschlecht zu einer unmöglichen Identitätskategorie macht«188 . Ich erachte es für wichtig, diese Kritik ebenfalls bezüglich der Forschung um Cahun Mitte der 90er-Jahre zu reflektieren. Denn so wie Wittigs Entwurf einer Existenz außerhalb des heterosexuellen Regimes verfehlen, so ließe sich nach Butler sagen, auch die Versuche der Forschung um Cahun die Möglichkeit der Resignifikation des herrschenden Regimes, wobei sie Dualismen wie normal/anormal und heterosexuell/homosexuell perpetuieren und möglicherweise weitere Zwangskategorien schaffen.189 Im Vergleich zu früheren Analysen und Interpretationen von Cahuns Bildern hatte sich die Verbindung zwischen den Selbstportraits und Cahuns Selbsts verändert. Cahuns Selbstportraits wurden nicht mehr als
186 187 188 189
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, S. 188. Vgl. ibidem, S. 180. Ibidem, S. 181. Vgl. ibidem, S. 179f.
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Repräsentationen gelesen, sondern als Cahuns Konzept der Überwindung hegemonialer Kategorien.190 Diese Fotografien wurden als beunruhigend aufgefasst, weil angenommen wurde, sie sind aus Cahuns homosexuellem Bewusstsein hervorgegangen, dessen Effekt und Zeichen sie zugleich wären. Diese Änderung in der Leseweise der Selbstportraits und der Kategorie des Lesbismus konnte dennoch nicht verhindern, dass die Fotografien als Bilder gelesen werden, die eine lesbische Frau darstellen. Gerade auch in der Erzählung von Cahun als Lesbierin scheint Lesbismus nicht weniger als im Falle der mannish lesbian zu einer zwanghaften Kategorie geworden zu sein, vor allem wenn die Wahl der Bilder, denen ein Mitspracherecht zugestanden wurde, berücksichtigt wird.
Andere Akte Cahuns Unter Cahuns Arbeiten überwiegen die Fotografien, auf denen Cahun als »männlich« gedeutet werden könnte, allerdings nicht, sie sind vielmehr deutlich in der Minderzahl. Auf ihren Selbstportraits trägt Cahun keineswegs ausschließlich Hosenanzüge beziehungsweise mit dem männlichen Geschlecht konnotierte Kleidung. Oft ist Cahun in Kleidern oder Röcken zu sehen oder sie präsentiert sich in Posen, die an den klassischen (weiblichen) Akt denken lassen (Abb. 40, 41 u. 42). Viele Fotografien, auf denen sie in Röcken beziehungsweise Kleidern zu sehen ist, wurden während Treffen mit Freunden oder auf öffentlichen Plätzen aufgenommen, sie haben einen weniger inszenatorischen Charakter, was darauf verweist, dass Cahun »privat« nicht immer in Hosen auftrat. In der Debatte um ihren Lesbismus spielen diese Fotografien kaum eine Rolle, ähnlich wie einige Akte aus dem Nachlass von Cahun, die vermutlich in Eigenregie entstanden sind. Bei den Akten handelt es sich um eine Serie, die ohne Weiteres dem klassischen Akt zugerechnet werden kann. Mit sehr hellem, kurzem, gewelltem Haar ist Cahun dort nackt in verschiedenen Posen zu sehen. Eine dieser Fotografien zeigt sie in einem natürlichen Wasserbecken zwischen Felsen liegend (Abb. 41). Ihr nackter Körper ist nur stellenweise mit Wasser bedeckt, sie scheint im Wasser zu schweben. Ihren Kopf hält sie in strengem Profil steif über dem Wasser, die Augen sind geschlossen. Cahuns helle Haut hebt sich vom dunklen
190 Solomon-Godeau selbst zieht dies in Betracht, wenn sie daran zweifelt, ob es sich bei den Bildern um Selbstportraits handelt. Vgl. Solomon-Godeau (1999), a.a.O., S. 119.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
Abbildung 40: O. A., Henri Michaux u. Claude Cahun, 1939, Schwarz-Weiß-Fotografie
Ton des Wassers ab, sie korrespondiert mit der Felsenwand, die den Hintergrund der Fotografien bildet. Ihre ausgestreckten Beine sind leicht angewinkelt, die Knöchel scheinen mit dunklem Stoff umwickelt zu sein. Der Oberkörper ist etwas nach links gedreht, was einen großen Teil von Cahuns Rücken zum Vorschein bringt. Eine weitere Fotografie dieser Serie ist ein Rückenakt (Abb. 42). Dort liegt Cahun auf dem Bauch am Strand. Cahuns rechtes Bein ist ausgestreckt, das linke ist zum Bauch angezogen, sie scheint sich auf dieses Bein zu stützen. Ihr nackter Körper ist wie mit einer Schnur von einer dunklen, langen Alge umschlungen. Einige Fotografien dieser Serie wurden zu Fo-
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Abbildung 41: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1928, Schwarz-Weiß-Fotografie
tomontagen montiert, woraus Bilder eigenartig geformter badender Körper entstehen (Abb. 43). All diese Bilder zeigen einen Körper, der keinesfalls als maskulin zu beschreiben wäre, sie zeigen einen durchaus als »weiblich« konnotierten Körper und es handelt sich zudem um Aufnahmen, die den Selbstportraits zugerechnet werden können. In der formalen Ausführung ähnelt die Serie anderen weiblichen Akten dieser Zeit, auch denen der Surrealisten oder gar klassischen Akten. Im Unterschied zu diesen wurden Cahuns Akte jedoch von einer Frau gemacht, wären sie von einem Mann gemacht worden, würden sie eventuell als sexistisch beschrieben. Auch die Fotografien dieser Serie Cahuns wurden allerdings weder in die frühen Überlegungen über ihren Kampf gegen fixierte Geschlechterbilder und -rollen noch in spätere Bemühungen, das lesbische Begehren anders zu theoretisieren, einbezogen. Die Bilder, die in der Erzählung von Cahuns Lesbismus erscheinen, sind also bestimmte Bilder, die nicht das Gros der Selbstportraits, des am häufigsten analysierten Genres unter Cahuns Arbeiten, ausmachen. Unter Cahuns Bildern wurden solche ausgewählt, auf denen sie »männlicher« als auf anderen erscheint, selbst von jenen Autor_innen, die ihren Lesbismus neu theoretisieren und deuten wollten, nichts Männliches in den Bildern sahen oder gar über die Vermännli-
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
Abbildung 42: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1930, Schwarz-Weiß-Fotografie
chung von Cahun in der Forschung klagten. Dieser Umstand lässt vermuten, dass auch in den Bemühungen, den Lesbismus außerhalb der heteronormativen Ordnung zu redefinieren, der Diskurs der Lesbierin als vermännlichte Frau wirkte. Eine etablierte »Ikonografie« der homosexuellen Frau wurde auf Cahuns Bilder projiziert, auch wenn dies ungewollt oder unbewusst geschah. Die Selektion der Bilder, die im Zusammenhang mit den Versuchen einen neuen Zugang zum Lesbismus zu finden gewählt wurden, zeigt zudem, dass Homosexualität eine definierende Kategorie sein kann und nicht zwangsläufig frei von stereotypem Denken ist. Die Rahmen der mannish lesbian scheinen auch in den Aufsätzen dieser Wende in der Cahun-Forschung vorhanden zu
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Abbildung 43: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1928, Schwarz-Weiß-Fotografie
sein und sie wirken in den neueren Erzählungen fort, was sich an etlichen Stellen bemerkbar macht. Auch heute wird Cahuns Lesbismus oft mit der Männlichkeit der Frau kurzgeschlossen und in den Erzählungen zirkulieren meist die immergleichen Bilder des Bilderkonvoluts, das sich in den 90erJahren etabliert hatte.
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
Verwirrende Bilder – die Aktivität von Cahuns Selbstportraits Viele Theorien wurden in der Auseinandersetzung mit den Selbstportraits von Cahun erprobt. Mehrere Wechsel von Denkweisen, Denkbildern und Denkrahmen, die gemeinsam mit den Bildern wirkten, lassen sich nachzeichnen. In der ganzen Bandbreite der Reflexionen spiegeln sich vielgestaltige Auffassungen des weiblichen Körpers und des homosexuellen Begehrens der feministischen Theorie dieser Jahre wider, die als mögliche Rahmungen für die Interpretation dieser Bilder ausprobiert wurden. Cahuns fotografische Körper, die sich heute stabilisiert haben, durchliefen quasi sexuelle und geschlechtliche Transformationen. Sie hatten keinesfalls von Anfang an eine feste Bedeutung. Sie waren vielmehr instabil. In den 90er-Jahren befanden sich ihre Bedeutungen und Übereinstimmungen darüber, was sie zeigen, permanent im Werden, sie waren ein Prozess. Während diese prozesshafte Körpergenerierung in den Interpretationen von Cahuns Selbstportraits als Bilder einer anorektischen Frau nicht so gut zu sehen gewesen sein mag, wird sie beim Thema von Cahuns Lesbismus sehr anschaulich. Das Bestehen auf Cahuns Lesbismus und die Wiederholung dieser Überzeugung in Bezug auf ausgewählte Selbstportraits haben zu einer Zementierung dessen geführt, was unter dem Namen Cahun verstanden wird. Zu Recht merkt Lucy Lippard an, dass Cahuns Bilder ganz anders betrachtet und sicherlich in völlig anderen Kategorien beschrieben worden wären, wenn sie beispielsweise in den 70er- und nicht in den 90er-Jahren einem breiteren Publikum bekannt geworden wären.191 Diese Abhängigkeit von Cahuns Bildern wird gleichwohl nicht durch den Diskurs determiniert. In den Selbstbildnissen wirkt etwas, das nicht unbedingt mit der Intention Cahuns in eins fällt, etwas, das nicht zuletzt das Interesse der Forschung geweckt hat. Ich komme an diesem Punkt nochmals auf die Überlegungen von Judith Butler zum fotografischen Bild zurück, um die Frage zu stellen, wie die nichtfotografischen Rahmen, von denen Butler spricht, in einer Fotografie wirken, Rahmen, die über das Subjekt hinausgehen. Was bringt ein fotografisches Bild zum Ausdruck? Oder kurz und knapp mit den Worten von Jacques Derrida, der in Zusammenhang mit den Fotografien von Marie-Françoise Plis-
191
Vgl. Lippard, Lucy R.: Scattering Selves, in: Rice, Shelley [Hg.]: Inverted Odysseys. Claude Cahun, Maya Deren, Cindy Sherman (Ausstellungskatalog), Grey Art Gallery New York/Museum of Contemporary Art Miami 1999-2000, Cambridge/London 1999, S. 2742, S. 36.
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sard fragt: »Was und wann zeigt ein Bild und was und ab wann bedeutet ein Bild?«192 Es muss davon ausgegangen werden, dass Cahuns Selbstbildnisse nicht einfach das darstellen, was Cahun beabsichtigte zu zeigen, denn das Werk einer Autorin entzieht sich auch immer ihren Vorstellungen und Absichten. Ähnliches gilt für das Lesen, Kommentieren und Interpretieren der Bilder. Wie ich gezeigt habe, tritt im Falle Cahuns vor allem dort sehr anschaulich zutage, dass Bedeutungen den Bildern nicht einfach abgelesen werden, dass sie sowohl mit individuellen als auch mit gesellschaftlich produzierten und gesammelten Wissen zusammenhängen und auf die fotografischen Körper rückwirken. Die beschriebenen und gezeigten fotografischen Körper sind nichts Gegebenes, nichts, was den Erzählungen präexistent wäre und es erlauben würde, Cahun in positivistischer Manier festzumachen, sondern Körper, die sich über Jahre des Schreibens, Lesens und Zeigens gebildet haben. Diese benannten und definierten Körper sind situierte Ereignisse, Bedeutungen, die den Bildern nicht selbstverständlich anhaften, sondern im Zusammenhang mit spezifischen Arrangements von diskursiven Rahmungen entstanden sind. In diesem Prozess kommt den Bildern eine aktive Rolle zu. Die fotografischen Körper der Selbstportraits Cahuns haben nämlich in jedem Stadium der frühen Auseinandersetzung in den 90er-Jahren Verwirrung gestiftet. Die Fotografien und das, was sie zeigen, stellen ebenfalls eine Kraft in diesem Ringen um Interpretation. An dieser Stelle möchte ich erneut darauf hinweisen, dass für die unterschiedlichen Interpretationen oft die gleichen Bilder herangezogen wurden. Besonders deutlich zeigt sich dies beispielsweise, wenn Abigail Solomon-Godeau genau die gleichen Bilder (das Bild mit der Brosche (Abb. 36) und das Selbstportrait im Cord-Sakko (Abb. 34)), die Georgiana Colvile der anorektischen und gesunden Cahun zuordnet, mit Cahuns Imitationsspielen in Bezug auf ihre vermeintliche Homosexualität verbindet.193 Dies verdeutlicht, wie diese fotografischen Bilder zu einer »strukturierenden Szene der Interpretation« werden und keine festgeschriebenen Inhalte haben, die ihnen inhärent wären.194 Sowohl bei der Aufnahme als auch beim Sehen und Zeigen entzieht sich eine Fotografie zu einem gewissen Grad der Kontrolle der Fotograf_in, Kreator_in, Kritiker_in, Wissen-
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Derrida, Jacques: Recht auf Einsicht, in: ders. (Text); Plissard, Marie-Françoise (Fotografie); Engelmann, Peter [Hg.]: Recht auf Einsicht, Wien 1985, S. I–XXXVI, S. XXII. 193 Vgl. Solomon-Godeau (1999), a.a.O., S. 122f. 194 Vgl. Butler (2010), a.a.O., S. 67.
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schaftler_in und der Betrachter_in. »[P]hotographs do act on us«195 – schreibt Judith Butler, womit sie den Unterschied zwischen Zeigen und Sehen veruneindeutigt. Was ist es, das in diesen Bildern wirkt? Zweifellos hängt die Interpretation der Bilder von diskursiven Rahmungen ab, die die Blicke und Wahrnehmung der Betrachtenden formen, aber es ist das fotografische Bild, das zum Schauplatz und Brennpunkt dieser Rahmungen wird. Es wäre eine grobe Vereinfachung zu sagen, dass sich Bilder ganzheitlich und vollständig aus außerfotografischen Rahmen ergeben. Denn es gibt immer etwas, das da ist und der Interpretation widersteht. Man könnte sagen, dass ein Bild wird – nicht ist –, es handelt sich um einen performativen Prozess der Formation von Bedeutung und dessen, was ein Bild zeigt. Mehrere Kräfte wirken aus dem Foto heraus, die auch den Betrachtenden und deren Rahmen entgegenwirken. Die Wirksamkeit von Cahuns Selbstportraits ist weder in einem passiven Einfügen des Gezeigten in die Rahmen der entsprechenden Gesellschaft zu sehen noch geht sie von inhärenten Bedeutungen aus. Mit Blick auf die in diesem Kapitel skizzierte Körper-Genealogie Cahuns kommt sie in einem Unterlaufen von Normen zum Ausdruck. Die Verwirrung, die Cahuns Selbstportraits in den 90er-Jahren gestiftet haben, zeigt dies eindrucksvoll.
2.5
Fotografische Selbstbildnisse als Index des Selbst
Bei der Etablierung des Werkkörpers und des Körpers von Claude Cahun war allerdings noch eine weitere Rahmung essenziell, von der ich bisher nur am Rande gesprochen habe, die allerdings ebenso wesentlich ist. Die Selbstbildnisse, die in den Untersuchungen des Cahun-Diskurses mitwirkten, fungierten oft als Dokumente von Cahuns Selbst, ihres Körpers, ihres gesundheitlichen Zustands und oft auch ihrer Sexualität. Der Umgang mit den Fotografien in den Analysen weist Anzeichen einer Auffassung fotografischer Bilder auf, die in einer Tradition der Fototheorie beschrieben werden, die, wie Mirjam Wittmann zeigt, seit etwa Ende der 70er-Jahre den Begriff des Index mit der Fotografie, unter Bezugnahme auf die Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce, kurzschließt.196 Dort wird das Wesen eines fotografischen Bilds als Abdruck, den die Realität auf der lichtempfindlichen Emulsion hinterlassen hat,
195 Ibidem, S. 68. 196 Vgl. Wittmann, Mirjam: Dem Index auf der Spur. Theoriebilder der Kunstgeschichte, in: Texte zur Kunst, 22:85 (2012 a), S. 58-69, S. 61.
