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German Pages 619 [620] Year 1991
Unfallheilkunde für die Praxis
Unfallheilkunde für die Praxis 2. Auflage
Herausgegeben von G. H. Engelhardt Mit Beiträgen von R. Braakmann, P. Brüser, G. H. Engelhardt, M. Gharib, E. Günther f , W. Izbicki, H. Jentgens, A. Karimi-Nejad, V. Lent, H. Matthes, W. Münch, H.-D. Pape, H. Paulmann, G. Peters, K. G. Rose, W. Schink, U. Schneider-May, K.-H. Vestweber, B. Viell, K. Wilhelm, H. Zilch
W DE G
Walter de Gruyter Berlin • New York 1991
Prof. Dr. med. G. H. Engelhardt Klinikum Barmen Klinik für Allgemeinchirurgie Heusnerstraße 4 0 D - 5 6 0 0 Wuppertal 2
Dieses Buch enthält 2 2 2 Abbildungen
CIP-Titelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Unfallheilkunde für die Praxis / hrsg. von G. H. Engelhardt. Mit Beitr. von R. Braakman . . . - 2. Aufl. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1991 ISBN 3-11-010601-9 NE: Engelhardt, Gustav H. [Hrsg.]; Braakman, R. [Mitverf.]
© Copyright 1990 by Walter de Gruyter 8c Co., D-1000 Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen und dergleichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, daß solche Namen ohne weiteres von jedermann benutzt werden dürfen. Vielmehr handelt es sich häufig um gesetzlich geschützte, eingetragene Warenzeichen, auch wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind. Satz und Druck: Wagner GmbH, Nördlingen — Buchbinderische Verarbeitung: Dieter Mikolai, Berlin — Zeichnungen: Heiner Welz, Berlin — Umschlagentwurf: Rudolf Hübler, Berlin. Printed in Germany
Vorwort
Nach dem Tode Walther Ehalts im Jahre 1 9 7 6 haben der Verlag und der neue Herausgeber vereinbart, statt einer 6. Auflage seines 1 9 4 3 erstmals erschienenen Buches „Unfallpraxis" eine weitgehende Neugestaltung folgen zu lassen. Entstanden ist ein Buch, das in direkter Nachfolge dieses weit verbreiteten Standardwerkes in konzentrierter Form praxisnahe Erfahrungen bei der Versorgung von Unfallverletzten wiedergibt. Erhalten wurden zahlreiche Aussagen Walther Ehalts, weil sie auch heute noch unverändert gültig sind. Das Wesentliche darzustellen war uns wichtiger als die Vollständigkeit der behandelten Themen. Besonders dem Studenten der Medizin, dem jungen Arzt, dem Krankenhausassistenten, dem Arzt für Allgemeinmedizin oder dem Betriebsarzt soll die Basisversorgung von Unfallverletzten dargestellt werden; auf eine fachgebundene Diagnostik und Therapie wird lediglich hingewiesen, auf operationstechnische und -taktische Einzeldarstellungen wird verzichtet. Dieses Buch ist zudem der Versuch einer interdisziplinären Darstellung der den Menschen betreffenden Unfallfolgen. Es bietet keine „Traumatologie" im üblichen Sprachgebrauch und beschränkt sich deshalb nicht auf Körperhöhlen- und Gliedmaßenverletzungen. Unfallheilkunde im Sinne dieses Buches ist die ärztliche Gesamtaufgabe der Behandlung frischer Unfallfolgen aller Körperregionen des Menschen. Die Hauptlast dieser Aufgabe trägt die Allgemeinchirurgie, je nach Art und Schwere der Verletzung unter Beteiligung weiterer Fachgebiete. Die Integrationsfähigkeit der Chirurgie sollte sicherstellen, daß über dem speziellen Wissen und Können der Fachleute nicht der spezifisch ärztliche Auftrag vergessen wird. Mit diesem Wunsche wird das Buch dem Leser empfohlen. Kritik und förderliche Anregung will ich für die folgenden Auflagen gerne berücksichtigen. Ich danke allen Kollegen, die mit ihren Beiträgen dem Buch Form und Inhalt gegeben haben, und ich danke dem Verlag Walter de Gruyter für die langjährige gute Zusammenarbeit. Besonders dankbar bin ich nicht zuletzt meinem Lehrer, Herrn em. Prof. Dr. med. Wilhelm Schink, der sich als Allgemeinchirurg sowohl klinisch als auch wissenschaftlich den Problemen der Unfallverletzten engagiert gewidmet hat. Köln, im Juni 1 9 8 3
G. H. Engelhardt
Zur 2. Auflage
Die vorliegende, überarbeitete und erweiterte Auflage verdankt ihr Entstehen dem großen Interesse, auf das bereits die erste Auflage getroffen ist. Neu eingefügt wurden Abschnitte über Verletzungen der Wirbelsäule, über die Infektionsprophylaxe und -therapie beim Schwerverletzten, über seine Ernährung sowie über das Durchgangsarztverfahren. So gibt dieses Buch eine interdisziplinäre Einführung in die Unfallheilkunde und in die Versorgung von Verletzten unter besonderer Betonung der primären Behandlungsmaßnahmen. Es wendet sich an den Studenten der Medizin ebenso wie an jeden Arzt, der regelmäßig oder gelegentlich Unfallpatienten zu versorgen hat. Großen Dank schulde ich wiederum den Autoren für ihre zuverlässige Mitarbeit wie auch den Lesern für ihre Anregungen und schließlich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags. Wuppertal-Barmen, Dezember 1990
G. H. Engelhardt
Anschriftenverzeichnis der Autoren
Prof. Dr. med. R. Braakman Academisch Ziekenhuis Dr. Molewaterplein 4 0
PD Dr. med. V. Lent St.-Nikolaus-Stiftshospital
N L - 3 0 1 5 G D Rotterdam
Hindenburgwall 1 D - 5 4 7 0 Andernach
Prof. Dr. med. P. Brüser
Prof. Dr. med. H. Matthes
Malteser-Krankenhaus Bonn-Hardtberg e. V.
Agnes-Miegel-Straße 5 D - 5 0 5 6 Bergisch-Gladbach 1
Von-Hompesch-Straße 1 D - 5 3 0 0 Bonn 1
Dr. med. W. Münch
Prof. Dr. med. G. H. Engelhardt Klinikum Barmen Klinik für Allgemeinchirurgie
Prof. Dr. med. H.-D. Pape Universitäts-Zahn- und Kiefer-Klinik Joseph-Stelzmann-Str. 9
Heusnerstraße 4 0
D - 5 0 0 0 Köln 4 1
D - 5 6 0 0 Wuppertal 2 Prof. Dr. med. H. Paulmann Prof. Dr. med. M . Gharib Städt. Krankenhaus Köln-Riehl Kinderchirurgische Klinik Amsterdamer Straße 5 9
Städtische Kliniken Köln-Merheim Augenklinik Ostmerheimer Straße 2 0 0
D - 5 0 0 0 Köln 6 0
D - 5 0 0 0 Köln 91
Dr. med. W. Izbicki
Prof. Dr. med. G. Peters Hygiene-Institut der
Evangelisches Krankenhaus Abteilung Unfallchirurgie
Universität zu Köln
Wertgasse 3 0
Goldenfelsstraße 1 9 - 2 1
D - 4 3 3 0 Mülheim
D - 5 0 0 0 Köln 4 1
Prof. Dr. med. A. Karimi-Nejad
Prof. Dr. med. K. G. Rose Städtische Kliniken Dortmund
Neurochirurgische Universitätsklinik Köln Jospeh-Stelzmann-Straße 9 D - 5 0 0 0 Köln 4 1
HNO-Klinik Beurhausstraße 4 0 D - 4 6 0 0 Dortmund
VIII
Anschriftenverzeichnis der Autoren
Prof. Dr. med. W. Schink Am Rauschergraben 6 D-8021 Icking-Dorfen Dr. med. U. Schneider-May Evangelisches Krankenhaus Lütgendortmund Volksgartenstraße 40 D-4600 Dortmund 72 PD Dr. med. K.-H. Vestweber Städtisches Krankenhaus Leverkusen Chirurgische Klinik Abteilung Allgemeinchirurgie Dhünnberg 60 D-5090 Leverkusen 1
Dr. med. B. Viell II. Chirurgische Universitätsklinik Ostmerheimer Straße 2 0 0 D-5000 Köln 91 Prof. Dr. med. K. Wilhelm Chirurgische Universitätsklinik Innenstadt Nußbaumstraße 20 D-8000 München 2 Prof. Dr. med. H. Zilch Kreiskrankenhaus Goslar Klinik für Unfall-, Wiederherstellungsund Handchirurgie Kösliner Straße 12 D-3380 Goslar
Inhalt
A. Allgemeiner Teil G. H. Engelhardt 1
Notfall, Notfallmedizin
3
2 2.1 2.2 2.3 2.4
Rettungs- oder Versorgungskette für Notfallpatienten Retten Rettungsdienst Notarzt Transportfähigkeit
5 5 6 6 6
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3
Elementarmaßnahmen bei akut-lebensbedrohlichen Zuständen . . Bereich A — Atemstörungen Ursachen einer gestörten Atmung Zeichen des Atemstillstands Wiederbelebung der Atmung Bereich B — Bewußtseinsstörungen Häufige Ursachen traumatisch bedingter Bewußtseinsstörungen . Zeichen und Grade der Bewußtseinsstörung Maßnahmen Bereich C — Circulation Blutung Schock Kreislaufstillstand
8 8 9 9 9 11 11 11 11 12 12 14 19
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10
Allgemeine posttraumatische Komplikationen Akute respiratorische Insuffizienz (Schocklunge) Fettembolie-Syndrom Lungenembolie Verbrauchskoagulopathie Akutes Nierenversagen (Schockniere) Crush-Syndrom Akute gastro-duodenale Läsionen („Streß-Ulkus") Alkoholentzugssyndrom Sudeck-Syndrom Kompartment-Syndrom (K. S.)
24 24 25 27 29 31 32 33 34 36 38
X
Inhalt
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.5 5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4 5.6.5 5.7 5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.4 5.7.5 5.8 5.8.1 5.8.1.1 5.8.1.2 5.8.1.3 5.8.1.4 5.8.1.5 5.8.2 5.8.2.1 5.8.2.2 5.8.2.3 5.8.2.4
Wunden Einteilung der Hautwunden nach ihrer Entstehungsursache . . . . Symptome der Wunden Gefahren der Wunden Wundheilung Primärheilung Sekundärheilung Wundheilungsstörungen Durch Wunden verursachte Allgemeinerkrankungen Sepsis Erysipel (Rotlauf, Wundrose) Gasbrand Tetanus (Wundstarrkrampf) Lyssa, Rabies (Tollwut) Therapie der Wunden Erste Hilfe Offene Wundbehandlung Operative Behandlung frischer Wunden Behandlung veralteter und alter Wunden Behandlung infizierter Wunden Anhang: Verbandlehre Allgemeine Verbandlehre Wundverbände Druckverbände Stützverbände Zugverbände und Streckverbände Allgemeine Grundregeln der Verbandtechnik Spezielle Verbandlehre Verschiedene Pflasterverbände Dreiecktuchverbände Bindenverbände Schienenverbände
41 41 42 42 42 42 42 42 44 44 45 45 46 49 50 50 51 51 53 53 54 54 54 55 55 55 55 56 56 57 71 77
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8
Verbrennungen Definition und Ursachen Pathophysiologic Verbrennungsschock Prognose und Letalität Wundheilung Infektion Spätfolgen Diagnostik
83 83 83 84 85 86 86 87 87
Inhalt
XI
6.8.1 6.8.2
Bestimmung der Ausdehnung einer Verbrennung Bestimmung der Tiefe einer Verbrennung
87 88
6.9 6.10
Indikationen zur stationären Behandlung Therapie
90 91
6.10.1
Erstmaßnahmen am Unfallort
91
6.10.1.1
Erste Hilfe durch Rettungssanitäter/-assistenten
91
6.10.1.2
Kaltwasserbehandlung
92
6.10.1.3 6.10.1.4
Erste Hilfe durch Arzt Initiale Schockbekämpfung
92 93
6.10.1.5 6.10.2
Medikamentöse Erstbehandlung Klinische Therapie
94 94
6.10.2.1
Erstbehandlung im Krankenhaus
94
6.10.2.2
Flüssigkeitsersatz
95
6.10.2.3 6.10.2.3.1
Therapie der Brandwunden Konservative Behandlung
96 96
6.10.2.3.2
Operative Behandlung
98
7
Kälteschäden
101
7.1 7.2
Unterkühlung Erfrierung
101 102
8
Elektrounfall
104
9
Wasserunfall
106
10
Prellungen, Zerrungen, Bänderrisse, Blutergüsse
108
10.1 10.2 10.3 10.4
Prellung Zerrung Bänderriß Bluterguß
108 108 108 109
11
Knochenbrüche
110
11.1 11.2 11.3
Knochenbruchzeichen Komplikationen Häufig übersehene Brüche
111 111 113
11.4
Ermüdungsbrüche
113
11.5 11.6
Pathologische Frakturen Behandlung von Knochenbrüchen
113 114
11.6.1 11.6.2 11.6.2.1
Behandlung am Unfallort Konservative Knochenbruchbehandlung Einrichten
114 115 115
11.6.2.2
Ruhigstellen
116
XII
Inhalt
11.6.2.3 11.6.3 11.6.3.1 11.6.3.2 11.7 11.7.1 11.7.2 11.7.3 11.8 11.8.1 11.8.2 11.8.3 11.8.4 11.8.5 11.8.6
Üben Operative Knochenbruchbehandlung Verfahren der Osteosynthese Behandlung offener Frakturen (modifiziert nach Weller) Verzögerte Knochenbruchheilung und Pseudarthrosen Ursachen der Pseudarthrosen Einteilung der Pseudarthrosen Therapie Folgen von Knochenbrüchen Ödem Posttraumatische Osteoarthrose Myositis ossificans Callus luxurians Brückenkallus Muskelschwund — Kalkschwund
119 119 120 123 124 124 124 125 125 125 125 125 126 126 126
12 12.1 12.2 12.3
Ankylosen, Arthrodesen, Kontrakturen Ankylosen Arthrodesen Kontrakturen
127 127 127 127
13
Luxationen (Verrenkungen)
128
14 14.1 14.2 14.3 14.4
Mehrfachverletzungen Prognose und Letalität Maßnahmen am Unfallort Maßnahmen im Krankenhaus Verletzungsschwere
130 130 131 139 142
15 15.1 15.2 15.3 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4 15.3.5 15.3.6
Röntgenuntersuchung des Unfallverletzten Allgemeine Grundsätze zur Röntgenuntersuchung Indikationen zur Röntgenuntersuchung nach Verletzungen . . . . Spezielle Aufnahmetechniken Schädel Wirbelsäule Thorax Abdomen Becken Extremitäten
144 144 145 145 145 146 146 147 148 148
Inhalt
XIII
B. Spezieller Teil 16 16.1 16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4 16.3 16.3.1 16.3.2 16.3.3 16.3.4 16.3.5 16.3.6 16.3.7 16.3.8 16.3.9 17 17.1 17.2 17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5 17.3 17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4 17.3.5 17.4 17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.4.4 17.4.5
Betäubungsverfahren für Unfallpatienten H. Matthes Einleitung Lokale und regionale Analgesien Gesichtsschädel Plexus brachialis Handgelenks-und Fingerblockaden Blockaden der unteren Gliedmaßen Allgemeinbetäubung Vorbereitung, Durchführung Mehrfachverletzungen Kopfverletzungen Halsverletzungen HWS-Verletzungen Augenverletzungen Kieferverletzungen Brustkorbverletzungen Zwerchfellverletzungen
153 153 154 157 158 165 166 171 173 178 178 179 179 179 180 181 182
Schädel-Hirn-Verletzungen A. Karimi-Nejad 184 Erstversorgung am Unfallort 184 Klinische Symptome, ihre Wertigkeit und Verlaufsbeobachtung . . 186 Bewußtseinsstörung 186 Abwehrreaktion 187 Motilitätsprüfung, Lähmungen 187 Weite und Reaktion der Pupillen 187 Tonusstörungen 188 Zusatzuntersuchungen 189 Computertomographie (CT) 189 Röntgenuntersuchung 190 Elektroenzephalographie (EEG) 190 Karotisangiographie 191 Andere Zusatzuntersuchungen 191 Vegetative Störungen und ihre Behandlung 192 Atemstörungen 192 Kreislaufstörungen 195 Temperatur-Regulationsstörungen 195 Medikamentöse vegetative Dämpfung, Sedierung 196 Blasenentleerungsstörungen 197
XIV
Inhalt
17.4.6 17.4.7 17.5 17.6 17.6.1 17.6.2 17.6.3 17.6.4
Wasserhaushaltsstörungen Magen-Darm-Störungen Einteilung der Schädel-Hirn-Verletzungen Schweregrad einer Hirnverletzung Commotio cerebri Contusio cerebri Compressio cerebri Klinische Einteilung der Schweregrade einer Hirnverletzung
197 198 198 199 199 200 200 . . . 200
17.6.5 17.6.6 17.7
Apallisches Syndrom 202 Hirntod 202 Pathogenese und Pathomorphologie der traumatischen Hirnschädigungen 204
17.8
Hirnschwellung, Hirnödem, Drucksteigerung, ihre Bedeutung und Behandlung 205
17.9 17.9.1 17.9.2 17.9.3 17.9.4 17.9.5 17.10 17.10.1 17.10.2 17.11 17.12 17.13
Intrakranielle Blutungen 210 Klinische Zeichen einer intrakraniellen Blutung 210 Epidurale Hämatome 211 Subdurale Hämatome 213 Intrazerebrale Blutungen 216 Hämatome der hinteren Schädelgrube 216 Hirnschädelfrakturen 217 Frakturen an der Schädelkonvexität 217 Schädelbasisfrakturen; offene Hirnverletzungen 218 Gefäßverletzungen 221 Posttraumatische Epilepsie 222 Spätergebnisse und soziale Rehabilitation der Schädel-Hirn-Verletzten 223
18
Knöcherne Verletzungen des Mittelgesichts und des Unterkiefers
H.-D.Pape
225
18.1 18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5 18.2 18.3 18.3.1 18.3.2
Übergeordnete Richtlinien Diagnostik Sofortmaßnahmen Behandlungsziel Behandlungsprinzip Kieferbruchschienung Zahnluxationen und Alveolarfortsatzfrakturen Unterkieferfrakturen Frakturen im bezahnten Unterkiefer Gelenkfortsatzfrakturen
225 225 226 230 230 230 231 232 233 235
18.3.3 18.3.4
Frakturen des zahnlosen Unterkiefers Luxation und Subluxation des Kiefergelenks
236 236
Inhalt
XV
18.4 18.5
Mittelgesichtsfrakturen Weichteilverletzungen im Kiefer-Gesichtsbereich
19
Verletzungen im HNO-Bereich K.G.Rose 245 Ohr 245 Othämatom, Otserom 245 Verletzungen der Ohrmuschel: Zerreißung, Abriß, Biß 245 Verletzungen des äußeren Gehörganges 246 Direkte Verletzungen des Trommelfelles und der Mittelohrräume 246 Indirekte Verletzungen von Trommelfell, Mittel-und Innenohr . . 2 4 7 Schädelbasisbrüche mit Beteiligung des Ohres (laterobasale Frakturen, Frakturen der Otobasis) 248 Felsenbeinlängsbruch 248 Felsenbeinquerbruch 250 Bruch der Gehörgangsvorderwand 251 Gesichtsweichteile, Hirnnerven, Speicheldrüsen 251 Verletzungen der Gesichtsweichteile 251 Verletzung von Hirnnerven 252 Verletzungen der großen Speicheldrüsen 252 Nase und obere Nasennebenhöhlen 253 Verletzungen des Nasengerüstes und des Naseninneren 253 Schädelbasisbrüche mit Beteiligung der oberen Nasennebenhöhlen (frontobasale Frakturen, Frakturen der Rhinobasis) 254 Mundhöhle und Mundrachenraum 256 Zungenverletzungen 256 Pfählungsverletzungen 256 Hals, Kehlkopf, Luftröhre, Speiseröhre 257 Gedeckte Verletzungen durch stumpfe Gewalteinwirkung 257 Offene Verletzungen nach scharfer Gewalteinwirkung 257 Antibiotika bei HNO-Verletzungen 258
19.1 19.1.1 19.1.2 19.1.3 19.1.4 19.1.5 19.1.6 19.1.6.1 19.1.6.2 19.1.6.3 19.2 19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.3 19.3.1 19.3.2 19.4 19.4.1 19.4.2 19.5 19.5.1 19.5.2 19.6 20 20.1 20.2 20.3 20.4 20.5 20.6 20.6.1
Augenverletzungen H. Paulmann Allgemeines Allgemeine Untersuchungsmethoden Lidverletzungen Orbitaverletzungen Augapfelprellung Perforierende Verletzungen Verletzungen durch perforierende Fremdkörper
238 243
259 259 259 260 262 262 264 264
XVI
Inhalt
20.6.2 20.7 20.8
Schnitt-, Stich- und Platzverletzungen Verätzungen Verbrennungen
265 266 267
21
Brustkorbverletzungen G. H.Engelhardt und H.Jentgens Erste Orientierung Erstuntersuchung Respiratorische Insuffizienz Erstmaßnahmen Diagnostische Maßnahmen Einteilung der Brustkorbverletzungen Stumpfe Thoraxtraumen Penetrierende und perforierende Thoraxtraumen Einteilung nach Organsystemen Weichteile und Knochen Isolierte Rippenfrakturen Rippenserienfrakturen Offener Thorax Pneumothorax Thoraxdrainage Spannungspneumothorax Tracheobronchialverletzungen Hämatothorax Lungenatelektasen Lungenverletzungen Lungenkontusion Offene Herzverletzung Herztamponade (Hämoperikard) Herzkontusion Gefäßverletzungen Ösophagusverletzungen Chylothorax Cholothorax Zwerchfellruptur Iatrogene Verletzungen Verletzungsmöglichkeiten bei der stumpfen Brustkorbverletzung Operationsindikation beim Thoraxtrauma
268 268 270 270 270 271 271 271 273 273 273 274 274 275 276 277 278 279 279 280 281 281 281 281 282 282 283 283 283 283 284 284 285
Bauchverletzungen G. H. Engelhardt Einteilung und Ursachen
286 286
21.1 21.2 21.3 21.4 21.5 21.6 21.6.1 21.6.2 21.7 21.7.1 21.7.2 21.7.3 21.7.4 21.7.5 21.7.5.1 21.7.6 21.7.7 21.7.8 21.7.9 21.7.10 21.7.11 21.7.12 21.7.13 21.7.14 21.7.15 21.7.16 21.7.17 21.7.18 21.7.19 21.7.20 21.7.21 21.7.22 22 22.1
Inhalt
XVII
22.2 22.3 22.4 22.5 22.5.1 22.5.2 22.5.3 22.5.4
Prognose und Letalität Bauchwandverletzungen Penetrierende Bauchverletzungen Stumpfe Bauchverletzungen Sofortmaßnahmen Erstuntersuchung Erstversorgung Diagnostische Maßnahmen
286 287 288 289 289 289 290 291
22.5.5 22.5.5.1 22.5.5.2 22.5.5.3 22.5.5.4 22.5.5.5
Spezielle Organverletzungen, Diagnostik und Versorgung Zwerchfell Milz Leber Gallenblase und Gallengänge Pankreas
293 293 295 296 298 298
22.5.5.6 22.5.5.7 22.5.5.8 22.5.5.9 22.5.5.10 22.5.6 22.5.7
Magen Duodenum Dünndarm Dickdarm Netz und Mesenterium Operationstaktisches Vorgehen bei Bauchverletzungen Behandlungsmethoden bei Verletzungen von Bauchorganen
23
Verletzungen des Urogenitalsystems V Lent und W. Schink Einleitung Nierenverletzungen Harnleiterverletzungen Harnblasenverletzungen Harnröhrenverletzungen Verletzungen der männlichen Genitalorgane
23.1 23.2 23.3 23.4 23.5 23.6
Wirbelsäulenverletzungen A. Karimi-Nejad und R.Braakman 24.1 Einleitung 24.2 Halswirbelsäulen-(HWS)Verletzungen 24.2.1 Erste Hilfe am Unfallort 24.2.2 Versorgung im erstbehandelnden Krankenhaus 24.2.3 Neurologische Befundaufnahme und Zusatzuntersuchung 24.2.4 Einteilung der HWS-Verletzungen 24.2.4.1 Verletzungen im oberen HWS-Bereich 24.2.4.1.1 Atlasfrakturen 2 4 . 2 . 4 . 1 . 2 Densfrakturen
300 301 302 303 303 304 . . . 304
305 305 305 311 314 316 319
24
. . . .
321 321 321 322 322 323 323 324 324 324
XVIII
Inhalt
24.2.4.1.3 Hangman-fracture 2 4 . 2 . 4 . 1 . 4 Operative Behandlung der Verletzungen im oberen HWS-Bereich 24.2.4.2 Verletzungen bei C 3 und tiefer
325
24.2.4.2.1
Bandscheibenvorfall,-Schädigung
326
24.2.4.2.2 24.2.4.2.3 24.2.4.2.4 24.2.4.2.5 24.2.4.2.6 24.2.5
Achsenknickung Luxationen Luxationsfrakturen Kompressions- und Stückbrüche Operative Behandlung der HWS im unteren Bereich Indikation zur Operation in Abhängigkeit der neurologischen Ausfälle Brust-/Lendenwirbelsäulenverletzungen R. Braakman und A. Karimi-Nejad Einleitung Erste Hilfe am Unfallort Versorgung im erstbehandelnden Krankenhaus Neurologische Untersuchung Röntgen- und computertomographische (CT) Untersuchungen . . Einteilung der Brust-und Lendenwirbelsäulenverletzungen . . . . Kompressionsfrakturen Luxationen Luxationsfrakturen Trümmerfrakturen
326 327 328 328 328 329 330
24.3 24.3.1 24.3.2 24.3.3 24.3.4 24.3.4.1 24.3.5 24.3.5.1 24.3.5.2 24.3.5.3 24.3.5.4 24.3.6 24.3.7 24.3.7.1 24.3.7.2 24.3.8 24.3.8.1 24.3.8.2 24.3.8.3 25
325
Art, Lokalisation und Instabilität der Wirbelsäule bei Verletzungen im thorako-lumbalen Bereich Behandlung Konservativ Operativ Komplikationen und spezielle Maßnahmen bei einer Querschnittslähmung Druckgeschwüre, Ileus Blasenfunktionsstörungen Frühprognose einer Querschnittslähmung
25.1 25.2 25.3 25.4 25.5
Beckenverletzungen G.H.Engelhardt Einleitung Begleitverletzungen Präklinische Versorgung Erstuntersuchung Einteilung der Beckenbrüche
25.5.1
Frakturen ohne Stabilitätsverlust
331 331 331 332 332 333 334 334 334 334 334 335 336 336 336 339 339 339 339
. 341 341 341 341 341 342 342
Inhalt
XIX
25.5.2 25.5.3
Frakturen mit Stabilitätsverlust Frakturen der Hüftgelenkspfanne
26
Verletzungen der oberen Gliedmaßen (ohne Hand) G.H.Engelhardt 347 Untersuchung 347 Schultergürtel 348 Luxatio sternoclavicularis 348 Luxatio acromioclavicularis 348 Klavikulafraktur 349 Skapulafrakturen 350 Oberarm 351 Kontusion (Prellung) und Distorsion (Zerrung) der Schulter . . . 351 Luxatio humeri 352 Humerusfrakturen 354 Proximale Humerusfrakturen 354 Humerusschaftfrakturen 356 Suprakondyläre Frakturen 357 Ellenbogen 357 Luxation des Ellenbogengelenks 357 Ellenbogengelenkfrakturen 359 Fraktur des Condylus lateralis humeri 360 Fraktur des Condylus medialis humeri 360 Abbrüche des medialen Epikondylus 360 Abbrüche des lateralen Epikondylus 361 Transkondyläre Frakturen 361 Frakturen des Capitulum humeri und der Trochlea 361 Olekranonfraktur 361 Radiusköpfchenfrakturen 362 Luxationen des proximalen Radiusendes 363 Unterarm 363 Monteggia-Verletzungen 363 Galeazzi-Verletzungen 366 Unterarmschaftfrakturen 367 Distale Radiusfrakturen 368 Extensionsfraktur des Radius (Colles-Fraktur) 369 Flexionsfraktur des Radius (Smith-Fraktur) 370 Dorsale Luxationsfraktur (Barton-Fraktur) 371 Volare Luxationsfraktur (Reversed Barton-Fraktur) 371 Ulnare und radiale Absprengungen des distalen Radiusendes . . . 372
26.1 26.2 26.2.1 26.2.2 26.2.3 26.2.4 26.3 26.3.1 26.3.2 26.3.3 26.3.3.1 26.3.3.2 26.3.3.3 26.4 26.4.1 26.4.2 26.4.2.1 26.4.2.2 26.4.2.3 26.4.2.4 26.4.2.5 26.4.2.6 26.4.2.7 26.4.2.8 26.4.2.9 26.5 26.5.1 26.5.2 26.5.3 26.5.4 26.5.4.1 26.5.4.2 26.5.4.3 26.5.4.4 26.5.4.5
343 345
XX
27 27.1 27.2 27.3 27.3.1 27.3.2 27.3.3 27.3.4 27.3.5 27.4 27.4.1 27.4.2 27.4.3 27.4.4 27.4.5 27.4.6 27.5. 27.5.1 27.5.2 27.6 27.6.1 27.6.2 27.6.3 27.7 27.7.1 27.7.2 27.7.3 27.7.4 27.7.5 27.8 28 28.1 28.2 28.3 28.3.1 28.3.1.1 28.3.1.2 28.3.2 28.3.3
Inhalt
Handverletzungen K.Wilhelm Einleitung Fingernagelverletzungen Gelenk- und Knochenverletzungen Handwurzelknochen Brüche an Mittelhand und Finger Riß der Kollateralbänder Schwanenhalsdeformität Fingerluxationen Infektionen an der Hand Panaritien Paronychie Panaritium articulare Panaritium ossale Panaritium tendinosum Hohlhand- und Unterarmphlegmonen Sehnenverletzungen Strecksehnen Beugesehnen Nervenverletzungen Radialislähmung Medianuslähmung Ulnarislähmung Nervenkompressionssyndrome Karpaltunnelsyndrom (KTS) Guyon-Syndrom Sulcus-nervus-ulnaris-Syndrom Pronator-Syndrom Supinator-Syndrom Tendovaginitis stenosans
373 373 373 374 374 377 383 384 385 387 387 388 389 389 389 390 391 391 394 396 397 397 397 398 398 399 399 400 400 400
Verletzungen der unteren Gliedmaße G. H. Engelhardt Untersuchung Luxation des Hüftgelenks Brüche des Oberschenkelknochens Brüche des proximalen Femurendes Schenkelhalsbrüche Per-und subtrochantäre Brüche Brüche des Femurschaftes Brüche des distalen Femurendes
403 403 404 407 407 407 409 410 411
Inhalt
28.3.3.1 28.3.3.2 28.4 28.4.1 28.4.2 28.4.3 28.4.4 28.4.5 28.4.6 28.4.7 28.4.8 28.4.9 28.4.10 28.5 28.5.1 28.5.2 28.5.3 28.5.4 28.5.5 28.6 28.6.1 28.6.2 28.6.3 28.7 28.7.1 28.7.2 28.7.3 28.7.4 28.7.5 28.7.6 29 29.1 29.2 29.2.1 29.2.2 29.2.3 29.2.3.1
XXI
Suprakondyläre Frakturen 411 Kondylenfrakturen 412 Kniegelenk H.Zilch und W.Münch 413 Anamnese und klinische Untersuchung 413 Wunden in Gelenknähe 415 Kniegelenkerguß 415 Distorsion (Zerrung) und Kontusion (Prellung) 415 Meniskusverletzung 416 Patellaluxation 417 Patellafraktur 418 Zerreißung der Quadrizeps- und der Patellarsehne, Ausriß der Tuberositas tibiae und Apophysenlösungen 419 Bandverletzungen 419 Luxation im Kniegelenk 425 Unterschenkel 428 Schienenbeinkopfbrüche 428 Abriß der Tuberositas tibiae 431 Unterschenkelschaftbrüche 431 Pilon-tibial-Fraktur 433 Riß der Achillessehne 434 Sprunggelenk 434 Distorsion 434 Bandverletzungen der Sprunggelenksgabel 435 Malleolarfrakturen 435 Fuß 437 Wunden 437 Talusfrakturen 437 Kalkaneusfrakturen 439 Fuß Wurzelverletzungen 441 Brüche der Mittelfußknochen 441 Zehen — Brüche und Verrenkungen 442 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter M.Gharib 443 Besonderheiten der Frakturheilung des kindlichen Knochens . . . 443 Spezielle Bruchformen des kindlichen Knochens 444 Grünholzfraktur 444 Wulstfraktur 445 Epiphysenfugenverletzungen 445 Klassifikation 446
XXII
29.2.3.2 29.3 29.4 29.4.1 29.4.2 29.4.2.1 29.4.2.2 29.4.2.3 29.4.3 29.4.3.1 29.4.3.2 29.4.3.3 29.4.3.4 29.4.3.5 29.5 29.5.1 29.5.2 29.5.3 29.6
Inhalt
Therapie Indikation zur konservativen und operativen Frakturbehandlung Frakturen der oberen Extremität Klavikulafraktur Humerusfraktur Frakturen am proximalen Humerusende Humerusschaftfraktur Distale Humerusfraktur Radius- und Ulnafrakturen Radiusköpfchenfraktur Subluxation des Radiusköpfchens Olekranonfraktur Monteggia-Fraktur Unterarmschaft-und distale Frakturen Frakturen der unteren Extremität Schenkelhalsfraktur und Epiphysenlösung Femurschaftfraktur Unterschenkelfraktur Kindesmißhandlung (battered child syndrome)
447 448 448 449 449 450 452 453 456 456 458 459 460 461 463 463 465 466 467
Mikrochirurgische Replantationen und Gewebetransplantationen P.Brüser 30.1 Einleitung 30.2 Replantationen 30.2.1 Großreplantationen 30.2.2 Kleinreplantationen 30.2.2.1 Allgemeine Grundsätze zur Replantation 30.2.2.2 Maßnahmen am Unfallort 30.2.2.3 Anoxämische Veränderungen des Amputates 30.2.2.4 Indikationen zur Replantation 30.2.2.4.1 Funktionelle Bedeutung des Amputates 30.2.2.4.2 Traumatisierung 30.2.2.5 Allgemeine Vorbereitung zur Replantation 30.2.2.6 Replantationsvorgang 30.2.2.7 Mikrovaskuläre Operationstechnik 30.2.2.8 Ergebnisse nach peripheren Replantationen 30.3 Mikrochirurgie peripherer Nerven 30.3.1 Zeitpunkt der Nervennaht 30.4 Freie Gewebetransplantationen 30.4.1 Transplantation von Haut-und Unterhautfettgewebe 30.4.2 Zehentransplantation 30.4.3 Freie Muskeltransplantation
470 470 470 471 471 471 472 472 474 474 475 476 476 477 477 478 479 480 480 483 485
30
Inhalt
31 31.1 31.2 31.2.1 31.3 31.3.1 31.3.2 31.4 31.4.1 31.4.2 31.4.3 31.4.4 31.4.5 31.4.6 31.4.7 31.4.8 31.4.9 31.4.10 31.4.11 31.4.12 31.5 32 32.1 32.2 32.2.1 32.2.1.1 32.2.1.2 32.2.1.3 32.2.2 32.2.3 32.3 32.3.1 32.3.1.1 32.3.1.2 32.3.2 32.3.2.1 32.3.2.2 32.3.2.3
XXIII
Gefäßverletzungen U.Schneider-May 488 Art und Ursache 488 Einteilung der Gefäßverletzungen 488 Gefäß Verletzungen bei Knochenbrüchen (typische Koinzidenzen) 489 Klinische Untersuchung 490 Klinische Zeichen einer akuten Ischämie 490 Weitergehende Untersuchungsmethoden 491 Therapie 493 Kontrolle der Blutung 493 Schockbekämpfung 493 Minimierung der Ischämiezeit 494 Indikationsstellung 494 Infektionsprophylaxe 495 Gefäß Versorgung 495 Behandlung von Begleitverletzungen 496 Venenverletzungen 496 Ergänzende Therapie 497 Offenbleiben der Strombahn 497 Weichteilnekrosen 498 Wundinfektion 498 Mögliche Folgen von Arterienverletzungen 498 Infektionsprophylaxe und -therapie beim Schwerverletzten G.Peters 500 Vorbemerkungen 500 Allgemeine Grundlagen 501 Ätiopathogenetische Gesichtspunkte 501 Verletzungsmodus 501 Verletzungslokalisation 502 Infektionsbegünstigende Faktoren 503 Diagnostische Voraussetzungen 505 Grundprinzipien der posttraumatischen Infektionsprävention und -therapie 506 Spezielle Prophylaxe und Therapie 509 Infektionen durch grampositive anaerobe Sporenbildner 510 Tetanus 510 Gasbrand 511 Systemische posttraumatische Infektionen 512 Meningitis 512 Sepsis 512 Pneumonie 513
XXIV
Inhalt
32.3.2.4 32.3.3 32.3.4 32.3.4.1 32.3.4.2 32.3.4.3 32.3.4.4
Peritonitis Primär lokale posttraumatische Infektionen Infektionen nach speziellen Verletzungsarten Verbrennungen Verätzungen Kälteschäden Wasserunfall
514 514 515 515 515 515 516
33
Die Ernährung des Schwerverletzten K.-H. Vestweber und B. Viell Einleitung Ernährungsstatus Posttraumatische Stoffwechselumstellung Endokrine Umstellungen Änderungen im Wasser-und Elektrolythaushalt Änderungen im Energiehaushalt Änderungen im Proteinstoffwechsel Energie-und Substratverbrauch Wahl der Applikationsart für die künstliche Ernährung Möglichkeiten der künstlichen Ernährung Intravenöse Zufuhr Enterale Zufuhr Applikationstechniken der enteralen Ernährung Nasoenterale Alimentation Jejunostomien Perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) PEG mit Ballon-Katheter (nach Vestweber) PEG mit Fadendurchzugsmethode Anwendung verschiedener Sondentechniken Hinweise für Ernährungspläne Nährstoffdefinierte Diäten Modifiziert nährstoffdefinierte Diäten Chemisch definierte Diäten Enterale Ernährungsregime Enterale Heimernährung Zusammenfassung
517 517 517 519 521 523 523 525 527 529 529 529 533 533 534 537 540 541 543 546 548 549 549 550 550 552 554
Die Begutachtung nach Unfallverletzungen E. Günther \ Allgemeine Hinweise Methodik der Untersuchung Anamnese
556 556 556 556
33.1 33.2 33.3 33.3.1 33.3.2 33.3.3 33.3.4 33.4 33.5 33.6 33.6.1 33.6.2 33.7 33.7.1 33.7.2 33.7.3 33.7.3.1 33.7.3.2 33.8 33.9 33.9.1 33.9.2 33.9.3 33.10 33.11 33.12 34 34.1 34.2 34.2.1
Inhalt
XXV
34.2.2 34.2.3 34.2.4 34.2.5 34.2.6
Inspektion Palpation Messen Röntgenaufnahmen Die Neutral-Null-Methode
557 557 558 560 561
35
Das Durchgangsarztverfahren
W.Izbicki
563
35.1 35.1.1 35.2 35.2.1 35.2.2 35.2.3 35.2.4 35.2.5 35.3 35.3.1 35.3.1.1 35.3.1.2 35.3.1.3 35.3.1.4 35.3.2 35.3.2.1 35.3.3 35.3.4 35.4 35.4.1 35.4.2 35.4.2.1 35.4.2.2 35.4.2.3 35.4.3 35.4.4 35.4.4.1 35.4.4.2 35.5 35.5.1 35.5.2 35.6 35.7 35.8
Definition Geschichtliches zur gesetzlichen Unfallversicherung (UV) Die gesetzliche Unfallversicherung heute Aufgaben Träger Finanzierung Versicherter Personenkreis Versicherungsfreiheit Der Arbeitsunfall Prinzip der doppelten Kausalität Haftungsbegründende Kausalität Haftungsausfüllende Kausalität Gelegenheitsursache Verschlimmerung bei bestehendem Leiden Der Wegeunfall Versicherte Wege Bedeutung der Anerkennung als Arbeitsunfall Leistungen der UV beim Arbeitsunfall Der Durchgangsarzt (D-Arzt) Voraussetzung für die Bestellung Durchgangsärztliche Vorteile Vorstellungspflicht aller Arbeitsunfallverletzten Honorierung des D-Arztes Weitere Unterstützungsmaßnahmen für den D-Arzt Pflichten des D-Arztes Art der Behandlung Kassenärztliche Behandlung Berufsgenossenschaftliche (bg-liche) Heilbehandlung Verletzungsartenverfahren (VAV) Verletzungsartenverzeichnis nach § 6 Heilbehandlung eines § 6-Falles Behandlungsschema eines D-Falles Berufshilfe Krankengeld — Ubergangsgeld
563 563 564 564 565 565 565 567 567 568 568 568 568 569 569 569 569 570 570 570 571 571 571 571 572 573 573 573 574 574 575 576 576 577
XXVI
35.9 35.9.1 35.9.2 35.9.3 35.9.4 Register
Inhalt
Verletztenrente Bemessungsgrundlage, MdE Vorläufige Rente Dauerrente Wesentliche Befundänderung
577 577 578 578 578 581
A. Allgemeiner Teil G. H. Engelhardt
1 Notfall, Notfallmedizin
Die Unfallpraxis beginnt am Unfallort! Insbesondere bei Notfallpatienten ist eine sofortige, möglichst ärztliche Hilfe am Notfallort und auf dem anschließenden Transport unverzichtbar. Notfallpatienten sind Personen, bei denen Störungen der lebenswichtigen Körperfunktionen der Atmung, des Bewußtseins, des Kreislaufs vorhanden sind, nicht sicher ausgeschlossen werden können oder zu befürchten sind, sofern nicht unverzüglich ärztliche Hilfe eingreift. Diese lebensbedrohlichen Störungen können durch Traumen, akute Erkrankungen oder Intoxikationen verursacht sein. Die Notfallmedizin umfaßt alle diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zur Behandlung von Notfallpatienten und ihrer elementaren Bedrohung am Notfallort, auf dem Transport und in der Klinik. Präklinisch soll sie das Überleben des Patienten sichern, Sekundärschäden vermeiden helfen und die Grundlagen für eine unverzügliche klinische Anschlußbehandlung schaffen. Atmung und Kreislauf dienen als Verbundsystem einer bedarfsgerechten Sauerstoffversorgung des Organismus. Bei Störungen oder Ausfall dieses Systems kommt es durch Sauerstoffmangel zur akuten Elementargefährdung und zum klinischen Tod mit Atem-, Herz- und Kreislaufstillstand. Soll der drohende klinische Tod abgewendet oder ein bereits eintretender durch Wiederbelebungsmaßnahmen reversibel gehalten werden, so kann dies wegen der kurzen Wiederbelebungszeit des Herzens und des Gehirns auf 5 bis 8 Minuten limitiert sein. Dieser das Schicksal des Notfallpatienten entscheidende Zeitfaktor bestimmt die Dringlichkeit der lebensrettenden Elementartherapie. Bei akuter Ateminsuffizienz mit zunehmendem Sauerstoffdefizit, beim Schock, bei massiver, aber überlebbarer Blutung ist allein der Zeitfaktor maßgebend für die irreversible, hypoxische Schädigung der lebenswichtigen Organe. Beim akuten Notfall liegt der kritische Zeitfaktor bei 8 bis 10 Minuten; bei der größeren Zahl der Notfallpatienten zwischen 2 0 Minuten und 2 Stunden. Da im Einzelfall am Notfall- oder Unfallort das genaue Sauerstoffdefizit bei der angetroffenen Atmung und Kreislaufsituation nicht bekannt ist, kommt der Erstversorgung der Notfallpatienten vor dem Transport eine große Bedeutung zu.
4
1 Notfallmedizin
Die Abbildung 1/1 veranschaulicht die Erfolgschancen einer kardio-pulmonalen Reanimation in Abhängigkeit von der Zeit des Sauerstoffentzugs und somit vom Beginn der Wiederbelebungsmaßnahmen. Bereits nach vier Minuten kann nur noch die Hälfte der Patienten erfolgreich reanimiert werden; nach sechs Minuten ist die Wiederbelebungschance auf etwa 10 Prozent gesunken und nach nur 11 Minuten besteht praktisch keine Aussicht auf Erfolg mehr. Chancen für Wiederbelebung %
Zeit in Minuten nach eingetretenem Atemstillstand Abb. 1/1 Erfolgsschancen einer Reanimation nach Atemstillstand in Abhängigkeit von der Dauer des Atemstillstands (nach National Safety Council, Chicago).
2 Reitlings- oder Versorgungskette für Notfallpatienten
2.1 Retten Als Retten bezeichnet man die Befreiung von Personen aus einer Lebensgefahr (Notfallpatienten), der sie sich nicht selbst entziehen können. Voraussetzung hierzu ist eine Kette von einzelnen Maßnahmen, die am Notfallort im Augenblick des Geschehens beginnen und kontinuierlich über den Transport bis zur Versorgung in der Klinik reichen. Demnach versteht man unter der Rettungs- oder Versorgungskette die den jeweiligen Erfordernissen angepaßte Gesamtheit funktional ineinander greifender und sich ergänzender Maßnahmen unterschiedlicher Einrichtungen und Tätigkeitsbereiche mit dem gemeinsamen Ziel der Abwendung lebensbedrohlicher Gefahren. Die Versorgungskette für Notfallpatienten besteht aus den folgenden vier Gliedern (Abb. 2/1):
Notfallort
Transport
klinische
klinische
Erstversorgung
Endversorgung
Diagnostik
Retten Absichern lebensrettende
lebensrettende
Sofortmaßnahmen
Sofortmaßnahmen
erweiterte
elementare
elementare
Soforthilfe
Soforthilfe
Soforthilfe
Diagnostik
Transport-
Transport-
fähigkeit
fähigkeit
herstellen
erhalten
Laien Sanitäter
Sanitäter
Arzt Notarzt
Notarzt
Abb. 2/1 Versorgungskette von Notfallpatienten
Schwestern Pfleger Ärzte
Operation Intensivpflege
spez. Personal Fachärzte
6
2 Rettungs- oder Versorgungskette für Notfallpatienten
2.2 Rettungsdienst Der Rettungsdienst als öffentliche Aufgabe der Daseinsfürsorge umfaßt alle Maßnahmen der Notfallmedizin am Notfallort und auf dem Transport bis zur Klinik, als deren „verlängerter Arm" er verstanden wird, der „extramural" tätig wird, um das sogenannte „therapiefreie Intervall" zwischen Schadenseintritt und der rettenden Hilfeleistung so kurz wie möglich zu halten. Da die kritische Zeitspanne vom Auftreten einer Störung der Vitalfunktionen bis zur irreversiblen Schädigung der lebenswichtigen Organe bei 8 - 1 0 Minuten liegt, muß der Rettungsdienst so organisiert sein, daß er im Regelfalle jeden potentiellen Notfallort seines Einzugsbereiches in dieser Zeit erreichen kann. Dazu benötigt man ein engmaschiges Netz von dezentral angeordneten Rettungswachen, deren notwendige Koordinierung dadurch gewährleistet wird, daß eine zentrale Einsatzleitstelle als Schaltorgan für sämtliche Einrichtungen des Rettungsdienstes alles Lenkungs-, Leitungs- und Koordinierungsbefugnisse besitzt und alle Einsätze lenkt.
2.3 Notarzt Als Notarzt bezeichnet man den im Rahmen des organisierten Rettungsdienstes eingesetzten Arzt, der entsprechende Kenntnisse auf dem Gebiet der Notfallmedizin besitzt. Seine Aufgabe ist es, bei Notfallpatienten die lebensrettende Elementartherapie bereits am Unfallort durchzuführen, die Transportfähigkeit herzustellen und zu erhalten sowie unter Vermeidung weiterer Schäden den Patienten in ein geeignetes Krankenhaus zu bringen.
2.4 Transportfähigkeit Unter Transportfähigkeit versteht man einen medizinisch definierten Zustand des Patienten, in dem dieser mit einem geeigneten Transportmittel transportiert werden kann, ohne daß eine Verschlechterung seines Zustandes allein durch Einwirkung des Transportes auf seinen Körper („Transporttrauma") vorhersehbar ist. Ein Mensch ist transportfähig, wenn Atem- und Kreislauffunktionen nicht ernsthaft gestört sind oder eine bereits vorliegende Störung dieser Vitalfunktionen vor Beginn des Transports behoben wurde. Für die Beurteilung der Transportfähigkeit ist es wichtig, ob die am Unfallort eingeleiteten Maßnahmen auch während der Fahrt durch sachkundige Hilfe fortgesetzt werden können.
2.4 Transportfähigkeit
7
Kriterien der Transportfähigkeit sind: • freie Atemwege, ausreichende Ventilation und Sauerstoffversorgung der Lungen; • erfolgreiche Schockbekämpfung, geeignete Lagerung und sachgemäße Schienung gebrochener Gliedmaßen; • rosige, warme, trockene Haut; • Puls unter 100 Schläge/Minute; • arterieller Blutdruck über 100 mm Hg. In der Regel wird ein Notfallpatient nur transportiert, wenn die genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Ausnahmen können sich bei nicht beherrschbaren intraabdominellen oder gynäkologisch-geburtshilflichen Blutungen ergeben.
Weiterführende Literatur Ahnefeld, F.W. (Sitzungsleiter): Rettungswesen — Rettungsunwesen. In: Langenbecks Archiv für Chirurgie, Bd. 358. Kongreßbericht 1982. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1982 Lick, R.F., H.Schäfer: Unfallrettung. Schattauer, Stuttgart-New York 1972 Handbuch des Rettungswesens (Hrsg. A.F.Biese, R.Lüttgen, P.Versen, H.Kerutt.) v. d. Linnepe Verlagsges., Hagen 1974
3 Elementarmaßnahmen bei akut-lebensbedrohlichen Zuständen
Das rasche Erkennen einer medizinischen Notfallsituation infolge akut aufgetretener Funktionsstörungen der lebenswichtigen Organe Lungen — Hirn — Herz — Kreislauf erfordert die Klärung folgender Fragen: •
Atmet der Patient nicht oder nur ungenügend?
•
Ist der Patient bewußtlos oder bewußtseinsgetrübt? Hat der Patient eine akute Kreislaufstörung (Schock) oder einen Kreislaufstillstand?
•
Bereich: Atmung
A
Bereich: Bewußtsein
B
Bereich: Circulation
C
Aus diesen Bereichen ergibt sich das A B C der Elementartherapie. Das rasche Erkennen einer Störung der Vitalfunktionen und die unverzügliche Einleitung von Gegenmaßnahmen gehören zu den elementaren Kenntnissen und Fähigkeiten jedes Arztes. Will man eine akute lebensbedrohliche Störung beheben, so steht fast immer die Therapie vor der genauen Diagnose und der pathogenetischen Erklärung. Ziel der elementaren Therapie ist die Wiederherstellung und Sicherung einer ausreichenden Sauerstoffversorgung des Notfallpatienten.
3.1 Bereich A — Atemstörungen Etwa ein Fünftel aller Verletzten hat Atemstörungen oder einen akuten Atemstillstand. 1. Zentrale Störung des Atemzentrums • Intoxikationen • Schädel-Hirn-Traumen (selten) • Verletzung der Medulla oblongata 2 . Behinderung der Lungenatmung • Thoraxtrauma • Verlegung der Atemwege durch: -
Fremdkörper oder Verletzung
3.1 Bereich A — Atemstörungen
9
— Zurückfallen der Zunge — Krämpfe und Ödeme der Stimmbänder 3. Behinderung des alveolären Gasaustauschs • • • •
Aspiration Lungenödem Fettembolie der Lunge Pneumonie (nach Thoraxquetschung)
3.1.1 Ursachen einer gestörten Atmung Die Atmung läßt sich klinisch einfach durch Sehen (Brustkorbbewegungen), Hören (Aus- und Einatemgeräusche vor Mund und Nase) sowie Fühlen (Luftstrom vor Mund und Nase) kontrollieren. Läßt sich ein Atemstillstand feststellen, sofort beginnen mit der Wiederbelebung der Atmung. 3.1.2 Zeichen des Atemstillstands • • • •
keine atembedingte Brustkorbbewegung; Zyanose oder Blässe von Haut und Schleimhäuten; erweiterte Pupillen; Bewußtlosigkeit.
3.1.3 Wiederbelebung der Atmung • Freimachen der Atemwege: Inspektion und Säuberung des Mund- und Rachenraums, falls die oberen Atemwege durch Blut, Schleim, Erbrochenes oder sonstige Fremdkörper verlegt sind, lockere Zahnprothesen werden entfernt; Kopf retroflektiert halten. • Freihalten der Atemwege: seitlich neben dem in Rückenlage befindlichen Patienten knien oder stehen; eine Hand auf die Stirn, die andere an das Kinn des Patienten legen; den Kopf des Patienten in Retroflexion halten (dadurch werden die Atemwege ebenfalls gestreckt und entfaltet); Absaugen mit Katheter; Naso- oder Oropharyngealtubus; von Esmarchscher Handgriff. • Atemspende: Mund zu Nase; Kopf in Retroflexion halten; mit der Hand am Unterkiefer gleichzeitig den Mund verschließen, wobei der quer unter der Unterlippe liegende Daumen diese gegen die Oberlippe drängt; im
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3 Elementarmaßnahmen bei akut-lebensbedrohlichen Zuständen
Rhythmus der eigenen Atmung die Ausatemluft dem Patienten durch dessen Nase einblasen. Zu Beginn der Atemspende zwei langsame Anfangsbeatmungen von je 1 bis 1,5 Sekunden Dauer, danach Exspiration abwarten. Es muß vermieden werden, durch hastige Atemstöße den „Speiseröhren-Öffnungsdruck" zu überschreiten und Luft in den Magen zu insufflieren („Magenbeatmung"). Nach den Anfangsbeatmungen: Erwachsene Patienten 10—12 Beatmungen/Minute Kinder 15—20 Beatmungen/Minute Säuglinge und Kleinkinder 20—30 Beatmungen/Minute Wegen des geringen Fassungsvermögens der kindlichen Lungen weniger Ausatemluft mit weniger Druck einblasen! Wirksamkeitskontrolle der Atemspende: Heben und Senken des Brustkorbs geben Information über die im Einzelfall für eine ausreichende Atemspende benötigte Luftmenge. • Endotracheale Intubation: Indikationen am Unfallort: • kardio-pulmonale Reanimation; • isolierte Schädel-Hirn-Traumen mit Koma; • isolierte Brustkorb Verletzungen mit Ateminsuffizienz; • kombinierte Körperhöhlenverletzungen mit Ateminsuffizienz; • Mehrfachverletzungen Beachte: Auf Gefahren der Intubationsbeatmung bei Schwerverletzten achten und eventuell Gegenmaßnahmen einleiten: • • • •
Spannungspneumothorax Fehlintubation (Ösophagus) einseitige Intubation Einfluß auf Hämodynamik
—» —» —» —»
Entlastungspunktion, Thoraxdrainage neu intubieren neu intubieren Volumenadaptation
3.2 Bereich B - Bewußtseinsstörungen
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3 . 2 Bereich B — Bewußtseinsstörungen Etwa ein Fünftel aller Verletzten hat Bewußtseinsstörungen.
3.2.1 Häufige Ursachen traumatisch bedingter Bewußtseinsstörungen • offene und geschlossene Schädel-Hirn-Traumen; • Atemstillstand; • Schock.
3.2.2 Zeichen und Grade der Bewußtseinsstörung • Bewußtseinsklarheit: • Bewußtseinstrübung: • Bewußtlosigkeit (Koma):
wach und wahrnehmungsfähig; desorientiert, vermindert wahrnehmungsfähig; nicht ansprechbar und erweckbar, kein Augenöffnen auf Schmerzreiz.
Jede Bewußtseinsstörung ist lebensbedrohlich und erfordert elementare Sofortmaßnahmen. Die Bewußtlosigkeit ist immer begleitet von einer Erschlaffung der Muskulatur und einem Verlust wichtiger Schutzreflexe wie Husten, Niesen, Würgen. Darum kann der Bewußtlose Fremdkörper im Rachen nicht aushusten. Blut, Erbrochenes und andere Fremdkörper gelangen in die Trachea und verlegen die Atemwege wie auch die Alveolen. Damit wird die Atmung unmöglich gemacht. Bis zu 1 5 % der Verkehrstoten sterben nicht an ihrer primären Verletzung, sondern an diesen Aspirationsfolgen. Diese Gefahr besteht insbesondere auf dem Transport, wenn der Patient unzulänglich versorgt wird, da gerade durch die Fahreigenschaften der Transportfahrzeuge Erbrechen ausgelöst werden kann.
3.2.3 Maßnahmen Bei Bewußtlosigkeit mit erhaltener Eigenatmung und nicht verlegten Atem wegen: • Den Patienten sofort in die stabile Seitenlage bringen (cave HWS-Verletzung). • Der Bewußtlose liegt dabei auf der linken oder rechten Körperseite, das untere Bein ist im Kniegelenk abgewinkelt, der Kopf nackenwärts gebeugt und der Unterkiefer wird nach vorn gehalten. Der obere Arm ist abgewinkelt, seine Hand liegt so unter dem Kopf, daß ihre Hohlhandfläche auf den Boden zeigt. Der unter dem Körper liegende Arm ist nach hinten gezogen und im Ellenbogen abgewinkelt. • In Rückenlage verläuft beim Menschen die Trachea lungen- und bodenwärts, so daß Fremdkörper leicht nach unten in die Lungen gelangen können. In Seitenlage des Menschen verläuft dagegen die Trachea mit leichter Neigung zum Kopf hin, so daß Fremdkörper nicht in die Lungen fließen können (Abb. 3/1).
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Abb. 3/1 Verlauf der Trachea a) in Rückenlage, b) in Seitenlage des Menschen.
Bei Bewußtlosigkeit ohne Eigenatmung oder mit verlegten Atem wegen: sofort Wiederbelebung einleiten (s. Abschn. 3.1.3).
3.3 Bereich C — Circulation 3.3.1
Blutung
Bei einer Blutung handelt es sich um Austritt von Blut aus den Gefäßen bei Verletzungen von Haut und Schleimhäuten sowie aus verletzten Organen und Knochen. Man unterscheidet nach dem: Ort des Austritts • innere Blutung (in die Körperhöhle oder in die Gewebe) • äußere Blutung (sichtbar nach außen)
Typ des beschädigten Gefäßes • arterielle Blutung aus Schlagader • venöse Blutung aus Vene • kapilläre Blutung aus Haargefäßen
Arterielle Blutungen sind in der Regel pulssynchron spritzend, das Blut ist hellrot. Venöse Blutungen sind fließend, das Blut ist dunkelrot. Bei Nachlassen der Herzkraft und mangelhafter Sauerstoffversorgung ähnelt die arterielle Blutung der venösen. Durch Blutgerinnung mit Bildung eines Verschlußstopfens, durch Einrollen der Gefäßwand und Zurückziehen des verletzten Gefäßstumpfes in die umgebenden Weichteile sowie durch Blutdrucksenkung versucht der Organismus bei jeder Blutung, einen weiteren Blutverlust zu vermeiden. Der Ersatz des verlorengegangenen Blutes erfolgt später, zunächst durch eiweißarme Gewebewasser, danach durch Substitution der Eiweiße und zuletzt durch Ersatz der festen Blutbestandteile. Bei einem plötzlichen Verlust von mehr als 2 0 % des Gesamtblutvolumens kommt es beim Erwachsenen zum Schock. Kinder und alte Menschen reagieren wesentlich empfindlicher auf Blutverluste.
3.3 Bereich C - Circulation
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Maßnahmen bei Blutungen an den Gliedmaßen
Grundsätzlich sollten Blutkoagel nicht entfernt werden, und es sollte an nichtblutenden Wunden nicht manipuliert werden. Hochlagern der Gliedmaße Bei venösen Blutungen erreicht man die Hämostase durch Hochlagern der verletzten Gliedmaße und Anlegen eines Druckverbandes. Arterien abdrücken Gelegentlich kann die Kenntnis der Arterienabdrückstellen nützlich sein, an denen man durch Druck auf die blutende Arterie gegen den darunter liegenden Knochen eine Blutung vorübergehend zum Stillstand bringen kann.
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3 Elementarmaßnahmen bei akut-lebensbedrohlichen Zuständen
Wundverband Bei kapillären Blutungen genügt oft das Anlegen eines Wundverbandes. Druckverband Die meisten stärkeren Blutungen lassen sich mit einem Druckverband bei Hochlagerung und Ruhigstellung des verletzten Körperabschnitts beherrschen. Wenn nötig, wird ein zweiter Druckverband über den ersten gelegt. Arterienabbindung nur anlegen, wenn alle anderen Maßnahmen versagen! Die Abbindung muß den Arteriendruck überwinden (sonst Stauungsgefahr). Sie darf nicht mit schnürenden Gegenständen vorgenommen werden (Gefahr der zusätzlichen Nervenschäden mit Lähmungen!). Am besten breite Gummibinde oder aufblasbare Druckmanschette verwenden. Verboten ist das Anlegen in Gelenknähe. Die Arterienabbindung sollte nicht länger als 90 Minuten angelegt bleiben (Begleitzettel mit Zeitpunkt der Abbindung nicht vergessen!); auch nach Uberschreiten dieser Zeit darf die Abbindung nicht vom Helfer — auch nicht vorübergehend — sondern nur vom Arzt geöffnet werden (Intoxikationsgefahr!). Klemme anlegen Sind die genannten Maßnahmen nicht möglich, so darf ausnahmsweise das blutende Gefäß mit einer atraumatischen Gefäßklemme isoliert abgeklemmt werden. 3.3.2 Schock Definition: Das Schocksyndrom ist eine akute, generalisierte Störung der Makround Mikrozirkulation mit Abnahme des Strömungsvolumens und daraus resultierendem Mißverhältnis zwischen Transportkapazität und restlichem Fließvolumen; die verminderte Perfusion führt zu einer Gewebshypoxie mit Auslenkung des Zellstoffwechsels. Schockformen: Unter den verschiedenen Schockformen nimmt in der Unfallheilkunde der hypovolämische Schock eine besondere Stellung ein. Vom „traumatischen Schock" als einer besonderen Form des Volumenmangelschocks spricht man, wenn neben einem Blutverlust auch ausgedehnte traumatische Gewebsschädigungen vorliegen. Genese: Zu einer absoluten Hypovolämie kommt es: • durch eine Blutung nach außen oder innen, bei Traumen, bei Arrosionsblutungen, bei gastrointestinalen oder bei gynäkologischen Blutungen; • durch Plasmaverlust, z. B. nach Verbrennungen; • durch Dehydratation bei Erbrechen, Durchfällen, Ileus, Magen-Darm-Fisteln, u.a. Situationen.
3.3 Bereich C - Circulation
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Pathophysiologie: Ein akuter Verlust des zirkulierenden Blutes von mehr als 20% des Gesamtvolumens bewirkt eine Stimulierung des Nebennierenmarks mit Ausschüttung von Katecholaminen in Korrelation zum Volumendefizit. Diese bewirken eine zunehmende Vasokonstriktion der prä- und postkapillären Gefäße mit verminderter Perfusion unterschiedlichen Ausmaßes in den einzelnen Versorgungsgebieten. Mit dieser als „Zentralisation des Kreislaufs" bezeichneten Notfallreaktion verfügt der Organismus über die Möglichkeit, unter starker Minderdurchblutung der Peripherie die lebenswichtigen Organe Herz, Hirn und Lungen noch annähernd ausreichend mit Blut zu versorgen. Damit wird in der akuten Phase zwar das Überleben sichergestellt, jedoch führt die Vasokonstriktion regelmäßig zur Verminderung des venösen Rückstroms zum Herzen und damit zum Abfall des Herzzeitvolumens. Eine weitere und meist letzte Kompensationsmöglichkeit besteht in einer Steigerung der Herzfrequenz, wodurch das reduzierte Blutvolumen schneller zirkulieren kann. Die Vasokonstriktion führt durch stark verminderte Perfusion zur Hypoxie und damit zur Azidose der Gewebe. Die Einschwemmung saurer Metaboliten in den Kreislauf bewirkt eine zusätzliche Stimulierung des Nebennierenmarks. Die Azidose entwickelt Endothelschädigungen mit Permeabilitätsstörungen, intravaskulären Gerinnungsstörungen sowie Lysosomenschädigungen. Durch Öffnen von avShunts werden die Kapillargebiete von der Blutversorgung abgeschnitten, wodurch die periphere Verteilung gestört ist. Die Flußverlangsamung im Kapillargebiet führt zu Mikrozirkulationsstörungen mit Aggregation von Thrombozyten, Leukozyten und Erythrozyten (Sludge-Phänomen). Daneben kommt es durch die Gewebszerstörung zur Freisetzung von gerinnungsaktiven Substanzen, welche eine Hyperkoagulabilität verursachen und so die Mikrozirkulationsstörungen verstärken. Insbesondere bei starken Blutungen werden die Gerinnungsfaktoren rasch verbraucht, so daß Gerinnungsstörungen im Sinne einer Verbrauchskoagulopathie auftreten (s. Abschn. 4.4). Ätiologie: Häufige Ursache und zentrales Problem des hypovolämischen Schocks ist der akute Blutverlust nach außen oder innen. Nach Untersuchungen von Ahnefeld kommt es beim traumatisierten Patienten bereits bei einem Verlust von 20% des Sollvolumens zu einer Einschränkung des Herzzeitvolumens von 21% bis 4 4 % . Somit müssen sich alle diagnostischen Maßnahmen auf ein rasches Erkennen einer kritischen Kreislaufsituation konzentrieren, um eine Therapie zum frühest möglichen Zeitpunkt und vor dem Vollbild des Schocks einleiten zu können. Diagnose: Die Schockdiagnostik beginnt mit der Erhebung des Unfallhergangs, um wichtige Hinweise auf verletzte Körperregionen und auf das Ausmaß der Verletzungen zu erhalten. Besonders bei Fehlen äußerer Verletzungszeichen kann der
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3 Elementarmaßnahmen bei akut-lebensbedrohlichen Zuständen
Unfallhergang auf mögliche Verletzungen und auf einen drohenden Schock hinweisen. In einer ersten orientierenden Untersuchung wird man sich über die Atmung und die Bewußtseinslage orientieren. Die vorsichtige Inspektion, Palpation und Auskultation geben Aufschluß über erlittene Verletzungen. Bei Extremitätenverletzungen darf die Prüfung auf Durchblutung, Sensibilität und Motorik der entsprechenden Gliedmaße niemals fehlen. Für die Beurteilung der peripheren Zirkulation prüft man Farbe, Temperatur und Feuchtigkeit der Haut sowie die Halsvenenfüllung und die Füllungszeit der Kapillaren am Nagelbett. Die arteriellen Blutdruckwerte allein und ohne Verlaufskontrollen gestatten nicht immer zuverlässige Aussagen über den Kreislaufzustand. Auch hinter normalen Blutdruckwerten kann sich eine schwere Störung des Kreislaufs verbergen. Bei Volumenverlusten von über 3 0 % liegen die systolischen Werte jedoch in der Regel unter 1 0 0 mm Hg. Bei geringeren Hämorrhagien finden sich infolge der hypertonen Traumareaktion nicht selten sogar erhöhte systolische Werte. Herzfrequenz und Pulsqualität werden in der Praxis durch Auskultation über dem Herzen und digitale Messung an der A. radialis oder an der A. carotis festgestellt. Nahezu jedes Trauma führt vorübergehend zu einer Pulsbeschleunigung. Blutungen in die freie Bauchhöhle zeigen einen signifikant schwächeren Anstieg (relative Bradykardie infolge Peritonealreizung), Blutungen in den Brustkorb einen signifikant stärkeren Anstieg der Herzfrequenz als Hömorrhagien bei reinen Extremitätenverletzungen. Als Schockindex bezeichnet man nach Allgöwer den Quotienten aus Herzfrequenz und systolischem Blutdruck. Er gibt eine Aussage über den Blutverlust und damit brauchbare Hinweise zur Schockbekämpfung. Dazu müssen beide Werte häufiger gemessen werden. Bei zunehmendem Volumenmangel kommt es zu einem fast linearen Anstieg des Schockindex. Der normale Index beträgt 0,5, ein Index von 1,0 signalisiert einen drohenden Schock, bei einer Größe von 1,5 ist der Schock bereits manifest. Ein Index von 1,0 entspricht einem Volumenmangel von etwa 2 5 % , ein solcher von 1,5 einem Defizit von 3 5 % . Für die initiale Schockbehandlung am Unfallort ist der Schockindex allerdings ohne Bedeutung. Eine weitere Aussage über die Kreislaufsituation ermöglicht der Schockindex in Kombination mit der häufig zu wiederholenden Messung des zentralen Venendrucks (ZVD). Dabei wird über einen transvenös eingebrachten Katheter mit Sitz der Katheterspitze im klappenlosen oberen Hohlvenensystem der Druck in der V. cava gemessen. Als Zugangswege eignen sich die V. jugularis externa oder interna und die V. subclavia. Das Einführen von den unteren Extremitäten aus kann zu letalen Komplikationen führen und sollte deshalb als verboten gelten. Der Druck wird nach Bestimmen des Nullpunktes an einer Meßskala abgelesen. Der Z V D ist als funktionelle Größe abhängig vom venösen Angebot (Blutvolumen), von der
3.3 Bereich C - Circulation
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Leistungsfähigkeit des rechten Herzens und vom intrathorakalen Druck. Demnach ist seine Bestimmung bei Thoraxtraumen (Hämatothorax) oder bei Herzinsuffizienz nicht als zuverlässig anzusehen. Der ZVD liegt normalerweise bei 3 - 6 cm Wassersäule, niedrigere Werte sprechen für ein Blutvolumendefizit, höhere für eine Uberfüllung des venösen Schenkels durch allgemeine Hypervolämie oder durch eine Überlastung des Herzens. Die stündliche Bestimmung der Urinausscheidung erlaubt Rückschlüsse auf die Perfusion der Nieren und die Zusammensetzung des Blutes. Die Urinproduktion soll beim Erwachsenen 40 ml/h nicht überschreiten. Burri und Allgöwer weisen allerdings darauf hin, daß in der Frühphase nach einem Trauma mit Blutverlust 40% ihrer Patienten bei einem Volumenverlust von 50% noch eine ausreichende Urinproduktion aufwiesen. Der Hämatokritwert besitzt erst einige Stunden nach einer Hämorrhagie einen diagnostischen Aussagewert, da der kompensatorische Einstrom von Flüssigkeit in die Blutbahn mehrere Stunden in Anspruch nimmt. Therapie: Die Schockbekämpfung hat bereits am Unfallort unmittelbar nach der Diagnosestellung zu beginnen. Die Diagnose läßt sich immer ohne besondere Hilfsmittel stellen. Ergibt die orientierende Untersuchung des Verunfallten den Verdacht auf eine Blutung oder den Nachweis von Körperhöhlen- bzw. Knochenverletzungen und finden sich eine blasse, kalte, schweißbedeckte Haut, bläuliche Akren, Lufthunger, Durstgefühl, ein schwacher Puls, eine Tachykardie bei vielleicht fallendem Blutdruck, so ist an der Diagnose eines Schocks nicht zu zweifeln und unverzüglich die Behandlung einzuleiten. In aller Regel darf dann sogar auf zeitraubende Blutdruckmessungen zunächst verzichtet werden, zumal deren Aussagekraft erheblich eingeschränkt sein kann. Alle initialen Maßnahmen der Schockbehandlung sollen das Überleben des Verletzten sicherstellen und seine Transportfähigkeit wiederherstellen. Die erste Sorge gilt der Atmung des Schockpatienten (s. Abschn. 3.1.4). Die eingeschränkte Herz-Kreislauf-Funktion führt zu einem Mißverhältnis zwischen Sauerstoffangebot und Sauerstoffbedarf. Obligat ist daher die Erhöhung der inspiratorischen Sauerstoffkonzentration. Bei allen schweren Atemstörungen ist die Intubation die Methode der Wahl, um die Atemwege frei zu halten, die Aspiration zu verhindern und eine Beatmung durchführen zu können. Außerdem wird der Totraum verkleinert, die Perfusion verbessert und die traumatisch bedingte Einschränkung der Atemtiefe aufgehoben. Zur Intubation am Notfallort eignet sich der rechtwinklig gebogene Oxford-Tubus, bei dem die Gefahr des Abknickens nicht besteht. Die Beatmung selbst wird mit einem Beatmungsbeutel durchgeführt. Die Indikation zur Intubationsbeatmung soll insbesondere bei Polytraumatisierten im Schock möglichst weit gestellt werden, um die Ateminsuffizienz zu behandeln und
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3 Elementarmaßnahmen bei akut-lebensbedrohlichen Zuständen
einem bereits Minuten nach dem Schockbeginn auftretenden interstitiellen Ödem in der Lunge (Schocklunge) entgegenzuwirken (s. Abschn. 4.1). Blutungen nach außen werden gestillt (s. Abschn. 3.3.1). Eine geeignete Lagerung des Schockpatienten mit erhöhten Beinen oder auf einer Trage mit Hochlagerung des Beinendes um 15° dient der Kreislaufauffüllung durch Autotransfusion. Wichtigste Maßnahme der Behandlung des hypovolämisch traumatischen Schocks ist die Volumensubstitution durch Ersatzflüssigkeit zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Bereits bei Verdacht auf eine Notfallsituation, gewiß aber bei einem drohenden Schock, muß sofort ein sicherer venöser Zugang geschaffen und eine Infusion angelegt werden, also auch dann, wenn manifeste Schockzeichen fehlen. Damit kann man einer Kreislaufdepression zuvorkommen, zumal es im ausgeprägten Schock unter den Bedingungen an der Unfallstelle schwierig sein kann, eine geeignete Vene für einen schnellen Volumenersatz zu finden. Auch für die Gabe von Notfallmedikamenten ist dieser Zugang wichtig, da im Schock alle Medikamente intravenös injiziert werden müssen und nicht intramuskulär oder subkutan verabreicht werden dürfen. Die Venenpunktionsstelle wählt man am Handrücken oder am Unterarm, eventuell in der Ellenbeuge oder am Unterschenkel, gelegentlich auch seitlich am Hals die V. jugularis externa. Die Punktionskanüle muß ein ausreichend weites Lumen haben. Geeignet sind Plastikkanülen oder Plastikkatheter. Bei Verletzten mit manifestem Schock benötigt man zwei oder drei periphere Zugänge, um die erforderliche Flüssigkeitsmenge in kurzer Zeit zuführen zu können. Periphere Zugänge sind auch für den Transport sowie für die stationäre Erstversorgung absolut ausreichend. Der zentrale Zugang ist am Unfallort und für den Transport nur indiziert, wenn ein peripherer nicht möglich ist. Seine Durchflußraten sind schlechter als die einer peripher angelegten Braunüle. Die Rate der Sofortkomplikationen ist unter Notfallbedingungen hoch. Bei Aufnahme im Krankenhaus werden die peripheren Zugänge möglichst bald durch einen zentralen ergänzt. Bei Schwerverletzten mit starkem Blutverlust entnimmt man bereits an der Unfallstelle venöses Blut, um es zur Blutgruppen- und Kreuzprobenbestimmung in die später anzufahrende Klinik vorauszuschicken. Schmerz, Angst und Unruhe unterstützen durch anhaltende Katecholaminausschüttung die Vasokonstriktion und erhöhen zusätzlich den Sauerstoffverbrauch. Für die Schmerzbekämpfung eignen sich Morphin ( 5 - 1 0 mg) oder Dolantin® ( 2 5 - 5 0 mg) bei langsamer intravenöser Verabreichung. Gegen Angst und Unruhe im Schock haben sich Valium® ( 1 0 - 3 0 mg) und Psyquil® ( 5 - 1 0 mg) intravenös bewährt.
3.3 Bereich C — Circulation
3.3.3
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Kreislaufstillstand
Bleibt das Herz stehen, so kommt es zwangsläufig immer auch zu einem Kreislaufstillstand. Gelegendich führt das Herz noch minimale Aktionen aus, die jedoch kein Blut mehr in den Kreislauf pumpen, so daß es praktisch zu einem Stillstand des Blutkreislaufs kommt. Darum ist es besser, von einem Kreislaufstillstand als von einem Herzstillstand zu sprechen. Ein akut aufgetretener Kreislaufstillstand ist nicht immer mit dem definitiven Tod gleichzusetzen. Da jedoch aus biologischen Gründen für eine erfolgversprechende Wiederbelebung nur wenige Minuten zur Verfügung stehen (s. Abschn. 1), müssen alle therapeutischen Maßnahmen sofort und zunächst ohne Hilfsmittel einsetzen. Formen: • Asystolie, • Kammerflimmern, • Elektromechanische Dissoziation (weak action) - „Hyposystolie" (akute hochgradige hypodynamische Herzinsuffizienz). Ursachen: • Primär respiratorische Verlegung der Atemwege, Bolus, Zunge bei Bewußtlosigkeit, Aspiration nach Erbrechen. • Zentrale Atemstörungen, Intoxikationen, neuromuskuläre Lähmung. • Primär kardio-zirkulatorische, Myokardinfarkt, Rhythmusstörungen, Blockbildungen, Elektrounfall, Überdosierung von Herzmitteln, Perikardtamponade, Hypovolämie, Lungenembolie, periphere Embolie, anaphylaktische Reaktionen, Ertrinkungsunfall, Versagen eines Herzschrittmachers. Unabhängig von den Ursachen sowie unabhängig davon, ob eine Asystolie oder ein Kammerflimmern besteht, sind die durchzuführenden Reanimationsmaßnahmen grundsätzlich die gleichen.
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3 Elementarmaßnahmen bei akut-lebensbedrohlichen Zuständen
Symptome: • Atemstillstand — Schnappatmung (nach 10—60 Sekunden); • Bewußtseinsverlust (nach 1 0 - 1 5 Sekunden), • Reflexverlust (nach 3 0 Sekunden); • Pulslosigkeit (Karotispuls!); • Weite, reaktionslose Pupillen (nach 3 0 - 1 2 0 Sekunden), kann fehlen; • Blässe, Zyanose (nach 5—7 Sekunden). Maßnahmen: Die kardio-pulmonale Reanimation beginnt zuerst und sofort mit der Beatmung und der gleichzeitigen externen Herzmassage. Freihalten, Freimachen der Atemwege sowie Beatmung (s. Abschn. 3.1). Zur äußeren Herzmassage liegt der Patient möglichst auf einer flachen, harten Unterlage. Der Helfer steht oder kniet neben dem Patienten und drückt bei gestreckten Ellenbogengelenken mit seinen beiden aufeinandergelegten Handwurzeln regelmäßig und kräftig senkrecht auf das untere Drittel des Brustbeins, so daß das Brustbein etwa 4 cm gegen die Wirbelsäule verschoben wird. Zur künstlichen Aufrechterhaltung eines Kreislaufs sind 8 0 - 1 0 0 Kompressionen/ Minute erforderlich. Das zwischen dem Brustbein und der Wirbelsäule im Herzbeutel gelegene Herz wird mit jedem Stoß zusammengedrückt und vollbringt - unterstützt durch den Thoraxpumpmechanismus - eine Auswurfleistung, die einen Minimalkreislauf ermöglicht. Die Herzmassage bringt keinen Sauerstoff in die Lungen. Deshalb sofort Intubation und Beatmung oder Atemspende. Stehen zwei Helfer zur Verfügung, übernimmt der eine die Herzmassage — der andere die Atemspende. Zunächst Anfangsbeatmungen (jede in 1 bis 1,5 Sekunden) — dann mit der Massage beginnen. Nach jeweils 5 Massagen 1 Beatmung: B
M
B
M
B
2
5
1
5
1
M u ß ein Helfer beide Maßnahmen allein ausführen: Nach jeweils 15 Massagen 2 Beatmungen:
3.3 Bereich C - Circulation
21
M
M
B
15
15
2
Diagnose des Kreislaufstillstandes, kardio-pulmonale Reanimation
Atemstillstand Bewußtlosigkeit Pulslosigkeit weite Pupillen Blässe, Zyanose
Asystolie Kreislaufstillstand
Flachlagerung — harte Unterlage —
Atemwege freimachen Absaugen/Auswischen
I
Beatmungen (1—1,5 sec)
I
Maske, Guedeltubus, 0 2 -Anschluß
Herzmassage: Beatmung = 5:1 Erwachsene: unteres Sternumdrittel Kinder: Sternummitte Erwachsene: Drucktiefe 4 cm
Intubation - orotracheal - nasotracheal 12—16 Beatmungen/min. und 80-100 Kompressionen/min. unabhängig voneinander. Sauerstoffzufuhr. Weitere Maßnahmen: • venöse Zugänge schaffen; • Infusion anlegen; • EKG anschließen; • Adrenalin, Atropin, Lidocain, (NaHCCb) vorbereiten; • Elektrotherapie
Kammerflimmern Hyposystolie (weak action)
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3 Elementarmaßnahmen bei akut-lebensbedrohlichen Zuständen
Bei Neugeborenen und Säuglingen wird die Herzmassage mit 2 Fingern, bei Kindern mit 1 Hand durchgeführt. Herzmassage und Atemspende werden solange ausgeführt, bis sie erfolgreich sind oder der definitive Tod des Patienten festzustellen ist. Zeichen eines Minimalkreislaufs: Die Wirkung der kardiopulmonalen Reanimation ist erkennbar • am tastbaren Puls (Karotispuls), • an der Pupillenverengung, • am Rosigwerden der Haut. Der Erfolg der Reanimation zeigt sich an: • dem Wiedereinsetzen der Spontanaktionen des Herzens, • dem Wiedereinsetzen der Eigenatmung. So früh wie möglich soll mindestens ein sicherer venöser Zugang geschaffen werden, am Unfollort am besten peripher (Handrücken, Unterarm). In der Klinik ist in jedem Fall ein zentral-venöser Zugang zu legen. Ein Elektrokardiogramm soll schon am Unfallort angefertigt werden, zumal dies mit tragbaren, batteriebetriebenen EKG-Sichtgeräten des Rettungsdienstes meist möglich ist. So läßt sich ein Kammerflimmern erkennen und von einer Asystolie abgrenzen. Zur Volumenadaptation werden Infusionen angelegt. Adrenalin (Suprarenin-Injektionslösung 1 : 1 0 0 0 ) ist das Behandlungsmittel der Wahl bei jedem Kreislaufstillstand. Dosierung: 0,5—1,0 mg i.V.; kann nach 5 Minuten wiederholt werden. Wenn kein intravenöser Zugang vorhanden: endobronchiale Applikation möglich. Atropin (Atropinsulfat 0 , 0 0 0 5 ; 1 ml enthält 0,5 mg Atropin) eignet sich zur Behandlung einer extremen Bradykardie. Dosierung: 0 , 5 - 1 , 0 mg i.V.; kann auch endobronchial verabreicht werden. Lidocain (1 Amp.: 5 ml Lidocain-Lösung 2%-ig) wird nach erfolgreicher Defibrillation prophylaktisch gegen Kammerflimmern sowie zur Therapie ventrikulärer Extrasystolen und Kammertachykardien gegeben. Dosierung: 1 mg/kg K G i. v. der 2%-igen Lösung (1 ml = 2 0 mg); bei Wiederholung nach 10 Minuten 0,5 mg/kg K G ; maximale Gesamtdosis 3 mg/kg KG. Natriumbikarbonat 8 , 4 % (1 ml = 1 mmol) soll primär nur dann verabreicht werden, wenn eine schwere metabolische Azidose anzunehmen ist und wenn alle anderen Maßnahmen bereits durchgeführt wurden. Keine Routineanwendung, Alkalosegefahr. Dosierung: 1 mmol/kg KG.
3.3 Bereich C - Circulation
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Elektrotherapie Bei Kammerflimmern frühzeitig defibrillieren. Die ersten 3 Defibrillationen erfolgen rasch hintereinander. Energiedosierung: Die beiden ersten Defibrillationsversuche mit je 200 Joule, bei Erfolglosigkeit 300—400 Joule. Nach einer erfolglos abgebrochenen kardio-pulmonalen Reanimation sollte im Falle einer Obduktion schriftlich festgelegt werden, daß eine Intubation/Herzmassage durchgeführt wurde, um unfallbedingte Organverletzungen von reanimationsbedingten abgrenzen zu können. Die Wiederbelebungschancen am Unfallort sind äußerst schlecht. Eigene Untersuchungen an 1214 präklinisch durchgeführten kardio-pulmonalen Reanimationen ergaben eine definitive globale Überlebensrate von nur 3 % (N = 36); darunter hat kein einziger Unfallpatient seinen Kreislaufstillstand überlebt, obschon gerade diese Patienten mit 38 Jahren ein wesentlich jüngeres Durchschnittsalter hatten.
Weiterführende Literatur Ahnefeld, F. W., K. H. Lindner, P. Lötz, et al.: Kardiopulmonale Reanimation (CPR). WVG, Stuttgart 1987 Burri, C., F. W. Ahnefeld: Der traumatische Schock. In: Chirurgie der Gegenwart, Bd. 4 (Hrsg. R.Zenker, F.Deucher, W. Schink). Urban 8c Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore 1978 Frey, R., K. Stosseck (Hrsg.): Der Schock und seine Behandlung. Fischer, Stuttgart-New York 1978 Lick, R. F.: Primärversorgung von Unfallverletzten. Schattauer, Stuttgart-New York 1978 Meuret, G. H., H. Löllgen: Reanimationsfibel. Springer, Berlin—Heidelberg—New York 1989 Proctor, H., P.S.London: Principles for First Aid for the Injured. Butterworth, LondonBoston—Sidney-Wellington—Durban-Toronto 1977 Schildberg, F. W., A.W. de Pay (Hrsg.): Atemstörungen im Rettungsdienst. Notfallmedizin, Bd. 6. perimed, Erlangen 1982 Schlag, G. (Hrsg.): Der Schock. Hefte zur Unfallheilkunde, Nr. 156 (1983) Schuster, H.P.: Notfallmedizin. Enke, Stuttgart 1979 Sefrin, P. (Hrsg.): Notfalltherapie im Rettungsdienst. Urban 8c Schwarzenberg, München— Wien-Baltimore 1981 Wolf, K., R. Keller, P. M. Suter: Akutes Atemnotsyndrom des Erwachsenen. Springer, Berlin-Heidelberg—New York 1980
4 Allgemeine posttraumatische Komplikationen
4.1 Akute respiratorische Insuffizienz (Schocklunge) Bei jedem nicht sofort beherrschbaren Schock, erst recht bei länger andauernden Schockzuständen, kann es zum klinischen Bild der Schocklunge (Adult Respiratory Distress Syndrome, ARDS) kommen. Dabei handelt es sich um ein Krankheitsbild des Lungenparenchyms mit primärer Alveolarwandschädigung durch Toxine, Permeabilitätsstörungen und Veränderungen der Gerinnung. Schon wenige Minuten nach dem auslösenden Ereignis läßt sich histologisch ein interstitielles Ödem nachweisen, mit dem die Lunge bereits in kürzester Zeit an die Grenze ihrer Quellungskapazität gelangen kann. Dem interstitiellen Ödem geht stets eine durch das Sludge-Phänomen im Schock, durch toxische Inhalationen, mechanische Verlegungen der Lungenstrombahn, Freisetzung biogener Mediatoren bedingte Störung der Kapillarfusion der Lunge voraus. Das durch lokale Hypoxie und Azidose geförderte institielle Ödem führt zu einer Verbreiterung der Alveolarwand mit Schädigung des Alveolarepithels, Übertritt von Flüssigkeit in die Alveolen und zur Ausbildung hyaliner Membranen infolge Ablagerung von Eiweißsubstanzen. Im meist irreversiblen Spätstadium kommt es zu einer Proliferation zellulärer Elemente mit kollagener Faserbildung. Wird dieser Zustand überlebt, bleibt eine interstitielle Fibrose bestehen. Klinisch verläuft die Krankheit in Phasen, die von einer zunehmenden Hypoxie mit multiplem Organversagen bis zum hypoxisch bedingten Herzstillstand geprägt sind. Dabei wird die Symptomatik durch eine progressiv respiratorische Insuffizienz bestimmt. Phase I Hämorrhagischer / septischer Schock, metabolisch respiratorische Azidose. Phasell Klinisches Latenzstadium mit Normalisierung der hämodynamischen Werte; beginnende respiratorische Insuffizienz, zunehmende Tachypnoe, Hypokapnie, respiratorische Alkalose. Phase III Manifeste respiratorische Insuffizienz (Atemnotsyndrom); Hypoxämie p C 0 2 steigt wieder an und erscheint deshalb im Normbereich; deutliche Röntgenveränderungen; maschinelle Beatmung erforderlich.
4 . 2 Fettembolie-Syndrom
25
Phase IV Zunehmende Hypoventilation mit Hyperkapnie, schwere arterielle Hypoxie, metabolisch-respiratorische Azidose, Bewußtseinsverlust, bakterielle Pneumonie, HerzKreislauf-Versagen. Radiologisch sind Frühzeichen der Schocklunge nicht feststellbar. Röntgenologische Veränderungen treten stets später auf als die blutgasanalytischen und sind häufig erst im Stadium III deutlich erkennbar. Dann gleichen sie den Röntgenbefunden bei einer Pneumonie, einem Lungenödem, einer Stauungslunge oder einem Pleuraerguß. Differentialdiagnostisch müssen die Pneumonie, das (auch toxische) Lungenödem, die Aspiration sowie die Flüssigkeitslunge abgegrenzt werden. Die Therapie ist symptomatisch. Deshalb kommt der Prophylaxe durch konsequente Behandlung der auslösenden Grundkrankheit große Bedeutung zu: beim traumatisch-hypovolämischen Schock frühzeitige Schockbekämpfung, möglichst schon am Unfallort (s. Abschn. 3.3.2), beim Polytraumatisierten chirurgische Versorgung der Organ- und Skelettverletzungen, bei septischen Erkrankungen chirurgische Beseitigung des Sepsisherdes und Antibiotikaeinsatz. Darüber hinaus gilt unsere Sorge einem frühzeitigen Erkennen der „Komplikation Schocklunge". Die Diagnosestellung muß den phasischen Verlauf mit wechselnder Symptomatologie berücksichtigen und erfordert eine kontinuierliche Überwachung des Patienten. Klinisch fällt eine erschwerte Atemarbeit auf: Tachypnoe, Dyspnoe, Hustenparoxysmen, auskultatorisch oder perkutorisch kein verwertbarer Lungenbefund sind initial typische Befunde. Ein engmaschiges Monitoring der Blutgase ist erforderlich. Röntgenaufnahmen der Lungen lassen das interstitielle Ödem zunächst kaum erkennen; eine hilo-radiäre Streifenzeichnung und eine perihiläre Schattendichte sind zwar uncharakteristisch, jedoch frühe radiologische Auffälligkeiten, bevor es zum infiltrativen Verschattungsmuster kommt. Die hohe Letalität des ARDS zwingt zur aggressiven Frühtherapie, vor allem zur frühzeitigen Respiratorbeatmung. Die Beatmungstherapie dient dazu, die kritische Zeit des eingeschränkten Gasaustausches zu überbrücken, bis der Patient wieder ausreichend atmen kann.
4.2 Fettembolie-Syndrom Die Fettembolie ist kein eigenständiges Krankheitsbild, vielmehr bildet sie mit dem traumatischen Schock eine pathogenetische Einheit. Ohne Schock keine Fettembolie. Bei schweren Frakturen und Weichteilverletzungen kommt es infolge erhöhter Katecholaminausschüttung im Schock zur Fettmobilisation und außerdem zur Ein-
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4 Allgemeine posttraumatische Komplikationen
TRAUMA
/
Gewebeschäden
Schock
\ 1
Katecholamine
Fetteinschwemmu ng
Emulgierung
Fettmobil isation Fettem boi ie der Kapillaren
Mikrozirkulationsstörung
/ I \
Lungen
Gehirn
Nieren
schwemmung von Fett in den Kreislauf aus dem traumatisierten Gewebe. Die Embolisierung der Kapillaren durch emulgierte Fettpartikel läßt sich bei der Obduktion vor allem in den Lungen, im Gehirn und in den Nieren nachweisen (pulmonale, zerebrale, renale Form der Fettembolie). Im günstigen Fall bildet sich die Fettembolie in 1 bis 2 Wochen völlig zurück; gelegentlich können die Störungen der Vitalfunktionen aber auch zum Tode führen. Symptome: Atmung und Bewußtseinslage sind zunächst unauffällig. Erst Stunden oder Tage nach dem Unfall treten sekundär eine respiratorische Insuffizienz und eine Bewußtseinsstörung auf. Tachypnoe und Tachykardie sind erste Anzeichen, sofern kein Volumenmangel vorliegt. Der arterielle P 0 2 fällt und der P C 0 2 steigt. Es kommt zur Thrombozytopenie, Lipurie, erhöhten Lipase und zum Hämatokritabfall. Bei sorgfältiger Untersuchung finden sich in den ersten Tagen bei zwei Drittel der Patienten kleine Petechien an der Haut der seitlichen Brustkorbpartien sowie an den Schleimhäuten (Konjunktivalsack). Die Röntgenaufnahmen der Lungen zeigen frühzeitig diffuse Verschattungen. Differentialdiagnostisch soll bei zunehmender Bewußtseinstrübung, Verwirrung und Unruhe ein intrakranieller Druckanstieg durch ein zeitlich koinzident auftretendes Hämatom oder Ödem ausgeschlossen werden. Läßt sich ein intrakranielles Hämatom durch klinische Untersuchung, Echoenzephalographie, Computertomographie oder Kernspintomographie ausschließen, so muß bei Bewußtseinsstörung mit Ateminsuffizienz eine Fettembolie angenommen werden.
4.3 Lungenembolie
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Leichter abgrenzbar ist eine respiratorische Insuffizienz durch Thoraxtraumen, weil sie im Gegensatz zur Fettembolie meist sofort nach dem Unfall eintritt. Die beste Prophylaxe einer Fettembolie ist die sofortige und wirksame Schockbehandlung. Die Therapie einer Fettembolie mit Bewußtseins- und Atemstörungen erfolgt auf der Intensivstation. Bei Hypoxämie wird Sauerstoff gegeben, bei Bewußtlosigkeit erfolgt die frühzeitige Intubation, eventuell Tracheotomie; bei unzureichender Spontanatmung (klinisches Bild, Blutgas werte), bei interstitiellem Lungenödem und infektiöser Anschoppung (Rö-Lunge) wird maschinell mit Überdruck und Sauerstoffanreicherung beatmet. Gaben von Heparin, Cortison, Aprotinin und Lipostabil® werden empfohlen, jedoch in ihrer Wirksamkeit nicht einheitlich beurteilt.
4.3 Lungenembolie Bei der Lungenembolie kommt es zu einer akuten partiellen Embolisierung der Strombahnen des kleinen Kreislaufs durch eingeschwemmte Blutgerinselmassen, wobei reflektorisch ein Spasmus auch der nicht embolisierten Lungengefäße auftritt. Je nach Größe des Embolus kann es zu einer Embolia minor chronisch rezidivierend mit uncharakteristischen, oft unbemerkten oder verkannten Symptomen oder zu einer Embolia maior mit schwersten Erscheinungen und tödlichem Verlauf kommen. Die „foudroyante" Lungenembolie, bei der mehr als 50% des Gefäßlumens eingeengt sind, führt reflektorisch zum sofortigen Kreislaufstillstand und ist ohne Soforttherapie fast immer letal. Die Symptome der Embolie kleiner Gefäße sind unspezifisch, so daß ein entsprechender Verdacht sich zunächst auf die Anamnese stützen muß: Lungenembolien treten plötzlich auf und nicht selten nach dem Aufstehen oder bei Betätigung der Bauchpresse. Rezidivierende Tachykardieanfälle, Dyspnoe, Blässe, atemabhängige Pleuraschmerzen, Hustenreiz, Pleurareiben, Hämoptoe oder unklares Fieber sind wichtige Hinweise. Jede Tachykardie, Tachy-Dyspnoe und Hypotonie unklarer Genese müssen bei chirurgischen Patienten den Verdacht auf eine Lungenembolie lenken. Bei der großen, massiven Embolie der A. pulmonalis bestimmen starke präkordiale Schmerzen (Ausstrahlung in linken Arm und Hals), Tachy-Dyspnoe und Tachykardie mit Blutdruckabfall und Schockzeichen das klinische Bild. Die richtige Diagnose ist nicht immer leicht zu stellen. Lungenszintigraphie und pulmonale Angiographie sichern die Diagnose. Unspezifisch sind die röntgenologischen Zeichen (Zwerchfellhochstand, segmentförmige Verschattung, Infarktpneumonie, Pleuraerguß) ebenso wie EKG-Veränderungen oder laborchemische Para-
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4 Allgemeine posttraumatische Komplikationen
meter (geringe Leukozytose, L D H , Serumbilirubin). Der p 0 2 liegt unter 60 mm Hg. Meist stammt das in die Lungengefäße eingeschwemmte thrombotische Material aus den tiefen Bein- und Beckenvenen, wobei die Lungenembolie oft die erste klinische Manifestation dieser venösen Erkrankung darstellt, weil der klinische Nachweis tiefer Thrombosen nicht immer gelingt. Für die Ätiologie der Phlebothrombose ist die Virchowsche Trias (Störung der Blutgerinnung, der Hämdodynamik und der Gefäßwand) immer noch gültig. Nach einem Trauma kommt es durch Eindringen der Gewebsthrombokinase in die Blutbahn zu Gerinnungsstörungen. Die erzwungene Immobilisation führt zu Veränderungen der Hämodynamik, wobei Gefäßkaliber und Strömungsgeschwindigkeit entscheidend sind. Stumpfe und scharfe Traumen zerstören die Integrität der Gefäßwand (Mediahämatome, IntimaVerletzungen), wodurch ein Thrombus entsteht. Kleinste Intimarisse durch Dehnungstraumen sind oft Ausgangspunkt intravasaler Gerinnung. Die Thrombosierung erfolgt oft schubweise bis zum Verschluß. Zur Therapie der Lungenembolie gehört die Schmerz- und Schockbekämpfung, die Behebung der Hypoxämie, die Beseitigung des Embolus, die Verhütung appositioneilen Emboluswachstums und weiterer Embolisierungen sowie die Prophylaxe pulmonaler Komplikationen. Bei kleinen Embolien und bei Embolieverdacht wird sofort eine Heparin-Therapie eingeleitet (10 000 E i. v., dann Dauertropf mit 20 0 0 0 - 4 0 000 E/24 Stunden, PTTKontrolle), die später mit Marcumar® fortgesetzt werden kann. Sauerstoffgabe. Infarktpneumonien erfordern Antibiotika, Broncholytika und Sekretolytika. Bei mittelschweren Lungenembolien mit anhaltender Beeinträchtigung des Kreislaufs wird eine Thrombolyse-Therapie empfohlen. Sauerstoffgaben (2 bis 6 1 0 2 ) , Analgetika und Sedativa (Fortrai® 30 mg i.V.; Dolantin® 50 mg i.V.; Morphin® 5—10 mg i.V.; Valium® 10—20 mg i.v.) nach Bedarf. Eine akute Herzinsuffizienz wird mit Herzglukosiden (Lanitop® 0,2 mg i. v. oder Novodigal® 0,4 mg) behandelt. Bei systolischen Blutdruckwerten unter 70 mm H g sind Arterenolgaben erforderlich. Bei schweren Lungenembolien soll sofort eine Streptokinase-Behandlung (zum Beispiel initial 2 5 0 0 0 0 E, dann Erhaltungsdosis von 1 0 0 0 0 0 E über 24 Stunden) begonnen werden, der sich die pulmonale Embolektomie anschließen kann, sofern die thrombolytische Therapie nicht eine grundlegende Besserung mit Beseitigung der Schocksymptome bringt. Kommt es trotz konsequenter Antikoagolantientherapie zur rezidivierenden Embolisierung, kann eine Rezidiv-Prophylaxe durch Einführen eines Cava-Schirms erfolgen.
4.4 Verbrauchskoagulopathie
29
4.4 Verbrauchskoagulopathie* Bei einem traumatischen Schock strömt thromboplastisches Material aus dem verletzten Gewebe in den Kreislauf und führt dort über die Bildung von Thrombin zur Umwandlung von Fibrinogen zu Fibrin und damit zur disseminierten intravasalen Gerinnung. Die intravasale Gerinnung verursacht gleichzeitig eine schnelle reaktive Aktivierung des fibrinolytischen Systems, wodurch Fibrinablagerungen und Thromben aufgelöst werden, so daß es zu einer verstärkten Blutungsneigung kommt. Hierbei sind folgende Gerinnungsfaktoren beteiligt:
ferner und
Fibrinogen Prothrombin Proakzelerin Antihämophiles Globulin A Fibrinstabilisierender Faktor Antithrombin Thrombozyten
I II V VIII XIII III
Darüber hinaus können zusätzlich die Faktoren VII, IX und X reduziert sein. Ätiologisch kann das Einbringen gerinnungsaktiver Substanzen wie Gewebsthrombokinase oder Antigenantikörperkomplexe in die Blutbahn bei einer Vielzahl von Grundkrankheiten als Voraussetzung zur Ausbildung einer Verbrauchskoagulopathie gelten. Normalerweise werden die gerinnungsaktivierenden Substanzen neutralisiert und nur dann, wenn die neutralisierende Wirkung der Inhibitoren nicht ausreicht, folgen intravasale Gerinnungsabläufe und Fibrinablagerungen. Die Symptomatik der Hyperkoagulabilität wird bestimmt durch die Bildung zahlreicher hyaliner Thromben in den kleinen Blutgefäßen und ist abhängig von der Lokalisation und der Stärke des Prozesses (Abb. 4/1). Die Diagnose eines Verbrauchs kann sich bei massiven Blutungen zunächst nicht auf Gerinnungsanalysen stützen, obschon sie nahezu ausschließlich im Labor gestellt wird. Zur Therapie der Verbrauchskoagulopathie gehört in erster Linie die Behandlung der Unfallfolgen. Gleichrangig ist die Gerinnungshemmung mit Heparin®, das immer im i. v. Dauertropf oder über Perfusor gegeben werden sollte. Bei polytraumatisierten Patienten oder bei Schädelverletzungen wird die low dosis-Therapie mit 100 IE/kg/KG 24 Std. angewandt. Hierbei ist die Thrombinzeit nur gering verlängert oder normal. Koagulopathien in der Triggerphase können mit Heparin durch die Verzögerung der Bildung des Blutthromboplastins und durch die Hemmung der von Thrombin gesteuerten Bildung von Fibrin aus Fibrinogen in geeigneter Kon* Fachliche Beratung: Prof. Dr.S.W.Bube, Köln.
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4 Allgemeine posttraumatische Komplikationen
Manifestation einer intravaskulären Thrombosierung
Klinische Symptomatik
Kreislauf '
Schock
Organe:
Dyspnoe, Zyanose Tracheobronchiale Blutung
Lungen —
Manifestation einer hämorrhagischen Diathese
• Tracheobronchialbaum
Ateminsuffizienz Leber •
Fermentanstieg
Nieren
Akute Niereninsuffizienz (Nierenrindennekrosen) Hämaturie
Magen-Darm-Trakt '
Subileus, Ileus Gastrointestinale Blutung
Haut
Hautnekrosen Hautblutungen
Nebennieren • Hypophyse
—
" Urogenitaltrakt
NNR—Insuffizienz
" Magen-Darm-Trakt
"Haut Nebennieren
Sheehan-Syndrom
Abb. 4/1 Klinische Symptomatologie der disseminierten intravaskulären Gerinnung mit Verbrauchskoagulopathie (nach Schölmerich).
zentration neutralisiert werden. Die Kombination mit Kallikreininhibitoren ist in dieser Phase überflüssig. Kommt es zum Bild der Schocklunge oder zu anderen bedrohlichen Funktionseinschränkungen z. B. der Niere, so sollte eine fibrinolytische Therapie bei gleichwertigem Ersatz der reduzierten Gerinnungsfaktoren eingeleitet werden. Diese Therapeutika wie AMCHA, PAMBA und andere hemmen bei einer Dosierung von 2—3 g, e-Aminokapronsäure bei 10—15 g der Fibrinolyse im Blut und Urin. Aprotinin (Trasylol®) nimmt eine Sonderstellung ein, weil es nicht zu irreversiblen Aggregaten führt, da die Hemmung des Plasmins reversibel ist. Bei hochdosierter Anwendung besitzt es auch gerinnungshemmende Eigenschaften.
4 . 5 Akutes Nierenversagen (Schockniere)
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4.5 Akutes Nierenversagen (Schockniere) Das Versagen der exkretorischen Nierenfunktion beim Unfallverletzten ist aufgrund ernster posttraumatischer Komplikationen mit einer hohen Letalität belastet. Durch Minderdurchblutung und Hypoxie der Nieren im Schock kommt es nach einer symptomfreien Schädigungsphase von mehreren Stunden bis einigen Tagen zur isosthenurischen Oligoanurie (eine primäre Polyurie ist selten). An diese Phase, die in der Regel zwei Wochen dauert, schließt sich eine Polyurie über mehrere Tage an. Ihre normale Leistung erreichen die Nieren erst innerhalb eines Jahres. Die Pathogenese des akuten Nierenversagens ist bis heute nicht zweifelsfrei erwiesen. Morphologisch sieht man diskrete Tubulusepithelnekrosen sowie eine Abflachung der Epithelzellen. Kompression der Tubuli und auch Verstopfung der Tubuli wurden als Ursache der Anurie nicht bewiesen. Auch die Theorie der Filtrationseinschränkung durch einen von der Macula densa ausgehenden Mechanismus innerhalb jedes Nephrons konnte nicht widerspruchslos auf den Menschen übertragen werden. Klinisch stehen im Vordergrund die stark reduzierte Urinmenge (400 ml/d oder 15 ml/h), die Überwässerung mit erhöhtem ZVD, Lungenödem (Rö-Thorax) und Hirnödem (Eintrübung, Krämpfe). Die manifeste Urämie führt zu Hämorrhagien, Perikarditis, Gastroenteritis. Laborchemisch finden sich ein Anstieg des Serumkreatinin und eine metabolische Azidose mit Hyperkaliämie. In der polyurischen Phase kann die tägliche Urinausscheidung langsam oder auch plötzlich auf 3 bis 6 1 ansteigen, der Urin ist wenig konzentriert, die harnpflichtigen Substanzen im Serum bleiben anfangs erhöht. Zum Nachweis eines akuten Nierenversagens wird bei einer Urinmenge unter 15 ml/h nach Ausschluß prärenaler Ursachen (Dehydratation oder Elektrolytstörungen) der Furosemidtest empfohlen: kommt es nach intravenöser Gabe von 80—250 mg Furosemid (Lasix®) nicht innerhalb von 1 Stunde zu einer gesteigerten Urinausscheidung, so werden 500 bis 1000 mg Furosemid in 2 5 0 ml physiologischer Kochsalzlösung im Verlauf einer Stunde infundiert. Wenn auch dann die Urinausscheidung nicht deutlich ansteigt, muß ein renal bedingtes akutes Nierenversagen angenommen werden. Blasenentleerungsstörungen lassen sich durch einen Blasenkatheter, Abflußstörungen bei „leerer Blase" durch abdominelle Sonographie, retrograde Darstellung der ableitenden Harnwege oder Computertomographie ausschließen. Die sonographische oder radiologische Bestimmung der Nierengröße läßt eine renale Vorschädigung durch Schrumpfnieren erkennen (schlechte Prognose).
32
4 Allgemeine posttraumatische Komplikationen
Die frühzeitige Schockbekämpfung ist die beste Prophylaxe einer akuten posttraumatischen Niereninsuffizienz. Die konservative Therapie führt nur in der Entwicklungsphase zum Erfolg: Ausgleich der Elektrolyt- und Wasserhaushaltsstörungen — Natrium zuführen, Kalium meiden, bei erhöhtem Serumkalium Ionenaustauscher (Resonium®). Eine Überwässerung wird mit Furosemid behandelt, eine metabolische Azidose mit Natriumbikarbonat. Dopamin® soll die Nierenperfusion verbessern. D a es sich bei einem akuten posttraumatischen Nierenversagen meist um eine zirkulatorisch ausgelöste, reversible Schädigung primär gesunder Nieren handelt, ist bei erfolgloser konservativer Therapie einer Oligo-Anurie die frühzeitige Dialyse vor Auftreten der Urämie indiziert, sofern die zugrundeliegenden Unfallschäden eine Uberlebenschance nicht ausschließen. Indikationen zur Dialysebehandlung: • Die manifeste oder drohende Urämie, Serum-Harnstoff > 150 bis 2 0 0 mg/100 ml, Rest-N > 100 mg/100 ml, Kreatinin > 5 mg/100 ml. • Das hyperkatabole akute Nierenversagen, Harnstoffanstieg > 60 mg%/d, Rest-N-Anstieg > 30 mg%/d, Kreatininanstieg > 2 bis 3 mg%/d, • Die konservativ nicht beherrschte Hyperkaliämie, Kalium > 7 mval, Hyperkaliämie-EKG. • Die konservativ nicht beherrschte Überwässerung („fluid lung"), Herzdekompensation, Hirnödem. • Die massive, konservativ nicht beherrschbare Azidose,
pH < 7,0.
4.6 Crush-Syndrom Im Mittelpunkt des Crush-Syndroms steht das posttraumatische Nierenversagen mit Oligo-Anurie nach ausgedehnter, oft gedeckter Zermalmung, Quetschung oder elektrischer Schädigung größerer Muskelpartien. Durch Mitverletzung von Gefäßen kommt es zu starken Blutungen in die Weichteile, zu einem Blutdruckabfall (Schock) zu verminderter Durchströmung der Nieren und zu einem konsekutiven Abfall der glomerulären Filtration. In den Tubuli der filtrationsgeschwächten Nieren findet sich eine Anhäufung von Hämoglobin- und Myoglobinzylindern. Wichtigste Prophylaxe des Crush-Syndroms ist die frühzeitige Schockbehandlung. Irreversibel geschädigte Weichteile müssen operativ entfernt werden, notfalls durch
4 . 7 Akute gastro-duodenale Läsionen („Streß-Ulkus")
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Amputation. Die Therapie des posttraumatischen Nierenversagens ist im Abschnitt 4.5 beschrieben.
4 . 7 Akute gastro-duodenale Läsionen („Streß-Ulkus") Nach schweren Traumen, Polytraumen, Schädel-Hirn-Traumen, Verbrennungen, Hämorrhagien, Tetanus, Fettembolie und anderen schweren Belastungen des Organismus, kann es im oberen Intestinaltrakt akut zu Läsionen kommen, die von oberflächlichen Erosionen bis zum echten Ulkus mit Perforation reichen. Sie treten einzeln oder multipel auf und sind meist aufgrund der schweren Verletzungen mit einer sehr hohen Letalität belastet. Insgesamt ist die Inzidenz der „streßbedingten Läsionen" geringer geworden; intensivmedizinische und notfallmedizinische Maßnahmen haben die Streßfaktoren reduziert und die Prophylaxe verbessert. Durch gesteigerte Histaminausschüttung aus den Mastzellen kommt es zu einer Permeabilitätsstörung und zu einer Minderdurchblutung der Mucosa mit lokalen Schleimhautnekrosen bei verminderter Regenerationskraft. Diese Schleimhautischämie wird durch Mikrozirkulationsstörung im Schock verstärkt (Schockbekämpfung!). Aufgrund des Ungleichgewichts zwischen defensiven und aggressiven Mechanismen kann es jetzt bei normalem Magensäurespiegel und sogar verminderter Säuresekretion an der vorgeschädigten Schleimhautbarriere zu Streßläsionen kommen. Häufigste Komplikation ist die Blutung, auch Perforationen und Penetrationen sind möglich. Die Diagnose ergibt sich vor allem aus der Anamnese, der Blutung aus der liegenden Magensonde sowie aus dem Hämatokrit- und Hämoglobinabfall. Die dann immer durchzuführende Notfallendoskopie ist von entscheidender Bedeutung, weil sie allein innerhalb weniger Minuten die Diagnose sichert. Die beste Prophylaxe ist die Bekämpfung der Ursache (Polytrauma, Schock, Sepsis, Verbrennung) und die orale Ernährung des Patienten so früh wie möglich, evtl. enteral über Ernährungssonde. Während bis vor einigen Jahren die Gabe von H 2 Antagonisten empfohlen wurde, wird heute ein pH-unabhängiges Konzept mit Stärkung der protektiven Mechanismen favorisiert. Denn etwa 3 0 % der Intensivpatienten haben auch ohne H 2 -Antagonisten ein Magensaft-pH über 3,5; bei weiteren 20 bis 3 0 % läßt sich der pH-Wert trotz Medikation nicht über 4 anheben. Außerdem kommt es bei Alkalisierung des Magensaftes zu einer gastralen Keimbesiedlung, die vor allem bei Beatmungspatienten durch Aszension und Aspiration innerhalb weniger Tagen zu nosokomialen Pneumonien mit hoher Letalität führen soll. Deshalb sind schleimhautprotektive Medikamente zur Streßulkusprophylaxe besser geeignet als Medikamente, die den Magensaft-pH erhöhen. Empfohlen werden z.B.: 30 bis 5 0 mg Pirenzepin pro Tag intravenös und/oder 1 g Sucralfat alle 4 bis 6 Stunden enteral.
34
4 Allgemeine posttraumatische Komplikationen
Zur konservativen Therapie des „Streß-Ulkus" gehört die Magensonde mit kontinuierlicher Absaugung und regelmäßiger Eiswasserspülung sowie die Medikation von Pirenzepin und Sucralfat in der oben genannten Dosierung. Die konservative Therapie hat eine Erfolgsquote von 70%—80%, die sich zukünftig durch breitere Anwendung der Laser-Koagulation noch erhöhen läßt. Jedenfalls wird man unter den beschriebenen Maßnahmen relativ lange zuwarten können, zumal die Patienten meist nicht an der Blutung sterben, sondern an Nebenerkrankungen oder Komplikationen ihrer Unfallfolgen. Zur operativen Therapie wird man sich bei Versagen der konservativen Maßnahmen dann entschließen, wenn der Allgemeinzustand des meist schwerkranken Patienten keine Kontraindikation darstellt und die Prognose der Grundkrankheit eine Operation gerechtfertigt erscheinen läßt. Die Operation ist indiziert, wenn es zu einem Abfall des Hb unter 8,0 oder des Hkt unter 30% kommt oder wenn mehr als 1,5 1 Blut in 12 Stunden transfundiert werden müssen oder wenn bei der Notfallgastroskopie ein spritzend-blutendes Gefäß zu erkennen ist. Bei der Perforation eines frischen Ulkus erfolgt die Übernähung ohne Vagotomie; bei einer Ulkusblutung ohne Ulkusanamnese die Umstechung des blutenden Gefäßes ohne Vagotomie. Bei einer Perforation/Blutung eines Ulkus mit Ulkusanamnese erfolgt die Übernähung/Umstechung mit Vagotomie (eventuell SPV). Bei einer Blutung aus multiplen Läsionen des Magens und einem nicht blutenden Ulkus duodeni Tabelle 4/1
Indikation für Therapiekonzepte bei akuten gastrointestinalen Läsionen nach Situation (1—6) und Art der Läsion (modifiziert nach H. Troidl)
Nr.
Situation
Läsion
Therapie
1
Blutung, Regelfall
Einzelne, multiple Erosionen, Ulkus
Möglichst lange konservative Therapie mit Pirenzepin/Sucralfat, Laser
Blutung, seltene Blutgruppe, keine Blutstillung
Multiple Erosionen
SPV oder SV mit Ligatur der 4 Hauptarterien und Pirenzepin/Sucralfat
Perforation
Ulkus
Übernähung (ohne Vagotomie) und Pirenzepin/Sucralfat
Blutung, seltene Blutgruppe, keine Blutstillung
Ulkus
Durchstechung (eventuell unter Verzicht auf Vagotomie) und Pirenzepin/Sucralfat
Blutung, Perforation mit Ulkusanamnese
Ulkus
Durchstechung oder Übernähung mit SVP, Pirenzepin/Sucralfat
Mehrfachläsionen
Erosionen + U. duodeni Erosionen + Varizen
Durchstechung und SPV SPV und Boeremaknoten Pirenzepin/Sucralfat
SPV = Selektive proximale Vagotomie, SV = Selektive gastrale Vagotomie
4.8 Alkoholentzugssyndrom
35
wird eine selektive proximale Vagotomie (SPV) mit der Ligatur der vier Hauptarterien kombiniert. Die SPV ist nicht indiziert bei Niereninsuffizienz sowie im Schock oder kurze Zeit danach. Nur in ganz seltenen Fällen dürfte man gezwungen sein, Teile des Magens zu resezieren. Die „blinde" Gastrektomie ist obsolet (s. Tab. 4/1).
4.8 Alkoholentzugssyndrom Nach einem posttraumatisch bedingten, abrupten Alkoholentzug kann es bei gewohntem Alkoholkonsum wahrscheinlich aufgrund einer gestörten Adaption an die Alkoholintoxikation zu einem als Alkoholentzugssyndrom bezeichneten psychiatrischen Krankheitsbild kommen. Dieses reicht von geringfügigen Entzugserscheinungen bis zum stärksten Delirium tremens mit früher hoher Letalitätsrate. Meist zwischen dem zweiten und fünften posttraumatischen/postoperativen Tag wird der Patient durch klinische Symptome auffällig. Leichter Entzug: • • • • •
motorische Unruhe, Schwitzen (meist bei gerötetem Kopf), ängstlich-depressive Verstimmung, Schlafstörungen, feinschlägiger Fingertremor.
Mittelschwerer Entzug: • • • • • •
motorische Unruhe, fahrige Bewegungen, Schwitzen, Tachykardie, Halluzinationen, unscharfe Orientierung, Fingertremor.
Delirium tremens: • • • • • • • • • •
psychomotorische Unruhe, Nestel- und Zupfbewegungen, Bettflüchtigkeit, Schwitzen, Tachykardie, Desorientiertheit, Bewußtseinstrübung, Halluzinationen, grobschlägiger Finger- und Händetremor, Hyperreflexie.
36
4 Allgemeine posttraumatische Komplikationen
Unbehandelt mündet ein Alkoholentzugsdelir nach 4—10 Tagen oft in einem tiefen langen Terminalschlaf, der durch Kreislaufversagen und Pneumonie tödlich enden kann. Diagnose und Therapie eines Alkoholentzugssyndroms sollten unter Hinzuziehung eines Psychiaters erfolgen, zumal auch nicht durch Alkohol bedingte Psychosen mit teilweise identischen Veränderungen auszuschließen sind (z. B. Wernicke-Enzephalopathie). Alkoholiker sind stets auch auf Erkrankungen der Leber zu untersuchen, ein beginnendes Leberkoma darf nicht übersehen werden. Die medikamentöse Therapie besteht aus der oralen Gabe (eventuell über Sonde) von initial 1,5 g Distraneurin® (danach alle 2 Stunden 1 g für die ersten 3 Tage) oder als Infusion von zunächst 100—200 ml in schneller Tropfenfolge, danach langsamer und in individuell wirksamer Dosierung (500 ml = 4000 mg). Delirpatienten können durch Distraneurin schnell sediert werden, sie sollen jedoch stets sofort aufweckbar sein. Die zusätzliche Gabe von Sedativa wirkt potenzierend und kann sehr gefährlich werden. Wegen der Gefahr der Gewöhnung muß Distraneurin nach Beendigung des Delir reduziert und innerhalb von zwei Wochen abgesetzt werden.
