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German Pages 356 [360] Year 2005
Untersuchungen zur deutschen Lit era turgesch ich te Band 123
Frieder von Amnion
Ungastliche Gaben Die »Xenien« Goethes und Schillers und ihre literarische Rezeption von 1796 bis in die Gegenwart
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung f ü r Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Bibliografische I n f o r m a t i o n der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische D a t e n sind im Internet über http://dnb.delb.de abrufbar. I S B N 3-484-32123-7
I S S N 0083-4564
© M a x Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2005 http://mvw.niemeyer.ele D a s Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig u n d strafbar. D a s gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen u n d die Einspeicherung u n d Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Dr. Gabriele Herbst, Mössingen Druck: L a u p p & Göbel, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2003/2004 von der Philosophischen Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften II der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen; für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet. Es ist mir eine große Freude, an dieser Stelle nun all denjenigen meinen Dank aussprechen zu können, die zum Entstehen der Arbeit beigetragen haben. Zuerst möchte ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Harms danken, der dieses Vorhaben von Anfang an nicht nur durch seine stete Gesprächsbereitschaft gefördert hat, sowie dem Zweitgutachter Prof. Dr. Jörg Krämer, der die Arbeit ebenfalls den gesamten Zeitraum über engagiert begleitet und mir immer wieder wichtige Hinweise gegeben hat. Der Stiftung Weimarer Klassik danke ich für die Gewährung eines großzügigen Stipendiums, das es mir ermöglichte, einen Monat lang in Weimar zu arbeiten. Abgesehen von den idealen Arbeitsbedingungen in den verschiedenen dortigen Forschungseinrichtungen, vor allem der Anna Amalia-Bibliothek, war bei einem Thema wie diesem der Blick vom Schreibtisch auf Rietschels Goethe-Schiller-Denkmal von besonderem Reiz. Thomas Weißbrich habe ich für eine kritische Lektüre des Manuskriptes zu danken, Herfried Vögel für Anregungen in einer entscheidenden Phase. Zsöfia Lendvai danke ich für Ihr Verständnis und Ihre Geduld. Ohne das große Interesse und die nie nachlassende Unterstützung meiner Eltern, insbesondere meiner Mutter, wäre diese Arbeit jedoch niemals begonnen worden. Ihnen ist sie darum gewidmet. München, im Januar 2005
Frieder von Ammon
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Lebet, ist Leben in euch, und erzählt noch dem kommenden Distichen,
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was wir geehrt, was wir gehaßt und geliebt.
Alter,
Inhaltsverzeichnis
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Einleitung ι.ι
ι
»Die Wirkung aber bleibt unberechenbar«: Das Xenion als Sonderweg der deutschen Literatur
5
1.2 Forschungsstand und Zielsetzung der Arbeit
11
TEIL I: Die Xenien Goethes und Schillers. Eine Poetik der Grenzüberschreitung
18
2 »Die Verse sind wirksam«: Das Monodistichon als Medium der Satire
26
2.1 Die Struktur des Distichons
27
2.2 Titel und Text
34
2.3 Exemplarische Analysen
41
3 »In allen erdenklichen Formen«: Die Struktur der Xenien
50
3.1 Die Mikrostruktur des Zyklus
57
Exkurs: Buchaufbau bei Martial
58
3.1.1 Zweiergruppen
60
3.1.2 Zyklen
63
3.2 Zur Theorie des Epigramms
68
3.3 Überschreitung der Gattungsgrenzen
72
3.4 »Komödie in Epigrammen«
82
3.4.1 Schauplatz
83
3.4.2 Handlung
84
3.4.3 Dramatis ρ ersonae
86
3.4.4 Illusionsdurchbrechung
88
3.5 Die Makrostruktur des Zyklus
91
3.5.1 Rahmenkomposition
91
3.5.2 Die Reisefabel 3.5.2.1 »Litterarischer
100 Zodiacus«
100
Exkurs: Coelum inversum
101 VII
3·5·2.2 Die Flüsse 3.5.2.3 Katabasis Exkurs: Musa militans 3.6 Antike und Moderne
103 104 106 122
4 »Gastgeschenke seyd ihr?«: Die Semantik der Xenien Exkurs: Das Mädchen aus der Fremde
130 138
TEIL II: Die literarische Rezeption der Xenien
147
5 ANTI-XENIEN: Die Kanonisierung einer »verdammten Gattung« 5.1 »Wer seyd ihr?«: Auftritt einer Gattung 5.2 »Wir laden euch wieder zu Tische«: Semantik der Gabe und Gattungsintertextualität 5.3 Kanonisierung durch Kontrafaktur oder Negative Klassizität Exkurs: Der Zauberlehrling 5.4 Agonale imitatio·. Hölderlins >Kampf mit Schiller
Gelehrtenrepublik< bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlebt, obwohl das 18. Jahrhundert an literarischen Fehden ja wahrlich nicht arm gewesen war, man denke nur an den deutsch-schweizerischen Literaturstreit1 oder an die Auseinandersetzung um Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands,2 Der sogenannte XenienStreit jedoch übertraf alle vorherigen Streitigkeiten bei weitem. Noch in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schrieb Wolfgang Preisendanz, die Xenien seien »im Hinblick auf literarische Fehden und Polemiken bis heute d i e >cause celebre< der deutschen Literaturgeschichte geblieben.«3 Und auch noch dreißig Jahre später konnte Kurt Klinger kein Ereignis ausfindig machen, »das mehr Haß, Erbitterung und nackte Wut ausgelöst hätte, als diese Sammlung von Zweizeilern.«4 Das ist kein Wunder: In den Xenien wurden bekannte Literaten an den Pranger gestellt und heillos, zum Teil auf brillante, zum Teil auf geschmacklose Weise verspottet. Zu den Opfern gehörten nicht nur einige wenige Autoren, sondern »drei Generationen der literarischen Welt von Ramler und Klopstock bis auf Jean Paul und Friedrich Schlegel [...].«' Oder, wie Reiner Wild es formuliert: »Der Prozeß, der in den 1
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3
4
s
Vgl. dazu Jürgen Wilke: »Der deutsch-schweizerische Literaturstreit.« In: Helmut Koopmann / Franz Josef Worstbrock (Hrsg.): Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Tübingen 1986. S. 140-151. Zu diesem Streit, der zur Vorgeschichte des Xenien-Streits gehört, vgl. HansDietrich Dahnke: »Die Debatte um Die Götter Griechenlands.« In: Hans-Dietrich Dahnke / Bernd Leistner (Hrsg.): Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18.Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin / Weimar 1989. S. 193-269. Wolfgang Preisendanz: Die Spruchform in der Lyrik des alten Goethe und ihre Vorgeschichte seit Opitz. Heidelberg 1952. S. 85. Kurt Klinger: »Ein deutscher Bürgerkrieg der Worte. Goethes und Schillers Xenien.« In: Literatur und Kritik 167 / 168 (1982). S. 48-63, hier S.48. Eduard Boas: Schiller und Goethe im Xenienkampf. Stuttgart / Tübingen 1851. B d . i . S . 1.
Xenien
g e f ü h r t w i r d , gilt der d e u t s c h e n literarischen Ö f f e n t l i c h k e i t in
i h r e r G e s a m t h e i t . [ . . . ] D i e Xenien
s p r e c h e n ü b e r alles, w a s M i t t e der
n e u n z i g e r J a h r e G e g e n s t a n d d e r D i s k u s s i o n in der literarischen Ö f f e n t lichkeit w a r . « 6 Selbst k u r z z u v o r v e r s t o r b e n e S c h r i f t s t e l l e r w i e B ü r g e r u n d F o r s t e r w u r d e n nicht v e r s c h o n t . D e m e n t s p r e c h e n d h e f t i g f i e l e n d a n n a u c h die R e a k t i o n e n aus. D e r L i t e r a r h i s t o r i k e r F r a n z H o r n , ein Z e i t z e u g e , hat sie r ü c k b l i c k e n d b e s c h r i e ben: Ich erinnere mich jener Zeit noch sehr genau, und darf, der völligen Wahrheit gemäß, erzählen, daß vom November 1796 bis etwa Ostern 1797 das Interesse für die Xenien in den gebildeten Ständen bei Lesern und auch bei sonstigen Nichtlesern auf eine Weise herrschte, die alles andere Literarische überwältigte und verschlang. Es war als erschölle nicht nur auf dem deutschen Parnasse, sondern durch das ganze, auf Bildung Anspruch machende Deutschland ein furchtbarer Feuerruf, Lrommelschlag, Schwertergeklirr usw., und selbst unschuldige Seelen, die kein Wasser trüben und sonst nur lesen, um die Zeit zu vertreiben [...] wurden entweder erhitzt oder ängstlich; an eine ruhige Würdigung war nicht zu denken, es folgte eine Recension, eine Gegenschrift auf die andere, ja es glaubte Mancher nicht ruhig schlafen zu können, wenn er nicht seinen Unmuth über die unartigen Dichter durch den Druck bekannt gemacht hätte. Wie viele solcher Recensionen und Schriften erschienen, ist kaum mehr zu berechnen, und das alte Wort von dem ewig erzeugenden, wiederkäuenden und verschlingenden Ungeheuer hatte jetzt eine mehr als allegorische Bedeutung. Es war ein ganz eigenes Schauspiel. Beinahe das gesammte ästhetischphilosophische, schreibende Deutschland mit ungeheuren Papierballen bewaffnet, gegen zwei Männer, die nur ein paar kleine Streifchen herab vom Berge in das Lhal geworfen hatten. Je ungeberdiger aber man sich anstellte, je eifriger man bemüht war, den ganzen Haß auszusprechen, je mehr zeigte sich die Wirkung der Xenien [...]. 7 D i e s e W i r k u n g w a r w o h l k a l k u l i e r t ; G o e t h e u n d Schiller hatten sie gew o l l t u n d p r o v o z i e r t . W i l d spricht s o g a r v o n einer » I n s z e n i e r u n g des S k a n d a l s « . 8 D i e s e r hatte f ü r die A u t o r e n eine d o p p e l t e F u n k t i o n , u n d z w a r einerseits eine externe, z u m a n d e r e n eine interne: Die Festigung der Beziehung [zwischen Goethe und Schiller] geschieht zunächst einmal durch die gemeinsame Absicherung der eigenen Stellung auf dem literarischen Markt, also in der gemeinsamen Präsentation nach >außenXe«i'e«-Almanach< der >Balladen-Almanachcause celebreOlympier< Goethe ist, auf den sich die Xeniendichter berufen, sondern der Satiriker, Polemiker und Pasquillant, der - wie es ein Xeniendichter des späten 20. Jahrhunderts treffend formuliert hat - »bosmütig[e]« Goethe.35 Mit dem Xenion wurde also ein >anderer< Goethe kanonisiert, der mit den gängigen Vorstellungen vom >Dichterfürsten< nicht in Ubereinstimmung gebracht werden kann: ein >unklassischer Klassikern
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35
Diese Formulierung stammt von Friedrich Schlegel. Er verwendet sie in einem Brief an Körner vom 30. September 1796. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Bd. 23. S. 332. Daß er dabei auch noch auf ein bestimmtes Xenion Goethes zurückgreift, hat Hettche gezeigt. Vgl. dazu Hettche: Heinrich von Kleists Lyrik. S. 1 1 j f f . B.K. Tragelehn: Neue Xenien. 1959—1999. E m Nachtrag zum Goethejahr. Frankfurt am Main 2000. S. 5. (S.u. 9, Epilog)
9
1796 hätte das in der Tat niemand vorhersehen können. Doch im Jahr 1824 scheint Goethe, als er sich in den Tag- und Jabresheften der Xenien erinnerte, auf diese erstaunliche Entwicklung anzuspielen: Die Xenien, die aus unschuldigen ja gleichgültigen Anfängen sich nach und nach zum Herbsten und Schärfsten hinaufsteigerten, unterhielten uns [Schiller und Goethe] viele Monate und machten, als der Almanach erschien noch in diesem Jahre die größte Bewegung und Erschütterung in der deutschen Literatur. Sie wurden, als höchster Mißbrauch der Preßfreyheit, von dem Publicum verdammt. Die Wirkung aber bleibt unberechenbar.36
So gesehen, ist dieser letzte Satz weniger »merkwürdig[]«,37 als die Forschung bisher angenommen hat: Goethe bezog sich auf die Wirkungsbzw. Rezeptionsgeschichte der Xenien. Denn diese war in der Tat außergewöhnlich, schon zu diesem Zeitpunkt. Goethe hatte bereits 1797 - dies wird ausführlich zu zeigen sein - an prominenter Stelle auf die literarische Rezeption dieses Textes Bezug genommen. Ein Vierteljahrhundert später waren dann, neben dem Korpus der Anti-Xenien und handschriftlich kursierenden Xenien Friedrich Schlegels, die Xenien Kleists erschienen, die nicht nur Goethe heftig attackiert hatten. Böttiger hatte Kleist daraufhin in Xenienform und dieser wiederum ihm geantwortet. 1813 hatte E.T.A. Hoffmann einen Zyklus mit Xenien auf Bamberger Schauspieler verfaßt. Grillparzer schrieb 1818 und 1819 Xenien. Und Goethe selbst hatte mit seinen Zahmen Xenien, die zuerst 1820, 1821 und 1824 in Ueber Kunst und Altertbum erschienen waren, die Form öffentlich wieder aufgegriffen. In den Jahren um Goethes Tod ist dann sogar eine regelrechte Xenien-Mode zu verzeichnen, die in der Vormärz-Literatur kulminiert. Und im 20. Jahrhundert kommt es zu einer Renaissance des Xenions in der Literatur der DDR, die auch nach der Wende noch anhält; die jüngsten Beispiele stammen aus dem Jahr 2003. Unter den Xeniendichtern sind so prominente Autoren wie Hölderlin, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Kleist, E.T.A. Hoffmann, Heine, Immermann, Grillparzer, Feuerbach, Engels, Herwegh, Gutzkow, Hebbel, Rückert, Johannes Bobrowski, Heiner Müller, Peter Hacks, Volker Braun, Erich Fried, Arno Schmidt und Hans Mayer, aber auch weniger bekannte wie Adolf Glassbrenner, Daniel Sanders, Wolfgang Menzel, Anastasius Grün, Gotthard Oswald Marbach, Karl Manuel, Ernst Ziel, Eduard von Bauernfeld, Rainer Kirsch, Peter Gosse und B.K. Tragelehn, ganz abgesehen von den Autoren der Anti-Xenien. Nach dem Vorbild Goethes und Schillers 36 37
Goethe: Frankfurter Ausgabe [=FA] I 17 S. 54. Schwarzbauer: Die Xenien. S. 3 59.
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setzten alle diese Autoren das Xenion als Medium für meist erbittert geführte literarische, politische oder auch theologische Streitigkeiten ein. Bei diesem Medium handelt es sich mithin um eine auf Goethe und Schiller zurückgehende Subgattung des Epigramms, eine spezifisch deutsche Form - denn in den anderen europäischen Literaturen gibt es sie nicht um, wenn man so will: einen Sonderweg der deutschen Literatur. 38
1.2
F o r s c h u n g s s t a n d u n d Z i e l s e t z u n g der A r b e i t
Erstaunlicherweise hat die Germanistik dieses Phänomen bisher jedoch weitgehend ignoriert, obwohl Theodor Verweyen und Gunther Witting bereits 1992 auf das Forschungsdesiderat hingewiesen haben: Daß der »Xemenkampf« im Hinblick auf literarische Fehden »bis heute d i e >cause celebre< der deutschen Literaturgeschichte« geblieben sei und zunächst vor allem »in der ganzen Distichenepigrammatik« des iß.Jh.
nachhaltigste
Wirkung hinterlassen habe, ist bislang nicht im Zusammenhang dargestellt worden. 3 9
In der Tat gibt es bis heute weder eine zusammenhängende Untersuchung noch Einzelstudien zu diesem Thema, das die Forschung, trotz Verweyen und Witting, noch gar nicht als ein solches erkannt zu haben scheint. Einen Artikel über das Xenion findet man nicht im Reallexikon Literaturgeschichte
der
und auch nicht in dessen Nachfolger, dem
der deutschen Literaturwissenschaft.
deutseben Reallexikon
Dabei genügt schon ein Blick in das
Sachregister des älteren Lexikons, um die Relevanz des Themas zu belegen: Neben »Xenien« werden immerhin die Stichwörter »xenialische Tendenz«, »Xenienkampf«, »Xenienmode« und »Xenienzeit« aufgeführt. 40 Mithin wurde einem Begriff, der doch offenbar eine ganze Zeit zu prägen vermochte, nicht genügend Bedeutung zuerkannt, um in einem eigenen Artikel behandelt zu werden. Auch in den Artikeln zu Pasquill, Polemik, Satire und Schmähschrift kommt das Xenion höchstens am Rande vor. 41
38
39
40
41
Boas hat dies in Bezug auf den Xenien-Streit bereits 1851 konstatiert: »Der Xenienkampf ist ein so ganz besonderes, merkwürdiges Ereigniß, daß keine Literatur eines andern Volkes etwas Aehnliches aufzuweisen hat.« Boas: Schiller und Goethe im Xenienkampf. Bd. 1. S. 1. Theodor Verweyen / Gunther Witting: »Epigramm.« In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Tübingen 1992. Sp. 1 2 7 3 - 1 2 8 3 , hier Sp. i28of. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 5. Berlin / N e w Y o r k 1988. S.497. Vgl. Gustav Bebermeyer: »Schmähschrift.« In: Reallexikon der deutschen Lite-
11
Im Glossar von Ludwig Rohners Buch über die literarische Streitschrift wird das Xenion gar nicht erst aufgeführt.42 Lediglich Otto Knörrichs Lexikon lyrischer Formen,43 das Metzler Literatur Lexikon44 sowie Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur45 verzeichnen den Begriff >XenienNeue Conrady< enthält kein einziges Xenion Goethes und Schillers oder späterer Zeiten. Vgl. Karl-Otto Conrady (Hrsg.): Der Neue Conrady. Das gro-
12
Anthologien kaum eine Rolle spielt,49 obwohl sich ja, wie schon die obigen Beispiele zeigen, keineswegs nur poetae minores ihrer bedienten. Im offiziellen Kanon der deutschen Literatur indes ist das Xenion nicht vertreten. Das gilt sogar - trotz ihrer literarhistorischen Schlüsselposition für die Xenien Goethes und Schillers. Es kann also durchaus von einer Marginalisierung des Xenions durch die Germanistik gesprochen werden. Dafür sind mehrere Gründe anzunehmen. Eine entscheidende Rolle hat dabei sicherlich die spätere Distanzierung Goethes und Schillers von ihren eigenen Xenien gespielt. Die Germanistik ist den Autoren - von einer Phase gesteigerten Interesses in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgesehen (s.u. 8) - lange Zeit in der Geringschätzung dieses Textes gefolgt. Eine Bemerkung Emil Staigers kann dies verdeutlichen: Wir gewinnen den Eindruck, daß weder Goethe noch Schiller im Polemischen eine besondere Stärke entfaltet haben; und daß sie sich selber während der A r beit über die Maßen belustigten, daß das Arbeitszimmer Schillers stundenlang von Gelächter dröhnte, scheint uns beinahe unglaubhaft.' 0
Weiter heißt es: »Für Goethe und Schiller aber war das nur ein unerläßliches Vorspiel für das Eigentliche, das kam, das, in der Stille gereift, ihr ße deutsche Gedichtbuch. V o n den Anfängen bis zur Gegenwart. Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe. Düsseldorf / Zürich 2000. Der >Killy< enthält keine Xenien Goethes und Schillers, aber einige wenige Xenien Herweghs und Immermanns. Vgl. Walther Killy (Hrsg): Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart. 10 Bde. München 2001. B d . 7 . Gedichte 1800-1830. S . 3 i 2 f f . und Bd. 8. Gedichte 1830—1900. S. ιογί. Eine m der germanistischen Lehre vielbenutzte Anthologie hat von Schiller und Goethe bezeichnenderweise nur Tabulae votivae aufgenommen; Xenien finden sich dort nicht. Vgl. Gerhard H a y / Sibylle von Steinsdorff (Hrsg.): Deutsche Lyrik vom Barock bis in die Gegenwart. 7. Auflage. München 1994. S. 104. Ebenso enthält der >Echtermeyer< keine Xenien, und auch Borchardts Ewiger Vorrat deutscher Poesie nicht - obwohl Borchardt 1907 ein eigenes Xenien-Projekt ins Auge gefaßt hatte (s.u. 9). Vgl. Benno von Wiese (Hrsg.): Echtermeyer. Deutsche Gedichte. V o n den Anfängen bis zur Gegenwart. Auswahl für Schulen. 18. Auflage. Düsseldorf 1990 und Rudolf Borchardt (Hrsg.): Ewiger Vorrat deutscher Poesie. München 1926. 49 Dietze nimmt nur wenige und darüber hinaus untypische Xenien auf, außer bei Goethe und Schiller zudem ohne diese Bezeichnung. Vgl. Walter Dietze (Hrsg.): Deutsche Epigramme aus vier Jahrhunderten. Mit Illustrationen von Nuria Quevedo und einem Nachwort von Manfred Bieler. Leipzig 1964. Eine etwas größere Auswahl, meist aber ebenfalls ohne die Bezeichnung, bringt Neumann. Vgl. Neumann: Deutsche Epigramme. Die Auswahl in Anita Dietze / Walter Dietze. (Hrsg.): Deutsche Epigramme aus vier Jahrhunderten. Mit Illustrationen von Nuria Quevedo. Leipzig 1973 entspricht im Großen und Ganzen derjenigen in Dietzes früherer Anthologie. s ° Emil Staiger: Goethe. Bd. 2. 1 7 8 6 - 1 8 1 4 . Vierte, unveränderte Auflage. Zürich 1970. S. 212.
!3
Gemüt als herrliche Verheißung entzückte.«51 Hier wird auch das in der Germanistik lange Zeit dominante Paradigma der klassischen AutonomieÄsthetik erkennbar; ein dieser bewußt nicht entsprechender Text konnte nicht zum engeren germanistischen Kanon gehören, schon gar nicht eine Satire, die gezielt Hinter die literarische Gürtellinie< ging. Eberhard Scheiffele hat darauf hingewiesen, »daß in Deutschland die Satire als >zeitgebunden< lange Zeit ein weit geringeres Ansehen genoß als in anderen Literaturen, und zwar gerade unter dem Einfluß der >Weimarer Klassik.«' 2 Die Xenien wurden demgemäß »kaum je als >klassisches< Werk anerkannt«: So ist ihnen, gemessen an ihrer immensen kritischen Wirkung, von selten der Goethe- und Schillerforschung eine nur geringe Aufmerksamkeit zuteil geworden. Ihre Aggressivität paßte nicht zum Bild einer zeitentrückten, allgemein menschlichem Klassik, wie es für weite Kreise des gebildeten Bürgertums im 19. Jahrhundert Geltung hatte und in der Literaturgeschichtsschreibung bis ins 20. als mustergültig angesehen wurde. 53
Erst in den letzten zwanzig Jahren hat sich dies langsam verändert; dennoch sucht man in den gängigen Interpretationssammlungen und sogar in dem 1998 erschienenen Schiller-Handbuch noch immer vergeblich nach Darstellungen der Xenien.54 Es liegt auf der Hand, daß das Desinteresse für die Xenien auch das Desinteresse für die von diesem Text ausgelöste Gattungstradition nach sich gezogen hat: Wie schon der Mustertext auf wenig Interesse stieß, fanden auch seine Folgetexte kaum Beachtung. Ein weiterer Grund für die Marginalität der Gattung ist ihre Nichtpartizipation an poetologischen und theoretischen Diskursen: Das Xenion theoretisiert und poetologisiert sich zwar - wie noch ausführlich zu Zeis' Ebd. S. 219. 51 Eberhard Scheiffele: »Die Xenien, eine >wahre poetische Teufelei< am Beginn der Kanon-Bildung.« In: ders.: Uber die Rolltreppe. Studien zur deutschsprachigen Literatur mit einem Entwurf matermler literarischer Hermeneutik. München 1999. S. 131—144, hier S. 142. » Ebd. S. 131. 54 Vgl. Norbert Oellers (Hrsg.): Interpretationen. Gedichte von Friedrich Schiller. Stuttgart 1996 und Bernd Witte (Hrsg.): Interpretationen. Gedichte von Johann Wolfgang Goethe. Stuttgart 1998. Das Fundbuch der Gedichtinterpretationen verzeichnet keine einzige Interpretation. Vgl. Wulf Segebrecht (Hrsg.): Fundbuch der Gedichtinterpretationen. Bearbeitet von Rolf-Bernhard Essig, unter Mitarbeit von Christina Bode. München 1997. Auch die - mittlerweile 1400 Gedichte und Interpretationen umfassende - Frankfurter Anthologie enthält kein einziges Xenion. Vgl. Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. 12 Bde. Frankfurt am Main 2003. Vgl. Helmut Koopmann (Hrsg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998.
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gen sein wird - in hohem Maße selbst, d.h. gattungsintern, in die gattungsexternen Diskurse aber hat es - aus verschiedenen Ursachen, auf die ebenfalls noch zurückzukommen sein wird - keinen Eingang gefunden. Es handelt sich also um den Sonderfall einer sich ausschließlich selbst reflektierenden Gattung. Diese Tatsache nun dürfte zu dem Desinteresse der Forschung zumindest beigetragen haben: Das Xenion ist, indem es in Traktaten, Essays und dann in Literaturgeschichten und Handbüchern eben einfach nicht erscheint, durch die Raster der Literaturwissenschaft gefallen. Dieser Marginalität des Xenions in den offiziellen Kanones der deutschen Literatur und der Germanistik gegenüber steht jedoch die Tradition dieser Gattung, die nichtsdestotrotz - gleichsam unter der Oberfläche des literarischen Diskurses - lebendig geblieben ist. Das Xenion hat sich durch die immer weitere Fortschreibung der Xenien Goethes und Schillers selbst kanonisiert und selbst überliefert. Das Ergebnis dieses Prozesses der Autokanonisierung ist eine inoffizielle Gattungstradition, die zwar unabhängig von den Instanzen und Institutionen der Hochkultur existiert, sich aber sehr wohl auf diese bezieht. Eines der Ziele der vorliegenden Arbeit ist es, diese Lücke in der Forschungsliteratur zu schließen und Vorarbeiten für eine künftige Geschichte dieser Gattung zu leisten. Der Anspruch auf eine vollständige Erfassung der Xeniendichtungen kann nicht erhoben werden; zu heterogen sind die Kontexte, zu abgelegen in vielen Fällen die Fundorte. Aus diesem Grund ist der Arbeit als Anhang ein chronologisches XenienVerzeichnis beigefügt, das dazu dienen soll, einen ersten Uberblick über die Xenien-Tradition zu geben und weitere Forschungen auf diesem Gebiet zu erleichtern. Dazu kommen jedoch andere Aspekte: Wie angedeutet setzen sich die Xeniendichter späterer Zeiten immer mit der Weimarer Klassik bzw. mit Goethe auseinander. Darüber hinaus wird das Xenion aber auch zum Medium der Auseinandersetzung mit der Rezeption Goethes bzw. der Weimarer Klassik. Dies ist auf eine besondere Eigenschaft des Mustertextes zurückzuführen: Den Xenien Goethes und Schillers inhärent ist eine spezifische, rezeptionsstimulierende, ja -provozierende Kraft, die sich einerseits in der großen Zahl von Folgetexten manifestiert, andererseits aber auch darin, daß dieser Text die Autoren seiner Folgetexte zu einer intensiven Rezeptions-Reflexion angeregt hat, und zwar nicht nur der eigenen Rezeption der Xenien und der Weimarer Klassik, sondern auch der der Anderen. Im Diskurs über diesen Text verdichten sich Fragen der Klassik-Rezeption und der Xenien-Tradition eignet dementsprechend !5
eine besondere Rezeptionsintensität: In dieser Gattung haben Xeniendichter späterer Zeiten ein aus ihrer Sicht falsches Bild der Weimarer Klassik, eine einseitige Goethe- und Schiller-Rezeption angegriffen und versucht, diese zu subvertieren oder zu destruieren, indem sie sich auf die unklassische Klassik beriefen. In anderen Fällen dient der Rekurs auf Schiller und Goethe dazu, die eigenen Xenien zu legitimieren, auch wenn die darin vertretenen Positionen in keiner Weise mit denen der Weimarer Klassik übereinstimmen; in wieder anderen Fällen werden die Waffen der Weimarer Klassik im Kampf gegen diese selbst eingesetzt. In jeder neuen Konstellation ergeben sich somit spezifische Perspektivierungen sowohl der eigentlichen Weimarer als auch der anderen, unklassischen Klassik. Mithin läßt sich anhand der literarischen Rezeption der Xenien auch die Rezeption der Weimarer Klassik und speziell Goethes von 1797 bis 1999, also rund zweihundert Jahre verfolgen, und zwar aus einem doppelten Blickwinkel. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich folglich nicht um eine Gattungsgeschichte im herkömmlichen Sinne, auch wenn der Untersuchung von Theorie und Geschichte des Xenions ein nicht geringer Platz eingeräumt wird. Es geht vielmehr darum, exemplarisch Rezeptionswege der Xenien Goethes und Schillers nachzuzeichnen, wobei auf die Aspekte der Klassik-Rezeption ein besonderer Wert gelegt wird. Insofern könnte diese Arbeit auch noch einen zweiten Untertitel tragen: Studien zur Rezeption der unklassischen Klassik. Der Forschungsstand zu den Xenien Goethes und Schillers ist, der langen Zeit des Desinteresses zum Trotz, inzwischen weitaus besser; er ist dokumentiert in den Kommentaren der Frankfurter und Münchner Goethe-Ausgaben sowie der Schiller-Nationalausgabe.55 Jedoch gibt es auch hier teilweise noch erhebliche Lücken. Während die literaturpolitischen Aspekte der Xenien und die literarhistorische Bedeutung des Xenien-Streites in den letzten Jahren ausgiebig untersucht wurden56 sowie bereits die wissenschaftliche Rezeption der Xenien kritisch hinterfragt 55
56
Goethe: F A I 1 S. 1 1 5 7 - 1 1 8 9 , Münchner Ausgabe [ = M A ] 4.1 S. 1 1 2 4 - 1 1 8 8 , N A 2 II A S. 333-601. Zu den Xenien vgl. die oben genannten Publikationen Schwarzbauers und Wilds sowie den Artikel im Goethe-Handbuch: Bernd Leistner: »Xenien«. In: Regine Otto / Bernd Witte (Hrsg.): Goethe-Handbuch. Bd. 1. Gedichte. Stuttgart / Weimar 1996. S. 237-243. Zum Xenien-Streit vgl. ders.: »Schiller im Spiegel der Antixenien.« In: Helmut Brandt (Hrsg.): Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs. Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft. Berlin / Weimar 1987. S. 478—487 und ders.: »Der Xemen-Streit.« In: Dahnke / Leistner (Hrsg.): Debatten und Kontroversen. Bd. 1. S. 451-539.
16
wurde,57 hat man andere Fragen noch gar nicht gestellt. Das betrifft insbesondere den Text selbst, seine Poetik, Struktur und Semantik. Als ein genuin literarischer Text haben die Xenien noch immer nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die ihnen gebührt. Dabei haben Goethe und Schiller mit diesem Text eine neue und innovative Form der Literatursatire geschaffen, die in der Tat einzigartig ist in der europäischen Literatur. Folglich ist diese Arbeit zweigeteilt: Der erste Teil untersucht die Xenien Goethes und Schillers als den paradigmatischen Text, auf den alle späteren Xenien rekurrieren, und versucht, Forschungslücken zu schließen sowie neue Deutungsaspekte zu entwickeln. Er bildet somit die Grundlage für den zweiten Teil, in dem die literarische Rezeption der Xenien in ihren Grundzügen nachgezeichnet und eingehender dann exemplarisch anhand ausgewählter Beispiele analysiert wird.
57
Franz Schwarzbauer: »Die Xenien von 1796/1893. Zur Kritik eines maßgeblichen Kommentars.« In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105 (1986). Sonderheft. S. 1 0 7 - 1 3 5 .
V
TEIL I: Die Xenien Goethes und Schillers. Eine Poetik der Grenzüberschreitung
Eine Theorie des Xenions gibt es nicht. Schiller hat sich weder mit dem Epigramm noch mit dem Xenion theoretisch auseinandergesetzt, und auch in sein System von scherzhafter und strafender Satire lassen sich die Xenien nicht einordnen.1 Von Goethe gibt es ebenfalls keine theoretischen Äußerungen über diese Gattung. Da die Entstehungszeit der Xenien ansonsten jedoch eine Phase intensiver, gerade auch intensiver gemeinsamer poetologischer Reflexion war,2 ist das Fehlen jeglicher Theoriebildung in diesem Fall auffällig und erklärungsbedürftig. Der Hauptgrund für diese Sonderstellung der Xenien ist ihre besondere Funktion: Schiller und Goethe haben diesen Text in erster Linie als wirkungsvolles Medium für die Auseinandersetzung mit ihren Gegnern und nicht als ein den hohen Ansprüchen der neuen klassischen Autonomieästhetik genügendes Werk konzipiert, also gleichsam sub species diei und eben nicht aeternitatis. Und natürlich wollten sie, die die Xenien und den durch sie ausgelösten Skandal später am liebsten ungeschehen gemacht hätten, den Text nicht nachträglich noch durch poetologische Erörterung nobilitieren. Die Tatsache, daß die Xenien von Goethe und Schiller nicht - wie Drama und Epos, Elegie, Satire und Idylle - gattungstheoretisch diskutiert wurden, sollte jedoch nicht dazu verleiten, den Text in dieser Hin1
2
Diese Kategorien entwickelt Schiller in seinem Traktat Ueber naive und sentimentalische Dichtung, der von November 1795 bis Januar 1796 - also parallel zur Entstehung der ersten Xenien - in drei Teilen in den Hören erschien. Dazu Leistner: »An eben dieses theoretisch Fixierte schien dem Xenien-Verfasser und Almanach-Herausgeber freilich alle Erinnerung geschwunden zu sein [...].« Leistner: »Der Xemen-Streit.« S. 458. Natürlich war Schiller nicht einfach »alle Erinnerung« daran geschwunden — Leistner verkennt Schillers und Goethes bewußten Bruch mit poetologischen Normen, auch den eigenen. Das wird im folgenden näher auszuführen sein. Wild bemerkt in diesem Zusammenhang: »Denn zu ihr [der Zusammenarbeit] gehört bei beiden Beteiligten, gerade aber auch bei Goethe, die hohe poetische Bewußtheit, die im fortwährenden Dialog, im Austausch der Produktion und in der gemeinsamen Reflexion ihre Basis hat; die Zusammenarbeit ist zutiefst geprägt von der Wechselseitigkeit und dem Ineinander von poetischer Praxis und poetologischer Reflexion.« Wild: Goethes klassische Lyrik. S. 110. 18
sieht zu unterschätzen: Es kann nämlich kein Zweifel daran bestehen, daß auch den Xenien eine durchdachte eigene Poetik zugrundeliegt, und daß Goethe und Schiller sich über deren Spezifität völlig im Klaren waren. Die »bewußte poetische Arbeit und mithin die Artifizialität des poetischen Produkts« - nach Wild ein »Kennzeichen der Klassik«3 - ist für die Xenien nicht weniger kennzeichnend als etwa für die Römischen Elegien oder die Wallenstein-'Vrilogie. Schiller und Goethe gingen in den Xenien stellenweise sogar noch weiter als in anderen Texten des klassischen Jahrzehnts, wie im Laufe des ersten Teils dieser Arbeit zu zeigen sein wird. Doch zunächst soll versucht werden, diese Poetik in ihren Grundzügen zu rekonstruieren. Erste Rückschlüsse darauf erlauben die Briefe, die Schiller seinen Freunden Christian Gottfried Körner und Wilhelm von Humboldt sowie seinem Verleger Johann Friedrich Cotta schrieb, während das Projekt langsam Gestalt annahm. So kündigte er den Text in einem Brief an Körner vom 18. Januar 1796 folgendermaßen an: Für das nächste Jahr sollst Du Dein blaues Wunder sehen. Göthe und ich arbeiten schon seit einigen Wochen an einem gemeinschaftlichen Opus für den neuen Almanach, welches eine wahre poetische Teufeley seyn wird, die noch kein Beyspiel hat.4
Schwarzbauer hat darauf hingewiesen, daß Schiller - und das gilt ebenso für Goethe - »das geplante Werk von Anfang an als eines auf[faßte], das die Konventionen der Literaturgesellschaft verletzen sollte.«5 Sowohl die Metapher »blaues Wunder« als auch die »poetische Teufeley« deuten auf diese Wirkungsabsicht hin: Die Xenien sollten das Publikum überraschen, Leser und Literaten provozieren, kurz: die Ordnung der >Gelehrtenrepublik< stören. Wie Wolfgang Bunzel gezeigt hat, wählten Goethe und Schiller auch deshalb als Publikationsorgan das Medium Musenalmanach, das »bis dato als friedlicher und den Tageshändeln enthobener Hort des Guten, Wahren und Schönen« gegolten hatte.6 Gleichzeitig garantierte 3
4
5 6
Ebd. N A 2 II AS.432. Schwarzbauer: Die Xenien. S. 9. Wolfgang Bunzel: Poetik und Publikation. Goethes Veröffentlichungen in Musenalmanachen und literarischen Taschenbüchern. Weimar u.a. 1997. S.91. Dazu auch York-Gothard Mix: »Zweifellos hätten die Xenien, wenn sie - wie ursprünglich geplant - als eleganter ü b e r epigrammatum in Quarto< publiziert worden wären, nicht dieses Aufsehen gemacht. Es ist bezeichnend, daß die Veröffentlichung im Rahmen eines Musenalmanachs als besondere Perfidie angesehen wurde.« York-Gothard Mix: Die deutschen Musenalmanache des 18. Jahrhunderts. München 1987. S. 75.
!9
der Almanach die weite Verbreitung des Textes. A n H u m b o l d t hatte Schiller schon am 4. Januar geschrieben: M a n w i r d schrecklich darauf [auf die Xenien]
schimpfen, aber man w i r d sehr
gierig darnach greifen [...]. Ich z w e i f l e o b man mit E i n e m B o g e n Papier, den sie e t w a füllen, so viele Menschen zugleich in B e w e g u n g setzen kann, als diese X e nien in B e w e g u n g setzen w e r d e n . 7
Unverkennbar zeigt sich hier der Geschäftssinn des Almanach-Herausgebers Schiller, der den literarischen Markt genau kannte; und in der Tat wurde der Xewiew-Almanach dann zum »größte[n] und spektakulärste[n] Erfolg« in der Geschichte des deutschen Musenalmanachs: »Als einziger Musenalmanach des 18. Jahrhunderts erlebte der Musen-Almanach Jahr 1797drei
für das
Auflagen.« 8
Ein wichtiges Stichwort in dem Brief an Körner ist darüber hinaus das des »gemeinschaftlichen Opus«, denn es handelt sich hierbei um die erste wirkliche literarische K o p r o d u k t i o n Schillers und Goethes. Beide gaben hierfür ihren Status als individuelle Autoren zugunsten einer programmatischen Koautorschaft auf. In der Tat sind ja - neben der Konzeption des Projektes und der Komposition des Z y k l u s - sogar einzelne Xenien in Gemeinschaftsarbeit entstanden. A n H u m b o l d t schrieb Schiller in diesem Zusammenhang: »Göthe und ich werden uns darinn [in den
Xenien]
absichtlich so ineinander verschränken, daß uns niemand ganz auseinander scheiden und absondern soll.« Er fuhr fort: »Es ist auch zwischen G ö t h e und mir förmlich beschlossen, unsre Eigenthumsrechte an die einzelnen Epigrammen niemals auseinander z u setzen, sondern es in Ewigkeit auf sich beruhen z u lassen [...].«' Die Folgen sind bekannt: N o c h heute kann die Forschung bei einigen Xenien die Frage nach dem Verfasser nicht beantworten. In dem Brief an Körner hob Schiller desweiteren die Neuartigkeit der Xenien
hervor: »[...] eine wahre poetische Teufeley [...], die noch kein
Beyspiel hat.« Ebenso beschrieb er die Xenien in dem Brief an H u m b o l d t als ein »wirklich interessante[s] Produkt, das in seiner A r t einzig werden dürfte [.,.].« 10 U n d auch Cotta erfuhr in einem Brief v o m 13. März: »Die Einkleidung des Werks ist völlig neu [...].« : I Provokation und Innovation, so mußte es Schillers Briefpartnern erscheinen, waren die ästhetischen Leitbegriffe dieses Projektes. Dementsprechend neugierig reagier7
NA2IIAS.431.
Mix: D i e deutschen Musenalmanache des 18. Jahrhunderts. S. 75. ? A m I.Februar. N A 28 S. 181. 10 A m 1. Februar. E b d . 11 E b d . 2 II A S . 4 3 6 . 8
20
ten sie. Körner antwortete: »Du spannst meine Erwartung sehr auf das Produkt [...].« IZ Und Humboldt schrieb: »Auf nichts bin ich eigentlich jetzt für den Augenblick so begierig, als auf die Xenien [...]. Eine für die Poetik der Xenien überaus aufschlußreiche Passage findet sich dann in Schillers Brief an Körner vom i. Februar 1796: Das Kind, welches Göthe und ich mit einander erzeugen, wird etwas ungezogen und ein sehr wilder Bastard seyn. Es wäre nicht möglich etwas, wozu eine strenge Form erfodert wird, auf diesem Wege zu erzeugen. Die Einheit kann bey einem solchen Product bloß in einer gewißen Grenzenlosigkeit und alle Messung überschreitenden Fülle gesucht werden, und damit die Heterogeneity der beyden Urheber in dem einzelnen nicht zu erkennen sey, muß das einzelne ein Minimum seyn. Kurz, die ganze Sache besteht in einem gewißen Ganzen von Epigrammen, davon jedes ein Monodistichon ist. Das meiste ist wilde gottlose Satyre, besonders auf Schriftsteller und Schriftstellerische Produkte, untermischt mit einzelnen poetischen, auch philosophischen Gedankenblitzen. 1 4
Hervorzuheben ist zunächst die ambivalente Bastard-Metapher. Sie impliziert vor allem zwei Aspekte: Einerseits einen Verstoß gegen sittliche Normen, denn - als uneheliches Kind - ist der Bastard nicht mit den bürgerlich-christlichen Wertvorstellungen in Einklang zu bringen. In diese Richtung weisen auch die Adjektive »ungezogen« und »wild«. Wenn Schiller daraufhin von einer »wilde[n] gottlose[n] Satyre« spricht, wird deutlich, daß der Verstoß gegen die Normen des Sittlichen mit der »Muthwilligkeit der Satyre« zusammenhängt, von der im Brief dann noch explizit die Rede ist.15 Wie Schwarzbauer gezeigt hat, wurde ebenjene »Muthwilligkeit« von der aufklärerischen Satiretheorie entschieden abgelehnt: »Im Diskurs der Aufklärung bezeichnet >Muthivillen< ein undiszipliniertes, unreflektiertes Verhalten, das >Bubengezeugte< Text sei heterogen und disproportioniert. Darüber hinaus bedient Schiller sich in auffallender Weise Metaphern der Maß- und Grenzenlosigkeit: »Die Einheit kann bey einem solchen Product bloß in einer gewißen Grenzenlosigkeit und alle Messung überschreitenden Fülle gesucht werden [...].« Ebenso im Brief an Humboldt: »Bey einem solchen gemeinschaftlichen Werk ist natürlicherweise keine strenge Form möglich; alles was sich erreichen läßt ist eine gewisse Allheit oder lieber Unermeßlichkeit, und diese soll das Werk auch an sich tragen.«1!' Daß diese Metaphern auf den Umfang der Xenien bezogen sind, geht aus dem bereits zitierten Brief an Körner vom i. Februar hervor, in dem es weiter heißt: Es werden nicht unter 600 solcher Monodistichen werden, aber der Plan ist, auf 1000 zu steigen. Ueber 200 sind jetzt schon fertig, obgleich der Gedanke kaum über einen Monat alt ist. 20
Man wird zusammenfassend sagen können, daß diese Poetik der Provokation, der Koproduktion, der Innovation und Hybridität, der Disproportion und Maßlosigkeit, kurz: diese Poetik der Grenzüberschreitung der von Schiller und Goethe theoretisch formulierten und zum Teil auch schon poetisch realisierten klassischen Autonomieästhetik in keiner Weise entspricht, daß es also eine durchaus unklassische Poetik ist.21 Die Ab18 Vgl. dazu Schwarzbauer: Die Xenien. S. 1 3 - 2 2 . "> N A 28 S. 181. 20 Ebd. 2 II A S . 4 3 4 . 21 Dieter Borchmeyer hat am Beispiel der Versfassung der Iphigenie auf Tauris »die Signatur der Weimarer Klassik« bestimmt; er nennt formale (harmonischausgewogene Form), thematisch-gehaltliche (Affektdisziplin) und ethische (Soziabilität) Merkmale. Dem ist die Poetik der Grenzüberschreitung in der Tat diametral entgegengesetzt. Vgl. Dieter Borchmeyer: »Klassik.« In: Ulfert Ricklefs (Hrsg.): Fischer Lexikon Literatur. Bd. 2. Frankfurt am Main 1996. S. 878896, hier S. 893. Den Vergleich zwischen der klassischen Iphigenie und den unklassischen Xenien zog dann auch Gleim in seiner Anti-Xenien-Schrift Kraft und Schnelle des alten Peleus: »Ha! welch' ein weiter Weg, von Iphigenien, / Zu diesen Xenien!« Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Kraft und Schelle des alten Peleus. [Halberstadt] 1797. S. 13. Zu dieser Schrift s.u. 6.2.
22
wertung der Xenien, die der pejorative Bastard-Begriff impliziert, mag damit zusammenhängen. Schillers spätere Distanzierung von diesem Text deutet sich hier bereits an. Auch in seiner Ankündigung des Musen-Almanachs für das Jahr 1/9/ in der Ausgabe der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 21. September 1796 betonte Schiller, neben der Innovativität des Textes, das für die Poetik der Xenien so zentrale Moment der Transgression: Ausser etwa 200 Seiten Gedichte von mehreren berühmten Verfassern, die schon an dem M. Almanach des vergangenen Jahrs den größten Antheil gehabt haben, enthält derselbe noch einen Anhang von mehr als 400 Epigrammen, die sich auf den neuesten Zustand der deutschen Litteratur beziehen, und eine in ihrer Art ganz neue Erscheinung sind. 1 2
Und zwar in zweierlei Hinsicht. Schiller kündigte »einen Anhang von mehr als 400 Epigrammen« an. Diese Zahl mußte die zeitgenössischen Leser in Erstaunen versetzen, denn sie ist außergewöhnlich hoch. Zum Vergleich: Der Göttinger Musenalmanach enthielt 1796 insgesamt 60 Epigramme, der Hamburger Musenalmanach desselben Jahres 43. 13 Der angekündigte »Anhang« bestand also aus mehr als viermal so viel Epigrammen, wie Göttinger und Hamburger Musenalmanach zusammen enthielten; auch Goethes Venezianische Epigramme, die im Jahr zuvor in Schillers Musen-Almanach erschienen waren, umfaßten 103 Epigramme, womit sie dem durchschnittlichen Umfang einer Epigrammsammlung entsprachen (s.u. 3, Anm. 3). Der Umfang des angekündigten »Anhang[s]« überstieg also auch diese Norm, und zwar um mehr als das Vierfache. Eine Grenzüberschreitung wird aber auch noch in anderer Hinsicht realisiert. Schiller sprach von einem »Anhang«. Die Xenien sind demnach also kein integraler Teil des Almanachs, sondern eine Art Appendix. Diesen herausgehobenen, gleichsam exterritorialen Status kann man sehr deutlich am Layout des Musen-Almanachs erkennen: Indem Schiller Titel und Motto der Xenien jeweils eine ganze Seite Platz einräumte, maß er ihnen schon rein äußerlich eine viel größere Bedeutung bei als zum Beispiel den Tabulae votivae. Neben dem obligatorischen »Calender« und der zentralen Abteilung »Gedichte« bilden die Xenien eine dritte, neuartige Kategorie.24 Dabei ist auch zu bedenken, daß - das wird oft überse22 23
24
N A 28 S. 620. Vgl. dazu Zdenko Skreb: Das Epigramm in deutschen Musenalmanachen und Taschenbüchern um 1800. Wien 1977. S. 51. Was man wiederum am Layout des Almanachs sieht: Jede dieser drei Abteilungen wird eingeleitet durch eine ganze Seite, auf der jeweils der Inhalt des Folgenden bezeichnet wird: »Calender«, »Gedichte« und eben »Xenien«. 2
3
hen - das Wort »Xenien« ein Neologismus ist.15 Die Innovativität und Exterritorialität des Textes ist also bereits durch den Titel markiert. Im Inhaltsverzeichnis des Musen-Almanachs sind die Xenien dementsprechend nicht eingerückt und außerdem mit einem Strich von den übrigen Autorennamen und Titeln abgetrennt. Mithin wird mit dem »Anhang« die räumliche Grenze des Musen-Almanachs überschritten. Die Xenien stehen außerhalb der Ordnung dieses Mediums. Unter den Musenalmanachen des 18. Jahrhunderts ist der >Xerazera-Almanach< deshalb auch eine »bemerkenswerte Besonderheit«, ein »Grenzfall der Gattung«.26 Darüber hinaus scheint die Ankündigung bereits dem satirischen mundus inversus der Xenien anzugehören. Denn indem die Epigramme, deren Rang im Gattungssystem ja immer »etwas zweifelhaft[]« 27 war, und nicht die im Almanach enthaltenen Elegien, Idyllen und Romanzen darunter immerhin so zentrale Texte der Weimarer Klassik wie Alexis und Dora, Das Mädchen aus der Fremde und Die Klage der Ceres - angekündigt werden, wird die Hierarchie der Gattungen gleichsam auf den Kopf gestellt. Bisher wurde versucht, die Poetik der Xenien aus Selbstkommentaren Schillers zu rekonstruieren. Viel umfassender als in solchen Paratexten28 wird sie aber im Text selbst entfaltet, ja - wie zu zeigen sein wird - regelrecht inszeniert, denn der Zyklus enthält eine große Zahl von Epigrammen, in denen diese Poetik der Grenzüberschreitung metatextuell reflektiert und somit als immanente Poetik den Lesern vorgeführt wird. Die Xenien stehen damit in einer bis in die Antike zurückreichenden Tradition des Epigramms, die Hess in einem Satz prägnant zusammengefaßt hat: »Kaum eine literarische Gattung hat je so laut über sich nachgedacht wie das Epigramm.«29 Auch in der satirischen Tradition finden sich immer wieder Passagen immanenter Poetik.3° Diese stark ausgeprägte Metatextualität ist kennzeichnend für den Text: Die Xenien denken laut über sich nach, sogar um einiges lauter als die meisten anderen Texte Goethes und
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16 27 28
19 30
Goethe ist der Schöpfer dieses Begriffes, einer germanisierten Form des griechischen Wortes ξενία (von ξενίον = Gastgeschenk). Zum ersten Mal verwendet er ihn im Brief an Schiller vom 26. Dezember 1795. Mix: Die deutschen Musenalmanache des 18. Jahrhunderts. S. 76. Neumann: »Nachwort.« S. 285. Zu diesem Begriff vgl. Gerard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Wemrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt am Main / N e w Y o r k 1992. S. 354-366. Hess: Epigramm. S. 1. Vgl. dazu Jürgen Brummack: »Satire.« In: Ulfert Ricklefs (Hrsg.): Fischer Lexikon Literatur. Bd. 3. Frankfurt am Main 1996. S. 1 7 2 3 - 1 7 4 5 , hier S. 1733.
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Schillers in dieser Zeit. Nicht zufällig greift eine der metapoetischen Xenien die Metapher des Lärmens auf: Aufmunterung. Deutschland fragt nach Gedichten nicht viel; ihr kleinen Gesellen, Lermt, bis jeglicher sich wundernd ans Fenster begiebt.' 1
Kein Zweifel: Die Xenien wollten gehört werden, und in der vorliegenden Arbeit wird dem von ihnen verursachten satirischen Lärm auch volle Aufmerksamkeit zuteil werden. Bei der Behandlung der verschiedenen Parameter des Textes in den drei folgenden Kapiteln wird diese Poetik der Grenzüberschreitung nun nach und nach herausgearbeitet werden.
31
Die Xenien werden hier und im folgenden nach ihrem Erstdruck in Schillers Musen-Almanach auf das Jahr 1/9/ zitiert, da ihr typographisches Erscheinungsbild durchaus von Bedeutung ist (s.u. 3.3) und sie außerdem meist in dieser Ausgabe rezipiert wurden: Friedrich Schiller (Hrsg.): Musen-Almanach für das Jahr 1797 [=M-A]. Tübingen 1796 [Nachdruck: Hildesheim 1969]. S. 197203 [die Paginierung ist zum Teil fehlerhaft, so auch hier: recte: 302], hier S. 229. 2
5
2
» D i e Verse sind wirksam«: D a s M o n o d i s t i c h o n als M e d i u m der Satire
Über die Struktur der Xenien hat sich die Forschung bisher kaum geäußert; das betrifft die einzelnen Epigramme ebenso wie Mikro- und Makrostruktur des ganzen Zyklus. Eine Interpretation der Xenien kann von diesen Parametern jedoch keinesfalls absehen, besteht doch die Neuartigkeit des Textes gerade in seiner Struktur, wird doch gerade in ihr die Poetik der Grenzüberschreitung am deutlichsten erkennbar. Darüber hinaus wurde die Form der Xenien
Goethes und Schillers von nahezu
allen späteren Xeniendichtern beibehalten. Dieses »gewiße[] Ganze[] von Epigrammen, davon jedes ein Monodistichon ist« 1 soll deshalb, auch als Grundlage für den zweiten Teil der Arbeit, im folgenden systematisch dargestellt werden. Zunächst wird das Gedichtmaß behandelt und seine Verwendung in den Xenien
anhand exemplarischer Textanalysen unter-
sucht. Die Xenien gehen auf eine Idee Goethes zurück. A m 23. Dezember 1795 schrieb er an Schiller: Den Einfall, auf alle Zeitschriften Epigramme, jedes in einem einzigen Disticho, zu machen, wie die Xenia des Martials sind, der mir dieser Tage gekommen ist, müssen wir kultivieren und eine solche Sammlung in Ihren Musenalmanach des nächsten Jahres bringen. 1
In diesem Zusammenhang ist es vor allem von Bedeutung, daß Goethes »Einfall« sich auf die Form der Epigramme bezog, die er zu »machen« Schiller vorschlug: »[...] Epigramme, jedes in einem einzigen
Disticho
[...].« A m Anfang des Xenien-Komplexes stand also die Idee, eine »Sammlung« von Monodistichen zusammenzustellen. Von einer inhaltlichen Orientierung an den Xenia war nicht die Rede. Dies zu betonen ist deshalb wichtig, weil das Konzept der Martialschen Xenia oft vorschnell auf die Xenien
übertragen wurde, wie zum Beispiel von Hess, der
schreibt, die Xenien seien - wie eben die Xenia - »Aufschriften auf ima1 2
N A 2 II A S . 4 3 4 . B W S . 174.
26
ginäre Gastgeschenke«.3 Das ist, wie sich herausstellen wird, völlig unzutreffend. Schiller begeisterte sich sofort für das Projekt: »Der Gedanke mit den Xenien ist prächtig und muß ausgeführt werden.«4 Bei Goethes nächstem Besuch in Jena im Januar entstand dann eine beträchtliche Zahl von Epigrammen in gemeinsamer Arbeit. An Humboldt schrieb Schiller: »Seitdem Göthe hier ist haben wir angefangen Epigramme von Einem Distichon im Geschmack der Xenien des Martial zu machen. [...] Es sind schon seit wenig Tagen über 20 fertig [...].«' Von diesem Zeitpunkt an war die Xenien-Produktion nicht mehr aufzuhalten. Goethe und Schiller hielten fest an ihrem »strengen Gesetz[], bei einem Monodistichon zu bleiben«.6 Insgesamt entstanden an die 1000 Epigramme in dieser Form. Zunächst also zum Gedichtmaß der Xenien, dem Monodistichon. Leistner schreibt dazu, Goethe und Schiller hätten »wohl kaum erwogen, welche Gefahren und Verführungen mit der formalen Gesetzlichkeit des Xenions verbunden sind.« Und weiter: »Goethe und Schiller haben das Problem nicht - zumindest nicht nachweisbar - reflektiert: Das in den Dienst der Satire genommene Monodistichon ist ein gefährliches poetischformales Vehikel.«7 An anderer Stelle spricht er in diesem Zusammenhang sogar von »ästhetischer Besinnungslosigkeit«.8 Dem ist vehement zu widersprechen. Schiller und Goethe haben das Monodistichon, dessen spezifische strukturelle und semantische Möglichkeiten sie genau kannten und nachweislich auch reflektierten, völlig bewußt als Medium für ihre »satirische Rundumpolemik« gewählt.9 Die Xenien sind das Ergebnis eines großangelegten Experiments mit dem Monodistichon als einem Medium der Satire. Der Beweis dafür wird im folgenden zu führen sein.
2.1
Die Struktur des Distichons
Der Musen-Almanach auf das Jahr 1797, der bald nach seinem Erscheinen den Beinamen >Xenien-Almanach< erhielt, hätte auch als >DistichenAlmanach< in die Literaturgeschichte eingehen können. Denn neben den Xenien, dem umfangreichsten Distichenzyklus in der Geschichte der 3 4
s 6 7 8
»
Hess: Epigramm. S. 5. B W S . 177. NA2IIAS.431. B W S . 189. Leistner: »Der Xenien-Streit.« S. 475. Leistner: »Schiller im Spiegel der Antixemen.« S. 479. Ebd. S. 478. 2
7
deutschen Literatur, enthält er mit den Tabulae votivae, Vielen und Die Eisbahn weitere Distichenzyklen Goethes und Schillers, Goethes in elegischen Distichen verfaßtes Gedicht Alexis und Dora, das mit »G. und S.« unterzeichnete Einer sowie Schillers Pompeji und Herkulanum, Die Geschlechter, Macht des Weibes und Das weibliche Ideal, denen als Strophenmaß ebenfalls das elegische Distichon zugrundeliegt. Dazu kommen etliche Monodistichen sowie auch noch einige kürzere distichische Texte und kleinere Distichenzyklen. Insgesamt präsentiert der Musen-Almanach also »ein breitgefächertes Panorama unterschiedlicher Möglichkeiten von Distichen«,10 ja er führt die Variabilität dieser Form geradezu paradigmatisch vor. Unter den erwähnten kleineren Distichenzyklen befindet sich auch ein dreiteiliger Zyklus, in dem Vers-, Strophen- und Gedichtmaße in jeweils einem Monodistichon metatextuell reflektiert werden: Der epische Hexameter, Das Distichon und Die achtzeilige Stanze. Er ist mit »Schiller« unterschrieben. Vor allem Das Distichon ist berühmt geworden, es fehlt in keiner Versschule: Das
Distichon.
