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German Pages 121 [136] Year 1952
Sammlung
Göschen
Band
270
Einführung in die Geschichtswissenschaft Von
Dr. P a u l K i r n Professor an der Universität Frankfurt a. M.
Zweite Auflage
W a l t e r
d e
G r u y t e r
&
Co,
vormals G. J. Göschen'sche Verlagsliandlung * J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung: • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp. B e r l i n
1 952.
Alle
R e c h t e , i n s b e s o n d e r e das Übe r s e t zun g s r e c ht, von der V e r 1 a g s h a n d 1 u n g vorbehalten
Archiv-Nr. 11 02 70 Druck von Bodo Graefe, Berlin SW 68 Printed in Germany
Inhalt 1. Kapitel. Die geschichtlichen Wissenschaften und die Geschichtswissenschaft 2. Kapitel. Vorläufiges über Möglichkeit und geschichtlicher Erkenntnis
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Grenzen 13
3. Kapitel. Das Studium der Geschichte
21
4. Kapitel. Die Geschichtsqüellen und die H i l f s - und Nachbarwissenschaften der Geschichte
30
5. Kapitel. Quellenkritik: Kritik des Textes und Kritik der Quellenaussagen
52
6. Kapitel. Das geschichtliche Verstehen und die Sinndeutung der geschichtlichen Vorgänge
68
7. Kapitel.
90
Aufgaben der historischen Darstellung
.
.
Abkürzungen
107
Literatur
108
Verzeichnis der in erster Linie lesenswerten Geschichtswerke
HO
Selbstbiographien, Memoiren, Briefwechsel und Gespräche
116
Verzeichnis vorbildlicher kritischer Untersuchungen
118
Register
.
.
120
1. Kapitel
Die geschichtlichen Wissenschaften und die Geschichtswissenschaft Ohne Kenntnis des Vergangenen ist nicht nur die höhere Geisteskultur undenkbar, selbst die Praxis des täglichen Lebens kann ihrer nicht entraten. Wer von den Ereignissen der letztvergangenen Monate und Jahre nichts behalten und aufgeschrieben hätte, könnte nicht einmal eine Steuererklärung abgeben oder seinen Lebenslauf abfassen. Wer gar Ahnenforschung treiben will, muß schon ein gutes Stück in die Vergangenheit zurückgehen. Unter Umständen hat er schon einige Mühe festzustellen, was sich hinter uns fremd gewordenen Berufsbezeichnungen verbirgt. Um die Papiere aufzuspüren, aus denen er die Angäben über seine Vorfahren entnimmt, muß er sich einige Kenntnis der früheren Behördenorganisation und Zivilstandsregisterführung verschaffen. Es wird ihm auch auffallen, daß die Schriftzüge von ehemals den heutigen nicht gleichen. Schon eine solche gelegentliche Einkehr bei der Vergangenheit bringt uns Aufgaben nahe, wie sie die Geschichtswissenschaft alle Tage bearbeitet. Jede Unterweisung in einem Sonderfach greift auf die Geschichte dieses Faches zurück. Ein Unterricht in Elektrizitätslehre geht nicht vorüber an den Entdeckungen von Galvani, Volta und Franklin. Niemand erörtert die Lehre vom freien Fall, ohne Galilei zu erwähnen, und schon an einer ziemlich frühen Stelle seines Ausbildungsweges begegnet der Schüler in der Geometrie der Gestalt des Pythagoras. Niemand wird ein tüchtiger Offizier, wenn er sich nicht mit dem Verlauf der Schlachten von Leuthen, Leipzig, Königgrätz, Sedan und neueren beschäftigt hat. Selbst die Kenntnis der Schlacht von Cannae kann ihm nicht erspart bleiben.
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Die geschichtl. Wissenschaft, u. d. Geschichtswissenschaft
So kommt es, daß es eine sehr erhebliche Anzahl geschichtlicher "Wissenschaften geben müßte, selbst wenn keine allgemeine Geschichtswissenschaft vorhanden wäre. Ja, man kann die Frage aufwerfen, ob dieser überhaupt noch Raum genug übrigbleibe, ob sie nicht angesichts der Vielheit geschichtlicher Facharbeiten am Ende zu entbehren sei. Sie ist es schon darum nicht, weil sie bei ihren Untersuchungen eine andere Blickrichtung innehält als die geschichtlich arbeitenden Spezialwissenschaften. Der heutige Jurist, Bildhauer oder Praktiker des Verkehrslebens fragt: Was hat das Recht, die Bildhauerkunst, das Verkehrswesen für eine Vergangenheit? Der allgemeine Historiker dagegen fragt: Was hatte die Vergangenheit für ein Recht, was f ü r eine Bildhauerkunst, wie sah ihr Verkehrswesen aus? Das Gesamtbild einer bestimmten Zeitperiode würde aus den Bemühungen jener geschichtlichen Gelegenheitsarbeiter nie entstehen, das Verbindende zwischen den Äußerungen des Zeitgeistes auf den verschiedenen Lebensgebieten nicht sichtbar hervortreten. Noch auf einem anderen Wege gelangen wir dahin, die Notwendigkeit einer allgemeinen Geschichtswissenschaft uns klarzumachen. Wir machen nämlich immer wieder die Erfahrung, daß die Angaben über Vergangenes, die wir zusammentragen wollen, nicht so bequem dargeboten werden wie reife Früchte, die man nur vom Baum zu pflücken braucht. Bisweilen widersprechen sie einander, in anderen Fällen scheint eindeutig klar zu sein, wie wir sie zu verstehen haben, aber im Fortgang der Untersuchung zeigt sich, daß die nächstliegende Deutung falsch war. Zwei Beispiele sollen das veranschaulichen. Die Universität Graz erhielt von Papst Sixtus V. eine Bestätigungsurkunde, ausgestellt am 1. Januar 1585. Aber damals war Sixtus noch nicht Papst, sein Vorgänger Gregor XIII., der erst am 10. April 1585 gestorben ist, war noch am Leben. Um die Lösung zu finden, muß man wissen: Die päpstliche Kanzlei begann damals das Jahr nicht wie wir mit dem 1. Januar, sondern erst mit dem darauffolgenden 1. März. Unsere Urkunde ist demnach vom 1. Januar 1586. Während in diesem Falle sich gleich zu Beginn wenigstens herausstellte, daß eine besondere
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Schwierigkeit vorliegt, scheint im folgenden auf den ersten Blick alles in bester Ordnung. Jemand geht auf die Suche nach den frühesten Spuren von Artillerie in den mittelalterlichen Stadtrechnungen und stößt auf einen Büchsenmeister. Den hält er f ü r J e n Kommandeur oder Ingenieur der Artillerie. In Wirklichkeit ist es ein reitender Bote, der in seiner Büchse die städtischen Briefe befördert. Aus solchen Erfahrungen erwächst die Erkenntnis, daß alle Gelegenheitshistoriker die Hilfe des Berufshistorikers nicht ohne Schaden entbehren können. Die erforderliche allgemeine Geschichtswissenschaft ist aber mehr als nur eine Helferin in gelegentlich auftretenden Nöten. Sie hat Methoden entwickelt, wie man zu sicherer historischer Erkenntnis gelangen kann, und hat Möglichkeit, Wert und Grenzen solcher Erkenntnis untersucht. Diese Seite der Sache soll uns im folgenden beschäftigen. Wir stimmen dabei aus voller Überzeugung jenem Franzosen zu, der einmal äußerte: Nichts ist praktischer als die Theorie. Er meinte damit: Die Theorie ist dazu da, damit die praktischen Versuche nicht planlos angestellt, sondern den Bedingungen möglichen Erfolges von vornherein angepaßt werden. Bei solchem Bemühen kann uns der Gedanke anspornen, daß dem Historiker bei der Arbeitsteilung, die im Volksganzen stattgefunden hat, eine besonders wichtige Aufgabe zugefallen ist. Durch seine Arbeit müssen die geschichtlichen Vorstellungen der Volksgenossen und die Antriebe für das tätige Leben, die daraus entspringen, tragfähigen Grund und feste Richtung erhalten. Denn jeder, mag er der Geschichtswissenschaft noch so fern stehen, bildet sich eine Meinung vom Ablauf der Volksgeschichte und der Völkergeschichte, von ihren bewegenden Kräften, ihren glücklichen und beklagenswerten Ereignissen. Entweder begnügen sich alle mit ungezügelten Einfällen oder der Laie vertraut dem Fachmann, dessen Pflicht und zugleich größte Freude es ist, um die beste f ü r Menschen mögliche Erkenntnis des Geschichtsverlaufs zu ringen. Die allgemeine Geschichtswissenschaft steht und fällt mit dem Nachweis, daß es eine wissenschaftliche Methode gibt, mit deren Hilfe sichere oder annähernd sichere Kunde über Ver-
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gangenes gewonnen werden kann. Das ist so wichtig, d a ß wir im Recht waren, von ihrer Methode zu sprechen, bevor wir ihren Gegenstand erörterten. N u n versuchen wir sie zu definieren, wodurch wir ganz von selbst auf ihren Gegenstand hingelenkt werden. W a s verstehen wir unter Geschichte? Willi Hellpach liefert uns den Satz: „Geschichte ist die bewußte Gestaltung menschlichen Gemeinschaftslebens aus schöpferischem Willen" 1 ). Das läßt aufhorchen, weil es neu und eigenwillig klingt. Denken wir länger darüber nach, so will es uns scheinen, als fände nicht alles, was zur Geschichte gehört, in dieser Begriffsbestimmung Platz. Auch würden wir eine solche vorziehen, die alle drei Bedeutungen des Wortes Geschichte u m f a ß t e : 1. Geschehen, 2. Darstellung des Geschehenen, 3. Wissenschaft vom Geschehen. Ginge es nur um die Wissenschaft, so könnten wir uns Wilhelm Bauer anschließen, der sagt: „Geschichte ist die Wissenschaft, die die Erscheinungen des Lebens zu beschreiben und nachfühlend zu erklären sucht, soweit es sich um Veränderungen handelt, die das Verhältnis-des Menschen zu den verschiedenen gesellschaftlichen Gesamtheiten mit sich bringt, indem sie diese vom S t a n d p u n k t ihrer W i r k u n g auf die Folgezeit oder mit Rücksicht auf ihre typischen Eigenschaften auswählt und ihr H a u p t a u g e n m e r k auf solche Veränderungen richtet, die in der Zeit und im R a u m unwiederholbar sind" 2 ). Jedes einzelne Satzglied ist hier wohl überlegt, man glaubt zu fühlen, wie der Verfasser mit Zusätzen hier und Einschränkungen da das Ganze allmählich zustande gebracht hat. T r o t z d e m wird mancher mehr Gefallen finden an der Formulierung, die Johan H u i z i n g a vorschlägt: „Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine K u l t u r über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt" 3 ). H i e r verdient gerade dies Beifall, d a ß er Ausdrücke von geringerer Schärfe und demgemäß weiterer Fassungskraft gewählt hat. W e n n Geschichte eine geistige Form genannt wird, ist 1) Die W e l t als Ceschichte, Bd. 6 (1940), 250. 2) E i n f ü h r u n g in das Studium d e r Geschichte, S. 17. 3) Wege d e r K u l t u r g e s c h i c h t e , 86.
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angedeutet, d a ß sie auf Maßstäbe und Gesichtspunkte hin orientiert ist, d a ß keinesfalls der gesamte Wust des Geschehens überhaupt in sie aufgenommen werden soll. W i r d das auswählende und betrachtende Subjekt K u l t u r genannt, so drückt dies aus, d a ß auch der einzelne Forscher als Glied seines Volkes, als Kind seiner Zeit, ergriffen von überpersönlichen geistigen Mächten sein W e r k vollbringt. W e n n endlich die Auseinandersetzung mit dem Vergangenen als „sich Rechenschaft ablegen" bezeichnet wird, so fällt unter diesen weiten Begriff eine schlichte Aufzeichnung und ein Bericht öffentlicher oder privater N a t u r ebensogut wie kritisch-wissenschaftliche U n t e r suchungen. Mit dem Gesagten haben wir uns noch nicht auf eine bestimmte A n t w o r t festgelegt hinsichtlich der Frage, ob die staatliche Seite des Völkerlebens allein oder wenigstens vorwiegend im Mittelpunkt der historischen Arbeit stehen soll oder ob es angemessener ist, Kulturgeschichte zu treiben. Der Streit hierüber hat seit 1888 des öfteren die Geister in Bewegung gesetzt. Nicht zufällig brach er gerade damals aus, als das Zeitalter Bismarcks zu Ende ging. Vorher hatte die noch ungelöste A u f gabe der deutschen Einigung die Vorherrschaft der politischen Geschichte gesichert. So ähnlich wie im Zeitalter Ludwigs X V . Voltaire im Kreise der Schriftsteller eine Lanze d a f ü r brach, die hergebrachte Staatengeschichte durch Kulturgeschichte zu ersetzen, so stritten sich nun in Deutschland die Universitätsprofessoren um das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte. M a n muß sich dabei vor Augen halten, d a ß die Geschichte als selbständiges Lehrfach der Hochschulen damals noch gar nicht so sehr alt war. Noch zu Kants Zeiten vereinigte in Königsberg ein Professor die zwei Fächer „Eloquenz" und Geschichte so, d a ß er neben einer Vorlesung über lateinische Rhetorik oder Stilistik und der Erklärung eines römischen Schriftstellers ein Kolleg über die halbe Weltgeschichte las. In einem Semester die Weltgeschichte bis zu Christi Geburt, im folgenden die ganze seitherige Weltgeschichte in jeweils zwei Wochenstunden vorzutragen, diese Kunst, die seither abhanden kam, nannten viele
10 Die geschichtl. Wissenschaft, u. d. Geschichtswissenschaft unserer Vorgänger im 17. und 18. Jahrhundert ihr eigen. Die Sonderung der geschichtlichen Lehrstühle für alte, mittlere und neuere Geschichte (wobei nach lobenswerter Tradition zwei Lehrkräfte für mittlere und neuere Geschichte zugleich tätig sind) ist erst um 1900 in Deutschland ganz durchgeführt worden. An allzu vielen Universitäten wird sie noch so gehandhabt, daß nicht für jedes Teilgebiet eine ordentliche Professur besteht. Erst recht war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Geographie noch nicht im Besitz eigener Lehrstühle; sie trat zumeist noch in Personalunion mit Geschichte auf. Als im Jahre 1888 Dietrich Schäfer in einer Tübinger Antrittsvorlesung über „Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte" für den Vorrang der Geschichte von Staat und Volk eingetreten war, erwiderte ihm Eberhard Gothein in einer Schrift: Die Aufgaben der Kulturgeschichte. Später stellten sich — neben der Mehrzahl der Historiker, die stillschweigend zustimmte — Georg von Below und Hermann Oncken auf Schä.fers Seite, während die Kulturgeschichte in Karl Lamprecht, Walter Goetz, Alfons Dopsch und dem Leydener Professor Johan Huizinga ihre Vorkämpfer fand. Solange es sich nur darum handelte, auf welchem Stoff der Hauptnachdruck liegen sollte — wollte doch keiner der Gegner die anders gerichtete Arbeitsweise mit Stumpf und Stiel ausrotten —, regte der Streit zum Nachdenken an, ohne großen Zwiespalt in die Gelehrtenwelt hineinzutragen. Karl Lamprecht machte aus dem GrenzStreit insofern einen Methodenstreit, als er dazu fortschritt, auf Grund der damals herrschenden Psychologie eine Stufenfolge geistiger Entwicklungsperioden aufzustellen, die, wie er meinte, jede Volkskultur gesetzmäßig durchläuft. Wenn er seinen Gedanken gelegentlich einmal überspitzt vortrug, konnte er sagen, die Griechen, die Deutschen, die Japaner und die Marotse (am oberen Sambesi) hätten eine in allem wesentlichen gleiche Entwicklung durchlaufen. Im Grunde war damit aus dem ursprünglichen Grenzstreit ein Streit der Weltanschauungen geworden. Als solchen hat ihn
Die geschichtl. Wissenschaft, u. d. Geschichtswissenschaft 11 d a n n Christoph Steding in neuester Zeit noch einmal aufleben lassen 1 ). Indem wir uns das Eingehen auf Lamprechts universale E n t wicklungstheorie f ü r später aufsparen, stellen wir einige Sätze zusammen, die das Problem von mehreren Seiten beleuchten. 1. Es sollte höchstens um Vorrang, nicht um Alleinherrschaft der einen oder anderen Geschichtsbehandlung gestritten werden. Man darf auch nie vergessen, d a ß Staat und K u l t u r keine Gegensätze sind, vielmehr der Staat in engster Wechselwirkung mit den wesentlichsten Seiten der K u l t u r steht. 2. Unerträglich wäre eine Verdrängung der politischen Geschichte durch andere Betrachtungsweisen. Praktisch sollte man stets dies im Auge behalten: die Universität hätte, wenn die Historiker die politische Geschichte beiseite setzten, immerhin noch in den Juristen und Volkswirtschaftlern Fachmänner f ü r das Staatliche. Auf der Volksschule aber wie auf den höheren Schulen ist der Geschichtslehrer unzweideutig der zunächst Verantwortliche f ü r die E i n f ü h r u n g in das politische Denken. Wollte er sich auf die K u l t u r - oder, wie man jetzt lieber sagt, auf die Geistesgeschichte beschränken, so fiele die politische Geschichte ganz aus. Für die Geistesgeschichte aber sorgen bereits der Deutschlehrer und die Lehrer der alten und neuen Sprachen ebensogut, wie es der Geschichtslehrer kann. 3. Das Recht und die Pflicht des Historikers, mehr als nur die politische Geschichte darzubieten, wachsen in dem Maße, ais er imstande ist, übergreifende Tatbestände und Gesichtspunkte nachzuweisen, die eine Vielzahl von Kulturgebieten durchziehen und Querverbindungen zwischen diesen erkennen lassen. W e r glaubt, beweisen zu können, d a ß in einem bestimmten Zeitalter äußere und innere Politik, W i r t s c h a f t und soziales Leben, Wissenschaft, Religion und alle Künste ein einheitliches Gepräge getragen haben — etwa ein individualistisches oder ein barockes oder ein von der A u f k l ä r u n g bestimmtes —, der hat die Pflicht und 1) Christoph Steding, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur. Hamburg 1938. Das Buch ist voll subjektiver Willkür, daher nicht zu empfehlen.
