179 81 13MB
German Pages 469 [472] Year 1994
Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter
Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter
Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Karl Otto Conrady und Helmut Schanze
Max Niemeyer Verlag Tübingen
Die Drucklegung dieses Bandes erfolgte mit Unterstützung Freunden der Aachener Hochschule e.V. (FAHO) und der Technischen Hochschule Aachen.
der Gesellschaft von Rheinisch-Westfälischen
C I P - K u r z t i t e l a u f n a h m e der Deutschen Bibliothek Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter / hrsg. von Hans-Peter B a y e r dörfer . . . - Tübingen : Niemeyer, 1 9 7 8 . ISBN
3-484-10322-1
N E : B a y e r d ö r f e r , Hans-Peter [Hrsg.]
ISBN
3-484-10322-1
© M a x N i e m e y e r Verlag Tübingen 1 9 7 8 A l l e Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Budi oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany S a t z und Druck : Bücherdruck Wenzlaff, Kempten. E i n b a n d : Heinr. Koch, Tübingen
Geleitwort des Ministers für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen
M it Hans Schwerte trat im Amtsjahr 1970/71, zur Hundertjahrfeier der Rheinisch-Westfälisdien Technischen Hochschule Aachen, zum erstenmal ein Literaturhistoriker das Amt des Rektors dieser Hochschule an. Diese Tatsache markiert gewiß eine wichtige Entwicklung in der Geschichte der Aachener Hochschule, sie ist aber auch ein Zeichen für den tiefgreifenden Wandlungsprozeß, den die Hochschulen unseres Landes in diesen Jahren durchlaufen haben und nodi durchlaufen. Die Ausbildung des Ingenieurs und des Lehrers, des Naturwissenschaftlers und des Philologen, des Arztes und des Planers in einer Institution zu gewährleisten, war ein besonders widitiges hochschulpolitisches Ziel, für das Hans Schwerte gearbeitet hat. So wollte er helfen, die Kluft zwischen den »zwei Kulturen«, der naturwissenschaftlich-technischen und der geisteswissenschaftlich-literarischen, zu schließen. Dieser längst überfällige, aber langwierige und beschwerliche Prozeß ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Dodi das Programm, für das Hans Schwerte eingetreten ist, hat die neue Hochsdiullandsdiaft in Nordrhein-Westfalen bereits deutlich geprägt. Eine Brücke zwischen »Anwendung« und »Theorie« zu schlagen, die herkömmliche Zersplitterung der Disziplinen und Studiengänge überwinden zu helfen und die Berufsausbildung als integralen Bestandteil von Forschung, Lehre und Studium zu verstehen und anzunehmen - das alles hat Hans Schwerte mit auf den Weg gebracht. Audi auf anderem Felde hat Hans Schwerte Neuland betreten und die »Brückenfunktion« der Aachener Hochschule zu nutzen gewußt. Als Beauftragter des Ministers für Wissenschaft und Forschung und als Vorsitzender der Arbeitsgruppe Hochschule in der Euregio Maas-Rhein hat er die Beziehungen der Hochschulen dieses Landes zu denen in Belgien und in den Niederlanden intensiviert und neue Grundlagen für freundschaftliche, anregende und kontinuierliche Zusammenarbeit geschaffen.
VI
Geleitwort
Beide Ziele, die Integration der Hochschulen im Innern und die Integration im europäischen Zusammenhang, sind noch nicht zum Abschluß gebracht; sie bleiben eine politische Aufgabe, die es mit Ausdauer, Beharrlichkeit und Geduld weiterzuführen gilt. Ich freue mich, daß mir der vorliegende Band zu Hans Schwertes Emeritierung die Gelegenheit gibt, ihm noch einmal öffentlidi für seine engagierte und beispielhafte Arbeit in der Hochschulpolitik und in der Wissenschaft zu danken. Dieses Buch mit seinen vielfältigen Forschungsbeiträgen zur Literatur und zum Theater des Wilhelminischen Zeitalters dokumentiert aufs schönste die fruchtbaren Anregungen, die Hans Schwerte in einem seiner Forschungsschwerpunkte der Neueren deutschen Literaturgeschichte vermitteln konnte. Als Zeichen des Dankes und der Verbundenheit ist dieser Band Hans Schwerte zum 3. Oktober 1978 gewidmet. Düsseldorf, im Juli 1978
Johannes Rau
Inhaltsverzeichnis
JOHANNES RAU, Düsseldorf
Geleitwort Vorwort
V XI
Literatur und Literatursatire HANS O T T O HORCH, Aachen
Fontane und das kranke Jahrhundert. Theodor Fontanes Beziehungen zu den Kulturkritikern Friedrich Nietzsche, Max Nordau und Paolo Mantegazza
ι
T H O M A S CRAMER, A a c h e n
Mittelalter in der Lyrik der Wilhelminischen Zeit
35
V I K T O R 2MEGADieBlechsdimiedeDie letzten Tage der Mensdiheit< — ein Vergleich
107
Dramatik BERND W I T T E , A a c h e n
Realismus der mittleren Schicht. Z u den zwei Fassungen von Hermann Sudermanns erstem Sdiauspiel >Die Ehre< . . . .
121
GERHARD KLUGE, N i j m e g e n
Hanneies Tod und Verklärung. Studien und Vorstudien zu Gerhart Hauptmanns >Hanneles Himmelfahrt
Florian GeyerFreien Bühne< zu Berlin 1889
275
H A N S - P E T E R BAYERDÖRFER, A a d i e n
Uberbrettl und Überdrama. Zum Verhältnis von literarischem Kabarett und Experimentierbühne
292
KARLHANS KLUNCKER, A a c h e n
Die Schwabinger Schattenspiele
326
MARGRET DIETRICH, W i e n
Impressionismus im österreidiisdien Theater. Ein Beitrag über physiologisdi gestaltende Kunst
346
Literaturgeschichte KARL OTTO CONRADY, K ö l n
Germanistik in Wilhelminischer Zeit. Bemerkungen zu Eridi Schmidt (1853-1913)
370
Inhaltsverzeichnis
G E R H A R T LOHSE,
IX
Aachen
Held und Heldentum. Ein Beitrag zur Persönlichkeit und Wirkungsgeschichte des Berliner Germanisten Gustav Roethe (1859 bis 1926)
399
Aachen Literatur der Gegenwart als Forschungsgegenstand. Berthold Litzmann und die Literarhistorische Gesellschaft Bonn (1906 bis 1918)
424
Paris Die naturalistische Revolution in Berlin und München. Die Jugend auf der Sudie nach einer deutschen Kultur der Moderne .
436
P E T E R SCHMIDT,
FÉLIX BERTAUX,
Vorwort
Z u Beginn der sechziger Jahre hat Hans Schwerte der literaturgeschichtlichen Forschung für den Zeitraum von 1888 bis 1 9 1 8 den Begriff W i l helminisches Zeitalter< angeboten. Die Epochenbezeichnung kam aus der politischen Geschichte; für den Literarhistoriker bedeutete sie ein Programm: Es scheint keine Verknüpfung zwischen dem historisch-politischen Phänomen »Wilhelminisches Zeitalter« und der literarischen Moderne dieser drei Jahrzehnte zu geben; sie scheinen einander nicht zu bedingen, kaum zu berühren. Sie scheinen einander auszuschließen. Jedoch, sollte möglicherweise in solcher vorläufigen Feststellung die eigentliche thematische Frage liegen? Sollte die Spannung, die in ihr erscheint, sollte diese Opposition, die zwischen zeitgenössischer Literatur und zeitgenössischer politischer Führung, die zwischen poetischem Stil und politischem Stil deutlich wird, sobald wir in den literarischen Bereich den Begriff des Wilhelminischen einführen, sollte also diese Differenz die thematische Frage in sich enthalten? Sollte - das darf als Hypothese formuliert sein — vom Wilhelminischen Zeitalter her gesehen die gesamte moderne Literatur, die sogenannte »Moderne«, Oppositionsliteratur gewesen sein? Oppositionsliteratur eben zum Zeitgeist dieser Wilhelminischen Epoche? Oder umgekehrt formuliert, und das dürfte exakter ausgedrückt sein: das sogenannte Wilhelminische Zeitalter, das in ihm sich manifestierende eigentümlich Wilhelminische, hat durchweg in Opposition zur Moderne und ihren maßbildenden literarischen Leistungen gestanden. Der Dichter, genauer: der Dichter der Moderne, wurde endgültig zum Opponenten der Gesellschaft, zu ihrem Außenseiter - ein Prozeß, der längst im 19. Jahrhundert begonnen hatte. [ . . . ] Das Wilhelminische Zeitalter, als ein wie immer geartetes geistiges Phänomen genommen, stand in g e g e n geschichtlicher Opposition zur literarischen Moderne - gegengeschichtlich darum, weil die Geschichte der Literatur als Geschichte ihrer poetischen Formen und ihres sprachlichen Stils diese Opposition ad absurdum geführt hat. 1 1
H a n s Schwerte, Deutsche Literatur im Wilhelminischen Zeitalter. In: Wirkendes W o r t 1 4 , 1 9 6 4 , S. 2 5 4 - 2 7 0 (Zitat S. 2 5 J - 2 5 6 ) . - Der Essay stellt die erweiterte Fassung eines Vortrags dar, der im N o v e m b e r 1 9 6 2 auf der Jahrestagung der G e -
XII
Vorwort
Mit diesem Ansatz wurden literaturgeschichtliche Klassifizierungen von eher kurzatmigen literarischen Strömungen, wie >NaturalismusImpressionismus< oder >Neuromantikfin de siècle< oder >Moderne< als Epochenbegriffe fragwürdig, außerdem waren damit Chiffren wie >Imperialismus< oder >monopolkapitalistische Phase< als für die literaturgeschichtliche Betrachtung zu allgemeine Bestimmungen des gemeinten Zeitraums zurückgewiesen. Die Übernahme des Begriffs >Wilhelminisches Zeitalter< kennzeichnete den Versuch, den Zusammenhang zwischen der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit des Zweiten Kaiserreichs und den Ausformungen von Kunst und Literatur, gerade wo sie sich im Ansatz und nach ihren Grundlagen aus der Opposition verstanden, in seiner denkbar konkretesten Gestalt zu erfassen. Der Begriff stand weiterhin für das Bemühen, den Umbruch, der sich in ganz Europa in allen künstlerischen und literarischen Bereichen abzeichnete, in seiner für Deutschland charakteristischen Form zu verstehen, und dies Schloß alle Besonderheiten und auch alle Fragwürdigkeiten ein, die auf deutschem Boden dadurch entstanden, daß mit diesem Umbruch sich zugleich restaurative Gegentendenzen schlimmen Ausmaßes ausprägten und durchzusetzen suchten, an denen die Deutschen — nicht nur im Literarischen - noch auf Jahrzehnte zu tragen haben sollten. In diesem umfassenden Sinne hat der Begriff >Wilhelminismus< Schule gemacht. Er erwies nicht nur heuristischen Wert für die literaturgesdiiditlidie Detailforschung, sondern zeigte sich auch als tragfähig für das Verständnis und die Darstellung vieler Grundprobleme, die sich aus der Situation und der Entwicklung von Kunst und Literatur in der Sdilußphase der deutschen Monarchie ergaben. Damit ist auch für die Literaturgeschichtsschreibung etwas Entscheidendes gewonnen: die mögliche Konvergenz von politischen und kulturgeschichtlichen Daten als Grundlage eines Epochenverständnisses wurde unter Beweis gestellt. Konsequenzen für eine neue Gliederung innerhalb der neueren deutschen Literaturgeschichte zeichneten sich ab. Was sich im Zeichen dieses wichtigen Anstoßes für die literaturgesdiiditlidie Forschung ergeben hat, läßt sich, wegen der großen Tragweite, insgesamt noch nicht überblicken. Wohl aber läßt sich im unmittelbaren sellschaft für Geistesgeschichte in Hofgeismar, im August 1963 im Südwestfunk Baden-Baden gehalten worden war. — In der vorliegenden Form wurde der Essay in das Sammelwerk: Das Wilhelminische Zeitalter. (Zeitgeist im Wandel. B d . I). Hrsg. v. H . J . Sdioeps. Stuttgart: Klett 1967. S. 1 2 1 - 1 4 5 ~ aufgenommen.
Vorwort
XIII
historischen Anwendungsbereich, das heißt in der Forschung zum Wilhelminischen Zeitalter selbst, die Bedeutung zeigen und hinreichend belegen. Im Umkreis des Aachener Germanistischen Instituts und seiner wissenschaftlichen Kontakte sind zahlreiche Arbeiten entstanden, die insgesamt als repräsentativ für die durch Hans Schwerte angeregte Forschungsrichtung gelten können. Dies deutlich zu machen ist der Sinn des vorliegenden Bandes, der etwas vom Ertrag einer mehr als zehnjährigen, ebenso vielseitigen wie von einem gemeinsamen Interesse getragenen Wilhelminismus-Forschung dokumentieren will. Die Grenzen des Bandes waren, trotz der thematischen Konzentration, nicht zu eng zu ziehen. Die Epoche, wie sie etwa um 1890 in Literatur wie Politik einsetzt - und literarisch kann der Naturalismus als Beginn der Wilhelminischen Zeit im engeren Sinne verstanden werden —, diese Epoche hat ihre mehr als zwanzigjährige Vorgeschichte. Sie läßt, wie jüngst erst Helmut Kreuzer betont hat, an die Konstitution einer Großepoche der Moderne seit 1870 denken.2 Trotz ausgesprochener Verspätung der deutschen Moderne, die erst 188 8-90 offen in Erscheinung tritt, erweist sich die Literatur der vorangehenden Jahre als ein Medium, das in höchst sensibler Weise Epochales vorwegnimmt. Weiterhin ist die Moderne, wie gerade Schwerte gezeigt hat,3 von Anfang an nicht denkbar und darstellbar ohne ihre »Gegengeschichte«, und dies ist besonders offenkundig, wenn die auf Öffentlichkeit hin konzipierte Gattung des Dramatischen im Vordergrund des Interesses steht. Ähnliches gilt aber, wenngleich von der Forschung noch nicht hinreichend erfaßt, für die Folge und Wirkungsgeschichte dieser Moderne insgesamt. Literarische Kritik und kritisierte Zeit sind enger aufeinander bezogen, als es zuweilen auf den Zeilen steht. Die Anfänge der Moderne, wie sehr sie sich über das begrenzende Epochenschema auch hinwegzusetzen scheinen, lassen sich nicht aus dem Zusammenhang des Wilhelminismus lösen. Die Beiträge dieses Bandes sind auf thematische Schwerpunkte hin ausgerichtet. Keinesfalls konnte dem gesamten Zeitraum, allen seinen Gattungen, Beziehungen und Zusammenhängen Rechnung getragen werden. Literatur und Literatursatire, Dramatik, Theater und Theater2
3
V g l . H e l m u t Kreuzer, Z u r Periodisierung der >modernen< deutschen Literatur. I n : H . Kreuzer, Veränderungen des Literaturbegriffs. Göttingen 1 9 7 J . S. 4$fif. V g l . dazu auch H a n s Schwerte, Ganghofers Gesundung - Ein Versuch über sendungsbewußte Trivialliteratur. I n : Studien zur Trivialliteratur. Hrsg. v . H . O . Burger. F r a n k f u r t / M . : Klostermann 1968. S. 1 5 4 - 2 0 9 .