Im Hexameter steigt des Springquells silberne Säule, Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab. 11
In diesem Metadistichon werden die äußere und, mittels der Metapher des Wasserstrahls, die innere Form des Distichons thematisiert, sowie ihr DependenzVerhältnis, mithin die Modellierung des Inhalts durch die Form. Diese ist bestimmt durch das Aufeinanderfolgen zweier verschiedener, ja gegensätzlicher Versmaße, eben des Hexameters und des Pentameters. Der Hexameter, das Versmaß der homerischen Epen, auch heroischer Vers genannt, ist ein Langvers und gekennzeichnet durch seine breite und kontinuierliche Bewegung. In Der epische Hexameter charakterisiert Schiller ihn, wiederum mit Wasser-Metaphorik, wie folgt: »Schwindelnd trägt er dich fort auf rastlos strömenden Wogen, / Hinter dir siehst du, du siehst vor dir nur Himmel und Meer.«11 Dem kontrastiert der kürzere, stärker strukturierte Pentameter, der einen gänzlich anderen, eben nicht »rastlos strömenden«, sondern dichten und gedrängten Charakter hat. Aus dieser Verschiedenartigkeit des ersten und zweiten Verses resultiert das für das Distichon entscheidende Strukturprinzip: seine Zweiteiligkeit. »Der Hexameter greift aus und bleibt offen, der 10
11 11
Wild: Goethes klassische Lyrik. S. 132.
M-AS.67. Ebd.
28
Pentameter holt zurück und schließt ab.« 13 So charakterisiert Gerhard Storz diesen Dualismus. In Schillers Metadistichon wird er metaphorisch mitvollzogen durch die Bewegung der »silberne[n] Säule«: ihr Steigen im ersten und ihr Fallen im zweiten Vers. Die entgegengesetzte Bewegungsrichtung unterstreicht die Zweiteiligkeit noch zusätzlich, die beiden Verse sind antithetisch aufeinander bezogen. Inhalt und Form entsprechen sich somit in mustergültiger Weise. Nicht thematisiert werden, abgesehen von der Benennung der beiden Versmaße, metrische Gesichtspunkte. Sie sind für das Distichon jedoch von großer Bedeutung. Darum an dieser Stelle auch einige Bemerkungen zur Metrik. Zunächst die metrische Struktur des Distichons in schematischer Darstellung:
- ν (v) - ν (v) - ν (v) - ν (v) - ν ν - X - V (v) - V (v) - | - V V - V V Festgelegt sind sowohl die Versanfänge als auch die Versenden: Hexameter und Pentameter beginnen beide auftaktlos, enden jedoch unterschiedlich. Das vorgegebene Ende des Hexameters umfaßt den fünften und sechsten Versfuß; der fünfte ist ein akatalektischer, der sechste ein katalektischer Daktylus. Im Pentameter ist die Struktur des zweiten Halbverses vorgeschrieben, wobei vierter und fünfter Versfuß akatalektische Daktylen sind und der letzte ein katalektischer Daktylus. Der Hexameter also endet unbetont, der Pentameter betont. Mithin ist die metrische Struktur des Distichons bestimmt durch eine Bewegung des - metaphorisch gesprochen - Offnens und Schließens; diese Struktur legt es nahe, in einem Distichon eine Sinneinheit zu gestalten und trägt somit zu der Geschlossenheit der Form wesentlich bei. Davon abgesehen ist die Gestaltung der Verse recht frei. In den ersten vier Versfüßen des Hexameters sowie dem ersten Halbvers des Pentameters können die Daktylen jeweils durch Spondeen ersetzt werden. Daraus ergibt sich, daß die Länge beider Verse trotz aller Vorschriften sehr variabel ist. Der Hexameter kann von dreizehn bis zu siebzehn, der Pentameter von zwölf bis zu vierzehn Silben umfassen. Hexameter und Pentameter sind jedoch Zäsurverse, d.h. ihre Zäsurierung ist bestimmten Regeln unterworfen. Für den Pentameter
13
Gerhard Storz: Der Vers in der neueren deutschen Dichtung. Stuttgart 1970.
S· 173· 2
9
ist eine feste Zäsur vorgeschrieben, und zwar nach dem katalektischen dritten Versfuß. Diese Zäsur verleiht dem Vers sein charakteristisches Gepräge; sie kann ihn in zwei völlig symmetrische oder zwei weitgehend asymmetrische Hälften teilen, was parallele oder chiastische Fügungen nahelegt. Die Zweiteilung des Pentameters und die sich daraus ergebenden strukturellen Möglichkeiten werden in Schillers Metadistichon nicht reflektiert, worauf schon Ludwig Strauß aufmerksam gemacht hat: Dreigliedrig nennen wir den Typus des Distichons, den die Schillersche Formulierung nicht trifft; für ihn ist die Teilung des Pentameters in zwei gleiche Hälften wesentlich, keine bloße Klangform also, sondern ein entscheidendes Element seiner Architektur nicht weniger als die Teilung m Hexameter und Pentameter. Das dreigliedrige Distichon unterscheidet sich von den zweigliedrigen Epigrammformen distichischer und anderer Art dadurch, daß es die spezifischen Möglichkeiten der rhythmischen Struktur des Distichons ernst nimmt und realisiert: die Möglichkeiten, die damit gegeben sind, daß einem relativ einheitlichen Vers ein relativ zwiespältiger folgt. 1 4
Auch wenn Schiller diesen Aspekt in Das Distichon nicht thematisiert und auch nicht gestaltet hat, findet sich der dreigliedrige Typus nicht selten in den Xenien-, der zweigliedrige jedoch weitaus häufiger (s.u. 2.3). Im Gegensatz zu der festen Zäsurierung des Pentameters ist die Zäsurierung des Hexameters frei. Es gibt mehrere Möglichkeiten, diese sind allerdings wieder streng reglementiert. Obligatorisch ist eine Zäsur; diese Hauptzäsur kann aber auch mit einer oder mehreren Nebenzäsuren verbunden werden. Die häufigsten Zäsuren sind Penthemimeres, Trithemimeres, Hephthemimeres sowie kata triton trochaion und die bukolische Dihärese. Von einer ausführlicheren Darstellung dieser Materie kann hier abgesehen werden, 1 ' da Goethe und Schiller bei der Zäsurierung des Hexameters unsystematisch verfuhren. Hervorzuheben ist also zum einen die metrische Strenge, andererseits aber auch die Flexibilität des Distichons. Dieses Spannungsverhältnis macht es unter anderem so geeignet für die Darstellung dynamischer Vorgänge, wie Schiller es in Das Distichon exemplarisch vorführt: Indem er im Hexameter die Zäsur an derselben Stelle setzt, an der sie auch im Pentameter liegt, wird die Gegensätzlichkeit der Bewegung noch stärker betont.
14
15
Ludwig Strauß: »Zur Struktur des deutschen Distichons.« In: ders.: Dichtungen und Schriften. Hrsg. von Werner Kraft. München 1963. S. 522-559, hier S. 522f. Vgl. dazu Alfred Behrmann: Einführung in den neueren deutschen Vers. Von Luther bis zur Gegenwart. Eine Vorlesung. Stuttgart 1989. S. 89-104. 3°
N u n muß allerdings die Diskrepanz zwischen der antiken griechischen und römischen und der neuzeitlichen deutschen Metrik, für die ja völlig unterschiedliche Voraussetzungen gelten, mitbedacht werden. Bei den deutschen Hexametern, und das gilt natürlich auch f ü r die deutschen Pentameter, unterscheidet Christian Wagenknecht, »je nach der Prosodie, die ihnen zugrunde liegt«, zwei Typen: »Bei quantitätsprosodischer Messung, wie die strengeren Metriker sie betreiben, setzt auch der deutsche Hexameter sich aus Daktylen und Spondeen zusammen [...].« Ifehlerhaften< Verse zu überarbeiten; ein Rat, den Goethe annahm, etwa im Fall der Venezianischen
Epigramme
und Alexis und
Doras.
Im Gegensatz dazu steht der zweite Typus: die Substitution der antiken Längen und Kürzen durch die Hebungen und Senkungen der neuzeitlichen deutschen Metrik, also des quantitierenden durch das akzentuierende Versprinzip.
Solche daktylisch-trochäischen
Hexameter
und
Pentameter schrieb, Maßstäbe setzend, Klopstock. Ihm folgten Schiller und Goethe, denen natürlich bewußt war, daß diese Herangehensweise bei den, wie Schiller einmal schrieb, »Voßischen [...] Rigoristen« 1 ? auf Kritik stoßen würde. A u c h diese metrische Problematik wird in den Xenien
reflektiert, und zwar im »Litterarischen
Zodiacus« (s.u. 3.5.2.1):
Zeichen des Löwen. Jetzo nehmt euch in Acht vor dem wackern E u t i n i s c h e n Leuen, Daß er mit griechischem Zahn euch nicht verwunde den Fuß. 1 8
Mit dem »Leuen«, vor dem die Xenien hier von ihrer Muse gewarnt werden, ist Voss gemeint, der damals Rektor in Eutin war. Der Text spielt ironisch auf seine //Ms-Ubersetzung und die überarbeitete Fassung der Odyssee
16
17 18
an, in denen er, wie erwähnt, versucht hatte, die griechischen
Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. 4., neu durchgesehene Auflage. München 1999. S. 80. So Schiller an Goethe am 13. Dezember 1795. BW S. 168. M - A S . 223 [recte: 217].
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Hexameter möglichst genau im Deutschen nachzubilden - damit aber auch auf die referierte grundsätzliche Differenz in der Nachbildung antiker Metren im Deutschen. Das Xenion gesteht seine weniger >griechische< Form somit selbst ein. Den Distichen Goethes und Schillers liegt also folgendes metrisches Schema zugrunde: - V (v) - V (v) - V (v) - V (v) - V V - V - ν (v) - ν (v) - I - V V - V V -
In den Xenien nahmen Goethe und Schiller sich zum Teil jedoch erhebliche Freiheiten in der Behandlung der Metren, worüber sich mehrere Anti-Xenien-Dichter lustig machten. 1 ' Dabei wurde aber übersehen, daß diese metrischen Lizenzen mit zur Poetik der Xenien gehören. Die Poetik der Grenzüberschreitung fordert Verstöße gegen das Gedichtmaß geradezu heraus. Schiller wollte das Versprechen, das er Humboldt gegeben hatte - nämlich daß er »für eine große Correctheit, auch in der Prosodie [...] sowohl in meiner als Göthens Portion« sorgen werde - 2 ° eben gar nicht immer einlösen. An gegebener Stelle wird darauf zurückzukommen sein. In der Sammelhandschrift vom Juni/Juli 1796 steht an zweiter Stelle,21 in einer Reihe von programmatischen Distichen, ein weiteres Metadistichon. Im Gegensatz zu Das Distichon, worin auch das elegische Distichon beschrieben wird, also das Distichon als Strophenmaß der Elegie, wird es in Das Monodistichon explizit als GedichtxmS, thematisiert. An Humboldt hatte Schiller am 4. Januar 1796 geschrieben: »Seitdem Göthe hier ist haben wir angefangen Epigramme von Einem Distichon im Geschmack der Xenien des Martial zu machen. In jedem wird nach einer deutschen Schrift geschossen«.22 Das Monodistichon greift diese Metaphorik auf:
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Das berühmteste Beispiel stammt aus den Trogalien zur Verdauung der Xenien: »91. Die neumodigen Distichen. | In Weimar ünd In Jena mächt man Hexameter, wie der; / Aber die Pentameter smd doch noch excellenter.« [Christian Fürchtegott Fulda]: Trogalien zur Verdauung der Xenien. [Halle] 1797. S. 25. Zu dieser Schrift s.u. 5.1. N A 2 II AS.434. Bei der sogenannten >Sammelhandschrift< handelt es sich um die von Goethes Schreiber Johann Jakob Ludwig Geist nach dem 27.Juni 1796 angefertigte Reinschrift der bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen Distichen, die dann die Grundlage für die Tabulae Votivae und die Xenien im Musen-Almanach bildete. Vgl. den Abdruck in M A 4.1 S. 675-753. NA2IIAS.431. 32
Das Monodistichon Wünscht ihr den Musageten zu sehen, gebt Boden und Freiheit, Hier auf dem schmalen Rain ist für den Schützen nur Platz. 1 3
Der Text rekurriert auf die mit den Attributen Leier und Bogen verbundenen Vorstellungen von Apollon als Musenführer bzw. strafendem Gott, auf sein - wie es in dem die Sammelhandschrift eröffnenden Xenion heißt - »doppelte[s] Amt«: »Saiten rühret Apoll, doch er spannt auch den tötenden Bogen, / Wie er die Hirtin entzückt, streckt er {dmPython i n Staub.« 24 Der Musenführer, so der Sprecher des Textes zu einer unbestimmt bleibenden Gruppe von Personen, werde sich erst dann zeigen, wenn diese den Platz freiwillig geräumt hätten. Ansonsten werde er sie bekämpfen müssen. Mithin: Entweder »Boden und Freiheit« für Goethe und Schiller, oder aber Krieg mit ihnen, wobei die Partei der Klassiker sich mit Hilfe des Rekurses auf ihren »mythologische[n] Schirmherren« 2 ' Apollon von vornherein als überlegen und ihren Angriff zudem als legitim ausgibt. Natürlich wurden die Gegner in Wahrheit auch keineswegs vor eine Wahl gestellt. Bereits hier also wird die »Poetik wehrhafter Dichtung« formuliert, von der Bunzel in einem anderen Zusammenhang spricht. 26 Der »schmale[] Rain« bezieht sich indes auch auf den geringen Umfang des Monodistichons, des kürzesten Gedichtmaßes der abendländischen Literatur überhaupt. In diesen zwei Zeilen, so die Argumentation des Xenions, könne nur gekämpft werden. Zwischen dem epigrammatischen und dem elegischen Gebrauch des Distichons wird also differenziert: 27 Die Verwendung des Distichons als Strophenmaß - und damit der in der Hierarchie der Gattungen weit oben stehenden klassischen Elegie sei nur im Frieden möglich, der Gebrauch des Distichons als Gedichtmaß aber - und damit der >niederen< Gattung Epigramm - nur in Zeiten des Krieges. Mithin müssen die Epigramme den Elegien erst den Weg freikämpfen, und sein Umfang prädestiniert das Epigramm in der Form des Monodistichons zum Medium für diesen Kampf. Nach der Logik des Textes bedingen sich Kürze und Krieg sogar gegenseitig. 2
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FAI1S.491. Ebd. Diese treffende Formulierung stammt aus dem Kommentar von Kurscheidt und Oellers in N A 2 II A S. 40. Bunzel: Poetik und Publikation. S. 92. Zu dieser Differenz zwischen epigrammatischem und elegischem Distichon und ihren Konsequenzen für Texte beider Gattungen vgl. Strauß: »Zur Struktur des deutschen Distichons.« S. 522-530 und 536-558 sowie Klaus Weissenberger: Formen der Elegie von Goethe bis Celan. Bern / München 1969. S. 15-20.
33
Im Musen-Almanach
ist diese dichotome Verwendung des Distichons
deutlich erkennbar: D a an seinem Anfang die (79 elegische Distichen umfassende) Elegie Alexis und Dora steht und am Ende die (414 M o n o d i stichen umfassenden) Xenien,
wird er gleichsam v o n Leier und Bogen
eingerahmt. Im Schlußxenion k o m m t der Bogen dann sogar vor: »Alles war nur ein Spiel! Ihr Freyer lebt ja noch alle / Hier ist der Bogen und hier ist zu den Ringen der Platz.« 28 Folglich haben Schiller und Goethe aber nicht nur die Form des Distichons generell reflektiert, sondern auch seine beiden möglichen Verwendungsweisen als Strophen- b z w .
Ge-
dichtmaß samt den jeweiligen gattungspoetischen Implikationen. V o n »ästhetischer Besinnungslosigkeit« kann demnach nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Goethe und Schiller das Monodistichon, dieses »gefährliche[] poetisch-formale[] Vehikel« mit höchster poetischer Bewußtheit »in den Dienst der Satire genommen[]« haben. 2 !' Wie sie dessen spezifische Struktur für die Satire fruchtbar gemacht haben, wird im folgenden herauszuarbeiten sein. Bei der Diskussion des Monodistichons als dem Gedichtmaß der Xenien ist jedoch, bevor die Verwendung dieses Mediums genauer analysiert werden kann, ein wichtiger Aspekt noch nachzutragen: die Einbeziehung nämlich auch des Beiwerks des Textes, des Paratextes, genauer: des paratextuellen Elements des Titels.
2.2
Titel und Text
K u r z nachdem H u m b o l d t v o n dem neuen Projekt erfahren hatte, erkundigte er sich bei Schiller: »Erhält denn jedes einzelne Distichon einen Titel? oder ist die Beziehung v o n selbst aus den Gedichtchen selbst klar.« 30 Die Frage, ob die Xenien Titel haben würden, erscheint zunächst überraschend, da Epigramme im 18. Jahrhundert fast ausnahmslos betitelt waren.' 1 W e n n man aber bedenkt, daß antike Epigramme in der Regel keine Titel aufweisen - es sei denn, sie wurden v o n späteren Herausge28
M - A S. 203 [recte: 302].
Leistner: »Der Xemen-Streit.« S. 475. 3° N A 2 II A S . 4 3 6 . 31 In Gottfried L u d w i g s Teutscher Poesie dieser Zeit aus dem Jahr 1703 w i r d dies auch - z u m ersten Mal in der Geschichte der Epigrammtheorie - ausdrücklich gefordert: »Endlich/ da gemeiniglich ein Titul und L e m m a gar nöthig über das Epigramma ist/ so k ö m m t z u wissen vor: 1. M u ß der Titul den Kern und Z w e c k des Epigrammatis in w e n i g W o r t e n darstellen. 2. Schicken sich hier am besten die 3. Praepositiones in,auf/ de,über/ ad,an/ weil dahin alle Uberschrifften der Epigrammatum m ö g e n gezogen werden.« Zitiert nach: Hess: Epigramm. S. 45. 29
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bern hinzugefügt - , wird sie verständlich.31 Lessing behandelt diese Frage in seinem Traktat Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm und einige der vornehmsten Epigrammatisten·. In dem ganzen Martial wüßte ich mich keines einzigen Epigramms zu erinnern, welches von der fehlerhaften Art wäre, daß es der Erläuterung eines Titels bedürfe. [...] Jeder Umstand, auch der allerkleinste, der zu dem Verstände des Epigramms notwendig gehöret, ist bei ihm in dem Epigramme selbst enthalten [•·•]•»
Nach diesem Vorbild waren auch Goethes Venezianische Epigramme titellos; an sie vor allem - der Zyklus war ein halbes Jahr zuvor in Schillers Musen-Almanach auf das Jahr 1/96 erschienen - wird Humboldt gedacht haben. Merkwürdigerweise aber verschweigt Lessing - wahrscheinlich aus argumentatorischer Taktik - an dieser Stelle Martials Epigrammaton lihri XIII {Xenia) und XIV (Apophoreta). Denn die in diesen beiden Büchern versammelten Epigramme haben - von den Einleitungsepigrammen abgesehen - jeweils einen Titel. Dieser Umstand wird zu Beginn beider Bücher auch eigens hervorgehoben, und zwar mit der für Martial typischen Ironie. Am Anfang der Xenia liest man: »addita per titulos sua nomina rebus habebis: / praetereas, si quid non facit ad stomachum.«34 Und im zweiten - unbetitelten - Epigramm der Apophoreta heißt es: »lemmata si quaeris cur sint adsripta, docebo: / ut, si malueris, lemmata sola legas.«35 Martial rechtfertigt seine Abweichung von der Gattungsnorm also, indem er den Lesern verheißt, sie müßten - anders, als sie angesichts der überraschenderweise mit Titeln versehenen Texte im ersten Moment gedacht hätten - weniger lesen als sonst, denn die Lektüre der Titel könnte die Textlektüre ersetzen. 31
33 34
35
Vor diesem Hintergrund ist es besonders problematisch, daß Hess den Titel zum »gattungskonstituierenden Element« erhebt; bereits Moenmghoff hat ihm in diesem Punkt widersprochen. Vgl. ebd. S. 7f. und Burkhard Moennighoff: Goethes Gedichttitel. Berlin / New York 2000. S. 109L Zur Unhaltbarkeit der EpigrammTheorie Hess' auch in anderen Punkten s.u. 3.2. Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 7. S. 205. Epigrammaton liber tertius decimus, 3, 7f. Barie und Schindler übersetzen: »In den Uberschriften findest du die zu den Gegenständen gehörenden Namen beigefügt: / Ubergehe einfach, was nicht nach deinem Geschmack ist!« M.Valerius Martialis: Epigramme. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Paul Barie und Winfried Schindler. Düsseldorf / Zürich 1999. S. 922f. Epigrammaton liber quartus decimus, 2, 3f. Baries und Schindlers Übertragung lautet: »Fragst du, weshalb ich die Uberschriften dazuschrieb, dann will ich's erklären: / Damit du, wenn's dir so lieber ist, nur die Uberschriften zu lesen brauchst.« Ebd. S. 97of. 35
Xenia und Apophoreta sind Begleitverse zu Saturnaliengeschenken, wobei die Titel jeweils die Objekte nennen, auf die sich die Einzeldistichen beziehen. Möglicherweise wurden die Epigramme während der Saturnalien tatsächlich Geschenken beigegeben und dann von Martial zu den beiden Büchern zusammengestellt, möglicherweise sind sie aber auch gänzlich fiktiv. 36 In jedem Fall machen die Titel den aus dem Verhältnis zwischen Text und Objekt entstehenden Effekt auch ohne den jeweiligen Gegenstand nachvollziehbar. Dafür zwei Beispiele, eines aus jedem Buch: 18 Porri sectivi Fila Tarentini graviter redolentia porri edisti quotiens, oscula clusa dato. 37
Während die Xenia, abgesehen von drei Programmgedichten (XIII, 1-3) und zwei panegyrischen Einzeldistichen (XIII, 4 und 127), ausschließlich Begleitverse zu Speisen und Getränken sowie das bei einem Gastmahl benutzte Salböl enthalten, sind in den Apophoreta Epigramme auf diverse Gegenstände versammelt, darunter auch Bücher: 196 Calvi de aquae frigidae usu Haec tibi quae fontes et aquarum nomina dicit, ipsa suas melius charta natabat aquas. 38
Nach diesem Muster waren auch die ersten Xenien gestaltet, die Goethe drei Tage, nachdem er den »Einfall« gehabt hatte, an Schiller schickte. Die erste dieser sogenannten >Ur-XenienXenien< weitgehend einer der semantischen Kohärenz. U b e r den im Titel genannten Gegenstand w i r d im Epigramm etwas gesagt. 42
In diesem Sinne ist auch Schillers Bemerkung »in jedem [Distichon] wird nach einer deutschen Schrift geschossen« zu verstehen.43 Der Titel markiert das Ziel, das Objekt der Satire. Ein zweites Beispiel: Schinks
Faust.
Faust hat sich leider schon oft in Deutschland dem Teufel ergeben, D o c h so prosaisch noch nie Schloß er den schrecklichen Bund. 4 4
Nur im Titel wird ausgesprochen, auf welche der zahlreichen deutschen Faustdichtungen - nämlich Johann Friedrich Schinks Doktor Faust's Bund mit der Hölle - im Text angespielt wird; ohne ihn könnte man den Text beispielsweise auch auf Friedrich Maximilian Klingers Faust-Roman beziehen.
39 M - A S . 2 6 3 . Vgl. H a n s Wahl (Hrsg.): »Ur-Xenien. N a c h der Handschrift des Goethe- und Schiller-Archivs in Faksimile-Nachbildung.« In: Julius Petersen / Hans Wahl (Hrsg.): Schriften der Goethe-Gesellschaft. Bd. 47. Weimar 1934. S.i. 40
41 41 43 44
Vgl. dazu Niklas Holzberg: Martial und das antike Epigramm. Darmstadt 2002. S. 44-49. Guter Rath = Epigrammaton liber quartus decimus, 185 (dazu s.u. 3 . 1 . 1 ) . Moennighoff: Goethes Gedichttitel. S. 108. So Schiller am 4. Januar 1796 an H u m b o l d t . N A 2 II A S. 4 3 1 . M - A S. 267. 37
Zu dieser Form der Titelgebung bemerkt Moennighoff weiter: Fast jeder Titel gibt an, worüber das Epigramm spricht. Es ist dies häufig eine Sache oder ein Sachverhalt, der durch ein einzelnes oder ein erweitertes Substantiv oder eine Doppelformel im Titel mitgeteilt wird. Wie es in polemischaggressiven Kurzgedichten, die die »Xenien« sind, nicht anders zu erwarten ist, sind es häufig auch Personen, die im Titel genannt werden - durch vollständige Nennung oder abgekürzte Anführung ihrer Eigennamen. 4 *
Die Titel machen die entsprechenden Texte also zu Pasquillen, indem sie das Werk oder die Person, die jeweils zur Zielscheibe des Spottes werden, explizit bei ihrem Namen nennen und die allgemeine Satire so zur Personalsatire konkretisieren. Damit verstießen Schiller und Goethe aber gegen einen alten Grundsatz der Satiretheorie, den Martial auf die klassische Formel brachte: »parcere personis, dicere de vitiis« - also »die Personen zu schonen und von den menschlichen Schwächen zu sprechen«.46 Dieser Grundsatz galt auch noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie etwa Gottlieb Wilhelm Rabeners Vorbericht zu seiner Sammlung satyrischer Schriften aus dem Jahr 175i 4 ? und Lessings j/. Antiquarischer Brief von 1769 belegen; in letzterem bezeichnet Lessing den Hallenser Professor Christian Adolf Klotz als »das verächtlichste, was ein vernünftiges Geschöpf werden kann - Klätscher, Anschwärzer, Pasquillant«;48 an anderer Stelle schreibt er, die »Büchelchen« des Herrn Klotz »sollten Satyren sein, und waren ihm zu Pasquillen geraten.«4' Man muß sich auch vor Augen führen, daß das Verfassen eines Pasquills damals ein Straftatbestand war; das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 zum Beispiel zählte ein Pasquill zu den groben oder schweren Injurien und sah für adelige Pasquillanten Haftstrafen von bis zu sechs Monaten vor.'° Daß Goethe und Schiller sich dessen durchaus bewußt waren, geht aus Goethes Brief an Schiller vom 10. Juni 1796 hervor, in dem zu lesen ist, 45
Moennighoff: Goethes Gedichttitel. S. 107. Epigrammaton liber decimus, 33, 10. M.Valerius Martialis: Epigramme. S. 7o8f. 47 Hier heißt es etwa: »Ich habe mich vor persönlichen Satyren in meinen Schriften, mit allem Fleiße gehütet. Die Charaktere meiner Thoren sind allgemein, nicht ein einziger ist darunter, auf welchen nicht zehn Namen zugleich billig Anspruch machen können.« Und über den Pasquillanten liest man: »Seine Bosheit ist gefährlicher, als die Tücke des Straßenräubers. Er verdient, wie dieser, die Rache der Gesetze, und er ist unwürdig, daß wir weiter seiner gedenken.« [Gottlieb Wilhelm Rabener]: Sammlung satyrischer Schriften. Erster Theil. Leipzig 1 7 5 1 . S. 42 und 15. 48 Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5.2. S. 579. « Ebd. S. 573. s ° Vgl. dazu Christoph Deupmann: >Furor satiricusDurchschlagskraft< der gebundenen Rede, die es - im Gegensatz zur
64 65 66 67 68
M-AS.274f. Moennighoff: Goethes Gedichttitel. S. 110. A m 23. [25.?] Juli 1796. N A 2 II A S . 4 4 0 . M-AS.243. Der Kontext des Xenions im Zyklus legt die Interpretation nahe, es auf Goethes Polemik gegen Newton und die Newtonianer zu beziehen. Der Skopus des Textes beschränkt sich jedoch nicht auf diesen unmittelbaren Zusammenhang. 41
ungebundenen Rede - den Adressaten unmöglich mache, den Inhalt dieser Rede zu ignorieren, >wegzuhörenWarum sagst du uns das in Versen?< Die Verse sind wirksam [...].« Da die Wörter immer mit Hebungen zusammenfallen, ist diese Klangfigur deutlich wahrnehmbar. Wie beschrieben, gliedert sich das Xenion in Frage und Antwort. Während die Schlagfertigkeit und Prägnanz der Antwort kaum mehr zu überbieten ist, ist die Frage betont schlicht, ja prosanah gehalten, was 69 70
Vgl. dazu Schwarzbauer: Die Xenien. S. 298-305. Strauß: »Zur Struktur des deutschen Distichons.« S. 523. 42
unter anderem durch die Vermeidung aller für den Hexameter typischen Zäsuren erreicht wird. Der Gegensatz zwischen ungebundener und gebundener Rede wird im Text also nicht nur thematisiert, sondern auch gestaltet. Uberspitzt formuliert: Gefragt wird in Prosa, geantwortet aber in Versen. Die Überlegenheit der Versrede ist dabei eindeutig: Mit Hilfe des doppelten Chiasmus im Hexameter werden den Fragenden ihre Worte ja tatsächlich im Munde umgedreht. Die Artifizialität und Rhetorizität ausgerechnet dieses Xenions ist natürlich kein Zufall. Goethe und Schiller wollten offensichtlich ihre Virtuosität im Umgang mit dem Monodistichon demonstrieren. Die spezifische Wirksamkeit dieses Mediums wird in Abgrenzung von der »Prosa« exemplarisch vorgeführt. Eine solchermaßen strukturierte Rede ist tatsächlich nur schwer zu überhören. Die Zweiteiligkeit als das entscheidende Strukturprinzip des Distichons wurde bereits genannt. Goethe und Schiller haben sich dieses Prinzip bei der Gestaltung ihrer satirischen Pointen ausgiebig zu Nutzen gemacht, wie nun an einigen Beispielen gezeigt werden soll. Orientieren konnten sie sich dabei an den Distichen Martials. 71 Darüber hinaus ist die Zweiteiligkeit eine epigrammatische Grundstruktur mit transhistorischer Geltung. 72 Zur Beschreibung der beiden Teile des Epigramms werden im folgenden die von Lessing eingeführten Termini >Erwartung< und >Aufschluß< verwendet. 73 Der Text, auf den sich das erste Beispiel bezieht, ist - der Titel spricht es unmißverständlich aus - die Borussias
des Berliner Predigers Daniel
Jenisch, ein Heldenepos, dem der Autor selbstbewußt den Beginn der Aeneis (»Arma virumque cano«) als Motto vorangestellt hatte, es also in der Tradition des antiken Heldenepos gesehen wissen wollte. Auch die Tatsache, daß er wie Vergil im Versmaß des Hexameters dichtete und seinen Text in zwölf Gesänge einteilte, verrät seinen hohen Anspruch: Jenisch wollte das deutsche Nationalepos schaffen, indem er Friedrich II. und den Siebenjährigen Krieg in antikisierender Form besang. Dieses ehrgeizige Vorhaben forderte den Spott Schillers und Goethes heraus:
71 71
73
Holzberg: Martial und das antike Epigramm. S. 86ff. Hess versteht die Zweiteiligkeit sogar als ein gattungskonstituierendes Merkmal. Hess: Epigramm. S. n f . Die entsprechende Passage in den Verstreuten Anmerkungen über das Epigramm lautet: »Am schicklichsten werden sich also auch die Teile des Epigramms, Erwartung und Aufschluß nennen lassen [...].« Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 7. S. 188. 43
Borussias. Sieben Jahre nur währte der Krieg von welchem du singest? Sieben Jahrhunderte, Freund, währt mir dein Heldengedicht. 74
Erwartung und Aufschluß konkretisieren sich hier (wie in vielen anderen Fällen) als Frage und Antwort, die jeweils einen ganzen Vers umfassen. Im Hexameter stellt der Sprecher dem Autor der Borussias, den er scheinheilig als »Freund« anredet, eine - rhetorische - Frage, im Pentameter antwortet er selbst darauf. Der Witz besteht in der hyperbolischen Aussage, Jenischs Darstellung des - im Vergleich zum Trojanischen Krieg so viel kürzeren Siebenjährigen Krieges erzeuge beim Lesen dennoch das Hundertfache an Langeweile. Der Aufbau des Xenions folgt der rhetorischen Figur des Parallelismus, der anaphorische und klimaktisch gesteigerte Beginn des Pentameters unterstreicht die Pointe noch zusätzlich. Der meist antithetischen Spannung zwischen Erwartung und Aufschluß entsprechend werden die Pentameter vieler Xenien durch die kopulative Konjunktion »und« oder die adversativen Konjunktionen »doch« und »aber« eingeleitet, wie zum Beispiel in diesem auf die Brüder Stolberg gemünzten Xenion: Das
Brüderpaar.
Als Centauren gingen sie einst durch poetische Wälder, Aber das wilde Geschlecht hat sich geschwinde bekehrt. 75
Die Zweiteilung wird in diesem Fall eingesetzt, um den Stolbergs ihre >Konversion< zur christlichen Literatur vorzuwerfen. Im Rekurs auf das Titelblatt der Gedichte der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, das, als Visualisierung eines Mottos von Vergil, ein Kentaurenpaar zeigt, wird im Hexameter daran erinnert, daß die Stolbergs »einst« dem Vorbild der heidnischen Dichtung der Antike gefolgt waren; im Pentameter folgt der bissige Kommentar, diese Orientierung an der Antike sei jedoch nur von allzu kurzer Dauer gewesen. Dabei wird die eigentliche Pointe bis zuletzt hinausgezögert, denn erst das letzte Wort verrät ja den Grund für die Abkehr von der Antike, nämlich die Bekehrung zum Christentum. In einer Reihe von Xenien wird die Zweiteiligkeit durch Enjambement aber auch gezielt überspielt. Ein Beispiel, in dem der Zeilensprung eingesetzt wird, um über die metrische Gestaltung der Jamben Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs zu spotten, sei hier zitiert:
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'
M-AS.266. Ebd. S. 230.
44
Jamben. Jambe nennt man das Thier mit einem kurzen und langen Fuß, und so nennst du mit Recht Jamben das hinkende Werk/ 6
Der Zeilensprung erzeugt hier einen Effekt, der dem des unerwarteten Rhythmuswechsels am Ende des Hinkjambus ähnlich ist, ja ihn sogar übertrifft, da sich auf diese Weise eine völlig regelwidrige zweite Zäsur im Pentameter ergibt, nämlich bereits nach der ersten Hebung. Der Sprachfluß wird dadurch geradezu gewaltsam unterbrochen. Auch die Zäsur im Pentameter wird in einigen Fällen bewußt überspielt: Der böse Geselle. Dichter bitte die Musen, vor ihm dein Lied zu bewahren, Auch dein leichtestes zieht nieder der schwere Gesang. 77
In diesem Xenion (das wiederum dem dreigliedrigen Typus entspricht) wird, durch die satzwidrige Betonung der ersten Silbe des Wortes »nieder«, die Musik des »bösen Gesellen« - gemeint ist Johann Friedrich Reichardt nicht nur als »schwere[r] Gesang« verspottet, sondern auch in ihrer Wirkung nachgeahmt, denn die zweite Hälfte des Pentameters gleicht ja - Das Distichon hatte es paradigmatisch formuliert - einer Abwärtsbewegung. Da durch einen Mittelreim (»Lied« - »zieht«) und zahlreiche Assonanzen (»Dichter« - »bitte« - »die« - »ihm« - »Lied« - »zieht« - »nieder«) vorher das »leichteste[]« Lied klanglich evoziert wurde, kommt dieser Effekt besonders gut zur Geltung. Eine der wichtigsten - und wirkungsvollsten - epigrammatischen Techniken Schillers und Goethes könnte man als die Dialogisierung des Monodistichons bezeichnen. Ein Großteil der Xenien weist eine dialogische Struktur auf, sei es in der Form eines regelrechten Dialoges, als Monolog oder Polylog. Die Struktur des Monodistichons kommt dieser Technik entgegen: [...] die Regel der Auftaktlosigkeit impliziert zudem von vornherein die Verlokkung, das Xenion entweder auf einen Frage-, Ausrufungs- bzw. Aufforderungssatz zu gründen oder aber, sofern denn doch die Struktur des Aussagesatzes gewählt wird, auf eine solche Gliedfolge, die ihrerseits ein un-ruhiges, rhetorisch expressives Sprechen bezeichnet. Dazu kommt, daß das Monodistichon, indem es spannungsstiftende Schnitte erforderlich macht, zum Emschub von Interjektionen, von Negationselementen, von Anreden, von Parenthesen verleitet. 78
76 77 78
Ebd. S. 205. Ebd. S. 235. Leistner: »Der Xenien-Streit.« S. 475. 45
Unter den bisher zitierten Xenien waren bereits einige Beispiele für eine solche Dialogisierung. So werden in Das Monodistichon und Das Mittel Dialogsituationen mit jeweils unterschiedlichen Dialogpartnern fingiert. In beiden Texten sind es nicht näher bestimmte Kollektive. Anders ist es in Borussias und Jamben·. Der scheinheilig als »Freund« Angesprochene ist Jenisch, der ohne weiteres Geduzte Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Der Dichter in Der böse Geselle bleibt anonym. In allen diesen Fällen wird mit Hilfe von Anreden oder eingeschobenen Fragen die Fiktion erzeugt, die Dialogpartner seien tatsächlich anwesend und unterhielten sich miteinander. Eine andere Möglichkeit ist eine eigentlich monologische Sprechsituation, die aber auf Fragen reagiert und insofern die Anwesenheit eines Dialogpartners voraussetzt: Auf gewisse
Anfragen.
Ob dich der Genius ruft? O b du dem rufenden folgest? Ja, wenn du mich fragst - nein! Folge dem rufenden nicht. 7 '
Eine besondere Pointe dieses Xenions besteht darin, daß der erste Halbvers des Pentameters durch die gegenteiligen Partikel »ja« und »nein« gerahmt wird. Zuerst werden die Fragen also scheinbar positiv beantwortet, aber nur, um dann umso vehementer verneint zu werden. Wieder realisieren sich Erwartung und Aufschluß als Fragen im Hexameter und Antworten im Pentameter; wieder wird aber auch die Zweiteiligkeit des Pentameters geschickt ausgenutzt. Der zweite Halbvers des Pentameters greift die zweite Frage chiastisch verschränkt auf, wieder wird dem Dialogpartner also gleichsam das Wort im Munde umgedreht. Das Vorbild für diese Technik der Dialogisierung ist - obwohl es den Typus des Dialogepigramms in der europäischen, vor allem auch in der deutschen Epigrammtradition schon vorher gibt80 - mit größter Wahrscheinlichkeit wiederum Martial, der diese Technik besonders virtuos einsetzte.81 Allerdings haben Goethe und Schiller das bei ihm Vorgefundene stark weiterentwickelt, wie im Kapitel über die Struktur des Zyklus näher auszuführen sein wird. Eine weitere satirische Technik ist der Einsatz von Wort- und Klangspielen, ein Beispiel wurde bereits gegeben. Das Vorbild für solche pho-
79 M - A S . 2 3 8 . 80 Das Epigramm Catechetische Induction des jungen Goethe zum Beispiel steht in dieser Tradition. Vgl. dazu Walter Dietze: »Kleiner Abriß der Geschichte des deutschen Epigramms.« S. ι ^ γ ί ί . und das Unterkapitel 3.3 dieser Arbeit. 81 Holzberg: Martial und das antike Epigramm. S. 89.
46
netischen Effekte dürfte abermals Martial gewesen sein,82 obwohl auch diese Technik in der Geschichte des Epigramms immer eine große Rolle gespielt hat. Einige weitere Beispiele. Zunächst das Stilmittel der Onomatopoesie, das in einigen Xenien virtuos gehandhabt wird (die Hervorhebungen stammen von mir und sollen die klangliche Struktur verdeutlichen): Kritische
Studien.
Schneidet, schneidet ihr Herrn, durch Schneiden lernet der Schüler, Aber wehe dem Frosch, der euch den Schenkel muß leyhn! 8 3
Die Klangfigur der Alliteration wird hier überaus bewußt eingesetzt: Jedes der alliterierenden Worte im Monodistichon - auch ohne die zwei des Titels sind es immer noch sechs - fällt mit einer Hebung zusammen und wird dementsprechend betont. Der dabei entstehende klangliche Effekt kann somit kaum überhört werden. Der Gedanke, die beim Sezieren entstehenden Geräusche würden auf diese Weise lautmalerisch nachgeahmt, ist insofern alles andere als abwegig. Der Titel verrät, daß es sich bei den angesprochenen »Herrn« nicht etwa um Medizinstudenten handelt, sondern um Literaturkritiker, deren Tätigkeit durch die metaphorische Gleichsetzung mit dem Sezieren von Froschleichen diskreditiert wird. Wieder ist das Xenion zweigeteilt, wieder verteilen sich Erwartung und Aufschluß auf Hexameter und Pentameter, und wieder wird letzterer durch die Konjuktion »aber« eingeleitet. Ein anderes typisches Stilmittel ist die Paronomasie: Der zweyte Ovid. Armer N a s o , hättest du doch wie Μ an so geschrieben, Nimmer, du guter Gesell, hättest du Tomi gesehn. 84
Johann Caspar Friedrich Manso hatte sich in der Vorrede zu seinem Text Die Kunst zu lieben - ähnlich wie Jenisch auf Vergil - auf Ovid und dessen Ars amatoria berufen; diesem großem Vorbild eiferte er mit seiner Lehrdichtung ausdrücklich nach. Auch in diesem Fall reagierten Goethe und Schiller mit hämischem Spott: Der Sprecher des Xenions redet den römischen Dichter in vertraulichem Ton, voller Mitgefühl an. Die Pointe beruht auf der Aussage, daß Ovid, wäre seine Ars amatoria so geschrieben gewesen wie die Kunst zu lieben Mansos - d.h. schlecht und vor allem ganz und gar harmlos - von Kaiser Augustus nicht dafür ans Schwarze Meer ver-
81 s
3
84
Vgl. ebd. M-AS.243. Ebd. S. 208.
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bannt worden wäre. Mittels der Paronomasie werden das Kognomen Naso und der Nachname Manso zueinander in Beziehung gesetzt, wodurch die Unterlegenheit des modernen deutschen Dichters im Vergleich zu dem antiken römischen Dichter umso deutlicher herausgestellt wird. Durch den gesperrten Druck der beiden Namen wird es dem Leser leicht gemacht, dieses Stilmittel zu entdecken. Die Erwartung wird im Hexameter aufgebaut, der Aufschluß im Pentameter gegeben; durch die chiastische Strukturierung der beiden Verse wird die Pointe noch erhöht. In einem anderen Xenion griffen Goethe und Schiller die Form des Echogedichts auf, das zumal in der Barocklyrik eine große Rolle gespielt hatte. 85 Durch die Verwendung dieser typisch frühneuzeitlichen Form wird der Adressat der Satire als Relikt einer längst vergangenen Epoche verspottet. Die Form wird jedoch auf bezeichnende Weise modifiziert, denn der Echoreim erscheint nicht traditionsgemäß als End-, sondern als Anfangsreim. Dies ist Ausdruck der klassischen Ästhetik Schillers und Goethes - denn natürlich darf der Endreim, der ja eine Erfindung späterer christlicher Zeiten ist, im streng antikisierenden Monodistichon nicht vorkommen: Philosophische Querköpfe. Querkopf! schreiet ergrimmt in unsere Wälder Herr Nickel, Leerkopf! schallt es darauf lustig zum Walde heraus. 86
Das Xenion bezieht sich auf eine Passage in Friedrich Nicolais Beschreibung einer Reise durch Deutschland [...], die den Kolumnentitel »Philosophische Querköpfe« trägt; in ihr übt Nicolai Kritik an den Hören und den in diesem Periodikum publizierenden Vertretern der kritischen Philosophie, also auch an Schiller. N u n wird ihm geantwortet: Wieder ist es die Zweiteiligkeit des Monodistichons, mittels derer die Pointe wirkungsvoll konturiert wird; Erwartung und Aufschluß verteilen sich auf die beiden Verse, die streng parallel angeordnet sind, die Zäsur des Hexameters liegt sogar an derselben Stelle wie im Pentameter. Goethe und Schiller waren sich der satirischen Möglichkeiten der »Monodistichalform«, das dürfte zur Genüge deutlich geworden sein, vollkommen bewußt und haben diese auch virtuos und konsequent für ihre Zwecke eingesetzt. Das betrifft aber nicht nur die Struktur des Monodi-
85
86
Vgl. dazu Ferdinand van Ingen: Echo im 17. Jahrhundert. Ein literarischmusikalisches Phänomen in der Frühen Neuzeit. Amsterdam 2002. M-AS.246. 48
stichons, sondern auch dessen Semantik als eine antike Form, worauf noch zurückzukommen sein wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt wurde bisher noch nicht angesprochen: die Zyklizität der Xenien. Denn diese sind keine beliebige Aneinanderreihung satirischer Monodistichen, sondern eine bewußt komponierte epigrammatische Großform. Dies ist auch ein weiterer Punkt, in dem die Xenien innovativ waren, denn die Grenzen der Gattung Epigramm werden dabei teilweise überschritten. Inwiefern sich die Poetik der Grenzüberschreitung auch im Hinblick auf die Struktur des Zyklus auswirkt, wird im nun folgenden Kapitel auszuführen sein.
49
3
»In allen erdenklichen Formen«: Die Struktur der Xenien
D i e Xenien
sind der erste Z y k l u s in der Geschichte der deutschen Litera-
tur, der ausschließlich Monodistichen enthält. 1 In dieser Hinsicht gingen Goethe und Schiller sogar weiter als Martial, in dessen Xenia und
Apopbo-
reta auch Zweizeiler in Hendekasyllaben und H i n k j a m b e n zu finden sind. 2 Darüber hinaus übersteigt der U m f a n g der Xenien
mit 4 1 4 E p i -
grammen das übliche Maß bei weitem.3 Hierin zeigt sich - wie ja auch in der Tatsache, daß kein Musenalmanach zuvor jemals so viele E p i g r a m m e
1
2 3
Nicht jedoch die erste ausschließlich Zweizeiler beinhaltende Epigrammsammlung, deren es im 17. Jahrhundert mehrere gibt. Zu nennen sind vor allem der Cherubinische Wandersmann Johannes Schefflers (indes besteht nur dessen zweites Buch wirklich ausschließlich aus Zweizeilern) und Daniel Czepko von Reigersfelds Sexcenta Monodisticha Sapientum. In beiden Fällen handelt es sich um gereimte Alexandriner. Vgl. dazu Holzberg: Martial und das antike Epigramm. S. 33. In der Tat gibt es in der Geschichte des deutschen Epigramms keine Epigrammsammlung von ähnlichem Umfang wie die Xenien, und auch keines der fünfzehn Epigrammbücher Martials enthält so viele Epigramme. Das umfangreichste Buch Martials, die Apophoreta, enthält 223 Epigramme, die Xenia als das zweitumfangreichste 127. Im Durchschnitt umfassen Martials Bücher 103 Epigramme. Die Zahl 100 galt dann offenbar für die meisten deutschen Epigrammatiker als Norm. Einige Beispiele: Friedrich von Logau gliederte seine Sinn-Getichte zwar in Tausendergruppen, diese aber untergliederte er in Gruppen von jeweils 100 Epigrammen; Czepkos Sexcenta Monodisticha Sapientum bestehen aus sechs Zyklen von je 100 Epigrammen, ebenso enthalten die Sammlungen Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus und auch die des Andreas Gryphius jeweils 100 Epigramme. Lessings Sinngedichte aus dem Jahre 1771 umfassen mit 144 Texten nicht wesentlich mehr. Eine Ausnahme bilden die sechs Bücher des Cherubinischen Wandersmanns, die alle mehr als 200, zum Teil sogar mehr als 300 Epigramme enthalten. Die Zahl 400 wird jedoch nicht erreicht. Auch Goethe und Schiller hielten sich an Martials Norm, sogar noch genauer: Sowohl der Zyklus der Venezianischen Epigramme als auch der Zyklus der Tabulae votivae besteht aus 103 Epigrammen, also exakt dem durchschnittlichen Umfang der Bücher Martials. Der Zyklus Vier Jahreszeiten, den Goethe später aus den Distichen der Sammelhandschrift zusammenstellte, umfaßt 100 Epigramme. Die Xenien waren also mehr als viermal so umfangreich wie eine durchschnittliche Epigrammsammlung und mehr als dreimal so umfangreich wie ihr Vorbild, die Xenia Martials. 5°
enthalten hatte - die Poetik der Grenzüberschreitung: die »alle Messung überschreitende^ Fülle«, von der Schiller gesprochen hatte.4 Ein derartig großer Umfang bei gleichzeitig strenger Monometrie war einerseits eine weitere Provokation des Publikums, das eine solche Menge von Epigrammen, noch dazu in einem einzigen Gedichtmaß, nicht gewohnt war. Und auf die Herausforderung ihrer Leser waren Goethe und Schiller aus. Doch ein solcher Text stellte auch besondere Anforderungen an die Autoren. Die Probleme, mit denen sich ein Epigrammatiker konfrontiert sieht, der eine Sammlung seiner Texte zusammenstellen will, liegen auf der Hand: Wie die einzelnen Epigramme zu einem größeren Ganzen verbinden? Wie eine große Zahl von Epigrammen zusammenstellen, ohne daß die Lektüre den Leser nach kurzer Zeit ermüdet? Wie verhindern, daß eine solche Sammlung die Wirkung der einzelnen Texte aufhebt? Martial hat diese Problematik auf ironische Weise - natürlich in einem Epigramm - zum Ausdruck gebracht:
Disticha qui scribit, puto, vult brevitate placere. quid prodest brevitas, die mihi, si liber est? 5
Dieser Widerspruch zwischen der brevitas des einzelnen Epigramms und der copia des Epigrammbuches wurde immer wieder in den Büchern selbst thematisiert, bevorzugt an deren Ende. Zwei weitere Beispiele seien hier zitiert, zunächst noch einmal Martial. Das letzte Epigramm seines liber primus lautet: 118 Cui legisse satis non est epigrammata centum, nil illi satis est, Caediciane, mali.'5
Martial bestätigt in diesem Epigramm implizit die Zahl Hundert als Norm für den Umfang eines Epigrammbuches (s.o. Anm. 3), indem er sie näm4 s
6
N A 2 II A S . 4 3 4 . Epigrammaton liber octavus, 29. Das Epigramm lautet in der Übertragung Baries und Schindlers: »Was nützt Kürze, wenn es um ein ganzes Buch geht? | Wer Distichen schreibt, der will, glaube ich, durch Kürze gefallen. / Doch was nützt Kürze, sag' mir, geht es um ein Buch?« M. Valerius Martialis: Epigramme. S. 5 4 6 f . Epigrammaton liber primus, 1 1 8 . Barie und Schindler übersetzen: »Schlußgedicht: Jetzt ist's genug! | Wem die Lektüre von hundert Epigrammen nicht genug ist, / der bekommt, Caedicianus, vom Schlechten nie genug.« M.Valerius Martialis: Epigramme. S. 1 i8f.
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lieh überschreitet: Das letzte Epigramm ist nicht das hundertste, sondern das hundertachtzehnte des Buches. Der eigentliche Adressat des Textes ist nicht der angesprochene Caedician, sondern der Leser, dem auf diese Weise - er hat ja nach dem hundertsten Epigramm noch weitergelesen unterstellt wird, »vom Schlechten nie genug« bekommen zu können. In Lessings Epigrammsammlung steht an vorletzter Stelle der folgende, die Begriffe brevitas und copia aufgreifende Zweizeiler: 143. Die Sinngedichte über sich selbst. Weiß uns der Leser auch für unsre Kürze Dank? Wohl kaum. Denn Kürze ward durch Vielheit leider! lang.7
Lessings Strategie ist ähnlich: Auch er hat den durchschnittlichen Umfang einer Epigrammsammlung überschritten und kommt nun der Kritik des Lesers zuvor, indem er »die Sinngedichte« selbst diesen >Fehler< eingestehen läßt. Aus diesen Beispielen geht hervor, daß es bei Epigrammatikern seit der Antike durchaus ein Bewußtsein für das Problem der Komposition von epigrammatischen Großformen gab. Zahlreiche weitere Belege ließen sich anführen.8 Auch Goethe und Schiller mußten folglich, wollten sie es nicht riskieren, die Leser schon nach kurzer Zeit zu ermüden - womit sie ja die Wirkung der Xenien aufs Spiel gesetzt hätten - große Mühe auf die Komposition dieser »Sammlung«!1 verwenden. Wie gesagt, sind die Xenien ja überdies ein monometrischer Zyklus, wodurch auch noch die Möglichkeit wegfiel, Abwechslung durch Polymetrie zu erzeugen, also durch das Variieren der den einzelnen Epigrammen zugrundeliegenden Vers- und Gedichtmaße, wie das Martial in seinen Epigrammaton libri XII auf sehr geschickte Weise getan hatte.10 Der große Umfang der »Sammlung« verlangte von den Autoren mithin eine kunstvolle Strukturierung, ermöglichte es ihnen gleichzeitig aber auch, dabei neue Wege zu gehen, die sich bei einem geringeren Umfang nicht eröffnet hätten. 7
8
9
10
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Albert von Schirnding und Jörg Schönert hrsg. von Herbert G. Göpfert. Bd. 1. Gedichte, Fabeln, Lustspiele. München 1970. S. 40. Andere prägnante Beispiele bei Martial sind etwa die Schlußepigramme des liber quartus und des liber undeeimus sowie VII, 8 5. Vgl. dazu auch den Exkurs zum Buchaufbau bei Martial in diesem Kapitel (s.u. 3.1) und die Überlegungen zu der Zyklizität von epigrammatischen Großformen als einem Forschungsdesiderat am Ende dieses Abschnittes. Diesen Begriff gebrauchte Goethe, als er das Projekt im Brief an Schiller vom 23. Dezember 1795 zum erstenmal erwähnte. BW S. 175. Vgl. dazu Niklas Holzberg: Martial. Heidelberg 1988. S. 34ff.
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Im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, der ja fast den gesamten Entstehungsprozeß der Xenien dokumentiert, wurde dieses Problem der Komposition schon zu einem frühen Zeitpunkt angesprochen. Am 3 i.Januar 1796 schrieb Schiller an Goethe: Für unsere Xenien haben sich indessen allerlei Ideen, die aber noch nicht ganz reif sind, bei mir entwickelt. Ich denke auch, daß, wenn Sie etwa zu Ende dieser Woche kommen, Sie ein hundert und darüber bei mir finden sollen. Wir müssen die guten Freunde in allen erdenklichen Formen verfolgen, und selbst das poetische Interesse fodert eine solche Varietät innerhalb unsers strengen Gesetzes, bei einem Monodistichon zu bleiben. 1 1
Sobald also Schiller mehr als hundert Epigramme - dies war im übrigen auch die Zahl, die Goethe anfangs vorgesehen hatte 11 - geschrieben und die Norm des Umfangs somit überschritten hatte, begann er, »allerlei Ideen« zu entwickeln, wie man »die guten Freunde in allen erdenklichen Formen verfolgen« könnte und es entstand bei ihm ein »poetische[s] Interesse« an »Varietät« innerhalb des Zyklus. Daß Goethe und er sich vorgenommen hatten, »bei einem Monodistichon zu bleiben«, verstärkte dieses Interesse offenbar noch zusätzlich. Schiller fuhr fort: Ich habe dieser Tage den Homer zur Hand genommen und in dem Gericht, das er über die Freier ergehen läßt, eine prächtige Quelle von Parodien entdeckt, die auch schon zum Teil ausgeführt sind; eben so auch in der Nekyomantie, um die verstorbenen und hie und da auch die lebenden zu plagen. Denken Sie auf eine Introduktion Newtons in der Unterwelt - Wir müssen auch hierin unsere Arbeiten ineinander verschränken. Beim Schlüsse, denke ich, geben wir noch eine Komödie m Epigrammen. Was meinen Sie? 1 3
Die meisten dieser Ideen wurden, wie zu zeigen sein wird, in die Tat umgesetzt. Doch zunächst war Schiller, was die Strukturierung der mittlerweile auf mehr als 600 Epigramme angewachsenen Sammlung betraf, ratlos. Die Erweiterung der ursprünglichen Konzeption der Xenien im Frühjahr 1796 - nun entstanden auch nicht-satirische Epigramme - 1 4 scheint diese Schwierigkeiten noch erhöht zu haben. Am 18.Juni schrieb Schiller nach Weimar:
11
B W S . 189. »Mit 100 Xenien, wie hier ein Dutzend beihegen, könnte man sich sowohl dem Publiko als seinen Kollegen aufs angenehmste empfehlen.« So Goethe an Schiller am 26. Dezember 1795. B W S. 176. : 3 Ebd. 189k 14 Vgl. dazu Schwarzbauer: Die Xenien. S. 274. 12
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Die Xenien erhalten Sie auf den Montag. Zur Verknüpfung der verschiedenartigen Materien sind noch manche neue nötig, wobei ich auf Ihren guten Genius meine Hoffnung setze. Die Homerischen Parodien habe ich, weil sie sich an das Ganze nicht anschließen wollen, herauswerfen müssen, und ich weiß noch nicht recht, wie ich die Totenerscheinungen werde unterbringen können. Gar zu gern hätte ich die lieblichen und gefälligen Xenien an das Ende gesetzt, denn auf den Sturm muß die Klarheit folgen. Auch mir sind einige in dieser Gattung gelungen, und wenn jeder von uns nur noch ein Dutzend in dieser Art liefert, so werden die Xenien sehr gefällig endigen. 15 Z e h n T a g e später heißt es: » H i e r d e r R e s t der X e n i e n . W a s heute f o l g t , ist, w i e Sie sehen, n o c h nicht in d e m g e h ö r i g e n Z u s a m m e n h a n g , u n d alle m e i n e V e r s u c h e , die v e r s c h i e d e n e n G r u p p e n z u s a m m e n z u b r i n g e n , sind m i r m i ß g l ü c k t . « 1 6 A u s diesen S ä t z e n geht eindeutig h e r v o r , daß Schiller nicht b l o ß an einer e i n f a c h e n E p i g r a m m s a m m l u n g interessiert w a r , s o n d e r n daß er i m G e g e n t e i l sehr d a r u m b e m ü h t w a r , die » v e r s c h i e d e n a r t i g e n M a t e r i e n « m i t e i n a n d e r z u v e r b i n d e n , » G r u p p e n « z u b i l d e n u n d einen » Z u s a m m e n h a n g « h e r z u s t e l l e n , mit a n d e r e n W o r t e n : aus d e r M a s s e v o n E p i g r a m m e n einen d u r c h s t r u k t u r i e r t e n Z y k l u s z u k o m p o n i e r e n . W i e das j e d o c h z u b e w e r k s t e l l i g e n sei, w u ß t e er z u d i e s e m Z e i t p u n k t n o c h nicht. S c h o n einen M o n a t später a b e r scheint er M ö g l i c h k e i t e n g e s e h e n z u h a b e n , d e n n in s e i n e m B r i e f v o m 28. J u l i u n t e r b r e i t e t e er G o e t h e V o r s c h l ä ge, w i e sie die » M a n n i g f a l t i g k e i t d e r F o r m e n « n o c h v e r m e h r e n k ö n n t e n : 1 7 E r s c h i c k t e einen ersten R e d a k t i o n s e n t w u r f , v o n d e m G o e t h e allerdings enttäuscht w a r . Schiller v e r t e i d i g t e seinen E n t w u r f z u n ä c h s t , g a b d a n n a b e r n a c h / 8 A m 1 . A u g u s t schrieb er an G o e t h e : Nach langem Hin- und Herüberschwanken kommt jedes Ding doch endlich in seine ordentliche wagrechte Lage. Die erste Idee der Xenien war eigentlich eine fröhliche Posse, ein Schabernack, auf den Moment berechnet und war auch so ganz recht. Nachher regte sich ein gewisser Uberfluß und der Trieb zersprengte das Gefäß. N u n habe ich aber, nach nochmaligem Beschlafen der Sache, die natürlichste Auskunft von der Welt gefunden, Ihre Wünsche und die Konvenienz des Almanachs zugleich zu befriedigen. Was eigentlich den Anspruch auf eine gewisse Universalität erregte und mich bei der Redaktion in die große Verlegenheit brachte, waren die philosophischen und rein poetischen, kurz die unschuldigen Xenien; also eben die, welche in der ersten Idee auch nicht gewesen waren. Wenn wir diese in dem vordem und gesetzten Teile des Almanachs, unter den andern Gedichten bringen, die lustigen hingegen unter dem Namen Xenien und als ein eigenes Ganze, wie voriges Jahr die [Venezianischen] Epigramme, dem ersten Teil anschließen, so ist geholfen.
