Schriften zu Literatur und Theater [Reprint 2017 ed.] 9783110946727, 9783484220645

Since the 1960s, Cesare Segre, founder of the 'Pavia school', has figured among the Italian semioticians of in

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German Pages 249 [256] Year 2004

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Inhalt
I. Zur Semiotik des Mittelalters
II. Zur Semiotik des Theaters
III. Literatursemiotik heute
Semiotiker, Literat und Demokrat: Cesare Segre
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Schriften zu Literatur und Theater [Reprint 2017 ed.]
 9783110946727, 9783484220645

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Wolfgang Braungart, Peter Eisenberg und Helmuth Kiesel

Cesare Segre

Schriften zu Literatur und Theater Aus dem Italienischen von Käthe Henschelmann Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von David Nelting

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

© 1993, 2001 Cesare Segre Die Übersetzung dieses Buches wurde mit Unterstützung des Segretariato Europeo per le Pubblicazione Scientifiche erstellt.

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SEGRETARIATO EUROPEO PES LE PUBBLICAZIONI SCIENTIFICHE

Via Val d'Aposa 7 - 40123 Bologna/Italy Telefon +39-051-271992, Fax +39-051-265983 [email protected] - www.seps.it Cesare Segre: Selection out of »Teatro e romanzo«, »Fuori del mondo«, »Intrecci di voci« © 1984, 1990, 1991 Giulio Einaudi Editore S.p.A., Torino/Italy

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme ISBN 3-484-22064-3

ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http: //www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Inhalt

I.

Zur Semiotik des Mittelalters 1. Die Erfindung des Jenseits 2. Vier Typen mittelalterlichen Wahnsinns 3. Was Bachtin nicht gesagt hat. Die mittelalterlichen Ursprünge des Romans 4. Mittelalterliche Texte lesen

3 15 29 51

II. Zur Semiotik des Theaters 1. 2. 3. 4.

Ein Beitrag zur Theatersemiotik Narratologie und Theater Shakespeare und das Spiel „en abyme" Szenische Kommunikation bei Pirandello

65 77 89 99

III. Literatursemiotik heute 1. Aufstieg und Niedergang der Stilistik 2. Perspektive und Polyphonie in der Erzähltextanalyse 3. Mögliche Welten und prophetische Welten in den Romanen Kafkas 4. Der Fall Dora: Anamnese und Roman 5. Literaturwissenschaft und Textualität 6. Hermeneutik und Textkritik 7. Hermeneutik und Strukturen der Historie 8. Körper und Grammatik 9. Vom Chronotopos zum Rolandslied 10. Nicht nur Dekonstruktivisten: drei amerikanische Literaturwissenschaftler 11. Kanon und Kulturwissenschaft Semiotiker, Literat und Demokrat: Cesare Segre

113 125 141 153 167 177 185 195 207 219 229 239

I. Zur Semiotik des Mittelalters

1. Die Erfindung des Jenseits

„Die Vorstellung des Todes genügte, um den Geist vollauf zu beschäftigen. Es erfordert eine ebenso große, ja titanische Anstrengung, das Bild des Todes dauernd festzuhalten, wie es zu verdrängen. Denn jede Fiber unseres Wesens ruft, wenn man den Tod einmal nahe gefühlt hat, noch schreckerfüllt sein Bild wieder hervor, während gleichzeitig jedes unserer Moleküle es durch den Akt der Erhaltung und Erneuerung des Lebens zurückweist. Der Gedanke an den Tod ist wie eine Eigenschaft, eine Krankheit des Organismus". So weit das Zitat von Svevo.1 In der Tat verbindet der Mensch mit dem Tod immer nur Schrecken, und es bedarf einer besonderen Art Einbildungskraft, damit sich in dieses Grauen Trost und Hoffnung mischen. Was der Mensch nicht akzeptieren will, ist der Tod als Lebensende, als Ende seiner Existenz. Der übrig gebliebene Körper ist da, rätselhaft in seiner Reglosigkeit, aber er ist da. Warum sollte das, was sein Leben beseelt hatte, nicht auch weiterhin da sein, irgendwie und irgendwo? Schrecken und Hoffnung bestimmen die individuelle Erwartung und ebenso die kollektive. Der Einzelne stellt sich für seinen Körper und für seinen Geist ein irgendwie geartetes Weiterleben nach dem Tode vor. Die Gemeinschaft verbindet mit dieser Vorstellung einer Postexistenz schauerliche Erscheinungen, furchteinflößende Wesen. Die Hoffnung, die den Lebenden Trost spendet, indem sie den Verlust eines geliebten Menschen irgendwie negiert, verwandelt das Lebensende in ein Weiterleben auf einer höheren Ebene. Statt den Garten Eden oder das Goldene Zeitalter in der Vergangenheit der ganzen Menschheit anzusiedeln, werden diese jedem Einzelnen als für die Zukunft in Aussicht gestellt. Goldenes Zeitalter und jenseitige Glückseligkeit sind zwei verwandte Mythen. Nur in höher entwickelten Kulturen werden Schrecken und Hoffnung mit Schuldgefühl bzw. mit einem ruhigen Gewissen verknüpft. Der Gedanke von Vergeltung und Anerkennung kommt auf. Schon im Leben werden den Sündern furchtbare Strafen angedroht, den Helden und den Gerechten erwarten höchste Freuden. Der erbauliche Zweck wird dabei einkalkuliert, das heißt, dass die Lebenden ihr Verhalten (hoffentlich) ganz an dem Verlangen nach den Freuden und / oder der

1

Zitat aus der deutschen Ausgabe von I. Svevo: Ein Mann wird älter. [Senilità], Aus dem Italienischen übers, von P. Rismondo. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1960, 231 [d.Ü.].

4 Angst vor den Strafen ausrichten. Ein wahreres Leben kann überhaupt nur in der jenseitigen Welt gedeihen, und dann wäre das unsrige, das diesseitige, nur eine Vorbereitung darauf. Die Wandlung Leben -» Tod ist, in entropischer Hinsicht, irreversibel. Es gibt keine Möglichkeit, über den Tod ein Wissen zu erhalten, denn diejenigen, die die Erfahrung hinter sich haben, können die Erfahrung selbst nicht weitergeben. Und doch gibt es wenigstens im Zustand des Erschauderns oder in der Bußwarnung nicht selten Botschaften aus dem Reich des Todes. Eine Kommunikationsbeziehung in der Richtung Tod Leben liegt vor, wenn ein Gestorbener zu uns kommt und Nachrichten von sich und seinen Gefährten bringt (Erscheinungen, Träume). Ein Kommunikationskreislauf Leben Tod -> Leben liegt vor, wenn ein Lebender das Reich des Todes besucht und dann zurückkehrt, um den Lebenden darüber zu berichten (Visionen, Auferweckungen). Eine wichtige Rolle spielt dabei das Motiv der Reise, bei der das Verlangen nach Erkundung der Welt über die Grenzen der im Diesseits Lebenden hinausgeht (das berühmteste Beispiel dafür ist die Historia Alexandri). Es gibt eigentlich kein Volk, das nicht einen Kommunikationsmythos Tod Leben oder Leben Tod -» Leben kennen und das demzufolge nicht auch über einen Fundus von Kenntnissen über die Postexistenz verfügen würde. Oftmals ist der Vermittler ein Gott. So stieg auch Jesus nach der apokryphischen Schrift des Nikodemus-Evangeliums in die Tiefen des Totenreichs hinab, bevor er gen Himmel fuhr. Gemäß diesem Höllenfahrt-Bericht vollzog sich an Jesus der Archetyp des Sonnengotts, der siegreich die Finsternis des Todes durchbricht. Die Beschreibungen des Jenseits können, da empirische Daten hierzu fehlen, ausschließlich auf die Einbildungskraft von Einzelnen oder auf den kollektiven Erfahrungsschatz der Überlieferung, auf die Literatur oder andere Dokumente der Überlieferung zurückgreifen. Man könnte daher auch annehmen, die Fiktion würde alle Fesseln sprengen, um die Grenzen des Orbis terrarum und die Qualität des logisch Möglichen zu überschreiten. Stattdessen erscheinen die Vorstellungen von der anderen Welt in jeder großen Kultur verhältnismäßig gleichbleibend und oft zwischen verschiedenen Kulturen ähnlich. Es ist ein Grenzfall und deshalb ein besonders instruktives Beispiel für die Wechselbestimmung zwischen den beiden Termen des Syntagmas Regeln der Erfindung. In der Tat ist die Erfindung nicht frei, sie entfaltet sich nach Regeln und Parametern; aber die Regeln sind nicht starr und fest, da sie etwas so Brodelndes wie die Erfindung formen. Im folgenden werde ich ein Beispiel dafür geben, wie die Erfindung innerhalb bestehender geistiger Schemata neue Realität hervorbringt, in der Kombination von kategorialen Strukturen und Geschichtsmodellen. Ich werde hier nacheinander drei Organisationsprinzipien erörtern: epistemische, archetypische und historische Schemata.

5

1. Epistemische Schemata Für gewöhnlich stellt man der diesseitigenWelt die jenseitige Welt gegenüber. Dabei schafft das Adjektiv jenseitig nicht genug Alterität, um zu verhindern, dass das Weiterleben doch in einer Welt mit Wesenszügen analog zu der unsrigen angesiedelt wird. Es mögen konträre, spekulative und übersteigerte Wesenszüge sein, sie bleiben aber immer noch in Verbindung zu unserer Welt. Die topologisch definierten Strukturmuster von Lotman (Oppositionen wie WIR/DIE ANDEREN; DIESES / JENES usw.) gehen jedenfalls immer von irdischen Elementen aus. Hervorzuheben ist vor allem eine Art Zentralisierung: da wird ein ganz bestimmter Ort angenommen, an dem sich alle Toten sammeln, seien es die Inseln der Seeligen, der Averner See oder der Erebos, die Unterwelt Plutos oder das unterirdische Totenreich der Göttin Hei, die Totenhalle Walhall oder das irdische Paradies. Der Ort kann kleiner dimensioniert und menschlichen Einrichtungen ähnlich sein, z.B. ein Schloss (meist für das Paradies), ein oder mehr Mauerringe (eher für die Hölle), mit Toren, von Engeln oder Dämonen bewacht. Die Seelen behalten gewöhnlich viele menschliche Züge, so die Fähigkeit, körperlich zu leiden und zu genießen, manchmal sogar die Körperlichkeit selbst. Auch bei Distanzbeziehungen bleibt die Einheit der Topographie gewahrt, ich denke an so unähnliche Orte wie den Averner See und das Elysium oder an die vielen Inseln, auf denen Hölle und Paradies in den keltischen Innenraum schwimmen (z.B. den Immram der Abenteuer- und Heldensagen). Bei den Beschreibungen des Jenseits spielen Selektion und Augmentation eine Rolle. Geht es um die Beschreibung von Strafen, so wird durch entsprechend grausame Mittel zur Peinigung und entsprechend qualvolle Situationen das höchste Strafmaß ausgewählt. Außer dem Verbrennen, dem Erstarren in Eiseskälte, dem Atemstillstand im Rauch droht regelrechte Folter, übrig bleiben zerfetzte, zermalmte, aufgespießte, durchbohrte usw. Körper. In linguistischer Beschreibung geht es um Oppositionen von LICHT / FINSTERNIS oder in bezug auf Empfindungen die extremen (schmerzhaften) Varianten von Paaren wie WARM / KALT (also GLUTHITZE / EISIGER FROST), wobei immer das negative Element ausgewählt wird. Gleichzeitig spielen Hierarchien und Konventionen einer Art Tiefenästhetik mit: Farben der Freude (weiß, grün, blau) und Farben der Trauer (schwarz, grau, violett). Umgekehrt werden für die Freuden die schönsten Sinneserfahrungen und angenehmsten Situationen ausgewählt, und es wird die ganze Skala der Genüsse durchgespielt: wohlige Klänge, zauberhafte Düfte, liebliche Orte und milde Lüfte. Wenn die Werte der kollektiven Überlieferung es vorsehen, weiten sich die Freuden auch zu erotischer Lust im Überfluss, wie z.B. auf der keltischen Fraueninsel oder im Paradies des Korans, in anderen Fällen sind es Freuden, die in diesen Kulturen für weniger profan gehalten werden: Musik und Gesang, einträchtige Prozessionen und ekstatische Kontemplationen. Die daran beteiligten Sinne haben nicht alle einen gleich hohen Rang. Im christlichen Kulturkreis zum Beispiel gelten die Genüsse

6 des Sexus und des Gaumens für niedriger als die Sinnesgenüsse von Auge und Ohr. Innerhalb dieser Stufung kann die Glückseligkeit als Bedürfnislosigkeit beschrieben werden, das heißt die Ausschaltung der profaneren Sinne, so die Abwesenheit von Hunger und Durst im asketischen Leben von Mönchen, nach den christlichen Schriften, aber auch in orientalischen und keltischen Legenden. Was die Strafen angeht, so findet, abgesehen vom Sadismus als Grundhaltung beim Ausdenken der grausamsten Qualen (der auch bei der Folter angewandt wird), eine ständige materielle Ausdeutung in Form von Metaphern statt: Finsternis, Kälte, Zähneklappern, wie es bei den Propheten in der Bibelsprache heißt, lauter sinnlich wahrnehmbare Konkretisierungen eines Leidens, das sich nicht beschreiben, nur postulieren lässt, und so verwandeln sie sich in genau definierte und die menschliche Würde verletzende Peinigungen. Für die Glückseligkeit ist das Vorbild die Landschaft, wenn sie als vollkommen anmutig beschrieben wird. Es ist der Topos des locus amoenus, der biblischen und klassischen, kultischen und volksliterarischen Texten gemeinsam ist: ein grüner Hain, durchflössen von klaren Bächen, gesäumt von Bäumen voller Blütenpracht und voller Früchte, in deren Zweigen die Vögel singen, genau der richtige Hintergrund für den Reigentanz der Nymphen oder den Garten Eden, für ein Liebesabenteuer oder die Kontemplation. Aus dem Garten Eden wird später das Paradies, aus dem Bach vielleicht die Quelle der vier biblischen Ströme zwischen Euphrat und Tigris, aus den Bäumen der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis. Natürlich wurde die Übertragung der Profanwelt auf die göttliche von den Apologeten als regelwidrige Umkehrung empfunden. So ist für Justin den Märtyrer der Garten des Alkinoos in der Odyssee eine Kopie des Gartens von Eden. In semantischer Hinsicht werden die Bereiche des Schreckens und der Hoffnung als exklusive Klassen derjenigen negativen oder positiven Elemente definiert, die sich im irdischen Leben mischen. Während also in der irdischen Welt die Formel G(UT) + B(ÖSE) gilt, kennt die andere Welt zwei Abteilungen: eine mit der ganzen semantischen Klasse von G, die andere mit derjenigen von B. Die syntaktischen Verfahren bei der Auswahl, die das Gegenteil der in unserer Welt realisierten Addition ist, lassen sich alle auf die Subtraktion und Multiplikation zurückführen. Die Multiplikation besteht, je nachdem, im Gebrauch von Superlativen und Hyperbeln, die Subtraktion im Ausschluss der Elemente der entgegengesetzten Klasse: von G aus dem Bereich von B, von B aus dem Bereich von G. Das ist ein universaler Topos, den Patch als die „Negativformel" bezeichnet. Sie findet sich im Avesta: im Reich des Königs Yima Khshaeta mit seinem Ungestüm war es weder kalt noch warm, gab es weder Alter noch Tod, weder Gier noch eines Dämons Wirken

sowie in den Sibyllinischen

Weissagungen:

Niemand wird mehr sagen, dass Nacht geworden ist, noch dass der Tag anbricht, dass ein Gestern war,

7 Wir ängstigen uns nicht um die Vielheit der Tage. Nicht Frühling, nicht Sommer, nicht Herbst, nicht Winter wird sein ... denn es wird ein langer, nichtendender Tag sein,

und schließlich in den Visionen und Fahrten zum Paradies, im geistlichen Schrifttum der Mystiker und in geographischen Beschreibungen. Das Prinzip der Selektion findet sich auch bei den Baumaterialien. Für Bauten im Paradies werden die kostbarsten Grundstoffe verwendet: Edelsteine, Kristalle, Gold und Silber. Das Höherweltliche kommt auch technisch zum Ausdruck; in den Rotationsmechanismen von Schlössern. Ein leichtes mochte es sein, die negativen Werte auszuschließen, doch damit waren noch nicht wirklich die Bestandteile und Eigenschaften einer neuen Realität geschaffen. In topologischer Hinsicht postulieren die Philosophen vielfach ein geistiges, nicht materielles Paradies, denn das Paradies von der traditionellen Art wäre nur eine Übersetzung in irdische Begriffe. Demgegenüber ist der überirdische Bereich für sie ein Zustand, kein Ort. Doch weder Moisés Bar Cephas (10. Jh.) noch Petrus Lombardus (12. Jh.) wagen es, auf das Paradies zu verzichten; deshalb überlagern sie das eine mit dem anderen: Zustand und Ort, und akzeptieren die gängigen Lokalisierungen. Mehr Phantasie wird aufgeboten, um die Endlichkeit des Menschen zu überwinden. wobei allerdings hauptsächlich das übliche Multiplikationsverfahren angewendet wird. Nicht wenige Besucher des Jenseits finden bei ihrer Rückkehr alles verändert vor: neue Herrscher, neue Klosterbrüder - ihre Tage oder Jahre sind auf Erden Jahrhunderte gewesen. Andere Besucher fallen im selben Augenblick, in dem sie zurückkehren, der Vergänglichkeit anheim. So werden die von einer Jenseitsreise heimkehrenden Seefahrer eines Immram bei der Ankunft in ihrem Heimatland sofort zu Aschehäufchen. Es fehlt auch nicht an genauen Umrechnungen. In einer Erzählung von Walter Map dauert eine dreitägige Reise in die Unterwelt in unserer Welt zweihundert Jahre. Seltener ist das Umgekehrte, die Beschleunigung der überirdischen Zeit. Die lange Jenseitsreise eines reumütigen Räubers im 26. Kapitel der Fioretti di San Francesco dauert Jahre, denen jedoch nach der irdischen Zeitrechnung nicht mehr als eine gewöhnliche Stunde entspricht.

2. Archetypische Schemata Die archetypischen Schemata sind klar und beständig. Als erstes nenne ich das Gegensatzpaar HIMMEL / UNTERWELT für die vertikale Dimension, OSTEN / WESTEN für die horizontale. Der strenge Gegensatz von Vertikalität und Horizontalität ist bei Platon (Nomoi X, 904-905) belegt, wenn er vom Schicksal der Seelen spricht. Das erste, vertikale Organisationsprinzip kann auf die zwei wichtigsten Typen von Bestattungsriten zurückgeführt werden. Die Verbrennung deutet auf

8 den Himmel als Sitz der Seelen, die Erdbestattung auf unterirdische Orte. Der Himmel als Reich des Todes findet sich in der Tat schon im Rigveda, während in Regionen mit Erdbestattung das Jenseits unterirdisch ist: das gilt für Mesopotamien des Gilgamesch-Epos, das homerische Griechenland, das alte Rom. Allerdings werden Himmel und Unterwelt alsbald zu polaren Begriffen im Sinne einer Unterscheidung im Schicksal der Gestorbenen etwa in den Upanishaden (6. Jh. v. Chr.). Und die Polarität wird archetypisch versinnbildlicht durch die Beziehung SONNE / ERDE, wobei SONNE für Wärme, Leben, Göttliches steht - sittlich-moralisch entspricht ihr die konventionelle Hierarchie HOCH / TIEF, wobei HOCH für gut oder edel, und TIEF für schlecht, gemein steht. Eindeutige Hinweise für die moralische Deutung findet man bei Hugo von Sankt Viktor: Die Last der Schuld drückt nach unten, die Gerechtigkeit aber erhebt nach oben (vgl. De Sacramentis Christianae Fidei II, 16, 4). Diese Polarität, die dann vom Christentum kanonisiert wird, hat viele Vorläufer. Sie findet sich im Avesta und in den Wikinger-Texten (Walhall ist im Himmel), bei Piaton, Cicero und Plutarch. Besonders deutlich ist das Gleichnis des Er bei Piaton (Politeia X, 614c), in dem die Seelen von strengen Richtern durch riesige Spalten teils in den Himmel und teils in den Tartarus geschickt werden. In abgeschwächter Form erscheint die Polarität, wenn nicht der Himmel, sondern hohe Berge die Wohnung der Glückseligen sind, so auch, wenn man den Garten Eden mit dem Paradies gleichsetzt, wenigstens mit dem irdischen; oder beim Bild vom himmlischen Jerusalem. Berge als Paradies gibt es in den Veda, in Ägypten, im Islam usw. Was ich als UNTERWELT bezeichnet habe, kann beträchtlich variieren. Meistens handelt es sich um eine unterirdische Höhle, einen tiefen Abgrund. Manchmal beginnt die Unterwelt auch am Krater eines Vulkans (dem Ätna, den Liparischen Inseln), z.B. in einigen Legenden um Artus, Karl den Großen, Theoderich oder Barbarossa. Übrigens lag das Jenseits für die Germanen wie für die Kelten in hohlen Hügeln - eideutig vergrößerten Tumuli. In Wooing of Etain begegnet man in Fels eingehauenen großen Palästen, wo die Glückseligen in ewiger Jugend wohnen. Die Kelten erzählen auch von einem „Land unter den Fluten", einem Jenseits unter dem Wasser, auf dem Grund eines Sees oder tief unten im Meer. In einem höher entwickelten kosmologischen Verständnis wird die Unterwelt auch an den Antipoden angesiedelt, als geometrisches Gegengewicht zur Welt der Lebenden (Gervasius von Tilbury). Ein konkurrierendes archetypisches Schema ist WESTEN / OSTEN, das oft mit der Weggabelung zwischen Tugend und Laster, Gut und Böse verknüpft wird. Das Gegensatzpaar WESTEN/OSTEN spiegelt das Paar SONNENUNTERGANG/ SONNENAUFGANG wider, ein bevorzugtes Bild für TOD / LEBEN. Bezeichnenderweise orientieren sich alle Auferstehungsmythen am Tageslauf oder am Wechsel der Jahreszeiten. Jedenfalls ist Proserpina bis in die Volkserzählungen hinein als Figur der guten Fee immer gegenwärtig geblieben. Generell scheint mir die Wahl des OSTENs als Ort des Totenreichs weniger selbstverständlich zu sein als die des WESTENs. Der OSTEN erscheint mir dort einleuchtend, wo die Vorstellung

9 eines zyklischen Wechsels Tod -> Leben -» Tod Leben herrscht, z.B. im Glauben an Seelenwanderung oder, besser noch, eine eschatologische Vorstellung, wie bei Juden und Christen, für die der Garten Eden und damit (nicht nur) das irdische Paradies im Osten liegt. Das schließt die Gleichsetzung des Endes körperlicher Existenz mit dem Beginn eines wahreren Lebens ein. Die Vorstellung von einem horizontalen Übergang Leben Tod ist besonders verbreitet bei den seefahrenden Völkern wie den Griechen oder den Kelten. Dort hinter den Horizont, wo die Sonne am Ende des Tages versinkt, müssen auch die Seelen der Gestorbenen gehen. Der Tod erschien als lange Seefahrt, wobei die Schiffe, in denen die Leichen zur Verbrennung ausgesetzt wurden (z.B. bei den Wikingern; die Ägypter bestatteten sie darin) sich in der Phantasie in Geisterschiffe verwandelten, die von übernatürlichen Kräften gesteuert wurden (so unter anderem bei Prokop in der Geschichte der Kriege. Griechen und Kelten situieren daher die Wohnstätte der Toten, vor allem das Elysium, auf Inseln, den Inseln der Seligen in der Weite des Ozeans, Leukos und Avalon. Auch Ogygia bei Homer ist eine Art Paradies, dort wartet auf die Toten Unsterblichkeit neben anderen Freuden. Noch im keltischen Christentum gibt es die Vorstellung von Toteninseln (Navigatio Sancti Brandani), und sie kommen bei Dante wieder vor (Insel des Fegefeuers). Die vertikalen (HIMMEL / UNTERWELT) und horizontalen Archetypen (WESTEN / OSTEN) werden häufig kombiniert. Ich erinnere z.B. an das Motiv des Brunnens als Eingang zur Hölle: eine vertikale Dimension in sonst horizontal verlaufenden Geschichten. Das Brunnenmotiv ist bei den Kelten verbreitet, zu deren Vorstellungswelt der dem Hl. Patrick geweihte Brunnen gehört, und kehrt in verschiedenen germanischen Heldenlegenden wie in der Visionsliteratur wieder. Ähnliches könnte man auch über die Vulkane sagen. Andere Male dient der horizontale Verlauf der Erzählung nur dazu, eine Distanz herzustellen, während der Gegensatz zwischen den beiden Welten vertikal, vom Typ OBEN / UNTEN ist. Das gilt sowohl für die Fahrten in die Unterwelt (etwa in der Odyssee, wo die Fahrt in die Unterwelt jenseits des Ozeans beginnt) als auch für den Aufstieg auf die heiligen Höhen der Berge (Rigveda, Ägypten, Islam). Bei der Opposition HORIZONTAL / VERTIKAL herrscht keine Gleichrangigkeit. Unser Vorstellungsvermögen ist zuallererst horizontal. Deshalb fallen auch die Geschichten mit vertikaler Ausrichtung des Geschehens unweigerlich in die horizontale Dimension zurück. Man denke nur an die vielen Paradiese, die von Mauern umgeben oder als befestigte Städte, Schlösser usw. dargestellt werden. Auch wenn sie im Himmel angesiedelt werden, spiegeln sie wie eine Fata Morgana die horizontalen Linien unserer Sinneswahrnehmung wider. Beispielhaft dafür ist das Symbol des Neuen Jerusalem in der Apokalypse, einer der Prototypen für die Beschreibung des Paradieses (Offenbarung, 21-22); unweigerlich erstrahlt es in der Horizontalität. Die tiefgründigste Lösung zur Überwindung des Gegensatzes hat Dante gefunden. Als mutiger Vertreter der Vertikalität zieht er in beiden Reichen Bahnen in Form einer auf- bzw. absteigenden Spirale und setzt, am Mittelpunkt der Erde angekommen, sogar das Gravitationsgesetz außer Kraft. Eindeutiger bleibt

10 die Vertikalität im Paradies, wo es Dante gelingt, die irdischen Geometrien in Licht aufzulösen. Beim Übergang Leben -» Tod bleibt der eigentliche Augenblick, der aus dem lebensvollen und mit Gefühlen beseelten Wesen jäh einen Leichnam macht, indem er ihm, so der Glaube, den Lebensatem abschneidet, ein Mysterium. Die Vorstellung einer GRENZE ist ein universaler Archetyp, wobei GRENZE so viel bedeutet wie Unmöglichkeit, Leben -> Tod in Leben «- Tod umzukehren, es sei denn in heilsgeschichtlicher oder dichterischer Mission. Am häufigsten wird die GRENZE durch die Symbole Wasser und Brücke markiert. Wasser heißt im Fall der als Inseln gestalteten Jenseitswelten das Meer - oft ein Meer mit hohen Wellen, die die sehnsuchtsvollen Blicke zum Land versperren. Noch öfter erscheint Wasser als großer Fluss, der mit Kähnen, die ein heiliger Führer steuert, überquert werden muss. Beispiele dafür finden sich im Gilgamesch-Epos, in der Äneis, in den nichtkanonischen Teilen des Jeremias-Buches (Baruch-Apokalypsen), im Hirten von Hermas, in der germanischen Mythologie {Edda) usw. Die Brücke kommt danach und ist mehr Grenze als Weg. Im allgemeinen führt sie zu Orten der Glückseligkeit, aber die schuldbeladenen Seelen stürzen davon herunter, in den Abgrund oder die Flüsse der Hölle. Das Bild der Brücke, das mehr metaphorisch genutzt wird, ist vielleicht persischer Herkunft, findet sich aber auch im Shintoismus und im Buddhismus, in der keltischen und germanischen Mythologie und auch in derjenigen des Christentums (Dialoge Gregors des Großen). Die Brücke kann auch technische Verfeinerungen aufweisen. So wird sie in der irischen Vorstellung des Hl. Adamnänus oder im Fegefeuer des Hl. Patrick (Tractatus de Purgatorio S. Patricii) usw. breiter oder schmäler, je nachdem wie gut die Seelen waren, die sie überqueren wollen. In den Vorstellungen von Sunniulf, Marcus (Visio Tnugdali) und Thurkel oder in der norwegischen Draumkvaede ist die Brücke mit scharfen Spitzen versehen. Statt der Brücke ein Regenbogen ist eine originelle Neuerung, die in einem Brief (112. Brief des Hl. Bonifaz) dokumentiert ist. Andere Grenzen, dem Irdischen näher, sind Ringmauern um die Hölle oder das Paradies oder Mauern, die die Bereiche voneinander trennen. Die Tore sind von Engeln oder dazu bestellten Hütern bewacht, manche mit Schwertern bewaffnet. Geheimnisumwittert und voller Symbolik sind die Grenzen aus Nebel oder Wolken bei Kelten und Germanen. Andere Grenzen sind die Wälder (der finstere Wald bei Dante) und Wüsten.

3. Historische Schemata Bisher ging es um allgemeingültige und kulturübergreifende Schemata. Andere Organisationsprinzipien, die ich historisch nennen möchte, bilden in jeder Kultur so etwas wie vorgezeichnete Pfade, von denen nicht ohne weiteres abgewichen werden darf. Wer vom Jenseits spricht, glaubt daran und / oder will uns daran

11 glauben machen. Was schon früher darüber gesagt worden ist, gehört zur communis opinio. Jede Andeutung von Zweifeln könnte neue Offenbarungen auslösen. Nicht nur. Die Hohenpriester der Religion wollen den Volksglauben reglementieren, um Neuerungen zu verhindern, die in Ketzerei oder Gottlosigkeit umschlagen könnten. Versuchen wir, uns auszumalen, was in jemand vorgeht, der vom Jenseits erzählen will. Er selbst steht unter dem Einfluss der vielen Erzählungen vor ihm, er wird durch sie überhaupt dazu angeregt; er mag die eine oder andere Einzelheit (die er für Überlieferungsfehler hält) daran ändern wollen, aber nicht die Vorstellung insgesamt. Die Suggestion spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Bruder Wetti, der zweimal in Trance Jenseitsvisionen hatte, ließ sich vor Eintreten der Trance die Dialoge Gregors des Großen bringen und daraus vorlesen, eine Fundgrube von Jenseitserzählungen. Deshalb legen sich die Schriften über die Welt der Toten wie Schichten stetig aufeinander, ohne Brüche in der erfundenen oder geträumten Realität. Die Jenseitserfindung folgt wenigstens in einer Kultur wie der unsrigen, einer Bahn, die wie eine Evolution erscheint. Jede Bereicherung in der kollektiven Einbildung wird zur Tatsache, die durch keinen nachfolgenden Einbildungsakt mehr umgestoßen werden kann. So bestätigt Hinkmar von Reims die Authentizität der Visio Bernoldi, ihre Übereinstimmung mit den Visionen, auf die er bei der Lektüre Gregors des Großen, Bedas und anderer Chronisten von Jenseitsreisen gestoßen war. Bleiben wir bei unserer jüdisch-christlichen Tradition. Das Alte Testament und die Evangelien scheinen an Fragen des Jenseits nicht sehr interessiert gewesen zu sein, umso weniger als ein individuelles Weiterleben im Alten Testament nicht ausdrücklich postuliert wird. So steht neben einem symbolischen Ausdruck wie .Abrahams Schoß' (noch in mittelalterlichen Skulpturen dargestellt) oder einem bedrohlichen Namen wie Scheol die Lokalisierung des Totenreichs unter dem Berg Zion. Nur wenig mehr, da es sich um ein Gleichnis handelt, findet man im LukasEvangelium (16,19-26) - sehr provinzielle Lösungen für ein noch nicht im universellen Maßstab angegangenes Problem. Weder vom auferweckten Lazarus noch dem auferstandenen Heiland ist etwas über ihren Aufenthalt unter den Toten zu erfahren. Wegen des Glaubens an die Auferstehung der Toten bestand wohl auch nicht das Bedürfnis, unmittelbare Lösungen zu haben. Dieser Widerspruch zwischen dem Jenseits, das für jeden neuen Toten schon postuliert wird, und dem anschließenden Jüngsten Gericht, wird Theologen und Erzählern vom Jenseits bewusst werden und bei ihnen zu verschiedenen Deutungen führen. Die christliche Lehre von der Seele und ihrem Weiterleben nach dem Tode ist erst von den Kirchenvätern unter Einbeziehung griechischer Quellen (von Piaton an) und römischer Mysterien ausgestaltet worden. Dagegen sind die konkreten und pittoresken Aspekte ders Jenseits noch eklektischer. Dazu tragen, abgesehen natürlich von der Johannesapokalypse, die klassischen Darstellungen des Averner Sees, besonders diejenige Vergils, bei, die Visionen Plutarchs um Tespesius und Timarcus (ferne Vorläufer des Tractatus de Purgatorio di S. Patricii), die Gnostiker

12 mit ihrer Vorstellung der himmlischen Sphären als Ort der Glückseligen, die Sibyllinischen Weissagungen und, Jahrhunderte später, die als Vermittlung orientalischer Anschauungen überaus wichtige Eschatologie des Islam, die mit dem Libro della Scala starken Einfluss auf Dantes Imagination ausübte. Erst in sehr viel späterer Zeit kommt das Postulat der Vergeltung, einer Symmetrie zwischen Strafen im Jenseits und im irdischen Leben aufgeladener Schuld, ein schon bei Piaton lebendiger Gedanke (Politeia X, 615, a-b). Erheblich mehr Schwierigkeiten bereitete die andere Vergeltungssymmetrie, von den himmlischen Freuden ausgehend, zwischen Belohnungen und Tugenden. Zwar gibt es im Traum von Sunniulf nach der Erzählung Gregors von Tours, wie auch in einigen Versionen der apokryphen Visio Pauli, einige allgemeine Hinweise (Qualität der Strafen im Verhältnis zur Quantität der Schuld). Aber man kann sagen, dass die Phantasie der Erzähler mehr an den vielen Strafen und dem Leidensmaß insgesamt als an der Gerechtigkeit des Schiedsspruchs interessiert war. Erst 1274 (Konzil von Lyon), also wenige Jahrzehnte vor der Göttlichen Komödie erhebt Michele Paleologo ein Gericht nach dem Tode jedes Einzelnen endgültig zum Glaubenssatz. In denselben Jahren verstärkte der Libro della Scala die Verhältnismäßigkeit zwischen Schuld und Strafe. Ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg der Jenseitsdarstellungen ist die Erfindung des Fegefeuers, die als Vorstellung von einem abgetrennten und selbständigen Ort auf das 12. Jh. zurückgeht (vgl. Le Goff). Bis dahin ließen die Beschreibungen der Unterwelt einen Unterschied zwischen ewigen Qualen in den tiefsten Abgründen der Hölle und Leiden von vielleicht nur begrenzter Dauer erkennen. Zwischen diesen beiden gab es keine räumliche Grenze. Mit dem Fegefeuer, einem für befristete Sühne bestimmten Ort, wird das von den fortgeschritteneren Jenseitsvorstellungen bevorzugte binäre Schema aufgegeben und zwischen die Extreme ein mittleres Glied, das FEGEFEUER, eingeschoben. Luther hat für das Fegefeuer den trivialen Ausdruck der „dritte Ort". Der Übergang von binären zu ternären Schemata ist auch in der Gesellschaft jener Zeit zu beobachten, die zur Dreigliedrigkeit übergeht (Duby). Eigentlich war das strikte binäre Schema schon durch die Aufweichung der Opposition von Identität / Alterität zwischen dem Garten Eden und dem Paradies nicht länger haltbar. Als nämlich das Paradies entlang der vertikalen Achse hinauf zu den himmlischen Sphären oberhalb des Gartens Eden verlagert wurde, blieb der Garten Eden als loser Baustein übrig, für den kein Platz mehr im binären Ausgangsschema war. Man beachte jedoch, dass die Trias Hölle-FegefeuerParadies zeitlich begrenzt ist in dem Sinne, dass auch die sühnenden Seelen fürs Paradies bestimmt sind; nach ihrer Erlösung müsste man zum Zweierschema zurückkehren. Bekanntlich überwindet Dante in seiner Göttlichen Komödie die Gefahr einer möglichen Viergliedrigkeit (Hölle, Fegefeuer, irdisches Paradies, himmlisches Paradies), indem er den Garten Eden auf dem Gipfel des Läuterungsberges ansiedelt. So gelingt es ihm, eine klare Dreigliedrigkeit wiederherzustellen. Dabei ist bemerkenswert, dass das Fegefeuer, eine jüngere Vorstellung, eine viel systematischere Vergeltung erlaubt als die Hölle. In der Hölle, so die Vorstellung, büßen die Ver-

13 dämmten ihre Hauptsünde, während die anderen Frevel und Missetaten, die sie sicherlich auch begangen haben, ihnen erlassen werden. Der statische Charakter der Hölle setzt sich in dem statischen Charakter der Strafen fort. Das Fegefeuer ist demgegenüber dynamischer Natur, denn es gibt dort einen Eingang, aber gleichermaßen einen Ausgang - mit einem systematischen Läuterungsprogramm: Für jede Sünde kann man im Verhältnis zu ihrer Schwere büßen.

, Ausgang

Eingang

Diese Dynamik des Systems folgt aus einer anderen fundamentalen Neuerung. Während für Paradies und Hölle das Muster der Alterität (WIR / DIE A N D E R E N ) gilt, ist dieses Muster für das Fegefeuer überwunden: WIR, die Lebenden, können mit der Welt der A N D E R E N , der Toten, kommunizieren, vor allem durch ihr Einwirken auf Abwandlung (Abmilderung) der Strafen. Es entsteht also eine große WIR-Gemeinschaft, die Lebende und Tote (sich Läuternde) vereint. Das Jenseits wird zu einer Fortsetzung des irdischen Lebens, mit dem es die Begriffe von Bewährung und Strafe teilt. Der Grundgedanke, von dem ich ausging, war, dass die Erfindung des Jenseits eine Funktion der Vorstellungen ist, die die Menschheit und die Gesellschaften, in denen sie organisiert ist, hervorgebracht hat. Die Schemata stellen ein System dar, das nicht so sehr der Realität der Welt, in der wir leben, entspricht, sondern jener Realität, die unsere Erfahrung wahrgenommen und strukturiert hat. Erfindung, Originalität außerhalb dieses Systems sind ausgeschlossen oder zumindest nicht kommunikabel. Damit meine ich die verschiedenen Formen mystischer Erfahrung und die Unsagbarkeit ihrer Erkenntnisse. Diese Gesetze gelten auch für das dichterische Schaffen. Aber für die fiktive literarische Vision vom Jenseits sind die Grenzen unumgänglicher, weil ontologischer Natur. Es gibt keine Schemata, die sich auf das Jenseits anwenden ließen, weil ja kein Lebender dessen Erfahrung gemacht hat. Schon die Grenzziehungen zwischen Wahrscheinlichem und Unwahrscheinlichem sind sinnlos in einer Welt, deren Gesetze wir nicht kennen, wo Erwartung wie Erstaunen nicht zählen. So bleibt man auf diesseitige Kenntnisse und diesseitige Wahrnehmungen angewiesen, die man schließlich in das diffuse Licht ekstatischer Vision taucht. Mythos und Allegorie könnten mehr ausrichten, weil sie eine Wunderlampe mit sich tragen. So sind die Nachrichten aus dem Jenseits letzten Endes enttäuschend, es sei denn, sie öffnen sich dem Diesseitigen, den diesseitigen Leidenschaften und der Diesseitigkeit der Hoffnung (Dante) oder sie bringen unter uns, gewöhnlichen Menschen mit gewöhnlichen Schicksalen, eine gewaltige und unverständ-

14 liehe Gesetzgebung zum Vorschein, die vielleicht derjenigen eines Grauen hervorrufenden und unaussprechlichen Jenseits analog ist (Kafka).'

Dieser Beitrag ist als Skizze einer „Semiotik des Jenseits" gedacht, für die ich nur einen Vorläufer kenne: A. Giurevic „Per un antropologia delle visioni ultraterrene nella cultura occidentale del Medioevo" [1977], in: C. Prevignano (Hg.): La semiotica nei paesi slavi. Milano: Feltrinelli 1979, 443—462. Abgesehen von den üblichen enzyklopädischen Handbüchern und sonstigen Nachschlagewerken habe ich mich auf folgende Literatur gestützt: Graf, Patch und Le Goff. Graf, A. (1925): Miti, leggende e superstizioni del Medio Evo. - Torino: Chiantore. Le Goff, J. (1981): La naissance du Purgatoire. - Paris: Gallimard. Patch, H. R. (1950): The Other World According to Descriptions in Medieval Literature. Cambridge Mass, Harvard University Press.

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Die Übersetzerin dankt Francesca Albertini, die bei der Klärung und Lösung zahlreicher Probleme des Wort- und Textverstehens mitgewirkt und den Fortgang des Übersetzungsprojekts begleitet hat.

2. Vier Typen mittelalterlichen Wahnsinns

0. „Für das abendländische Bewusstsein taucht der Wahnsinn gleichzeitig an vielerlei Punkten auf, bildet eine sich allmählich verschiebende Konstellation, die ihr Aussehen ändert und deren Gestalt vielleicht das Rätsel einer Wahrheit verbirgt". 1 Diese allgemeine Feststellung an den Anfang stellend, hat Foucault selbst eine historische Gesamtdarstellung von dieser Phänomenreihe für die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert vorgelegt. Zum Mittelalter im engeren Sinne finden sich dort nur knappe Ausführungen, die ich hier etwas vertiefen möchte. Die Literatur, die ich dabei heranziehe, z.T. aufgrund eigener früherer Beiträge, ließe sich sicherlich leicht ergänzen, und wahrscheinlich gibt es auch mehr als vier Typen. Der Kategorienbereich des Wahnsinns ist eben eine offene Liste. 1.1. Der von Foucault im ersten Kapitel seines Buches behandelte Wahnsinn, wie er im Volk verstanden wurde, ist dort Gegenstand von Normen oder wenigstens Bräuchen. Foucault zeigt uns das Bild, wie es oft in Chroniken überliefert ist, von den Geisteskranken und Irren, die vom Volk verspottet und ausgepeitscht, von der Menge unter Beschimpfungen verfolgt und mit Rutenschlägen vor die Tore der

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M. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft: eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Französischen von U. Koppen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2 1973; '1969; zit. nach: Suhrkamp Taschenbuchverlag 2 1977, Teil II, Einleitung, 157. Frz. Original: Histoire de lafolie ä l'äge classique. Paris: Gallimard 2 1972, 181; erste Fassung : Librairie Plön 1961 [d.Ü.]. Über Wahnsinn im Mittelalter vgl. auch medizingeschichtliche Abhandlungen: B. Swain: Fool and Folly during the Middle Ages and the Renaissance. N e w York. Columbia U. P. 1932; G. Rosen: Madness in Society. Chapters in the Historical Sociology of Mental Illness. Chicago-London: The University of Chicago Press 1968; 2 1980, insb. Kap. IV. Im Vorgriff auf den Titel von M. Foucault stellt B. Cassinelli: Storia della pazzia. Milano: Corbaccio 1936 (frz. Histoire de la folie. Paris: Bocca 1939) den Gegenstand mit allerdings noch oberflächlichen Wahnsinnsbegriffen vor. Über Wahnsinn als volksliterarisches Motiv vgl. S. Thompson: MotifIndex of Folk Literature. Helsinki: Suomalainen Tiedeakademia 1932-1936, Bd. VI (Folklore Fellows Communications 106-109 und 116-117), wo die gesamte Abteilung J 1700-2799 (Bd. IV, 149-249) den Fools and other unwise persons gewidmet ist; vgl. ferner im alphabetischen Index die Stichwörter Fools, Foolish, Foolishly (Bd. VI, 2 2 0 221). Einige der hier entwickelten Hypothesen habe ich in dem Aufsatz „II linguaggio della follia", in: „II piccolo Hans" 18 (1978) 2 4 - 2 6 vorweggenommen.

16 Stadt getrieben werden.2 Aus anderen Berichten weiß man, dass die Ausstoßung auch nur symbolischer und nicht im engeren Sinne physischer Natur sein konnte,3 d.h. sie führt nicht zur Vertreibung vor die Tore der Stadt, sondern zur betonten Abtrennung der Verfolgten und Verhöhnten (der fous) von ihren Verfolgern (den geistig Gesunden). Insgesamt dominiert Lotmans Gegensatzstruktur WIR / DIE ANDEREN, mit anderen Worten, unterstrichen wird die Andersartigkeit, genauer: die Zugehörigkeit zu einer anderen Welt. Natürlich orientieren sich die Geistesgestörten und Irren weiterhin an der Stadt, sie sind vor den ,Toren' der Stadt .eingeschlossen': „der Irre wird in das Innere des Äußeren gesperrt und umgekehrt". 4 1.2. Eine besondere Form der Ausschließung besteht darin, dass die Irren auf ein Schiff geladen werden. Metaphorische Deutungen, später auch literarische Verarbeitungen lagen nahe; daher das Thema, auch in der Ikonographie, vom stultifera navis oder dem Narrenschiff. Die Trennung durch das Wasser muss damals noch, ein weit verbreitetes Motiv, als dunkles Schicksal gegolten haben.5 Es wurde auch auf die Armen in einer großen Hungersnot bezogen, so im Novellino, genauer: in der Novella LXXXV, gestützt auf die Annalen des Cancelliere Oberto. 1.3. Die Verrückten aus dem einfachen Volk konnten eigentlich nicht Gegenstand einer Literatur wie der des Mittelalters sein, die doch nur die höfisch-aristokratische Welt als Thema bevorzugte, auch wenn die Grenzziehung nicht gleichermaßen für ihr Publikum galt. Die Verrückten erscheinen deshalb manchmal nur im Hintergrund, als Elemente in einer in ihrer Vielfalt dargestellten Stadtlandschaft. Eine der bemerkenswertesten Ausnahmen bildet Tristan. Der Held inszeniert einen eigenen Wahnsinn, nämlich um Isolde unter Umständen, was ihm das gesellschaftliche Ritual eigentlich verboten hätte, wieder zu umarmen. Besonders ausfuhrlich wird diese Szene im Tristan en prose und in den Folies Tristan erzählt.6 Gerade weil sein Wahnsinn vorgetäuscht ist, achtet Tristan besonders streng darauf, sich entsprechend zu verhalten. So lässt er sich eine Kutte (un gunel d'un lait burel) ,aus grobem Wollstoff' machen,7 schneidet sich die Haare kurz,8 trägt la

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Foucault 1977, 28; vgl. auch P. Ménard: „Les fous dans la société médiévale. Le témoignage de la littérature au XII e et au XIII e siècle", Romania 98 (1977) 392; 4 3 3 459, insb. 448^150. Zu den Formen der Ausstoßung im Mittelalter vgl. Senefiance 5. Exclus et systèmes d'exclusion dans la littérature et la civilisation médiévales. Aix-en-Provence: Cuer 1978, insb. den Artikel von M. Houdeville-Augier: „Le phénomène de l'exclusion dans l'épisode de la folie d'Yvain, le chevalier au lion", 331-343, wo allerdings, wie schon bei Ménard, nicht zwischen dem volkstümlichen und dem ritterlichen Wahnsinn unterschieden wird. Foucault 1977, 29. Foucault, 25-29. Zu dem ganzen Komplex vgl. die von J. Bédier besorgte Ausgabe Le Roman de Tristan par Thomas. Paris: Didot 1902/05, hier insb. Bd. II, 282-283.

17 massue (Keule) an einer Schlinge um den Hals, wie man sie mitunter den Irren anlegte, um sie in ihren Bewegungen abzuhemmen, 9 und zeigt sich beim Verzehr von Käse. 10 Seine Art von Wahnsinn ähnelt nur entfernt dem ritterlichen, denn seine .Verkleidung' besteht auch in einer Deklassierung. 1.4. Zu den charakteristischen Elementen Tristans Wahnsinn gehört die Sprache. Es ist eine .illusionistische' Sprache. Die Sätze erscheinen absurd, sind aber doch absolut wahr, wenn man sich (a) an ihrer metaphorischen Bedeutung orientiert und (b) ihre Kontextarmut bedenkt, zum Beispiel: es ist unmöglich, dass ein gemeiner Irrer Isolde liebt usw. Es ist die Technik der impossibilia, die hochsuggestive Figur des Paradoxons (Tristan spielt auch auf die Leprakrankheit, ein anderes, geläufiges Motiv der Ausstoßung, und eine andere, frühere Verkleidung von Tristan an). Es ist ein charakteristisches Element, weil die Abhängigkeit des sprachlichen Zerfalls vom geistigen Zerfall im Mittelalter noch nicht entwickelt ist." Von dem Bahariol Bahariol Baharian des ersten Troubadours Wilhelm von Aquitanien bis Raphel mal amecche zahl almi oder Pape Satan, pape Satan aleppe bei Dante (Inf. VII, v. 91) ist sprachliche Verwirrung selten auf Wahnsinn zurückzuführen. Auch Sprachspielerei wie fatrasie und resverie werden meistens nicht mit Wahnsinn in Verbindung gebracht. 12 Am nächsten kommt ihm noch, wenn überhaupt, der

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Les parties anciennes du roman en prose française, in: Le Roman de Tristan par Thomas, op. cit., 321-395, hier insb. 375: „una gonnele d'un lait burel sans pointes et sans gérons, mal faite et mal taillée". Vgl. Ménard, op. cit., 436-440, der darin ein Erkennungszeichen und ein Mittel der Demütigung sieht; demgegenüber therapeutische Deutung (Möglichkeit heilsamer Einreibungen und Milderung der Aggessivität) vgl. G. Tilander: „O Uso de rapar a cabeça aos delinquentes e aos loucos". Leges Hispanicae Medii Aevi, Vili (1959) 2324. Vgl. Guillaume de Lorris und Jean de Meung: Le Roman de la Rose, zit. nach der Ausgabe von Francisque-Michel. Paris : Didot 1864,1, 96, Nr. 1; G. Schoepperle Loomis: Tristan andIsolt. A Study of The Sources of the Romance. Frankfurt a. M.: G. Baer & Co. 1913; Ménard, op. cit., 440^141. Vgl. P. Liebrecht: Zur Volkskunde. Heilbronn: Henninger 1879, 150; Schoepperle Loomis, op. cit., 231-233; Ménard, 1977, 441-443 (das Essen von Käse auch bei Eilhart von Oberg). Vgl. P. Valesio: „The Language of Madness in the Renaissance", Yearbook of Italian Studies 1 (1971) 199-234, insb. 200. P. Zumthor: Langue, texte, énigme. Paris: Seuil 1975, Kap. 1, von wo man auf die früheren Arbeiten zurückgehen; kann vgl. auch G. Angeli: Il mondo rovesciato. Rom: Bulzoni 1977 mit Bibliographie. In ihrer Arbeit weist die Autorin daraufhin (p. 59), dass sich die fatrasies, auch das wirre Reden der sots in den Dialogen farcenhafter Auffuhrungen widerspiegeln. Mehr dazu bei R. Garapon: La fantaisie verbale et le comique dans le théâtre français du Moyen Age à la fin du XVIIe siècle. Paris : Colin 1957,29-30, wo die verworrenen Sätze eines gespielten Irren im Miracle d'un Paroissien excommunié zitiert und die sprachlichen Verfahren der sots aus den soties, deren Name davon abgeleitet ist, beschrieben werden (Kap. II).

18 Descort, insofern als der Wechsel von Metren oder von Sprachen oder sogar von Prosa und Lyrik ausdrücklich auf Liebeswahn anspielt." Etwas Ähnliches wird sich im elisabethanischen Theater zeigen, wo die fools oft in Prosa sprechen, während die übrigen Personen sich in Versen ausdrücken. 2.1. Der besterforschte Typ von Wahnsinn ist der von Rittern. Als Einführung eignet sich immer noch die Dokumentation Rajnas über die Quellen des Rasenden RolancP4,dazu kommen die Materialien, die Menard gesammelt hat.15 Ritterwahnsinn (Wahn und Raserei) wird natürlich meistens durch Liebesleid ausgelöst. Aus Eifersucht werden Tristan und Alibrun im Tristan en prose verrückt; ebenso Daguenet im Palamades, Amadas und dann Roland, als er von seiner Ehefrau Laudine dafür, dass der Ehegemahl die ihm gesetzte Frist für seine Abwesenheit nicht eingehalten hat, verlassen wird; auch Yvain verliert den Verstand; dann Lancelot wegen falscher Beschuldigungen von Guenievre; andere Beispiele sind Mathan le Brun und Daguenet, als ihnen ihre Dame geraubt wird. Als Auslöser für die Verrücktheit werden viele genannt: Verlust der Kampfgefährten (Zauberer Merlin), Zaubertrank, den Morgane Lancelot einflößt, der in Gefangenschaft erlittene Hunger (Lancelot und der Gute Ritter ohne Furcht); schließlich die vergebliche Suche nach einem Kampfgefährten, Galehaut (wiederum Lancelot). Die Ritter, die dem Wahn verfallen und nicht mehr von Sinnen sind, scheinen einem ganz bestimmten Ritual zu folgen. Am Ausgangspunkt steht die Entblößung, sei es im Sinn der Opposition NACKT / BEKLEIDET (wobei NACKT auch nur so viel bedeuten kann wie mit bloßem Oberkörper, usw.), mit dem Hinweis darauf, dass die Kleider zerrissen oder zerlumpt sind, 16 sei es im Sinne der Opposition UNBEWAFFNET / BEWAFFNET, wobei die Ritter nach dem Verlust ihrer Waffen zu einem Ersatz (wie dem Bogen) oder anderen Provisorien (Stöcke usw.) greifen. Der nächste Schritt ist die Flucht in den Wald (der Zauberer Merlin fit silvester homo), wo der Verrückte sich vom rohen Fleisch des erlegten Wildes und von Wurzeln ernährt oder ganz ohne Essen und Trinken umherirrt.' 7 Das Verhalten des Verrückten ähnelt mehr dem von Tieren als von Menschen. Sein Herumwildern ist ein Nachäffen der Tiere, ebenso tierähnlich sind seine Laute. Bis in seine Ge-

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Vgl. zuletzt G. Tavani: „Sul discorso plurilingue di Raimbaut de Vaqueiras", in: G. Köhler/D. Rieger (eds.): Mittelalterstudien. Erich Köhler zum Gedenken. Heidelberg: Winter 1984, 177-187. P. Rajna: Le fonti dell'Orlando Furioso. Firenze: Sansoni 2 1900, Kap. XIII. In einem Nachdruck von G. Mazzoni. Firenze: Sansoni 1975 steht ein Hinweis des Autors dieses Bandes auf eine neue Quelle, den Amadas et Ydoine, 658. Ménard 1977, loc. cit., ohne Hinweis auf den Band von Rajna. Rajna, 1900 passim; Ménard 1977, 435^136. Ober Wald als Ort, wo die feudalen Bindungen zerbrechen, über den Bogen als Waffe der Bastarde, Verräter und Fremden, über die Opposition ROHE / GEKOCHTE SPEISEN und zwischen der Welt der Jagd und des Ackerbaus im Yvain vgl. J. Le Goff /P. VidalNaquet: „Lévi-Strauss et Brocéliande", Critique 30 (1974) 541-571.