XIV
Vorwort
geschickte, sowie die germanistische Literaturwissenschaft des Wilhelminischen Zeitalters bilden die größeren Bereiche, zu denen sich die einzelnen Beiträge gruppieren lassen. Gleichwohl ist zu hoffen, daß — in der Verknüpfung thematischer Komplexe - Grundlinien der Literatur und des Theaters erkennbar werden, welche die Kontur des ganzen Zeitraums hervortreten lassen. Grundlegende Aspekte des Wilhelminismus werden aus verschiedenen Perspektiven sichtbar. Die kulturkritische Auflösung historistischer Geschichtsvergessenheit durch Fontane, die schon vor dem Stichdatum der Epoche beginnt, verrät eine gewisse, wenngleich nicht vorbehaltlose Nähe zu anderen kritischen Geistern der Zeit: die Namen von Nietzsche, Max Nordau und Paolo Mantegazza verweisen auf die Bedeutung einer zum Teil in großer Breite rezipierten Kulturkritik von beträchtlichem Ausmaß. Dem steht ein aus heutiger Sicht ebenso problematischer wie aus damaliger Perspektive selbstverständlicher affirmativer Traditionsbezug auf ein Wilhelminisch gesehenes Mittelalter in der Lyrik gegenüber: kulturkritische Diagnose der Zeitkrankheit gegen forcierte Gesundheit. Die Rezeptionsgeschichte des frühen Rilke zeigt in diesem Zusammenhang, wie stark audi der avantgardistische Autor in seinen jungen Jahren dem Wilhelminismus verpflichtet ist. Unter dem Aspekt der Selbstkritik der Zeit ist weithin noch die v e r schobene Optik< zu entdecken, die Friedrich Theodor Vischers erstaunlich modernem Parodiewerk »Faust III« zugrunde liegt; nicht nur vom Erscheinungsdatum her gehört es ins Wilhelminische Zeitalter. Bis zu Karl Kraus' apokalyptischem Entwurf »Die letzten Tage der Menschheit« reicht die inhaltliche wie formale Kontinuität, in die sich auch Arno Holz, der Literaturrevolutionär und »consequente« Naturalist mit seiner »Blechschmiede« einschreibt. Auch die dramatische Produktion des Wilhelminismus steht in der Zeit und gegen sie. Hermann Sudermanns »Ehre«, als allzu zeittypisch heute fast vergessen, war doch eine starke Herausforderung des Publikums der 90er Jahre. Umgekehrt war der Naturalismus keineswegs so rein, so »consequent«, wie er der Theorie nach sein wollte: traditionelle Momente, das als solches genau bestimmbare Sentimentale, Trivialmotivik und Historiendramatisches mischen sich ein. Der notorisch jeder Einordnung sich verweigernde Wedekind gestaltet ebenso sein kritisches Verhältnis zu seiner Zeit wie die >naturalistischen< Antipoden, ja in noch grundlegenderer Weise, da in seinen Lulu-Stücken die Aporie, die im Verhältnis der Zeit zum Ästhetischen liegt, zum Thema wird. Daß sich
Vorwort
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auch der beginnende Expressionismus nodi keineswegs endgültig aus der Epodie löst, wird an dem bislang nodi wenig erforschten, bis hinter Nietzsche zurückreichenden Traditionsbezug, wie er sich im Zusammenhang zwischen Hasenclever und Schopenhauer darstellt, deutlich. Die Geschichte des Theaters im Wilhelminischen Zeitalter, das sich in großen historiendramatischen Formen und Inhalten selbst verstehen wollte und eine Blütezeit des repräsentativen Theaterbaus heraufführte, verzeichnet auf der Gegenseite aber auch eine Fülle von >anderem< Theater, das gegen seine Zeit antritt. Von den Rändern her wird ein Theater, das alle Zeichen klassizistischer Verfestigung trägt, im Sinne der Moderne aufgelöst, was zugleich als Beginn eines »Theaters im wissenschaftlichen Zeitalter< zu verstehen ist. Die Bewegung der »Freien Bühnen«, zu Beginn der 90er Jahre zukunftsweisend, bisweilen aber auch in problematischer Weise modisch, gehört zu diesem Neuanfang, nicht weniger aber die Wiederentdeckung der >Kleinkunst< und das in diesem Sinne entworfene Theaterkonzept des Kabaretts. Von einer Geschichte der Wahrnehmung her gesehen, weisen das Theater des Impressionismus, wofür hier der herausragende Name Rollers steht, wie auch die >Schwabinger Sdiattenspiele< auf eine neue Phase theatralischer und ästhetischer Sensibilisierung hin. Schließlich enthält der vorliegende Band Beiträge zur Geschichte der Germanistik im Wilhelminischen Zeitalter. Z w a r hat die Eingrenzung der Literaturgeschichte auf eine Geschichte der Nationalliteratur nicht in diesem Zeitraum begonnen, doch hat der Wilhelminismus dem in dieser Weise sich selbst verstehenden Literarhistoriker eine bedeutende öffentliche Funktion zugewiesen. Erich Schmidt und Gustav Roethe, aber auch der Bonner Germanist Berthold Litzmann sahen in ihrem Beruf einen - aus heutiger Sicht äußerst problematischen - dezidiert nationalen Auftrag. Die Geschichte des Wilhelminismus an entscheidenden Stellen aufzufächern heißt deshalb für die germanistische Literaturwissenschaft auch, ihre eigene Geschichte selbstkritisch aufzuarbeiten. Es ist dabei von besonderem Interesse, daß die Epochenperspektive eines Wilhelminischen Zeitalters in der außerdeutsdien Forschung sdion früher aufgetaucht ist. Als Beleg dafür kann ein Auszug aus einem bisher in Deutschland nicht verlegten Werk dienen, ein Abschnitt aus Félix Bertaux' »Panorama de la littérature allemande«, der den Band beschließt. Bezeichnenderweise stammt diese Skizze aus den 20er Jahren, in denen nadi der europäischen Katastrophe die Germanisten des Inlandes wie des Auslandes - Pierre Bertaux weist eindringlich auf die
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Vorwort
konkreten Umstände hin - allen Anlaß hatten oder doch gehabt hätten, ihr Verhältnis zur kulturellen und literarischen Vergangenheit Deutschlands zu überdenken. Repräsentative Ergebnisse der intensiven literaturgesdiiditlidien Wilhelminismus-Forschung, wie sie Hans Schwerte angeregt hat, zusammenzustellen, ist also die Absicht des vorliegenden Sammelbandes. Daß er erscheint, ist nur dank der großzügigen Förderung durdi die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen und die Gesellschaft von Freunden der Aachener Hochschule e.V. möglich geworden. Allen Förderern sei für ihre nachhaltige Unterstützung gedankt. Nicht zuletzt sei jedoch dem Anreger der ganzen Forschungsrichtung gedankt. Die vorliegenden Beiträge erscheinen in dem Jahr, in dem Hans Schwerte von seinen akademischen Lehrverpflichtungen entbunden wird. Mitarbeiter und Herausgeber möchten ihm deshalb ihre Untersuchungen zu seinem Geburtstag am 3. Oktober 1978 zueignen. Aachen und Köln Hans-Peter Bayerdörfer Karl Otto Conrady Helmut Schanze
Hans Otto Hordi
Fontane und das kranke Jahrhundert T h e o d o r F o n t a n e s Beziehungen z u den K u l t u r k r i t i k e r n Friedrich Nietzsche, M a x N o r d a u u n d P a o l o M a n t e g a z z a »Die moderne Gesellschaft steht auf einer Grundlage von unendlich vielen, großen Lügen, an die niemand mehr glaubt.« Paolo Mantegazza 1 I n einem B r i e f aus T h a l e v o m 2 3 . 6 . 1 8 8 2 b e d a n k t sich T h e o d o r F o n t a n e bei O t t o B r a h m f ü r die Rezension der N o v e l l e >L'Adultera< durch P a u l Schienther, die eine W o c h e z u v o r in der » T r i b ü n e « erschienen w a r . I m selben Z u s a m m e n h a n g kennzeichnet er seine Position zwischen den E x Auflösung der im Text abgekürzt zitierten Quellen: AFA =
BE
=
BF
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BFM = BFR = BL
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HFA = NFA =
1
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in adit Bänden. Hrsg. v. Peter Goldammer, Gotthard Erler, Anita Golz u. Jürgen Jahn. - Berlin u. Weimar: Aufbau 1969. Theodor Fontane: Briefe in zwei Bänden. Ausgew. u. eri. ν. Gotthard Erler. - Berlin u. Weimar: Aufbau 1968. ( = Bibliothek deutscher Klassiker). Theodor Fontane: Briefe an Georg Friedlaender. Hrsg. u. eri. ν . Kurt Schreinert. — Heidelberg: Quelle & Meyer 1954. Theodor Fontane's Briefe an seine Familie. 2 Bde. 3. Aufl. - Berlin: F. Fontane 1905. Theodor Fontane: Briefe an die Freunde. Letzte Auslese. Hrsg. v. Friedrich Fontane u. Hermann Fricke. 2 Bde. - Berlin: Grote 1943. Theodor Fontane und Bernhard von Lepel. Ein Freundsdiaftsbriefwechsel. Hrsg. v. Julius Petersen. 2 Bde. - München: Beck 1940. Theodor Fontane: Briefe. Hrsg. v. Kurt Schreinert. Zu Ende geführt u. m. e. N a d i w . vers. ν. Charlotte Jolies. 4 Bde. - Berlin: Propyläen igéeff. Theodor Fontane: Briefe an Julius Rodenberg. Eine Dokumentation. Hrsg. V. Hans-Heinrich Reuter. - Berlin u. Weimar : Aufbau 1969. Theodor Fontane: Briefe. Zweite Sammlung. Hrsg. v. Otto Pniower u. Paul Schienther. 2 Bde. - Berlin: F. Fontane 1910. Theodor Fontane. 2 Bde. Hrsg. v. Richard Brinkmann in Zusammenarbeit mit Waltraud Wiethölter. - München: Heimeran 1973. ( = Dichter über ihre Dichtungen Bd. 12/Ι,Π). Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. 2.Aufl. Hrsg. v. Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger. - München: Hanser i97off. Theodor Fontane: Sämtlidie Werke. Hrsg. v. Rainer Badimann, Edgar Groß, Charlotte Jolies, Hermann Kunisdi, Jutta Neuendorfí-Fürstenau, Kurt Schreinert, Wilhelm Vogt. - München: Nymphenburger Verlagsh. I9J9ÍÍ.
Das heuchlerische Jahrhundert. Aus d. Ital. v. Hulda Meister. - Jena: Costenoble 1889. S. 1 3 5 .
Hans Otto Horch
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tremen des Konventionalismus und der radikalen Kritik an der Gesellschaft insgesamt: Wenige haben den Mut und die Kraft, sich, behufs Zeugnisablegung, die Dinge des Lebens so anzusehn, wie sie liegen; die Mehrheit kann aus dem Konventionalismus nidit heraus und hält an elenden, längst Lüge gewordenen Phrasen fest. Die Minorität andrerseits gefällt sidi darin, zu sehr damit zu brechen, zu gründlich damit aufzuräumen und dadurch, ich will nicht sagen, das Recht ihrer Tendenz und der Äußerung derselben, aber doch die Fähigkeit, das einfach Tatsächliche zu sehen und zu schildern, einzubüßen. (BE II, S. 6 j )
Fontane schreibt dies ein J a h r vor seiner intensiveren Beschäftigung mit Zola und mehr als vier Jahre vor seiner Auseinandersetzung mit der naturalistischen »Moderne«; gleichwohl ist die zitierte Stelle als Maxime seines künftigen Verhaltens der »Moderne« gegenüber zu lesen. Zweierlei wird deutlich: einerseits die Klarsicht Fontanes in bezug auf die Lüge der kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse und die Notwendigkeit, daran Kritik zu üben, andererseits die Skepsis gegenüber einer Prinzipienreiterei im Destruktiven, die selbst wieder zu Dogmatismus führen muß. Fünf Jahre später, am 8 . 9 . 1 8 8 7 konstatiert Fontane gegenüber seinem Sohn Theodor: Wir Stedten ja bis über die Ohren in allerhand konventioneller Lüge und sollten uns schämen über die Heuchelei, die wir treiben, über das falsche Spiel, das wir spielen. (BE II, S. 1 7 1 )
Inzwischen sind nicht nur weitere wichtige gesellschaftskritische Romane Fontanes erschienen (vor allem >Schach von WuthenowCecile< und >Irrungen, WirrungenGespenstern< (»Vossische Zeitung«, 1 3 . 1 . 1 8 8 7 ) seine öffentliche Auseinandersetzung mit 2
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1 8 8 2 - 8 4 wurden die >Kritisdien Waffengänge< der Brüder H a r t veröffentlicht, i 8 8 j die Anthologie >Moderne Dichter-CharaktereRevolution der Literatur^ 1 8 8 7 Bölsches >Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der PoesieDie conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit< ( 1 8 8 3 ) und >Paradoxe< ( i 8 8 j ) hingewiesen werden, denen Carl Bleibtreu i 8 8 j in seinem anonym erschienenen, eher konservativen Pamphlet >Paradoxe der conventioneilen Lügen< entgegentrat.