16
18
B W S. 2o8f. Ebd. S. 217. Ebd. S.iöof. Vgl. dazu Schwarzbauer: Die Xenien. S. 266-275. 54
Auf Einem Haufen beisammen und mit keinen ernsthaften untermischt, verlieren sie sehr vieles von ihrer Bitterkeit, der allgemein herrschende Humor entschuldigt jedes einzelne, so wie Sie neulich schon bemerkten, und zugleich stellen sie wirklich ein gewisses Ganzes vor. [...] Und so wären also die Xenien (wenn Sie meinen Gedanken gut heißen, wie ich denke) zu ihrer ersten Natur zurückgekehrt, und wir hätten doch auch zugleich nicht Ursache, die Abweichung von jener zu bereuen, weil sie uns manches Gute und Schöne hat finden lassen. 1 '
Schiller schlug also vor, die mittlerweile fast iooo Epigramme umfassende Sammlung in zwei Teile aufzuspalten, in »unschuldige« und »lustige« Epigramme - Tabulae Votivae und Xenien. Damit kehrte er zurück zu der ursprünglichen Konzeption der Xenien, der »ersten Idee«, wie er sie in den Briefen an Körner und Humboldt formuliert hatte. Aufschlußreich ist, daß es ihm nun in erster Linie um die »lustigen« Epigramme ging: Sie sollten ein »gewisses Ganzes« vorstellen, die »rein poetischen« offenbar nicht. Daß die Xenien auf diese Weise »sehr vieles von ihrer Bitterkeit« verlieren würden, war, wenn nicht eine bewußte Verharmlosung, um Goethe von dem Vorhaben zu überzeugen, ein Trugschluß. Schiller mußte doch zumindest geahnt haben, welche Wirkungskraft die Xenien »auf einem Haufen beisammen« entfalten würden. Nun war Goethe einverstanden. Am 18. August 1796 traf er in Jena ein und hielt sich dort bis kurz vor der Publikation des Μ men-Almanacks Ende September auf. In diesem Zeitraum erhielt der Text seine endgültige Gestalt, Schillers Plan wurde ausgeführt. Wie Schwarzbauer dargelegt hat, kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Redaktion der Xenien gemeinsam erfolgte.20 Goethe und Schiller stellten in gemeinsamer Arbeit 414 Monodistichen zu dem Xenien-Zyklus zusammen, nachdem Schiller alleine bereits die Tabulae votivae sowie die kleineren Zyklen zusammengestellt hatte. Vergleicht man nun die beiden Zyklen Xenien und Tabulae Votivae, fallen vor allem zwei Dinge ins Auge: Der Umfang der Xenien ist, wie gesagt, außergewöhnlich groß, während die Tabulae Votivae hierin genau der Norm entsprechen. Die Xenien sind ein durchstrukturierter Zyklus, während die Tabulae Votivae allenfalls lose strukturiert sind. Einer »Varietät« und »Mannigfaltigkeit der Formen« begegnet man nur in den Xenien, nicht aber in den Tabulae Votivae, obwohl beide Zyklen aus demselben Korpus von Texten zusammengestellt wurden. Überdies ist die »Mannigfaltigkeit der Formen« in den Xenien erstaunlich: Der Zyklus
20
B W S. 265h Das war den früheren Kommentatoren noch nicht klar gewesen. Vgl. Schwarzbauer: Die Xenien. S. 272. 55
weist eine Rahmenkomposition sowie eine Rahmenhandlung auf, enthält zahlreiche Binnenzyklen und Epigrammpaare, wobei die Grenzen der Gattung Epigramm an einigen Stellen überschritten werden. Das ist in der Geschichte des deutschen Epigramms einmalig. Es wird nun deutlich, was Schiller vor allem gemeint haben dürfte, als er die Xenien »eine in ihrer Art ganz neue Erscheinung« nannte:21 Er spielte an auf die Architektonik, auf die Struktur dieses Textes. Damit stellen sich jedoch weitere Fragen: Goethe und Schiller haben mehr Mühe auf die Komposition der Xenien als auf die Komposition der Tabulae votivae verwendet, was einerseits zwar durch den größeren Umfang der Xenien erklärt wird, andererseits aber noch immer interpretationsbedürftig ist. Offenbar spielt die Struktur in den Xenien eine wichtigere Rolle als in den Tabulae votivae, offenbar erfüllt sie andere, spezifische Funktionen. Welche? Es liegt nahe, die strukturellen Besonderheiten der Xenien mit ihrer besonderen Poetik in Verbindung zu bringen. Bevor diese Fragen jedoch beantwortet werden können, muß erst die Struktur des Textes untersucht werden. Und das ist ein Hauptziel dieses Kapitels: Die von Goethe und Schiller eingesetzten Techniken der Strukturierung des Zyklus sollen benannt und beschrieben, ihre Funktion innerhalb des Ganzen sowie die im Hinblick auf die Gattung Epigramm auftretenden theoretischen Probleme diskutiert werden. Nach dem Vorbild für diese Techniken ist ebenfalls zu fragen. Die Forschung ist der Frage nach der Struktur der Xenien bisher nicht nachgegangen. Das liegt einerseits an der generellen Vernachlässigung der Xenien durch die Germanistik,22 andererseits aber auch an dem Desinteresse der Epigrammforschung an den Problemen der Zyklizität.23 Eine 21 22
23
N A 28 S. 620. Auffälligerweise zog nämlich die Struktur der Venezianischen Epigramme das Interesse der Forschung vergleichsweise früh auf sich (vgl. Johanna Jarislowsky: »Der Aufbau in Goethes Venezianischen EpigrammenArma virumque< legas.« Barles und Schindler übersetzen: »Vergils >Mücke< I N i m m , eifriger Leser, die >Mücke< des wortgewaltigen Maro entgegen, / damit du nicht > Waffen und Mann< liest, wenn du die Nüsse beiseite gelegt hast.« M. Valerius Martialis: Epigramme. S. 1042^ Das Verfahren, Titel und Text in zwei unterschiedlichen Sprachen zu verfassen, könnte wiederum von Martial angeregt sein, der in den Apophoreta zweimal einem griechischen Titel einen lateinischen Text folgen läßt ( 1 7 1 und 18 7). 61
Todte Sprachen. Todte Sprachen nennt ihr die Sprache des Flakkus und Pindar, Und von beiden nur kommt, was in der unsrigen lebt! 4 1
Mithin wird die zum Leben erweckte »todte Sprache« in diesem Fall eingesetzt, um einem anderen modernen Autor, der sich auf die Antike berufen hatte, seine Vermessenheit vorzuwerfen. Solche raffinierten intertextuellen Bezugnahmen sind in den Xenien kein Einzelfall. Der Typus des Fortsetzungspaares kommt ebenfalls häufig in den Xenien vor. Auch für diesen Fall ein Beispiel 42 : Ein deutsches Meisterstück. Alles an diesem Gedicht ist vollkommen, Sprache, Gedanke, Rhythmus, das einzige nur fehlt noch, es ist kein Gedicht. Unschuldige Schwachheit. Unsre Gedichte nur trift dein Spott? ο schätzet euch glücklich, Daß das schlimmste an euch eure Erdichtungen sind. 43
Eine »fortlaufende Handlung« 44 ergibt sich hier insofern, als die im ersten Epigramm Verspotteten im zweiten Epigramm auf ihre Verspottung reagieren, worauf wiederum der Spötter mit neuem Spott reagiert. Die oben beschriebene Technik der Dialogisierung des Monodistichons (s.o. 2.3) wird also auf zwei aufeinanderfolgende Epigramme angewendet. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, die Dialogpartner seien tatsächlich anwesend. Der Leser wird zum Zeugen einer kurzen, komischen Szene. Daß die Satire - anders als in so vielen anderen Fällen - dieses eine Mal nicht zur Personalsatire konkretisiert wird, hat einen einfachen Grund: Gemeint ist diesmal eben kein spezifisches »deutsches Meisterstück« eines bestimmten deutschen Autors. Gemeint ist die moderne deutsche Literatur in ihrer Gesamtheit. Ihr wird das Vermögen, »Gedichte« überhaupt hervorbringen zu können, kurzerhand abgesprochen. N u n zu dem Typus der Reaktion bzw. Replik, den Holzberg als »ganz besonders interessant[]« bezeichnet hat.45 Auch in den Xenien wird diese Möglichkeit der Strukturierung von Epigrammpaaren genutzt, zum Teil 41
M - A S . 182. Andere Beispiele sind Bedientenpflicht / Ungebühr, Nachbildung der Natur / Nachäff er und Das Mittel / Moralische Zwecke der Poesie. Ebd. S. 213f., S. 228f. und S. 243. 4 ? Ebd. S. 232. 44 Holzberg: Martial. S. 40. « Ebd. 41
62
auf sehr originelle Weise. Ein Beispiel, in dem Goethe und Schiller das Martialsche Modell allerdings modifiziert haben: Sachen so gestohlen (.Immanuel Kant
worden.
spricht).
Zwanzig Begriffe wurden mir neulich diebisch entwendet, Leicht sind sie kenntlich, es steht sauber mein I. K. darauf. Antwort auf obigen Avis. Wenn nicht alles mich trügt, so hab ich besagte Begriffe In Herrn Jakobs zu Hall Schriften vor kurzem gesehn.46
Wiederum wird eine Dialogsituation fingiert, an der diesmal aber nur zwei Personen beteiligt sind; beiden ist jeweils ein Monodistichon zugeteilt. Der Untertitel des ersten Xenions bezeichnet explizit den Sprecher: Immanuel Kant. Es liegt also eine ungewöhnliche epigrammatische Spielart der Rollenlyrik vor. Im zweiten Xenion antwortet dann die satirische Sprecherinstanz der Xenien. Mithin ist das System von Erwartung und Aufschluß, analog der Gliederung in Rede und Gegenrede, aufgespalten in zwei Epigramme: Die Spannung des Lesers wird durch Kants »Avis« geweckt, die Pointe ergibt sich aber erst mit der überraschenden »Antwort«, in der der Hallenser Philosoph Ludwig Heinrich von Jakob als der gesuchte BegriffsDieb, d.h. Plagiator denunziert wird. Diesen Fall, daß ein Epigrammpaar in Rede und Gegenrede gegliedert ist, gibt es in den Epigrammbüchern Martials nicht. Goethe und Schiller haben den bei Martial vorgefundenen Typus zu einer eigenen, spezifischen Form weiterentwickelt, deren Konsequenzen für die Struktur des Zyklus noch zu zeigen sein werden. 3.1.2 Zyklen Bisher wurden nur Fälle untersucht, in denen zwei Epigramme zueinander in Beziehung treten. Charakteristisch für die Xenien ist aber vor allem, daß eine größere Zahl von Xenien korrespondiert, daß sich also Binnenzyklen ergeben. Zunächst zu dem Typus des offenen Zyklus. Ein Beispiel sind die über den ganzen Zyklus verteilten Xenien auf Friedrich Nicolai, wobei es zusätzlich auch noch zwei gegen ihn gerichtete geschlossene Zyklen (Geschichte eines dicken Mannes - Litteraturhriefe, Nicolai - Lucri bonus odorY7 sowie - außerhalb der Xenien, aber auch im Musen-Almanach für das Jahr 1797 - den Text Der Fuchs und der Kranich gibt.48 Ihren »Tod46 47 48
M-AS.273. Ebd. S. 234f., 245-250. Ebd. S. 142.
63
feind« - so der bezeichnende Titel eines Xenions - 4 9 haben Goethe und Schiller eben tatsächlich »in allen erdenklichen Formen« verfolgt, wie Schiller das in dem bereits zitierten Brief an Goethe formuliert hatte.50 Der gegen Nicolai gerichtete offene Zyklus besteht aus sieben Xenien (.Zeichen des Bärs / Zeichen des Steinbocks / Verdienst / Etymologie / A.D.B. / Acheronto movebo / Der junge WertherY1, die aus Platzgründen hier nicht ausführlich behandelt werden können. Die Funktion dieses Zyklus liegt auf der Hand: Nach und nach wird alles, was mit Nicolai zusammenhängt, aufs Korn genommen - sein Vorname (Verdienst), sein Nachname (Etymologie), seine Werke (Der junge Werther, Acheronto movebo), seine Wohnorte (Zeichen des Bärs, Zeichen des Steinbocks), seine beruflichen Tätigkeiten als Zeitschriftenherausgeber (A.D.B.) und Rezensent (Zeichen des Bärs), sein Einkommen (Verdienst). Der Autor und die Privatperson Friedrich Nicolai werden also sukzessive und geradezu systematisch der Lächerlichkeit preisgegeben - ein Verfahren, das in einem anderen Xenion >erklärt< wird: Die
Insekten.
Warum schiltst du die einen so hundertfach? Weil das Geschmeiße, Rührt sich der Wedel nicht stets, immer dich leckt und dich sticht. 52
In weitaus größerer Zahl gibt es in den Xenien jedoch den Typus des geschlossenen Zyklus. Die meisten dieser Binnenzyklen sind gegen einzelne Autoren gerichtet, so zum Beispiel gegen Reichardt,53 die Brüder Stolberg,54 Friedrich Schlegel55 und, wie erwähnt, gegen Nicolai. Ein Beispiel möge die Funktion dieser Zyklen veranschaulichen: Ein zehn Xenien umfassender Binnenzyklus (Manso von den Grazien - An seinen Lobredner)''6 richtet sich gegen Johann Kaspar Friedrich Manso, der als »Präceptor« und »Schulmeister«, »Prosaischer Reimer«, »Pedant« und »Caput mortuum« Wielands beschimpft wird, dessen Tasso-Ubersetzung als »asphaltischer Sumpf«, dessen Kunst zu lieben als »langweilig[]« und »abgeschmackt^« geschmäht werden. Auch hier also der Versuch, einen Autor geradezu systematisch zu verunglimpfen, allerdings nicht sukzessive, sondern direkt aufeinanderfolgend. Von einer fairen Auseinanderset« 50 51 52 53 54 55
56
Ebd. S. 246. A m 3i.Januar 1796. B W S . 189. M - A S. 223 [recte: 217], 219, 253, 258, 262, 282, 287. Ebd. S. 259. Nur Zeitschriften - Abscheu. Ebd. S. 251-256. Dialogen aus dem Griechischen - Der moderne Halbgott. Ebd. S. 227f. Litterarischer Adreßcalender - Neugier. Ebd. S. 274-276. Ebd. S. 207-209.
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zung mit Manso kann dabei keine Rede sein. Dieser geschlossene Zyklus besteht, wie die Nicolai-Zyklen, aus einer Folge von schärfsten Pasquillen. Leistner schreibt diesbezüglich: »Die Manso-Serie [...] leidet an Iteration; einmal Gesagtes wird auf vergröbernde Weise wieder und wieder formuliert - wodurch die Satire breitgetreten und letzlich der Eindruck eines unkontrollierten Privathasses hervorgerufen wird.«57 Ein anderer geschlossener Zyklus sei hier ausführlicher analysiert, da in ihm - wenn auch in satirischer Verkehrung - die »Muthwilligkeit der Satyre«58 in den Xenien metatextuell reflektiert wird: Vernünftige Betrachtung. Warum plagen wir, einer den andern? Das Leben zerrinnet, Und es versammelt uns nur einmal wie heute die Zeit. An Gerne plagt ich auch dich, doch es will mir mit dir nicht gelingen, Du bist zum Ernst mir zu leicht, bist für den Scherz mir zu plump. An ***. Nein! Du erbittest mich nicht. Du hörtest dich gerne verspottet, Hörtest du dich nur genannt, darum verschon ich dich, Freund. 5 '
Die Technik der Dialogisierung wird in diesem Fall sogar auf einen ganzen Binnenzyklus angewendet; wieder entsteht beim Leser der Eindruck, eine Szene mitzuverfolgen, bei der die beteiligten Personen auch wirklich anwesend seien. Der Sprecher reagiert auf Fragen und Bitten verschiedener Personen, die aber ungenannt bleiben und auch nicht selber zu Wort kommen. Die Szene wirkt aufgrund der eingeschobenen Fragen, Ausrufe und Anreden ausgesprochen realistisch und lebendig - ein Wortgefecht, über dessen Sieger freilich kein Zweifel besteht: Die Gegner kommen ja nicht einmal zu Wort. Der Witz dieses Zyklus ist hintergründig: Welche Funktion den Titeln vieler Xenien zukommt, wurde im Abschnitt über das Verhältnis von Titel und Text ausgeführt (s.o. 2.2). Durch die Identifizierung der Adressaten bereits im Titel wird auf die Pasquillizität der Texte überdeutlich hingewiesen und der Adressat somit gleichsam an den Pranger gestellt. In diesem Fall wurde das Verfahren jedoch umgekehrt: Es sind die Adressaten, die gerne bei ihrem Namen genannt und somit öffentlich verspottet werden wollen, doch dieser Wunsch wird ihnen nicht erfüllt. Die Adressaten wollen zum Gegenstand einer Personalsatire werden, doch
57
Leistner: »Der Xenien-Streit.« S. 467. So Schiller am 1. Februar. N A 2 II A S. 434. 59 M - A S . 2 3 7 . 58
65
die Sprecherinstanz der Xenien beläßt es bei der allgemeinen Satire. Das wird auch dadurch kenntlich, daß die Titel dieser Xenien den epigrammatischen Konventionen entsprechend als Asteronyme gestaltet sind - die Namen der Adressaten werden also chiffriert und eben nicht, wie in so vielen anderen Fällen, explizit genannt. Nicht jeder, so die Logik dieses Wortwechsels, ist es wert, ein Opfer der Xenien zu sein. In dem den Zyklus eröffnenden Xenion antwortet der Sprecher darüber hinaus auf die Frage, warum man einander eigentlich »plage«, daß die Zeit »nur einmal wie heute« alle Beteiligten an einem Ort versammle. Das Strafgericht der Xenien wird also als eine einmalige Gelegenheit ausgegeben. Erst daraufhin bitten die anderen Anwesenden darum, auch verspottet zu werden. Sie haben Angst, diese Gelegenheit zu verpassen; sie möchten keinesfalls übergangen werden. In dem Zyklus wird also nicht nur die »Muthwilligkeit der Satyre« auf den Kopf gestellt, sondern auch der Anlaß der Xenien. Als Beispiel für eine Mischform aus Zweiergruppen und Zyklen könnte der letzte Abschnitt der Xenien angeführt werden. Ein umfangreicher geschlossener Zyklus (Xenien - Muse zu den Xenien)6° - er macht insgesamt fast ein Fünftel des Umfangs der Xenien aus - schließt fünf geschlossene Zyklen (Achilles - Antwort, Phlegyasque miserrimus omnes admonet - Agamemnon, Rapsoden - Vorschlag zur Güte, Philosophen Decisum, Hercules - Er)61 sowie vier Xenienpaare ein (Elpänor / Unglückliche Eilfertigkeit, Unvermuthete Zusammenkunft / Der Leichnam, Lucian von Samosata / Geständnis, Martial / Xenien).61 Er wird gerahmt von einem einleitenden Xenienpaar (Xenien / Muse)6} und einem abschließenden Xenion (Muse zu den Xenien).64 Erich Trunz beschreibt diesen letzten Abschnitt als ein »Finale, das mit lauten Trompetenstößen auch einen Leser, der nach so vielen Distichen ermüdet und leicht verwirrt ist, noch einmal emporreißt [...].« 6s Das hängt vor allem mit der Struktur dieses »Finales« zusammen: In dieser Mischform werden noch einmal alle Techniken der Binnenstrukturierung eingesetzt, sie werden gleichsam abschließend zusammengefaßt. Die verschiedenen Typen überlagern und verdichten sich zu einem komplexen, alle Aufmerksamkeit des Lesers in Anspruch nehmenden Gebilde. Bei der Konzeption dieses Ab60 61 61
64 65
Ebd. S. 282-203 [recte: 302]. Ebd. S. 283-285, 285^, 2bei Laune gehaltene Damit wandten Goethe und Schiller eine spezifisch epigrammatische Technik an, die Hess als den »vielleicht wichtigste[n] Faktor« für die Beliebtheit der Gattung bezeichnet hat: »Wesentliches wird beim Epigramm ausgespart, und der Leser ist durch die vermehrte Anzahl von Leerstellen gezwungen, besonders aktiv mitzulesen. [...] erst durch den Akt des Lesens vervollständigt sich das Epigramm.«6? Zu erwähnen ist aber auch die strukturbildende Funktion der verschiedenen Typen. Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei die Binnenzyklen: Die offenen Zyklen sorgen für strukturellen Zusammenhalt, indem sie ein Thema leit66 67
B W S . 189. Hess: Epigramm. S. 17.
67
motivisch wiederkehren lassen; die geschlossenen, indem sie zusammenhängende thematische Blöcke bilden, die sich ziemlich gleichmäßig über den Zyklus verteilen. Da die geschlossenen Zyklen unterschiedlich umfangreich sind, konnten darüber hinaus indirekt doch die Gedichtlängen variiert werden - zum Beispiel folgt ein Fortsetzungspaar (Das Mittel / Moralische Zwecke der Poesie)6* auf einen längeren geschlossenen Zyklus ('Triumph der Schule - Neueste Farbentheorie
von Wünsch),69 ein kürzerer
geschlossener Zyklus (Geschichte eines dicken Mannes 71
auf ein einzelnes Xenion (Der Sprachforscher),
Literaturbriefe)70
oder auch ein längerer
geschlossener Zyklus (Triumph der Schule - Neueste Farbentheorie Wünsch)72· auf einen kürzeren (Schöpfung durch Feuer - Kurze
von
Freude),73
dem wiederum ein einzelnes Xenion (Die Adressen)7'' vorausgeht. Wie bereits angedeutet, werden in den Xenien die Grenzen der Gattung Epigramm an einigen Stellen überschritten. Es muß nun gezeigt werden, in welcher Hinsicht die betreffenden Xenien von der Gattungsnorm abweichen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Ein Blick auf die Theorie des Epigramms ist deswegen unerläßlich.
3.2
Z u r T h e o r i e des E p i g r a m m s
In seiner Monographie über das Epigramm versucht Peter Hess, eine »zuverläßige [sie!] Definition des Epigramms, die pragmatischen Wert besitzt, jedoch auch gattungstheoretisch abgesichert ist« zu entwickeln.7* Er kommt zu folgendem Ergebnis: Zusammenfassend läßt sich sagen, daß ein Epigramm die folgenden fünf gattungskonstituierenden Merkmale aufweisen muß: 1. Schriftlichkeit 2. Versgliederung 3. Objektbezug (Nichtfiktionalität) 4. Titel 5. Kotextuelle Isolation (in Reihen)
68
M-AS.243. Ebd. S. 240-242. 70 Ebd. S . 2 3 4 f . 71 Ebd. S. 234. 71 Ebd. S. 240-242. 73 Ebd. S. 239. 7 « Ebd. 75 Hess: Epigramm. S. VIII.
69
68
V o n den zwei alternierenden M e r k m a l e n ist mindestens eines zu erfüllen, das die innere Struktur genauer definiert: 6. Zweiteiligkeit — Pomtiertheit 7. R e i m u n d M e t r u m 7 6
Daß die Xenien die Merkmale der Schriftlichkeit, der Versgliederung, des Titels, der Pointiertheit, des Metrums und in den meisten Fällen auch das des Objektbezuges aufweisen, muß hier nicht mehr bewiesen werden. Problematisch wird jedoch das Kriterium der kotextuellen Isolation. Was versteht Hess darunter? W ä h r e n d ein E p i g r a m m an einen spezifischen Kontext B e z i e h u n g zu einem Kotext.
Mit Kontext
gebunden ist, fehlt die
sind die äußeren U m s t ä n d e wie die
Sprechsituation gemeint, mit ifotext das linguistische, textuelle U m f e l d . Z w a r stehen Grabsteine oft neben anderen, w o r a u s aber nicht auf einen textuellen Zusammenhang
zwischen den einzelnen E p i g r a m m e n
geschlossen
werden
kann. Ahnliches läßt sich heute über die einzelnen Texte einer in B u c h f o r m z u sammengefaßten E p i g r a m m s a m m l u n g sagen. E s besteht kein innerer Z u s a m menhang zwischen aufemanderfolgenden Epigrammtexten, kein kotextueller Z u s a m m e n h a n g v o n Epigrammreihen. [...] E p i g r a m m e treten jedoch im U n t e r schied zu anderen G a t t u n g e n selten isoliert auf. Was zwischen benachbarten E p i g r a m m e n j e d o c h nicht besteht u n d nicht bestehen darf, sind jegliche kohäsive F a k t o r e n [...]. In diesem Sinne ist das Kriterium der kotextuellen Isolation z u verstehen. Wenn m a n d a v o n ausgeht, daß E p i g r a m m e jeweils in G r u p p e n , S a m m l u n g e n oder F o l g e n auftreten, dann kann m a n in der Kotextisolierung
ein
weiteres gattungskonstituierendes Element sehen. 7 7
Es ist offensichtlich, daß Hess in diesem Punkt zu kurz greift. Sein Argument, daß (mit epigrammatischen Aufschriften versehene) Grabsteine zwar oft nebeneinander stünden, daraus aber nicht auf einen »textuellen Zusammenhang zwischen den einzelnen Epigrammen« geschlossen werden könne, kann nicht überzeugen, denn es gibt ja einen grundlegenden Unterschied zwischen dem Epigramm in seiner ursprünglichen Form als Aufschrift auf einem Grabmal oder einem Weihgeschenk und dem Epigramm späterer Zeiten, das sich von seiner Funktion als einem solchen Gebrauchstext emanzipiert und als literarische Gattung verselbständigt hat. Die Epigramme, die seit dem Zeitalter des Hellenismus geschrieben wurden, in dem sich der Ubergang vom Grab- und Weihepigramm zum Buchepigramm vollzogen und das Epigramm als literarische Gattung eine erste Blütezeit erlebt hatte, waren größtenteils nicht mehr reale Aufschriften auf realen Gegenständen, sondern fiktive Aufschriften auf fiktiven Gegenständen oder auch kurze Gedichte erotischen, satirischen oder 76 77
E b d . S. n f . Ebd. S.8f.
69
didaktischen Inhalts ohne den Bezug zu einem realen oder fiktiven Objekt.78 Für das Buchepigramm waren somit aber völlig andere Voraussetzungen gegeben als für die epigrammatische Aufschrift: Sobald Epigramme gesammelt und in Buchform zusammengestellt werden konnten, bestand die Möglichkeit, sie zueinander in Beziehung zu setzen, was natürlich auch ausgenutzt wurde. So sind schon die beiden ältesten erhaltenen Epigrammanthologien, die Anthologia Palatina und die Antbologia Planudea, nach thematischen Gesichtspunkten geordnet, und in der auf diesen beiden Sammlungen basierenden späteren Antbologia Graeca gibt es durchaus auch »innere Zusammenhänge« zwischen aufeinanderfolgenden Epigrammen.79 Wenn Hess schreibt, »zwischen benachbarten Epigrammen« dürfen keinerlei »kohäsive Faktoren« bestehen, unterschätzt er außerdem die Kreativität und das Können der Epigrammatiker von Martial über Logau80 und Czepko81 bis Lessing82, die selbstverständlich und mit großem Geschick die Möglichkeiten ausgenutzt haben, die sich ihnen bei der Zusammenstellung ihrer Epigramme zu Büchern boten. Dieser Aspekt wurde bisher eben nur noch nicht im Zusammenhang untersucht. Das Kriterium der kotextuellen Isolation, das zwar in vielen Fällen greift, aber eben keinesfalls in allen, hätte also nicht zu einem gattungskonstituierenden Merkmal erhoben werden dürfen. Eine solche normative Festlegung geht an der epigrammatischen Praxis vorbei. In den Xenien nun wird die Kotextisolierung der einzelnen Epigramme an einigen Stellen konsequent aufgegeben, und zwar vollkommen anders, als dies bei den erwähnten anderen Ausnahmen der Fall ist; diese strukturelle Besonderheit gilt es im folgenden herauszuarbeiten. Das Phänomen soll zunächst am Beispiel eines bereits untersuchten Xenien78
79
80
81
82
Vgl. Al brecht Dihle: Griechische Literaturgeschichte. V o n Homer bis zum Hellenismus. Dritte Auflage. München 1998. S . 2 6 i f . und 3 1 4 f f . In Buch V beispielsweise die Epigramme 35/36 sowie 165/166; in Buch I X zum Beispiel die Epigramme 180—183. Vgl. Hermann Beckby (Hrsg.): Anthologia Graeca. Griechisch-Deutsch. Bd. 1. Buch I—VI. Erste Auflage. München 1957. S. 2 j 8 f f . und 3 2 i f f . sowie Bd. 3. Buch I X - X I . S. 1 u f f . In Logaus Epigrammbüchern gibt es auch Binnenzyklen, wie zum Beispiel die Epigramme 3 1 - 4 2 in Deß Andren Tausend Zehendes Hundert, die Epigramme 77-80 in Deß Andren Tausend Achtes Hundert oder die Epigramme 44-52 in Deß Dritten Tausend Achtes Hundert. Friedrich von Logau: Sinngedichte. Hrsg. von Ernst-Peter Wieckenberg. Stuttgart 1984. S. i25f., 1 1 8 und i8of. Gerade C z e p k o ist in dieser Hinsicht sehr interessant; die Struktur der ersten seiner Drey Rollen verliebter Gedanken beispielsweise ist überaus kunstvoll und bedeutsam für das Verständnis des Werkes, seine Sexcenta Monodisticha Sapientum wurden ja bereits erwähnt (s.o. 3, Anm. 3). Lessings Sammlung von 1 7 7 1 weist vor allem eine geschlossene Rahmenkomposition auf; Lessings Vorbild war in dieser Hinsicht wohl Martial (s.u. 3.5.1). 70
paares (s.o. 3.1.1.) veranschaulicht werden, damit auf inhaltliche Erläuterungen nunmehr verzichtet werden kann: Antwort auf obigen Avis. Wenn nicht alles mich trügt, so hab ich besagte Begriffe In Herrn Jakobs zu Hall Schriften vor kurzem gesehn. 83
Dieses Xenion wird, sobald man es aus seinem Kotext herauslöst, unverständlich. Betrachtet man es isoliert von seinem textuellen Umfeld, bleibt erstens unklar, was mit dem »obigen Avis« gemeint ist, und zweitens erschließt sich nicht, welches die »besagte[n] Begriffe« sind. Das Xenion ist mithin kein »in sich vollständiger und geschlossener Text«.84 Es kann nicht für sich allein stehen, sondern erfüllt seinen Zweck erst in der Verbindung mit dem ihm im Zyklus vorangehenden Xenion. Schon im Titel wird ja ausdrücklich gesagt, daß der Text auf einen anderen antwortet. Der Sinn des Xenions ergibt sich dementsprechend erst dann, wenn man es wieder in sein textuelles Umfeld einordnet: Sachen so gestohlen (Immanuel
Kant
worden.
spricht).
Zwanzig Begriffe wurden mir neulich diebisch entwendet, Leicht sind sie kenntlich, es steht sauber mein I. K. darauf. Antwort auf obigen Avis. Wenn nicht alles mich trügt, so hab ich besagte Begriffe In Herrn Jakobs zu Hall Schriften vor kurzem gesehn. 85
Es wird nun deutlich, daß die beiden Xenien strukturell zusammengehören und deswegen aufeinander angewiesen sind, daß zwischen ihnen also sehr wohl ein innerer Zusammenhang besteht. Hess schreibt, man könne in den Xenien zwar einen »Grenzfall« sehen, doch auch dort könne jedes Epigramm »für sich allein stehen«.86 Wie gezeigt wurde, hat er damit Unrecht. Untersucht man die Tabulae votivae auf diesen Gesichtspunkt hin, stellt sich heraus, daß die kotextuelle Isolation der einzelnen Epigramme dort gewahrt wird; diese Distichen können, obwohl sie aus demselben Textkorpus wie die Xenien stammen, durchaus »für sich allein stehen«. Es handelt sich also um ein Phänomen, das nur in den Xenien auftritt und unbedingt in Verbindung mit den strukturellen Besonderheiten dieses Zyklus gesehen werden muß. 8
?
M-AS.273. Hess: Epigramm. S. 9. ' M-AS.273. 86 Hess: Epigramm. S. 8f. 84 8
71
Viele Xenien erfüllen das Kriterium der Kotextisolierung nicht. Der Grund dafür ist, daß an manchen Stellen des Zyklus übergeordnete Strukturprinzipien wirksam sind, die mehrere Xenien zu größeren Textsegmenten zusammenfassen, wodurch die einzelnen Bestandteile dieser Segmente an Eigenwertigkeit verlieren. Nach der Definition von Hess könnte man diese Xenien nicht mehr als Epigramme bezeichnen. Die Frage nach der Gattungszugehörigkeit ist in diesem Zusammenhang jedoch nur von sekundärer Bedeutung. Wichtiger ist es zu fragen, an welchen Stellen dieses Phänomen auftritt, wie es zustande kommt, welche Konsequenzen sich daraus ergeben und natürlich: welche Funktionen es erfüllt.
3.3
Ü b e r s c h r e i t u n g der G a t t u n g s g r e n z e n
Betrachtet sei zunächst das Titelkupfer einer Sammlung von Anti-Xenien, der Trogalien zur Verdauung
der Xenien aus der Feder Christian Fürch-
tego tt Fuldas:
Abb. IS7
87
[Fulda]: Trogalien zur Verdauung der Xenien. Titelkupfer. Als Vorlage diente das Exemplar der Universitätsbibliothek München.
72
Die Abbildung zeigt eine Horde mißgebildeter und verwahrloster kleiner Gestalten, die auf ein Tor zulaufen. Ein Hanswurst, der eine Fahne mit der Aufschrift »Schiller und Comp.« trägt und an seinem Gürtel eine Narren-Pritsche, führt sie an. Die Gestalten sind mit Knüppeln, Spießen, Mistgabeln und Steinen bewaffnet. Im Hintergrund sind einige von ihnen damit beschäftigt, eine Stele umzustoßen, auf der »Anstand«, »Sittlichkeit« und »Gerechtigkeit« geschrieben steht. Unter ihnen befinden sich auch zwei größere Gestalten: ein Satyr, der einen Ring mit der Aufschrift »Thierkreis« hochhält und ein Mann mit Schlapphut, Schnapsflasche und Hetzpeitsche. Vor dem Tor werden sie von zwei Soldaten aufgehalten. Der eine steht an einem Schlagbaum, er hält ein Gewehr in der Hand. Der andere spricht, nachdem er den Himmel um Beistand angefleht hat, die beiden vordersten Gestalten an: »Himmel! was kommt da für ein Gesindel? - Halt, Passagiere! — Keiner passiret mir durch, eh' er den Paß mir gezeigt.«
Die Abbildung bezieht sich auf den Beginn der Xenien. Ein unbekannter Kupferstecher hat den Inhalt der ersten Xenien bildlich dargestellt, wenn auch mit satirischen Hintergedanken: So ist das Umstürzen der Stele eine Visualisierung der Radikalität der Xenien, die die literarischen Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft mißachteten; die Schäbigkeit der kleinen Gestalten ist Ausdruck des in den Augen ihrer Zeitgenossen geringen künstlerischen Wertes dieser Epigramme, und ihre Deformationen sind wohl als Verweis auf die metrischen Lizenzen mancher Xenien zu verstehen. Die Bildunterschrift ist außerdem eine Kontrafaktur des ersten Xenions, dessen Text abgeändert wurde, um die Xenien als »Gesindel« bezeichnen zu können. Darüber hinaus hat der Künstler die Autoren der Xenien in nicht gerade vorteilhafter Weise mitabgebildet: Goethe als Satyr mit langem Schwanz und Schiller als betrunkenen Kriegstreiber. Auf das Titelkupfer als Dokument der Xewzew-Rezeption wird im zweiten Teil dieser Arbeit noch ausführlich zurückzukommen sein (s.u. 5.1). Hier ist etwas anderes von Belang: Auf dem Kupfer werden, nun etwas abstrakter formuliert, miteinander sprechende Figuren dargestellt, die auf einem bestimmten Schauplatz bestimmte Handlungen vollziehen. Was ist daran bemerkenswert? Die Möglichkeit einer solchen bildlichen Konkretisierung setzt bestimmte Eigenschaften des Textes voraus. Mit anderen Worten: In den betreffenden Xenien müssen Figuren vorkommen, sie müssen Figurenrede sowie Angaben über den Schauplatz und die Handlung enthalten. Das ist indes völlig untypisch für die Gattung Epigramm; ein einzelnes Epi73
gramm enthält allein aufgrund seines geringen Umfanges selten so viele Informationen auf einmal. Hess schreibt in diesem Zusammenhang, ein Epigramm könne nur »ein Objekt, ein Thema, einen Einfall und eine begriffliche Beziehung zum Gegenstand haben [...]. Ausgeschlossen ist ganz spezifisch Persönliches, Subjektives, Erlebnishaftes und Handlungsbezogenes.«88 Zum Vergleich sei hier der Beginn der Tabulae votivae zitiert: Die verschiedene Bestimmung. Millionen sorgen dafür, daß die Gattung bestehe, Aber durch wenige nur pflanzet die Menschheit sich fort. Tausend Keime zerstreuet der Herbst, doch bringet kaum einer Früchte, zum Element kehren die meisten zurück. Aber entfaltet sich auch nur Einer, der einzige streuet Eine lebendige Welt ewiger Bildungen aus. Das
Belebende.
N u r an des Lebens Gipfel, der Blume, zündet sich neues In der organischen Welt, in der empfindenden an. 89
Den Beginn dieses Zyklus könnte man nicht in der Art der Xenien bildlich darstellen, denn die Epigramme sind, wie das Motto des Zyklus suggeriert, die fiktiven Aufschriften auf fiktiven Votivtafeln in einem fiktiven Heiligtum. Es gibt also zwar einen Schauplatz, aber weder Figuren noch Figurenrede und somit auch keine Handlung. Wie gesagt, bleibt die kotextuelle Isolation der einzelnen Epigramme in den Tabulae votivae gewahrt; auch diese beiden Epigramme hängen strukturell nicht miteinander zusammen. Nun sei der Beginn der Xenien etwas genauer betrachtet: Der ästhetische
Thorschreiber.
Halt, Passagiere! Wer seyd ihr? Weß Standes und Characteres? Niemand passiret hier durch, bis er den Paß mir gezeigt. Xenien. Distichen sind wir. Wir geben uns nicht für mehr noch für minder, Sperre du immer, wir ziehn über den Schlagbaum hinweg. Visitator. Oeffnet die Coffers. Ihr habt doch nichts contrebandes geladen? Gegen die Kirche? den Staat? Nichts von französischem Gut? Xenien. Coffers führen wir nicht. Wir führen nicht mehr als zwey Taschen Tragen, und die, wie bekannt, sind bey Pöeten nicht schwer. 88
Hess: Epigramm. S. 5. M-AS. i52f.
74
Der Mann mit dem
Klingelbeutel.
Messieurs! Es ist der Gebrauch, wer diese Straße bereiset, Legt für die D u m m e n was, für die Gebrechlichen, ein. Helf
Gott.
Das verwünschte Gebettel! Es haben die vorderen Kutschen Reichlich für uns mit bezahlt. Geben nichts. Kutscher, fahr zu. 9 0
Bei diesen sechs Xenien handelt es sich um einen geschlossenen Zyklus, der sich aber aufgrund seiner besonderen Struktur deutlich von den anderen Binnenzyklen dieses Typus unterscheidet. Zunächst: Das Kriterium der kotextuellen Isolation greift in diesem Fall nicht; die sechs Xenien beziehen sich strukturell aufeinander. Jedes einzelne Xenion würde, löste man es aus seinem textuellen Umfeld heraus, unverständlich. (Auch Hess zitiert diesen Beginn, ohne jedoch die nötigen Schlußfolgerungen zu ziehen. 91 ) Auf diese Weise können natürlich weitaus mehr Informationen vergeben werden als in voneinander unabhängigen Epigrammen wie den beiden zitierten Tabulae votivae. In dem Binnenzyklus lassen sich darüber hinaus zwei Textschichten voneinander unterscheiden: die Titel und die Monodistichen. Die Titel bezeichnen, mit Ausnahme des Titels des sechsten Xenions, einen Sprecher. Die Monodistichen sind der diesem Sprecher in den Mund gelegte Text, also die Figurenrede. Es gibt mindestens fünf verschiedene Figuren: den »ästhetischen
Thorschreiber«,
die »Xenien«,
die von sich im Plural spre-
chen, aber keine genaue Zahl nennen, den »Visitator« mit dem Klingelbeutel«.
und den »Mann
Diese Figuren sprechen miteinander in Rede
und Gegenrede. Mittels darin enthaltener lokaler Deiktika wird ein Schauplatz evoziert, auf dem die Dialoge geführt werden (»[...] Niemand passiret hier durch, [...]«; »[...] über den Schlagbaum
hinweg.«; »[...]
wer diese Straße bereiset, [...]«). Der Schauplatz ist also eine Straße, die auf ein von einem Schlagbaum versperrtes Tor zuführt. Den Wechselreden der Figuren ist auch eine Handlung zu entnehmen: Ein ber« hält die »Xenien«,
»Thorschrei-
die in einer Kutsche angefahren kommen, an
einem Tor auf, verlangt Auskunft über »Stand und Charakter« dieser »Passagiere«, sowie ihre »Pässe« zu sehen. Die »Xenien« entgegnen darauf, sie seien »Distichen« und zögen notfalls auch »über den Schlagbaum hinweg«. Dann fordert ein »Visitator« sie auf, ihre »Coffers« zu öffnen, damit er überprüfen könne, ob sie »contrebandes« mit sich führten, worauf die »Xenien« wiederum antworten, sie hätten keine »Cof-
s>° Ebd. S. i 9 9 f . 91 Vgl. Hess: Epigramm. S. 13 jf. 75
fers« bei sich. Daraufhin erscheint ein »Mann mit dem Klingelbeutel«, der um eine Spende für die »Dummen« und »Gebrechlichen« bittet. Die »Xenien« lehnen die Bitte jedoch entschieden ab und befehlen ihrem »Kutscher«, weiterzufahren. Es wird nun deutlich, warum der unbekannte Kupferstecher den Beginn des Zyklus bildlich darstellen konnte: Er konnte dem Text die Figuren, die Figurenrede sowie die Handlung und den Schauplatz unmittelbar entnehmen. Da diese Informationen im Text sukzessive vergeben werden, auf einem einzelnen Bild - sieht man von dem Sonderfall der Simultandarstellung einmal ab - aber keine zeitlichen Abläufe dargestellt werden können, hat er sich auf die Darstellung der Ausgangssituation beschränkt. Um die Xenien als einen ungeordneten Haufen darstellen zu können, hat er überdies die Tatsache, daß sie in einer Kutsche angefahren kommen, ignoriert. Aus all dem geht hervor, daß die Grenzen der Gattung Epigramm an dieser Stelle überschritten werden: Der Binnenzyklus entspricht strukturell exakt dem literarischen Textsubstrat eines Dramas. Damit werden auch die in diesem Zyklus wirksamen übergeordneten Strukturprinzipien erkennbar: Es liegt eine Uberschneidung von epigrammatischen und dramatischen Strukturprinzipien vor. Die einzelnen Epigramme sind Bestandteile eines größeren dramatischen Textsegmentes. Ein wichtiges Faktum muß nun in die Diskussion miteinbezogen werden: Die Xenien im Musen-Almanacb sind, anders als die Epigramme innerhalb einer Sammlung normalerweise (auch die Xenia und die Apophoreta Martials), anders außerdem als die Venezianischen Epigramme im Musen-Almanaeh des Vorjahres, nicht numeriert; zudem stehen die Titel kursiv gedruckt direkt über dem jeweiligen Xenion. Der Herausgeber Schiller wählte also, abweichend von einer editorischen Konvention, an die er sich im Jahr zuvor noch gehalten hatte, für die Xenien eine ungewöhnliche Form der typographischen Präsentation, die überdies zur Übersichtlichkeit des Textes nicht gerade beitrug. Vergleicht man das Druckbild der Xenien mit dem Druckbild eines in Schillers MusenAlmanach erschienenen Dramas, zum Beispiel mit Tantalus von Jakob Michael Reinhold Lenz, stellt man fest, daß der Dramentext auf genau die gleiche Weise typographisch präsentiert wurde:
76
Tantalus. EinDramolet, auf dem Olymp. Apoll
und M e r k u r kommen heraus.
Merkur. W a r das nicht eine herrliche Jagd , Apoll, das nrafst du doch geftelicn, Der Sterbliche hat uns Spate gemacht I Α ρ υ 11. E r fchnitt doch der Juno gegenüber. Eine Figur, als hätt ers> Fieber. Zevs, den Mtzelt' es innerlich — Aber Tag mir, entzaubere mich. Wo führt' ihn das böfe Wetter Zu uns herauf an die Tafel der Gütter 1 Merkur. Still, der Einfall hommt von mir. Wollten- Juno ein wenig pilüren, Abb.
Auch hier markieren die kursiv gedruckten Titel die jeweils sprechenden Figuren, während die Texte unmittelbar darunter die Reden und Gegenreden dieser Figuren wiedergeben. Oder, um die beiden Textschichten mit der Terminologie des Dramas präziser zu benennen: Die Titel gehören zum Nebentext, die Texte darunter zum Haupttext des Dramas. 9 3 Das aber heißt doch: Der Beginn der Xenien
wurde nicht nur strukturell,
sondern auch typographisch wie das literarische Textsubstrat eines Dramas gestaltet. Das kann kein Zufall sein. Es scheint vielmehr, als hätten Goethe und Schiller es bewußt darauf angelegt, die Xenien einem dramatischen Text anzunähern. Mithin kann zusammenfassend gesagt werden: Die den Zyklus einleitenden sechs Xenien bilden einen geschlossen Zyklus, und zwar eine Sondervariante dieses Typus, die mit gutem Recht als dramatische Szene
93
Friedrich Schiller (Hrsg.): Musen-Almanach auf das Jahr 1798. Tübingen 1798. S. 224. Als Vorlage diente das Exemplar der Universitätsbibliothek München. Vgl. Manfred Pfister. Das Drama. Theorie und Analyse. 9. Auflage. München 1997. S. 3 jf.
77
bezeichnet werden kann. Die Probe aufs Exempel beweist es: Die sechs Xenien sind in der Tat szenisch realisierbar, man könnte sie problemlos aufführen. Ob mit ästhetischem Gewinn, ist eine andere Frage, die hier jedoch nicht gestellt werden muß, denn die Szene ist als Szene eines Lesedramas konzipiert, d.h. eines Dramas, das nicht im Hinblick auf die theatralische, sondern die literarische Rezeption konzipiert wurde. Es muß nun abermals an Schillers Brief an Goethe vom 31. Januar 1796 erinnert werden: »Beim Schlüsse, denke ich, geben wir noch eine Komödie in Epigrammen. Was meinen Sie?«94 Dieser Vorschlag Schillers wird von den Kommentatoren - wenn sie nicht einfach erklären, diese Komödie sei nicht geschrieben worden in der Regel mit einem geschlossenen Zyklus am Schluß der Xenien (Philosophen - Decisum)96 in Verbindung gebracht, den Schiller später in leicht veränderter Form unter dem Titel Die Philosophen in seine Gedichtsammlung aufnahm. Die Formulierung »Komödie in Epigrammen« beschreibt diesen Binnenzyklus in der Tat treffend. Betrachten wir einen beliebigen Ausschnitt daraus: Ein zweyter. Weil es Dinge doch giebt, so giebt es ein Ding aller Dinge, In dem Ding aller Ding schwimmen wir, wie wir so sind. Ein dritter. Just das Gegentheil Sprech ich. Es giebt kein Ding als mich selber! Alles andre, in mir steigt es als Blase nur auf. Ein Vierter. Zweyerley Dinge laß ich passieren, die Welt und die Seele, Keins weiß vom andern und doch deuten sie beyde auf Eins.' 7
Auch hier sind die Titel der die sprechenden Figuren bezeichnende Nebentext und die Monodistichen der diesen Figuren zugeordnete Haupttext; die Figuren (gemeint sind die Philosophen Spinoza, Berkeley und Leibniz) führen wiederum einen Dialog. Auch hier greift das Kriterium der kotextuellen Isolation nicht, da die Xenien strukturell zusammengehören. Schillers Formulierung charakterisiert den Binnenzyklus insofern treffend, als die Komödie eine Gattung des Dramas ist und der zitierte Abschnitt strukturell und typographisch exakt einem Lesedrama entspricht. Nur bestehen Rede und Gegenrede hier eben nicht aus Blankversen oder einem sonstigen gängigen Dramenvers, sondern aus Epigram»t « s>6 »7
B W S . 190. MA8.2S.225. M - A S . 291-296. Ebd. S. 293.
78
men, genauer: aus Monodistichen. Der Terminus Komödie beschreibt außerdem den Inhalt als komisch oder heiter. Auch das trifft hier zweifellos zu. Eine anonyme Figur begegnet in der Unterwelt den Philosophen Aristoteles, Descartes, Spinoza, Berkeley, Leibniz, Kant, Fichte, Reinhold, Schmid und Hume, sowie dem Rechtsgelehrten Samuel von Pufendorf und stellt ihnen eine schwere Aufgabe: »[...] So gebt mir, ich geh euch nicht eher vom Leibe, / Einen allgültigen Satz, und der auch allgemein gilt.«98 Worauf ihm »Einer aus dem Haufen« - gemeint ist natürlich Descartes - antwortet: »Cogito ergo sum. Ich denke und mithin, so bin ich, / Ist das Eine nur wahr, ist es das andre gewiß.« Darauf wieder der Anonymus, auf dessen Identität noch einzugehen sein wird (s.u. 3.4.3): »Denk ich, so bin ich! Wohl! Doch wer wird immer auch denken? / Oft schon war ich, und hab wirklich an gar nichts gedacht!«99 Die drei oben zitierten Xenien sind die Versuche der anderen Philosophen, diesen einen »allgültigen Satz« zu formulieren. Zudem entspricht die Bezeichnung der nicht namentlich benannten Figuren als »ein zweyter«, »ein dritter« usw. ja einer spezifisch dramatischen Konvention. Man kann den Kommentatoren also voll und ganz zustimmen: Dieser Binnenzyklus ist eine komische dramatische Szene, mit der charakteristischen Besonderheit, daß die beteiligten Figuren in Monodistichen sprechen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Schiller wirklich an diese Xenien dachte, als er Goethe Ende Januar 1796 vorschlug, eine »Komödie in Epigrammen« zu geben. Dies ist jedoch keineswegs die einzige Stelle dieser Art. Schillers Gattungsbezeichung bietet sich zum Beispiel genauso für die erste Szene an und in gewisser Weise sogar für den ganzen Zyklus. Außerdem ist es doch durchaus denkbar, daß der Vorschlag Schillers, »beim Schlüsse« eine »Komödie in Epigrammen« zu geben, Goethe gefiel und die beiden daraufhin beschlossen, diese Idee weiter auszuarbeiten. Bei der gemeinsamen Schlußredaktion haben sie das Prinzip der »Komödie in Epigrammen« dann auf weitere Abschnitte des Zyklus angewandt. Diese Annahme liegt besonders deshalb nahe, weil der Zyklus an zwei Stellen ja ganz eindeutig wie ein Lesedrama konzipiert ist. Das trifft auf den Beginn zu sowie auf den ganzen letzten Abschnitt, das >Finale< des Zyklus, das aus einer Folge von mehreren in der Unterwelt spielenden dramatischen Szenen besteht. Der Binnenzyklus Die Philosophen ist eine von ihnen. In einer anderen dieser Szenen tritt sogar, wie im griechischen Drama, allerdings satirisch verfremdet, ein Chor auf. Da das Finale auch 98 99
Ebd. S. 292. Ebd. 79
zu der den Zyklus strukturierenden Reisefabel gehört, wird es näher im Kapitel über die Makrostruktur des Zyklus behandelt werden (s.u. 3.5.2.3).