4.9 Sudeck-Syndrom Bei den von P. Sudeck (1900) erstmalig beschriebenen, örtlich begrenzten Veränderungen an Weichteilen und Knochen handelt es sich um neurogene Durchblutungsund Stoffwechselstörungen der Gewebe, die meist nach exogenen Schäden (Knochenbrüche, Prellungen, Distorsionen, Weichteilverletzungen, operative Traumen, Hitze- und Kälteschäden), gelegentlich auch aufgrund endogener Faktoren (abwegige Sympathikusreaktionen) auftreten. Im akuten Stadium kommt es unter den klinischen Zeichen einer Entzündung zur Vasodilatation und Gefäßdegeneration mit extra- und intrazellulärer Ödembildung infolge von Permeabilitätsstörungen und damit zur Gewebshypoxämie. An den Nerven zeigen vereinzelte Fasersysteme Kontinuitätsunterbrechungen, aus denen sich die klinischen Nervenstörungen erklären. Diese noch reversiblen Veränderungen können bei Fortschreiten der Dystrophie zur Fibrosklerose der Gefäßwand mit Strömungsbehinderung vor allem in der Endstrombahn führen; an Haut, Muskulatur, Gleit- und Bindegewebe finden sich degenerative An- und Abbauerscheinungen; am Knochen kommt es zu Entmineralisierungsprozessen im Sinne von Segmentosteoporosen. Das Krankheitsbild läuft in Phasen ab, die fließend ineinander übergehen und drei Stadien unterscheiden lassen (Tab. 4/2). Die Stadien I und II sind reversibel; die Endatrophie im Stadium III gilt als Phase der Rückbildung mit Normalisierung der Durchblutung bei irreversiblen Gelenksteifen und Muskelkontrakturen mit entsprechender Funktionsminderung.
4.9 Sudeck-Syndrom
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Eine wichtige Sudeckprophylaxe ist die atraumatische Operationstechnik (s. Abschn. 5.3.7), die Vermeidung von Hämatomen durch Verwendung von Wunddrainagen sowie die strikte Verhütung von schnürenden Verbänden. Differentialdiagnostisch muß beachtet werden, daß ein Sudeck-Syndrom immer lokal begrenzt ist und nie entzündliche Allgemeinsymptome verursacht (Fieber, Pulsanstieg, Senkungsbeschleunigung, Blutbildveränderungen); ebenso fehlen stets Gewebsnekrosen. Leicht abzugrenzen ist das Sudeck-Syndrom von einer Inaktivitätsatrophie des Knochens, die zwar röntgenologisch ähnliche Zeichen der Kalksalzverminderung des Knochens macht, bei der jedoch klinische Krankheitszeichen fehlen und die sich nach Aktivierung der Gliedmaße vollständig zurückbildet. Tabelle 4/2
Die Stadien des Sudeck-Syndroms Klink
Röntgen
Therapie
Stadium I (akute Phase)
Ruhe- und Bewegungsschmerz; Hitze- und Spannungsgefühl; Hyperthermie der geröteten Haut; derbteigiges Weichteilödem; Hyperhidrosis; vermehrtes Haar- und Nagelwachstum
Röntgenveränderungen treten erst Wochen später auf: klein- bis grobflekkige Knochenentkalkungen: „Segmentosteoporosen"
konsequente Ruhigstellung und Hochlagerung der Gliedmaßen in Funktionsstellung; aktive, schmerzlose Bewegungsübungen aller nicht ruhiggestellten Gliedmaßenabschnitte; körperwarme Handbäder. Keine Massage!
Stadium II (Dystrophie)
Schmerzen, Kältegefühl; Hypothermie der Haut; zyanotisch oder blaß (venöse Stase); Weichteilödem in Rückbildung; Glanzhaut (Koriumverdünnung); Muskelkontrakturen und Muskelschwund; rissige Nägel, Gelenksteife
herdförmige, klein- bis grobfleckige Knochenatrophie; Auflockerung der Kortikalis mit „bleistiftartiger" Umrandungszeichnung
evtl. weiter Ruhigstellung; nur aktive Bewegungsübungen; Stellatumblockaden dämpfen den Sympathikus und öffnen arteriovenöse Anastomosen; Bäder, Moor-Paraffinpackungen
Stadium III (Endatrophie)
blasse Glanzhaut; Norma- normale Knochenzeichlisierung der Durchblunung mit etwas dünnen tung; fibröse Muskel- und Knochenbälkchen Gelenksteifen; Muskelatrophie (Funktionsausfall); Schmerzen bei passiver Bewegung
Bindegewebsmassagen; elastische Quengelverbände; schonende Dehnungsbehandlung der versteiften Gelenke; Bäder; hyperämisierende Pharmaka
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4 Allgemeine posttraumatische Komplikationen
4.10 Kompartment-Syndrom (K. S.) Beim K. S., für das es im Schrifttum seit Volkmann (1881) zahlreiche Nomenklaturen gibt, handelt es sich um eine schwere Komplikation einer Extremitätenverletzung, die durch ischämische Muskelnekrosen zum Verlust von Muskulatur, zu motorischen und sensiblen Lähmungen und zu Kontrakturen der Gelenke führt. Die Muskelnekrosen sind meist an Faszienlogen (compartments) gebunden, bei denen es sich um anatomische Räume mit relativ unnachgiebiger Begrenzung handelt. Ischämiegefährdete Faszienlogen Unterarm • Flexorenloge • Extensorenloge • Radialextensorenloge Hand
• Interossealräume
Unterschenkel
• Tibialis-anterior-Loge • Peronaeusloge • Tibialis-posterior-Loge
Bei Erhöhung des Gewebedrucks durch Verkleinerung des Raumes selbst oder Vermehrung seines Inhalts sowie durch eine arterielle Hypotonie (Schock!) kommt es zur Minderdurchblutung des Gewebes. Ätiologie (nach Lanz) Verkleinerung des Logenraumes: • lokaler äußerer Druck, • zu enger Verband, • Verschluß der Faszienlücke. Vermehrter Logeninhalt: • Blutung, Gefäßverletzungen, Blutgerinnungsstörungen. • Vermehrte Kapillarpermeabilität, direktes Trauma, Verbrennungen, operative Eingriffe, postischämische Schwellung, Muskelübungen, Krämpfe, Eklampsie, intraarterielle Injektionen. • Erhöhter Kapillardruck, venöse Stauung, Muskelübungen.
4.10 Kompartment-Syndrom (K. S.)
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• Muskelhypertrophie, • intramuskuläre Infusionen und Injektionen, • Entzündungen. Arterielle Hypotonie: • Schock (Polytrauma), • Allgemeine Hypotonie. Bei akut aufgetretener kompletter Ischämie zeigt die Muskulatur nach 2-A Stunden Funktionsverluste, die nach 4—6 Stunden irreversibel sind. Auch bei einer mehr als 12 Stunden bestehenden inkompletten Ischämie muß mit bleibenden Schäden gerechnet werden. Die Muskulatur degeneriert und wird durch kollagenes Bindegewebe ersetzt. Am Nerven k o m m t es bereits nach einer Ischämiezeit von 3 0 Minuten zu Funktionsausfällen, die nach 12—24 Stunden irreversibel werden, wobei die Schädigung meist durch die Ischämie, selten durch das Trauma selbst oder sekundär durch die Muskelkontraktur verursacht wird. Sensibilitätsstörung und Schwellung sind frühe Zeichen. Das Kapillarendothel ist nach 3stündiger Ischämie so geschädigt, daß die resultierende erhöhte Kapillarpermeabilität eine postischämische Schwellung bewirkt. An der oberen Extremität wird das als Volkmannsche Kontraktur bezeichnete K. S. bei suprakondylären Humerusextensionsfrakturen im Kindesalter durch die Verletzung selbst, durch Manipulationen bei der Versorgung oder durch einen schnürenden Gipsverband mit Traumatisierung des Gefäßnervenstranges gesetzt. Bei distalen Unterarmbrüchen sind überwiegend die volaren Muskeln der Flexorenloge betroffen. Auch an den Handbinnenmuskeln kann es durch starke traumatische Schwellung oder durch äußeren Druck zu ischämischen Nekrosen der gesamten Muskulatur kommen, die sich klinisch an einer leichten Beugestellung der Grundgelenke und Streckstellung der Mittel- und Endgelenke erkennen lassen; der Daumen ist kontrakt in Adduktionsstellung. An der unteren Extremität muß besonders das Tibialis-anterior-Syndrom beachtet werden. Bei meist jungen Menschen kommt es während oder einige Stunden nach muskulärer Betätigung der unteren Extremität
(Sport, Märsche)
zu
starken
Schmerzen im Fuß und Sprunggelenksbereich mit Rötung der Haut über der Tibialis-anterior-Loge und nachfolgender kompletter Peronaeuslähmung. Ohne operative Entlastung werden die M m . tibialis anterior, extensor digitorum communis und extensor hallucis longus nekrotisch. Bei der chronischen Form klagen die Patienten über entsprechende Schmerzen nach Laufen oder anstrengenden M ä r schen, die in Ruhe nach wenigen Minuten verschwinden. Gelegentlich kann der chronische Verlauf in eine akute Form übergehen. Therapie: D a der erhöhte Druck in der Faszienloge bereits klinisch in Erscheinung tritt, bevor die Muskulatur nektrotisch wird, besteht die beste Prävention eines
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4 Allgemeine posttraumatische Komplikationen
K. S. in der frühzeitigen Diagnose und der sofortigen Druckentlastung durch Faszienspaltung in ganzer Ausdehnung der Loge. Allein dadurch wird druckbedingter Muskelschmerz beseitigt und dem Patienten die aktive Muskelbetätigung ermöglicht, welche durch ihre Pumpleistung zum Rückfluß von Blut und Ödem wesentlich beiträgt. Die gespaltene Faszie wird selbstverständlich nicht genäht. Bei stark geschwollener Extremität ist es besser, auch die Wunde offen zu lassen, als unter Spannung zu nähen. Verletzte Venen und Arterien werden nach Möglichkeit wiederhergestellt. Die Hochlagerung der Extremität ist nur bei freiem venösen Rückfluß sinnvoll. Der Kreislauf wird mit Infusionen stabilisiert, die Muskeldurchblutung durch niedermolekulare Dextranlösungen verbessert.
Weiterführende Literatur Berthold, R. et al.: Beiträge zum Kompartement-Syndrom. In: Langenbecks Archiv für Chirurgie, Bd. 358, Kongreßbericht 1982. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1982 Kolowski, L., W.Heller, J.Durst (Hrsg.): Die posttraumatische Fettembolie. Schattauer, Stuttgart-New York 1971 Kroupa, J., P. Lawin: Diagnostik, Therapie und Bedeutung der Fettembolie. Witzstrock, BadenBaden 1974 Lanz, U.: Ischämische Muskelnekrosen. Heft zur Unfallheilkunde 139 (1979) Mayrhofer-Krammel, O., G.Schlag, H.Stoeckel (Hrsg.): Akutes progressives Lungenversagen. Thieme, Stuttgart 1979 Rechauer, R.: Das Kompartementsyndrom. Enke, Stuttgart 1980 Troidl, H., W. Lorenz, F. Fischer: Indikationen bei den akuten Ulcerationen. In: Ulcus-Therapie (Hrsg. A.L.Blum, J.W.Siewert). Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1978 Vecsei, V., J. Probst, C. A. Richon (Hrsg. des Kongreßberichtes): Compartementsyndrom. In: Hefte zur Unfallheilkunde 148 (1980)
5 Wunden
Als Wunde bezeichnet man eine gewaltsame Durchtrennung oder Zerstörung der Haut, der Schleimhaut, der tieferen Gewebe oder der inneren Organe durch äußere Einwirkungen wie Gewalt, Hitze, Kälte, Chemikalien oder Strahlen. An einer äußeren Wunde unterscheidet man • die Wundöffnung mit den Wundrändern; • die Wundhöhle, den Wundkanal; • den Wundgrund.
5.1 Einteilung der Hautwunden nach ihrer Entstehungsursache Schürfwunden: Platzwunden: Rißwunden: Quetschwunden: Schnittwunden: Stichwunden: Bißwunden: Schußwunden: Ablederung: Skalpierung:
oberflächlich, nur geringe Blutung, schmerzhaft, durch stumpfe Gewalt, unregelmäßige Wundränder; große Infektionsgefahr, schlechte Durchblutung. unregelmäßig zerrissene Wundränder, oft nicht tief, zerklüftete Wundhöhle, Infektionsgefahr, schlechte Heilungstendenz, unregelmäßige Wundränder, Quetschungen auch der benachbarten Gewebe, Heilung verzögert. glatte Wundränder, klaffend, eventuell tief und stark blutend, meist glatte Heilung. äußerlich klein und glattrandig, jedoch tief, geringe Blutung, Infektionsgefahr, Gefahr von Mitverletzungen tiefer Gewebe, durch Tier oder Mensch, besonders infektionsgefährdet, schlechte Heilung. meist tief mit ausgedehnten Gewebezerstörungen, sehr hohe Infektionsgefahr, schlechte Heilungstendenz. Abriß großer Hautlappen. Abriß der Kopfschwarte.
Tiefere Wunden der Haut können Mitverletzungen anderer Gewebe wie Gefäße, Nerven, Sehnen oder Muskeln zeigen. Von Weichteilverletzungen spricht man, wenn Haut und Muskeln verletzt sind. Innere Verletzungen sind Wunden im Körperinneren, die äußerlich nicht sichtbar sind.
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5 Wunden
5.2 Symptome der Wunden • • • •
Klaffen der durchtrennten Haut; Blutung aus der Wunde; Schmerz im Wundbereich; Schwellung der Umgebung (durch Blutung und Ödembildung).
5.3 Gefahren der Wunden • • • •
Mitverletzung anderer Gewebe oder Organe; starke Blutung mit Schock oder Verblutungsgefahr; Infektionen, die zu Wundkrankheiten führen; Luftembolie bei Wunden am Hals mit Eröffnung größerer Venen.
5.4 Wundheilung Als Wundheilung bezeichnet man die dauerhafte Wedervereinigung meist traumatisch durchtrennter Gewebe.
5.4.1 Primärheilung Die Primärheilung ist der Verschluß der Wunden durch direkte Aneinanderlagerung, Verwachsung und Vernarbung glatter Wundränder ohne Verzögerung der Heilung durch Entzündung oder Wundsekretion, wie sie im Idealfall durch chirurgische Nähte erreicht werden kann. Dauer der Wundheilung: 10 bis 14 Tage.
5.4.2 Sekundärheilung Die Sekundärheilung ist der zeitlich verzögerte, schrittweise Verschluß einer meist infizierten Wunde oder einer Defektwunde durch Granulationsbildung im Wundgrund und Epithelisation vom Wundrand bei gleichzeitiger Wundkontraktion. Meist Folge einer Wundheilungsstörung. Dauer: Wochen bis Monate.
5.5 Wundheilungsstörungen Alle Komplikationen der Wundheilung, welche ein Wiedereröffnen der operativ verschlossenen Wunde verursachen oder ein solches notwendig machen, bezeichnet man als Störungen der postoperativen Wundheilung. Hierzu gehören nicht nur die
5.5 Wundheilungsstörungen
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bakteriell bedingten Wundeiterungen, sondern auch alle anderen Störungen, selbst wenn nur ein kleiner Teil der Wunde betroffen ist. Bei den Wundinfektionen unterscheidet man Primärinfektionen in der Tiefe durch Erreger, die bei der Verletzung oder während einer Operation dort hingelangen, von Sekundärinfektionen, welche durch Superinfektion von Seromen, Hämatomen oder Wunddehiszenzen entstehen. Erscheinungsformen Aseptisch: Serom; Hämatom, Wundrandnekrose, Nahtdehiszenz. Septisch: Infiziertes Serom und Hämatom, Phlegmone, Abszeß, Wunddehiszenz. Die Ursachen für das Auftreten von Wundheilungsstörungen sind vielfältig. Ursachen Lokale Faktoren: • ungünstige Wundbehandlung; • primäre oder sekundäre Wundinfektion; • lokale Folgen allgemeiner Faktoren. Allgemeine Faktoren: • • • • • •
Allgemeininfektion; maligne Tumoren; zeitliche Abhängigkeiten; pathologisch bedingte Stoffwechseländerungen; exogen bedingte Stoffwechseländerungen; Lebensalter.
Bei den lokalen Faktoren spielen vor allem die operationstechnischen Verfahren eine wichtige Rolle (s. Abschn. 5.7.3). Primärinfektionen sind durch den Unfallhergang oder die Operationstechnik wie durch die persönliche und allgemeine Asepsis im Operationssaal bedingt. Sekundärinfektionen entstehen bei unsachgemäßem Verbandwechsel auf den Stationen oder durch unzureichende ärztliche Kontrolle des Wundgebietes. Z u den lokalen Folgen allgemeiner Faktoren gehören z.B. Blutgerinnungsstörungen, die im Verein mit einer unzureichenden lokalen Blutstillung zu einer Hämatombildung führen können, welche wiederum einen günstigen Nährboden für bakterielle Kontaminationen darstellen. Auch das traumatische Ödem mit und ohne Knochenbruch ist hierher zu rechnen. Zu den allgemeinen Faktoren gehören die allgemeinen Infektionen des Organismus. Infektionsherde sind oft akut oder chronisch infizierte Gallenblasen, Tonsillen, Zahngranulome oder Nasennebenhöhlen. Maligne Tumoren haben aufgrund
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5 Wunden
ihrer Allgemeinwirkung mit Anämie, Hypoproteinämie, Kachexie und Vitamin-CMangel einen bedeutenden Einfluß auf die Wundheilung. Ebenso zählen zu den allgemeinen Faktoren die Dauer einer Operation und der präoperative Krankenhausaufenthalt. Selbst die zeitliche Position einer Operation birgt ein erhöhtes Infektionsrisiko in sich, da unterschiedliche Infektionsraten bei Operationen, die zu Anfang oder gegen Ende eines Operationsprogramms durchgeführt wurden, gefunden werden. Grundkrankheiten, die zu Stoffwechseländerungen führen, sind Avitaminosen, Diabetes mellitus, Bindegewebskrankheiten, hormonelle Anomalien, Leber- und Fibrinstoffwechselstörungen, Peritonitiden und Krankheiten, die mit einer Hypoproteinämie oder mit einem chronischen Zinkmangel einhergehen. Auch auf den Einfluß der plasmatischen Gerinnungsfaktoren bei der Wundheilung und auf den Zusammenhang zwischen Faktor XIII-Mangel und der Entstehung von Wunddehiszenzen wurde hingewiesen. Unter den exogen bedingten Stoffwechselstörungen nehmen die Pharmaka eine bedeutsame Rolle ein. Dabei verursachen Steroidabkömmlinge, einige Antibiotika und Zytostatika Wundheilungsstörungen. Schließlich ist aus klinischer Erfahrung und aufgrund tierexperimenteller Untersuchungen bekannt, daß auch das Lebensalter des Patienten nicht ohne Einfluß auf die Wundheilung ist.
5.6 Durch Wunden verursachte Allgemeinerkrankungen • • • • •
Sepsis; Erysipel (Rotlauf, Wundrose); Gasbrand; Tetanus (Wundstarrkrampf); Lyssa/Rabies (Tollwut).
5.6.1 Sepsis Als Sepsis bezeichnet man eine allgemeine Infektion des Organismus durch pyogene Erreger, die sehr oft von einer infizierten Wunde ausgeht. Bei der nichtmetastasierenden Form (Septikämie) kommt es zur Einschwemmung von Bakterien in die Blutbahn (Bakteriämie) oder von Bakterientoxinen (Toxinämie) ohne Metastasenbildungen. Bei der metastasierenden Form (Septikopyämie) kommt es durch embolische Verbreitung der Erreger zum Auftreten von Metastasen an Lungen, Nieren, Leber, Milz, Herz, Gelenken oder in der Subkutis. Symptome: Fieber, schwer gestörtes Allgemeinbefinden, Petechien, Milztumor. Therapie: Sanierung der infizierten Wunde, Antibiotika nach Keim- und Resistenzbestimmung (s. Abschn. 32.3.2.2).
5 . 6 Durch Wunden verursachte Allgemeinerkrankungen
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5.6.2 Erysipel (Rotlauf, Wundrose) Durch Streptokokken verursachte Entzündung der Cutis ohne Eiterung. Eintrittspforte der Erreger sind größere, kleinere oder nicht sichtbare Wunden. Inkubationszeit: Stunden bis 8 Tage. Häufige Lokalisation: im Gesicht, jedoch an allen Körperabschnitten zu beobachten. Symptome: • Akuter Temperaturanstieg (bis 4 0 ° C); • Frösteln, Schüttelforst; • gestörtes Allgemeinbefinden; • Schwellung und Rötung der Haut mit scharfer, „landkartenartiger" Abgrenzung gegen die gesunde Haut; • Weiterwandern der Rötung mit zungenförmig vorgeschobenen Ausläufern; • schmerzhafte Schwellung der regionalen Lymphknoten. Differential-diagnostisch abzugrenzen sind vor allem phlegmonöse Entzündungen, Lymphangitiden, dermatologische Erkrankungen und das Erysipeloid ( = Schweinerotlauf ohne Fieber und Allgemeinerscheinungen). Therapie: Hochlagern des betroffenen Gliedes ohne Fixation, Antibiotika, am besten Penicillin.
5.6.3 Gasbrand Der Gasbrand ist eine lebensbedrohliche Erkrankung durch verschiedene Sporenbildner (Clostridium perfringens, Cl. novyi, Cl. septicum, Cl. histolyticum, Cl. bifermentas, Cl. fallax). Die Sporen dieser überall vorkommenden Keime entwikkeln sich bei streng anaeroben Bedingungen (Nekrosen, schlecht durchblutete Gewebe, Fremdkörper und sauerstoffverbrauchende aerobe Mischinfektionen) zu vegetativen Formen, deren nektrotisierende Toxine (u. a. Phospholipase) zu schrankenlosen Weichteilnekrosen führen und deren Enzyme (Kollagenase, Hyaluronidase, Proteinase) die schnelle Ausbreitung der Infektion bewirken (bis zu 10 cm in der Stunde). Inkubationszeit: wenige Stunden bis 4 Tage. Symptome: • Akuter starker Wundschmerz (wichtiges Initialsymptom); • Tachykardie ohne entsprechende Temperaturerhöhung; • schaumig-hämorrhagische Wundsekretion; • braun-blaue Verfärbung der Haut mit Blasenbildung; • Gasbildung; • allgemeine Toxikämie mit Herzkreislaufversagen. Diagnose: Die Diagnose muß zunächst klinisch gestellt werden. Ein Frühsymptom sind extrem starke, plötzlich auftretende Schmerzen im Wundbereich. In Wund-
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nähe findet sich ein Ödem mit blasser kühler Haut, eine Nekrosenbildung an Muskulatur und Faszien bei widerlichem Geruch, verfärbte Haut, schaumig-hämorrhagische Wundsekretion. Die Gasbildung in der Muskulatur und im subkutanen Gewebe ist an der typischen Krepitation zu spüren. Radiologisch erkennt man die subkutanen/subfaszialen Gasansammlungen an der Fiederung der Muskulatur. Die zunehmende Toxikämie führt zu einem schwer gestörten Allgemeinbefinden mit Schocksymptomen, Nieren- und Leberversagen, Ikterus, Somnolenz und Hämolyse mit allgemeiner Hypoxie. Der Tod tritt innerhalb von 2 Tagen durch Herzkreislaufversagen ein. Bakterioskopisch lassen sich „Clostridien" als grampositive Stäbchen am Muskelquetschpräparat nachweisen; ob es sich um Gasbranderreger handelt, muß kulturell bestätigt werden. Therapie: Am Beginn der Therapie steht die unverzügliche operative Intervention! Sie dient der Behandlung ebenso wie der Diagnosesicherung. Im Wundbereich werden die Grenzen der Hautveränderungen markiert; sofern möglich, werden Wundnähte wieder entfernt. Während bei eitrigen Infektionen die großzügige Freilegung und Drainage der Wunde genügt, müssen beim Gasödem alle eindeutigen Weichteilnekrosen sofort vollständig exzidiert werden, weil sie der Ort der Keimvermehrung und Toxinproduktion sind. Offene Wundbehandlung. Bei einem Gasbrand an den Gliedmaßen muß eine frühzeitige Amputation oder Exartikulation erwogen werden, der Stumpf bleibt offen — keine Situationsnähte. Der Nutzen einer lokalen Anwendung von Wasserstoffsuperoxyd wird unterschiedlich beurteilt. Intensivmedizinische Therapie zur Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen. Antibiotika (s. Abschn. 32.3.1.2). SauerstoffÜberdrucktherapie; durch hyperbare Oxygenisation (Atmung reinen Sauerstoffs in einer Überdruckkammer) soll die weitere Toxinproduktion unterbrochen werden.
5.6.4 Tetanus (Wundstarrkrampf) Der Tetanus entsteht durch Eindringen von Sporen des Tetanuserregers (Clostridicum tetani) in die Wunde, wo sie unter anaeroben Bedingungen zu toxinbildenden Formen auskeimen. Cl. tetani produziert verschiedene Toxine, von denen das Tetanospasmin pathogenetisch entscheidend ist. Es breitet sich über Lymph- und Gefäßwege im Organismus aus und wandert von den motorischen Endplatten entlang der motorischen Nervenbahnen zum ZNS. Neben der Fixation des Toxins an den motorischen Ganglienzellen der Vorderhörner findet es sich auch an der quergestreiften Muskulatur (degenerative Veränderungen), in Lunge, Leber und Milz. Inkubationszeit: 1 - 1 6 Tage, gelegentlich bis 60 Tage. Je kürzer die Anlaufzeit („period of onset" - Zeit zwischen ersten Symptomen und Vollbild der Krankheit),
5 . 6 Durch Wunden verursachte Allgemeinerkrankungen
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um so schlechter ist die Prognose. Gesamtletalität der Tetanuserkrankung: 20—40%. Das klinische Bild läßt an der Eintrittspforte meist keine Auffälligkeiten erkennen, manchmal werden ziehende Schmerzen in der Wunde angegeben („aura tetanica"). Die Größe der Wunde spielt für die Erkrankung keine Rolle, auch Bagatellverletzungen (Maniküre), Verbrennungen oder Erfrierungen können ursächlich in Frage kommen. Die Allgemeinerscheinungen der Tetanuserkrankungen sind zu Beginn uncharakteristisch: Unruhe, Schreckhaftigkeit, Abgeschlagenheit, Schweißausbrüche, ziehende Gliederschmerzen, Schmerzen in Kopf- und Halsbereich, Schluckbeschwerden oder eine erschwerte Miktion. Im weiteren Verlauf kommt es zu einer allgemeinen Hyperreflexie, zum Opisthotonus mit Nackensteifigkeit, Trismus durch gespannte Masseteren, Risus sardonicus durch Starre der Gesichtsmuskulatur, Lendenlordose, brettharten Bauchdeckenspannung. Im Vollbild der Erkrankung treten tonische Krämpfe mit klonischen Zuckungen an den Gliedmaßen auf. Der Tod tritt ein durch Herz- und Atemstillstand infolge Anoxie. Der Kranke ist bei vollem Bewußtsein. Die anfänglich subfebrilen Körpertemperaturen können bis über 41° C steigen. Unter Berücksichtigung der einzuschlagenden Therapie hat Eyrich eine Einteilung der Krankheit in drei Schweregrade angegeben: Schweregrade des Tetanus Schweregrad I
Leichter Tetanus:
Muskelrigidität,
besonders Trismus,
Opisthotonus,
Schluckbeschwerden. Therapie:
Sedierung ausreichend
Schweregrad II
Mittelschwerer Tetanus: Erhebliche Muskelrigidität bis zur Grenze der Ateminsuffizienz, leichte Krampfneigung.
Therapie:
Langzeitintubation oder Tracheotomie, Sedierung notwendig.
Schweregrad III
Schwerer Tetanus: Starke Muskelrigidität, Ateminsuffizienz, generalisierte
Therapie:
Krämpfe, Kreislauflabilität. Langzeitintubation oder Tracheotomie, Sedierung, Relaxation und Beatmung, „Intensivtherapie".
Prophylaxe Einen wirksamen und dauerhaften Schutz gegen Tetanus bringt nur die AktivImmunisierung, die deshalb bei der gesamten Bevölkerung angestrebt werden soll. Grundimmunisierung 3 Injektionen von je 0,5 ml Tetanus-Antitoxoid (z. B. Tetanol®) am Tage 0 sowie nach 4—8 Wochen und nach 12 Monaten. Routinemäßige Auffrischimpfung alle 10 Jahre. Jede Applikation in Impfausweis eintragen.
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Prophylaxe bei Verletzungen Wiederauffrischimpfung mit 0,5 ml Tetanol®, wenn die letzte Injektion der Grundimmunisierung länger als 1 Jahr zurückliegt. Bei älteren oder gefährdeten Wunden, bei unvollständig immunisierten Verletzten, bei fehlendem Impfausweis und bei allen Zweifelsfällen: Simultanprophylaxe mit 0,5 ml Tetanol® und 250 I. E. homologem Tetanus-Immunglobulin (Tetanobulin®; Tetagam®) i. m. Bei Patienten unter Antikoagulantien-Therapie subkutan verabreichen. Therapie des manifesten Tetanus Bis heute ist es nicht möglich, das bei Ausbruch der Erkrankung in den Rezeptoren und Erfolgsorganen fixierte Tetanustoxin zu neutralisieren, so daß der Krankheitsverlauf weitgehend prädestiniert ist und die Therapie vornehmlich symptomatisch orientiert werden muß. Die Behandlung soll in den ersten 3 bis 4 Wochen auf einer Intensivstation erfolgen, um Krämpfe zu verhindern, die gestörte Stoffwechsellage auszugleichen und Komplikationen vorzubeugen oder zu behandeln. Durch operative Exzision der Wunde und ihrer Umgebung versucht man, die weitere Einschwemmung von Toxinen zu verhindern. Wichtig ist eine optimale Ruhigstellung des Patienten durch Vermeidung aller Lärmquellen und Abdunklung des Zimmers sowie durch Applikation sedierender Pharmaka. Je nach Schweregrad der Erkrankung muß intubiert oder tracheotomiert und eventuell beatmet werden, insbesondere dann, wenn zur Krampfbehandlung der Patient relaxiert werden muß. Tägliche Elektrolyt- und Blutgasanalysen dienen der Regulierung des Säurebasenhaushaltes. Die Ernährung soll eiweißreich sein und entweder über Magensonde oder parenteral erfolgen. Medikamentöse Herz- und Kreislaufstützung sowie Streßulkusprophylaxe (s. Abschn. 4.7) sind erforderlich. Im übrigen richtet sich die Behandlung nach den auftretenden Komplikationen. Pulmonale Komplikationen:: Pneumonie, Atelektasen, Bronchitis, Aspiration, Arrosionsblutung durch Trachealkanülen. Kardiale Komplikationen: Insuffizienz, Kreislaufstillstand. Abdominelle Komplikationen: Streßulcera, paralytischer Ileus. Ophthalmologische Komplikationen: Lagophthalmus, Keratitis. Vaskuläre Komplikationen: Thrombose, Embolie.
5 . 6 Durch Wunden verursachte Allgemeinerkrankungen
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Mechanische Komplikationen: Knochenfrakturen, Gelenkluxationen. Spezifische Immunisierung: 5 0 0 0 IE Hyperimmunglobulin (Tetagam®), i. m., zusätzlich 5 0 0 0 IE Tetagam® in einer Infusion über mehrere Stunden. Weitere Gaben von täglich 5 0 0 0 IE nach Antitoxintiter im Blut. Gleichzeitig erfolgt die aktive Immunisierung des Erkrankten mit Tetanusadsorbat-Impfstoff.
5.6.5 Lyssa, Rabies (Tollwut) Ohne Therapie fast immer tödlich verlaufende Infektionskrankheit, die durch Übertragung des Tollwutvirus von tollwutkranken Tieren bei Biß, Belecken oder Kratzen auf den Menschen hervorgerufen wird. An den Tollwutfällen sind Wildtiere zu 8 0 % , Haustiere zu 2 0 % beteiligt. Die meisten Tollwuterkrankungen beim Menschen werden durch Hundebisse verursacht. Die Tollwut ist in der gesamten Bundesrepublik Deutschland verbreitet, wobei Füchse als die wichtigsten Verbreiter angenommen werden. Nicht immer zeigt das erkrankte Tier ein entsprechendes Krankheitsverhalten („stille Wut"). Erkrankung, Verdachtsfall und Tod sind meldepflichtig. Bei entsprechenden Verletzungen muß danach gefragt werden, ob weitere Bißverletzungen durch das Tier bekannt sind. Tollwutverdächtige Tiere dürfen nicht getötet werden, sie müssen dem Gesundheitsamt gemeldet und für die Labordiagnose sichergestellt werden. Bleibt das Tier während einer amtsärztlichen Beöbachtungszeit von 10 Tagen ohne Krankheitszeichen am Leben, so kann eine Tollwutübertragung ausgeschlossen werden. Die Diagnose erfolgt durch Fluoreszenzserologie, Tierversuch und histologische Untersuchung des Gehirns auf Negri-Körperchen. Erstversorgung: Biß- und Kratzwunden tollwutverdächtiger Tiere sofort mit viel Wasser und Seife gründlich auswaschen, danach Restviren mit Äthylalkohol oder 0,l%iger quarternärer Ammoniumbase (z.B. Zephirol®) inaktivieren. Wenn nötig chirurgische Wundausschneidung, jedoch keine Wundnaht. Um die Wunde kann Tollwutimmunglobulin instilliert werden. Tetanus-Prophylaxe. Antibiotika. Schutzimpfung. Schutzimpfung: Patienten, die von einem tollwütigen oder tollwutverdächtigen Tier gebissen wurden, sollen aus vitaler Indikation bald nach der Exposition geimpft werden. Für die postexpositionelle Impfung gelten die Richtlinien der WHO. Allerdings erlaubt die gute Verträglichkeit des heute verwendeten inaktivierten Impfstoffes (Rabivac® Tollwut-HDC-Vaccine) eine wesentlich weiterer Indikationsstellung.
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5 Wunden
Die Impfung erfolgt bei Patienten ohne Grundimmunisierung mit 6 Injektionen an den Tagen 0, 3, 7, 14, 30 und 90, bei Patienten mit Grundimmunisierung mit 1 bis 3 Auffrischinjektionen. Erkrankung des Menschen: Nach einer Inkubationszeit von 10 Tagen bis mehreren Monaten kommt es zu Jucken, Brennen, Schmerzen und Parästhesien an der Verletzungsstelle. Entweder stirbt der Patient im folgenden Exzitationsstadium oder im paralytischen Stadium an Atemlähmung. Stadieneinteilung Prodromalstadium: Krankheitsgefühl, Inappetenz, Fieber, Kopfschmerzen, Erbrechen. Sensorisches Stadium: Jucken, Brennen, Schmerzen, Parästhesien an der Verletzungsstelle, Speichel- und Tränenfluß, Schwitzen, Angstgefühl, erhöhte Erregbarkeit. Exzitationsstadium: Spasmen der Schlundmuskulatur beim Schluckakt, Hydro-, Aero-, Photophobie, Konvulsionen mit tonisch-klonischen Krämpfen. Paralytisches Stadium: Stupor, Koma, progressive Paralyse.
5.7 Therapie der Wunden 5.7.1 Erste Hilfe Ziel der ersten Hilfe bei Wunden ist die Blutstillung, das Verhüten von Wundinfektionen und der Schutz der Wunde vor mechanischer Schädigung oder Verschmutzung. Folgende Grundsätze sind zu beachten: • Wunde steril und trocken verbinden; • Wunde nie berühren oder auswaschen; keine Medikamente auf die Wunde bringen; • Fremdkörper nie aus der Wunde ziehen (Blutungsgefahr); • bei Wunden an Kopf, Brust oder Bauch an Möglichkeit der Eröffnung der jeweiligen Körperhöhle denken; • bei Wunden in der Umgebung von Gelenken an Möglichkeit der Gelenkeröffnung denken; • bei Wunden am Hals an Gefahr der Luftembolie denken; • alle Patienten mit Wunden müssen zum Arzt geschickt werden; • ein am Unfallort angelegter Wundverband soll unter aseptischen Bedingungen erst unmittelbar vor der operativen Versorgung abgenommen werden.
5.7 Therapie der Wunden
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5.7.2 Offene Wundbehandlung Die offene Wundbehandlung beschränkt sich auf eine mechanische Reinigung der Wunde mit anschließender Ruhigstellung (Schienenverband) und eignet sich bei plötzlichem Anfall einer größeren Verletzungszahl ohne entsprechende Versorgungsmöglichkeiten (Katastrophenfall). Die Ruhigstellung wird belassen, bis die Wunde abgeheilt ist. Die offene Wundbehandlung gilt als geeignet, eitrige Infektionen, Tetanus oder Gasbrand zu verhüten. Nachteilig ist sie bei Mitverletzungen tiefer Gewebe wie Muskeln, Sehnen, Knochen oder Gefäße, die dann sekundär versorgt werden müssen.
5.7.3 Operative Behandlung frischer Wunden Alle Maßnahmen der Wundversorgung bezwecken die Vermeidung einer Wundinfektion, zumal Infektionsprozesse den normalen Wundheilungsvorgang erheblich stören und den Verletzten gefährden. Grundlage der operativen Wundversorgung ist die Wundausschneidung nach Friedrich (1889), der nachwies, daß durch die keilförmige Ausschneidung einer frischen, mit Infektionskeimen beschickten Zufallswunde diese ebenso heilt wie eine operativ gesetzte. Dann erst darf die Wunde genäht werden. Ein Wundverschluß ohne Wundausschneidung ist äußerst gefährlich. Der Eingriff soll sofort, spätestens innerhalb der ersten 6—8 Stunden nach der Verletzung erfolgen. Die sackförmige „Wundausschneidung nach Friedrich" kommt praktisch nur für kleine, bis in die Subkutis reichende, unkomplizierte Zufallswunden in Betracht. Bei komplizierten Wunden im Gesicht oder an den Händen verbietet sich die keilförmige Exzision. Dann muß die schichtweise chirurgische Säuberung und sparsame Glättung des Wundgebietes unter Schonung von Nerven, Sehnen und Gefäßen vorgenommen werden (Wundtoilette). Bei der operativen Wundversorgung ist ein gewebeschonendes, sogenanntes atraumatisches Operieren ganz besonders wichtig, um einen ungestörten Heilverlauf zu erreichen und einer späteren Gewebsfibrose vorzubeugen. Grundsätze der gewebeschonenden Wundversorgung: • Infiltrationsanaesthesie, Regionalanaesthesie oder Vollnarkose bei größeren Verletzungen; • Waschen des Wund-, bzw. Operationsgebietes; • pneumatische Blutsperre bei Gliedmaßenverletzungen; • Fremdkörper stets vollständig entfernen; • Operationsgebiet mit körperwarmer Ringerlösung feucht halten; • Wundränder nie quetschen (Haltefäden, Einzinkerhaken, feinste Pinzetten benutzen); • sorgfältige Blutstillung; • Gefäße einzeln ligieren, keine Massenligaturen;
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• • • • • •
wenn nötig, Erweiterungsschnitte entsprechend der Hautspaltlinien legen; keine Nähte unter Spannung anlegen; kein Wundverschluß unter Spannung; geringe Knotenzahl, kurze Fadenenden; gut adaptierende Rückstichnähte; Redon-Saugdrainagen einlegen; bei infektionsgefährdeten Wunden (Bißverletzungen, Schußverletzungen, alte Wunden) keine Wundnähte - offene Behandlung; • Operationszeit so kurz wie möglich halten; • auf mitverletzte tiefere Gewebestrukturen achten. Das dargestellte Vorgehen eignet sich für fast jede operative Versorgung einer frischen Wunde. Größere Wunden müssen immer ruhiggestellt werden. Wird dazu ein Gipsverband verwendet, so muß dieser sofort der ganzen Länge nach gespalten und aufgebogen werden. Alle an den Beinen Verletzten sollen bis zum Abheilen der Wunde Bettruhe halten. Das verletzte Bein wird auf einer Schiene hochgelagert. Alle schweren Verletzungen des Armes oder der Hände sollen ebenfalls hochgelagert werden. Anschließend an die operative Wundversorgung werden Temperatur, Puls und Schmerzen regelmäßig kontrolliert. Gegen Schmerzen kann man schmerzstillende Mittel geben. Während der Wundheilung ist darauf zu achten, daß alle nicht ruhiggestellten Gelenke täglich mehrere Male im vollen Umfang bewegt werden. Die Wundschmerzen sollen in wenigen Tagen abgeklungen sein. Ist dies nicht der Fall, treten stärkere Schmerzen, eine zunehmende Schwellung und Rötung der Wunde, eventuell eine Entzündung der Lymphbahnen oder der regionären Lymphdrüsen auf, dann müssen sofort mehrere Nähte entfernt werden. Nicht selten beruhigt sich dann die Wunde, wenn etwas Sekret abgestoßen ist. Andernfalls sind alle Fäden sofort zu entfernen, damit es nicht zur äußeren Spannung und zu einer in die Umgebung weiterschreitenden Infektion kommt. Die infizierte Wunde ist mehrmals täglich mit nicht resorbierbaren Antibiotika (Neomycin®, Bacitracin®, Polymyxin®) zu spülen. Eine Sonderstellung gegenüber dem dargestellten Vorgehen nimmt die von Iselin angegebene Methode der „aufgeschobenen Dringlichkeit" ein. Hiermit kann gelegentlich bei schweren Quetschverletzungen, Zerreißungen und Zertrümmerungen von Knochen, Gelenken, Muskeln und Sehnen — besonders an der Hand — die Rekonstruktion der verletzten Gewebestrukturen erst nach einigen Tagen vorgenommen werden. Vorgehen: Nach der Schockbekämpfung wird in Lokal-, Leitungs- oder Allgemeinanästhesie die Wunde in einer l%igen Lösung einer quarternären Ammoniumbase mit einer Bürste gut gewaschen; nötigenfalls muß eine Blutstillung vorgenommen werden. Anschließend wird die Wunde mit feuchten Kompressen derselben Lösung verpackt und die verletzte Extremität auf einer Schiene ruhiggestellt. Tetanusprophylaxe. Prophylaktische Gabe von Antibiotika kann erwogen werden.
5.7 Therapie der Wunden
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5.7.4 Behandlung veralteter und alter Wunden Bei veralteten Wunden, die älter als 8 - 1 2 Stunden sind, kommt ein primärer Wundverschluß nach vorausgegangener Ausschneidung nicht in Frage. Dann kann man die „verzögerte primäre Wundnaht" anwenden: nach operativer Wundbehandlung werden die Hautnähte gelegt, jedoch erst zwischem dem 3. und 6. Tag geknotet, wenn keine Infektion eingetreten ist. Inzwischen hat sich im Wundbereich eine infektionshemmende Exsudationsschicht gebildet. Tritt bei einer verzögerten primären Wundnaht ein Spätabszeß auf, müssen die Fäden wieder entfernt und die Wunde komplett geöffnet werden. Bei über 24 Stunden alten Wunden wird auf eine chirurgische Wundversorgung verzichtet und versucht, durch Ruhigstellung des verletzten Körperabschnitts eine Infektion zu verhindern. Später kann eine „Sekundärnaht" die Heilungszeit verkürzen. Bei alten Wunden ohne Entzündungszeichen werden durch Ruhigstellung und Hochlagerung günstige Heilungsbedingungen geschaffen. Die Granulations- und Epithelbildung wird durch wechselnde Anwendung von feuchten Umschlägen, Salben und trockenen Verbänden gefördert. Hierzu eignen sich Kamillen (Lösung oder Salbe), l%ige Borlösung, 10%ige Kochsalzlösung, Rivanollösung, Kollagenasesalben, Harnstoffpräparate, Bepanthensalbe und vieles andere mehr. Bei starkem Geruch streut man Borsäure auf die Wunde oder zwischen die Tupfer. Borsäure ist auch spezifisch gegen die Pyozyaneusbakterien (zu erkennen an der blaugrünen Verfärbung des Verbandes). Bei größeren Epithelverlusten und Defektwunden ist ein plastischer Hautersatz erforderlich, sofern ein frischroter, möglichst keimfreier Granulationsgrund als Transplantationsbett zur Verfügung steht. Die dann sich bildende Narbe ist wesentlich fester und widerstandsfähiger als spontan gebildetes Epithel. Am besten eignet sich ein freies Spalthauttransplantat, welches mit Naht angeheftet und mit Fettgaze abgedeckt wird. Wenn für die plastische Deckung Fettgewebe als Gleit- und Schutzpolster benötigt wird, kann eine Nahplastik als Verschiebelappen, Verschiebeschwenklappen oder Rotationslappen vorgenommen werden. Fernplastiken sind wegen der notwendigen Immobilisation des Patienten weniger geeignet. Dagegen haben sich in letzter Zeit Vollhautlappen aus der Leistenregion mit mikrochirurgischem Gefäßanschluß im Empfangsgebiet zunehmend bewährt (s. Abschn. 30.4.1).
5.7.5 Behandlung infizierter Wunden Bei infizierten Wunden muß zunächst festgestellt werden, ob die Infektion rein lokal oder fortschreitend und ob sie von Allgemeinerscheinungen begleitet ist. Dazu kontrolliert man Temperatur und Puls, sieht die Zunge an (trocken oder feucht) und prüft, ob der Verletzte subikterisch ist (beginnende Sepsis). Dann
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5 Wunden
drückt man vorsichtig auf die Umgebung der Wunde, um festzustellen, ob Taschen vorhanden sind, aus denen sich eventuell Eiter entleert. Selbstverständlich kommt auch die Beurteilung des Aussehens der Wunde dazu. Ferner sind rote Streifen der Lymphbahnen (Lymphangitis, vornehmlich an den oberen Gliedmaßen) und druckschmerzhafte Schwellung der regionalen Lymphdrüsen (Lymphadenitis) in der Leiste, an der Ulnarseite des Oberarms proximal der Ellenbeuge und in der Achselhöhle — Zeichen einer beginnenden Allgemeininfektion. Ist die Infektion lokal (Wunde schmierig belegt, mehr oder minder stark sezernierend, Umgebung gerötet, keine Taschen, Temperatur normal oder erhöht, Puls parallel der Temperatur, Zunge feucht), so wird der entsprechende Gliedabschnitt einwandfrei ruhiggestellt, am besten mit einem Gipsverband, der gespalten und in den ein Fenster über die Wunde geschnitten wird. Lokal sollen nichtresorbierbare Medikamente eingesetzt werden.
5.8 Anhang: Verbandlehre* 5.8.1 Allgemeine Verbandlehre Verbinden ist eine Kunstfertigkeit. Die dargestellten Verbände bilden die Grundlage für eine gute Verbandtechnik. Ein guter Verband unterstützt wesentlich die Heilung von Wunden. Achtlos und falsch angelegte Verbände können die Heilung verzögern und Schaden verursachen. Wir unterscheiden: Wundverbände, Druckverbände, Stützverbände, Zug- und Streckverbände. 5.8.1.1 Wundverbände bestehen aus mindestens zwei Schichten: der keimfreien Wundauflage und dem zur Befestigung dienenden Verbandmaterial. Die Wundauflage schützt die Wunde vor Verschmutzung. Sie unterstützt die Blutstillung, saugt Wundabsonderungen auf und verhindert mechanische Schädigung der Wunde. Die Wundauflage besteht entweder aus mehreren Schichten keimfreien Verbandmulls oder aus keimfreien, mit Verbandmull überzogenen Zellstofflagen. Watte und Zellstoff dürfen nicht unmittelbar auf die Wunde gelegt werden, weil sie ankleben und sich nur schwer entfernen lassen. Nur keimfreies Verbandmaterial darf unmittelbar auf die Wunde gelegt werden. * Mit freundlicher Genehmigung des Bundesministers der Verteidigung.
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5.8.1.2 Druckverbände üben einen Druck auf die Wunde und ihre Umgebung aus. Sie werden über stark blutende Wunden oder über durchgebluteten Wundverbänden angelegt. Durch den ausgeübten Druck gelingt es, die meisten Blutungen zu stillen. Ein Druckverband darf jedoch niemals stauen, weil dadurch die Blutung verstärkt wird. 5.8.1.3 Stützverbände sind entlastende und ruhigstellende Verbände. Sie können starr oder halbstarr sein und werden häufig mit Wundverbänden kombiniert. Zu den Stützverbänden gehören ruhigstellende Heftpflasterverbände, Schienenverbände, Zinkleim-, Stärke- und Gipsverbände. 5.8.1.4 Zugverbände und Streckverbände entlasten oder strecken. Sie finden z. B. in der Knochenbruchbehandlung Verwendung. Der Zug kann mit Schlauchmullklebeverbänden oder Heftpflasterverbänden auf die Haut oder aber mit Drähten und Nägeln, die durch den Knochen geführt werden, unmittelbar auf diesen übertragen werden. 5.8.1.5 Allgemeine Grundregeln der Verbandtechnik Richtiges Verbinden erfordert nicht nur ein faltenfreies und spannungsfreies Führen der Binde, sondern auch ein Gefühl für den richtigen Sitz des Verbandes unter einzelnen Bindengängen. Ein Verband muß gut anliegen, aber er darf nicht zu eng sein. Ein enger Verband verursacht Schmerzen durch Behinderung der Blutzirkulation und kann zum Absterben eines Gliedes führen. Er unterstützt das Anschwellen des verletzten Gliedes, indem er den Rückfluß des Blutes durch die Venen hemmt. Der anfänglich durch die Blutstauung erfolgte Schmerz kann trotz zunehmend schwerer Schädigung später wieder verschwinden. Ein anfangs richtig sitzender Verband kann durch Anschwellen des verletzten Gliedes, besonders im Bereich der Gliedmaßen, nachträglich zu eng werden. Deshalb sind Verbände bei frischen Wunden häufig zu überprüfen. Treten unter dem Verband Schmerzen auf, schwellen Finger oder Zehenspitzen an, werden sie blau, beginnen sie zu kribbeln oder gefühllos zu werden, so ist der Verband zu eng und muß umgehend gelockert werden. Baumwollbinden laufen beim Naßwerden ein. Hierdurch kann ein zuerst gut sitzender Verband zu eng werden. Manche Verbände schneiden an bestimmten Körperstellen ein und erfordern daher an diesen Stellen eine gute Polsterung.
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5 Wunden
Zu locker sitzende Verbände rutschen ab oder gehen auf. Die Wunden werden verunreinigt, wenn sie freiliegen oder von keimhaltigen Abschnitten der Wundauflage berührt werden. Erneute Blutungen können entstehen. Pflasterverbände sollen möglichst nicht im Bereich behaarter Hautabschnitte angelegt werden.
5.8.2 Spezielle Verbandlehre 5.8.2.1 Verschiedene Pflasterverbände Befestigung der Wundauflage mit Heftpflaster Die keimfreie Wundauflage wird mit einigen parallel oder diagonal über Kreuz laufenden Heftpflasterstreifen befestigt. Dachziegelverband dient zur Ruhigstellung einer Brustseite. Er wird mit breiten Heftpflasterstreifen ausgeführt, die sich dachziegelartig decken. Sie werden unter festem Zug in Ausatemstellung von unten (unter Rippenbogen) nach oben (kurz unterhalb der Achselhöhle) angelegt und reichen auf Brust und Rücken etwa handbreit über die Mittellinie zur gesunden Seite. Die Brustwarze wird vorher mit einem Tupfer abgedeckt (Abb. 5/1). Dachziegelverbände schränken die Atembewegungen des Brustkorbs ein!
Abb. 5/1
Wundschnellverband Beschaffenheit:
Verwendung: Anlegen:
Starres oder elastisches Heftpflaster, auf dessen Innenseite ein mit keimwidriger Lösung behandelter Mullstreifen befestigt und mit Steifgaze oder Kunststoff-Folie geschützt ist. Fertiger keimfreier Verband für kleine Wunden. • Beide Schutzstreifen so mit den Fingern fassen und nach außen ziehen, daß der keimfreie Mullstreifen unberührt freiliegt.
5.8 Anhang: Verbandlehre
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• Keimfreien Mullstreifen auf die Wunde legen. Schutzstreifen abziehen und Klebeenden auf die unverletzte Haut drücken. • Vor Anlegen des Schnellverbandes an runden Körperstellen sind die Klebestreifen einzuschneiden. 5.8.2.2 Dreiecktuchverbände Das Dreiecktuch ist insbesondere als unproblematischer Notverband vielseitig verwendbar. Es dient zur Befestigung von Wundauflagen und Schienen oder zur Ruhigstellung von Gliedmaßen, ist ein gutes Behelfsmittel zum Abbinden. Beim behelfsmäßigen Verletztentransport läßt es sich als Tragering verwenden. Wir unterscheiden Basis, Zipfel und Spitze des Dreiecktuches. Die lange Seite ist die Basis. Die Basisenden nennen wir Zipfel. Der Basis gegenüber liegt die Spitze (Abb. 5/2). Spitze
Zipfel
Abb. 5 / 2
Legen der Dreiecktuchkrawatte (Abb. 5/3).
Z7 /S
Z^.
7
Abb. 5 / 3
Schifferknoten Dreiecktücher sollen nur mit einem Schifferknoten gebunden werden. Andere Knoten gehen auf oder müssen häufig aufgeschnitten werden, wobei das Dreiecktuch unbrauchbar wird (Abb. 5/4).
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5 Wunden
Zum Öffnen des Knotens wird ein Zipfel zunächst fest nach der entgegengesetzten
Verbände mit offenem Dreiecktuch Kopfhaube (Spitze hinten) dient zur Befestigung von Wundauflagen im Bereich des behaarten Kopfes (Abb. 5/6).
5.8 Anhang: Verbandlehre
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• Dreiecktuch so über den Kopf legen, daß die Spitze über der Mitte des Nackens hängt und die Basis mit den Augenbrauen abschneidet. • Beide Zipfel oberhalb der Ohren vorbeiführen, am Hinterkopf kreuzen und über der Stirn knoten. • Herabhängende Spitze am Hinterkopf über die Zipfelgänge hochschlagen und von oben hinter die Zipfel einschlagen. Stirnverband Der Stirnverband wird bei Stirnwunden und Kopfverletzungen, die in Stirnhöhe liegen, verwendet. Bei Einlegen eines festen runden Gegenstandes zwischen keimfreie Wundauflage und Krawatte eignet sich dieser Verband gut als Druckverband bei stark blutenden Kopfverletzungen. Der Knoten muß dann über den Druck ausübenden Gegenstand gelegt werden (Abb. 5/7).
Augenverband • Beim Anlegen dieses Verbandes ist darauf zu achten, daß die längsverlaufende Mittellinie der Krawatte genau über dem größten Kopfumgang liegt (Abb. 5/8). • Die Krawatte muß fest angezogen sein. • Der Verband rutscht bei liegenden Patienten leicht ab. • Stets beide Augen verbinden.
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Kiefer- und Ohrverband
5 . 8 Anhang: Verbandlehre
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• Er stellt den Unterkiefer ruhig. Dazu kann die Krawatte im Bereich des Kinns etwas breiter auseinandergezogen werden. • Er ist durch Einlegen eines festen runden Gegenstandes ein guter Druckverband bei Schlagaderblutungen im Schläfenbereich und vor dem Ohr. • Er kann über ein Ohr gelegt werden und ist dann ein festsitzender Ohrverband. • Beide Kreisgänge müssen über dem jeweils möglichen größten Kopfumgang liegen, um ein Abrutschen zu vermeiden. Kinnstützverband Der Kinnstützverband dient zur Ruhigstellung des Unterkiefers (Abb. 5/10).
• Dreiecktuchkrawatte beiderseits zwischen Zeige- und Mittelfinger halten und an das Kinn anlegen. • Dann Hände so drehen, daß sich der untere Rand der Krawatte um das Kinn schlägt, welches durch Faltenbildung fest umfaßt wird. Umschlagen während der Handdrehung durch beide Daumen unterstützen.
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• Zipfel über einer Schläfe kreuzen, um Stirn und Hinterkopf herumführen und auf der Stirn knoten. Schlüsselbeinbruchverband dient zur Ruhigstellung der Bruchenden (Abb. 5/11).
Abb. 5/11
Der Verletzte hebt den Unterarm selbst etwa 90 Grad gebeugt. • Achselhöhle der verletzten Seite leicht polstern. • Dreiecktuch vor den Körper unter dem gebeugten Unterarm so durchführen, daß die untere Kante des Unterarmes etwa in der Mitte des Tuches liegt. • Oberen Zipfel über die Schultern der gesunden Seite hängen. • Unteren Zipfel über den angewinkelten Arm heben, dann unterhalb der Achselhöhle auf der verletzten Schulterseite hindurchführen. • Tuch auf dem Rücken verknoten. • Verband durch zweites Dreiecktuch in Krawattenform fixieren. Achsel- und Schulterverband dient zur Befestigung von Wundauflagen in der Achselhöhle oder auf der Schulter (Abb. 5/12). • Mitte der Krawatte in die Achselhöhle legen. • Zipfel über der Schulter kreuzen, über Brust bzw. Rücken führen und vor der gegenüberliegenden Achselhöhle knoten. • Bei kräftigen Menschen muß die Krawatte durch eine zweite Dreiecktuchkrawatte verlängert werden.
5.8 Anhang: Verbandlehre
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Schulterverband mit zwei Dreiecktüchern dient zur Befestigung von Wundauflagen auf der Schulter oder auf dem Oberarm (Abb. 5/13). • Dreiecktuchkrawatte mit der Mitte über die verletzte Schulter legen, straff anziehen und vor der gegenüberliegenden Achselhöhle knoten. • Das zweite Dreiecktuch über die Schulter legen und die Spitze unter der Krawatte durchschieben. • Die Spitze über die Krawatte schlagen, darunter stecken und nach Möglichkeit mit einer Sicherheitsnadel befestigen. • Die Basis des zweiten Dreiecktuches einmal umschlagen, die Zipfel um den Arm herumführen und verknoten. • Die Spitze des zweiten Tuches kann auch vor Anlegen des Verbandes um die Mitte der Krawatte geschlagen werden.
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Abb. 5/13
Ellenbogenverband dient zur Befestigung von Wundauflagen in der Ellenbogengegend (Abb. 5/14). Arm beugen und die Mitte der Krawatte über den Ellenbogen legen. Beide Zipfel in der Ellenbeuge aneinander vorbei- und so weiterführen, daß sie oberhalb und unterhalb des ersten Kreisganges liegen. In der Ellenbeuge knoten.
5.8 Anhang: Verbandlehre
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Handverband dient zum Schutz der ganzen Hand (Abb. 5/15). • Die Hand wird so auf das Dreiecktuch gelegt, daß die Finger zur Spitze zeigen. • Spitze über die Hand schlagen. • Dreiecktuch von der Kuppe des Zeigefingers und von der Kuppe des Kleinfingers beiderseits zweimal umschlagen. • Zipfel auf dem Handrücken überkreuzen, um das Handgelenk führen und auf der Streckseite knoten.
Hand- und Fußverband dient zur Befestigung von Wundauflagen in der Hohlhand, auf dem Handrücken, unter der Fußsohle und auf dem Fußrücken (Abb. 5/16).
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• Die Mitte der Krawatte über Handteller oder Fußsohle legen. • Zipfel über Handrücken oder Fußrücken kreuzen und zum Handgelenk bzw. zum Unterschenkel oberhalb des Sprunggelenks führen. • Zipfel nach dem Kreisgang auf der Streckseite des Unterarmes oder auf der Vorderseite des Unterschenkels knoten.
Armtrageschlinge dient zur Ruhigstellung des Ellenbogengelenkes und des Unterarmes (Abb. 5/17). • Dreiecktuch vor dem Körper unter dem gebeugten Unterarm so durchschieben, daß die untere Kante des Unterarmes etwa in der Mitte des Tuches liegt. • Oberen Zipfel über die Schulter der verletzten Seite hängen. • Unteren Zipfel über den Unterarm zur gesunden Schulter hochschlagen und mit dem anderen Zipfel seitlich knoten. Der Unterarm liegt etwas über 90 Grad gebeugt. • Spitze knoten, in sich einschlagen oder mit einer Sicherheitsnadel festigen.
5.8 Anhang: Verbandlehre
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Hüftverband dient zur Befestigung von Wundauflagen in der Hüftgegend (Abb. 5/18). • Eine Dreiecktuchkrawatte um die Hüfte befestigen. • Die Spitze des zweiten Tuches seitlich so unter diese Krawatte stecken, daß die Basis knapp unterhalb der Gesäßfalte liegt. • Die Zipfel um den Oberschenkel herumführen und miteinander verknoten. • Die Spitze so nach oben ziehen, daß der Verband straff sitzt, um die Krawatte schlagen, unterstecken und möglichst mit einer Sicherheitsnadel befestigen.
Abb. 5/18
Hosenverband dient zur Befestigung von Wundauflagen im Bereich des Unterbauches und Gesäßes (Abb. 5/19).
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5 Wunden
• Die Spitzen von zwei Dreiecktüchern zusammenknoten. • Eines der Dreiecktücher im Schritt soweit durchführen, daß der Knoten in der Dammgegend liegt. • Zipfel des vorderen und hinteren Tuches seitlich in Höhe der Hüften knoten. • Basis des vorderen Tuches kurz umschlagen.
Knieverband dient zur Befestigung von Wundauflagen im Bereich des Knies (Abb. 5/20). • Basis zweimal schmal umschlagen. • Dreiecktuch so auf das Knie legen, daß die Spitze auf der Mitte des Oberschenkels liegt. • Zipfel in der Kniekehle kreuzen und auf dem Oberschenkel oberhalb des Knies knoten. • Dreiecktuch von der Spitze aus glatt ziehen. • Spitze unter die Zipfelgänge einschlagen.
Fußverband dient zur Befestigung von Wundauflagen am Vorderfuß (Abb. 5/21). • Fuß so auf das Dreiecktuch stellen, daß die Zehen zur Spitze zeigen und die Ferse mit der Basis des Tuches abschließt.
5.8 Anhang: Verbandlehre
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• Spitze über den Fußrücken schlagen. • Dreiecktuch beiderseits vom Zipfel bis zum Fußrand umschlagen. • Zipfel auf dem Fußrücken kreuzen, um das Sprunggelenk herumführen und auf der Vorderseite knoten.
Abb. 5/21
Fersenverband dient zur Befestigung einer Wundauflage an Ferse oder Hacken (Abb. 5/22). • Fuß so auf das Tuch stellen, daß die Fußspitze gut handbreit von der Basis entfernt ist und die Spitze an der Ferse übersteht. • Spitze zur Wade hochschlagen und festhalten. • Basis über den Vorfuß schlagen, Zipfel über dem Fußrücken kreuzen, um das Sprunggelenk herumführen (dabei Spitze festlegen) und auf der Vorderseite knoten. • Spitze nach unten schlagen und unter die Zipfelgänge einschlagen. • Die Zehen müssen bedeckt sein, da sonst der Verband rückwärts rutscht.
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5 Wunden
Dreiecktuch als Tragering • Dreiecktuch zu Krawatte legen. • Krawatte locker um die Mittelhand legen und locker zum Ring verknoten. • Beide Enden nun entgegengesetzt um den Ring wickeln. Am Ende nicht verknoten. Dreiecktuch zur Polsterung bzw. Befestigung von Schienen • Dreiecktuch zu Krawatte legen. • Krawatte dann änlich wie Binde verwenden. Abbinden mit dem Dreiecktuch • Dreiecktuch zu Krawatte legen. • Krawatte um abzubindende Gliedmaße legen. • Auflage (Verbandpäckchen) auf Schlagader, Krawatte über Auflage überkreuzen und festziehen, verknoten.
5.8 Anhang: Verbandlehre
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5.8.2.3 Bindenverbände Beim Verbinden ist darauf zu achten, daß der zu verbindende Körperteil nicht erschüttert oder gedrückt wird. Die Binde läuft von links nach rechts. Der Bindenkopf wird hinter dem zu verbindenden Körperteil von der rechten in die linke und danach wieder von der linken in die rechte Hand übergeben. Das abgewickelte Bindenstück darf dabei nicht zu lang sein, im allgemeinen nicht länger als die Binde breit ist. Die Binde muß so geführt werden, wie sie „von selbst" läuft. Das Wickeln geschieht unter gleichmäßigem leichten Zug. Die Binde muß in ihrer ganzen Breite faltenlos so fest anliegen, daß sie sich weder verschieben noch mit den Bindenrändern einschneiden kann. Ein nachträgliches Festziehen ist zu vermeiden. Gliedmaßen werden immer in der Stellung verbunden, in der sie nach dem Anlegen des Verbandes verbleiben sollen. Nachträgliches Beugen oder Strecken des verbundenen Gliedes verändert Zug und Druck in bestimmten Verbandabschnitten und kann zu Einschnürungen führen, die Durchblutungsstörungen und Schmerzen verursachen. Finger und Zehenspitzen werden grundsätzlich nur dann verbunden, wenn es erforderlich ist. An ihrem Aussehen läßt sich die Durchblutung im verbundenen Glied leicht beurteilen. Blaue oder geschwollene Finger- und Zehenspitzen zeigen an, daß der Verband zu eng sitzt. Das Festlegen der Binde wird wie folgt durchgeführt (Abb. 5/23): Man faßt den Bindenkopf mit der rechten Hand, legt den Bindenanfang an der zu verbindenden Stelle so an, daß man in den Spalt zwischen Binde und Bindenkopf hineinsehen kann und hält den Bindenanfang mit dem linken Daumen fest. Der erste Bindengang ist ein gut gespannter Kreisgang, der so gelegt wird, daß ein Zipfel des Bindenganges frei bleibt.
Abi
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5 Wunden
Der freie Zipfel wird über den ersten Kreisgang geschlagen und durch einen zweiten Kreisgang festgelegt. Zieht man jetzt am Bindenkopf, so darf der Bindenanfang nicht mehr rutschen. Nach sicherem Festlegen des Bindenanfanges beginnt der eigentliche Verband. (Für Linkshänder gilt grundsätzlich: rechts = links, links = rechts.) Umschlagverband An Gliedmaßenabschnitten, die sich verdicken, liegen feste Binden nur beim Umschlagverband in ihrer ganzen Breite gleichmäßig an (Abb. 5/24). Hierzu wird der obere Rand der leicht ansteigend verlaufenden Binde über den linken Daumen nach vorne umgeschlagen, während die rechte Hand über den Bindenkopf um 180 Grad so dreht, daß man nicht mehr in den Spalt zwischen Bindenkopf und Binde hineinsehen kann. Nach erfolgtem Umschlag läuft die Binde leicht absteigend weiter. Sobald der Umschlag glatt und fest liegt, greift die linke Hand um das Glied herum, faßt den Bindenkopf und legt den aufsteigenden Teil des neuen Umschlagganges Vor dem Umschlagen wird wieder umgegriffen. Die Umschläge sollen nicht über verletzten Stellen oder über Knochenvorsprüngen ausgeführt werden. Bei Zinkleimverbänden sind sie verboten. Der Umschlagverband ist bei Stoffbinden notwendig. Mullbinden passen sich dagegen auch Gliedmaßenverdickungen weitgehend an, so daß nur einzelne Umschlaggänge eingeschaltet werden müssen. Bei Verbänden mit elastischen Binden sind Umschläge nicht erforderlich.
Kopfhaube mit zwei Binden Der Verband kann mit einer sehr langen zweiköpfigen Binde oder besser mit zwei einzelnen Binden ausgeführt werden. Aneinanderknoten von zwei Binden ist jedoch nicht gestattet. Die über den Scheitel laufende Binde wird in wechselseitigen, v-förmigen Gängen angelegt (Abb. 5/25).
5.8 Anhang: Verbandlehre
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Abb. 5/25
Augenverband Der Verband kann unter Einschalten von Kreisgängen um die Stirn wechselseitig über beide Augen gelegt werden - doppelseitiger Augenverband (Abb. 5/26).
Ohrverband Die Verbandtechnik ist ähnlich wie beim Augenverband. Der Verband läßt jedoch beide Augen frei. Er wird über einem auf und hinter das Ohr gelegten Polster ausgeführt. Der untere Rand des Polsters wird von dem am tiefsten gelegenen Bindengang umfaßt, so daß dieser nicht nach oben abrutschen kann (Abb. 5/27).
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5 Wunden
Ellenbogenverband mit Wundauflage • Bindenverlauf: von innen nach außen. • Der Verband wird mit zwei Kreisgängen unterhalb des Gelenkes begonnen. Der dritte Gang läuft über die Mitte des Gelenkes und hält die Wundauflage fest. Die weiteren Gänge schließen sich jeweils unterhalb und oberhalb des Gelenkes außen an. Der Verband wird schließlich mit einem Kreisgang oberhalb des Gelenkes abgeschlossen (Abb. 5/28).
Abb. 5 / 2 8
Handverband mit Wundauflage Vom Handgelenk schräg über die Wundauflage, nach halber Kreistour entgegengesetzt zurück zum Handgelenk. Touren im Schräggang wiederholen, bis die Wundauflage voll überwickelt ist. Abschluß durch eine Kreistour am Handgelenk (Abb. 5/29).
Abb. 5 / 2 9
Fäustlingsverband Der Fäustlingsverband wird bei ausgedehnten Hand- und Fingerverletzungen angelegt. Er kann zusätzlich gepolstert werden (Abb. 5/30). In abgewandelter Form eignet er sich für • Fußverletzungen • Amputationsstümpfe.
5 . 8 Anhang: Verbandlehre
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Fingerverband Nach Festlegung am Handgelenk Binde schräg über den Handrücken und in einer Aufwärtsspirale um den Finger über die Verletzung hinwegführen. Kreistour, Abwärtsspirale bis Fingeransatz, entgegengesetzt über Handrücken zum Handgelenk (Abb. 5/31).
Abb. 5/31
Fingerverband mit Fingerspitze Wie bei Fingerverband. Ab Handrücken zwei Bindenlaschen über den Finger legen, Abwärtsspirale wie bei Finger (Abb. 5/32).
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5 Wunden
Fußverband Dieser Verband eignet sich zur Befestigung von Wundauflagen am Mittelfuß und in der Knöchelgegend. Mit elastischem Heftpflaster ausgeführt, ist er ein guter Stützverband für das Sprunggelenk, muß aber bis zu den Zehengrundgelenken reichen (Abb. 5/33). Müssen die Zehenspitzen in den Verband mit eingebunden werden, so ist ähnlich wie beim Fäustlingsverband zu verfahren.
Fersenverband Der Fersenverband wird benötigt, um Wundauflagen im Bereich der Ferse und unterhalb der Knöchel zu befestigen. Er wird meist mit dem Fußverband abgeschlossen (Abb. 5/34).
5.8 Anhang: Verbandlehre
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Anlegen eines Brandwundenverbandpäckchens • Umhüllung entfernen, Mullbinde mit beiden Händen an den farblich gekennzeichneten Stellen anfassen, Fäden durchreißen und die Mullbinde auseinanderziehen. • Nach Abrollen des Farbstreifens an den herausragenden Bändern anfassen. • Kompresse durch leichtes Schütteln entfalten. • Kompresse mit leicht glänzender Schicht auf die Wunde legen. Mit angenähten Binden und Bändern befestigen.
5.8.2.4 Schienenverbände Grundsätzlich gelten für das Anlegen einer Schiene folgende Regeln: • Die Schiene muß die der Verletzung benachbarten gesunden Gelenke mit ruhigstellen. • Die Befestigung der Schiene erfolgt am unverletzten Teil und niemals im Bereich der Verletzung. • Die am Körper anliegenden Teile der Schiene müssen gepolstert sein.
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5 Wunden
• Die angelegte Schiene darf keine Schmerzen verursachen, sondern muß schmerzlindernd wirken. Drahtleiterschiene Die Breite der Schiene muß dem Umfang des Gliedmaßes entsprechen, das geschient werden soll. Zu breite Schienen erlauben ein seitliches Verschieben des Gliedes im Verband; zu schmale Schienen geben keinen guten Halt. Die Länge der Schienen ist je nach Fall verschieden. Sollen Gliedmaßen (z. B. Finger) mit ruhiggestellt werden, so muß die Schiene zum Schutz gegen Druck und Stoß 1 bis 2 cm überstehen. Anpassen der Schiene Bevor die Schiene angelegt wird, muß sie durch Biegen so geformt werden, daß sie sich dem verletzten Glied in der Stellung anpaßt, in der es ruhiggestellt werden soll. Bei der ersten Hilfe wird die Schienenform nach der Stellung des gebrochenen Gliedes gerichtet. Über vorstehende Knochenteile, z. B. am gebeugten Ellenbogen, an der Ferse oder an Gelenkknorren, darf die Schiene nicht eng anliegen. An diesen Stellen muß genügend Raum für eine zusätzliche Polsterung frei bleiben. Polsterung der Schiene Nachdem die Schiene in der gewünschten Länge zugerichtet ist, wird sie mit Polsterwatte oder Zellstoff gepolstert. Normalerweise legt man das Polstermaterial um die ganze Schiene herum und befestigt es durch Umwickeln mit Binden. Gepolsterte Schienen werden auch industriell gefertigt. Anlegen der Schiene Erst wenn die Schiene die richtige Form hat, wird das verletzte Glied vorsichtig auf ihr gelagert. Am Körper anliegende Schienenenden und vorspringende Knochenteile sind dabei zusätzlich zu polstern. Beim Anlegen von seitlichen Schienen ist auf die Polsterung der Gelenkknorren besonders zu achten. Die Befestigung der Schienen erfolgt mit Binden oder Tüchern. Die Binde wird unter leichtem Zug geführt. Einschnürungen sind besonders gefährlich, weil der Verletzte den Blutumlauf im ruhiggestellten Glied nicht aktiv durch Muskelbewegung unterstützen kann. Bei Kälte können ruhiggestellte Glieder leichter erfrieren, wenn ihre Durchblutung durch den Verband gehemmt wird.
5.8 Anhang: Verbandlehre
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Schienenverband zur Ruhigstellung einer Hand Alle Gelenke der Hand sind leicht gebeugt und der Handteller mäßig gewölbt. Der Daumen wird nur mit eingebunden, wenn er verletzt ist. Schienenform zur Ruhigstellung von Unterarm und Ellenbogenrücken Die Ruhigstellung von Unterarm und Ellenbogen mit Drahtleiterschienen ist nur ein vorübergehender Notbehelf. Auch bei diesem Verband muß die Hand in Mittelstellung stehen. Die geschieht durch entsprechendes Biegen der Schiene oder durch dicke Unterpolsterung so, daß alle Fingergelenke leicht gebeugt sind. Die Unterarmschienung mit nach unten weisendem Handteller ist ungünstig. Der Handteller soll immer zum Körper gerichtet sein (Abb.5/35).
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Abb. 5/35
Ruhigstellung des Oberarmes und Schultergelenkes (Abb. 5/36).
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5 Wunden
Schienenverband zur Ruhigstellung von Fuß und Sprunggelenk (Abb. 5/37).
Abb. 5/37
Schienenverbände zur Ruhigstellung des Unterschenkels und des Kniegelenkes Das Kniegelenk muß in leichter Beugestellung ruhiggestellt werden. Dies ist nur durch Verwendung von mehreren Drahtleiterschienen möglich (Abb. 5/38).
5.8 Anhang: Verbandlehre
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Ruhigstellung des Oberschenkels Dieser Verband ist nur ein Notbehelf (Abb. 5/39).
Pneumatische Schienen Die Pneumoschiene wird angelegt und anschließend aufgeblasen. Die Schiene benötigt keine zusätzliche Polsterung. Sie gewährleisten eine zuverlässige und schützende Ruhigstellung der Gliedmaßen bei Verletzungen aller Art und • • • •
können in kürzester Zeit angelegt werden, haben einen gleichmäßigen allseits elastischen Druck, wirken Anschwellungen entgegen, tragen als zusätzliche Wundauflage zur Blutstillung bei.
Anlegen der Schiene • Wunden werden vorher durch Verband versorgt, • die geöffnete Schiene anlegen, keinesfalls auf einen aufgekrempelten Ärmel,
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5 Wunden
• F i n g e r e t w a s h e r a u s s c h a u e n lassen, • R e i ß v e r s c h l u ß schließen, • S c h l a u c h g e w i n d e öffnen, • Schiene bis zur Ruhigstellung des verletzten A r m e s aufblasen, • Schiene a m Ventil schließen, • A r m s c h l i n g e anlegen.
Weiterführende Literatur Eckert, P., R. Häring, unter Mitarbeit von M . Naber: Die Wundheilung. Bibliomed, Melsungen 1981 Eyrich, K.: Tetanus (Wundstarrkrampf): In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R.Zenker, A.Deucher, W. Schink), Bd. 1, Beitrag 16. Urban 8c Schwarzenberg, München-Wien—Baltimore 1 9 7 9 Habermann, E.: Tetanus. In: Handbook of Clinical Neurology, Bd. 33 (Hrsg. R J . V i n k e n , G.W.Bruyn), S. 4 9 1 - 5 4 7 . North-Holland Publ., Amsterdam-New York-Oxford 1978 Hernandez-Richter, J., H.-J. Struck: Die Wundheilung. Thieme, Stuttgart 1 9 7 0 Knapp, U.: Die Wunde. Thieme, Stuttgart-New York 1981 Most, E., N. Kaiser: Verbandlehre. Thieme, Stuttgart 1978 Rehn, I.: Die Wunde, ihre Behandlung und Heilung. In: Spezielle Chirurgie für die Praxis (Hrsg. F. Baumgartl, K. Kremer, H. W. Schreiber), Bd. 1, Teil 1. Thieme, Stuttgart 1973 Schott, H.: Gasödem. In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R.Zenker, A.Deucher, W.Schink), Bd. 1, Beitrag 15. Urban & Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore 1979 Stenger: Verbandlehre. Urban & Schwarzenberg, München—Wien-Baltimore 1980
6 Verbrennungen
6.1 Definition und Ursachen Die Verbrennung ist eine durch Einwirkung unphysiologisch hoher Hitzegrade hervorgerufene Verletzung; man pflegt sowohl den Akt der Hitzeeinwirkung als auch ihre Folgen als Verbrennung zu bezeichnen (Sonnenburg und Tschmarke, 1915). Die Einwirkung hoher Wärmegrade auf den Körperteil kann in sehr unterschiedlicher Weise zustande kommen und sich sehr verschieden in bezug auf Extensität und Intensität verhalten. Von großer praktischer Bedeutung ist dabei die Art der Hitzeeinwirkung. Art, Temperatur, Dauer und Häufigkeit von Wärmequellen Art
Temperatur
Dauer
Häufigkeit 40-70%
heißes Wasser
niedrig
lang/kurz
Wasserdampf
hoch
kurz
5-10%
Explosion
hoch
kurz
15-20%
heiße Gegenstände
niedrig/hoch
kurz/lang
15-20%
elektro-thermisch
hoch
kurz
2-
6%
Zu thermischen Verletzungen des Integuments kommt es, wenn die physiologische Wärmeregulation der Haut innerhalb eines relativ engbegrenzten Temperaturbereichs erschöpft ist. Neben der Art der Hitzeeinwirkung wird die Intensität einer thermischen Schädigung von der in der Zeiteinheit zugeführten Wärmemenge (Höhe und Einwirkungsdauer der Temperatur) bestimmt. Entscheidend ist dabei die im Gewebe herrschende Temperatur.
6.2 Pathophysiologie Das Protein lebender Zellen wird bei Temperaturen zwischen 50° und 55° C irreversibel geschädigt. Höhere Temperaturen führen zu einer vollständigen Zerstörung organischer Substanzen bis zu Verkohlung. Im Wundgebiet beobachtet man neben einer Zunahme der Flüssigkeit (Ödembildung) auch einen Einstrom von Natrium, dem ein Verlust von Kalium und Phosphor gegenübersteht. Die Stickstoffbilanz im Wundgebiet ist negativ; hitzedenaturierte Proteine und Peptide sowie auch intakte Proteinmoleküle wandern ab
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6 Verbrennungen
(Permeabilitätsstörung). Durch Zellzerstörung kommt es bereits 1 Stunde nach der Verbrennung im Verletzungsgebiet zu einer deutlichen Zunahme hydrolytisch wirksamer Enzyme lysosomalen Ursprungs; diese Fermente sind verhältnismäßig hitzestabil (bis zu 70° C), so daß sie auch durch erhöhte Temperaturen nicht inaktiviert werden. Histamin, Kinine und Prostaglandine führen zu einer Permeabilitätsstörung mit extravasaler Flüssigkeitsansammlung nicht nur in der Haut, sondern generalisiert in allen Geweben. Dieses Verbrennungsödem erreicht am 2. Tag sein Maximum und klingt bis zum 5. Tag wieder ab. An den Randzonen der Wärmeeinwirkung mit nur partieller Zellschädigung sollen die Fermente erhalten bleiben, so daß es zu einer Autolyse kommen kann. In dieser Grenzschicht zwischen irreversiblen Gewebeschäden und lebendem Gewebe entsteht als Reaktion auf den Anfall von Eiweißzerfallsprodukten ein Leukozytenwall, wodurch es zur enzymatischen Wirkung der ausgetretenen Leukozyten kommt. Thermisch geschädigte Haut zieht sich in der Richtung der kollagenen Fasern zusammen, wobei das Bindegewebe umso mehr schrumpft, je höher die Temperatur ist. Durch diese Kontraktion der Haut werden die darunter befindlichen, leicht kompressiven Gefäße gedrosselt und die von ihnen versorgten Gebiete minderdurchblutet. Dies hat neben einer herabgesetzten Sauerstoffversorgung auch eine Anreicherung des Gewebes mit Abbauprodukten zur Folge. Im Plasma kommt es zu einem Abfall der Proteine, des Kaliums und des Hydroxyprolins. Die Hypophosphatämie erreicht am 5. Tag ihren niedrigsten Wert; das Gerinnungspotential ist in den ersten 4—5 Tagen erniedrigt. Die immunologische Abwehrlage ist besonders in der ersten Woche durch Abfall der y-Globulinfraktion vermindert. Wenn keine Anurie vorliegt, kommt es im Urin zu einer erheblich gesteigerten Ausscheidung von Proteinen und Peptiden aus dem geschädigten Gewebe, von Hämoglobin (Erythrozytenzerfall), von Phosphat und Kalium. In der Spätphase stehen Verbrennungstoxine (Lipoproteine) im Vordergrund der Stoffwechselveränderung.
6.3 Verbrennungsschock Nach einer thermischen Schädigung des Organismus kommt es durch initiale Freisetzung von Histamin, Kininen und Prostaglandinen bereits nach wenigen Minuten zu Permeabilitätsstörungen und damit sofort zu Flüssigkeitsverlusten in das Gewebe (Ödeme), die sich auch auf thermisch nicht direkt geschädigte Regionen erstrecken und die bereits nach 1 bis 2 Stunden zum Volumenmangelschock führen. Die im Verbrennungsgebiet und auch in der Umgebung interstitiell auftreten-
6.4 Prognose und Letalität
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den Ödeme verlängern die 0 2 -Diffusionsstrecke, wodurch der Gasaustausch sinkt. Durch gleichzeitige Zunahme der Blutviskosität verschlechtern sich die Fließeigenschaften des Blutes. Bei anhaltend stark erhöhtem peripheren Strömungswiderstand zeigt der Verbrennungsschock — im Unterschied zu anderen Schockformen — lange Zeit normale Blutdruckwerte. Außerdem macht sich ein vermehrter Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Eiweißtransport an der Hautoberfläche sowie eine Verdunstung durch die geschädigten Hautareale hämodynamisch bemerkbar. Flüssigkeitsverluste von mehreren Litern/Tag sind bei Schwerverbrannten keine Ausnahme (erhebliche Energieverluste von 2000-3000 Cal/d bzw. 8400-12 600 Joule/d). Da die Glykogenreserven bald verbraucht sind, kann der Organismus den großen Energiebedarf nur durch Mobilisation seiner Eiweiß- und Fettreserven decken. Hämokonzentration, Vasokonstriktion und Mikrozirkulationsstörung bedingen eine Gewebshypoxie und eine metabolische Azidose, die der Organismus durch eine Hyperventilation auszugleichen versucht. Infolge Verlust der Immunglobuline ist die zelluläre und hormonale körpereigene Abwehr stark reduziert, so daß der Brandverletzte gegen Infektionen fast ungeschützt ist (Sepsisgefahr). Die Vielzahl der pathophysiologischen Geschehnisse an fast allen Organen des Verbrannten werden als „Verbrennungskrankheit" zusammengefaßt.
6.4 Prognose und Letalität Die Prognose einer Verbrennung hängt ab von: • • • • • •
der Ausdehnung und Tiefe der Verbrennung; der Art der schädigenden Hitzeeinwirkung; der Mitverletzung anderer Organe (Atemwege); dem Alter des Verletzten; dem Allgemeinzustand vor dem Unfall; der Wirksamkeit der Behandlung.
Bei 35% bis 40% drittgradig verbrannter Körperoberfläche ist die Chance zu überleben ebenso groß wie das Risiko eines letalen Ausgangs der Verbrennungskrankheit. Alte Menschen sind durch zumeist vor dem Unfall bestehende organische Erkrankungen, Säuglinge und Kleinkinder wegen ihres labilen Stoffwechsels und Wasserhaushalts besonders gefährdet. Als Faustregel gilt: Beträgt die Summe aus Lebensalter und Prozentzahl der verbrannten Körperoberfläche 80 und mehr, so ist die Prognose schlecht, ab 100 ist sie statistisch infaust (Abb. 6/1).
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6
Verbrennungen Verbrennungsfläche in %
Alter in Jahren Abb. 6/1 Prognose drittgradiger Verbrennungen in Abhängigkeit v o n der verbrannten Oberfläche und dem Alter des Patienten (nach I. F. K. M u i r und R. L. Barclay).
6.5 Wundheilung Oberflächliche Brandwunden 1. und 2. Grades heilen durch direkte Epithelisierung von Wundgrund und vom -rand her in ein bis zwei Wochen ab; Verbrennungen 3. Grades heilen stets sekundär. Kleinere Defektwunden benötigen mindestens 4 Wochen, großflächige Brandwunden mitunter Monate. Die spontane Epithelisierung bedingt eine minderwertige Narbenhaut mit mangelhafter Struktur. Bei großflächigen Verletzungen erfolgt der Wundverschluß zusätzlich durch eine Wundkontraktion, die im wesentlichen durch Myofibroblasten bewirkt wird.
6.6 Infektion Die frische Brandwunde stellt ein ausgezeichnetes feuchtwarmes Milieu für eine daher stets auftretende Keimbesiedlung (Mischinfektion mit einem dominierenden Keim) dar. Selbst bei Einwirkung höherer Temperaturen können Bakterien in der Tiefe von Schweißdrüsen und Haarfollikeln überleben. Neben dieser endogenen Infektion ist das Risiko einer exogenen außerordentlich groß, zumal die Resistenz
6.8 Diagnostik
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des schwer geschädigten Organismus stark gemindert ist. Die bakterielle Kontamination der Brandwunde führt zu lokalen und allgemeinen Erscheinungen: • Wundheilung verzögert; • Hauttransplantate werden im infizierten Wundbereich nicht angenommen oder von ihrer Unterlage wieder abgeschwemmt; • partielle Hautschäden werden durch Absterben epithelialer Zellen zu totalen; • Zellulitis durch bakterielle Invasion in der Tiefe; • Allgemeinerscheinungen durch Bakterientoxine; • Septikämie durch Bakterieneinschwemmung in die Blutbahn. Wundinfektion, Fieber, Gewichtsverlust, Kachexie bestimmen den schlechten Allgemeinzustand und führen nicht selten zum Tode.
6 . 7 Spätfolgen Die lange Heilungsdauer einer sekundär heilenden, infizierten Brandwunde sowie die Minderwertigkeit der neugebildeten Epidermis führen bei Verbrennungswunden nicht selten zu Narbenhypertrophien, Keloidbildungen und je nach Sitz der Verbrennung auch zu Narbenkontrakturen, welche nicht nur ein kosmetisches Problem darstellen, sondern auch funktionelle Störungen verursachen. Diese machen wiederum nicht selten plastische Spätkorrekturen mit langen Behandlungszeiten erforderlich. Schließlich sollen auch die nach einer Verbrennung auftretenden Narbenkarzinome erwähnt werden, die entweder über lange Latenzzeiten wahrscheinlich durch dauernde Fehlregenerationen oder auch innerhalb kurzer Zeitspannen durch in die Wunde gelangtes karzinogenes Material entstehen.
6 . 8 Diagnostik 6.8.1 Bestimmung der Ausdehnung einer Verbrennung Die Schwere einer Verbrennung ergibt sich aus ihrer Ausdehnung und Tiefe. Da es unmittelbar nach dem Unfall meist nur möglich ist, die Ausdehnung zu bestimmen, müssen sich die Erstmaßnahmen darauf beschränken, die Flächenausdehnung der Verbrennung abzuschätzen, zumal sich daraus wichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Patienten, für Schockbekämpfung, Transportfähigkeit und für die Behandlungsprioritäten ergeben. Ferner gibt die Bestimmung der Flächenausdehnung einer Verbrennung wichtige Anhaltspunkte für • die Gefährdung des Patienten, • die Gefahr des Verbrennungsschocks, • die zu infundierenden Flüssigkeitsmengen.
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6 Verbrennungen
Aus Erfahrung ist bekannt, daß - ohne Berücksichtigung einiger besonderer Faktoren (s. Abschn. 6.4) - Erwachsene mit mehr als 1 5 % - 2 0 % und Kinder mit mehr als 5%—8% verbrannter Körperoberfläche akut gefährdet sind und eine sofortige Flüssigkeitssubstitution benötigen. Die unverzügliche Feststellung der verbrannten Körperoberfläche schließt alle Brandwunden mit Ausnahme einfacher Erytheme ein. Dabei ist es nicht zweckmäßig, die Ausdehnung in cm 2 anzugeben, weil so die Unterschiede zwischen kindlichem und erwachsenem Körper unberücksichtigt bleiben. Nachdem erkannt war, daß bei erwachsenen Personen mit unterschiedlichem Körperbau wie Übergewicht, Abmagerung oder Gravidität weitgehend konstante Oberflächenproportionen bestehen, konnte sich die Angabe der Ausdehnung einer Verbrennung in Prozenten der gesamten Körperoberfläche in der Praxis durchsetzen. Bei Kindern allerdings finden sich andere Proportionen, weil bei ihnen vor allem der Kopf relativ größer ist. Als zuverlässig und zur raschen Ermittlung der verbrannten Körperoberfläche beim Erwachsenen hat sich die von Wallace (1951) angegebene „Neunerregel" erwiesen: Der Kopf wird mit 9 % , jeder Arm mit 9%, jedes Bein mit 2 x 9 % , Rumpfvorderseite und -rückseite mit jeweils 2 X 9% gerechnet; 1% fällt auf Hals oder Perineum und Genitale (Abb. 6/2).
6.8.2 Bestimmung der Tiefe einer Verbrennung Die Tiefe einer Verbrennung ist abhängig von der Höhe der Temperatur und ihrer Einwirkungsdauer. Der schichtweise Aufbau der äußeren Haut bietet sich geradezu an, die Tiefenbeschreibung der Verbrennungen in Graden entsprechend der Tiefe der geschädigten Hautschicht einzuteilen. Dabei hat sich die Einteilung der Verbrennung in drei Grade durchgesetzt: 1.Grad
epidermal
Hautrötung
2. Grad
partiell dermal total dermal
Blasenbildung und Teilzerstörung
3. Grad
subdermal
Totalzerstörung
Morphologisch findet sich bei der klinisch durch Rötung gekennzeichneten Verbrennung 1. Grades im Corium ein Ödem und eine starke Erweiterung der Gefäße. Die Verbrennung 2. Grades läßt histologisch ein Ödem der Cutis erkennen, das unterhalb der Cutis konfluiert und diese abhebt, wodurch es zur Blasenbildung kommt. Die Verbrennung 3. Grades zeigt Nekrosen und Zerstörungen der Kapillaren. Leukozyteninfiltrate bestehen zunächst nicht. Unmittelbar nach der Verletzung läßt sich die Tiefe der Verbrennung klinisch jedoch nicht exakt bestimmen;
6.8 Diagnostik
Erwachsener
K i n d , 5 Jahre
89
Kind, 1 Jahr
Abb. 6/2 Neuner-Regel nach Wallace zur Bestimmung der Flächenausdehnung einer Verbrennung.
erst im Verlauf der Behandlung einer Brandwunde ist eine genaue Klassifizierung möglich, so daß man sich primär meist mit der Unterscheidung zwischen oberflächlicher und tiefer Verbrennung begnügen muß (Abb. 6/3). Oberflächliche Verbrennung Teilzerstörung der Haut: Spontanheilung durch teilweise erhalten gebliebene epitheliale Gebilde möglich. Tiefe Verbrennung Totale Zerstörung der Haut in ganzer Dicke mit allen Anhangsgebilden; Heilung nur über Wundkontraktion und Epithelisierung vom Wundrand her möglich. Für die angestrebte frühzeitige Entfernung der irreversibel geschädigten Haut ist die möglichst exakte Unterscheidung der tief zweitgradigen von der drittgradigen Verbrennung erforderlich. Die von mehreren Autoren herangezogene Analgesie der verbrannten Hautareale erlaubt keine brauchbare Unterscheidung, da sowohl tief
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6 Verbrennungen
Abb. 6/3 Einteilung der Tiefe einer Verbrennung nach Graden sowie zwischen oberflächlicher und tiefer Verbrennung.
zweitgradige wie drittgradige Verbrennungen schmerzunempfindlich sein können. Zahlreiche Methoden zur Feststellung der Tiefe einer Verbrennung wurden angegeben. Alle diese Möglichkeiten sind entweder unsicher, aufwendig, nicht risikofrei oder stoßen beim Patienten auf kritische Vorbehalte, so daß in der täglichen Praxis die Entscheidung immer noch mehr nach der Intuition aus Erfahrung als mit chemischen oder physikalischen Hilfen getroffen wird.
6.9 Indikationen zur stationären Behandlung Die stationäre Behandlung eines Verbrennungspatienten ist erforderlich • bei drohendem oder manifestem Verbrennungsschock, wenn die zweit- bis drittgradig verbrannte Fläche bei Erwachsenen mehr als 15%, bei Kindern unter 10 Jahren mehr als 5 % - 8 % beträgt; • bei Verbrennungen im Gesicht, am Hals, an den Händen, an den Füßen und am Genitale; • bei allen Verbrennungen im Säuglings- und im Kleinkindalter bis zu drei Jahren; • bei allen drittgradigen Verbrennungen; • bei geringstem Verdacht auf elektro-thermische Schädigung tiefer Gewebestrukturen nach Elektrounfall. Die Primärbehandlung eines Brandverletzten ist in jeder chirurgischen Abteilung möglich. Vor allem bei Begleitverletzungen sind vor der Verlegung des Patienten in eine Spezialbehandlung alle vital bedrohlichen Unfallfolgen (zum Beispiel intraabdominelle Blutung) definitiv zu versorgen. Ist eine Verlegung indiziert, erfolgt sie
6.10 Therapie
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erst nach Stabilisierung der Vitalfunktionen und Primärversorgung der Verletzungen, am besten innerhalb der ersten 24 bis 48 Stunden, bevor bedrohliche Komplikationen (Infektion, Sepsis, Multiorganversagen, gastrointestinale Blutung) auftreten. Niemals sollte eine Verlegung überstürzt und bei ungünstigen Bedingungen (zum Beispiel nachts mit Hubschrauber ohne ärztliche Begleitung) erfolgen. Der zentrale Bettennachweis für Schwerbrandverletzte gibt Tag und Nacht Auskunft über verfügbare Behandlungsplätze (Telefon: 040/24828-837 oder - 8 3 8 ) .
6.10 Therapie 6.10.1 Erstmaßnahmen am Unfallort 6.10.1.1 Erste Hilfe durch Rettungssanitäter/-assistenten Nach Retten des Verunfallten aus der Gefahrenzone und Löschen eventuell brennender Kleidung erfolgt sofort die Prüfung von • Atmung, • Bewußtseinslage, • Circulation. Am Anfang jeder Therapie steht die Behandlung von Störungen dieser Vitalfunktionen! Die erste Sorge gilt immer der Atemstörung und dem Kreislaufstillstand, die zweite der Erstversorgung der Brandwunde mit kaltem Wasser und die dritte der Schock- und Schmerzbekämpfung sowie der Behandlung von Begleitverletzungen. Die kardiopulmonale Reanimation rangiert dabei vor allen anderen Maßnahmen. Die Kleidung über Brandwunden ist schnellstens zu entfernen, sofern sie nicht festklebt; bei Verbrühungen mit heißen Flüssigkeiten müssen alle Kleider schnellstens entfernt werden. Bei einer umschriebenen Verbrennung an den Gliedmaßen kann dieser Gliedmaßenteil sofort in kaltes Wasser gehalten werden, bis Schmerzlinderung eintritt (10—15 Minuten). Umschriebene und einzelne Brandwunden werden nach der Kaltwasserbehandlung zum Schutz vor bakterieller Kontamination und Auskühlung mit einem sterilen Verband (Verbandpäckchen, Brandwunden-Verbandtuch) bedeckt. Großflächige Verbrennungen lassen sich mit dem Burn-Pac-System® versorgen. Rettungsdecken aus Metallfolien sind zum Transport von Brandverletzten nicht geeignet, weil sie zu einem Wärmestau führen, sofern der Verletzte vollständig damit eingehüllt wird. Dem bewußtseinsklaren Verletzten kann schluckweise Wasser oder Tee, nicht aber Alkohol, verabreicht werden.
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6 Verbrennungen
Einem bewußtlosen Verletzten darf auf keinen Fall Flüssigkeit eingeflößt werden. Dieses Verbot gilt auch bei bestehender Übelkeit oder bei Erbrechen und bei Verdacht auf Nebenverletzungen, die baldiger operativer Behandlung bedürfen. Beruhigungs- und Schmerzmittel werden nur vom Arzt gegeben. Bei schweren Verbrennungen ist vor dem Abtransport der Notarzt an den Unfallort zu rufen. 6.10.1.2 Kaltwasserbehandlung In den letzten Jahren wird die Sofortbehandlung einer Verbrennung mit kaltem Wasser als einzig wirksame erste Hilfe wieder intensiv empfohlen. Viele schwere Verbrennungen sind zunächst zweitgradig und werden innerhalb der ersten Minuten durch „Nachbrennen" der in die Haut eingedrungenen Wärmemenge drittgradig. Sofortiges Eintauchen des verbrannten Körperabschnitts in kaltes Wasser bewirkt • • • • •
eine eine eine eine eine
Schmerzlinderung; Begrenzung von Ausdehnung und Tiefe der Verbrennung; Senkung des Stoffwechsels; Verringerung der Ödembildung; Verkürzung des Schockstadiums.
Die Kaltwasserbehandlung muß sofort oder spätestens innerhalb der ersten 30 Minuten nach dem Unfall erfolgen und mindestens 15—30 Minuten lang durchgeführt werden, bis eine eindeutige Schmerzlinderung eintritt. Am besten geeignet ist Leitungswasser (etwa 10° C); wenn nicht vorhanden, ist auch jedes andere Wasser bis zu einer Temperatur von etwa 22° C brauchbar. Eiswasser oder Eispackungen sind ungeeignet, da sie zu Kälteschäden führen. Völlig unbedenklich ist die Kaltwasserbehandlung an den Gliedmaßen (Säuglinge und Kleinkinder ausgenommen); bei großflächigen Verbrennungen am Rumpf benutzt man mit kaltem Wasser durchtränkte Tücher. Die Behandlung beschränkt sich auf die verbrannten Hautareale, eine Ganzkörperbehandlung mit kaltem Wasser (Badewanne) ist wegen Unterkühlungs- und Schockgefahr kontraindiziert. Kaltwasserbehandlung heißt: kühlen — nicht unterkühlen! 6.10.1.3 Erste Hilfe durch Arzt Der Arzt überprüft Atmung und Kreislauf. Bei Atemstillstand wird die Beatmung nach vorheriger Intubation, bei Herzstillstand die externe Herzmassage durchgeführt. Brandverletzte müssen primär nicht intubiert und beatmet werden. Ausnahmen hiervon, die eine Intubation schon am Unfallort erforderlich machen, sind:
6.10 Therapie
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• Verbrennungen der Atemwege (Inhalationstrauma), • Verbrennungen im Gesicht und am Hals, • polytraumatisierte Brandverletzte. Verbrennungen im Gesicht und am Hals führen zu ödematösen Schwellungen im Pharynx und sind immer verdächtig auf Verbrennungen der oberen Atemwege, die zum Beispiel bei Explosionen in geschlossenen Räumen verursacht werden können. Bei diesen Verletzten kommt es rasch zu einer Atemwegsverlegung durch Pharynxund Larynxödem, die eine späteree Intubation unmöglich machen. Deshalb Intubation möglichst noch am Unfallort, spätestens bei inspiratorischen Stridor. Bei Bronchospasmus verabreicht man ein Bronchospasmolytikum (zum Beispiel Berotec® Dosier-Aerosol). Das Schaffen eines intravenösen Zugangs und das Anlegen einer Infusion sind immer erforderlich bei Verbrennungen 2. und 3. Grades über 15% bei Erwachsenen, über 8% bei Kindern. Schmerzstillende und beruhigende Medikamente bei starker Unruhe werden vom Arzt nur intravenös gegeben (z. B. Morphin, Fortrai®, Dolantin®, Dipidolor®, Valium®). Tiefen- und Flächenausdehnung der Verbrennung werden geschätzt. Die verbrannten Flächen werden nach der Kaltwasserbehandlung möglichst steril bedeckt. Augenverletzungen durch direkte Flammeneinwirkung werden durch sterile Verbände beider Augen versorgt. Bei schweren Verbrennungen wird der Transport nur mit liegender Infusion und bei freien Atemwegen durchgeführt. Bewußtlose werden — sofern sie ausnahmsweise nicht intubiert sind - in stabiler Seitenlage transportiert. Ärztliche Begleitung ist erforderlich. Sollten mehrere oder zahlreiche Brandverletzte gleichzeitig zu versorgen sein, müssen möglichst noch am Unfallort und vor dem Abtransport der Verletzten Versorgungsprioritäten gesetzt werden. Dies nimmt der Arzt nach folgenden Kriterien vor: Höchste Behandlungspriorität haben Brandverletzte, die wegen manifester oder drohender respiratorischer Insuffizienz sofort intubiert werden müssen (Inhalation toxischer Gase, Verbrennungen der Atemwege). An zweiter Stelle stehen Schwer- und Schwerstbrandverletzte, die eine sofortige Infusionsbehandlung benötigen. Zunächst zurückgestellt werden können Leichtbrandverletzte ohne ernste Begleitverletzungen.
6.10.1.4 Initiale Schockbekämpfung Der unmittelbar nach der Verbrennung einsetzende Blutvolumenmangel erfordert eine sofortige Schockbekämpfung durch Infusionstherapie. Bereits nach 2 Stunden kann der Schock irreversibel sein!
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6 Verbrennungen
Ergibt die orientierende Untersuchung des Verletzten eine Verbrennung von mehr als 1 5 % der Körperoberfläche oder den Verdacht auf tiefe Verbrennungsschäden, so ist mit einem Schock zu rechnen und stets eine Infusion anzulegen (s. Abschn. 3.3.2). Als Faustregel zur Primäreinschätzung des Infusionsbedarfs kann gelten: Sind mehr als 2 Körperregionen betroffen, ist die Volumenadaptation erforderlich. Bei leichten Verbrennungen dürften in der ersten Stunde 500 ml, bei mittelschweren 1000 ml und bei schweren Verbrennungen 1500 ml Ringer-Laktat-Lösung erforderlich sein. Im Sinne der Schockbekämpfung muß diese Infusion rasch erfolgen, am besten „im Strahl". 6.10.1.5 Medikamentöse Erstbehandlung Bei schweren Verbrennungen kommt es stets auch zu starken Schmerzen und zu einer erheblichen motorischen Unruhe mit Angst und schneller, oberflächlicher Atmung. Schmerz, Angst und Unruhe unterstützen durch anhaltende Katecholaminausschüttung die Vasokonstriktion und erhöhen zusätzlich den Sauerstoffverbrauch. Für die Schmerzbekämpfung eignen sich Morphin (5—10 mg) oder Dolantin® (25—30 mg) bei langsamer intravenöser Verabreichung. Gegen Angst und Unruhe im Schock haben sich Psyquil® (10 mg) oder Valium® (10 mg) intravenös bewährt. Zur Behandlung der in Abhängigkeit von der Schwere und Dauer des Schocks auftretenden respiratorisch-metabolischen Azidose wird Natriumbikarbonat in einer Dosierung von 100 mval zur Blindpufferung empfohlen. Besser und sicherer jedoch ist eine gezielte Pufferung aufgrund der Blutgasanalysen: 0,3 X base excess X kg KG (s. auch Seite 22).
6 . 1 0 . 2 Klinische Therapie 6.10.2.1 Erstbehandlung im Krankenhaus • • • •
• • • • •
Fortführen einer eingeleiteten Intubationsbeatmung; Fortführen der Schockbekämpfung; Fortführen der Schmerzbekämpfung und der Sedierung; Legen eines zusätzlichen Cava-Katheters (ZVD/Infusionsbehandlung), eines Blasenkatheters oder besser einer suprapubischen Harnblasendrainage (Zystofix®), einer Magensonde; Laborchemie (Hb, Hkt, Serum-Elektrolyte, Gesamteiweiß, Kreatinin, Harnstoff, Urinelektrolyte, Blutgruppe, Kreuzblut); Flüssigkeitsbilanz aufstellen (Aus- und Einfuhr); Wundabstriche; Tetanusprophylaxe; Photodokumentation;
6.10 Therapie
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• Verbrennungsschema ausfüllen; • Primärversorgung der Brandwunden; • intensivmedizinische Überwachung und Therapie. 6 . 1 0 . 2 . 2 Flüssigkeitsersatz Die Substitution des bei Brandverletzten vorwiegend zellfreien Volumendefizits wird bestimmt von der Schwere der Verbrennung und dem sich über mehrere Tage erstreckenden Flüssigkeitsverlust (Ödemphase) sowie der vom 3. bis 5. Tag einsetzenden Rückresorption (Rückresorptionsphase). Für herkömmliche oberflächliche Verbrennungen des Integuments werden die prozentuale Ausdehnung des Schadens und das Körpergewicht (KG) des Patienten als Parameter zur Berechnung von Formeln genommen, die zur Aufstellung von Infusionsschemata verschiedener Art geführt haben. Die weit verbreitete Parkland-Formel gibt für die ersten 2 4 Stunden einen Infusionsbedarf von 4 ml Ringer-Laktat pro kg Körpergewicht (KG) und pro Prozent verbrannter Körperoberfläche (KO) an. 4 ml Ringer-Laktat X % verbrannter K O X kg. Von der so errechneten Menge sollen 5 0 % in den ersten 8 Stunden verabreicht werden (unter Berücksichtigung der am Unfallort und auf dem Transport applizierten Menge). Kolloidale Lösungen oder Human-Albumin sind am ersten Tag noch nicht indiziert, sie werden erst am zweiten Tag verabreicht. Ein praxisnahes Kriterium zur Steuerung der Infusionstherapie ist die stündliche Urinausscheidung (über die primär angelegte Harnblasenableitung). Sie soll zwischen 5 0 und 80 ml/Stunde betragen, bei Hämolysezeichen im Urin 1 0 0 bis 1 5 0 ml. Nach 2 4 Stunden wird die errechnete Infusionsmenge halbiert, ab 3. Tag wird sie nach Hämatokrit, Z V D , Urinproduktion und Körpergewicht (Bettwaage) ermittelt. Die weitergehende Allgemeinbehandlung richtet sich nach dem Verlauf sowie nach Art und Schwere der auftretenden Komplikationen. Zur laufenden Überwachung gehören die Gewichtskontrolle mit der Bettwaage, die Urinausscheidung, die Bestimmung des Z V D , der Kreatininwerte sowie der Elektrolyte. Vom 5. bis 7. Tag an sind regelmäßige Wundabstriche zur Keim- und Resistenzbestimmung erforderlich, um gezielt mit Antibiotika behandeln zu können (Azlocillin, Cephalosporin, Gentamycin). Prophylaktische Antibiotikagaben fördern die Entwicklung resistenter Keime und sind zu vermeiden. Kortikosteroide werden nur bei Verbrennungen der Atemwege und im septischen Schock verabreicht. Der hohe Energieverlust des Patienten erfordert eine hochkalorische, eiweißreiche Ernährung, die bis zum 3. Tag vollständig parenteral erfolgen kann, jedoch so früh wie möglich auf eine orale Ernährung (eventuell Magensonde) umzustellen ist (Streßulkus-Prophylaxe s. Abschn.4.7).
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6 Verbrennungen
6 . 1 0 . 2 . 3 Therapie der Brandwunden Die theoretischen Grundsätze der Brandwundenbehandlung sind einfach, an ihnen ist der Wert einer speziellen therapeutischen Maßnahme zu messen. Ziel der Behandlung ist es, die Gefährdungsperiode des Patienten so kurz wie möglich und die zu erwartenden Spätschäden so gering wie möglich zu halten. Dazu soll • die devitalisierte Haut so früh wie möglich entfernt und • die gereinigte Wundfläche so schnell wie möglich verschlossen werden. Zwar kommt auch einer gezielten Behandlung der Verbrennungskrankheit für die Gesundung des Verletzten und für die Heilung seiner Wunden eine große Bedeutung zu, dennoch darf nicht übersehen werden, daß die Allgemeinreaktion des gesamten Organismus eine Folge der örtlichen Veränderungen an der Haut ist. Wirkungsvolle Behandlungsmaßnahmen an den Brandwunden sind demnach geeignet, die Allgemeinerkrankung durch • Einschränkung der Flüssigkeits-, Eiweiß- und Wärmeverluste, Beseitigung der toxisch wirkenden Nekrose und eine Infektionsprophylaxe günstig zu beeinflussen und die Überlebenschance des Schwerverbrannten zu vergrößern. Dem klinischen Erscheinungsbild der Brandwunden entsprechend ist ein differenziertes Vorgehen erforderlich. • Bei eindeutig oberflächlichen Brandwunden kommt nur eine konservative Behandlung in Frage. • Bei tiefen Verbrennungen der gesamten Hautdicke mit klar demarkierten Wundrändern soll die Nekrose so früh wie möglich entfernt und die Wunde gedeckt werden. • Bei vielen schweren Verbrennungen ist es primär unmöglich zu entscheiden, welche Hautareale partiell und welche total zerstört sind. In diesen Fällen kann erst nach zwei bis drei Wochen die Nekrose entfernt und die Wunde geschlossen werden. Erst- und zweitgradige Verbrennungen heilen in der Regel unter jeder Therapie innerhalb von längstens drei Wochen. Therapeutische Schwierigkeiten ergeben sich fast nur bei tiefen zweit- und drittgradigen Brandwunden, insbesondere, wenn sie eine größere Flächenausdehnung erreichen. 6.10.2.3.1 Konservative Behandlung Als konservative Behandlungsmethode kommen in Frage: • die offene Behandlung unter Wärmeanwendung; • die geschlossene Behandlung mit Verbänden; • die biologische Nekrolyse mit Fermentpräparaten.
6.10 Therapie
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Offene Behandlung Die Freiluftbehandlung will auf der Verbrennungsfläche einen festen, trockenen Schorf erzielen, der als natürlicher Schutz bis zur Heilung unter dem Schorf und als ein schlechter Boden für das Bakterienwachstum gilt. Der „open-air"-Behandlung werden die folgenden Vorteile zugeschrieben: • • • • • • • • •
geringer Blutbedarf nach Ablauf der Schockphase; geringe Schmerzhaftigkeit; geringe Fieberneigung; geringer Pflegeaufwand; Normalisierung des Appetits; keine Narkosen erforderlich; ständige Wundkontrolle möglich; Verbandstoffersparnis; wenige plastische Deckungen erforderlich, weil tiefzweitgradige Verbrennungen nicht durch Infektion und Mazeration zu drittgradigen Schädigungen fortschreiten können.
Als Kontraindikation für die offene Behandlung gelten Verbrennungen der Hände wegen Versteifungsgefahr in den Fingergelenken sowie Brandwunden, welche sich über den ganzen Umfang einer Gliedmaße oder des Rumpfes zirkulär erstrecken, da aufliegende Flächen rasch erweichen und sich infizieren. Ebenfalls ungeeignet zur offenen Therapie sind kleine, umschriebene Wunden, die primär exzidiert und geschlossen werden können sowie Schwerverbrannte, welche über größere Entfernungen transportiert werden müssen. Die Gefahr einer Besiedlung der offen behandelten Verbrennung mit pathogenen Keimen des Krankenhauses gilt heute als groß. Die Freiluftbehandlung stellt bei Ärzten und Pflegepersonal höchste Ansprüche an die Umgebungshygiene des Patienten, sie eignet sich nicht zur ambulanten Behandlung, und schließlich führt eine über Monate sich erstreckende Therapie zu gravierenden Entstellungen und Kontrakturen. Es hat nicht an Bemühungen gefehlt, die offene Behandlung mit anderen therapeutischen Maßnahmen zu kombinieren. So gilt die Verwendung von Gentamycin-Salbe zur Oberflächenbehandlung als wirksamstes Mittel gegen Pseudomonasinfektionen. Als wertvolle Bereicherung der lokal applizierbaren Therapeutika empfiehlt sich derzeit ein Polyvinylpyrrolidon-Jod-Komplex (z.B. Betaisodona®, Braunoderm®), der die Keimzahl im Wundbereich unter den sepsis-trächtigen Grenzwert von 10 5 zu senken vermag. Nach Behandlung mit Betaisodona®, Braunoderm® kann die granulierende Wundfläche frühzeitig mit einem Autotransplantat gedeckt, die Sepsis verhindert und ein sicherer Wundverschluß erreicht werden. Als besonders geeignet gilt auch die anfänglich offene Behandlung der Brandwunden durch Gerbung. Dabei werden bereits am ersten Behandlungstag in Allgemeinnarkose die Brandwunden nach Reinigen mit PVP-Seife und Abtragen von Brand-
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blasen durch zweimaliges Aufbringen von Tannin (5prozentig) und Silbernitrat (lOprozentig) gegerbt und mittels Föhn getrocknet. Bei oberflächlichen Verbrennungen fällt der trockene Schorf nach etwa 2 Wochen ab; bei tiefen Verbrennungen kann entweder eine biologische Nekrolyse durchgeführt oder besser die frühzeitige Nekrektomie (s. Abschn. 6.10.2.3.2) vorgenommen werden. Geschlossene Behandlung Die geschlossene Brandwundenbehandlung mit Verbänden soll bewirken, daß • eine mechanische Barriere gegen bakterientragende Partikel entsteht; • durch Absorption des Wundsekrets sich eine trockene Wundoberfläche bildet; • das Verbandmaterial als Vehikel für antibakterielle Substanzen dienen kann (z.B. Flammazine® Salbe, Braunovidon® oder Betaisodona® Salbe). Biologische Nekrolyse Die enzymatische Beseitigung von Brandnekrosen der Haut kann nur dann optimal gelingen, wenn der überwiegende Bestandteil des Hautbindegewebes, das Kollagen, mit Erfolg nekrolytisch angegangen werden kann. Ein für die klinische Anwendung geeignetes Fermentpräparat sollte die folgenden Bedingungen erfüllen: • Es muß einen frühen Anwendungsbeginn erlauben und eine sowohl schonende als auch rasche Wundreinigung mit sofort transplantationsreifem Wundbett möglichst bis zum Ende der ersten Behandlungswoche gewährleisten; • es darf nur selektiv auf irreversibel geschädigte Gewebe wirken und muß für gesunde Gewebe unschädlich sein; • es muß frei sein von unerwünschten Nebenerscheinungen; • es muß ebenso wie die Abbauprodukte atoxisch sein; • es muß im leichtsauren p H der Wunde wirksam sein und darf auch durch eventuell notwendige Applikation von Antibiotika keine Wirksamkeitseinbuße erleiden. Aufgrund eigener Untersuchungen ist allein Kollagenase — mit und (besser) ohne Antibiotikazusatz — in der Lage, ohne unerwünschte Nebenwirkungen die Nekrolyse statistisch signifikant zu beschleunigen; auch die für eine klinische Anwendung bedeutsame Selektivwirkung des Kollagenase ließ sich von uns nachweisen. 6.10.2.3.2 Operative Behandlung Die chirurgische Behandlung einer Brandwunde besteht aus • der operativen Exzision der irreversibel geschädigten Gewebeabschnitte; • der plastischen Deckung des entstandenen Defektes mittels Hauttransplantation. Ziel der operativen Behandlung ist der definitive Wundverschluß zu einem möglichst frühen Zeitpunkt, um eine spätere Keloid- oder Kontrakturbildung mit Funktionseinbußen gar nicht erst eintreten zu lassen.
6.10 Therapie
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Als operative Behandlung kommen in Frage: • Entlastungsinzisionen bei tiefen zirkulären Verbrennungen an Gliedmaßen oder am Brustkorb; • die Amputation tiefverbrannter Gliedmaßen oder Gliedmaßenteile; • die chirurgische Wundreinigung durch operative Exzision irreversibel geschädigter Gewebeabschnitte; • die plastische Deckung der Brandwunden mittels Transplantaten. Entlastungsinzisionen Bei tiefen zirkulären Verbrennungen an den Extremitäten und den klinischen Zeichen für subfasziale Gewebeschäden durch Ödem, Gefäßthrombosen oder Muskelnekrosen werden längsverlaufende Entlastungsinzisionen der Haut und der Faszie angelegt und zugleich Durchblutung und Muskulatur kontrolliert. Nicht immer ist damit ein Überleben der Muskulatur gewährleistet, jedoch läßt sich für eine erforderlich werdende Amputation das Ausmaß des Schadens und die Höhe der Amputation festlegen. Bleibt eine Muskelnekrose infolge unterlassener Fasziotomie unentdeckt, kommt es innerhalb weniger Tage zu Intoxikationserscheinungen, Abszedierungen und zur nicht selten tödlichen Sepsis. Bei tiefen, zirkulären Verbrennungen des Brustkorbs sind bei mechanisch eingeschränkter Atembeweglichkeit Längsinzisionen erforderlich, die alsbald durch eine operative Entfernung der Nekrosen und plastische Deckung ergänzt werden sollen. Amputationen Verkohlungen an den Extremitäten oder ausgedehnte Muskelnekrosen müssen zum frühestmöglichen Zeitpunkt durch Amputation beseitigt werden, nachdem die Fasziotomie das Ausmaß der Schädigung und die Amputationshöhe ergeben hat. Dies soll innerhalb der ersten Tage nach dem Unfall erfolgen, wenn durch Schockbekämpfung und klinische Erstversorgung einerseits der Verletzte operabel ist, andererseits sekundäre Komplikationen (Intoxikation, Abszeß, Sepsis) noch nicht manifest geworden sind. Der Amputationsstumpf muß gut durchblutet sein, um einen sicheren Verschluß durch Primärnaht oder Transplantat zu gewährleisten. Chirurgische Wundreinigung Man unterscheidet die Sofortexzision der Brandnekrose 24 bis maximal 48 Stunden nach der Verbrennung, die Frühexzision zwischen dem 3. und 5. Tag und die Spätexzision bis spätestens zur 3. Woche nach dem Trauma. Bei allen drei Methoden ist der Wundgrund nach der Exzision nicht immer sofort transplantationsreif, so daß mitunter 1 bis 3 Tage mit der Transplantation gewartet werden muß. Die Sofortexzision wird mit vertikaler Schnittführung bei kleinflächigen tiefen Verbrennungen vorgenommen, etwa bei umschriebenen Kontaktverbrennungen oder elektrischen Verletzungen der Hand.