19 sichtszüge hinein ist der verrückt gewordene Ritter entscheidend verändert: seine Haut wird schwarz, er wird, betont man, bis zur Unkenntlichkeit ein anderer. So schwärzt sich auch Tristan das Gesicht, um als Verrückter zu erscheinen. Wenn der Verrückte im Wald anderen Menschen, z.B. Hirten, begegnet, greift er sie an,18 aber er begegnet einem auch als derjenige, der von Kinderhorden gehetzt und geschlagen oder vom Pöbel mit Steinen beworfen wird. 19 Hierin mischt sich ein Zug des gemeinen Wahnsinns in den des Ritters. 2.2. Oppositionen wie N A C K T / B E K L E I D E T , W I L D / H Ö F I S C H , R O H / GEKOCHT könnte man in der allgemeineren Opposition NATUR / KULTUR zusammenfassen. Dieser logische Schluss ist aber nur dann zulässig, wenn der erste Term der Opposition (in diesem Fall) nicht positiv besetzt wird, und man die beiden Terme nicht f ü r logisch komplementär hält. So zeigt die Opposition UNBEWAFFNET / BEWAFFNET, dass NATUR höchst negativ besetzt sein kann, nämlich den Gegensatz zum Rittertum bildet. Wahnsinn des Ritters als Wahn und Raserei ist also so viel wie ein Ritual des Verzichts auf das Wertesystem, nach welchem der Ritter, wenn er bei Verstand ist, handelt. Ja, der verrückt gewordene Ritter wird dem wilden Mann (silvester, seivage usw.) ähnlich. Diese sagenumwobene Figur weist viele verwandte Merkmale auf: er lebt allein im Wald, er ernährt sich von Beeren und rohem Fleisch, manchmal spricht er nicht. Im Volksglauben gilt er bald als Sonderling, bald als Bastard von Irren und Ausgestoßenen. Das auffälligste Element, die langen Haare (verbunden mit körperlicher Stärke), unterscheidet ihn von den Irren aus dem einfachen Volk, denn diese werden von der Gemeinschaft ausgestoßen und sind durch ein Erkennungsmerkmal (geschorene Haare) abgetrennt, nicht so die verrückten Ritter, denn auch sie lassen sich die Haare unordentlich lang wachsen. In der Ikonographie kommt es dann auch zur Verschmelzung der Motive vom Irren und vom Wildem Mann (Der wahnsinnig gewordene Nebukadnezar auf alten Holzschnitten als Wilder Mann dargestellt). Zusammenfassend kann man sagen, dass der wilde Mann mit dem verrückten Ritter die Zivilisationsverweigerung, den Selbstausschluss teilt, während er sonst j e nach Kontext mit positiven oder negativen symbolischen Werten assoziiert werden kann. 20 In sprachlicher Hinsicht gibt es verschiedene Lösungen, und sie können wechseln. Die Opposition SCHREI / SPRACHE ist konsequenter durchgehalten als 18 Vgl. Ménard 1977, 444^145. 19 Vgl. Anm. 2. 20 Immer noch grundlegend R. Bernheimer: Wild Men in the Middle Ages. A Study in Art, Sentiment and Demonology. Cambridge: Harvard University Press 1954; New York: Octagone Books 2 1970. Zur Ikonographie vgl. insb. T. Husband: The Wild Man. Medieval Myth and Symbolism. New York: Metropolitan Museum. Über romanische Texte vgl. F. Neri: „La maschera del Selvaggio" [1912], in: Saggi. Milano: Bompiani 1964, 4 1 61; G. Bertoni: „II 'conforto' del Selvaggio" [1913], in: Poesie, leggende, cotumanze del medio evo. Modena: Orlandini 1916; 2 1927, 93-101; O. Schultz-Gora: „Der ,wilde Mann' in der provenzalischen Literatur", Zeitschrift für romanische Philologie 44 ( 1924)

20 die Opposition NATUR / KULTUR, aber es gibt auch Fälle, wo der Irre einigermaßen normal spricht, auch wenn das, was er sagt, keinen Sinn ergibt.21 Am häufigsten ist sowieso das gestische Ausdrucksmittel (sich die Kleider vom Leib reißen, sich wie ein wildes Tier gebärden) oder Flucht vor anderen Menschen ergreifen. 2.3. Bei Cervantes erreicht der ritterliche Wahnsinn seinen Höhepunkt. Im Don Quijote, ebenso wie in der Novelle Licenciado Vidriera, offenbart sich der Wahnsinn in seiner Rätselhaftigkeit, seiner Vielgestaltigkeit und mit seinen plötzlichen Momenten der Hellsichtigkeit. Cervantes gehört zusammen mit seinem Zeitgenossen Shakespeare zu den wahren Entdeckern des Wahnsinns der Moderne. Aber Cervantes wird auch den ritterlichen Wahnsinn entlarven, indem er dessen letzten Repräsentanten zeigt: Cardenio. In Cardenio (Don Quij. I, 23) weitet sich das Ritual vom Ritterwahnsinn, mit langen Intermissionen, zu einem tieferen Wahnsinn. Mehr noch, ausgehend von Cardenio, beschließt Don Quijote, Amadis ebenso wie den Roland aus dem Rasenden Roland nachzuahmen und selber einen Wahnsinn zu inszenieren. Die Komik dieses Wahnsinns liegt darin, dass er von dem allgemeineren und absolut echten Wahnsinn des Hidalgo umrahmt ist, besonders darin, dass er präventiv ist statt resultativ - eine Art Buße zur Abwehr dessen, was gewöhnlich zum Wahnsinn fuhrt. Die Ritualität des Ritterwahnsinns zeigt sich darin, wie programmatisch er in den Worten Don Quijotes erscheint: „me tengo de quitar todas estas armas, y quedar desnudo como cuando nací [...] Toma bien en la memoria lo que aquí me verás hacer [...]. Ahora me falta rasgar las vestiduras, esparcir las armas, y darme de calabazadas por estas peñas" (Don Quij. I, 25).22 3.1. Den dritten Typ mittelalterlichen Wahnsinn möchte ich als karnevalesk bezeichnen. Mit dem Begriff beziehe ich mich auf Bachtin,23 der die libertates decembris

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129-131; W. Mulertt: „Der ,wilde Mann' in Frankreich", Zeitschrift fir französische Sprache und Literatur 56 (1932) 69-88; W. Giese: „Zum ,wilden Mann' in Frankreich", ibid., 4 9 1 - 4 9 7 ; G. Baer: Zur sprachlichen Einwirkung der altprovenzalischen Troubadourdichtung auf die Kunstsprache der frühen italienischen Lyriker. Zürich: Leemann 1939 (Diss. Zürich), 159-162. Die lyrischen Belegstellen sind bei S. Orlando: „Uomini selvatici e poeti nella lirica cortese romanza", Studi testuali. Saggi. B. Cedrini et al. (eds.) Alessandria: Edizioni dell'Orso 1984, 83-108, gesammelt. So noch im Furioso, femer im Bertoldo von G. C. Croce; vgl. Valesio 1971. Übersetzung als Verständnishilfe: „[...] ich will doch selbst noch diese Rüstung ablegen und nackt sein, wie ich geboren wurde [...]. Jetzt fehlt mir j a noch, dass ich mir das Gewand zerreiße, meine Rüstung und meine Waffen hier herum verstreue, mit dem Schädel gegen die Felsen renne [...]". M. de Cervantes Saavedra, Don Quijote de la Mancha. Erster und zweiter Teil. Herausgegeben und neu übersetzt von Anton M. Rothbauer. Goverts Neue Bibliothek der Weltliteratur, Stuttgart 1964, 277 und 279. Vgl. M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übers, von G. Leupold, hrsg .und mit einem Vorwort vers. von R. Lachmann. Frankfurt: suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1995 ['1987] [d.O.].

21 erwähnt und der beschreibt, wie die „ausgelassenen Karnevalsfeierlichkeiten" zu den festa stultorum institutionalisiert wurden.24 Das war der Ursprung und das Alibi jener kollektiven Verrücktheit, die, wenigstens für einige Tage im Jahr, die Verspottung dessen erlauben konnte, was als ernst und ehrwürdig galt, die Aufhebung der Standesunterschiede, die Aufwertung der .niederen' Körperteile und die Enttabuisierung der Fäkalsprache. Bekanntlich sieht Bachtin im Karneval den Ausbruch einer sonst unterdrückten Volkskultur. Die Deutung der Zeitgenossen war gewissermaßen subtiler: sie sahen darin ein Ventil für Instinkte, die sonst durch Normen und Gesetze im Zaum gehalten wurden. Die festa stultorum sind, so heißt es in einem apologetischen Rundschreiben [der Pariser theologischen Fakultät] von 1444, als „feiertägliche Zerstreuung unumgänglich", „damit die Torheit (Narrheit), die unsere zweite Natur ist und dem Menschen angeboren scheint, sich wenigstens einmal im Jahr ausleben kann. Weinfässer platzen, wenn man nicht von Zeit zu Zeit den Deckel öffnet und Luft hineinlässt. Wir, die Menschen, sind schlecht gefertigte [...] Weinfasser, die vom Wein der Weisheit platzen, wenn dieser in ununterbrochener Gärung von Andacht und Gottesfurcht gelassen wird. [Deshalb lassen wir an bestimmten Tagen die Torheit (Narrheit) in uns zu, dass wir danach mit um so größerem Eifer zum Gottesdienst zurückkehren]". 25

Man muss dem Wein also Luft lassen, da er sonst schlecht wird. Der institutionalisierte Typ von Wahnsinn als Torheit (Narrheit), wie Bachtin ihn beschreibt, trägt zu Recht das Merkmal des Umsturzes, sowohl als Aufhebung der hierarchischen Schranken als auch der Unterschiede von ,Hohem' und Niederem', wobei,niedrig' für unedel, vielleicht auch schändlich gilt und die Oberhand haben will. Heiterkeit und Narretei in der Ausgelassenheit des Festes befreien von den Regeln und Zwängen des Üblichen, im Fest liegt „völlige Befreiung vom Ernst des Lebens".26 Damit ist es leichter, den karnevalesken Typ des Wahnsinns vom Wahnsinn des Ritters zu unterscheiden. Der letztere stellt, wie wir gesehen haben, eine Negation der Zivilisation dar, eine Rückkehr zur Natur aus zorniger Versagung. Beim karnevalesken Wahnsinn hingegen wird die Zivilisation bejaht, wenn auch auf den Kopf gestellt. Statt Selbstausschließung handelt es sich bei der närrischen Verrücktheit um Oben-Unten-Vertauschung innerhalb der Hierarchien. So lassen sich die verschiedenen Aspekte der beiden Typen mittelalterlichen Wahnsinns nach Gegensatzpaaren ordnen. Der Entblößung steht die Verkleidung (als Zeichen der Vertauschung im gesellschaftlichen Gefüge), gegenüber der Suche nach Einsamkeit der notwendigerweise kollektive Charakter des Festes, dem Fasten

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Zum festum stultorum (auch fatuorum oder follorum) vgl. die immer noch grundlegende Quellensammlung von E. K. Chambers: The Medieval Stage. Oxford: Oxford University Press 1903;. 8 1978, 274-335; vgl. auch das Stichwort Folli, festa dei in: Enciclopedia dello spettacolo, Bd. V, Rom 1958, 4 8 4 ^ 8 8 . 25 Bachtin 1995, Kursivierung im Originaldruck, 125. lf ' Bachtin, 288.

22 oder dem Verzehr rohen Fleisches das Festmahl oder das Fress- und Saufgelage. Daraus ergibt sich die Polarität der Typen: Der Wahnsinn des ritterlichen Typs ist ein Ausnahmezustand, der karnevaleske des Narren hat dagegen zyklischen Charakter und ist vom Kalender bestimmt, der erste trägt das Merkmal Abwesenheit, Exil, der zweite das der Freiheit, als dialektisches Korrelat zur Gemeinschaft. 3.2. Der Novellino überliefert uns die Deutung eines individuellen Falls von vorgetäuschtem Wahnsinn, eine Witzerzählung. Ich meine die Novelle XXXV, in der ein Arzt im Mittelpunkt steht. 27 Taddeo Alderotti (Vv. 1223-95) erklärt seinen Scholaren, dass, wer neun Auberginen esse, mit Sicherheit verrückt werde. Ein ungläubiger Scholar ist bereit, das Experiment zu machen, und, nachdem neun Tage vergangen sind, stellt er sich wieder bei Taddäus ein und erklärt ihm: „Meister, was Ihr da neulich von den Auberginen gesagt habt, stimmt nicht, denn ich hab's probiert und bin nicht verrückt geworden". Daraufhin entblößt er sein Hinterteil und zeigt es dem Lehrer. Dann sagt Taddäus unbeirrbar zu den anderen Scholaren gewandt: „Notiert auch diesen Vorfall als neuen Beweis für die Wirkung der Auberginen". Der Scholar hat, als er seinen Lehrer verspottete, von der Sprache des Narren Gebrauch gemacht. Er ist sich dessen bewusst, was Bachtin später zeigen wird, wenn er über die Volkskultur als Lachkultur schreibt: 28 „Die Bewegungslogik des volkstümlich-komischen Körpers (dies kann man bis heute in den Schaubuden und im Zirkus beobachten) ist die leiblich-topografische. Das Bewegungsmuster dieses Körpers ist am Verhältnis von Oben und Unten orientiert, es besteht aus Flügen und Stürzen (Einbrüchen). Der einfachste Ausdruck dieses Bewegungsmusters, sozusagen das Grundphänomen, ist das Radschlagen, d.h. das dauernde Verlagern des Oberkörpers nach unten, und wieder zurück, oder, was äquivalent wäre, das ständige Umplatzieren von Himmel und Erde. Dieses Prinzip taucht auch in einer ganzen Reihe anderer einfacher Bewegungen des Schaubudenclowns auf: Der Hintern will an die Stelle des Kopfs und umgekehrt.

Und genauso setzt auch der Scholar, nachdem er das Gesicht gezeigt, seine symbolträchtige Rede fort und zeigt ihm sein Hinterteil. Der Lehrer Taddäus bezieht sich, in höchst geistreicher Weise, nicht auf die Sprache des Karnevals, sondern auf die traditionellen Zeichen des Irreseins: den Verstoß gegen die Regeln des Anstands und stellt seine Diagnose. Er behält das letzte Wort, nicht weil er in der stärkeren Position wäre, sondern weil er alle Register des Wahnsinns beherrscht, auch, aber nicht nur die karnevaleske, denn der Scholar macht vom gelernten Register nur frech Gebrauch.

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Novellino. Zweisprachige Reclam-Ausgabe von Janos Riesz. Reclam: Leipzig 1988 Novelle XXXV: Eine Geschichte von Meister Taddäus aus Bologna, 90-91 [d.Ü.]. Bachtin 1995, Kursivierung im Original, 396.

23 3.3. Aus den autorisierten Normverstößen d e r f e s t a stultorum sind die interessantesten Entwicklungen dieses Typs des mittelalterlichem Wahnsinns in der Renaissance und im Barock entstanden. Ein anonymes, weil gesellschaftliches Phänomen musste personifiziert, individualisiert werden, wie umgekehrt eine ursprünglich nur für wenige Tage im Jahr genehmigte Freiheit erst gesellschaftlich konventionalisiert werden musste. So entsteht die Figur des buffone, dann des bobo und des fool: Die Narren und Tölpel sind charakteristische Figuren mittelalterlicher Volksbelustigung. Es scheint ihre Rolle zu sein, das Prinzip des Karnevals in die gewöhnliche (von diesem Prinzip freigehaltene) „Seriosität der Angst und Leiden" des gesellschaftlichen Lebens hineinzutragen. 29 So konnte aus dem karnevalesken Typ des Wahnsinns statt einer befristeten Freiheit mit Narrenkappe eine kulturelle Norm von größerer Verbreitung und Dauerhaftigkeit werden. Das spielerische Element bleibt erhalten, nur ist es kein Spiel mehr, das man selbst in die Hand nimmt, sondern ein Spiel, das delegiert wird, das einem zum Schauspiel wird. Wegen dieser Institutionalisierung wird vom Clown und vom fool genau das verlangt, was ihn über die Belustigung hinaus so unersetzlich macht. Ihm obliegt es, die Wahrheit zu verkünden, das heißt in der Rolle des Verrückten auszusprechen, was dem geistig Gesunden, der bei Sinnen ist, gefährlich werden könnte. Das impliziert (und erst im 16. Jahrhundert wird es theoretisch erfasst werden) eine höchst differenzierte und tiefgehende Problemkenntnis von Wahnsinn und Verstand. 30 Die historischen Weiterentwicklungen des Hofnarren (zu dessen Vorgängern auch der mittellateinische Marculf gehört) überkreuzen und vermischen sich mit den besser bezeugten Bühnennarren - natürlich einer zwischen Tölpel, Verrücktem und Hanswurst schillernden Figur. 31 Bachtin beginnt dessen Geschichte schon mit dem derve in dem 1262 entstandenen Jeu de la Feuillee von Adam de la Halle. 32 Die Figur lässt sich im übrigen auf das Theater überhaupt ausweiten, mit Beispielen wie den soties, die j a gerade ihren Namen von einem besonderen Typ von Irren herleiten. Shakespeare konnte aus einem Schatz von Erfahrungen schöpfen und hat davon ja auch meisterhaft Gebrauch gemacht.

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Bachtin 1995, 146. Vgl. auch Ménard, 1977, 453^154. Zum englischen Theater des 17. Jahrhunderts vgl. insb. V. Gentili; Le figure della pazzia nel teatro elisabettiano. Lecce: Milella 1969, insb. 72, Anm. 6 mit bibliographischen Hinweisen zum Typ des Fool. Bei bibliographischen Hinweisen beschränke ich mich auf G. Ferroni: „L'Ariosto e la concezione umanistica della follia", Atti dei Convegni Lincei, Internationales Kolloquium über Ludovico Ariosto. Rom 1974, 75-92 und auf den Sammelband: Folie et déraison à la Renaissance. Colloque international tenu en novembre 1973. Bruxelles: Ed. Université de Bruxelles 1976. A m ausführlichsten darüber E. Welsford: The Fool. His Social and Literary History. London: Faber & Faber 1935. Vgl. auch A. Stegmann: „Quelques aspects des fous en titre d'office dans la France du 16 e siècle". Folie et déraison 53-75. Bachtin 1995, 298-299.

24 3.4. In einigen Zügen ahmt das Ritual der Heiligkeit das des ritterlichen Wahnsinns nach, nur dass das Ritual der Heiligkeit ein bewusstes und diese Bewusstheit sogar ausschlaggebend ist. Ich erinnere an die Entblößung, das Anlegen ärmlicher Kleider, was gerade eine der entscheidenden Szenen beim Wechsel zu einem anderen Lebensstil, so dem Leben in Armut (Franz von Assisi) ist; an das Ablegen von Waffen, die , Weltflucht', manchmal unter Verzicht auf Eigentum und Körperpflege. Andere Aspekte verbinden wiederum die Heiligkeit mit dem karnevalesken Wahnsinn: die teilweise Missachtung von Hierarchien, die Enthüllung verdrängter Wahrheiten. Rabelais muss eine ähnliche Verknüpfung hergestellt haben, nur dass er sie ins Paradoxe wendet, wenn er Narr und Tölpel gleichermaßen als Heilige darstellt. Einerseits gibt Rabelais dem Verzicht des Tölpels (Verrückten) auf irdische Güter eine noch ganz traditionelle christliche Bedeutung; andererseits deutet Rabelais den Verzicht des Narren (Tölpels) auf die Welt als Verzicht auf das Übliche, auf die in ihren Konventionen und Maßstäben, „in ihrem Ernst erstarrte Welt". 33 4.1. Bei all diesen typisierenden Beschreibungen des Wahnsinns ist immer auch nach der empirischen Grundlage, den konkreten Erscheinungsbildern zu fragen. Vielleicht gibt uns Wace mit La Vie de Saint Nicolas ein gutes Beispiel. Der ursprüngliche Wortlaut heißt: Un hom plein de mal esperit desqu'al mouster amenez tut, Fous ert, le sens aveit perdut. Devez ert de male maniere. E a parei e a maisere. E par tout la ou il poeit. Hurtout sun chef et debateit. Taunt aveit sun chef demene, Taunt debatu, taunt dehurte Que toute la char ert blemie Et toute quassee et purrie. Li verm ki de la char nasseient De toutes pars aval chaeient A treis houmes 1' esteut mener. Autrement ne poeit aler" 34

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Bachtin, 288. Ein ziemlich elaboriertes Beispiel eines heiligen Narren ist Felix in dem Conte, den J. Chaurand untersucht hat: Fou. Dixième conte de la Vie des Pères. Conte pieux du XIII e siècle. Genf: Droz 1971. Der heilige Mann hat alle Merkmale des Verrückten: schwarz im Gesicht (619), geschorene Haare (133; 199; 544, vgl. hierAnm. 8), die Kutte aus burel (622, vgl. hier Anm. 7), Verfolgung und Verspottung durch die Menge und Kinder (200, vgl. hierAnm. 2). Als Belegstelle für Torheit, die Weisheit ist, nennt Chaurand die Briefe des Paulus an die Korinther: 1. Kor. I, 18-25; II, 7-8; III, 18-19 IV, 10. Ausgabe E. Ronsjö (ed.). Kopenhagen-Lund: Gleerup-Munksgaard 1942, Vv. 1520— 34. a „Ein Mann, erfüllt vom bösen Geist, wurde zum Kloster gebracht Verrückt war er, den Verstand hatte er verloren. Wahnsinnig war er aufs Schlimmste, und er war

25 Genau genommen geht es hier um eine neue ,Gestalt des Wahnsinns', um die Figur des vom Teufel oder von einem bösen Geist (plein de mal esperit, 1520) Besessenen. Die Geschichten von Besessenen reichen zurück bis auf das Neue Testament und finden weitere Vorbilder in den moralischen exempla, den Abenteuerund Wundergeschichten. Es gibt dabei eigentlich kaum einen Unterschied. Während die Pathogenese des Wahnsinns aus der Subtraktion (Verlust der Sinne und des Verstandes) resultiert, beruht die Besessenheit auf dem Prinzip der Addition (Eindringen eines bösen Geistes, der einen Menschen überkommt und von dem er Besitz ergreift). Vielfältiger sind die Erkennungsmerkmale des dervé im Jeu de la Feuillée: er beleidigt, beschimpft und verprügelt seinen Vater, wirft die Frucht weg, die ihm angeboten wird, er benutzt Gegenstände als Wurfgeschosse, bellt andere an wie ein Hund, bildet sich ein, bald ein Scheusal in Tiergestalt, bald ein König zu sein. Dabei überwiegt bei der Darstellung der Eindruck von Komik gegenüber dem von Krankhaftigkeit. 4.2. Besonders bemerkenswert ist der Wahnsinn von Archimbaut im Versroman Flamenca, der (vielleicht mit Ausnahme der scharfsinnigen Studie von Ilse NoltingHauff zur Stellung der Liebeskasuistik im höfischen Roman)35 in der Literatur zum mittelalterlichen Wahnsinn, wie mir scheint, nicht die notwendige Beachtung gefunden hat. Die Symptome des Liebeswahns sind hier von der Autorin deutlicher als anderswo herausgearbeitet, ist doch auch die Hauptfigur als solche neuartig. Im üblichen Dreiecksschema kommen zwei um eine Dame Rivalisierende (Konfliktparteien) vor, ein galanter Ritter auf der einen Seite, ein Gemahl, selbst ein reicher und einflussreicher Mann, Fürst oder Graf, der eigentlich der höfischaristokratischen Gesellschaft fremd gegenübersteht, auf der anderen Seite. Durch seine Eifersucht und die Gefangenhaltung der zur Liebe bereiten oder schon verliebten Ehefrau unterwirft sich der Gemahl der geltenden höfischen Gesellschaftsordnung mit ihren formalen und legalen, nicht von der Liebesleidenschaft bestimmten Bindungen. Anders verhält sich demgegenüber Archimbaut: er wird Gesetzesbrecher, denn er begeht den her ad matrimonium mit Flamenca als Liebesheirat, wie sie bei Chrétien de Troyes beschrieben wird.36 So preist Archimbaut in seinem Liebeswahn die hohe Kunst des Liebesabenteuers eines Ritters: jeu conosc ben

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tobsüchtig und völlig aufgelöst und überall, wo er nur konnte, schleuderte er den Kopf und schlug damit. So sehr hatte er seinen Kopf verletzt, so oft angestoßen und herumgeschleudert, dass das ganze Fleisch eine einzige Wunde war. Die Würmer, die aus diesem Fleisch quollen, fielen überall zu Boden. Drei Männer waren nötig, ihn zu bändigen, sonst war er nicht zu bewegen" (persönlich mitgeteilte Übertragung von HansIngo Radatz [d.O.]). I. Nolting-Hauff: Die Stellung der Liebeskasuistik im höfischen Roman. Heidelberg: Winter 1959, 104-124. Zu einer solchen Deutung der Romanfigur Archimbaut vgl. auch meine Ausführungen in: Semiotica filologica. Torino: Einaudi 1979, 16-17.

26 d'aitals affars, 887; „mit derlei Dingen bin ich wohl vertraut"; Eu conosc ben los guins e | [s] sinz, \ e-\ mas estrinz e- \ [s]pes causins, 1135-36; „Ich kenne sie wohl, die Winke und Zeichen, das Händchenhalten und Füßchendrücken". 37 Für Archimbaut ist Wahnsinn die unausweichliche Folge davon, dass er mit dem höfischen Wertekodex gebrochen und damit seine Zugehörigkeit zur höfischen ,Gemeinschaft' aufgegeben hat. Im Roman werden seine vielfältigen Erfahrungen berichtet, die er in strenger Folge durchlebt: Zunächst durchfährt ihn ein geradezu körperlicher Schmerz, worauf er in Klagen ausbricht.1 e plais co s 'agues mal de flanc, 1016; „und stöhnte, als habe er Bauchschmerzen", dann verworrene Worte: quant cuja cantar et el bela, | quant cuja sospirar bondis, 1040-41; „wenn er zu singen meint, blökt er nur; glaubt er zu seufzen, so schnappt ihm die Stimme über"; lo pater noster diz soen \ del simi, que res non l'enten, 1043—44; „das Vaterunser sagt er wie der Affe, den niemand versteht"; 38 e vai chantan tullurutau | e vai danza[n] vasdoi vaidau, 1053-54; „und singt tralala und tanzt hopsassa". In die Anspielungen auf Tierstimmen (wie sie nicht nur in dem bela, dem Blöken 39 , sondern auch im Affengeschrei, bei dem simi zum Ausdruck kommen) mischt sich eine aus tullurutau und vasdoi vaidau gebildete groteske Musikalität. 40 Hinzukommen Trägheit: e ja non levera del lieg \ si non temses. blasmes e critz, 101819; „und er würde gar nicht mehr aus dem Bett kommen, wenn er nicht Beschimpfungen und Geschrei fürchtete", Zögerlichkeit: ren non acaba ni eissega; \ soen vai dins, soen defora; \ deforas art, dedins atora, 1036-39; „er beendet nichts und erledigt nichts; mal geht er hinein, dann wieder hinaus; draußen glüht er, drinnen friert er"; Assaz ordis, cora que tesca, \ quar ades vai de sai, de lai, 1060-61; „Er zettelt viel an, so als webte er [Bild des Weberschiffchens] geht er mal hierhin, dann wieder dorthin", und Unsicherheit, verbildlicht in dauernd wechselnden und entgegengesetzten Bewegungen: dins ... defora; de sai, de lai.

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Die deutschen Übertragungen ebenso wie bibliographische Hinweise verdanke ich H.I. Radatz [d.Ü.]. Vgl. F. P. Kirsch (ed.): Flamenco, ein altokzitanischer Liebesroman, übersetzt, mit Einführung, Erläuterungen und Anmerkungen vers. von F. P. Kirsch. Kettwig: Phaidon 1989; K. Lewent (ed.): Bruchstücke des provenzalischen Versromans ,Flamenco '. Halle/Saale: Max Niemeyer 1926. Das italienische Original zitiert nach A. Limentani (ed.): Las novas de Guillem de Nivers (Flamenco). Padova: Antenore 1965; Überarbeitung der Handschrift von Carcassone in der rev. Textausgabe von P. Meyer (ed.): Le Roman de Flamenco. Paris: Bouillon 1865; 2. Aufl. 1901; die bei Limentani fehlenden Verse (Vv. 1549-50; 1554-56) werden durch Lesehilfen ersetzt. Zum Affen-Vaterunser vgl. S. Debenedetti: Flamenco. Torino: Chiantore 1921, 8, Anm. 1 Das altprovenzalische belar entspricht (entgegen der bei Segre abgedruckten Lesehilfe) nicht dem deutschen „Bellen", sondern dem romanischen Wort für „Blöken" (Hinweis von H.-I. Radatz) [d.Ü.]. Es handelt sich dabei um traditionelle Volkslied- bzw. -tanzrefrains, vgl. dazu die erste Textausgabe von P. Meyer, op cit. Paris-Béziers: Franck-Delpech 1865, 292, insb. Anm. 2; zum Tureluru, va turelu im Kauderwelsch des eingebildeten Irren in der Wundergeschichte „Miracle d ' u n paroissien excommunié", zit. bei Garapon 1957, La fantasie verbale, 28.

27 Äußerungen mit gestischen Mitteln: Per gran malesa torz las mans, \ e pauc n 'es meins [s'] ades non plora, 1004-05; „Wegen der großen Qual rang er die Hände, und es fehlte nicht viel, dass er sogleich zu weinen begonnen hätte"; Adoncas fai un joc cani, \ que las dens monstra e non ri, 1067-68; „Sodann spielt er den Hund, indem er die Zähne bleckt, ohne dabei zu lachen"; el estraga si coma cans, 1331; „er führt sich auf wie ein Hund"; tiras los pels, pela s los cais, \ manja s la boca, las dens lima, \fremis e frezis, art e rima, 1116-18; „rauft sich die Haare, rupft sich den Bart, / beißt sich auf die Lippen, knirscht mit den Zähnen, / zittert und bebt, brennt und brutzelt". Hier häufen sich die Vergleiche mit der Tierwelt, vor allem mit dem Hund. Unterstrichen wird das durch Veränderungen im Körperverhalten. Archimbaut selbst beschreibt sich als ro[i]nos, barbutz, espelofltz, 1160, „krätzig, borstig, struppig"; und sagt: tiel pel son fer et irissat \ que semblon Flamencha espinat \ e coa d'esquirol salvage, 1161-63; „deine Haare sind wild und stoppelig, dass sie wie ein dorniges Schaffell aussehen, wie der Schwanz eines wilden Eichhörnchens". Diese Veränderungen stehen auch in Verbindung mit der zunehmenden Vernachlässigung der einfachsten Regeln der Körperpflege: No-s lavet cap ni s ras la barba; \ d'aquella sembiet una garba | de civada quan es mal facha; \ pelada l 'ac per luecs e tracha \ e mes los pels totz en la bocha , 1325-29; „Er wusch sich nicht mehr den Kopf, rasierte sich nicht den Bart; / so sah er aus wie eine schlecht gebundene / Hafergarbe; / an einigen Stellen hatte er sich kahlgerupft / und die ausgerissenen Haare in den Mund gestopft"; unquas pueis que mollier pres \ no s bainet neil venc neis em pes [...] \ Ges non fera los guinnos raire | per nulla ren c 'om Ii disses, „Er hätte sich nie die Wangen rasiert, egal, was man ihm auch gesagt hätte" | Grifon sembiet o Esclau pres „einem Greifen glich er, oder einem gefangenen Sklaven", 1549-50,1554—56; 1562-64. In diesen Versen wird die Vertierung mit Deklassierung assoziiert, die im Vergleich mit dem Sklaven liegt. Vom ritterlichen Typ des Wahnsinns sind wir hier weit entfernt, auch wenn Spuren bleiben: Das Tierhafte ist phantasiereicher dargestellt, die Verunstalltung des Körpers nicht mehr durch das Leben im Wald verursacht, sondern die Nichtbeachtung einfachster Hygieneregeln; vor allem werden die Symptome psychologisch erklärt, und es wird beschrieben, wie sie erlebt werden. Geradezu ins Auge springt auch das Karikaturhafte (wobei Karikatur ein Verstehen einschließt). Mehrmals kommen auch Züge der Komik ins Spiel, so für mich ganz besonders in dem Vorfall, dass Archimbaut, wutschnaubend Flamenca Anweisungen erteilend, die Treppe herunterrollt, sich dann beruhigt und, wie ein Affe sich gebärdend, wieder aufspringt. grata l[o] suc, gata la cota, leva- 1 braier, tira la bota; poissas si dreissa, pois s'aseta, pois s'esterilla, poisas geta un gran badail e pois si seina Vv. 1259-63. „er kratzt sich den Scheitel, reibt sich den Nacken,

28 zieht die Hose hoch, zieht am Stiefel; dann richtet er sich auf, dann setzt er sich wieder, dann streckt er sich, dann gähnt er ein gewaltiges Gähnen, dann bekreuzigt er sich".

Auch dieser Textbeleg, der wahrscheinlich wieder nur ein Fragment darstellt, vermittelt ein Bild davon, wie sich das Mittelalter in ganz unterschiedlichen Zugängen dem rätselhaften Phänomen Wahnsinn genähert hat: mit Beschreibungsmustern und durch unmittelbare Beobachtung der Wirklichkeit, mit vorsoziologischen Beobachtungen und Sinn für Karikatur, mit Einfühlung und mit Brutalität. Die Erscheinungen, die das Mittelalter auf diese Weise in Ansätzen aufgedeckt hat, sind alles andere als naiv und falsch, mögen unsere Vorstellungen dazu heute auch ein wenig präziser und klarer sein. Wir lehnen es heute ab, Wahnsinn und Freiheit in eins zu setzen, doch kann sich ein starkes Bedürfnis nach Freiheit in Wahnsinn manifestieren. So verstandene Freiheit schließt den Bruch mit vorgegebenen Maßstäben ein.

3. Was Bachtin nicht gesagt hat. Die mittelalterlichen Ursprünge des Romans

1. Der Beitrag Bachtins zur Romantheorie ist meines Erachtens fundamental. Bachtin hat sich zwischen Theorie und Geschichte bewegt. Während er hie und da, den Spuren von Blankenburgs und Hegels folgend, das Wesen des Romans unter Abgrenzung vom Epos definiert, zeichnet er in anderen Schriften die Vorgeschichte und Geschichte der literarischen Gattung des Romans von der griechischen Antike bis zum bürgerlichen Roman nach. In dieser Geschichte gibt es jedoch eine deutliche Zäsur, und sie fallt genau mit dem mittelalterlichen Roman zusammen, der uns hier beschäftigen soll. Noch am ergiebigsten sind die Aussagen Bachtins in seinen Aufsätzen über Formen der Zeit im Roman (Bachtin 1989, 89).1 Auf sechs oder sieben Seiten des fünften Abschnitts springt er vom Tristan über Wolframs Parzival, Dantes Divina Commedia bis zum Roman de la Rose und Piers the Plowman (1989, 89). Später finden sich darüber hinaus einige kurze Bemerkungen zu Dit d'aventures (1975) zu Aucassin et Nicolete, Mule sans bride sowie zum Roland comique (1965) - schwach erinnerte, vielleicht nur indirekte Lektüren. Bachtin war der deutschen Kultur gegenüber aufgeschlossener als gegenüber der französischen, so dass er genauer ist, wenn es um Wolframs Parzival geht. Aber Unkenntnis ist nicht der Hauptgrund für das nur mäßige Interesse Bachtins am mittelalterlichen Roman. Vielmehr liegen Theorie und Geschichte für Bachtin auf zwei verschiedenen Ebenen. Wie ausgedehnt und interessant seine historischen Forschungen auch sein mögen, sie stehen im Dienste der Theorie, wie diese umgekehrt im Dienste der Interpretation. Den Höhepunkt seiner Reflexion stellen die beiden großartigen Arbeiten über Dostoevskij (21963) und Rabelais (21965) dar. Das geht auch aus seiner Bibliografie (bzw. Biografie) hervor, wonach Bachtin sein großes Werk über Dostoevskij in Wirklichkeit früher geschrieben hat als seine historischen Charakterisierungen, so als dienten diese hauptsächlich zur nachträglichen Bestätigung.2 1

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Die Zeitschriftenaufsätze von Bachtin 1934—1938 aus dem vollständigen Aufsatz-Band (russ. 1975; it. 1979) verteilen sich in der deutschen Übersetzung auf zwei Titel, die zeitlich weit auseinander liegen (Bachtin 1979; 1989), anders zusammengesetzt sind und sich auf Auszüge beschränken. Daher variable Handhabung der Zitate zur größtmöglichen Sicherung der Authentizität oder wenigstens Nachvollziehbarkeit [d.O.]. Die erste Textausgabe der Dostoevskij-Arbeit datiert von 1929, dagegen stammt der

30 2. Was sind nach Bachtin die invarianten Merkmale des Romans? Er schreibt: Der Roman unterscheidet sich von allen anderen literarischen Gattungen vor allem durch drei Eigentümlichkeiten: 1) Dreidimensionalität der Stilisierung als Ergebnis der im Roman entfalteten Vielstimmigkeit (Redevielfalt); 2) radikale Veränderung des zeitlichen Koordinatensystems des Helden; 3) neue „Zone" um den Helden (Bereich der Einflussnahme der Romangestalten auf den Autorkontext) durch Einrichtung kleinstmöglicher Distanzen zur Gegenwart (zeitgenössische Epoche) in ihrer konstitutiven Unabgeschlossenheit (1979, 205f, 213f).

Wir erkennen hier die zentrale Fragestellung aus einigen grundlegenden Arbeiten von Bachtin, die in einem posthum veröffentlichten Band in der Zeitschrift Voprosy literatury i estetiki (1975) zusammengestellt worden sind. Aber die wichtigsten Merkmale des mittelalterlichen französischen und provenzalischen Romans sind nicht leicht zu erkennen. Außerdem trifft diese Charakterisierung wie im übrigen alle Gattungsbestimmungen der Vorwurf der Ahistorizität. Andere Aussagen sind anschaulicher und offener gegenüber Entwicklungen. So steht nach Bachtin der Roman in der Nähe zur Unabgeschlossenheit der Gegenwart. Die Folge davon ist, dass diese Gattung nicht „in novellistisch abgeschlossenen Erzählungen realisiert" sein kann (1989, 91-92). Es ließe sich jedoch leicht nachweisen, dass Bachtin beim Roman nicht an das ,Früher' oder ,Später' der Vergangenheit, sondern an die Zukunft, statt an die Abgeschlossenheit an seine Evolutionsmöglichkeiten denkt. Bachtin hat in der Rabelais-Dostoevskij-Phase seine eigene Vorstellung vom Roman entwickelt, und er will seine Exkurse weniger als historisch denn als prähistorisch verstanden wissen. Sie haben den Zweck, Tendenzen, Verfahren und erste Konkretisationen der Bauelemente aufzuzeigen, die schon bei Rabelais übersteigert und materialisiert vorliegen, aber erst bei Cervantes zu einem organischen Ganzen zusammengefügt worden sind. 3. Bei der Angabe der Entstehung des modernen Romans schwanken die Meinungen bekanntlich bis um Jahrhunderte. Während er für einige erst mit dem englischen Roman des 18. Jh. (nach Hegel), insbesondere The History of Tom Jones von Fielding (Curtius) beginnt, gehen andere bis zu Don Quijote (Heine) oder bis zu Amadis da Gaula (Menendez Pelayo) zurück; einige sehen den Zeitpunkt noch früher bei Jean de la Saintre (Kristeva) oder Boccaccios Fiammetta (in der Tat

Artikel „Slovo v romane" von 1934/35 (die Zeitschriftenveröffentlichung folgte 1972, später Aufsatz-Band Bachtin 1975); „Roman vospitanija i ego znachenie v istorii realizma" von 1936/38 (veröffentlicht erst 1979); „Formy vremeni i chronotopa v romane" von 1937/38 (Zeitschriftenveröffentlichung 1974, später auch: Bachtin 1975); „Iz predystorii romannogo slova", 1940 (veröffentlicht erst 1965, später auch: Bachtin 1975). Kapitel IV von Dostoevskij (1963) enthält bereits einen ersten theoretischen Entwurf zu einer Geschichte der Romangattung, der jedoch in der Ausgabe von 1929 noch fehlte; Hinweis von Maria Di Salva.

31 Vorbild fur den spanischen Liebesroman) oder bei Dantes Vita Nova; sogar die Artusromane in Prosa sind schon genannt worden. Für Romanisten gilt es jedenfalls als ausgemacht, dass die ersten Romane die französischen aus dem Zyklus der sogenannten antiken Romane, vor allem bei Chrétien de Troyes, sind. Waren die „Romane" nicht einfach schon dadurch als solche definiert, dass ihre Autoren oder die Zeitgenossen sie als solche bezeichneten? Mit der Bezeichnung roman stellen sich noch andere Fragen. Ursprünglich sind damit Übersetzungen aus dem Lateinischen oder Erzähltexte im allgemeinen gemeint, weil solche nämlich bevorzugt übersetzt wurden, Verserzählungen wie der Roman de Renart oder der Roman de la Rose und erst recht Texte wie der Roman des Ailes oder die Übersetzungen der Disticha Catonis lassen sich schwer in die Geschichte des Romans einfügen. Man könnte allenfalls mit Vertretern der historischen Wortsemantik wie Voelker (1866) gelten lassen, dass Roman eine Bedeutungsverengung erfahren habe und dass man als Roman nur den Bereich von Texten bezeichnen dürfe, auf den sich der Begriff seit Ende des 12. Jh. spezialisiert hat.3 Gewiss umfasst der Begriff Roman mehr, als was im Englischen novel und romance heißt, wozu noch fiction und narrative kommt. Dabei ist der Unterschied zwischen romance und novel nicht ganz klar; und gerade bei den französischen Romanen des 12. und 13. Jh., die oft Zeitgenössisches und Wunderbares nicht gleichermaßen umfassen, würde die terminologische Grenze in beiden Richtungen überschritten. Vom Don Quijote bis zum französischen Roman des 12. Jh. zurückgehend, stößt man auf eine Reihe von Brüchen, die gleichzeitig auch Anzeichen von Kontinuität sind.4 Die Literaturgeschichte ist, wie Sklovskij sagte, die Geschichte einer Folge von Vatermorden oder wenigstens die von „Onkelmorden". 4. Zurück zu Bachtin. Entsprechend seiner Theorie unterscheidet er in der Alten Welt zwei „stilistische Linien": zum einen diejenige des Sokratischen Dialogs, der menippäischen Satire und des Lukianschen Dialogs, zum anderen diejenige der griechischen' oder ,byzantinischen' Romane.5 Gewöhnlich ist es diese zweite

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Die Bezeichnung roman wird auch für einige Chansons de geste (wie Elie de Saint Gille, Aiol, Fierabras^ verwendet. Der Brut und der Roman de Troie sind jedenfalls schon als romans definiert (vgl. Voelker 1866; Marichal 1968), und so verzeichnet auch Chrétien seinen Yvain (IV., 6805), Lancelot (II, 7101 ) und Perceval (VIII). Alsbald wurde eine ziemlich vielfaltige Terninologie für Stoff, Form und Struktur des Romans eingeführt. So unterscheidet Chrétien zwischen livre (lateinische Quelle, auctoritas), conte (Erzählung innerhalb des Romans und seiner Quelle) und estoire (andere Erzählung im Unterschied zu der Chrétiens); außerdem verwendet Chrétien matière (für Stoff oder auch Quelle), conjointure (Organisation des Textes), sens, antancion (Konzept des Dichters); vgl. Ollier 1974. Mit Marichel 1968, 452 ist jedoch daraufhinzuweisen, dass es in der Geschichte des französischen Romans von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 16. Jh. eine (in Spanien und in anderen Ländern gefüllte) Lücke gibt; die Entwicklung setzt wieder mit der Übersetzung des Amadis ein.

32 Linie mit einer romanartigen, nicht historischen Fabel, in der man einen ersten Ansatz zu dem sieht, was später der moderne Roman werden sollte. Umgekehrt behauptet Bachtin aber auch, dass das Wesen des modernen Romans in der ersten Linie angelegt ist, deren Texte „die wichtigsten Aspekte der Entwicklung des Romans vorankündigen" (1979, 25 lf). Eine durchaus ähnliche Situation sieht Bachtin in der mittelalterlichen Volksliteratur: auf der einen Seite eine unübersehbare Fülle von Experimenten der Vielstimmigkeit, mit Stilisierungen und Parodien in nicht (oder nur teilweise) narrativen Texten, besonders in solchen, die Bachtin als ,karnevalisiert' bezeichnet, auf der anderen Seite die Erzähltexte, in denen solche Experimente fehlen oder höchstens angedeutet sind. Bachtin betonte immer wieder die Bedeutung der ersten Art von Phänomenen (vielsprachige und parodistische Texte), während er es, was die perspektivischen Experimente im Ritterroman [vgl. Bachtin 1989, 89ff] und ganz besonders in Wolframs Parzival angeht, mit Andeutungen bewenden ließ (1979, 279-280). Es wäre müßig, zu fragen, worauf es mehr ankommt, ob auf die Vielstimmigkeit oder auf die Fabel. Wichtiger ist, dass die Experimente und die vielsprachigen Texte, sei es außerhalb des Romans, sei es sogar innerhalb der Entwicklung des Romans selbst, eine Geschichte voller Brüche darstellen, während die narrative Gattung, welche seit dem 12. Jh. Roman genannt wird, sich sogar in ihren Wandlungen bis heute kontinuierlich und kohärent entfaltet. Denn während Bachtin die Geschichte von den Verfahren der Vielstimmigkeit und die Geschichte der narrativen Erfindung voneinander getrennt wissen will, fasst er unter der Kategorie Polyphonie Phänomene von ganz verschiedener Herkunft und Funktion zusammen. Mir scheint, dass die Polyphonie bei Bachtin im Dienste zweier verschiedener Programme steht: 1) Unterscheidung zwischen der Stimme des Autors und derjenigen der Figuren durch stilistische Differenzierungen; 2) Darstellung der sprachlichen Schichtung in der beschriebenen Gesellschaft durch Verwendung von Registern, Konnotationen und Anspielungen, die schon aus Berufsjargons, soziolektalen Varianten usw. in den allgemeinen Gebrauch eingegangen sind. Stehen die Figuren in einer Gegensatzbeziehung oder einer Konfliktrelation zum gesellschaftlichen Umfeld fallen die beiden Programme natürlich zusammen. Aber nicht alle Romanschriftsteller haben diesen Konflikt dargestellt, am wenigsten im Mittelalter. Die Polyphonie dient außerdem dazu, zwei verschiedene Einstellungen des Autors gegenüber seinen Figuren zum Ausdruck zu bringen: 1) Darstellung in

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Eine der wichtigsten Quellen für diesen Teil der Bachtinschen Forschungsarbeit ist natürlich Rohde 1900, den auch ein mit Bachtin sonst so fernstehender Forscher wie Frye 1957 heranzieht. So erklären sich einige Ähnlichkeiten. Zum Beispiel stellt Frye dem durch psychische und subjektive Werte bestimmten romance, die menippäische Tradition gegenüber, die bis zu Rabelais, Swift und Voltaire mit ihrer extemalistischen und intellektualistischen Erzählwelt reichen. Die Tradition, so sagt Frye, beobachtet nicht so sehr die Figuren von außen wie vielmehr deren geistige Haltungen.

33 Richtung Teilnahme bis hin zu zeitweiliger Identifizierung; 2) Distanzierung, die auch polemisch sein kann, wenn der Autor darstellt, aber nicht in der Position von Teilnahme, versteht, jedoch nicht billigt. Deshalb sind in den Arbeiten von Bachtin Stilisierung und Parodie so wichtig, wobei all die Spielarten hier nicht im Einzelnen aufgeführt zu werden brauchen. Aber nicht einmal diese implizite Polemik, die man im allgemeinen mit den eben angedeuteten gesellschaftlichen Einordnung verbindet, ist bei allen Schriftstellern entwickelt. Ich habe die beiden unter dem Signum der Polyphonie realisierbaren Programme und die beiden extremen Einstellungen, die der Schriftsteller gegenüber seinen Figuren einnehmen kann, als zwei parallele Gabelungen beschrieben. Diese beiden Gabelungen entsprechen dem dichotomischen Modell, auf das Bachtin die Geschichte des neuen Romans gründet. Er sieht nämlich nicht nur in der Alten Welt „zwei stilistische Linien des europäischen Romans" (1979,25 lf), eine einsprachige und eine vielsprachige, die erste abstrakt-idealisierend, die zweite, auch in gesellschaftlicher Hinsicht, polyphon. Bachtin verräumlicht die beiden einander entgegengesetzten Tendenzen auf anregende Weise: „Die Romane der ersten stilistischen Linie gelangen auf einen Weg, der von oben nach unten führt, zur Redevielfalt; sie lassen sich sozusagen zu ihr herab [...]. Die Romane der zweiten Linie gehen genau umgekehrt von unten nach oben: aus der Tiefe der Redevielfalt erheben sie sich in die Sphäre der Hochsprache und beherrschen sie. Ausgangsstandpunkt ist hier die Perspektive der Redevielfalt auf die Literarizität" (1979, 280). Die dynamische Art und Weise, die beiden Linien aufeinander zu beziehen, könnte auch historiographische Möglichkeiten beinhalten - zum Teil solche, wie ich sie zu bestimmen versuche und hier auch vorschlage. Stattdessen hat Bachtin oft die einzig legitime hingestellt und die andere als falsch. Ohne Zweifel neigt der mittelalterliche Roman von dieser Dichotomie mit den beiden vorerwähnten Linien gewöhnlich der ersten zu, sozusagen der unmarkierten.6 Das liegt nicht nur an der geringen Dynamik der mittelalterlichen Gesellschaft, die ihre Mitglieder selbst in Krisenzeiten nicht nur als streng hierarchisiert wahrnahmen, sondern auch an dem ihr eigenes umfassendes System von Gattungen und Stilen. Während sich die Predigten, auch in volkssprachlichen Versen, an alle sozialen Klassen und Berufe (ich denke besonders an die états du mondé) richteten, gab es außergewöhnliche oder bevorzugte literarische Gattungen (darunter die Fabliaux bzw. das Theater), die dazu bestimmt waren, Leben und Figuren des Volkes, des Bürgertums oder des niedrigen Klerus zur Darstellung zu bringen. Der höfische Roman, „die Selbstdarstellung des feudalen Rittertums in seinen Lebensformen und Idealvorstellungen" (Auerbach 1946, 137), sieht alle anderen Klassen als marginal und als irrelevant an. Gerade in dem Maße, wie sich nun der Roman auf mehr gesellschaftliche Bereiche ausweitet, mit dem Auftreten der Ent-

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Das gilt nur in quantitativer Hinsicht; vgl. dazu z.B. Anm. 36 sowie Anm. 7 und 10. In den Romanen des 12. und 13. Jh. (Ipomedon und Wistasse le Moine) gibt es interessante Fälle von sprachlicher Parodie.

34 erbten und Ausgestoßenen und vor allem des Bürgertums, von dem alsbald alle Neuerungen ausgehen,7 sind Phänomene wie die Spannung zwischen Sprache und Schicht sowie der Hang zum Parodistischen nicht mehr auf die ,karnevalisierte' Produktion beschränkt und werden sichtbar angewendet, ja sogar bestimmend. Das heißt, Experimente der Polyfonie und der Parodie, die im Mittelalter so häufig waren, bleiben dem Roman zunächst fremd: 8 sie wird man besonders im Theater und im Roman de Renart antreffen, von den lateinischen oder zweisprachigen Texten goliardischer Art ganz zu schweigen.9 Damit ist nicht gesagt, dass der Roman eine literarisch erstarrte Sprache benutze, ganz im Gegenteil. Aber, wie wir sehen werden, fuhrt die Ausweitung der Sprache des Romans auf die verschiedensten Bereiche des zeitgenössischen Lebens, zuallererst, und das ohne innere Spannungen, dazu, dass er sich für die höfische Gesellschaft interessante oder nützliche Wirklichkeitsausschnitte erobert. 5. Demnach haben wir es beim höfischen Roman mit einer klar und bewusst eingeschränkten Soziosphäre (Lotman) zu tun. Alle Figuren stehen in Verbindung zum höfischen Umfeld, und, sei es bisweilen unter einem negativen Vorzeichen, diejenigen, die nur vorübergehend und beiläufig dazugehören, sind Angehörige anderer Milieus.10 Wenn die Mischung von Stilen und Registern, wie Bachtin meint, Ausdruck der sozialen Buntheit ist, erscheint es nicht verwunderlich, dass der mittelalterliche Roman von dieser Eigentümlichkeit ausgespart bleibt.11 Somit können die von Bachtin herausgearbeiteten Linien neustrukturiert werden. Auf der einen Seite steht die Geschichte derjenigen narrativen Struktur, die wir

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Die Definition der „bürgerlichen Epopöe" geht auf Hegel zurück. Aus dieser Definition hat Lukäcs 1935 die extreme Konsequenz gezogen, dass es den Roman erst gibt, seitdem es das Bürgertum gibt, und dass es die Gattung nicht mehr geben kann, wenn die bürgerliche Ideologie untergeht. In Wirklichkeit liegt es nur an dem im Text Gesagten und daran, dass die Literatur spätestens seit der Renaissance zur Sache des Bürgertums geworden ist, dass Roman und Bürgertum an einem bestimmten Punkt eine Verbindung eingegangen sind, ohne dass diese Verbindung für die Existenz des Romans notwendig oder hinreichend wäre. Mit manchen Ausnahmen, z.B. die lateinisch-deutsche Zweisprachigkeit im Ruodlieb, vgl. dazu Dronke 1970, 62. Zwei von vielen möglichen Beispielen des ,Franglais\ noch bereichert mit bretonischen und flämischen Elementen in einer Passage des als fahrender Spielmann verkleideten Renart (Roman de Renart, Abschnitt I, V. 2351-66; 2511-28 und passim); und der französisch-italienisch-lateinische Juristenjargon eine Parodie auf die Sprache eines Botschaftskardinals in Pavia (Roman de Renart, V, Vv. 457-494). Zumeist Bauern und Bürger. Es würde zu weit fuhren, die - übrigens isolierte - Episode der Chastel-de-Pesme-Aventüre aus dem Yvain einer systematischen soziologischen Deutung (als Ankündigung der industriellen Ausbeutung und der Entfremdung) zu unterziehen. Die seltenen Beispiele betreffen im höfischen Milieu .anerkannte' Sprechweisen und Stile, z.B. das Latein der Messe in Flamenca (V. 2477f) und dortselbst die Verwendung bedeutungsloser Wörter, die jedenfalls aus der Musik, vielleicht sogar aus dem Völkslied stammen: turullutau (1053), vasdoi vasdau (1054) [vgl. in diesem Band Beitrag 1.2.].

