Umwelt im Roman: Ökologisches Bewusstsein und Literatur im Zeitalter der Industrialisierung [1 ed.] 9783666355868, 9783525355862


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Umwelt im Roman: Ökologisches Bewusstsein und Literatur im Zeitalter der Industrialisierung [1 ed.]
 9783666355868, 9783525355862

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Agnes Limmer

Umwelt im Roman Ökologisches Bewusstsein und Literatur im Zeitalter der Industrialisierung

Umwelt und Gesellschaft

Herausgegeben von Christof Mauch und Helmuth Trischler

Band 19

Agnes Limmer

Umwelt im Roman Ökologisches Bewusstsein und Literatur im Zeitalter der Industrialisierung

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Rachel Carson Center for Environment and Society, LMU München.

Für meine Eltern. Und für Franziska und Christof, weil es dieses Buch ohne Euch nie gegeben hätte.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG , Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Caspar Ritter, Lesende junge Frau (1904) Lektorat: Ulrike Staudinger, München Satz: textformart, Daniela Weiland, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2197-1536 ISBN 978-3-666-35586-8

Inhalt

1. Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.1 Umweltgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.2 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.3 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.4 Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Our Mutual Friend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.1 London als metaphorisches Ökosystem . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.2 Materieller und sozialer Müll als Störfaktoren für das Ökosystem . 37 2.3 Gesellschaftliche Folgen der Dysfunktionalität . . . . . . . . . . . 42 2.4 Abfallproblematik und Flussverschmutzung in London . . . . . . 48 2.5 Zustand der Themse und Eindeichung . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3. Charles ­Dickens und soziales Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.1 Fürsorgemaßnahmen als Zeichen gesellschaftlicher Überlegenheit 59 3.2 Sozio-ökologische Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.3 Sanitäres Engagement und naturwissenschaftliches Interesse . . . 68 3.4 Auf dem Weg in eine sauber sortierte Moderne . . . . . . . . . . . 72 4. Pfisters Mühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.1 Der Umwelt(un)gerechtigkeitsprozess als Symbol . . . . . . . . . . 77 4.2 Intergenerationell verhandelte Einordnung von Umweltrisiken . . . 81 4.3 Beschäftigung mit demokratischer Verschmutzung . . . . . . . . . 87 4.4 Zukunftsvisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 5. Wilhelm Raabe und wissenschaftliches Expertentum . . . . . . . . . . 97 5.1 Gerichtlich bezeugte Ungerechtigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 97 5.2 Opfer wirtschaftlichen Fortschritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5.3 Verleugnete gesellschaftliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 5.4 Neugier und Weitsicht auf dem Platten Land . . . . . . . . . . . . . 113 5.5 Handlungsverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 6. The Jungle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6.1 Chicagos Arbeiter in der Dose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6.2 Der Dschungel der Stockyards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 6.3 Verarbeitung und Weitergabe am Fließband . . . . . . . . . . . . . 131 6.4 Moderne Umweltgerechtigkeit und Umweltbewusstsein . . . . . . 135

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Inhalt

7. Sinclair und politischer Aktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 7.1 Bauernopfer und Opfersiedlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 7.2 Aktivierende Bürgerbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 7.3 Politische Hindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 7.4 Volkswohlstand vor öffentlicher Gesundheit . . . . . . . . . . . . . 151 7.5 Sozialismus durch Natur und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 159 8. Epilog – Umweltroman als Möglichkeitsraum . . . . . . . . . . . . . . 165 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Gedruckte Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

1. Prolog

»Ich habe Pfisters Mühle viel zu lieb, um nicht völlig objektiv meine Meinung um ihr Wohl und Wehe begründen zu können. Augenblicklich erkenne ich in der Tat eine beträchtliche Ablagerung niederer pflanzlicher Gebilde, worüber das Weitere im Verlaufe der Festtage das Vergrößerungsglas ergeben wird. Pilzmassen mit Algen überzogen und durchwachsen, lehrt die wissenschaftliche Erfahrung. Aber was für Pilze und welche Algen bei gegebener Verunreinigung der Adern unserer gemeinsamen Mutter? Das herauszukriegen im eigenen industriellen Interesse, würde dann wohl meine Weihnachtsbescherung sein, mein Sohn Eberhard!«1

Mit diesen väterlichen Worten versucht der angehende Chemiefabrikant und seines Zeichens Mikrobiologe A. A. Asche seinen Jugendfreund Eberhard in der Sorge um sein Elternhaus und den angegliederten Familienbetrieb zu beruhigen. Die beschriebene Gewässerverschmutzung im Zuge der allgemeinen Industrialisierung wirkte auf die Zeitgenossen jedoch alles andere als beruhigend. Dieses Zitat zeigt nur exemplarisch, dass die Romane des langen 19. Jahrhunderts nicht nur die gesellschaftlichen und sozialen Problemfelder ihrer Zeit kritisch reflektierten, sondern auch die vorherrschenden Umweltzustände detailreich dokumentierten. Aus umwelthistorischer Sicht stellt sich daher die Frage, ob diese Beschreibungen verschmutzter Lebensumwelten in den Romanen eine bloße Hintergrundbeschreibung für die Erzählhandlung darstellten oder ob sich damit neue Interpretationshorizonte für die Romane des 19. Jahrhunderts eröffnen: Lässt sich Pfisters Mühle als frühe Form des Umweltromans und damit als Umweltprotest verstehen? Die Gattung des Romans entwickelte sich mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem in England. Dreh- und Angelpunkt ist die soziale Frage. Romane wie Émile Zolas Germinal oder Charles Dickens’ Our Mutual Friend diskutieren zum Beispiel die Auswirkungen des Wandels durch Industrialisierung in moralischer und milieuspezifischer Hinsicht. Das Milieu der Arbeiter ist schmutzig und ärmlich, die fortschreitende Umweltverschmutzung als Nebeneffekt der Industrialisierung findet spätestens ab den 1850er Jahren ihren Eingang in die soziologische Beschreibung des Romans als Gattung. Diese narrativ geäußerte Sensibilität für Umweltrisiken korrespondierte mit dem Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts, in dem der moralische und der gesundheitliche Verfall der Arbeiterklasse anfänglich gleichgesetzt wurden. Beide haben ihren Ursprung 1 Wilhelm Raabe, Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft. Stuttgart 1996, 93. Im Folgenden zitiert als PM .

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in der Bewusstwerdung des Individuums und seiner eigenen Körpergesundheit, die gleichermaßen biologischer Natur und Teil der sie umgebenden und wahrgenommenen Welt – also der Umwelt – sind. Doch erst mit fortschreitendem Wissen über Entstehungskontexte von Krankheiten durch Keime und Verschmutzung der Lebenswelt, rückte die ungleiche Verteilung von Umweltrisiken in den Fokus. Bis sich jedoch ein öffentlich, auf breiter Basis artikuliertes Bewusstsein für die ökologischen Konsequenzen menschlichen Handelns ausbildete, sollte es noch hundert Jahre dauern. Rachel Carsons Buch Silent Spring (1962) prangerte die Vergiftung der Umwelt durch Chemikalien an und identifizierte Pestizide als einen wesentlichen Beitrag zum Artensterben. Dieses Buch sensibilisierte ferner für die schädigende Wirkung von Toxinen auf Tier, Mensch und Umwelt und räumte damit der Natur einen besonderen Stellenwert ein. Als ein Gründungsmanifest der modernen Umweltbewegung zeigt Carsons Buch, dass schriftstellerisches Wirken eine ungemeine Breitenwirkung entfalten kann.2 Diese Umweltdystopie traf auch den Nerv der Zeit: Kurz davor hatte Vance Packards mit The Waste Makers auf die problematischen Auswirkungen der Konsumgesellschaft hingewiesen.3 Die gesellschaftliche Rezeption der beiden Werke zeigt beispielhaft, welche katalytische Wirkung Medien haben können. Wie manifestierte sich nun die Forderung, Umweltverschmutzung und ihre ungerechte Verteilung zu beseitigen, in der Welt des bürgerlichen Romans? Und lässt sich somit eigentlich ein proto-ökologisches Zeitalter der Hochindustrialisierung definieren? Wie manifestierte sich Umweltbewusstsein in der Welt des bürgerlichen Romans und wie kroch es von dort aus in das Bewusstsein der Bevölkerung? Diese Leitfragen begleiten uns durch drei ausgewählte Romane, deren Verfasser sich dezidiert als Gesellschaftskritiker verstanden. Bereits hundert Jahre vor Silent Spring nutzen sie schriftstellerisches Wirken, um die Aufmerksamkeit der bürgerlichen Leser für die Lebensbedingungen der Protagonisten und die Gefährdung von Mensch und Natur zu sensibilisieren und die Aufmerksamkeit auf die sozial ungleiche Verteilung von Umweltrisiken zu lenken. In Our Mutual Friend (1864/65) skizziert Charles Dickens die Verflechtung zwischen sozialem Verfall und der Verschmutzung der Themse. Wilhelm Raabes Pfisters Mühle (1883/84) porträtiert den technologischen Übergang von der Agrarzur Industriegesellschaft und die damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen für das Braunschweiger Platte Land. In Übertragung der kolonialen Umwelt­ metapher des Urwalds als Raum jenseits der zivilisierten, bürgerlichen Welt kri-

2 Christof Mauch, Blick durchs Ökoskop. Rachel Carsons Klassiker und die Anfänge des modernen Umweltbewusstseins, in: Zeithistorische Forschungen 9/1, 2012, 156–160. 3 Verena Winiwarter, Martin Knoll, Umweltgeschichte: Eine Einführung. Köln 2007, 30 f.

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tisiert Upton Sinclair in The Jungle (1906) das Schlachthofviertel von Chicago als modernen Dschungel, der die Existenz seiner Bewohner korrumpiert. Da Romane, im Entstehungskontext gelesen, als Seismographen ihrer Zeit verstanden werden können, werden, begleitend zu diesen drei Werken, die europäischen und amerikanischen Sanitäts- und Hygienereformen in den Blick genommen. Unter dem wachsenden Problemdruck von Urbanisierung, Bevölkerungswachstum und Industrialisierung etablierten sich in den Großstädten neue Formen der Müllbeseitigung oder der Trinkwasserversorgung.4 Diese Reformbestrebungen antworteten auch auf die drängender werdende soziale Frage, die sich als soziale Umweltfrage in der ungleichen Verteilung von Umweltrisiken zeigte. Luft- und Wasserverschmutzung oder toxische Arbeitsbedingungen betrafen nämlich vor allem die Lebenswelt der Arbeiter. Die soziale Frage wird somit als eine Frage der Umweltgerechtigkeit neu konzipierbar: Inwiefern spiegeln Romanwerke der Zeit ein sich entwickelndes Bewusstsein für umweltgerechte und umweltungerechte Lebensverhältnisse wider? Welche Funktionen nehmen diese Texte in der gesellschaftlichen Aushandlung von sozialen Umweltlasten ein? Können einzelne Romane damit als Ausdruck des sich entwickelnden Umweltbewusstseins verstanden werden? Dabei ist von Interesse, wie der Roman die vorherrschenden Zustände darstellt und reflektiert, welche sprachlichen Ausdrucksformen die Autoren dafür wählten und wie sich diese Beschreibungen im Laufe der Zeit veränderten. Neben einer Einbettung der einzelnen Werke in ihren spezifischen historischen Kontext, kommt der Person des Autors eine besondere Rolle zu, dessen individuelle Wahrnehmung in den Texten dokumentiert und literarisch verarbeitet wird. Davon ausgehend gilt es, die soziale Umwelt des Romans aufzuschlüsseln: Welche Akteure treiben die Handlung an? Wie stehen sie zueinander in Beziehung? Welche proto-ökologischen Probleme werden geschildert? Welche Lösungswege bieten die Werke in der erzählten Umwelt des Romans an? Welchen Einfluss hatten somit die Romane auf die gedankliche Entwicklung der Zeit. Die Erscheinungsdaten der Romane umgrenzen den Untersuchungszeitraum, der gleichzeitig auch mit der Phase der Hochindustrialisierung in Europa und Nordamerika sowie, damit verbunden, mit dem Aufkommen und der schrittweisen Lösung der sozialen Frage korrespondiert. Die seismographische Funktion der Romanliteratur kann zu dieser Zeit als Fühler für die industrielle Entwicklung des jeweiligen Untersuchungsortes dienen. Die Studie umspannt damit das erste Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. 4 Siehe z. B. Harold L. Platt, Shock Cities: The Environmental Transformation and Reform of Manchester and Chicago. Chicago 2005; Martin V. Melosi, Garbage in the Cities: Refuse, Reform, and the Environment. Pittsburgh 2005; Dorceta Taylor, The Environment and the People in American Cities, 1600–1900s: Disorder, Inequality, and Social Change. Durham 2009.

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Zur Rekonstruktion des historischen Horizonts der Zeit werden archivalische Quellen herangezogen. Die Romane erhalten als Umweltromane einen bislang in der Forschung kaum thematisierten Stellenwert als kulturhistorische Quellen.5 Ihre literarische Vermittlung prägt die menschliche Sichtweise der Umwelt, indem sie deren ästhetische Erfahrung nicht nur verkörpert, sondern auch für den Leser organisiert.6 Sie spiegeln das Verhältnis von Mensch, Natur und Umwelt wider, das der Autor vertrat. Gleichzeitig beeinflussen sie den Leser, indem sie mit dessen Wertvorstellungen interagieren.7 Die sprachliche Repräsentation der romanhaften Umwelt kann darüber hinaus als im öffentlichen Raum ausgetragene Reflexion der Interaktion von Mensch und Natur gelesen werden.8 Anders als die in der amerikanischen Tradition des philosophisch inspirierten Nature Writing übliche transzendentale Überhöhung und Verherrlichung der Natur, leisten die literarischen Werke, die die Studie als Umweltromane vorstellt, etwas Neues. Sie thematisieren nicht nur das Verhältnis von Mensch und Umwelt, sondern buchstabieren in ihrem narrativen Setting Vorformen des Konzepts der heute breit diskutierten Umweltgerechtigkeit aus. Zugang zur menschlichen Erfahrungswelt, die über die von gesellschaftlichpolitischen Einzelakteuren hinausgeht, eröffnen daher poetische Artefakte beziehungsweise deren Produzenten. Diese fangen die Veränderungen und neuartige Stimmungen auf und machen sie durch ihre schriftliche Fixierung greifbar, noch bevor sie in der Politik thematisiert werden. Geht es für den Kulturhistoriker darum, »die Produktion, die Vermittlung, und die Perzeption sinnhaltiger Praktiken der Vergangenheit zu rekonstruieren, gewinnt die Sprache als zentrales Instrument der Kommunikation erhöhte Relevanz.«9 Dadurch geraten ihre Funktionsweisen und Leistungsfähigkeit, aber auch ihre Grenzen in den Fokus methodischer Reflexion. Die Grundlage der Studie bilden daher drei ausgewählte Romanwerke. Zusammen mit Archivalien dienen sie der Rekonstruktion einer jeweils spezifischen, zeitgenössischen Umweltproblemlage: Charles Dickens behandelt in Our Mutual Friend (1864/65) die Verflechtung zwischen sozialem Verfall und Verschmutzung der Themse. Um den Entstehungskontext dieses Romans so 5 Vgl. Peter Brockmeier, Literatur als erfahrene Geschichte. Überlieferung und Erklärung erlebter Gegenwart bei Montaigne, Meslier, Voltaire und Primo Levi, in: Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich, Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Literatur als Geschichte. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart 1990, 41. 6 Berbeli Wanning, Die Fiktionalität der Natur: Studien zum Naturbegriff in Erzähltexten der Romantik und des Realismus. Berlin 2005. 7 Wolfgang Iser, Texts and Readers, in: Discourse Processes 3, 1980, 327–343. 8 Jost Hermand, Grüne Utopien in Deutschland: Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins. Frankfurt a. M. 1991. 9 Silvia Serena Tschopp, Wolfgang Weber, Grundfragen der Kulturgeschichte. Darmstadt 2007.

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wie die vorherrschenden historischen Zustände abbilden zu können, wurden für dessen Kontextualisierung Dokumente und Gesetzgebung in Bezug auf die Stadt London und deren bürgerschaftlichen Initiativen ausgewählt, die sich mit Hygienisierung und strukturellem Umbau der Metropole beschäftigen. Dabei handelt es sich etwa um die Verwaltungsunterlagen der städtischen Armenfürsorge des London Board of Guardians sowie die Pläne für die Eindeichung der Themse im innerstädtischen Bereich, die sich in den London Metropolitain Archives befinden. Dort werden ebenfalls Originaldrucke der jeweils für die Stadt relevanten britischen Gesetzestexte gehalten, weshalb die Britisch National Archives zu diesem Zwecke nicht bemüht wurden. Charles Dickens’ zahlreiche Zeitschriften sind darüber hinaus in der British Library gesammelt. Seine Briefkorrespondenz hat Dickens selbst in regelmäßigen Abständen verbrannt,10 was zu deutlichen Verlusten führte. Die gesammelten Briefe des Schriftstellers, von verschiedensten Archiven weltweit gehalten, umfassen dennoch zwölf Bände, veröffentlicht in der sogenannten Pilgrim Edition bei Clarendon Press, Oxford; für diese Studie sind die Bände zwischen 1850 und 1865 maßgeblich. Wilhelm Raabes Pfisters Mühle (1883/84) thematisiert den Preis, den das Deutsche Kaiserreich für den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft bezahlte. Im Mittelpunkt steht die Familiengeschichte eines Müllers und sein Rechtsstreit gegen eine Zuckerfabrik. Als korrespondierende Quelle ist vor allem die Prozessakte des realen Rechtsstreits interessant, auf der Wilhelm Raabes Roman basiert. Diese befindet sich im Niedersächsischen Landesarchiv in Wolfenbüttel. Alle persönlichen Dokumente Wilhelm Raabes, einschließlich sämtlicher Originalschriften, die in der Braunschweiger Ausgabe11 (zusammen mit ausgewählten Briefen) verlegt wurden, liegen im Stadtarchiv Braunschweig. Für die vorliegende Studie ist Raabes Briefwechsel mit Familie, Freunden und Verlegern von Interesse, der ein aufschlussreiches persönliches Bild von ihm vermittelt. Seine Tagebücher hingegen sind nur zu chronologischen Zwecken verwertbar, stichpunktartig zeichnete er Korrespondenz, Besuche, besondere Ereignisse sowie das Wetter auf. In Übertragung einer Umweltmetapher kritisiert Upton Sinclair in The Jungle (1906) die Schlachthöfe Chicagos als Dschungel, der die Arbeiter in ihrer Existenz gefährdet. Alle persönlichen Dokumente und Manuskripte werden von der Lilly Library der Indiana University, Bloomington, Ill., gehalten. Diese Sammlung profitiert enorm vom Organisationstalent von Sinclairs zweiter Ehefrau Mary Kimbrough; die Sammlung in Bloomington umfasst auch Bestände anderer Archive in Kopie. Leider gingen Sinclairs Recherchenotizen für The Jungle sowie zahlreiche Unterlagen und Briefwechsel während eines Großbrandes 10 Peter Ackroyd, Dickens. London 1990. 11 Wilhelm Raabe, Sämtliche Werke, hrsg. v. Karl Hoppe. Göttingen / Freiburg i. Br. 1965–1994.

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1908 verloren. Dennoch bildet die Fülle persönlicher und publizistischer Quellen Sinclairs eine ausreichende Basis für die Untersuchung der vorliegenden Fragestellung. Die Sammlung der Lilly Library ist interessant in der Zusammenschau mit dem Briefwechsel Sinclairs und seinem Freund und Biographen Floyd Dell, der in der Newberry Library, Chicago, einsehbar ist. Sinclairs Briefwechsel mit President Theodore Roosevelt in Folge des Skandals um die Veröffentlichung des Romans befindet sich in der Sammlung der Roosevelt Papers in der Library of Congress Manuscript Collection, Washington, D. C. Korrespondierende Gesetze, die im Sommer nach dem Erscheinen von The Jungle in Kraft gesetzt wurden, sowie diesbezügliche Vorgänge, finden sich in den verschiedenen Abteilungen der National Archives in Washington D. C. Weiterhin bietet das Archiv des Chicago Historical Museum, die Stadt, die Sinclair während seiner Recherchen besuchte, eine umfassende Sammlung der historischen Tagespresse sowie Unterlagen zum University of Chicago Settlement. Darüber hinaus wurde das umfassende Archiv sozialistischer Zeitungen und Journals der Wisconsin Historical Association (WHA) in Madison, WI, genutzt; hier vor allem der Appeal to Reason, in dem The Jungle zu erst veröffentlicht wurde; weiterhin finden sich in der WHA Korrespondenzen zahlreicher sozialistischer Bekannter Sinclairs. Die vorliegende Studie setzt sich zum Ziel, die ausgewählten Dokumente in Vergleich zu setzen, indem sie einerseits die Grenzen von ökologisch orientierter Literatur- und Geschichtswissenschaft und andererseits die damals unter zunehmendem Nationalismus erstarkenden Landesgrenzen des europäischen Kulturraumes überschreitet. Vor dem Ersten Weltkrieg bestand Europa noch als ein mehr oder weniger einheitlicher Kultur- und Naturraum, der auch die USA als Neo-Europe mit einschließt.12 Darin konnten sich vor allem Ideen, aber auch deren Träger, frei bewegen. Auch hierfür stehen die ausgewählten Schriftsteller beispielhaft. Es entwickelten sich Strömungen in Kunst und Wissenschaft, die sich nicht nur wechselseitig inspirierten, sondern sich trotz lokaler Färbung sehr ähnlich waren und im Prinzip eine Einheit bildeten. Während des Großen Krieges brach dieser Raum allerdings auseinander und mit ihm die Freizügigkeit der Ideen. Genauso wie Umwelt nationalstaatliche Grenzen ignoriert, geht die Studie als Beitrag zu den Environmental Humanities davon aus, dass zur Analyse von Umweltproblemen Fachgrenzen noch weiter permeabel gemacht werden müssen. Ein neuer, vielfältige Natur- und Kulturräume umfassender Erfahrungsraum für Schriftsteller und Kosmopoliten entstand im Zuge der modernen Globalisierungsprozesse ab den 1970er Jahren. Diese speisten sich nicht zuletzt aus der fotographischen Sicht auf die Erde als verwundbare Schönheit, deren pla-

12 Alfred Crosby, Ecological Imperialism. The Biological Expansion of Europe, 900–1900. Cambridge 1986.

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netare Integrität sich durch Rohstoffabbau und Wohlstandsmüll bereits massiv beschädigt zeigte. Zeitgenössische globale Modellierung wie Dennis Meadows Limits to Growth erzeugten Zukunftsängste ähnlich denen des vorigen Jahrhunderts, damals ausgelöst durch Robert Malthus’ Theorie von den Grenzen des Bevölkerungswachstums. In diesem Kontext entwickelten sich die Ökologie als wissenschaftliche Disziplin – und gleichzeitig auch die Umweltgeschichte, der sich die vorliegende Studie zuordnet.13 Seit Wolfram Siemanns und Nils Freytags Postulat der frühen 1990er Jahre hat sich Umweltgeschichte auch in Deutschland fest als geschichtswissenschaftliche Grundkategorie etabliert.14 Allerdings leidet sie etwas mehr unter der metonymischen Basis ihres Grundkonzepts als andere, da sie versucht die Bedeutungsvielfalt von Umwelt im bewussten menschlichen Handeln zu verankern.15 Wenn die vorliegende Arbeit die jeweilige direkte, erlebte und wahrgenommene Lebenswelt der Romanfiguren untersucht, dann auch, um eben diese Bedeutungsvielfalt aufzuzeigen. Mit der Auswahl der Fallbeispiele schlägt sie eine Brücke zwischen den europäischen und amerikanischen Forschungstraditionen.

1.1 Umweltgerechtigkeit Ausgehend vom kulturhistorisch geprägten Umweltbegriff, der das Wechselverhältnis von Mensch und Natur ins Zentrum stellt, rücken in dieser Studie die Umweltrisiken und die Suche nach gerechten Lösungen in den Fokus. Damit lehnt sich die Studie an Forschungstrends an, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts den menschlichen Lebensraum ganz allgemein als Natur verstehen und in den Blick nehmen,16 so dass sich auch Städte unter dem Umweltbegriff subsumieren lassen.17 Damit einher geht ein anthropozentrischer Zugang zum Umweltroman. Im Zentrum stehen der Mensch und die Frage, wie Belastungen aus der Umwelt die Gesundheit schädigen und darüber hinaus physiologische

13 Donald Worster, Nature’s Economy. A History of Ecological Ideas. Cambridge 1977, 2011; Hubert Zapf, Literatur als kulturelle Ökologie: Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen 2002. 14 Wolfram Siemann, Nils Freytag, Umwelt – eine geschichtswissenschaftliche Grundkategorie, in: Dies. (Hrsg.), Umweltgeschichte: Themen und Perspektiven. München 1993, 7–19. 15 Melanie Arndt, Umweltgeschichte. Geschichte der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur, docupedia Zeitgeschichte (http://docupedia.de/zg/Arndt_umweltgeschichte_v3_ de_2015). 16 William Cronon (Hrsg.), Uncommon Ground. Rethinking the Place of Humans in Nature. NewYork 1996. 17 Dieter Schott, Bill Luckin, Genevieve Massard-Guilbaud (Hrsg.), Resources of the City. Contributions to an Environmental History of Modern Europe. Aldershot 2005.

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und emotionale Ressourcen angreifen.18 Dieser Ansatz zur Betrachtung von Romanen des langen 19. Jahrhunderts mag vielleicht den gegenwärtigen Problemlagen sozialer und psychischer Gesundheit entlehnt klingen. Er setzt jedoch auch in historischer Perspektive dort an, wo sich das Bewusstsein der Menschen entwickelt hat: bei ihnen Selbst.19 Diese Fragen lassen sich unter dem Konzept der Umweltgerechtigkeit ganzheitlich betrachten. Im deutschen Sprachraum bezeichnet dies Verteilungsfragen im Schnittfeld von umwelt-, sozial- und gesundheitspolitischen Problemen.20 Umweltgerechtigkeit, Umweltgleichheit oder Umweltbenachteiligung erscheinen mitunter als Schattenseiten der Nachhaltigkeit, wenn Themen ökonomischer Verteilungsgerechtigkeit mitgedacht werden.21 Im Gegensatz dazu stellen aber erstere das Risikopotenzial verschiedener sozialer und ethnischer Gruppen in ihrem Lebens- und Arbeitsumfeld in den Mittelpunkt, wobei die Zusammenhänge zu individuellen und kollektiven (politischen) Handlungsmöglichkeiten betont werden.22 Um diese Ambiguitäten in historischer Perspektive zu erfassen, schlägt Martin Knoll den Begriff der Umwelt(un)gleichheit vor.23 Auch wenn der Gegenwartsbezug durch die Wahl gegeben ist, erhält Umweltgerechtigkeit im Roman durch die anthropozentrische Perspektive ihre historische Tiefenschärfe: Diese Studie behandelt Umweltgerechtigkeit als frei von Implikationen ökologischer Gerechtigkeit, die einen eher systemischen Umweltbegriff voraussetzt.24 Im Zentrum steht hier das Verhältnis von Mensch und urbaner Umwelt, wobei die sozialen Auswirkungen von ungleich verteilten Umweltrisiken im 19. Jahrhundert in den Vordergrund treten. Somit weisen 18 Werner Maschewsky, Umweltgerechtigkeit, Public Health und soziale Stadt. Frankfurt a. M. 2001. 19 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, 481–494. Sigmund Freud, Das Ich und das Es, in: Ders., Studienausgabe, Bd. 3. Psychologie des Unbewussten. Frankfurt a. M. 2000. 20 Horst-Dietrich Elvers, Umweltgerechtigkeit, in: Matthias Gross (Hrsg.), Handbuch Umweltsoziologie. Wiesbaden 2011, 464–483. 21 Andreas Mielck, Gabriele Bolte (Hrsg.), Umweltgerechtigkeit: Die soziale Verteilung von Umweltbelastungen. Weinheim 2004. 22 Kristin S. Shrader-Frechette, Environmental Justice: Creating Equality, Reclaiming Democracy. Oxford; New York 2002; David Pellow, Robert Brulle, Power, Justice, and the Environment: A Critical Appraisal of the Environmental Justice Movement. Cambridge 2005; Kathlyn Gay, Pollution and the Powerless: The Environmental Justice Movement. New York 1994; Rachel Stein, New Perspectives on Environmental Justice: Gender, Sexuality, and Activism. New Brunswick 2004. 23 Martin Knoll, Rezension von: Geneviève Massard-Guilbaud / R ichard Rodger (Hrsg.): Environmental and Social Justice in the City. Historical Perspectives, in: sehepunkte 12/12, 15.12.2012, http://www.sehepunkte.de/2012/12/20749.html. 24 Z. B. Brian Baxter, A Theory of Ecological Justice. London 2005; C. R. Palamar, The Justice of Ecological Restoration: Environmental History, Health, Ecology, and Justice in the United States, in Human Ecology Review 15/1, 2008, 82–94.

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die Fallbeispiele nicht nur eine ungleiche Belastungsverteilung nach, sondern spiegeln Autoritäts- und Machtstrukturen und Gefühle der Ohnmacht bei den Betroffenen wider.25 Im Interpretationshorizont der Umweltgerechtigkeitsforschung lässt sich eine Nähe der europäischen Arbeiterschicht mit Fragen von postkolonialem Othering verbinden26: »Now all of the issues of environmental racism and environmental justice don’t just deal with people of color. We are just as much concerned with inequities in Appalachia, for example, where the whites are basically dumped on because of lack of economic and political clout and lack of having  a voice to say ›no‹ and that’s environmental injustice.«27

Die weißen, europäischen Arbeiter und ihre Familien in den verschmutzten Städten der Hochindustralisierung wurden in doppeltem Sinn zu Subalternen im eigenen Land: Sie waren ausbeuterischen Arbeits- und gesundsheitsgefährdenden Umweltregimen ausgesetzt. Diese koloniale Analogie, die modisch klingen mag, erkannten jedoch schon die hier behandelten Autoren. Darüber hinaus hatte die Abschaffung der Sklaverei, globale Mobilität durch Dampfschiffe sowie zunehmender Imperialismus, die ebenfalls den Zuzug in die Metropolen beförderten, zu einer Veränderung im Rassedenken geführt.28 In Upton Sinclairs The Jungle, der nicht unbeeinflusst ist von Joseph Conrads Heart of Darkness, wird die Welt der Schlachthöfe Chicagos zur Metapher des Kolonialismus im Herzen der (vermeintlich) zivilisierten Großstadt.

1.2 Methode Die vorliegende Arbeit leistet aus umwelthistorischer Perspektive einen Beitrag zur Erforschung der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Umweltgerechtigkeit im Kontext der Industrialisierung im Großraum Europa während des langen 19. Jahrhunderts. Wesentliche Untersuchungsmethode der Studie ist hierfür die empirisch-qualitative Quellenanalyse von zeitgenössischer Publizistik und 25 Elvers, Umweltgerechtigkeit; Werner Maschewsky, Environmental Justice. 26 Martin V. Melosi, Equity, Eco-racism and Environmental History, in: Environmental History 19/4, 1995, 1–16; Dorceta Taylor, The Rise of the Environmental Justice Paradigm: Injustice Framing and the Social Construction of Environmental Discourses, in: American Behavioral Scientist 43/3, 2000, 508–580; David Schlosberg, Defining Environmental Justice: Theories, Movements, and Nature. Oxford; New York 2007. 27 Environmental Justice: An Interview with Robert Bullard, in: Earth First! July 1999. Einschlägig: Robert D. Bullard, Dumping in Dixie: Race, Class, and Environmental Quality. Boulder 1994. 28 Noel Ignatiev, How the Irish Became White. Milton 2012; Jeffrey Myers, Converging Stories: Race, Ecology, and Environmental Justice in American Literature. Athens 2005.

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themenbezogenem Archivmaterial. Dabei wird anhand exemplarischer Fall­ studien die Genese eines Bewusstseins für zeitgenössische Umweltgerechtigkeit nachgezeichnet. Mit dieser Fragestellung geht jedoch insofern eine methodische Herausforderung einher, als dazu immaterielle Phänomene wie menschliches Denken und Fühlen auf eine Art und Weise erfasst und dargestellt werden müssen, die Anspruch auf wissenschaftliche Relevanz erhebt.29 Auf Grund dessen kommt in der vorliegenden Studie der Analyse zeitgenössischer Prosaromane eine zentrale Rolle zu. Als kulturelles Erzeugnis beeinflussten sie die menschliche Wahrnehmung von Umwelt, außerdem kodierten und organisierten sie deren Darstellung.30 Um den Wert fiktionaler Umweltdarstellungen für die Entwicklung eines Bewusstseins für Umweltgerechtigkeit hervorzuheben  – einerseits als dessen Ausdruck sowie als Medium von deren Vermittlung andererseits – wird dazu auf den interdisziplinär ausgerichteten methodischen Ansatz des New Historicism zurückgegriffen. Dieser betont gleichermaßen die Geschichtlichkeit von Texten und die Textualität von Geschichte.31 Damit wird die oftmals angesprochene Problematik von Fakt und Fiktion in der Verwendung von Belletristik in historischer Forschungsarbeit aufgegriffen.32 Nach Stephen Greenblatt ist der New Historicism darauf ausgelegt, die Frage nach der wechselseitigen Beziehung von Kunst und Gesellschaft zu beantworten, was jedoch nur unter Heranziehung verschiedener theoretischer Standpunkte hinreichend geklärt werden kann.33 Mit der Fokussierung auf Umweltgerechtigkeitsfragen prüft die vorliegende Arbeit, inwieweit der literaturwissenschaftliche, aber interdisziplinär ausgelegte Ansatz, produktiv für die Umweltgeschichte mit ihrer disziplinären Offenheit nutzbar ist. Der New ­Historicism bildet den gedanklichen Hintergrund für die Zusammenschau von literarischen Romanquellen, Publizistik und Archivmaterial, um die gegensei­tigen gesellschaftlichen Resonanzen zu bewerten. Dadurch wird der literarische Text, der das Kernstück des jeweiligen Fallbeispiels bildet, wieder mit denjenigen gesellschaftlichen Energien aufgeladen, die ihm bei seiner Entstehung als ­historisches Produkt zu 29 Silvia Serena Tschopp, Das Unsichtbare begreifen. Die Rekonstruktion historischer Wahrnehmungsmodi als methodische Herausforderung der Kulturgeschichte, in: Historische Zeitschrift 280, 2005, 39–81, 40; 51 ff. 30 Axel Goodbody, Literatur und Ökologie: Zur Einführung, in: Ders. (Hrsg.), Literatur und Ökologie. Amsterdam 1998, 11–40. 31 Anton Kaes, New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne?, in: Literatur als Geschichte, 56–66. 32 Martina Winkler, Vom Nutzen und Nachteil literarischer Quellen für den Historiker, in: Martin Schulze-Wessel (Hrsg.), Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas 21, 2009, 1–25, http://epub.ub.uni-muenchen.de/11117/3/Winkler_ Literarische_Quellen.pdf. 33 Stephen Greenblatt, Towards a Poetics of Culture, in: Adam Veeser (Hrsg.), The New Historicism. London 1989, 1–14, 7.

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eigen waren. Der Ansatz greift damit auf die Foucault’sche Feststellung zurück, dass gewisse Diskurse auch unabhängig von einer Sinnsuche entstehen und wirken, weshalb sie als Äußerungen bestimmter Bedürfnisse und Intentionen der Gesellschaft, die sie hervorbringt, zu sehen sind.34 Sichtbar gemacht wird dies in der Rückbeziehung des literarischen Werkes auf dessen kulturelles Gefüge, das es hervorbrachte und auf das es sich in seiner spezifischen Form funktional bezieht.35 Die Auswahl der rekurrierenden textlichen Materialien, um die historische Lebenswelt sinnvoll zu interpretieren, obliegt dem New Historicisten, wobei es sich für den Laien um eine scheinbar wahllose Sammlung von Texten und kulturellen Praktiken aus verschiedenen Disziplinen handeln kann. Aber vielmehr sind auch die nichtliterarischen Dokumente in diesem Zusammenhang selbst komplexe materielle und symbolische Artikulationen der imaginativen und ideologischen Struktur der Gesellschaft.36 Dabei hat die schöngeistige Literatur den Vorzug, dass sie gerade jene menschliche Lebensbewandtnisse und -konflikte thematisiert, die weder von staatlichen Instanzen noch den institutionalisierten Wissenschaften geordnet oder kodiert sind. Außerdem kann ihre historische Einordnung dazu dienen, die historische Fremdheit von Literatur auszugleichen, mit dem Ziel diese tatsächlich erfahrbar zu machen.37 Daher identifizierte Eberhard Lämmert bereits Ende der 1960er Jahre die Literaturwissenschaft als Mittel profunder Kulturgeschichtsschreibung, da diese die Herkunft zeitgenössischer Verfassungen und Problemlagen besser und allgemeiner sichtbar machen könne, als die politische oder wirtschaftliche Geschichte allein.38 Um zu verstehen, ob und wie das jeweilige Werk vom Zeitgeist seiner Entstehung beeinflusst wurde, wird zudem das soziale Umfeld der Autoren mit untersucht, deren psychologischer Hintergrund beleuchtet, Bücher und Theorien mit einbezogen, die sie beeinflusst haben. Die Texte werden nicht mehr als alleinstehende ästhetische Einheiten verstanden. Ihre soziale Energie, die aus Resonanzeffekten mit der die Texte umgebenden Umwelt entstanden ist, wird rekonstruiert, und deren Wesenheit als Teil eines Netzwerks von umwelt-sozialer Zirkulation wiederhergestellt.39 In seiner Anwendungspraktik ist dem New Historicism außerdem eine Kapitalismuskritik eigen.40 Dieser wird 34 Michel Foucault, Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981, 189 f. 35 Kaes, New Historicism, 58. 36 Ebd. 62. 37 Wolfgang Haubrichs, Einleitung, in: Zeitschrift für Literatur und Linguistik 8/32, 1978, 7–13. 38 Eberhard Lämmert, Das Ende der Germanistik und ihre Zukunft, in: Jürgen Kolbe (Hrsg.), Ansichten einer künftigen Germanistik. München 1969, 79–104. 39 Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations: The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley 1988. 40 Aram Veeser, The New Historicism, in: Ders. (Hrsg.), The New Historicism Reader. New York 1994, 1–34.

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insofern Rechnung getragen, als die Frage nach Umweltgerechtigkeit zur Zeit der Hochindustrialisierung eng mit den allgegenwärtigen Klassengegensätzen und der Ausdifferenzierung kapitalistischer Wirtschaftssysteme verbunden war. Allerdings stehen die literarischen Texte nicht außerhalb, sondern innerhalb der entsprechenden Machtdiskurse, da sie im Rahmen von gesellschaftlichen, politischen und moralischen Institutionen entstanden, die diese prägten, begrenzten, stimulierten und profilierten.41 Zunächst bieten sich die beiden Ansätze der empirisch-qualitativen Quellenanalyse und des New Historicism gegenseitig als Hilfswerkzeuge an, um die jeweilige Quellenbasis zu erweitern und vor allem je eine weitere historische Tiefendimension zur Verfügung zu stellen. Damit werden die ausgewählten Romane in der vorliegenden Arbeit in zweifacher Hinsicht als Quelle genutzt: Einerseits als Zeugnisse für die Umweltwahrnehmung der Autoren und andererseits als Verweis auf historische Problemtatbestände. Der zeitgenössische historische Kontext der Romane unterstützt die Beantwortung der Frage, wie das jeweilige Werk die sozialen Umweltprobleme seiner Zeit reflektiert. Also ob und wie zeitgenössische Fragen der Umweltgerechtigkeit ihren Niederschlag im literarischen Leben des 19. Jahrhunderts gefunden haben und welche Rolle die Verfasser der untersuchten Romane in der Aushandlung der Thematik spielten. Dadurch gelingt es im Erkenntnisinteresse der Umweltgeisteswissenschaften, ein möglichst holistisches Bild der Umweltbedingungen und der Umweltwahrnehmung des 19. Jahrhunderts hinsichtlich umwelt-sozialer Problemstellungen zu erfassen. Um sich, dem zentralen Postulat der Neuen Kulturgeschichte folgend, der Erforschung der menschlichen Erfahrungswelt widmen zu können, ist es notwendig, die historische Quellenbasis um Zeugnisse kollektiver Akteure zu erweitern, die in der Forschung wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. Dabei ist das Medium, in dem die Historie überliefert wird, keineswegs irrelevant. Im Gegenteil: Der jeweilige Überlieferungsträger beeinflusst die ihm zu entnehmenden Erkenntnisse, wirkt durch seine spezifische Gestalt auf das Vermittelte und die Wahrnehmung und Deutung des Vermittelten durch den Interpreten.42 Für die empirische Grundlage der Studie nehmen die drei ausgewählten Romanwerke folglich nicht nur angesichts ihrer zeitlichen Entstehung eine zentrale Bedeutung ein. Unter den epischen Gattungen ist der Roman als die formenreichste und wandlungsfähigste anzusehen und wurde als Nachfolger des Epos zur literarischen Form des bürgerlichen Zeitalters schlechthin. Darin entfaltet sich eine Realität, in der Nützlichkeiten, nicht mehr Ideale, die Welt des Romans, deren 41 Peter Uwe Hohendahl, Nach der Ideologiekritik: Überlegungen zu geschichtlicher Darstellung, in: Literatur als Geschichte, 77–90. 42 Tschopp, Weber, Grundfragen, 84. Zur Beeinflussung des Lesers durch den Text in Abhängigkeit von dessen Wertvorstellungen, siehe Iser, Texts.

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Abbildung und Kritik an dessen Darstellungsabsicht prägen. Die Gestaltung eines konfliktreichen Weges, den ein Einzelner durch eine als fremd und feindlich empfundene Welt antritt, macht dies sichtbar. Dieser kann als Bewusstwerdungs- und Desillusionierungsprozess gleichermaßen verstanden werden, der von einem problematischen Individuum durchlaufen wird.43 Erst in der Epoche des Bürgertums war dieses selbst als autonom entdeckt und mit seiner ganzen Problematik und Scheinhaftigkeit im Roman abgebildet worden.44 Wichtig für den vorliegenden Untersuchungszusammenhang ist dabei die sich fortentwickelnde Perspektivik des Romans, die ihm als Medium immer neue Darstellungsmöglichkeiten erschließt.45 Europäischer Realismus und Naturalismus waren die Stile, die diese Möglichkeiten aufgriffen. Der Naturalismus, dem Sinclair nach seinem Vorbild Émile Zola zuzuordnen ist, entwickelte sich aus dem Realismus heraus bzw. in Abgrenzung dazu. Er kann in der von Arno Holz formulierten Forderung »Kunst = Natur – x«46 (dabei sei »x« so klein wie möglich zu halten) zusammengefasst werden, wobei für realistische Werke, wie diejenigen von Dickens und Raabe, analog gelten kann: »Kunst = Natur + x«. Dabei beruht der Realismus in der Darstellung weniger darauf, welche Art von Lebenswelt der Roman präsentiert, sondern vielmehr darauf, wie dies geschieht und welche Mittel er dazu nutzt.47 Die einzelnen Romane erschienen alle erst als Fortsetzungsromane in Zeitschriften, von einer weiten gesellschaftlichen Verbreitung ist also auszugehen.48 Weitere Auswahlkriterien für die Romane waren neben der Thematik die intensive, bisweilen teilhabende Recherche der Autoren, wodurch die Werke trotz ihres fiktionalen Charakters einen ähnlichen Stellenwert wie andere historische Primärquellen erhalten. Wie Brockmeier es formuliert, »(a)uch literarische Autoren versuchen Erfahrenes, Erlebtes, Vergangenes aus der Distanz gegenwärtigen Schreibens festzuhalten und zu verstehen, sie versuchen, sich ihrer Erinnerungen sprachlich zu bemächtigen.«49 Darüber hinaus muss anerkannt 43 Georg Lukács, Die Theorie des Romans: Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. München 1994, 67. 44 Ingo Meyer, Im »Banne der Wirklichkeit«?: Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolistischen Strategien. Würzburg 2009. 45 Matthias Bauer, Romantheorie und Erzählforschung: Eine Einführung. Stuttgart 2005; Edward Reed, Rebecca Jones (Hrsg.), Reasons for Realism: Selected Essays of James J. Gibson. Hillsdale 1982. 46 Arno Holz, Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze. Berlin 1891. 47 Ian P. Watt, The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson, and Fielding. London 2000. 48 Charles Dickens, Our Mutual Friend, in 19 Teilen von Mai 1864–November 1865; ­Wilhem Raabe Pfisters Mühle, in Die Grenzboten 43 (1884) 4. Quartal; Émile Zola Germinal, in Gil Blas November 1884–Februar 1885; Upton Sinclair The Jungle, wöchentlich in Appeal to Reason von Februar-November 1905. 49 Brockmeier, Erfahrene Geschichte, 41.

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werden, dass auch die Geschichtsschreibung selbst nur eine medialisierte Form der Wirklichkeitsdarstellung ist.50

1.3 Forschungsstand Die vorliegende Arbeit speist sich aus Forschungsdebatten: Umweltgeschichte ist die Geschichte der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur. So kurz und allgemein lassen sich die verschiedenen, aktuell geläufigen Definitionsversuche dieses historischen Teilbereichs zusammenfassen,51 der sich auf Grund seiner inhaltlichen Offenheit und interdisziplinären Ausrichtung jedoch gegen die Festlegung auf eine konkrete Definition zu verweigern scheint.52 Als besonders produktiv für die vorliegende Arbeit erweisen sich Verbindungen von Mikro- und Makroebene.53 Damit bietet die Umweltgeschichte ideale Voraussetzungen für transnationale Betrachtungen, wie sie die vorliegende Untersuchung anstrebt. Auch verallgemeinernde Aussagen über die Entwicklung eines bestimmten gesellschaftlichen Bewusstseins für Umweltzusammenhänge54 sowie deren ungerechte soziale Verteilung im Kontext der Industrialisierung können damit in Beziehung gesetzt werden.55 Für Deutschland war die Untersuchung der Luft- und Umweltverschmutzung in industriellen Ballungszentren ein wichtiger Meilenstein der Umweltgeschichte. Daran anknüpfend entstand in jüngerer Zeit der Forschungsstrang zu sogenannten Environmental Inequalities.56 Winiwarter / K noll verwenden für diesen umwelthistorischen Zweig den Begriff der Belastungsgeschichte.57 Zu diesem 50 Klaus Weimar, Der Text, den (Literatur-)Historiker schreiben, in: Literatur als Geschichte, 29–39, 36 f. Nach Walter Benjamin kann Geschichtsschreibung zudem keinen Anspruch auf die exakte Rekonstruktion historischer Realität erheben, sondern fungiert als Kontrollinstanz für die Erinnerungen an Vergangenes. Walter Benjamin, On the Concept of History. Gesammelte Schriften I:2. Frankfurt a. M. 1974. 51 William Beinart, Peter A. Coates, Environment and History: The Taming of Nature in the USA and South Africa. London 1995, 1. 52 Uwe Lübken, Undiszipliniert: Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte, in: H-Sozu-Kult, 14. Juli 2010, http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/forum/2010-07-001. 53 Grundlegend für das Studium des europäischen Kulturraums auf verschiedenen Ebenen ist Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II, Orig. 1949, übersetzt von Günter Seib. Frankfurt a. M. 1990. 54 Donald Worster, Dust Bowl: The Southern Plains in the 1930s. New York 1979. 55 Franz-Josef Brüggemeier, Blauer Himmel über der Ruhr: Geschichte der Umwelt im Ruhrgebiet, 1840–1990. Essen 1992. 56 Andrew Hurley, Environmental Inequalities: Class, Race, and Industrial Pollution in Gary, Indiana, 1945–1980. Chapel Hill 1995; Craig Colten, Creating a Toxic Landscape. Chemical Waste Disposal Policy and Practice, 1900–1960, in: Environmental History Review 18/1, 1994, 85–119. 57 Winiwarter, Knoll, Umweltgeschichte, 60.

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Bereich trägt das vorliegende Buch in besonderer Weise bei, indem es zeitgenössische Romane als dokumentarisch-narrative Quellen von Umweltbelastungen und deren Wahrnehmung liest. Damit trifft das Buch auf eine Forschungslücke der deutschsprachigen Umweltgeschichte: Während – ausgehend von der Entstehung der Civil Rights Movements – im amerikanischen Kontext die Verteilung von Verschmutzungslasten seit Mitte der 1990er Jahre Eingang in die Debatte gefunden hat, werden Fragen von (Un-)Gerechtigkeit im europäischen Fall vor allem sozial verhandelt.58 Die Tatsache, dass auch eine intakte Lebensumwelt einen sozialen Wert darstellt, ist lange vernachlässigt worden. Deshalb spielte in der europäischen Forschungslandschaft das Konzept der Umweltgerechtigkeit auch bis in die jüngste Zeit keine Rolle.59 Dies entspricht einerseits dem historischen Sachverhalt, dass in Europa die aus den Konzepten von Class and Race entstehenden Probleme, bisher nicht derartig eng und explosiv wie in Nordamerika miteinander verknüpft waren. Anderseits rührt es an Probleme der Übersetzbarkeit von Begriffen in verschiedene linguistische Sprachen60 und der Übertragbarkeit von Konzepten der Gegenwart auf die historische Zeit. Hier steht mit dem Konzept der Umweltgerechtigkeit eine Perspektive auf die sozial ungleiche Verteilung von Belastungen im Vordergrund, die sich vor allem aus dem US -amerikanischen Environmental Movement mit ethnischer Konnotation entwickelt hat.61 Um das Konzept der Umweltgerechtigkeit stärker in die umwelthistorische Forschung einzubetten, schlug bereits vor fast zwei Jahrzehnten Joel Tarr vor, ihre Fragestellung über die Benachteiligung von (ethni­schen) Minderheiten auf gesellschaftliche Unterschiede wie die Arbeiterproblematik auszudehnen.62 Ebenso lange plädiert Environmental Justice Advokatin Dorceta Taylor ausdrücklich dafür, auch frühere Erscheinungsformen in den Blick zu nehmen, auch wenn diese nicht explizit als solche bezeichnet wurden.63 Diese Forschungsaufforderungen entsprechen jüngeren Forderungen nach einer stärke 58 Stephen Mosley, Geneviève Massard-Guilbaud (Hrsg.), Common Ground: Integrating the Social and Environmental History. Newcastle 2011. 59 Geneviève Massard-Guilbaud, Peter Thorsheim, Cities, Environments, and European History, in Journal of Urban History 33, 2007, 691–701, 699. 60 Für Deutschland: Michael Kloepfer, Environmental Justice und geographische Umweltgerechtigkeit, in DVBI 11, 2000, 750–754. Für Großbritannien: Julian Aygeman und Bob Evans, ›Just Sutainability‹: The Emerging Discourse of Environmental Justice in Britain, in The Geographical Journal 170/2, 2004, 155–164. Für Frankreich: L. Laigle, V. Oehler, Les enjoux soicaux et environmenteaux du développement urbain: la question des inégalités écologiques, Rapport final. Paris 2004. 61 Juan Martinez Alier, The Environmentalism of the Poor. A Study of Ecological Conflicts and Valuation. Northhampton 2002; Schlosberg, Defining Environmental Justice. 62 Joel A. Tarr, Urban History and Environmental History in the United States: Complementary and Overlapping Fields, in: Christoph Bernhardt (Hrsg.), Environmental Problems in European Cities of the 19th and 20th Century. New York, München 2001, 25–39. 63 Dorceta Taylor, Environmental Justice Paradigm.

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ren Verbindung von Sozialgeschichte bzw. Sozialtheorie und Umweltgeschichte, um soziale Ungerechtigkeit und Umweltbeeinträchtigungen in ihren Wechselwirkungen besser fassen zu können.64 Hier setzt die vorliegende Studie an. Eines der ersten Werke, das sich mit der historischen Perspektive umweltbedingter Ungerechtigkeit beschäftigt, ist Forcing the Spring (1993) von Robert Gottlieb. In einigen Abschnitten seines Werkes behandelt er Arbeitsplatzunfälle, etwa die sogenannte Gaultey Bridge Episode, die während der Great Depression den Tod hunderter schwarzer wie weißer Grubenarbeiter versachte.65 Dass gerade Minenarbeiter ein klassisches Beispiel für hohe Umweltrisiken am Arbeits­ platz darstellen, zeigten für Kanada jüngst Arn Keeling und John Sandlos auf.66 Industrieunfälle, Arbeitsplatzunfälle und öffentliche Verschmutzungsproblematik boten und bieten nach wie vor eine Fülle von Daten, um Fragen der Umweltgerechtigkeit unter der Berücksichtigung von Gesundheitsrisiken zu untersuchen. Im Jahre 1995 veröffentlichte Andrew Hurley mit seiner Monographie Environmental Inequalities: Class, Race, and Industrial Pollution in Gary, Indiana, 1945–1980 eine Modellstudie, die wichtige Kernpunkte der zeitgenössischen Debatte von Umwelt- und Sozialgeschichte aufgriff. Er untersuchte Umweltgerechtigkeit im industriellen Kontext, Verschmutzung und industrielle Verschmutzung sowie deren Auswirkungen auf die Arbeiter und deren unmittelbare Lebensumwelt. Hurely argumentiert darin, dass industrielle Kapitalisten und wohlhabende Besitzeigentümer einen entscheidenden Vorteil hätten, die Konturen des ökologischen Wandels zu formen.67 Auf Basis dieser Studien kristallisierten sich relativ bald urbane und industrielle Regionen als die wesentlichen Untersuchungsbereiche und neben Gesundheitsrisiken auch die Frage nach ökonomischer Benachteiligung als zentrale Themenfelder für Umweltgerechtigkeitsforschung heraus.68 64 Sverker Sörlin, Paul Warde, The Problem of the Problem of Environmental History: A Re-Reading of the Field, in Environmental History 12/, 2007, 107–130; Mosley, Common Ground. 65 Robert Gottlieb, Forcing the Spring: The Transformation of the American Environmental Movement. Washington, DC 2005. 66 Arn Keeling, John Sandlos, Environmental Justice Goes Underground? Historical Notes from Canada’s Northern Mining Frontier, in Environmental Justice 2/3, 2009, 117–125. 67 Hurley, Environmental Inequalities. 68 R. Gregory Roberts, Environmental Justice and Community Empowerment: Learning from the Civil Rights Movement, in American University Law Review 48, 1999, 229–259. Brett M. Baden, Douglas S. Noonan, Rama Mohana R. Turaga, Scales of Justice: Is There a Geographic Bias in Environmental Equity Analysis?, in Journal of Environmental Planning & Management 50/2, 2007, 163–185. Paul Mohai, David Pellow, J. Timmons Roberts, Environmental Justice, in Annual Review of Environment & Resources 34/1, 2009, 405–430. Gordon Walker, Environmental Justice, Impact Assessment and the Politics of Knowledge: The Implications of Assessing the Social Distribution of Environmental Outcomes, in Environmental Impact Assessment Review 30/5, 2010, 312–318.

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Weitere Grundlagenforschung betrieb Dorceta Taylor, die 2009 das Verhältnis von Stadtbewohnern zu ihrer Umwelt in einem zeitlichen Querschnitt seit dem 17. Jahrhundert für die amerikanische Urbanisierung untersucht hat. Dabei zeigt sie, wie eng soziale Ungerechtigkeiten mit den benachbarten Fragen von Gesundheit, Sicherheit und Landnutzung verwoben sind und gibt zudem wertvolle Hinweise darauf, in welchen Zusammenhang dies mit der Entwicklung von Umweltbewegungen zu setzen ist.69 Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Chad Montrie in seiner 2011 erschienenen Überblicksstudie A People’s History of Environmentalism in the United States, die Umwelt- und Arbeitergeschichte anhand verschiedener Fallbeispiele zusammenführt. Darin definiert Montrie Environmentalism als einen basisdemokratischen Akt der einfachen Leute zur Verteidigung ihrer Lebensräume.70 Diese beiden Überblickswerke folgen auf Sylvia Hood Washingtons Packing Them In aus dem Jahr 2005, das die historischen und philosophischen Grundlagen von Umweltgerechtigkeit und Eco-racism speziell für das industrielle Chicago ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht. Darin stellt sie nicht nur die negativen Umwelteinflüsse auf bestimmte Gegenden heraus, sondern setzt diese zudem in den Kontext moderner Umweltbewegungen.71 Im selben Jahr vollzog auch Harold Platt in seinem Buch über die Umweltveränderungen und Umweltformen der sogenannten Shock Cities Manchester und Chicago die Entstehung des Environmental Justice Movements in Chicago nach, das er vor allem auf die Reforminitiativen von Jane Addams zurückführt. Hier wird besonders das Paradox des Fortschrittes während der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts deutlich. Das Versprechen, die Lebensqualität der Menschen durch industrielles Wachstum zu verbessern, wurde nicht nur gegenüber großen Teilen der Bevölkerung nicht eingelöst, sondern außerdem von den beteiligten Autoritäten subversiv korrumpiert.72 Für die europäische Umweltgeschichte haben Genviève Massard-Guilbaud und Richard Rodger in ihrem Sammelband Environmental and Social Justice in the City: Historical Perspectives 2011 eine Einführung in diese Wechselwirkung vorgelegt. Elf Fallstudien geben einen Überblick über zentrale Themenfelder urbaner Umweltgerechtigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Laut MassardGuilbaud und Rodger bestehe der besondere Wert des Konzepts für den Historiker in der Möglichkeit, eine perspektivische Brücke zwischen der sozialen und ökologischen Dimension gesellschaftlicher Ungleichheiten zu schlagen. Es 69 Taylor, American Cities. 70 Chad Montrie, A People’s History of Environmentalism in the United States. London 2011. 71 Sylvia Hood Washington, Packing Them In: An Archaeology of Environmental Racism in Chicago, 1865–1954. Lanham 2005. 72 Platt, Shock Cities.

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handele sich hierbei nämlich um eine künstliche Trennung, die ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Siegeszug der organisierten Umweltbewegung an Schärfe gewonnen habe.73 Die Relevanz der Umweltgerechtigkeits­ forschung hatte zudem bereits Martin Melosi in seinem Aufsatz »Environmental Justice, Eco-racism and Environmental History« im Jahr 1995 aufgezeigt.74 Er weist darauf hin, dass sich diejenigen Gruppen, denen es nicht gelänge, entsprechende Bedingungen zu formulieren (z. B. Afro-Amerikaner und Weiße aus armen Verhältnissen), konsequent die Hauptlast industrieller Verschmutzung in ihren vielfältigen Ausformungen tragen müssten, von schmutziger Luft, fau­ ligem Wasser bis hin zu giftigen Abfällen. Im Hinblick auf mangelnde politische Partizipationsfähigkeit benachteiligter Gruppen regt auch Michael Egan an, die Beziehung zwischen Umweltgerechtigkeit und Geschichtswissenschaft zu überdenken. Dabei stellt er den gegenseitigen Mehrwert für Geschichte und Environmental Justice sowohl aus akademischer als auch aktivistischer Perspektive in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen.75 Die Forderung, Umweltgerechtigkeit speziell in den deutschen historischen Diskurs einzubeziehen, erhebt Richard Hölzl in einem Blog-Beitrag der Kritischen Geschichte,76 wobei er hier unterstreicht, wie eng sozialkritische Fragestellungen mit Umweltbedingungen verwoben sind. Die Frage, wie sich die abstrakte Idee der Ungerechtigkeit konkret ausprägte und welche sozialen Handlungsfelder daraus entstanden, ist für Europa erst rudimentär untersucht. Als wichtigste Beiträge gelten hier die politik-ökonomischen Studien von Joan Martinez-Alier und Ramachandra Guha, die sich mit Umweltlasten in ihrer Verteilung sowohl historisch als auch zeitgenössisch beschäftigen.77 Aber auch Naomi Williams Studie zur Kindersterblichkeit im englischen Sheffield des 19. Jahrhunderts ist zu erwähnen, in der aufgezeigt wird, wie abhängig die Sterblichkeit von sozialem Status, Jahreszeit und Flussnähe ist.78 Implizit wird für dieselbe Zeit von Barry Doyle für die Beseitigung und Vermeidung von industrieller Verschmutzung im britischen Middlesbrough die

73 Geneviève Massard-Guilbaud, Richard Rodger, Reconsiderung Justice in Past Cities: When Environmental and Social Dimensions Meet, in: Dies. (Hrsg.), Environmental and Social Justice in the City: Historical Perspectives. Cambridge 2011, 1–42. 74 Melosi, Environmental Justice. 75 Michael Egan, The Relevance of History to Environmental Justice, in Environmental Justice 2/2, 2009, 59–61. 76 Richard Hölzl, Wer zahlt die Zeche? Debatten um Umweltgerechtigkeit, in: wordpress, Kritische Geschichte. Notizen zur historischen Analyse, 19. Januar 2010, http://kritische geschichte.wordpress.com/2010/01/19/wer-zahlt-die-zeche-debatten-um-umweltgerechtigkeit/. 77 Juan Martinez Alier, The Environmentalism of the Poor. A Study of Ecological Conflicts and Valuation. Northhampton 2002. 78 Naomi Williams, Death in Its Season: Class, Environment and the Mortality of Infants in Nineteenth-Century Sheffield, in: Social History of Medicine 5/1, 1992, 71–94.

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Frage nach Gerechtigkeit gestellt.79 Ohne das Thema detailliert auszuarbeiten, greift Jean-Baptiste Fressoz in einem Aufsatz über die Ausbildung einer französischen Risikogesellschaft im 19. Jahrhundert die klassenspezifische Belastungsverteilung von chemischen Substanzen auf, die im Rahmen medizinischer Forschung überwiegend an armen Leuten getestet wurden.80 Ebenso deutlich sind auch die deutschsprachigen Publikationen, die sich mit ungerecht verteilten Auswirkungen von Umweltrisiken an (vor allem städtischer) Hygieneforschung orientiert. So etwa Heide Berndts Aufsatz zur Hygienebewegung als Teil der Stadtsoziologie81 oder Anne Hardys Untersuchung des Einflusses von medizinischen Theorien auf die Hygienebewegung.82 Auch Marianne Rodenstein greift in ihrem Aufsatz über die Bestrebungen eines verbesserten Stadtklimas das Thema ungerechte Verteilung auf.83 Im Kontext industrieller Verschmutzung und deren Auswirkungen auf die Arbeiterschaft ist vor allem Ulrike Gilhaus’ ­Studie Schmerzenskinder zu erwähnen, in der sie soziale Protestbewegungen in Westfalen nachzeichnet.84 Spezifisch verwendet wird der Begriff der Umweltgerechtigkeit zuerst in einem überwiegend soziologisch und human-ökologisch ausgerichteten Sammelband, herausgegeben von Andreas Mielck und Gabriele Bolte, der soziale Verteilung von Umweltbelastungen in Deutschland in den Mittelpunkt stellt und der in einigen Beiträgen auch zeithistorische Entwicklungen mit einbezieht.85 Aus umwelthistorischer Perspektive trägt die vorliegende Arbeit dazu bei, Aspekte der Umweltgerechtigkeit in europäischer Perspektive weiter in den Blick der historischen Forschung zu rücken. Im Mittelpunkt steht dabei das wachsende individuelle Bewusstsein für die eigene Lebensumwelt im Kontext industrieller und urbaner Verschmutzung anhand ausgewählter Fallbeispiele. Dabei wird der Einfluss von Schriftstellern als Personen öffentlichen Interesses und

79 Barry Doyle, Managing and Contesting Industrial Pollution in Middlesbrough, ­1880–1940, in: Northern History 47/1, 2010, 135–154. 80 Jean-Baptiste Fressoz, L’apocalypse joyeuse: une histoire du risque technologique. Paris 2012. 81 Heide Berndt, Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts als vergessenes Thema von Stadt- und Architektursoziologie, in: Die Alte Stadt 14, 1987, 140–163. 82 Anne I. Hardy, Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit: medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts, in: Kultur der Medizin 17. Frankfurt a. M. 2005. 83 Marianne Rodenstein, ›Mehr Licht, mehr Luft‹ – Wissenschaftliche Hygiene und Stadtentwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 15/3, 1992, 151–162. 84 Ulrike Gilhaus, Schmerzenskinder der Industrie: Umweltverschmutzung, Umweltpolitik und sozialer Protest im Industriezeitalter in Westfalen 1845–1914. Paderborn 1995. 85 Andreas Mielck, Gabriele Bolte, Die soziale Verteilung von Umweltbelastungen: Neue Impulse für Public Health Forschung und Praxis, in: Gabriele Bolte (Hrsg.), Umweltgerechtigkeit: die soziale Verteilung von Umweltbelastungen. Weinheim 2004, 7–28.

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der ihrer Gesellschaftsporträts an den einsetzenden Diskursen um Umwelt bzw. Umweltgerechtigkeit besonders hervorgehoben. Die vorliegende Studie verortet ihr Erkenntnisinteresse jedoch nicht allein im Forschungsbereich der Umweltgeschichte, sondern auch in der ökologisch orientierten Literatur- und Kulturwissenschaft – im anglo-amerikanischen ­Bereich meist als Ecocriticism bezeichnet. Dieser verbreitete sich, wie die Umweltgeschichte, von den Vereinigten Staaten und den Green Studies in Großbritannien.86 Wie die Umweltgeschichte, ist ihre literaturwissenschaftliche Schwesterdisziplin thematisch breitgefächert und als Teil der Environmental Humanities ebenso offen für interdisziplinäre Zusammenarbeit. Damit möchte die vorliegende Arbeit einen Beitrag zu den in den letzten Jahren stark angewachsenen internationalen Environmental Humanities87 leisten und diese auch für den deutschsprachigen Raum stärker zugänglich machen. Denn trotz einer von Jost Hermand Anfang der 1980er beschworenen »Avant- oder Biogard«88 ist auch der Ecocriticism im deutschsprachigen Raum und vor allem in der Germanistik noch immer ein unterrepräsentiertes Forschungsfeld.89 In seinem Band Literatur und Ökologie schreibt Axel Goodbody einleitend, dass die von der Literatur zu erbringende Leistung darin bestehe, Haltung und Verhaltensweisen, auf denen die ökologische Krise unserer Zeit beruht, bewusst zu machen. Die literarisch verfasste Beziehung zwischen Mensch und Umwelt solle kritisch beleuchtet werden, um Entwürfe alternativer Wege im Umgang mit Umwelt und Natur zur Kenntnis zu nehmen. Fruchtbar sei es, gerade diejenigen Werke zu betrachten, die über diese menschliche Beziehung zur Natur Aufschluss geben. Diese Mensch-Umweltbeziehung verbinde in vielschichtiger Weise die ökologischen, politisch-sozialen und existentiellen Sphären, erkunde die Beziehung zwischen sozialer und natürlicher Umwelt sowie die seelischen Konsequenzen der Umweltzerstörung.90 Bisher hat sich der Ecocriticisim überwiegend auf die Texte des 20. Jahrhunderts konzentriert, aber auch frühneuzeitliche Texte werden verstärkt in 86 Greg Garrard (Hrsg.), Oxford Handbook of Ecocriticism. Oxford 2016. Laurence Coupe (Hrsg.), The Green Studies Reader: from Romanticism to Ecocriticism. London 2000. Cheryll Glotfelty, Harold Fromm (Hrsg.), The Ecocriticism Reader: Landmarks in Literary Ecology. Athens 1996. 87 Hannes Bergthaller u. a., Mapping Common Ground. Ecocriticism, Environmental History, and the Environmental Humanities, in: Environmental Humanities 5, 2014, 261–276. 88 Jost Hermand, Ökologische Dringlichkeitspostulate in den Kultur- und Geisteswissenschaften. Leipzig 1997, 17. 89 Axel Goodbody, German Ecocriticism, in: Greg Garrard (Hrsg.), Oxford Handbook of Ecocriticism. Oxford 2016, 457–459. Die wichtigsten deutschen Wissenschaftler die sich mit einer ökologisch orientierten Literaturwissenschaft befassen sind Amerikanisten: Catrin Gersdorf, Sylvia Mayer (Hrsg.), Natur, Kultur, Text: Beiträge zu Ökologie und Literaturwissenschaft, Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Heidelberg 2005. 90 Goodbody, Literatur und Ökologie.