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6 Verbrennungen
Bei tiefen Verbrennungen größerer Ausdehnung hat sich in zunehmendem Maße die horizontale, als „Nekrektomie" bezeichnete Frühexzision der Brandnekrosen durchgesetzt. Die zwischen dem 3. und 5. Tag vorgenommene Exzision erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem einerseits der eingetretene thermische Schaden definitiv irreversibel, andererseits die Infektion noch nicht manifest geworden ist. Die Spätexzision der drittgradig geschädigten Haut nach Demarkierung in der 2. und 3. Woche wird wegen des erhöhten Risikos bei einer ausgedehnten Frühausschneidung von mehr als 1 5 % der Körperoberfläche von einigen Zentren bevorzugt. Plastische Deckung der Brandwunden Nach der chirurgischen Entfernung der Brandnekrosen kann die plastische Dekkung des Defektes mit folgenden Materialien vorgenommen werden: • • • •
Eigenhaut des Verletzten (Autotransplantate); Fremdhaut von Menschen (Homoiotransplantate); Tierhaut (Heterotransplantate); synthetische Materialien (Allotransplantate).
Die Transplantation von Haut auf einen Defekt sollte folgende Bedingungen erfüllen: • Möglichst definitive, mindestens jedoch länger dauernde Haftung des Transplantates auf dem Wundgrund; • Einschränkung der Wundsekretion und damit Minderung des Eiweiß Verlustes; • Verhütung der Infektion; • keine Behinderung der Spontanheilung; • günstiger Wundgrund auch nach Entfernung eines „biologischen" Verbandes.
Weiterführende Literatur Abdullah, W., R. Frey: A B C der Verbrennungsbehandlung. Fischer, Stuttgart-New York 1 9 7 7 Allgöwer, M., S. Siegrist: Verbrennungen. Springer, Berlin—Heidelberg—New York 1 9 8 1 Feldkamp, G., E . K o c h : Der Brandverletzte. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1 9 8 1 Koslowski, L.: Verbrennungen und Verbrühungen. In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R. Zenker, F. Deucher, W. Schink), Bd. 4 a , Beitrag 4 0 . Urban & Schwarzenberg, München—Wien—Baltimore 1 9 7 9 Muir, I . F . K . , T . L . B a r c l a y : Bums and their Treatment. Lloyd-Luke Ltd., London 1 9 6 2 Yang, Chih-chun, Hsu Wei-shia, Shih Tsi-siang (Hrsg.): Treatment of Burns. Shanghai Scientific and Technical Publ., Springer, Berlin—Heidelberg—New York 1 9 8 2 Zellweger, G.: Die Behandlung der Verbrennungen. Deutscher Ärzteverlag, Köln 1 9 8 1
7 Kälteschäden
7.1 Unterkühlung Bei einer allgemeinen Unterkühlung sinkt die Körperkerntemperatur unter 37° C. Dies kann eintreten bei niedrigen Außentemperaturen (Gebirgs- und Badeunfälle, Schiffsuntergang usw.) und/oder Immobilisation des Patienten (Schlafmittel, Alkohol), wobei Dauer, Feuchtigkeit, Luftbewegung und Kleidung mitbestimmend sind. Die zunehmende Abkühlung führt zu einem fortschreitenden Versagen der Vitalfunktionen bis zum Exitus letalis. Durch Kontraktion der Gefäße sinkt die Temperatur zunächst in der Körperschale (Haut und Unterhautfettgewebe, Muskulatur, Gliedmaßen). Zugleich versucht der Organismus, die Temperatur der Organe im Körperkern durch Muskelzittern, Tachykardie und Tachypnoe aufrecht zu erhalten. Sinkt die Kerntemperatur unter 34° C tritt Bewußtlosigkeit ein. Die Pupillen werden weit, der Puls ist kaum noch tastbar. Bei weiter sinkender Kerntemperatur auf 27° C führen die zunehmende Azidose und Hyperkaliämie zu Arrhythmien und zum Kältetod durch Kammerflimmern oder Asystolie. Die Todesfeststellung ist bei einer Hypothermie schwierig. Eine definitive Todesfeststellung ist erst nach Wiedererwärmung des Organismus möglich. „No one is dead, until warm and dead" (Mills). Ein unterkühlter Unfallpatient kann nicht für tot erklärt werden, es sei denn, er hat zusätzliche Verletzungen erlitten, die mit dem Leben unvereinbar sind. Die Therapie einer akzidentellen Hypothermie soll vor allem die Körperkerntemperatur normalisieren, ohne die überlebenswichtige Dissoziation von warmem Körperkernblut und kaltem Körperschalenblut zu stören. Aus diesem Grunde gilt die rasche Wiedererwärmung durch Anwendung eines heißen Bades über 40° C als gefährlich. Empfohlen werden Wärmepackungen nach Hibler. Mehrfach zusammengelegte Leinentücher werden schon am Unfallort mit heißem Wasser angefeuchtet und auf die Unterwäsche von Brust und Bauch (nicht auf die nackte Haut) gelegt, die Kleidung darüber belassen und der Verletzte in eine Aluminiumrettungsfolie eingewickelt oder in einen Schlafsack gelegt. Die vollständige Wärmeisolierung ist primär die wirksamste Maßnahme zur Erwärmung des Verunglückten. Hilfsweise kann auch die Körperwärme des Helfers für das Erwärmen nützlich sein. Sofern keine Bewußtseinstrübung vorliegt, soll der Verletzte heiße Zuckerlösung trinken, auf keinen Fall jedoch Alkohol. Bei einem Atemstillstand kommt am Unfallort auch die Atemspende Mund-zuNase oder Mund-zu-Tubus nach vorheriger endotrachealer Intubation infrage. Bei
102
7 Kälteschäden
einem Herzstillstand erfolgt sofort die kardiopulmonale Reanimation (Abschnitt 3.3.3). Ein peripher oder zentral venöser Zugang ist möglichst noch am Unfallort zu legen; er dient einer behutsamen Infusionstherapie sowie der frühzeitigen Azidosebekämpfung durch Blindpufferung mit N a H C 0 3 . Der Transport eines Unterkühlten muß liegend erfolgen, alle unnötigen Bewegungen (z. B. Gehen) sind zu vermeiden, da sie zum weiteren Absinken der Kerntemperatur führen. Nach der stationären Aufnahme in der Klinik wird der bereits intubierte und beatmete Patient mit angewärmten und angefeuchteten Sauerstoff maschinell weiterbeatmet. Die Messung der Körperkerntemperatur erfolgt rektal und oesophageal. Die gebräuchlichen Thermometer sind hierzu nicht geeignet, weil sie tiefe Temperaturen nicht anzeigen. Man braucht Hypothermie-Thermometer. Eine Körpertemperatur unter 30° C erfordert eine aktive Wiedererwärmung mit langsamer Infusion von körperwarmer 5%iger Glukoselösung. Bei schwerer Hypothermie kann man von einer kleinen medianen Laparotomie über weitlumige Drains eine Spülung mit Elektrolytlösungen durchführen, die auf 38° bis 40° C angewärmt wurden. Bei Hypothermie mit Kreislaufstillstand läßt sich eine thorako-mediastinale Spülung nach linksseitiger Thorakotomie durchführen, die zugleich auch eine bimanuelle offene Herzmassage ermöglicht. Nach erfolgreicher Wiedererwärmung und Reanimation gehört der Patient mit entsprechender Versorgung auf eine Intensivpflegestation. Die Temperatur wird oesophageal gemessen, der Patient erhält eine Magensonde und eine Harnblasenableitung. Laboranalysen (Blutbild, Harnstoff, Kreatinin, Blutzucker, Elektrolyte, Gerinnungsstatus, Blutgasanalyse), ständige EGK-Kontrolle. Die akzidentelle Hypothermie erfordert einen großen therapeutischen Aufwand, der jedoch wegen der meist guten Prognose gerechtfertigt ist.
7.2 Erfrierung Lokale Erfrierungen können bereits bei Temperaturen wenige Grade über dem Nullpunkt entstehen. Insbesondere an den Akren, an Nase, Ohren, Stirn oder dem männlichen Genitale bewirkt der Kältereiz eine Vasokonstriktion mit Mikrozirkulationsstörungen. Diese führen zur Hypoxie der Gewebe (Schmerzen) und zu metabolischen Veränderungen. Erfrierungen werden in 3 Grade eingeteilt: 1.Grad: Gefäßspasmus (Haut weiß, kalt, gefühllos) 2. Grad: Blasenbildung 3. Grad: Nekrose
7.2 Erfrierung
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Am Unfallort ist eine Gradeinteilung nicht immer möglich, sie ist zunächst auch entbehrlich, weil sich daraus keine Konsequenzen für die Erstbehandlung ergeben. Wichtiger ist die Klärung, ob neben der örtlichen Erfrierung eine allgemeine Unterkühlung besteht, denn diese ist in jedem Fall vorrangig zu behandeln. Therapie: Am Unfallort wird versucht, die Erfrierung durch Wärmespende des Helfers zu behandeln: Hände, Nase, Ohren, Stirn werden mit den warmen Händen bedeckt, der Verletzte unter die eigenen Kleidung an den Körper genommen. Reiben der leicht verletzlichen kalten Hautpartien oder Einreiben mit Schnee sind kontraindiziert. Sofern keine allgemeine Unterkühlung besteht, sollen die betroffenen Gliedmaßen aktiv bewegt werden. Massagen proximal der Erfrierung fördern die Durchblutung. Man läßt heiße Zuckerlösung trinken und verabreicht eine Infusion mit warmer Glukose (s. Abschn. 7.1), um eine allgemeine Erwärmung zu fördern. Beim anschließenden Transport des Verunglückten muß eine zweite Unterkühlung oder Erfrierung durch Fortsetzen der eingeleiteten Maßnahmen verhindert werden. Während der klinischen Erstbehandlung werden die bereits vorstationär eingeleiteten Maßnahmen zunächst fortgesetzt. Bei Ausschluß einer allgemeinen Unterkühlung darf die lokale Erfrierung mit einem innerhalb einer halben Stunde von 10° C auf 40° C ansteigend heißem Wasserbad unter gleichzeitiger Schmerzbekämpfung behandelt werden. Die lokalen Erfrierungen werden dann mit Salbengitterverbänden behandelt, im Demarkationsstadium mit antibiotischem Puder (z.B. Nebacetin®). Die Verbände dürfen nicht schnüren. Zur Vermeidung einer Odembildung werden die erfrorenen Gliedmaßen hochgelagert. Antibiotika zur Infektionsprophylaxe sind obligat. Außerdem wird eine Tetanusprophylaxe durchgeführt und die Nierenfunktion sorgfältig überwacht (Crush-Niere). Zur Behandlung der Mikrozirkulationsstörungen werden niedermolekulare Dextrane, gefäßerweiternde Medikamente, Sympathikusblockaden oder eine Streptokinasebehandlung empfohlen. Die Fließeigenschaften des Blutes lassen sich auch durch die Anwendung von Arwin® (gereinigte Fraktion des Giftdrüsensekrets der malaiischen Grubenotter) verbessern. Operative Debridements oder Amputationen gehören nicht in die Anfangsphase der Behandlung; zunächst wird unter konservativer Therapie die Demarkation abgewartet, was Wochen oder Monate dauern kann. Erst bei vollständig ausgebildeter Demarkationsfurche erfolgt die Amputation des mumifizierten Bezirks.
Weiterführende Literatur Neureuther, G.: Kälteschäden. Allgemeine Unterkühlung und Erfrierung. In: Chirurgie der Gegenwart, Band4 (Hrsg.: R.Zenker, F.Deucher und W.Schink). Urban & Schwarzenberg, München—Wien—Baltimore 1979
8 Elektrounfall
Elektrischer Strom fließt zwischen zwei unter Spannung stehenden Leitern nur in einem geschlossenen Stromkreis, der beim Elektrounfall durch den menschlichen Körper geschlossen wird („Körperschluß"). Die Wirkungen des elektrischen Stroms können „spezifisch-elektrischer" (Muskelkrämpfe, Elektronarkose, Herzrhythmusstörungen, Herzstillstand) oder „elektrothermischer" Natur sein. Muskelkrämpfe führen zu Muskel- und Sehnenausrissen, Luxationen und Frakturen sowie zum Atemstillstand durch Kontraktionen der Interkostal- und Diaphragmamuskulatur. Am Gehirn verursacht Gleichstrom Bewußtlosigkeit (Elektronarkose), Wechselstrom epileptiforme Krämpfe. Am Herzen kommt es beim Stromdurchfluß zu Rhythmusstörungen und Kammerflimmern mit Kreislaufstillstand. Bei den elektrothermischen Wirkungen müssen „Kontaktverbrennungen" durch direkten Kontakt und Stromdurchfluß (Joulesche Wärme) von „Lichbogenverbrennungen" durch Überspringen eines Lichtbogens unterschieden werden. Beide Einwirkungen sind etwa gleich häufig am Unfallgeschehen beteiligt, allerdings ist die Letalität bei einem Stromdurchfluß erheblich größer als bei einer Lichtbogenverletzung. Bei Hochspannungsunfällen kann es durch dichte Annäherung auch ohne Berührung des stromführenden Leiters durch Überschlag zu einem Stromübertritt kommen, der immer unter Lichtbogenbildung stattfindet. Die Schlagweite ist von der Spannung abhängig. Im Lichtbogenkern bestehen Temperaturen von 4000—10 000° C. Stets kommt es zu schweren Verbrennungen. Aber auch bei Niederspannungsunfällen treten häufig Kurzschlüsse mit Lichtbogenbildung auf, wodurch Verbrennungen vor allem an den Händen und im Gesicht entstehen. Beim Stromdurchfluß ist der Stromweg entscheidend für die Folgen auf den Organismus. Dabei weist die Querdurchströmung des menschlichen Körpers eine geringere Letalität auf als die Längsdurchströmung. Da auch bei einem Elektrounfall der elektrische Strom dem Ohmschen Gesetz folgt, ist der Widerstand der menschlichen Haut und des Körpers eine entscheidend wichtige Größe. Schwielige Haut hat einen großen Widerstand (etwa 1 0 0 0 0 Ohm), feuchte dünne Haut einen kleinen (etwa 1 0 0 - 1 0 0 0 Ohm). Der Körperwiderstand entspricht weitgehend dem Widerstand der Muskulatur und liegt bei 1000 Ohm: Die bei einem Stromdurchfluß entstehende Wärme ist von der Stromstärke (I), dem Widerstand (R), der Einwirkungszeit (t) abhängig: W = I 2 R t . Zwar unterscheidet man Niederspannungsunfälle (bis 1000 Volt) von Hochspannungsunfällen (1 k V - 3 8 0 kV), dennoch kann daraus allein nicht auf den Gefähr-
8 Elektrounfall
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dungsgrad geschlossen werden. Die größte elektrische Felddichte besteht an den Ein- und Austrittsstellen des Stroms. Hier kann es bei Niederspannungsunfällen zu kleinflächigen, graugelben Kleinstverbrennungen der Haut kommen, die als „Strommarken" bezeichnet werden. Hochspannungsunfälle mit Stromdurchfluß führen stets auch zu ausgedehnten Verbrennungen, insbesondere an der Muskulatur, die für den Strom ein idealer Leiter ist. Das Ausmaß dieser tief im Körper eintretenden Verbrennungen ist in den ersten Tagen nach dem Unfall schwer abschätzbar. Beim Blitztrauma (Letalität 4 0 % ) handelt es sich um einen Gleichstromlichtbogen mit 25 bis 50 Millionen Volt Spannung und mehreren tausend Ampere Stromstärke bei hohen Temperaturen. Der Hauptteil des Stroms fließt über die Außenseite des Körpers ab, wo er Verbrennungen und charakteristische Blitzfiguren verursacht. Trotz der kurzen Einwirkungsdauer von nur wenigen Mikrosekunden führt der Körperdurchfluß der restlichen Strommenge zu den oben beschriebenen Verletzungsfolgen mit oft tödlichem Ausgang. Maßnahmen am Unfallort • Stromkreis unterbrechen (Strom abschalten, Verletzten wegdrücken; bei Hochspannungsunfall nur durch Fachmann); • Vitalfunktionen prüfen; • Stabile Seitenlage bei Bewußtlosigkeit mit erhaltener Eigenatmung; • Kardio-pulmonale Reanimation bei Kreislaufstillstand; • Versorgung von Begleitverletzungen (Verbrennungen, Wunden, Knochenbrüche); • Analgetika und Sedativa bei Bedarf (über venösen Zugang). Maßnahmen im Krankenhaus • • • •
Fortführen der eingeleiteten Maßnahmen; EKG-Monitoring; Therapie der elektrothermischen Schäden; Diagnostik und Versorgung von Begleitverletzungen.
Weiterführende Literatur Brinkmann, K., H. Schaefer (Hrsg.): Der Elektrounfall. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1981
9 Wasserunfall
Beim primären Ertrinken durch Verlegung des Rachenraumes mit Wasser kommt es kurz nach dem Untertauchen zu einem reflektorischen Laryngospasmus, der gelegentlich direkt zu einem hypoxämischen Herzstillstand führt („trockenes Ertrinken"). Meist jedoch tritt mit zunehmender Bewußtlosigkeit ein Erschlaffen der Stimmbänder ein, so daß Wasser in die Atemwege eindringen kann („feuchtes Ertrinken"). Hypotones Süßwasser geht durch Osmose sehr rasch und in größeren Mengen über die Alveolen in den Kreislauf, wo es zu einer Hämolyse und Hypervolämie, zur Hyperkaliämie und durch Verdünnung zur Hyponatriämie führt. Hypertones Salzwasser läßt Wasser und Eiweiße aus dem Kreislauf in die Alveolen übertreten, wodurch es zum Lungenödem und zur Hypovolämie, zur Hypernatriämie und Hyperkaliämie kommt. Sowohl beim Süß- wie beim Salzwasserunfall führen Hypoxie und Hyperkaliämie zum Tod durch Herzkammerflimmern. Präfinales Erbrechen von verschlucktem Wasser bedingt die Aspiration von saurem Mageninhalt im Bronchialbaum. Die Behandlung des ertrinkenden Patienten beginnt unmittelbar nach Rettung aus dem Wasser, sobald der Retter festen Boden unter den Füßen hat. Erste Maßnahme ist die Atemspende, welche sobald wie möglich von einer intermittierenden Überdruckbeatmung mit 100% Sauerstoff nach Intubation abgelöst wird. Beim Kreislaufstillstand erfolgt sofortige kardiopulmonale Reanimation. Über einen venösen Zugang wird mit der Schockbekämpfung noch am Unfallort begonnen. Auch bei Unterwasserzeiten von 30 Minuten kann eine Wiederbelebung erfolgreich sein, wenn das Ertrinkungsopfer im kalten Wasser gelegen hat. Maßnahmen beim Ertrinkungsunfall • Atemspende (sofort nach Rettung, noch im Wasser); • Wasser aus den oberen Atemwegen kurz entfernen; • Intubation (cave bei Verdacht auf HWS-Verletzung), Absaugen; • Sauerstoffüberdruckbeatmung mit PEEP; • externe Herzmassage bei Kreislaufstillstand; • venösen Zugang herstellen; • Infusion von Dextran® 40 oder Humanalbumin® 5% 100 ml; • hypertone NaCl-Lösung (10 mval) bei Süßwasserunfall; • forcierte Diurese mit Furosemid (Lasix®) 10 mg i.V.; • Magensonde legen;
9 Wasserunfall
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• Blasenkatheter legen; • EKG-Monitoring; • stationäre Aufnahme. Die Weiterbehandlung und Überwachung des Patienten soll in den ersten 48 Stunden nach dem Unfall auf einer Intensivstation erfolgen, weil es auch bei einer zunächst erfolgreichen Wiederbelebung und selbst bei Fehlen von Beschwerden noch Stunden nach dem Unfall zu einem „sekundären Ertrinken" durch aspirationsbedingte Lungenveränderungen mit schwerem Lungenödem kommen kann.
10 Prellungen, Zerrungen, Bänderrisse, Blutergüsse
10.1 Prellung Die Prellung (Kontusion) eines Körperteiles kommt bei direkter Gewalteinwirkung zustande. Die Haut bleibt in der Regel unversehrt, die betroffene Region schmerzt spontan und auf Druck, ihre Umgebung ist manchmal geschwollen. Ist ein Gelenk oder seine unmittelbare Umgebung betroffen, so ist dessen Beweglichkeit eingeschränkt. Es gibt alle Übergänge von einer leichten Prellung, die in einem oder in mehreren Tagen wieder restlos zurückgebildet ist, bis zu den schweren Formen, die von Knochenbrüchen klinisch kaum zu unterscheiden sind und die zum Beispiel am Fuß zu starken Schwellungen, Gehunvermögen und Bewegungseinschränkungen führen. Die Prellung heilt ohne erkennbare Folgen ab, falls nicht durch falsche krankengymnastische Maßnahmen, wie etwa Massagen, zusätzliche und manchmal bleibende Schäden gesetzt werden. Die Behandlung leichter Prellungen besteht in Hochlagern, kühlenden Umschlägen und Anlegen elastischer Binden; in schweren Fällen ist die Hochlagerung und Ruhigstellung im Gipsverband das Mittel der Wahl.
10.2 Zerrung Die Zerrung (Distorsion) entsteht bei indirekter Gewalteinwirkung und sitzt gewöhnlich im Bereich eines Gelenkes. Daneben gibt es Muskel- und Sehnenzerrungen. Biomechanisch kommt es zu einer vorübergehenden Dehnung des Gelenkapparates, nicht selten verbunden mit einem extra- und intraartikulären Bluterguß. Klinisch bestehen Spontan-, Bewegungs- und Druckschmerz sowie eine Schwellung und Bewegungseinschränkungen des Gelenks. Die Gelenkfestigkeit hat nicht gelitten. Die Behandlung entspricht der bei einer Prellung.
10.3 Bänderriß Bei einem Bänderriß, der ebenfalls durch eine indirekte Gewalteinwirkung entsteht, ist im Gegensatz zur Distorsion die Gelenkstabilität immer beeinträchtigt. Bei sonst gleicher klinischer Symptomatik ist das Gelenk locker und „aufklappbar", was sich
10.4 Bluterguß
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radiologisch mit Hilfe der „gehaltenen Aufnahme" (s. Abschn. 15.3.6) dokumentieren und objektivieren läßt. Die Behandlung besteht meist in der operativen Naht des gerissenen Bandes, bei leichteren Teileinrissen kann gelegentlich eine längere Ruhigstellung im Gipsverband gewählt werden.
10.4 Bluterguß Zum Bluterguß (Hämatom) kann es an jeder Körperstelle kommen, wenn bei einer direkten oder indirekten Gewalteinwirkung Blut aus verletzten Gefäßen in das Gewebe fließt. Die Menge des ausgetretenen Blutes hängt von der Art und Schwere sowie der Lokalisation der Verletzung ab und kann selbst bei Blutungen in Gliedmaßenweichteile zu einer lebensbedrohlichen Hypovolämie führen. Erfolgt die Blutung in ein Gelenk, so spricht man von einem Hämarthros. Klinisch bestehen bei einem Bluterguß Schwellungen, Druck- und häufig Spontanschmerzen, eventuell Bewegungseinschränkungen eines oder beider benachbarter Gelenke. Nach einigen Tagen färbt sich die Haut über dem Hämatom blau, später grün, dann gelb, bis die Verfärbung schließlich verschwindet. Diese Farbänderungen fehlen bei einem Gelenkerguß, der dafür eine Beteiligung des Gelenkes im Sinne der Bewegungseinschränkung, am Kniegelenk auch das Ballotement, zeigt. Im Röntgenbild lassen sich Hämatome nicht nachweisen, nur bei sehr starken Gelenkergüssen ist der Gelenkspalt verbreitert. Die Behandlung erfolgt meist konservativ, gelegentlich durch Punktion (in den ersten 2 Tagen nach dem Unfall besteht eine Nachblutungsgefahr bei Punktion), ganz selten ist bei sehr ausgedehnten Hämatomen wegen Druckschädigung oder fehlender Resorptionsneigung die operative Ausräumung angezeigt. Die Massage von Blutergüssen ist ohne Sinn, sie ist sogar falsch, weil gelegentlich Spätkomplikationen (Ossifikationen) nach Massagen beobachtet werden.
11 Knochenbrüche
Knochenbrüche sind Kontinuitätsunterbrechungen eines Skelettelements. Sie entstehen • nach schweren Traumen; • nach Dauerbelastung (Ermüdungsbrüche); • spontan nach kleinen Traumen (pathologische Fraktur) durch direkte oder indirekte Gewalteinwirkung. Nach dem Verlauf der Bruchlinien unterscheidet man (Abb. 11/1): • Querbrüche; • • • • • •
Biegungsbrüche; Schrägbrüche; Spiralbrüche; Stückbrüche; Trümmerbrüche; Stauchungsbrüche.
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Abb. 11/1 Einteilung von Knochenbrüchen nach dem Verlauf der Bruchlinien. a) Querbruch; b) Biegungsbruch; c) Schrägbruch; d) Spiralbruch; e) Stückbruch; f) Trümmerbruch.
Außerdem kennen wir Knochenabrisse an Bänder- und Sehnenansätzen (z. B. Olekranonfraktur, Trochanterabriß). Bei den meisten Frakturen kommt es zu Verschiebungen der Bruchstücke
11.2 Komplikationen
111
• primär durch die Gewalteinwirkung, • sekundär durch den Muskelzug. Ein Knochenbruch kann sein geschlossen, wenn die Haut darüber geschlossen bleibt, offen, wenn die Haut verletzt ist und das Frakturhämatom mit der Außenwelt Verbindung hat.
11.1 Knochenbruchzeichen Sichere Zeichen: • Fehlstellung • abnorme Beweglichkeit • Krepitation • sichtbare Fragmente (bei offenen Brüchen) Unsichere Zeichen: • Schmerzen • Schwellung • Functio laesa Zur Diagnose eines Knochenbruchs gehört vor dem Röntgenbild die klinische Untersuchung. Die genannten Frakturzeichen dürfen nur behutsam geprüft werden, um dem Patienten unnötige Schmerzen zu ersparen und iatrogen durch diagnostische Manipulationen verursachte Schäden zu vermeiden. Bei Weichteil-Interpositionen läßt sich durch den fehlenden Knochenkontakt eine Krepitation nicht auslösen. Deformität durch Verschiebung der Bruchenden (Abb. 11/2): • zur Seite - dislocado ad latus; • mit Achsenknickung — dislocado ad axim; • mit Verkürzung oder mit Distraktion in Längsrichtung — dislocado ad longitudinem; • mit Rotation — dislocado ad peripheriam.
11.2 Komplikationen • Verletzungen der Arterien durch Zerreißung oder Kompression: Bei jedem Knochenbruch an den Gliedmaßen periphere Pulse prüfen. • Verletzung von Nerven durch Zerreißung oder Kompression: Bei jedem Knochenbruch an den Gliedmaßen Sensiblität und Motilität von Fingern oder Zehen prüfen.
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11 Knochenbrüche
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Abb. 11/2 Deformierung des Knochens durch Verschiebung der Bruchenden. a) Dislocatio ad latus; b) Dislocatio ad axim; c/1) Dislocatio ad longitudinem cum contractione; c/2) Dislocatio ad longitudinem cum distractione; d) Dislocatio ad longitudinem cum impressione; e) Dislocatio ad peripheriam.
• Gelenkbrüche, bei denen die Bruchflächen in ein Gelenk verlaufen. • Verletzungen von inneren Organen durch die Bruchenden (z.B. Lungenverletzungen bei Rippenbrüchen; Harnröhren- oder Harnblasenverletzungen bei Bekkenbrüchen). • Offene Knochenbrüche zeigen über der Bruchstelle Hautwunden, die mit dem Frakturhämatom in Verbindung stehen. Darum sind offene Brüche stark infektionsgefährdet, wodurch Störungen der Wundheilung eintreten und eine Osteomyelitis entstehen kann. Bei offenen Knochenbrüchen ist die Knochenbruchheilung sehr oft verzögert. Prognose und Therapie der offenen Fraktur sind vornehmlich bestimmt vom Ausmaß der Weichteilschädigung. Einteilung nach Schweregraden: Schweregrad I Durchspießung der Haut von innen nach außen durch ein Knochenfragment mit umschriebener Hautverletzung. Schweregrad II Kontusion der Haut und der darunter liegenden Weichteile von außen nach innen. Schweregrad III Ausgedehnte Weichteilzerstörungen durch äußere Gewalteinwirkung unter Mitverletzung von Gefäßen, Nerven oder Nervenmuskelgruppen.
11.5 Pathologische Frakturen
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11.3 Häufig übersehene Brüche Einige Frakturen werden häufig übersehen, weil sie keine grob sichtbare Deformität zeigen und zudem relativ schmerzfrei sind: Wirbelkörperbrüche Schenkelhalsbrüche Hüftverrenkungsbrüche (zentrale und hintere) Fersenbeinbrüche Kahnbeinbrüche der Hand Bei jedem Verletzten an „häufig übersehene Knochenbrüche" denken und entsprechende Röntgenuntersuchungen veranlassen. Nicht alle frischen Knochenverletzungen sind bei der ersten Röntgenuntersuchung nachweisbar. Dann muß innerhalb einer Woche eine Röntgenkontrolle durchgeführt werden, weil nach einigen Tagen durch Umbauvorgänge im Bruchspalt Frakturen darstellbar werden. Ambulant zu behandelnde Patienten sollten darauf hingewiesen werden.
11.4 Ermüdungsbrüche entstehen durch langdauernde oder immer wiederkehrende und meist ungewohnte Beanspruchung eines Knochens, z.B.: • Marschfrakturen des 2. oder 3. Mittelfußknochens; • Dornfortsatzbrüche des 6. Hals- bis 2. Brustwirbels (historisch als „Schipperkrankheit" bezeichnet: durch ungewohnte Schaufelarbeiten beim Bau der Reichsautobahn verursacht).
11.5 Pathologische Frakturen entstehen meist ohne eigentliches Trauma durch banale Bewegungen („Bagatelltrauma") an Stellen verminderter Festigkeit des Knochens, z. B. bei Knochenzysten, Knochenmetastasen eines Karzinoms, M . Recklinghausen, Osteogenesis imperfecta, Rachitis, Osteomalazie. Pathologische Frakturen sollen zur Schmerzlinderung und Erleichterung der psychischen und pflegerischen Situation möglichst operativ durch Osteosyntheseverfahren behandelt werden, sofern der Allgemeinzustand des Patienten eine Überlebenschance von mindestens einigen Wochen erwarten läßt und die Knochenstruktur distal und proximal der Fraktur eine stabile Osteosynthese gewährleistet. Eine ergänzende Strahlenbehandlung wird bei Strahlensensibilität des Knochentumors (Histologie?) empfohlen.
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11 Knochenbrüche
11.6 Behandlung von Knochenbrüchen Ziel jeder Knochenbruchbehandlung ist es, unter Vermeidung von weiteren Schäden - insbesondere an den Weichteilen - bereits kurz nach dem Unfall die Knochenfragmente anatomisch gerecht zu reponieren und möglichst so zu vereinigen, daß so schnell wie möglich eine Belastungsstabilität erreicht wird. Gelenke und Muskeln sollen in kürzester Zeit wieder schmerzfrei bewegt und belastet werden können. Dieses Ziel läßt sich je nach Fraktur, Lebensalter, Mitverletzung und Risiken durch die konservative oder operative Knochenbruchbehandlung erreichen.
11.6.1 Behandlung am Unfallort Am Unfallort gilt der Grundsatz: Störungen der Vitalfunktionen Atmung und Kreislauf rangieren vor Knochenfrakturen. Brüche großer Gliedmaßenknochen werden vor dem Transport geschient. Als Schienenmaterial eignen sich am besten pneumatische Schienen; als sehr geeignet hat sich auch die Vakuummatratze erwiesen. Vor der Schienung wird eine eventuelle Abknickung der Gliedmaße durch Zug am verletzten Gliedabschnitt vorsichtig gerichtet. Bei offenen Knochenbrüchen werden vor der Schienung die Wunden mit einem sterilen Notverband, der mit einem gewebeverträglichen Desinfektionsmittel (PVPJod) durchtränkt werden kann, abgedeckt. Dieser Notverband wird erst im Operationssaal unter sterilen Bedingungen wieder entfernt. Herausragende Knochenstücke dürfen unbedenklich reponiert werden, zumal die notwendige Ruhigstellung im Schienenverband nur in einem hinreichend reponierten Zustand der Gliedmaße ordnungsgemäß erfolgen kann. Bei vorsichtiger Reposition ist die Gefahr, zusätzliche Weichteilschäden zu verursachen, ungleich geringer als die Gefahr weiterer Schäden an Haut, Gefäßen und Nerven durch Druck der Fragmente und einer Ausbreitung des Frakturhämatoms. Die Druckentlastung der Weichteile hat Vorrang vor einer möglichen Verschleppung von Gelegenheitskeimen in die Wunde.
11.6 Behandlung von Knochenbrüchen
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1 1 . 6 . 2 Konservative Knochenbruchbehandlung Grundsätze nach L. Böhler Einrichten Bei jedem Knochenbruch müssen die verschobenen Bruchstücke genau eingerichtet werden. Ruhigstellen Die eingerichteten Bruchstücke müssen (bei sorgfältiger Beobachtung des Blutumlaufs) so lange ununterbrochen in guter Stellung festgehalten werden, bis sie knöchern miteinander verheilt sind. Üben Während der notwendigen Dauer der Ruhigstellung der gut eingerichteten Bruchstücke müssen möglichst viele oder alle (nicht durch den Gipsverband ruhiggestellten) Gelenke des verletzten Gliedes und des ganzen Körpers unter Vermeidung von Schmerzen selbsttätig bewegt werden, um Störungen des Blutumlaufs, den Schwund der Muskeln und (des Kalkgehaltes) des Knochens sowie Einschränkungen der Beweglichkeit der Gelenke zu vermeiden (funktionelle Bewegungsbehandlung).
11.6.2.1 Einrichten Das Einrichten (Reposition) eines Knochenbruchs soll nach der Diagnosestellung so bald als möglich erfolgen, soweit der Zustand des Verletzten dies erlaubt. Unaufschiebbar ist die Reposition, wenn die Weichteile (Gefäße, Nerven, Haut) durch Druck der Bruchstücke gefährdet sind. Die Reposition erfolgt unter Zug und Gegenzug nach dem alten Grundsatz, daß „der körperferne Bruchabschnitt dorthin gebracht wird, wohin der körpernahe weist". Durch Zug und Gegenzug werden Verdrehung, Verkürzung und der größte Teil der Achsenknickung ausgeglichen, die restliche Parallelverschiebung durch Zurechtdrücken. Bei manchen Knochenbrüchen ist ein einmaliger Zug, bei anderen ein Dauerzug notwendig. Das Einrichten wird durch die Verwendung eines Bildwandlers wesentlich erleichtert. Nach dem Einrichten und Anlegen eines ruhigstellenden Verbandes ist unbedingt eine Röntgenkontrolle zu machen, um die durch die Reposition erzielte Stellung der Fragmente zu kontrollieren und zu dokumentieren. Stellt sich trotz idealer Einrichtung eine sekundäre Achsenknickung ein, so muß diese ausgeglichen werden, falls sie über 10° beträgt. Dies geschieht durch Umgipsen oder durch „Keilen" des Gipsverbandes. Bleibt eine Achsenknickung bestehen, so kann diese an der unteren Extremität zu einer posttraumatischen Osteoarthrose des distal gelegenen Gelenkes - Knie, oberes oder unteres Sprunggelenk - führen.
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11 Knochenbrüche
11.6.2.2 Ruhigstellen Die Ruhigstellung (Retention) des eingerichteten Knochenbruchs erfolgt bei der Knochenbruchbehandlung in • Extensionsverbänden, • erhärtenden Verbänden. Extensionsverbände Die Extension wird über einen Heftpflasterverband, einen Steinmann-Nagel oder einen Kirschnerdraht angelegt. Steinmann-Nagel oder Kirschnerdraht werden in Lokalanästhesie nach sorgfältiger Reinigung, Rasur und Desinfektion der Hautstelle unter aseptischen Bedingungen perkutan durch den Knochen geschlagen bzw. eingebohrt. Über die Nagel- oder Drahtenden werden sterile Mullplatten gelegt; Filzplatten und Begrenzungsscheiben verhindern ein Verrutschen des Drahtes. Der Kirschnerdraht muß mit dem Spannbügel gespannt werden, weil sonst der Zug den Draht so stark biegt, daß dadurch die Haut geschädigt wird. Beim Anlegen eines Extensionsverbandes muß peinlich genau darauf geachtet werden, daß Nagel oder Bohrdraht die Gelenke, Sehnen und Nerven nicht beschädigen. Die Extensionen müssen in der Längsachse des verletzten Gliedabschnittes ziehen. Erhärtende Verbände Der Gipsverband Die meisten konservativ zu behandelnden Brüche lassen sich durch Gipsverbände entweder allein oder in Kombination mit Schienenverbänden und Extensionsverbänden sicher ruhigstellen. Allen Gipsprodukten liegt das in der Natur vorkommende Gipsgestein zugrunde, dem nach Zerkleinerung und Reinigung durch Brennen Wasser entzogen wird. So entsteht ein hygroskopisches Gipspulver, das durch Aufnahme von Wasser und sogar durch Einfluß von Luftfeuchte in die ursprünglich kristalline Form zurückgeführt wird. Dieses Erhärten des Gipses geschieht unter Freisetzung von Wärme. Je nach Brennvorgang sind verschiedene Gipsformen zu erhalten. Sie zeigen bei der Rückwandlung unterschiedliche Verhalten. Manche Gipse benötigen weniger Wasser zur Rekonstitution und ergeben infolge geringerer Wasseraufnahme zur Rekonstitution früh belastbare und nach dem Austrocknen festere Verbände. Durch Mischen der verschiedenen Gipstypen sind graduelle Unterschiede zwischen Produkten verschiedener Hersteller möglich. Gipsbinden zur externen Immobilisation von Gliedmaßen werden durch Aufbringen des gebrannten und gemahlenen Gipses auf Baumwollträgergewebe hergestellt. Geschieht dies ohne eine fixierende Bindung zum Gewebe, spricht man von „gestreuten" Binden. Bei modernen Gipsbinden ist der Gips mit einem Klebemittel auf der Binde „fixiert". Die Klebemittel ermöglichen eine leichte Wasseraufnahme des Gipses, wobei ein modellierfähiger Gipsbrei entsteht. Fixierte Gipsbinden können darüber hinaus noch Kunstharzzusätze enthalten, welche die Festigkeit des ausge-
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härteten Gipsverbandes erhöhen und seine Wasserfestigkeit verbessern. Durch Tauchen der Gipsbinde in Wasser wird der Gips in seine ursprüngliche kristalline Form zurückgeführt. Warmes Wasser beschleunigt, kaltes Wasser verlangsamt die Abbinde-Reaktion. Die Wassertemperatur soll etwa 20° C betragen, bei Temperaturen des Tauchwassers über 30° C kann die Temperaturentwicklung des Abbindeprozesses so steigen, daß beim Patienten Verbrennungen auftreten. Gestreute Binden benötigen Tauchzeiten von 1 bis 2 Minuten und binden in 8 bis 12 Minuten ab. Schnell-Gipsbinden werden 2 bis 3 Sekunden getaucht und binden innerhalb von 5 bis 6 Minuten ab. Die für die Verarbeitung interessante „offene Zeit", in welcher der Gipsverband modellierfähig ist, beträgt bei gestreuten Binden 4 bis 6 Minuten, bei Schnell-Gipsbinden 2 bis 3 Minuten. Erst nach einer Austrocknungs- und Erhärtungszeit zwischen 24 und 48 Stunden erreichen Gipsverbände ihre endgültige Härte und Festigkeit. Wegen ihrer hygroskopischen Eigenschaften haben Gipsbinden bzw. Gipslonguetten nur eine begrenzte Lagerzeit, gestreute Binden von 4 bis 6 Monaten, fixierte von 1 bis 2 Jahren. Regeln für das Anlegen von Gipsverbänden (modifiziert nach Erhalt) • Gipsschienen und Gipsbinden müssen gut feucht sein, so daß sie dem Körperabschnitt gut anmodelliert werden können. • Nie rein zirkuläre Gipsverbände machen, zuerst immer eine Gipsschiene (meist an der Streckseite) anlegen und dann mit zirkulären Gipsbinden befestigen. • Die zirkulären Binden dürfen nur abgerollte, nie gezogen werden. • Gipsverbände immer mit der flachen Hand anmodellieren, niemals umschriebenen Druck ausüben (Drucknekrosen der Haut). • Beim Spalten eines Gipsverbandes muß dieser unbedingt vollkommen, bis auf die Haut gespalten werden, das Stehenbleiben auch nur eines einzigen Fadens kann zur Gangrän des Gliedes führen. • Bei Gipsverbänden nach dem Einrichten frischer Knochenbrüche ist in den ersten 24 Stunden der Blutumlauf genauestens zu überwachen (Farbe, Schwellung, Beweglichkeit, Gefühl in den Fingern oder Zehen). Der Verletzte muß innerhalb dieser Zeit in erreichbarer Nähe des Arztes bleiben. • Tritt im Gipsverband eine Störung des Blutumlaufs auf (starke Schmerzen, Blauwerden oder Ameisenkribbeln von Fingern und Zehen), so muß der Gipsverband sofort bis auf die Haut gespalten und aufgebogen werden. • Bei Schmerzen an umschriebenen Stellen Gips spalten oder an dieser Stelle fenstern. Im Gips hat der Patient immer recht! • Gipsverband immer beschriften: Datum des Unfalls; Datum der Reposition; Zeichnung der Fragmente; Datum der Röntgen-Kontrollen; Datum der Gipsabnahme.
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11 Knochenbrüche
Gipsverbände werden als zirkulärer Gips oder Gipsschienenverband ausgeführt, entweder gepolstert oder ungepolstert. Frische Knochenverletzungen werden wegen der stets vorhandenen Weichteilschwellung in einem gepolsterten Gipsverband ruhiggestellt. Als Polstermantel wird Watte oder Zellstoff benutzt. Besteht keine Schwellneigung mehr, so eignet sich zum Halten der Fragmente sowie auch für Gehgipsverbände besser der ungepolsterte Gipsverband. Dieser wird jedoch an seinen Rändern sowie an den Stellen von Knochenvorsprüngen (Fußknöchel, Fibulaköpfchen, Handknöchel, Ellbogen) zum Schutz von Haut und Nerven (Peronaeus) gepolstert (z.B. mit Schaumstoff).
Der Kunststoffverband deltacast® Hersteller: Bayer AG, Leverkusen Vertrieb: Johnson & Johnson, Norderstedt deltacast® besteht aus einem mit polyurethanharz-getränkten Gewebe. Anlegen und Abnahme erfolgen nach den beschriebenen Regeln der Gipstechnik mit den üblichen Werkzeugen. Schon nach 5 bis 10 Minuten ist deltacast® ausgehärtet. Nach 30 Minuten erreicht er seine Endfestigkeit, deltacast®-Verbände brechen nicht, sie sind luftdurchlässig, absolut wasserfest und abwaschbar, offenporig und vollständig röntgendurchlässig. Im Gewicht 7 0 % leichter als herkömmliche Gipsverbände, deltacast® ist 6 Monate lang lagerfähig. Neofrakt® Hersteller: BASF, Ludwigshafen Vertrieb: Schumacher, Krefeld Das von Prof. Dr. med. A. Blömer, Gladbeck, und der BASF entwickelte Neofrakt ist ein 2-Komponenten-poly-urethan-Schaum-System, welches durch Verrühren der farbkodierten Komponenten kurz vor der Anwendung mit Rührwerken hergestellt wird. Das Gemisch wird in Baumwoll-Strickschläuche verschiedener Abmessungen eingefüllt und auf die gewünschte Schichtstärke ausgewalzt. Die so gefüllten Schläuche und Strümpfe werden anmodelliert. Das Material härtet zu einem Hartschaum aus. Das System eignet sich besonders für Liegeschalen, Abduktionsverbände und Rumpfkorsetts, aber auch für handchirurgische Spezialschienen, Tutoren und orthopädische Entlastungsapparate. Die Aushärtereaktion des bei Neofrakt verwendeten Polyurethanschaums ist exotherm; es sind — wie beim Gips — maximal Temperaturen an der Oberfläche bis 50° C, im Inneren der Verbände bis zu 80° C möglich. Die Verarbeitungszeit nach Rühren und Eingießen der Komponenten beträgt 1 bis 2 Minuten, die Aushärtezeit dauert 30 Minuten. Neofrakt ist
11.6 Behandlung von Knochenbrüchen
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besonders leicht, wasserunempfindlich und sehr gut durchlässig für Röntgenstrahlen. Das für die Verarbeitung als Einzelkomponente eingesetzte Isocyanat ist zwar in flüchtiger Form toxisch, jedoch werden die dazu erforderlichen Temperaturen von 120° C nicht erreicht, so daß keine besonderen Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen. Die Lagerfähigkeit für Neofrakt in Einzelkomponenten beträgt mehr als 1 Jahr.
11.6.2.3 Üben Das Üben des verletzten Gliedes und des gesamten Körpers beginnt bereits während der notwendigen Ruhigstellung des gebrochenen Körperabschnittes. Diese Nachbehandlung darf niemals Schmerzen verursachen (Sudeckgefahr), sie vermeidet jede passive krankengymnastische Maßnahme und besteht vornehmlich in einer selbsttätigen Bewegungsübung durch möglichst normalen Gebrauch aller nicht ruhiggestellten Gelenke. Auch nach der Entfernung ruhigstellender Verbände sind gewaltsame Bewegungsübungen und meist auch Massagen schädlich. Nützlich sind wiederum selbsttätige Bewegungsübungen, Widerstandsbewegungen und Wärmeanwendungen jeder Art (Bäder, Umschläge, Packungen, Bestrahlungen). Frühzeitig aktive und funktionelle Bewegungsübungen kräftigen die Muskulatur, auch des ruhiggestellten Gliedabschnittes und verbessern die Zirkulation, vermeiden die Schwellneigung durch Ödembildung, erhalten die Gelenkbeweglichkeit und beugen einer Knochenentkalkung vor. Massagen sind dagegen oft überflüssig und gelegentlich sogar schädlich.
11.6.3 Operative Knochenbruchbehandlung Die operative Knochenbruchbehandlung will durch blutige Reposition und Fixation der Knochenfragmente in idealer Stellung den gebrochenen Knochen so stabilisieren, daß er bei voller Beweglichkeit des Gliedes „belastungsstabil" oder zumindest „übungsstabil" wird. Durch die unmittelbar nach der Operation beginnende krankengymnastische Nachbehandlung werden Muskel- und Skelettatrophien, Gelenkversteifungen und Zirkulationsstörungen (Thromboemboliegefahr) weitgehend vermieden. Darüber hinaus erleichtert die operative Osteosynthese die pflegerischen Maßnahmen beim Polytraumatisierten (s. Abschn. 14) und bei pathologischen Frakturen (s. Abschn. 11.5). Nachteilig ist die erforderliche Zweitoperation zur Materialentfernung nach der knöchernen Konsolidierung sowie die Gefahr einer Infektion des operierten Knochens. In Ausnahmefällen muß man sich mit einer adaptierenden Osteosynthese begnügen, wobei die zuvor exakt reponierte Fraktur mit Hilfe von Bohrdrähten, Cercla-
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11 Knochenbrüche
gen oder Rushpins möglichst so fixiert wird, daß bei zusätzlichem Gipsverband eine grobe Dislokation verhindert wird. Bei der korrekt durchgeführten stabilen Osteosynthese mit interfragmentärer Kompression und mechanisch neutralisierter Fraktur erfolgt die Knochenbruchheilung durch direkte Wiederherstellung der Knochenstruktur ohne Kallusbildung (primäre Bruchheilung). Dies ist besonders bei der Beurteilung von Röntgenkontrollen nach Verschraubung, Verplattung oder Anwendung des Fixateur externe zu berücksichtigen. Die operative Versorgung geschlossener und offener Knochenbrüche hat - bei entsprechender Indikation — unter Notfallbedingungen, d. h. sofort nach der Diagnosestellung und noch vor Ausbildung der posttraumatischen Schwellung zu erfolgen, spätestens in 6 bis 8 Stunden. Ist dies nicht möglich, so muß bis zum Rückgang der Schwellung gewartet und erst zwischen dem 4. und 8. Tag nach dem Unfall operiert werden. Bei Hautschäden durch Wunden oder Spannungsblasen muß deren Heilung unter Ruhigstellung und konservativer Behandlung abgewartet werden, bevor operative Maßnahmen möglich sind. In jedem Fall muß ein Knochenbruch, der operativ versorgt werden soll, der jedoch aus unterschiedlichen Gründen primär nicht operiert werden kann, bis zum Zeitpunkt der Operation immer absolut korrekt konservativ behandelt werden. Die Operation erfolgt in einem aseptischen Operationssaal nach streng aseptischen Regeln. Sie wird nach den Grundsätzen des atraumatischen Operierens (s. Abschn. 5.7.3.) unter Schonung des Knochens und der Weichteile vorgenommen. Fragmente und Implantate müssen von Gewebe bedeckt sein, die Wundränder müssen spannungsfrei genäht werden. Die Indikationsstellung ist von den technischen Einrichtungen und persönlichen Kenntnissen und Erfahrungen des Operateurs ebenso abhängig wie vom Lebensalter des Patienten, der Art und Lokalisation der knöchernen Verletzung. Stets sollte man sich fragen, ob nicht gleichgute anatomische und funktionelle Behandlungsergebnisse mit konservativen Mitteln zu erreichen sind. „Jede gute konservative Behandlung ist einer schlechten Osteosynthese überlegen" (J. Rehn). Beim Kind überwiegt die konservative Behandlung (s. Abschn. 29). 11.6.3.1 Verfahren der Osteosynthese Schrauben Die alleinige Osteosynthese durch Schrauben nach Bohren des Schraubenkanals und Schneiden des Gewindes ist möglich mit Kortikalisschrauben, die zur besseren Kompression auch als Zugschrauben verwendet werden, oder mit Spongiosaschrauben, deren Gewinde jenseits der Bruchlinie im spongiösen Knochen so fassen sollen, daß die Bruchflächen lückenlos aufeinander gepreßt werden.
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Indikationen: Epi- und metaphysäre Schaftbrüche; Fibulaschrägfrakturen oberhalb der Syndesmose; Innenknöchelfrakturen; mediale Schenkelhalsfrakturen; Navikularef rakturen; knöcherne Ausrisse von Sehnenansätzen. Platten Gerade Platten, die mit Hilfe eines temporär anzusetzenden Spanners oder durch ovale Löcher als selbstspannende Platten verwendet werden, lassen sich nach dem Prinzip der Zuggurtung, der Neutralisation oder der Abstützung einsetzen. Die Platten werden mit Schrauben am Knochen befestigt. Indikationen: Oberarmschaftbrüche; Unterarmschaftbrüche; isolierte Speichen- und Ellenschaftbrüche; Oberschenkelschaftbrüche; Unterschenkelschaftbrüche. Winkelplatten wurden von der AO entwickelt und bestehen aus einer Lasche mit Löchern zur Verschraubung am Knochen und einer in standardisierten Winkelmaßen ausgebildeten Platte mit U-Profil zur Einbringung in den frakturierten Knochen. Indikationen: Medial Schenkelhalsfraktur (130°-Platte); Pertrochantäre Schenkelhalsfraktur (130°-Platte); subtrochantäre Oberschenkelfraktur (95°-Platte); suprakondyläre Oberschenkelfraktur (95°-Platte). Außerdem gibt es Winkelplatten für Umlagerungsosteotomien am Oberschenkel. Schulter-T-Platten werden zur Osteosynthese von subkapitalen Oberarmbrüchen und -pseudarthrosen verwendet, sofern die meist konservative Behandlung dieser Brüche keine ausreichende Reposition oder Fixation ermöglicht. Baiser-Platten werden zur Fixation von Schädigungen des Akromioklavikulargelenks (Luxationen oder/und Frakturen) verwendet. Marknägel Bei der von Küntscher 1940 eingeführten Marknagelung dient der in den Markraum eingebrachte Nagel als Kraftträger im Sinne einer intramedullären Schienung ohne Kompression mit ausreichender, aber nicht absoluter Stabilität. Nach Aufbohren des Markraums an seiner engsten Stelle läßt sich die Stabilität der Osteosynthese durch elastische Verklemmung des Nagels an der inneren Kortikaliswand
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wesentlich verbessern. Die Nagelung kann „gedeckt", d.h. ohne Freilegung der Frakturstelle oder „offen" mit Freilegung vorgenommen werden. Indikationen: Oberschenkel- und Unterschenkelfrakturen und -pseudarthrosen im mittleren Drittel. Der Verriegelungsnagel, bei dem proximal und distal der Fraktur selbstschneidende Gewindebolzen in Perforationen des Nagels durch den Knochen eingebracht werden, ermöglicht eine stabile Osteosynthese mit Drehstabilität durch Verankerung des Nagels in noch tragfähigen Knochenabschnitten. Bei der „statischen" Verriegelung werden die fixierenden Bolzen weit proximal und distal der Fraktur gelegt; bei der „dynamischen" nur proximal oder nur distal. Nach Beginn der Knochenbruchheilung kann die statische Verriegelung durch Entfernen des proximalen oder distalen Bolzens in eine dynamische umgewandelt werden, um einer Spongiosierung des Knochens entgegenzuwirken. Indikationen: Ober- und Unterschenkeltrümmerbrüche; proximale und distale Ober- und Unterschenkelbrüche; Defektbrüche und -pseudarthrosen. Bei der Endernagelung werden mehrere (3 bis 4) federnde dünne Nägel eingeschlagen, die sich am Ende auffächern und so die gewünschte Stabilität erbringen. Indikationen: Pertrochantäre Schenkelhalsbrüche. Bei der Bündelnagelung nach Hackethal wird der Markraum mit mehreren dünnen Einzelnägeln schrittweise so weit ausgefüllt, daß durch Verkeilung der Nägel eine ausreichende Stabilität erreicht wird. Indikationen: Oberarmbrüche in Schaftmitte. Fixateur externe Bei den äußerlich anwendbaren Fixationsapparaten werden mehrere Nägel proximal und distal der Fraktur durch den Knochen gebohrt und in einem Gestängerahmen so fixiert, daß im Frakturbereich entweder eine stabile Osteosynthese mit dosierbarer und veränderbarer Kompression oder auch eine Distraktion zur Ruhigstellung nicht komprimierbarer Frakturen möglich sind. Indikationen: Offene Trümmerbrüche der Extremitäten; infizierte Frakturen, vereiterte Pseudarthrosen; Beckenverletzungen (auch Symphysensprengungen); Arthrodesen im septischen Milieu. Der Fixateur externe ermöglicht die gleichzeitige Behandlung von Knochenbrüchen und Weichteilschäden, eine frühzeitige Mobilisierung und eine gute Zugängigkeit
11.6 Behandlung von Knochenbrüchen
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zum Wundgebiet, insbesondere bei Aufhängung des Apparates an seinen Verbindungsstäben. 11.6.3.2 Behandlung offener Frakturen (modifiziert nach Weller) Behandlungsprinzipien: • Sorgfältiges Wunddébridement; • stabile Osteosynthese; • primär offene Wundbehandlung bei größeren Wunden. Präoperative Maßnahmen: • Abnahme des Notverbandes erst im Operationssaal unter sterilen Bedingungen; • Festlegung der Operationstaktik nach Beurteilung von Röntgenbild und Weichteilschaden; • mechanische Reinigung und Rasur; • Desinfektion der verletzten Extremität. Operative Versorgung: • Anlegen einer Blutsperre nur im Notfall; • sorgfältiges Débridement der Verletzungswunde; • ausgedehnte Spülung der Wunde mit Ringerlösung; • Handschuh- und Instrumenten Wechsel; • operative Stabilisierung der Fraktur mit einem Minimum an Metall und mit einem Maximum an Stabilität; • einer Trümmerzone wird primär autologe Spongiosa angelagert; • größere Wunden bleiben offen; • temporäre Deckung der Wunde mit synthetischem Hautersatz (Epigard®) gewährleistet die notwendige Ventilation der Wunde; bildet aber gleichzeitig eine schützende Schranke gegen mikrobielle Invasion; • kleinere Wunden bei offenen Frakturen 1. Grades dürfen spannungsfrei genäht werden. Im Zweifelsfall Wunden nie primär verschließen! Durchschnittliche Zeit der knöchernen Konsolidierung beim Erwachsenen (nach Ehalt) Schlüsselbein Oberarm, infratuberkulär Oberarm - Schaft Oberarm - suprakonylär Olekranon Speichenköpfchen Vorderarmschaft Speiche oder Elle allein
Wochen 4 4-5 6-8 4-6 3-4 3—4 12 8-10
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11 Knochenbrüche
Speichenbruch an typ. Stelle Kahnbein Mittelhandknochen Finger Wirbel Becken Schenkelhals Oberschenkelschaft Kniescheibe Unterschenkel mit Verschiebung Schienbein allein Wadenbein allein Knöchel Mittelfuß Zehenglieder
Wochen 3—4 12-16 4 3-4 12-16 4-10 12-20 12-16 4 12-16 8-14 4-6 6-12 4-6 2-3
11.7 Verzögerte Knochenbruchheilung und Pseudarthrosen Kommt es nicht innerhalb einer empirisch festgelegten Zeit zu einer knöchernen Konsolidierung der Fraktur, so spricht man von einer „verzögerten Frakturheilung" (nach etwa 4 bis 6 Monaten) oder von einer „Pseudarthrose" (nach 8 Monaten). Pseudarthrosen sind Frakturen, bei denen es ohne spezielle Therapie nicht zur knöchernen Konsolidierung kommt.
11.7.1 Ursachen der Pseudarthrosen • • • •
mangelhafte Ruhigstellung der Fraktur nach Dauer und Stabilität; schlechte Fragmentdurchblutung mit Devitalisierung; unsachgemäße durchgeführte Osteosynthese; Infekt im Frakturbereich (nach Osteosynthese oder bei offenem Knochenbruch).
11.7.2 Einteilung der Pseudarthrosen • Aseptische Pseudarthrosen: a) biologisch vital: hypertrophe Pseudarthrose, „Pferdefuß-Pseudoarthrose"; b) biologisch reaktionslos: dystrophe, atrophe Pseudoarthrose; • Defekt-Pseudarthrosen; • Infekt-Pseudarthrosen.
11.8 Folgen von Knochenbrüchen
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11.7.3 Therapie Die Therapie der Pseudarthrosen besteht in der operativen stabilen Osteosynthese durch Marknagelung, Plattenosteosynthese, Verschraubung oder Anwendung des Fixateur externe. Bei biologisch reaktionslosen Formen wird die Stimulierung der Knochenneubildung durch zusätzliche Dekortikation der Pseudarthrose oder durch Knochentransplantation angeregt. Infektpseudarthrosen verlangen neben der stabilen Osteosynthese eine Sanierung des Infektes (Spüldrainage), die Entfernung von Sequestern sowie die Spongiosaanlagerung.
11.8 Folgen von Knochenbrüchen 11.8.1 Ödem Das posttraumatische Ödem ist eine Folge des gestörten Blutumlaufes und daher unvermeidbar. Es spielt besonders in der Nachbehandlungsperiode eine wichtige Rolle.
11.8.2 Posttraumatische Osteoarthrose Als Folge von Fehlstellung oder Inkongruenz der Gelenkflächen (Stufenbildungen u. ä.) oder von unfallbedingten Schädigungen des Gelenkknorpels kommt es zur posttraumatischen Osteoarthrose mit Schmerzen, Bewegungsbehinderung und Muskelschwund.
11.8.3 Myositis ossificans Bei der traumatischen Myositis ossificans handelt es sich um eine umschriebene Metaplasie des Muskelgewebes nach Muskelquetschung oder Hämatombildung, durch operativ bedingte Schädigung der Weichteile, als Folge unzweckmäßiger Nachbehandlung oder auf Grund konstitutioneller Faktoren. Die Diagnose ergibt sich auf Grund der geklagten Beschwerden, der Funktionsbehinderung, des Palpationsbefundes sowie des Röntgenbildes. Bei der Therapie sollte berücksichtigt werden, daß selbst ausgedehnte ossifizierende Veränderungen sich auch spontan rückbilden können. Bei erheblichen Beschwerden oder bei einer Einschränkung der Gelenkbeweglichkeit (z. B. des Ellenbogengelenkes nach suprakondylären Frakturen) wird man sich trotz großer Rezidivgefahr zur operativen Entfernung entschließen müssen. Durch vorsichtige Reposition einer Fraktur, durch atraumatisches Operieren bei der Osteosynthese sowie durch schonende Nachbehandlung mit Vermeidung passiver Bewegungsübungen über die Schmerzgrenze hinaus und Verzicht auf Massagen kann die Myositis ossificans weitgehend vermieden werden.
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11 Knochenbrüche
11.8.4 Callus luxurians Die überschüssige Kallusbildung ist gewöhnlich die Folge von ungenügender oder zu kurzer Ruhigstellung. Bei Druck auf Nerven oder Gefäßen muß der Kallus operativ entfernt werden. Bei Kindern kommt es nicht selten zu einer spontanen Rückbildung.
11.8.5 Brückenkallus Unter einem Brückenkallus versteht man die Kallusbildung zwischen den beiden Röhrenknochen des Unterschenkels oder des Unterarmes. Am Unterschenkel ist der Brückenkallus praktisch belanglos, am Vorderarm führt er zur Aufhebung der Drehbeweglichkeit. Durch gute Reposition und entsprechende Ruhigstellung läßt sich der Brückenkallus weitgehend vermeiden.
11.8.6 Muskelschwund - Kalkschwund Sehr häufig kommt es während der Knochenbruchheilung zu einem durch Inaktivität bedingten Muskelschwund und röntgenologisch nachweisbaren Kalkschwund, der hauptsächlich im bruch-benachbarten Gelenk sitzt. Diese Veränderungen sind normalerweise mit zunehmender Aktivierung des verletzten Gliedabschnittes rückbildungsfähig, sie lassen sich durch eine entsprechende Nachbehandlung weitgehend in Grenzen halten und bei der stabilen Osteosynthese mit frühzeitiger Mobilisation völlig vermeiden.
Weiterführende Literatur Baumgartl, F., S. Weller: Allgemeiner Teil. In: Spezielle Chirurgie für die Praxis (Hrgs. F. Baumgartl, K.Kremer, H.W.Schreiber), Bd.III, Teil 1. Thieme, Stuttgart 1976. Böhler, L.: Die Technik der Knochenbruchbehandlung, 12. u. 13. Aufl. Maudrich, Wien-BonnBern 1957. Brussatis, F., U. Plaass: Die Behandlung der Pseudarthrose. In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R.Zenker, F.Deucher, W.Schink), Bd.4, Beitrag 18. Urban 8c Schwarzenberg, München— Wien-Baltimore 1979. Bürkle de la Camp, H., M.Schwaiger: Handbuch der gesamten Unfallheilkunde, Bd.III. Enke, Stuttgart 1965. Lange, M.: Lehrbuch der Orthopädie und Traumatologie, Bd. III. Enke, Stuttgart 1967. Mevli, H. Ch.: Nachbehandlung bei konservativer und operativer Knochenbruchbehandlung. In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R. Renker, F. Deucher, W. Schink), Bd. 4, Beitrag 12. Urban 8c Schwarzenberg, München—Wien—Baltimore 1979. Rehn. J.: Verfahren der Knochenbruchbehandlung. In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R.Zenker, F. Deucher, W. Schink), Bd. 4, Beitrag 11. Wanke, R., R. Maatz, W. Lentz: Knochenbrüche und Verrenkungen. Urben 8c Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore 1962.
12 Ankylosen, Arthrodesen, Kontrakturen
12.1 Ankylosen Ankylosen sind Versteifungen eines Gelenks durch intraartikuläre, meist entzündliche Prozesse mit Knorpelnekrose und knöchernem Verwachsen der gelenkbildenden Knochen. Die Behandlung kann mit einer Gelenkplastik oder durch Einsetzen einer Gelenkprothese (Hüfte, Knie, Fingergelenk) durchgeführt werden. Da im Zustand der Ankylose das betroffene Gelenk meist schmerzfrei und auch belastbar ist, wird man nicht immer zu operativen Maßnahmen raten.
12.2 Arthrodesen Arthrodesen sind operativ vorgenommene Gelenkversteifungen durch Resektion der Gelenkflächen und Stabilisierung der benachbarten Knochen. Eine Arthrodese ist indiziert, wenn das Gelenk in seiner Beweglichkeit stark eingeschränkt und schmerzhaft ist. Auch bei posttraumatischen Arthrosen (besonders am Bein) kommt die Arthrodese in Frage.
12.3 Kontrakturen Kontrakturen sind nicht-knöcherne Versteifungen eines Gelenkes • durch Hautnarben (dermatogen); • durch den Bandapparat (desmogen); • durch Muskelschrumpfungen (myogen). Wichtig ist vor allem die Verhütung von Kontrakturen durch die richtige Behandlung frischer Verletzungen.
13 Luxationen (Verrenkungen)
Als Luxation bezeichnet man die Verschiebung von zwei in einem Gelenk verbundenen Knochenenden aus ihrer normalen Stellung, so daß die überknorpelten Gelenkflächen sich nicht mehr berühren. Kommt es zu einer nur teilweisen Verschiebung der gelenkbildenden Knochenenden, so ist dies eine Subluxation (Teilverrenkung). Neben traumatischen Luxationen durch äußere Gewalteinwirkungen gibt es noch kongenitale, pathologische, paralytische und habituelle (rezidivierende). Von Luxationsfrakturen (Verrenkungsbrüche) spricht man, wenn neben der Luxation die Gelenkenden der Knochen gebrochen sind und die Bruchflächen in das Gelenk hineinragen. Traumatische Luxationen entstehen durch mehr oder minder langsam einwirkende Gewalten, während schnelle Gewalteinwirkungen eher zu Knochenbrüchen frühen. Gelenkverrenkungen sind manchmal, Gelenkzerreißungen sind fast immer mit Einund Abrissen der Gelenkkapsel und der Gelenkbänder verbunden. Diagnose: Hauptsymptome sind: die federnde Fixation - beim Versuch, die Stellung des Gelenkes zu ändern, federt dieses wieder in seine Lage zurück (nur behutsam prüfen, da sehr schmerzhaft); die Gelenkdeformierung; die leere Pfanne — Kopf an abnormaler Stelle tastbar. Komplikationen: Zerreißung der Haut (offene Verrenkung); Gefäßkompression; Nervenkompression; Kapsel- und Bandzerreißungen; begleitende Gelenk- und Epiphysenfrakturen; Schädigung des Gelenkknorpels; septische Nekrosen (Ernährungsstörung). Therapie: In Anästhesie schonende Reposition unter Zug und Gegenzug mit anschließender Fixation und Ruhigstellung des Gelenks, um das Ausheilen der Gelenkkapsel zu gewährleisten. Später vorsichtige krankengymnastische Weiterbehandlung.
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Zeit der Ruhigstellung von Luxationen (nach Ehalt): Schultereckgelenk 6 Wochen Schultergelenk 1—2 Tage Ellenbogen 3 Wochen 3 Wochen Perilunäre Verrenkung Hüftgelenk 2 Wochen (Bettruhe) Kniegelenk 12 Wochen Sprunggelenk 6 Wochen Vorgehen bei traumatischen Luxationen • Unfallhergang feststellen; • klinische Untersuchung und Diagnosestellung; • sofortige Prüfung auf Durchblutung, Sensibilität und Motorik. Beachte: Gefäß- und Nervenstörungen in die Krankenblattunterlagen eintragen und den Verletzten oder seine Verwandten darüber informieren! • Röntgenuntersuchungen (Knochenverletzungen?); • Reposition in Anästhesie schonend und ohne zusätzliche Schädigung von Knochen und Weich teilen; • ruhigstellender Verband; • sofortige Röntgenkontrolle (Ergebnis, zusätzliche Verletzung durch Repositionsmanöver?); • Prüfung von Durchblutung, Sensibilität und Motorik nach Beendigung der Anästhesie; • Kontrolle des ruhigstellenden Verbandes. Reponierte Luxationen müssen so lange ununterbrochen ruhiggestellt werden, bis die Bänderrisse und andere Weichteilzerreißungen geheilt sind. Während der notwendigen Zeitdauer der Ruhigstellung des gut eingerichteten Gelenks müssen möglichst viele und alle nicht ruhiggestellten Gelenke des verletzten Gliedes und des ganzen Körpers unter Vermeidung von Schmerzen selbsttätig bewegt werden, um Störungen des Blutumlaufs, Schwund der Muskeln und Knochen und Versteifung der Gelenke zu vermeiden (Böhler). Luxationsfrakturen müssen exakt eingerichtet werden, was meist einen operativen Eingriff mit Reposition und Fixation der Fragmente erforderlich macht. Mangelhafte Reposition führt vielfach zu posttraumatischen Osteoarthrosen.
14 Mehrfachverletzungen
Die Mehrfachverletzung (das Polytrauma) sind gleichzeitig entstandene Verletzungen mehrerer Körperregionen oder Organsysteme, wobei wenigstens eine der Verletzungen oder die Kombination mehrerer zu einer akuten Störung der Vitalfunktionen geführt haben (Tscherne et al.).
14.1 Prognose und Letalität Die Prognose ist mit einer hohen Letalität ( 2 0 - 5 0 % je nach Schweregrad) belastet, besonders bei Kindern und bei alten Menschen. Bereits in den ersten Minuten nach dem Unfall besteht eine akute Gefährdung des Verletzten aufgrund der vorliegenden Störungen der Atmung, des Bewußtseins und/oder des Kreislaufs. Die Prognose des Polytraumatisierten ist abhängig von • der Art und Schwere der Verletzung; • dem Lebensalter des Verletzten; • der raschen und umfassenden Diagnostik; • den sinnvollen Behandlungsprioritäten; • der Wirksamkeit der Behandlung; • der präklinischen Initialversorgung. Da die Störungen der Vitalfunktionen unmittelbar nach dem Unfall eintreten, hängt die Prognose ganz entscheidend auch ab von einer so früh wie möglich einsetzenden Initialtherapie, möglichst noch am Unfallort. Die lebensrettende Wirkung einer bereits präklinisch eingeleiteten Therapie läßt sich aufgrund von Behandlungsergebnissen an vergleichbaren Patientengruppen nachweisen (Tab. 14/1). Tabelle 14/1
Letalität von Verletzten ohne und mit präklinischer Therapie Letalität
mit Therapie
Letalität
76
56%
104
17%
Lent (1971)
130
49%
113
15%
Sachweh (1978)
33
55%
41
20%
Engelhardt (1980)
ohne Therapie 181 Schwerverletzte 243 Polytraumen 74 stumpfe Bauchtraumen
14.2 Maßnahmen am Unfallort
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Dies gilt ganz offensichtlich auch dann, wenn das dem Unfallort nächstgelegene Krankenhaus in kürzester Zeit erreichbar ist. Die lebensrettenden Sofortmaßnahmen am Unfallort sind demnach nicht durch einen schnellen Transport in eine stationäre Behandlung zu ersetzen. Gut organisierte Rettungsdienste mit qualifiziert ausgebildeten Notärzten und Rettungssanitätern/-assistenten bieten seit Jahren vielerorts die besten Voraussetzungen zur fachgerechten Behandlung von Schwerverletzten — bis hin zur ebenso wichtigen Anschlußbehandlung in einem für die Schwere der Verletzung geeigneten Krankenhaus.
14.2 Maßnahmen am Unfallort Am Unfallort kommt es ganz entscheidend darauf an, nach Kenntnisnahme des Unfallhergangs zunächst die Vitalfunktionen zu prüfen, ihre Störungen unverzüglich zu erkennen und zu behandeln, sodann den Verletzten auf Organverletzungen zu untersuchen und geeignete Erstmaßnahmen einzuleiten. Dies alles kann innerhalb weniger Minuten erfolgen. Dabei muß und kann auf aufwendige technische Hilfsmittel verzichtet werden; Inspektion und Palpation reichen zunächst aus. Der Verletzte ist grundsätzlich zu entkleiden; bei Motorradfahrern ist der Schutzhelm zu entfernen. Um in der meist hektischen Situation am Unfallort nichts zu übersehen, tut der Arzt gut daran, sich folgende Fragen zu stellen und zu beantworten: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Frage: Frage: Frage: Frage: Frage: Frage: Frage: Frage:
Was ist passiert? Welche Vitalfunktionen sind gestört? Liegt ein Schädel-Hirn-Trauma vor? Ist die Halswirbelsäule verletzt? Ist der Brustkorb verletzt? Ist der Bauch verletzt? Finden sich Verletzungen an den Extremitäten? Wohin mit dem Verletzten?
1. Frage: Was ist passiert? Auch im Rettungsdienst beginnt die Diagnostik mit der Anamnese, beim Unfall mit der raschen Ermittlung des Unfallhergangs. Vielfach ist eine Eigenanamnese nicht möglich, meist jedoch erhält man die wichtigsten Informationen über den Unfall von der Polizei, der Feuerwehr oder durch Augenzeugen. Die Kenntnis des Unfallmechanismus erlaubt Rückschlüsse auf mögliche Verletzungen, nach denen gezielt gefahndet werden kann. 2. Frage: Welche Vitalfunktionen sind gestört? Da Mehrfachverletzungen stets mit Störungen der Vitalfunktionen verbunden sind, ist deren rasches Erkennen erforderlich, zumal die Basistherapie dieser Störungen sofort und meist noch vor einer genaueren Diagnostik eingeleitet werden muß. Die
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erste diagnostische Aufmerksamkeit gilt deshalb der Atmung und dem Kreislauf, bei einem Schädel-Hirn-Trauma auch der Gehirnfunktion. Die dazu erforderlichen Informationen sind in Sekundenschnelle zu erhalten: • Atmet der Verletzte nicht oder ungenügend? • Ist der Verletzte bewußtlos oder bewußtseinsgetrübt? • Hat der Verletzte eine Schocksymptomatik oder hat er Zeichen eines Kreislaufstillstands? Schon beim ersten Blickkontakt läßt sich oft erkennen, ob der Brustkorb ausreichend atembeweglich ist, die Atemluft vor Mund und Nase zu hören oder zu fühlen ist, ob Haut und Schleimhäute zyanotisch oder blaß sind, ob und wie der Patient auf Anruf oder/und auf Schmerzreiz reagiert und ob die Pupillen beiderseits erweitert oder ungleich sind. Die Pulskontrolle an der A. radialis oder der A. carotis zeigt, ob ein Kreislaufstillstand vorliegt oder ob eine Tachykardie auf einen Schockzustand hindeutet. Die vitale Gefährdung des Polytraumatisierten erwächst aus einer Störung des Sauerstofftransports infolge Schock, sei es durch Blutung, durch Herz-Kreislaufoder durch Ateminsuffizienz. Das Schockgeschehen steht eindeutig im Mittelpunkt der präklinischen Diagnostik und Therapie. In jedem Fall muß der Verletzte 2 bis 3 peripher vernöse Zugänge erhalten, die so weitlumig sind, daß sie einen schnellen Volumenersatz sowie die Applikation von Medikamenten ermöglichen. In der ersten halben Stunde werden 2000 ml benötigt (s. Abschn. 3.3.2). Nur bei leichten Atemstörungen ohne schwere Verletzungen genügen Freimachen und Freihalten der Atemwege mit Hilfe des Esmarchschen Handgriffs. Bei allen schweren Atemstörungen und bei jedem schweren Polytrauma ist die Frühintubation am Unfallort die Methode der Wahl. Bereits in den ersten Minuten des Schocks kommt es zur Dysregulation der Lungenfunktion durch Abnahme der Compliance, durch Zunahme der Totraumventilation und des intrapulmonalen Shunts, durch Bildung von Mikroatelektasen und eines interstitiellen Ödems. Schon 15 Minuten nach dem Unfall ließen sich blutgasanalytische Veränderungen nachweisen, obschon der Verletzte klinisch scheinbar keine respiratorische Insuffizienz zeigte. Deshalb soll das schwere Polytrauma prophylaktisch intubiert und beatmet werden. Nach Prüfung und notfalls erster Sicherung der Vitalfunktionen folgt eine kurze Organdiagnostik. Eine orientierende Untersuchung auf Verletzungen des Schädels, der Halswirbelsäule, der Körperhöhlen und der Gliedmaßen wird schnell, vollständig und stets systematisch von kranial nach kaudal durch Inspektion, Palpation, Perkussion und Auskultation durchgeführt. Dies kann innerhalb von 3 Minuten sachgerecht gemacht werden.
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3. Frage: Liegt eine Schädel-Hirn-Verletzung vor? Das Schädel-Hirn-Trauma ist eine häufige Unfallfolge. Was häufig ist, wird auch häufig anzutreffen und zu diagnostizieren sein. Leicht feststellbar ist es, ob eine offene Hirnverletzung mit Austritt von Hirn oder Liquor besteht, ob äußerlich sichtbare Perforationsverletzungen vorliegen, ob sich Wunden oder ein Monokel-/ Brillen-Hämatom finden oder ob Blut, Hirn, Liquor aus Mund, Nase, Ohren austreten. Leitsymptom des schweren Schädel-Hirn-Traumas ist die Bewußtlosigkeit. Wenn der Verletzte weder durch Ansprache, noch durch Schmerzreize die Augen dauerhaft öffnet, ist er bewußtlos, selbst wenn er spontan oder auf Schmerz gezielte oder ungezielte Abwehrbewegungen ausführt. Stets sind die Pupillen auf Seitengleichheit und auf Lichtreaktion zu prüfen — eine Anisokorie kann ein wichtiger Hinweis auf einen intrakraniellen Druckanstieg sein, etwa durch ein Hämatom. Bei Vorliegen von Störungen des Bewußtseins, der Pupillenfunktion, der Motorik und der Tonusregulation muß man davon ausgehen, daß ein schweres Schädel-Hirn-Trauma vorliegt. Eine respiratorische Insuffizienz beim Schädel-Hirn-Trauma ist fast nie die Folge der Hirnverletzung. Meist handelt es sich um eine periphere Störung durch Verlegung der Atemwege, durch einen instabilen Thorax, einen Pneumo-Hämatothorax, um eine hohe Querschnittslähmung oder um einen Volumenmangelschock. Eine primäre Schocksymptomatik beim Schädel-Hirn-Trauma des Erwachsenen ist selten durch das Schädel-Hirn-Trauma, fast immer jedoch durch einen größeren extrakranialen Blutverlust verursacht. Wenn bei dem Verletzten Zeichen eines hypovolämischen Schocks vorliegen, muß nach einer entsprechenden Blutungsquelle gesucht werden. Der hypovolämische Schock führt rasch zu einer zerebralen Hypoxie des geschädigten Hirns, die eine sofortige Schockbehandlung erfordert. Erstmaßnahmen: Bei Perforationsverletzungen wird der in den Schädel eingedrungene Gegenstand nicht entfernt, weil durch die Extraktion eine intrakranielle Blutung provoziert und die spätere Lokalisation des Schadens erschwert werden kann. Offene Hirnwunden werden steril und ohne Kompression abgedeckt. Die bei Bewußtlosigkeit mit erhaltener Eigenatmung zur Aspirationsprophylaxe empfohlene Seitenlagerung des Notfallpatienten ist bei Polytraumatisierten nicht angebracht. Sie ist kontraindiziert bei Verletzungen der Wirbelsäule, bei Extremitätenfrakturen und bei massiven Blutungen mit hämorrhagischem Schock, der eine Hochlagerung der Beine erforderlich macht. Die Seitenlage ist hinderlich und überflüssig, wenn der Verletzte intubiert werden soll. In der Regel wird jeder bewußtlose Schädel-Hirn-Verletzte sofort intubiert und beatmet, weil die Atemwege immer verlegt sind. Zur Beatmung empfiehlt sich die
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Hyperventilation; ein PEEP bis zu 5 cm H 2 0 verursacht keinen Anstieg des intrakraniellen Druckes. Über mehrere peripher venöse Zugänge erhält der Verletzte im Schock Infusionen zur Volumenadaptation. Diese Zugänge dienen zugleich zur Entnahme von venösem Blut wie auch zur Applikation von Medikamenten. Bei Unruhe, bei Streck- oder Beugesynergismen und bei einem hypertonen Syndrom ist eine medikamentöse Dämpfung nach vorausgegangener Sicherung freier Atemwege erforderlich. Zuvor wird ein orientierender neurologischer Befund erhoben. Verletzte mit einem hypotonen Syndrom dürfen wegen der Gefahr einer Atemdepression keine sedierende Medikamente erhalten. Über den nasal eingeführten Magenschlauch wird der Magen entleert. Die Hochlagerung von Kopf und Oberkörper des Verletzten um 30 Grad verbessert in der Frühphase den hirnvenösen Abfluß und senkt den intrakraniellen Druck. Die Achse Kopf-Hals-Thorax darf weder seitlich noch anterior-posterior abgeknickt werden. Beim Patienten im Schock ist die Rückenlage mit erhöhten Beinen allerdings wichtiger als der erhöhte Oberkörper, weil alle Maßnahmen der Schockbekämpfung zur besseren Sauerstoffversorgung des Gehirns führen. Initial ist der Kreislauf wichtiger als der Hirndruck. Intubation und atemsynchrone Ventilation, Volumensubstitution, Hochlagerung von Kopf und Oberkörper, Vermeiden von starken Kopfbewegungen und möglicherweise auch die frühzeitige Gabe von Steroiden stellen eine konzertierte Therapie zur Prophylaxe eines Schädelinnendruckanstiegs dar (s. Abschn. 17.1). 4. Frage: Ist die Halswirbelsäule verletzt? Ruhe- und Bewegungsschmerz im Nacken weisen bei einem wachen Patienten auf eine HWS-Verletzung hin, zumal wenn gleichzeitig klinische Hinweise wie äußere Verletzungszeichen oder tastbare Dislokationen der Dornfortsätze vorliegen. Jedenfalls muß dann so lange von einer Verletzung der Halswirbelsäule ausgegangen werden, bis das Gegenteil bewiesen ist. Eine Querschnittslähmung ist anzunehmen, wenn neben der Paraplegie ein völlig schlaffer Muskeltonus sowie aufgehobene oder abgeschwächte Reflexe vorliegen. Erstmaßnahmen: Bereits bei Verdacht auf eine HWS-Verletzung soll jede Manipulation am Kopf vermieden werden. Der Kopf ist in leichter Retroflexion zu halten, die auch bei notwendigen Umlagerungen zu gewährleisten ist. Die Ruhigstellung erfolgt auf einer Vakuummatratze oder durch Anlegen einer entsprechenden Krawatte. Falls eine Intubation erforderlich ist, wird sie behutsam orotracheal oder besser nasotrachael vorgenommen (s. Abschn. 24.2.1).
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5. Frage: Ist der Brustkorb verletzt? Auch die Diagnostik von Brustkorbverletzungen kann sich auf einfache physikalische Untersuchungen beschränken. Schwere Verletzungen erkennt man an der Dyspnoe und der Schmerzäußerung des Verletzten, sofern er nicht bewußtlos ist. Durch Inspektion lassen sich offene Brustkorbverletzungen, Hämatome, Deformationen, Instabilitäten, Atemexkursionen, Zyanose und Einflußstauung erkennen. Mit der Palpation wird die Brustkorbstabilität durch seitliche und frontale Kompression geprüft, die bei knöcherner Verletzung schmerzhaft ist. Durch die vorsichtige Tastuntersuchung lassen sich Krepitation, Hautemphysem oder Fluktuation nachweisen. Schließlich sind durch Auskultation fehlende oder abgeschwächte Atemgeräusche und grobes Rasseln einfach feststellbare pathologische Veränderungen. Besteht der Verdacht auf eine Brustkorbverletzung, so ist zu klären, ob von Seiten des Brustkorbs eine akut lebensbedrohliche Situation vorliegt, die noch am Unfallort behandelt werden muß. Diese Notfallsituation des „akuten Thorax" umfaßt neben der respiratorischen Insuffizienz den Spannungspneumothorax, den offenen und den instabilen Thorax sowie die Herzbeuteltamponade. Den traumatischen Spannungspneumothorax (s. Abschn. 21.7.6) erkennt man an der hochgradigen Dyspnoe, die bereits wenige Minuten nach dem Unfall auftreten kann; die verletzte Brustkorbseite ist weniger atembeweglich, im Hals- und Thoraxbereich kommt es zum Hautemphysem, am Hals treten die Venen durch Einflußstauung stark hervor, über der verletzten Lungenseite ist der Klopfschall hypersonor, und das Atemgeräusch ist aufgehoben. Zur Entlastung eines Spannungspneumothorax kann man eine dicke Punktionskanüle mit Gummifingerling (Tiegel-Ventil) oder einen Pleuracath verwenden. Beiden Methoden klar überlegen ist die Drainage des Pleuraraums nach Monaldi im 2. oder 3.ICR der M C L mit einer weitlumigen Silikon-Thorax-Drainage Ch. 16 bis 27 (Kinder 12). Die Ableitung erfolgt über ein Heimlich-Ventil. Den offenen Thorax (s. Abschn. 21.7.4) diagnostiziert man an der Dyspnoe, am leicht wahrnehmbaren Luftein- und Luftaustritt durch die Wunde. Bei der Inspiraton strömt die Luft in den Thorax ein, bei der Exspiration wieder aus. Da die Lunge auf der verletzten Seite kollabiert ist, sind die Atemgeräusche aufgehoben, und der Klopfschall ist hypersonor. Bei ausreichender Spontanatmung erfolgt der Transport des Verletzten mit keimfreier Abdeckung der Wunde. Bei Ateminsuffizienz muß intubiert werden. In diesem Fall bleibt die Wunde offen, um einen Spannungspneumothorax zu vermeiden; ein bereits angelegter Verband wird wieder entfernt. Der früher empfohlene luftdichte Verschluß der Thoraxwunde ist obsolet.
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Der instabile Thorax (s. Abschn. 21.7.3) kann sich im Bereich der Instabilität in einer paradoxen Atmung bemerkbar machen. Bei Rippenfrakturen oder bei Stückbrüchen mehrerer Rippen nimmt das aus dem Verbund der Thoraxwand herausgelöste und frei bewegliche Thoraxwandfragment nicht mehr an den regelrechten Atembewegungen teil, vielmehr kommt es zu einem paradoxen Atemtyp, wobei das betroffene Brustwandsegment bei der Inspiration sich nach innen und bei der Exspiration sich nach außen bewegt. Dieser paradoxe Atemtyp führt zu einer respiratorischen Insuffizienz und verlangt noch am Unfallort eine Intubation und Beatmung zur Stabilisierung und ausreichender Belüftung der Lungen. Die traumatische Herztamponade (s. Abschn. 21.7.13) ist selten, jedoch immer akut lebensbedrohlich. Sie ist erkennbar an einer zunehmenden Einflußstauung mit hohem Halsvenendruck, an einer arteriellen Hypotonie mit kleiner werdender Amplitude sowie an abgeschwächten Herzgeräuschen. Präkordiale Verletzungen geben einen wichtigen Hinweis. Da die Diagnose schwierig ist, muß sie bei entsprechendem Verdacht durch Probepunktion des Herzbeutels erhärtet oder ausgeschlossen werden. Bei vorhandener Tamponade ist die Punktion lebensrettend, bei nicht vorhandener Tamponade ist sie unbedenklich durchführbar. Die Perikardpunktion erfolgt vom' Larreyschen Winkel, wobei die Punktionskanüle in Richtung auf die Klavikula in einem Winkel zur Frontalebene des Patienten von 30 Grad eingestochen wird. Bei jeder Brustkorb Verletzung muß man zugleich an Kombinationsverletzungen mit der Bauchhöhle denken. So sind Rippenserienfrakturen in 30% mit intraabdominellen Verletzungen kombiniert (Glinz), ebenso betreffen Schuß- und Stichverletzungen sehr oft beide Körperhöhlen. Frakturen der unteren Rippen sind ein wichtiger Hinweis auf intraabdominelle Verletzungen, rechts auf eine Leberruptur, links auf eine Milzruptur. Andererseits führen Bauch- und Beckenverletzungen oftmals zu Zwerchfellverletzungen mit Übertritt der Bauchorgane in den Brustkorb. 6. Frage: Ist der Bauch verletzt? Bei Bauchtraumen geht die Gefahr von Verletzungen der inneren Organe aus, wobei in der präklinischen Phase die intraabdominelle Blutung ganz im Vordergrund der Diagnostik und Therapie steht. Leider gibt es keine sicheren klinischen Zeichen für eine intraabdominelle Organverletzung, und auch ein lokaler Bauchbefund ist zwar ein wichtiger Hinweis, aber kein Beweis für eine Bauchverletzung. Beim Bewußtlosen (Schädel-Hirn-Trauma) ist besondere Vorsicht geboten, denn bei ihm fehlt sowohl die Schmerzangabe wie auch meist ein tastbarer Befund. Perforierende oder penetrierende Bauchverletzungen sind aufgrund der äußerlich erkennbaren Verletzungszeichen im allgemeinen einfach feststellbar; stumpfe Bauchverletzungen sind dagegen oft schwer beurteilbar. Im Zweifelsfall soll die schwerere Unfallfolge angenommen werden.
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Zur Inspektion gehört die Suche nach äußeren Verletzungszeichen (Schürfungen, Prellmarken, Hämatome) am Abdomen und T h o r a x ; dabei dürfen die Rückenpartie, das Becken und das Gesäß nicht vergessen werden. Mit der Palpation wird auf Abwehrspannung, Druckschmerz und Resistenz untersucht. Eine Flankendämpfung durch Blutung in die Bauchhöhle läßt sich durch Perkussion feststellen. Ein entsprechender Lokalbefund bei Zeichen eines traumatischen Schocks ist immer verdächtig auf eine intraabdominelle Blutung durch Organverletzungen. Erstmaßnahmen: Offene Bauchverletzungen werden steril abgedeckt, eingedrungene Fremdkörper werden belassen. Schockbehandlung. Bei Verdacht auf eine intraabdominelle Blutung gehört der Verletzte schnellstens in eine stationäre Behandlung mit operativer Interventionsmöglichkeit. Sofern die Bauchverletzung trotz ausreichender Infusion zu einem nicht beherrschbaren Schock führt, soll von der Regel des schonenden Transports abgewichen und der Verletzte möglichst schnell in ein Krankenhaus mit sofortiger Versorgungsmöglichkeit transportiert werden. Dies erfolgt in aller Regel und am besten durch Voranmeldung über Funk. 7. Frage: Finden sich Verletzungen des Skeletts? Wenn ein Unfallverletzter über Schmerzen in Beinen oder Armen klagt und betroffene Gliedmaßen in ungewöhnlicher Stellung abgeknickt oder verdreht liegen, so besteht der dringende Verdacht auf einen Knochenbruch. Bei einem aktiven oder passiven Bewegungsversuch werden die Schmerzen an einem Knochenbruch unerträglich stark, und der vom Bruchspalt ferngelegene Gliedmaßenabschnitt bewegt sich nicht in gewohnter Stellung (Funktionsverlust). Oft sind Frakturen jedoch nicht so leicht zu erkennen, weil Fehlstellungen durch die Bekleidung verdeckt sind und Schmerzen vom bewußtseinsgetrübten oder bewußtlosen Verletzten nicht geäußert werden können. Dann ist die Tastuntersuchung durch die Kleider die schnellste Möglichkeit, sich von der Unversehrtheit des Skelettsystems oder von seinen Verletzungen zu überzeugen. Dabei fallen neben Schwellungen und Verformungen vor allem das Knochenreiben und die abnorme Beweglichkeit im Bruchbereich auf. Wenn Weichteile sich in den Bruchspalt geschoben haben, so ist durch den fehlenden Knochenkontakt das Knochenreiben nicht auszulösen. Die aufgezählten Frakturzeichen dürfen nur behutsam geprüft werden, um dem Patienten unnötige Schmerzen zu ersparen und weitere Schäden durch die Manipulation selbst zu vermeiden. Hat man einen Knochenbruch festgestellt, so kann das Entfernen der Kleidung sehr schwierig sein, weil das Freilegen der Gliedmaße zugleich schnell und schonend erfolgen soll. Im Zweifelsfall wird die Kleidung mit der Kleiderschere aufgeschnitten. Schuhe oder Stiefel lassen sich oft nicht ohne Schmerzausschaltung entfernen. Dennoch ist es wünschenswert, den Fuß zur Untersuchung freizulegen, um die
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Durchblutung der Gliedmaße (Fußrückenpuls) und ihre Nervenfunktion (Zehen bewegen lassen) zu überprüfen. Sichtbare Knochenbruchenden in Wunden sind leicht als offene Frakturen zu identifizieren. Erstmaßnahmen: Zur notwendigen Schienung und Schmerzlinderung sollen im Bruchbereich abgeknickte Gliedmaßenteile durch vorsichtigen Zug in eine günstigere Stellung gebracht werden. Bei grotesker Fehlstellung, insbesondere bei Luxationsfrakturen, kommt es oft auch zu einer Abknickung oder Einklemmung von Nerven und Blutgefäßen, die dadurch in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt oder gar zerstört werden. Diese wichtigen Gewebestrukturen müssen sobald als möglich entlastet werden, was nur durch eine umgehende Reposition möglich ist. Dadurch wird eine weitere Nervenschädigung vermieden und die Durchblutung sichergestellt. Bei offenen Knochenbrüchen werden vor der Schienung die Wunden mit einem sterilen Notverband abgedeckt. Dieser Notverband wird erst im Operationssaal unter sterilen Bedingungen wieder abgenommen. Bei Polytraumatisierten ist die Ruhigstellung des ganzen Körpers anzustreben, möglichst in einer Lage, die einen ungehinderten Zugang zum Kopf des Verletzten gewährleistet (Freihalten der Atemwege, Beatmung, Beobachtung von Lippen, Stirn und Augen). Die beste Fixierung für den Transport des Mehrfach verletzten erfolgt mittels Vakuummatratze. Durch Anformen der noch nicht fixierten Matratze sind Mulden und Aufwerfungen um den Körper des Verletzten zu modellieren, die seine Lagerung allseits abstützen. 8. Frage: Wohin mit dem Verletzten? Wenn der Verletzte am Unfallort versorgt und durch Sicherung der Atmung und Stabilisierung der Herz-Kreislauf-Funktionen transportfähig gemacht worden ist, stellt sich die Frage, in welches Krankenhaus er transportiert werden soll, selbstverständlich in Begleitung eines Arztes und unter lückenloser Fortführung bereits eingeleiteter und notwendiger Maßnahmen. Eine optimale Anschlußbehandlung des Verletzten erfordert vom aufnehmenden Krankenhaus prinzipiell organisatorische, räumliche und personelle Voraussetzungen, die „rund um die Uhr" verfügbar sein müssen: Zentrale Aufnahme mit Schockeinheit, Labor, Blutbank, Anästhesie, Chirurgie, adäquate apparative und personelle Ausstattung für interdisziplinäre notfallmedizinische Sofortmaßnahmen und eine Intensivstation. Eine falsche Entscheidung über Transportziel, -mittel und -weg kann sich für den Verletzten bei noch so guter präklinischer Versorgung verhängnisvoll auswirken.
1 4 . 3 Maßnahmen im Krankenhaus
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14.3 Maßnahmen im Krankenhaus Nach der Alarmierung und noch vor Eintreffen des Verletzten soll das aufnehmende Krankenhaus die notwendigen Vorbereitungen treffen, um keine therapiefreien Minuten eintreten zu lassen. Das „Polytrauma-Team" aus Chirurgen, Unfallchirurgen und Anästhesisten mit Schwestern und Pflegern wird alarmiert und in die Notaufnahme geholt. Für eine optimale Erstversorgung werden zunächst 8 bis 10 Personen benötigt. Der laufende Betrieb wird unterbrochen, die Einrichtungen des Schockraums werden betriebsbereit gemacht. Labor, Blutbank, Röntgenabteilung und Intensivstation werden benachrichtigt. Soweit erkennbar, werden auch die notwendigen Konsiliardienste (Neurochirurg, Ophthalmologe, HNO-Arzt, Kieferchirurg, Urologe, Gynäkologe etc.) verständigt, Ein störungsfreier Ablauf dieser Vorbereitungen innerhalb weniger Minuten ist nur möglich, wenn er zuvor im Krankenhaus für alle Aufgabenbereiche organisatorisch festgelegt ist und geübt wurde. Beim Eintreffen des Verletzten kommt es entscheidend darauf an, die Maßnahmenprioritäten zu beachten. Wie am Unfallort stehen auch in der Klinik die lebenserhaltenden Maßnahmen an erster Stelle. Die größte Gefahr droht dem Verletzten durch eine respiratorische Insuffizienz, durch den hypovolämischen Schock und durch eine massive Blutung, soweit diese Störungen nicht bereits am Unfallort beherrscht werden konnten. Im Idealfall verfügt die Notaufnahme über alle für die diagnostische und therapeutische Primärversorgung erforderlichen Apparate: Intubationsbestecke, Beatmungs-Narkosegerät, EKG-Gerät, Defibrillator, Bestecke für periphere und zentrale Venenpunktionen, Thoraxdrainagen, Röntgengerät, Sonographiegerät, Bestecke für Peritoneallavage, Magensonde, Urinkatheter, Notlaparotomie- und Notthorakotomiebesteck etc. Die zahlreichen, parallel ablaufenden Maßnahmen erfordern die ordnende Hand eines erfahrenen Arztes, der die organisatorische Verantwortung trägt, der den Ablauf koordiniert und dokumentiert. Als Beispiel hierfür wird der von Schweiberer angegebene, leicht modifizierte Stufenplan vorgestellt. Stufenplan zur Versorgung von Mehrfachtverletzten (nach L. Schweiberer) Stufe Stufe Stufe Stufe Stufe Stufe
I Ia II III IV V
lebensrettende Sofortmaßnahmen lebensrettende Sofortoperationen Stabilisierungsphase, Diagnostikphase I lebens- und organerhaltende Frühoperationen Intensivmedizin, Diagnostikphase II funktionserhaltende und wiederherstellende verzögerte Operationen
Stufe I wird bereits am Unfallort eingeleitet und bei der Krankenhausaufnahme sofort weitergeführt. Dies gilt insbesondere für die suffiziente Volumensubstitu-
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tion, für die Intubation und Beatmung sowie für die thorakalen Notzustände (Thoraxdrainage bei Spannungspneumothorax, Punktion bei Herztamponade). Zu den lebensrettenden Sofortoperationen gehört die Notfall-Laparotomie bei massiver intraabdomineller Blutung sowie die Not-Thorakotomie bei schweren anhaltenden Blutungen aus der Thoraxdrainage (s. Abschn. 22.5.3; 21.6.2; 21.7.22). Körperhöhlenverletzungen sind immer dringlicher zu versorgen als Gliedmaßenverletzungen. Stufe II ist der Ubergang von der initialen Maximalversorgung zur Phase der Stabilisierung mit kontrollierter Therapie. Die erste orientierende klinische Untersuchung wird erweitert um eine subtile Diagnostik aller Körperregionen. Spätestens jetzt wird ein zentral venöser Zugang gelegt, ein EKG-Monitor angeschlossen und ein Blasenkatheter eingeführt. Schädel, Thorax, Becken sowie die Wirbelsäule werden geröntgt, die Extremitäten immer dann, wenn Verletzungen zu vermuten sind. Das Schädel-Hirn-Trauma mit Bewußtlosigkeit oder mit neurologischen Hinweisen auf eine intrakranielle Blutung macht ein Schädel-CT erforderlich. Sind die Vitalfunktionen stabilisiert, so werden die Indikationen für lebens- und organerhaltende Frühoperationen gestellt. Optimal-Parameter nach Stabilisierung (nach L. Schweiberer) RR Puls ZVD PaO,'2
Sa02 Urinausscheidung Hb Quick PTT Thrombos
100 mm Hg 100 mm Hg 10 cm H 2 0 70 mm Hg 90% 25 ml/15 min 10 g% 70% 4 0 sek
100000
Stufe III umfaßt die Therapie abdomineller und thorakaler Blutungen — soweit sie noch nicht versorgt wurden — sodann intrakranieller Blutungen, perforierender Augenverletzungen, Querschnittslähmungen, Beckenfrakturen mit unstillbarer Blutung oder mit Urogenitalverletzungen, offener Frakturen und von Gelenkverletzungen. Sofern vertretbar, werden auch Frakturen der großen Röhrenknochen durch Osteosynthese versorgt. Stufe IV ist die intensivmedizinische Behandlung mit dem Ziel der Stabilisierung und Aufrechterhaltung möglichst aller Organfunktionen. Der Verletzte wird beatmet, der Kreislauf stabil gehalten, Flüssigkeitszufuhr und -ausfuhr werden bilanziert, die Nierenfunktion wird überwacht (Urinproduktion, Retentionswerte, Kreatininclearance), bei Verbrauchskoagolopathie erfolgt der Faktorenersatz.
14.3 Maßnahmen im Krankenhaus
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Fließdiagramm zur Untersuchungstechnik bei Schwerverletzten Unfallhergang ermitteln erster Hinweis auf Verletzungen
Vitalfunktionen prüfen
von kranial nach kaudal
A-
Atmung
B -
Bewußtsein
C -
Circulation
Schädel-Hirn-Trauma Bewußtseinsstörung Hämatomverdacht hyper- oder hypotones Syndrom
HWS-Verletzung
Fraktur
Brustkorbverletzung Spannungspneumothorax offener Thorax instabiler Thorax Herztamponade
Bauchverletzung Organ Verletzung mit intraabdomineller Blutung
Knochenbrüche geschlossene oder offene Frakturen Blutverlust (Schock)
• Dyspnoe? • Schmerzen? » T h o r a x atembeweglich? • Zyanose? • Augen öffnen? Koma? * Pupillen? • Schocksymptome?
• Austritt von Hirn, Blut, Liquor aus Wunden, M u n d , Nase, Ohren? • Augen öffnen? • Anisokorie? Lichtreaktion? • bds. weite Pupillen? • Streck- und Beugesynergismen? • starke Unruhe?
» Ruhe-/Bewegungsschmerz • Prellmarken, H ä m a t o m im Nacken • Dislokation der Dornfortsätze • Paraplegie • Reflexe abgeschwächt/aufgehoben • Sensibilitätsausfall
• Schmerzen? • Dyspnoe, Zyanose? • äußere Verletzungszeichen? • Einflußstauung? • Kompressionsschmerz? • Hautemphysem? * hypersonorer Klopfschall? • Atemgeräusche? • paradoxer Atemtyp? • Schockzeichen?
• Schmerzen? » äußere Verletzungszeichen? * Abwehrspannung? • Druckschmerz? • Resistenzen? • Flankendämpfung? • Schockzeichen?
• Schmerzen? • abnorme Stellung der Gliedmaßen? • abnorme Beweglichkeit der Gliedmaßen? • Schwellungen, Verformungen? • Durchblutung? • Sensibilität und Motorik? • Schockzustand?
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Stufe V ist die dritte Operationsphase nach Optimierung der Vitalfunktionen. Jetzt können verzögerte Operationen zur Organ- und Funktionserhaltung durchgeführt werden. Dazu gehörten Verletzungen des Gesichtsschädels, instabile Frakturen des Beckens und der Wirbelsäule sowie die ^xtremitätenfrakturen nach Abschwellen der Frakturödeme.
14.4 Verletzungsschwere Die standardisierte Bewertung und Beschreibung von Art und Schwere einer Verletzung ist in vielfacher Hinsicht von großer Bedeutung. Ein einfaches, allgemein anwendbares System der Klassifizierung einer Verletzung ermöglicht Hinweise zur Morbidität und Letalität, zum Management der Versorgung mit Prioritätenfolge, zur Therapieplanung und -prüfung und kann bereits am Unfallort zu praktischen Konsequenzen bei der Entscheidung des Notarztes über die Wahl des anzufahrenden Krankenhauses führen. Schließlich lassen sich mit Hilfe eines Score-Systems Patientenkollektive verschiedener Behandlungszentren beschreiben, katalogisieren und vergleichbar machen. Bekannt ist vor allem der Abbreviated Injury Score (AIS) und der davon abgeleitete Injury Severity Score (ISS). Als Beispiel einer Klassifizierung von Verletzungen wird der an der Unfallchirurgischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover entwickelte Verletzungsschlüssel genannt, der nach einem Punktesystem die Verletzten in 4 Gruppen unterschiedlicher Schweregrade einteilt (Tab. 14/2). Tabelle 14/2
Polytraumaschlüssel (PTS) der Medizinischen Hochschule Hannover
PTSS (Schädel)
1
SHT I o 4 1 3 - 1 5 (Punkte GCS) SHT 2° ^ 8 - 1 2 (Punkte GCS) SHT 3° 4 3 - 7 (Punkte GCS) Mittelgesichtsfraktur Schwere Mittelgesichtsfraktur PTSA (Abdomen)
12 2 4
2
Milzruptur Milz- und Leberruptur Leberruptur (ausgedehnt) Darm, Mesenterium, Niere, Pankreas PTSE (Extremitäten)
4 8
9 13 (18) 13 (18) 9
3
Zentraler Hüftverrenkungsbruch Oberschenkelfraktur einfach Oberschenkelstück-, Trümmerfraktur Unterschenkelfraktur Knieband, Patella, Unterarm, Ellenbogen, Sprunggelenk Oberarm, Schulter Gefäßverletzung oberhalb Ellbogen bzw. Kniegelenk
12 8 12 4 2 4 8
14.4 Verletzungsschwere Gefäßverletzung unterhalb Ellbogen bzw. Kniegelenk Oberschenkel-, Oberarmamputation Unterarm-, Unterschenkelamputation Je offene 2°- und 3 "-Fraktur Große Weichteilquetschung PTST (Thorax)
4 12 8 4 2
4
Sternum, Rippenfrakturen (1—3) Rippenserienfrakturen Rippenserienfrakturen beidseitig Hämato-, Pneumothorax Lungenkontusion Lungenkontusion beidseitig Instabiler Thorax zusätzlich Aortenruptur PTSB (Becken)
2 5 10 2 7 9 3 7
5
Einfache Beckenfraktur Kombinierte Beckenfraktur Becken- und Urogenitalverletzung Wirbelbruch Wirbelbruch/Querschnitt Beckenquetschung Alterseinfluß
143
3 9 12 3 3 15
6
Alter [Jahre] 0- 9 10-19 20-29 30-39 40—49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75PTS-Gruppierung:
1—11: Gruppe I 1 2 - 3 0 : Gruppe II (ECS = Glasgow Come Scale)
0 0 0 0 1 2 3 5 8 13 21 31—49: Gruppe III 5 0 - : Gruppe IV
Weiterführende Literatur Härtel, W., F.W. Ahnefeld, C.Herfarth: Polytrauma, perimed, Erlangen 1983 Peter, K., P. Lawin, F.Jesch: Der polytraumatisierte Patient. Thieme, Stuttgart 1982 Streicher, H . J . , J.Rolle: Mehrfachverletzungen. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1980 Ungeheuer, E.: Das Polytrauma. Urban Sc Schwarzenberg, München-Wien—Baltimore 1985 Vecsei, V., J. Probst, C. A. Richon (Hrsg. des Kongreßberichtes): Der Schwerverletzte. In: Hefte zur Unfallheilkunde 148 (1980)
15 Röntgenuntersuchung des Unfallverletzten
Die Röntgenuntersuchung des Unfallverletzten im Krankenhaus erfordert eine röntgentechnische Ausstattung des Notfallaufnahme- oder Schockraumes, mit der alle notwendigen Aufnahmen schnell und problemlos angefertigt werden können. Bei Verwendung von Gleitmatratzen, auf die der Verletzte bereits am Unfallort gelagert wird, läßt sich ein Umlagern des Patienten weitgehend vermeiden, weil er in der Klinik nach einmaliger Umlagerung auf einen speziellen Transportwagen alle diagnostischen und auch die ersten therapeutischen Stationen auf dieser Gleitmatratze durchläuft. Die Computertomographie hat sich auch in der Traumatologie, besonders im Schädelbereich, einen festen Platz erobert. Sie ermöglicht es, ohne patientenbelastende Angiographie raumfordernde intrakranielle Prozesse schnell und präzise zu diagnostizieren und zu lokalisieren.
15.1 Allgemeine Grundsätze zur Röntgenuntersuchung • Die (operative) Versorgung akut lebensbedrohlicher Komplikationen steht vor zeitraubenden diagnostisch-röntgenologischen Verfahren; • Der Unfallverletzte ist zunächst vom Arzt zu untersuchen, der die Indikation zur Röntgenuntersuchung stellt. Er muß entscheiden, ob Notverbände oder Schienen entfernt oder belassen werden, ob und wie der Patient umgelagert werden darf; • Mehrfachverletzungen erfordern eine ausgedehnte Röntgendiagnostik, damit nicht z.B. Wirbelfrakturen, Hüft- und Schultergelenkluxationen oder innere Verletzungen übersehen werden; • Oberflächliche Weichteilverletzungen bedürfen im allgemeinen keiner Röntgenuntersuchung. Diese ist jedoch angezeigt, wenn eine gefährliche Fremdkörperverletzung vorliegt, eine Splitterverletzung am Auge, eine Stichverletzung am Thorax oder im Abdomen oder eine offene Gelenkverletzung; • Indirekte traumatische Schäden, wie z. B. Lungeninfarkt, Fettembolie, toxisches oder kardiales Lungenödem oder Streßulkus, sind durch eine Röntgenuntersuchung ebenfalls nachzuweisen, bzw. können dadurch ausgeschlossen werden; • Bei jeder Röntgenuntersuchung ist auf unfallunabhängige Befunde zu achten, am Skelett können normale Variationen leicht mit pathologischen Veränderungen verwechselt werden.
15.3 Spezielle Aufnahmetechniken
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15.2 Indikationen zur Röntgenuntersuchung nach Verletzungen • • • • • • • • •
Verdacht auf eine Knochenverletzung; Schädel-Hirn-Trauma, besonders mit Bewußtseinsstörungen; stumpfes oder offenes Thoraxtrauma; stumpfes oder offenes Bauchtrauma; Nierenkontusion oder Beckentrauma mit Hämaturie oder Miktionsstörungen; Fremdkörperverletzungen; Verletzung der Weich teile mit möglicher Beteiligung innerer Organe; frakturbedingte Gefäßverletzungen; Polytrauma: immer Schädel (bei Bewußtseinsstörung), HWS, Thorax, Becken.
15.3 Spezielle Aufnahmetechniken 15.3.1 Schädel Röntgenaufnahmen des Schädels sind indiziert bei: • allen Mehrfachverletzungen mit schwerem Schock und Trübung des Sensoriums, gröberen Weich teil Verletzungen am Kopf oder penetrierenden Verletzungen; • allen Verletzungen durch Schlag oder Steinwurf zum Ausschluß einer Impression. Dies gilt auch bei intakter Haut; • anhaltender oder zunehmender neurologischer Symptomatik, vor allem, wenn diese seitenbezogen ist und eine intrakranielle Blutung vermutet wird. Röntgenaufnahmen des Schädels sind entbehrlich bei: • einfachen Kopfverletzungen, wenn Anamnese und Befund den Ausschluß einer Hirnschädigung mit genügender Sicherheit erlauben. Röntgenaufnahmen des Schädels sollen nicht immer als Maßnahme der ersten Stunde gelten, oft sind sie an einem der folgenden Tage einfach und dann technisch einwandfrei anzufertigen. Routinemäßige Aufnahmen: Schädel a.-p. und lateral. Zum Nachweis von Impressionsfrakturen ist zusätzlich oft eine tangentiale Aufnahme nötig, bei Sturz auf den Hinterkopf eine Occipitalaufnahme. Diese Übersichtsaufnahmen geben ausreichend Auskunft über Art, Ausdehnung und Lokalisation knöcherner Verletzungen. Häufig sind nach Bedarf Spezialaufnahmen des Nasenbeins, der Jochbeine, Felsenbeine, der Schädelbasis, des Unterkiefers, der Kiefergelenke und der Zähne anzufertigen. Diese sind beim Frischverletzten schwierig, wenn nicht gar unmöglich durch-
146
15 Röntgenuntersuchung des Unfallverletzten
zuführen und werden zweckmäßigerweise erst einige Tage später angefertigt nach Abklingen der akuten Erscheinungen von Seiten der Schädel-Hirn-Verletzung. Neben der Beurteilung des allgemeinen Ausmaßes der Schädelverletzung steht im Vordergrund die Abklärung einer vorhandenen oder sich entwickelnden raumfordemden intrakraniellen Blutung. Dabei sind zerebrale Angiographien indiziert, wenn durch normale Untersuchungsverfahren und Röntgenaufnahmen der eindeutige Ausschluß einer intrakraniellen Blutung nicht möglich ist. Zum röntgentechnischen Nachweis dominiert dabei die zerebrale Serienangiographie, bzw. das Karotis-Angiogramm, Epidurale und subdurale Blutungen werden dabei durch gezielte Darstellung der A. carotis externa nachgewiesen. Die Computertomographie bietet den großen Vorteil, ohne patientenbelastende Angiographie auf schnellstem Wege ein Bild über Art und Ausmaß intrakranieller Blutungen zu vermitteln. Daher hat heute das CT beim akuten Schädel-HirnTrauma fast alle anderen diagnostischen Methoden verdrängt.
15.3.2 Wirbelsäule Bei Schädelverletzungen sollte in jedem Fall auch eine Röntgenuntersuchungen der Halswirbelsäule durchgeführt werden. Grundlage dafür sind auch hier Übersichtsaufnahmen in zwei Ebenen, ergänzt durch eng eingeblendete Ausschnittsaufnahmen. Luxationen und Luxationsfrakturen sind dabei auch auf notfallmäßig angefertigten Röntgenbildern auffallend. Schwierig ist wegen der Schultern die Anfertigung lateraler Aufnahmen. Man kann sich dabei durch folgende Methoden behelfen: • occipito-cervicale Aufnahme durch die Mundhöhle; • seitliche Aufnahme, auf das Kieferglenk zentriert; • Schrägaufnahme mit etwa 10° Unterschied zur seitlichen für die cervico-dorsale Verbindung.
15.3.3 Thorax Bei allen Thoraxverletzungen ist die Röntgenuntersuchung absolut indiziert. Übliche Röntgenaufnahmen sind die Thorax-Übersicht a.—p. sowie seitlich zur Beurteilung von Rippenfrakturen, wenn möglich im Stehen oder Sitzen. Brustbeinfrakturen sind im seitlichen Bild des Thorax oder Sternums am besten darstellbar. Schichtaufnahmen können insbesondere zum Nachweis von Luxationen im Sternoklavikulargelenk angewendet werden.
15.3 Spezielle Aufnahmetechniken
147
Die Röntgenuntersuchung soll schließlich den Nachweis oder den Ausschluß einer Zwerchfellruptur erbringen sowie Art und Umfang der Ruptur und einen eventuellen Eingeweideprolaps darstellen. Durchleuchtung unter verschiedenen Einfallswinkeln gehört ebenfalls zur röntgendiagnostischen Abklärung von Thoraxverletzungen. Inkomplette Rupturen großer Gefäße sind am besten durch eine Hartstrahlaufnahme oder eine überbelichtete Aufnahme des Mediastinums darzustellen. Im Zweifelsfalle sowie bei einer Mediastinalverbreiterung, einer Verlagerung von Ösophagus und Trachea, einem traumatisch bedingten Gefäßgeräusch, einem nicht sistierenden Hämothorax, beim Nachweis einer Blutdruckdifferenz an den Armen und bei einem Koarktationssyndrom muß eine angiographische Abklärung erfolgen.
15.3.4 Abdomen Nach initialer Schocktherapie und Stabilisierung des Kreislaufs sind Patienten mit stumpfen Bauchverletzungen unverzüglich einer Röntgenuntersuchung zu unterziehen, zumal die klinische Befunderhebung allein nicht immer eine exakte Diagnose ermöglicht. Folgende Aufnahmen sind angezeigt: • die Thorax- und Abdomenübersicht in Rückenlage des Patienten als Routineuntersuchung; sie muß besonders bei Polytraumatisierten angefertigt werden; • die Abdomenübersicht in Links-Seitenlage des Patienten (wenn dieser nicht stehen kann) zum Nachweis perforierender Gastrointestinalverletzungen (Luft in der freien Bauchhöhle); • konventionelle Kontrastmitteluntersuchung des Magen-Darm-Kanals (eventuell mit wasserlöslichem Kontrastmittel), wenn die Abdomenübersichtaufnahme entsprechende Befunde ergibt; • die abdominelle Übersichtsaortographie zum Nachweis schwerer Organverletzungen und zur Darstellung der anatomischen Verhältnisse, wenn die klinische Untersuchung oder die Abdomenübersichtsaufnahme intraabdominelle Läsionen vermuten läßt; • die selektive Katheterangiographie (eventuell in 2 Ebenen) zur detaillierten Beurteilung des verletzten Organs, wenn die Übersichtsangiographie keine sichere Diagnose gestattet. Bei intraabdominellen Verletzungen ist in hohem Maße der Urogenitalbereich, insbesondere die Niere, betroffen. Zur diagnostischen Abklärung wird zunächst wieder die Abdomen-Übersichtsaufnahme angefertigt. Danach erfolgt ein intravenöses Urogramm (nicht im Schock!), bzw. eine retrograde Pyelographie bei einseitig verminderter oder fehlender Kontrastmittelausscheidung. Ist auch daraus keine
148
15 Röntgenuntersuchung des Unfallverletzten
sichere Diagnosestellung möglich, so ist eine Nierenangiographie angezeigt. Die röntgenologische Abklärung von Verletzungen der Harnblase, der Urethra, von Blasenkontusionen, bzw. Blasenrupturen und von Harnröhrenverletzungen erfolgt ebenfalls durch ein i.v. Urogramm oder ein Zystogramm über transurethrale oder suprapubische Katheter oder durch die Urethro-Zystographie.
15.3.5 Becken Wegen der häufigen und schwerwiegenden Nebenverletzungen sollten bei jedem Verdacht auf eine Beckenverletzung die zum Nachweis oder Ausschluß einer Bekkenfraktur erforderlichen Aufnahmen angefertigt werden: • Beckenübersicht a.-p. Finden sich auf der Beckenübersicht unterschiedliche Hüftkopfgrößen, so besteht der Verdacht auf eine Hüftkopfdislokation und eine Hüftgelenkspfannenfraktur. • Ala-Aufnahme (das Becken wird auf der gesunden Seite um 45° angehoben) zum Nachweis dorsaler Pfeilerbrüche des Acetabulum. • Obturator-Aufnahme (das Becken wird auf der verletzten Seite um 45° angehoben) zum Nachweis ventraler Pfeilerbrüche und dorsaler Pfannenrandbrüche des Acetabulum. • Aufnahmen in a.-p. Projektion mit Richtung des Zentralstrahles 20°-30° von kranial und evtl. 10°—20° von kaudal bei unklaren Befunden, besonders im Schambein-Sitzbein-Bereich. • Laterale Aufnahmen zur günstigen Abbildung von Kreuz- und Steißbeinfrakturen. • Tomographie bei Überlagerung des darzustellenden Objektes durch Darminhalt oder zum Nachweis einer Lockerung/Subluxation im Ileosakralgelenk. • Die CT ist wegen ihrer hohen diagnostischen Treffsicherheit insbesondere bei Verletzungen im hinteren Beckenringbereich und an der Hüftpfanne eine ganz wesentliche Bereicherung der Röntgendiagnostik von Beckenverletzungen, zumal besonders bei Mehrfachverletzten Röntgenaufnahmen, die eine spezielle Lagerung des Verletzten erfordern, oft nicht möglich sind.