12 Die geschichtl. Wissenschaft, u. d. Geschichtswissenschaft selbstverständlich auch das Recht, dies in Untersuchung und Darstellung zu erhärten. 4. Vor einer Erweiterung des Arbeitsfeldes ins Grenzenlose w a r n t die Beobachtung, d a ß gemeinhin die ganz weit gespannten Kulturgeschichten, Universalgeschichten oder wie sie heißen, nur einen verhältnismäßig geringen wissenschaftlichen "Wert haben. Die besten kultur- bzw. geistesgeschichtlichen Werke schufen J a k o b Burckhardt f ü r die Griechen und f ü r die italienische Renaissance, weil er in der Kunstgeschichte Fachmann und in die Geschichte der Literatur sehr tief eingedrungen war, f ü r das deutsche Mittelalter Albert H a u c k als unübertrefflicher Kenner des kirchlichen Lebens (und was war im Mittelalter nicht von der Kirche berührt?), Georg Dehio als Kunsthistoriker und Gustav Freytag, als Germanist im Aufspüren feinerer geistiger Regungen geübt. Das 18. J a h r h u n d e r t behandelte vortrefflich H e r m a n n H e t t n e r , weil er zwei Fachgebiete, die Kunstwie die Literaturgeschichte, wirklich beherrschte. Auf der anderen Seite können Ganzheiten nie voll verstanden werden, wenn man nur ein Stück von ihnen darstellt. Zur H a n s e gehören nicht bloß ihr H a n d e l und ihre Politik, sondern auch ihre Kunstleistungen. 5. Für die Darstellung der Geschichte muß die Entscheidung, wieviel sie von der nichtstaatlichen Kultur in sich aufnehmen soll, von Fall zu Fall getroffen werden. Zum Verständnis solcher Völker und Zeiten, die uns fern liegen, bedarf es immer eines weiteren Ausholens im Kulturgeschichtlichen. Geschichtswerke über das Altertum haben von jeher diesen Grundsatz befolgt, ein M a n n wie R a n k e wußte mit feinem T a k t Hinweise auf die Zeitkultur gleichsam im Vorübergehen zu geben. Mit Recht hat er auch in seiner Schrift über Serbien und die Türkei im 19. J a h r h u n d e r t über das rein Politische weit hinausgegriffen. 6. Wertvolle Geschichtsdarstellungen, die einen bleibenden Platz im deutschen Schrifttum beanspruchen, bedürfen künstlerischer Form. D a z u gehört u. a., d a ß sie nicht angehäufte N o t i z e n ausschütten, sondern einen geschlossenen Gedankengang v o r f ü h r e n . Auch darin liegt eine Richtschnur, die hilft,
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eine Auswahl zu t r e f f e n zwischen dem, was aufgenommen werden, und dem, was beiseite bleiben soll. 7. Dem Studierenden ist zu raten, d a ß er die politische Geschichte und die d a f ü r unentbehrliche Verfassungsgeschichte samt den geschichtlichen Hilfswissenschaften in den Vordergrund stelle. Geistesgeschichte treibt jeder Historiker noch außerdem in Gestalt seiner philologischen Nebenfächer oder der Kunstgeschichte und dgl. Ein Studium, das geradewegs auf Kulturgeschichte als ausschließliches Ziel zusteuert, ist nicht ungefährlich. Auch heute noch geht der sicherste W e g zu einer großen Leistung auf diesem Gebiet nicht durch ein universales Universitätsinstitut, in dem alle Teilgebiete der K u l t u r studiert werden sollen und das sich wie eine Universität im kleinen ausnimmt, sondern durch die Hörsäle bedeutender Fachvertreter mehrerer Fakultäten. 2. Kapitel
Vorläufiges über Möglichkeit und Grenzen geschichtlicher Erkenntnis A m besten erforschen kann man den in vielen gleichen Exemplaren vorhandenen Gegenstand und den beliebig o f t wiederholbaren Vorgang. Die von der Geschichtswissenschaft behandelten Größen sind strenggenommen alle nur ein einziges Mal vorhanden, nein: vorhanden gewesen, kein historischer Vorgang darf einem zweiten völlig gleich gesetzt werden. (Dementsprechend sind die Teilstrecken der historischen Zeit zwar gleich lang, aber in allem Wesentlichen grundverschieden.) D a her konnte J a k o b Burckhardt die Geschichte die unwissenschaftlichste aller Wissenschaften nennen. A m Gegenbild der Naturwissenschaften können wir uns dies am besten klarmachen. Sie haben weithin den Vorteil, eine Unmenge gleicher Exemplare untersuchen zu können. Es gibt nun einmal viel mehr Kaninchen und Meerschweinchen als Staatenbünde und Renaissancen. Die Naturwissenschaft kann experimentieren, die Geschichte nicht. W a s heißt experimen-
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tieren? Einen Faktor herausisolieren und somit den Rückschluß aus der W i r k u n g auf die, Ursache zur Gewißheit erheben. Dies ist es, was der Geschichte versagt ist. D a der Vergleich nahe verwandter Stücke den H a u p t i n h a l t der historischen Methode ausmacht, steht sie überall da auf unsicherem Grunde, w o sie über Vergleichsstücke nicht oder nicht in genügender Zahl verfügt. Jene einzige frühlangobardische U r k u n d e , die abwechselnd als Original und dann wieder als Abschrift erklärt wurde, oder jene Kapelle mit ovalem G r ü n d r i ß auf der Marienfeste in Würzburg, über deren Entstehungszeit die widersprechendsten Annahmen geäußert wurden, sind solche Dinge, die die Wissenschaft nicht recht bewältigen kann. Gegenüber isolierten Vorgangsreihen ist sie nicht viel besser daran. Daher ist jedem, der die Geschichte eines Volkes im tieferen Sinne verstehen will, zu raten, d a ß er sich auch mit anderen Volksgeschichten vertraut macht. Dies w a r vorauszuschicken, um den Leser auf die besonderen Schwierigkeiten des Gegenstandes hinzuweisen. W i r haben schön vom Erklären und Verstehen gesprochen, aber wir müssen uns vorher der Tatsachen bemächtigen, die es zu erklären und zu verstehen gilt. W o sind diese Tatsachen? W i r müssen a n t w o r t e n : Sie sind nicht mehr da. Geschichte ist also die Wissenschaft von einem nicht mehr vorhandenen Gegenstande. Wie kann sie unter solchen Umständen ihren Aussagen Sicherheit verleihen 1. gegen Unwissenheit, 2. gegen Irrtum, 3. gegen Betrug? Gegen die Erkenntnis kann sich kein Mensch sträuben, d a ß auch die scharfsinnigste Forschung jene Vorgänge nicht mehr ermitteln kann, die sich abspielten, ohne eine Spur zu hinterlassen. Schon die Ahnenforschung bei bürgerlichen Familien pflegt, wenn sie ein Stück weit in die Vorzeit eingedrungen ist, zu jenen Männern zu kommen, von denen nur zu berichten bleibt, was Geliert jenem Greise nachrühmt: „Er lebte, nahm ein Weib und starb." N o c h ein p a a r Schritte weiter, und sie
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greift ganz ins Leere. Bei völligem Versagen der Quellen ist die Wissenschaft machtlos. Gefährdet ist sie, wo die Quellen spärlich und nur in äußerst zufälliger Auslese erhalten sind. So wurde noch bis vor kurzer Zeit gelehrt, bis zum J a h r 591 folgten einander eine ganze Anzahl von fränkischen Kriegen gegen die Langobarden. Mit diesem J a h r aber breche die Reihe für 150 J a h r e ab. Dieser Auffassung hat Robert Holtzmann mit Recht entgegengehalten, nicht die fränkisch-langobardischen Kriege, sondern das große Geschichtswerk des Gregor von Tours breche 591 ab. D a kein gleich vollständiges für die anschließenden Jahrzehnte uns vorliegt, ist es in hohem Grade wahrscheinlich, daß uns über jene Kriege nur die weitere Oberlieferung fehlt 1 ). Gegen Irrtum ist die Geschichte so wenig wie irgendeine andere Wissenschaft, j a wohl noch weniger als viele andere gefeit. Es ist ein offenes Geheimnis, daß eine Anzahl von Behauptungen, die ehemals im Geschichtsunterricht gelehrt wurden, heute als Irrtümer gelten. W i r wissen, daß die sagenhaften Erzählungen aus der römischen Königszeit nicht als beglaubigte Geschichte gelten können, daß Heinrich I. keine Städte gegründet hat, daß das Heilige Römische Reich deutscher Nation nicht im J a h r 962 entstand, daß Luther seine Rede in Worms nicht mit den Worten schloß: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen." Aber so lange die Bemühungen, den überlieferten Geschichtsstoff immer von neuem kritisch zu überprüfen, nicht eingestellt werden — und warum sollten sie das? —, so lange werden zu den Punkten, in denen uns die fortschreitende Wissenschaft zum Umlernen genötigt hat, noch neue hinzukommen, in denen wir ebenfalls umlernen müssen. Noch größer ist die Gefahr, daß wir das O p f e r von Geschichtsfälschungen werden. Von der ältesten orientalischen Geschichte bis in unsere Gegenwart zieht sich eine endlose Kette angeblicher Geschichtsquellen, die hergestellt worden sind, um die Nachwelt zu betrügen. Von den in der Humanistenzeit 1) R o b e r t Holtzmann in „Das H a l l e r . S t u t t g a r t 1940. S. 119.
Reich",
Festschrift
für
Johannes
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gefälschten und dem Priester Berossos (er lebte im 3. Jahrh. v. Chr. in Babylon; echt sind einige Fragmente) zugeschriebenen Texten über den sog. Phrygier Dares, der als angeblicher Zeitgenosse den Trojanischen Krieg beschrieb, über die Konstantinische Schenkung und die unter dem N a m e n des Pseudoisidor bekannten großenteils falschen Kirchenrechtsquellen, das Privilegium maius (das, angeblich von 1156 datiert, in der Mitte des 14. J a h r h . angefertigt wurde, um die Landesherrschaft der Habsburger zu verstärken) und ungezählte falsche U r k u n d e n f ü r Kirchen und Klöster geht es weiter zum Politischen Testament Peters des Gr. (das ein polnischer Emigrant gefälscht hat) bis zu den vielen neueren Fälschungen, von denen ein gut Teil auf Rechnung gelehrter Eitelkeit kommt. Diese Liste könnte um ein Vielfaches verlängert werden. Ergänzen kann man sie durch den Hinweis auf gefälschte Altertümer. Berühmte Fälle sind die sog. T i a r a des Saitaphernes (eines Königs, der im 2. vorchristlichen J a h r h u n d e r t über den wahrscheinlich skythischen Stamm der Saier herrschte). 100 000 Franks hat das Louvremuseum f ü r sie bezahlt. Später stellte sich heraus, daß ein aus Odessa stammender Israel Rachumowski sie angefertigt hatte. Für die angeblich zeitgenössische Büste des Renaissancedichters Benivieni zahlte dasselbe Museum 17 000 Franks. Als Zweifel an der Echtheit auftauchten, wurde ein Preis von 15 000 Franken f ü r die Lösung der Frage ausgeschrieben. Ihn verdiente sich der Fälscher — ein Florentiner namens Bastianini —, indem er mitteilte, er sei der Hersteller und habe einen Tabakarbeiter als Modell benutzt. W e r im historischen Fach nicht selber gearbeitet hat und von solchen Dingen hört, k a n n leicht dem Gedanken Raum geben, am Ende sei die ganze überlieferte Weltgeschichte oder große Teile davon ein einziger großer Betrug. J a , wer derartiges nie gedacht und nie ernstlich erwogen hat, ist geistig nicht sehr rege. Es ist f ü r das Bestehen unserer geistigen Welt nicht gleichgültig, ob ein solcher Verdacht der Verfälschung unserer gesamten Geschichte glatt abgewiesen werden kann oder ob wir uns seiner nur mit zweifelhaftem Erfolge erwehren.