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definiert. Eine Fotografie wird als Abdruck verstanden, der auf einer physischen Verbindung zwischen der Fotografie und ihren Referenten basiert und somit ein repräsentatives Verhältnis begründet. Diese Überzeugung scheint allgemein sehr fest im Denken der Fotografie verankert zu sein und ist heute kaum mehr wegzudenken. Sie scheint sogar so mächtig, dass eine zweite, nicht weniger problematische Auffassung einer Fotografie als ein Faksimile des fotografierten Objekts auf den ersten Blick gar nicht auffällt. Vom Faksimile-Charakter einer Fotografie spricht Philippe Dubois, wenn er drei Phasen in der Geschichte der Theorie der Fotografie unterscheidet.197 Diese Phasen charakterisiert Dubois entlang Charles Sanders Peirces Trichotomie der Zeichen, die Ikon, Symbol und Index unterscheidet. Gerade in der ersten Phase sei die Fotografie als perfekter Spiegel der Wirklichkeit, als Faksimile, begriffen worden.198 Nach Dubois wurde das Wesen der Fotografie zu dieser Zeit als mimetisch verstanden. Er ordnet ihr das Peirce’sche Ikon zu, wobei das Verhältnis zwischen dem Abgebildeten und Abbildung auf Ähnlichkeit beruht.199 Die zweite Phase, die nach Dubois in den 60er-Jahren einsetzt, betrachtet er als eine Reaktion auf die erste. In dieser Phase siedelt er semiotische Ansätze und die Apparatustheorie an. Die Theoretiker_innen dieser Phase hätten versucht davon zu überzeugen, dass die Fotografie nicht einfach abbildet, sondern die Wirklichkeit transformiert und der Eindruck des Realen als medialer Effekt aufzufassen ist. Die Fotografie sei eine »Operation der Codifizierung der Erscheinungen«200 . Die dritte Phase setzt nach Dubois schließlich an der Schwelle zwischen den 70er- und 80er-Jahren ein.201 Von
197 198
199 200 201
Vgl. Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam/Dresden 1998 [1983], S. 29-59. Den Begriff Faksimile verwendet Henry Fox Talbot 1844 in seiner Schrift Der Stift der Natur, um fotografische Bilder zu beschreiben. Seine Schrift kann als programmatisch für die erste Phase gelten. Dort bespricht er neben dem bestimmenden Merkmal einer Fotografie, dass ihre »Faksimile-Qualität« sei, auch die physikalischen Grundlagen des fotografischen Verfahrens, ohne sie jedoch als Hauptcharakteristikum des Wesens des fotografischen Verfahrens hervorzuheben. Dennoch wurde das, was Dubois mit Index beschreibt, schon in dieser Phase überlegt, wenn auch ohne eigenen Begriff. Vgl. Talbot, Henry Fox: Der Stift der Natur in: Kemp, Wolfgang [Hg.]: Theorie der Fotografie Bd. I, München 1980, S. 60-64, S. 61f. Vgl. Dubois (1998 [1983]), a.a.O., S. 56. Ibidem, a.a.O., S. 49. Vgl. ibidem, S. 49ff.
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hier an dominiert die Theorie der Indexikalität der Fotografie, die übrigens heute immer noch aktuell ist.202 In ihren Aufsätzen Notes of Index I und Notes of Index II stört Rosalind Krauss das Schema, das Dubois für die Fototheorieschreibung ausgemacht hat, indirekt, wenn sie zeigt, dass eine Fotografie eigentlich nie aufgehört hat Faksimile zu sein.203 Als Fotografien Ende der 70er-Jahre schließlich unter dem Begriff Index subsumiert wurden, bedeutete dies nicht, dass das Denken einer Fotografie den Faksimile-Charakter abgeworfen hätte. Eine derartige stillschweigende Auffassung, die eine Fotografie als Index und als Faksimile begreift, tritt in den Erzählungen von Cahuns Körper ebenfalls zutage, beispielsweise wenn Cahuns Selbstportraits als Expression ihrer Identität, ihres Selbst, gedeutet werden, was sowohl in den Erzählungen über ihre Anorexie als auch über ihren Lesbismus oft der Fall ist. Die Indexikalität, die eine physische Verbindung zwischen einer Fotografie und ihren Referenten postuliert und zusätzlich einen Faksimile-Charakter der Fotografie impliziert, ist beim Denken von Cahuns fotografischem Körper eine wichtige Voraussetzung und zugleich eine Garantin, die ausgewählten Selbstportraits ein Mitspracherecht in der Diskussion über Cahuns Körper einräumt.
Index-Optik Die definierenden Elemente des fototheoretischen Konzepts des Index, den ich hier repräsentierenden Index nennen möchte, die physische Relation und der Faksimile-Charakter, sind auch wesentliche Argumente einer weitverbreiteten Auffassung der Fotografie, die festlegt, dass Fotografien geglaubt wird, dass ihnen ein Realitätsstatus zugesprochen wird. Man könnte sagen, in mit fotografischen Verfahren vertrauten Gesellschaften prägen diese beiden zentralen Charakteristika des fototheoretischen Narrativs der Indexikalität eine nahezu allgemeine Auffassung der Fotografie, selbst im digitalen Zeital202 Vgl. ibidem, S. 56. 203 Bezüglich der Kunst der 70er-Jahre spricht Rosalind Krauss im Artikel Notes of the Index II zwar von Indexikalität, doch impliziert ihr Index-Begriff meiner Ansicht nach auch den Faksimile-Charakter. Insbesondere wenn sie von der Indexlogik spricht, zeigt sich deutlich, dass in dieser Logik auch die Logik des Faksimile wirkt. Vgl. Krauss, Rosalind: Notes of the Index. Part 1, in: dies.: The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths, Cambridge/Massachusetts/London 1991, S. 196-209; dies. Notes of the Index. Part 2, in: dies.: The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths, Cambridge/Massachusetts/London 1991, S. 210-219.
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ter. Ohne dieses Phantasma der Präsenz und Referenz könnte eine Fotografie nicht als ein Beweis, als eine naturgetreue Repräsentation der Wirklichkeit, fungieren. In ihrem Zusammenwirken bilden die beiden Merkmale des repräsentierenden Index eine die Blicke der Betrachtenden strukturierende Rahmung, die Index-Optik genannt werden kann. Die Index-Optik ist eine Denkund Blicklinse, die das Verständnis dessen, was eine Fotografie an sich ist, modelliert. Diese Optik stellt in einem performativen Prozess die Überzeugung her, dass das Wesen einer Fotografie in einem physischen, repräsentierenden Verhältnis zu einem Referenten steht. Eine solche Auffassung fotografischer Bilder ist in den Erzählungen von Cahuns Körper äußerst produktiv. Und die Index-Optik einer Fotografie ist es auch, die den Selbstbildnissen von Cahun einen Dokumentcharakter verleiht und die Körper von Cahun im Zusammenhang mit anderen diskursiven Rahmungen mitgestaltet. In den Erzählungen von Cahuns Körper haben die Selbstportraits an vielen Stellen die Funktion eines Zeichens. Sie sagen über den Körper von Lucie Schwob aus, den sie zu repräsentieren scheinen. Die Überzeugung von der Indexikalität einer Fotografie, also des physischen Kontakts mit der Referentin, begünstigte, dass Cahuns Selbstportraits fast so begutachtet wurden, als stünde Lucie Schwob selbst leibhaftig da. In der Forschung der 90er-Jahre bildeten diese Bilder ein »empirisches Fundament« das zuvor so nicht existent war. Fotografien erscheinen als transparente Vermittler von Cahuns Körper, quasi als dessen Abdrucke, die eine ablesbare Information über ihn übertragen. Die Index-Optik sorgt zudem dafür, dass die Ereignishaftigkeit und Prozesshaftigkeit der fotografischen Information, ihre Historizität, unkenntlich wird. In Cahuns Selbstbildnissen des Bilderkonvoluts täuscht die Index-Optik vor, dass die Zeit der Entstehung der Erzählungen über ihren anorektischen und lesbischen Körper quasi null ist. Die Index-Optik bannt die zeitliche Komplexität der Erzählungen von Cahuns Körper, sie trägt dazu bei, die Verflechtung der Diskurse, Texte, Analysen, Ausstellungen und Kommentare, die seit den 90er-Jahren zu Cahuns Arbeiten aufgekommen sind, auszublenden, indem sie den Blick auf bestimmte Inhalte lenkt, die in dieser Optik als glaubwürdige Zeichen einer einstigen Präsenz erscheinen. Nur die eingefleischte Überzeugung, dass das Bild, mit dem man zu tun hat, eine abdruckhafte Repräsentation des abgebildeten Körpers ist, könnte Untersuchungen, wie ich sie in den Abschnitten 2.1 und 2.2 dargestellt habe, überhaupt erst auf diese Weise veranlasst haben. Mit Deleuze und Guattari ließe sich sagen, dass die Signifikanz zu einer »Uniformierung der Äußerung« führt, was die Missachtung des Fakts mit sich bringt, dass das, was man sieht,
2. Claude Cahun – Fotografin der Selbstportraits
oder das, was man zu sehen bekommt, eine Geschichte hat.204 Die Auffassung eines fotografischen Bilds als repräsentierenden Index ist ebenfalls eine Uniformierung der Äußerung. Bei Cahun führten Verweise auf Details auf den Selbstportraits, wie kurze oder lange Haare oder der Blick der Dargestellten, die dann als unmissverständliche Zeichen für die Zustände ihres Körpers präsentiert wurden, zu einer solchen Uniformierung der Äußerung. Die täuschende Minimierung der Zeit durch die Index-Optik dieser Selbstbildnisse bewirkt den Trugschluss eines eindeutigen Ursprungs dieser Fotografien, eines festen, stabilen Orts, an welchen zurückgekehrt werden kann. Diese Orte sind hier die private Person Lucie Schwob und die Fotografin Claude Cahun, die als nahezu tastbare, untersuchbare Körper und als ein abgeschlossener, klar umrahmter Werkkörper wahrgenommen werden. In der frühen Cahun-Forschung ist die Index-Optik an der Konstruktion bestimmter Sichtweisen, der Ausblendung von unlesbaren Inhalten und in den Erzählungen aktiver, diskursiver Rahmungen beteiligt. Im Zusammenwirken mit anderen nicht offensichtlich agierenden Rahmungen, wie dem Diskurs des Menschen und dem der Frau, lässt die Index-Optik bestimmte Bilder aus Cahuns Oeuvre sprechen und sie festigt diese spezifischen und durchaus kontingenten Wahrnehmungen als natürliche Wahrnehmung. Beispielsweise werden nur Bilder dessen, was als anthropomorph gilt, – entlang der Gleichung der menschliche Körper sagt über den menschlichen Körper aus – in die Erzählungen involviert. Hier erklärt sich zum Teil die Popularität der Selbstbilder von Cahun in der Forschung der 90er-Jahre. Diese Bilder alleine, von all den Bildern, die Cahun zugeschrieben werden, entsprechen den visuellen und gedanklichen Strukturen, in denen die Erzählungen über Cahuns Körper entstanden sind. Zusammen mit den Diskursen bezüglich des menschlichen Körpers (Anorexie und Lesbismus), die in den Erzählungen über Cahuns Körper am Werk waren, bildete die Index-Optik dieser Selbstbildnisse einen essenziellen Teil des »Apparats der körperlichen Produktion«,205 der zur Entstehung von Cahuns lesbischem und anorektischem Körper und indirekt des Körpers der Fotografin der Selbstportraits führte; eines Apparats, in dem verschiedene Technologien, Tätigkeiten, Materialitäten und Texte ineinanderwirkten und Körper generierten. Diese Körper sind von daher als eine »historische Besonderheit«
204 Vgl. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Berlin 1992 [1980], S. 180. 205 Vgl. Haraway, Donna: Die Biopolitik postmoderner Körper. Konstitution des Selbst im Diskurs des Immunsystems, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./New York 1995 [1989], S. 160-200, S. 170ff.
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anzusehen, die unter anderen aus sozialen Interaktionen hervorging. Bei der Produktion dieser Körper kam es zu einer gegenseitigen Beeinflussung, Unterstützung und Abhängigkeit zwischen dem Gesetz des Foto-Index und den Gesetzen der Norm der weiblichen Körperformen. Die Erzählungen über Cahuns Körper folgen, wie ich beispielsweise im Kapitel 2.2 gezeigt habe, einem dominierenden Bild einer mannish lesbian, dem Cahuns fotografische Körperlichkeiten auf einigen Selbstportraits zu entsprechen scheinen. Eine mannish lesbian zeichnet sich demnach durch ein konkretes Aussehen und ein konkretes Benehmen aus. In die Erzählungen von Cahuns Anorexie und Lesbismus werden überwiegend Bilder integriert, die der Norm der »entweiblichten« Körperform einer Frau entsprechen. Nur manche Selbstportraits sind aktiv in den Erzählungen über den Körper von Cahun, weil sie eine bestimmte menschliche Gestalt zeigen, beziehungsweise das, was als menschliche Gestalt gilt, weil sie Formen zeigen, die, innerhalb der diskursiven Rahmungen, mit denen sie in Beziehung gesetzt werden, erkannt, benannt und verstanden werden. Diese Fotografien zeigen eine repräsentierbare Realität, die an diese diskursiven Rahmungen gebunden ist. Die Rahmungen funktionieren als »normative Anweisungen«, die bestimmen, welche unter Cahuns Fotografien intelligible Bilder sowohl des lesbischen beziehungsweise anorektischen Körpers von Lucie Schwob als auch indirekt des Werkkörpers der Künstlerin Claude Cahun sind und welche nicht. Jedoch könnte die Entstehung der Körper von Cahun ohne die Index-Optik nicht auf diese Weise vonstattengehen. Die Index-Optik ist eine wesentliche Voraussetzung im Prozess des WahrWerdens einer Fotografie. Wie Judith Butler unterstreicht, agieren Normen noch vor dem fotografischen Akt,206 während die Index-Optik, so ließe sich ergänzen, vor allem erst nach seinem Vollzug, während des Betrachtens einer Fotografie, aktiv wird. Dem anorektischen und lesbischen Körper von Lucie Schwob liegen also neben spezifischen diskursiven Konstellationen, in denen sich gesellschaftlich verbreitete Auffassungen über weibliche/menschliche Körperformen und feministisch orientierte Auseinandersetzungen mit Weiblichkeit und dem Körper der Frau treffen, auch die Annahme zugrunde, das fotografische Bild sei ein privilegierter Träger der Wahrheit über das Fotografierte, deren indexikales Zeichen es ist. Sowohl die den weiblichen Körper betreffende und ihn hervorbringende diskursive Konstellation als auch die Annahme der Indexikalität einer Fotografie sind an vielen Stellen des Cahun-Diskurses 206 Vgl. Butler (2010), a.a.O., S. 66.
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an einer Täuschung über die Existenz einer determinierenden Ordnung beteiligt. Beispielsweise, wenn mit einer Lesbierin eine vermännlichte Frau verbunden wird oder die Fotografien als unzweideutige und auf den ersten Blick verständliche Spuren des Fotografierten gelesen werden. Mit Alfred North Whitehead lässt sich diese Täuschung, die diese Rahmungen einleiten, als ein Trugschluss der unzutreffend platzierten Konkretheit beschreiben. Whiteheads Konzept des »Trugschlusses der unzutreffend platzierten Konkretheit« erlaubt es besonders gut zu veranschaulichen, dass es unabhängig von den Relationen, aus denen sich ein Körper oder eine Fotografie ereignet, keine solche Existenz dieses Körpers oder dieser Fotografie geben kann. Der Begriff des »Trugschlusses der unzutreffend platzierten Konkretheit« wird von Whitehead für eine Fehleinschätzung verwendet, bei der das Abstrakte mit dem Konkreten verwechselt wird.207 Diese Fehleinschätzung beruht auf der Annahme, dass etwas direkt erfahren wird, was eigentlich indirekt und ausgedehnt wahrgenommen wird.208 Ein Trugschluss der unzutreffend platzierten Konkretheit tritt in Erscheinung, wenn das Konkrete, ohne jegliche Hinweise auf seine Entstehung, als Substanz begriffen beziehungsweise beschrieben wird. Das Konkrete ist nach Whitehead nur in Relationen mit seiner Mitwelt zu denken. Das Erkannte sei ohne ein bestimmtes Wissen, bestimmte Erinnerungen und ein bestimmtes Inbeziehungsetzen nicht verständlich. Das Erkennen basiert demnach auf Erfahrung und Wissen aus der Vergangenheit und zu einem gewissen Grad auch auf der Wiederholung. Ist allerdings kein Hinweis auf die Erzeugung dieser Substanz vorhanden, dann ist das, wovon gesprochen wird, nach Whitehead eine täuschende Abstraktion.209 Beispielsweise trügen die Index-Optik und andere diskursive Rahmungen in der Erzählung von Cahuns Anorexie, wenn das fotografische Bild so verstanden wird, als repräsentiere es selbstständig nackte Fakten, die auf natürliche Weise zu selbstverständlichen Assoziationen führen. Die Betrachtung der fotografischen Selbstportraits als indexikale Zeichen überblendet die komplexe Geschichtlichkeit dieser Körper von Cahun. Whitehead legt dar, dass der Trugschluss der unzutreffend platzierten Konkretheit oft im Fehler der einfachen Lokalisierung liegt, wo das Wahrgenommene nur an
207 Vgl. Whitehead, Alfred North: Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt a.M. 1988 [1925], S. 66ff. 208 Vgl. Whitehead, Alfred North: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a.M. 2011 [1929], S. 134. 209 Vgl. ibidem, S. 184.