Es ist hier nicht der Ort, um ausführlich auf die Geschichte des Epigramms einzugehen. Nur soviel sei erwähnt: Holzberg zufolge ist eines der »für Martial charakteristische[n] Darstellungsmittel [...] die Dialogisierung«,100 und auch in der Anthologia Graeca finden sich nicht wenige Epigramme, die einen Dialog zwischen zwei Personen wiedergeben.101 Wie Dietze gezeigt hat, wurde die Form des Dialogepigramms außerdem gerade von deutschen Epigrammatikern des 18. Jahrhunderts gepflegt und weiterentwickelt: Bei fortschreitender Entwicklung des Epigramms im 18. Jahrhundert geschieht es, daß der Typ des Dialogepigramms insofern direkte Annäherung an die Ausdrucksweise und an die schriftliche Fixierung eines Dramas erfährt, als Personenangabe und Rollenfiktion zum eigentlichen Text ausdrücklich hinzutreten, wie das unter anderem bei Hagedorn (Alcest und Philint, Momar und Sophron) oder bei Gleim (Disput, Urteil) der Fall ist [...]. 102
Goethe und Schiller hatten also durchaus Vorläufer, gingen bei der Arbeit an den Xenien aber eben einen entscheidenden, innovativen Schritt weiter, indem sie die Technik der Dialogisierung nicht nur auf einzelne Epigramme anwandten, sondern auf ganze Abschnitte innerhalb eines Zyklus. Schillers Bezeichnung dieses Prinzips als »Komödie in Epigrammen« impliziert die Kombination von dramatischen und epigrammatischen Strukturprinzipien, die, wie gezeigt wurde, vor allem am Anfang und am Ende des Zyklus vorliegt. Es ist nun nach den Funktionen dieses Prinzips für den Zyklus zu fragen. Die Überschreitung der Gattungsgrenzen des Epigramms und ihre Öffnung zur Gattung Drama ermöglichte es Goethe und Schiller, den Zyklus als eine Großform zu gestalten, in der sich die Strukturprinzipien beider Gattungen ergänzen und wechselseitig steigern. Das betrifft in erster Linie die Bereicherung des Epigramms durch die dramatischen Parameter Schauplatz, Figuren und Handlung - eine in der Tat entscheidende Erweiterung der Möglichkeiten des Epigramms. Erstaunlicherweise ist diese so offensichtliche strukturelle Neuerung den Kommentatoren nicht aufgefallen. Wenn zum Beispiel Trunz schreibt, »die Xenien kommen zur Leipziger Buchhändlermesse, begegnen verschiedenen Autoren 100 101
102
Holzberg: Martial. S. 27f. Zum Beispiel die Epigramme 46 und 101 des fünften Buches. Vgl. Beckby (Hrsg.): Anthologia Graeca. Bd. 1. Buch I—VI. S. 264 und 290. Dietze: »Kleiner Abriß der Geschichte des deutschen Epigramms.« S. 299. 80
und Zeitschriften, [,..]« 103 referiert er doch eine Handlung, was bei den Tabulae votivae, aber auch bei den Epigrammbüchern Martials, Friedrich von Logaus oder Lessings gar nicht möglich wäre. Auf die Funktionen der einzelnen dramatischen Parameter innerhalb der Großform wird im folgenden noch näher einzugehen sein. Durch die Kombination von epigrammatischen und dramatischen Strukturprinzipien erreichten Goethe und Schiller an den betreffenden Stellen außerdem eine erhebliche Dynamisierung des Textes: Einerseits trägt die Einbettung der Epigramme in einen dramatischen Kontext wesentlich zur Kohärenz des Textes bei, da auf diese Weise die Disparität der einzelnen Xenien überwunden werden konnte und die Disposition größerer struktureller Zusammenhänge möglich wurde. Das Finale macht mit 82 Xenien immerhin fast ein Fünftel des Gesamtumfanges des Zyklus aus. Andererseits konnten Goethe und Schiller die Wechselreden der Figuren in den dramatischen Szenen mit Hilfe der Form des Epigramms sehr pointiert und flexibel gestalten. Da die Replik einer Figur immer nur aus einem einzigen Distichon besteht, ergibt sich für diese Dialoge die Form der konsequenten Distichomythie. Das wird vor allem bei dem Disput der Philosophen deutlich, aber auch bei dem Gespräch der Xenien mit den Soldaten vor dem Tor der Stadt (s.u. 3.5.1): Diese Szenen sind aufgrund der schnellen und stringenten Dialogführung sehr lebendig und wirkungsvoll. Nicht zuletzt deshalb hat Schiller Die Philosophen Homeriden
sowie zwei andere Szenen aus dem Finale, Die
und Shakespeares
Schatten (s.u. 3.5.2.3), wohl noch einmal
gesondert publiziert. Ein wichtiger Punkt ist dem noch hinzuzufügen. Pfister spricht im Hinblick auf narrative und dramatische Texte von einem »kategorialen Unterschied in der Sprechsituation«: Dramatische Texte unterscheiden sich [...] von episch-narrativen dadurch, daß sie durchgehend im Modus der Darstellung stehen, daß nirgends der Dichter selbst spricht. [...] sieht sich der Rezipient eines dramatischen Textes unmittelbar mit den dargestellten Figuren konfrontiert, so werden sie ihm in narrativen Texten durch eine mehr oder weniger stark konkretisierte Erzählerfigur vermittelt. 104
Auf diese Weise - indem sie eben Figuren für sich sprechen ließen - distanzierten sich Goethe und Schiller, die die Xenien
der Tradition des
Pasquills entsprechend ja auch anonym veröffentlichten, zusätzlich von den darin geäußerten Meinungen und gefällten Urteilen. So waren es eben 103 104
HA ι S.626. Pfister: Das Drama. S. 20. 81
nicht sie, die die deutschen Autoren und deren Bücher verspotteten und vernichtend kritisierten, sondern die fiktiven Xenien. Der unbekannte Kupferstecher hat diese Taktik der Perspektivierung jedoch durchschaut und sie zunichte gemacht, indem er Schiller und Goethe mit auf seinem Titelkupfer abbildete. Das Phänomen der Überlagerung von dramatischen und epigrammatischen Strukturprinzipien tritt im gesamten Zyklus auf. A n den beiden genannten Stellen dominieren die dramatischen die epigrammatischen Strukturprinzipien. Die einzelnen Xenien sind Bestandteile
größerer
dramatischer Textsegmente. A n anderen Stellen treten die dramatischen jedoch zugunsten der epigrammatischen Strukturprinzipien zurück. Z u diesen Uberlagerungen und ihren Konsequenzen im folgenden Unterkapitel.
3.4
»Komödie in Epigrammen«
Die Szene am A n f a n g des Zyklus steht, ihrer Eigenschaft als dramatischer Text gemäß, »durchgehend im Modus der Darstellung«. 1 0 ' Es gibt, um weiter die Terminologie des Dramas zu verwenden, kein vermittelndes Kommunikationssystem zwischen dem inneren und dem äußeren K o m munikationssystem des Textes. Manfred Pfister schreibt diesbezüglich: »[...] die unvermittelte Uberlagerung von innerem und äußerem K o m munikationssystem, bedingt die >Absolutheit< des dramatischen Textes gegenüber A u t o r und Publikum [...].« I o 6 Diese »unvermittelte Uberlagerung« bleibt in den Xenien
jedoch nicht durchgängig gewahrt. A n vielen
Stellen ergeben sich strukturelle Uberlagerungen anderer Art, die zur Folge haben, daß die Absolutheit des dramatischen Textes, die am A n f a n g idealtypisch gegeben war, durchbrochen wird. Das wird bereits im letzten Xenion der ersten Szene deutlich: Helf Gott. Das verwünschte Gebettel! Es haben die vorderen Kutschen Reichlich für uns mit bezahlt. Geben nichts. Kutscher, fahr zu. 1 0 7
Während das Monodistichon weiterhin Figurenrede wiedergibt, hat der Titel nun eine andere Funktion: E r markiert nicht mehr den Sprecher, sondern ist ein zusätzlicher Kommentar, der aber nicht auf der Ebene
I0
s Ebd. Ebd. S. 22. 107 M - A S. 200. 106
82
der Figurenrede erfolgt. (Pfister hat für dieses Phänomen den Begriff des auktorialen Nebentextes geprägt, er wird hier übernommen. 108 ) Der innere Kommunikationszusammenhang der Szene wird im Haupttext also beibehalten, im Nebentext aber durchbrochen, denn im Titel wird ein vermittelndes Kommunikationssystem etabliert. Das trifft auf die meisten Xenien des Zyklus zu: Der Titel ist ein solcher auktorialer Nebentext, in dem ein Aussagesubjekt, das auf keine der Figuren des inneren Kommunikationssytems bezogen werden kann, den Haupttext auf einer höheren Ebene kommentiert oder auch Informationen anderer Art vergibt. Beispiele für die verschiedenen Funktionen der Titel finden sich im Abschnitt »Titel und Text« des Kapitels über das Monodistichon als Medium der Satire. Dadurch entfernt sich der Text deutlich von der Form des Lesedramas und die Eigenständigkeit der Epigramme tritt wieder stärker in den Vordergrund, ohne daß jedoch - und das ist entscheidend - der fiktive innere Kommunikationszusammenhang völlig aufgehoben würde. Auf diese Weise wird dem Text eine Tiefendimension hinzugefügt: Zu der Oberflächenstruktur der Epigramme kommt in der Tiefenstruktur des Zyklus eine zeitlich-räumliche Dimension hinzu. Die Fiktion einer sich an einem bestimmten Schauplatz in einer bestimmten Zeitspanne sukzessive entfaltenden Handlung wird aufrechterhalten. A n der Textoberfläche sind diese Xenien, die in der Regel auch das Kriterium der kotextuellen Isolation erfüllen, eigenständige Epigramme in der Form des Monodistichons, in der Tiefenstruktur aber gehören sie immer noch zu der »Komödie in Epigrammen«. Das fiktive innere Kommunikationssystem wird auch dadurch aufrechterhalten, daß zwischendurch immer wieder Xenien stehen, deren Titel die sprechenden Figuren markieren. Diese tiefenstrukturelle »Komödie in Epigrammen« wird nun anhand ausgewählter Beispiele auf ihre verschiedenen Parameter hin untersucht werden.
3.4.1 Schauplatz Der Schauplatz, auf dem sich die erste Szene der »Komödie in Epigrammen« abspielt, ist die Straße vor dem Tor einer Stadt - daß damit Leipzig gemeint ist, wird später deutlich. Die Szene endet mit dem Befehl »[...] Kutscher, fahr zu.« Die Xenien passieren das Tor in ihrer Kutsche. Danach wechselt der Schauplatz:
108
Pfister: Das Drama. S. 107.
83
Der Glückstopf. Hier ist Messe, geschwind, packt aus und schmücket die Bude, Kommt Autoren und zieht, jeder versuche sein Glück. 1 0 '
Außerhalb des Zyklus wäre dieses Xenion wiederum völlig unverständlich. In seinem Kotext hat es jedoch eine eindeutige Funktion: Es evoziert einen neuen Schauplatz. Aus den in der Figurenrede enthaltenen lokalen Deiktika wird ersichtlich, daß die Handlung sich nun nicht mehr vor dem Stadttor abspielt, sondern auf einer Messe (»Hier ist Messe, [...]«). Im Pentameter wird diese Angabe spezifiziert: Es handelt sich um eine Buchmesse (»[...] Kommt Autoren [...]«). Diese Buchmesse wird mittels der impliziten Inszenierungsanweisungen in Haupt- und Nebentext satirisch als eine Art Jahrmarkt mit Buden und einem Glückstopf dargestellt.110 Daß damit die Leipziger Buchmesse gemeint ist, wird im Gespräch der Xenien mit den Buchhändlern deutlich: »Einem Käsehandel verglich er eure Geschäfte? / Warlich der Kaiser, man siehts, war auf dem Leipziger Markt.«111 Daß die Xenien sich ausgerechnet nach Leipzig begeben, ist natürlich kein Zufall: Diese Stadt war Ende des 18. Jahrhunderts ein intellektuelles Zentrum Deutschlands und die dortige Buchmesse die größte und wichtigste des Landes. Der Schauplatz der »Komödie in Epigrammen« ist also ein Zentrum des damaligen literarischen Lebens. Dieser Schauplatz wird eine Zeit lang beibehalten, dann wechselt er wieder: Die Xenien reisen in den Himmel und an verschiedene deutsche Flüsse, woraufhin sie nach Leipzig auf die Buchmesse zurückkehren und sich schließlich in die Hölle hinabbegeben. 3.4.2 Handlung Im Laufe der Untersuchung wurde mehrfach darauf hingewiesen, daß bei der Lektüre mancher Xenienpaare und Binnenzyklen der Eindruck entstünde, kurze Szenen mitzuverfolgen, bei denen die daran beteiligten Figuren tatsächlich auch anwesend seien. Inzwischen ist deutlich geworden, wie dieser Eindruck entstehen kann: In der Tiefenstruktur des Textes gehören auch die Xenien, die durchaus für sich allein stehen können, zur »Komödie in Epigrammen«. Die verschiedenen Dialogsituationen erhalten dadurch eine sie über die Grenzen des Einzeltextes hinaus miteinander verbindende zeitlich-räumliche Dimension. Die Gespräche finden alle
I0
? M-A S. 200. Vgl. dazu Schwarzbauer: Die Xenien. S. 319ff. 111 Josephs II. Dictum, an die Buchhändler. M-A S. 270. 00
84
auf der Leipziger Buchmesse statt, wo sich die verschiedenen Figuren begegnen. Dafür ein weiteres Beispiel: Die neuesten Geschmacksrichter. Dichter, ihr armen, was müßt ihr nicht alles hören, damit nur Sein Exercitium schnell lese gedruckt der Student! 1 1 2
Die Xenien wenden sich hier plötzlich kollegial an die auf der Buchmesse versammelten Schriftsteller; diese werden dafür bedauert, daß sie zum Gegenstand akademischer Übungsarbeiten wurden. Ebenso im folgenden Xenion, in dem sich die Xenien geradezu freundschaftlich an die Autoren wenden, um sie vor Akademikern und Kritikern zu warnen: Gefährliche Nachfolge. Freunde, bedenket euch wohl, die tiefere kühnere Wahrheit Laut zu sagen, sogleich stellt man sie euch auf den K o p f . " 3
Die Handlung der »Komödie in Epigrammen« beschränkt sich jedoch nicht auf die Gespräche auf der Buchmesse, was über Hunderte von Monodistichen ja auch unvermeidlich ermüdend gewirkt hätte. Walter Dietze schreibt in seinem Kleinen Abriß der Geschichte
des deutschen
Epigramms
über den »satirische[n] Akzent« der Xenien·. E r wird noch dadurch weiter hervorgehoben, daß die Vielzahl kleiner Stücke sich nicht im Kunterbunt und Durcheinander präsentiert; der Gedanke einer fiktiven Reise der Xenien durch einen Teil des damaligen Deutschland und schließlich m höllische Bezirke schafft vielmehr kompositorisch-sinnvolle, zudem spannungserzeugende Ordnung. 1 1 4
In einer Fußnote stellt Dietze diese »fiktive Reise« schematisch dar: Einleitung - die Xenien passieren verschiedne Zollschranken. Drei Hauptteile - die Xenien auf der Leipziger Buchhändlermesse, - die Xenien an verschiedenen deutschen Flüssen, - die Xenien beim Aufenthalt in der Hölle. Finale - die Xenien führen zwei Gespräche in der Unterwelt. 1 1 5
Dieses Schema gibt die Handlung der »Komödie in Epigramme« wieder. Es muß jedoch korrigiert und präzisiert werden. Zur »Einleitung«: Die Xenien passieren keineswegs »verschiedne Zollschranken«, sondern nur eine einzige, nämlich die am Leipziger Stadttor. Ferner hat Dietze einen weiteren »Hauptteil« vergessen: den »Litterarischen
Zodiacus« - die Reise
112
Ebd. S. 20i [recte: 210]. Ebd. S . 2 8 1 . Dietze: »Kleiner Abriß der Geschichte des deutschen Epigramms.« S. 342. " 5 Ebd. S. j 6 9 f . 114
85
der Xenien in den Himmel - , der insofern eine wichtige strukturelle Funktion hat, als er das Gegenstück zu ihrer Reise in die Hölle bildet. Darüber hinaus hat Dietze übersehen, daß die Xenien nach ihrer Reise an die deutschen Flüsse wieder nach Leipzig auf die Buchmesse zurückkehren. Zuletzt das »Finale«: Die Xenien führen nicht nur zwei Gespräche in der Unterwelt (Dietze meint Die Philosophen und Shakespeares
Schatten),
sondern viel mehr. Diese Rahmenhandlung des Zyklus, die Reisefabel, wird näher im Kapitel über die Makrostruktur des Zyklus behandelt werden (s.u. 3.5.2).
3.4.3
Dramatispersonae
Im Walpurgisnachtstraum
des Faust ließ Goethe die Xenien noch einmal
als Figuren auftreten: XENIEN Als Insekten sind wir da, Mit kleinen scharfen Scheren,
Satan, unsern Herrn Papa, N a c h Würden zu verehren. 1 1 6
Aus diesem Selbstzitat geht hervor, daß er die Xenien in der Tat als Dramenfiguren verstand. Es muß nun die Frage nach der Identität dieser Figuren gestellt werden: Wer oder was sind die Xenien eigentlich? Gleich zu Beginn der »Komödie in Epigrammen« treten sie auf. In ihrem Dialog mit dem »Visitator« bezeichnen sie sich selbst als Dichter: »[...] Wir führen nicht mehr als zwey Taschen / Tragen, und die, wie bekannt, sind bey Poeten nicht schwer.« 1 1 7 Diese »Pöeten« reisen auf die Leipziger Buchmesse, w o sie dann den anderen deutschen Schriftstellern begegnen und ihre Werke kritisieren, verhöhnen und verspotten werden. In zweierlei Hinsicht unterscheiden sie sich jedoch von den anderen Figuren: Die Xenien sprechen von sich meistens, aber nicht immer, im Plural, wobei an keiner Stelle deutlich wird, um wie viele Figuren es sich eigentlich handelt; die Xenien bleiben, im Gegensatz zu den anderen Schriftstellern, anonym. Daraus resultiert die Wandelbarkeit und Vielgestaltigkeit dieser Figuren, ihre gleichsam proteische Natur; sie sind nicht greifbar oder dingfest zu machen. Die verantwortliche Textinstanz wird auf diese Weise zusätzlich verschleiert.
116 Faust 4303-4306. F A I 7/1 S. 184. " 7 M - A S . 199.
86
Die Zahl der anderen in den Xenien
auftretenden Figuren ist immens.
Dabei sind mehrere T y p e n von Figuren zu unterscheiden: historische Persönlichkeiten (Martial, Moses Mendelssohn, Lessing, Leibniz usw.), mythologische Figuren (die Muse, Achilles, Elpenor, A j a x usw.), Zeitgenossen Goethes und Schillers (Kant, Fichte, Nicolai, Friedrich Schlegel usw.) und personifiziert auftretende Flüsse (Rhein, Spree, Weser usw.). Die meisten dieser Figuren treten in der Unterwelt auf (s.u. 3.5.2.3). Ein Beispiel, in dem die Xenien auf der Leipziger Buchmesse einer historischen Figur begegnen: Göschen an die deutschen Dichter. Ist nur erst Wieland heraus, so kommts an euch übrigen alle, Und nach der Location! Habt nur einstweilen G e d u l d ! " 8
Der auktoriale Nebentext gibt preis, daß es der Verleger Georg Joachim Göschen ist, der zu den auf der Buchmesse versammelten Dichtern«
»deutschen
spricht und ihnen ankündigt, daß er bald auch ihre Werke in
Gesamtausgaben herausbringen werde. Die Pointe wird freilich erst dann verständlich, wenn man weiß, daß »Göschen damals wegen der Wielandischen Prachtausgabe [...] der Konkurs« drohte. 1 1 9 Es gibt auch Figuren, die stellvertretend f ü r einen ganzen Berufsstand auftreten. In einem Xenion zum Beispiel preist eine »Schauspielerin«,
die offenbar auf der Suche
nach einem Engagement ist, ihre Qualitäten öffentlich an: Schauspielerin. Furiose Geliebten sind meine Forcen im Schauspiel, Und in der Comedie glänz ich als Brandteweinfrau. 120
Darauf meldet sich ein »Professor
Historiarum«
zu Wort, der über die
Widrigkeiten seines Berufes Klage führt: Professor Historiarum. Breiter wird immer die Welt und immer mehr neues geschiehet, Ach! die Geschichte wird stets länger und kürzer das B r o d ! 1 2 1
In anderen Fällen wird die Figur im Titel verschlüsselt genannt: Der Kenner. Alte Vasen und Urnen! Das Zeug wohl könnt ich entbehren; Doch ein Majohca-Topf machte mich glücklich und reich. 122
118
120 121 122
Ebd. S.270. Schwarzbauer: Die Xenien. S. 325. M - A S . 273. Ebd. Ebd. S. 202 [recte: 203].
87
Der »Kenner«, der hier die antiken Keramiken als »Zeug« abtut und stattdessen seine Begeisterung über einen »Majolica-Topf« kundtut, ist Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Goethe und Schiller haben ihm Sätze aus seiner Reise in Deutschland, der Schweiz, Italien und Sidlien in den Jahren 1/91-92 satirisch verfremdet in den Mund gelegt. Das Xenion, in dem sich Immanuel Kant zu Wort meldet, wurde bereits im Kapitel über die Mikrostrukur des Zyklus behandelt (s.o. 2.3). Das Personal der »Komödie in Epigrammen« - das zeigt schon dieser kurze Uberblick - setzt sich aus Verlegern, Schauspielern, Akademikern, Dichtern, Philosophen und Kritikern, kurz: der gesamten kulturellen >Szene< der Zeit zusammen. 3.4.4 Illusionsdurchbrechung Am Schluß dieses Unterkapitels muß noch ein weiteres für die »Komödie in Epigrammen« charakteristisches Phänomen angesprochen werden, das, weiterhin der Terminologie des Dramas folgend, als »Illusionsdurchbrechung« I23 bezeichnet werden soll: Dieser Musenalmanach. N u n erwartet denn auch, für seine herzlichen Gaben, Liebe Collegen, von euch unser Calender den Dank. 1 2 4
An dieser Stelle ergab sich eine merkwürdige Konstellation: Die Leser des Schillerschen Musen-Almanachs für das Jahr 1797 lasen in ihrem Exemplar des Almanachs, daß die Xenien mit ihren »Collegen« auf der Buchmesse über den Almanach, den sie, die Leser, gerade in der Hand hielten, sprechen. Der »Calender« ist also gleichzeitig und unabhängig voneinander im fiktiven inneren wie im realen äußeren Kommunikationssystem des Textes gegenwärtig. Da das vermittelnde Kommunikationssystem des Titels aber eine Verbindung zwischen den beiden Systemen herstellt, wird die dramatische Illusion vorübergehend verfremdend durchbrochen. Ähnliches gilt auch für eine Reihe anderer Xenien. Ein weiteres Beispiel: Gewissen Lesern. Viele Bücher genießt ihr, die ungesalznen; verzeyhet, Daß dieß Büchelchen uns überzusalzen beliebt. 1 2 '
123
Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. Fünfte, aktualisierte Auflage. Stuttgart / Weimar 1997. S. 192. M - A S. 264. I2 s Ebd. S. 227. 124
88
In diesem Fall wird die dramatische Illusion gleichzeitig im vermittelnden und im inneren Kommunikationssytem durchbrochen, denn eine übergeordnete, von sich im Plural sprechende Textinstanz - die impliziten Autoren der Xenien - wendet sich an »gewisse Leser«, womit explizit gesagt wird, daß der Text eben nicht theatralisch, sondern literarisch rezipiert wird. Das Xenion ist programmatisch zu verstehen: Die »Muthwilligkeit der Satyre« in den Xenien sei eine Reaktion auf den schlechten Geschmack derjenigen Leser, die so gerne »ungesalzne« Bücher genössen. Diesen Lesern wird somit die Schuld für die Radikalität des Textes zugeschoben. Thematisiert wird außerdem der Publikationsort der Xenien: »dieß Büchelchen« - also wieder der Musen-Almanch, den der Leser gerade in Händen hielt. Diese die dramatische Illusion durchbrechenden, meist programmatische Themen behandelnden Xenien lassen sich als ein offener Zyklus beschreiben; sie sind gleichmäßig über den ganzen Zyklus verteilt. Damit wird in erster Linie eine humoristische und satirisch-verfremdende Wirkung erzielt, außerdem aber offenbaren Goethe und Schiller auf diese Weise die immanente Poetik des Textes. Das Verfahren erinnert an die Parabase in der Alten Komödie, in der sich der Chor unter Zerstörung der dramatischen Illusion an das Publikum wendet und die Absichten des Dichters erklärt. Es ist denkbar, daß Schiller und Goethe etwas Ahnliches im Sinn hatten. Ein letztes Beispiel, das die »Komödie in Epigrammen« metatextuell reflektiert: Deutsches Lustspiel. Thoren hätten wir wohl, wir hätten Fratzen die Menge, Leider helfen sie nur selbst zur Comödie nichts. 126
Die Xenien, dieses »deutsche Lustspiel« - so die Argumentation des Textes - ist in Wahrheit ein Trauerspiel. Die »Thoren« und »Fratzen« seien eher zu bemitleiden, als daß man über sie lachen könne. Mithin wird innerhalb der Komödie dieser Komödie die Komizität abgesprochen. Es ist nun auch nach den Funktionen der »Komödie in Epigrammen« innerhalb des Zyklus zu fragen. Dieses Prinzip trägt, mehr noch als die anderen Techniken der Binnenstrukturierung, zur Kohärenzbildung des Textes bei, da die Heterogenität der einzelnen Xenien durch ihre Zugehörigkeit zu einem größeren Gan-
116
Ebd. S. 232. 89
zen kompensiert wird. Jedes Xenion ist mit in die »Komödie in Epigrammen« integriert, keines steht völlig für sich allein. Darüber hinaus konnten die dramatischen Parameter zur Verschärfung der epigrammatischen Satire genutzt werden: Ein Zentrum des literarischen Lebens als Schauplatz, die führenden Intellektuellen als Figuren, die Kritik an ihnen, ihren Büchern und ihren Zeitschriften als Handlung - auf diese Weise gestalteten Goethe und Schiller den »Rundblick über die zeitgenössische literarische Szene«127 anschaulich und konkret. Die »Komödie in Epigrammen« ist in dieser Hinsicht - also strukturell und nicht was die vertretenen ästhetischen Positionen angeht - auffällig verwandt mit den dramatischen Literatursatiren des Sturm und Drang. Ein Vergleich mit dem Pasquill Pandaemonium Germanicum von Lenz verdeutlicht dies: In dieser Skizze treten unter anderem Geliert, Gleim, Goethe, Hagedorn, Herder, Lessing, Liscow, Rabener, Uz, Weiße und Wieland auf. Die Handlung besteht zum größten Teil aus den Gesprächen dieser Autoren, die im »Tempel des Ruhms« aufeinandertreffen. Es wird auf aktuelle Ereignisse des literarischen Lebens angespielt, Neuerscheinungen und Rezensionen werden erwähnt, den Figuren werden Zitate aus eigenen und fremden Werken in den Mund gelegt, sie werden verhöhnt und verspottet. Diese Personalsatire aus dem Jahre 1775 war auf Anraten Goethes nicht publiziert worden. Daß nun die wesentlich aggressiveren Xenien von ihm und Schiller veröffentlicht wurden, und das auch noch in einem überregional rezipierten Medium wie dem Μ men-Almanack, verdeutlicht noch einmal ihren gezielten Verstoß gegen die Normen der literarischen Kommunikation. In den Xenien, soviel ist festzuhalten, werden Elemente des Epigramms und des Dramas auf geschickte Weise miteinander kombiniert und die Wirkungsmöglichkeiten der Satire somit wesentlich erhöht. Nur am Rande sei hier darauf hingewiesen, daß der immer wieder begegnende literarhistorische Befund, die Weimarer Klassik hätte keine einzige Komödie hervorgebracht, nun weiter relativiert werden muß: Denn neben Goethes Revolutionskomödien und Schillers Picard-Ubersetzungen gibt es eben auch noch eine »Komödie in Epigrammen« von Goethe und Schiller. An dieser Stelle sei an den Brief Schillers erinnert, in dem er die Struktur der Xenien beschrieb: »Das Kind, welches Göthe und ich mit einander erzeugen, wird etwas ungezogen und ein sehr wilder Bastard seyn. Es wäre nicht möglich etwas, wozu eine strenge Form erfordert wird, auf 117
Wild: Goethes klassische Lyrik. S. 133.
90
diesem Wege zu erzeugen.«" 8 Vor dem Hintergrund der Kombination von Strukturprinzipien zweier verschiedener Gattungen wird nun ein weiterer wichtiger Aspekt der Bastard-Metapher deutlich: die Hybridität. Die >Ungezogenheit< und >Wildheit< bezieht sich nicht nur auf die Schärfe der Satire, sondern eben auch auf die hybride Struktur des Textes: In der klassischen Ästhetik - auch der Goethes und Schillers - ist das Prinzip der Gattungsmischung verpönt. 129 In den Xenien hingegen ist sie eine der leitenden Kategorien, die am Anfang des Zyklus auch noch programmatisch-provokant inszeniert wird (s.u. 3.5). Im Prinzip der »Komödie in Epigrammen« wird die unklassische Poetik der Grenzüberschreitung deshalb vielleicht am unmittelbarsten erkennbar.
3.5
Die Makrostruktur des Z y k l u s
Nachdem die Mikrostruktur des Zyklus und das Prinzip der »Komödie in Epigrammen« untersucht wurden, sollen nun auch Rahmenkomposition und Rahmenhandlung des Zyklus, also seine Makrostruktur analysiert werden. 3.5.1 Rahmenkomposition Noch einmal zurück zu Martial. Holzberg hat darauf hingewiesen, »daß Martial auf eine geschlossene Rahmenkomposition Wert legte.«130 In seinen Epigrammbüchern erschienen, so Holzberg weiter, »jedesmal einleitende Gedichte und außer in V, VI, IX und XII auch jedesmal Ab128 I2?
130
A m 1. Februar 1796. N A 2 II A S. 434. Als locus classicus sei hier auf Horaz' Ars Poetica verwiesen, in der es gleich zu Beginn heißt: »Humano capiti cervicem pictor equinam / iungere si velit et varias inducere plumas / undique conlatis membris, ut turpiter atrum / desinat in piscem mulier formosa superne, / spectatum admissi risum teneatis, amici?« In Schäfers Übertragung: »Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben so reizende Weib: könntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde?« Horaz: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch / Deutsch. Ubersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben von Eckart Schäfer. Stuttgart 1972. S. 4/5. Im Zusammenhang des Aufsatzes Uber epische und dramatische Dichtung von 1797 ist es vor allem Goethe, der der Gattungsmischung entgegenwirken möchte. Vgl. dazu Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Porträt einer Epoche. Studienausgabe. Weinheim 1998. S.351. Holzberg: Martial. S. 38.
91
schlußepigramme«/31 Auch die Xenien weisen eine solche Rahmenkomposition auf, die, das zeigt der Vergleich, wesentlich geschlossener ist als die Rahmenkomposition der Tabulae votivae. Während dieser Zyklus von nur einem Monodistichon eingeleitet und auch abgeschlossen wird - wobei das Schlußepigramm aber keine wirklich abschließende Funktion hat - , sind Anfang und Ende der Xenien sehr sorgfältig und abwechslungsreich gestaltet. Zunächst der Anfang: Wie gezeigt wurde, kommt ihm in struktureller Hinsicht eine eminente Bedeutung zu, denn mit ihm beginnt die »Komödie in Epigrammen«. Er entspricht mithin dem »dramatischen Auftakt« am »Drameneingang«, dem nach Pfister »die phatischen Funktionen [...] der Aufmerksamkeitsweckung des Rezipienten und der atmosphärischen Einstimmung in die fiktive Spielwelt« zukommen/31 Bevor aber die Frage beantwortet werden kann, wie diese Funktionen im vorliegenden Fall erfüllt werden, muß zunächst geklärt werden, ob man tatsächlich von einer geschlossenen Rahmenkomposition sprechen kann, denn die Geschlossenheit müßte im Falle der Xenien ja nicht nur, wie bei Martial, die Epigramme, sondern auch die Handlung der »Komödie in Epigrammen« betreffen. Pfister schreibt diesbezüglich: »Der Idealtyp der geschlossenen Form gestaltet eine in sich völlig geschlossene Geschichte mit voraussetzungslosem Anfang und endgültigem Schluß, wobei die Darstellung dieser Geschichte, die Fabel, den aristotelischen Bedingungen der Einheit und der Ganzheit entspricht.«133 Auch wenn man im Hinblick auf die Xenien natürlich nicht von einer geschlossenen Form im Sinne der baute tragedie oder auch Schillers und Goethes klassischer Dramen sprechen kann, liegen der Rahmenkomposition des Zyklus und somit auch dem Eingang und dem Ausgang der »Komödie in Epigrammen« doch klar erkennbare tektonische Prinzipien zugrunde. Zwei der oben genannten Kriterien für die geschlossene Form eines Dramas werden in den Xenien jedenfalls erfüllt: der »voraussetzungslose Anfang« sowie der »endgültige Schluß« der Geschichte. Die der »Komödie in Epigrammen« zugrundeliegende Geschichte beginnt mit der Ankunft der Xenien vor den Toren Leipzigs. Das erste Xenion gibt die Reaktion des »Thorschreibers« auf die sich nahenden »Passagiere« wieder. Die Reise der Xenien durch Deutschland, den Himmel und die Hölle setzt an diesem Punkt völlig voraussetzungslos ein. Die Geschichte beginnt also in der Tat ab ovo. Sie endet bereits mit dem vorletzten Xenion des Zyklus:
131 132 133
Ebd. Pfister: Das Drama. S. 124. Ebd. S.320.
92
Muse zu den Xenien. Aber jetzt rath ich euch, geht, sonst kommt noch gar der Gorgona Fratze oder ein Band Oden von Haschka hervor/ 3 4
Die Muse, die den Xenien den Weg in die Unterwelt gewiesen hatte, gibt ihnen nun den Ratschlag, sie rechtzeitig wieder zu verlassen. Damit endet die Reise der Xenien. Auch der antike Prätext dieser Szene, die
Nekyia,
endet an genau dieser Stelle (s.u. 3.5.2.3). Darauf folgt nur noch das Schlußxenion: An die Freyer. Alles war nur ein Spiel! Ihr Freyer lebt ja noch alle, Hier ist der Bogen und hier ist zu den Ringen der Platz. Ι 3 Ϊ
Das Schlußxenion hat in struktureller Hinsicht eine ebenso wichtige Funktion wie die Anfangsxenien: Thematisiert wird der Spielcharakter der Xenien, wobei >Spiel< durchaus auch im Sinne von Schau->spiel< verstanden werden kann. Zum Thema wird also die Dramatizität des Textes. Die dramatische Illusion wird damit abschließend endgültig durchbrochen und die Fiktionalität der Geschichte aufgedeckt; die Dramatizität der Epigramme wird also gleichsam von ihnen selbst aufgehoben: »Alles war nur ein Spiel! [...]« Die Rahmenkomposition des Zyklus kann demnach durchaus als geschlossen bezeichnet werden. Diese geschlossene Rahmenkomposition trägt in einem hohen Maße zur Kohärenz des Textes bei. Das Schlußxenion hat aber auch eine in die Zukunft weisende Funktion, denn es spielt an auf den 21. Gesang der Odyssee: [...] A u f , ihr Freier, wohlan! denn jetzo erscheinet ein Wettkampf! Hier ist der große Bogen des göttergleichen Odysseus. Wessen Hand von euch den Bogen am leichtesten spannet, Und mit der Senne den Pfeil durch alle zwölf Äxte hmdurchschnellt; Seht,I 3 dem folg' ich als Weib aus diesem werten Palaste [•••]
große< Poesie, d.h. Epen oder Tragödien zu verfassen. Auch am Ende des 18.Jahrhunderts wurde das Epigramm zur Kleinpoesie gerechnet und war in der Hierarchie der Gattungen nicht hoch angesehen (s.o.). Dementsprechend wird den gehobenen Gattungen im Versmaß des Hexameters, Alexandriners oder Blankverses (»Coffers«) hier trotzig das Epigramm im leichtgewichtigeren Monodistichon (»Taschen«) gegenübergestellt. Die Antwort der Xenien auf die Bitte des »Mannes mit dem Klingelbeutel« um eine Spende für die »Dummen« und »Gebrechlichen« schließlich ist ein Hinweis auf die schonungslose Satire, die nun folgen wird: »Das verwünschte Gebettel! [...] Geben nichts. [,..]« 157 Die Xenien werden keinerlei Rücksichten nehmen. Martials Grundsatz »parcere personis, dicere de vitiis« (s.o. 2.2) wird im folgenden nicht gelten - der Text gibt sich selbst als Pasquill zu erkennen. Der Beginn der Xenien also enthält die Poetik dieses Textes in nuce. Grenzüberschreitend wird eine Grenzüberschreitung dargestellt. Mithin wird die Poetik der Grenzüberschreitung formuliert und gleichzeitig praktiziert.
: 6
s M-AS. 199. ''7 Ebd. S. 200. 99
3-5-2 Die Reisefabel Im Kapitel über die »Komödie in Epigrammen« wurde die einen Großteil der Handlung bildende »fiktive Reise« der Xenien bereits angesprochen (s.o. 3.4). Dietze schreibt, dieser »zyklische Rahmen« werde »lose gehandhabt« und »oft durchbrochen«.1'8 Wenn man die einzelnen Abschnitte der Reisefabel jedoch einmal genauer betrachtet, fällt auf, daß es sich bei den Hauptstationen der Reise - also den Reisen in den Himmel, an die Flüsse und in die Hölle - jeweils um geschlossene Zyklen handelt, und zwar um eine Sondervariante dieses Typus: Alle diese Binnenzyklen weisen ihrerseits eine geschlossene Rahmenkomposition auf. Sie sind also durchstrukturiert und heben sich schon allein deswegen von den anderen geschlossenen Zyklen ab. Auch ist ihr Umfang deutlich größer als der der anderen Binnenzyklen: Der »Litterarische Zodiaeus« (Litterarischer Zodiaeus - Glück auf den Weg)159 umfaßt 23, Die Flüsse (Rhein - Lesfleuves indiscrets)l6° 17, und die Katabasis (Xenien - Muse zu den Xenien)161 82 Xenien. Der Leser kann sie deshalb leicht als eigenständige Glieder innerhalb des Ganzen erkennen und ihre strukturbildende Funktion wahrnehmen. Die Reisefabel bildet das eigentliche strukturelle Rückgrat des Zyklus; ein vergleichbares Gliederungsprinzip gibt es in den Tabulae votivae und auch in den Epigrammbüchern Martials nicht. 3.5.2.1
»Litterarischer Zodiaeus«
Im Falle des »Litterarischen Zodiaeus« besteht die Rahmenkomposition aus jeweils einem Xenion. Zunächst das einleitende Rahmenxenion: Litterarischer Zodiaeus. Jetzo ihr Distichen nehmt euch zusammen, es thut sich der Thierkreis Grauend euch auf; mir nach Kinder! wir müssen hindurch. 1,51
In diesem Text wird eine neue Sprechsituation eingeführt, die innerhalb des Binnenzyklus beibehalten und erst nach dem abschließenden Rahmenxenion wieder aufgegeben wird. Jemand spricht zu den Xenien. Die Tatsache, daß zu Beginn der Katabasis die Muse in Erscheinung tritt und auf die gleiche Weise mit den Xenien spricht (s.u. 3.5.2.3), legt den Schluß nahe, daß auch diese Stimme ihr zuzuordnen ist. Die Muse begleitet die 158
160 161 162
Dietze: »Kleiner Abriß einer Geschichte des deutschen Epigramms.« S. 570. M - A S . 215-221. Ebd. S. 223-227. Ebd. S. 282-203 [recte: 302]. Ebd. S.215.
100
Xenien auf ihrem Weg durch den »Thierkreis« und erläutert ihnen die jeweiligen Sternbilder. Die beiden auf Nicolai gemünzten Xenien wurden bereits besprochen (s.o. 3.1.2). Z w e i weitere Beispiele seien herausgenommen: Zeichen des Widders. Auf den Widder stoßt ihr zunächst, den Führer der Schaafe, Aus dem D y k i s c h e n Pferch springet er trotzig hervor.
Zeichen des Stiers. Neben an gleich empfängt euch sein Nahmensbruder; mit stumpfen Hörnern, weicht ihr nicht aus, stößt euch der H a l l i s c h Ochs. 1 6 3
Mit dem »Widder« ist der Kritiker Christian Friedrich Wilhelm Jacobs gemeint, der in dem von Johann Gottfried D y k herausgegeben Periodikum Neue Bibliothek
der schönen Wissenschaften
und der freyen
Künste
publizierte; diese Zeitschrift verbirgt sich auch hinter »dem D y k i s c h e n Pferch«. Die »Schaafe« sind die anderen f ü r die Neue Bibliothek
tätigen
Rezensenten. Jacobs »Nahmensbruder« - »der H a l l i s c h Ochs« - ist der Hallenser Philosoph L u d w i g Heinrich von Jakob, der ja auch noch an anderer Stelle zur Zielscheibe des Spottes wird (s.o. 3 . 1 . 1 ) . Ebenso verbergen sich hinter den darauffolgenden Sternbildern bekannte Persönlichkeiten des kulturellen Lebens der damaligen Zeit. Dies alles ist der Forschung seit langem bekannt. N o c h nicht gestellt wurde indes die Frage nach der internen Struktur dieses Binnenzyklus.
Exkurs: Coelum
inversum
Die Welt der Xenien
ist eine verkehrte Welt, ein satirischer mundus
in-
versus. Die natürliche Ordnung der Dinge ist hier außer K r a f t gesetzt. Durch die Position des Textes als »Anhang« des Musen-Almanachs dieser Sonderstatus der Xenien
ist
markiert und räumlich konkretisiert w o r -
den. D o c h das heißt nicht, daß es nicht zu Interferenzen käme zwischen den beiden Welten. Im Gegenteil: Es gibt eine Fülle von Verweisen innerhalb des Almanachs, mittels derer die Grenzen zwischen den Abteilungen bewußt überschritten werden. Auf den Konnex zwischen den Xenien Alexis und Dora sowie den Rekurs dieser beiden Texte auf Das wurde bereits hingewiesen. Der »litterarische
Zodiacus«
res Beispiel. E r rekurriert auf die erste Abteilung des den »Calender«. Dort heißt es zum Beispiel im Januar:
l6
und
Distichon
bietet ein weiteMusen-Almanachs, »Sonneneintritt.
i Ebd. S.216. ΙΟΙ
Den 19 in den Wassermann«.164 Oder im »May«: »Sonneneintritt: Den 20. In die Zwillinge.« Von der Erde aus gesehen, durchläuft so die Sonne während eines Kalenderjahres die zwölf Tierkreiszeichen: Wassermann, Fische, Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze und Steinbock. Das Kalendarium repräsentiert somit den kosmischen ordo naturalis, eine naturgebene, unverbrüchliche Ordnung. Das Gegenteil aber ist in der Abteilung Xenien der Fall: Dort gilt, wie gesagt, die Ordnung der verkehrten Welt. Besonders deutlich wird das im »litterarischen Zodiacus«, denn die Xenien reisen in der Tat durch einen coelum inversum. Hier gibt es nicht nur zwölf, sondern insgesamt einundzwanzig Tierkreiszeichen. Hinzu kommen Fuhrmann, Bär, Rabe, Locken der Berenice, Ophiuchus, Gans, Pegasus, Eridanus und fliegender Fisch, frei erfundene mithin, zum Teil lächerlicher, zum Teil phantastischer Art. Darüber hinaus ist die Reihenfolge dieses Tierkreises völlig durcheinandergebracht: Während die Sonne zuerst im Zeichen des Wassermannes erscheint, reisen die Xenien zuerst durch das des Widders, statt durch das der Fische durch das Bärs usf. Der kosmischen Ordnung im »Calender« wird also im »Anhang« ein sich in Unordnung befindender Kosmos gegenübergestellt. Vorgeführt wird so der Gegensatz zwischen der Natur und dem denaturierten deutschen Himmel: Der »Calender« exponiert die Norm, vor der die im »Anhang« dargestellen Normabweichungen angeprangert werden. Die im deutschen coelum inversum anzutreffenden Autoren werden so vollends ins Lächerliche gezogen. Daß Schiller, der Herausgeber des Musen-Almancbs und alleiniger Autor des Litter arischen Zodiacus, diesen Konnex nicht beabsichtigt haben sollte, ist kaum vorstellbar. Er hätte geradezu die Augen verschließen müssen. Zudem werden solcherlei intertextuelle Relationen innerhalb seines Musen-Almanachs nicht zum letzten Mal zu entdecken gewesen sein. Im abschließenden Rahmenxenion wünscht die Muse den Xenien »Glück auf den Weg«·,die Reise durch den verkehrten Himmel ist damit beendet: Glück auf den Weg. Manche Gefahren umringen euch noch, ich hab sie verschwiegen, Aber wir werden uns noch aller erinnern — nur zu! 1 6 5
164 l6
Der »Calender« ist nicht paginiert. s M-AS.221. 102
3-5-2.2
Die Flüsse
Auch diesen Binnenzyklus hat Schiller später - unter dem Titel Die Flüsse noch einmal gesondert publiziert, was für dessen Geschlossenheit spricht. In diesem Fall fehlt zwar ein einleitendes Rahmenxenion, jedoch wird auch innerhalb dieses Zyklus eine Sprechsituation beibehalten und erst von dem abschließenden Rahmenxenion unterbrochen. Nun sprechen die personifizierten deutschen Flüsse zu den Xenien und zueinander. Auch hierfür ein Beispiel: Elbe. All ihr andern, ihr sprecht nur ein kauderwelsch. Unter den Flüssen Deutschlands rede nur ich, und auch in Meissen nur, Deutsch. 1 6 6
Die Elbe, die sich in diesem Xenion so arrogant über die anderen Flüsse erhebt, propagiert eine These Johann Christoph Adelungs, derzufolge das in den Meißner Kanzleien entwickelte Deutsch als einziger Maßstab für das Hochdeutsch zu gelten hätte. Zu Wort melden sich außerdem Rhein, Mosel, Donau, Main, Saale, Ilm, Pleiße, Spree, Weser, Pegnitz, Salzach, die »'"'"chen Flüsse« sowie ein »anonymer
Fluß«. Die Äußerungen dieser
Flüsse machen die betreffenden Gegenden und Städte Deutschlands sowie die dort ansässigen Literaten lächerlich - mit einer Ausnahme, denn die Ilm fließt ja auch durch Weimar: Ilm. Meine Ufer sind arm, doch höret die leisere Welle, Führt der Strom sie vorbey, manches unsterbliche Lied. 1 6 7
Die Sprechsituation wird im abschließenden Rahmenxenion jäh unterbrochen, offenbar haben die Xenien von dem Geschwätz der Flüsse inzwischen genug: Les fleuves indiscrets. Jetzt kein Wort mehr ihr Flüsse. Man siehts, ihr wißt euch so wenig Zu bescheiden, als einst Diderots Schätzchen gethan/ 6 8
Was die interne Struktur dieses Binnenzyklus betrifft, ist zu konstatieren, daß auch diesem Abschnitt der Reise eine unnatürliche Ordnung zugrundeliegt. Die Xenien besuchen die Flüsse nicht etwa von Norden nach Süden, Westen nach Osten, im Uhrzeiger- oder Gegenuhrzeigersinn, sondern in einer Art Zick-Zack-Bewegung: sprunghaft und unsystematisch. Auch hier also >stimmt etwas nichtFehler< bei der Schlußredaktion übersahen. Die Diskrepanz zwischen den Gattungen Epos und Epigramm bzw. Epos und »Komödie in Epigrammen« wird gleich am Anfang des Finales thematisiert. Es beginnt mit einem Dialog zwischen den Xenien und der Muse: Xenien. Muse, w o führst du uns hin? Was, gar zu den Manen hinunter? Hast du vergessen, daß wir nur Monodistichen sind? Muse. Desto besser! Geflügelt wie ihr, dünnleibig und lustig, Seele mehr als Gebein, wischt ihr als Schatten hindurch. 1 7 3
Goethe und Schiller griffen an dieser Stelle den Topos der invocatio auf. Die invocatio steht traditionellerweise am Anfang eines Epos; eines der berühmtesten Beispiele ist das Proömium der Odyssee: »Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes [.. .].« 174 Der Sänger wendet sich an die Muse mit der Bitte um Inspiration; sie möge durch seinen Mund von den Taten des Odysseus künden. In den Xenien nun ist dieses Verhältnis genau umgekehrt. Die Xenien richten nicht eine Bitte an die Muse, sondern mehrere Fragen, und wollen ihr nicht folgen. Noch einmal klingt das recu'73 M - A S . 2 8 2 . Odyssee 1,1. Homer: Ilias. Odyssee. S. 487.
174
105
satio-Motiv
an, allerdings ebenso verfremdet wie die invocatio;
diesmal
verwenden es die Xenien als Argument, um nicht in die Unterwelt hinabzumüssen: Sie seien doch keine epischen Hexameter, sondern »nur Monodistichen«, und deswegen völlig ungeeignet für eine Katabasis - ein spezifisch episches Motiv. D o c h die Muse läßt sich davon nicht beirren. Die Xenien haben keine Wahl, sie müssen ihr folgen, wie zuvor auch schon durch den »Litterarischen
Zodiacus«. Am Beginn der Katabasis der Xenien
steht also eine parodistische Umkehrung des Musenanrufs; nicht eine Anrufung der Muse durch die >SängerSänger< durch die Muse, mithin ein Musenbefehl, oder auch, wenn man so will: ein Marschbefehl.
Exkurs: Musa
militans Ich bin auch sehr dafür, daß wir nichts Kriminelles berühren und überhaupt das Gebiet des frohen Humors so wenig als möglich verlassen. Sind doch die Musen keine Scharfrichter! Aber schenken wollen wir den Herren auch nichts.
Schiller an Goethe am n.Juni ι jangerufen Ebd. S.75. 1,0 Ebd. S. 267. Zur Frage der Verfasserschaft vgl. den Kommentar von Katharina Mommsen auf S. ^6>ri. w FAI8S.871. A m I I . J u n i 1796. B W S . 2 0 3 . 112
Musen in Idylle und Brief, ausgesprochen aktiv ist. Schon die Tatsache, daß sie als sprechende und handelnde Figur in Erscheinung tritt, macht ihre völlig veränderte Rolle deutlich. Diese Muse läßt sich von ihrem Medium nicht mehr anrufen, sondern übernimmt gleichsam selbst das Kommando. Diese Muse muß kämpfen, und die Xenien müssen ihr folgen. In Anlehnung an die satirische Musa pedestris des Horaz 193 und Schillers Wort von der »ecclesia militans«194 soll sie hier als Musa militans bezeichnet werden. Die Vokabel »martialisch« in seiner Beschreibung der Muse zeigt, daß auch Hennings diesen Aspekt gesehen hat. Ernst Christian Trapp, ein anderer Kritiker der Xenien, hat die Besonderheit dieser Muse ebenfalls erkannt und beschreibt sie als »fischweib« in Rüstung: Xenia, di zehnte muse one rock, und geharnischt, ein derbes gallisches fischweib, fleschet si frech ihr gebis. - sagt wi littens di neun? 1 ' 5
Hinter der Musa militans verbirgt sich, neben der komisch-satirischen Intention, noch eine andere Strategie: Die Aggressivität der Xenien ist somit ja transsubjektiven, also überpersönlichen Ursprungs, göttlich inspiriert, objektiv. Damit war die »Guerre ouverte« legitimiert. Die unkonventionelle Muse auf dem Titelkupfer des Musen-Almanacbs kehrt als Musa militans, als kämpfende Muse in den Xenien also noch einmal zurück. Daraufhin muß auch die Relation zwischen dem Titelkupfer und den Texten des Almanachs neu bestimmt werden. Im »Anhang« des Musen-Almanachs beschenkt Terpsichore die Leser eben nicht mit »denen Gütern, die von der Gelehrsamkeit herkommen«, sondern mit Gaben gänzlich anderer Art - nämlich den Xenien. Eine der bereits zitierten selbstreferentiellen Xenien spricht dies aus: 1,3
194
195
Sermones II, 6, 17. Mit dieser brachte auch Fulda die Muse der Xenien in Verbindung: »27. Musa pedestris. | Deine Muse marschirt zu Fuß und gafft, wie einst Thaies, / Zum Olympus, und stürzt über den eigenen Fuß.« Zitiert nach: Wolfgang Stammler (Hrsg.): Anti-Xenien. Bonn 1 9 1 1 . S. 23. Das Diktum gehört zur unmittelbaren Vorgeschichte der Xenien. A m 1. N o vember 1795 schrieb Schiller an Goethe: »Wir leben jetzt recht in den Zeiten der Fehde. Es ist eine wahre ecclesia militans - die Hören meine ich. Außer den Völkern, die Herr Jakob m Halle kommandiert und die Herr Manso in der Bibliothek d.S.W. hat ausrücken lassen, und außer Wolfs schwerer Kavallerie haben wir auch nächstens vom Berliner Nicolai einen derben Angriff zu erwarten.« B W S. 152. Vgl. dazu T.J. Reed: »Ecclesia militans: Weimarer Klassik als Opposition.« In: Wilfried Barner / Eberhard Lämmert / Norbert Oellers (Hrsg): Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart 1984. S. 37-53. Wendelin von Maitzahn (Hrsg.): Schiller's und Goethe's Xenien-Manuscript. Berlin 1856. S. 206. " 3
Dieser Musenalmanach. Nun erwartet denn auch, für seine herzlichen Gaben, Liebe Collegen, von euch, unser Calender den Dank. 1 ' 15 In diesem hochbewußten Spiel mit den Möglichkeiten des Mediums M u senalmanach zeigt sich die Poetik der Grenzüberschreitung noch einmal in aller Deutlichkeit. Denn nicht nur eine räumliche Grenze wird hierbei überschritten, sondern auch die Grenze zwischen zwei verschiedenen Künsten, der bildenden Kunst und der Literatur, und innerhalb derer die Grenzen des von der Tradition Vorgegebenen. Das intermedial-intertextuelle Beziehungsgeflecht innerhalb des Musen-Almanacbs
ist damit jedoch noch immer nicht vollständig entwirrt. Es
wird darauf zurückzukommen sein. Zurück zur Katabasis der Xenien. A u c h diese Station der Reise soll nun anhand ausgewählter Beispiele etwas genauer betrachtet werden. Zunächst der Prätext der ersten Szene. Die Seele, der Odysseus zuerst begegnet, ist die seines in Kirkes Palast zurückgelassenen Gefährten Elpenor: [...] Weinend erblickt* ich ihn, und fühlete herzliches Mitleid, Und ich redet' ihn an, und sprach die geflügelten Worte: Sag', Elpenor, wie kamst du hinab ins nächtliche Dunkel? Gingst du schneller zu Fuß, als ich im schwärzlichen Schiffe? Also sprach ich; und drauf begann er mit schluchzender Stimme: Edler Laertiad', erfindungsreicher Odysseus, Ach ein feindlicher Geist und der Weinrausch war mein Verderben! Schlummernd auf Kirkes Palast, vergaß ich meiner Betäubung, Wieder hinab die Stufen der langen Treppe zu steigen; Sondern ich stürzte mich grade vom Dache hinunter; der Nacken Brach aus seinem Gelenk, und die Seele fuhr in die Tiefe. [-]1'7 In den Xenien wird daraus folgender Dialog: Elpänor. Muß ich dich hier schon treffen Elpänor? Du bist mir gewaltig Vorgelaufen! und wie? Gar mit gebrochnem Genick? Unglückliche Eilfertigkeit. Ach, wie sie F r e y h e i t schrien und G l e i c h h e i t , geschwind wollt ich folgen, Und weil die Trepp' mir zu lang däuchte, so sprang ich vom Dach. 198
196 197 198
M-A S. 264. Odyssee 1 1 , 55-65. Homer: Ilias. Odyssee. S. 643. M-A S. 283. 114
Schiller und Goethe gingen bei der Umgestaltung der Voß'schen Verse sehr frei vor: Sowohl die zwei jeweils einen Hexameter umfassenden Fragen des Odysseus als auch den für diese Stelle relevanten, vier Hexameter umfassenden Teil der Antwort Elpenors formten sie in jeweils ein Monodistichon um. Da sie jedoch die Grundstruktur des Dialogs sowie einzelne charakteristische Wörter und Wendungen (»Ach [...]« - »[...] die Trepp' [...]« - »[·•·] vom Dach«) übernahmen, sind diese Xenien eindeutig als parodistische Paraphrasen der Voß'schen Nekyia-Ubersetzung zu erkennen. Hinter »Elpänor« verbirgt sich der revolutionsbegeisterte Johann Georg Adam Forster, der im März des Jahres 1793 als Abgeordneter des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents nach Paris gegangen war, um das Anschlußgesuch der gerade ausgerufenen Mainzer Republik zu überbringen. Da jedoch kurz darauf die preußischen Truppen begannen, Mainz zu belagern und es im Juli schließlich auch zurückeroberten, konnte Forster nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Er starb ein Jahr später verarmt im Pariser Exil. Regine Otto schreibt diesbezüglich: »Daß Forsters Leben in den Xenien als eine Verirrung, sein tragisches Ende als eine Farce behandelt wird, gehört zu den krassen Ungerechtigkeiten dieses Werks.« 1 " Die Begegnungen des Odysseus mit den Seelen seiner Mutter Antikleia, des Sehers Teiresias sowie vieler mythologischer Frauen von Alkmene bis Tyro werden in den Xenien übersprungen, erst die Begegnung mit der Seele des Achilleus wurde wieder übernommen und, denselben Prinzipien folgend, zu einem sieben Xenien umfassenden Dialog mit Achilles alias Lessing umgeformt (Achilles - Antwort).200 Die nächste Seele, der Odysseus begegnet, ist die des griechischen Helden Ajas, der wegen eines Streites während des Trojanischen Krieges noch immer nicht mit ihm sprechen will: »Ajas, Telamons Sohn, des Herrlichen! mußtest du also / Selbst nach dem Tode den Groll forttragen wegen der Rüstung, / Welcher der Götter Rat zum Verderben der Griechen bestimmte?«201 Daraus wurde ein gegen Gottfried August Bürger, den Schiller in seiner berühmten, im Jahre 1791 erschienenen Rezension Uber Bürgers Gedichte vernichtend kritisiert hatte, gerichtetes Xenion. Bürger war drei Jahre später, noch immer tief gekränkt von Schillers Aufsatz, gestorben:
199
200 201
Friedrich Schiller: Musen-Almanach für das Jahr 1797. Kommentar zum N e u druck von Regine Otto. Leipzig 1980. S. 91. M - A S . 283-285. Odyssee 1 1 , 553-555. Homer: Ilias. Odyssee. S.657L
"5
Ajax. Ajax, Telamons Sohn! So mußtest du selbst nach dem Tode Noch forttragen den Groll wegen der Recension?202 Wie man sieht, lehnten Schiller und Goethe sich bei der U m f o r m u n g der beiden Hexameter in ein Monodistichon diesmal enger an die Voß'schen Verse an. Die Pointe wird durch die Ähnlichkeit der Substantive »Rüstung« und »Recension« noch verstärkt. Wie in der Odyssee
antwortet
der zürnende Ajas nicht auf die ihm gestellte Frage. Die in der Nekyia
darauf folgenden Begegnungen mit den Seelen des
Orion und des Tityos waren ursprünglich f ü r das Finale vorgesehen; die betreffenden Xenien wurden dann allerdings doch nicht in den Zyklus aufgenommen. 2 0 3 Die Seelen des Tantalos, des Sisyphos und des Agamemnon hingegen treten in den Xenien memnon).104
auf (Tantalus, Sisyphus,
Aga-
Das letzte Gespräch des Odysseus mit der Seele des Hera-
kles wurde ebenfalls übernommen und zu einer später unter dem Titel Shakespeares
Schatten nochmals publizierten Szene erweitert (Hercules -
Er).1°'> Dazwischen treffen die Xenien auf die Seelen etlicher anderer Figuren, die in der Nekyia miserrimus
omnes admonet),
unter dem Arme), {Haller),
nicht vorkommen: Phlegyas (Phlegyasque Porphyrogenetas (Porphyrogeneta, den Kopf
Johann Georg Sulzers {Sulzer),
Moses Mendelssohns (Moses Mendelsohn),
Werther),
Albrecht von Hallers Werthers {Der
junge
Lessings (Z,***), Christian und Friedrich Leopold Graf zu
Stolbergs {Dioscuren), menkunft
/ Der
Karl Wilhelm Ramlers (Unvermuthete
Leichnam),
Peregrinus Proteus' {Peregrinus
Lucians von Samosata {Lucian von Samosata - Geständniß), {Alcibiades)
und Martials (Martial / Xenien)
ZusamProteus),
Alcibiades'
- also kürzlich oder längst
verstorbener historischer Persönlichkeiten oder literarischer Figuren. Ein Beispiel: Der junge Werth er. »Worauf lauerst du hier?« - Ich erwarte den dummen Gesellen, Der sich so abgeschmackt über mein Leiden gefreut.2"6 Der Witz dieses kurzen Dialoges ist raffiniert: Die Xenien, also von G o e the und Schiller erschaffene Figuren, treffen in der Unterwelt auf den »jungen 202
Werther« - die Hauptfigur aus Goethes Roman Die Leiden
des
M-AS.285. Xenien aus der Sammelhandschrift 476 (Tityos) und 482 (Der ungeheure Orion). F A I 1 S. jj2f. 2 °4 M-AS.285 und 286. 205 Ebd. S. 296-203 [recte: 302]. 206 Ebd. S. 287. 203
116
jungen Wertbers, die sich bekanntlich am Ende des Romans aus Liebeskummer erschießt. Mit dem »dummen Gesellen«, auf den der tote Werther lauert, ist Friedrich Nicolai gemeint, der eine Parodie des Romans mit dem Titel Die Freuden des jungen Werthers veröffentlicht hatte. Die parodierte Romanfigur wartet nun in der Unterwelt auf den Parodisten wohl, um es ihm dann heimzuzahlen. Von entscheidender Bedeutung für die Poetik der Xenien ist das Gespräch, das die Xenien führen, als sie in der Unterwelt auf Martial treffen: Martial. Xenien nennet ihr euch? Ihr gebt euch für Küchenpräsente? Ißt man denn, mit Vergunst, spanischen Pfeffer bey euch? Xenien. Nicht doch! Aber es schwächten die vielen wäßrigten Speisen So den Magen, daß jetzt Pfeffer und Wermuth nur hilft. 2 0 7
Martial ist entrüstet, als er der Xenien ansichtig wird. Er zweifelt ihre Identität als Epigramme in der Nachfolge seiner Xenia an. Darauf entgegnen die Xenien - ziemlich frech - , daß ihnen doch gar nichts anderes übrig bleibe, als mit »Pfeffer und Wermuth« gewürzt zu sein. Thematisiert werden also die Unterschiede zwischen Xenia und Xenien. Dabei geht es in erster Linie um die Form der Satire, wobei dieser Diskurs über die Satire seinerseits in satirischer Form dargeboten wird. Martials Xenia sind harmlose »Küchenpräsente«, die Xenien Goethes und Schillers hingegen mit »Pfeffer und Wermuth« gewürzt. Zum Thema wird also ein weiteres Mal die Unterscheidung zwischen Satire und Pasquill: Die Xenien müssen sich für ihr Abweichen von der Gattungsnorm - und mithin für ihre grenzüberschreitende Poetik - vor Martial rechtfertigen. Sie tun das, indem sie einmal mehr den Zeitgenossen die Schuld dafür zuweisen; ihre >Schärfe< und >Bitterkeit< sei nur eine notwendige Reaktion auf die »vielen wäßrigten Speisen« - womit deren Bücher und Zeitschriften gemeint sind. Das Xenienpaar ist in höchstem Maße autoreferentiell: Der Archeget der Gattung Xenion diskutiert in der Form des Xenions mit personifizierten Xenien über ihre Zugehörigkeit zu dieser Gattung. Eine solche poetisch-poetologische Bewußtheit ist charakteristisch für den ganzen Zyklus, insbesondere aber für die Katabasis; mit diesem Kabinettstück führten Goethe und Schiller den Lesern ihre ganze Virtuosität vor. Auch die sich daran anschließende Szene verdient gerade in dieser Hinsicht besondere Beachtung. Es ist die Szene, in der, wie erwähnt, ein
2
°7 Ebd. S. 290. " 7
Chor auftritt. Schiller hat sie später, allerdings in stark veränderter Form, noch einmal publiziert - unter dem Titel Die Homeriden: Rapsoden. Wer von euch ist der Sänger der Ilias? Weils ihm so gut schmeckt, Ist hier von Heynen ein Pack Göttinger Würste für ihn. Viele Stimmen. Mir her, ich sang der Könige Zwist! Ich die Schlacht bey den Schiffen! Mir die Würste! ich sang, was auf dem Ida geschah! Rechnungsfehler. Friede! Zerreißt mich nur nicht! die Würste werden nicht reichen, Der sie schickte, er hat sich nur auf Einen versehn. Einer aus dem Chor. (fängt an zu recitiren).