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Noch einmal sei daran erinnert, d a ß wir von vornherein zugegeben haben, unser Geschichtsbild sei lückenhaft, nicht frei von Irrtümern, und es könnten sich unter den heute als echt geltenden Dokumenten solche befinden, die später einmal als Fälschung erwiesen werden. Ebenso sicher ist auf der anderen Seite, d a ß das eine oder andere Stück, das im Übereifer von der kritischen Wissenschaft f ü r falsch erklärt wurde, sich im Laufe der Zeit als echt herausstellen wird. D a ß aber unsere Gesamtvorstellung vom Geschichtsverlauf nicht von A bis Z Dichtung oder Betrug sein kann, läßt sich durch eine Fülle von Tatsachen und Überlegungen erweisen. Zunächst greifen wir aus der großen Zahl von Untersuchungen über falsche U r k u n d e n irgendeine heraus und lesen sie a u f merksam. Wie geht der Verfasser vor? Genau wie jemand, der den Nachweis erbringen wollte, d a ß ein uns vorliegender Geldschein gefälscht ist. Wie in diesem Falle zu zeigen wäre, d a ß der zu untersuchende Schein in mehreren — auf den ersten Blick vielleicht kaum ins Auge fallenden — Merkmalen abweicht von allen anderen Geldscheinen des gleichen Typus, so wird hier gezeigt, d a ß die fragliche U r k u n d e in soundso viel Merkmalen der äußeren Ausstattung und der Textgestaltung von den uns erreichbaren gleichzeitigen U r k u n d e n desselben Ausstellers abweicht. Bei genügender wissenschaftlicher E r f a h r u n g kann man auf die Unechtheit der nicht normgemäßen U r k u n d e schließen. W e n n wir Glück haben; liegt der Fall so, d a ß der Fälscher grobe Verstöße begangen hat, aus denen wir sehen, d a ß er z. B. über die Regierungszeit oder den Aufenthaltsort des U r k u n d e n ausstellers oder andere wesentliche Tatsachen nicht Bescheid wußte. Vielleicht gelingt auch der Nachweis, d a ß der Fälscher mehrere ihm gut zugängliche (etwa in seinem eigenen Klosterarchiv liegende) echte U r k u n d e n als Muster benutzt hat. Was dort in einem sinnvollen Zusammenhang steht, wirkt in seinem P r o d u k t widersinnig. Derartige Untersuchungen liefern uns ein doppeltes Ergebnis: 1. d a ß das untersuchte Stück eine Fälschung ist, 2. d a ß die herangezogenen Vergleichsstücke echt sind. Kirn, E i n f ü h r u n g in d i e G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t
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Auf diesen zweiten Punkt aber kommt für unsere augenblickliche Fragestellung alles an. Wiederholen wir dies mit einer Mehrzahl derartiger Schriften, so gewinnen wir schon ein gewisses Zutrauen zu dem, was die Wissenschaft als gesicherte Geschichtstatsachen betrachtet. Gewaltig verstärkt wird dieses Zutrauen, wenn wir die Querverbindungen der verschiedenen Geschichtsquellen untereinander betrachten oder unser Augenmerk auf, die Wege richten, auf denen die einzelnen geschichtlichen Überlieferungen bis zu uns gelangt sind. Um uns hiervon zu überzeugen, wollen wir einmal die Frage aufwerfen, ob die gemeinhin geglaubte Römerherrschaft über das südliche und westliche Deutschland in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung nicht durch falsche Quellen vorgetäuscht worden sein könnte. Wer uns auf griechische und lateinische Historiker hinweist, die von ihr berichten, kann damit die Zweifel noch nicht beseitigen. Wer bürgt dafür, daß sie uns nicht irreführen? Weiter wird man die große Zahl römischer Inschriften aus diesen Gebieten namhaft machen. Auch hier kann sich das Mißtrauen zum Wort melden und sagen: Sind sie auch gewiß echt? Nein, ein gewisser Bruchteil ist nachweislich unecht, aber eben das ist ein günstiger Umstand: er verbürgt die Echtheit der anderen. Weiter haben wir die ganze Fülle der Bodenfunde. Soll man wirklich glauben, sie wären, um uns irrezuführen, erst vergraben worden? Und wäre es selbst der Fall, so kommen doch immer neue gleichartige Funde zutage, auch hilft der Vergleich mit dem, was die vielen römischen Provinzen von Britannien bis nach Spanien, Afrika, dem Balkan, Syrien, Arabien und Ägypten hin an römischen Altertümern aufzuweisen haben, das Gefundene sichern. Schließlich verbindet sich damit die Eigenart vieler aus der lateinischen Sprache abgeleiteter Ortsnamen wie Köln (Colonia Agrippina) und Trier (Augusta Trevirorum), Vilbel (Villa bella) und Bonames (Bona mansio), die eben nur auf jenem Boden sich finden, den die Quellen zum ehemaligen römischen Herrschaftsgebiet rechnen. Das Vorhandensein zahlreicher Lehnwörter lateinischer Herkunft in unserer Sprache (z. B. schreiben, kaufen, Mauer,
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Ziegel) liefert zwar keinen zwingenden Schluß auf politische Herrschaft der Römer über Teile des heutigen Deutschland, sondern nur auf nachhaltigen Kultureinfluß, aber wir haben auch keinen Anlaß, die Tatsächlichkeit jener politischen Herrschaft durch weitere Beweise zu erhärten. Ein ähnliches Gedankenexperiment aus der mittelalterlichen Geschichte möge folgen. Die neuere Geschichte können wir hier beiseite lassen, denn ihr gegenüber ist ja auch so radikaler Zweifel niemals geäußert worden. "Wohl aber wurde allen, Ernstes die Behauptung gewagt, das, was uns bis heute als gesicherte Tatsachen der deutschen Geschichte im Mittelalter gilt, sei durch einen riesigen Betrug, den die Papstkirche im 15. Jahrhundert in Szene gesetzt habe, aufgezeichnet worden 1 ). Nehmen wir einen Augenblick an, es wäre wirklich so. Die Werke eines so wichtigen Geschichtsschreibers aus der Frühzeit Friedrich Barbarossas wie des Bischofs Otto von Freising wären eine spätere Fälschung. Was wäre damit behauptet? Damit wäre behauptet, die Fälscher hätten sich die Mühe gemacht, an die 45 Handschriften anzufertigen und äußerlich so auszustatten, daß sie ganz verschiedenen Schreibschulen und verschiedenen Jahrhunderten anzugehören scheinen. Sie hätten es überdies so eingerichtet, daß ein Teil davon wie eine ältere Fassung, ein anderer wie eine von demselben Verfasser später vorgenommene Neubearbeitung wirkt. U n d endlich hätten sie noch einzelne Handschriften hergestellt, in denen der T e x t durch Zusätze ergänzt wird, in denen die Weifen verherrlicht werden, und andere, deren Zusätze die Wittelsbacher rühmend hervorheben. Noch nicht genug damit. Wer mit solchen Gedanken spielt und Zweifel äußert gegen die nach Ansicht der Zunftgelehrten in ihren Grundzügen wohlbekannte Entwicklung der Buchschrift im Mittelalter, der muß eigentlich bis zu der absurden Behaup1) Diese Meinung verfocht Wilhelm Kammeier in einer ganzen Anzahl kurzer Broschüren mit Titeln wie Die Fälschung der deutschen Geschichte. Ich habe etwa fünf sorgfältig gelesen. Z. Zt. sind sie mir nicht erreichbar, doch entsinne ich mich mit voller Deutlichkeit, daß K. so weit geht, die allgemein gültigen Lehren von der Schriftentwicklung im Mittelalter als wenig vertrauenswürdig zu bezeichnen. 2'
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Möglichkeit und Grenzen geschichtlicher Erkenntnis
tung fortschreiten, d a ß jene angebliche Fälschergenossenschaft noch H u n d e r t e von juristischen H a n d s c h r i f t e n und Tausende von Bibelhandschriften angefertigt habe bloß zu dem Zwecke, d a ß jenes Bild von der Schriftentwicklung, das die geschichtlichen H a n d s c h r i f t e n bieten, eine scheinbare Stütze erhalte. "Wer nämlich die Gesamtfälschung der Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters behaupten wollte, ohne diesen letzten Schritt auch noch zu tun, wäre sofort dadurch zu widerlegen, d a ß man ihm erwiderte: „Gut. Solange ein Verdacht gegen die historischen H a n d s c h r i f t e n besteht, ist es ein leichtes, diese vorerst beiseite zu lassen und mit H i l f e der juristischen und der Bibelhandschriften die zeitliche Entwicklung der Schrift in den mittelalterlichen Jahrhunderten einwandfrei klarzulegen. Nach dem Ergebnis beurteilen wir dann die geschichtlichen H a n d schriften." D a m i t wäre der unumstößliche Beweis f ü r die äußere Echtheit aller der Textzeugen gegeben, die uns nicht als Abschriften aus späterer Zeit gelten. Denn ein W e r k kann nicht im 15. J a h r h u n d e r t v e r f a ß t sein, wenn es schon in H a n d s c h r i f t e n des 12. Jahrhunderts erhalten ist. Daraus geht f ü r jeden U r teilsfähigen hervor, auf wessen Seite die einwandfreie wissenschaftliche Methode ist. Endlich ist noch an eins zu erinnern: Zum Bestand unserer Geschichtsquellen kommen alle Tage neue Stücke hinzu. Fliegerbomben legen im Boden versteckte Gebäudereste bloß. Ein alter Buchdeckel platzt, man findet beschriebene Pergamentblätter, die als Füllmaterial darin stecken, und entziffert sie. Sie bestätigen das Geschichtsbild, das aus anderen Quellen gewonnen ist. Sollen wir annehmen, jene Gebäudereste und diese Pergamentzettel seien vor J a h r h u n d e r t e n von bösartigen Fälschern versteckt worden mit der Berechnung, wir würden sie eines Tages entdecken und dadurch erst recht in ein künstlich angelegtes Lügennetz verstrickt werden? Nein! Mit Recht hat Karl Brandi einmal bemerkt: In der Geschichtswissenschaft hat die Kontrolle durch nachfolgende Funde etwa denselben W e r t wie anderwärts das Experiment. So kommen wir zu dem Schluß: Der Gedanke, ob nicht ein Riesenbetrug die Weltgeschichte entstelle, muß einmal gründlich erwogen werden. W e r jedoch
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nach solcher Prüfung an die Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit oder Tatsächlichkeit dieses großen Betruges glaubt, macht sich lächerlich. Wenn einer dies tun will, können wir ihn nicht daran hindern. 3. Kapitel
Das Studium der Geschichte Die Geschichtswissenschaft ist nicht systematisch aufgebaut, wie 2. B. die Geometrie. Das hat seine besonderen Nachteile, aber auch wieder Vorzüge. Wer Geometrie lernen oder lehren will, kann nicht darüber im Zweifel sein, daß erst die Dreieckslehre abgemacht sein muß, bevor das Vier-, Fünf- und n-Eck an die Reihe kommen, daß die Planimetrie der Stereometrie voranzugehen hat. Das verleiht den Lehrgängen und Lehrbüchern eine gewisse Gleichförmigkeit; wer die Schule wechselt, wird anderwärts schnell herausfinden, an welcher Stelle eines fremden Lehrkursus er einzusetzen hat. Ganz anders die Geschichtswissenschaft. Wollte jemand sagen, sie verhalte sich mindestens insofern gleich, als hier doch offenbar der durch die Zeitrechnung vorgeschriebene Gang eingehalten werden müsse, also die Vorgeschichte und die Geschichte des Altertums an den Anfang zu stellen seien, Mittelalter und Neuzeit' Fortsetzung und Schluß darzustellen hätten, so daß es sich dann nur noch darum handeln könne, die Hilfs- und Nachbarwissenschaften der Geschichte sinnvoll auf die einzelnen Abschnitte des Lehrgangs zu verteilen, so wäre zu antworten, daß das keineswegs notwendig und auch kaum durchführbar sei. Derjenige Student, der seine ganze Studienzeit an einer einzigen Universität verbringt, findet schwerlich immer gerade jene Vorlesungen angeboten, die ein solches Hören der ganzen Weltgeschichte in einer Reihe aufeinanderfolgender Semester möglich machten. Er fährt nicht schlechter, wenn er sich an das Dargebotene hält, mag er so auch die Römische Geschichte vor der Griechischen und die Stauferzeit vor der Geschichte der sog. Völkerwanderung hören. Daß jemand über alle Zeitabschnitte Vorlesungen
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hören müsse, wird nicht erwartet. Dem Aufmerksamen wird nicht entgehen, daß die Vorlesung vor dem Buche einiges voraus hat. Sie wird im allgemeinen die neuesten Ergebnisse der Wissenschaft rascher in sich aufnehmen als ein Buch — der langsame Herstellungsprozeß der Bücher erklärt diesen Unterschied ohne weiteres; sie kann auch besser in schwebende Streitfragen einführen und im Hörer einen mehr persönlichen Eindruck zurücklassen, der fester im Gedächtnis haftet als die Erinnerung an Gelesenes. Wer die Universität wechselt, wird noch stärker durch das zufällige Angebot von Vorlesungen sich bestimmen lassen müssen. Ja, es ist geradezu davor zu warnen, daß man am neuen Orte nur auf die Wichtigkeit der Stoffe sehe, wenn man seinen Stundenplan zusammenstellt. Viel mehr kommt darauf an, auf alle Fälle die führenden Männer zu hören, von denen man sich die größte Förderung versprechen kann, sollte man deswegen auch eine Vorlesung über einen schon früher gehörten Gegenstand in Kauf nehmen müssen. Auch von den Seminarübungen gilt, daß sehr viel auf den Meister und die Methode, sehr wenig auf den Gegenstand ankommt. Kann man sich unter dem angekündigten Thema einer solchen Übung nichts sehr Anziehendes vorstellen, so traue man dem Veranstalter zu, daß er gute Gründe für seine Wahl gehabt haben wird. Ganz falsch aber wäre es, nach dem Vorstehenden anzunehmen, wir wollten die Frage: Wie wird man Historiker? beantworten: Indem man geschichtliche Vorlesungen hört und sich ihren Inhalt einprägt. Nein, dazu gehört viel mehr. Das Wichtigste ist, daß man so früh als möglich Fühlung mit den Quellen sucht und sie sein Leben lang aufrechterhält. Stellen wir uns einen Augenblick vor, man hätte uns gefragt: Wie wird man Kunsthistoriker? Wie wird man Kenner der Kunst Albrecht Dürers? Nichts könnte verkehrter sein als der Rat, alles käme auf Vorlesunghören und Bücherlesen an; zuerst müsse man alles Einschlägige lesen, dann sei es an der Zeit, die Werke des Künstlers aufzusuchen. Vielmehr wird fast das umgekehrte Verfahren zu empfehlen sein. Sehen lernen ist die große Aufgabe. Die großen Kunstwerke früh sehen und immer
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wieder sehen, das stehe im Mittelpunkt. Daneben wohl auch lesen und Kenntnisse aller Art sammeln, aber nicht die Originalwerke ansehen, um die Bücher zu verstehen, sondern die Bücher lesen, um die Originale recht zu erfassen. Die Unbefangenheit des Schauenden wird durch zu frühes Hiphören auf das, was andere gesehen und empfunden haben wollen, zerstört. Gerade sie aber kann neue wissenschaftliche Erkenntnisse erschließen. Wir gehen ja auch nicht ins Konzert, um festzustellen, ob der Zeitungskritiker Mozart richtig beurteilt hat, sondern um wieder einmal Mozart auf uns wirken zu lassen. Was für den Kunsthistoriker die Originale sind, sind für den Historiker die Quellen. Daher soll den eigentlichen Mittelpunkt des Studiums das Lesen von Quellen und das Erlernen der Methode bilden. Die Methode lernt man am besten durch Besuch von Seminarübungen, Durcharbeiten der dort gestellten Aufgaben und Befolgen der dort gegebenen Anregungen. Auch zum tieferen Eindringen in die Quellen wird man dort Anleitung erhalten. Indessen kann und soll der einzelne für sich ebenfalls Quellen lesen. Und er soll sich dabei den Ratschlag zunutze machen, den einer der erfolgreichsten Quellenleser, Jakob Burckhardt, einst seinen Studenten gab: immer so zu lesen, als gelte es, den vorliegenden Text zum erstenmal für die Wissenschaft auszubeuten, also sich ganz freizumachen von der lähmenden Vorstellung, alles, was ein spätgeborener Anfänger daraus entnehmen könne, sei doch sicherlich schon längst von gelehrteren Köpfen beobachtet und ausgewertet. Nein, man soll — nach Burckhardt — immer denken: „Es kann sein, daß im Thukydides z. B. eine Tatsache ersten Ranges liegt, die erst in hundert Jahren jemand bemerken wird" 1 ). Diese Privatlektüre von Quellen wird zunächst zwar nicht so sehr auf die Gewinnung von Einzelheiten für eine Spezialarbeit ausgehen als auf vollständige Kenntnis größerer Werke, denn eben hierzu können Seminarübungen unmöglich Zeit erübrigen. Diese ausgedehnte Quellenlektüre darf deutsche Ubersetzungen der fremdsprachlichen Texte benutzen. Nur muß 1) W e l t g e s c h i c h t l i c h e Betrachtungen. Berlin u. S t u t t g a r t S. 20. Auch das u n m i t t e l b a r V o r a n g e h e n d e und F o l g e n d e ist lesenswert.