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einen Ort lokalisiert wird, und zwar nicht im Wahrnehmenden, und somit als selbstständiges und unabhängiges Sein begriffen wird, das quasi keine Verbindungen zu seiner Mitwelt hat.210 Die einfache Lokalisierung ist aus der Sicht Whiteheads ein Irrtum, weil sie auf der Annahme basiert, dass das, was bemerkt wird (taking account of), woanders ist als dort, wo es aufgefasst wird.211 Für Whitehead geschieht eine Konkretisierung, das Konkretwerden, nämlich immer aus einer bestimmten Position, sie hat einen »Modus der Lokalisierung« (mode of location)212 und sie ist heterogen: »Es gibt also hier, an diesem Ort, ein Erfassen von Dingen, die einen Bezug zu anderen Orten haben«213 . Alles Konkrete sei eine Auffassung von einem bestimmten Standpunkt A im Raum und in der Zeit, in der B (das Wahrzunehmende) bei A (die Wahrnehmende) durch das Erfassen vergegenwärtigt werde.214 Das, was wahrgenommen wird, ist demnach eine Wahrnehmung aus einer Perspektive, ein spezifisches Erfassen »vom Standpunkt der erfassenden Vereinigung in Raum und Zeit«215 . Dabei geht es jedoch nicht um einen Relativismus, sondern ganz klar um einen Relationismus. Whitehead denkt die Welt als »ein vernetztes Beziehungsgeflecht von Ereignissen«216 . Das, was sich zeigt, hat also eine komplexe Vergangenheit, es ist ein Knoten verschiedener Relationen und Daten, die seinen Formationsprozess ausmachen. Es ist kontingent, relational und einmalig, »ein individueller Sachverhalt«217 , der an spezifischem Ort zu bestimmter Zeit zustande kommt und nicht präexistente Substanz ist. Dem folgend müssen auch Cahuns anorektischer Körper, ihr lesbischer Körper und Cahuns Werkkörper als Effekte eines Formationsprozesses, der in den frühen 90er-Jahren in Frankreich und den USA einsetzte, gesehen werden, ein Prozess, der durch die Auffassung der Fotografie als Index maßgeblich unterstützt wurde. Jene Selbstportraits, die Cahuns Anorexie oder ihren Lesbismus in den Erzählungen zu bezeugen scheinen, waren keine selbstverständlichen Wissensquellen, die zur Schöpfung des Wissens bereitstan-
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Vgl. Whitehead (1988 [1925]), a.a.O., S. 66ff. Vgl. ibidem, S. 86. Vgl. ibidem, S. 88. Ibidem, S. 87. Vgl. ibidem, S. 88. Ibidem, S. 87. Deuber-Mankowsky, Astrid: Praktiken der Illusion: Kant, Nietzsche, Cohen, Benjamin bis Donna J. Haraway, Berlin 2007, S. 284. Whitehead (1988 [1925]), a.a.O., S. 88.
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den, sondern sie erwuchsen zu dieser Zeit mit der Forschung zu Quellen. Die Index-Optik einer Fotografie basiert auf einem Trugschluss der unzutreffend platzierten Konkretheit und leitet einen weiteren ein, den von dem Körper von Cahun. Der eine betrifft also das fotografische Verfahren – eben die Überzeugung von der Möglichkeit einer Fixierung der Berührung zwischen dem Referenten und der fotosensiblen Substanz –, der andere betrifft die Annahme eines Substanzcharakters der Wirklichkeit, im Fall von Cahun einer bestimmten Form des menschlichen Körpers, den eine Fotografie abbildet und bezeugt. Auf diese Weise werden die Selbstportraits des Bilderkonvoluts im Zusammenhang der Erzählungen zu Signifikanten, die auf ein Signifikat verweisen. Eine Fotografie ist gerade im Hinblick auf die Index-Optik eine aktive Generatorin, denn als Akteurin indexikaler Operationen ist sie nicht nur kodiert, sie wirkt auch selbst kodierend. Sie trägt im Cahun-Diskurs zur Entstehung einer Körperlichkeit bei, die zuvor so nicht da war, sie visualisiert sie, interpretiert sie und naturalisiert sie als das Repräsentierbare. Das Sprechen von Cahuns Anorexie, die auf den Selbstportraits erkannt wird, wird in der Forschung nicht möglich, weil die Fotografien dies bezeugen würden, sondern es wird unter anderen ermöglicht durch spezifische Vorstellungen von fotografischen Bildern und von kranken oder auf bestimmte Weise sexualisierten Körpern, die sich in den Analysen kreuzen, gegenseitig unterstützen und verknoten. Es ist die spezifische Entstehungssituation von Cahuns Körper innerhalb von bestimmten diskursiven Rahmungen, die erst aus den erwähnten Selbstbildnissen unmissverständliche Bilder mit konstanten und selbstverständlichen Aussagen macht. Solche Zeichen und Verweise waren diese Bilder zuvor nicht und weder waren sie Fleisch, das vermessen, noch eine Gesprächspartnerin, die psychoanalysiert werden konnte. Die Selbstportraits des Bilderkonvoluts wurden erst im Zuge der analytischen Arbeit, im Zuge des Lesens, Zeigens und Interpretierens der Fotografien zu Indices eines kranken und auf spezifische Weise begehrenden Körpers von Cahun, der allerdings nicht alleine im visuellen Bereich zu lokalisieren ist. Die Bedeutungen der fotografischen Bilder sind nicht präexistent und auch nicht stabil. Die Welt, von der gesprochen wird und die in der Forschung auf Cahuns Selbstportraits (wieder-)erkannt wird, ist nicht die Welt, sondern eine aus einer bestimmten Position, von einem bestimmten Standpunkt aus und in einer bestimmten Konstellation erfasste Welt. Nach Whitehead verändert die Welt, die erkannt wird, »die Bedeutung je nach Standpunkt«218 . Ein Kör218
Deuber-Mankowsky (2007), a a.O., S. 291.
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per, der mittels der Fotografie abgebildet wird, ist nicht einfach in dieser Form bereits da gewesenes Fleisch, sondern er wird in körperbildenden Prozessen generiert, in Prozessen, die unterschiedliche Konkretisierungselemente umfassen.
3. Das Fotografische? Fotografien des Selbst und der Objekte
3.1
Die Macht des Index: Selbstportraits
Selbstportraits – Abbilder des Selbst Seit Anfang der 90er-Jahre wurden die Körper, die auf Cahuns fotografischen Selbstportraits zu sehen sind, mit einem geschlechtlichen Dasein, sexuellen Begehren und einem bestimmten gesundheitlichen Zustand ausgestattet. In diesen Prozessen wurde die Oberfläche dieser Selbstportraits zum lebendigen Körper, was nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass es sich um Fotografien handelte und diese in dieser Konstellation auf eine sehr spezifische Weise funktionierten, nämlich als Repräsentation ihres Körpers und ihres Selbst. In dieser signifikanten Konstellation wurden die fotografischen Selbstportraits zu einem indexikalen Zeichen; zu einem indexikalen Zeichen, das ich jedoch anders fasse als die Vorstellung eines Index, wie sie in der Fototheorie seit Rosalind Krauss und Philippe Dubois dominiert. Die Selbstportraits wurden in der Forschung der 90er-Jahre zu etwas, das ich intelligiblen Index nennen möchte, wogegen ich den Index-Begriff der Fototheorie als repräsentierenden Index auffasse. Die Auffassung der Fotografie als Index in der Fototheorie ist, wie in Kapitel 2.3. erwähnt, relativ jung, sie entstand in den späten 70er-Jahren. Jene Theoretiker_innen, die die Fotografie als Index beschrieben, beriefen sich auf die Zeichentheorie von Charles Peirce. Trotz vieler kritischer Einwände ist diese Tendenz in der Fototheorieschreibung heute noch immer aktuell. Aufgebaut ist dieser Fotodiskurs, worauf Mirjam Wittmann zu Recht mit Nach-
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druck hinweist, quasi auf wenigen Sätzen von Charles Sanders Peirce.1 Dazu zählt vor allem die folgende Passage aus Die Kunst des Räsonierens aus dem Jahr 1893: Photographien, besonders Momentaufnahmen, sind sehr lehrreich, denn wir wissen, daß sie in gewisser Hinsicht den von ihnen dargestellten Gegenständen genau gleichen. Aber diese Ähnlichkeit ist davon abhängig, daß Photographien unter den Bedingungen entstehen, die sie physisch dazu zwingen, Punkt für Punkt dem Original zu entsprechen. In dieser Hinsicht gehören sie also zu der zweiten Zeichenklasse, die Zeichen aufgrund ihrer physischen Verbindung sind.2 Diese Zeichenklasse nennt Peirce Index. Auch der folgende Satz aus seiner Schrift Phänomen und Logik der Zeichen (Spekulative Grammatik) wird in diesem Zusammenhang, zur Stützung der Theorie der Fotografie als Index, oft zitiert: So ist ein Foto ein Index, weil die physikalische Wirkung des Lichts beim Belichten eine existentielle eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts herstellt, und genau dies ist es, was an Fotografien oft am meisten geschätzt wird.3 Es sind überwiegend diese beiden Textpassagen, auf die sich die Forschung beruft, wenn sie versucht, die Indexikalität der Fotografie aufzuzeigen. Diese sind auch die wenigen Stellen, an denen sich Peirce explizit auf die Fotografie bezieht, wenn er vom Index spricht. Von besonderer Bedeutung ist hier, wie auf der Basis dieser beiden Textpassagen eine Definition der Fotografie als Index entworfen wird, deren wesentlicher Bestandteil eine physische Relation zwischen einer Fotografie und ihrem Referenten beziehungsweise Objekt ist. Wie Mirjam Wittmann unterstreicht, hat sich Peirce zwar des Beispiels der Fotografie in Bezug auf den Index bedient, doch war die Fotografie nur ein Beispiel unter vielen.4 Er habe nicht die Fotografie an sich untersucht, um seine Theorie, und zwar auch nicht ausschließlich die des Index, zu unter-
1
2 3 4
Vgl. Wittmann (2012 a), a.a.O., S. 63; Wittmann, Mirjam: Fremder Onkel. Charles Sanders Peirce und die Fotografie, in: Engel, Franz; Queisner, Moritz; Viola, Tuillio [Hg.]: Das bildnerische Denken von Charles S. Peirce, Oldenburg 2012 (b), S. 303-322, S. 303. Peirce, Charles: Die Kunst des Räsonierens (Ausschnitt), in: Stiegler, Bernd: Texte zu Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010 [1893], S. 77. Peirce, Charles: Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt a.M. 2010 [1903], S. 65. Vgl. Wittmann (2012 b), a.a.O., S. 321.
3. Das Fotografische? Fotografien des Selbstund der Objekte
mauern.5 Die Fotografie stand bei Peirce beispielsweise ebenfalls Modell für die Bildung von Vorstellungen.6 Zur Beschreibung und Veranschaulichung dieser Prozesse bediente sich Peirce der Kompositfotografie.7 Vorstellungen generieren sich demnach wie eine Kompositfotografie, aus mehreren übereinandergelegten Negativen, aus einer Synthese von vielen Elementen. Wittmann weist darauf hin, dass Peirce keinen einheitlichen Begriff der Fotografie hatte, eher sprach er von einzelnen Arten der Fotografie mit unterschiedlichen Eigenschaften. Diese These bestärkt die Autorin mit ihrer Feststellung, dass Peirce sich lediglich mit drei Arten von Fotografie beschäftigt hat. Dazu zählt sie, neben der schon erwähnten Kompositfotografie, auch fotografische Aufnahmen einer Sonnenfinsternis und die Chronografie.8 Wenn Peirce also von der Fotografie schrieb, hatte er nach Wittmann bestimmte fotografische Verfahren vor Augen, während er andere, die zur Zeit der Entstehung seiner Schriften in Anwendung waren, nicht einbezog. Die Fotografie hat zudem keine privilegierte Stellung in Peirces Index-Theorie. Einen weiteren Kritikpunkt sieht Wittmann darin, dass die Fotografie nicht Peirces einziges Beispiel für ein Index-Zeichen war. Neben dem fotografischen Bild nannte Peirce viele andere Beispiele für den Index, beispielsweise einen Wetterhahn.9 Des Weiteren habe Peirce ein Zeichen als »prozessuale Erkenntnis« aufgefasst.10 Zeichen im Allgemeinen, darunter auch die Indices, habe er als dynamische Prozesse verstanden.11 Diese wesentlichen Punkte seiner Zeichentheorie fänden, bedauert Wittmann, bei der Zusammenführung von Index und Fotografie kaum Berücksichtigung.12 Wer also eine kohärente, knappe Definition des Index in Peirces Schriften sucht, wird nicht fündig werden. Peirces Vorstellung von Zeichen, die indexikalen Charakter aufweisen, ist breit angelegt und deshalb oft diffus. An einer Stelle schreibt Peirce: »Der Index ist physisch mit seinem Objekt verbunden;
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Vgl. ibidem, S. 315ff. Vgl. ibidem, S. 316. Vgl. ibidem, S. 319. Vgl. ibidem, S. 321. Vgl. Wittmann, Mirjam: Die Logik des Wetterhahns. Kurzer Kommentar zur Debatte um fotografische Indexikalität, in: Kunsttexte 1 (2010), S. 2, online: www.kunsttexte.de/ index.php?id=711&idartikel=30638&ausgabe=30634&zu=121&L=1 (zuletzt besucht am 10.2.2013). Vgl. Wittmann (2012 a), a.a.O., S. 69. Vgl. Wittmann (2012 b), a.a.O., S. 315. Vgl. Wittmann (2012 a), a.a.O., S. 69.
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sie bilden ein organisches Paar«13 . Hier wird eine Gewissheit über den Index vermittelt, die auf einem Hinweis auf ein reales Objekt beruht. Dieses reale Objekt ist für Peirce eine Tatsache oder ein »tatsächlicher Zustand der Dinge«14 . Aber an anderen Stellen schwindet diese Gewissheit wieder. Nämlich dann, wenn Peirce schreibt, dass eigentlich alle Zeichen indexikalen Charakter haben, dass es keine reinen Indices geben kann oder wenn er in allen Zeichen Mixzeichen sieht.15 Ein Index ist nicht nur eine fotografische Momentaufnahme, sondern auch ein Wetterhahn, eine Sonnenuhr, ein Name, ein Klopfen an der Tür oder ein Donnern – eben alles, was »irgendwie Aufmerksamkeit auf sich zieht«16 . Peirces Anmerkung, dass die Zeichen durch die Erfahrung, die Wiederholung oder durch das Lernen transformiert werden können, beispielsweise von einem Ikon zum Index oder von einem Index zum Symbol, widerstrebt ebenfalls der Vereinheitlichung der Definitionen seiner Trichotomie der Zeichen.17 Ein Index ist für Peirce auch ein Mittel für die Präsenzproduktion, der Index zeige, ohne eine eigene Existenz zu besitzen: »The index asserts nothing; it only says ›There!‹ It takes hold of our eyes, as it were, and forcibly directs them to a particular object, and there it stops.«18 Peirce begreift Index-Zeichen, ebenso wie andere Zeichen, als Zeichen, die prozessualen Charakters sind und als solche existieren, wenn etwas zum Gegenstand der Wahrnehmung wird.19 Diese hier genannten Aspekte führen keinesfalls zu einer Konsolidierung des Begriffs.
Intelligibler Index Die seit den 70er-Jahren dominierende Definition der Fotografie als Index in der Fototheorie basiert auf der Überzeugung, dass das, was eine Fotografie zeigt, in einer physischen Verbindung zu ihr steht. Der indexikalen Verbindung wird, was sich oft unbewusst vollzieht, zusätzlich ein FaksimileCharakter zugeschrieben, der sich in einer Ähnlichkeit zwischen dem Inhalt
13 14 15 16 17 18 19
Peirce, Charles: Die Kunst des Räsonierens, in: ders. Semiotische Schriften I, Frankfurt a.M. 1986 [1893], S. 191-202, S. 198. Peirce (2010 [1903]), a.a.O., S. 70. Vgl. ibidem, S. 67f. Peirce (1986 [1893]), a.a.O., S. 198. Vgl. ibidem, S. 197. Peirce zitiert nach Dubois: Dubois (1998 [1983]), a.a.O., S. 76. Vgl. Peirce (2010 [1903]), a.a.O., S. 65.