Fontane und das kranke
Jahrhundert
3
der naturalistischen »Moderne« begonnen. Es kann nidit Aufgabe dieses Aufsatzes sein, noch einmal Fontanes Verhältnis zur naturalistischen »querelle des anciens et des modernes« nachzuzeichnen; dies ist in der Forschung schon sorgsam geschehen.4 Ebensowenig soll Fontanes Kultur- und Gesellschaftskritik noch einmal untersudit werden; sie steht seit der Edition der Briefe an Friedlaender 1954 zu Redit im Zentrum der wissenschaftlichen Bemühungen um den alten Fontane, in Walter Müller-Seidels Standardwerk über den »sozialen Roman« Fontanes hat sie ihre wohl für lange Zeit gültige Darstellung erfahren.5 Es geht im folgenden um die Auseinandersetzung Fontanes mit drei Kulturkritikern, die einen - wenngleich sehr unterschiedlichen - Platz innerhalb der Naturalismus-Debatte und der »Moderne« im weiteren Sinn haben: Friedrich Nietzsche, Max Nordau und Paolo Mantegazza. Nietzsche, dessen Wirkungsgeschichte im größeren Maßstab erst 1889 einsetzt, also gleichzeitig mit der Hochphase des deutschen Naturalismus, ist bisher die größte Aufmerksamkeit zuteil geworden.® Audi Nordau wird als Zeitkritiker der achtziger Jahre im Kontext der Naturalismus-Diskussion genannt;7 bekannter ist jedoch seine Auseinandersetzung mit dem »fin de siècle«.8 Mantegazzas Name taucht kaum nodi auf 9 — um so erstaunlicher, als seine Bücher in den achtziger und neun4
Vgl. vor allem Pierre Bange·. Fontane et le Naturalisme. Une critique inédite des Rougon-Macquart. - In: E G 19 (1964) S. 1 4 2 - 1 6 4 . Rainer Bachmann: Theodor Fontane und die deutschen Naturalisten. Vergleichende Studien zur Zeit- und Kunstkritik. — Diss. München 1968. Günther Mahal: >Echter< und >konsequenter< Realismus. Fontane und der Naturalismus. - I n : Prismata. Dank an Bernhard Hanssler. Hrsg. v. Dieter Grimm u. a. Pullach b. München : Verlag Dokumentation 1974, S. 194-204. Speziell Fontanes Verhältnis zu Darwin untersucht Eugène Faucher·. Fontane et Darwin. - In: E G 25 (1970) S. 7 - 2 4 u. 1 4 1 - 1 J 4 . Sogar bei Faudier fehlt ein Hinweis auf die Darwinisten Nordau und Mantegazza. 5 Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. - Stuttgart: Metzler 1975. • Vgl. dazu u . a . Peter Pütz: Friedrich Nietzsche. - Stuttgart: Metzler 1967. ( = Sammlung Metzler 62). S. $9-78. Eine umfassende Darstellung der frühen Wirkungsgeschichte Nietzsches wird von Bruno Hillebrand vorbereitet. 7 V o r allem mit seiner Schrift >Die Conventionellen Lügen der KulturmenschheitEntartung< (1892/93). Vgl. dazu den jüngst erschienenen Aufsatz von Jens Malte Fischer: Dekadenz und Entartung. M a x Nordau als Kritiker des Fin de siècle. - In: Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hrsg. v . Roger Bauer u . a . Frankfurt/Main: Klostermann 1977. ( = Studien zur Philosophie u. Literatur d. neunzehnten Jahrhunderts Bd. 35). S. 9 3 - 1 1 1 . 8 V g l . jedoch Günther Mahal: Naturalismus. - München: Fink 1975. ( = Deutsche
Hans Otto Horch
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ziger Jahren audi in Deutschland sehr hohe Auflagen erreichten. Uber Fontanes Beschäftigung mit den drei Autoren gibt die Forschung bisher wenig Auskunft; Mantegazza wird nirgends genannt. N u n gilt generell für den alten Fontane, daß eine Beschäftigung mit belletristischer oder anderer Literatur sich nicht als direkter Niederschlag im Werk nachweisen läßt, weder im Inhaltlichen noch im Formalen. Es ist HansHeinrich Reuter prinzipiell zuzustimmen, wenn er im Nachwort zu den beiden Bänden »Literarische Essays und Studien« 10 feststellt, daß mit der privaten Aufzeichnung über Paul Lindaus Roman >Der Zug nach dem Westen < (1886) die theoretische Klärung der eigenen Position in bezug auf Fragen des realistischen Stils bereits zu einem Zeitpunkt erfolgt sei, als das Romanwerk selbst noch in voller Entfaltung war. 1 1 Es wäre zu ergänzen, daß für Fontanes poetische Produktion insgesamt die praktische Lebenserfahrung eine größere Rolle spielte als der - noch so faszinierende und lehrreiche — Nachvollzug der Lebenserfahrung anderer Autoren durch Lektüre. Was Fontane schon 1857 in einem Brief aus London an seine Frau schreibt, daß er nämlich das Beste, was er wisse, durch »Umgang, Erzählung, Lektüre« gelernt habe (18. 3 . 1 8 5 7 ; D D II, S. 603), stellt zugleich eine Rangordnung vor: das wichtigste ist der Umgang mit Menschen und der Dialog mit ihnen, danach erst kommt die Lektüre. So heißt es in einem Brief aus Reims an seine Frau: »Das Büchermachen aus Büchern ist nicht meine Sadie.« ( 1 2 . 4 . 1 8 7 1 ; B F M ι , S. 216) Was hier in bezug auf die Kriegsschriftstellerei gesagt wird, gilt für das gesamte Œuvre: »In Fontanes Denkform bleibt der Buchstabe tot, wenn nicht unmittelbare lebendige Anschauung Feuer aus ihm schlägt. Wert und Wirklichkeit nimmt er lieber durch die eigenen Augen als durch die der Bücher wahr.« 12 Carl Paschek spricht von einer »mäeutischen Funktion der Bücher« bei Fontane; er sei ein Gegner der frühromantischen Mythologisierung des Buches gewesen, die eine gefährliche Vermischung des Ästhetischen mit dem Ethischen gebracht habe. 13 1893 beklagt Fontane gegenüber Theodor Hermann Pantenius: Wie mit meinem Lernen auf der Schule, so sieht es auch mit meinem Lesen Literatur im 20. Jh. Bd. 1), S. 56, wo Mantegazza als darwinistisch-materialistischer Wissenschaftler mit seiner >FisioIogia deH'amore< genannt wird.
10 NFA Bd. XXI,2, S. 471-495.
11 Ebd., S. 491. 1 2 C a r l Pasdiek: Theodor Fontane. Der Umgang des Dichters mit Büchern und Bibliotheken. - In: Bibliothek und Wissenschaft 9 (197$) S. I j 8 - i 8 i , hier S. ι j 8 . is Ebd., S. 180.
Fontane und das kranke Jahrhundert
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sehr windig aus, am schlechtesten auf dem Gebiet der Belletristik. V e r gleiche idi midi mit andern, so muß ich sagen, ich habe gar nidits gelesen. [ . . . ] A m meisten Einfluß auf mich übten historische und biographische Sachen [ . . . ] Bis diesen Tag lese idi dergleichen am liebsten. (14. 8. 1 8 9 3 ; D D II, S. 2 4 o f . ) 1 4
Fontane gesteht »Einfluß« vor allem nichtbelletristischen Werken zu; die lange Liste einschlägiger Literatur etwa zu den >WanderungenWanderungen< B d . I, i . A u f l . 1966, S . 3 3 ) . Einen scheinbaren Widerspruch dazu bildet Fontanes A n t w o r t auf U m f r a g e n des V e r l a g s Pfeilstücker, welche Bücher den Befragten wichtig f ü r ihre Entwicklung erschienen oder welche sie besonders schätzten ( 1 8 8 9 und 1 8 9 4 ) : unter den mehr als 7 0 Autoren, die Fontane nennt, findet sidi nur knapp ein Drittel mit niditpoetisdien Werken ( N F A B d . X X I , 1 S . 4 9 7 - 4 9 9 und X X I , 2 S. 7 4 0 - 7 4 4 ) . A l l e r dings ging es dem V e r l a g darum, einen K a n o n der »Schätze der Weltliteratur« und der von Autoren bevorzugten Bücher zur Beratung des lesenden Publikums bei der Einrichtung einer eigenen Bibliothek zusammenzustellen - was die M ö g lichkeit, niditpoetische Werke zu nennen, von vornherein begrenzte.
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V g l . dazu Peter D e m e t z : Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische U n tersuchungen. - München: Hanser 1 9 6 4 . ( = Literatur als Kunst). S . 1 1 5 - 1 4 5 , insbes. S. 1 2 3 - 1 2 7 . V g l . H e r m a n M e y e r : Das Zitat in der Erzählkunst. Z u r Geschichte und Poetik des europäischen Romans. 2., durchges. A u f l . - Stuttgart: Metzler 1 9 6 7 . S . 1 5 5 1 8 5 , insbes. S. 1 5 9 .
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Romanwerk vor der Gefahr der Provinzialität bewahrt und Humanität als »wahre Totalität« 17 verbürgt. Unter diesen Aspekten - Konversationszitat und Allgemeinbildung - ist auch die Beschäftigung Fontanes mit den drei Kulturkritikern Nietzsche, Nordau und Mantegazza zu sehen.
Friedrich Nietzsche und die »Umwertung der Werte« »Größe ist, was wir nicht sind.« Jacob Burckhardt18
Auf Fontanes Verhältnis zur Kulturkritik Nietzsches ist in der Forschung des öfteren hingewiesen worden. Schon 1938 hat Israel S. Stamm in einem heute nodi lesenswerten kurzen Aufsatz 1 9 auf Fontanes »objektiven« Pessimismus verwiesen. Fontane besitze freilich zuviel an Goethesdier »balance and self-discipline in the face of threatening chaos« (S. 254), aber auch eine zu ausgeprägte ironische - besser vielleicht humoristische — Grundeinstellung (S. 256), um auf Nietzsches extreme Fluchtwege — tödliche Verzweiflung bzw. deren Umschlag in die Rhetorik des Übermenschen - zu verfallen. Fontanes Pessimismus - »reasonable« nennt ihn Stamm (S. 25 8) - ist, um mit Ludwig Marcuse zu sprechen, ein Zeichen seiner Reife, einer Reife, die ihm in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens ein klarsichtiges Urteil über seine Epoche gestattet, wie es auch bei den »Jungen«, der Generation der deutschen Naturalisten, nur selten zu finden ist. Dennoch trifft sich Fontane mit Nietzsche in der Diagnose und Beschreibung wichtiger Phänomene der kranken Epoche nach dem Sieg über Frankreich 1870/71; zu nennen sind vor allem die Bildungskritik, die Kritik am (antiquarischen) Historismus, die sprachkritische Grundeinstellung, die Kritik an Preußen und Deutschland und die zwiespältige Einschätzung epochaler Figuren wie Bismarck und Wagner. Auch Fontanes Annäherung an den Stil der »Nuancenkunst«, seine unvergleichliche Sensibilität für den nervösen 17
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Thomas Mann: Briefwechsel mit Bonn. - In: Mann, Politische Schriften und Reden. Zweiter Band. - Frankfurt/Main: Fischer 1968. ( = Moderne Klassiker 117). S. 338. Müller-Seidel hat diesen Absatz seinem Fontane-Buch als Motto vorangestellt. Weltgeschichtliche Betrachtungen. Mit Nadiw. hrsg. v. Rudolf Marx. - Leipzig: Kröner 193$. ( = Kröners Taschenausgabe $5). S. 209. Goethe - Nietzsche - Fontane. - In: Germanie Review 13 (1938) S. 252-258.
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Typus, für Schwermut, Angst und Labilität in einer Zeit der décadence erweisen ihn als Zeitgenossen Nietzsches.20 Die pauschalen Abqualifizierungen Nietzsches in der DDR-Germanistik, zurückgehend meist auf Mehrings Einschätzung Nietzsches als »Sozial-Philosophen des Kapitalismus«, 21 werden der komplexen Gestalt Nietzsches keineswegs gerecht. Walter Müller-Seidel weist sie deshalb nachdrücklich zurück: der Kommentar Joachim Kruegers anläßlidi der Edierung des Fontaneschen Textes >Johann der muntere Seifensieden22 verkenne, daß Nietzsche in der Geschichte des menschlichen Bewußtseins Positionen erreiche, »die weit entfernt sind, etwas Rückschrittliches zu sein«.23 Diese Kritik läßt sich auch gegen Hans-Heinrich Reuter richten, auf den Kruegers Verdikt verweist: 24 Reuter spricht von Nietzsches destruktivem und antirationalem Zynismus, der von Fontane erst allmählich durchschaut worden sei.25 Daß Nietzsche ein probiematischer, vieldeutiger Denker ist, kann nicht zweifelhaft sein; aber genau dies macht ihn zu einem großen Schriftsteller, dessen Eigenart es ja wohl ist, nicht zu einer bürokratisch sauberen Rubrifizierung in welche ideologischen Schubkästen auch immer dienlich zu sein, sich also 20 V g l . dazu Müller-Seidel, Theodor Fontane, a.a.O. S. ¿if., 58, 186, 2 9 i f . , 298, 387 u. v o r allem 466t. Herman Meyer, D a s Zitat in der Erzählkunst, a.a.O. S. 174. Heiko Strech, Theodor Fontane: Die Synthese von A l t und Neu. >Der Stechlin< als Summe des Gesamtwerks. - Berlin: Erich Schmidt 1970. ( = Philologische Studien und Quellen Heft 54), S. i n . Strech betont die Übereinstimmung Fontanes mit Nietzsche in der Ablehnung des Bildungsphilisters bei insgesamt größter D i f ferenz der denkerischen, schriftstellerischen und menschlichen Substanz. 2 1 >Kapital und Presse< (1891); wiederabgedruckt in Mehring, Gesammelte Schriften Bd. 13, Philosophische Aufsätze. Hrsg. v . Josef Schleifstein. - Berlin: D i e t z 1961, S. 159. V g l . auch Mehring: Nietzsche gegen den Sozialismus. 20. Januar 1897. In: Ebd., S. 167-172. 22 Theodor Fontane. Zwei gesellschaftskritisdie Entwürfe. Hrsg. u. kommentiert v . J . K . - I n : Fontane-Blätter Bd. 3, H . 4 (1974) S. 241-2J2. Nachdruck in N F A Bd. X X I V , S. 1179-1190. 2 3 Müller-Seidel, Theodor Fontane, a.a.O. S. $27 Anm. j 2 . 2 4 V g l . N F A Bd. X X I V , S. 1184. Hans-Heinrich Reuter : Fontane. 2 Bde. - München : Nymphenburger Verlagsh. 1968. Bd. II, S. 686 u. v o r allem S. 795-797. 2 5 Reuter, Fontane, ebd., S. 795. V g l . auch die »offiziöse« D D R - >Gesdiidite der deutschen Literatur von 1830 bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts< (Bd. 8,2 der >Geschichte der deutschen Literatur von den A n f ä n g e n bis zur GegenwartGesdiichte der deutschen Literatur vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917«. Berlin: V o l k und Wissen 1974) S. 67-70 wird entsprechend undifferenziert die Nietzsche-Rezeption der neunziger Jahre einschließlich der Fontaneschen dargestellt.