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dann auch eine tüchtige Menge Stoff bewältigt werden. W e r einen Autor auf lateinisch gelesen hätte, kann in der gleichen Zeit bequem zehn in der Übersetzung kennenlernen. Indessen soll damit nicht gesagt sein, die Lektüre der Obersetzung sei gerade so gut wie die Lektüre des Originals. "Wohin wir kämen, wenn ein derartiger Grundsatz sich durchsetzte, zeigt folgendes hübsche Beispiel. Ein Neger, George Padmore, schrieb in englischer Sprache ein Buch voller Anklagen über die Behandlung der Neger durch ihre weißen Herren. Unter dem T i t e l : Afrika unter dem J o c h der Weißen erschien eine deutsche Übersetzung davon. Hier steht zu lesen, das Elend der Schwarzen sei noch gesteigert worden durch die Erfindung des Baumwollschnapses im J a h r 1793. Die geschäftige Phantasie des Lesers stellt sich unter diesem widerlichen Namen leicht einen teuflischen T r a n k vor. Aber sie geht in die Irre. I m Original steht 'cotton gin, und das bedeutet die Baumwoll-Entkörnungsmaschine. Ähnliches Mißgeschick kann jeden Tag passieren, wenn man sich blindlings den Ubersetzern anvertraut. Der Historiker muß für das Verständnis der Quellen wie der neueren wissenschaftlichen Literatur gründliche und ausgedehnte Sprachkenntnisse besitzen und sie ständig erweitern. Ohne Latein wäre er ganz unbrauchbar, nicht nur Altertum und Mittelalter wären ihm verschlossen, selbst den T e x t des Westfälischen Friedens könnte er nicht ohne fremde Hilfe, die leicht irreführt, verstehen. Dabei sage er sich, daß Griechisch für das Altertum und weite Teile des Mittelalters unentbehrlich ist. W e r dem Englischen und dem Französischen hilflos gegenübersteht, ist auch kein Historiker. Und auch damit ist der Kreis des Wünschenswerten noch längst nicht umschrieben U n t e r den Sprachen, zu denen man vom Germanischen oder Romanischen her keinen schweren Zugang hat, sind Niederländisch und Italienisch nebst Spanisch und Portugiesisch für viele geschichtliche Arbeiten notwendig. W e r Rankes große Werke liest und dabei die Anmerkungen nicht überschlägt, findet darin so viele italienische Sätze, deren Sinn sich teils aus den Mitteilungen in Rankes T e x t , teils aus dem Lateinischen oder Französischen ohne weiteres ergibt, daß er nicht mehr sehr
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viel Mühe aufwenden muß, um richtig Italienisch zu lernen. Auf die Notwendigkeit der skandinavischen Sprachen und des Russischen nebst seinen slawischen Verwandten sei noch hingewiesen. Der ideale Historiker muß schon viel in sich aufnehmen. Dem Anfänger ist zu raten, jedenfalls Sprachstudien nachdrücklich zu treiben.. Wenn er den Mut hat, über das im allgemeinen Übliche hinauszugehen, wird seine H e r k u n f t und der künftige Wirkungskreis, f ü r den er sich vorbereitet, seine Entschlüsse leiten. Der Holsteiner z. B. wird sich auch sprachlich auf die skandinavische Geschichte einstellen, der Ostpreuße oder Schlesier auf die russische und polnische usw. Im Lateinischen, Französischen und Englischen sollte jeder zu Hause sein. Neben der Quellenlektüre, die uns zu einem Exkurs über das Sprachenlernen verführt hat, wird die Lektüre bedeutender Geschichtswerke einen erheblichen Raum einnehmen müssen. Welche jeweils die bedeutendsten über ein bestimmtes Teilgebiet der Geschichte sind, sagt eine Tabelle im Anhang. Wer sie zu Rate zieht, sichert sich gegen die Gefahr, Mühe auf ein Buch zu verwenden, das wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen ist. Ebenso wichtig ist, zu wissen, wie man lesen soll. Tatsachen aus den Büchern zu lernen, ist nicht der einzige Zweck. Man lege sich während des Lesens Fragen vor wie diese: Wie gliedert der Verfasser seinen Stoff? Ist diese Gliederung neu, und wird sie durch seine Darstellung bestätigt? Welchen Einfluß hat seine Weltanschauung auf Auswahl und Beurteilung des Mitgeteilten? Wie stellt er sich zu seinen Vorgängern? Man lese nicht gleichgültig über geographische Angaben hinweg, sondern benutze ständig den Atlas. Den Inhalt des Gelesenen wird man o f t — wäre die Zeit nicht kostbar, so müßte es heißen immer — in einem kurzen Auszug festhalten. Besonders wichtig ist dies 1. bei klassischen Werken, deren ganzer Aufbau verstanden sein will und zu deren Grundgedanken man noch öfter zurückkehrt, 2. bei solchen Büchern, die uns nur vorübergehend und unter besonders günstigen Umständen zugänglich- sind, so daß wir wohl oder übel später mit dem Auszug arbeiten müssen, wo das Werk selbst einen besseren Dienst täte. Bei Büchern, deren
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Hauptverdienst in einer schwer übersichtlichen Stoffsammlung besteht, kann man sich die Mühe des vollständigen Exzerpierens sparen, indem man nur das vom Arbeitsziel Geforderte notiert. So wenig wie das Hören der Vorlesungen muß die geschichtliche Lektüre mit dem grauen Altertum beginnen und mit der jüngsten Gegenwart endigen. Wir möchten ein ganz anderes Verfahren empfehlen. Man erkundige sich so früh wie möglich nach dem Gegenstand, der in den geschichtlichen Übungen des kommenden Semesters behandelt werden soll. Ob dies nun die Zeit des Cäsar und Pompejus oder der Investiturstreit ist oder die Französische Revolution, jedenfalls lese man, tunlichst bevor diese Übungen beginnen, eines der maßgebenden Bücher über den gewählten Stoff. Das wird sich sehr lohnen. Geschieht es nicht, dann leidet die Mitarbeit im Seminar an dem lästigen Übelstand, daß der Student immer nur den Punkt sieht, der kritisch untersucht werden soll, und die weitere Umgebung, in der dieser steht und ohne die man ihn nicht recht erfassen kann, ihm fremd bleibt. Mit dem Lesen von Geschichtsbüchern ist es nicht getan. Ein tüchtiger Historiker muß sich in weiten Bereichen der Dichtung auskennen. Die Bedeutung der deutschen und der fremden Klassiker versteht sich von selbst. Wer als mittelalterlicher Historiker ernst genommen sein will, wird Dantes Divina Commedia nicht ungelesen lassen. Wer seinen Schülern vom Goldenen Jahrhundert der spanischen Kultur erzählt, wird, wenn er es nicht schon vorher tat, den Don Quixote lesen, damit er von diesem köstlichen Buch nicht zu reden braucht wie der Blinde von der Farbe. U n d so wird jeder eine Menge ebenso wichtiger wie erfreulicher Pflichten auf seinem Wege finden. Wer einsieht, daß ihm die Kenntnis der dichterischen Kunstwerke unentbehrlich ist, um die Vergangenheit zu verstehen, wird auch für die Werke der bildenden Kunst aufgeschlossen sein. Auch sie sind -ja Geschichtsquellen. Man suche sie so oft als möglich auf, wozu Reisen und Wanderungen die beste Gelegenheit bieten. Das Reisen und Wandern muß man dem Historiker
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aus vielen Gründen auf das dringendste empfehlen. Neben den städtischen Sehenswürdigkeiten locken die ländlichen und landschaftlichen. Noch tiefer als die Mehrzahl der aus Büchern gewonnenen Kenntnisse haftet es im Gedächtnis, wenn man einmal auf der Stadtmauer von Nördlingen entlang gegangen ist, im Kreuzgang der St. Viktorskirche in Xanten und in den Ruinen des Kaiserpalastes in T r i e r verweilt, vom T u r m der Petrikirche auf Lübeck herabgesehen hat oder über das Schlachtfeld von Kolin gewandert ist, wenn man den mageren Sandboden der Lüneburger Heide so gut unter seinen Sohlen gespürt hat wie das fette Land der Magdeburger Börde. Mehrere große Historiker sind große Wanderer gewesen. So Ferdinand Gregorovius und vor allem Heinrich von Treitschke, von dem das schöne W o r t stammt: „Man muß jeden Winkel Deutschlands durchstöbern, wenn man über deutsche Geschichte schreiben will." E r hat ganz recht: nirgends geht der Historiker leer aus. Aus solchen Reiseeindrücken kommen dann wieder Anregungen für Arbeit und Lektüre. Über Kunstwerke, die uns ergriffen haben, möchten wir auch etwas hören oder lesen, und so wird mancher, der Kunstgeschichte nicht schon als Nebenfach betreibt, Lust bekommen, eine Vorlesung aus diesem Gebiet zu hören oder ein einschlägiges Buch zu lesen. Hier wollen wir zwar zureden, aber mit der Einschränkung: Bücher aus N a c h barfächern soll man lesen, aber nur die hervorragenden. Das Mittelmäßige und Unbedeutende würde uns zu viel Zeit kosten; es zu kennen, haben wir ja keine Verpflichtung. Der Leser wünscht nun vielleicht, nachdem so vieles N o t wendige und Wünschenswerte zur Sprache kam, noch klar urarissene Aussagen über das Ziel des Studiums und die Art, wie man sich auf Prüfungen vorbereiten soll. Niemand könnte daran denken, vom Studenten zu verlangen, daß er die Weltgeschichte in ihrem ganzen Umfang quellenmäßig studiert habe, denn dazu würden mehrere Menschenleben nicht ausreichen. Das höchste Ziel, das wir vernünftigerweise dem Studium stecken können, ist, so viel zu lernen, daß man grundsätzlich imstande wäre, jeden Punkt der überlieferten Geschichte unabhängig durch
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eigene Quellenforschung zu erhellen. Das klingt vielleicht anspruchsvoll. Wenn man indessen vom Physiker erwartet, daß er die verschiedensten Aufgaben experimentell lösen könne, so ist es nicht unbillig, vom Historiker derartiges zu verlangen. Zugleich ist damit ausgesprochen, daß ein Auswendiglernen großer Stoffmassen nicht gefordert wird. Die beste Vorbereitung auf das Examen ist ein gründliches Studium. Den Gedächtnisstoff kann man nicht entbehren, aber er ist nicht die Hauptsache. Das, was den Kandidaten im Verlauf seiner Studienzeit am stärksten gefesselt hat und worin er sich durch eigene Arbeit einen Grundstock von Kenntnissen angeeignet hat, wird den Mittelpunkt der Prüfung bilden. Denn es ist ein altes, sehr berechtigtes Herkommen, daß der Student vorwiegend nach den Geschichtsperioden gefragt wird, die er selber als seine Spezialgebiete bezeichnet. Gewöhnlich wird das so gehandhabt, daß er einen Zeitabschnitt aus dem Altertum, einen aus dem Mittelalter und einen aus der Neuzeit wählt, z. B. Perserkriege, Stauferzeit, Absolutismus. Natürlich können auch sachlich bestimmte Teilgebiete ausgesucht werden, wie römisches Heerwesen, städtische Wirtschaftsgeschichte im Mittelalter, Ideenlehre der neueren Revolutionen. Jedenfalls soll der Prüfling Gelegenheit finden, sich über solche Gegenstände auszusprechen, die ihm vertraut sind, wo er über die Quellengrundlage und über bedeutsamere wissenschaftliche Streitfragen Auskunft geben kann. Geht man an die eigentliche Examensvorbereitung heran, so hüte man sich vor einer Überladung des Gedächtnisses mit Namen und Zahlen, die einem bis gestern noch gänzlich fremd waren und nun naturgemäß nicht recht haften wollen, aber desto mehr den Lernenden beunruhigen. Will man sich eine größere Entwicklungsreihe vergegenwärtigen, etwa Wachstum und Zerfall des römischen Weltreiches, die deutschen Königswahlen im Mittelalter oder die deutsch-englischen Beziehungen im 19. Jahrhundert, so stelle man für jede nicht eine möglichst ausführliche, sondern eine möglichst knappe Tabelle auf und suche sich diese einzuprägen. Für diesen Zweck ist es besser, zu
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versuchen, ob man nicht mit drei oder vier N a m e n und Zahlen auskommt, die entscheidende W e n d e p u n k t e bezeichnen, als 20 oder mehr Tatsachen zusammenzutragen und das Gedächtnis damit zu quälen. Oberhaupt hängt viel davon ab, d a ß man in den letzten Wochen und Tagen nicht nur Arbeit leistet, sondern sich auch Entspannung gönnt. Es soll nicht bewiesen werden, was der Mensch alles leisten kann, wenn er sich vollkommen auf das Auswendiglernen verlegt, sondern es soll sich zeigen, d a ß der P r ü f l i n g über ein gewisses M a ß von Kenntnissen verfügt, vor allem aber imstande ist, in einem Wechselgespräch seine ersten Aussagen zu ergänzen, zu berichtigen, zu weiteren Tatsachen in Beziehung zu setzen und so eine gewisse Fähigkeit zu wissenschaftlicher Gedankenbildung nachzuweisen. Mit den P r ü f u n g e n sind zumeist auch sog. Klausurarbeiten verbunden. W e r gar den D o k t o r g r a d erwerben will, m u ß bekanntlich eine wissenschaftliche Abhandlung über einen noch nicht abschließend erörterten Gegenstand ausarbeiten. An beides sollte man nicht ohne Vorbereitung herangehen. Dabei ist nicht an das fachwissenschaftliche Lernen gedacht — davon w a r ja schon genügend die Rede —, sondern an die Übung im Schreiben. Es mag dahingestellt bleiben, ob die höheren Schulen ihren Zöglingen jenen Grad von Gewandtheit im schriftlichen Gebrauch der deutschen Sprache anerziehen, der eigentlich gefordert werden müßte. W e n n es der Fall sein sollte, so geht das Erlernte z. T . wieder verloren während der Studienzeit, in der das A u f n e h m e n die Selbsttätigkeit stark in den H i n t e r g r u n d drängt. D a r u m empfiehlt es sich, schon in den früheren Semestern sich im Schreiben eines guten Stils zu üben. D a nicht viel Zeit d a f ü r aufgewendet werden kann, nutze man die -Lektüre, um sich über die Gründe klarzuwerden, wodurch in einem Fall der Stil gefällig, im andern unerfreulich wirkt. Wer nicht dazu kommt, einen großen Aufsatz zu verfassen, schreibe einen kleinen, und wer auch dazu z u stark beschäftigt ist, überlege sich, welche Disposition einem Stoff, den er genau kennt, am besten angemessen wäre. Blickt er noch gelegentlich in ein W e r k über guten deutschen Stil hinein, so ist schon das Wesent-
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liehe erreicht: er hat gelernt, seine Gedanken auf die Sprachform zu richten und befindet sich auf einem Wege, auf dem er — so hoffen wir — beständig fortschreiten kann und wird. 4. Kapitel
Die Geschichtsquellen und die Hilfs- und Nachbarwissenschaften der Geschichte 1. Die
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Schon mehrfach war von Geschichtsquellen die Rede, ohne daß wir erläutert hätten, was eigentlich darunter zu verstehen sei. Quellen nennen wir alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann. Daß dabei Texte zu erwähnen sind, leuchtet ohne weiteres ein. Bei Gegenständen brauchen wir nur an Steinbeile und Fibeln zu denken, dann sind wir im Bilde. Warum aber gehören noch Tatsachen dazu? Nun, eine Tatsache, die einen Einblick in die Vergangenheit ermöglicht, ist z. B. die heutige Verbreitung der deutschen Sprache über die Welt oder die heutige Verbreitung des niedersächsischen Bauernhauses. Für gewisse geschichtliche Untersuchungen müssen diese Tatsachen mit vielen anderen verglichen und ausgewertet werden, infolgedessen sind sie Geschichtsquellen. Die Einteilung der Geschichtsquellen kann nach vier Gesichtspunkten vorgenommen werden: a) nach dem Ursprung (ob zeitgenössisch oder entfernt; einheimisch oder fremd; unmittelbar oder mittelbar; privat oder öffentlich), b) nach dem Inhalt (Quille für Geschichte des Kriegs, der Rechtspflege, der Verwaltung, der Wirtschaft, der Kunst, der Religion usw.), c) nach dem Zweck (Bericht, Chronik, Urkunde, Brief), d) nach dem Erkenntniswert (Uberrest oder Tradition) 1 ). 1) Die verschiedenen Einteilungsmöglichkeiten erörtert genau Erich K e y s e r , Die G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t . M ü n c h e n 1931. S. 51 ff. W e r t v o l l auch Otto Stolz, Zur S y s t e m a t i k d e r Geschichtsquellen. M ö e l G . 52 (1938).