3. Das Fotografische? Fotografien des Selbstund der Objekte
einer Fotografie und dem vermeintlichen Referenten äußert. Diese Variante des Index bezeichne ich als repräsentierenden Index, weil die Fotografie dort als eine Repräsentation des Gezeigten verstanden wird. Die korrelierende Art und Weise des Denkens der Fotografie habe ich Index-Optik genannt. Es ist die Index-Optik, die die Glaubwürdigkeit fotografischer Bilder, ihr Dasein als Vermittlerinnen der Wahrheit des Abgebildeten, sichert. Diskursive Rahmungen einer fotografischen Visualität, wie sie Judith Butler beschrieben hat, sind auf die Index-Optik angewiesen, um existieren zu können, um sie als eine Repräsentation des Abgebildeten gelten zu lassen. Die Index-Optik fotografischer Bilder ist wiederum von diesen bestimmten Rahmungen, in denen sich die Fotografien bewegen, abhängig. Sie hat dazu beigetragen, dass Cahuns Selbstportraits des Bilderkonvoluts in den diskursiven Rahmungen der Erzählungen vom Körper Cahuns wirksam sein können. Cahuns Selbstportraits scheinen sich reibungslos in deren Strukturen eingefügt zu haben. Jene Selbstportraits, die in den Erzählungen von Cahun wirken, genießen den Status einer Repräsentation von Cahuns Körper. Sie verkörpern diskursgebundene Vorstellungen über den anorektischen und lesbischen Körper, die in den Erzählungen über Cahun agieren. Wenn Peirce vom Index spricht, erwähnt er zwei Aspekte, deren Einbeziehung in das Zusammendenken von Index und Fotografie vieles ändern könnte. Es sind dies die Kontingenz der Index-Zeichen und die Gegebenheit, dass ein Index-Zeichen als solches aufgefasst werden muss, um als Index-Zeichen zu existieren.20 Diese beiden Aspekte deuten an, dass der Index auch anders verstanden werden kann denn als rein physische Relation. Sie erlauben eine neue Annäherung an die Definition des Index, die ich auch für die Reflexion über die Entstehung des Bilds von Cahun als Fotografin der Selbstportraits für äußerst wichtig erachte. Bisher bedeutete es in der Fototheorie für eine Fotografie Index zu sein in einer physischen Relation mit dem Fotografierten zu stehen, was sie zu einer Zeugin machte, zu einem repräsentierenden Index. Problematisch dabei ist die zu enge Fassung des Peirce’schen Index, die sich auf die physikalische Genese einer Fotografie und ihre auf diese Weise begründeten Darstellungsfähigkeiten konzentriert. Eine solche Fassung des
20
Vgl. ibidem. Helmut Pape spricht im Zusammenhang des Peirce’schen Index explizit von der Kontingenz der indexikalen Zeichen. Vgl. Pape, Helmut: Fußabdrücke und Eigennamen: Peirces Theorie des rationalen Kerns der Bedeutung indexikaler Zeichen, in: Krämer, Sybille; Kogge, Werner; Grube, Gernot [Hg.]: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M. 2007, S. 37-55, S. 45.
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Begriffs greift zu kurz, da viele Faktoren außer Acht gelassen werden, die bei der Entstehung und Rezeption fotografischer Bilder essenziell sind. Helmut Pape folgend, möchte ich den Fokus von den Darstellungsfähigkeiten des Index auf die »Weltbezugsbedingungen« des Index richten.21 Denn gerade der Austausch mit der Umgebung macht ihn erst als indexikales Zeichen erfahrbar.22 Dieser Austausch mit der Umgebung zeichnet sich in den Erzählungen von Cahuns Körper im zweiten Kapitel deutlich ab. Er hat die Selbstportraits zweifellos zu Indices von Cahuns lesbischem Begehren und des gesundheitlichen Zustands ihres Körpers gemacht. Wenn die Indexikalität einer Fotografie also mit dem Vermögen Wahrheit über das Fotografierte zu vermitteln verbunden wird, wie es in der Auffassung des repräsentierenden Index der Fototheorie der Fall ist, wird deutlich, dass dieses Vermögen von mehreren Faktoren abhängt, von mehr als nur physikalischen und chemischen Vorgängen zwischen dem Licht, der lichtempfindlichen Substanz und dem Objekt, das, die Lichtstrahlen reflektierend und sie auf die Substanz projizierend, eine Schwärzung verursacht. Der auf eine Fotografie angewendete Begriff des Index muss deswegen breiter angelegt werden. Ich tendiere aufgrund dessen zu einer Betrachtungsweise des Index, die, wie Uwe Wirth schreibt, die reale Verbindung zwischen Zeichen und Objekt nicht notwendig wortwörtlich als eine sichtbare Verbindung, sondern eher als »Resultat eines interpretativen Aktes«23 versteht. Eine bestimmte Fotografie wird zu einem indexikalen Zeichen, weil sie als solches interpretiert wird, und nicht, weil es ihr ontologisches Prinzip ist. Fotografische Bilder, die als real gelesen werden, haben notwendigerweise einen kontextuellen Rahmen, durch den sie als solche wahrgenommen werden. Im Falle von Cahuns Fotografien kann durchaus von einem kontingenten Status der Fotografien als repräsentative Index-Zeichen gesprochen werden. Nur die ausgewählten Fotografien vermitteln die »Wahrheit« über Cahun, nur diese agieren in den Erzählungen als indexikale Zeichen. Sie tun dies, weil sie sich in erster Linie in bestimmte enge, von den Diskursen der Forschung gesetzte, Rahmen einfügen, die aus ihnen indexikale Zeichen machen beziehungsweise sie als solche erkennen lassen. In den frühen Studien, die seit Anfang der 90er-Jahre Cahuns Fotografien fokussieren, wird nicht 21 22 23
Vgl. Pape (2007), a.a.O., S. 46. Vgl. ibidem. Wirth, Uwe: Zwischen genuiner und degenerierter Indexikalität: Eine Peirce’sche Perspektive auf Derridas und Freuds Spurbegriff, in: Krämer, Sybille; Kogge, Werner; Grube, Gernot [Hg.]: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M. 2007, S. 55-82, S. 61.
3. Das Fotografische? Fotografien des Selbstund der Objekte
jede Fotografie analysiert, nicht jeder Fotografie wird ein Mitspracherecht zuerkannt. In dieser Selektion, die unter den Fotografien getroffen worden war, zeigt sich mitunter die Kontingenz der Fotografie als indexikales Zeichen. Ein fotografisches Bild wird in einer bestimmten materiellen-semiotischen Konstellation zu einem indexikalen Zeichen, wobei es das Repräsentierbare der materiell-semiotischen Konstellation (ab-)bildet.24 Und das Repräsentierbare ist gemäß dem Konnex der vorherrschenden Normen das, was denkbar, wahr und als solches erkennbar ist. Weiterhin würde die Berücksichtigung dieser von Peirce genannten Faktoren auch bedeuten, dass die Indexikalität nicht das universelle Prinzip einer Fotografie sein kann. Denn damit ein Index als solcher existieren kann, als solcher wahrgenommen werden kann, muss es Rahmen geben, in denen er als solcher lesbar ist. Dieselben Rahmen können fotografische Bilder aber auch ausschließen. Diese Dynamik, der Einfluss diverser interpretativer Akte und Diskurse, die die fotografischen Rahmen durchdringen, macht eine Fotografie erst zu einem indexikalen Zeichen – deswegen bezeichne ich eine solche Fotografie als intelligiblen Index. Intelligible Indices liefern Informationen, die für die Leser_innen entzifferbar sind, sie liefern Sichtbarkeiten, die erkennbar und vielsagend sind, weil sich in ihnen gekannte Körperlichkeiten, Bedeutungen, Bilder und Vorstellungen miteinander verknüpfen. In der Spezifik des Austauschs mit der Mitwelt werden die Selbstportraits des Bilderkonvoluts zu Bildern von Cahuns Körper und in dieser liegt auch das Interesse an Cahuns Selbstportraits begründet. Die diskursiven Rahmungen machen eine Fotografie zu einem indexikalen Zeichen, sie wird zu einem intelligiblen Index. Wenn ein fotografisches Bild als Index agiert, dann als intelligibler Index, als ein Zeichen also, das mehr voraussetzt als eine rein positivistisch begriffene physische Verbindung, denn dieser Index gründet auch auf diskursiven Kontakten, die Verbindung ist von materiell-semiotischem Charakter. Wird die fotografische Indexikalität als intelligible Indexikalität verstanden, kann nicht jede Fotografie immer und überall ein indexikales Zeichen sein. Der Status des Index einer Fotografie ist kontingent und, was es an dieser Stelle zu unterstreichen gilt, er ist mit einer Tätigkeit des Interpretierens, des Schauens und des Zeigens verbunden. Eine Fotografie kann einen IndexStatus besitzen, jedoch nicht notwendigerweise. Im Fall der Erzählungen der Körper von Claude Cahun sind die Selbstportraits des Bilderkonvoluts intelligible Indices. Diesen Status erlangten die Bilder während des Forschungs24
Vgl. Butler (2010), a.a.O., S. 72-74.
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prozesses, in dem viele andere von Cahuns Fotografien an den Rand gedrängt wurden. Ihre Involvierung in eine bestimmte diskursive Konstellation der Kunstforschung der 90er-Jahre machte die Selbstportraits so wesentlich und nicht zuletzt auch aufgrund dessen wurden sie zu Wissensquellen in Sachen von Cahuns Körper. In dieser spezifischen Konstellation waren es scheinbar alleine die Selbstportraits, die bestimmte anthropomorphe Gestalten zeigten, die Informationen über Cahuns Körper liefern konnten. Unter anderen aus Gründen der Kompatibilität mit den Diskursen bezüglich des anorektischen und lesbischen Körpers wurden ausgerechnet die Selbstportraits ausgewählt, angeschaut, gelesen, zusammengestellt, beschrieben, in Zusammenhänge gebracht, abgebildet und ausgestellt – und in diesen Prozessen wurden sie zu dem Werkkörper von Claude Cahun. Die Fokussierung dieser Bilder in der Forschung ereignete sich innerhalb zum Teil nicht-bewusster Rahmungen, in welchen die Selbstportraits Erinnerungen beziehungsweise ein Wiedererkennen hervorriefen. Das Kriterium, das im Stillen über den Kunstcharakter der einzelnen Fotografien von Cahun entschied, war an Relationen der Ähnlichkeit mit dem Repräsentierbaren und an der Kompatibilität mit körperlichen Paradigmen ausgerichtet. Weniger die ästhetische Anziehungskraft, die Normen des Kunstdiskurses oder das Nachdenken über die Form oder das Material haben im Fall von Cahuns Fotografien entschieden, was als Kunst gilt, sondern bestimmte Ordnungen des Repräsentierbaren bezüglich des weiblichen Körpers. Die Selbstportraits des Bilderkonvoluts sind eine der vielen Ausformungen des Apparats der körperlichen Produktion, der Cahun als Fotografin hervorbringt. In die Erzählungen von Cahuns Körper wurden schließlich keine Bilder eingebunden, die kein Wiedererkennen hervorriefen, die integrierten Bilder stärkten die Thesen der Forschung und sie gestalteten sie mit. Bei den Selbstbildnissen des Bilderkonvoluts sorgen außerfotografische Rahmungen für Körperlichkeiten, deren Bilder einer Kopie gleichgestellt werden, und die Rahmung der Index-Optik verschafft ihnen Glaubwürdigkeit. Keine fotografische Visualität kann intelligibel sein, ohne hegemonialen diskursiven Rahmungen zu entsprechen und nachvollziehbar mit ihnen zu interagieren. Diese Bilder müssen, um mit den Worten von Kathrin Peters zu sprechen, »untereinander und innerhalb von kulturellen Regeln der Darstellung plausibel sein«25 . Die indexikalen und andere diskursive Rahmen, die den weiblichen Körper betreffen, treffen sich in den ausgewählten Selbstportraits und erzeugen zusammen macht- und wirkungsvolle 25
Peters (2010), a.a.O., S. 132.
3. Das Fotografische? Fotografien des Selbstund der Objekte
Narrationen und Körperbilder. Die fotografische Form der Selbstportraits ist neben den diskursiven Rahmungen ein wichtiger Faktor in der Bildung der Körperlichkeiten von Lucie Schwob und auch ihres Bilds als Künstlerin, ein Faktor, der nicht verkannt werden sollte. Werden Medien als sich ständig modifizierende Orte des Werdens einer Information, des Nachdenkens und des Benutzens verstanden, wie es diese Arbeit vertritt, können sowohl die Bedeutung und das Verständnis einer Fotografie als auch das Fotografierte als Prozesse eines Austauschs gedacht werden, ihre Formen, Aussagen und Funktionsweisen werden nur unter bestimmten Umständen konkret. Die fotografischen Bilder, ihre Bedeutungen, das, was sie zeigen, oder die Art, wie sie gelesen werden, konkretisieren sich in Ereignissen, sie sind semiotisch-materielle Erzeugungsknoten, wobei ihre Entstehung und Rezeption eine Geschichte haben, die keinesfalls nur auf unmittelbaren sinnlichen Eindrücken basiert. Dies anzumerken ist wichtig, weil eine Fotografie, wie im Fall von Cahuns Arbeiten, nicht immer das Gleiche bedeutet, nicht immer als das Gleiche aufgefasst wird. Den Selbstportraits hat ihre fotografische Form in den Erzählungen von Cahuns Körper den Status des intelligiblen Index gesichert, den vielen übrigen jedoch nicht. Weil ihre Selbstportraits den Status eines indexikalen Zeichens angenommen haben, ist Cahun überhaupt erst zu einer Fotografin von Selbstportraits geworden, zu einem Bild, das unter anderen Cahuns Kunsttheorie und ihre Objekte überschattete. Aber auch ihre Objekte liegen, ähnlich wie die Selbstportraits, in fotografischer Form vor. Wie ich in Kapitel 1.2. am Rande angemerkt habe, sind die Objekte heute bis auf eines ausschließlich als Fotografien zugänglich. Im ersten Kapitel habe ich mich den Objekten zugewendet und mich mit dem Verhältnis zwischen ihnen und Vorschlägen Cahuns für eine revolutionäre Kunst beschäftigt, die sich in den Objekten realisierten. Dort war ich bemüht zu zeigen, wie wichtig die Tätigkeit der Herstellung der Objekte für Cahun war und wie viel Kraft und umstürzlerischer Charakter in den Objekten lag. Es darf jedoch nicht unbeachtet belassen werden, dass die Objekte als Fotografien beziehungsweise in den Fotografien existieren. Es erscheint mir deswegen außerordentlich wichtig, den Fakt zu bedenken, dass man es mit Fotografien zu tun hat, wenn von Cahuns Objekten gesprochen wird. Die fotografische Form der Objekte agiert in dieser Konstellation anders. Auch hier kann der Fotografie nicht lediglich die Rolle einer Vermittlerin zugesprochen werden, augenscheinlich ist sie mehr als eine Dokumentation der Objekte. Im Folgenden möchte ich überlegen, wie der Akt
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des Fotografierens in den Objektfotografien mit dem informen Dasein der Objekte interagierte.
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Objektfotografien: objet-photo oder fotografische Ausdrucksmaterie
Unter den wenigen Studien, die sich Cahuns Objekten widmen und sich den Objekten auch in ihrer fotografischen Beschaffenheit zuwenden, ist vor allem ein Buch von Gen Doy zu nennen. Doy hat die Wichtigkeit der Fotografie in diesem Zusammenhang hervorgehoben. In ihrer Monografie Claude Cahun. A Sensual Politics of Photography unterstreicht Doy das Zusammenfließen von Cahuns politischen Interessen und ihrer, sich in der 30er-Jahren verändernden, Kunstpraxis, nämlich ihre Hinwendung zur Objektherstellung.26 Doy erklärt zu Recht, dass die Fotografien keine einfachen Aufnahmen dessen sind, was Cahun zusammengebaut hat. Als Fotografien würden die Aufnahmen die Merkwürdigkeit und die Subversivität der Objekte steigern und unterstreichen.27 Die Autorin wundert sich, wie leicht sich die für sie unrealistischen und irrationalen Objekte in den logischen, wissenschaftlichen Prozess des Fotografierens einfügen.28 In diesen Arbeiten Cahuns träfen sich die unmittelbare Materialität der Fotografie und das Unreale der Objekte, die dann zusammen zur Befreiung von rationalen Denkstrukturen führten.29 Im Widerspruch zu den obigen Ausführungen sei das artifizielle Leben, das Cahun kreiert hat, jedoch von der Künstlerin selbst durch den Vorgang des Fotografierens eingefroren und paradoxerweise auch unwirklich gemacht worden.30 Doy spricht von einem Verfremdungseffekt, den die Fotografie bewirkt hat.31 Andrea Oberhuber ist ebenfalls unter den Wissenschaftler_innen, die sich unter Berücksichtigung der Rolle der Fotografie mit Cahuns Objekten befasst hat. Oberhuber untersucht das Verhältnis zwischen Bild, Text und den Fotografien im Buch Le Coeur de Pic von Lise Deharme, für welches Cahun Fotoillus-
26 27 28 29 30 31
Vgl. Doy (2007), a.a.O., S. 112. Vgl. ibidem, S. 122. Vgl. ibidem, S. 136. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem, S. 122. Vgl. ibidem, S. 123.