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der Forschung behandelt.91 Diese Tatsache wirft die Frage auf, weshalb bisher nur wenige Texte der europäischen Romantik und des amerikanischen Nature Writing Eingang in die geisteswissenschaftliche Umweltforschung gefunden haben. Immerhin entstanden diese Texte zu einer Zeit, in der sich das Bewusstsein für eine globale ökologische Krise bereits herauskristallisierte. Wie Sylvia Mayer mit ihrer Studie zur neuenglischen Regionalliteratur zeigt, kann durch das Heranziehen einer naturethischen werttheoretischen Typologie, auch in Bezug zu früheren Epochen, methodisch gewinnbringend gearbeitet werden.92 Im Sammelband Natur – Kultur – Text stellt Meyer zusammen mit Catrin Gersdorf die heterogenen Untersuchungsansätze einer ökologisch orientierten Literaturwissenschaft vor. Die Aufgabe einer solchen Betrachtung sei es in erster Linie, »das Verhältnis historisch und kulturell differenter Gesellschaften und der sie konstituierenden Individuen und sozialen Gruppen zu ihren natürlichen Seinsbedingungen etwa als Erzählung, Gedicht oder Drama zu inszenieren«.93 Zudem benennen sie ein weiteres wichtiges Arbeitsfeld, »jenseits von der Arbeit am literarischen Text, das heißt Erarbeitung von ökologisch relevanten Bedeutungsgehalten und der Bestimmung der dazu verwendeten literarischen Verfahren.«94 Kulturökologisch fundierte literaturtheoretische Ansätze sollen demnach, über die inhaltliche Ebene hinaus, einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um Eigenart und Stellenwert von Literatur innerhalb der Gesellschaft bieten. Gersdorf / Mayer sehen die Aufgabe dieses zweiten Untersuchungsfeldes einer ökologisch orientierten Literaturwissenschaft vor allem darin, »die funktionale Bedeutung des literarischen Diskurses im Allgemeinen sowie im Besonderen einzelner literarischer Texte für das ›Überleben‹ menschlicher Gesellschaften innerhalb von lokal, regional, national wie global definierten, natürlichen wie kulturellen Umwelten zu bestimmen«.95 Dabei beziehen sich die Wissenschaftlerinnen auf den Amerikanisten Hubert Zapf, der in seinem Ansatz ein Funktionsmodell für Literatur als kulturelle Ökologie entwirft, wonach literarische Texte als »metaphorische Ökosysteme« fungieren.96 Ihm geht es nicht um eine inhaltliche Untersuchung der Literatur auf Umweltthemen, sondern um Analogien zwischen ökologischen Prozessen und den spezifischen Strukturen und kulturellen Wirkungsweisen der literarischen 91 Einschlägig, Simon C. Estok, Ecocriticism and Shakespeare: Reading Ecophobia. New York 2011; Christopher Hitt, Ecocriticism and the Long Eighteenth Century, in: College Literature 31, 2004, 123–147; Jeffrey S. Theis, Early Modern Ecostudies: From the Florentine Codex to Shakespeare, in: Renaissance Quarterly 62/3, 2009, 1021–1023; David Mazel, A Century of Early Ecocriticism. Athens 2001. 92 Sylvia Mayer, Naturethik und Neuengland-Regionalliteratur: Harriet Beecher Stowe, Rose Terry Cooke, Sarah Orne Jewett, Mary E. Wilkins Freeman. Heidelberg 2004. 93 Gersdorf / Mayer, Natur, Kultur, Text, 12. 94 Ebd. 20.  95 Ebd. 8.  96 Zapf, Literatur als kulturelle Ökologie, 6.

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Imagination. Dazu stellt er ein triadisches Funktionsmodell auf, das jedem Text inhärent sei: Literatur als kulturkritischer Metadiskurs, imaginativer Gegendiskurs und reintegrativer Interdiskurs. Literatur auch als ökologische Kraft zu verstehen, macht deutlich, dass innerhalb der verschiedenen Kulturen darauf hingewirkt wird, die Basisdifferenz der Kultur-Natur-Beziehung durch ein Bewusstsein ihrer wechselseitigen Bedingtheit und gegenseitigen Abhängigkeit anzupassen.97 Ähnlich wie in den Geschichtswissenschaften, sind Fragen von Umweltgerechtigkeit erst einige Jahre nach der Veröffentlichung des politisch grundlegenden Brundtland-Reports ins Blickfeld des Ecocritism gerückt. Laut Lawrence Buell handelt es sich bei dieser Frage um eine der größten Herausforderungen des Ecocriticism am Beginn des 21. Jahrhunderts, wobei er eine zeitliche, thematische und methodische Erweiterung des Betrachtungshorizonts fordert, nämlich auf literarische Texte, die bereits vor Rachel Carson entstanden sind (diese Forderung erfüllt Sinclairs The Jungle), aber auch solche, in denen die Komponente der Benachteiligung ethnischer Minderheiten keine Rolle spielt (wie Charles D ­ ickens’ Our Mutual Friend).98 Auf Grund dieser Forderungen hat sich der Bereich des Environmental Justice Ecocriticism etabliert. Er nimmt Bezug auf Texte, die Fragen sozialer Ungerechtigkeit als Umweltfragen neu denken, die »attempt to redress the disproportionate incidence of environmental contamination in communities of the poor […] to secure for those affected the right to live unthreatened by the risks posed by environmental degradation and contamination, and to afford equal access to natural resources that sustain life and culture.«99

Die in dieser Arbeit analysierten Texte sind in diese Zusammenhänge einzuordnen. Den Themen Verschmutzung und Sanitätsreformen kommt eine besondere Bedeutung zu. Lawrence Buell summiert diese unter dem Rubrum T ­ oxic Discourse. Er sieht in den Hygienediskursen des 19. Jahrhunderts wichtige Ursprünge ökologischen Denkens.100 Jeffrey Myers integriert das Konzept der White Race in historische Spannungsfelder der Umweltgerechtigkeit und löst somit die vorherrschende Fokussierung von Umweltgerechtigkeit auf ethnische Minderheiten auf. Er hat damit das Konzept auch literaturwissenschaftlich 97 Hubert Zapf, Kulturökologie und Literatur: Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft. Heidelberg 2008. 98 Lawrence Buell, The Future of Environmental Criticism. Cambridge, MA . 2005, 113; 119 ff. Solange es, so Buell, dem Ecocriticism nicht gelänge anzusprechen was Natur für diejenigen Rezipienten bedeutet, für die Naturschutz nicht das wichtigste Umweltthema ist und für die Nature Writing, Naturpoesie und wilderness-Narrativ nicht die bestechendsten Themen der environmental imagination sind. 99 Joni Adamson, Mei Mei Evans, Rachel Stein, The Environmental Justice Reader: Politics, Poetics & Pedagogy. Tuscon 2002, 4. 100 Lawrence Buell, Writing for an Endangered World. Literature, Culture, and Environment in the U. S. and Beyond. Cambridge, MA 2001.

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übertragbar gemacht.101 Die naturethische Situierung der Texte in Umwelt- und Umweltschutzdiskurse des beginnenden 19. Jahrhunderts wirft nicht nur auf die einzelnen Texte, die in dieser Arbeit untersucht werden, sondern auch auf den gesamten Textkorpus der untersuchten AutorInnen neue Perspektiven.102 Die vorliegende Studie erweitert durch die Beschäftigung mit Texten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Untersuchungszeitraum mit Fokus auf internationale Perspektiven. Dabei gibt die Studie Aufschluss über europäische Umweltvorstellungen und die diskursive Konstruktion von Umwelt und Umweltgerechtigkeit, die wiederum zentrale Faktoren in der Formulierung und somit Konstruktion individuellen wie nationalen Selbstverständnisses darstellen.103 Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt zur Environmental Humanities-Forschung im 19. Jahrhundert ist die technologiegetriebene naturwissenschaftliche Revolution. Charles Dickens’ intensive Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit, vor allem mit naturhistorischen Studien und Charles Darwins’ Origin of Species (1859) sowie deren Verarbeitung in Our Mutual Friend und anderen Werken sind bereits mehrfach daraufhin untersucht worden. Auf der Basis dieser Studien, wird ihm etwa von John Parham ein besonderes Verständnis für biologische Zusammenhänge attestiert, das schließlich zu einem proto-ökologischen Denken geführt habe.104 Eine Erweiterung dieses Verständnisses zu einer Beschäftigung mit Umweltgerechtigkeitsfragen kann jedoch nicht alleine auf der Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen begründet werden. Die Verbindung von sozialen und ökologischnaturwissenschaftlichen Problemfeldern wird erst durch die Anerkennung persönlicher prägender Erfahrungen hinreichend erklärbar. Auf Grund seiner Darstellung einer industriellen Umweltverschmutzung wurde auch Wilhelm Raabes Pfisters Mühle bereits mehrfach in germanistischen ecokritischen Studien untersucht. Als besonders einflussreich sind hier die Arbeiten von Berbeli Wanning zur Fiktionalität des Raabeschen Naturbegriffes105 sowie die von Axel Goodbody mit seiner Einordnung Raabes in den ecokritischen Kanon deutschsprachiger Literatur zu nennen.106 Wanning kommt in einer ihrer Studien zu dem Schluss, Raabe weise der Natur keine eigenständige Existenz mehr zu, sondern beschreibe sie als kulturell vermittelten Erfahrungs 101 Myers, Converging Stories. 102 Mayer, Naturethik und Neuengland, 8. 103 Lawrence Buell, The Environmental Imagination: Thoreau, Nature Writing, and the Formation of American Culture. Cambridge, MA , 1995. 104 John Parham, Dickens in the City: Science, Technology, Ecology in the Novels of Charles Dickens, in: 19IS 10, 2010, 1–23. 105 Wanning, Die Fiktionalität der Natur. 106 Ebd.; Axel Goodbody, From Raabe to Amery: German Literature in Ecocritical Perspective, in: Steve Giles, Peter Graves (Hrsg.), From Classical Shades to Vickers Victorious: Shifting Perspectives in British German Studies. Bern 1999, 77–96.

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bereich, der sich narrativ über traditionelle Erzählverfahren realisiere. Sabine Wilke setzt mit ihrer ökologischen, an Zapf orientierten, Interpretation der semantischen Kolonisation des Raabe’schen Textes durch die Pilzwucherungen neue Akzente in der germanistischen Forschung. Für Upton Sinclairs The Jungle hat aus ecokritischer Perspektive bisher nur Steven Rosendale geschrieben. In Search of Left Ecology’s Usable Past: The Jungle, Social Change, and the Class Character of Environmental Impairment, analysiert er die Landschaftsdarstellung in Upton Sinclairs Roman als Symbol für den jeweiligen Klassenstatus.107 Der Aufsatz »The American West in Red and Green: the Forgotten Literary History of Social Justice Environmentalism« stellt den Roman in den Kontext amerikanischer Umwelt-Protestschriftstellerei und des Nature Writing.108 Ansonsten wird The Jungle jedoch sehr häufig referenziert, etwa zum Thema Mensch-Tier-Beziehung oder soziale Gerechtigkeit. So auch von Richard Newman in seinem Beitrag zu Histories of the Dustheap: Waste, Material Cultures, Social Justice, oder von Lawrence Buell in seinem allgemeinen Überblick über die neueren Herausforderungen des Ecocriticism.109 Das zentrale Anliegen der vorliegenden Studie ist eine geschichtswissenschaft­ liche Untersuchung des ungerechten Verteilungsverhältnisses von Umweltrisiken und deren gesellschaftlicher und sozialer Auswirkungen. Daher bezieht sich die literarische Analyse der Texte vornehmlich auf die inhaltliche Ebene der jeweiligen Romane. Eine Einordnung in das Forschungsfeld des Ecocriticism ist relevant, da durch die umwelthistorische Kontextualisierung der Werke ein Beitrag zu deren Literaturgeschichte geleistet wird. Außerdem soll mit dem Blick auf Romane, die dem heutigen Verständnis von ökologisch orientierter Literatur nicht auf den ersten Blick entsprechen, eine Anregung geschaffen werden, unter dem Ansatz des Environmental Justice Ecocriticism und Toxic Discourse auch Werke der Sozialliteratur, insbesondere des 19. Jahrhunderts, einer erweiterten Lesart zu unterziehen. Die Verbindung von Umwelt- und Umweltliteraturgeschichte ergänzt das Konzept der Umweltgerechtigkeit in seiner historischen Dimension und fokussiert auf die damit verbundenen großen Probleme des 20. Jahrhunderts. Mit Hilfe der für die vorliegende Studie ausgewählten Fallstudien werden wichtige Untersuchungsfelder abgesteckt und eine Anfangsanalyse 107 Steven Rosendale, In Search of Left Ecology’s Usable Past: The Jungle, Social Change, and the Class Character of Environmental Impairment, in: Ders. (Hrsg.), The Greening of Literary Scholarship: Literature, Theory, and the Environment. Iowa City 2002, 59–76. 108 Steven Rosendale, The American West in Red and Green: The Forgotten Literary ­History of Social Justice Environmentalism, in: Reginald Dyck, Cheli Ruetter (Hrsg.), Crisscrossing Borders in Literature of the American West. New York 2009, 135–152. 109 Richard Newman, Darker Shades of Green: Love Canal, Toxic Autobiography, and American Environmental Writing, in: Stephanie Foote, Elisabeth Mazzolini (Hrsg.), Histories of the Dustheap: Waste, Material Cultures, Social Justice. Boston 2012, 21–48; Buell, Writing for an Endangered World.

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der größeren Zusammenhänge angestrebt. Die Arbeit bietet einen neuen Blick auf Alterforschtes, in dem bisher die Umweltperspektive fehlt. Diese Perspektive steht hier im Mittelpunkt.

1.4 Aufbau In ihrem Aufbau folgt die Arbeit dem Verlauf der Industrialisierung von ihrer Wiege in England nach Deutschland und schließlich über den Atlantik in die USA . Für jedes Land wird exemplarisch ein Roman als Fallstudie und Referenzpunkt herangezogen. Dieser wird zunächst einer literarischen Analyse unter­ zogen, die sich mit den inhaltlichen Beiträgen des Textes gemäß der Frage­stellung beschäftigt. Dabei wird besonderer Wert auf die Darstellung spezifischer Ausformungen von Umweltgerechtigkeit gelegt, wobei der inhaltlichen Bedeutungsebene mehr Beachtung geschenkt wird als der formalen Gestaltungsebene. Im zweiten Schritt stellt sie den jeweiligen Roman in Zusammenschau mit seinem historischen Kontext als Teil eines kulturellen historischen Gefüges im Sinne des New Historicism. Dabei soll erarbeitet werden, welche Rolle der Roman innerhalb seiner Entstehungsgesellschaft einnimmt, inwiefern er die historischen Umweltverhältnisse widerspiegelt, hinterfragt und verändern soll. Auf Grund des historiographischen Erkenntnisinteresses untersucht die Arbeit im dritten Schritt, mit welchen individuellen Voraussetzungen der jeweilige Schriftsteller an das Thema heranging, denn die Romane stellen eine Verarbeitung der individuellen Wahrnehmung ihrer Schöpfer dar. Worauf gründete sich also die Sensibilisierung für das Thema, unter welchen individuellen Voraussetzungen entwickelte sich ein Bewusstsein für Zusammenhänge von Umwelt und sozialer Frage? Die ersten beiden Hauptkapitel widmen sich Charles Dickens’ Our Mutual Friend aus dem Jahr 1865. Mit der Übertragung einer ökologisch geprägten Metaphorik wird der Roman dahingehend befragt, welche Ursachen, aber auch welche gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen umweltungerechter Zustände in urbanen Lebenswelten als problematisch identifiziert wurden und welche Strategien zu deren Beseitigung das Werk offeriert. Der urbanen Lebensumwelt kommt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts im europäischen Raum besonderer Wert zu, da sich durch rapides Bevölkerungswachstum und Urbanisierung immer mehr Menschen in städtischen Zentren ballten, weshalb sich deren infrastrukturelle und soziale Umweltprobleme vervielfachten. Welche Strategien etwa zur Linderung von Armut oder der Beseitigung von innerstädtischer Verschmutzung die viktorianische Gesellschaft Londons im zeitlichen Kontext des Entstehens und Erscheinens des Romans entwickelte, ist der zweite Untersuchungsgegenstand dieses Fallbeispiels. Zudem wird hier deutlich, mit welchen Anpassungsschwierigkeiten an die rapide Urbanisierung sich die Londoner kon-

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frontiert sahen. Der Blick auf Charles Dickens’ Interesse am gesellschaftlichen und hygienischen Verfall seiner Heimatstadt sowie dessen aktiver Beteiligung an deren Verhinderung gibt schließlich Aufschluss darüber, unter welchen individuellen Voraussetzungen sich ein Bewusstsein für Zusammenhänge von Umwelt- und sozialen Fragen entwickelte. Im Mittelpunkt des dritten und vierten Hauptkapitels steht Wilhelm Raabes Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft. In der Analyse des 1883 erschienenen Romans wird untersucht, welche Herausforderungen die zunehmende Industrialisierung an den ländlichen Raum des Deutschen Kaiserreiches stellte. Auf Grund seiner überwiegend und lange agrarisch geprägten Tradition steht die Entwicklung dieses Gebiets stellvertretend für den größeren europäischen Kontext. Dabei wird vor allem die Ungerechtigkeit hinterfragt, die für die Menschen mit den ökologischen Konsequenzen und sozialen Auswirkungen sowie der industriellen Verschmutzung auf dem Land einherging. Hier werden einerseits die rechtlichen Schwierigkeiten für einen Umweltprozess beleuchtet und andererseits unter Bezugnahme auf die Zeugenaussagen weitere Hinweise auf eine gesellschaftliche Wahrnehmung von umweltungerechten Zuständen gewonnen. Abschließend wird in der Zusammenschau der Rezeptionsgeschichte des Werkes sowie der Beleuchtung beteiligter Individuen das Thema der gesellschaftlichen Wahrnehmung weiter vertieft. Die Motivation für individuelle Beschäftigung mit dem Thema steht hier ebenfalls im Vordergrund. Im fünften und sechsten Hauptkapitel steht das 1906 als Roman erschienene Werk The Jungle von Upton Sinclair im Zentrum der Betrachtung. Dessen inhaltliche Analyse liefert Aufschluss über die Wahrnehmung der individuellen, überwiegend gesundheitlichen Auswirkungen industrialisierter und verschmutzter Lebenswelten. Die U. S.-amerikanische Massenproduktion in industriellen Ballungszentren repräsentiert hier gleichermaßen ein problematisches Resultat und eine Vorausdeutung der europäischen Industrialisierung. Zudem ist Chicago im Vergleich zu London ein Neubaugebiet. Historisch gerahmt werden die umweltsozialen Zustände durch zeitgenössische lokale Lösungsstrategien zur Beseitigung umweltungerechter Zustände in der direkten Nachbarschaft massenindustrieller Produktionsstätten. Und weiterhin durch die Schwierigkeiten in der politischen Umsetzung der Forderung nach verbesserten Arbeits- und Lebensbedingungen für betroffene Lohnarbeiter. Der persönliche und intellektuelle Werdegang des Autors soll wiederum das Verständnis für individuelle Bewusstwerdungsprozesse erweitern und dessen alternative Lösungsvorschläge zur nachhaltigen Beseitigung und Vermeidung umweltungerechter Zustände aufzeigen. Der Epilog führt abschließend die Fallstudien zusammen, um die umweltinduzierte Evolution der Ausdrucksform des sozialen Umweltromans nachzuvollziehen. Dabei spielen romanspezifische Gemeinsamkeiten in der Darstellung von Zuständen und Risiken, der abgebildeten Mensch-Umwelt-Beziehung

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sowie stilistische Experimente der Autoren eine Rolle. Es geht um das Thema der Wahrnehmung von Umweltgerechtigkeit im 19. Jahrhundert, so wie es sich aus den Romanbeispielen und deren historischem Kontextualisierung ablesen lässt. Der Schwerpunkt liegt auf denjenigen Faktoren, Praktiken und Arrangements, die die Szenerien der Romane zu besonderen Umwelt-Schauplätzen werden lassen.110 Schließlich wird das Medium Roman selbst das Kommunikationsmittel zur Veränderung dieser Schauplätze und spielt so zusammen mit der Funktion der Schriftsteller als Akteure öffentlichen Interesses die Hauptrolle in der Studie.

110 Verena Winiwarter, Martin Schmid, Umweltgeschichte als Untersuchung sozionaturaler Schauplätze? Ein Versuch, Johannes Colers ›Oeconomia‹ umwelthistorisch zu interpretieren, in: Thomas Knopf (Hrsg.), Umweltverhalten in Geschichte und Gegenwart: Vergleichende Ansätze. Tübingen 2008, 158–173.

2. Our Mutual Friend

2.1 London als metaphorisches Ökosystem Our Mutual Friend ist Charles Dickens’ letzter Roman1 und ein Gesellschaftsporträt des viktorianischen London. Dieses Gesellschaftsporträt lässt sich auch lesen als die Abbildung eines Ökosystems, dessen Metabolismus durch menschlichen Debris nachhaltig gestört ist. Die Themse ist so verschmutzt, dass ihre Selbstreinigungskräfte nicht mehr funktionieren, und die städtische Infrastruktur ist mit der Abfallbeseitigung auf traditionellem Wege völlig überfordert. ­Dickens’ Darstellung der Gesellschaft ist ebenso pessimistisch wie die der Lebensumwelt. Zu verstehen ist das vor dem historischen Hintergrund und angesichts der rechtlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen dieser Zeit. Auch ­­Dickens’ persönlicher und intellektueller Werdegang spielen eine Rolle für seine Sicht auf die (Um)welt. Im Roman ist der dysfunktionale Metabolismus des Londoner Ökosystems ein Spiegel der Gesellschaft, die stinkende Müllkloake London mit ihrer nicht vorhandenen Umweltgerechtigkeit ist das Sinnbild für die unlösbaren sozialen Konflikte der Zeit. Der Roman erzählt drei Geschichten in einer: einen Mordfall, eine Romanze und die Geschichte der viktorianischen Gesellschaft. Grundlegend für die Handlung des Romans ist seine Vorgeschichte: Der geizige Misanthrop Harmon, der mit Abfallhandel ein Vermögen gemacht hat, bestimmt seinen Sohn John zum Erben – allerdings unter der Bedingung, dass dieser die ihm bisher unbekannte Bella Wilfer heiratet. Bis dahin soll das Erbe von Harmons ergebenem Diener, Mr. Boffin, verwaltet werden. Als John Harmon in London eintrifft, wird er das Opfer eines Mordanschlags und halbtot in die Themse geworfen. Wenig später – hier beginnt der Roman – wird eine Leiche aus dem Wasser gezogen, die fälschlicherweise als John Harmon identifiziert wird. Nur knapp dem Tode entronnen, lässt sich dieser unter der Identität eines John Rokesmith als Sekretär der Nachlassverwalter einstellen. Durch diese Finte sowie den plötzlichen Aufstieg des Arbeiterehepaars Boffin und den unerwarteten Reichtum aus dem Harmon’schen Abfall, den Dust-Heaps, werden verschiedene gesellschaftliche Verwicklungen in Gang gesetzt. Die Boffins holen die im Testament erwähnte Bella Wilfer ins Haus, in die sich John tatsächlich verliebt; da die junge Frau jedoch reich heiraten möchte, erhört sie ihn nicht. Schließlich offenbart sich 1 The Mystery of Edwin Drood – nach Our Mutual Friend erschienen – blieb unvollendet. Charles Dickens starb an einem Gehirnschlag, während er daran schrieb.

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Rokesmith den Boffins als der totgeglaubte John Harmon und gemeinsam verabreden sie ein Schauspiel, um Bella die Nichtigkeit ihres Strebens nach Reichtum vor Augen zu führen. Am Ende werden Bella und John aus dem Haushalt der Boffins geworfen, die beiden heiraten, seine wahre Identität offenbart John seiner Frau erst nach Jahren. ­Dickens verflicht in seinem Roman den sozialen Verfall Londons mit der Verschmutzung der Themse. Literarische Interpretationen sahen hierin Kritik an der Oberschicht, an deren Habgier und Überheblichkeit. Die Dust-Heaps der Familie Harmond stehen für den moralischen Bankrott einer dem Kapital verschriebenen Gesellschaft,2 die stinkenden Inhaltsstoffe sind eine Metapher für den Gestank des Geldes,3 was später gar zu einer Gleichsetzung von Waste / Dustheaps und Geld führte,4 oft mit deutlicher Freud’scher Interpretation.5 In den unmittelbaren Kontext der zeitgenössischen sanitären Reformen setzt erstmals Patricia K. Gilbert den Roman.6 Ihre Interpretation von D ­ ickens’ Roman nimmt Umweltgerechtigkeit als Maßstab und ergründet den Einfluss der Umweltverschmutzung auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten der englischen Metropole. Während die Oberschicht Profit aus den miserablen Zuständen zieht, leidet die Unterschicht nicht nur finanziell, sondern auch gesundheitlich.7 Um sich den Umständen zu entziehen, ist gesellschaftlicher Aufstieg der einzige Weg, nur dieser verspricht eine Verbesserung der Lebensverhältnisse. Stigmatisierende individuelle Altlasten bleiben jedoch immer ein Problem, die soziale Mobilität ist mangelhaft, die gesellschaftliche Durchlässigkeit unvollständig und an weitreichende Voraussetzungen geknüpft. Wer einen idealen 2 Humphrey House, The ­Dickens World. London 1950; Edgar Johnson, Charles D ­ ickens: His Tragedy and Triumph, Bd. 2. New York 1952; Earle Davis, The Flint and the Flame: The Artistry of Charles ­Dickens. Columbia 1963. 3 Harvey Peter Sucksmith, The Dust-Heaps in Our Mutual Friend, in Essays in Criticism 23, 1973, 206–212; Nancy Aycock Metz, The Artistic Reclamation of Waste in Our Mutual Friend, in Nineteenth-Century Fiction 34/1, 1979, 59–79. 4 Sucksmith, The Dust-Heaps, 209f, liefert eine detaillierte Übersicht über die verschiedenen Deutungen; u. a. erwähnt er auch die umgangssprachliche Verwendung des Begriffs als Bezeichnung für Geld im 19. Jahrhundert. 5 Hier geht es vor allem um homoerotische Phantasien, die der intensiven Auseinandersetzung mit Exkrementen und männlichen Rivalitäten zugesprochen werden. Ellen Handy, Dust Piles and Damp Pavements: Excrement, Repression, and the Victorian City in Photography and Literature, in: Carol T. Christ und John O. Jordan (Hrsg.), Victorian Literature and the Victorian Visual Imagination. Berkeley 1995, 111–133; Eve Kosofsky Sedgwick, Between Men: English Literature and Male Homosocial Desire. New York 1985. 6 Pamela K. Gilbert, Mapping the Victorian Social Body. Pittsburgh 2004. Aus geographischer Sicht dazu: Allen, Cleansing the City. 7 Hans-Dieter Gelfert sieht in Our Mutual Friend den Versuch des Autors, den Zwiespalt zwischen seinem Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg und seiner Eigenwahrnehmung als underdog, der sich vom vorherrschenden Gesellschaftssystem desillusioniert zeigte, darzustellen. Hans-Dieter Gelfert, Charles ­Dickens: der Unnachahmliche. Biographie. München 2011, 276.

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Zustand und Harmonie herstellen wollte, müsste die Ausgangsverhältnisse zumindest in der Lebensumwelt von Belastungen befreien. Charles ­Dickens beschreibt London als ein Ökosystem, mit der Themse als Lebensader, dessen Gleichgewicht durch soziale Ungleichheit gestört ist. Wer welchen Umweltrisiken ausgesetzt ist, ist völlig ungleich verteilt aber nicht willkürlich.8 Müll spielt eine wichtige Rolle und steht in enger Beziehung zu den Todeserfahrungen der Protagonisten. Wichtig für die Interpretation ist D ­ ickens’ hohe Wertschätzung des Lebens selbst. Im Roman wird dies durch die wiederholte enge Gegenüberstellung von Leben und Tod repräsentiert. In einem Kreislauf nimmt und gibt die Themse das Leben, oder auch die Identität der Figuren. Identitätsverlust – für ­Dickens gleichbedeutend mit dem Tod – spielt mehrfach eine große Rolle. Tina Chois Untersuchung der thermodynamischen Ästhetik in Our Mutual Friend sieht hier ein Zusammenspiel der Elemente, das zu einer Zirkularität führt, zu einem Kreisen von Leben und Tod, das sie mit einem Ökosystem vergleicht. Sie beschreibt es als, »intricate circuits linking causes and effects, old and new, and the transformations and continuities traceable throughout the whole. Within this formal structure, resolution, like the rainfall, must be drawn from that bounded system itself, from the circulation of characters and other elements already present«.9

Für D ­ ickens ist die Themse Teil des urbanen Metabolismus. Durch die Verschmutzung verliert der Fluss seine Identität. Die Eindämmung des Flusses dient der Wiederherstellung dieser Identität und verläuft analog zur Identitätskrise der Protagonisten. Gleichzeitig erlangt der Mensch durch seinen Eingriff Kontrolle über den Fluss, mit dem Ziel, Eingriffe des Flusses in die menschliche Lebenswelt zu verhindern. Damit erweitert ­Dickens das traditionelle symbolische Inventar, das die literarischen Beschreibungen der Themse seit dem 16. Jahrhundert prägten, und ihr zu einer Aura von zeitloser Mystik verhalfen.

2.2 Materieller und sozialer Müll als Störfaktoren für das Ökosystem Der Müll ist ein zentrales Motiv in ­Dickens’ Roman.10 Müll ist in der Londoner Metropole des 19. Jahrhunderts im Überfluss vorhanden und überall präsent. Er bestimmt das Bild der Straßen und des Flusses, der das zentrale Versorgungsorgan der Stadt ist. Die Beseitigung des Mülls und seine Vermarktung stellen 8 Zur kulturellen Bedeutung der Themse für London und England, siehe Peter Ackroyd, Thames: Sacred River. London 2007, 320–334. 9 Tina Young Choi, Forms of Closure: The First Law of Thermodynamics and Victorian Narrative, in ELH 74, 2007, 316. 10 Zur künstlerischen Ausgestaltung des Motivs, siehe Aycock Metz, Reclamation.

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eine Kapitalquelle dar, der Müll kann gleichermaßen zu sozialem Aufstieg wie auch zum Abstieg bzw. zur Stagnation führen. Das Ökosystem der Stadt im ökologischen Sinne, wie auch die Gesellschaft im metaphorischen Sinne, wird durch den Müll, das Hässliche, das Verschmutzte, gestört. Menschen fallen dem zum Opfer, sie bleiben auf der Strecke, und werden zu Debris, genauer zu sozialem Debris, der die Fluktuation des Ökosystems beeinträchtigt. Bei D ­ ickens sind die Paupers dieser soziale Debris. Bereits in seinem David Copperfield bediente sich D ­ ickens der Gleichsetzung von Mensch und Müll, und auch hier spielte die Themse schon ihre Rolle, wie das Schicksal von Martha zeigt: »As if she were part of the refuse it had cast out, and left to corruption and decay, the girl we had followed strayed down to the river’s brink, and stood in the midst of this night-picture, lonely and still, looking at the water (…) There was that in her wild manner which gave me no assurance but that she would sink before my eyes.«11

In der Darstellung der Charaktere in Our Mutual Friend spielen zwei verschiedene Arten von Müll eine Rolle: Nasser Müll, wie der Debris im abwasserverschmutzten Fluss, und trockener Müll, wie der in den stinkenden Straßen.12 Beide Arten sind in der Lebenswelt der Figuren omnipräsent, aber metaphorisch sind sie von unterschiedlicher Bedeutung. Der nasse Müll ist der schlechte Müll, da er den Fluss als Lebensader des Ökosystems behindert. Im Kontext des viktorianisch Moralitätsdiskurses steht der nasse Müll sinnbildlich für die Immoralität der Menschen im Allgemeinen und im Besonderen derer, die sich als Leichenfledderer oder auch Body Snatcher durch das verbotene Wühlen in fremdem Eigentum ihren Lebensunterhalt ergaunern.13 Der trockene Müll ist besser, da er ehrlich genutzt werden kann und die wirtschaftliche Existenzgrundlage für so manches Unternehmens, wie etwa die Müllabfuhr (OMF: 13), ist. Wem es gelingt, ein derartiges Unternehmen aufzubauen, der erlangt sozialen Wohlstand und leistet gleichzeitig einen Dienst an der Gemeinschaft. Die beiden Arten von Müll stehen beispielhaft für zwei gesellschaftliche Ebenen der Londoner Gesellschaft  – zwei Klassen von Armen innerhalb der unteren Gesellschaftsschicht. Prinzipiell ist die Existenz der Paupers aus historischer Perspektive das Zeichen einer Funktionsstörung der Gesellschaft  – gleichzusetzen mit dem Müll, den eine Gesellschaft produziert und der, wenn er überhandnimmt, die Beseitigungsinfrastruktur überfordert und zum Problem wird. Grundsätzlich muss dabei zwischen verwertbarem Müll und nicht 11 Charles ­Dickens, David Copperfield. London 1850, Kap. 47. 12 Die Unterscheidung zwischen dry waste und wet waste ist nicht neu, diese wurde (von House, Sucksmith und anderen) auf (Haus-)Müll und Exkremente angewendet. Als D ­ ickens seinen Roman verfasste, wurden Exkremente jedoch nicht mehr nur von sog. Nightmen eingesammelt, sondern zu einem Großteil in die Themse geleitet (siehe Kap. 2.2), deren Ökosystem dadurch nachweislich litt. 13 ­Dickens, Our Mutual Friend, 25. Im Folgenden zitiert als OMF.

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verwertbarem Müll unterschieden werden. Ersterer kann auf eine Art beseitigt werden, die die Reinheit der Stadt wiederherstellt, und wird zu einem großen Teil in die Stoffströme der Stadt zurückgeführt – er wird recycelt. Vom zweiten hingegen bleiben Reste, die weiterhin die Reinheit der Stadt beeinträchtigen. Übertragen auf die Angehörigen der unteren Gesellschaftsschicht bedeutet dies, es gibt Arme, die das Potenzial haben (wieder) in die Gesellschaft eingegliedert und damit gesellschaftlich nutzbar gemacht zu werden, womit die Funktionsfähigkeit und (moralische) Reinheit sowohl der Gesellschaft als auch des Individuums gleichermaßen wiederhergestellt werden. Allerdings gibt es auch arme Leute, die sich als nicht einbindungsfähig erweisen und damit die Gesellschaft weiter behindern bzw. in einem schlechten Licht erscheinen lassen. Diese sind der soziale Debris, der im übertragenen Sinne den (Gesellschafts-)Fluss behindert. Eine (Be-)Wertung des Mülls in beiderlei Hinsicht wird durch die herrschenden sozialen Klassen vorgenommen. Diese sind es schließlich auch, die den Profit aus dem Müll in den Straßen ziehen. In gewisser Weise schlagen sie Kapital aus der Armut großer Bevölkerungsteile, die sie gleichermaßen mit verursachen, und müssen daher für deren Existenz grundsätzlich mit verantwortlich gemacht werden. Diese negative Metaphorik entfaltet im Roman eine starke Wirkung. ­Dickens’ Familie Hexam, die auch Gaffer genannt werden – abgeleitet vom Spitznamen des Vaters – macht sich als zentraler Störfaktor in der Stadtgesellschaft bemerkbar. Die Gaffers entzweien sich über das Thema Bildung. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie durch das Fischen nach Leichen, deren Tascheninhalt verwertet wird (die Leichen selbst können wohl nicht verwertet werden; zumindest gibt es keinen direkten Hinweis auf den Verkauf zu medizinischen Forschungszwecken).14 Alleine schon durch diese Tätigkeit haben sie einen extrem niedrigen gesellschaftlichen Status. Ihre Armut ist bitter und spiegelt sich in den Lebensumständen, die ganz auf die hässliche Tätigkeit ausgerichtet sind sowie in der Lebensumwelt in einer armseligen Hütte im Schlamm des Flussufers (OMF: 70f). Aus dem Schlamm gibt es kein Entrinnen, so sieht es zumindest Vater Gaffer. Tochter Lizzy jedoch erkennt bzw. wird von außen durch Dritte darauf hingewiesen, dass es doch einen Ausweg aus der Lebenssituation geben könnte, nämlich durch Bildung. Daher sorgt Lizzy gegen den Widerstand ihres Vaters dafür, dass ihr Bruder die Familie verlässt und zur Schule geht. Da der Vater nichts von Schulbildung und gesellschaftlicher Erziehung hält, wird durch diesen Schritt die Familie entzweit (OMF: 30). Lizzys Bruder Charly, der ebenfalls am Gaffer’schen Familienunternehmen beteiligt ist, ist gewissermaßen trockener 14 Obwohl Körper für anatomische Forschungszwecke zu dieser Zeit rar und folglich heiß begehrt waren, nimmt ­Dickens hier keinen direkten Bezug auf die Aktivitäten der damit befassten Body Snatchers. Er thematisiert dies anderweitig, etwa A Tale of Two Cities (1859) und veröffentlichte ein Essay von Henry Morley, Use and Abuse of the Dead, in Household Words. April 1858. Dazu ausführlicher Catherine Waters, Commodity Culture in D ­ ickens’s Household Words: The Social Life of Goods. Aldershot 2008.

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Müll, da er tatsächlich durch seine Schulbildung in ein wertvolles und respektables Mitglied der Gesellschaft verwandelt wird und aufsteigen kann. Nachdem Charly bereits eine Weile in besseren Verhältnissen und in einem anderen Teil der Stadt lebt, und damit dem negativen Einfluss des Flusses nicht mehr ausgesetzt ist, wird ihm der Zusammenhang von sozialem Status und Lebensraum deutlich bewusst. Daher versucht er, seine Schwester dazu zu bewegen, die Nachbarschaft des Flusses ebenfalls zu verlassen (OMF: 74). Der Vater hingegen ist der nasse Müll, da er durch die Verweigerung von Bildung und Selbsterziehung als sozialer Debris auf der Strecke bleibt. Da er eine bewusste persönliche Entscheidung trifft, wird dies von außen besonders negativ bewertet. Er lehnt Veränderungen ab und strebt keinen anderen Lebenswandel an. Seine Beschäftigung mit dem nassen Müll führt schließlich ins Verderben, sogar in den Tod (OMF: 173). Das scheint schließlich auch die gerechte Strafe dafür, dass er die anderen Figuren von ihrer persönlichen Entwicklung abhalten will, was letztlich deren potenziellen sozialen Aufstieg gefährdet. Gaffers Sohn Charly nimmt diese negative Zugkraft wahr, die jedoch anfänglich nicht nur von seinem Vater, sondern auch von seiner Schwester ausgeht: »It’ll be a very hard thing, Liz, if I am trying my best to get up in the world, you pull me back« (OMF: 278). Lizzy Gaffer selbst nimmt in der Familienkonstellation die Position einer Übergangsfigur ein.15 Sie ist in einem Alter, in dem sie Mitverantwortung für die Versorgung der Familie trägt, nicht nur was den Haushalt betrifft, sondern auch die Unterstützung beim Fischen im Fluss; eine Tätigkeit die ihr grundsätzlich zuwider ist (OMF: 3; 73f). Zunächst fällt Lizzy unter die Kategorie nasser Müll. Sie lehnt die Hilfsangebote wohlmeinender Bekannter, sich selbst in (Aus-)Bildung zu begeben, ab. Das tut sie aus Unterwerfung und Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Vater (OMF: 69f). Speziell auf sie bezogen dramatisiere ­Dickens hier »the danger of moral pollution,«16 schreibt Michelle Allen: Die Wirtin des Six Jolly Fellowship Porters, Abbey Potterson, die Lizzys Vater und seinem ehemaligen Kompagnon Rouge Riderhood nach einem Streit um den Harmon Mord den Zugang zu ihrem Etablissement verweigert, versucht die junge Frau davon zu überzeugen, dass es jedem schadet, einen schlechten Ruf zu haben, ihr ebenso wie dem Porters. Das Mädchen will die Gefahr für sich selbst nicht ernst nehmen und bleibt zunächst in den negativen Verhältnissen verhaftet (OMF:  70ff). Ebenso wie der soziale Debris behindern traditionelle (patriarchale) Strukturen offensichtlich die Gesellschaft. Mit der Befreiung des Bruders aus dem aussichtslosen Umfeld lehnt sich Lizzy auch gegen diese alten Strukturen auf und setzt damit ihren eigenen Trans 15 Philip Hobsbaum, The Critics and Our Mutual Friend, in: Essays in Criticism 13/3, 1963, 213–240. Auf S. 233 unterstreicht er Lizzys Potenzial, um ­Dickens’ Gesellschaftskritik durch eben diesen Übergang auszudrücken. 16 Allen, Cleansing the City, 100.

Materieller und sozialer Müll als Störfaktoren für das Ökosystem

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formationsprozess in Gang. Langsam verwandelt sie sich in trockenen Müll, einerseits durch einsetzende Erkenntnis, andererseits durch später daraus resultierende Offenheit gegenüber anderen Lebensentwürfen und der endgültigen Abwendung von der Beschäftigung mit dem nassen Müll. Diese verwirklicht sie allerdings erst nach dem Tod des Vaters und dem Wegfall der väterlichen Autorität und des behindernden sozialen Debris. Aber ihr gelingt der Übergang und der soziale Aufstieg schließlich durch eine glückliche Heirat. Besonders gut wird dieser bewertet und belohnt, als er aus eigenem Antrieb zustande kommt (OMF: 2).17 Beispielhaft für eine beständige Funktionsstörung der Gesellschaft sind die Geschichten von John Rokesmith, Jenny Wren, Silas Wegg und Rouge Riderhood, die einander ähnlich sind. Rokesmith, obwohl aus bürgerlichen Kreisen stammend, stört die Gesellschaft nachhaltig und muss dafür große persönliche Opfer bringen. Wren ist guten Willens, allerdings körperlich behindert, weshalb sie nur bedingt in die Gesellschaft eingegliedert werden kann. Ihre Nähstube ist erfolgreich, sie selbst zeigt sich offen für Bildung und Veränderung (OMF: 233f), dennoch bleibt Jenny letztlich sozialer Debris, da sie durch ihre Behinderung für die Gesellschaft nicht voll funktionsfähig scheint und damit nichts zu einer intakten Gesellschaft beitragen kann. Silas Wegg steht ebenfalls am unteren Ende der sozialen Leiter. Er gliedert sich durch seine Vorleserdienste bei den Boffins mehr oder weniger gut ein; seine körperliche Beeinträchtigung durch ein Holzbein bleibt jedoch problematisch und seine unlauteren Absichten führen dazu, dass eine Eingliederung in die Gesellschaft misslingt (OMF: 77f). Die Boffins hingegen sind nur mittelmäßig gebildet, aber gutherzig und begabt, und sie beabsichtigen, zum Wohlergehen der Gesellschaft etwas beizutragen. Ihnen gelingt der soziale Aufstieg. Da ihr Wohlstand jedoch auf Unehrlichkeit basiert (wenn auch nicht auf der eigenen), ist ihr Platz auf der Sonnenseite der Gesellschaft immer wieder in Gefahr. Sein und Schein stimmen nicht überein und mangelnde Bildung erweist sich hier als Indikator für die Anfälligkeit des Ehepaars für äußere Beeinflussung (OMF: 655f).18 Daher gestalten sich ihre Versuche, den neugewonnen und besonders umständlich ererbten Reichtum zu nutzen, um sozial Benachteiligten zu helfen, als Problem (OMF: 108).19 17 Zu dieser Erlösung ist es jedoch ein weiter Weg. Allen, Cleansing the City, 101, schildert ausführlich, wie die negativen Zugkräfte der Flussbevölkerung der jungen Frau nach Ablehnen des Hilfsangebots noch lange anhaften. Das beeinflusst auch die Beziehung zu ihren Verehrern Bradley Headstone und Eugene Wrayburn. Hier manifestiert sich die Verschmutzung als sexuelle Unzucht, was die junge Frau schließlich aus der Stadt treibt. 18 Auf Grund äußerer Beeinflussung, etwa durch Silas Wegg, verschlechtern sich die Geschäfte der Firma Harmon. Dies wird in direkten Bezug zur gesellschaftlichen Akzeptanz der Boffins gesetzt. 19 Die Boffins sollen John Harmons Erbe stellvertretend verwalten, bis die Bedingungen des Testaments erfüllt sind. Später taucht jedoch ein zweites Testament auf, wonach das Vermögen dem Staat zufallen soll. Silas Wegg versucht sich hier in Erpressung, doch letztlich geht das Vermögen an die Boffins, die wiederum John Harmon als ihren Erben einsetzen.

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In den Lebensumständen des Romanpersonals finden sich erste Indizien für Umweltungerechtigkeit. Eine verschmutzte, risikoreiche Lebensumwelt beeinflusst die Lebenswege und wirkt sich nachhaltig negativ auf die Figuren aus. Der individuelle Bildungsgrad sowie die Offenheit gegenüber Veränderungen spielen eine maßgebliche Rolle. Sanitäre Risiken werden unterschiedlich beurteilt und die Möglichkeiten, sich diesen zu entziehen, unterscheiden sich ebenfalls. Das gelingt nur durch persönliche Veränderung und das Verlassen des sozialen und räumlichen Umfeldes und das setzt schließlich auch die Fähigkeit voraus, Hilfe von außen zu akzeptieren.

2.3 Gesellschaftliche Folgen der Dysfunktionalität Londons menschlicher Debris ist gesellschaftlich in mehrfacher Hinsicht problematisch. Diejenigen, die hier als Abschaum bezeichnet werden, sind in ihrer eigenen Existenz benachteiligt und eingeschränkt und potenziell Störfaktoren für die Gesellschaft. Jeder Versuch, aus der sozialen Benachteiligung auszubrechen, stört das System.20 Ungleichgewicht entsteht sowohl im Mikrosystem der Familie, wie z. B. bei den Gaffers, als auch im Makrosystem der Gesamtgesellschaft, wie in den Geschichten der Wilfers oder Boffins. In der Haupterzählung um John Rokesmith / Harmon manifestiert sich die Störung der großen Ordnung im Identitätsverlust des Protagonisten. Nach seinem Sturz in die Themse verliert er seinen festen Platz in der Gesellschaft und es ist ein weiter Weg, bis die gesellschaftliche Ordnung wiederhergestellt ist. Identitätsverlust oder auch die Relativität von Identität sind ein Schlüsselthema des Romans. Es geht sowohl darum, dass ein Mensch wie Harmon plötzlich nicht mehr er selbst ist, als auch darum, dass seine gesellschaftliche Identität stirbt. Letzteres kam in einer Metropole wie London dem realen Tode sehr nahe, bedeutete Erniedrigung und den grotesken Verlust der körperlichen Integrität. Das Identitätsthema ist in Our Mutual Friend eng an das Eintauchen in den Fluss geknüpft. In dem Roman durchdringen sich konsequenterweise auch Stadt und Fluss an den Ufern der Themse gegenseitig. Die Stadtgrenzen sind hier am Ufer der Themse, wo sie durch die Tiden und Überflutungen immer wieder vom verschmutzen Wasser des Flusses durchweicht werden, ebenso diffus, wie die personelle und gesellschaftliche Identität der Figuren. So wird aus dem Flussufer

20 Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die speziell Darwinistische Interpretation des Romans, denn »even the characters, who are finally redeemed in Our Mutual Friend, are deeply involved in the self-seeking world of individual advantage.« Howard Fulweiler, ›A Dismal Swamp‹: Darwin, Design, and Evolution in Our Mutual Friend, in Nineteenth-Century Literature 49/1, 1994, 50–74, 60.

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ein kritischer Grenzbereich, ein Sinnbild für ökologische Überforderung und ein Spiegelbild des gesellschaftlichen Präkariats. Die ganze Stadt ist keine gesicherte Einheit mehr. Die Dämme, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts entlang der Themse errichtet wurden, sollten der Ausuferung ein Ende machen. Der Roman spielt jedoch zu einer Zeit, als die Uferregionen durch die Gezeiten überschwemmt und verschmutzt wurden und es keine klaren Grenzen zwischen Wasser und Land gab. In ihrem Ringen, einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu erhalten, mühen sich die Hauptcharaktere des Romans, gleichermaßen durchlässig zu bleiben wie eigene Grenzen zu definieren. Dabei stehen sowohl die körperliche als auch die psychische oder moralische Integrität auf dem Spiel. Soziales Treibgut wird mit menschlichem Abfall verglichen, und die Themse, die die organisierende Metapher und Landmarke des Romans ist, scheint sich die Stadt an geographischen Schlüsselstellen entlang ihrer Ufer einzuverleiben. Der Stadtteil Rotherhithe etwa ist »where [the] accumulated scum of humanity seemed to be washed from higher grounds, like so much moral sewage, and to be pausing until its own weight forced it over the river bank and sunk it in the river (…) among vessels that seemed to have got ashore and houses that seemed to have got afloat.« (OMF: 436)

In dieser Szene begeben sich die Anwälte Mortimer Lightwood und Eugene Wrayburn an den Fluss, um John Harmons verwesenden Körper falsch zu identifizieren. Als Gaffers opportunistischer Kompagnon Riderhood fälschlicherweise seinen alten Freund als Mörder bezichtigt, führt er Eugene und Mortimer nochmals ans Wasser, durch Hagelkörner laufend und dabei Spuren hinterlassend: »In the fast-melting slush that were mere shapeless holes; one might have fancied, following, that the very shape of humanity had departed from his feet […] It seemed as if the streets were absorbed in the sky, and the night were all in the air.« (OMF: 157).

Hier zeigt ­Dickens ökologisches Verständnis für die Unseparierbarkeit von Land und Wasser, wobei er die gegenseitige Abhängigkeit eher hervorhebt, statt sie als klar umrissene Binäre zu sehen, was schließlich Rückschlüsse auf seine persönliche Sicht auf die Gesellschaft zulässt. Roger Riderhood wiederum verliert die Grenzen seines Selbst, als die Stadt ihre Definition verliert, aber es ist Gaffers ertrunkener Körper, der nach einer langen ereignisreichen Nacht voller persönlicher Transformationen aus dem Wasser gezogen wird. Eugene Wrayburn gibt sich als Kalkhändler aus, Mortimer Lightwood halluziniert vor Erschöpfung und Eugene selbst bekommt das Gefühl, sich in einen »half-drowned criminal« zu verwandeln, als er »swallowed half a gallon« des »wash of the river« (OMF: 165). Den Einfluss der Verschmutzung auf den Fluss selbst beschreibt ­Dickens folgendermaßen,

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»everything so vaunted the spoiling influences of water – discoloured copper, rotten wood, honey-combed stone, green dank deposit – that after the consequences of being crushed, sucked under, and drawn down, looked as ugly to the imagination as the main event« (OMF: 172).

Auch wenn es sich dabei um die normale Beschreibung dessen handelt, was einem Gegenstand widerfährt, wenn er in die Fluten eines Flusses gerät, so scheint es doch, als ob dem Gewässer hier  – wie so oft personifiziert in der Figur des Father Thames – eine Persönlichkeit zugeschrieben wird, mit der es auf alles Fremde oder Unerwünschte einwirkt. In der literarischen Tradition um die Themse scheint dies nicht ungewöhnlich und ist ein weiteres, in diesem Falle negatives, Beispiel für die transformierende Kraft, die dem Fluss seit jeher zugeschrieben wird.21 Schlimmer ist jedoch, dass alles, was in das Gewässer hineinkommt, auch wieder herauskommt, und wieder in die lebenden Körper der Stadt aufgenommen wird. Ein urbaner Metabolismus, dessen Störung nur durch umfassende Reformen und technische Eingriffe behoben werden kann.22 So lädiert er auch ist, repräsentiert der Fluss doch auch Erlösung. Rokesmith / Harmon verliert während seines Wassererlebnisses zwar seine Identität, ist aber gleichzeitig fähig, in einer langsamen Wiedergeburt ein neues Selbst zu gestalten, dessen Persönlichkeitsgrenzen sogar sicherer sind. In die Themse geworfen zu werden, belebt ihn paradoxerweise; dennoch beschreibt ihn der Erzähler als »living dead man«. Letztlich kann Harmons lange, langsame Geburt aus der Themse nicht ohne Bella Wilfers Liebe vollendet werden. Erst nach der Hochzeit, nach der Geburt des gemeinsamen Kindes und nachdem der Müllhaufen abgetragen ist, nimmt er seinen wahren Namen wieder in Anspruch, indem er ihn über den Fluss ruft. Damit verliert dann Bella ihre Identität als Mrs. Roke­ smith, denn nur so können sie und ihr Ehemann in ihrer eigentlichen Identität als Harmons wiedergeboren werden. Erst aus dem Verlust, aus der Zerstörung, kann Erneuerung entstehen, folgert John Parham aus ­Dickens’ Rezension von The Poetry of Science für dessen eigene rekonstruktivistische soziale Vision.23 Aus ecokritischer Sicht lässt sich daher die Bandbreite der Romaninterpretationen um noch eine Ebene erweitern: Die Zerstörung der Natur führt zur Zerstörung des Menschen selbst. Für ­Dickens hat das menschliche Leben grundsätzlich den höchsten Wert, das ist auch in Our Mutual Friend sinnstiftendes Erzählmotiv. Dennoch ist der Tod, wie ihn z. B. Jenny Wren beschreibt, ein guter Ort (OMF: 247). Wenn D ­ ickens Leben und Tod in einem derart engen Verhältnis zueinander sieht, zeugt das 21 Ackroyd, Thames, 337 ff. 22 Matthew Gandy, Rethinking Urban Metabolism: Water, Space and the Modern City, in City 8/3, 2004, 363–379, 366. Siehe ebenfalls Lewis Mumfords Idee von der invisible city. Lewis Mumford, The City in History: Its Origins, Its Transformations, and Its Prospects. New York 1961, 563–567. 23 Parham, ­Dickens in the City, 8.

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von seiner christlich-religiösen Prägung, die – will man es enger eingrenzen – deutlich protestantische Züge trägt. Das strebsame Selbst muss sich erniedrigen, bevor es wiederbelebt werden kann, um Wohlstand zu erhalten, oder Wohlstand zu werden. Aber der Wert des Todes hängt, zumindest teilweise, von den dominanten Werten des Lebens ab. Die Momente der Todesnähe im Roman, so wie die Rokesmithes sie erleben, machen dies beispielhaft deutlich. Catherine Gallagher hat die Zusammenhänge zwischen Wert und Leben in Our Mutual Friend in Rückgriff auf die Konzepte von ­Dickens’ Zeitgenossen und Freund John Ruskin, Wealth (Wohlstand) und Illth (Übelstand) diskutiert. Übelstand ist dem Leben nicht zuträglich, kann sogar den Tod verursachen,24 und besitzt daher keinen Wert. Sowohl bei Ruskin als auch bei ­Dickens, stellt Gallagher fest, folgt der Tod bestimmten ökonomischen Theorien (wie der Malthusianischen), die behaupten, das Leben in vollem Umfang aufzuwerten. Für diese »are the tendencies stressing the commodity’s need to have a live-giving potential that makes up for his life-draining origins.«25 Bei den Gaffers setzt der Tod des Vaters letztendlich lebensverändernde Energien frei, die dazu führen, dass Tochter Lizzy sich aus dem Übelstand befreien kann – auch, weil sie damit ökonomisch nicht mehr in Abhängigkeit von der üblen väterlichen Einkommensgrundlage steht. Dieses ökonomische Narrativ enthält Elemente von satirischer Kritik am materiellen Streben der neuen Mittelschicht, und ist bedeutsam für die literarische Interpretation des Romans, denn es zeichnet die Transformation von Tod in Leben, von Müll in Lebendigkeit nach, und ist somit auch von epistemologischer Bedeutung. Bezogen auf moralische Werte und biologische Eigenschaften des Londoner Ökosystems schlägt Howard Fulweiler vor, dass die Geschichte um die unterschiedlichen Versionen des Harmond-Testaments und die Dust-Heaps als Firmenkapital eine weitere Frage des Romanes formulieren: Was ist es wert vererbt zu werden? Und wie kann das Vermächtnis der Vergangenheit sich in Gegenwart und Zukunft entwickeln?26 Dieser Ansatz lässt sich explizit umweltrelevant verfolgen und berührt im konkreten Zusammenhang von Müll und Stoffkreis­ läufen die Frage der Nachhaltigkeit. Die im Roman geschilderte Umweltbelastung entspricht der Gesellschaftsbelastung und ist symbolhaft aufgeladen. So wie der trockene Müll in den Straßen beseitigt und dabei produktiv gemacht werden kann, können auch Mitglieder der Gesellschaft wieder eingegliedert werden. Wie allerdings das Beispiel der Boffins zeigt, muss dies in entsprechend (gesellschaftlich) nachhaltiger Art und 24 John Ruskin, Unto this Last, London 1862. Illth: Verwendet von Ruskin als Antagonismus zum Reichtum (wealth), den er als Leben selbst definierte. Im weiteren Sinne: Wo Reichtum Wohlbehagen ist, ist illth das Gegenteil. 25 Catherine Gallagher, The Body Economic: Life, Death, and Sensation in Political Economy and the Victorian Novel. Princeton 2008, 90. 26 Fulweiler, Dismal Swamp, 65.

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Weise geschehen. Der nasse Müll ist gerade für die Reinheit der Themse wesentlich problematischer, da er die ökologische Selbstreinigungskraft des Flusses zerstört. Ebenso zerstört der soziale Debris, wenn er denn überhandnimmt, die Fähigkeit der Gesellschaft, sich selbst gesund und im Gleichgewicht zu halten, Wohlstand und Wohlbefinden für alle zu sichern, sowie ein gesundes und zuträgliches Lebensumfeld für alle bereit zu stellen. Für D ­ ickens ist klar, dass die viktorianischen Gesellschaftsstrukturen längst damit überfordert sind, der zunehmenden Ausbreitung von Slums entgegenzuwirken. Die Linderungs- und sozialen Sicherungsmaßnahmen der Zeit27 greifen zu kurz. In einer eigennützigen und egoistischen Gesellschaft kämpfen ­Dickens’ Figu­ ren ums nackte Überleben.28 Sie kämpfen um einen Zustand, der jedem Mitglied der großen Stadtgemeinschaft einen Platz einräumt und diejenigen, die entsprechendes Entwicklungspotenzial haben, in die funktionierende Gesellschaft eingliedert. Allerdings ohne, dass dafür andere Menschen verdrängt werden, also ohne, dass es zu einer natürlichen Selektion kommt. Diejenigen, die als menschlicher Debris dann immer noch den gesellschaftlichen Bodensatz bilden, sind nicht mehr stark genug, um das System ernsthaft zu gefährden. Bei ­Dickens triumphieren die moralischen und sozialen Werte, die Nächstenliebe trägt den Sieg davon über materielles Streben, und so steht D ­ ickens’ Vorstellung den darwinistischen Visionen diametral entgegen. Nicola Bown beschreibt darüber hinaus den Einfluss der romantischen Liebe auf die Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Selektion in Our Mutual Friend.29 Mit dem unkontrollierten Wachstum der Metropole nimmt der Ausstoß an Müll respektive die problematische Armutsgesellschaft zu, denn die wachsende Bevölkerung ist zunehmenden Verarmungsrisiken ausgesetzt. Dies führt zu einem Kollaps des Systems, da es sich nicht mehr selbstreinigen kann. Hinzu kommt, dass der Dreck (auch der soziale) vom Flussufer und den Armenvierteln, die sehr stadtnah sind, in alle Stadtviertel eindringt. Silas Wegg ist einer, den es über die Grenze schwemmt, er schmeichelt und nistet sich bei den Boffins ein (OMF: 187ff). Charles ­Dickens gestaltet die gesellschaftlichen Fluktuationen in seinem Roman also in Anlehnung an die Abläufe in einem fließenden Öko­ system: der Themse. Dabei steht die Gesellschaft exemplarisch für die Vorgänge innerhalb des Flusses. Der soziale Debris durchdringt die gesamte Gesellschaft so, wie die Themse die Uferbereiche innerhalb der Stadt mit Unrat überschwemmt, wenn sie über die Ufer tritt. Erst der Bau des Victoria Embankments im Innenstadtbereich setzt dem ein Ende. 27 Umfassende Sozialreformen waren ab dem frühen 19. Jahrhundert eingeleitet worden, darunter auch das umstrittene Poor Law von 1834. Dazu Kapitel 2.2. 28 Fulweiler, Dismal Swamp, 60. 29 Nicola Bown, What the Alligator didn’t Know: Natural Selection and Love in Our Mutual Friend, in: 19: Interdisciplinary Studies in the Long Nineteenth Century 10, 2010.

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Auch die Abfallbeseitigung in der Stadt funktioniert nicht mehr, die traditionelle städtische Infrastruktur ist überfordert. Die Paupers sind in hohem Maße konfrontiert mit Müll und Schmutz, was moralische und gesundheitliche Folgen hat: ihre Lebensumstände sind insgesamt stark beeinträchtigt und in hohem Maße umweltungerecht. Diese ethisch-moralische Problematik ist es, die auch heutige Umweltgerechtigkeitsphänomene kennzeichnet und seit Beginn der Protestbewegung gegen Ende des 20. Jahrhunderts untrennbarer Bestandteil dieser Phänomene geworden ist. Den Betroffenen fehlt der Zugang zu sauberen natürlichen Ressourcen, da diese innerhalb des Stadtgebietes nicht vorhanden sind. Auf Grund ihres niedrigen sozioökonomischen Status’ haben sie auch nicht die Möglichkeit, die Stadt zur gesundheitlichen (und moralischen) Erholung zu verlassen, wie es die besser gestellten Bürger tun.30 Es mangelt den Betroffenen also an Möglichkeiten, selbst etwas an ihrem Zustand zu verändern, sie sind weder räumlich noch sozial mobil und haben keine Möglichkeit, eine Verbesserung der Zustände aktiv mitzugestalten. Die starren viktorianischen Gesellschaftsstrukturen stehen dem entgegen. ­Dickens zeichnet ein Gesellschaftsbild, in dem die Verschmutzungen der Stadt und der Themse durch Müll und Straßendreck die Lebensumwelt und die Lebenssituation der Menschen maßgeblich beeinflussen. Die Lebensräume der sozial benachteiligten Figuren beschreibt er präzise und sensibel; auf der formal gestalterischen Ebene ist das dem amerikanischen Nature Writing ähnlich, nur dass er ein urbanes, nicht ländliches Umfeld,31 beschreibt, das von Degeneration geprägt ist: »The closed warehouses and offices have an air of death about them (…) a sun-dial on a church-wall has the look, in its useless black shade, of having failed in its business enterprise and stopped payment forever (…) fallen leaves of the few unhappy city trees grind down in corners under wheels of wind.« (OMF: 450)

Grundsätzlich lassen sich zwei innerstädtische Schauplätze ausmachen, die ­Dickens zu Fragen nach Umweltgerechtigkeit veranlassen: die Siedlung am Ufer der Themse und das Armenviertel des East End. Hier orientiert der Autor sich deutlich an Edwin Chadwicks Sanitary Report.32 Am Ufer der Themse leben die Gaffers in einer ökologischen Problemzone (OMF: 70f). Die schlammige Um­ 30 Ebd. Bown, Alligator Didn’t Know. Z. B. die Wilfers, 316; oder Lizzy, 522. Claire To­ malin, Charles ­Dickens: A Life. London 2011, 341, weist auf ­Dickens eigenes Erholungs­ verhalten hin. 31 Parham, ­Dickens in the City, 1, nimmt Bezug auf Sketches by Boz (1836). 32 Edwin Chadwick, Report on the Sanitary Conditions of the Labouring Population of Great Britain. London 1842. Der Bericht war ein Meilenstein in der Geschichte des Londoner Gesundheitswesens. Er arbeitete den Zusammenhang zwischen mangelnder Sanitär­ versorgung und Krankheit, hohen Sterblichkeitsraten und geringer Lebenserwartung deutlich heraus.

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gebung steht unter dem Einfluss der Gezeiten. In der Nähe des Gewässers ist es grundsätzlich feucht und kalt (OMF: 157) und hinzu kommt die Verschmutzung, so dass die hygienischen Zustände beklagenswert sind. Anders, aber nicht weniger problematisch, präsentiert sich das Armenviertel, insbesondere dort wo Jenny Wren lebt sowie in der Umgebung des Waisenhauses (OMF:  504ff). Müll jeglicher Art bestimmt das Straßenbild, die Unterkünfte sind armselig und die schlechten Wohnungsverhältnisse beeinträchtigen die Gesundheit. ­Dickens spricht in diesem Zusammenhang von einem Dismal Swamp (OMF: 323ff).

2.4 Abfallproblematik und Flussverschmutzung in London Durch das extreme Bevölkerungswachstum hatten sich die Probleme der britischen Metropole vervielfacht. Neben der Verschmutzung der Lebensadern – also der Wasserwege, allen voran der Themse – bestand die größte Herausforderung in der Beseitigung des organischen und anorganischen Unrats.33 In gelöster Form hatte dieser bereits 1833 zu einer vollständigen Ausrottung der früher zahlreichen und kommerziell befischten Lachspopulation geführt.34 Man kann sagen, der Stoffwechsel der Stadt war massiv gestört.35 Immer mehr Menschen, die es in die Stadt zog und die dort immer mehr Ressourcen verbrauchten,36 standen der Unfähigkeit des städtischen Metabolismus gegenüber, das Gesammelte effizient zu verwerten und die Reste wieder auszuscheiden. Ab etwa 1851 fing der Publizist ­Dickens an, sich intensiv mit dem Thema Müll auseinanderzusetzen. Seinen ersten literarischen Niederschlag fand dies in dem Essay »Dust; or Ugliness Redeemed«, den er in einer der ersten Ausgaben seiner Zeitschrift Household Words veröffentlichte.37 Die Zeitschrift hatte er gegründet, um die Anliegen der Armen und der Arbeiterklasse zu vertreten. Ein niedriger Ver 33 Bill Luckin, Pollution and Control: A Social History of the Thames in the Nineteenth Century. Bristol 1986. 34 Xueqin Mei, »英国环境史上沉重的一页 ––– 泰晤士河三文鱼的消失及其教训« (A heavy page in British environmental history – the disappearance of the Salmon from the River Thames and its lessons.), in: Journal of Nanjing University for Philosophy, Humanities, and Social Sciences 6, 2013, 15–29. 35 Das gleiche Problem hatte auch Paris. Dazu Sabine Barles, Urban metabolism and river systems: an historical perspective. Paris and the Seine 1790–1970, in: Hydrology and Earth System Sciences 11, 2007, 1757–1769. 36 Die ökologischen Auswirkungen von urbanen Metropolen auf ihr Hinterland beschrieb umfassend zuerst William Cronon, Nature’s Metropolis: Chicago and the Great West. New York 1992. 37 Charles ­Dickens, Dust; or Ugliness Redeemed, in: Household Words I/16, 1850, 379–384. Ackroyd, D ­ ickens, 939; und Gallagher, Body Economic, 107, nennen R. H. Horne als Autor. Deren Quelle ist jedoch nicht verifizierbar, womit ungeklärt bleibt, ob es sich bei dem Text um ein Plagiat handelt.