35 Roman nennen, auf der anderen Seite zeigt sich eine perspektivische Wahrnehmung von Wirklichkeit, deren entscheidenden Durchbruch Bachtin zu Recht in der Renaissance sieht. Und wenn es diese narrative Struktur des Romans schon gab, bevor ihm die perspektivischen Vefahren aufgepfropft wurden, kann man das nur zur Kenntnis nehmen und zu beschreiben versuchen. Doch auch wenn es im mittelalterlichen Roman keine eigentliche Polyphonie gibt, kann man darin schon erkennen, was auch für Bachtin der Polyphonie als Motivation vorausgeht: die Fähigkeit des Autors, sich mit seinen Figuren zu identifizieren oder sich von ihnen zu distanzieren, ihren Standpunkt einzunehmen oder ihnen seine eigene Sichtweise überzustülpen. Es geht dabei mit anderen Worten darum, hinter dem Perspektivismus in bezug auf die Stimme die Perspektivenvielfalt in bezug auf die dargestellte Wirklichkeit zu erkennen.12 Deshalb dürfen die Einsichten von Bachtin über den Roman nicht übergangen werden. Die Dialektik zwischen Autor und Figuren dürfte für die fiktionale Erzählliteratur konstitutiv sein, in der überwiegend erfundene Ereignisse dadurch glaubhaft werden, dass der Autor mit dem Wechsel von Distanz, Modus (direkte oder indirekte Rede, Bericht) und Perspektive (nie mit unbewegtem Blick auf die Bewegungen seiner Figuren) arbeitet; wir müssen unsere Sensibilität derart verfeinern, dass wir diesen Perspektivismus auch dort erfassen, wo er sich in Sprache und Register nur schwach niederschlägt,13 und wir müssen auf die mögliche geschichtliche Entwicklung der Verfahren achten, die mit ihrem Facettenreichtum zusammen zur Durchsetzung der perspektivistischen Praxis beitragen. Insofern macht der mittelalterliche Roman schon die ersten Versuche mit Verfahren, die im Laufe der Zeit zur Perfektion gebracht worden sind. Das bekannteste und besterforschte Verfahren ist der Monolog, der ursprünglich für die Situation des Verliebten vorgesehen war. Im Widerstreit ihrer Gefühle drückt die Figur einen Wechsel von Stimmen aus, als sei sie in zwei Rollen gespalten.14 Hier ist der Weg nicht mehr weit zum Begriff der .Perspektive', und auch wenn der Begriff selbst erst später, in der Nachfolge von Henry James und Wayne Booth, seine genaue Bedeutung erlangt hat, lassen sich die Figuren im Vorgriff mit Nolting-Hauff als Perspektiventräger bezeichnen.15

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Vgl. Beitrag III. 2. in diesem Band. Den Begriff Perspectivism verwendet schon, vor allem Spitzer 1948, mit der Namensvielfalt des Don Quijote, die er als Symptom für die „variegated phantasmagoria of human approaches to reality" (56) ansieht. Vgl. ferner zum Verhältnis zwischen Erzählperspektive und Wahrscheinlichkeit Van Rossum-Guyon 1970. Der Monolog, der seinen Ursprung bei Ovid hat, ist mit seinen formalen Varianten seit dem Eneas (u.a. Vv. 8134f, 8279, 8348, 8676f) verschiedentlich untersucht worden. Vgl. u.a. Walker 1928; Nolting-Hauff 1959; Menard 1969, 742-746; Uitti 1973, 161162. Wichtig ist das Vorkommen des Monologs auch in anderen Situationen von Verwirrung oder psychologischer Ungewissheit wie im Fall der Eifersucht von Archimbaut (Flamenca, insb. Vv. 1157-70, 1269-11); vgl. Nolting-Hauff 1959, 107 und 115-116. Nur noch ein Schritt zur Perspektive ist es, wenn der Leser eine plötzliche Veränderung der Situation gleichzeitig, und aus deren Blickwinkel, wie eine Figur erfährt. Beispiel:

36 Interessanter fiir uns sind die sprachlichen Mittel, die der Autor vewendet, um Distanz zu seinen Figuren auszudrücken. Ich meine nicht den wenn auch höchst raffinierten Gebrauch von Verben wie cuidier, penser, voir usw., jedes Mal wenn die Wahrnehmungen der Figuren als eingebildet oder jedenfalls als innerlich dargestellt werden sollen. 16 Aber oft stellen unsere Autoren objektiven Bericht und subjektive Erzählung ein und desselben Ereignisses geschickt einander entgegen,17 realisieren sie durch Einbildung oder Traum, in vorfreudianischer Weise. 18 Ein wieder anderes häufiges Mittel ist, dass dieselben Ereignisse vom Standpunkt zweier Figuren dargestellt werden.19 Oft arbeiten sie geschickt mit dem Vorzeichenwechsel WAHR / FALSCH,20 wie ihn zum Beispiel auch Menard und Uitti im Cliges beobachtet haben.21 Oder sie polarisieren die Dialogteile zweier Figuren zu ironisch stilisierender Rede und Gegenrede,22 wobei der eigentliche Adressat nicht der Gesprächspartner sondern vielmehr (ähnlich wie beim Beiseitesprechen auf der Bühne) das Publikum ist.23 Einige an und für sich schon von Tobler und Lerch beobachtete syntaktische Phänomene sind erst von der Gesprächsanalyse erhellt worden. Ich denke an Arbeiten von Meiller (1966), Stempel (1972) und Lebsanft (1981a, 1981b) über den Wechsel von der direkten zur indirekten Rede sowie über die Redeeinleitung mit que. Worauf es dabei ankommt, ist die Übertragung der Zeit- und Raumperspektive

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„A tant s'en torne (sc. Guinglain) et voit Elie, | Et avec lui Ten vit aler, | par mi l'uis les vit dont entrer: | Robert son escuier revoit | Et le nain, qui detriers venoit" (Bei Inconnu, 3417-22). Von der Ankunft Eies und des Zwerge weiß der Leser nur etwas, weil Guinglain sie wahrnimmt (vgl. auch 3869-71). Vgl. Menard 1969, insb. 469 470. Ich denke an Lavinia, die man mit den Augen ihrer Mutter sieht (Eneas, 8242 ff), oder an das Gefahrenmoment, das sich Guinglain einbildet und durch das sich ein physisches Hindernis in ein moralisches Hindernis verwandelt, angefangen bei der einfachen „perce dim esprevier" (Bei Inconnu, 4551-78; man beachte, dass der Leser impliziert wird, denn die Realität wird hinterher mitgeteilt). Schön der Kommentar von Uitti 1973, 211, zu den Blutstropfen im Schnee im Perceval. Ich denke an Dido, die sich einbildet, Aeneas zu umarmen und zu lieben (Eneas, 123757), wie dies auch Lavina tut (8413); an den geträumten Dialog zwischen Guilhem und Flamenca (Flamenca, 2804 ff); an Guinglain, der von einem Stelldichein mit der „Pucele as Blances Mains" träumt (Bei Inconnu, 3695-04); an die Monologe und imaginären Gespräche von Jaufre und Brunissen (Jaufre, 7387-86, 7595-26). Zum Erec bemerkt Uitti 1973, 222: „events in the romance are refracted through their effects upon each member of the couple". Im Perceval wird die Episode vom gestohlenen Kuss aus der Perspektive des Protagonisten erzählt, aber dann auch mit den Worten (und der Fokussierung) von Orgeilleus de la Lande (3845-83). Zum Vorzeichenwechsel wahr/falsch in einem novellistischen Text (Decameron) vgl. Segre 1979, op. cit., Kap. IV. Der Kaiser erlebt die Liebesnacht mit Fenice im Cliges, 3309ff im Traum und hält sie für nah; vgl. dazu auch Menard 1969, 270-271. Ich denke an den Dialog zwischen Corras und Jouglet im Guillaume de Dole, 819-828. Ich denke an den Dialogs zwischen dem Seneschall und Corrado, ibid., Vv. 3516-17, 3570-71, 4700-01.

37 und sogar des Gefühlslebens von der Figur auf den Autor: die Übernahme der Deixis und der psychologischen Reaktionen durch diesen. Wir können hier mit Meiller (1966) von indirektem Stil (style indirect introduitpar que) und mit Stempel (1972) von einem Typ der Subjektivierung als „perspektivischer Rede" sprechen. Daraus wird ersichtlich, wie schon die ersten Romanautoren Bedürfnisse empfunden haben, die dann von ihren modernen Nachfolgern viel kunstvoller erfüllt worden sind. In diesem Zusammenhang ist auf die subtilen Beobachtungen von Rychner (1980) zu den Verserzählungen Le Lai de Lanval und La Chastelaine de Vergi hinzuweisen, wo deutlich wird, wie schon Marie de France die Probleme der erlebten Rede geahnt und für ihr Teil gelöst hat. 6. In der Tat ist Vielsprachigkeit im höfischen Roman selten. Dafür verleibt der Roman sich schon früh andere Gattungen und damit literatursprachliche Traditionen, die ihm ursprünglich fremd waren, ein. Auf diese Tendenz hat bereits Bachtin aufmerksam gemacht (1979, 259f); wovor er warnt, ist die sich verschärfende „gesellschaftliche Desorientierung des Prosaromans, der im Zuge seiner sozialen Wanderschaft und seiner Verwandlung in ,Volksliteratur' für die niederen sozialen Gruppen jegliche ideologische Grundlage verloren hat" (1979,262). In Wirklichkeit praktiziert also der Roman, ob in Versen oder in Prosaform, indem er viele heterogene Texte wie Briefe oder Überschriften, Gesänge oder Lais, zwischenschaltet oder aber auch selbständig schon umlaufende Gattungselemente in sich aufnimmt, selbst die unterschiedlichen neuen Darstellungsformen, auch solche der Polyphonie.24 Die eingebauten Texte bringen vor allem die Ausdrucksmöglichkeiten in Umlauf: sie lassen neue Register anklingen, ohne die Verbindung zwischen Register und Gattung aufzuheben. In einem weiteren Schritt werden dann die eingeschobenen Texte durch eine Verbindung Gattung-Register-Thema zum Ausdruck bestimmter Gefuhlslagen eingesetzt - sei dies ein salut d'amour, der in den Flamenca-Roman eingebaut ist,25 oder seien dies Gesänge, mit denen sich Figuren des Guillaume de Dole identifizieren, die sie jedoch nur in besonderen Augenblicken ihrer Geschichte anstimmen.26

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Besonders verbreitet ist das Phänomen im Tristan en prose (vgl. Lods 1955; Maillard 1969; Baumgartner 1973). Allgemein bekannt ist die Rolle der lyrischen Einschiebe und der eingeschobenen chansons de toile im Guillaume de Dole und im Perceforest. Vgl. Limentani 1977, 267-268. Aber Flamenca ist eine Apotheose der „Literatur in der Literatur", angefangen bei dem Roman Floire et Blancheflor, den Guillaume als Gebetbuch benutzt (4477) bis hin zu den Vergleichen mit Personen und Situationen aus anderen literarischen Texten (Raimberge aus der Parodie von Audigier 1905; Isengrin 3 6 8 7 90) und den lyrischen Zitaten. Ja, der zweisilbige, über viele Wochen verteilte Dialog zwischen Guilhelm und Flamenca bildet, wenn man ihn zusammenstellt, eine Stanze von Achtsilbern, ganz ähnlich einer von Peire Rogier; vgl. Limentani, 275 ff. Besonders symptomatisch sind die Verse 920-930, 3620-31, 3 7 4 8 - 5 9 , 4 1 4 1 - 4 2 , 4 5 9 4 97 des Guillaume de Dole; in den Versen 3196-97 ist das zitierte Lied in die Geschichte eingebaut. Ein interessantes Bekenntnis zur Interferenz zwischen Gattungen und sogar

38 In solchen Einschüben von Texten vollzieht sich schließlich jene programmatische Intertextualität, in welcher der tiefere Sinn mittelalterlichen dichterischen Schaffens zu sehen ist. Dichtungen, und insbesondere die Romane, die oft an prominenter Stelle, in der Flamenca-Geschichte wieder vorkommen, geben das kulturelle, mitunter auch soziale Umfeld zu erkennen, in welchem die Geschichte angesiedelt ist. Fiktionale Werke, die in einem anderen fiktionalen Werk zitiert werden, schaffen Wirklichkeitseffekte und evozieren doch gleichzeitig eine Wirklichkeit, die mit der ursprünglichen Fiktion eins ist: eine Art Trompe-l'ceil, um nicht zu sagen mise en abyme der Literarizität. 7. Diese Dialektik zwischen Autor und Figuren ist, wenigstens seit dem Mittelalter, für die narrative Fiktion konstitutiv. Bachtin schreibt: „Wir finden den Autor ,außerhalb' des Werkes [...], er begegnet uns als Schöpfer auch im Werk selbst, jedoch .außerhalb' der dargestellten Chronotopoi, gleichsam auf einer Tangente zu ihnen" (1989, 205f). Es geht darum, durch Offenlegung der Nicht-Wahrheit die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen oder das Zeichen-Potential denotativ falscher Inhalte auszuweiten.27 Fiktionale Stoffe, sogar unter Steigerung der Phantastik, nehmen die Farben des Wahren an, und das durch die geschickte Veränderung von Raum und Zeit, den Wechsel von Modus und Verschiebung der Perspektive. Niemals Bericht im Stil der Chronik, Unbeweglichkeit und Unveränderlichkeit in der Wahrnehmung des Erzählers. Wie schon Lukäcs treffend bemerkt hatte: „Die Komposition des Romans ist eine paradoxe Verschmelzung heterogener und diskreter Bestandteile zu einer immer wieder gekündigten Organik" (1971, 73). An dieser Erzählstruktur sind drei Typen von Beziehungen beteiligt: AutorText, Autor-Nachricht und Autor-Leser. Als Beispiele für die Erzähler-Text-Beziehung möchte ich Werke wie Bei Inconnu und Partonopeus de Blois anführen, in denen sich der Autor bereit erklärt, sein Werk fortzusetzen, oder es einfach durch Episoden bereichert, wenn seine Dame ihn darum bittet (ähnlich auch in Jaufre, 2565-2640). Es ist geradezu, wenn auch unter anderen Bedingungen, ein Vorgriff auf den Fortsetzungsroman, allerdings unter expliziter Offenlegung der Fiktionalität der Erzählung. Was die beiden anderen Beziehungstypen angeht, möchte ich an die Bedeutung des Typs Sender-Autor in Partonopeus, Bei Inconnu und Joufroi de Poitiers erinnern. Die Haupterzählung wird mehrmals durch ein Augenzwinkern des Autors gegenüber dem Leser unterbrochen: dem zweiten (Leser) wird die Position der Teilnahme an den Liebesabenteuern des ersteren (Autor), an seinen Gedanken

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zwischen Darstellungsformen im Guillaume de Dole, 19: „l'en i chante et lit". Zum Tristan en prose vgl. Baumgartner 1972. Im Perceforest haben die eingeschobenen Lais mitunter die Funktion, die vorher erzählten Ereignisse zusammenzufassen. Zu den verschiedenen Positionen des Autor-Erzählers innerhalb des Textes, die insbesondere Booth herausgearbeitet hat, gibt es auch mediävistische Arbeiten, z.B. Grigsby 1979; Uitti 1979.

39 und Hoffnungen, an seinen Vergleichen zwischen dem, was ihm selbst und dem, was seinen Figuren widerfährt, zugespielt. 28 Oft aber kommt es vor, so vor allem bei Chrétien, dass der Autor etwas über den Gang der Erzählung enthüllt, dass er in inneren Monologen Ungewissheiten des Autors zu erkennen gibt oder womöglich zwecks richtiger Bewertung der Verhaltensweisen an die Erfahrung des Lesers appelliert. 29 Der Leser wird sogar dazu aufgefordert, den in Schwierigkeiten befindlichen Figuren zu raten. Umgekehrt kann der Autor sein Wissen als beschränkt ausgeben und dessen Unvollständigkeit betonen. Jetzt wird klar, warum Bachtin den mittelalterlichen Roman, auch wenn er ihn gut gekannt haben sollte, nicht in Betracht gezogen hat: er hatte sich auf die sprachliche Erscheinungsweise (Polyphonie) dessen konzentriert, was vielmehr den Umgang des Autors mit seinem Stoff ausmacht. Das ist um so merkwürdiger, als sein Dostoevskij-Buch zeigen wollte, dass einer wesentlich homogenen Sprache wie derjenigen Dostoevskijs, die von der Mehrsprachigkeit Tolstojs weit entfernt ist, eine Polyphonie zugrunde liegt. 8. Ich glaube, deutlich gemacht zu haben, weshalb es keinen Sinn hat, die beiden parallelen Entwicklungslinien, die Bachtin in der Geschichte des Romans herausgearbeitet hat, einander als Alternativen gegenüberzustellen. Vielmehr sollte die Definition der Fabel statt auf der Abstraktion des Inhalts, (auch) auf der Art und Weise seiner Mitteilung und auf seinen Beziehungen zum Kontext der Mitteilung beruhen. Wir sind hier bei einer anderen Aussage Bachtins: „Erfahrung, Erkenntnis und Praxis (Zukunft) sind für den Roman bestimmend" (Bachtin 1989, 223). Selbst wenn der Roman in der Vergangenheit spielt, so sei die Beziehung auf die „Gegenwart", die „zeitgenössische Epoche", das „Ich als Person", „meine Zeitgenossen" und „meine Zeit" strukturbestimmend (Bachtin, 220f). An dieser Stelle kann man einen anderen, genauso genialen, genauso wenig am Mittelalter interessierten Denker zu Wort kommen lassen: Lukâcs. In ziemlich ähnlichem Sinne wie Bachtin hatte Lukâcs geschrieben: „Der Prozess, als welcher die innere Form des Romans begriffen wurde, ist die Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst, der Weg von der trüben Befangenheit in der einfach daseienden, in sich heterogenen, für das Individuum sinnlosen Wirklichkeit zur klaren Selbsterkenntnis" (1971; 1920 [1929], 70).

Lukâcs (51) unterstreicht aber auch:

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Dieses Verfahren ist manchmal beschrieben worden, z.B. von Fourrier 1960,428ff (und vgl. Zumthor 1972,343). Eine ausfuhrlichere Analyse stammt von Grigsby 1968; wenig glücklich erscheint mir der Gebrauch des Begriffs .Erzähler' der sich j a auf die Vermittlung des erzählten Inhalts zwischen Autor und Leser bezieht, zur Bezeichnung des Autors, der im Text als Figur mit einer eigenen Geschichte auftritt. Vgl. dazu Dembowski 1974.

40 „die Epopöe gestaltet eine von sich aus geschlossene Lebenstotalität, der Roman sucht gestaltend die verborgene Totalität des Lebens aufzudecken und aufzubauen." Fünfzehn Jahre später (1935) fügt er sinngemäß hinzu: „Es gibt für die Darstellung der realen Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft oder Natur (mit anderen Worten nicht nur des Bewusstseins, das der Mensch von diesen Beziehungen hat, sondern ihre tatsächliche Existenz, die eigentliche Grundlage des Bewusstseins), nur einen Weg: Darstellung des Handelns. Denn nur wenn der Mensch handelt, nur im gesellschaftlichen Umfeld findet er einen Ausdruck seiner wirklichen Existenz, die echte Gestalt und den authentischen Inhalt seines Bewusstseins". Aber worauf zielt dieses Handeln? Zur selben Zeit sagt Bachtin: „Die Idee der Prüfung des Helden und seines Wortes ist vermutlich die zentrale regulative Idee des Romans, die seinen ursprünglichen Unterschied zum Epos bewirkt" (Bachtin 1979, 269). Die überprüfbare Gültigkeit der Aussagen, die ich hier auch mit Blick auf das Mittelalter herangezogen habe, bestätigt eine Kontinuität in der Entwicklung des Romans, die gerade Lukäcs und Bachtin in Frage gestellt haben, ja, sie erlaubt sogar, eine Definition des Romans zu versuchen, nachdem dessen kommunikative Eigentümlichkeiten von anderen Gattungen abgegrenzt worden sind. Seine narrative Natur unterscheidet den Roman von den darstellenden Kunstformen und von der Lyrik, die auch ohne Handlung auskommt und deren einzige Person ich ist. Die eineindeutige Beziehung zwischen Figur und Handlung (erstere führt letztere aus, aber letztere wirkt auf die erstere zurück) ist das Unterscheidungsmerkmal gegenüber Gattungen, in denen Figur oder Handlungen zwar vorgegeben und zueinander in Beziehung stehen, aber nicht im Sinne von actio und reactio. Andererseits ist es der Zusammenstoß der Figur mit der Welt (Gesellschaft, Natur), der die Verfahren von Perspektive und Parodie, von denen wir gesprochen haben, notwendig macht. Denn dieser Zusammenstoß ist vom Autor nicht gleichmütig beschreibbar. Wie für seine Figuren sind auch für ihn Gesellschaft und Natur keine Gegebenheiten, sondern Wirklichkeiten, in die man bewußt eindringt: mit immer neuen und immer anderen Versuchen. 30 Indem er bald sich mit seinen

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Interessant dazu Uitti 1979, 165: „In 'Yvain' narrator and protagonist grow together, in authentic 'clergie' and 'chevalerie'". In einem allgemeineren Sinne müsste man m.E. bei Lukäcs (1971, 64) über das Konzept der Ironie nachdenken: „[Sie bedeutet als formales Konstituens der Romanform] eine innere Spaltung des normativ dichterischen Subjekts in eine Subjektivität als Innerlichkeit, die fremden Machtkomplexen gegenübersteht und der fremden Welt die Inhalte ihrer Sehnsucht aufzuprägen bestrebt ist, und in eine Subjektivität, die Abstraktheit und mithin die Beschränktheit der einander fremden Subjekts- und Objektswelten durchschaut, diese in ihren, als Notwendigkeiten und Bedingungen ihrer Existenz begriffenen, Grenzen versteht und durch dieses Durchschauen die Zweiheit der Welt zwar bestehen lässt, aber zugleich in der wechselseitigen Bedingtheit der einander wesensfremden Elemente eine einheitliche Welt erblickt und gestaltet". Der Roman bestünde dann aus „einem kunstvoll ironischen Takt der Komposition mit einem immer wieder enthüllten Schein der Organik" (Lukäcs, 66).

41 Figuren identifiziert, bald sich von ihnen distanziert und verschiedene Points of View ausprobiert, nimmt der Autor nicht nur an der Queste seiner Figuren teil, sondern führt eine solche auch in den Weiten der Erfindung durch. Ein moderner Romancier drückt das so aus: „Das Bewusstwerden des Romanschaffens geht Hand in Hand mit [...] der Selbstenthüllung des Schreibprozesses, wobei dieser Prozess zugleich das Mittel der Demaskierung liefert; der Schreibprozess bringt seine Motivierungsgründe hervor, er lässt manifest werden, wie die dargestellten Teile mit der übrigen Wirklichkeit zusammenhängen, und in welcher Weise umgekehrt die entstehende Architektur dieses Wirklichkeitssystem erhellt".3' Die Beziehungen zwischen Autor, Stoff und Romanfiguren sind von Bachtin schon definiert und dialektisch beschrieben worden: „Der Romanschriftsteller schwingt sich auf die Stufe empor, die noch nicht erreicht worden ist. Er kann bei der Darstellung von Wirklichkeit in jeder beliebigen Position als Autor erscheinen, er kann reale Ereignisse seines eigenen Lebens erscheinen lassen, kann auf sie anspielen, in das Gespräch zwischen seinen Romanhelden eingreifen, er kann auch in der literarischen Fehde gegen seine Kritiker polemisieren. Er spielt nicht nur eine Statistenrolle als Autor im Feld der Wirklichkeitsdarstellung, er kann jederzeit seinen Standpunkt des „als ob" aufgeben und ohne Vermittlung als realer, formaler oder primärer Autor fungieren, er befindet sich ständig in einem reziproken Verhältnis zur dargestellten Welt" (1989, 207).

Wie sich gezeigt hat, erkennt Lukäcs deutlicher als Bachtin, dass, jedenfalls im Roman, die beste Möglichkeit, mit der Wirklichkeit in Kontakt zu treten, die Auseinandersetzung mit dieser durch Handeln ist. Bachtin hat ein feines Gespür dafür, dass Kontakt der Figur mit der Wirklichkeit in Wahrheit Teil jenes tiefgründigeren Kontakts mit diesem ist, den der Schriftsteller durch sein künstlerisches Romanschaffen herstellt. Es ist auch klar, dass Bachtin, anders als Lukäcs, Figur und Wirklichkeit nicht einander entgegensetzt, sondern sich vor allem für wechselseitige Veränderungen interessiert, die Figur und Wirklichkeit unter ständiger und uneingeschränkter Bewusstmachung - nämlich des Autors - hervorrufen. Auf dieser Grundlage sollte es leichter werden, eine Geschichte des mittelalterlichen Romans zu entwerfen, auch weil viele Definitions- und Periodisierungsprobleme jetzt gelöst werden können. Man muss sich jedoch darüber im klaren sein, dass das 12. und 13. Jh. eine konzeptionell außerordentlich fruchtbare Periode darstellen. Der Roman gewinnt seine Eigenständigkeit, nachdem er mit häufigen Überschneidungen in enger Nachbarschaft zu Erzählgattungen wie den Lais (von Marie de France bis Jean Renart) existiert hatte.32 Es gab sogar Entwicklungen in

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Butor 1973, 274 Die (zumindest potentielle) Austauschbarkeit zwischen Lai und Roman lässt sich dadurch nachweisen, dass die Erzählung eines Lai (z.B. Eliduc) zu einem Roman (Ille et Galeron von Gautier d'Arras) geworden ist und sich dabei natürlich verlängert hat (von 1184 auf 6592 Verse): vgl. Wilmotte 1941, 194. Es gibt auch l a u wie z.B. die lais de l'ombre oder d'Haveloc, die echte Romane sind, allenfalls etwas kürzer.

42 Richtung der Fabliaux, wovon Spuren in Flamenca und im Jaufros zu erkennen sind.33 Ja, kaum hat der Roman sich als eigene Gattung durchgesetzt, strebt er die Vorherrschaft an und will sich die anderen Gattungen einverleiben und zur Leitgattung schlechthin werden. Vor allem die späte Chanson de geste nähert sich dem Roman an, indem sie das Thema der Liebe und die Öffnung zum Komischen assimiliert. 34 Dabei bleiben in der Chanson de geste noch metrische Merkmale und die Vortragsart erhalten, um die beiden Gattungen zu unterscheiden. 35 Zu einer vollkommenen Verschmelzung der beiden Gattungen kommt es dann erst in den italienischen Oktavendichtungen (ottaverine) bis hin zum Orlando furioso. In diesem Rahmen lässt sich die schnelle Akzeptanz des Romans als kollektiver Aspekt eben jener Wirklichkeitserfahrung werten, die der Roman selbst beschreibt. In weniger als einem Jahrhundert gelingt den Verfassern von Romanen eine umfassende Bestandsaufnahme der Verarbeitungsformen von erzählbarer Wirklichkeit: vom Abenteuerroman bis zum höfischen Roman, vom Roman der Innerlichkeit bis zum burlesken und komischen Roman, von der exotistischen bis zur pikaresken Dichtung (meines Wissens zum Beispiel Wistasse le Moine). Wer geglaubt hat, den mittelalterlichen Roman allein auf der Grundlage Chrétiens beschreiben zu können (der ohne Zweifel sein größter Meister ist), hat ihn unvollständig und einseitig beschrieben. Verfolgt man die raschen Fortschritte dieser kollektiven Erfahrung, kann man hier und da die von den Forschern aufgestellten Hinweisschilder „Hier beginnt der eigentliche Roman" abbauen. 36 Man kann sich vertrauensvoll an die historisch

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So ist La Châstelaine de Vergi nach Zumthor 1968 aus Motiven eines Liedes mit einem eingeschobenen eines Fabliau entwickelt (85). Er schreibt: „les motifs lyriques fournissent le ,san' dont le fabliau donne la ,matière'" (91); zu den Fabliau-Elementen im Jaufroi de Poitiers vgl. das Vorwort von Grigsby zu seiner Textausgabe (GenèveParis: Droz-Minard 1972, 14). Zu betonen ist noch (mit Chênerie 1976), dass auch die Fabliaux als Protagonisten oft einen Ritter haben, der durch seine Tapferkeitsbeweise, besonders bei Turnieren, eine Dame erobert, gewöhnlich eine verheiratete. Dabei sind Geist und Stil natürlich andere. ich beziehe mich auf Le Charroi de Nîmes und auf La Prise d'Orange. Vgl. insbesondere Köhler 1963; Jauss 1963; Roncaglia 1963; zu den technischen Aspekten vgl. Pollmann 1966b. Während die chanson de geste von Spielleuten und Musikanten öffentlich vorgetragen wurde, ist der Roman für die private Lektüre, mit begrenzter Zuhörerschaft, oder auch für die stille Lektüre bestimmt. Gallais 1971 zum Beispiel lässt den Roman, von einigen Vorgriffen im Roman d'Alexandre abgesehen, mit Chréten de Troyes anfangen und begründet das mit der Bedeutung des Einzelschicksals und dem Reise- und Abenteuer-Thema (aber es besteht Kontinuität von Alexander zu Artus als Symbolen von irdischer Harmonie und Friedensherrschaft, vgl. dazu Köhler 1970, 124-125, während man als Romanfigurtypen Alexander und Galvain miteinander verglichen hat - vgl. Frappier 1964,33). Delbouille 1969 hingegen sieht den Anfang des Romans beim (nur fragmentarisch erhaltenen) Apollonius de Tyr; macht aber auch scharfsinnige Bemerkungen über das „Romaneske" an den antiken Romanen. Raynaud de Lage 1978 würde den Anfang beim Roman de Th'ebes machen.

43 gesicherte Entwicklung der Fakten halten, von den sogenannten antiken Romanen (einschließlich Alexanderroman) und Wace bis zu den Tristan- Verarbeitungen und Chrétien de Troyes und so weiter." Dass die „antiken" Romane hauptsächlich aus der lateinischen Heldenepik schöpfen (was auch immer Vergil und Statius von der homerischen Epik übernehmen mögen), bedeutet eine konkrete Verbindung zwischen jenen beiden Formen, Epos und Roman, die einander so oft in abstrakter Weise und ohne Rücksicht auf die geschichtlichen Zusammenhänge gegenübergestellt worden sind, nur weil sie weit zurückliegenden, nicht vergleichbaren literarischen Systemen angehören. Ein nicht unbedeutender Aspekt der kollektiven Erfahrung, die Romane darstellen, liegt in der Reflexion der zeitgenössischen Wirklichkeit, deren Verarbeitung in den mittelalterlichen Romanen immer deutlicher wird, wenn auch angesiedelt in der Ferne von König Artus oder Byzanz. 38 Durch die Beschreibung von Bekleidung und Gastmahlen, Rüstungen und Zaumzeug, zuweilen sogar von Webarbeit und handwerklichen Erzeugnissen ergreift die mittelalterliche Literatur Besitz von der Welt und eignet sich deren Fachsprachen an.39 Eine erste, sozusagen enzyklopädische Phase bilden die Romane des klassischen Zyklus mit ihrer naiv didaktischen Darbietung von Faktenwissen. 40

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Zum Beispiel Farai 1913, 38SM19; Marichal 1968; Frappier und Grimm 1978. Besonders hervorzuheben ist, dass die traslatio des Rittertums von Griechenland und Rom auf Frankreich, so wie sie Chrétien (de traslatione studii) im Prolog des Cligès feiert, genau dem Weg von den ersten antiken zu den höfischen Romanen folgt. In gewisser Weise lässt sich die berühmte Authentizitätshierarchie von Jean Bodel in den Versen 9-11 der Chanson des Saisnes („Ii conte de Bretaigne, cil sont vain et plaisant, | cil de Rome sage et de sens aprendant, | cil de France sont voir chascun jour aparant") auf den Kopf stellen. Während die Chanson de geste („eil de France") eine entstellte und historisch immer schwächere Wahrheit bot, setzte sich der Roman („Ii conte de Bretaigne") bei aller phantastischen Verfremdung mit der Realität seiner Zeit auseinander. Vgl. Guiette 1978, 73-83, der auf den Symbolismus des Romans hinweist, und Roncaglia 1975, der auf die Erforschung der Werte und Bedeutungen dringt. Im übrigen entsprechen die Verse von Jean Bodel einem echten Topos. Schon im Brut, 1253-58, heißt es, dass die Artusgeschichten alle „ne tot mançonge ne tot voir, | ne tot fior ne tot savoir, j Tant ont li contëor conté | et li fablëor tant fablé | por lor contes anbeleter, | que tot ont fet fable sanbler"; ferner in den Vies des pères (vor 1229) heißt es : „Laissiez Cligès et Perceval, | qui les cuers perce et trait a val, | et les romanz de vanité" (zit. von W. Foerster in seinem Cligès, Halle: Niemeyer 1884, XXII); und Rutebeuf (Les deux troveors ribauz, Jubìnal I, 334) sagt: „ge saides romanz d'aventure, | de cels de la reonde table | qui sont a oïr delitable". Offenbar betrachteten die Zeitgenossen die Romane in erster Linie als Unterhaltungsliteratur, ein einseitiges, aber nicht ganz falsches Verständnis. Vgl. dazu Voelker 1886, 516-517. Ich beziehe mich beispielhaft für viele Terminologien auf die Sprache der Seefahrt im Brut (2643-90), das Vokabular der Medizin im Cligès (2971-87) und der Speisen bei Guillaume de Dole (1239—47, 5449-58). Zur Präsenz der zeitgenössischen Wirklichkeit bei Chrétien vgl. Fourrier 1960, 116. Ich denke an traktatähnliche Erörterungen über Sach- und Begriffszusammenhänge in den „klassischen" Romanen, z.B. im Eneas: „Le betumoi a tel nature [...] (6498); „[abesto] tel nature a et tel costume [...]" (6516); „Li ditans est de tel vertu" (9566);

44 Trotzdem ist, so hieß es, die kollektive Erfahrung eine Fortsetzung der individuellen, der dargestellten Figuren selbst. Deshalb, fuge ich in Klammern hinzu, konnte man den lateinischen Ruodlieb als erstes Beispiel für den mittelalterlichen Roman ansehen. 41 Was das Verhältnis zwischen Erfahrung und Wirklichkeit angeht, so gilt nur am Anfang die Beschränkung auf den Artushof. Eine „Aufnahmeprüfung" führt den Helden in die ritterliche Gesellschaft ein und eine Reihe weiterer Prüfungen vollenden seine Eingliederung, reinigen ihn schließlich von Fehlern und Schuld. 42 Dass dabei gewichtige ideologische Implikationen eine Rolle spielen, zeigt sich darin, dass die erworbene Würde oft mit einer Stellung in der feudalen Ordnung zusammenfällt und dass umgekehrt die Ruhmestaten des Ritters das Milieu, in dem er sich bewegt, erleuchtet und erlöst. 43 Die große Erfindung der mittelalterlichen Romanschriftsteller ist die Verknüpfung von Liebe und Ruhmestaten, dergestalt dass die Liebe das direkte Motiv, die heroische Würde und die gesellschaftliche Stellung die indirekte Folge darstellen. 44 Das Dreieck Held-Liebe-Rittertum ist von allgemeinerer Geltung als die sonst bekannten und berühmten erotischen Dreiecksverhältnisse. Seine Entfaltungsmöglichkeiten vervielfachen sich, sobald dieses selbst Ort eines erotischen Dreieckverhältnisses wird wie im Tristan, wo die Struktur Held-König (Symbol für die ritterliche Gesellschaft)-Dame (Liebesobjekt), die in ihrer sozialen Bedeutung statisch ist, auch erotische Brisanz birgt. Die Verknüpfung Liebe-Rittertaten ist für die meisten mittelalterlichen Romane das strukturelle Modell und wird bis zum modernen Roman (mit andersartigen

oder an kleinere eingefügte Traktate wie „de regime principis" im Roman de Thebes (1113-38). Zur Geografie vgl. die Bemerkungen von Florimont bei Fourrier 1960, 472 ff. Über die „enzyklopädischen" Quellen der antiken Romane ist immer auch grundlegend: Faral 1913, 305-388. 41 Vgl. Dronke 1969; 1970. 42 Im Rahmen einer umfassenden gesellschaftsbezogenen (und vielleicht auch einseitigen) Analyse interpretiert auch Köhler 1970 die aventure als einen Versuch, die „innere mit der äußeren Welt" zu versöhnen, was unter der Bedingung gelingt, dass die Aventüren eine individuelle Erfahrung bleiben, die zum Ziel haben, dass der Einzelne seine gesellschaftliche Rolle wahrnimmt und erfüllt (66f; 93f). « Köhler 1963; 1970. 44 Allerdings unterscheiden sich die höfische Liebe unserer Romane von der fin 'amors der Troubadoure von Grund auf. Daraufhaben schon Frappier 1959; Pollmann 1966a, Kap. IV. und V. hingewiesen, aber es verdient, betont zu werden. In der fin 'amors ist das Hauptmoment das Verlangen, die Selbstzerfleischung; die Erfüllung erscheint als seltene, jedenfalls in der Zukunft liegende Ausnahme. Die höfische Liebe entzündet sich plötzlich und zielt auf eine Erfüllung, die oft sofort erlangt wird. Nochmals: Die fin 'amors richtet sich an schon verheiratete, gesellschaftlich hochgestellte Damen, die Liebe der Romane richtet sich zumeist an junge, wenn auch adlige, Mädchen, und schließt die Heirat nicht nur nicht aus, sondern verlangt sie oft sogar, und mit der Heirat kann die Inbesitznahme eines Lehens verbunden sein. Die fin 'amors ist selbstbezogen und zentripetal, während die höfische Liebe der Romane im wesentlichen fremdbezogen und zentrifugal ist: ein notwendiges, aber nicht das einzige Element des ritterlichen Wertekodex.

45 Heldentaten, versteht sich) seine Gültigkeit behalten. 45 Der Autor des Eneas vollbrachte also eine entscheidende Leistung, als er beschloss, die Liebschaften von Eneas und Lavinia nach ovidianischen Vorbildern zu beschreiben, auch wenn er diese, bedingt durch die Fabel der Kneis, noch nicht mit der Handlung verknüpfen konnte, wie dies später die Verfasser der Tristan-Romane und Chrétien de Troyes meisterhaft tun sollten. 46 Dieses Strukturmodell fügt die Serie von Aventüren, die von der Zentrifugalkraft der meist keltischen oder für keltisch gehaltenen wunderbaren Welt bedroht sind, zu einer Einheit. Aber sehr oft verleihen die beiden Begrenzungen von Anfang und Ende der Handlung Kohärenz: am Anfang die Absicht, das Schicksal des Helden zu verfolgen - Ideal eines Bildungs- oder Entwicklungsromans, dessen Beispiele von Perceval, Jaufré und dem Bel Inconnu bis zu Goethes Wilhelm Meister oder Stendhals Le Rouge et le Noir reichen; am Ende der Ausgang einer Queste, die mitunter mehr Spannung als Lösung ist. Perceval bleibt nicht von ungefähr unvollendet. Eine andere geniale Entdeckung ist die Queste als Überwindung der irdischen Liebe, die religiöse oder mystische Umdeutung des Dreiecks HeldLiebe-Rittertum. Besonders hervorzuheben ist sodann der Zusammenhang zwischen dem Modell des Bildungsromans und dem Erkenntnisinteresse des Romans. Der Held des Bildungsromans, der nice, ist durch seine Distanz in der idealen Lage, eine Welt zu beschreiben, die noch nicht seine ist, es aber bald sein wird. Auch an dieser Stelle könnte eine Anregung, die Bachtin nicht näher ausgeführt hat und die deshalb ungenutzt geblieben ist, sich als wertvoll erweisen: ich meine, was er über den Chronotopos geschrieben hat. 47 Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass die Helden Chrétiens aus dem Kreis des Artushofes heraustreten, um ihre Abenteuer zu bestehen, so dass der Artushof weniger ein Aufenthaltsort, sondern fast schon ein modellhafter Bezugspunkt (geradezu ein irdisches Jerusalem) wird. Es ist daraufhingewiesen worden, dass im Cligès zwischen auf verschiedene Art legendären und symbolischen Orten wie Byzanz oder Artushof eine Brücke gebaut wird.48 Alle Romane aber (und nicht nur die mittelalterlichen) stellen eine Inbesitznahme dar: Inbesitznahme der Gesellschaft und der Welt. Keiner begriff das so gut wie Cervantes in seiner Parodie, die zugleich eine Synthese ist.

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Die Hauptausnahme ist Galvain, und dies erklärt seine besondere Position am Hof: vgl. Nitze 1952/1953; Fierz-Monnier 1951, 81; Kellermann 1970. Dinadan im Tristan en prose stellt ein ,Gegenmodell' dar (d.h. er stellt die Grundprinzipien, die Beziehung Liebe-Rittertum auf den Kopf; da seine Rolle ein genaues Paradoxon bildet, wird er von seinem Umfeld akzeptiert, vgl. dazu Vinaver 1970, Kap. VIII. Vgl. Faral 1913, 63-157; Wilmotte 1941, Kap. V. Ich beziehe mich auf Bachtin 1937/38*; 1975. Zur Geschichte und den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs vgl. Segre 1981, op. cit, und insb. Beitrag III. 9. in diesem Band [d.O.], la, im Cliges zeichnet sich der Anfang einer Verschmelzung von antikem Stoff und Artus-Stoff ab, vgl. Liborio 1980, 53-54.

46 Dank des Chronotopos könnte man darangehen, eine Figur aufgrund der Beziehungen, die sie mit der Außenwelt eingegangen ist, und aufgrund der Zeit und Geschichte dieser Beziehungen zu definieren. 49 (Der langsame Verlauf der beiderseitigen Liebeserklärung von Guilhelm de Nivers und Flamenca zum Beispiel entspricht der minutiösen Genauigkeit der Zeitangaben in diesem Roman). Aber der Topochronologie der Aventüren wird man auch eine semantische Topochronologie zuordnen müssen, um entscheidenden Stufen des Helden von einem Handlungsmoment zum nächsten, also die Phasen seiner Entwicklung, erfaßt. Und bei den verschiedenen Kombinationen dieser beiden konvergierenden Topochronologien ist der Standpunkt des Erzählers aufschlussreich, der oft so versetzt wird, dass er die symptomatischsten Phasenverschiebungen besonders beleuchtet. Ich sage Standpunkt im eigentlichen Sinne und im Sinne Bachtins, als kritische Spannung zwischen Autor und Figur. So werden die Erzählung und ihr Sinn zusammen die logische Ordnung und Klarheit, auf die unser bisheriges interpretatorisches Interesse gerichtet war, freigeben.50

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Ansätze zu einer topologischen Analyse des höfischen Romans stecken schon in den Forschungen zu seiner Struktur. Ich denke beispielsweise an Kellermann 1956; Woods 1953; Dorfman 1969; Köhler 1970, Kap. VII. (besonders auch treffende Hinweise zum Thema Romanschlüsse); ebenso an Boklund 1977a; 1977b, der die topologischen Modelle von Lotman anwendet, wobei diese Ansätze von Grund auf verschieden sind. In Segre 1984, op. cit., Kap. VI, habe ich darin den Höhepunkt der Erzähltextanalyse gesehen.

47 Literatur Auerbach, E. (1946): Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern: Francke. Bachtin, M. ( 2 1963): Problemy poëtiki Dostoeskogo. 2.erw. Aufl. - Moskva: Izdatel'stvo „Chudozestvennaja literatura"; Problemy tvorcestva '1929. - (1965): Tvorcestvo Fransua Rable i narodnaja kul'tura srednevekov'ja i Renessansa. Moskva: Izdatel'stvo „Chudozestvennaja literatura". - (1971): Probleme der Poetik Dostoevskijs. 2. erw. Aufl. - München: Hanser. ('1963; russ. Original 1929; erw. Aufl. 2 1963). - (1975): „Slovo v romane". - In: Voprosy literatury i ëstetiki. Moskva: Izdatel'stvo „Chudozestvennaja literatura". - (1979): „Das Wort im Roman". - In: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. und eingeleitet von R. Gräbel. Aus dem Russischen übersetzt von R. Gräbel und S. Reese. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 154-300. (russ. Original 1934/35f; vollst. Aufsatz-Band 1975). - ( 1989): Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen der historischen Poetik. - Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch (russ. Original 1937/38f; 1975). - (1990): Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von A. Kaempfe. - München 1990. - (1995): Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übers, von G. Leupold. Hrsg. und mit einem Vorwort vers, von R. Lachmann. - Frankfurt am Main: suhrkamp tb Wissenschaft '1987. Baxtin, M. (1978): „The Forms of Time and the Chronotopos in the Novel". - PTL. A Journal for Descriptive Poetics and Theory of Literature 3, 493-528. Aus dem Russischen übersetzt von W. Rosslyn (Russian Studies.University of Nottingham). (Auszüge aus: Bachtin 1975, Kap. X, 391^107). Baumgartner, E. (1973): „Sur les pièces lyriques du 'Tristan en prose'". - Etudes de langue et de littérature du Moyen Age offertes à F. Lecoy. Paris: Champion, 19-25. Blumenfeld-Kosinski, R. (1980): „Old French Narrative Genres: Towards the Definition of the Roman Antique". - Romance Philology 34, 143-159. Boklund, K. (1977a): „On the Spatial and Cultural Characteristics of Courtly Romance". Semiotica 20, 1-37. - (1977b): „Socio-sémiotique du roman courtois". - Semiotica 21, 227-236. Butor, M. ( 2 1973): Répertoire I. [1960] - Paris: Minuit. Câlin, F., W. Câlin (1974): „Medieval Fiction and New Novel: Some Polemical Remarks on the Subject of Narrative". - Haidu 1974, 235-250. Chanson de geste und höfischer Roman. Heidelberger Kolloquium 30. Januar 1961. Heidelberg: Winter. Chênerie, M.-L. (1976): „Ces curieux tournoyeurs ..". Des fabliaux aux romans. Romania 97, 327-368. Delbouille, M. (1969): „Apollonius de Tyr et les débuts du roman français". - Mélanges offerts à R. Lejeune. - Gembloux: Duculot, 1171-1204. Dembowski, P. F. (1974): „Monologue, Author's Monologue and Related Problems in the Romances of Chrétien de Troyes". - Haidu 1974, 102-114. Dorfman, E. ( 1969): The Narreme in the Medieval Romance Epic. - Manchester: Manchester University Press. Dronke, P. (1969): ,,'Ruodlieb': Les premières traces du roman courtois". - Cahiers de Civilisation Médiévale XII, 365-382. - (1970): Poetic Individuality in the Middle Ages. - Oxford: Clarendon Press. Faral, E. (1913): Recherches sur les sources latines des contes et romans courtois Moyen Age. - Paris: Champion. Fierz-Monnier, A. (1951): Initiation und Wandlung. Zur Geschichte des altfranzösischen Romans im zwölften Jahrhundert. - Bern: Francke.

48 Fourrier, A. (1960): Le courant réaliste dans le roman courtois en France au Moyen Age. t. I. - Paris: Nizet. Frappier, J. (1959): „Vues sur les conception courtoises dans les littératures d'oc et d'oïl au XIIe siècle". - Cahiers de Civilisation Médiévale II, 135-156. - (1964): „Remarques sur la peinture de la vie et des héros antiques dans la littérature française du XII 1 et du XIII e siècle". - In: Frappier, A., L'humanisme médiéval dans les littératures romanes du XIIe et du XIII' siècle. - Paris: Klincksieck 1964, 13-51. Frappier, J., R. R. Grimm (1978): Le roman jusqu 'à la fin du XIIIe siècle (= GRLMAIV, t. I). - Heidelberg: Winter. Frye, N. (1957): Anatomy of Criticisme. - Princeton N. J.: Princeton University Press Gallais, P. (1971): „De la naissance du roman. A propos d'un article récent". - Cahiers de Civilisation médiévale 14, 69-75. Grigsby, J. L. (1968): „The Narrator in Partonopeu de Blois, Bel Inconnu and Joufroi de Poitiers". - Romance Philology 21, 536-543. - (1979): „Narrative Voices in Chrétien de Troyes. A Prolegomenon to Dissection". Romance Philology 32, 261-273. Giuette, R. (1978): Forme et senefiance. - Genève: Droz. Haidu, P. (1968): Aesthetic Distance in Chrétien de Troyes: Irony and Comedy in Cligès and Perceval. - Genève: Droz. - Ed. (1974): Approaches to Medieval Romance (= Yale French Studies 51). Jauss, H.-R. (1963): „Chanson de geste et roman courtois". - In: Chanson de geste und höfischer Roman 1963, 61-77. Kellermann, W. (1936): Auft>austil und Weltbild Chrestiens von Troyes im Percevalroman. - Halle: Niemeyer (= Zeitschrift für romanische Philologie, suppl. 88). - (1970): „Les types psychologiques de l'amour dans les romans de Chrétien de Troyes". - Marche Romane 20, 1-9. Köhler, E. (1963): Quelques observations historico-sociologiques sur les rapports entre la chason de este et le roman courtois. - Chanson de geste und höfischer Roman 1963, 21-30. - (1970): Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Graaldichtung. - Tübingen: Niemeyer. 1. Aufl. '1956. Lebsanft, F. (1981a): „Adverbe de temps, style indirect et 'point de vue' dans la 'Queste del Saint Graal'". - In: Travaux de linguistique et de littérature publiés par le Centre de Philologie et de Littératures Romanes de l'Université de Strasbourg" 19, 53-61. - (198lb): „Perspektivische Rededarstellung (Erlebte Rede) in Texten des französischen und spanischen Mittelalters". - Zeitschrift für romanische Philologie 97, 6585. Lejeune-Dehousse, R. (1935) : L'oeuvre de Jean Renart. Contribution à l'étude du genre romanesque au Moyen Age. - Paris-Liège: Droz. Liborio, M. (1980): „'Qui petit semme petit quelt'. L'itinerario poetico di Chrétien de Troyes". - Studi e ricerche di letteratura e linguistica francese. — Napoli: Istituto Universitario Orientale I, 9-70. Limentani, A. (1977): L'eccezione narrativa. La Provenza medievale e l'arte del racconto. - Torino: Einaudi. Lods, J. (1953): Les pièces lyriques du Roman de Perceforest. - Genève-Lille: Droz. - (1955): „Les parties lyriques du Tristan en prose". - Bulletin bibliographique de la Société Internationale Arthurienne 7, 73-78. Lukâcs, G. (1971): Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Form der großen Epik. - Berlin: Cassirer, unveränd. Neuabdruck. Frankfurt a. M.: Luchterhand Literaturverlag 1971 - (LS 36); Georg Lukâcs' Werke, hrsg. v. F. Benseier (17bändige Ausgabe) in der Sammlung Luchterhand, o. J.; Band 16: Frühe Schriften zur Ästhetik I, Band 17: Frühe Schriften zur Ästhetik II, o. J.

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4. Mittelalterliche Texte lesen

Womit sich der folgende Beitrag beschäftigt, geht in aller Deutlichkeit aus dem Titel hervor, liest man die Anspielung mit. Oft werde ich nämlich auf ein Bändchen von Paul Zumthor, eine Art Gewissensprüfung von einem Experten der Mittelalterforschung Bezug nehmen. Ausgehend vom Originaltitel Parier du Moyen Age könnte man auf Platitüden im Fachjargon schließen. Doch schon in der italienischen Ausgabe weist der Titel Leggere il Medioevo (,Das Mittelalter lesen') in eine ganz spezifische Richtung. Aber gewöhnlich liest man Texte, Quellen; ,das Mittelalter lesen' könnte falsch verstanden werden als .Werke aus dem oder über das Mittelalter lesen'. Das hat Zumthor sicher nicht gemeint. Für ihn oder seinen italienischen Übersetzer heißt ,das Mittelalter lesen' soviel wie Zeichen, allen voraus natürlich Texte, die das Mittelalter uns hinterlassen hat, deuten. Noch schlüssiger wäre diese Formulierung, würde man, mit Lotman, die Epoche des Mittelalters als einen einzigen, einheitlichen Text auffassen - ein anregender, aber wissenschaftlich nicht haltbarer Gedanke. Gewissensprüfungen über die eigene Tätigkeit hat es in der Mittelalterforschung immer wieder gegeben. Ich werde hier im Bereich der romanischen Philologie bleiben, meine aber, dass die Problematik in der germanischen Philologie nicht viel anders wäre. Nur bei der mittellateinischen Philologie wären die Akzente andere. In den anderthalb Jahrhunderten seit Entstehung der romanischen Philologie begegnen wir immer wieder solchen Stellungnahmen, zuerst bei deren Definition als wissenschaftliche Disziplin oder bei deren Einrichtung als eigenes Fach im universitären Wissenschaftsgebäude oder in der universitären Lehre, dann bei der Auseinandersetzung mit Grundpositionen (Positivismus, Idealismus, Strukturalismus), welche von der kaum etablierten Disziplin Richtungsänderungen verlangten. In den letzten Jahrzehnten ist dieses Klärungsbedürfnis angesichts der Krise, in welcher sich die romanische Philologie, sowohl was ihre Methoden als auch ihre Fragen von Lehre und Curriculum anbelangt, dringend geworden. Gäbe es da nicht Italien, Belgien und ein paar andere Hochburgen, die die Stellung halten, könnte man meinen, es ginge mit dem Fach zu Ende. Das ist der eher dramatische Hintergrund, vor dem ich mich mit Zumthor, aber auch Jauss und anderen beschäftigeEs war dem verstärkten Interesse der Romantik am Mittelalter zu verdanken, dass die romanische Philologie eine Aufwertung erfuhr. Ihr Forschungsinteresse

52 ging weit über die Wiederentdeckung ganz oder so gut wie vergessener mittelalterlicher Texte hinaus. Das Hauptanliegen waren Darstellung der im Imperium gesprochenen lateinischen Volkssprache und Beschreibung der neuen sprachlichen Erscheinungsformen, erst Dialekte, dann Sprachen; deren Entwicklung war natürlich nicht zu trennen von der Entstehung politischer und kultureller Einheiten, bis sich das moderne europäische Staatensystem abzeichnete, auch wenn sich zeitweilig neue große Herrschaftsgebiete herausbildeten wie das (mehr oder weniger) Heilige Römische Reich oder, später, das Reich Karls V. Auf einem gemeinsamen Fundament, vor allem gebildet durch das Christentum und seine sozialkulturellen Ausdrucksformen, entwickelte die Romantik eine eher klischeehafte Vorstellung von den sprachlichen Verhältnissen: für sie waren Romania und europäische Staatenbildung parallel zu setzen. Tatsache ist, dass die Herausbildung der romanischen Sprachen im Mittelalter erfolgt ist - Grund genug für uns, die wir immer noch romanische Dialekte und Sprachen benutzen, uns mit dieser Epoche zu beschäftigen. Und das Studium dichterischer Texte und anderer volkssprachlicher Quellen gab in mannigfaltiger Weise Aufschluss über die Bedeutung dieser Epoche als historische Periode der Grundlegung und des Aufbruchs, sind doch viele für die Gesellschaft gültige Konventionen und Regelungen, die es heute noch gibt, im Mittelalter entstanden: vom ritterlichen Ehrenkodex über die Normen und die Sprache des Liebeswerbens bis zu den Tischsitten. Ebenso im Mittelalter ist das System der literarischen Gattungen erneuert worden: nicht mehr das Epos, sondern die Chanson de geste, nicht mehr Tragödie oder Komödie, sondern Mysterienspiele und andere religiöse Stücke, daneben neue Arten des Spiels mit profanem Inhalt; lyrische Gattungen, die nicht nur nach Metrum und Strophenform, sondern auch in Bezug auf ihren Stoff völlig neu sind; schließlich Gattungen, die die Antike überhaupt nicht kannte, vom fabliau zum Roman, vom Lai zur Novelle. Grundsätzlich kann man sagen, dass im Mittelalter der Bruch mit der Antike, wie sehr man sich auch mit dieser klassischen Vorzeit beschäftigt und sie bewundert, endgültig ist, während einige jener neu entstandenen Gattungen sich bis heute gehalten haben und trotz großer Wandlungen immer noch lebendig sind. Als man sich mit den Werken einer relativ fernen Epoche beschäftigen wollte, in die zwar schon unsere Sprache Eingang gefunden hatte, jedoch die Sprechweisen aus jener Zeit vollkommen andere waren, stellte man schnell fest, dass man dazu zunächst einmal ein differenziertes Instrumentarium brauchte. Die Philologen des 19. Jahrhunderts hatten zu diesem Zweck die Dreiheit Grammatik-HermeneutikLiteraturwissenschaft entwickelt, wobei jeder dieser drei Begriffe verschiedene andere Disziplinen impliziert. Statt hier alle aufzuzählen, beschränke ich mich auf den Hinweis, dass die Hermeneutik mindestens die Textkritik einschließen muss, denn, ohne nach Echtheit und ursprünglicher Form des zu untersuchenden Textes zu fragen, erschiene mir eine Deutung undenkbar. Die jüngst erschienene Geschichte der Hermeneutik von Gusdorf ist zugleich eine Geschichte der Philologie.