3. Das Fotografische? Fotografien des Selbstund der Objekte
trationen geliefert hat.32 Im Gegensatz zu Doy, die von einem Verfremdungseffekt spricht, spricht Oberhuber von einer Verfälschung, die die Fotografien einleiten: Midway between snapshot and surrealist photomontage, these trompel’oeil images create a false sense of ›reality‹, precisely because of their resemblance to a theatre stage. They give palpable dimension to the ›petit théâtre d’enfance […] précieux et intimiste‹ that is staged in Deharme’s poems.33 Für Oberhuber erzeugt die Fotografie also einen falschen Eindruck über die Realität, sie macht etwas real, tastbar, das nur gespielt, nur vorgetäuscht wurde. Durch ihr indexikales Grundprinzip täuscht die Fotografie hier heimtückisch, indem sie an die gezeigten Welten glauben lässt. Sie vermittelt den Eindruck der Realität, einer Realität, die für Oberhuber falsch ist. Sie ist falsch, weil die erzeugten Welten nicht der Alltagserfahrung entsprechen, sie werden nur gespielt, wie im Theater. Erfuhren Cahuns Objekte durch den Prozess des Fotografierens also eine Verfremdung oder eine Verfälschung? Nirgendwo ist überliefert, wie die Objektfotografien Cahuns eigentlich konzipiert wurden. Es ist nämlich durchaus vorstellbar, dass sie nicht einfach zu Dokumentationszwecken oder zur Sicherstellung der Objekte entstanden sind, sondern von Cahun für sich als künstlerische Arbeiten gedacht worden waren. Auf den Fotografien wurden die Objekte meist zentral vor einheitlichem Hintergrund platziert und von einem Objekt gibt es oft mehrere Aufnahmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln beziehungsweise wurde das Arrangement geändert, sodass sich hier, wie beispielsweise bei den Fotografien der Holzfigur (Abb. 7, 44 u. 45), von fotografischen Serien sprechen lässt. Es war nicht die Plastizität der Oberfläche der fotografischen Bilder, worum es in diesen Arbeiten ging. Die Materialität der Fotografie drängt sich nicht in den Vordergrund, sie ist nicht das Thema dieser Arbeiten. Aber ist 32
33
Oberhuber erwähnt eine Fotoserie, deren einzelne Fotografien Cahun auf der Rückseite beschriftet hat. Darin sieht sie Anzeichen für das Genre Foto-Roman. Vgl. Oberhuber, Andrea: Du livre au livre surréaliste: Cahun-Moore, Cahun-Deharme, in: Claude Cahun et ses doubles (Ausstellungskatalog), Musée des Beaux-Arts de Nantes 2015, Nantes 2015, S. 21-33, S. 31. Oberhuber, Andrea: The Surrealist Book as a Cross-border Space: The Experimentations of Lise Deharme and Gisèle Prassinos, in: Image and Narrative 12:3 (2011), S. 81-97, S. 86.
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Abbildung 44 (links): Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-WeißFotografie/Objekt. Abbildung 45 (rechts): Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt.
der Akt des Fotografierens hier deswegen bloß als eine dokumentarische oder einfrierende Geste zu lesen? Wird in Betracht gezogen, dass zu Lebzeiten Cahuns von all ihren Objekten nur zwei jemals ausgestellt wurden,34 drängen sich Fragen nach dem Stellenwert, nach der Rolle der Fotografie und nach dem Sinn der Objekte auf. Und es wäre, wie ich meine, nicht absurd davon auszugehen, dass die Objekte, zumindest einige von ihnen, einzig aus dem Grund gemacht worden sind, um fotografiert zu werden. Es gibt nämlich auch einige Verweise darauf, dass zumindest manche der Arbeiten als Fotoobjekte gedacht worden sind, zum Beispiel die Fotografien von Skulpturen aus Sand und allgemein die Strandaufnahmen, beispielsweise Sur la plage, La Père oder Entre nous (Abb. 9, 10, 30 u. 46). Die ephemere Konstruktion aus Sand und der Strand als Ort, an dem sie errichtet wurden, lässt ihre primäre Existenz für die Kamera nachvollziehbar erscheinen. Auch die Arbeiten für das Buch von Lise Deharme Le Coeur de Pic können nicht anders denn als Fotoobjekte angesehen werden, weil sie,
34
Siehe Verzeichnis der Galerie Ratton, online: www.andrebreton.fr/work/ 56600100858821 (zuletzt besucht am 11.11.2016).
3. Das Fotografische? Fotografien des Selbstund der Objekte
Abbildung 46: Claude Cahun, Sur la page, ca. 1932, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt
als fotografische Textbegleitung konzipiert, die Objekte als Teil des bildlichen Materials einkalkulierten. In vielen Arbeiten, beispielsweise in der unter der Signatur JHT/1995/00024/i aufbewahrten Arbeit (Abb. 47) oder auch beim Federberg mit Schreibfederbaum aus Le Coeur de Pic (Abb. 22), werden außerdem Details der Objekte hervorgehoben, ihr Glanz, Schattenbildungen, die sie verursachen, oder andere Eigenschaften der Einzelteile, die sich nur aus bestimmten Blickwinkeln offenbaren. Auch diese Arbeiten lassen eher darauf schließen, dass es Cahun um den Akt des Fotografierens der Objekte ging, in dem die beiden Tätigkeiten des Fo-
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Abbildung 47: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-WeißFotografie/Objekt
tografierens und der Objektbildung zusammenspielten. Die Arbeit, die unter der Signatur JHT/1995/00027/l (Abb. 48) archiviert wird, hinterlässt ebenfalls einen solchen Eindruck. Auf hellem Frotteestoff sind eine verworrene Pflanzenwurzel, eine kleine Figur, ein Stück Moos und eine kleine helle Blüte platziert. Zusammen ergeben sie eine Art Kreislauf, der von der Blüte über das Moos und die Figur zur Wurzel läuft. Der Frotteestoff bildet eine Vertiefung für die Konstellation, die von an ihren Rändern erscheinenden Schatten unterstrichen wird, deren Ursprung im Verborgenen bleibt. Die Konstellation selbst wirft ebenfalls einen Schlagschatten auf den Stoff, wodurch sich die ganze Komposition verdichtet und unübersichtlicher wird. Die Teile dieser Assemblage scheinen nicht
3. Das Fotografische? Fotografien des Selbstund der Objekte
Abbildung 48: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-WeißFotografie/Objekt
fixiert, sondern eher locker nebeneinander platziert zu sein – eine kleine unachtsame Bewegung könnte sie zerstören. Ein weiteres Argument dafür, dass viele Objekte vorrangig für die Kamera entstanden sind, ist das Auftauchen gleicher Elemente auf mehreren Fotografien in unterschiedlichen Stellungen, wie beispielsweise im Falle der schon erwähnten Serien mit der hölzernen Figur (Abb. 7, 44 u. 45) oder der Konfigurationen auf dem ovalen Spiegel (Abb. 8 u. 20). Dort wurden die Elemente einfach umplatziert, um in anderen Fotografien ein anderes Objekt darzustellen. Die Quantität der Objektfotografien lässt ebenfalls vermuten, dass die Objekte quasi für die Kamera existierten und nicht andersherum. Darüber, ob Cahuns Objekte als die eigentlichen Kunstwerke oder vielleicht doch als Fotoobjekte konzipiert worden waren, können heute lediglich Vermutungen geäußert werden. Aber selbst wenn die Fotografien tatsächlich als bloße fotografische Dokumente hergestellt worden sind, ist die produktive Seite dieser Begegnung nicht zu verleugnen.
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Das gefährliche Supplement »Es gibt niemals eine Malerei der Sache selbst, vor allem, weil es keine Sache selbst gibt.«35 – schreibt Jacques Derrida in seinem Buch Grammatologie. Wird daran festgehalten, dass das Fotografieren ein dokumentierender Gestus von Cahun war, wie kann dann das vermittelnde Medium, das vermeintlich nur dokumentiert, verdoppelt beziehungsweise eine Kopie herstellt, vor dem Hintergrund dieses Zitats von Jacques Derrida gedacht werden? Wie es eine Malerei der Sache selbst nicht gibt, kann es doch auch eine Fotografie der Sache selbst nicht geben, wenn es die Sache an sich nicht gibt. Kann die fotografische Kamera rein registrierend verfahren, wie es ihr nachgesagt wird? Wirkt sich nicht schon alleine die Absicht, die Kamera dokumentarisch auf ein Objekt, ein Thema oder auf eine Situation zu richten, auf das Fotografierte aus? Wenn Objekte nach der Logik der Repräsentation als eine Präsenz, fotografierte Objekte dagegen als vermittelte Präsenz zu verstehen sind, dann wäre eine Fotografie eines nicht mehr existierenden Objekts eine Stellvertreterin ebendessen, das nicht mehr vorhanden ist – sie wäre ein Supplement. Jacques Derrida legt dar, dass das Supplement oft als etwas verstanden wird, das sich einfach hinzufügt, ohne irgendetwas hinzuzufügen.36 Aber ist ein Supplement tatsächlich so harmlos wie angenommen? Wenn Jacques Rousseau, mit dessen Gedanken sich Derrida auseinandersetzt, vom Supplement spricht, verdammt er die Schrift als Zerstörung der Präsenz und als Verseuchung der Rede.37 Die Schrift versteht er nämlich als eine Art Bild oder Repräsentation der Rede. Rousseau bezeichne die Schrift als gefährlich, weil sie sich als Präsenz der repräsentierten Sache ausgebe oder als solche wahrgenommen werde.38 Derrida fasst Rousseaus Sorge gegenüber der Schrift wie folgt zusammen: »Die Schrift ist gefährlich, sobald die Repräsentation sich in ihr für die Präsenz und das Zeichen für die Sache selbst ausgeben will«39 . Für Derrida hat ein Supplement selbst jedoch keinesfalls eine bloß ersetzende und repräsentierende Rolle. Zwar scheint ein Supplement im Prozess der Supplementierung selbst die fehlende Sache zu werden, wodurch die Leerstelle, die Nichtvorhandenheit, die es ersetzt, verschwindet;40 allerdings passiert in die35 36 37 38 39 40
Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1974 [1967], S. 501. Vgl. ibidem. Vgl. ibidem, S. 245. Vgl. ibidem, S. 245, 249 u. 257. Ibidem, S. 249. Vgl. ibidem, S. 250.
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sem Prozess noch etwas, was meistens übersehen wird. Für Derrida kommt ein Supplement hinzu und es tritt auch an die Stelle des Nicht-Vorhandenen, es wird jedoch nicht die nicht vorhandene Sache selbst, sondern es geht über diese hinaus.41 Damit ein Supplement als Supplement funktionieren kann, kommt es nach Derrida zu einer Verblendung, denn wenn es an die Leerstelle tritt, verschwindet es nicht als Supplement und zugleich wird es selbst zu einer Präsenz, die etwas anderes ist als das zu Ersetzende.42 Das Supplement blendet mit seiner eigenen Präsenz, die durch die Leerstelle zustande gekommen ist. Das Supplement sei zugleich sichtbar und unsichtbar, weder Anwesenheit noch Abwesenheit.43 Das Verschwinden, der Mangel, die Nichtpräsenz mache die Supplementierung möglich und trage dazu bei, dass das Ergebnis der Supplementierung als Supplementierung unsichtbar werde.44 Nach Derrida ersetzt ein Supplement nicht einfach, sondern es schafft eine Präsenz, die anders ist als das Nicht-Vorhandene, denn es lässt sich nicht einfach verdoppeln, was gewesen und nicht mehr vorhanden ist.45 Das Supplement ersetzt nicht, weil es die Sache an sich nicht gibt: Das Supplement, das weder schlicht Signifikant noch Repräsentant ist, nimmt nicht den Platz eines Signifikats oder eines Repräsentierten ein, wie dies von den Begriffen der Signifikation oder Repräsentation oder durch die Syntax der Wörter »Signifikant« oder »Repräsentant« vorgeschrieben wird. Das Supplement tritt an die Stelle eines Mangels, eines Nicht-Signifikats oder Nicht-Repräentierten, einer Nicht-Präsenz. Vor ihm gibt es keine Gegenwart, nur es selbst, das heißt ein weiteres Supplement geht ihm vorauf. Das Supplement ist immer das Supplement eines Supplements. Will man vom Supplement zur Quelle sich zurückbegeben, dann nur unter der Voraussetzung der Erkenntnis, daß es ein Supplement zur Quelle gibt.46 Die Situation hinsichtlich Cahuns Objektkunst ist jedoch eine besondere, da die Objekte nicht überdauert haben und sie heute nahezu ausschließlich als Fotografien zugänglich sind. Derridas »Sache«, die nicht gemalt werden kann, weil es die Sache selbst nicht gibt, von der anfangs die Rede war, ist hier nicht nur theoretisch, sondern auch wortwörtlich nicht vorhanden. Eine 41 42 43 44 45 46
Vgl. ibidem, S. 500. Vgl. ibidem, S. 257. Vgl. ibidem, S. 272 u. 537. Vgl. ibidem, S. 510. Vgl. ibidem, S. 241, 272 u. 500-507. Ibidem, S. 521, Hervorhebung i. O.
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Objektfotografie scheint zwar zu »repräsentieren«, eigentlich rückt sie aber an den Platz des Fotografierten, wodurch sie selbst zu einer Präsenz wird. Diese Fotografien halten die Anwesenheit der Objekte, die nicht da sind, auf Distanz, um mit den Worten von Derrida zu sprechen, und sie überwinden sie schließlich, indem sie an ihre Stelle treten.47 Diese Beherrschung ist dermaßen umfassend, dass man in diesem Fall von »Dokumenten« sprechen könnte. Die Fotografien der Objekte erlauben zwar eine Art Beschreibung der Objekte, jedoch betrifft diese Beschreibung, was allerdings nicht vermerkt wird, Objekte, die nicht durch die Fotografien, sondern in den Fotografien da sind, und dies ist ein entscheidender Unterschied. Diese Unterscheidung knüpft an Walter Benjamin und seine Überlegungen zur Sprache an. Für Walter Benjamin teilt die Sprache nichts mit außer sich selbst und folglich drücken sich nicht Gegenstände der Sprache durch die Sprache aus, sondern sie teilen sich in der Sprache mit.48 Hito Steyerl, die die Ausführungen von Benjamin in die bildliche Ebene übersetzt, schreibt, dass ein Bild sich ebenfalls selbst in der bildlichen Sprache manifestiert: »Das Bild nimmt nicht dadurch an seinem Gegenstand teil, dass es ihn visuell detailgetreu darstellt, sondern dadurch, dass es ihn ›präsentiert‹ – im Sinne der Aktualisierung seiner Kräfte in der Gegenwart«49 . Cahuns Objekte sind ein Bild und sie sind im Bild, weil sie fotografiert wurden, sie existieren nicht anderswo, sondern zusammen mit dem fotografischen Bild bauen sie eine Präsenz. Das Fotografierte ist ein Teil dieser Präsenz. Folglich repräsentieren diese Fotografien nicht, sie vermitteln nicht bloß einen Inhalt, sondern sie präsentieren ihn, wobei sie sich selbst in ihm mitteilen.
Widerspenstige Materie: objet-photo Im Zusammenhang ihrer Analysen von Kafkas Texten in Kafka. Für eine kleine Literatur beobachten Gilles Deleuze und Félix Guattari zwei Weisen des Da-
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Vgl. ibidem, S. 268. Vgl. Benjamin, Walter: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: ders.; Tiedemann, Rolf; Schweppenhäuser, Hermann [Hg.]: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften II, Frankfurt a.M. 1991 [1916], S. 140-157, S. 142. Steyerl, Hito: Die Sprache der Dinge. Eine materialistische Sicht auf dokumentarische Praxen, in: dies.: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen der Wahrheit, Wien 2008, S. 139-150, S. 143.