15.3.6 Extremitäten Bei Extremitätenverletzungen dient die Röntgenaufnahme zur Abklärung und Dokumentation von Knochenbrüchen und Verrenkungen; ohne Röntgenaufnahme keine Behandlung von Extremitäten! Bei Verdacht auf Knochen- oder Gelenkverletzungen müssen vor und nach Einrichten sowohl einer Fraktur als auch einer Luxation Röntgenbilder gemacht werden!
1 5 . 3 Spezielle Aufnahmetechniken
149
Regeln zur Röntgenuntersuchung an Extremitäten: • Röntgenaufnahme immer in zwei aufeinander senkrechten Ebenen anfertigen — keine alleinige Durchleuchtung; • verdächtige Stelle in Bildmitte einstellen; • bei Röhrenknochen muß mindestens ein benachbartes Gelenk, besser sollen beide Gelenke auf einer Aufnahme dargestellt sein; sofern nur ein Gelenk sichtbar ist, muß das zweite Gelenk gesondert aufgenommen werden. Auf diese Weise werden gleichzeitige (Sub-)Luxationen der benachbarten Gelenke nicht übersehen, und es kann aus der Stellung der beiden Gelenke zueinander auf eine Verdrehung der Bruchenden geschlossen werden; • in Zweifelsfällen Vergleichsaufnahmen mit der unverletzten Gegenseite anfertigen, insbesondere bei Jugendlichen mit noch offenen Epiphysenfugen (Verwechslungsgefahr mit Frakturen); • in besonderen Fällen sind Dreh-, Vergrößerungs- oder Schichtaufnahmen erforderlich; • unmittelbar nach einer Reposition sowie in den ersten Wochen der Bruchkonsolidierung regelmäßig Röntgenkontrollen machen, um nachträgliche Dislokationen rechtzeitig zu erkennen — auch bei Extensionsbehandlung der Fraktur! • Wenn der klinische Befund durch Instabilität eines Gelenkes einen Bänderriß vermuten läßt, kann mit der „gehaltenen Aufnahme" der Riß durch „Aufklappen" des betroffenen Gelenkes röntgenologisch dokumentiert werden. Dies gelingt nur bei entspannter Muskulatur. „Gehaltene Röntgenaufnahmen" können in Ergänzung einer exakten klinischen Untersuchung Auskunft geben über das Ausmaß einer Verletzung sowie über Art und Dauer der Behandlung. Sie können bei Bandverletzungen an Schulter-, Ellbenbogen-, Finger-, Knie- und Sprunggelenken angezeigt sein. Bei frischen Verletzungen ist diese Aufnahmetechnik nur in „örtlicher" Betäubung möglich; nach Abschluß der Behandlung kann sie zum Nachweis eines Schlottergelenks herangezogen werden. Einige Tage alte Bandverletzungen sollten wegen der sekundären Schädigungsmöglichkeiten besser nicht „aufgeklappt" werden. Die röntgenologisch erkennbare Breite eines „Gelenkspaltes" entspricht nicht dem anatomischen Gelenkspalt, sondern umfaßt den Raum zwischen den röntgenologischen Gelenkflächen. Normale Breite der röntgenologisch dargestellten Gelenkspalten (nach Cocchi und Thum) 2 mm Kiefergelenk 3—5 mm Sternoklavikulargelenk 2 mm Wirbelgelenk 5 mm Intervertebralscheibe 4 mm Schultergelenk 3 mm Ellenbogengelenk
150
15 Röntgenuntersuchung des Unfallverletzten
Radiokarpalgelenk Interkarpalgelenk Metakarpophalangealgelenk Ileosakralgelenk Symphyse Hüftgelenk Kniegelenk Sprunggelenk Intertarsalgelenk Metatarsalgelenk Tarsometatarsalgelenk Zehengelenk
2—2,5 1,5—2 1,5 3 4—6 4-5 3—5 3—4 2—2,5 2—2,5 2—2,5 1,5
mm mm mm mm mm mm mm mm mm mm mm mm
Angiographie der Extremitätenarterien Besteht bei Extremitätenfrakturen und bei Luxationen der Verdacht auf eine arterielle Beteiligung, so sollte eine frühzeitige angiographische Diagnostik und Lokalisation der Läsion die gezielte gefäßchirurgische Versorgung ermöglichen. Läsionen größerer Arterien können bei zu später Diagnose und Behandlung zum partiellen oder totalen Verlust der Gliedmaße führen. Fehlende oder abgeschwächte periphere Pulse, blasse und kalte Haut, Schmerzen der Extremität sowie die Zeichen einer äußeren oder inneren Blutung (hämatombedingte Zunahme des Extremitätenumfangs) sind Symptome für Verletzungen großer Gefäße und stellen die Indikation für eine sofortige Angiographie dar. Je nach Lokalisation des Traumas werden entweder die Gefäße direkt punktiert (A. femoralis, A. brachialis/axillaris), oder es wird eine selektive Artériographie durchgeführt.
Weiterführende Literatur Birzle, H., R. Bergleiter, E. H. Kuner: Traumatologische Röntgendiagnostik. Thieme, Stuttgart 1975.
B. Spezieller Teil
16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten H. Matthes
16.1 Einleitung Die Wahl von Art und Technik der Anästhesie — lokale, regionale Analgesie oder Allgemeinbetäubung — für die operative Versorgung des Unfallverletzten wird von der Ausdehnung und den Folgen des Traumas, Nebenerkrankungen und Alter des Patienten bestimmt. Sind die dringenden Nothilfen am Unfallort: Freihaltung der Atemwege und Unterstützung der Atmung, Unterbindung von Blutungen, Stützung des Kreislaufes und die Behandlung des Schocks erfolgt, so fordern der volle Magen und Nebenleiden vordringliche Beachtung, um einer weiteren Gefährdung des Lebens rechtzeitig und wirksam zu begegnen. Der verletzte Patient ist gewöhnlich nicht nüchtern. Der Magen kann mit festen und flüssigen Substanzen unbekannter Menge gefüllt sein. Bei Verletzungen im Kopf-Hals-Bereich kommen oft nicht unerhebliche Mengen verschluckten Blutes hinzu. Während der Einleitung, Durchführung und Ausleitung einer Allgemeinbetäubung drohen Erbrechen und Regurgitation. Auch können die Atemwege durch andere Fremdkörper verlegt werden. Eine Irritation der Glottis chemisch oder mechanisch führt zum Laryngospasmus und das Eindringen von saurem Magensaft in die Atemwege und Lungen zum Mendelson-Syndrom: Schwere spastische Reaktion mit Dyspnoe, Tachykardie und Zyanose. Der Magen kann trotz eines Unfalles vereinzelt nach 4 bis 6 Stunden leer sein, obwohl zuvor eine Mahlzeit eingenommen wurde. In den meisten Fällen ist jedoch auch nach 6 bis 12 Stunden und länger der Magen gefüllt. Deshalb muß bei jedem Patienten, der sich am Tage des Unfalles einer Narkose unterzieht, mit der Aspirationsgefahr gerechnet werden (L.J. Wolfson). An Allgemeinleiden sind bei den Patienten pathologische Veränderungen und Leistungsminderungen der Kreislauf- und Atmungsorgane, Stoffwechselstörungen, Funktionseinschränkungen der parenchymatösen Organe, neurologische Leiden und Hyperergien zu berücksichtigen. Verletzter, Angehörige oder ein medizinischer Paß geben Auskunft über eine bestehende Therapie mit Steroiden, Diuretika, Antihypertonika, Beta-Blockern oder Antikoagulantien. Eine sorgfältige Erhebung der allgemeinen und speziellen Anamnese ist — soweit möglich — dringend erforderlich.
154
16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
16.2 Lokale und regionale Analgesien Unter Berücksichtigung der Verletzungsart und der angeführten behandelten und unbehandelten Nebenleiden sind die lokalen und regionalen Analgesien vorzuziehen (Tab. 16/1). Es empfiehlt sich, von den Lokalanästhetika die vom Amid-Typ: Lidocain, Mepivacain, Prilocain und Carticain in 0,5, 1 und 2%iger Lösung zu wählen, da diese bei korrekter Dosierung und Applikation optimale Analgesie und die geringsten Nebenwirkungen bieten. Bestehen keine allgemeinen Kontraindikationen — koronare Minderdurchblutung, tachykarde Rhythmusstörungen, Hyperthyreose, Frühgravidität - sind Adrenalin (Suprarenin®) 1 : 1 0 0 0 0 0 bis 1 : 4 0 0 0 0 0 (Maximal-Dosis beim Erwachsenen: 0,2 bis 0,25 mg) oder Ornithin-8-Vasopressin 1 E auf 10 ml zur Vasokonstriktion und Resorptionsverzögerung zuzufügen. Ornithin-8-Vasopressin ist kein Katecholamin-Derivat, so daß bei Übergang zu einer Allgemeinbetäubung ohne Bedenken halogenierte Narkotika — Halothan, Enflurane — verwendet werden können (Abb. 16/1). Max. Dosis 2,5 I.E.
Glutamin
Phenylalanin /
\ T y rosin
Asparagin
Cystin """
I Prolin
I Ornithin
I Glycinamid
Abb. 16/1
POR-8-Sandoz.
Für Infiltrationsanalgesien dienen die 0 , 5 % igen, für Leitungsanalgesien die 1 bis 2%igen Lösungen je nach Stärke der zu blockierenden Nervenfasern oder -Stämme. Wenn auch geringfügige Schwankungen in der Dosierung angegeben werden, so sollte bei den vier genannten Lokalanästhetika ohne Vasokonstriktoren-Zusatz eine Dosis von 3 mg/kg KG, mit Vasokonstriktoren-Zusatz 5—6 mg/kg KG nicht überschritten werden. Für Kinder, adipöse oder alte und reduzierte Menschen ist die errechnete Maximaldosis angemessen herabzusetzen.
155 Tabelle 16/1
Lokalanästhetika vom Amid-Typ kurz bis mittellang wirkend (Leitungsanalgesien) Konzentr.
max. Dosis mg/kg KGW
%
Dauer Min.
Ultracain (Carticain) 1970
1-2
Vasokonstriktor
ohne mit
4 7
3 0 - 45 4 5 - 90
Xylocain (Lidocain) 1 9 4 4
1-2
Vasokonstriktor
ohne mit
3 6
4 5 - 90 90-150
Meaverin (Mepivacain) 1 9 5 7
1-2
Vasokonstriktor
ohne mit
3 6
120-180 240-300
Xylonest (Prilocain) 1960
1-2
Vasokonstriktor
ohne mit
4 7
120-180 240-300
Die langwirkenden Lokalanästhetika: Bupivacain und Editocain kommen nur bei regionalen Analgesien — Plexus brachialis, Peridural-Raum und therapeutische Blockaden - zur Anwendung (Tab. 16/2). Die Maximaldosen ohne und mit Vasokonstriktoren-Zusatz liegen bei 2 mg/kg KG für Bupivacain und für Editocain bei 4 mg/kg KG. Lokalanästhetika sind Substanzen, die bei Überdosierung und versehentlicher intravasaler Injektion gefährliche Intoxikationen zur Folge haben. Sie zeigen sich in Reaktionen des zentralen Nervensystems: Unruhe, verwaschene Sprache, generelle Konvulsionen bis zum Atemstillstand und vom kardiovaskulären System: Hypotonie, Bradykardie und Asystolie. Die Therapie in der zentralnervösen Phase besteht in Sauerstoffgabe, langsamer intravenöser Injektion kleiner aber ausreichender Dosen eines Barbiturates, Diazepam oder Flunitrazepam mit nachfolgender Relaxation durch Succinylcholin, Intubation und Fortsetzung der Beatmung bis zur Erholung. Beeinträchtigungen des Kreislaufes behandelt man ebenfalls mit Sauerstoffbeatmung, die Hypotonie durch Plasmaexpander und Vasopressoren, wenn keine Konvulsionen bestehen. Das EKG muß überwacht werden und bei Asystolie externe Herzmassage und Schrittmacherstimulation zur Anwendung kommen. Elektrolytstörungen und Veränderungen des Säure-Basen-Haushaltes dürfen bei diesen Zwischenfällen nicht vergessen und müssen — wenn erforderlich — gezielt behandelt werden. Tabelle 16/2
Lokalanästhetika vom Amid-Typ langwirkend (Leitungsanalgesien) Konzentr.
%
max. Dosis mg/kg KGW
Dauer Min.
Meaverin „ultra" (Bupivacain) 1963
0,25-0,5
Vasokonstriktion
ohne mit
2 3
300-480 360-720
Duranest (Etidocain) 1972
0,5 - 1
Vasokonstriktion
ohne mit
3 4
240-450 300-600
156
16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
Intoxikationen durch Vasokonstriktoren speziell Katecholamin-Derivaten treten in Form von Unruhe, Hypertonie, Tachykardie, Tachyarrhythmien und Flimmern in Erscheinung. Die Therapie besteht in Sauerstoffgabe, Sedierung und wenn erforderlich Defibrillation und Stimulation. Nach Erfordernis können Beta-Rezeptorenblocker zur Anwendung kommen. Alle diese Maßnahmen müssen ohne Verzug erfolgen. Deshalb sollen grundsätzlich vor jeder lokalen und regionalen Analgesie die technischen und medikamentösen Hilfsmittel funktionsfähig und griffbereit zur Verfügung stehen. Das Instrumentarium für lokale und regionale Analgesien besteht aus Luer-LokSpritzen von 2 bis 10 ml, möglichst feinen Kanülen der Größen 2 bis 18 und Längen von 2,5 bis 12 cm. Aufschiebbare Kunststoffreiter sind bei speziellen Leitungsanalgesien zur Tiefenbestimmung und Verhütung von Nebenverletzungen nützlich. Klemme, Tupfer, Platten zum Waschen und Desinfizieren, sterile Handschuhe und selbstklebende sterile gerade oder ausgeschnittene Einmaltücher vervollständigen den Set. Die Verwendung von Einmalartikeln sichert vor Übertragung von Hepatitis-Viren und mindert die Aufbereitungsarbeiten für das Personal. Handelt es sich um unkomplizierte Weichteilverletzungen der verschiedenen Körperregionen, so ist die Umspritzungsanalgesie („field bloc") mit den Erfordernissen entsprechend langen Kanülen von vorher mit feiner Kanüle angelegten Intrakutanquaddeln das zweckmäßigste Analgesieverfahren (Abb. 16/2). Unter Beachtung der
Abb. 16/2 Limspritzungsanasthesie („tield Dloc").
16.2 Lokale und regionale Analgesien
157
Maximaldosen kommen die 0,5% igen Lösungen der Lokalanästhetika ohne oder mit Vasokonstriktoren-Zusatz zur Anwendung. Injektionen von den Wundrändern her sind wegen der Gefahr der Keimverschleppung zu vermeiden.
16.2.1 Gesichtsschädel Bei Weichteilverletzungen im Bereich des Gesichtsschädels können die Blockaden der Nn. supraorbitalis und -trochlearis, infraorbitalis und mentalis vor und in Kombination mit Umspritzungsanalgesien angewendet werden (Abb. 16/3). Die Nervi supraorbitalis und supratrochlearis werden durch eine subkutane Infiltrationsbarriere von der Nasenwurzel nach lateral hin erfaßt. Der analgetische Bezirk reicht bis zur Scheitelhöhe. Den Nervus infraorbitalis blockiert man entweder von der Wangenseite oder vom Vestibulum oris nach seinem Austritt aus dem Foramen infraorbitale und erzielt einen analgetischen Bezirk der Wangenvorderfläche von den Unterlidern bis zum Oberlippenrot. Der Nervus mentalis wird in der Mitte des horizontalen Unterkieferastes in der Fortsetzung einer Vertikalen von der Incisura supraorbitalis über
158
16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
das Foramen infraorbitale zum 1. Prämolaren aufgesucht. Die Analgesie umfaßt den Kinnbereich. Die Konzentrationen und Volumina der Lokalanästhetika für diese Blockaden sind in der Tabelle 16/3 wiedergegeben. Diese Blockaden bieten Analgesien ohne Verquellung des Gewebes, was in Regionen, die exakte Nähte — z. B. Lippenrot — erfordern, von Bedeutung ist. In Grenzbereichen sind wegen der Überlappung der nervösen Versorgung Infiltrationsbarrieren erforderlich. Eingriffe am Auge, Ober- und Unterkiefer erfordern eine retroculäre Injektion und Blockaden der Nervi ethmoidales, maxillaris und mandibularis. Bei großen Eingriffen am Gesichtsschädel und Ober- und Unterkiefer sollte man jedoch nach Abwägung des Risikos die Vorteile der Intubationsnarkose berücksichtigen. Tabelle 16/3
Dosierung der Lokalanästhetika im Gesicht
Blockade
Volumen
Lokalanästhetika
N n . supraorbitalis, supratrochlearis N. infraorbitalis N . mentalis N . maxillaris N . mandibularis N . ethmoidalis anterior
5 ml
Ultracain, Xylocain, Xylonest, Scandicain 1—2%ig mit Vasokonstriktoren-Zusatz
2 2 5 7 3
Retrooculär
3 ml
ml ml ml ml ml ohne Vasokonstriktor
16.2.2 Plexus brachialis Für die Leitungsanalgesien der oberen Extremität kommen vier Zugänge in Betracht: • interskalenär, supraklavikulär, perivaskulär, axillär. In allen diesen Abschnitten laufen die Faszikel des Plexus brachialis — CIV/V bis Th 1 — perivaskulär in einem schlauchförmigen Raum, der ausgehend von prävertebral bis zur Axilla von Faszie umhüllt ist. (Abb. 16/4). Außer der Gefahr der Gefäßpunktion in diesem gesamten Bereich muß bedacht werden, daß bei der interskalenären Technik der Peridural- und Subarachnoidal-Raum, bei der supraklavikulären Blockade die Pleurakuppel verletzt werden können. Als Nebenwirkungen sind die vorübergehende Lähmung des Nervus phrenicus und die Blockade der zervikothorakalen Sympathikuskette zu verzeichnen. Allein bei der axillären Blockade des Plexus brachialis treten diese Komplikationen und Nebenwirkungen nicht auf. Sie sollte deshalb vorgezogen werden, wenn keine Hinderungsgründe — der Arm kann nicht abgespreizt werden, die Haut in der Axilla ist infiziert, es besteht ein Ekzem — vorliegen.
16.2 Lokale und regionale Analgesien
159
Vor allen Blockaden wird eine Verweilkanüle gelegt, und Blutdruck und Puls sind in regelmäßigen zeitlichen Abständen zu messen. Zur interskalenären Blockade des Plexus brachialis (A.P.Winnie u.a.) liegt der Patient flach mit leicht angehobenem Körper, der Kopf ist zur Gegenseite gedreht (Abb. 16/5). Die Punktion erfolgt in Höhe des tastbaren Querfortsatzes vom 6. Halswirbel, der sich am dorsalen Punkt einer Linie vom Krikoid zur interskalenären Einsenkung findet. Die Kanüle wird nach kaudal — dorsal — medial zum Querfortsatz hin gerichtet. Nach Auslösen von Paraesthesien oder Berührung des Querfortsatzes erfolgt die Applikation des Lokalanästhetikum. Das erforderliche Volumen wird von der erwünschten Ausdehnung auf die zervikalen und zervikalbrachialen Faszikel bestimmt und liegt zwischen 20 und 40 ml einer l%igen Lösung. Eine peridurale oder subarachnoidale Injektion muß durch korrekte Technik mit kurzer Kanüle verhütet werden. Die Pleurakuppel ist in dieser Höhe nicht gefährdet. Ist ein Tourniquet aus operativen Gründen erforderlich, so muß der Nervus intercostobrachialis (Nervus thoracalis II) durch subkutane Infiltration mit 10 ml eines 0,5%igen Lokalanästhetikums mit Vasokonstriktoren-Zusatz in Höhe des unteren Randes der Axilla ausgeschaltet werden. Für die supraklavikuläre Blockade des Plexus brachialis (D.Kulenkampff, J.Patrick) befindet sich der Patient in Rückenlagerung, Kopf und Oberkörper um etwa 10° angehoben, das Gesicht zur Gegenseite gewendet. Die Punktionsstelle liegt
160
16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
Processus spinos. C 6
Abb. 16/5 Die interskalenäre Blockade.
unmittelbar über der Mitte der Klavikula direkt lateral des Pulses der Arteria subclavia. Die kurze feine Kanüle, bereits mit der gefüllten Injektionsspritze verbunden, wird nach dorsal, medial, kaudal gerichtet, und je nach Konstitution des Patienten wird der Plexus brachialis in 1 bis 3 cm Tiefe erreicht. Parästhesien in Fingern, Hand oder Unterarm zeigen an, daß die Kanüle Faszikel des Armnervengeflechtes berührt hat (Abb. 16/6). Die Injektion des Lokalanästhetikums 1 oder 2% ig mit Vasokonstriktoren-Zusatz, nicht mehr als 5 bis 6 mg/kg KG, kann nun vorgenommen werden.
16.2 Lokale und regionale Analgesien
161
Abb. 16/6 Die supraklavikuläre Blockade des Plexus brachialis.
Eine endoneural Infiltration - verstärkte Parästhesie - darf nicht erfolgen. Die Verteilung des Mittels erfolgt nach wiederholter Aspiration je nach Ausgangsposition in Richtung zur Arteria subclavia oder nach dorsalwärts von ihr im engen Bogen dem Verlauf der 1. Rippe entsprechend. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Plexus brachialis gewöhnlich oberflächlich verläuft, Emphysemblasen die Höhe der ersten Rippe erreichen können und bei Asthenikern die Pleurakuppel bis zum unteren Rand des 7. Halswirbelkörpers heraufragt. Die Verletzung der Pleurakuppel und der Lunge führt zu einem partiellen oder totalen Pneumothorax. M u ß unter diesen Umständen bei gleichzeitiger unvollständiger Analgesie eine Allgemeinbetäubung mit Beatmung ausgeführt werden, so droht der Spannungspneumothorax, der sofort eine Entlastungspunktion der betroffenen Seite erfordert. Sonst bestimmen Ausdehnung des Pneumothorax und Verlauf die Therapie: Aktiv
162
16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
oder abwartend unter Röntgenkontrolle. Nebenwirkungen dieser Leitungsanalgesien sind der Hornersche Symptomenkomplex und die passagere gleichseitige Parese des Nervus phrenicus. Letztere verdient Beachtung bei erheblichen Einschränkungen der Atemfunktion. Die perivaskuläre supraklavikuläre Technik (A. P. Winnie) wird ebenfalls am liegenden Patienten mit zur Gegenseite gedrehten Kopf ausgeführt, die Schulterregion ist entspannt, der Arm wird leicht in Richtung zum Knie gezogen. Während der Puls der Arteria subclacia unmittelbar lateral des Hinterrandes des Musculus scalenus anterior getastet wird, führt man eine feine 2,5 bis 4 cm lange Kanüle dorsal, tangential zur Arterie nach kaudal ein. Ein feines Knacken zeigt die Perforation der Faszie und das Eindringen in den perivaskulären Raum an (Abb. 16/7). Das nach Aspiration injizierte Volumen des Lokalanästhetikum bestimmt die Ausdehnung der Analgesie. Zur axillären Blockade des Plexus brachialis (G. Hirschel; R.J. Burnham; E. Erikson) liegt der Patient ebenfalls auf dem Rücken. Der Arm wird bis 90° abduziert und im Ellenbogengelenk bei 90° gebeugt gehalten. Eine Lagerung ohne Helfer besteht in Außenrotation des Armes, Beugung im Ellenbogengelenk und Legen des Handrückens neben dem Kopf („Sonnenbadestellung"). Nach Rasur der Axilla, sorgfältiger Waschung und Desinfektion erfolgt das Anlegen einer Abschnürung des Oberarmes in Höhe des Ansatzes des Musculus deltoideus nach distal und die
\
Abb. 16/7 Die perivaskuläre supraklavikuläre Blockade.
16.2 Lokale und regionale Analgesien
163
sterile Abdeckung. Der proximalste Punkt der Pulsation der Arteria axillaris wird aufgesucht und eine Intrakutanquaddel ober- bzw. unterhalb angelegt. Durch diese wird ober- und/oder unterhalb der Arterie eine Kanüle eingeführt (Abb. 16/8). Die Fascia axillaris bietet einen deutlichen Widerstand, der leicht proximal — tangential des Gefäßes überwunden wird. Bei korrekter Position im neurovasculären Raum bewegt sich die Kanüle pulssynchron. Das Lokalanästhetikum kann nur unter wiederholter Aspiration injiziert werden. Bei einer Dosierung der l%igen Lösungen von Carticain, Lidocain, Prilocain oder Mepivacain mit VasokonstriktorenZusatz von 5 - 6 mg/kg KG ergeben sich Volumina, die zwischen 30 und 50 ml liegen. So wird auch gewöhnlich der Nervus musculocutaneus, der den Nervus cutaneus antebrachei lateralis für den Unterarm abgibt, erfaßt. Ist dieser Nerv nicht betäubt worden, so kann er gesondert blockiert werden: 1. die Kanüle wird oberhalb des neurovaskulären Stranges in den Musculus coracobrachialis eingeführt, um 3 - 5 ml des Lokalanästhetikums zu injizieren; 2. Der Nervus cutaneus antebrachei lateralis kann radial des Lacertus fibrosus vor dem Musculus brachioradialis fächerförmig umspritzt werden. Ist bei den vorgenannten Blockadetechniken einer der drei Hauptnerven nicht erfaßt worden, so können sie peripher erreicht werden (Abb. 16/9 u. 16/10): 1. Der Nervus radialis zusammen mit dem Nervus cutaneus antebrachei lateralis radial des Lacertus fibrosus im Sulcus des Musculus brachioradialis; 2. der Nervus medianus ulnar des Lacertus fibrosus und der Arteria brachialis; 3. der Nervus ulnaris unmittelbar proximal vor seinem Eintritt in den Sulcus nervi ulnaris. Statt der perivaskulären Blockaden des Armnervengeflechtes proximal kann die intravenöse regionale Analgesie (A. Bier) gewählt werden. Voraussetzung ist eine sSilscTTlauc'h1"
IVI. deltoideus^ N. musculocutaneus Perivaskuläre Scheide N. A. V. N.
medlanus ax axillaris ulnaris
Abb. 16/8 Die axilläre Blockade des Plexus brachialis.
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16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
zuverlässige doppelte pneumatische Blutsperre, um sicher zu sein, daß es nicht infolge eines Lecks zur plötzlichen Einschwemmung des Lokalanästhetikums in den Kreislauf und Intoxikationserscheinungen kommt. Weiterhin muß man sich bewußt sein, daß die Analgesie nach Ablassen des Tourniquets innerhalb von 5 Minuten geschwunden ist. Der Eingriff muß also zuvor einschließlich Blutstillung, Hautverschluß und Verband beendet sein. Für eine intravenöse regionale Analgesie legt man hoch am Oberarm ein Doppel-Tourniquet an (Abb. 16/11). Nach Stauung wird eine periphere Vene mit einer Kunststoffkanüle punktiert. Durch Erhebung oder Auswickeln mit einer Esmarch-Binde bis zur distalen Manschette wird Blutarmut oder -leere erzeugt und die proximale bis zum erforderlichen Druck aufgepumpt. Jetzt erfolgt die intravenöse Injektion einer 0,5% igen Lösung eines Lokalanästhetikums vom Amid-Typ ohne Vasokonstriktoren-Zusatz. Das Volumen liegt
16.2 Lokale und regionale Analgesien
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beim Erwachsenen zwischen 40 und 60 ml = 2 - 3 mg oder 0,4—0,6 ml/kg KG. Nach der Applikation wird die distale Manschette auf den notwendigen Druck gebracht und die proximale abgelassen, damit die unangenehme Kompression von 300 mm Hg (= 400 Torr) nicht mehr empfunden wird. Vor Ablauf von 30 Minuten soll die Manschette nicht abgelassen werden und dann unter Beobachtung des Patienten nur in Intervallen.
16.2.3 Handgelenks- und Fingerblockaden Handelt es sich nur um kleinere Verletzungen im Bereich der Hand oder Finger, so kann der Handgelenks-Block oder die Fingergrundglied-Analgesie nach Oberst angewendet werden. Für den Handgelenks-Block wird ulnar wie radial des Sehnenbündel dicht oberhalb der Beugefalte nach Perforation des Ligamentum carpi volare mit feiner Kanüle l%iges Lokalanästhetikum, je 3 - 5 ml, appliziert, um die Nervi medianus und ulnaris zu unterbrechen. Der Ramus superficialis nervi radialis wird durch eine radiale subcutane Barriere erfaßt (Abb. 16/12). Zur Fingergrundgliedblockade wird immer Lokalanästhetikum ohne Vasokonstriktoren-Zusatz verwendet, um Durchblutungsstörung mit folgender Gangrän zu vermeiden. Auch ein zu großes Volumen kann bei schon eingeschränkter Versorgung zu gleichen Schäden führen. Nach Anlegen einer Intrakutanquaddel radial als auch ulnar am Rücken der Gliedwurzel genügen je 1 ml für die dorsalen und volaren Fingernerven (Abb. 16/13).
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16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
Abb. 1
16.2.4 Blockaden der unteren Gliedmaßen Verletzungen der unteren Extremitäten können je nach Erfordernis in Umspritzungs-Analgesie oder unter Blockaden der Faszikel aus dem Plexus lumbalis und sacralis: Nervi ischiadicus, femoralis, cutaneus femoris lateralis — gesondert oder als 3-in-l Block — und Nervi tibialis, suralis, fibularis superficialis und profundus und saphenus versorgt werden. Auch Umlagerungen können mit diesen Techniken schmerzfrei oder -arm ausgeführt werden. Ist jedoch neben einer sicheren, genügend langwirkenden Analgesie eine gute Entspannung der Muskulatur erforderlich, dann sind die subarachnoidalen oder periduralen Analgesien überlegen.
16.2 Lokale und regionale Analgesien
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Für die ventrale Blockade des Nervus ischiadicus wird nach Verbindung von Spina iliaca anterior superior und Tuberculum pubicum durch eine Gerade eine Parallele dazu vom Trochanter major aus nach ventral gezogen (Abb. 16/14). Die Vertikale, die durch den inneren Drittelpunkt dieser Linien nach distal — lateral verläuft, liegt mit dem Schnittpunkt der distalen Parallelen über dem Trochanter minor. Die hier vertikal eingestochene 12 cm lange, mit verschiebbarem Reiter versehene Kanüle trifft auf den kleinen Höcker. Der aufgeschobene Reiter wird auf 5 cm Hautabstand zurückgezogen und die Kanüle zur Passage des Trochanter minor leicht ventralabwärts gerichtet. Berührt der Reiter nach Verschieben der Kanüle die Haut, so liegt ihre Spitze in der Nähe des Nervus ischiadicus. Es können dabei auch Parästhesien ausgelöst werden. Nach Aspiration injiziert man 1 5 - 3 0 ml einer l%igen Lokalanästhetikum-Lösung mit Vasokonstriktoren-Zusatz. Die Blockade des Nervus femoralis erfolgt durch unterhalb des Leistenbandes lateral des Pulses der Arteria femoralis durch fächerförmige Infiltration mit 5—10 ml einer l%igen Lokalanästhetikum-Lösung mit Vasokonstriktoren-Zusatz in der Lacuna nervorum (Abb. 16/15). Die Ausschaltung des Nervus cutaneus femoris lateralis schließt sich an. Hierfür wird distal und medial der Spina iliaca anterior superior mit 10 ml einer 0,5 bis l%igen Lösung mit Vasokonstriktoren-Zusatz infiltriert. Für Operationen am Fuß ist an die Blockaden der Nervi saphenus, fibularis profundus und fibularis superficialis im Bereich der Vorderfläche des Knöchelgelenkes zu denken (Abb. 16/16). Sie erfolgen mit je 5 ml einer l%igen Lösung des Lokalanästhetikums ohne oder mit Vasokonstriktoren-Zusatz. Zur fächerförmigen Infiltration der Nervi tibialis und suralis und deren Leitungsunterbrechung medial bzw. lateral der Achillessehne befindet sich der Patient in
Abb. 16/14 Ventrale Blockade des N. ischiadicus.
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16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
N. f i b u l a r i s superficialis
: a
' ''s
N. f i b u l a r i s p r o f u n d u s N.saphenus
Abb. 16/16 Nn. saphenus, fibularis profundus, fibularis superficialis.
16.2 Lokale und regionale Analgesien
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Bauchlage (Abb. 16/17). Auch hier werden 5 ml Lokalanästhetikum ohne oder mit Vasokonstriktoren-Zusatz fächerförmig appliziert. Für alle Eingriffe aber, die eine sichere, mit guter Entspannung der Muskulatur verbundene und genügend langanhaltende Analgesie erfordern, sind die subarachnoidalen oder periduralen Verfahren vorzuziehen, wenn keine besonderen Kontraindikationen — absolute Ablehnung durch den Patienten, Infektionen am Rükken, neurologische Leiden — vorliegen. Die Subarachnoidal-Analgesie bietet den Vorzug der kurzen Latenzzeit. Die Peridural-Analgesie erlaubt durch die Kathetertechnik die Anpassung der Wirkungsdauer an eine längere Operationszeit. Für die Subarachnoidal-Analgesie befindet sich der Patient in Seitenlagerung. Ein möglichst runder Rücken zur Erweiterung des Zuganges zu den Foramina interlaminaria wird durch Helfer zu erreichen versucht. Die Vorstichkanüle (21 Gauge) führt man in die Höhe L 2 / L 3 oder L 3 / L 4 zum straff-elastischen Ligamentum flavum vor. Nach Entfernung des Mandrins wird mit der feinen Kanüle (25 bzw. 26 Gauge) der Subarachnoidalraum punktiert und nach Aspiration von Liquor cerebrospinalis hyperbares oder isobares Lokalanästhetikum mit oder ohne Barbotage injiziert (Abb. 16/18). Die gewünschte Ausbreitung der Analgesie kann durch folgende Faktoren beeinflußt werden: Lagerung des Patienten, Berücksichtigung der natürlichen Krümmungen der Wirbelsäule, Höhe der Punktion, spezifische Schwere des Lokalanästhetikums, Volumen und Wirbelbildung bei der Injektion. Kein Vasokonstriktorenzusatz. Um anästhesiebedingten Hypotonien zu begegnen, muß immer zuvor eine intravenöse Verweilkanüle liegen und ein Plasmaexpander und ein Vasokonstriktor zur intravenösen Applikation bereit sein. Die prophylaktische intramuskuläre Injektion eines Vasopressors (Gynergen®, Ephedrin®, Effortil® oder Akrinor®) ist bei der Vorbereitung von Fall zu Fall zu erwägen. Die Höhe der erreichten Analgesie wird durch Prüfung der Unterscheidungsfähigkeit von spitz-stumpf oder kalt-warm
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2
3 45
Th 10
4
2 = Lig. interspinale 5 = Subarachnoidal-Raum 3 = Lig. flavum
geprüft. Der Patient muß kontinuierlich überwacht werden. Blässe, Gähnen und Übelkeit weisen auf Hypotonie und aufsteigende Analgesie hin. Sauerstoffgabe, Plasmaexpander und Kreislaufmittel sind rechtzeitig zur Therapie einzusetzen. Für die Peridural-Analgesie („single shot") sind Kanülen mit Abstandsmarkierung zu empfehlen (J.A.Lee). Je nach Konstitution und Alter wird das Ligamentum flavum in 3 bis 4 cm Tiefe erreicht. Die Kanüle trifft auf einen straffelastischen
16.3 Allgemeinbetäubung
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Widerstand. Eine leichtgängige, mit physiologischer Kochsalzlösung gefüllte 5 ml Luer-Lok-Spritze wird aufgesetzt. Das Vorschieben der Periduralkanüle erfolgt vorsichtig unter Druck auf den Spritzenstempel. Solange sich die Kanülenöffnung im Ligamentum flavum — ca. 0,5 cm dick — befindet, kann keine Flüssigkeit entleert werden. Beim Erreichen des Periduralraumes zeigt sich ein deutlicher Widerstandsverlust (A. M. Dogliotti). Liquor cerebrospinalis darf nach Abnahme der Spritze nicht abtropfen. Jetzt erfolgt nach einer Testdosis von 5 ml Lokalanästhetikum und Wartezeit von 3 Minuten die Injektion der erforderlichen Gesamtdosis. Pro Segment rechnet man bei jüngeren Menschen 1,5 bis 2 ml, bei älteren 0,75 bis 1 ml der Lösung. Einen Anhaltspunkt für die Dosierung gibt das Schema nach P. R. Bromage (Abb. 16/19, 16/20 a und 16/20 b). Kein Vasokonstriktorenzusatz. Für die kontinuierliche Periduralanalgesie wird die Kanüle nach Tuohy gewählt. Die Punktion des Periduralraumes erfolgt in der zuvor beschriebenen Technik. Bei korrekter Lage kann die errechnete Dosis des Lokalanästhetikums injiziert werden. Danach wird ein graduierter Kunststoffkatheter 5 cm tief in den Periduralraum vorgeführt und die Kanüle entfernt (Abb. 16/21). Es muß darauf geachtet werden, daß der Katheter wegen der Gefahr der Abscherung nicht bei liegender Kanüle zurückgezogen wird. Eine abdeckende Fixierung des Katheters auf dem Rücken erfolgt fortlaufend ohne Abknickungen bis zur Schulterhöhe. Hier ist der durch Kappe verschlossene Konnektor zugänglich. Die Nachinjektionen des Lokalanästhetikums erfolgen entsprechend Erfordernis unter steilen Kautelen. Patienten im Schock dürfen keine rückenmarksnahe Betäubung erhalten.
16.3 Allgemeinbetäubung In den Fällen, wo eine der dargestellten lokalen oder regionalen Analgesien wegen Art der Verletzung und Kontraindikationen nicht möglich ist, muß eine Allgemeinbetäubung mit oro- oder nasotrachealer Intubation gewählt werden. Oft wird es sich um Patienten mit schweren Verletzungen einer oder verschiedener Körperregionen handeln und sicheres, schnelles, der Dringlichkeit angepaßtes Handeln des Anästhesisten erfordern. Dazu gehören die Beurteilung der Gefährdung: Verletzungsart und Allgemeinleiden; eine umsichtige Vorbereitung: instrumentell, medikamentös; die kontinuierliche Überwachung aller lebenswichtigen Funktionen: Bewußtseinslage, Atmung, Kreislauf, Nierenfunktion, Stoffwechsel und das Rechnen mit und Erkennen und Begegnen von speziellen Komplikationen: intrakranielle Drucksteigerung durch Blutung und Ödem, Fremdkörper im Rachen, Spannungspneumothorax, Herzbeuteltamponade und Gefäßabrisse in den thorakalen, abdominellen und retroperitonealen Räumen.
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16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
Abb. 16/19 Peridural-Anästhesie „single shot". Ausbreitungsmöglichkeiten des Lokalanästhetikums (M. Cousins)
16.3 Allgemeinbetäubung
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16.3.1 Vorbereitung, Durchführung Zu der klinischen Voruntersuchung gehören die Laborwerte: Hb, Hkt, Ery, Elektrolyte, Blutgaswerte, PTT, Hepato-Quick je nach Erfordernis, E K G und Röntgenaufnahmen Thorax. Ergänzende Untersuchungen werden durch Vorerkrankungen und die Art des Traumas bestimmt. Jede Verzögerung eines dringlichen Eingriffes durch unnötige Untersuchungen ist zu vermeiden. Eine schon vor der Operation wichtige Therapie: Freihaltung und Unterstützung der Atmung, Volumensubstitution und Schmerzbekämpfung dürfen nicht unterbrochen werden. Information und Abstimmung zwischen Anästhesist und Chirurg über Reihenfolge und Art des operativen Vorgehens und mögliche Komplikationen bei Polytraumatisierten intensivieren die Vorsorge und Aufmerksamkeit und helfen, plötzliche Schwierigkeiten und Erweiterung des Eingriffs leichter zu meistern. Vor Beginn der Anästhesie sind alle Geräte, Instrumente und Hilfsmittel auf Vollständigkeit und verläßliche Funktionen zu prüfen. Naso- und endotracheale Tuben verschiedener Art und Größen, Bronchoskop und Tracheotomiebesteck müssen vorhanden sein. Ein oder zwei kräftige Sauger sind bereitzustellen. Trage oder Operationstisch sollten rasch so verstellbar sein, daß jede erforderliche Position vor
ml Volumen pro Segment
2,0 -, 1,8 -
1,6 1,4 1,2 -
1,0 0,8 0,6 0,4 0
r~
10
20
30
40
50
60
70
80
90
Alter in Jahren
Abb. 16/20 a Dosierungs-Schema für Peridural-Anästhesie ( B R O M A G E )
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16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
und bei Einleitung der Narkose ohne Verzug eingenommen werden kann. Wichtig sind weitlumige Kanülen für die venösen Zugänge, zentrale Venenkatheter, Bluterwärmungsgeräte und Doppelfilter bei Massivtransfusionen. Neben der einfachen Überwachung von Atmung und Kreislauf sind die C0 2 -Volumen-Prozentmessung in der Atemluft, Bestimmung des zentral-venösen und des arteriellen Druckes, die EKG-Beobachtung über Sichtgerät und Fixierung über Schreibung und die Ermittlung der Kerntemperatur vorzubereiten. Defibrillator und Schrittmacher und bipolare Katheter müssen zur Hand sein. Infusionslösungen, Plasmaexpander, Blutkonserven und Blutderivate werden in ausreichender Menge deponiert oder bestellt. Die Prämedikation kann intravenös gegeben werden. Gewöhnlich ist Atropin sul-
16.3 Allgemeinbetäubung 1
2
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3 45
furic.® ausreichend, zumal der Patient schon zur Minderung seiner Schmerzen Morphin, Derivate oder andere stark wirkende Analgetika erhielt. Wurden diese subkutan oder intramuskulär appliziert, so muß mit verzögerter Resorption gerechnet werden. Vor der Einleitung der Allgemeinbetäubung ist grundsätzlich ein Magenschlauch einzuführen, um wenigstens den flüssigen sauren Magensaft abzusaugen. Die Intubation in Schleimhautanalgesie ist unangenehm, nur bei besonders kooperativen Patienten möglich und schützt nicht mit Sicherheit vor einer Aspiration, wenn bei Behinderung des Vorgehens Erbrechen eintritt. Die Lagerung des Patienten für die Einleitung der Anästhesie ist entweder die Rückenlagerung mit um 10 bis 15° angehobenem Oberkörper oder die linke Seitenlage mit Senkung kopfwärts um 10° (Abb. 16/22). Die Einleitung der Anästhesie erfolgt unter Sauerstoffatmung über Maske nach Vorgabe von 1—2 mg Alcuronium oder Pancuronium mit kleinen Dosen eines Thiobarbiturates gefolgt von Succinylcholin 1 mg/kg KG. Ein Helfer übt bereits zum Verschluß des Ösophagus den Krikoiddruck aus (Abb. 16/23). Wird unter zunehmender Relaxation assistiert und schließlich kontrolliert beatmet, so muß das korrekt und sanft erfolgen, damit nicht Luft in den Magen gepreßt und dessen Inhalt hochgedrückt wird. Die orotracheale Intubation erfolgt dann zügig mit vorgeblockter Manschette (Abb. 16/24). Ist ein Thiobarbiturat wegen seiner kreislaufdepressiven Wirkung kontraindiziert, so können Methohexital oder Etomidate und Fentanyl gewählt werden. Die Anästhesie wird mit einem LachgasSauerstoff-Gemisch weitergeführt, dem, wenn keine Kontraindikation — z. B. Hypovolämie — besteht, Halothan oder Enflurane in niedrigen Volumenprozenten zugefügt werden können. Das gleiche gilt für Dehydrobenzperidol mit seinem rezeptorblockierenden Effekt, solang kein ausreichender Volumenausgleich erfolgt
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16 Betäubungsverfahren f ü r Unfallpatienten
Krikoid-Druck (Sellik) Abb. 16/22 Lagerung zur Intubation.
16.3 Allgemeinbetäubung
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ist. Für eine Vertiefung der Anästhesie sind dann Fentanyl oder Pethidin vorzuziehen. Die muskuläre Entspannung für die Dauer des Eingriffes wird entsprechend den Erfordernissen mit Alcuronium oder Pancuronium erzielt. Vor Extubation müssen Restwirkungen von Fentanyl und des depolarisierenden Relaxans komplett antagonisiert sein. Magen, Mund, Rachen und Tracheobronchial-Baum werden gründlich abgesaugt. Nur bei sicher suffizienter Atmung ohne Gefahr einer Verlegung, aktiven Reflexen und wachem Patienten darf extubiert werden. Im Zweifelsfall wird der orotracheale Tubus belassen oder nasotracheal mit einem Kamen-Wilkinson- oder Super-Safety-Tubus umintubiert. Atemgröße und Blutgaswerte entscheiden unter Berücksichtigung des klinischen Bildes über eine Anwendung der assistierten und kontrollierten Beatmung. Hierfür stehen die Geräte mit Volumen- oder Drucksteuerung zur Verfügung. Sie erlauben eine ausreichende Anfeuchtung der Atemluft, die Auswahl des erforderlichen Atemmusters mit Anpassung an Verteilungsstörungen und die Seufzeratmung in regelmäßigen Abständen, um Atelektasen entgegenzuwirken.
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16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
16.3.2 Mehrfachverletzungen Bei Mehrfachverletzungen ist das Ausmaß der Schädigungen schwer abzuschätzen. Es besteht besonders die Gefahr, daß wegen fortgesetzter Blutung ein befriedigender Ausgleich des Volumenmangels nicht zu erzielen ist. Die Anästhesie muß dann bei frühen Zeichen der Erholung möglichst ohne kreislaufdepressive Anästhetika und unter Wahrung einer vorsichtigen Dosierung gestartet werden. Die Verwendung von Ketamin ist umstritten, da der positive inotrope Effekt experimentell nicht gesichert ist. Die blutdrucksteigende Wirkung dieses Präparates kann zu Fehlbeurteilung führen. Medikamente mit a-Receptorenblockereffekt sollen erst angewendet werden, wenn die Blutstillung erfolgt und der Volumenausgleich vollständig ist (F. J. M. Walters, M . R. Nott). Massivtransfusionen sind bei diesen Risikopatienten unumgänglich. Da Frischblut in großen Mengen nicht zur Verfügung stehen wird, müssen Mikrofilter verwendet werden, die Mikroaggregate zurückhalten. Soweit die Fließgeschwindigkeit nicht behindert wird, kann ein Mikrofilter für 8 bis 10 Konserven verwendet werden. Bei Behinderung ist ein früherer Wechsel erforderlich. Die Transfusionen laufen durch ein Erwärmungsgerät, um einen negativen Kühleffekt zu verhüten, Energie zu sparen und die Sauerstofftransportfähigkeit der Erythrozyten zu bessern. Der Ersatz der labilen Gerinnungsfaktoren erfolgt nach fünf Konserven durch eine Einheit Frischblut (nicht älter als 24 Std.) oder durch frischgefrorenes Plasma und thrombozytenangereichertes Plasma. Thrombozytenzahl, Plasmathrombinzeit und Fibrinkonzentration werden nach zehn Konserven bestimmt, um einen Anhalt für eine entsprechende Substitution zu gewinnen. Die Störung des Kalium-KalziumVerhältnisses gewinnt bei Verwendung vorwiegend alter Konserven an Bedeutung, wenn bereits Hypoxie, Hyperkapnie, Azidose und Anästhetika zu einer Minderung der Herzleistung geführt haben. Optimale Beatmung, Behandlung der Azidose unter blutgasanalytischer Kontrolle mit Natriumbikarbonatlösung und die intravenöse Gabe von 10 ml 10%igem Kalziumglukonat dienen der Korrektur.
16.3.3 Kopfverletzungen Kopfverletzte Patienten, die sich auch einem anderen Eingriff z. B. an den Extremitäten, unterziehen müssen, sind mit der gleichen Sorgfalt wie für eine neurochirurgische Operation zu anästhesieren. Intrakranielle Drucksteigerungen, bedingt durch Muskelzuckungen nach Succinyl-Injektion, Husten und Pressen, ungeeignete Anästhetika und fehlerhafte Beatmung müssen vermieden werden, um keine zusätzlichen neurologischen Schädigungen durch Minderdurchblutung hervorzurufen.
16.3 Allgemeinbetäubung
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16.3.4 Halsverletzungen Penetrierende und nicht penetrierende Verletzungen des Halses können durch Hämatom und Ödem rasch zur Verlegung der Atemwege führen. Die frühe Intubation, Krikotomie oder Tracheotomie sind deshalb indiziert. Sind Larynx oder Trachea betroffen und droht oder besteht eine Hypoxie, kann auf die Vorgabe von Atropin.sulfuric.® verzichtet werden, um den Sauerstoffverbrauch nicht zu steigern. Wenn erforderlich, sediere man mit 5 bis 10 mg Diazepam bei 0 2 -Atmung. Ist die Trachea eröffnet, so kann die Intubation durch dieses Foramen unter Schutz der Tubusmanschette durch gegen die Tracheairinge abdeckende Haken erfolgen. Bei erschwerter Orientierung hilft die Einführung des beleuchteten Bronchoskopes oder der Fiberoptik auf oralem Weg.
16.3.5 HWS-Verletzungen Halswirbelluxationen und -frakturen erfordern außerordentliche Sorgfalt bei der Intubation, um keine weitere Dislokation und dadurch Schädigung des Halsmarkes hervorzurufen. Vor der Einleitung der Anästhesie ist deshalb ein schienender Spezialkragen (VAC-PAK-Kragen; Canadian Howmedica Ltd.) anzulegen. Vor Ausleitung der Anästhesie muß man sich davon überzeugen, daß infolge Zunahme von Hämatom oder Ödem keine oder keine weitere Störung der Atemmechanik eingetreten ist. Respiratorische Probleme sind zu erwarten, wenn die Schädigung Bereiche betrifft, von denen der Nervus phrenicus und die Nervi intercostales ausgehen. Ist es zu einer Läsion der anterioren Abschnitte der Segmente C 2 und C 4 gekommen, so können die Patienten ihre Atmung kontrollieren, während sie wach sind. Schlafen sie ein, so werden sie apnoisch und sterben. Etwa 2A der Verletzten, bei denen die Region von C 2 bis Th 2 betroffen ist, leiden an kardiovaskulären Störungen. In der akuten Phase (Areflexie) finden sich als Folge der Hypofunktion des Sympathikus Bradykardie und Hypotonie. Rasche Infusionen bergen die Gefahr des Lungenödems in sich. In der chronischen Phase (Hyperreflexie) besteht eine Instabilität des Kreislaufes. Der plötzliche Abfall des arteriellen Druckes nach Einleitung der Anästhesie kann von einer überraschend bedrohlichen Hypertonie gefolgt sein. Außer der Entwicklung von Anämie, Elektrolytstörungen und negativer Stickstoffbilanz findet man bei diesen Patienten auch Störungen der Thermoregulation. Die Unfähigkeit zu schwitzen birgt die Gefahr der Hyperthermie in sich.
16.3.6 Augenverletzungen Verletzungen der Augen müssen nicht unbedingt in Allgemeinbetäubung versorgt werden. Die retrobulbäre Blockade mit 5 cm langer feiner Kanüle (Abb. 16/25) und die Ausschaltung der zum Musculus orbicularis oculi ziehenden Äste des Nervus
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16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
facialis nach der Technik van Lints bieten Schmerzfreiheit und Immobilisation des Bulbus. Das Risiko eines retrobulären Hämatoms ist bei subtiler Technik gering. Muß der Eingriff in Allgemeinbetäubung erfolgen, so ist die intraokuläre Drucksteigerung infolge Succinylcholins durch Vorinjektion von 2 bis 3 mg Alcuronium oder Pancuronium zu verhüten. Eine ausreichend tiefe Narkose und Schleimhautanalgesie mindern oder löschen den Intubationsreiz. Fentanyl und Droperidol können in geeigneter Dosierung die Ausleitung bei vorhandenen Reflexen ohne Husten und Spannen ermöglichen.
Tarsus s
Abb. 16/25 Retrobulbäre Blockade.
16.3.7 Kieferverletzungen Kieferverletzungen erlauben zuweilen einen ausreichenden Aufschub des Eingriffes. Droht jedoch die Verlegung der Atemwege durch Hämatom und Ödem oder Ausbruch des Mittelabschnittes der Mandibula, mit Rückverlagerung durch Zug des Musculus genioglossus, so muß intubiert oder tracheotomiert werden. Beim Bewußtlosen ist die oro- oder nasotracheale Intubation ohne Anästhesie möglich. Ist der Patient unruhig und nicht kooperativ, so erleichtern 5 bis 10 mg Diazepam nach Sauerstoffinhalation die Durchführung. Beim wachen, kooperativen Verletzten kann die Einleitung der Narkose mit Sauerstoff-Lachgas-Halothan möglich sein. Sind die zu passierenden Wege sicher übersichtlich, so empfiehlt sich die Schnellintubation mit Krikoiddruck nach Barbiturat-Relaxans-Gabe bei Sauerstoffatmung. Die nasotracheale Intubation ist bei Vorliegen einer Fraktur in der vorderen Schädelgrube kontraindiziert. Ist eine Drahtverbindung beider Kiefer zur Schienung
1 6 . 3 Allgemeinbetäubung
181
erforderlich, so muß ein verbleibender Tubus durch eine Zahnlücke geleitet und mittels Naht fixiert werden (W. K. Fry, T.Ward). Eine Tracheotomie ist die Alternative.
16.3.8 Brustkorbverletzungen Traumen des Thorax bergen drei wesentliche Gefahren in sich: 1. Mechanische Behinderung der Atmung; 2. Beeinträchtigung des Gasaustausches; 3. Verletzungen des Herzens und der großen Gefäße. Rippenfrakturen können so ausgedehnt sein, daß Thoraxwandteile ausgebrochen sind und eine gefährliche Instabilität mit sich bringen. Intermittierende positive Druckbeatmung und Schienung stellen die Stabilität wieder her. Immer muß an die Gefahr eines Pneumo- oder Spannungspneumothorax bis zur Konsolidierung gedacht werden. Liegt ein Pneumothorax oder Hämatopneumothorax vor, so ist die Entwicklung zum Spannungspneumothorax besonders bei Beatmung immer möglich. Schnelle Minderung der Herzauswurfleistung durch Kompression und Torsion von Herz und großen Gefäßen führen zur Hypotonie. Rasch bildet sich eine zunehmende Zyanose aus. Der Patient ist immer schwerer zu beatmen. Eine Thoraxdrainage vor Beginn der Anästhesie hilft solche Situationen zu verhüten. Kommt es zu einem kontinuierlichen Atemverlust durch die Drainage und bestehen zusätzlich Hämoptoe, bereits gefiedertes Mediastinum im Röntgenbild und ein inferiores zervikales Emphysem mit Aufblähung der supraklavikulären Region, so muß an eine Bronchusruptus oder einen Bronchusabriß gedacht werden. Die Intubation nach Thoraxdrainage wird je nach Seite und Höhe der Läsion des Bronchialsystemes mit einem Doppellumentubus nach Carlens bzw. White oder Bryce-Smith bzw. BryceSmith-Salt vorgenommen. Die Ausschaltung der betroffenen Lungenseite erlaubt nun eine leckfreie Beatmung, verhütet ein Überlaufen von Blut und Sekret und ein möglichst ungestörtes Arbeiten des Operateurs. Ist eine Intubation mit einem Doppellumen-Tubus unmöglich, so muß unter bronchoskopischer Kontrolle der Bronchus tamponiert oder ein Bronchusblocker eingeführt werden. Beatmungen bei Ausschaltung von Lungenabschnitten erfordern die Kontrolle der Blutgaswerte und Partialdrucke in der Atemluft. Herzkontusionen zeigen Dysrhythmien, das Bild eines Herzblockes oder eines akuten Koronarverschlusses. Bei der Ausführung der Anästhesie ist mit der gleichen Vorsicht vorzugehen, als ob der Verletzte erst kürzlich einen Herzinfarkt gehabt hätte. Perforationen und Rupturen des Myokards können zur Herzbeuteltamponade führen. Die Schwere der Hypotonie steht dann in keinem Verhältnis zum offensichtlichen Blutverlust, das Röntgenbild zeigt die typische Verbreiterung des Herzschat-
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16 Betäubungsverfahren für Unfallpatienten
tens. Unter diesen Bedingungen ist eine Anästhesie außerordentlich gefährlich. Die myokardiale Depression und eine Vasodilatation führen zur tödlichen Hypotonie. Deshalb muß erst eine Herzbeutelpunktion zur Entlastung vorgenommen werden. Diese Punktion erfolgt aus der Xiphoidregion im Winkel von 45° kranial — lateral zur linken Schulter hin. Eine Läsion des Herzmuskels und seiner Gefäße muß durch langsames Vorgehen unter ständiger Aspiration oder Anschluß der Kanüle an eine EKG-Ableitung vorgenommen werden. Nach der Entlastung kann eine Allgemeinbetäubung mit Diazepam und Fentanyl unter Sauerstoffgabe eingeleitet werden. Schwere Verletzungen des Herzens und der großen Gefäße können, wenn noch eine Operation möglich ist, einen maschinellen Bypass erfordern.
16.3.9 Zwerchfellverletzungen Rupturen des Diaphragma schließen die Möglichkeit des Zweihöhleneingriffes ein. Die Rückverlagerung des Intestinum in den Bauchraum erleichtert die Ventilation und behebt weitere Durchblutungsschädigungen der eingepreßten und eingeschnürten Organe. Diese Verletzungen und ausschließlich abdominelle Traumen erfordern eine Allgemeinbetäubung, wie sie dargestellt wurde. Ist die Blutung im Bauchraum gestillt, der Volumenersatz dem scheinbaren Verlust angemessen, aber doch kein befriedigender Ausgleich erzielt, so muß an Gefäßein- und abrisse auch im Retroperitonealraum von den Nierenlagern bis in das Beckengebiet gedacht werden. Schwerverletzte gehören nach der Anästhesie und Operation auf die Intensivstation. Die Zusammenarbeit von Anästhesist und Chirurg setzt sich hier fort, um drohenden Komplikationen rechtzeitig zu begegnen. Besonderer Überwachung und wenn erforderlich, der Unterstützung und des Ausgleiches bedürfen: Atmung und Gasaustausch, Herz- und Kreislauffunktion, Blutvolumen und -gerinnung, Elektrolyt- und Ernährungshaushalt und Veränderungen der Bewußtseinslage und des neurologischen Status. Die Schmerzbekämpfung soll angemessen sein, unnötige Schmerzen werden gedämpft oder durch Blockaden erleichtert, ohne lebenswichtige Funktionen zu beeinträchtigen oder dringend nötige Diagnostik zu behindern.
Weiterführende Literatur Cousins, M.J., Ph. O. Bridenbaugh: Neural Blockade. Lippincott, Philadelphia—Toronto 1980. Erikson, E.: Atlas der Lokalanästhesie. Thieme, Stuttgart 1970. Fry, W. K., T. Ward: The dental Treatment of Maxillo-Facial Injuries, 2. Aufl. Blackwell, Oxford. Lee, J.A., R.S.Atkinson: A synopsis of anaesthesia, 7.Aufl. Wright and Sons, Bristol 1973. Lee, J. A., R. Bryce-Smith: Practical Regional Analgesia, Bd. 5. American Elsevier Publ., New York 1976.
16.3 Allgemeinbetäubung
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Macintosh, R. R.: Lumbar puncture and spinal analgesia, 4. Aufl. Churchill Livingstone, Edinburgh-London-New York 1978. Macintosh, R. R., W. W. Mushin: Örtliche Betäubung: Plexus brachialis. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1967. Macintosh, R. R., M. Ostlere: Örtliche Betäubung: Kopf und Hals. Springer, Berlin-HeidelbergNew York 1968. Matthes, H.: Örtliche Betäubung. In: Chirurgische Operationslehre (Hrsg. B.Breitner), Bd. V, 3c, 3e. Wolfson, L.J.: Anaesthesia for the Injuried. Blackwell, Oxford 1962.
17 Schädel-Hirn-Verletzungen A.
Karimi-Nejad
17.1 Erstversorgung am Unfallort Eine Schädel-Hirn-Verletzung liegt dann vor, wenn es durch ein Trauma zur Schädigung des Gehirnes und/oder seiner Hüllen gekommen ist. Am Unfallort sind häufig äußere Verletzungen, blutende Wunden, Blutungen aus dem Nasen-RachenRaum, zuweilen — bei offener Hirnverletzung — mit Liquorabfluß und Hirnaustritt sichtbar. Mit oder ohne äußere Verletzungszeichen sprechen Erbrechen und/oder Bewußtseinsstörungen, Krämpfe und neurologische Ausfälle für eine Hirnbeteiligung. Die adäquate Erstversorgung am Unfallort ist für die Prognose einer Schädel-HirnVerletzung entscheidend. Ein übereilter Transport zum erstversorgenden Krankenhaus oder in eine Spezialklinik ist nie indiziert. Die vermeidbare Hauptgefahr in der akuten Phase einer Schädel-Hirn-Verletzung ist der sekundäre hypoxische Hirnschaden. Das Gehirn reagiert selbst auf einen zeitlich begrenzten Sauerstoffmangel empfindlich. Es kann dadurch irreversibel geschädigt werden, so daß auch optimale intensiv-therapeutische und chirurgische Maßnahmen im weiteren Verlauf erfolglos bleiben. Komplikationen einer Schädel-Hirn-Verletzung, insbesondere die behandelbaren intrakraniellen Blutungen, entwickeln sich in der Regel nach der ersten Stunde und können dann verlaufsbestimmend werden. Die Blutungen, die unmittelbar nach einem Unfall auftreten, werden - selbst nach raschem chirurgischem Eingriff — nicht überlebt, da sie Folge schwerster Hirnverletzung und somit nicht allein verlaufsbestimmend sind. Die diagnostische Strategie und die Akutversorgung bei Schädel-Hirn-Verletzungen müssen deshalb zum Ziele haben: • Die Gefahr einer bereits bestehenden oder sich anbahnenden vitalen Funktionsstörung mit sekundärer Hirnschädigung zu erkennen und durch entsprechende Maßnahmen zu beseitigen. • Die Entwicklung einer intrakraniellen Blutung durch Kontrolle des primär aufgenommenen neurologischen Befundes nicht zu übersehen, um die rechtzeitige operative Behandlung zu ermöglichen. Bewußtseinsklare oder bewußtseinsgetrübte Verletzte mit Brechreiz oder Erbrechen zur Verhütung von Aspiration auf die Seite lagern. Bei bewußtlosen Verletzten liegt in der Regel immer eine Verlegung der oberen Atemwege vor, deshalb Atemwege freihalten und wenn möglich intubieren. Verletzte mit einer gesteigerten Motorik bis zur Unruhe, einem erhöhten Muskeltonus bis zu spontanen und/oder
17.1 Erstversorgung am Unfallort
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reizbezogenen Streck- und Beugesynergismen haben in der Regel auch einen erhöhten Blutdruck, eine gesteigerte Atemfrequenz und eine schon in der perakuten Phase rasch ansteigende erhöhte Körpertemperatur (das sogenannte „hypertonische Syndrom"). Hierbei ist nach Sicherstellung der freien Atemwege und der Kreislaufstabilisierung die medikamentöse Sedierung bis zur Vollnarkose indiziert. Wegen des in der Regel vorliegenden erhöhten intrakraniellen Druckes ist eine Kopf-Oberkörper-Hochlagerung von 30 bis 40 Grad und Frühbeatmung mit einer Hyperventilation angezeigt. Häufiger ältere Verletzte mit verminderter bis fehlender Motorik, gesenktem bis schlaffem Muskeltonus haben hingegen eine Hypotonie, eine Atemdepression und eine deutlich verminderte Körpertemperatur (das sogenannte „hypotonische Syndrom"). Bei diesen Verletzten empfiehlt sich die sofortige Intubation und die frühzeitige Beatmung. Im Gegensatz zum hypertonen Syndrom darf bei diesen Patienten keine medikamentöse Sedierung erfolgen. Die Stabilisierung der Blutdrucklage durch Kreislaufbehandlung ist vorrangig. Um den nötigen zerebralen Perfusionsdruck nicht zu gefährden, ist bei diesen Verletzten wegen des niedrigen Blutdruckes eine Kopf-Oberkörper-Hochlagerung nicht angezeigt. Die Verletzten müssen vielmehr flach gelagert werden. Blasse, livid verfärbte, feuchte Haut spricht für einen Schock. Hierbei ist der Puls häufig beschleunigt, schwach und kaum tastbar. Beim Vorliegen einer Kreislaufzentralisation ist die Blutdruckamplitude eng, hingegen der Mitteldruck kaum erniedrigt. Auch hierbei reichen zur Kreislaufstabilisierung Infusionen mit Plasmaersatzmitteln. Gabe von Kreislaufmitteln ist selten erforderlich. Erste Befundaufnahme: Vor einer medikamentösen Dämpfung parallel zur Erstversorgung mit Behandlung der vitalen Funktionsstörungen sich über den psychischen und neurologischen Befund orientieren und den Befund möglichst dokumentieren. Begleitverletzungen nicht übersehen, blutende Wunden mit Kompressionsverbänden abdecken. Bei polytraumatisierten andere Verletzungen notversorgen. Transport: Erst nach Beseitigung der vitalen Funktionsstörungen die Verletzten mit einem „hypertonen Syndrom" mit erhöhtem Oberkörper und die Verletzten mit einem „hypotonen Syndrom" flach auf den Rücken lagern. Während des Transportes die vitalen Funktionen und den neurologischen Befund — Bewußtseinslage, Pupillenfunktion, Seitenvergleich der Extremitätenbewegung bzw. der Abwehrreaktion auf Schmerzreiz prüfen.
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17
Schädel-Hirn-Verletzungen
17.2 Klinische Symptome, ihre Wertigkeit und Verlaufsbeobachtung 17.2.1
Bewußtseinsstörung
Das wichtigste Kriterium für die Schwere einer Hirnschädigung ist der Grad und die Dauer der Bewußtseinsstörung. Ihre Objektivierung, Dokumentation und Verlaufsbeobachtung gehören deshalb stets an den Anfang aller diagnostischen Maßnahmen. Definition und Graduierung der Bewußtseinsstörungen sind uneinheitlich und bis heute nicht selten verwirrend. Zur Objektivierung und Verlaufsbeobachtung hat sich jedoch für die Praxis folgende Einteilung bewährt: Bewußtseinsklarheit ist der Zustand der ungestörten Wachheit und Wahrnehmung seiner selbst und seiner Umgebung (orientiert). Art und Schwere einer traumabedingten und damit organisch begründeten Hirnleistungsminderung in der Früh- oder Spätphase einer Schädel-Hirn-Verletzung im Sinne eines Durchgangssyndroms wird man anhand spezieller psychiatrischer Untersuchungen feststellen können. Bewußtseinstrübung ist der Zustand verminderter Wahrnehmung und fehlender Orientierung. Auf Schmerzreize oder Aufforderung öffnet der Patient aber für längere Zeit die Augen. Bei Bewußtseinstrübung leichteren Grades bzw. bei Aufhellung einer Bewußtseinsstörung kann der Patient kontaktfähig sein, so daß er schon auf Aufforderung die Augen öffnet und/oder gezielte Bewegungen ausführt. Beachte: Beim Vorliegen einer kompletten Aphasie als Folge einer mehr lokalisierten Schädigung der dominanten Hirnhemisphäre kann die sprachliche Kontaktfähigkeit fehlen, obwohl eine Bewußtseinstrübung leichteren Grades vorliegt. Bewußtlosigkeit ist der unerweckbare Zustand der Kontakt- und Wahrnehmungslosigkeit. Die Augen des Verletzten sind anhaltend geschlossen. Weder durch Schmerzreize noch durch Aufforderung werden die Augen geöffnet. Spontane oder reflektorisch gezielte oder ungezielte Abwehrbewegungen auf Schmerzreize können ausgeführt werden oder sie fehlen. Im angelsächsischen Sprachgebrauch wird in der Regel der Zustand der Bewußtlosigkeit als „Koma" bezeichnet. Der Begriff „Koma" im deutschsprachigen Gebrauch wird im allgemeinen für den Zustand der Bewußtlosigkeit mit zusätzlicher tiefgreifender neurologischer und vegetativer Symptomausprägung - vegetative Entgleisung, Abnahme bis zum Erlöschen der Abwehrreaktion und der Eigen- und Fremdreflexe — verwendet. Zur besseren Verständigung wurde neurochirurgischerseits international vorgeschlagen, den Zustand der Bewußtlosigkeit als „Koma" zu
17.2 Klinische Symptome, ihre Wertigkeit und Verlaufsbeobachtung
187
bezeichnen und die Schweregrade des Komas durch die jeweils vorhandenen neurologischen und vegetativen Störungen zu charakterisieren (s. Abschn. 17.6.4).
Prüfung der Bewußtseinslage Besteht eine sprachliche Kontaktnahme, so wird zuerst der Verletzte nach Person, Zeit und Ort gefragt. Die vorhandene Orientierung spricht für die Wahrnehmung seiner selbst und seiner Umgebung (bewußtseinsklar? Durchgangssyndrom?) Werden auch einfache Aufforderungen nicht befolgt, so wird ein Schmerzreiz am besten durch ein — abhängig von der erfolgten Reaktion — kurz oder länger anhaltendes Kneifen an der vorderen Achselfalte angesetzt. Es wird geprüft, ob der Patient für längere Zeit die Augen öffnet (bewußtseinsgetrübt? bewußtlos?).
17.2.2 Abwehrreaktion Beim bewußtlosen Verletzten prüfen, ob er auf einen angesetzten lokalen Schmerzreiz gezielte — bezogen auf die Lokalisation des Schmerzreizes — prompte oder verzögerte Abwehrreaktionen zeigt bzw. ob sie fehlen. Verzögerte bis fehlende Abwehrreaktion ist ein Zeichen der tiefergreifenden Hirnfunktionsstörung.
17.2.3 Motilitätsprüfung, Lähmungen Bei bewußtlosen und nicht kontaktfähigen bewußtseinsgetrübten Verletzten wird durch die Prüfung der Abwehrreaktion mittels eines Schmerzreizes jeweils an allen vier Extremitäten festgestellt, ob eine normal gezielte Abwehrbewegung der Extremitäten in der Qualität (gezielte Abwehr, Beugeabwehr, Beugespasmen, Strecksynergismen) und im Kraftgrad seitengleich oder seitenunterschiedlich ausgeführt wird. Die in der Qualität und/oder im Kraftgrad gestörte Abwehrbewegung spricht in der Regel für eine gegenseitig — kontralateral — lokalisierte Kontusion bzw. intrakranielle Blutung. Zuweilen - häufiger bei rasch zunehmender, einseitiger intrakranieller Raumforderung (Hämatom! Kontusion!) mit drohendem oder voll entwickeltem Mittelhirnsyndrom — kann es zu seitengleichen — homolateralen — Paresen mit oder ohne Strecktendenzen kommen. Man vermutet, daß es durch die axiale Verschiebung des Hirnstammes zu einer Kompression des gegenseitigen Hirnschenkels am Tentoriumrand und somit letztlich zu seitengleichen neurologischen Ausfällen mit Tonusstörungen kommt.
17.2.4 Weite und Reaktion der Pupillen Zunächst ist auf die Weite und Rundung der Pupillen zu achten. Jüngere Menschen haben normalerweise weitere Pupillen als ältere. Bei älteren Menschen kann häufig durch lokal abgelaufene Prozesse Entrundung einer oder beider Pupillen vorliegen. Auch die Lichtreaktion nimmt mit zunehmendem Alter deutlich ab. Bei bewußt-
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Schädel-Hirn-Verletzungen
seinsgestörten Verletzten ist eine - beim Seitenvergleich feststellbare - unterschiedliche Weite der Pupille (Anisokorie) ein sehr wichtiges Symptom. Sie kann das erste Zeichen einer sich entwickelnden intrakraniellen Blutung sein. Durch Läsion des gleichseitigen N. oculomotorius vergrößert sich die Pupille. Nur selten kann eine nicht pathologische, angeborene Anisokorie vorliegen. Ist aber die Lichtreaktion der erweiterten Pupille verzögert oder gar aufgehoben, so muß die Anisokorie als alarmierendes Zeichen einer zunehmenden seitengleichen intrakraniellen Raumforderung (Hämatom?!) betrachtet werden. Dies umsomehr, wenn gleichzeitig gegenseitige — kontralaterale — neurologische Ausfälle in Form von Paresen und/oder Tonusstörungen vorliegen. Bei zunehmender intrakranieller Raumforderung infolge eines diffusen Hirnödems bzw. einer intrakraniellen Blutung mit Einklemmung des Hirnstammes kommt es letztlich zu beidseitiger Erweiterung der Pupillen mit Abschwächung oder gar Erlöschung der Pupillenreaktion auf Lichteinfall. Beim weiteren Fortschreiten der Hirnfunktionsstörung bis zum Hirntod werden die Pupillen maximal weit und sind absolut lichtstarr. Beachte: Ein- oder beidseitige Pupillenerweiterung mit Störung der Lichtreaktion kann gelegentlich bei Gesichtsschädelverletzungen durch direkte Bulbusverletzungen bzw. Hirnnervenverletzungen bedingt sein. An diese Möglichkeit denken, wenn insbesondere gleichzeitig psychische und neurologische Funktionsstörungen — Bewußtseinsstörungen, Paresen und/oder Tonusstörungen — in Relation zu der Schwere der Pupillenveränderungen geringgradig ausgeprägt sind oder fehlen. Die Untersuchung des Augenhintergrundes (Stauungspapille?) im akuten und subakuten Stadium einer Schädel-Hirn-Verletzung kann vernachlässigt werden. Die Veränderungen der Pupille, ihre Funktionsstörungen und Verlaufsbeobachtung haben absoluten Vorrang; deshalb darf bei Hirnverletzten niemals lokal ein Mydriatikum angewandt werden.
17.2.5
Tonusstörungen
Schwere Hirnschädigungen führen zu einer pathologischen motorischen Aktivität der Skelett-Muskulatur im Sinne einer Steigerung oder Minderung des Muskeltonus. Diese motorische Erscheinungen sind durch eine Störung der übergeordneten Steuermechanismen bedingt, die normalerweise die untergeordneten tonusregulierenden Mechanismen im Stammhirn und im Rückenmark beeinflussen. Bei Schädigungen im Stammhirn mit totalem Fortfall der kortikospinalen hemmenden Impulse kommt es sowohl ohne erkennbaren Anlaß als auch nach umschriebenen Schmerz- oder Temperaturreizen zu anfallsartigen Steigerungen der motorischen Aktivitäten in Form von Streckkrämpfen bzw. Strecksynergismen. Beim ausgeprägten Bild der „Enthirnungsstarre" ist eine Streckhaltung des Rumpfes, der oberen und der unteren Extremitäten erkennbar. Die Arme werden nach innen rotiert und gestreckt. Die Hüft- und Kniegelenke sind extendiert, die Fußspitzen plantar ge-
17.3 Zusatzuntersuchungen
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streckt. Vorwiegend bei Kindern, jedoch allgemein häufiger im weiteren Verlauf einer schweren Hirnschädigung können spontane oder reizbezogene rhythmische Tonusstörungen in Form von Beugespasmen auftreten. Beugespasmen sprechen für eine mehr im rostralen Anteil lokalisierte Hirnstammfunktionsstörung. Sie betreffen in der Regel die oberen Extremitäten. Die Tonusstörungen mit ein- oder doppelseitigen Streck- und Beugespasmen sind grundsätzlich Zeichen einer schweren Hirnfunktionsstörung und prognostisch insbesondere bei Erwachsenen als äußerst ungünstig zu betrachten. Bei Kindern können sie jedoch im Frühstadium selber einer reversiblen diffusen Hirnschädigung auftreten. Sie verschwinden aber meist nach ausreichender Sedierung. Bei dem sogenannten „hypertonischen Syndrom" als Folge einer Mittelhirneinklemmung ist die Muskelhypertonie nicht selten mit hypertonen Kreislaufwerten, einer Tachykardie, Hyperventilation und Hyperthermie verbunden. Im Gegensatz zu dem hypertonen Syndrom wird gelegentlich, aber häufiger bei älteren Verletzten das sogenannte „hypotone Syndrom" beobachtet mit herabgesetzter Muskelspannung, erniedrigten Blutdruckwerten, einer Atemdepression, einer Hypothermie, das prognostisch ebenso als ungünstig anzusehen ist. Verlaufsbeobachtung Um die Entwicklung einer intrakraniellen Blutung rechtzeitig zu erkennen, sind im weiteren Verlauf auch im erstbehandelnden Krankenhaus die voraufgehend erwähnten klinischen Befunde regelmäßig und engmaschig zu kontrollieren und zu dokumentieren. Eine Prüfung der Bewußtseinslage nach der vorausgegangenen Definition, der Pupillenfunktion und der Bewegung bzw. der Abwehrreaktion der Extremitäten auf Schmerzreiz kann auch von geschultem Pflegepersonal ausgeführt und dokumentiert werden. Diese wichtige Befundkontrolle sollte ebenfalls bei einer primär leichten Schädel-Hirn-Verletzung zumindest während der ersten vier Stunden kontinuierlich durchgeführt werden. Nur dadurch können auch die Entwicklung der Hämatome mit einem freien Intervall rechtzeitig erkannt und dramatische Verläufe vermieden werden. Heute existieren fast in allen traumatologischen Abteilungen unterschiedlich zusammengestellte Verlaufsbögen für Hirnverletzte (s. Seite 203).
17.3 Zusatzuntersuchungen 17.3.1 Computertomographie (CT) Seit der Entdeckung der CT durch den englischen Physiker Godfrey Hounsfield (1968) und deren Einführung in die klinische Diagnostik durch den Neuroradiologen James Ambrose (1972) hat die apparative Diagnostik auch bei Schädel-HirnVerletzten einen grundlegenden Wandel erfahren. Durch Darstellung auch extrem geringer Absorptionsunterschiede der Röntgenstrahlen lassen sich normale und
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17 Schädel-Hirn-Verletzungen
pathologische Strukturen im intrakraniellen Raum (z.B. Hirngewebe, Liquor, Ödem, Luft und Hämatom) gut und präzise gegeneinander abgrenzen und sichtbar machen. Bei zusätzlicher intravenöser Kontrastmittelgabe ist gelegentlich durch Kontrastmittelanreicherung auch Darstellung einer Hämatomkapsel - bei chronischen subduralen Hämatomen - möglich. Die C T ist für die Diagnostik der pathomorphologischen Veränderungen bzw. zum Nachweis oder Ausschluß von Hirngewebsschädigungen und/oder intrakraniellen Blutungen die sicherste Methode. Auch eine akute Hirnschwellung, bedingt durch zerebrale Hyperämie, eine Kontusion und das sich später entwickelnde lokale und/oder globale Hirnödem können gut erfaßt und spezifisch behandelt werden. Bei jedem bewußtlosen Verletzten auch ohne neurologische Seitenzeichen sollte möglichst innerhalb der ersten vier Stunden nach dem Unfall ein Schädel-CT angefertigt werden. Selbst ein negatives C T ohne Zeichen einer intrakraniellen Blutung in den ersten Stunden, kann die weitere und die schon erwähnte neurologische Kontrolle nicht ersetzen. Nicht selten entwickeln sich die intrakraniellen Blutungen erst im weiteren Verlauf einer Schädel-HirnVerletzung. Bei einer Verschlechterung des neurologischen Befundes ist deshalb eine computertomographische Kontrolle stets unentbehrlich; dies insbesondere dann, wenn die primäre Untersuchung innerhalb der ersten Stunden nach dem Unfall durchgeführt worden ist.
17.3.2 Röntgenuntersuchung Bei Hirntraumen leichteren Grades ohne wesentliche Bewußtseinsstörung ist in der akuten Phase eine Röntgenuntersuchung des Schädels erforderlich, um eventuelle Schädelfrakturen zu dokumentieren. Hingegen sollte bei Schwerverletzten in der akuten Phase auf eine erschöpfende Röntgendiagnostik verzichtet werden, weil sie heute zu dem C T für die akuten, verlaufsbestimmenden therapeutischen Konsequenzen keine zusätzlichen Informationen geben kann. Erforderlich ist eine Röntgenuntersuchung bei Schwerverletzten im weiteren Verlauf zur genaueren Lokalisation bzw. zum Nachweis oder Ausschluß einer Operationspflichtigen fronto-basalen Fraktur. Die Impressionsfrakturen an der Konvexität können mit dem C T weitgehend, die fronto-basalen Frakturen jedoch durch Kombination mit konventioneller Röntgenuntersuchung besser erfaßt werden.
17.3.3 Elektroenzephalographie (EEG) Die Elektroenzephalographie gibt eine Auskunft über die zerebrale Funktion und ermöglicht somit Rückschlüsse auf allgemeine und/oder mehr lokalisierte Störungen. Ihre diagnostische Bedeutung ist jedoch nur in Kombination mit den klinischen Befunden verwertbar. In der akuten Phase einer schweren Hirnverletzung werden häufig allgemeine Grund-Rhythmus-Verlangsamungen registriert. Bei schweren Verletzungen können mehr lokal begrenzte Funktionsstörungen durch
17.3 Zusatzuntersuchungen
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die allgemeine Verlangsamung überdeckt sein und somit erst nach Rückbildung der allgemeinen Veränderungen zum Vorschein kommen. Eine engmaschige EEG-Kontrolle ist im weiteren Verlauf insbesondere dann zu empfehlen, wenn Herdbefunde sich nicht zurückbilden oder erneut auftreten. Sie dient insbesondere der rechtzeitigen Einleitung einer prophylaktischen oder therapeutischen antikonvulsiven Behandlung.
17.3.4 Karotisangiographie Sie ist heute hauptsächlich nur noch zum Nachweis oder Ausschluß von traumabedingten Gefäßverletzungen (Sinus-cavernosus-Aneurysma, Gefäßverschlüsse) erforderlich. Die Anwendung der Karotisangiographie in der akuten Phase einer Hirnverletzung ist weitgehend durch die Computertomographie eingeschränkt worden. Der auch heute noch gelegentlich gegebenen Empfehlung, bei fehlender Möglichkeit einer CT-Untersuchung durch eine Karotisangiographie mit Einzelaufnahmen eine Blutung zu lokalisieren und durch Notfalloperation zu entfernen, kann nicht zugestimmt werden. Die Erfahrungen zeigen, daß nicht nur die technische Durchführung schwierig und zeitaufwendig, sondern auch die Beurteilung der nicht phasengerechten Einzelaufnahmen mit fehlender Optimaleinstellung irreführend sein können. Dies umsomehr, wenn diese Untersuchung nicht routinemäßig in einer Abteilung durchgeführt wird.
17.3.5 Andere Zusatzuntersuchungen Die Echoenzephalographie ist durch die Computertomographie in den Hintergrund gedrängt worden. Sie ist zwar eine einfache und den Patienten nicht belastende Methode. Ihre Deutung bedarf jedoch einer sehr großen Erfahrung. Die Szintigraphie kommt nur im weiteren Verlauf eines Traumas gelegentlich — zum Nachweis oder Ausschluß einer nasalen Liquorfistel — zur Anwendung. Ihre Verwendung und Handhabung gehört jedoch in die Hand der Spezialinstitutionen. Die in den letzten Jahren zunehmend angewandte Ableitung der visuell, akustisch und somato-sensibel evozierten Potentiale ermöglicht, die Impulsleitung der afferenten Leitungsbahnen des zentralen Nervensystems für physiologische Reize zu untersuchen. Durch die Registrierung dieser evozierten Potentiale über den peripheren und/oder zentralen Anteilen der einzelnen Sinnessysteme läßt sich somit die axonale Leitungsunterbrechung lokalisiert erfassen. Für die Diagnostik und Ableitung der therapeutischen Konsequenzen in der akuten Phase einer Schädel-HirnVerletzung liefern die evozierten Potentiale bis jetzt keine zusätzliche Information. Hingegen liegen für die Frühprognose der schwersten Schädel-Hirn-Verletzungen und für die Diagnosesicherung des Hirntodes bereits einzelne ermutigende klinische Erfahrungen vor. Weitere Untersuchungsergebnisse müssen abgewartet werden.
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17 Schädel-Hirn-Verletzungen
Der Einsatz der Kernspintomographie in der akuten Phase einer Schädel-HirnVerletzung ist bis jetzt aus technischen Gründen nicht möglich, weil während der Untersuchung die apparative Überwachung und Behandlung der vitalen Funktionen nicht erfolgen kann (Metallgegenstände!). Ebenso ist der Einsatz der transkraniellen Dopplersonographie im akuten Stadium einer Schädel-Hirn-Verletzung noch in der Versuchsphase. Beurteilt werden die systolische und diastolische Spitzengeschwindigkeit sowie die mittlere zerebrale Blutfließgeschwindigkeit (CGB in cm/s). Nicht selten entwickeln sich als Folgeerscheinung einer intrakraniellen Blutung erhebliche sekundäre Zirkulationsstörungen mit folgenden Ischämien. Inwieweit die Messungen der C G B Hinweise zur Erfassung und evtl. spezifischen Behandlungen dieser Ischämien nach SchädelHirn-Verletzungen und insbesondere nach intrakraniellen Blutungen geben kann, bleibt anhand weiterer Untersuchungen abzuwarten.
17.4 Vegetative Störungen und ihre Behandlung 17.4.1 Atemstörungen Von den vitalen Funktionen ist die Atemfunktion im akuten und subakuten Stadium einer Hirnschädigung besonders störungsanfällig. Diese erhöhte Störungsanfälligkeit ergibt sich daraus, daß • Eine Bewußtseinstrübung in der Regel zu einer Atemverlegung im Larynxbereich und entsprechend der Intensität der Bewußtseinsstörung zu einer Atembehinderung führt. Sekretstauung, Aspiration und eventuelle Verletzungen des NasenRachen-Raumes können diese Atembehinderung verstärken. Nicht zuletzt durch eventuell zusätzliche Thoraxverletzung und primären Lungengewebsveränderungen im Sinne von „Schocklunge" treten somit schon frühzeitig nach einer schweren Hirnverletzung verlaufsbestimmende „periphere Atemstörungen" auf. • Im Gegensatz zum Kreislauf ist der automatische Schrittmacher des Atemantriebes — Atemzentrum — weit vom Erfolgsorgan entfernt, im intrakraniellen Raum lokalisiert und mit dem Atmungsorgan durch lange neurogene Bahnen verbunden. Störungen dieser zentralen Anteile haben somit eine „zentrale Atemstörung" zur Folge. Im Gegensatz zu den immer noch bestehenden allgemeinen Vorstellungen sind primär zentrale Atemstörungen in der akuten und subakuten Phase einer reversiblen Hirnschädigung sehr selten. Bei reversiblen traumatischen Hirnschädigungen liegen primär fast immer periphere Atemstörungen vor. Bei tiefer greifenden peripheren Atemstörungen, insbesondere bei Atemwegverlegungen können die latenten und reversiblen Störungen der zentralen Regelmechanismen ohne Vorboten bis zum Atemstillstand verstärkt werden. Ihre Ursa-
17.4 Vegetative Störungen und ihre Behandlung
193
che ist jedoch primär eine periphere Störung. Die danach rasch folgenden zentralen Störungen sind wahrscheinlich durch die besondere Empfindlichkeit des Atemzentrums gegenüber einem Sauerstoffmangel bedingt. Beseitigt man aber selbst bei schwersten Hirnverletzungen die peripheren Atemstörungen, so bleibt die zentrale Atemfunktion bis zum Eintritt des Hirntodes als letzte Hirnstammfunktion erhalten. Nur bei seltenen, im weiteren Verlauf sich entwickelnden raumfordernden Blutungen im Bereiche der hinteren Schädelgrube oder im Hirnstamm lokalisierten traumatischen Blutungen können primär verlaufsbestimmende zentrale Atemfunktionsstörungen auftreten. Als Zeichen der Störungen der zentralen Regelmechanismen sind meist zuvor Änderungen der Atemform — ataktisch unregelmäßige bis ataktische Atmung, periodische bzw. Cheyne-Stokes-Atmung, Seufzeratmung, abnorm regelmäßige, frequente maschinelle Atmung, Schnappatmung — erkennbar. Die umfangreichen Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daß — abgesehen von Schnappatmung und der maschinell regelmäßigen Atmung — alle anderen Änderungen der Atemform prognostisch indifferent sind. Sie verschwinden oft nach Freilegung der Atemwege. Die maschinelle Atmung ist Zeichen einer schweren allgemeinen Hirnschädigung. Hierbei sind in der Regel die modulierenden Einflüsse der peripheren und höheren zentralen Regelmechanismen ausgefallen. Die zentralen und peripheren Atemstörungen beeinflussen sich gegenseitig. Eine experimentell erzeugte kontinuierliche intrakranielle Drucksteigerung führt — allerdings erst bei hohen Werten - zu einer Verlangsamung der Atemfrequenz bis zum Atemstillstand. Diese in der perakuten Phase einer diffusen Hirnschädigung auftretende zentrale Atemstörung bis zum Atemstillstand ist jedoch in der Regel Folge einer irreversiblen Hirnschädigung. Eine ebenso experimentell erzeugte periphere Atemstörung führt zu einer deutlichen Steigerung des intrakraniellen Druckes. Für die Praxis und insbesondere für die therapeutischen Konsequenzen ist die Unterscheidung der Atemstörungen in Form einer Hyperventilation — in der Regel mit einer Partialinsuffizienz der Atmung — und in Form einer Hypoventilation mit einer Globalinsuffizienz der Atmung wichtig. Hyperventilation Diese Form der Atemstörung ist klinisch leicht durch Zunahme der Atemfrequenz über 30/Minute erkennbar. Als Zeichen dieser peripheren Atemstörungen finden sich im Blut eine Erniedrigung des Kohlensäuredruckes — Hypokapnie —, eine in der Regel viel stärker ausgeprägte Hypoxämie und eine durch die Hypokapnie kompensierte metabolische Azidose oder gar kompensatorische respiratorische Alkalose. Diese Blutgasveränderungen sind Folge von Lungenveränderungen mit Verteilungsstörungen bzw. mit quantitativ unterschiedlicher Zunahme der funktionellen Shunt-Blutbeimengungen. Das Hyperventilationssyndrom kann durch eine Liquor-
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17 Schädel-Hirn-Verletzungen
azidose — bedingt durch eine intrakranielle Drucksteigerung mit Hirnzirkulationsstörung - verstärkt oder gar primär ausgelöst werden. Hypoventilation Eine Atemstörung in Form von Hypoventilation kommt in der Frühphase einer reversiblen traumatischen Hirnschädigung mit freien Atemwegen viel seltener vor als allgemein angenommen wird. Sie ist dann Folge einer raumfordernden Blutung in die hintere Schädelgrube oder einer direkten oder indirekten bulbären Hirnstammschädigung durch Einklemmung bei hochgradiger intrakranieller Drucksteigerung und/oder axialer Massenverschiebung. Sie führt zu typischen Veränderungen mit klinisch faßbarer Abnahme der Atemfrequenz und Veränderungen im Blut mit einer Erhöhung des Kohlensäuredruckes — Hyperkapnie —, einer relativ geringer ausgeprägten Erniedrigung des Sauerstoffdruckes - Hypoxämie - , einer respiratorischen oder je nach Schwere der Hypoxämie respiratorischen und metabolischen Azidose. Diese letztgenannten Blutgasveränderungen können aber auch im fortgeschrittenen Stadium peripherer Atemstörungen mit respiratorischer Globalinsuffizienz vorliegen. Behandlung der Atemstörung Freihaltung der Atemwege, Intubation: Die Indikation zur Freihaltung der Atemwege nach akuter Hirnschädigung sollte nicht nach schon eingetretenen Lungenfunktionsstörungen bzw. Blutgasveränderungen gestellt werden. Wegen der erwähnten Störungsanfälligkeit der Atemfunktion nach Hirnverletzungen und ihrer verlaufsbestimmenden Bedeutung muß weitgehend prophylaktisch jede vermeidbare bzw. zusätzliche Belastung der labilen Regelmechanismen beseitigt werden. Die Indikationsstellung zur frühzeitigen Intubation sollte deshalb vielmehr nach klinischen Kriterien erfolgen. Nicht die mechanische Verlegung der oberen Luftwege ist die dringende Indikation zur Intubation, sondern schon die zunehmende Bewußtseinstrübung mit einer sich anbahnenden respiratorischen Insuffizienz. Bei einer Bewußtseinstrübung bis zur Bewußtlosigkeit sollte heute nicht mehr die Frage sein, warum intubieren, sondern vielmehr, warum nicht intubieren. Die weite Indikationsstellung der Intubation nach akuter Hirnschädigung ist auch heute deshalb berechtigt, weil die Intubation und deren praktische Durchführung nicht mehr als ein schwerwiegender invasiver Eingriff anzusehen ist. Nach Beseitigung der drohenden Atemstörungen kann — zumindest bei kurzfristiger Dauer der Intubation - auch ohne nachhaltige Folgen die Extubation erfolgen. Zur Freihaltung der Atemwege hat sich in den letzten Jahren die therapeutische nasotracheale Intubation mit weichen Kunststofftuben sehr bewährt. Langzeitbeatmung: Bei beiden Formen der Atemstörungen — Hyperventilation und Hypoventilation — ist die Langzeitbeatmung mit druck- und/oder volumengesteuerten Respiratoren mit möglichst weiter Indikation anzuwenden.
1 7 . 4 Vegetative Störungen und ihre Behandlung
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Beatmungsindikation: Bei Hypoventilation: C 0 2 a Spannung über 40 mm Hg; assistiert, assistiert-kontrolliert oder notfalls kontrolliert; bei Hyperventilation: Atemfrequenz über 30/Minute und/oder P 0 2 a unter 5 0 mm Hg; assistiert mit medikamentöser Sedierung. Wegen der hämodynamischen Auswirkungen und der Auswirkungen auf den intrakraniellen Druck ist bei Langzeitbeatmung die Wahl der Beatmungstechnik bei akuten Hirnschädigungen besonders wichtig. Wenn die pulmonalen Aspekte es zulassen, sollte in der Regel eine Beatmung mit höherem positiven endexspiratorischen Druck („PEEP") nicht durchgeführt werden. Zur Behandlung der intrakraniellen Drucksteigerung in der perakuten Phase einer Hirnverletzung ist eine Frühbeatmung mit therapeutischer Hyperventilation oder gar kurzfristiger Wechseldruckbeatmung angezeigt (s. Abschn. 17.8).
17.4.2 Kreislaufstörungen Am Unfallort und im unbehandelten Zustand liegt häufig eine Kreislaufzentralisation vor. Sie kann vorübergehend lebensrettend sein, ist aber nicht stabil und deshalb behandlungspflichtig. Der sogenannte „Cushing-Reflex" in Form von Blutdruckanstieg und Bradykardie als Zeichen intrakranieller Drucksteigerung mit Minderdurchblutung und/oder axialer Verschiebung des Hirnstammes kann bei intakten hämodynamischen Kreislaufverhältnissen und insbesondere erst in fortgeschrittenem Stadium hoher intrakranieller Drucksteigerung beobachtet werden. Er ist aber viel seltener als allgemein angenommen wird. Im akuten Stadium einer Hirnschädigung stehen vielmehr hämodynamische Störungen im Vordergrund. Im hypovolämischen Schock werden häufig Pulsfrequenzsteigerung und nicht selten primär Blutdruckabfall beobachtet. Bei hypertonem Syndrom (s. Abschn. 17.2.5) mit gesteigertem Muskeltonus und Hyperventilation oder bei peripherer Atemstörung mit Atemwegsverlegung kommt es eher zu einem Blutdruckanstieg. Herzrhythmus- und EKG-Veränderungen können im Rahmen der Säurebasen- und Elektrolythaushaltsstörungen auftreten. Sie sind aber nicht typisch für eine traumatische akute Hirnschädigung. Bei Läsionen des kaudalen Hirnstammes sowie des Hypothalamusbereiches werden Formen mit periodisch gedämpften Schwingungsvorgängen der Pulsfrequenz beschrieben. Diese Veränderungen sollen zeitlich in gleicher Weise wie die Steigerung der Katecholaminausscheidung verlaufen. Die Behandlung der Kreislaufstörungen erfolgt unter Kontrolle der WasserhaushaltRegulation. Cardiaca sollen insbesondere bei Erwachsenen und bei älteren Patienten mit weiter Indikationsstellung gegeben werden.
17.4.3 Temperatur-Regulationsstörungen Störung der Temperatur-Regulation in der Frühphase einer Hirnschädigung in Form einer Hyperthermie ist häufig die mittelbare Folge der Störungen von Wär-
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17 Schädel-Hirn-Verletzungen
mebildung - Skelett-Muskelaktivität - und der Wärmeabgabe - Hautdurchblutung, Atmung, Schweißsekretion. Erst im weiteren Verlauf kann sie Zeichen einer Infektion — Lunge, Harnblase — sein. Bei schwerer Kreislauf-Zentralisation kann eine Verminderung der Körperoberflächen-Temperatur bei Anstieg der Körperkern-Temperatur vorliegen. Eine zentral, infolge direkter, isolierter dienzephaler Schädigung bedingte Hyperthermie mit Höchstwerten bis 39° C ist bei SchädelHirn-Verletzungen selten. Bei schwerer Hirnschädigung mit akutem Dezerebrations-Syndrom in Form von Streckkrämpfen kann es hingegen zu einem abrupt beginnenden steilen Anstieg der Körperoberflächen-Temperatur bis zu 40° C kommen. Sekundär kann die therapeutisch nicht beeinflußte Hyperthermie mit beginnender Tachypnoe einen Kreislaufzusammenbruch mit tödlichem Ausgang verursachen. Eine Hypothermie im akuten Stadium einer Hirnschädigung mit anhaltender Körpertemperatur unter 36° C ist in der Regel Zeichen einer irreversiblen Hirnschädigung und prognostisch ungünstig. Die Behandlung der Hyperthermie in der akuten Phase einer Hirnschädigung muß primär über die gezielte Behandlung der Atmungs-, Kreislauf- und Tonusstörungen mit ausreichender medikamentöser Sedierung erfolgen. Nur unter ausreichender Sedierung dürfen therapeutisch weitere physikalische Maßnahmen angewandt werden.
17.4.4 Medikamentöse vegetative Dämpfung, Sedierung Wenn die Störungen der erwähnten vegetativen Funktionen nicht rechtzeitig beseitigt werden, so kommt es zu einer gegenseitigen Beeinflussung einzelner Störungen. Neben der Behandlung der Atem- und Kreislaufstörungen ist eine ausreichende vegetative Sedierung stets zu erwägen. Bei Verletzten mit Unruhe, Brechreiz oder Erbrechen, Tonussteigerung, Krampfneigung, Hyperventilation muß die medikamentöse Dämpfung frühzeitig eingeleitet werden. Nur beim Vorliegen eines hypotonen Syndroms (s. Abschn. 17.2.5) mit Hypotonie, Atemdepression und schlaffem Muskeltonus ist die medikamentöse Dämpfung kontraindiziert. Um das neurologische Bild nicht zu verwischen und weitere Kontrollen zu ermöglichen, zunächst möglichst keine Narkotika, sondern Neuroleptika und Tranquillantia verabreichen. Ihre Anwendung ist insbesondere auch wegen des schnellen Wirkungseintritts und der geringen Kreislaufwirkung empfehlenswert. Die Wahl der Pharmaka zur Dämpfung und zur vegetativen Sedierung soll jedem Arzt zunächst wegen der fortschreitenden Entwicklung, aber auch aufgrund der persönlichen Erfahrung freibleiben. Um eine rasche und kontrollierbare Wirkung zu erreichen, sollen jedoch in der unbehandelten Frühphase einer Hirnverletzung grundsätzlich die dämpfenden Medikamente intravenös verabreicht werden. Erst im weiteren Verlauf kann unter nachhaltiger Kontrolle der vitalen Funktionen eine regelmäßige intramuskuläre Gabe angeschlossen werden. Hierdurch wird eine länger anhaltende vegetative
17.4 Vegetative Störungen und ihre Behandlung
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Sedierung erreicht. Zur medikamentösen Dämpfung und zur nachhaltigen vegetativen Sedierung haben sich nach unseren Erfahrungen folgende Präparate allgemein gut bewährt: In der akuten unbehandelten Phase bei Brechreiz oder Erbrechen: Psyquil® i.v. 10-20-^40 mg. Bei Unruhe, Krampfneigung, Hyperventilation: Valium® i.v. 10-40 mg. Im weiteren Verlauf: Atosil®, Dolantin®, Truxal® und als Kombinationen für langanhaltende vegetative Dämpfung die sogenannte lytische Mischung: Psyquil® 20 25 mg, Atosil® 25 mg, Dolantin® 100 mg + 9% Kochsalzlösung ad 20 ml, davon je nach Bedarf dreistündlich 3—10 ml i.m. oder i.v. Zunehmend bewährt hat sich auch die Gabe von Midazolam (Dormicum®) in einer Dosierung von 0,1 bis 0,2 mg/kg KG intravenös. Bei anhaltender vegetativer Entgleisungstendenz und bei motorischer Unruhe sollte die angegebene medikamentöse Dämpfung durch Wiederholung oder bei Bedarf durch Zugabe von Narkotika verstärkt werden. Ist bei beatmeten Patienten eine stärkere Sedierung erforderlich, so bietet sich die Kombination von Dormicum® 0,1—0,2 mg/kg KG als Bolus sowie 5 mg stündlich und Fentanyl® 0,005 mg/kg KG als Bolus sowie 0,1 mg ca. halbstündlich an. Wie bei allen Benzodiazepinen läßt auch bei Langzeitanwendung die Wirkung von Midazolam zunehmend nach, so daß man im weiteren Verlauf doch auf die Gabe von lytischem Cocktail zurückgreifen muß. Eine kurz- oder langzeitige Sedierung darf nur unter der fortlaufenden apparativen Kontrolle und gegebenenfalls der erforderlichen Unterstützung der vitalen Funktionen erfolgen.
17.4.5 Blasenentleerungsstörungen Bei jedem Bewußtlosen liegt eine Blasenentleerungsstörung im Sinne einer Harnverhaltung vor. Deshalb schon im erstbehandelnden Krankenhaus bei jedem Bewußtlosen einen Blasenkatheter anlegen. Wegen Spätkomplikationen — Harnröhrenstriktur — wird beim Fortbestehen der Entleerungsstörungen von mehr als etwa einer Woche heute urologischerseits vielfach eine suprapubische Harnblasenentleerung empfohlen.
17.4.6 Wasserhaushaltsstörungen Bei schweren Schädel-Hirn-Verletzungen mit Stammhirnbeteiligung kann — allerdings selten — ein Diabetes insipidus auftreten. Sonst sind die Wasserhaushaltsstörungen im akuten und subakuten Stadium einer Schädel-Hirn-Verletzung vielmehr Folge einer Nierenfunktionsstörung. Die Nierenfunktionsstörung — das sogenannte akute Nierenversagen — sind hierbei in der Regel durch Kreislaufdepression verursacht. Das so entstandene akute Nierenversagen wird als prärenal bezeichnet. Die
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17 Schädel-Hirn-Verletzungen
beste Prophylaxe des akuten Nierenversagens geschieht durch Wahrung der Homöostase im Organismus. Zur Therapie des akuten Nierenversagens werden unter strenger Überwachung des Wasser-, Elektrolyt- und Säurebasenhaushaltes frühzeitig Diuretika (z. B. Furosemid, Lasix®) eingesetzt. Bei nicht eingetretener Diurese soll ebenso frühzeitig die Behandlung mit der künstlichen Niere eingeleitet werden, da abgesehen von urämischen Komplikationen die Osmolaritätsschwankungen im Serum sich ungünstig auf das Hirnödem auswirken.
17.4.7 Magen-Darm-Störungen Nicht nur zum Ablauf des Mageninhaltes und zur Vermeidung von Aspirationen, sondern auch zur möglichst frühzeitigen enteralen Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr schon am Anfang der stationären Behandlung eine Magensonde anlegen. Nach neueren Untersuchungen ist die Mukosa-Zell-Ischämie unterschiedlicher Genese als Ursache des Magenstreß-Ulcus zu betrachten. Die Streß-Ulcera sind offenbar nicht für Schädel-Hirn-Verletzungen spezifisch. Sie können bei jeder akuten Hypoxämie sowie bei Schock unterschiedlicher Genese auftreten. Eine Abpufferung des Magensaftes mit Antazida und/oder H 2 -Antihistaminika ist in der akuten Phase nicht mehr empfehlenswert, da nach zahlreichen Untersuchungen die Anhebung des Magen-pH durch H 2 -Blocker oder Antazida zu einer intestinalen Keimkolonisation führt. Sie muß als eine wichtige Ursache der Pneumonien berücksichtigt werden. Zum Schutz der Magenschleimhaut hat sich - auch nach eigenen Erfahrungen — die regelmäßige Gabe von Sucralfat bewährt. Wenn im weiteren Verlauf bei stündlicher Kontrolle durch Aspiration die Menge der Leersekretion nicht mehr als etwa 50 ml beträgt, frühzeitig mit Sondenkost und Tee - anfangs stündlich 50/ 50 ml ansteigend bis etwa zweistündlich 150/50 ml — die enterale Flüssigkeits- und Kalorienzufuhr einleiten. Eine tägliche Kalorienzufuhr von etwa 3000 bis 4000 kcal, ist ausreichend. Sehr bewährt hat sich die frühzeitige Sondenernährung mit ballaststoffreichen Präparaten (z.B. Nutridrop®). Bei kontinuierlicher Gabe der Sondennahrung durch Tropfinfusionen über 24 Stunden kommt es auffälig seltener zum Rückfluß vom Mageninhalt. Bei schweren Hirnschädigungen ist eine katabole Stoffwechsellage trotz hoher Zufuhr von kalorienreicher Nahrung und Aminosäuren leider häufig nicht zu stoppen.
17.5 Einteilung der Schädel-Hirn-Verletzungen Grundsätzlich ist eine Unterteilung der Schädel-Hirn-Verletzungen in gedeckte und offene Verletzungen vorzunehmen.
17.6 Schweregrad einer Hirnverletzung
199
Offene Verletzungen Kommt es durch ein Trauma zur offenen Verbindung des sonst allseitig dicht und steril abgeschlossenen intraduralen Raumes mit der Außenwelt, so liegt eine offene Hirnverletzung vor. Gedeckte Schädel-Hirn-Verletzung Bei einer gedeckten Hirnverletzung fehlt eine Kommunkation des Intraduralraumes mit der Außenwelt. Diese Einteilung ist für die Erkennung der drohenden Frühund Spätkomplikationen, insbesondere aber für die therapeutischen Konsequenzen unerläßlich. Sie läßt jedoch keine Aussage über den Schweregrad einer Hirnschädigung zu.
17.6 Schweregrad einer Hirnverletzung Der Schweregrad einer Hirnverletzung ist gekennzeichnet durch die Dauer und Intensität der Hirnfunktionsstörungen — Bewußtseinsstörung, neurologische und vegetative Störungen — in Abhängigkeit des Alters. Spätergebnisse und soziale Rehabilitationen werden zusätzlich durch mittelbare oder unmittelbare Folgeerscheinungen — Anfallsleiden, Infektionen, Gefäßverletzungen, isolierte Lähmungen, extrapyramidale Störungen — entscheidend beeinflußt. Die vor mehr als 200 Jahren von Jean Louis Petit verwendete und später von Bruns und Bergmann näher differenzierte Trias Commotio cerebri: Hirnerschütterung Contusio cerebri: Hirnquetschung Compressio cerebri: Hirnkompression kann den heutigen pathomorphologischen und pathophysiologischen Kenntnissen und vor allem den klinischen Verlaufsergebnissen unter der modernen Intensivtherapie nicht mehr ohne Einschränkung standhalten.
17.6.1 Commotio cerebri Die Bezeichnung Commotio cerebri - Hirnerschütterung - für traumabedingte, aber voll reversible vorübergehende Hirnfunktionsstörung im Sinne kurz anhaltender Bewußtseinstrübung und Erinnerungslücke ohne — auch nach heutigen morphologischen Methoden — nachweisbare Veränderungen des Hirngewebes kann weiterhin ohne Bedenken verwendet werden. Das klinische Bild der Commotio cerebri ist durch die mit dem Trauma akut einsetzende Bewußtlosigkeit von wenigen Minuten gekennzeichnet. Im Zusammenhang mit der kurzen Bewußtlosigkeit bleibt bei dem Patienten eine Erinnerungslücke für einen kurzen Zeitraum vor dem Trauma — retrograde Amnesie.
200
17
Schädel-Hirn-Verletzungen
In der akuten Phase bestehen Beschwerden in Form von Brechreiz, Erbrechen, Kopfschmerzen und vor allem orthostatischen Kreislaufstörungen. Diese Kreislaufstörungen können abhängig von fehlenden oder später mangelhaft durchgeführten Trainingsmaßnahmen längere Zeit fortbestehen. Zur Objektivierung dieser Kreislaufstörungen kann die bekannte Belastungsprobe nach Schellong herangezogen werden. Als Ausdruck einer vorübergehenden Hirnfunktionsstörung können im Hirnstrombild in den ersten Stunden bis zum ersten Tag nach dem Trauma leichte Allgemeinveränderungen nachweisbar sein. Besonders gezielte Behandlungsmaßnahmen sind nicht erforderlich. Einer kurzfristigen Bettruhe sollte ein frühzeitiges Kreislauftraining angeschlossen werden.
17.6.2 Contusio cerebri Die Beibehaltung der Bezeichnung Contusi cerebri — Hirnquetschung — ist hingegen problematisch, da sie uneinheitlich mal aus Ausdruck des Schweregrades einer Hirnschädigung und mal als Ausdruck der nachgewiesenen pathomorphologischen Veränderungen im Sinne von Parenchymschädigungen angewandt wird. Die heute durch Computertomographie präzis nachweisbaren, lokal abgegrenzten Parenchymschädigungen z. B. bei Pfählungsverletzungen in funktionell weniger dominierenden Hirnarealen können klinisch nur geringe oder kaum faßbare Folgeerscheinungen hinterlassen. Hingegen können diffuse Hirnfunktionsstörungen mit länger anhaltender Bewußtseinsstörung auch ohne nachweisbare morphologische Veränderungen schwere nachhaltige Funktionsstörungen zur Folge haben. Eine Korrelation zwischen dem nachweisbaren pathomorphologischen Befund und dem klinischen Verlauf besteht also nicht immer. Unberücksichtigt der voraufgehend erwähnten Ungenauigkeiten wird aber im allgemeinen auch heute in der Klinik die Bezeichnung Contusi cerebri für traumatische Hirnschädigungen mit länger anhaltender voll oder teilweiser reversibler aber auch irreversibler Hirnfunktionsstörung mit nachweisbaren pathomorphologischen Hirngewebsveränderungen angewandt.
17.6.3 Compressio cerebri Die Bezeichnung Compressio cerebri — Hirnkompression — ist heute weniger gebräuchlich. Eine Hirnkompression mit intrakranieller Drucksteigerung kann durch ein traumabedingtes Ödem und/oder eine intrakranielle Blutung entstehen.
17.6.4 Klinische Einteilung der Schweregrade einer Hirnverletzung Aufgrund der erwähnten verwirrenden Bezeichnungen sind Bestrebungen zu einer nationalen und internationalen Schweregraduierung der traumatischen Hirnschädigungen anhand der Intensität und Dauer der Hirnfunktionsstörungen im Gange.
17.6 Schweregrad einer Hirnverletzung
201
Für die Langzeitprognose, die soziale Wiedereingliederung und aus versicherungsrechtlichen Aspekten sollte deshalb zur Verdeutlichung des Schweregrades vorläufig stets die Art einer Schädel-Hirn-Verletzung — gedeckt oder offen — und die Dauer und Intensität der Hirnfunktionsstörungen — Bewußtseinsstörung, neurologische Ausfälle, vegetative Störungen — angegeben werden. Zur groben Orientierung kann davon ausgegangen werden, daß eine traumabedingte Bewußtlosigkeit bis zu 2 Stunden für eine leichte und bis zu 24 Stunden für eine mittelschwere und über 24 Stunden für eine schwere Hirnverletzung spricht. Beim Vorliegen von Bewußtlosigkeit - Koma - kann eine tiefergreifende Hirnfunktionsstörung sich nur noch auf neurologischem Gebiet auswirken. Hierbei ist es wichtig, auf die Symptome einer Hirnhemisphärenschädigung bzw. noch zusätzlich auftretende Hirnstammfunktionsstörungen zu achten. Das Commitee of Neurotraumatology of the World Federation of Neurosurgical Societies hat zur Schweregraduierung folgende Komaeinteilung empfohlen: Koma I: Bewußtlosigkeit ohne neurologische Störungen. Koma II: Bewußtlosigkeit und neurologische Störungen. Koma III: Koma II und Auftreten von Streck- und/oder Beugesynergismen. Koma IV: Bewußtlosigkeit und Tonuslosigkeit der Extremitäten und beiderseits weite, lichtstarre Pupillen, aber noch erhaltene Spontanatmung. Beim Erlöschen der gesamten Hirnfunktion einschließlich der Spontanatmung tritt der Hirntod ein. In den Empfehlungen des Commitees of Neurotraumatology of the World Federation of Neurosurgical Societies sind unter Koma III und IV noch Störungen der Bulbusbewegungen aufgeführt. Die Erfahrungen haben jedoch gezeigt, daß die Objektivierung und Wertung dieser Störungen sowohl in der präklinischen Phase wie auch in nicht spezialisierten Zentren erschwert und wenig hilfreich sind. Ebenso schwierig ist die Beurteilung der Bulbusstellungen als Zeichen der Hirnstammläsionen auf verschiedenen Ebene. Spontan und/oder auf Schmerzreiz aufgetretene Beugesynergismen der Arme mit überstreckten Beinen sprechen mehr für eine rostral lokalisierte, hingegen die Strecksynergismen der gesamten Extremitäten mehr für eine kaudal lokalisierte Hirnstammschädigung. Bei der sogenannten Glasgow-Koma-Skala wird die Schwere einer Hirnschädigung anhand der besten sprachlichen und motorischen Reaktionen sowie des Augenöffnens auf Anruf oder Schmerzreiz mit Zahlen von insgesamt 3—15 differenziert. Diese Koma-Skala hat sich für eine internationale Dokumentation zum Vergleich der Ergebnisse der Spezialzentren bzw. für die Frühprognose bewährt. Die KomaSkalen sind für die Früherkennung der intrakraniellen Komplikationen (Hämatom, Hirnschwellung) ungeeignet, da hierbei die diagnostisch wichtigen Symptome wie z.B. die Pupillenfunktion (Anisokorie!), einseitige Paresen, einseitige Beuge- und/ oder Strecksynergismen unberücksichtigt bleiben.
202
17 Schädel-Hirn-Verletzungen
Deshalb wurde für die präklinische Diagnostik sowie für die stationäre Verlaufsbeobachtung bei Schädel-Hirn-Verletzten in Anlehnung an die Koma-Skala des Committes of Neurotraumatology of the world federation of neurosurgical societies und der Glasgow-Koma-Skala das folgende Schema ausgearbeitet (Seite 203). Hierbei ist insbesondere bei motorischer Reaktion der Seitenvergleich aller vier Extremitäten berücksichtigt. Dieses Schema wurde zwischenzeitlich auch von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) für das bundeseinheitliche Notarztprotokoll übernommen.
17.6.5 Apallisches Syndrom Nach schweren Schädel-Hirn-Traumen mit langanhaltender Bewußtlosigkeit kann sich ein Zustand entwickeln, der heute allgemein als apallisches Syndrom oder im nicht deutschsprachigen Raum gelegentlich als posttraumatische Katatonie, Dezerebration, Koma prolonge u. a. bezeichnet wird. Hierbei liegen die Kranken ohne Wahrnehmung ihrer selbst und ihrer Umgebung mit offenen Augen teilnahmslos da. Es wird angenommen, daß der Hirnstamm funktionell vom Hirnmantel abgekoppelt ist. Der Hirnstamm selbst ist funktionstüchtig, aber er ist mit dem Hirnmantel nicht mehr in funktioneller Verbindung. Obwohl aus neuropsychiatrischer Sicht heraus eine Bewußtlosigkeit vorliegt, kann das apallische Syndrom nach der in Abschnitt 17.2.1 beschriebenen Einteilung zur Bewußtseinstrübung gerechnet werden, da die Patienten die Augen anhaltend offenhalten.
17.6.6 Hirntod Erst durch die Entwicklung der modernen Respiratoren, welche die Atemfunktion nicht nur mechanisch unterstützen, sondern die gesamte Atemfunktion vollständig übernehmen können — kontrollierte Beatmung, ist es möglich geworden, selbst beim völligen Erlöschen der gesamten Hirnfunktion einschließlich des Atemschrittmachers ohne weitere aufwendige apparative Einrichtungen die Kreislauffunktion aufrechtzuerhalten. Das Herz erhält sauerstoffhaltiges Blut und kann somit autonom weiterschlagen. Das klinische Bild des Hirntodes entspricht dem Koma IV und Atemstillstand (s. Abschn. 17.6.4). Im Hirnstrombild wird ein Null-Linien-EEG registriert und die Carotisangiographie — einwandfreie Nadellage vorausgesetzt — zeigt einen Zirkulationsstillstand. Die geforderte Wartezeit nach voller Entwicklung der klinischen Symptomatologie mit und ohne Zusatzbefunde — EEG, Angiographie, evozierte Potentiale, dynamische CT — zur Festsetzung der Diagnose ist unterschiedlich. Die Hirntoddiagnose beruht auf zwei Grundlagen: 1. Nachweis des Ausfalles der integrativen Großhirn- und Stammhirnfunktion. 2. Nachweis der Irreversibilität dieses Funktionsausfalles.
203
1 7 . 6 Schweregrad einer Hirnverletzung
Bewußtseinslage
Uhrzeit:
Uhrzeit:
• • •
• • •
orientiert getrübt bewußtlos
Glasgow-Koma-Skala Augenöffnen
spontan auf Aufforderung auf Schmerzreiz kein
Beste verbale Reaktion
konversationsfähig, orientiert
5
konversationsfähig, desorientiert
4
inadäquate Äußerung
3
(Wortsalat) unverständliche Laute
2
keine
1
Beste motorische Reaktion auf Aufforderung
6
auf Schmerzreiz gezielt
5
normale Beugeabwehr
4
Beugesynergismen
3
Strecksynergismen
2
keine
1
3
Arm
leicht vermindert
2
stark vermindert
1
Bein
Pupillen funktion
R
L
R
L
R
L
R
L
R
• • • •
eng mittel weit entrundet Lichtreaktion
Meningismus
L
Bein
Extremitätenbewegung (Kraftgrad) normal
R Arm
ja: X
nein:
0
ja:)(
nein: 0
Bitte zutreffende Zahlen einsetzen bzw. Zutreffendes ankreuzen.