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gegen eine Reduktion auf handhabbare Sätze vehement zu sträuben. Nietzsche blieb der »Gefangene der Aporien, die er mit unerbittlicher Konsequenz in den verborgensten Widersprüchen des Geistes seiner Zeit aufgespürt hatte«;26 aber die Darstellung von Problemen und Aporien in einer zur Drapierung, zur Lüge und Selbsttäuschung geneigten Epoche war - auch ohne positiven Lösungsaufweis - als eigentlich kulturkritisdie Aufgabe schwierig genug für einen Autor, der sich zum Therapeuten der Epoche berufen fühlte und erst nach dem Durchgang durch eine Phase härtester Kritik und Selbstkritik, an der Unlösbarkeit der therapeutischen Aufgabe verzweifelnd, zur hybriden, extremistischen Metaphorik des »Willens zur Macht« flüchtete, einer Metaphorik, die gegen die böswillig-platte Rückübertragung ins Politische nicht immun sein konnte. Fontane hat Nietzsche nicht ausführlich gelesen; er betont Stephany gegenüber anläßlich eines Briefes über Nordau, daß er Nietzsche »nach dem Wenigen was ich von N. kenne« gleich einschätze wie der Adressat (8.6.1893; D D I, S. 448). Da Stephanys Brief verlorengegangen ist, läßt sich seine Einschätzung Nietzsches leider nicht dokumentieren. Auf den Namen Nietzsche scheint Fontane erstmalig bei den Schopenhauerabenden des Kreises um Wangenheim und Windel im Winter 1873/74 gestoßen zu sein. Am 25. Mai 1874 besucht er zum ersten Mal den Schopenhauer-Verehrer Karl Ferdinand Wiesike in Plaue an der Havel; weitere Besudle folgen bis 1880, dem Todesjahr Wiesikes.27 Wiesike besaß eine umfangreiche Sammlung von Schopenhaueriana, so daß es möglich ist, daß Fontane hier die zwei Nietzsche-Werke >Die Geburt der Tragödie< (1872) und Schopenhauer als Erzieher< (1874), die dritte der »Unzeitgemäßen Betrachtungen«, kennenlernte. Jedenfalls finden sich in Fontanes Notizen zum Plaue-Kapitel der >Fünf Schlösser* die Literaturangaben dieser beiden Nietzsche-Titel;28 es ist jedoch eher unwahrscheinlich, daß Fontane die beiden Texte intensiv gelesen hat.29 28
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Hermann Noack: Zur Philosophie des Wilhelminischen Zeitalters. - In: Zeitgeist im Wandel. Bd. I Das Wilhelminische Zeitalter. Hrsg. y. Hans Joachim Schoeps. Stuttgart: Klett 1967. S. 1 4 6 - 1 7 2 , hier S. 170. Vgl. das 6. Kap. »Schloß Plaue gegenüber« im Abschnitt »Plaue a. H.« der »Fünf Schlössen, H F A »Wanderungen durch die Mark Brandenburg* Bd. 3 (1. Aufl. 1968) S. 1 2 6 - 1 3 9 , insbesondere S. i3off. Dazu Reuter, Fontane Bd. II, a.a.O. S. 648ff. A 16 im Fontane-Archiv Potsdam; vgl. Krueger in N F A Bd. X X I V , S. 1190. Eine indirekte Anspielung auf »Schopenhauer als Erzieher* könnte Fontanes Text >Nante Strümp als Erzieher* sein ( N F A Bd. X X I , 1 , S. 484-487); direkt ist er allerdings gegen Langbehns »Rembrandt ais Erzieher* gerichtet. - Das Kapitel der
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Die nächsten Belege einer gewissen Nietzsche-Wirkung auf Fontane stammen aus den neunziger Jahren, als die erste Rezeptionsphase Nietzsches — ausgelöst vor allem durch Brandes und durch den bekanntgewordenen geistigen Zusammenbruch Nietzsches - bereits eingesetzt hat.30 Zwei Schlagwörter machen die Runde: der »Ubermensch« - 1891 ist der IV. Teil von >Also sprach Zarathustra< zusammen mit den DionysosDithyramben erschienen - und die »Umwertung aller Werte« — ein Hauptstichwort des späten Nietzsche: neben den Texten des Nachlasses der achtziger Jahre, die zum Teil für das geplante Werk >Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte< gedacht waren, sind als Quellen die Werke >Jenseits von Gut und Böse< (1886, 2. Aufl. 1892), >Zur Genealogie der Moral< (1887, 2. Aufl. 1892) und >Götzen-Dämmerung< (1889) zu nennen. Das Schlagwort vom »Ubermenschen« benutzt Fontane nur einmal, im >Stedilin< (AFA Bd. 8, S. 313). Ebenfalls im >StechlinUmwertungen< sich oft schon in einem lumpigen halben Jahrhundert vollziehn.« (DD II, S. 178) An Mete schreibt Fontane am 30. 8. 1895 aus Karlsbad: »Das Wort Nietzsche's von der >Umwerthung< der Dinge, die durchaus stattfinden müsse, trifft überall zu.« (BP II, S. 244) Der Kontext des Briefs besagt, daß die Vorstellungen von »Leutnant« und »Unteroffizier«, von »Gesellschaft« und »Volk«, von Höherstehenden und Subalternen umgewertet werden müssen: »Ordnung, Sauberkeit und Herrschaft des gesunden Menschenverstandes« finden sich nur bei den jeweils Niedrigerstehenden. Ähnlich >Fünf Schlössen wurde am 8 . 2 . 1 8 8 8 beendet, in der »Vossischen Zeitung« v o m 1 3 . , i j . , 1 7 . u. 2 3 . 6. 1 8 8 8 vorabgedruckt und in >Fünf Schlössen ( 1 8 8 8 ) in Buchf o r m veröffentlicht. V g l . dazu J u t t a Fürstenau: Fontane und die märkische H e i mat. - Berlin: Ebering 1 9 4 1 . ( = Germanische Studien H e f t 2 3 2 ) . S. 1 6 2 - 2 3 3 , insbesondere S. 1 8 9 , 1 9 5 , 220. Außerdem die Anmerkungen J u t t a N e u e n d o r f f - F ü r stenaus in H F A >Wanderungen< Bd. 3, S . i i 2 9 f f . 30
V g l . dazu Peter Pütz, Nietzsche, a.a.O. S. 5 9 - 7 8 .
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schreibt Fontane einen T a g später, am 3 1 . 8 . 1 8 9 $ , an K a r l Zöllner in bezug auf den »ganzen Herkömmlichkeitsbrast«: »Das Wort von einer immer nothwendiger werdenden >Umwerthung< aller unsrer Vorstellungen, ist das Bedeutendste was Nietzsche ausgesprochen hat.« (BP I V , S. 130) Auf den Adel und das Militär bezogen, heißt es in einem Brief an Colmar Grünhagen vom 1 4 . 1 0 . 1 8 9 5 : »Die berühmte >Umwertung< auf die Nietzsche dringt, paßt auf nichts so sehr wie auf unsren K o m miß-Adel, der nichts ist, als eine Blüte einer absterbenden RoheitsEpoche. Gott sei Dank, daß es tagt!« ( B F R I I , S. 561) In dem gesellschaftskritischen Entwurf >Johann der muntere Seifensieder^ der vermutlich ebenfalls 1895 entstanden ist, 31 geht es um das wahre Glück, das auf keinen Fall mit Geld identisch zu setzen ist, wie es üblicherweise geschieht. In diesem Zusammenhang heißt es: Nietzsche hat das Wort >Umwertung< erfunden. Idi könnte ihm die Hände dafür küssen. Es muß alles >umgewertet< werden, und von dem Augenblick an, wo dies geschehen sein wird, wird zwar nicht das Unglück aus der Welt geschafft sein, aber die Menge des Glücks, die Zahl der Glücklichen wird unendlich gewachsen sein. (NFA X X I V , S. 1179) Besonders die letzte Formulierung zeigt, daß es Fontane weniger um einen Nachvollzug dessen geht, was Nietzsche lehren wollte, als um einen Begriff oder besser um ein Wort, das die Intention seiner eigenen, sehr aktuellen und auf die Wirklichkeit Preußens in der Wilhelminischen Ä r a bezogenen gesellschaftskritisdien Vorstellungen wiederzugeben vermag. Die Einschätzung Reuters, daß sich Fontane 1897 von Nietzsche wieder distanziert habe, ist problematisch, da auch vorher von einem wirklichen Einverständnis - das Kenntnis voraussetzt - keine Rede sein kann. Außerdem scheint mir Reuters Interpretation von zwei der drei auf Nietzsche sich beziehenden Stellen im >Stechlin< kurzschlüssig insofern, als Aussagen von Romanpersonen zu direkt - ohne Befragung der spezifischen Romansituation, ja in einem Fall sogar ohne angemessene Berücksichtigung des nächsten Kontextes - als Belege für die Distanzierungs-These genommen werden. Im 9. Kapitel des Romans - R e x und Czako haben Kloster Wutz verlassen, die Domina ist froh, Woldemar endlich allein sprechen zu können - berichtet die Tante von einem intimen Gespräch am Whistabend, bei dem Rentmeister Fix trotz seiner Bekenntnisstrenge seine Abneigung gegen den »Wortlaut«, d. h. die Buchstabentreue des Bibeltextes kundtut. 81 Vgl. Krueger in N F A Bd. X X I V , S. 1186.
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E r mußte wohl denselben T a g was gelesen haben, was ihn abtrünnig gemacht hatte. Personen w i e F i x sind sehr bestimmbar. U n d kurz und gut, er sagte: das mit dem >WortlautWerte< wären jetzt anders, und weil die Werte nicht mehr dieselben wären, müßten auch die Worte sich danach richten und müßten gemodelt werden. E r sagte >gemodeltWerte< und die N o t w e n d i g k e i t der >UmwertungÜber< machen will. Ich habe von soldien Leuten gelesen und auch welche gesehn. Ein Glück, daß es, nadi meiner Wahrnehmung, immer entschieden komische Figuren sind, sonst könnte man verzweifeln. ( A F A B d . 8, S. 3 1 3 )
Reuter meint, aus dieser Stelle eine eindeutige Entscheidung Fontanes gegen Nietzsche ablesen zu können, wobei Dubslav als Sprachrohr Fontanes angesehen wird. Indem Reuter das Dubslav-Zitat nicht vollständig wiedergibt - es endet nämlich mit dem emphatischen Ausruf »Und daneben unser alter Wilhelm!« - , unterschlägt er, daß Dubslav dem »Ubermenschen« als positives Gegenbild den »wirklichen Menschen« Kaiser Wilhelm gegenüberstellt, nicht etwa den Sozialdemokraten Torgelow, der im Roman ebenfalls eine eher komische Figur ist, die 32
Reuter, Fontane Bd. II, a.a.O. S. 797.
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siegt, ohne Dubslav und sein Ideal des »wirklichen Menschen« endgültig besiegen zu können. Reuters Analyse der Stechlin-Stelle wird an dem Punkt fragwürdig, wo er die Meinung der Romanfigur Dubslav zu direkt als — allenfalls durch Interpretation des Gesamttextes zu eruierende - Autormeinung ausgibt. Es kommt hinzu, daß Reuter zu den sdion genannten Äußerungen Lorenzens über den »Herdenmut« und den davon positiv abzuhebenden Mut des Einzelnen im 38. Kapitel nicht Stellung bezieht; diese Äußerungen aus dem Mund des eindeutig »fortschrittlichen« Pastors widersprechen der Distanzierungs-These, auch wenn man berücksichtigen muß, daß für Nietzsche der Begriff »Herdenmut« wohl eine unzulässige Kontamination zweier einander eher ausschließender Begriffe darstellen würde. Lorenzen wie Nietzsche lehnen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, das schlechte »Allgemeine« zugunsten der Verantwortlichkeit des (großen) Einzelnen ab — warum sollte sich Fontane, Liebhaber des »Einzelfalls« wie Dubslav, von Nietzsche in toto distanzieren? Nicht einmal der von Reuter zitierte Brief an Friedrich Paulsen vom 14. 3. 1897, in dem sich Fontane für einen Artikel Paulsens in der »Vossischen Zeitung« über den »wunderbaren und auch wieder nicht wunderbaren Einfluß Nietzsches auf unsre Reservelieutenants und die, die's werden wollen« bedankt (BE II, S. 416), gibt für die DistanzierungsThese viel her, da in Reuters Interpretation der Autor Nietzsche und seine (problematische) Wirkung nicht auseinandergehalten werden. Zumindest hätte Reuter an dieser Stelle darauf hinweisen müssen, wie heftig sich Nietzsche selbst gegen Borussismus, Militarismus und Chauvinismus gewandt hat - etwa, wenn er schon 1870 in der Zukunft ein »verkapptes Mittelalter« zu erkennen wähnt und glaubt, seinen Freund Rohde vor dem »fatalen kulturwidrigen Preußen« warnen zu müssen,33 wenn er im ersten Stüde der »Unzeitgemäßen Betrachtungen« über den Bildungsphilister David Friedrich Strauß vor den Folgen des Sieges über Frankreich warnt, eines Sieges, der leicht zu einer »Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des >deutschen ReichesGötzen-DämmerungDie Krankheit des Jahrhunderts< (unberechtigter Vorabdruck 1888, rechtmäßige Ausgabe 1889) und dem umstrittenen kulturkritischen Werk >Entartung< ( 1 8 9 2 / 9 3 ) beschäftigt hat, wird aus dem Briefwechsel mit Friedlaender und Stephany und aus einer kleinen, erst posthum veröffentlichten Parodie auf >Entartung< ersichtlich. A m 12. I i . 1888 schreibt Fontane an Friedlaender: Ich kenne Nordans's Buch [>Die Krankheit des JahrhundertsAus den Kriegstagen i8/o< ( 1 8 8 6 ) , das dem Autor eine Klage zuzog, 40 andererseits auf die Situation in Preußen nadi dem Tod Friedrichs III., als von liberaler Seite aus eine ungute Steigerung militärischen Einflusses in Preußen unter Wilhelm II. befürchtet wurde. Die von Fontane gelesenen Auszüge der >Krankheit des Jahrhunderts< beziehen sich offenbar auf den Ersten Band des Romans, vor allem auf
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seines Lebens. - Leipzig, Wien: Renaissance-Verlag 1928, S. 109. Anna und M axa Nordau·. M a x Nordau. A Biography. Translated from the French. - N e w Y o r k : N o r d a u Committee 1943, S. 88. In beiden Darstellungen wird Fontane nicht erwähnt. Zur Biographie Nordaus vgl. audi die Artikel im »Jüdischen Lexikon« (Ein enzyklopäd. Handbudi d. jüd. Wissens in vier Bänden. Begr. v. Georg Herlitz u. Bruno Kirschner. Berlin: Jüdischer Verlag 1930. Bd. I V / i , Sp. 519-21) und in der »Encyclopaedia Judaica« (Jerusalem 1971. Bd. 12, Sp. 1 2 1 1 - 1 2 1 4 ) . V g l . auch die Briefe an Friedlaender vom 28./29./ 30. 9. 1892 und an Mete vom 24. 8. 1892; B F S. 189L und B P II S. 203. Erste Erwähnung im Brief an Friedlaender v o m 7. 1 1 . 1886, danadi vor allem in den Briefen vom 8. 11. u. 15. 11. 1886, 3.4., 3. u. 6. $., i j . u. 24.6., 7. 12. 1887 (BF S. 60, 6 i f . , 6i{., 70-72, 72, 73, 74f., 76f. u. 84f.).