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seins fotografischer Bilder.50 Einerseits treten diese für sie, was meistens der Fall ist, als Ausdrucksform auf, anderseits, was weitaus seltener vorkommt, als Ausdrucksmaterie. Als Ausdrucksform aufgefasst wird eine Fotografie von ihrem Inhalt getrennt. Sie wird eine Ausdrucksform für das, was sie visualisiert, und das, was sie visualisiert, wird dann als Inhaltsform verstanden. Wie Guattari und Deleuze konstatieren, agieren die Fotos in der Funktion der Ausdrucksform als stagnierende, re-ödipalisierende Kräfte, die den Wunsch in der Art eines Staatsapparats einzwängen und unterdrücken.51 Sie wirken konditionierend, ihre Funktion ist es, ein »vorgeformtes« Wiedererkennen zu bewirken – ein Wiedererkennen, das an eine Erinnerung geheftet ist, an etwas, das es zwar so nie gegeben hat, das »aber das Verlangen in der Falle der Vorstellung fängt«52 . Dabei wird die Erinnerung von den Autoren wie folgt beschrieben: »Die Erinnerung blockiert den Wunsch, zieht ihn auf Rahmen, preßt ihn in Klischees, kappt ihm alle Verbindungen ab«53 . Neben der Existenz einer Fotografie als Ausdrucksform gibt es in den Texten von Kafka noch eine weitere, nämlich als Ausdrucksmaterie.54 Diese Art des Funktionierens einer Fotografie wird von Deleuze und Guattari mit dem Klang verglichen. Beide verweisen auf eine heterogenisierende Bewegung, auf einen Ausbruch oder Ausweg.55 Dabei geht es nicht um eine endgültige Lösung aus der Unterwerfung, sondern um die Möglichkeit einer anderen Existenzart: »Es geht nicht um Freiheit als Gegensatz zur Unterwerfung, sondern ganz einfach um einen Ausweg, ›rechts, links, wohin immer‹, so wenig wie möglich signifikant«56 . Josefine, die singende Maus aus Kafkas Erzählung Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse, wird eine Sängerin genannt, obwohl sie statt Gesang lediglich ein Pfeifen von sich gibt. Josefines Pfeifen, das von Deleuze und Guattari als ungeformt und frei von den Zwängen der Signifikanz beschrieben wird, subvertiert und deformiert die Ordnungen des Singens, der Musik überhaupt: »Dagegen besteht die Kunst Josefines vielleicht gerade darin, daß diese ›Sängerin‹, die ebenso wenig wie die anderen Mäuse zu singen und eher noch schlechter als sie zu pfeifen versteht, eine Deterritorialisierung
50 51 52 53 54 55 56
Vgl. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M. 2017 [1975], insb. S. 7-14. Vgl. ibidem, S. 7ff. u. S. 46. Ibidem, S. 92. Ibidem, S. 8 u. 119f. Vgl. ibidem, S. 9-14. Vgl. ibidem, S. 11. Ibidem, Hervorhebung i. O.
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des ›täglichen Pfeifens‹ bewirkt und es ›freimacht von den Fesseln des täglichen Lebens‹«57 . Das Pfeifen ist ein deformiertes Singen. Im Klang, in der ungeformten, ungeordneten Musik, sehen die Autoren ein Potenzial des Auswegs aus der Starre der Benennung und der Interpretation. Eine ähnliche deterritorialisierende Kraft wie das Pfeifen von Josefine zeigen in Guattaris und Deleuzes Analyse diejenigen Fotografien, die in Kafkas Texten in Verbindung mit dem Erzählmoment des sich erhebenden Kopfs auftauchen, was für die Autoren in der »Fähigkeit zu wuchernder Vermehrung«58 zutage tritt. Deleuze und Guattari beobachten bei Kafka also eine ambivalente Funktionsweise der Fotografien. Einerseits erscheinen sie als blockierende Ausdrucksform, andererseits als »ein Ausdruck, der sich von seiner beengenden Form befreit hat und nun eine ähnliche Befreiung der Inhalte betreibt«59 . Die Objektfotografien von Cahun könnten entsprechend der zweiten Funktionsweise der Fotografien in Kafkas Texten aufgefasst werden. Wie oben ausgeführt, ist es nämlich problematisch von den Objekten als Inhaltsform und von einer Fotografie als Ausdruck zu sprechen, denn sie fügen sich schwerlich in die Logik des repräsentierenden Index. In Cahuns Fotografien der Objekte sind der Ausdruck und der Inhalt untrennbar, somit sind sie nicht in diese beiden Formen unterteilbar. Nicht nur die informe Materialität der Objekte steht einer solchen Reduktion einer Fotografie zur Ausdrucksform im Wege, auch ihre materielle Absenz macht sie problematisch. Diese Bilder besitzen keinen Referenten; sie sind selbst Präsenz. Cahuns Objekte sind nicht zu trennen von ihren Fotografien und ihre Fotografien nicht von den Objekten, dennoch sind die Fotografien nicht die bloße Repräsentation der Objekte und die Objekte nicht die Referenz der Fotografien, sie sind ein Hybrid, sie sind Ausdrucksmaterie. Weil die Objektfotografien als Ausdrucksmaterie agieren, supplementieren sie, indem sie sich selbst hinzufügen, wodurch allerdings ein Mehr, ein Überschuss entsteht und nicht, wie in Rousseaus Auffassung des Supplements, ein nahtloser Austausch. Wie Derrida schreibt, restauriert das Supplement die Präsenz und es erlischt als absolute Präsenz.60 Es ist das unendliche Spiel der Verweise, die auf andere Verweise verweisen, das die Objektfotografien hier spielen, sie spielen das »Spiel des Supplements«61 . 57 58 59 60 61
Ibidem. Ibidem, S. 86. Ibidem. Vgl. Derrida (1974 [1967]), S. 510. Ibidem, S. 511.
3. Das Fotografische? Fotografien des Selbstund der Objekte
Wenn Guattari und Deleuze die zweite Funktionsweise der Fotografie in Kafkas Texten beschreiben, also nicht Fotografie als Ausdrucksform, sprechen sie von »ungeformter Ausdrucksmaterie«62 oder von einem »intensiv-materiellen Ausdruck«63 . Dort ist der Inhalt kaum geformt, er gilt niemals »durch sich selbst und als Form, sondern ist nur noch deformierbare Substanz«64 . Beide, der Inhalt und der Ausdruck, verschmelzen in Cahuns Objektfotografien in eine informe Ausdrucksmaterie, die sich nur sehr schlecht in das signifikante Regime einfügt,65 kaum benennbar ist und in der schließlich auch die Index-Optik nicht funktioniert. Bei Cahuns Objektfotografien muss eher von einem Werden als von einem Sein der Objekte in den Fotografien gesprochen werden. Aus dieser Perspektive betrachtet ist eine vermeintliche Objektfotografie ein objet-photo und nicht bloße fotografische Oberfläche, die dokumentiert und re-präsentiert. Aus der Begegnung des Akts des Fotografierens mit einem Objekt, das, wie im ersten Kapitel beschrieben, schon an sich eine Subvertierung der Kategorien der Kunst bedeutet, geht eine neue Präsenz, eine informe Ausdrucksmaterie, hervor – das objet-photo. Cahuns Objektfotografien sind heute objet-photos, ob sie als solche konzipiert worden sind oder nicht. Sie sind nicht darauf ausgerichtet, Erinnerungen hervorzurufen, sondern, im Gegenteil, auf das Nicht-Benennbare. Sie verweigern sich der Benennung, sie sind widerständig gegenüber den klassifikatorischen und definierenden Tendenzen des kunstgeschichtlichen Diskurses. Ein objet-photo könnte als eine neue, weitere Kunst-Gattung angesehen werden, aber es ist auch etwas, das an den Grenzen des Definierbaren liegt. Cahuns objet-photos sind dem Klang oder dem Pfeifen der Mäusesängerin Josefine vergleichbar,66 denn zweifellos öffnen sie Auswege, sie regen zu neuen Denkwegen an und dazu, alte Ordnungen zu überschreiten. Sie formalisieren nicht, sie lassen sich nicht von normativen Anweisungen leiten, ganz wie Cahun es in Les Paris sont ouverts gegenüber der Dichtung/Kunst gefordert hat. Sie führen vielmehr zu einer Heterogenisierung des Bilds von Cahun als Fotografin der Selbstportraits und zu einer Störung des Werkkörpers. Es war auch die Existenz des einen Objekts, das Cahun 1936 für die Ausstellung in der Galerie Ratton auswählte und das 1964 in Paris und später 1978 in London gezeigt wurde, und die Fotografien der anderen Objekte, die in den ersten Ausstellungen nach 62 63 64 65 66
Deleuze; Guattari (2017 [1975]), a.a.O., S. 11. Ibidem, S. 28. Ibidem, S. 11. Vgl. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Berlin 1992 [1980], S, 156-163. Vgl. Deleuze; Guattari (2017 [1975]), a.a.O., S. 11.
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Cahuns Tod gezeigt wurden, die mich dazu gebracht haben, überhaupt erst über das spezifische Bild Cahuns als Fotografin der Selbstportraits zu reflektieren. Während meiner Forschungstätigkeit konnte ich erfahren, wie die Arbeiten ihre störende Wirkung entfalten. Eine Fotografie muss, wie Deleuze und Guattari zeigen, nicht immer als eine Begrenzung, als eine einengende Erinnerung auftreten und ihre Existenz als Ausdrucksform beziehungsweise als repräsentierender Index ist nicht das allgemeine Schicksal fotografischer Bilder, sie kann auch anders wirken und anders gedacht werden, was sich in Cahuns objet-photos verdeutlicht. Dem fotografischen Medium kommt in diesem Kontext nicht lediglich eine kopierend-repräsentierende Funktion zu, sondern eine dynamisch-kreative, weil sie zur Entstehung von neuen Existenzen und Funktionen beiträgt. Cahuns kritische Haltung gegenüber dem herrschenden Kunstdiskurs könnte schlussendlich nicht nur in ihren Texten und in ihren ge- und erfundenen Objekten, sondern gerade auch im Akt des Fotografierens der Letzteren ausgemacht werden. Das Fotografieren impliziert hier eine andere Lebensform der Objekte und eine neue Lebensform der fotografischen Bilder als ein Supplement im Derrida’schen Sinne und als kritischer Kunstkörper. Das Fotografieren trägt nicht nur dazu bei, dass die fotografierten Gegenstände, die sich in einem objet inventé vereinigen, den Kunstdiskurs deterritorialisieren, sondern auch dazu, dass diese ein anderes Dasein erlangen, indem sie fotografisch erfasst werden und zu einem objet-photo werden. Das Fotografieren der Objekte ist hier ein infizierendes Weiterleben und kein stagnierendes Überdauern. Der Akt des Fotografierens ist produktiv, er generiert etwas, das zuvor so nicht existiert hat, im Sinne der informen Körperlichkeit und im Sinne des Diskurses der Kunst. Die Materialitäten, die mit dem Akt des Fotografierens entstanden, sind keinesfalls ein einfacher Transfer von Cahuns Objekten in ein anderes Medium, sondern eine neue Materialität, die die Materialität der Objekte überschreitet, anstatt zur selben zu werden. Im Akt des Fotografierens werden nicht alleine die Objekte an sich überwunden, sondern mit ihnen gleichzeitig die Kunstmaterie im Sinne der klassischen schönen Künste. Er fügt den objets inventés neue Eigenschaften, neue Daseinsarten hinzu beziehungsweise verschiebt er diese in andere Konstellationen. Es sind nicht nur die Selbstbildnisse, denen ein kritisches Potenzial zukommt, auch diese objet-photos bewirken eine Subversion oder besser gesagt eine Heterogenisierung, im Sinne von Ba-
3. Das Fotografische? Fotografien des Selbstund der Objekte
taille, und das gleich auf mehreren Ebenen.67 Neben der Aufforderung zum Anfassen von Gegenständen im Dunkeln in Prenez garde aux objets domestiques könnte ein weiterer Vorschlag für eine neue beziehungsweise eine andere Art des Umgangs mit Alltagsgegenständen und der Kunstherstellung von Cahun lauten: Fotografiere die Gegenstände! Baue objet-photos! Der Fakt, dass die Objekte fotografiert wurden, übt Wirkungen auf das Fotografierte aus, die nicht notwendigerweise intendiert waren und sich sowohl aus damaligen als auch aus heutigen Konstellationen, in denen die Fotografien auftauchen, ergeben. Diese Objekte existieren heute nicht unabhängig von der Fotografie. Objet-photos verweisen allerdings nicht auf die »Sache selbst«, sie stellen sie nicht dar, sind ihr nicht sekundär, sondern sie generieren diese Sache und gründen zugleich in ihr. Diese objet-photos sind eine prozesshafte Präsenz, die, kommt die Frage auf zu beschreiben, wem sie ähnelt, ein Unbehagen auslöst – und das trotz der gesellschaftlich tief verankerten Überzeugung von der Indexikalität der Fotografie. Cahuns Objektfotografien sind auf doppelte Weise nicht mit dem signifikanten Regime kompatibel, einerseits, weil die Objekte an nichts erinnern, weil sie informe sind, andererseits, weil die Fotografien hier keine bloßen Zeichen, keine Repräsentationen sind. Die Referentialität ist im Kontext der objet-photos ein Punkt, der Probleme aufwirft. Der Referent, der bei Roland Barthes Fotografien immer anhaftet,68 ist bei den objet-photos nicht nur nirgendwo in Sicht, er ist auch nicht intelligibel. Der Fall von Cahuns objet-photos und ihre Inkompatibilität mit signifikanten Regimes verdeutlichen, wie stark die Indexikalität einer Fotografie, noch bevor das Abgebildete für ähnlich oder unähnlich erklärt wird, an das Repräsentierbare, an das Denkbare, gebunden ist. Derartige Urteile hängen ganz entschieden von den gesellschaftlichen Ordnungen, in denen sie gefällt werden, ab. Die Sichtbarkeiten der objet-photos sind informe Gebilde, die, wie ich im ersten Kapitel gezeigt habe, inkompatibel mit den herrschenden gesellschaftlichen Diskursen und mit den Diskursen der Kunst sind – die objet-photos sind der Welt des Gekannten unähnlich. In ihrer informen Gestalt stören sie symbolische Strukturen und Assoziationsprozesse, sie bilden eine Art Labyrinth ohne klaren Start- und Endpunkt und
67 68
Siehe Kapitel 1.2, S. 100-102. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 2008 [1980], S. 13f.
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ohne vorgegebenen Ausweg, sie bilden ein komplexes Gewebe, in dem sich »der Verstand [.] verliert«69 . Bei den objet-photos handelt sich um eine Materialität, einen Knoten, der ohne klar umrissenen Referenten und autonome Autorin ist, einen Knoten, in dem eine Fotografie in weitaus komplexere und vielfältigere Verhältnisse verwickelt ist als in der vorherrschenden Auffassung eines indexikalen Verhältnisses, das den Gesetzen der Physik gehorcht. Denn durch die Anhäufung materiell-semiotischer Schichten werden die objet-photos zu »kollektiven Aussageverkettungen«70 , die nicht einem Subjekt, einer selbstständigen Autorin, entstammen, sondern einem Netz, in das auch die hier vorliegende Arbeit eingewoben ist. Die objet-photos zeigen eine Widerspenstigkeit, eine Gegenaktivität, gegenüber dem Diskurs über Cahun als Fotografin der Selbstportraits. Die Anzahl der objet-photos und auch die Tatsache, dass Cahun die Objekte als einzige ihrer Werke im Zusammenhang einer Kunstausstellung gezeigt hat, machen deutlich, dass die Objekte und ihre Herstellung für Cahun sehr wichtig waren. Auch in meinen Analysen des Zusammenhangs zwischen Cahuns kunsttheoretischen Texten und den Objekten stellte sich ihre essenzielle Rolle in Cahuns künstlerischer Betätigung heraus. Des Weiteren gelangte ich zur Überzeugung, dass das Betrachten der Objektfotografien als objet-photos nicht zuletzt deshalb sinnvoll ist, weil dies nicht nur die heutige Form der Objekte berücksichtigt, sondern womöglich auch Cahuns künstlerischen Absichten nahe kommt. Die objets inventés beziehungsweise die objet-photos waren immer schon im Cahun-Diskurs vorhanden, aber eher als ein Rauschen, als ein Hintergrundrauschen, wie es Michel Serres versteht,71 aus dem keine Signale, also keine verständlichen Botschaften, vernommen werden konnten. Golda M. Goldman hat Cahun in der europäischen Ausgabe des Chicago Tribune unter der Rubrik Who’s Who Abroad als eine Künstlerin beschrieben, die an jeder Kunstart – »practically every branch of art« – interessiert sei.72 Tatsächlich war Cahuns künstlerisches Schaffen äußerst vielseitig, es begrenzte sich keinesfalls auf die Fotografie und auch nicht auf das Genre des Selbstportraits. Bei der Betrachtung von objet-photos wie beispielsweise Je tends les bras (Abb. 23) oder den Illustrationen für das Buch Le Couer de Pic wird klar, 69 70 71 72
Serres, Michel: Hermes II. Interferenz, Berlin 1992 [1972], S. 13. Deleuze; Guattari (2017 [1975]), a.a.O., S. 26. Vgl. Serres (1992 [1972]), a.a.O., S. 142-262. Vgl. Goldman, Golda M.: Who’s Who Abroad: Lucie Schwob, in: Chicago Tribune – European Edition, 23. Dezember 1929, S. 4.