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kaufspreis sollte es einer breiten Leserschaft einen Zugang ermöglichen, außerdem hoffte der Autor, damit ein aussagekräftiges Unterstützungsorgan für die Sanitätsreform zu schaffen.38 Unkontrolliertes urbanes Wachstum, sprunghafte Bevölkerungszunahme, Verschmutzung aller Lebensbereiche und Umweltmedien führten zu dem, was sich bei ­Dickens zum Problemfeld Umweltgerechtigkeit verdichtet. Tatsächlich handelte es sich um – damals wie heute – vollkommen normale und transnational vergleichbare Entwicklungen bei der Ausbildung von großstädtischen Zentren,39 die sich zu einer großen Herausforderung für die jeweilige Stadtgemeinschaft entwickelten. Bestehende Mechanismen zur Eindämmung, Regulierung und Kontrolle waren überfordert, der Aufbau neuer Einrichtungen wurde erforderlich. Die politische Antwort darauf fiel regional (nicht unbedingt national) unterschiedlich aus. Die größten sozial-ökologischen Probleme in London waren der Dreck in den Straßen sowie die Luft- und Wasserverschmutzung. Der London Smog war längst schon legendär und – ebenso wie die Themse – stark symbolisch aufgeladen.40 Zusammen mit dem London Fog stellte er sich gesamtgesellschaftlich bis ins 20. Jahrhundert als größte Herausforderung heraus, wird aber in Our Mutual Friend nicht explizit thematisiert.41 Wie viele andere Großstädte des 19. Jahrhunderts sah sich London mit der Notwendigkeit eines strukturellen Umbaus konfrontiert. Der historische Stadtkern war damals in baulicher und sozialer Hinsicht noch mittelalterlich. Mit Beginn der Industrialisierung überschwemmten Zuzügler nicht nur die verwinkelten alten Straßenzüge und Plätze der Innenstadt, sondern auch die Peripherie, was die städtische Infrastruktur vor ungeahnte Herausforderungen stellte. Zwischen 1810 und 1851 wuchs die Bevölkerung von etwas mehr als 1  Million auf 2,5  Millionen Menschen an, was Wohnraum knapp und teuer werden ließ.42 Das öffentliche Gesundheitswesen erwies sich für die Bedürfnisse einer derart schnell wachsenden Stadt als antiquiert und der Hygienestandard verfiel zusehends. Märkte unter freiem Himmel, Müll in den Straßen, Dreck der lasten- und passagierfördernden Pferdewagen und unzureichende Ab- und Trink­wasserversorgung – die Stadt versank im Unrat und die Menschen wurden 38 Graham Storey, K. J. Fielding, und Anthony Laude (Hrsg.), The Letters of Charles ­Dickens. Vol. 5 (1847–1849). Oxford 1981; Michael Slater, Charles ­Dickens: A Life Defined by Writing. New Haven 2009, 500 f. 39 Clemens Zimmermann, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung. Frankfurt / M. 1996, 32 ff. 40 William Cavert, The Smog of London. Energy and Environment in the Early Modern City. Cambridge 2016. 41 Ebd., sowie einschlägig Peter Brimblecombe, The Big Smoke: A History of Air Pollution in London Since Medieval Times. London 1987. 42 Gareth Shaw, Industrialisation, Urban Growth and the City Economy, in: Richard Lawton (Hg.), The Rise and Fall of Great Cities: Aspects of Urbanization in the Western World. London 1992, 55–79.

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krank und starben früh. Abgesehen vom fehlenden Verständnis für die Zusammenhänge von Krankheiten und verseuchtem Wasser war das dezentra­ lisierte System der lokalen Verwaltung ungeeignet und nicht imstande, den Abfallbergen Herr zu werden oder die städtische Wasserversorgung aufrecht zu erhalten. Die Schauplätze von Umweltungerechtigkeit wurden immer zahl­ reicher.43 Die Londoner Innenstadt veränderte sich in Folge des industriekapitalistischen Wachstums massiv: viele Bewohner zogen in die neu entstehenden Suburbs und entvölkerten den Stadtkern, dadurch kam vielen Distrikten ihre soziale Heterogenität abhanden. Beziehungen zwischen Angestellten und Arbeitgebern veränderten sich, weil Arbeits- und Lebensraum nun häufig getrennt waren und viele Stadtviertel wurden ab dem frühen 19. Jahrhundert zu sozialen Brennpunkten. In den Bezirken Whitechapel, Stepney, Poplar, Bethnal Green, Bermondsey und Southwark siedelten sich die Arbeiter der Docks an, aber auch die aus der frühen Industrie, wie Getränke- und Lebensmittelherstellung, Bauwesen und der Seifenproduktion, die zunächst in dieser Region ebenfalls florierten.44 Edwin Chadwick beschrieb in seinem Sanitary Report von 1842 als erster die katastrophalen Lebensbedingungen in den Arbeitersiedlungen.45 Auch Henry Mayhews proto-soziologischer Band London Labour und London Poor von 1861 machte die katastrophalen Zustände öffentlich.46 Charles D ­ ickens war nicht der einzige, der diese Verhältnisse literarisch verarbeitete. Charles Kingsley etwa widmete sich ebenfalls der sozialen Frage und stellte die Themse mit ihrem vielschichtigen Symbolpotential in den Mittelpunkt eines Kinderbuches.47 Reports wie die von Chadwick oder Mayhew waren erste große Schritte, ein öffentliches Gesundheitswesen und Stadthygiene zu etablieren.48 Mitte des Jahrhunderts begann der sukzessive Aufbau einer zentralen Stadtadministration. Neue Verwaltungsstrukturen, Kommunikationswege und Gesundheitspflege sollten weiteres Wachstum ermöglichen. Diese Entwicklungen gingen allerdings nur schleppend voran und dauerten etwa von 1820 bis 1914 an. Eine bedeutende Rolle spielte dabei die Metropolitan Police Force und das Metropolitan Board of Works, das

43 Anthony S. Wohl, Endangered Lives: Public Health in Victorian Britain. London 1984. 44 Anthony S. Wohl, The Eternal Slum: Housing and Social Policy in Victorian London. London 1977. Die heutige Verwaltungseinheit des Greater London wurde erst 1965 zusammen geführt und die ursprünglichen 32 Boroughs mit dem Umland verbunden. 45 Chadwick, Sanitary Conditions. 46 Henry Mayhew, London Labour and the London Poor, Bd. II. London 1861. 47 Charles Kingsley, The Water-Babies. A Fairy Tale for a Land Baby. London 1863. 48 Rolf Lindner, Walks on the Wild Side: Eine Geschichte der Stadtforschung. Frankfurt 2004; David R. Green, Pauper Capital: London and the Poor Law, 1790–1870. Farnham 2010. Einschlägig zu Edwin Chadwicks Leben und Arbeiten, Richard A Lewis, Edwin Chadwick and the Public Health Movement. London 1952. Zu Henry Mayhew: Richard Maxwell, Henry Mayhew and the Life of the Streets, in: Journal of British Studies 17/2, 1978, 87–105.

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auch die Aufgaben der Behörde für Bauordnungen und der Kommission für Kanalisationen übernahm.49 Der Müll stellte in London in sensueller,50 ästhetischer, ökologischer und sozialer Hinsicht – wie in ­Dickens’ Our Mutual Friend literarisch verarbeitet – eine zentrale Herausforderung dar. Die Reinhaltung der Straßen wurde ab 1839 durch den Metropolitan Police Act geregelt, unter der Kategorie III »Provisions for regulating Houses of Public Entertainment, and preventing Nuisances.«51 Für Verunreinigungsvergehen ist dort ein auffällig hohes Strafgeld von 40 Shilling52 festgelegt und die Verbotsliste für alles was potentiell zu einer materiellen oder sensuellen Verschmutzung der Straßen hätte führen können, ist lang. So war es beispielsweise untersagt, Dinge zu verbrennen, Materialien (zwischen) zu lagern, Schweinekoben zur Straßenseite hin zu unterhalten bzw. Unrat auf der Straße zu entsorgen, Abfall einfach nur auf die Straße zu werfen oder Teppiche auszuklopfen (Türmatten waren die einzige Ausnahme, aber nur vor 8 Uhr morgens).53 Um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen, listete der Act detailliert auf, was unter Unrat zu verstehen sei: »any dirt, litter or ashes, or any carrion, fish, offal or rubbish.«54 Da man sich bewusst war, dass auch die städtische (Trink-)Wasserversorgung durch den Schmutz in Mitleidenschaft gezogen wurde, sollte sichergestellt werden, dass keiner der genannten Stoffe vorsätzlich oder aus Versehen »into any sewer, pipe or drain or into any well, stream or watercourse, pond or reservoir for water«55 gelangte, auch nicht in Abflüsse aus herstellenden Gewerbebetrieben. Offensichtlich war man sich schon in den 1830ern darüber im Klaren, dass die Wasserversorgung so etwas wie die hygienische Achillesferse einer an­ wachsenden Großstadt ist.56 Der Beseitigung von Exkrementen jeder Art galt in London besondere Aufmerksamkeit; wieder detailliert aufgelistet war jegliche Art von Offensive Matter im Absatz zur Entsorgung von Schweinedreck. Wegen 49 Zur Rolle der verschiedenen Boards, siehe z. B. David Edward Owen, The Government of Victorian London, 1855–1889: The Metropolitan Board of Works, the Vestries, and the City Corporation. Cambridge 1982. 50 Zum geruchlichen Vergleich mit Paris, siehe David S. Barnes, Confronting Sensory Crisis in the Great Stinks of London and Paris, in: William A. Cohen und Ryan Johnson (Hrsg.), Filth: Dirt, Disgust, and Modern Life. Minneapolis 2005), 103–132. 51 Ebd. »Metropolitan Police Act,« 1839, COLR 49.8, London Metropolitan Archives. Unter nuisance, heute übersetzt als Ärgernis oder Missstand, verstand man damals den Tatbestand der Belästigung. Ethymologisch lässt sich aus dem Begriffswandel eine Verbindung zur damals vorherrschenden Miasmatheorie vermuten, da stinkende Abfälle potenzielle Krankheitsherde darstellten. The Concise Oxford Dictionary of English Etymology. 52 Das durchschnittliche Gesamteinkommen einer Arbeiterfamilie lag damals bei 18–21 Shilling pro Woche. 53 Ebd. Metropolitan Police Act. 54 Ebd., 28. 55 Ebd. 56 Ähnliche Beispiele in Platt, Shock Cities.

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der Geruchsbelästigung durfte der nicht zwischen 6 Uhr morgens und 12 Uhr nachts beseitigt werden und dann auch nur in Fuhrwerken mit entsprechender Abdeckung. Das konnten die Anwohner selbst machen oder aber durch private Unternehmer, sogenannte Nightmen, erledigen lassen. Alle Stellen, »in which any such offensive matter shall have been placed, slopped or spoiled«,57 sollten gründlich gereinigt werden. Sogar Pferdefuhrwerke durften nach der morgendlichen Straßenreinigung nicht mehr durch die Straßen fahren. Dies alles weist darauf hin, dass man zunächst versuchte, auf Basis der bestehenden städtischen Infrastruktur eine Verbesserung der Zustände herbeizuführen, während umfassende Reformen erst nach und nach konzipiert wurden. Auch lassen sich aus dem Act Rückschlüsse darauf ziehen, wie viel des alltäglichen Lebens auf der Straße stattfand, nicht zuletzt wegen der beengten Wohnraumsituation.58 Ein gewisses Problembewusstsein war also durchaus vorhanden. Das zeigt auch der Titel der Vorschriften zur Reinhaltung öffentlicher Plätze und die Tatsache, dass die Stadtpolizei dafür zuständig war, den Erlass und dessen Vorschriften durchzusetzen. Allerdings waren die Verantwortungsbereiche innerhalb der Stadtverwaltung zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehr weit ausdifferenziert. Weshalb die Versuche, Londons hygienische Missstände zu regulieren, unzureichend blieben. War auch die Auflistung bis ins kleinste Detail genau, mangelte es trotzdem an Umsetzungsmaßnahmen. In den folgenden zwei Jahrzehnten bildeten sich daher vielfältige Initiativen, um die Umweltprobleme der Stadt von bürgerlicher Seite aus in den Griff zu bekommen. Es entstanden die Metropolitan Sanitary Association, die Metropolitan Commission of Sewers oder das Metropolitan Board of Works, das später auch die Müllabfuhr regelte. Das nächste überarbeitete Gesetz zur Straßenreinhaltung wurde im Jahr 1867 als sogenannter Metropolitan Streets Act veröffentlicht.59 Dort sollte der Stadtverkehr geregelt und damit die Straßensicherheit für alle Nutzer erhöht werden. Altbewährt setzte man auf zeitliche Einschränkungen, etwa mit dem Ziel, den von Nutztieren verursachten Dreck einzudämmen. Zwischen 10 Uhr morgens und 7 Uhr abends war es verboten, Vieh durch die Straßen zu treiben, auch Fuhrwerke waren eingeschränkt.60 Eine detaillierte Auflistung verschiedener Abfall 57 Metropolitan Police Act, 29. 58 Dass Gerüche ausschlaggebender Faktor für den Stadtumbau selbst sein konnten, zeigt für New York, Melanie Kiechle, Navigating by Nose: Fresh Air, Stench Nuisance, and the Urban Environment, 1840–1880, in: Journal of Urban History 41, 2015, 1–19. 59 Metropolitan Streets Act – An Act for Regulating the Traffic in the Metropolis, and for Making Provision for the Greater Security of Persons Passing through the Streets. »Metropolitan Streets Act – An Act for regulating the Traffic in the Metropolis, and for Making Provision for the Greater Security of Persons passing through the Streets,« 20. August 1867, CLRO P. D. 50.8, London Metropolitan Archives. 60 Ebd., 7.

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bestandteile fehlt in diesem Act. Anscheinend war das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr notwendig. Allerdings wohl nicht deshalb, weil Passanten keinen Müll mehr fallen ließen, sondern, weil sich mittlerweile ein einheitliches Abfuhsystem für (Haus-)Müll etabliert hatte.61 »All ashes, dust, or refuse«62 wurden abgeholt und es war den Einwohnern von Gesetzes wegen vorgeschrieben, diesen Abfall vor 8 Uhr morgens in einer Box oder einem Fass auf dem Fußweg vor dem Haus zu platzieren, damit er von den Scavengers63 beseitigt werden konnte. Auch für die Verwertung des Mülls hatten sich weiterführende Handelsstrukturen durchgesetzt. Der von den Scavengers gesammelte Müll wurde auf den berühmten Dust Mounds zusammengetragen. Deren Betreiber, wie der fiktive Mr. Harmond, sorgten dann mit Hilfe von privaten und oder angestellten Sortierern für die Rückführung der Materialien in die Stoffkreisläufe der Stadt. Eine ausführliche und wohl informierte Beschreibung dieser Sortierindustrie liefert ­Dickens in seinem bereits zitierten Dust-Essay. Dabei zeigt er zum einen die effiziente und penible Sortierung und die umfassenden Wiederverwertungspraktiken auf.64 Zum anderen gibt die Auflistung der verschiedenen Soft- und Hard-Ware Kategorien Aufschluss über die Zusammensetzung und Wege der Stoffströme der Metropole, in der nichts unverwertet blieb. Knochen etwa wurden sorgfältig aussortiert und an Seifensieder verkauft, keramische Scherben an Straßenbauer, organische Abfälle an Landwirte, und so weiter.65 Bei ­Dickens kommt hier bereits das Thema der stadtgeographischen Umweltungerechtigkeit auf: Die Arbeiter in den Dust-Heaps lebten nur die Straße hinunter, in unmittelbarer Nähe zu den Müllbergen.66 Der nächste Erlass, der für die Abfallbeseitigung im Londoner Stadtbereich relevant war,67 ist der Public Health Act von 1875,68 der das Thema unter »Scaven-

61 Peter Atkins, »Animal Wastes and Nuisances in Nineteenth-Century London,« in: Ders. (Hrsg.), Animal Cities: Beastly Urban Histories. Ffarnham 2012, 19–51. 62 Ebd. »Metropolitan Streets Act – An Act for regulating the Traffic in the Metropolis, and for Making Provison for the Greater Security of Persons passing through the Streets,« 25. 63 Mayhew, London Labour 172; 450, die Arbeitsbedingungen der scavangers. 64 Peter Hounsell, London’s Rubbish. Two Centuries of Dirt, Dust, and Disease in the Metropolis. Stroud 2013. 65 ­Dickens, Dust, 380. 66 Ebd., 380; 384. 67 Der Public Health Act von 1848, wurde in Folge von Edwin Chadwicks Sanitary Report (1842) initiiert und nach der 1847/48 Cholera-Epidemie schließlich durchgesetzt. Absurderweise schloss er das Londoner Stadtgebiet aus. Ähnlich wie bei früheren Regelungen erscheint er als halbherzige Maßnahme zwischen strikten Zentralisierungsbestrebungen und lokaler Souveränität, in deren Rechten sich die Stadt London nicht beschneiden lassen wollte. Ein spekulativer Ansatz für die Sonderrolle der Hauptstadt liegt in der administrativen Resignation vor den infrastrukturellen und Umweltproblemen. 68 Public Health Act 1875, zugegriffen Februar 14, 2013, http://www.legislation.gov.uk/ ukpga/Vict/38-39/55.

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ging and Cleansing« aufgreift. Die Abschnitte 91–111 betreffen direkt den Umgang mit Nuisances in den jeweiligen Distrikten. Zu diesem Zeitpunkt war zudem die Ausdifferenzierung der innerstädtischen Zuständigkeitsbereiche schon relativ weit fortgeschritten. Abschnitt 91 etwa listete genau auf, was unter den Nuisances zu verstehen sei, z. B. sämtliche Örtlichkeiten, die sich in einem Zustand befanden, der als Belästigung empfunden wurde, oder schädlich für die Gesundheit seien, ebenso faulige (Ab-)Wasserleitungen, Ställe, Anhäufungen oder Lagerstätten, genauso wie Feuerstellen und Kamine mit hohem Rauchausstoß, darüber hinaus aber auch überfüllter Wohnraum oder schlecht gelüftete und überfüllte Arbeitsstätten.69 Diese Auflistung schloss also die Verschmutzung sämtlicher Umweltmedien (Erde, Wasser, Luft) mit ein, was in direkte Beziehung zu physischer Gesundheit gesetzt wurde und ist daher als ein Anliegen der Autoritäten zu werten, umweltungerechte Zustände durch Verschmutzung generell zu vermeiden. Der Aufmerksamkeit war nicht entgangen, dass alleine eine bestimmte Umgebung nachteilige Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen haben konnte. Aufbauend auf die Miasmatheorie, die den Ursprung krankmachender Luft im Boden lokalisierte, begann man nun, sozial-räumliche Benachteiligung der Bevölkerung durch Umweltverschmutzung ebenfalls zu beachten. Die neuen gesetzlichen Regelungen lassen den Rückschluss zu, dass Florence Nightingales Einschätzung, »(t)he connection between the health and dwelling of the population is the most important one that exists«,70 durchaus gesellschaftliche und behördliche Resonanz fand. So war es beispielsweise gemäß Abschnitt 97 des Gesetzestextes möglich, ein Gebäude als »unfit for human habitation« zu klassifizieren, so dass die Nutzung bzw. Vermietung als Wohnraum künftig verboten war.71 Waren die Mängel beseitigt, konnte nach erneuter gerichtlicher Über­ prüfung diese Einschränkung wieder aufgehoben werden.72 In diesem Absatz lässt sich die Schutzabsicht also noch deutlicher erkennen. Hygienische Missstände wurden als schädlich und gesundheitsgefährdend eingeschätzt, weshalb dagegen vorgegangen werden musste, sobald Menschen dem ausgesetzt waren. Fraglich bleibt, inwiefern sozial- und einkommensschwache Mitbürger tatsächlich eine derartige gerichtliche Überprüfung selbst in die Wege leiten konnten. Unklar ist auch, ob die gute Absicht des Gesetzgebers überhaupt erfolgreich durchgesetzt werden konnte. Es gibt vielmehr ausreichende Hinweise darauf,

69 Allerdings nur diejenigen, die nicht bereits unter einen General Act zur Regulierung von Fabriken oder Backhäusern fielen. Ebd., 91–6, 31. 70 Popular quote. Siehe dazu etwas Nightingales Schriften zur Krankenpflege, in denen ausreichende und richtige Belüftung von Wohnraum ein zentrales Thema darstellt, wie z. B. Florene Nightingale, Notes on Nursing: What it is and what it is not, Boston 1860, 120. 71 Public Health Act 1875, 33. 72 Ebd.

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dass sich die Zustände in den Wohnvierteln innerhalb der Stadt und den Außenbezirken auch nach Inkrafttreten des Gesetzes nur wenig veränderten.

2.5 Zustand der Themse und Eindeichung Dezidierte gesetzliche Regelungen, um der Verschmutzung der Themse entgegenzuwirken, wie der Rivers Pollution Prevention Act von 1867, wurden erst relativ spät erlassen. Aus den verschiedenen Diskursen um und über die Einrichtung des Abwassersystems für die Stadt geht hervor, dass der Fluß innerhalb der Londoner Distrikte schon ab den 1850ern zu allen Zeiten sauber gehalten werden sollte.73 Der Act for the Embankment of Part of the River Thames, on the South side thereof, verabschiedet 1863, enthält ebenfalls dahingehende Absätze.74 Gesetze zur Sauberhaltung der Stadt und Sanitätsreformen waren bereits auf den Weg gebracht worden, während gleichzeitig über die Eindeichung des Flusses verhandelt wurde.75 Die Debatten um den Bau des Uferdammes nördlich von Westminster Bridge verdeutlichen, dass diese Eindämmung und gleichzeitige Kanalisierung des Flusses die reduzierte Fließgeschwindigkeit korrigieren sollte, um eine damit einhergehende Ablagerung von Sedimenten zu verhindern.76 Die Eigenschaft des Flusses, regelmäßig über die Ufer zu treten und die Uferbereiche mit seinem verschmutzten Wasser zu durchweichen, wurde in diesem Zuge vom hygienischen Risiko zum Verschmutzungsproblem hochgestuft.77 Wie wichtig der Schutz der Themse den Einwohnern der Stadt war, zeigt die Existenz der Gruppe Conservators of River Thames. Diese setzen sich für die Regulierung der Fließgeschwindigkeit ein und waren beratend tätig, während Uferdamm und Abwasserkanalisation  – aus logistischen Gründen gleichzeitig – gebaut wurden.78 Eine zentrale Aufgabe dieses Komitees war es etwa, die Nassgrabung im Flussbett durchzuführen und die ausgehobenen Materialien, nämlich »gravel, sand, and soil« so zu lagern, dass sie zur Füllung der Damm-

73 Metropolitan Sewage Report to the Court of Common Council, from the City Members of the Metropolitan Commission of Sewers. Presented 13th March 1851. COL TSD EG 06 01 027; EMD Papers Box 1.2, London Metropolitan Archives, 5. 74 Thames. An Act for the Embankment of part of the River Thames, on the South Side therof, The parish of S. Mary Lamberth, and other purposes. 28. July 1863. PDO 160.12, London Metropolitan Archives. 75 Dale H. Porter, The Thames Embankment: Environment, Technology, and Society in Victorian London. Akron 1998. 76 Vgl. Metropolitan Board of Works Minutes, Thames Embankment Commission, 28/10/1862–11/01/1864. LCC . Records MBW 1, 117, London Metropolitan Archives, 5–7. 77 Luckin, Pollution and Control. 78 Zum Bau des Londoner Abwassersystems im Vergleich mit der Pariser Kanalisation, siehe John von Simson, Kanalisation und Städtehygiene im 19.Jahrhundert. Düsseldorf 1983.

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konstruktion und zur Aufschüttung neugewonnener Flächen verwendet werden konnten.79 Hierbei handelt es sich, wie auch bei der Rückführung der einzelnen Abfallbestandteile, um traditionelle Praktiken der Weiterverwertung vorhandener Ressourcen, die letztlich nachhaltig waren. Nur falls das Team der Conservators of the Thames seine Arbeiten nicht fristgerecht einleiten würde, sollte Material anderer Herkunft bezogen werden.80 Wie sich aus dem Index des Protokollbuches relativ leicht entnehmen lässt, war die Zusammenarbeit zwischen dem Embankment Committee und den Conservators nicht besonders erfolgreich und effektiv.81 Das mag, wie aus einem Eintrag vom 11. Mai 1863 hervorgeht, an einem grundsätzlichen Kompetenzgerangel gelegen haben.82 Als aufschlussreich über die Verschmutzungsdebatte erweist sich vor allem der Report des Ingenieurs Joseph Balgazette On the Main Drainage of London vom 14. März 1865, in dem er nicht nur die zukünftigen Planungen vorstellt, sondern auch einen Bericht über den Zustand des Flusses seit den 1840ern abgibt.83 Eine Trockenlegung bestimmter Bereiche sollte demnach vornehmlich aus hygienischen Gründen zum Schutz gegen Malaria und andere Krankheiten erfolgen. »It is, however, impossible for large numbers of the human species to congregate and live upon a limited space, without provision being made for the rapid removal of the refuse thereby«.84 Mit dieser grundsätzlichen Beobachtung gibt er ganz einfach die natürliche Sachlage wieder, was darauf hindeutet, dass Balgazette sich über die neuesten Erkenntnisse naturwissenschaftlicher Forschung informierte, aber auch, dass gesunder Menschenverstand und aufmerksame Beobachtung bereits ein solides Handwerkszeug zur Identifizierung urbaner Umweltprobleme bereitstellten. Auf den dann folgenden Seiten präsentiert der Ingenieur umfassende Ausführungen zu den notwendigen Untergrundarbeiten und stellt konzise die Probleme und Missstände dar, die aus den bisherigen Lösungsversuchen entstanden waren.85 1847 etwa sei den Behörden, so Balgazette, bei der Umsetzung der Zentralisierungsbestrebungen der Regierung ein kapitaler Fehler unterlaufen, als die Commission of Sewers von der Metropolitan Commission of Sewers abgelöst wurde. In diesem Zuge hatte man die lokalen Cess Pools abgeschafft, was schließ 79 Metropolitan Board of Works Minutes, Thames Embankment Commission, 28/10/ 1862–11/01/1864. LCC . Records MBW 1, 117, London Metropolitan Archives. 80 Ebd., 14. Spezifiziert werden diese anderen Quellen nicht, allerdings könnten durchaus Dust-Heaps eingeschlossen sein, wenn man die Klassifikation in ­Dickens’ Dust-Essay einbezieht. 81 Ebd., Index. 82 Ebd., 11. Mai 1863. 83 Balgazette, The Main Drainage of London, 14. März 1865. COL TSD EG 06 01 027; EMD Papers Box 1.27, London Metropolitan Archives. 84 Balgazette, Main Drainage, 2. 85 G. C. Cook, Construction of London’s Victorian Sewers: The Vital Role of Joseph­ Bazalgette, in: Postgraduate Medical Journal 77/914, 2001, 802.

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lich dazu geführt habe, dass »all house and street refuse was turned into the river.«86 Dasselbe System, von »pipe-sewers of small dimensions,« sei nicht nur in London, sondern in vielen Provinzstädten adaptiert worden, was zwar zu einer Verbesserung der Entwässerung beigetragen habe, »but the rivers and streams of this country have become very generally and seriously polluted.«87 Balgazette lobt die Ingenieursleistung seiner Mitstreiter, kritisiert jedoch gleichzeitig ein mangelndes Verständnis für systematische, auch ökologische Zusammenhänge. Die grundsätzlichen Auswirkungen von Abwassereinleitung in Flüsse und deren Verschmutzung waren wohl allgemein bekannt. Immerhin handelt es sich dabei um ein uraltes Problem (nicht nur) städtischer Siedlungen, und war zudem meist von Gestank begleitet, der (unabhängig von der Miasmatheorie) ein guter Indikator für den Grad einer Verschmutzung war. Es ist jedoch davon auszugehen, dass hier die Sauberhaltung der Umwelt grundsätzlich der Entwicklung und der Bequemlichkeit des Menschen in seinen wachsenden Siedlungen hinten an gestellt wurde. Zumindest so lange, bis eine gesundheitliche Beeinträchtigung der Menschen offensichtlich wurde. Immerhin war es bereits, so stellte Balgazette fest, seit der 2. Commission 1842 der Fall, dass »[t]he Thames at that time was becoming full of sewage.«88 Aus einem Brief von Florence Nightingale an den Medical Officer der Stadt London 1891 geht hervor, dass das Problem der Abwässer für das Umland trotzdem noch lange nicht gelöst war.89 In seinen weiteren Ausführungen zur Konstruktion des neuen Abwasser­ systems weist der Ingenieur vor allem auf den Einfluss der Gezeiten auf die Themse und die Selbstreinigungskraft des Gewässers hin, aber auch ihre Auswirkungen auf den Fluss selbst und damit die Stadt und deren Bewohner. Da es wohl nicht möglich sei, die Einleitung des Abwassers in den Fluss ganz zu vermeiden, müsse darauf geachtet werden, die einleitenden Abflüsse dort zu konstruieren, wo die Gezeiten wenig bemerkbar und die Fließgeschwindigkeit entsprechend hoch sei. Auch zeitliche Regelungen, abgestimmt auf die Tiden, seien hilfreich, um eine Ablagerung des eingeleiteten Unrats zu vermeiden. Dies sei bisher nicht immer berücksichtigt worden, was etwa dazu geführt habe, dass die Abwässer »rose through the house drains and flooded the basements of the houses.« Über die Wirkung von der Einleitung der Abwässer bei niedrigem Wasserstand auf den Fluss selbst schreibt er weiter, »was most injurious because not only was it carried by the rising tide up the river, to be brought back to London by the following ebb-tide, there to mix with each day’s fresh supply, – the progress of many days’ accumulation towards the sea being almost 86 Balgazette, Main Drainage, 6. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Florence Nightingale, The first possibility of rural cleanliness lies in water supply, Letter to the Medical Officer of Health (November 1891).

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imperceptible, – but the volume of the pure water in the river, being at that time at its minimum, rendered it quite incapable of diluting and disinfecting such vast masses of sewage.«90

Bemerkenswert ist hier die Spezifizierung des Selbstreinigungseffektes in Diluting und Disinfecting. Es wird deutlich, dass durch die großen Mengen von Abwasser die Selbstreinigungskraft des Flusses massiv gestört wurde. Balgazette unterstreicht weiter, dass das Wasservolumen der Themse zu gewissen Zeiten weder die Trinkwasserversorgung der Stadt sicherstellen, noch das produzierte Abwasser natürlich reinigen konnte.91 Daraus lässt sich ableiten, dass die technische Anerkennung des limnologischen Selbstreinigungseffekts als konzeptuelle Grundlage für die wasserbaulichen Anpassungen der Themse galt; dazu zählen auch die Rieselfelder etwas außerhalb des Stadtbezirkes.92 Sowohl die Einrichtung effizienter Abwassersysteme, als auch die Bereitstellung sauberen Trinkwassers  – zwei wichtige Anliegen der Sanitätsreform  – leisteten zudem als modernes Wassermanagement einen Beitrag zu umweltgerechten urbanen Verhältnissen. Bedingt durch die geographischen Verhältnisse Londons unterscheidet sich dieser Lösungsansatz vom Konzept der Opferstrecke, das sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Diskurs um Abwassereinleitung in natürliche Gewässer allgemein durchgesetzt hatte.93 Wie Joseph Balgazettes Ausführungen zu entnehmen ist, stellte dieser die notwendigen Ingenieursleistungen zur Reinhaltung der Themse in den Dienst der Bevölkerung, um gerechte Wasserverhältnisse zu sichern. Der sanitäre Umbau der Themse wurde auch von Charles ­Dickens in einer Kurzgeschichte mit dem prägnanten Titel London Water thematisiert, die er in seiner literarischen Wochenzeitschrift All the Year Round94 in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben Anfang November 1861 veröffentlichte.95 In der Zeitschrift wurden die professionellen und politischen Debatten in einer sehr eigenen Mischung aus fiktionalem und nicht-fiktionalem Stil einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. ­Dickens kritisierte hier unter anderem den strukturellen Umbau der Stadt bei der Einrichtung einer neuen systematisierten Wasser­ versorgung auf Kosten des mittelalterlichen Londons.

90 Balgazette, Main Drainage, 10. 91 Ebd., 13. 92 Vgl. Simson, Kanalisation. 93 Agnes Kneitz, Polluted Waters, in: On Water: Perceptions, Politics, Perils RCC Perspectives 2, 2012, 71–76. 94 All the Year Round ist Charles ­Dickens’ literarische Wochenzeitschrift, die er direkt nach Aufgabe der Household Words gründete. 95 Charles ­Dickens, London Water, in: All the Year Round 4, 1861, Nr. 132 Sat. 2. November und 133 Sat. 9. November.

3. Charles ­Dickens und soziales Engagement

3.1 Fürsorgemaßnahmen als Zeichen gesellschaftlicher Überlegenheit Von sozialer Gerechtigkeit konnte in D ­ ickens’ London nicht die Rede sein. Zum Schutz vor den Folgen bitterster Armut existierte zwar das sogenannte Poor Law, das man unter dem Druck der beginnenden Industrialisierung 1834 erneuert hatte.1 Das neue Armengesetz reformierte und zentralisierte die existierende Armenfürsorge, die in den verschiedenen Stadtteilen (Boroughs) unter dem Dachverband des London Board of Guardians (z. B. der City of London Union für das heutige Central London) zusammengefasst wurde. Allerdings hatte es vor allem Kostensenkungen zum Ziel, wogegen sich eine steigende Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern (darunter Charles ­Dickens und seine Freunde) aktiv politisch engagierten.2 Nachdem die Verantwortlichkeiten umstrukturiert waren, blieben die Boards der einzelnen Distrikte und Parishes weiterhin existent, und damit auch in weiten Teilen die traditionellen (mittelalterlichen) Gesellschaftsstrukturen. Man kümmerte sich auf lokaler Ebene um sozial benachteiligte Mitbürger, soweit diese nachweislich Hilfe benötigen bzw. dieser Hilfe würdig erachtet wurden. Nicht selten führte das zu Diskriminierung.3 Die Guardians kontrollierten die Armen- und Arbeitshäuser sowie die Outdoor Relief Officers, die überall dort und dann Hilfe zur Verfügung stellten, wenn keine Unterbringung in den Armenhäusern möglich war.4 Außerdem überwachte ein Poor Law Board die Umsetzung des Acts von 1834 stadtweit. Wie aus den Orders in Council des zentralen Board of Guardians hervorgeht, wurden die dazugehörigen Anweisungen und Regularien im Laufe des Jahres 1837 festgelegt. In den folgenden Jahrzehnten, in denen sich die Stadt und ihre Bevölkerung nachhaltig veränderten, gab 1 An Act for the Amendment and better Administration of the Laws relating to the Poor in England and Wales. [4 & 5 Will. IV cap. 76], 1834, London Metropolitan Archives. 2 Ruth Richardson, ­Dickens and the Workhouse: Oliver Twist and the London Poor. Oxford 2012. 3 Green, Pauper Capital. 4 Die Pflichten der Guardians, Relief officers, etc. wurden mit Wirkung vom 23. März 1837 implementiert, An Act for the Amendment and better Administration of the Laws relating to the Poor in England and Wales. [4 & 5 Will. IV cap. 76]. CBG/299/001, London Metropolitan Archives.

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es nur wenige Anpassungen an die veränderten lokalen Verhältnisse.5 Dies betrifft auch die Neuauflage der erforderlichen Formulare im Jahre 1870, mit denen eine stadtweit einheitliche Vorgehensweise zur Versorgung der Paupers gewährleistet werden sollte. Vor allem die Starrheit dieser – dazu noch extrem regulierten und diskriminierenden  – Versorgungs-Maschinerie war es, gegen die sich die Aktivisten stellten. Zudem basierte die Reform des Poor Laws auf Studien, die zum Zeitpunkt des erwirkten Gesetzes – so rapide wie sich die Stadt entwickelte – längst wieder überholt waren. Zur Kritik an der Armenfürsorge und daran, wie sie umgesetzt wurde, gab auch die Haltung gegenüber den sozialschwachen Mitbürgern Anlass, die dem gesamten System zugrunde lag.6 Auf einer paternalistischen Grundhaltung aufbauend, wurde den Wohltätigkeitsempfängern nicht nur ihre Unterlegenheit und Abhängigkeit vor Augen geführt, sondern es wurde ihnen auch die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme für das eigene Leben gleichsam abgesprochen. Dies schlägt sich etwa in der kleinteiligen Regelung sämtlicher Lebensbereiche für die Insassen der Arbeits- und Armenhäuser und der Empfänger des Outdoor Reliefs durch das Board of Guardians nieder. Entsprechende Erlasse variierten je nach Art des Etablissements, blieben jedoch innerhalb des Stadtgebietes einheitlich und umfassten alles, von der Rationierung der Nahrung,7 über die Kleidung und den Tagesablauf, bis hin zur Wahl des Wohnsitzes.8 Diese Art der Fürsorge war es, die von den englischen Sozialreformern des 19. Jahrhunderts angeprangert wurde, und die auch ­Dickens wiederholt thematisierte. Zumal diese Haltung gegenüber den Schwachen nicht nur etwa auf geistig und körperlich Behinderte oder Kinder begrenzt blieb, sondern die Gesamtheit der Hilfsbedürftigen einschloss, und ganz offenbar die Unterstützung an die Bedingung knüpfte, die eigenen Persönlichkeitsrechte abzugeben.9 Hilfe gewährte die Bürgerschaft also nicht selbstverständlich bei nachgewiesener Bedürftigkeit. Anwärter auf Unterstützung mussten sich erst durch entsprechendes moralisches Verhalten nachweislich als würdig erweisen. Anständiges, sozial erwünschtes Verhalten blieb ausschlaggebendes Kriterium für die weitere Förderung, weshalb darüber genauestens Buch geführt wurde. Die Insassen konnten bei entsprechendem Fehlverhalten der Häuser auch verwiesen, 5 Etwa die Liberalisierung der Religious Instructions of Children vom 23. August 1859, wonach Kinder nicht mehr gezwungen wurden, entgegen der eigenen religiösen Überzeugung oder Konfession an der Religionserziehung teilzunehmen; außerdem keine religiöse Unterweisung mehr für Kinder unter 12 Jahren. City of London Board of Guardians: Orders in Council, 1857/1871, CBG/299/002, London Metropolitan Archives. 6 Roy Porter, London. A Social History. Cambridge, 1998, 490 ff. 7 City of London Union. Minute Book, September 1861 – June 1862, CBG/2/2, London Metropolitan Archives. 8 In Kraft gesetzt am 30. Mai 1842. Board of Guardians, Orders 1857. 9 Bis 1834 wurden die Bewohner der Work- und Poorhouses als Inmates bezeichnet, erst danach ist ein Bedeutungswandel erstmals nachgewiesen. Concise Dictionary.

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und die Unterstützung konnte ihnen entzogen werden.10 Diese Praktiken und Regularien geben einen deutlichen Hinweis auf die Grundeinstellung zum vermeintlichen Bodensatz der Gesellschaft und sind stilbildend für eine sich weiterentwickelnde Sozialhygiene. Es wird offensichtlich, dass benachteiligte Personen sich an strengen Entwicklungsmaßstäben messen lassen mussten, bevor eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft aktiv gefördert wurde. Bei D ­ ickens sind es Lizzy Gaffer oder Jenny Wren, deren Werdegang als Kritik an diesem System zu verstehen ist. Auch die Existenz eines Workhouse Punishment Book oder eines Pauper Classification Book zeugen von der gesellschaftlichen Überlegenheitshaltung ebenso wie das Bedürfnis der Autoritäten, die sozialschwachen Schichten zu kontrollieren und aus bestimmten städtischen Lebensbereichen herauszuhalten.11 Von ihrer Konzeption her sollten die Fürsorgemaßnahmen und -etablissements nicht nur akute Not lindern, sondern auch längerfristig die Empfänger bzw. Insassen auf ein normales selbstständiges Leben als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft, die ihren Beitrag für diese zu leisten imstande waren, vorbereiten. Daher stand auch Arbeitsplatzvermittlung mit auf dem Programm der ehrenamtlichen und angestellten Helfer.12 Allerdings durften Bewohner der Workhouses keinerlei Arbeit auf eigene Rechnung annehmen.13 Wer Arbeit hatte, musste nach Ansicht der Boards damit einen Eigenbeitrag zur Kostendeckung während der Unterbringung in einem Wohlfahrtsheim decken. Das stand dem Aufbau einer eigenen, unabhängigen Existenz entgegen. Betty Hidgen ist bei D ­ ickens die Figur, die sich nach dem Vorbild von so manchem realen Pauper freiwillig dem beengenden Sozialsystem, das auch vor Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte nicht zurückschreckte, entzieht. Über diejenigen Männer und Frauen, die aus den Arbeitshäusern in die Anstellung bei einer Fabrik vermittelt werden konnten, bzw. über diejenigen, die aus Eigen- oder Fremdverschulden wieder zurück kamen und damit wieder auf gesellschaftliche Hilfestellung zur Lebensführung angewiesen waren, wurde genauestens Buch geführt.14 Der Aufwand, der für die Hilfsempfänger betrieben wurde, sollte durch diese Dokumentationen offensichtlich als wert- und sinnvoll begründet werden und unterstreicht das Primat einer strikten protestantischen Arbeitsethik. Nur wer den Ansprüchen genügte, war der Förderung würdig. Wer sich trotz Fürsorge nicht in die bestehenden Strukturen der Londoner 10 London Union. Minute Book. 11 Board of Guardians, Orders, z. B. 17. März 1847 und 24. Juli 1847. 12 London Union. Minute Book. 13 Board of Guardians, Orders, 11. 14 City of London Board of Guardians: Letters from and to Government departments and misc. corresponcences: series A 1861. CBG/300/006, London Metropolitan Archives. 23. September 1861: 213 Männer ausgezogen, 9 aus Eigen-, 38 aus Fremdverschulden zurück; demgegenüber 178 Frauen ausgezogen, davon 17 aus Eigen-, 72 aus Fremdverschulden zurück.

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Gesellschaft (wieder)eingliedern ließ, der konnte eine Emigration in die neuen Britischen Kolonien z. B. im Südpazifik ins Auge fassen. Solche Auswanderungswünsche wurden behördlicherseits durchaus vorangetrieben.15 Dass bestimmte Lebensumstände von den Helfern als grundsätzlich schädlich erkannt wurden, ist als gegeben anzusehen. Moralische Probleme brachte man gedanklich eng mit hygienischen Missständen in Zusammenhang. Hilfsbedürftige Individuen wurden also aus sozialen Brennpunkten entfernt und in entsprechenden Etablissements untergebracht mit dem Ziel, ihnen dort eine moralisch stabile und gleichzeitig hygienische Umgebung zur persönlichen Entwicklung bereitzustellen. Die Fürsorgeeinrichtungen waren allerdings – nicht zuletzt aus Kostengründen – zumeist an unattraktive und vor allem hygienisch problematischen Standorten ausgesiedelt worden, wie etwa in die Nähe der Müllhalden. Dies betraf auch die Ansiedlung der ehemaligen Workhouse-Insassen und anderer Menschen, die der Verantwortung des Board of Guardians und seiner Unterorganisationen unterstellt waren.16 So blieb die äußere Lebenswelt der Betroffenen, die noch immer vor allem wie eine potenzielle Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung behandelt wurden, problematisch und es änderte sich für sie wenig zum Positiven. Darüber, ob ihnen durch die gewaltsame Einweisung nicht vielmehr eher Schwierigkeiten entstanden – etwa durch den Verlust des eigenen sozialen Netzwerkes – wurde seitens der Behörden nicht in Erwägung gezogen (jedenfalls nicht nachweislich). Das gesundheitliche Wohl der Armen wurde immerhin als Teil des städtischen Gemeinwohls begriffen, und die ausgefeilte Bürokratie der Armenfürsorge erstreckte sich schließlich auch auf die Erfassung von Krankheitsfällen unter den Paupers. In die Hygiene-Statistik für die Stadtgesundheit ging der »Place of Residence when attacked by disease« regelmäßig mit ein.17 Wie die Zusammensetzung der einzelnen lokalen Wohlfahrtskomitees zeigt, handelte es sich bei deren Mitgliedern ausschließlich um Angehörige der Mittelschicht. Bei D ­ ickens demonstrieren die Boffins, wie Pauper Care in gewissen Kreisen als bürgerliche Pflicht angesehen wurde und zum guten Ton zu gehören schien. Die organisierte Armenfürsorge trug allerdings vordringlich zur klasseninternen Gewissensberuhigung bei.18 Die Poor Law-Reformen verfolgten jedenfalls die Absicht, Regularien für eine umfassende Fürsorge zu schaffen, die die Lebensumstände der Armen verbesserten. So sollte beispielsweise in den Armen- und Arbeitshäusern auf ausgewogene Ernährung und die Versorgung mit frischen Lebensmitteln Wert gelegt werden.19 Theoretische Vorschriften und 15 London Union. Minute Book, 1. Oktober 1861. 16 Ebd., 13. Dezember 1861. 17 Board of Guardians. Orders, 19. 18 Porter, London. 19 London Union. Minute Book.

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praktische Umsetzung wichen allerdings deutlich voneinander ab.20 Die Reformen wurden zwar als in vielerlei Hinsicht unzureichend und diskriminierend kritisiert, dennoch zielten sie darauf ab, Gerechtigkeit und Gleichheit unter den Paupers herzustellen. Sich einen respektablen Platz in der Gesellschaft (zurück) zu erobern, blieb schwer und war vor allem an hohe Anforderungen geknüpft, die darauf abzielten, eine persönliche Entwicklung zu unterstützen. Das sollte durch Herausnahme aus einem schädlichem Umfeld und Bereitstellung geregelter und vor allem sauberer Verhältnisse erreicht werden. Die bürgerliche Initiative schaffte mit ihren gesellschaftlichen Praktiken also auch mehr Umweltgerechtigkeit. Die Realität sieht häufig anders aus, als theoretische Vorschriften es vorgeben – so auch in diesem Fall. Die Straßensäuberung in London war theoretisch detailliert geregelt, die reale Sauberkeit ließ dennoch stark zu wünschen übrig. Davon waren alle Einwohner betroffen, egal ob arm oder reich. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Stadtteile mit weniger finanzstarker Bevölkerung stärker betroffen waren als andere. Dort fehlten sowohl die Mittel, um die Regelungen umzusetzen, als auch die Möglichkeiten, die Nicht-Einhaltung von Regeln zu ahnden. Und Scavengers und Nightmen konnten nicht mit zusätzlichen Trinkgeldern rechnen.

3.2 Sozio-ökologische Beobachtungen Mit umwelthistorischem Blick betrachtet, kann man davon ausgehen, dass ­Dickens’ die Metaphorik und das Narrativ seines Romans bewusst im Hinblick auf Umweltgerechtigkeitsfragen gewählt hat. Er war sich über den Zusammenhang von Gesundheit, Verschmutzung und sozialem Status bewusst, hierzu lassen sich zahlreiche Stellen aus seinen Briefen und Reden zitieren.21 Seine Überzeugung, eine degradierte, verschmutzte physische Umwelt sei mit einer gefährlichen menschlichen Umwelt gleichzusetzen, einer viktorianischen Risikogesellschaft, wie John Parham es nennt,22 kann darüber hinaus nicht nur aus dem romantischen Erbe der Zeit erklärt werden. Genannt sei etwa das besondere Interesse an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, welches die viktorianische Literatur als Ganzes prägte, sowie ­Dickens’ persönliche Armutserfahrungen aus der Kindheit, die er nicht nur in der schriftstellerischen Tätigkeit verarbeitete, sondern die auch seinen sozial-politischen Aktivismus motivierten. Die dadurch 20 Richardson, ­Dickens and the Workhouse, 284. 21 Da ­Dickens seine Korrespondenz verbrannte, kann nur auf seine eigenen Aussagen zurückgegriffen werden. Vgl. die sog. Pilgrim Edition des Clarendon Verlag, vgl. Madeleine House u. a. 22 Parham, ­Dickens in the City, 3.

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erlebten und erlernten Zusammenhänge von Umweltfragen und sozialer Frage bilden die Basis für sein Bewusstsein von Umweltgerechtigkeit. Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit durchzieht ­Dickens’ Lebenswerk wie ein roter Faden von den Pickwick Papers (1836) bis zum unvollendeten Mystery of Edwin Drood (1870). Er war ein Kenner und Kritiker der viktorianischen Gesellschaft, die seine Liebe und Freimütigkeit in gleichem Maße erwiderte. Speziell für die Londoner Leserschaft mag sein virtuoser Umgang mit der Themse, mit der die Narrative von Gesellschaft und Umwelt eng verwoben sind und der gleichzeitig eine Dekonstruktion bekannter traditioneller Symbolik und Metaphorik an den Tag legt, besonders ansprechend gewesen sein.23 Die Themse hatte sich vor seinen Augen und denen seiner Zeitgenossen schmerzlich verändert, weshalb sie für ­Dickens ein Fluss aus Tränen und Dunkelheit gewesen sei, wie Peter Ackroyd es formuliert.24 In seinen frühen journalistischen Schriften habe er noch vom Vergnügen bei Ausflügen und Dampfbootfahrten erzählt. Doch am Ufer der Themse habe er seine Hoffnung verloren, die dunklen und tiefen Erfahrungen traten wieder hervor und überschatteten zunehmend den Optimismus, den er so gerne in sich hätte tragen wollen. Im Alter von zwölf Jahren war er zur Arbeit bei Warren’s Blacking, einer Schuhcremefabrik in Hungerford Stairs, gezwungen worden, die zunächst direkt an der Themse gelegen war, ein »crazy, tubledown old house, abuting of course on the river,« – typisch für die Industrie dieser Zeit – wie er in seinen Memoiren schrieb.25 Diese Erfahrungen verarbeitete er in seinem Oliver Twist (1839), wo bereits deutlich wird, dass der Fluss nicht nur Dunkelheit, sondern auch Tod bedeuten konnte.26 In ­Dickens’ eigener Lebensgeschichte lässt sich darüber hinaus eine der Umweltgerechtigkeit oft innewohnende Pfadabhängigkeit ablesen. Zunächst leidlich wohlhabend, wurde die Familie das Opfer väterlicher Misswirtschaft. Der ehemalige Navy Officer, der mit seiner Familie lange über die eigenen Verhältnisse gelebt hatte, landete 1824 im Schuldengefängnis, nachdem die Familie in schneller Reihenfolge ihr Zuhause erst in Kent und dann in Camden Town verloren hatte. Um die Schulden abzuarbeiten und für die Miete aufzukommen, mussten sich die ­Dickens’ mit Hilfe ihrer Kinder, die sie zur Arbeit schickten, in einem der Londoner Problemviertel über Wasser halten. Charles erwirtschaftete seinen Beitrag mit Zehn-Stunden-Schichten in der Schuhcremefabrik. Auch nachdem der Vater dank einer Erbschaft wieder frei kam, blieb Charles noch eine Weile in der Anstellung, bis er 1825 wieder 23 Die zentrale Rolle der Themse für das öffentliche Gedächtnis der Stadt beschreibt Ackroyd, Sacred River. 24 Ebd., 326. 25 Zitiert nach ebd. 26 Richardson, ­Dickens and the Workhouse, kontrastiert die Zustände in den Arbeitshäusern mit deren Darstellung in Oliver Twist.

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auf die Schule geschickt wurde. Die traumatischen Erlebnisse dort verarbeitete er später in David Copperfield. 1827 schließlich konnte sich der junge Mann als Anwaltsgehilfe verdingen und widmete sich zunehmend dem Journalismus und der Schriftstellerei.27 Trotz zahlreicher längerer Reisen verbrachte der Autor die meiste Zeit seines Lebens in London. Er spazierte regelmäßig durch die Straßen der Stadt, zehn bis zwanzig Meilen, oft des Nachts, wenn er nicht schlafen konnte.28 Wenig überraschend ist es daher, wie detailliert, beinahe penibel genau, der Roman viele historische Orte beschreibt und wie er durch akkurate Geographie besticht.29 Damit tritt ­Dickens gewissermaßen in die Fußstapfen der Stadtforscher seiner Zeit, wie etwa Henry Mayhew, zu denen er auf Grund gemeinsamer Anliegen, nämlich der Verbesserung der Zustände für die London Poor, eine enge Beziehung pflegte.30 ­Dickens hatte auch großes politisches Interesse an der Lösung der sozialen Herausforderungen seiner Zeit, weshalb er sich besonders gegen das Poor Law, unter dessen Umsetzung er als Kind gelitten hatte, engagierte.31 Anders als seine Romanwerke stießen seine politischen Forderungen jedoch nicht immer auf Gegenliebe, was auch mit seiner Offenheit gegenüber revolutionären und sozialistischen Ideen zusammenhing.32 Aus persönlicher Erfahrung und scharfer Beobachtung war er sich der Zusammenhänge zwischen physischer und mentaler Gesundheit, Verschmutzung und sozialem Status bewusst.33 Zudem war er davon überzeugt, dass umwelt 27 Dazu siehe die zahlreichen Biographien des Schriftstellers, z. B. von Ackroyd, Gelfert, Slater oder Tomalin. 28 Dargestellt sind die Eindrücke in zahlreichen Essays, z. B. Charles ­Dickens, Night Walks, in: Ders. (Hrsg.) The Uncommercial Traveller. London 1861. Diese Schriften entstanden zeitgleich zu seiner Arbeit an Our Mutual Friend. Darin verkörpert er selbst den klassischen Flaneur seiner Zeit – allerdings einen nachtaktiven. Der Beginn des Fin de Siècle ist bereits zu spüren. In Night Walks beschäftigt er sich mit dem generellen Zustand der Stadt, thematisiert aber auch die Leichenfledderei bzw. den Zustand der Themse. Das Embankment – die Eingrenzung und optische Entgrenzung – ist ebenfalls ein Thema: »But the river had an awful look, the buildings on the banks were muffled in black shrouds, and the reflected lights seemed to originate deep in the water, as if the spectres of suicides were holding them to show where they went down. The wild moon and clouds were restless as an evil conscience in a tumbled bed, and the very shadow of the immensity of London seemed to lie oppressively upon the river«, 189. 29 Allen, Cleansing the City, 88 ff. Ebenso Gilbert, Mapping the Victorian. 30 Lindner, Walks on the wild side. Mayhew besprach in seinem Werk über die Zustände der Armen in London auch die Dustmen, Scavengers, und Nigthmen. Vgl. London Labour, 172; 450. 31 ­Dickens’ Kindheit ist ausführlich in den umfangreichen Biographien beschrieben, siehe FN 121. 32 Gareth Stedman Jones, The Redemptive Power of Violence?: Carlyle, Marx and ­Dickens, in: History Workshop Journal 65, 2008, 1–22. 33 Fulweiler, Dismal Swamp.

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ungerechte Zustände verheerende soziale Konsequenzen nach sich ziehen würden. In einem Brief an den Mediziner und Sanitätsreformer Ernst Hart, der während der Gründungsveranstaltung der Association for the Improvement of the Infirmaries of London Workhouses am 3. März 1866 verlesen wurde, schrieb D ­ ickens: »My knowledge of the general condition of the sick poor in workhouses is not of yesterday, nor are my efforts, in my vocation, to call merciful attention to it. Few anomalies in the land are so horrible to me as the uncheckend existence of many shameful sick wards for paupers, side by side with a constantly recurring expansion of conventional wonder that the poor should creep into corners to die rather than fester and rot in such infamous places.«34

Eine Aussage, die er seiner Betty Higden beinahe wörtlich so in den Mund legte. Die Zustände in den Workhouses waren ihm aus seiner Kindheit deutlich in Erinnerung geblieben. Er publizierte immer wieder zum Thema Poor Law und sozial-räumliche Umweltgerechtigkeit und schuf mit seinen Zeitschriften gesellschaftliche Foren geschaffen, in denen die verschiedenen Unzulänglichkeiten der Armenfürsorge diskutiert werden konnten. In Our Mutual Friend werden insbesondere die Ungerechtigkeiten und Ausgrenzungsmechanismen der Armengesetzte illustriert. Bei ihrer Entlassung aus dem Boffin’schen Haushalt droht man Bella Wilfer und John Rokesmith etwa mit dem Workhouse (OMF: 595). Die Menschenverachtung des Fürsorgesystems kommt aber am deutlichsten in der Figur der Betty Higden zum Ausdruck, die lieber auf der Straße stirbt, als in einem Arbeitshaus Hilfe zu suchen (OMF: 505f). Damit steht Betty symbolisch für alle diejenigen, die es vorziehen, ihr Leben selbstbestimmt in Armut (als sozialer Debris) auf der Straße zu fristen, ehe sie sich in die erzwungenen Demütigungen eines diskriminierenden Sozialsystems ergeben hätten. Für Our Mutual Friend ist die Problematik der Armenfürsorge vor allem insofern interessant, als D ­ ickens über den gesamten Erzählverlauf eine Vielzahl von alternativen Strategien präsentiert, um den ungerechten Lebensumständen zu entkommen oder zumindest abseits der Armenhäuser einer selbstständigen Existenz zu fristen, aber auch Fürsorgemodelle nachzeichnet; unabhängig von deren Erfolg. So gelingt es der behinderten Jenny Wren etwa, eine florierende Nähwerkstatt betreiben, auch wenn ihr die Gesellschaftsstrukturen, trotz Unterricht, keinen Ausbruch aus ihrem Milieu erlauben. Lizzy Gaffers Ausbildung hingegen verhilft ihr dazu, mittelfristig selbstständig Arbeit zu finden (außerhalb der Stadt) und am Ende durch die Heirat mit Eugene Wrayburn sozial aufzusteigen. Auch Silas Weggs Angestelltenverhältnis bei den Boffins ist zweifelsfrei als Alternative zum Leben auf der Straße oder in einem

34 Storey u. a., Letters.

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Workhouse zu identifizieren. In ihrer Gutherzigkeit und durch den unerwarteten Reichtum befähigt, adoptieren die Boffins außerdem einen Waisenjungen, um diesem ein besseres Leben zu ermöglichen. Anregungen zu diesen alternativen Strategien zog D ­ ickens sicherlich aus seinem Engagement in der Mitte der 1840er Jahre gegründeten Poor Man’s­ Guardian Society, einer Gegeninitiative zu den bestehenden Boards of ­Guardians, die das Ziel hatte, die Missstände des Fürsorgesystems offenzulegen und gerechte Hilfsangebote zu schaffen.35 Gerade diese Darstellung einer alternativen Fürsorgegesellschaft, die auch eine Eigeninitiative zur Verbesserung der eigenen Lebensumstände fördert und positiv bewertet, fand zahlreiche Kritiker nach Erscheinen des Romans. ­Dickens’ schriftstellerische Leistung hingegen wurde nicht in Abrede gestellt, sondern durchwegs hoch gelobt.36 Aber auch Kritik blieb nicht aus. Die wahrscheinlich heftigste äußerte interessanterweise der junge Henry James, der OMF als armselig bezeichnete und dem Autor mangelnde Inspiration vorwarf. Besonders dessen Unterschichtencharaktere erregten A ­ nstoß. Erst Balzac und Hugo hatten deren literarische Existenz überhaupt ermöglicht, doch umfassend gesellschaftsfähig waren diese Charaktere deshalb noch lange nicht. Obwohl selbst von Balzac beeinflusst, kritisierte James, die Darstellung des Romanpersonals würde die Gesellschaft in keiner Weise repräsentieren und hätte darüber hinaus »nothing in common with mankind at large.« Überhaupt sollte der Autor »understand what he is talking about,« schreibt James weiter und schließt mit der Aussage, die Realität, wie sie D ­ ickens abbilde, sei schlichtweg »depressing and unprofitable«.37 Damit hatte er eigentlich nicht Unrecht. Der als solcher wahrgenommene soziale Bodensatz der Gesellschaft, so wird aus Henry James’ Kritik deutlich, wurde nicht als zur Gesellschaft gehörig akzeptiert, obwohl dessen Existenz nicht von der Hand zu weisen war. Damit fällt D ­ ickens’ Roman buchstäblich aus der Rolle. Aus James’ amerikanischer Perspektive heraus könnte es sich auch um eine gewisse Blindheit beziehungsweise mangelndes Verständnis für die Zustände in den Großstädten Europas handeln oder aber Resignation angesichts der allgemein fehlenden Handlungsspielräume. Dennoch scheint dies für einen Bürger der Neuen freien Welt ungewöhnlich. D ­ ickens’ wenig bürgerliche Charaktere waren also geradezu eine Provokation und regten offensichtlich zum Nachdenken über soziale Benachteiligung an. Erst mit dieser Kritik, die in ihren Ausführungen all das verkörpert, was ­Dickens versuchte anzuprangern, vervollständigt sich das Gesellschaftsbild, was wiederum ein deutliches Indiz dafür ist, dass der Autor mit seiner Abbildung der Londoner Gesellschaft überaus 35 Vgl. Green, Pauper Capital, 111. 36 O. A., Mr. ­Dickens’s New Story, London Review, 30. April 1864. 37 Henry James, Our Mutual Friend, The Nation (New York, 21. Dezember 1865), 786. Sein ideales Gesellschaftsbild veröffentlichte er in Portrait of a Lady 1881.

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erfolgreich war. Die Tatsache, dass die Darstellung gleichzeitig als unmöglich empfunden wurde, deutet auf eine prinzipielle Unwilligkeit hin, die bestehenden Verhältnisse zu verändern.38

3.3 Sanitäres Engagement und naturwissenschaftliches Interesse Die Sanitätsreformen waren schienen für D ­ ickens eine Möglichkeit, die Verhältnisse für die Paupers von unten herauf zu verbessern, weshalb er sich zeitlebens für sie engagierte. Besonders hervorzuheben ist dabei seine Mitgliedschaft bei der Metropolitan Improvement Society, zu deren Gründungsversammlung im Jahre 1842 er notierte, diese würde endlich alle wichtigen Themen, wie Rauchbekämpfung, Gesundheitspflege und Wasserversorgung in ihrem Anliegen vereinen.39 Welche enorme Bedeutung er der Sanitätsreform hinsichtlich einer Verbesserung der Umwelt- und Lebensbedingungen zumaß, lässt sich aus einer seiner Reden vor der Metropolitan Sanitary Association ersehen: »I can honestly declare tonight, that all the use I have since made of my eyes  – or nose – that all the information I have since been able to acquire through any of my senses, has strengthened me in the conviction that searching sanitary Reform(!) must precede all other social remedies.«40

­ ickens war ein ausgesprochener Bewunderer der Französischen Revolution D und davon überzeugt, eine aktive Reformregierung könne Abhilfe schaffen, verlor aber nie den kritischen Blick auf die Entwicklungen in Frankreich oder die Europäischen Revolutionen von 1848.41 Es ist sicherlich kein Zufall, dass er und Reformer Edwin Chadwick sich mit besonderem Eifer dafür einsetzten, die Maßnahmen des im europäischen Revolutionsjahr 1848 erschienenen Public Health Act in London umzusetzen. Seine Zeitschrift Household Words hatte der Autor außerdem Anfang der 1850er mit dem Ziel gegründet, ein Organ für die Sanitätsreformbewegung zu schaffen, und er erhoffte sich »to do the Sanitary(!) cause good service.«42 Hier veröffentlichte er immer wieder Beiträge, die in ihrer satirisch-offenen Art, in einem stilistischen Mix aus fiktionalen und nicht fiktionalen Elementen, Themen der öffent 38 Wenn auch weniger heftig, so wurden die Klassengegensätze innerhalb des Romans sowie die Darstellung der Charaktere bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts von ­Dickens’ Kritikern thematisiert. Vgl. Hobsbaum, The Critics. 39 Vgl. House u. a., Letters, 330 f. 40 Vgl. K. J. Fielding (Hrsg.), The Speeches of Charles ­Dickens: A Complete Edition. Hemel Hempstead 1988, 129. 41 Stedman Jones, Redemptive Power, 17 f. 42 House u. a., Letters, 330 f.

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lichen Hygiene behandelten.43 Mit generell verbesserten Lebensbedingungen innerhalb der Metropole, zu der jeder selbst mit beitragen konnte, so hoffte er, würden auch diese, respektive die Gesellschaft, wieder gesunden. ­Dickens Biographen Peter Ackroyd, wird die Aussage in den Mund gelegt, »If a late twentieth-century person were suddenly to find himself in a tavern or house of the period, he would be literally sick – sick with the smells, sick with the food, sick with the atmosphere around him.« ­Dickens’ einzigartige Beobachtungsgabe und seine literarische Fähigkeit erlauben es dem Leser, das London des 19. Jahrhunderts geradezu sensuell zu erleben. Seine Erzählhaltung als Smell Detective lässt die alte Stadt mit ihren Geräuschen und Gerüchen nach Dung, Dreck, ungewaschenen Körpern und Müll jeglicher Art lebendig werden, was schließlich zu deren Beseitigung führte.44 Die geschilderten Londoner Zustände nahmen ­Dickens und seine Zeitgenossen gleichermaßen als alltäglich und monströs wahr: Menschlicher Unrat war im Herzen der Stadt allzeit physisch präsent. Exkremente, Blut, Verwesung – der schmutzige oder sich zersetzende Körper ist in Our Mutual Friend omnipräsent, besonders der tote bzw. sterbende Körper.45 Gleich in der Eingangsszene wird von den Gaffers die Leiche aus dem Fluss gezogen (OMF: 3). Die Londoner Luft – besser, der Londoner Rauch – war bestens geeignet zur symbolischen Aufladung und wurde literarisch zu einem schädlichen, todbringenden Gemisch umgedeutet.46 Die Themse hatte immer aufgenommen, was die offenen Abflüsse der Stadt einführten, dennoch gewannen die Bewohner Londons bis ins 19. Jahrhunderts Trinkwasser aus dem Fluss. Daran änderten auch die zahlreichen Choleraepidemien nichts, denn gemeinhin wurde noch immer angenommen, Krankheiten verbreiteten sich durch faulige Luft oder Miasmen.47 Es schien den viktoriani­ schen Zeitgenossen, auch den gebildeteren, ganz offensichtlich, dass, was immer 43 Außerdem veröffentlichte er dort auch Romane anderer Schriftsteller, mit entsprechend kritischen Meinungen zum Thema Leichenhandel, Industrialisierung, Arbeiterleben und Verfall der Metropole. Besonders zu erwähnen ist Elisabeth Gaskells North and South (September 1854 bis Januar 1855). Sie beschreibt die Veränderung einer Stadt durch die Industrialisierung, was schließlich zu Arbeiterstreiks führt. Der Roman folgte fast direkt auf ­Dickens’ Hard Times (April bis August 1854), der ebenfalls Manchester zum Vorbild hatte. 44 Melanie A. Kiechle. Smell Detectives: An Olfactory History of Nineteenth-Century Urban America. Seattle 2017. 45 ­Dickens’ besonderes Interesse an der Beschreibung von Tod und Todeserfahrung mag damit zusammenhängen, dass mehrere Freunde und Familienangehörige starben, während er an OMF schrieb; vgl. OMF, 937 f. 46 William Cavert, Urban Air Pollution and The Country and the City, in: Global Environment 9/1, 2016, 149–165. 47 Dolly Jørgensen, The medieval sense of smell, stench, and sanitation, in: Ulrike Krampl, Robert Beck und Emmanuelle Retaillaud-Bajac (Hrsg.), Les cinq sens de la ville du Moyen Âge à nos jours. Tours 2013, 301–313.