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das 3. und 4. Kapitel. 41 Wilhelm Eynhardt, der Held des Romans, dessen Abneigung gegen die Bevorzugung des Militärs im reichen deutschen Bürgertum, gegen die Uniformen als bloße Kostümierung schon vorher deutlich wird,42 versieht im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 in passivem Heldentum seinen Dienst - geliebt von der Mannschaft, verachtet vom Großteil des adligen Offizierskorps. Während der Schlacht um Dijon im Januar 1 8 7 1 , die von Nordau übrigens ähnlich geschildert wird wie in Fontanes französischem Kriegsbuch,42a rettet Wilhelm seinen Hauptmann, wird verwundet und lernt im Lazarett den Arzt Doktor Schrötter kennen, einen alten Achtundvierziger, der nach der gescheiterten Revolution nach London emigrierte und bis 1870 in Indien seinen Dienst als Arzt versah. Der junge skeptische Physiker und Philosoph Wilhelm und der altersweise Philanthrop Schrötter werden Freunde. Beim Einzug der siegreichen Armeen in Berlin beklagt Schrötter die Barbarei, in der der moderne Mensch nodi immer steckt und die im Krieg ihre Maske der Zivilisation fallenläßt. Friedrich Wilhelm III., einem wortbrüchigen Despoten, wird ein Denkmal gesetzt: »So konfiszieren die regierenden Klassen die Ergebnisse der Volksanstrengungen für ihre dynastischen und feudalen Zwecke und reden dem Volke ein, es habe sich für die bestehende Ordnung geschlagen.« (S. 158) Schrötter fährt fort: »Junker und Pfaffen werden sich jetzt wieder breit machen und der Militarismus wird seine Hand auf das ganze Nationalleben legen. Schon sagt man ja, nicht der Schulmeister, sondern der Offizier habe Deutschland groß und mächtig gemacht. Diese Dreistigkeit bringt mir das Blut in Wallung.« (S. 159) Daß Wilhelm wegen eines Duells, das er dem adligen Nebenbuhler und Roué von Pechlar verweigert, nachdem er schon das Eiserne Kreuz für die Rettung seines Hauptmanns abgelehnt hat, unehrenhaft aus der Armee entlassen wird, beweist die Stärke des militärischen Komplexes: Schröt41
Max Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts. 2 Bde. - Leipzig: Elisdier 1888. } . Kap. »Von Heieden lobebaeren« S. 9 5 - 1 4 7 , 4. Kap. »Es hat nicht sollen sein« S. 148-200 des Ersten Bands. 42 Im 2. Kap. »Eitelkeit der Eitelkeiten«, vor allem anläßlidi der Silvesterfeier im Elternhaus von Wilhelms Angebeteter Loulou Ellrich, S. J7ff. 42a Vgl. Fontane: Der Krieg gegen Frankreich 1 8 7 0 - 1 8 7 1 . II. Band: Der Krieg gegen die Republik. II. Halbband: Orleans bis zum Einzüge in Berlin. - Berlin: Decker 1876, S. 9 7 3 - 9 8 1 , insbesondere die Abschnitte »Das 2. Bataillon 61 im Kampf gegen Chateau Pouilly und die Knochenkohle-Fabrik« (976-979) und »Die Fahne vom 2. Bataillon 61. Regiments« (979-981). Übrigens wurde die Episode des Kampfes um die Fahne des 61. Regiments sehr bekannt und in einer Vielzahl von Gedichten, u. a. von Friedrich Eggers, dargestellt.
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ters düstere Ahnungen erfüllen sich. Es ist nur konsequent, daß Wilhelm später ein O p f e r der Sozialistengesetze wird: er muß Berlin verlassen, weil er aus Mitleid Arbeiter und Sozialisten finanziell unterstützt hat. Auch im 4. Kapitel des Zweiten Bands kommt die Rede noch einmal auf die zunehmende Macht des Militärs: Schrötter versucht, Wilhelm zu einer v o m Staat zu erbittenden Rückkehr nach Berlin zu bewegen, da er es angesichts der sich zuspitzenden Entwicklung dort ohne seinen Freund nidit mehr aushalten kann. Schrötter meint, eine Unterwerfung sei »in dem monströs ungleichen Kampfe des Einzelnen gegen die organisirte Gewalt des ganzen Staates« keine Schande (S. 246). Man suche Deutschland in den Absolutismus zurückzusdileppen, man gebe ihm »die abscheulichste Form der Selbstvergötterung, den Chauvinismus«. (S. 247) M a n verfälscht ihm seine Ideale, indem man den O f f i z i e r zum N a t i o n a l heiligen dekretirt, v o r dem das ganze V o l k mit Inbrunst seine Andacht verrichten soll. D i e Zeitung, das Buch, das Bild, die Bühne, der Lehrstuhl, Alles predigt: der höchste Ausdruck des Menschenthums ist der O f f i z i e r und Strammheit, Schneidigkeit, das heißt Unselbstständigkeit, Beschränktheit, Dünkel, Uberhebung, sind die erhabensten Eigenschaften des Mannes und Staatsbürgers. (S. 248)
Deutschland sei in Gefahr, ein perfekterer Polizeistaat als vor 1848 zu werden (S. 249). Schrötter — die einzige wirklich positive Figur in Nordaus Roman, denn audi Wilhelm leidet an der Krankheit des Jahrhunderts, die für ihn eine Krankheit zum Tode wird - ähnelt in vielen Zügen dem alten Fontane; dessen Ubereinstimmung mit Teilen des R o mans wird sich wohl vor allem auf diese gelungene Figur beziehen, eine Figur von einer über allen Erscheinungen schwebenden Friedlichkeit, »die das Vorrecht kluger Greise ist, welche die Rechnung mit dem Leben abgeschlossen haben und wie kritische Zuschauer ohne Illusionen das Ende der Komödie abwarten« (Bd. I, S. 138). 1892 erscheint Nordaus Novellensammlung >Seelenanalysen< im Verlag des 1891 gegründeten »Vereins der Bücherfreunde«, dessen V o r stand außer Fritz Mauthner, Ernst von Wolzogen u. a. audi Fontane angehört. D a ß zusammen mit Werken von Heiberg und Kretzer die Novellensammlung Nordaus in das Programm der ersten Jahre aufgenommen wird, zeigt die Popularität Nordaus in dieser Zeit; es ist durchaus möglich, daß sich Fontane für die Aufnahme der Nordauschen Sammlung eingesetzt hat, da sie seinem psychologischen Interesse entgegenkam. Über die künstlerischen Qualitäten der Nordauschen Belletristik wird sich Fontane wohl kaum Illusionen gemacht haben.
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Am aufschlußreichsten für Fontanes Verhältnis zu Nordau ist der auf Nordaus zweibändiges Werk >Entartung< bezogene satirisch-parodistische Text >Der Vater vons Janze< (1893) 4 8 sowie der darauf bezogene Briefwechsel mit Stephany vom 6. und 8. 6.1893. Fontane hat offenbar Nordaus >Entartung< nicht primär gelesen, sondern nur die Besprechung Ridiard Fellners in der »Vossischen Zeitung« vom 4. und 6. 6.1893, die vor allem auf die Polemik Nordaus gegen Ibsen eingeht. So nahm er, was sicher aufschlußreich gewesen wäre, zur Gesamtthese des Buches nicht Stellung. Fontane folgte, wie er am 6. 6. 1893 an Stephany schreibt, Nordaus Anti-Ibseniaden »mit Entzücken, denn Nordau ist ein ganz grundgescheiter Mann, aber dodi ebenso auch unter intensivstem Lachen. Denn so gewiß Nordau ein geistreicher Mann ist, so gewiß ist Ibsen ein großer Dichter.« (DD I, S. 446) »Als ich mit der Lektüre des Morgenartikels durch war, stach mich die Tarantel, und ich schrieb das, was ich mir beizuschließen erlaube [nämlich >Der Vater vons JanzeDer Vater vons Janze< - eine fingierte Buchankündigung parodiert Nordaus Neigung, trotz richtiger Teilbeobachtungen grob43
Posthum veröffentlicht 1933/34 im i . B d . der »Berlinischen Blätter«, hrsg. v. Herbert Sommerfeld; N F A Bd. X X I , 1 , S. 488-490, dazu Erläuterungen in Bd. X X I , 2 , S. 728-730.
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schlächtig, weil nicht differenzierend und abwägend - also nicht im eigentlichen Wortsinn »kritisch« — zu urteilen und zu verurteilen. Der »Klassizitäts-Popanz des vorigen Jahrhunderts« wird zum »Vater vons Janze«, nämlich zum eigentlich Schuldigen an der sittlichen Verrohung der modernen Literatur. Zu spät habe man gemerkt, daß Lessing im >Nathan< Blasphemist, Schiller im >Wilhelm Tell< Anarchist, Goethe im >Faust< Pornograph gewesen sei; durch die Erhebung dieser drei Autoren zu Klassikern seien die eigentlich für die deutsche Volksseele wichtigen Dichter im Umkreis etwa von Ernst Keils »Gartenlaube«, vor allem die Marlitt und die Heimburg, zu Unrecht in den Ruf wertloser Massenschreiber geraten. Der (anonyme) Verfasser des angekündigten kleinen Buchs, so wird mitgeteilt, sei entweder ein auf dem Gebiet der Politik tätiger Geistlicher, eine noch höher stehende Persönlichkeit in der Umgebung eines deutschen Fürsten oder gar dieser selbst. Auf das Ibsen-Kapitel von Nordaus >EntartungEntartung< gelesen hat, ist nicht bekannt. Nordau konstatiert, daß Fontane von der Gruppe der »jungdeutschen Zola-Nachäffer« zum Ehrenmitglied ernannt worden sei, obwohl er doch keineswegs hierhin gehöre, sondern ein echter Dichter sei, »dessen Romane neben den besten, die gegenwärtig von irgend einem europäischen Schriftthum hervorgebracht werden, ihren Platz behaupten [ . . . ] « . 4 8 Auch wenn Nordaus Urteil über den deutschen Naturalismus keineswegs gerecht ist - vor allem, was Holz und Schlaf angeht, Hauptmann wird mit den >Webern< Anerkennung gezollt - , ist doch positiv zu vermerken, daß Nordau als einer der ersten die europäische Bedeutung von Fontanes Romanwerk hervorhebt. Anklänge an Fontanes Romane in Nordaus belletristischem Werk belegen diese positive Einschätzung; es sei nur auf den 1891 erschienenen Roman >Gefühls-Komödie< 49 hingewiesen, in dem man — wie in >Cecile< von Thale aus eine Partie nach der Roßtrappe unternimmt, auf der sich die Hauptpersonen, Gustav Bruchstädt und Paula Ehrwein, näherkommen. Wie groß freilich die qualitative Differenz zwischen Nordau und Fontane in bezug auf psychologische Sensibilität und sprachliche Realisationskraft ist, ließe sich bei einem Vergleich dieser Romane zeigen, die beide eine Frau aus »zweifelhaften« Verhältnissen als »Heldin« aufweisen. Nordaus plakative, darwinistisch geprägte Psychologie bleibt an der Oberfläche des (männlich bestimmten) »common sense«; die Moral der Geschichte (»Wahrhaftigkeit for ever«; S. 2 6 1 ) ist auf der Folie des sprachlichen Gemeinplatzes zu lesen, daß der Mann notwendig der Gefoppte sein müsse, »wenn er mit einer Frau eine Gefühlskomödie spielt. Denn darin ist sie ihm immer über.« (S. 262) Dagegen beweist Fontane ein Höchstmaß an Einfühlsamkeit in die (soziale) Kranken« Die Fackel N r . 9 ( 1 8 9 9 ) S. 2 i f . 47a
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Die (leicht antisemitisch getönte) spätere Kritik an einem Schiller-Aufsatz des mittlerweile f ü r den Zionismus kämpfenden Kulturkritikers bestätigt die gewonnene Position Fontanes (Brief an Stephany v o m 20. 1 1 . 1 8 9 6 ; B Z I I S . 4 0 7 ^ ) . V g l . auch die Briefe an den Sohn Theodor v o m 6 . 5 . 1895 ( B E I I S. 3 7 3 ) und an Stephany v o m 2 1 . 2. 1898 ( B Z II S . 454). N o r d a u , Entartung, a.a.O. Z w e i t e r Band, Viertes Buch »Der Realismus«, I » Z o l a und die Zolaschulen« und II »Die >jungdeutschen< Nachäffer« S. 4 6 7 . Breslau: Sdilesische Buchdruckerei, Kunst- und Verlags-Anstalt, vormals S . Sdiottlaender.
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geschickte der Heldin; in kaum einem anderen seiner Romane hat die Sprache selbst so direkten Anteil am psychischen Geschehen, nuanciert sich das psychische Thema in so differenziertem Einsatz sprachlichkommunikativer Valeurs. Nordau bleibt - anders als in seinen kulturkritischen Schriften der achtziger Jahre - im »Konventionellen« stecken, während sich Fontane einmal mehr der Devise verschreibt, die er in einem Brief an seine Frau vom ι j . 6.1883 formuliert hat: daß es nämlich Zweck und Ziel von Kunstwerken sei, »sich über das Conventionelle zu erheben« (BP I, S. 202).
Paolo Mantegazza und das »nervöse Jahrhundert« »>Es ist doch mit dem Nervensystem etwas Singulares. U n d es stört mancherlei^ >C'est le temps!< [ . . . ] >Un peu mystique, un peu clair-obscur, un peu de clairvoyance et un peu de verità, voilà t o u t . « Willibald Alexis«»
D a ß das neunzehnte Jahrhundert ein »nervöses« Jahrhundert gewesen sei, ist in der kulturkritischen Literatur des ausgehenden Saeculums fast ein locus communis; es gilt keineswegs erst für die Zeit des »fin de siècle«, des Impressionismus und der Neuromantik, w o man — nach einer etwas saloppen Formulierung Gotthart Wunbergs - Nervosität »trug« wie nach dem Zweiten Weltkrieg Existenzialismus, 61 sondern schon für die Ä r a Bismarck, ja in weiterer Allgemeinheit für das gesamte Jahrhundert seit der Frühromantik. 52 »Nervosität« konnte frei50
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Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Vaterländischer Roman. 2 Bde. - Berlin: Haude & Spenersdie Verlagsbudih. 1968. [Neuausg. d. Neudrucks N a u n h o f bei Leipzig: Hendel 1938]. S. 46 d. Ersten Bands. Utopie und fin de siècle. Z u r deutschen Literaturkritik vor der Jahrhundertwende. Ein Vortrag. - In: D V j s . 43 (1969) S. 685-706, hier S. 704. V g l . zur allgemeinen Einschätzung Richard M. Meyer·. Die deutsche Literatur des Neunzehnten Jahrhunderts. - B e r l i n : Bondi 1900. ( = Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung. Hrsg. v. Paul Schienther. Bd. 3), v o r allem das den Jahren 1880-1890 gewidmete 9. K a p . (S. 748-880). »nervös ist man allgemein, wie zur Zeit der Romantiker nur die Privilegierten es waren. Eine unruhige H a s t überall: in der Gesetzgebung wie im Kunstgewerbe, in den Moden wie in den Weltanschauungen. Mit atemloser Unruhe wirft man sich von der einen Seite auf die andere.« (S. 749) »Man w a r das A l t e satt, und das Neue w a r noch nicht schmackhaft.« (S. 7 j i ) Auch Wilhelm Bölsche gebraucht das Epitheton »nervös« für das 19. Jahrhundert: Hinter der Weltstadt. Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur. — Leipzig: Diederichs 1901. »Dem neunzehnten Jahrhundert« (S. 1 22),hier S. Ii.