L
• • • •
• • • •
• • • •
• • • •
• • • •
204
17 Schädel-Hirn-Verletzungen
Dazu sind mehrere diagnostische Schritte nacheinander erforderlich: • Genaue Beachtung von bestimmten Voraussetzungen. • Genaue Diagnostik der primären oder sekundären Hirnschädigungen. • Wiederholte Untersuchung der klinischen Symptome: Koma, Ausfall der Hirnstammreflexe, Atemstillstand, Dokumentation gewöhnlich durch zwei qualifizierte Untersucher. Angemessene Beobachtungszeit, um die Irreversibilität des Funktionsausfalles zu belegen. Bei primären Hirnschädigungen werden 12 Stunden, bei sekundären 3 Tage empfohlen, Kinder bleiben Ausnahmen. Abkürzung der Beobachtungszeit ist auf zwei Wegen möglich, nämlich durch Aufzeichnung eines Null-Linien-EEG oder durch Nachweis eines zerebralen Zirkulationsstillstandes im Angiogramm. In der 3. Generation der Hirntodkriterien wurden aufgrund einiger Beobachtungen primäre supratentorielle und infratentorielle Läsionen unterschieden. Bei primären infratentoriellen Prozessen kann die apnoische Hirnstammarreflexie eine Zeit lang noch von dem EEG des Großhirns überdauert werden. Daher sind bei infratentoriellen Prozessen EEG-Kontrollen erforderlich. Das nachgewiesene Erlöschen evozierter Potentiale kann, unter Einhaltung bestimmter Bedingungen, die Irreversibilität des Erlöschens der Hirnstammfunktion beweisen und dadurch die Beobachtungszeit abkürzen.
17.7 Pathogenese und Pathomorphologie der traumatischen Hirnschädigungen Die Lokalisation und Ausdehnung der primären Hirngewebsschädigungen - Kontusionen — hängen weitgehend von dynamischen Aspekten ab. Die häufigsten faßbaren Veränderungen finden sich in Form von Rindenprellungsherden, die vorwiegend an der Hirnbasis und an den Stirn-, Schläfen- und Okzipitallappen lokalisiert sind. Diese Prellungsherde können am Ort der Gewalteinwirkung durch „coup" und/oder auf der Gegenseite der Gewalteinwirkung durch „contre coup" entstehen (Abb. 17/1). Von den Rindenprellungsherden werden die sogenannten zentralen Kontusionsherde, die mehr in der Tiefe der Hemisphäre, in Marklager, Balken, Stammganglien und Hirnstamm lokalisiert sind, unterschieden. Als sekundäre traumatische Hirnschäden sind die Ödemnekrosen und die vaskulär bedingten Schäden zu nennen. Sie können ebenso in Marklager, Stammganglien, Stammhirn und auch im Kleinhirn lokalisiert sein. Bei langanhaltender exzessiver intrakranieller Drucksteigerung mit Einklemmung in den Tentoriumschlitz können insbesondere ein- oder doppelseitig lokalisierte Infarktherde im Versorgungsbereich der Arteria cerebri posterior eintreten.
17.8 Hirnschwellung, Hirnödem, Drucksteigerung
205
17.8 Hirnschwellung, Hirnödem, Drucksteigerung, ihre Bedeutung und Behandlung Hirnschwellung, Hirnödem, Liquorzirkulationsstörung können einzeln oder kombiniert zu einer Steigerung des intrakraniellen Druckes führen. Welche dieser Komponenten vordergründig eine Steigerung des intrakraniellen Druckes verursachen, kann durch die CT festgestellt werden. Die intrakranielle Drucksteigerung in der akuten Phase einer Schädel-Hirn-Verletzung ist Folge einer Hirnüberdurchblutung, einer venösen Abflußbehinderung und somit eine Volumenvermehrung: „Hirnschwellung". Sie ist verursacht durch die fehlende Tonisierung der Hirngefäße und der Abhängigkeit der Hirndurchblutung druckpassiv von dem Blutdruck. Sie kann — wenn sie nicht rechtzeitig beseitigt wird — insbesondere bei Kindern als „maligne Hirnschwellung" zu irreversiblen Hirnschädigungen führen und somit frühzeitig verlaufsbestimmend werden. Eine Hirnschwellung ist im CT durch eine homogengraue Darstellung des Gehirnes — Dichteanhebung des Hirnparenchyms — mit der Größenabnahme bis zum Verschwinden der Liquorräume gekennzeichnet. Sowohl die akut auftretende Hirnschwellung als auch die Hirngewebsveränderungen infolge mechanischer und/oder zirkulatorischer Schädigung haben letztlich ein Hirnödem zur Folge, das mit oder ohne zusätzliche intrakranielle Blutungen zur lokalen und/oder diffusen Raumforderung und somit zur intrakraniellen Drucksteigerung führt. Das pathophysiologische Charakteristikum des Hirnödems ist die Permeabilitätszunahme der Blut-Hirn-Schranke mit Aufweitung der Endothelbrücken. Der Kapillar-Endothelschaden führt zum Auftreten eines proteinhaltigen Plasmainfiltrats im extrazellulären Raum. Ein Hirnödem stellt sich im CT durch eine Dichteabnahme des Hirnparenchyms — vermehrter Wassergehalt — dar. Das Schädelvolumen und der Schädelinnendruck stehen miteinander nicht in einer linearen, sondern in einer exponentiellen Beziehung. So führt — abhängig von räumlichen Kompensationsmöglichkeiten — jede Raumforderung letztlich zu einer intrakraniellen Drucksteigerung unterschiedlichen Grades. Der normale intrakranielle Druck beträgt etwa 7 - 1 5 mm Hg. Die primär durch Ödem und/oder intrakranielle Blutung bedingte lokale Raumforderung führt im weiteren Verlauf zunächst zu einer venösen Abflußbehinderung mit Zunahme des Hirnblutvolumens, so daß der intrakranielle Druck im weiteren Verlauf ohne Behandlung mit rasch zunehmender Steilheit ansteigt. Eine einseitige Drucksteigerung hat eine transversale Verschiebung der Hirnteile mit Einpressung in den Tentoriumschlitz und Kompression des N . oculomotorius — seitengleiche Pupillenerweiterung — und/oder des Hirnschenkels am Tentoriumrand — seitengleiche oder kontralaterale Parese — zur Folge. Bei weiterer Hirnvolumenzunahme bzw. Drucksteigerung kommt es zur Mittelhirneinklemmung im Tentoriumschlitz und im fortgeschrittenen Stadium schließlich zur Einklemmung des Hirnstammes in das Hinterhauptloch mit Bulbärsyndrom und schließlich zum Atemstillstand mit Hirntod.
206
17 Schädel-Hirn-Verletzungen
Abb. 17/1 a) Weichteilverletzung ( f ) und Kontusionsherd) ( ) am Ort „Coup" — links parietooccipital — und b) Kontusionsherd mit Blutung (J* ) auf der Gegenseite — rechts frontolateral — der Gewalteinwirkung.
17.8 Hirnschwellung, Hirnödem, Drucksteigerung
207
Die Langzeitmessung und Langzeitregistrierung des intrakraniellen Druckes über einen intraventrikulär eingelegten Katheter - im rechten Vorderhorn - oder mit einem epi- oder subdural eingebrachten Druckabnehmer zeigen jedoch, daß nicht immer eine strenge Korrelation zwischen dem klinischen Zustand und dem absoluten intrakraniellen Druckwert besteht. Verlaufsbestimmend scheinen, abgesehen von absoluten Druckwerten, Verlaufstendenz und die Druckänderungen unter den therapeutischen Maßnahmen zu sein. Behandlung Eine Behandlung der intrakraniellen Drucksteigerung kann nur sinnvoll sein, wenn sie kausalgenetisch gezielt angewandt wird. Im perakuten Stadium in der präklinischen Phase und im erstbehandelnden Krankenhaus ohne weitere diagnostische Möglichkeiten (CT, intrakranielle Druckmessung) kann bei bewußtseinsgetrübten und bewußtlosen Verletzten mit stabilem Kreislauf eine Hirnschwellung angenommen und dementsprechend mit Kopf-Oberkörper-Hochlagerung und notfalls Frühbeatmung mit einer Hyperventilation behandelt werden. Im weiteren Verlauf sollte jedoch eine gezielte Therapie möglichst unter kontinuierlicher Messung und Kontrolle des intrakraniellen Druckes erfolgen. Zur Senkung des intrakraniellen Druckes stehen folgende Möglichkeiten zur Verfügung, die einzeln oder abhängig von der Pathogenese kombiniert angewandt werden sollen: • Sicherstellung der freien Atemwege (Intubation) steht an erster Stelle jeder Behandlung, da die peripheren Atemstörungen stets einen Anstieg des intrakraniellen Druckes zur Folge haben. • Stabilisierung des Kreislaufes mit ausreichendem zerebralen Perfusionsdruck. • Oberkörper- und Kopfhochlagerung von etwa 30 bis 40 Grad, um den venösen Abfluß zu begünstigen. • Kontrolle des Wasser- und Elektrolythaushaltes. Osmo- und Onkotherapie In der akuten Phase bis zum 5. Tag einer Hirnverletzung bei anhaltender Bewußtlosigkeit und/oder neurologischen Ausfällen zur Prävention eines Hirnödems - unter strenger Kontrolle des Elektrolyt- und Säurebasenhaushaltes - die Wasserzufuhr knapp halten. Wenn keine besonderen hämodynamischen Störungen vorliegen, sollte Flüssigkeitszufuhr in den ersten Tagen nicht wesentlich über die Menge der Urinausscheidung hinausreichen. Frühzeitig mit enteraler Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr beginnen. Bei klinisch anzunehmender oder gemessener Hirndrucksteigerung in der akuten Phase einer Verletzung ist die Anwendung von Osmo- und Onkotherapie angezeigt. Bei langanhaltender Anwendung von hyperosmotischen Substanzen ist mit nachhaltigen Wirkungen durch Serum-Hyperosmolarität — Störung der Bluthirnschranke, osmotische Nierenschädigungen — zu rechnen. Mit diesen toxischen Ne-
208
17 Schädel-Hirn-Verletzungen
benwirkungen ist bei einer Serumosmolarität von 320—340 mmol/kg zu rechnen. Die Osmotherapie mit häufigen kleineren Mengen — 50—100 ml — z.B. von 40%igem Sorbit — rasch wirksam — oder 100—200 ml von 20%igem Mannit — länger anhaltende Wirkung — durchführen. Bei gleichzeitig bestehender oder drohender Gefahr einer Nierenfunktionsstörung ist Mannit wegen der Förderung der glomerulären Filtrationsrate vorzuziehen. Andere osmotische Substanzen wie Harnstoff, Glukose, Lävulose, Glycerin sollten heute wegen des stärkeren „Rebound-Effektes" und ihrer kurzen Wirkungsdauer nicht mehr verwendet werden. Im Gegensatz zur Osmotherapie kann die Onkotherapie zur Aufrechterhaltung des kolloidosmotischen intravasalen Druckes beim Hirnödem als Langzeitbehandlung während der akuten Phase einer Hirnverletzung möglichst mit weiter Indikation angewandt werden. Hierzu werden körpereigene Eiweißlösung — 20%iges Humanalbumin — oder körperfremde kolloidale Präparate — 10%iges Dextran 40 — verwendet. Bei Verwendung von Dextranen können allergoide Reaktionen bis zum schweren anaphylaktischen Schock — sehr selten, etwa 1:20 000 — auftreten. • Die Verwendung von Diuretika — Furosemid (Lasix®) und Etacrynsäure (Hydromedin®) — ist nur dann indiziert, wenn eine renale Natrium- und Wasserretention vorliegt. Bei fehlender renaler Störung sollte der Wasserentzug in der akuten Phase vielmehr durch eine eher negative Flüssigkeitsbilanzierung durchgeführt werden. Aldosteron-Hemmer (Aldactone®) wird unter Annahme eines bei Hirnverletzung bestehenden Hyperaldosteronismus empfohlen. Bei Langzeitverwendung ist eine Elektrolytkontrolle erforderlich, um eine Hyperkaliämie nicht zu übersehen. • Eine Hyperventilation führt infolge der arteriellen Hypokapnie zur zerebralen Gefäßkonstriktion und somit durch Minderung des intrakraniellen Gesamtvolumens zum intrakraniellen Druckabfall. Sie ist jedoch nur wirksam, wenn die Ansprechbarkeit der Gefäße auf eine PC0 2 -Änderung vorhanden ist. Deshalb sollte im weiteren Verlauf ihre Wirkung möglichst durch Messung des intrakraniellen Druckes objektiviert werden. Eine kontrollierte Hyperventilation — „Wechseldruckbeatmung" - mit extrem negativem endexspiratorischen Druck führt durch die zusätzliche Begünstigung des venösen Abflusses infolge der Abnahme des mittleren intrathorakalen Druckes zur rasch einsetzender und stärker ausgeprägten Senkung des intrakraniellen Druckes. Die Hyperventilation oder gar die Wechseldruckbeatmung kann zur akuten, kurzzeitigen Drucksenkung nach einer Schädel-Hirn-Verletzung eingesetzt werden. Wegen der nachteiligen Auswirkung einer therapeutisch erzeugten Langzeithypokapnie auf die Hirndurchblutung und einer Wechseldruckbeatmung auf die Lungenfunktion ist ihre Langzeitanwendung jedoch nicht zu empfehlen. Kortikoide Die Glukokortikoide haben eine hohe antiexsudative Wirksamkeit. Deshalb wurde in den letzten Jahren das gut liquorgängige Glukokortikoid Dexamethason in zu-
17.8 Hirnschwellung, Hirnödem, Drucksteigerung
209
nehmendem Maße auch zur Behandlung des traumabedingten Hirnödems eingesetzt. Die primär erhoffte günstige Wirksamkeit konnte jedoch in der Zwischenzeit auch bei hoher Dosierung nach mehreren prospektiven Studien nicht uneingeschränkt bestätigt werden. In jüngster Zeit werden noch höhere Dosen mit einer Initialgabe von 500—1000 mg empfohlen. Die neueren Untersuchungen sprechen dafür, daß Dosishöhe und Zeitpunkt einer Dexamethasongabe nach Schädel-Hirn-Verletzung zur Bekämpfung des Hirnoedems entscheidend sind für die antioedematöse Wirkung. So werden nach Schädel-Hirn-Verletzungen ultrahohe Cortisondosen (Dexamethason) möglichst frühzeitig innerhalb der ersten 2—3 Stunden nach Verletzung empfohlen. Eine Corticoidbehandlung von mehr als 2 - 3 Tagen - nach Initialdosis von 5 0 0 mg alle 6 Stunden 2 0 0 mg — scheint nicht mehr sinnvoll. Im Rahmen einer multizentrischen randomisierten Doppelblindstudie in 10 Neurochirurgischen Kliniken der Bundesrepublik wurde mit strengen Einschluß- und Ausschlußkriterien bei 3 0 0 Patienten die Wirksamkeit dieser ultrahohen Dexamethasontherapie untersucht. Nebenwirkungen und insbesondere erhöhte intestinale Blutungen konnten nicht festgestellt werden. Die Rekrutierung der Patienten ist abgeschlossen. Hingegen liegen die endgültigen Ergebnisse wegen der Verlaufsbeobachtungen noch nicht vor. Hohe Barbituratmedikation, „zerebrale Protektion" Besonders den Barbituraten wurde in der letzten Zeit abgesehen von ihrer sedierenden, hypnotischen, antikonvulsiven und narkotischen Wirkung eine zerebrale Protektion „Schutz des Gehirnes vor den Folgen eines Sauerstoffdefizits", bedingt durch ihre dosenabhängige Reduzierung der Hirndurchblutung und des Sauerstoffbedarfes zugeschrieben. Angeregt durch die günstigen Wirkungen von Barbituraten in hohen Dosen nach posttraumatischer oder anoxischer Hirnschädigung an Tiermodellen wurden in den letzten Jahren hohe Barbituratmedikationen (20—30 mg/ kg KG) bis zu einem isoelektrischen EEG angewandt. Die Ergebnisse dieser sehr aufwendigen Therapie, bei der eine klinische und neurologische Befundkontrolle nicht mehr möglich ist, waren jedoch enttäuschend. Die Barbiturate können nach wie vor als Sedierungs-, Narkose- und Antikonvulsivmittel bei Schädel-Hirn-Traumen eingesetzt werden. Unter der Vorstellung einer zerebralen Protektion in sehr hohen Dosen sind sie jedoch — wenn überhaupt — nur in Spezialkliniken mit aufwendigen apparativen und laborchemischen Dauerkontrollen einsetzbar. Nicht zu vernachlässigen sind auch die schweren Komplikationen dieser hohen Dosierung. Kalziumantagonisten Auch die Anwendung des Kalziumantagonisten Nimodipin zur Prophylaxe und Behandlung zerebralen Gefäßspasmen bei Schädel-Hirn-Verletzten wird in der jüngsten Zeit zunehmend empfohlen. Die Schutzeffekte von Kalziumantagonisten
210
17
Schädel-Hirn-Verletzungen
bei fokalen und globalen zerebralen Durchblutungsstörungen auch nach SchädelHirn-Verletzungen lassen sich weitgehend über die Verhinderung bzw. Beseitigung vasospastischer Zustände, die sich wohl als Folge eines gestörten Elektrolytmilieus ausbilden, erklären. Weiterhin wird ein zusätzlicher direkter zytoprotektiver Effekt auf das Hirngewebe diskutiert. Die Ergebnisse bei tierexperimentellen traumatischen Hirnschädigungen am Rattenmodell sind ermutigend. Gesicherte klinische Ergebnisse liegen jedoch bisher noch nicht vor. Eine internationale multizentrische randomisierte Doppelblindstudie mit eigener Beteiligung ist noch nicht abgeschlossen. Entlastungskraniektomie Früher wurde zur Behandlung des akuten Hirnödems und zur Senkung des intrakraniellen Druckes gelegentlich eine beidseitige und sehr ausgedehnte Kraniektomie mit Eröffnung der Dura vorgenommen. Diese Entlastungsoperation wird noch heute bei Verletzten mit einem Mittelhirnsyndrom in wenigen Kliniken durchgeführt. Die Ergebnisse sind nicht überzeugend, so daß sie nicht mehr empfohlen werden kann.
17.9 Intrakranielle Blutungen Durch ein Trauma kann es zu einer Blutung in den epiduralen Raum zwischen Schädel und harter Hirnhaut (epidurales Hämatom), in den subduralen Raum zwischen der Dura und der Arachnoidea (subdurales Hämatom) oder in das Hirngewebe (intrazerebrales Hämatom) kommen. Diese Blutungen können einzeln oder kombiniert auftreten. Häufigkeit der intrakraniellen Blutungen: Ein Vergleich bei 3711 Verletzten, die wegen Schädel-Hirn-Trauma und/oder Hämatomverdacht neurochirurgisch behandelt wurden, zeigt, daß nur bei etwa 3 0 % der Verletzten eine verlaufsbestimmende intrakranielle Blutung vorlag. 1 7 . 9 . 1 Klinische Zeichen einer intrakraniellen Blutung Die klinischen Syndrome sind für die genannten Lokalisationen einer intrakraniellen Blutung nicht spezifisch. Insgesamt können jedoch klinisch drei Verlaufsformen unterschieden werden: • Ohne freies Intervall; in der Regel nach schweren Hirnschädigungen vorkommend. Nach dem Trauma können die schweren neurologischen Ausfälle unverändert fortbestehen oder durch Hämatomentwicklung zusätzlich verstärkt auftreten. Diese klinische Verlaufsform findet sich meist bei akuten Hämatomen, die sich innerhalb der ersten
17.9 Intrakranielle Blutungen
211
3—6 Stunden oder noch am Unfalltag entwickeln. Die frühen akuten Hämatome, die sich innerhalb der ersten Stunden nach einem Unfall entwickeln und klinisch durch schwere neurologische Symptome bis zu einem Mittelhirnsyndrom gekennzeichnet sind, haben unberücksichtigt ihrer Lokalisation — trotz frühzeitiger operativer Entfernung — eine infauste Prognose. Die Verlaufsbeobachtungen haben gezeigt, daß nach sofortiger Hämatomentfernung nur bei Jugendlichen eine Erholungsmöglichkeit besteht. • Mit kurzem freien Intervall; vorwiegend nach mittelschweren bis leichteren Traumen vorkommend, mehr aber auf keinen Fall spezifisch — bei epiduralen Hämatomen zu beobachten. Nach primär fehlenden oder nach Abklingen der initialen posttraumatischen Symptome treten erneut Beschwerden in Form von Kopfschmerzen und/oder Brechreiz auf, gelegentlich begleitet von Kreislaufstörungen mit einer Bradykardie. Im weiteren Verlauf meistens innerhalb der ersten 4—8 Stunden kommt es schließlich zur Entwicklung rasch zunehmender Bewußtseinstrübung und/oder neurologischer Ausfälle. • Mit langem freien Intervall; selbst nach einem Bagatelltrauma kann es erst nach Wochen bis Monaten zur Entwicklung von Beschwerden und/oder zunehmender neurologischer Erscheinungen kommen. Diese Verlaufsform ist spezifisch für die chronischen subduralen Hämatome (s. Abschn. 17.9.3).
17.9.2 Epidurale Hämatome Etwa 30% der traumatischen Hämatome sind epidural lokalisiert. Bei älteren Menschen kommen sie hingegen seltener vor. Sie sind in der Regel Folge einer Linearund/oder Impressionsfraktur mit Verletzung des Hauptstammes oder peripherer Aste der Arteria meningea media. So sind sie auch meistens temporo-parietal (Abb. 17/2), seltener frontal oder temporo-occipital lokalisiert. Gelegentlich kann es auch ohne Gefäßverletzung zu einem epiduralen Hämatom — durch zunehmende Sickerblutung aus Knochenbrüchen — kommen. Schädelfrakturen um oder über dem Sinus sagittalis superior können zu einem ein- oder doppelseitigen Scheitelhämatom und Frakturen über dem Confluens sinuum zu Hämatomen im Bereiche der hinteren Schädelgrube führen. Die Entwicklung der klinischen Symptomatologie verläuft bei epiduralen Hämatomen ohne arterielle Blutung dementsprechend zeitlich langsamer. Hingegen führen die arteriellen Blutungen zu rasch zunehmenden Hämatomen mit stürmisch verlaufenden klinischen Erscheinungen innerhalb der ersten Stunde. Bedingt durch die rasche Zunahme des intrakraniellen Druckes kann es innerhalb kürzester Zeit zur Entwicklung eines Mittelhirnsyndroms kommen. Hierbei ist der Zeitfaktor verlaufsbestimmend. Nur durch strenge klinische Kontrolle, rechtzeitige computertomographische Untersuchungen und gezielte Operationen können solche dramatischen Verläufe vermieden werden.
212
17 Schädel-Hirn-Verletzungen
Abb. 17/2 Linear-Fraktur ( f ) links temporal (a) mit großem akutem epiduralem Hämatom temporoparietal (b).
17.9 Intrakranielle Blutungen
213
Epidurale Hämatome grundsätzlich durch osteoplastische Freilegung entfernen. Nur in Notfällen bei perakut verlaufender Symptomatologie bis zur endgültigen Freilegung eine Entlastung durch Bohrloch einleiten.
17.9.3 Subdurale Hämatome Etwa 55% der traumatischen Hämatome sind subdural lokalisiert. Bei alten Menschen — über 65 Jahre — liegt dieser Anteil mit 74% deutlich höher. Wegen ihrer Prognose, Pathogenese und vor allem wegen der therapeutischen Konsequenzen ist bei subduralen Hämatomen die Unterscheidung von drei Typen (akut, subakut und chronisch) wichtig. Die akuten subduralen Hämatome entwickeln sich innerhalb der ersten 24 Stunden nach einem Trauma. Sie entstehen in der Regel bei schweren Traumen mit Kontusion und Lazeration der Hirnrinde. Dementsprechend sind auch die Blutungen subarachnoidal und subdural über die gesamte Hemisphäre ein- oder gelegentlich beidseitig ausgedehnt. Im CT sind die frischen Blutungen als ein homogener hyperdenser kalottennah liegender Saum darstellbar (Abb. 17/3). Die Letalität der akuten subduralen Hämatome ist nicht zuletzt wegen der gleichzeitig bestehenden allgemeinen Hirnverletzung mit über 80% sehr hoch. Die subakuten subduralen Hämatome entwickeln sich in mehr als einem bis 10 Tage nach einem Trauma. Sie entstehen vorwiegend bei mittelschweren bis schwe-
Abb. 17/3 Akutes subdurales Hämatom über der gesamten rechten Hemisphäre.
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17 Schädel-Hirn-Verletzungen
ren Traumen und sind häufiger Folge von Kontusionsblutungen an der Hirnrinde und/oder Blutungen aus einer verletzten Brückenvene. Im CT stellen sich die subakuten Hämatome abhängig vom zeitlichen Ablauf infolge der Blutsedimentation und durch zunehmenden Abbau der Zellen als ein bunter, teils hyperdenser, teils isodenser und teils hypodenser Saum dar. Die Letalität bei subakuten subduralen Hämatomen ist insgesamt mit etwa 50% deutlich geringer als bei akuten subduralen Hämatomen. Die chronischen subduralen Hämatome kommen durch langsam zunehmende Entwicklung der klinischen Symptomatologie erst über 10 Tage nach einem Trauma zum Nachweis. Sie sind häufiger in höherem Alter anzutreffen und können selbst monatelang nach einem Bagatelltrauma zu ersten klinischen Erscheinungen führen. Nicht selten ist dem Patienten und/oder den Angehörigen das Monate zurückliegende Bagatelltrauma entgangen. Die chronischen subduralen Hämatome sind meistens parietal bis zur Mittellinie, nicht selten beidseitig, lokalisiert. Sie können bis frontal und temporal ausgedehnt oder nur — häufiger bei Jugendlichen — in diesem Bereich lokalisiert sein. Bei chronischen subduralen Hämatomen sind die Subarachnoidalräume nicht mitbetroffen. Das Hämatom ist mit einer - abhängig vom zeitlichen Ablauf nach Trauma — unterschiedlich dicken Kapsel umhüllt. Die Hämatomkapsel besteht aus einer der Kalotte anliegenden — parietalen — dickeren und einer der Arachnoidea anliegenden — visceralen — dünneren Membran. Die chronischen subduralen Hämatome stellen sich im Computertomogramm als ein plan- bis bikonvexer, der Kalotte anliegender Saum veränderter Dichte dar. Das Hämatom ist anfangs blutig serös. Im CT: Gemischter Typ mit hyper- und hypodensen Anteilen. Im weiteren Verlauf durch Abbau der Erythrozyten kann sich die Dichte dem Hirngewebe angleichen; im CT: kein Saum erkennbar. Hier kann die Raumforderung den Hinweis auf ein Hämatom geben. Erst nach Kontrastmittelgabe kommt es in der Regel zur Darstellung der Kapsel, und der Saum wird erkennbar (Abb. 17/4). Nur ein Teil der Hämatome kann sich analog der subduralen Hygrome als hypodenser Saum im CT darstellen (Abb. 17/5). Subdurale Hygrome Gelegentlich, meist bei älteren Patienten, die lange Zeit nach einem Trauma Zeichen einer chronischen subduralen Blutung zeigen, stellt sich im CT ein kalottennaher, jedoch in der Regel plankonvexer hypodenser Saum dar. Bei der Operation findet man im Subduralraum serös trüben Liquor. Es wird vermutet, daß Hygrome sich infolge von osmotischen Druckänderungen in einer abgegrenzten Blutungshöhle entwickeln. Die subduralen Hämatome werden durch ein Bohrloch entfernt. Bei chronischen subduralen Hämatomen hat sich in den letzten Jahren die Einlage eines Katheters in die Hämatomhöhle mit Ableitung nach außen zunehmend bewährt. Unter kontinuierlicher CT-Kontrolle kann der Rückgang des hypodensen kalottennahen Sau-
17.9 Intrakranielle Blutungen
215
Abb. 17/4 Chronisches subdurales Hämatom. a) Im Nativ-CT: Starke rechtsseitige Raumforderung mit Verlagerung der Mittelstrukturen erkennbar. Das Hämatom ist isodens und stellt sich nicht dar; b) erst nach i.v. Kontrastmittelgabe ist eine angedeutete Kontrastmittelanreicherung erkennbar (t).
Abb. 17/5 Chronisches subdurales Hämatom. Im Nativ-CT ist der kalottenanliegende hypodense Saum erkennbar ("f).
216
17 Schädel-Hirn-Verletzungen
mes kontrolliert werden. Wenn auch zeitlich unterschiedlich ausgedehnt, kann hierdurch in der großen Zahl der Fälle ein völliger Rückgang erreicht werden. Die früher durchgeführte große osteoplastische Freilegung zur Entfernung der derben Kapseln ist nur noch in wenigen Fällen angezeigt.
17.9.4 Intrazerebrale Blutungen Die traumatischen intrakraniellen Blutungen sind in ca. 11% intrazerebral lokalisiert (Abb. 17/6). Sie entstehen fast nur bei schweren und mittelschweren Traumen und sind hauptsächlich temporal, frontal, seltener occipital und auch mal parietal lokalisiert. Sie entwickeln sich in der Regel in einem Kontusionsherd der Marklager. Bei perakuter Entwicklung mit stürmisch schwerem klinischen Verlauf sind sie nicht zuletzt wegen der Hirnschädigung mit einer Letalität von 80% und insgesamt von 60% belastet. Eine operative Behandlung ist nur bei oberflächlicher lobärer Lokalisation indiziert. Bei tiefer Lokalisation sind die Ergebnisse der konservativen denen der operativen Behandlung überlegen.
17.9.5 Hämatome der hinteren Schädelgrube Traumatische Hämatome im Bereich der hinteren Schädelgrube sind relativ selten. Vor der Ära der Computertomographie wurden sie nur bei epiduraler Lokalisation
Abb. 17/6 Großes perakut - innerhalb der ersten Stunden nach Trauma - entwickeltes intrazerebrales Hämatom rechts parieto-occipital. Abb. 17/7 Traumatisches intrazerebellares Hämatom der linken Kleinhirnhemisphäre.
17.10 Hirnschädelfraktionen
217
gelegentlich durch Angiographie mit Verlagerung des Confluens sinuum diagnostiziert. Heute können sie bei allen Lokalisationen durch Computertomographie erfaßt werden (Abb. 17/7). Ihre klinischen Symptome sind bunt und häufig wegen der vorliegenden allgemeinen Hirnfunktionsstörungen unspezifisch. Bei Liquorpassagebehinderung und zunehmender intrakranieller Drucksteigerung kann es zu Atemstörungen in Form einer Hypoventilation kommen. Ihre operative Behandlung hängt von der Lokalisation, Ausdehnung und den klinischen Erscheinungen ab.
17.10 Hirnschädelfrakturen Schädelfrakturen sind grundsätzlich Zeichen einer schweren Gewalteinwirkung. Die Frakturen können an der Schädelkonvexität und/oder an der Schädelbasis lokalisiert sein. 1 7 . 1 0 . 1 Frakturen an der Schädelkonvexität Bei diesen Frakturen sind hauptsächlich drei Formen zu unterscheiden: Linearfraktur: Abhängig von der Lokalisation der Gewalteinwirkung zeigen sie unterschiedliche Lokalisation mit oder ohne Ein- und/oder Aussprengung. Bei temporaler Lokalisation einer Fraktur insbesondere an die Entwicklungsmöglichkeit eines epiduralen Hämatoms denken. Eine spezielle Behandlung der Linearfrakturen ist nicht erforderlich. Sie heilen spontan; die Heilungsdauer ist abhängig vom Lebensalter. Impressionsfrakturen: Ein oder mehrere Knochenfragmente sind intra- und/oder seltener extrakraniell disloziert (Abb. 17/8). Bei einer intrakraniellen Dislokation von mehr als Kalottenbreite sollte eine operative Behandlung durchgeführt werden, da häufig (etwa 60%) mit einer Duraverletzung zu rechnen ist. Die operative Behandlung ist auch wegen der bestehenden Hirnkompression und/oder Entwicklungsgefahr eines Anfallsleidens zu empfehlen. Berstungsfrakturen: Sie entstehen bei schweren breitflächigen Gewalteinwirkungen auf den Hirnschädel. Die multiplen breitklaffenden Frakturen führen zu einer Deformierung der Schädelform, die schon klinisch erkennbar ist (Abb. 17/9). Wegen der erlittenen schweren Hirnverletzung werden sie selten überlebt. Eine — allerdings erst im weiteren Verlauf nach Stabilisierung der vegetativen Funktionen — durchzuführende Operation ist nur bei Dislokation einer oder mehrerer Knochenfragmente von mehr als Kalottenbreite erforderlich. Wachsende Schädelfrakturen: Sie kommen ausschließlich bei Kindern vor, wenn durch eine Fraktur vorwiegend in Parietalregion es zu einer Verletzung der Dura
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17 Schädel-Hirn-Verletzungen
Abb. 17/8 „Operationspflichtige" Impressionsfraktur links hoch-parietal.
kommt. Durch Austritt von Liquor und/oder Hirngewebe in den Frakturspalt wird die Spontanheilung der Fraktur verhindert. Der Frakturspalt vergrößert sich mit dem Wachstum des Schädels. Wachsende Frakturen müssen operativ versorgt werden. Hierbei ist eine plastische Deckung der Dura erforderlich. Eine besondere Form kindlicher Schädelfraktur ist die sogenannte Ping-Pong-Ball Impression oder Zelluloidballfraktur bei Neugeborenen und Säuglingen. Diese Frakturen heilen spontan und gleichen sich in der Regel dem Kalottenniveau wieder an.
17.10.2 Schädelbasisfrakturen; offene Hirnverletzungen Fronto-basale Frakturen: Häufiger bei gleichzeitigen Gesichtsschädel-Verletzungen kann es zu einer Verletzung der fronto-basalen Region kommen. Wegen der Nach-
17.10 Hirnschädelfraktionen
219
Abb. 17/9 Berstungsfraktur.
barschaft zu den Nasennebenhöhlen kommt es somit bei Duraverletzung zu einer offenen Hirnverletzung mit Infektionsgefahr. Klinisch sind die fronto-basalen Verletzungen gelegentlich durch eine diffuse Blutung im Bereiche der Orbitahöhle einseitig (Monokelhämatom) oder beidseitig (Brillenhämatom) gekennzeichnet (Abb. 17/10). Eine Duraverletzung entsteht bei diesen Frakturen dann, wenn eine Impressionsfraktur der hirnnahen Wandungen der Nasennebenhöhlen vorliegt. Diese Frakturen können am besten durch Schichtaufnahmen der vorderen Schädelbasis in Kombination mit CT dargestellt werden. Die offene Verbindung des intrakraniellen Raumes nach außen kann schon in der akuten Phase zu einem Liquorabfluß aus der Nase (nasale Liquorrhoe) führen. Durch die Hirnschwellung in der akuten Phase einer Verletzung kann die Liquorrhoe fehlen oder erst später auftreten. Eine frühzeitig oder später im Computertomogramm und Röntgenbild nachgewiesene intrakranielle Luftansammlung im subduralen Raum (subdurale Pneumatozele) oder im Subarachnoidalraum bzw. im Seitenventrikel (Pneumatozephalus) ist — abgesehen von seltenen früheren Abszessen durch gasbildende Keime — immer Zeichen einer offenen basalen Hirnverletzung. Nicht selten ist eine erst längere Zeit nach einem Schädel-Trauma auftretende Meningitis der erste Hinweis auf das Vorliegen einer fronto-basalen offenen Hirnverletzung. Die fronto-basalen offenen Hirnverletzungen sind wegen der dauernden drohenden Infektionsgefahr operationspflichtig. Wie die offenen Hirnverletzungen an der Konvexität brauchen die fronto-basalen Verletzungen nicht sofort, sondern mit aufgeschobener Dringlichkeit erst nach
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17
Schädel-Hirn-Verletzungen
Abb. 1 7 / 1 0 „Brillenhämatom" bei offener fronto-basaler Verletzung mit nasalem Liquorabfluß; Liquorfleck auf Bettunterlage ( f ).
Stabilisierung der vegetativen Funktionen etwa 1—3 Wochen nach dem Trauma operiert zu werden. Die Operation erfolgt durch neurochirurgische subfrontale Kraniotomie. Bis zur Operation sollte zur Infektionsprophylaxe ein liquorgängiges Antibiotikum — Chloramphenicol, z. B. Paraxin® 3 X 1 g oder Doxycyclin, z. B. Vibravenös® SF 2 X 1 0 0 mg oder Fosfomycin, z. B. Fosfocin® 3 X 2 g - verabreicht werden. Schädelbasisfrakturen im Bereich der mittleren und hinteren Schädelgrube: Sie sind Zeichen einer erheblichen Gewalteinwirkung. Die erhöhte Gefährdung der Verletzten ist durch die unmittelbare Nachbarschaft zu den Hirnnerven und zum Hirnstamm gegeben. Ohne gleichzeitig bestehende Hirnfunktionsstörung sind sie jedoch nicht verlaufsbestimmend und werden im allgemeinen überbewertet. Bei Felsenbeinfrakturen kann es zu peripheren Schädigungen des N. facialis und/oder N. statoacusticus mit Hör- und Gleichgewichtsstörungen kommen. Die otogene Liquorfistel infolge von Felsenbeinbrüchen mit Duraverletzung bedarf in der Regel keiner chirurgischen Intervention, sie heilt spontan aus. Auch eine länger anhaltende otogene Liquorrhoe sistiert nach einer lumbalen Drainage in 2—3 Tagen. Offene Hirnverletzungen an der Konvexität: Sie entstehen dann, wenn es durch Gewalteinwirkung zur Verletzung von Kopfschwarte, Knochen und Dura kommt. Häufig dringen hierbei Fremdkörper, Haare, Knochenfragmente tief in das Hirnge-
1 7 . 1 1 Gefäßverletzungen
221
webe ein. Hirninfektion nach sichtbaren offenen Hirnverletzungen an der Konvexität ist in Friedenszeit relativ selten. Sie entsteht in Form von „früher Hirnabszeß" dann, wenn eine offene Hirnwunde übersehen und unzureichend versorgt wird. Die Gefahr der Entwicklung eines frühen Hirnabszesses ist insbesondere bei Verschmutzung der Wunde mit Eindringen von Fremdkörpern in das Hirngewebe gegeben. Seltener, insbesondere bei Verschmutzungen mit Stallabfall, kann es auch zur Entwicklung eines frühen Hirnabszesses mit Gasbrandbazillen kommen. An diese Komplikationen denken, wenn neben akuten Zeichen einer anhaltenden diffusen zerebralen Infektion mit intrakranieller Drucksteigerung eine intrazerebrale Gasbildung erkennbar ist. Die frühen Hirnabszesse müssen nach wie vor durch eine Drainage nach außen offen behandelt werden. Auch bei offenen Hirnverletzungen an der Konvexität hat sich die Intervallbehandlung bewährt. Im akuten Stadium innerhalb der ersten 6 bis 8 Stunden erfolgt die Wundsäuberung und Entfernung der infektionstragenden Fremdkörper und nur Verschluß der Kopfschwarte über der Wunde. Erst nach Stabilisierung der vegetativen Lage und Besserung des Zustandes mit Aufhellung der Bewußtseinslage wird die endgültige operative Versorgung mit Duraverschluß angeschlossen.
17.11 GefäßVerletzungen Direkte Verletzungen der intrakraniellen Gefäße führen zu intrakraniellen Hämatomen (s. Abschn. 17.9). Carotis interna: Relativ seltene, sehr starke, unstillbare Blutungen aus Nasen-Rachen-Raum sind durch direkte Verletzung der Carotis interna im extraduralen Abschnitt - im Karotiskanal - durch ausgedehnte Frakturen des Os sphenoidale bedingt. Diese Blutungen verlaufen häufig tödlich. Die häufigere, bei fronto-basalen Verletzungen nachweisbare leichtere Blutung aus dem Nasen-Rachen-Raum ist hingegen meist durch Verletzungen der Arterien der Siebbeinplatte verursacht. Sie sistiert in der Regel spontan. Nur selten ist eine Nasentamponade erforderlich. Beachte: Bei starken Blutungen aus dem Nasen-Rachen-Raum wegen Aspirationsgefahr möglichst rasch intubieren, um durch Tubusblockade einer Aspiration vorzubeugen. Arteria-Carotis-Sinus-cavernosus-Aneurysma: Bei Verletzungen der A. carotis interna im Bereiche des Sinus cavernosus, ein- oder beidseitig, kann es zu einer Kurzschlußverbindung der A. carotis mit dem Sinus cavernosus kommen. Diese gelegentlich innerhalb der ersten Stunden nach einem Trauma angiographisch oder durch die transkranielle Doppler-Sonographie nachweisbaren Kurzschlußverbindungen führen jedoch erst im weiteren Verlauf zu klinischen Erscheinungen: pulsierender Exophthalmus, Chemosis (Abb. 17/11) und das typische systolische Fistel-
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17 Schädel-Hirn-Verletzungen
Abb. 17/11 Beiderseits traumabedingtes Arteria-carotis-sinus-cavernosus Aneurysma mit Exophthalmus und Chemosis.
geräusch, das maximal über dem Augapfel und an der Schläfe hörbar ist. Diese arterio-venösen Kurzschlußverbindungen können - wenn operativ nicht beseitigt im weiteren Verlauf zu hämodynamisch bedingten Hirnfunktionsstörungen der betroffenen Hemisphäre führen. Wegen Gefährdung des Auges und subjektiver, meist untragbarer Lokomotivgeräusche ist eine operative Behandlung der arteriovenösen Fistel angezeigt. Bei der operativen Behandlung wird nach angiographischer Sicherung des kontralateralen Kreislaufes zunächst intrakraniell die Carotis interna supraklinoidal vor Abgang aller Hirnarterien bei gleichzeitiger Unterbindung der A. ophthalmica verschlossen. Erst danach erfolgt die Unterbindung der Carotis interna am Hals. In den letzten Jahren hat sich die Ballonbehandlung zunehmend durchgesetzt. Gefäßthrombosen, traumatische Aneurysmen: Traumatisch bedingte Karotisverschlüsse am Hals sind meist Folge einer traumatischen Thrombose mit späterer Organisation. Diese und die — sehr selten vorkommenden — traumatischen intrakraniellen Gefäßverschlüsse und/oder Aneurysmen mit bunten und nicht krankheitsspezifischen klinischen Bildern können hier nicht weiter abgehandelt werden.
17.12 Posttraumatische Epilepsie Nach gedeckten, aber häufiger nach offenen Hirnverletzungen kann es zur Entwicklung eines Anfallsleidens (Epilepsie) kommen. Die Entwicklung eines posttraumatischen Anfallsleidens ist als eine schwerwiegende Komplikation zu betrachten,
17.13 Spätergebnisse und soziale Rehabilitation der Schädel-Hirn-Verletzten
223
die insbesondere auch für eine spätere soziale Rehabilitation verlaufsbestimmend ist. Die Häufigkeit der posttraumatischen Epilepsie wird sehr unterschiedlich offenbar bedingt durch das Krankengut - mit 3 - 7 0 % angegeben. Das EpilepsieRisiko hängt weitgehend von der Schwere des erlittenen Traumas ab. Die sogenannten „Immédiat- oder Sofortanfälle" - Anfälle sofort nach einem Trauma und die sogenannten „Frühanfälle" - Anfälle innerhalb der ersten Woche nach einem Trauma — disponieren weniger zu einer späteren Epilepsie. Bei Auftreten von Anfällen erst 1—2 Wochen nach einem Trauma, wird von einer Spätepilepsie gesprochen. Die Anfälle können fokal oder generalisiert auftreten. Bei früh auftretenden Anfällen ist die fokale Form häufiger zu beobachten. Die Auffassung über medikamentöse Prophylaxe einer posttraumatischen Epilepsie ist uneinheitlich. Einerseits wird sie streng nur beim Vorliegen entsprechender EEG-Veränderungen und andererseits grundsätzlich bei allen offenen Hirnverletzungen an der Konvexität und/oder nach einem Trauma mit einer Bewußtlosigkeit von mehr als 24 Stunden empfohlen. Bei vorliegenden fokalen EEG-Veränderungen und/oder beim Auftreten eines Anfalles ist jedoch eine antiepileptische Medikation unerläßlich.
17.13 Spätergebnisse und soziale Rehabilitation der Schädel-HirnVerletzten Für den klinischen Verlauf und somit für die Frühprognose sind die Dauer der Bewußtlosigkeit, die Schwere der neurologischen Ausfälle und das Alter der Hirnverletzten maßgebend. Diese Beurteilung gilt auch für das Spätergebnis und für die Dauer der nötigen Maßnahmen zur sozialen Wiedereingliederung. Spätergebnisse bei Schädel-Hirn-Verletzten werden häufig durch zusätzliche Komplikationen entscheidend beeinträchtigt. Die Rehabilitation der Hirnverletzten soll nach Abklingen der akuten Phase klinisch schon frühzeitig beginnen. Die vorbeugenden krankengymnastischen Behandlungen und allgemeine Trainingsmaßnahmen stehen im Vordergrund. Weiterhin frühzeitig mit Beschäftigungstherapie beginnen und die Weichen für weitere Rehabilitationsmaßnahmen zur sozialen Wiedereingliederung stellen. Hier gilt die reibungslose Übernahme der klinischen Behandlung durch Spezialinstitutionen mit Möglichkeiten zu Schulungen und Umschulungen zum beruflichen Einsatz bzw. zur Selbstversorgung. Beim Vorliegen schwerer Komplikationen wie Tonusstörungen, extrapyramidale Hyperkinesen, periartikuläre Ossifikationen rechtzeitig an die Möglichkeit der stereotaktischen Hirn- und an orthopädischen Gelenkoperationen denken.
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17 Schädel-Hirn-Verletzungen
Weiterführende Literatur Brihaye, I., R. A. Frowein, S. Lindgren et al.: Report of the Meeting of the WFNS. Neurotraumatology Commitee, Brüssel 1 9 . - 2 3 . 9 . 1 9 7 5 . Acta Neurochir. 4 0 (1978) 181. Frowein, R. A., A. Karimi-Nejad, K. Nittner et al.: Verletzungen des Kopfes. In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R.Zenker, F.Deucher, W.Schink), Bd.4a. Urban &C Schwarzenberg, München—Wien—Baltimore 1976. Scheid, W.: Lehrbuch der Neurologie, 6. Aufl. Thieme, Stuttgart-New York 1985. Teasdale, G., B. Jennet: Assessment of Coma and impaired Consciousness. Lencet 13 (1974) 81. Vinken, P. J., G.W. Bruyn: Handbook of clinical Neurology, Bd. 23 u. 24. Injuries of the Brain and Skull, Teil I u. II. North-Holland Publ., Amsterdam-Oxford 1975/1976.
18 Knöcherne Verletzungen des Mittelgesichts und des Unterkiefers H.-D. Pape
18.1 Übergeordnete Richtlinien 18.1.1 Diagnostik Die klinische Diagnostik muß bei Kiefer-Gesichtsverletzten zunächst den Allgemeinzustand erfassen und übergeordneten Gesichtspunkten Rechnung tragen. Achtung: Liegen Atemstörungen vor, sofort klären, ob • zentralbedingt, • lokalbedingt. Hierbei Möglichkeit der mechanischen Asphyxie beachten: • Durch Aspiration von Blut, Erbrochenem, Zähnen oder kleinen Knochenteilen, • durch Zurücksinken der Zunge, möglich bei tiefer Bewußtlosigkeit oder bei Mundbodenverletzungen und Unterkiefer-Mittelstückfrakturen. (Die sogenannte pharyngeale Clearance, die bei normaler Rückenlage 2 0 mm beträgt, kann durch das Absinken der Mundbodenzungenweichteile auf wenige Millimeter verringert werden!) Bewußtseinslage: (s. Abschn. 3 . 2 . 2 ) Kreislauf: (s. Abschn. 3.3.2) Frakturdiagnostik: Erste Klärung durch Inspektion und Palpation. Hauptsymptome einer Kieferfraktur sind • Deformierung und Asymmetrie des Gesichtes, • Okklusionsstörungen, • Beweglichkeit einzelner Unterkieferabschnitte und der Mittelgesichtsteile. Beachte: Die Kontinuität der Kiefer wird mit beiden Händen überprüft (Abb. 1 8 / l a und b). Am Unterkiefer greifen die Hände jeweils mit dem Daumen auf die Zahnreihe rechts und links und mit den übrigen Fingern umfassen sie den Unterkieferrand. Am Oberkiefer faßt eine Hand die Zahnreihe und die andere umgreift die Nasenwurzel und stützt sich gleichzeitig an der Stirn ab. Die orientierende Prüfung der Hautsensibilität mit einer Pinzette oder Sonde kann auf eine Unterbrechung des N. alveolaris inferior oder des N. infraorbitalis hinweisen.
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18 Knöcherne Verletzungen des Mittelgesichts und des Unterkiefers
Bei der folgenden Röntgenuntersuchung werden zur Übersicht zunächst drei Standardaufnahmen durchgeführt: • Schädelaufnahme exzentrisch subokzipitofrontal (p.-a.); • Nebenhöhlenübersicht; • Orthopantomogrammaufnahme; • Ergänzungsaufnahme für Detailbereiche wie Orbita (Brille), Jochbein-Spezial, Nasenbein seitlich, Panoramix Ober- und Unterkiefer, Zahnfilme, müssen je nach Verletzungssituation folgen. 18.1.2 Sofortmaßnahmen Aus der Ubersichtsdiagnostik ergeben sich unter Umständen Indikationen zu Sofortmaßnahmen bei lebensbedrohlichen Zuständen. Neben den übergeordneten
18.1 Übergeordnete Richtlinien
TU
Gesichtspunkten der Kreislaufs- und Bewußtseinslage ist bei Kieferverletzten besonders die Freihaltung der Atemwege zu beachten durch • Seitenlagerung des Körpers und des Kopfes, Beugung des Kopfes nach hinten, • Säuberung des Mundes und des Rachens von Blut, Erbrochenem und Fremdkörpern (Verwendung von mechanischen Hilfsmitteln, z. B. Oro-Sauger), • Ligatur der spritzenden Gefäße (Fäden bis zur endgültigen Versorgung lang lassen). Bei Rücklage der Zunge und Gefahr der mechanischen Asphyxie sofort anwenden • Esmarchscher Handgriff (Abb. 18/2), • gegebenenfalls Zunge mit spitzer Zungenzange nach vorne ziehen und Nasopharyngealtubus härterer Gummiqualität einführen, • nasale Intubation vor allem bei bewußtlosen Kiefer-Gesichts-Verletzten, • Tracheotomie nur als Notlösung, vor allem bei polytraumatisierten Patienten, • eventuell Extension der Unterkiefermundbodenanteile durch einen scharfen Einzinkerhaken, der von submental an die Innenseite des Kinnes geführt wird. Bei Liegedauer über mehrere Tage wird dieser an einem Kopfgips mit Extensionsstrebe fixiert.
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18 Knöcherne Verletzungen des Mittelgesichts und des Unterkiefers
Abb. 1 8 / 2 Esmarch-Handgriff zur Vorverlagerung des Unterkiefers und der Zunge bei Atemwegverlegung.
Lokal nicht stillbare Blutungen im Kiefer-Gesichtsbereich erfordern unter Umständen die Unterbindung der A. carotis externa unterhalb des Kieferwinkels (Abb. 18/3), (Blutstillung bei Verletzungen im Nasennebenhöhlenraum s. Abschn. 19.3). Ist eine Primärversorgung der Kieferbrüche aus allgemeinen Gründen nicht möglich, so soll die temporäre Ruhigstellung abnorm beweglicher Fragmente mit einfachsten Mitteln erfolgen. Vor allem stärker dislozierte Unterkieferfrakturen sind durch einen Kopf-Kinn-Verband oder einen Heftpflasterverband abzustützen. Das Kinn soll dabei von vorn und unten gefaßt werden, ohne daß eine Kompression auf den Hals ausgeübt wird. Die Frakturteile werden durch einen Sauerschen Notverband provisorisch geschient, falls die Fraktur innerhalb der Zahnreihe liegt. Dafür wird ein Stück halbrunder Draht, etwa 1 mm stark, verwandt. Der Draht wird den Bruchspalt überbrückend an den nächsten 2 bis 3 Zähnen auf beiden Seiten mit 0,3 mm dünnem Draht ligiert (Abb. 18/4). Die Bruchstücke des Unterkiefers können auch am Zahnbogen des unverletzten Oberkiefers fixiert werden. Die Ruhigstellung erfolgt durch Ernstsche Ligaturen, die an den bruchspaltnahen Zähnen befestigt werden (Abb. 18/5). Oberkieferfrakturen erfordern selten eine Notschie-
18.1 Übergeordnete Richtlinien
Abb. 18/5 Technische Darstellung der Ernstschen Ligatur zur intermaxillären Ruhigstellung.
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18 Knöcherne Verletzungen des Mittelgesichts und des Unterkiefers
nung. Gaumenablösungen und Perforationen werden durch eine Tamponade abgedeckt, die durch den Gaumen überspannende Drähte fixiert wird. 1 8 . 1 . 3 Behandlungsziel Jede Kiefer-Gesichts-Verletzung erfordert • Wiederherstellung der Knochenkontinuität und Gesichtssymmetrie; • Wiederkehr der physiologischen Funktionen, d. h. gute Okklusion, sichere Gelenkführung, ausreichende Mundöffnung, freie Nasenatmung, uneingeschränkte Augenbeweglichkeit und Funktion der sensiblen wie motorischen Nerven. 1 8 . 1 . 4 Behandlungsprinzip Jeder Kieferbruch soll wenn möglich primär versorgt werden. Bei schlechtem Allgemeinzustand, übergeordneten Verletzungen des Schädels und des Körperstammes oder fehlender Kompetenz (Unfallkrankenhaus ohne Kieferchirurg) ist nach der Notversorgung ein Aufschub bis zu acht Tagen möglich. Bei kombinierten Weichteil-Knochenverletzungen ist die von Ganzer 1943 bei Kriegsverletzungen aufgestellte Forderung zu beachten: „Die Behandlung hat von innen nach außen zu erfolgen, d. h. zunächst Reposition und Fixation der Kieferfrakturen, dann folgt die Versorgung der intraoralen Weichteilwunden und als letztes die der extraoralen Verletzungen." Beachte: Die kieferchirurgische Versorgung wird erschwert und zeitlich nicht verkürzt, wenn Weichteilverletzungen ohne Berücksichtigung der intraoralen Wunden zunächst verschlossen werden und der Patient erst danach der kieferchirurgischen Behandlung zugeführt wird. 18.1.5
Kieferbruchschienung
Durch die sinnvolle Kombination von konservativen und operativen Repositionsund Fixationsmethoden soll die Primärversorgung eine weitgehende Reduzierung äußerer Fixationsmittel und die frühzeitige Freigabt der Mundöffnung bewirken. Die fest im Kieferknochen verankerten Zähne stellen die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche konservative Frakturbehandlung dar, da sie — mit Schienen versehen - als ideale Kraftüberträger anzusehen sind. Mit Hilfe des Gummibandes als Kraftvermittler ist eine Reposition dislozierter Kieferteile und anschließende Ruhigstellung möglich.
18.2 Zahnluxationen und Alveolarfortsatzfrakturen
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Unterscheide: Direkte Schienung und indirekte Schienung. Bei der akuten direkten Kieferbruchschienung wird das Schienenmaterial am Patienten der Zahnbogenform angepaßt, so daß sofort bei der primären Unfallversorgung der Kiefer ruhiggestellt werden kann. Die von Sauer 1 8 8 1 hierfür entwickelte Drahtbogenschiene findet noch heute ihre Anwendung als Sauerscher Notverband (Abb. 18/4). In den letzten zwei Jahrzehnten wird die Drahtpalavitschiene nach Schuchardt ( 1 9 5 6 ) bevorzugt verwandt: Ein 1,2 bis 1,5 mm breiter halbrunder Aluminium-, Bronze- oder nichtrostender Stahldraht mit angelöteten Sprossen wird ausgeglüht und dann dem Zahnbogen in der Mitte der Zahnkronen von labial bzw. buccal angelegt (Von der Firma Renfert werden Sprossenschienen in gleicher Art aus weichgeglühtem nichtrostendem Stahl in zwei Stärken hergestellt). Eine genaue Adaption an die Konvexfläche der Zahnkrone ist nicht notwendig, da der Zwischenraum durch Paladur ausgefüllt wird. Die Zähne werden einzeln durch einen weichen Draht (0,3 bis 0,4 mm) an die Schiene ligiert. Der Ligaturendraht soll auf der Rückfläche der Zähne annähernd in gleicher Höhe wie der Drahtbogen vorn, aber unterhalb des Äquators liegen, damit die Berührung des Parodontiums vermieden wird. Die Ligaturenden werden auf etwa 4 mm gekürzt und der Schiene so angebogen, daß sie das Zahnfleisch nicht reizen können. Ist der frakturierte Kiefer manuell exakt reponiert, so wird dünnflüssiges Paladur zwischen Zahn, Schiene und Ligatur aufgetragen. Dabei ist darauf zu achten, daß das Paladur in die Interdentalräume gelangt, ohne den Gingivasaum zu erreichen. Die indirekte Schienung (Suersen 1 8 7 1 ) wird nach Abdrucknahme von Ober- und Unterkiefer auf einem Bißmodell im Labor hergestellt. Ist das Gipsmodell an den Frakturdislokationen richtig zersägt und reponiert worden, so kann die Drahtpaladurschiene ohne weitere Veränderungen im Munde eingebunden werden. Bereitet die Reposition am Patienten Schwierigkeiten, so wird die Schiene geteilt eingesetzt und später nach langsamer Reposition (Gummizug) wieder mit Kunststoff verbunden.
18.2 Zahnluxationen und Alveolarfortsatzfrakturen Subluxation eines Zahnes Diagnose: Der Zahn ist in der Alveole gelockert und verschoben, eventuell introdiert. Luxation eines Zahnes Diagnose: Der Zahn befindet sich außerhalb der Alveole.
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18 Knöcherne Verletzungen des Mittelgesichts und des Unterkiefers
Alveolarfortsatzfraktur Diagnose: Eine Zahngruppe ist mit dem Alveolarfortsatz gegenüber der Kieferbasis beweglich, eventuell bestehen zusätzliche Schleimhauteinrisse. Therapie: Luxierte Zähne sind bis zur Versorgung im Speichelmilieu des Mundes oder in physiologischer Kochsalzlösung aufzubewahren. Subluxierte und luxierte Zähne werden manuell ebenso wie der frakturierte Alveolarfortsatz unter Okklusionskontrolle reponiert und dann durch eine Draht-Kunststoffschiene (siehe Sauerscher Notverband) fixiert. Zeit der Ruhigstellung: 6 bis 8 Wochen. In dieser Zeit soll keine Okklusionsbelastung erfolgen. Beachte: Der luxierte Zahn wird zur Schonung der noch vorhandenen Wurzelhaut sofort reimplantiert und erst nach Festigung (8—12 Wochen später) wurzelgefüllt. Die gleiche Maßnahme gilt für den subluxierten Zahn, falls er devital bleibt und röntgenologische Veränderungen im Wurzelspitzenbereich zeigt.
18.3 Unterkieferfrakturen Die anatomischen Besonderheiten des Unterkiefers bedingen in Abhängigkeit zum Trajektoriensystem typische Frakturlokalisationen, die gehäuft an Schwachpunkten auftreten (Abb. 18/6). Die häufigste Bruchlokalisation stellt die Eckzahnregion dar. Es folgen die Brüche der Kieferwinkel-, Prämolaren- und Gelenkhalsregion.
Abb. 1 8 / 6 Häufiger Bruchlinienverlauf im Unterkiefer.
1 8 . 3 Unterkieferfrakturen
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1 8 . 3 . 1 Frakturen im bezahnten Unterkiefer Eine Zahnlücke bildet einen sekundären Schwachpunkt vor allem in der Molarregion. Die Brüche im Kinnbereich, meist paramedian verlaufend, werden ebenso wie die im seitlichen horizontalen Unterkieferast durch Sturz oder Schlag, also durch direkte Gewalteinwirkung, verursacht. Häufig mitbetroffen sind die Gelenkfortsätze, über die nicht verbrauchte Energien bis zur Schädelbasis fortgeleitet werden. Komplikationen: Im Bereich des bezahnten Kiefers liegen in der Mehrzahl offene Frakturen vor, da die Bruchlinien im Parodontium eines Zahnes auslaufen. Liegt ein pulpentoter Zahn mit seiner Wurzelspitze im Frakturspalt, so besteht ein erhöhtes Infektionsrisiko. Stärkere Dislokationen im horizontalen Ast können zu Quetschungen oder Zerreißungen des Nerv-Gefäß-Bündels mit starken intraoralen Blutungen führen. Therapie: Reposition und Fixation sind auf konservativem Wege mit Schienung und intermaxillärer Verschnürung möglich. Die Ruhigstellung ist dann in Abhängigkeit zur Frakturart 4—6 Wochen notwendig. Im Bereich des Corpus mandibulae überwiegen jedoch heute verschiedene Osteosyntheseverfahren. Bei offenen Frakturen ist die therapiebegleitende Verordnung von Antibiotika angezeigt. Zähne mit einer periapikalen Ostitis oder einer fortgeschrittenen Parodontitis marginalis sind sowohl vor konservativer wie auch chirurgischer Versorgung zu entfernen. Drahtosteosynthese In der Regel Freilegung der Bruchstelle durch extraoralen Submental- oder Submandibularschnitt (cave: Ramus marginalis des Nervus facialis muß immer kranial der Präparationsgrenze liegen). Je nach Art der Fraktur werden nichtrostende Stahldrähte (0,4 bis 0,5 mm) einfach, parallel, gekreuzt oder als Achterligatur um den Unterkieferrand geführt und ligiert (Abb. 18/7). Die Instabilität der Drahtnaht erfordert die zusätzlich intermaxilläre Fixation des Unterkiefers, welche vor der Drahtosteosynthese durchgeführt werden soll. Der Zeitraum der Ruhigstellung entspricht damit weitgehend dem bei einer rein konservativen Schienenbehandlung. Kompressionsosteosynthese Die Idee der Kompressionsosteosynthese — optimale Adaptation und Kompression der Fragmente im Spaltbereich bei freier Mundöffnung — wurde vor 2 0 Jahren von der Extremitätenchirurgie auf die Behandlung der Unterkieferfrakturen übertragen (Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese, Osteo AG, Luhr) und später weiterentwickelt (Schilli, 1973). Diese Osteosynthesemethode ist wegen der Nachteile ihrer Technik — bikortikale Schrauben, Zuggurtungsschiene, häufig extraoraler Zugang — heute weitgehend zugunsten der Miniplattenosteosynthese wieder aufgegeben worden.
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18 Knöcherne Verletzungen des Mittelgesichts und des Unterkiefers
Abb. 18/7 Verschiedene Möglichkeiten der Drahtosteosynthese beim frakturierten Ober- oder Unterkiefer.
Miniplattenosteosynthese nach Champy Bei diesem Osteosyntheseverfahren werden kleine Platten mit monokortikalen Schrauben an der Basis des Alveolarfortsatzes fixiert. Es gelingt so, die Zugspannung im Trajektorienverlauf des oberen Unterkieferbereiches zu neutralisieren und die Übungsstabilität des Kiefers ohne Schienenhilfe zu gewährleisten. Zusätzlich auftretende Drehmomente in der präkaninen Unterkieferzone werden durch die Applikation zweier parallel verlaufender Platten abgefangen. Der prinzipiell intraorale Zugang zur idealen Osteosyntheselinie (Abb. 18/8) stellt neben der freien Mundöffnung den größten Vorteil dieses Verfahrens dar, das sowohl für die Behandlung von Frakturen des bezahnten wie unbezahnten, horizontalen Unterkiefers geeignet ist. Bei Frakturversorgungen im Kieferwinkelbereich und im unteren Anteil des aufsteigenden Unterkieferastes werden die Platten ebenfalls von intraoral adaptiert. Die Applikation der Schrauben erfolgt jedoch durch einen perkutanen Zugang unter Verwendung eines Trokars. Zugschraubenosteosynthese Bei einem Schrägbruch mit lamellären Bruchflächen ist eine übungsstabile Osteosynthese mit Zugschrauben möglich. Nach Anlegen eines Gleitloches im äußeren
1 8 . 3 Unterkieferfrakturen
235
Abb. 18/8 Verschiedene Miniplattenosteosynthesen auf der idealen Osteosyntheselinie des Unterkiefers.
Fragment und eines Gewindeloches im inneren Fragment wird der Kiefer durch Anziehen der Zugschraube fest adaptiert. Entfernung des Osteosynthesematerials Stahldrähte sollen nach Frakturheilung vor allem dann entfernt werden, wenn sie schleimhautnahe liegen und eine Störung für den späteren Prothesensitz zu erwarten ist. Osteosyntheseplatten werden in der Regel immer nach 3 bis 6 Monaten entfernt. 18.3.2
Gelenkfortsatzfrakturen
Die Fraktur des Gelenkfortsatzes wird meist durch Biegungs- oder Abscherkräfte verursacht und ist häufig mit einer Unterkieferkörperfraktur der kontralateralen Seite kombiniert. Diagnose: Schwellung und Druckschmerz im Bereich des betroffenen Gelenkes. Okklusionsstörung mit Seitabweichung zur frakturierten Seite. Beachte: Bei Gelenkerguß Seitabweichung zur gesunden Seite. Bei leichtem Stoß gegen die Kinnspitze deutliche Schmerzreaktionen im betroffenen Gelenk. Dem einheitlichen Bild der klinischen Symptomatik entspricht nicht die Variabilität des pathologisch anatomischen Befundes. Die Anfertigung von Röntgenbildern in 2 Ebenen ist unerläßlich. Die extrakapsulären Brüche werden von den intrakapsulären unterschieden. Von beiden werden die Luxationsfrakturen als weitere Gruppe abgetrennt. Die therapeutischen Maßnahmen machen eine eingehendere Klassifizierung nicht erforderlich. Therapie: Die Behandlung erfolgt in der Mehrzahl der Fälle nach konservativ funktionellen Gesichtspunkten, d.h. Schienung und Okklusionseinstellung durch intermaxilläre Fixierung für 10 bis 20 Tage. Ein Hypomochlion aus Kunststoff, im
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18 Knöcherne Verletzungen des Mittelgesichts und des Unterkiefers
Molarenbereich der betroffenen Seite aufgelegt, wird das frakturierte Gelenk entlasten und kann Stellungskorrekturen des Proc. articularis bewirken. Nach einem Ruhigstellungszeitraum von 10 bis 20 Tagen werden die Drahtligaturen durch Gummizüge ersetzt und die kontrollierte Mundöffnung geübt. Wenn nach Herausnahme der Gummizüge keine Abweichungstendenz in Schlußbißstellung mehr besteht, werden die Schienen entfernt. Beachte: Je jünger der Patient ist und je direkter die Gelenkwalze und ihr Kapselapparat betroffen sind, um so kürzer ist die Zeit der Ruhigstellung anzusetzen, da die schnelle Narbenbildung im Kapselbereich zu einer Teil- oder Vollankylose führen kann. Bei ausgeprägten Luxationsfrakturen im Wachstumsalter hat gegebenenfalls noch eine langfristige Nachbehandlung mit einem funktions-kieferorthopädischen Apparat nach Häupel zu folgen. Osteosynthesemöglichkeiten: Die chirurgische Reposition und Fixation mit Draht, Nagel oder Platte erfolgt bevorzugt bei tiefen dislozierten Kollumfrakturen. Vor allem bei kapselnahen Frakturen wird auf die chirurgische Reposition verzichtet, weil auch das in Fehlstellung verheilte Gelenkfragment unter Belastung umgebaut und wieder funktionstüchtig wird. Für verschiedene chirurgische Verfahren sind bisher keine der konservativ funktionellen Therapie überlegenen Spätergebnisse mitgeteilt worden. Sonderfall: Die doppelseitige Kollumfraktur führt durch den Dauerzug der Mundbodenmuskulatur zur Dorsal- und Kaudalverlagerung des seiner Abstützung beraubten Unterkiefers. Klinisch auffällig ist der offene Biß und eventuell die Einengung der Pharynxpassage.
1 8 . 3 . 3 Frakturen des zahnlosen Unterkiefers Frakturen im zahnlosen Unterkiefer sind bevorzugt durch die Miniplattenosteosynthese nach Champy ruhigzustellen, da der begrenzte chirurgische Eingriff für den Patienten große Vorteile gegenüber der früher üblichen Prothesen-Schienenbehandlung darstellt (Abb. 18/9).
1 8 . 3 . 4 Luxation und Subluxation des Kiefergelenks Ist der Gelenkkopf über den physiologischen Bewegungsbereich hinaus abgewichen und in dislozierter Stellung fixiert, so handelt es sich um eine Luxation. Die häufigste Form ist die Luxation nach vorne. Der Gelenkkopf gleitet mit dem Diskus über das Tuberculum articulare auf die Vorderfläche des Gelenkhöckers und wird in dieser Stellung durch Kieferschließer und Gelenkbänder fixiert. Bei der habituellen Luxation gleitet der Gelenkkopf wieder von selbst in die alte Lage zurück.
18.3 Unterkieferfrakturen
237
Abb. 18/9 Durch Miniplattenosteosynthese stabilisierte Fraktur des Unterkieferkörpers (Orthopantomogramm).
Eine Subluxation liegt dann vor, wenn der Gelenkkopf ohne Diskus oder nur der Diskus ohne Gelenkkopf in einer Fehlstellung federnd fixiert ist und nicht in seine physiologische Ausgangsstellung zurückkehren kann. Symptomatik: Auffällig sind mangelnder Zahnreihenschluß mit Verlagerung des Unterkiefers zur gesunden Seite. Bei doppelseitiger Luxation besteht ein frontal offener Biß (Abb. 18/10). Die leere Gelenkpfanne kann im Tastbefund diagnostiziert werden. Therapie: Die Reposition soll sofort versucht werden. Die Finger beider Hände umfassen die Unterkieferkörper rechts und links, die Daumen werden auf die Unterkieferzahnreihen oder auf die bukkale Knochenwand im seitlichen Mundvorhof gelegt. Mit gelenkter Kraft wird der Unterkiefer leicht nach vorne gezogen und gleichzeitig kräftig nach unten gedrückt. Hat der Gelenkkopf den tiefsten Punkt des
Abb. 18/10 Orthopantomogrammdarstellung eines Unterkiefers mit beidseitiger Luxationsstellung der Gelenkköpfe nach ventral.
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18 Knöcherne Verletzungen des Mittelgesichts und des Unterkiefers
Tuberkulums erreicht, so läßt sich der Unterkiefer unter deutlich spürbarem Einrasten nach hinten führen. Beachte: In der letzten Phase der Reposition besteht die Gefahr der Daumenbißverletzung, deshalb Schutzpolster verwenden. Uber längere Zeit bestehende Luxationen können unter Umständen nur in tiefer Vollnarkose mit gleichzeitiger Anwendung von Muskelrelaxantien durchgeführt werden. Nach der Reposition soll der Unterkiefer für einige Tage durch eine Kinnschleuder ruhiggestellt werden. Ein gedehnter Bandapparat begünstigt rezidivierende sogenannte habituelle Luxationen, deren Einrenkung häufig von Patienten selbst durchgeführt wird.
18.4 Mittelgesichtsfrakturen Gewalteinwirkungen auf das Mittelgesicht bewirken Kontinuitätsunterbrechungen bevorzugt an Knochennahtstellen. Typische Frakturlinien haben schon früh zu Klassifizierungen nach Guerin, Le Fort und Wassmund geführt. Heute erfolgt die Unterscheidung zunächst in drei Hauptgruppen (Abb. 18/1 l a , b, c):
Abb. 1 8 / l l a Frakturlinienverlauf bei der Oberkieferfraktur nach Le Fort I (Zentrale Mittelgesichtsfraktur). Abb. 18/1 l b Frakturlinienverlauf bei der Oberkieferfraktur nach Le Fort II (Zentrale Mittelgesichtsfraktur). Abb. 1 8 / l l c Frakturlinienverlauf bei Oberkieferfraktur nach Le Fort III (Zentrolaterale Mittelgesichtsfraktur).
18.4 Mittelgesichtsfrakturen
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• Zentrale Mittelgesichtsfrakturen (Le Fort I und II), • zentrolaterale Frakturen (Le Fort III), • laterale Mittelgesichtsfrakturen. Massive, direkt auftretende Gewalt (Verkehrsunfälle) führt zu Trümmerbrüchen, die sich nicht in diese Schemata einordnen lassen. Besondere Problematik der Mittelgesichtsfrakturen: • Nasennebenhöhlen sind fast immer beteiligt. Durch Einrisse der bedeckenden Schleimhaut sind diese Frakturen als offene Frakturen zu betrachten. Hiervon ausgehend ist die Entwicklung eines Hautemphysems möglich. • Funktionseinschränkungen des Kauorgans, der Nase und der Augen müssen in Diagnostik und Therapie besonders berücksichtigt werden. • Die lamelläre Knochenstruktur des Mittelgesichtsskelettes mit nur schmalen Knochenpfeilern erfordert besondere therapeutische Aspekte. • Häufig liegt auch eine Schädelbasisfraktur vor, die bei gleichzeitiger Duraverletzung eine Liquorrhoe aus Nase und Ohren bewirken kann. Symptomatik: Bei zentralen und zentrolateralen Mittelgesichtsfrakturen stehen im Vordergrund: Abnorme Beweglichkeit des Oberkiefers mit Okklusionsstörung, Stufenbildung am Infraorbitalrand und der Nasenwurzel, Brillenhämatom, Nasenbluten und Sensibilitätsstörungen des N. infraorbitalis. Die ausgeprägte totale Mittelgesichtseinstauchung nach dorsokranial führt zum sogenannten „Dishface". Die Jochbeinfraktur, fast immer eine Impressionsfraktur nach medial, kaudal oder dorsal, fällt vor allem durch eine Asymmetrie des Mittelgesichts auf, die durch ein Weichteilhämatom überdeckt sein kann. Bei stärkerer Orbitabodenabsenkung klagt der Patient über Doppelbildsehen. Die Funktionsbehinderung des Muskelfortsatzes durch Impression des Jochbeins oder Jochbogens führt zur Kieferklemme. Beachte: Die Jochbeinimpressionsfraktur wird wegen der gleichzeitig bestehenden Weichteilschwellung und der geringen klinischen Symptomatik auf allgemeinen Unfallstationen häufig übersehen. Therapie: Nach Reposition der Knochenteile unter gleichzeitiger Okklusionseinstellung erfolgt Fixierung der frakturierten Skeletteile am ersten festen Nachbarpunkt des Kraniums. Die intrafaziale Drahtnaht (Adams 1942) hat die Durchführung dieses Prinzips erleichtert. Bei zentralen Mittelgesichtsfrakturen werden die Drahtnähte von der Oberkieferschiene mit Hilfe einer Ahle, die infratemporal eingeht, um den Jochbogen zurück zur Schiene geführt. Die Verdrillung beider Drahtenden intraoral jeweils rechts und links im Oberkiefer-Seitenzahnbereich an der Schiene bewirkt die Knochenadaption an der Schädelbasis - sogenannte zygomatico-faziale Aufhängung (Abb. 18/12).
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18 Knöcherne Verletzungen des Mittelgesichts und des Unterkiefers
nach Le Fort II mit zygomaticofazialer Aufhängung sowie intermaxillärer Ruhigstellung durch Ober- und Unterkieferschienung.
Bei Abriß des Mittelgesichts unter Einschluß der Jochbeine, zentrolaterale Mittelgesichtsfraktur oder Le Fort III, erfolgt die Fixierung oberhalb der Sutura zygomaticofrontalis am Stirnbein nach dem gleichen Prinzip — frontomaxilläre Aufhängung — (Abb. 18/12). Zusätzliche Frakturen innerhalb des Mittelgesichtsblockes erfordern neben der Aufhängung gegebenenfalls weitere Einzeldrahtnähte in Dislokationsbereichen. Sagittalfrakturen des Oberkiefers erfordern lediglich eine Schienung. Beachte: Die endgültige Fixierung darf erst nach Okklusionseinstellung erfolgen! Bei der Jochbeinimpressionsfraktur wird zunächst mit einem Einzinkerhaken, der nach perkutaner Stichinzision hinter den kaudalen Jochbeinrand unterhalb der Jochbeinprominenz eingeführt wird, der Knochen extendiert (Abb. 18/13). In der Mehrzahl der Fälle sichert eine Miniplattenosteosynthese im Frakturbereich der Sutur frontozygomatica die dreidimensionale Stabilität des Jochbeins. Die Schnittführung zur Osteosynthese liegt innerhalb der Augenbraue. Besteht eine Mehrfachfraktur des unteren Orbitarandes, eine Orbitabodenabsenkung oder Orbita-Defektfraktur, so muß hier ebenfalls die Freilegung und zusätzliche Osteosynthese durch Draht erfolgen. Kleinere Defekte im Orbitabodenbereich können durch Lyodura abgedeckt werden. Größere Defekte werden mit einem Knorpeltransplantat
18.4
Mittelgesichtsfrakturen
241
Abb. 1 8 / 1 3 Jochbeinimpressionsfraktur (Laterale Mittelgesichtsfraktur) mit angesetztem Repositonshaken.
von der Ohrmuschel oder Nasenscheidewand oder lyophilisiertem Knorpel überdeck Der chirurgische Zugang für die Revision des Orbitabodens wird bevorzugt über den infraorbitalen Schnitt gesucht, möglich ist auch der Subziliarschnitt oder Transkonjunktivalschnitt. Früher wurde die Orbitabodendislokation von der Kieferhöhle aus reponiert und diese dann über 2 bis 3 Wochen fest tamponiert oder auch mit einem aufblasbaren Gummiballon versehen. Nicht dislozierte Jochbein-Orbitaboden- und Jochbogen- sowie Orbitarandfrakturen bedürfen keiner Therapie, wenn keine Funktionsstörungen vorliegen. Der Orbitawandbruch kann als Folge eines Überdruckes in der Orbita (Faustschlag, Tennisball u. a.) auftreten. Er wird auch „Blow out"-Fraktur genannt und betrifft in erster Linie den Orbitaboden. Sowohl im Zusammenhang mit einer Jochbeinfraktur wie auch isoliert bei der „Blow out"-Fraktur können Defekte im Orbitaboden zum Absinken des Augapfels und zur Einklemmung von periorbitalen Fett- und Muskelanteilen führen, die sich dann als Hernie in das Kieferhöhlenlumen hineinstülpen. Hiervon betroffen sind in erster Linie M . rectus inferior und M . obliquus inferior. Sowohl die Verlagerung der Augenachse wie auch die Behinderung der Augenrotation verursachen die Diplopie.
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18 Knöcherne Verletzungen des Mittelgesichts und des Unterkiefers
Beachte: Bei allen Patienten mit Verletzungen des knöchernen Orbitagerüstes muß vor und nach der kieferchirurgischen Versorgung die Augenfunktion durch einen Augenarzt untersucht und dokumentiert werden. Besteht trotz korrekter Reposition die Diplopie weiter, so können neurogene Schäden die Ursache sein. Bei isolierten Jochbogenfrakturen sind mindestens zwei, meist jedoch drei Bruchstellen vorhanden, die dann eine winkelförmige Abknickung nach temporal bewirken. Die Reposition erfolgt perkutan mit dem Einzinkerhaken. Eine Freilegung der Bruchstelle zur Draht-Osteosynthese oder die Extension mit dem Haken für etwa zwei Wochen ist nur angezeigt, wenn die Bruchstücke keine Stabilität durch Verhakung erreichen. Beteiligung des Nervus opticus: Selten ist eine Schädigung des Nervus opticus durch Einklemmung oder Einspießung von Knochenstückchen zu beobachten. Eine schnelle Dekompression des Nerven im Bereich des Canalis opticus kann bleibende Sehausfälle verhindern. Beteiligung der Kieferhöhle: Frakturen im Mittelgesicht betreffen fast immer auch die Kieferhöhlenwandungen. Es treten Schleimhauteinrisse und Blutungen auf. Bei einer geschlossenen Mittelgesichtsverletzung ist die Eröffnung und Inspektion der Kieferhöhle von oral (Zugangsweg nach Caldwell-Luc) in der Regel nicht angezeigt. Jedoch wird die Einführung eines Drainageröhrchens oder die Anlage eines breiten Abflußweges vom unteren Nasengang zur Kieferhöhle empfohlen, um den Abfluß von Wundsekreten zu gewährleisten und entzündlichen Spätkomplikationen vorzubeugen. Die Fensterung der Kieferhöhle kann durch den transnasalen Zugang nach der Methode von Lothrop und Claoue erfolgen. Auf diesem Weg kann ein Hämatom abfließen und gegebenenfalls die infizierte Kieferhöhle gespült werden. Die Indikation zur Eröffnung der fazialen Kieferhöhlenwand ist bei nicht stillbaren Blutungen zur transmaxillären Unterbindung der A. maxillaris interna gegeben. Das Gefäß ist nach Abtragung der Kieferhöhlenhinterwand in der Fossa pterygopalatina zu finden. Beteiligung der Schädelbasis: Sind Mittelgesichtsfrakturen mit frontobasalen Verletzungen (s. Abschn. 17.10.2) kombiniert, so sollte zunächst die Mittelgesichtsfixierung erfolgen und danach erst die Duraplastik, da diese eventuell durch kieferchirurgische Maßnahmen wieder gefährdet werden kann. Die Duraplastik im temporobasalen Bereich kann gegebenenfalls auch nach kieferchirurgischer Versorgung erfolgen. In jedem Einzelfall ist das therapeutische Vorgehen mit dem Hals-Nasen-Ohrenarzt und dem Neurochirurgen abzustimmen.
1 8 . 5 Weichteilverletzungen im Kiefer-Gesichtsbereich
243
18.5 Weichteilverletzungen im Kiefer-Gesichtsbereich Funktionelle und ästhetische Belange stehen im Vordergrund bei der Versorgung von Weichteilverletzungen der Mund-, Kiefer- und Gesichtsregion. Diagnostik: Die Weichteilverletzungen sind auf Ausdehnung und Mitbeteiligung funktionell wichtiger Strukturen (z.B. Anteile des N. facialis, Ausführungsgänge der Speicheldrüsen, Lippenringmuskel) genau zu überprüfen. Therapie: • Nach Blutstillung sorgfältige Entfernung aller Fremdkörper und Schmutzpigmente. • Bei freiliegenden Kieferfrakturen zunächst direkte Osteosynthese der Fraktur von extraoral. • Bei Durchtrennung von Fazialisästen Aufsuchen der Nervstümpfe und Versorgung unter mikrochirurgischen Bedingungen. Eine Lupenbrille kann hierbei durchaus das Mikroskop ersetzen. • Die Verletzung des Stenonschen Ganges von intraoral bedarf im allgemeinen keiner Therapie, da eine Speichelfistel den natürlichen Zustand wiederherstellt. Werden Anteile des Ganges im Masseterbereich durchtrennt, kann die End-zuEnd-Vereinigung der Gangenden versucht werden. Die Gangstümpfe sollen mit feinstem Nahtmaterial über einen Polyäthylenschlauch, welcher 3 - 4 Wochen liegen bleibt, miteinander verbunden werden. Als wesentlich sicherer, vor allem bei größeren Gangdefekten, ist der Ersatz mit einem gestielten Schleimhautlappen anzusehen (Rehrmann und Scheunemann 1973). • Die Friederichsche Wundausschneidung ist im Gesicht nur bei zerfetzten, stark verschmutzten Wunden angezeigt. Nach Einlage einer Drainage müssen die Wundschichten sehr genau zusammengefügt werden. Ganz besonders sorgfältig sind Ablederungen zu adaptieren, da diese zur Kontraktur neigen und dann Hautwülste bilden. • Bei linearen Wunden über einem freien Rand (z. B. Augenlidkante, Nasenflügel, Lippen) kann zur Vermeidung stärkerer Narbenkontrakturen eine Z-Plastik durchgeführt werden. Sie eignet sich ebenso wie die X-Y-Plastik sehr gut zum Ausgleich kleinerer Hautdefekte, falls diese sich nicht durch Mobilisation der Wundränder ohne Spannung verschließen lassen. • Flächenhafte Verluste der Epitheldecke werden temporär durch Spalthauttransplantate abgedeckt, die von der Innenseite des Oberarms, vom Bauch oder vom Gesäß entnommen werden können. Bessere kosmetische Ergebnisse lassen sich durch Vollhauttransplantate aus der Postaurikulär-, Submental- oder Supraklavikular-Region erzielen. Kleinere Knorpelhautdefekte des Nasenflügels werden durch ein Hautknorpeltransplantat (composite graft) vom Ohr ersetzt. Große Hautdefekte und Trümmerwunden erfordern unter Umständen die Anwendung von Transpositions- und Rotationslappen.
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18 Knöcherne Verletzungen des Mittelgesichts und des Unterkiefers
• Schürfwunden müssen besonders sorgfältig, gegebenenfalls mit Seife und weicher Bürste gereinigt werden. Sie werden anschließend mit einem netzartigen, sekretdurchlässigen Verbandmaterial abgedeckt. • Auf besonders genaue Muskelrekonstruktion ist bei Verletzungen der Mm. orbicularis oris und oculi zu achten. Perforierende Defekte am Gaumen sind immer zweischichtig zu verschließen. Beachte: Zur optimalen Wundversorgung ist ein speziell geeignetes Instrumentarium (feingliedrige Pinzetten und Scheren) notwendig. Es sollen nur atraumatische Nadeln mit angeschweißten Kunststoff-Fäden oder Draht verwandt werden (Stärke 4—O und 5 - 0 ) . Die extraoralen Fäden werden je nach Spannungsgrad und Heilungsverlauf zwischen dem 4. und 8. Tag gezogen. Schleimhaut- und Intrakutannähte können bis zu 12 Tagen liegen bleiben. Durch die Beachtung dieser Regeln bei der primären Wundversorgung von Weichteilverletzungen im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich können spätere Korrekturen in vielen Fällen vermieden werden.
Weiterführende Literatur Tagung der Arbeitsgemeinschaften für Kieferchirurgie und für Röntgenologie. Dtsch. Zahnärztl. Z. 38 (1983) 4. Becker, R., K. H. Austermann: Frakturen des Gesichtsschädels. In: Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (Hrsg. N.Schwenzer, G . G r i m m ) , Bd.II. Thieme, Stuttgart 1 9 8 1 . Krüger, E., W. Schilli: Oral and Maxillofacial Traumatologic II. Quintessenz, Berlin 1 9 8 6 . Neuner, O.: M a x i l l o f a c i a l Traumatologic. Walter de Gruyter, Berlin-New York 1 9 7 7 . Pape, H.-D.: Primärversorgung der Kieferfrakturen. In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R . Z e n ker, F. Deucher, W. Schink), Bd. 4 a , Beitrag 4 1 . Urban & Schwarzenberg,
München-Wien-
Baltimore 1 9 7 9 . Schuchardt, K., B. Spiessl: Die operative Behandlung der Verletzungen des Gesichtsschädels. Fortschr. Kiefer- und Gesichtschirurgie, Bd. X I X . Thieme, Stuttgart 1 9 7 5 .
19 Verletzungen im HNO-Bereich K. G.
Rose
Die räumliche Anordnung der Strukturen des Ohres und der oberen Luft- und Speisewege im Schädel-Halsbereich erfordert für die Beurteilung von Verletzungsfolgen besondere Untersuchungstechniken, für die Behandlung eine spezielle Ausstattung mit Geräten und Instrumenten. Die Konsultation des Facharztes wird in der Vielzahl der Fälle unumgänglich sein; Einschätzung und akute Versorgung der Verletzungen durch den erstkonsultierten Arzt bestimmen allerdings oft wesentlich die Folgetherapie und die mit ihr zu erzielenden Ergebnisse. 19.1
Ohr
19.1.1 Othämatom, Otserom Ansammlung von Blut und seröser Flüssigkeit zwischen Perichondrium und Knorpel der Ohrmuschel. Entstehung durch tangentiale, abscherende Gewalteinwirkung, gelegentlich aber auch spontan ohne anamnestisch faßbares Trauma. Befund: Indolente prall-elastische Anschwellung meist an der Vorderfläche der Ohrmuschel. Therapie: Operative Ausräumung des Hämatoms unter antibiotischem Schutz. Die auch heute noch propagierte Punktion des Hämatoms ist mit einer hohen Rezidivquote belastet, sie sollte auch wegen des großen Infektionsrisikos (Perichondritis der Ohrmuschel) nicht mehr ausgeführt werden. Unbehandeltes Othämatom und Perichondritis führen zu kosmetisch unschönen narbigen Ausheilungszuständen (Blumenkohlohr). 19.1.2 Verletzungen der Ohrmuschel: Zerreißung, Abriß, Biß Frühestmögliche Versorgung! Auch bei Abriß, Teilabriß und schwerster Zerfetzung mit nur noch dünnen Hautbrücken zwischen den einzelnen Fragmenten sind so gute Behandlungsergebnisse zu erzielen. Sparsamste Wundexzision mit Knorpelresektion am freien Wundrand zur besseren Adaption. Die Rekonstruktion verlorener Ohrmuschelteile ist schwierig und bringt nur selten zufriedenstellende kosmetische Ergebnisse, deshalb Beachte: Abgetrennte Gewebsteile stets aufbewahren
246
19 Verletzungen im HNO-Bereich
und bei Einweisung des Verletzten mitgeben (steril eingeschlagen; besser noch in kühler physiologischer Kochsalzlösung mit Antibiotikazusatz); bei operativer Versorgung ist auch nach Stunden zurückliegendem Unfall noch Versuch der Reintegration indiziert. Wegen der Perichondritisgefahr immer Antibiotika, Tetanusprophylaxe, bei Bißverletzungen Möglichkeit der Tollwutinfektion beachten. 19.1.3 Verletzungen des äußeren Gehörganges Isolierte Läsionen häufig nach versuchter Reinigung des äußeren Gehörganges mit ungeeigneten Mitteln (Nadeln, Hölzchen), bei unsachgemäßer Entfernung und bei ungewolltem Eindringen von Fremdkörpern. Stets Befundausdehnung feststellen und gleichzeitig erfolgte Trommelfellverletzung ausschließen. Behandlung: Häufig zu wechselnde alkohol-, kortikoid- oder antibiotikagetränkte Tamponaden. Komplikationen: Infektion führt zu sehr schmerzhafter und in Therapie oft langwieriger Otitis externa circumscripta oder diffusa. Nach Verletzung großer Hautareale können später nur noch operativ korrigierbare Gehörgangsstenosen entstehen. Kombinierte Läsionen gelegentlich bei Ohrmuscheltraumen, hier besonders große Gefahr des Entstehens einer Gehörgangsstenose. Zum Zusammentreffen mit Verletzungen des Trommelfelles und der Mittelohrräume wie auch mit Frakturen der Otobasis und der Gehörgangsvorderwand wird auf die entsprechenden Abschnitte verwiesen. 19.1.4 Direkte Verletzungen des Trommelfelles und der Mittelohrräume Schädigungsarten und -hergang entsprechen denen der isolierten Gehörgangsläsion. Symptome: Die perforierende Verletzung des Trommelfelles und der Mittelohrschleimhaut ist außerordentlich schmerzhaft. Nach einem initialen knallartigen Geräusch abhängig von Lage der Perforation unterschiedlich starke Beeinträchtigung des Hörvermögens. Bei Steigbügelluxation, -Zerstörung oder -impression sofort heftigster Schwindel mit Übelkeit und Erbrechen (Abb. 19/1). Diagnose: Selten äußerlich oder im Gehörgang feststellbare Blutung. Die meist in der Pars tensa des Trommelfelles gelegene Perforation zeigt unterblutete Ränder, sie ist abhängig vom verletzenden Gegenstand schlitzförmig oder entspricht größeren Substanzverlusten. Beachte: Untersuchung des Hör- und Gleichgewichtsorganes für spätere Begutachtung unerläßlich. Bei Mitverletzung des Innenohres meist Beeinträchtigung oder Ausfall der vestibulären und cochleären Funktion: vestibuläre Störungen, Ausfallnystagmus mit Schlagrichtung zur Gegenseite, audiometrisch Schallempfindungsschwerhörigkeit
19.1 Ohr
247
oder Ertaubung. Bei intaktem Innenohr ist bei der Trommelfellverletzung ohne oder mit Unterbrechung der Hörknöchelchenkette audiometrisch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Schalleitungsschwerhörigkeit nachzuweisen. Therapie: Inspektion von Trommelfell und durch die Perforation sichtbarem Mittelohr, Säuberung von Blut und Schmutztteilen unter mikro-chirurgischen Bedingungen. Reposition umgeschlagener Defektränder, danach Schienung des Trommelfelles mit Folien (Silikon, Silber o. ä.), Gehörgangstamponade mit antibiotikagetränktem Fibrinschaum. Kettenunterbrechungen werden nach tympanoplastischen Prinzipien versorgt. Bei Hinweisen auf Steigbügelverletzung (Innenohrsymptomatik) Tympanotomie, Versuch der Steigbügelreposition, Abdecken des eröffneten Fensters zum Innenohr. Antibiotika, symptomatisch Antiemetika oder Sedierung wegen akuter vestibulärer Symptomatik. Bei nur partiellem Innenohrschaden Kortikosteroide. Komplikationen: Posttraumatische Otitis media acuta, Labyrinthitis, labyrinthogene Meningitis. Nach Behandlung verbleibende Restperforationen verlangen eine spätere tympanplastische Versorgung. Eine Sonderform stellt die Schweißperlenverletzung des Mittelohres dar. Hinweise auf diesen Verletzungsmodus ergeben sich aus typischer Anamnese (Schweißen über dem Kopf). Diagnostisches und therapeutisches Konzept wie bei allen direkten Verletzungen. Hitzebedingte Schädigung von Innenohr und Nervus facialis sind selten. 19.1.5 Indirekte Verletzungen von Trommelfell, Mittel- und Innenohr Ursachen der indirekten Ruptur des Trommelfelles sind plötzliche Druckschwankungen im Gehörgang. Überdruck (Schlag) und Unterdruck (Kuß) können gleicher-
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19 Verletzungen im HNO-Bereich
maßen zu Trommelfellzerreißungen führen. Entscheidend für das Eintreten der Verletzung sind weniger Stärke oder Heftigkeit der Gewalteinwirkung als vielmehr der luftdichte Abschluß des Gehörganges mit der in ihm stempelartig auf das Trommelfell wirkenden Luftsäule (Boenninghaus). Symptome: Plötzlicher, bald abklingender Schmerz im verletzten Ohr. Temporäre Vertäubung, danach durch die Perforation bedingte verbleibende Schwerhörigkeit. Diagnose: Eindeutige anamnestische Hinweise. Befunde wie bei der direkten Verletzung von Trommelfell und Mittelohr. Beachte: Aus forensischen Gründen stets detaillierte Feststellung und Dokumentation der morphologischen und funktionellen Schäden. Therapie: Wie bei den direkten Verletzungen des Ohres. Das Explosionstrauma ist eine Sonderform der indirekten Verletzungen, hier trifft eine Schalldruckwelle meist beide Ohren gleichermaßen. Die entsprechend oft doppelseitige Trommelfellzerstörung kann die Dimension von Totaldefekten erreichen, Luxationen und Frakturen im Bereich der Hörknöchelchenkette sind wie auch erhebliche Innenohrschädigungen möglich. 19.1.6 Schädelbasisbrüche mit Beteiligung des Ohres (laterobasale Frakturen, Frakturen der Otobasis) Häufigste Basisfrakturen nach stumpfer Gewalteinwirkung. Unterteilung in Längsund Querfrakturen der Pyramide, Sonderform Impressionsfraktur der vorderen Gehörgangswand vom Kiefergelenk her. Kombiniertes Vorliegen der genannten Basisbrüche ist möglich. Im Vordergrund der Verletzungsfolgen stehen stets Kreislauf* und Hirnsymptomatik (Schock, Commotio, Contusio cerebri), entsprechende akute Therapie ist vorrangig. Revision der Fraktur und indizierte rekonstruktive Maßnahmen im Intervall. Sofortige operative Intervention ist nur angezeigt zur Versorgung offener Schädelhirnverletzungen und unstillbarer Blutungen. Oto- oder Rhinoliquorrhoe sind keine Indikation zum Soforteingriff. 19.1.6.1 Felsenbeinlängsbruch Häufigste Form der laterobasalen Fraktur. Bruchlinien laufen entlang oder vor der Pyramidenoberkante über den Mittelohrraum in das Dach des äußeren Gehörganges, in den Warzenfortsatz und in die Schläfenbeinschuppe ein (Abb. 19/2). Oft wird der Fazialiskanal im tympanalen oder mastoidalen Segment gekreuzt bzw. tangiert (periphere Fazialisparese in 25% der Verunfallten). Die Strukturen des Innenohres bleiben unberührt, daher fehlen in der Regel entsprechende Symptome. Sprengt der Bruch den knöchernen Trommelfellrahmen (Trommelfellrandbruch), tritt nach Zerreißung des Trommelfelles und der Gehörgangshaut eine Blutung in und aus dem Gehörgang auf.
19.1 Ohr
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Beachte: Von Verletzung der Kopfhaut her in den Gehörgang eingelaufenes Blut kann Längsfraktur vortäuschen. Oto- oder Rhinoliquorrhoe nur bei Duraverletzungen im Verlauf des Bruches (Tegmen antri und tympani) oder bei Kombination von Längs- und Querfraktur. Erstversorgung durch sterilen Ohrverband. Beachte: Keine Manipulationen im äußeren Gehörgang. Symptome und Diagnose: Unfallart (stumpfes Schädelhirntrauma). Blut im oder Blutung aus dem äußeren Gehörgang. Periphere Fazialisparese. Blutansammlung im Gehörgang und Mittelohr, Trommelfellzerreißung wie auch gelegentliche Verletzung der Gehörknöchelchenkette bedingen Schalleitungsschwerhörigkeit. Innenohrbeteiligung durch indirektes (Commotio oder Contusio labyrinthi) oder direktes Trauma (Stapesluxation, Zerreißung der Membran des runden Fensters) möglich (Schallempfindungsschwerhörigkeit, Ertaubung, Spontannystagmus zur dem verletzten Ohr entgegengesetzten Seite). Röntgenologischer Frakturnachweis (Aufnahmetechnik nach Schüller, Stenvers, E. G. Mayer, Film- und Computertomographie). Therapie: Notfalltherapie nicht erforderlich. Wegen Gefahr aufsteigender Infektionen stets Antibiotika. Operative Revision einer Pyramidenlängsfraktur nach Abklingen der allgemeinen Unfallsymptomatik ist indiziert: • Bei Infektion des Mittelohres und des endokraniellen Raumes (posttraumatische Meningitis). Die Infektionsgefahr ist groß denn Beachte: Laterobasale Frakturen sind offene Frakturen. Infektionsweg ist über eine Trommelfellzerreißung, stets aber vom Nasenrachenraum her über Tuba pharyngo-tympanica gegeben. Operation auch immer angezeigt, wenn die Verletzung ein zuvor an einer chronischen Otitis media erkranktes Ohr trifft. • Bei Oto- oder Rhinoliquorrhoe (über Tuba pharyngo-tympanica), sofern diese nicht unter konservativer Behandlung sicher sistiert und bei Nachweis einer Pneumatozele (selten). • Bei Vorliegen einer Fazialisparese. Für die Therapie ist zu differenzieren zwischen der Sofort- oder Frühlähmung und der erst Tage nach dem Unfallereignis auftretenden langsam zunehmenden Spätlähmung. Sofort- und Frühlähmung erfordern baldmögliche Dekompression des Nerven im tympanalen und mastoidalen Segment, gegebenenfalls mit Wiederherstellung der unterbrochenen Kontinuität. Bei Spätlähmung nach Prüfung elektrophysiologischer Parameter zunächst konservative Behandlung (Kortikosteroide, neurotrope Vitamine, durchblutungsfördernde Präparate); bei Rückgang der Erregbarkeitswerte unter medikamentöser Therapie erst ist Neurolyse angezeigt. • Bei Vorliegen einer Schalleitungsschwerhörigkeit. Ursächlich verantwortlich sind
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19 Verletzungen im HNO-Bereich
Narbenstenosen des Gehörganges, Trommelfelldefekte, Unterbrechung oder Zerstörung von Teilen der Hörknöchelchenkette oder deren narbige Fixation. Vorgehen nach tympanoplastischen Prinzipien. Komplikationen: Durch über die Fraktur aufsteigende Infektionen Frühmeningitis, zirkumskripte Enzephalitis, Hirnabszeß. Noch nach Jahren (rezidivierend) Spätmeningitiden. Traumatisches Cholesteatom durch Einwachsen oder Einsprengung von Epithel in die Mittelohrräume. 19.1.6.2 Felsenbeinquerbruch Seltener als Längsfraktur, gelegentlich auch doppelseitig (Abb. 19/2). Bruchlinien verlaufen senkrecht zum inneren Gehörgang durch diesen hindurch oder durch den Labyrinthblock auf das Promontorium (Verbindung zum Mittelohr). Symptome und Diagnose: Unfallart (stumpfes Schädelhirntrauma). Ertaubung und Vestibularisausfall (Spontannystagmus zur Gegenseite). In etwa 50% der Verletzten Fazialisparesen (Sofortlähmung). Trommelfell meist intakt, dahinter aber Blutansammlung (Hämatotympanon). Rhinoliquorrhoe nach Durazerreißung im inneren Gehörgang oder an der Pyramidenvorder- und -rückfläche über Tuba pharyngotympanica (Differentialdiagnose zu Frakturen der Rhinobasis!). Röntgenologischer Frakturnachweis (Aufnahmetechnik nach Stenvers, Film- und Computertomographie). Therapie: Notfalltherapie nicht erforderlich. Wegen Gefahr aufsteigender Infektionen stets Antibiotika. Indikationen zur operativen Behandlung s. Abschn. 19.1.6.1. Dekompression und gegebenenfalls Rekonstruktion des Nervus facialis auf transtemporalem Wege, bei komplettem Innenohrausfall besser translabyrinthär.
Abb. 19/2 Felsenbeinlängsbruch (a), innerer (b) und äußerer (c) Felsenbeinquerbruch.
19.2 Gesichtsweichteile, Hirnnerven, Speicheldrüsen
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Komplikationen: wie bei Abschn. 19.1.6.1. 19.1.6.3 Bruch der Gehörgangsvorderwand Nach Sturz oder Schlag auf den Unterkiefer Impressionsfraktur der Gehörgangsvorderwand (= Kiefergelenksrückwand), oft zusammen mit Frakturen im Bereiche des Prozessus articularis mandibulae. Symptome und Diagnose: Verletzungshergang, Hämatome und Weichteilverletzungen am Unterkiefer. Blutung aus dem äußeren Gehörgang (Differentialdiagnose zum Felsenbeinlängsbruch!), nach Entfernen der Koagula (Operationsmikroskop!) Verletzung an Vorderwand sichtbar. Druck auf Tragus und Kiefergelenk und Bewegung des Unterkiefers schmerzhaft. Röntgenologischer Frakturnachweis (Aufnahmetechnik nach Schüller). Therapie: Steriler Verband, Antibiotika, sonst Notfalltherapie nicht erforderlich. Operative Versorgung durch Kieferchirurgen (Verletzungen des Capitulum und Collum mandibulae) und Otologen (Verletzungen des äußeren Gehörganges, Prophylaxe narbiger Gehörgangsstenosen).
19.2 Gesichtsweichteile, Hirnnerven, Speicheldrüsen 19.2.1 Verletzungen der Gesichtsweichteile Gedeckte (Schlag, Sturz) und offene Verletzungen (Riß, Schnitt, Stich, Biß, Ablederung) verlangen vor definitiver Versorgung umfassende Diagnostik! Gefahr der Fehlbeurteilung des Verletzungsumfanges. Unter harmlos aussehenden Weichteilläsionen werden oft erhebliche tiefergelegene Verletzungen des Schädelskeletts, der Dura, der Hirnnerven und der Speicheldrüsen übersehen! Vor operativer Behandlung daher stets exakte Diagnose durch sorgfältige Inspektion, Palpation, gegebenenfalls Röntgendiagnostik. Beachte: An Vielfach Verletzungen denken! Therapie: Notfallversorgung von Blutungen, steriler Verband, Antibiotika, Tetanusprophylaxe, bei Bißverletzungen Möglichkeit der Tollwutinfektion (s. Abschn. 5.6.5) beachten! Wenngleich beste Behandlungsergebnisse durch frühzeitige Wundversorgung zu erzielen sind, steht die Therapie der allgemeinen Unfallfolgen (Schock) stets an erster Stelle; einzige Ausnahme ist die vitale Operationsindikation zur Stillung bedrohlicher Blutungen nach Verletzung großer Gefäße. Für die operative Erstversorgung bereits gelten die Prinzipien der modernen plastisch-rekonstruktiven Chirurgie, dabei sind Besonderheiten der operativen Therapie im Bereiche der Gesichtsweichteile (relaxed skin tension lines, wrinkle lines, esthetic units) zu beachten. Verschmutzte Wunden säubern, sparsam exzidieren. Fremdkör-
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1 9 Verletzungen im HNO-Bereich
per und für den Wiederaufbau nicht verwertbare Knochensplitter entfernen, sie sind später mitunter röntgenologisch nicht mehr faßbar (Sekuritsplitter) und oft Ursache von Fremdkörperreaktionen und rezidivierenden Infektionen. Anzustreben ist stets Primärrekonstruktion, gegebenenfalls mit Replantation abgetrennter Gewebsteile, durch Nah- und Fernlappenplastik und freie Transplantate. Grundsätzlich • Versorgung von innen nach außen, also von der Tiefe der Verletzung her zur Hautoberfläche. 1 9 . 2 . 2 Verletzung von Hirnnerven Bei Gesichtsweichteilverletzungen am häufigsten betroffen Nervus facialis (motorische Ausfälle mimischer Muskulatur) und Nervus trigeminus (Sensibilitätsstörungen im entsprechenden Versorgungsbereich). Diagnose: Für den Nervus facialis führt Kontinuitätsunterbrechung auf Strecke von Foramen stylomastoideum bis zum Beginn der Aufteilung in Glandula parotis zu kompletter peripherer Parese, distal davon zu Ausfällen im Innervationsgebiet des jeweils betroffenen Astes. Läsionen am Foramen supraorbitale, infraorbitale und mandibulare haben Ausfälle der gleichnamigen Trigeminusäste, distal davon sensible Störungen in kleineren Innervationsbereichen zur Folge. Therapie: Notfallversorgung durch sterilen Verband, Antibiotika, Tetanusprophylaxe. Für Fazialislähmungen bereits bei operativer Erstbehandlung Wiederherstellung der Kontinuität durch direkte Anastomose der Nervenstümpfe oder Nerveninterponat anstreben. Wenn Rekonstruktion nicht ausgeführt werden kann, sind sichtbare Nervenstümpfe wenn möglich zu markieren (Mikroclips, farbiges Nahtmaterial), um sie bei Sekundärversorgung besser auffinden zu können. Bei Trigeminusläsionen ist dieses Vorgehen nicht erforderlich, da fast immer spontane Regeneration. Hier gegebenenfalls Dekompression des durch Knochenfragmente eingekeilten und verletzten Nerven zur Vermeidung späterer Neuralgie.
1 9 . 2 . 3 Verletzungen der großen Speicheldrüsen Betroffen zumeist Glandula parotis, seltener Glandula submandibularis. Diagnose: Offene Verletzung der entsprechenden Region, bei Eröffnung der umgebenden Kapsel freiliegendes Speicheldrüsengewebe. Speichel in frischer Wunde bei gleichzeitiger Blutung meist nicht feststellbar. Therapie: Notfallversorgung durch sterilen Verband, Antibiotika, Tetanusprophylaxe. Bei Verletzungen der Glandula submandibularis Exstirpation der Drüse bei operativer Primärversorgung. Läsionen der Ohrspeicheldrüse sind durch exakte Kapselnaht, Verletzungen ihres Ausführungsganges durch Anastomose der Stümpfe
19.3 Nase und obere Nasennebenhöhlen
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über Silikonröhrchen zu versorgen. Bei später auftretenden oder persistierenden Speichelfisteln Strahlenbehandlung mit einer Entzündungsdosis oder totale Parotidektomie.
19.3 Nase und obere Nasennebenhöhlen 19.3.1 Verletzungen des Nasengerüstes und des Naseninneren Geschlossene und offene Frakturen des Nasenskeletts sind häufigste Verletzungen im Kopfbereich. Symptome und Diagnose: Nach Richtung der Gewalteinwirkung Seitwärtsabweichen oder Impression. Offene Hautwunden und unterschiedlich starke Unterblutung der Weichteile bis in den Bereich von Wange und Lidern (Monokel-, Brillenhämatom). Palpatorisch Unterbrechung der Knochenkontinuität oder Krepitation. Bei zu Nasenhaupt- und -nebenhöhlen hin offener Verletzung oft Weichteilemphysem. Blutung aus dem Naseninneren nach Schleimhautzerreißung. Behinderung der Nasenatmung. Endonasal (vordere Rhinoskopie) Blutkoagula, Dislokation der Nasenscheidewand (Septumfraktur, -luxation). Septumhämatom: meist beidseitig ausgebildete subperichondrale Blutung mit ballonartiger, prall-elastischer Auftreibung der Nasenscheidewand. Röntgenologischer Frakturnachweis: Aufnahmen des Schädels bzw. der Nase seitlich und p.-a., Spezialaufnahmen der Nasennebenhöhlen, Tomographie bei Verdacht auf gleichzeitig vorliegende Fraktur der Frontobasis (s. Abschn. 19.3.2) Beachte: Mitbeteiligung von Nasennebenhöhlen, Orbita und vorderer Schädelbasis! Oft weitreichende Zerstörungen auch unter harmlos scheinenden Läsionen. Therapie: Notfallmäßig Wundverband bei offenen Verletzungen, hier Tetanusprophylaxe, Antibiotika. Wenn notwendig und möglich Stillung des Nasenblutens durch vordere, hintere oder kombinierte Tamponaden (Abb. 19/3 und 19/4). • Gefahr der Blutaspiration, deshalb und zum Freihalten der Atemwege gelegentlich orotracheale Intubation erforderlich. Bei nicht beherrschbaren starken Blutungen umgehende Klinikeinweisung, hier Indikation zur Gefäßligatur (A. maxillaris, Aa. ethmoidales, A. carotis externa) prüfen. Bei offener Fraktur Versorgung von Weichteilverletzungen entsprechend Abschn. 19.2.1. Fremdkörper und kleinere Knochensplitter entfernen, größere Fragmente reponieren, verkeilen, verdrahten. Geschlossene Frakturen durch Druck von außen und Anheben dislozierter Fragmente mit einem Elevatorium vom Nasenlumen her richten (Abb. 19/5), danach Fixation durch endonasale Streifentamponade und extranasale Schienung. • Reposition unbedingt innerhalb der ersten Woche ab Unfall.
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19 Verletzungen im HNO-Bereich
Frakturen sind meist bereits 10—14 Tage nach Verletzung stabil, Korrektur erfordert nach dieser Zeit rhinoplastische Maßnahmen. Luxationen und Frakturen der Nasenscheidewand sind stets mitzuversorgen, ein Septumhämatom wird durch beidseitige Inzision entlastet, drainiert und das abgehobene Mukoperichondrium mit Salbenstreifen antamponiert. Bei allen rekonstruktiven Maßnahmen neben den morphologischen auch funktionelle Aspekte beachten. Komplikationen: Hohe Blutverluste bei Verletzung größerer Gefäße, Blutaspiration. Infektion eines Septumhämatoms führt zum außerordentlich gefährlichen Septumabszeß (aufsteigende Meningitis). Umgehende Eröffnung und Entlastung, breitbandige antibiotische Behandlung in hoher Dosierung. Äußerlich entstellende Nasendeformitäten (Breit-, Sattel-, Schiefnase) und endonasal funktionell beeinträchtigende Synechien und Stenosen der Nasenhaupthöhle sind Folgen nicht oder unzureichend behandelter Verletzungen und erfordern spätere rhinoplastische Korrektur.
19.3.2 Schädelbasisbrüche mit Beteiligung der oberen Nasennebenhöhlen (frontobasale Frakturen, Frakturen der Rhinobasis) Entstehen durch meist stumpfe Gewalteinwirkung auf Nasenwurzel-Stirnbereich, oft gleichzeitig Mittelgesichtsfrakturen (s. Abschn. 18.4). Sind als Schädelbasisbrüche aufzufassen, wenn hirnnahe Knochenwandungen von Siebbeinlabyrinth, Stirnund/oder Keilbeinhöhle oder Lamina cribrosa (Dach der Nasenhaupthöhle) in Frakturverlauf einbezogen sind. Symptome und Diagnose: Unfallmodus (Sturz, Schlag auf Mittelgesicht, Stirn, Orbita). Verletzungen der deckenden Weichteile, Freiliegen von Knochen, Dura, Hirngewebe; oft aber auch erhebliche tiefergelegene Zerstörungen unter intakter Oberfläche, Hämatome im Bereiche von Stirn, Orbita, Wange. Sicht- oder tastbarer Bruchspalt (Stufenbildung), Knochenimpressionen. Blutung aus Nase und Mund. Bei Schleimhautunterblutung im Mund- und Nasenrachenraum Verdacht auf Fraktur im Bereiche der Keilbeinhöhle. Neurologische Ausfälle Hirnnerven I bis VI. Rhinoliquorrhoe meist erst bei Sistieren der Blutung feststellbar. Geruchsstörungen durch Abriß der Fila olfactoria. Röntgenologischer Frakturnachweis: Aufnahmen Schädel seitlich und p.-a., axial und überkippt axial, Spezialaufnahmen der Nasennebenhöhlen. Bei unsicherem Befund und bei Verdacht auf intrakranielle Komplikationen (Blutung, Pneumatocephalus, Hirnkontusion) Film-Schichtaufnahmen, Computertomographie, Kernspintomographie. Therapie: Notfallversorgung von Blutungen. Intubation zum Freihalten der Atemwege und zur Vermeidung von Blutaspiration. Steriler Verband, Tetanusprophylaxe, Antibiotika. In weiterführender Diagnostik und operativer Behandlung dieser gefährlichsten Schädelbasisverletzung ist enge Zusammenarbeit der Fachgebiete Anästhesiologie, H N O , Kieferchirurgie, Neurochirurgie und Ophthalmologie un-
19.3 Nase und obere Nasennebenhöhlen
255
Abb. 19/3 Schichttamponade der Nasenhaupthöhle.
Abb. 19/4 Bellocq-Tamponade des Nasenrachenraumes, fortlaufende Streifentamponade der Nasenhaupthöhle.
Abb. 19/5 Reposition einer Nasenbeinfraktur.
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19 Verletzungen im HNO-Bereich
abdingbar. Operative Versorgung erst nach Schockbehandlung, Ausnahme vitale Indikation zur Intervention bei lebensbedrohlichen Blutungen (Nebenhöhlenbereich, intrakraniell) und bei schädeloffenen Hirnverletzungen. Nach Schocktherapie und abgeschlossener Diagnostik absolute Indikation zur Operation bei • sicherer Duraverletzung (Rhinoliquorrhoe, Pneumatocele); • Frakturen der hirnnahen Nebenhöhlenwandungen mit Wahrscheinlichkeit einer Dura-Hirnverletzung; • Fremdkörpereinsprengung; • orbitalen Komplikationen und Hirnnervenverletzungen, die eine Dekompression erfordern; • aufsteigenden Infektionen (Meningitis, Epidural-, Subdural- und Hirnabszessen) als Früh- oder Spätkomplikationen. Relative Indikationen: Explorative Eingriffe an den oberen Nasennebenhöhlen zur operativen Revision der hirnnahen Wandungen; kosmetische Rekonstruktion der imprimierten oder trümmerfrakturierten Stirnhöhlenvorderwand und des Nasenskeletts. Komplikationen: Die über die Nasennebenhöhlen gegebene offene Verbindung von vorderer Schädelgrube zu Nasenhaupthöhle und Nasenrachenraum ist Ursache der häufigen aufsteigenden Infektion (Frühmeningitis und -abszesse). Unterbleibt die operative Versorgung der Verletzung oder war sie unzureichend, sind Spätmeningitiden (u.U. rezidivierend) und -abszesse auch noch nach Monaten und Jahren möglich. Unsachgemäße Versorgung des Nasennebenhöhlenbereiches hat oft Osteomyelitiden, Mukozelen und Pyozelen zur Folge. Nach Langzeitintubation Larynx- und Trachealstenosen; diese Veränderungen sind durch rechtzeitig und rite ausgeführte Tracheotomie vermeidbar.
19.4 Mundhöhle und Mundrachenraum 19.4.1
Zungenverletzungen
Fast ausschließlich durch Biß. Kleine Wunden haben gute Spontanheilungstendenz. Operative Versorgung nur bei starker Blutung aus A. lingualis und bei großen klaffenden Wunden. Reintegration abgebissener Zungenteile kaum erfolgversprechend. 19.4.2
Pfählungsverletzungen
Meist bei Kindern durch Sturz oder Schlag auf in den Mund gesteckten harten Gegenstand (Bleistift, Stöckchen, Lutschbonbon). Stich oder Schnitt am harten und
19.5 Hals, Kehlkopf, Luftröhre, Speiseröhre
257
weichen Gaumen, in der Tonsillenregion und an der Rachenrückwand. Sorgfältiges Entfernen in der Wunde verbliebener Fremdkörper. Gute Spontanheilungstendenz. Komplikationen: Verletzung der A. carotis interna im Parapharyngealraum retrotonsillär. Bis zur Versorgung in Klinik notfallmäßig Kompression der A. carotis communis vor dem M. sternocleidomastoideus oder der A. carotis interna enoral entsprechend der Verletzungsstelle. Intubation. Perforierende Verletzungen der seitlichen oder Rückwand des Rachens eröffnen die obersten Anteile des collaren Mediastinums. Gefahr der Mediastinitis. Antibiotika, Kontrolle der biologischen Reaktionen, gegebenenfalls Klinikeinweisung.
1 9 . 5 Hals, Kehlkopf, Luftröhre, Speiseröhre 19.5.1 Gedeckte Verletzungen durch stumpfe Gewalteinwirkung Verkehrs-, Sport- und Arbeitsunfälle, Strangulation. Am Kehlkopf Prellungen, Luxationen (Aryknorpel gegen Ringknorpelplatte, Ringknorpel gegen Schildknorpel) Frakturen, insbesondere von Ring- und Schildknorpel. Trachealverletzungen in Form von Frakturen, partiellem oder totalem Abriß sind seltener, desgleichen Ösophagusläsionen durch stumpfe Gewalt. Symptome und Diagnose: Verletzungshergang. Schmerzen im Bereiche von Kehlkopf und Luftröhre, besonders beim Schlucken und Sprechen, Heiserkeit. Hämatome und Emphysem im Bereich der Halsweichteile. Meist nur geringere Blutung in Luftwege nach Zerreißung von Schleimhaut und Kehlkopfweichteilen, blutiges Sputum. Palpatorisch gelegentlich Krepitation nachweisbar. Laryngoskopisch Schleimhautödeme, -unterblutungen und -Verletzungen. Mitunter reflektorisch Blutdruckabfall, Bradykardie (Carotissinus, Nervus vagus). Therapie: Bei zunehmender Luftnot und bei stärkerer Blutung in Luftwege Intubation (Manschette blocken, Bronchialtoilette über Tubus), Antibiotika, Kortikosteroide parenteral. Stets Klinikeinweisung! Unter Überwachung hier meist konservative Therapie, operative Revision zur Stillung von Blutungen und zur Reposition dislozierter Knorpelfragmente (sonst später Narbenstenosen). Beidseitige Rekurrensparese zwingt zur Tracheotomie, glottiserweiternde Operation bei ausbleibender Funktionswiederkehr etwa ein Jahr nach Verletzung. Trachealabriß ist akuter Notfall, hier sofortiger Versuch, den Defekt zwischen proximalem und distalem Stumpf durch Intubation oder Notfallbronchoskop zu überbrücken. Komplikationen: Mediastinalemphysem, Mediastinitis. Perichondritis der Kehlkopfknorpel. Beidseitige Rekurrensparese. Ankylose der Aryknorpel nach Luxation. Narbige Kehlkopfstenosen meist im Ringknorpelbereich.