»Warlich, nichts lustigers weiß ich, als wenn die Tische recht voll sind, Von Gebacknem und Fleisch, und wenn der Schenke nicht säumt Vorschlag zur Güte. Theilt euch wie Brüder! Es sind der Würste gerade zwey Dutzend, Und wer Astyanax sang, nehme noch diese von mir. 208
Die Xenien begegnen in der Unterwelt einem »Chor« von »Rapsoden«, also von wandernden Sängern, die in der Antike die homerischen und andere Epen öffentlich vortrugen. Nach einer Theorie, die der Homerforscher Friedrich August Wolf in seiner im Jahre 1795 veröffentlichten Schrift Prolegomena ad Homerum aufgestellt hatte - der sogenannten Liedertheorie - waren diese Rhapsoden und nicht Homer die wahren Verfasser der Ilias und der Odyssee. Die einzelnen Episoden seien erst später von Diaskeuasten zusammengestellt worden. Diese These hatte viel Aufregung unter den deutschen Gelehrten verursacht. Vor allem der Göttinger Altphilologe Christian Gottlob Heyne empörte sich; er war nach wie vor fest davon überzeugt, daß Homer der alleinige Verfasser beider Epen sei. In dieser Szene solidarisieren sich Goethe und Schiller - gegen ihre Uberzeugung - mit Wolf.209 Indem sie die Rhapsoden als Chor auftreten lassen und eben nicht den »Einen«, auf den Heyne sich »versah« - stützen sie, wenn natürlich auch satirisch verfremdet, Wolfs Liedertheorie. Auf die Frage »Wer von euch ist der Sänger der Ilias?« antworten »viele Stimmen«. Einer der Rhapsoden behauptet, der Sänger des 1. Gesangs der Ilias zu sein (»[...] ich sang der Könige Zwist!«), ein anderer will der Sänger des 13.
208
Ebd. S. 2 9 of.
209
Vgl. dazu Schwarzbauer: Die Xenien. S. 23 jf.
118
Gesanges sein (»[...] Ich die Schlacht bei den Schiffen!«), ein dritter gibt sich als Sänger des - wahrscheinlich - 8. Gesanges zu erkennen (»[...] was auf dem Ida geschah!«). Durch den Streit der Rhapsoden um »ein Pack Göttinger Würste«, die Heyne eigentlich als »Belohnung« für Homer geschickt hatte, wird die Szene vollends ins Lächerliche gezogen. Die Szene spielt darüber hinaus auf eine Episode im 18. Gesang der Odyssee an, in der der Kampf zwischen Odysseus und dem Bettler Iros um »die beste der bratenden Würste« beschrieben wird. Daß es in den Xenien
ausgerechnet
»zwei Dutzend« Würste sind, ist natürlich kein Zufall: Die Anzahl der Würste entspricht den 24 Gesängen der Ilias. In einer der Xenien fängt »einer aus dem Chor« an, Verse zu »recitiren«, die aus dem 9. Gesang der Voß'schen Oi/jssee-Ubersetzung stammen; sie wurden jedoch gekürzt und leicht variiert. Damit wird die Gültigkeit der These Wolfs auch für die Odyssee propagiert. An dieser Stelle erreicht das subtile und in höchstem Maße artifizielle Spiel mit den Referenztexten seinen Höhepunkt: Ein Choreut fängt in einer Szene, die der Nekyia nachgebildet ist, die Ilias zum Thema hat, gleichzeitig aber auch noch auf eine andere Episode der Odyssee anspielt, an, aus einem weiteren Gesang der Odyssee zu rezitieren - ein intertextuelles Kunststück sondergleichen. Darauf folgen noch die bereits im Kapitel über die »Komödie in Epigrammen« erwähnte Szene Die Philosophen sowie Shakespeares
Schatten.
Die Katabasis der Xenien endet mit einem abschließenden Rahmenxenion, in dem die letzten Verse der Nekyia aufgegriffen werden. Odysseus berichtet den Phäaken: »Aber es sammelten sich unzählige Scharen von Geistern / Mit graunvollem Getös, und bleiches Entsetzen ergriff mich. / Fürchtend, es sende mir jetzo die strenge Persephoneia / Tief aus der Nacht die Schreckengestalt des gorgonischen Unholds, / Floh ich eilend von dannen zum Schiffe [,..].« 210 In den Xenien ist es die Muse, die ihre Schützlinge vor der drohenden Gefahr warnt: Muse zu den
Xenien.
Aber jetzt rath ich euch, geht, sonst kommt noch gar der Gorgona Fratze oder ein Band Oden von Haschka hervor. 2 1 1
Mithin führt auch dieser letzte Abschnitt der Reise die Xenien in eine verkehrte Welt: Auf den coelum inversum folgt der acheron
inversus.
Abermals sei an Schillers Brief an Körner vom 1. Februar 1796 erinnert: »Das Kind, welches Göthe und ich mit einander erzeugen, wird etwas 2I
° Odyssee 1 1 , 632-637. Homer: Ilias. Odyssee. S. 660. M - A S . 203 [recte: 302].
211
119
ungezogen und ein sehr wilder Bastard seyn. Es wäre nicht möglich etwas, wozu eine strenge Form erfordert wird, auf diesem Wege zu erzeugen.«212 Die Bastard-Metapher wurde bereits auf die strukturelle Hybridität der »Komödie in Epigrammen« bezogen. Dazu kommt nun aber noch ein weiteres, denn die Reise ist ein spezifisches Strukturprinzip einer dritten Gattung: der Menippea. Die Forschung spricht dementsprechend auch von der >menippeischen ReiseSproß vom Göttergeschlecht, du bringst aus den Feinden uns Trojas / Stadt wieder her und bewahrst für ewig Pergamus' Hochburg, / du, von Laurentum ersehnt und latinischen Fluren, hier ist ein / Heim dir sicher, sind sicher - drum ziehe nicht fort! - die Penaten; / laß dich nicht schrekken von Krieges Dräun: schon schwand aller Groll und / Grimm der Götter dahin.« Ebd. S. 3 i^ff.
231
Wild: Goethes klassische Lyrik. S. 1 2 1 . I2
5
ben sich über ihre Zeitgenossen und stellen sich an die Seite der antiken Dichter. Die Moderne wird an der Antike gemessen und für zu leicht befunden. Durch den Rückgriff auf die antiken Vorbilder ist die Polemik legitimiert. Diese »komplementäre Beziehung«, in die Antike und Moderne gesetzt werden, ist auch bestimmend für die Handlung der »Komödie in Epigrammen«: In der Reisefabel wird dieses Thema mit Hilfe eines raffinierten intertextuellen Verfahrens allegorisch gestaltet. Die Xenien sind Dichter und die Personifikationen eines antiken Gedichtmaßes. Diese »Passagiere«, die so plötzlich und überraschend vor den Toren Leipzigs erscheinen, kommen somit aus der Antike. Die antiken Dichter reisen durch das moderne Deutschland. Die Hauptstationen ihrer Reise haben jeweils Prätexte in der antiken Literatur, die Xenien erleben diese Episoden also gleichsam noch einmal in der Moderne. Zunächst der »Litterarische Zodiacus«·. In den Metamorphosen warnt Phoebus Phaeton vor dem Weg durch den Himmel: »per insidias iter est formasque ferarum« »durch Tücken führt es und wilder Tiere Gestalten!« In der Tat wird der Anblick des Skorpions Phaeton dann so erschrecken, daß er die Kontrolle über den Wagen verliert und damit einen Weltenbrand auslöst. Im Himmel Deutschlands hingegen kommen hinter den Tierkreiszeichen nur die Fratzen der deutschen Dichter, Kritiker und Philosophen zum Vorschein; hinter dem »dräuenden Stier« der Metamorphosen verbirgt sich in den Xenien »der H a l l i s c h Ochs« Jakob, hinter dem »Skorpion, der wild in weiter Runde die Scheren krümmt« das »böse Insect aus G-b-n« - Johann Friedrich Reichardt,2'2 und hinter dem »Krebs, der die seinen [Scheren] auf andere Weise gekrümmt hält« der »Krebs in B*!:">:"« - Karl Wilhelm Ramler.233 In der Aeneis prophezeit der Flußgott Tiberinus dem Aeneas die Stelle, an der sein Sohn Ascanius in dreißig Jahren die Stadt Alba Longa gründen wird. In Deutschland hingegen treffen die Xenien auf viele unbedeutende Flüsse, die alle nur töricht vor sich hinplappern und - wie zum Beispiel der Main - zufrieden »seit Jahrhunderten noch immer das alte Geschlecht« erblicken,234 oder - wie der »duldende Strom« Rhein »Germaniens Gränze« nur sehr schlecht bewachen.235 In der Nekyia begegnet Odysseus den Seelen verstorbener griechischer Helden und berühmter mythologischer Figuren: Agamemnon, Achilleus, Ajas, Alkmene, Minos, Sisyphos, Tantalos, Teiresias, Tityos usw. Die Xenien hingegen treffen an deren Stelle auf Bürger, Forster, Haller, Ramler, die Brüder 232 233 234 235
2eichen des Scorpions. M - A S. 218. 2eichen des Krebses. Ebd. S.223 [recte: 217]. Mayn. Ebd. S. 224. Rhein. Ebd. S.223. 126
Stolberg, Sulzer usw. Wieder kommen hinter den großen antiken Vorbildern nur die Fratzen der modernen deutschen Dichter und Philosophen zum Vorschein. Dazu paßt auch die parodistische Umkehrung der invocatio am Anfang der Katabasis: Die Xenien schrecken geradezu zurück vor der Vorstellung, auch noch in die deutsche Hölle hinabzumüssen. Ein ähnliches Motiv findet sich ja auch am Anfang des »Litterarischen Zodiacus«, wo die Muse mitleidsvoll zu den Xenien sagt: »Jetzo, ihr Distichen, nehmt euch zusammen, es thut sich der Thierkreis / Grauend euch auf; mir nach, Kinder! wir müssen hindurch.«n6 Und am Ende der Flüsse verbieten die Xenien den Flüssen sogar den Mund: »Jetzt kein Wort mehr, ihr Flüsse! [...]«. 137 Die antiken Prätexte fungieren somit als Norm, vor der die modernen Normabweichungen, die Diskrepanz zwischen Antike und Moderne umso wirkungsvoller satirisch vorgeführt werden können. Dem ist noch ein letzter Punkt hinzuzufügen. Das Thema >Antike und Moderne< verbindet die Xenien mit zwei anderen klassischen Texten Goethes, die vor den Xenien in Schillers Musen-Almanach bzw. den Hören publiziert worden waren und denen überdies das gleiche Versmaß zugrundeliegt: den Römischen Elegien und den Venezianischen Epigrammen. Die drei Zyklen beginnen jeweils mit dem Motiv der Reise, genauer: dem Motiv der Ankunft eines oder mehrerer Dichter in einer fremden Stadt - Rom, Venedig und Leipzig. In der ersten der Römischen Elegien spricht »der Reisende, der Besucher aus dem Norden, der Fremde, der bei seiner Ankunft ein Rom sieht, das geprägt ist von seiner Geschichte [...].« 2?8 Wild zufolge »inszenieren die Römischen Elegien die Begegnung des modernen Dichters mit der Antike.«239 Ebenso beginnen die Venezianischen Epigramme mit dem Motiv der Reise: »Das zweite Epigramm gestaltet den erwartungsvollen Blick auf die südlichmediterrane, von Reminiszenzen an die Antike geprägte Landschaft beim Schritt über die Alpen [...].« 24 ° Wie in den Römischen Elegien ist der Sprecher des Gedichtes Reisender und Dichter. Auch die Venezianischen Epigramme inszenieren also - wenn auch nicht nur - die Begegnung eines modernen Dichters mit der Antike. Venezianische Epigramme und Xenien verbindet darüber hinaus das Motiv der Kutschfahrt sowie des Zolls: »Schon den zwanzigsten Tag schleppt mich der Wagen umher, / Vetturine trotzen mir nun, es schmeichelt der Kämmrer / Und der Bediente vom 236
Ebd. S.215. Ebd. S. 227. 238 Wild: Goethes klassische Lyrik. S. 41. 23 S> Ebd. S.42. 2 t° Ebd. S. 62. 237
I2
7
Platz sinnet auf Lügen und Trug. / Will ich ihnen entgehn, so faßt mich der Meister der Posten, / Postillone sind Herrn, dann die Dogane dazu!«241 Zudem beziehen sich beide Texte programmatisch auf Martial; das Motto der Xenien war sogar ursprünglich für die Venezianischen Epigramme vorgesehen. Erstaunlicherweise ist der Forschung bisher entgangen, daß das Motiv der Reise bzw. Ankunft aus den Römischen Elegien und den Venezianischen Epigrammen am Anfang der Xenien nochmals aufgegriffen wurde, obwohl die Ubereinstimmungen so augenfällig sind, daß man sie kaum übersehen kann. Die drei Texte sind somit Teil eines Themenkomplexes, der einen wesentlichen Teil der klassischen Lyrik Goethes bestimmt und der, da die betreffenden Texte in Schillers Periodika publiziert wurden, als ein zentraler Aspekt des >Projekts Klassik< der literarischen Öffentlichkeit präsentiert wurde. Wild spricht in diesem Zusammenhang von einer »Selbstdarstellung ihrer [Goethes und Schillers] Kooperation«:242 So steht die gemeinsame Inszenierung von Goethe und Schiller, jedenfalls an ihrem Beginn, im Zeichen der Antike und des Wettstreits mit ihr; insofern ist sie auch eine Wiederaufnahme der Querelle des anciens et des modernes. Die hohe Bedeutung der Antike wird durchaus in beiden Zeitschriften Schillers sichtbar. 243
In den Xenien erscheint das Motiv der Reise jedoch ins Satirische gewendet und auf charakteristische Weise abgewandelt: Nicht ein moderner Dichter begegnet (in Rom oder Venedig) der Antike, sondern antike Dichter begegnen (in Leipzig) der Moderne. Inszeniert wird nun also nicht mehr die inspirierende und beglückende Begegnung mit der Antike wie in den Römischen Elegien und - wenn auch in deutlich abgeschwächter Form - den Venezianischen Epigrammen, sondern im Gegenteil: die enttäuschende und ernüchternde Begegnung mit der Moderne. Dabei ist zu bedenken, daß die Inszenierung Goethes und Schillers, d.h. ihre gemeinsamen Bemühungen um eine an der Antike orientierte literarische Ästhetik, bei ihren Zeitgenossen auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen waren: Goethe und Schiller haben beide sehr aufmerksam die Reaktionen der literarischen Öffentlichkeit auf ihre Inszenierung beobachtet, wobei sie feststellen mußten, daß die Aufnahme der gemeinsamen Publikationen, insbesondere der Hören, ihren Erwartungen keineswegs entsprach. 244
241
242 243 244
Venezianische Epigramme 3, 9 - 1 2 . F A I 1 S.444. Wild: Goethes klassische Lyrik. S. iiyi. Ebd. S. 120. Ebd. S. 124. 128
Ihre Enttäuschung und ihren Ärger darüber brachten Goethe und Schiller dann in den Xenien, diesem »satirische[n] Rundumschlag gegen die literarische Öffentlichkeit«245 auf polemische Weise zum Ausdruck: »Die Distichen sind die Inszenierung eines Gerichts über alle, die Goethe und Schiller nicht folgen wollen.«246 Wie gezeigt wurde, ist die Reisefabel allegorisch zu verstehen: Sie gestaltet ein zentrales Thema der Weimarer Klassik. Bereits im Motiv der Ankunft in Leipzig erscheint es konzentriert wie in einem Brennspiegel.
24
s Ebd. S. 142. Ebd. S. 137.
246
129
4
»Gastgeschenke seyd ihr?«: Die Semantik der Xenien
Die Xenien Goethes und Schillers rekurrieren auf die Xenia Martials; bereits die paratextuellen Elemente Titel und Motto stellen diesen Bezug her. Darüber hinaus wird er innerhalb des Textes wiederholt metatextuell reflektiert und schließlich in Form eines Dialogs der Xenien mit dem Autor der Xenia in der Unterwelt anschaulich zur Darstellung gebracht. Die Xenien werden den Lesern so als eine moderne, den spezifischen Verhältnissen der deutschen Gegenwart angepaßte Modifikation der antiken Xenia präsentiert, was schon in der Germanisierung des ursprünglich griechischen Wortes zum Ausdruck kommt. Die zum Teil gravierenden Abweichungen von den Normen der antiken Gattung werden mit der behaupteten Inferiorität der modernen deutschen Literatur legitimiert; gleichsam als sei die Schärfe der Satire als erzieherische Maßnahme notwendig. Der intertextuelle Verweis auf Martials Xenia ist jedoch nur eine der Bedeutungsdimensionen des Titels. Eine mögliche und sehr naheliegende zweite Lesart ist es, Xenien als Titel eines Zyklus mit Gedichten der Gattung Xenion zu verstehen. Titel und Gattungsangabe wären also identisch, analog zu beispielsweise Elegien (so der ursprüngliche Haupttitel der später so genannten Römischen Elegien) oder Epigramme (so der ursprüngliche Haupttitel der nach dem Muster der Römischen Elegien später so genannten Venezianischen Epigramme), wie es zu einem antikisierenden Werk ja auch gut paßt.1 Andererseits kann man Xenien aber auch als Titel der »Komödie in Epigrammen« verstehen, in deren Mittelpunkt ein Kollektiv von Figuren steht, eben die Xenien, wie es zum Beispiel auch bei Schillers Räubern der Fall ist. Diese Polysemie des Titels und damit auch die Schwierigkeit, ihn auf eine Bedeutung festzulegen, thematisiert zu Beginn der Sammelhandschrift das folgende Xenienpaar, indem es die Frage der Rezipienten nach der Identität der Xenien vorwegnimmt:
1
Vgl. dazu Genette: Paratexte. S. 86f. 130
Übersetzung Xenien? ruft ihr. Ο greifet doch zu, und fraget nicht lange, Gastliche Gaben sinds, wenns ja ein Name muß sein. Unser Vorgänger Martial, wenn ihrs nicht wißt, bewirtete einst so die Römer, Viel mehr geben wir nicht - aber die Meinung ist gut. 1
Das Wort »Xenien« wird also mit »[gjastliche Gaben« übersetzt, allerdings nur, weil es von den Fragenden unbedingt verlangt wird. Folglich wird die Identität der Xenien als gastliche Gaben nach dem Vorbild der Xenia Martials gleichzeitig jedoch ironisch problematisiert: »Viel mehr geben wir nicht - [...]« - »mehr« als Martial aber eben doch. Auch der hatte ja angezweifelt, daß die Xenien sich wirklich »Küchenpräsente« nennen dürften: »Xenien nennet ihr euch? Ihr gebt euch für Küchenpräsente?«3 Hier kommt also eine entscheidende Differenz zwischen Xenien und Xenia zum Ausdruck, die von der Forschung nicht immer ausreichend beachtet wurde. Wenn Hess die Xenien als »Aufschriften auf imaginäre Geschenke« versteht,4 mißdeutet er die Semantik dieses Textes völlig. Die Xenien sind eben nicht Begleittexte zu realen oder fiktiven Gastgeschenken bzw. - wie Martial in einem der Einleitungsepigramme seiner Xenia ironisch vorschlägt5 - Texte, die man bei Geldmangel auch ohne die eigentlichen Geschenke verschenken könnte, sondern sie sind die »gastlichen Gaben« selbst, freilich in übertragener, uneigentlicher Bedeutung. An dieser Stelle muß nun eine weitere Bedeutungsdimension des Titels angesprochen werden, die von der Forschung bisher noch nicht ernst genug genommen wurde.6 Der Titel Xenien verweist nämlich nicht nur auf die Xenia, sondern auch auf eine kulturelle Praxis im antiken Griechenland, auf die Martials Xenia, die ja einen griechischen Titel tragen, ihrer-
2
3
4 s
6
FAI1S.491. M - A S. 290. Hess: Epigramm. S. 5. »haec licet hospitibus pro munere disticha mittas, / si tibi tarn rarus quam mihi nummus erit.« Epigrammaton liber tertius decimus, 3, jf. In Baries und Schindlers Übertragung: »Du kannst diese Distichen als Geschenk an Gastfreunde schicken, / wenn du so selten wie ich ein Geldstück besitzt.« M.Valerius Martialis: Epigramme. S. yizi. Eine Ausnahme ist Bunzel, der die Xenien aufgrund ihres Erscheinens im Musenalmanach als »Neujahrsgeschenke« im Sinne von Böttigers Aufsatz (s.u.) deutet: Goethe habe damit den antiken Brauch belebt und ihn publizistisch funktionalisiert. Weiter geht Bunzel jedoch nicht, die poetologischen, ästhetischen und literaturpolitischen Implikationen dieser Funktionalisierung eines antiken Rituals bleiben unberücksichtigt. Vgl. Bunzel: Poetik und Publikation. S.95f. Ϊ31
seits schon verwiesen haben:? das Ritual der Gastfreundschaft. Dieses Ritual war in der Goethezeit wohlbekannt. So konnte man zum Beispiel im Januar 1796 - als die ersten Xenien also gerade entstanden waren - im Weimarer Journal
des Luxus und der Moden
Böttigers mit dem Titel Gemahlte
einen Beitrag Karl August
und geschriebene
Neujahrsgeschenke
der
alten Römer lesen, in dem stand, der Brauch des Schenkens von xenia sei aus dem »unter den Völkern des Althertums so heilig geachteten Gastrecht« entstanden, »wo man seinen Gastfreunden entweder gleich bey der Bewillkommnung, oder beym Abschiede allerley Naschwerk, Wildpret, Confitüren und dergleichen überreichte [...].« s Goethe schickte, nachdem er den Aufsatz gelesen hatte, sein Exemplar sogleich weiter an Schiller: »Ich lege das neuste Modenjournal bei wegen der Abhandlung pag. 18 über die Xenien.
Der Verfasser denkt wohl nicht, daß ihm auch eins fürs nächste
Jahr zubereitet werde [...].«f Doch Goethe und Schiller war das antike Gastfreundschaftsritual auch ohne Böttigers Aufsatz vertraut, denn in Ilias und Odyssee gelangt es mehrfach prominent zur Darstellung; in der Forschung spricht man deshalb auch von homerischer Gastfreundschaft. 1 0 Ein Beispiel aus dem 4. Gesang der Odyssee·. Telemachos und Peisistratos treffen bei Menelaos und Helena in Sparta ein. Eteoneus, ein Gefolgsmann des 7
8
9
10
»The Roman passion for gift-giving, fully shared by Martial, has complex roots; the sociological background must be taken into account. Rome, like other ancient and some modern societies - the world of the Homeric epics and the Trobriand islanders, for instance - saw the exchange of goods not just as an economic system, but as a moral transaction, generating and maintaining personal relationships between individuals, divinities and groups.« Sullivan: Martial: the unexpected classic. S. 13. [Karl August] Böttiger: »Gemahlte und geschriebene Neujahrsgeschenke der alten Römer.« In: Journal des Luxus und der Moden 11 (1796). S. 18-25, hier S. i8f. BW S. iSji. Goethe spielt an auf eine der >Ur-XenienFreier< das Ritual pervertiert und nicht Schiller und Goethe. Ihre Gegner - so die Logik des Schlußxenions - sind die unrechtmäßigen Gastgeber, die von ihnen, den rechtmäßigen Gastgebern, für ihren Verstoß gegen die Gesetze der Gastfreundschaft bestraft wurden. Das jedoch impliziert, daß die Xenien eigentlich selbst schon Gegengaben waren, Reaktionen auf das unbotmäßige Verhalten der Anderen und Goethe und Schiller folglich mit vollem Recht Rache an ihnen genommen haben. Wie Odysseus die illegitimen Gastgeber in seinem Haus der Reihe nach erschießt und sein Rinderhirte Eumaios dem Ktessipos als Gegengabe für den Kuhfuß mit einer Lanze die Brust durchbohrt, 53 gaben Goethe und Schiller den illegitimen Gastgebern in ihrem Haus, mithin der deutschen Literatur, als Gegengabe die
XenienJ*
A m 3i.Januar 1796 hatte Schiller an Goethe geschrieben: »Ich habe dieser Tage den Homer zur Hand genommen und in dem Gericht, das er über die Freier ergehen läßt, eine prächtige Quelle von Parodien entdeckt, die auch schon zum Teil ausgeführt sind [...].« ss Die Funktion dieser Homer-Parodie ist nun deutlich geworden: Das Gericht Goethes und Schillers über diejenigen ihrer Zeitgenossen, die ihnen nicht folgen wollten, wird durch die metaphorische Gleichsetzung mit dem Gericht, das Odysseus »über die Freier ergehen läßt«, zu einem gerechten Verfahren stilisiert und damit legitimiert. In der Logik dieser Metaphorik waren die Gegner der Weimarer Klassik die anmaßenden und überheblichen Freier, die sich zu nehmen versuchten hatten, was ihnen nicht gebührte, und also schuldig. Die Metapher vom Gericht des Odysseus über die Freier war eine >hermeneutische Fallec 56 Denn diese nahmen, sofern sie den Kampf gegen Goethe und Schiller aufnahmen, auch die ihnen zugedachte Rolle an, ob sie wollten oder nicht.
53
54
» 56
»Nimm dies Ehrengeschenk für den Kuhfuß, welchen du neulich / Gabst dem edlen Odysseus, der bettelnd im Saale herumging!« Odyssee 22, 29of. Homer: Ilias. Odyssee. S. 817. Eine solche räumliche Vorstellung kommt, neben dem bereits mehrfach zitierten Text Das Monodistichon etwa in Schillers Brief an Goethe vom 5.Februar 1796 zum Ausdruck: »Man muß ihn [Reichardt] auch als Musiker angreifen, weil es doch auch da nicht so ganz richtig ist, und es ist billig, daß er auch bis in seine letzte Festung hinein verfolgt wird, da er uns auf unserem legitimen Boden [Hervorhebungen von mir] den Krieg machte.« B W S. 191. Ebd. S. 189. Diese glückliche Formulierung stammt von Schwarzbauer, der sie allerdings in einem anderen Zusammenhang verwendet. Vgl. Schwarzbauer: Die Xenien. S.295.
146
TEIL
II: Die literarische Rezeption der Xenien
Wie gesagt: Die Gäste ließen sich nicht lange bitten. Auf den »Angriff« - so Boas in Schiller und Goethe im Xenienkampf - folgte sogleich, und das heißt: innerhalb weniger Wochen, die »Gegenwehr«.1 Wie Leistner gezeigt hat, war die Zahl der publizierten Stellungnahmen, von privaten Äußerungen in Briefen und Gesprächen ganz zu schweigen, »beträchtlich«: Bereits Ende Oktober 1796 konnte man [...] eine erste kritische Replik gedruckt finden; und am Ende des Folgejahres lagen schließlich mehr als 40 Bekundungen vor: eine wahre Flut von publizistischen Wortmeldungen. Der Quantität nach zählt der Xenien-Streit zu den herausragenden, dabei auch den Bannkreis des Expertentums entschieden sprengenden literarischen Diskussionsereigmssen der Zeit. 2
Unter den Publikationen finden sich so verschiedene Textsorten wie Rezensionen, Pamphlete und Satiren; Leistner gibt in seiner Untersuchung einen Uberblick über das ganze »Spektrum der publizistischen Reaktionen«.3 Für die vorliegende Arbeit sind jedoch nur die AntiXenien im engeren Sinne von Belang, also Repliken auf die Xenien in derselben oder einer ähnlichen Form. 4 Auch deren Zahl ist beträchtlich. Außerdem legt ein neuerer Fund von Anti-Xenien in einem Brief (s.u. 5.3) die Vermutung nahe, daß in Briefwechseln der Zeit noch Entdeckungen gemacht werden könnten. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die in einem Brief an Wieland enthaltenen Anti-Xenien Friedrich Wilhelm Gräters; sie haben in der Forschungsdiskussion noch keine Rolle
1
2
3 4
So lauten die Titel der beiden Bände von Boas: Schiller und Goethe im Xenienkampf. Leistner: »Der Xemen-Streit.« S. 479. Zu brieflichen Äußerungen vgl. ebd. S. 477-479· Ebd. S. 479-517. Der Terminus entstand im Zusammenhang des Xenien-Stit&ts und wurde allgemein verwendet; so z.B. von Christian Gottlob Voigt m einem Brief an Hufeland vom 14. Dezember 1796: »Die Anti-Xenien sind platt genug und vielleicht mehr ärgerlich für die Freunde der Xenienschreiber als für sie selbst.« Wilhelm Bode (Hrsg.): Goethe m vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. Auch eine Lebensgeschichte. Bd. 1. Im alten Reiche 1749-1803. Bern 1969. S. 583L
H7
gespielt.5 Leider verloren sind wohl die (Anti-?)Xenien, die Christian August Vulpius im März 1797 an Goethe gesandt hatte.6 Das Textkorpus der Anti-Xenien als Dokument der unmittelbaren literarischen Rezeption der Xenien wurde von der Forschung schon früh wenn auch nicht unparteiisch - untersucht;7 die neueren Studien Leistners und Schwarzbauers sind glücklicherweise objektiver.8 Im Zusammenhang mit der Frage nach der Etablierung des Xenions im Gattungskanon werden die Anti-Xenien im nächsten Kapitel noch einmal behandelt. Zunächst jedoch zu einem interessanten, in diesem Kontext noch nicht beachteten Rezeptionsdokument. 1797, als der Xenien-Streit noch in vollem Gange war und allenthalben Gegenschriften publiziert wurden, erschienen bei Friedrich Nicolais Sohn Karl August in Berlin die Volksmärchen Ludwig Tiecks. Darin war unter anderem das »Kindermärchen in drei Akten« Der gestiefelte Kater enthalten, das im selben Jahr auch noch in zwei Einzelausgaben erschien. In dessen Epilog läßt Tieck ein letztes Mal den Autor des innerhalb dieses Dramas soeben zur Uraufführung gelangten Dramas Der gestiefelte Kater auftreten: »[...] der Dichter erscheint demütig auf der Bühne.«9 Sein Stück ist durchgefallen, das Publikum buht ihn aus. Der Souffleur, der aus seinem Kasten gestiegen ist, möchte ihm helfen:
s
6
7
8
9
Der Brief wird auf den 19. Dezember 1796 datiert: Wielands Briefwechsel. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. Bd. 13 (Juli 1795-Juni 1797). Bearbeitet von Klaus Gerlach. Berlin 1999. S. 451-456. Einen Teilabdruck veranstaltete vorher Hans Radspieler: »Unbekannte Antixenien von Friedrich David Gräter.« In: Archive und Geschichtsforschung. Studien zur fränkischen und bayerischen Geschichte. Friedolin Sölleder zum 80. Geburtstag dargebracht. Neustadt / Aisch 1966. S. 274-286. Vulpius war im Berliner Archiv der Zeit verdächtigt worden, der Verfasser der Xenien zu sein. Am 5. März 1797 schrieb er daraufhin an Goethe: »Indessen, in der ersten Bewegung, schrieb ich — um nur zu sehen, ob ich wirklich Xenien machen könnte - in ein paar Abenden über 100. Ich mag nicht daran denken, sie drucken zu lassen, aber ich habe eine Parthie davon abgeschrieben, und schicke sie Ihnen hierbei.« Zitiert nach: Otto Lerche (Hrsg.): Goethe und die Weimarer Bibliothek. Leipzig 1929. S. 93. Vgl. dazu Roberto Simanowski: Die Verwaltung des Abenteuers. Massenkultur um 1800 am Beispiel Christian August Vulpius. Göttingen 1998. S. 193-196. Vgl. Boas: Schiller und Goethe im Xemenkampf sowie Maitzahn (Hrsg.): Schiller's und Goethe's Xenien-Manuscript. Vgl. Leistner: »Der Xemen-Streit« und ders.: »Schiller im Spiegel der AntiXenien.« Vgl. darüber hinaus Schwarzbauer: Die Xenien. S. 340-354. Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater. Kindermärchen in drei Akten. Mit Zwischenspielen, einem Prologe und einem Epiloge. Herausgegeben von Helmut Kreuzer. Stuttgart 1964. S. 61. 148
S o u f f l e u r . V e r s u c h e n Sie ein paar V e r s e zu m a c h e n , H e r r D i c h t e r , vielleicht b e k o m m e n sie dann m e h r R e s p e k t v o r ihnen. D i c h t e r . V i e l l e i c h t fällt m i r eine X e n i e ein. S o u f f l e u r . W a s ist das? D i c h t e r . E i n e n e u e r f u n d e n e D i c h t u n g s a r t , die sich besser fühlen als b e s c h r e i b e n läßt. ί Gegen das Parterre.) P u b l i k u m , soll m i c h dein U r t e i l n u r e i n i g e r m a ß e n b e l e h r e n , Zeige, daß D u m i c h nur e i n i g e r m a ß e n verstehst. (Es wird aus dem Parterre mit verdorbenen Birnen und Äpfeln und zusammengerolltem Papier nach ihm geworfen.) D i c h t e r . N e i n , die H e r r e n da u n t e n sind m i r in dieser D i c h t u n g s a r t zu stark; ich ziehe m i c h z u r ü c k . [ . . . ] 1 0
Tieck führt in dieser Szene den Streit zwischen einem Dramatiker und seinem Publikum vor. Streitpunkt ist das Stück im Stück, Medium des Streits »eine neuerfundene Dichtungsart«: die Xenie. Dieses Medium wird gleichzeitig aber auch reflektiert, ja sogar definiert, und zwar direkt in der Figurenrede sowie indirekt durch szenische Aktion - man könnte von einer theatralen Definition
des Xenions sprechen. In der Tat sind alle
wesentlichen Aspekte dieser »Dichtungsart« in der Szene enthalten. Zunächst das Gedichtmaß: Der Dichter wendet sich in der Form eines Monodistichons an das Publikum. Die Thematik: Literatur, genauer: die Unwilligkeit und Unfähigkeit des Publikums, eine neue literarische Ästhetik zu akzeptieren. Sodann die Reziprozität: Auf die Xenie des Dichters antwortet das Publikum mit Anti-Xenien. Indem Tieck es den Dichter mit faulem Obst - also mit verdorbenen naturalen xeinia - bewerfen läßt, hat er die Metaphorik der ungastlichen Gabe konkretisiert und in szenische Aktion umgesetzt. Die »Muthwilligkeit der Satyre«, d.h. die Pasquillizität des Xenions und zugleich auch die Tatsache, daß sich diese neue Gattung der Theorie zu entziehen scheint, kommen in der expliziten Xenien-Definition des Dichters zum Ausdruck: »Eine neuerfundene Dichtungsart, die sich besser fühlen als beschreiben läßt.« Daß die AntiXenien aus »verdorbenen Birnen und Äpfeln« bestehen, ist eine Markierung ihres geringen ästhetischen Wertes. Zuletzt die Gattungsmischung: Der gestiefelte
Kater ist zwar keine »Komödie in Epigrammen«, aber
immerhin kommt in dieser Komödie ja ein Epigramm vor. Mithin wird im Epilog des gestiefelten Katers die neue Gattung Xenion bzw. Xenie sowie bereits der Prozeß ihrer literarischen Rezeption reflektiert. Tieck inszeniert gleichsam einen Xenien-Streit
en miniature·.
Ein von seinem Publikum enttäuschter Dichter greift dieses mit einer
10
E b d . S. 6z.
149
Xenie an, das Publikum setzt sich mit Anti-Xenien zur Wehr. Wer diese »Dichtungsart« erfunden hat, wird nicht erwähnt; doch das war auch nicht nötig: Ein Jahr nach dem Skandal rangierten die Xenien noch immer »als literarischer Gesprächsgegenstand Nummer eins in Deutschland.«11 Das aber heißt doch: Bereits im Jahr nach der Publikation der Xenien war das Xenion so fest im Kanon der literarischen Gattungen12 etabliert, daß Tieck seinen fiktiven Dichter und dessen Publikum sich dieser »neuerfundene[n] Dichtungsart« bedienen lassen konnte, ohne fürchten zu müssen, daß sein reales Publikum dies nicht verstehen würde. Ein weiterer, sogar noch früherer Beleg für die Etablierung des Xenions im Gattungskanon findet sich in einem im Frühjahr 1797 geschriebenen Brief Herders an Karl August Böttiger - also an denjenigen, der ein Jahr zuvor dazu aufgefordert hatte, den Brauch, literarische xenia an seine Freunde zu verschenken, wieder aufleben zu lassen (s.o. 4, Anm. 9). Böttiger hatte Herder eine Anti-Xenien-Schrift geschickt - welche, ist nicht eruierbar - , worauf ihm Herder entgegnete: [...] ich haße die ganze verdammte Gattung u. wünschte, daß dies die letzten in unsrer Sprache wären. Jeder ehrliche Mann, der seines Weges fortgeht, kann eine Klette ans Kleid, oder einen Schandfleck ms Gesicht geworfen bekommen; u. man sagt, das war eine Xenie. 1 3
Auch Herder spricht also bereits von einer »Gattung«. Wie die meisten Zeitgenossen beklagt er die infolge des Xenien-Streits zerstörten Formen literarischer Kommunikation. Seine Weitsicht indes ist erstaunlich. Offenbar ahnte Herder schon damals, daß in deutscher Sprache noch viele weitere Xenien geschrieben werden würden. 14 11 12
13
14
Leistner: »Der Xenien-Streit.« S. 477. Der hier und im folgenden zugrundegelegte Gattungsbegriff entspricht der Definition Hempfers: gemeint sind die >historischen< im Gegensatz zu den s y stematischem Gattungen. Diesem Verständnis entspricht auch der historische Begriff der »Dichtungsart«. Vgl. Klaus W. Hempfer: »Gattung.« In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin / N e w Y o r k 1997. S.651-655. Herder: Briefe. Bd. 7. S. 317. Herder ist wahrscheinlich der erste, der - der Pluralform des Titels entsprechend - auch die Singularform germanisiert. Schiller und Goethe griffen in den seltenen Fällen, m denen sie nicht die Pluralform gebrauchten, auf die griechische Form zurück. So zum Beispiel Goethe in seinem Brief an Schiller vom 10. Juni 1796. B W S. 202. Daß er damit nicht allein war, beweist folgende Passage einer Rezension: »Es ist zu befürchten, daß mit der Erscheinung dieser Xenien sich die Pforte zu dauernden und grossen Skandalen unsrer Litteratur geöffnet haben wird. So manche mittelmässige oder elende Skribenten werden es den Männern, die sich nie auf diese Weise mit ihnen hätten abgeben sollen, an sansculottischer Frechheit wettzumachen suchen.« Zitiert nach: Leistner: »Der Xenien-Streit.« S. 489. 150
Ein dritter Beleg findet sich in Kants 1798 erschienener Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In deren § 71 (Über den Kunstgeschmack) kann man lesen, daß Poesie »mit dem Alter nicht wohl zusammenstimmt; außer etwa in Sachen des k a u s t i s c h e n Witzes, in Epigrammen und Xenien, wo sie aber auch mehr Ernst als Spiel ist.«15 Daß Kant von »Epigrammen und Xenien« spricht, zeigt, daß er zwischen den beiden Begriffen differenzierte und folglich davon ausgegangen sein muß, daß es sich bei dem Xenion um eine eigene Gattung oder zumindest eine distinkte Subgattung des Epigramms handelt. Daß sich eine literarische Gattung in einer solchen Schnelligkeit etablieren kann, ist eine Ausnahmeerscheinung in der Literaturgeschichte. Ein Sonderfall ist das Xenion auch insofern, als mit ihm eine Gattung kanonisiert wurde, die allgemein ästhetisch und moralisch abgelehnt wurde. 16 Es handelt sich hierbei also um die Kanonisierung eines Mustertextes, dem eigentlich jegliche Normativität abgesprochen wurde: um den paradoxen Fall einer negativen Kanonisierung.17 Dieser erstaunliche Prozeß der Kanonisierung einer »verdammte[n] Gattung« wird im folgenden Kapitel untersucht werden.
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Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrsg. von Karl Vorländer. Mit einer Einleitung von Joachim Kopper und einem zusätzlichen Anhang von Rudolf Malter. 7., im Text unveränderte Auflage. Hamburg 1980. S. 180. »Uberemstimmendes Urteil aber war: Der Xemen-Streit müsse als ein nichtswürdiges, dem Ansehen der Literatur zum Schaden gereichendes Ereignis gewertet werden.« Leistner: »Der Xemen-Streit.« S. 518. Dieser im folgenden analysierte Kanonisierungsprozeß ist nicht identisch mit der von Simone Winko untersuchten »Negativkanomsierung«. Vgl. Simone Winko: »Negativkanonisierung: August v. Kotzebue in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts.« In: Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart / Weimar 1998. S. 341-364. Ϊ51
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A N T I - X E N I E N : D i e K a n o n i s i e r u n g einer
»verdammten Gattung«
Die Xenien haben ein beliebtes Muster gegeben. Schiller an Goethe am 16. August 1799 1
Der Prozeß der Etablierung, Institutionalisierung oder Kanonisierung literarischer Gattungen ist - obwohl Gattungstheorie und Gattungsgeschichtsschreibung lange Zeit zu den zentralen Forschungsgebieten der Literaturwissenschaft gehörten - 2 noch kaum erforscht. Der Hauptgrund dafür ist darin zu sehen, daß dies normalerweise ein sehr komplexer, vielschichtiger Prozeß ist. Gattungen werden selten von einem Autor >erfundendanebenbenehmenNaschwerk zum Nachtischvescere sodes.< >iam satis est.< >at tu, quantum vis, tolle.< >benigne.< >non invisa feres pueris munuscula parvis.< >tam teneor dono, quam si dimittar onustus.< >ut libet: haec porcis hodie comedenda relinques.
gastlichen< Gaben bewirteter Gast, seine Trogalien sind die nach der Logik der Gastfreundschaft von ihm geforderten >gastlichen< Gegengaben. Allerdings thematisiert er auch die Verkehrung dieses Rituals durch Schiller und Goethe. In einer weiteren Szene seiner »Komödie in Epigrammen«, einem fiktiven Prozeß, wird diese Pervertierung verhandelt: 76. Beschwerde der Gäste. »Seht den Meuchler! da ladet der Schalk mit grinsendem Lächeln Uns zum Essen, und setzt giftige Speisen uns vor!« 77. Entschuldigung des Wirths. »Ja was kann ich dafür? der Mundkoch hat sie vergiftet, Den aus dringender Noth ich mir aus Weimar geholt.« 78. Richterliches Urtheil. Schweig! ihr seid einer so gut wie der andere Schufte: du hast den Küchenzeddel geschmiert, jener die Speisen gekocht. 23
Die »Gäste« (die Opfer der Xenien) klagen den »Wirth« (Schiller) an, sie zuerst scheinheilig eingeladen, ihnen dann aber »giftige Speisen« vorgesetzt zu haben. Der »Wirth« versucht sich herauszureden, indem er die
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tius Flaccus: Epistulae. Briefe. Lateinisch / Deutsch. Ubersetzt und herausgegeben von Bernhard Kytzler. Stuttgart 1986. S. 28f. »Der dumme Freigebige verschenkt, was er selbst geringschätzt oder gar nicht mag. Doch solche Saat hat Undankbare nur hervorgebracht und wird sie auch zu aller Zeit bringen [...].« Ebd. S. 29/31. [Fulda]: Trogalien zur Verdauung der Xenien. S. 3. Ebd. S. 22.
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Schuld auf den »Mundkoch« (Goethe) abwälzt. Doch der Richter durchschaut sein Täuschungsmanöver und bezeichnet beide als »Schufte«. Weitere Beispiele ließen sich anführen. Ein Zwischentitel lautet »zum Imbiß«,24 und folgendermaßen wendet sich »ein Salzinspector an den Xenienkoch«: »>Hättest du nun es mit mir nicht verderbt, du ärmlicher Garkoch: / Reichlich könnt ich dir jetzt geben, woran dirs gebricht.Wir kneten als treue Gesellen / Assa foedida ein, Pillen für Fremde zu drehn.Kontrafaktur< und nicht von >Parodie< gesprochen wird, geht auf die Begriffsbestimmung der neuesten Forschung zurück, wonach die Parodie sich im Gegensatz zu der Kontrafaktur in der Komisierung ihrer Vorlage erschöpfe. Vgl. Theodor Verweyen / Gunther Wittmg: »Kontrafaktur.« In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin / N e w York 2000. S. 337-340. [Fulda]: Trogalien zur Verdauung der Xenien. S. 4. Ebd. S. 23. Zitiert nach: Stammler (Hrsg.): Anti-Xenien. S. 5. 165
Eine weitere Anti-Xenien-Schrift, die erwähnten Parodien auf die Xenien von Fischer, kann dieses Verfahren der Kontrafaktur exemplarisch veranschaulichen. In diesem Text wird nicht nur mehr oder weniger häufig exoder implizit auf die Xenien verwiesen, Fischer geht dabei geradezu systematisch vor. Auf der rechten Seite druckt er seine Kontrafakturen und auf der linken Seite deren Prätexte ab: Xenien.
Parodien.
Der ästhetische Thorschreiber. Halt, Passagiere! wer scyd ihr ? Wcs Standes und Charakters ? Niemand passirt hierdurch, bis er den Paß mir gezeigt.
Der ästhetische Thorschreiber. Halt, Passagiere, halt! Ihr führet verbotene
Waare.
Visitator, herbey! hurtig! die Bündel durchwühlt!
Xenien.
Die Verfasser der Xenien.
Distichen sind wir. Wir geben uns nicht für mehr, noch für minder. Sperre du immer! Wir zichnübcr den Schlagbaum hinweg.
Lernet Respekt, ihr Lumpengesindel! Wervisitiret große Herren ? Wir Achnprivilegirt
Visitator.
durch das Land.
Visitator.
Ocffnct die Coffer. Ihr habt doch nichts contrcbandcs geladen? Gegen die Kirche ? den Staat ? nichts von französischem Gut ?
Ey, nicht doch! gehorsamer Diener!.. Belieben die Herren ihr hochadlich Gesäß flugs zu erheben vom Sil/. ^1
Auf diese Weise kontrafaziert Fischer, abgesehen von einigen wenigen Auslassungen, den gesamten Zyklus. Ein Anonymus hat dieses Verfahren in seinen Parodienversuchen der Schillerschen Xenien in kleinerem Umfang imitiert.42 Neben einzelnen Xenien werden in den Anti-Xenien auch die größeren strukturellen Einheiten, d.h. die Xenienpaare und Binnenzyklen aufgegriffen. Das betrifft, wie angedeutet, insbesondere die Reisefabel. So wird der »litterarisebe Zodiacus« beispielsweise von Claudius (»Auch ein literarischer Thierkreiß«),43 Fischer (»Der Jenaische Thierkreis«)44 und Fulda (»Thüringischer Zodiakus«)45 kontrafaziert. Kontrafaziert wird auch die Szene am Leipziger Tor. Ein Beispiel ist die folgende Szene aus den Gegengeschenken an die Sudelköche in Jena und Weimar.
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[ G o t t l o b N a t h a n a e l Fischer]: Parodien
auf die X e n i e n .
Ein Körbchen
voll
Stachel-Rosen den H e r r e n G o e t h e u n d Schiller verehrt, mit erläuternden A n m e r k u n g e n z u m V e r s t ä n d e d e r X e n i e n . [ H a l b e r s t a d t ] 1 7 9 7 . S. z i . D e r
Sperr-
d r u c k des O r i g i n a l s w i r d h i e r aus P l a t z g r ü n d e n m i t K u r s i v i e r u n g w i e d e r g e g e ben. 42
[ A n o n y m u s ] : » P a r o d i e n v e r s u c h e der Schillerschen X e n i e n . « In: N e u e s A r c h i v der Schwärmerei und A u f k l ä r u n g H . 2 (1797).
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S t a m m l e r ( H r s g . ) : A n t i - X e n i e n . S. 8.
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[ F i s c h e r ] : P a r o d i e n . S. 2 1 - 2 7 .