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lidi — negativ oder positiv — nur deshalb zur begrifflichen »Signatur der Zeit«58 werden, weil der Begriff selbst vieldeutig war; Lexer verzeichnet in Bd. 7 des Grimmschen Wörterbuchs, der 1889 erschien, drei Bedeutungen für »nervös«, die das gesamte Spektrum des Begriffs andeuten: »nervös« im Sinn von »nervig, kraftvoll« - »nervös« im Sinn des neutralen »die Nerven betreffend« — »nervös« im Sinn der eher negativen, medizinisch-psychologischen Bedeutungsvariante »reizbare Nerven habend, nervenschwach« (Sp. 617). Die negative Variante wird gegen Ende des alten und zu Beginn des neuen Jahrhunderts zunehmend betont; gleichzeitig entsteht die artistisch-ästhetische Verkehrung ins Positive, Elitäre. Als Krankheit im individual- und sozialpsychologisdien Sinn wird Nervosität seit den achtziger Jahren bevorzugt erforscht: schon 1881 erscheint Beards >American Nervousness, its Causes and ConsequencesSexual Neurasthenia«, 1893 bringt Erb seine Arbeit >Über die wachsende Nervosität unserer Zeit< heraus, 1895 erscheint Krafft-Ebings >Nervosität und neurasthenische ZuständeEffi Briest< dargestellt hat, wird in der Forschungsliteratur verschiedentlich aufmerksam gemacht. Fontanes eigene Nervosität ist (nicht nur beiläufiges) Thema vieler Briefe 55 von der Jugend bis ins Alter: ein Thema, das freilich nicht nur zu Klagen Anlaß gibt, sondern auch zur gelegentlich geäußerten Meinung führt, daß für den Beruf des zeitkritischen Schriftstellers diese nervliche Ausstattung nidit ganz schlecht gewesen sein kann. Man kann davon ausgehen, daß sich Fontane in den Jahren nach der Reichsgründung zunehmend für die Nervosität des Zeitalters interessiert hat. >Cecile< entsteht seit Juni 1884 und wird 1887 als Buch veröffentlicht. Walter Müller-Seidel vermerkt in seiner Analyse der Novelle, daß besonders hier eine Nähe Fontanes zur Sensibilität der Impressionisten zu beobachten sei, vor allem im für den Aufbau der Novelle zentralen Motiv der Krankheit. Die literarische Krankengeschichte - eine für die Zeit symptomatische Hinwendung zur psychologischen Studie! - werde freilich der Erzählstruktur untergeordnet; deren Ambivalenz (»erzähltechnischer Perspektivismus«) verweise jedoch darauf, daß dem Leser die Frage nach dem kausalen Erklärungsgrund von individueller Kränklichkeit als offene gestellt und ihm dadurch die Verknüpfung von individueller und gesellschaftlich bedingter Kränklichkeit nahegelegt wird, so daß auch die Krankheitsgeschichte zum Zeitroman werde.58 Fontane selbst schreibt im Brief an Colmar Grünhagen vom 10. 10.1895, alle seine Frauengestalten hätten einen »Knacks« weg, weil ihre Menschlichkeiten, d. h. ihre Schwächen und Sünden in einer Welt von gesellschaftlich geforderten »Kunstprodukten« wie Frömmigkeit, Keuschheit, Sittlichkeit nur negativ gewertet werden können, obwohl sie gerade das Positive, »Eigentliche« des Menschen, seine Echtheit, Natürlichkeit und Ehrlichkeit ausmachen (BE II, 55
Aus der Vielzahl der Belege seien genannt der Brief an Lepel vom 7. 4. 1849 (BL I, S. 160), an die Mutter vom 18. 9. 1857 (BP I, S. 37), an die Frau vom 2 j . 1. i 8 j j (BE I, S. 261) und vom 23. 6. 1862 (BE I, S. 302), an Maximilian Ludwig vom 2. 5. 1873 (BE I, S. 388), an die Frau vom 26. 7. 1883 (BP I, S. 227), an Mete vom 1 3 . 8. 1889 (BP II, S. 144). Vgl. auch Anm. 53. se Müller-Seidel, Theodor Fontane, a.a.O. S. i86ff.
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S. 3 8 2 ) . Prägnanter läßt sich die Verschränktheit des individuellen » K n a c k s « mit der K r a n k h e i t des nervösen und heuchlerischen J a h r hunderts nicht andeuten. E s p a ß t zu Fontanes Interesse f ü r diesen Problembereich, daß sich in seiner Bibliothek ein W e r k Paolo Mantegazzas
mit dem Titel >Das ner-
vöse Jahrhundert< befindet; Anstreichungen und Marginalien Fontanes belegen eine recht intensive Lektüre. 5 7 W a n n Fontane das W e r k in die H a n d bekam und durch wen es vermittelt w u r d e , ist unbekannt; der N a m e M a n t e g a z z a s taucht m. W . w e d e r im kritischen W e r k nodi im R o m a n - und B r i e f w e r k des A u t o r s je a u f , in der Forschungsliteratur finden
sich — außer der Titelangabe bei Schobeß -
keine Hinweise.
Wahrscheinlich erhielt Fontane das Buch durch den Leipziger V e r l a g Steffens, bei dem auch >Irrungen, Wirrungen< 1 8 8 8 erschien. 58 Möglich w ä r e auch eine Vermittlung durch E d u a r d Engel, der M a n t e g a z z a s >Physiologie der Liebe< übersetzt hatte 8 9 und mit Fontane seit 1 8 8 1 recht gut bekannt w a r . 6 0 P a o l o M a n t e g a z z a ist heute, jedenfalls im deutschen und englischen Sprachraum, k a u m dem N a m e n nach bekannt, 6 1 o b w o h l seine Schriften gegen E n d e des vorigen Jahrhunderts gerade in Deutschland viel gelesen wurden. 6 2 D e r A u t o r w u r d e 1 8 3 1 in M o n z a geboren. N a c h längeren 57
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Paul Mantegazza: Das nervöse Jahrhundert. Einzig rechtmäßige Übersetzung. Leipzig: Steffens o. J . [1888]. Vgl. Joadiim Sdiobeß: Die Bibliothek Theodor Fontanes. - In: Marginalien. Blätter der Pierckheimer-Gesellschaft H. 14 (Dezember 1963) S. 2-22 (Hinweis auf Mantegazza S. 17). Oberarbeitete Fassung: FontaneBlätter 2 (1973) H . 8, S. $37-563 (Hinweis auf Mantegazza S. 553). Für die Übersendung von Fotokopien und freundliche Hilfe bei der Entzifferung der Marginalien Fontanes danke idi Herrn Joadiim Sdiobeß und dem Theodor-FontaneArdiiv der Deutsdien Staatsbibliothek Potsdam. Vgl. die Anzeige des Verlags auf der unpaginierten S. 159: zuerst Fontanes E r rungen, WirrungenDas nervöse Jahrhunderte Paul Mantegazza: Die Physiologie der Liebe. Aus d. Ital. v. Eduard Engel. - Jena: Costenoble 1877,81888. Vgl. dazu Eduard Engel: Menschen und Dinge. Aus einem Leben. - Leipzig: Koehler & Amelang 1929, S. 9-14. Engel hatte im »Magazin für die Litteratur des Inund Auslandes« am 12. 2. 1881 Fontanes >L'Adultera< besprochen. Dazu der Brief Metes an die Mutter vom 6./10. 3. 1881, in: Mete Fontane, Briefe an die Eltern 1880-1882. Hrsg. u. eri. ν. Edgar R. Rosen. Berlin: Propyläen 1974, S. i$8f. Indiz hierfür: während sowohl im Grande Dizionario Enciclopedico (3. Aufl. Bd. I i , 1969, S. 840) wie im Grand Larousse encyclopédique (Bd. 7, 1963, S. 43) längere Artikel über Mantegazza stehen - der Grand Larousse bringt sogar eine Fotografie - , fehlt sein Name in den neuesten Auflagen des Brockhaus (seit der 16. Aufl. 19$$) und der Encyclopaedia Britannica (15. Aufl. 1974). Vgl. die Artikel über Mantegazza in der 13. Aufl. (Bd. 1 1 , 1885, S. 419) und 14. Aufl. (Bd. I i , 1894, S. $62f.) des Brockhaus. Die Länge des Artikels in der
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Reisen durch E u r o p a und Südamerika ließ er sich als A r z t 1 8 5 8 in M a i land nieder; i 8 6 0 w u r d e er Professor der Pathologie in P a v i a , w o er das erste pathologische Laboratorium E u r o p a s gründete, 1 8 7 0 Professor der A n t h r o p o l o g i e am Istituto di studi superiori Florenz. H i e r begründete er ein anthropologisch-ethnographisches Museum und die Fachzeitschrift » A r c h i v i o di antropologia ed etnologia«. N e b e n seiner wissenschaftlichen Tätigkeit e r w a r b er sich Verdienste als Politiker ( 1 8 6 j - 1 8 7 6 Deputierter der italienischen Abgeordnetenkammer, danach Senator), als Reiseschriftsteller und v o r allem als Popularisator wissenschaftlicher und volkshygienischer Erkenntnisse. M a n t e g a z z a w a r überzeugter D a r winist und Verfechter einer evolutionistischen
Wissenschaftstheorie.
Seine Bücher" 8 erschienen meist in hohen A u f l a g e n und w u r d e n in
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14. Aufl. des Brodkhaus verweist darauf, daß Mantegazzas Berühmtheit in den neunziger Jahren und um die Jahrhundertwende am größten w a r ; entsprechend umfangreich ist der Artikel über ihn in Bd. 22 der von 1885-1904 erschienenen Grande Encyclopédie (S. 1179). Seine breite schriftstellerische Tätigkeit läßt sich auch an den über 200 Einzelveröffentlichungen einschließlich Übersetzungen ablesen, die der N a t i o n a l Union Catalog Washington verzeichnet (Bd. 359, 1974, S. 648-658). Vgl. auch Pagliainis »Catalogo Generale della Libreria Italiana« 1847-1899, Bd. E - O , S. 583^ Die wichtigsten Werke: fisiologia dell' amore< (1873, dt. ν. Eduard Engel 1877; 3. Aufl. 1888, 6. Aufl. 1892, 13. Aufl. 1906, 19. Aufl. 192$) - f i s i o l o g i a del piacere« (1880, dt. als >Physiologie des Genusses« 1881) - f i s i o l o g i a del dolore« (1880) - f i s i o l o g i a dell' odio« (1889, dt. als >Physiologie des Hasses« 1889) - f i s i o l o g i a della donna« (1893, dt. als >Physiologie des Weibes« 1893) - >Igiene dell' amore« (1877, dt. als >Hygieine der Liebe« 1877) - >Gli amori degli uomini. Saggio di una etnologia dell' amore« (1886, dt. als >Anthropologisch-kulturhistorisdie Studien über die Geschlechtsverhältnisse des Menschen« ι886, 3. Aufl. 1888). Die beiden allgemein kulturkritischen Werke >11 secolo nevrosico« (1887), das im Zusammenhang mit Fontanes Lektüre näher zu betrachten ist, und >11 secolo Tartufo« (1888, dt. als >Das heuchlerische Jahrhundert« 1889) waren nicht so erfolgreich wie die fisiologie«, vor allem die f i s i o l o g i a dell' amore«; dies mag auf eine gewisse Übersättigung des Publikums mit allgemeiner Kulturkritik gerade in den achtziger Jahren zurückzuführen sein. Mahal ( = Anm. 9) führt die f i s i o l o g i a dell' amore« in seinem Abriß der theoretischen Voraussetzungen des Naturalismus mit anderen als Beleg für das Konvergieren verschiedenster Ansätze im Zeichen des materialistischen Positivismus an, nennt aber fälschlicherweise 1871 (statt 1873) als Erstveröffentlichungsdatum. Was die »Physiologie der Liebe« zum erfolgreichsten Werk Mantegazzas machte, ist wohl das leidenschaftliche Plädoyer gegen die Vergewaltigung der Frau in der Gesellschaft, vor allem durch die konventionelle Ehe: solange die freie Gattenwahl nur f ü r Männer, nicht audi f ü r Frauen gilt, bleibt die Ehe »eine der fruchtbarsten Quellen des Unglücks«, ein »langsames Gift, welches das häusliche Glück, die Moralität eines Volkes, die ökonomische Entwickelung der Kräfte eines Landes vernichtet« (dt. Übers. S. 341). »Sich frei zu wissen ist eins der dringendsten Bedürfnisse des socialen Mensdien; das Gefühl der Freiheit giebt uns Opfermuth und Heroismus; ein Vertrag dagegen, der uns auf ewig fesselt, gegen den unser Wille machtlos ist, raubt der Treue viel von ihrer Würde und
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alle Kultursprachen übersetzt; mit Deutschland verband den GoetheVerehrer 84 ein besonders enges Verhältnis. Mantegazza starb im Alter von fast achtzig Jahren in San Terenzo, La Spezia. In seinem kulturkritischen Werk >Das nervöse Jahrhundert< - es wird im folgenden immer auf die von Fontane gelesene deutsdie Übersetzung Bezug genommen, nicht auf das Original - versucht Mantegazza, nach einer Diagnose der nervösen Krankheit des Jahrhunderts (Kap. 1 - 3 ) eine Therapie (Kap. 4) zu formulieren. Zunächst sei kurz auf das 4., sodann auf das 1. und 2. Kapitel eingegangen, bevor mit Hilfe ausführlicher Exzerpte das von Fontane vor allem beachtete 3. Kapitel dargestellt wird. Als Hygieniker glaubt der Autor an die Kraft vorbeugender Naturheilkunde, die die äußeren und direkt körperlidien nervösen Krankheiten zu bessern vermag. Das Erziehungswesen muß von außen reformiert, Auswüchse in Richtung einer einseitig formalen Ausbildung müssen gekappt werden. Wahre Demokratie ist nur möglich, wenn die allgemeine Nervosität überwunden ist. Der materielle Fortschritt muß solange Vorrang haben, bis die Bedürfnisse aller Bürger gestillt sind; er ist der wahre Gleichmacher der Gesellschaft, mehr als jede Revolution. Nichts ist demokratischer, als die Wissenschaft, die doch einen so aristokratischen Anschein hat; nichts ist so dumm-aristrokratisch, wie jene falsche Demokratie, die sich auf die Rhetorik beschränkt. (S. 1 3 3 )
Mantegazza unterscheidet die Nervosität der geringeren und der höheren Stände, die pathologisch zwar gleich, von den Ursprüngen her jedoch verschieden ist und insofern eine verschiedenartige Therapie erfordert (S. 134). Innerhalb der geringeren Stände sind nicht die Bauern, sondern vor allem die Fabrikarbeiter in den Städten nervös infiziert, sie sind der »GährungsstofF der socialen Revolutionen«, wofür neben den schlechten Lebensbedingungen in den Städten vor allem das tägliche »Gift eines verpesteten Journalismus« verantwortlich gemacht wird (S. 140). Daß nach dem Aufstand der Commune noch viele ähnliche proletarische Aufstände drohen, legt Mantegazza den falschen Erziehern aus den höheren Ständen zur Last: die »Höherstehenden stek-
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ihrem Verdienst. J e höher w i r auf dem Wege der Civilisation und des Fortschritts steigen, desto empfindlicher w i r d unser Nacken für jegliches J o d i , und mag dies noch so lieblich mit Rosen umwunden und sammetweich gepolstert sein, - das Joch beleidigt doch stets die menschliche W ü r d e . « (S. 3 5 1 ) V g l . den Goethe-Kalender auf das J a h r 1 9 1 0 . Hrsg. v . O t t o Julius Bierbaum u. C . Schüddekopf. Leipzig: Dieterich 1909. S. i o 7 f .