53 Die ersten Philologen stürzten sich mit wahrer Begeisterung auf das neu entdeckte Gebiet. Sie waren sich dessen mehr als bewusst, dass sie, wenn sie das Zerronnene und doch niemals Belanglose der Vergangenheit wieder lebendig werden ließen, zugleich über ihren eigenen Standort in der Gegenwart, über ihre kollektive Identität und über ihre Geschichte, die damals noch als nationale Geschichte verstanden wurde, nachdenken mussten. Der Mythos von der „Naturpoesie" weckte die Illusion, man erhielte damit direkten Zugriff zum „Volksgeist", wie man damals sagte. Zwar beschäftigten sich die Deutschen mit der deutschen Philologie und die Italiener oder Franzosen mit der romanischen Philologie, aber die Erben der deutschen Romantik interessierten sich auch für andere Literaturen: so entsteht die romanische Philologie in Deutschland. Dabei stoßen wir auf die Dialektik mit den zwei Polen: WIR / DIE ANDEREN. Sind DIE ANDEREN unsere Vorfahren, liegt Alterität in chronologischer Hinsicht vor, bei Gleichbleiben des nationalgeschichtlichen Kontextes. Sind DIE ANDEREN die lateinischen Völker aus der Sicht der Germanen, so ist die Alterität sowohl chronologisch als auch nationalgeschichtlich-räumlich zu verstehen. Die zweite Art von Alterität basiert im allgemeinen auf Sympathie, wenn nicht Exotismus (die Anziehungskraft des Südens, des Landes, wo die Zitronen blühen). Es kann aber auch Eiszeiten in der Geschichte geben, in denen etwa ein Romanist des Dritten Reichs für den französischen Feind als Sympathisant oder jedenfalls als gefährlicher Kosmopolit gilt. Und in allen autoritären Systemen wird (nebenbei bemerkt, was aber nicht unwesentlich ist) Kosmopolitismus als Schuld angesehen. Dieser geschichtlich-politische Hintergrund spielt zum Glück nicht immer eine Rolle. Während er in Zeiten von Spannung und Krieg brisant sein kann, verliert er in Friedenszeiten ganz an Bedeutung, abgesehen von Lokalpatriotismen wie: „Wir waren die ersten" (zum Beispiel, die das Epos hatten, die die Figur des Renart hervorgebracht, den Elfsilber erfunden haben usw.). Länder, wie die Schweiz, England oder Amerika, scheinen damit unbelastet zu sein. Insofern ist es tragikomisch, was Malkiel von amerikanischen Vorbehalten gegenüber der romanischen Philologie erzählt, weil sie deutschen Ursprungs sei. Grotesk deshalb, weil die romanische Philologie im Zuge der Emigration von Juden wie Spitzer, Auerbach oder auch Malkiel nach Amerika gekommen ist. Statt die ganze Geschichte der romanischen Philologie des 20.Jahrhunderts aufzurollen, will ich hier den Akzent auf die letzten zwei Jahrzehnte legen. Natürlich halte ich es für positiv, dass die nationalistischen Töne gewichen sind, muss aber gleichzeitig feststellen, dass auch das Interesse der Philologie am Mittelalter, von gewissen Moden abgesehen, merklich zurückgegangen ist. Allein die Polarität von der Ähnlichkeit und Verschiedenheit ist noch lebendig: Was verbindet uns heute mit dem Mittelalter und wie weit haben wir uns vom Mittelalter entfernt? DIE ANDEREN sind unsere Vorfahren, doch kommt ihre Stimme sehr verzerrt bei uns an. Auch verschafften sich in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts die schon lange gärenden, aber latent gebliebenen zentrifugalen Kräfte in der Romania freie Bahn. So entwickelte sich die romanische Philologie in den lateinischen

54 Ländern (Frankreich oder Spanien) sehr rasch zu einer Nationalphilologie, die für den Vergleich mit Schwesternsprachen und -literaturen zwar offen blieb, aber kein spezifisches Interesse an diesen hatte. So ist der europäische Horizont, der wenigstens auf seiner romanischen Seite, eine Einheit mit raschem inneren Austausch bildet, aus dem Blick geraten. In fast allen Ländern ist als erstes eine mehr oder weniger scharfe Trennung zwischen romanischer Sprachwissenschaft und romanischer Literaturwissenschaft vollzogen worden. Die Aufsplitterung der Romanistikforschung hat sich als Arbeitsteilung nach Einzelsprachen und Literaturen fortgesetzt. An die Stelle der horizontalen, geografisch-räumlichen Perspektivenerweiterung trat eine Fokuserweiterung in der vertikalen Richtung. Die Spezialisten bewegten sich zwischen den Fabliaux und Proust, zwischen dem Libro de buen Amor und Machado, wobei die tiefgreifenden sprachlichen Veränderungen, die sich vom Mittelalter bis heute vollzogen haben, allzu eilig übergangen wurden. Die romanische Philologie ist in eine Gruppe von Dozenten, wenngleich nach romanischen Sprachen und Literaturen in Forschungsbereiche zusammengefasst, zerstückelt worden, ohne dass sich daraus ein Ganzes ergäbe. Es gibt manche Gründe für diese Entwicklung, die ich natürlich nicht gutheiße. Auf nur einen, sehr allgemeinen, möchte ich hinweisen: die Verwandlung der Universitäten in Akademikerfabriken, also ihre Vermassung. Wer in der Romanistik studiert und dies ohne besonderes Engagement oder gar wissenschaftliches Interesse tut (mit Sicherheit die Mehrheit), will hauptsächlich die modernen Sprachen gut lernen, an der Literatur nur noch schnuppern, wenn überhaupt; die Einheit des romanischen Mittelalters oder gar das Mittelalters selbst interessiert nicht mehr. So muss man zu dem Schluss kommen, dass die romanische Philologie von Grund auf neukonzipiert und im Rahmen des Möglichen zu einer hochspezialisier-ten Disziplin für die Weiterqualifizierung einer Elite von Doktoranden und Habilitanden umgewandelt gehört. Leider haben die Gesetzgeber mit Unterstützung der Dozenten fast überall beschlossen, dass solche Radikalkuren überflüssig seien. Kommen wir aber endlich zur Lektüre der Texte, denn darin sehen die Romanisten viele Gründen für den Niedergang der Disziplin. Zugegeben, bei der Lektüre literarischer Texte stehen wir immer noch, zumindest unbewusst, unter dem Einfluss der Romantik. Immer noch sehen viele den dichterischen Text als Ausdruck einer Subjektivität an: derjenigen des Autors, seiner Gefühle und Erfahrungen. Der interpretierende Literaturwissenschaftler versucht, sich auf diese Subjektivität einzustimmen, sich mit dem Dichter zu identifizieren. Dass im 20. Jahrhundert neue Dichtungs- und Interpretationsformen aufgekommen sind, hat jene Schablonen nicht aus der Welt geschafft, doch es ist eine Art des Umgangs mit Literatur, die allenfalls für einen sehr kurzen Abschnitt der Literaturgeschichte Gültigkeit haben mag, jedenfalls für eine Zeit, die früher liegt als die uns hier interessierende Epoche des Mittelalters. Die Literatur des Mittelalters widersetzt sich solchen Schemata ganz und gar, und das ist verschiedentlich gesehen worden. Einer davon ist allen voran Robert Guiette. Seine wichtigsten Studien in diesem Zusammenhang sind D'une poésie

55 formelle en France au moyen âge ( 1949) und Symbolisme et, senefiance ' au moyen âge (1954). Guiettes Grundaussagen sind immer wieder aufgegriffen und neuformuliert worden.1 Manche seiner Feststellungen waren auch bei den Meistern der Romanistik schon verbreitet, z.B. dass ein Großteil der höfischen Lyrik, gerade auch in Frankreich, in erster Linie Konventionen unterworfen war und kaum einen subjektiven Standpunkt widerspiegelte - nur dass diese negative Grundthese (zum Beispiel: „die höfischen Canzonen müssen auf einer der romantischen Lyrik entgegengesetzten Ebene liegen") durch eine positive ergänzt wurde: „Die höfische Canzone ist eine künstlerische, eine rhetorische Schöpfung". Aus allen zur Verfügung stehenden Elementen schaffen die Dichter, so Guiette, ein ,Objekt', eine neue Wirklichkeit. Das Thema eines Gedichts ist nur ein Vorwand, eigentlich zweitrangig. „Der eigentliche Gegenstand ist das Werk selbst als formales Gebilde". Guiette geht so weit zu behaupten: „Nie war Lyrik strenger, nie ein so lückenloses Kalkül, Mathematik und Harmonie [im Mittelalter]", und weiter: „Der Dichter spielt". Sein Werk ist eine Abstraktion, eine Chiffre, deren Bedeutung auf der Ebene der Vokalmusik, der Artikulation und der klanglichen Umsetzung, beim gesungenen Wort liegt. „Das Werk wird zur Rechenaufgabe, zum Problem der Entschlüsselung, woran das Publikum gewöhnt war". Man muss dazusagen, dass Guiette selbst Philologe und Lyriker zugleich war, den Tendenzen der modernen Lyrik nahe stand und mit Blaise Cendrars ebenso wie mit Michaux befreundet war und sicher unter ihrem Einfluss stand. So zitiert er z.B. Mallarmé: „Ce n'est pas avec une idée - ou plusieures idées - qu'on fait un poème, mais avec des mots" (Ein Gedicht wird nicht aus einer Idee oder einem ,Ideenhimmel' gemacht, sondern aus Wörtern).

Bei der Beschäftigung mit anderen Texten, nicht nur Erbauungsliteratur, sondern auch Romanen, betont Guiette die allgemein bekannte Bedeutung des Symbols im Mittelalter. Aber er denkt stärker an die moderne Symbolik als an die mittelalterliche, wenn er schreibt, dass es beim Symbol weniger auf den referentiellen Gehalt als vielmehr auf den Assoziationsreichtum ankomme. Er verweist auf Paul Valéry, der es ablehnte, eine bestimmte Interpretation seiner Gedichte zu autorisieren, um etwaige andere, vielleicht noch mögliche auszuschließen. So werden auch die verschiedenen Deutungen von Chrétiens Gral fur den Leser gleichwertige Möglichkeiten der Interpretation, gerade weil in jeder Lesart ein Spielraum der Unsicherheit bleibt. Der mittelalterlichen Epoche, meint Guiette, fehlte der Sinn für Genauigkeit im Umgang mit objektiven Fakten; warum hätte sie sich auch um Faktizität bemühen sollen? Was für ein Interesse hätte sie daran haben sollen, mystische Ausstrahlung nach dem genauen Sinn zu hinterfragen, zu der ihr der Schlüssel fehlte? Dunkel, Wunderbares und Unverständliches vermischen sich zu Unerklärlichem.

Zu den folgenden direkten und indirekten Zitaten vgl. den Wiederabdruck der gesammelten Aufsätze von Guiette in dem Band: Forme et senefiance 1978.

56 Um zu dieser These von Guiette Stellung zu nehmen, würde ich mich gern auf eine Aussage von Bezzola berufen, die Guiette unklugerweise selbst zitiert. Bezzola schreibt: „Übrigens blieb das Symbol im ersten Anlauf für alle dunkel, bis sich sein Sinn im weiteren Erzählverlauf beim Wiederauftauchen desselben Motivs unter anderen Umständen allen Eingeweihten und manchmal sogar allen Lesern enthüllte".2

Das heißt Bezzola sieht diese Vagheit des Symbols, aber auch die Möglichkeit seiner zunehmenden Klärung durch den Gesamtkontext und die desambiguierende Verknüpfung mit anderen Elementen. Wir können also unsere Deutungsschablonen nicht dem mittelalterlichen Leser überstülpen, der oft eine eigene Erklärung gehabt hat oder zu haben geglaubt hatte (was auf dasselbe hinausläuft). Entsprechend steht auch die Vorrangigkeit der formalen Aspekte im höfischen Epos außer Frage, und es wäre unverantwortlich, ihnen nicht Rechnung zu tragen. Haben die Dichter aber von bestimmten bedeutungstragenden Wörtern, Themen, kulturellen Anspielungen oder ideologischem Material Gebrauch gemacht, dürfen wir nicht aufhören, nach ihrem Gesamtsinn zu suchen. Die Grenzen unseres Textverständnisses geben uns, anders ausgedrückt, nicht das Recht zu behaupten, dass nichts zu verstehen sei. Guiette, der bei seinen Zeitgenossen wenig Anerkennung fand, ist dann von denen, die in jüngerer Zeit die romanische Philologie zu erneuern suchten, als Vorläufer seiner Disziplin angesehen worden. Es braucht hier nur stellvertretend auf die kritischen Stimmen von Jauss und Zumthor hingewiesen zu werden, die ihrem Fach damals hinter einer großen Erudition den hartnäckigen Widerstand ankreideten, der es gegenüber sich abzeichnenden neuen Denkansätzen, besonders in der Nachkriegszeit, abriegelte. Jauss widmet Guiette ein Kapitel seines Buches Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur (1977). Zumthor bezieht sich eindeutig auf ihn, besonders wenn er sich in seinem Essai de poétique médiévale (1972) mit dem grand chant courtois auseinandersetzt. Dabei gehen sowohl Jauss als auch Zumthor bei weitem über Guiette hinaus. Bekanntlich hat Jauss unter Rückgriff auf Benjamin, Adorno, Jolies, Gadamer und später auf die sowjetische Semiotik eine eigene Theorie der Rezeption aufgestellt, aber auch die Theoriebildung im Bereich der literarischen Gattungen erneuert und die Umrisse einer neuen Hermeneutik gezeichnet. Zumthor entwickelte, vielleicht noch kühner, eine programmatische Symbiose, bei der er die Mittelaltergeschichtsschreibung französischer Prägung mit dem französischen Strukturalismus verband. Beide Forscher sind vom Phantasma der Alterität ergriffen. Sie sind, und das mit gutem Grund, davon überzeugt, dass für die Erforschung des Mittelalters das Verhältnis einerseits zwischen Text und Gesellschaft (vor allem im Hinblick auf die Zeitgenossen), andererseits zwischen Text und modernem Leser der Klärung

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Vgl. R. Bezzola: Le sens de l'Aventure et de l'Amour (Chrétien de Troyesj. Paris 1947.

57 bedarf. Dass es schwer ist, alte Texte von der Warte eines Zeitgenossen zu lesen, liegt auf der Hand. Immer bleibt die Frage: Wie statthaft ist es, an solche Texte erkenntnistheoretische Maßstäbe anzulegen, die ihnen weitestgehend fremd sind? Ich möchte hier kurz über einige Gedankengänge von Zumthor in Parier du Moyen Age berichten, auch weil er damit z.T. frühere Arbeiten berichtigt, mit denen er - nicht umsonst ein begeisterter Anhänger des ,Informationspluralismus' - allzu kurzlebigen Neuerscheinungen zum Opfer gefallen war. Überaus positiv bewerte ich, dass Zumthor einem kommunikativen Begriff der Literatur treu bleibt, auch der Literatur des Mittelalters. Für ihn umfasst die Kommunikation in großem historischem Abstand vier Phasen: 1. Ursprüngliche Kommunikation (Produktion und Rezeption), als Teil der histoire introuvable nicht mehr zurückholbar; 2. Vermittelte Kommunikation I (Produktion und Rezeption der Handschrift / der verschiedenen handschriftlichen Fassungen) [in historischem Abstand von gewöhnlich mehreren Jahrhunderten, in deren Verlauf es zu sozial- und kulturgeschichtlich anderen Kommunikationen kommen kann als den unter 1 - 4 aufgezählten]; 3. Vermittelte Kommunikation II (produziert von einem Gelehrten, rezipiert von einem Fachpublikum) (typischerweise die Phase der wissenschaftlichen Lehre); 4. Für heutige Rezipienten aufbereitete Kommunikation. 3 Bei aller Vorläufigkeit einer solchen Gliederung der Kommunikationsphasen erscheint mir der Versuch als solcher lobenswert, die verschiedenen kognitiven Vermittlungen zu beschreiben, die bei der Rezeption alter Texte und ihrer heutigen Nutzung ablaufen. Zumthor hebt auch die Gemeinsamkeiten mit den Thesen von Jauss hervor: Die deutschen Literaturwisenschaftler der Konstanzer Schule sprechen heute in diesem Zusammenhang von Konkretisierung' und fordern, dass der Sinn eines Textes als historische Folge seiner „Konkretisierungen" definiert werde. 4 Wenn ich mich von den Konstanzer Romanisten kritisch abgrenze, dann dadurch, dass ich anmerken möchte: die Konkretisierungen' sind Ersatz für die direkte Kommunikation zwischen Text und heutigem Leser; wenn ich mich von der Position Zumthors unterscheide, dann in dem Sinne, dass ich die Kommunikationsphasen 1 - 3 zwar für nützlich halte, um dem Text schrittweise näher zu kommen, aber glaube, dass sie nicht auf derselben Ebene liegen wie 4, wo der Leser den Text durch dessen Rezeption zum Leben erweckt oder wiedererweckt, weil der Text erst durch seine kommunikativen Möglichkeiten etwas anderes ist als toter Buchstabe.

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Zumthor 1980, 33 [d.O.]. Das Konzept der „Konkretisierung" geht nicht erst auf die Konstanzer Schule zurück. Es findet sich bereits bei dem Prager Literaturhistoriker Felix Vodicka: „La storia della risonanza delle opere letterarie" [1941], Lingua e stile 5 (1970), 499-509.

58 Zumthor übernimmt von Guiette auch die These, dass unsere Auffassung von der Dichtkunst mehr Gemeinsamkeiten mit der mittelalterlichen aufweist als mit denjenigen des 16.-19. Jahrhunderts. Andererseits weist er auf wichtige Punkte hin, die deutlich machen, wodurch unser Verständnis mittelalterlicher Texte erschwert wird. Der kulturelle Raum im Mittelalter war ganz anders organisiert als heute. Man braucht nur an das System der artes zu denken, die wir nur noch dem Namen nach kennen, die uns aber sonst völlig fremd sind, und umgekehrt an die Tatsache, dass man im Zusammenhang mit dem Mittelalter eigentlich nicht von ,Literatur' sprechen kann. Nach Zumthor kann „[von ,Literatur' als] einer eigenen Diskursklasse erst ab dem 17. Jahrhundert gesprochen werden" (1980, 31). Mit diesem Diskursbegriff hängt es zusammen, dass es wenig Sinn hat, im Zusammenhang mit Werken des Mittelalters von .Meisterwerk' zu reden, also von einer Hierarchisierung sprachlicher Erzeugnisse nach rein stilistischen Gesichtspunkten. Der Begriff ,Text' als solcher ist sogar ganz anders zu verstehen als in bezug auf die Gegenwart, und das bedingt durch die überwiegende Mündlichkeit mittelalterlicher Kommunikation. Seine mündliche Produktion und Rezeption über das Ohr bedeutete zugleich, der Text dem Körper des Produzenten (Autor, Vorleser, Spieler oder Sänger) und demjenigen des Rezipienten (Hörer oder Leser) deutlich näher ist als heute; der mittelalterliche Text ist so auch Geste, Bewegung, voller sinnlicher Elemente. Die Bemerkungen von Zumthor, die ich hier wiedergegeben habe, und viele andere, die ich aus Platzgründen weglassen muss, (zum Beispiel, was er über die Rolle der Überlieferungsart sowie zu den in anderem Zusammenhang ausführlicher behandelten Topoi schreibt),5 sind weitgehend richtig. An manchen Stellen sind mir seine Positionen zu einseitig. Zum Beispiel stimme ich Zumthor ohne weiteres zu, was die absolute Vorherschaft der Mündlichkeit angeht, aber ich glaube nicht, dass auch der Grad der mentalen Ausarbeitung, wie Zumthor glaubt, weniger hoch war; nur ausnahmsweise sind Texte meiner Einschätzung nach ohne die Hilfe von Schrift und Schreibmaterial verfasst worden.6 Andere Male führe ich es auf seine geringe methodologische und textkritische Erfahrung zurück, dass Zumthor Sümpfe und Hindernisse sah, wo es hingegen solide Hochbrücken über die Geschichte gibt. Ich denke zum Beispiel an sein Konzept der mouvance der Texte, die dadurch entsteht, dass Schreibvarianten Vielgestaltigkeit und schwere Fassbarkeit der Texte verursachen; solche Erschwernisse lassen sich jedoch für den erfahrenen Textkritiker als rational beschreibbare Etappen ihrer Verbreitung und ihrer im Laufe der Zeit erfahrenen Lektüren auflösen.

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Mit dem Problem der topoi hat Zumthor sich schon vorher befasst: „Topique et tradition", Poétique II (1971), 3 5 4 - 3 6 5 ; vgl. auch C. Segre: Avviamento all'analisi del testo letterario. Torino: Einaudi 1985, 331-359. Gegen die These von der mentalen Ausarbeitung und ausschließlich mündlichen Verbreitung der chansons de geste vgl. meinen Beitrag: „Oralità e scrittura nell'epica medievale", Oralità, Culura, letteratura, discorso. Atti del Convegno internazionale (Urbino 2 1 - 2 5 luglio 1980). Roma: Edizioni dell'Ateneo 1985, 19-35.

59 Was ich an dem höchst anregenden Bändchen von Zumthor aber für gefährlicher halte, ist die Übernahme des Begriffs der écriture von Roland Barthes - eines auf den ersten Blick brillanten und unverdächtigen, in Wirklichkeit aber bis heute nur methodologische Euphorie stiftenden Konzepts. Zumthor kommt selbst an vielen Stellen auf diesen Ansatz zurück, zum Beispiel wenn er sagt, dass es nicht um das Reden „über" die Dinge (discours-sur), sondern um das Schreiben selbst (discourspar) gehe (Zumthor 1980, 22). Das Produkt des Diskurses müsse also auf seine nie fertige Produktion zurückgeführt werden, es gehe darum, „ein hypothetisch für die Montage ausgewähltes Objekt zu demontieren" (22-23). Zumthor ordnet sich selbst ein, wenn er die Positionen abgrenzt. Für die einen (vor allem deutsche Romanisten) entstehe die Realität der Ecriture aus dem unentwegten Austausch zwischen Produktion und Rezeption der Texte; fur viele Franzosen entfalte sie sich aus dem jeu de miroirs, dem Reflex toter Werte auf dem Spiegel gelebter Werte, und aus der Differenz, die diese Produktion aus dem spéculum in aenigmate bildet (vgl. Zumthor, 97f). Die Implikationen dieses Ansatzes kommen an anderer Stelle noch deutlicher zum Ausdruck: „Ein literaturwissenschaftlicher Diskurs hat nur in dem Maße Wert, wie er sich in seiner Konstruktion dekonstruiert, wie er sich in seiner Selbstanalyse rekonstruiert, wie er seine Analogien vernetzt. Er versteht es, wie Daniel Poiriu sagt, aus einem Blickwinkel der Ähnlichkeit die Differenz wieder einzuführen" (86). Und da begegnen wir den Schlüsselwörtern: Differenz, dekonstruieren. Man erkennt hier sofort den frühen Einfluss (bei Zumthor fängt alles früh an) von Derrida und dem Dekonstruktivismus, 7 der sich in seiner Nachfolge, vor allem in Amerika, entwickelt hat. Für den Dekonstruktivismus ist unser Interpretieren das Senden von Diskursen, die einander ad infinitum überlagern, denn jeder Diskurs kann nur durch einen anderen Diskurs beschrieben werden. So verliert sich die Grenze zwischen Literatur und Philosophie: Philosophie ist als Literatur zu betrachten und umgekehrt. Es kommt nicht nur darauf an, die Hierarchien zwischen den verschiedenen Diskurstypen, die nur als historische Konkretionen entstanden sind, sondern auch die Beziehungen zwischen abgebildeter Wirklichkeit und Wort zu dekonstruieren. Für die Nachfolge des subjektiven Idealismus mit starken Neigungen zur Sophistik ist der Dekonstruktivismus auf der Suche nach den Widersprüchen, er will die Brüchigkeiten und Schwachstellen aufspüren, an denen er mit seiner Negation der Wirklichkeit ansetzen kann, um alle Axiome des traditionellen Denkens auf den Kopf zu stellen. Als Gedanken-, wenn nicht Sprachspiel geht der Dekonstruktivismus von einer negativen Ontologie aus, die der Möglichkeit geschicht-

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Aus der umfangreichen Literatur zum Dekonstruktivismus vgl. insb. J. Culler: On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism. Ithaca: Cornell University Press 1982; M. Ferraris: La svolta testuale. Pavia: Cooperativa Libreria Universitaria 1984; G. Borradori: Il pensiero postfilosofico. Percorsi e figure della nuova teoresi americana con un'antologia di testi ineditiin Italia. Milano: Yaka Book 1988.

60 licher Erkenntnis, wenn nicht der Möglichkeit der Kommunikation überhaupt, widerspricht. Nun haben wir gesehen, dass Zumthor löblicherweise - und für jemand, der wie er sich historisch betätigt, unvermeidlicherweise - die kommunikative Natur der Literatur gelten lässt, wenn auch mit allen unbestreitbaren Schwierigkeiten. Diese Zugeständnisse an Grammatologie und Dekonstruktivismus sind Minen im Meer, im weiten Meer der Sinnbildung. Eigenartigerweise beruft sich der Dekonstruktivismus auch auf die Hermeneutik.8 Natürlich ist das eine besondere Hermeneutik, die im Sinne Flauberts, Mallarmés und Valérys die Wirklichkeit durch den Text, den Text durch die écriture ersetzt. Die Ecriture hat auch in Deutschland Erfolg gehabt, man denke an Blumenberg und an die Tagungen über Poetik und Hermeneutik mit den regelmäßig dazu publizierten Bänden. Es handelt sich dabei um den neuen Ansatz einer nichtreferentiellen Hermeneutik, eine Hemeneutik der Abwesenheit, eine Hermeneutik, welche die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, auf der jede Möglichkeit des Verstehens beruht, außer Kraft setzt. Das Ergebnis ist, wie Maurizio Ferraris in einem schönen Buch schreibt, eine Hermeneutik des Nicht-Verstehens, der Verzerrung, des misreading, also der Missdeutung. Dieser „bösen" Pseudo-Hermeneutik (ähnlich wie es ein „böses", weil gesundheitsschädliches Cholesterin gibt) möchte ich die „gute" Hermeneutik gegenüberstellen: jene, die in der Nachfolge der antiken religiösen und juristischen Hermeneutik steht und mit den Namen von Schleiermacher, Dilthey und Gadamer, gefolgt von Ricoeur, von Hirsch jr. und anderen Amerikanern verbunden ist. Mit dieser Hermeneutik sind die Probleme bis heute alles andere als gelöst, immer noch gibt es, wenn es um das Verstehen und Deuten eines Textes, zumal von alten Texten, geht, theoretisch wie praktisch einen steinigen Weg. Mit Gadamer gesprochen ist unser Ziel die „Horizontverschmelzung". Und man muss sich darüber im klaren sein, dass diese Problematik auch und vor allem eine philosophische, ja, ontologische ist: Sie betrifft die Existenz und die wenigstens partielle Verstehbarkeit des Referenten, also der Welt (oder des Kontextes). Und dieses Verstehen ist nur möglich mithilfe von Diskursen, die ohne Zweifel den Diskurs überwuchern, den der Text darstellt. Es kommt darauf an, dass der Text im Licht unserer Scheinwerfer bleibt und dass wir nicht aufhören, ihn zu befragen, und dabei Deutungen vermeiden, die ihm widersprechen. So könnte sich der Nutzen eines semiotischen Ansatzes bestätigen, nur darf man nicht aus den Augen verlieren, dass es auch wie im Fall der Hermeneutik die Spreu vom Weizen zu trennen gilt. Die „gute" Semiotik hat kaum begonnen, und ist noch dabei, die Prozesse zu erforschen, wie Zeichen und Zeichensysteme ver-

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Zur Hermeneutik vgl. P. Szondi: Einfiihrung in die literarische Hermeneutik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975; P. Ricœr: Le conflit des interprétations. Paris: Seuil 1969; E. D. Hirsch, jr.: Validity in Interpretation. New Haven: Yale University Press 1967; dt. Prinzipien der Interpretationen. München: Fink 1972. Id.: The Aims of Interpretation. Chicago: University of Chicago Press 1976.

61 standen werden, ohne aus den Augen zu verlieren, dass die Zeichen Zeichen von etwas sind, nach dessen Erkenntnis, wie verzerrt und lückenhaft auch immer, wir streben können. Die Tartuer Schule und auch die italienische Semiotik haben m.E. die zur Erklärung dieses Verstehens geeigneten Verfahren und Modelle entwickelt, wobei sie einerseits Text und Textklassen, andererseits den geschichtlichen Hintergrund und kulturellen Kontext, deren Produkt sie sind, im Blick hatten (hierher gehört Lotmans „Kulturologie", die ihre Wurzeln letzten Endes in der Philologie von Veselovskij hat). Die Semiotik hat auch die historischen Gründe für die Vielfalt der Deutungen geliefert. Diese Vielfalt hängt damit zusammen, dass der strukturale Sinn der Nachricht mit dem Vergehen der Zeit zunimmt. Der interpretierende Literaturwissenschaftler (Leser) dringt kühn in die Strukturen des Werks ein und, mit den neuen Analyseinstrumenten und Fokussierungsmöglichkeiten ausgerüstet, gelingt es ihm, Sinnpotentiale aufzuspüren, die man vorher vielleicht nicht ahnen konnte. Entscheidend ist, dass diese erschlossenen Bedeutungen keine willkürlichen Eingebungen des Lesers sind und sich deshalb auch nicht als Widersprüche in das Werk einschleichen können, sondern vielmehr seiner Wahrheit immer näher kommen (natürlich ohne sie jemals zu erreichen, solange es eine Geschichte gibt). Semiotik und Hermeneutik mit verschiedenen Ansätzen, aber ziemlich ähnlichen Zielsetzungen, können uns bei unserem philologischen Geschäft helfen. Das bedeutet: sie können uns zu einem verständigen Umgang mit den mittelalterlichen Texten und mit der Welt, aus der sie hervorgegangen sind, führen.

Literatur Barthes, R. : Le degré zéro de l'écriture. - Paris : Seuil. Bezzola, R.: Le sens de l'Aventure et de l'Amour (Chrétien de Troyes). — Paris: La Jeune Parque. Guiette, R.: Forme et senefiance. Etudes médiévales recueillies par J. Dufournet, M. De Grève, H. Braet. - Genève: Droz. Gusdorf, G.: Les origines de l'herméneutique. - Paris: Payot. Jauss, H. R.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. - München: Fink. Zumthor, P.: Essai de poétique médiévale. - Paris: Seuil. - (1980): Parler du Moyen Age. - Paris; Minuit

II. Zur Semiotik des Theaters

1. Ein Beitrag zur Theatersemiotik

1. Die Theatersemiotik hat wie die Semiotik des Films viele Forscher beschäftigt; davon zeugen das Bändchen mit einer Kurzbibliographie von Bettetini und De Marinis (1977), die Literaturangaben bei Pavis (1976) und De Marinis (1982), die Readers zur Theatersemiotik von Diez Borque und Garcia Lorenzo (1975) oder von André Helbo (1975), die Hefte 13 (1978) von Degrés oder 20 (1978) von Biblioteca Teatrale usw. Der Grund liegt auf der Hand: zum sprachlichen Kode kommen beim Theater viele andere, nichtverbale hinzu: Gestik, Kostüme, Raum, Ton usw. Es ist daher eine Herausforderung, aus der Verflechtung so grundverschiedener Kodes Erkenntnisse über die Bedingungen der Bedeutungsbildung abzuleiten. Vorarbeiten gibt es viele. Zunächst geht es darum, die Beziehungen zwischen geschriebenem Theaterstück und Schauspiel herauszuarbeiten. Fest steht, dass der Bühnentext vorwiegend im Hinblick auf eine Aufführung verfasst wird, aber genauso steht fest, dass die Untersuchung der einzelnen Aufführungen auch ein und desselben Textes sich in einer unübersehbaren Vielfalt verlöre. Sodann ist der semiotische Status der verschiedenen beteiligten Kodes zu bestimmen, um von da weiterzugehen zu Verbindungen zwischen den Kodes, die die Gesamtbedeutung ergeben. Einen Vorschlag für die Systematisierung der szenischen Kodes gibt es von Kowzan (1975), der fünf Kategorien unterscheidet: 1. texte parlé; 2. expression corporelle; 3. apparence extérieure de l'acteur (mimique, gestuelle); 4. apparence de la scène; 5. sons inarticulés. Zum Verhältnis zwischen den Kodes ist Ruffini (1978) in Teil I ergiebiger. Da der Text eines Theaterstücks im wesentlichen aus Redezügen, also aus einem sprachlichen Diskurs besteht, hat man immer wieder versucht, Regeln für die Segmentierung dieses Textes zu formulieren (z.B. Pagnini 1970); sie galt als Grundvoraussetzung dafür, um, wenn möglich, transphrastische Bedeutungseinheiten zu ermitteln und von dort zu einer Schematisierung der Handlung insgesamt zu kommen. Andere haben die umgekehrte Richtung zur Erzähltextanalyse eingeschlagen, haben die Gemeinsamkeiten zwischen Erzählliteratur und Theater herausgearbeitet und dazu die logisch geknüpfte Folge von Handlungen im Bühnentext zur Darstellung gebracht (Jansen 1968; 1973; 1978).

66 2. An dieser Stelle möchte ich versuchen, an den Anfang des Theaters überhaupt zurückzugehen. Wie Aristoteles im dritten Teil seiner Poetik sagt, unterliegt das Drama dem Prinzip der Nachahmung. Die Schauspieler fingieren die Gebärden, und sie sprechen die Redezüge, die den ,tätigen Figuren' zugeteilt sind. Im narrativen Diskurs hingegen ist es der Schriftsteller, der ein verbales Äquivalent der Handlung (Diegese) schafft, wobei er, wenn er will, das von den Figuren Gesagte direkt oder indirekt wiedergeben kann. Wer die modernen Forschungsansätze zum Point of view1 und die Erzählinstanzen kennt, sieht sofort, was das für die Beziehungen zwischen dem Subjekt der Aussage, dem Sender, und dem Adressaten, dem Empfanger (Publikum), bedeutet. Im Falle der narrativen Kommunikation entfaltet das Äußerungssubjekt (das ICH als Sender), u.U. vermittelt durch ein ICH als Schriftsteller oder durch ein ICH als Erzähler oder Erzählerfigur, die Geschichten der erzählten Figuren in der 3. Person (ER (sg.) / SIE (pl.); ausgenommen ein etwaiges ICH als Erzählerfigur und innerhalb der unter der Sender-Regie geführten ER / SIE erscheinen die ICHReden der Figuren. Diese letzteren ICHs konstituieren hingegen den Bühnentext, wobei das Äußerungssubjekt selbst abwesend bleibt (im Falle eines Vor- oder Nachspiels oder eines Chores erscheint es immerhin als erzählerische Nebeninstanz, die bei Beginn der Aufführung außer Funktion gesetzt wird); die Vermittlung durch ein ICH als Schriftsteller (oder die Erzählerfigur, die in manchen modernen Texten vorkommt, mit keinem anderen Status als demjenigen der anderen Figuren) entfallt, ebenso die Sender-Regie des Schriftstellers über den Handlungsverlauf (vgl. Pagnini 1978). Das bedeutet nicht, dass erzählerische Elemente auf der Bühne fehlen, das ICH bleibt dem ER übergeordnet, während in der Erzählung das ER dem ICH übergeordnet ist. Die Mimesis entsteht gerade aus der Abwesenheit des übergeordneten ER: Das ER verarbeitet die erzählte Wirklichkeit und ersetzt sie durch einen Diskurs; das ICH, richtiger: die verschiedenen ICHs, die dem Empfänger ohne Vermittlung gegenüberstehen, müssen real sein (Schauspieler aus Fleisch und Blut) und sich in einer realen Umgebung (der mehr oder weniger illusionistischen Bühne) bewegen. Dabei handelt es sich nicht um die gegebene reale Welt, sondern um eine aus pragmatischen Referenzpunkten eigens erschaffene Welt. Daraus resultieren die szenischen Funktionen: Der Schauspieler steht für eine Figur, die Bühne für einen Raum innerhalb oder außerhalb des Saals usw. Das Zeichen wird zum Symbol, wenn der Bezeichnende (Schauspieler, Bühne usw.) nicht vollständig in der Mimesis aufgeht, sondern Spuren seiner vorszenischen Funktion bewahrt (beim geistlichen Spiel z.B. ein Priester als Schauspieler, Altar, Krypta usw. als Bühne, oder auch Platz, Paläste u.ä.). Die mimetischen Elemente sind funktionale Äquivalente der erzählerischen.

1

Vgl. Beitrag III. 2. in diesem Band.

67 3. Das Theater ist demnach ein „sekundäres modellbildendes System" 2 , das sich von der narrativen Kommunikation grundlegend unterscheidet. Diese braucht die physischen Elemente: die Physis der Schauspieler, ihre Stimmen und Gebärden, ihre Kostüme; die Physis der Bühne, ihrer Maschinerie, ihrer Dekorationsteile; schließlich die Physis der Dauer, denn das, was das Publikum miterlebt (von dem, was sich im bühnenexternen Raum abspielt, reden wir später), findet genau in der Zeit statt, die auch die Redezüge der Schauspieler, aus denen das Stück besteht, in Anspruch nehmen), eine Zeit, die so irreversibel ist wie im Leben. Daraus ergeben sich die besonderen Merkmale der szenischen Kommunikation. Erstens: Bei der szenischen Kommunikation kreuzt sich die vertikale Achse (Sender-Empfanger) mit der horizontalen zwischen den Figuren (ICH-DU). Narratives

ICH — Schriftsteller

Szenisches

Kommunikationsmodell

ER _ J als erzählte \ Figur

ICH-Erzähler oder erzählende Figur

ICH-DU

— DU Empfänger

Kommunikationsmodell ICH-Sender

ICH als Bühnenfigur

ER als erzählte Figur

DU als Bühnenfigur

+

DU-Empfanger

So erklärt sich die extreme, wenn auch ausfuhrlich und scharfsinnig begründete These von Prieto (1969), wonach das Drama nicht zur literarischen Domäne zu rechnen sei,3 denn darin teilten nicht die sprachlichen Zeichenakte, die auf der

2

3

Zu diesem Begriff der Tartuer Schule vgl. Eimermacher 1986, 44-45; 108; Literaturhinweise in III. 11. in diesem Band. Bei Prieto 1990, 22 heißt es: „[...] il faudra exclure le drame du domaine littéraire, puisque ce ne sont pas des actes sémiques linguistiques qui permettent au public de connaître l'anecdote d'une œuvre dramatique [...] sur la scène, on 'imite' des actes sémiques linguistiques, de même que l'on imite des comportements de toutes sortes, et ce sont ces imitations qui constituent les signaux au moyen desquels l'anecdote est communiquée au public, signaux qui n'appartiennent évidemment pas à une langue, mais à un code 'nalogique' comme celui du cinéma ou des bandes dessinées" [d.Ü.].

68 Bühne realisiert werden, dem Publikum die Geschichte mit, sondern die Geschichte werde durch die Simulation sprachlicher Zeichenakte vermittelt, wobei es sich nicht um Zeichen einer Sprache, sondern um analoge Kodemittel handele. Auch fur Mounin ( 1970) gilt, dass im Theaterstück eigentlich keine sprachliche Kommunikation stattfinde, weil es zwischen Schauspielern und Publikum keinen feedback gäbe, und die Redezüge auf der Bühne nur eine Kette von Signalen seien, auf die das Publikum nach dem Reiz-Reaktion-Schema reagiere. Fest steht, dass die Schauspieler die Natürlichkeit der direkten zwischenmenschlichen Kommunikation simulieren. Gleichzeitig ergeben diese Redezüge zusammen einen Text, der wie jeder andere, literarische Text von einem Sender-ICH an ein EmpfängerDU übermittelt wird. Die Überschneidung der beiden Kommunikationsströme materialisiert sich darin, dass Schauspieler und Zuschauer gemeinsam präsent sind, wenn auch unter im Laufe der Zeiten wechselnden räumlichen Bedingungen; und gleichzeitig darin, dass zwischen den einen und den anderen keine Dialogbeziehung entsteht, weil die Zuschauer wissen, dass das, was sie hören, nicht spontan ist, sondern von einem abwesenden Autor stammt. Zweitens. Zusammenfall von Zeit des Diskurses und Zeit des Äußerungsakts. Szondi (1964) schreibt dazu in seiner Theorie des modernen Dramas: „Indem das Drama je primär ist, ist seine Zeit auch je die Gegenwart. Das bedeutet keineswegs Statik, sondern nur die besondere Art des dramatischen Zeitablaufs: die Gegenwart vergeht und wird Vergangenheit, ist aber auch als solche nicht mehr gegenwärtig. Die Gegenwart vergeht, indem sie Wandlung zeitigt, indem ihrer Antithetik neue Gegenwart entspringt. Der Zeitablauf des Dramas ist eine absolute Gegenwartsfolge. Das Drama steht als Absolutes selbst dafür ein, es stiftet seine Zeit selbst" (Szondi, 17).

Faszinierend ist die Aussage von Noigaard (1978), der von einer „Intensivierung" der Zeit spricht und nicht weniger suggestiv drückt sich Ubersfeld (1978, 206) aus, die es so auf den Punkt bringt: „Bien loin d'historiciser le théâtre, le travail de l'unité de temps, théâtralise l'histoire"

Dass die Dauer der Aufführung und die angenommene Dauer der Ereignisse nicht übereinstimmen, wird durch Pausen erreicht, in denen die zeitliche Übereinstimmung konventionellerweise ausgesetzt wird, und durch eingeschobene Analepsen, die Vergangenheitsblöcke zurückholen. Im Theater herrscht also die Gegenwart in ihrem Werden. Die Vergangenheit wird durch darauf gerichtete Anspielungen oder Rückblenden in die szenische Gegenwart gezogen, wenn nicht explizit, so doch implizit. Anders die Erzählliteratur, in der Vergangenheit herrscht, dergestalt, dass sie in einem Buch niedergelegt werden kann. Das Präsens dient nur dazu, sie wieder lebendig werden und gegenwärtig erscheinen zu lassen. Drittens. Im Erzähltext werden die Beziehungen zwischen Handlung und Motivationen teilweise oder ganz vom Schriftsteller entwickelt. Die Darstellung der Ereignisse kann gleichzeitig ihre Erklärung sein. Das übergeordnete ER ist zugleich eine Instanz, welche über das, was die verschiedenen ICHs sagen, urteilt. Im Theater

69 hingegen kennen wir nur, was wir sehen, und was die Figuren von ihren Gedanken und Absichten kundtun. Es liegt also im wesentlichen beim Zuschauer, die ursächlichen Antriebe zu durchschauen, auch wenn der Autor mit konnotativen Anhaltspunkten oder mit dem Mittel des Chors o.ä. die eine oder die andere Deutung nahe legen kann. So erklären sich die faszinierende Rätselhaftigkeit des Mediums Theater und der leidenschaftliche Konflikt der Deutungen. 4. Dank der Literatursemiotik verfugen wir jetzt über viele und leistungsfähige Analyseinstrumente. Alles, was bisher kommunikationstheoretisch zur SenderEmpfanger-Beziehung gesagt worden ist, kann erzähltheoretisch neu formuliert werden. Geht man von einem viergliedrigen BegrifFsschema mit den Ebenen Erzählmodell, Fabel, Intrige und Diskurs aus, wie ich das an anderer Stelle (Segre 1980, 73) vorgeschlagen und vertreten habe, sieht man sofort, dass dramatisches und erzählerisches Werk sich auf den beiden ersten Ebenen nicht unterscheiden. Immer geht es dabei um Figuren, die Handlungen ausfuhren, zwischen denen zeitliche und kausale Zusammenhänge bestehen. Auch Art und Umfang der Geschichte, die sich (nach jedenfalls in den verschiedenen Epochen vorherrschenden Erwartungen) durch ein bestimmtes Maß an Kontinuität und Geschlossenheit auszeichnen muss, kann nicht viel anders sein. Das Theater wird allenfalls gewisse praktische Beschränkungen mit sich bringen, was die Zahl der Schauspieler, die direkte oder indirekte Spielbarkeit der Handlungen usw. anbelangt. Die Unterschiede entwickeln sich auf den beiden anderen Ebenen, Intrige und Diskurs. Wenn beim Diskurs noch die Wahl des Darstellungsmodus (Narration oder Mimesis) besteht, gelten bei der Handhabung der Intrige für die szenische Umsetzung spezifische Bedingungen. Im Theater erhält die Handlung zuallererst ihren Vollzug durch Rede, durch Redezüge. Aristoteles schreibt: „[...] im Drama handeln die Personen nicht, um Charaktere nachzuahmen, sondern sie nehmen die Charaktere an wegen der Handlung" (Poetik, VI, 7). Und Ingarden (1971) sagt: „In jedem dramatischen' Konflikt, der auf der Bühne zur Aufführung kommt, ist die sprachlichlautliche Rede, die an eine der handelnden' Personen gerichtet wird, nichts anderes als ein Teil der Handlung des Darstellers, der die Redezüge ausfuhrt. Und die Rede hat nur in dem Maße eine reale Bedeutung für die im Schauspiel dargestellten und repräsentierten Geschehnisse, wie sie den Fortgang der Handlung entscheidend vorantreibt" (1971, [1938], 535). 4

Daraus entstehen einige der schon angedeuteten Eigentümlichkeiten des Theaters: Bezugnahmen auf Ereignisse, die zeitlich vorausgegangen sind oder außerhalb der Bühne stattfinden, mithilfe von Analepsen; Verteilung der Motivationen auf „Dans tout conflit 'dramatique' qui se développe au sein de l'univers théâtral, le discours adressé à l'un des personnages est une des formes de l'action du locuteur et ne revêt, en définitive, de signification réelle par rapport aux événements présentés dans le spectacle que lorsqu'il contribue de façon décisive à faire progresser l'action" (Ingarden, 535) [d.U.].

70 die Figuren und dadurch Motivationsvielfalt, und das ist auch der Punkt, an dem die anderen Kodes, vornehmlich Intonation und Gestik, ins Spiel kommen. Abgesehen von den typologischen Forschungen, die das entwickelte viergliedrige Begriffsschema erleichtert, zeigt das Modell-Fabel-Intrige-Diskurs, dass das was als kommunikative Beziehung Sender-Empfänger beschrieben worden ist, Phasen des künstlerischen Prozesses sind. Dabei handelt es sich um die Deutung von Anisochronien des narrativen Diskurses als Verschiebungen von der Phase der vollendeten Intrige zu den Übergangsphasen, sei es (von mir nur grob angedeutet) der Intrige oder sogar der Fabel. Das ist es, was Genette und andere als Fokussierung der Geschichte bezeichnen. Der Erzähler verschiebt mehrmals den Fokus: vom Ritardando der Detailbeschreibungen und etwaigen mimetischen (dialogisch gestalteten) Einschüben, die im Präsens formuliert oder ähnlich gegenwartsnah gestaltet sind, bis zu den Passagen, die reine Verbindungsstücke bilden und in denen die Fäden der Handlung ans Licht kommen. Beim Theater bedingt die Dominanz der Gegenwart eine einheitliche Inszenierung der Intrige, zumal in der Form des Dialogs. Die nicht entwickelten Teile, die Pausen und die Bezugnahmen auf das, was nicht dargestellt wird, sind dem Vorstellungs vermögen des Zuschauers überlassen. Das heißt, der Empfanger muss nicht nur die Motivationen erschließen, indem er szenisches Spiel und Redezüge der Figuren miteinander vergleicht, sondern er muss auch, ausgehend von dem, was vom Vergangenen in der Gegenwart aufscheint, eine Geschichte vervollständigen, die er unmittelbar als Zuschauer aufgeführt bekommt. Die Verlagerungen von der Erzählung der verarbeiteten Vergangenheit zu einer narrativen Gegenwart sind ein Mittel, um im Theater Platz für eine „fiktive" Gegenwart zu schaffen, wo dem Zuschauer mit seiner aktiven Verarbeitungsfunktion Vergangenheit wie Übergänge überlassen bleiben. 5. Es ist diese aktive Verarbeitungsfunktion des Zuschauers, und nicht nur das Spiel leibhaftiger Schauspieler vor ihm auf der Bühne, die beim Theater den Empfänger stärker in die Kommunikation involviert, als das bei der Lektüre von Texten anderer Gattungen geschieht. Und alles, was zum Medium Theater dazugehört (Bühne, Kostüme, Musik und Geräusche usw.), betonen seine Funktion in der szenischen Kommunikation, seine Rolle als verstehende und interpretierende Instanz. Der Empfanger ist Teilnehmer, auch wenn er keine eigene Figurenrolle hat. Er ist Zeuge und Richter, auch wenn er nur in allgemeiner Form Zustimmung oder Ablehnung bekunden kann. Vielleicht liegt in dieser Dialektik von Nähe und Distanz, Teilnahme und Abwesenheit jenes entlarvende und befreiende Moment, das Aristoteles Katharsis nannte. Szondi sagt dazu: „Das Verhältnis ZuschauerDrama kennt nur vollkommene Trennung und vollkommene Identität, nicht aber Eindringen des Zuschauers ins Drama oder Angesprochenwerden des Zuschauers durch das Drama" (Szondi 1964, 16). Während das Theater als sekundäres modellierendes Sytem nicht anders ist als andere Künste, unterscheidet es sich dadurch von ihnen, dass es seinen Modellnutzer selbst ins System einbezieht, sei es auch getrennt durch eine Rampe, die im Lauf der Zeit verschieden gestaltet war und in der fehlenden „vierten Bühnenwand"

71 bestand, der Stufe zwischen Bühne und Parterre und dem Kontrast von hell und dunkel. Zumindest als Zeuge ist der Zuschauer in das modellisierende System involviert; statt vom Schriftsteller hineingezogen zu werden, muß er sehen, wie er seiner Suggestion entkommt, und sich distanzieren. 6. Neuere Analyseansätze von Serpieri (1977) und seine Forschungsgruppe Canzani et al. (1978) versuchen, Theater mit der Sprechakttheorie zu erklären. Danach wären alle auf der Bühne gesprochenen Redezüge performative Sprechakte, weil sie die Triebkraft der Handlung sind. Gleichzeitig werden Dialoge und szenischer Raum durch einen besonderen und besonders intensiven Gebrauch der Deixis koordiniert (Brusegan 1976; Serpieri 1977): „charakteristisch für das Theater ist, dass die Figuren ihre Worte und ihre Bewegungen in deiktischer, gestischer und räumlicher Hinsicht im Wechselspiel miteinander oder mit Gegenständen oder Räumen der Bühne abstimmen." (Serpieri 1977). Performativität und Deixis hängen zusammen: bedingen sich also wechselseitig. Mit Serpieri kann man sagen, „Performativität verwirklicht sich in der Deixis, und stellt das Spezifische des Theaters dar, insofern als sie die Gegenwart des Redevollzugs mit Deiktika für die szenische Umsetzung der Handlung zu einer verbal-szenischen Einheit verschmilzt" (Serpieri 1977, lOOff). Mit diesem Ansatz lassen sich, meine ich, eine Reihe von Problemen der Theatersemiotik, die ich anfangs angedeutet habe, lösen. So kann ohne weiteres mit Hilfe der Deixis die Antinomie zwischen Bühnentext und Auffuhrung überwunden werden: Die Deiktika sind das genaue Korrelat von Gestik und Inszenierung, konstituieren also „das Schauspiel im Bühnentext". Performativität ist, kann man sagen, die Übersetzung von Kausalität in dialogischen Diskurs. Wenn ein Werk vorwiegend aus Dialogen besteht, kann nur das Performative der Äußerungsakte der Handlung eine andere Richtung geben. Sicher ist (und die Gruppe um Serpieri hat das gezeigt), dass sich dieser Ansatz für die Segmentierung des Textes eignet. Allerdings wären an diesem Ansatz noch einige Korrekturen anzubringen nicht nur methodischer Art (Deixis und Performativität sind nicht dasselbe und müssen getrennt behandelt werden, wenn sie auch konvergieren können). Vor allem erinnere ich daran, dass die Performativität des Theaterdialogs berechtigten Verdacht bei Prieto (1969) erregt hat: es geht im Theater um eine programmierte Performativität, da die Worte (selten die Inhalte) eines jeden Redezugs im voraus festgelegt sind und vom Schauspieler nur nachgesprochen werden. Man müsste also eher sagen, dass in einer Intrige, die als Pseudodialog realisiert wird, die Motive der Handlung als pseudoperformativ erscheinen. Daraufhatte schon Austin (1962) aufmerksam gemacht (auch wenn wir seiner Geringbewertung und Hierarchisierung von Performativität nicht zustimmen können). Er sagt: „[...] a performative utterance will, for example, be in a peculiar way hollow or void ifsaid by an actor on the stage, or if introduced in a poem, or spoken in soliloquy. [...] Language in such circumstances is in special ways - intelligibly used not seriously, but in ways parasitic upon its normal use - ways which fall under the doctrine of the etiolations of language" (Austin 1975, 22, Hervorhebungen von mir). Ausgewo-

72 gener hat sich zum szenischen Prinzip der Zweistimmigkeit von Figuren- und Autorenrede im Theater Ubersfeld geäußert (1978, 142), ebenso vorher Rastier (1971), der beschrieb, wie Autor und Figur als doppeltes Subjekt sprechen können. Bei alledem ist das Modell der szenischen Kommunikation im Auge zu behalten, bei dem die ICH-DU-Beziehung der Figuren in die ICH-DU-Beziehung zwischen Sender und Empfänger eingebettet ist. Daher sind unter den performativen Mitteln des Pseudodialogs und über diese hinaus die performativen Mittel der Nachricht zu suchen, die die Inszenierung an das Publikum richtet. 7. Ein wichtiges, bisher zu wenig beachtetes Beispiel (vgl. jedoch schon Bogatyrev [1938] 1971) ließe sich als „Nachrichtenleck" bezeichnen, das dem Publikum zugute kommt. Das sind Monologe und Beiseitegesprochenes. Sie unterbrechen die Kohärenz der dialogischen Kommunikation (Pseudokommunikation für die Figuren, indirekte Kommunikation für das Publikum), indem sie in Bruchstücken Gedanken, Reflexionen und Kommentare vermitteln, welche die eigentlichen Dialogpartien ergänzen oder auch konterkarieren. In diesen Fällen beschränkt sich der Kenntnisstand des Zuschauers nicht auf das, was er von den Figuren Zug um Zug durch die Dialoge erfahren hat, sondern umfasst dank des „Nachrichtenlecks" ein Mehr, das Rückschlüsse auf die Motivationen oder Antizipationen in bezug auf diese erleichtert. Doch auch dann ist es nicht die Kommunikationsbeziehung ICH (Autor) - DU (Zuschauer), die manifest wird, sondern der ICH (Figur) wechselt zwischen der ICH-DU-Kommunikation mit anderen Figuren und der Kommunikation des ICH (Figur als Erfindung des Autors, der auf diese Weise etwas von seiner Theaterkunst zu erkennen gibt) mit dem DU (Zuschauer). Denn was dem Zuschauer bei dieser Kommunikation übermittelt wird, ist nicht einfach die Nachricht des Autors, sondern eine Antizipation von Elementen seiner Erfindung, die dem Zuschauer die Mühe erspart, sie zu erschließen. Zur horizontalen Kommunikation zwischen den Figuren und zur vertikalen zwischen Autor und Zuschauer kommt also eine „diagonale", frei variierende Kommunikation zwischen Figuren und Publikum.

ICH-Autor

ICH-Figur

DU-Figur

DU-Empänger

73 Auch das „Nachrichtenleck" beim Beiseitesprechen hat bemerkenswerte Parallelen zur Realisierung der Fabel als Intrige: es fügt Neues hinzu, was die Charakterisierung des Theaterdiskurses anbelangt. In der Abfolge von Szenen und Aufzügen durchquert der Zuschauer eine Abfolge von Gegenwarten, in denen er den Reden und Gegenreden zwischen Gruppen von Figuren beiwohnt. Die Abfolge von Szenen und Aufzügen verkettet jedoch Begegnungen miteinander (manchmal an verschiedenen Orten), an denen jedes Mal unterschiedliche Figuren beteiligt sein können. Der Zuschauer weiß also über die Geschichte immer auch mehr als die einzelnen Bühnenfiguren, denn er weiß, was jede von ihnen weiß. Diese Informationsverteilung ist im Erzähltext eine ganz andere, denn hier geht es um die Ausgewogenheit zwischen dem, was der Leser weiß, und dem, was der Autor oder der Erzähler in der 1. Person weiß. Und es ist der Erzähler die Instanz, die für sich mehr weiß als der Leser und der von Zeit zu Zeit davon Gebrauch macht, ihm etwas zu enthüllen. Die Dosis Mehrinformation ist logischerweise ein Ersatz für das Fehlen an Direktkommunikation zwischen dem ICH-Autor und dem DU-Zuschauer, wie sie im Theater möglich ist. 8. Alles, was ich über die Performativität im Rahmen des Theaterdiskurses gesagt habe, ließe sich zeichentheoretisch systematisieren. Als Beispiel kann eine beliebige Rede oder Gegenrede dienen. Vom Standpunkt der Bühnenfigur, an die sie gerichtet ist, besteht sie aus sprachlichen Zeichenakten, die z.T. auch etwas „indizieren" (Konnotate für Charakter, Gemütsverfassung, Anspielungen usw.); alles zusammen ergibt eine Aussage mit einer Gesamtbedeutung. Auch für den Zuschauer ist jeder Redezug ein Ganzes aus sprachlichen Zeichenakten und Konnotaten: 1. er ist Teil des Textes und ist von dessen Gesamtbedeutung abhängig; 2. er enthält Reflexe der Gesamtbedeutung, der individuellen und historischen Besonderheit des Werks; 3. er ist Teil einer metatheatralischen Thematik, die die einzelnen Figuren übersteigt und für das Werk eine tragende Struktur gewährleisten kann. Zeichentheoretisch geht es also (wie Mounin meint) um mehr als die Sprachlichkeit von Rede und Gegenrede und auch um mehr als Sprechakte. Anders gesagt ist es so, als leiteten die Schauspieler jeden Redezug implizit mit der Deklaration ein: ,Ich tue so, als sei ich Figur X, und der Satz f, den ich jetzt äußere, ist der Satz, den der Autor an dieser Stelle der Geschichte zu äußern fingiert'. Diese Deklaration oder dieser performative Hypersatz (performative hypersentence) kann implizit bleiben, weil das Publikum, indem es sich zum Besuch der Aufführung begibt, deren Regeln und damit auch seine ganz besondere Performativität anerkennt. Und so entsteht Konvergenz zwischen Theater als Erlebnis und als Ort.