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[ F u l d a ] : T r o g a l i e n z u r V e r d a u u n g d e r X e n i e n . S. 2 7 - 3 4 . 166
2. Die Schildwache am Parnaß. »Wer da?« Der Kärrner aus Jena. »Was bringt er?« Xenien bringt er, Ganz was Neues vom Jahr. »Her! Visitator, beschaus.« 3. Der Visitator. Xenien nennet ihr das? Das nennen wir schlechte Gedanken. Damit, armer Apoll, hat er dich oft schon bedient. 4. Apoll im Μ. A. blätternd. Aber sage mir, Schiller, was schimpfest du denn so unbändig? N u r noch ein Schritt, und du wirst Bahrdt mit der eisernen Stirn. 5. Schiller weinerlich. J a doch! die Kerls da unten, die wollen mich gar nicht mehr loben, Und was ich schreibe, ist doch alles im neusten Geschmack. Selbst mein liebes Journal, das Cotta so trefflich bezahlet, Wird m der Bibliothek schöner Scienzen geschimpft. 6. Apoll. Aber wie kömmt das? D u hast doch die Besten im Volke geladen. Männer, wie Engel und Schütz, werden nur selten verkannt. 7. Schiller. Ja, die haben bis itzt nichts oder wenig geliefert. Bruder Göthe und ich schreiben es meistens allein. 8. Apollo. Bruder Göthe und du? Das macht die Sache begreiflich. Euer neuster Geschmack mag wohl so koscher nicht seyn. 9. Den Almanach zurückgebend. Armer Schlucker, du wähnst, du habest den Roßbach getrunken. Was in dir sprudelt und braust, ist hippocrenischer Schaum. 10. Eine Muse, die Xenien durchblätternd. Küchenpräsente? J a wohl! Aus Salz und Galle bereitet. Aber die Gall' ist so dick, aber das Salz ist so dumm. 1 1 . Die Xenien zu der Muse. Wir versichern auf Ehre, wir sind so witzig, als möglich: Denn es hat laut der Papa, als er uns machte, gelacht.4;" | Als der Prophet nicht geriet, da ward er ein Türke zu Stambul, / Freund, sei vernünftig wie Er, werde du jetzt Philosoph.« F A 1 1 S. 614. Die Forschung hat die Abkürzung »H>:">;~« bisher nicht eindeutig auflösen können, doch ist der Bezug zu Hölderlin ziemlich offenkundig, da in dem Xenion mit der Unvereinbarkeit von Dichtung und Philosophie ja ein wichtiges Moment des großen Briefes Schillers an Hölderlin (s.u.) - freilich in satirischer Überspitzung - bereits formuliert wird. Daß Schiller auf die Publikation verzichtet hat, zeigt, daß er Hölderlin nicht kränken wollte. 178
macht mich wirklich blöde, und ich muß immer wenigstens irgend eine Kleinigkeit vorschüzen können, wenn ich mich dazu bringen soll, meinen Nahmen Ihnen wieder zu nennen. Diese Kleinigkeit ist dißmal die Bitte, daß Sie die unglüklichen Verse, die keinen Platz finden konnten m Ihrem dißjährigen Allmanache, mir wieder zur Durchsicht geben möchten, denn das Manuscript, das ich Ihnen im August [sie!] von Kassel aus zuschikte, war das einzige, das ich hatte. Möchten Sie es doch nicht für verlorne Mühe halten, Ihr Urtheil beizusezen, denn auch hierinn kann ich alles leichter ertragen, als Ihr Stillschweigen. 89
Wenige Tage darauf erhielt er dann einen Antwortbrief von Schiller: Ich habe Sie keineswegs vergessen, lieber Freund, wie Sie denken: bloß Zerstreuungen und Geschäfte, neben meiner gewöhnlichen Briefscheu haben die Antwort auf Ihre freundschaftlichen Briefe so lange verzögert. Ihre neuesten Gedichte kamen für den Almanach um mehrere Wochen zu spät, sonst würde ich von dem einen oder dem andern gewiß Gebrauch gemacht haben. Dafür, hoffe ich, sollen Sie an dem künftigen desto größern Antheil haben. D a es mir heute an Muße fehlt, diese letzt übersandten Stücke durchzugehen, so behalte ich sie vor der Hand noch da, um meine Bemerkungen beyzuschreiben. Große Freude machte mirs, wenn ich in dem nächsten Almanach einige reife und bleibende Früchte Ihres Talents aufstellen könnte. Nehmen Sie, ich bitte Sie, Ihre ganze Kraft und Ihre ganze Wachsamkeit zusammen, wählen Sie einen glücklichen poetischen Stoff, tragen ihn liebend und sorgfältig pflegend im Herzen, und lassen ihn in den schönsten Momenten des Daseyns ruhig der Vollendung zureifen. Fliehen Sie w o möglich die philosophischen Stoffe, sie sind die undankbarsten, und m fruchtlosem Ringen mit denselben verzehrt sich oft die beßte Kraft, bleiben Sie der Sinnenwelt näher, so werden Sie weniger in Gefahr seyn, die Nüchternheit in der Begeisterung zu verlieren, oder in einen gekünstelten Ausdruck zu verirren. Auch vor einem Erbfehler deutscher Dichter möchte ich Sie noch warnen, der Weitschweifigkeit nehmlich, die m einer endlosen Ausführung und unter einer Fluth von Strophen oft den glücklichsten Gedanken erdrückt. Dieses thut Ihrem Gedicht an Diotima nicht wenig Schaden. Wenige bedeutende Züge in ein einfaches Ganze verbunden, würden es zu einem schönen Gedichte gemacht haben. Daher empfehle ich Ihnen vor allem eine weise Sparsamkeit, eine sorgfältige Wahl des Bedeutenden und einen klaren einfachen Ausdruck desselben. Doch wie kann ich alles das specificiren, was ich wünschte? Sie haben Mosen und die Propheten; halten Sie sich an die schönsten Muster und bilden sich daraus die Regeln selbst, die ohne das nur Wort seyn würden. Verzeyhen Sie mir diese Aufforderungen, diese Warnungen. Theilnehmende Freundschaft hat beyde eingegeben. Leben Sie recht wohl und lassen mich fleißig von sich hören. 90
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Friedrich Hölderlin: Große Stuttgarter Ausgabe. Bd. 6.1. S. 223. N A 2 9 S . i3f. τ79
Als dieser Brief bei ihm eintraf, dürfte Hölderlin gerade an der Übersetzung eines Chorliedes aus Ödipus auf Kolonus und an dem Entwurf der Ode Der Tod fürs Vaterland gearbeitet haben, genau läßt sich der Zeitpunkt nicht bestimmen.!'1 Jedenfalls schrieb er an den Rand des Manuskriptes die folgenden fünf Epigramme: GUTER RAT Hast du Verstand und ein Herz, so zeige nur eines von beiden, Beides verdammen sie dir, zeigest du beides zugleich. ADVOCATUS DIABOLI Tief im Herzen haß ich den Troß der Despoten und P f a f f e n A b e r noch mehr das Genie, macht es gemein sich damit. DIE VORTREFFLICHEN Lieben Brüder! versucht es nur nicht, vortrefflich zu werden Ehrt das Schicksal und tragts, Stümper auf Erden zu sein Denn ist einmal der Kopf voran, so folget der Schweif auch U n d die klassische Zeit deutscher Poeten ist aus. DIE BESCHREIBENDE POESIE Wißt! A p o l l ist der Gott der Zeitungsschreiber geworden U n d sein Mann ist, wer ihm treulich das Factum erzählt. FALSCHE POPULARITÄT Ο der Menschenkenner! er stellt sich kindisch mit Kindern A b e r der Baum und das K i n d suchet, was über ihm ist.' 1
In seinem Kommentar schreibt Friedrich Beissner, es sei »besonders unpassend, diese Epigramme [...] mit dem Namen der Goethe-Schillerischen Xenien zu benennen«,93 da Hölderlin mit ihnen auf die Kritik Schillers reagiert habe. Dieses Argument, das wohl mit dem Bestreben des Hölderlin-Herausgebers zu erklären ist, >seinen< Dichter vor den verrufenen Xenien in Schutz zu nehmen, vermag jedoch nicht zu überzeugen, denn Hölderlin folgt in diesen Epigrammen ja ganz offenkundig dem Muster der Xenien. Das ist schon daran erkennbar, daß er mit dem betitelten Monodistichon nicht nur deren formales Medium und mit der Zweiteiligkeit, der Dialogisierung sowie parallel oder chiastisch verschränkten Konstruktionen, phonetischen Effekten usw. auch spezifische, in den Xenien ausgiebig eingesetzte Techniken übernahm, sondern vor allem auch an der Thematik: Die Epigramme enthalten Polemik gegen aktuelle Erscheinungen in der Literatur. Darüber hinaus gibt es intertexZ u r Frage der Datierung vgl. den Kommentar Jochen Schmidts in: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. i. S. 605. s> Ebd. S. 192. w Hölderlin: Große Stuttgarter Ausgabe. Bd. 1.2. S. 541. 2
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tuelle Bezüge zu den Xenien. So spielt bereits der Titel des ersten Epigramms auf den Titel eines Xenions an: Guter Rath. Accipe facundi Culicem, studiose, Maronis, Ne, nugis positis, arma virumque canas.' 4
Dieser »gute Rath« Martials bzw. Schillers und Goethes an Jenisch war, das wurde ausführlich gezeigt (s.o. 3.1.1), ein scheinheiliger: In Wahrheit wurde Jenischs imitatio der Aeneis der Lächerlichkeit preisgegeben. Das Epigramm GUTER RAT nun bezieht sich offensichtlich auf Schillers Brief, in dem dieser unter anderem geschrieben hatte: »Fliehen Sie wo möglich die philosophischen Stoffe [...] bleiben Sie der Sinnenwelt näher, so werden Sie weniger in Gefahr seyn, die Nüchternheit in der Begeisterung zu verlieren [...]«.9S Dieser Ratschlag wird von dem Sprecher aufgegriffen und an einen unbestimmt bleibenden Adressaten weitergegeben. Dabei wird jedoch deutlich, daß dieser »GUTE RAT« resignativer Ausdruck der Erkenntnis ist, daß die literarische Öffentlichkeit unwillig und unfähig ist, eine Ästhetik zu akzeptieren, in der »Verstand« und »Herz« sich eben nicht ausschließen, sondern Hand in Hand gehen. Zu dieser Erkenntnis gelangte Hölderlin unzweifelhaft durch Schillers Brief, denn Schiller hatte ja gerade Hölderlins Wahl philosophischer Themen, mithin seinen »Verstand« bemängelt. Auf die Kränkung durch Schillers Brief reagierte Hölderlin also mit einem Xenion, das, ähnlich wie viele der Anti-Xenien, intertextuell auf die Xenien Goethes und Schillers rekurriert. Auf einer verdeckten zweiten Bedeutungsebene, die sich im Kontext des Briefes jedoch erschließt, wird der Ratgeber Schiller durch diesen Rekurs auf das Xenion gleichen Titels als uneinsichtig und scheinheilig entlarvt. Damit wird bereits das Grundmuster erkennbar, das Hölderlins Xenien-Produktion zugrundeliegt: Es ist einmal mehr das der ironischen imitatio der Xenien, allerdings in einer interessanten Variante, denn diese erfolgt ja auf Anraten desjenigen Autors, der dann ironisch zum Muster genommen wird. In seinem Brief hatte Schiller Hölderlin zur imitatio der »schönsten«, also klassischen Muster aufgefordert und damit wohl in erster Linie seine und Goethes Dichtungen'6 - sicherlich aber nicht die Xenien - gemeint. Hölderlin nun nahm diese Aufforderung ernst, verkehrte sie aber in ihr Gegenteil, indem er sich die unklassischen Xenien zum Vorbild nahm. Darüber hinaus hat »4 M - A S . 2 6 6 . « N A 29 S. 96 Vgl. dazu Kreuzer: Hölderlin-Handbuch S. 82. 181
Hölderlin, indem er Epigramme in der Form des Monodistichons schrieb, auch Schillers Warnung vor »Weitschweifigkeit« in der Tat beherzigt. Er setzt die von Schiller empfohlene und in den Xenien praktizierte »weise Sparsamkeit« jedoch ein, um Kritik an Schiller zu üben: imitatio zum Zweck der Polemik gegen den Musterautor - agonale imitatio. Die Polemik gegen das sich mit »Despoten und Pfaffen« gemein machende »Genie« in ADVOCATUS DIABOLI ist ebenfalls an Schiller und wohl auch an Goethe gerichtet. Hölderlin war bekanntlich stark von den Ideen der Französischen Revolution affiziert,97 die heftige anti-revolutionäre Polemik in den Xenien und die in diesem Text gefällten ungerechten Urteile über andere revolutionsbegeisterte Literaten wie Forster und Reichardt dürften ihn deshalb schwer enttäuscht haben. Im Text wirft er dem »Genie« nun dessen Anbiederung an anden regime und Kirche und damit den Verrat an den Idealen der Revolution vor. Eine interessante Deutung ermöglicht der Titel, der auf das Ritual der Heiligsprechung anspielt, in dessen Verlauf auf den die Heiligsprechung beantragenden sogenannten Advocates dei ein Advocatus diaboli mögliche Einwände vorzubringen hat. Der Sprecher erhebt also Einwände gegen die Heiligsprechung des »Geniels]«. Mithin argumentiert das Epigramm auch gegen die Erhebung Schillers und Goethes zu Klassikern und unterläuft damit deren Versuch der Selbstkanonisierung durch die Xenien·. imitatio zum Zweck der Dekanonisierung der Musterautoren - subversive imitatio. Am weitesten geht Hölderlins Klassik-Kritik jedoch in dem Monotetrastichon DIE VORTREFFLICHEN. Auch diesen Text kann man als Reaktion auf Schillers Brief verstehen, in dem dieser Hölderlin wie gesagt vor »philosophischen Stoffe[n]« und »Weitschweifigkeit« gewarnt, ihn gewissermaßen also in seinem Streben nach einer höchst anspruchsvollen, reflektierenden Dichtung zu bremsen versucht hatte. Ironisch läßt Hölderlin nun »DIE VORTREFFLICHEN« ZU Wort kommen; wie der Titel verrät, sind sie die Sprecher des Textes. Hölderlin operiert in diesem Fall also auch mit einer für die Xenien charakteristischen Form der Titelgebung. Arrogant und herablassend wenden sich »DIE VORTREFFLICHEN« an ihre scheinheilig als »[ljieben Brüder« apostrophierten Konkurrenten: Diese sollten ihre hochtrabenden Pläne aufgeben und sich mit ihrer Unvollkommenheit abfinden, denn sie seien nur der dem »Kopf« hinterherlaufende »Schweif« (hier wohl zu verstehen im Sinne von >GefolgeXenienAthenaeumGenre begins at homeZahme Xenien< eine contradictio in adjecto im eigentlichen Sinne enthält; so läßt es sich vermuten daß hie und da etwas von der alten wilden Natur hervorblicken werde; es ist bekannt, daß man die angebornen Eigenheiten nicht leicht durch Kunst und Erziehung austreiben könne. 3 3
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Vgl. dazu den Artikel von Regine Otto: »Zahme Xenien.« In: Witte / Otto (Hrsg.): Goethe-Handbuch. Bd. 1. S. 449-454. Vgl. dazu ebd. S. 449f. Suerbaum: »Intertextualität und Gattung: Beispielreihen und Hypothesen.« S.68. F A I I 9 S . 100. 206
Aus dieser Äußerung wird zumeist eine grundsätzliche Ambivalenz des Textes abgeleitet, daß er zahm und wild zugleich sei.34 Der Selbstkommentar ist freilich selbst interpretationsbedürftig und darf keinesfalls bedenkenlos auf den Text übertragen werden. Zunächst muß der Kontext der Äußerung berücksichtigt werden. Der Weimarer Legationsrat von Conta hatte von Goethe die ersten Aushängebögen der neuesten Ausgabe von Ueber Kunst und Alterthum erhalten, in der der erste Teil der Zahmen Xenien enthalten war. Von Conta las daraus in seinem Freundeskreis vor und berichtete Goethe daraufhin brieflich von den Reaktionen der Zuhörer: Allgemeines Interesse erregen die Xenien, die einen Schatz von großen Lebensregeln und die interessanten Ansichten Ew. Excellenz über wichtige Gegenstände enthalten. Hier und da wollten Einige sie doch nicht für ganz zahm passiren lassen. 35
Goethe war von diesem Bericht sichtlich angetan. Er schrieb zurück: E w . Hochwohlgeboren verleihen mir ein wahres Vergnügen durch die Nachrichten von der freundlichen Einwirkung, welche meine neuesten Sendungen in Ihrem werten Kreise hervorgebracht. In der Jugend erringt man sich, durch persönliche Zudringlichkeit und leidenschaftliches Vorlesen, erfreulichen Beifall, das Alter trennt uns nach und nach von empfänglichen Menschen, selten kehrt ein Klang und Ton, den man aussendet, lebhaft und ergötzlich zurück. Lassen Sie mich auch künftig von solchen wünschenswerten Einwirkungen erfahren. 36
Darauf folgt dann die Passage über die Zahmen Xenien. Der in der Forschungsliteratur so häufig angeführte Selbstkommentar war also eine nachträgliche Äußerung Goethes über einen bereits gesetzten Text, die überdies durch eine Reaktion auf diesen provoziert worden war. Insofern ist bei der Applikation des Kommentars auf den Text Zurückhaltung geboten. Das soll jedoch nicht heißen, daß die Passage dem Interpreten überhaupt keine Rückschlüsse auf Goethes Intentionen erlauben würde. Von großem Interesse ist zum Beispiel die Metaphorizität dieser Passage: Goethe spricht über die Xenien, als seien sie menschliche Individuen, deren »Natur« in früherer Zeit einmal »wild« gewesen sei. Damit greift er auf den Metaphernkomplex zurück, der auch der bereits mehrfach zitierten Passage in Schillers Brief an Körner zugrunde liegt: »Das Kind, welches Göthe und ich mit einander erzeugen, wird etwas ungezogen und ein
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Vgl. etwa Otto: »Zahme Xenien.« S. 449. FAII9S.475. Ebd. S. 99.
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sehr wilder Bastard seyn.«3? 1796 figurierten Schiller und Goethe als die Erzeuger der Xenien. Nun, 1820, suggeriert Goethe, er habe ihnen »Kunst und Erziehung« angedeihen lassen, um ihnen ihre »angebornen Eigenheiten«, ihre »alte[] wilde[] Natur« auszutreiben: der Versuch eines Vaters, seine >mißratenen< Kinder zu bilden. Goethe deutet also an, daß die Zahmen Xenien das Ergebnis eines literarischen Experiments sind, nämlich der Domestizierung der Xenien: Der Vater der »verdammten Gattung« macht ein Vierteljahrhundert nach ihrer Zeugung und Geburt den Versuch, sie zu zähmen. Der Erfolg dieses Experiments und damit der Dichotomisierung der Gattung in wilde und zahme Xenien wird von ihm freilich in Frage gestellt, aber eben nur in einem - nicht für die Öffentlichkeit bestimmten - Paratext. Den Sprecher der Zahmen Xenien hingegen läßt Goethe auf die Dichotomie bestehen: Die Xenien sie wandeln zahm, Der Dichter hält sich nicht für lahm; Belieben euch aber geschärftere Sachen, So wartet bis die wilden erwachen.' 8
Im Text wird also eindeutig und kategorial zwischen zahmen und wilden Xenien unterschieden: Diese neuen Xenien seien zahm, die alten wilden aber schliefen nur und könnten jederzeit aufwachen. Wie zu zeigen sein wird, ließ Goethe es in der Tat auch dazu noch kommen. Für die Dichotomie spricht weiterhin, daß Goethe, der sich in diesen Jahren auch wieder über die Xenien äußerte, diese bzw. seinen Anteil daran zu verharmlosen versuchte. So etwa in einem Gespräch mit Eckermann am 18. Januar 1825: Bei Erwähnung der Xenien rühmte Goethe besonders die von Schiller, die er scharf und schlagend nannte, dagegen seine eigenen unschuldig und geringe. Den Tierkreis, sagte er, »welcher von Schiller ist, lese ich stets mit Bewunderung. Die guten Wirkungen, die sie zu ihrer Zeit auf die deutsche Literatur ausübten, sind gar nicht zu berechnen.« 3 '
Goethe, der natürlich genau wußte, daß eine solche von Eckermann überlieferte Äußerung nicht ohne Einfluß auf die Rezeptionsgeschichte des Textes bleiben würde, gab nun bereits seine wilden Xenien als eigentlich zahm aus und suggerierte so eine Kontinuität zwischen seinen Xenien von 1796 und 1820 bzw. 1827. 37 N A 2 II AS.434. 38 F A I 2 S . 6 5 9 . 39 Ebd. II 12 S. 142. Vgl. auch die in der Einleitung zitierte Äußerung Goethes in den Tag- und Jahres-Heften (s.o. 1.1). Dazu Schwarzbauer: »Der Eindruck ist schwerlich zu widerlegen, daß Goethe den Skandal im Rückblick herunterspielen und verharmlosen wollte [...].« Schwarzbauer: Die Xenien. S. 9. 208
Es kann mithin kein Zweifel daran bestehen, daß Goethe die Zahmen Xenien als eine domestizierte Unterart der Gattung Xenion verstanden wissen wollte, gewissermaßen also als eine Subgattung der Subgattung. Das soll natürlich nicht heißen, die Zahmen Xenien wären zahm im Sinne von harmlos; schließlich hält sich der Sprecher selbst nicht für »lahm« und verzichtet ja auch keineswegs auf Satire und Polemik. Gerade in dieser Hinsicht aber sind die zahmen grundsätzlich verschieden von den wilden, noch nicht gezähmten Xenien aus dem Jahr 1796. Es ist nun also zu fragen, welche Parameter des Textes domestiziert wurden bzw. bei welchen der Versuch überhaupt unternommen wurde. Zunächst ist hierbei an die Satire zu denken, denn damit stand die Wildheit der Xenien von Anfang an in einem unmittelbaren Zusammenhang: »Das meiste ist wilde gottlose Satyre, besonders auf Schriftsteller und Schriftstellerische Produkte [...].«4° So Schiller damals an Körner. In der Tat dürfte dies der entscheidende Punkt sein: Die Zahmen Xenien sind keine Pasquille mehr. Der Grundsatz »parcere personis, dicere de vitiis«, der in den Xenien ostentativ und programmatisch mißachtet worden war (s.o. 2.2), wird in den Zahmen Xenien respektiert. Kein einziges Mal wird in diesem Text der Name eines lebenden Autors oder der Titel eines seiner Werke genannt. Die Satire bleibt somit allgemein, niemals konkretisiert sie sich zur Personalsatire. Die Zahmen Xenien wurden auch nicht anonym veröffentlicht, wie es die Tradition des Pasquills gefordert hätte. Im Gegenteil: Die drei ersten Teile des Zyklus erschienen 1820, 1821 und 1824 unter Goethes Namen in seinem von ihm selbst herausgegebenen Periodikum Ueber Kunst und Althertum, der vollständige Zyklus dann 1827 in der Ausgabe letzter Hand. Der Text war also von vornherein als dem Autor Goethe zugehörig erkennbar. Das erste zahme Xenion beginnt denn auch geradezu demonstrativ in der ersten Person. Fünfzehn Jahre nach Schillers Tod hieß es nicht mehr: »Distichen sind wir [...]«, sondern »Ich rufe dich [...]«. Damit ist Goethes alleinige Autorschaft unmißverständlich markiert. Auch die Technik der Perspektivierung durch den Rollencharakter der Rede (s.o. 3.3) ist damit aufgegeben. Goethe gab sich als Kritiker seiner Zeit zu erkennen und wollte auch als solcher erkannt werden. An dieser veränderten Publikationsstrategie zeigt sich ein weiterer wichtiger Aspekt, nämlich die grundlegend veränderte Funktion der Zahmen Xenien·. Dieser Text ist nicht mehr sub specie diei konzipiert, also auf konkrete literaturpolitische Ziele hin ausgerichtet und danach seine NA 2 II AS.434. 209
Gültigkeit verlierend - heteronom - , sondern sub specie aeternitatis,
mit-
hin als vollgültiges, autonomes literarisches Werk, das Goethe gleichberechtigt unter seine anderen Spätwerke einreihte. Diese Abkehr von der unmittelbaren Gegenwart wird auch gleich zu Beginn des Zyklus thematisiert: »Erwachsne gehn mich nichts mehr an, / Ich muß nun an die Enkel denken.« 41 Und noch deutlicher im folgenden Xenion: Wer in der Weltgeschichte lebt, Dem Augenblick sollt er sich richten? Wer in die Zeiten schaut und strebt, N u r der ist wert zu sprechen und zu dichten. 42
Implizit wird hiermit auch der Operativität der Xenien eine Absage erteilt. Das - dem Zyklus in der Ausgabe
letzter Hand vorangestellte - Motto
ist ebenfalls in die Domestizierung einbezogen. Wieder ist es lateinisch, und wieder vierzeilig. An der zitierten antiken Autorität zeigt sich allerdings deutlich die veränderte Konzeption: Nicht Martial wird als Vorbild aufgerufen, sondern Horaz - dessen Name auch explizit genannt wird und damit auch eine andere satirische Tradition: Nicht mehr die aggressive, unklassische Epigrammatik Martials, sondern das ridentem
dicere
verum des Klassikers Horaz. So weist denn auch der Wortlaut des Mottos in eine völlig andere Richtung: Ille, velut fidis arcana sodalibus, olim Credebat libris: neque, si male cesserat, unquam Decurrens alio; neque si bene: quo fit, ut o m n i s V o t i v a p a t e a t v e l u t i d e s c r i p t a t a b e l l a Vita
senis.
Horat. Serm. II., I. v. 30. etc. 43
Bei Horaz ist diese Passage auf den Satiriker Lucilius und dessen literarisches Programm bezogen. Im Kontext der Zahmen
Xenien
ergibt sich
jedoch die paradoxe Situation, daß mit dem eröffnenden »Ille« Goethe gemeint ist: Horaz scheint somit über den alten Goethe zu sprechen. Für diesen ist demnach die Literatur zu einem Medium der Selbstaussprache geworden, des Bekenntnisses; die Nachwelt kann sie dementsprechend als seine Autobiographie lesen. Hierbei wird die veränderte Konzeption nun 41 42 43
FAI2S.621. Ebd. S. 622. Ebd. S. 621. In Büchners Ubersetzung lautet die Passage: »Wie treuen Gefährten vertraute Geheimes seinen Büchern er an, war es schlecht ihm ergangen, nirgendwoanders hin eilend, noch, wenn gut; und so kommt's, daß wie auf geweihter Tafel das Leben sich offen beschrieben darbietet ganz des Alten.« H o raz: Sermones. Satiren. Lateinisch / Deutsch. Ubertragen und herausgegeben von Karl Büchner. Stuttgart 1972. S . 9 1 .
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vollends deutlich: Während das Motto der Xenien den Prüden, Biederen und Scheinheiligen den Kampf ansagte (s.o. 3.5.1), gibt das der Zahmen Xenien an, wie diese zu verstehen seien: als »Bruchstücke einer großen Konfession.«44 Eine Konsequenz der Domestizierung ist auch die Tatsache, daß Goethe den Rekurs auf die antike Gastfreundschaft und das Ritual des Gabentausches nicht erneuerte. Die Semantik der Gabe spielt in den Zahmen Xenien keine Rolle mehr. Das Wort Xenien im Titel verweist nun nicht mehr auf eine metaphorische Substruktur, sondern fungiert nur noch als Gattungsbezeichnung. Damit entfiel auch die Provokation, die die Pervertierung der antiken Kulturtechnik für das Publikum dargestellt hatte und es ist ein Grund dafür gefunden, warum die Zahmen Xenien keine direkten Repliken ausgelöst haben. Die Domestizierung zeigt sich darüber hinaus deutlich an der Struktur der Zahmen Xenien-, zunächst daran, daß Goethe das Prinzip der Gattungsmischung aufgeben hat: Die Zahmen Xenien sind keine »Komödie in Epigrammen« mehr, auch keine Komödie in Sprüchen, sondern schlicht ein Zyklus von Spruchgedichten. Zwar spielen dialogische Strukturen auch hier eine große Rolle, doch werden an keiner Stelle die Gattungsgrenzen überschritten. Drei Xenien mit Sprecherangaben wirken wie Reminiszenzen an die Technik der Kombination von Epigramm und Drama.45 Auch eine Rahmenhandlung hat der Zyklus nicht; der Rekurs auf die Menippea entfällt somit ebenfalls. Auf makrostruktureller Ebene läßt sich im Gegenteil ein Wille zu größerer kompositorischer Einheitlichkeit erkennen: Die Gliederung des Zyklus - der mit seinen 384 Einzeltexten wechselnder Zeilenzahl dem Umfang der Xenien ungefähr entspricht - 46 in sechs Teile mit jeweils eigener Rahmenkomposition trägt entscheidend dazu bei, dem Leser die Orientierung zu erleichtern. Auf mikrostruktureller Ebene finden sich hingegen ähnliche Techniken der Binnenstrukturierung wie in den Xenien, zum Teil sogar dieselben. Eine Strukturanalyse könnte zeigen, daß Paare und Binnenzyklen auch die Mikrostruktur der Zahmen Xenien bestimmen. Eine gegenläufige Bewegung weg von der kompositorischen Einheit ist der Verzicht auf das in den Xenien streng durchgehaltene Prinzip der Monometrie, an dessen Stelle in den Zahmen Xenien durch die Verwendung des variablen Knit44
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46
FAI14S.310. 1,51; V,6; V 5 5 . Ebd. I 2 S. 628,662 und 669. Zwar stehen den 828 Versen der Xenien in den Zahmen Xenien 1843 Verse gegenüber; da letztere jedoch fast ausschließlich Kurzverse sind, ergibt sich ein vergleichbarer Umfang. 211
telverses eine ausgesprochen polymetrische Struktur tritt. Die Texte umfassen von zwei bis zu vierzehn Zeilen, wobei Vierzeiler deutlich überwiegen. Anders als die nicht thematisierte Abkehr von dem Prinzip der Monometrie wird die Abkehr von dem Monodistichon als einem antiken Gedichtmaß und der Rückgriff auf die spezifisch neuzeitliche Spruchform metapoetisch reflektiert. Xenion ΙΙ,ι formuliert es programmatisch: »Wir sind vielleicht zu antik gewesen, / Nun wollen wir es moderner lesen.«47 An die Stelle des betitelten Monodistichons tritt nunmehr das titellose »kleine[] Reimgedicht«,48 auf strenge strukturelle und metrische Fügung folgt mithin größtmögliche formale Flexibilität. Der metrische Rigorismus von Schlegel und Voss, dem Goethe und Schiller in den Xenien mit ironischer Distanz begegnet waren (s.o. 3.1), wird nun offen kritisiert: Allerlieblichste Trochäen Aus der Zeile zu vertreiben Und schwerfälligste Spondeen A n die Stelle zu verleiben, Bis zuletzt ein Vers entsteht, Wird mich immerfort verdrießen. Laß die Reime lieblich fließen, Laß mich des Gesangs genießen Und des Blicks der mich versteht! 49
Daß Goethe in einem ansonsten aus regelmäßigen trochäischen Vierhebern bestehenden Text gerade bei den Worten »Trochäen« und »Spondeen« jeweils einen Spondeus und bei dem Wort »schwerfälligste« eine gegenmetrische Rhythmisierung setzt, verleiht seiner Kritik einen besonderen Nachdruck: Die Schwerfälligkeit des Spondeus wird im Kontrast zu der Lieblichkeit des Trochäus so auch spür- und hörbar. All diese Differenzen zwischen Zahmen Xenien und Xenien kommen umso deutlicher zum Ausdruck, als Goethe den neuen Zyklus analog zu dem alten beginnen läßt. Daß nach den Titeln auch die beiden Motti kontrastiv aufeinander bezogen sind, wurde bereits erwähnt. Ganz offensichtlich hat Goethe aber auch die ersten zahmen Xenien nach dem Muster der Xenien gestaltet. Der besseren Übersicht wegen sei der Beginn hier vollständig zitiert:
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FAI2S.630. II,i2. Ebd. S. 632. Ebd. S. 671. 212
Ich rufe dich verrufnes Wort Zur Ordnung auf des Tags: Denn Wichte, Schelme solchen Schlags Die wirken immer fort.
»Warum willst du dich von uns allen Und unsrer Meinung entfernen?« Ich schreibe nicht euch zu gefallen, Ihr sollt was lernen!
»Ist denn das klug und wohlgetan? Was willst du Freund und Feinde kränken! Erwachsne gehn mich nichts mehr an, Ich muß nun an die Enkel denken.
Und sollst auch du und du und du Nicht gleich mit mir zerfallen; Was ich dem Enkel zu Liebe tu' Tu' ich euch allen.
Verzeiht einmal dem raschen Wort Und so verzeiht dem Plaudern; Denn jetzo wär's nicht ganz am Ort Wie bis hieher zu zaudern.' 0
Die Ubereinstimmungen reichen bis in Details. Zunächst das Prinzip der dialogischen Exposition: Analog zu dem Gespräch der »Xenien« mit »Visitator« und »ästhetischem Thorschreiber« findet hier ein Dialog zwischen dem Sprecher und einem unbestimmt bleibenden Kollektiv statt. Darüber hinaus wird die konsequente Distichomythie am Beginn der Xenien auch in den Texten 1,2 und 1,3 durchgehalten. Und wieder ist von Anfang an - der zentrale Gesprächsgegenstand die Rezeption des Textes: Auch in den Zahmen Xenien wird deren Rezeption inszeniert. Dazu kommt die Gattungsgeschichte: Hatte zu Beginn der Xenien ein fiktiver Rezipient noch nach deren Identität fragen müssen (»Wer seyd ihr? Weß Standes und Characteres?«), gehen die fiktiven Rezipienten der Zahmen Xenien schon davon aus, daß sich der Text von ihnen und ihrer Meinung »entfernen«, daß er »Freund und Feinde kränken« würde. Goe-
s'3 FA I 2 S. 6ιιί. 2 I
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the setzt die Bekanntheit der Gattung und den durch sie einst ausgelösten Skandal also nunmehr voraus. Diese Bezugnahme des neuen Textes auf seinen Mustertext dient in erster Linie dazu, die veränderte Konzeption deutlich zu machen: Auf die zu Beginn der Xenien formulierte und praktizierte wehrhafte Poetik folgt die sich nun ironisch auf die Ars Poetica des Horaz berufende lehrhafte Poetik der Zahmen Xenien. Um den künftigen Rezipienten etwas beibringen zu können, wird auch in Kauf genommen, den Zeitgenossen zu mißfallen (prodesse et non deleetare). Die Provokation der Rezipienten in den Xenien weicht also einer - wenn auch ironisch gebrochenen - Apologie des Produzenten der Zahmen Xenien. Aber auch andere zahme Xenien sind auf die Xenien bezogen. Etwa folgende Frage eines fiktiven Rezipienten: »>Was ist denn deine Absicht gewesen / Jetzt neue Feuer anzubrennen?< [...].«s1 Uber die Metaphorik ergibt sich ein Zusammenhang zu einem metapoetischen wilden Xenion: Afficbe. Stille kneteten wir Salpeter, Kohlen und Schwefel, Bohrten Röhren, gefall' nun auch das Feuerwerk euch.52
Auch an die »Füchse mit brennenden Schwänzen« ist zu denken.53 Wieder dient der Bezug dazu, die veränderte Funktion der Zahmen Xenien zu verdeutlichen. Diese richten sich nicht mehr an die zeitgenössischen Rezipienten, sondern an die Leser späterer Zeiten: »Diejenigen sollen's lesen, / Die mich nicht mehr hören können.«54 Es müßte deutlich geworden sein, daß Goethes produktiver Rezeption der von ihm erfundenen Gattung eine völlige Neukonzeption dieser Gattung zugrundeliegt. Er legt jedoch Wert darauf, daß diese neue auf der Folie der alten Konzeption gesehen wird und ihre Spezifität und Kontrastivität somit tatsächlich auch wahrgenommen werden. Satire und Polemik sind zwar nach wie vor Teil der Gattungspoetik, werden aber anders definiert und funktionalisiert, nämlich nicht mehr als auf den einzelnen Gegner ausgerichtete Personalsatire, sondern als allgemeine Satire, mit der einerseits Kritik an der Gegenwart geübt werden und die andererseits als Medium der Autobiographie fungieren kann. Die Poetik der Grenzüberschreitung wird in den Zahmen Xenien demnach zumindest partiell zu-
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Ebd. S. 622. M-AS.206. »Feindlicher Einfall. | Fort ins Land der Philister, ihr Füchse mit brennenden Schwänzen, / Und verderbet der Herrn reife papierene Saat.« Ebd. S. 209. FAI2S.622. 214
rückgenommen. An ihre Stelle tritt eine Poetik des Bruchstückhaften, des Fragmentarischen und Widersprüchlichen. Diese Neukonzeption des Xenions wird verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund des Goetheschen Spätwerkes sieht, für deren »ästhetisch-literarischen Horizont[]« Borchmeyer eine »entschiedene Öffnung« konstatiert hat: Die entschiedene Öffnung des ästhetisch-literarischen Horizonts, als eine Grundtendenz des Spätwerks Goethes, hängt zusammen mit seiner Einsicht in die historische Bedingtheit jedes ästhetischen Normengefüges und ist so eng verbunden mit einer anderen Grundtendenz: der Selbsthistorisierung Goethes. s s
Der Neukonzeption der Zahmen Xenien liegt somit auch die Erkenntnis der Historizität der Weimarer Klassik zugrunde. Für den alten Goethe wäre ein ungebrochenes Anknüpfen an die ästhetische Position von 1796 nicht möglich gewesen. In bewußter Abgrenzung von diesem geschlossen-normativen, klassischen System entwickelte Goethe das dezidiert offene und widersprüchliche seiner späten Spruchdichtung. Wie die Xenien kanonisiert worden waren, gewannen nun auch die Zahmen Xenien kanonische Geltung, bezeichnenderweise aber nicht mehr im Zuge einer negativen Kanonisierung. Goethes Domestizierung des Xenions hatte also eine Dichotomisierung der Gattung zur Folge. Der Titel einer Xenien-Schrift Karl Manuels aus dem Jahr 1856 kann dies belegen: Wilde und zahme XenienJ6 Eduard von Bauernfeld hatte ein Poetisches Tagebuch in Zahmen Xenien schon 1820 begonnen, als Goethes erste Zahme Xenien also gerade eben erschienen waren.' 7 1843 schrieb Rückert Zahme Xenien, in seinem Nachlaß finden sich aber auch nicht wenige wilde Xenien.58 Ernst Ziels Moderne Xenien von 1889 gehören in diese Tradition,'9 und auch noch eine Schrift Eberhard Schaetzings aus dem Jahr 1985: Die verrückte Gegenwart. Eine ernstheitere Kritik der Gesellschaftslügen unserer Zeit in Prosa und zahmen Xenien.6° Dieser Strang der Gattungsgeschichte kann hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Borchmeyer: Weimarer Klassik. S. 470. s6 Karl Manuel: Wilde und zahme Xenien. O.O. 1856. 57 Eduard von Bauernfeld: Poetisches Tagebuch. In zahmen Xenien von 1820 bis Ende 1886. Zweite Auflage. Berlin 1887. 58 Friedrich Rückert: »Zahme Xenien.« In: ders.: Gesammelte Gedichte. 1. Teil. Frankfurt am Main 1843. Zu seinen wilden Xenien vgl. das 8. Kapitel. " Ernst Ziel: Moderne Xenien. Ein Glaubensbekenntniß in Sprüchen und Strophen. Leipzig 1889. 60 Eberhard Schaetzing: Die verrückte Gegenwart. Eine ernstheitere Kritik der Gesellschaftslügen unserer Zeit in Prosa und zahmen Xenien. München 1985. 2 I
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XENIEN DER GEGENWART: Die Nobilitierung der Gattung
In den Zahmen Xenien hatte man gelesen: »Die Xenien sie wandeln zahm, / Der Dichter hält sich nicht für lahm; / Belieben euch aber geschärftere Sachen, / So wartet bis die wilden erwachen.«1 Das Interesse der literarischen Öffentlichkeit an den Zahmen Xenien war gering; auch dann, als diese 1827 vollständig in der Ausgabe letzter Hand erschienen. Von einem durch sie ausgelösten Skandal kann in jedem Fall keine Rede sein. Im Jahr darauf aber publizierte Goethe die ersten beiden Bände des Briefwechsels mit Schiller, 1829 folgten die Bände drei bis sechs. In der Tat ließ er also nun »die wilden erwachen«,2 denn das Xenien-Projekt nimmt im Briefwechsel ja einen breiten Raum ein. Den Briefen konnte man Hintergründe und Geschichte des Projektes entnehmen, sie boten darüber hinaus reichlich Anlaß für Klatsch und Tratsch. Und tatsächlich interessierte das Publikum sich für diesen Text viel stärker als für die Zahmen Xenien·. Die Wirkung der zu neuem Leben erwachten wilden Xenien war - obwohl seit dem Xenien-Streit mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen war - erstaunlich, noch einmal. Am 26. Februar 1829 schreibt Zelter diesbezüglich in einem Brief an Goethe: Seit der Erscheinung des Schillerschen Briefwechsels wird der Almanac Ii von 97 in allen Winkeln gesucht und ich könnte was verdienen wenn ich mir für mein wohlbewahrtes Exemplar Leihgeld zahlen ließ. Die Wirkung der Xenien ist eben jetzt so gut als neu. Dazumal gab es Teilnehmende, Gerechte, Wütende Getroffne, Betroffne, Hinfällige, Beifällige und alle lachten oder lächelten: m sich, aus sich heraus. Die heutigen könnte man Philologische nennen. Der Gedanke das Wort, der Sinn die Bedeutung; gewogen, erwogen verglichen. Die alten Freier liegen getötet da und keiner läßt sich einfallen daß solch Geschmeiße nachwächst. [...] Wenn Cotta jetzt eine neue Ausgabe der Xenien macht bin ich erbötig Gewinn und Verlust zu teilen. Mein Exemplar habe noch nicht aus Händen gegeben ich selber lese es mit neuen Augen. 3
1 2
FAI2S.659. Boas - der sich auf Varnhagen beruft - zufolge scheint Goethe in dieser Zeit auch eine Neuedition der Xenien erwogen zu haben, und zwar eine kommentierte Prachtausgabe. Mehr ist über dieses Projekt nicht bekannt. Vgl. Boas: Schiller und Goethe im Xenienkampf. Bd. 2. S. 278f. 216
Ein Beleg für diese neue Wirkung der alten Xenien ist die Rezension des Briefwechsels in der Evangelischen Kirchenzeitung.'' Wie aus einem weiteren Brief Zelters an Goethe hervorgeht, muß diese Rezension das allgemeine Interesse noch gesteigert haben.5 Ein weiterer Beleg sind die Litterarischen Scherze, die August Wilhelm Schlegel im Leipziger Musenalmanach für das Jahr 18)2 publizierte. Dort heißt es unter dem Titel An die Dichter der Xenien·. »>Was einer einbrockt, das muß er auch essen.< / Hattet den rostigen Spruch ihr vergessen, / Als ihr die Xenien botet zum Schmaus?«6 Darauf folgt dann auch tatsächlich ein Xenion: Goethes und Schillers Briefwechsel Viel kratzfüßelnde Bücklinge macht dem gewaltigen Goethe Schiller; dem schwächlichen nickt Goethes olympisches Haupt. 7
Also ein weiterer Fall von agonaler imitatio: Schlegel griff die Gattung, deren Genese im Briefwechsel zu verfolgen war, auf und verwendete sie, um ihre Erfinder zu verspotten, zumal Goethe, der zu diesem Zeitpunkt noch lebte. Zelter schrieb daraufhin an Goethe: »Er der das Gewehr umkehrt um gegen die eigene Partei zu feuern hat vergessen Schrot einzutun und bewegt uns die Xenien wieder zu durchmustern wo Hasenfüße und schwerwandelndes Hornvieh nach Hause geleuchtet werden.«8 Die Publikation des Briefwechsels war in der Tat von großer Bedeutung für die Rezeptionsgeschichte der Xenien, denn als Folge des großen 3 4
M A 20.2 S. 1203. Der anonyme Rezensent zitiert seitenweise aus den Briefen, um Goethe und Schiller der Arroganz und Selbstsucht zu überführen: »Unsere Hypopheten verraten es aber in diesem Wörterbuch zu den >Horen< und >XenienXeniengabe für i827< mit Rückblick auf Schillers »Musenalmanach für 1797Die Xenien von 1796/i893Epigramme< nannten, um - aus welchen Gründen auch immer - das »verrufne Wort« zu vermeiden. Ein solches Beispiel ist Kleist; auch Menzel gibt seinem Zyklus den Titel Epigramme, obwohl diese durch Form und Thematik eindeutig als Xenien erkennbar sind und, wie die zitierte Xenie»-Schrift beweist, auch als solche verstanden wurden.46 Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, wurden in diesem Kapitel nur Texte berücksichtigt, die das Wort >Xenien< auch tatsächlich im Titel führen. Aus diesem Korpus wiederum wurden drei Texte ausgewählt, die im folgenden ausführlicher analysiert werden sollen, da sie entweder zumindest eine
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46
aber ebenfalls erst postum veröffentlicht (s. Anhang). Karl Manuels Wilde und zahme Xenien von 1856, Eduard von Bauernfels Poetisches Tagebuch von 1887 und Ernst Ziels Moderne Xenien von 1889 gehören, wie gesagt, in eine andere Traditionslinie (s.o. 7.1). Vgl. Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 2. S. 1 0 4 - 1 1 6 . Ebd. S. i o 5 f . Vgl. dazu Wolfgang Harms: »Epigone.« In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin / N e w Y o r k 1997. S. 457-459. Wie sein »Xemon zum Abschiede« zeigt, identifizierte auch Böttiger Kleists Epigramme als Xenien (s.o. Abschnitt 1.1).
22
5
gewisse Repräs entativität für sich beanspruchen oder als aufschlußreiche Sonderfälle gelten können: Feuerbachs theologisch-satirische Xenien, Herweghs Xenien und Glassbrenners und Sanders Xenien der Gegenwart. Der letzte Abschnitt gilt Friedrich Hebbel, aber nicht seinen Epigrammen, sondern einer Rezension, in der er sich grundsätzlich zu den Xenien Goethes und Schillers äußerte und die deshalb in einer Arbeit über deren literarische Rezeption nicht fehlen darf.
8.i
L u d w i g Feuerbach: Theologisch-satirische
Xenien
(1830)
Als ein Sonderfall sind die Xenien Ludwig Feuerbachs anzusehen. Obgleich in verschiedener Hinsicht ein interessanter Text, haben sie in der germanistischen Forschung bislang keine Rolle gespielt. Sie erschienen als »Anhang« von Feuerbachs erster nicht-akademischer Schrift Gedanken über Tod und Vergänglichkeit aus den Papieren eines Denkers, nebst einem Anhang theologisch-satirischer Xenien, herausgegeben von einem seiner Freunde, die er 1830 anonym publizierte. Die Xenien dürften wesentlich dazu beigetragen haben, daß diese Schrift bereits kurz nach ihrem Erscheinen in Bayern verboten wurde. Als bekannt wurde, daß sie von dem jungen Privatdozenten Feuerbach stammte, der zu dieser Zeit Vorlesungen über Philosophie in Erlangen hielt, war dessen akademische Laufbahn beendet. Mit Feuerbach griff also ein Nicht-Literat auf eine Form literarischen Streitens zurück und instrumentalisierte sie für einen nicht-literarischen Diskurs. Und zwar ganz bewußt: Bereits der Titel deutet darauf hin. Nach Form und Funktion dieser Instrumentalisierung des Xenions wird nun zuerst zu fragen sein. 8.1.1 »Prospekte aus der camera obscura der Gegenwart«: Das Xenion im theologischen Diskurs Zunächst zum Kontext der Publikation: Wie gesagt, waren die Xenien Goethes und Schillers spätestens seit 1828/29 wieder in aller Munde. Die erwähnte Rezension des Briefwechsels in der Evangelischen Kirchen-Zeitung erschien sogar erst 1830. Feuerbach konnte also mit einem großen öffentlichen Interesse an seinen Xenien und damit auch an seiner Schrift rechnen: In der Tat dürfte die Publizität des Mustertextes seinem Text zugute gekommen sein, das »verrufne Wort« die Verkaufszahlen in die Höhe getrieben haben. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß 226
Feuerbach mit seinen Xenien bewußt auf die Rezension in der Evangelischen Kirchen-Zeitung Bezug nahm: Diese hatte ja, mit Zelter gesprochen, Goethe und Schiller in erster Linie der Xenien wegen »ganz anständig herabgechristelt«. Wenn Feuerbach nun ausgerechnet diese von der einflußreichen, der >militanten geistlichen Restauration< zugehörigen Evangelischen Kirchen-Zeitung abgelehnte Gattung für seine Abrechnung mit Theologie und Christentum wählte, war das ein zusätzlicher Affront. Es sei auch noch einmal an Varnhagen erinnert, der 1829 geschrieben hatte, die Zeit sei reif für neue Xenien. Daß der »Wetterausbruch« aber nun von einer theologischen Schrift ausgelöst wurde, dürfte doch eine ziemliche Überraschung gewesen sein. Publizistisches Geschick kann man Feuerbach also nicht absprechen: Er scheint, wie Schiller und Goethe, sein »Wagestück« genau kalkuliert zu haben. Auch er wollte provozieren und machte sich die Mechanismen des literarischen Marktes dafür zunutze. Es wurde bereits erwähnt, daß Feuerbachs Xenien den »Anhang« seiner Schrift bilden bzw. hätten bilden sollen, denn der Setzer vertauschte versehentlich »Anhang« und Schlußkapitel, so daß die Xenien de facto nicht an letzter Stelle erschienen. Doch wies der Herausgeber auf diesen Fehler und die ursprüngliche Intention hin.47 Damit wird, neben der Anonymität der Publikation, bereits eine zweite Analogie zu den Xenien Goethes und Schillers erkennbar, die ja den »Anhang« des Musen-Almanachs gebildet hatten: Feuerbachs Xenien haben einen ähnlich grenzüberschreitenden, exterritorialen Status, auf dessen Funktion noch näher einzugehen sein wird. Schon im Vorwort des anonymen Herausgebers spielt der »Anhang« eine große Rolle: Die Xenien sind größtenteils Prospekte aus der camera obscura der Gegenwart; die Erbärmlichkeit der Zeit mag ihre Derbheit entschuldigen, sie war notwendig. Finden sich hie und da welche, die nicht im strengsten Sinne des Worts korrekt sind, so trägt die Schuld ihrer Einreihung einzig der Herausgeber, der es nimmermehr über sich gewinnen konnte, ihren mnern Gehalt der Prosodie zum Opfer zu bringen, aber auf keine Weise der Verfasser, der, wie schon gesagt, auch hier nicht die letzte Feile anlegen konnte. Übrigens nahm sich der Verfasser auch nicht den Ovid oder Horaz bei seinem Versbau zum Muster, sondern die Schriftsteller seiner Nation; was jenen gesagt sein soll, die sich über die Härte der Schale beklagen, wenn ihr süßer Mund den Kern zu bitter findet. 48
47
48
»Schließlich wird der Leser auch noch dringend gebeten, die durch einen unverzeihlichen Fehler des Setzers nicht gleich den Reimgedichten unmittelbar angereihte Schluß-Prosa vor den Xenien zu lesen, indem sie mit der frühern Prosa schlechthin ein Ganzes bildet [...].« Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke. Bd. 1. Frühschriften, Kritiken und Reflexionen (1828—1834). Berlin 1981. S. 182. Ebd. S. 1 8 1 .
22
7
Diese Apologie des Textes durch den Herausgeber steht in einer langen satirischen Tradition, in die sich auch die Xenien gestellt hatten, denn die Metapher der »camera obscura« verweist auf den Topos des mundus inversus·. Die Welt steht auf dem Kopf, die Gesetze gelten nicht mehr, alles befindet sich in Unordnung. Der Satiriker nun hält dieser verkehrten Welt einen Spiegel vor, um auf diese Weise die Restitution der alten oder die Konstitution einer neuen Ordnung zu bewirken. Diesem Muster folgt die Argumentation des Herausgebers, der die Xenien als eine »notwendig^]« Reaktion auf die »Erbärmlichkeit der Zeit« ausgibt und damit ihre »Derbheit« entschuldigt. So hatten auch die Xenien im Gespräch mit Martial argumentiert. Mit dem Stichwort »Derbheit«, das er aus Feuerbachs Xenien übernommen hat (s.u.), weist der Herausgeber auf die besondere Schärfe der Satire hin. Von vornherein wird also markiert, daß in diesem Text die Grenze des Schicklichen überschritten werden wird. Nicht zuletzt wurde so natürlich auch die Neugierde der Leser gesteigert. Daß diese Grenzüberschreitung aber in der Tat von zeitgenössischen Rezipienten als eine solche wahrgenommen wurde, belegt eine Rezension in der Leipziger Literatur-Zeitung. Der anonyme Rezensent leitet den Abschnitt über die Xenien ein mit den Worten: »Es bleibt uns noch übrig, den Ungeschmack, die Frivolität und die Ausgelassenheit der gereimten Seltenheiten und Xenien nachzuweisen; wir fühlen uns aber gezwungen, unsere Leser um gütige Nachsicht zu bitten, wenn wir ihrem Zartgefühl dadurch zu nahe treten müssen.«49 Hier zeigt sich auch, daß die Wertschätzung der Gattung bei Produzenten und Rezipienten durchaus noch divergieren kann. Aufschlußreicherweise meint der Herausgeber auch metrische Lizenzen entschuldigen zu müssen; er beruft sich dabei auf die Vorbilder des Autors: »nicht [...] Ovid oder Horaz«, »sondern die Schriftsteller seiner Nation«, mithin nicht die römische Klassik, sondern die unklassische deutsche Klassik. Die von ihm in diesem Zusammenhang verwendete Schale-Kern-Metaphorik ist ebenfalls topisch.'0 Wie er weiter ausführt, 49
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Leipziger Literatur-Zeitung. A m 21. des Februar. 44 (1832). Sp. 345-352, hier Sp-350Als prominentestes Beispiel sei hier die >kleine Vorrede< des Simplicissimus zitiert: »Gleichsamb als ob ich nicht wiste / daß ich mich hierdurch frembder Sünden teilhafftig machte; mein lieber Leser / ich bedüncke mich gleichwohl zu solcher profession umb etwas zugut zu seyn / wer derowegen einen Narren haben will / der kaufft ihm zween so hat er einen zum besten; daß ich aber zu Zeiten etwas possierlich auffziehe / geschiehet der Zärthling halber / die keine heilsame Pillulen können verschlucken / sie seyen dann zuvor überzuckert vnd vergült [...].« Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Werke I 1. Heraus228
will er selbst einige Xenien beigesteuert haben: »Der Herausgeber, mit fortgerissen von der lebendigen Flut dieser Xenien, erwärmt von ihrer jetzt so seltenen Glut für die ewige Wahrheit, erlaubte sich, in den Strom ihrer Fülle und Tiefe auch einige Bächlein aus eigener Quelle zu leiten [...].« SI Auch hier also eine Koproduktion. Der Herausgeber stilisiert sich und seinen Freund, den Autor, nicht ohne Pathos zu einem Dichterpaar in der Nachfolge Goethes und Schillers. Nun zu dem »Anhang« selbst. In Schillers Ankündigung hatte man gelesen: Ausser etwa 200 Seiten Gedichte von mehreren berühmten Verfassern, die schon an dem M. Almanach des vergangenen Jahrs den größten Antheil gehabt haben, enthält derselbe noch einen Anhang von mehr als 400 Epigrammen, die sich auf den neuesten Zustand der deutschen Litteratur beziehen, und eine in ihrer Art ganz neue Erscheinung sind.' 2
Feuerbachs »Anhang« nun besteht aus 354 Xenien, darunter größtenteils Monodistichen, aber auch längere distichische Texte und sogar ein Text in paarweise gereimten Alexandrinern. Auch dem Umfang nach nähert er sich also den Xenien Goethes und Schillers an. Das gilt ebenfalls für die Struktur: Die theologisch-satirischen Xenien sind ein durchstrukturierter Zyklus, bei dessen Komposition Feuerbach sich offensichtlich an den Xenien orientierte. Der Zyklus enthält Xenienpaare und Binnenzyklen, weist einen Rahmen auf, auch das Prinzip der »Komödie in Epigrammen« wird an einigen Stellen übernommen. So hat Feuerbach die Szene Die Philosophen umgeformt zu einem Disput zwischen seinem satirischen Sprecher und einem »gelehrten Pietist aus Berlin«, dessen »treuem Freund«, einem »spöttisch-frohen Rationalisten«, einem »Philister«, einem »Laien« usw.53 Und am Ende des Zyklus wird ein Theaterstück aufgeführt.54 An vielen weiteren intertextuellen Rekursen auf die Xenien Goethes und Schillers wird deutlich, wie genau Feuerbach den Mustertext kannte. In dem längeren eröffnenden Text Vorerinnerungen und Erwiderungen entwirft Feuerbach das Programm einer »derben Satire«:
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gegeben von Dieter Breuer. Frankfurt am Main 1989. S. 563. Zu der »satirischen Arznei< als Topos vgl. Deupmann: >Furor satiricusAnderenFuror satiricusAnderen< die eigene aktive. Dabei ist entscheidend, daß Herwegh sich eben nicht die unpolitische klassische, sondern die streitbare unklassische Klassik zum Vorbild nimmt. Die heteronome Poetik der Xenien tritt an die Stelle der Autonomie-Asthetik. Mithin spielt Herwegh die klassische gegen die unklassische Klassik und die zeitgenössische Klassik-Rezeption gegen seine eigene aus. »Was sollen uns noch Schiller oder Goethe?« Herwegh differenziert nun also seine Antwort auf diese Frage, die er zuvor so eindeutig negiert hatte: Als die Autoren der Xenien können Goethe und Schiller sehr wohl noch als Vorbilder fungieren, aber eben nicht mehr als die Autoren der Bürgschaft oder der Braut von Korinth. Hier wird auch der zentrale Unterschied zur Klassik-Rezeption Feuerbachs erkennbar: War dessen Rezeption der Weimarer Klassik eine einheitlich-affirmative, kommt es bei Herwegh zu einer Ambivalentisierung der Rezeption. Die Diskrepanz zwischen Autonomie- und Heteronomie-Asthetik bricht nun auf und wird überdies zum entscheidenden Wertungskriterium für die Beurteilung der Klassik. Die Xenien werden zum Paradigma einer >anderen< Weimarer Klassik, die für die vormärzliche Literatur durchaus noch ein klassisches Muster abgeben kann. Das erinnert an die ironische imitatio der Anti-Xenien; der entscheidende Unterschied ist allerdings, daß diese nunmehr ernst gemeint ist: die unklassische als die eigentliche Klassik. Hatte Feuerbach das Xenion für den theologischen Diskurs instrumentalisiert, ist bei Herwegh eine Politisierung der Gattung zu beobachten. N u n wird das Xenion im politischen Diskurs eingesetzt. Dafür wiederum einige Beispiele: X. A n das Volk. Seht mir am R u d e r die Herrn! Dir überläßt man das S t e u e r n N u n , wer das Steuern versteht, dächt' ich, r e g i e r ' auch das Schiff!' 3
In diesem Xenion setzt Herwegh verschiedene Kunstgriffe ein, um seine Leser auf subtile Weise zur Revolution aufzurufen. Zunächst dient die alte Metapher des Staatsschiffes dazu, 94 die hierarchische Struktur des politischen Systems zu veranschaulichen und als ungerecht und widersinnig zu entlarven. Mittels Deixis werden die Herren am Ruder dem Volk
w
[Herwegh]: Gedichte eines Lebendigen. Bd. 2. S. 104. Vgl. dazu Dietmar Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. München 1983. S. 823-827. 2
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regelrecht vorgeführt: Dieses wird so implizit dazu aufgefordert, seine Lage selbst zu erkennen und zu verändern. Die gegenmetrische Rhythmisierung im Hexameter, durch die die Ansprache des Volkes besonders hervorgehoben wird, macht die Unnatürlichkeit der Verhältnisse spürund hörbar und steigert so auch die Suggestivkraft der Rede. Ebenso wird die Zweiteiligkeit des Distichons zur Agitation genutzt: Die stringente Verknüpfung der beiden Verse läßt die Revolution als eine logische Konsequenz erscheinen. Das Xenion ist das erste innerhalb eines Fortsetzungspaares, in dem der Dialog mit dem Volk weiter ausgebaut wird. Nun wird eines der großen Themen des Vormärz angeschnitten - der Weiterbau des Kölner Doms,95 zu dem Friedrich Wilhelm IV. im Jahr zuvor den Grundstein gelegt hatte: XI. A n Ditto. (Zum Dombau-Album.) Richtig, du bist ein Riese. - Das w a r auch jener Philister, D e m ein winziger Knirps stopfte mit S t e i n e n das Maul!? 6
Diesmal wird die Unnatürlichkeit der Verhältnisse mit Hilfe des Rekurses auf die biblische Geschichte von David und Goliath veranschaulicht: Der Vergleich mit Goliath soll dem Volk zeigen, wie es von der herrschenden Klasse betrogen wird und wie leicht es sich befreien könnte. In einem anderen Xenion verlagert sich der Fokus vom Volk auf die Herrscher, die ironisch exkulpiert werden: XVII. Unglückliche Liebe. N i c h t an den Königen liegt's — die Könige heben die Freiheit: A b e r die Freiheit liebt leider die Könige nicht!' 7
Herwegh nutzt in diesem Fall die Zweiteiligkeit des Monodistichons sowie das Stilmittel des Chiasmus, um die Pointe wirkungsvoll zu konturieren. Mit Frankreich, das als Vorbild für das verspätete Deutschland figuriert, wird in folgendem Xenion wiederum ein Topos der vormärzlichen Lyrik aufgegriffen, der mit einer Licht-Metaphorik aufklärerischer Prägung kombiniert wird:
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Vgl. dazu etwa die bei H e r m a n d abgedruckten Texte: J o s t H e r m a n d (Hrsg.): D e r deutsche Vormärz. Texte und Dokumente. Bibliographisch ergänzte A u s gabe. Stuttgart 1997. S. 1 4 8 - 1 5 3 . [Herwegh]: Gedichte eines Lebendigen. Bd. 2. S. 105. Ebd.
244
S.III.
XLIII. Guten Morgen, Nachbar! Krähe nur, Gallischer Hahn! daß endlich die Deutschen Gespenster Vor dem erwachenden Licht kriechen in's Dunkel zurück.98
Für viele Oppositionelle verkörperte der österreichische Staatskanzler Franz von Metternich den reaktionären Polizeistaat; insofern war Metternich ein Hauptgegner der Vormärzliteratur. 1816 hatte er Schloß Johannisberg am Rhein als Lehen erhalten, worauf das folgende Xenion, das wiederum mit Zweiteiligkeit und Chiasmus operiert, anspielt: XLVIII. Metternich. Weinbau und Politik sind Dir verwandte Geschäfte: Denn du ziehest am Stock Völker und Reben herauf."
Als letztes Beispiel diene ein Xenion, das bayerische Reaktionäre gegen griechische Revolutionäre ausspielt. Neben der Technik der Dialogisierung wird wieder die Zweiteiligkeit des Monodistichons eingesetzt: LI. Griechische Revolution. »Hopfen und Malz, ο Herr, ist an diesen Athenern verloren!« Also berichteten jüngst bairische Bräuer nach Haus. I0 °
In struktureller Hinsicht ist Herweghs Zyklus weit weniger komplex als sein Vorbild, auch als Feuerbachs Xenien. Zwar hat er die Techniken der Binnenstrukturierung übernommen,101 eine Rahmenhandlung gibt es jedoch nicht, und auch das Prinzip der »Komödie in Epigrammen« spielt keine Rolle. Darüber hinaus hält sich Herwegh nicht an das Prinzip der Monometrie; er nimmt nicht nur Monodistichen in den Zyklus auf, sondern auch längere distichische Texte und Xenien in ganz anderen Maßen. Diese Abweichungen von dem Mustertext verdeutlichen aber auch, wie selbstverständlich der Rückgriff auf die Gattung für Herwegh war; er bedurfte der Xenien Goethes und Schillers nicht mehr als eines Schutzschildes. In jedem Fall wird man Sengle darin zustimmen können, daß Herwegh, »dieses rhetorische und dialektische Talent die Form noch recht
?8 Ebd. S. 138. f Ebd. S. 143. 100 Ebd. S. 146. 101 Vgl. etwa das Xenienpaar X X I I (Herr von Cotta) / X X I I I {Ditto) oder den geschlossenen Binnenzyklus X X I V (Zurücktritt der Oberdeutschen Zeitung) X X V I (Derselbigen Grabschrift). Ebd. S. n 6 f . und n 8 f f . 2
45
gut zu handhaben wußte.« 101 Wie nun zu zeigen sein wird, besteht jedoch kein Anlaß, von dem Verfall der Gattung auszugehen, den Sengle mit dem Wort »noch« impliziert.