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ken [ . . . ] die Tieferstehenden leichter an, als die Tief erstehenden die Höherstehenden.« (S. 1 4 1 ) Die höheren Schichten werden selbst falsch erzogen: zu einem Leben ohne Willenskraft und Enthusiasmus, wie es Baudelaire geführt und in >Les fleurs du mal< beschworen hat (S. i43f.)· Einen Ausweg kann nur die Dämpfung der Sinne, viel Bewegung und ideal angesehene Arbeit bieten. Das Brod der heitern und beständigen Glückseligkeit ißt nur, wer sich müde arbeitet und jene dreifache Müdigkeit der Muskeln, des Gefühls und des Geistes kostet, welche das Recht, die Pflicht und die Aufgabe eines jeden Menschen ist. (S. 147)
Mantegazza verweist, ohne schon den Begriff selbst benutzen zu können, auf die Probleme des »fin de siècle«: es wird zum Beweis hoher Aristokratie, »sich immer gelangweilt zu fühlen und sich als nervös auszugeben« (S. 149). Diese »Koketterie mit der Nervosität« (S. 149) hat zwar auch, vor allem bei manchen Frauen, eine reizvolle und bisweilen komische Seite; wahres Glück wird es für die höheren Schichten jedoch erst geben, wenn der Begriff der Arbeit wieder zu Ehren gekommen ist. Dem Mittelstand, der zwischen unten und oben hin- und hergerissen ist, würde ein »bisdien mehr Ordnung und gesunder Menschenverstand in seiner physischen und moralischen Erziehung« zum Glück genügen (S. 153). Er, der 1789 die Allmacht der Aristokratie gebrochen hat, bedarf freilich am nötigsten einer neuen Schule; diese muß — im Gegensatz zur noch herrschenden » ruhelose [n], griechisch-lateinischarkadisch-metaphysische [n], nervösmachende [n] Vierfüßler-Schule« (S.IJ4)positiv und ideal sein, muß allen eitlen Wortschwall, alle schwülstigen Definitionen aus ihrem Sdioße verbannen, um uns Thatsachen zu geben, muß Alles, was todt ist aussondern, damit die Fäulniß des aus dem Leben Geschiedenen nicht die noch lebenden und gesunden Glieder ergreife und verpeste; damit wir moralisch glückliche Menschen in einer gesunden und glücklichen Gesellschaft haben. (S. 15 j)
Zu Beginn seines Werks (Kap. 1 , S. 1 - 3 3 ) gibt Mantegazza dem Jahrhundert drei Taufnamen: In physischer Beziehung ist das 19. Jahrhundert nervös. In moralischer Beziehung ist es heuchlerisch. In geistiger Beziehung ist es skeptisch. (S. 4)
Mantegazza plante offenbar, jeweils einem Taufnamen eine eigene Untersuchung zu widmen; veröffentlicht wurden jedoch nur die Arbeiten über das nervöse und das heuchlerische Jahrhundert. Nervosität
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wird definiert als »allgemeiner Zustand unseres ganzen Nervensystems« (S. 6); sie tritt vorübergehend auf, ist aber auch vererbbar, so daß es neben nervösen Individuen auch nervöse Familien, Völker und sogar Jahrhunderte gibt (S. 8). Wie Freud bezieht sidi Mantegazza häufig auf Beards Arbeit >American Nervousness, its Causes and Consequences< ( 18 81 ), kritisiert jedoch, daß sie zugleich unvollständig und übertrieben (S. 12), unwissenschaftlich und dennoch nicht gemeinverständlich sei (S. 13). Zwei etwas kurios anmutende Bilder aus dem Leben, »Titus Nervensiech« (S. 14-22) und »Nervina Krampfig« (S. 22-27) sollen die Symptome der leichten und der hochgradigen Nervosität illustrieren. Wichtig ist der Hinweis auf die Physiologie (oder das Skelett) der Nervosität: hierbei werden die übermäßige Reizbarkeit der Nerven, ihre Funktionsstörung in bezug auf Empfinden, Bewegen, Denken, Wollen und ihre allgemeine Schwäche unterschieden (S. 28-33). Im 2. Kapitel (S. 34-68) wird der pessimistische Grundzug des Jahrhunderts kritisiert: »Sein Gott ist Schopenhauer, sein Lieblingsdichter ist Leopardi, sein gefeiertster Romanschriftsteller ist Zola!« (S. 35) Mantegazza setzt diesem Pessimismus einen aufklärerischen und lebensbejahenden Optimismus entgegen: die Nervosität des 19. Jahrhunderts wird als vorübergehende Entbindungskrankheit des 20. Jahrhunderts angesehen (S. 36). Therapie kann es freilich nur geben, wenn zuvor die Erscheinungsformen der Nervosität im 19. Jahrhundert exakt analysiert werden. Der hypochondrische Grundzug der modernen Gesellschaft zeigt sich vor allem in einem alles durchdringenden Kritizismus. Hamlet kann als zeittypische Figur gelten (S. 41). Was jedoch im Bereich der Wissenschaft zum Fortschritt führt, läßt in Literatur, Kunst und Musik eine originale Leistung nicht mehr zu. In der »Kunst des Verfalls« (Bourget) werden nur hychondrisch die eigenen (eingebildeten) Leiden bespiegelt; das Bewußtsein einer großen Tradition schwächt die unmittelbare Schöpferkraft — das Thema des Epigonentums nach der »Kunstperiode« wird in Verbindung gebracht mit einer Kritik an der Décadence. Flaubert, Baudelaire und die Brüder Goncourt werden zu Kronzeugen des Verfalls der Literatur (S. 41-43). Die eigene Gegenwart wird ständig pessimistisch denunziert (S. 43f.). Ausführlich behandelt Mantegazza dann die Probleme des Alkoholismus (S. 45-51), 65 85
V g l . dazu die zentrale Stellung, die der Alkoholismus als Sujet des Naturalismus zur gleichen Zeit innehatte, etwa in Hauptmanns >Vor Sonnenaufgang« ( 1 8 8 9 ) , Conradis >Adam Mensdi< ( 1 8 8 9 ) oder Bleibtreus pathologischem R o m a n >Größenwahn< ( 1 8 8 8 ) .
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des Tabak-Abusus (S. 51-55), des Mißbrauchs von Kaffee und Tee (S. 5 5 f.), von Morphium und anderen Rauschgiften (S. j6f.). Er beendet das Kapitel mit einem pathetischen Hinweis auf die Denaturierung menschlicher Verhaltensweisen durch die moderne Zivilisation. Das umfangreiche 3. Kapitel (S. 69-122), das Ursachen und Folgen der modernen Nervosität untersudit, erweckte, wie erwähnt, Fontanes besondere Aufmerksamkeit. Tatsächlich finden sich hier Bemerkungen vor allem über die Mängel von Schulsystem und Erziehung und über das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft, die Fontanes eigene Einsichten bestätigten. Geburtsjahr der modernen Nervosität ist für Mantegazza 1789, das Jahr der großen Revolution; als ihre Mütter sind die magischen Begriffe der Verbrüderung, Freiheit und Gleichheit anzusehen. Während die Verbrüderung jedoch ein recht harmloses und wenig änderndes Ideal blieb, zerbrach die Freiheit mit den Ketten auch die Schutzwälle vieler Menschen, mit den neu erkämpften Rechten stieg die Zahl der Pflichten und Verantwortlichkeiten und damit auch die Unruhe in der Gesellschaft. Noch gravierender griff die dem bisherigen Prozeß der Zivilisation entgegenlaufende Idee der Gleichheit vor dem Gesetz und im Leben in das bisher auf Autorität und Hierarchie basierende Leben der Gesellschaft ein. Jedes Schaf glaubt nun, Wolf für die anderen Schafe sein zu können; um sich durchzusetzen, ist eine ständige Anstrengung von Gehirn und Nerven notwendig. Der allgemeine Schulzwang — hier das für Fontane besonders wichtige Stichwort - läßt niemandem mehr die Freiheit, dumm zu sein. Die Freiheit Allen; aber Niemandem die Freiheit, nicht lesen zu können, Niemandem die Freiheit, keine Bücher im Hause zu haben und die Frücht vom Baum des Guten und des Bösen zurückzuweisen. (S. 77; von Fontane angestrichen)
Prometheus und Adam sind die Heroen der aufgeklärten Zeit; ob dies für die Gesellschaft immer gut ist, wird von Mantegazza bezweifelt: Die allgemeine Freiheit hat die individuelle Freiheit aufgehoben, namentlich jene, das Alphabet und die Tinte, die Arbeit des Gehirns und der Nerven zurückzuweisen. (S. 78 ; von Fontane doppelt angestrichen)
Mantegazza fährt fort: Die Unwissenheit war ein Übel, ist es heute und wird es immer sein; aber die Sucht, Alle in das Reich des Wissens einzuführen, hat viele glückliche Menschen, die sich nidit mit einem Male einer ungewöhnlichen Anstrengung unterziehen konnten, unglücklich gemacht. (S. 78 ; von Fontane angestrichen)
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Wenn Mantegazza dem scharfen Auge des Beobachters Vorrang vor jeder A r t von Statistik beim Erkennen neuralgischer Punkte der Gesellschaft gibt, so streicht dies Fontane ebenfalls zustimmend an: K e i n statistisches Hülfsmittel, kein optisches Instrument kommt bis jetzt der schnellen und synthetischen Scharfsichtigkeit des menschlichen Auges gleich. (S. 80)
Was den Zustand des höheren Unterrichtswesens angeht, verweist Mantegazza auf seine fehlgeschlagenen Reformbestrebungen im italienischen Abgeordnetenhaus; seit diesen Bemühungen schätzte er die Unterrichts- und Erziehungsmethode als so grundsätzlich falsch, »arkadisch« und »pathologisch« ein, daß er sich nur noch auf seine Aktivitäten als kritischer Schriftsteller konzentrierte (S. 81 ; von Fontane angestrichen). Es änderte sich jedoch nichts: die Schulen verunstalten die menschlichen Gehirne noch ebenso grausam wie die Chinesen die Füße ihrer Töchter (S. 81 f . ; von Fontane angestrichen). Der nächste Abschnitt scheint Fontane so wichtig zu sein, daß er ihn mit mehrfachen An- und Unterstreichungen versieht: D e r Unterricht, den w i r unseren Kindern ertheilen, ist ein ungeheurer Mischmasch v o n unverdaulichem Lehrstoff, ranziger Rhetorik und pedantischem Arkadismus [einfach angestrichen]. Den K o p f mit Daten und Z a h len anfüllen, Sprachen lehren, die nicht gesprochen werden, die individuelle Initiative unterdrücken, um die Autorität der Namen an ihre Stelle zu setzen; mit allen Kräften und unter Aufopferung des gesunden Menschenverstandes [unterstrichen und doppelt angestrichen] Auszeidinungsgrade und Diplome erstreben, H a ß gegen Schule und Lehrer erwecken: D a s sind die hohen Ziele, die w i r bei unseren pädagogischen Methoden im A u g e haben. (S. 8 2 )
Der folgende Absatz wird von Fontane mit einer Schlangenlinie am Rand und einem ironischen »famos« versehen: D e n Kindern bringen w i r die Grammatik bei, die die Metaphysik der Sprache ist; den Jünglingen tischen w i r eine schon längst begrabene und vermoderte Philosophie auf; das Maturitàtsexamen ist ein akrobatisches Kunststück, das vielen jungen Leuten von gesundem Verstand die Glieder und selbst den H a l s bricht, während es viele D u m m k ö p f e mit papageiartigem Gedächtniß triumphiren läßt, und damit glauben w i r glückliche Menschen, weise Denker und nützliche Bürger heranzubilden! (S. 83)
Große Männer, so vermerkt Mantegazza befriedigt, haben es auch ohne Schule und trotz der Schule zu etwas gebracht; die meisten Studierenden vergessen zu ihrem Glück neun Zehntel des in der Schule Gelernten
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Hans Otto
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(S. 83). Ein satirisches Bild, von Fontane angestrichen, zeigt etwas von der stilistischen Emphase des streitbaren humanistischen Pädagogen Mantegazza: Wisset Ihr, mit wem ein soldier junger Mann, der soeben sein Doktorexamen bestanden, Ähnlichkeit hat? Ganz und gar mit einer Straßburger Gans, die, auf einem Brett festgenagelt (man lese Schulbank), mit sdiweren und unverdaulichen Speisen vollgestopft wird und der man die Speisen mit Gewalt eintrichtert, wenn sie nicht mehr essen will. Hinunter Brei und hinunter Logik, Metaphysik und Psychologie; hinunter Milch und hinunter Physik, Chemie, Mathematik, und immer hinunter, bis die Leber groß und fett wird und das Gehirn klein und schwach, ein würmerreicher Anger für Aberglauben und Obscurantismus. Nichts hat mehr Ähnlichkeit mit der Leber einer Straßburger Gans, als ein nach den pedantischen Grundsätzen unseres Jahrhunderts erzogenes menschliches Gehirn. Wie die erstere ein Leckerbissen für Feinschmecker ist, so ist letzteres ein Lieblingsgericht für die bürgerliche Tyrannei und für Jene, welche auf die menschliche Dummheit speculiren. (S. 84) Mantegazzas Resumé der gesellschaftlichen Misere unter den Bedingungen einer falsch verstandenen Gleichheit findet Fontanes Zustimmung: In der modernen Pädagogik, welche sich so abmüht, uns alle nervös zu machen, herrscht als Erbsünde jene gepriesene Gleichheit vor, welche allen unter der Sonne geborenen Menschenkindern dieselbe Schulbank, die gleiche Menge Wissenschaft und Kunst aufzwingt. Die Maturitätsprüfung und das Doctordiplom machen alle Menschen gleich, sagt das Gesetz und wiederholt der Minister; aber nach 20 Jahren stirbt der eine Doktor vor Hunger als Armenarzt und ist der andere Millionär oder Ratsherr. (S. 8 5 ; von Fontane angestrichen) Es gibt — auch unter formal gleichen Bedingungen - keine Chancengleichheit, es gibt kein Bestreben, die richtigen Leute an den rechten Platz zu stellen, indem man herausfindet, »welche Köpfe berechtigt sind, sich mit Lorbeer zu bekränzen, und welche hingegen geboren sind, um sich mit Wurst und Pökelfleisch zu schmücken« (S. 8 5 ; von Fontane angestridien)."1 Das nächste Thema Mantegazzas ist die moderne Hast·, die Uhr ist ein M
A u d i in >Das heuchlerische Jahrhundert* nimmt die Kritik an Schule und Erziehungswesen einen wichtigen Platz ein : die in der französischen Revolution inthronisierte Göttin der Vernunft wurde in jeder Schule, unsichtbar und allmächtig wie Gott, aufgestellt, die Söhne des Prometheus rächen ihren Vater (a.a.O. S. 1 1 4 ) . D i e Schulprogramme der Gymnasien gleichen Gargantuelischen Mahlzeiten (S. 1 1 5 ) , die Wissenschaft überwuchert in krankhafter Weise das Gefühl (S. 1 1 6 ) . »Lügner sind die Lehrer, Lügner sind die Schüler, Lügner die Examina, Lügner die Zeugnisse, die den Wert der Schüler bezeugen.« (S. 1 1 9 )
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nervöses Instrument, und wenn wir sie befragen, um einen Zug nicht zu versäumen oder ein Stelldichein [Fontane bemerkt dazu: »Wahrscheinlich ist Rendez-vous gemeint. Beim >Stelldichein< schlägt der Puls aus andern Gründen«] nicht zu vergessen, schlägt unser Puls schneller, wird unser Athem reger und erhält unser ganzes Nervensystem einen leichten Peitschenhieb. (S. 86) Eisenbahn und Telegraph w e r d e n als die z w e i H a u p t u r h e b e r der N e r vosität angesehen (S. 86-88). Dieses angespannte, dieses schnelle Leben macht uns alles Ubermaß zur Gewohnheit; und diese neue Atmosphäre erheischt einen sehr großen Verbrauch von Reizmitteln. (S. 88; von Fontane doppelt angestrichen) W ä h r e n d früher wenigstens die Frau v o n der modernen N e r v o s i t ä t v e r schont blieb - Zufluchtsort f ü r den M a n n »wie ein grüner Rasen, auf welchen er sich niederlassen konnte, u m die N e r v e n auszuruhen« —, h a t sich audi dies geändert. Fontane k a n n sich nicht verkneifen, durch Schlangenlinie und Fragezeichen sein Unverständnis f ü r diese A r t v o n Paschatum z u signalisieren. M a n t e g a z z a s Bemerkung, die »Enthaltsamkeit und die Unwissenheit der Frauen w a r e n wie eine frische A u e , auf welcher m a n v o n aller N e r v o s i t ä t genas« (S. 89), w i r d ironisch k o m mentiert: » D a f ü r w a r e n sie kolossal langweilig und z a n k t e n noch mehr und dümmer als jetzt.« D a s gesamte gesellschaftliche Leben unterliegt dem mächtigen Einfluß der »elektrischen Nervositätsatmosphäre«; so k o m m t es audi z u einer nervösen Literatur, einer nervösen P o l i t i k und einer nervösen Philosophie (S. 91). D i e Literatur
(S. 9 1 - 9 8 ) leidet an einer nervösen »Abgelebtheit« (S. 92).