74 Literatur Aristoteles: Poetik. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von M. Fuhrmann.. - Stuttgart: Reclam 1982. Austin, J. L. (1975): How to do Things with Words. - Second Edition. London: Oxford University Press '1962. Bettetini, G., M. De Marinis (eds.) (1977): Teatro e communicazione. - Rimini-Firenze: Guaraldi. Bogatyrëv, P. (1971): „Les signes du théâtre" [1938], - Poétique 8 (1971) 517-530. Brusegan, R. (1976): „Scena e parola in aclcuni testi teatrali francesi del Medio Evo (XII-XIII secolo)". - Medioevo Romanzo 3, 350-374. Canziani, A. et al. (1978): Come comunica il teatro: dal testo alla scena. - Milano: Il formichiere. De Marinis, M. (1975): „Problemi e aspetti di un approccio semiotico al teatro". Lingua e stile 10, 343-357. - (1982): Semiotica del teatro. - Milano: Bompiani. Diez Borque, J. M., L. Garcia Lorenzo (eds.) (1975): Semiologia del teatro. - Barcelona: Pianeta. Elam, K. (1977): The Semiotics of Theater. - London und New York: Methuen. Guiraud, P. (1969): Essais de stylistique. - Paris: Klincksieck. Gulli-Pugliatti, P. (1976): I segni latenti. - Messina-Firenze: D'Anna. Helbo, A., Ed. (1975): Sémiologie de la représentation. - Bruxelles: Complexe. Ingarden, R. (1931): Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft. - Halle a.S.: Niemeyer. - (1971) : „Les fonctions du langage au théâtre" [1958], - Poétique 5, 531-538 Jansen, S. (1968): „Esquisse d'une théorie de la forme dramatique". - Langages 12, 71-93. - (1973): ,,Qu' est-ce qu'une situation dramatique?". - Orbis litterarum 28, 235-292. - (1977): Appunti per l'analisi dello spettacolo. - Urbino: Centro internazionale di semiotica e linguistica. - (1978): „Problemi dell'analisi di testi drammatici". - Biblioteca teatrale 20, 14—43. Koch, W. A. (1969): „Le texte normal, le théâtre et le film". - Linguistics 48, 40-67. Kowzan, T. (1975): Littérature et spectacle. - The Hague: Mouton. Mounin, G. (1970): Introduction à la sémiologie. - Paris: Editions de Minuit. Nencioni, G. (1976): „Parlato-parlato, parlato-scritto, parlato-recitato". - Strumenti critici 10, 1-56. Nojgaard, M. (1978): „Tempo drammatico e tempo narrativo. Saggio sui livelli temporali ne 'La dernière bande' di Beckett". - Biblioteca teatrale 20, 65-75. Pagnini, M. (1970): „Per una semiologia del teatro classico". - Strumenti crìtici 4, 121-140. - (1978): „Riflessioni sulla enunciazione letteraria e in particolare sulla comunicazione a teatro". - In: Canziani et al. 1978, 171-180. Pavis, P. (1975): „Problèmes d'une sémiologie du théâtre". - Semiotica 15, 241-263. - (1976) : Problèmes de sémiologie théâtrale. Montréal: PUQ. - (1978): „Remarques sur le discours théâtral". - Degrés 6, 13, h-h 10. - (1982): Voix et images de la scène. Essais de sémiologie théâtrale. - Lille: Presses Universitaires de Lille. Prieto, J. L. (1969): „Langue et style". - La linguistique 1, 5-24. Rastier, F. (1971): „Les niveaux d'ambiguïté des structures narratives". - Semiotica 4, 289-342. Revzine, G. und J. (1971): „Expérimentation sémiotique chez Eugène Ionesco". Semiotica 4, 240-262. Rufïini, F. (1978): Semiotica del testo. L'esempio teatro. - Roma: Bulzoni.

75 Segre, C. (1980): Literarische Semiotik. Dichtung - Zeichen - Geschichte. Hrsg. von H. Stammerjohann. Aus dem Italienischen übersetzt von K. Henschelmann. - Stuttgart: Klett-Cotta 1980 (it. Originalausgabe 1974). Serpieri, A. (1977): „Ipotesi teorica di segmentazione del testo teatrale". - Strumenti critici 11, 90-137. Szondi, P. (1964): Theorie des modernen Dramas. - Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ubersfeld, A. (1978): Lire le théâtre. - Paris: Editions sociales. Veltrusky, J. (1964): „Man and Object in the Theater" [1940] - In: P. L. Garvin, ed.: A Prague School Reader on Esthetics, Literary Structure and Style. Washington: Georgetown University 1964, 83-91. Veltrusky, J. (1942): „Drama jako bâsnické dilo". - In: R. Havrânek und J. Mukarowsky (eds.): Cteni o jazyce apoesii. Praha 1 9 4 3 , 4 0 1 - 5 0 2 (engl.: Drama as Literature. Lisse: De Ridder 1977).

2. Narratologie und Theater

1. In diesem Beitrag geht es um die Frage der Gemeinsamkeiten zwischen zwei auf den ersten Blick diametral entgegengesetzten Interpretationsrichtungen der Theatersemiotik. Für die eine Richtung steht das Beziehungsverhältnis zwischen Theaterstück und narrativen Darstellungsformen im Mittelpunkt, wobei davon ausgegangen wird, dass jedes Theaterstück unabdingbar miteinander verkettete, partiell oder ausnahmslos fiktive Ereignisfolgen erzählt. Die andere Interpretationsrichtung legt den Akzent auf das „Spezifische des Theaters", mit anderen Worten auf das Besondere der mimetischen Darstellung (Auftreten von Personen, die sprechen, ohne Intervention des Erzählers). Diese beiden Interpretationsrichtungen hatte schon Aristoteles herausgebildet, welcher die Nachahmung im Drama, Sache von handelnden' oder,Figuren' (gr. TipatTOVcet;), der narrativen Diegese entgegenstellt und der den Inhalt sowohl des Dramas als auch des Erzählwerks (Epos) auf die Fabel oder den Stoff (gr. fivöoi;) festlegt. 2. Was die Erzähltextanalyse angeht, so kann an Forschungen der russischen Formalisten sowie an spätere Weiterentwicklungen in Frankreich und in Italien angeknüpft werden. Wie ich bereits an anderer Stelle dargelegt habe (Segre 1980, 77-83), lassen sich aus jenen Forschungsbemühungen im Kern vier Analyseebenen ableiten: (I) Diskurs: Text in seiner sprachlichen Oberflächengestalt. (II) Intrige: Ergebnis der Zerlegung des Diskurses in Inhaltseinheiten. (III) Fabel: Ergebnis der Umordnung und Auswahl der Inhaltseinheiten mit dem Ziel der Herstellung von Folge und Verkettung der Ereignisse und Handlungen (Ursachen Wirkungen) sowie Eliminierung der außerhalb dieses Schemas liegenden Elemente. (IV) Erzählmodell: Narrative Grundstruktur als Folge von Funktionen, wie sie sich aus einem Corpus ähnlich gearteter Exemplare des Erzählverlaufs, wenn nicht der denkmöglichen Elemente der Erzähltextklasse als solcher ableiten lassen (eine Frage, die ich hier nicht weiter vertiefen möchte).

Der Leser wird bereits den Zusammenhang Intrige / Fabel entdeckt haben, wie er von Tomasevskij und Sklovskij untersucht worden ist, während die Begriffe

78 Funktion und Fabel von Propp stammen.1 Dennoch sei hier noch einmal gesagt, dass die Ebenen (II), (III), und (IV) in einer Abstraktionshierarchie stehen (Segre 1980,100-107; Pavel 1973), wohingegen die meisten modernen Erzähltextforscher keine Zuordnung zu einem Generalisierungsgrad angeben wollen. Daran krankt letztlich bis heute der schillernde Begriff der Funktion. 3. Das Besondere des Theaters lässt sich am besten durch den Vergleich mit dem Narrativen bestimmen. Für Erzählwerke gilt folgendes Schema:

Sender-ICH

ER _ als erzählte Figur

ICH-Erzähler oder Figur

ICH-DU

Empfanger DU

Das Äußerungssubjekt wendet sich an den Empfanger (Leser oder Hörer), wobei die Vermittlung durch ein Erzähler-ICH oder das ICH einer Erzählerfigur (ICHFigur) geschieht; dieses ICH erzählt die Geschichten der Figuren in der 3. Person (ER). Die Aussagen der Personen in der 1. Person werden innerhalb des vom Äußerungssubjekt bzw. Sender produzierten Erzähltextes (als Figurenrede) berichtet. Im Bühnentext wird das wie unten stehende Schema zugrunde gelegt. Bei der szenischen Darstellung entfallt die Vermittlung durch das ErzählerICH oder die erzählende Figur (ICH-Figur). Der Text besteht modellgemäß aus den Aussagen der verschiedenen ICH-Figuren, die in diegetischer Form (erzähltes ER) eine Erzählung über die Ereignisse außerhalb der Bühne umfassen können. Das ICH ist mit anderen Worten dem ER übergeordnet, während umgekehrt in der Erzählung das ER dem ICH übergeordnet ist. Die Beziehung zwischen ICH-Figur und Empfanger-DU bleibt ausgeblendet, während in Fällen wie Prolog, Epilog, Chor oder Beiseitesprechen zwischen ICH-Figur und Empfänger-DU (Publikum) eine Direktbeziehung entstehen kann. Sender-ICH

ICH-Figur

„ erzähltes . ER

DU-Figur



Empfanger-DU

B. V. Tomasevskij ( 1 9 6 5 ) : „Thématique", [ 1 9 2 5 ] Théorie

de la littérature.

Revue

79 4. Von einer solchen Schematisierung des Bühnentextes ausgehend, muss es möglich sein, auch Schlüsse über die Realisierung von Erzählstrukturen zu ziehen. Mögliche Präzisierungen in dieser Richtung könnten uns Klarheit über die „Operatoren" bringen, die bei der szenischen Umsetzung einer Fabel wirksam werden (deren narrative Realisierung anders aussehen würde) oder neue Erkenntnisse über das Wesen von Fabel und Intrige liefern. An dieser Stelle können wir (vorbehaltlich späterer Präzisierungen) feststellen, dass sich in der Fabel keine Elemente ausmachen lassen, die auf eine szenische Umsetzung hindeuten oder eine solche vorankündigen könnte. Die Fabel ist eine Paraphrase in der 3. Person, die sich als Strukturbaum eines Satzes, natürlich mit der Möglichkeit weiterer Verzweigungen, schematisieren lässt. Andererseits kann man nicht behaupten, dass sich das Spezifische des Bühnentextes erst auf der Ebene des sprachlichen Diskurses bemerkbar macht, denn über die vielen Realisierungsmöglichkeiten für einen bestimmten Redeinhalt fallt schon vorgängig die Entscheidung, ob der ganze Inhalt als Rede oder mit Hilfe von nichtverbalen Kodes (Gestik, Kostüme, Bewegungsmuster, Bühnenbild, Musik, Geräusche usw.) ausgedrückt wird. Betrachten wir die beiden von mir entworfenen Schemata genauer, stellen wir ohne weiteres fest, dass sich ICH-Erzähler oder erzählende Figur (ICH-Figur) und erzähltes ER die Arbeit untereinander teilen, um Handlungen, aber auch Überlegungen, Motivationen oder sogar zu Berichtendes (in indirekter Form) unterzubringen. Direkte Rede tritt nur sparsam in Erscheinung, wenn eine Episode besonders lebendig berichtet werden soll. Im Bühnentext fehlt diese Art von Filter. Wir begegnen dort der N a c h a h m u n g von Wirklichkeit (Schauplätze, Gebärden, Geräusche, Schauspieler aus Fleisch und Blut usw.), ebenso Monologen und Dialogen mit doppelter Zielsetzung: kommunikative oder performative Funktion bei der szenischen Realisierung, explikative Funktion (bei Mitteilung von Motivationen, Gedanken und nicht-dargestellten Handlungen) in der Beziehung zum Empfanger-DU (Publikum). Die Verfahren, nach denen die Elemente des erzählten Handlungsverlaufs aufgeteilt werden, sind ähnlich jenen, die auf der Ebene der Intrige dazu dienen, die Inhaltseinheiten neu anzuordnen; um, durch eine solche Durchbrechung der logisch-kausalen und der zeitlichen Abfolge, bestimmte Wirkungen zu erzielen. Das Konstruktionsprinzip der Überordnung ICH-ER geht zurück auf eine umfassendere Entscheidung, die Frage der Machart. Zwischen den Extremen, nämlich dem .objektiven', womöglich a l l w i s s e n d e n ' und allgegenwärtigen Erzähler einer-

des formalistes russes, prés. et trad. par T. Todorov. Paris, 263-307 (russ. Original „Sjuzetnoe postroenie", Teorija literartury. Poetika. Moskva und Leningrad, 1929, 131-165); V. B. Sklovskij ( 2 1969): Theorie der Prosa. Hrsg. und aus dem Russ. übers, von G. Drohla. Frankfurt am Main 1966 (russ. Original '1925); vgl. ferner: Texte der russischen Forma-listen I. Hrsg. von J. Striedter. München 1969. 3-121 und 245-299; V. Propp (1975): Morphologie des Märchens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Zum Begriff der Funktion, ibid., 215-239 [d.Ü.].

80 seits und dem Dramatiker als Autor der pièce andererseits, in welchem nur die Schauspieler sprechen und scheinbar autonom ihre Gedanken und Gefühle bekunden, ist es ein weites Feld, das von der Erzählforschung vielfaltig untersucht worden ist, wohingegen bisher Gesamtdarstellungen über die Spielarten szenischer Umsetzung fehlen (im 20. Jahrhundert hat es davon mehr als genug gegeben). Soviel kann man festhalten, dass sich die Fabel unter Einsatz einer größeren Zahl von „Operatoren" als Intrige herausbildet, wobei ich „Aktualisatoren" des Inhalts, wie historische Situation, Publikumsgeschmack, Zweck der Aufführung usw., außen vor lassen möchte. Herausgreifen möchte ich hingegen im Besonderen zwei „Operatoren", die im Vorangegangenen bereits angedeutet wurden. Ich meine den perspektivischen Operator, der für die „Stimme" und die Modalitäten der Realisierung verantwortlich ist, sowie den szenischen Operator, der, sobald die Umsetzung in Richtung mimetische Darstellung feststeht, die Möglichkeiten der Spiel- und Sprechbarkeit absteckt. Es ist das Verdienst der russischen Formalisten, dass sie sich mit der künstlerischen Wirkung beschäftigt haben, die durch den Austausch von Inhaltseinheiten entsteht. Zu untersuchen bleibt jedoch bis heute der Zusammenhang zwischen dem Austausch von Inhaltseinheiten und der Darstellungsart, genauer gesagt, dem Wechsel und der Überschneidung der Perspektiven, aus denen die Ereignisse dargestellt werden. Nun können wir durch die Auseinandersetzung mit diesem Thema unter Berücksichtigung eines Grenzfalls wie dem des Theaters zu einer Zusammenführung der Forschungsbemühungen um die Intrige einerseits und der (in Amerika weiter fortgeschrittenen) Beschäftigung mit der Technik vom Point of view andererseits kommen. 2 Wir können also festhalten, dass „Theatralität" auf der Ebene der Intrige liegt. Versteht man Intrige im allgemeinsten Sinn des Wortes, so kann man sagen, dass die Umsetzung einer Fabel für die Darstellung auf der Bühne an absolute Vorgaben (Spiel- und Sprechbarkeit) ebenso wie an variable Faktoren (Aufführbarkeit innerhalb einer gegebenen Kultur und entsprechend den gegebenen Inszenierungsgewohnheiten) geknüpft ist. Aus diesen beiden Parametern ergibt sich: 1) die aktuale szenische Ausfuhrung von Handlungen, wie sie sonst mittels Dialog oder Monologen, Chorpartien usw. angekündigt oder beschrieben werden müssen; 2) die Darstellung bestimmter Situationen, die sonst usw. usw. Von diesen Vorgaben hängt also die quantitative Verteilung zwischen nichtsprachlichen und sprachlichen Zeichen ab. 5. Von solchen Parametern der szenischen Realisierung ausgehend können wir die Problematik der Intrige weiter vertiefen. Zunächst gilt, dass auf der Bühne die Handlung notwendigerweise von ,tätigen Figuren' vorangebracht wird, denn, wie Aristoteles schreibt: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe [...]. Nun geht es um Nachahmung

2

Vgl. Beitrag III. 2. in diesem Band.

81 von Handlung, und es wird von Handelnden gehandelt, die notwendigerweise wegen ihres Charakters und ihrer Erkenntnisfahigkeit eine bestimmte Beschaffenheit haben. (Es sind ja diese Gegebenheiten, auf Grund deren wir auch den Handlungen eine bestimmte Beschaffenheit zuschreiben, und infolge der Handlungen haben alle Menschen Glück oder Unglück.)" (Poetik, VI, 5). Ich brauche wohl an dieser Stelle die Behauptung Propps nicht weiter zu diskutieren, wonach Funktionen und nicht Personen das Erzählmodell bestimmen. Wir sprechen hier von der Intrige, und da können wir auf Propps Aussage zurückgreifen: „Sämtliche ,Prädikate' ergeben die Komposition der Märchen; sämtliche Subjekte, Objekte und weitere Satzteile bestimmen den Stoff (Propp 1975,113). Die ,tätige Figur' auf der Bühne bringt mit ihren nicht immer unterdrückten Motivationen die Handlung in ihren verschiedenen Stufen voran. Semiotisch ausgedrückt lässt sich mit Lotman formulieren: „Der Charakter einer Figur ist die Gesamtheit aller im Text gegebenen binären Oppositionen zu anderen Figuren (anderen Gruppen), die Gesamtheit aller Fälle, in denen sie in die Gruppen der übrigen Figuren einbezogen ist, d.h. er ist ein Satz distinktiver Merkmale. Charakter ist also ein Paradigma" (Lotman 1973, 376).

Diese Oppositionen werden bei der szenischen Umsetzung durch die häufig auch physische Art der Anordnung der Personen auf der Bühne zum Ausdruck gebracht. Somit liefern die Szenen zusammen genommen auch die Merkmale für die Bestimmung der Paradigmen. Eine solche Anordnung muss auch Konsequenzen für den Begriff der Intrige selbst haben. In der erzählerischen Rede können Gegen- und Miteinander der Figuren in absentia zum Ausdruck gebracht werden, während sie auf der Bühne selbst modellgemäß in praesentia zu beobachten sind, wodurch die Bewegungsabläufe der .tätigen Figuren' beeinflusst werden. Damit erhält die Formel von der ,Geometrie im Drama', mit der Ginestier (1961) ursprünglich nur Spannungsfelder zwischen .tätigen Figuren', dann aber auch deren räumliche Anordnung anspielungsreich beschreiben wollte, nicht bloß metaphorische, sondern eine ganz konkrete Bedeutung. Auf der Basis dieser Formel haben sich später andere, so Marcus und seine Schule (1970, Kap. VIII; 1975), mit dem Begriff der conflguration des personnages auseinandergesetzt; wobei es bei diesem Schlagwort nicht nur um Beziehungen zwischen einzelnen Figuren, sondern auch um ihre Gruppierungen auf der Bühne geht. Auf diesem Hintergrund wird eine Aussage von Tomasevskij zum Thema Intrige um so klarer, wenn er meint: „Die konträren Interessen, der Kampf zwischen den Personen werden von deren Anordnung in Gruppen begleitet, wobei jeder Person gegenüber den anderen eine spezifische Vorgehensweise zukommt. Für diesen Kampf steht der Name Intrige (der für die dramatische Textgattung spezifisch ist)" (Tomasevskij 1965, op. cit.). Damit ist für den Bühnentext praktisch ausnahmslos die zentrale Rolle der, tätigen Figuren' nachgewiesen, und zwar als Träger von Motivationen, Urheber von Rivalitäten und Bündnissen sowie Auslöser von Handlungen. Die szenische

82 Fiktionalität wirkt mit ihren realistischen Effekten' nur als Verstärkung der schon gegenüber der Erfindung der Intrige im Bühnentext kontextuell bezogenen Position: zumindest bei Bühnentexten mit überwiegend sprachlicher Ausgestaltung läuft alles darauf hinaus, dass das Gewicht (oder die Freiheit) bei der Inszenierung und der Regie hinsichtlich der Dosierung der beteiligten Werte eingeschränkt wird. 6. Durch die ,Geometrie im Drama', die Konfiguration despersonnages', werden unweigerlich Räume umrissen. Die Bühne ist ein realer, aber auch ein symbolischer Raum. In dem Maße, wie die Schauspieler in ihren Rollen, im Miteinander oder im Gegeneinander, aufeinander treffen, stecken sie den realen Raum, in welchem sie ihre Tätigkeit entfalten, als symbolischen Raum ab. An dieser Stelle wäre an Lotmans Überlegungen der Räumlichkeit als Organisationsprinzip zu erinnern: „Als Prinzip der Organisation und der Anordnung der Personen im künstlerischen Kontinuum erscheint die Struktur des Topos [... ] als Sprache, die die anderen, nichträumlichen Relationen des Textes ausdrückt. Damit hängt die besonders modellierende Funktion des künstlerischen Raumes im Text zusammen. Mit dem Begriff des künstlerischen Raumes wiederum hängt eng der Begriff der Intrige zusammen" (Lotman 1973, 3 4 7 348).

Lotman formuliert abstrakt und allgemein, was sich durch eine Reihe von empirischen Beobachtungen über Formen der Intrige, korreliert mit Möglichkeiten ihrer szenischen Umsetzung, konkretisieren ließe. Ich denke hier beispielsweise an eine Unterscheidung von Tomasevskij: statische Handlungen (in denen alle Bühnenfiguren sich an ein und demselben Ort zusammenfinden; und nicht zufällig kommen dort auch so viele Gasthäuser, Wirtsstuben u.ä. vor, in denen es zu unvorhergesehenen Begegnungen kommt) und bewegliche Handlungen (in denen die Figuren immer wieder ihren Ort wechseln, damit neue Begegnungen zustande kommen). 3 Diese Unterscheidung lässt sich noch weiter differenzieren: während die Grundsatzentscheidung zwischen beweglichen und statischen Handlungen auf der Bühne von Konventionen und szenischen Möglichkeiten bestimmt wird, muss eine bewegliche Handlung sich eher auf,Begegnungen' als auf .einen Wechsel der Platzierung' konzentrieren. Auch wenn es (nach dem, was ich von seinen Arbeiten kenne) nicht in der Absicht von Lotman liegt, das Theater förmlich zu definieren, glaube ich, dass in seiner topologischen Theorie implizit einige Grundelemente für eine solche Definition enthalten sind. Ich möchte hier besonders an sein Axiom erinnern: „Das Kunstwerk bildet in seiner Endlichkeit ein unendliches Objekt ab" (1973, 327); daraus folgen Überlegungen zum Endlichen als Abbild des Unendlichen, zur Episode als Fragment des Ganzen, ebenso die Opposition zwischen mythologischem Text (welcher „ein ganzes Universum simuliert") und dem fabulierendem Text („der einige Episoden der äußeren Welt darstellt"). Nur im Theater gibt es keine solche Trennung

3

Vgl. Tomaäevskij 1965, op. cit.

83 zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen dem Fabulistischen und dem Mythologischen. Es gibt nur die Abmessungen der Bühne, die eine Grenze vorgeben: sie erhält die Aufgabe, immer wieder neu einen bestimmten Ausschnitt des Raums, der Wirklichkeit, zu symbolisieren und die Dauer einer Episode, ein Fabelfragment, zu beherbergen. Man berührt damit ein konstitutives Merkmal des Theaters; es wird Aufgabe einer künftigen historischen Semiotik sein, zu zeigen, wie das Theater sich in unterschiedlicher Weise der Unendlichkeit der Erfindung und dem Mythologischen hat öffnen können. Kommen wir jetzt zu einem zweiten Axiom von Lotman (1973, 350): „Ein Ereignis in einem Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze des semantischen Feldes hinaus". Halten wir einstweilen fest, mit welcher symbolischen Dichte eine solche Grenzüberschreitung auf der Bühne erfolgt: der Schauspieler, der eine Figur symbolisiert, bewegt sich in einem realen Raum (Bühne), der einen anderen Raum symbolisiert, und er wechselt von einem semantischen Feld zu einem anderen zu einem konventionell festgelegten Zeitpunkt, der dadurch seinerseits symbolisch ist. Die einzige hier denkbare Analogie ist der Ritus. Noch bemerkenswerter sind aber auch die damit zusammenhängenden Folgen für die Intrige. Lotman unterscheidet deutlich zwischen „sujetlosen" und „sujethaltigen" Texten (1973, 355). Sujetlose Texte [ohne Intrige] bestätigen die „Ordnung" eines bestimmten Wirklichkeitsmodells. In der Struktur des sujetlosen Grundtypus ist den Figuren das Überschreiten der Grenze untersagt. „Sujetbewegung" oder ,Ereignis' bedeutet in sujethaltigen Texten so viel wie das Überqueren jener Verbotsgrenze, die von der sujetlosen Struktur bestätigt wird. Anders gesagt: „Das Sujet ist im Verhältnis zum .Weltbild' ein revolutionäres Element. [...] Das Sujet kann [... ] immer zu einer Grundepisode kontrahiert werden - dem Überqueren der grundlegenden topologischen Grenze in seiner räumlichen Struktur" (1973, 357).

Aus diesen Thesen von Lotman lassen sich meines Erachtens folgende Schlüsse für eine Definition von Bühnentext ziehen: 1) Der Bühnentext will die,Hauptepisoden' präsent werden lassen: die Unmittelbarkeit der gesehenen oder gehörten Handlung lässt nur ausnahmsweise indirekte Mitteilungen und Anspielungen zu. 2) So wie die Redezüge der Figuren deren Motivationen in sich aufsaugen und die Handlung schließlich eins wird mit dem Ereignis, so haben Gestik und Wort eine wesentlich höhere pragmatische Expressivität als im Erzähltext. 3) Die Räume werden so gestaltet, dass sie, unabsichtlich oder durch gewollten Kontrast, die Grenzen der semantischen Räume markieren. 7. Bisher konnte der Anschein entstehen, als ginge es immer nur um die Ebene der Intrige. Daran kommen einem Zweifel angesichts einer scharfsinnigen Bemerkung Tomasevskijs. Danach lässt es die begrenzte Dauer des Schauspiels (2-3 Stunden) nicht zu, dass längere Sequenzen von Tatsachen eingebaut werden: würde der Autor dennoch allzu dichte Faktenbündel hineinpacken, würde er damit den Zeitablauf des aufzuführenden Bühnenstücks ,zersplittern', und die Ereignisse

84 könnten sich nicht gemäß ihrer natürlichen Langsamkeit entfalten. Andererseits würde aber auch eine einzige durchgängige Linie vom Typ der Fabel das Tempo verzögern und die Aufmerksamkeit des Zuschauers erlahmen lassen. Damit das Spiel auf der Bühne mit Handlung gefüllt ist, wird ein Erzählstrang oder werden mehrere parallele Erzählstränge, man könnte auch sagen, mehrere parallele Intrigen eingeführt. Während innerhalb des einen Erzählstrangs das nachfolgende Ereignis vorbereitet' wird, bläht sich die Handlung durch die Ereignisse einer anderen Intrige auf. Die Struktur des Bühnenstücks beruht also nicht immer auf dem bloßen Abspulen der Motive, sondern sie entsteht häufig auch aus der mehrspurigen Verarbeitung einer komplexen Fabel (vgl. Tomasevskij 1965): Die Hypothese, dass ein Text, weil er nicht ein so langes Erzählsegment innerhalb einer so kurzen Zeit auf der Bühne realisieren kann, dazu übergeht, kürzere Segmente im Sinne der Synchronie übereinander zu lagern, erscheint mir ohne weiteres akzeptabel. Ich glaube jedoch nicht, dass man von einer Verknüpfung von zwei (oder mehr) Fabeln sprechen kann. Eine Fabel wird immer als dominant dargestellt, während die andere oder die anderen als Kontrapunkt, zur Illustration oder Ergänzung dienen. Bleibt man im Modell eines Strukturbaums, wäre die zweite Fabel in den Verzweigungen (branches) der ersten eingenistet, sei es im Sinne eines Gegensatzes, eines Kompromisses oder eines Vergleichs. Die Beobachtung von Tomasesvskij ist allemal von unschätzbarem Wert. Dass auf der Bühne Sprache und Handlungen eine besonders hohe ,Dichte' aufweisen, ist nicht von der Hand zu weisen. Eine Ballung der Kräfte hätte eine untragbare Überlastung einer monolinearen Intrige zur Folge, während bei der Plurilinearität einer Intrige aus mehreren Stufen eher ein Ausbalancieren möglich ist. Auch wenn wir also nicht bis zur Ebene der Fabel herabsteigen müssen, so erkennen wir doch eine wichtige (weitverbreitete, vielleicht auch invariante) Eigenschaft der Intrige im Bühnenstück. Analoge Bemerkungen lassen sich, wenn auch vorerst tentativ, zur Zeit der Handlung machen. Wie uns die Einheit von Zeit und Ort als aristotelische Erfindung überliefert worden ist, so steht außer Zweifel, dass das Bühnenstück im allgemeinen eine Disharmonie der Zeit vermeidet. Die Dauer der dargestellten Ereignisse stimmt mit der Dauer der Aufführung überein; deshalb darf um der Kompaktheit der Intrige willen nicht zu viel Zeit für die nicht dargestellten Ereignisse, wie sie in den Pausen als Übergänge vorkommen, veranschlagt werden. Es liegt also auf der Hand, dass die Einflechtung parallel verlaufender Intrigen sozusagen einer Verdoppelung oder Verdreifachung der verfügbaren Zeit im Theater gleichkäme. Es wird daher ein durchgängig akzeleriertes Universum geschaffen, in welchem die Ereignisse nicht nur, was die Haupthandlung angeht, sondern alle damit zusammenhängenden Nebenhandlungen, ,überstürzt' ablaufen. Daraus lassen sich zwei weitere Eigenschaften der szenischen Darstellung ableiten: die Kontraktion und die Akzeleration. 8. Die beobachteten Phänomene stehen zusammen genommen auf der Ebene der Intrige. Mochten sie auch, wie im vorigen Abschnitt deutlich geworden ist, zunächst als Charakteristika der Fabel erscheinen, lassen sie sich nunmehr als spezifische Entwicklungen der Intrige verstehen. Aber die Frage des Verhältnisses zwischen

85 Intrige und Fabel ist zu interessant, als dass ich darüber hinweggehen dürfte, selbst auf die Gefahr hin, dass damit die Probleme der szenischen Umsetzung, von denen wir ausgegangen sind, etwas aus dem Blick geraten. Ich will einige theoretische Überlegungen an eine bereits erwähnte Kernaussage von Lotman knüpfen: „Ein Ereignis in einem Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze des semantischen Feldes hinaus" (1973, 350). Schon Lotman macht darauf aufmerksam, dass die semantischen Felder von unterschiedlicher Ausdehnung und ganz verschiedener Bedeutung sind, obgleich ihre Strukturen zu einem eindeutig ideologisierten System gehören und durch den Kulturtyp definiert sind; er weist auch daraufhin, dass die „Überquerungen von einem semantischen Feld zum anderen" je nach dem Maßstab, den man anlegt, als wesentlich oder weniger wesentlich anzusehen sind. Wichtiger noch erscheinen mir hier andere Aussagen von Lotman: „[...] da aber mit der allgemeinen semantischen Geordnetheit des Textes auch lokale [Kulturebenen] vorhanden sind, deren jede ihre begriffliche Grenze hat, kann ein Ereignis als Hierarchie von Ereignissen speziellerer Ebenen realisiert werden, als Kette von Ereignissen, als Sujet. In diesem Sinn kann das, was auf der Ebene des Kulturtextes ein Ereignis darstellt, in dem einen oder anderen realen Text zum Sujet entfaltet sein. Dabei kann ein und dasselbe invariante Konstrukt eines Ereignisses auf verschiedenen Ebenen zu einer Reihe von Sujets entfaltet werden. Während es auf der höchsten Ebene ein Glied eines Sujets darstellt, kann es die Zahl seiner Glieder variieren, je nachdem, auf welcher Ebene es zum Sujet entfaltet wird" (Lotman 1973, 350-351).

Die Formulierung von Lotman scheint mir (und vielleicht ist sie tatsächlich) eine Anlehnung an die Hjelmslevsche Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation zu sein: was auf einer Ebene Ereignis ist, kann sich auf einer anderen als Mehrzahl von Ereignissen, das heißt als Intrige, darstellen, so wie das, was auf der einen Ebene als denotativ erscheint, auf einer anderen konnotativ sein kann. So scheint es, dass man die Fabel auf einer eher synthetischen, die Intrige auf einer eher analytischen Stufe ansiedeln kann. Angesichts eines solch flexiblen und „offenen" Begriffssystems von Lotman sollte man die Diskussion noch lange nicht als abgeschlossen betrachten. Im Mittelpunkt der Diskussion muss zweifellos die Differenzierung nach Strukturmerkmalen stehen. Denn nur auf der Basis solcher werkimmanenter Systematisierungskriterien, die aus der Struktur des Bühnentextes und seiner Teile abgeleitet werden, lassen sich mehrere analytische und eine synthetische Ebene bestimmen. Andererseits lassen sich aber auch werkextern abgeleitete Systematisierungskriterien ansetzen. Mindestens möchte ich hier drei Unterscheidungsmerkmale anführen: Synchronie, Diachronie und achronische Systematizität. Das Merkmal Synchronie wird aus dem Vergleich zwischen Texten aus derselben Zeit zusammen mit den topologischen Gegebenheiten einer bestimmten Gesellschaft abgeleitet. Anhand dieses Kriteriums wird die Dominanz eines semantischen Feldes gegenüber einem anderen und darüber hinaus die ganze Hierarchie der semantischen Felder bestimmt, wobei auf die in den Texten viel diffuser vorliegenden Eigen-

86 Schäften und die durch sie ausgedrückte Kultur zurückgegriffen wird. Für das Kriterium Diachronie sind volkskundliche und literarische Traditionen maßgeblich; sie liefern die Quellen für Stoff und Motive, wobei jedes Element einen Block für sich bildet, der keinen Kommutationsproben unterzogen werden kann, weil jeder Block als historische Konkretion zusammengeschmolzen ist. In diesem Zusammenhang wäre eine funktionale Analyse verfehlt. Was das Kriterium der achronischen Systematizität angeht, so geht es schließlich um die Bestimmung von Elementen und Kräften größtmöglicher Allgemeinheit sowie universeller Gültigkeit jenseits der Subjektivität von Sendern und Rezipienten der verschiedenen Texte. Durch eine solche Systematisierung entsteht ein Anknüpfungspunkt zu zwei bisher von mir vernachlässigten Forschungsrichtungen: die thematisch orientierte Narratologie und die Analyse der Erzählmodelle. Obgleich ich immer noch zu viele Bedenken habe, um mich mit den Erzählmodellen zu beschäftigen, die jedenfalls das Raster abgeben müssten, auf dem die anderen Erzählstrukturen beruhen, glaube ich, hier wenigstens einige vorläufige Bemerkungen zur Fabel machen zu dürfen. Das Thema (Erzählgegenstand) ist genau so wie eine Fabel konzipiert: er besteht aus einer Reihe von Ereignissen, die sich als Satzverbände ausdrücken lassen. Die Verknüpfung zwischen diesen Sätzen ist nicht oder wenigstens nicht ausschließlich logischer Art, sondern probabilistischer oder konventioneller Natur. Dabei spielen Begriffe wie Präsupposition und Implikation eine Rolle, jedoch mit einschränkenden Klauseln wie ,x gilt f ü r ' : eine bestimmte Kultur, unter Zugrundeliegen bestimmter Konventionen, innerhalb eines bestimmten Wirklichkeitsmodells. Auch die Motive in ihrem präfunktionalistischen Verständnis sind Ereignisse (oder Archetypen von Ereignissen), die in Handlungsketten, Intrigen oder Fabeln eingehen können. Der Erzähler - im weitesten Sinn des Wortes - hat es beim Bau seiner Fabel mit Motiven und Gegenständen zu tun. Zugegeben, die Struktur der Fabel hat am Ende ihre Eigenständigkeit und ihre eigene Stringenz, aber dennoch schimmern darin Spuren von nicht oder kaum strukturiertem Material (Stoff) durch. So ist jede Fabel das Ergebnis einer Interferenz. Die Bauweise einer Fabel besteht nicht in einer ihr innewohnenden Kohärenz. So abstrakt wie ein Konstrukt ist die Fabel zugleich die Verschmelzung zweier Systeme mit Implikationen und Präsuppositionen: einem logischen System und einem zweiten System aus Normen und literaturgeschichtlichen Konventionen. Die Modelle, an die wir damit anknüpfen, sind Modelle der kritischen Lektüre, denn genau im Laufe dieser Lektüre wird die Verknüpfung von synchronischem und diachronischem System erfasst und eben dadurch auch die Dialektik von historischen Impulsen und Kräften der strukturellen Verdichtung, von Zeit und Simultaneität.

87 Literatur Aristoteles: Poetik. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von M. Fuhrmann. - Stuttgart: Reclam 1982. Ginestier, P. (1961): Le théâtre contemporain dans le monde. - Paris: Presses Universitaires de France. Helbo, A. (ed.) (1975): Sémiologie de la représentation. - Bruxelles: Complexe. Lotman, J. M. (1973): Die Struktur des künstlerischen Textes. Hg. mit einem Nachwort und einem Register von R. Gräbel. Übersetzt von R. Gräbel, W. Kroll und H.-E. Seidel Frankfurt am Main: Suhrkamp (russ. Original 1970). Marcus, S. (1970): Poetica matematica. - Bukarest: Ed. Academiei Rep. Soc. Romania. Marcus, S. (1975): „Stratégie des personnages dramatiques". - Helbo 1975, 73-89. Pavel, T. G. (1973): „Phèdre. Outline of a Narrative Grammar". - Language Sciences 28, 1-6. Pérez Gállego, C. (1975): „Dentro-fiiera y presente-ausente en el teatro". - In: Diez Borque, J. M., J. Garcia Lorenzo (eds.): Semiologia del teatro. Barcelona: Planeta, 167-191. Propp, V. (1975): Morphologie des Märchens. Hg. von K. Eimermacher u. übers, v. Ch. Wendt. - Frankfurt am Main: Suhrkamp '1972 (russ. Original 1928). Segre, C.: „Erzählforschung, narrative Logik und Zeit". - Literarische Semiotik. Dichtung, Zeichen, Geschichte. Hg. von H. Stammerjohann, übers, v. K. Henschelmann Stuttgart: Klett-Cotta 1980, 73-136. Tomaäesvskij, B. (1965): Théorie de la littérature. [1928] Textes des formalistes russes. Paris 1965 (russ. Original: Teorija literatury. Poetika. Leningrad: Academia 1928). Ubersfeld, A. (1974): Le Roi et le Bouffon. - Paris : Corti. - (1978) : Lire le théâtre. - Paris : Editions sociales.

3. Shakespeare und das Spiel en abyme

0. Wer sich mit dem Theater im Theater beschäftigen will, muss bei Shakespeare anfangen. Er hat die bedeutendsten Beispiele für das Verfahren der mise en abyme hervorgebracht, an dessen Facettenreichtum seine ständige Weiterentwicklung zu erkennen ist. Ich möchte mich hier auf drei Komödien und eine Tragödie beziehen, die zwischen 1592 und 1601 geschrieben wurden und die sich für eine mehr als ergiebige Fallsammlung eignen: Der Widerspenstigen Zähmung (The Taming of the Shrew), Liebes Leid und Lust (Love 's Labour 's Lost) (V, 2), Ein Sommernachtstraum (A Midsummer Night's Dream) (V, 1) und Hamlet, Prinz von Dänemark (Hamlet) (III, 2). 1 Ich will in diesem Beitrag weder eine Geschichte dieser Technik schreiben (zu deren wichtigsten Vorläufern Die spanische Tragödie {The Spanish Tragedy) von Kyd gehört) 2 noch regelrechte Shakespeare-Forschung leisten. Vielmehr denke ich an eine Form der Beschreibung, die mit den nötigen Anpassungen vielleicht auf andere Beispiele des Theaters im Theater angewendet werden kann.

1

2

Die Abkürzung der Titel entspricht im folgenden den deutschen Anfangsbuchstaben der Bühnenwerke: WZ, LLL, ST und H. Die Zitate aus den Komödien stammen aus der Schlegel-Tieck-Übersetzung. Vgl. Shakespeare. Sämtliche Werke, Bd. I, Komödien. Hrsg. von E. Löwenthal und übers, von A. W. Schlegel und L.Tieck. 5. Aufl. Heidelberg: Lambert Schneider 1987 [d.Ü.]. Auf LLL beziehe ich mich hier, weil dieses Stück, was den Umgang mit dem Spiel en abyme angeht, viele Gemeinsamkeiten mit den anderen Komödien hat. Allerdings ist das eingebettete Spiel bei LLL nicht einmal ein embryonales Drama, sondern eine bloße Abfolge von Tiraden - jedenfalls bis der Auftritt der neun Helden nach dem vierten unterbrochen wird. Ohne die vielen Arbeiten aufzuführen, die es schon über das „Theater im Theater" bei Shakespeare gibt und deren Ansatz anders ist als meiner, beschränke ich mich hier statt eines Literaturvergleichnisses auf folgende Hinweise: Nelson, R. J. (1958): Play within a Play. The Dramatist's Conception ofhis Art'. Shakespeare to Anouilh. New Häven: Yale University Press, 11—46; Iser, W. (1961): „Das Spiel im Spiel. Formen dramatischer Illusion bei Shakespeare", Archiv für das Studium der neueren Sprachen 198, 209-226. Eine Anspielung darauf findet sich in der „Einleitung" von WZ.

90 1. Ein Modell von der szenischen Kommunikation im klassischen Theater (bis zum 20. Jh. ausschließlich) könnte so aussehen: ICH

Die explizite und programmgemäße Kommunikation der Schauspieler auf der Bühne ergibt eine nichtexplizite Kommunikation zwischen Sender (dem Autor) und Empfänger (dem Theaterpublikum).3 Die explizite Kommunikation, die Summe der Redezüge als Teile der dialogischen Rede (ICH-DU), liefert einen großen Teil der Intrige, ergänzt durch Gestik und Betätigungen. Die Teile der narrativen Diegese in der 3. Person (ER) sind in die Dialogpartien eingeschoben, um die bühnenexternen Ereignisse und solche, die vor der Bühnenhandlung liegen, mitzuteilen. Auf die Technik des Theaters im Theater (genauer gesagt, „Theater auf dem Theater" oder „Spiel en abyme")4 angewendet, verändert sich das Modell folgendermaßen: ICH

Die Kommunikation im inneren Kasten des Schemas ähnelt der normalen szenischen Kommunikation (weiter unten werden wir noch die Unterschiede im einzelnen sehen). Aber diese Kommunikation stellt ihrerseits eine (indirekte, weil metonymisch oder metaphorisch anspielungsreiche) Kommunikation zwischen einer und einer oder mehreren anderen Personen dar. Dabei sind im allgemeinen auch Personen gegenwärtig, die nicht direkt in der dialogischen Rede angesprochen werden und für die Kommunikation so viel wie Ereignis ist. In dem Maße, wie der innere Kasten einen diegetischen Inhalt hat, ähnelt er dem ER des ersten Modells: es ist die Inszenierung eines narrativen Diskurses.

3 4

Vgl. Beitrag II. 1. in diesem Band. Vgl. Beitrag II. 4. in diesem Band.

91 Das Bauprinzip dieses Schemas ist von der Art, dass in den ersten, äußeren Kasten ein zweiter, innerer Kasten als szenische Ebene eingebaut ist: daraus entsteht eine Verbindung, die sonst zwischen dem realen Publikum und der Bühne, die durch eine ideale (und konventionelle) Rampe voneinander getrennt sind, nicht existiert. 1.2. Ausgehend vom Modell eines Kastens im Kasten kann man von der Einbettung eines Spiels, in ein Spiel2 sprechen. Bei Shakespeare wird das „Theater im Theater" stilistisch unterschieden. In LLL, ST und H ist Spiel 2 durch die Mischung von szenischer Konventionalität und natürlicher Sprechweise gekennzeichnet. Daraus ergibt sich folgende dreistufige Verteilung: Natürlichkeit Konventionalität

bühnenexteme Ereignisse + -

Spiel, +

Spiel 2 + -

Anders der Fall von WZ, wo sich die Ebenen genau umkehren: 5 Natürlichkeit Konventionalität

bühnenexterne Ereignisse + -

Spiel, ± ±

Spiel 2 +

Stellen wir uns eine Hierarchie von Stilebenen vor und nennen das Spiel im gemischten Stil Spiel b und das Spiel im normalen Stil Spiel a , so können wir sagen, dass in LLL, ST und H Spiel, mit Spiel b bzw. Spiel 2 mit Spiel a zusammenfällt, während in WZ Spiel, und Spiel b bzw. Spiel 2 und Spiel b zusammenfallen. Wir sehen also, dass wir das Verfahren der mise en abyme sowohl als Technik von der Einbettung eines Spiels in das andere als auch nach dem hierarchischen Prinzip der Über-AJnterordnung analysieren müssen. Zur deutlicheren Unterscheidung dieser beiden Vorgehens weisen bei der Analyse der mise en abyme bietet sich als weiteres Beschreibungskriterium, das der „Welten" an. Ein Bühnenstück ist ein Modell von Welt. Spiel b kann demnach nichts anderes als ein Modell von Spiela sein, das für es die Welt ist. Eben deswegen ist diese Art der Modellierung, für sich allein linear angewendet, wie Shakespeare selbst betont (vgl. 2.2.), unvollständig. In WZ besteht das System zur Modellierung der Welt in dem eingebetteten Spiel (Spiel 2 ), während das andere, einbettende Spiel (Spiel,) nur eine Vorbereitung daraufist. Welche Auswirkungen die jeweilige Analyse der beiden Spiele hat, wird sich in 3.2. zeigen.

5

In Wirklichkeit enthält W Z drei Typen von Spiel, da die „Einleitung" eine Posse u m Schlau enthält, die wie eine kleine Komödie (mit Schlau als unwissentlichem Schauspieler) aufgeführt wird. Das heißt, die Einleitung teilt sich in Spiel, a und Spiel 2b , während die ganze Einleitung gegenüber dem eigentlichen Text, Spiel 2a , als Spiel, fungiert.

92 2.0. Als nächstes geht es darum, die Beziehungen zwischen Spiel b und Spiel 2 mit der Handlung, den ,tätigen Figuren' und dem Wirklichkeitsmodell hinsichtlich ihrer Funktionen zu beschreiben. 2.1. Beziehungen mit der szenischen Handlung. Die Tatsache, dass Spielb per definitionem einen Sender und einen Empfänger hat, bedeutet, dass dieses seinerseits eine pragmatische Funktion hat: es ist eine Handlung. Während es sich in LLL in der Empfangsszene für die Prinzessin von Frankreich am Hofe von Navarra erschöpft, muss es in H als Szene der Aufklärung dienen, in der die Wahrheit, die Hamlet dunkel ahnt und vor der er sich furchtet, ans Licht kommt („Das Schauspiel ist die Schlinge, in die den König sein Gewissen bringe", II, 2); in WZ soll Spielb den herumtorkelnden Schlau aufheitern, während es in Wirklichkeit diesem und durch ihn auch den Zuschauern eine gehörige Lektion erteilt; in ST ist es ein heiteres Spiel am Hofe, mit dem Theseus Hippolyta die Zeit bis zur Hochzeit vertreibt. Auch inhaltlich gesprochen verhalten sich Spielaund Spielb oftmals komplementär zueinander: Spielb beruht auf einer mise en abyme des einbettenden Spiels, es ist ein Spiel en abyme. In ST überträgt Spielb die in Spiela ausgestellte Handlung um Lysander und Hermia auf die Tragödie von Pyramus und Thisbe, wodurch die Wahrnehmung des Euphorischen vor dem Hintergrund des Dysphorischen besonders stark gemacht wird;6 in H ist es eine stilisierte Montage der Beweise, die Hamlet über die Ermordung und Ablösung seines Vaters gesammelt hat;7 in LLL spielen die Schwurgenossen scherzhaft auf die strengen Sittengesetze des Königs von Navarra und seiner Gefolgsleute an, die sofort vergessen werden, als die Prinzessin am Hofe erscheint (so wie einige dieser „Helden" von Amor besiegt und gedemütigt worden waren: I, 2; IV, 3);8 in WZ ist die Kommunikation subtiler und eher intellektueller Art, da sie sich um das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Fiktion, genauer gesagt, um den Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Traum dreht (man denke an Petruchio, wie er Katharina, diese gnadenlos auf harte Proben stellend, wiederholt zwingt, ihren Trotz zurückzunehmen und sich der Wahrheit zu stellen).

6

7

8

Die Spiel a und Spiel b gemeinsame Handlung ist: Gefahr für das Liebespaar - Flucht an einen wilden Ort - nächtlicher Verlust des Geliebten - tatsächliche oder vorgetäuschte Ermordung. Ich weise auch darauf hin, dass Hamlet sich schon in einem früheren Akt (II, 2) die Ermordung des Priamus durch Pyrrhus von Schauspielern vorspielen lässt. Und in der Tat schließt Pompeius damit, dass er die Waffen der Prinzessen zu Füßen legt. Aber am Ende wird der Streit zwischen Winter und Frühling wieder aufgegriffen, indem die Anspielungen auf die kurze Dauer weiblicher Liebe ironische Zweifel an der Wahrscheinlichkeit aufkommen lässt, dass die vier Damen zur Verabredung in zwölf Monaten noch für ihre Verehrer verfügbar sind.

93 2.2. In der Tat ist nur Spiela ein eigenständiger Chronotopos9, während Spiel b ein parasitärer und heteronomer Chronotopos ist. Daraus ergeben sich, zumindest in bezug auf Shakespeare, zwei Merkmale. Das erste ist die Unvollständigkeit. Die Spiele werden von verschiedenen Ereignissen unterbrochen, bevor sie zu ihrem Ende kommen können.10 Besonders interessant ist dabei vielleicht auch die innere Unvollständigkeit, zum Beispiel in ST, wo die einzelnen Proben zu Spielb (III, 1) Teile enthalten, die bei der szenischen Realisierung ausgelassen werden (V, 1). Das zweite Merkmal ist die zeitliche Diskontinuität. Einerseits werden Ereignisse in der Anfangsszene (ST) oder einer Eröffnungspantomime (H) vorweggenommen; 11 andererseits beschleunigen Hamlets Ausrufe, während die Schauspielertruppe auftritt, gewissermaßen deren Auflösung. Man könnte das Spielb (mit Ausnahme von WZ) sogar undialogisch nennen, insofern es sich fast genau auf eine Abfolge von Dialogpartien, eigentlich Monologe, beschränkt. Das bestätigt und unterstreicht die Botschaft der Spieleb, die deshalb nicht auf eigenständige Entwicklungen der ihnen innewohnenden Dramatik angelegt sind. Das einfache Modell von der mise ert abyme im Theater kann somit wie folgt modifiziert werden: ICH

ICH

—ICH

~ *-

DU

DU DU

ICH

t

DU

3.1. Was die Beziehungen mit den Figuren anbelangt, wird die szenische Umsetzung von Spielb immer auf der Bühne explizit gemacht. Man zeigt die Ankunft der Schauspieler (WZ, H), die Verteilung der Rollen an Parallelfiguren, die im allgemeinen von niedrigem Bildungsstand und schlichtem Gemüt sind (LLL, ST), und man lässt die Zuschauer sogar bei den Proben und anderen Vorbereitungen für die

9 10

11

Im Sinne von Bachtin, vgl. Beiträge I. 3. und III. 9. in diesem Band. In LLL wird das Spiel durch die Ankunft von Biron und des tölpelhaften Schädel mit seinen Enthüllungen über Armado (vgl. 4.3.) unterbrochen; von den im Titel genannten neun Helden kommen nur vier zu Wort. In ST wird es durch Theseus unterbrochen, der verhindert, dass der Epilog aufgesagt wird; in H dadurch, dass der König plötzlich aufsteht und sich entfernt. Seltsamerweise reagiert der König nicht auf die Pantomime, die seine Verbrechen so anschaulich macht wie Worte. Ob damit die größere Aussagekraft der Sprache gepriesen werden soll?

94 Aufführung bei Nebenrollen dabei sein (ST, H). Es lohnt sich, die Grenze nachzuzeichnen, die zwischen Spiel a und Spiel b besteht, und auf die Art von Fiktionalität (eigentlich die nur ungefähr erkennbare Gespieltheit) in den Äußerungen der Schauspieler bei ihrem Auftritt auf der Bühne hinzuweisen, wofür die Mechanismen herausgearbeitet worden sind. Die Fiktionalität wird durch die poetologischen Aussagen betont, die vor oder nach Spiel b durch Figuren aus Spiel a gemacht werden. Man denke hier an die Anweisungen Hamlets an die Schauspieler (III, 2), des Lords an die Komödianten und den Pagen (in WZ Prolog) sowie von Zettel an die „Rüpel" (in S T IV, 2). Es ist sogar Hamlet selbst, der vor Spiel b das Paradox ausspielt, dass der Schauspieler Gefühle auszudrücken weiß, die er nicht stärker empfindet, als wie er selbst, Hamlet, diejenigen, furchtbaren, auszudrücken weiß, die er empfindet (II, 2). Was die Grenzen zwischen Spiel a und Spiel b angeht, so ist es symptomatisch, dass bei Shakespeare die Spiele b immer einen Rückgriff auf ältere Formen von Theater darstellen, wie nach einer Gleichung: Vergangenheit = Fantasie = Traum, dagegen Gegenwart = Wirklichkeit. Die Antiquiertheit der Spiele b wird durch ein parodistisches Moment verstärkt, das schon in der bewussten Darbietung eines antiquierten Textes liegt, aber mitunter durch die Schwäche des Autors betont und diejenige der Schauspieler verstärkt wird (auffällig in ST und LLL, auch angedeutet im Spiel b , der Anfangsszene in WZ, während in H nur eine gewisse Leere hallt). 3.2. Die Funktion der Figuren von Spiel 2 bedarf der Präzisierung. Haben wir in jedem Bühnenstück das Schema: Schauspieler

—*-

Figur

so sieht das Schema für Spiel 2 folgendermaßen aus: (Schauspieler-A)

— Figur-A

I

Schauspicler-B



Figur-B

Die Figur in Spielj, die natürlich ein Schauspieler ist, sich aber nicht als solcher zu erkennen gibt, präsentiert sich auch als Schauspieler - oder wird als solcher präsentiert - , um eine andere Bühnenfigur darzustellen. Entscheidend ist, dass die Verwandlung von Figur A in den Schauspieler B und dann in Figur B vor den Augen der Zuschauer stattfindet. In diesem Punkt unterscheidet sich WZ deutlich von den anderen Stücken, denn in WZ wird dadurch, dass sich die Beziehung der Einbettung mit der hierarchischen Beziehung kreuzt, gerade das Spiel a in seiner Eigenschaft als szenisches Ereignis „aufgedeckt": die Künstlichkeit und die Konventionalität bei der Darstellung auf der Bühne wird darin offengelegt und sogar verstärkt. In den anderen Fällen hingegen kann die Sichtbarmachung der Mechanismen von Spiel b zur Folge haben, dass Spiel a , in das es eingebettet ist, im Unterschied zur szenischen Kommunikation als natürlich erscheint.