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stinke, auch Krankheiten verursachen müsse. Ein Zusammenhang, der, wenn auch naturwissenschaftlich nicht ganz korrekt, oftmals nicht von der Hand zu weisen war. Erst 1865 formulierte Louis Pasteur die Keimtheorie und erklärte damit den Mechanismus der Tröpfcheninfektion. Erst durch den Ausbruch der Cholera in Soho 1854 – eine humanitäre Katastrophe – konnte bewiesen werden, dass die Krankheit nicht nur durch faulige Gerüche und schlechte Luft, sondern durch infiziertes Wasser verbreitet wurde; auch wenn der involvierte Mediziner John Snow dies bereits fünf Jahre vorher herausgefunden hatte.48 Das Rätsel, wie die Verbreitung der Cholera tatsächlich funktionierte, wurde jedoch nicht durch das Studium der Bakterien gelöst, sondern durch eine genaue Untersuchung des betroffenen Ökosystems; also der Stadt London mit ihrem lebensnotwendigen Organ, der Themse. Untersuchung bedeutete in diesem Falle, dass die Fußwege, auf denen die Anwohner sich mit Trinkwasser versorgten, aufgezeichnet und verfolgt wurden, eine Methode die man heute als Communal Mapping bezeichnen würde. Mit der Sperrung des Brunnens, der durch infektiösen Schmutz und menschliche Exkremente aus einer daneben verlaufenden Abwasserleitung verseucht war, konnte der Epidemie schließlich Einhalt geboten werden. Zunehmende Verschmutzung war ein für die Menschen notwendigerweise zu akzeptierendes Risiko an der Schwelle zu einer weiteren Stufe der Moderne. Ulrich Beck arbeitete später diese unsichtbaren Gefahren als typische Risikofaktoren in einer Zweiten Moderne heraus.49 ­Dickens interessierte sich bereits viele Jahre für das Thema Müll und Stadtverschmutzung, lange bevor er mit der Arbeit an Our Mutual Friend begann. Durch sein Verständnis für sozial-ökologische Zusammenhänge war er zu der Überzeugung gelangt, dass Umweltungerechtigkeit fatale soziale Konsequenzen nach sich ziehe. Lebenserfahren durch Alter und aktive Beteiligung an politischen und sozialen Debatten, war es nur ein kleiner Schritt, die Stadt selbst als ein Ökosystem zu begreifen, das durch Verschmutzung bedroht war. »Ultimately, D ­ ickens even feared that the combination of polluted air and dreadful sanitation would bring an Unnatural Humanity«,50 stellt John Parham fest und identifiziert D ­ ickens damit als proto-ökologischen Denker.51 Der Schriftsteller interessierte sich sehr für die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit, die er umfassend rezipierte. Ein Interesse, das er mit vielen seiner viktorianischen Schriftstellerkollegen teilte, die sich ebenfalls mit natur 48 Howard Brody u. a., Map-making and Myth-Making in Broad Street: The London Cholera Epidemic, 1854, in: The Lancet 356, 2000, 64–68. Zur Cholera einschlägig Norman Longmate, King Cholera: The Biography of a Disease. London 1966. 49 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. 50 Parham, ­Dickens in the City, 18. 51 Vgl. ebd., 3: »This sense, that a degraded physical environment equates to a hazardous human one – a Victorian ›risk society‹ – is, specifically ecological and it is that point, the extent to which ­Dickens foreshadowed contemporary ecological thinking.«

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wissenschaftlichen Ideen, Evolutionstheorie oder Energiephysik beschäftigten.52 Dies steht in engem Bezug zur etwas später entstehenden naturalistischen Literaturbewegung auf dem Kontinent, die sich jedoch vornehmlich mit Medizin und Psychologie auseinandersetzte. Zu den Beständen von D ­ ickens’ Bibliothek gehörten neben Charles Darwins The Origin of Species (1859) etwa Charles Lyells Principles of Geology (1830–33) und Geological Evidence of the Antiquity of Man (1863), George Louis Buffons Natural History (1797–1808) oder die mathematischen Arbeiten von Michael Faraday, insbesondere von Anfang der 1850er Jahre. Ebenso wie im Falle der Sanitätsreformen und der Kritik an der Armenfürsorge, nutzte ­Dickens seine Zeitschriften, um einer breiten Öffentlichkeit auch neue wissenschaftliche Ideen zu vermitteln. Dort rezensierte er bereits kurz nach dem Erscheinen The Origin of Species. Besonders sein Verständnis für darwinistische Zusammenhänge und Wechselwirkungen, nicht zuletzt mit moralischen und sozialen Dimensionen, kommt in Our Mutual Friend zum Ausdruck.53 »The Darwin account is an intricate pattern of mutual relationships conducted in a chaotic environment by individuals seeking their own advantage and acting without either a superintending intelligence or a common end,«54

so Fulweiler. Ein Muster, das sich in D ­ ickens’ sechs Jahre später veröffentlichtem Roman genauso nachvollziehen lässt.55 Und obwohl er die Idee der Evolution grundsätzlich anerkannte, ging D ­ ickens mit der Idee des Survival of the Fittest (die der Biologe Herbert Spencer in die Diskussion um Darwins’ Werk eingebracht hatte, und die dieser in der zweiten Ausgabe übernahm) nicht unbedingt konform. So triumphieren am Ende von ­Dickens’ Roman die menschlichen Werte. In den Beschreibungen der Dust-Heaps wiederum lassen sich deutliche Spuren seiner Lektüre von Charles Lyells Geological Evidence of the Antiquity of Man ausmachen, wodurch scheinbar endlose Bedeutungsschichten enthüllt werden können.56 Printi Joshi geht zudem davon aus, dass ­Dickens sich von den Müllbeschreibungen in Edwin Chadwicks Sanitary Report inspirieren ließ.57 In den Naturwissenschaften sah ­Dickens eine transformative Kraft, die er als Basis für soziale Veränderung betrachtete. Sich selbst empfand er in diesem 52 Dazu umfassend: George Lewis Levine, Dying To Know: Scientific Epistemology and Narrative in Victorian England. Chicago 2002. 53 Vgl. ebd., 149. 54 Fulweiler, Dismal Swamp, 51. 55 Gilian Beer, Darwin’s Plots: Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot, and Nine­ teenth-Century Fiction. Cambridge 2000, 8, geht davon aus, dass The Origin of Species maßgeblich von ­Dickens’ schriftstellerischem Stil beeinflusst wurde, da dieser zu Darwins meistgelesenen Autoren zählte; zudem bestand zwischen beiden eine private Verbindung. 56 Fulweiler, Dismal Swamp, 58; 61. 57 Priti Joshi, The Dual Work of ›Wastes‹ in Chadwick’s Sanitary Report, Our Mutual Friend: The Scholarly Pages. The ­Dickens Project – University of California Santa Cruz, o. J., http://omf.ucsc.edu/london-1865/victorian-city/sanitary-report.html.

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Diskurs als Übersetzer zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit; sorgfältig recherchierte Erkenntnisse vermittelte er durch seine publizistische Tätigkeit. Doch trotz aller Sympathie für wissenschaftliche Erkenntnisse in Allgemeinen und für die Evolutionstheorie im Besonderen, konnte und wollte er denjenigen Teil von Darwins naturwissenschaftlicher Erklärung der Natur und ihrer ­Gesetze nicht akzeptieren, die letztlich auf der Irrationalität des Zufalls basierte. Gerade von Darwins Rezipienten wurde diese für seinen Geschmack zu eng mit den mechanistischen Wirtschaftstheorien des späten 18. Jahrhunderts und den Kapita­lismustheorien des frühen 19. Jahrhunderts verknüpft.58

3.4 Auf dem Weg in eine sauber sortierte Moderne Mit dem bereits zitierten Dust-Essay griff Charles ­Dickens erstmals das Thema Müll und Stadtverschmutzung publizistisch auf. Hier deuten sich außerdem Ideen für Motive, Handlungen und Personal des späteren Romanwerks an. Der nur wenige Seiten umfassende Essay spiegelt den Status quo in den Straßen und in der Gesellschaft wider, und steht von daher in einer besonderen Beziehung zu Our Mutual Friend, als es das Leben um und mit den Dust-Heaps beschreibt.59 Wenn D ­ ickens das Aussieben der einzelnen Bestandteile des Unrats beschreibt, wird deutlich, dass er sich mit Naturgeschichte und Archäologie, etwa der Ausgrabung von Müllstätten, intensiv beschäftigt hatte. Diese Beschreibung ist extrem detailliert und verrät genaue Kenntnis des Autors von den Abfall-Infrastrukturen, den Stoffkreisläufen in der Stadt sowie deren Zusammensetzung (Dust: 380). Auch macht er schon hier auf geographisch-räumliche Ungleichheiten aufmerksam: ein Kanal, der an der Rückseite des beschriebenen Müllbergs entlang läuft (Dust: 379), und eine potenzielle Gefahr darstellte, weil dort Abwässer eingeleitet wurden (Dust: 380); die Müllsortierer, die in unmittelbarer Nachbarschaft zum Müllberg lebten und in derart enger Verbindung zum Müll standen, dass Müll und Menschen einander gegenseitig charakterisierten. »The fresh arrivals in their original state present very heterogenous materials. We can not better describe them, than by presenting a brief sketch of the different departments of the Searchers and Sorters« (Dust: 384). Darum macht der aus dem Fluss gerettete, beinahe Ertrunkene, der selbst ein Angehöriger des Mittelstandes ist, seinen Rettern das Angebot, ein Cottage in unmittelbarer Nähe zu errichten, in dem sie alle drei gemeinsam wohnen können. Im übertragenen Sinne ein gemischter Haufen sozialen Debris, könnte dies auch als ein subtiler Hinweis auf die damals entstehenden Workhouses,

58 Parham, ­Dickens in the City, 24. 59 ­Dickens, Dust. Im Folgenden zitiert als Dust.

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­ ickens oder eine Alternative dazu, gelesen werden.60 Abgesehen davon, dass D die Geschichte eines aus der Themse gezogenen, wiederbelebten Mannes entwirft (und dabei der sonnengewärmten Asche am Ufer des Flusses heilende Fähigkeiten zuschreibt), der (nach Rückgewinn seines Vermögens) schließlich die Tochter des Inhabers der Dust-Heaps heiratet: Wiedergeburt und Erlösung. Der erlösende Wert, den D ­ ickens hier dem Abfall zuspricht, ist von Henry Mayhew beeinflusst.61 Darüber hinaus beschreibt der Autor auch hier schon die positiven transformativen Eigenschaften des Mülls, genauer dessen wertvollen Beitrag zur Neugestaltung der Stadt. Zudem listet er detailliert auf, was, wo und wie zu baulichen Maßnahmen eingesetzt wird. So etwa auch beim Bau des ViktoriaEmbankments, für das Joseph Balgazette mit verantwortlich war. Er schreibt, »(t)hese Dust-heaps are a wonder­f ul compound of things.« Dabei misst er Asche und Schlacke oder organischen Abfällen einen weit höheren Wert zu, als ebenfalls gelegentlich extrahierten Edelmetallen, etwa für die Herstellung von Ziegeln oder für die Düngung von Feldern (Dust: 382ff). ­Dickens’ Verständnis für urbane Stoffkreisläufe ist offensichtlich: What goes in, goes out. Der Wert der verschiedenen Abfälle bemisst sich jedoch nicht nur nach dem ökonomischen Verkaufswert, sondern auch danach, wie wertvoll ihr Beitrag zur Erneuerung der Stadt ist. Alles noch so klein und wertlos Erscheinende kann und sollte einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung der Verhältnisse leisten. Ähnlich wie von Colin Riordan und Berbeli Wanning für Wilhelm Raabe ausgeführt,62 beschreibt ­Dickens in zynisch-satirischer Manier die sich durch die Anwesenheit der Müllhaufen transformierende Landschaft mit den gestalterischen Mitteln und Assoziationen einer romantisch unberührten Natur, die sogar mit Nagetieren und Vögeln belebt ist. Die zivilisatorisch veränderte Umwelt wird Teil der inneren Natur (des Menschen) und wird selbst zur natürlichen Landschaft. »In fact it was a large hill, and being in the vicinity of small suburb cottages, it rose above them like a great black mountain. Thistles, groundsel, and rank grass grew in knots on small parts which had remained for al long time undisturbed; crows often aligned on its top, and seemed to put on their spectacles and become very busy and serious; flocks of sparrows often made predatory descents upon it; an old goose and gander might sometimes be seen each other up its side, nearly mid-way; pigs routed round its base, – and, now and then, one bolder than the rest would venture some way up, attracted by the mixed odours of some hidden marrow-bone enveloped in a decayed cabbage leaf – a rare event, both of these articles being unusual oversights of the Searchers below.« (Dust: 380) 60 Joshi, Dual Waste. 61 Virginia Zimmerman, Excavating Victorians. Albany 2008, 167. 62 Colin Riordan, German Literature, Nature, and Modernity before 1914, in: Catrin Gersdorf und Sylvia Mayer (Hrsg.), Nature in Literary and Cultural Studies. Transatlantic Conversations on Ecocriticism. New York, 2006, 313–330; Wanning, Fiktionalität der Natur.

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Zusammengefasst werden könnte die Aussage seines Essays als »Re-use to improve the city  – integrate to improve society«. Ebenfalls ein Hinweis auf die (neue)  Energie aus sich (selbst)verbessernden Individuen, die gesellschaftlich nutzbar gemacht werden kann, um nochmals die verändernde Kraft, wie im Falle des Romanpersonals beschrieben, aufzugreifen, die in sich selbst als Chance und Potenzial für gesellschaftliche Weiterentwicklung und Umbau steht und somit ebenfalls als Seitenhieb gegen die verkrusteten Gesellschaftsstrukturen zu werten ist. Wie aus D ­ ickens’ eigenen Aussagen und seinem intensiven Engagement in relevanten Gebieten ersichtlich wird, sah er Umweltverschmutzung und daraus resultierende Probleme als schwerwiegendsten und vor allem ungerechten Einfluss auf die Menschen und ihr Leben. Dabei wirkte sich nicht nur seine persönliche Erfahrung auf das Verständnis aus, dass Verschmutzung und Störung des Ökosystems London einige seiner Bewohner negativer beeinflusse als andere, sondern auch jahrelange Recherche und Erfahrung. Irritierend erscheinen hier die Stimmen einiger seiner Kritiker, der Autor lamentiere nur um das Poor Law herum, und zeichne darüber hinaus ein viel zu negatives Bild vom Zustand der Metropole. Damit entsprechen die Kritiker zwar dem Fortschrittsprimat und technologischen Optimismus der Zeit. Auf der anderen Seite wird der extremen Popularität von ­Dickens’ Romanwerk generell ein positiver Einfluss auf das soziale Bewusstsein seiner Zeitgenossen zugeschrieben.63 Eine der Hauptinterpretationen von Our Mutual Friend ist die symbolische Verbindung der Verschmutzung der Themse mit dem gesellschaftlichen Niedergang Londons, gerade unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Bei genauerer Betrachtung jedoch scheint es, als bilde diese Darstellung mehr als nur den gesellschaftlichen Verfall der Mid-Viktorianischen Ära in einer milden Kapitalismuskritik ab. Der strenge Blick auf die Verschmutzung ist gleichermaßen der Versuch des Autors, die ökologische Kehrseite des florierenden Fortschrittes und des Aufbruchs in die Zweite Moderne, wie von Ulrich Beck beschrieben, zu verdeutlichen.64 ­Dickens verstand die Verbindung zwischen dem Einfluss von urbanem Wachstum und Verschmutzung der Metropole auf deren menschliche Bewohner. Er verstand aber auch den Einfluss der Urbanisierung auf die Themse selbst, den Fluss, der die Lebensader dieses stetig wachsenden Monsters darstellt, und der natürliche wie gesellschaftliche Risiken gleichermaßen erzeugt(e). Ab einem gewissen Punkt in der Geschichte konnten diese Risiken nicht mehr auf tradierte Art und Weise kontrolliert werden. Dadurch entwickelte sich der Fluss selbst zu einem scheinbar unkontrollierbaren Risiko, auch für sich selbst, wie das Absterben der Lachspopulation verdeutlicht. 63 Brian Cheadle, The Late Novels: Great Expectations and Our Mutual Friend, in: John O. Jordan (Hrsg.), The Cambridge Companion to Charles ­Dickens. New York 2001, 78–91. 64 Beck, Risikogesellschaft.

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­ ickens diesen gefährlichen Nexus. Mit In Our Mutual Friend beschreibt D einer »›concrete and experimental investigation‹ of the impacts of Victorian industrialisation on human and non human nature alike«,65 macht er deutlich, dass menschliches Handeln, das allmählich die Natur zerstört – in diesem Falle den Fluss in eine Kloake verwandelt –, konsequenterweise auch den Menschen selbst zerstören wird. In seinen Reden wies der Autor immer wieder darauf hin, wie viele tausend Menschen in London auf Grund sanitärer Missstände starben, und wie der Pauperismus jeden Tag hoffnungsloser werde. Dabei bewunderte er die Geduld, Sympathie und Hilfe, die sich die Armen gegenseitig entgegenbrachten und drückte dabei seine Überzeugung aus, dass die Londoner die Verantwortung hätten »[to] set an example of humanity and justice«.66 Aus eben jener Betrachtung der Zusammenhänge zwischen Umweltverschmutzung und sozialer Frage ergibt sich D ­ ickens’ Verständnis für Umweltgerechtigkeit, die sich mit dem Wachstum der Metropole zunehmend verschärfte. Vor allem wegen der schleppenden Reformen von oben fürchtete ­Dickens den Ausbruch einer Revolution wie 1789 in Frankreich, wofür er nicht zuletzt den noch immer eingeschränkten politischen Handlungsspielraum verantwortlich machte: »There is nothing in the present time at once so galling and so alarming to me as the alienation of the people from their own public affairs. I have no difficulty in understanding it. They have had so little to do with the Game through all these years of Parliamentary Reform, that they have sullenly laid down their cards and taken to looking on… And I believe the discontent to be so much the worse for smouldering instead of blazing openly, that it is extremely like the general mind of France before the breaking out of the first Revolution, and is in danger of being turned by any one of a thousand accidents – a bad harvest – the last straw too much of aristocratic insolence or incapacity – a defeat abroad – a mere chance at home – into such a Devil of a conflagration as has never been beheld since«.67

In seiner Reflexion sozialer und ökologischer Wirklichkeit entpuppt sich sozialer Debris jedoch implizit als die treibende Kraft für gesellschaftliche Veränderung; er ist selbst noch Teil des Ökosystems, und versteht sich selbst als dem Ökosystem zugehörig. An diese veränderten natürlichen Gegebenheiten gelte es sich anzupassen, daher tritt er in seinem Werk tritt er als Reformer zutage und lässt seine Akteure ihre eigene Lebensumwelt aktiv gestalten. Inspiriert sind die Romanfiguren und ihre Handlungen nicht zuletzt von ­Dickens’ Mitstreitern im Kampf gegen das Poor Law. Und auch hier lassen sich Parallelen zu Darwins naturwissenschaftlichen Vorstellungen herstellen, denn auch die Resilienz eines Ökosystems beruht demnach stark auf seiner Selbstreinigungskraft. 65 Parham, ­Dickens in the City, 12. 66 Fielding, The Speeches, 108. 67 Letter to Austen Henry Layard, 10. April 1855, Story u. a., Letters of Charles ­Dickens, 587.

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Auf Grund der verhärteten gesellschaftlichen und politischen Strukturen blieben die Versuche, eine größere Umweltgerechtigkeit herzustellen, im viktorianischen London allerdings weitgehend erfolglos. Risiken blieben ungleich verteilt, die Pfadabhängigkeit in der Nutzung von Wohnraum blieb hoch, urbane Ökologie oder auch nur gerechtes Wassermanagement blieben ein Wunschtraum, Eigenwirtschaft war nicht sicherzustellen, Klassenunterschiede blieben bestehen und gegenüber Macht- und Autoritätsstrukturen blieb man hilflos. All das findet seinen literarischen Niederschlag in Romanen wie Charles ­Dickens’ Our Mutual Friend, weshalb dieser als ein Protest gegen degressive Umweltstandards im urbanen Raum sowie gegen urbane Verschmutzung, vor allem aber gegen sich potenzierende Standards von Umweltungerechtigkeit zu werten ist. Dabei manifestiert sich die expandierende Londoner Metropole als Schauplatz von sozial-räumlicher Umweltgerechtigkeit, im Wesentlichen konstituiert durch politische und gesellschaftliche Gegebenheiten, deren Veränderungen nicht zuletzt über literarische Vermittlung angeregt wurde.

4. Pfisters Mühle

4.1 Der Umwelt(un)gerechtigkeitsprozess als Symbol Raabes Spätwerk Pfisters Mühle ist vor allem als erster deutscher Umweltroman bekannt, der die ökologischen Auswirkungen ungereinigter industrieller Abwässer in verstörendem Detailreichtum schildert. Die Darstellung der Gewässerverschmutzung im Roman orientiert sich an den »Civilproceß-Sachen der Mühlenbesitzer Ernst Müller in Bienrode und Carl Lüderitz in Wendenmühle, Kläger, wider die Actienzuckerfabrik Rautheim, vertreten durch ihre Direction, wegen Beeinträchtigung« – einem historischen Fall der 1880er.1 Den Umwelt(gerechtigkeits)prozess gewannen damals die Mühlenbesitzer, ihr Obsiegen zeigte aber keine nachhaltige Wirkung. Rechtliche Grundlagen für einen Umweltprozess oder gar einen Umweltgerechtigkeitsprozess gab es im Deutschen Kaiserreich nicht. Wenn hier von einem solchen die Rede ist, handelt es sich um eine semantische Konstruktion. Die Zusammenschau von literarischer Interpretation und der Analyse der historischen Prozessakten, die Raabe als Vorlage dienten, stützt allerdings die These, dass Fragen nach Umweltgerechtigkeit bei Verhandlungen wegen Immissionsverstößen im 19. Jahrhundert implizit eine wichtige Rolle spielten. Allerdings war es auf Grund ungenügender rechtlicher Voraussetzungen nicht möglich, Umweltgerechtigkeit schließlich erfolgreich durchzusetzen; dies scheiterte auch an den gesellschaftlichen Gegebenheiten. Wilhelm Raabe veröffentlichte im Jahr 1883 seinen Roman Pfisters Mühle mit dem euphemistischen Untertitel Ein Sommerferienheft. Er erzählt die Geschichte des Müllers Pfister in der Rückschau durch seinen Sohn Eberhard, der eine letzte Sommerfrische in seinem alten Zuhause verbringt. Der einst florierende Müllereibetrieb mit Gastwirtschaft wird in den letzten Jahren seines Bestehens alljährlich im Herbst und Winter von einer massiven Gewässerverschmutzung beeinträchtigt, die nicht nur den Betrieb, sondern das ganze Flüsschen in Mitleidenschaft zieht. Mit Hilfe des Chemikers A. A. Asche, einem Freund der Familie, kann eine in der Nähe angesiedelte Zuckerfabrik als Verursacher der Verschmutzung identifiziert werden. Von der Ungerechtigkeit der Situation zermürbt, ent 1 Civilproceß-Sachen der Mühlenbesitzer Ernst Müller in Bienrode und Carl Lüderitz in Wendenmühle, Kläger, wider die Actienzuckerfabrik Rautheim, vertreten durch ihre Direction, wegen Beeinträchtigung, o. J., NSLAW 37 A Neu Fb 4 Nr.30., Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel.

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schließt sich der Müller, einen befreundeten Anwalt aufzusuchen, um diesen zu bitten, seinen Fall vor Gericht zu bringen. Pfisters Anliegen sorgt allgemein für Aufsehen, Dank wissenschaftlicher Gutachten wird der Prozess gewonnen. Dennoch können die Mühle und sein Meister diesen Schicksalsschlag nicht überdauern. Der alte Müller stirbt, die Mühle wird an einen Industriellen verkauft. Wilhelm Raabe beschreibt in seinem Roman allegorisch den Übergang des Deutschen Kaiserreiches vom Agrarstaat zur Industrienation und nimmt die Auswirkungen für Land und Leute kritisch in den Blick – mit seismographischer Empfindsamkeit, wie Gerhard Kaiser es bezeichnet.2 Dabei schenkt Raabe den Wechselbeziehungen zwischen Umweltverschmutzung und den sozialen Auswirkungen ebenso viel Aufmerksamkeit wie den ökologischen, die ihn, wie sein Vorbild Charles ­Dickens, als proto-ökologischen Denker identifizieren.3 Allein die Ausformulierung dieser Zusammenhänge bescheinigt dem Autor einen außerordentlichen Weitblick, da er als einer der ersten deutschen Autoren viele Problembereiche, vor allem die ökologische Kehrseite der Industrialisierung, als zentralen Problembereich seiner Gegenwart in den Blick nimmt.4 Dabei kommt er dem Zeitroman so nahe wie in keinem seiner anderen Werke.5 Gerade für eine Erzählung des bürgerlichen Realismus, dem Raabes Sommerferienheft zugeordnet wird, erscheint seine Themenwahl und Umsetzung geradezu ungehörig. Denn im Gegensatz zu den damals verbreiteten Mythen der Gründerzeit konfrontierte er seine Leserschaft mit den weitreichenden negativen Auswirkungen, die eine aus »kommerziellen Gründen hingenommene Umweltverschmutzung mit sich brachte; und deren Zusammenhänge er mit Hilfe komplexer Erzählstruktur und virtuoser Verfremdung unterstreicht.«6 Zwar setzten sich auch andere Autoren des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts, allen voran Theodor Fontane, mit der anbrechenden Industrialisierung aus 2 Gerhard Kaiser, Der Totenfluss als Industriekloake. Über den Zusammenhang von Ökologie, Ökonomie und Phantasie in ›Pfisters Mühle‹ von Wilhelm Raabe, in: Ders. (Hrsg.), Mutter Natur und die Dampfmaschine. Ein literarischer Mythos im Rückbezug auf Antike und Christentum. Freiburg i.B. 1991, 81–107. 3 Horst Denkler, Nachwort zu Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft, in: Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft. Stuttgart 1985, 225–251; Hans-Rudolf Klieneberger, Charles ­Dickens and Wilhelm Raabe, in: E. L. Stahl (Hrsg.), Oxford German Studies. Oxford 1969, 90–117. 4 Goodbody, From Raabe to Amery, 87. 5 Fairly Barker, Wilhelm Raabe. Eine Deutung seiner Romane. München 1961; Joachim Worthmann, Probleme des Zeitromans. Studien zur Geschichte des deutschen Romans im 19. Jahrhundert. Heidelberg 1974. Die Frage, ob es sich bei Pfisters Mühle um einen Roman oder wegen seiner relativen Kürze um eine Novelle handelt, ist in der Raabeforschung ein­ gehend diskutiert worden. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass der Roman sich in Deutschland, anders als in Großbritannien oder Frankreich, nicht so blühend entwickelt hatte. Hier wird der Klassifikation des Autors gefolgt, der von einem Romanwerk ausging. 6 Hermand, Grüne Utopien, 59ff; Jürgen Manthey, Wilhelm Raabe und das Scheitern des deutschen Liberalismus, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 17, 1976, 69–106, 83.

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einander, fokussierten jedoch vor allem auf die damit einhergehenden gesellschaftlichen Herausforderungen der geschwächten Agrargesellschaft. F ­ ontanes romantisch anmutenden Naturbeschreibungen dienen vor allem dazu, eine Atmosphäre zu schaffen, die dann als Metapher für die gesellschaftlichen Vorgänge selbst steht.7 Pfisters Mühle ist keineswegs die erste Veröffentlichung, in der Raabe die Verunreinigung von Gewässern und deren Auswirkungen auf den agrarischen Raum thematisiert. Das symbolhaft aufgeladene Thema verwendete er literarisch erstmals in Abu Telfan (1867), dort heißt es in Kapitel 7: »Den Bach hat der Teufel geholt, – wollt’ ich sagen das neunzehnte Jahrhundert, und es ist ein Jammer und ein Schaden um seine Forellen. (…) oben im Lande war bereits der Grund zu den Fabriken gelegt, welche den Bach fraßen.« In der Erzählung Die Innerste gut zehn Jahre später schreibt er einem einstmals sauberen Bachlauf, der mit Überschwemmungen auf Verschmutzung durch Hütten und Pochwerke reagiert, sogar eine gewisse Handlungsfähigkeit zu. In seinem Spätwerk schließlich wird aus der durch die Industrie ruinierten Wassermühle ein primäres Motiv.8 Literarisch verarbeitet sind hier die Schwierigkeiten, die sich aus der Abwendung von alten Traditionen und der Hinwendung zum Neuen ergeben. Im Narrativ wird dies durch verschiedene Erzählstränge dargestellt: Der Verfall der Mühle als Folge der Verschmutzung, die Aufgabe des Handwerkbetriebes zu Gunsten einer chemischen Fabrik oder die Etablierung des Sohnes Eberhard Pfister in seiner stadtbürgerlichen Rolle als Lehrer und Ehemann. Das prominenteste Motiv ist jedoch der Verfall der Mühle, die allegorisch für das Deutsche Reich nach der gescheiterten Revolution 1848/49, respektive für das Kaiserreich in seinen Anfängen nach dem Deutsch-Französischen Krieg ­(1870–1871) steht, mit seinen alten Traditionen, seiner alten Technologien und alten Gesellschaftsstrukturen.9 So sieht es die Raabe-Forschung, die sich in diesem Zusam 7 Welche Verflechtung die Eroberung von Naturraum, deutsche Nation und männliche Subjektwerdung in literarischen Texten der Zeit eingehen können, fasst Dorit Müller in ihrer Rezension zusammen. Besonders pointiert ist Fontanes Kritik in den Balladen, u. a. Die Brück’ am Tay, John Maynard und Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland; aber auch in epischen Werken wie Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Unterm Birnbaum, Irrungen und Wirrungen, oder Effi Briest. 8 Hermann Pongs, Wilhelm Raabe: Leben und Werk. Heidelberg 1958, 363 ff. Zusätzlich zu den angeführten Werken werden außerdem Der Hungerpastor, Meister Autor, Alters­ hausen, Prinzessin Fisch, Alte Nester und Stopfkuchen in Zusammenhang mit einer ökologischen Einsicht Raabes genannt. Am ausführlichsten hierzu: Thomas Sporn, Wilhelm Raabe: Ökologisch, Diskussion Deutsch 12/57, 1981, 56–63. 9 Günter Bayerl, Herrn Pfisters und anderer Leute Mühlen. Das Verhältnis von Mensch, Technik und Umwelt im Spiegel eines literarischen Topos, in: Harro Segeberg (Hrsg.), Technik in der Literatur. Ein Forschungsüberblick und zwölf Aufsätze. Frankfurt a. M. 1987, 51–101, 56 ff. 1870/71 als persönliche Epochengrenze für den Schriftsteller formuliert Dirk Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes. Würzburg 2000.

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menhang häufig mit den Fragen nach der politischen Einstellung des Autors auseinandersetzt. Beim Übergang zur Industrialisierung, dem Aufbruch in eine Zweite Moderne und mit Anbruch des sog. Anthropozäns,10 sah sich das junge Kaiserreich zu strukturellen Veränderungen gezwungen. Mit fortschreitender Industria­ lisierung erwies sich Vieles als überholt und musste erneuert, verändert, angepasst oder ersetzt werden.11 Raabes Kritik an Fortschritt und Moderne entspricht der nationalliberalen Politik der Zeit, so die Forschung. Aus seinen persönlichen Schriften lässt sich das jedoch nicht ablesen. Vielmehr scheint diese Diskussion das zu überlagern, was Raabe – der sich von seinen Zeitgenossen meist schmerzlich missverstanden fühlte – eigentlich am Herzen lag, und was erst mit Aufkeimen der Umweltbewegung in Deutschland von einigen Germanisten aufgegriffen wurde.12 Eingebettet ist die Geschichte der Mühle in die Geschichte ihrer Bewohner, die sich der Sohn des Müllers im Verlaufe seines letzten Besuches auf dem ehemaligen Familienbesitz, der jetzt unmittelbar vor dem Abriss steht, in Erinnerung ruft. Dabei versucht er seiner jungen Frau verständlich zu machen, wie es zu den für die Pfisters so weitreichenden Veränderungen hatte kommen können (PM 8).13 Die Mühle steht hier gleichermaßen symbolisch für die Veränderungen, die dem jungen Kaiserreich bevorstehen,14 symbolisch dafür, dass die alten gewachsenen Strukturen den neuen Entwicklungen nicht werden standhalten können. Das Mühlrad im kleinen Mühlbach verstopft, weil das Wasser so stark verschmutzt ist, und schließlich liegt der Betrieb still. Das Ökosystem des Bachlaufs wird erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Für Raabe ein Bild dafür, dass eine ungebremste und ungesteuerte industrielle Entwicklung, die keine Rücksicht auf die Umwelt nimmt, keine Zukunft hat, sondern zum Stillstand führt. Nicht nur deshalb, weil die Nutzbarkeit der Umweltressourcen beeinträchtigt wird, sondern weil ohne nachhaltige Regulierung auch die Tragfähigkeit und Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft an derartige weitreichende Veränderungen nicht gewährleistet ist. Bereits in seinen frühen Romanen stellt Raabe die Frage, welche Entwicklungschancen es gäbe, die dem Menschen in einer zunehmend menschenfeindlichen Umwelt noch eine Überlebenschance bietet und zeigt

10 Beck, Risikogesellschaft; Crispin Tickell, Societal Responses to the Anthropocene, in: Philosophical Transactions of the Royal Society A 369, 2011, 326–332. 11 Flurin Condrau, Die Industrialisierung in Deutschland. Darmstadt 2005. 12 Einschlägig Bayerl, Herrn Pfisters und anderer Leute Mühlen. 13 Zur Funktion des Erinnerns und seiner Rolle für den Realismus, siehe Jan-Oliver ­Decker, Erinnern und Erzählen. Konservieren, Transformieren und Simulieren von Realität in männlichen Erinnerungen im Realismus, in: Jd RG 46, 2005, 104–130. 14 Wolfgang Hädecke, Poeten und Maschinen: Deutsche Dichter als Zeugen der Industrialisierung. München 1993.

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damit, wie bedeutsam dieser Themenkomplex für ihn war.15 Die Mühle besitzt jedoch noch eine weitere, spezifischere Symbolik, denn natürlich steht sie auch für das traditionelle Handwerk. Am Ende musste alte Technologie in weiten Teilen neuer Technik und Industrie weichen, auch wenn diese noch weit bis ins 20.Jahrhundert koexistierten.16 Vor allem in der Übergangsphase gab es jedoch Konflikte, von denen eines als Umweltungerechtigkeitsproblem identifiziert werden kann und das hier den zentralen Untersuchungsgegenstand bildet.

4.2 Intergenerationell verhandelte Einordnung von Umweltrisiken Die Gesellschaft des Deutschen Kaiserreiches selbst wird verkörpert durch die Vertreter der verschiedenen Generationen: Vater Pfister und Sohn Eberhard stehen neben dem alten Lippoldes und dem Chemiker A. A. Asche. Zwar lassen sich generationsbedingte Unterschiede mit großem Konfliktpotenzial ausmachen, etwa im Hinblick auf die berufliche Orientierung oder die prinzipielle Offenheit gegenüber Wissenschaft und neuer Technik (PM: 60). Doch ungeachtet dessen schließen sich Jung und Alt zusammen, um den Kampf gegen die Zuckerfabrik aufzunehmen. Auch wenn dies aus unterschiedlichen Motiven heraus geschieht, kann hier tatsächlich von einer positiven Zusammenarbeit im Angesicht der Veränderungen durch die Industrialisierung gesprochen werden. Im Grunde lehnen die Charaktere die Industrialisierung weder kategorisch ab, noch akzeptieren sie diese bedingungslos; vielmehr steht am Ende ein scheinbar romantisches Naturbild, das eine Integration industrieller Transformation in die jeweilige Lebenswelt erlaubt.17 Von besonderer Bedeutung sind hier der alte und der junge Pfister sowie der Chemiker A. A. Asche. Bereits deren Namen sprechen für sich: Der ­Pfister als traditioneller Berufsname mit der Bedeutung Bäcker, oft in Verbindung mit einer Getreidemühle, hebt noch einmal deutlich die Symbolik des Alten und Tradierten, hervor.18 Raabe entwirft das Bild eines emanzipierten, starken Deutschen, der sich gegen Ungerechtigkeiten, die ihm widerfahren, erfolgreich zur 15 Elias Onwuatudo Dunu, Wo bleiben alle die Bilder oder Requiem für eine tot-lebendige Welt. Zu ›Pfisters Mühle‹ von Wilhelm Raabe, in: Welfengarten 5, 1995, 153–170, 96. 16 Christian Zumbrägel, »Viele Wenige machen ein Viel.« Eine Technik- und Umweltgeschichte der Kleinwasserkraft (1880–1930). Paderborn 2018. 17 Riordan, German Literature, 322. 18 Die Bezeichnung Pfister für Bäcker ist vor allem im Süddeutschen Raum gebräuchlich; da die Familie Raabe längere Zeit im Raum Stuttgart ansässig war (1862–1870), ist die Verwendung des Wortes nicht ungewöhnlich. Zu Raabes Zeit in Stuttgart, siehe Kurt Hoffmeister, Wilhelm Raabe unter Reben: Stuttgart 1862–1870 – und fühle mich unbeschreiblich wohl hier. Norderstedt 2005.

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Wehr setzt.19 Sein Sohn Eberhard hat sich als Lehrer bereits einen Platz im aufstrebenden Bürgertum gesichert, die Wahl eines eher traditionellen Berufs lässt dennoch auf eine grundsätzliche Bodenständigkeit schließen. Asche hingegen steht für das Neue. Die neuen Industrien überziehen das Land mit Asche aus ihren Schloten in der Luft und im Straßenbau. Aschenlauge verwendete man weiterhin in Seifenherstellung und Fleckenreinigung, das Metier, dem sich der junge Chemiker – als solcher mit dem Rufnamen Adam eine neue Generation Mensch verkörpernd – im Roman verschrieben hat. Dabei ist er – mit zweitem Vornamen – gleichermaßen ein dummer August, der sich mit der chemischen Verschmutzung gewissermaßen selbst das Wasser abgräbt.20 Wie komplex Raabe die Erzählung mit allen ihren Bedeutungsebenen konstruierte, zeigt sich auch an dem folgenden Beispiel sehr anschaulich. Seifenherstellung prinzipiell ist ein traditionelles Handwerk, das jedoch mit der Entwicklung chemischer Verfahren und Verfahrenstechniken eine relativ starke Position in der neuen Industrielandschaft erhält, und die neuen aufgeklärten Nützlichkeitsideale der Zeit verkörpert.21 Die oberflächlich wahrgenommene Bodenständigkeit mochte es gewesen sein, die den Müller veranlasst, dem Schönfärber Asche und seinen industriellen Plänen eher vertrauensvoll gegenüberzustehen, denn trotz Chemie gründet Asches Unternehmertum auf alten Traditionen und Werten. Theoretisch könnte daraus eine bessere Wahrnehmung von industriellen Umweltrisiken bei gleichzeitiger Verantwortungsübernahme gegenüber den Folgen erwachsen, und zwar unabhängig von diesbezüglichen ökologischen oder ökonomischen Beweggründen. Die Bockasche (ein anderer Name für Industrieschlacke) jedoch, die (auch in Pfisters Mühle) zur Befestigung von Wegen eingesetzt wird, steht – mit Hinweis auf die Bocksnatur des Teufels – für die unbeabsichtigten Folgen des Fortschritts.22 »Ich habe Pfisters Mühle viel zu lieb, um nicht völlig objektiv meine Meinung um ihr Wohl und Wehe begründen zu können. Augenblicklich erkenne ich in der Tat eine beträchtliche Ablagerung niederer pflanzlicher Gebilde, worüber das Weitere im Verlaufe der Festtage das Vergrößerungsglas ergeben wird. Pilzmassen mit Algen überzogen und durchwachsen, lehrt die wissenschaftliche Erfahrung. Aber was für Pilze und welche Algen bei gegebener Verunreinigung der Adern unserer gemeinsamen Mutter? Das herauszukriegen im eigenen industriellen Interesse, würde dann wohl meine Weihnachtsbescherung sein, mein Sohn Eberhard!« (PM : 93)

19 Georg Lukács, Deutsche Realisten des 19.Jahrhunderts. Berlin 1951, 235. 20 Kaiser, Der Totenfluss, 10, sieht in Asche darum auch eine Antichrist-Figur. 21 Markus, Winkler, Die Ästhetik des Nützlichen in ›Pfisters Mühle‹, in: Jd RG 38, 1997, 173–190, 37. 22 Gerhard Kaiser, Erlösung Tod. Eine Unterströmung des 19. Jahrhunderts in Raabes »Unruhige Gäste« und Meyers »Die Versuchung des Pescara«, in: JdRG 38, 1997, 1–17, 10. 

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Wenn der Chemiker seinen Freund als Sohn tituliert, kommt damit mehr zum Ausdruck als nostalgische Verbundenheit mit dem Pfister’schen Betrieb. Neben familiärer Intimität und ironischer Väterlichkeit gibt sich darin möglicherweise Asches Überzeugung zu erkennen, dass die neue der alten Industrie überlegen sei. Er offenbart damit seinen Glauben an das Primat der chemischen Industrie und der Wissenschaften. Asches handelt aus »eigene[m] industrielle[n] Interesse« (PM:  93), weil er Verschmutzungen nach dem Aufbau der eigenen chemischen Fabrik zu vermeiden sucht  – auch, um sich künftig nicht ähnlichen Rechtsstreitigkeiten ausgesetzt zu sehen. Natürlich können Asches sentimentale Gefühle für den Pfister’schen Betrieb auch von einem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden angesichts dessen bedrohter Existenz herrühren. Die Motive des jungen Chemikers, den Müller im Prozess gegen die Zuckerfabrik mit seiner wissenschaftlichen Expertise zu unterstützen, unabhängig davon, ob dieser erfolgreich ist oder nicht – sind demnach überwiegend nostalgischer Natur (PM:  69). Seine naturwissenschaftlichen Analysen sollen Erkenntnis darüber bringen, welche gesundheitlichen Risiken von der Verschmutzung ausgehen, die bereits angedeutet werden, als die Herren Pfister ihren Freund Asche vor dessen Verpflichtung als Sachverständigem in seinem Versuchsverschlag in der Stadt besuchen. »»Alle Wetter!« husteten und prusteten zurückprallend sowohl der Müller von P ­ fisters Mühle wie sein Kind, – der Dampf, der uns den Atem benahm, stammte wohl von noch etwas anderem als unschuldiger grüner Seife und Aschenlauge; und wie eine menschliche Lunge es hier aushielt, das war eine Frage, zu der wir erst eine geraume Zeit später fähig wurden.« (PM : 58)23

Über ein erweitertes Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Verschmutzung und gesundheitlicher Beeinträchtigung, so wird deutlich, würde es möglich, derartige Risiken zu minimieren, was die Einsicht des Autors in diese Zusammenhänge unterstreicht. Gleichzeitig weist er mit der Szene im Waschhaus darauf hin, wie die Menschen als Produkte der Industrie genauso geschädigt sind wie die der Bach von Krickerode, indem er die Genese eines Industriali­ sierungsprozesses im Kontext seiner Produkte situiert.24 Raabe beurteilt die gesellschaftlichen und landschaftlichen Veränderungen seiner Zeit negativ – darüber können auch Beschaulichkeit und Heimattümelei im Roman nicht hinwegtäuschen. Meist wurde dies Raabes politischer Gesinnung zugeschrieben.25 Die Trauer über den Verlust des Alten ist echt, bleibt 23 Zur Semantik des Hustens und Prustens, siehe Hans Rindisbacher, L’Odeur De Pfister: The Bittersweet Smell of Success in the German Realist Novel, in: Germanistic Review 69/1, 1993, 22–31. 24 Wilfried Thürmer, Die Schönheit des Vergehens. Zur Produktivität des Negativen in Wilhelm Raabes Erzählung Pfisters Mühle 1884, in: Jd RG 25, 1984, 68–86, 80 ff. 25 Goodbody, From Raabe, 82.

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aber im Roman nicht so stehen. Es beginnt etwas Neues, das, wenn auch kritisch, positiv mit der neuen Generation besetzt ist.26 Immerhin macht es dem Müller nichts aus, »wenn der Doktor Eberhard sein Kapital in seines Freundes neuem Geschäft anlegt« (PM: 183). Außerdem schenkt er Asche seine Mülleraxt, die sich dieser übers Bett hängen soll. Vielleicht, damit er die daran anhängigen Traditionen und Werte nicht ganz vergessen möge. Möglicherweise auch explizit als ein Symbol der väterlichen Autorität, die sich in einer patriarchalen Verantwortung einiger Industrieller des Kaiserreichs widerspiegelte und in Einklang mit Pfisters Symbolhaftigkeit als zu vererbende traditionelle Qualität stehen kann. Unweit der Pfister’schen Mühle ist ein Betrieb der aufstrebenden Braunschwei­ ger Zuckerindustrie, die Zuckerfabrik Krickerode, angesiedelt. Der Mühlbach ist der natürliche Ablauf für das Brauchwasser. Die enormen Mengen organischer Bestandteile, die in das Bächlein eingetragen werden, stören das Ökosystem. Die Fische, die »ihr Mißbehagen an der Veränderung ihrer Lebensbedingungen kundzugeben anfingen« (PM: 53f) starben schließlich und der übermäßige Algenwuchs machte sich durch Fäulnisgeruch bemerkbar. Flora und Fauna der ländlichen Region waren stark betroffen (PM: 54), aber auch die dort angesiedelten Betriebe und das in mehrfacher Hinsicht. Der Müller fragt sich, »wo eigentlich sein klarer Bach – der lustige, rauschende, fröhliche Nahrungsquell seiner Väter seit Jahrhunderten  – geblieben sei und wer ihm so die Fische töte und Gäste verjage« (PM: 174). Die Subsistenzwirtschaft steht vor dem Aus. Aber auch die Mühle selbst funktioniert nicht mehr wie ehemals. Müller Pfister beschreibt dies folgendermaßen: »In der Turbinenstube hatten wir dann (…) das Reich und den Geruch ungestört zu unserer gelehrten Disposition. (…) Da, guck, Junge, und streif mir meinetwegen den Ärmel auf und greif in das Einflußgerinne und fühle, was für ein Schleim und Schmier deiner Vorfahren hell und ehrlich Mühlwasser mir heute in meinem Gewerk und Leben absetzt.« (PM : 91)

Der Fäulnisgeruch ist nicht nur eine Belästigung, sondern gefährdet auch die Gesundheit. Als die beiden Herren Pfister in der Stadt zu Besuch sind, wird diese zwar im Kontrast zur ländlichen Heimat der Mühle als bedrohlich beschrieben: »Vater Pfister, der seit längerer Zeit von seiner Mühle doch schon an allerlei obwaltende Atmosphäre gewöhnt war, kam doch vor Atmungsbeschwerden noch immer nicht dazu, die nötige Frage zu stellen« (PM: 60). Gleichzeitig kommt die ländliche Atmosphäre im Vergleich zu den chemischen Ausdünstungen der Stadt nicht gerade gut weg. Selbst wenn es sich bei der Verschmutzung des Mühlbaches um ein zeitlich auf die kühle Jahreszeit begrenztes Phänomen 26 Das Erinnern des Sohnes Eberhard tritt in diesem Zusammenhang als sinnstiftend auf. Zur Funktion von Familie und Nachkommen hier anhand eines anderen Beispiels, siehe Decker, Erinnern und Erzählen, 112 ff.

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handelt, wiederholt es sich doch alljährlich. »Es war eben ein Herbst- und Wintergeruch, den weder die dörflichen noch städtischen Gäste, noch die Mühlknappen und die Räder und mein armer, fröhlicher Vater ihrerzeit länger zu ertragen vermochten. Und die Fische auch nicht – jedes Mal, wenn der September ins Land kam« (PM: 53). Wilhelm Raabes besondere Detailkenntnis ökologischer Zusammenhänge ist vermutlich überwiegend der Einsicht in die Prozessakten mit den Originalgutachten sowie persönlichen Gesprächen mit einem involvierten Biochemiker geschuldet.27 Fast 20 Jahre war ihm die industrielle Flussverschmutzung literarisches Motiv, was dazu führte, dass er die Verschmutzung der eigenen Lebensumwelt auch intensiver wahrnahm. Das war nicht unüblich für die Zeitgenossen des anbrechenden Naturalismus, mit dessen Hilfe die Naturwissenschaften in das Blickfeld vieler Gesellschaftskritiker gerieten. Als ein solcher verstand sich auch Raabe.28 Raabes detaillierte naturwissenschaftliche Beschreibungen werden von der Forschung als moderne Elemente literarischer Gestaltung hervorgehoben, aber auch als Zeichen naturalistischer Einflüsse gewertet. Das erschwert die wissenschaftliche Einordnung des Romans.29 Gesundheitliche Auswirkungen von Umweltverschmutzung zu thematisieren, und sie auch noch in Zusammenhang mit den Folgen für die natürliche Umwelt selbst zu bringen, ist für den deutschen Roman der damaligen Zeit einzigartig. Zudem richtete Raabe seinen Blick auch auf den Teil der Bevölkerung, der nicht nur nicht von Aus-und Umbau des Agrarstaates profitierte, sondern auf den, der dabei alles verlor. Bereits Raabes Entscheidung, seine Protagonisten im Kleinbürgertum anzusiedeln, ist un­ gewöhnlich.30 Herausragend ist, dass der Autor die notwendig werdende Abwanderung in die Städte und die damit verbundenen sozialen Risiken implizit als Umweltrisiken interpretiert; sie aber gleichzeitig als undurchdacht kritisiert.31 Während Samse, der ehemalige Knecht der Mühle, in der Stadt ein neues Leben beginnt (PM: 26f) – ein typisches Schicksal – will die alte Christine lieber ein 27 Zum Beispiel die Entstehung von Pfisters Mühle, zur Bedeutung der direkten Zitate im Text siehe Hermann Helmers, Die Verfremdung als epische Grundtendenz im Werk Wilhelm Raabes, in: JdRG 4, 1963, 7–30. 28 Zur Debatte, wie Pfisters Mühle in Beziehung zu naturalistischen Werken der Zeit zu setzen ist, siehe Leo A. Lensing, Naturalismus, Religion und Sexualität. Zur Frage der Auseinanderestzung mit Zola in Wilhelm Raabes »Unruhige Gäste«, in: JdRG 29, 1988, 145–167. 29 Zur Experimentalität des Textes siehe Winkler, Ästhetik. 30 Jeffrey L. Sammons, Pfisters Mill-Critical Guides to German Texts. London 1989. 31 »Als die Hauptsache der in dem Bilde waren doch, und dieses besonders für mich, die Dunstwolke und die Türme im Nordosten von unserem Dörfchen. Mit der Natur steht die Landjugend auf viel zu gutem Fuße, um sich viel aus ihr zu machen und sie als etwas anderes denn als ein Selbstverständliches zu nehmen; aber die Stadt – ja, die Stadt, das ist etwas anderes! Das ist ein Entgegenstehendes, welches auf die eine oder andere Weise überwunden werden muß und die vom seiner Geltung für das junge Gemüt aufgibt.« (PM : 9).

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Menschenopfer sein; lieber ließe sie sich in der Mühle einmauern, als diese zu verlassen (PM: 140).32 Raabe thematisiert, dass die Menschen den Umweltrisiken, die von industriellen Technologien ausgehen, in unterschiedlichem Maße ausgesetzt sind. Der Roman zeigt auf, wie stark die Menschen im ländlichen Raum beeinträchtigt und von mangelnder Umweltgerechtigkeit betroffen sind. Für den Fortgang des Narrativs spielt das eine große Rolle. Auf Grund der politischen Gegebenheiten kann der fiktiven Zuckerfabrik Krickerode, die die Umwelt verschmutzt, nur in einem Rechtsstreit entgegengetreten werden. Das erweist sich, wie auch für andere historische Fälle untersucht, in mehrfacher Hinsicht als schwierig.33 So ist die Suche nach einem Rechtsvertreter, der einen Prozess gegen einen derart übermächtigen Gegner wie die Zuckerfabrik Krickerode zu unterstützen bereit wäre, alles andere als einfach. Nicht nur wegen der damit verbundenen finanziellen Belastung für den Kläger, sondern auch, weil dem Anwalt aus einem Streit mit der neuen Industrie als Zukunftsträger der Gesellschaft ein Reputationsverlust drohte. Dies verdeutlicht die Schlüsselfrage des Anwalts Riechei: »(…) aber nun im vollsten Vertrauen – jetzt sagen Sie mir mal um Gottes willen, weshalb haben Sie eigentlich Krickerode nicht mitbegründet?« (PM: 123). Er bringt damit die gemeinhin positive gesellschaftliche Sicht auf die Veränderungen der Industrialisierung zum Ausdruck. Als weitere Herausforderung erwies sich die Tatsache, dass die Beweispflicht beim Kläger lag. Die Wasserverschmutzung konnte nur durch die Vorlage biologisch-chemischer Gutachten bewiesen werden, so dass zusätzliche Kosten auf den Kläger zukamen. Auch hier mangelt es an Umweltgerechtigkeit, wenn die Aufnahme eines Verfahrens nur denjenigen möglich ist, die über entsprechende finanzielle Mittel und Unterstützung durch die Gesellschaft verfügen. Müller Pfister kann sich dieser Herausforderung nur stellen, da er, ein Angehöriger des Bürgertums, einerseits durch die bisher ausreichenden Einnahmen aus Mühle und Gastbetrieb über entsprechende finanzielle Grundlagen verfügt und andererseits innerhalb seines sozialen Netzwerkes auf einen befreundeten Anwalt zurückgreifen kann. »[S]chließlich kannten alle in der Stadt unsere Mühle, groß und klein, Gelehrte und Ungelehrte, hohe Regierende und niedrige Regierte« (PM:  10). Zudem stehen dem Müller auch die Dienste des befreundeten Chemikers Asche zur Verfügung, die keine zusätzlichen Kosten für eine Prozessführung verursachen, außerdem wird auf die Beweispflicht der Kläger hingewiesen (PM: 66; 69). Auch hier macht Raabe implizit darauf aufmerksam, dass neben den Gesundheitsrisiken auch ökonomische Ungleichheit zum Tragen kommt und diese sich letztlich diskriminierend auswirkt. 32 Dazu Thürmer, Schönheit, 70; 73 f. 33 Siehe z. B. Stolberg, Michael, Ein Recht auf saubere Luft? Umweltkonflikte am Beginn des Industriezeitalters. Erlangen 1994.

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4.3 Beschäftigung mit demokratischer Verschmutzung Der junge Naturwissenschaftler, der hier gegen die Verschmutzung mit ankämpft, ist dem Müller freundschaftlich verbunden. Das erklärt bis zu einem gewissen Grad sein Engagement. Hinzu kommen sein eigenes wissenschaftliches Erkennt­ nisinteresse und der Wunsch, Gesundheitsrisiken auszuschalten. Auch »der gelehrte Chemiker bleibt am Ende Mensch – Nase – Lunge« (PM: 64), wie er sich ausdrückt. Rechtsanwalt Dr. Riechei wiederum ordnet das grundlegende Dilemma von technischem Fortschritt und Umweltbeeinträchtigung in größere politische Zusammenhänge ein: »Deutschlands Ströme und Forellenbäche gegen Deutschlands Fäkal- und andere Stoffe. (…) Pfisters Mühle gegen Krickerode!« (PM: 122). Damit macht er auf das grundsätzliche Dilemma in der Entwicklung des Deutschen Kaiserreiches aufmerksam, dessen gewachsene Infrastrukturen den industriellen Anforderungen nicht gewachsen sind. Die Gefährdung der Natur- und Kulturlandschaft ist offensichtlich. Daher sei der Fall Pfister der Prozess, auf den er »seit Jahren warte, um [s]ich in die Mäuler der Leute zu bringen« (PM: 122). Er verspricht dem Freund, den Prozess zu gewinnen (PM: 23). Damit wird aus dem neutralen Beobachter Riechei ein Nutznießer, dessen Rolle, ebenso wie die der Wissenschaft, hinterfragt werden muss. Unübersehbar, dass Raabe auch hier wieder mit einem Namen wortspielt, wenn der Anwalt Riechei nicht nur die olfaktorischen Belästigungen wahrnimmt, sondern auch das Potenzial des anstehenden Prozesses förmlich riechen kann. Leo Lensing geht davon aus, dass die Figur des Anwalts und die Anspielung auf das Riechen auf den »Fetisch des Geruchs« während des Naturalismus hinweist. Mit dieser Literaturströmung scheint Raabe in einer Art liebevoller Ablehnung verbunden gewesen zu sein.34 Bereits im ersten Gespräch zwischen Pfister und seinem Anwalt klingt an, dass Fälle von Umweltverschmutzung durch die Industrie eine gewisse spektakuläre Aura hatten und folglich gesellschaftliche Aufmerksamkeit erregten.35 Sowohl Asche als auch Riechei sind Angehörige des städtischen Bürgertums, das von den Veränderungen der ländlichen Umwelt weder wirtschaftlich noch gesundheitlich direkt betroffen ist, weshalb sie hinsichtlich der damit verbundenen Ungerechtigkeiten im Gegensatz zum direkt betroffenen Müller Pfister neutral bleiben können. Wie auch an anderer Stelle deutet sich hier der grundsätzliche Gegensatz zwischen Stadt und Land an, der mit fortschreitender Urbanisierung und Industrialisierung zu einer 34 Lensing, Naturalismus, 150. 35 Dazu siehe auch Civilprozeß, Zeugenvernehmungsprotokolle nebst Anlagen; hier Zeitungsberichte zu zwei ähnlichen Fällen von schwerwiegender industrieller Gewässer­ verschmutzung, einer mit tödlichem Ausgang. Eine Sammlung ähnlicher Zeitungsartikel auch im Raabe-Nachlass, was für sein großes Interesse und umfassende Recherchearbeit spricht.

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tiefer werdenden Kluft aufbrechen sollte. Bei Raabe steht die Stadt als erziehender Abenteuerraum,36 der aber gleichzeitig immer näher an die ländliche Idylle heranrückt und mit den Schornsteinen als Symbol deren Grenze perforiert und sie damit auflöst.37 Die grundsätzliche Gespaltenheit der Gesellschaft hinsichtlich Schutz der Lebensumwelt versus industriellen Fortschritt und den damit verbundenen Opfern, wird ebenfalls bereits vor Prozessbeginn offenbar. Als die Versuche Pfisters, der Zuckerfabrik die Verschmutzung nachzuweisen, bekannt werden, stößt er damit »bei Fachgenossen und sonstigen Kennern, bei den Poeten und sonstigen sinnigen Gemütern und vor allem bei allen den Bach- und Flußanwohnern« auf sehr positive Resonanz. Während er bei der von den Arbeitsplätzen abhängigen Arbeiterschicht sowie bei den Industriellen, also »bei den Leuten von Krickerode und ähnlichen Werkanstalten, die das edelste der Elemente nur für ihren Zweck, Nutzen, und Gebrauch vorhanden glaubten«, reine Ablehnung erfährt (PM: 119). Raabe stellt den Betroffenen der Umweltungerechtigkeit relativ deutlich zwei Akteursgruppen gegenüber: Einerseits das Bildungsbürgertum, das sich mit der Problematik eines Gerichtsprozesses befasst, ohne darunter zu leiden. Und andererseits das Wirtschaftsbürgertum, das umweltungerechte Zustände verursacht und davon ökonomisch profitiert.38 Die Arbeiter, »die Leute von Krickerode und anderen Werkanstalten« spielen hier eine Sonderrolle. Auch ihre Lebensumwelt ist durch die Umweltrisiken der Gewässerverschmutzung beeinträchtigt, da sie in Fabriknähe hausen. Der Zusammenhang zwischen den stinkenden Abwässern und eventuellen Risiken am Arbeitsplatz ist offensichtlich.39 Da die Arbeiter aber von ihrem Arbeitsplatz abhängig sind, vertreten sie den Standpunkt der Industriellen, wonach die Verunreinigung von Gewässern als notwendig und existenzerhaltend hingenommen werden muss. Ein Klassengegensatz lässt sich daher in dieser Gegenüberstellung nicht explizit ausmachen. Vielmehr scheint die Verschmutzung eine demokratisierende und gleichstellende Wirkung zu haben. Den Umweltbedingungen ist jedermann gleichermaßen ausgesetzt, was in Raabes Werk ungewöhnlich ist. Bemerkenswert ist zudem die implizite Annahme, die sich aus der politischen Desillusionierung des Autors mit der Auflösung der liberalen Ära unter Bismarck speist,40 gewisse gesellschaftliche Gruppen seien durch ihre Profession zu ihrer jeweiligen 36 Fritz Martini, Deutsche Literatur des bürgerlichen Realismus. 1848–1898. Stuttgart 1981, 15.  37 Winkler, Ästhetik, 19.  38 Z. B. Rindisbacher, L’Odeur, bezieht sich auf Gustav Freytags Soll und Haben; ausführlich zu Raabes Sicht auf den Gesellschaftswandel, Manthey, Wilhelm Raabe, 82 ff. 39 Siehe exemplarisch den Besuch in Asches Waschküche, und dazu Thürmer, Schönheit, 80 ff. 40 Z. B. Göttsche, Zeitreflexion.

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Ansicht gezwungen. Aus der Auflistung potenzieller gesellschaftlicher Akteure generieren sich weiterhin vier grundsätzliche Positionen gegenüber der sich verändernden Landschaft: Umweltschützer, Bewahrer der Idylle, Betroffene und Eroberer der Natur. Durch gemeinsame Anstrengungen der Klägerpartei kann Krickerode jedoch letzten Endes rechtskräftig verurteilt werden (PM: 174). Im Prozess gegen Krickerode erweist sich das Gutachten des Chemikers Asche, der biochemische Beweis für die Verschmutzung, als urteilsgebend. Die Probenentnahme am Mühlbach, die die Zuckerfabrik zweifelsfrei als Verursacher identifiziert, beschreibt Raabe mit seiner ausgeprägten Neigung zu Ironie und Sarkasmus41 sehr detailliert und anschaulich, aber noch immer humorvoll. Einzelne Sätze seiner Veröffentlichungen überarbeitete er wiederholt und sehr penibel, um den Informationsgehalt zu komprimieren. Sie laden zu Spekulationen über Unausgesprochenes und gegensätzliche Bedeutungsebenen in ­Raabes Werk förmlich ein.42 »Haben die Familien Schulze, Meier und so weiter den Verkehr in Pfisters Mühle eingestellt, so haben sie dafür die Familien der Schizomyceten und Saprolegniaceen in fröhlichster Menge, sämtlich mit der löblichen Fähigkeit statt Kaffee in Pfisters Mühle zu kochen, aus den in Pfisters Mühlwasser vorhandenen Salzen in kürzester Frist den angenehmsten Kohlenwasserstoff zu brauen« (PM : 94).43

Und ihren Wohnsitz nahmen diese Zeitgenossen, wie Asche nachzuweisen verspricht, in einem »zwanzig Morgen bedeckenden Sumpf (…) unter der Mauer der großen Fabrik, zu dem dunklen Strahl heißer, schmutzig-gelber Flüssigkeit, der erst den Bach zum Dampfen brachte und dann sich mit demselben über die weite Fläche verbreiteten« (PM: 104). Die heitere Fröhlichkeit, mit der an dieser Stelle die Umweltverschmutzung beschrieben wird, macht Raabes Kritik an Industrie und Gesellschaft noch beißender.44 Die menschlich-industrielle Expansion auf Kosten der Natur wird im Fortgang des Romans gerichtlich unterbunden. Allerdings ziehen am Horizont bereits neue Wolken auf, die die ländliche Idylle bedrohen. Der Konfliktraum, in dem die Geschichte der Pfister’schen Mühle erzählt wird, ist das Braunschweigische Platte Land, das in Abgrenzung zum städtischen Raum gezeichnet wird. Lediglich »dann und wann auch ein qualmender 41 Horst Denkler, Die Antwort literarischer Phantasie auf eine der ›größten Fragen der Zeit‹: Zu Wilhelm Raabes ›Sommerferienheft‹ ›Pfisters Mühle‹,« in: Ders. (Hrsg.), Neues über Wilhelm Raabe, 10 Annäherungsversuche an einen verkannten Schriftsteller. Tübingen 1988, 81–102. 42 Burghard Damerau, Warum Raabe nicht gelesen wird. Kleine Welten eines vergrößerten Erzählers, in: Ders. (Hrsg.), In Gegen den Strich. Würzburg 2000, 86–93. 43 PM : 19. Die Beschreibung der Probenentnahme auf 90–103. »Dreizehntes Blatt – Vater Pfisters Elend unter dem Mikroskop« und »Vierzehntes Blatt – Krickerode«. Zur formalern Gestaltung und Umweltbezug z. B. Denkler, Die Antwort literarischer Phantasie. 44 Wolfgang Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst. München 1985. Zur Ironie als Stilmittel zur Verfremdung siehe Helmers, Verfremdung.

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Fabrikschornstein« (PM: 9) stört das ländliche Naturidyll, dessen literarischer Wert im Kontrast zur urbanen Landschaft bereits von Raymond Williams herausgearbeitet wurde.45 Zur adäquaten Beschreibung der sich transformierenden Landschaft entwirft Raabe Charaktere, die über die verschmutzte Landschaft in einer Art und Weise sprechen, als würden sie eine ungestörte ländliche Natur beschreiben. Unübersehbar ist die Ironie, wenn es den Charakteren mithilfe dieser Erzähltechnik gelingt, die Natur mitsamt der angesiedelten Industrie für sich neu zu definieren.46 Mit zunehmender Industrialisierung scheint es jedenfalls unumgänglich, sich mit der nachhaltigen Veränderung des eigenen Lebens­ raumes abzufinden, denn »die Fabriken erstrecken sich heute schon so ziemlich bis an das Dorf hin und die Region der Bockasche also ebenfalls. Damals waren zwei Drittel des Weges [von der Stadt] noch frei davon, und nur vereinzelte Häuschen kleiner Leute lagen an diesem Wege, im Rücken das freie Feld« (PM : 79).

Dabei wird jedoch nicht nur die weitreichende Veränderung des Landschaftsbildes, sondern auch der Bevölkerungsstruktur deutlich. Diese finden außerdem im Eindringen der Eisenbahn, und dem Kahlrupfen der Nutzlandschaft ihren Ausdruck, die beide antithetisch zum Technooptimismus der Zeit stehen und die Idylle entzaubern.47 Formal hält Raabe also an der Beschreibung der Natur fest, und bedient tradierte Assoziationen. Durch die Übertragung der Naturbeschreibung auf die industrialisierte Umwelt werden diese Assoziationen gleich wieder dekonstruiert. Gleichzeitig erreicht Raabe durch eine kontinuierliche Anpassung und Rekonstruktion der inneren Natur der Charaktere, in die externe Manifestation der natürlichen Umwelt einzugreifen Die durch industrielle Eingriffe transformierte Landschaft wird dadurch zur objektiven Natur – ohne wahrnehmbare negative Effekte – und somit ein Teil des positiven Selbstbildes des Deutschen Kaiserreiches.48 »Rather than perceiving ecological damage and agitation to change the circumstances which lead to the damage, here damage is perceived and the agitation is directed towards changing the perspective.«49 Damit wird Raabe scheinbar auch seiner nationalliberalen Einstellung gerecht, die eine Umwandlung des Reiches in einen modernen Industriestaat forderte.50 Das alles hat bei Raabe 45 Raymond Williams, The Country and the City. Oxford 1973. 46 Riordan, German Literature. 47 Heinrich Detering, Ökologische Krise und ästhetische Innovation im Werk Wilhelm Raabes, in: JdRG 33, 1992, 1–27, 12. 48 Winkler, Ästhetik, 20. 49 Riordan, German Literature, 323. 50 Ob Raabe die neoliberale Weltanschauung tatsächlich vertrat ist zweifelhaft. Dagegen spricht, dass er ein großer Verehrer der Französischen Revolution und Unterstützer der Befreiungskriege war. Lukács, Deutsche Realisten, 232 f. Noch ausführlicher in Manthey, ­Wilhelm Raabe.

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aber immer einen ironischen Unterton und er betont beharrlich, dass die landschaftlichen Veränderungen schädliche Folgen haben. Das ist gewissermaßen eine Aufforderung, diesen Umbau nicht unreflektiert vorzunehmen, sondern die Auswirkungen kritisch zu hinterfragen. Raabe nimmt auch die gesellschaftliche Veränderung in den Blick, die dieser Transformationsprozess mit sich bringt, wenn mit zunehmender Verstädterung (am Ende des Romans finden sich die Hinweise darauf)  der ländliche Raum eine Umdeutung zum Erholungsgebiet erfährt. Auch der an die Mühle angeschlossene Gastbetrieb, der sinnbildlich für alte gesellschaftliche Traditionen und Strukturen in der Freizeitgestaltung steht, muss schließlich aufgegeben werden. Er kann den neuen Entwicklungen der Arbeitswelt mit veränderten Ansprüchen an die arbeitsfreie Zeit nicht standhalten und muss den neuen Gegebenheiten angepasst werden, er verliert seine Nützlichkeit, um es mit Winklers Begriff auszudrücken. Dennoch entpuppt sich der neu konzeptionierte Erholungsraum gleichzeitig als Industrieschauplatz, was die industrielle Durchdringung der Gesamtgesellschaft andeutet, die gleichzeitig allegorisch für die getöteten und verstümmelten Opfer des technisch-industriellen Fortschritts steht,51 denn »[n]ebenan klappert und lärmt die große Fleckenreinigungsanstalt und bläst ihr Gewölk zum Abendhimmel empor fast so arg wie Krickerode. Der größere, wenn auch nicht große Fluß ist, trotzdem wir auch ihn nach Kräften verunreinigen, von allerlei Ruderfahrzeugen und Segeln belebt und scheint Rhakopyrgos als etwas ganz Selbstverständliches und höchst Gleichgültiges zu nehmen« (PM : 188).

Tatsächlich nachhaltig sind die Entwicklung und die Zukunft des ländlichen Raumes in Raabes Augen jedoch offensichtlich nicht. Zur organischen Verschmutzung durch die Zuckerfabriken kommen chemische Umweltrisiken  – z. B. durch Asches Seifenfabrik. Indem er, wie Berbelli Wanning es formuliert, wiederholt literarisch verfestigte Naturbilder aufgreift, um diese gleichzeitig als Träger einer zerstörten und verlorenen Idylle zu dekonstruieren, gelingt es ihm zudem, den bisher gültigen Dualismus von Natur und Gesellschaft, in dem die Natur für das Unvergängliche und Statische stand, während die Gesellschaft Wandel und Entwicklung repräsentierte, auf subtile Weise aufzulösen. Sein Text gewinnt dadurch eine neue narrative Qualität.52 Durch erzähltechnische Raffinesse weckt er Emotionen beim Leser, die zum Nachdenken anregen sollen.53 Das Problem, auf das Raabe in seinem Sommerferienheft aufmerksam machen will, ist nicht der Übergang in die neue Zeit allein, sondern zu einem Gutteil die Ungerechtigkeiten, die sich auf dem Weg in die Zukunft manifestieren (können). Einen scheinbar positiven Ausgang für seinen Roman wählte der Autor 51 Detering, Ökologische Krise, 4 f. 52 Wanning, Fiktionalität der Natur, 363 f. 53 Helmers, Verfremdung, 14 f.