19.5.2 Offene Verletzungen nach scharfer Gewalteinwirkung Schnitt-, Stich- und Schußverletzungen bei Unfällen, Suizidversuch und kriminellen Delikten, Mitverletzung der großen Halsgefäße durch deren geschützte Lage selten.
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19 Verletzungen im HNO-Bereich
Symptome und Diagnose: Verletzungshergang, offene Wunden im Halsbereich. Bei Eröffnung der Luftwege Blutaspiration. Luftaustritt aus Wunde bei Husten und Versuch zu sprechen. Weichteilemphysem. Therapie: Intubation orotracheal, bei eröffneten Luftwegen über den Defekt. Tubusmanschette blocken. Versorgung spritzender Gefäße, Verband, Tetanusprophylaxe, Antibiotika. Umgehende Klinikeinweisung zur operativen Versorgung. Komplikationen: wie Abschn. 19.5.1. Nach Mitverletzung der Speisewege narbige Ösophagusstenosen.
19.6 Antibiotika bei HNO-Verletzungen Zur Behandlung infizierter Weichteilverletzungen im Gesichts- und Halsbereich können — bis zum Vorliegen eines Antibiogramms — Penicilline oder Clindamycin empfohlen werden; letzteres insbesondere bei Mitbeteiligung von Knorpel und Knochen wegen der guten Penetration in diese Gewebe. Bei Verletzungen mit Eröffnung der Liquorräume (Schädelbasisfrakturen), ist wegen der ausgezeichneten Liquorgängigkeit der Einsatz von Trimethoprim Sulfamethoxazol, bei Überempfindlichkeit der von Chloramphenicol (Blutbildkontrollen!) indiziert.
Weiterführende Literatur Becker, W., H. H. Naumann, C. R. Pfaltz: Hals-Nasen-Ohrenheilkunde. Thieme, Stuttgart-New York 1982. Boenninghaus, H.-G.: Ohrverletzungen. In: Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in Praxis und Klinik (Hrsg. J.Berendes, R.Link, F.Zöllner), Bd.5/1, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart-New York 1979. Boenninghaus, H.-G.: Hals-Nasen-Ohrenheilkunde für Medizinstudenten. Springer, Berlin—Heidelberg-New York 1980. Feldman, H.: HNO-Notfälle, 2. Aufl. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1980. Illberg, C. v.: Verletzungen von Kehlkopf und Trachea. In: Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in Praxis und Klinik (Hrsg. J. Berendes, R. Link, F. Zöllner), Bd. 4/1, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart-New York 1982. Miehlke, A.: Fazialislähmungen. In: Hals-Nasen-Ohrenheilkunde (Hrsg. J.Berendes, R.Link, F.Zöllner), Bd.5/1, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart-New York 1979. Pirsig, W., H. H. Treeck: Rhinochirurgische Behandlung von rhinobasalen Liquorfisteln. In: HalsNasen-Ohrenheilkunde in Praxis und Klinik (Hrsg. J. Berendes, R. Link, F. Zöllner), Bd. 1/1, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart-New York 1977. Seiferth, L.B., F.Wustrow: Verletzungen im Bereich der Nase, des Mittelgesichts und seiner Nebenhöhlen sowie frontobasale Verletzungen. In: Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in Praxis und Klinik (Hrsg. J. Berendes, R. Link, F. Zöllner), Bd. 1/1, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart-New York 1977. Ungerecht, K.: Ösophagus. In: Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in Praxis und Klinik (Hrsg. J. Berendes, R. Link, F. Zöllner), Bd. 3, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart-New York 1978.
20 Augenverletzungen H. Paulmann
20.1 Allgemeines Bestehende Schutzvorschriften im Rahmen berufsgenossenschaftlicher Verordnungen (Tragen von Schutzbrillen, Sicherungen schnell laufender Maschinen) sowie verschärfte Sicherheitsmaßnahmen im Straßenverkehr (Gurtpflicht, Verbundglasscheibe) haben dazu geführt, daß nicht nur die Gesamtzahl der Unfälle gesenkt, sondern auch das Schadensausmaß gemildert werden konnte. Insbesondere trifft dies für die oft erheblichen Gesichts- und Augenverletzungen als Folge von Straßenverkehrsunfällen zu. Unveränderte oder leicht steigende Tendenzen zeigen sich aber bei den sogenannten häuslichen Unfällen im Rahmen ausgeübter Hobbytätigkeit (Heimwerkerarbeiten) und im Bereich des Sports (Tennis, Squash, Fußball). Das gezielte Erfragen der Anamnese und die Kenntnis des Unfallmechanismus können dem erfahrenen ophthalmologischen Untersucher wertvolle Hinweise auf Art und Ausmaß der Verletzung geben. In der Praxis werden jedoch häufig gerade bei den bewußtlosen Patienten bei der am Unfallort durchgeführten Untersuchung infolge einer nur oberflächlichen grobklinischen Prüfung Augenverletzungen übersehen, die bei frühzeitigem Erkennen die später folgende hochgradige Funktionsminderung des Sehorgans hätten mindern können. Voraussetzung für eine optimale Versorgung schwerer Augenverletzungen ist deshalb ein entsprechend ausgerüstetes operativ-ophthalmologisches Zentrum. Allerdings sollten die Prinzipien einer entsprechenden Versorgung allgemein bekannt sein.
20.2 Allgemeine Untersuchungsmethoden Die am Unfallort oder im Rahmen einer notärztlichen durch Nicht-Ophthalmologen vorgenommene Erstuntersuchung kann nur orientierenden Charakter haben. Die Gabe von Lokalanästhetika (Novesine®) ermöglicht die lokale Schmerzausschaltung zur Inspektion der Lider, des Bulbus sowie eine grobe Funktionsprüfung. Zur klinischen Feststellung des Augentonus (Augeninnendruckes) sollte eine vorsichtige Palpation mit beiden Zeigefingern auf den Oberlidern im Seitenvergleich die Unterscheidung in harten und weichen Bulbus möglich machen. Bei ansprech-
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20 Augenverletzungen
baren Patienten ist eine orientierende Funktionsprüfung möglich, indem die Motilität der Bulbi durch Folgebewegungen und Kommandobewegungen in die vier Hauptblickrichtungen geprüft wird. Die Sehschärfe kann durch vergleichendes Fingerzählen oder Demonstration von kleinen Gegenständen etwa in 1 m Abstand abwechselnd vor rechtem und linkem Auge erfaßt werden. Sinnvollerweise erfolgt die Untersuchung der vorderen Augenabschnitte unter fokaler Beleuchtung mit Taschenlampe und Zuhilfenahme einer Lupe.
20.3 Lidverletzungen Gegenwärtig stellen Verkehrsunfälle das Hauptkontingent der schweren Lidverletzungen dar, gefolgt von sogenannten häuslichen und Sportunfällen. Symptome: Offene Verletzungen sind leicht erkennbar nach einfachem Ektropionieren der Lider, auch wenn es sich nur um Beteiligung der Bindehaut handelt. Begleitreaktionen sind ein häufig ausgeprägter Blepharospasmus sowie starkes Tränenträufeln. Bei stumpfen Traumen kann das ausgedehnte Lidhämatom Symptom einer Schädelbasisfraktur sein, das Lidemphysem kann auch auf Frakturen des pneumatisierten Knochens der Umgebung (Siebbein) hinweisen. Häufig dagegen werden die Folgen von Riß- und Schnittverletzungen mit Durchtrennung wichtiger Lidstrukturen (Tränenwege, inneres und äußeres Lidbändchen) übersehen. Die ausgedehnte Beteiligung der Lidhebermuskulatur äußert sich durch eine primäre Pseudoptosis. Leitsymptom subkonjunktivale Blutung • limbusnah, umschrieben, hellrot: • posterior, unscharf begrenzt, dunkel bis schwarz gefärbt: • in Verbindung mit Chemose: • in Verbindung mit Emphysem:
lokale Schädigung Orbitabeteiligung fragliche Skleraperforation fragliche Nebenhöhlenbeteiligung
Therapie: Als Sofortmaßnahme bei Lidhämatom und -emphysem nach Ausschluß von Frakturen im Bereich von Orbita und Schädelbasis soll die Ruhigstellung des Patienten erfolgen. Bei Schnittverletzungen der Lider sollte das gesamte Auge ohne Druckverband steril abgedeckt werden, auf Salbenapplikation in jeglicher Form ist zu verzichten. Als weiterführende Maßnahme sollte die Überweisung in eine Augenklinik erfolgen. Da bei der chirurgischen Versorgung die Kenntnis der wichtigsten Strukturen der Augenlider unerläßlich ist, gilt die Empfehlung, auf eine primäre nicht ophthalmologisch-chirurgische Versorgung zu verzichten. Situationsnähte bewirken häufig eine ungenügende oder zu starke Adaptierung der Wundränder, so daß auch nach sekundärer Korrektion schlechtere funktionelle Ergebnisse auftreten, insbesondere, wenn die Lidhebermuskulatur durchtrennt ist. Bei
20.3 Lidverletzungen
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Abriß des Musculus levator palpebrae muß dieser, häufig unter mikroskopischen Bedingungen, wieder rekonstruiert werden. Tränenwegsein- oder -abrisse sind nur über eine Readaptation mittels Silberdrahtsonde, Polyäthylenschlauch oder monofilem Kunststoffaden möglich. Nur diese Versorgung gewährleistet postoperative Funktionsfähigkeit der ableitenden Tränenwege. Lidkanteneinrisse erfordern häufig schichtweisen Verschluß unter Vermeidung vertikaler Spannungen, wobei Nähte an der Lidinnenkante selbst vermieden werden müssen. Bei ausgedehnten Verletzungen lassen sich günstige Ergebnisse durch Ergänzungsschnitte mit Hautmobilisation in Form von Dreh- oder Verschiebeplastiken erzielen (Abb. 20/1).
Abb. 20/1 a) Exzision traumatisierter Wundränder mit Begradigung; b) nach schmaler Keilexzision Spaltung der Lidkante und Entnahme eines schmalen Streifens vom Haut- bzw. Tarsus-Bindehautblatt; c) Wundverschluß, Sicherung der Adaptation mit Hilfe einer durchgehenden U-Naht, die über einem Silberplättchen geknüpft ist (Bangerter).
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20 Augenverletzungen
20.4 Orbitaverletzungen Isolierte Orbitafrakturen sind meist die Folge von Kontusionstraumen (Faustschlag, Ballverletzungen). Symptome: Neben der fast regelmäßigen Beteiligung der Lider mit Lidhämatom und Pseudoptosis sind charakteristische Zeichen das Auftreten von Doppelbildern, die Beweglichkeitseinschränkung des Bulbus, meistens bei Blick nach oben oder unten sowie gelegentlich nach Rückgang des Begleithämatoms das Zurücksinken des Augapfels in die Augenhöhle (Abb. 20/2). Therapie: Als Sofortmaßnahme sollte die Uberweisung in eine Fachklinik zur Diagnosesicherung erfolgen. Da bei der Kompression des Orbitainhaltes die Fraktur am Orte des geringsten Widerstandes, nämlich dem relativ dünnen Orbitaboden, auftritt, ist eine Orbitabodenplastik bei allen diagnostisch gesicherten Fällen mit nachweisbarer Behinderung der Vertikalmotilität des Bulbus indiziert. Zur Diagnosesicherung dienen dabei neben dem Traktionstest am anästhesierten Auge die Ergebnisse der Orbitatomographie oder Computertomographie mit Darstellung des Gewebsprolapses. Die operative Versorgung erfolgt zumeist in Zusammenarbeit mit Kieferchirurgen oder HNO-Ärzten unter Reposition des Orbitainhaltes und Deckung des Knochendefektes. Isolierte Orbitabodenfrakturen können auch durch den Ophthalmologen allein unter Zuhilfenahme von Teflonplatten versorgt werden.
20.5 Augapfelprellung Stumpfe Traumen, insbesondere Verletzungen durch Tennis-, Squash- oder Lederbälle, Sektkorken, Faustschläge und ähnliche Gewalteinwirkung führen häufig zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Augapfelprellung (Contusio bulbi).
Abb. 20/2 Blow-out-Fraktur mit Orbitabodendefekt und Einklemmung des M. rectus inferior.
20.5 Augapfelprellung
263
Symptome: Bei orientierender Inspektion mit Licht und Lupe ist häufig eine zarte Trübung der Hornhaut durch ein Epithelödem oder einen Epitheldefekt mit verzerrtem Reflexbild zu beobachten. Charakteristisch ist ebenfalls die Blutansammlung in der vorderen Augenkammer (Hyphäma) als Folge von Einrissen im Bereich der Iriswurzel. Diese können bis zur vollständigen Ablösung der Iris (Iridodialyse) gehen. Verlegung der Abflußwege für das Kammerwasser durch das Hyphäma führt häufig zum Druckanstieg (Sekundärglaukom) mit palpatorisch tastbar hartem Bulbus und starken Schmerzen. Die infolge Schädigung des Musculus sphincter iridis reaktionslose Pupille verharrt häufig in mittelweiter Stellung. Ein palpatorisch weicher Bulbus kann Zeichen für eine gedeckte Bulbusruptur sein. Die Traumafolgen an den inneren Strukturen (Linsensubluxation, Netzhautödem, Makulaforamen, Netzhautablösung) lassen sich nur bei eingehender ophthalmologischer Untersuchung abgrenzen. Eine Anfangs übersehene Bulbusprellung kann nach Monaten durch Katarakt oder Sekundärglaukom eine Sehminderung bewirken (Abb. 20/3 u. 20/4). Therapie: Allgemeine Ruhigstellung. Bei gravierender Funktionsminderung bzw. auffälligem Tonusverhalten (steinharter Bulbus, matschweicher Bulbus) sofortige Überweisung in eine Fachklinik. Immer ist bei Verdacht auf eine Augapfelprellung die Hinzuziehung eines Facharztes zur Befunddokumentation notwendig, da dieser versicherungsrechtlich besondere Bedeutung zukommt.
Abb. 20/3 Schematische Darstellung der Kontusionswirkung am Augapfel.
264
2 0 Augenverletzungen
Abb. 20/4 Synopsis der häufigsten Traumafolgen am vorderen Augenabschnitt. 1 = Hyposphagma, 2 = Hornhauterosion, 3 = Hornhautfremdkörper, 4 = Hornhautperforation, 5 = Hornhautverätzung, 6 = Hyphäma, 7 = Perforation mit Pupillenverziehung, 8 = Iriswurzelabriß.
20.6 Perforierende Verletzungen Durchbohrende Fremdkörper-, Stich- und Schnittverlct/.ungen sowie Platzverletzungen nach Contusiones mit erheblicher Gewalteinwirkung sind die häufigsten Ursachen perforierender Verletzungen am Auge.
20.6.1 Verletzungen durch perforierende Fremdkörper Symptome: Schmerzen, Lichtscheu, Tränenträufeln, Sekundärreaktion der Lider mit Schwellung bis zur reflektorischen Immobilität, gerötetes Auge, Sehverschlech-
20.6 Perforierende Verletzungen
265
terung, Gesichtsfeldausfälle. Die häufigste Angabe in der Anamnese ist beim Arbeiten, Spielen usw. sei „etwas ins Auge geflogen". Die Diagnose eines perforierenden Bulbustraumas durch Fremdkörper kann schwierig sein, da sich infolge der nur kleinen Eintrittswunde, z. B. im Bereich der Sklera, die Verletzungen im mikroskopischen Bereich abspielen. Therapie: Sofortmaßnahme bei sicherer klinischer Prüfung einer perforierenden Augenverletzung ist das sterile Abdecken der Wunde ohne sonstige Tropfen- oder Salbenapplikation und Überweisung in eine Fachklinik. Die Diagnose ist häufig erst nach eingehender Anamnesenerhebung und Röntgendarstellung nach Cornberg bzw. Computertomographie gesichert. Kleine, mit hoher kinetischer Energie auf das Auge treffende Fremdkörper werden vom Patienten kaum wahrgenommen. Bleiben sie unentdeckt, kann entsprechend der chemischen Zusammensetzung des Fremdkörpers eine Metallose auftreten. Die Symptome einer Siderose (durch eisenhaltige Fremdkörper) sind Linsentrübung mit dadurch bewirkter Sehminderung, toxische Schädigungen der Rezeptoren der Netzhaut und Gesichtsfeldeinengungen sowie das Sekundärglaukom, die der Chalkose (durch kupferhaltige Fremdkörper) Sonnenblumenkatarakt, Sehschärfenverminderung, Glaskörperverflüssigung sowie toxische Schädigung der Netzhaut mit Netzhautablösung. Bei der operativ-ophthalmologischen Versorgung erfolgt neben dem Verschluß der Eintritts- und gegebenenfalls Austrittswunde die operative Entfernung des Fremdkörpers mit prophylaktischen Maßnahmen zur Verhinderung einer Netzhautablösung. Sie erfordert ein subtiles endochirurgisches Vorgehen und kann nur in entsprechend ausgerüsteten Zentren durchgeführt werden. 2 0 . 6 . 2 Schnitt-, Stich- und Platzverletzungen Symptome: Oftmals breite Eröffnung des Auges mit Hervorquellen von Iris, Uvea und Glaskörper. Häufigste subjektive Angabe des Patienten ist „das Auge sei ausgelaufen". Plötzlicher Sehverlust, starke Schmerzen und ein sogenannter matschweicher Bulbus sind die Folgen. Therapie: Sofortmaßnahmen zur Verhinderung einer sekundären Infektion durch systemische antibiotische Therapie. Sämtliche Reinigungsmaßnahmen im Bereich der Lider und des Bulbus sollen vermieden werden. Es genügt die sterile Abdeckung der Wunde ohne Druckausübung! Die Ruhigstellung des Patienten, gegebenenfalls seine Sedierung und Überweisung in ein ophthalmologisch-operatives Zentrum sollten unmittelbar erfolgen. Die operative Versorgung richtet sich nach dem Ausmaß der Verletzung. Angestrebt wird die anatomisch-topographische Rekonstruktion des vorderen Augenabschnittes mit Entfernung gequollener Linsenmassen, gegebenenfalls Refixierung
266
20
Augenverletzungen
der Iris sowie wasserdichtem Verschluß von Hornhaut und Sklera. Daran schließen sich häufig prophylaktische Maßnahmen zur Vermeidung einer Netzhautablösung an. Die primäre Entfernung eines Augapfels trotz ausgedehnter Verletzungen stellt heutzutage den Ausnahmefall dar! Bei der operativen Nachkontrolle muß an das Auftreten einer sympathischen Ophthalmie mit den typischen Symptomen der Blendung, des vermehrten Tränenflusses am gesunden Auge sowie des fortbestehenden Reizzustandes am verletzten Auge gedacht werden.
2 0 . 7 Verätzungen Chemische Reagenzien führen entsprechend ihrer Struktur und Konzentration zu unterschiedlicher Schädigung der vorderen Augenabschnitte. Alkalien denaturieren primär durch eine Kolliquationsnekrose das Hornhautkollagen mit der Gefahr der Perforation. Darüber hinaus wird das Randschlingennetz am Limbus geschädigt mit eventuell sekundärer trophischer Störung der Hornhaut. Toxische Schädigung des kammerwasserproduzierenden und -abführenden Systems (Ziliarkörper, Trabekelwerk) können sowohl auf lange Sicht eine Augapfelschrumpfung (Phthisis bulbi) wie auch eine sekundäre Augeninnendrucksteigerung (Sekundärglaukom) verursachen. Symptome: Das Bild der schwersten Verätzung zeigt sich durch eine graduell variierte Bindehautchemose mit Aufhebung der Gefäßstrukturen sowie weißlich getrübter Hornhaut (sogenanntes gekochtes Fischauge). Säuren markieren durch Eiweißfällung (Koagulationsnekrose) das geschädigte Gewebe. Therapie: Die wichtigste Sofortmaßnahme am Unfallort ist die unmittelbare Spülung mit Ringerlösung, Aqua destillata oder auch normalem Leitungswasser. Falls vorhanden, sollte unmittelbar die Nachbehandlung mit Pufferlösung (EDTA) erfolgen. Ektropionieren der Lider nach Lokalanästhesie mit Entfernung von Kalkresten, insbesondere aus den Bindehautsäcken, ist notwendig. Die Überweisung in eine Fachklinik ist umgehend zu veranlassen. Hier wird je nach Ausmaß der Verätzung eine Exzision der toxischen Bindehaut erfolgen sowie eine Vorderkammerspülung zur Entfernung toxischen Exsudates durchgeführt werden müssen. Anschließend erfolgt gegebenenfalls bis zu 2 4 Stunden dauernde permanente Spülung unter Zugabe von Vitamin-C-Tropfen bzw. die unmittelbare Behandlung der Hornhaut mit entgiftenden und regenerierenden Medikamenten.
20.8 Verbrennungen
267
2 0 . 8 Verbrennungen In erster Linie sind hierbei die Lider und die Augenumgebung betroffen. Symptome: Deutlich sichtbare Brandwunden mit Lidnekrosen, Lidschwellung und Lidrötung. Eine Beteiligung des Bulbus tritt häufig bei Verbrennung durch Metall auf. Therapie: Als Sofortmaßnahme gilt es, das flüssige Metall unmittelbar zu entfernen. Die Entfernung von Metallresten von der Bindehaut aus der Umschlagfalte erfolgt nach einfachem und doppeltem Ektropionieren des Oberlides. Vom Ausmaß der Hautverbrennungen im Bereich der Lider ist die Therapie von konservativen Maßnahmen mit Salbenapplikation bis hin zur sekundären Hauttransplantation abhängig.
Weiterführende Literatur Axenfeld, Th., H. Pau (Hrsg.): Lehrbuch und Atlas der Augenheilkunde. Fischer, Stuttgart 1980. Beiträge zur Notfallmedizin, Bd. 2. Akademie für ärztliche Fortbildung, Köln 1984. Neubauer, H.: Wichtige Eingriffe im Bereich der Augenlider, am Tränenapparat und in der Orbita. In: Kopf- und Halschirurgie (Hrsg. H.H.Naumann), Bd.2. Thieme, Stuttgart 1974. Paulmann, H.: Blunt trauma injuries to the anterior segment. In: Treatment of anterior segment ocular trauma (Hrsg. D.Miller, R.Stegmann). Medicöpea, Montreal 1986.
21 Brustkorbverletzungen G. H. Engelhardt und
H.Jentgens
21.1 Erste Orientierung Die Diagnostik der Verletzungen des Brustkorbs und seiner Organe sowie die Kenntnis der Therapiemöglichkeiten sind wegen der vitalen Gefährdung des Verletzten von besonderer Bedeutung. Die Letalität hängt vom Ausmaß der Funktionsstörungen von Lunge, Herz und Kreislauf, vom Lebensalter und von begleitenden Verletzungen (Polytrauma) sowie von der Wahl der Behandlung ab. Die hohe Letalität in den ersten Stunden nach der Verletzung läßt sich reduzieren, wenn eine konsequente Sofortbehandlung der Atem- und Kreislaufstörungen (s. Abschn. 3.1 und 3.3) sowie eine unverzügliche klinisch konservative oder, falls erforderlich, chirurgische Versorgung durchgeführt wird. Dabei gilt es vordringlich zu klären, ob ein „akuter Thorax" vorliegt, der Sofortmaßnahmen noch am Unfallort erforderlich macht. Ziel der Erstuntersuchung ist die Diagnose und Therapie vor allem von Lungen-, Herz- und Kreislaufstörungen. Unmittelbar nach dem Unfall stehen diagnostische und therapeutische Maßnahmen gleichrangig und gleichzeitig nebeneinander; thorakale Notzustände sind meist ohne apparative oder instrumenteile Hilfsmittel allein anhand der leitenden klinischen Symptome zu diagnostizieren. An erster Stelle steht die Prüfung und Behandlung der Vitalfunktionen von und
Kreislauf
4. Schock? Insuffizienz?
pneumothorax? 3. offener Pneumothorax?
1. Respiratorische Insuffizienz Diagnose: • Atemluft vor Mund und Nase beachten; • Thoraxbewegungen beobachten.
5. Herztamponade?
21.1 Erste Orientierung
269
Therapie • Intubation; • Beatmung mit Atembeutel (auf Pneumothorax achten). 2. Spannungspneumothorax Diagnose: • Posttraumatisch in wenigen Minuten zunehmende bedrohliche Ateminsuffizienz; • hochgradige Dyspnoe; • thorakale Schmerzen; • subkutanes Emphysem im Hals- und Thoraxbereich; • Zeichen einer Einflußstauung; • verminderte Atembeweglichkeit der verletzten Thoraxseite; • hypersonorer Klopfschall; • aufgehobenes Atemgeräusch. Therapie: • Sofortige Druckentlassung durch Punktion oder Drainage im 3. ICR der Medioclavicularlinie, bzw. im 4. ICR in der vorderen Axillarlinie; • Beatmung nach Druckentlastung, falls erforderlich. 3. Offener Pneumothorax Diagnose: • Brustkorbwunde mit ein- und ausströmender Luft bei Atmung („sucking wound"). Therapie: Bei ausreichender Spontanatmung Transport mit keimfreier Bedeckung der Wunde; • bei Atemsuffizienz Intubations- oder Maskenbeatmung, Wunde offenlassen, bereits angelegten Verband eventuell entfernen; • sofern beatmet und eine Thoraxdrainage angelegt wird, soll die nach außen offene Wunde geschlossen werden. 4. Schock (s. Abschn. 3.3.2). 5. Herztamponade Diagnose: • Unfallhergang; • eventuell Wunde im präkordialen Hautbereich; • obere Einflußstauung; • arterielle Hypotonie; • abgeschwächte Herzgeräusche.
270
21 Brustkorbverletzungen
Therapie: • Sofortige Perikardpunktion.
21.2 Erstuntersuchung • Unfallhergang feststellen (Hinweise auf mögliche Verletzungen); • Thoraxorgane untersuchen. Inspektion: Haut (Sugillation), Schleimhäute (Anämie, Petechien), Blutung, Beweglichkeit, Stabilität des Thorax, Atemrhythmus, Atemfrequenz und -tiefe, Weichteilemphysem, Dyspnoe, Zyanose, paradoxe Atmung, Einflußstauung. Palpation: Pulsfrequenz und -qualität, Weichteilemphysem, Mediastinalemphysem, umschriebener Thoraxdruckschmerz, Thoraxkompressionsschmerz, Krepitation (Frakturen an Rippen, Sternum, Klavikula, Skapula). Perkussion: Tympanie, hypersonorer Klopfschall, Dämpfung, Schallverkürzung. Auskultation: aufgehobenes oder abgeschwächtes Atemgeräusch, atypische Geräusche, Darmgeräusche im Thorax, Herztöne, Herzfrequenz. • Untersuchung auf Begleitverletzungen (BWS, Abdomen, Schädel-Hirn, Polytrauma).
21.3 Respiratorische Insuffizienz Die respiratorische Insuffizienz bei Thoraxverletzungen ist verursacht durch eine Verminderung • der Ventilation (bei Schmerz, Fixationsverband, Verlegung der Atemwege, instabilem Thorax); • der Atemfläche (bei Pneumo-, Hämato-, Chylothorax, Aspiration, Atelektase, Kontusionspneumonie); • des Kreislaufvolumens (bei hämorrhagischem Schock, Gefäß-, Herzverletzung, Myokardschädigung, Herzkontusion). Die Kombination dieser Faktoren kann innerhalb kurzer Zeit bedrohlich werden. Die Insuffizenz der Atmung kann auch durch Übertransfusion verursacht sein.
21.4 Erstmaßnahmen • • • •
Retten des Verletzten; Lagerung des Verletzten; Freimachen der Atemwege; Freihalten der Atemwege;
21.6 Einteilung der Brustkorbverletzungen
271
• Intubation und Beatmung, falls erforderlich; • Schockbekämpfung (Infusion über primär peripheren venösen Zugang); • Punktion eines Spannungspneumothorax (cave Punktion bei Eventeration von abdominellen Organen im Thorax); • Punktion eines Pneumothorax; • Punktion einer Herztamponade; • eventuell Thoraxdrainage unter Notfallbedingungen; • Abnahme von venösem Blut zur Bestimmung von Blutgruppe, Kreuzprobe, Hb, Hkt, Blutgasanalyse.
21.5 Diagnostische Maßnahmen im Anschluß und zur Ergänzung der Erstuntersuchung: • zentraler Venenkatheter zur ZVD-Bestimmung; • Röntgenuntersuchungen Thorax in zwei Ebenen, BWS in zwei Ebenen, Abdomenübersicht im Stehen oder Sitzen, sofern möglich; • Magensonde legen; • Blasenkatheter legen; • EKG; • Sonographie Thorax und Abdomen; • Peritoneallavage bei Verdacht auf abdominelle Verletzungen; • Bronchoskopie (mit 0 2 -Injekt-Beatmung), bei Verdacht auf Trachea- und Bronchusverletzungen, gezielte Absaugung; • Blutgasanalysen in regelmäßigen und kurzmaschigen Abständen.
21.6 Einteilung der Brustkorb Verletzungen Bei Thoraxtraumen unterscheidet man zwischen stumpfen und penetrierenden bzw. perforierenden Verletzungen durch Stich, Schuß oder Pfählung.
21.6.1 Stumpfe Thoraxtraumen • Commotio thoracis Hierbei handelt es sich um eine den Brustkorb erschütternde Gewalteinwirkung, die ohne zunächst erkennbare Veränderungen an Lungen und Kreislauf zu einem lebensbedrohlichen Zustand führen kann.
272
21 Brustkorbverletzungen
Symptome: Störung der Atmung, kurze Apnoe mit Kollapserscheinungen, Schweißausbruch, Blässe des Gesichtes, Kälte der Haut, Pulsirregularität und Blutdruckabfall. Soforttherapie: Freimachen und Freihalten der Atemwege (eventuell mit 0 2 -Gabe), Volumensubstitution. Zurückhaltung mit Analgetika. Die Symptome können nach kurzer Zeit abklingen, so daß die Verunfallten meist nicht intensivmedizinisch behandelt, sondern nur klinisch beobachtet werden müssen. Komplikationen: Bewußtseinstrübung, Aspiration im Koma, Commotio cordis mit Rhythmusstörungen, Begleitverletzungen (Behandlung auf Intensivstation). • Contusio thoracis Hierbei handelt es sich um eine Prellung der Brustwand. Symptome: Ähnlich wie oben angegeben. Durch Parenchymzerreißung kommt es zu Bluthusten, Dyspnoe bis Apnoe mit Kollapserscheinungen. Äußere Verletzungszeichen können fehlen. Gurthämatome treten oft erst nach Stunden auf. Im Röntgenbild finden sich erst nach 24-48 Stunden sichtbare Lungenveränderungen. Therapie: Wie bei der Commotio thoracis. Wegen der Gefahr der Pneumonie prophylaktisch Sekretolytika, Inhalationen. Bei eindeutiger Diagnose Analgetika. Komplikationen: Kontusionslunge, Blutungen in den Pleuraraum, Lungenödem, Atelektase, respiratorische Azidose, pulmonale Hypertonie. Bei Contusio cordis Blutungen und Verletzungen am und im Peri-, Epi- und Myokard. • Compressio thoracis Hierbei handelt es sich um eine starke intrathorakale Druckerhöhung im venösen System — ein charakteristisches Verletzungsbild. Das Blut wird in die Hals- und Kopfregion gepreßt (Rangierunfälle, Verschüttung, Uberfahrenwerden, Garagenunfälle, Sturz aus großer Höhe usw.). Es kommt zu petechialen Blutungen an Kopf, Schleimhäuten, Augen, Glaskörper, Sehnerv sowie in das Mediastinum. Symptome: „Perthes-Syndrom", stark entstelltes, gedunsenes, dunkelrot verfärbtes Gesicht mit hervorquellenden Augen. Sehstörungen. Kopf und Hals durch petechiale Blutungen blaurot, Hämoptysen (Kapillarzerreißungen), Trommelfellrupturen, Asphyxie. Therapie: Die meisten Symptome sind reversibel und erfordern nur eine symptomatische Behandlung wie bei Commotio und Contusio. Komplikationen: Rippen- und Sternumfrakturen, Lungen Verletzungen, Bronchusabrisse, Hämatopneumothorax, Mediastinalblutungen. Ösophagus-, Herz-, Perikard- und Zwerchfellverletzungen. Verletzungen der großen Gefäße führen meist unmittelbar am Unfallort bzw. auf dem Transport zum Tode.
2 1 . 7 Einteilung nach Organsystemen
273
21.6.2 Penetrierende und perforierende Thoraxtraumen Penetrierende und perforierende Verletzungen des Brustkorbs entstehen durch Stich, Schuß oder Pfählung. Massive Blutungen in den Pleuraraum, ins Mediastinum oder ins Perikard sind mit einer hohen Letalität belastet. Dann entscheidet allein der Zeitfaktor über das Schicksal des Verletzten, weil bei einer lebensbedrohlichen Blutung nur die sofortige Not-Thorakotomie den Verletzten retten kann. Symptome: Am Unfallort sind zeitraubende diagnostische und therapeutische Maßnahmen ebenso kontraindiziert wie eine externe Herzmassage. Inspektion, Auskultation und Perkussion reichen aus zur Erstdiagnostik. Äußerlich sichtbare Verletzungsstellen geben Hinweise auf mögliche intrathorakale Verletzungen. Bei zerviko-thorakalen Wunden muß mit Verletzungen der supraaortalen Aste, der Trachea und der Hauptbronchien gerechnet werden. Parasternale Wunden lassen Verletzungen des Herzens, der Hohlvenen und der Lungenhili befürchten. Latero-basale Wunden weisen auf Verletzungen des Zwerchfells, der Leber, der Milz, des Magens und des Darms hin. Bei Schußwunden ist die Schwere der intrathorakalen Verletzungen weitgehend abhängig von der Gestalt, der Masse und Geschwindigkeit des Projektils, von der Absorption seiner kinetischen Energie im Gewebe und seiner Ablenkung an Knochen. Ein- und Ausschuß allein sagen wenig über den Schußkanal. Therapie: Ziel der Sofortbehandlung ist die Blutstillung; Richtschnur der Erstmaßnahme ist deshalb der Kreislaufzustand. Bei stabilem Kreislauf reicht oft — wie bei den stumpfen Thoraxtraumen — die Drainage der verletzten Thoraxseite, bei respiratorischer Insuffizienz mit Intubationsbeatmung, aus. Intensivmedizinische Überwachung ist
selbstverständlich.
Falls sich aus der Drainage initial 1 5 0 0 ml Blut entleeren und stündlich etwa 2 0 0 ml nachlaufen, so ist die Thorakotomie mit Versorgung der Blutungsquelle indiziert. Besteht eine Luftfistel und/oder ein Mediastinalemphysem, wird bronchoskopiert; findet sich eine Bronchusverletzung, ist die Thorakotomie angezeigt. Bei instabilem Kreislauf infolge lebensbedrohlicher Blutung oder bei akutem Kreislaufstillstand erfolgt sofort - ohne jede Diagnostik - die linksseitige Notthorakotomie in Rückenlage des Verletzten von einem antero-lateralen Zugang aus.
2 1 . 7 Einteilung nach Organsystemen 21.7.1 Weichteile und Knochen Bei allen scharfen und stumpfen Thoraxtraumen kann es zu äußeren Verletzungen der Weichteile und des Skeletts des Thorax kommen mit und ohne Beteiligung der Thoraxorgane.
274
21 Brustkorbverletzungen
Symptome: Äußere Wunden mit entsprechenden Schmerzen ohne Eröffnung des Brustkorbs. Therapie: Chirurgische Wundbehandlung. 2 1 . 7 . 2 Isolierte Rippenfrakturen Thoraxtraumen führen sehr oft durch direkte oder indirekte Gewalteinwirkung zu Rippenfrakturen. Brüche der oberen Rippen setzen immer ein erhebliches Trauma voraus und sind oft mit Plexusschäden, Gefäßverletzungen oder Rupturen des Tracheobronchialbaumes kombiniert; Brüche der 3. bis 6. Rippe können mit einer Aortenruptur und Brüche der 11. und 12. Rippe mit Zwerchfell-, Milz-, Leber- und Nierenverletzungen kombiniert sein. Symptome: Lokaler Druckschmerz, Stufenbildung der Rippen, Schmerz bei Bewegung, Husten, Niesen, Lagewechsel sowie bei Thoraxkompression, Schonatmung. Therapie: Schmerzbekämpfung (medikamentös, interkostale paravertebrale Nervenblockaden, prolongierte epidurale Analgesie). Bei lungenwärts verlagerten Rippen, bei hohem Alter und kardiorespiratorischen Erkrankungen des Verletzten empfiehlt sich immer die stationäre Aufnahme. Im übrigen erfolgt die Behandlung der Begleitverletzungen.
21.7.3
Rippenserienfrakturen
Sind mehr als 3 Rippen gebrochen oder liegt ein Rippenstückbruch vor, kann der Thorax seine Stabilität verlieren (Abb. 21/1). Oft ist eine Kombination von Pneumo- und/oder Hämatothorax (Gefäß- und Lungenverletzung) vorhanden. Symptome: Schmerzen, eingeschränkte Respiration (ein- und doppelseitig), Dyspnoe, Zyanose, bei Instabilität Pendelbewegung des Thorax, paradoxe Atmung (Mediastinalflattern). Therapie: Intubation, bei Ateminsuffizienz Beatmung (stets primär Blutgasanalysen als Ausgangswert), Thoraxdrainage. Entscheidung über Thorakotomie und Stabilisierung der Rippen. Behandlung auf der Intensivstation. Die Therapie hat folgende Ziele: Schmerzausschaltung, Wiederherstellung einer ausreichenden Respiration, Brustwandstabilisierung. Nur bei Schmerzfreiheit ist eine intensive krankengymnastische Atemtherapie möglich. An Folgen wie Sekretverhaltung, Atelektase, Lungenkontusion, Pneumonie muß gedacht werden. Der Fixationsverband kann die Lungenatelektasebildung durch Verminderung der Ventilation fördern. Sofern keine respiratorische Insuffizienz vorliegt, kann eine konservative Therapie bei Periduralanästhesie durchgeführt werden.
21.7 Einteilung nach Organsystemen
275
Abb. 21/1 Instabiler Thorax. a) vorderer Typ; b) seitlicher Typ. Das durch Frakturen aus dem Verbund der Thoraxwand herausgelöste und freibewegliche Thoraxwandfragment verursacht einen paradoxen Atemtyp.
Bei Rippenserienfrakturen erfolgt die Frühstabilisierung des Thorax etwa am 3. posttraumatischen Tag vor Eintreten pulmonaler Komplikationen. Sie ist der langdauernden kontrollierten Beatmung („innere Schienung") überlegen. Sofern eine Thorakotomie erforderlich ist, wird im Zusammenhang mit dem Wundverschluß die Stabilisierung des Thorax durchgeführt. Sternumfrakturen können oft konservativ behandelt werden, wobei die Begleitkomplikationen das Vorgehen bestimmen.
21.7.4 Offener Thorax (Abb. 21/2) Offene Brustwandverletzungen entstehen durch penetrierende und stumpfe Traumen. Bei der Inspiration des Verletzten strömt die Luft durch die Wunde in den Thorax ein — das Mediastinum wird durch den Unterdruck im unverletzten Pleuraraum zur gesunden Seite gezogen, bei der Exspiration tritt die Luft durch die Wunde wieder aus — das Mediastinum pendelt zur verletzten Seite („Mediastinalflattern"). Die Lunge ist auf der verletzten Seite meist völlig kollabiert. Symptome: Luftein- und -austritt durch die Weichteilwunde („sucking wound"), Prolaps von Pleura- und Lungengewebe, Schock.
276
21 Brustkorbverletzungen
Therapie: • bei ausreichender Spontanatmung Transport mit keimfreier Abdeckung der Wunde; • bei Ateminsuffizienz Intubations- oder Maskenbeatmung, Wunde offenlassen, bereits angelegten Verband eventuell entfernen; • sofern beatmet und eine Thoraxdrainage angelegt wird, soll die nach außen offene Wunde luftdicht geschlossen werden.
a
b
Abb. 21/2 Offener Thorax. a) bei der Inspiration; b) bei der Exspiration. Der respiratorische Ausfall der kollabierten Lunge auf der verletzten Seite ist nach heutiger Auffassung bedrohlicher als das Mediastinalflattern.
2 1 . 7 . 5 Pneumothorax Zur Luftansammlung in der Pleurahöhle kommt es durch Verletzungen der Lunge, der Bronchien und der Trachea sowie iatrogen bei Punktion des Plexus brachialis oder der V. subclavia, als Folge einer externen Herzmassage sowie nach Pleurapunktionen oder Interkostalblockaden. Nicht selten ist der Pneumothorax mit einem Hämatothorax kombiniert. Symptome: Dyspnoe, Schmerzen, Beklemmung, zunehmende Luftnot, abgeschwächtes bis aufgehobenes Atmgeräusch, hypersonorer Klopfschall. Therapie: Punktion oder Drainage nach vorausgegangener Punktion. Wegen der Gefahr der Gefäßverletzungen nie parasternal, sondern medioklavikular bis axillar im 3. oder 4. ICR oberhalb der Mamille punktieren oder drainieren. Auch bei einem einfachen Pneumothorax lohnt sich oft die Thorakoskopie mit anschließender Bülaudrainage. Sie läßt nach Betrachtung der intrapleuralen Situation die Indikation zum operativen Eingreifen leicht und gefahrlos stellen. Dehnt
2 1 . 7 Einteilung nach Organsystemen
277
sich die drainierte Lunge nicht aus, ist eine Uberprüfung des Drainagesystems einschließlich Röntgenkontrolle erforderlich, von der weitere Maßnahmen, eventuell eine Thorakotomie, abhängig sind. 21.7.5.1
Thoraxdrainage
Indikationen zur Thoraxdrainage Am Unfallort: • klinisch verdächtiger oder gesicherter Spannungspneumothorax • Pneumothorax bei Beatmungserfordernis • prophylaktisch bei Rippenserienfrakturen mit Beatmungserfordernis In der Klinik: • Pneumothorax/Spannungspneumothorax • Hämatothorax • bei Thorakotomie Technik: 1. Monaldi-Drainage im 2. Interkostalraum (ICR) in der Medioklavikularlinie zur Drainage eines Pneumothorax. Falls erforderlich, Infiltrationsanästhesie etwa 3 Querfinger unterhalb des 2. I C R beginnend schräg nach oben auf den 2. I C R zu, um einen möglichst langen subkutanen Tunnel bilden zu können. Quere Hautinzision von 2 bis 3 cm Länge in Höhe der Einstichstelle der Lokalanästhesie. Präparation des Tunnels durch Spreizen mit Schere, stumpfer Klemme oder Finger nach kranial, möglichst mit Eröffnung der Pleura. Vorschieben des Drains (Ch 3 0 oder 32) mit Führungsspieß schräg nach oben. Aufstellen bei Erreichen der Mitte des 2. I C R und Einbringen in den Pleuraraum mit verhaltenem Druck am Oberrand der Rippe. Die Spitze des Führungsstabs wird nach Durchdringen der Thoraxwand zurückgezogen, um Verletzungen zu vermeiden. Der Stab dient dazu, den Drain nach kranial und latero-dorsal zu dirigieren. Befestigen des Schlauches mittels Hautnaht. Bei korrekter Lage beschlägt nach Entfernen des Führungsspießes die Innenseite des Drains, oder/und es steigt Blut auf. Ableitung über Heimlich-Ventil (bei Spontanatmung unbedingt erforderlich) oder über geeignetes Sogsystem mit Sog von 2 5 cm Wassersäule, Röntgenkontrolle (Lage der Drainage, Lungenausdehnung). Die Monaldi-Drainage eignet sich als präklinische Maßnahme, solange Röntgenaufnahmen noch nicht vorliegen. 2. Bülau-Drainage im 4. oder 5. I C R (Mamillenhöhe) der mittleren oder vorderen Axillarlinie zur Drainage eines Pneumo-Hämatothorax. In Rückenlage mit hochgeschlagenem Arm lokale Anästhesie 2 Querfinger unterhalb des 5. I C R beginnend, auf die Mitte des 4./5. I C R zu. Bilden des subkutanen Tunnels, Einlegen und Befestigen der Drainage in gleicher Technik wie bei der Monaldi-Drainage. An Sogsystem anschließen. Röntgenkontrolle.
278
21 Brustkorb Verletzungen
3. Modifikation der Bülau-Drainage mit Stichrichtung von kranial nach kaudal zur selektiven Ableitung kaudaler Luft- oder Flüssigkeitsansammlungen. Komplikationen: • Blutung durch Verletzung der Interkostalgefäße am Unterrand der Rippe; • Abgleiten an der Rippenrundung mit Fehllage im Achselhöhlenfett (Bülau) oder subkutan (Monaldi) oder in der Muskelschicht, manchmal Drainageöffnung außerhalb des Thorax; • Verletzungen des Lungenparenchyms bei falscher Indikationsstellung und bei zu forcierter Penetration der Thoraxwand; • Verletzungen von Zwerchfell, Leber, Milz, Magen bei zu tiefer Drainage oder bei Eventeration von abdominellen Organen in den Brustkorb; • Verstopfung des Drainageschlauchs, besonders häufig bei Verwendung von zu dünnen Kathetern; • Herz-Rhythmusstörungen bei Kontakt des Drains mit Herz oder Gefäßen; • undichtes Drainagesystem; • falsche, zu kleinlumige Verbindungsstücke zwischen Drainageschlauch und Ableitungssystem; • zu starker Sog. 2 1 . 7 . 6 Spannungspneumothorax (Abb. 2 1 / 3 ) Bei Brustwandöffnungen, bei Lungen- oder Bronchusläsionen kann es durch Ventilwirkung zur Luftansammlung im Pleuraraum mit zunehmendem positiven Druck
Abb. 21/3 Spannungspneumothorax. Die mit der Inspiration einströmende, bei der Exspiration infolge Ventilmechanismus nicht wieder ausströmende Luft führt auf der verletzten Seite zu einem Lungenkollaps, zu einem Druckanstieg im Pleuraraum und zu einer akut lebensbedrohlichen Verdrängung des Mittelfells zur gesunden Seite mit oberer Einflußstauung.
21.7 Einteilung nach Organsystemen
279
kommen. Jeder traumatische Pneumothorax kann spontan wie auch insbesondere bei Beatmung des Verletzten (Unfallort, Narkose, Langzeitbeatmung) in einen Spannungspneumothorax übergehen. Die betroffene Lunge kollabiert, das Mediastinum wird zur gesunden Seite hin verlagert, die gesunde Lunge wird komprimiert. Der Spannungspneumothorax bedeutet perakute Lebensgefahr! Symptome: Rasch, innerhalb weniger Minuten zunehmende Dyspnoe, Zyanose, eingeschränkte Atembeweglichkeit der betroffenen Thoraxseite, hypersonorer Klopfschall, aufgehobenes Atemgeräusch, Hervortreten der Interkostalräume, obere Einflußstauung, Schocksymptomatik, Blutdruckabfall, Herzstillstand. Therapie: Sofortige Druckentlastung (wenn nötig noch am Unfallort) durch Punktion im 3. ICR in der Medioklavikularinie mit dicker Kanüle, anschließend Drainage. Nach Druckentlastung kann eine respiratorische Insuffizienz durch Intubation und Beatmung therapiert werden. In der Klinik entscheidet die weitergehende Diagnostik über die Notwendigkeit einer Thorakotomie. Beim Spannungspneumothorax, bei Trachea- und Bronchusrupturen kommt es nicht selten zum Luftaustritt und damit zu einem Weichteilemphysem, das in Ausnahmefällen bei sehr starker Ausprägung durch Punktion der Subkutis mit dicken Nadeln beherrscht werden kann. Bedrohlicher ist das Mediastinalemphysem, das als Notmaßnahme eine kollare Mediastinotomie erfordert und in aller Regel auch eine operative Versorgung der Verletzung am Tracheo-Bronchialsystem notwendig macht.
21.7.7 Tracheobronchialverletzungen Penetrierende und perforierende, aber auch stumpfe Thoraxtraumen können — vor allem beim Polytrauma — zu Verletzungen der Trachea und der Bronchien führen. Hiervon sind besonders jüngere Menschen betroffen. Symptome: Können fehlen. Ansonsten Pneumohämatothorax, der trotz gut sitzender Drainage nicht zur Ausdehnung der Lunge führt. Hämoptoe, Mediastinalemphysem, nicht behebbare Atelektase eines Teiles oder einer ganzen Lunge. Die Bronchoskopie sichert die Diagnose. Therapie: Anlegen einer Thoraxdrainage und Intubationsbeatmung. Ein bronchoskopisch gesicherter Ein- oder Abriß der Trachea oder des Bronchus ist eine absolute Operationsindikation (Resektion und End-zu-End-Anastomose). Übersehene Läsionen können zu Stenosen, Atelektasen, Bronchiektasen oder Abszessen führen.
21.7.8 Hämatothorax Rippenbrüche, Verletzungen der Brustwand, der Lunge oder intrathorakaler Gefäße führen zur Ansammlung von Blut im Pleuraraum. Auch Frakturen der Brust-
280
21
Brustkorbverletzungen
Wirbelsäule können einen Hämatothorax verursachen. Je nach Ausmaß der Blutung kommt es zum Volumenmangelschock, zur Kompression der Lunge und zur Mediastinalverdrängung. Differentialdiagnostisch muß unmittelbar nach dem Trauma an Zwerchfellrupturen, vorbestehende entzündliche eitrige oder maligne Pleuraergüsse und Lungenatelektasen gedacht werden. Einige Tage nach dem Trauma kann es zum Chylo- oder Cholothorax sowie zum Pleuraempyem kommen. Meist wird die Diagnose erst durch eine Punktion und Drainage verifiziert. Im Röntgenbild findet sich bei Ansammlung von mehr als 2 0 0 ml Blut eine Trübung bis Verschattung der betroffenen Thoraxseite; Röntgenaufnahmen möglichst am sitzenden Patienten und in 2 Ebenen anfertigen. Therapie: Eine Blutansammlung nur im Sinus phrenicocostalis wird unter ständiger Verlaufskontrolle abwartend behandelt. Bei stärkerem Hämatothorax erfolgt die Schockbehandlung durch Volumenersatz sowie die Probepunktion mit anschließender Drainage. Durch die Drainage soll der Pleuraraum möglichst vollständig entleert werden, um einer Gerinnung und Fibrosierung vorzubeugen; es soll die komprimierte Lunge entlastet und eine Kontrolle über den weiteren Blutverlust ermöglicht werden. Der Thoraxdrain wird lateral in der mittleren Axillarlinie nach dorsal eingeführt, an die Drainage wird ein Sog von 25—30 cm Wassersäule angeschlossen. Kann ein Schockzustand bei intrathorakaler Blutung trotz Drainage und Volumensubstitution nicht beherrscht werden, ist die Indikation zur Thorakotomie sofort gegeben, da intrathorakale Verletzungen die Blutungen unterhalten. Beachte: Notfallthorakotomie ist indiziert, wenn nach Drainage initial mehr als 1 0 0 0 - 2 0 0 0 ml Blut sich entleeren und die Blutung fortbesteht ( 2 0 0 - 3 0 0 ml Blut/h).
21.7.9
Lungenatelektasen
Durch Kompression der Lunge (Hämatopneumothorax), Obturation der Atemwege (Aspiration, Bronchusabriß), zahlreiche Parenchymfisteln mit Blutungen, durch Hypoventilation (Schmerzen, Fixationsverbände) mit erschwerter Expektoration kommt es zu einer Atelektase mit Minderbelüftung des betroffenen Lungenabschnitts; Zwerchfellhochstand und Mediastinalverlagerung zur verschatteten Seite hin sind typische Zeichen. Therapie: Jede röntgenologisch nachgewiesene Atelektasenbildung erfordert eine gezielte Behandlung, auch dann, wenn der Verletzte subjektiv beschwerdefrei ist und die Blutgasanalyse zunächst normale Werte zeigt. Erforderlich sind physikalische Maßnahmen zum Freimachen der oberen Atemwege (Seitenlage, Klopf- und Vibrationsmassage), endotracheale Absaugung oder gezielte bronchoskopische Absaugung (Lavage zur bakteriologischen und zytologischen Untersuchung), Befeuch-
2 1 . 7 Einteilung nach Organsystemen
281
ten der Atemluft, Inhalationen, Atemgymnastik, Ballonaufblasen, Totraumvergrößerung, Mukolytika, eventuell Intubation und Beatmung mit PEEP.
21.7.10 Lungenverletzungen Lungenparenchymverletzungen entstehen durch direkte oder indirekte Thoraxtraumen. Symptome: Dyspnoe, Blutung, Schock, Pneumohämatothorax Therapie: Je nach Schweregrad Thorakotomie und operative Versorgung der Verletzung schonend und ohne zusätzliche Traumatisierung und mit Erhaltung von möglichst viel Lungengewebe.
21.7.11 Lungenkontusion Am Ort der Gewalteinwirkung oder auch kontralateral kommt es zu diffusen oder herdförmigen Blutaustritten ins Lungenparenchym mit schnellfolgender ödematöser Durchtränkung des Gewebes und Kontusionspneumonie. Symptome: Wechselhaft und von Begleitkomplikationen wie Schock, Herz- und Niereninsuffizienz, Fettembolie, Mikroembolie, arterieller Luftembolie, Instabilität des Thorax bestimmt. Therapie: Knappe Flüssigkeitsbilanzierung und Behandlung der Begleitverletzungen, Antibiotika, evtl. PEEP-Beatmung.
21.7.12 Offene Herzverletzung Penetrierende oder perforierende Verletzung des Herzens sind aufgrund des Unfallmechanismus meist leicht zu erkennen. Therapie: Sofortige chirurgische Intervention. Posttraumatische Perikarditiden mit und ohne Ergußbildung können Tage bis Monate nach dem Unfall auftreten. Als Spätfolgen sind Herzwandaneurysmen und arteriovenöse Koronarfisteln bekannt.
21.7.13 Herztamponade (Hämoperikard) Penetrierende Herzverletzungen wie auch stumpfe Traumen mit Herzwandrupturen, Verletzungen der Koronarien oder Blutungen aus dem Perikard führen zu Blutungen in den Herzbeutel, wobei schon 150-200 ml Blut genügen, um die Ventrikeldilatation in der Diastole zu behindern. Das Schlagvolumen sinkt und der Venendruck steigt an.
282
21 Brustkorbverletzungen
Symptome: Zunehmende Einflußstauung durch hohen Venendruck, arterielle Hypotonie mit kleiner werdender Amplitude, abgeschwächte Herzgeräusche (klassische Trias), EKG und Röntgenbild sind bei der traumatischen Herztamponade unzuverlässig und damit entbehrlich. Bei hinreichendem Verdacht kann die Probepunktion die Diagnose erhärten; bei vorhandener Tamponade ist sie einerseits lebensrettend, bei nicht vorhandener Tamponade ist sie unbedenklich durchführbar. Therapie: Sofortige Perikardpunktion. Schocktherapie durch Volumenzufuhr. Zur Definitivversorgung ist in aller Regel eine Thorakotomie erforderlich, wobei neben der Versorgung traumatischer Schäden eine Perikardiotomie durchgeführt wird. 21.7.14
Herzkontusion
Eine stumpfe Herzverletzung ohne Ruptur des Herzens oder Verletzung intrakardialer Strukturen bezeichnet man als Contusio cordis. Symptome: Atemunabhängige präkordiale Schmerzen, Rhythmusstörungen (im EKG keine kontusionstypischen Veränderungen), Herzinsuffizienzerscheinungen bis zum Herzversagen. Im weiteren Verlauf kann es zu einem Perikarderguß oder zu Spätrupturen im Bereich des Kontusionsherdes kommen. 21.7.15
Gefäßverletzungen
Patienten mit Rupturen der Aorta und der großen Gefäße erreichen in einem hohen Prozentsatz kaum lebend das Krankenhaus. Manchmal werden Verletzungen des Truncus brachio-cephalicus sowie der linken A. subclavia oder der A. mammaria interna erst bei einer Thorakotomie als Blutungsursache erkannt. Selten imponieren solche Verletzungsfolgen nach Jahren als intrathorakale Tumoren. Bei protrahiert verlaufendem Blutungsschock bringt erst die Operation die diagnostische Klärung. In Einzelfällen gelingt noch eine röntgenologische Diagnostik. Wichtige Symptome der Verletzung großer mediastinaler Gefäße sind die Verbreiterung des Mediastinalschattens, die Blutungszeichen und die Pulsdifferenz zwischen oberen und unteren Extremitäten bzw. zwischen rechts und links. Röntgenologisch findet sich eine Mediastinalverbreiterung, eine abnorme Kontur der Aorta sowie eine Verlagerung von Trachea und Ösophagus. Die Verbreiterung des Mediastinalschattens kann verursacht sein durch • Hämatome bei Fraktur des Sternums, der Rippen, der Wirbelsäule; • arterielle Blutung bei Verletzung der A. mammaria interna, interkostaler Arterien, Abriß der großen Gefäße, Ruptur der Aorta; • venöse Blutung bei Verletzung der großen thorakalen und mediastinalen Venen. Differentialdiagnostik ist an vor dem Unfall bestehende Tumoren, Systemerkrankungen, Aneurysmen und ähnliches zu denken.
21.7 Einteilung nach Organsystemen
283
21.7.16 Ösophagusverletzungen Ösophagusverletzungen entstehen durch stumpfe und perforierende Traumen, durch Verschlucken und Steckenbleiben von Fremdkörpern, die zur Verlegung, zu Drucknekrosen und zur Perforation führen können, durch Verätzungen mit Laugen und Säuren, durch postemetische Rupturen (Boerhaave-Syndrom) wie auch iatrogen. Bei größeren Verletzungen muß die operative Versorgung innerhalb von längstens 6 Stunden erfolgen; bei verzögerter Operation erhöht sich die Gefahr von Komplikationen und steigt die Letalität bis auf 50%. Symptome: Schmerzen hinter dem Sternum, Fieber als Zeichen der Mediastinitis, Leukozytose, Luft im Mediastinum (Röntgenaufnahme). Diagnostik: Notfall-Osophago-Gastroskopie, Röntgenkontrastmittel-Schluck. Therapie: Bei kleinen intraluminalen Läsionen ohne Perforation konservative Behandlung (Ösophagus-Saugdrainage, parenterale Ernährung, Antibiotika). Perforierende Verletzungen erfordern den alsbaldigen Verschluß des Defektes mit Spülung, Drainage und Applikation von Antibiotika. Ein Pleuraempyem wird drainiert. Bei ausgedehnten Verletzungen und bei Mediastinitis evtl. Ösophagektomie mit kollarer Fistel und Gastrotomie sowie sekundärer Wiederherstellung der Passage. 21.7.17 Chylothorax Bei stumpfen und penetrierenden Verletzungen des Brustkorbs wie auch durch intraoperative Maßnahmen kann es durch eine Verletzung des D. thoracicus zu einem Chylothorax kommen, der meist verspätet in der ersten oder zweiten Woche nach dem Trauma auftritt und meist durch die Punktion diagnostiziert wird (milchig-weiße bis kakaofarbene Flüssigkeit). Therapie: Punktion und Drainage. Die Ligatur des D. thoracicus ist selten erforderlich. 21.7.18 Cholothorax Bei penetrierenden Verletzungen des rechten unteren Thorax mit Eröffnung der Leber und des Zwerchfells kann es zur Ansammlung von Galle in der Pleurahöhle kommen. Symptome: Hochgedrängtes Zwerchfell, stärkere Pleurareaktionen (gallige Pleuritis). Therapie: Drainage und Operation. 21.7.19 Zwerchfellruptur s. Abschn. 22.5.5.1
284
21 Brustkorbverletzungen
21.7.20 Iatrogene Verletzungen Bei diagnostischen und therapeutischen Eingriffen kann der Arzt unbeabsichtigt Verletzungen im Bereich des Thorax verursachen. Bei Pleurapunktionen und Drainagen, Anlegen von zentralen Venenkathetern, Lokal- und Blockade-Anästhesien sind Verletzungen der Lunge, der Gefäße, des Herzens, der Leber, der Milz, des Magens usw. möglich. Pneumothorax oder Blutungen müssen entsprechend ihrer Symptomatik behandelt werden, Perforationen von Trachea, Bronchien, Ösopagus bei der Endoskopie, bei Anlegen von Magensonden, Gastroskopien oder Extraktionen von Fremdkörpern erfordern eine operative Behandlung. Da fast alle diese Verletzungen unter klinischen Bedingungen entstehen, sind sie, wenn daran gedacht wird, schnell zu diagnostizieren und zu therapieren.
21.7.21 Verletzungsmöglichkeiten bei der stumpfen Brustkorbverletzung (Abb. 21/4) Aspiration von Blut u. Schleim Lungenkontusion Ödem
Verlegung der Atemwege durch Verletzung oder Spasmus Pneumothorax
Rippenbruch Hämatom im Mediastinum Schleimpfropf
Blutige Sekretion
Lungenkollaps Hautemphysem Bru stwandf lattern
Embolus
Hämatothorax Hämatoperikard
Bronchopneumonie Hämatoperitoneum Milzruptur Leberruptur
Nierenblutung
Abb. 21/4 Verletzungsmöglichkeiten beim stumpfen Thoraxtrauma.
Nierenruptur
21.7 Einteilung nach Organsystemen
285
21.7.22 Operationsindikation beim Thoraxtrauma 90% der Brustkorbverletzungen werden konservativ versorgt, etwa 10% erfordern eine sofortige oder frühzeitige Operation. Indikationen zur dringlichen Thorakotomie: • • • • • • •
massiv anhaltende Blutung (s. Abschn. 21.6.2 und 21.7.8) offener Thorax, ausgedehnte Brustwandzerstörung (s. Abschn. 21.7.4) Tracheobronchialverletzung (s. Abschn. 21.7.7) Herzverletzungen, Herztamponade (s. Abschn. 21.7.12 und Abschn. 21.7.13) Gefäßverletzungen (s. Abschn. 21.7.15) Ösophagusverletzungen (s. Abschn. 21.7.16) Zwerchfellrupturen (s. Abschn. 22.5.5.1)
Weiterführende Literatur Glinz, W.: Thoraxverletzungen: Diagnose, Beurteilung und Behandlung. Springer, berg-New York 1979 Grewe, E., V. Berndt: Thoraxchirurgie im Allgemeinkrankenhaus. Enke, Stuttgart Lawin, P., M . Wendt: Das Thoraxtrauma. Bibliomed, Melsungen 1982 Schildberg, F. W., F. Speisberg, W. Vogel: Die Verletzungen des Brustkorbs. In: Gegenwart (Hrsg. R.Zenker, F.Deucher, W.Schink), B d . 4 , Beitrag 29. Urban berg, München—Wien-Baltimore 1979
Berlin-Heidel1980 Chirurgie der Sc Schwarzen-
22 Bauchverletzungen G. H. Engelhardt
22.1 Einteilung und Ursachen Isolierte oder kombinierte Bauchverletzungen bieten nicht selten diagnostische und therapeutische Schwierigkeiten, weil es sich bei ihnen sowohl um Verletzungen parenchymatöser Organe als auch von Hohlorganen oder Gefäßen handeln kann. Vor allem bei Mehrfachverletzungen (s. Abschn. 14) muß gezielt nach intraabdominellen Läsionen gefahndet werden; auch wenn Verletzungen des Schädels, des T h o r a x oder der Extremitäten im Vordergrund stehen. Die auf den Bauchraum einwirkende Kraft führt zu Quetschungen, Rupturen und Abrissen, wenn die Verformbarkeit und Verschieblichkeit der Organe durch diese Kraft überschritten werden. So kann praktisch jeder auf den Bauch einwirkende Unfallmechanismus zu perforierenden oder stumpfen Bauchverletzungen führen. Stumpfe Verletzungen sind in Friedenszeiten weitaus häufiger als perforierende. M ä n n e r sind von Bauchverletzungen häufiger betroffen als Frauen. Bei stumpfen Bauchtraumen sind die parenchymatösen Oberbauchorgane Milz, Leber und Pankreas am häufigsten beteiligt (Tab. 2 2 / 1 ) .
22.2 Prognose und Letalität N a c h globalen Angaben im Schrifttum liegt die Letalität stumpfer Bauchtraumen mit inneren Verletzungen zwischen 2 0 % und 6 0 % . Prognose und Letalität stumpfer Bauchtraumen werden von mehreren Faktoren beeinflußt: • Art und Anzahl der verletzten Bauchorgane; • Lebensalter; • gleichzeitige Mitverletzungen/Polytrauma; • präklinische Allgemein Versorgung; • rasche Diagnostik und Operationsindikation; • Operationszeitpunkt; • Wirksamkeit der Behandlung. Die Prognose stumpfer Bauchverletzungen ist wegen der größeren diagnostischen Schwierigkeiten deutlich schlechter als die der penetrierenden Verletzungen.
2 2 . 3 Bauchwandverletzungen Tabelle 2 2 / 1
2 4 2 Patienten mit Bauchverletzungen,
1963—1977
(2. Chirurgischer
287 Lehrstuhl
Köln-Merheim der Universität zu Köln) Gesamt
242
(100,0%)
18
penetrierende Verletzungen stumpfe Verletzungen
224
( 7,5%) ( 92,5%)
stumpfe Verletzungen
224
(100,0%)
Bauchdeckenverletzungen
142
( 63,4%)
82
( 36,6%)
Organverletzungen 1 2 2 Organverpflanzungen bei 8 2 Patienten: Milz
33
Duodenum
2
Niere
21
Mesocolon
2
Leber
18
Gefäße
2
Zwerchfell
12
gravider Uterus
Dünndarm
7
Harnblase
5
(Mens VIII-1X) Ovar (Zyste)
1 1
Mesenterium
5
Lig. gastrolienale
1
Pankreas
4
Blutung unbekannter
1
Kolon/Rektum
4
Netz
3
Lokalisation
22.3 Bauchwandverletzungen Alleinige Verletzungen der Bauchwand sind häufiger als intraabdominelle Schäden, dennoch darf eine „harmlose" Bauchwandverletzung erst nach sicherem Ausschluß von Läsionen der Bauchhöhle angenommen werden. Im eigenen Krankengut hatten über 6 3 % der Patienten mit stumpfen Bauchtraumen nur die Bauchwand verletzt (Tab. 22/1). Häufig finden sich an der Bauchhaut Prellmarken und Hämatome, gelegentlich werden Einrisse der Faszien, der Muskulatur oder des Peritoneum beobachtet. Selten sind die echten traumatischen Bauchwandhernien ohne Verletzung des Bauchfells, bei denen Faszie und Muskulatur zerreißen, die Haut aber intakt bleibt. Der Darm kann dann durch diese Lücken treten und die Haut verwölben. Verwachsungen mit späteren Inkarzerationszeichen sind möglich. Sofern nicht eine Indikation zur sofortigen Laparotomie besteht, sollten diese Lücken bald nach Abklingen der akuten Symptome und Abheilen eventueller Hautabschürfungen operativ verschlossen werden. Je ausgedehnter die äußerlich erkennbaren Verletzungszeichen, um so größer der Verdacht auf intraabdominelle Läsionen! Neben dem Spontanschmerz ergibt die Palpationsuntersuchung eine umschriebene Druckschmerzhaftigkeit mit leichter Abwehrspannung, wobei der Oberbauch ein-
288
2 2 Bauchverletzungen
deutig häufiger betroffen ist. Die Prognose einer isolierten Bauchwandprellung ohne intraabdominelle Mitverletzungen ist fast immer günstig. Darum darf die Therapie abwartend-konservativ, aber nur stationär durchgeführt werden. Die laufende Überprüfung des Lokalbefundes, des Kreislaufs (Puls, Blutdruck, Z V D , Urinausscheidung) und der klinisch-chemischen Laborwerte (Hb, Hkt, Ery) ist unverzichtbar, wenn intraabdominelle Verletzungen nicht übersehen werden sollen. Hierbei ist auch die Abdominalsonographie unentbehrlich geworden. Im Zweifelsfalle wird eine Peritoneal-Lavage vorgenommen.
22.4 Penetrierende Bauch Verletzungen Bei einer penetrierenden Verletzung ist die Bauchwand perforiert und das Peritoneum eröffnet. Durch Eindringen spitzer oder stumpfer Gegenstände in die Bauchhöhle, vor allem durch Schuß-, Hieb- oder Stichverletzungen, kann es zu einem offenen Abdominaltrauma kommen. Die Feststellung einer penetrierenden Bauchverletzung ist im allgemeinen aufgrund der äußerlich erkennbaren Verletzungszeichen einfach, die Qualitätsdiagnose der inneren Läsionen dagegen um so schwieriger. Stich- und Schußverletzungen des Thorax können zugleich abdominelle Verletzungen setzen (s. Abschn. 21.6.2). Die stets anzufertigenden Röntgenübersichtsaufnahmen des Abdomen und des Thorax — gewöhnlich in zwei Ebenen — lassen eingedrungene Fremdkörper (Projektile) erkennen und lokalisieren. Die Röntgenkontrastdarstellung des Wundkanals (Sinographie) zum Nachweis einer Penetration ist überflüssig; Patienten im Schock oder mit peritonealen Reizerscheinungen müssen laparotomiert werden, ansonsten wird die Wunde exzidiert und bis zum Peritoneum exploriert. Bei Schuß- und manchmal auch bei Stichverletzungen verläuft der Wundkanal nicht geradlinig, sondern in unerwartet bogenförmiger Richtung, manchmal sogar extraperitoneal. Bei jeder offenen Bauchverletzung muß die sofortige Laparotomie vorgenommen werden; unaufschiebbar ist sie bei nachweislicher Schocksymptomatik. Die abwartende Beobachtung des Verletzten bis zum Auftreten peritonealer Zeichen oder eine zeitraubende Verlegung in eine Spezialabteilung ist wegen der sich durch Zuwarten rapide verschlechternden Prognose falsch. Die operative Eröffnung der Bauchhöhle erfolgt von einem typischen Median-, Paramedian- oder Querschnitt, weil nur so die stets erforderliche gründliche Revision aller Bauchorgane möglich ist. Der Stich- oder Schußkanal wird gesondert exzidiert oder je nach Lage im Verlauf des Laparotomieschnitts umschnitten. Eingedrungene Fremdkörper werden entfernt; Organverletzungen werden wie bei einem stumpfen Bauchtrauma versorgt. Schuß- und Stichverletzungen des Magen-
22.5 Stumpfe Bauchverletzungen
289
Darm-Kanals eröffnen meist mehrere Anteile desselben, wobei auch nach retroperitonealen Verletzungen des Kolon gesucht werden muß. Bei Dickdarmverletzungen empfiehlt sich zum Schutz der Übernähungs- oder Resektionsstelle (Nahtinsuffizienz) das Anlegen einer Zökalfistel oder eines temporären Anus praeter naturalis. Abschließend wird die Bauchhöhle gründlich gespült und ausreichend drainiert.
22.5 Stumpfe Bauchverletzungen Beim stumpfen Bauchtrauma besteht keine offene Wunde zwischen Bauchdecken und Bauchhöhle, wenngleich sich nicht selten äußere Verletzungszeichen wie Schürfungen, Prellmarken oder Hämatome finden. Die isolierte stumpfe Verletzung entsteht bei direkter, meist umschriebener Gewalteinwirkung durch Stoß oder Schlag (Sicherheitsgurt, Hufschlag usw.). Die kombinierten stumpfen Verletzungen finden sich zunehmend bei den immer häufigeren Mehrfachverletzungen nach Verkehrsunfall, aber auch nach Sturz aus größerer Höhe, bei Überfahrenwerden, nach Verschüttungen, Einklemmen oder Explosionen (auch unter Wasser).
22.5.1 Sofortmaßnahmen Das stumpfe Bauchtrauma ist immer eine ernst zu nehmende Verletzung, die nicht selten erst nach einem freien Intervall manifest wird oder die oft unmittelbar lebensbedrohlich ist. Diagnose und Therapie dieser Verletzungen dulden keinen Aufschub, sondern haben möglichst noch am Unfallort, gewiß aber unmittelbar nach der Krankenhausaufnahme zu erfolgen. Nach Prüfung der Vitalfunktionen von Atmung — Bewußtsein — Circulation und deren Elementartherapie (s. Abschn. 3) gilt die Aufmerksamkeit den Bauchraumverletzungen, die ihrerseits bei einer intraabdominellen Blutung zu Störungen lebenswichtiger Funktionen (traumatisch-hypovolämischer Schock, Kreislaufstillstand) führen können. Zur kompletten Untersuchung ist der Verletzte komplett zu entkleiden — rückwärtige Partien und Dammregion nicht vergessen.
22.5.2 Erstuntersuchung • Unfallhergang feststellen (Hinweise auf mögliche Verletzungen); • Primärschmerz lokalisieren (Hinweis auf Organverletzung); • Inspektion von Thorax und Abdomen (auch Rückenpartien, Becken und Gesäß) auf äußere Verletzungszeichen, Blut aus Harnröhre;
290
• • • • • • • • • • •
22 Bauchverletzungen
Palpation (Abwehrspannung, Druckschmerz, Resistenzen); Perkussion (Flankendämpfung); Auskultation (fehlende Peristaltik verdächtig auf Darmperforation); Rektale Untersuchung (Schmerz und Vorwölbung des Douglasschen Raumes, Blut am Finger, Dislokation der Prostata); Bauchumfang über dem Nabel messen (Meßstelle, Uhrzeit und Meßwert für eventuelle Kontrollmessungen auf der Bauchhaut markieren); Saegessersches Zeichen (N. phrenicus links d r u c k d o l e n t M i l z b e t e i l i g u n g ) ; Kehrsches Zeichen (N. phrenicus rechts druckdolent —» Leberverletzung); Blutiges Erbrechen (Magen- oder Duodenalruptur); Untersuchung auf Begleitverletzungen; Blasenkatheter einlegen (blutiger Urin); Abnahme von venösem Blut zur Bestimmung von Blutgruppe, Kreuzprobe (primär min. 4 Konserven), Hb, Hkt, Leukozyten, Amylase, Transaminasen. Das Messen von Blutdruck und Puls sollte bereits vor dieser Erstuntersuchung im Rahmen der Prüfung vitaler Funktionen erfolgen.
22.5.3 Erstversorgung Bereits am Unfallort wird der Unfallverletzte horizontal flach mit erhöhtem Kopf und mit einer Knierolle (zur Entlastung der Bauchdecken) gelagert, sofern keine anderen Lagerungsnotwendigkeiten bestehen. Ein Volumenmangelschock erfordert die Schocklagerung. Stets sollte ein intravenöser Zugang — zunächst peripher, dann zentral — geschaffen und eine Volumensubstitution — auch prophylaktisch — mit Blutersatzmitteln eingeleitet werden. Bei eindeutigem Verdacht auf eine massive intraabdominelle Blutung (manifester Schock trotz ausreichender Volumenzufuhr, Abwehrspannung, rasche Zunahme des Bauchumfanges; eventuell kann eine große Blutansammlung bläulich durch die Bauchdecken schimmern, besonders bei Nabelbruch), ist der Verletzte • abweichend von den sonst gültigen Regeln eines schonenden Transportes • so schnell wie möglich mit gut liegender Infusion und in Begleitung eines Arztes ins nächste Krankenhaus zu bringen (Voranmeldung!). Ergibt die Erstuntersuchung aufgrund des Unfallhergangs, der Schocksymptomatik, der klinischen Untersuchung und der Zunahme des Bauchumfanges den dringenden Verdacht auf eine intraabdominelle Verletzung, so muß die sofortige Laparotomie durchgeführt werden, nachdem zuvor für eine ausreichende Kreislaufauffüllung (eventuell Blutkonserven) gesorgt worden ist. Gelegentlich muß selbst im Schock
2 2 . 5 Stumpfe Bauchverletzungen
291
laparotomiert werden, weil ohne operative Stillung einer massiven Blutung keine Kreislaufbesserung zu erzielen ist. Bei zwei Dritteln unserer stumpfen Bauchtraumen ließ sich die Indikation zur Laparotomie allein aufgrund der klinischen Symptomatik stellen. Bei einem weniger dramatischen Verlauf werden zunächst weitere diagnostische Maßnahmen zur Abklärung der Verletzungen und Wahl der Therapie angeschlossen. Bis zum endgültigen Ausschluß einer intraabdominellen Verletzung bleibt der Patient nüchtern.
22.5.4 Diagnostische Maßnahmen im Anschluß und zur Ergänzung an die Erstuntersuchung: • Abdominal-Sonographie; • Peritoneal-Lavage; • Röntgenuntersuchungen Thorax-Ubersicht a. p. und seitlich, Abdomenübersicht im Stehen oder liegend in Links-Seitenlage, Gastrografinschluck, LWS in 2 Ebenen, Beckenübersicht; • abdominelle Angiographie. Kontrolle der unter „Erstuntersuchung" genannten Maßnahmen in regelmäßigen, zeitlich entsprechenden Abständen. Alle aufgezählten diagnostischen Maßnahmen dienen dem Ziel, die OperationsIndikation so früh wie möglich zu stellen, damit sich die Prognose des Verletzten nicht unnütz verschlechtert. Ergibt die klinische Untersuchung keine eindeutige Operationsindikation, so steht vor allen anderen Untersuchungsmethoden die Abdominalsonographie an erster Stelle. Sie ist auch am Schwerverletzten ohne Belastung durchführbar und notfalls wiederholbar. Mit ihrer Hilfe lassen sich Hämatome lokalisieren, Verlagerungen und Zerreißungen von parenchymatösen Organen, retroperitoneale Blutungen sowie Verletzungen des Urogenitalsystems nachweisen. Der sonographische Nachweis einer intraabdominellen Flüssigkeitsansammlung kann selbstverständlich nur vor einer Peritoneal-Lavage erbracht werden, weshalb bei entsprechenden apparativen und personellen Voraussetzungen die Sonographie zuerst gemacht werden muß. Dies ist besonders zu beachten, wenn die klinischen Zeichen zwar verdächtig, jedoch nicht eindeutig sind. Besondere Aufmerksamkeit erfordern Patienten, die bewußtlos, verwirrt, betrunken oder querschnittsgelähmt sind.
292
2 2 Bauchverletzungen
Sofern die Sonographie nicht sofort zur Verfügung steht, darf auf die PeritonealLavage nicht verzichtet werden. Sie ist einfach durchführbar, arm an Komplikationen und dennoch außerordentlich aussagefähig. Nach vorheriger Entleerung der Harnblase wird bei Rückenlage des Patienten unter sterilen Kautelen in Lokalanästhesie (mit Adrenalinzusatz) etwa 3 cm unterhalb des Nabels durch eine Stichinzision ein Stilettkatheter mit seinem perforierten Anteil vollständig, d. h. bis zur Knopfmarkierung, in die Bauchhöhle eingeführt. Entleert sich sofort Blut oder (bei Peritonitis durch Darmverletzung) eine trübe Flüssigkeit, so muß sofort die Laparotomie angeschlossen werden. Entleert sich kein Blut, dann erfolgt die Spülung der Bauchhöhle mit 1000 ml isotoner Lösung (Ringerlösung). Durch Senken der Flasche oder Abstellen auf den Fußboden wird die Flüssigkeit zurückgewonnen und anschließend makro- und mikroskopisch untersucht. Folgende Befunde gelten als positiv und stellen eine Indikation zur Laparotomie dar: • Spülflüssigkeit ist eindeutig blutig; • Spülflüssigkeit ist eindeutig gallig; • Spülflüssigkeit ist eindeutig trüb; • Spülflüssigkeit fließt über den Blasenkatheter ab; • Spülflüssigkeit fließt über eine bereits liegende Thoraxdrainage ab; • Spülflüssigkeit enthält Kolibakterien (Gramfärbung); • Spülflüssigkeit enthält mehr als 100000 Erythrozyten/mm 3 ; • Spülflüssigkeit enthält mehr als 500 Leukozyten/mm 3 ; • Spülflüssigkeit enthält mehr als 200 mU Alphaamylase/mm 3 ; • Spülflüssigkeit enthält Fasern im Sediment; • Spülflüssigkeit enthält Galleflüssigkeit. Bei korrekt und mit ausreichender Flüssigkeitsmenge durchgeführter Lavage sind die Ergebnisse sehr zuverlässig. Schwierigkeiten ergeben sich gelegentlich bei kleinsten Blutbeimengungen, die ebensogut aus der Bauchhöhle wie aus dem Stichkanal stammen können. Ein weiterer Vorteil der Spülung besteht darin, daß sie bei liegendem Katheter zur Kontrolle beliebig wiederholt werden kann. Kontraindikationen ergeben sich lediglich bei ausgedehnten intraabdominellen Verwachsungen, bei starkem Meteorismus, bei Hiatushernien und während einer Schwangerschaft. Besteht aufgrund der Ergebnisse einer richtig durchgeführten Peritonealspülung immer noch keine Klarheit über die Notwendigkeit einer Operation, so darf eine Probelaparotomie erwogen werden, zumal an kleineren chirurgischen Abteilungen weitergehende diagnostische Untersuchungsmethoden meist nicht zur Verfügung stehen. Eine Probelaparotomie ohne vorausgegangene Peritoneal-Lavage muß jedoch als falsch bezeichnet werden.
22.5 Stumpfe Bauchverletzungen
293
Bei der Röntgenuntersuchung des Thorax deuten Frakturen der unteren Rippen auf Verletzungen von Leber und Milz hin. Ein Zwerchfellriß kann durch Verlagerung von Baucheingeweiden in den Thoraxraum diagnostiziert werden, wenn z. B. die Magenblase oberhalb des Zwerchfells erkennbar ist. Die Abdomen-Leeraufnahme im Stehen oder Liegen ist auf freie Luftsicheln (Perforation im Gastrointestinaltrakt), auf Verdrängung der Magenblase nach medial und der Kolonflexur nach kaudal (Milzruptur), oder einen verwaschenen Psoasschatten (Pankreas oder Duodenalverletzung) sowie auf ein Emphysem im Retroperitoneum, im Bereich der rechten Niere und des rechten Psoas (retroperitoneale Duodenalruptur) abzusuchen. Der Gastrografinschluck läßt Austritte des Kontrastmittels (Rupturen an Magen und Duodenum), thorakale Verlagerungen des Magens (Zwerchfellruptur) oder das Spiralfederzeichen (intramurales Duodenalhämatom) erkennen. Die Röntgenaufnahmen der LWS geben bei Querfortsatzbrüchen Hinweise auf intraabdominelle oder retroperitoneale Organverletzungen. Zeigt die Röntgen-Becken-Übersicht Frakturen im Beckenbereich, so besteht ein dringender Verdacht auf intraabdominelle oder urologische Läsionen (s. Abschn. 23). Die abdominelle Angiographie kann als aortale Übersichtsangiographie, als Zöliakographie und als selektive Angiographie der zöliakalen Äste oder der A. mesenterica superior und inferior durchgeführt werden. Sie erfordert einen mit der Methode vertrauten Radiologen und setzt zum Nachweis einer Blutung einen Blutaustritt von 3 ml/min. voraus. Als Anhalt für eine Organverletzung gelten ein Extravasat, ein Parenchymdefekt, eine Gefäßverdrängung, ein Pseudoaneurysma und eine schnelle venöse Füllung als Ausdruck einer a.v.-Fistel. Die Angiographie ist Schwerverletzten nicht zuzumuten, sie ist zeitraubend und sollte deshalb bei einem akuten Bauchtrauma nicht eingesetzt werden. Für die Laparoskopie des Bauchtraumas braucht man ein erfahrenes Team von Untersuchern. Aussagen über einsehbare Bauchabschnitte sind selbstverständlich sehr sicher, allerdings ist gerade die Milz nicht immer gut einsehbar. Außerdem muß die erhebliche Belastung des Patienten durch die notwendige Insufflation von Gas in das Abdomen bedacht werden. 2 2 . 5 . 5 Spezielle Organverletzungen, Diagnostik und Versorgung 22.5.5.1 Zwerchfell Zwerchfellrupturen kommen bei Bauch- und Brustkorbverletzungen häufig vor (im eigenen Patientengut betrug ihr Anteil 14,6% - siehe Tab. 22/1), dennoch werden sie nicht immer frühzeitig diagnostiziert.
294
22
Bauchverletzungen
Bei Polytraumatisierten, nach Verkehrsunfällen mit hoher Geschwindigkeit, bei Sturz aus großer Höhe, bei Explosionen und Verschüttungen kommt es durch plötzliche intraabdominelle oder intrathorakale Druckerhöhung zur Berstung des Zwerchfells am Übergang vom muskulären zum sehnigen Anteil oder zu Abrissen der Muskelansätze mit und ohne Rippenfrakturen. Die meisten Rupturen entstehen auf der linken Zwerchfellseite, rechtsseitige sind seltener, weil hier die Leber als schützender Puffer wirkt; allerdings muß bei schweren Traumen zunehmend auch mit rechtsseitigen Rupturen gerechnet werden. Meist liegen Begleitverletzungen abdomineller Organe oder des Sekelettsystems vor (Milz, Rippen, Becken, Oberschenkel usw.). Da stets alle Schichten des Zwerchfells durchtrennt sind, handelt es sich um Rupturen und nicht um „traumatische Zwerchfellhernien". Aufgrund der Druckdifferenz prolabieren die Baucheingeweide (Magen, Milz, Netz, Kolon usw.) in den Thorax und bestimmen die klinische Symptomatik. Die Symptome der frischen Zwerchfellruptur sind uncharakteristisch, oft werden sie von den Begleitverletzungen bestimmt, der traumatische Schock beherrscht das klinische Bild. Ein älterer Eingeweideprolaps verursacht abdominelle und kardiorespiratorische Symptome:
Abdominelle Symptome
kardiorespiratorische Symptome
Druckgefühl im Oberbauch
leichte bis schwere Atemnot
Brechreiz - Erbrechen
Thoraxschmerz
gehäuftes Aufstoßen
Schulterschmerz links (Phrenikus)
Magen-Darmkrämpfe
retrosternales Druckgefühl
Obstipation — Gasblähung
pektanginöse Beschwerden
Stuhl- und Windverhaltung
Bronchitis/Pneumonie
Die Diagnose ist um so leichter, je früher der Eingeweideprolaps auftritt und je schwerer dessen klinische Zeichen sind. Vor allem muß schon bei der Erstuntersuchung des Verletzten an die Möglichkeit einer Zwerchfellruptur gedacht werden. Bei einem traumatischen Schock, bei Schmerzen im T h o r a x und im Oberbauch mit Zeichen einer akuten kardiorespiratorischen Insuffizienz (Dyspnoe, Zyanose, Tachykardie) werden sofort Röntgenaufnahmen des Abdomen und des Thorax in zwei Ebenen und möglichst im Stehen angefertigt. Die in den Thorax verlagerte Magenblase oder haustrierte Dickdarmteile im Thorax sichern die Diagnose. Ist bei gleichzeitig bestehendem Pneumo- oder Hämatothorax (Milzruptur) eine sichere Befundung und Zwerchfellabgrenzung nicht möglich, so wird ein Gastrografinschluck veranlaßt, der Organverlagerungen oder Perforationen darstellen läßt. Bei älteren Verletzungen sollte zur Darstellung des Magen-Darm-Kanals Bariumbrei verwendet werden.
2 2 . 5 Stumpfe Bauchverletzungen
295
Die Therapie ergibt sich aufgrund der Diagnose. Absolute Operationsindikation: • Lebensbedrohliche kardiorespiratorische Störungen bei frischen Zwerchfellrupturen; • manifeste Inkarzeration, Obstruktion und pulmonale Insuffizienz bei älteren Rupturen. Relative Operationsindikation: • Älterer Eingeweideprolaps mit Beschwerden. Frische Zwerchfellrupturen werden von einer medianen Oberbauchlaparotomie aus verschlossen, weil so die Bauchhöhle auf weitere Organverletzungen abgesucht werden kann. Altere Rupturen mit meist ausgedehnten thorakalen Verwachsungen lassen sich übersichtlicher von einer Thorakotomie versorgen. Sofern eine frische rechtsseitige Ruptur sich nicht von abdominal versorgen läßt, muß sie von einer rechtsseitigen Thorakotomie verschlossen werden, nachdem zuvor eventuelle Leberverletzungen versorgt wurden. In den Pleuraraum wird eine Thoraxdrainage gelegt. Der Verschluß des rupturierten Zwerchfells erfolgt nach Rückverlagerung der Eingeweide in den Bauchraum mit nicht resorbierbarem Nahtmaterial in zweireihiger Nahttechnik oder mit U-Nähten. Bei jeder Laparotomie nach stumpfem Bauchtrauma ist das Zwerchfell auf Verletzungen abzutasten! Isolierte Zwerchfellrupturen haben eine sehr gute Prognose, bei Kombinationsverletzungen entscheiden diese über den weiteren Verlauf. 2 2 . 5 . 5 . 2 Milz Trotz ihrer scheinbar geschützten Lage ist die Milz bei intraabdominellen Organverletzungen am häufigsten beteiligt, besonders bei Kindern und Mehrfachverletzten. Bei 4 0 % unserer stumpfen Bauchtraumen war die Milz beteiligt (Tab. 22/1). Als gefäßreiches, stark durchblutetes, parenchymatöses Organ, dessen Aufhängebänder in der zarten Milzkapsel münden, liegt die Milz breitflächig der Thoraxund Bauchwand an, so daß es bei einer Gewalteinwirkung auf den Bauchraum unter intralienalem Druckanstieg leicht zu Milzrupturen kommen kann, zumal beim Kind der elastische linke untere Rippenbogenrand in breiter Kontaktfläche federnd wie ein Peitschenschlag auf die Milz trifft. Treten die Symptome der Milzverletzung sofort nach dem Trauma in Erscheinung, so handelt es sich um eine primäre einzeitige Ruptur. Liegt zwischen dem Milztrauma und der Manifestation akuter abdomineller Symptome ein Intervall von Stunden oder Tagen, handelt es sich um eine zweizeitige Ruptur, bei der die Milzkapsel erst später reißt. Bei einer rupturierenden Kontusion der Milz kommt es meist zu Einrissen von Kapsel und Parenchym mit starker Blutung in die Bauchhöhle, die selten spontan
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2 2 Bauchverletzungen
zum Stillstand kommt; Verletzungen der großen Gefäße des kurzen Milzstiels führen stets zu massiven Blutungen. Die Diagnose stellt sich aufgrund der Zeichen des hämorrhagischen Schocks, der Bauchsymptomatik bei vielleicht erkennbaren äußeren Verletzungszeichen und aufgrund einer Flankendämpfung als Folge einer Blutung in die Bauchhöhle. Die Sonographie bestätigt den Verdacht. Der radiologische Nachweis von Frakturen des linken unteren Rippenbogenrandes oder von Querfortsätzen der Wirbelsäule, einer Medialverlagerung der Magenblase, eines Tiefstands der linken Kolonflexur oder eines einseitigen Pleuraergusses deutet auf eine Milzverletzung hin. Sehr oft findet sich auch eine Leukozytose bis zu 20 000 Leukozyten/mm 3 . Die Therapie der Milzruptur beginnt mit der Kreislaufstabilisierung durch Infusion von Blutersatzlösungen und Transfusionen. Eine vital bedrohliche Blutung kann nur durch eine sofortige Laparotomie und Splenektomie gestillt werden. Der Verlust der Milz und ihrer Filterbarriere mindert die Infektabwehr besonders bei Kindern mit der Gefahr einer „overwhelming postsplenectomy sepsis" (OPSS). Die Postsplenektomiesepsis kann nach Monaten oder erst nach Jahren auftreten und innerhalb weniger Stunden mit Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Bewußtseinstrübung und Koma zum Tode führen. Aus diesem Grunde rücken organerhaltende Maßnahmen (Naht, Aufsteppen eines Netzzipfels, Teilresektion, Fibrinklebung, Infrarotkoagulation) jetzt mehr in den Vordergrund, sofern Akutsituation und Ausmaß der Milzverletzung diese möglich machen. Ist eine Splenektomie unvermeidlich, so wird eine heterotope Replantation von Milzgewebe in das große Netz empfohlen. Vor allem bei Kindern unter 2 Jahren soll zur Sepsisprophylaxe eine (mehrjährige) Penicillindauermedikation erwogen werden. Nach dem 4. Lebensjahr kann eine zusätzliche Pneumokokken-Vakzination vor einer Pneumokokken-Infektion schützen. 22.5.5.3 Leber 22% unserer Patienten mit stumpfen Bauchtraumen hatten Leberverletzungen. Die Letalität einer unbehandelten Leberverletzung ist mit über 30% sehr hoch und überdies abhängig von der Art der Verletzung wie auch von Mitverletzungen anderer Bauchorgane. Außerdem kommt es nicht selten zu schwerwiegenden Komplikationen wie Abszeßbildungen, Gallefisteln oder Hämobilien. Bei einer akuten Leberverletzung finden sich neben der Schocksymptomatik entweder umschriebene Schmerzen im rechten unteren Thoraxbereich, im rechten oder mittleren Oberbauch mit und ohne Ausstrahlung in den Rücken oder nicht selten diffuse Schmerzen im gesamten Abdomen. Äußere Verletzungszeichen können fehlen. Ergibt die klinische Erstuntersuchung keine eindeutige Operationsindikation, so gilt die Sonographie als zuverlässige Methode bei der Diagnostik einer Verletzung.
22.5 Stumpfe Bauchverletzungen
297
Laborchemisch erkennt man eine Leberverletzung am raschen Anstieg der Transaminasen (SGOT, SGPT, LDH) und der Ornithin-Karbonyl-Transferase (OCT) innerhalb der ersten Stunde nach dem Unfall. Findet sich bei der Laparotomie eine anhaltende Blutung aus einer Parenchymverletzung der Leber, so kann man sich zunächst mit einer komprimierenden Tamponade der Wunde helfen. Ein temporärer Verschluß der zuführenden Gefäße durch manuelle oder instrumenteile Kompression des Lig. hepatoduodenale (Pringle-Manöver) kann die Blutung zum Stillstand bringen. Eine Ischaemizeit bis zu 60 Minuten wird toleriert. Die Ligatur der A. hepatica oder eine ihrer Äste ist möglich, sofern keine Leberzirrhose vorliegt und wirksam, sofern die präliminare Abklemmung eine Blutstillung bewirkt. Die meisten Leberrupturen lassen sich durch Naht oder Kleber versorgen. Resektionen werden wegen ihrer hohen Letalität nur bei völlig devitalisierten Leberabschnitten durchgeführt. Tamponaden über mehrere Tage sind möglich und gelegentlich als ultima ratio hilfreich. Bei ausgedehnten Zerreißungen an unübersichtlicher Stelle (hintere Leberkuppe) muß man an traumatische Ausrisse der Lebervenen oder der Vena cava denken. Bei schwerer zentraler Blutung kann ein Verschluß der V. cava mit Gefäßklemmen oberhalb des Diaphragmas und unterhalb der Leber erforderlich werden. Die bei der Entfernung des Blutes aus der Bauchhöhle bestehende Gefahr von Luftembolien infolge Verletzung großer Venen läßt sich durch Beatmung mit einem positiven endexspiratorischen Druck von mindestens + 3 cm H 2 0 vermeiden. Als Hämobilie bezeichnet man eine rezidivierende arterielle Blutung in die Gallengänge infolge einer meist intrahepatischen arteriobiliären Fistelbildung. Mehr als die Hälfte aller Hämobilie-Fälle entsteht durch ein Trauma, meist nach Unglücksfällen, gelegentlich bei operativen Eingriffen an der Leber, an der Gallenblase oder den Gallengängen. Gewöhnlich tritt die posttraumatische Hämobilie erst nach einem stillen Intervall von einigen Tagen oder Wochen in Erscheinung. Die Hämobilie macht sich durch charakteristische Gallenkoliken mit gastrointestinalen Blutungen (Hämatemesis und Meläna) sowie durch einen passageren Verschlußikterus bemerkbar. Gelegentlich werden Fieberschübe, Singultus und das Erbrechen von Koageln als Gallengangausgüsse beobachtet. Die Diagnose läßt sich durch eine exkretorische oder transhepatische Cholangiographie, durch Duodenoskopie mit retrograder Gangdarstellung (ERC) wie auch durch selektive Zöliakographie sichern. Spontanheilungen sind selten. Die Therapie erfordert eine Operation, wobei die Resektion des betroffenen Leberabschnittes nach Sanierungsmöglichkeit und Komplikationshäufigkeit als beste Methode gilt. Hilusnahe Resektionen sind nicht möglich. Hier muß man sich mit einer lokalen Fistelexstirpation und Drainage begnügen. Eine Ligatur der zuführenden Arterie ist möglich und ausreichend, wenn die Leberläsion eindeutig dem Versorgungsgebiet der Arterie zugeordnet werden kann.
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22 Bauchverletzungen
Die posttraumatische Bilhämie bei biliovenöser Fistel ist durch einen Übertritt von Galle ins Blut aufgrund der Druckdifferenz zwischen den Gallenwegen und der V. cava inferior bei horizontaler Körperlage gekennzeichnet. Dabei werden Hyperbilirubinämien bis zu 60 mg% beschrieben. 22.5.5.4 Gallenblase und Gallengänge Isolierte Verletzungen der Gallenblase oder der Gallengänge sind selten; meist treten sie in Kombination mit Verletzungen der Leber, des Duodenum oder des Pankreas auf. Die frühe Diagnose einer isolierten Gallenblasen-Gallengangsverletzung ist kaum möglich, weil die klinische Symptomatik mit Schock und Schmerzen im rechten Oberbauch anfangs schwer einzuordnen ist. Meist kommt es erst nach einem relativ beschwerdefreien Intervall von 2—5 Tagen zum Bild des akuten Abdomens, zum Ikterus mit Bilirubinurie (dunkelbrauner Urin) und acholischen Stühlen. Die Ansammlung von Galle im Bauchraum läßt sich durch Sonographie und Peritoneallavage nachweisen, womit die Diagnose gesichert ist. Wird nicht rechtzeitig operiert, kommt es zu Fieber, Inappetenz, Erbrechen, Darmatonie, massiven Flüssigkeitsund Elektrolytverlusten sowie zum Nierenversagen. Die Therapie der Gallenblasenverletzung ist die Cholezystektomie. Der ohne Substanzverlust durchtrennte D. hepato-choledochus kann über ein für 4—6 Wochen eingelegtes T-Drain durch End-zu-End-Naht anastomosiert werden. Bei größeren Substanzverlusten des extrahepatischen Gallengangssystems und bei Durchtrennung des D. choledochus in seinem retroduodenalen Verlauf wird eine biliodigestive Anastomose durch Choledochojejunostomie mit einer ausgeschalteten Jejunumschlinge nach Roux ausgeführt. Der distale Choledochusstumpf wird verschlossen. 22.5.5.5 Pankreas Verletzungen des Pankreas gelten wegen der scheinbar geschützten Lage des Organs als relativ selten (5% im eigenen Krankengut), wenn auch aufgrund der immer häufigeren Rasanztraumen eine zunehmende Tendenz besteht, besonders bei Kindern. Als Ursache kommen neben den indirekten vor allem umschriebene, direkt-sagittale Gewalteinwirkungen auf den Oberbauch in Frage, bei Erwachsenen vornehmlich durch Lenkradaufprall, bei Kindern häufig durch Sturz mit Fahrrad oder Roller und Fall auf die Lenkstange. Die Prognose hängt von der frühzeitigen Diagnose wie auch davon ab, ob der D. pancreaticus rupturiert ist, so daß Pankreasfermente austreten und zur Autodigestion führen können. Ohne chirurgische Behandlung kann es zur akuten oder chronischen Pankreatitis, zur Nekrose mit letalem Ausgang, zur Abszeß- oder Pseudozystenbildung sowie zur Gangstenose kommen.
22.5 Stumpfe Bauchverletzungen
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Die Diagnose einer isolierten Pankreasverletzung wird von der zunächst diskreten Symptomatik bestimmt („freies Intervall" von Stunden oder Tagen). Initiale Schocksymptome, Druckschmerz und Abwehrspannung im Oberbauch sind bei einem entsprechenden Unfallmechanismus ein ebenso wichtiger Hinweis auf eine Pankreasverletzung wie die Zeichen der Peritonitis ohne Anhalt für eine Perforation im Magen-Darm-Kanal. Eine Pankreasgangverletzung, die sich auch nach Tagen nicht sicher klinisch manifestiert, läßt sich durch eine endoskopische retrograde Cholangio-Pankreatikographie (ERCP) feststellen und lokalisieren. Die Amylase im Serum und im Urin kann nach 1 bis 2 Tagen ansteigen, wenn bereits eine Pankreatitis vorliegt. Die Therapie besteht in der operativen Versorgung, so daß jeder begründete Verdacht auf eine Pankreasläsion eine absolute Indikation zur sofortigen Laparotomie darstellt. Stets wird beim Oberbauchtrauma das Lig. gastrocolicum durchtrennt oder das große Netz von Querkolben abgetrennt und das Pankreas freigelegt. Nach der orientierenden Inspektion wird das Organ sorgfältig palpiert, wozu die Pankreasrückfläche durch Spaltung des Retroperitoneums am Pankreasunterrand zugänglich gemacht werden kann. Der Austritt von Pankreassekret beweist eine Gangverletzung. Zum Nachweis einer nicht sofort erkennbaren Gangverletzung kann nach Duodenotomie ein Katheter in den D. pancreaticus eingeführt und nach Injektion von Methylenblau eine Ruptur durch Farbstoffaustritt nachgewiesen werden. Bei Pankreaskontusionen, subkapsulären Hämatomen und Quetschungen ohne Gangverletzungen ist eine ausgiebige Drainage der Bursa omentalis ausreichend. Ein Drain wird durch das Foramen epiploicum über die rechte Flanke nach außen geführt, ein zweites zwischen linker Niere und linker Kolonflexur über die linke Flanke. Blutungen aus dem Parenchym werden isoliert umstochen. Rupturen des Organs mit Gangverletzung erfordern in der Regel die Resektion und eine pankreatikodigestive Anastomose. Eine Primärnaht des Ganges wird nicht empfohlen, wohl aber das temporäre Einlegen eines T-Drains als lebensrettende Maßnahme insbesondere bei Schwerverletzten, die eine Resektion nicht tolerieren würden. Rupturen von Pankreasschwanz und -körper erfordern die Linksresektion des Pankreas unter Mitnahme der Milz. Pankreaskopfverletzungen mit ausgedehnten Zertrümmerungen, die nicht mit Parenchymnähten versorgt werden können, erfordern die partielle Duodenopankreatektomie. Stets werden die Gallenwege durch Einlegen eines T-Drains in den D. hepatocholedochus entlastet. Operative Versorgungsmöglichkeiten von Pankreasverletzungen • keine erkennbare Läsion (Commo > tio, Contusio) • subkapsuläre Hämatome (ohne —» Gangverletzung)
Drainage, Gallenwegsentlastung (T-Drain) Drainage, Gallenwegsentlastung (T-Drain)
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2 2 Bauchverletzungen
• Rupturen ohne Gangverletzung Pankreasschwanz Pankreaskörper
Pankreaskopf • Rupturen mit Gangverletzung Pankreasschwanz und -körper Pankreaskopf Pankreaskopf u. Duodenum
—» Resektion und Drainage und Gallenwegsentlastung (T-Drain) —» Resektion/eventuell pankreatiko-digestive Anastomose (Roux-Y-Anastomose), Gallenwegsentlastung durch T-Drain —» Übernähung/Abdeckung mit ausgeschalteter Dünndarmschlinge —» Resektion —» möglichst Resektion unter Erhaltung eines Parenchymrestes —» partielle Duodenopankreatektomie
22.5.5.6 Magen Gelegentlich kann es insbesondere beim Vagotoniker nach einem stumpfen Bauchtrauma zu einer Magenatonie (Commotio ventriculi) mit Dilatation und starkem Erbrechen kommen, weshalb jeder Bauchverletzte eine durch die Nase eingeführte Dauersonde des Magens erhalten soll. Rupturen des Magens sind selten, Prädelektionsstellen sind die kleine Kurvatur und die präpylorische Region, wo vorwiegend Längsrisse an der Vorderwand auftreten. Die Symptome sind heftige Schmerzen im Oberbauch, brettharte Bauchdeckenspannung (eventuell eingezogener „Kahnbauch"), oberflächliche oder aufgehobene Bauchatmung. Der radiologische Nachweis eines Pneumoperitoneums (Luftsichel unter dem Zwerchfell) ist beweisend (falls nicht eine Darmruptur vorliegt), sein Fehlen dagegen schließt eine Perforation nicht aus. Ein Gastrografinschluck kann ein Leck am Kontrastmittelaustritt sichtbar machen. Die Gastroskopie soll ohne Einblasen größerer Luftmengen erfolgen. Zur Therapie gehört die sofortige Laparotomie, konservative Behandlungsversuche sind selbst bei schlechtem Allgemeinzustand kontraindiziert. Kleinere Einrisse werden immer zweischichtig übernäht, größere können eine Resektion des Magens (Billroth I oder II) erforderlich machen. Subseröse Hämatome erfordern keine Resektion. Stets muß die Bursa omentalis geöffnet und die Magenhinterwand revidiert werden.
22.5 Stumpfe Bauchverletzungen
301
22.5.5.7 Duodenum Die diagnostischen und therapeutischen Besonderheiten einer Duodenalverletzung ergeben sich aus der retroperitonealen Lage des Organs und seiner geringen Beweglichkeit durch doppelte Fixation am Pankreaskopf und am Retroperitoneum. Bei einem Anteil der Duodenaltraumen von etwa 10% aller traumatischen Darmverletzungen sind sie nicht gerade selten; im eigenen Krankengut betrug der Anteil jedoch nur 2 % , bei Kindern 5 % . Als Ursachen finden sich sowohl isolierte als auch häufig kombinierte Verletzungen durch indirekte oder direkte Gewalteinwirkung (Lenkrad, Sicherheitsgurt, Stoß, Tritt, Sturz). Dabei kann es zu intramuralen Hämatombildungen aus submukösen Gefäßen, zu intra- oder retroperitonealen Rupturen kommen. Die Diagnose setzt zunächst eine exakte Erhebung des Unfallherganges voraus. Das unkomplizierte Duodenalwandhämaton führt nach einem symptomfreien Intervall zur Lumeneinengung mit Passagebehinderung, die sich durch gehäuftes galliges Erbrechen bemerkbar macht. Die Röntgenkontrastmitteluntersuchung zeigt ein unregelmäßiges Schleimhautrelief („Spiralfederzeichen"). Eine intraabdominelle Ruptur führt rasch zu den Zeichen einer Peritonitis mit Schmerzen, Abwehrspannung, Schock, Temperaturanstieg und Erbrechen. Die Amylase im Serum und Urin kann erhöht sein. Bei der Röntgen-Abdomenübersicht im Stehen ist „freie Luft" unter den Zwerchfellkuppen ein sicherer Rupturnachweis. Außere Verletzungszeichen im Oberbauch sollten immer auch an eine Duodenalverletzung denken lassen. Wird Gastrografin gegeben (per os oder über Magensonde), läßt sich ein Kontrastmittelaustritt röntgenologisch nachweisen. Schwierig ist die präoperative Diagnose einer retroperitonealen Ruptur, zumal sich die damit verbundene Phlegmone des Retroperitonealraumes langsam und uncharakteristisch entwickelt. Zunehmende Schmerzen und Abwehrspannung, rechtsseitige Flankendämpfung, Erbrechen, Temperaturanstieg sowie die Schockzeichen sind leitende Symptome. Bei geringstem Verdacht auf eine Duodenalruptur sollte sofort eine Notfall-Duodenoskopie die Situation klären. Im Röntgenbild erkennt man ein retroperitoneales Emphysem und eine verwaschene oder fehlende Kontur des rechten Psoas (Psoasrand) durch retroperitoneale Flüssigkeitsansammlung. Zur Therapie gehört die möglichst frühe Laparotomie und gründliche Revision der Bauchhöhle. Bei einer vollständigen retroperitonealen Ruptur findet sich ein retroperitoneal tastbares Emphysem mit sichtbarer gallig-blutiger Imbibierung. Die Bursa omentalis wird eröffnet, das Duodenum nach Kocher mobilisiert, um die Duodenalhinterwand inspizieren zu können. Frische Rupturstellen werden zweischichtig verschlossen, ältere (> 24 h) können besser mit einer nach Roux ausgeschaltetenen Y-Jejunostomie versorgt werden. Wenn nötig, muß die Duodenalpassage durch Anlegen einer GE oder durch Magenresektion (B II) ausgeschaltet wer-
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2 2 Bauchverletzungen
den. Die Gallenwege werden mit einer T-Drainage entlastet, eine Vagotomie dient der Prophylaxe des Streßulkus. 22.5.5.8 Dünndarm Traumatische Verletzungen des Dünndarms sind nicht selten, im eigenen Krankengut lag ihr Anteil bei 8%, am Magen-Darm-Kanal sind sie sogar die häufigste Verletzung. Meist sind wegen ihrer stärkeren Fixierung das obere Jejunum und das terminale Ileum betroffen, oft an der Konvexität, vereinzelt auch am Mesenterialansatz. Prellmarken der Bauchwand geben gute Hinweise auf die Verletzungshöhe. Schwere Darmwandkontusionen ohne primäre Zerreißung können infolge Wandnekrose auf dem Boden einer gestörten Durchblutung zu sekundären Rupturen führen, wodurch das klinische Bild von einem symptomarmen Intervall charakterisiert wird. Die klinische Diagnose der Dünndarmrupturen stützt sich auf die frühen Symptome einer Peritonitis: Druckschmerz, Bauchdeckenspannung, fehlende Peristaltik, Pulsanstieg und Blutdruckabfall. Die frühe Erfassung einer Ruptur vor Ausbildung einer Peritonitis läßt sich durch die routinemäßige Anfertigung einer Röntgen-Abdomen-Übersichtsaufnahme gewiß verbessern, obschon bei Dünndarmzerreißungen nicht immer freie Luft im Abdomen nachweisbar ist. Sonst wird bei hinreichendem Verdacht (Unfallhergang, äußere Verletzungszeichen, klinischer Befund) die Peritoneallavage durchgeführt und die Probelaparotomie angeschlossen. Wir sahen eine glattrandige vollständige Durchtrennung des Jejunum 30 cm aboral der Flexura duodeno-jejunalis durch einen Sicherheitsgurt, bei der die sofort durchgeführte Peritoneallavage makroskopisch unauffällig war. Die Therapie erfordert die Laparotomie. Stets wird der Darm eventeriert und ebenso wie das Kolon, das Mesenterium und das Mesokolon in ganzer Ausdehnung auf Verletzungen abgesucht. Kleinere Rupturen können durch querverlaufende Einzelknopfnähte verschlossen werden. Größere oder multiple Rupturen, Einrisse in nicht ausreichend durchbluteten Darmabschnitten sowie Verletzungen des Mesenteriums erfordern die Resektion und eine End-zu-End-Anastomose. Ebenso werden ältere Verletzungen, bei denen die Rupturstelle durch fibröse Belege der Darmwand verdeckt sein kann, am besten reseziert. Abschließend wird die Bauchhöhle auf weitere Verletzungen untersucht, mit reichlich Flüssigkeit gespült und drainiert. Neben dem Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Eiweißersatz verlangt eine bereits manifeste Peritonitis die Behandlung mit Antibiotika. Geeignet sind ß-Lactam-Antibiotika, die das breite Spektrum der häufigsten aeroben und anaeroben Keime abdecken, zum Beispiel die Acylureidopenicilline Mezlocillin oder Azlocillin, etwa in Kombination mit einemn Aminoglykosid. Nach Herdsanierung und intraoperativer Bauchspülung kann die postoperativ täglich durchgeführte Etappenlavage mit temporärem Verschluß der Bauchhöhle die Prognose einer diffusen Peritonitis wahrscheinlich verbessern.
2 2 . 5 Stumpfe Bauchverletzungen
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2 2 . 5 . 5 . 9 Dickdarm Wegen seiner geschützten Lage sind Verletzungen des Dickdarms selten, bevorzugt sind das rechte Kolon und das Sigmoid betroffen. Kontusionen, Serosadefekte und subseröse Hämatome führen gelegentlich zu sekundären Rupturen. Häufig sind gleichzeitige Dünndarmrupturen. Die Symptome rupturierender Verletzungen sind die der Peritonitis und entsprechen damit jenen der Dünndarmrupturen. Freie Luft unter dem Zwerchfell ist eine absolute Operationsindikation (Röntgen-Abdomen-Übersicht). Der Lokalbefund wird regelmäßig überprüft, eine Peritoneallavage durchgeführt und die Laparotomie vorgenommen. Als Therapie kommt nur die Laparotomie in Frage. Kotgeruch aus der Bauchhöhle ist ein sicheres Zeichen für eine perforierende Dickdarmverletzung. Umschriebene Serosadefekte werden mit seroserösen Einzelknopfnähten versorgt, kleinere Öffnungen durch Naht verschlossen. Größere Einrisse und eine gefährdete Blutversorgung (Verletzungen des Mesokolons) machen eine Dickdarmresektion mit End-zuEnd-Anastomose erforderlich (rechts- oder linksseitige Hemikolektomie, Querkolon- oder Sigmaresektion). Linksseitige Resektionen lassen eine Anastomosensicherung durch einen vorgeschalteten Anus praeter naturalis oder eine Zökalfistel sinnvoll erscheinen. Die Darstellung und Versorgung retroperitonealer Wandverletzungen erfolgt nach Spaltung des Bauchfells parallel zum Darm in Höhe des blutig imbibierten Gewebes. Vor dem Verschluß wird die Bauchhöhle mit Kochsalzlösung gründlich gespült, Nahtstellen werden durch Drains gesichert. Abschließend wird der Spincter ani schonend mit zwei Fingern gedehnt, um den Sphinktertonus in den ersten postoperativen Tagen herabzusetzen. Rektumeinrisse, die besonders bei Beckenfrakturen durch Anspießung entstehen, werden mit einem Sigmaanus ausgeschaltet und von einem perinealen Zugang unter Teilresektion des Os sacrum freigelegt und vernäht. 2 2 . 5 . 5 . 1 0 Netz und Mesenterium Isolierte oder begleitende Verletzung des Netzes oder des Mesenteriums führen zur intraabdominellen Blutung oder bei mesenterialen Gefäßverletzungen zu Durchblutungsstörungen des Darmes mit Darmwandgangrän, Ruptur, Durchwanderungsperitonitis. Die Diagnose ergibt sich aus der Art und dem Ausmaß der Verletzung. Sickerblutungen lassen sich durch eine Peritoneallavage ebenso nachweisen wie eine Peritonitis nach Darmwandschädigung. Massive Blutungen verursachen frühzeitig die Zeichen des Schocks. Die Therapie besteht in der Umstechung kleinerer Blutungen; irreversibel geschädigte Darmabschnitte müssen reseziert werden.
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2 2 Bauchverletzungen
22.5.6 Operationstaktisches Vorgehen bei Bauchverletzungen • Eröffnen der Bauchhöhle durch Paramedian- oder Medianschnitt mit weitbogiger, linksseitiger Umschneidung des Nabels; • Lagekontrolle des präoperativ eingeführten Magenschlauches; • Inspektion und Palpation aller Bauchorgane; • Zwerchfell auf Verletzungen abtasten; • Einstellen und Inspizieren des Milzlagers; • Leberkuppe einstellen und auf Rupturen abtasten; • Lig. gastrocolicum durchtrennen, Magenhinterwand und Pankreas untersuchen; • Dünndarm eventerieren und auf Verletzungen absuchen; • Mesenterium und Mesokolon auf Verletzungen untersuchen; • Duodenum nach Kocher mobilisieren und Hinterwand inspizieren; • ein retroperitoneales Hämatom muß durch Freilegung geklärt, eine Nierenverletzung versorgt werden (s. Abschn. 23.2). 2 2 . 5 . 7 Behandlungsmethoden bei Verletzungen von Bauchorganen Zwerchfell Milz Leber Gallenblase Gallengänge Pankreas Magen Duodenum Dünndarm Dickdarm Netz/Mesenterium
zweischichtige Naht oder U-Nähte Exstirpation, evtl. Replantation durchgreifende Übernähung, eventuell Einnähen eines Netzzipfels, Teilresektion, Tamponade Exstirpation End-zu-End-Naht; biliodigestive Anastomose ohne Gangdurchtrennung: Resektion, Übernähung mit Gangdurchtrennung: Resektion Übernähung, Resektion Übernähung, eventuelle Ausschaltung durch GE oder B II ohne Verletzung des Mesenteriums: Übernähung mit Verletzung des Mesenteriums: Resektion Übernähung, Resektion, eventuell Anus praeter oder Zökalfistel Übernähung; bei Darmwandschädigung Resektion
Weiterführende Literatur Blaisdell/Trunkey: Abdominal Trauma. Thieme-Stratton, N e w York 1982. Delany, H . M . , R.S.Jason: Abdominal Trauma. Surgical and Radiological Diagnosis. With Contributions by N . Carnivale et al. Bd. XVI. Springer, Berlin—Heidelberg—New York 1981 Nagel, M. K. Jungshanns, A. Encke: Das stumpfe und penetrierende Bauchtrauma. In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R. Zenker, F. Deucher, W. Schink), Bd. 4a, Beitrag 50. Urban 8c Schwarzenberg, München—Wien—Baltimore 1979.
23 Verletzungen des Urogenitalsystems V. Lent und W. Schink
23.1 Einleitung Nieren, Harnleiter, Harnblase, Harnröhre und männliche Geschlechtsorgane werden wegen ihrer geschützten Lage relativ selten und seltener isoliert verletzt. Die Inzidenz liegt bei Berücksichtigung aller Verletzungen zwischen 1 und 2 % , bei Polytraumatisierten zwischen 2,5 und 5 % und bei Bauchläsionen zwischen 10 und 1 5 % . In diesen Zahlen fehlen jedoch erhebliche Dunkelziffern, teils wegen der Erscheinungsdominanz außerurologischer Verletzungen, teils wegen der Nachweislücken aktueller Diagnoseverfahren. Demgegenüber haben in den letzten Jahrzehnten die beobachteten Fälle um 20—30% zugenommen. Dies läßt sich mit der vervielfachten Verletzungsintensität technisierter Traumaursachen (Verkehr, Arbeit, Sport) sowie mit dem vermehrten Einsatz empfindlicherer Nachweismethoden (Sonographie, Computertomographie) erklären. Urogenitale Verletzungen sind demnach an Zahl wie Schwere bedeutsamer und damit zu einer größeren Herausforderung geworden. Die Aufgaben der urologischen Traumatologie werden dadurch erschwert, daß bei Kombinationsläsionen die außerurologischen symptomatisch vorherrschen und zumeist auch vordringlicher Versorgung bedürfen. Urologische Verletzungen geraten daher in die Gefahr verspäteter Erkennung und Behandlung. Forcierte Fahndung im Checkverfahren und abgewogene Entscheidung von Prioritäten im Rahmen der Gesamtverletzung kennzeichnen den kompetenten Mittelweg zwischen Unterschätzung und Überbewertung diagnostischer und therapeutischer Erfordernisse.