95 3.3. Bei der Explizitmachung der Funktion der auftretenden Figuren kommt es zu einem hohen Maß an Metakommunikation. Der Dreh- und Angelpunkt der Metakommunikation kann entweder bei den Figuren in Spiel2 liegen, so dass die Beziehung A-Figur -> B-Schauspieler -» B-Figur offengelegt wird, oder bei den Zuschauern, also den Figuren in Spiel,. Den ersten Fall haben wir in LLL und ST mit Äußerungen a) über die hierarchische Überordnung von Figur B über Figur A;12 b) über den Inhalt und die Länge der Redezüge; 13 c) über die Bühnentricks; 14 d) über die Performance selbst.15 Im zweiten Fall geht es um die Kommentare der Zuschauer (Figuren in Spiel,), die kommen, um mit den B-Figuren zu diskutieren, sei es mit ihnen als solchen, sei es in ihrer „Realität" als A-Figuren. In Hamlet kommt ein Maximum an Metakommunikation zusammen. Denn er ist nicht nur Adressat und Koautor von Spiel2, sondern er übernimmt auch die Funktion des Chors (wie Ophelia bemerkt) sowie der erklärenden Figur und fordert die Schauspieler auf, schneller zu den entscheidenden Schlüssen zu kommen. 4.1. Beziehungen zur Wirklichkeit. Allein, die Art und Weise, wie Spiel., in Spiel, eingebettet wird, unterstreicht dessen Fiktionalität. 16 Mitunter wird die Opposition Fiktion/Wirklichkeit explizit gemacht, so im Dialog zwischen dem König und Hamlet, wo dieser sagt: „Sie spaßen nur, vergiften im Spaß". Der fiktionale Charakter kommt natürlich am besten zur Geltung, wenn die Wirklichkeit in spiegelbildlicher Umkehrung erscheint. 17 Die Äußerung von Hamlet ist ironisch gemeint, weil die Fiktion in H gerade dazu dient, um Wirklichkeit metonymisch zu entlarven; in WZ und ST dient sie dazu, die mit der Opposition Traum / Bewusstsein verwandte Opposition Traum / Wachen zu verstärken. Fiktion und Wirklichkeit können sich entweder spiegelbildlich zueinander verhalten oder die eine kann gegen die andere vertauscht werden. 18

12

13 14 15 16 17 18

ST, V, 1, wo die Wand sagt, sie sei Schnauz, der Löwe, er sei Schnock usw.; ebenso LLL, V, 2, wo Schädel als Pompeius auftritt. Symptomatisch ist in LLL auch das Geplänkel zwischen Biron und Holofernes um das Wort ,Kopf': einen Kopf haben; den Kopf waschen; den Kopf verdrehen den Kopf zurecht setzen, den Kopf verlieren usw. In ST, V, 1 und LLL V, 2 sagen es die Schauspieler, wenn sie ihren Auftritt verpatzt haben, wenn ihr Redezug fertig ist oder kündigen dem nächsten sein Stichwort an. Zum Beispiel gibt der Mond in ST, V, 1, seine Verkleidung zu erkennen. Angaben von Zettel, wie das Stück ausgehen könnte (ST, V, 1). Theseus sagt bezüglich Spiel2 (ST, V, 1 „Das Beste in dieser Art ist nur ein Schattenspiel, und das Schlechteste ist nichts Schlechteres, wenn die Einbildungskraft nachhilft". Auch der zweifache Titel unterstreicht diese Spiegelbildlichkeit: Das Stück vom „Mord des Gonzago" wird im Gespräch Hamlets mit dem König „Die Mausefalle". Bemerkenswert ist, dass Puck Spiel a in ST damit beschließt, dass er sagt, all das seien nur Schimären, Träume, die bald vergessen sein werden (V, 1); und dass am Ende von LLL Biron sagt: „Nicht, wie im alten Lustspiel endigt's heut (Hans hat kein Gretchen). Schade, dass die Damen den Ausgang nicht komödienhafter nahmen".

96 4.2. Von Spiegelbildlichkeit spreche ich immer dann, wenn einer Verwandlung in Spiel2 schon analoge Verwandlungen innerhalb von Spiel, vorausgehen. Typisch ist LLL (V, 2), wo auch in Spiel, die verliebten Männer sich verkleiden und die Frauen ihre Erkennungszeichen und Masken tauschen, um die Verehrer hinters Licht zu führen.19 Übrigens ist schon in WZ Spiel, als Posse angelegt, in der Schlau weisgemacht wird, er sei ein feiner Herr, und ein verkleideter Diener ihm als seine Frau ausgegeben wird usw. Und am eigenen Leibe erfahrt die Spiegelbildlichkeit Zettel, der nicht nur Schauspieler-Figur in Spiel2 von ST ist, sondern aus dem in Spiel, so etwas wie ein Esel gemacht wird.20 Man denke auch daran, wie Hamlet in Spiel2 erklärt: „[Man kommt zum Schauspiel,] ich muß müßig sein" (III, 2) und zu Ophelia gewandt: „Oh, ich reiße Possen wie kein andrer", während Polonius sich daran erinnert, wie er als junger Mann Julius Cäsar gespielt habe und ordnungsgemäß auf dem Kapital ermordet worden sei. Das Maximum an Spiegelbildlichkeit ist vielleicht damit erreicht, dass Hamlet, während der König seinen Wahnsinn ausforschen lässt, um die Ursachen zu erfahren, Spiel2 vorbereiten lässt, um die Reaktionen des Königs auszuforschen. 4.3. Als Vertauschung bezeichne ich hingegen die Einbrüche von Spiel, in Spiel2 und umgekehrt. Dazu gehören alle schon zitierten Fälle (3.3.), in denen ein Schauspieler aus Spiel2 von Figuren aus Spiel, mit dem Namen und den Eigenschaften angesprochen wird, die er in Spiel, hat, oder wenn er, nachdem er in Spiel, zurückgekehrt ist, in Spiel2 immer noch bei seinem Namen angesprochen wird. Ein typischer Fall dafür ist LLL, wo Spiel2 durch eine Nachricht bezüglich Spiel, (Jaquenetta ist schwanger) unterbrochen wird und der Verantwortliche, Armado, noch als Hektor angesprochen und bezeichnet wird, mit komischer Wirkung: „[...] wenn Ihr nicht den ehrlichen Trojaner spielt, so ists arme Mädel geliefert [...]. Dann wird Hektor gestäupt werden wegen der Jaquenetta, der er zum Kinde half [...]. Hektor zittert" (V, 1).

19

20

Die Maskerade wird von Rosaline als „schaler Wortkram" (und die Botschaft des Pagen als „Prolog"), von Biron als „Spiel" bezeichnet (V, 2). Man kann sagen, dass die mise en abyme ad absurdum geführt wird, wenn in Spiel 2 auch Unbelebtes wie die Wand oder der Mond (ST, V, I) anthropomorphisiert wird.

97 5.1. Fasst man die Ergebnisse tabellarisch zusammen, erhält man diese Merkmalsreihen: Spiel,

Spiel,

Text

autonom vollständig einheitlich

heteronom unvollständig uneinheitlich

Fiktionalität

verdeckt

offen

Beziehung Schauspieler-Figur

konstant

mit Unterbrechungen

Zeitlicher Verlauf

linear

diskontinuierlich

Metakommunikation

nicht-vorhanden

vorhanden

Dramatische Gattung

modern

antiquiert

Stil

nicht-parodistisch

parodistisch

Selbstverständlich handelt sich hier nicht um Ja/Nein-Oppositionen, sondern um graduelle, wenn auch deutliche Unterschiede. Es ist auch nicht unwesentlich, darauf hinzuweisen, dass das moderne Theater alle in Spielb angelegten Möglichkeiten entwickelt hat, was zur Umgewichtung geführt und die Merkmale von Spiela abgewertet hat. Die Bühnenpraxis des modernen Theaters läuft auf ein Spielb ohne mise en abyme hinaus. 5.2. Die mise en abyme durch Spiel b bedeutet keine bloße Verdoppelung und auch keine anspielungsreiche Synthese mit unterschiedlichen Stilebenen. Denn nicht nur spiegelt Spielb etwas von Spiela wider, sondern auch in Spiela finden sich umgekehrt Spuren von Spielbusw. Es stehen sich zwei Spiegel gegenüber, und die Bilder werden zwischen beiden hin- und hergeworfen, bis ins Unendliche, so dass Wirklichkeit und Fiktion sich überlagern und eine Scheinwirklichkeit hervorrufen. So sagt die Witwe in WZ: „Wer schwindlicht ist, der denkt, die Welt geht rund" (V, 2). Dass er sich dieser Technik bewusst ist, zeigt Shakespeare uns in ST, wo Peter Sequenz seinen „Prolog" mit derart sinnverschiebend wirkenden Pausen sprechen lässt, dass er eigentlich das Gegenteil dessen sagt, was er sagen wollte (V, 1). Ein und derselbe Text besteht aus zwei gleichen und gegensätzlichen Texten, wie das im Modell als großer und als kleiner Kasten gezeichnete Spiel (vgl. 2.2.). Eine einzige Struktur kann mit anderen Worten zwei oder mehr Strukturen sein, und man braucht eine gegebene Struktur nicht zu verlassen, um dem Unendlichen zu begegnen. In ST ist noch ein anderer symptomatischer Redezug von Zettel hervorzuheben. Als Zettel mit häufigem methought über seine jüngsten Verwandlungen nachdenkt,

98 kommt er zu dem Schluss: „Ich will den Peter Sequenz dazu kriegen, mir von diesem Traum eine Ballade zu schreiben; sie soll Zettels Traum heißen, weil sie so seltsam angezettelt ist, und ich will sie gegen das Ende des Stücks vor dem Herzoge singen. Vielleicht, um sie noch anmutiger zu machen, werde ich sie nach dem Tode [von Thisbe] singen" (IV, 1). Die Bühnenfigur Peter Sequenz aus Spie^ wird in eine Wirklichkeit jenseits der Grenzen der szenischen Darstellung projiziert und damit beauftragt, eine literarische Textform zu schreiben. Diese Ballade wird in der Komödie selbst nicht gesungen (V, 1): gesungen werden wird sie in derselben Szene einer geplanten und nicht verwirklichten möglichen Welt. Die literarische Fiktion vervielfacht nicht nur sich selbst, sondern auch die Möglichkeit anderer Welten.

4. Szenische Kommunikation bei Pirandello

Die Stücke Sechs Personen suchen einen Autor (Seipersonaggi in cerca d'autore, 1921), Jeder auf seine Weise (Ciascuno a suo modo, 1929) und Heute abend wird aus dem Stegreif gespielt (Questa sera si recita a soggetto, 1929) wurden von Pirandello selbst im ersten Band seiner Theaterstücke (Tutto il teatro, 1933) unter dem vereinheitlichenden Etikett Theater auf dem Theater zusammengefasst. 1 Das Etikett, das übrigens der Originalität von Pirandellos Theater nicht gerecht wird, erweist sich bei genauem Hinsehen als ungenau. Betrachtet man die klassischen Paradigmen des „Theaters auf dem Theater" oder, wie ich lieber sagen möchte, das „Spiel en abyme", also Hamlet, Verlorene Liebesmüh oder Ein Sommernachtstraum, so sieht man, dass es dort darum geht, in das traditionelle Drama ein zweites Drama oder szenisches Spiel, meist unvollständig, einzubetten. Das zweite Schauspiel stellt sich als Kommunikation zwischen den Figuren des ersten, einbettenden Schauspiels dar. Nicht viel anders bei Der Widerspenstigen Zähmung, wo das traditionelle Drama das eingebettete Spiel der szenischen Kommunikation ist.2 Was bei Pirandello vom „Spiel en abyme" eingegangen ist, sind einige bühnentechnische Besonderheiten von Spielb, dem zweiten, eingebetteten Mikrodrama. Vor allem wird der Darstellungsmodus offengelegt: die Künstlichkeit des Schauspiels gezeigt, das damit antiillusionistisch ist; die Schauspieler haben die Möglichkeit, ständig zwischen ihrem Status als Darsteller und ihrer Funktion als individualisierte Figur in Spiela und in Spielb zu wechseln; es wird der Eindruck von ,Probe' mit allen dazu gehörenden Unsicherheiten und Wiederholungen, die Künstlichkeit der Inszenierung, hervorgerufen. Ein ebenfalls eingeführtes Verfahren ist das der analeptischen Wiederaufnahme früherer Phasen einer Geschichte, von der nur das Ende oder der Höhepunkt dargestellt wird.

1

2

Zitate nach der Trilogie des Theaters auf dem Theater (Band 8 der Luigi PirandelloWerkausgabe) in der Übersetzung von M. Rössner et al. (eds.). Mindelheim: Sachon 1988. Die Abkürzung der Titel entspricht den Anfangsbuchstaben der deutschen autorisierten Bühnenübersetzung: SP. JSW, HAST [d.O.], Vgl. Beitrag II. 3. in diesem Band mit der Unterscheidung von Spiela und Spielb. Dabei ist Spielb - meistens das eingebettete, nur in der Widerspenstigen Zähmung das einbettende - bei Shakespeare das dem Gesamtdrama, dem eigentlichen auf der Bühne ablaufenden Spiels, untergeordnet.

100 Charakteristisch für das „Spiel en abyme" scheint übrigens zu sein, dass die Vorgeschichte weit zurückliegt. Bei Pirandello betrifft „Einbettung" [enchâssement] nicht die Beziehung zwischen traditionellem Schauspiel und Schauspiel in fieri, sondern zwischen der Bühne und dem Raum außerhalb der Bühne, statt von Verfahren der Einbettung müsste man eigentlich besser von einem Eindringen, einem scheinbar unkontrollierten Einfall sprechen. Es kommt zur Aufhebung der Grenze zwischen Bühne und bühnenexternem Raum, die hingegen im „Spiel en abyme", bei dem beide Fiktionen eindeutig jenseits der Grenze liegen, unverrückbar bleibt. Im übrigen gibt es zwischen den drei Stücken Pirandellos erhebliche Unterschiede. In SP wird der Teilraum ,außerhalb der Bühne' aus den Personen gebildet, die, nachdem sie die Bühne erobert haben, an die Stelle der Schauspieler treten, die kurz und vergeblich versuchen, ihre Geschichte darzustellen. In JSW konstituieren jene realen Personen den sogenannten bühnenexternen Raum, die für die szenische Darstellung einer Geschichte als Modell dienen und auch für ein fiktives Publikum spielen. In HAST, wo die Schauspieler, abwechselnd als reale Person oder als dargestellte Figur auf der Bühne erscheinen, mischen sich die Schauspieler auch unter die Zuschauer, dann aber nur als Figuren der dargestellten Geschichte. Unter dem Gesichtspunkt der schauspielerischen Fiktion kommen verschiedene Typen vor, von denen hinsichtlich des Spiels en abyme die Typen E und F neu sind: A Schauspieler1 B Schauspieler1 C Schauspieler1 D Schauspieler1 E Schauspieler1 F Schauspieler1

dargestellte Figur Regisseur (SP, HAST) fiktiver Zuschauer oder Kritiker, Theaterpersonal (JSW, HAST) Schauspieler2 -» dargestellte Figur (Wechsel zwischen Phase 2 und Phase 3) (SP, HAST) reale Person -> dargestellte Figur (mit Wechsel zwischen Phase 2 und Phase 3) (SP) reale Person (JSW)

Verglichen mit dem klassischen Spiel en abyme stellt man fest, dass in SP drei Typen von Spielebenen vorkommen, die sich z.T. überlagern: I. Dialog zwischen den realen Personen und dem Regisseur, mit sprunghaft erzählter Geschichte; II. teilweise Inszenierung der Geschichte durch die Schauspieler; III. Wiederaufnahme des Dialogs zwischen den realen Figuren und Übergang (bzw. Steigerung) bis zur Inszenierung der Geschichte durch diese realen Figuren. Das .eingebettete' Spiel ist, wenn überhaupt, das Spiel der Schauspieler. In JSW ist es das bühnenexterne Spiel mit realen Figuren, welches das traditionelle Schauspiel zum eingebetteten Mikrodrama macht, in welchem es zu tumultartigen Vorgängen und am Ende zum Spielabbruch kommt. In HAST gibt es einen Wechsel von Schauspielerphasen hauptsächlich mit erzählerischem und metatheatralischem Diskurs (ohne

101 konventionellen Dialog) und Figurenphasen mit der üblichen Rede und Gegenrede (mit konventionellem Dialog). Von eigentlicher ,Einbettung' kann man nur bei dem Opernfragment sprechen, dessen Aufführung ein Teil der Personen in einem fiktiven Theater beiwohnt.

Sender



Empfanger (Publikum)

102 Szenische Kommunikation in Jeder auf seine Weise Sender

Empfänger

Szenische Kommunikation in Heute abend wird aus dem Stegreif Sender

Direktor

n

e n

mit Rolle

ohne Rolle ICH *

' DU

ICH -i

• DU

X t

e r

11

e r

mit Rolle

R ohne Rolle Fiktive Empfanger

Empfanger

gespielt

103 Im ersten und im dritten Stück hat der sogenannte Direktor und Regisseur eine zentrale Funktion. In SP versucht er, zwischen den realen Personen und den Schauspielern zu vermitteln, nicht nur zwischen ihren Gruppen: er ist ein demiurgischer Koordinator ohne Verantwortung für die Inhalte. In H A S T ist hingegen Dr. Hinkfuß ganz und gar für die Aufführung verantwortlich (allerdings wird er fast einmal hinausgeworfen), ebenso gilt das für die Kommunikation zwischen Bühne und Parkett. Diese strukturelle Neuerung führt uns statt zum klassischen „Spiel en abyme" zu Weiterentwicklungen, deren Geschichte Nelson 3 und, kürzer, aber auch unter Einbeziehung der Semiotik, Kowzan 4 geschrieben haben. Kowzan beschäftigt sich im B e s o n d e r e n mit M o l i e r e s Impromptu de Versailles (1663) u n d mit den Komödien von Goldoni (1750), wobei er als Gemeinsamkeit der beiden Stücke die „Probe" sowie die Funktion des Regisseurs als Vermittler oder als Demiurg sieht. Beide Aspekte finden wir in SP, in H A S T nur den zweiten, weshalb Kowzan nur von SP spricht. In JSW ist die Situation wieder anders, und es sind das Publikum und die Kritiker, die sich über die Beziehungen zwischen Bühne und bühnenexternem Spiel äußern. Der dargestellte Typ von Kommunikation ist komplex, er variiert. In JSW, das einfacher angelegt ist, gibt es zwei Kommunikationsebenen: I. Nach ausdrücklicher Klärung der Urheberschaft des Stücks (es ist Pirandello) horizontale ICH-DUKommunikation zwischen den Schauspielern; diese wird vertikal durch den ICHSender (Autor Pirandello) und dem Du-Empfänger (Publikum) übermittelt. II. Scheinbar spontane ICH-DU-Kommunikation zwischen Theaterbesuchern, realen Hauptpersonen der Geschichte und Personal der Aufführung. 5 Der Inhalt dieses zweiten Typs von Kommunikation wird minutiös vorbereitet, j a vom Autor selbst vorangekündigt, etwa indem eine als Flugblatt aufgemachte Abendzeitung eine .Indiskretion' in Umlauf bringt, wonach das Stück voraussichtlich nach dem zweiten Akt abgebrochen wird. Kommunikation I wird für den, der deren Bedeutung nicht verstanden haben sollte, von Diego Cinci, einer in Pirandellos Theater so häufig vorkommenden Doppelgestalt aus handelnder und erklärender Figur erläutert; Kommunikation II wird mehr oder weniger richtig von Zuschauern und Kritikern paraphrasiert.

3 4 5

R. J. Nelson (1958): The Play within a Play. The Dramatist's Conceptional of His Art: From Shakespeare to Anouilh. New Häven: Yale University Press. T. Kowzan (1981): „Le ,Théâtre comique' de Goldoni entre Molière et Pirandello", Mélanges à la mémoire de Franco Simone, II. Genève: Slatkine, 531-543. In der Bühnenanweisung zum „Ersten Chorälen Zwischenspiel" beschreibt Pirandello das Stück als Hierarchie von drei Ebenen: Die erste Ebene, die „dem Leben näher ist", ist diejenige der in dem Stück dargestellten realen Personen; die zweite Ebene ist diejenige des Publikums durch dessen Existenz das Stück als „Kunstfiktion" ausgewiesen wird; die dritte ist die Ebene des Stückes selbst - eine Hierarchie, die den Theorien des Autors, aber nicht der Wahrheit entspricht, da die realen Personen in der Realität nie existiert haben und ebenfalls von Schauspielern verkörpert werden.

104 In SP wird bei dem Probenstück Seine Rolle spielen {II gioco delle parti), das Pirandello zugeschrieben wird, auch nach Heben des Vorhangs nicht wirklich begonnen. Die reelen Personen, nachdem sie sich dem Regisseur vorgestellt haben, und erklären, sie seien auf der Suche nach einem Autor, und benennen ihn selbst als möglichen Autor, beschränken aber am Ende seine Autonomie auf ein Minimum. Für die Schauspieler ist der Autor ein Kollektiv, gebildet aus Regisseur und realen Personen als Aktanten. Jeder, nur die Schauspieler nicht, übernimmt abwechselnd die Rolle von Figur, Autor und Publikum. Sowohl Autor als auch Publikum (die Zuschauer müsste, da es sich um eine Probe handelt, abwesend sein) sind in Klammern gesetzt. Bei der Auseinandersetzung um die verschiedenen Interpretationen der Geschichte, wie sie die sechs Personen vorschlagen, konzentriert sich schließlich alles auf den Vater. Der Name Pirandello fällt in Verbindung mit seiner Novelle, die den Stoff für HAST geliefert hat. Dr. Hinkfuß übernimmt darin als Regisseur die Verantwortung für die Bühnenfassung, die er den Zuschauern zusammen mit Ausschnitten aus der Novelle ausfuhrlich erläutert. Hinkfuß fungiert auch als erklärende Figur, selbst wenn die von ihm angeordneten Abweichungen Bedeutungszuwächse mit sich bringen.6 Es muss gesagt werden, dass die Präsenz des Autors hier nicht zu übersehen ist: man braucht sich nur die ausfuhrlichen Bühnenanweisungen anzusehen, die bis zur Darlegung der Gedanken von Hinkfuß und den Figuren gehen („nachdem Frau Ignazia vor der kleinen Madonna mit der Kerze auf dem Tischchen langsam mit gefalteten Händen und tiefer Stimme das Gebet begonnen hat, [erhofft (sie) das Wunder, dass] die Schmerzen vergehen, was sie eigentlich nach jedem Wort erwartet").7 Eines ist sicher: Das teilweise oder ganze Verschleierung des Autors wird mehr als kompensiert durch seine implizite Allgegenwart. Dabei denke ich nicht nur an das ihm vorausgehende gute Omen, an die Urteile über Pirandello im ersten Zwischenspiel von JSW und an die überschwänglichen Bemerkungen des Direktors in SP über den Autor von Seine Rolle spielen. Ich meine die genaue Vorausplanung dessen, was eigentlich spontaner scheinen sollte: die Improvisationen der Schauspieler, besonders wenn sie in der bühnenexternen Szene spielen. Der häufige Gebrauch des Ausdrucks aus dem Stegreif ist eine typische „paradoxe Anweisung": die sorgfältigen an das fiktive Publikum gerichtete Regie gehört zu einer Gesamtstrategie, um das reale Publikum zu manipulieren.

6

7

8

Interessant ist, dass Hinkfuß auch nach einer Reihe von improvisierten Auftritten der Schauspieler dafür die Urheberschaft beansprucht. „Wie das Publikum bemerkt haben wird, ist dieser Aufstand der Schauspieler gegen meine Anweisungen nur gespielt, er ist vorher zwischen ihnen und mir abgesprochen, damit die Vorstellung spontaner und lebhafter wirkt". Vgl. die Bühnenanweisung in HAST: „Herr Palmiro will, ... dass alle still sind, bis er am Ende die Antwort geben d a r f . In SP erklärt der Vater, man brauche in seinem Spiel „ nur eine Spur zu verändern", und ein Schauspieler zeigt seinen Unwillen und sagt: „Wie soll man ein ganzes Theaterstück

105 Damit ist der Rahmen abgesteckt, in dem das ganze Kommunikationsgeschehen zwischen dem Autor und den Empfangern stattfindet.9 Und doch verteilen sich die Elemente dieses Komplexes auf verschiedene Ebenen und bringen eine Mehrzahl und Vielschichtigkeit im Bühnendiskurs hervor. Die Eigentümlichkeit des Theaters, die darin besteht, dass die Gedanken des Autors nicht sozusagen ex cathedra, sondern als Produkt aus einer Dialektik von Meinungen erscheinen, und das wird in diesen drei Stücken noch verstärkt, dadurch, dass zu den Meinungen, die auf der Bühne geäußert werden, noch diejenigen aus dem bühnenexternen Spiel kommen, so dass den Autor selbst die Angst vor der Unverständlichkeit überkommt: Daher die exakten Bühnenanweisungen (die manchmal die „authentische" Deutung liefern)10 und daher die Überstrapazierung der Doppelgestalt der erklärenden Figur. Der mitgeteilte Inhalt umfasst die Summe der Handlungen und Motivationen. Deshalb ist es von Interesse, die szenische Mimesis mit dem sich darin realisierenden Erzählmodell zu vergleichen. Auffällig ist auf den ersten Blick, dass die Ereignisse in unseren Theaterstücken selten entwickelt werden, nicht weil es keine solchen gäbe, sondern weil sie bereits stattgefunden haben." Die Figuren blicken zurück, auf einen Vorfall, der auf ihnen lastet. Auf der Bühne kann sich zwar das Ende des Geschehens abspielen, aber die Ereignisse bis dahin können nur durch wiederholte Analepsen gegenwärtig gemacht werden. Das verstärkt die Unabhängigkeit der Figuren voneinander: sie sind nicht mehr an die Interaktion irgendeines

aus dem Stegreif von Schauspielern spielen lassen", die „ganz wie die Schauspieler der Commedia dell'Arte nur von anderen die Replik zugespielt bekommen". 9 Vgl. D. Stewens (1983): Pirandello, scrittura e scena. Agrigento: Centro Nazionale di Studi Pirandelliani, 63: „In ihrer Gesamtheit kennt die Aufführung keine Unterbrechung, nicht einmal in der Pause. Es ist totales Theater sowohl in der räumlichen als auch der zeitlichen Dimension. Totalität des Theaters heißt auch Totalität der Fiktion, und jeder Versuch eines ,Aufstands der Schauspieler' oder einer .Revolution auf der Bühne' wird sofort von der übermächtigen Fiktion eingeholt und erstickt". 10 Eine Grenze ist in JSW erreicht, wo nur die Bühnenanweisung eine tiefe seelische Erregung benennt: „Sobald sie [= Delia Morello] Michele Rocca erblickt, der so völlig verändert ist, fühlt sie, wie die Lüge von ihr abfallt, mit der sie sich bisher bewaffnet hatte als Schutz gegen die geheime heftige Leidenschaft, die beide von der ersten Begegnung an wie ein Wahninn gepackt hat. Sie haben sie vor sich selbst mit dem Mitleid usw. [bemäntelt]" [Kursivdruck von mir]. 11 G. Macchia(1969) schreibt dazu in: E. Cecchi, N. Sapegno (eds.): Storia della letteratura italiana. IX. Milano: Garzanti, 473: In So ist es (wenn es Ihnen so scheint), Sechs Personen suchen einen Autor und Heinrich IV keine Personen mehr, die handeln, nur solche, die gehandelt haben [Kursivsatz des Autors]. Die Existenz - das Erbe einer unabänderlichen Vergangenheit, eine Akte, die vor dem Urteil eingesehen wird - drückt auf sie wie eine Last, von der sie sich nicht befreien können. In SP entrüstet sich der Vater gegenüber dem Schauspieldirektor: „Was heißt Literatur! Das ist Leben!" Und der Schauspieldirektor antwortet: „Mag sein - aber aufführen kann man das nicht" (49). Und später: „Mag sein - weil das alles vorgefertigt ist. Aber das soll nicht aufgeführt werden [...]. Das Stück kommt jetzt erst! Neuer Versuch, von vorn!" Die Stieftochter entgegnet wenig später: „Mal sehn, was für ein Stück dann herauskommt" (52).

106 Geschehens gebunden, sondern in der Subjektivität ihrer eigenen Reaktionen, der Leidenschaftlichkeit ihrer eigenen Rechtfertigungen allein. Das Schauspiel ist die Darstellung dieser konkurrierenden, oft widerstreitenden Subjektivitäten. Jenseits aller Unterschiede zwischen den vielen Stücken und aller Vielfalt der paraphilosophischen Gegensätze (Schein / Wirklichkeit, Wahrscheinlichkeit / Wahrheit, Form / Leben usw.) scheint mir eines allen gemeinsam zu sein: das Bedürfnis nach Ausdruck als Form der Befreiung 12 - das Bedürfnis, das die sechs Personen die Bühne stürmen und für sich erobern lässt. In HAST führt es unter den Schauspielern zu Tumult, bei dem sich jeder seinen eigenen Platz auf der Bühne und sein eigenes Auditorium erobern will, wenn es sein muss, auf Kosten der anderen. So gilt für die Schauspieler wie für die Bühnenfiguren, dass sich das so heiß ersehnte Leben so gut wie ganz im Sprechen vollzieht.13 In diesem Bedürfnis nach Ausdruck entlädt sich zuweilen zweierlei: sich selbst zu definieren, indem man sich eine verlässliche und schlüssige Form gibt; sich selbst in seiner Beziehung zu den anderen zu charakterisieren14 und das heißt einen Standpunkt beziehen, seine eigene Sicht von der Wirklichkeit durchsetzen, sich selbst rechtfertigen. Diese Orientierungen haben mit dem Monologischen zu tun, ja man könnte die Stücke von Pirandello als kunstvolles Geflecht aus Monologen betrachten. Die Stimmen können einander abwechseln, doch das, was gesagt wird, bleibt im Kontrast nebeneinander stehen. Im ganzen Werk von Pirandello waltet Komödiantentum, es ist, wie Borsellino geschrieben hat, „der Raum des Komödianten". 15 Dem will ich gern zustimmen, nur würde ich hinzufügen, dass der Komödiant, ob Schauspieler oder Figur, mit allen Registern seiner rhetorischen Kunst den qualvollen Kraftakt vollbringen muss, seine Schuldgefühle loszuwerden; nur zu seiner Rechtfertigung tut er alles,

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Rocca sagt im II. Akt von JSW: „O Gott, ich war zu allem entschlossen wie ein Blinder und nur durch die Tatsache, dass ich unvermutet hierher geraten bin, unter Sie, und dass ich sprechen muß, antworten muß ... fühle ich mich ... wie erleichtert, als sei mir ein Stein vom Herzen gefallen" (163). Alvaro bemerkt dazu treffend: „Sprechen wird zu einer Art Beichte und Sühne; die Dramen vollziehen sich, indem von ihnen gesprochen wird; solange alles in den Tiefen des Bewusstseins vergraben ist, ist es noch ungeschaffen und unbeurteilt, und der Mensch ist ruhig; erst durch das Sprechen schafft und formt es sich selbst, es nimmt sein Schicksal in die Hand" („Pirandello premio Nobel 1934". Nuova Äntologia, 69 (1934) 1504, 196-200, insb. 197). „Das Stück ist in uns, wir selber sind das Drama, und wir brennen darauf, es darzustellen, so wie die Leidenschaft es von uns verlangt" (SP. 40). „Ja, die Selbstcharakteristik dient sogar der indirekten Charakterdarstellung, sie weist auf die Differenz zwischen der Selbstbeurteilung und dem objektiven wirklichen Charakter hin. Wir würden sagen, diese Ä u ß e r u n g e n seien selbst A u s f l ü s s e des unbewußrwn Geständniszwanges, die einer analytischen Deutung und Vertiefung bedürfen" (Th. Reik (1925): Geständniszwang undSlrajbdürfnis. Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie. Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 172). Vgl. N. Borsellino: „Tra narrativa e teatro: lo spazio deH'istrione" [1978], Ritratto di Pirandello. Bari: Laterza 1983, 133-149

107 um sich zu verwirklichen, sich selbst zu definieren.16 Er verwirklicht sich um seiner selbst willen (wenn es ihm gelingt, sich erfolgreich Ausdruck zu verleihen), um der anderen willen (die zu Richtern befördert werden),17 und noch einmal um seiner selbst willen (als Reflex des Urteils der anderen). Die Bühnenfigur ist, wie Dorothea Stewens mit dem Bild von Pirandello beschreibt, von Spiegeln umgeben: „sie sind die Augen der anderen oder unsere eigenen, wenn sie uns nicht dazu dienen, um auf die anderen zu schauen, sondern um zu sehen, wie wir leben sollten, [...], wie wir leben müssen".18 In JSW ruft ein Gast (ziemlich am Anfang des Stücks) auf der Bühne: „Das ist die Kapelle der Beichten". Ein anderer entgegnet: „Von wegen Beichtstuhl! Das Gewissen! Das Gewissen!" Sicher ist, dass bei Pirandello durch eine Art deontischer Voluntarismus Gewissen und Bekenntnis meistens dasselbe sind. Es wäre sogar folgerichtig, das ganze Theater Pirandellos im Lichte des „Geständniszwangs", wie Theodor Reik es ausgeführt hat, zu deuten." Und wie in einer öffentlichen Beichte stellen sich dir Figuren - nirgends so wie in So ist es (wenn es Ihnen so scheint) - dem Urteil des Anderen, um von diesem das Ego te absolvo zu bekommen. Da hilft keine Zurückhaltung, keine Verweigerung gegenüber dem Urteil der Öffentlichkeit. Es legt sich gleichsam sozialer Zwang über die Subjektivität. Um solche Beichten, vielleicht als Fragmente, der Berichtigung bedürftig, geht es in den Stücken. Ein gutes Beispiel ist HAST, wo der Sättigungspunkt erst erreicht

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„Das ist meine Rache! Ich brenne darauf, Herr Direktor, ich brenne darauf, diese Szene zu erleben!", sagt die Stieftochter in SP zum Direktor. Und der Direktor antwortet in Bezug auf den Vater: „Aber die Vorwürfe, die er sich macht, und die ihn so bedrücken, - zählen die für Sie gar nicht?" Stieftochter: „Geben Sie ihm Gelegenheit, das zu spielen!" Th. Reik schreibt: „Wir haben von Freud erfahren, daß erst durch die Wortvorstellungen die Möglichkeit der Bewußtseinsqualität gegeben ist. Wir werden erst durch das Geständnis in den Stand gesetzt, vorbewußt zu erkennen, was die verdrängten Gefühle und Vorstellungen einst bedeuteten und was sie kraft der Unzerstörbarkeit und Zeitlosigkeit, die unbewußten Vorgängen eigen ist, noch jetzt für uns bedeuten. Wir werden durch das Geständnis mit uns selbst bekannt" (Reik, 36). Der Vater in SP: „Und ich finde, dass diejenigen, die über uns urteilen werden, das in Betracht ziehen müssen". In JSW, I. Akt, wird über das Urteil der anderen und dessen Rückwirkungen auf unser Bewusstsein diskutiert. Pirandello selbst hat sich theoretisch darüber Gedanken gemacht in der Einleitung zu S. D'Armico (ed.) Storia del teatro italiano, Milano Bompiani 1963, 5 - 2 8 , insb. 8: „Das Theater unterwirft die menschlichen Handlungen, wie sie in der reinen und ewigen Wirklichkeit sind, dabei nimmt die Phantasie der Dichter solche Handlungen als Beispiel aus dem Chaos des natürlichen Lebens und hält sie zur Ermahnung entgegen."(8). praktisch einem regelrechten öffentlichen Urteil [Hervorhebung von Pirandello]. D. Stewens (1983, 30-31) stützt sich auf eine Aussage Pirandellos aus Seine Rolle spielen (II gioco delle parti). Auch in SP ruft der Sohn gegen Ende aus: „Glauben Sie, man könnte vor einem Spiegel leben, der sich nicht damit begnügt, uns schaudern zu machen durch das Abbild unseres eigenen Ausdrucks, sondern es obendrein als Fratze wiedergibt, die für uns selbst unglaublich ist?" (89). Zur Anwendung auf Pirandellos Theater vgl. hier Anm. 16-21.

108 wird, als die Schauspieler ihre Rollen haben und sie die Register des komödiantischen Spiels zu ziehen beginnen. Beichte und Erzählung sind die zwei Pole, zwischen denen sich die szenische Kommunikation bewegt. Stewens unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen „sprechenden Subjekten" bzw. „dargestellten Objekten" (op. cit., 60). Immer lässt die Beichte auch narrative Spuren erkennen, während das Umgekehrte nicht gilt. Erzählung ist der Nullpunkt des selbstkritischen Diskurses. 20 Mit dieser Polarität versteht Pirandello raffiniert umzugehen. Das reicht bis zur Perfektion des Kalküls, wie aus Pirandellos Vorwort (1925) zu SP hervorgeht. Am deutlichsten ist der Fall des Sohnes. Er versteht sich als einer, der nichts mit der Geschichte zu tun hat, jedenfalls will er sie nicht wiederholen und szenisch darstellen; er scheint sich irgendwie seiner Gefühle zu schämen, sich vor der Entstellung durch das Theater, aber auch vor der Auseinandersetzung mit den anderen Figuren auf der Bühne zu furchten. Mit seinem Schuldgefühl flüchtet er sich in die Wertlosigkeit. Und doch ist er in seinem Innersten mit der Geschichte verstrickt, so sehr, dass er sich nicht daraus befreien kann, indem er die anderen verlässt. Und ausgerechnet der Sohn erinnert an das Grauen vom Tod der beiden Kinder, er beschwört es gleichsam magisch. Er erscheint da als verzweifelter Wächter einer nicht wiederauffindbaren Wirklichkeit. Um den Sohn erreicht die Narration ihren Höhepunkt (Ertrinken und Selbstmord), so wie der Höhepunkt der Beichte (Inzestschuld) beim Vater und der Stieftochter liegt. 21 Zwischen Erzählung und Beichte entsteht auch in HAST ein Konflikt, als der brillante Alte sieht, dass er von den anderen um seinen Auftritt auf der Bühne gebracht wird, die Rolle des Sampognetta ablegt und in die Rolle schlüpft, die er

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Besonders wichtig ist hier die Wechselrede zwischen Stieftochter und Vater in SP: „Ich erzähle hier kein Märchen!" - „Ich erzähle gar nichts, ich will es ihm nur erklären" (45). „Es wird Ihnen vielleicht zuerst unglaubwürdig erscheinen, wenn ich versichere, daß der Impuls, die Reproduktion in der Erzählung durch das Agieren zu ersetzen, besonders dann auftritt, wenn die zu reproduzierenden Vorgänge unter dem Drucke eines besonders starken Schuldgefühls stehen. Das Strafbedürfnis drängt, wie Sie wissen, zur Tatwiederholung. Diese Überbesetzung der betreffenden Erinnerungen und Gefühle mit Schuldgefühl ist gewiß nicht die einzige Bedingung des Agierens, aber, wie mir scheint, die vielleicht wichtigste, praktische bedeutsamste. Unter den Bedingungen intensiven Strafbedürfnisses setzt dann der Patient das der Tatwiederholung so viel nähere Agieren an die Stelle der Erinnerung und der erzählenden Reproduktion. Das Agieren reiht sich so als ein in der Analyse erlebter Vorgang jenem allgemeineren psychischen Ablauf ein, der aus dem drückenden Schuldgefühl zur verbotenen Tat oder ihrem Ersatz als einer bedeutenden psychischen Entlastung treibt" (Reik 1925, 38-39); „[...] das Agieren ist ein unbewusstes Geständnis in Form der Darstellung und seine Deutung ein wesentliches Stück der Analyse" (Reik, 43). Vgl. die treffenden Bemerkungen von W. Krysinski über den Gegensatz zwischen Gestation der Mimesis und Impulsivität der Gestik: „La disarticolazione dei codici nei Seipersonaggi in cerca d'autore", Rivista di studipirandelliani. Sonderheft V (1985) 4, 7 - 2 3 , insb. 14-15.

109 hätte spielen sollen, aber nicht hatte darstellen wollen. Wie auch die Bühnenanweisungen nicht müde werden, zu betonen, bedeutet sein geduldiges Lächeln mitten in der allgemeinen Erregtheit der Bühnenfiguren das Warten auf einen Augenblick Ruhe für die „wahre Antwort, die er fiir das Ende bereithält". Als endlich die Bühne frei wird, ist es zu spät fiir einen glücklichen Ausgang, und dem Alten bleibt nur, in narrativer Form zu sagen, was er hätte sagen und empfinden, andere hätte hören und empfinden lassen sollen - bis er, mit von Pathos erstickter Stimme, unerwartet in seine Rolle zurückschlüpft und stirbt. Hier schleicht sich die Narration an die Beichte heran, lädt sich nach und nach mit Subjektivität auf, bis sie ihr Ersatz wird. Diesem progredienten Paar Erzählung Kundgabe (oder Beichte) geht natürlich die unzugängliche Zone der Erfindung voraus. In SP hat Pirandello ,tätigen Figuren' Gestalt verliehen, die letztlich in seiner Fantasie konzipiert worden sind. Diese Vorstellung, dass die Figuren dem Autor immer wieder erscheinen und darauf bestehen, vollendete künstlerische Schöpfungen zu werden, hat eine lange Geschichte, die in neuerer Zeit von Briganti aufgearbeitet worden ist. 22 Pirandellos Vorwort zu SP berechtigt dazu, in diesem Stück, aber vielleicht auch in der gesamten Trilogie, eine Art große Metapher der literarischen Erfindung zu sehen. Pirandello selbst wäre (die Hypothese von Franco Ferrucci bestätigend, der in Pirandellos Stücken die Mechanismen der bewussten Erinnerung sieht), 23 auch mit dem einen Gedanken einverstanden: die Themen seiner Stücke lassen sich mit denen seiner schriftstellerischen Tätigkeit gleichsetzen, da er von seinen Figuren sagt: „Jede Person drückt von der brennenden Leidenschaft und ihrer Qual so viel aus, was sie viele Jahre hindurch an Qualen ihres Geistes durchlitten hat". Der Zuschauer hat demnach teil am Drama der Erfindung, dessen Stoff aber das Drama menschlicher Existenz gleichsam im Schatten Pirandellos ist. Das erklärt jedoch noch nicht die mitreißende Wirkung dieser Stücke, es erklärt nicht die Eindringlichkeit, mit der ihre Nachricht herüberkommt - so wenig wie die unzweifelhafte Dominanz der Theatralität, j a die nicht wieder erreichte Verbindung von Dialogizität des Dramas und szenischem Illusionismus (man denke an den billigen, aber doch so wirksamen Bühnenzauber beim Auftritt der Madama Pace). Vielmehr muss man, um die Wirkung zu ermessen, vielleicht an scheinbar banalere Aussagen erinnern w i e , j e d e r schreit jedem seine Beweggründe zu", „man schleudert sich gegenseitig seine zerrütteten Leidenschaften ins Gesicht", „ein Gelächter bricht aus über die widerstreitenden Leidenschaften [...], die das tatsächliche Geschehen überwältigen wollen", „die solchermaßen (in ihrer Leidenschaft) entflammten Personen stürzen sich in die Rolle, die j e d e m in irgendeinem einem Drama zukommt".

22 23

P. Briganti (1984): Scrivere la vita. Sul teatro pirandelliano. Parma: Edizioni Zara, 5254. F. Ferrucci: „Pirandello e il palcoscenico della mente", Lettere Italiane 36 (1984) 219— 225.

110 Alle diese konventionellen Aussagen haben einen expressiven Ausgangspunkt und einen perlokutiven Endpunkt, mit der Anspielung auf Konflikte („überwältigen").24 Wenn der Ausdruck im Sprechen zur Ebene des Bewusstseins vordringt, wird er zur Beichte, die Perlokution wird Persuasion oder Selbstverteidigung. Der Bogen, den der spannungsgeladenere Ausdruck im Sprechen durchläuft, wird weiter und reagiert stärker, wenn man die Schauspieler nicht gleich als Figuren auf die Bühne bringt, schon mit Rollen ausgestattet, sondern auch die Dauer und Möglichkeiten darstellt, wie sie damit ausgestattet werden - sei es dass man die Spaltung zwischen Schauspieler und handelnder Figur durchscheinen lässt oder dass man eine dargestellte Figur als realen Person und den Schauspieler, der sich ihrer darstellerisch annehmen müsste, einander gegenüberstellt oder dass eine reale Person von der Fiktion auf die Bühne geschickt wird, um das Spiel der Figur, die er darstellen soll, zu vollenden. Der schwindelerregende Übergang von der Gleichgültigkeit des Schauspielers bis zur begeisterten Darstellung und der totalen Identifizierung mit der Figur reißen auch den Zuschauer mächtig mit, so dass sich seine Gleichgültigkeit in Teilnahme wandelt. Auch was die vitalen Spannungen der thematisierten Fälle angeht, so wird der Bogen weiter, über die durchschnittlichen Spannungen des Alltags hinaus, gespannt und bis zum Äußersten straff gezogen. Was dominiert, ist das Absurde, das Paradoxe, das Extreme, ja Pathologische, so dass die Kasuistik des gewöhnlichen Lebens sich wie eine graue, merkmalsarme Unterklasse ausnimmt. Und gerade in dieser allgemeinen, ins Groteske gehenden Hyperbolisierung der Vorfälle und Möglichkeiten kann jeder wenigstens zu einem Bruchteil seine eigene Geschichte wiedererkennen, er kann an den Schuldgefühlen mittragen, kann sich ganz dem Wunsch nach Selbstrechtfertigung überlassen, dem angestrengten Versuch, sich in der Begegnung und in der Auseinandersetzung mit den anderen zu definieren, unterwerfen. Die besondere Wirkung, die Pirandello für sein Publikum bis heute trotz der Schwäche dessen, was er als seine „Philosophie" ausgibt, - hat, liegt genau in dem, womit er seine Empfanger fesseln will. Auch sie sollen Komödianten werden und sollen, wie sie es vielleicht gern tun würden, aber nicht zu tun wagen, Teilnehmer, Figuren und Zuschauer einer neuen Katharsis werden.

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Pirandello spricht im Vorwort zu SP von Leidenschaften, die „das tatsächliche Geschehen überwältigen"; und der Regisseur möchte verhindern, dass eine Figur [...] die anderen überwältigt. In HAST gibt es einen Dialog, der sich natürlich auf die Bühne, nicht das Leben bezieht: „Wir müssen auch unsere Rollen leben! - Er will ganz allein eine gute Figur machen! Aber jeder muss seine Rolle spielen".

III. Literatursemiotik heute

1. Aufstieg und Niedergang der Stilistik

1. Das Wort ,Stilistik' geht bekanntlich auf Novalis zurück, der genauer von „Stilistik oder Rhetorik" sprach und damit zu Recht den engen Zusammenhang zur klassischen Rhetorik unterstrich. Als eigenständige Disziplin wurde die Stilistik jedoch von Bally begründet (der Précis de stylistique stammt von 1905, der Traité de stylistique française von 1909). Die Stilistik, schreibt Bally in seinem Traité: „[...] étudie la valeur affective des faits du langage organisé, et l'action réciproque des faits expressifs qui concourent à former le système des moyens d'expression d'une langue". 1

Auf Saussures Gedankenwelt stützt sich eine Wortverbindung wie système des moyens d'expression, während andere von Bally wenig früher gebrauchte Ausdrücke wie valeur affective oder faits de la sensibilité nichts mit Saussure zu tun haben. Saussure hatte, ich erinnere daran, seine Vorlesungen zur Allgemeinen Sprachwissenschaft zwischen 1906 und 1911 gehalten, also nach oder fast zur gleichen Zeit, wie die beiden Arbeiten von Bally erschienen sind. Saussure schlägt 1910 die Einrichtung eines Stilistik-Lehrstuhls für Bally vor, er selbst spricht statt von valeur affective von état psychologique und betont: „ la stylistique se distingue de la linguistique proprement dite en ce qu'elle est ,plus près de la parole'". 2 Bally hätte diesen Satz wahrscheinlich nicht unterschrieben, allerdings vertrat er auch sonst seinen eigenen Standpunkt innerhalb der Saussureschen Lehre, und zwar ebenso vor wie nach ihrer offiziellen Formulierung. Auch die Art und Weise, wie Bally die „assoziativen Beziehungen" von Sausssure darstellt, ist neu. Bally schreibt: „les faits d'expression groupés autour des notions simples et abstraites coexistent à l'état latent dans les cerveaux des sujets parlants et se manifestent par une action réciproque, une sorte de lutte, dans l'élaboration de la pensée et dans son expression

1 2

Ch. Bally: Traité de stylistique française. Bd. I. Heidelberg: Winter 1921 ['1912], 1. Vgl. Cahiers Ferdinand de Saussure (in Zukunft CFS) 17 (1960), 9; Der Wortlaut der Aufzeichnungen steht in Heft 4, p. 51, der kritischen Edition des Cours de linguistique générale (CLG) von R. Engler; 1967fF. Die deutsche Übersetzung stützt sich auf die Sausssure-Übersetzung von P. von Polenz: F. de Saussure: Grundfragen der Sprachwissenschaft. Berlin: de Gruyter 2 1967.

114 par le langage; [...] dans ce travail ils s'attirent et re repoussent par un jeu incessant et complexe de 'sentiments linguistiques', ainsi il s'établit entre eux des rapports d'affinité ou de contraste par lesquels ils se limitent les uns les autres et se définissent en se limitant".3

Wir haben es also nach Bally mit Serien von Ausdrucksvarianten zu tun, die sich autour de notions simples et abstraites verteilen oder, wie Bally weiter sagt, mit einem terme d'identification, der le mode d'expression intellectuel darstellt und den Mittelpunkt bildet, um den herum sich, definiert nach Graden von Intensität, Wert und Phonie, die Synonyme gruppieren.4 Diese Skala von effets naturels lässt sich mit linguistischen Beschreibungsmitteln erfassen, während eine andere Skala statistische Messungen verlangt: die Skala, die sich von der Gemeinsprache bis zur Sprache von Gruppen und Milieus erstreckt. In diesem Fall erzeugen die Varianten effets par évocation, die sich von der jeweiligen sozialen Herkunft der sujets parlants und deren kollektiven Bewertung ableiten. Anhand sowohl natürlicher als auch evokatorischer Effekte lassen sich die sprachlichen Varianten bestimmen und einordnen. Was Bally nicht festlegt, ist die Bewegungsrichtung zwischen Sender (der für die Affektivität verantwortlich ist), Sprache und Empfänger (der die evokatorischen Werte wahrnimmt). Klar wird jedoch bei Bally, dass die Gefühlswerte als System von Möglichkeiten beobachtet werden und dass die evokatorischen Werte hauptsächlich die Funktion von Indizien haben, also ihrerseits ein allgemeines System bilden. Daraus ergibt sich die Wechselbeziehung: „La stylistique étudie [...] les faits d'expression du langage organisé au point de vue de leur contenu affectif, c'est-à-dire l'expression des faits de la sensibilité par le langage et l'action des faits de langage sur la sensibilité". 5

Sprachwissenschaft und Stilistik vermitteln also zwei gegensätzliche Vorstellungen von Sprache. Die Sprachwissenschaft (jedenfalls die Saussuresche) beschreibt Sprache als starres und funktionales System, das auf binären Oppositionen oder, was die lexikalische Komponente angeht, auf dem, wie es später heißt, semantischen Feld aufbaut, während die Zusammenfügung der Wörter in Sätzen streng nach syntaktischen Regeln erfolgt. Die Stilistik hat demgegenüber den Variationsreichtum des Systems zur Grundlage, sei es, dass dieses alternative Möglichkeiten von inhaltlich äquivalenten, j edoch durch Nuancen voneinander unterschiedenen Wörtern oder Ausdrücken bereitstellt, sei es, dass es bestehende Möglichkeiten zu Subsystemen (soziale Varietäten, Berufssprachen usw.) zusammenfasst und diese nach konnotativen Äquivalenzen ordnet. Sprache erscheint somit als System aus Systemen.

3 * 5

Bally 1921, 15-16. Bally, 116-117. Bally, 16.

115 In der Tat ist das System für Bally ein veränderliches Gleichgewicht von Formen: in welchem die Synchronie nicht mehr eine geometrische Linie ist, sondern als eine umstrittene und bewegliche Grenze aufgefasst wird. Entsprechend wird auch die Antinomie langue-parole durch den zugrunde liegenden Begriff der actualisation relativiert; anders ausgedrückt, ohne Parole gibt es kein funktionsfähiges System. Stets werden die Terme der Antinomien bei Bally Grenzbegriffe, die sich wechselseitig bedingen. Ich kann Ballys sprachtheoretische Auffassungen hier nicht vertiefen, doch will ich wenigstens daraufhinweisen, dass diese Relativierungen des starren Systemkonzepts sich in der gesamten nachsaussurianischen Linguistik durchgesetzt haben, und heute weiß man, dass die Koexistenz von altersspezifischen und soziokulturellen Variablen und von systemstabilisierenden, innovativen oder raumabhängigen Faktoren ebensolche Triebkräfte der Veränderung sein können wie die Faktoren des systemhaften Sprachwandels im engeren Sinne. Auf einen Punkt, der in dieser Theorie am Rande geblieben ist, sollte ich hier eingehen. Vielleicht ist es eine übertriebene Vereinfachung, führt man Synonymie treu dem Grundsatz „vom Denken zur Sprache" ausschließlich auf Denkinhalte zurück. Ich bin aber der Meinung, dass Bally jedenfalls schon zu seiner Zeit mit Scharfsinn daran gedacht hat, dass es möglich wäre, durch den Vergleich stilistischer Varianten zu den präverbalen semantischen Kernen vorzustoßen. Eine Bestätigung dafür ist der kontrastive Ansatz in seinem späteren Hauptwerk Linguistique générale et linguistique française (1932), in welchem er das Französische mit dem Deutschen vergleicht: auch hier werden stilistische Varianten auf der Ebene des Systems herausgearbeitet, wobei jedoch implizit auf gemeinsame semantische Inhalte Bezug genommen wird, die für zwei oder mehr historische Sprachen gelten. Diesen Weg weiter verfolgend könnte die Linguistik noch sehr viel weiterkommen. 2. Bally unterscheidet grundsätzlich zwischen sprachlicher Stilistik und literarischer Stilistik. Er schreibt dazu: „l'écrivain se contente de transposer à son usage les thèmes qu'il trouve dans le langage de tout le monde et de les faire servir à ses fins, qui sont esthétiques et individuelles, tandis que le langage de tous est actif et social".6

Mit der Definition der erlebten Rede7 hat Bally einen wertvollen Beitrag zur Anwendung der Stilistik auf Literatur geleistet, einen Beitrag, der sofort Beachtung in der Wissenschaft gefunden hat und sich, wie noch zu zeigen sein wird, als fundamental erwiesen hat. Und doch geht die eigentliche Begründung einer literarischen Stilistik auf Marouzeau, und vor allem auf Vossler und Spitzer zurück. Spitzer vertritt in Übereinstimmung mit Sperber das Postulat:

6

7

Ch. Bally: Le langage et la vie. Zürich: Niehans 3 1935 [1914], 90. Ch. Bally: „Le style indirect libre en français moderne", Germanisch-Romanische Monatsschrift (GRM) 4 (1912) 549-556; 597-606.