8.3
Adolf Glassbrenner / Daniel Sanders: Xenien der Gegenwart (1850)
Mit den Xenien der Gegenwart von Adolf Glassbrenner und Daniel Sanders hat die Forschung einen der interessantesten Texte der XenienTradition übersehen. Nur Sengle erwähnt ihn lobend; jedoch geht auch er über eine generalisierende Charakterisierung nicht hinaus.103 Bis heute liegt keine Untersuchung vor, die sich diesem - auch nicht in der Auswahlausgabe der Werke und Briefe Glassbrenners von 1981 enthaltenen - 1 0 4 Text intensiver widmen oder ihn auch nur in die Argumentation einbeziehen würde. Unter anderem liegt das sicherlich an der geringen Rolle, die seine beiden Autoren in der Forschungs-Diskussion spielen. Schon 1980 formulierte Ingrid Heinrich-Jost: »Der Schriftsteller und Publizist Adolf Glaßbrenner wurde bisher in der publizistikwissenschaftlichen wie der literaturwissenschaftlichen Forschung kaum beachtet.«105 Leider gilt dieser Befund nach wie vor, wenn die VormärzForschung der letzten Jahre Glassbrenner auch wieder mehr Aufmerksamkeit schenkte.106 Trotzdem kann er nach wie vor als ein unbekannter Autor gelten. Der deutsch-jüdische Germanist Daniel Sanders - so Ulrike Haß-Zumkehr, von der eine umfangreiche Studie über ihn vorliegt ist eigentlich nur noch im Zusammenhang mit dem sogenannten >Sanders-Grimm-Streit< bekannt: W e r Daniel Sanders überhaupt kennt, kennt ihn als eine der zwei Spinnen, die über den >Wortgarten< der Brüder Grimm, d.h. ihr Deutsches Wörterbuch >gekrochen< sind, w i e Jacob G r i m m sich euphemistisch-polemisch in seiner W ö r terbuchvorrede v o n 1854 ausdrückte. W a r er für die Gründerväter der G e r m a Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 2. S. 114. Ebd. S. n 4 f . 104 Bernd Balzer / Horst Denkler / W i l h e l m Große / Ingrid Heinrich-Jost (Hrsg.): Adolf Glaßbrenner: Unterrichtung der Nation. A u s g e w ä h l t e W e r k e u n d Briefe in drei Bänden. Köln 1981. 105 Ingrid Heinrich-Jost: Literarische Publizistik Adolf Glaßbrenners (1819-1876). M ü n c h e n u.a. 1980. S. 12. I0 Vgl. e t w a Fritz W a h r e n b u r g : »Stadterfahrung i m Genrewechsel: Glaßbrenners Berlin-Schilderungen.« In: Ehrlich u.a. (Hrsg.): Klassik u n d V o r m ä r z . S. 2 7 7 300 u n d Patricia K. Calkins: W o das Pulver liegt. Biedermeier Berlin as Reflected in Adolf Glassbrenner's Berliner Don Quixote. N e w Y o r k u.a. 1998. 102
103
246
mstik noch em schamloser Geselle, so gilt er heute als ein germanistischer A u ßenseiten [...]. Die wenigsten wissen, daß er der erste jüdische Sprachgermanist überhaupt ist [...]. 1 0 7
Und so gut wie niemand weiß, daß er zusammen mit seinem Freund Glassbrenner Xenien geschrieben hat und daß diese Xenien nicht nur in der Geschichte der Gattung eine wichtige Rolle spielen, sondern auch in der Nachmärz-Literatur sowie in der Rezeptionsgeschichte der Weimarer Klassik. Zunächst zu diesem letzten Aspekt: Schon der Titel setzt die Xenien der Gegenwart in Bezug zu den >Xenien der Vergangenheit^ markiert gleichzeitig aber auch eine Distanz, die mit der historischen Differenz zwischen 1796 und 1850 zusammenhängt. In dieser Ambivalenz von Affirmierung und Aktualisierung entfaltet der Text einen vielschichtigen Diskurs über Nachmärz und Weimarer Klassik. Eines der Hauptthemen der Xenien der Gegenwart ist - zentraler noch als bei Feuerbach und Herwegh - die Auseinandersetzung mit ihrem Prätext und dessen Autoren, mithin die eigene Rezeption der Xenien sowie Goethes und Schillers. Dazu kommt ein weiteres Problemfeld: die zunehmende Kanonisierung der Weimarer Klassik, insbesondere der Goethe-Kult des Jubiläums-Jahres 1849, also gewissermaßen die offizielle Klassik-Rezeption. Die Xenien der Gegenwart stehen im Spannungsfeld zwischen dieser offiziell-institutionalisierten und der eigenen, >inoffiziellen< KlassikRezeption. Auch hier fungiert das Xenion somit als Medium der kritischen Auseinandersetzung mit der Rezeption Goethes und Schillers. Dabei setzen Glassbrenner und Sanders aber durchaus andere Akzente als Herwegh. Darüber hinaus überschneiden sich in den Xenien der Gegenwart literarische und wissenschaftliche Rezeption der Xenien Goethes und Schillers, da mit Sanders ja erstmals ein Germanist Xenien schrieb. Auf seine akademische Perspektive dürfte unter anderem die Intensität und Bewußtheit der Klassik-Rezeption in diesem Text zurückzuführen sein. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die veränderte geschichtliche Situation, auf die Glassbrenner und Sanders reagieren und die sie ihren mit spezifisch nacbmärzlichen Xenien zu beeinflussen versuchen. Aufgrund dieser Vielzahl von Aspekten wird den Xenien der Gegenwart hier mehr Raum gewidmet als den Xenien Herweghs und Feuerbachs - nicht zuletzt in der Hoffnung, daß dabei die bisher nur behauptete Ergiebigkeit dieses Textes erwiesen werden kann.
107
Ulrike Haß-Zumkehr: Daniel Sanders. Aufgeklärte Germanistik im 19. Jahrhundert. Berlin / N e w Y o r k 1995. S. 1. 2
47
8·3·ΐ »Pflichtschuldigst gewandert nach Weimar«: Zwischen offizieller und inoffizieller Klassik-Rezeption Schon hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichte folgen die Xenien der Gegenwart dem Muster der Xenien·. Zwei befreundete Autoren treten gemeinsam für eine Sache publizistisch ein - hier für das >Projekt KlassikProjekt Revolution - und schreiben schließlich, enttäuscht durch das Scheitern des jeweiligen Projektes - Mißerfolg der Hören hier, Niederschlagung der Revolution dort - Xenien. Glassbrenner zog im Jahr 1840 von Berlin nach Neustrelitz, Sanders war in Altstrelitz aufgewachsen. Sie lernten sich bald kennen und begannen gemeinsame politische Aktivitäten: »Daniel Sanders gehörte mit Adolf Glassbrenner, mit dem er seit 1846 enger befreundet war, zu den Führern der demokratischen Partei< und den Gründern des Mecklenburg-Strelitzischen Volksvereins mit den örtlichen Gruppen der ReformVereine in Neustrelitz und Altstrelitz.«108 Diese Aktivitäten wurden nicht einmal durch das Scheitern der Revolution unterbrochen: Im Jahr nach der Märzrevolution versuchte Glassbrenner weiterhin seine politischen Ideen in die Praxis umzusetzen. Sanders und Glassbrenner veranstalteten eine Sammlung für die Hinterbliebenen Robert Blums. Außerdem verfaßten sie eine Inschrift für das Denkmal der Märzgefallenen m Friedrichshain, das jedoch nie verwirklicht wurde. Darin heißt es: >Wahret die Freiheit gut!< Wir erkämpften sie Euch mit dem Leben. Diese gemeinsame Gruft deckt [sie!] die Helden des Volkes! 1 " 9
Diese Inschrift des Friedricbshains wurde stattdessen dann in den Xenien der Gegenwart publiziert, die in dieser Zeit enstanden.00 An dieser Tatsache wird schon der enge Zusammenhang zwischen praktischem und literarischem politischen Engagement bei Sanders und Glassbrenner erkennbar, wofür sie in Mecklenburg stark angefeindet wurden. Noch im Jahr der Publikation der Xenien der Gegenwart wurde Glassbrenner schließlich des Landes verwiesen und zog nach Hamburg. Soviel zum Entstehungskontext. Festzuhalten ist, daß bereits die Genese der neuen Xenien dem Muster der alten folgt, wenn auch der Entstehungsanlaß ein anderer ist: eben Politik statt Literatur.
108
00
Ebd. S. 97. Heinrich-Jost: Literarische Publizistik Adolf Glaßbrenners. S. 132. Adolf Glassbrenner / Daniel Sanders: Xenien der Gegenwart. Hamburg 1850. S. 1 1 3 . 248
N u n z u m Text: Gebündelt wie in einem Brennspiegel erscheinen die zentralen Themen gleich zu Beginn des Zyklus, der einmal mehr eine Kontrafaktur der ersten Szene der Xenien
bietet:
ι . D e r beruhigte Visitator. » O e f f n e t , ihr Herren! D i e Schachteln enthalten doch nicht Diamanten, G o l d s c h m u c k , Spitzen und Pill'n?« - N e i n , nur G e d a n k e n sind drin. 2. D i e Polizei. Xenien sind's, im ritterlich scharf, M i ß s t i m m u n g erregend, U n f r o m m , treffend und spitz! Lauter gefährliches Zeug! 3. W i r . D o c h Bajonette nicht sind's. W i r schießen und morden nicht. A l s o D e i n Rechtsboden, er bleibt unangetastet v o n uns. 4. D i e Kritiker. Xenien, wie? Ist's möglich? U n d weder v o n G ö t h e n o c h Schiller? — »Schmutzig gedichtet und roh, w i t z l o s , erbärmlich und plump!« 5. W i r . L u m i n a mundi, verzeiht! Pflichtschuldigst gewandert nach Weimar, H ö r t e n v o m H e r z o g wir: »Schiller und G ö t h e sind todt.« 6. W i r z u m drittenmale. A u c h nicht ganz unähnlich ja sind wir den beiden Heroen. Schaut euch die N a m e n nur an! D a ist das G . und das S . 1 1 1
Wie zu Beginn der Xenien Xenien
der Gegenwart
Goethes und Schillers wird also auch in den
die Rezeption des Textes im Text selbst vorweg-
genommen. Allerdings sind die Verhältnisse hier wesentlich komplizierter, denn die Rezeption des Prätextes wird mitreflektiert: D e m realen Rezipienten werden so verschiedene fiktive Rezeptionen beider Texte geradezu exemplarisch vorgeführt. Mithin sind Text und Prätext in dieser Hinsicht v o n A n f a n g an eng miteinander verwoben. Zunächst ist zu sagen, daß, anders jetzt als in den Xenien Schillers und Goethes, die 1796 ja »eine in ihrer A r t ganz neue Erscheinung« waren, die Kenntnis der Gattung bei realen und fiktiven Rezipienten nunmehr vorausgesetzt wird. U n d wirklich kann die fiktive »Polizei« die Texte sofort identifizieren: »Xenien sind's [...].« D a ß statt des »ästhetischen
Thorschreibers«
im Prä-
text hier »die Polizei« auftritt, verdeutlicht schon die veränderte Ausrichtung der Satire: Primär wird es nicht mehr um literarische Fragen gehen, sondern um Politik. So ist auch schon in der Aussage » D o c h Bajonette nicht sind's. W i r
schießen und morden nicht« eine Anspielung auf die
gewaltsame Niederschlagung der Revolution in Berlin und an anderen
111
Ebd. S . 3 f f . 2
49
Orten zu sehen. Daraufhin melden sich fiktive »Kritiker« zu Wort, die die Xenien der Gegenwart von vornherein abwerten und als epigonal abtun, da sie »weder von Göthe noch Schiller« stammten. »Die Kritiker« vertreten somit den übertriebenen zeitgenössischen Klassik-Kult, der sich ja - wie zu Beginn dieses Kapitels gezeigt wurde - 1850 schon längst auch auf die Xenien erstreckte. Doch die fiktiven Autoren der Xenien der Gegenwart reagieren geschickt auf diese Angriffe, indem sie sich nämlich scheinbar den Gepflogenheiten der Klassiker-Verehrung fügen: »Pflichtschuldigst gewandert nach Weimar [...].« Die Wanderung bzw. Wallfahrt nach Weimar gehörte ja in der Tat - und nicht nur für junge Autoren zum >Pflichtprogramm< der Klassik-Rezeption, war gewissermaßen ein institutionalisierter Teil derselben. Es sei hier nur an die Weimar-Besuche Heines, Grillparzers und des bayerischen Königs Ludwig I. erinnert (s.u. 8.3.4.2). Glassbrenner und Sanders legitimieren ihre Xenien außerdem ironisch mit dem Tod Goethes und Schillers: Deren Amt als XenienAutoren sei nun vakant und müsse neu besetzt werden. Der Legitimation der imitatio dient desweiteren die Berufung auf die gemeinsamen Initialen. Glassbrenner und Sanders schlüpfen also gleichsam in die Masken Goethes und Schillers, aber nur, um die Hüter der klassischen Tradition zu beruhigen: scheinbare Affirmation im Dienste der, wie sich bald herausstellen wird, Subversion - eine weitere Spielart der ironischen imitatio. Wie nicht zuletzt das Stichwort »Heroen« verrät, wird hier nun also die Heroisierung und Monumentalisierung der Weimarer Klassik sowie die damit einhergehende Marginalisierung neuer, nicht an der klassischen Ästhetik orientierter Literatur durch die Institutionen des literarischen Lebens zur Zielscheibe der Kritik: Glassbrenner und Sanders greifen - als inoffizielle Rezipienten Goethes und Schillers - deren offizielle Rezipienten an. Literarische Rezeption der Xenien als Widerstand gegen die institutionalisierte Klassik- und Xewiew-Rezeption: das Xenion als Antidot gegen den Klassik-Kult. Einmal mehr erweist sich hier also die rezeptionsstimulierende Kraft dieses Textes. Widerstand gegen die offizielle Rezeption der Weimarer Klassik leistet auch folgendes Xenion, indem es die deutschlandweiten Goethe-Feiern anläßlich dessen hundertsten Geburtstages 112 in Verbindung setzt zur blutigen Niederschlagung der ungarischen Revolution durch die österreichische Armee:
112
Zur Goethe-Feier in Berlin vgl. Annemarie Magelett: »Die Goethefeier zu Berlin im Jahre 1849.« ' n : Wolfgang Stellmacher / Läszlo Tarnoi (Hrsg.): Goethe. Vorgaben. Zugänge. Wirkungen. Frankfurt am Main u.a. 2000. S. 3 0 3 - 3 1 7 . 250
2 j . Der 28. August 1849. »Göthe's Geburt! Wir feiern sie hoch!« - J a , Deutsche, ihr feiert. Ungarn, das muthige fällt!! Warum, ach, feiertet i h r ? 1 1 3
Wie bei Herwegh werden hier Goethe-Kult und Politikferne der Deutschen in einen Kausalzusammenhang gebracht: jener ersetze diese - die Goethe-Feiern als Substitut des Engagements. Und wie auch Herwegh setzen Glassbrenner und Sanders dieser offiziellen, apolitisch-apotheotischen Goethe-Rezeption ihre eigene, inoffizielle entgegen: Als Autoren der Xenien der Gegenwart rezipieren sie eben bewußt nicht den klassischen Goethe des Egmont, des Tasso und der Iphigenie, sondern den Satiriker und Polemiker Goethe: den unklassischen Klassiker. Damit wird deutlich, daß sich diese Kritik an der Goethe-Rezeption auch gegen eine Harmonisierung und Nivellierung der Klassik richtet, die deren unbequeme Seiten zu verdrängen versucht. Bei der Interpretation der ersten Szene des Zyklus war die Rede von einer scheinbaren Affirmation der Xenien und der Weimarer Klassik im Dienste der Kritik an deren offizieller Rezeption. Im weiteren Verlauf des Textes wird die Ironie dieser Affirmation deutlich, denn Glassbrenner und Sanders entwickeln eine eigenständige, von den Xenien Goethes und Schillers durchaus abweichende, sich aber ausdrücklich zu ihr in Beziehung setzende Poetik des Xenions.
8.3.2 »Göttliche Grobheit«: Zu Poetik und Semantik Was die Formulierung dieser Poetik betrifft, folgen die Xenien der Gegenwart der Gattungstradition, denn dies geschieht nicht extratextuell, sondern textimmanent: Der Text theoretisiert sich selbst. Allerdings nehmen die Xenien der Gegenwart insofern eine Sonderstellung in der Tradition ein, als das poetologische Programm in keinem anderen Text so ausführlich entwickelt wird. Trotzdem kann von einer eigentlichen Theorie des Xenions auch hier nicht die Rede sein. Ein zentraler Aspekt bei der Selbsttheoretisierung der Xenien der Gegenwart ist die Abgrenzung von ihrem Prätext. Entscheidend sind dabei die unterschiedlichen historischen Voraussetzungen von 1796 und 1850. Diese und die daraus resultierenden poetologischen Konsequenzen werden zu Beginn des zweiten Buches programmatisch thematisiert, indem sich die neuen an die alten Xenien wenden:
113
Glassbrenner / Sanders: Xenien der Gegenwart. S. 47.
ι. Die Göthe=Schiller'schen Xemen im Musenalmanach für das Jahr 1797. Auf dem Theater der Welt laut tobte die Revolution. Da Blitztet und donnertet ihr - wo? Auf dem deutschen Parnaß! 2. Jetzt. Dunkel und dunkler nun zieht am politischen Himmel Gewölk auf. Schwüler und drückender wird's. - Schließet, Philister, euch e i n . " 4
Kontrastiv aufeinander bezogen werden das Gewitter - diese Metapher begegnete bereits bei Varnhagen (s.o. 8) - der Xenien auf dem »deutschen Parnaß« im Jahr 1797 und das der Xenien der Gegenwart am »politischen Himmel« von 1850, wobei die Aktualität des neuen Textes emphatisch im Titel des zweiten Xenios betont wird. Wieder wird somit Kritik geübt an der selbst in revolutionären Zeiten apolitischen, ausschließlich auf Literatur bezogenen Satire der Xenien, der die dezidiert politische Satire der Xenien der Gegenwart gegenübergestellt wird. Glassbrenner und Sanders gehen damit freilich über die Tatsache hinweg, daß in den Xenien durchaus auch Politiksatire enthalten ist, wahrscheinlich aufgrund deren revolutionskritischer Tendenz. Das Programm der Politisierung des Xenions kann vor der Folie eines apolitischen Prätextes natürlich besser konturiert werden; auch deshalb wohl ist für Differenzierungen an dieser Stelle kein Raum. Noch deutlicher formuliert wird die Politisierung der Gattung zu Beginn des vierten Buches: 1. Römische und deutsche Xenien. Haec licet hospitibus pro munere disticlia mittas. Mart.
Statt Gastgaben, den Freunden gesandt von dem römischen Dichter, Wurden in Deutschland wir Pillen, dem Feinde gereicht. 2. Die früheren Xenien. Schiller und Göthe, die theilten sie aus, l i t e r a r i s c h e n Inhalts. Deutschlands Leben, es war damals nur auf dem Papier. 3. Unsere Xenien. Endlich nun rührt Politik doch sich auch und politischen Inhalts Nehmt Gastgaben von uns. Eßt und - bekomm' es euch w o h l ! " 5
Hier tritt neben die gattungstheoretische Reflexion im Text nun auch die textimmanente Gattungsgeschichtsschreibung: Die Geschichte des Xenions wird bis zu Martials Xenia, also dem Prätext des Prätextes zurückverfolgt. Glassbrenner und Sanders stellen ihren Text in die Reihe Xenia (»Römische [...] Xenien«) - Xenien (»Die früheren Xenien«) - Xenien 114
Ebd. S.39. Ebd. S. i n f .
2 2
5
der Gegenwart (»Unsere Xenien«). Dabei werden die »römischen« von den »deutschen Xenien« kategorial unterschieden. Die differentia specifica besteht in der Funktion der Xenien: »Gastgaben, dem Freunde gesandt« bei Martial, »Pillen, dem Feinde gereicht« bei Goethe und Schiller sowie Glassbrenner und Sanders - gastliche und ungastliche Gaben, Gastfreundschaft und Gastfeindschaft. Die differentia specifica zwischen Xenien und Xenien der Gegenwart hingegen ist nicht funktionaler, sondern thematischer Art: der »politische[]« statt des » l i t e r a r i s c h e n Inhalts«. Mithin rekurrieren Glassbrenner und Sanders auch auf die Semantik der Gattung und setzen damit wiederum einen neuen Akzent. Denn hatte Weber diese in seinem Titel noch aufgegriffen und Feuerbach zumindest noch darauf angespielt, war sie bei Herwegh völlig verschwunden. Das Wort >Xenion< war zum Gattungsbegriff geworden. Glassbrenner und Sanders aber reaktivieren die metaphorische Substruktur, und zwar nicht nur an dieser einen Stelle. Zum Beispiel wird auch in folgendem Text die Semantik der Gabe mittels eines Rekurses auf einen weiteren Prätext des Prätextes aufgerufen. Angespielt wird nun auf die bereits zitierte (s.o. 4) Polyphem-Episode der Odyssee, gewissermaßen die Urszene der Gastfeindschaft: 54. Der C y k l o p an die Xenienschreiber. [...] Horn. Odyss. IX. 369. Erst nach Kinkel und Temme, nach Ziegler, Jacoby und Waldeck Freß' ich euch auf. Dies gelt euch als das Xeniengeschenk. 1 1 6
Die Autoren wenden die Gastfeindschaft hier ironisch gegen sich selbst: Auch die »Xenienschreiber« werden zu Opfern des ungastlichen Zyklopen - allerdings erst nach den genannten anderen Autoren und Politikern, die allesamt von Glassbrenner und Sanders angegriffen werden. Die Poetik der Xenien der Gegenwart wird aber nicht nur textimmanent reflektiert, sondern auch im paratextuellen Bereich. Jedem Buch ist ein Motto - jeweils ein Xenion - vorangestellt. Das größte Gewicht kommt dem Motto zu, das dem gesamten Text als Motto auf dem Titelblatt vorangestellt ist. In ihm wenden sich die Autoren direkt an ihre Leserschaft: Wundert euch nicht, daß wir grob. Ehrt göttliche Grobheit! Sie einzig Ist ja das Medicament für ein entnervtes Geschlecht. 1 1 7
Zentraler Begriff ist die»Grobheit«. Wie Feuerbachs »Derbheit« wird sie legitimiert, indem sie als einziges Mittel ausgegeben wird, mit dem das 116 Ebd. S . 2 1 . " 7 Ebd. Titelblatt.
2
53
»entnervte[]«, mithin schwache und passive deutsche Volk kuriert werden könnte. Auch hier also eine - sich möglicherweise auf Feuerbach berufende - medizinische Metaphorik: Die Satiriker als Arzte, die Xenien als von ihnen verabreichtes Remedium gegen das grassierende Desengagement. Anders als bei Feuerbach wird das Programm stilisiert zur »göttlichein] Grobheit«, woran man wiederum den hohen Stellenwert des Xenions im literarischen System des Vor- bzw. Nachmärz erkennen kann, in dem die Radikalität einer Gattung eben positiv konnotiert ist. Anders als bei Feuerbach bedeutet »Grobheit« hier auch wieder Pasquillizität. Schonungslos werden in den Xenien der Gegenwart Namen genannt: von lebenden Politikern und Fürsten, von Autoren und anderen Instanzen des literarischen Lebens. Wieder ist die Satire gegen die Gesamtheit der Kultur ihrer Zeit gerichtet. In der Schärfe der Satire stehen die Xenien der Gegenwart den Xenien in nichts nach; ja sie übertreffen sie stellenweise sogar. Im Vergleich dazu wirken die Xenien Feuerbachs und Herweghs geradezu harmlos. In vier weiteren Motti wird das Programm der »göttlichen Grobheit« weitergeführt: An den Dichter. [...] Horn. IL I. 49. Willst du verwunden, Poet, laß klangvoll, wie des Gesangs Gott Emst m das griechische Heer deinen verletzenden Pfeil Schwirren vom silbernen Bogen, und Anmuth wahr' auch im Groll noch! Nie mit dem Feinde zugleich werde die Schönheit verletzt. An die Philister. Schönheit, wir ehren dich hoch, ο du Göttliche! Aber dem Götzen Opfern, ihr Prüden, wir nie, den statt der Göttin ihr ehrt: Anstand, der mattherzig, versteckt nur duldet die Wahrheit. Frisch aus dem Meer, unverhüllt, stieg Aphrodite empor. Ermuntrung zu rastlosem Kampf. Auf! nicht ruhe der Pfeil! Kampf gilt's! Auf, tödtet den Python! Scheuchet das kleinre Geschmeiß leuchtenden, strahlenden Blicks! Gebet. Gott des Gesangs und des Lichts, Ferntreffer Apoll, ο verleih' uns, Daß wir die Pfeile des Lieds klingend, mit leuchtendem Blick Werfen an's sichere Ziel! Schon sausen die Xenien. Leser, Lausch' des Hexameters Schwung und des Pentameters Fall! 1 1 8
118
Die Seiten mit den Motti sind nicht paginiert. 2
54
Als ob sie das - damals ja noch unpublizierte - Xenion Goethes und Schillers gekannt hätten, berufen sich Glassbrenner und Sanders auf das »doppelte Amt« des Apoll: »Saiten rühret Apoll, doch er spannt auch den tötenden Bogen, / Wie er die Hirtin entzückt, streckt er {denPython i n Staub.« 119 Allerdings entwickeln sie dabei kein dichotomes, sondern ein integrales Programm, in dem beide Funktionen - die des »Musageten« und des »Schützen« - I 2 ° vereint werden: »[...] Anmuth [...] im Groll noch [...]« - »Nie mit dem Feinde zugleich werde die Schönheit verletzt.« Der zweite Leitbegriff neben den sich entsprechenden Begriffen »Anmuth« und »Schönheit« ist die »Wahrheit«, die in Opposition zu dem bloßen, erkenntnisverhindernden »Anstand« der »Philister« gedacht wird. Formuliert wird somit auch ein emphatisches Bekenntnis zur Satire und ihrer Funktion als Medium der Wahrheitsfindung: Je radikaler der Gestus der Satire, desto mehr dient diese der »Wahrheit«. Das bedeutet eine Nobilitierung der Pasquillizität, die - Anfang des 19. Jahrhunderts noch perhorresziert - nun geradezu als Garant der Wahrhaftigkeit erscheint. Die Reihe der Motti endet, nach einer - aufgrund des Wortspieles »Apoll, o« gleichsam augenzwinkernden - Anrufung des Apoll, mit einer Anrede des Lesers. In ihr wird, in Abgrenzung zu Schillers Das Distichon, die Dynamik der beiden Verse des Monodistichons neu metaphorisiert: »Schwung« und »Fall« statt Steigen und Fallen. Das Motto des ersten Buches greift diese Metaphorik auf. Es kündigt einen Waffenwechsel an; Glassbrenner und Sanders verfügen nicht nur, wie Goethe und Schiller, über den apollinischen Pfeil, sondern auch über die - »Grobheit« indizierende - »herkulische Keule«. Neben die höchste literarische Autorität Homer tritt hier als zweiter mythologischer Schirmherr neben Apollo also Herakles, der für die Radikalität der Satire zuständig ist: Schwung und Fall. Aber die Xenie schwingt die herkulische Keule zugleich auch, Reißt auch, gewaltsam im Fall donnernd den Feind mit hinab.
8.3.3 »Fastnachtspiel, Leser, ist Alles«: Zur Struktur Im Hinblick auf die Struktur des Textes ist die imitatio der Xenien offenkundig; sie weist aber auch deutliche Züge von aemulatio auf. Glassbrenner und Sanders treten in einen Wettstreit mit Goethe und Schiller, der schon beim Umfang beginnt: Die Xenien der Gegenwart bestehen aus 5
I2
F A I 1 S.491. ° So in dem - ebenfalls unpublizierten - Xenion Das Monodistichon 2.1).
(s.o. Kapitel
2
55
Büchern mit je 100 Xenien, das fünfte umfaßt sogar 112, insgesamt - mit allen Motti - also 521 Xenien. Insofern sind die Xenien der Gegenwart deutlich umfangreicher als die Xenien, deren Umfang ja schon alle Grenzen gesprengt hatte. Die »alle Messung überschreitende^ Fülle« des Prätextes wird also sogar noch überboten. Dabei wird aber auch deutlich, daß Glassbrenner und Sanders versuchen, ihrem Text eine größere strukturelle Einheitlichkeit zu verleihen, ihn also gleichsam zu >verbessernverbessernverbessern< wiederum also der Wettstreit mit den Vorgängern. Der menippeische Reisende ist nun konsequent als die Figur des »neuen Odysseus« 1 ' 2 zu erkennen, auf dessen Identität noch näher einzugehen sein wird. Verändert wurde außerdem die - in den Xenien ebenfalls stellenweise inkonsistente - Feinstruktur: Waren die epischen Elemente der Odyssee in den Xenien eliminiert und durch dramatische ersetzt worden, orientieren Glassbrenner und Sanders sich wieder enger am homerischen Prätext. Der Modus der rückblickenden Erzählung wird beibehalten, nur der IchErzähler Odysseus abgelöst von einem Erzähler, der die Begegnungen des neuen Odysseus in der Unterwelt retrospektiv schildert. Die Katabasis wird nun also dedramatisiert und reepisiert. Statt von den Szenen einer »Komödie in Epigrammen« müßte demnach eher von den Episoden eines >Epos in Epigrammen< gesprochen werden. Allerdings wird, wie in der Odyssee, an einigen Stellen auch wörtliche Rede zitiert, manchmal sogar ohne einleitende verba dieendi, wodurch dann doch wieder der Eindruck dramatisch-epigrammatischer Szenen entsteht. Mithin wird die strukturelle Hybridität der Katabasis in den Xenien in den Xenien der Gegenwart noch ein Stück weiter getrieben - aemulatio auch hier. Mit 63 Xenien - also beinahe zwei Dritteln des zweiten Buches - ist diese Reise in die Unterwelt beinahe so umfangreich wie die des Prätextes. Wie diese ist auch die Katabasis in den Xenien der Gegenwart gerahmt. Aus dem Dialog der Muse mit den Xenien wird hier ein fiktiver Dialog zwischen dem Erzähler und einem Leser: 37. Einladung. Fort drum, aus Deutschland fort! Schnell mit! In den Hades hinabsteig! Graus't dir? - Fastnachtspiel, Leser, ist Alles. N u n komm. 38. Auf dem Karneval. Welch ein Gewühl! Forsch, ob du die Masken erkennest. Doch laß nicht 'S fliegen Confetti umher! - weiß dir 'was machen, ο Freund. 131
132
»Agamemnon. | Bürger Odysseus! Wohl dir! Bescheiden ist deine Gemahlin, / Strickt dir die Strümpfe, und steckt keine drey Farben dir an!« M - A S. 286. So im Litel des 41. Xenions: »Die Verlegenheit des neuen Odysseus.« Glassbrenner / Sanders: Xenien der Gegenwart. S. 52. 2
59
39· Alt und jung. »Siehst du die Alte da wohl?« - J a , alt ist die Maske, dahinter Birgt sich ein junges Gesicht. Lustiger Karnevalscherz! 40. Homerus redivivus. So m antikem Gewand herschreiten die Xemen. Aus dem antiken Gewand lacht ein moderner H u m o r . 1 ' 3
Wie in den Xenien die Xenien von der Muse gewissermaßen gezwungen worden waren, in den Hades hinabzusteigen, wird in den Xenien der Gegenwart der »Leser« vom Erzähler, der hier die menippeische Mentorenrolle übernimmt (s.o. 3.5.3.2), gleichsam an der Hand genommen. Er klärt den »Leser« darüber auf, was ihn im Hades erwarten wird. Mittels der Metapher des »Fastnachtspiel[s]« wird der partiell dramatische Charakter des Abschnittes explizit thematisiert: Statt einer Komödie nun also ein Fastnachtsspiel in EpigrammenPraecursors< oder >EinschreiersRath willst du? Weiche, Odysseus! Z u s p ä t ! « I4S Es folgt ein Streitgespräch, auf dessen Höhepunkt der alte Fritz den Ratsuchenden beschimpft und ihn zu den Schatten schickt: »Nein! nicht gleichest du Mir. N o c h im Aides bleibt mir der Geist. Geh, / Der dein Selbst du verlorst, Schemen, zu Schemen dahin!
-,«I4s>
Friedrich der Große dient also als
Kontrastfigur, mittels derer die Erbärmlichkeit des namenlosen deutschen Nachmärz-Fürsten umso deutlicher konturiert wird. Ein Xenion, in dem der Leser angesprochen wird, dient als Uberleitung zu weiteren, zum Teil frei erfundenen Begegnungen: 147
Haß-Zumkehr: Daniel Sanders. S. 99. Glassbrenner / Sanders: Xenien der Gegenwart. S. 59. I4 ? Ebd. S. 60. 148
264
70. Der geräumige Platz. Locus est etpluribus umbris. H ö r . Epist. I. 5. 28.
Schemen da huschten vorüber soviel. Nachfolgen noch mehr stets, Platz ist unten genug. Leser, beliebt es vielleicht? 150
Unter diesen »Schemen« befinden sich - eine Anspielung auf Herweghs Gedichte eines Lebendigen - Fürst Pückler-Muskau (Der doppelt Verstorbene), nochmals Gagern (Odysseus zu Gagern / Schlechter Trost), außerdem führt der neue Odysseus ein sich auf die Aeneis beziehendes Selbstgespräch am Styx. Nun folgen, wieder in der Reihenfolge der Odyssee, Begegnungen mit den »Heroen«: Ajax alias Börne (Odysseus und der grollende Ajax), Minos (Höllenqualen), Tityos alias Ungarn (Tityos), - als Einschub mit Bezug zur Aeneis - Orest alias Artür Görgey (Orest), Tantalus (Tantalus) und Sisyphos alias das Volk (Sisyphos). Ein Einschub mit Bezug zu Ovids Metamorphosen schließt sich an. Nun figurieren die Dana'iden als Volk: 82. Die Dana'iden. (Oy. Met. IV. 462.) Und Schatzkammern, ein Faß mit durchlöchertem Boden, zu füllen, Müht sich das thörichte Volk immer und ewig auf's Neu. 8 3. Umwandlung. [ . . . ] (Horn. Od. IV. 60.)
Doch schon sieht er, es läßt danai'disches Werk. Und die Hand streckt Weiter es aus, nimmt Brot, nimmt sich die Freiheit zugleich. 84. Die neue Zeit. (XI. 633) Ja, statt Schatten ein Volk! Sein Wille ist höchstes Gesetz dann. Dieses erblickt' er, es packt Furcht ihn, er fliehet entsetzt. 1 * 1
Der neue Odysseus wird nun also mit einer »Umwandlung« des Volkes konfrontiert: Es legt die Arbeit nieder und nimmt sich Brot und Freiheit. Mithin wird Odysseus Zeuge eines Umsturzes der bestehenden Ordnung: Das ancien regime ist überwunden, »die neue Zeit« bricht an. Die Monarchie wird durch die Demokratie abgelöst. Doch die Angst vor dieser Staatsform läßt ihn davonlaufen - in die »fürstliche Hölle«. Dieser Binnenzyklus im Binnenzyklus (Die fürstliche Hölle - Thronbesteigung), in dem die Szene Die Philosophen aus den Xenien variiert wird, ist der Höhepunkt der Höllenfahrt. Anstelle des philosophischen Disputes wird hier eine Versammlung europäischer Könige geschildert:
Ebd.
S.62.
's 1 Ebd. S.66L 265
85. Die fürstliche Hölle. Incidit in Scyllam.
Hin in die fürstliche Hölle nun floh er. Wie saßen in Gottes Gnaden die Fürsten so stolz! Herrscher — nur ohne ein Volk. 1 * 2
Ein Auszug daraus, in dem gleich drei Ludwigs - die französischen Könige Ludwig XIV. und Ludwig XV. sowie Ludwig I. von Bayern - angegriffen werden, sei hier zitiert: 88. L u d w i g X I V . Divümquc sibi posccbat honorem Delliens. (Virg. Acn. VI. 590)
L u d w i g erblickte er dort, ohnmächtiges Schattengebild nur; Doch wahnsinnig noch rief's immer: »Der Staat, das bin Ich.« [...] 90. Zwei Ludwige. [ . . . ] (Horn. Od. XI. 216)
Dann zwei L u d w i g e noch, mit der Pompadour einer, der andre Teutsch seind, Tänzerin Freund, Platz in Walhalla verleih'nd. 1 ' 3
Der Paratext des Xenions »LudwigXIV.« nun rekurriert auf eine weitere, zwischen Odyssee und Xenien liegende Textschicht: Vergils Aeneis. Die entsprechende Passage bezieht sich auf Salmoneus, der in der Unterwelt büßen muß, »dieweil er«: Juppiters Blitz nachäffte und Donnergeroll des Olympus. Fuhr er im Viergespann doch und Fackeln schwingend dahin durch Griechenvölker und zog durch die Stadt im Herzen von Elis stolz triumphierend und heischte für sich die Ehren der Götter, wähnte verblendet, den Sturm und den unnachahmlichen Blitzstrahl vorzutäuschen durch Erz und der Rosse hürnenen Hufschlag. 1 5 4
Die intertextuelle Maskerade dient in diesem Fall also dazu, den Sonnenkönig als Postfiguration des mythischen Salmoneus und somit der Hybris zu überführen. Außer König Karl IX. und Kaiser Ferdinand treten »noch zwei Ferdinande (VII. und II.)« sowie »KarlX. und Louis Philipp« auf sowie der » V e r w e s e r des Reiches« ( D e r Verweser / Schnell und schneller). D e r Bin-
nenzyklus und mit ihm die Katabasis endet mit der Anbetung des neuen Odysseus durch die versammelten Monarchen und seiner anschließenden Inthronisierung, mithin der Restitution der alten politischen Ordnung:
152
154
Ebd. S.67. Ebd. S. 68f. Aeneis V I , 586-591. Vergil: Aeneis. S. 255. 2 66
97· Der Meister. Die nun sah er und mehr. Es erhoben die Schemen sich alle, Beugten vor ihm sich und schrien: »Starker, gewaltiger Herr!« 98. Wieder gutgemacht. »Muß vor dem Volk einst nieder ein Fürst sich auch beugen: gedoppelt Beugt er zu Boden es bald, ehrend das Fürstengeschlecht.« 99. Thronbesteigung. »Unserer würdig, nun steig auf den Thron! Wir kredenzen zum Gruß Dir, Vetter und Herr, den Pokal, den Wir mit Blut Dir gefüllt.« — ^
Hier zeigt sich nun die entscheidende Differenz zwischen der Höllenfahrt des neuen Odysseus und der in den Xenien in voller Deutlichkeit: die Umdeutung und Umwertung des satirischen Sprechers bzw. der Odysseus-Figur. War diese in den Xenien eine rücksichtslos die Autoren verurteilende und verspottende, dabei aber positiv gewertete Instanz, wird sie in den Xenien der Gegenwart zu einer negativen Exempelfigur, die dem Leser auch überdeutlich als eine solche vorgeführt wird. In dem den Rahmen schließenden fiktiven Dialog zwischen dem Leser und den Autoren, die nun auch die Rolle der >Ausschreier< übernehmen, wird die Identität des neuen Odysseus explizit thematisiert: 100. Der Leser und Wir. »Wer ist Odysseus?« Keine Person! N u r Wesenheit liehen Wir dem despotischen Geist, der in Europa regiert.
Die Autoren reißen der Hauptfigur am Ende des Fastnachtsspiels also gleichsam selbst die Maske herunter. Hinter dem antiken griechischen König kommt die Fratze eines feigen und verlogenen, für den Machterhalt rücksichtslos mordenden deutschen Fürsten zum Vorschein. Anhand der Begegnungen dieses Fürsten in der Unterwelt wird dem Leser die jüngste deutsche Geschichte in satirischer Zuspitzung noch einmal vor Augen geführt: Anbrach einer »neuen Zeit« und Revolution - blutige Niederschlagung derselben - Rückfall ins ancien regime und Restauration. Analog zu der Ausrichtung der Kritik an der herrschenden Klasse werden die Ereignisse also nicht in der für die Satire typischen Froschperspektive gezeigt, sondern gleichsam >von obenHoren< heraus, in denen bekanntlich fast alle seine unsterblichen Abhandlungen erschienen; ach Gott, was sind die langweilig! Goethe ist eifriger Mitarbeiter, liefert seine Elegien, sein Märchen und wie Vieles mehr; du lieber Himmel, wie wenig genügt dies alles den Anforderungen, die der letzte Recensent an einen Genius stellt. Dagegen wird ein Lorenz Stark von Johann Jacob Engel unter verächtlichen Seitenblicken auf den Wilhelm Meister bis über die Sterne erhoben, ja es giebt Kritiker, die aus Dummheit oder Bosheit Goethe für den anonymen Verfasser erklären und ihm für das Meisterwerk die »Iphigenie« und den »Tasso« vergeben.208
Nach Hebbels Argumentation besteht Boas' Verdienst also darin, mit seiner Schrift eine ältere Schicht der Rezeption freigelegt zu haben, die die aktuelle konterkarieren oder zumindest relativieren könne - XenienForschung als Antidot gegen die Auswüchse der Rezeption in der Ge-
206 207 208
Rolle gespielt haben, hat Albrecht Schöne gezeigt. Vgl. Albrecht Schöne: Schillers Schädel. Zweite, durchgesehene Auflage. München 2002. S. 2iff. Hebbel: Sämmtliche Werke. Bd. 1 1 . S. 380. Prolog zu Goethes hundertjähriger Geburtsfeier. Ebd. Bd. 6. S. 298-302. Ebd. Bd. n . S . 3 8 o f . 282
genwart. Was Glassbrenner und Sanders im Jahr zuvor mit ihren Xenien der Gegenwart geleistet hatten, nämlich die Kritik an der Heroisierung und Harmonisierung der Weimarer Klassik, wird hier nun also der Germanistik zugeschrieben. In gewisser Weise instrumentalisiert Hebbel damit Boas' Schrift für seine Rezeptions-Kritik; und so verwundert es nicht, daß Boas sich davon distanzierte.209 Nun aber zum entscheidenden Punkt in Hebbels Argumentation: Damals hätten Goethe und Schiller zur Verwunderung von Publikum und Kritik sich selbst gegen die Fehlrezeption gewehrt, indem sie nämlich zum Gegenangriff übergegangen seien. Goethe und Schiller figurieren also nicht, wie Christus, als Märtyrer, sondern als Streiter für ihre - gerechte - Sache. Hebbel zeichnet das Bild einer wehrhaften Klassik·. Seltsamer Weise hatten die Heroen keine Gladiatoren=Natur; statt sich langsam zu Tode geißeln zu lassen und nur für würdige Drappirung des Mantels im Momente des Zusammensinkens zu sorgen, machten sie kehrt und zeigten der erstaunten Welt, daß die Leier ein Instrument ist, womit man unter Umständen auch um sich hauen und namentlich platten Köpfen, welche für die in den Saiten schlummernde Harmonie kein Ohr haben, einen tüchtigen Schlag versetzen kann. Das Resultat des Kampfes waren die X e n i e n , die berühmten Epigramme [...]. 210
Wohl im Bezug auf das bei Boas abgedruckte Xenion Das doppelte Amt,211 greift Hebbel bei der Beschreibung der kämpfenden Klassiker auf die Vorstellung von Apollo als dem strafenden Gott zurück. Auch hier indiziert dieser Rekurs die Rechtmäßigkeit des Kampfes. Hebbel hat sich damit völlig die Deutung zu eigen gemacht, die Boas' Darstellung des >Xenien-Kampfes< zugrundeliegt,212 wobei diese Darstellung wiederum der Argumentation der Xenien folgt: Die Weimarer Klassik eben als eine wehrhafte Klassik, das Xenion als ihr legitimes Medium 20?
210 211
212
»Demnächst muß ich erklären, daß ich die Ansicht des Recensenten über Goethe's Briefe an Frau von Stein durchaus nicht theile; mir ist dieser vollduftende Blumenstrauß lieb und werth, wenn sich auch seine Rosen zuweilen mit Melonen und Pfirsichen gruppiren mögen.« Maitzahn. S. 13. Hebbel: Sämmtliche Werke. Bd. 1 1 . S. 381. Unter dem von Boas stammenden Titel Apollo. Boas: Schiller und Goethe im Xemenkampf. Bd. 1. S. 210. Zur Verdeutlichung der Position Boas' sei hier ein Passus aus der Einleitung zitiert: »Das zähe Alter saß auf dem Thron der Poesie und als Kronwacht stand die Unfähigkeit mit kritischer Lanze daneben; sie sah ihren Untergang vor Augen, wenn das Scepter an die Gewaltigen in Jena und Weimar gelangte. Kann es diesen wohl zum Vorwurf gereichen, daß sie ihres herrlichen Wollens und Vollbringens sich klar bewußt waren? Daß sie, um Raum zu gewinnen für ihre wunderbare [sie!] Schöpfungen, den verdorbenen Geschmack brandmarkten und die Stümper bei Seite schoben?« Ebd. Bd. 1. S. 1. 283
der Selbstverteidigung gegen die unberechtigte und minderwertige zeitgenössische Kritik. Weder Boas noch Hebbel hatten erkannt, daß die Produktion und Publikation der Xenien maßgeblich auch ein Akt der Aggression und eben nur bedingt der Defension gewesen war, oder sie verschleierten es. Völlig im Einklang mit Boas ist auch Hebbels ästhetische Wertung der Xenien·. Die Xenien selbst haben einen zweifachen Werth. Einmal einen historischen, indem sie ein reizendes, farbiges Bild des Literatur=Zustandes jener Periode darbieten, der sie angehören. Dann aber auch einen absoluten, indem sie einen Schatz der köstlichsten philosophischen und aesthetischen Weisheit enthalten. Diese wunderbare Mischung des Vergänglichen und des Ewigen ist es, auf der ihre bleibende Bedeutung beruht. 1 1 '
Die Historizität der Xenien also wird von Hebbel zu deren Gunsten ausgelegt, ihre impliziten ästhetischen Prämissen zur überzeitlich gültigen »Weisheit« stilisiert. Moralische Bedenken spielen keine Rolle, auch in politischer Hinsicht hat der Rezensent keinerlei Einwände. Die AntiXenien werden an den Xenien gemessen und in toto verurteilt. Hebbel greift dabei auf Boas' Metaphorik zurück: »[a]uf der einen Seite ein prachtvoller feuerspeiender Berg [...], auf der andern ein stinkender Schlamm=Vulcan.«214 Sein Fazit: »Wer Koth nach den Sternen wirft, dem fällt er selbst in's Gesicht. Das gilt für alle Zeiten.« 21 ' Wie gesagt, hat Hebbel selbst Epigramme in der Tradition Schillers und Goethes geschrieben.116 Ein großer Teil seines epigrammatischen CEuvres war in seinem 1848 erschienenen Neuen Gedichten enthalten.21? In diesem ausnahmslos aus Distichen bestehenden Epigramm-Zyklus wird das doppelte Amt des Epigrammatikers deutlich, das Hebbel aus der Epigrammatik Goethes und Schillers ableitet: allgemeine und ästhetische Reflexionen in der Art der Tabulae votivae, aber eben auch Literatursatire in der Art der Xenien. Diese integrale, sich explizit auf Goethe und Schiller berufende Poetik des Epigramms wird im Motto des EpigrammBuches in der Gesammt-Ausgabe seiner Gedichte von 1857 dann programmatisch formuliert:
21
3 Hebbel: Sämmtliche Werke. Bd. 1 1 . S. 381. Ebd. S. 382. Bei Boas heißt es: »Wo innen kein Feuer ist, kommt auch keins heraus, und alle Anti=Xenien sind nur Wasser= oder Schlammvulkane geworden.« Boas: Schiller und Goethe im Xenienkampf. Bd. 1. S. 2. 21 5 Hebbel: Sämmtliche Werke. Bd. 1 1 . S. 387. 216 Zu Hebbels Epigrammen vgl. Hess: Epigramm. S. 15 i f f . 217 Friedrich Hebbel: Neue Gedichte. Leipzig 1848. S. 1 2 1 - 2 0 3 . 214
284
Bilder, wie sie im Fluge sich haschen lassen, Gedanken, Welche sich runden in sich, mancher geschichtliche Strich, Auch zuweilen ein Hauch, der, leise schwellend, den Busen Hebt und wieder verläßt, eh' er ein Lied noch beseelt, Und dazwischen, doch selten, die Köpfe von Schelmen und Wichten, Wie man, genagelt an's Tor, Eulen und Dohlen erblickt, Alles aber im Vers, wie Schiller und Goethe ihn bauten, Schmäh'n ihn auch Platen und Voss weil er der deutscheste ist! 2 1 8
Das Xenion also ist ein selbstverständlicher und integraler Bestandteil dieser Epigrammatik. Es muß nicht mehr marginalisiert und auch nicht mehr eigens legitimiert werden. Mithin ist auch für einen Autor wie Hebbel aus der »verdammten«, aus dem Kanon verdrängten Form literarischen Streitens eine Subgattung des Epigramms mit festem Platz im Kanon der literarischen
Gattungen
geworden.
Die nunmehr
erlangte
Nobilität des Xenions zeigt sich hier noch einmal in voller Deutlichkeit.
2:8
Friedrich Hebbel: Gedichte. Gesammt-Ausgabe. Stark vermehrt und verbessert. Stuttgart und Augsburg 1857. S. 344. 285
9
G A N Z NEUE XENIEN: Die Renaissance der Gattung
in der DDR-Literatur
Mit dem »plötzliche[n] Absinken der Epigrammatik um 185ο« 1 verlor auch das Xenion als Subgattung des Epigramms an Bedeutung. Vereinzelt wurden zwar noch Xenien geschrieben, doch gehören diese - mit A u s nahme der Xenien aus dem Herrenhaus
des Wiener Reichsrates
stasius Grün (die aber unpubliziert blieben) und den Xenien
von Ana-
Eduard v o n
Bauernfelds - der Tradition der zahmen Xenien an: so Bauernfelds Poetisches Tagebuch Xenien
in zahmen
Xenien
von 1889. Die Xenien
von 1887 und Ernst Ziels
der Gegenwart
Moderne
schienen der letzte nen-
nenswerte Text der wilden Gattung gewesen zu sein. Ein Kuriosum ist der Fall M a x Bruch: 1893 legte er einem Brief an den mit ihm befreundeten Musikwissenschaftler Philipp Spitta mehrere wilde Xenien aus eigener Feder bei. Darunter das folgende, das sich auf den großen E r f o l g seines Violinkonzertes bezieht, dem er mit Skepsis begegnete: Polizeiliches Verbot, betreffend M.B.'s erstes Concert Da sich in neuester 2eit das erstaunliche Factum ereignet, Daß die Geigen von seihst spielten das erste Concert, Machen wir schleunigst bekannt zur Beruhigung ängstlicher Seelen Daß wir besagtes Concert hierdurch verbieten mit Ernst.2' Bruch indes ist eine Ausnahme. 3 A m Ende des 19. Jahrhunderts schien die Geschichte des Xenions endgültig abgeschlossen zu sein und nur noch
1 2
3
Neumann: »Nachwort.« S. 352. Zitiert nach: Wulf Konoid (Hrsg.): Lexikon Orchestermusik Romantik. Bd. 1. Mainz 1989. S. 116. Weitere Xenien sind abgedruckt bei: Karl Gustav Feilerer: Max Bruch 1838—1920. Köln 1974. S. 145. Den Hinweis auf Bruchs Xenien verdanke ich Jörg Krämer. Die im Kontext seiner Klassik-Rezeption zu sehen ist: Bruchs Lehrer Ferdinand Hiller hatte Goethe in Weimar vorgespielt und später ein Buch über dessen Verhältnis zur Musik geschrieben (Ferdinand Hiller: Goethes musikalisches Leben. Köln 1883. Zu Hiller vgl. Klaus Wolf gang Niemöller: »Hiller, Ferdinand [von].« In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe herausgegeben von Ludwig Finscher. Personenteil 9. Kassel u.a. 2003. Sp. 1581-1587). Bruch selbst vertonte seine ganze Laufbahn hindurch immer 286
der Literarhistorie anzugehören. Das Erscheinen des Xenien-Kommentars von Erich Schmidt und Bernd Suphan, der bis heute die Grundlage für alle neueren Kommentare gebildet hat, in demselben Jahr scheint dies nur zu bestätigen.4 Und auf den Vorschlag, ein gemeinsames XenienProjekt zu beginnen, den Rudolf Borchardt seinem Briefpartner Rudolf Alexander Schröder im Jahr 1907 machte, reagierte dieser nicht.5 Doch Goethes Satz über die unberechenbare Wirkung der Xenien sollte sich noch einmal bewahrheiten, denn die Geschichte der literarischen Rezeption dieses Textes nahm im 20. Jahrhundert eine erstaunliche, in der
4
s
wieder Texte Goethes und Schillers: etwa Goethes Scherz, List und Rache ( U A 1858), Schillers Lied von der Glocke ( U A 1878) und Die Macht des Gesanges ( U A 1 9 1 1 ) (vgl. das Werkverzeichnis bei Dietrich Kämper: »Bruch, Max.« In: ebd. Personenteil 3. Kassel u.a. 2000. Sp. 1028-1034, hier Sp. 1030-1033). Leider hat sich die Musikwissenschaft der musikalischen Rezeption der Weimarer Klassik noch nicht in einem größeren Zusammenhang angenommen, obwohl dies ein ergiebiges Thema und darüber hinaus ein wichtiger Aspekt einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchung des bildungsbürgerlichen Klassik-Kultes wäre. Ein Anfang gemacht wurde von Detlef Altenburg (Hrsg.): Liszt und die Weimarer Klassik. Regensburg 1997. Erich Schmidt / Bernd Suphan: »Xenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe-Schiller-Archivs. Mit einem Facsimile.« In: Bernd Suphan (Hrsg.): Schriften der Goethe-Gesellschaft. Bd. 8. Weimar 1893. Borchardt schrieb am 17. August 1907 an Schröder: »Wollen wir nicht Xenien machen, alle zusammen? Scheint Ihnen diese süsse Lügenzeit nicht wie geschaffen dazu? Ich vergnüge mich seit langer Zeit damit, in unbeschäftigten Minuten eine Thorheit besonderer Grösse auf meinen Leim zu locken und mit dem Pentameter zu quälen. Z.B. habe ich den Plan eines lyrischen Kochbuchs in schönen Xemenrecepten mit trefflichen Exempeln [...].« Und am 5.Februar des Folgejahres: »Wie steht es mit Xenien? Mein Häuflein vermehrt sich.« Rudolf Borchardt: Gesammelte Briefe. Hrsg. von Gerhard Schuster und Hans Zimmermann. Bd. 8. München / Wien 2001. S. 1 1 5 und 143. In einem Brief an Anton Kippenberg vom 17. Oktober kommt er dann ein letztes Mal auf das Projekt zurück: »Xenien? Sie wissen nicht, wie viele ich daliegen habe. Neulich machte ich Schroeder - wissen Sie etwas von ihm? er schweigt seit Monaten; einen solchen Vorschlag für seinen und unsern Hesperus, halb scherzhaft. Das schlimme ist nur, dass uns jenes harmlose Litteratenmittelgut mit seiner philiströsen Durchschnittlichkeit und dem biedern Harmlosthun fehlt das in beiden Zeussöhnen so breite Schussflächen hat und den Ton der Angriffe verhältnismässig leicht und scherzend jedenfalls in voller Anmut zu halten gestattete. Heut giebt es nur die Nullität die unterhalb jedes Angriffs ist; oder die mit der öffentlichen Schlechtigkeit millionenfach heimlich verschwägerte Privatschlechtigkeit, für die solche raschen Pfeile erstlich zu schade sind und zweitens nicht ausreichen zum vernichten. Hier hilft nur die volle Rechtshärte und der Pranger mit dem Staupe. Trotzdem, wenn ich gelegentlich H o f m . und Schroeder dazu gewinne, soll eine solche Tagfahrt unternommen werden. Ich fürchte nur, diese lieben Menschen werden es mit niemandem verderben wollen; in der gentle art of making enemies bleibe ich einsam.« Ebd. Bd. 3. München / Wien 1995. S. 140. 287
Tat völlig unvorhersehbare Wendung: Die Gattung wurde ungefähr hundert Jahre nach den Xenien
der Gegenwart
erneut zum Leben erweckt,
und zwar in der Literatur der D D R . Xenien schrieben Johannes B o browski (s.u.), Heiner Müller, 6 Peter Hacks, 7 Volker Braun, 8 B . K . Tragelehn, Rainer Kirsch und Peter Gosse (s.u.). In der Bundesrepublik hingegen spielte die Gattung - mit der einen Ausnahme A r n o Schmidt 9 keine Rolle; die Xenien des 1963 von der D D R nach Westdeutschland übergesiedelten Germanisten Hans Mayer wurden zwar in der bundesrepublikanischen Literaturzeitschrift Akzente
veröffentlicht, 1 0 sind jedoch
im Zusammenhang mit den Xenien Bobrowskis zu sehen (s.u.). Es kann also von einer eigenständigen Xenien-Tradition in der D D R - L i t e r a t u r gesprochen werden; einer Tradition, die auch nach dem Fall der Mauer fortbestand und sogar in der Gegenwart noch eine Rolle spielt; einer Tradition überdies, an der keineswegs nur poetae minores
partizipierten,
sondern mit Bobrowski, Müller, Hacks und Braun sogar vier der wichtigsten D D R - A u t o r e n . Diese Renaissance des Xenions ist nicht leicht zu erklären: Ein ganzes Bündel von Faktoren dürfte hierbei eine Rolle gespielt haben. Zunächst ist zu konstatieren, daß die Epigrammatik in der D D R - L i t e r a t u r einen Aufschwung erlebte; 11 es liegt auf der Hand, daß das neue Interesse f ü r die Subgattung Xenion damit in einem Zusammenhang steht. Desweiteren wäre an das hohe Ansehen zu denken, das die Literatur des Vormärz in der D D R genoß bzw. zu genießen hatte. Dies führte unter anderem dazu, daß die D D R - G e r m a n i s t i k sich verstärkt dieser Zeit zuwandte; so
6
7
8
9
10 11
Heiner Müller: »Epigramme über Lyrik«. In: Neue deutsche Literatur 6 (1956). S. 160. Peter Hacks: »Beiseites.« In: ders.: Lieder. Briefe. Gedichte. Berlin 1974. S. y/t. Eine erweiterte Fassung dieses Zyklus erschien in: Peter Hacks: Die Gedichte. Hamburg 2000. S. 243-251. Volker Braun: »Berlinische Epigramme«. In: ders.: Langsam knirschender Morgen. Gedichte. Frankfurt am Main 1987. S. 65-87. Diese allerdings ist signifikant: In seinem Buch Trommler beim Zaren von 1966 findet sich der fünf Xenien umfassende Zyklus Auf Arno Schmidt's >Rosen und Porreedie einem »D.Martin Ochs« — ein Anagramm Schmidts — zugeschrieben werden. Indem Schmidt so die Kritik an seinem Werk vorwegnimmt und sie einem Doktor »Ochs« in den Mund legt, ordnet er die Gattung Xenion eben nicht einem lebendig-literarischen, sondern einem akademischen und das heißt für ihn: konservativ-antiquarischen Kontext zu. Damit ist der Unterschied zur DDR-Literatur markiert. Arno Schmidt: Trommler beim Zaren. Karlsruhe 1966. S. 360. Den Hinweis auf diese Xenien verdanke ich ebenfalls Jörg Krämer. Hans Mayer: »Zwölf Xenien mit einer Coda.« In: Akzente 22 (1975). S. 44F »Die DDR-Literatur und die gesellschaftskritische Bewegung der 60er und 70er Jahre greift auf das Epigramm zurück.« Hess: Epigramm. S. 159F 288
entstand etwa schon 1952 eine Biographie Glassbrenners, in der dieser als » V o r k ä m p f e r der Demokratie« verherrlicht und die Xenien wart ausgiebig zitiert w e r d e n .