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Zu diesem zuletzt angeführten Gegensatzpaar ist noch etwas zu sagen. U n t e r Tradition ist alles zu verstehen, was aus der Absicht entspringt, der Mit- oder Nachwelt K u n d e von Geschehenem zu' übermitteln. Alle übrigen Quellen fallen unter den Begriff Überreste, vom steinzeitlichen T o n g e f a ß bis zum Blüthnerflügel und vom Schulheft eines ABC-Schützen bis zu Goethes Faust. Denn es gibt auch Schriftquellen, die zu den Überresten zählen. Ja, auch das kann uns an dem — von gewissen Forschern bestrittenen — W e r t dieser Unterscheidung nicht irremachen, d a ß ein und dasselbe Stück gleichzeitig zur Tradition und zu den Überresten gehören kann. So sind z. B. das althochdeutsche Ludwigslied und Goethes Kampagne in Frankreich Tradition, soweit wir sie nach den sachlichen Mitteilungen über die Normannenschlacht bei Saucourt im J a h r 882 bzw. über den Feldzug gegen das revolutionäre Frankreich 1792 befragen. Richten wir unsere Aufmerksamkeit dagegen ausschließlich auf die Einstellung des Dichters zum Vaterland, zum König, zum Feind, zum Krieg, so sind beide Werke f ü r uns Überrest. U m uns von der unendlichen Mannigfaltigkeit der Geschichtsquellen eine annähernde Vorstellung zu verschaffen, zählen wir einiges aus ihrer reichen Fülle auf. D a tritt uns unter den Überresten zu allererst entgegen das L a n d selbst mit den Resten menschlicher Arbeit, die es u m w a n delte durch Rodung, durch Anlage von Gräben, Kanälen und Wehrbauten. Aus der heutigen Landschaft die U r l a n d s c h a f t zu rekonstruieren, ist eine Aufgabe, die im wesentlichen die N a t u r forscher und Geographen zum N u t z e n geschichtlicher Betrachtung leisten. D a n n folgen Reste von menschlichen Skeletten, Geräte, Schmuckstücke, W a f f e n , Kunstwerke. Diesen konkreten Überresten stehen die abstrakten gegenüber, zu allererst die Sprachen und die sicheren Tatsachen über deren gegenseitige V e r w a n d t s c h a f t . Ihnen schließen sich die N a m e n von Völkern, Personen, O r t s c h a f t e n und Fluren an, wobei niemals die heute übliche Form allein betrachtet werden d a r f , sondern stets
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die älteste Gestalt ermittelt werden muß 1 ). Das heutige D o m bühl z. B. würde einen verlocken zur Deutung Gerichtshügel, wenn nicht die f r ü h e r e n Formen eindeutig ergäben, daß T a n n bühl = Tannhügel gemeint ist. Das ganze weite Gebiet des Brauchtums haben wir zu den abstrakten Uberresten zu rechnen. "Wir verlassen nun bewußt diese Einteilung und zählen im folgenden aus den vielen Arten und T y p e n der schriftlichen Quellen vor allem diejenigen auf, die älteren Kulturstufen angehören und daher dem, der sich noch nicht quellenmäßig mit Geschichte b e f a ß t hat, nicht geläufig sind. Zu den Quellen der alten Geschichte gehören außer den griechischen und römischen Geschichtsschreibern u. a. die Papyri, d. h. die auf zwei Schichten von aufeinander gepreßten Streifen aus dem Stengelmark der Papyrusstaude geschriebenen Texte, und die Ostraka, d. h. die auf Tonscherben aufgezeichneten Notizen. Das Mittelalter hat vor allem Annalen und Chroniken hervorgebracht. Annalen sind von Hause aus formlos aneinandergereihte knappe historische Nachrichten, o f t geben sie zu einer Jahreszahl einen einzigen kurzen Satz, ja, manchmal verzichten sie auch darauf und begnügen sich, ganz wie unsere Geschichtstabellen, mit Stichworten. I m L a u f e der Zeit wird kein so scharfer Unterschied zwischen Annalen und Chroniken mehr gemacht. D a n n tragen auch breit darstellende Werke den Titel Annalen. Chroniken sind Geschichtsbücher, deren Verfasser (im Gegensatz zu den Annalen) ihren N a m e n nennen und ihren literarischen Ehrgeiz, mögen sie ihn auch hinter herkömmlichen Demutswendungen verstecken, dadurch bekunden, d a ß sie ihrem W e r k einen Widmungsbrief vorausschicken und einen durchdachten A u f b a u geben. Neben ihnen treten Biographien auf, die aber selten — wie einst im Altertum — Könige oder sonst hervorragende Männer in weltlichen Stellungen behandeln, vielmehr mit Vorliebe Heilige verherrlichen. Wie zu allen Zeiten spielen Briefe als Geschichtsquellen auch im Mittelalter eine i) Im V o r b e i g e h e n sei auf E d w a r d S c h r ö d e r , N a m e n k u n d e , Göttingen 1938, v e r w i e s e n . Aus diesem Buch k a n n d e r H i s t o r i k e r sehr viel lernen.
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Rolle. Freilich dienen die antiken wie die mittelalterlichen Briefe nicht dem ungehemmten privaten Mitteilungsbedürfnis. Man spürt ihnen an, daß sie nach schulmäßig erlernten Regeln abgefaßt sind, daß auch geistig hochstehende Briefschreiber die Genugtuung darüber, daß sie sich in diesem enggezogenen Rahmen leidlich gewandt bewegen, nicht ganz verleugnen können. Eine große Menge von Quellengattungen steht im Dienst des Rechtslebens. Gerade sie sind verhältnismäßig gut erhalten, denn sie behielten über die Dauer des einzelnen Menschenlebens Gültigkeit, während so vieles andere, was für uns Nachlebende unschätzbar wäre, achtlos der Vernichtung preisgegeben wurde. Die Hunderttausende von mittelalterlichen Urkunden sind eben darum auf uns gekommen, weil sie den Empfängern und ihren Erben Rechte verbrieften, deren Nachweis immer von Zeit zu Zeit notwendig werden und nur durch Vorzeigen der Originalurkunde oder einer beglaubigten Abschrift erbracht werden konnte. Neben den Originalurkunden spielen eine wichtige Rolle Urkundenregister und Kopialbücher. Unter jenen verstehen wir Bücher, in die vorwiegend auslaufende Urkunden eines und desselben Ausstellers, unter diesen Bücher, in die in der Regel eingelaufene, für einen und denselben Empfänger bestimmte Urkunden eingetragen sind. In dem Zeitraum, in dem das Ausstellen von privaten Urkunden sehr selten ward — es ist das vorwiegend das -10. Jahrhundert —, sind oftmals die Einträge in sog. Traditionsbücher die einzige Beurkundung von Grundstücksübertragungen gewesen. Dazu kommen nun die großen Aufzeichnungen der Volks- und Stammesrechte, wie sie Westgoten, Burgunder, Ostgoten, Langobarden, salische und ribuarische Franken, Sachsen, Angelsachsen, Friesen, Thüringer, Bayern und Schwaben hinterlassen haben, und die viele Bände füllenden (und doch nur zu einem kleinen Bruchteil gedruckten) Weistümer. Darunter versteht man Aufzeichnungen über Recht, das nicht etwa im Augenblick neu beschlossen wird, vielmehr seit alters her gilt und von den Kundigen von Zeit zu Zeit „gewiesen" wird. Im Worte selbst liegt keine Einschränkung auf einen bestimmten, etwa den bäuerlichen Rechtskreis. In der T a t gibt es Hunderte von sog. Reichsweistümern, d. h. NiederschrifKirn, Einführung in die G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t
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ten über die allerverschiedensten Rechtsverhältnisse, wie sie der König von seiner fürstlichen Umgebung erfragt hat. Aber die überwiegende Masse der Weistümer beschäftigt sich mit den Rechten und Pflichten der Bauern und ihrer Grundherrschaften. Typisch mittelalterlich sind unter den Quellen zur Wirtschaftsgeschichte, denen wir uns hiermit genähert haben, die Aufzeichnungen, die eine Grundherrschaft über die ihr gehörigen Grundstücke und die ihr zustehenden Abgaben und Leistungen unterrichten, im frühen Mittelalter im Westf rankenreich Polyptycha, später allgemein Urbare genannt. Urbar bedeutet soviel wie Ertrag. Endlich ist der Totenbücher zu gedenken, in denen zu den einzelnen Kalendertagen die Namen der Insassen und Wohltäter einer geistlichen Anstalt verzeichnet wurden, die jeweils an diesem Tage gestorben waren und im Gebet berücksichtigt oder mit einer Seelenmesse bedacht werden sollten. Verbrüderungsbücher nennen die Namen aller derer, die in eine Gebetsverbrüderung eingetreten sind, wie solche im Mittelalter sich um ein besonders berühmtes Kloster oft weit über die Landesgrenzen hinaus bildeten. An die Spitze der für die frühe Neuzeit typischen Quellen sind die klassischen Erzeugnisse der in Italien sich bildenden Diplomatie zu stellen, die Depeschen und Relationen. Beides sind von Gesandten aufgesetzte Schriftstücke, aber zwischen ihnen besteht ein wesentlicher Unterschied: die Depeschen sind, wie wir es dem Namen entsprechend erwarten, die ursprünglichen Mitteilungen, mit denen der im Ausland lebende Gesandte seinen heimischen Herrscher oder seine vorgesetzte Behörde auf dem laufenden erhält. Relationen aber sind kunstvoll ausgearbeitete Gesamtüberblicke über das Kräftespiel der hohen Politik und insbesondere die politische Haltung derjenigen Macht, bei der der Gesandte einige Jahre akkreditiert war. Die berühmtesten Relationen stammen von venezianischen Gesandten und wurden dort nach Rückkehr von dem Gesandtschaftsposten vor dem versammelten Senat vorgelesen. Hingerissen von der Farbenfülle dieser Zeitgemälde und noch mehr von dem reifen Geist kühl-sachlicher politischer Weltbetrachtung, der aus ihnen spricht, hat Leopold von Ranke in seinen
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ersten epochemachenden Büchern immer neue Aufschlüsse aus diesen Relationen mitgeteilt, die er zunächst in den Bibliotheken von Berlin und Wien, dann aber da, w o sie in unerschöpflicher Fülle zu finden waren, im Archiv zu Venedig aufsuchte 1 ). Sonstige charakteristische Quellen der neueren Zeit sind schnell aufgezählt. Eine große Rolle spielen natürlich die vielfältigen Verwaltungsakten. D a sind ferner die Einblattdrucke und Flugschriften, Zeitschriften und Zeitungen. W ä h r e n d bedeutende Selbstbiographien auch schon aus dem Altertum vorliegen und dem Mittelalter keineswegs fehlen, sind die eigentlichen Memoiren handelnder Staatsmänner f ü r die Neuzeit charakteristisch. So bedenklich es wäre, wollte der Historiker ihre Aussagen unkritisch nacherzählen, so erwünscht ist es, d a ß er fleißig in diesen Quellen liest, die dem blassen Stoff geschichtlichen Wissens erst die rechte Farbe des Lebens verleihen. U m dem angehenden Geschichtsstudenten einige Ratschläge zur Lektüre solcher Memoiren zu geben, ist eine kleine Auswahl von Buchtiteln im Anhang mitgeteilt. 2. Die geschichtlichen
Hilfswissenschaften
W e n n wir uns an dieser Stelle darauf besinnen, womit wir uns im vorliegenden Kapitel beschäftigt haben, so ertappen wir uns dabei, d a ß wir uns mit einer der geschichtlichen H i l f s wissenschaften einließen, nämlich mit der Quellenkunde. Dabei blieben wir aber im allgemeinen. Die spezielle Quellenkunde, f ü r die hier kein R a u m ist, würde uns die Frage beantworten: Welche Quellen gilt es f ü r den oder jenen Zeitabschnitt, f ü r dies oder jenes Sachgebiet heranzuziehen? Für diesen Zweck nennen wir kurz die wesentlichsten H i l f s mittel. Die Quellen zur griechischen und zur römischen Geschichte sind k n a p p angeführt jeweils vor d e n ' einzelnen Abschnitten von 1) Vgl. R a n k e , W e r k e Bd. 35/36, S. VI—XII und Bd. 42, 172—175. N e u e s t e n s Willy A n d r e a s , S t a a t s k u n s t u n d D i p l o m a t i e d e r Venet i a n e r im Spiegel i h r e r G e s a n d t s c h a f t s b e r i c h t e . Leipzig 1943. 3*
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Robert v. Pöhlmann, Grundriß der griechischen Geschichte nebst Quellenkunde, 5. Aufl. 1914, und Benedikt Niese, Grundriß der römischen Geschichte nebst Quellenkunde, neu bearb. von Ernst Hohl. 1923. Für die deutsche Geschichte des Mittelalters ist das Hauptwerk Wilhelm Hattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. 1. Bd. 7. Aufl. Berlin 1904. Für die Merowinger- und Karolingerzeit ist dieser Band noch nicht zu entbehren. Dagegen liegt etwa die Hälfte dessen, was der 2. Band (6. Aufl. 1894) enthält, in neuer Bearbeitung, an der viele Gelehrte beteiligt sind, vor: Wattenbach-Holtzmann, Quellenkunde usw. 4 Hefte seit 1938. Knapper, nützlich besonders für die hier noch nicht behandelten Zeiträume ist Karl Jacob, Quellenkunde der dt. Geschichte im Mittelalter. 2 Bde. Sammlung Göschen Nr. 279, 280. 5. Aufl. 1949. Für die Zeit nach dem Sturz der Staufer ist maßgebend Ottokar Lorenz, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter seit der Mitte des 13. Jahrhdts. 2 Bde. 3. Aufl. 1886 f. Daneben auch Max Jansen, Quellen und Historiographie der dt. Geschichte bis 1500. 2. Aufl. v. L. Schmitz-Kallenberg. 1914. Minder gut ist für die Quellenkunde zur neueren Geschichte gesorgt. Nur folgende Werke bilden rühmliche Ausnahmen: Nach Inhalt und Methode haben noch immer außerordentliche Bedeutung die Ausführungen des Altmeisters Ranke, denen er den Titel gab: Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber. Sie erschienen 1824 als Anhang zu seiner Schrift über die germanisch-romanischen Völker. Vieles bringt Gustav Wolf, Einführung in das Studium der neueren Geschichte. 1910. Vor allem ist das Zeitalter der Reformation durch zwei sehr verdienstliche Werke erschlossen: Gustav Wolf, Quellenkunde der dt. Reformationsgeschichte. 3 Bände. Gotha 1917—1923. Franz Schnabel, Deutschlands geschichtliche Quellen und Darstellungen der Neuzeit. Bd. 1 (1500 bis 1550). Leipzig und Berlin 1931. Das zuletzt genannte Buch liest sich spannend. Im Gegensatz hierzu stehen die Bibliographien, die nur zum Nachschlagen dienen und für die Quellen, aber auch für die
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Darstellungen zur Geschichte die nötigen Buchtitel verzeichnen: Für die Weltgeschichte können dienen: Paul Herre, Adolf Hofmeister, Rudolf zur Weltgeschichte. Leipzig 1910.