23.2 Nierenverletzungen Ursache und Einteilung: Die Mehrzahl aller Nierenverletzungen (70—80%) entsteht als Folge geschlossener oder stumpfer Traumen durch direkte Gewalt (Schlag, Stoß, Kompression) oder durch indirekte Einwirkung (Schleudermechanismus). Besonders gefährdet sind kindliche Nieren wegen ihrer relativ großen Organmasse sowie anormal große Nieren (Einzelorgane, Hydronephrosen, Zystennieren, Tumornieren). Ein kleinerer Teil von Nierentraumen ( 2 0 - 3 0 % ) kommt als offene oder perforierende Läsion durch Stich, Schuß, Pfählung oder ähnliches zustande, wobei in etwa 8 0 % andere Organe beteiligt sind. Umgekehrt treffen penetrierende
306
23 Verletzungen des Urogenitalsystems
Bauch Verletzungen in etwa 5—10% die Nieren mit. Bei einer Kompression wirkt die 12. Rippe als Hypomochlion, welches die Niere bersten läßt. Gebrochene Rippen führen zur An- oder Durchspießung. Gewebspunktionen der Leber können die Niere mit einbeziehen. Über das Schicksal der Patienten und damit über die Dringlichkeit der Behandlung entscheidet der Verletzungsschweregrad. Zu seiner Bestimmung eignet sich eine Klassifikation, in der den pathologisch-anatomischen Veränderungen die klinischen und urographischen Befunde zugeordnet sind. Grad I:
Leichte Nierenverletzung (etwa 6 5 - 8 0 % ) mit Nierenkontusion, subkapsulärem Hämatom und kleinem Parenchymeinriß, kurzzeitige Mikro- bis Makrohämaturie, Urographie normal (Abb. 23/1 u. 23/2).
Abb. 23/1 Nierenkontusion mit subkapsulärem Hämatom (Schweregrad I).
Grad II:
Grad II A: Grad II B:
Abb. 23/2 Nierenkontusion mit subkapsulärem Hämatom und kleinem Parenchymeinriß (Schweregrad I).
Schwere Nierenverletzung (etwa 10—25%) mit Kapselriß, inkompletter oder kompletter Parenchymruptur, Nierenbeckenriß, perirenalem Hämatom und/oder Urinom, Flankentumor, Hämaturie, Schock, urographisch pathologische Veränderungen (Abb. 23/3-23/6). intrafasziale Extravasation. extrafasziale Extravasation.
23.2 Nierenverletzungen
307
Abb. 23/3 Inkomplette Nierenruptur mit perirenalem Hämatom (Schweregrad II).
Abb. 23/4 Komplette Nierenruptur mit perirenalem Hämatom und Urinom (Schweregrad II).
Abb. 23/5 Komplette Nierenruptur mit Polabriß, perirenalem Hämatom und Urinom (Schweregrad II).
Abb. 23/6 Nierenbeckenruptur und Harnleiterein-/abriß mit perirenalem Urionom (Schweregrad II).
308
23 Verletzungen des Urogenitalsystems
Abb. 23/7 Nierenzertrümmerung mit perirenalem Hämatom (Schweregrad III).
Grad III:
Grad III A: Grad III B:
Abb. 23/8 Nierenstielein-/abriß mit perirenalern Hämatom (Schweregrad III).
Kritische Nierenverletzung (etwa 5 - 1 0 % ) mit Gefäßein- oder -abriß, Organzertrümmerung, Schock, Peritonitis, Hämaturie, urographisch keine Ausscheidung (Abb. 23/7 u. 23/8). Nierenarterieneinriß mit Thrombose. Nierengefäßruptur, Nierenstielabriß, Nierenzertrümmerung.
Symptome: An Allgemeinerscheinungen bestehen Übelkeit, Erbrechen und Schock. Da in etwa 30—50% aller stumpfen und in etwa 80% aller offenen Nierenverletzungen andere Organsysteme (Thorax, Bauch, Becken) mit betroffen sind, lassen peritoneale Erscheinungen sowohl auf retro- wie intraperitoneale Unfallfolgen schließen. Ein progredienter Schockzustand ist ebenso vieldeutig, weist wegen der häufigen Selbsttamponade der intakten perirenalen (Gerota) Faszie und/oder des hinteren Bauchfells eher auf eine intraperitoneale Blutung hin. Als Lokalsymptom findet sich insbesondere bei isoliertem Nierentrauma eine sichtund/oder tastbare, schmerzhafte Flankenresistenz. Sie dehnt sich bei fortdauerndem Blut- und/oder Harnaustritt ins Retroperitoneum nach kaudal bis zu einem Maximum am 1. bis 2. Tag aus. Sie wird jedoch vielfach durch direkte wie indirekte thorakale und intraabdominale Verletzungsfolgen mit Hämatom, Peritonitis und Ileus überlagert.
23.2 Nierenverletzungen
309
Das häufigste und sicherste systemspezifische Symptom ist in 6 0 - 9 0 % eine Mikrooder Makrohämaturie. Zwischen ihrer Intensität und der Verletzungsschwere besteht keine Korrelation. Sie markiert lediglich die mit dem Hohlraumsystem in Verbindung stehende Gefäßläsion. Eine fehlende Hämaturie schließt ein Nierentrauma keineswegs aus. Sie trifft man sogar typischerweise dann, wenn die Nierendurchblutung wegen Gefäßverschluß oder -Zerreißung oder der Harntransport wegen Nierenbecken/Harnleiter-Unterbrechung sistieren. Eine Oligurie/Anurie zeigt ein Trauma beider Nieren, von Einzel- oder Restnieren sowie einen protrahierten Blutungsschock an. Zu einem Harnverhalt kommt es infolge blutungsbedingter Harnblasentamponade. Diagnose: Bei Unfallverletzten mit Thorax- und/oder Bauchtraumen liegt eine Nierenbeteiligung auch ohne entsprechende Hinweiszeichen im Bereich des Möglichen und mit spezifischen Symptomen (Hämaturie) im Bereich des Wahrscheinlichen. Ihre sach- und zeitgerechte Erkennung erfordert schon wegen der Häufigkeit von Kombinationsverletzungen eine Integration in die Gesamtdiagnostik mit individueller Dringlichkeit. Zur Beurteilung von Vitalstörungen (Atem-, Kreislaufinsuffizienz) und Verletzungsmuster (Schädel, Thorax, Abdomen, Becken, Extremitäten) gehören Schockparameter (Puls, RR, ZVD), Blutungskriterien (Hgb, Ery, Hkt), Harnstatus und Klinik. Außere Prell- und Schürfmarken können Hinweise bieten, ihr Fehlen bedeutet keinen Gegenbeweis. Typische Lokalzeichen (Flankenresistenz, Peritonitis, Hämaturie) oder unklare Allgemeinsymptome (RR/Hb-Abfall) verlangen die gezielte Nierenabklärung. Ein Anschwellen des Leibes bei progredientem Blutungsschock zwingt ohne Verzug zur Laparotomie, welche in diesen Fällen diagnostische und therapeutische Aufgaben vereint. Die gezielte traumatologische Nierendiagnostik umfaßt nur wenige differenzierende Methoden. Basisuntersuchung ist — außer bei schockbedingter Anurie — die Ausscheidungsurographie mit hohem Kontrastmittelangebot und vaskulärer Tomographie. Sie erfolgt bei urologischer Priorität als Sofortaufnahme während der Notfallversorgung. Sie vermittelt zur Traumaklassifizierung und Behandlungsindikation folgende Kriterien: • Nierenfunktion normal verzögert: ein-/beidseitig fehlend: ein-/beidseitig • Kontrastextravasation intraparenchymal, intrakapsulär Grad II A extrakapsulär - intrafaszial (Gerota) Grad II B extrafazial — retroperitoneal • Hohlraumsystem Aussparung
310
23 Verletzungen des Urogenitalsystems
Unterbrechung Verdrängung • Nierenparenchym Konturauflösung Kontinuitätsdurchtrennung Organverlagerung Das intravenöse Urogramm erreicht unter optimalen Bedingungen bei Traumanachweis und Stadienbestimmung eine Treffsicherheit von nahe 90%. Daneben gibt es schon auf der Leeraufnahme Hinweise auf auslösende Nachbarschaftsverletzungen wie Rippenbrüche und Querfortsatzabrisse sowie indirekte Traumazeichen wie eine reflektorische Skoliose, einen fehlenden Psoasschatten und einen verlagerten Darmanteil. Ferner informiert es über vorbestehende Fehlbildungen und Krankheiten. Die Sonographie hat die Vorteile unvermittelter Darstellung, fehlender Strahlenbelastung und beliebiger Wiederholbarkeit. Sie zeigt Extravasate, Hämatome und Parenchymläsionen mit hoher aber geringerer Verläßlichkeit als die Computertomographie, liefert aber keine Informationen über die Ausscheidungsfunktion. Sie bietet daher keine Alternative, sondern eine wertvolle Ergänzung der Röntgenverfahren zur Verlaufskontrolle. Mit der Computertomographie lassen sich nahezu alle Formen und Grade des Nierentraumas mit höchster Sensitivität (95%) feststellen. Als nichtinvasive, aber mit einer Strahlenbelastung verbundene, dreidimensionale Schnittanalyse bildet sie Gefäßläsionen, Parenchymzerstörungen, Extravasate, Hämatome und Begleitverletzungen in ihrer Ausdehnung ab. Sie vermag unzureichende urographische Befunde aufzuklären, die Arteriographie — außer bei akuter arterieller Thrombose — weitgehend zu ersetzen und ist damit bei fehlendem Blutungsschock das wichtigste Entscheidungskriterium der Therapie. Therapie: Alle Maßnahmen richten sich nach dem Verletzungsschweregrad und zielen darauf ab, möglichst viel funktionstüchtiges Organgewebe zu erhalten. Nierentraumen Grad I und II A ohne protrahierte Blutung und ohne retroperitoneale Extravasation heilen gewöhnlich folgenlos aus und bedürfen bei Bettruhe bis zur Symptomfreiheit nur klinischer Kontrollen (Harnstatus, Sonographie, eventuell Urographie und CT). Bei transfaszialem Blut- und Harnaustritt ins Retroperitoneum (Grad II B) drohen Blutungsschock, Harnphlegmone und Narbenfibrose. Sie erfordern je nach den Begleitumständen eine retro- oder transperitoneale Operation mit Hohlraumverschluß und Wunddrainage. Thrombosierte Intimaeinrisse (Grad III A) führen ohne umgehende Revaskularisation zu irreversiblen Organschäden. Kritische Gefäß- und/oder Nierenrupturen (Grad III B) zwingen durch profuse Blutung zur Notlaparotomie. Hierbei ist die
2 3 . 3 Harnleiterverletzungen
311
primäre Kontrolle der Nierenarterien anzustreben, um Nephrektomien zur Blutstillung zu vermeiden und Rekonstruktionen zur Organerhaltung zu ermöglichen. Aus den aktuellen Verletzungsbefunden ergeben sich die notwendigen Operationstechniken. Eine thrombosierte Nierenarterie wird durch Thrombektomie, Veneninterposition oder Prothesenumgehung revaskularisiert. Rupturierte Gefäße lassen sich mit Übernähung, End-zu-End-Anastomose, Veneninterposition oder Vasotransposition wieder herstellen. Eine abgerissene Einzelniere rechtfertigt bei kurzer Ischämie nach hypothermer Konservierung einen Replantationsversuch. Am Nierengewebe werden blutende Gefäße, eventuell unter intermittierender Abklemmung der Nierenarterie bis zu 3 0 Minuten, gezielt umstochen, avitale Anteile entfernt und gut durchblutete readaptiert. Der Verschluß von Kelchsystem, Nierenbecken oder Harnleiter erfolgt mit innerer Schienung. Nur eine aussichtslos zertrümmerte Niere ist eine Indikation zur Nephrektomie. Komplikationen: Auch nach sach- und zeitgerechter Erstversorgung kann es zu Blutungsrezidiv, Harnfistel, Wundinfektion, Abszedierung oder Sepsis kommen. Diese Frühkomplikationen müssen durch entsprechende Verlaufskontrolle erkannt und zumeist durch operative Revision behoben werden. Etwa 1 0 - 3 0 % der Verletzten erleiden nach Monaten bis Jahren noch Spätkomplikationen: als Folge von Blut- und Harnaustritten ins Retroperitoneum Pseudozysten, Abszesse, Fibrosen, Harnleiterstenosen, Hydronephrosen und Nierensteine; als Folge von Gefäßläsionen Thrombosen, Aneurysmen und arteriovenöse Fisteln sowie als Folge von Parenchymnekrosen renale Insuffizienzen und/oder Hypertonien. Um derartige Folgeschäden möglichst frühzeitig erfassen und behandeln zu können, sind bis zu 2—3 Jahre nach dem Trauma bis '/^jährliche Nachuntersuchungen von Blutdruck, Harnstatus, Retentionswerten, Sonographie, Urographie oder Isotopen-Clearance erforderlich.
23.3 Harnleiterverletzungen Ursachen und Folgen: Etwa 2—5% aller urologischen Verletzungen entfallen auf die Harnleiter. Zu den Ursachen zählen bis zu 4 5 % Penetrationstraumen, überwiegend durch Schuß-, weniger durch Stichläsionen. Hierbei sind für gewöhnlich andere Organe mit beteiligt, vor allem Dünndarm, Dickdarm, Gefäßsystem, Leber, Niere, Pankreas, Lunge, Magen u. a. Seltener führen, bevorzugt bei Kindern und Jugendlichen, stumpfe Gewalteinwirkungen mit extremer Seitwärtsstreckung, Hochschleudern der Niere oder Kompression zwischen Knochen zu Harnleiterabrissen im oberen oder mittleren Drittel. Die andere Hälfte der Harnleiterverletzungen entsteht durch chirurgische Eingriffe wie Hysterektomien (60—80%), Rektumresektionen/Amputationen (10-15%), Bauchaortenaneurysmaresektionen (5—10%) sowie transurethrale Resektionen und ureterale Steinextraktionen. Jede
312
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10 mm.
Neben der Mehrbeweglichkeit ist die Schmerzintensität und der Anschlag (hart, fest, federnd, weich, nicht vorhanden) zu beurteilen. Je abrupter ein Band gestreckt wird, desto eher kommt es zu einer Zerreißung bis hin zum knöchernen Ausriß ohne vorherige fließende Dehnung der Kollagenfasern. Dieser muß mit Röntgenaufnahmen immer ausgeschlossen werden. Die Klassifikation der Instabilitäten unterscheidet: • Instabilitäten um eine Achse oder in einer Ebene, • Rotationsinstabilitäten und • kombinierte Instabilitäten. Je schwerer eine Verletzung ist, desto sicherer findet sich eine komplexe Instabilität. Fehlt ein Erguß, ist dies nicht unbedingt ein Beweis für die Harmlosigkeit eines Traumas. Gerade bei ausgedehnten Verletzungen kommt es zu „trockenen" Knien durch zerrissene, oft dorsal gelegene Kapselstrukturen mit Abfluß in die Weichteile (diffuse Schwellung). Die Untersuchung folgt einem bewährten Schema: Prüfung der Seitenstabilität in Streckstellung (bei positivem Befund sind auch die hinteren seitlichen Strukturen, u.U. auch das vordere Kreuzband zerrissen), in 30° Beugung (positiv: isolierte Seitenbandruptur), Prüfung der Schublade in 30°- und 90°-Beugung nach vorn und nach hinten, Prüfung auf Rotationsstabilität in 30°-Beugung in Neutral-, Innenund Außenrotation. Die Tabelle 28.1 ist als diagnostischer Leitfaden gedacht. Diagnostiktabelle: Differentialdiagnose der Kniebandverletzungen unterschiedlichen Schweregrades, modifiziert nach Muhr und Wagner und nach W. Müller. Verletzung der Seitenbänder Ursache: Die Gewalt wirkt direkt (z.B. Pkw-Stoßstange) oder indirekt (fixierter Unterschenkel bei seitlichem Sturz) so ein, daß das Gelenk in Varus- bzw. Valgusrichtung aufgeklappt wird. Auch stärkere Verdrehungen im Gelenk führen zu Seitenbandläsionen. Diagnose: Spontan-, Druck- und Aufklappschmerz im Verlauf des Bandes, diffuse Schwellung, Hämatom. Gerissene Bänder sind häufig weniger schmerzhaft als elongierte und werden damit leichter übersehen. Die seitlichen Stabilitätsprüfungen in Streckstellung und in 30°-Beugung (s. Tab. 28.1) differenzieren den Schweregrad
2 8 . 4 Kniegelenk
421
der Verletzung, durch die übrigen Tests werden weitere mögliche Läsionen ausgeschlossen. Das Röntgenbild zeigt knöcherne Bandausrisse, in der gehaltenen Technik kann die Aufklappung dokumentiert werden. Beim Verdacht einer intraartikulären Mitbeteiligung empfiehlt sich die Arthroskopie in Operationsbereitschaft. Therapie: Bei Bandverletzungen Grad I genügt meist ein Tape-Verband zur externen Stabilisierung für 3 bis 4 Wochen. Bis zum Abklingen der Schmerzen empfiehlt sich Bettruhe mit einem kleinen Kissen unter der Kniekehle, isometrische Spannnungsübungen. Später folgen aktive Bewegungsübungen mit steigender Belastung im schmerzfreien Rahmen. Jede nachweisbare Instabilität (meist ab Grad III) stellt eine sofortige Operationsindikation dar. Dabei ist neben der eigentlichen Seitenbandnaht das dorsomediale und laterale Kapseleck mit den Menisken zu inspizieren und gegebenenfalls zu rekonstruieren. Lateral ist auf den N. peronaeus zu achten. Adaptationsnähte stellen die Kontinuität wieder her, rahmenartige Spannähte entlasten das Rißgebiet und gewährleisten eine straffere Vernarbung. Flächenhafte Banddesinsertionen und knöcherne Ausrisse werden mit einer Schraube und gezackten Unterlegscheiben fixiert. In der Nachbehandlung konkurriert die Oberschenkelliegegips-Behandlung (6 Wochen in 30°-Flexion) mit funktionellen Techniken mit limitiertem Bewegungsausmaß (meist 0/30/60°). Beide erbringen annähernd gleich gute Stabilitätsergebnisse, im zweiten Fall ist die freie Gelenkbeweglichkeit häufig eher zu erreichen. Riß der Kreuzbänder Ursache: Hyperextensions- und Innenrotationstraumen können an der vorderen Kondylendachkante zu isolierten vorderen Kreuzbandrupturen führen. Der isolierte Riß des vorderen Kreuzbandes galt früher als sehr seltene Verletzung. Durch verfeinerte klinische Tests und routinemäßige Anwendung der Arthroskopie bei Hämarthros wird diese Diagnose wesentlich häufiger gestellt. Diagnose: Positiver Lachmanntest und positives laterales Pivot-Shift-Zeichen (Tab. 2 8 . 2 ) bei vorderem Kreuzbandriß. Hintere positive Schublade bei R i ß des hinteren Kreuzbandes. Rißformen: Knöcherne Bandausrisse, meist tibial. Von den reinen Bandrissen haben die tibialen wegen der erhaltenen Durchblutung die beste Prognose. Therapie: Beim Riß kann nur eine operative Wiedervereinigung Stabilität zurückgewinnen. Konservatives Vorgehen führt nicht zum Ziel, selbst mehrmonatige Immobilisation erreicht keine Adaptation der Bandstümpfe. Beim knöchernen Bandausriß: Reinsertion durch Zuggurtung. Sonst transossäre Naht in Zugrichtung des Bandes. Postoperative Ruhigstellung im Oberschenkelliegegips mit oder ohne limitiertes Bewegungsausmaß (s. Seitenbänder). Intensive krankengymnastische Nachbehandlung zur Gelenkmobilisation und Stärkung der Muskulatur ist unabdingbar. Bei verbleibender Instabilität droht eine Meniskusläsion und eine vorzeitige Arthrose.
422
28 Verletzungen der unteren Gliedmaße
Tabelle 28/1 Abduktionstest (0°) Streckstellung und Neutralrotation Ergebnis: medial 3 - 5 mm (+) aufklappbar Läsionen: hinteres Schrägband evtl. medialer Meniskus teilweise oder überdehntes mediales Seitenband Abduktionstest (30°) 30°-Beugung und Außenrotation
Läsionen: Lig. popliteum arcuatum laterales Kapselband evtl. lateraler Meniskus teilweise oder überdehntes laterales Seitenband Adduktionstest (30°) 30°-Beugung und Außenrotation Ergebnis: lateral 3—5 mm (+) aufklappbar Läsionen: laterales Kapselband (mittleres Drittel) evtl. lateraler Meniskus teilweise oder überdehnt laterales Seitenband (Seitenvergleich, physiologisch geringe laterale Aufklappbarkeit)
28.4 Kniegelenk
medial 5 - 1 Omm ( + + ) aufklappbar
medial 10mm (+ + + ) aufklappbar
hinteres Schrägband mediales Kapselband evtl. medialer Meniskus mediales Seitenband evtl. vorderes Kreuzband
hinteres Schrägband mediales Kapselband evtl. medialer Meniskus mediales Seitenband vorderes Kreuzband hinteres Kreuzband (massiv aufklappbar)
medial 5 - 1 Omm ( + + ) aufklappbar
medial 10mm (+ + + ) aufklappbar
mediales Kapselband mediales Seitenband hinteres Schrägband evtl. medialer Meniskus
mediales Kapselband mediales Seitenband hinteres Schrägband evtl. medialer Meniskus vorderes Kreuzband
lateral 5 - 1 Omm ( + + ) aufklappbar
lateral 10mm (+ + + ) aufklappbar
Lig. popliteum arcuatum laterales Kapselband evtl. lateraler Meniskus laterales Seitenband Sehne des M. popliteus
Lig. popliteum arcuatum laterales Kapselband evtl. lateraler Meniskus laterales Seitenband Sehne des M. popliteus Tractus iliotibialis vorderes Kreuzband, evtl. hinteres Kreuzband
lateral 5 - 1 Omm (+ +) aufklappbar
lateral 1 Omm (+ + +) aufklappbar
laterales Kapselband (mittleres Drittel) evtl. lateraler Meniskus Tractus iliotibialis teilweise oder überdehntes laterales Seitenband
laterales Kapselband evtl. lateraler Meniskus Tractus iliotibialis laterales Seitenband Lig. popliteum arcuatum Sehne des M. popliteus
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424
28 Verletzungen der unteren Gliedmaße
Tabelle 28/1 (Forts.) Lachmanntest 20-30°-Beugung und Neutralrotation Ergebnis: vordere gerade Schublade von 3—5 mm ( + ) Läsionen: evtl. vorderes Kreuzband, isoliert Vord. Schubladentest 60 + 90°-Beugung und Neutralrotation Ergebnis: vordere gerade Schublade von 3 - 5 mm ( + ) Läsionen: evtl. vorderes Kreuzband, isoliert evtl. medialer Meniskus evtl. hinteres Schrägband
Rotationsinstabilität Da eine Bewegungsrichtung nie von einer Struktur allein geschützt wird, sind durch stärkere Gewalteinwirkung (Verkehrs- und Ski- respektive Sportunfälle) häufig mehrere — synergistisch arbeitende — Strukturen zerrissen. Die bekannteste Mehrfachverletzung ist die von O'Donoghne 1 9 5 0 beschriebene »unhappy triad«: Riß des inneren Seitenbandes, des vorderen Kreuzbandes und des Innenmeniskus. Die Einteilung in verschiedene Rotationsinstabilitäten hat sich aber aus biomechanischen Überlegungen durchgesetzt. Die normalerweise im Zentrum des Tibiaplateaus gelegene Rotationsachse verlagert sich nunmehr — je nach Verletzung — auf einen äußeren Quadranten. Die Untersuchung erfolgt am 30° gebeugten Unterschenkel in Neutral-, Innen- und Außenrotation. Nach ihrer Häufigkeit unterscheidet man • Anteromediale Rotationsinstabilität Nach einem Valgus-, Außenrotations- und Flexionsstreß reißt das Innenband bis hinten zur mediodorsalen Kapselschale, das vordere Kreuzband und der Innenmeniskus am kapsulären Ansatz. Bei klinischer Prüfung dreht der mediale Tibiakopf besonders bei Außenrotation nach vorn. • Anterolaterale Rotationsinstabilität Nach einem Streß in Adduktion, Innenrotation und leichter Flexion kommt es zur Läsion des Außenbandes bis zur dorsolateralen Kapselschale (Popliteuseck), des
28.4 Kniegelenk
425
vordere gerade Schublade von 5 - 1 0 m m ( + + )
vordere gerade Schublade 10mm ( + + + )
vorderes Kreuzband evtl. medialer Meniskus evtl. hinteres Schrägband teilweise oder überdehnt mediales und laterales Kapselband teilweise oder überdehnt mediales und laterales Seitenband
vorderes Kreuzband mediales Kapselband mediales Seitenband evtl. hinteres Schrägband evtl. medialer Meniskus; evtl. laterales Kapselband, evtl. Tractus iliotibialis; evtl. laterales Seitenband
vordere gerade Schublade von 5—10mm ( + + )
vordere gerade Schublade 10mm ( + + + )
vorderes Kreuzband hinteres Schrägband evtl. medialer Meniskus
vorderes Kreuzband hinteres Schrägband mediales Kapselband mediales Seitenband
teilweise oder überdehnt mediales und laterales Kapselband teilweise oder überdehnt mediales und laterales Seitenband
evtl. medialer Meniskus; evtl. laterales Kapselband, evtl. Tractus iliotibialis; evtl. laterales Seitenband
vorderen Kreuzbandes und oft auch des Außenmeniskus. Die Rotationsschublade ist besonders in Innenrotation deutlich. • Posterolaterale Rotationsinstabilität Riß des Außenbandes bis zum Popliteuseck und des hinteren Kreuzbandes. • Posteromediale Rotationsinstabilität Ist noch seltener. Therapie: Entspricht der operativen Behandlung der zerrissenen Einzelstrukturen.
2 8 . 4 . 1 0 Luxation im Kniegelenk Ursache: Direkte und/oder indirekte schwere Gewalteinwirkungen auf das Kniegelenk können zu Teil- oder kompletten Luxationen nach allen Richtungen führen; am häufigsten ist die anterolaterale Luxation. Diagnose: Augenfällig ist die Gelenkfehlstellung mit federnder Fixation. Bei der anterolateralen Luxation steht der Unterschenkel in Valgusstellung und Außenrotation, bei der selteneren posterolateralen findet ein Varus und Innenrotation. Eine eingezogene Falte im Verlauf des medialen Gelenkspaltes entsteht durch eingeschlagene Kapselbandstrukturen. Überprüfung von Motorik, Sensibilität und Zirkulation vor und nach Reposition! Ausschluß knöcherner Verletzungen durch a.-p. und seitliche Röntgenaufnahmen.
426
28 Verletzungen der unteren Gliedmaße
Tabelle 28/2 Lateral Pivot-Shift-Beugung in Innenrotation unter Valgusstreß Ergebnis: Reposition des subluxierten lateralen Schienbeinkopfes während zunehmender Beugung bei ca. 3 0 - 5 0 Grad Läsionen: vorderes Kreuzband Hinterer Schubladentest 60 + 90°-Beugung und Neutralrotation
/
Ergebnis: hintere gerade Schublade von 3—5mm (+) Läsionen: hinteres Schrägband Lig. popliteum arcuatum evtl. medialer und lateraler Meniskus evtl. auch hinteres Kreuzband isoliert Anteromediale Rotationsinstabilität 60 + 90°-Beugung und Außenrotation Ergebnis: vordere Rotationsschublade von 3—5mm ( + ), der mediale Schienbeinkopf dreht gering nach
Läsionen: mediales Kapselband evtl. hinteres Schrägband evtl. mediales Seitenband evtl. medialer Meniskus Anterolaterale Rotationsinstabilität 60 + 90°-Beugung und Innenrotation Ergebnis: vordere Rotationsschublade von 3 - 5 mm ( + ) , der laterale Schienbeinkopf dreht gering nach vorn Läsionen: Lig. femurotibiale laterale anterius evtl. vorderes Kreuzband
28.4 Kniegelenk
427
Dem lateral pivot shift zur Aufdeckung einer vorderen Kreuzbandinsuffizienz sind der Jerk-Test, der Test nach Slocum, der Test nach Losee und der Überkreuzungstest ähnlich.
hintere gerade Schublade von 5—10mm ( + + )
hintere gerade Schublade 10mm ( + + + )
hinteres Kreuzband hinteres Schrägband Lig. popliteum arcuatum evtl. medialer und lateraler Meniskus evtl. mediales und laterales Kapselband evtl. mediales und laterales Seitenband
hinteres Kreuzband hinteres Schrägband Lig. popliteum arcuatum mediales und laterales Kapselband mediales und laterales Seitenband evtl. medialer und lateraler Meniskus
vordere Rotationsschublade von 5 - 1 0 m m ( + + ) , vordere Rotationsschublade 10mm (+ + + ), der mediale Schienbeinkopf dreht nach vorn, Ge- der mediale Schienbeinkopf dreht nach vorn, der Gelenkspalt öffnet sich medial lenkspalt öffnet sich medial mediales Kapselband hinteres Schrägband evtl. mediales Seitenband evtl. mediale Meniskusbasis evtl. vorderes Kreuzband
mediales Kapselband mediales Seitenband hinteres Schrägband evtl. medialer Meniskus vorderes Kreuzband
vordere Rotationsschublade von 5—10mm ( + + ), vordere Rotationsschublade 10mm (+ + + ), der laterale Schienbeinkopf dreht nach vorn, der laterale Schienbeinkopf dreht nach vorn, Gelenkspalt öffnet sich lateral Gelenkspalt öffnet sich lateral Lig. femurotibiale laterale anterius vorderes Kreuzband evtl. Lig. popliteum arcuatum evtl. lateraler Meniskus
Lig. femurotibiale laterale anterius vorderes Kreuzband Lig. popliteum arcuatum evtl. laterales Seitenband evtl. laterales Kapselband
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28 Verletzungen der unteren Gliedmaße
Tabelle 28/2 (Forts.) Posteromediale Rotationsinstabilität 60 + 90°-Beugung und Innenrotation Ergebnis: hintere Rotationsschublade von 3—5mm (+), der mediale Schienbeinkopf dreht gering nach hinten Läsionen: hinteres Schrägband evtl. medialer Meniskus evtl. mediales Kapselband evtl. mediales Seitenband Posterolaterale Rotationsinstabilität 60 + 90°-Beugung und Außenrotation /
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Ergebnis: hintere Rotationsschublade von 3 - 5 m m ( + ), der laterale Schienbeinkopf dreht gering nach hinten Läsionen: Lig. popliteum arcuatum evtl. lateraler Meniskus evtl. laterales Kapselband evtl. laterales Seitenband
Therapie: Narkose, Muskelrelaxantien. Reposition durch Zug am Unterschenkel in Rechtwinkelstellung vermeidet weitere Verletzung von Gefäßen, Nerven und Bändern; die Sehnen des Pes anserinus stellen so kein Repositionshindernis dar. Nach Einrenkung wird entsprechend der Diagnostiktabelle das Ausmaß der Schädigung festgestellt, die gelungene Reposition röntgenologisch überprüft. Da immer höhergradige Verletzungen der Kapselbandstrukturen vorliegen, müssen die Läsionen primär operativ versorgt werden.
28.5 Unterschenkel G. H. Engelhardt 28.5.1 Schienbeinkopfbrüche Ursache: Längsstauchung, seitliche Einwirkung von Scherkräften oder übermäßige Rotationsbewegungen führen zu Schienbeinkopfbrüchen. Stets verläuft der Bruch durch die Gelenkfläche des Tibiakopfes, was für die Therapie und die spätere Funktion von Bedeutung ist. Die Fragmente können ohne Verschiebung bleiben, abgespalten oder in den spongiösen Knochen imprimiert sein.
28.5 Unterschenkel
hintere Rotationsschublade von 5—10mm ( + + ), der mediale Schienbeinkopf dreht nach hinten, Gelenkspalt öffnet sich medial
hintere Rotationsschublade 10mm ( + + + ), der mediale Schienbeinkopf dreht nach hinten, Gelenkspalt öffnet sich medial
hinteres Schrägband medialer Meniskus mediales Kapselband mediales Seitenband evtl. vorderes Kreuzband teilweise oder überdehnt evtl. gedehntes hinteres Kreuzband
hinteres Schrägband medialer Meniskus mediales Kapselband mediales Seitenband vorderes Kreuzband hinteres Kreuzband überdehnt
hintere Rotationsschublade von 5 - 1 0 m m ( + + ), der laterale Schienbeinkopf dreht nach hinten, Gelenkspalt öffnet sich lateral
hintere Rotationsschublade 10mm (+ + + ), der laterale Schienbeinkopf dreht nach hinten, Gelenkspalt öffnet sich lateral Lig. popliteum arcuatum lateraler Meniskus laterales Kapselband mediales Seitenband hinteres Kreuzband
Lig. popliteum arcuatum lateraler Meniskus laterales Kapselband mediales Seitenband evtl. hinteres Kreuzband
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Einteilung: Tibiakopffrakturen treten monokondylär oder bikondylär auf. Man unterscheidet (Abb. 28/9): • Spaltbruch; • Depressionsbruch; • Impressionsbruch; • kombinierte Bruchformen (Depression und Impression; T-, Y-, V-Brüche). Spaltbrüche sind nicht disloziert; da die Bänder und Menisken nicht mitverletzt sind, ist das Kniegelenk stabil. Depressionsbrüche zeigen eine Abtrennung von Schienbeinkopfteilen mit Dislokation nach kaudal oder kranial. Durch Mitverletzung des kontralateralen Seitenbandes und der Menisken ist die Stabilität des Gelenks vermindert. Manchmal ist das Wadenbeinköpfchen auch gebrochen. Impressionsbrüche zeigen einen Einbruch von Gelenkflächenanteilen in den spongiösen Schienbeinkopf. Band- und Meniskusverletzungen sind möglich.
430
28 Verletzungen der unteren Gliedmaße
Abb. 28/9 Einteilung der Schienbeinkopfbrüche. a) monokondylärer Bruch; b) bikondylärer Bruch; c) Spaltbruch; d) Depressionsbruch; e) Impressionsbruch; f) Depressions-Impressionsbruch; g) T-Y-V-Bruch
B egleitverletzungen: • Bruch des Wadenbeinköpfchens; • Kreuzbandverletzungen; • Ausriß der Eminentia intercondylaris; • Seitenbandverletzungen; • Meniskusverletzungen; • Verletzungen des dorsalen Gefäßnervenstrangs. Diagnose: Spontan- und Bewegungsschmerz mit Krepitation, Schwellung, Gelenkerguß (Hämarthros), eventuell deforme Valgus- oder Varusstellung des Unterschenkels. Die aktive Beweglichkeit im Kniegelenk ist aufgehoben. Passive Beweglichkeit eventuell abnorm. Unentbehrlich ist auch hier die Prüfung auf Sensibilität und Motorik (N. peroneus) sowie auf Durchblutung (A. tibialis anterior, A. dorsalis pedis).
2 8 . 5 Unterschenkel
431
Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen und tomographische Zusatzaufnahmen lassen die genaue Bruchform bestimmen. Therapie: Falls keine Verschiebungen an der Gelenkfläche und keine Stufenbildung besteht, kann konservativ behandelt werden. Nach Punktion des Kniegelenksergusses erfolgt für 1 bis 2 Wochen eine Fersenbeinextension bei gleichzeitig aktiven Bewegungsübungen (Bewegungsschiene). Danach wird für 3 bis 4 Wochen ein Oberschenkelgips angelegt. Entlastungsdauer 10 bis 12 Wochen. Die meisten Tibiakopffrakturen zeigen Verschiebungen und sollten operativ behandelt werden. Vor allem kommt es darauf an, die Gelenkfläche durch Reposition, Osteosynthese und Unterfütterung mit Spongiosa wiederherzustellen. Begleitverletzungen werden entsprechend versorgt. Heilungsdauer 10 bis 12 Wochen.
2 8 . 5 . 2 Abriß der Tuberositas tibiae Ursache: Plötzlicher starker Zug des Lig. pataellae und der Quadrizepssehne. Diagnose: Druckschmerz, Deformierung und Hämatombildung über der Tuberositas tibiae. Das Bein kann nicht gestreckt oder beim liegenden Patienten in gestrecktem Zustand nicht von seiner Unterlage erhoben werden. Therapie: Operative Osteosynthese (Schrauben).
2 8 . 5 . 3 Unterschenkelschaftbrüche (s. auch Abschn. 29.5.3) Ursache: Die häufige Fraktur beider Unterschenkelknochen entsteht durch direkte oder indirekte Gewalteinwirkung (Sport- und Straßenverkehrsunfälle). Ist nur ein Knochen gebrochen, so spricht man von einem Schienbein- oder Wadenbeinbruch. Bei hohen Fibulafrakturen ist immer zu prüfen, ob eine Verletzung des oberen Sprunggelenks vom Typ Maisonneuve vorliegt. Bei isolierten Fibulafrakturen fehlen Hämatom, Spontan- und Druckschmerz an der vorderen Syndesmose. Einteilung: Geschlossene und offene Unterschenkelbrüche unterscheidet man nach der Frakturhöhe (oberes, mittleres, unteres Drittel), dem Bruchmuster (kurzer oder langer Querbruch, Spiralbruch), nach der Anzahl der Fragmente (Mehrfragmentbruch, Trümmerbruch, Deux-étages-Fraktur). Begleitverletzungen: • Weichteilverletzungen (offene Fraktur); • Tibialis-anterior-Syndrom (s. Abschn. 4.10); • Nerven- und Gefäßverletzungen. Diagnose: Typische Knochenbruchzeichen, Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen mit Darstellung der angrenzenden Gelenke.
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28 Verletzungen der unteren Gliedmaße
Zehenbeweglichkeit (N. peroneus) und Puls der A. dorsalis pedis und A. tibialis posterior immer im Vergleich mit der anderen Seite prüfen. Therapie: Isolierte Querbrüche der Tibia ohne Achsenknickung lassen sich konservativ behandeln mit einem Oberschenkelgehgipsverband für 6 bis 8 Wochen. Isolierte Tibiadrehbrüche sowie isolierte Dreh- und Biegungsbrüche des Unterschenkels gehören zunächst in eine Fersenbeindrahtextension. Diese dient auch der Reposition und bleibt 3 bis 4 Wochen bestehen. Anschließend wird ein ungepolsterter Oberschenkelgipsverband angelegt. Beim Querbruch ohne Verschiebung kann man sofort gipsen, muß den Gipsverband aber sofort vollkommen bis auf die Haut spalten (10 mm breiter Gipsstreifen mit oszillierender Säge heraustrennen), nach Abklingen der Schwellung legt man einen Gehgipsverband an. Das eingegipste Bein wird auf einer Schiene hochgelagert und regelmäßig auf Durchblutung, Schmerzen (Druckstellen), Sensibilität und Beweglichkeit der Zehen untersucht. Nach jeder Reposition, nach Anlegen des Gipsverbandes, nach Gipswechsel, später alle 14 Tage ist eine Röntgenkontrolle notwendig (Gefahr der sekundären Verbiegung). Bis zum Festwerden eines Unterschenkelbruchs dauert es mindestens 8 Wochen, bei Verschiebung mindestens 12 Wochen. Isolierte Brüche des Wadenbeins werden mit einem Zinkleimverband behandelt; falls der Verletzte damit nicht gehfähig ist, wird ein Gehgips für 2 bis 3 Wochen angelegt. Nachbehandlung: Nach Abnahme aller Gipsverbände vom Bein - also nach kallöser Heilung — ist es zunächst am zweckmäßigsten, sofort einen Zinkleimverband anzulegen, um die posttraumatische Schwellung, die mit Thrombophlebitis nicht zu tun hat, zu verhüten. Das Bein wird zur Abschwellung so oft als möglich hochgelagert, in der Nacht werden Dunstumschläge mit kaltem oder lauwarmem Wasser gemacht. In der Frühe vor dem Aufstehen wird das Bein mit elastischen Binden bandagiert. Das Bein soll täglich einmal warm gebadet werden (Heublumen oder sonstige Zusätze), anschließend wird die Haut durch Eincremen gepflegt. Eindeutige Indikationen für eine operative Behandlung bestehen bei offenen Frakturen, bei Mehrfachfrakturen und beim Polytrauma, bei konservativ nicht reponierbaren oder fixierbaren Brüchen. Alle anderen Bruchformen des Unterschenkelschaftes können relative Indikationen sein, wenn man die Vorteile der stabilen Osteosynthese mit der Möglichkeit der sofortigen krankengymnastischen Nachbehandlung (Thrombo-Embolie-Prophylaxe, keine Gefahr sekundärer Verschiebungen, verkürzte Krankenhausverweildauer) gegen die Nachteile der Fraktureröffnung mit lokaler Infektionsgefahr (posttraumatische Osteitis) abwägt. Als Operationsverfahren kommen besonders in Frage die Plattenosteosynthese (bei offenen sowie bei Schräg- und Spiralbrüchen), die Marknagelung mit Küntscher-,
28.5 Unterschenkel
433
AO- oder Verriegelungsnagel (bei Quer- und kurzen Schrägbrüchen) sowie der Fixateur externe bei Trümmerbrüchen und offenen Frakturen 2. und 3. Grades. Platten und Nägel werden nach 2 Jahren wieder entfernt. 2 8 . 5 . 4 Pilon-tibial-Fraktur Ursache: Durch axiale Stauchung bei Sturz aus großer Höhe, beim Skilaufen oder bei Straßenverkehrsunfällen kann es zu distalen Tibia-Gelenkfrakturen im Sinne des Pilon tibial kommen. Sie reichen immer in das obere Sprunggelenk hinein und führen häufig zu einer schweren Zerstörung der Gelenkfläche mit Spongiosadefekten. Fibula, Talus oder Kalkaneus können zusätzlich frakturiert sein. Die Form der Fraktur und der Einstauchung hängt ab von der Stellung des Fußes bei der Frakturentstehung und von den zusätzlichen Schub-, Dreh- oder Scherkräften. Einteilung nach Weber (Abb. 28/10):
Abb. 28/10 Einteilung der Pilon-tibial-Frakturen nach Weber. a) Typ Weber A; b) Typ Weber B; c) Typ Weber C
Typ A: Vorderes und hinteres Kantenfragment durch axiale Stauchung in Mittelstellung; Typ B: Fraktur mit großem vorderen Kantenfragment durch Stauchung bei dorsal flektiertem Fuß; Typ C: Fraktur mit großem hinteren Kantenfragment durch Stauchung bei plantar flektiertem Fuß. Diagnose: Spontan- und Druckschmerz mit erheblicher Schwellung des distalen Unterschenkels. Functio laesa. Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen. Therapie: Zur konservativen Behandlung eignen sich nur Frakturen ohne Verschiebung bei erhaltener Gelenkfläche und ohne Bandverletzungen. In der Regel müssen Pilon-tibial-Frakturen operiert werden. Bei stärkerer Weichteilschwellung kann zunächst eine Fersenbeindrahtextension bis zum Rückgang der Schwellung angelegt-
434
28 Verletzungen der unteren Gliedmaße
werden, wodurch sich das Risiko einer postoperativen Wundheilungsstörung vermindert. Bei der Operation sollen die anatomischen Gelenkflächen wiederhergestellt, Spongiosadefekte mit autologer Spongiosa aufgefüllt, die Fragmente durch stabile Osteosynthese fixiert und Bänderrisse genäht werden. Das Bein muß mindestens 3 Monate entlastet werden (Unterarmgehstützen).
28.5.5 Riß der Achillessehne Ursache: Bei Überschreiten der Belastungsgrenze oder aufgrund degenerativer Veränderungen kommt es zur Ruptur der Achillessehne (häufig als Sportverletzung). Die medial der Achillessehne verlaufende Plantarissehne bleibt meist unverletzt und kann so eine „Teilruptur" der Achillessehne vortäuschen. Diagnose: Meist wird vom Verletzten ein charakteristisches Unfallgeschehen geschildert. In frischen Fällen sieht und tastet man eine Delle oberhalb der Ferse, wenn ein Querriß an dieser Stelle sitzt. Er kann aber auch weiter proximal sitzen, auch am Übergang zum Muskel. Der Verletzte kann nicht auf den Zehenspitzen gehen, die Plantarflexion des Fußes ist unmöglich (Vergleich zur gesunden Seite). Röntgenaufnahmen des oberen Sprunggelenks mit Kalkaneus in zwei Ebenen lassen eventuell einen knöchernen Achillessehnenausriß erkennen. Therapie: Naht mit anschließender Ruhigstellung im Gipsverband für 6 Wochen. Zunächst wird ein Oberschenkelgips mit Beugestellung des Kniegelenks von 150° und Spitzfußstellung von 140° angelegt. Nach 2 Wochen Ersatz des Oberschenkelgipses durch einen Unterschenkelgips mit verringerter Spitzfußstellung. Erneuter Gipswechsel nach weiteren 2 Wochen und dritter Gips in weiter verringerter Spitzfußstellung für 2 Wochen. Danach Wadenmuskelgymnastik durch krankengymnastische Übungsbehandlung (Schwimmen). Absatz für 3 Monate um 2 cm erhöhen, kein Barfußgang.
2 8 . 6 Sprunggelenk 28.6.1 Distorsion Ursache: Durch gewaltsames Verdrehen des Fußes gegenüber dem Unterschenkel oder umgekehrt. Diagnose: Schwellung, schmerzhafte Bewegungseinschränkung, Druckschmerz diffus oder umschrieben. Der Gang ist schmerzhaft behindert. Beachte: Immer prüfen, ob Bandlockerung besteht. Therapie: Primär feuchte Umschläge und Salbenverbände; Hochlagern des Beins, bis die Schwellung zurückgegangen ist. Bei starker Schwellung empfiehlt sich auch das Anlegen einer dorsalen Gipsschiene. Nach Gipsabnahme oder Rückgang der
28.6 Sprunggelenk
435
Schwellung Bandage des Unterschenkels mit elastischen Binden oder Zinkleimverband für 3 bis 4 Wochen anlegen. 2 8 . 6 . 2 Bandverletzungen der Sprunggelenksgabel a) Seitenlockerung (Lateralsubluxation), entsteht durch Pronation des Fußes oder Verdrehung. Charakteristisch ist der „Anschlag", der auslösbar ist, sofern der innere Knöchel nicht gebrochen ist. Prüfung des „Anschlags": Eine Hand hält den Unterschenkel, die andere die Ferse und schiebt nun ohne Verbiegung und Verdrehung den Fuß rein seitlich hin und her. Man spürt bei entsprechender Verletzung deutlich, daß das Sprungbein bei Innenverschiebung an den inneren Knöchel „anschlägt" (Prüfung nicht einfach). Zugrunde liegt dieser Verletzung eine Zerreißung des vorderen, manchmal auch des hinteren Bandes und häufig auch eine Dehnung oder Zerreißung des Bandes unter dem inneren Knöchel. b) Supinationslockerung (Dehnung oder Zerreißung der Außenbänder des oberen Sprunggelenks). Es besteht eine verschieden starke Schwellung und Druckschmerzhaftigkeit im Bereich des äußeren Knöchels. Diagnose: Bei Verdacht auf eine Bandlockerung wird das Sprunggelenk in zwei Ebenen geröntgt, um Frakturen auszuschließen und um knöcherne Ausrisse an den Bandansatzstellen zu erkennen. „Gehaltene Röntgenaufnahmen" in Supinationsstellung lassen im Vergleich zur unverletzten Seite die vermehrte Aufklappbarkeit des Gelenks und/oder den vermehrten Talusvorschub erkennen. Wegen Schmerzhaftigkeit sind sie in Leitungsanästhesie des N. fibularis (s. Abschn. 16.2.4.) oder durch Sprunggelenkspunktion mit Instillation eines Lokalanästhetikums (Asepsis!) zu machen. Therapie: Bandlockerungen durch Zerrung, Überdehnung oder Teilruptur werden konservativ mit dorsaler Gipsschiene und nach Abschwellung mit einem Unterschenkel-Gehgips oder besser funktionell mit selbst gefertigten bzw. industriell hergestellten Schienen, die einem Varusstreß vorbeugen, behandelt. Dauer 6 Wochen. Diese Schienen können in normalen Konfektionsschuhen getragen werden, so daß der Verletzte alsbald wieder schul- bzw. arbeitsfähig ist. Anschließend wird ein Zinkleimverband angelegt oder der Unterschenkel mit elastischen Binden bandagiert. Frühzeitig aktive Bewegungsübungen mit Belastung. Schwere Bandzerreißungen mit entsprechendem klinischen Befund sollten operativ durch Naht versorgt werden. 28.6.3 Malleolarfrakturen Ursache: Malleolarfrakturen entstehen meistens durch Umknicken des Fußes, gelegentlich auch im Zusammenhang mit distalen Tibiafrakturen. Je nachdem, ob die
436
28 Verletzungen der unteren Gliedmaße
Verletzung durch Pro- oder Supination sowie durch Adduktion oder Eversion des Fußes zustande kommt, entstehen unterschiedliche Bruchformen, deren Unterscheidung auch für die Behandlung wichtig ist. Einteilung der Außenknöchelfrakturen nach Weber (Abb. 28/11):
a
b
c
Abb. 28/11 Einteilung der Malleolarfrakturen nach Weber. a) Typ Weber A; b) Typ Weber B; c) Typ Weber C
Typ A: Die Fibula ist in Gelenkhöhe oder weiter distal meist quer gebrochen. Der Innenknöchel kann sagittal abgeschert sein. Die Syndesmosenbänder, die Membrana interossea und das Lig. deltoideum bleiben immer unverletzt. Typ B: Die Fibula ist in Höhe der Incisura tibiae meist spiralförmig gebrochen. Die Syndesmose ist sehr oft, aber nicht immer, gerissen. Die dorsale Tibiakante (Volkmannsches Dreieck) kann abgeschert sein, der Innenknöchel kann gebrochen, das Lig. deltoideum rupturiert sein. Typ C: Die Fibula ist oberhalb der Syndesmose, irgendwo im Schaft, gelegentlich subkapital, gebrochen. Syndesmose und Membrana interossea sind völlig durchtrennt, wodurch eine ausgeprägte laterale Instabilität besteht. Innenknöchel und hintere Tibiakante sind oft mitverletzt. Eine Variante ist die Maisonneuve-Fraktur. Hohe Fibulafraktur mit Sprengung der Knöchelgabel durch Riß der Syndesmose, meist auch der Membrana interossea und des Lig. deltoideum sowie Abbruch der hinteren Tibiakante und Innenknöchelbruch. Alle drei Typen sind Verrenkungsbrüche, die Bänderschäden nehmen von Typ A bis Typ C zu. Variationen sind möglich, zum Beispiel können die Knöchelgabelbrüche mit einer Einstauchung der distalen Tibiagelenkfläche kombiniert sein (Pilontibial-Fraktur). Diagnose: Gehunfähigkeit oder Gangbehinderung, verschieden starke Schwellung, Hämatombildung, eventuell Deformierung, Druckschmerz, die Bewegungen im
28.7 Fuß
437
Sprunggelenk sind eingeschränkt oder aufgehoben. Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen, wobei die a.-p.-Aufnahme bei 20° Innenrotation gemacht wird, liefern die Diagnose. Therapie: Ziel der Behandlung ist die anatomisch genaue Wiederherstellung aller Läsionen an Knochen und Bändern, weil selbst eine geringe Instabilität oder Reposition der Frakturen mit nur geringer Stufenbildung später zu schweren Arthrosen führen. Für die konservative Behandlung eignen sich nur Frakturen vom Typ Weber A, die reponiert und für etwa 6 Wochen in einem Unterschenkelgipsverband ruhiggestellt werden. Der anfängliche Gipsschienenverband muß nach Rückgang der Weichteilschwellung durch einen aufgeschnittenen Rundgips ersetzt werden, der nach 3 Wochen zu einem Gehgips umgewandelt werden kann. Regelmäßige Röntgenkontrollen. Nach Gipsabnahme krankengymnastische Nachbehandlung. Frakturen vom Typ Weber B und C sollen nach Möglichkeit operativ behandelt werden.
28.7
Fuß
2 8 . 7 . 1 Wunden Wunden im Fußbereich sollen wegen der Infektionsgefahr immer ruhiggestellt und hochgelagert werden, am besten in einem Unterschenkel-Gipsschienenverband. Bei den nicht seltenen Stichwunden an der Fußsohle durch rostige Nägel exzidiert man die harte Haut der Umgebung so, daß ein Trichter von 5 mm Durchmesser und 2—3 mm Tiefe entsteht und verordnet Bettruhe für einige Tage. Tetanusprophylaxe nicht vergessen! Häufig kommt der Patient erst einige Tage nach der Verletzung zur Behandlung. Der Fußrücken ist gerötet und geschwollen. Durch Wundversorgung und konsequente Ruhigstellung im Gipsverband geht die Entzündung in der Regel wieder zurück, bei Fieber Antibiotika. 2 8 . 7 . 2 Talusfrakturen Ursache: Direkte Gewalteinwirkung bei Sturz aus größerer Höhe mit Stauchung und Abscherung. Der Talus besteht zu Vs aus Gelenkflächen, er hat keine Muskelansätze und wird mit den benachbarten Knochen durch Bänder verbunden. Deshalb sind bei fast allen Sprungbeinbrüchen Gelenkknorpel und Bandverbindungen beteiligt. Einteilung (Abb. 28/12): • Bruch des Caput tali; • Bruch des Collum tali; • Bruch der Trochlea tali;
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28 Verletzungen der unteren Gliedmaße Trochlea
Collum
• Sagittalbrüche; • Bruch des Proc. posterior tali/Proc. lateralis tali; • Kantenabsprengungen aus Gelenkflächen (Flake fractures). Begleitverletzungen: • • • •
Luxation im Sprunggelenk (Lux. pedis sub talo, Lux. pedis cum talo); Bruch der Knöchelgabe, des Fersenbeins; Verletzung der A. tibialis posterior; Spätkomplikation: Sprungbeinnekrosen, Arthrose im Sprunggelenk, Tarsaltunnelsyndrom.
Diagnose: Schwellung und Hämatombildung, schmerzhafte Bewegungseinschränkung im oberen und unteren Sprunggelenk, gelegentlich lassen sich luxierte Fragmente unter der Haut tasten. Bei den Röntgenaufnahmen des Sprunggelenks in 2 Ebenen soll die a.-p.-Aufnahmen mit 20° Innenrotation angefertigt werden, weil so der äußere Gelenkspalt besser beurteilt werden kann. Therapie: Ziel der Behandlung ist eine anatomisch genaue Reposition, eine dauerhafte Fixation und eine ausreichend lange Entlastung zur Revitalisierung. Luxationsfrakturen müssen sofort — notfalls offen — reponiert werden! Für eine konservative Behandlung eignen sich Frakturen ohne Fragmentverschiebung oder solche, die sich unblutig exakt einrichten lassen. Ruhigstellung im Unter-
2 8 . 7 Fuß
439
schenkelliegegips für 8 Wochen. Krankengymnastische Nachbehandlung. Entlastung je nach Bruchform 4 bis 6 Monate, bei Nekrosegefahr bis zu einem Jahr. Offene Frakturen sowie alle Frakturen, die sich konservativ nicht reponieren lassen, sollen möglichst innerhalb der ersten 8 Stunden operativ versorgt werden. Bei starker Weichteilschwellung wartet man besser den Rückgang der Schwellung ab, was gewöhnlich etwa 8 bis 10 Tage dauert. 2 8 . 7 . 3 Kalkaneusfrakturen Ursache: Meist wird bei Sturz aus großer Höhe der Talus mit axialer Stoßrichtung in den weichen, spongiösen Kalkaneus gepreßt, der dabei zerbricht. Gelegentlich kann es auch indirekt durch Zug der Wadenmuskulatur an der Achillessehne zum Abriß des Tuber calcanei kommen („Entenschnabelbruch"). Obschon er zu den häufigsten Verletzungen des Fußskeletts zählt, wird der Fersenbeinbruch nicht selten übersehen (Ehalt). Für das Gehen ist die Funktion des unteren Sprunggelenkes besonders wichtig, woraus sich für den Fersenbeinbruch „zwangsläufig die fundamentale Forderung der funktionellen Nachbehandlung, des Verzichts auf den Gipsverband" (Weber) ergibt. Der Gipsverband führt zur Fußversteifung und zur schmerzhaften Verklebung der Gleitgewebe (Peroneussehnen). Einteilung (Abb. 28/13): • Abrißfrakturen: Proc. anterior calcanei; Tuber ossis calcanei; Entenschnabelbruch. • Stauchungsbrüche: Impressionsfraktur ohne schwere Deformierung der Ferse; Berstungsbruch mit schwerer Deformierung der Ferse. Vidal hat die Fersenbeinbrüche in drei Schweregrade eingeteilt: Schweregrad I: Isolierte Fraktur ohne Beteiligung des unteren Sprunggelenkes. Schweregrad II: Fraktur mit Beteiligung des unteren Sprunggelenkes ohne größere Dislokation. Schweregrad III: Trümmerbruch mit erheblicher Zerstörung des unteren Sprunggelenkes. Diagnose: Spontan- und Druckschmerz beim Zusammendrücken des Fersenbeins (unter den Knöcheln) mit Daumen und Zeigefinger. Zunehmende Schwellung; die Ferse ist verbreitert. Die Bewegungen sind schmerzhaft eingeschränkt. Nach einigen Tagen Hämatombildung in der Fußsohlenmitte. Beim Entenschnabelbruch läßt
440
28 Verletzungen der unteren Gliedmaße
Abb. 28/13 Einteilung der Kalkaneusfrakturen. a) Abriß des Achillessehnenansatzes (Entenschnabelbruch); b) Abriß des Sustentaculum talare; c) Fraktur mit Beteiligung des unteren Sprunggelenkes; d) Trümmerbruch mit Beteiligung des unteren Sprunggelenkes
sich das ausgerissene und nach proximal verschobene Fragment unter der Haut tasten. Röntgenaufnahmen in 2 Ebenen sowie axiale Aufnahme. Therapie: Die Behandlung des Fersenbeinbruchs ist schwierig und auch heute noch nicht einheitlich. „Sie geht vom Nihilismus bis zur Exstirpation des Fersenbeins" (Ehalt). Dabei stehen die konservative, frühfunktionelle Behandlung ohne Gipsverband, die Behandlung mit Gipsverband und die operative Behandlung teils konkurrierend, teils sich ergänzend zur Wahl. Entscheidend ist die funktionelle Nachbehandlung. Wir folgen hier einem Therapiekonzept von Weber: Abrißbrüche der Achillessehne erfordern undiskutabel die Osteosynthese.
28.7 Fuß
441
Alle anderen Verletzungen können rein funktionell nachbehandelt werden, wobei jedoch eine verbreiterte Ferse geschlossen durch Manipulation verschmälert werden muß. Die operative Behandlung muß auf klaren Vorstellungen der pathologischen Anatomie aufbauen: Anheben des imprimierten Talus, Verschmälerung der Ferse durch Verschraubung der abgesprengten Kalkaneusseitenwand, allenfalls Herunterziehen des Tuber calcanei und Halten in situ, d.h. Normalisierung des Tubergelenkwinkels mit Hilfe kortikospongiöser Beckenkammspäne.
28.7.4 Fußwurzelverletzungen Ursache: Meist direkte Gewalteinwirkung. Frakturen des Kahnbeins, des Würfelbeins und der Keilbeine sind selten, gelegentlich sind sie mit Luxationen im Chopart- (gewöhnlich nach außen) oder im Lisfranc- (gewöhnlich nach plantar) Gelenk kombiniert. Diagnose: Außere Verletzungszeichen, Schwellung, eventuell Deformierung. Bei frischen Verletzungen springen die entsprechenden Knochenkanten scharf vor, später schwillt der ganze Fuß an. Auf Durchblutungsstörungen achten. Röntgenaufnahmen in 2 Ebenen. Therapie: Luxationen und Luxationsfrakturen müssen sofort reponiert werden. Zur Aufrechterhaltung einer guten Stellung ist eine temporäre perkutane Bohrdrahtfixation mit Gipsverband geeignet. Brüche der Fußwurzelknochen lassen sich meist konservativ mit einem Unterschenkelgips für 5 bis 6 Wochen behandeln.
28.7.5 Brüche der Mittelfußknochen Ursache: Meist direkte Gewalteinwirkung (Drauffallen von Gegenständen), seltener durch Sturz. Frakturen an der Basis des 5. Mittelfußknochens entstehen durch Umkippen des Fußes. Diagnose: Schwellung, später Hämatomverfärbung, manchmal Unfähigkeit aufzutreten; Druckschmerz, Zug- und Stauchungsschmerz an der betreffenden Zehe. Röntgenaufnahmen. Therapie: Einrichten, Gehgips. Auch bei Brüchen ohne Verschiebung und bei Fissuren muß immer ein Gehgips angelegt werden. Kommt es zur sekundären Verschiebung, so kann eine Fixation mit Kirschnerdraht als Markraumschienung gemacht werden. Durch Überbeanspruchung beim Marschieren kann es zu einem Ermüdungsbruch (s. Abschn. 11.4), der sogenannten Marschfraktur, in der Regel am 2. oder 3. Mittelfußknochen kommen. Sieht man keine Fissur, sondern nur eine periostale
442
28 Verletzungen der unteren Gliedmaße
Auflagerung, so spricht man von einem „Marschschaden". Wenn nicht konsequent ruhiggestellt wird, kann sich ein Kugelkallus entwickeln. Therapie: Gehgips für 4 Wochen, danach Zinkleim, Einlagen, Gymnastik. 28.7.6 Zehen — Brüche und Verrenkungen Ursache: Zehenbrüche entstehen meist durch direkte Traumen, häufig sind sie offen. Diagnose: Schwellung, Blauverfärbung, Druckschmerz, Hinken. Röntgenaufnahmen in 2 Ebenen. Therapie: Geschlossene Frakturen werden manuell reponiert und mit Heftpflasterstreifen unter Einbeziehen der benachbarten Zehe ruhiggestellt. Ein Bruch des Großzehengrundgliedes sowie Gelenkbrüche müssen eingerichtet (notfalls operativ) und in einem Unterschenkelgehgips für 4 Wochen ruhiggestellt werden. Verrenkungen der Zehenglieder bieten im frischen Zustand ein charakteristisches Aussehen, das später durch Schwellung verschwindet. Sie werden ohne oder mit örtlicher Betäubung eingerichtet, dann für einige Tage mit Heftpflasterstreifen ruhiggestellt, Großzehenluxationen werden im Unterschenkelgipsverband ruhiggestellt.
Weiterführende Literatur Baumgartl, F., R. Hohenbleicher, K. Seling: Kniegelenk. In: Spezielle Chirurgie für die Praxis (Hrsg. F.Baumgartl, K.Kremer, H.W.Schreiber), Bd.lII/2. Thieme, Stuttgart 1976 Baumgartl, F., R. Hohenbleicher, K. Seling: Schienbeinkopfbrüche. In: Spezielle Chirurgie für die Praxis (Hrsg. F.Baumgartl, K.Kremer, H.W.Schreiber), Bd.III/2. Thieme, Stuttgart 1976 Kuner, E.H.: Unterschenkel und Fuß. In: Spezielle Chirurgie für die Praxis (Hrsg. F.Baumgartl, K.Kremer, H.W.Schreiber), Bd.III/2. Thieme, Stuttgart 1976 Weber, B.G.: Knöchel, Fußwurzel, Mittelfuß. In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R.Zenker, F. Deucher, W. Schink), Bd. 4, Beitrag 20. Urban & Schwarzenberg, München—Wien—Baltimore 1979 Weller, S., H. Schmelzeisen: Oberschenkel, Kniegelenk und Unterschenkel. In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R.Zenker, F.Deucher, W.Schink), Bd.4, Beitrag 19. Urban & Schwarzenberg, München—Wien—Baltimore 1979
29 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter M. Gharib
29.1 Besonderheiten der Frakturheilung des kindlichen Knochens Die zunehmende Verkehrsdichte und der hohe Anteil der Kinder an Verkehrsunfällen führten zwangsläufig dazu, daß die Knochenbrüche an dem noch im Wachstum befindlichen Körper mit ihren speziellen Problemen einen beachtlichen Teil der Unfallchirurgie eingenommen haben. Die Problematik der kindlichen Frakturen beruht auf zwei Besonderheiten: auf der Eigenschaft der wachsenden Knochen mit ihren offenen Epiphysenfugen und auf den topografischen Prädilektionsstellen der verschiedenen Altersgruppen. Charakteristische Eigenschaften: • Regenerationsfähigkeit Das kindliche Gewebe zeigt eine raschere Regenerationsfähigkeit, die Konsolidierung der Frakturen erfolgt schneller. Mit zunehmendem Alter des Kindes verlängert sich die Heilungszeit (Tab.29/1). Tabelle 2 9 / 1
Konsolidierungszeiten bei kindlichen Frakturen
Alter
Wochen
Neugeborenes
1-2
Säuglinge
2
Spielalter, 2—7 Jahre
3-A
Schulalter bis Pubertät
4-6
• Längenwachstum Frakturen im Schaftbereich der Röhrenknochen zeigen ein vermehrtes Längenwachstum, das von vielen Autoren auf die gesteigerte Durchblutung der benachbarten Epiphysenplatte in der Restitutionsphase zurückgeführt wird. • Achsenfehlsteilungen Die Achsenfehlstellungen bis zu einem gewissen Grad werden bei wachsenden Knochen durch die Reparationspotenz des relativ derb elastischen Periostmantels und der Aufrichtungsfähigkeit der Epiphysenfuge (Abb. 29/1) korrigiert.
444
29 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
Abb. 29/1 Ausgleich der Achsenknickung eines gebrochenen Knochens durch asymmetrisches Wachstum der Epiphysenfuge.
• Rotationsfehler Rotationsfehlstellungen werden auch bei wachsendem Skelett nicht mehr ausgeglichen. Deshalb müssen diese auf jeden Fall vermieden oder frühzeitig behoben werden, um eine statische Fehlbelastung der Knorpelschicht der Gelenkfläche zu vermeiden. • Epiphyseodese Die leichte Verletzbarkeit der Wachstumszone (Zertrümmerung, unsachgemäße Behandlung) begünstigt einen vorzeitigen Epiphysenverschluß mit entsprechend frühzeitigem Wachstumstillstand und verstärkter Fehlstellung. • Sekundärschäden Gelenkversteifungen treten bei Kindern so gut wie nie auf. Muskelatrophien und Sudecksche Erscheinungen bei unvermeidbar längerer Immobilisation sind prognostisch günstig zu bewerten
29.2 Spezielle Bruchformen des kindlichen Knochens 29.2.1 Grünholzfraktur Der Periostmantel des wachsenden Knochens ist derb-elastisch und hält Gewalteinwirkungen relativ besser aus als die harte Kortikalis und Spongiosa. Deshalb brechen häufig isoliert die eigentlichen Knochenelemente, der Periostschlauch bleibt
2 9 . 2 Spezielle Bruchformen des kindlichen Knochens
445
intakt. Bei Grünholzfrakturen kann es zu starken Achsenabknickungen, nicht aber zur Dislokation der Fragmente kommen. 2 9 . 2 . 2 Wulstfraktur Bei Gewalteinwirkungen auf die Knochenlängsachse kommt es im Kindesalter häufig zum Ineinanderstauchen der Fragmente. In der Regel bleibt das elastische Periost intakt. Im Frakturbereich zeigt sich eine typische wulstförmige Auftreibung. 29.2.3
Epiphysenfugenverletzungen
Nach Salter und Harrison entfallen 15% sämtlicher kindlicher Frakturen auf die Epiphysenfuge. Diakartilaginäre Ruptur = Epiphysiolyse, Epiphysiolyse mit metaphysärem Fragment, epiphysio-kartilaginäre Fraktur, transepiphysio-metaphysäre Fraktur, Stauchung, sogenannte „Crush"-Verletzung, Seitenbandausriß mit Fugenverletzungen. Die Epiphysenfuge erfüllt funktionell zwei Aufgaben und wird entsprechend in zwei Bereiche unterteilt: in den epiphysären und den metaphysären Abschnitt. Der epiphysäre Teil besteht aus dem Stratum germinativum, dem proliferierenden Knorpel und der Säulenknorpelschicht. Dies sind die eigentlichen Schichten mit Längenwachstumspotenz. Der metaphysäre Teil enthält hypertrophe Knorpelzellen, sogenannte Blasenknorpel und präparative Verkalkungszonen, die für die Ossifikation zuständig sind. Eine anatomisch bedeutsame Besonderheit stellt die Gefäßversorgung der Epiphyse dar. Im Gegensatz zu Erwachsenen und Säuglingen mit rein knorpeligen Knochenenden, welche eine nur metaphysäre Blutversorgung besitzen (Abb. 29/2), weist die
Säugling
K i n d ( 2 - 1 6 Jahre)
Erwachsener
Abb. 2 9 / 2 Unterschiedliche Blutversorgung der Epi- und Metaphyse beim Säugling, Kind und Erwachsenen.
446
29 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
Epiphyse des 2—16jährigen Kindes eine gesonderte Vaskularisation auf. Damit erhalten die für das Längenwachstum verantwortlichen Knorpelschichten (Stratum germinativum und proliferierender Knorpel) eine direkte Blutversorgung. Die Durchblutung der metaphysär gelegenen Schichten der Epiphysenfuge, also der Eröffnungs- bzw. präparativen Verkalkungszone des eigentlichen primären Verkalkungsorts geht von metaphysären Gefäßen aus. Die dazwischen liegenden intermediären Knorpelschichten werden per diffusionem ernährt. 29.2.3.1 Klassifikation Es existieren zahlreiche Klassifizierungen der Epiphysenfugenverletzungen, entweder in bezug auf die Frakturformen bei bestimmten Gelenken oder auf das therapeutische Vorgehen und die Prognose. Diese unterschiedlichen Klassifikationen haben vielfach in der Literatur zu Verwirrungen und Mißverständnissen geführt. Die gebräuchlichste Klassifikation im europäischen Raum ist die Einteilung nach Aitken (1935) und die Klassifizierung nach Salter und Harris (1963). Abb. 29/3 zeigt vergleichsweise die unterschiedlichsten Einteilungen der gleichen Frakturform der Epiphysenfuge in verschiedene Gruppen.
Da sich eine Klassifizierung unter Berücksichtigung sämtlicher Verletzungsarten für den praktischen Gebrauch als kompliziert oder unvollständig erwiesen hat, wird in jüngster Zeit gehäuft von vielen Autoren die von Morger empfohlene einfache Einteilung bevorzugt. Nach Morger werden Epiphysenfugenverletzungen in bezug auf die primäre Läsion der Germinativzone, welche bei dem therapeutischen Vorgehen eine entscheidende Rolle spielt, in zwei Gruppen unterteilt:
29.2 Spezielle Bruchformen des kindlichen Knochens
447
• Epiphysiolyse mit oder ohne metaphysäre Fraktur Die Kontinuitätsunterbrechung erfolgt in der präparativen Verkalkungszone. Die Durchblutung der Germinativzone und somit ihre Wachstumspotenz bleiben ungestört. • Epiphysenfugenfrakturen Die Kontinuitätsunterbrechung erfolgt mit Schädigung der Germinativzone. 29.2.3.2 Therapie Für das therapeutische Vorgehen und die Prognose der Epiphysenfugenverletzungen ist es entscheidend, ob primär eine Schädigung der Germinativzellschicht entstanden ist oder nicht. Alle Epiphysenlösungen, auch solche mit metaphysärer Fraktur, können und sollen zunächst konservativ behandelt werden. Die Reposition gelingt müheloser, wenn sie frühzeitig erfolgt. Wegen der Gefahr einer iatrogenen sekundären Schädigung des Stratum germinativum sollte eine anatomische Reposition nie erzwungen werden. Epiphysenlösungen mit metaphysärem Fragment, die klinisch und röntgenologisch schwergradige Verletzungen vortäuschen, sollten nicht primär zur operativen Reposition verleiten. Die Operationsindikation bei den Epiphysenlösungen hat dann ihre Berechtigung, wenn die geschlossene Reposition überhaupt nicht möglich ist oder durch ein Periostlappen-Interponat behindert wird. Bei jüngeren Kindern kann eine nicht exakt reponierte Epiphysenlösung, wenn kein eingeschlagener Periostlappen vorliegt, sich im Laufe des Wachstums senkrecht zur Belastungszone stellen und ausgeglichen werden. Bei älteren Kindern, bei denen kein weiteres Wachstum mehr zu erwarten ist, muß die genaue anatomische Reposition unbedingt vollzogen und die Indikation zur operativen Behandlung eher gestellt werden. Epiphysenfugenfrakturen gehen primär mit direkter Schädigung des Stratum germinativum einher, da die Bruchlinie die Wachstumszone durchkreuzt. Voraussetzung für ein störungsfreies Wachstum ist die exakte anatomische Reposition. Bei nicht sorgfältiger Reposition des Epiphysenfragmentes droht eine Knochenrückbildung zwischen Epiphyse und Metaphyse. Persistierende Stufenbildungen sind als präarthrotische Deformität anzusehen. Deshalb stellt jede Epiphysenfraktur, die sich nicht anatomisch dicht adaptieren läßt, eine absolute Indikation zur operativen Reposition und osteosynthetischen Stabilisierung dar. Therapeutisches Vorgehen bei Epiphysenfugenverletzungen: • Bei Epiphysenlösungen mit oder ohne Dislokation, auch solche mit metaphysärem Fragment eher konservativ als operativ behandeln. • Bei Epiphysenfugenfrakturen eher operativ als konservativ behandeln.
448
2 9 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
29.3 Indikation zur konservativen und operativen Frakturbehandlung Bei der Behandlung der kindlichen Knochenbrüche gelten grundsätzlich die allgemein bekannten Maßregeln wie bei der Frakturbehandlung der Erwachsenen (minimale Ruhigstellung, Polsterung, Gipstechnik usw.). In 9 0 % der Fälle können mit konservativen therapeutischen Maßnahmen gute Resultate erzielt werden. Tab. 29/2 zeigt die durchschnittliche Dauer der Ruhigstellung der kindlichen Knochenbrüche. Nur in 10% sind operative Maßnahmen unvermeidbar. Tabelle 29/2
Dauer der Ruhigstellung kindlicher Knochenbrüche und Operationsdringlichkeit
Sitz des Knochenbruchs
Wochen
Klavikula Humerus proximal Humerusschaft trans- und suprakondyläre Humerusfraktur Humerusfraktur mit Ellenbogenbeteiligung Condylus lateralis Condylus medialis Radiusköpfchen Olekranon Vorderarm Schenkelhalsfraktur Subtrochanter Femurschaft distale Femurepiphysiolyse Femurkondylenfraktur Unterschenkel
2-3 2-4 2-4 3-4 4-6 4-6 4-6 4-6 4-6 3—4 8-10 6-8 4-8 4-6 4-6 4-6
Op. —
+ -
+ + + + + + + + + + + + +
+ ++ ++ + ++ ++ +
Kriterien zur blutigen Reposition und Osteosynthese: • • • • • • •
Epiphysenfugenfraktur; Knochenbrüche mit Gelenkbeteiligung; komplizierte bzw. offene Frakturen; Traktionsfrakturen (Olekranon, Patella usw.), Kondylenfrakturen; Frakturen mit Interponat; Polytraumatisierte Kinder mit mehreren Frakturen; bestimmte pathologische Frakturen und Pseudarthrosen.
29.4 Frakturen der oberen Extremität Mehr als % aller kindlichen Frakturen entfallen auf die oberen Extremitäten. Diese Häufigkeit läßt sich auf die Greif- und Stützfunktion der Arme im Spiel- und Schulalter zurückführen (Tab. 29/4, S . 4 6 0 ) .
29.4 Frakturen der oberen Extremität
449
2 9 . 4 . 1 Klavikulafraktur Häufigkeit: Die Klavikulafrakturen kommen in jedem Lebensalter vor, besonders gehäuft aber im Kindesalter. Die Häufigkeit wird mit etwa 15% aller kindlicher Frakturen angegeben (Ehalt 9,49%). Der Schlüsselbeinbruch ist auch die häufigste geburtstraumatische Fraktur (0,5—1,5% aller Geburten). Ursache: Die geburtstraumatischen Frakturen entstehen entweder spontan bei der Geburt durch Kompression der Schulter in dem zu engen Geburtskanal oder bei der manuellen Entwicklung. Im Kindesalter bricht das Schlüsselbein durch Sturz auf die ausgestreckte Hand oder auf die Schulter. Art: Bei Neugeborenen und Kindern bis 5 Jahren kommt es häufig zur Grünholzfraktur. Bei älteren Kindern überwiegt die Kontinuitätsunterbrechung und Dislokation. Die Verschiebung der Fragmente entsteht durch antagonistische Wirkung des M. sternocleidomastoides einerseits sowie des M. pectoralis, des M. deltoideus und der Schwerkraftwirkung des Armes andererseits. Diagnose: Bei Abknickung oder Dislokation ist der dicht unter der Haut liegende Knochen durch Überragen sichtbar und bequem zu tasten. Der Kopf wird durch reflektorische Entlastung nach der verletzten Seite geneigt. Die Schulter der verletzten Seite ist verschmälert und nach unten gesunken. Gelegentlich fällt im Neugeborenenalter die Fraktur einige Tage später durch Verdickung im Klavikulabereich auf (Kugelkallus). Das Hauptsymptom bei Neugeborenen mit dislozierter Klavikulafraktur ist die Schonhaltung des Armes ohne nervale Schädigung, „Pseudolähmung". Differentialdiagnose: Differentialdiagnostisch kommen die Erbsche Lähmung und die sehr seltenen angeborenen Schlüsselbein-Pseudarthrosen in Betracht. Therapie: Die Therapie ist grundsätzlich konservativ. Bei Kindern ist das Anlegen eines redressierenden Rucksackverbandes die Therapie der Wahl. Unter regelmäßiger Verbandskontrolle tritt auch bei stark verschobenen Frakturen die Konsolidierung in guter Stellung nach 2—3 Wochen je nach Alter des Kindes ein. Eine Operation kann äußerst selten bei älteren Kindern oder bei Nerv- und Gefäßquetschung sowie Pleuraverletzungen erforderlich werden. Komplikationen: Stark dislozierte Frakturen können Schädigungen des Plexus brachialis, eine Kompression der Gefäße und Pleuraeinrisse verursachen. Selten tritt durch starke Kallusbildung sekundär eine Plexusschädigung auf. Die störende Kalluswulstbildung bildet sich immer innerhalb einiger Monate spontan zurück. 29.4.2
Humerusfraktur
Die Knochenbrüche am kindlichen Oberarm werden nach pathologisch anatomischen Charakteristika in drei Gruppen eingeteilt:
450
29 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
• Frakturen am proximalen Humerusende a) reine Epiphysenlösung und Epiphysenlösung mit Beteiligung eines metaphysären Fragmentes, b) subkapitale infratuberkuläre Humerusfraktur; • Frakturen am Humerusschaft; • Frakturen am distalen Humerusende a) suprakondyläre Humerusfraktur, b) transkondyläre Humerusfraktur, c) kondyläre und epikondyläre Humerusfraktur. 29.4.2.1 Frakturen am proximalen Humerusende Die Frakturen des oberen Humeruskopfes sind im Vergleich zu den gesamten kindlichen Frakturen relativ selten (Weber 3,4%). Trotzdem sind sie heute durch die enorme Zunahme der Verkehrs- und Sportunfälle in der unfallchirurgischen Praxis keine Seltenheit, und es bedarf einer exakten Differenzierung der verschiedenen Frakturtypen und der entsprechenden Therapie. In unserem Krankengut fanden sich in 3 Jahren bei 926 kindlichen Frakturen der oberen Extremitäten 35 Fälle (3,7%) mit proximalen Humerusfrakturen (Tab. 29/4). Die proximalen Humerusepiphysiolysen und Lysefrakturen kommen in jedem Lebensalter, in dem die Epiphysenfuge noch offen ist, vor. Die reine Epiphysenlösung ist eine charakteristische Fraktur des Neugeborenen und der Kinder bis zum 5. Lebensjahr. Die Epiphysenlösungen mit metaphysärem Fragment (Typ Aitken I oder Salter-Harris II) kommen hauptsächlich ab dem 5. Lebensalter vor mit Häufigkeitsgipfel zwischen dem 10. und 16. Lebensjahr, bedingt durch die vermehrte Produktion der Wachstumshormone und Lockerung der Epiphysenfuge in der Pubertät. Ursache: Typische Ursache der Epiphysenlösung des Humeruskopfes beim Neugeborenen ist das gewaltsame Herunterholen eines hochgeschlagenen Armes bei der Entbindung. Im Kindesalter entsteht die Epiphysenlösung bei Sturz auf den vorgestreckten Arm, beim älteren Kind auch durch Sport- und Verkehrsunfälle. Art und Entstehungsmechanismus: Die Fraktur entsteht gewöhnlich durch eine Gewalteinwirkung in der Längsachse des Armes. Tritt die Krafteinwirkung ganz genau axial auf, entsteht eine Wulstfraktur im Metaphysenbereich. Bei schräger Krafteinwirkung und bei nicht ganz senkrecht zur Humerusachse verlaufender Epiphysenfuge resultieren häufiger Brüche mit Dislokationen. Je nach der Fragmentstellung unterscheidet man die Abduktions- und die Adduktionsfraktur. Diagnose: Die Diagnose kann mitunter nicht auf Anhieb gestellt werden, vor allem bei Wulstfrakturen oder stark eingekeilten Brüchen mit geringen Beschwerden. Bei Neugeborenen mit übersehener geburtstraumatischer Epiphysenlösung fällt die Schonhaltung des Armes (Pseudolähmung) in der Regel erst einige Tage später auf.
29.4 Frakturen der oberen Extremität
451
Differentialdiagnose: Die Röntgenaufnahmen können bei fehlendem Epiphysenkern unauffällig erscheinen. Die Diagnose läßt sich durch eine Vergleichsaufnahme mit der gesunden Seite durch Distanzunterschiede zwischen proximalen knöchernen Humerusende und der Skapulapfanne stellen (Abb. 29/4). Die Verwechslung mit geburtstraumatischer Plexuslähmung oder Schulterluxation und Parrotscher Pseudoparalyse bei kongenitaler Lues ist in Erwägung zu ziehen.
Abb. 29/4 Skizze des Röntgenbefundes einer Epiphysenverletzung am proximalen Humerus. Im Vergleich zur gesunden Seite findet sich eine größere Distanz zwischen proximalem knöchernen Humerusende und der Skapulapfanne.
Therapie, konservativ: Die Behandlung richtet sich nach dem Alter des Kindes. Die Neugeborenen und jungen Kinder werden mit Heftpflasterextension in leichter Abduktion für 2 bis 3 Wochen behandelt. Bei älteren Kindern mit Epiphysenlösung und metaphysärem Fragment genügt die Ruhigstellung des Armes in einem Oberarmhängegipsverband für 3—4 Wochen. Bei erheblicher Dislokation der Epiphyse ist die geschlossene Reposition erforderlich, besonders bei älteren Kindern (ab 12 Jahren) mit geringeren Wachstumsausgleichschancen. Eine anatomisch exakte Stellung ist wegen der Gefahr der Fugenverletzung nicht zu erzwingen. Therapie, operativ: Die offene Reposition und Fixierung der Fragmente mit zwei Bohrdrähten ist erforderlich, wenn Achsenabknickungen über 20 Grad oder eine Dislokation über 5 0 % bestehen und nicht durch eine geschlossene Reposition zu beheben sind. Auch kann die lange Bizepssehne interponiert sein und die Reposition behindern. Prognose: Ehalt spricht von einer äußerst guten Prognose dieser Verletzungen, besonders bei jüngeren Kindern, bei denen die stärksten Dislokationen bis zum Wachstumsabschluß ausgeglichen werden.
452
2 9 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
Subkapitale Humerusfraktur Häufigkeit: Die infratuberkulären bzw. subkapitalen Frakturen kommen seltener als die Epiphysenverletzungen vor. Ursache: Sturz auf den ausgestreckten Arm, besonders im Alter zwischen 2 und 7 Jahren oder durch direkte Gewalteinwirkung. Art: Die Frakturlinie verläuft quer oder schräg unterhalb der Epiphysenfuge in Höhe des Collum chirurgicum. Bei jüngeren Kindern tritt häufiger eine Grünholzund Wulstfraktur ohne Dislokation auf. Ist die Fraktur disloziert, handelt es sich überwiegend um eine Abduktionsfraktur. Diagnose: Bei typischen klinischen Frakturzeichen ist die Diagnose nicht schwierig. Bei eingekeilten Fragmenten sind dementsprechend die lokalen Symptome gering. Die Röntgenaufnahme zeigt die Form und den Schweregrad der Fraktur. Therapie: Die Frakturen werden je nach Alter der Kinder mit Heftpflasterextension oder Hängegipsverband für 2-A Wochen ruhiggestellt. Bei schwerster Dislokation ist selten die geschlossene Reposition angezeigt. Bei irreponiblen Fragmenten ist die blutige Reposition und Fixation mit zwei Kirschnerdrähten notwendig.
2 9 . 4 . 2 . 2 Humerusschaftfraktur Häufigkeit: Die Frakturen des Oberarmschaftes bei Kindern sind selten ( 4 , 2 % der Frakturen an den oberen Extremitäten). Ursache: Überwiegend direkte Gewalteinwirkung, beim Neugeborenen durch fehlerhafte manuelle Entwicklung des Kindes, später bei Sport- und Verkehrsunfällen. Art: Alle Frakturformen, wie Quer-, Schräg- und Spiralbrüche sowie Grünholzfrakturen kommen vor. Diagnose: Bei Kontinuitätsunterbrechung der Humerusdiaphyse erleichtern die klinischen Frakturzeichen die Diagnose. Bei Verdacht, besonders bei Säuglingen und Kleinkindern, muß die Röntgenuntersuchung die Diagnose sichern. Therapie: Bei Neugeborenen und Kleinkindern oder Kindern mit mehreren Verletzungen wird der gestreckte Arm in einer leichten Abduktionsstellung in einer Heftpflasterextension für 2 bis 4 Wochen ruhiggestellt; eine Reposition, auch bei stark verschobenen Fragmenten, ist selten notwendig. Beim älteren Kind, auch mit Dislokation der Fragmente, ist eine 3^4wöchige Ruhigstellung in einem Hängegips ausreichend. Komplikationen: Selten kann die Einklemmung des N. radialis oder ein Muskelinterponat bei Schrägfrakturen zur Reposition oder Operation zwingen. Die Radialislähmung stellt eine wichtige, aber seltene Beinverletzung der Humerusschaftfraktur dar. Der N. radialis kann auch sekundär durch eine massive Kallusbildung und
2 9 . 4 Frakturen der oberen Extremität
453
Ummauerung geschädigt werden. Die Lähmungserscheinungen treten dann ab der zweiten Woche ein. 29.4.2.3 Distale Humerusfraktur Supra- und transkondyläre Humerusfraktur Häufigkeit: Die suprakondyläre Oberarmfraktur ist der klassische Fraktursitz des kindlichen Skeletts und stellt die häufigste Fraktur im Ellenbogenbereich dar (Blount 6 0 % aller Ellenbogenfrakturen). Sie ist mit 8 , 1 % an den kindlichen Knochenbrüchen der oberen Extremitäten beteiligt (Tab. 29/4). Der Altershäufigkeitsgipfel liegt zwischen dem 4. und 10. Lebensjahr. Die suprakondylären Frakturen im 2. und 3. Lebensjahr sind in der Regel Grünholzfrakturen. Ursache: Der Entstehungsmechanismus ist in 8 0 % die direkte Gewalteinwirkung bei Sturz auf den ausgestreckten Arm. Im Neugeborenenalter sind die Frakturen geburtstraumatisch bedingt und betreffen in der Regel nur die knorpelige Humerusepiphyse. Art: Durch die physiologische Überstreckbarkeit des kindlichen Ellenbogens ist der suprakondyläre Humerusbereich ein Locus minoris resistentiae beim Fall auf den gestreckten Arm. Es kommt in 9 9 % zu einer Extensionsfraktur. Die Bruchfläche verläuft selten quer, häufig von oben dorsal nach unten ventral. Das distale kurze Fragment verschiebt sich durch Muskelzug nach hinten oben. Nach Blount entsteht nur in 1% eine Flexionsfraktur mit Frakturlinie von oben ventral nach unten dorsal. Diagnostik: Ein sofortiger neurologischer Status und die Prüfung der peripheren Durchblutung dürfen wegen der großen Gefahr einer Verletzung der A. brachialis nicht unterlassen werden! Durch das rasch zunehmende Hämatom und die Weichteilschwellung sind die Gelenkkonturen aufgehoben. Mitunter ist die Diagnose sehr schwierig. Die Deutung des Röntgenbildes der altersbedingt unausgereiften Epiphysenkerne, die sich in gesetzmäßiger Reihenfolge entwickeln, bereitet dem Ungeübten Schwierigkeiten (Tab. 29/3). Bei unklaren Verhältnissen sind Vergleichsaufnahmen der gesunden Seite angebracht. Therapie: Sofern keine Dislokation eingetreten ist, genügt die Ruhigstellung des Armes in einem rechtwinklig angelegten Oberarmgipsverband für 3 bis 4 Wochen. Bei dislozierten Fragmenten ist eine genaue Reposition erforderlich. Abb. 29/5 zeigt die drei Phasen des Repositionsmanövers. Wenn die exakte Reposition gelingt, hat sich nach unseren Erfahrungen vor allen anderen Verfahren die perkutane Bohrdrahtfixation und anschließende Ruhigstellung, wie oben angegeben, bewährt. Die Bohrdrahtfixation verhindert eine sekundäre Dislokation, die durch Abschwellen der immer bestehenden erheblichen Weichteilschwellung entstehen kann. Auch die Gefahr einer Volkmannschen Kontraktur bei zur Erhaltung der abrutschgefährde-
454
2 9 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
Tabelle 2 9 / 3
Auftreten der Epiphysenkerne im Ellenbogenbereich in der zeitlichen Reihenfolge (nach Lanz-Wachsmuth)
1. Capitulum humeri
1. Lebensjahr
2. Epiconylus medialis (ulnaris)
5 . - 9 . Lebensjahr
3. Capitulum radii
5 . - 7 . Lebensjahr
4. Trochlea humeri
8. Lebensjahr
5. Epicondylus lateralis (radialis)
ab 8. Lebensjahr
6. Olecranon
8 . - 1 2 . Lebensjahr
7. Verschmelzung des Trochlea- und Apophysenkerns des Epicondylus
1 3 . - 1 6 . Lebensjahr
lateralis
ten Fragmente spitzwinklig und eng angelegten Gipsverbänden ist nicht gegeben. Ferner sind die Kinder nicht durch Extensionseinrichtungen für mehrere Wochen ans Bett gebunden. Wenn die geschlossene Reposition mißlingt oder eine Trümmerfraktur besteht, ist die offene Reposition und die Fixierung mit anschließender Ruhigstellung im Gipsverband erforderlich. Komplikationen: Die häufigste Komplikation ist der Cubitus varus. Dieser kann bei nicht exakt durchgeführter Reposition auftreten. Eine seltene, aber schwere irreversible Komplikation ist die ischämische Volkmannsche Muskelkontraktur, die primär durch Gefäßverletzung oder sekundär bei erzwungenen Repositionen oder durch Kompression von Verbänden entsteht. Die Irritation des N. ulnaris ist eine irreversible Schädigung, die sich aus der unvollständigen Reposition ergeben kann.
Fraktur des Condylus lateralis humeri Häufigkeit: Die zweithäufigste Fraktur im Ellenbogenbereich ist die Abrißfraktur des lateralen Condylus humeri (Blount 1 8 , 5 % aller Ellenbogenfrakturen). Ursache: Der Unfallmechanismus ist häufig eine indirekte Stoßwirkung über Radius und Radiusköpfchen auf die laterale Hälfte des distalen Oberarmendes, die beim Sturz auf den gestreckten Arm entsteht. Art: Es handelt sich um eine Epiphysenfugenfraktur. Der Frakturspalt verläuft vom Condylus lateralis durch die Epiphysenfuge nach medial distal bis in das Gelenk. Das Fragment besteht in der Regel aus Epicondylus lateralis und dem lateralen Anteil der Trochlea oder des Capitulum humeri. Sehr selten kann es zu einem isolierten Abbruch des äußeren Epikondylus kommen. Diagnose: Die Weichteilschwellung ist nicht so ausgeprägt wie bei der suprakondylären Fraktur. Bei geringer Schwellung kann durch sorgfältige Palpation die Diagnose klinisch gestellt werden. Bei Säuglingen werden die Frakturen häufig übersehen, da die Knochenkerne noch nicht sichtbar sind. Bei älteren Kindern mit gerin-
29.4 Frakturen der oberen Extremität
455
Abb. 29/5 Repositionsphasen einer suprakondylären Humerusfraktur.
ger Dislokation oder reinem Epikondylusabriß sind oft Vergleichsaufnahmen der gesunden Seite erforderlich. Therapie: J e nach Ausmaß der Verletzung kann es durch Zug der am äußeren Kondylus ansetzenden Streckmuskulatur zu starker Dislokation kommen. Hierbei kann bei vollständigem Abriß das Fragment bis 9 0 Grad und mehr abkippen, so daß die Frakturfläche sich nach außen wendet oder sich sogar in den Gelenkspalt verlagert. Wenn die exakte Reposition gelingt (Epiphysenfugenfraktur!), erfolgt die Fixierung der Fragmente mit 2 perkutanen Kirschnerdrähten. Gelingt die anatomische Reposition nicht, muß offen reponiert und mit zwei Kirschnerdrähten stabilisiert werden. Die Ruhigstellung mit einer Oberarmgipsschiene in mittlerer Beugestellung erfolgt für 4 bis 6 Wochen. Komplikationen: Wachstumsstörungen im Sinne eines X-Armes oder einer Pseudarthrose entstehen bei unzureichender Reposition. Die Valgusfehlstellung kann
456
29 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
sich im Laufe der Jahre verstärken. Diese führt zur Überdehnung des Nervus ulnaris mit Spätlähmung, die therapeutisch zu einer suprakondylären Osteotomie und Verlagerung des Nervus ulnaris zwingen kann. Fraktur des medialen Kondylus humeri und der Apophyse Häufigkeit: Die Abrißfraktur des medialen Kondylus tritt äußerst selten auf (Kulscha und Rauhs 1,3%). Der Altersgipfel dieser Verletzung liegt zwischen dem 11. und 15. Lebensjahr. Ursache: Die Abrißfraktur des medialen Epikondylus (Blount 8% aller Ellenbogenfrakturen) entsteht bei plötzlich einsetzender Valgisierung in Hypertensionsstellung, wie dies bei einem Sturz auf den gestreckten Arm bei starker Abduktion der Fall ist. Art: Es handelt sich um eine Abrißfraktur. Das Fragment besteht häufig aus der Apophyse, der Epiphysenfuge und einem mehr oder weniger schmalen Knochensaum. Der ulnare Kondylus ist selten frakturiert. Das abgerissene Fragment kann sich durch Zug der Beugemuskulatur des Unterarmes bis unterhalb des Gelenkspaltes dislozieren. Bei stark aufgeklapptem Gelenkspalt oder auch durch sekundäre Manipulation kann das Epikondylusfragment in das Gelenk hinein verlagert werden. Diagnose: Deutlicher Druckschmerz und Weichteilschwellung. Bei der Kleinheit der Apophyse und durch die Tatsache, daß der Knochenkern bis zum 4. Lebensjahr noch nicht sichtbar ist, wird die Sicherung der Diagnose oft erst mit Vergleichsaufnahmen der Gegenseite oder seltener durch gehaltene Aufnahmen möglich. Die Funktion des Nervus ulnaris bei dieser Verletzung ist stets zu prüfen. Therapie: Bei geringer Dislokation von 2 - 3 mm (Vergleichsaufnahme) und ohne Gelenkbeteiligung reicht die Ruhigstellung für 3 bis 4 Wochen in mittlerer Beugestellung. Bei größerer Dislokation oder wenn der Frakturspalt die Gelenkfläche erreicht, besteht die Behandlung aus der geschlossenen Reposition und Fixation mit zwei Kirschnerdrähten und anschließender Ruhigstellung für 4 bis 5 Wochen in einer Oberarmgipsschiene. Absolute Operationsindikation stellen die Fälle mit starker Dislokation oder eingeklemmtem Fragment im Gelenkspalt und die Fälle mit Läsion des Nervus ulnaris dar. Komplikationen: In 30% der Fälle ist die Fraktur mit einer Ellenbogenluxation kombiniert. Von Ungeübten wird oft die Luxation behandelt und die Abrißfraktur übersehen. Häufig liegt eine Ulnarisläsion vor. 29.4.3 Radius- und Ulnafrakturen 29.4.3.1 Radiusköpfchenfraktur Häufigkeit: Diese nicht häufige Fraktur (3—8% aller Ellenbogenfrakturen) zählt zu den typischen Lokalisationen der kindlichen Knochenbrüche.
29.4 Frakturen der oberen Extremität
457
Ursache: Die Fraktur entsteht durch eine indirekte Gewalteinwirkung — gewöhnlich beim Sturz auf den nach vorn gestreckten und pronierten Arm. Die auf die Längsachse einwirkende Kraft wird über den Radiusschaft auf das Radiusköpfchen übertragen und führt zum Aufschlag des Köpfchens auf das Capitulum humeri. Art: Je nach Wucht der einwirkenden Kraft tritt bei Kindern eine Stauchungs- oder Luxationsfraktur des schmalen Halses des Radiusköpfchens auf. Somit liegt die Bruchlinie unterhalb der Epiphysenfuge. Es entsteht immer eine Achsenabknickung des proximalen Fragmentes zur radialen Seite. Diagnose: Relativ geringe lokale Weichteilschwellung. Druckschmerz über dem Radiusköpfchen. Pronations- und Supinationsbewegungen sind schmerzhaft und eingeschränkt. Sicherheit gibt die Röntgenuntersuchung. Therapie: Der Grad der Achsenverschiebung und der Dislokation bestimmt das therapeutische Vorgehen. Hierzu wird allgemein die Einteilung nach Judet zugrunde gelegt (Abb. 29/6).
Abb. 29/6 Typeneinteilung der Radiusköpfchenfraktur nach Judet unter Berücksichtigung der Gefäßversorgung, a) Typ I ohne Dislokation; b) Typ II mit Dislokation ohne Achsenabweichung; c) Typ III Achsenknickung < 30°; d) Typ IV Achsenknickung > 30°.
Typ I und II werden konservativ mit einer Oberarmgipsschiene in mittlerer Beugestellung für 2 bis 3 Wochen behandelt. Typ III erfordert eine geschlossene Reposition und Ruhigstellung für 4 Wochen. Die Reposition wird erleichtert, wenn der Ellenbogen in Valgusstellung gebracht und das Radiusköpfchen mit Daumendruck in die anatomische Lage eingedrückt wird (Abb. 29/7). Falls die geschlossene Reposition nicht gelingt, ist die Frakturfreilegung unerläßlich. Eine absolute Indikation zur Operation besteht beim Typ IV, bei dem die geschlossene Reposition in der Regel nicht gelingt und das Radiusköpfchen aus der Blutversorgung ausgeschaltet ist. Komplikationen: Das Radiusköpfchen wird über die Kapselgefäße, die in das Periost einziehen, durchblutet. Die Frakturen des Typ IV können bei einer nicht
458
29 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
anatomischen Reposition zu Wachstumsstörungen oder einer Kopfnekrose führen. Die Entfernung des Radiusköpfchens ist im Kindesalter wegen Verkürzung des Radius und des starken Cubitus valgus absolut kontraindiziert. 29.4.3.2 Subluxation des Radiusköpfchens Häufigkeit: Die traumatische Subluxation des Radiusköpfchens ist eine sehr häufige und für das Kleinkindesalter (Altersgipfel 2 bis 3 Jahre) äußerst typische Verletzung. Synonyma sind „Pronatio doloreuse" und „Chassaignac". Durchschnittlich werden in kinderchirurgischen Kliniken 100 Fälle pro Jahr als Notfall behandelt. Ursache: Der Unfallmechanismus besteht in einer ruckartigen Zugwirkung am gestreckten und im Unterarm pronierten Arm, wie es häufig beim plötzlichen Hochziehen des fallenden oder stolpernden Kleinkindes am Arm der Fall ist (Abb. 29/8). Art: Es handelt sich um ein nicht vollständiges Herausrutschen des Radiusköpfchens aus dem Ligamentum anulare radii. Dies ist leicht möglich, weil Radiusköpfchen und -hals bis zum 5. Lebensjahr gleichmäßig in den Schaft übergehen, das Ligamentum anulare dehnbarer ist als beim Erwachsenen und die Kapsel des oberen Radiusgelenkes nachgiebig ist.
29.4 Frakturen der oberen Extremität
459
Diagnose: Schlaff herabhängender Arm und Bewegungseinschränkung sowie Schmerzhaftigkeit des Unterarmes ohne äußere Zeichen einer Gewalteinwirkung. Therapie: Die Reposition gelingt meist leicht nach einer geringen Pronationsbewegung, folgender maximaler Supination mit gleichzeitigem Daumendruck auf das Radiusköpfchen und Beugung des Unterarmes. Der Repositionserfolg ist häufig durch eine schnappende Bewegung spürbar. Die sofortige Schmerz- und Bewegungsfreiheit ist immer eindrucksvoll. Eine Ruhigstellung ist nicht notwendig. Komplikationen: Bei unklarer Anamnese und klinischem Bild können Frakturen im Ellenbogenbereich übersehen werden. 29.4.3.3 Olekranonfraktur Häufigkeit: Die Frakturen des proximalen Ulnaendes sind im Kindesalter relativ selten (0,7%). Nach Ehalt fallen Kinder seltener auf den gebeugten Ellenbogen als Erwachsene. Ursache: Die Olekranonfraktur entsteht gewöhnlich durch direkte Gewalteinwirkung, zum Beispiel Schlag auf die Ellenbogenspitze oder Sturz auf den gebeugten Ellenbogen. Sie tritt selten isoliert, oft in Verbindung mit einer Radiusköpfchenluxation oder -fraktur auf. Art: Bei Kleinkindern kommt es öfter zu Schrägbrüchen, ansonsten handelt es sich überwiegend um Querbrüche ohne Dislokation. Nicht selten entsteht ein schalenförmiger Abriß des Apophysenkerns. Bei vollständiger Kontinuitätsdurchtrennung
460
2 9 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
wandert das Olekranonfragment unter Zugwirkung des Trizeps nach proximal und bleibt disloziert. Diagnose: Die aufgehobene Streckfunktion bei herabhängendem Unterarm und ein Frakturhämatom sind Leitsymptome zur Veranlassung der Röntgenaufnahme. Behandlung: Bei Frakturen ohne Dislokation und mit intaktem Periost genügt die konservative Therapie: Ruhigstellung im Oberarmgipsverband für 4 bis 6 Wochen. Die dislozierten Frakturen oder drohende sekundäre Dislokation bei Gelenkbeteiligung erfordern immer eine operative Versorgung (Zuggurtungs-Osteosynthese). 29.4.3.4
Monteggia-Fraktur
Häufigkeit: Die Monteggia-Fraktur stellt mit 0 , 6 % aller Frakturen der kindlichen oberen Extremitäten eine seltene Verletzung dar (Tab. 29/4). Sie zählt zu den typischen Kinderfrakturen zwischen dem 5. und 15. Lebensjahr. Tabelle 2 9 / 4 Verteilung von 9 2 6 Frakturen der oberen Extremitäten ( 1 9 7 7 - 1 9 7 9 )
n
Klavikula
153
16,5
1
0,1
Skapula
%
proximale Humerusepiphyse und subkapitaler Humerus
35
3,7
Humerusschaft
39
4,2
166
18,1
distaler Humerus Ellenbogenluxation
8
0,8
Olekranon
7
0,7
13
1,4 0,6
Radiusköpfchen Monteggia
6
Unterarmschaft
125
13,5
distale Unterarmfraktur
226
24,5
3
0,3
11
Handwurzel Mittelhand Finger
133
1,2 14,4
Verteilung von 3 9 8 Frakturen der unteren Extremitäten ( 1 9 7 7 - 1 9 7 9 )
n
%
Schenkelhals
6
1,5
Femurschaft
107
26,9
Patella
2
0,5
Tibiakopf
2
0,5
Kreuzbandriß
2
0,5
Unterschenkel
71
17,9
119
29,9
17
4,3
lateraler Bandausriß
7
Talus/Kalkaneus
4
1,7 1,0
Tibia Fibula
Metatarsale
33
8,3
Zehen
28
7,0
2 9 . 4 Frakturen der oberen Extremität
461
Ursache: Häufig direkte Gewalteinwirkung durch Sturz auf das gebeugte Ellenbogengelenk, wobei die Ulna von einem kantigen Gegenstand angeschlagen wird. Art: Als Monteggia-Fraktur bezeichnet man die kombinierte Querfraktur des proximalen Drittels der Ulnadiaphyse und die Luxation des Radiusköpfchens nach ventral, selten - in etwa 10 bis 1 5 % der Fälle - nach dorsal (Abb. 26/9). Diagnose: Die Diagnose ist meistens durch ein ausgedehntes Hämatom erschwert. Bei geringer Weichteilschwellung läßt sich die Achsenabknickung der Ulna als eine Delle und das nach vorn gerückte Radiusköpfchen in der Ellenbeuge tasten. Die Beugung ist schmerzhaft und nur bis 9 0 Grad möglich. Die röntgenologischen Charakteristika bestehen im Abweichen der Radiusachse (die normalerweise durch den Epiphysenkern des Capitulum humeri zieht — s. Abb. 26/11) und der Querfraktur der Ulna im oberen Drittel. Therapie: In frischen Fällen gelingt die geschlossene Reposition der Ulna ohne Schwierigkeiten, mit der Reposition der Ulna gleicht sich in der Regel die Verrenkung des Radiusköpfchens aus. Ist die Reposition des Radiusköpfchens nicht möglich, muß die operative Einrichtung mit Osteosynthese und Ruhigstellung im Oberarmgipsverband in mittlerer Beugestellung für 5 Wochen erfolgen. Komplikationen: Bei jeder Ulnaschaftfraktur ist das Radiusköpfchen auf eine eventuelle Luxation zu prüfen. Wenn eine Radiusköpfchenluxation übersehen wird, sind Wachstumsstörungen mit Ausbildung eines erheblichen Cubitus valgus und Bewegungseinschränkungen die Folge. 2 9 . 4 . 3 . 5 Unterarmschaft- und distale Frakturen Häufigkeit: Der häufigste Fraktursitz im Kindesalter ist der Unterarm. Eigene Erfahrungen bei 1 3 2 4 kindlichen Extremitätenfrakturen zeigen den Unterarm mit 2 6 , 7 % an sämtlichen und mit 3 8 % an den Frakturen der oberen Extremitäten beteiligt (Tab. 29/4, S . 4 6 0 ) . Die Frakturen lokalisieren sich in 6 0 % im distalen Drittel, in 3 3 % im mittleren Drittel und nur in 7 % im proximalen Bereich. Die von Blount angegebenen Häufigkeitsverhältnisse ergeben für das distale Drittel 7 5 % , das mittlere Drittel 1 8 % und das proximale Drittel 7 % . Ursache: Die Unfallmechanismen sind für die verschiedenen Lokalisationen unterschiedlich. Frakturieren kann entweder die Elle oder Speiche, häufig sind beide betroffen. Isolierte Unteramfrakturen, aber auch seltener komplette Unterarmfrakturen entstehen durch direkte Gewalteinwirkung („Parierfraktur"). Die Frakturen beider Unterarmknochen im mittleren Bereich ereignen sich häufig dadurch, daß der Körper auf den ausgestreckten Arm oder die hyperextendierte Hand stürzt. Im proximalen Drittel sind die Mechanismen vielfältig.
462
29 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
Art: Je nach Intensität der Gewalt und Richtung kann es entweder zu einer Stauchungsfraktur (etwa 17%), einer Grünholzfraktur (etwa 46%) oder zu Brüchen mit Dislokation beider oder eines Unterarmknochens (etwa 37%) kommen. Die selteneren Stauchungsfrakturen sind gewöhnlich im distalen Drittel lokalisiert. Die Grünholzfrakturen (jüngere Kinder) kommen im mittleren Drittel vor. Bei rein axialer Gewalt entstehen die Epiphysenlösungen oder Epiphysenfugenfrakturen. Bei Frakturen mit Achsenabknickung oder Dislokation ist überwiegend das periphere Fragment nach dorsal, sehr selten nach ventral abgekippt oder verschoben. Bei den isolierten Knochenbrüchen handelt es sich häufig um distale Radiusfrakturen. Diagnose: Starke Achsenknickung mit offenem Winkel nach dorsal deuten bei jüngeren Kindern auf eine Grünholzfraktur im Schaftbereich hin. Bei älteren Kindern ist die Bajonettstellung des Unterarmes typisch für die distale Unterarmfraktur. Die geringeren Beschwerden bei leichten Grünholzverletzungen oder Stauchungsfrakturen machen eine Röntgenuntersuchung nicht entbehrlich. Sie ist von großer Bedeutung zur Darstellung der Fraktur, Art und Lokalisation sowie für das therapeutische Vorgehen. Therapie: Grundsätzlich hat das konservative Vorgehen (Einrichtung und Ruhigstellung) bei der Behandlung kindlicher Unterarmfrakturen den absoluten Vorrang. Die Reposition des Unterarmbruches gelingt in der Regel ohne Schwierigkeiten. Gerade die stark verschobenen Fragmente lassen sich häufig ohne große Mühe einrichten. Das Repositionsmanöver besteht im Prinzip in Zug und Gegenzug an der rechtwinklig gebeugten Ellenbeuge. Dabei wird direkt manuell ein retinierender Druck auf das periphere Fragment ausgeübt. Die Therapie von Unterarmbrüchen, deren Bruchenden noch aufeinandergestellt sind, besteht lediglich in einer Korrektur der Achse und Ruhigstellung (6 bis 8 Wochen). Die Unterarmwulst- oder Grünholzfrakturen mit Achsenabweichungen unter 10 Grad werden im Obararmgipsverband in mittlerer Beugestellung für 4 Wochen ruhiggestellt. Die Behandlung der Grünholzfrakturen mit stärkerer Achsenabknickung erfordert eine vollständige Frakturierung der Fragmente. Dadurch kann erst die erreichte Achsenkorrektur erhalten bleiben, da andernfalls bei unvollständiger Fraktur und intaktem Periost durch Zugwirkung auf der konkaven Seite eine erneute Achsenabweichung verursacht wird. Die Grenze der konservativen Therapie ist dann erreicht und die Indikation zur Osteosynthese gerechtfertigt, wenn: • bei geschlossener Reposition kein achsengerechter und ausreichender Knochenkontakt erzielt werden kann (Interponat des M. pronator, M. quadratus),
29.5 Frakturen der unteren Extremität
463
• nach gelungener Reposition die Fragmente unmittelbar oder auch nach ruhigstellendem Gipsverband leicht abrutschen und erhebliche Dislokationen zurückbleiben. Zwingende Indikationen zur Osteosynthese besteht oft bei kompletten Querfrakturen des Unterarmschaftes, die in gleicher Höhe liegen. Bei dem operativen Vorgehen der Unterarmschaftfrakturen stellt die Markdrahtung bei Schaftfrakturen des kindlichen Unterarms die Methode der Wahl dar. Die distalen Unterarmfrakturen und Epiphysenlösungen, die sich nach erfolgter Reposition nicht halten lassen oder sekundär zu starker Dislokation neigen, werden mit zwei gekreuzten perkutanen Kirschnerdrähten stabilisiert. Ruhigstellung in einem Oberarmgipsverband für 4 bis 6 Wochen. Komplikationen: Eine zu kurze oder ungenügende Ruhigstellung kann in etwa 2% zur Refraktur führen. Achsenabknickungen von mehr als 30 Grad führen zu Funktionsstörungen des Unterarms. Bei stark dislozierten Unterarmschaftfrakturen, die in Pronationsstellung ruhiggestellt sind, kann es durch Brückenkallusbildung zwischen Radius und Ulna zur Aufhebung der Supinations- und Pronationsbewegungen kommen.
29.5 Frakturen der unteren Extremität 29.5.1 Schenkelhalsfraktur und Epiphysenlösung Häufigkeit: Die traumatische Femurkopfepiphysenlösung bei Kindern ist außerordentlich selten. Kindliche Schenkelhalsfrakturen sind mit 1,5% aller Frakturen der unteren Extremitäten ebenfalls sehr selten, zählen aber wegen charakteristischer morphologischer Unterschiede gegenüber den Frakturen beim Erwachsenen zu den besonderen kindlichen Frakturen. Ursache: Beim Neugeborenen entsteht die Fraktur äußerst selten geburtstraumatisch durch gewaltsamen Zug am Beinchen. Bei Kindern ist die häufigste Ursache ein Sturz aus großer Höhe (Baum, Mauer usw.), wobei das Kind plötzlich auf den Fuß oder das Knie aufschlägt, oder erhebliche Gewalteinwirkungen durch einen Verkehrsunfall. Geringe Traumen können pathologische Schenkelhalsfrakturen (juvenile Knochenzyste, Aneurysma) oder juvenile Hüftkopflösungen verursachen. Art: Durch Geburtsverletzung kann sehr selten eine reine Lösung der proximalen Femurepiphyse entstehen. Im Kindesalter kommt am häufigsten die laterale Schenkelhalsfraktur vor, wobei die Frakturlinie durch die Schenkelhalsbasis verläuft und ein mehr oder weniger großer Knochenstumpf am Schenkelkopf hängenbleibt. Diagnose: Das klinische Bild wird beherrscht durch Bewegungsschmerzhaftigkeit, pathologische Lage des Beines in typischer Außenrotation und ein mehr oder weni-
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2 9 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
ger stark ausgeprägtes Weichteilhämatom. Röntgenologisch bereitet die Diagnose nur bei Neugeborenen und kleinen Kindern Schwierigkeiten, da die Epiphysenkerne nicht knöchern angelegt sind. Röntgenologisch kann eine Hüftluxation vorgetäuscht werden, da das obere Femurende seitlich und nach oben verlagert ist. Bei dringendem Frakturverdacht kann ein Sonogramm den noch in der Hüftpfanne liegenden Epiphysenkopf zur Darstellung bringen. Therapie: Die Behandlung der kindlichen Schenkelhalsfrakturen besteht in der unverzüglichen offenen Reposition mit anschließender Osteosynthese und Ruhigstellung im Beckenbeingips für 8 bis 10 Wochen. Bei jüngeren Kindern wird die Fixation nach schonender Reposition durch mehrere zur Epiphysenfuge senkrecht liegende Kirschnerdrähte und bei älteren Kindern durch zwei Spongiosa-Schrauben, die nicht die Epiphysenfuge erreichen dürfen, durchgeführt. Wenn aus vitaler Indikation die Operation nicht durchgeführt werden kann, muß das intraartikuläre Hämatom (Spannungshämatom n. Weber) durch Punktion oder Kapsulotomie entleert werden. Anschließend wird das Bein in Extension mit Ys des Körpergewichts ruhiggestellt, bis der Zustand des Kindes die Operation erlaubt. Eine Nachbehandlung bzw. Entlastung des Beines ist für die Dauer von 6 bis 10 Monaten wegen der Gefahr der Kopfnekrose erforderlich. Komplikationen: Die häufigsten Komplikationen, besonders nach konservativer Behandlung, sind die Fehlstellungen. Die schwerwiegendste Komplikation ist die aseptische Hüftkopfnekrose. Die arterielle Blutversorgung des Oberschenkelhalses und -kopfes geht über die Gelenkkapsel und das Periost (Abb. 29/9). Somit sind im Gegensatz zu allen anderen Epiphysenkernen mit direktem Gefäßeintritt die Gefäße des Femurkopfes bei Frakturen im Schenkelhalsbereich stärker gefährdet. Die
Abb. 2 9 / 9 Arterielle Blutversorgung des Oberschenkelhalses und -kopfes.
29.5 Frakturen der unteren Extremität
465
Durchblutungsstörungen treten entweder primär durch direkte Gefäßverletzung oder sekundär nach Drosselung der arteriellen Gefäßverletzung durch Spannungshämarthros auf. Pseudarthrosen sind sehr selten und werden auf ungenügende Ruhigstellung oder partielle Nekrosen im Schenkelhalsbereich zurückgeführt.
29.5.2 Femurschaftfraktur Häufigkeit: Mit 27% aller Frakturen der unteren Extremitäten stellen die Femurschaftbrüche eine recht häufige Fraktur dar (Tab. 29/4). Nach Saxer kommen 50% bis zum 4. Lebensjahr vor. In 70% sind die Oberschenkelschaftbrüche im mittleren Drittel, in 18% im proximalen Drittel und in 12% im distalen Drittel lokalisiert. Ursache: Femurschaftfrakturen entstehen sowohl durch direkte als auch indirekte Gewalteinwirkung. Die Häufigkeit der Unfallarten ist altersabhängig (Geburtstrauma, Spiel-, Sport- und Verkehrsunfälle). Art: Je nach Art und Intensität der Gewalteinwirkung können alle Bruchformen (Wulst, Grünholz, Fissur, Quer-, Schräg-, Spiral- und Splitterfrakturen) vorkommen. Diagnose: In den meisten Fällen ist die Diagnose durch das Vorliegen der klassischen Frakturzeichen (ausgedehntes Hämatom, Deformierung mit Verkürzung, pathologische Außenrotation des Beines und Bewegungsschmerzhaftigkeit) leicht zu stellen. In einer kleinen Zahl der Fälle kann die Diagnose bei geringen klinischen Erscheinungen nach einer Röntgenuntersuchung bestätigt werden. Therapie: Grundsätzlich steht, wie bei allen kindlichen Röhrenknochenfrakturen, an erster Stelle die konservative Behandlung. Die Ruhigstellung erfolgt beim Neugeborenen und bei Kindern bis 5 Jahren mit einer Oberschenkelpflasterextension, die symmetrisch an beide Beine angelegt wird, sogenannte Overhead-Extension. Die Konsolidierungsdauer beträgt beim Neugeborenen unter Ausbildung eines Kugelkallus zwei Wochen, bei jüngeren Kindern 3 bis 4 Wochen. Zur Vorbeugung einer frühzeitigen Belastung wird ein Oberschenkelgipsverband für weitere zwei Wochen angelegt. Kinder ab dem 5. Lebensjahr werden mit einer suprakondylären Drahtextension für die Dauer von 3 bis 4 Wochen behandelt. Im Anschluß daran ist ein Beckenbeingipsverband für 3 bis 4 Wochen angezeigt, bis die belastungsstabile Frakturheilung eintritt. Die regelmäßigen Kontrollen in den ersten Tagen geben die Möglichkeit, eventuelle Fehlstellungen durch Verlagerung und Änderung der Zugrichtung auszugleichen. Wegen überschießendem Längenwachstum während der Frakturheilung sind Verkürzungen bis zu 1,5 cm sogar erwünscht. Dislokationen um Schaftbreite sind belanglos, auch Achsenabknickungen bis 10 Grad sind tolerierbar.
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2 9 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
Grundsätzlich sollen die Achsenfehlstellungen und Dislokationen exakter korrigiert werden, je älter das Kind ist und je ferner die Fraktur von der Epiphysenfuge liegt. Die Indikation zur Osteosynthese ist gerechtfertigt, wenn: • durch konservative Maßnahmen in den ersten Tagen die Fehlstellungen (grobe Achsenabweichungen und Dislokation, fehlender Knochenkontakt, Torsionsfehler, Interponat) nicht zu korrigieren sind, • Kinder älter als 12 Jahre sind und auch geringe Fehlstellungen durch das Wachstum nicht ausreichend korrigiert werden können, • subtrochantäre oder proximale Schaftfrakturen mit kurzen Fragmenten zur Rotationsfehlstellung geführt haben und die Einstellung im Extensionsverband schwierig erscheint, • suprakondyläre Frakturen mit Gelenkspaltbeteiligung (Y-Fraktur) vorliegen, • Epiphysenfrakturen oder irreponible und instabile Epiphysenlösungen vorliegen (s. Therapie der Epiphysenfugenverletzungen). Komplikationen: Als frühe Komplikation kann sehr selten nach Zerreißung oder Kompresssion der Arteria femoralis (primär oder sekundär) die Volkmannsche Ischämie vorkommen. Die häufigsten Komplikationen bilden die Rotationsfehlstellungen.