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sicher nicht nur deshalb, weil sich zum Entstehungszeitpunkt des Werkes die Revision in dem realen Prozess, der ihm als Vorlage diente, erst abzuzeichnen begann und im eingesehenen Aktenmaterial nicht enthalten war. Vielmehr lag ihm daran, in einem so düsteren und doch so alltäglichen Umweltrechtsstreit die Gerechtigkeit wiederhergestellt zu sehen, selbst wenn zukünftige Gefährdungen nicht ausgeschlossen werden konnten, und das entspricht durchaus auch dem Wunsch des Lesers nach ein wenig Optimismus am Ende.54 Raabe schreibt: »Krickerode war rechtskräftig verurteilt worden. Das Erkenntnis (sic!) untersagt der großen Provinzfabrik bei hundert Mark Strafe für jeden Kalendertag, das Mühl­wasser von Pfisters Mühle durch ihre Abwässer zu verunreinigen und dadurch einen das Maß des Erträglichen übersteigenden Geruch in der Turbinenstube und den sonstigen Hausräumen zu erzeugen (…)« (PM : 174).

Mit dem Urteil wird unmissverständlich jegliche weitere Gewässerverschmutzung durch die Zuckerfabrik unterbunden, die zu einer Beeinträchtigung menschlichen Lebens- und Arbeitsraumes führt. Dennoch geht die vormals idyllische, nur wenig kultivierte Natur unwiederbringlich verloren. Raabe zeichnet das klassische Bild vom verlorenen Paradies als Gegenstück zu einer als bedrohlich empfundenen Gegenwart.55 Für Raabe ist die Verurteilung des Industrie­ betriebes gerecht und gesellschaftsrelevant, denn »das ist gut für andere Flußanwohner, ob sie eine Mühle haben oder nicht« (PM: 174).56 Die Auswirkungen industriell induzierter Veränderungen betreffen schließlich alle Menschen gleichermaßen. Das Ökosystem des Mühlbachs ist durch die Einleitung der »schleimigen, schlingpflanzenartigen Masse« zum Zeitpunkt des Prozesses allerdings bereits nachhaltig beeinflusst, was ihn zu einem »Provinzialstyx« macht – ein bitterer Witz, der dem Leser klar macht, dass trotz der positiven Wendung im Prozess der Verbesserung des Lebensstandards der menschliche Lebensraum massiv in Mitleidenschaft gezogen wurde. »Das hätte früher kommen müssen – an jenem Tage schon, an welchem (…) sein klarer Bach – der lustige, rauschende, fröhliche Nahrungsquell seiner Väter seit Jahrhunderten – geblieben sei und wer ihm so die Fische töte und die Gäste verjage« (PM: 174). Ob Hoffnung für die Renaturierung des Mühlbaches und dessen Ökosystem besteht, bleibt offen; allerdings führte die Verurteilung der Zuckerfabrik zumindest zu einer graduellen Besserung unter olfaktorischen Gesichtspunkten. So sinniert Eberhard Pfister über die letzte Sommerfrische mit seiner jungen Frau auf der Mühle: 54 Manthey, Wilhelm Raabe, 96. 55 Wolfgang Hädecke, Hortus amoenus, oder: Das Ende von Pfisters Mühle, in: Ders. (Hrsg.), Poeten und Maschinen. Deutsche Dichter als Zeugen der Industrialisierung. ­München 1993, 336–351. 56 Zur Ortsüblichkeit zuerst Franz-Josef Brüggemeier, Tschernobyl, 26. April 1986. Die ökologische Herausforderung. München 1998.

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»Ich erfuhr es nicht (…) und legte mich noch einen Augenblick in das offene Fenster (…) und blickte in die Sommernacht (…); ich roch vielmehr in sie hinaus und mußte augenblicklich Emmy vollständig Recht geben, wenn sie vorhin den letzten Wirt von Pfisters Mühle in seiner Verzweiflung und meiner Erzählung gar nicht begriffen hatte« (PM : 52f).

Manthey sieht hierin eine deutliche Entfremdung zwischen Autor und Leserschaft.57 Dies resonniert mit Werner Fulds These, dass Raabe Emmy als Figur erschuf, um seinem eher traditionell-konservativen Publikum das naturwissenschaftliche Thema und den Bezug zum Nauralismus verdaulicher zu machen.58 Eine Zweite Moderne allerdings, so wird aus der Passage deutlich, wird neue unsichtbare Umweltrisiken bergen, die sensuell nicht wahrnehmbar sind und sich als umso gefährlicher erweisen. In Raabes Roman steht sehr zentral ein Gedicht über den Weltuntergang mit direkten Zitaten aus der Apokalypse. Das konterkariert den positiven Ausgang des Prozesses und deutet darauf hin, dass er selbst eher pessimistisch in die Zukunft sah.59 Wilhelm Raabe ist ein scharfer Beobachter seiner Zeit, wenn er andeutet, mit fortschreitender Entwicklung würde das Verständnis für die unberührte Natur sowie die Harmonie von Mensch und Natur letztendlich verschwinden und das Verhältnis von Mensch und Natur an die neuen Lebensumstände des Menschen angepasst. Man müsse »sich bekennen, der richtige Mensch hat am Ende auch nicht die reine Luft, die grünen Bäume, die Blütenbüsche und das edle klare Wasser von Bach, Quell und Fluß nötig, um ein rechter Mann zu sein« (PM: 84). Abgesehen von der offensichtlichen anthropozentrischen Weltsicht ist auch hier die Ironie wieder nicht zu übersehen. Hatte der Mensch doch die unberührte Natur als Quelle der Erholung genutzt und die Begegnung mit der ungezähmten, wilden Natur als ur-männlichstes Ritual begriffen. Mit der industriellen Transformation, der sich wandelnden Arbeitswelt und den gesellschaftlichen Anpassungen zeigte sich nun jenes Ritual ebenso bedroht, wie die noch unberührte Natur, die sowieso nur noch in der kollektiven Erinnerung existierte.60 Berbeli Wanning führt aus, dass sich in der Verschränkung von voraufklärerischem Naturdiskurs und modernem wissenschaftsökonomischen Denken das zentrale Anliegen des Romans offenbart: Durch seine Eingriffe in den Naturkreislauf zerstöre der Mensch nicht nur seine unmittelbare Umgebungsnatur, sondern auch deren innere Regelhaftigkeit, in dem er ihr die Möglichkeit nimmt, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Dies betrifft aus Raabes Sicht jedoch nicht nur die Umwelt selbst, sondern auch die Natur der Gesellschaft. Die zunehmende industriell induzierte Ungerechtigkeit ist die Herausforderung der Zeit. 57 Manthey, Wilhelm Raabe, 74, sieht hier eine zunehmende Entfremdung zwischen Autor und Leserschaft. 58 Werner Fuld, Wilhelm Raabe. Eine Biographie. München 1993. 59 Detering, Ökologische Krise. 60 Wanning, Fiktionalität der Natur, 381. Decker, Erinnern und Erzählen, 121.

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4.4 Zukunftsvisionen Der Prozess gegen die Zuckerfabrik ist gewonnen und in Pfisters Mühle führt dies zu einer Verbesserung der Verhältnisse. Für die Zukunft des noch überwiegend ländlich kultivierten Raumes erweisen sich diese Entwicklungen jedoch nicht als nachhaltig. Asches Seifenfabrik und andere Industrieanlagen transformieren die Landschaft weiter, die bisher weitgehend organische Verschmutzung geht in eine chemische über. Der Schönfärber Asche (PM: 184) verschmutzt die Welt, indem er sie reinwäscht. Das Auftauchen neuer, unsichtbarer Risiken durch die chemische Industrie wird angeschnitten, wobei noch unklar bleibt, wie man diesen gegenüberzustehen hat. Immerhin beeinträchtigen sie den Naturraum, der sich vom Lebensraum zum Erholungsidyll gewandelt hat, nicht auf eine offensichtliche Art und Weise. Zwar ist hinlänglich bekannt, dass chemische Ableitungen eine gesundheitsgefährdende Umweltverschmutzung darstellen, und das kommt im Roman auch immer wieder zum Ausdruck, wie etwa während des Besuches der Pfisters in Asches Versuchshütte (PM:  58) oder in dessen eigenem Eingeständnis (PM: 91f) – und nicht zuletzt durch das Bild vom Rauch der Essen, als klassisches Bild industrieller Verschmutzung.61 Die Unsichtbarkeit und vor allem Geruchslosigkeit in der Verdünnung größerer Fließgewässer beeinträchtigt das von den Stadtbewohnern neu entdeckte Erholungsgebiet der Natur auf dem Lande jedoch (noch) nicht. In der Gegenüberstellung von Industrie und Erholungsraum wird diese gefährliche Idylle besonders anschaulich. Sie bezeichnet gleichsam das Ende der literarischen Umdeutung von Naturräumen und deren entleerte Symbolik seit der Romantik.62 Man kann davon ausgehen, dass die Veränderungen der tradierten gewerblichen Strukturen die allgemeine Toleranz gegenüber der Verschmutzung durch die technische Industrie erhöhten. Das aufstrebende Bürgertum scheint Raabe dafür besonders anfällig, da es von den Entwicklungen profitiert, ohne unter den Verlusten leiden zu müssen. Die generelle Schwäche verortet der Autor vor allem im Untergang der humanistischen Bildung, und beweint diese besonderes im letzten Blatt des Sommerferienheftes.63 Auch der junge Eberhard Pfister ist nicht frei von bürgerlicher Verblendung, wenn er während seiner Sommerfrische nostalgisch in die Landschaft blickt: »Lieblich düftevoll lag die Sommernacht vor den Fenstern über dem alten Garten, dem rauschenden Flüßchen und den Wiesen und Feldern. Ein leiser Hauch von Stein­ 61 Brüggemeier, Blauer Himmel. 62 Sonja Klimek, Waldeinsamkeit  – Literarische Landschaft als transitorischer Ort bei Tieck, Stifter, Storm und Raabe, in: JdRG 53, 2012, 99–126, 111 f. 63 Ausführlich John Pizer, Auf der Suche nach der verlorenen Totalität Raabes. Pfisters Mühle und Storms Psyche, in: Jd RG 39, 1998, 115–125.

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kohlengeruch war natürlich zu riechen; aber er genügte doch, mich bei den gewesenen Bildern festzuhalten« (PM : 53).

Wieder ist in dieser idyllischen Naturbeschreibung, die die neuen Industrien und deren Folgen bereits wie natürlich übernimmt, Raabes typischer, kritischironischer Unterton nicht zu überhören. Eberhard kann sich durch die Erinnerung jedoch vom Geschehen distanzieren. Mit narrativen und gestalterischen Mitteln gelingt es ihm die Problemhaftigkeit der fortschrittlichsten neuen Entwicklung, auch wenn die Folgen zunächst noch nicht absehbar sind, anzudenken. Dieser Gedanke sollte jedoch nicht als bloßer Zukunftspessimismus gedeutet werden, wie sie Raabe vielfach unterstellt worden sind.64 Vielmehr mahnt dieser Hinweis seine Zeitgenossen zur Achtsamkeit gegenüber einer scheinbar blühenden Zukunft, die nach seiner Ansicht nicht einfach fraglos und unkritisch angenommen werden sollte. Das Schicksal von Pfisters Mühle sollte anderen erspart bleiben oder zumindest sollte bei Umweltveränderungen größere Gerechtigkeit walten. Es scheint fast, als deute Wilhelm Raabe an, dass nicht-nachhaltige und umweltungerechte Entwicklungen in der Zukunft unvermeidbar seien, und nicht verhindert werden können.65 Der ländlich-industrialisierte Raum mit scharfem Kontrast zwischen Idylle und Verschmutzung ist bei Raabe der Schauplatz von Umweltungerechtigkeit. Hoffnungsträger auf dem Weg in eine umweltgerechte und nachhaltige Zukunft des Kaiserreiches ist die Wissenschaft. Der alte Müller selbst ist es, der seine Hoffnungen für die Menschheit auf den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt baut, indem er Adam Asche nicht nur dazu auffordert, den Mühlbach auf Krickerode zu untersuchen, sondern auch dazu, sich »mit allen (s)einen Wissenschaften und Chemikalien und richtigen Begriffen von unserem Verkehr auf der Erde auch nochmal in die Schule zu begeben.« (PM: 179). Hier tritt die Kritik an der Wissenschaftsgläubigkeit der Zeit ganz besonders offensichtlich zu Tage. Die zunehmende Spezialisierung der Naturwissenschaften verdränge das Verständnis für die Ganzheit der Dinge. Carolyn Merchand verortet diese Entwicklung im Tod der Anima Mundi, die letztlich dem mechanistischen Naturbild des Kapitalismus unterliegt.66 Raabe verlangt von der Wissenschaft, sich selbst diesbezüglich zu erziehen, um nicht mit dem Verlust des christlichen Weltverständnisses die Abtrennung des Menschen von seiner Umwelt gänzlich zu vollziehen. Dem normalen Bürger fehle das naturwissenschaftliche Verständnis, 64 Jan Eckhoff, Schwefelwasserstoff und Gänsebraten. Moderne und Tradition in Wilhelm Raabes ›Pfisters Mühle‹, in: Herbert Blume (Hrsg.), Von Wilhelm Raabe und anderen. Bielefeld 2001, 1441–170. 65 Pierre Kodjio Nenguie, Wilhelm Raabes Reflexionen über nachhaltige Entwicklungsprozesse in Pfisters Mühle, in ANGLOGERMANICA ONLINE , 2004, 33–46. 66 Carolyn Merchant, Death of Nature. Women, Ecology and the Scientific Revolution. New York 1983.

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Pfisters Mühle

was wiederum zu problematischen Entwicklungen und vor allem Entfremdung führen könne. Grundsätzlich traut Raabe seinen Zeitgenossen aber durchaus zu, Umweltverschmutzung mit ihren ökologischen Auswirkungen wahrzunehmen: »Da sie [die Fische] aber nichts sagten, sondern nur einzeln oder in Haufen, die silberschuppigen Bäuche aufwärts gekehrt, auf der Oberfläche des Flüßchens stumm sich herab treiben ließen, so waren die Menschen auch in dieser Beziehung auf ihre eigenen Beobachtungen angewiesen« (PM : 53).

In gewisser Weise scheint diese Wahrnehmung der Menschen allerdings gestört zu sein. Sonst würde Raabe sich nicht genötigt fühlen, explizit daraufhin zu weisen, die Menschen seien auf ihre eigenen Beobachtungen angewiesen. Zudem evoziert er eine Art falsche Idylle über die silberschuppigen Bäuche der Fische, die das Sonnenlicht reflektierend nach oben strahlen, und das Flüsschen glitzern lassen. Ebenso wie ein potenzieller Betrachter dieses Trugbild nicht auf den ersten Blick durchschaut, lassen die Menschen sich vom Fortschritt der Industrialisierung blenden. Allzu gerne übersehen sie die Auswirkungen auf sich selbst und ihre natürliche Umwelt. Die toten Fische, die sich, ihrem natürlichen Wesen entfremdet, treiben lassen, stehen weiterhin sinnbildlich für die Bevölkerung des Kaiserreiches, die sich von der Strömung des Fortschritts mittragen lässt und ihm darüber hinaus ihren natürlichen Gerechtigkeitssinn opfert. Der Fisch als Christussymbol weist mit der schwarzen Symbolik des Todes auch auf die generellen Spannungen der Moderne hin, insbesondere das sich wandelnde Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie mit dem Christentum.67 Deshalb bedarf es nach Raabe der mahnenden Stimme der Betroffenen mit besonderem Gerechtigkeitsempfinden, um entstehende Missstände anzuprangern und letztlich auch anzuklagen. Potenziell Betroffene, so lässt sich aus Raabes Beschreibungen folgern, gibt es in unbegrenzter Menge. Die Zahl der Mahner jedoch schrumpft gleichsam mit dem Tod des alten Pfister. Er ist der personifizierte Gerechtigkeitssinn, der leidet und ausstirbt. Denn »(z)war war, wie es immer ist, vom Februar an, wo die Zuckerkampagne beendigt wird, sein [des Flusses] Mühlwasser wieder klar und die Luft über seinem Anwesen rein; aber die Gewißheit, daß im nächsten Oktober das Elend von neuem angehe und Krickerode ihm ungestraft von jeglichem Jahr die Hälfte streichen und stehlen dürfe, nagte zu sehr an seiner Seele und an seinem Rechtsgefühl« (PM : 120).

Der Verlust ökologischer Grundlagen und sozialer Gerechtigkeit hat zur Folge, dass eine Zukunft in Wohlstand und Sicherheit keinen Bestand hat.

67 Kaiser, Tod, 16.

5. Wilhelm Raabe und wissenschaftliches Expertentum

5.1 Gerichtlich bezeugte Ungerechtigkeiten Wilhelm Raabe war entsetzt über die Umweltzustände seiner Zeit, deren politischen und gesellschaftlichen Ursprüngen er skeptisch gegenüberstand. Ein glücklicher Zufall ermöglichte es ihm, sein Interesse am Thema mit einem Studium der Akten des Rechtsstreits der Civilproceß-Sachen der Mühlenbesitzer im benachbarten Bienrode und Wenden mit der Aktienzuckerfabrik Rautheim zu stillen. Das zum Fall gehörige Aktenmaterial gibt Aufschluss darüber, dass Raabes Darstellung der Umweltgerechtigkeit in Pfisters Mühle sich nicht nur aus seinem persönlichen Konzept von Gerechtigkeit speiste. In den Fallakten gibt es durchaus Bezug auf Fragen von Verteilungsungerechtigkeit sowie die Wahrnehmung ökologischer Dysbalancen im Mühlbach. Der Autor schnitt mit der industriellen Gewässerverschmutzung im ländlichen Raum ein Thema an, das zu diesem Zeitpunkt hoch aktuell war. Zudem war die Zuckerrübenindustrie im Herzogtum Braunschweig von hoher Bedeutung für das Deutsche Kaiserreich, da sie die Unabhängigkeit von Rohrzuckerimporten bedeutete.1 Raabe war davon überzeugt, »das Ding wird gegenwärtig die Stimmung vieler Menschen treffen und auch seinen Platz unter Dichtungen dieser Art später einige Zeit festhalten«. Daher lohnt es sich, in den zugehörigen Dokumenten auch nach Umweltgerechtigkeit zu stöbern. Die Frage, inwiefern sich Wilhelm Raabe in seiner Erzählung an dem Prozess der Müller von Bienrode und Wenden orientierte, hat die Forschung bereits hinreichend geklärt.2 Der historischen und literaturwissenschaftlichen Forschung 1 Christoph Berg, Technologischer Fortschritt und ökonomische Regulierung: Ein evolutionärer Ansatz mit einer Fallstudie zur Entstehung und Entwicklung der Rübenzuckerindustrie in Deutschland. Frankfurt a. M. 1995. 2 Ludwig Popp, ›Pfisters Mühle‹ Schlüsselroman zu einem Abwasserprozess, in: Stadthygiene 10/2, 1959, 21–25. August Thienemann, Wilhem Raabe und die Abwasserbiologie, in: Mitteilungen für die Freunde Wilhelm Raabes 15/4, 1925, 124–131. Darauf bezieht sich u. a. Horst Denkler, Die Antwort literarischer Phantasie; Eckhoff, Schwefelwasserstoff und Gänsebraten; August Thienemann, Pfisters Mühle. Ein Kapitel aus der biologischen Wasseranalyse, in: Verhandlungen des Naturhistorischen Vereins der Preussischen Rheinlande und Westfalens 82, 1925, 317–329. Z. B. Thomas Kluge und Engelbert Schramm, Wassernöte. Umweltund Sozialgeschichte des Trinkwassers. Aachen 1986 oder Dirk Neuber, Die bittere Seite der Zuckerfabrik Munzel-Holtensen. Problematische Fabrikabwässer Ende des 19. Jahrhunderts, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 77, 2005, 227–252.

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Wilhelm Raabe und wissenschaftliches Expertentum

ist die für Raabe untypische naturwissenschaftliche Beschreibung quasi zum Symbol einer industriellen Gewässerverschmutzung im Deutschen Kaiserreich des 19. Jahrhunderts geworden. Zeitlich reicht das untersuchte Aktenmaterial von Einreichung des Klageantrags Ende Dezember 1881 bis zu einer ersten Entscheidung des Reichsgerichts im Sommer 1882, einschließlich aller eingereichten Strafanträge bis zum Urteilsspruch im März 1883. Darauf folgen Berufungs- und Revisionsanträge, bis die Akten vom Reichsgereicht am 10. Mai 1885 geschlossen wurden. Wie Ludwig Popp in seinem kurzen, aber prägnanten Aufsatz aus den 1950er Jahren treffend formuliert, zeigt der Prozess deutlich die naturwissenschaftlichen und juristischen Schwierigkeiten auf, die sich »einstellen, wenn bei einer Gewässerverunreinigung nach Schuld und Sühne gefragt wird«.3 Exemplarisch lassen sich die Verfahrensschwierigkeiten einer Verschmutzungsklage wegen Beeinträchtigung im Deutschen Kaiserreich der Gründerzeit anhand des Bienroder Falles nachzeichnen. Am 29. Dezember 1881 legte der von den Mühlenbesitzern Ernst Müller in Bienrode und Carl Lüderitz in Wendenmühle beauftragte Anwalt Semler4 zwei Dokumente beim Herzoglichen Landgericht Braunschweig vor: Zum einen eine Klage5 gegen die Zuckerfabrik wegen »Beeinträchtigung« und zum anderen einen Antrag auf eine einstweilige Verfügung, ebenfalls wegen Beeinträch­ tigung.6 Aus rechtlicher Sicht strebten die Müller eine Immissionsklage gegen die Zuckerfabrik Rautheim an.7 Der Tatbestand schilderte der Anwalt wie folgt: Die Fabrik vergifte mit den in ihren Abwässern enthaltenen faulenden organi 3 Popp, Pfisters Mühle, 21. 4 Civilprozeß-Sachen, Vollmacht, B. 7. 5 Ebd., Klage, B.1–5; Anlagen A-E: Situationsplan, Postkarte und Schreiben der Beklagten, Vollmacht des Rechtsanwalts sowie Beschluss des Reichsgerichts, B. 5–8. Der Beschluss des Reichsgerichts behandelt die Zuständigkeit für die Mühle in Lüderitz, die offensichtlich einem anderen Gerichtsbezirk angehörte. 6 Ebd., Antrag der Kläger, B. 9–28, bestehend aus Klageschrift sowie Gutachten Dr. Heinrich Beckurts und je ein Gutachten der Mühlenbesitzer Glas, Erhardt und Günter. 7 Während des Deutschen Kaiserreiches konnte Umweltverschmutzung nicht alleiniger Gegenstand einer Klage sein. Dennoch waren innerhalb der Gesetzeslandschaft einige Paragraphen vorhanden, mit denen rein theoretisch ein zivilrechtliches Vorgehen gegen gewerbliche Gewässerverschmutzung möglich war. A. Koller (Hrsg.), Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund. vom 21.Juni 1869. Aus den amtlichen Materialien ausführlich erläutert. Berlin 1870. Darin zur Ausführung in Braunschweig, S. 352–364. Diese Gewerbeordnung entsprach der Preußischen Gewerbeordnung von 1845 und wurde nach der Reichsgründung 1871 fast unverändert in die Gewerbeordnung des Deutschen Reichs überführt. Braunschweigisches Wasserrecht und Braunschweiger Eigentumsrecht in Hermann Wolff, (Hrsg.), Sammlung der Reichs- und Landesgesetze für das Herzogthum Braunschweig, Braunschweig, 1900; Norbert Koch, Die Entwicklung des deutschen privaten Immissionsschutzrechts seit Beginn der Industrialisierung: Unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Frankfurt a. M. 2004; Hans-Peter Benöhr, Umweltrechtsentwicklung in Deutschland zwischen 1800 und 1918, in: Ders. (Hrsg.), Schübe des Umweltbewußtseins und der Umweltrechtsentwicklung. Bonn 1995, 35–54.

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schen Substanzen einerseits die Fische der Schunter und »verpeste« andererseits die am Fluss gelegenen Grundstücke;8 auch der Aufenthalt in den darauf errichteten Gebäuden würde den Eigentümern »verleidet«.9 Die Fäulnisprozesse der sich an den Turbinen ansetzenden Algen verursachten nicht nur ekelhaften Geruch, sondern seien noch dazu gesundheitsschädlich. Um die Gesundheitsgefahr zu untermauern hatte man dem Antrag Zeitungsberichte über ähnliche Verschmutzungsfälle beigelegt, einer davon mit tödlichem Ausgang durch Fäulnisgase.10 Übermäßiger Algenwuchs führte bisweilen sogar zum Stillstand der Mühle, weshalb sich der Schaden der Kläger auf 3.600 Mark belaufe, die von der Zuckerfabrik zu ersetzen seien. Zum Schuldbeweis hatten die Mühlenbesitzer im Vorfeld zahlreiche Gutachten von Sachverständigen und Zeugen verschiedenster Fachbereiche erstellen lassen. Mit Bezug auf Akten der Herzoglichen Kreisdirektion, warf die Klägerpartei der Zuckerfabrik außerdem vor, das öffentliche Gewässers zu Fabrikationszwecken unerlaubt zu nutzen. Als weiteren Schuldbeweis und vor allem als vorangegangenes Schuldeingeständnis, legten die Kläger eigenhändige Schriftstücke der Beklagten vor: Bereits im November 1880 hatte die Fabrik eine Entschädigungssumme an die Mühlenbesitzer ausgezahlt,11 im Jahr darauf jedoch nur eine briefliche Absage erteilt. Sie hätten sich »die Überzeugung verschafft […], daß […] Beschwerden über Algenbildung in der Schunter uns nicht treffen könn[te]«.12 Der bevollmächtigte Rechtsanwalt führte aus, dieses Verhalten gefährde die Existzenz der Müller. Diese forderten daher die Unterlassung weiterer Verunreinigung und die Beseitigung bereits entstandener Umweltschäden.13 Für den Fall der Müller von Bienrode und Wenden wurde am Herzoglichen Landesgericht Braunschweig zunächst unter Vorlage biologisch-chemischer und technischer Sachverständigengutachten eine einstweilige Verfügung gegen die beklagte Zuckerfabrik erwirkt. Insbesondere der Gutachter Heinrich Beckurts machte in seinen Ausführungen explizit darauf aufmerksam, er suche nach dem Verursacher einer Betriebsstörung der Mühlen, nicht nach einem »Umweltverschmutzer«.14 Hit Hilfe dieses Gutachtens sowie mit dem Hinweis in der Klage­ schrift auf die fehlende Nutzungsgenehmigung öffentlicher Gewässer durch die Zuckerfabrik konstruierte der Anwalt ein breites Fundament für die Klage, um

8 Civilprozeß-Sachen, Klageschrift, Anlage B. 1. 9 Ebd. 10 Civilprozeß-Sachen, Klageschrift. 11 Ebd., Anlage B, B. 6. 12 Ebd., Klageschrift, Anlage C, B. 6r. 13 Ebd., Klageschrift, B. 4. 14 Ebd.: Bericht über die Ursache des verminderten Leistungsvermögens der Turbinen in den Mühlen zu Wenden und Bienrode; angefertigt im Auftrage der Mühlenbesitzer Ernst Müller in Bienrode und Lüderitz zu Wenden von H. Beckurts Ddr. phil., B.11–23, 11.

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der vagen Rechtslage die größtmöglichen Erfolgschancen abzuringen.15 Wichtig für die geforderte Einstellung des Betriebs, die nach § 26 für eine bereits konzessionierte Anlage nicht durchsetzbar gewesen wäre; außerdem konnten nachträgliche Auflagen zur Abwasserreinigung sonst nicht verhängt werden. Eine besondere umweltschützerische Motivation der Kläger wird im Laufe des Verfahrens nicht deutlich. Vermehrtes Algenwachstum und das Faulen des Wassers sind lediglich Symptome einer Umweltverschmutzung, die als Betriebsstörung und Gesundheitsgefahr klassifiziert wird. Dafür verlangten sie Schadens­ersatz. Somit ist nachweisbare Umweltverschmutzung der Grund für die vorgeworfene Beeinträchtigung, aber nicht Gegenstand der Klage. Da es sich zunächst um ein reines Zivilverfahren handelte, kann über die persönlichen Standpunkte der Kläger keine Aussage gemacht werden. Die eher sprunghaft erscheinende Argumentation, insbesondere der Klageschrift, zeigt deutlich wie wirtschaftlichen Schäden und gesundheitlicher Beeinträchtigung im Kontext industrieller Immissionen gedanklich zusammen hingen. Nach heutigen Maßstäben handelte es sich damals um einen Rechtsstreit wegen Umweltungerechtigkeit, obwohl eine vorsätzliche Umweltverschmutzung kein Vergehen im Sinne des vergleichsweise fortschrittlichen Wasser- und Unternehmensrechts innerhalb des Herzoglich Braunschweigischen Landesrechts darstellte.16 Die Voraussetzungen für einen Umweltgerechtigkeitsprozess sind schon deshalb erfüllt, weil ein bestimmtes, konkret abgrenzbares Gebiet und seine Bewohner in erheblichem Maße der Verschmutzung ausgesetzt und das wirtschaftliche Kräfteverhältnis der Parteien nicht ausgeglichen ist. Leider ging der Prozess der Mühlenbesitzer gegen die Zuckerfabrik in der Realität nicht so reibungslos vonstatten, wie in Wilhelm Raabes Roman. Die Zuckerfabrik Rautheim wehrte sich vehement gegen die einstweilige Verfügung.17 Erst am 23. September 1882 erging die offizielle Ladung der Kläger »zur weiteren Verhandlung in der Sache selbst«.18 Zur mehrmals verschobenen mündlichen Sitzung lud das Gericht die in den Gutachten und Schreiben benannten Sachverständigen und Zeugen beider Seiten.19 Als erster bestätigte ein Beamter der Kreisdirektion im Sinne der Kläger, dass im Jahre 1881, wie auch in den Vor 15 Brüggemeier, Blauer Himmel, 28. 16 Wolff, Sammlung der Reichs- und Landesgesetze. Dennoch war das Herzogtum zu dieser Zeit fortschrittlich, was die Klagemöglichkeiten gegen industrielle Umweltverschmut­ zung anbelangt. Zur Entwicklung des Umweltrechts in Deutschland siehe Benöhr, Umweltrechtsentwicklung. 17 Civilprozeß-Sachen. Die letzte Entscheidung zur einstweiligen Verfügung verhängte das Reichsgericht in Leipzig am 07.07.1882: Darin wurde dem Antrag der Kläger weitestgehend stattgegeben. 18 Civilprozeß-Sachen, Ladung von Seiten der Kläger, B. 95r. 19 Zur Bestellung von Sachverständigen siehe Konstantinos Konstantinou, Die öffentliche Bestellung von Sachverständligen nach § 36 GewO. Köln 1993, 6ff, 25; sowie Stolberg, Recht auf saubere Luft, 146–150.

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jahren, zahlreiche Beschwerden über die Abwässer der beklagten Fabrik bei seiner Behörde eingegangen seien. Er hatte die Verschmutzung persönlich in Augenschein genommen und daraufhin bauliche Maßnahmen zu einer verbesserten Abwasserreinigung angeordnet. Allerdings wollte er sich kein Urteil darüber erlauben, ob der Schaden der Mühlen tatsächlich durch die Zuckerfabrik Rautheim entstand.20 Um diese Frage zu klären, wurden im Anschluss die von den beiden Parteien als Sachverständige hinzugezogenen Naturwissenschaft­ ler gehört. Der Chemiker Heinrich Beckurts, mit dem Wilhelm Raabe bekannt war, bestätigte, er habe in allen bisher vorgelegten Gutachten dieselben Verunreini­ gungen des Flusswassers feststellen können, die auch die Mühle in Bienrode und Wenden betraf. Trotz leichter Verbesserung der Wasserverhältnisse durch die im Sommer 1882 von der Zuckerfabrik angelegten Rieselfelder21 bliebe, nach Beckurts Angaben, der Tatbestand, der nachweislich durch die pflanzlichen Ablagerungen an den Turbinen hervorgerufen werde, grundsätzlich bestehen. Das enorme Wachstum von Algen und Pilzen in der Schunter werde, so der Gutachter, durch den hohen organischen Stoffeintrag der Zuckerfabrikabwässer über Wabe und Mittelriede angeregt. Das konnte der Vergleich zu anderen, an verschiedenen Stellen entnommenen Wasserproben hinreichend bestätigen. Er untermauere die Tatsache, dass die Abwasserreinigung der Beklagten trotz Nachbesserungen noch immer unzureichend sei, führte Beckurts durch einige Vergleichsbeispiele an. So etwa die oberhalb Rautheims an der Wabe gelegene Zuckerfabrik Salzdahlum, deren Abwässer die Wasserqualität des Flusses kaum beeinträchtigten,22 oder die Zuckerfabrik in Königslutter, die im Gegensatz zur beklagten keinerlei Pilzwuchs an der benachbarten Mühle verursache. Ferner könne in den Sommermonaten keinerlei Verunreinigung der Wasserläufe um die Aktienzuckerfabrik festgestellt werden. Deshalb käme deren Zuckerkampagne als einzige Ursache für die schlechte Wasserqualität der Schunter in Frage.23 Weiterhin hatte Beckurts seit Einreichung der Klageschrift Proben der entnommenen Pilzkulturen an den bekannten Mikrobiologen Prof. Ferdinand Cohn übersandt, der seine Theorien zur Pilzbildung und der Artenzusammensetzung bestätigte; auch Cohn identifizierte Rautheim eindeutig als Verursacher der Wasserverschmutzung.24 Während der aktuell laufenden Kampagne hatte 20 Civilprozeß-Sachen, Zeugenvernehmungsprotokolle nebst Anlagen, B. 151r-152r. 21 Ebd., B. 153r. 22 Ebd., B. 155r. 23 Ebd., B. 156r f. 24 Ebd., B. 157–159. Die Antwortschreiben Cohns wurden als Anlage A und B beigefügt (Ebd. B. 172ff und B. 174). Im Laufe des Verfahrens war ein wissenschaftlicher Streit zwischen den Sachverständigen Beckurts und Eyferth um die Frage nach den in den Proben isolierten Pilzen und deren Wachstumsverhalten entbrannt. Siehe z. B. Popp, Pfisters Mühle,

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der Chemiker auf Aufforderung der Kläger hin immer wieder Wasserproben entnommen, konnte jedoch nach eigener Aussage nicht eindeutig bestimmen, ob die Einleitung der Abwässer vor oder nach seiner Ortsbegehung stattgefunden hatte.25 Im Anschluss an Heinrich Beckurts’ Aussage vernahm das Gericht die Gutachter der Beklagten, Frühling und Eyferth bis zur mittäglichen Verhandlungspause; am Nachmittag setzte es den Prozess mit dem Chemiker Schulz fort. Alle Zeugen bestätigten ihre schriftlichen Aussagen, denen zufolge die Zuckerfabrik nicht als Verursacher der Verschmutzung in Frage komme. Das bietet Anlass zur Spekulation um manipulierte Ergebnisse oder sogar manipulierte Wasserproben. Und es wird deutlich, welche Bürde den Klägern mit der Beweispflicht aufgeladen war, wenn mit denselben wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden derart unterschiedliche Analysen erzielt bzw. Schlussfolgerungen daraus gezogen werden konnten. Wie sich bei der anschließenden Anhörung des Maschinenfabrikanten Erhardt herausstellte, hatte der Ingenieur seine beweisrelevanten Angaben zur Turbinenleistung nur geschätzt. Er hielt diese Zahlen auf Grund von Erfahrungswerten jedoch für realistisch. Er gehe davon aus, dass eine präzise Berechnung praktisch unmöglich sei, da sich dafür die Turbinen in einem völlig gereinigten Zustand befinden müssten. Doch auch er hatte bei der Ortsbegehung während der laufenden Kampagne eine weniger starke Verunreinigung der Mühlen als im Vorjahr und damit eine geringere Beeinträchtigung der Leistung insgesamt festgestellt.26 Erhardt hatte die Mühlen der Kläger zusammen mit Mühlenbesitzern aus Wolfenbüttel und Gliesmarode besichtigt. Die Aussagen der Sachverständigen bestätigten die Angaben Erhardts weitgehend. Interessant ist die scheinbar nebensächliche Bemerkung des Müllers Günther, die Schunter führe in den Herbst- und Wintermonaten ausreichend Wasser, weshalb Leistungseinbußen der klägerischen Mühlen nicht auf eine generell reduzierte Fließgeschwindigkeit des Gewässers zurückzuführen seien.27 Er hatte offensichtlich ein hohes praktisches Verständnis von den Umweltzusammenhängen. Zudem war das ein sachdienlicher Hinweis, der jedoch im Verlauf des Verfahrens von der Anklage nicht umfassend verwertet werden konnte. Der nächste Zeuge hatte sich bisher noch in keinem der vorgelegten Gut­achten schriftlich geäußert. Es handelte sich um einen Mühlenbesitzer, dessen Betrieb nicht an der Schunter, sondern an der benachbarten Lutter gelegen war, in die die Abwässer der Zuckerfabrik Rühland & Co. eingeleitet wurden. Im Jahre 1880 bereits hatte er die Mühlen der Kläger besichtigt und dabei eine starke Veroder Thiene­mann, Pfisters Mühle. Ohne auf die Debatte näher einzugehen, ist klar, dass die damaligen Analyseverfahren Defizite aufwiesen. Gerhart Drews, Ferdinand Cohn, a founder of modern microbiology, in: ASM News 65/8, 1999, 547–552. 25 Civilprozeß-Sachen, B. 159 f. 26 Ebd., Zeugenvernehmungsprotokolle nebst Anlagen, B. 166–167. 27 Ebd., B. 167–168.

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unreinigung der Turbinen sowie eine Leistungsreduktion derselben feststellen können, wofür auch er die Abwässer von Rautheim verantwortlich machte. Aber sein eigener Betrieb sei nie von derartigen Verschmutzungen betroffen gewesen, da er oberhalb der Stelle liege, an der die Abwässer in die Lutter gelangten. In den Müller unterhalb dieses Einlasses hingegen hätte man mit denselben Problemen wie die Kläger zu kämpfen.28 Und noch ein weiterer Mühlenbesitzer, der zusammen mit den Zeugen die Besichtigung in Bienrode und Wenden im Jahr 1880 durchgeführt hatte, bestätigte die Verunreinigung des Flusses und der Betriebe. Auf Grund mangelnder Fachkenntnisse könne er jedoch nicht beurteilen, ob und inwieweit die Turbinen dadurch in ihrer Leistung beeinträchtigt seien. Als erster und einziger Zeuge der Anklage gab er zu bedenken, dass es sich hier um ein viel weiterreichendes ökologisches Problem aus sich akkumulierenden Schadstoffen handeln könnte, denn »[d]ie Verunreinigung mag zwar durch die Abwässer der Bekl. bewirkt sein, doch werden auch die Abwässer der Zuckerfabriken in Salzdahlum und Königslutter mitgewirkt haben.«29 Anders als seine Vorredner äußerte sich der Gastwirt Horn aus Gliesmarode an der Mittelriede. Er konzentrierte sich überwiegend auf den Geruch der betroffenen Gewässer, die er seit Jahren zur Zeit der Zuckerkampagne bemerkt hatte. Das hätte sich auch in diesem Jahr nicht geändert. An den Geruch, den er in der Bienroder Mühle wahrgenommen habe, erinnere er sich deutlich, obwohl er keine spezifische Verunreinigung der Mühlbäche bemerkt habe. Es sei derselbe gewesen, der auch seine eigene Gastwirtschaft im Herbst und Winter beeinträchtige.30 Der Gemeindevorsteher von Bienrode habe ebenfalls schon viele Jahre lang eine Verfärbung und einen schlechten Geruch des Wasserlaufs nach Beginn der Zuckerkampagne beobachtet. Bei der Besichtigung der Wabe, der Mittelriede und der Schunter im Winter 1881 zusammen mit Heinrich Beckurts und anderen befragten Zeugen sei sein Verdacht bestätigt worden, dass diese Verunreinigung von der Zuckerfabrik Rautheim verursacht werde.31 Nach dieser Aussage wurde im Verhandlungsprotokoll vermerkt, dass die letzten beiden Zeugenaussagen nicht als Beweis zugelassen würden.32 Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Merkwürdig ist das insofern, als Gestank in der Regel noch immer mit einer Gesundheitsgefahr durch Miasmen in Verbindung gebracht wurde. Die vorherigen Aussagen der Wissenschaftler ließen sich auch nicht als Spekulation abtun.33

28 Ebd., B. 168 f. 29 Ebd., B. 169 f. 30 Ebd., B. 169r-170. 31 Ebd., B.170 f. Er nimmt Bezug auf die Anlagen C und D des Antrags der Kläger vom 29.12.1881, B. 26–28. 32 Ebd., B. 170r. 33 Konstantinou, Sachverständigenwesen.

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Als letzter Zeuge wurde der Förster von Bienrode angehört. Er gab an, seit Mitte September des Jahres 1882 bei seinen Rundgängen das Wasser der Wabe sehr verunreinigt gefunden zu haben und dass diese Verschmutzung sei auch in die Schunter weitergeleitet worden. Der Beamte hatte am Nachmittag und Abend des 20. September große Mengen toter und »sehr betäubter« Fische auf der Wasseroberfläche schwimmen sehen, und erinnerte sich deshalb sehr genau daran.34 Damit kamen erstmals auch die Auswirkungen auf das Ökosystem des fraglichen Gewässers zur Sprache, die auch Raabe in seinen Roman einfließen ließ. Aus den Vernehmungsprotokollen wird ersichtlich, dass die geladenen Zeugen alle die biologischen Zusammenhänge aus praktischer Erfahrung heraus verstanden. Diese Tatsache unterstreicht, dass ökologisches Verständnis nicht zwingend aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen resultieren muss. Vor allem aber zeugt der Verweis auf andere Fälle von industrieller Gewässerverschmutzung in unmittelbarer Nachbarschaft von einer umfassenden Wahrnehmung der Industrie als potenzielle Bedrohung für die eigene Existenz und die natürliche Lebensgrundlage der Region.

5.2 Opfer wirtschaftlichen Fortschritts Zwei Tage nach Ende der Beweisaufnahme erging die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 14.02.1883.35 Bis zu diesem Termin waren am 29. und 31. Januar 1883 sowie am 3. Februar 1883 jedoch noch drei als dringend gekennzeichnete Strafanträge der Kläger bei Gericht eingegangen, in denen zehn weitere starke Verschmutzungstage angezeigt wurden.36 Während einer mündlichen Verhandlung am 24. Februar griff die Klägerpartei auf die Unterstützung durch den prominenten Sachverständigen Professor Ferdinand Cohn, zurück (BA : 518). Sein ausführliches zweites Gutachten bestimmte die Arten der Pilze, die in den Proben aus den Mühlen vorhanden waren und stellte fest, dass sich in der relativ kurzen Zeit von Anfang November 1882 bis Anfang Januar 1883 eine starke Verschlechterung der Wasserqualität vollzogen hatte. Als Indikator galt ihm eine Grünalge, die durch das Wachstum bestimmter Pilze verdrängt worden sei.37 Außerdem hatte der bereits in der Beweisaufnahme vernommene Amtmann von Bienrode eine erneute Ortsbegehung dokumentiert, bei der er auch für die Kampagne 1882/83 eine Leistungsbeeinträchtigung festgestellt hatte, da 34 Civilprozeß-Sachen, B. 171. 35 Ebd., Parteiladungen, B. 182. 36 Ebd., Antrag der Kläger nebst Anlage, B. 194–195; B. 197–198 u. B. 199–200. Wieder bestehend aus Anschreiben und Gutachten Beckurts. Auf dem Anschreiben jeweils ein handschriftlicher Vermerk des Gerichts: Verhandlung ebenfalls am 14. Februar 1883. 37 Civilprozeß-Sachen, Verhandlungsprotokoll nebst 6 Anlagen vom 24. Februar 1883, B. 205–206.

Opfer wirtschaftlichen Fortschritts

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»die Turbinen mit einer schleimigen gelbweißlichen pilzartigen übelriechenden Masse sehr verschleimt«38 waren, so dass am Ende der Hauptverhandlung auch die Richter von einer – zumindest wirtschaftlichen – Beeinträchtigung der beiden Mühlen durch die Zuckerfabrik überzeugt waren. Der Urteilsspruch lautete auf Übernahme von 5⁄6 der entstandenen Kosten durch die Zuckerfabrik zuzüglich des geforderten Schadensersatzes, was zumindest den unmittelbaren wirtschaftlichen Schaden der Müller auszugleichen versprach.39 Nach der Verurteilung der Zuckerfabrik hatte die Klägerseite offenbar an Selbstbewusstsein gewonnen. Die hohe Zahl der Strafanträge beispielsweise lässt darauf schließen, dass sie grundsätzlich davon ausging, dass die Prozesse zu gewinnen seien, und auch davon, dass sie Schadensersatzansprüche würde geltend machen können. Durch den langwierigen Prozess und die Beweispflicht der Kläger waren den Müllern, die schon Verluste durch den Ausfall der Mühlen zu beklagen hatten, auch noch erhebliche Kosten für die zahlreichen chemischen Gutachten entstanden.40 Die beiden klagenden Müller waren außerdem direkt betroffen von den gesundheitsgefährdenden Risiken der Verschmutzung. Sie trugen den wirtschaftlichen Schaden und waren den Ausdünstungen der Pilzwucherungen ausgesetzt. Auch die befragten Zeugen neigten, je mehr sie selbst von den Abwässern der Zuckerfabrik in wirtschaftlicher oder gesundheitlicher Hinsicht betroffen waren, zu einer subjektiven Darstellungsweise. Die Betroffenen, wie etwa der Wirt aus Gliesmarode, tendierten dazu, die Ursache der Verschmutzung direkt bei der einen, beklagten Zuckerfabrik zu suchen und erhofften sich aus ihrer Beseitigung das Ende allen Übels. Anders der Müller Günther, dessen Mühle nicht an dem fraglichen Abschnitt der Schunter lag, und der in seine Ausführungen mit einbezog, dass auch die Abwässer anderer Zuckerfabriken sich nachhaltig und additiv auf die Gewässerqualität auswirken könnten.41 Da im Verfahren der Nachweis erbracht werden musste, dass die beklagte Zuckerfabrik die Schäden verursacht hatte, war eine solche Aussage dem Erfolg der Klage nicht eben zuträglich. Ihm allerdings hier zu unterstellen, er habe das Vorhaben der streitenden Müller, behindern wollen, greift sicher zu weit. Er war einfach weniger unmittelbar betroffen und hatte deshalb offensichtlich einen objektiveren Blick auf die Zusammenhänge und er besaß die Fähigkeit, das Problem auf den Punkt zu bringen. 38 Ebd., B. 210. 39 Ebd., Urteilsabschrift, B.227r. Sowie Ebd., Verhandlungsprotokoll vom 14. März 1883, B. 212. 40 Darüber, welche Ausgaben die Kläger tatsächlich gehabt hatten, lagen außer den Kostenaufstellungen des jeweiligen Gerichts zum Zeitpunkt der Untersuchung keine Angaben vor. Allerdings waren chemische Gutachten teuer und auch die Anwaltskosten mussten sich über die Zeitspanne auf eine größere Summe belaufen. Ein Hinweis, dass kleine Bauern diese Belastung nicht tragen konnten, wird etwa angeführt in: Brüggemeier, Blauer Himmel, 96. 41 Civilprozeß-Sachen, B.169.

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Wilhelm Raabe und wissenschaftliches Expertentum

Der Naturwissenschaftler Heinrich Beckurts, der seine auf Fakten basierenden Untersuchungen als Sachverständiger nicht aus eigener Motivation heraus, sondern im Auftrage anderer durchführte, mag das umweltungerechte Verhalten der immitierenden Fabrik am ehesten objektiv beurteilt haben. Unabhängig davon, dass Beckurts ein persönliches Interesse an diesem besonderen Fall hatte – immerhin waren auch seine eigenen Freizeitaktivitäten zumindest ästhetisch und sensuell von der Gewässerverschmutzung der Schunter beeinträchtigt42  –, hatte er starkes wissenschaftliches Erkenntnisinteresse. Er legte bei dem Versuch, die Zusammenhänge der Beeinträchtigung durch statistische Untersuchungen zu begründen, großes Engagement an den Tag. So bezog er mit Prof. Cohn einen erfahrenen und anerkannten Kollegen als Unterstützer mit ein.43 Auch in den Jahrzehnten nach dem Prozess versuchte Beckurts die Verschmutzungen und ihre Auswirkungen auf die Braunschweigische Bevölkerung weiter zu erforschen. Mit Wilhelm Raabe tauschte er sich weiterhin regelmäßig aus. Die rechtskräftige Verurteilung der Zuckerfabrik erwirkt zu haben, konnte von den Klägern als großer Erfolg gewertet werden; das Gericht hatte in seiner Entscheidung vom 14. März 1883 deutlich für die Ansprüche der Kläger Stellung bezogen und die Verunreinigung der Schunter auch für die Zukunft untersagt.44 Das Landesgericht sprach sich hier ganz direkt gegen eine Verschmutzung der Umwelt aus und hob die Ungerechtigkeit infolge der geographisch bedingten unterschiedlichen Betroffenheit hervor. Einen derart hohen Betrag aufzubringen zu müssen, ohne jedoch rein faktisch eine Verbesserung der beklagten Verhältnisse erwirkt zu haben und während anhaltender Produktionseinbußen, war für die Mühlenbesitzer unbefriedigend. Der Rechtsstreit war also nicht beendet, zumal die Zuckerfabrik Rautheim mit den Schuldspruch ablehnte. Mit einem zweigeteilten Urteil wurden am 14. März 1883 zwei grundsätzlich verschiedene Dinge entschieden: Zum einen erkannte das Gericht die nachbarschaftsrechtliche Beeinträchtigung der Müller durch den Industriebetrieb trotz ortsüblicher Belastungen an, was die geographisch ungerechte Verteilung der Gewässerverschmutzung einschloss und damit war einer Anklage im Sinne umweltungerechten Verhaltens Genüge getan.45 Zum anderen kann dieser Urteilsspruch auch aus ökologischer Sicht als Erfolg gewertet werden, selbst wenn er auf einer actio negatoria, also einer sog. Eigentumsfreiheitsklage, und nicht etwa auf

42 Hans Oppermann, Wilhelm Raabe. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbeck 2001. 43 Damit entsprach sein Vorgehen der gängigen wissenschaftlichen Praxis. Vgl. Arne Andersen / Brüggemeier, Gase, Rauch und Saurer Regen, 82. 44 Civilprozeß-Sachen, Verhandlungsprotokoll – Urteil vom 14. März 1883, B. 223. 45 Zur Ambivalenz der Ortsüblichkeit von industriellen Umweltbelastungen, siehe Andersen / Brüggemeier, Gase, Rauch und Saurer Regen, 78 f.

Opfer wirtschaftlichen Fortschritts

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einer Klage wegen Umweltverschmutzung, beruhte.46 Die Verschmutzung der Schunter spielte nur insoweit eine Rolle, als sie als Ursache für die Beeinträchtigung der betroffenen Mühlenbesitzer galt. Das Gericht betonte dennoch, dass die »schleimige Pilzmasse« zu vermeiden gewesen wäre, das Umweltproblem war also durchaus wahrgenommen worden. Auf Grund der widersprüchlichen Kostenverteilung legten diesmal die Kläger das Rechtsmittel der Berufung beim Herzoglichen Oberlandesgericht Braunschweig ein. Dies sollte für die Zuckerfabrik im Sinne der früheren einstwei­ ligen Verfügung eine Geldstrafe von 24.000  Reichsmark und die Übernahme der bisher entstandenen Gerichtskosten bestimmen.47 Zur Begründung der Anfechtung bezog sich die Klägerpartei auf eine Aussage des Gerichtes selbst, wonach das Strafverbot nur wenig der Idee entspreche, aus der die einstweilige Verfügung hervorgegangen war.48 Das Urteil des Oberlandesgerichts vom 5. Oktober 1883 wies die Berufung der Kläger jedoch als unrechtmäßig zurück und verurteilte dieselben in die Kosten des Verfahrens.49 Da es sich laut Gericht bei der Entscheidung zur einstweiligen Verfügung lediglich um einen Beschluss, nicht um ein Endurteil handelte, sei das Rechtsmittel der Berufung rein formal nicht legitim.50 Mit dieser Begründung war auch eine Revision beim Reichsgericht nicht mehr möglich, daher musste sich die Partei der Mühlenbesitzer dieser Entscheidung beugen und die ihnen auferlegten Kosten bezahlen. Das Endurteil zur Klage der Beeinträchtigung war für die Kläger hingegen sehr positiv ausgefallen, sodass keinerlei Grund bestand, dieses anzufechten. Allerdings legte die Zuckerfabrik Rautheim Berufung ein, um in einer erneuten Urteilsfindung ihre Ansprüche auf Entschädigung im Sinne der einstweiligen Verfügung rechtskräftig geltend zu machen. Für die letzten vier Zuckerkampagnen belief sich das auf 42.100 beziehungsweise 18.000 Reichsmark für den jeweiligen Müller berechnet wurde.51 Nach langwierigen Revisionsstreitigkeiten, die wieder bis zum Reichsgericht getragen wurden,52 endete die Auseinandersetzung der Müller von Bienrode gegen die Aktienzuckerfabrik Rautheim schließlich unverändert. 46 Obsiegte der Eigentümer, konnte er sein Eigentumsrecht, das vorher – im vorliegenden Fall eben durch die Gewässerverschmutzung – eingeschränkt war, wieder voll ausüben. Andreas Thier, Zwischen actio negatoria und Aufopferungsanspruch: Nachbarschaftliche Nutzungskonflikte in der Rechtsprechung des 19. und 20.Jahrhunderts, in: Ulrich Falk (Hrsg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter. Zur Reaktion der Rechtsprechung auf die Kodifikation des deutschen Privatrechts (1896–1914). Frankfurt a. M. 2000, 407–450. 47 Civilprozeß-Sachen, Urteil des Herzoglichen Oberlandgerichts vom 5. Oktober 1883, B. 232r. 48 Ebd., B. 232r. 49 Ebd., 232. 50 Ebd., B. 233r. 51 Civilprozeß-Sachen, Abschrift des Urteils des Herzoglichen Oberlandesgerichts vom 1. Dezember 1884, B. 258. 52 Ebd., Urteil des Reichsgerichts, B. 264.

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5.3 Verleugnete gesellschaftliche Folgen Aus heutiger Sicht erfüllt der Braunschweiger Rechtsstreit sämtliche Kriterien eines Umweltgerechtigkeitsprozesses.53 Selbst die Verfahrensschwierigkeiten finden ihre heutige Entsprechung, wie etwa die Beweispflicht der klagenden Partei, die sich auf Grund wirtschaftlicher Verhältnisse als Herausforderung erweist, ungeachtet der bloßen Verfahrenskosten sowie die potenzielle akute Gefahr zusätzlicher Gerichtskosten durch Revision. Aus den Finanzaufstellungen wird ersichtlich, dass ein Großteil der begrenzten klägerischen Mittel in stets neue Gutachten floss. Die Beklagten hingegen konnten leicht immer neue Gutachten anzufordern, bis die Gegenseite sprichwörtlich verdurstete. Wie auch aus der Zusammensetzung der Prozesszeugen ersichtlich, bei denen es sich um einfache Bürgerliche handelte, beruhte die Ungleichheit zwischen den Parteien auf ökonomischen Faktoren, die maßgeblich auf Klassenunterschiede zurückzuführen sind. Unglücklicherweise konnte der Zustand der Umweltungerechtigkeit auf dem Prozesswege nicht beseitigt werden, was nicht nur auf die ökonomische Überlegenheit des Industriebetriebes zurückzuführen ist, sondern auch auf die mangelnde rechtliche Verankerung von Umweltschutz. Interessant ist die Ansicht des Gerichts, bei den wiederholten Anträgen der Klägerseite, handle es sich um einen Rechtsmittelmissbrauch. Die Richter begründeten dies nicht nur mit unnötig entstandenen Kosten und Aufwand, sondern auch mit überhöhten Schadensersatzforderungen.54 Einiges deutet darauf hin, dass das Gericht sich zwar wegen der herrschenden Rechtslage gezwungen sah, den angeklagten Industriebetrieb zu verurteilen, aber eigentlich ein abschreckendes Exempel für zukünftige Kläger statuieren wollte. Weitere wirtschafts- und fortschrittsschädigende Verfahren sollten abgewendet werden, denn der Glaube an industrielle Weiterentwicklung und Fortschritt zur Vermehrung des Volkswohlstandes war tief. Damit wurde die Möglichkeit einer erneuten Verschmutzung, auch mit sogar noch gefährlicheren Auswirkungen auf Mensch und Natur, billigend in Kauf genommen. Das Gericht, das zwischen dem Bedürfnis der Industrie nach freier Entfaltung und dem privaten Eigentumsanspruch auf Schadloshaltung abzuwägen hatte, konnte leicht zu Gunsten der Industrie und der Wohlfahrt des Staates entscheiden.55 Dieser für den Privatmann nachteilige Erlass behielt mit der Einführung der Reichsgewerbeordnung auch weiterhin seine Gültigkeit. Damit war der Inter 53 Eine Übersicht prominenter moderner Fälle bietet Oliver Houck, Taking Back Eden: Eight Environmental Cases That Changed the World. Washington, D. C. 2010. 54 Civilprozeß-Sachen, Urteil des Herzoglichen Oberlandesgerichts. Darin wurde ein Betrag von 100 statt vorher 1000 Mark als Strafe festgesetzt. B. 232. 55 Koch, Immissionsschutzrecht, 70; Michael Kloepfer, Zur Geschichte des deutschen Umweltrechts. Berlin 1994.

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essenkonflikt zwischen Gewerbetreibenden und geschädigten Grundeigentümern eindeutig für Erstere entschieden. Die Wirtschafts- und Interessenpolitik des Kaiserreiches verfolgte ihre Ziele, was Auswirkungen auf den gemeinen Bürger hatte und künftige Entwicklungen in falsche Bahnen lenkte. Trotz ausreichender naturwissenschaftlicher aber auch praktischer und technischer Erkenntnisse, die nicht nur durch diesen, sondern auch durch andere Zivilprozesse an die Öffentlichkeit getragen worden waren, wurden keine entsprechenden Konsequenzen für die Formulierung des Bürgerlichen Gesetzbuch gezogen, das reichsweit zur Jahrhundertwende in Kraft trat. Umweltverschmutzung wurde mit ihren sozialen und ökologischen Auswirkungen trotz besseres Wissens und Gewissens als notwendiges Übel akzeptiert. Im Fall der Müller von Bienrode und Wenden wurde auf Grund dessen nicht nur das kleine Flüsschen mit seinem Ökosystem zu einer Opferstrecke, sondern auch die betroffenen Anwohner wurden zu Opfern des Fortschritts degradiert. Wilhelm Raabes Gespür für Fragen der Umweltgerechtigkeit zeigt sich deutlich in seiner Darstellung des Müllers Pfister und seiner Geschichte, die gespeist wurde von den Eindrücken der zahlreichen betroffenen Zeugen des Prozesses der Müller von Bienrode und Wenden. Er war offensichtlich aufgeschlossen für naturwissenschaftliche Analysemethoden zur Interpretation einer sich verändernden Umwelt. Außerdem spielte auch seine eigene subjektive sensuelle Wahrnehmung von Umweltverschmutzung und deren ungerechte Verteilung für die spezifische Gestaltung der Umweltgerechtigkeitsthematik in Pfisters Mühle eine große Rolle.56 Und das obwohl er landläufig als humoristischer Gesellschaftskritiker des Kaiserreiches bekannt war. Sein Selbstverständnis als missverstandener Künstler nährte sein Werk in mancherlei Hinsicht und er stellt sich damit gedanklich in eine Reihe mit den großen deutschen Schriftstellern Schiller und Goethe.57 Er hatte es nie leicht, sich und seine Familie mit der Schriftstellerei über Wasser zu halten – auch dies ein bekanntes Schicksal – er konnte jedoch immer wieder auf die Hilfe und Unterstützung von Freunden und Gönnern zählen. Hilfe anzunehmen fiel ihm nicht immer leicht, zumal er bereits als Junge die Abwesenheit einer institutionalisierten sozialen Absicherung gespürt hatte. Nach dem frühen Tod des Vaters geriet seine Familie in die finanzielle Abhängigkeit der großbürgerlichen Verwandtschaft, was immer wieder zu Zwistigkeiten führte und prägende Spuren hinterließ. Zusammen mit einem erzwungenen Ortswechsel nach Wolfenbüttel führte dies zu Brüchen in seinem Ausbildungsverlauf in Schule und Buchhandel. Im Alter sah Raabe dies jedoch humorvoll-entspannt, »(w)ie mich danach unseres Herrgotts Kanzlei, die brave 56 Agnes Kneitz, Wilhelm »Kassandra« Raabe. Industrialisierung, Zerstörung der Idylle und Umwelt-Appell in Pfisters Mühle (1883), in: Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 2018, im Druck. 57 Sabine Wilke, Pollution as Poetic Practice: Glimpses of Modernism in Wilhelm Raabe’s Pfisters Mühle, in Colloquia Germanica 44/2, 2011, 195–214.

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Stadt Magdeburg, davor bewahrte, ein mittelmäßiger Jurist, Schulmeister, Arzt oder gar Pastor zu werden, halte ich für eine Fügung, für welche ich nicht dankbar genug sein kann.«58 Obwohl fehlendes Abitur und mangelnde Ressourcen ein offizielles Studium an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität verhinderten, widmete Raabe sich als Gasthörer hingebungsvoll dem Aufbau einer umfassenden humanistischen Bildung.59 Allerdings litt der junge Wilhelm unter einer labilen Gesundheit mit wiederkehrendem Lungenleiden, das seine feuchte Studentenbude verstärkte. Hier entstand sein Erstlingswerk aus dem Jahr 1856, Die Chronik der Sperlingsgasse. Nach seiner Rückkehr nach Wolfenbüttel heiratete er Berta Leiste, mit der zusammen er vier Töchter hatte und die er allesamt vergötterte.60 Für einige Jahre lebte die Familie in Stuttgart, wo für sein Werk prägende Schriften entstanden,61 1870 kehrten sie wieder in ihre Heimat zurück. In diesem ländlich geprägten Raum hatte sich der Anbau und die industrielle Weiterverarbeitung agrarischer Zeugnisse, vor allem Zuckerrüben, als Hauptsektor technisierter Produktion etabliert.62 Zurück im Braunschweiger Land hatte Raabe sich zum geistigen Austausch den sogenannten Kleidersellern angeschlossen, einer intellektuellen Gruppe, die während der 1880er Jahre immer donnerstags im Lokal Grüner Jäger außerhalb der Stadt einkehrte.63 Auf dem Weg dorthin mussten die Wanderer das Flüsschen Wabe überqueren, in deren milchigem Wasser sie häufig tote Fische bemerkten.64 Eine weiter oben am Bachlauf gelegene Zuckerfabrik war der Verursacher der Verschmutzung. Gegen diese waren die betroffenen Anlieger bereits gerichtlich vorgegangen. Raabe erfuhr dies im Gespräch mit dem jungen Chemiker Heinrich Beckurts, der im fraglichen Rechtsstreit als Gutachter für die Kläger engagiert war. Als dieser Prozess der Müller von Bienrode und Wenden gegen die Aktienzuckerfabrik Rautheim beendet war, ließ sich Raabe von Beckurts das vorhandene Aktenmaterial und die Gutachten für einige Tage zur Einsicht geben.65 Aufbauend auf persönlicher Beobachtung und ausgiebigem Studium des Aktenmaterials66 entstand schließlich Pfistes Mühle, dessen Erzählschema und Narrativ zunächst ganz dem Zeitgeschmack zu entsprechen scheinen. Die kritische Auseinandersetzung mit den Problemen der Industrialisierung musste daher 58 Wilhelm Raabe Nachlass  – H III 10, Stadtarchiv Braunschweig, Autobiographische Skizze 1906. 59 Ebd. Studienbücher. 60 Ebd. 61 Hoffmeister, Unter Reben. 62 Neuber, Die bittere Seite der Zuckerfabrik. 63 Raabe Nachlass, Tagebücher Nr. 149. Ausführlich, Oppermann, Wilhelm Raabe, 85. 64 Raabe Nachlass, Briefe Nr. 3; Ernst-August Roloff, Wie ›Pfisters Mühle‹ entstand, in: Wilhelm-Raabe-Kalender 2, 1948, 70–75, 71. 65 Raabe Nachlass, Briefe: Wilhelm Raabe an Heinrich Beckurts. 66 Nachlass, Tagebücher, Nr. 149.

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einen auf unbeschwerte Unterhaltung sinnenden Leser vor den Kopf stoßen. Denn Raabe griff in Pfisters Mühle ein Thema auf, das zu seiner Zeit noch nicht salonfähig war. Obwohl die Natur in ihrer scheinbaren Unkontrollierbarkeit sich zumeist als Bedrohung für den Menschen dargestellt hatte, war das Verhältnis von Mensch und Natur bis ins 19. Jahrhundert mehr oder weniger in Einklang miteinander gewesen. Je weiter sich beide voneinander entfernten, desto mehr fand die idealisierte Harmonie in der romantischen Literatur ihren Niederschlag67 – quasi als Reaktion auf den Verlust. Seit Beginn der Aufklärung wurde Natur zunehmend als lokal begrenzte Ressource wahrgenommen.68 Moderne, industrielle Fabrikationsweisen erhöhten das Ausmaß an Emissionen auf ein ökologisch unverträgliches Niveau und die Modernisierung der Arbeitswelt führte dazu, dass die Menschen sich dem Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten entfremdeten.69 Durch diese zivilisatorischen Eingriffe in den eigenen menschliche Lebensraum und die sichtbare Gefahr, denselben zerstören zu können, entwickelte sich aus der traditionellen christlichen Naturwahrnehmung ein Bewusstsein für die neuen ökologischen Problemfelder.70 Aus politischen Debatten begann sich langsam eine Naturschutzbewegung zu formieren, die eng mit der sozialen Frage und im Besonderen der Frage nach Erholungsräumen verwoben war.71 Zu Raabes Zeiten hatte man die Auswirkungen industrieller Immissionen direkt in Form von schwarzen Rauchwolken oder verfärbten Flüssen sehen können, das Land und der Wald stellten neue Erholungsräume für die Arbeiterschaft aus den Städten dar.72 Bis zu einem Umweltbewusstsein im heutigen Sinne musste allerdings zunächst die Erkenntnis wachsen, dass und wie verschiedene ökologische Prozesse einander bedingen und zusammenhängen. Dieser Weg führte über die Analyse der Auswirkungen von Verschmutzung auf den Menschen und seine unmittelbare Lebensumwelt zum Konzept der Umweltgerechtigkeit. Für Pfisters Mühle entwickelte Berbeli Wanning mediale und projektive Lesarten des Romans, um aus ihnen das umweltkritische Potential des Raabe’schen Werks zu erschließen: »Naturzerstörung kann nicht neutral literarisch dargestellt werden, sie verlangt wertendes, kritisches Bewusstsein, sie geht den 67 Exemplarisch, Klimek, Waldeinsamkeit. 68 Christof Mauch, Mensch und Umwelt. Nachhaltigkeit aus historischer Perspektive. München 2014. 69 Kritik an der Entfremdung des Menschen von der Natur durch sein Herrschaftsstreben übt schon: Friedrich Engels, Dialektik der Natur, in: Karl Marx / Friedrich Engels – Werke, Bd. 20. Berlin 1962, 305–570, 452 f. 70 Jürgen Büschenfeld, Flüsse und Kloaken: Umweltfragen im Zeitalter der Industrialisierung (1870–1918). Stuttgart 1997, 97. 71 Ute Hasenöhrl, Zivilgesellschaft und Protest. Eine Geschichte der Umwelt- und Naturschutzbewegung in Bayern 1945–1980. Göttingen 2011. 72 Martin Bemmann, Beschädigte Vegetation und sterbender Wald. Zur Entstehung eines Umweltproblems in Deutschland, 1893–1970. Göttingen 2012.