Stühe,
Quellenkunde
Neuerdings haben die Amerikaner G. M. Dutcher, H. R. Shipman, S. B. Fay, A. H. Shearer und W. H. Allison ein gutes Hilfsmittel geschaffen in Guide to Historical Literature. New York 1937. Am modernsten und daher am bequemsten ist Werner Trillmich, Kleine Bücherkunde zur Geschichtswissenschaft, eingeleitet von Hermann Aubin. Hamburg 1949. Gut ausgewählt sind auch die bibliographischen Angaben, die Theodor Lindner seiner zehnbändigen Weltgeschichte (2. Aufl. 1920—21) beigab, obwohl in ihnen naturgemäß die Quellen stark hinter den Darstellungen zurücktreten. Sehr reichliche Buchtitel sind mitgeteilt in allen Bänden der Cambridge Ancient History, Cambridge Medievil History und Cambridge Modern History. Für die deutsche Geschichte besitzen wir eine im ganzen vorzügliche Bibliographie: Dahlmann-Waitz-, Quellenkunde zur deutschen Geschichte. 9. Aufl. (in Verbindung mit 53 Gelehrten) herausgegeben von Hermann Haering, Leipzig 1931; abgekürzt D W . Man zitiert die einzelnen darin aufgeführten Titel nicht nach der Seitenzahl, sondern nach der laufenden Nummer. Will man Quellen und Literatur für irgendein Thema der deutschen Geschichte zusammentragen, so wird man zuerst hier suchen. Was da etwa noch fehlt, findet man teils schon beim Lesen der so ermittelten Bücher und Aufsätze, teils indem man daneben noch laufende Bibliographien und Zeitschriften befragt, um damk die Lücke zwischen 1931 (das bis dahin Erschienene verzeichnet der D W ) und heute auszufüllen. Für diesen Zweck sind die wichtigste laufende Bibliographie die Jahresberichte für dt. Geschichte, herausg. von Albert Brackmann und Fritz Härtung seit 1927 (darin sind die Neuerschei-
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nungen seit 1925 besprochen). An Zeitschriften wird man heranziehen die Historische Zeitschrift, Historische Vierteljahrsschrift (1938 eingegangen), für das Mittelalter das Deutsche Archiv für Geschichte des Mittelalters (bis 1936 Neues Archiv d. Gesellschaft für ältere dt. Geschichte genannt) und die Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (in drei Abteilungen gegliedert: Germanistische, romanistische, kanonistische Abt.). Wichtige Buchbesprechungen — auch über das historische Fach hinaus — bietet die Deutsche Literaturzeitung1). Für die Geschichte unserer westlichen Nachbarn tun etwa denselben Dienst die französische Revue historique und die English Historical Review. Viel mehr bibliographische Angaben, als der Titel erwarten läßt, bietet die in Löwen erscheinende Revue d'histoire ecclésiastique. In den obengenannten Jahresberichten für dt. Geschichte stehen vielfach auch Beiträge, die den deutschen Leser über die in ungarischer, tschechischer usw. oder einer der skandinavischen Sprachen erschienene Geschichtsliteratur unterrichten. Das Angeführte mag den meisten genügen, den Bedarf des Anfängers schon weit übersteigen. Indes wollen wir doch darauf verweisen, daß in einzelnen Fällen weder die fertigen noch die laufenden Bibliographien den Wissensdurst des Forschers stillen. Tritt nämlich die Notwendigkeit ein, für eine Untersuchung auch die letzten noch ungedruckten Dokumente aufzuspüren, so müssen wir die Literatur über die Archive 2 ) studieren, vor allem aber aus einer schon erworbenen Kenntnis des Gegenstandes heraus ermitteln, wohin wir uns zu wenden haben. Als gutes Beispiel für ein solches Verfahren kann die Abhandlung dienen, in der Paul Kalkoff 1912 darlegte, woher man etwa neue Aufschlüsse über Luthers römischen Prozeß gewinnen könnte 3 ). Da stellte er Fragen wie diese: Welche Gerichtshöfe in Rom waren für Luthers Sache zuständig? Wo1) Die üblichen Abkürzungen für diese Zeitschriften findet der Leser auf S. 107. ») Sie ist D\V Nr. 593—701 angeführt. 3) Paul Kalkoff, Zu Luthers römischem Prozeß. Gotha 1912.
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hin sind deren Akten gekommen? Wo ist heute das Archiv der obersten Leitung des Dominikanerordens? Wo finden sich möglicherweise noch Briefe von Personen, die sich mit jenem Prozeß befaßten? Die Hilfswissenschaft der Quellenkunde hat es mit allen Arten von Quellen zü tun, aber es ist natürlich, daß die schriftlichen Quellen in ihr bei weitem den breitesten Raum einnehmen. Das wird dadurch wieder ausgeglichen, daß den gegenständlichen Quellen eigene Hilfswissenschaften zugeordnet sind. Sie werden ausgewertet von der Vorgeschichte, der Archäologie und der Kunstgeschichte. Ohne' deren Hilfe kann man solche stumme Quellen nicht zum Reden bringen. Wenn wir derart vornehme Wissensgebiete keck Hilfswissenschaften nennen, brauchen wir wohl das Mißverständnis nicht zu fürchten, wir wollten sie damit als Wissenschaften zweiten Ranges kennzeichnen, die kein Mann von Geschmack zu einem andern Zweck betreiben könne, als eben um eine Vor- und Hilfsarbeit für den Historiker zu erledigen. Vielmehr liegt es so: jedes Fach kann bald selbständig betrieben werden, bald, wenn die Zielsetzung sich geändert hat, als Hilfswissenschaft für ein anderes dienen. So' kann z. B. jede Art von Philologie als Hilfswissenschaft der Geschichte und umgekehrt diese als Hilfswissenschaft für philologische Studien in Anspruch genommen werden. Spricht man ohne näheren Zusatz von geschichtlichen Hilfswissenschaften, so ist ein ganz bestimmter Kreis von Wissensgebieten gemeint, nämlich: Paläographie, Urkundenlehre, Chronologie, Siegel-, Wappen- und Münzkunde. Es sind diejenigen Disziplinen, die zum unmittelbaren Verständnis geschriebener Quellen erforderlich sind. Die Paläographie ist die Lehre von der Entwicklung unserer abendländischen Schrift. Keiner, dem Gelegenheit geboten wird, sie zu erlernen, sollte das versäumen. Denn es ist nun einmal so, daß ein ganz erheblicher Teil unserer Geschichtsquellen niemals gedruckt werden wird. Zum Verständnis der gedruckten Texte ist die Paläographie aber durchaus nicht unnütz.
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Ganz im Gegenteil 1 ). Zur sachgemäßen Beurteilung solcher Texte, die in alter oder neuer und neuester Zeit durch Lesefehler entstellt wurden, zum Erraten des Richtigen auf Grund einer falsch überlieferten Lesart bedarf es solider paläographischer Kenntnisse. Paläographische Beobachtungen halfen die Königinhofer Handschrift, die angeblich sehr alte tschechische Gedichte enthält, als modernes Machwerk entlarven. Es stellte sich auch heraus, daß zu den Miniaturen Berliner Blau verwendet ist, eine erst 1704 erfundene Farbe. Zugleich hat es einen eigenen Reiz, sich darein zu vertiefen, wie die Buchstaben gesetzmäßigen Stilwandlungen unterworfen wurden, und zu erkennen, inwiefern etwa ein romanisches M einem romanischen Tisch oder Stuhl und ein barockes M einem barocken Tisch oder Stuhl ähnlich sieht. Also selbst der geistesgeschichtlich Interessierte kommt bei der Paläographie auf seine Kosten. Man lernt dieses Fach in Übungen gründlicher und leichter, als wenn man auf Bücher angewiesen ist. Eine gute Übersicht findet man im Handbuch der Bibliothekswissenschaft hg. v. Fritz Milkau, Bd. 1, 2. Aufl. 1950; auch Berthold Bretholz im Grundriß der Geschichtswissenschaft, 3. Aufl., Leipzig u. Berlin 1926. (Einige kritische Bemerkungen dazu gab der Verfasser dieses Buches 1926 in H V 23.) Das beste Tafelwerk zum Eindringen in paläographische Probleme ist Franz Steffens, Lateinische Paläographie. 2. Aufl. 1929. Das umfassendste Werk, mit dessen Hilfe man die Schriftgeschichte, und zwar die der einzelnen deutschen Landschaften — verdienstvollerweise auch östlich der Elbe — studieren kann, sind die von Anton Chroust herausgegebenen Monumenta palaeographica (fast 700 vorzüglich wiedergegebene Schriftstücke). 3 Serien. München 1899 ff. Für Texte in deutGlauning, scher Sprache ist maßgebend Erich Petzet und Otto Deutsche Schrifttafeln des 9. bis 16. Jahrhunderts. 5 Bde. München 1910 bis 1930. Wichtig ist auch ]oh. Ficker und Otto Winckelmann, Handschriftenproben des 16. Jahrh. nach Straßburger Originalen. Straßburg 1902. i) Schon oben S. 19 hat uns die P a l ä o g r a p h i e einen großen D i e n s t geleistet.
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Was die Paläographie f ü r die literarischen Texte leistet, erf ü l l t die Urkundenlehre oder Diplomatik f ü r die U r k u n d e n . Den Ausdruck U r k u n d e sollte man nicht, wie es vielfach vorkommt, zur Bezeichnung beliebiger Quellen verwenden, sondern ihn ausschließlich solchen Schriftstücken vorbehalten, die zum Abschluß eines Rechtsgeschäfts oder zum Zeugnis über ein solches dienen und mit entsprechenden Beglaubigungsmitteln versehen sind. Die ersten Leistungen auf dem Gebiet der Diplomatik sind von praktisch-juristischen Bedürfnissen hervorgerufen worden, als es galt, die Echtheit oder Unechtheit von U r k u n d e n festzustellen, die in einem Prozesse als Beweismittel vorgebracht wurden. Wenn man weiß, wie hoch der Anteil ganz oder teilweise gefälschter Stücke am Gesamtbestande der heute noch vorhandenen mittelalterlichen U r k u n d e n ist, kann man ermessen, wie lange die Wissenschaft hier dringend notwendige Arbeit zu verrichten hatte, bis die Lage in den H a u p t z ü g e n geklärt war. D a m i t soll indes nicht gesagt sein, d a ß nicht heutigentages noch mancherlei ungelöste Aufgaben beständen. Inzwischen aber hat die Diplomatik eine Menge von Fragen aufgeworfen und untersucht, die ihr ein weit über die ursprünglich allein gesuchte Entscheidung über echt und unecht hinausreichendes Interesse verleihen und einen bedeutsamen Einblick in Technik und Geist der Staatsverwaltung im Mittelalter gestatten. Das Verfahren, mit dessen H i l f e die Diplomatik nach und nach zu sicheren Ergebnissen gelangte, ist natürlich der Vergleich von möglichst vielen U r k u n d e n , und es läßt sich leicht denken, wie sehr die Ausbreitung und Verbilligung der P h o t o graphie f ö r d e r n d und umwälzend gewirkt hat. Seitdem ist der Forscher nicht mehr darauf angewiesen, außer den Stücken, die etwa ein einziges Archiv beherbergt, mehr oder minder gut gelungene Durchzeichnungen und seine Erinnerungen an auswärts gesehene Originale dem Vergleich zugrunde zu legen. Eine richtig angelegte Untersuchung wird immer zunächst die äußeren Merkmale auszuschöpfen suchen, also Pergament oder Papier (man nennt das den Beschreibstoff), Schrift und Monogramm, Kanzleivermerke, Siegel u. ä. prüfen. W e r anders vor-
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geht und sich vorschnell eine Meinung darüber bildet, ob er zum Inhalt im ganzen oder einzelnen Teilen Zutrauen hat oder nicht, kann bis zu dem Grade die Unbefangenheit verlieren, daß er äußere Kennzeichen übersieht, die ihn auf eine andere Spur hätten leiten können. Bei den unzähligen Urkunden, die nicht mehr als wirkliche oder angebliche Originale existieren, fallen ja diese Merkmale ganz aus. Aber auch hier gilt, daß die sprachliche Form erst untersucht sein muß, bevor man zum Inhalt Stellung nimmt. Sind Entwürfe und Konzepte erhalten, womöglich sölche, die eine Reihe von Abänderungen des ursprünglichen Textes erkennen lassen, so kann die diplomatische Forschung das vollauf leisten, was ihr als ideales Ziel stets vorschwebt: die Urkunde nicht als etwas Fertiges hinzunehmen, sondern ihren Werdegang Schritt für Schritt zu verfolgen. Was für die Urkunden des Mittelalters gilt, gilt auch für die Akten der Neuzeit. Man sehe sich einmal Bismarcks Entlassungsgesuch an, von dem die erste und die letzte Seite als Faksimile dem 8. Band der (alten) Propyläen-Weltgeschichte (zwischen S. 376 und 377) beigegeben ist. Wie viel mehr sagt ein solches Blatt als ein glatter Abdruck des endgültigen Wortlauts! H a t man erst einen Blick dafür bekommen, was für reiche Aufschlüsse Urkunden und Akten dem Forscher geben, so wird man auch beim Lesen großer Geschichtswerke sich immer von neuem überzeugen, daß die urkundliche und aktenmäßige Grundlage eine wesentlich verstärkte Sicherheit bedeutet gegenüber dem, was nur von erzählenden Quellen berichtet wird. An den drei frühesten Hauptwerken Rankes ist folgende Steigerung zu erkennen: Seine Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1534 beruhen auf gedruckten Scriptores ( = erzählenden Quellen), die Geschichte der Päpste auf ungedruckten Relationen. Bei der Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation ging er noch einen Schritt weiter: er schrieb sie großenteils nach den Akten. Auch die Urkundenlehre ist besser im Hochschulunterricht als aus einsamem Bücherstudium zu erlernen. Die wissenschaftlich besten und lesbarsten Darstellungen verfaßten für die Königsurkunden Wilhelm Erben 1907 und für die Privaturkunden Oswald
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Redlich 1911 (beide im HdB MNG); für die Papsturkunden Ludwig Schmitz-Kallenberg (2. Aufl. 1913 in MeistGr.). Förderlich sind auch Richard Heubergers Allgemeine Urkundenlehre (1921; ebenfalls in MeistGr.; gedrängte Darstellung auf einem vom Verleger äußerst knapp bemessenen Raum) und der Abschnitt die Lehre von den Privaturkunden von Harold Steinacker in der ersten Auflage desselben Werkes. Das zweibändige Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien von Harry Bresslau (2. Aufl. Berlin u. Leipzig 1931) ist für Forschungszwecke unentbehrlich, eignet sich aber weniger zur zusammenhängenden Lektüre. Da die Urkunden zumeist besiegelt sind und zum Verständnis der Siegel wiederum die Wappenkunde unentbehrlich ist, sind die Fächer Sphragistik oder Siegelkunde und Heraldik oder Wappenkunde gewissermaßen nächste Nachbarn der Urkundenlehre. Das Wichtigste über sie erfährt man wiederum aus dem HdB MNG, wo Wilhelm Ewald 1914 die Siegelkunde und Felix Hauptmann die Wappenkunde bearbeitet hat, und aus MeistGr., wo Theodor Ilgen (2. Aufl. 1912) und Erich Gritzner die entsprechenden Abschnitte verfaßten. Der Heraldik steht wieder die Münzkunde oder Numismatik nahe, die vor allem der Wirtschaftshistoriker nicht entbehren kann. Im HdB M N G ist sie von Arnold Luschin von Ebengreuthund Ferdinand Friedensburg dargestellt. Gute Dienste tut auch das Handbuch der Münzkunde von Fr. Frhr. v. Schrötter, Berlin 1930. Noch einmal aber müssen wir insofern zur Diplomatik zurücklenken, als die Zeitrechnungslehre oder Chronologie in engstem Zusammenhang mit den Urkunden steht. Sie ist für die praktische Arbeit nicht zu entbehren, denn die Zeitangaben in Urkunden (und erzählenden Quellen) sind dem Ungeübten keineswegs immer klar verständlich. Darüber hinaus bringt sie den Historiker in Berührung mit naturwissenschaftlichen Tatsachen und Überlegungen, und schließlich hat sie eine hochinteressante geistesgeschichtliche Seite. Ist doch ein Stück des Kampfes der christlichen Religion gegen die antik-heidnische und gegen die germanische aus den Benennungen der Wochen-
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tage abzulesen. So darf der Student sich von einer Belehrung über die wesentlichen Tatsachen der Chronologie, die nicht notwendig als trockene Wissenschaft gelten muß, allerhand versprechen. Als kurzen Hinweis d a r a u f , was sie etwa zu bieten hat, seien vier Tatsachen angeführt, die man gemeinhin nicht zu wissen pflegt: 1. Die siebentägige Woche taucht zuerst im ersten Jahrhundert n. Chr. auf. 2. Das Weihnachtsfest wird erst seit rund 350 am 25. Dezember gefeiert. 3. Vor 1680 hat niemand konsequent J a h r e v. Chr. Geburt gezählt. 4. In England galt bis 1751 der 25. M ä r z als Jahresanfang. M a n muß also bis zu diesem Zeitpunkt die von den Quellen überlieferten Tagesdaten vom 1. J a n u a r bis 24. März mit der nächstfolgenden Jahreszahl versehen, um den Einklang mit unserem Kalender herzustellen. (Vgl. oben S. 6 die Bemerkung über die Jahreszählung in Papsturkunden.) Eine lesbare knappe Darstellung der Chronologie lieferte Hermann Grotefend (ein Enkel des Georg Friedrich Grotefend, dem es 1802 gelang, die Keilschrift zu entziffern) in Meisters G r u n d r i ß der Geschichtswissenschaft. 2. Aufl. 1912. Die darin enthaltenen Tabellen helfen ebenso wie die in Hans Lietzmann, Zeitrechnung der röm. Kaiserzeit, des Mittelalters und der Neuzeit, Sammlung Göschen N r . 1085, auch zum. A u f finden vieler Daten. W e r vorzugsweise im Mittelalter arbeitet, wird Grotefends Taschenbuch der Zeitrechnung des dt. Mittelalters und der Neuzeit (8. Aufl. H a n n o v e r 1941) nicht entbehren können, weil darin die Heiligentage des Kalenders bei weitem eingehender verzeichnet sind. H ä u f i g wird auch dieser sog. „kleine G r o t e f e n d " nicht ausreichen und des gleichen Verfassers zweibändige Zeitrechnung des dt. Mittelalters und der Neuzeit 1891—98 herangezogen werden müssen; sie zeichnet sich vor allem dadurch aus, d a ß darin die Heiligentage f ü r alle deutschen Diözesen gesondert mitgeteilt werden. Mit H i l f e dieser Übersichten kann man viele sonst unverständliche Zeitangaben klären. W e r ohne vorangehende Beschäftigung mit
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den Grundlagen der Chronologie einzelne Daten aufschlagen will, findet eine f ü r normale Fälle ausreichende Anleitung dazu im „kleinen G r o t e f e n d " S. 124. 3. Teilgebiete
und
Nachbarwissenschaften
der
Geschichte