11
der
Gegen-
A u c h H e r w e g h w u r d e in der D D R weit-
aus mehr Beachtung geschenkt als in der Bundesrepublik. 1 3 Daß Engels 1839 Xenien geschrieben hatte, könnte ebenfalls ein A n r e i z f ü r das erneute A u f g r e i f e n der Gattung gewesen sein. Wichtiger noch dürfte indes die offizielle Rezeption der Weimarer Klassik, insbesondere Goethes, in der D D R gewesen sein. Alles andere als zufällig w u r d e ja Goethes zweihundertster Geburtstag im Jahr 1949 zur »inoffiziellen Gründungsfeier der D D R « . 1 4 D e r Rekurs auf G o e t h e sollte »zuallererst der Stiftung eines erneuerten nationalen Bewußtseins«, 1 5 bald aber auch höheren Zielen dienen: Die vierzigjährige Geschichte des Staates war infolgedessen geprägt durch einen ständigen programmatischen Bezug auf dieses nationale Erbe, und zwar nicht nur insofern, als die geistigen und künstlerischen Leistungen der deutschen Klassik ein beispielhaftes Muster für die Entstehung der sozialistischen Kultur darstellten. Außerdem verband sich mit der systematischen gesellschaftlichen Aneignung dieser während der Herrschaftszeit Ulbrichts, offiziell also bis 1971. nahezu absolut gesetzten literarischen Tradition keine geringere Aufgabe, als einen >neuen< Menschen für ein >neues< Deutschland zu bilden. D i e Weimarer Klassik fungierte also in einem umfassenden Sinn als kulturelles Modell f ü r das System D D R . F ü r das literarische Subsystem w u r d e darüber hinaus die Erbe-Theorie in Anschlag gebracht, die v o n den A u t o ren die >Vollstreckung< des literarischen Erbes, d.h. seine B e w a h r u n g und N u t z u n g verlangte. D e n zentralen Platz innerhalb dieses Erbes nahm
11
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Eine Passage aus dem Vorwort kann die Tendenz dieser Schrift verdeutlichen: »Mit diesem Büchlein wird eine kurze Gesamtschau über Leben und Werk des Vorkämpfers für Demokratie und Freiheit vorgelegt. Mögen alle deutschen Patrioten, möge besonders unsere demokratische Jugend in ihrem Kampf um Einheit, Frieden und Fortschritt nützliche Lehren und Erkenntnisse aus dem Werk Adolf Glaßbrenners schöpfen!« Willi Finger: Adolf Glaßbrenner. Ein Vorkämpfer der Demokratie. Berlin 1952. S. 6. Zu den Xenien der Gegenwart vgl. ebd. S. 101-104. Vgl. etwa Wolfgang Büttner: Georg Herwegh - ein Sänger des Proletariats. Der Weg eines bürgerlich-demokratischen Poeten zum Streiter für die Arbeiterbewegung. Mit einem Anhang ungedruckter Briefe und Dokumente über Herweghs Verhältnis zur Arbeiterbewegung. Berlin 1970. Ingeborg Cleve: »Goethe in der DDR.« In: Karl Richter / Gerhard Sauder (Hrsg.): Goethe. Ungewohnte Ansichten. St. Ingbert 2001. S. 159-186, hier S· 159· Ebd. S. 161. Lothar Ehrlich / Gunther Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik m der Ära Ulbricht. Köln u.a. 2000. S. 7. 289
wiederum die Weimarer Klassik ein.17 Diese war mithin - als freiwillig angenommenes oder aufoktroyiertes - Paradigma in der D D R ständig präsent. Der Rückgriff auf Texte der Klassik war somit legitimiert, wenn auch die Art der Bezugnahme strenger Kontrolle unterlag. Nicht zuletzt dürfte das neue Interesse an der Gattung Xenion auf die Autorität eines Autors zurückzuführen sein, der von großem Einfluß auf die Literatur der D D R vor allem in den sechziger Jahren war: Johannes Bobrowski. Er scheint der erste gewesen zu sein, der sich des Xenions als Form literarischen Streitens wieder in größerem Stil bediente. Zwischen 1947 und 1965 schrieb er insgesamt 81 Xenien, die als Zyklus unter dem noch von ihm stammenden Titel Literarisches Klima. Ganz neue Xenien, doppelte Ausführung zwar erst nach seinem Tod erschienen, aber bereits vorher auszugsweise in der D D R und in der Bundesrepublik rezitiert und publiziert worden waren, folglich bereits früher wirken konnten. Darüber hinaus ging Bobrowski mit den Texten »gar nicht etwa geheimnistuerisch um«: »Den (wenigen) >guten Freunden< und (vielen) freundlichen Bekannten wurde jedenfalls mit einiger Regelmäßigkeit das jeweils Neueste vorgelesen; und da mochte es wohl auch der Fall gewesen sein, daß dann der eine oder andere von den Betroffenen >was munkeln< gehört hat.«18 In jedem Fall läßt sich an dem Untertitel, den Bobrowski für seinen XenienZyklus vorgesehen hatte, ablesen, daß er die Gattungs-Tradition auch über den Mustertext hinaus kannte und bewußt an sie anknüpfte; das geht aus der Formulierung ganz neu eindeutig hervor. Bobrowski bezog sich also nicht nur auf die Xenien Goethes und Schillers, sondern auch auf die weitere Entwicklung der Gattung. Mithin wußte er auch, daß er einen Neuanfang machte. Die doppelte Ausführung der ganz neuen Xenien - es sind statt Mono- jeweils Tetrastichen - deutet die Dringlichkeit dieses Projektes an: Die von der Tradition vorgegebene >einfache Ausführung< hätte für das Literarische Klima seiner Zeit nicht mehr genügt. Bobrowski bezieht sich in seinen Xenien vornehmlich auf die zeitgenössische Literatur in Ost- und Westdeutschland. Die ganz neuen Xenien könnten demnach auch den Titel ost-westliche Xenien tragen. Wiederum geht es also um die Gesamtheit des literarischen Lebens. Allerdings bestehen, wie
17
18
»In die Pflicht des Vollstreckens genommen wurden vor allem die Schriftsteller. Ihre Arbeiten sollten Wunschbilder der Realität als Wirklichkeit darstellen und sich dabei sprachlich an Werken der klassischen Literatur orientieren.« Cleve: »Goethe in der D D R . « S. 170. Bernd Leistner: »Nachwort«. In: Johannes Bobrowski: Literarisches Klima. Ganz neue Xenien, doppelte Ausführung. Mit einem Nachwort von Bernd Leistner und Illustrationen von Klaus Ensikat. Stuttgart 1978. S. 98.
290
noch zu zeigen sein wird, große Unterschiede zwischen Bobrowskis Reaktionen auf die Literatur der Bundesrepublik und der D D R . Aufgrund dieser zu vermutenden Rolle Bobrowskis als Initiator der Gattungs-Renaissance in der D D R ist dieses Kapitel seinen ganz Xenien
neuen
gewidmet. Dieser Text ist im Zusammenhang der vorliegenden
Arbeit aber auch noch aus einem anderen Grund von Interesse: In ihm zeigt sich noch einmal die der Gattung inhärente, spezifische rezeptionsstimulierende Kraft, gerade im Hinblick auf den offiziellen KlassikDiskurs der D D R , den Bobrowski in seinen Xenien reflektierte und den er mit ihnen zu subvertieren versuchte. Dazu im folgenden.
9.1
J o h a n n e s B o b r o w s k i : Literarisches
Klima.
Ganz neue Xenien, doppelte Ausführung (1977) Bobrowskis Beschäftigung mit der Gattung reicht bis in die vierziger Jahre zurück. Fünf Xenien waren bereits 1947 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft entstanden; 1950 schrieb er sie aus dem Gedächtnis nieder. 1952 entstanden fünf weitere Texte auf Johannes R. Becher (s.u.). Den größten Teil der Xenien schrieb Bobrowski jedoch in den Jahren 1962 und 1963. 1965 plante er einen Teilabdruck im Wagenbach-Verlag, der jedoch nicht zustande kam. Auch danach noch dachte er an eine Publikation, starb jedoch über ihrer Vorbereitung/ 9 Einige der Xenien waren damals aber eben bereits zum Druck gelangt oder bei Lesungen von ihm vorgetragen worden, so etwa 1964 vor Studenten in Westberlin; auch nach seinem Tod wurden einzelne Xenien und kleinere Xenien-Zyklen an verschiedenen Stellen veröffentlicht. Zu der erwähnten Gesamtedition - die allerdings zwei Xenien unterdrückte - 2 0 kam es jedoch erst 1977 im Union Verlag. Die Publikationsgeschichte der ganz neuen Xenien ist signifikant, denn an ihr läßt sich auch die Entwicklung der Literaturpolitik der D D R ablesen: Erst in der Ära Honecker war es möglich, diese zum Teil systemkritischen Texte zu veröffentlichen. Zu diesem Zeitpunkt hatten viele Xenien ihre Aktualität und Brisanz allerdings bereits verloren. Aus diesem Grund wird es im folgenden Abschnitt nicht um die Sammlung von 1977 gehen, sondern um eine Auswahl von denjenigen Xenien, die sich kritisch auf die offizielle Goethe-Rezeption der D D R und damit zusammenhängende Aspekte beziehen, und zwar in ihren ursprünglichen Kontexten. 19
20
Vgl. dazu den Kommentar von Eberhard Haufe. Bobrowski: Gesammelte Werke. Bd. 5. Erläuterungen der Gedichte und der Gedichte aus dem Nachlass. S. n j f f .
PASTERNAK und PRAECEPTOR
MUNDI.
291
9·ΐ.ι »Hofdichterei, allemal Schranzentum ist's«: Xenien wider die Staatsklassik Im März 1962, anläßlich von Goethes 130. Todestag, verkündete Walter Ulbricht in seinem politischen Grundsatzreferat An alle Bürger der DDR! An die ganze deutsche Nation seine Deutung des Faustschen Schlußmonologes. Sich auf dessen erste Verse beziehend,11 sagte er: Die antinationalen und reaktionären Kräfte in der westdeutschen Bundesrepublik und in Westberlin haben aus dem von ihnen beherrschten Teil einen Sumpf kapitalistischer Ausbeutung, einen Herd der Kriegs- und Revanchepolitik gemacht. Dieser Sumpf, der an die Grenzen unseres sozialistischen Deutschland heranreicht, die Sicherung des Friedens hindert und die Atmosphäre verpestet, muß trockengelegt werden. Erst wenn die Ursache des Sumpfes, die Herrschaft der Imperialisten und Militaristen in Westdeutschland, beseitigt ist, wird das deutsche Volk in Frieden leben, arbeiten und sich der Früchte seiner friedlichen Arbeit erfreuen können. 2 2
Im folgenden konstruierte Ulbricht die D D R als »Fortschreibung des Goetheschen >FaustWeltbürgertum< amerikanischer Prägung, zu dem heute im Westen propagierten Kosmopolitismus. [...] Goethe verkörperte in einem zersplitterten und zerrissenen Deutschland die deutsche Einheit im Geistigen und Sprachlichen. Er hat einen entscheidenden Anteil an der Bildung eines deutschen Nationalbewußtseins. [...] Indem die deutsche A r beiterklasse sich alles Wertvolle des Werkes von Johann Wolfgang Goethe aneignet, wird sie vieles von der Reife und Größe gewinnen, die sie befähigt, ihre historische Mission als Schöpfer des Sozialismus und damit einer neuen deutschen Kultur zu erfüllen. 35
Anschließend eine Passage aus der Rede Johannes R. Bechers mit dem bezeichnenden Titel Der Befreier: Goethe kam uns nahe, Goethe war da in unserer Verlassenheit, Goethes Allgegenwart war Licht in unserer Finsternis. Es heißt nicht: zurück zu Goethe, sondern es heißt: vorwärts zu Goethe und mit Goethe vorwärts! Geburtsstunde, Wiedergeburtsstunde. Goethe: Sternenstunde unseres Volkes, Sternenstunde der Menschheit. 36
Es liegt auf der Hand, daß in diesem emphatischen Goethe-Bild kein Platz war für den unklassischen Klassiker, der in den Xenien die Einheit Deutschlands ja gerade in Frage gestellt hatte und dessen Angriffe auf die deutsche Öffentlichkeit gewiß nicht als »Sternenstunde unseres Volkes« verstanden werden konnten.3? Auf ebendiesen Goethe berief sich Bo34 35
36 37
Cleve: »Goethe in der D D R . « S. i6of. Zitiert nach: Gerd Dietrich: »>Die GoethepächterStaatsklassikers< zu unterlaufen - Xenien als Widerstand gegen die offizielle GoetheRezeption der DDR. Ebenfalls im Kontext der ideologischen Vereinnahmung Goethes durch die D D R kann ein anderes Xenion aus diesem Jahr verstanden werden; es bezieht sich unter anderem auf den »parteitreuen Klassik-Popularisierer[]« Walther Victor.38 Dieser hatte 1949 ein Goethe-Lesebuch herausgegeben, das Cleve exemplarisch für ein »vielfältige[s] Schriftgut [...], welches das >richtige< Goethebild herausstellen und eine offizielle Version von Klassikerrezeption propagieren sollte« nennt.39 1961 erhielt Victor dann den Nationalpreis der D D R und zog nach Weimar. 1963 erschien sein GoetheVortrag Der Tag und die Ewigkeit. Victors Goethe-imitatio war damit offenkundig. Dagegen nun protestiert Bobrowski: KOSTÜMFEST Unseren Gottfried Keller - nämlich Marchwitza - und unsern Thomas Mann - nämlich Schulz - haben wir, haben sogar unseren Ganghofer - nämlich Herbert Nachbar - , es fehlt uns nichts, nichtmal Goethe: als der ruft Walter Victor sich aus. 4 °
Mit einem Verfahren, das an das intertextuelle Fastnachtspiel in den Xenien der Gegenwart erinnert, wird hier der Rekurs prominenter, staatlich geförderter DDR-Autoren - alle Genannten waren Träger hochrangiger Preise - auf den Kanon bürgerlicher Erzähl-Literatur als Maskerade zur Kaschierung der eigenen Bedeutungslosigkeit entlarvt. Indem Bobrowski den Text einem Sprecher in den Mund legt, der sich durch das Possessivpronomen »unser« als ein Repräsentant der D D R ausweist, zeigt er, daß die von ihm genannten Autoren den Vorgaben der offiziellen Literaturpolitik der D D R folgen. Durch die unübersehbare Diskrepanz zwischen den klassischen poetae maiores und den minores der D D R wird damit die grundsätzliche Fragwürdigkeit der Erbe-Theorie aufgedeckt, die ja eine solche ästhetisch problematische Rezeption der Tradition beförderte. Haupt-Angriffspunkt ist Walther Victor: Als individueller Rezipient Goethes kritisiert Bobrowski nun also den selbsternannten GoetheNachfolger der DDR. Oder, wie schon in der Einleitung gesagt: In der 38
39 40
Ingeborg Cleve: »Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Klassik in Weimar in der Ä r a Holtzhauer ( 1 9 5 4 - 1 9 7 3 ) . « In: Ehrlich / Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ä r a Ulbricht. S. 343-3 58, hier S. 3 54. Cleve: »Goethe in der D D R . « S. 1 6 1 . A n m . 3. Bobrowski: Gesammelte Werke. Bd. 1. S. 236. 296
Maske Goethes wird ein Autor, der ebenfalls die Maske Goethes trägt, demaskiert. Natürlich sind dies jeweils andere Masken, auch hier wird der unklassische Klassiker Goethe gegen den Staatsklassiker und seinen Epigonen ausgespielt. Die Kritik an Victor wird in einem weiteren Xenion vertieft: WALTER VICTORS GESAMMELTE WERKE* Also wir sollen dich nicht verachten, du kamst ja aus lauter Liebe in unsere Welt, na und w i r tun's doch auch nicht, wenn w i r uns strikte weigern, an deinem Werk was zu ändern Schreib doch noch eins, Titel: Ich kam mit 'nem Hammer zur Welt. ""Erschienen unter folgenden Titeln: Band i. Verachtet mir die Meister nicht Band 2. Ich kam aus lauter Liebe in die Welt Band 3. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern. 4 1
Der Titel des ersten Bandes bezieht sich auf die berüchtigte >Schlußansprache< des Hans Sachs in Wagners Meistersingern, wo es heißt: »Verachtet mir die Meister nicht, / und ehrt mir ihre Kunst!«42 Der Sprecher des Xenions nun verkennt bewußt den Zitatcharakter des Titels; er versteht ihn stattdessen als auf sich selbst bezogene Mahnung des >Meisters Victor< und leistet ihr scheinheilig Folge: Victor wird auf diese Weise bloßgestellt als ein Autor, der die Erbe-Theorie ausnützt, um sich den Respekt zu verschaffen, den ihm seine Zeitgenossen aus rein literarischen Gründen nicht zollen würden. Auch diese auf den ersten Blick harmlos wirkende Kritik an Victors Werk birgt jedoch eine systemkritische Tiefenschicht, denn der Titel des dritten Bandes spielt an auf Marx' elfte Feuerbach-These, nach der es darauf ankommt, die Welt nicht zu interpretieren, sondern sie zu verändern.43 Indem nun der sich auf diese - für den sozialistischen Realismus zentrale - Doktrin berufende Victor als ein nach der Holzhammer-Methode vorgehender schreibender Arbeiter< verspottet wird, wird auch die Feuerbach-These ins Lächerliche gezogen und damit ihre Gültigkeit grundsätzlich in Frage gestellt. Wider die Staatsklassik - diese Uberschrift paßt auch zu den Xenien, die sich auf Johannes R. Becher, den ersten Kulturminister der DDR, 41 41
43
Ebd. S. 237. E g o n Voss (Hrsg.): Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg. Textbuch der Fassung der Uraufführung mit Varianten der Partitur. Stuttgart 2002. S. 165. »Die Philsophen haben die Welt interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.« Karl Marx: Frühe Schriften. Herausgegeben von Hans-Joachim Lüber und Peter Furth. Bd. 2. Darmstadt 1 9 7 1 . S. 4. 2
97
beziehen. Und zwar in einem doppelten Sinne. Ins Visier der Kritik gerät einerseits Becher, der Staatsklassiker, und zum anderen Becher als Propagator des Staatsklassikers Goethe: BECHER Dies ist der größte Dichter, so redet und schreibt man. Ich stimme immer damit überein, er ist der größte, gewiß; nämlich der größte tote Dichter bei Lebzeiten, einer, den niemand hörte und las, - aber er lebte und schrieb. 44
Die Formulierung »so redet und schreibt man« zielt auf den offiziellen Diskurs der D D R , der am eindeutigsten wohl in Ulbrichts Satz zum Ausdruck kommt, »daß die Hauptstraße der neueren deutschen Dichtung von Goethe und Hölderlin zu Becher und durch ihn durch weiterführt.« 45 Dieser staatlich vorgeschriebenen
Rezeption
Bechers
begegnet
Bo-
browski, indem er auf die völlig anders geartete Rezeptions-Realität hinweist und somit den Ruhm Bechers als parteilich inszeniert und kontrolliert decouvriert. Bobrowskis subversive Verfahrensweise wird hier in einem konkreten, wörtlichen Sinne deutlich: Der Text affirmiert zunächst scheinbar den Diskurs - »[...] Ich stimme / immer damit überein [...]« >stürzt< ihn dann aber regelrecht um, indem er Becher in einer überraschenden, destruktiven Wendung eben als den »größte[n] tote[n] Dichter bei Lebzeiten« bezeichnet. Schon 1952 entstand ein kleiner Xenien-Zyklus, damals noch in der »Monodistichalform«, dessen Angriffe auf Becher um einiges schärfer sind: JOHANNES R . BECHER 1 Was für ein Dichter! Ihn rühmen Plakate, Ausstellungen, Bilder — K a u m zu begreifen, wie er all diesen R u h m arrangiert! 2 (Tagebuch »Auf andere so große H o f f n u n g « ) O h erhabene Leistung, mit sechzig Jahren im Stimmbruch und in der Pubertät Schwierigkeiten zu stehn! 3 (Dein getreuer Abusch) Was zur Berühmtheit gehört, hast alles du: Nachtwächter, Heizer... Wagt's wer zu zweifeln an dir, bellen die H o f h u n d e los.
44 45
Bobrowski: Gesammelte Werke. Bd. 1. S. 236. Zitiert nach: Horst Heidtmann: »Johannes R(obert) Becher«. In: Bernd L u t z (Hrsg.): Metzler Literatur Lexikon: deutschsprachige Dichter und Schriftsteller v o m Mittelalter bis zur Gegenwart. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart / Weimar 1994. S. 45L, hier S. 45. Z u Becher vgl. auch Jens-F. Dwars: »Johannes R . Becher — der >klassische Nationalautor< der D D R ? « In: Ehrlich / Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ä r a Ulbricht. S. 1 7 5 - 1 8 4 . 298
4 Wirklich, du machst schon was her mit Titeln und Amtern und Ehren Hofdichterei, allemal Schranzentum ist's, weiter nichts.
5 Laß mich ein Wörtlein noch sagen zu deinen Gedichten: Sie taugen nicht einen Dreck, grad wie Blech rasselt und klappert dein Lied. 4 ®
Bobrowski führt Bechers Ruhm hier auf dessen geschickte Rezeptionslenkung und auf die zu seinem Vorteil in Gang gesetzte staatliche Kanonisierungs- und Protektionsmaschinerie zurück. Mit Alexander Abusch nennt Bobrowski einen einflußreichen Kulturfunktionär, der 1949 ebenfalls eine Rede zum Goethe-Jubiläum bzw. zur Gründung der D D R gehalten hatte; ein Jahr nach der Entstehung dieser Xenien war es ebenjener Abusch, der Eislers Faust-Oper scheitern ließ. Becher erscheint damit als unverdient zum Status des Staatsklassikers gelangter Autor; sein Werk wird als »Hofdichterei« ohne jeglichen literarischen Wert abgetan. Natürlich wird so auch die Literaturpolitik der D D R als verlogen und kunstfern vorgeführt. Implizit richten sich die Xenien aber eben auch gegen Becher als Propagator des offiziellen Goethe-Bildes und gegen dieses selbst. Indem Bobrowski den Erfinder der Formel vom Befreier Goethe mit der von Goethe erfundenen Gattung Xenion attackiert, destruiert er auch dieses einseitig verzerrte Goethe-Bild. Die Schärfe dieser Angriffe hatte zur Folge, daß diese fünf Xenien auf Becher zu DDR-Zeiten nicht veröffentlicht werden konnten; auch dann nicht, als 1987 der Band mit den Nachlaß-Gedichten Bobrowskis im Union-Verlag erschien. Weniger aggressiv, aber entschieden ironisch, ist Bobrowskis Xenion auf einen weiteren Repräsentanten der DDR-Literatur - den Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin und des PEN-Zentrums der D D R Arnold Zweig, der als Redner unter anderem bei den Weltfriedenskongressen in Paris (1949) und Warschau (1952) aufgetreten war: D E R IMMER BLÜHENDE ZWEIG G r a d ' wie sein Grischa-Roman entzückt auch die Kunst seiner Rede; hoffnungslos bleib, Synkretist, hinter dem Meister zurück. Fängt ihm ein einziger Satz mit zwei Leninschen Zeilen an, hat er stets auch aus Siegmund [sie!] Freud schon ein Zitat für den Schluß. 4 7
46 47
Bobrowski: Gesammelte Werke. Bd. 5. S. 264. Ebd. Bd. 1 . S . 2 3 6 . 2
99
Natürlich war Bobrowski die Brisanz seiner Kritik an der offiziellen Literaturpolitik der D D R und ihren wichtigsten Repräsentanten bewußt. Eine Externalisierung dieser Polemik hätte ihm gefährlich werden können; er hat denn auch keinen dieser systemkritischen Texte publiziert. Ein - in diesem Kontext bisher nicht beachtetes - Ereignis in der Wirkungsgeschichte der Xenien zeigt, wie berechtigt seine Vorsicht war: In seinem 1992 erschienenen autobiographischen Buch Zwischenbilanz beschreibt Günter de Bruyn seine Jugend während des Krieges in Berlin und seine Ausbildungszeit nach dem Krieg als Lehrer in einem havelländischen Dorf. Geprägt von seinen Erfahrungen im Dritten Reich, tat er sich schwer mit den Strukturen des Kommunismus: A n die politischen Pflichtveranstaltungen der Lehrerweiterbildung kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber an peinliche Aussprachen auf dem Schulamt in Rathenow. Mit Recht hielten die wechselnden Schulräte mich für einen politisch unsicheren Kantonisten, für bürgerlich, aber entwicklungsfähig, für einen Unentschiedenen, der durch Einschüchterung vielleicht zu gewinnen war. Man forderte mich nicht mehr auf, m die Einheitspartei einzutreten, doch galt die Mitgliedschaft in der Einheitsjugend, der F D J , als unerläßlich, und als ich mich halsstarrig zeigte, drohte man mir. Angeblich oder tatsächlich war ich meines Unterrichts wegen denunziert worden. Zwei Beispiele, die ich nicht ableugnen konnte, wurden dabei als Beweis für meine unangemessene oder gar feindliche Haltung herangezogen. 48
Das zweite Beispiel ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, denn es ist ein eindringlicher Beleg für die Brisanz, die dem Umgang mit Xenien in der S B 2 bzw. D D R innewohnen konnte: Die zweite Denunziation betraf Schiller und hing mit meiner erfahrungsgesättigten Ablehnung alles Zwangskollektiven zusammen. Das beanstandete Zitat, das ich im Deutschunterricht der oberen Klassen verwendet hatte, war eine der Xenien von 1796, die besagt, daß ein jeder, sei er für sich auch klug und verständig, wenn er in Corpore wäre, zum Dummkopf würde. U n d der Genösse Schulrat und seine zwei Beisitzer erbrachten, als sie mich darüber verhörten, selbst einen neuerlichen Beweis dieser Behauptung, indem sie mir allen Ernstes erklärten, daß der Klassiker für seine Zeit vielleicht Recht gehabt habe, in unserer aber der Grundsatz gelte, daß ein Kollektiv mit dem richtigen Bewußtsein klüger sei als die Klugheitssumme seiner Mitglieder; denn mit der Entstehung der Arbeiterklasse habe die Entwicklung einen Qualitätssprung getan. 49
Das betroffene Xenion lautet:
48
«
Günter de Bruyn: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Frankfurt am Main 1992. S. 366f. Ebd. S. 367.
300
G. G. Jeder, siehst du ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig, Sind sie in Corpore, gleich wird dir ein Dummkopf daraus.' 0 Anti-kollektivistisch w i r d man dieses X e n i o n freilich nur bei N i c h t b e rücksichtigung seines Titels lesen können, der eine A b k ü r z u n g f ü r lehrte
Gesellschaften
Ge-
ist. W i e aus d e m K o n t e x t des X e n i o n s hervorgeht,
ist es im Speziellen auf die Sodetas
regia scientiarum
Gottingensis
bezo-
gen. D e B r u y n hatte das X e n i o n im Unterricht also o f f e n b a r aktualisiert u n d die Gelehrtensatire - etwas v e r k ü r z t - als K o m m u n i s m u s s a t i r e interpretiert. Dies w a r dann nicht nur v o n einem D e n u n z i a n t e n weitergegeben, sondern v o n der Schulleitung darüber hinaus auch n o c h z u m A n l a ß g e n o m m e n w o r d e n , den jungen Lehrer z u v e r w a r n e n u n d einzuschüchtern. D a s heißt, daß in der S B Z unter U m s t ä n d e n also schon das Behandeln eines harmlosen historischen X e n i o n s im Schulunterricht z u erheblichen Schwierigkeiten f ü h r e n konnte. D a ß B o b r o w s k i die brisantesten X e n i e n z u seinen L e b z e i t e n z u r ü c k hielt, w i r d somit verständlich: A l s A u t o r systemkritischer X e n i e n hätte er weitaus schlimmeres z u befürchten gehabt. A u c h unter den z w ö l f Texten, die z w e i Jahre nach B o b r o w s k i s T o d in der D D R - Z e i t s c h r i f t Sinn
und
Form erschienen, befindet sich kein hier behandeltes X e n i o n . ' 1 Erst 1977, in der in vieler Hinsicht w e n i g e r rigiden Ä r a H o n e c k e r , 5 1 k o n n t e n auch diese T e x t e erscheinen. Freilich w a r e n z u diesem Z e i t p u n k t der A u t o r sowie einige der v o n ihm Kritisierten tot; auch hatte sich das Klassik-Bild der D D R - A u t o r e n v o n d e m der Partei f o r t b e w e g t . » Bei der Schärfe mancher A n g r i f f e ist es allerdings nicht verwunderlich, daß es auch dann n o c h »vielerlei - politisch bedingte[] Schwierigkeiten« gab, 5 4 b e v o r der U n i o n V e r l a g die ganz
neuen
Xenien
schließlich d r u c k e n durfte. U n d H e i n z
Plavius spielte n o c h 1981 in Sinn und Form auf die »lebhaften A u s e i n a n dersetzungen u m [...] die literarischen X e n i e n v o n B o b r o w s k i « an. 55
50 51 52
53
54 55
M-AS.271. Johannes Bobrowski: »Xenien«. In: Sinn und Form 19 (1967). H. 6. S. 1303^ Vgl. dazu Lothar Ehrlich / Gunther Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Honecker. Köln u.a. 2001. Vgl. dazu Bernd Leistner: Unruhe um einen Klassiker. Zum Goethe-Bezug in der neueren DDR-Literatur. Zweite Auflage. Halle / Leipzig 1977 und ders.: »Goethe, Hoffmann, Kleist et cetera. Zu einem Kapitel DDR-Literatur der siebziger, achtziger Jahre.« In: Ehrlich / Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Honecker. S. 127-135. Bobrowski: Gesammelte Werke. Bd. 5. S. 229. Heinz Plavius: »Die Kunst der Polemik.« In: Sinn und Form 33 (1981). S.734— 740, hier S. 73 5. 301
9·ΐ.2 »Reigen seliger Siebenundvierziger«: Xenien über die Gruppe 47 Anders verlief die Publikationsgeschichte derjenigen Xenien, die Bobrowski im Zusammenhang mit seiner Teilnahme an Tagungen der Gruppe 47 von i960 bis 1964 geschrieben hatte. Sie wurden größtenteils bereits im Stockholmer Katalog zur Tagung der Gruppe 4/ im Herbst 1964 veröffentlicht. Diese Xenien sind unter anderem deshalb interessant, weil in ihnen ein DDR-Autor die von Autoren und Kritikern aus der Bundesrepublik dominierte Gruppe im satirischen Zerrspiegel erscheinen läßt. Mit Bobrowski schrieb darüber hinaus der Preisträger der Gruppe 47 von 1962 Xenien über andere Tagungs-Teilnehmer. Der Preisträger als Satiriker - auch in dieser Hinsicht also ein spannender Fall. Anders als Günter Grass' Schlüsselerzählung Das Treffen in Telgte entstanden Bobrowskis Xenien außerdem nicht erst nach dem Ende der Gruppe, sondern in ihrer Spätphase, und spielten dementsprechend auch in der gruppeninternen Kommunikation noch eine Rolle. Darüber hinaus erweisen sich diese Xenien als ein innovatives formales Experiment, mit dem Bobrowski an die Xenien der Gegenwart anzuknüpfen scheint, aber durchaus auch eigene Wege geht. Im folgenden sollen diese Xenien über die Gruppe 47 darauf und anhand ausgewählter Beispiele auf ihr thematisches Spektrum sowie auf ihre Funktion für die Kommunikation innerhalb und außerhalb der Gruppe hin befragt werden. Zunächst zur Struktur. Haufe meint, die ganz neuen Xenien besäßen keine »deutliche Komposition«.'6 Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, daß es sich zumindest bei den Xenien über die Gruppe 47 um einen Binnenzyklus handelt, der auch eine deutlich erkennbare interne Struktur aufweist und darin, wie gesagt, sogar innovativ ist. Allerdings stehen auch einige thematisch dazugehörige Texte außerhalb dieses Zyklus; 57 man kann jedoch annehmen, daß Bobrowski, der ja vor Abschluß der Arbeit starb, sie noch eingeordnet hätte. Der Zyklus beginnt mit einer Bestimmung der Form der Gruppe (DEFINITION), woran sich ein Xenion über Hans Werner Richter und seine Frau anschließt (TONI RICHTER). Danach folgt die Struktur gewissermaßen dem Ablauf der Tagung: Ankunft am Tagungsort, erste B e g e g n u n g e n ( R E I G E N SELIGER GUNG), NEUE
56
SIEBENUNDVIERZIGER,
L e s u n g e n der A u t o r e n ( A U F T R I T T WALSER, NUSSKNACKER, TALENTE,
TRAU ELSNER,
SCHNURRE,
TERBER
UND TRAU),
HULDIh M e, Reaktio-
Bobrowski: Gesammelte Werke. Bd. 5. S. 227. 57 So MÄRKISCHES MUSEUM, KOLLEGIAL, HERR LEDIG VON ROWOHLT, möglicherweise auch OCHSENFROSCH. Ebd. Bd. 1. S. 238,239, 244, 251. 302
nen der Kritiker (GRUPPENKRITIK, HÖHERER,
HERR MEISTER,
HOHES
NIVEAU, PRAECEPTOR MUNDI, WEITGEREIST, KRITIKER KAISER) und des Verlegers Siegfried Unseld (GEFECHTSEINHEIT UNSELD), weitere Diskussionen (DIE ZUKUNFT DER GRUPPE 4/, BEFÄHIGTE EPOCHE, ENDE DER DISKUSSION, PROTEST), Vergabe des Gruppenpreises
(LITERATURPREIS).
Dabei wird durch das Präsens als vorherrschendes Tempus (»sagt Aichinger«, »bedächtig neigt er sich«, »der Delinquent macht den Mund zu« usw.) und deiktische Wendungen (»nun seht«, »[h]ört«, »[s]eht ihn«, »[o]h welch ein Anblick« usw.) der Eindruck einer sich an einem Ort (»hier«) ereignenden, kontinuierlich fortlaufenden Handlung erzeugt, die durch die Repliken der dort anwesenden Figuren (»ich bin Mayer« usw.), vor allem aber durch den dort ebenfalls anwesenden satirischen Sprecher narrativ und im Dialog mit anderen Figuren vermittelt wird. Der Sprecher beschreibt und kommentiert also gewissermaßen >live< und ad
spectatores
den Verlauf einer Tagung, an der er selbst teilnimmt; stellenweise kommen aber eben auch andere Tagungsteilnehmer zu Wort. Was der Zyklus in Ansätzen erkennen läßt, ist mithin ein formales Experiment, in dem sich epigrammatische, narrative und dramatische Elemente verschränken: die satirische Berichterstattung von einer fiktiven Tagung der Gruppe 47, die sich in ihrem Verlauf allerdings an den realen Tagungen orientiert. Möglicherweise diente Bobrowski die Struktur der Höllenfahrt des neuen Odysseus aus den Xenien
der Gegenwart
dazu als Anregung; aufgrund
des Fehlens eines die Struktur vorgebenden Prätextes besteht jedoch auch ein entscheidender Unterschied zwischen den Texten. In jedem Fall hat Bobrowksi das formal innovatorische Potential der Gattung erkannt und eine neue Möglichkeit der Strukturierung eines Epigrammzyklus entwikkelt - der Epigrammzyklus als Livebericht von einer Tagung. N u n zu den Beispielen, die auch das Spektrum der Themen zeigen sollen. Wie erwähnt wird zu Beginn die A n k u n f t der Tagungsteilnehmer geschildert: R E I G E N SELIGER SLEBENUND VIERZIGER
Einige kommen vom Wasser, und die aus der Luft, und die leben sonst in Wäldern - das ist alles für Tage nun hier, redend in ihren Sprachen und schweigend mit einmal: es nahte kinderäugig des Fests Herrin, Undine erschien.
303
HULDIGUNG Eben nahm die Bewunderte Platz, - nun seht, wie die dünnen und erst die dickeren H e r r n kreisend umziehn ihr Idol, gleich den Planeten, nur flüsternd, und wie zu Musik aus den Sphären — Alles, sagt Aichinger still, alles fast führt schon zu weit. 5 8
In den Blick des satirischen Berichterstatters gerät hier der >Auftritt< Ingeborg Bachmanns, die von ihm mit der Hauptfigur ihres Prosastückes Undine geht identifiziert wird: Undine kommt also gewissermaßen. Auch die Geschlechterverhältnisse dieses Textes werden so gleichsam auf den Kopf gestellt, denn in der Erzählung beschreibt Undine sich als Opfer der Männerwelt, der sie sich schließlich gebrochen entzieht. Die Undine auf der Tagung hingegen ist des »Fests Herrin«, sie regiert die Männerwelt der Gruppe und genießt ihre Sonderstellung als Frau. Ironisiert werden somit einerseits Bachmanns Stilisierung ihrer selbst als »kinderäugig[e]« Märchenfrau, andererseits aber auch das Verhalten der anwesenden Männer, die die ihnen damit implizit zugewiesene Rolle nur allzu gerne übernehmen. Der Titel des ersten Xenions spielt an auf eine Balletteinlage in Glucks Oper Orfeo ed Euridiee, in der ein Reigen seliger Geister auftritt; mit diesen Geistern werden nun die männlichen Tagungsmitglieder identifiziert, wobei »selig« hier nicht >nach dem Tod der himmlischen Freude teilhaftig< bedeutet, sondern >entzückt< in einem weltlichen Sinne - mit deutlich erotischem Unterton. Die Planeten- und SphärenharmonieMetaphorik in HULDIGUNG dürfte sich auf die kosmischen Metaphern im Titelgedicht von Bachmanns Gedichtband Die Anrufung des großen Bären beziehen. Im Kontext der Tagung verbergen sich hinter den kosmischen Gesetzen freilich nichts als die erotischen Triebkräfte. Die Reaktion einer der wenigen anderen an den Tagungen der Gruppe 47 teilnehmenden Frauen, Ilse Aichinger, deutet eine menschliche Konkurrenz zwischen den beiden Autorinnen an und suggeriert so, daß derart außerliterarische Gesichtspunkte innerhalb der Gruppenkommunikation von großer Bedeutung waren. Martin Walser ist der erste Autor, der vorliest: AUFTRITT WALSER Seht ihn, er naht: bedächtig neigt er sich dorthin und wieder dorthin, schlägt wieder ein Blatt Sündenregister uns auf, Sünden der Väter vornehmlich, — erhebt euch, vornehmlich ihr Söhne, täuschend gebildet in Wachs seht - überlebensgroß - e u c h ! "
s8 Ebd. S. 245. 59 Ebd. S. 246. 304
Der satirische Berichterstatter geht einerseits ironisch auf Walsers Inszenierung seiner selbst ein, andererseits auf das Thema, an dem sich Walser in seinen beiden damals erschienenen Romanen Ehen in Phillipsburg und Halbzeit sowie in den Dramen Eiche und Angora und Der Schwarze Schwan abgearbeitet hatte: die bundesrepublikanische Gegenwart und die sie überschattende deutsche Vergangenheit. Die auffälligen Wiederholungen innerhalb des Textes insinuieren, daß auch Walser sich wiederhole. Nach Grass (NUSSKNACKER) folgt Enzensberger, den Bobrowski selbst zu Wort kommen läßt: hme Heute am Nordkap und morgen auf Delos, dem russischen Bären sink ich ans Herz, und wohin sink ich dem Lama Peru's? Dichte ich nach (aus siebzehn der unverständlichsten Sprachen) oder dichte ich vor, - überall bin ich at first.'' 0
Neben Enzensbergers ausgeprägtes Reisen - 1957 war er in die USA und nach Mexiko gereist, von 1957-59 lebte er in Norwegen, dann ein Jahr in Italien, 1963 folgte eine Reise in die Sowjetunion, 1964 in den Nahen Osten usw. - spielt der Text auf seine i960 erschienene Anthologie Museum der modernen Poesie an, für die Enzensberger aus zahlreichen Sprachen übersetzt hatte sowie auf Enzensberger eigene Lyrik, für die er 1963 mit nur vierunddreißig Jahren den Büchner-Preis erhalten hatte. Indem Bobrowski ihn sich derart selbst charakterisieren läßt, erscheint Enzensberger als eitler und selbstgefälliger, kosmopolitischer Erfolgsautor. Der Ablauf der Tagungen war festgelegt und wurde auch strikt eingehalten: Auf die Lesung eines Autors aus einem unveröffentlichten Manuskript folgte die Ad hoc- oder Stegreifkritik der anwesenden Kritiker, die sich der Autor, auf dem sogenannten elektrischen Stuhl< sitzend, kommentarlos anzuhören hatte.61 Auf die Semantik dieser Situation spielt der Begriff des Delinquenten im folgenden Xenion an - der Autor als Angeklagter:
60
Ebd. Vgl. dazu Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Die Gruppe 47. Ein kritischer Grundriß. Zweite, gründlich überarbeitete und erweiterte Auflage. München 1987. S. 1 7 7 - 1 8 5 .
305
GRUPPENKRITIK Dies war sein letztes Wort, der Delinquent macht den Mund zu, und allsogleich ruft der Boß: Walter! - doch davon gibts drei. Welchen Walter denn nun, bedeutend sind alle? D a schlag ich vor: Alle drei, wenn's genehm, — alle zugleich, im T e r z e t t / 2
Das Xenion ist ein prägnantes Beispiel für Bobrowskis Nutzung epigrammatischer Techniken bei der satirischen Berichterstattung: Zunächst bietet der Sprecher eine Situationsbeschreibung - die Erwartung - , um dann durch seinen Kommentar die Lächerlichkeit dieser Situation aufzudecken - der Aufschluß - . Die Kritik zielt auf die Profilierungssucht der bei den Tagungen anwesenden Kritiker und die Rangstreitigkeiten unter ihnen. Mit den drei Walters sind Walter Höherer, Walter Jens und Walter Mannzen oder Walter Kolbenhoff gemeint. Aber auch einzelne Kritiker werden aufs Korn genommen, wie etwa Joachim Kaiser. Er war der einzige gewesen, der bei der Aschaffenburger Tagung im Jahr i960 Kritik an Bobrowskis Gedichten geübt hatte: KRITIKER KAISER O h welch ein Anblick! Auf Flügeln schwebt er daher des Gesanges, halb geschlossenen Augs, halb gespitzten Gehörs. Fasziniert schaut sein O p f e r entgegen ihm, und dieser Luftgeist lenkt ihm aus G o l d einen Pfeil schlankweg und tödlich ins Herz. 6 3
Die erste Zeile zitiert eines der berühmtesten Gedichte Heines und spielt damit, auch weil das Gedicht von Mendelssohn vertont wurde, darauf an, daß Kaiser nicht nur Literatur-, sondern auch Musikkritiker ist. Freilich ist die Ironie dabei nicht zu überhören. Uber die Pfeil-Metaphorik entsteht ein Konnex zu den Xenien Goethes und Schillers sowie zu den Xenien der Gegenwart, wo die Xenien metaphorisch ja jeweils als Pfeile erscheinen. Bobrowski antwortet also gewissermaßen nun in derselben Form auf den Pfeil des Kritikers - das Opfer schießt zurück. Stellvertretend für die - seit 1955 an den Tagungen teilnehmenden - 6 4 Verleger tritt Siegfried Unseld auf, der mittels Militär-Metaphorik als tyrannische, sich den Literaturbetrieb unterwerfende Führerpersönlichkeit decouvriert wird:
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Bobrowski: Gesammelte Werke. Bd. 1. S. 247. 3 Ebd. S. 249.
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Vgl. dazu Arnold (Hrsg.): Die Gruppe 47. S. 2 0 6 - 2 1 7 .
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GEFECHTSEINHEIT UNSELD Einer erteilt die Befehle, da gibts nichts zu fragen, sonst klappt der Kompanieeinsatz nicht, also die Büchsen geölt und hinein ins Gefecht, erst die Schützen, und jetzt auch Kanonen Ging er von sich aus so weit vor, der Rekrut? Paukt ihn raus! 6 '
Unseld scheint dieses Xenion wie auch die übrigen niemals gelesen zu haben, denn sonst hätte er in seinem Buch Goethe und seine
Verleger
nicht schreiben können: »Keine Basis für >Xenien< heute.«66 Mit der Vergabe des Preises der Gruppe 47 endet der Zyklus: LITERATURPREIS Wer erhält ihn denn diesmal? D e r eine gewiß, der die andern weit übertrifft, ganz egal, wie's ihm gelang und worin. E r erhält ihn zu Recht, überragt er doch alle die andern Miesen an Miesheit, so mies war doch noch keiner wie der. 6 7
Das Xenion zielt auf die Willkürlichkeit bei der Vergabe des Gruppenpreises ab,68 die, so wird es hier suggeriert, nicht nach qualitativen, sondern nur nach quantitaven Kriterien erfolgt. Mithin unterläuft der Preisträger selbst das Ritual der Preisverleihung. Bobrowskis Xenien über die Gruppe 47, so läßt sich resümieren, sind zwar deutlich in ihrer Kritik an der Gruppe, ihren Formen und ihren Mitgliedern, doch überschreiten sie an keiner Stelle - wie in den Xenien wider die Staatsklassik - das für die Kritisierten erträgliche Maß, und zwar weder in literarischer noch in politischer Hinsicht. Bobrowski versuchte niemanden - wie Becher oder Victor - fertigzumachen. Die Funktion dieser Xenien ist dementsprechend auch nicht die radikale Infragestellung oder gar Subversion der Gruppe >von innenErledigung< Goethes konstatiert: PPS. Das Goethe-Jahr ist vorbei, und ich merke jetzt, beim Lesen der Fahnen, dass zwei Sätze eine Korrektur benötigen. Er ist unser: das ist noch Tenor von Festreden, aber sonst ist man dabei, sich zu verständigen auf: Er ist erledigt. Die Barbarei hat keine Fassade mehr nötig. Ich lese nach, was der Sechsundsiebzigjährige an Freund Zelter nach Berlin geschrieben hat: dass Reichtum und Schnelligkeit es seien, was die Welt bewundert und wornach jeder strebt...Lass uns so viel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen, wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten seyn einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt.8/
Auch diese berühmte Briefstelle erweist sich somit als klassisch, denn als Diagnose der Gegenwart ist sie noch immer brauchbar. Tragelehn appliziert sie auf seine eigene Zeit: die Zeit der Nachwende, der >Berliner Republik^ von der aus gesehen die DDR in weiter Ferne liegt. Die »Gesinnung«, an der festhalten zu wollen Tragelehn damit eingesteht, manifestiert sich in seinen Neuen Xenien. Mithin wird das Xenion hier zum Signum der untergegangenen DDR.
Epilog des Epiloges: Das Ende der Gattungstradition? Im Frühjahr 2004, während das Manuskript dieser Arbeit für die Druckfassung überarbeitet wurde, erschienen gleichzeitig zwei großangelegte Anthologien komischer deutschsprachiger Lyrik: Hell und Schnell. /// komische Gedichte aus / Jahrhunderten, herausgegeben von den Autoren Robert Gernhardt und Klaus Cäsar Zehrer, sowie Die komischen Deutschen. 8/8 gewitzte Gedichte aus 400 Jahren, herausgeben von dem Lyriker Steffen Jacobs. Beide Anthologien haben einen hohen Anspruch: Jacobs möchte sein Buch als »umfassende Gegendarstellung zum lückenhaften Lyrik- und Komikbegriff landläufiger Anthologien« verstanden wissen und annonciert außerdem »[njichts Geringeres als die Wiederentdeckung einer oft für ausgestorben erklärten Spezies [...]: >Die komischen DeutschenFuror satiricusDie GoethepächterIst das Dichter Rede?< Karl L u d w i g von Münchhausen als Kritiker Goethes und Schillers. Mit bisher unbekannten Texten.« In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts. Tübingen 1993. S. 60-92. Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 16. Prosa I. Stuttgart u.a. 1978. S. 6o6f. Die Texte sind abgedruckt bei Boas, der angibt, sie von Varnhagen von Ense erhalten zu haben. Boas: Schiller und Goethe im Xenienkampf. Bd. 2. S. 266. 344
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Heinrich von Kleist: »Epigramme.« In: Phöbus. Ein Journal für die Kunst. Herausgegeben von Heinrich v. Kleist und Adam H. Müller. Mit Kupfern. Erster Jahrgang. Viertes und fünftes Stück April und Mai 1808. S. 69-71. Heinrich von Kleist: »Epigramme.« In: Phöbus. Ein Journal für die Kunst. Herausgegeben von Heinrich v. Kleist und Adam H. Müller. Mit Kupfern. Erster Jahrgang. Sechstes Stück Junius 1808. S. 44-47. Karl August Böttiger: Das gezwungene Lachen. [Dieses »Xenion zum Abschiede« an Kleist ist in Böttigers Rezension des Phöbus in der Zeitschrift Der Freimiithige vom 5. Dezember 1808 enthalten; vgl. dazu Abschnitt 1.1] 7 E.T.A. Hoffmann: Xenien auf Bamberger Schauspieler. [Dieser 1813 entstandene Zyklus wurde erst 1836 mit Anmerkungen versehen und veröffentlicht von Karl Friedrich Kunz] 8 Franz Grillparzer: Xenien. [Grillparzer hat diesen Zyklus von 1818 nicht veröffentlicht]9 Johann Wolfgang von Goethe: »Zahme Xenien.« In: Ueber Kunst und Alterthum II 3 / 1820, S. 81-96. III 2 / 1821, S. 74-96. IV 3 / 1824, S. 9 3 - 1 1 1 . [Der vollständige Zyklus ist 1827 in der Ausgabe letzter Hand erschienen] Franz Grillparzer: Xenien. [Grillparzer hat diesen 1818/1819 entstandenen, 1820 umgearbeiteten Zyklus nicht publiziert] 10 [Wilhem Ernst Weber]: Kleine Schwärmer über die neueste deutsche Literatur. Eine Xeniengabe für 182/. Mit den Xenien des Schillerischen Musen-Almanachs von ι/?/. Frankfurt am Main 1826. Karl Leberecht Immermann: [»Xenien«]. In: Reisebilder von H.Heine. Zweiter Theil. Hamburg 1827. S. 118-128. [Heinrich Heine]: »Der Berliner Musen-Almanach für 1830.« In: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz. Ausgabe vom 28. 12. 1829. August Graf von Platen: [Xenien]. [Platen hat diese größtenteils 1829 entstandenen Xenien nicht veröffentlicht] 11 [Ludwig Feuerbach]: Gedanken über Tod und Unsterblichkeit aus den Papieren eines Denkers, nebst einem Anhang theologisch-satirischer Xenien, herausgegeben von einem seiner Freunde. Nürnberg 1830. [Wolfgang Menzel]: »Epigramme.« In: Morgenblatt für gebildete Stände. Literatur Blatt. No. 1 von Montag, 2. Januar 1832. S. 1-4. No. 2 von Mittwoch, 4. Januar 1832. S. 5-8. No. 3 von Freitag, 6. Januar 1832. S.9-12. [Anonymus]: Xenien. Hanau 1832. Gotthard Oswald Marbach: Xenien. O.O. 1836. Friedrich Engels: »Die Journale.« [Der Xemenzyklus ist in einem Brief an Friedrich Graeber vom 20. Januar 1839 enthalten]12
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Abgedruckt in: Helmut Sembdner (Hrsg.): Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. München 1996. S. 271-273. Aus dem Leben zweier Dichter: Ernst Theodor Wilhelm Hoffmanns und Friedrich Gottlob Wetzeis. Von Z. Funck [d.i. C.F. Kunz]. Leipzig 1836. S. 5054·
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Grillparzer: Sämtliche Werke. Bd. 12. S. 2f. Ebd. S. 5 und 11 f. August von Platen: Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Kurt Wölfel und Jürgen Link. Bd. 1. Lyrik. München 1982. S. 579-591. 345
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Franz Grillparzer: Xenien. [Obwohl Grillparzer sich um eine Publikation dieses Zyklus von 1840 bemüht zu haben scheint, wurden nur einzelne Xenien daraus in Zeitschriften veröffentlicht] 1 ' Georg Herwegh: »Xenien.« In: [ders.]: Gedichte eines Lebendigen. Bd. 2. Zürich und Winterthur 1843. S. 93-172. [In Herweghs Nachlaß gibt es noch weitere Xenien] 14 David Friedrich Strauss: »Xenien. Ein Thierkreis.« In: Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz. Herausgegeben von Georg Herwegh. Erster Theil. Zürich und Winterthur 1843. S. 250-252. Karl Gutzkow: »Epigramme und Xenien.« In: Gesammelte Werke von Karl Gutzkow. Vollständig umgearbeitete Ausgabe. Erster Band. Frankfurt am Main 1845. S. 257-340. Friedrich Rückert: [Xenien], [Rückert hat diese Xenien nicht veröffentlicht] 15 Friedrich Rückert: »Zahme Xenien.« [Der Zyklus ist enthalten in den Gesammelten Gedichten von 1843] 16 Adolf Glassbrenner / Daniel Sanders: Xenien der Gegenwart. Hamburg 1850. Karl Manuel: Wilde und zahme Xenien. O.O. 1856. Anastasius Grün: Xenien aus dem Herrenhaus des Wiener Reichsrates. [Der 1862 entstandene Zyklus wurde zu Grüns Lebzeiten nicht publiziert] 17 Max Bruch: [Xenien]. [Bruchs Xenien sind in einem Brief an Philipp Spitta aus dem Jahr 1893 enthalten]18 Eduard von Bauernfeld: »Xenien.« [Die Xenien Bauernfelds sind 1870/71 in verschiedenen Zeitschriften erschienen; als Zyklus wurden sie erst postum publiziert]1» Eduard von Bauernfeld: Poetisches Tagebuch. In zahmen Xenien von 1820 bis Ende 1886. Zweite Auflage. Berlin 1887.
Karl Marx / Friedrich Engels: Werke. Bd. 40.2. Berlin 1967. S. 355. Grillparzer: Sämtliche Werke. Bd. 12. S. 109-114. Vgl. dazu Sylvia Peuckert: Freiheitsträume. Georg Herwegh und die Herweghianer. Politische Gedichte der 1840er Jahre und Metaphern für Freiheit dieser Zeit. Frankfurt am Main u.a. 1985. S. 52-68. In Rückerts zum Teil noch unediertem Nachlaß finden sich nicht wenige Xenien. Dort heißt es zum Beispiel: »Schiller erschien im Traum mir jüngst, und einige neue / Xenien sagt' er mir vor; hört, was davon ich behielt!« Die Abgrenzung von anderen antikisierenden Epigrammen fällt jedoch schwer. Es ist damit zu rechnen, daß in Rückerts Liedertagebuch weiteres Material zu finden sein wird. Richard Dove (Hrsg.): »Jetzt am Ende der Zeiten«. Unveröffentlichte Gedichte. Frankfurt am Main 1988. S. 128. Friedrich Rückert: Gesammelte Gedichte. 1. Teil. Frankfurt am Main 1843. Anastasius Grüns sämtliche Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Anton Schlosser. Vierter Band. Leipzig o.J. S. 76-80. Abgedruckt bei Wulf Konoid (Hrsg.): Lexikon Orchestermusik Romantik. Bd. 1. Mainz 1989. S. 116 und Karl Gustav Feilerer: Max Bruch 1838-1920. Köln 1974. S. 145. Eduard von Bauernfeld: Ausgewählte Werke in vier Bänden. Mit einer biographisch-kritischen Einleitung hrsg. von Emil Horner. Erster Band. Leipzig 1905. S.113-120. 346
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Ernst Ziel: Moderne Xenien. Ein Glaubensbekenntniß in Sprüchen und Strophen. Leipzig 1889. Heiner Müller: »Epigramme über Lyrik.« In: Neue deutsche Literatur 6 (1956). S. 160. D. Martin Ochs [d .1. Arno Schmidt]: »Auf Arno Schmidt's >Rosen & Porree