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Menschen an«, stellt sie fest und deutet implizit auf die Schwierigkeiten von Umweltliteratur hin.73 Um auf diese Weise ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, ist leserische Aktivität erforderlich. Das stellt zudem bisweilen enorme intellektuelle Ansprüche an den Rezipienten. Für das breite Publikum lag dieser oft zu hoch oder zu weit von der Lebenswirklichkeit entfernt.74 Raabe empfand das Nicht-Verstehen als Ignoranz der lesenden Öffentlichkeit, was für ihn im direkten Zusammenhang mit dem Charakter des deutschen Spießbürgers und dem Niedergang humanistischer Bildung stand. Dies stützt nochmals die These um die Natur der Figur von Emmy Pfister als Zeichen der Entfremdung zwischen Autor und Publikum. So hoffte er gerade jene Leser zu treffen, denen er mit seinen Texten ein- ums andere Mal unangenehme Wahrheiten unterstellte.75 Damit wollte er zu verantwortlichem Handeln anregen und dazu, den technischen Fortschritt kritisch zu hinterfragen. Raabe hatte sich selbst intensiv mit industrieller Gewässerverschmutzung auch im historischen Zusammenhang auseinandergesetzt, und nicht nur in seinem schriftstellerischen Tun griff er das Thema der sterbenden Mühle auf.76 Er zeichnete gern, und allein im Jahre 1847 entstanden sogar zwei Bilder einer von der Industrie ruinierten Wassermühle.77 Dies und die Tatsache, dass sich Wilhelm Raabe schon vor Pfisters Mühle mit der Thematik der Mühle im aufkommenden industriellen Zeitalter sowie der zunehmenden Flussverunreinigung beschäftigt hatte, zeigt wie wichtig ihm das Thema war.78 Die Gewässerverschmutzung, die er bei seinen Spaziergängen mit den Kleidersellern Anfang der 1880er Jahre im ländlichen Erholungsraum beobachtete, war in der Gegend um Braunschweig, trotz der hohen Dichte an Zuckerfabriken, noch nie so stark gewesen.79 Mit der persönlichen Wahrnehmung solcher Verschmutzung mochte ein Punkt erreicht gewesen sein, der Raabe dazu drängte, das literarische Publi 73 Berbeli Wanning, Wenn Hechte ans Stubenfenster klopfen. Beschädigte Idyllen in Wilhelm Raabes Pfisters Mühle, in: Gersdorf, Mayer Natur-Kultur-Text, 193–205, 203. 74 Ulrike Koller, Wilhelm Raabes Verlegerbeziehungen. Göttingen 1994, 142 f. 75 Oliver Fischer, Ins Leben geschrieben: Zäsuren und Revisionen: Poetik privater Geschichte bei Adalbert Stifter und Wilhelm Raabe. Würzburg 1999. 76 Wilhelm Kreyenberg, Pfisters Mühle, in: Mitteilungen für die Freunde Wilhelm Raabes 20/2, 1930, 49–69. 77 Onwuatudo Dunu, Wo bleiben alle die Bilder, 153; Rita Jungkunz-Höltje, ›Lebensbilderbuch‹ einer Kultur- und Bewusstseinskrise. Wilhelm Raabes ›Pfisters Mühle‹ (1884), in: Braunschweigische Heimat 79, 1993, 28–38, 29, stellt einen Zusammenhang zwischen einer der Mühlenzeichnungen und einem Ölbild eines Braunschweiger Malers her, das die Bienroder Mühle um 1890 zeigt. 78 In der Novelle »Wer kann es werden? Eine Phantasie in fünf Bruchstücken« von 1859 verwendet er als finsteren Hintergrund das verschmutzte Kanal- und Flussnetz einer namenlosen Großstadt. Hädecke, Poeten und Maschinen. 79 Elisabeth Vaupel, Gewässerverschmutzung im Spiegel der schönen Literatur, in: Chemie in unserer Zeit 19, 1985, 77–85.

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kum auf Umweltverschmutzung als besonderes Zeitproblem einer als bedrohlich empfundenen Moderne aufmerksam zu machen. Darin sah er seine Aufgabe als Schriftsteller.80 Die im Leben und der Umwelt der Menschen stattfindenden Veränderungen erschienen ihm symptomatisch für einen Lebenslauf des ausgehenden 19. Jahrhunderts, weshalb es ihm wichtiger war, mit dem Drama des alten Pfister die menschliche Seite des Konfliktes in den Vordergrund zu stellen und in einer impliziten Kritik des Systems die Verwobenheit von Umwelt- und Sozialproblemen offenzulegen, als mit der exakten Darstellung des juristischen Ausgangs der Streitigkeiten das wirtschaftlich-rechtliche Drama realistisch abzubilden.

5.4 Neugier und Weitsicht auf dem Platten Land Zweifellos hatte die naturwissenschaftliche Seite des Prozesses einen großen Reiz für Raabe. Er ließ sich über die Einzelheiten und Methoden der biologischen und chemischen Wasseranalyse von Heinrich Beckurts als einem Fachmann aufklären und gab diese in seiner Erzählung wieder.81 Dass er dem Wirken der Naturwissenschaften großen Einfluss beimaß, stellt der Autor in einem Briefentwurf an die TU Braunschweig anlässlich eines Schreibens zu seinem 70. Geburtstag, dar: »Seine [Raabes] Gestalten wandeln nicht nur auf Goldwolken: sie haben Erdboden und schlechtes Pflaster unter sich, sie bauen Acker, sie schaffen in Fabriken, sie grämen sich über der Flüsse Verunreinigung (gestrichen: zu Tode) [gestrichen vom Autor]. Wie hätte das wahr sein können, wenn ihm nicht die exakte Wissenschaft die Hand gereicht hätte?«82

Im Gesamtbild seines Œuvres nimmt diese kurze, aber leidenschaftliche Liaison eine besondere Stellung ein, vor allem, weil sie zum ersten Mal ganz offensichtlich die Genregrenzen des sonst so standhaften Realisten verwischt. Raabe stand den neuen Wissenschaften sowie deren literarischer Nutzbarmachung grundsätzlich eher skeptisch gegenüber. Er interessierte sich für die neuesten und bahnbrechenden Erkenntnisse seiner Zeit, betrachtete sie jedoch im historischen Spiegel, um deren gesellschaftliche und politische Auswirkungen kritisch zu hinterfragen. Er las Darwins Herkunft der Arten bereits kurze Zeit nach dem Er 80 »(…) Wenn Sie nach dem Reiz fragen, der für gereifte Leser trotz des ›geringen stofflichen Interesses‹ in meinen Büchern liegt, so lässt es sich wohl daraus herleiten, daß ein wirklicher Inhalt darin vorhanden ist und ein Drittel von diesem der Leser selber sich heraus zu denken, fühlen und empfinden hat; – ich habe mich nie für einen guten Unterhaltungsschriftsteller gehalten.« Raabe Nachlass, Briefe, Nr. 40. 81 Vaupel, Gewässerverschmutzung, 78 f. 82 Raabe Nachlass, Ehren und Orden, Nr. 122.

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scheinen, sah aber ganz ähnlich wie sein Vorbild Charles D ­ ickens vordergründig die Probleme, die sich aus einer kalten, unbarmherzigen Überlebensgesellschaft für den Einzelnen und die Gemeinschaft ergeben würden. Es überrascht nicht, wie er dabei bürgerliche Verantwortung und Bildung als Stützen der Gesellschaft unterstreicht. Parodistisch greift er das Thema des Survival of the Fittest unter anderem im Stopfkuchen unter Survival of the Fattest auf.83 Den Naturalismus als Literaturströmung lehnte Raabe aber grundsätzlich ab. Nur Émile Zolas Werke, unter anderem Germinal, hat er mit Sicherheit gelesen, und sich gerade um und nach der Fertigstellung von Pfisters Mühle intensiv mit dessen l’Assomnoir beschäftigt. Da beide Schriftsteller mit ihren provokanten Romanen zunächst auf Ablehnung stießen, mag Wilhelm Raabe Zola eine Zeit lang als Leidensgenossen angesehen und damit positiver bewertet haben, so Leo Lensing. Für Raabes Unruhige Gäste hat er deutliche Spuren einer Zola Rezeption herausgearbeitet und sich kritisch mit der Frage befasst, welcher Einfluss der kritischen Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und Émile Zola dem Spätwerk zuzumessen ist, als es sich um eine »deutsche An­näherung und die Moderne« handelt.84 Grundsätzlich unterscheidet sich Raabe hier von den anderen deutschen Romanciers seiner Zeit, insbesondere von Fontane.85 Auf Grund widersprüchlicher eigener Aussagen und Einschätzung der Forschung scheint es gut möglich, dass sich hinter der Anti-Naturalismus-Fassade Raabes eine geheime Zuneigung versteckte, die dem Image der öffentlichen und so auf das Urteil von außen bedachten, wohlgepflegten Schriftstellerfigur sicherlich geschadet hätte. Die persönlichen Dokumente des Schriftstellers stützen diese These. Gleichzeitig wird aus Raabes Brief an Beckurts deutlich, wie sehr dem Autor an einer wirklichkeitsnahen Erzählung menschlichen Schicksale gelegen war, die unter umweltungerechten Zuständen zu leiden hatten und in der Ausweglosigkeit ihrer Situation gefangen blieben. Im weiteren Verlauf des Briefes nimmt Raabe nochmals direkten Bezug auf die persönlichen Anregungen, die der Chemiker Heinrich Beckurts zur Entstehung von Pfisters Mühle beigetragen hatte: »Wenn seine [Raabes] Schriften leben, haben sie das wahrlich auch der Technik zu verdanken und ›Pfisters Mühle‹ vor Allen würde gewiss nicht in der Welt sein, wenn ihm nicht gerade die Technische Hochschule Carolo-Wilhelmina dabei geholfen hätte!«86

83 Lensing, Naturalismus, 146. 84 Ebd., 146, Verweis auf Anm. 8, die sich auf sein Nachwort zur Ausgabe von Im alten Eisen bezieht. 85 Lukács, Deutsche Realisten. 86 Raabe Nachlass, Ehren und Orden, Nr. 122. Heinrich Beckurts war an der TH be­ schäftigt.

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Beckurts hatte Raabe jedoch nicht nur mit den Grundlagen seines Arbeitens vertraut gemacht, sondern auch mit den Gedanken seiner wissenschaftlichen Orientierung. Die Motivation der literarischen Figur des Anwalts Riechei, »Deutschlands Ströme und Forellenbäche gegen Deutschlands Fäkal- und andere Stoffe« (PM: 116) zu verteidigen, ähnelt nämlich dem Programm des Internationalen Vereins gegen Verunreinigung der Flüsse, des Bodens und der Luft, dem B ­ eckurts angehörte und der »den Bestrebungen entgegentreten wollte[n], die Flüsse zu Kloaken herabzuwürdigen«.87 Weiterhin porträtierte Raabe den klassischen Fall eines juristischen Eigentumskonflikts und ebenso sorgfältig den Übergang von agrarischen zu industriellen gesellschaftlichen Strukturen,88 wobei er besonderen Wert auf moralische Fragen und Fragen der Umweltungerechtigkeit in diesem Zusammenhang legte. Diese sollten gesamtgesellschaftlich adressiert werden und die Wissenschaft in ihrer Führungsrolle besondere Verantwortung übernehmen. Das Problem der industriellen Gewässerverschmutzung hingegen als symptomatischen Hintergrund für seine Erzählung zu verwenden, unterstreicht die Weitsichtigkeit und Modernität des Künstlers. Es gelang ihm, das moderne Zeitbewusstsein in der erinnerten Vergangenheit seines Chronisten Eberhardt ­Pfister ganzheitlich einzufangen,89 womit der er die Kultur- und Bewusstseinskrise des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschrieb.90 Doch genau dieser Begriff der Krise muss in gleicher Weise auch auf die Wahrnehmung der Umweltungerechtigkeitsfragen seiner Zeit übertragen werden, so auch Deterding.91 Raabe versuchte, den Blick seiner Zeitgenossen mit einem Zerrspiegel auf ein Thema zu richten, dessen Brisanz und Stellenwert enorm waren, aus gesellschaftspolitischen Gründen jedoch wenig kontrovers diskutiert wurde. Dafür machte er maßgeblich das Scheitern der 1848er Revolution und den damit verbundenen Niedergang des Bildungsbürgertums verantwortlich. Seine resultierende Frustration darüber findet vor allem in der Figurenzeichnung seines Romans ihren Niederschlag. In Raabes Prozessdarstellung werden die Fragen der Umweltungerechtigkeit scheinbar gelöst, da der Autor den Prozess zugunsten der Kläger ausgehen lässt und damit zumindest das Problem der organischen Gewässerverschmutzung löst. Allerdings beweist er durchaus Weitsicht, wenn er auf noch schwerwiegendere Umwelt- und Gesundheitsprobleme hinweist, diese verursacht durch die 87 Verhandlungen des Internationalen Vereins gegen Verunreinigung der Flüsse, des Bodens und der Luft. I. Versammlung am 1. und 2. Oktober 1877 in Cöln. Berlin 1878, 6. 88 Bayerl, Herrn Pfisters und anderer Leute Mühlen, 80 ff. 89 Georg Franz-Willing, Die technische Revolution im 19. Jahrhundert: Der Übergang zur industriellen Lebensweise, Tübingen 1988, 253; Göttsche, Zeitreflexion, 107. Decker, Erinnern und Erzählen. 90 Jungkunz-Höltje, Lebensbilderbuch, 38. 91 Deterding, Ökolgische Krise.

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aufstrebende chemische Industrie.92 Die Beseitigung solcher, oft massiv lebensbeeinträchtigender Missstände, hätte in der Praxis den jeweiligen Unternehmen obliegen müssen. Diese suchten allerdings zusätzliche Ausgaben für Umwelttechnik – zumal die existierende Gesetzeslage unspezifisch war und keine Kontrollmechanismen existierten – weitestgehend zu vermeiden oder zumindest auf ein Minimum zu reduzieren. Bis auf wenige Ausnahmen erstreckte sich die unternehmerische Verantwortung nicht einmal auf die eigene Arbeiterschaft, geschweige denn auf das Industriegelände oder die Umwelt darum herum und ihre Bewohner. Grundlagen für eine Bewusstseinsveränderung und weiter­f ührende gesetzliche Regulierungen mussten erst mit Hilfe allgemeiner Bildung und naturwissenschaftlicher Forschungen geschaffen werden. Grundsätzlich war die Problematik industrieller Abwässer Ende des 19. Jahrhundersts allgemein bekannt und einige Wissenschaftler zeigten nachhaltiges Interesse, diese Verschmutzungen zu beseitigen und die Verursacher zur Rechenschaft zu ziehen. Man befand sich, wie aus den Forschungen Cohns und Beckurts ersichtlich ist, in der glücklichen Lage, die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung organischer Fabrikabwässer nachgewiesen zu haben, obwohl die Abwasserbiologie noch in den Kinderschuhen steckte.93 Heinrich Beckurts ist ein konkretes Beispiel für einen Wissenschaftler, der die Verantwortung im Prozess der Aushandlungen von Umweltungerechtigkeit übernahm. Er setzte sich dafür ein, die Verursacher von Gewässerverschmutzungen dazu zu bewegen, selbst in die Verbesserung der Verhältnisse zu investieren und gegebenenfalls die Entwicklungen besserer Technik mit voran zu treiben.94 Als moderner Wissenschaftler könnte Beckurts daher von einem proto-ökolo­ gischen Bewusstsein geleitet worden sein. Immerhin war die Lehre von der Ökologie bereits 1866 erstmals durch den Biologen Ernst Haeckel formuliert worden. Beckurts Hauptmotivation scheint jedenfalls in seiner wissenschaftlichen Ethik zu liegen. Ähnlich wie zu Beginn der chemischen Forschung war die Abwasserbiologie durchaus noch aufklärerischen Zielen verpflichtet und besaß gerade im Bereich der Wasserwirtschaft besonders starken Anwendungsbezug.95 Raabes Freund verstand die hygienischen Auswirkungen von Wasserverschmutzung, was ihn dazu bewog, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Z. B. war er Mitglied des Öffentlichen Vereins für Gesundheitspflege, der als Diskussionsforum für Hygienefragen einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung von Umweltschutzüberlegungen lieferte. Zusammen mit seinem Kollegen 92 PM : 60: »Vater Pfister, der seit längerer Zeit von seiner Mühle doch schon an allerlei obwaltende Atmosphäre gewöhnt war, kam vor Atmungsbeschwerden noch immer nicht dazu, die nötige Frage zu stellen.« 93 Thienemann, Wilhem Raabe, 130. 94 Diese Forderung stellte auch Ferdinand Hueppe, Zur Kenntnis der Abwässer von Zuckerfabriken, in: Archiv für Hygiene 35, 1899, 19–39, 38. 95 Kluge / Schramm, Wassernöte, 84.

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Rudolf Blasius, der an der TH Braunschweig die Professur für Hygiene innehatte, untersuchte er ab 1887 regelmäßig das Trinkwasser der Stadt. Das Versorgungswasser Braunschweigs kam aus der Oker, an der zahlreiche Zuckerfabriken angesiedelt waren und die zudem das Wasser verschiedener weiterer Bäche aufnahm, die ebenfalls von Zuckerfabrikabwässen betroffen waren.96 Eine seit 1865 zwischengeschaltete Kläranlage hatte ihre Reinigungs­verfahren daher zwischen 1883 und 1885 um Klärteiche und Sandfilter erweitert.97 Mit zunehmender Verunreinigung der Oker durch weitere industrielle Anlagen, vor allem zusätzliche Zuckerfabriken, reichten die Kapazitäten der modernisierten Abwasserreinigung jedoch nicht mehr aus. Bereits im Winter 1889 wies Blasius Mikroorganismen 40fach über Normgehalt sowie Ammoniak im Trinkwasser Braunschweigs nach. Große Mengen weißen Schaumes schwammen auf der Wasseroberfläche, so dass der Verursacher – eine Zuckerfabrik – leicht ermittelt werden konnte.98 Im Winter 1890/91 verschlimmerte sich diese Verunreinigung derartig, dass die Wasserversorgung der Stadt zusammenbrach, da das Wasser der Oker weder als Trink- noch als Brauchwasser genügte.99 Wilhelm Raabe schilderte dies seiner Tochter Margarethe: »Sei Du froh, daß Du nicht mehr in Braunschweig bist. Der reine Schweinestall! Wir waschen uns nicht mehr, wir putzen uns nicht mehr die Zähne, selbst durch das gekochte Essen schmeckt man das durch 12 Zuckerfabriken versaute Okerwasser: Pfisters Mühle in fürchterlichster Vollendung!«100

Als Reaktion auf diese Katastrophe erließ die Stadt eine Verordnung zur Mindestgröße von Rieselfeldern für Zuckerfabriken. Das Trinkwasser behielt trotzdem seinen fauligen Geschmack.101 Jedes Jahr in Dezember und Januar machte sich der Einfluss der organischen Abwässer bemerkbar, stellten die beiden Forscher in ihren Untersuchungen fest.102 Sie überführten einige Hersteller, die ihre Abwässer noch immer ungereinigt in die Oker ableiteten.103 Das Braunschweiger Land mit seinen Zuckerraffinerien war und blieb ein Ort scheinbar nicht zu verhindernder Umweltverschmutzung. 96 Blasius / Beckurts, Ueber die centrale Wasserversorgung, 342; 402. Die Einleitung in die Bäche bleibt ein wachsendes Problem und problematisch ist auch die steigende Zahl der Fabriken. 97 Ebd., 400 ff. 98 Kluge / Schramm, Wassernöte, 78. Anm. 9 u.10 bezieht er sich auf Akten des Stadtarchivs Braunschweig, über den Bau der Anlagen sowie die eingehenden Beschwerdefälle. 99 Heinrich Beckurts, Rudolf Blasius, Verunreinigung und Reinigung der Flüsse nach Untersuchungen des Wassers der Oker, in: Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheitspflege 27/2, 1865, 1–26. 100 Wilhelm Raabe an Margarethe Raabe, am 17. Januar 1891, Raabe Nachlass, H III 10. 101 Blasius / Beckurts, Ueber die centrale Wasserversorgung. 102 Ebd., 403–406; 91–97. 103 Kluge / Schramm, Wassernöte.

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Eine Diskussion um industrielle Gewässerverschmutzung wurde in Fach­ kreisen durchaus geführt, aber nur in extrem geschädigten Gebieten tatsächlich öffentlich verhandelt.104 Obwohl sich Heinrich Beckurts im Laufe seiner Karriere, z. B. hauptsächlich der pharmazeutischen Forschung und Lehre verschrieb, kann die Abwasserbiologie als sein persönliches Steckenpferd bezeichnet werden. Betrachtet man seine Arbeit während des Bienroder Prozesses im Zusammenhang mit seinen weiteren Veröffentlichungen, lässt sich auch bei ihm der allgemeine wissenschaftliche Zeitgeist erkennen. Er sah die sogenannte Selbstreinigung der Flüsse als natürlichen Weg der Abwasserklärung an, der jedoch durch die übermäßigen Einleitungen der Industrie gestört wurde. Deshalb versuchte er, wie zahlreiche seiner Kollegen nach Lösungen, diese Missstände zu beheben und ein weitgehend natürliches Gleichgewicht wiederherzustellen. Die Ergebnisse dieser Forschung wurden jedoch fast ausschließlich in Fachzeitschriften veröffentlicht. Für Fragen der sozialen Gerechtigkeit oder der Umweltgerechtigkeit war in diesem Medium kein Platz. Auf Grund positiver gesellschaftlicher Sicht auf die Industrialisierung als Ganzes ist es nicht erstaunlich, dass Raabe zunächst einige Probleme hatte, sein Werk zu veröffentlichen.105 Nach Vollendung sandte der Autor das Manuskript zunächst an seinen Verleger Westermann, der eine Veröffentlichung mit dem Argument ablehnte, dass sich seine Bücher zu stark ähnelten.106 Daraufhin wandte der Autor sich mit seinem Werk an die Redaktion der Zeitschrift Die Grenzboten in Leipzig, von der er schon bald die Zusage erhielt, Pfisters Mühle nicht nur als Erzählung, sondern auch als Fortsetzung in der zweiwöchentlich erscheinenden Zeitschrift zu veröffentlichen.107 Anscheinend konnte sich der Schriftsteller jedoch nicht ganz mit dem finanziellen Angebot Grunows abfinden 104 Ähnlich verhielt es sich mit der Debatte um den Freiberger Hüttenrauch. Dazu z. B. Andersen / Brüggemeier, Gase, Rauch und Saurer Regen; Stolberg, Ein Recht auf saubere Luft. 105 »…(D)ieses Buch hat bei seinem Eintritt in die Welt ihren Widerstand recht schwer überwunden und mir keine kleinen Sorgen gemacht«, schreibt Raabe am 4. Februar 1885 an seinen Rezensenten Dr. M. Necker. Raabe Nachlass, Briefe, Nr. 2.« Günter Bayerl beschreibt es in: Das Umweltproblem und seine Wahrnehmung in der Geschichte, in: Jörg Calliess (Hrsg.), Mensch und Umwelt in der Geschichte, Pfaffenweiler 1989, 47–96, 91 als irrwitzig, dass Raabe Mühe hatte, sein Werk verlegen lassen. Damit kann sich Bayerl jedoch scheinbar nicht von der Perspektive eines entsetzten Lesers des 20. Jahrhunderts lösen. Denn vor dem Hintergrund des Naturbildes der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts einerseits, und mit Bezug auf die geringe Verbreitung von Raabes Œuvre andererseits, erscheinen Raabes Probleme gar nicht so besonders und von der Verlegerseite her vollkommen nachvollziehbar. 106 »Nachmittags. Dr. Adolf Glaser bringt die Erzählung Pfisters Mühle zurück. Ende der Verbindung mit der Verlagsbuchhandlung George Westermann.« Vermerkt im Tagebuch am 05. Juni 1882, Raabe Nachlass, Tagebücher, Nr. 159.« Ebd., Nr. 4, Raabe an Familie Jensen am 22. Dezember 1884: »Nach dem Abdruck von Villa Schönow gab mir das Haus Westermann die Mühle zurück, weil, (…) das Publikum behaupte, meine Bücher glichen einander zu sehr.« 107 Thomas Dietzel, Deutsche literarische Zeitschriften 1880–1945. Ein Repertitorium, Bd. 1. München 1988.

Neugier und Weitsicht auf dem Platten Land

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und schickte sein Manuskript noch während der Verhandlung an die Deutsche Rundschau.108 Doch auch Verleger Rodenberg gab Raabe die Erzählung mit einer Erklärung zurück, die sehr kompakt und genau die generelle Haltung der Verleger zu Pfisters Mühle widerspiegelte: »Es soll damit nicht gesagt sein, daß jeder so denken und fühlen wird, wie ich; andere mögen das anders empfinden, da das, was Sie darstellen, unzweifelhaft eine Tatsache des wirklichen Lebens ist und als solche vielleicht das Recht hat, dargestellt zu werden. Aber in Sachen des Geschmacks eben wie in denen der Moral, darf, nach meiner Meinung, der verantwortliche Herausgeber einer Zeitschrift so wenig wie möglich riskieren; um so weniger, als in dieser Art Publikation der unangenehme oder zweifelhafte Eindruck nicht durch die rasche Folge neuer Eindrücke ausgeglichen, sondern durch den Zwischenraum von Wochen noch gesteigert wird.«109

Rodenberg konnte nicht leugnen, dass Raabe ein Thema gewählt hatte, das den Alltag des Deutschen Kaiserreiches mancherorts durchaus bestimmte. Allerdings war der Verleger offenbar der Ansicht, dass genau diese plastische Beschreibung von der Leserschaft nicht gewünscht war und er blieb schlicht seiner Auflagenzahl verpflichtet.110 Grundsätzlich, schien ihm das Werk durchaus an vielen Stellen gefallen zu haben, weshalb die Ablehnung also auch nicht in der erzählerischen Gestaltung begründet sein konnte, denn er schrieb kurz nach seiner Absage: »Bis dahin, wo es in Pfister’s Mühle übel zu riechen beginnt, war alles gut gegangen; über diesen Punkt konnte ich nicht fortkommen, soviel Schönes auch die späteren Kapitel noch enthalten. (…) ich spürte zuletzt nur noch diesen fatalen Geruch, der mir die Freude an Pfisters Mühle verdarb.«111

Rodenberg gab zu, dass er seinen Lesern nicht selbst die Wahl lassen wollte, sich mit der Darstellung aktueller Umweltkonflikte auseinanderzusetzen. Dabei ist es nicht bedeutsam, ob er ein Lobbyist der Industrie war. Durch ihre Funktion konnten die Verleger bestimmen, was auf dem deutschen Markt gelesen wurde, was ihrer Meinung nach dem Geschmack der Zeit entsprach. Ob er den Publikumsgeschmack mit Pfisters Mühle getroffen hatte, wusste der Autor selbst nicht genau einzuschätzen: »Wenn ich auch selbst keine üble Meinung von dem Werke habe, so kann ich doch nicht sagen, wie das Publikum darüber dencken wird«,112 108 Raabe Nachlass, Briefe, Nr. 2. Die Zurückhaltung Raabes aus finanziellen Gründen ist aus einem Antwortbrief Grunows zu entnehmen, der Brief Raabes ist jedoch nicht erhalten. 109 Ebd. 110 Koller, Verlegerbeziehungen, 142. 111 Erhalten von Rodenberg am 30. Juni 1884. Raabe Nachlass, Briefe, Nr. 2. 112 Ebd., Brief an Carl Müller-Grote vom 22. September 1884. Raabes zahlreiche briefliche Beschwerden über die Ablehnung von Pfisters Mühle sollen hier nicht weiter mit einbezogen werden, da sie vermutlich überwiegend auf ein gekränktes Selbstbewusstsein als Schriftsteller

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schrieb er an einen Freund. Bei Rodenberg und Westermann, in zwei der großen deutschen Verlagshäuser, war man jedoch der Meinung, dass das Publikum noch nicht weit genug entwickelt sei, um sich mit Umweltbelangen zu befassen, was gleichsam beinhaltet hätte, die Auswirkungen der industriellen Produktionsweise zu kritisieren. Das Ideal der Gründerzeit zeigte sich hier erstaunlich lebendig – sicherlich mit bedingt durch die herausragende Stellung der deutschen Zuckerindustrie – auf dem Weltmarkt und im eigenen Land. Trotz der Zurückhaltung der großen Verlage nahmen die maßgeblichen Monatszeitschriften das Werk, in ihren Rezensionen durchwegs anerkennend und freundlich auf. Sie hoben vor allem die lebendige Wiedergabe der Wirklichkeit hervor und die Tatsache, dass die echten Werte auch in der heraufkommenden Industriezeit ihre Geltung behielten.113 Trotz positiver Rezensionen dauerte es zehn Jahre, bis eine zweite Auflage des Romans erschien.114 In dieser Zeit war die erste Euphorie des Gründerbooms verflogen, und durch die Industrialisierung angestoßene soziale Veränderungen wurden evident. Zwar war es in der Dekade um den Prozess der Müller von Bienrode und Wenden zu vergleichbaren nachbarschaftsrechtliche Streitigkeiten zwischen Privatpersonen und imitierenden Industriebetrieben in den großen Ballungsräumen, wie etwa dem Ruhrgebiet oder der Freiberger Hüttengegend, gekommen. Doch gerade im Bereich der industriellen Gewässerverschmutzung in ländlichen Gebieten waren diese Probleme noch nicht ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gedrungen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass das Werk von den Lesern schlecht angenommen wurde, zumal sie die kritische Auseinandersetzung mit der gründerzeitlichen Realität in ihrem eigenen Selbstbewusstsein treffen musste.115 Spätestens, als die chemische Industrie Anfang der 1890er Jahre zum Führungssektor der industriellen Revolution wurde, begann sich auch diese Wahrnehmung zu wandeln, zumindest bei denjenigen Menschen, die direkt von den schädlichen Einleitungen dieser Industriezweige betroffen waren.116 Die fortwährende Konfrontation mit persönlichem Schaden und auch dem Schaden der Nachbarn schärfte den Blick für weitere, tiefere Überlegungen. Nur über die ständige Sichtbarkeit der Verschmutzungen sowie deren Darstellung in der Presse konnte sich die öffentliche Meinung zum Thema industrielle Umweltzurückgingen. Darauf weist schon der nächste Satz des Briefes hin: »Als deutscher Erzähler komme ich hoffentlich nicht wieder auf diese Welt!« Fuld, Wilhelm Raabe, 289, nimmt an, dass Raabe auf Grund des naturwissenschaftlichen Themas von einer schlechten Aufnahme bei den Lesern ausging und daher die Figur der Emmy Pfister einführte. 113 BA 16, 22. 114 Kaiser, Totenfluss, 105. 115 Koller, Verlegerbeziehungen, 120. 116 Zur negativen Aufnahme der chemischen Industrie bei der Bevölkerung bei Walter Teltschik, Geschichte der deutschen Grosschemie: Entwicklung und Einfluss in Staat und Gesellschaft. Weinheim 1992, 248.

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Handlungsverweigerung

risiken diskursiv wandeln. So konnten praktische Konsequenzen aus der Neuartigkeit dieser Umweltsituation gefordert und diese Schwingungen wiederum von den Verlegern auffangen werden. Im Mai 1893 schlug Raabes neuer Verleger Jahnke vor, Pfisters Mühle noch einmal aufzulegen, es würde »jetzt in Folge der fortdauernden Versauung der Flüsse vom Publikum mehr gewürdigt.«117 Als nicht unbeteiligt an diesem Stimmungswandel ist außerdem das Erstarken der Sozialdemokratie zu werten, die ab den 1880er Jahren begonnen hatte, verstärkt Umweltfragen, vor allem die wahrnehmbare Zerstörung der deutschen Landschaften, in den politischen Dialog einzubinden.118

5.5 Handlungsverweigerung Durch die sichtbaren Landschaftveränderungen im ländlichen Raum kam es sukzessive zu einer Umdeutung desselben vom bloßen Arbeits- und Nutzraum in einen aufgewerteten Erholungsraum. Dieser erwies sich jedoch, in allen drei Verwendungsformen, verwundbar für einen Schadstoffeintrag aus industrieller Produktion, da dies zu einer negativen Transformation des Schauplatzes führte. Die Landschaft – in ihrer Unversehrtheit beeinträchtigt, wie am Beispiel der wasserbetriebenen Mühlen ersichtlich  – verliert nicht zuletzt ihre Funktionsfähigkeit als Arbeits- und Lebens-, aber auch Erholungsraum und wird zu einem Industrieschauplatz umgestaltet. Für die Bewohner folgen aus diesen neuen Verhältnissen maßgebliche Beeinträchtigungen in der Lebensführung und Erwerbsarbeit: Erstens durch die Nutzungseinschränkungen des Lebensraumes, zweitens durch die Minderung körperlicher Unversehrtheit auf Grund industrieller Verschmutzungen und drittens durch eine Störung der Ästhetik. Wilhelm Raabes Romandarstellung beschönigt die Verhältnisse; er lässt seinen Müller den Prozess gewinnen, obwohl sich bereits kurz vor dem Erscheinen des Romans die Revision abzeichnete. Kausalzusammenhänge zwischen Gewässerverschmutzung und Beeinträchtigung der Flora und Fauna werden jedoch realistisch beschrieben, ebenso wie gesundheitsschädliche Auswirkungen, vor allem auf die Atemwege. Eine Reinhaltung der Umwelt sollte jedoch nicht um ihrer selbst willen, sondern aus menschlichem Eigennutz erwirkt werden, wie das Reden von den »Fischen der Väter«, die Argumente der Gesundheit und beruflichen Existenz, aber auch die Nutzung der ländlichen Natur als Erholungsgebiet zeigen. Von einem Umweltbewusstsein im heutigen Sinne kann daher nicht gesprochen werden, allerdings von einem Bewusstsein für Fragen der Umweltgerechtigkeit. Doch trotz des Bewusstseins um die Missstände ändert sich grundsätzlich nichts am Umweltverhalten der Menschen. 117 Jahnke an Raabe am 1. Mai 1893, Raabe Nachlass, Briefe, Nr. 3. 118 Hermand, Grüne Utopien, 79 f.

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Wilhelm Raabe und wissenschaftliches Expertentum

Ökologischer Schaden wurde als solcher wahrgenommen, aber nicht für die Zukunft verhindert. Politisches Handeln bleibt darauf ausgerichtet, die menschliche Wahrnehmung zu verändern. Das bezeichnet Colin Riordan als das Grundproblem auch der heutigen politischen Ökologie,119 obwohl diese Beobachtung die Tatsache begünstigt, dass es den Protagonisten des Romans, ebenso wie den Bürgern des Deutschen Kaiserreiches, an realen Handlungsmöglichkeiten mangelte, ihre Lebensumstände aus selbst zu verbessern. Wie bei Raabe und den Müllern von Bienrode und Wenden, und zudem aus anderen Rechtsstreitigkeiten bekannt, war damals der einzige Weg, sich gegen Umweltverschmutzung zur Wehr zusetzten, ein immissionsrechtlicher Nachbarschaftsstreit. Dieser erwies sich jedoch in der Regel als sehr langwierig und kostenintensiv; woran sich seit dem 19. Jahrhundert wenig geändert hat.120 Bereits zu Wilhelm Raabes Zeiten waren Umweltprozesse aus ökonomischer Perspektive nicht zu empfehlen. Der Prozessverlauf des Rechtsstreits gegen die Zuckerfabrik Rautheim zeigt, wie sich die Müller von Bienrode und Wenden über die Jahre schleppten, um sich gegen die hohe Kostenbeteiligung – die eine Ungerechtigkeit in sich selbst darstellt – zur Wehr zu setzen. Trotz aller Bemühungen blieb ihr Anliegen erfolglos. Das Gericht revidierte rein faktisch das grundsätzlich umweltgerechte Urteil über den Umweg der einstweiligen Verfügung. Mit dem letzten gültigen Urteilsspruch in der Auseinandersetzung um die Zuckerfabrik Rautheim wurde daher nicht nur Gewässerverschmutzung als notwendiges Opfer technischen Fortschritts bestätigt, sondern auch die Betroffenen selbst zu Opfern technischen Fortschritts degradiert, da weder für ihre gesundheitliche noch ihre wirtschaftliche Unversehrtheit gesorgt wurde. Sowohl am Beispiel von der alten Pfister Mühle als auch im historischen Kontext zeigt sich, wie die fortschrittsorientierte Gesellschaft des Kaiserreiches auf technische Lösungen vertraute, um Fortschritt mit angepassten Umweltveränderungen zu vereinbaren. Dennoch wurden die vorherrschenden Handlungsmuster unverändert beibehalten und kein Raum für neue Aushandlungsprozesse umweltgerechter Zustände geschaffen.

119 Riordan, German Literature, 323. 120 Houck, Taking Back Eden, 177 f.

6. The Jungle

6.1 Chicagos Arbeiter in der Dose Der Roman The Jungle von Upton Sinclair gehört in den USA zum literarischen Kanon, denn er beschreibt die Lebens- und Arbeitsumstände von Einwanderern um die Jahrhundertwende. Der litauische Einwanderer Jurgis Rudkus, der mit seiner Familie in Amerika sein Glück machen will, kämpft im Dschungel ums Überleben. Ein Familienmitglied nach dem anderen findet Arbeit im Chicagoer Schlachthof, in dem das Vieh am Fließband getötet und zu Konservenfleisch in Dosen verarbeitet wird. Unerträgliche Arbeitsbedingungen, die ein Maximum an Produktion in einem Minimum an Zeit und bei minimalen Kosten erbringen sollen, belasten die Arbeiter gesundheitlich schwer; sogar schimmliges Fleisch wird verarbeitet. Auch die schmutzigen und hoffnungslosen Lebensbedingungen prägen diesen Dschungel. Jurgis gerät durch die zahllosen sozialen Ungleichheiten in einen Teufelskreis, in dem er nach und nach seine Familie und sogar seine Freiheit verliert. Dies führt dazu, dass er sich zunächst von aller Arbeit ab-, und nach Rückkehr in die Stockyards dem Sozialismus zuwendet, um sein Leben dem Kampf gegen die Unmenschlichkeit des Kapitalismus zu widmen. Im zweiten Teil des Romans tritt Jurgis jedoch als erlebendes und handelndes Ich hinter sozialistische Thesen und Analysen zurück. Der Roman entwickelt sich zu einer politischen Propagandaschrift und es fehlen ihm nun die Unmittelbarkeit und Lebensnähe, die der Leidensgeschichte des Jurgis innewohnen. So ist die Kritik der zeitgenössischen Leser nicht ganz von der Hand zu weisen, auch wenn sie vor allem vom anderen Ende des politischen Spektrums kam. Upton Sinclairs konventionell naturalistisches Erzählverfahren ist an Émile Zola geschult. Und nach Ansicht des Autors selbst zeichnet sich sein erfolgreichster Roman vor allem dadurch aus, dass er von innen heraus geschrieben ist. Darin unterscheidet er sich von den Werken anderer Realisten. Zudem ist er das Resultat des Versuches zwei unterschiedliche schriftstellerische Schulen miteinander zu vereinen, oder wie er es ausdrückte: »to put the content of Shelly into the form of Zola.« Eine Methode, die mit fortschreitender Revolutionierung der sozialistischen Bewegung an Bedeutung gewinnen würde.1 In einer Rezension der 1 Upton Sinclair, What Life Means to Me, Abschrift, o. J., Sinclair MSS. Series III, ­Writings Box 36, Lilly Library, Bloominton, Ill. 7 f. Michael Hussey, Global Muckraking: The Internatio­ nal Impact of Upton Sinclair’s The Jungle, in Teaching History: A Journal of M ­ ethods 34/1, 2009. Außerdem Walter B. Rideout, The Radical Novel in the United States, Cambridge, MA , 1957.

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The Jungle

Zola-Biographie von F. W. J. Hemmings aus dem Jahr 1953 schreibt Sinclair, dieser habe The Jungle für die Armen der Chicagoer Stockyards verfasst, um damit zu erreichen, was Zola mit L’Assomnoir für die Armen von Paris erreicht habe: Zola sei »one of the greatest teachers of humanity.«2 Aber auch die Lektüre der Werke von Charles ­Dickens hat – mit Hinblick auf das Narrativ – seine Spuren bei Sinclair hinterlassen. Das macht sich in zweierlei Hinsicht bemerkbar. Erstens entwirft Sinclair eine Familie naiver, aber anständiger litauischer Einwanderer, die relativ sentimental durch das Hochzeitsfest von Jurgis und Ona gleich zu Beginn eingeführt werden. Wie auch bei ­Dickens, kommen in Sinclairs Werk Familienfeiern, wie die gleich zu Beginn geschilderte Hochzeit, immer wieder vor. Sie stellen eine Verbindung zur heimatlichen (oder sozialen) Kultur her, es wird an ausladenden Tischen gemeinsam gegessen und getrunken, und die Romanfiguren erfahren so ein wenig Schutz vor den Grausamkeiten des alltäglichen Lebens. In einer Belegstudie zu Sinclairs Verwendung der litauischen Sprache hat Giedrius Subacius die Wege des Autors innerhalb der Schlachthöfe nachverfolgt und einiges aufgespürt, was Sinclair inspirierte. Eine Rolle spielt Ernest Pooles’ The Meat Strike oder auch eine traditionelle litauische Hochzeitsfeier, an der Sinclair selbst teilgenommen hatte.3 Subacius machte auch die Personen bzw. deren Angehörige ausfindig, mit denen Upton Sinclair bei seinen Recherchen in Kontakt gekommen war und die schließlich seinen Roman­f iguren als Vorbilder dienten. Zweitens lässt sich beobachten, wie diese Bilder mit ­Dickens Hard Times oder Our Mutual Friend vergleichbar sind; natürliche und spontane Menschen von utilitaristischer Berechnung ständig und stetig herabgesetzt werden. Sie hausen an einem Ort mit dem sprechenden Namen Packingtown und stetig / ständig herabgesetzt ist geradezu ein Euphemismus. Jurgis Rudkus und seine ganze erweiterte Familie ist der Ausbeutung hilflos ausgesetzt, und er stellt sehr langsam fest, dass in diesem speziellen, in sich abgeschlossenen kapitalistischen System kein ehrlicher Mensch in der Lage ist, seine Integrität zu wahren und gleichzeitig sein Überleben zu sichern. Der Vermieter, der Wirt, der Vorarbeiter, der Ladenbesitzer, der Stationsvorsteher, sie alle scheinen gegen den leichtgläubigen Arbeiter verschworen. Der findet kaum Zeit, darüber nachzudenken, was sein Arbeitgeber eigentlich auf dem Rücken seiner Angestellten austrägt. Jurgis antwortet auf die geballten Widrigkeiten stets mit dem Mantra »I will work harder.« Jurigs’ Geschichte zeigt den Arbeiter weiterhin als Bauernopfer in einer Zeit der technisch-wirtschaftlichen, aber auch sozialen und politischen Modernisierung. Prägnant demonstriert der zur Phrase gewordene Motivationssatz, wie wenig Aussicht auf Erfolg soziale Bewegungen zu diesem Zeitpunkt hatten. 2 Upton Sinclair, Zola Coming Back, o. J., Sinclair MSS . Writings, Series III, Box 36, Lilly Library. 3 Gidrius Subacius, Upton Sinclair the Lithuanian Jungle: Upon the Centenary of The Jungle (1905 and 1906) by Upton Sinclair. Amsterdam 2006, 59–83.

Der Dschungel der Stockyards

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Der sensationelle Erfolg des Romans beruht jedoch eher auf seinem pamphlethaften Charakter als auf seinem innovativen Stil. Wie Charles ­Dickens und Émile Zola war auch Upton Sinclair Journalist. The Jungle konzipierte er ursprünglich als Fortsetzungsgeschichte für das populäre sozialistische Magazin Appeal to Reason. Die Arbeiterstreiks in den Chicagoer Stockyards 1904 hatten Sinclair dazu inspiriert,4 und im selben Jahr ermöglichte ihm ein Vorschuss von 500 Dollar eine Recherchereise. Im Stil des Muckraker-Journalismus der Wende zum 20. Jahrhundert zeigt er zum Teil recht schematisch, wie integre Menschen wie Jurgis Rudkus im Dschungel der kapitalistischen Gesellschaftsordnung rücksichtslos zu Grunde gerichtet werden. Dafür hätte sich der Autor sicher keine abstoßendere Umgebung als die Union Stockyards aussuchen können. Ausbeutung, Terror, Korruption und Geldgier beherrschten diese Fabrikwelt.5 Chicago war damals der größte Schlund des amerikanischen Kapitalismus, soll heißen, dass die Stadt enorme Mengen Ressourcen und Rohmaterialien, die von überall her mit der Eisenbahn herbeigeschafft wurden, in beispielloser Geschwindigkeit verschlang und in Geld verwandelte.6 Schweine und Rinder, Kohle und Stahl wurden mit neuen und unbarmherzigen Methoden zu mannigfaltigen Produkten verarbeitet, und Sinclairs Roman führt dem Leser vor Augen, wie im Laufe der Produktionsprozesse menschliche Wesen genau wie Schlachttiere herabgewürdigt und verbraucht wurden. Das macht diesen Roman zum wohl erfolgreichsten Versuch, die zentralen Passagen von Karl Marx’ Kapital in fiktionale Form zu übertragen.7

6.2 Der Dschungel der Stockyards In seinen Beschreibungen des »stockyards district of Chicago, with its quarter of a million inhabitants«,8 beschwört Upton Sinclair Bilder herauf, die dem heutigen Verständnis von Umweltgerechtigkeit sehr nahekommen. Die Menschen waren den Umweltrisiken ihrer Zeit in völlig unterschiedlicher Weise ausgesetzt. Die industriellen Produktionsweisen stellten grundsätzlich ein erhebliches R ­ isiko 4 Timothy Messer-Kruse, The Haymarket Conspiracy: Transatlantic Anarchist Networks. Urbana, Ill 2012. 5 Ivan Scott, Upton Sinclair. The Forgotten Socialist. Lewiston, NY 1997, 13–32. Einen guten Überblick über klassische und moderne Auslegungen bieten Harold Bloom, Upton Sinclair’s The Jungle. New York 2002; und Abraham Blinderman, Critics on Upton Sinclair: Readings in Literary Criticism. Coral Gables 1975. 6 Siehe Cronon, Nature’s Metropolis. 7 Patrick Henderson, The Transformation of Fact into Fiction in the Historical Novels of Joseph Conrad and Upton Sinclair, and the Relation of these Novels to the Genre of Reportage. Diss., ETH Zürich 1992. 8 Upton Sinclair, The Jungle, Anna Maria Hong (Hrsg.). New York 2004, 7. Im Folgenden zitiert als TJ.

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dar. Hinzu kommen ökonomische Pfadabhängigkeit bei Nutzung von Wohnraum und eingeschränkter Zugang zu sauberen Umweltressourcen, und außerdem wirtschaftliche Abhängigkeiten, die, von autoritären Machtstrukturen geprägt, Eigenwirtschaft verhindern. »This was the place where modern commercial forces had complete sway, and had making of the complete environment«,9 schreibt Sinclair später über die Auswahl des Handlungsortes. Betroffen waren nicht nur Angehörige einer bestimmten ethnischen Minderheit, sondern die gesamte Arbeiterschaft der Schlachthöfe, auch wenn diese sich zu diesem Zeitpunkt größtenteils aus osteuropäischen Einwanderern zusammensetzte.10 Fragen der Umweltgerechtigkeit wurden im 19. Jahrhundert also auch in den USA vor allem durch Class bestimmt, nicht nur durch Race. Sinclair beschreibt eindrucksvoll die Lebens- und die Arbeitswelt in Packingtown, ein weiterer Schauplatz, auf dem Gesundheitsschädigungen konstitutiv für Umweltgerechtigkeitsrisiken sind. Wenn Sinclair die Wege, die seine Figuren zurücklegen, konkret und genau nachvollzieht, erstehen die Chicagoer Stockyards und ihre Umgebung vor dem inneren Auge des Lesers.11 Im Dschungel von Packingtown sind die Menschen den Tieren gleichgesetzt. Bereits Zola, den Sinclair glühend verehrte, hatte die Wirren der Pariser Metropole beschrieben und auch von anderen Kulturschaffenden wurden Großstädte immer wieder als Dschungel bezeichnet. In seinem eigenen Dschungel  – The Jungle – geht Sinclair jedoch noch einen Schritt weiter, indem er indirekt auf die Ideologie von Thomas Hobbes anspielt und den Menschen in Vieh verwandelt. So verkehrt er den Anthropomorphismus.12 Sinclair malte sich die Industria­ lisierung als Massenschlachtung menschlicher Wesen aus, indem er das Prinzip des Schlachthofes auf Politik und Gesellschaft anwendete.13 Dabei griff er wiederum auf prominente Vorbilder wie ­Dickens14 und Zola zurück, der in seinem 9 Sinclair, What Life Means to Me, 5. Die folgenden Zitate ebd. 10 Carl Zimrig, Clean and White. A History of Environmental Racism in the United States. New York 2016. 11 Subacius, Upton Sinclair. 12 Cristopher Hitchens, A Capitalist Primer. Upton Sinclair’s Realism Got the Better of his Socialism, in: The Atlantic Monthly 290/1, 2002, 176–179. 13 Kevin Mattson, Socialist ›Celebrity‹: 1905–1914, in: Ders. (Hrsg.), Upton Sinclair and the Other American Century. Hoboken 2006, 59–67, 61. 14 Dort beschreibt ­Dickens z. B. das Geschehen am Londoner Bahnhof: »But now, they were driven cattle on the high road near, wanting (as cattle always do) to turn into the midst of stone walls, and squeeze themselves through six inches’ width of iron railing, and getting their heads down (also as cattle always do) for tossing-purchase at quite imaginary dogs, and giving themselves and every devoted creature associated with them a most extraordinary amount of unnecessary trouble. Now, too, the conscious gas began to grow pale with the knowledge that daylight was coming, and straggling workpeople were already in the streets, and, as waking life had become extinguished with the last pieman’s sparks, so it began to be rekindled with fires of the first street corner breakfast-sellers.« Zitiert nach, ­Dickens, Night Walks, 198.

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Germinal ebenfalls die (Gruben-)Arbeiter mit Schlachtvieh gleichsetzte.15 Unter Rückgriff auf darwinistische Semiotik unterstreicht er zudem immer wieder die animalische, instinkt-getriebene Natur des Menschen. So nimmt Jurgis in den Augen seiner Frau den Ausdruck eines gejagten Tieres wahr, das unter der Last der Lebensumstände zu zerbrechen droht (TJ: 174). Und Jurgis selbst sieht sich nach seinem zweiten Arbeitsunfall als »a wounded animal in the forest« (TJ: 277), das sich hilflos geworden nicht mehr bei der Arbeitssuche gegen seine Rivalen durchsetzen kann. Dies spiegelt die Arbeiterklasse in ihrer Verwundbarkeit gleichsam auf dem niedrigsten Level der Existenz.16 Wie Schlachtvieh werden die Menschen mit der Eisenbahn in Massen in die Stadt transportiert, wo sie in den Stockyards auf engstem Raum und unter katastrophalen Umständen gehalten werden. Die Boardinghouses (z. B. TJ: 35 f) und das von den Rudkus’ erworbene Eigenheim sind dafür eindringlich beschriebene Beispiele. Die Zimmer sind schmutzig, die Bausubstanz ist marode und die Straßen verwandeln sich bei Regen in schlammige Bäche. Sie werden zu einer ernstzunehmenden Gefahr (TJ: 256) und Jurgis älterer Sohn ertrinkt schließlich sogar einem dieser Bäche. Zudem befinden sich die Behausungen in unmittelbarer Nähe zu den Dumping Grounds der Stadt, wenn nicht sogar direkt auf dem darauf zurückgewonnenen Land. Die Lebensumwelt dieses Dschungels beim Eintreffen der Neuankömmlinge im Viertel beschreibt Sinclair so: »There were mountains and valleys and rivers, gullies and ditches, and great hollows full of stinking green water. In these pools the children played, and rolled about in the mud of the streets (…) swarms of flies which hung about the scene, literally blackening the air, the strange, fetid odor which assailed one’s nostrils, a ghastly odor, of all the dead things of the universe. (…) [T]his was »made« land, and that it had been »made« by using it as dumping ground for the city garbage« (TJ: 36 f).

Die hygienischen Zustände in den Wohnsiedlungen waren also katastrophal, wurden aber mit überraschender Selbstverständlichkeit hingenommen. Schmutz und Gestank stehen im traditionell bewährten Verständnis als sensuelle Marker für die unsichtbare Gefahr aus Müll und anderen Giftstoffen, die trotz mangelnder naturwissenschaftlicher Kenntnisse instinktiv erkannt wird. Im Überlebenskampf bleibt jedoch keine Zeit zum Weiterdenken, wie es auch bei Jurgis bis zu seinem Zusammenbruch der Fall ist. Die Ausgestaltung des Raumes nutzt Sinclair dabei als Mittel den Klassenstatus der Arbeiter zu unterstreichen und prangert gleichzeitig das fehlende Verantwortungsbewusstsein anderer Bürger gegenüber den Lebensumständen der Arbeiter an.17 Damit gibt 15 Émile Zola, Germinal, z. B. 41. 16 William A. Bloodworth, Upton Sinclair. Boston 1977, 60 f. 17 Rosendale, In Search; Gerhard Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit: poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman. Stuttgart Metzler 1978, 104. Zur Ausgrenzung, ausgedrückt in der räumlichen Darstellung, siehe

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der Autor einen plastischen Eindruck von den Stockyards als Schauplatz von Umweltgerechtigkeit. Sinclairs Beschreibungen dieser Lebensumwelt rufen Assoziationen mit unberührter Natur hervor. Ähnlich wie D ­ ickens und Raabe arbeitet Sinclair auf der rein formalen Gestaltungsebene mit den Mitteln des Nature Writining.18 Das führt dazu, dass die industriell transformierte Landschaft gleichsam von der Lebensumwelt zur natürlichen Umwelt aufgewertet wird und auch zum Bestandteil der inneren Natur der Charaktere wird, die beginnen, sich mit einer in Veränderung begriffenen Realität abzufinden: »They stood there while the sun went down upon this scene, and the sky in the west turned blood red, and the tops of the houses shone like fire. (…) The line of the buildings stood clear cut and black against the sky; here and there out of the masses rose great chimneys, with the river of smoke streaming away to the end of the world. It was a study in colors now, this smoke; in the sunset light it was black and brown and grey and purple« (TJ: 38).

So also sieht die industriell-kultivierte Natur aus, mit ihrer charakteristischen Silhouette aus Fabrikschornsteinen und Rauchschwaden, die als Vision von Macht und Hoffnung und Möglichkeiten beschrieben wird. Gleichzeitig evoziert der rote Bluthimmel eine Ahnung von Untergang und Tod, insbesondere vor dem Hintergrund der sozialistischen Botschaft des Romans und den Ungewissheiten, denen Jurgis Rudkus und seine Familie ausgesetzt sind. Sie vegetieren wie Tiere in den Pferchen, in denen die Tiere ohne Nahrung und Wasser ihre letzten Stunden vor der Schlachtung fristen (TJ: 78). Denn auch die Menschen im sogenannten Back of the Yards müssen auf frische Nahrung und sauberes Trinkwasser verzichten, ihre Wertlosigkeit und Beliebigkeit für das kapitalistische System wird offensichtlich. Täglich strömen Tausende – Tiere und Menschen – in den Dschungel. Schlachtvieh wie Arbeiter strömen vom Land und den grünen Wiesen, die sie niemals wiedersehen, in die Stadt, in deren Maschinerie sie verarbeitet werden. Der Verlust der Heimat und der eigenen Kultur lässt die neue Lebensumwelt noch fremder und feindlicher wirken.19 In der Konsequenz dieser Analogie besitzt im Dschungel nicht nur jeder Mensch, sondern auch jedes Tier eine eigene Persönlichkeit. Denn »each of them had an individuality of his own, a will of its

Brewster Folsom, Upton Sinclair’s Escape from The Jungle: The Narrative Strategy and Suppressed Conclusion of America’s First Proletarian Novel, in: Prospectus 4, 1979, 237–266. 18 Zu Sinclairs Einordnung in Beziehung zu Autoren des Nature Writing, siehe Rosendale, The American West. 19 Dazu ausführlicher Bloodworth, Upton Sinclair, 62. Zur Darstellung der Einwanderer Joseph B. Scott, The American Alien: Immigrants, Expatriates and Extraterrestrials in Twentieth-Century U. S. Fiction. Missouri 2012.

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own, a hope and a heart’s desire; each self-confidence, of self-importance, and a sense of dignity« (TJ: 45). Diese Ausführungen ähneln einer philosophischen Reflexion darüber, ob es einen Ort gibt, an dem die Schweine Vergeltung für ihr Leiden erfahren. Auf Individualität nimmt die Maschinerie der Verarbeitungsindustrie jedoch keine Rücksicht, hier erfährt jeder die gleiche Behandlung. Wohl aber wird jede Tierart nur zu spezifischen Produkten verarbeitet, der Verarbeitungsprozess ist dementsprechend unterschiedlich spezialisiert. Bei den Menschen verhält es sich am Arbeitsplatz insofern unterschiedlich, dass sie und je nach Physis und Geschlecht am Arbeitsplatz zu unterschiedlichen Tätigkeiten eingesetzt werden und deshalb auch unterschiedlichen gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt sind: »The workers in each of them had their own peculiar disease« (TJ: 120). Marija Bereczynska etwa muss als zierliche Frau täglich mit 14-Pfund schweren Fleischdosen hantieren. Der Leser ahnt früh, dass sich diese Belastung langfristig nicht positiv auf ihre Konstiution auswirken kann, und tatsächlich wird sie nie Kinder haben können (TJ: 77). Jurgis’ Ehefrau Ona hingegen ist bereits Mutter und soll sich, wenn es nach der Vorstellung ihrer Vorarbeiterin ginge, nach Feierabend an Männer verkaufen. Prostitution ist ein klassisches Beispiel für die moralischen Folgen unerträglicher sozialer Missstände. Auf die Arbeiter / innen in Packingtown warteten also nicht nur organische Schäden durch ihre Arbeit. Ona weigert sich zwar erfolgreich, wird daraufhin aber noch schlechter behandelt, denn der Vorarbeiterin entgehen zusätzliche Einnahmen. Die körperlichen Anstrengungen am Arbeitsplatz führen dazu, dass sie den körperlichen Belastungen der Mutterschaft weniger gewachsen ist, darüber hinaus muss sie sich ständig Sorgen um ihren Nachwuchs machen. Schließlich stirbt sie zusammen mit ihrem zweiten Kind bei der Geburt (TJ: 245). Großvater Antanas hingegen ist alt und krank, die Arbeit mit Chemikalien verschlimmert seine Leiden, bringt neue hervor und führt schließlich zum Tod. Industrielle Arbeitsbedingungen gefährden seit jeher seine Gesundheit, wie der Leser bereits auf der Hochzeit von Jurgis und Ona erfährt: »(…) Jurgis’ father, is not more than sixty years of age, but you would think that he was eighty. He has been only six month in America, and the change has not done him good. In his manhood he worked in a cotton mill, but then a coughing fell upon him, and he had to leave; out in the country the trouble disappeared, but he has been working in the pickle room at Durham’s, and the breathing of the cold damp air all day has brought it back. Now as he rises he is seized with a coughing fight and holds himself by his chair and turns away his wan and battered face until it passes« (TJ: 13).

Hier werden bereits drei Faktoren, die sich auf Umweltgerechtigkeit auswirken, angesprochen. Es geht zunächst um die gesundheitsgefährdende Arbeit in einer Baumwollmühle, die zu einem der gefährlichsten vorindustriellen Arbeitsplätze zählt, da das Einatmen der feinen Baumwollfasern die Lunge nachhaltig

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schädigt.20 Die Schwere einer solchen Erkrankung zeigt sich auch darin, als eine Vorschädigung in vergleichbarer Arbeitsumwelt reaktiviert und entsprechend verschlimmert wird. Es wird deutlich, dass der Großvater nicht auf Grund seines Alters so krank ist, sondern dass er seine Lungenerkrankung im Laufe seines Berufslebens erworben hat. Nicht nur, dass Sinclair verdeutlicht, wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich es in einer solchen toxischen und industrialisierten Lebens- und Arbeitsumwelt ist, seine Gesundheit zu erhalten. Er stellt diesen Bedingungen auch die gesundheitsfördernde Wirkung des Landlebens gegenüber. Leider lebt Antanas unter ganz anderen Bedingungen und die Verwendung von Chemikalien in industrialisierten Produktionsprozessen wirkt noch brutaler, wenn ein alter Mann damit konfrontiert ist: »He [Antanas] worked in a place where his feet were soaked in chemicals and it was not long before they had eaten through his new boots. Then sores began to break out on his feet, and grew worse and worse. Whether it was that his blood was bad or there had been a cut, he could not say, but he asked the men about it, and learnt it was a regular thing – it was the salpetre« (TJ: 95).

In ihren Bodily Natures beschreibt Stacy Alaimo sehr anschaulich den Zusammenhang von Körper und Umwelt, die der materiellen Seite des menschlichen Daseins noch weitere Bedeutungsebenen erschließt.21 Die bloße Unfallgefahr an ungesicherten Arbeitsplätzen schließlich wird am als robust bezeichneten Jonas und dessen Arbeit mit Wagen und Vieh veranschaulicht. Er ist den Gefahren körperlicher Verletzung täglich noch stärker ausgesetzt als die anderen Familienmitglieder.22 Auch diese scheinbar alltäglichen Risiken, die an traditionelle landwirtschaftliche Tätigkeiten eines Knechtes erinnern, nehmen im Kontext des Dschungels andere Ausmaße an. Jurgis selbst ist wegen einiger Jobwechsel unterschiedlichen gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt, mehrfach muss er im Krankenhaus behandelt werden, so dass er mehrfach und länger bei der Arbeit fehlt. Und damit ist er dem größten aller denkbaren Risiken ausgesetzt, dem Verlust des Arbeitsplatzes. Die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen werden am Beispiel der Hauptfigur am stärksten herausgearbeitet und Sinclair übt damit implizit Kritik an einer fehlenden Absicherung durch ein Sozialsystem. Generell beweist der Autor bei der Ausarbeitung seiner Charaktere ein besonderes Gespür für empathische Beeinflussung. Wie aus der Rezeption des Werkes ersichtlich, erzeugen seine drastischen Beschreibungen beim Leser 20 Bereits Friedrich Engels hat auf diese besondere Gefahr hingewiesen. Engels, Dialektik der Natur. 21 Stacy Alaimo, Bodily Natures. Science, Environment, and the Material Self. Bloomington 2010. 22 Die Ausgestaltung dieser Risiken in Zusammenhang mit Repräsentationen von Männlichkeit untersucht Scott Derrick, What a Beating Feels Like: Authorship, Dissolution, and Masculinity in Sinclair’s The Jungle, in: Studies in American Fiction 23/1, 1995, 85–100.

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Mitgefühl und lassen diesen die Missstände als absolut ungerecht empfinden. Spätestens als Jurgis’ Frau erkrankt, wird auch die gänzliche Ausweglosigkeit der Situation offensichtlich.

6.3 Verarbeitung und Weitergabe am Fließband Am Fließband werden die Tiere und Menschen verschlissen, und zwar in hoch ausdifferenzierter Art und Weise. Und trotz der Gleichsetzung von Mensch und Tier scheint es, als hätte Sinclair, wie auch viele seiner späteren Leser, tatsächlich auch ein wenig an die Tiere selbst gedacht, als er die Zustände in den Schlachthöfen beschrieb; besonders konzentriert er sich auf die Schweine.23 »At the head there was a great iron wheel, about twenty feet in circumference, with rings here and there along its edge. Upon both sides of this wheel was a narrow space, into which came the hogs (…) [Men] had chains which they fastened about the leg of the nearest hog, and the other end of the chain they hooked into one of the rings upon the wheel. So, as the wheel turned, a hog was suddenly jerked off his feet and borne aloft« (TJ: 44).

Die Ähnlichkeiten zwischen der Fließbandverarbeitung der Schweine und dem Verheizen der menschlichen Arbeiter sind nicht von der Hand zu weisen. Dennoch referenziert dies nicht nur auf die industrielle Fabrikationsweise, bei der jeder Arbeiter nur eine Tätigkeit ausführt, was nach sozialistischer Überzeugung zur Entfremdung führt.24 Besonders der Verschleiß durch Krankheit, Unfall und Tod der Arbeiter, steht hier im Vordergrund. Bei Bedarf kann sofort ein Neuer nachrücken, der Arbeitsplatz ist damit in den allermeisten Fällen verloren. Diese Unvermeidlichkeit wird bereits angedeutet, als die ankommende Rudkus-­ Familie in Packingtown den Strom der Schlachttiere beobachtet. »A very river of death,« den der Erzähler als Omen beschreibt: »the sight suggested to them no metaphors of human destiny« (TJ: 42). Das Leiden der Schweine ist außerdem mitleiderregend: »At the same instant the ear was assailed by a most terrifying shriek (…) And meantime another [hog] was swung up, and then another, and another, until there was a double line of them, each dangling by a foot and kicking in frenzy – and squealing (…) It was too much for some of the visitors – the men would look at each other, laughing nervously, and the women would stand with hands clenched, and the blood rushing to their faces, and the tears starting in their eyes« (TJ: 44). 23 Timothy Cook, Upton Sinclair’s The Jungle and Orwell’s Animal Farm: A Relationship Explored, in: Modern Fiction Studies 30/4, 1984, 696–703. 24 Michael Duvall setzt in diesem Zusammenhang auf eine Gleichsetzung von Körper und Maschine. Michael J. Duvall, Processes of Elimination: Progressive-Era Hygienic Ideology, Waste, and Upton Sinclair’s The Jungle, in: American Studies 43/3, 2002, 29–56, 35.

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Die Literaturwissenschaft hält es für unwahrscheinlich, dass der Autor diese Szene aus tierethischen Motiven heraus formulierte. Vielmehr konnte sich der entfremdete Arbeiter in dieser Beschreibung wiederfinden. Menschen und Tiere wurden durch das System der Schlachthöfe völlig entwertet.25 Dass es sich um eigenständige, leidende Individuen handelte, konnte leicht vergessen werden. Zur Herstellung von Gerechtigkeit musste also zunächst das namenlose Heer der Arbeiter wieder ein Gesicht bekommen. Nicht nur, um Grundlagen für eine Identifizierung zu schaffen und andere Betroffene zu ermutigen, die eigene Situation zu hinterfragen, sondern auch, um den Betrachter zu einer Veränderung der eigenen Handlungsweisen sowie zur Unterstützung anzuregen. Kritik an der industrialisierten Produktionsweise mit ihren persönlichen und körperlichen Risiken übt Sinclair an vielen Stellen. Es geht dabei nicht nur um die individuelle Gefährdung durch Arbeitsunfälle in Betrieben ohne Arbeitsschutz. Auch eine Veränderung und Verschlimmerung der Arbeitsbedingungen, etwa durch die zunehmende Industrialisierung der Produktionsweise, spielt wie beim alten Antanas, eine Rolle. Der unbedachte und ungesicherte Einsatz von Chemikalien stellt ein neues, ernstzunehmendes, bisweilen lebensbedrohliches Risiko dar. Die Folgen für den einzelnen Arbeiter werden in der kapitalistischen Maschinerie allerdings billigend in Kauf genommen. Durch die unerträglichen Lebens- und Verarbeitungszustände sowie deren (scheinbare) Unveränderbarkeit liegt eine Aura der Hoffnungslosigkeit über Mensch und Tier. Wo sich für die Tiere ihr tödliches Schicksal als unabänderlich erweist, scheinen auch die Arbeiter in den sprichwörtlichen Umständen gefangen. Weder Arbeitswille noch unermüdlicher Einsatz kann eine Verbesserung der Zustände herbeiführen. »I will work harder«, dies scheint exakt das zu sein, was George Orwells unschuldiges Zugpferd Boxer sagt, als es seine Muskeln bei den zynischen Nutzlosigkeiten auf der Animal Farm überanstrengt.26 Unterbrochen wird die graue Hoffnungslosigkeit Chicagos lediglich durch vereinzelte Feste. Hier halten sich die Figuren an den Bräuchen des Herkunftslandes fest, ansonsten entfliehen sie der Realität bei Prostituierten, beim Glücksspiel oder beim Alkohol in den Saloons. Aber auf den Rausch folgt der Kater, der die Hoffnungslosigkeit noch verstärkt, da alle diese Eskapaden selbstverständlich Geld kosten, das eigentlich nicht verfügbar ist (z. B. TJ: 262). Barbetreiber und andere Profitmacher erscheinen in diesem Licht als Handlanger der kapitalistischen Industriellen, die dazu beitragen die Tiere in ihrer Abhängigkeit zu halten. Lediglich Jurgis’ Sommer als Tramp durchbricht diese Hoffnungslosigkeit. Nach dem Tod seiner Frau und der beiden Söhne flieht er Hals über Kopf 25 Zur Entwertung gelernter und ungelernter Arbeiter durch das System der Schlachthöfe am Beispiel der von Sinclair porträtierten Individuen, siehe David M. Katzman und William M. Tuttle, Plain Folk: The Life Stories of Undistinguished Americans. Urbana, IL 1982, 98 ff. 26 Hitchens, Capitalist Primer.