29.5.3
Unterschenkelfraktur
Die proximalen Tibiafrakturen im Kindesalter sind sehr selten. Dies liegt zum Teil an ihrer besonderen morphologischen Beschaffenheit. Frakturen im mittleren Drittel sind mit 5 2 % die häufigsten Brüche der unteren Extremität (Tab. 29/4). Frakturen im unteren Drittel sind ebenfalls sehr selten. Ursache: Häufige Ursache ist die direkte Gewalteinwirkung durch Verkehrsunfälle, seltener die indirekte (Skiunfälle). Art: Die Epiphysiolyse und Epiphysenfugenfrakturen der proximalen und distalen Tibia und der distalen Fibula werden nach den gleichen Grundsätzen der Epiphysenverletzungen eingeteilt und behandelt. Die direkte Gewalteinwirkung kann eine Unterschenkelschaftquerfraktur in jeder Höhe, auch mit Durchspießung der Haut und Weichteile, verursachen. Die Torsions- und Schrägfrakturen sind Folge der indirekten Krafteinwirkung. Die Grünholz- und Torsionsfrakturen sind bis zum 6. Lebensjahr die häufigsten isolierten Tibiafrakturen. Diagnose: Die Grünholz- oder Wulstfrakturen mit geringen Beschwerden und Lokalbefund können sich der Diagnosestellung entziehen, ansonsten sind die charakteristischen Frakturmerkmale unübersehbar.
29.6 Kindesmißhandlung (battered child syndrome)
467
Therapie: Die nicht dislozierten Frakturen werden ambulant behandelt. Eine Ruhigstellung mit einem Oberschenkelgipsverband mit Beugung des Kniegelenkes um 20 Grad für die Dauer von 3 Wochen bringt in der Regel eine ausreichende Konsolidierung. Anschließend wird für 2 weitere Wochen ein Oberschenkelgips angelegt. Dislozierte Frakturen werden durch Zug und Gegenzug am Fuß und Oberschenkel mit direktem manuellen Druck auf die Fragmente geschlossen reponiert. Bei leicht abrutschgefährdeten Frakturen kann die Ruhigstellung im Oberschenkelgipsverband wenn nötig auch in Spitzfußstellung in den ersten 14 Tagen erfolgen, um einer sekundären Kippung der Fragmente vorzubeugen. Bei schwer reponierbaren Querfrakturen sowie bei Haut- und Weichteilverletzungen oder Polytraumatisierung ist die Ruhigstellung für 3 bis 4 Wochen in einer Drahtextension durch den Kalkaneus durchzuführen. Komplikationen: Übersehene Rotationsfehler, Rekurvation bei queren Schuhrandfrakturen. Distale Oberschenkel- und Malleolenfrakturen können kombiniert mit Epiphysenfugenverletzungen vorkommen und werden entsprechend behandelt.
29.6 Kindesmißhandlung (battered child Syndrome) Die körperlichen Mißhandlungen von Kindern kommen relativ häufig vor. Sie sind keine Delikte der heutigen Zeit, sondern sie haben in den letzten Jahren nur vermehrte Aufmerksamkeit gefunden. Die Beweggründe zur Kindesmißhandlung sind zahlreich und reichen von Armut, liebloser Kindheit der Eltern, Bequemlichkeit, Egoismus bis hin zu Psychosen (5%). Die häufigsten Täter sind Vater, Mutter oder beide Eltern zusammen. Deshalb ist die Kindesmißhandlung auch als Alarmzeichen und Hilfeschrei der gesamten Familie zu sehen, und diese muß dann als solche wirksam angegangen werden, damit das Kind nicht einem Wiederholungsfall ausgesetzt wird. Die Kindesmißhandlung kommt entgegen der allgemeinen Annahme in allen Klassen vor, nur läßt sie sich in den sogenannten besseren Sozialschichten leichter verbergen. Daher ist die Dunkelziffer der Kindesmißhandlung sehr groß. Helfer und Pollock (1968) gaben an, daß in den USA mit 165 Mill. Einwohnern im Jahr 1 0 0 0 0 bis 15 000 Kinder schwer mißhandelt werden, etwa mit 5 % letalem Ausgang und 25—30% mit schweren bleibenden Schädigungen. Der Häufigkeitsgipfel der gewaltsamen körperlichen Mißhandlung liegt zwischen dem 1. und 4. Lebensjahr.
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2 9 Gliedmaßenverletzungen im Kindesalter
Mißhandelte Kinder werden oft nicht unmittelbar nach erfolgtem Trauma, sondern erst später, häufig von ihren Eltern, durch Freunde oder sogar durch die Polizei zum Arzt gebracht. Der Verdacht auf eine gewaltsame Verletzung wird geweckt, wenn der Unfallhergang widersprüchlich mit dem objektiven Befund ist oder wenn das Unfallgeschehen absolut bestritten wird. Meist konstruieren die Eltern dann irgendeinen „Haushaltsunfall". Durch die gewaltsame körperliche Mißhandlung können alle nur denkbaren Verletzungsarten vorkommen, zum Beispiel Weichteilverletzungen verschiedener Ausdehnung, Skelettverletzungen, Subduralhämatome, in 7 0 % sind sie unmittelbare Todesursache nach Kindesmißhandlung. Verletzungen der Abdominalorgane sind relativ selten. Die charakteristischen objektiven Befunde sind multipe alte und frische Hämatome, Wunden oder Narben, besonders im Gesichtsbereich, gelegentlich sind auch verschiedene alte Verbrennungswunden im Extremitätenbereich vorhanden. Multiple Schwellungen im Extremitätenbereich mit starker Berührungsempfindlichkeit und Scheinlähmung lassen an eine Kindesmißhandlung denken. Bei Verdacht auf Kindesmißhandlung ist eine röntgenologische Untersuchung des Skeletts angezeigt. Die charakteristischen Röntgensymptome lassen die Diagnose „battered child Syndrome" nahelegen: • Subperiostale Blutungen mit Weichteilschwellungen; • periostale Verkalkungen in verschiedenen Stadien (Verdickung der Kortikalis als späteres Stadium); • metaphysäre Kantenabsprengungen und Infraktionen; • multiple Frakturen in verschiedenen Abheilungsstadien. Die Behandlung richtet sich nach den vorhandenen Verletzungen. Die stationäre Behandlung ist auch bei leichteren Verletzungen nach Kindesmißhandlungen gerechtfertigt.
Weiterführende Literatur Berneck, R., G . D a h m e n : Kinderorthopädie. Thieme, Stuttgart 1 9 7 6 Blount, W. P.: Knochenbrüche bei Kindern. Thieme, Stuttgart 1 9 5 7 Ehalt, W.: Verletzungen bei Kindern und Jugendlichen. Enke, Stuttgart 1 9 6 1 Grob, M . : Lehrbuch der Kinderchirurgie. Thieme, Stuttgart 1 9 5 7 Heibig, D.: Chirurgische Pädiatrie. Schattauer, Stuttgart-New York 1 9 7 4
29.6 Kindesmißhandlung (battered child syndrome)
469
Jonasch, E.: Knochenbruchbehandlung bei Kindern. Walter de Gruyter, Berlin-New York 1982 Morger, R.: Frakturen und Luxationen am kindlichen Ellbogen. Karger, Basel—New York 1965 Oberniedermeyer, A.: Lehrbuch der Chirurgie und Orthopädie des Kindesalters. Springer, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1959 Rehbein, F.: Der Unfall im Kindesalter. Supplement zu Band 11. Hippokrates, Stuttgart 1972 Rehn, J. (Hrsg.): Unfall Verletzungen bei Kindern. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1974 Weber, W., Ch. Brunner, F. Freuler: Die Frakturbehandlung bei Kindern und Jugendlichen. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1978
30 Mikrochirurgische Replantationen und Gewebetransplantationen P. Brüser
30.1 Einleitung Mikroskopische Vergrößerung, subtiles Instrumentarium und gewebeschonende Operationstechnik schufen die Voraussetzungen für mikrochirurgische Eingriffe an peripheren Gefäßen und Nerven. Sie ermöglichen im Rahmen der plastischen- und Wiederherstellungschirurgie nicht nur die Rekonstruktion weitgehend zerstörter oder amputierter Extremitäten und Körperteile wie Nasen und Ohren, sondern auch die Transplantation komplexer Gewebeverbände zur Defektdeckung oder Funktionswiederherstellung. Da Verletzungen an der oberen Extremität zu den häufigsten Unfallfolgen gehören, kommt der funktionsgerechten Wiederherstellung ihres Erfolgsorganes — der Hand — eine besondere Bedeutung zu. Ihre chirurgische Erstversorgung erfordert zwangsläufig die optische Vergrößerung der feinen anatomischen Gebilde wie Gefäße und Nerven, um den Aufgaben der Rekonstruktion gerecht zu werden. Mikrochirurgische Operationstechniken ermöglichen heute bei Gefäßen mit einem Durchmesser von 0,8—1,5 mm eine Anastomosendurchgängigkeit von 95—100%; sie beträgt bei Gefäßdurchmessern von 0,4 mm noch 4 5 % . Entsprechend beträgt auch die Einheilungsquote bei peripheren Replantationen — je nach Indikationsstellung — zwischen 7 0 und 9 0 % . Parallel hierzu wurde das Konzept der spannungslosen Nervennähte entwickelt. Durch perineurale Nähte, interfaszikuläre Epineuralnähte und faszikuläre Nerventransplantationen wird die Bindegewebsproliferation im Bereich der Nahtstellen verringert und die Adaptation der korrespondierenden Faszikel sowie das Vorwachsen der Achsenzylinder erleichtert. Durch die Verbesserung der Reinnervation wird ein entsprechend wertvoller Funktionsgewinn erzielt.
30.2 Replantationen Die völlige Abtrennung eines Körperteils bezeichnet man als Totalamputation. Bei subtotalen Amputationen liegt eine Unterbrechung der Hauptgefäßverbindungen
30.2 Replantationen
471
mit aufgehobener Zirkulation vor; gleichzeitig soll vom Weichteilmantel nicht mehr als ein Viertel der Zirkumferenz erhalten sein. An den Extremitäten lassen sich aufgrund der Amputationshöhe proximal oder distal der Hand- oder Sprunggelenke Groß- und Kleinreplantationen unterscheiden. 30.2.1 Großreplantationen Die Operationstechnik bei Großreplantationen entspricht wegen der bekannten anatomischen Größenverhältnisse mit Ausnahme der Nervennähte den Regeln der Unfall- und Gefäßchirurgie. Hauptprobleme der wesentlich seltener vorkommenden Replantationen ganzer Gliedmaßen sind: • frühzeitige anoxämische Veränderungen der stoffwechselaktiven Muskulatur mit Lokal- und Allgemeinkomplikationen (Infektion, Tourniquet-Syndrom); • mangelhafte Reinnervation der weit proximal zerstörten Nerven; • lange Rehabilitation. Operationstechnische Schwierigkeiten spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle.
30.2.2 Kleinreplantationen Im Unterschied zu der Großreplantation steht bei der Kleinreplantation distal der Hand- oder Sprunggelenke oder bei peripheren Körperteilen wie Nase, Ohr usw. die mikrochirurgische Operationstechnik im Vordergrund. Revaskularisation und funktionelles Ergebnis sind in hohem Maße abhängig von • der Sicherheit mikrovaskulärer Anstomosen; • der gewebeschonenden und subtilen Vereinigung aller übriger durchtrennter Strukturen. Anoxämische Veränderungen des Amputates spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle, da die peripheren Gliedmaßenabschnitte zum größten Teil aus bradytrophem Gewebe bestehen (Haut, Knochen, Sehnen). 30.2.2.1 Allgemeine Grundsätze zur Replantation Replantationen bieten als Notfalleingriffe häufig erhebliche zeitliche und organisatorische Probleme. Sie sollten deshalb vornehmlich an Zentren durchgeführt werden, damit Aufwand und Ergebnis sinnvoll miteinander korrelieren. Da die heutigen Verkehrsmöglichkeiten zudem einen raschen Transport gewährleisten, sind Entfernungen vom Unfallort in die Klinik von untergeordneter Bedeutung.
472
30 Mikrochirurgische Replantationen und Gewebetransplantationen
Die Indikation zur Replantation muß dem replantierenden Chirurgen überlassen bleiben. Entsprechend sind folgende Richtlinien zu beachten: • am Unfallort m u ß der Grundsatz gelten, daß jeder Replantationsversuch berechtigt ist; • abgetrennte Körperteile müssen — ungeachtet ihres Zustandes — gesammelt, abgezählt und mittransportiert werden. Selbst makroskopisch weitgehend zerstörte, gequetschte oder ausgerissene Körperteile lassen sich bisweilen durch Verkürzungen, Gefäßinterpositionen oder Transplantationen auf besser erhaltene Stümpfe wieder anschließen. 30.2.2.2 Maßnahmen am Unfallort Nach Amputationsverletzungen steht nicht der Lokalbefund, sondern der Allgemeinzustand des Patienten im Vordergrund. Da die Intensität des Traumas nicht das Verletzungsausmaß wiedergibt, sind zunächst — vor allem bei Großamputationen - die vitalen Funktionen zu überprüfen (s. Abschn. 3). In Abhängigkeit von Amputationshöhe und Begleitverletzung muß mit traumatischen Schocksymptomen gerechnet werden. Es sollte deshalb folgendes Behandlungsschema gelten: • Stumpfversorgung durch einen Kompressionsverband. Klemmen oder Ligaturen zur Blutstillung dürfen nur im äußersten Notfall so distal wie möglich angelegt werden. Bei peripheren Amputationen sind sie im Regelfall nicht erforderlich; • Volumensubstitution durch niedermolekulare Plasmaexpander zur Kreislaufstabilisation und Verbesserung der rheologischen Eigenschaften des Blutes; • Keine Wundflächenbehandlung; • Schienung einer subtotal amputierten Gliedmaße zur Vermeidung von Torquierung oder Abknickung noch bestehender Gefäß- und Weich teil Verbindungen; • Hypotherme Konservierung des Amputates durch Verpacken in sterile Kompressen und einen wasserundurchlässigen Kunststoffbeutel, der in einem zweiten Beutel mit Eisstücken und Eiswasser umgeben wird (Abb. 30/1); • Rascher Transport in das nächstgelegene Replantationszentrum.
30.2.2.3 Anoxämische Veränderungen des Amputates Für die Güte des Amputates gilt die Regel aus den Gesetzen der Organkonservierung: Je höher die metabolische Aktivität, um so kürzer die ischämische Toleranzzeit. Der Zeitraum, der eine erfolgreiche Replantation noch zuläßt, hängt offensichtlich in erster Linie von der Überlebensfähigkeit der Muskulatur ab. Bei Normothermie lassen sich hier bereits nach 4—5 Stunden irreversible Schäden nachweisen.
30.2 Replantationen
473
Abb. 30/1 Hypotherme Konservierung eines Amputates.
Auch Kapillarmembranen werden nach dieser Zeitspanne so hochgradig geschädigt, daß Proteine mit hohem Molekulargewicht den intravasalen Raum verlassen können. Das periphere Nervengewebe scheint demgegenüber wesentlich widerstandsfähiger zu sein, da eine völlige Erholung der Nervenfunktion nach 315minütiger Zirkulationsunterbrechung möglich ist. Irreversible Schäden treten erst nach etwa 12 Stunden auf. Haut, Knochen und Sehnen sind demgegenüber als bradytrophe Gewebe vergleichsweise unempfindlich. Anoxämische Gewebeveränderungen vermindern die Erfolgsaussichten einer Replantation ganz entscheidend. Sie lassen sich durch zwei Maßnahmen verhindern: • Verkürzung der Anoxämiedauer; • Verlängerung der Toleranzzeit durch hypotherme Konservierung auf + 4 ° C . Nach einer warmen Anoxämiezeit von über 6 Stunden sollten ganze Extremitäten wegen der dann entstehenden Muskelnekrosen nicht mehr replantiert werden. Neben einer erhöhten Infektionsgefahr, einer schlechten Einheilung mit mangelhaftem funktionellen Ergebnis scheint auch die Gefahr des Tourniquet-Syndroms zu steigen.
474
3 0 Mikrochirurgische Replantationen und Gewebetransplantationen
Aufgrund der bisherigen Erfahrungen werden folgende Zeiträume angegeben: Amputate
warme Ischämie
Hypothermie
ganze Extremitäten Hände, Füße Finger, Zehen
5— 6 Stunden 5 - 6 Stunden 10—15 Stunden
10 Stunden 12 Stunden 24 Stunden
30.2.2.4 Indikationen zur Replantation Indikationen zur Replantation lassen sich nicht schematisieren, da komplexe Aspekte wie persönlichkeitsgebundene Merkmale berücksichtigt werden müssen. Sie können relative Indikationen in absolute Indikationen umwandeln. Der.Entschluß zur Replantation sollte drei Gesichtspunkte beachten: • Funktionelle Bedeutung des Amputates; • Traumatisierung des Amputates durch Verletzungsart und anoxämische Veränderung; • spezielle Merkmale des Patienten wie Operabilität, Beruf, Alter, Ästhetik. Replantationen sind grundsätzlich kontraindiziert, wenn lebensbedrohliche Verletzungen im Vordergrund stehen, andere Grunderkrankungen das Operations- oder Narkoserisiko übermäßig erhöhen oder aber, wenn eine Reinnervation auch durch Sekundäreingriffe nicht ermöglicht werden kann. 30.2.2.4.1 Funktionelle Bedeutung des Amputates Die wichtigsten Gesichtspunkte bei der Indikationsstellung zur Extremitätenreplantation sind die funktionelle Bedeutung des Amputates und der zu erwartende funktionelle Wert nach dem Eingriff. Die überragende Bedeutung der oberen Extremität liegt in der sensiblen Greiffunktion ihres Erfolgsorganes — der Hand. Ihr Verlust ist unersetzlich und durch keine prothetische Versorgung auch nur annähernd zu kompensieren. Replantationen eines Armes, der Hand, des Daumens oder beim Verlust mehrerer Langfinger eines radialen Fingers sind vom funktionellen Standpunkt aus immer indiziert. Problematisch sind Replantationen einzelner Langfinger, wenn gleichzeitig Grundoder Mittelgelenk zerstört wurden. Hier erweist sich die Stumpfversorgung häufig günstiger als ein zwar erfolgreich replantierter, jedoch funktionsbehinderter, z. B. versteifter Finger. Dies gilt in besonderem Maße für die ulnaren Langfinger, da ein Einschlagen in die Hohlhand zum festen Faustschluß in der Regel nicht mehr möglich wird.
30.2 Replantationen
475
Langfingerteile sollten nur aufgrund besonderer beruflicher oder privater Erfordernisse replantiert werden. Bei Kindern hingegen muß die Indikation zur Replantation großzügig gestellt werden, da Entwicklung und beruflicher Werdegang nicht vorhersehbar sind. An der unteren Extremität können fehlende Gangfunktion und Belastbarkeit durch eine prothetische Versorgung kompensiert werden. Dennoch sind beim jüngeren Menschen Replantationen bis zum Mittelfuß berechtigt, da das Anpassungsvermögen an den Funktionsverlust nach Replantation eine bleibende Verstümmelung nach Stumpfversorgung trotz prothetischer Versorgung aufwiegen kann. Bei alten Menschen hingegen vermag ein frühzeitiger prothetischer Ersatz häufig wertvoller zu sein, als eine erfolgreich replantierte untere Extremität mit schlechtem funktionellem Ergebnis. Nachteilig wirken sich hierbei aus: • • • • •
Verstärkte Ödembildung; chronische Infektionen; statische Veränderungen infolge notwendiger knöcherner Verkürzungen; trophische Störungen durch mangelhafte Reinnervation; lange Rehabilitation.
30.2.2.4.2 Traumatisierung Das Ausmaß der Schädigung an Stumpf und Amputat entscheidet wesentlich über Durchführbarkeit und Ergebnis der Replantation. Scharfe Durchtrennungen lassen wegen der geringen umgebenden Zusatzverletzungen die besten funktionellen Ergebnisse erwarten, da im Regelfall eine spannungslose Primärversorgung aller durchtrennter Strukturen möglich ist. Auch schwere Quetschungen oder Ausrißverletzungen stellen aufgrund ihres Unfallmechanismus in der Regel keine Kontraindikation zur Replantation dar. Die operationstechnischen Schwierigkeiten sind jedoch wegen der meist beträchtlichen Substanzdefekte nach Debridement erheblich größer, da eine Revaskularisation häufig nur mit Hilfe von Veneninterponaten möglich ist, sofern eine übermäßige Knochenresektion vermieden werden soll. Knöcherne Verkürzungen eines Langfingers von mehr als 1 cm können Replantationen sinnlos machen. An der unteren Extremität wird die Grenze bei etwa 10 cm angegeben. Die schlechten funktionellen Ergebnisse werden in erster Linie durch die erheblichen Zusatztraumatisierungen hervorgerufen und machen häufig Sekundäreingriffe notwendig. Nervale Defekte können nur durch spätere Nerventransplantationen überbrückt werden, zerstörte Sehnengleiter lassen sich lediglich durch implantierte Silastikstäbe rekonstruieren. Die Sehnenfunktion wird dann durch eine zweizeitige Transplantation 8—10 Wochen später wiederhergestellt.
476
3 0 Mikrochirurgische Replantationen und Gewebetransplantationen
Auch zerstörte Fingergelenke können in Einzelfällen primär durch Prothesen ersetzt werden. Bei Amputationen mehrerer Finger läßt sich durch Transplantation des besterhaltenen Fingers auf den am besten erhaltenen Stumpf häufig ein noch zufriedenstellendes Ergebnis erzielen. Hauptindikation dieser Methode ist der primäre Daumenersatz bei irreparabel zerstörtem Daumenamputat. 30.2.2.5 Allgemeine Vorbereitung zur Replantation Nach Anamneseerhebung und sorgfältiger Untersuchung des Patienten werden unter fortwährender Kühlung des Amputates Stumpf und Amputat geröntgt. Gleichzeitig müssen als laborchemische Parameter Hb, Hkt, Kreatinin, Serumharnstoff, Elektrolyte und Gerinnungsstatus bestimmt werden. Bei Eingriffen an der oberen Extremität bevorzugen wir Plexus-brachialis-Blockaden, anderenfalls wird eine Allgemeinnarkose — meist in Form der Neuroleptanalgesie — vorgenommen. Parallel hierzu beginnt die Präparation des Amputates. 30.2.2.6 Replantationsvorgang Nach ausreichender Säuberung und sorgfältigem Débridement der Extremität werden die einzelnen Strukturen freipräpariert und markiert. Während bei Großreplantationen die Entfernung zerstörter Gewebeanteile ohne Rücksicht auf einen Längenverlust vorgenommen werden muß, um die erhebliche Infektionsgefahr zu verringern, ist dies bei peripheren Amputationen nur in begrenztem Umfang möglich. Kürzungen von mehr als einem Zentimeter an Langfingern oder Resektionen einzelner Gelenke können hier Replantationen sinnlos machen. Während Großamputate regelmäßig perfundiert werden sollen, unterbleibt dies bei peripheren Amputaten, um Gefäßschäden zu vermeiden. Der Replantationsvorgang richtet sich nach dem Grundsatz, gröbere Strukturen vor den feineren Strukturen zu versorgen, um Gefäß- und Nervennähte nicht zu gefährden. Bei peripheren Amputationen ergibt sich folgendes Replantationsschema (Abb. 30/2): • • • • • • •
Osteosynthese (Kirschner Drähte, Drahtnähte, Kleinfragmentinstrumentarium); Naht der tiefen Beugesehnen und der Gleitlager; Anastomosen möglichst mehrerer Arterien; Naht der palmaren Nerven; Naht der Strecksehnen; Anastomosen dorsaler Venen; locker adaptierende Hautnähte.
30.2 Replantationen
477
Tendines M m . f l e x o r u m N. digitalis palmaris p r o p r i u s A . digitalis palmaris propria
Grundphalanx
A p o n e u r o s i s d o r s a l l s digiti dorsale V e n e n
Abb. 30/2 Fingerquerschnitt in Höhe des Grundphalanxköpfchens mit den zu vereinigenden Strukturen bei der Replantation.
30.2.2.7 Mikrovaskuläre Operationstechnik Gefäße mit einem Durchmesser von unter 1 mm werden regelmäßig mit 6facher Vergrößerung anastomosiert. Spezielle Sessel mit verstellbaren Armauflagen ermöglichen hierbei ein ermüdungsfreies und ruhiges Operieren aus den Finger- und Handgelenken über mehrere Stunden. Zum mikrochirurgischen Instrumentarium gehören feinste Gewebefaßpinzetten, Federscheren, Mikronadelhalter und zarte Gefäßklemmen. Als Nahtmaterial verwenden wir Fäden mit einer Stärke von 10—0 USP (0,2metric). Zur Anastomosierung der Gefäße werden die traumatisierten Gefäßränder zunächst reseziert und das periadventitielle Gewebe auf eine Strecke von etwa 1mm entfernt. Da die Lumina meist spastisch verengt sind, werden sie mit Gefäßpinzetten aufdilatiert. Zugleich können auf diese Weise Intimaschäden oder eingeschlagene Gewebepartikel beseitigt werden. Blutkoagel werden mit Heparin-Ringerlösung ausgespült. Eine Arterie mit einem Durchmesser von 1 mm benötigt etwa 6 - 8 Einzelknopfnähte, wobei die Intima jeweils mitgefaßt wird und die Ränder Stoß auf Stoß gesetzt werden. Zwischen zwei Eckfäden in einem Winkel von 120° zum Gefäßlumen erfolgt zunächst die Fertigstellung der Vorderwand und - nach Drehung in Längsachse um 180° - die Naht der Hinterwand. Die Vorderwand kann hierbei eingesehen und kontrolliert werden (Abb. 30/3). 30.2.2.8 Ergebnisse nach peripheren Replantationen Neben dem ästhetischen Gewinn einer Replantation müssen zur Beurteilung des funktionellen Wertes an der oberen Extremität • Sensibilität; • Sehnenfunktion;
478
30 Mikrochirurgische Replantationen und Gewebetransplantationen
Abb. 30/3 Technik der mikrochirurgischen Gefäßnaht.
• • • •
Einschränkung der Gesamtfunktion der Hand; Integration in die Gesamtfunktion der Hand (Greifformen); subjektive Einschätzung durch den Verletzten und Schmerzhaftigkeit
nachuntersucht und ihrer Wertigkeit entsprechend differenziert werden. An der oberen Extremität läßt sich hierbei in 72% der Fälle ein Resensibilisierungsgrad von S3—S4 erzielen. Bei der Teilnahme der replantierten Finger an einzelnen Greiftesten — ein Zeichen für den praktischen Gebrauchswert — ergab sich nach 84 Langfingerreplantationen in 39% der Fälle ein weitgehend normaler Einsatz (sehr gut), in 23% eine gering eingeschränkte Gebrauchsfähigkeit (gut), in 13% eine befriedigende und in 25% eine schlechte Funktion. In 13% der Fälle entwickelten die Unfallverletzten sekundäre Greifformen. Berücksichtigt man alle Nachuntersuchungsparameter, dann können nach unseren Untersuchungen in 20% sehr gute, 43% gute, 27% befriedigende und in 10% schlechte Ergebnisse erwartet werden.
30.3 Mikrochirurgie peripherer Nerven Die mikrochirurgische Operationstechnik beeinflußt das funktionelle Ergebnis einer Nervennaht in dreifacher Weise: • Der nervale Schädigungsgrad kann durch die mikroskopische Vergrößerung sicherer beurteilt werden; • Die Adaptation der korrespondierenden Faszikel kann verbessert und während der Heilungsphase aufrecht erhalten werden; • Das Ausmaß der Bindegewebsproliferation wird durch sparsame Resektion des Epineuriums, gewebeschonender interfaszikulärer Präparation und Vermeidung von Zugspannung an der Nervennaht verringert.
30.3 Mikrochirurgie peripherer Nerven
479
Früher geübte Techniken, bei denen lediglich das Epineurium der Nervenstämme vereint wurde (Epineuralnähte), haben den Nachteil, daß innerhalb dieses Schlauches die einzelnen Faszikel häufig gegeneinander verschoben waren oder aber Dehiszenzen auftraten. Zusätzlich konnte die vom Epineurium ausgehende Bindegewebsproliferation das Überwachsen der hervorsprossenden Achsenzylinder erschweren oder verhindern. Heute werden größere Faszikel peripherer Nervenstämme einzeln mit Perineuralnähten und Faszikelgruppen interfaszikulär vereinigt. Diese Technik ist an eine mikroskopische Vergrößerung gebunden, da die endoneurale Substanz nicht irritiert werden darf. Gleichzeitig wird das Epineurium an den Stümpfen einige Millimeter abpräpariert (Abb. 30/4).
Faszikel
Perineurium
Epineurium
Abb. 30/4 Schema der perineuralen und interfaszikulären Nervennaht.
Lediglich im Bereich der Fingernerven wird wegen der kleinen Faszikeldurchmesser weiterhin die Epineuralnaht — jedoch mit mikrochirurgischem Nahtmaterial — bevorzugt. Experimentelle Untersuchungen haben ergeben, daß die nervale Regeneration durch Spannungen an der Nahtstelle ungünstiger beeinflußt wird als durch zwei spannungslose Nahtstellen. Aus diesem Grunde hat sich bei nervalen Defekten die Nerventransplantation durchgesetzt. Hierbei werden dünne Hautnerven (N. suralis, Nn. cutaneus antebrachii ulnaris et radialis usw.) zwischen isolierte und angefrischte Faszikel bzw. Faszikelgruppen interponiert und epineural (Transplantat) — perineural (Faszikel des Nervenstammes) adaptiert.
30.3.1 Zeitpunkt der Nervennaht Im Rahmen der Replantationschirurgie sollten Nervennähte möglichst primär vorgenommen werden, da unmittelbar daneben laufende Gefäßanastomosen durch Sekundäreingriffe gefährdet werden könnten. Bei allen anderen Verletzungsarten
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30 Mikrochirurgische Replantationen und Gewebetransplantationen
hingegen müssen Vor- und Nachteile einer primären bzw. sekundären Nervennaht gegeneinander abgewogen werden. Vorteile einer primären Nervennaht sind: • Gute topographische Orientierung; • Vermeidung eines Sekundäreingriffes. Nachteilig können sich demgegenüber folgende Faktoren auswirken: • Verlängerte Operationszeit bei zusätzlicher Versorgung anderer Verletzungen; • unsichere Beurteilung des nervalen Schädigungsgrades; • erhöhte Infektionsgefahr. Vorteile einer frühen Sekundärnaht sind demgegenüber: • Sichere Beurteilung des nervalen Schädigungsgrades; • geringe Infektionsgefahr; • verkürzte Operationszeit unter optimalen Voraussetzungen (Operateur, Instrumentarium). Nachteilig kann sich vor allem auswirken, daß • infolge der Wartezeit Schrumpfungsvorgänge an den Nervenstümpfen auftreten können, die Nerventransplantationen erforderlich machen und daß • die Präparation der Nervenstämme im Narbengewebe erschwert wird. Vor- und Nachteile beider Methoden müssen entsprechend individuell entschieden werden. Der günstigste Zeitpunkt zur frühen Sekundärversorgung scheint zwischen der dritten Woche und dem dritten Monat zu liegen.
30.4 Freie Gewebetransplantationen Hauptanwendungsgebiet der freien Gewebetransplantationen mit mikrovaskulären Anastomosen stellt die Defektdeckung dar. Klinische Relevanz besitzen die Transplantationen von • Haut- und Unterhautfettgewebe bei großflächigen Weich teildefekten; • Zehen-Transplantationen als Daumen- oder Fingerersatz; • Knochentransplantationen zur Kontinuitätswiederherstellung im Extremitätenund Unterkieferbereich; • Muskeltransplantationen nach ischämischen und traumatischen Muskelzerstörungen oder nach nervalen Ausfällen mit konsekutivem Muskelverlust; • Darmtransplantationen als Oesophagus- oder Oropharyngsersatz.
30.4.1 Transplantation von Haut- und Unterhautfettgewebe Die freie Transplantation von Haut- und Unterhautfettgewebe stellt die häufigste Form der mikrovaskulären Gewebetransplantation dar. Großflächige Weichteilde-
30.4 Freie Gewebetransplantationen
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fekte mit freiliegenden Sehnen, Gefäßen, Nerven oder Knochen benötigen eine gut vaskularisierte, frühzeitige Hautbedeckung, um Infektionen und damit fortschreitende Zerstörungen zu vermeiden. Bisher standen hierfür als belastungsfähige Transplantate lediglich gestielte Nah- oder Fernplastiken zur Verfügung, da eine Spalthautdeckung nur oberflächlichen Defekten einen ausreichenden Wundverschluß zu geben vermag. Gestielte Lappenplastiken hingegen werden mit der Subkutanschicht verpflanzt und dienen zusätzlich als Gleitschicht und Polster. Sie können als lokale Verschiebeschwenklappen bei kleineren Defekten oder als Fernplastiken wie cross-leg-flap oder Rundstiellappen bei großflächigen Weichteilverlusten angewandt werden. Wegen ihres aufwendigen, mehrzeitigen Vorgehens werden heute jedoch gestielte Fernplastiken in zunehmendem Maße verlassen und durch freie Gewebetransplantationen mit mikrovaskulären Anastomosen ersetzt. Als Entnahmestelle dienen Bezirke, die ein eigenes, zentrales Gefäßsystem besitzen. Aufgrund ihrer längs orientierten Blutversorgung durch ein arterio-venöses System (axial pattern flap) sind sie an keinen zusätzlichen Kollateralkreislauf gebunden. Die Entwicklung der klinischen Mikrochirurgie schuf die Voraussetzungen, derartige Lappen auch frei zu verpflanzen und den Gefäßstiel im Empfängergebiet mikrovaskulär an gleichkalibrige Gefäße anzuschließen. Harii und Mitarbeiter führten diesen Eingriff 1972 erstmals mit einem Skalplappen durch. Freie Gewebetransplantationen mit mikrovaskulären Anastomosen besitzen folgende Vorteile: • Trotz aufwendiger Operationsverfahren und längerer Operationszeiten kann die Behandlungsdauer im Vergleich mit Fernplastiken abgekürzt werden; • Eine mehrwöchige Immobilisierung mit Ruhigstellung mehrerer Gelenke entfällt; • Aufgrund seiner eigenständigen Durchblutung heilt ein frei transplantierter Lappen auch auf minderwertigem Empfängergrund ein; • Es besteht eine große Variabilität, da Transplantate unterschiedlicher Hauttextur, Hautdicke und Hautgröße zur Verfügung stehen; • Der Bewegungsspielraum am Empfängerort wird lediglich durch die Lage der Gefäß-Anastomosen begrenzt; • Sensibilität des Transplantates kann im Empfängergebiet durch mikronervale Nähte erreicht werden; • Komplexe Defekte können durch kombinierte Lappen (myokutan oder osteomyokutan) direkt versorgt werden. Diesen Vorteilen steht neben einer 4—6stündigen Operationsdauer insbesondere eine Komplikation gegenüber: Die Thrombose mit Verlust des ganzen Lappens. Sie beträgt aufgrund von Sammelstatistiken bei freien Gewebetransplantationen 16%, wobei der Leistenlappen mit 20% die größte Komplikationsrate besitzt.
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3 0 Mikrochirurgische Replantationen und Gewebetransplantationen
Kontraindikationen für freie Gewebetransplantationen bestehen generell dann, wenn • das Narkoserisiko eines bis zu 6 Stunden dauernden Eingriffes übermäßig ansteigt; • Angiopathien oder arteriosklerotische Veränderungen das Thromboserisiko erhöhen oder eine ausreichende Perfusion verhindern und • die Gefäßanastomosen nicht in infektfreie, gesunde Gewebe verlagert werden können. Besonders streng muß die Indikation dann gestellt werden, wenn die Durchblutung im Empfängergebiet bereits durch den Verlust einer oder mehrerer Stammarterien gefährdet ist und nur eine End-zu-Seit-Anastomose möglich wäre, um das Transplantat anzuschließen. Bei der zunehmenden Häufigkeit arterieller Verschlußkrankheiten im Bereich der unteren Extremität beim älteren Menschen sollte deshalb eine Stammarterie nur notfallmäßig geopfert und End-zu-Seit-Anastomosen vorgezogen werden. Abhängig von der Gewebeschicht, in der die axialen Gefäße eines Lappens verlaufen, werden derartige Transplantate kutane, fasziokutane oder myokutane Lappen genannt. Enthalten sie zusätzlich Knochenanteile, entstehen osteokutane oder osteomyokutane Lappen. Klinische Relevanz besitzen folgende Spendergebiete: Kutane, fasziokutane und osteokutane Lappen. • Lateraler Thorax-Lappen (Hautäste der A. thoracica lateralis oder A. thoracodorsalis); • Scapula-Lappen (Hautäste der A. circumflexa scapulae); • Unterarm-Lappen (A. radialis); • Leistenlappen (A. circumflexa ilium superficialis, A. epigastrica inferior superficialis); • Dorsalis-pedis-Lappen (A. dorsalis pedis). Myokutane und osteomyokutane Lappen. • Latissimus dorsi-Lappen (A. thoracodorsalis); • Tensor fasciae latae-Lappen (A. circumflexa femoris lateralis); • Intercostalis-Lappen (A. intercostalis); • Osteomyokutaner Leistenlappen (A. circumflexa ilium profunda). Von allen Lappenarten besitzt das Latissimus dorsi-Transplantat als myokutaner Lappen eine besondere Bedeutung, da er bis zu einer Größe von 4 0 x 2 0 cm gehoben werden kann und mit der A. thoracodorsalis einen etwa 10 bis 15 cm langen und mit 1 bis 3 mm im Durchmesser besonders großkalibrigen Gefäßstiel besitzt. Seine Komplikationsrate ist deshalb besonders gering. Er wird in erster Linie zur Weichteildeckung an der unteren Extremität verwandt, da sich der Muskel vorzüg-
3 0 . 4 Freie Gewebetransplantationen
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Abb. 30/5 Präparation eines M. latissimus-dorsi-Transplantates mit Gefäßstiel.
lieh in größere Defekte — z. B. am Unterschenkel — einpaßt. Der Entnahmedefekt läßt sich in der Regel primär verschließen (Abb. 30/5). Der von Yan Guofan 1978 inaugurierte Unterarmlappen besitzt als fasziokutaner Lappen eine besonders dünne Subkutanschicht und erhält seine Gefäßversorgung über Äste der A. radialis, die bei der Lappenhebung mittransplantiert werden muß. Auch er ist infolge seines langen und großkalibrigen Gefäßstieles sicher zu transplantieren. Seine Vorteile liegen darin, daß er unter Mitnahme der Nervi cutanei antebrachii medialis und lateralis sensibel im Empfängerbereich angeschlossen werden kann. Er eignet sich insbesondere zur Defektdeckung im Hand-, Fuß- oder Gesichtsbereich. Unter Mitnahme eines Radiusspanes kann er als osteokutaner Lappen zur gleichzeitigen Knochendefektüberbrückung transplantiert werden.
30.4.2 Zehentransplantation Die wichtigste Indikation zur Zehentransplantation stellt der Daumenersatz dar. Hierdurch erhält die Hand einen zusätzlichen Finger mit ausreichender sensibler Versorgung, da die Zweipunkte-Diskrimination von Großzehe oder zweiter Zehe durchschnittlich 12-15 mm beträgt. Während die zweite Zehe infolge ihrer Schlankheit eher als Fingerteilersatz transplantiert werden sollte, eignet sich die voluminösere Großzehe infolge ihrer später zunehmenden Weichteilatrophie in erster Linie als Daumenersatz. Ihre Amputation verändert jedoch das Fußbild. Bei der Zweitzehen-Transplantation läßt sich hingegen durch Vorfuß-Verschmälerung ein günstigeres kosmetisches Bild erzielen.
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30 Mikrochirurgische Replantationen und Gewebetransplantationen
Die biomechanische Funktion einer Zehe ist trotz ihrer untergeordneten Bedeutung beim Gang unumstritten. Ihre Amputation darf deshalb nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn hierdurch an der Hand ein Funktionsgewinn erzielt wird, der in gleichem Ausmaß durch keinen anderen Eingriff erzielt werden kann. Daumenersatzoperationen durch Transplantation einer Zehe erfüllen diese Voraussetzungen bei folgenden Indikationen: • zusätzlicher Verlust mehrerer Langfinger; • gravierende Funktionsminderung der Resthand; • spezielle berufliche Erfordernisse. Die Größe des vorhandenen Daumenrestes verdient deshalb Beachtung, weil der erforderliche Längenausgleich nicht auf Kosten einer zunehmend proximalen Kürzung des Os metatarsale I erfolgen darf. Die Resektion des ersten Mittelfußköpfchens würde wegen der veränderten Fußstatik zu Gangbeschwerden führen. Bei der Transplantation entspricht das operative Vorgehen dem einer peripheren Replantation. Bei der Versorgung korrespondieren folgende Strukturen miteinander (Abb. 30/6): • M. flexor hallucis longus - M. flexor pollicis longus; • M. extensor hallucis longus — M. extensor pollicis longus; • A. metatarsea dorsalis I — A. princeps pollicis;
M. extensor hallucis longus Transplantationshöhe V . digitalis dorsalis pedis
A . dorsalis pedis V . cephalica
M . extensor p o l l i c i s longus A . radialis
Abb. 30/6 Darstellung der dorsalseitig korrespondierenden Strukturen bei der Zehentransplantation als Daumenersatz.
30.4 Freie Gewebetransplantationen
485
• A. dorsalis pedis - A. radialis; • subkutane dorsale Großzehenvenen — subkutane dorsale Daumenvenen; • Nn. digitales plantares proprii — Nn. digitales palmares proprii. Infolge des nervalen Anschlusses und der Sehnennaht an die Flexor pollicis-longusSehne erhält der „neue Daumen" sowohl Oberflächen- als auch Tiefensensibilität mit Organgefühl.
30.4.3 Freie Muskeltransplantation Ziel der freien Muskeltransplantation ist die Verpflanzung ortsfremder Muskulatur mit mikrovaskulären und mikronervalen Anschlüssen in ein Empfängergebiet, welches keine funktionsfähige Muskulatur mehr besitzt. An der oberen Extremität und im Gesicht stehen hierbei folgende Verletzungsarten im Vordergrund: • • • •
Ischämische Muskelkontrakturen; Traumatische Muskelzerstörungen; Muskelverlust nach Tumorresektionen; Periphere nervale Schädigungen mit konsekutiver Muskelzerstörung.
Obwohl eine objektive Dokumentation der klinischen Ergebnisse bisher fehlt, weisen die beschriebenen Befunde auf eine zunehmende Funktionswiederkehr hin. Im günstigsten Falle kann ein fast normales Bewegungsausmaß mit etwa 50% der ursprünglichen Kraft erreicht werden. Bei guter Weichteildeckung im Empfängergebiet erfolgt die Transplantation des isolierten Muskels. Bestehen zusätzliche Hautdefekte oder liegen großflächige Narbenareale vor, wird der Muskel myokutan verpflanzt, um gleichzeitig einen Hautverschluß zu ermöglichen. Die auf dem Muskel liegende Haut wird dann über perforierende Äste aus der Muskulatur selbst versorgt. Um einen muskulären Funktionsgewinn zu erzielen, stellt der nervale Anschluß des Muskels an sicher isolierbare motorische Empfängernerven eine unabdingbare Voraussetzung dar. An der oberen Extremität werden hierfür meist motorische Äste des N. medianus gewählt. Die Gefäße der Empfängerseite stellen am Unterarm in der Regel kein Problem dar, da sowohl A. ulnaris, A. radialis als auch die bisweilen ausreichend großkalibrige A. interossea anterior als Anschluß dienen können (Abb. 30/7). Zur Rekonstruktion der mimischen, vom N. facialis innervierte Muskulatur bei der unilateralen N. facialis-Parese erfolgt der nervale Anschluß häufig über ein Nerventransplantat, das von gesunden Ästen des gegenseitigen N. facialis in das Muskeltransplantat übergeleitet wird. Eine weitere Bedingung für eine freie Muskeltransplantation ist, daß an der Entnahmestelle kein spürbarer Funktionsverlust auftritt. Aus diesem Grunde werden
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3 0 Mikrochirurgische Replantationen und Gewebetransplantationen A . brachialis
häufig der M . gracilis, die laterale Hälfte des M . pectoralis major oder der M . latissimus dorsi transplantiert. In den letzten Jahren gingen weitere Fachdisziplinen dazu über, mikrochirurgische Eingriffe vorzunehmen. Dem Gebiet der rekonstruktiven Chirurgie wurden durch die Technik der Replantation, der freien Haut-, Muskel-, Knochen- und Gelenktransplantation mit mikrovaskulären Anastomosen und mikronervalen Anschlüssen Möglichkeiten eröffnet, deren Grenzen zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum abzuschätzen sind.
30.4 Freie Gewebetransplantationen
487
Weiterführende Literatur Brüser, P.: Grundlagen der Replantationschirurgie. In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R.Zenker. F. Deucher, W. Schink), Bd. 4a, Urban & Schwarzenberg, München—Wien—Baltimore 1978 Chen Zhong-wei, Yang Dong-yue, Chang Di-sheng: Microsurgery. Shanghai Scientific and Technical Publishers. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1982 Daniller, A.J., B.Strauch: Symposion on Microsurgery. Mosby, St. Louis 1976 Harii, K.: Microvascular tissue transfer. Igaku—Shoim Tokyo. New York 1983. Nigst, H., D. Buck-Gramcko, H. Millesi: Handchirurgie, Bd. II, Thieme, Stuttgart-New York 1983 O'Brien, B. McC: Microvascular reconstructive surgery. Churchill Livingstone, Edinburgh—London-New York 1977
31 Gefäßverletzungen U. Schneider-May
31.1 Art und Ursache Die Fortschritte in der modernen Gefäßchirurgie der letzten 2 0 Jahre ermöglichten ein Abgehen von der bis dahin nahezu ausschließlich praktizierten Ligatur als Versorgungsform der Gefäßverletzung. Noch im Zweiten Weltkrieg betrug die Amputationsrate im Anschluß an ligaturversorgte Gefäßtraumen 4 9 % , sie sank im Vietnamkrieg auf 1 3 % . Zu Gefäßverletzungen kommt es im zivilen Bereich nach Unfällen aller Art, nach suizidalen und iatrogenen Schädigungen bei Patienten aller Altersklassen, also auch bei älteren Menschen mit arteriosklerotisch vorgeschädigten Gefäßen. Schnitt-, Stich-, Schuß-, Schlag-, Stanz-, Quetsch- und Pfählungsverletzungen sowie stumpfe Traumen (Dezeleration oder Sturz) kommen ursächlich in Frage. Im militärischen Bereich dominieren Schuß-, Granatsplitter- und Explosionsverletzungen, bei denen der Weichteilschaden meist sehr ausgedehnt ist. Dabei wird das Gewebe insbesondere auch nicht unmittelbar vom Geschoß getroffener Arterien exzessiv auf Dehnung beansprucht. Dies hat Intimaeinrisse und -fragmentierungen zur Folge mit späterer Thrombosierung, ohne daß dem Gefäß von außen etwas anzusehen sein muß. Zudem kann sich ein Geschoß intrakorporal zerlegen; mitgerissene Knochensplitter können unabhängig vom Geschoß Arterienwände verletzen.
31.2 Einteilung der Gefäßverletzungen M a n unterscheidet verschiedene Verletzungstypen: • Lazeration; • Transsektion; • Kontusion; • Streckungsläsion; • Dehnungsläsion; • av-Fistel (als Traumareaktion); • Spasmus. Die Lazeration umfaßt alle Wandläsionen von der Punktion bis zur längeren Schnittverletzung der Arterienwand. Die Transsektion kann vom glatten Schnitt bis
31.2 Einteilung der Gefäßverletzungen
489
zur Defektläsion reichen. Beide Verletzungstypen machen bis zu 90% der Gefäßverletzungen aus. Die Kontusions-, die Streckungs- und Dehnungsläsion umfaßt Verletzungen, die lediglich ein Hämatom in der Adventitia oder diffuse Intimafragmentierung mit Prolaps von Intimalefzen ins Lumen und anschließender Thrombosierung erzeugen. Der Spasmus, der wegen seiner Seltenheit an größeren Gefäßen nur im Ausschluß diagnostiziert werden darf, ist aber angiographisch nachweisbar (Cave: DD Kompartmentsyndrom) und entsteht durch eine Irritation der glatten Gefäßmuskulatur und ist nicht wie bei den kleinen Gefäßen (Finger) neurogenem Sympathikuseinfluß unterworfen. Er ist daher auch nur lokal und nicht durch Sympathikus-Blockade zu durchbrechen. Für eine spontane Blutstillung sind tangentiale Arterieneröffnungen am ungünstigten, da es hierbei nicht zur Intimaeinrollung kommt. Vielmehr kann durch eine tangentiale Lumeneröffnung ein sogenanntes falsches Aneurysma entstehen, in dem das zunächst okkludierende Hämatom über seine Verbindung zum Lumen eine Lyse seines Inneren erfährt, so daß eine pulsierende Hämatomkapsel bestehen bleibt. Hier droht die Gefahr der Ausdehnung, der Arrosion, der Kompression von Umgebungsstrukturen sowie der Spontanperforation. Die traumatische arterio-venöse Fistel kommt in der Regel nur durch gleichzeitige Verletzung von Arterie und benachbarter Vene oder deren gemeinsamer Ligatur zustande und damit fast ausschließlich bei perforierenden Verletzungen. Selten sind Arterien allein verletzt, meist werden benachbarte Strukturen mitbetroffen, welche in erster Linie durch ihre topographischen Nachbarschaftsbeziehungen bestimmt werden. Häufig treten Verletzungen der begleitenden Venen und Nerven (Schnittwunden) auf. Am bedeutsamsten und häufigsten sind Gefäßverletzungen bei Knochenbrüchen, entweder als Folge des direkten Traumas oder aufgrund einer passageren erheblichen Dislokation der Fraktur mit Längsdehnungsschaden, Kontusion, Lazeration oder Transsektion durch die Fragmentenden. Aus diesem Grunde ist bei jeder Fraktur nach begleitenden Gefäßverletzungen zu fahnden (s. Abschn. 11.2).
31.2.1 Gefäßverletzungen bei Knochenbrüchen (typische Koinzidenzen) Schädelfrakturen Halswirbelsäule (auch Schleudertrauma) Klavikula (insbesondere mittlere Stückfrakturen) Skapulafrakturen subkapitale Humerusfraktur distale Humerusfraktur distale Unterarmfraktur
epidurale und subdurale Hämatome A. vertebralis, A. carotis A. subclavia A. subclavia A. axillaris A. brachialis A. radialis
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31
Gefäßverletzungen
distale Rippenfrakturen Lendenwirbelquerfortsatzfrakturen Beckenfrakturen, hüftgelenksnah Femur-Fraktur distal der Schaftmitte Femur-Fraktur, suprakondylär Tibiakopffraktur distale Unterschenkelfraktur
parenchymatöse Organe (Leber, Milz, Niere) Nierenarterienabrisse Iliacalgefäße A. fermoralis superficialis A. poplitea A. poplitea und Trifurkation A. tibialis posterior und anterior
Sinngemäßes gilt für Luxationen. Bei ausgdehnten, insbesondere amputierenden oder teilamputierenden Verletzungen sind sämtliche Weichteile betroffen. Zur Versorgung s. Abschn. 5.7
3 1 . 3 Klinische Untersuchung Nicht selten kommt es bei einer größeren Arterienverletzung zu einem schockbedingten Blutdruckabfall, so daß die Blutung sogar sistieren kann. Dann läßt sich erst nach Auffüllung des Kreislaufes und wieder tastbaren Pulsen eine Pulsdifferenz feststellen. Auch fällt oftmals erst nach Beseitigung des zentralisierungsbedingten Hautkolorits eine fortbestehende Blässe der verletzten Extremität auf. Die Untersuchung der Wunde muß folgende Punkte umfassen (s. auch Abschn. 3.3.1): • • • •
Typ des beschädigten Gefäßes; Lokalisation und Verlaufsrichtung der Wunde; Umgebungshämatom; eventuell schwirrendes Gefäßgeräusch.
31.3.1 Klinische Zeichen einer akuten Ischämie Die akute Ischämie einer verletzten Extremität läßt sich an folgenden fünf Symptomen leicht diagnostizieren: • • • • •
Periphere Pulslosigkeit; Blässe; Schmerz; Parästhesie bis Anästhesie; Paralyse;
(im angloamerikanischen Schrifttum die 5 P: pulselessness, paleness, pain, paraestesia, paralysis).
31.3 Klinische Untersuchung
491
Dabei ist die Parästhesie ein frühes Zeichen, da die sensiblen Nerven am ischämieempfindlichsten sind. Das Verteilungsmuster ist strumpfartig und nicht an nervale Versorgungsgebiete gebunden oder segmental. Sind periphere Nerven mit verletzt, ist der neurologische Funktionsausfall als Index für den Anoxiegrad nicht zu verwerten. Bei den seltenen Bauchaortenverletzungen durch stumpfes Bauchtrauma ist gegenüber dem differentialdiagnostisch auszuschließenden akuten Querschnitts-Syndrom mit seiner dissoziierten Empfindungslähmung die ischaemiebedingte neurologische Störung in ihrer Qualität abgrenzbar. Durch die Höhenlokalisation ergibt sich in der Regel jedoch keine Differenzierungsschwierigkeit. Bei intakter neurologischer Funktion besteht in der Regel keine Gefahr für die Entwicklung einer Gangrän, während sie bei Funktionsausfällen eine spätere Gangrän wahrscheinlich machen, wenn die Strombahn nicht innerhalb von 6 Stunden rekonstruiert wird. Die Pulslosigkeit kann durch eine schockbedingte Hypotonie, durch einen Vasospasmus, durch vorbestehende Arteriosklerosis obliterans oder extrem selten — durch eine Anomalie hervorgerufen werden. Der Verdacht auf eine läsionsbedingte periphere Pulslosigkeit besteht immer dann, wenn nach Auffüllung des Volumens und gegebenenfalls Durchbrechung der Zentralisation Pulsationen nicht tastbar werden. Ein Spasmus, der den Blutfluß vollständig stoppt, sollte wegen seiner Seltenheit nur per exclusionem diagnostiziert und durch Angiographie oder Freilegung bestätigt werden. Er ist gelegentlich bei Kindern mit supraoder diakondylärer Humerusfraktur zu beobachten, möglicherweise aufgrund einer besonderen Empfindlichkeit der A. brachialis an dieser Stelle. Bei der Untersuchung der Extremität distal der Läsion ist wichtig zu wissen, daß auch ein fortbestehender Puls nicht über eine Arterienverletzung hinwegtäuschen darf. Kontinuitätsdurchtrennende Arterienverletzungen machen am wenigsten diagnostische Schwierigkeiten. Kontusion mit Intimafrakturierungen und Prolaps einzelner Intimalefzen ins Lumen bei möglicherweise erhaltenem oder abgeschwächten Puls erfordert eine engmaschige Befundkontrolle, um den später auftretenden komplettierenden thrombotischen Verschluß nicht zu übersehen. Tangentiale Arterienwandläsionen mit zunächst okkludierendem Appositionshämatom erzeugen gelegentlich nach Lyse des Hämatoms das Bild eines pulsierenden falschen Aneurysma. Läßt sich ein Schwirren tasten, besteht der Hinweis auf eine arteriovenöse Fistel als Folge einer gemeinsamen Verletzung von parallel verlaufenden Arterien und Venen.
31.3.2 Weitergehende Untersuchungsmethoden • Röntgenuntersuchung der verletzten Extremität in zwei Ebenen, soll routinemäßig erfolgen zur Erfassung von Fremdkörpern (können Wundver-
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•
• •
•
•
31 Gefäßverletzungen
lauf anzeigen), Frakturen und Knochensplittern, die eine Arterienläsion hervorgerufen haben; Doppler-Ultraschall-Untersuchung und Duplex-scan sind als nicht invasive Verfahren rasch und schonend durchführbar und sehr aussagefähig. (Cave: a) Ein guter Kollateralkreislauf kann im Doppler intakte Durchblutung vortäuschen, b) Ein pulsierendes verschlossenes Gefäß erzeugt einen positiven Dopplerbefund); Echoenzephalogramm zur Erfassung intrakranieller Hämatome; Sonographie zur Suche nach Hämatomen im Thorax und im Abdomen. Der Vergleich zwischen der im Real-Time-Scan und dem Compound-Scan erhobenen Sonographie ist sehr gut geeignet, Aneurysmen zu erfassen; Computertomographie. Bei Schädel-Hirnverletzungen hat das Computer-Tomogramm das Echoenzephalogramm abgelöst. Aortenverletzungen-intrathorakal und intraabdominell — sowie entsprechende Aneurysmen lassen sich — sofern ausreichend Zeit vorhanden — mit diesem Verfahren ebenfalls optimal darstellen; Angiographie ist prä-, per- oder postoperativ möglich. Die Indikation für eine angiographische Untersuchung kann nicht weit genug gesteckt werden. Bei perforierenden Verletzungen, die ohnehin eine Revision erfordern, ist auf die präoperative Angiographie zu verzichten, aber nur beim jungen Menschen, da ab 50. Lj. zusätzlich eine AVK möglich ist. Angiographisch lassen sich Intimarupturen, subadventitielle und totale Rupturen unterscheiden. Segmentverschlüsse sind nur in der Frühphase zu erkennen, ehe über kollaterale Gefäße eine retrograde Kontrastierung eingetreten ist. Umgekehrt sind differenziertere Aussagen für die Art der Wandläsion und den distal der Hauptstenose gelegenen Bereich in der Spätphase besser beurteilbar.
Indikationen zur Angiographie: • Andauernde periphere Pulslosigkeit trotz Schocksanierung und Kreislaufstabilisierung; • multiple perforierende Wunden (z.B. nach Granatsplitterverletzung, Schrotschuß); • penetrierende Wunden im Bereich der großen Körperhöhlen bei entsprechendem klinischen Verdacht auf Gefäßverletzung; • penetrierende Verletzungen in der Nähe von großen Arterien mit erhaltenem Puls aber verdächtigem Hämatom; • Pulslosigkeit bei geschlossener Fraktur (bei offenen Frakturen mit Pulslosigkeit kann die intraoperative Freilegung die Angiographie ersparen); • bei penetrierenden oder stumpfen Traumen im Stammbereich, Hals und Kopf.
31.4 Therapie
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Bei Kindern ist die praeoperative Angiographie unzumutbar. Sie sollte in Narkose vom Operateur selbst durchgeführt werden. Im übrigen ist die Angiographie in allen dringlichen Fällen auf dem OP-Tisch sinnvoller, als in einer Röntgenabteilung.
31.4 Therapie Für die Behandlung von Gefäßverletzungen ergeben sich folgende Gesichtspunkte: Präoperativ: • Kontrolle der Blutung; • Schockbekämpfung; • Minimierung der Ischämiezeit; • Indikationsstellung. Peroperativ: • Infektionsprophylaxe durch Debridement der Wunde und Spülung; • Gefäßversorgung; a) Debridement der Gefäßwandung, b) Entfernung distaler und proximaler Thromben, c) Rekonstruktion ohne Stenose und Spannung, d) Weichteildeckung. • Behandlung der Begleitverletzungen; • ergänzende Therapie; a) chirurgisch (Fasziotomie, Drainagen usw.), b) medikamentös (Rheomacrodex, Aprotinin, Bicarbonat, Ödemprophylaxe usw.). Postoperativ: • Offenhalten der Strombahn; • Weichteilnekrosen (insbesondere Muskelgewebe) frühzeitig angehen; • Wundinfektion aktiv behandeln; • Tourniquet-, Schock- und Thromboseprophylaxe.
31.4.1 Kontrolle der Blutung Zur Blutstillung empfiehlt sich zunächst nur die manuelle Kompression oder der Druckverband (s. Abschn. 3.3.1). Kein Abbinden, kein Tourniquet!
31.4.2 Schockbekämpfung Es empfiehlt sich ein Volumenersatz mit kolloidalen Lösungen oder Ringerlaktatlösung (s. Abschn. 3.3.2), solange keine Blutkonserven zur Verfügung stehen. Die
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31 Gefäßverletzungen
Infusion soll rasch erfolgen, die Infusionsmenge jedoch das Doppelte des geschätzten Volumenverlustes nicht überschreiten (Gefahr des Lungenödems). Bei einer starken Blutung muß an die Gefahr einer Verbrauchskoagulopathie (s. Abschn. 4.4) gedacht werden, um frühzeitig gerinnungsphysiologische Untersuchungen durchführen zu lassen und eine Substitution der Gerinnungsfaktoren (Fertigpräparate, Frischblutkonserven, Heparinisierung) vornehmen zu können.
31.4.3 Minimierung der Ischämiezeit Die Applikation von Aprotinin ist nicht nur zur Schocklungenprophylaxe als sinnvoll anzusehen, sondern dient auch der Verlängerung der Ischämietoleranzzeit vor dem Anlegen eines Tourniquets zum Schutze der Transmitterstrecke. Beträgt die Ischämiezeit nicht mehr als 6—8 Stunden, so ist eine Wiederherstellung von über 9 0 % sicher. Bei längerem Bestehen treten irreversible Muskelnekrosen auf. Zunehmende Thrombosebereitschaft (Sludges und Mikrozirkulationsstörungen) behindert dann trotz möglicher Rekonstruktion der Hauptstrombahn die Erhaltung im Endstromgebiet. Bei Fingerabtrennungen erhöht die Unterkühlung im trockenen Milieu die Reanimationszeit des Gewebes (s. Abschn. 3 0 . 2 . 2 . 3 ) . Bei nichtamputierenden Verletzungen ist die Unterkühlung einer Extremität nicht sinnvoll. Die zeitabhängige Ischämietoleranz wird von folgenden Faktoren beeinflußt: • Größe des verletzten Gefäßes; • Behinderung des Kollateralkreislaufs (Tourniquet, Weichteilwunde, Frakturen, Ödeme); • Schockdauer und Blutdruck; • Intaktheit der Mikrozirkulation; • Umgebungstemperatur.
3 1 . 4 . 4 Indikationsstellung Zur präoperativen Festlegung eines Behandlungskonzepts sowie der Operationsindikation sind folgende Überlegungen erforderlich: • Ist eine Rekonstruktion möglich? • Ist die Rekonstruktion sinnvoll? • Ist eine Rekonstruktion zulässig? Diese Fragen lassen sich nur vom Einzelfall aus beantworten. Während die technischen Möglichkeiten einer Rekonstruktion aufgrund der heutigen Technik kaum noch eingeschränkt sein dürften, ist die Frage einer sinnvollen Berechtigung zur operativen Wiederherstellung schwieriger zu beantworten. Irreversible Nervenschädigungen oder Nervenwurzelausrisse lassen eine klare negative Entscheidung sofort zu. Unter günstigen Bedingungen kann ein Kollateralkreislauf eine Extremität vital erhalten und die 6-Stunden-Grenze relativieren. Dann nimmt man we-
3 1 . 4 Therapie
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gen des steigenden Infektionsrisikos zunächst nur eine Wundversorgung vor und führt die Gefäßrekonstruktion sekundär durch. Zur Beurteilung läßt sich der Muskeltonus heranziehen; bereits eingetretene Starre macht die Rettung der Extremität unwahrscheinlich. Infektionen, insbesondere mit Anaerobiern und beginnende Gangrän verbieten weitere Erhaltungsversuche (Intoxikationsgefahr des Gesamtorganismus). Nach einer komplexen Extremitätenverletzung spielen bei der Frage der Zulässigkeit einer Rekonstruktion bzw. Replantation moralische, soziale, psychologische und wirtschaftliche Aspekte eine Rolle, insbesondere ist abzuwägen, ob die zu erwartende Rehabilitationszeit im Verhältnis zur Wertigkeit des Verlustes bzw. des Funktionsgewinns beim Erhaltungsversuch steht. Einer sauberen Unterschenkelamputation mit guter Prothesenversorgung und einer Wiedereingliederung ins normale Arbeitsleben innerhalb von längstens drei Monaten steht ein monate- oder jahrelanges Hospitalisieren eines „Osteomyelitis-Psychopathen" gegenüber, der am Ende selbst seine Rehabilitation hintertreibt. Ebenso ist die Gefährdung des Patienten zu prüfen, die durch eine mögliche Infektion oder durch wiederholte Narkosen entstehen kann. Schließlich muß auch die vorrangige Versorgung von Begleitverletzungen berücksichtigt werden. Deshalb darf bei Amputationsverletzungen an der unteren Extremität ein Erhaltungsversuch nur unter strenger Indikationsabwägung gemacht werden.
31.4.5 Infektionsprophylaxe Nach präliminarer Blutstillung steht am Anfang jeder operativen Maßnahme am Gefäß das sorgfältige Debridement mit ausgiebigem Spülen der Wunde (NebacetinKochsalzlösung) und primärem Wundverschluß als beste Prophylaxe einer Wundinfektion (s. Abschn. 5.7.3). Stich-, Schuß- und Bißwunden gehörten regelhaft zur Domäne der aufgeschobenen Primärversorgung. Dem kann abseits des Gefäßes durch ausgiebige Drainagen Rechnung getragen werden. Kommt es zur Wundinfektion, so tritt nicht selten eine prämonitorische arterielle Blutung ein, die gegebenenfalls sistieren kann, um dann später unter unglücklicheren Umständen (nachts) eine massive Hämorrhagie zur Folge zu haben. Deshalb sollen auch kleinere Blutungen infizierter Wunden immer sofort chirurgisch versorgt werden.
31.4.6 Gefäßversorgung Die Versorgung einer Gefäßläsion umfaßt fünf Leitpunkte: • Freilegung mit Debridement der Gefäßwandung; • Entfernung distaler Thromben mit Fogarty-Katheter; • Kontinuitätsrestauration ohne Stenosierung oder Spannung;
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31 Gefäß Verletzungen
• Entfernung proximaler Thromben durch Flush-Kontrolle vor der endgültigen Nahtkomplettierung unter Abklemmen des distalen Gefäßschenkels; • Weichteilbedeckung. Zur Versorgung der Gefäßläsion stehen vier technische Möglichkeiten zur Verfügung: • Einfache Lateralnaht; • Naht mit Venenpatches; • End-zu-End-Naht nach Resektion der Läsion (ein Defekt von etwa 2 cm ist u. U. spannungsfrei durch Mobilisierung überbrückbar); • Interposition eines autologen Transplantates (V. saphena magna, V. cephalica oder selten A. iliaca, die dann ihrerseits mit einem Kunststofftransplantat überbrückt werden kann); • Extraanatomischer Bypass, kein Kunststoff im Verletzungsgebiet.
3 1 . 4 . 7 Behandlung von Begleitverletzungen Die Behandlung der begleitenden Verletzungen richtet sich nach deren Art und Schwere. Bei Kombinationsschäden steht die Wiederherstellung der arteriellen Strombahn im Zentrum und der operativen Maßnahmen. Dabei hat sich das Vorgehen in folgender Reihenfolge bewährt: • Behelfsmäßige Wiederherstellung Shunt);
der arteriellen
Strombahn
(intraluminärer
• behelfsmäßige Reposition und Retention des Knochenbruchs (durch FixateurTeilmontage); • definitive Versorgung der Arterienschäden; • definitive Wiederherstellung der Venenschäden (nach großzügigem Ausströmenlassen der während der Ischaemiephase angesammelten sauren Stoffwechselprodukte); • Definitive Fixateur-Montage. Die Stabilisierung der Knochenbrüche soll statische Ruhe ins Wundgebiet bringen, die Längenverhältnisse klären und die Gefäßnähte vor einer Streckung schützen. Da zur Minimierung eines zusätzlichen operativen Weichteilschadens und zur Beschleunigung der Osteosynthese fast ausnahmslos der Fixateur externe eingesetzt wird, lautet die Reihenfolge sinngemäß: 1) Osteosynthese 2) Versorgung des Gefäßschadens
3 1 . 4 . 8 Venenverletzungen Bei ausgedehnten Verletzungen sollte man sich auf eine Vene als Hauptabstromgebiet in der Rekonstruktion beschränken wegen der dadurch zu erhöhenden Flußge-
31.4 Therapie
497
schwindigkeit, die einer Rethrombosierung entgegenwirkt. Die primäre Arterienrekonstruktion fördert den Druck im venösen Abstromgebiet, so daß periphere Thromben von selbst ausgeschwemmt werden. Sollte dies nicht erfolgen, ist eine Auswickelung mit einer sterilen Esmarch-Binde durchzuführen und wegen der Gefahr der Klappendestruktion eine Sondierung der Vene nach peripher hin mit einem Fogarty-Katheter zu unterlassen, von peripher nach zentral ist es möglich. Die postoperative Low dose Heparinisierung ist nicht ausreichend, es sollten mindestens 10000 Einheiten Heparin über 24 Stunden im Perfusor verabreicht werden. Nach 24 Std. kann bei begleitenden Venenverletzungen die Heparinisierung gesteigert werden. Gegenüber der Thrombosierung ist die Nachblutung das geringere Übel und kann im übrigen ausreichend durch Redondrainagen kompensiert werden.
31.4.9 Ergänzende Therapie Von den flankierenden Maßnahmen ist die Fasziotomie besonders an Unterarm und Unterschenkel häufig ausschlaggebend für den Erfolg einer Gefäßversorgung. Dabei muß bedacht werden, daß es nach Strombahnrekonstruktionen zu einem postischämischen Ödem kommt. Die Indikation zur Fasziotomie muß großzügig gestellt werden, schon bevor der geringste Eindruck eines Kompartmentsyndroms besteht. Häufig reicht auch die subkutane Schlitzung aus, da die Haut mehr Elastizität besitzt als die Faszie. Am Unterschenkel ist die Tibialis-anterior-Loge am empfindlichsten, das Flexoren-Kompartment am Unterarm. Trotzdem sollen am Unterschenkel und Unterarm alle vier Logen gespalten werden (s. Abschn. 4.10). Sind Frakturen am Unterarm oder Unterschenkel vorhanden, so wird die Operation durch Anlegen einer pneumatischen Oberarm- bzw. Oberschenkelsperre erleichtert. Wenn vor dem Aufpumpen Aprotinin verabreicht wird, braucht die 2Stunden-Grenze nicht streng eingehalten zu werden, und die Transmitterstrecke wird im Interesse einer besseren Mikrozirkulation geschützt. Die Ödembildung sisitert für die Zeit der Blutsperre. Speziell vor Eröffnung des Tourniquets sollte eine weitere Verabreichung von Aprotinin erfolgen.
31.4.10 Offenbleiben der Strombahn Postoperativ ist eine engmaschige Puls- und Blutdruckkontrolle angezeigt, insbesondere in den ersten 6 Stunden, um frühzeitig bei einer Rethrombosierung intervenieren zu können. Hydroxyaethylstärke (HÄS 10%) und Thrombozyten-Aggregationshemmer schützen die Mikrozirkulation ebenso wie Aprotinin. Rheologisch ist es günstig, in den ersten postoperativen Tagen den Hb-Wert nur bis etwa 10 aufzutransfundieren, damit die Blutviskosität zusätzlich gesenkt werden kann. Verbände müssen so angelegt werden, daß die angezeichneten Pulspunkte und die Kapillarpulse der Akren jederzeit auch vom Pflegepersonal überprüft werden kön-
498
31 Gefäßverletzungen
nen. Außer der üblichen Low-dose-Heparinisierung zur Embolieprophylaxe ist eine Antikoagulantien-Therapie nicht erforderlich, da sie nicht vor Thrombosierung einer unexakten Arteriennaht schützt. Die Extremitäten werden nach einer Arterienverletzung in Körperebene gelagert, nach einer Venen Verletzung hoch; zirkuläre und elastische Verbände sind nach Gefäßrekonstruktionen nicht angebracht. Sistiert der Puls, ist eine Reintervention erforderlich. Dabei muß jedoch geprüft werden, ob nicht eine kollaterale Strombahn die Vitalität einer Extremität garantieren kann, da eine Reintervention das Infektionsrisiko erheblich steigert. Thrombozytenaggregationshemmer sollten immer für zwei bis drei Monate, also bis zur Abheilung der Intimawunde verabreicht werden.
31.4.11 Weichteilnekrosen Bei einer probeweise bezüglich der Ischämiezeit gewagten Arterienrekonstruktion an Extremitäten fraglicher Muskel- und Weichteilvitalität muß sofort eine Nekrektomie oder eine Amputation erfolgen, wenn Fieber und Tachykardie eine Infektion signalisieren, eine Clostridieninfektion befürchtet werden muß oder eine Anurie ein akutes Nierenversagen (s. Abschn. 4.5) anzeigt.
31.4.12 Wundinfektion Kommt es durch zu sparsames Debridement der Wunde, durch Verwendung von Kunststofftransplantaten, durch einen nicht-indizierten primären Wundverschluß oder durch eine unterlassene Fasziotomie zur Wundinfektion, so ist eine rasche aggressive Therapie wegen der Gefahr einer Gefäßwandarrosion mit bedrohlicher Blutung erforderlich. Revidierende Eingriffe an den Gefäßen sind dann nicht erlaubt, als Minimaleingriff ist nur die proximale oder distale Ligatur gestattet. Gelegentlich kann ein extraanatomischer Bypass die Situation retten. Spüldrainagen mit verdünnter PVP-Jod-Lösung, PMMA-Kettenanlagerungen oder besser resorbierbare Antibiotikaträger wie z.B. Sylmyzin sowie systemische Breitbandantibiotika-Applikation (zum Beispiel Mezlocillin).
31.5 Mögliche Folgen von Arterienverletzungen Frühfolgen: • Thrombosierung; • Ödembildung; • Koagulopathie; • Infektion.
31.5 Mögliche Folgen von Arterienverletzungen
499
Spätkomplikationen: •
Stenosierung;
• chronischer Ischämieschmerz; •
Claudicado;
• Ischämieschäden (Volkmann); •
av-Fisteln;
•
Aneurysmen.
Weiterführende Literatur Podlaha, J., E. Haaf: Manual der peripheren Arterienoperationen. Enke, Stuttgart 1974 Rick, N . M . , F.C.Spencer: Vascular Trauma. Saunders, Philadelphia—London—Toronto 1978 Vollmar, I.: Rekonstruktive Chirurgie der Arterien. Thieme, Stuttgart 1982 Vollmar, I.: Gefäßverletzungen. In: Chirurgie der Gegenwart (Hrsg. R.Zenker, F.Deucher, W. Schink), Bd. 4, Beitrag 34. Urban & Schwarzenberg, München—Wien—Baltimore 1979
32 Infektionsprophylaxe und -therapie beim Schwerverletzten G. Peters
32.1 Vorbemerkungen Die Infektion gehört zu den wesentlichen Komplikationen, die die Gesamtprognose eines Schwerverletzten entscheidend mitbestimmen. In den letzten Jahren haben die Infektionen in der Unfallchirurgie an Häufigkeit, Schwere und Komplexität zugenommen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Bedingt durch rasante technische Weiterentwicklungen kommt es im Haushaltsbereich, am Arbeitsplatz und im Straßenverkehr zu neuen, häufig schwereren und kombinierten Verletzungsarten. Durch stetigen Ausbau und Verbesserung des Rettungswesens erhöht sich die Anzahl der Schwerstverletzten, die das Unfallereignis überleben und in die klinische Behandlungsphase kommen. In der Klinik selbst stehen moderne diagnostische und therapeutische Verfahren zur Verfügung, die die Überlebenschance auch von Schwerstverletzten erhöhen. Zudem werden — wieder als Folge des gesamten medizinischen Fortschritts — immer häufiger Menschen betroffen, die schon aus anderen Gründen in ihren Fähigkeiten zur Infektabwehr herabgesetzt sind (z.B. Alter, konsumierende oder maligne Grunderkrankungen, immunsuppressive Therapie). Alle genannten Gründe bedingen, daß einmal die Faktoren zunehmen, die das Entstehen einer Infektion begünstigen, und zum anderen die individuellen Abwehrmöglichkeiten vieler Patienten reduziert sind. Daher kommt der Infektionsprävention sowie der kalkulierten bzw. gezielten antiinfektiösen Frühtherapie in den ersten Tagen nach dem Unfallereignis mitentscheidende Bedeutung für Verlauf und Prognose zu. Unbedingte Voraussetzungen hierfür sind gute Kenntnisse ätiopathogenetischer Zusammenhänge, suffiziente diagnostische Maßnahmen und die Beachtung von allgemeinen sowie speziellen Regeln der antiinfektiösen Prophylaxe und Therapie. Dieses soll in den folgenden Abschnitten kompakt vermittelt werden. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß es stellenweise noch kontroverse Standpunkte gibt (z.B. wann Antibiotikaprophylaxe). Hier ist die Einzelentscheidung des letztlich verantwortlich behandelnden Arztes gefordert.
3 2 . 2 Allgemeine Grundlagen
501
32.2 Allgemeine Grundlagen Um im Einzelfall die richtige Entscheidung über Indikation und Art der Infektionsprophylaxe und -therapie treffen zu können, ist die Kenntnis einiger grundsätzlicher Fakten wichtig: • Ätiopathogenetische Gesichtspunkte • Diagnostische Voraussetzungen • Grundprinzipien der Infektionsprävention und -therapie 3 2 . 2 . 1 Ätiopathogenetische Gesichtspunkte Der erste Schritt besteht in der Erforschung ätiopathogenetischer Fragen: • Verletzungsmodus? • Lokalisation der Verletzung(en)? • Infektionsbegünstigende Faktoren? 32.2.1.1 Verletzungsmodus Große Bedeutung kommt der Art der Verletzung zu. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen stumpfen und penetrierenden Verletzungen. • Stumpfes Trauma Beim stumpfen Trauma wird die Kontinuität der Haut nicht unterbrochen, die normale Barrierefunktion der Haut gegen Keiminvasion bleibt bestehen. Frühzeitig induzierte Infektionen beruhen auf endogener Keimkontamination aus primär natürlich besiedelten Bereichen des Organismus (Keimspektren (s. Abschn. 32.2.1.2): • • • • • • • • •
äußerer Gehörgang Nasenvorhof Mund und Pharynx Ösophagus Larynx und obere Trachea extrahepatische Gallenwege Dünndarm und Dickdarm Harnröhre Vagina
Diese abgeschlossenen, eigentlich zur „Außenwelt" gehörigen Bereiche werden durch das Trauma eröffnet, die ortsständigen Mikroorganismen haben ungehinderten Zugang zur Umgebung. Erst im weiteren Verlauf muß die exogene Infektion durch nosokomiale Erreger miteinbezogen werden (nosokomiale Pneumonie, Sepsis, etc. s. Abschn. 32.3.2). Der Grad der Gewebs- bzw. Organschädigung kann sehr unterschiedlich sein. Bei schweren stumpfen Traumen sind massive Schädigungen zu erwarten, die große Gewebsteile und Organbereiche umfassen. Auch Hohl-
502
32 Infektionsprophylaxe und -therapie beim Schwerverletzten
organe können durch stumpfe Verletzungseinwirkung eröffnet werden, dann häufig großflächig mit Folge der massiven Keimeinsaat (z. B. Koloneinriß) in Gewebe oder Körperhöhlen. Derartige Verletzungen führen im Abdominalbereich wesentlich häufiger und intensiver zu Frühinfektionen (Keimmenge!) als im Thoraxbereich. Hier kommt es überwiegend erst im späteren Verlauf durch Keimdeszension (Mund —» Trachea —> Bronchien) zur möglichen Infektion, z. B. zur Pneumonie im Kontusionsbereich der Lunge. Die massive Gewebsschädigung ermöglicht zusätzlich das bessere „Angehen" der Infektion und erschwert das „Anfluten" von körpereigenen Abwehrstoffen (Granulozyten, Antikörper, Komplement etc.) sowie von applizierten Antibiotika (s. Abschn. 32.2.1.2). • Penetrierendes Trauma Beim penetrierenden Verletzungsmodus wird (zusätzlich) die Haut durchtrennt. Dadurch entsteht die Möglichkeit der exogenen Keimeinschleppung, einmal von Bakterien (und Pilzen) aus der menschlichen Haut sowie durch Mikroorganismen aus der Umgebung des Unfallortes und/oder am Verletzungsgegenstand. Der Grad der Kontamination ist abhängig von der „Sauberkeit" des Verletzungsgegenstandes (z. B. sauberes Metall ist weitgehend keimfrei, altes Holz dagegen massiv mit Sporenbildnern kontaminiert). Zusätzlich kann es zur endogenen Keimeinsaat kommen, wenn Körperhöhlen, Organe, vor allem besiedelte Hohlorgane, eröffnet werden. Umfang der Eröffnung und Dauer dieses Zustandes entscheiden über die Quantität der Keimeinsaat. Häufig kommen jedoch beide Verletzungsarten kombiniert vor, was die Möglichkeiten der primären Kontamination erweitert. Weiter erschwerend können spezielle Schädigungsmechanismen hinzukommen, die schon bei alleinigem Vorkommen eine gesonderte Infektionsproblematik aufwerfen: • Verbrennungen • Verätzungen • Schäden durch Inhalation Verbrannte oder verätzte Haut- oder Schleimhautflächen sind zwar primär „sterilisiert", werden aber später zunehmend massiv (aus tieferen Schichten oder exogen) bakteriell (auch durch Pilze) besiedelt, da sie einen idealen Nährboden darstellen. Inhalierte flüchtige Stoffe können neben generellen Gewebsschädigungen die ortsständige Abwehr (Alveolarmakrophagen, sekretorisches IgA) zerstören. Die so geschädigten Gewebe und Organe sind nach einer infektionsfreien Anfangsphase zunehmend stärker gefährdet, überwiegend durch schwer behandelbare Hospitalkeime. 32.2.1.2 Verletzungslokalisation Die Lokalisation entscheidet, welche Gewebe oder Organe überhaupt geschädigt oder potentiell geschädigt sind. Darüber hinaus wird durch sie festgelegt, welche
3 2 . 2 Allgemeine Grundlagen
503
endogene Keimkontamination möglich oder wahrscheinlich ist. So ist die Schädelhöhle selbst nie durch endogene Kontamination belastet, sondern allenfalls bei Kombinationstraumen durch Keimeinsaat aus benachbarten Bereichen, z . B . Nasopharynx oder äußeres Ohr. Auch Lunge und Mediastinum sind relativ gering belastet (untere Trachea, Bronchien und unteres Ösophagusdrittel normalerweise keimfrei). Ahnliches gilt für den Retroperitonealraum. Das übrige Abdomen (Peritonealhöhle) ist durch den Darm und seine massive normale mikrobielle Besiedelung dagegen extrem gefährdet. Daher ist die Kenntnis der jeweils ortsständigen Flora, vor allem der potentiell pathogenen Erreger unabdinglich (Tab. 32/1). Den aeroben Bakterien aus der Enterobacteriaceae-Gruppe (E. coli, Klebsiella, Proteus, Enterobacter) und S. aureus sowie den anaeroben Bakterien aus der Bacteroidesund Peptococcaceae-Gruppe kommt dabei bezüglich Häufigkeit und Schwere besondere Bedeutung zu. Andere Gewebsbereiche, vor allem Weichteile und Knochen des Bewegungsapparates, werden primär nur exogen (Umwelt oder Hautflora [S. aureus!]) kontaminiert. Sekundär hämatogene Infektionen geschädigter Bereiche sind zwar möglich, aber zahlenmäßig unbedeutend. Die Verletzungslokalisation entscheidet auch mit darüber, wie weit sich eine Infektion ausdehnen und damit vital bedrohlich werden kann. Entsprechendes gilt für die „Therapierbarkeit" (Penetrations- und Diffusionsmöglichkeit für das Antibiotikum). 3 2 . 2 . 1 . 3 Infektionsbegünstigende Faktoren Neben Verletzungsmodus und -lokalisation beeinflussen noch weitere Faktoren Entstehung und Verlauf einer Infektion: • Grad der Gewebs- und Organschädigung • Durchblutungsverhältnisse • Fremdkörper • schwere Allgemeinbeeinträchtigung (z. B. Schock) • Grad der Keimkontamination • Grundkrankheiten • lokale und/oder systemische Immunsuppression J e stärker die Gewebs- oder Organschädigung ist, desto besser sind die Startbedingungen für eine Infektion und desto schlechter die Abwehrmöglichkeiten des Wirtsorganismus: Schwer geschädigtes Gewebe ohne ausreichende Mikrozirkulation ist nicht regenerationsfähig und wird schnell nekrotisch. Nekrotisches Gewebe bietet den meisten pathogenen Bakterien ausgezeichnete Vermehrungsbedingungen. Durch fehlende Blutversorgung und durch Taschenbildung bildet sich zudem ein reduziertes Milieu aus, das Wachstum von fakultativ anaeroben Bakterienarten wie S. aureus und Enterobacteriaceae (E. coli etc.), aber auch von obligat anaeroben
504
3 2 Infektionsprophylaxe und -therapie beim Schwerverletzten
Tabelle 32/1
Potentiell pathogene Mikroorganismen (überwiegend Bakterien) in der Normalflora von Körperschleimhäuten permanent
transient
äußerer Gehörgang
(S. epidermidis-Gruppe) Peptococcaceae
S. aureus Ps. aeruginosa Bacteroides sp.
Nasenvorhof
(S. epidermidis-Gruppe)
Mund und Pharynx
Bacteroides sp. Fusobakterien Actinomyces sp. mikroaerophile Streptokokken Peptococcaceae
S. aureus Enterobacteriaceae Meningokokken H. influenzae Candida sp.
- dto. (geringer in Spektrum und Anzahl)
oberer Ösophagus
- dto. -
Larynx und obere Trachea
(geringer in Spektrum und Anzahl) extrahepatische Gallenwege
Dünn und Dickdarm
Enterokokken Enterobacteriaceae Candida sp. Bacteroides sp. mikroaerophile Streptokokken Peptococcaceae Clostridium perfringens Clostridium sp. Enterokokken Enterobacteriaceae (E. coli)
Harnröhre
S. saprophyticus Enterokokken Enterobacteriaceae
Vagina
dto. B-Streptokokken Bacteroides sp.
(
) nur in besonderen Fällen; sp. = Spezies
B a k t e r i e n w i e B a c t e r o i d e s u n d P e p t o c o c c a c e a e e r m ö g l i c h t . Ähnlich förderlich für B a k t e r i e n w a c h s t u m ist die A u s b i l d u n g v o n T h r o m b e n , H ä m a t o m e n u n d S e r o m e n . D u r c h s c h w e r e B e e i n t r ä c h t i g u n g e n des G e s a m t o r g a n i s m u s wie S c h o c k u n d Azid o s e k ö n n e n B l u t m i n d e r v e r s o r g u n g u n d d a m i t die G e w e b s s c h ä d i g u n g e n d e h n t u n d v e r s t ä r k t w e r d e n . D u r c h den V e r l e t z u n g s m e c h a n i s m u s
ausge-
inkorporierte
F r e m d k ö r p e r w i r k e n zusätzlich i n f e k t i o n s f ö r d e r n d ( K e i m i n o k u l a t i o n , F o k u s ) .
32.2 Allgemeine Grundlagen
505
Die zweite wichtige Größe ist die Menge der inokulierten Keime. Etwa ab einer Keimzahl von 106 gilt für die meisten Bakterienarten wie S. aureus, E. coli, etc. — nur bei Streptococcus pyogenes mit 10 2 wesentlich kleiner - wird die Infektion wahrscheinlich, bei stärksten Gewebsschädigungen auch bei geringeren Keimzahlen. Wichtig ist weiter die Virulenz der inokulierten Keime und ihre mögliche synergistische Schädigungskraft (Mischinfektion!). Bei ausgedehnten Schädigungen mit großen Nekroseanteilen, speziell auch nach Verbrennungen, können Stoffe freigesetzt und nach Eindringen in die Blutbahn generalisiert werden, die das körpereigene Abwehrsystem beeinträchtigen: Chemotaxis von Granulozyten, die Fähigkeit von Granulozyten und Makrophagen zur Opsonophagozytose, aber auch Mechanismen der zell-vermittelten Immunität. Durch Volumen- und Eiweißverlust (Schock, Blutung) kann zusätzlich die humorale Abwehr (Antikörper) beeinträchtigt sein. Ähnliches gilt für lokale Abwehrmechanismen (Gewebsmakrophagen, sekretorisches IgA), z. B. in der Lunge nach Inhalationstrauma. Unter älteren Schwerverletzten steigt zudem die Anzahl von Patienten mit schon manifesten konsumierenden Grundleiden oder malignen Erkrankungen, deren Immunabwehr schon dadurch generell reduziert sein kann.
32.2.2 Diagnostische Voraussetzungen Um die individuelle Infektionsgefährdung eines Schwerverletzten gemäß den besprochenen ätiopathogenetischen Gesichtspunkten einschätzen zu können, sind ausreichend frühe und umfangreiche diagnostische Maßnahmen erforderlich: • klinisch • laborchemisch • radiologisch • endoskopisch • invasiv-explorativ • mikrobiologisch Ein großer Teil der Diagnostik wird dabei auch aus anderen Gründen (wie Blutung) indiziert sein. Sie soll möglichst schnell einen Gesamtüberblick über die Verletzungen, aber auch detaillierte Kenntnisse über das Ausmaß der einzelnen Gewebs- bzw. Organschädigungen liefern. Auf eine Auflistung der einzelnen Maßnahmen soll hier verzichtet werden (siehe Besprechung in den einzelnen Spezialkapiteln). Für die Einschätzung der potentiellen Infektionsgefährdung besonders wichtige Fragen sind in einer „Checkliste" zusammengestellt (Tab. 32/2). Wenn nichtinvasive Verfahren zur sicheren Diagnosestellung nicht ausreichen, müssen auch invasive, eventuell operative Maßnahmen ergriffen werden, soweit es die Gesamtsituation des Patienten erlaubt. Von Anfang an sollen auch gezielte mikrobiologische Untersuchungen eingeleitet werden, um Art und Grad der stattgefunde-
506
3 2 Infektionsprophylaxe und -therapie beim Schwerverletzten
Tabelle 32/2
• • • • • • • • • • • • • • •
Diagnostische Maßnahmen Checkliste: Infektionsgefährdung
offene Schädelverletzung Eröffnung von Nasennebenhöhlen Liquorfistel Kontusion von Thoraxorganen (Lunge!) penetrierende Verletzungen und/oder Teilzertrümmerung von Thoraxorganen (Lunge!) Eröffnung der Trachea Eröffnung des Ösophagus Zwerchfellruptur Eröffnung der Gallenwege Eröffnung des Darmes Verletzung von Harnröhre und äußerem Genitale offene/geschlossene Knochenbrüche Lokalisation, Art und Grad von Weichteilschädigungen Art und Grad der Wundverschmutzung Fremdkörper
nen exogenen und/oder endogenen Keimkontamination zu kennen. Dazu gehören in erster Linie die kulturelle Untersuchung von Wundabstrichen, Wund- und Körperhöhlensekreten sowie durch Punktion oder chirurgischen Eingriff gewonnener Gewebematerialien. Wie die exakte Entnahme entscheidet auch der schnelle sachgemäße Transport der Materialien (in reduzierenden Transportmedien, z. B. PortA-Cul-System, Anaerobier!) über die Qualität des mikrobiologischen Untersuchungsergebnisses und damit über die klinische Wertigkeit. Im weiteren klinischen Verlauf müssen alle diagnostischen Maßnahmen darauf konzentriert werden, eine beginnende Infektion früh zu erkennen. Nach entsprechenden (Früh-)Symptomen muß engmaschig gefahndet werden (Tab. 32/3). Sobald Infektionsverdacht besteht, müssen sofort erneute zielgerichtete Materialentnahmen erfolgen und mikrobiologische Untersuchungen eingeleitet werden. Bei jedem Verdacht auf systemische Infektion (Sepsis, Pneumonie etc.) sind Blutkulturen (aerob, anaerob, 2^4mal innerhalb von 2 Tagen) zwingend.
3 2 . 2 . 3 Grandprinzipien der posttraumatischen Infektionsprävention und -therapie Sowohl für die Prophylaxe wie für die Therapie von posttraumatischen Infektionen gelten bestimmte Grundregeln. Grundsätzlich gilt der Primat von chirurgischen und allgemeinmedizinischen Maßnahmen über die antiinfektiöse Chemotherapie. Sie sind in vielen Fällen ausreichend, um die Infektion zu verhindern oder zu behandeln, sie sind zudem häufig Voraussetzung für das Gelingen einer (zusätzlichen) Chemotherapie.
32.2 Allgemeine Grundlagen Tabelle 32/3
507
Checkliste: Frühe Infektionszeichen
• Klinisch — Lokale Infektionszeichen (Rötung, Spannung, Überwärmung, Schmerzen, Gasbildung) — Fieber (Höhe, Art, Verlauf) — Schüttelfrost — Hypotonie — Tachykardie — Meningismus — abdominelle Abwehrspannung — Dysurie • Laborchemisch — Leukozytose — Linksverschiebung, toxische Granulation (Granulozyten) — Thrombopenie — Hypokaliämie — Hypophosphatämie — Atemgasverschlechterung (Astrup) — Azidose (Astrup) — Zeichen für Gerinnungsstörung — Leukozyturie, Bakteriurie • Radiologisch) — Entzündliche Infiltrate (Lunge) — Abszesse — Spiegelbildungen (Pleura, Abdomen) — Gasbildung — Osteomyelitis-Zeichen
Dazu gehören: • • • • • • • •
Säuberung von Wunden Nekrosenentfernung Hämatomausräumung Fremdkörperentfernung Drainage oder Ausräumung von Seromen, Empyemen, Abszessen Spülungen Revaskularisierung Resektion von nekrotischen Anteilen von parenchymatösen Organen und Hohlorganen (mit Anastomose oder vorübergehende Ausleitung)
Ein weiterer Eckpfeiler der Infektionsprophylaxe wie -therapie sind eine Reihe von allgemeinen Maßnahmen, die auch aus anderer Indikation heraus erforderlich sind: • Schockbekämpfung • Azidosebekämpfung • Eiweißersatz • Hyperalimentation (evtl. parenteral) • Frischplasma (Substitution von Komplement und Fibronectin etc.)
508
3 2 Infektionsprophylaxe und -therapie beim Schwerverletzten
Die Gabe von Immunglobulinen ist dagegen sehr umstritten und wahrscheinlich ohne großen Nutzen. Lediglich die Gabe von Hyperimmunglobulinen kann bei bestimmten Indikationen sinnvoll sein. Tetanushyperimmunglobulin und Pseudomonashyperimmunglobulin (Abschn. 32.3.1 u. 32.3.4) sind die bisher einzigen eingeführten antibakteriellen Hyperimmunglobuline. Die Gabe von Kortikosteroiden ist aus infektiologischer Sicht nur in Ausnahmefällen — beim „Endotoxinschock" (Gramnegativen-Sepsis) oder äquivalenten „Peptidoglykan-Schock" (Grampositiven-Sepsis, meist S. aureus) - diskutabel, dann früh, einmalig und hochdosiert. Längerdauernde Gaben aus anderer Indikation (z.B. Hirnödem nach Schädel-Hirn-Trauma) sollten wegen der immunsuppressiven Wirkung sorgfältig abgewogen werden. Allgemein-hygienische Aspekte spielen eine große Rolle in der Prävention von nosokomialen Infektionen: • strikte Einhaltung von Hygiene-Regeln bei ärztlichen und pflegerischen Maßnahmen am Schwerverletzten; • Atemwegstoilette; • ausreichend häufige Desinfektion von Beatmungsgeräten, Verneblern und Zubehör; • intravasale Katheterisierung unter aseptischen Bedingungen, Katheterpflege, sofortiger Wechsel von am Unfallort gelegten Kathetern, Wechsel von Kathetern bei Infektionszeichen; • Dekubitusprophylaxe; • suprapubische Harnableitung (möglichst keine transurethrale Dauerkatheterisierung). Nosokomiale Infektionen sind durch zum Teil hohe Virulenz und AntibiotikaResistenz der Erreger besonders gefährlich für den Patienten und schwerer therapierbar. Die prophylaktische Gabe von antibakteriellen Chemotherapeutika beschränkt sich auf wenige Indikationen. Sie ist sonst nicht indiziert, da einerseits das Erkennen von Infektionsprozessen deutlich verzögert werden kann, ohne daß sie verhindert würden (wie Eröffnung des Darmes —» Peritonitis). Zum anderen erhöht sie die Gefahr der Resistenzentwicklung und erschwert damit eine evtl. später notwendige Therapie. Indikationen für eine Antibiotika-Prophylaxe sind: • Gasbrandprophylaxe bei disponierenden Verletzungen; • Meningitisprophylaxe bei Liquorfistel und Oberarmplexusabriß (wird von einigen Autoren abgelehnt); • Pneumonieprophylaxe bei gesicherter Aspiration; • Mediastinitisprophylaxe bei Ösophagusruptur; • Peritonitisprophylaxe bei Eröffnung von Gallenwegen und Darm;
32.3 Spezielle Prophylaxe und Therapie
509
• Tier- und Menschenbisse; • chirurgische Eingriffe an traumatisch eröffneten Hohlorganen (Ösophagus, Gallenwege, Darm), an Gefäßen mit prothetischem Ersatz und an Gelenken mit Plastikimplantat; Bei Aspiration und Ösophagusruptur sowie bei stark verschmutzten Wunden mit starker Gewebszerstörung (Gasbrandgefahr) ist mit hoher Wahrscheinlichkeit mit entsprechender Keiminokulation und folgender Infektion zu rechnen. Es handelt sich deshalb hier mehr um eine Frühtherapie als unreine Prophylaxe. Sie wird auch entsprechend dosiert und ausreichend lange durchgeführt. Die Prophylaxe bei Liquorfistel muß so lange durchgeführt werden, wie die Fistel besteht, d. h. sich von selber schließt (otogene Fistel) oder operativ revidiert ist (rhinogene Fistel). Bei den anderen genannten Indikationen ist eine ein- bis dreimalige Antibiotikagabe ausreichend und damit Verfahren der Wahl. Ausnahme ist die massive peritoneale Kontamination mit Darminhalt, da dann eine folgende Peritonitis wahrscheinlicher wird (Frühtherapie!). Diese Art der Kurzzeitantibiotikaprophylaxe entspricht der perioperativen Prophylaxe bei bestimmten (elektiven) chirurgischen Eingriffen. Antibiotikavorschläge hierzu in Tabelle 32/4. Die Therapie von posttraumatischen bakteriellen Infektionen folgt den üblichen Regeln der antibakteriellen Chemotherapie: • gezielte Therapie (Erregerdiagnose, Resistenz); • sonst kalkulierte Therapie (zu erwartende Erreger, zu erwartende Resistenzsituation, pharmakologische Kriterien); • Kombinationstherapie bei schweren Infektionen; • ausreichende Dosierung; • ausreichende Therapiedauer; • Therapiekontrolle (Effektivität, Nebenwirkungen). Eine antivirale Therapie ist normalerweise nicht indiziert. Pilzinfektionen treten erst im späten Verlauf auf, dazu wesentlich seltener als bakterielle Infektionen. Die Indikation zur Therapie muß sorgfältig abgewogen werden, da das Risiko von Nebenwirkungen (Neuro-/Hepato-Nephrotoxizität) sehr hoch ist. Therapie der Wahl ist immer Amphotericin B, kombiniert mit 5-Fluorcytosin (intravenös).
32.3 Spezielle Prophylaxe und Therapie Im folgenden Abschnitt sollen die Prophylaxe und Therapie häufiger und wichtiger Infektionen bei Schwerverletzten in Kernsätzen dargestellt werden. Dabei steht hier die antiinfektiöse Chemotherapie im Vordergrund. Bezüglich der chirurgischen und allgemeinmedizinischen Maßnahmen sei auf die oben beschriebenen allgemeinen Grundlagen und die entsprechenden Spezialkapitel verwiesen.
510
3 2 Infektionsprophylaxe und -therapie beim Schwerverletzten
Tabelle 32/4
Antibiotikavorschläge* zur Kurzzeitprophylaxe
Eingriff/Trauma
zu erwartende Erreger (überwiegend)
Antibiotika
Ösophagus
S. aureus Bacteroides Peptococcaceae
Clindamycin oder Amoxicillin + Clavulansäure oder Cefoxitin
Gallenwege
Enterokokken E. coli (bacteroides)
Mezlocillin
Dickdarm
Enterobacteriaceae Bacteroides Peptococcaceae Enterokokken
Mezlocillin + Metronidazol oder Amoxicillin + Clavulansäure
Gefäßprothesen (extraperitoneal) oder Plastikgelenkimplantate
S. aureus S. epidermidis
Cephalosporin der I. oder II. Generation z. B. Cefazolin Cefamandol Cefuroxim Cefotiam
Gefäßprothesen (intraperitoneal)
Staphylokokken Enterobacteriaceae (Anaerobier)
Cefoxitin
Tier-/Menschenbisse
S. aureus Pasteurella multocida (Anaerobier)
Amoxicillin + Clavulansäure
* Bisher mit Erfolg erprobte Anitbiotika, auch Altenativen möglich. Regime-Wechsel nach bestimmten Zeiträumen (1—2 Jahre) empfohlen (Vermeidung von Resistenzentwicklungen).
32.3.1 Infektionen durch grampositive anaerobe Sporenbildner •
Tetanus
•
Gasbrand
32.3.1.1
Tetanus
J e d e Verletzung, u n a b h ä n g i g v o m S c h w e r e g r a d , die m i t einer m ö g l i c h e n e x o g e n e n K e i m e i n s c h l e p p u n g e i n h e r g e h t ( D u r c h t r e n n u n g der H a u t b a r r i e r e ) , birgt die G e f a h r einer I n o k u l a t i o n der S p o r e n v o n C l o s t r i d i u m tetani. U n t e r e n t s p r e c h e n d e n Beding u n g e n in der W u n d e (strikte A n a e r o b i o s e ! ) k ö n n e n sich vegetative B a k t e r i e n entw i c k e l n u n d das T e t a n u s t o x i n p r o d u z i e r e n . E s k o m m t z u m klinischen Bild des T e t a n u s (s. A b s c h n . 5 . 6 . 4 ) .
32.3 Spezielle Prophylaxe und Therapie
511
Der manifeste Tetanus ist nur bedingt spezifisch zu behandeln: • hochdosierte Penicillin-G-Gabe • hochdosierte Tetanus-Hyperimmunglobulingabe Entscheidend ist daher die Impfung als präventive Maßnahme: • aktive Immunisierung mit Tetanustoxoid • passive Immunisierung mit Tetanushyperimmunglobulin (wenn der Patient nicht oder nicht sicher aktiv grundimmunisiert ist) Eine antibiotische Prophylaxe ist nicht notwendig und üblich. Sämtliche Penicilline (z. B. gegeben als Gasbrandprophylaxe) sind jedoch wirksam gegen Cl. tetani. 32.3.1.2 Gasbrand Schwere, offene Weichteilverletzungen mit starken Gewebszerstörungen und massiver exogener Keimeinsaat (Schmutz, Erde, Straßenstaub) sind sicher mit Sporen von Clostridium perfringens und verwandten Arten (Cl. septicum, Cl. histolyticum) kontaminiert und bieten zudem ideale Wachstumsbedingungen für diese Bakterien. Bei stumpfen oder penetrierenden abdominellen Verletzungen mit Eröffnung des Darmes (Dickdarm!) kann es zur intraperitonealen Einsaat von Cl. perfringens aus der normalen Dickdarmflora kommen. Das resultierende Krankheitsbild ist der Extremitäten- bzw. Bauch-Gasbrand (s. Abschn. 5.6.3). Der BauchGasbrand ist meistens bei Diagnosestellung schon nicht mehr beeinflußbar, der Extremitäten-Gasbrand hat dagegen bei früher Diagnose eine wesentlich bessere Prognose. Die Prävention umfaßt verschiedene Maßnahmen: • chirurgisch: Wundtoilette, Nekrosenentfernung, Fremdkörperentfernung etc. • Durchblutungsförderung • Antibiotika: hochdosierte Penicillin-G-Gabe (oder Mezlocillin oder Amoxycillin + Clavulansäure) Die Therapie eines beginnenden manifesten Gasbrandes ist ähnlich und erfordert vor allem die schnelle und ausreichend weitgehende chirurgische Intervention! Die zusätzliche Gabe folgender Antibiotika-Kombination hat sich bewährt: • Penicillin-G (hochdosiert, 40 Mega/d) oder Mezlocillin + Clindamycin + Rolitetracyclin (für 1 bis 2 Tage, je ca. 750 mg als Dauerinfusion) Die hyperbare 0 2 -Behandlung bringt nach neueren Erkenntnissen wohl keine zusätzliche Vorteile. Sie sollte nur dann durchgeführt werden, wenn die Möglichkeiten (Überdruckkammer) am Ort bestehen und kein Transport notwendig ist.
512
3 2 Infektionsprophylaxe und -therapie beim Schwerverletzten
3 2 . 3 . 2 Systemische posttraumatische Infektionen • Meningitis • Sepsis • Pneumonie • Peritonitis
32.3.2.1 Meningitis Die antibiotische Prävention bei Liquorfisteln und offenen Schädelverletzungen mit starker Verschmutzung wird dadurch erschwert, daß parenteral gegebene Antibiotika die intakte Blut-Liquor-Schranke (nicht-entzündete Meningen!) überwiegend nicht passieren. Lediglich Chloramphenicol erreicht gute Liquorspiegel und hat auch ein entsprechend breites Aktivitätsspektrum. Wenn eine Prophylaxe durchgeführt werden soll (kontroverse Diskussion), ist es Mittel der Wahl. Die kalkulierte Chemotherapie einer Meningitis ohne Erregernachweis • Chloramphenicol + Ampicillin (od. Mezlocillin) oder Cephalosporine der S . G e neration (z. B. Latamoxef, Cefotaxim) sollte kritisch auf klinische Effektivität überprüft werden und erforderlichenfalls gemäß dem mikrobiologischen Liquorbefund und der Resistenzbestimmung umgestellt werden. Grundsätzlich wird der vor Therapiebeginn zur mikrobiologischen Diagnostik entnommene Liquor auch mikroskopisch untersucht. Häufig lassen sich dann die in Frage kommenden Erreger schon einengen und die Therapie gezielter gestalten.
32.3.2.2 Sepsis Die Prophylaxe einer Sepsis (s. Abschn. 5.6.1) besteht in der Hauptsache darin zu verhindern, daß sich ein streuender Herd überhaupt ausbilden kann. Die frühzeitige klinische Erkennung einer beginnenden Sepsis (s. Tab. 32/3) und die Erregerdiagnose durch Blutkulturen bilden die Basis für eine erfolgreiche antibiotische Therapie (Tab. 32/5). Ohne Erregernachweis kommen folgende Regime in Frage: • Breitspektrumcephalosporin (z.B. Cefotaxim) oder Breitspektrum-Penicillin (z.B. Mezlocillin, Piperacillin) + Isoxazolylpenicillin (z.B. Flucloxacillin) + Aminoglykosid (z. B. Gentamicin, Tobramycin) Bei abdomineller Sepsis: • Breitspektrum-Penicillin (z. B. Mezlocillin) + Aminoglykosid (z. B. Gentamicin, Tobramycin) + Metronidazol oder Clindamycin
32.3 Spezielle Prophylaxe und Therapie Tabelle 32/5
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Erregerspezifische antibakterielle Chemotherapie Antibiotika
Erreger der Wahl
Reserve
Streptokokken (z. B. Hämolysierende S., Pneumokokken)
Penicillin Aminopenicilline
Erythromycin
Enterokokken
Aminopenicilline (+ Aminoglykosid)
Vancomycin
Staphylokokken
Isoxazolylpenicillin (+ Aminoglykosid)
Clindamycin Fosfomycin Vancomycin
Haemophilus influenzae
Aminopenicilline
Cephalosporine der 2. und 3. Generation
E. coli, Klebsiella, Proteus mirabilis
Mezlocillin + Gentamicin oder Cephalosporin der 2. Generation + Gentamicin oder Cephalosporin der 3. Generation (z. B. Cefotaxim) + Gentamicin
Piperacillin Amikacin
Enterobacter, Serratia, Indol-positiver Proteus
Cefotaxim + Gentamicin oder Latamoxef + Gentamicin
Amikacin Imipenem
Pseudomonas aeruginosa
Azlocillin + Tobramycin
Cefsulodin Ceftazidim Piperacillin Amikacin
Bacteroides
Clindamycin Metronidazol
Peptococcaceae
Penicillin
Clindamycin Metronidazol
Je später eine Sepsis i m klinischen Verlauf auftritt, d e s t o h ö h e r ist die G e f a h r , d a ß sie durch n o s o k o m i a l e Erreger verursacht wird. In s o l c h e n Fällen m ü s s e n bei Ineffektivität der o b e n g e n a n n t e n R e g i m e rechtzeitig s o w o h l auf der ß - L a c t a m - S e i t e (z. B. —» C e f t a z i d i m , I m i p e n e m ) als a u c h auf der A m i n o g l y k o s i d - S e i t e (—» A m i k a cin) w i r k u n g s s t ä r k e r e S u b s t a n z e n eingesetzt w e r d e n , falls die Erregerdiagnose n o c h nicht g e l u n g e n ist.
32.3.2.3 Pneumonie D i e frühzeitig a u f t r e t e n d e P n e u m o n i e ist h ä u f i g A s p i r a t i o n s f o l g e , S. aureus u n d A n a e r o b i e r , vereinzelt auch Enterobacteriaceae, sind hier Leitkeime.
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3 2 Infektionsprophylaxe und -therapie beim Schwerverletzten
• Breitspektrumpenicilline (z. B. Mezlocillin) + Clindamycin sind Therapie der Wahl. Bei älteren Patienten ist eine frühe hypostatische Pneumonie durch H. influenzae oder Pneumokokken möglich. Sie wird durch ein • Aminopenicillin therapiert. Spätere Pneumonien sind meist nosokomial bedingt (Beatmung!) und werden mit einer Kombination kalkuliert behandelt: • Cephalosporin der 2. oder 3. Generation + Aminoglykosid Bei jeder Pneumonie sollten bronchoskopisch gewonnenes Material sowie Blutkulturen zur Erregerdiagnose untersucht werden. (Cave: Trachea- und Tubusbesiedelung auch mit fakultativ pathogenen Keimen nicht gleich Infektion!) Flankierende Maßnahmen wie Tubuspflege, regelmäßige Bronchialtoilette etc. sind wichtig, es sind gleichzeitig wirksame Präventivmaßnahmen (s. Abschn. 32.2). 32.3.2.4 Peritonitis Sie ist meist Folge einer peritonealen Kontamination aus dem Dickdarm und ätiopathogenetisch eine Mischinfektion: Enterobacteriaceae, Enterokokken, Peptococcaceae und Bacteroides. Mit oder ohne Erregernachweis muß kombiniert behandelt werden: • Breitspektrumpenicillin (z.B. Mezlocillin) + Aminoglykosid (z.B. Gentamicin) + Metronidazol oder Clindamycin Wenn die Ursache der endogenen Keimeinsaat nicht schnell gefunden und chirurgisch behoben wird, ist die Prognose sehr schlecht.
32.3.3 Primär lokale posttraumatische Infektionen Lokal begrenzte Infektionen werden im Normalfall ohne systemische Chemotherapie durch chirurgische und allgemeinmedizinische Maßnahmen behandelt. Ausnahme ist die Infektion mit hämolysierenden Streptokokken der serologischen Gruppe A (St. pyogenes). Sie wird konservativ mit • Penicillin (oder Aminopenicillinen) behandelt. Wenn die Gefahr der septikämischen Streuung besteht, muß jedoch auch antibiotisch behandelt werden, möglichst gemäß Erregerdiagnose (s. Tab. 32/5). Falls
32.3 Spezielle Prophylaxe und Therapie
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diese noch nicht vorliegt, ist bei offenen Weichteil- und Knochenverletzungen zunächst in Richtung S. aureus zu behandeln: • Isoxazolylpenicillin (+ Aminoglykosid) oder Clindamycin Bei anderen lokalen Prozessen muß die Chemotherapie gemäß den zu erwartenden Erregern angelegt werden (s. Tab. 32/1 u. 32/5).
32.3.4 Infektionen nach speziellen Verletzungsarten • • • •
Verbrennungen Verätzungen Kälteschäden Wasserunfall
32.3.4.1 Verbrennungen S. aureus, Ps. aeruginosa — und resistente Enterobacteriaceae — sind hauptsächliche Erreger. Bei erforderlicher kalkulierter Chemotherapie (massive Weichteilentzündung, beginnende Sepsis) muß dies entsprechend berücksichtigt werden: • Piperacillin (oder Ceftazidim) + Isoxazolylpenicillin (oder Clindamycin) + Tobramycin • Pseudomonashyperimmunglobulin (in schweren Fällen) Selbstverständlich muß die Therapie möglichst schnell durch Erregerdiagnose abgesichert werden. Entscheidend sind auch allgemeine (Eiweißersatz) und chirurgische Maßnahmen (Nekroseabtragung, Hautdeckung). Im späteren Behandlungsverlauf können auch Pilze eine Rolle spielen. Eine besondere Komplikation ist die Pneumonie nach Inhalationstrauma. Hier sollte unbedingt die Erregerdiagnose erzwungen und gezielt behandelt werden (Kalkuliert: wie Sepsis nach Verbrennung, s.o.). 32.3.4.2 Verätzungen Auch hier sind die ausgedehnten geschädigten Gewebebezirke zwar zunächst steril, dann aber massiv besiedelt. Das Erregerspektrum ist ähnlich wie bei Verbrennungen. Deshalb auch entsprechendes therapeutisches Vorgehen. 32.3.4.3 Kälteschäden Nach Erfrierungen können vor allem an den Extremitäten Nekrosen entstehen, die dann polymikrobiell besiedelt werden. Überwiegend chirurgische Therapie. Even-
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3 2 Infektionsprophylaxe und -therapie beim Schwerverletzten
tuell ist eine Gasbrandprophylaxe erforderlich (Füße! Clostridium perfringens in Zehenzwischenräumen). Bei starken Gesamt-Unterkühlungen (wie langes Verweilen in eiskaltem Wasser) sind Viruspneumonien häufig. Sekundäre bakterielle Pneumonien mit S. aureus, H. influenzae und Pneumokokken sind gefürchtete Komplikationen. Sie sollten frühzeitig erkannt und entsprechend antibiotisch behandelt werden (s. Tab. 3 2 / 5 ) . 3 2 . 3 . 4 . 4 Wasserunfall Überlebende nach Wasserunfall entwickeln fast immer eine Pneumonie (massivste Aspiration!). Das Erregerspektrum entspricht dem der Aspirationspneumonie. Sie ist daher entsprechend zu behandeln.
Weiterführende Literatur Blaisdell, F. W.: Infections following blunt trauma. In: Infectious Diseases (Hrsg. P. D. Hoeprich), S. 1 3 3 7 - 1 3 3 9 . Harper 8c Row, Philadelphia 1983 Blaisdell, F.W.: Infections following penetrating injuries. In: Infectious Diseases (Hrsg. P.D. Hoeprich), S. 1 3 4 0 - 1 3 4 2 . Harper & Row, Philadelphia 1983 Demling, R. H.: Infections following burns. In: Infectious Diseases (Hrsg. P. D. Hoeperich), S. 1 3 4 8 - 1 3 5 1 . Harper & Row, Philadelphia 1983 Peters, G.: Grundprinzipien der antibakteriellen Chemotherapie. In: Therapie-Handbuch — Innere Medizin und Allgemeinmedizin (Hrsg. F. Krück, W. Kaufmann, H. Bünte, E. Gladtke, R. Tölle), 3. Aufl., S. 1 3 8 - 1 6 0 . Urban Sc Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore 1989
33 Die Ernährung des Schwerverletzten K.-H. Vestweber und B. Viell
33.1 Einleitung Der im klinischen Sprachgebrauch übliche Begriff „Polytrauma" ist nur schlecht definiert. Wir verstehen darunter die gleichzeitige Verletzung zweier oder mehrerer Körperregionen bzw. der darin enthaltenen Organe mit akuter vitaler Gefährdung. Der Polytraumatisierte ist primär natürlich durch seine Verletzung gefährdet. Im weiteren posttraumatischen Verlauf kommt es jedoch — trotz optimaler medizinischer Versorgung — zu stoffwechselphysiologischen Veränderungen (Postaggressionssyndrom), die eine zusätzliche schwere Belastung für den Organismus darstellen. Diese kann durch die begleitende Ernährungstherapie kontrolliert und reduziert werden. Die Stabilisierung der vitalen Funktion im unmittelbaren posttraumatischen Zeitraum muß deshalb mit einer sinnvollen Ernährungstherapie ergänzt werden. Sie hat sich vor allem nach den Gegebenheiten des Patienten zu richten, um nicht ihrerseits dem Patienten einen zusätzlichen Streß aufzubürden. Folgende Aspekte sind zu berücksichtigen: • Ernährungsstatus; • Posttraumatische Stoffwechselumstellung; daraus folgt • der zu erwartende Energie- und Substratverbrauch; • die optimale Substitutions- und Applikationstechnik.
33.2 Ernährungsstatus Meist handelt es sich bei Polytraumen um bis dato gesunde, normal ernährte Personen; eine umfangreiche und zeitaufwendige Erhebung des initialen Ernährungsstatus scheint sich daher zu erübrigen und ist im allgemeinen bei der Notfallsituation zweitrangig. Auf der anderen Seite ist zum Beispiel das Körpergewicht eine wichtige Kontrollgröße, die möglichst frühzeitig bekannt sein sollte. Denn erstens richten sich viele intensivmedizinische Maßnahmen nach dieser Größe, wie zum Beispiel Infusionen, und zum anderen führen gerade die operativen Maßnahmen zu einer deutlichen Wasserretention und damit einem „verfälschten" Körpergewicht. Uber- oder Unterernährung lassen sich am einfachsten grob aus der Relation zwischen Körpergewicht und Körpergröße abschätzen. Zur Beurteilung dient üblicher-
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33 Die Ernährung des Schwerverletzten
weise der Broca-Index (Körpergröße in cm — 1 0 0 = kg), der eine Abweichung von ± 1 0 % erlaubt. Ein 1 7 1 cm großer M a n n mit 7 8 , 5 kg Körpergewicht ist demnach übergewichtig, mit 6 2 kg w ä r e er untergewichtig. Wenn es auch vielfältige Bemühungen gegeben hat, das Normgewicht besser zu definieren, so ist der Broca-Index jedoch nach wie v o r das praktikabelste M a ß für die klinische Routine. Zur Beurteilung der Fett- und Muskelreserven empfehlen sich zwei weitere anthropometrische Messungen, die in einem Arbeitsgang durchgeführt werden können. Dies sind die Tricepshautfalte und der Oberarm-Muskelumfang. Die Tricepshautfalte kann mit Hilfe eines einfachen Kalipers an der Oberarmmitte zwischen dem Olekranon und dem Akromion erfaßt werden. Die Beurteilung erfolgt anhand einer Normwerttabelle (Tab. 33/1).
Tabelle 33/1
Zustand
Fettreserven beim Menschen (Tricepshautfalte und Oberarmmitte) — (modifiziert nach Hartig) 18-19 J. (n = 27)
2 0 - 2 9 J. (n = 90)
30-39 J. (n = 140)
40-49 J. (n = 64) ab 50 J. (n = 28)
Normzustand (100 % - 9 0 % )
13,4-12,0
15,2-13,7
10,2-14,6
15,6-14,0
13,8-12,4
Leicht gestört (