116 „daß einer seelischen Erregung, die vom normalen Habitus unseres Seelenlebens abweicht, auch eine sprachliche Abweichung vom normalen Sprachgebrauch als Äußerung zugeordnet ist, daß also umgekehrt aus einer sprachlichen Abweichung vom Normalen auf ein seelisches Affektzentrum geschlossen werden darf, daß der eigentümliche sprachliche Ausdruck Spiegelung eines eigentümlichen Seelischen sein muß". 8

Im Mittelpunkt steht demnach der Begriff écart oder die Abweichung vom normalen Sprachgebrauch. Die Serie der écarts oder individuellen stilistischen Merkmale eines Autors bilden zusammen genommen das, was Spitzer sein „geistiges Etymon" genannt hat. Der Leser kennt die faszinierenden Studien, die Spitzer zu einzelnen Schriftstellern im Laufe seiner langen Tätigkeit, natürlich unter ständiger Verfeinerung und Vertiefung seiner Reflexion vorgelegt hat. Seine Beiträge zu Racine und Proust, La Fontaine und Charles-Louis Philippe, Voltaire und Péguy sind berühmt. Was ich hier stattdessen herausgreifen möchte, sind die bei Spitzer nicht zur Gänze beantworteten theoretischen Fragen. Da ist zuallererst der Begriff écart zu nennen. Die dichterische Sprache besteht nicht nur aus Abweichungen; im Gegenteil, gegenüber Schriftstellern wie Rabelais, einer der ersten, mit denen Spitzer sich beschäftigt hat und die tatsächlich ständig gegen die Sprachgewohnheiten verstoßen, gibt es andere, bei denen es sehr schwierig wäre, durch das Zusammentragen von Reihen von écarts zu einer befriedigenden Definition des geistigen Etymon zu kommen. Wenn man mit Bally von choix spricht, so denkt man an Wahlmöglichkeiten in der Äußerungssituation. Spitzer hingegen meint mit écart die Aussage. Was uns dabei besonders schwer akzeptierbar erscheint, ist Spitzers Vorgehen, das darin besteht, von Elementen der Aussage auf die Subjektivität des Schriftstellers, auf dessen innere Erfahrung zurückzuschließen. Spitzer selbst hat von dieser Verknüpfung in den letzten Jahren seiner Forschertätigkeit Abstand genommen, ohne allerdings seine neuen Vorgehensweisen zu einem theoretischen Modell zu vereinen. Statt konstitutiver Textmerkmale kann man in den écarts vielmehr nützliche Anhaltspunkte für den wissenschaftlichen Leser auf seinem Interpretationsweg sehen. So sieht es Starobinski, der die unbestrittene Genialität des Interpreten Spitzer über seine methodologische Bedeutung stellt.9 Während uns die Aussage immer als sprachliches Endprodukt vor Augen liegt, lässt sich die Äußerung, die dazu geführt hat und in deren Rahmen der choix vollzogen worden ist, nicht mit letzter Sicherheit rekonstruieren. Während es Bally, von der theoretischen Warte aus, freisteht, ohne weiteres einen choix zwischen allen innerhalb des Systems möglichen Synonymen anzunehmen, ist immer noch zu bedenken, dass der écart vom Schriftsteller innerhalb einer Gesamtheit von Wahlmöglichkeiten getroffen worden ist und dass die getroffenen choix ihm von seinen Sprachgewohnheiten, seinem gegenüber dem System der Sprache ärmeren

8

9

L. Spitzer: „Zur sprachlichen Interpretation von Wortkunstwerken" [1930], in: L. Spitzer: Romanische Stil- und Literaturstudien. Bd. I. Marburg: Elwert 1931, 4-54, hier 4. J. Starobinski: „Leo Spitzer et la lecture stylistique", in: L. Spitzer: Etudes de style. Paris: Gallimard 1970, 7-39, hier 29-30.

117 oder zumindest verschiedenen Idiolekt angeboten werden. Andererseits entspricht dieses System nicht einem Standard, einer Gemeinsprache, sondern den Schichtungen, die ich bereits angesprochen habe und die durch die linguistic diatypes definiert werden, sei es dass sie vom sozialen Milieu bestimmt oder durch die registerspezifischen Varietäten, die jede Sprache in Abhängigkeit von Diskurstypen bereithält, weiter differenziert werden. Klarer ist dieses System von der italienischen Stilistik von Devoto und Terracini, gesehen worden, die Sprache eines Schriftstellers nicht an der mehr oder weniger schwer definierbaren Standardsprache, sondern stattdessen an der Literatursprache der jeweiligen Epoche oder besser: an den Sprachen der verschiedenen literarischen Traditionen gemessen hat. Weitaus differenzierter wären die Beobachtungen, wenn jeder Vers oder jedes Wort eines Schriftstellers in Relation zu den Möglichkeiten gesetzt werden könnte, zwischen denen er sich konkret bei seinem Entscheidungsprozess bewegt hat. Genau das sind die idiolektalen Autorvarianten (wenn es solche überhaupt gibt). Ich denke hier im Besonderen an Contini und dessen Kritik der Varianten. 3. Der große Erfolg Spitzers ist in der Originalität seiner Essays und der Weite seines Bildungshorizonts begründet. Hinzu kommt, dass Spitzer einerseits, wenn auch kritisch, der traditionsreichen deutschen Romanistik, aber zugleich auch der in Deutschland, Österreich und Italien dominierenden idealistischen Philosophie verbunden war. Die nach der Jahrhundertwende als nonkonformistisch geltenden Strömungen und Fragestellungen, z.B. der Freudschen Psychoanalyse, wurden damals von Spitzers Anhängern einfach „unterdrückt". Sein literarisches Ideal war das klassische (man denke an den Begriff der „klassischen Dämpfung" im Titel eines seiner Aufsätze),10 allenfalls könnte man seine Position als spätromantische bezeichnen. In diesem Umfeld und mit diesem Geschmack eine Stilistik zu entwickeln, die immerhin auf sprachlichen Fakten aufbaute, und jene Literaturwissenschaft, die im Zeichen einer idealistischen Ästhetik hoffnungslos allgemein geblieben war, auf ein konkretes und auf Überprüfbarkeit ausgerichtetes Fundament zu stellen, das war Spitzers entscheidender Schritt: ein Schritt in Richtung auf eine nicht-impressionistische Literaturwissenschaft, das heißt eine Literaturwissenschaft, die anhand sprachlicher Daten verifizierbar und ggf. auch falsifizierbar war. Spitzer schrieb seine Stilstudien11 in den Zwanziger Jahren, als in Russland eine zweite, sprach- und literaturtheoretische Revolution im Gang war. Ich meine den nach formalistischen (oder morphologischen) Kriterien ausgerichteten russischen Linguistenkreis in Moskau und Leningrad. Seine Schüler gingen immer noch von den genialen Ideen Baudouin de Courtenays und später Saussures aus; 10

L. Spitzer: „Die klassische Dämpfung in Racines Stil", Romanische Stil- und Literaturstudien 1931, 135-268. " Stilstudien. 2 Bde. München: Hueber 1928 (mit bis zu zehn Jahren früher entstandenen Beiträgen).

118 ihre philosophischen Voraussetzungen und die ästhetischen Ideale waren andere; über Potebnja und Spet knüpften die Formalisten zuerst an Humboldt, später an die Phänomenologie an. Durch ihre enge Zusammenarbeit mit Dichtern und Filmregisseuren waren sie außerdem für die neuesten literarischen Strömungen empfänglich, besonders den Akmeismus, den Futurismus und den Konstruktivismus. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb die Formalisten bei ihrer Literaturtheorie vor allem den Begriff der Struktur als eines Ganzen où tout se tient vor Augen hatten und sich deshalb vor allem um Analysen des Gesamtkunstwerks, sein Strukturgerüst bemühten. Die Zerlegung des Erzählwerks in Motive, später auch in Funktionen, die Beschreibung der je verschiedenen Verknüpfung dieser Elemente auf der Ebene von Intrige und Fabel: der Entwurf einer daraus gebildeten Typologie dieser Verkettungen - das waren Hauptanliegen der formalistischen Literaturtheorie. Nicht, dass die Formalisten den Stil vernachlässigt hätten oder dass das Konzept des écart ihnen fremd gewesen wäre - aber ihre Sichtweise war eine völlig andere. Das idealistische Konzept der Intuition war für sie verpönt, das zweite Glied des Gegensatzpaares Form/Inhalt gering geachtet (die neue Opposition hieß Verfahren / Material), es triumphierte das literarische Kunstwerk in seiner Eigenständigkeit. Wenn sie von Desautomatisierung der Sprache und von Normabweichung sprachen, so hatte das mit der Darstellung der Inhalte und natürlich weit weniger mit der Geisteshaltung des Schriftstellers zu tun. Es ging vielmehr darum, mit Hilfe des bevorzugten Verfahrens der ostranenie, der Verfremdung, eine andere (künstlerische) Wirklichkeit zu schaffen. Wenn man an einen écart dachte, dann eher an den kollektiven: die Regelverletzung, welche, zumindest nach moderner Auffassung, jedes Werk gegenüber dem vorhergehenden darstellt. Genau das wollte der zum Prager Linguistenkreis gehörende Mukarovsky 1936 auf den Punkt bringen. „Man kann das Kunstwerk nicht mit dem Bewusstsein seines Autors gleichsetzen, wie das die psychologische Ästhetik tat, auch nicht mit der Gemütsbewegung, die es im Subjekt des Empfangers (Nutzer) auslöst; fest steht, dass jeder subjektive Bewusstseinszustand etwas Individuelles und Momentanes an sich hat, so dass ihm insgesamt etwas Ungreifbares und Nicht-Kommunizierbares anhaftet, wohingegen das Kunstwerk dazu bestimmt ist, zwischen Autor und Gesellschaft zu vermitteln".12

Stil wurde von den Formalisten in seiner Einheitlichkeit betrachtet. In der Lyrik wollte man herausarbeiten, wie mit Mitteln des Rhythmus und der Prosodie ein syntaktisch veränderter Diskurs entstand; in der Prosa wurden die sprachlichen Traditionen (Altkirchenslawisch und modernes Russisch, volkstümliche und literarische Register), in ihrer Verbindung oder ihrem Wechsel, so in Beziehung zum Dialog und den Erzählmodi (besonders die Technik des skaz), beschrieben. Auch

12 Auszüge von J. Mukaaovskys Vorträgen [ 1 9 3 6 f f ] sind zusammengefasst in: J. Mukaoovsky (1961): Schriften zur Ästhetik, Kunsttheorie und Poetik. Hrsg. und übers, von H. Siegel. Tübingen: Narr 1986. [d.Ü.].

119 hier suchte man übergreifende Definitionen, wie z.B. diejenige, wonach der lyrische Diskurs metaphorisch, der prosaische metonymisch ist. Höchst bemerkenswert ist, dass Spitzer kurz vor seinem Tode die Konvergenz zwischen der russischen, der deutschen und der amerikanischen Schule {New Criticism) bei der rationalen Beschreibung des künstlerisch-literarischen Werks lobend hervorhob. Wörtlich: „Ce qui doit frapper l'historien de notre science, c'est q u ' e n somme par trois fois, indépendemment et à l'insu l'une de l'autre, trois écoles de critique, peut-être la russe d ' a b o r d vers 1915, l'allemande, plus hésitante, ensuite, et, plus tard, vers 1930, l'américaine, ont tenté une description de l'œuvre littéraire sans recours à l'irrationnel romantique, description au contraire rationnelle, pour ainsi dire technique, de l'œuvre, faite de telle ou de telle façon - et trois fois, consécutivement, la langue particulière de l'œuvre, son style, attire l'attention des critiques". 13

Diese Bemerkungen zur Stilistik erhalten durch die Schlussbemerkung Spitzers einen vielsagend milderen und versöhnlicheren Ton: „beaucoup de chemins mènent vers la Rome de la stylistique, et la stylistique elle-même n'est pas la porte d'accès unique au paradis de la bonne critique littéraire". In seinem posthum in Italien veröffentlichen Aufsatz über die Aspasia von Leopardi geht Spitzer noch entschiedener in diese Richtung. Dort heißt es: „Solange der Literaturwissenschaftler die kompakte Struktur dieser Dichtung nicht herausarbeitet, kann ihr Wert m.E. nicht sinnvoll diskutiert werden. Ich denke, dass die Strukturanalyse im allgemeinen von den Kritikern vernachlässigt worden ist, die mehr oder weniger subjektiv bald diesen, bald jenen Vers würdigen, und besonders in den Kommentaren, die das Gedicht Vers für Vers begleiten, seinen Gesamtorganismus aus dem Blick verlieren, indem sie, was ein objektives Ganzes ist, das sich vor dem inneren Auge des Lesers ausbreitet, zerstückeln" [Kursivierung von Spitzer]. 14

Und, um jeden Zweifel auszuräumen, fügt er hinzu: „Eine Literaturwissenschaft, die sich auf die fragmentierende Wahrnehmung des Interpreten stützt, muss hoffnungslos scheitern". Damit scheint das Ende einer Literaturwissenschaft besiegelt zu sein, die auf der ästhetischen Eingebung beruht, wenn nicht das Ende der literaturwissenschaftlichen Stilkritik überhaupt. Wir sind damit Welten von Dámaso Alonsos enthusiasmiertem Ausruf entfernt: „La Estilística es la única possibile Ciencia de la Literatura".15

13

14

15

L. Spitzer: „Les études de style et les différents pays". Langue et Littérature. Actes du VIII e Congrès de la Fédération Internationale des Langues et Littératures Modernes. Paris: Les Belles Lettres, 23-39, hier 34-35. L. Spitzer: „L'Aspasia di Leopardi" [1963], in Id.: Studi italiani, Ed. C. Scarpati. Milano: Vita e pensiero. 1976, 251-292, hier 252. D. Alonso: Poesía española. Ensayo de métodos y limites estilíticos. Madrid: Gredos 2 1952, 482.

120 4. Schon bei den Formalisten als Vordenker angesehen, hat Jakobson an den Thesen, die in den Zwanziger Jahren aufgestellt worden waren, erst in der Tschechoslowakei und dann in den Vereinigten Staaten weitergearbeitet. Auch er hat über das Problem des stilistischen choix nachgedacht, wofür er Selektion sagt. Hier braucht nur noch einmal an seine berühmt gewordene Definition der „poetischen" Funktion erinnert zu werden: „Die poetische Funktion überträgt das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination". 16 Wie bereits Saussure, von Jakobson zitiert, formuliert hatte, „besteht die syntagmatische oder Anreihungsbeziehung in praesentia. Im Gegensatz dazu verbindet die assoziative Beziehung Glieder in absentia in einer möglichen Gedankenreihe". 17 Den Akzent stärker auf das Syntagma als auf das Paradigma legen heißt, den literarischen Text in der Ganzheit seiner Elemente erfassen: von den Phonemen mit ihren lautlichen Realisierungen über die Silben mit den Wirkungen ihrer Alternanz bis zu den Wörtern und Sätzen mit den Beziehungen zwischen ihnen, den Parallelismen und den Kontrasten. Es heißt ferner, nicht die einzelnen Stilelemente, sondern Gesamtstile in ihrer Komplexität zu analysieren und zu diesem Zweck die stilistischen Wahlen nach allgemeinen und rationalen Kriterien zu definieren - eine Auffassung, die durch eine der von Jakobson so geliebten Anekdoten illustriert wird. Er schreibt: „Als 1919 im Moskauer Linguistischen Zirkel über die Frage diskutiert wurde, wie können die epitheta ornanantia definiert und abgegrenzt werden, wies uns der Dichter Majakovskij zurecht und sagte, daß für ihn jedes Adjektiv schon dadurch ein poetisches Attribut sei, daß es in Dichtung stehe; dasselbe gelte für ,groß' und .großer B ä r ' oder ,groß' und ,klein' in Moskauer Straßennamen, wie Bol'shaja Presnja und Malaja Presnja. Mit anderen Worten, Poesiehaftigkeit ist nicht etwas, was der Rede mit rhetorischem Schmuck hinzugegeben wird, sondern eine vollständige Neubewertung der Rede und aller ihrer Teile, welcher Art sie auch immer seien". 18

Genau das hatte, wie im Zitat Majakovskij, auch Schelling angekündigt: „In dem wahren Kunstwerk gibt es keine einzelne Schönheit, nur das Ganze ist schön". 19 Natürlich kann ich an dieser Stelle kein erschöpfendes Urteil über die Literaturtheorie der Formalisten und Jakobson abgeben, ich denke aber, dass sie es waren, die dem großangelegten Projekt, Erfassung der écarts im Rahmen einer fundierten literarischen Stilistik und Interpretation auf der Grundlage einer rationalen Stilanalyse, einen entscheidenden Schlag versetzt haben. Markierte und unmarkierte Wörter und Ausdrücke folgen im Text aufeinander und tragen alle gleichermaßen zu seiner Gesamtbedeutung bei. Die Markierungen sind auch nicht nur lexikalischer und phraseologischer, sondern auch phonischer, rhythmischer usw. Art und können

16

17

19

R. Jakobson: „Linguistik und Poetik" [1960], in: J. Ihwe (ed.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. II/l. Frankfurt am Main: Athenäum 1972, 142-178, hier: 153. Saussure, Grundfragen, 1967, 148. Jakobson 1972, 177-178. F. W. J. Schelling: Philosophie der Kunst. Bd. III. Werkedition von M. Schröter. München: Beck und Oldenbourg 1927, 379.

121 die Grenzen des Wortes und des Syntagmas überschreiten. Markiert und unmarkiert folgen sie aufeinander und verbinden sich auf verschiedenen Ebenen miteinander, sie tragen so zur Konstituierung des Stils bei. Gerade wegen dieser Zentrierung auf die Nachricht (message), um es wieder mit Jakobson zu sagen, stellt der literarische Text als Ganzes einen écart dar. 5. Den Formalisten nahestehend, wenn auch selbst keiner von ihnen, hatte Bachtin das Glück, länger produktiv bleiben zu können. Übrigens hatte ein merkwürdiges und freilich nur für uns günstiges Schicksal dazu geführt, dass seine Arbeiten im Verborgenen blieben, bis sie in den 1960er und 1970er Jahren an die Öffentlichkeit kamen. Im Unterschied zu den Formalisten spricht Bachtin viel über Stil, aber um ihn völlig anders zu beschreiben als Spitzer. Ich beziehe mich nicht auf den genialen, aber anfechtbaren Band über Rabelais, sondern vielmehr auf die im russischen Original erstmals 1929 erschienene und 1963 erweiterte und überarbeitete Dostoevskij-Studie Probleme der Poetik Dostoevskijs ( 2 1971) und an die 1934 begonnenen Aufsätze Das Wort im Roman (1979) und Formen der Zeit im Roman (1989), die im Original Slovo v romane erst 1972 auszugsweise veröffentlicht wurden und schließlich 1975 in einem Aufsatz-Band komplett erschienen sind. 20 Nach Bachtin kann man eigentlich nicht vom Stil eines Romans, allenfalls von Stilen sprechen. Außer der direkten Erzählung des Autors sind Typen der stilistischen Gestaltung wie mündliche Erzählung, durch einen Erzähler dargestellte Erzählung, Wiedergabe literarischer, aber außerkünstlerischer Rede des Autors, Wiedergabe der Figurenrede usw. zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund ist der Stil des Autors nur Untermenge eines viel größeren Ganzen. Außerdem arbeitet jeder dieser Stile mit Elementen aus den vielfältigen Sprachschichtungen (linguistic diatypes). In dem Maße, wie die Sprache eine „vielstimmige Ansicht von der Welt" ist, d.h. wie sie Spuren ideeller, kultureller und sozialer Kontraste in sich trägt, ist der Schriftsteller derjenige, der sie in dialektische Beziehung zueinander setzt. Das Sprachsystem erscheint also nach Bachtin wesentlich komplexer und vielfaltiger als für Bally; durch das, was von ihr im Text aufscheint, dringt die Vielfalt der gesellschaftlichen Konflikte in das literarisch-künstlerische Werk ein. Die Erforschung dieser Stile geht also Hand in Hand mit der Erforschung der im Werk evozierten Standpunkte. Und Bachtin zeigt uns sehr schön, dass der Autor sich nicht auf das Wort einzelner Figuren und deren Standpunkte beschränkt. Irgendwie ist er selbst immer anwesend - das heißt nicht so sehr mit seinem eigenen Stil wie vielmehr durch die Handhabung der Stile anderer. Da ist vor allem die von Bally entdeckte erlebte Rede, in welcher sich die Autorrede mit der Figurenrede vermischt und die z.T. auch die Deiktika, Emotionalität, Formeln und sprachliche Eigenheiten übernimmt. Dazu kommt eine riesige Skala, die von der Stilisierung bis zur Parodie reicht und indirekt die Einstellung des Schriftstellers gegenüber

20

Zur Quellenlage und Bachtin-Rezeption vgl. Beitrag I. 3. in diesem Band [d.O.].

122 dem, was die Figuren sagen und denken, offenbaren soll. Was sich dabei abspielt, ist ein ständiger Dialog zwischen dem Autor und seinen Figuren, zugleich ein ständiger Konflikt der Ideen, die jede der Instanzen verkörpert und die sich in jedem Satz des Textes dialektisch miteinander verbinden. Zur ersten Neuerung, die in der Ersetzung des Stils durch die Stile lag, kann man hinzufugen, dass jeder Stil sodann durch seine style markers, darunter natürlich vor allem die Ideologeme, definiert werden kann. Eine zweite Neuerung besteht in der Entdeckung der Perspektive, der wechselnden Points ofView, die der Autor mit immer neuen Effekten einnehmen kann.21 So wird die formalistische Segmentierung des Textes erneuert und bereichert. Aber die wichtigste Neuerung liegt darin, die realen und fiktiven Sender des Diskurses, den der Text selbst darstellt, und der Diskurse, die er enthält, alle Träger von Ideen, Meinungen und Emotionen, in Bewegung gesetzt hat. So kommt es unweigerlich zur Berührung mit den besonders aus Amerika kommenden Theorien über Autor und impliziten Leser, Erzähler und Leserfigur usw., was verhindert hat, dass der Text ohne kommunikative Beziehung im Raum steht. 6. Auch Jakobson hat immer den Kommunikationskreislauf vor Augen gehabt, bei welchem ein Sender einem Empfanger eine Nachricht übermittelt. Dass er sein Hauptaugenmerk auf die Nachricht gerichtet hat, erklärt sich aus den besonderen Merkmalen literarischer Kommunikation, bei der es um die Beziehung zwischen einem abwesenden Sender und einem anonymen Empfänger geht. Der Kommunikationskreislauf betont die per definitionem kommunikative Funktion des literarischen Textes, erinnert uns aber auch daran, dass der literarische Text ein sprachliches Erzeugnis mit einem semantischen Inhalt, d.h. mit Bedeutungen und einem Sinn ist. Mit anderen Worten, es ist ein semiotisches Produkt. Der Sender, der nicht mehr als biographische Person oder als Träger von Gefühlen zu betrachten ist, übernimmt die Verantwortung für den semiotischen Status des Textes, der Empfänger ist derjenige, der den semiotischen Inhalt des Textes selbst aktualisiert, das heißt reaktiviert. Deshalb ist für den Empfänger die angespannte Aufmerksamkeit für die sprachliche Form des Textes unumgänglich, denn ein Text ist zuallererst ein sprachliches Produkt. Nur kann man nicht ohne Ende bei diesem sprachlichen Aspekt stehen bleiben, denn der semiotische Charakter des Textes weist der Sprache über die informative Funktion, wie sie in der Gebrauchssprache primär ist, viel reichere und vielschichtigere Funktionen zu. Die Sprache des literarischen Kunstwerks umfasst eine potentiell unendliche Zahl von kommunikativen Funktionen. Einen Anfang zu ihrer Systematisierung hat Hjelmslev mit dem Konzept der konnotativen Semiotik gemacht. Seine Anregungen sind mit dem Bild von der Pluralität der Ebenen oder der Konvergenz der Kodes nur unsystematisch weiterentwickelt worden. Festhalten können wir, dass der literarische Text eine ganze Welt in sich trägt, so le-

21

Vgl. dazu Beitrag III. 2. in diesem Band.

123 bendig und so kompliziert wie die Welt, in der wir leben. Es bleibt schwierig, alle Prozesse zu definieren, durch die diese Welt in die Linearität und Chronologie eines Textes gebracht wird. Dass es diese Prozesse gibt, ist jedoch offensichtlich. Was die Transformationsgrammatik dazu zu sagen hat, ist absolut embryonal. Jedenfalls kommt uns das Programm, das dazu bestimmt ist, in der Wahl der Wörter oder Ausdrücke den Schlüssel zum Schöpferischen zu finden, allzu einfach vor. Wie schon Spitzer vorauszuahnen schien, ist die literarische Stilistik am Ende. Immer noch ergiebig ist hingegen eine linguistisch fundierte Stilistik, die für eine erste Analyse des Textes unentbehrlich bleibt. Zu dem schon mehrfach angestellten Vergleich zwischen Spitzer und Bally fallt mir ein Bild ein: dass der großartige Höhenweg, den Spitzer eingeschlagen hat, weniger weit führt als der schmale und bescheidene Weg, den Bally gewiesen hat.

2. Perspektive und Polyphonie in der Erzähltextanalyse

1. Eine Literaturwissenschaft war und wird wohl auch in Zukunft eine Illusion bleiben, will man unter Literaturwissenschaft" das verstehen, was in den Naturwissenschaften damit gemeint ist, also Bestimmung von Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeit der experimentellen Überprüfung. Das hängt damit zusammen, dass der Bereich des Sinnes, zu dem eben literarische Phänomene gehören, durch Subjekte, zwei oder mehr, bestimmt wird und sich dieser somit in dem Maße verändert, wie Subjekte sich verändern. Nehmen wir ein anderes, nicht weniger entscheidendes Merkmal von Wissenschaft, nämlich die Tatsache, dass an ein und demselben Problem mehrere Forscher, auch zu verschiedenen Zeiten und jeder mit anderen Voraussetzungen, zusammenarbeiten können, so können daraus polyzentrische Entwicklungen entstehen. So betrachtet kann auch die Literaturtheorie einen Platz im Umkreis der wissenschaftlichen Methodologien in Anspruch nehmen. Ist die moderne Literaturtheorie in dieser Weise entschlossen, ihre Ambitionen zu beschränken, so eröffnen sich ihr neue, selbst unvermutete Möglichkeiten der Zusammenarbeit und vertiefter Reflexion, Möglichkeiten, wie sie anderen Interpretationsmethoden, die auf so Ungreifbares wie Geschmack und Intuition oder auf so Unvorhersehbares wie die Assoziation von Themen und Begriffen vertrauen, fremd geblieben waren. Und sie kann sich vornehmen, Strategien für die Annäherung an Texte zu entwickeln. Ein Beispiel dafür werden uns in diesem Beitrag die theoretischen Ansätze zur Perspektive in der Erzählung liefern, die in der angelsächsischen Literaturwissenschaft besonders weiter entwickelt worden sind. 2. Am Anfang steht mit Henry James ein Romancier, der in einer Reihe von Vorworten aus den Jahren 1907-1909 (später gesammelt in The Art of the Novel, New York 1934) seine eigenen Erzählstrategien kommentiert. Für ihn hat der Romanschriftsteller die Aufgabe, die Illusion einer realen Handlung herzustellen, und zwar dadurch, dass das Geschehen in das Bewusstsein bald der einen, bald der anderen Figur gerückt und so die platte Neutralität des „allwissenden Erzählers" vermieden wird. James verlieh damit der Unterscheidung zwischen immediate scene (showing) und summary narrative (telling) (oder, wie Stanzel sagen sollte, „szenischer Darstellung" und „berichtender Erzählung"), eine genaue Bedeutung, die man schon auf Piatons Unterscheidung zwischen mimesis und diegesis zurückführen kann. Die Metapher des Standpunkts oder der Perspektive betrifft einen

126 für alle Erzählwerke wichtigen Gedanken, nämlich den der Beziehung des Schriftstellers zu seinem Stoff. Eine reine Sachdarstellung ist nur in einem Bericht möglich, wo der Autor, ob er nun Milieus und Handlungen beschreibt oder Gefühlsverfassungen analysiert, seinen Stoff anschaut und versucht, diesen mit den Augen seiner erzählenden Figuren zu sehen, die gerade im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit sind. Anders ausgedrückt, der Stoff erhält, mit dem Brennpunkt der einen oder der anderen Figur, eine feste Richtung, wobei der subjektive Charakter jeder Erfahrung erhalten bleibt. James ist sich mit anderen Worten eines allgemeinen Prinzips der Erzählung bewusst geworden und hat dieses selber angewandt. (Dass er der Bruder eines der Begründer der Pragmatik war, ist sicherlich mehr als ein Zufall). Einen systematischen Überblick über die Grundeinsichten von James gab Joseph Warren Beach in The Method of Henry James (New Heaven 1918) und The Twentieth Century Novel: Studies in Technique (New York und London 1932), aber die erste eigenständige Erstellung des Problems findet sich in The Craft of Fiction (London 1921) von Percy Lubbock. Er versteht unter Standpunkt oder Perspektive (Point ofView) die „Beziehung zwischen dem Erzähler und der erzählten Geschichte", und er unterscheidet vier Darstellungstypen, je nach der Position des Autors gegenüber dem Geschehen: das Panorama mit dem allwissenden Erzähler; die szenische und die dramatische Darstellung, beide in Abwesenheit des Autors; schließlich die breit angelegte, beschreibende Darstellung, die vom Autor oder einer Figur vermittelt wird. Lubbock kehrt also zu den Bemerkungen von James zurück, setzt jedoch auch neue Akzente: Möglichkeit der Vermittlung zwischen Schriftsteller und Leser, zwischen Sender und Empfänger. Dass der Autor sich, was die eine Möglichkeit ist, als Figur in seinem Text offenbart oder nicht, oder dass er von der anderen Möglichkeit Gebrauch macht, sich eines „Sprachrohrs", eines Erzählers, zu bedienen, der selbst nicht und ebenso wenig als Figur in die Geschichte impliziert ist, hat sichtbare Folgen für den Umgang des Autors mit dem Erzählstoff, aber auf einer anderen Ebene als derjenigen, auf der die Bemerkungen von James liegen. Ersetzt man Lubbocks Empirismus durch einen strikt phänomenologischen Ansatz, ist man bei F. K. Stanzel, dem es in Die typischen Erzählsituationen im Roman (Wien und Stuttgart 1955) darum geht, die Kategorien oder typischen Bauformen des Romans zu bestimmen. Er vergleicht die typologische Klassifikation des Romans mit einer Röntgenaufnahme von dessen Sinngefüge. Stanzel unterscheidet hauptsächlich drei Erzählsituationen: 1.

Die auktoriale Erzählsituation. Der allwissende Erzähler, als persönlicher Erzähler anwesend, interveniert und kommentiert von Zeit zu Zeit in metanarrativer Form. Im Unterschied zum Autor vermittelt der Erzähler zwischen der fiktiven Welt und der Autor wie Leser vertrauten realen Welt.

127 2. 3.

Die Ich-Erzählsituation. Der Erzähler der Geschichte ist eine Figur, die in der 1. Person berichtet. Die personale Erzählsituation: Der Erzähler tritt zugunsten der Figuren zurück, durch deren Inneres der Leser das Geschehen zu kennen glaubt. Wir sind damit beim konkreten Problem der Vermittlung zwischen Sender und Leser, während das bei James aufgeworfene Problem im Hintergrund bleibt.

Die wichtigsten Implikationen dieser Problematik hat N. Friedman in seinem Artikel über „Point of View in Fiction. The Development of a Critical Concept", PMLA 70 (1965) 1160-1184, gezeigt und erläutert. Abgesehen von der Klassifikation des Schlüsselkonzepts Point of View, auf das wir gleich zurückkommen werden, ist der Artikel von Friedman wegen der darin formulierten „questions" von großer Wichtigkeit, weil sie die spezifischen Probleme der literarischen Kommunikation (und nur dieser) in den Vordergrund stellen und zu einer nahezu erschöpfenden Katalogisierung von möglichen Antworten auf diese Fragen führen. Die ersten beiden Probleme sind schon von James und Lubbock gesehen worden, aber die anderen beiden sind im wesentlichen neu. Der empirische Fragenkatalog verdiente noch die eine oder andere methodologische Korrektur, aber er ist schon in seiner vorgelegten Form von großem Nutzen (Friedman 1965, 1168-79). Es handelt sich insgesamt um vier Schlüsselfragen: 1. 2. 3.

4.

Who talks to the reader (author in third or first person, character in first, or ostensibly no one); From what position (angle) regarding the story does he tell it? (above, periphery, center, front, or shifting); What channels of information does the narrator use to convey the story to the reader? (author's words, thoughts, perceptions, feelings; or characters's words and actions; or characters's thoughts, perceptions, and feelings: through which of these or combination of these three possible media does information regarding mental states, setting, situation, and character come?); At what distance does he place the reader from the story? (near, far, or shifting).1

Vgl. N. Friedman: „Point of View in Fiction. The Development of a Critical Concept", PMLA 70 (1965) 1160-1184; Schlüsselfragen, 1164-65: „1) Wer spricht zum Leser? (Autor in der 1. oder 3. Person; eine Figur in der 1. Person oder bewusst niemand Genanntes); 2) Von wo aus, aus welchem Winkel blickt er auf die Geschichte, die er erzählt (von oben, von der Peripherie, vom Zentrum aus? gegenüberstehend oder im Wechsel?); 3) Welche Nachrichtenkanäle benutzt der Erzähler, um die Geschichte dem Leser zu übermitteln? (Worte, Gedanken, Wahrnehmungen oder Gemütsverfassungen des Autors; Worte und Handlungen; Gedanken, Wahrnehmungen oder Gemütsverfassungen der Fi-

128 So werden nacheinander die Beziehungen Sender-Empfänger, Sender-Inhalt der Nachricht, Form der Nachricht selbst und die Beziehungen Empfänger-Nachricht betrachtet. Am heikelsten erscheint mir Punkt 4, der zu Punkt 2 nicht anders als symmetrisch sein kann, da der Empfänger von der Qualität der Nachricht beeinflusst wird. Was die anderen drei Fragen angeht, so scheint Frage 3 Frage 1 einzuschließen (die Channels of Information zwischen Autor und Leser können nur vermitteln, was an Nachrichten ausgesendet worden ist); ebenso scheint Frage 3 nicht von Frage 2 scharf zu trennen zu sein, da der Standpunkt der Beobachtung zugleich von dem gewählten Vermittlungskanal abhängt. Die folgende, noch empirischere Klassifikation der Points ofView trägt, wenn auch in verschiedenem Maße, zur Beantwortung der von Friedman formulierten Schlüsselfragen bei. Es ergibt sich folgende Liste von 8 Punkten: 1.

2.

3.

4.

5.

2

Editorial Omniscience.2 Allwissenheit des Herausgebers (sprich: Autors): Wahlfreiheit und Beweglichkeit des Point of View des Autors; uneingeschränkter Zugang zur Nachricht; wiederholte Einmischungen des Autors, um die erzählten Handlungen mehr zu kommentieren als darstellend zu berichten; Neutral Omniscience. Neutrale Allwissenheit wie Typ 1, aber ohne Einmischungen des Autors, Tendenz zum Beschreiben und Erläutern; Gemütsverfassungen werden mehr erzählt als dargestellt, und das immer vom Point of View des Autors. „ / " as Witness. Ich als Zeuge: Der Autor projiziert sich in einen Ich-Erzähler, der über nicht mehr Nachrichten verfügt als eine Figur hat (oder diese ableiten kann) und der dazu einen bestimmten Point of View einnimmt, von dem aus er dem Leser das Geschehen darstellt, es sammelnd und ordnend. „I" as Protagonist. Das Ich als Protagonist: Der Ich-Erzähler ist der Protagonist der Geschichte. Der Nachrichtenkanal wird enger, und der Point of View wird nach und nach unbeweglicher. Multiple Selective Omniscience. Selektive multiple Allwissenheit: Ausschaltung des Autors und des Erzählers. Die Geschichte führt sich selbst vor, so wie sie Augenblick für Augenblick von den verschiedenen Figuren erlebt worden ist. Im Unterschied zu Typ 2 werden die Gemütsverfassungen dargeboten, inszeniert, statt berichtet; sie sind im Gange, noch nicht abgeschlossen; und das immer vom Point ofView einer bestimmten Figur aus. Man könnte hier vom Wechsel des Point of View zwischen telling und

guren; durch welches dieser Medien oder welche Kombination dieser drei Medien werden die Nachrichten über Gemütsverfassungen, Milieus, Situation oder die Figur dem Leser vermittelt? 4) Welche Distanz soll der Leser zur Geschichte einnehmen ? (nah, fern, im Wechsel)". Zit. nach Friedman 1965, 1171-79.

129 showing sprechen (ich möchte sie „Indirekte Multiple Allwissenheit" nennen). Selective Omniscience. Selektive Allwissenheit (ich möchte hier von „Indirekter Selektiver Allwissenheit" sprechen). Der eingenommene Point of View ist der einer einzigen Figur. Dramatic Mode. Szenische Darstellungsform (man könnte sie „mimetisch" im Sinne Aristoteles' nennen): Handlungen und Worte der Figuren und nichts darüber, was in ihrem Innern vorgeht und was vom Leser abgeleitet werden muss. Camera. Bei der Darstellungsform Kamera werden Tranches de vie ohne Verbindungsstücke und Erklärungen vorgeführt.

6.

7.

8.

Diese acht Typen von Points ofView scheinen in absteigender Reihenfolge angeordnet zu sein, vom Maximum zum Minimum an benutzten Nachrichtenquellen. Privilegiert ist jedenfalls die Antwort auf Frage 3, während, würde man Diagramme zeichnen, die Antworten auf die anderen Fragen unregelmäßig steigen oder fallen. Wollte man beispielsweise im Sinne von Stanzel Frage 1 mehr Gewicht geben, dann würden die Typen 1,3,4 und 6 eine Klasse bilden, die durch die Intervention des Autors (1), das Ich als Zeuge (3,6) und das Ich als Protagonist (4) gekennzeichnet ist, während für die Typen 2, 5, 7 und 8 die Abwesenheit eines Vermittlers zwischen Autor und Leser gilt. Sähe man andererseits, wie ich es vorschlage, Frage 1 als Frage 3 untergeordnet an, dürfte man keine Typen auflisten, sondern eher wohldurchdachte Bündel von Typen. Besser ist es jedoch, die Skala der Antworten auf jede Frage in der möglichen Kombination zusammen mit der Skala der Antworten auf alle anderen Fragen zu betrachten. Wenige Jahre vorher hatte Wayne Booth einen wichtigen Beitrag zur Point of F/ew-Forschung geleistet: mit Kap. VI von The Rhetoric of Fiction ( 1961 ; 2 1983), und mit dem Aufsatz „Distance and Point of View", in: Essays on criticism 11 (1961), der auch ins Französische übersetzt wurde {Poétique 1 (1970) 511-524). Die Position Booths war eine z.T. andere, vor allem weil diese Art von Analyse ihm nichts über den künstlerischen Wert eines Texts auszusagen schien. Außerdem kommt es bei dem stark ethisch ausgerichteten Ansatz von Booth mehr auf die Beziehungen zwischen Autor und Leser als auf Modi und Perspektiven des Erzählens an. Daran orientiert sich dann auch die Klassifikation, die Booth vorschlägt und die an diejenige von Stanzel erinnert: 1.

Impliziter Autor oder zweites Ich des Autors. Das ist der - ein anderer als der reale - Autor, der durch die Konstruktion der Erzählung durchscheint, ein sublimierter Autor, der dem Werk immanent ist. Die Erfindung des impliziten Autors hat sich als von großem deskriptiven Nutzen erwiesen; es hat nicht lange gedauert, da erfand man symmetrisch dazu den impliziten Leser (seinerseits nicht zu verwechseln mit dem tatsächlichen, ja, der Masse der tatsächlichen Leser), dessen Züge vom Typ der

130

2.

3.

Frage bestimmt sind, die der Text impliziert (vgl. Wolfgang Iser: Der implizite Leser. München 1972). Nicht dargestellter Erzähler. Das ist derjenige, der notwendigerweise jede Geschichte filtert, ohne sich dabei als Figur zu offenbaren. Er ist als jemand zu denken, der bei den Ereignissen dabei gewesen ist, so dass er sie erzählen kann. Dargestellter Erzähler. Das ist die Figur, mitunter der Protagonist, der in einigen Romanen die in diesen enthaltene Geschichte erzählt. Er unterscheidet sich vom impliziten Autor, der eine Art Wertungsinstanz darstellt und der persönlich nicht in das Geschehen involviert ist.

Sodann gibt es noch, obgleich von Booth nicht ausdrücklich klassifiziert, auch noch so etwas wie „galante Erzähler", mit deren Augen die Autoren, oft ohne es auszusprechen, die Ereignisse sehen, die sie beschreiben; es sind die Ichs, die als £> maskiert sind (ihnen können die James'schen Points o/View übertragen werden). Ein besonderes Anliegen der ethischen Kunstbetrachtung ist die „ästhetische Distanz", die als eine Art impliziter Dialog zwischen Autor, Erzähler, Figur und Leser hergestellt werden kann. Jede der vier Instanzen kann sich mit einer oder mehreren der anderen identifizieren oder kann in Opposition zu diesen treten. Booth beschränkt sich darauf, die wichtigsten Fälle aufzuzählen: a) der Erzähler, der seine Distanz gegenüber dem impliziten Autor größer oder kleiner einstellt (dabei kann die Distanz, wie auch in den folgenden Fällen, moralischer, geistiger, physischer usw. Art sein); b) der Erzähler, der seine Distanz zu den Figuren größer oder kleiner einstellt; c) der Erzähler, der seine Distanz zum Leser größer oder kleiner wählt (denkwürdiges Beispiel ist hier der „Bildungsroman"); d) der implizite Leser, der seine Distanz zum Autor größer oder kleiner wählt; e) der implizite Autor, der zu den Figuren Distanz hält. Das heißt der Point of View ist nicht nur, wie in den bisher zitierten Ansätzen, eine Frage der Wahrnehmung, die Perspektive ist auch moralischer und psychologischer Natur; die Dinge werden nicht nur wegen der Möglichkeiten, die Optik und den Informationsstand zu wechseln, verschieden gesehen, sondern auch wegen ungleicher geistiger Einstellungen. Dass die Ereignisse verschieden wahrgenommen werden, hängt auch mit der Verschiedenheit der Menschen zusammen. Schließlich bedenkt Booth auch, um es so auszudrücken, die Brennpunktweite zur Wahrheit, nach der man die Erzähler in reliable und unreliable einteilt. Wie viel Glaubwürdigkeit dem Erzähler beigemessen wird, hängt von den Wahrheitswerten ab, die für die narrative Welt des jeweiligen Autors gelten. 3. Als Bachtin 1934/35 seine glänzende Studie über „Slovo v romane" [Das Wort im Roman] schrieb, die erst 1975 als Aufsatz-Band der Zeitschrift Voprosy literatury y estetiki publiziert worden ist, stand die Forschung zu Perspektive und Point of View noch ganz am Anfang. Darin leistet er einen leider erst heute nutzbaren Beitrag, der umso bemerkenswerter ist, als seine Prämissen völlig andere sind.

131 Bachtin geht von stilistischen Beobachtungen aus. Er weist darauf hin, dass man bei Stilanalysen den Text eines Romans immer so behandelt, als unterliege er einem einheitlichen Prinzip und als könne man ihn ohne weiteres dem Stil eines Autors zuweisen. Ganz im Gegenteil, sagt Bachtin, gibt es mindestens fünf verschiedene Grundtypen, nach denen sich die kompositorisch-stilistische Einheitlichkeit des Romans gliedert: 3 1. 2. 3. 4.

5.

das direkte literarisch-künstlerische Erzählen des Autors. die Stilisierung verschiedener Formen des mündlichen alltäglichen Erzählens (skaz). die Stilisierung verschiedener Formen des halbliterarischen (schriftlichen) alltäglichen Erzählens (Briefe, Tagebücher etc.). verschiedene Formen der literarischen, nicht-künstlerischen Autorrede (moralische, philosophische, wissenschaftliche Erörterungen, rhetorische Deklamationen, ethnographische Beschreibungen, protokollarische Informationen etc.). die stilistisch individualisierten Reden [sc. Äußerungen] der Helden (Bachtin 1979, 156).

Jede dieser Stilisierungen stellt eine Untermenge des Gesamtstils dar; auch der Stil des Autors oder zumindest des verkappten Autors ist auch nur eine dieser Untermengen. Genaugenommen hat der Roman eine weit darüber hinausgehende Phänomenologie: er ist „künstlerisch organisierte Redevielfalt, zuweilen Sprachvielfalt und individuelle Stimmenvielfalt" (Bachtin, 157). Der Roman ist ein Spiegelbild der inneren Schichtung der Sprache mit sozialen Dialekten (heute würde man mit einem schrecklichen Neologismus von Soziolekten sprechen), Berufsjargons, Gruppensprachen, Sprachen von literarischen Strömungen und Moden, politisch-ideologische Phraseologien. Nach Bachtin ist die Sprache „eine konkrete in der Rede differenzierte Ansicht von der Welt" (op. cit., 185), denn viele Wörter und Formen bewahren die „Obertöne", die sie mit einem sozialen Milieu, einem Beruf oder einer Weltanschauung verbinden; sie machen aus ihnen Ideologeme (loc. cit.). Innerhalb dieser Redevielfalt werden einige Stimmen vom Autor programmatisch angenommen: z.B. die Stimme eines konventionellen Autors im schriftlichen Diskurs oder die eines Erzählers im mündlichen und schriftlichen Diskurs, denen ein ideologisch-verbaler Horizont zugeordnet wird, welcher den realen (persönlichen) Autor v o m konventionellem Autor bzw. Erzähler trennt (genau das, was Booth betont). So erscheinen die Handlungen in einer Perspektive, die nicht mit der des Autors identisch ist, sondern eine Brechung seiner Intentionen darstellt.

3

Vgl. M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. v. R. Gräbel. Aus dem Russischen übers, von R. Gräbel und S. Reese. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, „Das Wort im Roman", 154-300.

132 Auf der Hand liegt schließlich, dass die Redevielfalt, die die Äußerungen der Figuren charakterisiert, auch in der Autorrede über die Figuren gestreut ist: „Der Held des Romans besitzt [...] stets eine eigene Zone der Einflußnahme auf den umgebenden Autorkontext [...] [In dieser] um die wichtigen Helden des Romans gelegenen Zone [...] spielt sich der Dialog zwischen dem Autor und seinen Helden ab" (Bachtin 1979, 209).

(Hier denkt man natürlich an die erstmals von Bally definierte erlebte Rede, später Gegenstand vieler Beiträge, deren Ansätze eigentlich alle in die Untersuchung über die Polyphonie einfließen müssten, wie das schon bei Uspenskij geschehen ist). Es geht hier also um „fremde Rede", um „fremde Sprache", ein „zweistimmiges Wort", das unmittelbar die Intention des Helden und in einer Brechung auch die des Autors ausdrückt. Welche Beziehung besteht nun zwischen dieser „Zweistimmigkeit" und der Redevielfalt sowie der Sprachvielfalt des Romans? Dazu schreibt Bachtin: „Zwar ist auch im Roman die Redevielfalt in ihren Hauptzügen personifiziert, in Personen mit individualisierten Stimmen und Widersprüchen verkörpert. Hier aber sind die Redevielfalten individueller Willen und des Verstandes in die gesellschaftliche Redevielfalt eingelassen und von ihr mit einem besonderen Sinn versehen. Die Widersprüche von Individuen sind hier lediglich die herausragenden Spitzen der gesellschaftlichen Redevielfalt, eines Elements, das sie widerspiegelt und unter seiner Gewalt widersprüchlich macht, ihr Bewußtsein und ihre Wörter mit seiner substantiellen Vielfalt sättigt" (Bachtin 1979, 214).

Die stilistischen und sprachlichen Auswirkungen, die von der Vermittlungsbeziehung Autor-Leser oder, wie Friedman sagt, den Channels of Information ausgehen, sind ein minimaler, wenn auch der kontrollierteste Teil der gesellschaftlichen Redevielfalt, die sich im Roman manifestiert. Dieses Thema hat Bachtin in Probleme der Poetik Dostoevskijs (München: Hanser 1971; russisch 1963 Problemy poetiki Dostoevskogo-, erste Fassung 1929 Problemy tvorcestva Dostoevskogo) wieder aufgegriffen und vertieft. Die Deutung erweist sich als doppelt schwierig angesichts des scheinbaren Widerspruchs zwischen einem polyphonen Romancier wie Dostoevskij, der eine betont einheitliche Sprache schreibt, und monologisch schreibenden Romanautoren wie Tolstoj oder Leskov, die eine große sprachliche Vielfalt an den Tag legen. Bachtin formuliert in diesem Zusammenhang das Konzept des „dialogischen Blickwinkels" (op. cit., 203) bzw. solcher dialogischer Beziehungen zwischen Sprachstilen, sozialen Dialekten usw., die als „deutende Standpunkte [als sprachliche Weltanschauungen] eigener Art verstanden werden (205). Der „dialogische Winkel" ist eine moralischideologische Position, die nicht zwingend mit linguistischen Kriterien festgelegt werden kann.

133 Zu den Spielarten der Dialogisierung lässt sich nach Bachtin folgende Klassifizierung von Diskurstypen vornehmen (Bachtin 1979, 222-223): I. Das direkte, unmittelbar auf seinen Gegenstand gerichtete Wort als Ausdruck der letzten Bedeutungsinstanz des Sprechenden II. Das Objekt-Wort (das Wort einer dargestellten Person) 1) Mit überwiegend sozialtypischer Bestimmtheit 2) Mit überwiegend individuellcharakterologischer Bestimmtheit

Verschiedene Objektivationsgrade [Grade der Objekthaftigkeit]

III. Das Wort mit Ausrichtung auf ein fremdes Wort (das zweistimmige Wort) 1) Das gleichgerichtete zweistimmige Wort a) Stilisierung b) Erzählung aus der Sicht eines Sie [a-d] tendieren bei Verminderung Erzählers des Objektivationsgrades zum c) Das nicht-objektivierte Wort des Zusammenfall der Stimmen, d.h. zum Helden, der teilweise Träger der Wort des ersten Typs Intentionen des Autors ist d) Ich-Erzählung 2) Das verschieden-gerichtete zweistimmige Wort a) Parodie mit allen ihren Nuancen^ Bei Verminderung der Objektivab) Parodistische Erzählung tionsgrades und Aktivierung der c) Parodistische Ich-Erzählung fremden Gedanken werden sie [a-e] d) Das Wort des parodistisch )- innerlich dialogisch und tendieren dargestellten Helden dazu, in zwei Worte (zwei Stimmen) e) Jede Wiedergabe eines fremden des ersten Typs zu zerfallen Wortes mit verändertem Akzent J 3) Der aktive Typ (das reflektierte fremde Wort) a) Versteckte Polemik Das fremde Wort wirkt von außen; b) Polemisch gefärbte sehr verschiedenartige Formen Autobiographie und Beichte der Wechselbeziehung zum fremden c) Jedes Wort mit Seitenblick auf Wort und ein unterschiedliches Maß ein fremdes Wort seines deformierenden Einflusses d) Dialog-Replik sind möglich e) Versteckter Dialog (An dieser Stelle verzichte ich bewusst auf mögliche Quellen, etwa auf Stanzel, an den der Ausdruck „Ich-Erzählung" denken lassen könnte; ferner auf die teilweisen Symmetrien, insbesondere die zwischen den Unterteilungen von 3: man vergleiche z.B. la, 2a und 3a; lb, 2b und 3b; lc und 2d; ld und 2c.).

134 Anders als dasjenige von Die Ästhetik des Wortes ist dieses Schema nicht taxonomischer, sondern struktureller Art. Zugrunde liegt die Beziehung zum Objekt: das direkte Wort ist auf die Gegenstände gerichtet (statt „objektiv" sollte es heute verständlicher „referentiell" heißen); das direkte Wort der Helden bezieht sich auf das Objekt; es ist selbst aber auch Objekt in seiner Gerichtetheit auf den Autor (statt „objektiv" würden wir lieber den Begriff „mimetisch" verwenden); am Ende steht ein Wort, in dem zwei Intentionen koexistieren, die zusammenfallen (III. 1) oder, bewusst voneinander getrennt, divergieren können (III. 2), oder ein einziges ausgedrücktes, polemisches Wort, das implizit auf das andere zurückverweist (III. 3). Was Bachtin die letzte Bedeutungsinstanz nennt, muss nicht notwendigerweise als Objekt-Wort ausgedrückt sein, sie kann sich auch indirekt im Wort eines anderen kundtun, also wie die Typen 2 und 3: „Zwar wird das Wort nicht zum Objekt. Denn für den Stilisierenden hat die Gesamtheit der Verfahren der fremden Rede gerade als Ausdruck eines besonderen Standpunktes Bedeutung. Er arbeitet mit einem fremden Standpunkt" (Bachtin 1979, 211).

Oder: „der Autor bedient sich der fremden Wortmanier als Perspektive" (212).

Das sind entscheidende Sätze zu unserem Thema, auch weil der Begriff Perspektive hier auf das sprachliche (verbal-ideologische) Material und nicht bloß im Sinne eines Standpunkts gegenüber den zu erzählenden Ereignissen angewendet wird. Der Unterschied zwischen Stilisierung und Parodie besteht nach Bachtin darin, dass im ersten Fall die Intention des Autors sich des fremden Wortes bedient, um seine eigenen Intentionen auszudrücken, während im Fall der Parodie das fremde Wort mit diametral entgegengesetzter Intention konnotiert wird. „Die Stimmen sind nicht nur vereinzelt, durch Distanz voneinander getrennt, sondern einander auch feindlich gegenübergestellt" (216). Im Fall von III. 3 haben wir es mit einem Diskurstyp zu tun, bei dem die fremde Rede nicht zitiert wird, sondern indirekt in derjenigen des Autors erscheint, sie knüpft an die Autorrede an und ist gleichzeitig implizit polemisch gegen sie gerichtet. Abschließend lässt sich die Typenreihe wie folgt interpretieren: III. (zweistimmiges Wort) entsteht aus der Wirkung von I. (direktes Wort) und II. (Objekt-Wort) auf III., III. (das reflektierende fremde Wort) steht für sich, II. (das verschieden-gerichtete zweistimmige Wort) erscheint in Form von III., dabei in Form von I. (gleichgerichtetes zweistimmiges Wort). Wir haben uns damit weit von den ersten angelsächsischen Theorieansätzen zum Point ofView entfernt. Der Terminus hat nicht mehr seine ursprüngliche Bedeutung von Perspektive' (Abstand und Winkel, aus dem die Ereignisse angepeilt werden), sondern eher diejenige von Weltanschauung. Die verschiedenen von Bachtin herausgearbeiteten Typen betreffen daher die Subjekt-Objekt-Beziehung, die je nachdem in der Regie des Autors liegt, die an fiktionale Vermittler delegiert wird (Erzähler oder Figuren) oder aber die durch Karikatur, Antiphrasis oder Hyper-

135 Charakterisierungen im Modus der Parodie, der versteckten Polemik oder der Stilisierung ausgedrückt wird. Es geht also weniger um die Beziehung zum Stoff der Erzählung als vielmehr um die Beziehung zur dargestellten Welt. 4. Die letzten systematischen Auseinandersetzungen mit unserem Problem stammen m.E. von Uspenskij und Genette: Boris Uspenskij: Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Komposition. Frankfurt am Main 1975 [1973] (russ. Original: PoetikaKomposizii. Moskva 1970),4 Gérard Genette: Figures III. Paris 1972. Es erscheint mir angebracht, diese Beiträge hier in umgekehrter Reihenfolge zu erörtern. Genette ordnet die hier angeschnittenen Probleme nach dem Begriffspaar Modus und Stimme. Dabei bezeichnet Modus, wie die verbalen Modi, alle Verfahren, die dazu dienen, die erzählten Inhalte unter Variation der Perspektive mehr oder weniger zu akzentuieren, während die Stimme dem „Grad der Präsenz der Erzählinstanz" entspricht. Der Modus antwortet auf die Frage: „wer ist der Erzähler?", die Stimme dagegen auf die Frage „welche Figur bestimmt durch ihren Blickwinkel die Erzählperspektive?"; die Stimme dagegen auf die Frage: „wer ist der Erzähler?"- zwei Fragen, die sich zusammenfassen lassen zu: „wer sieht?" und „wer spricht?". Damit wird die ganze theoretische Reflexion von James bis Stanzel von Grund auf neu geordnet. Die Unterscheidung zwischen Modus und Stimme erlaubt eine Schematisierung, die unter Rückgriff auf Cleanth Brooks und Robert Penn Warren in Understanding Fiction (New York 1943) zu einer Synthese zwischen einem Beschreibungsansatz wie dem von Stanzel und den Forschungsansätzen über den Point ofView führt. 5

In der Handlung als Figur anwesender Erzähler In der Handlung als Figur abwesender Erzähler

4

5

Von innen analysierte Geschehnisse

Von außen beobachtete Geschehnisse

(1) Der Held erzählt seine Geschichte

(2) Ein Zeuge erzählt die Geschichte des Helden

(4) Der analysierende und allwissende Autor erzählt die Geschichte

(3) Der Autor erzählt die Geschichte von außen

B. Uspenskij : Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform. Hrsg. und nach einer rev. Fassung des Originals bearb. von K. Eimermacher. Aus dem Russ. von G. Mayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975 [' 1973] (russ. Original: Poetika Komposizii. Moskva 1970. G. Genette: Figures III. Paris 1972, 204: Evénements analysés de l'intérieur

Evénements observés de l'extérieur

Narrateur présent c o m m e personnage dans l'action

(1) Le héros raconte son histoire

(2) Un témoin raconte l'histoire du héros

Narrateur absent c o m m e personnage de l'action

(4) L'auteur analyste ou omniscient raconte l'histoire

(3) L'auteur raconte l'histoire de l'extérieur

136 Modus und Stimme, damit Erzählinstanz und Erzählperspektive, werden durch die Opposition (1), (4)/(2), (3); die Stimme durch die Opposition (1), (2)/(4), (3) bestimmt. Dieses Schema bringt eine willkommene Vereinfachung in die Klassifikation der Phänomene Modus und Stimme (bei Genette, der, nicht ohne Kritik, auf Stanzel und Friedman verweist). Was den Modus angeht, genügt die Charakterisierung, die Genette seiner Untersuchung voranstellt: „,Distanz' und Perspektive', wie wir vorläufig sagen wollen, bilden die beiden wichtigsten Instrumente, um den Nachrichtenfluss zu steuern: Modus, also Entscheidung darüber, wie präzise jemand das Bild, das er vor sich hat, beschreiben will, und wie groß oder klein er die Distanz dazu einstellt, andererseits Blickpunkt mit der Entscheidung darüber, wie weit er den Winkel wählen, wie viel er ein- oder ausblenden will" (Genette 1972, 184).