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aus dem Dschungel der Schlachthöfe, um ein neues Leben zu beginnen. Er zieht als Landstreicher durch friedliche Wiesen und Felder. Scheinbar kehrt er zum Ursprung seiner Lebensreise und der der Schlachttiere zurück. Eine alternative Existenz ist plötzlich möglich. Die ländliche Natur steht im klaren Kontrast zu den Schlachthöfen und Jurgis erholt sich. Vor allem aber beginnt er, seine Situation zu reflektieren. Bereits auf dem Weg aus der Stadt heraus geht seine gedankliche Last verloren und die Zeit belebt seinen Geist. Jurgis wird metaphorisch als neuer Mensch wieder geboren, weil er Freiheit erfährt, sauberes Wasser trinkt und die idyllische Natur genießt, deren Beschreibung bei Sinclair klassischen Erzählmustern folgt. Hier leuchtet er ein weiteres zentrales Thema der Umweltgerechtigkeit umfassend aus. Nicht einmal saubere Naturräume zum Zweck der Erholung stehen den Arbeitern in ihren industriell verschmutzten Lebensräumen der Städte und Minen zur Verfügung.27 Wer zwar lange arbeiten muss, aber kein Geld hat, kann keine Erholungsräume aufsuchen. Dieses Problem der ökonomischen Pfadabhängigkeit greifen auch ­Dickens und Raabe in ihren Romanen auf. Als zentrales Erlebnis beschreibt Sinclair Jurgis’ Bad in einem Bach, wobei er symbolisch allen Schmutz der Großstadt abwäscht (TJ: 261f). Das Thema erinnert an Our Mutual Friend, an die Erlösungskraft der Themse, an das Thema Identität und Identitätsverlust. Gestärkt durch seine positiven Erfahrungen, fühlt Jurgis sich nun bereit, nochmals ein neues Leben in Chicago zu beginnen, das er auf Grund eines vorher verhängten Arbeitsverbots unter einer neuen Identität antritt. In diesem Fall tritt die christliche Symbolik, das Bad Jesu im Jordan und das Reinwaschen von den Sünden ebenfalls stark hervor. Auch dieser Neuanfang ist von zahlreichen Rückschlägen begleitet, bevor Jurgis sich (wie sein Erfinder) in die schützenden Arme des Sozialismus begibt. Dort widmet Sinclair sich noch einem weiteren Missstand industrieller Produktion, indem er die Prozesse der Nahrungsmittelherstellung aufschlüsselt. Verarbeitet wird alles; Selbst verdorbenes und bakteriell verseuchtes Fleisch. In den Konserven enden tuberkulinische und zu junge Tiere, Ratten und sogar der Bodenschmutz.28 Genauso muss und kann jeder Mensch arbeiten. Auch Kranke, Alte, Invalide und Kinder, unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft oder Gesundheitszustand. Betroffen ist in gleichsam absurd demokratischer Weise die ganze Arbeiterschaft, eine zynische Gerechtigkeit in der ungerechten Verteilung von Umweltbelastungen. Sinclair beschreibt auch, wie den Fleischkonserven Chemikalien zugesetzt werden, um zu verschleiern, wie minderwertig 27 Brian Black, Nature and the Environment in Nineteenth-Century American Life. Westport 2006. 28 William Little unterstellt dem Autor eine gewisse Augenwischerei bezüglich seiner naturalistischen Darstellungsweise, die seiner Ansicht nach nicht ausgeprägt genug ist. Wiliam G. Little, The Waste Fix: Seizures of the Sacred from Upton Sinclair to The Sopranos. New York 2002.

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deren Inhalt ist. Die Arbeiter vernebeln ihre Sicht auf die unhaltbaren Zustände mit Alkohol, unter dessen Einfluss alles erträglicher erscheint. Der Zusatz von Alkohol beim Menschen bleibt allerdings auch in den Schlachthöfen nicht ohne Folgen; Gewalt, Kriminalität und Prostitution hatte schon Émile Zola beschrieben, und auch, wie sich dadurch die gesellschaftliche Ablehnung des Proletariats weiter verstärkte.29 Die Abscheu, den die Beschreibung der modifizierten Nahrungsmittel hervorrief, führte schließlich zum Protest der Konsumenten der The Jungle so berühmt machte. »There would be meat stored in great piles in rooms; and the water from leaky roofs would drip over it, and thousands of rats would race about on it. It was too dark in these storage places to see well, but a man could run his hand over these piles of meat and sweep off handfuls of the dried dung of rats. These rats were nuisances, and the packers would put poisoned bread out for them; they would die, and then rats, bread, and meat would go into the hoppers together. This is no fairy story and no joke; the meat would be shovelled into carts, and the man who did the shovelling would not trouble to lift out a rat even when he saw one – there were things that went into the sausage in comparison with which a poisoned rat was a tidbit (…) they would call upon their chemistry department, and preserve it with borax and color it with gelatine to make it brown« (TJ: 166 f).

Die Schlachthofarbeiter selbst wirken entfremdet von ihrer Tätigkeit, aber vor allem auch wie abgekoppelt von den Produkten und von den Konsumenten dieser Produkte. Die Nachlässigkeit, mit der die Ungezieferfrage im alltäglichen Betrieb gehandhabt wird, kann euphemistisch als grob fahrlässig bezeichnet werden. Vielleicht ist es eine künstliche Distanz, eine Art stiller Protest gegen die Missstände im Betrieb. Weiter geht es bei Sinclair mit wohl-recherchierten Beobachtungen über die Verfälschung und Verschönerung von Lebensmitteln mittels Chemikalien und Färbung, etwa durch den Zusatz von Formaldehyd, Anilin-Derivaten und anderen Farbstoffen (TJ: 93; 119), oder die Behandlung von tuberkoloseinfiziertem Fleisch mit Kerosin (TJ: 117). Bakterien verseuchen auch die Lebensumwelt der Back of the Yards und sind Gift für die Konsumenten des Dosenfleisches. Und obwohl es damals schon gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die hygienischen Zusammenhänge mit den Germs gab (TJ: 37), wurde nichts unternommen. Die von Sinclair angesprochenen Bakterien können auch als Symbol für den Kapitalismus gelesen werden, der Packingtown verseucht. Und der sich trotz des Wissens um seine krankmachenden Gefahren schließlich durch die Vermarktung der Fleischkonserven und anderer Stockyard-Produkte über die Vereinigten Staaten und die ganze Welt verteilt. In jeder Dose werden gleich 29 Ruth Clifford Engs, Clean Living Movements: American Cycles of Health Reform. Westprot 2000.

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sam die Opfer des kapitalistischen Systems verarbeitet und fungieren als deren morbide Botschafter. Daran hat sich im Prinzip bis heute wenig geändert, wie Nancy Langston anhand von Hormonen und anderer chemischer Lebensmittelzusätze veranschaulicht.30 Als Heilmittel für diese fortschreitende Infektion der Menschheit stellt Sinclair schließlich den Sozialismus vor. Doch schlussendlich stellt sich die Frage: »How would socialism change that?« (TJ: 418). Das explizite Überlegenheitsgefühl des Autors spiegelt sich in der auktorialen Erzählsituation. Immer wieder wird die Unwissenheit der verarmten Einwanderer und Arbeiter kommentiert, was einerseits erklären soll, weshalb sie sich vom System derart ausnutzen lassen, andererseits jedoch eine Unmündigkeit bei der Veränderung ihrer Lebensumstände impliziert (z. B. TJ: 277). Am Rande stellt auch The Jungle, wie die beiden anderen hier untersuchten Romane, die Generationenfrage und reflektiert, was der nächsten Generation vererbt werden wird oder werden kann. Fakten, wie die unerforschten Langzeitfolgen chemisch veränderter Nahrungsmittel, allgemeine Lebensunsicherheit, aber auch die wirtschaftliche Abhängigkeit (es existiert nicht einmal ein vererbbares sicheres Zuhause), spielten hier mit hinein. Am schwierigsten gestaltet sich allerdings der Aufbau und Erhalt einer Familie sowie die Aufzucht einer neuen Generation unter derart feindlichen Lebensumständen, die im Prinzip nur Raubtiere (Unternehmer und Vorgesetzte) und Aasgeier (alle die Profit aus den armen Zuständen schlagen, wie Saloon- und Ladenbesitzer, Vermieter und Bankangestellte) überleben lassen.

6.4 Moderne Umweltgerechtigkeit und Umweltbewusstsein In Upton Sinclairs literarischer Beschreibung des Dschungels in den Chicagoer Stockyards spiegeln sich Zustände moderner Umweltgerechtigkeit. Das ist zu einem Gutteil der naturalistischen Erzählweise des Autors geschuldet, in der er seine ausführlichen Recherchen verarbeitet. Trotz seines fiktionalen Charakters ist der Stellenwert des Romans als historische Quelle, der sich aus eben jener ausführlichen Auseinandersetzung mit den örtlichen Gegebenheiten ergibt, nicht zu unterschätzen. Durch eine Offenlegung systemischer Missstände hoffte Sinclair, soziale und politische Reformen anzustoßen und sein besonderes Umweltbewusstsein in literarischer Form an seine Leser weitergeben zu können. Anhand der persönlichen Einzelschicksale seiner Charaktere können gesundheitliche und soziale Auswirkungen von industrieller Umweltverschmutzung, toxischen Arbeitsbedingungen, und hygienisch bedenklichen Lebensumständen nachvollzogen werden. Dabei genügt es Sinclair nicht, die Gefährdungen ein 30 Nancy Langston, Toxic Bodies: Hormone Disruptors and the Legacy of DES . New ­Haven, 2011.

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zelner Beschäftigungsfelder aufzuzeigen. Diese werden etwa in Relation zu körperlicher Konstitution gesetzt, um besonders drastische, aber auch vollständige Bilder zu erzeugen. Hygienische Missstände in der Lebensumwelt betreffen darüber hinaus alle Figuren gleichermaßen und addieren sich zu den Schädigungen der Arbeitsbedingungen. In der unmissverständlichen sozialistischen Botschaft von The Jungle sind soziale Reform und Verbesserung der Umweltverhältnisse eng miteinander verbunden, denn um soziale Gerechtigkeit unter den Arbeitern herzustellen, müssen zuerst die hygienischen Missstände und die Umweltverschmutzung beseitigt werden. Aus dem Zusammenwirken dieser Faktoren erwächst ein Zustand, der sich als verstärkend auf die soziale Ungerechtigkeit auswirkt. So wird auch offensichtlich, welchen Einfluss individuelle wirtschaftliche Verhältnisse auf das Risiko von Umwelteinflüssen haben. Die Frage nach einer effizienten politischen Partizipation(-sfähigkeit) wird in diesem Zusammenhang ebenfalls gestellt. Der industrielle Massenbetrieb und dessen Ausgreifen in die unmittelbare Nachbarschaft definieren sich mit ihren umweltrelevanten Auswirkungen als Schauplatz von Umweltgerechtigkeit, der nicht zuletzt durch die unhygienischen und gefährlichen Lebensumstände konstituiert wird.

7. Sinclair und politischer Aktivismus

7.1 Bauernopfer und Opfersiedlungen Seit dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges hatte Chicago, ein Neubau in einem Sumpfgebiet, wie die meisten amerikanischen Großstädte, enormes Wachstum erfahren. 1880 lebten dort bereits eine halbe Million Menschen, und allein während der nächsten Dekade verdoppelte sich diese Zahl. Solch enormes Bevölkerungswachstum stellte neue Herausforderungen an die städtische Infrastruktur, vor allem an Abwassersystem und Abfallbeseitigung, wie in London einige Jahre zuvor. Die den europäischen nachvollzogenen Maßnahmen erwiesen sich jedoch bald als ineffektiv, weshalb Luft, Straßen und innerstädtische Gewässer massiv verschmutzten.1 Gerade die für Zuzügler neu gebauten Siedlungen entwickelten sich zu Brennpunkten der Stadtentwicklung, da auch administrative Vorgänge sich nur langsam an die notwendige Geschwindigkeit anglichen. Ähnlich wie in anderen, durch industrielles Wachstum begünstigten Städten, gesellten sich zu den infrastrukturellen und hygienischen, bald soziale Probleme.2 Zur Beseitigung der Missstände initiierten die Stadtväter zahlreiche sanitäre Kampagnen, die, ganz im Sinne des Commonwealth, vor allem auf den Erfolgen Edwin Chadwicks und der britischen Sanitätsreform aufbauten. Zu deren Weiterentwicklung trugen wissenschaftliche Erkenntnisse über die Existenz und Auswirkungen von Bakterien auf hygienische Bedingungen seit den 1880er Jahren maßgeblich bei.3 Einen speziellen Anreiz, das Stadtbild zu verschönern, und dabei hygienische Verbesserungen vorzunehmen, bot zudem die Weltausstellung im Jahre 1893. Die nationale City Beautiful Bewegung brachte in den USA die Stadtentwicklung in Gang. In Chicago vor allem der Women’s City Club, der sich für die innerstädtische Ästhetik, gerade hinsichtlich überhandnehmender Abfall­mengen, einsetzte.4 Diese Bestrebungen verbreiteten sich rasch über den Mittleren Westen, und die Bewegung erhielt, da von Frauen getragen, bald den Spitznamen 1 Martin Melosi, The Sanitary City: Urban Infrastructure in America from Colonial Times to the Present. Baltimore 2000, 77. 2 Platt, Shock Cities; Martin Melosi, Effluent America: Cities, Industry, Energy, and the Environment. Pittsburgh 2001, 49–56; Jon A. Peterson, The Impact of Sanitary Reform upon American Urban Planning, 1840–1890, in: Journal of Social History 13/1, 1979, 83–103. 3 Vgl. Melosi, The Sanitary City, 77. 4 Zur Entstehung und Verbreitung der City Beautiful Bewegung siehe Jon A. Peterson, The Birth of City Planning in the United States 1840–1917. Baltimore 2003.

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Municipal Housekeeping. Erfolgreiche Impulse und Initiativen zur Regulierung innerstädtischer Umweltverschmutzung gingen in Chicago vor allem ab Mitte der 1890er Jahren von der von Jane Addams begründeten Hull House Siedlung und den Anwohnern der dicht bevölkerten Near West Side aus.5 Aus der Kombination von weiblichem Engagement für und mit Arbeitern und Immigranten erwuchs jedoch ein gewisses Konfliktpotenzial, das immer wieder zu Auseinandersetzungen mit anderen städtischen Initiativen, etwa aus dem City Practical Movement, führte. Damit spielte sich in Chicago eine ganz ähnliche Kampagne ab wie anderenorts, wo ein elitär geführter Urban Environmentalism als Teil weiterreichender Anstrengungen entstand.6 Diese, vor allem mittelständischen Initiativen, zielten darauf ab, notleidende und oft als moralisch minderwertig eingestufte, einfache Bürger durch aktive Teilnahme und Selbstverantwortung in die städtische Gesellschaft einzugliedern. Da ausländische Arbeiter landläufig jedoch auch als moralische Gefahr wahrgenommen wurden, sollte sich die Integration zusätzlich derart gestalten, dass die vorherrschenden sozialen Strukturen nicht aus dem Gleichgewicht kamen. Nationale und kulturelle Identitäten hatten hier keinen Platz, so dass die Maßnahmen die Entwurzelung der Neuankömmlinge forcierten und das Elend der verarmten Schichten oft noch weiter vertiefte.7 Vor allem bürgerliche Frauen interessierten sich für eine ästhetische Aufwertung des Stadtbildes einerseits, und sahen sich andererseits dazu berufen, den benachteiligten Mitbürgern urbanen Lebensstil und zivile, kulturelle Werte des freien Amerikas weiterzugeben.8 Im besonderen Fall des Hull House Settlements sah man die Aufgabe jedoch eher in einer ganzheitlichen Verbesserung der Lebensbedingungen, die sich mittelfristig auch auf die Arbeitsverhältnisse auswirken sollte. Sinclair hatte begonnen, sich näher mit den Chicagoer Stockyards zu beschäftigen, als die Aufstände und Streiks der US -amerikanischen Arbeiterschaft massiv zunahmen – genauso wie Émile Zola sich mit den Mines des Marles beschäftigte. 1904 wurden die Stockyards massiv bestreikt, was auch erhebliche Auswirkungen auf deren unmittelbare Nachbarschaft hatte. Ein finanzieller Vorschuss des sozialistischen Magazins Appeal to Reason, das Sinclairs Geschichte veröffentlichen wollte, erlaubte ihm eine Inkognito-Recherche, um die Arbeitsbedingungen der fleischverarbeitenden Industrie zu examinieren. Sinclair verdingte sich bei seinem Aufenthalt in Chicago nicht nur als Meat Packer, sondern auch als Tunnelarbeiter, Arbeiter in einem Killing House und in einer Düngerfabrik. Der Autor selbst hob dies vielfach hervor. Leider verbrannten die un 5 Harold Platt, Jane Addams and the Ward Boss Revisited: Class, Politics, and Public Health in Chicago, 1890–1930, in: Environmental History 5/2, 2000, 194–222, 333 ff. 6 Shen Hou, The City Natural. Garden and Forest Magazine and the Rise of American Environmentalism. Pittsburgh 2013. 7 Katzman und Tuttle, Plain Folk. 8 Montrie, A People’s History.

Bauernopfer und Opfersiedlungen

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mittelbar dazugehörigen Unterlagen Sinclairs’.9 Die im Laufe des Jahres 1905 im Appeal to Reason erschienene Version von The Jungle weist im Vergleich mit der Romanversion einige textuelle Änderungen auf, die für die vorliegende Analyse jedoch unerheblich sind, da sich das Erkenntnisinteresse auf die Darstellung der Umweltwahrnehmung konzentriert und die Buchform eine wesentlich weitere Verbreitung erfuhr und damit vermutlich eine stärkere gesellschaftliche Wirkung hatte.10 Mehrere Versionen des Vorworts für die Ausgabe zum 60-jährigen Jubiläum zeichnen, mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die Genese des Werkes während seines Aufenthaltes in den Back of the Yards nach.11 Sinclair beschwert sich darüber, dass an diesem Ort noch nie jemand etwas von ihm gehört habe und erzählt, er habe sich im Stock Yards Hotel eingemietet, um von dort aus seine Recherchen zu unternehmen. Sein Kontakt zu verschiedenen Personen, die ihm Einsicht in die Welt der Yards geben konnten, verdankte er den Kind Ladies des Stock Yard Settlements, eines jener wohltätigen Vereine, die eine Armenspeisung ins Leben gerufen hatten, aber auch den Mitarbeiterinnen des Chicago Health Department, wie etwa Algie Simmons und Mary McDowell, die es als ihre Aufgabe ansahen, wenigstens die schlimmsten Leiden der Bedürftigen zu lindern. Gleichzeitig versuchten sie, in der grausamen industriellen Schlacht weitestgehend (politische) Neutralität zu wahren. Sinclair fand, die Damen seien ­»retained enough of their Americanism to speak their minds freely«.12 An ihrem Beispiel zeigt sich außerdem die schon fortgeschrittene Emanzipation der Frau in der neuen Welt und deren etwas größerer politischer Handlungsspielraum.13 Sinclair begriff seine Enthüllungen als ein Thema von nationalem Interesse, und die sozialistische Ideologie als die beste Möglichkeit, in den Vereinigten Staaten soziale Gerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit zu etablieren. Die Expertise der lokalen Sozialarbeiter und ortskundigen Aktivisten sah er als ebenso bedeutsam an, wie die eigene gründliche Beobachtung. Nur durch das Zusammenwirken von Eigen- und Fremdperspektive sei es möglich, die subjektiven 9 Zur Brandkatastrophe im März 1907, die Sinclairs damaligen Wohnsitz, die von ihm gegründete Intellektuellen-Kommune Helcion Hall, heimsuchte und dabei seine Unterlagen vernichtete, siehe ausführlich z. B. Anthony Arthur, Radical Innocent: Upton Sinclair. New York 2006. 10 Eine gesammelte Edition der Zeitschriftenversion liegt vor: Gene DeGruson, Upton Sinclair’s The Jungle: The Lost First Edition. Memphis, T. N. 1988. 11 Upton Sinclair, Preface to The Jungle, Sinclair MSS . Series III, Writings, Box 36, Lilly Library. Geographisch handelt es sich um das Siedlungsgebiet westlich der Stockyards, zwischen Ashland Avenue und Robey / Damen Avenue. Dazu Subacius, Upton Sinclair, 4.  12 Sinclair MSS . Series III, Writings, Box 36. Streichung im Original. Unterschiedliche politische Auffassungen ergeben sich nach Arthur aus generationellen Unterschieden zwischen dem Autor und den Reformerinnen: Arthur, Radical Innocent, 47 f. 13 Ann Oakley, Women, Peace, and Welfare. A Surpressed History of Social Reform 1880–1920. Bristol 2018.

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Wahrnehmungen in den ortsüblichen Kontext einzuordnen und darüber hinaus mit zusätzlichen reflektierten Einsichten in Zusammenschau zu bringen.

7.2 Aktivierende Bürgerbeteiligung Eine der Ladies, die Sinclair bei seiner Recherche zur Seite standen, war die Sozialarbeiterin Mary McDowell, deren soziales Engagement und sanitäre Errungenschaften ausführlich im Archiv des Chicago Historical Museums dokumentiert sind.14 McDowell lebte selbst inmitten der sozialen Brennpunkte, zunächst bei Jane Addams im Hull House, später direkt in den Back of the Yards, wo sie sich in ihrem Engagement oft aktiv gegen die Industriellen stellte. Ihre besondere Rolle für die Verbesserung der Arbeiterverhältnisse hebt Sinclair in der Einleitung zur 40-jährigen Jubiläumsausgabe von The Jungle deutlich hervor.15 Auch in einem Brief an Theodore Roosevelt, den er während des Untersuchungsverfahrens in den Stockyards schrieb, erwähnt der Autor sie als eine der wichtigen Kontaktpersonen, mit großem Einfluss auf die Anliegen der Arbeiter.16 Anders als die Damen des Municipal Housekeepings und noch ausdrücklicher anders als Jane Addams sah McDowell als Wurzel des Übels weniger individuelle Unzulänglichkeiten und kulturelle Defizite der Arbeiter, sondern mehr die konzentrierte Macht der Unternehmen sowie korrupte Kommunalpolitik. Das war Sinclair sympathisch. McDowell hatte in den 1890ern zunächst im Hull House gelebt. Sie war also mit den dortigen Lebensumständen vertraut und kannte die Verwaltung. Zu dieser Zeit engagierte sie sich für streikende Eisenbahner, und bei der Formierung des Streiks der Meat Packer 1904 spielte sie ebenfalls eine zentrale Rolle. Mit den Missständen in den Lebens- und Arbeitsbedingungen in und um die Stock­yards war sie bestens vertraut, da sie schon 1894 ein neues Settlement House, das University of Chicago Settlement, Back of the Yards gegründete hatte. Eine Gegend, deren Bevölkerung, vorwiegend aus Einwanderern bestand, und die unter den hygienischen Zuständen, vor allem der Luft- und Wasserverschmutzung, in besonderem Maße zu leiden hatte. McDowell erkannte und beobachtete die gesundheitlichen (und moralischen) Auswirkungen der verschmutzten Lebensumwelt, nahm die geographisch ungerechte Verteilung der Risiken wahr und identifizierte diese Defizite auf Grund der vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Strukturen als schwer veränderbar. Daher verwandte sie einen großen Teil ihrer Energie darauf, mit ihren Initiativen die akuten Probleme der 14 Mary McDowell Settlement Records, 1894–1970, Chicago History Museum, Chicago. 15 Sinclair MSS . Writings, Series III, Box 36, Kopie 574 ff. 16 Upton Sinclair an Theodore Roosevelt. 10. April 1906, Theodore Roosevelt papers, 1859–1993. Series 1. Letters received and related material, 1759–1919. Washington, o. J., MSS 38299, Library of Congress Manuscript Collection.

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Nachbarschaft zu lindern und Beteiligungsmöglichkeiten für die betroffenen Anwohner zu schaffen. Auf Grund ihrer privilegierteren Herkunft sah McDowell es als ihre Pflicht, die benachteiligten Bürger darin zu unterstützen, Umweltrisiken zu minimieren, zumal sie aus ihren anderen aktivistischen Unternehmungen (wie etwa im Temperance oder Suffragette Movement) gelernt hatte, welchen Unterschied soziale Herkunft machen konnte, wenn es um die Durchsetzung politischer Forderungen ging.17 Eine ihrer wichtigsten Errungenschaften für die Verbesserung der Chicagoer Stadtgesundheit war die Säuberung des sogenannten Bubbly Creek, eines von den Fabriken als Abwasserkanal und Müllabfluss genutzter Seitenarm des Chicago River, der auch in Upton Sinclairs Roman Erwähnung findet.18 »This creek, once an innocent little stream with willows and flowers along its bank, had been turned into a cesspool«,19 schrieb sie. Der Fluss entwickelte sich zusehends zu einem Gesundheits- und Sicherheitsrisiko für die Bewohner des umliegenden Viertels. Dank weitreichender Kampagnen und dem unermüdlichen Einsatz der Anwohner gelang es schließlich, die Stadtverwaltung in ihre Verantwortung zu zwingen, den Bach zu säubern und weiterer Verschmutzung vorzubeugen. Unter der Führung Mary McDowells leisteten die Helfer des University of Chicago Settlement Großes, um ein Bewusstsein für die schädlichen Umweltzustände des Viertels  – auch über die Siedlungsgrenzen hinaus  – zu schaffen. Zudem organisierten sich die Betroffenen in zahlreichen lokalen Clubs. Einerseits, um die verschiedenen Initiativen zu konzertieren und andererseits, um viele betroffene Anwohner aktiv zu einzubinden.20 1896 zum Beispiel rief sie den Cleaners Club of Chicago ins Leben. Er setzte sich aus Einwandererjungen zusammen, die durch das Viertel streiften, um sani­täre Missstände zu entdecken, Beschwerden aufzunehmen und im Rathaus zu melden. Mit der Unterstützung einer jungen Einwandererin in zweiter Generation, die auch Sinclair kennengelernt hatte, setzten die »young citizens of Chicago […] a right to a city of clean streets« durch.21 Der Women’s Club wiederum spezialisierte sich, ähnlich dem Municipal Housekeeping, auf die Säuberung der Straßen und Wege von Müll und industriellen Abfällen. Am effektivsten sei jedoch die Neighborhood Guilde gewesen, eine Dokumentationsstelle für Umweltbeschwerden jeglicher Art, so Sylvia Hood Washington.22 Insbesondere den Ausdünstungen und Abwässern der lokalen Klebstofffabrik wurde in der 17 Montrie, A People’s History, 65. 18 Z. B. TJ, 116. Zu seiner Symbolik als reinigendes Element für die Schlachthöfe (alle Abwässer und vor allem Schlachtblut wurden in den Bubbly Creek eingeleitet), siehe Duvall, Processes of Elimination. 19 Mary McDowell Settlement (Chicago, Ill.) records, 1894–1970. 20 Ebd. 21 Oakley, Women, 96. 22 Washington, Packing Them In.

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Beseitigung Priorität eingeräumt, was schließlich zu veränderten Herstellungsprozessen führte, wodurch sich vor allem die Geruchsbelastung in der Nachbarschaft deutlich reduzierte. Außerdem setzte sich McDowell dafür ein, die Risiken einzudämmen, die von den Müllhalden in den ehemaligen Ziegelgruben ausgingen, denen auch Sinclair ein farbenfrohes Denkmal setzte. Immer wieder beschwerten sich die Frauen der Siedlung bei der Stadt, etwa bei den Commissioner of Health, die allerdings jegliche Übernahme von Verantwortung ablehnten. Eine der beteiligten Frauen soll daraufhin gefragt haben, »Why don’t they dump the garbage on the bully-vards? Why do they bring it near our homes?«23 Diese einfache, ungebildete Frau nahm ganz instinktiv die Ungerechtigkeit wahr, die aus Klassenunterschieden resultiert und zu einer ungleichen Verteilung von Umweltrisiken führt. Schließlich konnten diese Proteste immerhin erreichen, dass auf den Müllhalden nur mehr trockene Abfälle entsorgt werden durften und diese zudem gekalkt werden mussten. Eine Weigerung der Abfallgrubenbesitzer, sich an die neuen Vorschriften zu halten, ließ die Stadtverwaltung jedoch schon nach wenigen Monaten resignieren. Daraufhin begann McDowell selbst, sich selbst auf den technisch neuesten Stand in der Verwertung und Beseitigung von Abfällen zu bringen, wozu sie unter anderem eine Reise nach Europa unternahm, wo sie verschiedene Anlagen besichtigte. Ihr unermüdlicher Einsatz zahlte sich schließlich aus. Im Sommer 1913, kurz nachdem in den USA das kommunale Frauenwahlrecht in Kraft getreten war, gelang es ihr und ihren Mitstreiterinnen, eine städtische Müllverbrennungsanlage zu verhindern und stattdessen den Bau einer Reduktionsanlage durchzusetzen. In diesem Zuge wurden auch die Müllhalden von Packingtown stillgelegt.24 Vergelichbar mit dem prominenten Beispiel von Jane Addams, zeigt Mary McDowells Geschichte den Erfolg bürgerlicher Initiativen zur Verbesserung umweltungerechter Zustände. Nachdem die Umweltverschmutzung als Gesundheitsrisiko und die ungerechte Verteilung von Umweltrisiken erst einmal wahrgenommen worden war. Diese Initiativen von unten eröffneten den Arbeitern einen Handlungsrahmen und die eigene Hilflosigkeit gegenüber den Missständen in der Lebens- und Arbeitswelt schien damit eher überwindbar.25 Gerade auf dieser Selbstbeteiligung der Betroffenen beruht der Erfolg der Kampagnen in Packingtown und den Back of the Yards, denn diese Problemviertel waren häufig von den Maßnahmen der bürgerlichen Bewegungen ausgenommen.26 Hier spielte die moralische Grundeinstellung der Träger dieser Bewegungen eine 23 Zitiert nach Montrie, A People’s History, 66. 24 Heute ist dort ein Einkaufszentrum, man kann jedoch den unebenen Untergrund deutlich erkennen, der von noch immer andauernden Zersetzungsprozessen verursacht wird. 25 Thomas J. Jablonsky, Pride in the Jungle: Community and Everyday Life in Back of the Yards Chicago. Baltimore 1993. 26 James Barrett, Work and Community in the Jungle: Chicago’s Packinghouse Workers, 1894–1922. Urbana, Ill. 1990.

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Rolle, denn sie gingen häufig einfach davon aus, dass die umweltungerechten Lebensumstände der Arbeiter selbstverschuldet seien. Dass diese Grass-Roots Kampagnen sich positiv auf die lokale Umwelt auswirkten, illustriert den Zusammenhang von Environmentalism mit den NIMBY und Environmental Justice Movement.27 Es gibt einen Zustandsbericht der Wohn- und Lebenssituationen in den Back of the Yards aus dem Jahre 1911, der die gravierenden Mängel in diesem besonderen Stadtviertel offenlegte.28 Bereits in den Jahrzehnten, bevor die miserablen Zustände durch The Jungle und den Neill-Reynolds-Report, der sie später ausführlich dokumentierte, öffentlich wurden, hatten die Chicagoer Stadtreformer der City Homes Association (CHA) einige problematische Siedlungsgebiete der Stadt im Rahmen des Municipal Housekeepings einer intensiven Untersuchung unterzogen, um eine Verbesserung der hygienischen und vor allem ästhetischen Bedingungen voranzutreiben. Die Back of the Yards waren im Jahre 1901 derart heruntergekommen, dass sich das Komitee der CHA nicht mit dieser Siedlung beschäftigen wollte. Zehn Jahre später erschien schließlich deren Bericht, der die Lebensumstände dieses Viertels eingehend beleuchtete, im Rahmen eines Artikels im American Journal of Sociology.29 Die Vorgehensweise und Darlegung der beiden Stadtsoziologinnen macht ihre methodische Abstammung von Henry Mayhew deutlich. Trotzdem rechtfertigten sie die zurückliegende Entscheidung der CHA : »The appearance of the district showed it to be so neglected and conditions there were, in general, supposed to be so extraordinary that it was regarded as unsuitable for purposes of intensive investigation. On this account little attention was given to conditions prevailing within the houses, and only  a superficial examination of these conditions was made. The unpaved streets, lack of sidewalks, indescribable accumulations of filth and rubbish, together with the absence of sewerage were said to make the so-called ›outside insanitary conditions as bad as any in the world‹«.30

Diese Beschreibungen erinnern deutlich an Upton Sinclairs »guided tour through the slums«,31 und zeigt, unter welch katastrophalen hygienischen, sanitären und infrastrukturellen Bedingungen die Bewohner lebten. Die CHA , die die Yards 27 Eileen Maura McGurty, From NIMBY to Civil Rigths: The Origins of the Environmental Justice Movement, in: Paul Sutter und Christopher Marginello (Hrsg.), Environmental History and the American South. A Reader. Athens 2009, 372–399. 28 Sophonisba P. Breckinridge und Edith Abbott, Housing Conditions in Chicago, III: Back of the Yards, in: American Journal of Sociology 16/4, 1911, 433–368. Der Bericht skizziert die Verhältnisse mit Stand 1909. 29 Die beiden Wissenschaftlerinnen werden der Chicagoer Schule der Stadtsoziologie zugerechnet, noch bevor Ezra Parks dort wirkte Zu Entstehung der Chicago School siehe Lindner, Walks on the Wild Side, 113 ff. 30 Breckinridge und Abbott, Housing Conditions. 31 Buell, Writing for an Endangered World, 17.

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nicht in ihr Programm aufnahmen, negierte die dortigen Umweltprobleme einfach – vielleicht aus Resignation gegenüber den enormen Herausforderungen – obwohl es offensichtlich ein Bewusstsein dafür gab. Diese Abwendung von Problemen ist gleichzeitig eine Abwertung der Betroffenen. Die Arbeitersiedlung erscheint in diesem Licht als Nicht-Ort, die Bewohner als Nicht-Bürger oder zumindest als wertloser Teil der Gesellschaft der Stadt im Gesamten. Zwischen der Veröffentlichung des Berichts der CHA und der Veröffentlichung des soziologischen Artikels waren jedoch bereits einige Veränderungen in den Yards eingeleitet worden, die die beiden Forscherinnen eingehend beschrieben. Die Aktivitäten Back in the Yards finden hier jedoch keine Erwähnung. Trotz deutlicher Verbesserungen, etwa im Straßenbau, beim Ausbau des Abwassersystems sowie der Erweiterung und Säuberung des Bubbly Creek, so stellten sie fest, bliebe die Siedlung jedoch weiterhin außergewöhnlich, denn »no other neighborhood in this, or perhaps in any other city, is dominated by  a single industry of so offensive a character«.32 Die schlechte Luftqualität allerdings sei nicht den Schlachthöfen allein zuzuschreiben, dazu trügen auch die Stahlwerke im Süden Chicagos und die Nähe zu den Abfallgruben der Stadt bei, die in den ehemaligen Ziegelgruben lagen. Die Wohn- und Arbeitsstätten, konstruiert aus mangelhaften und billigen Baumaterialien, befanden sich in einem derart beklagenswerten Zustand, dass sie ein Sicherheitsrisiko darstellten. Das ist aus den Feuerversicherungsplänen der Stockyards und der umliegenden Viertel ablesbar.33 Eigentümer investierten offenbar wenig bis gar nichts, um die Gebäude sicherer zu machen oder infrastrukturell zu verbessern. Die Forscherinnen fanden in den Yards Lebensbedingungen vor, die noch in vielerlei anderer Hinsicht mehr als mangelhaft waren. Genannt seien hier etwa die schlechte bis nicht vorhandene Anbindung an das städtische Abwasser­ system und die nicht gepflasterten Straßen. Wie in London war das industrielle Wachstum in Chicago weiterhin ungebrochen, überforderte die mangelhaften Strukturen zusätzlich und verlangsamte letztlich die Modernisierung. Das rapide industrielle Wachstum erklärte jedoch landläufig die schlechten und nicht an moderne hygienische und sanitäre Entwicklungen angepassten Lebensbedingungen der Arbeiter.34 Es bestand demnach durchaus ein Bewusstsein für Umweltrisiken und deren ungerechte Verteilung. Allerdings wurde zum Wohl der Allgemeinheit, etwa dem Komfort aus industriell gefertigten Konsumgütern, das Viertel dem industriellen Fortschritt untergeordnet. Wie auch in London und Braunschweig, findet sich in der historischen Exkavation Chicagos eine Opfersiedlung mit Menschenopfern. 32 Breckinridge und Abbott, Housing Conditions, 434. 33 Union Stockyards and Packinghouses, Chicago, Ill. Sanborn Maps Company. Insurance maps of Illinois. c.1867–1970. Map 8C G1404.C6 245 1891.C4, Newberry Library, Chicago, Ill. 34 Breckinridge und Abbott, Housing Conditions, 345.

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7.3 Politische Hindernisse Sinclair prangert mit seinem Roman die sozialen und gesundheitlichen Folgen industrieller Umweltverschmutzung an. Eine heftige politische und gesellschaftliche Debatte entbrannte jedoch in Reaktion auf seine Beschreibung der Verarbeitung von Fleisch und dessen chemischer Modifizierung, obwohl er in The Jungle der Beschreibung der heruntergekommenen Lebensbedingungen der Arbeiter so viel mehr Platz eingeräumt hatte. Der Konsumentenschutz reagierte fast sofort nach Erscheinen und es kam diesbezüglich zu weitreichenden Reformen. Sinclairs eigener Einschätzung nach hatte der Roman daher sein Ziel verfehlt. Der Misserfolg der Fortsetzungsreihe des Romans kann mit seinem außenpolitisch eher ungünstigen Erscheinen zusammenhängen, denn der RussischJapanische Krieg (1904–1905) erreichte damals gerade seinen Höhepunkt. Durch die innenpolitischen Erschütterungen des Zarenreiches wurde erstmals eine revolutionäre Bedrohung der bestehenden Weltordnung tatsächlich vorstellbar und stellte damit mehr als eine sozialistisch-politische Utopie dar. Das spiegelt sich in den tagespolitischen Berichten über die Auseinandersetzungen in Asien. Diese bestimmten nicht nur die Ausgaben der Chicagoer (Tages-)Zeitungen,35 selbst im linksorientierten Appeal to Reason hatte die Kriegsberichterstattung ihren festen Platz. Hier wurde jedoch die Angst der amerikanischen Bevölkerung in Karikaturen reflektiert.36 Im Schatten des Krieges war zudem die allgemeine politische Sorge um die wirtschaftliche und körperliche Volksgesundheit deutlich größer. Daher waren Entscheidungsträger vermutlich eher dazu bereit, die Belange der Arbeiter – trotz der offensichtlichen Missstände in deren Lebens- und Arbeitsbedingungen – der wirtschaftlichen Stärke des Landes wegen hintanzustellen. Reformen standen auch bei den Unternehmern nicht hoch im Kurs. Die zusätzlichen Ausgaben wurden in der Produktivitätsdebatte mit der Politik immer negativ hervorgehoben. Dennoch macht der öffentliche Diskurs um Sinclairs Enthüllungsgeschichte schon im Frühjahr 1906 deutlich, dass zumindest gesundheitliche und hygienische Risiken am Arbeitsplatz kontrovers erörtert wurden. Auch wurden sofort nach der Veröffentlichung des Romans von höchster Stelle umfassende Recherchen zur Prüfung der darin enthaltenen Anschuldigungen eingeleitet, allerdings zunächst ohne direkte politische Folgen. Präsident Theodore Roosevelt legte großen Wert auf akkurate Prüfung der Anschuldigungen Sinclairs und anderer. Zwei unmittelbar folgende Berichte aus dem Department of Agriculture etwa, die jedoch offenbar ohne Zustimmung verfasst worden waren, erschienen dem Präsidenten in vielerlei Hinsicht unzureichend, was er dem zuständigen Secretary, Minister James Wilson in 35 Chicago Daily, Chicago History Museum, Chicago, I. L. 36 Appeal to Reason, WHA , Madison, WI.

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einem Brief vom 11. April 1906 vorhielt. Diese Schriftstücke würden an seine beiden Kommissare in Chicago weitergeleitet, um sie, ebenso wie die Aussagen Sinclairs, überprüfen zu lassen.37 Bei den Kommissaren handelte es sich um Labor Commissioner Charles P. Neill und Sozialarbeiter James B. Reynolds, die in Roosevelts Auftrag den Stockyards mehr oder weniger spontane Besuche abstatteten und auf deren Basis den Conditions of the Chicago Stockyards Report formulierten. Sinclair, dessen Ungeduld den Präsidenten etwas ungehalten stimmte, wollte die Ergebnisse der offiziellen Untersuchungen und damit die Verifizierung seiner eigenen Recherche so schnell wie möglich veröffentlicht sehen. Den drängenden Wunsch des Autors lehnte Roosevelt jedoch entschieden ab: »The time when publicity is given to the reports is not a vital matter. The vital matter is to remedy the evils with the least possible damage to innocent people. The premature publication that you request would doubtless cause great pecuniary loss not merely to beef-packers and all those responsible so much of the conditions as are bad, but also scores of thousands of stock-growers, ranchers, hired men, cowboys, farmers and farm hands all over the country, who have been guilty of no misconduct whatever. Some of the men thus hurt would be wealthy men. Most of them would be poor men. (…) My object is to remedy the evils«.38

Ganz offensichtlich erachtete der Präsident die Rechte der Arbeiter und die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse durchaus als wichtig, musste jedoch die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen übereilter Reformen, etwa in Form eines Presse-Skandals bedenken. Er machte unmissverständlich deutlich, dass er sich nicht um die Belange einzelner Gruppen würde kümmern können, zumal eine nachhaltige Änderung gesetzlich verankert werden müsse, insbesondere, um volkswirtschaftlichen Schaden zu vermeiden. Die innenpolitischen Umstände für das Erscheinen von The Jungle war immerhin etwas passender, schließlich hatte es bereits in den Jahren vorher zahlreiche gewerkschaftlich organisierte Streiks gegeben, um die allgemeinen Arbeitsbedingungen zu verbessern. Und langsam zeigten Arbeitgeber und Politik eine Bereitschaft zu einer Neuverhandlung der Arbeiterrechte. Mit Sicherheit hat Sinclairs gutgemeinter, aber unpassender Aktivismus in Kombination mit den ideologischen Schwierigkeiten dazu geführt, dass die Prioritäten der Reformierung letztendlich anders gesetzt wurden als erhofft. Entgegen Roosevelts ausdrücklichem Wunsch hatte Sinclair nämlich doch die als vertraulich eingestuften Informationen des Conditions of the Chicago Stock­ 37 Theodore Roosevelt an James Wilson, 11. April 1906. Theodore Roosevelt papers, 1859–1993. Series 2. Letter Press Copy Books 1897–1916. Washington, DC , MSS 38299, Library of Congress Manuscript Collection. 38 Theodore Roosevelt an Upton Sinclair, 29. Mai 1906, ebd. Er bezieht sich hier auf vier Briefe und ein Telegramm Upton Sinclairs am 10., 11. und 12. April 1906, Theodore Roosevelt papers, 1859–1993. Series 1. Letters received and related material, 1759–1919.

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yards Report, auch bekannt als Neill-Reynolds-Report, an die Öffentlichkeit weitergegeben. Dadurch wurde Präsident Roosevelt in seiner Stellungnahme und Zusage zu Reformen gewissermaßen in die Enge getrieben. In einem mehrseitigen Brief an den Autor machte er deutlich, dass der Autor die Handlungs- und Umsetzungsmöglichkeiten des Weißen Hauses hinsichtlich Gesetzesreformen mit dieser unüberlegten Aktion massiv eingeschränkt hatte. Offenbar hatte­ Roosevelt eine wesentlich weitreichendere gesetzliche Regelung der Arbeiterfrage im Sinn gehabt, wie auch aus einem Brief an den Attorney General William H. Moody im März desselben Jahres im Zusammenhang mit den Streiks in Philadelphia hervorgeht.39 Auch in einem Schreiben an James W. Wadeworth, einen Delegierten des House of Representatives, führte er aus, wie wichtig ihm eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiter sei. Deshalb habe er sich letztendlich doch entschieden, den Neill-Reynolds-Report öffentlich zu machen, obwohl er befürchtete, dass die Strafzahlungen, die Unternehmer daraufhin leisten müssten, sich direkt negativ auf die Angestellten der Industrie auswirkten. Allerdings sei diese Angelegenheit »both a menace to health and an outrage in decency, and that no legislation that is not drastic and thoroughgoing will be of avail. Under such circumstances I feel that the facts upon which I have based my judgement must now be laid before Congress«.40

Bereits zu Beginn der Korrespondenz mit Upton Sinclair hatte Roosevelt seine grundsätzliche Offenheit für die Reform der Arbeiterrechte und zur Verbesserung ihrer Lebensumstände signalisiert und den Autor zu einem persönlichen Gespräch eingeladen.41 Leider gelang es Sinclair in seinem Enthusiasmus nicht immer, den diplomatisch richtigen Ton zu treffen – gerade in schriftlicher Korrespondenz. Roosevelt war nur bis zu einem gewissen Grad guten Willens, doch er fand sich in einer ideologischen Zwickmühle, wenn er damit liebäugelte einer Forderung aus dem sozialistischen Lager nachzugeben.42 Washington sah sich 39 Theodore Roosevelt an Attorney General William Moody, 22. März 1906, Theodore Roosevelt papers, 1859–1993. Series 2. Letter Press Copy Books 1897–1916. Dazu ausführlicher z. B. in den Sinclair Biographien, Arthur, Radical Innocent, 74. Zu Ausführung und Umsetzung dieser Regelungen für das Beispiel der Chicagoer Stockyards, siehe Rick Halpern, Down on the Killing Floor: Black and White Workers in Chicago’s Packinghouses, 1904–54. Urbana, IL 1997. 40 Theodore Roosevelt an James W. Wadeworth, 31. Mai 1906, Theodore Roosevelt papers, 1859–1993, Series 2, Letter Press Copy Books 1897–1916. 41 Theodore Roosevelt an Upton Sinclair, 9. März 1906, ebd., Roosevelt machte während seines Militäreinsatzes in Kuba selbst Erfahrungen mit verseuchten Fleischkonserven. 42 Siehe die Briefe Sinclairs an Roosevelt Anfang April 1906 und dessen Antwort am 29. Mai 1906. Theodore Roosevelt papers, 1859–1993. Series 1. Letters received and related material, 1759–1919; Zu Roosevelts Sicht der Dinge, siehe Fred Greenbaum, Ambivalent Friends: Progressive Era Politicians and Organized Labor-1902–1940, in: Labour’s Heritage 6/1, 1994, 62–76.

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wegen der öffentlichen Sichtbarkeit des Skandals um die hygienischen Zustände bei der Dosenfleischherstellung im ganzen Land bis nach Übersee jedoch gezwungen zu reagieren. Wenn auch in geringerem Umfang als von Sinclair erhofft, kam es zumindest zu kosmetischen Verbesserungen in den Stockyards. Die Enthüllungen aus The Jungle waren dafür aber nicht mehr als der letzte Stein des Anstoßes. Denn letztlich gründeten die durchgeführten Veränderungen auf den Ergebnissen des Stockyard Reports. Dieser insgesamt zwölf maschinengeschriebene Seiten umfassende Bericht legte auf den ersten beiden Seiten überblicksartig die baulichen Mängel, sanitären Defizite und grundsätzlichen Arbeitsplatzrisiken dar, später auch in Gegenüberstellung mit einem Modellbetrieb. Im ersten Absatz heißt es etwa, die Bodenbeläge könnten nicht ausreichend gereinigt werden, sie seien »slimy and malodorous when wet, yielding clouds of ill-smelling dust when dry«, auch die Pferche des Schlachtviehs seien in einem erbärmlich vernachlässigten Zustand, die Schlachträume selbst schmutzig, dunkel und schlecht gelüftet, oder, wie es im Wortlaut heißt, »vaults in which the air was rarely changed; windows clouded by dirt, walls and ceilings so dark and dingy that natural light penetrated only 20 or 30 feet«.43 Zudem wurden insbesondere fehlende Sanitäreinrichtungen, wie etwa Abluft, Wasser, und Toiletten bemängelt, weshalb die unangenehmen Gerüche und gesundheitsgefährdenden Dämpfe unerträgliche Ausmaße erreichten. Insgesamt anderthalb Seiten des Reports waren dem »Treatment of Emplo­ yees« gewidmet. Dabei stellten die Kommissare gleich eingangs fest, dass die mangelnde Berücksichtigung von Gesundheit der Arbeiter in direkter Konse­ quenz auf administrative Mängel zurückzuführen sei. »The insanitary conditions in which the laborers work and the feverish pace which they are forced to maintain inevitably affect their health«.44 Tuberkulose, die von den geschlachteten Tieren übertragen werden konnte, sei dabei nur ein kleiner Faktor. »The floors were wet and soggy, and in some cases covered with water, so that the girls had to stand in boxes of sawdust as protection of their feet«.45 Diese unerträgliche und unverzeihliche Art und Weise, wie die Arbeiter behandelt würden, müsse sich, so führten die Inspektoren aus, auch auf deren Moral niederschlagen. Daher seien die Zustände nicht nur eine Gefahr für die Arbeiter selbst, sondern auch für diejenigen, die später deren Produkte konsumierten.46 Aus dem Bericht geht deutlich hervor, dass die Inspektoren des Stockyard Reports ein Bewusstsein für die schädlichen Auswirkungen der Arbeitsplatzbedingungen auf die 43 Report on Conditions in the Chicago Stockyards, 1905, Record of the U. S. House of Representatives, 1787–2001. Original House Documents 1847–1972, Record Group 233, ­Washington, D.  C., NARA , Washington, D. C., 4. 44 Ebd., 8. 45 Ebd., 9.  46 Ebd., 10.

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Gesundheit der Arbeiter hatten, wie auch für die daraus erwachsenden sozialökologischen Konsequenzen. Der Fleischverarbeitung selbst wurden vier der insgesamt zwölf Seiten gewidmet. In den abschließenden Handlungsanweisungen für eine geplante Gesetzgebung überwiegt dennoch die Sicherstellung hygienischer Produktstandards, sei es in administrativer Umsetzung oder praktischer Inspektion, beginnend bei der Behandlung des Schlachtviehs.47 Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die sich nicht zwangsläufig aus den vorgeschlagenen veränderten Verarbeitungsmethoden ergeben, findet jedoch keine Erwähnung. Dies kann als Hinweis darauf gewertet werden, wie stark der Techno-Optimismus damals auch in der Politik verbreitet war. Denn die Opfergaben aus Natur und Gesellschaft an den Kapitalismus wurzelten darin. Über die Entstehung des Reports schreibt Sinclair 60 Jahre später in einem Vorwort: »I had a long conference with his [Roosevelts] two commissioners, I put them in touch with people who could take them where they wanted to go in the Yards. The two gentlemen assured me they meant to get the truth, and they kept their promises. When I came to Washington again, they told me how the packers had tried to fool them – and how they had not been fooled. They told me what they had seen and learned, and they did not tell me that the information was confidential«.48

Im dritten Entwurf des Schriftstücks wird Sinclair sogar noch ausführlicher: »The President’s two representatives went out to the Stockyards and when they came back I went back to Washington again to talk with them. Neall and McReynolds (!) were their names, and I have forgotten what their government positions were; but they were honest men and they had verified my charges. They had only one qualification to report; they had not been able to verify my statement that men who had fallen into lard vats had gone out to the world as Armour’s pure leaf lard«.49

Diese Episode zeigt, wie hilflos die Arbeiter gegenüber denen waren, die ihre Missstände verursachten. Wirtschaftliche Abhängigkeit zwang die Betroffenen dazu, nicht nur die unerträglichen Bedingungen der Arbeitsstelle zu ertragen, sondern deren Verantwortliche sogar noch zu decken. Eine rechtliche Grundlage, ihnen etwas entgegenzusetzen gab es nicht. Es bestand sogar die Gefahr, dass die Fabriken ihre Zustände möglicherweise verschleierten, falls eine

47 Zum Einfluss von The Jungle auf die Fleischhygiene aus medizinischer Sicht: Harvey J. Young, The Pig that Fell into the Privy: Upton Sinclair’s The Jungle and the Meat Inspection Amendments of 1906, in: Bulletin of the History of Medicine 59, 1985, 471. 48 Preface to the Jungle, 1906. Hier nimmt er darauf Bezug, dass die Informationen der Reports tatsächlich als vertraulich eingestuft waren, was er erst herausfand, als er diese neuen Erkenntnisse bei der New York Times veröffentlichen wollte. 49 Ebd., Streichung im Original.

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offi­zielle Regierungsuntersuchung bekannt würde. Das gab Sinclair in einem Schreiben an den Präsidenten bereits während der laufenden Untersuchung zur Verifizierung seiner Anschuldigungen Anfang April 1906 zu bedenken: »I know the facts are there, and I know the tremendous importance of them; I am only worried for fear that the men you have sent may not be able to see them. I am afraid that they will be shadowed every hour that they are in Chicago, and that the packers will systematically clear a path before them; that is get the place cleaned up and stop the unlawful practices and so succeed in convincing them that all of my witnesses are unreliable«.50

Hier zeigt sich auch, dass der Autor sich mindestens so sehr um die eigene Glaubwürdigkeit wie um die Arbeiter sorgte. Diese war in der Tat nicht unbegründet, wie einem Brief an Roosevelt zu entnehmen ist, der ihm zuvor Fehler und Unstimmigkeiten bei der Recherche vorgeworfen hatte. Gekränkt führt der Autor aus, seine Warnung, die Untersuchung so geheim wie möglich zu halten, sei in den Wind geschlagen worden. Deshalb hätten die beiden Kommissare weder alle Missstände zu Gesicht bekommen und zudem nicht immer ehrliche Aussagen von den Befragten erhalten. An ihm selbst habe es jedoch nicht gelegen, dass Informationen über den Besuch der Herren Neill und Reynolds in die Zeitungen gelangt seien. In diesem Brief vom 1. Juni 1906 gesteht Sinclair dennoch einige Fehler in der literarischen Verarbeitung der recherchierten Fakten ein, die er mit der Fiktionalität des Werkes rechtfertigt. Immerhin gehe es nicht um den Wahrheitsgehalt seines Romans, sondern darum, dass die Skizzen der Arbeitsund Lebenswelten in den Stockyards mit den Ergebnissen des Reports übereinstimmten. Dies sei im Großen und Ganzen der Fall, auch wenn die beiden Inspekteure nicht die volle Drastik hätten in Augenschein nehmen konnten; vor allem die mangelnden Arbeitssicherheitsvorkehrungen stellte Sinclair in diesem Brief in den Vordergrund.51 Auch wenn Roosevelt den Report nicht hatte öffentlich machen wollen, sah er sich nun doch dazu gezwungen, den Kongress einzuweihen, um die Durchsetzung einiger Gesetze, die ihm schon lange am Herzen lagen, »really effective« zu gestalten.52 Das eigenmächtige Vorgehen des Autors im Fleischskandal hatte eben doch positive Auswirkungen. Sinclairs Roman hatte nicht nur erste Reformen der sanitären und hygienischen Bedingungen am Arbeitsplatz zur Folge, sondern trug auch zum Erfolg der Fraueninitiativen in den Back of the Yards bei. Bezogen auf das rapide Wachstum heißt es in der soziologischen Untersuchung von 1911 etwa:

50 Upton Sinclair an Theodore Roosevelt am 10. April 1906, Theodore Roosevelt papers. 51 Upton Sinclair an Theodore Roosevelt am 1. Juni 1906, ebd. 52 Theodore Roosevelt an Upton Sinclair am 2. Juni 1906, ebd.

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»The result was, as all the world knows, that in 1906, when an attempt was made to apply modern sanitary standards to the yards, provisions for maintaining cleanliness and decency were found to be so shockingly inadequate that employment there was believed to have a demoralizing influence on the men and women employed there«.53

Sicherlich gingen die beiden Autorinnen davon aus, dass ein verhüllter Hinweis auf den weltberühmten Enthüllungsskandal, der auf die Veröffentlichung von The Jungle folgte, in einer wissenschaftlichen Publikation als Referenz ausreichend sei. Möglicherweise gehörten die beiden jedoch auch zu den Kritikern von Sinclairs Werken.54 Als Quelle für die Offenlegung der hygienischen Missstände in den Stockyards zitieren sie jedenfalls den offiziellen Neill-Reynolds-Report, der dem US -Kongress im Juni 1906, in Folge der von Theodore Roosevelt eingeleiteten Untersuchungen zum Fall, vorgelegt worden war.55 Dennoch setzten der Roman und die Kontroverse um dessen Faktizität letztlich auch Reformen in Gang.

7.4 Volkswohlstand vor öffentlicher Gesundheit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass umweltgerechte Zustände nicht nur von Upton Sinclair oder den betroffenen Arbeitern der Stockyards wahrgenommen wurden. Man entschuldigte sie weitgehend als im Rahmen des Fortschritts notwendig und begründete sie politisch als dem Volkswohl untergeordnet. Dabei spielte der außenpolitische Kontext sicherlich eine Rolle, da die im Roman abgebildete Lebenswelt mit ihrer politischen Botschaft als Bedrohung für die ohnehin als angespannt empfundene gesellschaftliche und innenpolitische Situation erscheinen musste. Zudem wurde der moralische und hygienische Diskurs ungleich wichtiger für den Volkswohlstand eingeschätzt als das Wohl der Arbeiter, deren Leistung das Wachstum erst ermöglichte. Das Bewusstsein für Umweltrisiken in Chicago war, wie andernorts, eng verknüpft mit den städtischen Sanitäts- und Hygienereformen, wobei die Ausgrenzung der besonders umweltproblematischen Viertel aus den Verschönerungskampagnen hier nochmals zu betonen ist. Die Arbeitersiedlung Back of the Yards erscheint als Ort unlösbarer Umweltgerechtigkeit. Geruchsbelastung, Abwasserwirtschaft und Wohnbedingungen wurden durch die zuständigen Autoritäten weder umfassend beseitigt, noch auch nur ansatzweise verhindert. Obwohl etwa Mary McDowells Einsatz zeigt, dass es durchaus möglich war, Veränderungen herbeizuführen, vor allem wenn die Betroffenen sich selbst dafür engagierten, ihre Lebensumwelt zu verändern. 53 Breckinridge und Abbott, Housing Conditions, 434. 54 1900–1908. Sinclair MSS ., Series I, Correspondence, Box 1, 1814–1916. 55 Breckinridge und Abbott, Housing Conditions, 434.

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Die Konflikte dieser Initiativen mit anderen bürgerlich getragenen Chicagoer Reformgruppen deuten jedoch an, dass selbst deren Lebenswelten zu weit voneinander entfernt waren, als dass sie die Lage der Arbeiterschaft erstgenommen hätten. Vor allem mit Blick auf die Vernachlässigung der Back of the Yards in der Untersuchung der CHA erhält der akademisch motivierte Zustandsbericht im American Journal of Sociology einen besonderen Stellenwert. Da offizielle Stellen und bürgerliche Initiativen zur Verbesserung des Stadtbilds dieses Stadtviertel ausgrenzten, degradierten sie die Back of the Yards damit gewissermaßen zu einer Opfersiedlung für den Fortschritt. Möglich wurde diese Abwertung auf Grund mangelndem Rechtsschutz. Die Zustände betrafen einerseits direkt die Produktionsstätten, andererseits hatten die Produktionsbedingungen auch Auswirkungen auf deren unmittelbare Nachbarschaft. Dadurch verschlimmerte sich die Abhängigkeit und Hilflosigkeit der Betroffenen gegenüber den zu erduldenden Lebens- und Arbeitswelten auch insofern, als diese vorherrschenden Strukturen die Betroffenen dazu zwangen, selbst zu Handlangern der Verschmutzung zu werden. Schon während seiner mehrwöchigen Inkognito-Recherche für den Roman soll Upton Sinclair sich einem seiner Interviewpartner mit den Worten vorgestellt haben: »Hello, I’m Upton Sinclair, and I have come here to write the ›Uncle Tom’s Cabin‹ of the Labour Movement«.56 Auch mit der Hilfe von Sinclairs Schriftstellerfreund Jack London bewarb der Appeal to Reason The Jungle als »The ›Uncle Tom’s Cabin‹ of the Wage Slavery,« das noch zahlreiche Ohren öffnen würde, die bisher für die Probleme der Arbeiterschaft taub gewesen seien.57 In einem der späteren Entwürfe für das Vorwort zu einer der zahlreichen Neuauflagen des Romans nimmt Sinclair selbst auf Harriet BecherStowe Bezug. Und in seiner Autobiographie American Outpost, zum Beispiel, formuliert er dezidiert die Absicht, diesem nachzueifern.58 Sinclairs berühmtes Zitat »I aimed at the public’s heart, but by accident hit it in the stomach« unterstreicht seine Absichten noch deutlicher. Den sensiblen Magen traf er vor allem mit den Passagen über die Fleischverarbeitung. Sein Kummer, nicht das Herz der Leser getroffen zu haben, ist, auf die Gesamtheit des Werkes bezogen, durchaus ernst zu nehmen. Denn sein großes Ziel, mit einer Kapitalismuskritik und weitreichender Propagierung sozialistischer Ideen die Verbesserung der Umweltbedingungen für die Schlachthofarbeiter der Union Stockyards in Chicago und anderswo zu erreichen, stießen im Wesentlichen nur bei Gleichgesinnten auf Gehör. Für die meisten anderen Leser wurde die sozialistische Utopie mit Sicherheit von den realistischen Beschreibungen sowie von den Ängsten über 56 Zitiert nach Subacius, Lithuanian Jungle. Ebenso: Montrie, A People’s History; und Frank Bösch, Gammelfleisch und Sozialismus. ›The Jungle‹ von Upton Sinclair (1905), in: Dirk van Laak (Hrsg.), Literatur, die Geschichte schreib. Göttingen 2011, 134–150. 57 Upton Sinclair, American Outpost. A Book of Reminiscences. New York 1932, 162. 58 Ebd.

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lagert, die durch die bildhafte Darstellung der Verarbeitungszustände und der chemischen Behandlung der Fleischprodukte mobilisiert wurden. Warnungen von Freunden, der blanke Horror in der Darstellung des Dschungels würde diesen töten, habe er aber überhören müssen, schrieb Sinclair später.59 Das Schicksal der Arbeiter und der Einwanderer in den Fabriken war der Lebenswelt des gemeinen amerikanischen Lesers fern. Die Angst um Volksgesundheit korrespondierte zudem mit einem Moral- und Hygienediskurs, der eine Schwächung der Volkskraft durch die Folgen der Moderne befürchtete.60 Zwar waren landesweit bereits zahlreiche Reformen zur Verbesserung der Volkshygiene angestoßen worden, sodass so manche Kritik an verschmutzen Um- und Lebenswelten quasi redundant war. Doch Sinclair löste mit seinem Roman eine viel breitere Debatte aus als beabsichtigt, womit auch sein Bekanntheitsgrad und die Bekanntheit des Romans relativ schnell wuchsen. Und trotz seiner Aussage »I am sorry to say, that good or bad, ›The Jungle‹ is the only book which I shall ever write on that subject«,61 steht sein Buch erst am Anfang einer Reihe von Werken, in denen er gegen soziale Ungerechtigkeit und die Unmenschlichkeit des Kapitalismus anschreibt. Begründet liegt sein Interesse am Thema der umweltbezogenen Arbeiterrechte in der eigenen Lebensgeschichte sowie in der intensiven Beschäftigung mit Gesundheitsfragen. Sowohl privat als auch journalistisch äußerte er sich zum Thema des ungleichen Zugangs zu sauberer Umwelt, deren gesundheits- und geistesfördernde Wirkung er immer wieder hervorhob. Seine eigene angeschlagene Gesundheit war dafür sicherlich von maßgeblicher Bedeutung. Viele seiner Briefe beginnt er damit, dass er wieder einmal aus gesundheitlichen Gründen das Bett hüten müsse.62 In seiner Kindheit und Jugend hatte Upton Sinclairs abwechselnd bittere Armut und überschwänglichen Reichtum erfahren. Seine Mutter stammte aus einer wohlhabenden Südstaatenfamilie, deren Leben nach der Liebesheirat mit einem Geschäftsmann nicht nur in ökonomischer Hinsicht wenig glücklich verlief. Sinclairs Vater verdiente wenig und trank zu viel; er verbrachte viel Zeit in Saloons, wo er das Geld der Familie durchbrachte, oft unter dem Vorwand, seine Kunden zu betreuen. Da Uptons Mutter den Jungen häufig schickte, um den Vater zu suchen, konnte er nicht nur am Beispiel der eigenen Familie sehen, wie erwachsene Menschen sich unter dem Eindruck von Armut und sozialer Unsicherheit veränderten, und wie die Verhältnisse sie in einen Zustand von noch weitreichenderer Abhängigkeit und Hilflosigkeit trieben.63 Abgesehen von der 59 Sinclair, What Life Means to Me. 60 Bösch, Gammelfleisch und Sozialismus. 61 1900–1908. Sinclair MSS , Series I, Correspondence, Box 36. 62 Ebd. z. B. Upton Sinclair an Harry Kemp am 16. April 1909. 63 Zum Einfluss von Sinclairs Mutter, dessen persönlichen Werdegang und Hinwendung zum Puritanismus infolge des Alkoholismus seines Vaters, z. B. Leon A. Harris, Upton Sinclair. American Rebel. New York 1975.

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ständigen Sorge um den eigenen Vater und die nächste Mahlzeit, »(t)hey had to move from one filthy home to the next, as they could not pay the rent«.64 Als die Familie in Sinclairs neuntem Lebensjahr nach New York zog, verschlimmerte sich die Situation weiter. Um den Querelen zwischen den Eltern und seinen »sordid surroundings« zu entkommen, flüchtete der Junge sich in die Welt der Bücher.65 In seiner Autobiographie schreibt er über das Erwachsenwerden, »[t]he experiences with my father, of course, made me prematurely serious. I began questioning the world, trying to make out how much evils became to be«.66 Der Heranwachsende kannte jedoch auch die Vorzüge einer Lebenswelt am anderen Ende des sozialen Spektrums. Seine Tante mütterlicherseits hatte in die Bland-Familie eingeheiratet, deren wachsender Wohlstand auch den Sinclairs nicht vorenthalten wurde. Oft lebten der Junge und seine Mutter bei den Verwandten, wenn der Vater seine Einkünfte wieder in Alkohol angelegt hatte, statt die Miete zu bezahlen. Der Kontrast zwischen dem Luxus der begüterten Anwesen in und um Baltimore und den schäbigen Pensionen, in denen er mit seinen Eltern unterkam, ließ den jungen Mann die Armut, der er alltäglich erlebte und beobachtete, nur umso intensiver und willkürlicher erleben. Sein Stolz rebellierte bald gegen die zu erbettelnden Zuwendungen familiärer Mildtätigkeit. Wie es Sinclairs Freund und Biograph Floyd Dell formuliert, »it seemed to a child’s sense of justice, that the family needs rightfully entitled them to a chance for life and happiness«.67 Und gerade diese als demütigend empfundene Abhängigkeit von fremder Unterstützung, ohne die Möglichkeit, selbst etwas an den eigenen Lebensumständen verändern zu können, erschien dem jungen Upton ungeheuerlich. Trotzdem unterhielt er immer ein enges Verhältnis zu seiner erweiterten Familie, deren Unterstützung er sicher sein konnte, ohne diese jedoch in Anspruch zu nehmen. Denn es war »the contrast between the social classes«,68 den er als Grund für die auseinanderklaffenden Lebenswelten identifizierte. Ein Eindruck, den er nicht nur aus den eigenen Erlebnissen, sondern in hohem Maße auch aus seiner Lektüre gewann. Bereits im Alter von fünf Jahren hatte sich Sinclair selbst das Lesen beigebracht und versteckte sich während seiner Besuche auf den Anwesen der Blands in deren Bibliothek, wo er den Charakteren »from both worlds, the rich and the poor, and the plots contrive to carry you from one to the other« folgte.69

64 Dale Carnegie, Little Known Facts About Well Known People. New York 1934, 3. 65 Upton Sinclair, The Autobiography of Upton Sinclair. New York 1962, 8. 66 Sinclair, American Outpost, 2. 67 Floyd Dell, Upton Sinclair: A Study in Social Protest. Kessinger Pub., 2005, 24. Dell entwirft in seiner von Sinclair selbst beauftragten Biographie ein einfühlsames, aber kritisches Bild seines Freundes. 68 Sinclair, Autobiography, 9. 69 Ebd., 8.