3. Das Fotografische? Fotografien des Selbstund der Objekte
dass es unmöglich ist zwischen Cahun als Fotografin und Objektbildnerin zu unterscheiden. Bei Je tends les bras löst sich das Objekt auf, wenn die Arme aus dem Mauerloch herausgenommen werden, es hört auf zu existieren. Dass sich Cahun aber entschied, dieses Objekt gleichzeitig zu fotografieren, zeigt, dass das Objekt in der Fotografie stattfindet, dass es dort auch stattfinden sollte, um ein Gewebe informer Fäden zu bilden, das den Sinn unterläuft. Beides, sowohl das Bauen der Objekte als auch das Fotografieren, sind hier gleichrangig. Beide Tätigkeiten bauen aufeinander auf, sie arbeiten miteinander und ihre Aussagen nehmen ihren Anfang in dieser Koexistenz. Die objet-photos demonstrieren die Vielschichtigkeit, die kreative Fülle und die Originalität von Cahuns künstlerischer Tätigkeit, und auch die Gedanken aus ihren Texten kommen darin nicht zu kurz. Es sind gerade die objet-photos, die es nicht zulassen, Cahun in allzu enge Klassifikationen einzuschließen. Hin und wieder glitzern sie magisch und beunruhigend im Staub der Archive und aus den Ecken der Ausstellungen, ungehört offenbaren und verbergen sie zugleich ihre Geheimnisse – L’objet-photo garde et livre son secret!
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Schluss
Der Ausgangspunkt meiner Studie war eine Diskrepanz zwischen dem, was als Claude Cahuns Kunst bekannt ist, und dem, was sich mir bei meinen Aufenthalten in Archiven, wo Cahuns Arbeiten aufbewahrt werden, und bei meiner Beschäftigung mit Cahuns Texten gezeigt hat. Im kunsthistorischen Diskurs fungiert Cahun als Fotografin der Selbstportraits, obgleich sie sich auch anderen Kunstgattungen und dem Schreiben zugewendet hat. Ich habe mich dann gefragt, wie es eigentlich zu diesem Bild gekommen ist und wie es sich in seinen Umrissen so hartnäckig halten konnte. Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, bin ich zweiteilig vorgegangen, zum einen habe ich mich den vernachlässigten Arbeiten zugewendet, zum anderen erhoffte ich mir durch die Erstellung einer Genealogie des Bilds Cahuns als Fotografin der Selbstportraits, die vor allem auf der Analyse der frühen Rezeption von Cahuns Arbeiten beruht, die Ursachen dieser Diskrepanz zu beleuchten. Die Zielsetzung der Arbeit implizierte also als das Unterfangen der beobachteten Diskrepanz nachzugehen und ihr zugleich entgegenzuwirken. Eine der vernachlässigten Gruppen ihrer Arbeiten, die in der Diskussion um Cahun kaum auftauchten, waren ihre objets inventés beziehungsweise die Fotografien der Objekte. Im Zusammenhang der obigen Frage entschloss ich mich, mich auf die Objekte zu konzentrieren. Meine Wahl hatte mehrere Gründe. Die Objekte beziehungsweise die Fotografien der Objekte sind in großer Anzahl vorhanden, neben den Selbstportraits sind sie am zahlreichsten überliefert, was sich mir bei meinen Recherchen im Jersey Archive gezeigt hat. Ihre Objekte sind auch die einzigen Arbeiten, die Cahun jemals in einer Galerie ausgestellt hat. Diese Gegebenheiten ließen mich vermuten, dass die Objektherstellung für Cahun von großer Bedeutung war, was mich sehr neugierig gemacht hat und weswegen ich mich dazu entschieden habe, mich ausgerechnet den Objekten zuzuwenden. Es mag einfach ein Zufall sein, doch die Objekte gehörten zu den ersten Arbeiten von Cahun – ein Objekt, La Marseillaise est un chant révolu-
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tionnaire, la loi punit le contrefacteur des travaux forcés (Abb. 1), war auch das erste überhaupt –, die nach ihrem Tod Ende der 70er-Jahre und Anfang der 80erJahre ausgestellt wurden. Auch diese Tatsache lenkte meine Aufmerksamkeit auf sie. Cahuns ge- und erfundene Objekte haben sie immer irgendwie begleitet, in der kunsthistorischen Forschung wurden sie allerdings nie richtig wahrgenommen. Den Objekten habe ich mich in zwei Schritten genähert, im ersten habe ich vorgeschlagen, die Objekte in Verbindung mit drei Texten Cahuns zu betrachten, die, wie ich im ersten Kapitel gezeigt habe, durchaus als feministische kunsttheoretische Schriften gelesen werden können. Im zweiten Schritt bin ich dem Umstand nachgegangen, dass die Objekte heute nur in Form von Fotografien überdauert haben, was eine Reflexion der Rolle der Fotografie im Dasein der Objekte erforderte. Während meiner Forschung bin ich nämlich zur Ansicht gelangt, dass es eigentlich nicht die Objekte sind, wenn von Cahuns Objekten gesprochen wird, sondern fotografierte Objekte, ein Zustand, der einen bedeutenden Unterschied markiert. Für die Erstellung der Genealogie Cahuns als Fotografin der Selbstportraits war es ebenfalls sehr wichtig darüber nachzudenken, dass es sich bei den Selbstportraits, die für die kunsthistorischen Analysen Cahuns ausgewählt worden waren, um fotografische Selbstportraits handelte. Dort hat mich vor allem das Wechselverhältnis zwischen Fotografie und dem weiblichen Körper interessiert, der einen großen Einfluss auf die Hinwendung zu Cahuns Selbstbildnissen hatte. Für die Erstellung der Genealogie erachtete ich eine Analyse der Rezeption der Arbeiten von Cahun, die Anfang der 90er-Jahre einsetzte, für notwendig, denn gerade in der Rezeption hat sich die Fokussierung der Selbstportraits herauskristallisiert. Meine Analyse hat gezeigt, dass im Kontext der ersten wissenschaftlichen Annäherungen an die Arbeiten von Cahun eine spezifische diskursive Konstellation am Werk war, die in dieser Zeit wiederum sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kunstforschung verankert war. Diese Konstellation war einer der wichtigsten Faktoren dafür, dass heute die Selbstbildnisse und nicht andere Arbeiten den Werkkörper von Claude Cahun, den ich Bilderkonvolut genannt habe, ausmachen.
Cahun: Fotografin der Selbstportraits Als bildende Künstlerin gewann Cahun erst in den 70er-Jahren Anerkennung. Als ihre Arbeiten nach dem Tod von Suzanne Malherbe im Jahr 1972 in Um-
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lauf gesetzt wurden, begannen sie auf Kunstauktionen in Frankreich und in England zu zirkulieren. Von dort aus gelangten sie in den Besitz von Sammler_innen, Kunsthändler_innen und Galerien. Dieses Zirkulieren von Cahuns Arbeiten in diesem Umkreis hat aus ihr eine Künstlerin gemacht, die sie zu ihren Lebzeiten nicht war. Allerdings war ihr Werk zu diesem Zeitpunkt noch nicht an eine bestimmte Kunstgattung oder an ein bestimmtes Genre gebunden. Cahun wurde dagegen aufgrund der Erwähnungen ihrer Zeitgenoss_innen als eine Surrealistin beziehungsweise als deren Sympathisantin wahrgenommen. Infolge des Interesses des europäischen und allmählich auch des US-amerikanischen Kunstmarkts an der surrealistischen Kunst, das in den 70er- und 80er-Jahren zu beobachten war, kam es zur Etablierung Cahuns als einer surrealistischen Künstlerin und zu ihrer Popularisierung. Auch an dieser kunstgeschichtlichen Schwelle war Cahun jedoch noch keine Fotografin und erst recht keine Fotografin von Selbstportraits. Als Wendepunkte in der Wirkungsgeschichte Cahuns, die sie zur Fotografin machten, sind die Wanderausstellung L’Amour fou von 1985 und die Publikation L’Amour faux von Hal Foster zu sehen, in denen sich das Interesse an Cahuns Arbeiten zu konturieren begann. Die Ausstellung L’Amour fou, die sich den Surrealist_innen und der Fotografie zuwendete, präsentierte Cahun als eine surrealistische Fotografin und eine winzige Anmerkung von Hal Foster, in der er ihre Selbstportraits fokussierte und diese mit denen von Cindy Sherman verglich – und die im Cahun-Diskurs mit großem Echo nachhallte –, zog plötzlich die Aufmerksamkeit der Kunstwelt auf ihre Selbstportraits. Wissenschaftlich erfasst wurden Cahuns Arbeiten jedoch erst in den 90er-Jahren. Dies geschah fast ausschließlich im Kontext der lesbischen und feministischen Kunstforschung, die, ähnlich wie die von Foster erwähnte feministische Kunst, den weiblichen Körper und seinen Stellenwert in der Gesellschaft in den Vordergrund stellte. Es war also ein spezifisches Interesse vorhanden, das dazu geführt hat, dass sich die Konzentration der Kunstwelt auf Cahuns Selbstportraits richtete. Besonders anschaulich lässt sich dies anhand der Hervorhebung zweier Eigenschaften von Lucie Schwobs Körper beobachten, ihres Lesbismus und ihrer Anorexie. Dies sind Eigenschaften, die von Cahun selbst nicht erwähnt worden sind. Erst in den Analysen der 90er-Jahre tauchten sie auf, wo sie als Zeichen für ihren Kampf gegen die hegemonialen Normen der Heterosexualität und auch die Normen des weiblichen Körpers überhaupt beschrieben und mit den Selbstportraits in Verbindung gebracht wurden. Die Selbstportraits wurden als eine Art Körperkunst verstanden, die, ähnlich wie bei den Künstler_innen der 80er-Jahre, mit denen Cahun verglichen wurde, beispiels-
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weise bei Cindy Sherman, den eigenen Körper der Künstlerin nutzte, um die patriarchalen Strukturen, die im weiblichen Körper stecken und die ihn formen, aufzuzeigen und ihnen gleichzeitig entgegenzuwirken. In der Forschung wurde Cahun eine besondere Subversivität auf dem künstlerischen Feld zugesprochen, denn in ihren Bildern wurde eine Konterkarierung der zeitgenössischen Definitionen und Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität gesehen. Cahun wurde zu einer Vorläuferin des feministischen und auch des lesbischen Kampfs, der poststrukturalistisch und nicht essenzialistisch orientiert war gegenüber der Frage, was es bedeutet in einer patriarchalen Gesellschaft eine Frau beziehungsweise eine Lesbierin zu sein. Im Zuge dieses Werdens wuchs ihr das Bilderkonvolut als Werkkörper zu. In meinen Analysen der Arbeiten Cahuns, die dem Bilderkonvolut nicht angehörten, und ihrer Texte zeigte sich mir eindrücklich, dass Cahun neben einer Fotografin auch eine politisch und kunsttheoretisch engagierte Denkerin und Objektbildnerin war. Cahun hat als Künstlerin kaum ausgestellt, jedoch hat sie schriftlich über ihre eigene Kunst und über Kunst und Poesie im Allgemeinen reflektiert. In ihren Texten fragt sie nach den Formen der Kunst, ihren Rezipient_innen und auch nach ihren Produzent_innen. Die Antworten und Vorschläge, die Cahun darin liefert, sind kritisch und gewagt. Sowohl in ihren Texten als auch in ihrer Tätigkeit der Objektherstellung deterritorialisierte sie das Wesen des Künstler_in-Seins und auch das Verständnis von Kunst. Zudem betraf diese Bewegung Industrieprodukte/Waren, wenn sie diese in ihre Kunstwerke integrierte und mit anderen Materialien zu einem Objekt machte oder wenn sie bekannte Alltagsgegenstände im Dunkeln anfassen ließ und diese auf diese Weise zu einem ganz anderen Dasein führte. Indem sie zu einer kollektiven Kunstproduktion einlud, wurde die Kategorie der Autor_in infrage gestellt. Damit entkoppelte sie nicht nur Industrieprodukte, sondern auch die künstlerische Tätigkeit von ihrem allgemein anerkannten Sinn. Cahuns Objekte sind etwas, das ich mit Georges Bataille im ersten Kapitel als informe beschrieben habe. Das informe dieser Gebilde liegt in ihrer Inkompatibilität mit signifikanten Regimes, im Nicht-Wiedererkennen, im Fehlen von Assoziationen und auch in der Störung der Zweckmäßigkeit. Cahun hat mit ihren Objekten etwas geschaffen, das sich der Benennung entzieht, weil sie etwas sind, das keine Form hat, etwas, bei dem sich das informe gleich auf mehreren Ebenen bemerkbar macht. Die Objekte rufen kaum Erinnerungen hervor und sie operieren nicht in der spezifischen diskursiven Konstellation der Forschung der 90er-Jahre. Sie verstoßen nahezu gegen jegliche Ordnung
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des Repräsentierbaren, was sie höchstwahrscheinlich ihr Dasein im bisherigen kunstgeschichtlichen Cahun-Diskurs gekostet hat.
Medienwissenschaftliche Zugangsweise Nicht nur durch die Untersuchung von Cahuns Objekten, sondern auch durch eine medienwissenschaftliche beziehungsweise medienphilosophische Herangehensweise war ich bemüht, mit diesem Buch einen neuen Zugang zu den Arbeiten von Cahun zu öffnen und die vorherrschende Sicht auf Cahun zu erweitern. Diese Perspektive war geradezu erforderlich, um zu erforschen, welche Rolle die Fotografie in der Etablierung des heutigen Wissens über Claude Cahun gespielt hat. Hinsichtlich der Objekte habe ich gefragt, was es eigentlich bedeutet, wenn die Objekte heute in einer fotografischen Form vorliegen. Diese Perspektive führte sowohl im Zusammenhang der Erstellung der Genealogie als auch bei der Analyse der Objekte zu interessanten Ergebnissen. Meine Einschätzung der Bedeutung der fotografischen Form fiel allerdings bei den Selbstportraits und bei den Fotografien der Objekte sehr unterschiedlich aus. Die allgemeine Auffassung der Fotografie als indexikales Zeichen, die Überzeugung von den repräsentierenden Fähigkeiten einer Fotografie, von der ich in Kapitel 2.3 gesprochen habe, hat die Wahl der Fotografien innerhalb der Untersuchungen zugunsten der Selbstportraits beeinflusst. Diese unterschwellige Überzeugung, die ich Index-Optik genannt habe, hat die Selbstportraits im Zusammenhang mit den anderen diskursiven Rahmungen, in denen die Forschung verankert war, zu Beweisen von Cahuns Lesbismus und ihrer Anorexie beziehungsweise zu Dokumenten von Cahuns anorektischem und lesbischem Körper gemacht. Die fotografischen Selbstportraits waren in den frühen Untersuchungen der 90er-Jahre jedoch mehr als das, denn sie führten auch im Prozess des Forschens zu einer Naturalisierung des Repräsentierbaren im Kontext des weiblichen Körpers. Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass bestimmte Fotografien von Cahun in den Erzählungen indexikale Zeichen sind, weil sie die Wirklichkeit adäquat abbilden. Meine Analyse der Rezeption von Cahuns Arbeiten, in der sich Judith Butlers Gedanken über fotografische Rahmungsprozesse als sehr hilfreich erwiesen haben, hat jedoch deutlich gemacht, dass ihre Wahl in erster Linie von der diskursiven Konstellation, in die die Forschung der 90er-Jahre eingebettet war, abhängig war. In Whiteheads Sinne leiteten die Index-Optik und die diskursiven Rahmungen in diesem Fall gemeinsam einen Trugschluss der un-
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zutreffend platzierten Konkretheit ein, der sich in einem Anschein der Repräsentation äußerte. Die Selbstportraits wurden ausgewählt, weil sie denkbar, erkennbar und nachvollziehbar waren. Die Wahl gründete auf den Kategorien des Intelligiblen und nicht auf den Gesetzen der Physik. Diese Beobachtung veranlasste mich, eine Fotografie, die eine solche beweisende Rolle einnimmt, intelligiblen Index zu nennen. Das Bilderkonvolut, Cahuns Oeuvre und das Bild von Cahun als Fotografin der Selbstportraits ergaben sich aus der Kompatibilität dieser Bilder mit feministischen Körper-Diskursen der 90erJahre, Diskursen bezüglich des weiblichen Körpers, seiner Formen, seines Befindens und seiner Begehren. Die Entstehung von Cahun als Fotografin der Selbstportraits implizierte die Entstehung von Cahuns anorektischem und lesbischem Körper. Die Bedeutungen und der Stellenwert, die diesen ausgewählten Selbstportraits in den 90er-Jahren zugewachsen sind, sind aus einer spezifischen Pragmatik, aus einem bestimmten Einsatz dieser Bilder entstanden. Für die Fotografien der Objekte liegt die entscheidende Bedeutung der Fotografie darin, dass in der fotografischen Form die Materialität der Objekte überschritten wurde und in dieser Wechselwirkung ein anderes Dasein entstand, das ich objet-photo genannt habe. Die Objekte, die heute nicht von ihren fotografischen Aufnahmen zu trennen sind, sind eine hybride Form – eine hybride Form, die möglicherweise von Cahun von Anfang an beabsichtigt war, wie ich im dritten Kapitel etwa bezüglich der Fotoillustrationen für das Buch Le Coeur de Pic gezeigt habe. Die Fotografien wurden zu einer Schaubühne der Objekte, die sich in den Fotografien ereignen, beide koexistieren ineinander, mit Guattari und Deleuze gesprochen sind sie ungeformte Ausdrucksmaterie. Sie haben die Fähigkeit sich wuchernd auszubreiten und mit neuen Funktionen und Blickwinkeln zu infizieren, den hegemonialen Ordnungen zu entrinnen. Cahuns objet-photos sind etwas, das sich ankündigt und der Signifikation widersteht. Als Fotografien, in der die Index-Optik aktiv ist, stiften sie zusätzliche Verwirrung. Sie wenden sich nicht der Erinnerung, dem Bekannten, zu, sondern dem, das möglicherweise nicht benannt werden muss, ungewiss verbleiben kann und nicht nur im kunstgeschichtlichen Diskurs eine Störung einleitet. Im Bilden der Objekte und deren Fotografie liegt eine Deformation der künstlerischen Tätigkeit, ähnlich dem Pfeifen der Maus Josefine oder Serres Rauschen. Der Akt des Fotografierens ist hier sehr produktiv, denn er trägt zur Entstehung einer Präsenz bei, die Cahun in ein neues Licht stellt, Cahun als Fotografin, die auch Objekte hergestellt hat und diese, ob beabsichtigt oder nicht, in objet-photos transformierte.