Diejenigen Fächer, die man einigermaßen beherrschen muß, um die schriftlichen und gegenständlichen Geschichtsquellen sachgemäß zu deuten, lassen sich leichter- vollständig a u f zählen als jene, die in einem Verhältnis gegenseitigen Austausches mit der Geschichtswissenschaft stehen oder eines ihrer zahlreichen Teilgebiete zum Gegenstande haben. Zu der ersten Gruppe rechnen wir vor allem die historische Geographie. An keiner Stelle seiner Arbeit kann der Historiker sie entbehren. Ein vielseitig verwendbares Erzeugnis dieser Wissenschaft sind historische Karten. Solche in einwandfreier Form herzustellen, bedarf mühseliger und zeitraubender Untersuchungen, wie sie ein einzelner Forscher k a u m unternehmen kann. Daher ist es sehr zu begrüßen, d a ß die vielen in den deutschen Ländern bestehenden historischen Kommissionen und Vereine wohl ausnahmslos historische K a r t e n werke herausgeben oder vorbereiten. Auch der, der sich darauf beschränken d a r f , die Früchte solcher Arbeit zu genießen, bedarf dazu umfangreicheren Wissens und größerer Vorsicht, als gemeinhin geglaubt wird. N e h m e n wir einmal an, wir hätten eine Karte des mittelalterlichen Königsgutes im Rheinland vor uns und außerhalb des Rheinlandes w ä r e n königliche Güter nicht eingezeichnet, obwohl die K a r t e an den R ä n d e r n erhebliche Teile der Nachbarlandschaften zeigte. Bedeutet das, d a ß dort keine Königsgüter vorhanden waren, oder ist grundsätzlich in solchen Fällen alles N a c h b a r l a n d außerhalb der Provinzgrenze leer gelassen worden? N u n , diese Frage beantwortet sich leicht durch einen Blick auf die übrigen K a r t e n und vielleicht in die Vorbemerkungen zum Atlas. Wollen wir aber weiter aus der K a r t e das Königsgut f ü r einen bestimmten Termin ablesen, sagen wir f ü r 1152, den Regierungsantritt Barbarossas, so müssen wir wissen: W a s verstand der Kartenzeichner unter „mittelalterlich"? H a t er etwa durch beigesetzte
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Zahlen jedesmal vermerkt, seit w a n n am genannten O r t e Königsgut bezeugt ist, und auch gegebenenfalls, w a n n einzelne Güter vom König aus der H a n d gegeben wurden? Mit anderen W o r t e n : W i r werden meist die wissenschaftlichen Unterlagen ermitteln müssen, die der Kartenzeichner bildlich auszudrücken strebte. Tatsächlich pflegen gute Geschichtsatlanten diese anzuführen. D a eine K a r t e nur ausnahmsweise Angaben, die auf wohlbegründeter Vermutung beruhen, anders eintragen kann als solche, die völlig sicher überliefert sind, werden wir o f t die angeführte Literatur noch selber durcharbeiten müssen. Also bedienen wir uns der modernen historischen K a r t e nicht wie einer Quelle, sondern wie einer Darstellung und gehen nötigenfalls auf deren Quellen zurück. Das ist der G r u n d , weshalb wir oben (S. 30) z w a r die Verbreitung der deutschen Sprache über die W e l t und d i e ' Verbreitung des niedersächsischen Bauernhauses als Tatsachen von Quellenwert angeführt, uns aber gehütet haben Zu sagen: eine Karte, die diese Erscheinungen darstelle, sei f ü r uns Quelle. Das wäre dann der Fall, wenn der auf der Karte dargestellte Tatbestand nicht mehr existierte. So ist z. B. eine wertvolle Quelle f ü r die Geschichte Pommerns jene Karte, die die Schweden aufgenommen haben, als sie im Dreißigjährigen Kriege H e r r e n Vorpommerns geworden waren. Den damaligen Stand der Besiedlung kann man aus ihr kennenlernen, in der Landschaft direkt beobachten kann man ihn nicht mehr. W i e leicht man in Irrtümer verfällt, wenn man die Aussagen einer Karte ohne Kenntnis ihres Zustandekommens leichtgläubig verwertet, lehrt folgendes Beispiel: In einem Geschichtsatlas sind die Grenzen der römischen Provinz Rhaetia dargestellt. Jemand sieht das und verkündet f r o h lockend: sie decken sich auf der Strecke, die ihn interessiert, haarscharf mit denen einer mittelalterlichen Diözese und liefern einen neuen Beweis d a f ü r , d a ß Grenzen der Römerzeit o f t in kirchlichen Grenzen des Mittelalters weiterleben. Wie peinlich muß es ihm sein, nachträglich zu erfahren, d a ß der Kartenzeichner jene Übereinstimmung der Grenzen als gesicherte Tatsache vorausgesetzt und eben einfach die Diöze-
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sangrenze gezeichnet und Provinzgrenze benannt hat! Es liegt also ein Zirkelschluß von seltener Schönheit vor 1 ). Während die historische Geographie für das Altertum schon seinerzeit von Rudolf Kiepert (1818—1899) vorbildlich gepflegt wurde, sind für Mittelalter und Neuzeit noch keine voll befriedigenden Gesamtdarstellungen vorhanden. Eine vortreffliche Einführung schrieb Rudolf Kötzschke in Meisters Grundriß. In Below u. Meineckes Handbuch hat Konrad Kretschmer 1904 die historische Geographie behandelt, in der „Geschichte der führenden Völker" Hugo Hassinger 1931 über die geographischen Grundlagen der Geschichte geschrieben. Unter den historischen Atlanten ist der von Spruner und Menke noch immer unentbehrlich. Die neueren sind bei Dahlmann-Waltz Nr. 278 ff. aufgezählt. Die gleiche Aufmerksamkeit wie die historische Geographie verdient die Bevölkerungsgeschichte und die mit ihr zusammenhängende Genealogie oder Sippenkunde. Eine Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1913, die die Volkszahl als Faktor und Gradmesser der historischen Entwicklung behandelte, schloß mit dem Satz: „Erst wenn dieser Weg durchmessen sein wird (d. h. alle noch erreichbaren oder erschließbaren Angaben über Bevölkerungszahlen in historischer Zeit ausgewertet sind), . . . kann die Geschichte das werden, was sie heute noch nicht ist, wenigstens noch nicht im vollen Sinne des Wortes, was sie aber werden muß, eine Wissenschaft" 2 ). Das ist stark übertrieben. Aber man muß zugeben, daß wir im Verstehen der ursächlichen Zusammenhänge ein gutes Stück weiterkämen, wenn wir die größtmögliche Klarheit über die Bevölkerungsbewegung in der Vergangenheit besäßen. Vgl. das lehrreiche Buch Bevölkerungsgeschichte Deutschlands von Erich Keyser, Leipzig 1938. (Seither in 2. Auflage erschienen.) Nicht etwa nur als Anleitung, wie man die eigene Familiengeschichte erforschen kann, sondern mehr noch, um gewisse grundlegende Einsichten in die Volksgeschichte zu gewinnen, 1) Ihn d e c k t e auf R i c h a r d Hellberger in seinem Buche R ä t i e n im Altertum und F r ü h m i t t e l a l t e r . Bd. I. I n n s b r u c k 1932. 2) K a r l B e l o c h in HZ 111 (1913). 337.
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lohnt sich eine Beschäftigung mit der Genealogie. Wenn man erst einmal versucht hat, die eine o^er andere Ahnentafel oder Nachkommenschaftstafel' aufzustellen und auf eine Erscheinung wie den Ahnenverlust gestoßen ist und darüber nachgedacht hat, ist man der Lebenswirklichkeit Volk näher gekommen. Eine kurze Darstellung gab Otto Forst-Battaglia in Meisters Grundriß. Wilh. Karl Prinz v. Isenburg veröffentlichte 1934 eine Einführung in die Familienkunde. Als Tafelwerk zur Genealogie haben sich besonders bewährt die Stammtafeln von H. Grothe, Leipzig 1877, und die Stammtafeln zur Geschichte der europäischen Staaten des obengenannten Prinzen v. Isenburg. Berlin 1936/37. Als das erste und zugleich wichtigste unter den Teilgebieten der Geschichte ist die Rechtsund Verfassungsgeschichte zu nennen, die Lehre von den Formen und Kräften des staatlichen Lebens in vergangener Zeit. Es ist nicht stark übertrieben, wenn man sagt, sie verleihe der sonst bloß erzählenden Geschichte erst klare Konturen; jene zeigt das Was des Geschehens, diese fügt das Wie hinzu, und damit nähern wir uns auch einigermaßen dem Warum. Diese Rechts- und Verfassungsgeschichte denken wir uns nicht engherzig auf ein Lebensgebiet beschränkt; sie darf und muß vieles aus der Verwaltungs-, der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in sich aufnehmen. Aus Büchern allein ist sie schwer zu lernen. Man höre schon innerhalb der ersten drei Semester eine Vorlesung darüber, die den Anfänger besser durch die unendlichen Klippen von Streitfragen hindurchsteuert und ihm vielleicht auch durch Interpretation besonders wichtiger Quellenstellen Hilfen gibt und zum eigenen Arbeiten auf diesem dornigen Boden anleitet. Zum Lesen kann man — mit dem Vorbehalt, daß knappe Übersichten eher zum Wiederholen als zum ersten Eindringen geeignet sind — folgende Werke empfehlen: Claudius Frhr. v. Schwerin, Grundzüge der dt. Rechtsgeschichte. 4. Aufl. v. Hans Thieme 1950. Hans Fehr, Dte Rechtsgeschichte. 4. Aufl. 1948, aber auch noch die ältere Obersicht von Andreas Heusler, Deutsche Verfassungsgeschichte. Leipzig 1905. Nur die ger-
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manische und die fränkische Zeit behandelt das trotz manchen inzwischen überholten Einzeläußerungen im ganzen vortreffliche Buch von Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte. 2. Aufl. 2 Bde, der zweite durch v. Schwerin neu bearb. Das genauere Studium von Einzelfragen wird stets durch Zurückgehen auf die klassische Deutsche Verfassungsgeschichte von Georg Waitz (8 Bde, die ersten 6 davon in neueren Auflagen) gefördert werden. Als vollständigste Zusammenfassung der seitherigen Forschung ist daneben Riebard Schröders Lehrbuch der dt. Rechtsgeschichte (7. Aufl. Berlin und Leipzig 1932) nicht zu entbehren. Auf die Neuzeit beschränken sich Fritz Härtungs Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, neu bearb. 1950 und Hans Erich Feine, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Tübingen 1937. Die Wirtschaftsgeschichte bleibt, auch wenn man sich von ihrer da und dort beliebten Uberschätzung fernhält, ein sehr wichtiges Gebjet. Kein Unbefangener wird in der Wirtschaft die vorherrschende oder gar allein treibende Kraft der geschichtlichen Bewegungen sehen, aber zu ihren wichtigen Bedingungen gehört sie ohne Zweifel. Ihre Quellen laden den atigemein Interessierten nur ausnahmsweise zu genußreichem Lesen ein: die Lebensgeschichte jenes Godric aus Norfolk, der als Hausierer begann, seefahrender Kaufmann wurde und als Heiliger 1170 endete 1 ), oder die Lebensbeschreibungen hansischer Kaufleute fesseln durch menschlich interessante Züge. Ein altes Kaufmannsbüchlein wird den meisten Lesern nur durch eine gute Einleitung und reichliche Anmerkungen mundgerecht gemacht werden können, und bändeweise Zollregister zu lesen ist nur Sache des Forschers, der aus dem Stoff etwas gestalten will. D a andererseits auch wesentliche Veränderungen im wirtschaftlichen Gefüge nur ausnahmsweise und bruchstückhaft in den allgemeinen Geschichtsquellen zur Sprache kommen, erhalten die modernen Darstellungen ein erhöhtes Gewicht. Erst in ihnen werden jene Veränderungen uns sichtbar und lebendig. Solche sind: Für die antike Wirtschaftsgeschichte Tenney 1) Vgl. W a l t e r Vogel, Ein s e e f a h r e n d e r K a u f m a n n sische G e s c h i e h t s b l t l ä t t e r . 1912. K i r n , Einführung in die Geschichtswissenschaft
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Frank, An economic Survey of ancient Rome, 4 Bde. 1933 bis 1939 (I: Rome and Italy of the Republic. II: Egypt. III: "Western Provinces. IV: Eastern Provinces). Nicht ganz so ausführlich ist Michael Rostovtzeff, The social and economic History of the Roman Empire, New York 1924. In einer vom Verfasser überarbeiteten Gestalt ins Deutsche übersetzt von Lothar Wickert. Für das Mittelalter sind die besten Zusammenfassungen Rudolf Kötzschke, Grundzüge der dt. Wirtschaftsgeschichte bis zum 17. Jahrhundert. 2. Aufl. 1921 (M. Gr.) und Derselbe, Allgemeine "Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters. Jena 1924. Sehr wertvoll und gut lesbar sind ferner Walter Stein, Handels- und Verkehrsgeschichte der dt. Kaiserzeit. Berlin 1922. Aloys Schulte, Geschichte des mittelalt. Handels und Verkehrs zwischen "Westdeutschland und Italien. 2 Bde. Leipzig 1900. Derselbe, Die Ravensburger Handelsgesellschaft, 3 Bde., Stuttgart, Berlin 1923. Adolf Schaube, Handelsgeschichte der romanischen Völker des Mittelmeergebiets bis zum Ende der Kreuzzüge. München und Berlin 1906. Rudolf Häpke, Der dt. Kaufmann in den Niederlanden. Leipzig 1911. Walter Vogel, Geschichte der dt. Seeschiffahrt. Bd. 1. Berlin 1915. Schon des öfteren mußten wir, wenn wir von der Ausbildung des Historikers sprachen, der Kunstgeschichte gedenken. Es wäre Zeitverschwendung, wollten wir erst nachweisen, daß die einem Volk und einer Zeit innewohnenden Kräfte ihren feinsten Ausdruck im künstlerischen Schaffen finden, in den bildenden Künsten, aber auch in Dichtung und Musik. So wie also der Kunsthistoriker sich um geschichtliche Allgemeinbildung und Kenntnis der historischen Methode bemühen muß, so der gewöhnliche Historiker um kunstgeschichtliche Bildung. Daher wollen wir hier nur noch ein paar Hauptwerke nennen, aus denen besonders wertvolle Eindrücke zu gewinnen sind. Als Gesamtdarstellung ist Georg Dehio, Geschichte der dt. Kunst, 2. Aufl., 3 Doppelbände; dazu ein vierter von Gustav Pauli nicht übertroffen. Sodann studiere man die Schriften von Heinrich Wölfflin, vor allem Grundbegriffe der Kunstwissenschaft (1915), Die klassische Kunst (behandelt die italienische
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Renaissance, 1899) und Die Kunst Albrecht Dürers (1905); alle seither in vielen Auflagen. Bedeutsam ist auch Albert Erich Brinckmann, Geist der N a t i o n e n (stellt den Beitrag der nationalen Eigenart in der dt., f r z . und italienischen Kunst dar). 3. Aufl. H a m b u r g 1943. Das weite Gebiet der Wissenschaftsgeschichte kann hier natürlich auch nicht andeutend durchmessen werden. Es liegt auf der H a n d , d a ß die dem Historiker zumeist fernerliegende Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik in Zuk u n f t stärkere Beachtung erheischen wird. Von den geisteswissenschaftlichen Fächern liegt uns unser eigenes am nächsten. W i r arbeiten uns in seine Geschichte immer tiefer hinein, indem wir nach und nach das Beste, was an Forschungen und D a r stellungen vorliegt, lesen. Die Werke, die ihren Werdegang ganz oder teilweise behandeln, sind S. 109 angeführt. D o r t findet sich auch ein Hinweis auf Waetzolds schönes Buch Deutsche Kunsthistoriker, um das verwandte Fächer die Kunstgeschichte zu beneiden Anlaß haben. Zu den besten Werken über Wissenschaftsgeschichte zählt auch ohne Zweifel das Lehrbuch der Geschichte der Philosophie von Wilhelm Windelband, neu bearb. von H . H e i m soeth, Tübingen 1935. Unsere Übersicht über die Teilgebiete der Geschichte bliebe ein Bruchstück, erwähnten wir nicht noch zum §chluß die Religionsund Kirchengeschichte. Im Zeitalter der R e f o r mation und Gegenreformation vom Geist konfessioneller Einseitigkeit weithin beherrscht, hat die Kirchengeschichte doch eben im Dienst dieses Geistes viel zur Entwicklung der historisch-kritischen Methode beigetragen. Vollends hat sie später, in allen christlichen Ländern, aber nirgends erfolgreicher als in Deutschland gepflegt, hervorragende Werke in großer Zahl hervorgebracht. Für die Geschichte der alten Kirche ist Karl Müllers Lehrbuch der Kirchengeschichte, Bd. 1 (3. Aufl., T ü b i n gen 1940) durch selbständige Forschung das f ü h r e n d e Buch. Daneben besitzen wir in Hans Lietzmanns Geschichte der alten Kirche eine gleichfalls vorzügliche Darstellung, die noch dazu so fesselnd wie ein R o m a n geschrieben ist. Ein ausgezeichnetes 4'
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Quellenkritik: Kritik des Textes
Lehrbuch der Geschichte der christlichen Kirche im Frühmittelalter verfaßte Hans v. Schubert. Das eigentliche Meisterwerk aber f ü r das Mittelalter ist unfraglich die Kirchengeschichte Deutschlands von Albert Hauck, in fünf Bänden bis ins Zeitalter des Konstanzer Konzils reichend. Es gibt nicht leicht ein geschichtliches Buch, dessen Verfasser mehr Quellen mit größerer Sorgfalt gelesen hätte, es ist voll von originellen Gedanken, und doch tritt der Schriftsteller — darin eben liegt seine Größe — überall hinter der Sache zurück. Der beste Gewinn beim Lesen wäre, wenn etwas von jenem idealen Verhältnis zu den Quellen vom Verfasser auf den Leser überginge. Für die Reformationszeit sind mehrere vortreffliche Werke von Heinrich Böhmer zu nennen, vor allem Luther im Lichte der neueren Forschung. 4. Aufl. Leipzig 1918, Der junge Luther, 1925, und seine Biographie' des Ignatius von Loyola, die man unter dem Titel: Studien zur Geschichte der Gesellschaft Jesu, I, 1914 findet (Neudruck 1951 herausg. v. Hans Leube). Noch vieles Gute blieb unerwähnt und muß es bleiben, denn es sollte hier wie bei allen Ratschlägen, die unser Büchlein enthält, nur das Wichtigste in strenger Auswahl genannt werden. 5. Kapitel
Quellenkritik: Kritik des Textes und Kritik der Quellenaussagen Wir wissen nun, was Quellen sind und wie man sie findet. Auch haben wir die Hilfswissenschaften, die zu ihrer Auswertung unentbehrlich sind, flüchtig kennengelernt. Die gegenständlichen Quellen, um die ja Archäologen, Kunsthistoriker u. a.m. sich bemühen, können f ü r den Augenblick beiseite bleiben. Wir fragen nun: Wie ermitteln wir den Quellentext aus den Handschriften? Wie stellen wir Echtheit und Unechtheit der Quelle im ganzen oder einzelnen Teilen fest? Wie gelangen wir von abgeleiteten Quellen zu den unsprünglichen? Sind erst diese Vorfragen abgemacht, so wenden wir uns zur H a u p t f r a g e : Wie ermitteln wir aus den Quellenaussagen die geschichtlichen Vorgänge?