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Die Welt der Bücher war dem Jungen sicherer Rückzugsraum vor den miserablen Lebensumständen und erschien ihm, dessen erstes Lebensjahrzehnt von zahlreichen Krankheiten überschattet war, auch der geeignete Weg, an der Welt teilzuhaben. Abgesehen von den Klassengegensätzen, die Upton Sinclair erlebte und sich erlas, eröffnete der angenehme Luxus seiner erweiterten Familie noch ein weiteres prägendes Erfahrungsfeld. Während sein Vater auf Geschäftsreisen war, verbrachte er seine Ferien entweder auf dem Landsitz der Bland-Familie oder in Resorts in Virginia. Dort erlebte er neben sorgenfreien Wochen auch die wohltuende Ruhe und Reinheit der ländlichen Natur, in dem Bewusstsein, dass es sich dabei um ein Privileg handelte, das den meisten seiner Mitmenschen, gerade aus seiner unmittelbaren Nachbarschaft in der Großstadt, nicht zuteil wurde. Die Tramp-Episode von Jurgis Rudkus ist hier nur das erste Beispiel seiner literarischen Selbsttherapie. Viele Menschen besaßen nicht die notwendigen finanziellen Mittel, um sich den überfüllten und verschmutzten urbanen Siedlungen für eine Weile zu entziehen. Während seiner späten Teenagerjahre verbrachte er die Sommer vor allem im Norden der Vereinigten Staaten, wo er Half-Dime Novels verfasste. An eher isolierten Orten, wie am St. Lawrence River in Kanada, einfachen Waldhütten oder an einem See in den Adirondacks, an die es ihn immer wieder zog, machte er zudem prägende Erfahrungen mit der kulturell eigenen Wilderness. Die Ruhe und Abgeschiedenheit erlebte er als sehr produktiv zum Schreiben. Eine Praxis, die er für den Rest seines Lebens beibehielt.70 In seinem Essay »What Life Means to Me«, den er im Oktober 1906 als Beitrag zur gleichnamigen Kolumne des Cosmopolitan Magazine, verfasste, beschreibt er seinen persönlichen und intellektuellen Werdegang. Darin nimmt The Jungle, aber auch seine Liebe zum Sozialismus, einen wichtigen Stellenwert ein.71 Relativ zu Beginn des Essays führt Sinclair die inspirierende Wirkung einer unberührten Natur auf seinen kreativen Arbeitsprozess aus: »At the age of twenty, I received a conviction of inspiration, and went away onto the woods to write ›the great american novel.‹ (sic!) […] I was in a tent, and the second night the thermometer dropped to seventeen (Fahrenheit): in trying to get warm I set fire to my tent, and nearly ended my adventure then and there. A little later in the summer I was storm-bound for three days (I was on an island), and lived on fried crow. […] At the conclusion of the summer, having finished the novel and considering that I had secured myself a place in literature«.72

70 Ruth Clifford Engs, Unseen Upton Sinclair: Nine Unpublished Stories, Essays and Other Works. Jefferson, N. C. 2009. 71 Sinclair, What Life Means to Me. Ebenso Dell, Upton Sinclair, 79f und die meisten Biographien des Künstlers. 72 Sinclair, What Life Means to Me, 2.

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Die Wildniserfahrung, die Sinclair hier beschreibt, erinnert an die Verwirklichung eines alternativen Lebensstils im Sinne eines Thoreau-Walden-Erlebnisses, den er vielleicht sogar imitierte, um sich mit dem bedeutenden Schriftsteller gleichzusetzen. Die künstlerische, selbstverwirklichende Produktivität in der Natur gewann bei Sinclair in Gegenüberstellung zur unkreativen, abhängigen Lohnarbeit in der Stadt mit fortschreitendem Alter an Bedeutung und prägt seine Weltsicht nachhaltig. Bereits in seiner Jugend, als er mit Kurzgeschichten und Witzen den Lebensunterhalt der Familie sicherte, hatte er sich regelmäßige Bewegung an der frischen Luft angewöhnt. Er »frequently walked all the way around Central Park, in New York, ›thinking story‹«,73 auch dies eine Freiheit, die Lohnarbeiter in der Regel nicht genießen konnten. Sinclair wusste das nicht nur aus seiner Kindheit, sondern durch die direkte Teilnahme am Leben der Arbeiter während der Recherche für The Jungle. Grundsätzlich erfüllte ihn dieser Erfahrungsschatz mit Stolz, aus der er ein gewisses Selbstbewusstsein für seine Protestschriftstellerei zog. Er schreibt, »I […] had been down into the social pit, and had lived the life of the proletarian; […] I had tested upon my own person the effects of cold and hunger, of misery and disease and despair!«.74 Aber nicht nur die eigenen körperlichen und sensuellen Erfahrungen förderten Sinclairs Bewusstsein für die Bedeutung gesunder Lebensbedingungen. Sein 1902 geborener Sohn hatte ein schlechtes Immunsystem, was das junge Paar schwer belastete. Wegen mangelnder finanzieller Mittel hatte es eigentlich noch keine Kinder haben wollen. Besonders Meta litt unter den ärmlichen Lebensbedingungen, was ihre ebenfalls angeschlagene psychische und physische Gesundheit verschlechterte. Sie verfiel zunehmend in Depressionen und ihr Selbstmordversuch Ende 1903 veranlasste Sinclair schließlich dazu, im darauffolgenden Jahr ein Farmhaus in der Nähe von Princeton zu kaufen.75 Dort begann er an Weihnachten 1904 an The Jungle zu arbeiten – in einer derartigen Intensität, dass er sich selbst ein Magenleiden zuzog.76 Spätestens zu diesem Zeitpunkt begann er auch, sich überwiegend vegetarisch zu ernähren und mit seiner Familie eine Vielzahl von bisweilen abstrusen Diäten auszuprobieren, von 73 Ebd., 1. 74 Ebd., 4. 75 Engs, Unseen Upton Sinclair, 14. 76 Wie aus der Sammlung von Sinclairs Manuskripten in der Lilly Library ersichtlich, katalogisierte Upton Sinclairs zweite Frau sämtliche schriftliche Unterlagen (mit Abschriften); oft sind Briefe und Kopie kommentiert. Leider wurden fast alle Dokumente aus der Zeit vor 1908 beim Brand der Helicon Hall zerstört, weshalb man für diese Zeit vor allem auf biographische und autobiographische Quellen zurückgreifen muss; in den Beständen der Lilly Library sind die Überreste des Brandes in einem Folder zusammengefasst. Den Verlust seiner Dokumente schildert Sinclair in einem Brief an die Aktionäre der Home Colony Company am 22. März 1907. 1900–1908. Sinclair MSS . Hinweis auf eine enorme Sammlungs- und Ordnungstätigkeit gibt ein Brief des Independent vom 9. Juli 1907, bei dem Sinclair Abdrucke seiner bisher erschienenen Artikel anforderte. Ebd.

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denen er sich einen positiven Einfluss auf körperliche und geistige Gesundheit erhoffte.77 Selbst wenn er stets abstritt, dass seine Besuche in den Chicagoer Schlachthöfen mit ihren unhygienischen Zuständen bei der Fleischverarbeitung seine persönliche Diät beeinflussten, kann man davon auszugehen, dass seine Recherchen über die chemische Modifizierung industriell gefertigter Produkte ihn nicht unbeeindruckt ließen. Insbesondere, als er nach dem Vorbild seiner puritanischen Mutter auf eine gesunde Lebensführung Wert legte, die auch die Abstinenz von jeglichen Stimu­ lanzien einschloss. Trotz eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten erwies sich eine Ernährungsumstellung als einfaches Mittel, um sich aus der Abhängigkeit industrieller Produktionsketten zu befreien und einen wichtigen Teil der eigenen Körperlichkeit selbst zu bestimmen. Den Zusammenhang von besserer und gesünderer Lebensweise ohne industriell gefertigte (Fleisch)Produkte unterstreicht Sinclair in seinem Vorwort zur indischen Ausgabe von The Jungle. Zwar sei sein eigener Vegetarismus nicht das Resultat der Erlebnisse in den Stockyards, er habe sich vielmehr aus diätetischen Gründen dafür entschieden. Doch er schließt den Text mit dem schönen Aufruf: »Now I greet my fellow vegetarians on the other side of the world. We don’t need any slaughterhouses, any ›Jungles‹!«.78 Das Sendungsbewusstsein, das Sinclair zeitlebens verspürte, erstreckte sich anscheinend auch auf die Propagierung dieser alternativen Lebensführung. Sein Bekannter Dell Munger etwa, fühlte sich von Sinclairs Vorbild inspiriert und eiferte ihm in Sachen gesunder Ernährung nach, und das bereits, bevor der Autor angefangen hatte, das Thema journalistisch aufzuarbeiten. In einem Brief vom Mai 1909 dankt Munger seinem Freund für die positive Wendung, die sein Leben durch eine Rohkostdiät genommen habe, und die er als »the way to live« bezeichnete.79 Mit seinem Bestreben, so gesund wie möglich zu leben, stand der Autor jedoch nicht alleine, sondern ordnete sich konsequent in das seit 1880 wachsende, von Ruth Engs abgesteckte, Second Clean Living Movement ein, das seinen Höhepunkt um 1910 erreichte und bis etwa 1920 andauerte. Diese Bewegung umfasste sämtliche zeitgenössischen Reformbestrebungen, die als Antwort auf die großen gesellschaftlichen Herausforderungen der rapiden Urbanisierung, Einwanderung und Industrialisierung, in Gang kamen. Neben gesunder Lebensführung und Volksgesundheit ging es auch um städtische Hygiene und der radikale Prohibitionismus begann zu florieren.80 Sinclairs Enthüllungen über die industrielle Fleischverarbeitung wurden in diesem Kontext von einem entsprechenden Publikum mit besonderem Interesse zur Kenntnis genommen. Weitere Themen der Bewegung zur Volksgesundheit 77 1900–1908. Sinclair MSS ., und Briefe im Zuge der Scheidung von Meta referenzieren, welche Anstrengungen er unternommen hatte, um die Gesundheit seiner Familie zu verbessern. 78 Preface to the Indian Editon of The Jungle, Sinclair MSS . 79 Dell Munger an Upton Sicnlair am 20. Mai 1909, 1900–1908. Sinclair MSS . 80 Engs, Clean Living Movements.

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waren Körperkultur, Geburtenkontrolle, Diätetik, und das Konzept des Whole Man, die Sinclair, zusammen mit seiner Scheidung, in einigen Werken wie Goose Step oder Pilgrim’s Marriage literarisch verarbeitete.81 Eines der prominentesten Publikationsorgane der Gesundheitskreuzzügler war die in Chicago ansässige Magazin Physical Culture, herausgegeben von Bernard McFadden, in dem Sinclair zwischen 1909 und 1914 beinahe monatlich Artikel über gesunde Lebensführung veröffentlichte.82 In diesem Magazin standen der Gebrauch von Stimulanzien wie Tee und Kaffee, oder der Vorteil des Schlafens im Freien direkt neben Reportagen über Ghettokinder, die zur Verbesserung ihrer Gesundheit eine Sommerfrische auf dem Land verbringen durften. Artikel über Sommerfrischler, die in Nationalparks Hilfsarbeiten verrichteten und über Proteste gegen die zunehmende Abholzung in waldreichen Bundesstaaten wurden umrahmt von Werbung für ein Leben in den Vororten sowie Berichten über Industriearbeiter und die schlechten Umweltbedingungen, unter denen nicht nur ihre Moral, sondern vor allem ihre Gesundheit zu leiden hätte. Sinclairs ausgeprägtes Interesse an körperlicher Gesundheit und deren Wirkung auf das gesamte Leben machte sich in den ersten Jahren nach der Publikation von The Jungle besonders stark bemerkbar. Auch seine Überzeugung, dass Naturerfahrungen gesundheitsfördernde Wirkung entfalten, schlug sich in den Folgejahren publizistisch nieder. Die Titel der kurzen Essays zeigen die reiche Vielfalt an Gesundheitsthemen, die zudem seine persönlichen Erfahrungen retrospektiv nachvollziehen lassen. Dazu zählen etwa »A Physical Culture for Boys«, »The Raw Food Table«, »Living on Raw Foods«, oder »Returning to ­Nature«, aber auch »Perfect Health« in der Contemporary Review, »The Humours of Fasting«, oder »Fastening  – The Foe of Sickness« im Cosmopolitan Magazine.83 Diese oft humorvoll verfassten Beiträge heben sich von anderen Schriften der Health Reform deutlich ab, was den Umgang mit seinen Mitstreitern nicht unbedingt vereinfachte, die fanden, dass es Sinclair an Ernsthaftigkeit mangle.84 Regen Kontakt hielt Sinclair mit dem Herausgeber des Magazins Physical Culture, Bernard McFadden, der das Healthatorium, auf dem Gelände des ehemaligen Lakeside Club in Chicago betrieb. Er besuchte dies Kuretablissement ebenso regelmäßig wie ein weiteres Haus, das Battle Creek Sanatorium, das sein 81 Sinclair hat viele seiner Lebenserfahrungen in seinem Romanwerk verarbeitet bzw. dort mit eingebracht, fast so als handle es sich bei seinem Werk um therapeutisches Schreiben. Dabei misst er selbst dieser literarischen Verarbeitung einen enormen historischen Wert zu, als er seinen Freund Floyd Dell bat, seine Biographie zu verfassen. In einem Brief vom 5. Mai 1926, zum zwanzigjährigen Jubiläum von The Jungle, schreibt Sinclair »I have given you all the facts (…) they are scattered here and there – Brass Check, Profits of Religion, Goose Steps, my publishing articles.« Floyd Dell Papers. 82 John Ahouse, Upton Sinclair: A Descriptive Annotated Bibliography. Los Angeles 1994. 83 Physical Culture, Lilly Library GV201. P57, Cosmopolitan AP 2, C8. 84 Dazu auch Harris, Upton Sinclair, American Rebel, 118 f. Zur Rolle des Autors für die Gesundheitsreform siehe Duvall, Processes of Elimination.

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Freund John Harvey ganz in der Nähe in Michigan unterhielt.85 Im Battle Creek Sanatorium verbrachte auch Sinclairs erste Frau Meta Fuller viele Wochen zur Kur und um sich von Operationen zu erholen. Dort intensivierte sich auch die Bekanntschaft des Paars mit Dell Munger.86 Zusammen mit einem weiteren Gesundheitsjünger, Michael Williams, veröffentlichte Sinclair 1909 das Buch Good Health and How We Won It: With An Account of the New Hygiene, in dem die Autoren im Wesentlichen die Gesundheitsratschläge für ein langes Leben aus Battle Creek propagierten: täglich Joghurt und Bewegung, vegetarische Diät, keine Stimulanzien.87 Das hinderte ihn jedoch nicht daran, die gesellschaftlich weit verbreitete Beschäftigung mit Gesundheitskuren und alternativen Heilverfahren gelegentlich in satirischer Manier aufzugreifen, so etwa in einem Entwurf für ein Schauspiel mit dem Titel The Health Hunters: Farce Comedy in Four Acts.88

7.5 Sozialismus durch Natur und Literatur Es war immer Sinclairs Anliegen, sein gesamtes Geld »in the uplifting of mankind« zu investieren.89 Nach seiner Überzeugung war der Besitz eines Eigenheims verschwenderisch und extravagant. Der Gesundheit seiner Frau waren derartige Grundsätze jedoch weniger zuträglich, wie aus den Scheidungsakten hervorgeht. Um dennoch die Vorzüge eines großen Anwesens auf dem Land genießen zu können, versammelte er eine Gruppe Intellektueller, Sozialisten und Künstler in einem »co-operative home«, wie er es nannte. In Helicon Hall lebten Familien mit ähnlicher Lebenseinstellung und Grundprinzipien unterschiedlich eng zusammen, tauschten sich intellektuell aus, und übten sich in alternativer Lebensführung, was besonders Diätik, Körperkultur und Sexualität 85 Dass sich das Publikum dieser Sanatorien überwiegend aus denjenigen Kreisen zusammensetzte, die Sinclair (nicht nur in The Jungle) kritisierte, wirft ein etwas schräges Licht auf die Persönlichkeit des Autors und dessen sozialistischen Hintergrund, als er begann sich gesellschaftlich und finanziell zu etablieren. Diese Zwiespältigkeit soll auch einer der Mitarbeiter Macmillans (die The Jungle ablehnten) bei der Lektüre des Romans aufgefallen sein, der geschrieben haben soll, der Hass auf die Reichen sei viel stärker wahrzunehmen als das ehrliche Bedürfnis, den Armen zu helfen. 86 Engs, Unseen Upton Sinclair, 19. Dell Munger schrieb später selbst einen Roman mit dem Titel The Wind Before the Dawn (1912), der der American Rural Fiction zugeordnet wird. 87 Upton Sinclair und Michael Williams, Good Health and How We Won It: With an Account of the New Hygiene. 1909. 1912 erschien in der Sammlung Plays of Protest auch die gescheiterte Komödie The Nature Woman, um eine idealisierte Frau, mit gesunder, aktiver, vegetarischer Lebensführung und bewusster Sexualität; das exakte Gegenteil seiner eigenen Frau. 88 The Health Hunters: A Farce Comedy in Four Acts, Sinclair Manuscripts, Series III, Writings, Articles. Ruth Engs datiert das Manuskript auf 1910–1911. Engs, Unseen Upton Sinclair. 89 Sinclair MSS .

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betraf.90 Helicon Hall, die »home colony«, in deren Planung und Umsetzung die 30,000 Dollar aus den Einnahmen des Jungle flossen, ist als praktische Umsetzung einer alternativen Lebensführung zu sehen und war tatsächlich eine Art Kommune, vergleichbar mit den alternativen Lebensgemeinschaften, inspiriert von der Vegetarischen Gesellschaft in Deutschland. Wie bereits angedeutet, ermöglichte der familiäre Hintergrund der Sinclairs dem Heranwachsenden Zugang zu Büchern und weiterfürender Bildung. Für sich selbst betrachtete er dies als Grundlage seiner Reflexionsfähigkeit  – insbesondere in Bezug auf die eigene, als ungerecht empfundenen Lebenssituation und die dahinterstehenden gesellschaftlichen Zusammenhänge. Gleichzeitig eröffnete ihm der am eigenen Leib erfahrene Gegensatz zwischen Arm und Reich eine lebensnahe Reflexionsebene für umweltungerechte Zustände und muss für seine Offenheit gegenüber sozialistischen Ideen (mit)verantwortlich gemacht werden. Seine Hinwendung zum Sozialismus scheint sich schließlich Ende des Jahres 1902 vollzogen zu haben. Nach regem Austausch mit den Herren George Herron und Gaylord Wilshire – Freundschaften, die ihn über die nächsten Jahrzehnte begleiteten – und ihn zu einem angeregten Studium entsprechender Literatur inspirierten.91 Von da an gründete Sinclairs fiktionales und nicht-fiktionales Werk für die nächsten Jahrzehnte vornehmlich auf sozialistischen Ideen. Er wurde zu einem enthusiastischen Anhänger der Bewegung, die er als einzige Antwort auf soziale Ungerechtigkeit und kapitalistische Korruption ansah. Kurz vor der Fertigstellung von The Jungle beteiligte er sich an der Gründung der Intercollegiate Socialist Society; 1936 bewarb er sich unter dieser Flagge auch auf den Posten des Gouverneurs von Kalifornien.92 Zeitlebens schätzte Sinclair den Wert von Bildung und vor allem eigenständiger Lektüre als besonders hoch ein. Daher war es ihm ein Anliegen, seine eigenen Werke für jedermann erschwinglich zu halten. Es war ihm eine Herzensangelegenheit, seine und andere Romane, die mit zur sozialistischen Erziehung der Arbeiter, also der unteren sozialen Klassen beitragen sollten, für jederman zugänglich zu machen. The Jungle in Romanform ließ er daher kostengünstig und in großer Auflage verlegen, selbst wenn das seine eigenen Einnahmen drastisch verringerte. Zudem machte es das Werk für potenzielle Verleger weniger attraktiv, die angesichts der politischen Botschaft und der angestoßenen Kontroverse um die Missstände der fleischverarbeitenden Industrie ohnehin beunruhigt waren. Noch während der Fortsetzungsroman im Appeal to Reason erschien, wandte 90 Der Begriff der Kommune ist auch insofern gerechtfertigt, als es neben den Berichten über ein geteiltes Alltagsleben auch Hinweise darauf gibt, dass die Bewohner von Helicon Hall auch sexuell experimentierten. Das deuten open marriage oder trial marriage unter dem Begriff free love an. Thyrsis und Croydon, Folder V, 15; San Franzisco Examiner, Januar 1909, Sinclair MSS . 91 Ebd., 11. 92 Ebd.

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sich Sinclair an mehrere Verleger, die sein Manuskript jedoch allesamt ablehnten. Doubleday, Page and Company akzeptierten das Manuskript schließlich und veröffentlichten es im Februar 1906.93 Dass der Autor mit seinem Ansinnen ganz hinter der sozialistischen Bewegung stand, zeigt eine Anfrage aus Paris vom September 1908. Dort wollte man »the best socialist novel, which was ever written« in einer Auflage von 200.000 Stück für 15 Cent (75 Centimes) zusammen mit Maxim Gorkys Kurzgeschichten abdrucken.94 Obwohl dies bereits wesentlich günstiger war als die amerikanische Ausgabe, schien ihm dies offenbar zu teuer. Am 16. April 1909 erhielt er dann ein neues Angebot zu 10 Centimes (2 Cent) pro Exemplar.95 Dieser Brief ist nur ein Beispiel für die umfangreiche Korrespondenz rund um die weltweite Veröffentlichung und Verbreitung von The Jungle. Dabei ist allen Briefwechseln gemein, dass Sinclair sicherstellen wollte, den Verkaufspreis der einzelnen Exemplare so niedrig wie möglich zu halten. Seiner Ansicht nach (nicht zuletzt in Anlehnung an Immanuel Kant) erwarb man sich durch den Besitz eines Buches auch ein Stückchen Freiheit und Unabhängigkeit, was helfen konnte, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Diese Ansicht spiegelt sich, jedoch durchaus überheblich, auch in Sinclairs Essay im Cosmopolitan Magazine. Dort schreibt er, »[d]own in the bottom of the social pit were millions of human beings, rotting […] But these wretches were ignorant: they did not know what was the matter with them. They were voiceless, and could not have told even had they known. On the other hand those who had voices – they did not know!«.96

Da ihm aber wohl bewusst war, wie schwierig sich der Zugang zu medialen Ressourcen und damit einer Erweiterung des Horizontes für die meisten Arbeiter gestaltete, die oft nicht einmal alphabetisiert waren, engagierte er sich gleichzeitig als Förderer von Bibliotheken. Bildung betrachtete er als Schlüssel zu sozialem Wohlstand, auch wenn dies sicher im Sinne eines sozialistischen Wohlstandes zu verstehen ist. In Sinclairs Korrespondenz bezieht sich, nicht überraschend, der Großteil der Jungle-Referenzen darauf, welch positiven Einfluss der Roman auf die Sache und deren weltweite Verbreitung habe. Zudem engagierte sich der Autor in internationalen politischen Verbänden und unterhielt nicht nur rege Briefwechsel, er unternahm auch zahlreiche Überseereisen.97 In den Archivalien gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass die Rezipienten die von ihm propagierten Zusammenhänge zwischen Umwelt und sozialer Gerechtigkeit absolut verstan 93 1900–1908. Sinclair MSS . 94 Ebd., Jean Longuet an Simons am 1. September 1908. 95 1909, Jan–Aug. Sinclair MSS , Series I, Correspondence, Box 1, 1814–1916, Lilly Library. 96 Sinclair, What Life Means to Me, 4. 97 Ebd.; 1900–1908. Sinclair MSS .

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den hatten. Dell Munger etwa schreibt nach dem Besuch einer kalifornischen Schuhlederfabrik im Dezember 1908: »The scraping rooms and tables made one think of some of the descriptions in ›The Jungle‹ and the odors must be similar. We stayed a whole grim hour and left wondering how a human being could live in it ten hours a day and want to go on living. […] having struggled with the expense of living […] some dreadful Karma must have accumulated to the account of workers«.98

Es muss eine Wohltat für den Autor gewesen sein, dass diese für seinen Sozialismus so wichtige Botschaft gelegentlich auch explizit als solche verstanden wurde. Interessanterweise geht Munger in seiner Interpretation sogar noch einen Schritt weiter, indem er direkte Auswirkungen auf den Lebenswillen der Arbeiter vermutet. Seine Formulierung der unternehmerischen Verantwortung als Karma klingt etwas esoterisch, bringt die systemischen Zusammenhänge jedoch auf den Punkt. Die kurze Episode im Leben des Jurgis Rudkus als Landstreicher verdeutlicht, dass nach Sinclairs Ansicht nicht nur die erbärmlichen und ungerechten Lebens- und Arbeitsbedingungen die Arbeiter für den Sozialismus aufnahmefähig machen. Der Zugang zu einer gesunden und sauberen Umwelt erst ist es, der dem Protagonisten letztlich die Augen für Alternativen öffnet. Eine förderliche Lebensumwelt ist somit eine Grundvoraussetzung für Sozialismus. In einem Vergleich vom »black slave« und »wage slave« stellt Sinclair dann auch fest, dass der Lohnsklave trotz vieler Gemeinsamkeiten in den Lebensumständen wegen seiner Entfremdung von Natur und Mitmenschen noch stärker benachteiligt sei als der farbige Sklave, da er »knows nothing but a tenement room and a factory, and his master is a machine«.99 Die Form des Romans wählte Sinclair absichtlich für diese Ausführungen, mit denen er die Welt von der Notwendigkeit des Sozialismus überzeugen wollte. Dies deutet sich etwa in einem Brief an Karl Kautsky im Oktober 1905 an. Darin traut er der Literatur die Macht zu, die Welt von unten zu verändern.100 Folglich sei er, wie er schrieb, auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen gewesen, die er schließlich in einer Kombination von naturalistischen und realistischen Elementen fand. Die sozialistische Botschaft sollte nicht nur günstig erhältlich, sondern auch einfach lesbar sein. Daher bot sich ein literarisches Genre mit grundsätzlichem Unterhaltungswert zur Flucht aus den bedrückenden Welten des Alltags an. Zudem konnte der ernste Inhalt nach einem langen Tag harter Arbeit in Form eines Romans wesentlich leichter rezipiert werden, als über ein politisches Pamphlet. Da es ihm tatsächlich gelang, die zentralen Passagen von

98 Dell Munger an Upton Sinclair am 31. Dezember 1908, ebd. 99 Sinclair, What Life Means to Me. 100 Upton Sinclair an Karl Kautsky am 18. Oktober 1905, WHA .

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Karl Marx’ Kapital in Romanform zu übertragen,101 erklärt das die Bedeutung von The Jungle als eines der zentralen Werke sozialistischer Propaganda. Obwohl Sinclairs Roman von Millionen gelesen wurde, attackierten und schädigten ihn die Kräfte, die er zu bekämpfen suchte, nachhaltig. The Jungle rückte Sinclair sofort ins Rampenlicht der Kontroverse, wo er von nun an – Roosevelt hatte ihn so genannt – als Muckracker tituliert wurde, also als Schriftsteller, der sich daran erfreute, im Dreck zu wühlen. Viele der kritischen Reaktionen auf seine Werke kommentierte Sinclair gekränkt. Zumal er mit der Figur des Jurgis Rudkus einen Charakter hatte erschaffen wollen, der den Sozialismus für die bürgerliche Mittelschicht weniger bedrohlich erscheinen ließ.102 Der Autor verstand sich als Aktivist und Reformer und war getrieben von der Absicht, Armut und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Dabei nutzte er seine literarischen Werke als wirkvolles Mittel zur Propaganda.103 Obwohl The Jungle unmittelbar nach seiner Veröffentlichung zunächst eine Debatte um Ernährungsgesundheit und Konsumentenrechte anstieß, ist der Roman gleichermaßen als sozialistischer Protest-Roman zur Durchsetzung umweltgerechter Arbeits- und Lebensbedingungen für industrielle Lohnarbeiter bekannt.104 Sinclairs Sensibilisierung für das Thema wollte er ganz in Kant’scher Manier weitergeben um einen Beitrag zur Aufklärung der (Arbeiter-)Gesellschaft zu leisten. Bildung für Lohnarbeiter und andere weite Teile der Bevölkerung schien ihm als Königsweg aus menschenunwürdigen Lebensbedingungen, da ansonsten eine aktive politische Teilnahme nicht möglich ist. Naturwissenschaftliche Fakten spielten für seine geistige Entwicklung zu einem Verfechter umweltgerechter Lebenswelten nur insofern eine Rolle, als sie zur Allgemeinbildung zählten; eine tiefergehende Beschäftigung damit lässt sich nicht nachweisen. Allerdings hatten moderne hygienische und medizinische Erkenntnisse auf Grund der desolaten Familiengesundheit großen Einfluss auf sein Privatleben. Aus seinen verschiedenen publizistischen Darstellungen wird deutlich, dass er die Frage nach einer gerechten Verteilung von Umweltrisiken und sauberen Umweltmedien der sozialen Frage als inhärent erachtete und damit als Aufgabe des Sozialismus.

101 Hitchens, Capitalist Primer. 102 M. J. Morris, The Two Lives of Jurgis Rudkus, in: American Literary Realism 29/2, 1997, 50–67, 52. 103 Scott, Upton Sinclair, The Forgotten Socialist, 59. 104 Zudem erschien TJ zeitnah zu anderen sozialistischen Protestwerken, wie etwa Jack Londons White Fang, 1906. Dazu Walter M. Brasch, Forerunners of Revolution: Muckrakers and the American Social Conscience. Lanham 1990, 110 ff.

8. Epilog – Umweltroman als Möglichkeitsraum

So sehr sich ­Dickens, Raabe und Sinclair in vielerlei Hinsicht unterscheiden, so teilten alle drei doch eine sehr wichtige Überzeugung: Der Roman sei das ideale Medium, um soziale Missstände und deren Umweltursachen aufzuzeigen sowie darüber hinaus Anregungen zur Veränderung von Lebenswelten zu kommunizieren. Einerseits dokumentieren die Autoren in ihren Werken eine Wirklichkeit, die sich ihnen als feindlich darstellte, in ihrer fiktionalen Form dem gewillten Individuum jedoch die Möglichkeit bot, diese zum Besseren zu verändern. Indem sie Handlungen als notwendig aufzeigten, kreierten diese Romane gleichzeitig einen Möglichkeitsraum alternativer Visionen. Da der Roman im 19. Jahrhundert das bevorzugte Medium des Bürgertums war, dem Träger wirksamer Verbesserungsinitiativen, können die ausgewählten Werke als Kommunikationsmedium in der Aushandlung von Umweltgerechtigkeit verstanden werden. In ihrer jeweils besonderen Form stellen sie sogar eine Art frühen Umweltprotests dar, der auf dem Verständnis der Autoren für die Wechselbeziehungen von Umweltrisiken und sozialen Missständen basierte. Dies wiederum setzte durchaus ein grundsätzliches Verständnis für umweltund sozial-ökologische Zusammenhänge voraus. Gleich einer Stadtethnographie zeigen die untersuchten Romane von Charles ­Dickens und Upton Sinclair auf, welche umweltsozialen Folgen sich aus rapidem industriellen und urbanen Wachstum für die Lebensumwelt der Lohnarbeiter und Besitzlosen entwickelten. Wilhelm Raabes Darstellung hingegen nimmt mit der ländlich-bürgerlichen Mittelschicht eine weitere Gruppe gesellschaftlicher Akteure in den Blick, die sich von umweltungerechten Zuständen beim industriellen Umbau ländlicher Gegenden betroffen sah. Auf Grund ihres ökonomisch privilegierten Status konnten sie sich räumlich jedoch entziehen. Daraus wird ersichtlich, dass Umweltgerechtigkeit sich nicht nur grundsätzlich in Klassenunterschieden manifestierte, sondern sich auch räumlich auf bestimmte Schauplätze, die industriellem Wandel folgten, konzentrierte. So wie sie sich auch heute definiert. Im Kontext der sozialen Frage wollten die Autoren einen Beitrag zur positiven Veränderung leisten. Dazu lenkten sie erstens durch die Übertragung traditioneller, gängiger Naturbilder auf urbane und industrielle Kontexte die Aufmerksamkeit darauf, wie sich Lebenswelten durch Industrialisierung und Urbanisierung wandelten. Und sie zeigten damit außerdem, wie diese Transformation darüber hinaus neue Lebenswelten im Gegensatz zu einer idealisierten, unberührten Natur hervorbrachten. Die Autoren gingen jedoch noch einen Schritt weiter, indem sie die Bedeutung der Naturbilder dekonstruierten und diese so

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Epilog – Umweltroman als Möglichkeitsraum

veränderten Lebenswelten für die Weltsicht der Figuren, respektive deren Verständnis von ihrer Umwelt, adaptierten. Damit machen sie zweitens deutlich, dass industriell induzierte Veränderungen in Landschaft und Gesellschaft als unwiderruflich zu begreifen waren und die Menschen sich der fortentwickelnden industrialisierten Welt anpassen mussten, anstatt sich hinter nostalgischem Lamento zu verbergen. Da diese Adaption notwendigerweise mit einer Akzeptanz von Umweltrisiken in der eigenen Lebensumwelt verbunden war, entstand daraus für die Autoren eine gewisse Hilflosigkeit des Individuums. Dies sah sich nicht von den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, sondern vor allem den steigenden Umweltrisiken überfordert. Den gesundheitsschädlichen Auswirkungen waren gerade die unteren sozialen Schichten, aber auch jedermann, der in einer sich industriell entwickelnden Gegend lebte, ausgesetzt. Auf Grund vorherrschender Machtund Autoritätsstrukturen, die einerseits wirtschaftliche Abhängigkeit vom kapitalistischen System mit sich brachten und andererseits politischen Freiraum verhinderten, blieb als offensichtlicher Ausweg nur die Resignation. Die untersuchten Romane präsentieren jedoch alternative Möglichkeitsräume, Wahlmöglichkeiten für die beteiligten gesellschaftlichen Akteure, um deren sichtbare Hilflosigkeit und Abhängigkeit nicht zu einem lähmenden Zustand werden zu lassen. Weder für die Individuen selbst, noch in Konsequenz für die Gesellschaft im Ganzen. Am Beispiel ihrer Protagonisten und Figuren entwerfen die Autoren Strategien, um sich gegen vorherrschende und weiter sich manifestierende ökologische Missstände zur Wehr zu setzen oder sich ihnen zumindest zu entziehen. Dafür setzen die Literaten Bildung sowie eine grundsätzliche Veränderungsbereitschaft voraus, um sich nicht mit der eigenen Hilflosigkeit abzufinden. Wie aus dem jeweiligen korrespondierenden historischen Gefüge der untersuchten Romane zu entnehmen ist, waren diese Alternativen für die Autoren selbst erfolgreich, um sich aus ungerechten und gesundheitsschädlichen Lebensumwelten zu befreien. Weiterhin belegt dieser Kontext ebenfalls, dass genau derartige Strategien tatsächlich erfolgreich waren, um umweltinduzierte soziale Missstände zu beheben. In ihrem jeweiligen kulturellen Gefüge zeichnen sich die Romane damit als ein Medium des Protestes für Umweltgerechtigkeit aus. Bildung, wie sie von den Verfassern der Romane gefordert wird, umfasst dabei nicht nur formale oder Schulbildung sowie die Kenntnis von praktischen Fertigkeiten und Kultur, sondern auch ein Verständnis für Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt. Für dieses Verständnis spielt die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts (analog zur Psychologisierung des 20. Jahrhunderts) bzw. die zunehmende Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse für gesellschaftliche und politische Entscheidungen eine wichtige Rolle. Die neuen Erkenntnisse – etwa das Wissen um die Entstehung und Verbreitung von Krankheiten – schufen erstmals eine nachweisbare Basis, um umweltsoziale Missstände anzuklagen. Auf ihnen basierte letztlich der Erfolg des

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Protestes. Sie gaben Betroffenen und deren Schriftstelleradvokaten wirksame Fakten an die Hand, um ihre Anschuldigungen gegenüber den entsprechenden Autoritäten zu untermauern, weshalb diese letztendlich politische Handlungen einleiten mussten. Wie am Londoner Beispiel ersichtlich, erkannte und verstand man im viktorianischen England zwar die Wechselwirkungen zwischen sozialem Status und Umweltgesundheit aus den Bemühungen der Hygiene- und Sanitätsreformen. Die wissenschaftlichen Grundlagen etwa aus bakteriologischen Erkenntnissen hatten sich (gedanklich) allerdings noch nicht etabliert. Daher hatten Reformer es oft schwer, ihre Forderungen tatsächlich durchzusetzen. Im Kontext von ­Pfisters Mühle wird die Aussage- und Wirkkraft naturwissenschaftlicher Erkenntnisse für die Beweisführung in einem Gerichtsprozess deutlich, der als Teil einer öffentlichen Diskussion über Umweltgerechtigkeit gelten kann. Erst die biochemische Analysetechnik konnte den Nachweis einer Verschmutzung erbringen, als diese faktisch greifbar wurde und zusammen mit den entsprechenden Fragestellungen zu einem rechtsgültigen Argument. Für Upton Sinclairs Roman zeigte sich Bildung wiederum im Verständnis für den Zusammenhang zwischen öffentlicher Gesundheit und den eigenen politischen Rechten. So konnte das Wissen um ökologische Fakten Sozialreformern schlagkräftige Argumente liefern. Gleichzeitig war die Forderung nach individuellen Rechten eine Voraussetzung für die aktive Selbstbeteiligung der Betroffenen und damit die aktive Partizipation an der Aushandlung von Umweltgerechtigkeit. Im Diskurs um die Gestaltung politischer Freiräume profitierte zunächst die bürgerliche Mittelschicht; die privaten Träger von Initiativen und Vereinen, wie etwa Mary McDowell oder die Müller von Bienrode und Wenden, bekamen weitere Handlungsspielräume. Damit stieg gleichzeitig die Einsicht über den Wert des Individuums. Unter der Führung bürgerlicher Reformer entstanden Selbsthilfegruppen, zum Beispiel die Chicagoer Cleaner Clubs oder die Metropolitan Sanitary Association. Diese fungierten auch als öffentliches Sprachrohr. Damit erhielten diejenigen Mitbürger eine Stimme und einen Ausweg aus der eigenen Hilflosigkeit und Abhängigkeit, denen weder politische Mitsprache noch sonstige Rechte zugesprochen wurden und denen die ökonomischen oder intellektuellen Voraussetzungen anderweitig fehlten. In diesem Zusammenhang sind die untersuchten Romane – auch, und gerade, von den Autoren selbst – als Bildungsmedien in der sozialen Umweltfrage zu verstehen. Zunächst sollten mit den Werken alle sozialen und gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen angesprochen werden. Ganz besonders die Arbeiterklasse und die armen Leute sollten angeregt werden, sich weiterzubilden, selbst wenn dies auf den ersten Blick kaum möglich erschien. Lebensnahe Beispiele dafür sind etwa die Figur der Lizzy Gaffer, die es schafft, aus eigenem Antrieb sozial aufzusteigen oder aber Jurgis Rudkus, der anfängt, sich politisch zu bilden und so auch in der sozialen Unterschicht ein erfülltes Leben führen kann.

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Den wichtigsten intendierten Leserkreis stellte jedoch das Bildungsbürgertum dar, das auf Grund seiner oft privilegierteren Lebensumstände genug Muße hatte, die Werke nicht nur als bloße Unterhaltungsliteratur zu rezipieren, sondern auch über deren Aussagen und vorgeschlagenen Strategien nachzudenken. Vor allem ihm musste mittels plastischer Beschreibungen die Drastik der Lebensumwelt der Arbeiter und Besitzlosen vor Augen geführt werden, da sie sich deren eigener Lebenswelt grundsätzlich entzog. Schließlich erhielt die bürgerliche Mittelschicht mit den ihnen gewährten politischen Rechten eine Möglichkeit, christliche Nächstenliebe und Fürsorgeverantwortung auch in politisches Handeln umzusetzen. Die Abbildung der Lebenswelten in den Romanen sollte die Bürgerlichen dazu anregen, ihre gesellschaftliche Verantwortung tatsächlich wahrzunehmen und sich für eine Verbesserung der Umwelt, auch die der weniger privilegierten Mitmenschen, einzusetzen, sei es durch die Schaffung von Bildungsangeboten oder der Unterstützung von sozial Benachteiligten in ihrer Ausbildung, so wie es sowohl The Jungle als auch Our Mutual Friend aufzeigen. In Pfisters Mühle wird allerdings noch eine weitere Handlungsmöglichkeit aufgezeigt: Mitglieder des Bürgertums konnten ihre wirtschaftlichen und politischen Freiräume nutzen, um auf rechtlichem Wege eine Veränderung der Zustände für größere Gruppen herbeizuführen. Analog zur fortschreitenden industriellen Umweltverschmutzung sahen die Autoren es als notwendig an, zu veränderten literarischen Ausdrucksformen zu greifen, um das wahrgenommene Elend abzubilden und umfassende Reformen zu propagieren. So macht die Chronologie der Veröffentlichung zudem die Entwicklung des Umweltromans als Gattung sichtbar. Charles D ­ ickens’ Symbolik und Metaphern erwarten in diesem Zusammenhang noch mehr Eigenleistung des Lesers für die Interpretation des vorgelegten Gesellschaftsporträts. Dabei appelliert er nicht zuletzt an die Moral seines Publikums, Umweltveränderungen herbeizuführen. Mit zunehmender ländlicher Umweltverschmutzung sieht Wilhelm Raabe bereits die Notwendigkeit, auch die rechtliche Seite von Umweltfragen in den Blick zu nehmen, sodass er in Pfisters Mühle auf den unzureichenden gesetzlichen Schutz vor Umweltrisiken aufmerksam macht. Sinclair hingegen war davon überzeugt, umfassende soziale und politische Reformen anstoßen zu müssen. Anders als D ­ ickens und Raabe, die ein eher bildungsbürgerliches Publikum ansprachen, hatte er noch expliziter die Absicht, die Arbeiterschaft als Betroffene der von ihm dargestellten Missstände selbst zu erreichen. Daher erhält sein Werk als Bildungsmedium einen größeren Stellenwert, ohne dabei jedoch auf den grundlegenden Unterhaltungswert des Romans zu verzichten. Die Bildungsfunktion konnte der Roman beim Erscheinen allerdings nur erfüllen, da nicht nur Gesundheits- und Hygienereformen, sondern bereits weitreichende Bildungsreformen angestoßen worden waren, um das soziale Elend der Arbeiter­k lasse zu lindern. Im kulturellen Gefüge der Gesundheits-, Hygiene- und Bildungsreformen des langen 19. Jahrhunderts leisteten Umwelt-

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romane einen wertvollen Beitrag dazu, gesellschaftliches Bewusstsein von Umweltgerechtigkeit im historischen Kontext zu erzeugen und damit eine Grundlage für die Ausbildung eines Umweltbewusstseins im heutigen Sinne zu legen. Zur Zeit des globalen technischen und wissenschaftlichen Aufstiegs Europas und der Vereinigten Staaten waren zerstörte Ökosysteme oder die Transformation von Landschaften zunächst weniger vordringlich als die soziale Frage. Dennoch bildete die Umweltproblematik  – auch ohne direkte Explizierung  – durch deren enge Verwobenheit als Umweltgerechtigkeit einen wichtigen Teil derselben. Umweltfrage und soziale Frage erscheinen im historischen Zusammenhang noch als ganzheitliche Problematik, die gerade unter diesem Aspekt (ganzheitlich) als Lernbeispiel für die heutige Gesellschaft dienen kann. Trotz sich verändernder Umweltbilder, wenn auch vornehmlich in elitären Gruppen, bestimmt ein anthropozentrischer Blick nach wie vor die heutige Umweltsicht. Insbesondere der globale Süden hat heute mit beinahe denselben Umwelt- und Umweltgerechtigkeitsproblemen zu kämpfen wie Europa und die Vereinigten Staaten vor 150 Jahren, durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt jedoch in noch größerer Intensität und Toxizität. Im Vorwort zur indischen Ausgabe von The Jungle bringt Upton Sinclair dieses Dilemma bereits in den 1950er Jahren auf den Punkt: »So ›The Jungle‹ is to be read as a history of an evil and gladly forgotten past. The people of India are entering upon the same process of industrialization that the Western peoples have passed through; but there is no need to repeat the evils of the past, and I am assured that under an enlightened and liberal government this will not happen. Take this book as a warning of what not to do«.1

Die europäische Geschichte des langen 19. Jahrhunderts dient als Möglichkeit der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung, indem die Gesellschaft durch ihre Spuren der Vergangenheit betrachtet wird.2 In diesem Zusammenhang gewin­ nen auch neue ökologisch orientierte Lesarten alter Texte an Relevanz, besonders unter dem Fokus von Umweltgerechtigkeit als Großthema der Environmental Humanities. Anhand der hier ausgewählten textuellen Zeugnisse wird ersichtlich, dass im Zuge der Industrialisierung an verschiedenen Schauplätzen dieselben umweltbezogenen Gerechtigkeitsprobleme auftreten und zu jedem Zeitpunkt die jeweilige Gesellschaft versuchte, adäquate Strategien, Lösungen oder Präventionen zu entwickeln. Obwohl die stellenweise durchaus vorhandene Faktizität fiktionaler Werke nicht immer nachweisbar ist, zeigt deren Verortung in ihrem individuellen kulturellen Gefüge dennoch ihre gegenseitige Resonanz. Dies sollte vor dem Hintergrund der heutigen globalen Umweltkrise als Anregung dienen, den Einfluss der künstlerischen Verarbeitung stärker zu nutzen.

1 Preface to the Indian Edition, Sinclair MSS . 2 Winiwarter, Schmid, Umweltgeschichte als Untersuchung, 162.

Danksagung

an

… meine Familie, die sich gedanklich in Ausarbeitung und Korrektur einbrachte, und auf deren Unterstützung ich, auch in schwierigen Momenten, immer rechnen konnte. Mutter und Vater, Elisabeth, Thaddäus und Klaus, Michael und Julia. … die intellektuelle Familie und Freiheit des Rachel Carson Centers for Environ­ment and Society an der LMU, deren Freude an Wissenschaft und Umwelt und vielfältige Inspiration dieses Buches ermöglicht haben. Besonders ­Franziska Torma, Gijs Mom, Cheryl Lousely, Diana Mincyte, Martin Knoll, Alexa von Mossner, Lisa Sideris, Fiona Cameron, Rob Gioielli, Gordon Winder, Jens ­Kersten, Christof Mauch, Uwe Lübken und Helmuth Trischler. … die guten Geister aus den Archiven in Europa und den USA , die mir so manchen Schatz zu Tage gefördert haben. Ganz besonders David Frasier von der Lilly Library in Bloomington, Indiana und Mark Opalka und Henning Steinführer vom Stadtarchiv in Braunschweig. … die Freunde auf der ganzen Welt, die mich auf dem langen Weg begleitet haben und mich (und das Manuskript in all seinen Puppenstadien) nicht nur geistig nährten. Besonders Marco Armiero, Richard Hardiman, Martin Schmid, Ruth Engs, Axel Goodbody, Mignon Drenckberg Sidrius Gubacius, Michael Egan, Merav Cohen, Bao Wei, Joseph Ridsdale, Maria Dietzel, Chen Hao, Ed Russel, Zhang Linhu, Stuart McDonald, David Pickus, Jane Carruthers. … die arbeitsökonomische Freiheit an der RUC Beijing, die es mir erlaubte, ein aus chinesischer Sicht so unwirtschaftliches Vorhaben wie das, eine Dissertation zu einer Monographie umzuarbeiten, dennoch zu realisieren. Yang Wenjun, Hou Shen, Xia Mingfang, Donald Worster, Huang Xingtao, James Williams. … die Praktiker in Lektorat und Verlag, die strichen, diskutierten und polierten bis das Buch in dieser Form veröffentlicht werden konnte. Ulrike Staudinger und Vandenhoeck & Ruprecht mit Daniel Sander.

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Register

A Abfall  35, 43, 51, 53, 73 Abfallbeseitigung  35, 47, 53, 137 Abwasserbiologie  97, 116, 118 Abwassersystem  55, 57, 137, 144 Addams, Jane  23, 138, 140, 142 Agrargesellschaft 79 Akten  97–99, 117 Akteur  9, 18, 33, 75, 89, 165 f. Aktivismus  63, 137, 146 Alltag  119, 162 Appeal to Reason  12, 19, 125, 138 f., 145, 152, 160 Arbeiter  7, 9, 11, 15, 22, 50, 53, 88, 123 f., 127–129, 131 f., 134 f., 138, 140, 143–151, 153, 156, 160–162, 168 Arbeiterklasse  7, 48, 127, 167 f. Arbeitsbedingung  9, 53, 123, 129, 132, 135 f., 138, 140, 145 f., 149, 162 Arbeitsplatz  22, 88, 129, 131, 145, 150 Archivalien 10,161 Armenhaus  60, 66 Armenviertel 47 f. Armut  31, 39, 59, 66, 153 f., 163 Asche  7, 73, 77, 81–84, 86–89, 91, 94 f. Ästhetik  37, 82, 85, 88, 90, 121, 137 Autor  9 f., 15, 17–19, 32 f., 36, 47–49, 65, 67 f., 71–75, 78–80, 83, 85, 88, 91, 93 f., 97, 112–115, 118 f., 123–125, 128, 130, 132 f., 135, 138–140, 146 f., 150, 157–159, 161–163, 165–168 B Bach  79, 83 f., 89, 92 f., 133, 141 Back of the Yards  128, 134, 139 f., 142 f., 150–152 Bakterien  70, 134, 137 Balgazette, Joseph  56–58, 73 Balzac, Honore de   67 Bauernopfer   124, 137 Beckurts, Heinrich  98 f., 101, 103 f., 106, 110, 113–118 Beeinträchtigung  41, 57, 77, 83, 92, 98, 100, 102, 105–107, 121

Belastung  13, 21, 37, 86, 105 f., 129 Bevölkerungswachstum  9, 13, 31, 48, 137 Bewusstsein  8 f., 14, 16, 20, 25, 27 f., 31 f., 64, 74, 111 f., 116, 120 f., 141, 144, 148, 151, 155 f., 169 Bildung  39–41, 94, 110, 112, 114, 116, 160 f., 163, 166 f. Braunschweig  11, 97–99, 107, 110, 112 f., 117, 144 Bürgertum  19, 82, 86 f., 94, 165, 168 C Chadwick, Edwin  47, 50, 53, 68, 71, 137 Chicago  9, 11 f., 15, 23, 32, 48, 71, 123, 125, 132 f., 137–146, 148, 150–152, 158 Cholera 70 City Beautiful Movement  137 D Darwin, Charles  42, 71 f., 75, 113 Debatte  21 f., 24, 55, 58, 70, 85, 102, 111, 118, 145, 153, 163 Debris  35, 38–42, 46, 66, 72, 75 Deutsches Kaiserreich  11, 77, 97 f. Diskurs  24, 58, 72, 145, 151, 167 Dreck  46, 49, 52, 69, 163 Dschungel  9, 11, 123, 125–128, 130, 133, 135, 153 Dust-Heap  35 f., 45, 53, 56, 71–73 E Ecocriticism  26–28, 30, 73 England  7, 17, 31, 37, 59, 71, 167 Entfremdung  93, 96, 111 f., 131, 162 Environmental Humanities  12, 26, 169 Environmental Inequalities  20, 22 Environmentalism  21, 23 f., 30, 138, 143 Environmental Justice  14 f., 21–24, 28, 30, 143 Environmental Racism  15, 23, 126 Erbe  35, 41, 63 Erholung  47, 93, 133 Erlösung  41, 44, 73, 82 Ernährung  62, 157

190 Erzählung  27, 78 f., 82 f., 93, 97, 113–115, 118 f. Erzählverfahren  30, 123 Essay  19, 36, 39 f., 48, 65, 72, 74, 155, 158, 161 Europa  9, 12, 15, 21, 24, 67, 142, 169 Existenz  9, 11, 29, 38 f., 42, 55, 61, 66 f., 83, 104, 121, 127, 133, 137 F Fabrik  61, 79, 83, 89, 98 f., 101, 106 Familie  11, 36, 39 f., 42, 64, 77, 81, 84, 109 f., 118, 123 f., 128, 135, 153–157 Figur  44, 61, 66, 87, 93, 112, 115, 120, 163, 167 Fiktionalität  10, 29, 73, 91, 93, 150 Fleischskandal 150 Fleischverarbeitung  149, 152, 157 Fließgeschwindigkeit  55, 57, 102 Fluss  37–40, 42–44, 57, 64, 69, 72, 74 f., 99, 141 Fontane, Theodor  78 f., 114 Fortschritt  80, 82, 87 f., 91, 95–97, 104, 108 f., 112, 122, 144, 151 f., 169 Fortsetzungsroman 160 Frankreich  21, 68, 75, 78 Fürsorge 60–62 G Geld  36, 125, 132 f., 153, 159 Gemeinwohl 62 Generation  82, 84, 135, 141 Geographie 65 Gerechtigkeit  14, 21, 25, 30, 59, 63 f., 77, 92, 95–97, 118, 132 f., 136, 139, 161 Gericht  78, 100, 102, 104–108, 122 Germinal  7, 19, 114, 127 Geruch  84, 87, 92, 99, 103, 119 Gesellschaft  16 f., 27, 31, 35 f., 38–43, 45 f., 61–64, 67, 69, 72, 80 f., 86, 88 f., 91, 93, 114, 118, 120, 122, 126, 138, 144, 149, 160, 163, 166, 169 Gesellschaftskritiker  8, 85, 109 Gesellschaftsporträt  26, 35, 168 Gesellschaftsschicht  38 f. Gesetz  12, 19, 52 f., 55, 60, 72, 150 Gesundheit  13 f., 23, 25, 48, 54, 63, 65, 84, 110, 121, 129 f., 148 f., 151, 153, 156–159, 167 Gesundheitsgefahr  99 f., 103 Gesundheitsrisiko  22, 86 f., 142

Register Gewässer  44, 48, 57 f., 99, 102–104, 137 Gewässerverschmutzung  7, 77, 87 f., 92, 97 f., 104, 106 f., 112 f., 115, 118, 120–122 Gleichgewicht  37, 46, 93, 118, 138 Großstadt  15, 51, 112, 133, 155 Gutachten  78, 86, 89, 98–102, 104 f., 108, 110 H Health Reform  134, 158 Heimat  84, 110, 112, 128 Hoffnungslosigkeit 132 Hull House  138, 140 Hygiene  25, 69, 116 f., 157, 159 Hygienebewegung 25 I Identität  35–37, 42, 44, 133 Immissionsklage 98 Individuum  8, 19, 39, 165–167 Industrialisierung  7, 9, 15, 20, 23, 31 f., 49, 59, 69, 78, 80 f., 86 f., 90, 92, 96, 98, 109– 111, 118, 120, 126, 132, 157, 165, 169 Industriegesellschaft  8, 11 Infrastruktur  35, 47, 49, 52, 87, 137 Ingenieur  25, 56 f., 102 Initiative  11, 52, 63, 138, 140–142, 152, 167 Interpretation  30, 36 f., 42, 45, 77, 109, 162, 168 Ironie  89 f., 93 J Journalismus 65 K Kapital  36, 39, 84, 125, 163 Kapitalismus  95, 123, 125, 134, 149, 153 Kommunikation  10, 33 Konfliktraum 89 Körper  39, 43 f., 69, 130 f. Korrespondenz  11, 63, 147, 161 Krankheit  47, 70, 131 Kreislauf 37 Krise  26 f., 90 f., 93, 115 Kritiker  64, 67 f., 74, 151 Kulturlandschaft 87 L Landnutzung 23 Landschaft  73, 89 f., 94, 121, 128, 166 Landschaftsbild 90

Register

191

Leben  18, 37, 44 f., 47, 50, 52, 60 f., 65–67, 72, 74, 79, 84 f., 112–114, 119, 123 f., 133, 139, 141, 153, 155–159, 162, 165, 167 Lebensader  37 f., 48, 74 Lebensgrundlage 104 Lebenswelt  8 f., 13, 17, 19, 31 f., 37 f., 62, 81, 150–154, 163, 165 f., 168 Leistung  26, 67, 102 f., 151 Lektüre  71, 124, 154, 159 f. Lesart  30, 111, 169 Leser  8, 10, 69, 91 f., 111–113, 119 f., 123, 125, 129–131, 135, 152 Leserschaft  49, 64, 78, 93, 119 Literatur  10, 13, 16–18, 20, 26–30, 63, 79, 88, 109, 111 f., 152, 159 f., 162 Literaturwissenschaft  17, 26–28, 132 London  11, 14, 16, 19 f., 23, 26, 31 f., 35–38, 42, 45, 47–53, 55–63, 65–70, 74–76, 85, 137, 144, 152, 163 Lösungsstrategie 32

Müll  37–41, 45–49, 51, 53, 69 f., 72 f., 127, 141 Müllabfuhr  38, 52 Municipal Housekeeping  138, 140 f., 143

M Macht  19, 28, 39, 72, 75, 84, 86 f., 89, 92, 124 f., 128, 140, 143, 145, 162, 168 Manuskript  118 f., 159, 161 Massenproduktion 32 Mayhew, Henry  50, 53, 65, 73, 143 McDowell, Mary  139–142, 151, 167 Meat Packer  138, 140 Medium  16, 18 f., 33, 118, 165 f. Menschenopfer  86, 144 Metabolismus  35, 37, 44, 48 Metapher  15, 36, 43, 79, 168 Metropole  11, 15, 36 f., 42, 46, 48 f., 53, 69, 74–76, 126 Miasma  51, 54, 57 Milieu  7, 66 Minderheit  21, 28, 126 Missstände  52, 54, 56, 62, 67, 75, 96, 116, 118, 121, 129, 131, 134–137, 140–142, 145, 149–151, 160, 165 f., 168 Mittelschicht  45, 62, 163, 165, 167 f. Mobilität  15, 36 Moderne  58, 70, 72, 74, 80, 85, 93, 95 f., 111, 113–115, 125, 135, 144, 153, 163 Möglichkeitsraum 165 Moral  40, 43, 119, 148, 158, 168 Motiv  37, 79, 85 Mühle  7 f., 11, 19, 29, 32, 77–87, 89, ­91–95, 97–99, 101–103, 105, 109–112, 114, ­116–119, 121 f., 167 f.

O Öffentlichkeit  58, 71 f., 109, 112, 120, 147 Ökologie  13, 16, 26 f., 76, 78, 116, 122 Ökosystem  35, 37 f., 45 f., 70, 74 f., 80, 84, 92, 104, 109 Opfer  35, 38, 41, 64, 91, 104, 122, 135 Opfersiedlung  144, 152 Opferstrecke  58, 109 Optimismus  64, 74, 92 Our Mutual Friend  7 f., 10, 19, 28 f., 31, 35– 38, 40, 42, 44–46, 49, 51, 65–67, 69–72, 74–76, 124, 133, 168

N Nachbarschaft  32, 40, 72, 104, 136, 138, 141 f., 152, 155 Nachhaltigkeit  14, 45, 111 Narrativ  7, 10, 30, 37, 45, 63 f., 71, 79, 86, 91, 95, 110, 124, 128 Nationalismus 12 Natur  8, 10, 13, 19 f., 26–29, 44, 72 f., 75, 78, 83, 85, 89–94, 108, 111 f., 121, 127 f., 130, 133, 149, 155 f., 159, 162, 165 Naturalismus  19, 85, 87, 114 Nature Writing  10, 28–30, 47, 128 Naturidyll 90 Naturwissenschaft  71, 85, 95, 113 f. Neill-Reynolds-Report  143, 147, 151 New Historicism  16–18, 31

P Packingtown  124, 126, 129, 131, 134, 142 Paradies 92 Partizipation  136, 167 Persönlichkeit  44, 128, 159 Pfadabhängigkeit  64, 76, 126, 133 Pfisters Mühle  7 f., 11, 19, 29, 32, 77–79, 81– 83, 85, 87, 89, 92–95, 97 f., 101 f., 109–112, 114, 117–119, 121, 167 f. Produktion  10, 110, 121, 123, 133 Produktionsstätte  32, 152 Prosaroman 16 Protagonist  8, 37, 42, 85, 122, 162, 166 Protestbewegung 47 proto-ökologisch  9, 29, 70, 78, 116 Prozess  77 f., 83, 86 f., 89, 92, 94, 97 f., 100, 102, 105 f., 110, 115 f., 120 f.

192 Public Health Act  53 f., 68 Publikum  93, 112, 118–121, 157, 159, 168 Q Qualität  84, 91 R Rauch  69, 94, 106, 118 Raum  8, 10, 12, 26, 31 f., 76, 79, 81, 86, 89, 91, 95, 97, 110, 121 f., 127 Realismus  10, 19, 78, 80, 88 Recherche  12, 19, 74, 124, 135, 139 f., 145 f., 150, 156 f. Rechtsstreit  11, 86, 97, 100, 106, 108, 110, 122 Reform  9, 60, 68, 75, 134, 136 f., 139, 147, 158 Reichtum  35 f., 41, 45, 67, 153 Reinheit  39, 46, 155 Revolution  29, 68, 75, 79, 90, 95, 115, 120, 163 Risikogesellschaft  25, 63, 70, 74, 80 Roman  7–14, 18 f., 30–33, 35–39, 42 f., 45 f., 63, 65, 67–69, 71, 77 f., 82–86, 89, 91, 93 f., 100, 104, 111, 115, 120–123, 125, 127 f., 135, 141, 145, 150–153, 159, ­161–163, 165, 167 f. Romantik  10, 27, 94 Roosevelt, Theodore  12, 140, 145–147, 149–151, 163 S Sachverständiger 106 Sanitätsreform  28, 49, 55, 58, 68, 71, 137, 167 Sarkasmus 89 Schadstoffe 103 Schauplatz  33, 47, 50, 76, 95, 126, 128, 136, 165 Schlachthof 123 Schlachtvieh  127 f., 148 f. Schmutz  47, 51, 70, 127, 133 Schornstein 88 Schriftsteller  11 f., 31, 33, 65, 69 f., 79, 89, 113 f., 118 f., 156, 163 Selbstreinigung 118 Sicherheit  23, 96, 114, 146, 152 Siedlung  47, 138, 142–144 Skandal  12, 148 Slum  46, 50, 143 Sozialismus  123, 133, 135, 152 f., 155, 159 f., 162 f. Sozialsystem  61, 66, 130

Register Spiegel  35, 79, 112 f. Stadtbild  137, 152 Stadtentwicklung  25, 137 Stadtethnographie 165 Stoffstrom  39, 53 Störung  42, 44, 74, 121 Straßenbau  82, 144 Streik  138, 140, 146 f. Symbol  30, 77, 84, 88, 98, 134 Symbolik  64, 81, 94, 96, 133, 141, 168 T Technik  79, 81, 114, 116 Technologie  79, 81, 86 Teilnahme  138, 156, 163 The Jungle  9, 11 f., 15, 19, 28, 30, 32, ­123–126, 128, 130 f., 134–136, 139 f., 142 f., 145 f., 148 f., 151–153, 155–163, 168 f. Themse  8, 10 f., 35–38, 42–44, 46–50, 55, 57 f., 64 f., 69 f., 73 f., 133 Tod  22, 37, 40 f., 44 f., 64, 69, 82, 95 f., 109, 128 f., 131 f. Toxic Discourse  28, 30 Tradition  10, 32, 44, 95 Transformation  9, 22, 37, 44 f., 81, 93, 121, 125, 165, 169 Trinkwasser  58, 69 f., 97, 117, 128 Trinkwasserversorgung  9, 49, 58 U Überleben  27, 46, 123 f., 135 Umwelt  8–10, 12–14, 16 f., 20, 23, 26, 29, 31, 57, 63 f., 73, 77, 79 f., 85–87, 90, 93, 95 f., 106, 109, 111, 113, 116, 118, 121, 128, 130, 143, 153, 161 f., 166, 168 Umweltbedingung  18, 24, 88, 152, 158 Umweltbewegung  8, 23 f., 80 Umweltgerechtigkeit  9 f., 13–16, 18, 21–26, 28–31, 33, 35 f., 47, 49, 63 f., 66, 75–77, 86, 97, 109, 111, 118, 121, 125 f., 128 f., 133, 135 f., 139, 151, 165–167, 169 Umweltgeschichte  8, 13, 16, 20–23, 26, 33, 81, 169 Umweltproblem  107, 111, 118 Umweltprozess  32, 77 Umweltressource  80, 126 Umweltrisiko  7–9, 13 f., 22, 25, 30, 37, 81 f., 85 f., 88, 91, 93, 120, 125, 141 f., 144, 151, 163, 165 f., 168 Umweltroman  7, 13, 32, 77, 165, 168

Register Umweltschutz 108 Umweltwahrnehmung  18, 139 Umweltzerstörung 26 Unternehmer  52, 135, 145, 147 Urbanisierung  9, 23, 31, 49, 74, 87, 157, 165 Urteil  92, 101, 106–108, 114, 122 USA  12, 20, 31, 123, 126, 137, 142 V Verantwortung  62, 75, 84, 114–116, 141 f., 162, 168 Verbesserung  36, 47, 52, 57, 65, 67 f., 73, 92, 94, 101, 106, 116, 132, 136–138, 140–144, 146–149, 152 f., 158, 168 Verlag 63 Verleger  118 f., 121, 160 f. Verteilungsgerechtigkeit 14 Volksgesundheit  145, 153, 157 Volkswohl 151 W Wachstum  23, 46, 49 f., 74 f., 101, 104, 137, 144, 150 f., 165 Wahrnehmung  9, 15 f., 18, 21, 31–33, 82, 96 f., 104, 109, 112, 115, 118, 120, 122 Wasser  24, 35, 42 f., 50, 54 f., 64, 70, 80, 82, 93, 100, 102, 104, 109 f., 117, 128, 133, 148

193 Wasserlauf 103 Wasserversorgung  50 f., 58, 68, 117 Waste  8, 20, 30, 36, 38, 53, 71, 73, 131, 133 Wechselwirkung 23 Wert  16, 21, 23, 31, 44 f., 62, 73, 90, 115, 145, 157 f., 160, 167 White Race  28 Wiedergeburt  44, 73 Wilderness 155 Wissen  8, 17, 109, 134, 166 f. Wissenschaft  12, 72, 81, 87, 95 f., 113, 115 Wohlstand  38, 41, 45 f., 96, 154, 161 Wohnraum  49, 54, 76, 126 Workhouse  59, 61, 63 f., 66 f., 72 Z Zeitalter  8, 18, 111 f. Zeitgeist  17, 78, 118 Zeitschrift  11, 16 f., 19, 48, 58, 66, 68, 71, 118 f. Zeuge  61, 80, 92, 99 f., 102–105, 109 Zola, Emile  7, 19, 85, 114, 123–127, 134, 138 Zuckerfabrik  11, 77, 81, 83 f., 86, 88 f., 91 f., 94, 97–103, 105–107, 110, 112, 116 f., 122 Zukunft  17, 45, 80, 91, 93–96, 106, 122 Zukunftsvisionen  94 f.