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Die Unbestimmtheit der Medien Bei der Analyse der Rolle der Fotografie, sowohl in der Leseweise der Selbstportraits als auch der fotografierten Objekte, zeigte sich mir indirekt, dass es keine einzige und einheitliche Definition eines Mediums geben kann, sondern dass sich Medien mit ihrem Einsatz und mit ihrer Rezeption jeweils aufs Neue als Medien konstituieren und ereignen. An dieser Stelle wurde deutlich, dass es sinnvoll ist, wie Kathrin Peters vorschlägt, Medien, und das betrifft auch die Fotografie, unbestimmt zu lassen, weil sie sich in ihrem Gebrauch und in ihrer Anwendung erst materialisieren.1 Auch der Begriff des intelligiblen Index macht indirekt darauf aufmerksam, dass es nicht ausreicht, den Begriff des Fotografischen lediglich in technizistischen und teleologischen Kategorien zu denken und dies den komplexen Prozessen des Medialen nicht gerecht werden kann. Das fotografische Medium agiert in den Arbeiten von Cahun in unterschiedlichen Konfigurationen, die dazu beitragen, dass die Fotografien jeweils zu etwas anderem werden und anders wirken. Für sich können Fotografien, ihre Bedeutungen und ihre Wirkungen als materiell-semiotische Erzeugungsknoten beschrieben werden, die nur in ihrer jeweiligen diskursiven und materiellen Eingebundenheit zeigen. Dies gilt sowohl für die Selbstportraits als auch für die objet-photos. In der von mir erstellten Genealogie offenbarte sich, dass eine Fotografie nicht für sich etwas visualisiert oder argumentiert, weil sie kein zeitlich und räumlich klar abgegrenztes Ding ist, sie hat mehr als eine vermittelnde Funktion. Die Zusammenhänge zwischen den Selbstportraits und bestimmten Inhalten ergaben sich aus dem spezifischen Gefüge der Analysen zu Cahun der 90er-Jahre, sie existierten keineswegs vor diesen. Das Wissen, das die Selbstportraits in den Erzählungen über Cahun liefern, wurde zusammen mit diesen Erzählungen ausgehandelt, es wohnte den Selbstportraits nicht inne. Im Zusammenhang des objet-photo ist die Fotografie ebenfalls keine bloße Vermittlerin, sie hat keine rein informative Rolle, eher wird sie zu etwas, das die Betrachter_in vor ein Rätsel stellt. Sowohl im Falle der Selbstportraits als auch im Falle der objet-photos wird deutlich, dass das fotografische Medium keine präexistente Funktion, Wirkung und Bedeutung hat, sondern
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Vgl. Peters, Kathrin: Rätselbilder des Geschlechts. Körperwissen und Medialität um 1900, Zürich 2010, S. 18; Peters, Kathrin: Media Studies, in: Braun, Christine von; Stephan, Inge: Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln 2013, S. 350-369, S. 355f.
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dass es sich in ereignishaften Prozessen entfaltet. Aus dieser Perspektive relativiert sich auch das Gegensatzpaar des Sichtbaren und des Unsichtbaren, denn eine bestimmte Bedeutungskonstellation lässt in einer Fotografie erst etwas erklingen, während eine andere Konstellation in der gleichen Fotografie etwas anderes zur Stimme bringt. Entscheidend sind die Verkettungen von Rahmungen, die Denk-, Lese- und Sehordnungen der Mitwelt, welche die Aussage einer Fotografie mitgestalten. Das Nachdenken über Cahuns Fotoobjekte und ihre analytischen Schriftstücke arbeitet der Homogenität des Konstrukts »Claude Cahun« entgegen, indem das vorherrschende Bilderkonvolut durch eine andere Gewichtung von Cahuns Arbeiten gestört wird. Damit wird keinesfalls eine Minderung der Signifikanz von Cahuns Selbstportraits angestrebt, sondern vielmehr eine Erweiterung. Die anderen Arbeitsfelder Cahuns sind, wie ich zu zeigen versuchte, nicht weniger wichtig und interessant. Mit ihren ge- und erfundenen Objekten beziehungsweise mit ihren objet-photos und mit ihren kunsttheoretischen Schriften ging Cahun hegemoniale Denkweisen über die Kunst und die Kunstherstellung an. Durchaus kann heute gesagt werden, dass Cahun mit ihren Objekten und Texten eine feministische Aussage machte, indem sie auch auf dem künstlerischen Feld egalitärere Verhältnisse forderte und sich mit ihren Objekten an solche herantastete. Wenn Cahuns Selbstportraits eine Revolution des Körperlichen eingeleitet haben, wie es seit der frühen Forschung der 90er-Jahre konstatiert wird, dann ist diese nicht von ihren kunsttheoretischen Schriften und von ihren Objekten beziehungsweise ihren objetphotos zu trennen. Schließlich können auch von einem objet-photo aus Fragen nach dem Körperlichen gestellt werden. Es wäre ebenfalls interessant zu erfahren, was die Analyse von Cahuns anderen bisher nicht berücksichtigten Fotografien bringen kann, beispielsweise ihren Landschaftsaufnahmen, ihren Fotografien von Baumaschinen oder ihren Tierportraits, die gemeinsam mit den Objekten/objet-photos eine sehr große Gruppe an Arbeiten bilden, vergleichbar der Zahl ihrer Selbstbildnisse, die nicht den weiblichen Körper und auch nicht den menschlichen Körper anvisiert. Das Kunstdispositiv, in dem sich ein männlicher Künstler des weiblichen Körpers als Kunstmaterial bedient, ist hier vollkommen verlassen, was bleibt ist die Zentralperspektive, die auf künstlerische Ungestalten, Dinge der Mitwelt und das Nicht-Benennbare gerichtet ist.
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Abbildung 10: Claude Cahun, Le Père, ca. 1932, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Cécile Clos – Musée d’arts de Nantes. Abbildung 11: Claude Cahun, o. T., ca. 1939, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Cécile Clos – Musée d’arts de Nantes. Abbildung 12: Claude Cahun, o. T., ca. 1935, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Cécile Clos – Musée d’arts de Nantes. Abbildung 13: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Deharme, Lise: Le Coeur de Pic, Rennes 2003 [1937], Fototafel I. Abbildung 14: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Deharme, Lise: Le Coeur de Pic, Rennes 2003 [1937], Fototafel II. Abbildung 15: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Deharme, Lise: Le Coeur de Pic, Rennes 2003 [1937], Fototafel III. Abbildung 16: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Deharme, Lise: Le Coeur de Pic, Rennes 2003 [1937], Fototafel IV. Abbildung 17: Claude Cahun, o. T., ca. 1935, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Jeu de Paume: Claude Cahun (Ausstellungskatalog), Jeu de Paume Paris 2011, S. 79. Abbildung 18: Weston, Edward, Paprika, 1930, Schwarz-Weiß-Fotografie. Online: www.metmuseum.org/art/collection/search/28328 (zuletzt besucht am 22.11.2017). Abbildung 19: Weston, Edward, Excusado, 1925, Schwarz-Weiß-Fotografie. Online: http://edward-weston.com/edward-weston/ (zuletzt besucht am 22. 11.2017). Abbildung 20: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Downie, Louise [Hg.]: Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 182 (Signatur Jersey Archive: JHT/1995/00039/p). Abbildung 21: Claude Cahun, Qui ne craint pas le grand méchant loup remet la barque sur sa quille et vouge à la dérive, ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Downie, Louise [Hg.]: Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 182 (Signatur Jersey Archive: JHT/1995/00032/u). Abbildung 22: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Deharme, Lise: Le Coeur de Pic, Rennes 2003 [1937], Fototafel XVI. Abbildung 23: C laude C ahun, Je tends les bras, ca. 1932, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Downie, Louise [Hg.]: Don’t Kiss Me. The Art of C laude C ahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 178 (Signatur Jersey Archive: JHT/ 1995/00026/n).
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 24: Claude Cahun, Un air de la famille, ca. 1936, Schwarz-WeißFotografie/Objekt. Downie, Louise [Hg.]: Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 182 (Signatur Jersey Archive: JHT/1995/00032/c). Abbildung 25: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotomontage. Krauss, Rosalind; Livingstone, Jane [Hg.]: L’Amour fou. Photography and Surrealism (Ausstellungskatalog), Corcoran Gallery Washington 1985, New York 1985, S. 108. Abbildung 26: Claude Cahun (?), o. T., ca. 1929, Schwarz-Weiß-Fotografie. Krauss, Rosalind; Livingstone, Jane [Hg.]: L’Amour fou. Photography and Surrealism (Ausstellungskatalog), Corcoran Gallery Washington 1985, New York 1985, S. 205. Abbildung 27: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1929, Schwarz-WeißFotografie. Krauss, Rosalind; Livingstone, Jane [Hg.]: L’Amour fou. Photography and Surrealism (Ausstellungskatalog), Corcoran Gallery Washington 1985, New York 1985, S. 205. Abbildung 28: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Krauss, Rosalind; Livingstone, Jane [Hg.]: L’Amour fou. Photography and Surrealism (Ausstellungskatalog), Corcoran Gallery Washington 1985, New York 1985, S. 205. Abbildung 29: Claude Cahun, Je donnerais ma vie, ca. 1936, Schwarz-WeißFotografie/Objekt. Krauss, Rosalind; Livingstone, Jane [Hg.]: L’Amour fou. Photography and Surrealism (Ausstellungskatalog), Corcoran Gallery Washington 1985, New York 1985, S. 109 (Tafel II in Le Coeur de Pic). Abbildung 30: C laude C ahun, Entre nous (II), ca. 1926, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Krauss, Rosalind; Livingstone, Jane [Hg.]: L’Amour fou. Photography and Surrealism (Ausstellungskatalog), C orcoran Gallery Washington 1985, New York 1985, S. 109. Abbildung 31: Poster des Festivals Printemps lesbienne Toulouse (2018), 2018. Online: www.bagdam.org/(zuletzt besucht am 15.5.2018). Abbildung 31 a: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1927, Schwarz-WeißFotografie. Cécile Clos – Musée d’arts de Nantes. Abbildung 32: O. A., Don’t Fuck With Queer Kids, o.J., Schwarz-Weiß-Fotografie. Online: https://www.pinterest.de/pin/1900024814911637 (zuletzt besucht am 15.5.2018). Abbildung 32 a: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1927, Schwarz-WeißFotografie. Downie, Louise [Hg.]: Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun
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and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 115 (Signatur Jersey Archive: JHT/1995/00030/j). Abbildung 33: Pinterest-Seite Lesbians Visible. Online: https://www.pinterest. de/degenerese/lesbianas-visibles/ (zuletzt besucht am 15.5.2018). Abbildung 33 a: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait 1928, Schwarz-WeißFotografie. Cécile Clos – Musée d’arts de Nantes. Abbildung 34: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1920, Schwarz-WeißFotografie. Ander, Heike; Snauwert, Dirk [Hg.]: Claude Cahun. Bilder (Ausstellungskatalog), Kunstverein München/Gesellschaft der Freunde der Neuen Galerie Graz/Museum Folkwang Essen, München 1997, S. 7. Abbildung 35: O. A., Portrait von Maurice Schwob, ca. 1917, Schwarz-WeißFotografie. Leperlier, François: Claude Cahun. L’Exotisme intérieur, Paris 2006, Ill. 5. Abbildung 36: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1911, Schwarz-WeißFotografie. Cécile Clos – Musée d’arts de Nantes. Abbildung 37: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1927, Schwarz-WeißFotografie. Ander, Heike; Snauwert, Dirk [Hg.]: Claude Cahun. Bilder (Ausstellungskatalog), Kunstverein München/Gesellschaft der Freunde der Neuen Galerie Graz/Museum Folkwang Essen, München 1997, S. 22. Abbildung 38: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1920, Schwarz-WeißFotografie. Ander, Heike; Snauwert, Dirk [Hg.]: Claude Cahun. Bilder (Ausstellungskatalog), Kunstverein München/Gesellschaft der Freunde der Neuen Galerie Graz/Museum Folkwang Essen, München 1997, S. 9. Abbildung 39: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1928, Schwarz-WeißFotografie. Ander, Heike; Snauwert, Dirk [Hg.]: Claude Cahun. Bilder (Ausstellungskatalog), Kunstverein München/Gesellschaft der Freunde der Neuen Galerie Graz/Museum Folkwang Essen, München 1997, S. 40. Abbildung 40: O. A., Henri Michaux u. Claude Cahun, 1939, Schwarz-WeißFotografie. Downie, Louise [Hg.]: Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 173 (Signatur Jersey Archive: JHT/1995/00030/v). Abbildung 41: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1928, Schwarz-WeißFotografie. Downie, Louise [Hg.]: Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 124 (Signatur Jersey Archive: JHT/1995/00032/b). Abbildung 42: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1930, Schwarz-WeißFotografie. Downie, Louise [Hg.]: Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun
Abbildungsverzeichnis
and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 125 (Signatur im Archiv JHT/1995/00032/g). Abbildung 43: Claude Cahun, o. T., Selbstportrait, ca. 1928, Schwarz-WeißFotomontage. Downie, Louise [Hg.]: Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 124. Abbildung 44: Claude Cahun, o. T., ca. 1935, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Jeu de Paume: Claude Cahun (Ausstellungskatalog), Jeu de Paume Paris 2011, S. 123. Abbildung 45: Claude Cahun, o. T., ca. 1935, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Jeu de Paume: Claude Cahun (Ausstellungskatalog), Jeu de Paume Paris 2011, S. 142. Abbildung 46: C laude C ahun, Sur la page, ca. 1932, Schwarz-Weiß-Fotografie/ Objekt. Jeu de Paume: C laude C ahun (Ausstellungskatalog), Jeu de Paume Paris 2011, Paris 2011, S. 78. Abbildung 47: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Downie, Louise [Hg.]: Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 188 (Signatur Jersey Archive: JHT/1995/00024/i). Abbildung 48: Claude Cahun, o. T., ca. 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie/Objekt. Downie, Louise [Hg.]: Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St Helier/New York 2006, S. 188 (Signatur Jersey Archive: JHT/1995/00027/l).
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