U m dem Leser überhaupt nodi neuartige Gemütsbewegungen z u v e r schaffen, müssen die R e i z e in Form des Seltsamen, V e r w e g e n e n , U n keuschen, Grotesken und Ungeheuerlichen angeboten w e r d e n ; A b s i n t h , C o g n a c und M o r p h i u m ersetzen den gesunden W e i n des Schönen und Einfachen. V i c t o r H u g o , Musset, Sardou, D u m a s fils, R e n a n , Z o l a : alle sind mehr oder weniger nervös — v o n Baudelaire oder C a t u l l e Mendès ganz zu schweigen (S. 94). In der italienisdien Literatur bietet sich ein ähnliches B i l d ; sogar sich selbst mag M a n t e g a z z a v o n der allgemeinen N e r v o s i t ä t nicht freisprechen. M a n t e g a z z a betont die Interdependenz v o n Literatur und Gesellschaft: die Literatur entsteht in einem »historischen K l i m a « (S. 96). Sobald aber jene Literatur emporgewachsen ist, verändert sie auch ihrerseits, auf die eine oder die andere Weise, im guten oder im schlechten Sinne,
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Hans Otto Horch den Boden der sie hervorgebracht hat und sogar den Himmel, unter dessen Wölbung sie aufgewachsen ist. (S. 97; von Fontane angestrichen und mit »sehr gut« kommentiert)
M a n t e g a z z a f a ß t den Abschnitt über die nervöse Literatur w i e f o l g t zusammen: Die gegenwärtige nervöse Gesellschaft drückt ihren eigenen Charakter der Literatur auf, weldie unter allen Kundgebungen der treueste, der rechtmäßigste und der umfassendste Ausdruck ist, von dem, was ein Volk weiß und kann, von dem, was es denkt, was es wünscht, was es verabscheut; sobald aber die nervösen Geistesprodukte in den Handel gebracht sind, wirken sie ihrerseits modificirend auf die öffentliche Meinung und die Anschauungen der Menge, sodaß Nervosität X Nervosität = Nervosität in's Unendliche. (S. 97L) Fontanes Strich a m R a n d zeigt, d a ß ihm diese literatursoziologische E r k l ä r u n g einleuchtet. D e r Abschnitt über die N e r v o s i t ä t in der Politik
(S. 9 9 - 1 0 j ) scheint
Fontane nicht in gleichem M a ß interessiert z u haben; jedenfalls finden sidi hier keine Anstreichungen oder Marginalien. D i e P a r l a m e n tarismus-Kritik Mantegazzas ist auch nicht eben scharfsinnig, ebensow e n i g die K r i t i k am Pressewesen, an der ausufernden, nur an der Q u a n t i t ä t v o n Informationen interessierten Journalistik. D a ß in den protestantischen Ländern - im Gegensatz zu den katholischen - zu den politischen auch noch religiöse Streitigkeiten hinzukommen, verschärft hier das P r o b l e m der N e r v o s i t ä t . M a n t e g a z z a s negative B e w e r t u n g der allgemeinen » K r i t i k « veranlaßt den Ubersetzer, auf die wichtige F u n k tion der K r i t i k f ü r den wahren Fortschritt im Geistesleben der Menschheit hinzuweisen (S. 106 A n m . ) . D i e allgemeinen K ä m p f e führen nach M a n t e g a z z a z u z w e i schrecklichen Folgerungen (Fontane verbessert: »Folgen«): z u einer ungesunden P h i losophie und z u einem wenig glücklichen Leben (S. 106). D i e Philosophie
(S. 1 0 6 - 1 1 2 ) ist, zumal in Deutschland, pessimistisch;
die deutschen D e n k e r sind infolge z u vielen D e n k e n s nervös g e w o r den (!), so d a ß Schopenhauer, H a r t m a n n und ihre Schüler gerade in Deutschland besonderen E r f o l g haben konnten (S. 107). N e r v o s i t ä t und Pessimismus hängen unmittelbar zusammen; sobald es gelingt, der N e r vosität H e r r z u werden, w i r d die Philosophie w i e die Lebenseinstellung insgesamt w i e d e r optimistisch sein. Für das normale Leben gilt, daß durch die N e r v o s i t ä t das Empfindungsvermögen ungleich stärker als die Bewegungsfähigkeit wächst (S. 1 1 2 ) .
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Es entsteht eine Disharmonie, mit der sich Mantegazza zum Abschluß des 3. Kapitels ausführlich beschäftigt. Eine allgemeine Hyperästhesie ist zu beklagen, von der alle Einzelsinne betroffen sind und die bis in die »Hölle der Hypochondrie« führt (S. 1 1 7 ) . D e r nervöse Mensch hat nicht fünf Sinne, sondern fünfhundert, ja f ü n f tausend, und seine N e r v e n , die lauter Mikroskope, Teleskope, Mikrophone, Telephone und Galvanometer geworden sind, halten ihn in beständiger Unruhe, indem sie ihn in einen vielflächigen Spiegel verwandeln, der alles, w a s sich hoch oben und tief unten bewegt, aufnimmt. (S. 1 1 7 ; von Fontane angestrichen)
Bis hinein in die Bereiche der höheren Psychologie erstreckt sich die gesteigerte Empfindlichkeit: der Mensch flüchtet sich in eine phantastische Welt und findet zu seiner ständigen Enttäuschung und Entmutigung einen unaufhebbaren Gegensatz zwischen dem Ideal jenseits des Möglichen und der rauhen Wirklichkeit (S. ii8f.). Das immer mehr gesteigerte Empfindungsvermögen wird Endzweck des nervösen Lebens, anstatt zu einer sinnvollen Tätigkeit zu führen (S. 1 i^f.). Ergebnis ist entweder keine Tat, d. h. Fatalismus, Langeweile, Mutlosigkeit, Willensschwäche, oder eine pervertierte Tat, also das Verbrechen (S. i2of.). Der Hypochonder, der audi noch den Automatismus des vegetativen Lebens durch seine Uberempfindlichkeit stört, wird zum Extrem des Nervösen (S. 12 if.): Christian Buddenbrook ante portas. Fontanes Interesse an Mantegazzas Buch kulminiert - wie im Nachvollzug seiner Lektüre deutlich wurde - in dessen Darstellung der Problematik von Bildung, Erziehung und Schule, also einer der für das ausgehende 19. Jahrhundert entscheidenden Fragen. Fontane selbst hat zu dieser Problematik ausführlich Stellung bezogen, vor allem im 13. und 14. Kapitel seines autobiographischen Romans >Meine Kinderjahre< (1893/94; H F A Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, IV Autobiographisches, S. 117—142), aber auch immer wieder im eigentlichen Romanwerk und in den Briefen. 67 Er vermerkt mit lächelnder Genugtuung, daß er 67
Vgl. die Skepsis gegenüber Erziehungskonzepten z. B. bei Obadja (>QuittIrrungen, WirrungenEffi BriestFrau Jenny TreibelStedilinWanderungen< wendet sich Fontane anläßlidi der Darstellung des Ruppiner Schulmonarchen Thormeyer gegen eine Schule, die alles Gewicht auf das »Autoritative« legt; »soll aber andrerseits
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verglichen mit dem Vorbild der Eltern, insbesondere aber mit der sokratisch-freiheitlichen Methode des Vaters - in der Schule nichts Wesentliches gelernt habe. Lernen ist f ü r Fontane ein nie zu Ende kommender Prozeß (vgl. ebd., S. 81), der auf Lebenserfahrung, Umgang mit menschlichen, wohlwollenden Persönlichkeiten und gesundem Menschenverstand basiert; bloßes (formales) Wissen und abstrakte Begriffe, die durch noch so ausgezeichnete Erziehungsanstalten vermittelt werden, taugen nicht viel: D e r C h a r a k t e r m a g g e w i n n e n , der M e n s c h verliert. E s gibt so v i e l e D i n g e , die m i t ihrem stillen u n d u n g e w o l l t e n , a b e r eben dadurch n u r u m so nachhaltigeren E i n f l u ß erst den richtigen Menschen machen. D a s große, mit Pflicht-, E h r - u n d Rechtsbegriffen ausstaffierte T u g e n d e x e m p l a r , ist u n b e d i n g t respektabel u n d k a n n einem sogar i m p o n i e r e n ; t r o t z d e m ist es nicht das H ö c h s t e . Liebe, G ü t e , die sich bis z u r S c h w a c h h e i t steigern d ü r f e n , m ü s sen h i n z u k o m m e n u n d unausgesetzt d a r a u f aus sein, die kalte V o r t r e f f lidhkeit z u v e r k l ä r e n , sonst w i r d m a n all dieses V o r t r e f f l i c h e n nicht recht froh.
(S. 1 3 4 )
Der Bildungskritiker Fontane trifft sich mit dem Bildungskritiker Mantegazza - ungeachtet aller inhaltlichen Ubereinstimmungen oder Unterschiede - in der skeptisch-humanen Grundhaltung auch noch beim aufklärerischen Engagement; bruchlose Umwandlung von individuellen Bildungs-Erfahrungen in — zum technokratischen Erstarren tendierende - geläufige Konventionen von »Bildungsreform« wäre beider Sache wohl nicht gewesen. Es gibt sicherlich im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts wenige Autoren, die ihre kulturelle Aufgabe so ernst nahmen wie Fontane: nämlich Kritik an Staat und Religion zu üben, die Uhr zu sein, »welche die Stunde verrät, da in jenen Form und Sache sich nicht mehr decken«.68 So gewichtig hätte der Causeur seine Aufgabe freilich nie formuliert; in seiner Eigenschaft als »Zwischen-zwei-Stühlen-Sitzer« (an Stephany, 3 0 . 9 . 1 8 8 9 ; D D II, S. 694) nahm er sich die Freiheit, im Alten und Neuen das Echte vom Unechten zu unterscheiden und in der Totalität einer verstehenden Kritik strikt an der Sache der Humanität festzuhalten - als einzig Identischem im Fluß des Nichtidentischen. von gesundem Sinn, von Schönheit und Freiheit die Rede sein, von jener hohen Freiheit, die dodi bei allem Lernen und Wissen immer die Hauptsache bleibt und ohne die die ganze Bekanntschaft mit Plato keine Viertelmetze Kirschen wert ist«, so zeigen sich gegenüber dem Beginn des Jahrhunderts immerhin deutliche Fortschritte ( H F A > Wanderungen Bd. 1, 1. A u f l . 1966, S. 192). 68
Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, a.a.O. S. 57.
Thomas Cramer
Mittelalter in der Lyrik der Wilhelminischen Zeit
I Die Geschichte der Mittelalterrezeption im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ist noch zu schreiben. Während für die Zeit der R o mantik, und das heißt gleichzeitig der ersten germanistischen Beschäftigung mit dem Mittelalter, einschlägige Einzeluntersuchungen und sogar eine, wenn auch unzulängliche Uberblickdarstellung 1 vorliegen, ist die Rezeption mittelalterlicher Literatur nach 1848 noch nicht im Zusammenhang untersucht, obwohl doch erst nach diesem Zeitpunkt die Aufnahme mittelalterlicher Stoffe und die Nachahmung mittelalterlicher Muster, die Verwendung vorgeblich >altdeutschen< Stils einem Höhepunkt zusteuern. Mit der Vernachlässigung dieses Themas befindet sich die Literaturgeschichte in merkbarem Defizit gegenüber der Geschichtswissenschaft, die schon im 19. Jahrhundert im Gefolge des bekannten Streits zwischen Sybel und Ficker um Universal- oder Nationalstaatlichkeit 2 nicht nur differenzierte Analysen mittelalterlicher Politik lieferte, sondern audi über die Brauchbarkeit des Mittelalters als eines historischen Modells für die Gegenwart eine Diskussion auf hohem Niveau führte, 3 deren Reflexe bis in die Reichstagsdebatten hinein zu verfolgen sind.4 Eine Geschichte der Rezeption des Mittelalters und seiner Wiedererweckung in der Literatur nach 1 8 7 1 hätte sich in erster Linie an jenen Autoren und Texten zu orientieren, die durch ihre Stoifwahl Affinität 1
2
3
4
Rudolf Sokolowsky, D e r altdeutsche Minnesang im Zeitalter der deutschen K l a s siker und Romantiker. Dortmund 1906. Friedrich Schneider (Hrsg.), Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und E n d e des ersten deutschen Reichs. Die Streitschriften von H . v. Sybel und J . Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters. Innsbruck 1 9 4 1 . H e i n z Gollwitzer, Z u r Auffassung der Mittelalterlichen Kaiserpolitik im 1 9 . J a h r hundert. In: Dauer und Wandel der Gesdiithte, Festschrift f ü r Kurt von Raumer. Münster 1966. S. 4 8 3 - J 1 2 . Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags. B e r lin 1 8 7 1 Í Í . V g l . Gollwitzer, ebd., S . 4 8 $ f f .
Thomas
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Cramer
z u m Mittelalter bekunden: sie hätte die W e r k e Lienhards ebenso z u analysieren w i e die T e x t e Richard Wagners, müßte Heyses >Troubadournovellen< in gleicher Weise berücksichtigen w i e G u s t a v F r e y t a g s >AhnenNibelungenArmen HeinrichTrompeters
von
Säckingen