Quellenkritik: Kritik des Textes 1.
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Textkritik )
Ein erheblicher Bruchteil der Quellentexte kam nicht in ursprünglicher Gestalt auf uns. Mitunter haben wir nur eine späte Überlieferung — sei es Handschrift oder Druck •—, und ein mehr oder weniger bestimmter Verdacht läßt uns vermuten, daß die Form nicht ursprünglich sei. O f t haben wir viele Handschriften, die in wesentlichen Punkten so stark voneinander. abweichen, daß eine oder mehrere absichtliche Umgestaltungen des Textes vor sich gegangen sein müssen. Dann ist es unsere Aufgabe, zu ermitteln, welches die älteste Fassung ist, in welcher Reihenfolge die späteren entstanden, ob diese alle oder teilweise vom ursprünglichen Verfasser herrühren u. dgl. Kleine Abweichungen vom ursprünglichen Text sind bei allen Abschriften etwas Alltägliches, da ja erst der Druck, weil er mechanisch geschieht, die genaue Übereinstimmung aller Exemplare einer Auflage wenigstens als Regelfall ermöglichte. W o eine Masse alter Handschriften eines und desselben Werkes vorliegt, gilt es, die nähere oder fernere Verwandtschaft jeder einzelnen mit dem erhaltenen oder erschlossenen Urexemplar des Verfassers (der Philologe sagt d a f ü r : dem Archetypus) festzustellen. Wie die Verwandtschaft von Personen kann man auch eine solche Textverwandtschaft im Bilde eines Stammbaums darstellen. Veränderungen, die mit der U r f o r m eines Textes vorgenommen wurden, werden zumeist formale und inhaltliche Bedeutung haben, d. h. eine jüngere Fassung, die formell dacjurch gekennzeichnet ist, daß sie durch Zusätze an mehreren Stellen erweitert wurde, läßt etwa eben an diesen Stellen erkennen, daß der Verfasser jeweils aus einer Quelle schöpft, die ihm erst nach Abschluß der älteren Fassung zu Gesicht kam. So können formale und inhaltliche Beobachtungen sich gegenseitg stützen. Der Idealfall wäre, daß man bei einer verhältnismäßig großen Zahl abweichender Textfassungen durch Würdigung aller paläographischen, sprachlichen und inhaltlichen Anhalts1) L i t e r a t u r ü b e r philologische T e x t k r i t i k n e n n t Wilhelm S. 214. — Paul Maas, T e x t k r i t i k . 2. Aufl. Leipzig 1950.
Bauer
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Quellenkritik: Kritik des Textes
punkte bei jeder Handschrift den Grund finden könnte, warum etwas zugesetzt oder fortgelassen wurde, und auch hinreichend sicher den Zeitpunkt und Urheber der Änderungen bezeichnen könnte. Weil dies bei der Lebensgeschichte des Heiligen Lullus, die Lampert von Hersfeld schrieb, weitgehend zutrifft, wollen wir deren Überlieferungsformen durchsprechen. Dabei schicken wir ganz ehrlich voraus, daß diese V i t a des Lullus fast keinen Quellenwert hat. Lullus starb nämlich 786, und Lampert schrieb fast 300 J a h r e später, ohne aus Quellen zu schöpfen, die wir nicht ebenfalls noch besäßen 1 ). Das Ergebnis einer näheren Untersuchung sieht so aus: Von den acht Handschriften ist eine unter den Augen des Verfassers selbst entstanden: die Handschrift 1 (heute in Maihingen). Uberall da, wo die späteren Handschriften Erweiterungen enthalten, sind in dieser Zeichen angebracht; vermutlich sollten sie hinweisen auf Zusätze, die vorläufig auf eingelegte, heute verlorene Blätter geschrieben waren. Handschrift 1 endet mitten in einem Satz. Von ihr hängen fünf weitere ab, die ungefähr gleich lauten, aber den verstümmelten Schlußsatz ganz weglassen: diese nennen wir l a , l b , l c , l d , l e ; bis auf l c (in Zwettl) und l d (in Melk) liegen sie alle in München. Den durch Zusätze erweiterten T e x t — der Stilvergleich ergibt, daß der Verfasser ihn selbst erweiterte — bietet die Handschrift 2a in Trier. Noch eine zweite (2b in Erlangen) bietet diese Textgestalt, ihr fehlen aber am Schluß die Kapitel 19 bis 27. In diesen Abschnitten erhebt Lampert nämlich Vorwürfe gegen Fulda. Nach Ausweis seines übrigen Inhaltes ist aber Codex 2b, eine Sammelhandschrift, zum Gebrauch in Fulda bestimmt gewesen. So erklärt sich die Weglassung am Schluß. Vergegenwärtigen wir uns nun, wieviel sicheres Wissen wir damit gewonnen haben über Dinge, die nicht überliefert, sondern von uns erschlossen sind. W i r kennen den Verfasser, obwohl die Handschriften ihn nicht nennen. W i r dürfen ihm auch die erweiterte Ausgabe zuschreiben; sie ist nicht nur durch die Stilgleichheit ge1) Vgl. L a m p e r t i H e r s f e l d e n s i s opera ed. Oswald TIoldcr-Egger. H a n n o v e r 1Ö94. Und dazu W a t t e n b a c h - H o l t z m a n n . 3. Heft. S. 459 f
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kennzeichnet, Lampert selbst zitiert die Vita Lulli. in einem seiner späteren Werke eben in der zweiten Fassung 1 ). Wir wissen auch ziemlich genau die Abfassungszeit: zwischen 1063 und 1075. Denn Lampert hat hier eine Schrift des Otloh von St. Emmeram benutzt, die dieser zwischen 1062 und 1066 abfaßte, und Lampert's Selbstzitat stammt wohl aus dem Jahre 1076. Endlich haben wir den Grund der Verkürzung in 2b richtig erkannt. Bildlich ist das Abhängigkeitsverhältnis so darzustellen. 1 (eigenhändig)
la
X
X
A
A 1b
le
X ld
le
2 (eigenhändig) 2a
A
2b
So findet es sich in der Ausgabe. Wer nicht auf den ersten Blick den Grund einsieht, weshalb 3 als X bezeichnete verlorene Zwischenglieder darin erscheinen, findet ihn wohl nach einigem Nachdenken: weil sich so am besten die engere Verwandtschaft zwischen zwei Handschriftenpaaren erklärt. Nicht immer geht alles so glatt auf. Aber daraus, daß oftmals die Anhaltspunkte fehlen, die uns zu sicheren Ergebnissen hinleiten, kann man der Methode keinen Vorwurf machen. Ganz im Einklang mit dem, was wir ob.en (S. 42) als den Kern der diplomatischen Methode bezeichnet haben, können wir sagen: Die Textkritik und die Quellenanalyse müssen darauf hinarbeiten, den Text nicht als fertige Größe hinzunehmen, sondern in seinem Entstehen zu verfolgen 2 ). Und was uns hier erstmalig entgegentrat, werden wir als eine im Mittelalter verbleitete Erschein urg beobachten: daß der Autor das gleiche Werk in mehr als einer Fassung bearbeitet hat. Ähnlich wie 1) S. 347 der Ausgabe von Holder-Egger. 2) Wer dies lieber an einem neuzeitlichen Beispiel versucht, studiere das Werden des Textes von Bismarcks Gedanken und Erinnerungen mit Hilfe der Friedrichsruher Ausgabe.
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heute die Mitteilung des Verlegers, eine Auflage sei vergriffen, den Verfasser zwingt, zu überlegen, ob er die neue Auflage erheblich ändern soll, konnte damals der Wunsch angesehener Männer wirken, sich eine Abschrift eines Werkes herstellen zu lassen. Und genau wie heute die seit der ersten Niederschrift erschienene Literatur oft eine Umarbeitung nötig macht, beobachten wir Entsprechendes im Mittelalter. So hat der hennegauische Geschichtsschreiber J e a n Froissart in seiner Chronik die großen Schlachten von Crecy (1346) und Maupertuis (1356) zunächst nur nach englischen Gewährsmännern geschildert, während er später auch französische heranzog. Und der höchst originelle Giraldus de Barri aus Wales hat den verschiedenen „Auflagen" seiner W e r k e auch verschiedene Vorreden beigegeben, in denen er gelegentlich offen ausspricht, welche Rücksichten ihm früher größere Zurückhaltung auferlegten 1 ). Ähnlich klare und einleuchtende Ergebnisse liefert ein Vergleich der drei Handschriftenklassen, in denen uns Rahewins Fortsetzung der T a t e n Friedrich Barbarossas (Gesta Friderici imperatoris) überliefert ist. Deutlich in die Augen fallende Unterschiede trennen die drei Klassen. Die A-Klasse deutet viele Eigennamen nur durch einen Anfangsbuchstaben oder durch N an, bringt von Briefen und Urkunden oft nur die ersten Worte. B und C weichen schon in der Kapiteleinteilung ab. Die B-Handschriften fügen am Schluß einen Anhang über die J a h r e 1160 bis ca. 1170 hinzu (in der Ausgabe S. 347 ff.). In C ist der ursprüngliche T e x t noch stärker überarbeitet als in B. Sind diese' Tatsachen richtig erkannt, so darf man mit dem Herausgeber folgern: A ist der ursprüngliche Entwurf des Verfassers. W o B und C gegen A zusammengehen, haben wir die endgültige, wo A entweder mit B oder mit C übereinstimmt, die ursprüngliche Lesart vor uns 2 ). Große N o t machen dem Historiker die' vielen Irrtümer und Lesefehler, die in den Abschriften von Abschriften — das pflegt j a die große Masse unserer T e x t e zu sein — sich einschlichen 1) Vgl. Paul K i r n , Aus der F r ü h z e i t des Nationalgefühls. S. 102. 2) S i e h e die Ausgabe von G. Waitz und ß . v. Simson 1912, bes. X X V I I ff.
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und dann immer weiter f o r t p f l a n z t e n . So liest man in der Frankengeschichte des Gregor von Tours, Buch 2, Kapitel 9, w o von den Anfängen des fränkischen Volkes die Rede ist, den Satz Nam cum multa de eis Denn während von ihnen Sulpici Alexandri narret die Geschichte des Sulpicius historia, non tamen regem Alexander viel erzählt, nennt primum eorum Valentinus Valentinus doch nicht ihren nominal, sed duces eos ersten König, sondern sagt, habuisse dicit1). sie hätten unter Herzögen gestanden. Das kann nicht der richtige T e x t sein, denn es ist sinnlos, auf die Ausführlichkeit eines Geschichtswerkes hinzuweisen und f o r t z u f a h r e n , d a ß ein anderes die Angabe eines fränkischen Königs unterlasse. Sicherlich war irgendwie ausgedrückt, man vermisse beim Sulpicius Alexander jene Angabe. "Während zwei Handschriftenklassen den Fehler aufweisen, lesen die übrigen anstatt Valentinus richtig ullatinus (statt des klassischen ullatenus; im Satzzusammenhang zu übersetzen: [nennt er doch] an keiner Stelle). In anderen Fällen ist das Richtige nicht einfach in einer Anzahl von H a n d s c h r i f t e n gegeben, sondern muß erraten und durch den Nachweis, d a ß das W o r t oder die W e n d u n g der fraglichen Zeit und womöglich dem Autor geläufig war, gestützt werden. Völlig unzulässig ist es, wenn man eine T e x t stelle, die einen klaren und vernünftigen Sinn gibt, der überdies durch die Angaben anderer Quellen gestützt wird, gewaltsam ändert und dabei nicht einmal dem Sprachgebrauch Rechnung trägt. Dies ließ sich K a r l Bauer zuschulden kommen bei seiner Behandlung der Quellenaussagen über die Hinrichtung der 4500 Sachsen bei Verden im J a h r 782. D a z u berichten nicht weniger als vier Annalenwerke: die ausgelieferten Sachsen wurden enthauptet (decollati sunt). Anstelle des letzten Wortes, erklärt er, müsse delocati gelesen werden und das heiße: sie wurden ausgesiedelt. N u n haben wir aber eine Menge J ) G r e g o r i i Turonensi