Origineller ist, was er über die Stimme sagt, besonders über Ausdrücke wie „Erzählung in der 1. Person, in der 3. Person" usw. Denn der Erzähler kann die 3. Person, unabhängig von der Wahl der Stimme, benutzen. Genette unterscheidet stattdessen (entsprechend der obigen Matrix) zwischen Erzählungen unter Abwesenheit des Erzählers, der die Geschichte erzählt (Homer, Flaubert) und solchen mit einem als Figur anwesenden Erzähler (Lesage) - heterodiegetische bzw. homodiegetische Erzählungen; ferner zwischen Geschichten, die von außen beobachtete Geschehnisse enthalten (exogen diegetisch), und solchen mit von innen analysierten Geschehnissen {endogen diegetisch). Damit lassen sich die Typen von Erzählungen aus den vier Feldern der Matrix so definieren: 1) homodiegetisch - endogen diegetisch; 2) homodiegetisch - exogen diegetisch; 4) heterodiegetisch - endogen diegetisch und 3) heterodiegetisch - exogen diegetisch. Außer von Modus und von Stimme spricht Genette auch von „Fokussierung" und unterscheidet mehrere Typen. Diese Metapher, die wegen ihrer Herkunft aus der Optik einem Begriff wie Standpunkt oder Perspektive (vergleiche: Brennpunkt, Brennpunktweite) nahe kommt, ist mehrfach wiederaufgegriffen und weiterentwickelt worden. Ich nenne nur Mieke Bai: Narratologie. Essais sur la signification narrative dans quatre romans modernes. Paris 1977, wo dieser Begriff auf die Beziehung zwischen Fabel und Intrige angewendet wird; und zwar in einer Weise, die sich, in meine Terminologie (C. Segre: Literarische Semiotik 1980, 73-136), „übersetzt", folgendermaßen schematisieren lässt:

137 Diskurs

Signifikant

t Erzählung Intrige

Signifikat Signifikant

t Fokussierung Fabel

Signifikat

Die Intrige ist also der Signifikant der Fabel, den sie durch einen Akt der Fokussierung realisiert, und sie ist das Signifikat des Diskurses, das durch den Akt der Erzählung realisiert wird. Dieses Schema muss noch ausgebaut und vervollkommnet, vielleicht auch wieder aufgegeben werden, immerhin zeigt es in aller Deutlichkeit, die Überschneidung zwischen narratologischen (horizontalen) und perspektivischen (vertikalen) Analysen. Demgegenüber untersucht Uspenskij alle nur denkbaren Signifikate unter dem Dachbegriff des Point of View; er schlüsselt die Bedeutungen in ideologischer, phraseologischer, raum-zeitlicher und psychologischer Hinsicht auf und kommt über die Hinterfragung der Wechselbeziehung zwischen den Erzählperspektiven auf den verschiedenen Ebenen eines Werks zu Schlüssen über strukturelle wie pragmatische Aspekte, schließlich über Parallelen zwischen dem Perspektivenbegriff in Filmkunst und Literatur. Uspenskij versucht, die (überwiegend sowjetische) Literatur zu Bachtin aufzuarbeiten, ohne dass es ihm gelänge, sich von der Vermengung von sprachlicher Polyphonie und Erzählperspektive zu lösen, wogegen Bachtin, zumindest in der Theorie, noch gekämpft hatte. Aber wenn man genau hinsieht, liegt Uspenskijs Forschungsschwerpunkt auf einer anderen Ebene. Ihm geht es darum, innerhalb der Autorrede die verschiedenen Grade der Zustimmung zu den erzählten Ereignissen zu bestimmen, unabhängig von der Stimme. Typisch ist, was er über die Eigennamen sagt. In einem Roman wird eine Figur namens Vladmir Petrovic Ivanov in der Figurenrede, je nach Vertraulichkeit und Situation, Vladimir Petrovic, Vladimir, Volodya oder Vovo genannt, und ebenso verfahren Autor und Erzähler, wenn sie sich in die Figuren hineinversetzen und Vladimir Petrovic Ivanov bei dem Namen nennen, den sie bei den verschiedenen Anlässen wählen würden. Uspenskij vertritt ein neues perspektivisches Konzept, das man mit dem Begriffspaar Konformität/Nonkonformität beschreiben könnte, was jedoch nicht mit idelogischer Zustimmung zu verwechseln ist. Es ist nämlich sowohl eine (narrative) Konformität ohne Konsens denkbar wie umgekehrt (zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit oder des suspense) Nonkonformität bei gleichzeitigem Konsens. Mit Uspenskij wird die Grenze zur vollständigen Atomisierung des Schlüsselkonzepts

138 der Perspektive oder, wie es seit James in der angelsächsischen Literatur heißt, des Point of View, erreicht, wodurch ein deutlicher Gegensatz zu Vereinfachung und Schematisierung bei Genette entsteht. Eine für Uspenskij typische (sicherlich auch unbestreitbare) These lautet: „Der ganze Erzähltext kann abschnittweise in eine Menge von immer kleineren Mikrotexten aufgeteilt werden, von denen jeder durch den Wechsel Außen-/Innenstandpunkt des Autors abgegrenzt wird". Nicht weniger unzweifelhaft sind solche Kapitelüberschriften wie „Die Nicht-Übereinstimmung zwischen ideologischen und anderen Perspektiven", „Die Nicht-Übereinstimmung zwischen dem raum-zeitlichen und anderen Points of View" usw. 5. Da die Perspektive bzw. der Point ofView ursprünglich eine Metapher und kein terminologisches Konzept war, hat der Begriff in der Forschungspraxis viele verschiedene Bedeutungen angenommen: der Streifzug durch die Bibliographie hat dies hinlänglich gezeigt. Ein erstes empirisches Fazit könnte sein, dass man alle diese Bedeutungen gelten lässt, vorausgesetzt, sie sind definiert. Aber man kann noch weiter gehen. Es fängt damit an, dass ein Schriftsteller, Schöpfungen, die sein Gefühlsleben und seine Lebensauffassung involvieren, auf keinen Fall unbeteiligt nach außen bringen kann. Die Welt, von der er spricht, muss, auch wenn sie eine fiktionale ist, so dargestellt werden, als wäre sie real, das heißt ein Gegenstand direkter oder indirekter Erfahrung. Deshalb verkörpert er sich als Erzähler oder versetzt sich als Erzähler in eine Figur oder einen Protagonisten, oder er greift zu dem Trick des wiedergefundenen Manuskripts (und die Erfahrung wird dann an den Autor des Manuskripts delegiert). Auch wenn der Autor sich anfangs die Attribute der Allwissenheit und der unparteiischen Rolle eines Zeugen anmaßt, kann er nicht umhin, sich jedes Mal, Schritt für Schritt den Figuren zu nähern, und schränkt so, im selben Zug, seine Sicht auf den Horizont ein, innerhalb dessen die Figuren agieren. So entstehen die Kategorien Stimme und Modus. Zwischen diesen besteht ein entscheidender Unterschied: die Stimme, verstanden als Beziehung SchriftstellerErzählung, wird grammatisch festen Regeln unterworfen (Gebrauch von Pronomina, Deiktika) und kann sich deshalb auch in komplexeren Formen verzweigen, zum Beispiel kann eine Figur von einer anderen erzählen, die ihrerseits von einer dritten erzählt usw. ad inflnitum (eines der ersten Beispiele dafür bieten die Novellen in Pahcatantra). Umgekehrt braucht der Modus, verstanden als Beziehung Erzähler-Erzähltes, nicht grammatisch markiert zu sein, er manifestiert sich als Unabgeschlossenes, verschiebt die Grenzen des Horizonts, innerhalb dessen erzählt wird; er ist schwerer zu bestimmen und ist nicht unumstritten. Nachdem so viel über die Intersubjektivität gesagt worden ist, muss nun auch die komplementäre Richtung, die Subjektivität, betrachtet werden. Die auf Imagination beruhende Welt ist das Werk eines und nur eines Subjekts, das sich gern mit dieser Welt konfrontieren lässt, dabei aber nie aus dem Auge verliert, dass er auch ihr Demiurg ist. So entsteht eine ständige Dialektik zwischen Zustimmung und Distanzierung gegenüber den Figuren. Manchmal mag es dem Demiurgen gefallen,

139 sie agieren und sprechen zu lassen, als wären sie autonome Geschöpfe, öfter aber kann er nicht umhin, seinen Konsens bzw. Dissens zu offenbaren. Polyphonie, die Bachtin definiert hat, ist ein Diagramm von Konflikten und Reibungen zwischen den Auffassungen des Autors, den der Figur zugewiesenen Vorstellungen und denen der verschiedenen kulturellen Sphären. Man könnte in diesem Zusammenhang von ideologischem Standpunkt sprechen, welcher die Beziehung SchriftstellerSinn angeht. Die Verwirrung, die in der Diskussion über den Schlüsselbegriff der Perspektive (im Schlepptau der Point of K/ew-Forschung) geherrscht hat und die Genette bereits entscheidend verringert hat, erklärt sich aus der Tatsache, dass dieser so überaus suggestive Begriff auf Phänomene verschiedener Art angewendet worden ist. Eine weitere Klärung ist von der Feststellung zu erwarten, dass Stimme, Modus und ideologischer Standpunkt als drei, theoretisch aufeinanderfolgende, Aspekte der „Formgebung" des Erzähltextes betrachtet werden. In einem differenzierteren narratologischen Modell der Textproduktion geht es hier um den Übergang IntrigeDiskurs. Die Intrige kann in mimetischer, diegetischer oder kombinierter Form (mit allen denkbaren Variationen) realisiert werden; umgekehrt ist im Diskurs alles schon festgeschrieben und endgültig. Auf dem Weg von der Intrige zum Diskurs müssen zuvor die Kanäle hergestellt werden, über welche die Geschichte dem Leser vermittelt werden soll (Stimmen); dann wird unter sorgfaltiger Selektion im Bereich der Erzählinhalte Punkt für Punkt (und mehr oder weniger scharf) der Wahrnehmungshorizont abgesteckt, innerhalb dessen sie platziert werden sollen (Modi); konsubstantiell mit der sprachlichen Ausgestaltung ist schließlich die Vielfalt der ideologischen Standpunkte, die der Schriftsteller bezogen hat. Zwischen Stimmen und Modi gibt es keine Parallelität, aber Möglichkeiten der Kombination (ein als Figur verkörperter Erzähler kann z.B. die Wahrnehmungshorizonte anderer Figuren, von denen er spricht, annehmen); was die ideologischen Standpunkte angeht, so werden sie erklärtermaßen durch Stimmen enthüllt (man denke hier an Stilisierung und Parodie bei Bachtin), sie manifestieren sich jedoch auch in jedem Teil des Textes, in Phasenverschiebungen, selbst kleinsten ihrer Art, zwischen dem Ich-Standpunkt und den Standpunkten anderer, die durch das Ich Gestalt bekommen haben; in sprachlichen Phasenverschiebungen, die nicht nur in der Figurenrede durchschimmern, sondern auch in dem Modus selbst manifest werden, der dazu dient, um den jeweiligen Wahrnehmungshorizont der Figuren darzustellen. Idealiter erfolgt die „Formgebung" bei der Arbeit des Schriftstellers in aufeinanderfolgenden Phasen; für den Adressaten stellen sie ein fertiges Leseprogramm dar. Geht man das Programm durch, kann man von den sprachlichen Materialien ausgehend, über die Erzählinstanzen (Stimmen) oder die vielen eingenommenen Standpunkte der Beobachtung (Modi) bis zur Verteilung des semiotischen Materials vordringen - in vertikaler Richtung (vom Diskurs zur Intrige) oder in horizontaler Richtung (zwischen den Zonen für die Veräußerlichung der Intrige) eine Erkundung der sprachlich-semiotischen Zweiseitigkeit von Form und Inhalt (besser gesagt: Form und Inhalten), ein Prozess, bei dem zwischen den beiden Aspekten ein Zwi-

140 schenraum von Scheinwelt entsteht; in ihm ereignet sich als Folge von Prozessen, was am Ende ein Werk von unverwechselbarer Identität ist.

3. Mögliche Welten und prophetische Welten in den Romanen Kafkas

1. Unsere Welt ist voller Verlockungen und Schrecken, voller Gelüste und Leiden. Unsere Welt ist der einzige Raum, der unserer Erkenntnisfahigkeit und unserem Tun zur Verfügung steht; und sollte es außerhalb davon noch etwas anderes geben, haben wir allenfalls irrationalen Zugang, indem wir unseren Willen, zu glauben, befriedigen. Im Kunstwerk und besonders im erzählerischen Werk verarbeiten wir unsere Welt; die Erforschung der möglichen Welten ist ein kompliziertes Verfahren, um zu beschreiben, wie die Phantasie die eine Welt in eine andere, literarische Welt übersetzt; mit unserer Logik und unserem Verständnis des Lebens beschreibt sie eine wahrscheinliche Welt, die zuweilen reicher und instruktiver ist als die Welt, in der wir leben.1 Als Lotman und seine Schule von „Weltmodellen" sprachen, unterstrichen sie, dass es den großen Schriftstellern gegeben sei, mit ihren Werken eine synthetische, aber strukturell homologe Darstellung, eben ein Modell, von der Welt, in der sie leben, zu schaffen. 2 Aber der späte Lotmann hat das Neue hervorgehoben, das die künstlerische Welt gegenüber der realen Welt aufweist: „Die von den Gesetzen der realen Welt eingeschlossenen Objekte gewinnen durch die Kunst Freiheit, treten in neue Beziehungen und Bindungen ein und offenbaren so ihren eigentlichen tieferen Sinn". 3 Die künstlerischen Weltmodelle sind nicht nur auf die Gegenwart gerichtet. Einerseits nehmen sie durch Traditionen oder Geschichtsbewusstsein und vor allem durch die Sprache jene Bereiche der Vergangenheit in sich auf, die im Bewusstsein der Zeitgenossen noch wirksam sind. Andererseits sind sie auf die Zukunft gerichtet, wenn sie in impliziter oder expliziter Form die negativen Aspekte der Gegenwart kritisieren und den Lesern die Falschheiten und Ungerechtigkeiten der beschriebenen Welt ins Bewusstsein rücken und dabei Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte oder auch Intoleranzen und Proteste aufflammen lassen. Die besondere Sensibilität

1

2

3

Über die Anwendung des Konzepts der möglichen Welten, das auf S. Kripke und J. Hintikka zurückgeht, auf die Literatur vgl. vor allem Th. G. Pavel: Fictional Worlds. Cambridge und London: Harvard University Press 1966. Vgl. dazu meinen Überblick in: C. Segre: Avviamento all'analisi del testo letterario. Torino: Einaudi 1985. Vgl. J. M. Lotman: Cercare la strada. Modelli della culture. Introduzione di M.Corti. Padova: Marsilio 1994.

142 großer Schriftsteller kann Denk- und Lebensweisen vorwegnehmen, die sich erst in der Zukunft, möglicherweise als Folge der Verbreitung und Rezeption ihres Werks, manifestieren werden. Manchmal versuchen die Schriftsteller auch vorherzusagen, wie die zukünftige Welt aussehen wird. Man denke an die großen Utopien, angefangen bei Atalaris von Heraklit (4. Jh. v. Chr.) über die Utopia von Thomas Morus (1516) bis zu Sonnenstaat von Campanella (1623). Im 20. Jahrhundert sind Typen von Romanen aufgekommen, die durch Extrapolation des wissenschaftlichen Fortschritts in eine ferne Zukunft gekennzeichnet waren. Ich denke da natürlich an Science-Fiction, aber auch an deren Vorläufer wie Cyrano de Bergerac, Jules Verne oder H. G. Wells. Unter den Zukunftsromanen spielen auch in literarischer Hinsicht die politischen Romane eine wichtige Rolle. Darin sagen Schriftsteller, ausgehend von nach ihrer Meinung gefahrlichen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung, eine Zukunft voraus, in der diese Tendenzen eine extreme, furchterregende Richtung nehmen werden. Ich denke hier an Noi von Samjatin, an Huxleys Schöne neue Welt, an 1984 von George Orwell usw. Oft haben sich solche Prophezeiungen bewahrheitet, manchmal sind sie von der Wirklichkeit noch übertroffen worden. Was mich hier besonders interessiert, ist der Fall eines Autors, der, ohne es zu wissen, seiner Zeit noch unbekannte Seinsweisen der Welt vorwegnimmt - nicht dank prophetischer Eingebungen, sondern durch die Erkenntnis von „Krankheiten" der Gesellschaft, an denen er selbst litt und die sich wenige Jahre nach seinem Tod epidemisch ausbreiten sollten. Ich spreche von Franz Kafka. Doch bevor ich auf das Problem anhand seiner drei unvollendeten Romane (Amerika, Das Schloß, Der Prozeß) eingehe, muss ich auf sein Werk einige Modelle der möglichen Welten anwenden. 4 Bekanntlich ist die Kafka-Forschung, obwohl sein Werk in einigen Ländern und aus verschiedenen Gründen verfemt war, heute unüberschaubar. Dabei möchte ich gleich hinzufügen, dass einige Deutungen sich eher wechselseitig ergänzen als dass sie Alternativen voneinander sind, sie stellen literarische Erklärungen in den Vordergrund, laufen aber auf ein und dieselbe Fragestellung hinaus. Ich beziehe mich hier, vereinfacht ausgedrückt, auf die eschatologische, die theologische und die psychoanalytische Deutung, worunter die ersten beiden natürlich kaum und, wenn überhaupt, nur teilweise voneinander zu trennen sind. Bevor ich in die Diskussion eintrete, sei noch einmal gesagt, dass es in den Romanen nicht nur um Fälle geht, wo der Schriftsteller uns in eine andere als die normalerweise für möglich gehaltene Welt führt, wie z.B. in Die Verwandlung, wo der Protagonist, als er aus unruhigen Träumen erwacht, sich zu einem Ungeziefer verwandelt findet, oder in Die Sorge des Hausvaters und anderen Erzählungen. Die beschriebene Welt ähnelt

4

Quelle für Der Prozeß und Das Schloß nach Franz Kafka: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt am Main: Fischer 1994; Amerika. Roman. Dritte Ausgabe der Gesammelten Werke. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt am Main: Fischer 1953.

143 auf den ersten Blick unserer gewohnten Welt, mag sie auch einige Eigentümlichkeiten aufweisen, die hinter ihr eine andere Welt erahnen lassen. 2. Am Anfang soll die eschatologische Deutung von Kafka stehen, denn sie erscheint mir als die wichtigste. Ich werde ihre wichtigsten Merkmale mit den unvermeidlichen Vereinfachungen herausstellen. Im allgemeinen ist der Protagonist zu der Einsicht gezwungen, dass die ihn umgebende gewöhnliche Welt in eine rätselhafte andere Welt eingeschlossen ist, von der die seinige abhängt. Daraus ergibt sich der Gegensatz zwischen zwei Welten: einerseits die Alltagswelt, in der Herr Josef K. Prokurist einer Bank ist (Der Prozeß), oder von K., der das Amt eines Landvermessers in einem Dorf übernehmen soll (Das Schloß), andererseits die Welt des geheimnisvollen Gerichts, von dem Josef K. angeklagt wird, oder des Schlosses, von dem K. vergeblich die Anweisung zu der ihm zugeteilten Aufgabe erwartet. Wie man im Roman sieht, verwandelt sich die Beziehung von K. zum Schloss alsbald in eine gerichtliche Angelegenheit, wodurch Das Schloß und die Erzählung Der Prozeß in eine besondere Nähe zueinander rücken. Diese beiden Welten (die ich hier A und B nenne) sind räumlich voneinander getrennt, wie Dolcel hervorgehoben hat:5 die Opposition Dorf/Schloss ist horizontal, die Alltagswelt / Gericht (wie in Der Prozeß) ist vertikal, zumal das Gericht in verstaubten und unaufgeräumten Abteilungen des Dachbodens arbeitet. Von Josef K. und von K., also von A, gehen Botschaften und dringliche Bittgesuche nach B aus, wie auch B seine vorläufigen oder endgültigen Gerichtsurteile an A aussendet. Doch während die Nachrichten von B an A, wenn nicht klar, so doch eindeutig bedrohlich sind und in manchen Beispielen am Ende das Todesurteil bedeuten können, besteht in der Verbindung von A nach B niemals die Gewissheit, wirklich richtig verstanden und, schon gar nicht, dass die Nachrichten gehört werden. Dole-el spricht in diesem Zusammenhang von einer mythischen Welt mit einer dualen Struktur und asymmetrischen Beziehungen.6 Darin liegt eine zweite Besonderheit der Dualität: die Rechtsauffassung von A ist in den Gesetzbüchern und der Tradition verankert, die von B ist nicht nur unbekannt, sondern in einer für Menschen unverständlichen Form abgefasst. Als es Josef K. gelingt, die verstaubten Bücher des Untersuchungsrichters aufzuschlagen, merkt er, dass sie nichts als pornografische Bilder enthalten (Der Prozeß: Kap. III. Im leeren Sitzungssaal. Der Student. Die Kanzleien). So weiß der Angeklagte nie, wofür er eigentlich beschuldigt wird, und wenn er sich folgerichtig für schuldlos erklärt, weiß er nicht, worin die Schuld, die er leugnet, eigentlich besteht, - ein Paradox, das ihm vorgehalten wird. „Sieh, Willem, er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein" (Der Prozeß: Kap.I. Verhaftung, II); 7 und so verlangt K.

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L. Dole»el: „Intensional Functions, Invisible Worlds and Franz Kafka", Style 17 (1983) 120-140; Id.: „Kafka's Fictional World", Canadian Review of Comparative Literature 1984, 61-83. Dole'el 1984. Die Seitenzahlen sind hier wie bei den zwei anderen Romanen den unveränderten

144 vergeblich nach dem Amt, das ihm zugeteilt wurde, weil er die Motive für die Zuteilung nicht kennt, aber zugleich die Gründe nicht versteht, die zur Ablehnung gefuhrt haben. Mit anderen Worten, das Gesetz von A, das wohldefiniert und nachvollziehbar ist, ist dem Gesetz von B in seiner unbezwingbarer Rätselhaftigkeit unterworfen. Der Gegensatz zwischen Gesetz A und Gesetz B wird nach Regeln der Logik verallgemeinert. Wer in Welt A lebt, empfängt von Welt B Befehle, die nach einer anderen als der Logik von A angewandt werden. Wir befinden uns also in einer double-bind-SitmXion mit paradoxen oder kontradiktorischen Handlungsforderungen, und sie wird dadurch verschärft, dass es einen Widerspruch gibt zwischen einer Anweisung nach einer unbekannten Logik und einer eventuellen Befolgung dieser Anweisung nach einer bekannten Logik, die grundsätzlich gegen die erste Logik verstößt. 8 So halten Josef K. und K. oft lange Plädoyers und stellen ihren Gesprächspartnern bohrende Fragen, ohne jedoch jemals eine angemessene Antwort zu erhalten: sie können sich natürlich nicht in die Logik von B hineinversetzen, die von vornherein unerreichbar ist. Ein glänzendes Bild dieses Konflikts von Logiken zeigt die Parabel „Das Tor zum Gesetz" im neunten Kapitel von Der Prozeß (Kap. IX Im Dom, 144f). Der Mann vom Lande, der um Eintritt in das Gesetz bittet, wartet sein ganzes Leben lang vor einer Tür, bis er am Ende aus dieser Tür [des Gesetzes] nur einen unverlöschlichen Glanz hervorbrechen sieht (156). Er macht mehrmals Versuche, durch die Tür eintreten zu können, aber das wird ihm von einem Türhüter immer wieder verwehrt. Als er ans Ende seines Lebens gekommen ist, wird die Tür geschlossen, weil, so erklärt es ihm der Türhüter, dieser Eingang nur für ihn bestimmt war (loc. cit). Das bedeutet: Der Mann vom Lande musste durch die Tür eintreten, aber gleichzeitig verbot der Türhüter ihm immer wieder den Eintritt. Zwei einander widersprechende Anweisungen und ein Tod ohne Erlösung. Eine allerhöchste Macht will, dass der Mann vom Lande durch die Tür eintritt und gleichzeitig verwehrt dieselbe Macht ihm durch die Vermittlung des Türhüters den Eintritt. Die gegensätzlichen Weisungen talmudischer Art, die der Parabel folgen, betonen noch die Paradoxie der Handlungsforderungen. Diese Logik, die in Der Prozeß und Das Schloß die epistemischen Räume absteckt, ist in Amerika mehr in die Erzählung verwoben, was mit dem stärker segmentierten Ablauf dieses Romans zusammenhängt; er enthält viele Episoden, deren Botschaft die der beiden anderen Romane vorwegnimmt. Ich verweise auf die Szene, in der Karl Roßmann (Kap. II) von seinem Onkel sowohl dazu aufgefordert und gleichzeitig davor gewarnt wird, die Einladung des Herrn Pullunder auf dessen Landhaus anzunehmen (Kap. II. Der Onkel, 51 ff); Analoges geschieht in der Szene,

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Einzeleditionen von Frankfurt am Main: Fischer Bücherei 1960 und 1968 bzw. Frankfurt am Main. Suhrkamp 1997 entnommen [d.Ü.]. Zur genauen Definition der Doppelbindungstheorie oder der „paradoxen Handlungsaufforderungen" vgl. P. Watzlawick, J. H. Beavin, D. D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 8., unveränd. Aufl. Stuttgart: Huber 1990, 194ff. (engl. Orig.: The Pragmatics of Human Communication. New York: Norton 1967).

145 in der Herr Green einen Brief des Onkels, in welchem dieser seinem Neffen Karl den Verweis aus seinem Haus androht, wenn er nicht bis Mitternacht heimgekehrt ist, so spät aushändigt, dass der Onkel seinen Entschluss, Karl fortzuschicken, wahrmachen muss (Kap. III Ein Landhaus bei New York, 56ff). Charakteristisch für den Roman Amerika ist jedoch, dass die paradoxe Handlungsanweisung bis in das Handeln des Protagonisten eindringt. Typisch dafür ist sein Verhalten gegenüber den beiden Ganoven Robinson und Delamarche, denen Karl sich trotz ihres ständig inkorrekten Verhaltens verpflichtet fühlt; er verachtet sie und hört dennoch nicht auf, ihnen zu helfen. Das wird schlimme Folgen haben, als Karl, nachdem er endlich eine Stelle im Hotel gefunden hatte, Robinson dort heimlich einquartiert, wodurch er, ohne es zu wollen, Vorfälle auslöst, die zu seiner Entlassung führen (Kap. VI Der Fall Robinson, 156ff). Hier ist es das Schuldgefühl, das den Protagonisten zu widersprüchlichen Entscheidungen veranlasst; ein Gefühl von Schuld, an dem Josef K. und K. in den anderen Romanen nicht leiden, denn dort ist Schuld ein Makel, der nur von außen kommt. Der verzweifelte Versuch von Josef K., sich gegen eine Anklage, die von den Richtern nie explizit erhoben worden ist, zu wehren, und von K., mit dem Schlossherrn Kontakt aufzunehmen und eine Bestätigung seiner Ernennung zum Landvermesser zu erhalten, sind eindeutig Ausdruck einer Begegnung zwischen dem Menschen und einer höheren, geheimnisvollen und unnahbaren Macht. In Amerika scheint Karl wenigstens eine Ahnung von dieser Macht zu bekommen, als er im Naturtheater von Oklahoma (262ff) einer offensichtlich parodistischen, aber höchst symbolischen Inszenierung von Paradies und Hölle mit Engeln, Teufeln, grellem und mildem Licht, mit Trompeten und Trommelklängen miterlebt. Aber auch gibt es ein Plakat mit der bedrohlichen Aufschrift: „Das große Theater von Oklahoma ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal [...]. Um zwölf wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet!" {Amerika, Kap. VIII, 262). Genau wie bei der Tür in der oben erwähnten Parabel ist Karl Roßmann einer, dem tatsächlich der Eintritt gewährt wird, aber er muss dennoch sterben, wie aus einer Notiz von Kafka hervorgeht. Man kann sagen, alle drei Romane sind voller Türen; eine Tür zu schließen verkündet Unheil, durch eine Tür hindurchzugehen, flößt Angst ein oder löst Flucht aus. Auch als Josef K. im Gericht (in: Der Prozeß. Kap. III Im leeren Sitzungssaal. Der Student. Die Kanzlei) zum Ausgang begleitet wird, scheint er nicht durch die Tür hindurchgehen zu wollen („Zuerst will er weg, dann aber kann man ihm hundertmal sagen, daß hier der Ausgang ist, und er rührt sich nicht"). Nur ein naiver Leser könnte sich damit begnügen, in den drei Romanen eine Parodie auf Justiz und Bürokratie zu sehen, obgleich Kafka sich natürlich sehr gern von ihm wohlbekannten Institutionen und Situationen inspirieren lässt und sie ins Groteske überzeichnet. Dass hier etwas thematisiert wird, was mit dem Schicksal des Menschen und seiner Beziehung zum Göttlichen zu tun hat, ist nicht zu übersehen; genau diese Botschaft verleiht Kafkas Werk eine eigene Größe, es steht über allem. Ein weiteres Faktum ist, dass die Beziehung zum Göttlichen von Kafka als etwas Tragisches, bis zur tiefsten Hoffnungslosigkeit, gesehen wird. Gnade und Erlösung leuchten auf, sie erscheinen aber im Modus des Unerreich-

146 baren. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die folgende Notiz, die ganz auf der Linie der Parabel liegt: „Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten" (Drittes Oktavheft, 90). 9 3. An dieser Stelle ist noch eine weitere mögliche Welt anzusprechen: die der Religion (natürlich der jüdischen). 10 So kann Kafkas Romanwelt im Spiegel der Auffassung, welche die Religion vom menschlichen Leben in Beziehung zu den letzten Dingen hat, betrachtet werden. Die theologischen Deutungen von Kafkas Werk können uns dabei helfen. Diese Art von Deutungen sind gerechtfertigt durch das Interesse, das Kafka bekanntermaßen an der Religion hatte, ebenso wie durch seinen intensiven Kontakt zu chassidischen Kreisen, bei dem sicherlich seine Suche nach Antworten, die ihm seine laizistische Bildung nicht gegeben hatte, eine entscheidende Rolle gespielt hat. Karl E. Grözinger hat wichtiges Quellenmaterial für eine solche Deutung Kafkas zusammengetragen, und ich werde entsprechend immer wieder auf diese Sammlungen zurückgreifen." So befindet sich das Gleichnis Ende von Der Prozeß nur mit anderem Schluss im Buch Reschit Chochma von Elijahu de Vidas (Ende des 17. Jh.): „Wenn einer in das Heilige gelangen will, hat er sogleich mehrere Ankläger. Und wenn er nicht würdig ist, gleicht er einem Menschen, der vor das Angesicht des Königs treten will: Bevor er eintritt, den König zu sehen, gibt es da mehrere Tore, eines nach dem andern. Und über jedes Tor sind mehrere Wächter gesetzt, die hüten jenes Gut [der Weisheit], damit da keiner hineingeht, der nicht würdig ist einzutreten". 12

Ähnlich die Geschichte, wie der berühmte Baal Shem Tov (1700-1760) betend bis zu einem Saal gelangt, von dem aus man das Antlitz Gottes sehen kann. Aber die Tür wird von einem Engel verriegelt und verschlossen, und erst der Messias wird ihm den Schlüssel geben, mit dem er das Schloss aufschließen und zur Glückseligkeit gelangen kann. Natürlich steht für Elijahu de Vidas und Baal Shem fest, dass die Sünder abgewiesen werden, während die Tugendhaften das Antlitz Gottes schauen dürfen. Kafkas Veränderung der Parabel ist typisch für seine persönliche Art von „Übersetzung" religiöser Texte. Eine Religion kann die Erlösung nicht leugnen; sie kann

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F. Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Frankfurt: Fischer 1953 (Gesammelte Werke. Hrsg. von Max Brod). Die Bibliographie über die Religion bei Kafka, die übrigens seit Max Brod alle KafkaInterpreten thematisieren, ist überaus umfangreich. Ich nenne nur: G. Baioni: Kafka: letteratura ed ebraismo. Torino: Einaudi 1984; M. Cacciari: Le icone della Legge. Milano: Adelphi 1985 und K. E. Grözinger, S. Mosès, H. D. Zimmermann, (eds.): Kafka und das Judentum. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag bei Athenäum 1987. K. E. Grözinger: Kaflca und die Kabbala. Frankfurt am Mai: Eichborn 1992. Grözinger 1992, 31-32.

147 allenfalls, wie bestimmte jüdische Strömungen oder wie der Lutheranismus, der Meinung sein, dass Gnade nicht von den Werken, sondern von einem unergründlichen göttlichen Ratschluss abhängt. Was eine Religion nicht kann, kann ein Schriftsteller: nach Kafka ist Erlösung unmöglich. Deshalb ist auch eine solche Verarbeitung theologischer Anschauungen, um seinen Nihilismus auszudrücken, bei Kafka, einem Theologen der Hoffnungslosigkeit, nicht weiter überraschend. Auch dabei stützt sich Kafka auf eine wohldefinierte mögliche Welt, die Welt der religiösen Anschauungen des Judentums, bereichert um Elemente der Eschatologie der Kabbala und der chassidischen Volksüberlieferung. Ein besonderer Schwerpunkt sind dabei die im religiösen Kalender vorgesehenen Gerichtsszenarien: eines ist das Neujahrsgericht, dem jeder Jude bei der Wiederkehr des BußSabbats Jom Kippur, dem Fasten- und Gebetstag, zehn Tage („Bußtage") nach Neujahr, unterworfen ist. Das zweite ist das Gericht, dem die Seele jedes Menschen sofort nach seinem Tod unterworfen wird, wenn über seine Erlösung oder Verdammnis entsprechend seinen guten Taten oder seinen Sünden entschieden wird. Die Seele durchwandert viele Säle, wobei jeder davon einem Gericht entspricht. Nach kabbalistischer Auffassung ist aber die Seele des Menschen eigentlich einem kontinuierlichen Prozess unterworfen, sie wird ständig verurteilt oder erlöst; nach dem Traktat Qav ha-Jaschar ( 1705) verlässt die Seele sogar jede Nacht den Körper, um vor dem Himmelsgericht über die Taten des Menschen während des Tages auszusagen. In dieser Gerichtswelt braucht der Angeklagte auch Helfer, die Fürsprache für ihn halten, es sind häufig kapriziöse oder kuriose Wesen. Hier mischen sich komische Züge in die chassidischen Volkserzählungen: Gerichtshöfe werden mit Räuberhöhlen verwechselt, Angeklagte laufen wild von einem Saal zum anderen, ständig auf der Suche nach demjenigen, in dem über sie gerichtet wird, und bösartige Engel die Aussagen zur Erleichterung des Angeklagten verschwinden lassen. Um die Erlösung zu erlangen, sind auch Listen erlaubt: der Einsatz von sakralen Gegenständen oder das Blasen des liturgischen Horns, des Schofar. Von allen diesen Elementen machte Kafka bekanntermaßen reichlichen Gebrauch; er betonte sogar die komischen Züge eines Werkes, das doch insgesamt tragisch ist. Selbst die Verdrehungen der Gerichtswelt (jedenfalls nach menschlicher Logik), denen Kafka im Prozeß ein ganzes Kapitel widmet (Kap. VII: Advokat. Fabrikant. Maler), finden sich in einer Erzählung aus dem Buch No 'am Elimelech über Rabbi Elimelech: „Einmal baten die Juden Rabbi Elimelech, dass er für sie darum bitten solle, ein vom Himmelsgericht gegen sie gesprochener Schuldspruch möge gelöscht werden. Er wandte ein, er könne ihnen nicht helfen, denn er wisse zu gut über den Hintergrund des gerichtlichen Verfahrens Bescheid. Deshalb gab er ihnen den Rat: Geht zu einem Zaddik, der den Grund für den Schuldspruch nicht kennt, auch nicht das Urteil. Nur jemand wie er kann um Befreiung von dem Schuldspruch bitten. Vielleicht kann er etwas für euch tun".

148 Auf das Thema der Frauen, die im allgemeinen auch eine Helferrolle zwischen den Welten A und B spielen, können wir hier nicht ausführlich eingehen. Die Frauen scheinen vom Bannkreis der Sünder angezogen zu werden; sie finden die Sünder schön und haben gleichzeitig erotische Beziehungen zu den Herren der Welt B, die eine Art ius primae noctis für sich in Anspruch zu nehmen scheinen. Sie haben die Funktion von .Adjuvanten', Gehilfinnen, deren positiver Einfluss aber nur vorläufig ist, denn Erlösung ist unmöglich. Vor allem kommt durch sie das sexuelle Moment in die Romane, dessen Funktion jedoch verschlüsselt bleibt. Besonders stark tritt dieses Motiv in der Brunelda von Amerika hervor, fettleibige und abstoßende Bienenkönigin, die vier Männer aneinander bindet. So identifiziert sie sich eher mit der Macht, als dass sie noch eine Adjuvantenrolle spielen könnte. Anders liegt der Fall bei den Frauen im Prozeß und im Schloß. Dazu muss man wissen, dass Pardes Rimmonim von Moshe Cordovero, ein eindeutig emanatistisches Werk kabbalistischer Inspiration, den unteren Hallen des Himmelgerichts, eine Art negative Sephiroth [die sogenannten Ashija-Diener als auf die Erde herabsteigende Strafengel], zuweist und darin Verführung, Unreinheit von der Hurerei bis zum Ehebruch, verkörpert durch die weibliche Nachtdämonin Lilit, zulässt. So sind in den göttlichen Emanationen sowohl die erhabensten als auch die niedersten Weltmuster menschlicher Existenz dargestellt. Alles in allem kann man sagen, dass Kafka wohl auf der Seite der von der Kabbala beschriebenen Welt als möglicher Welt steht, jedoch mit einer entscheidenden Abwandlung. Im Kabbalismus sind das Gericht, die Himmelstore, die Wächter und die Sephirot Filter, welche in aufsteigender Folge die Gerechten von den Sündern trennen, wobei die heiligen Bücher definieren, was Sünde ist. Das Neue bei Kafka liegt in der Vorstellung eines Gesetzes, das den Menschen nicht kundgetan worden ist, eines Urteils, das so immer nur zur Verdammnis führen kann. „Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben" (Der Prozeß, Kap. VI Der Onkel. Leni, 73); „Ich muß es zugeben - [man hat] nicht einen einzigen wirklichen Freispruch erlebt" (Kap. VII Advokat. Fabrikant, 113); „das [sc. die Verzeihung] könnte doch höchstens Sache der Gesamtbehörde sein, aber selbst diese kann wahrscheinlich nicht verzeihen, sondern nur richten" (Das Schloß, Kap. XV Bittgänge, 181). Andeutungen einer derartigen Situation finden sich bekanntlich im Buch Hiob, die Kafka sich sehr zueigen gemacht haben muss; am Ende des Buches Hiob kommt es zu einer „Versöhnung" mit Gott, dessen Gerechtigkeit, über allen Anschein des Gegenteils erhaben, von Hiob erkannt wird. Kafka ist deutlich radikaler, und seine Auffassung von den allerhöchsten Gesetzen ist nihilistischer und tragischer als eine Negation des Göttlichen selbst. 4. Die dritte Deutung von Kafkas Werk ist die psychoanalytische. 13 Sie setzt natürlich bei dem berühmten Brief an den Vater an und leitet aus diesem Sohn-

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Beginnend mit H. Kaiser: „Franz Kafkas Inferno. Eine psychologische Deutung seiner Strafphantasie", Imago 17 (1931) 41-103, und weiterentwickelt von H. Politzer, W. H.

149 Vater-Konflikt sowohl die persönlichen Einstellungen Kafkas, z.B. zur Ehe, als auch sein Denken ab. Bekanntlich ist die Gleichung Vater = Gott ein universal verbreiteter kultureller Archetyp, und nicht umsonst bezeichnet man Gott als „Vater". Hinzu kommt, dass Kafkas Vorwürfe gegen den Vater schon Überzeugungen von Stumpfheit, Verkommenheit und „Verlottertheit" dessen enthalten, der irgendwie über uns steht. Deshalb würde ich, statt auf die Unmöglichkeit der Verständigung zwischen Vater und Sohn und die unüberwindbare Abneigung des Sohnes gegenüber dem Vater und allem, was dieser für ihn bedeutet, herauszustellen, darauf abheben, den Vater als Verkörperung der Macht überhaupt zu sehen. Walter Benjamin war der Auffassung, dass die Welt der Beamten und die des Vaters für Kafka identisch seien und dass der Vater, der der Strafende ist, zugleich als der Ankläger gesehen werde. 14 So wird aus dem Vorwurf der Unverständlichkeit und der Willkür einer oberen oder höchsten Macht - Willkür zumindest nach unserem menschlichen Urteil - ein geistiger Aufstand gegen jede Macht, insbesondere gegen politische Macht. Die Metaphern des Prozesses und der Bürokratie des Schlosses sind letztendlich auch Metonymien für das, was von der politischen Macht abhängt: Justiz und Bürokratie. Und schon in der grotesk überzeichneten Darstellung dieser Institutionen bei Kafka könnte man eine Prophezeiung der Welt erkennen, in der wir leben. Man hat Kafka in Übereinstimmung mit Brecht als „einen prophetischen Schriftsteller" gesehen. Wir werden immer mehr Opfer eines Dickichts von Regeln und einer Unzahl von häufig absurden Vorgaben, die mittlerweile unser ganzes Tun steuern, sie sind ein Albtraum, der ohne Unterlass auf uns lastet und der uns nie die Gewissheit lässt, keine Übertretungen begangen zu haben. Unsere Schuld steht mehr im Gesetz als in unserem Verhalten. Gerade dadurch, dass Kafka die paradoxe Botschaft als das charakteristische Verhältnis zwischen der Macht und den Menschen betrachtete, ist es ihm gelungen, eine Wirklichkeit zu enthüllen, wie er sie rational nie hätte vorhersehen können. Brecht brachte das auf den Punkt, wenn er meinte, Kafka habe die Zukunft gesehen, ohne zu „sehen, was das ist" und Benjamin schreibt, er habe „das Kommende gewahrt, auch wenn dieser Erfahrung keinerlei Weitblick, auch keine ,Sehergabe' zugrunde lag".15 Kafka, so meint Brecht, sei das Opfer der Angst vor dem „AmeisenStaat", er habe darin die Maschinerie der Gestapo und der GPU vorausgeahnt. Diese Deutung bestätigt Kafka selbst in seiner Skizze Zur Frage der Gesetze, die im Nachlass dokumentiert ist.16 Die Gesetze, so schreibt Kafka, sind das Geheimnis einer kleinen Partei und des Adels, die über uns herrschen; man weiß nichts von

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Sokel et al. Tiefenpychologisch, aber nicht wirklich psychoanalytisch ist der Ansatz von E. Canetti: Das Gewissen der Worte. München und Wien: C. Hanser 1976. Ich beschränke mich hier auf die von Kafka selbst erwähnte Ablehnung des Vaters. Die Schriften von Benjamin über Kafka sind in dem Band Benjamin über Kaflca: Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hrsg. von H. Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, 11-12, gesammelt. Benjamin 1981, 86. F. Kafka: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer 1970, 314-315.

150 diesen Gesetzen, nicht einmal, ob es sie gibt. Ein kleiner Teil des Volkes würde die Autorität dieser Gesetze und des Adels am liebsten verwerfen, doch wagt niemand zu rebellieren (315). Man ahnt hier Nietzsches Kategorien von Über- und Untermenschen, Kafka wohlvertraute Begriffe, und deren Verhältnis in einem diktatorialen Staat. Und es stimmt, wie wir heute sagen würden, dass Kafka nicht nur die Grundzüge eines totalitären Staates vorhergezeichnet hat, sondern auch die grauenvollste Realisierung dieses Staates, das Konzentrationslager, seien es die nationalsozialistischen Vernichtungslager oder der sowjetische Gulag oder auch andere, die berüchtigte Realität geworden sind. Betrachten wir die wichtigsten Merkmale dieser Erfindungen einer despotischen Macht. Das erste ist die Willkür, mit der die Opfer ins Konzentrationslager gesteckt werden, im Allgemeinen ohne Verfahren, jedenfalls ohne ordnungsgemäßes Verfahren. Eine fast immer anonyme Macht, verkörpert durch nie transparent gemachte Hierarchien von Instanzen, beschließt, dass bestimmte Individuen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen aus dem Verkehr gezogen und in vielen Fällen physisch oder zumindest moralisch vernichtet werden müssen. Diese Beschlüsse werden ohne das Wissen der Opfer gefasst, selbst die Kategorie persönlicher Schuld wird ausgemerzt. So bleiben nicht einmal Kranke, Alte und Kinder verschont. In Ausnahmefällen gelingt es den Opfern zu entkommen, nicht weil sie ihre Unschuld bewiesen hätten, da ihnen j a gar keine Schuld zur Last gelegt worden ist, sondern durch die Bestechung der Henker. Im Konzentrationslager herrscht zum zweiten das Gesetz der Kommunikationsverweigerung und der Willkür. Vor allem halten die Lageraufseher es für nützlich, ihre Befehle nie zu begründen, die im allgemeinen eben reine Willkürakte sind; überdies dürfen sie über Leben und Tod der Gefangenen entscheiden. Aber das größte Kommunikationshindernis ist ausgerechnet die Sprache, wie Primo Levi in Kap. IV seines großartigen Werks Die Untergegangenen und die Geretteten (/ sommersi e i salvati) unmissverständlich beschrieben hat. 17 In den nationalsozialistischen Lagern werden Gefangene, die aus allen Ländern der Welt kommen, auf Deutsch oder Polnisch aufgerufen, Sprachen, die sie nicht kennen, sogar in irgendeinem Jargon, da die Aufseher größtenteils Kriminelle oder primitive Soldaten sind. Die Unverständlichkeit ihrer Befehle macht die Aufseher nur noch grausamer, die durch den unvermeidlichen Ungehorsam ihrer Gefangenen gereizt werden und in ihrer Dummheit diejenigen als Tiere behandeln, die nicht ihre Sprache sprechen, eben die Sprache der Macht. Die deutschen Lager endeten für Juden und andere Gruppen mit ihrer physischen Vernichtung, mit eigens dafür entwickelten Technologien. Millionen von Josef Ks fanden, statt wie ein Hund von zwei anonymen Herren oder besser: Engeln des Bösen hingerichtet zu werden, den Tod in Gaskammern. Vielleicht hatten sie nicht einmal mehr Zeit, sich wie Josef K. zu fragen: „Wo war

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P. Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. München: DTV 21993; Hanser '1990, Kap. IV. (it:/sommersi e i salvati [1986], in: Opere I. Torino: Einaudi 1987)

151 das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war?" (Der Prozeß, Kap. X Ende, 165).

Man hat oft gesagt, dass die Figuren der beiden letzten Romane von Kafka ohne Psychologie seien; das ist eine Tatsache, die ihre Modellhaftigkeit umso mehr steigert. Josef K. und K. sind vor allem Unschuldige, Reine; um ihre Unschuld zu beweisen, halten sie manchmal Plädoyers mit plausiblen Argumenten und nicht ohne Eloquenz. Ihre Argumente sind menschliche. Aber die Menschlichkeit hat von Anfang an verloren, wo Mächte herrschen, die ihr völlig entfremdet sind. Da ist die Situation des Menschen gegenüber dem Absoluten. Das ist die Situation dessen, der einer absoluten Macht zum Opfer fällt. Absolut, das heißt ohne irgendeine Bindung, ohne irgendeine Rationalität. Das hat Kafka schon gesehen, als die Welt sich noch in den Illusionen des Fortschritts wiegte. Die von Kafka erfundene Welt ist eine prophetische Welt.

4. Der Fall Dora: Anamnese und Roman

1. Zwei Textstellen aus der Krankengeschichte von Dora sind wohl Beweis, ja Herausforderung genug, um dieses Werk als Erzählung oder kurzerhand als Roman zu betrachten.1 Die eine steht im Vorwort: „Ich weiß, dass es - in dieser Stadt [Wien] wenigstens - viele Ärzte gibt, die - ekelhaft genug - eine solche Krankengeschichte nicht als einen Beitrag zur Psychopathologie der Neurose, sondern als einen zu ihrer Belustigung bestimmten Schlüsselroman lesen wollen" (Freud V, 165). Was Freud hier fürchtet und deshalb von vornherein als „ekelhaft genug" abstempelt, ist die klatschsüchtige Suche nach den Personen, von denen das Werk mit der gebotenen Sachlichkeit spricht, und das trotz geänderter Namen und Orte. Doch gebraucht er den Begriff „Schlüsselroman" nicht von ungefähr, und wir wollen das enthaltene nomen communis, „Roman", etwas genauer betrachten. Die Anspielung auf die Erzählliteratur kehrt nämlich an späterer Stelle wieder, dort unter Verwendung des Begriffs „Novelle": 2 „Ich muss nun einer weiteren Komplikation gedenken, der ich gewiss keinen Raum gönnen würde, sollte ich als Dichter einen derartigen Seelenzustand für eine Novelle erfinden, anstatt ihn als Arzt zu zergliedern. Das Element, auf das ich jetzt hinweisen werde [sc. die unbewusste Homosexualität Doras], kann den schönen, poesiegerechten Konflikt, den wir bei Dora annehmen dürfen, nur trüben und verwischen; es fiele mit

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Bruchstück einer Hysterie-Analyse 1905 [1901], in: S. Freud: Gesammelle Werke. Chronologisch geordnet. Hrsg. von Anna Freud. V. Bd. Werke aus den Jahren 19041905. Frankfurt am Main: S. Fischer "1968, 161-286 [London '1942], Auch an anderen Stellen gebraucht Freud den Ausdruck „Novelle": „und es berührt mich eigenthümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren", wie in der Fallstudie D. Fräulein Elisabeth von R. ... , in: S. Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. I. Bd. Werke aus den Jahren 1892-1899. Hrsg. v. Anna Freud. Frankfurt am Main: S. Fischer 31969 ['1952], 196-251. Wichtiger noch ist der Gedanke, der in unmittelbarer Nähe steht: „[...] eine eingehende Darstellung der psychischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, [gestattet mir], bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen" (227).

154 Recht der Zensur des Dichters, der j a auch vereinfacht und abstrahiert, wo er als Psychologe auftritt, zum Opfer" (Freud V, 220).

Man beachte besonders Ausdrücke wie „Dichter", „erfinden", „den schönen poesiegerechten Konflikt". Ohne die Aussagen Freuds (die von vielen, vor allem modernen Erzählern widerlegt werden würden) diskutieren zu wollen, erscheint uns entscheidend, dass der von Dora durchlittene Konflikt überhaupt als Thema einer literarischen Erzählung in Betracht kommen konnte. 2. Gewiss ist die Krankengeschichte von Dora kein Roman.3 Die Personen und Situationen sind realer Natur, nicht erfunden. Das Traktathafte, Argumentative und Apologetische durchzieht die gesamte Erzählung, sei es, dass es die Logik der Beweisführung bestimmt, sei es, dass es offen zutage tritt in den Passagen, in denen nicht mehr die Geschichte Doras erzählt und gedeutet wird, sondern, von dieser ausgehend oder zu ihr führend, Grundsätze von allgemeiner Gültigkeit dargelegt werden oder in denen Freud sich selbst rechtfertigt (V, 163-164; 202-205). Es gibt dennoch keinen Zweifel daran, dass ein Werk wie dieses in eindrucksvoller Nähe zum Roman steht. Und ein Vergleich beider Aspekte miteinander könnte für die Reflexion sowohl über den Roman als auch über die darlegende Methode Freuds bei seiner Deutungsarbeit von Nutzen sein. Ziehen wir aus der langen Debatte über den Roman Bilanz, so können wir als für jeden Roman wesensbestimmend die folgenden Elemente festhalten: 1) Figuren, davon eine oder mehrere in dominierender Rolle; 2) die von den Figuren ausgehenden Handlungen; 3) Motivationen dieser Handlungen. Die drei Elemente verbinden sich zu einer für den Roman konstitutiven Einheit in der Fabel, die die Handlungen bestimmt, welche die Figur, geleitet von ihren Motivationen, im Rahmen einer Erfahrung und / oder eines Wollens und/oder eines Schicksals vollzieht. Im allgemeinen ist es die Fabel, die die drei genannten Elemente zusammenführt und nach historisch-künstlerischen Gesichtspunkten hierarchisiert. In einer Fallstudie steht die Hierarchie von vornherein fest. Der Patient, der sich der Behandlung unterzieht, ist der Kandidat für die Protagonistenrolle; ferner sind die Handlungen, die überwiegend schon abgeschlossen sind (im Fall Doras werden die Ereignisse in einer chronologischen Tabelle vorangestellt), vor allem Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der Motivationen. Die Motivationen spielen also die Hauptrolle bei den Krankengeschichten, während der Roman gewöhnlich von den Handlungen konstituiert wird. Ich füge hinzu, dass im Roman die Figur

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Romanhafte Elemente bemerkt auch F. Krumm: „Dora o l'inconscio convitato". II ritorno del flaneur. Torino: Boringhieri 1983, 72-89. Ich möchte hier besonders auf eine strukturelle Bedeutung aufmerksam machen: „nicht nur gilt, dass sich die Krankengeschichten wie Novellen lesen (vgl. dazu auch Anm. 2), sondern auch die Sitzungen bilden eine Reihe mit Unterbrechungen, wie dies sonst aus dem Fortsetzungsroman bekannt ist (85); bemerkenswert sind dabei auch Ausführungen über erzählte Zeit, Zeit der Erzählung und Lesezeit.

155 sich mit der realen Welt auseinandersetzt, während in der Krankengechichte der Konflikt sich im Innern abspielt: zwischen einander entgegengesetzten Antrieben der Psyche. Die äußere Wirklichkeit ist in der Neurose funktionalisiert, introjiziert worden. 3. Im Fall von Dora haben die Handlungen kaum Gewicht: die „Kußszene"; die „Szene am See" mit Liebeserklärungsversuchen von K.; die Selbstmorddrohung; der indirekte Selbstmordversuch von K. Weitaus aufschlussreicher ist eine Betrachtung der Beziehungen zwischen den Personen. Der erste Versuch, diese Beziehungen zu deuten, lässt sich von Freud zu Beginn der Behandlung ableiten. Die Familienmitglieder (zwei männliche und zwei weibliche) könnten in ein typisch ödipales Schema gebracht werden:

B Hier wie auch in den anderen Schematisierungen stehen Pfeil für erotische Beziehung, durchstrichene Linie für abgebrochene oder jedenfalls negative Beziehung. Die Symbole sind: D(ora), V(ater), M(utter), B(ruder), K l (Herr K.), K2 (Frau K.), G(ouvernante). Freuds erster Deutungsversuch wird jedoch als Hypothese fallengelassen und erst bei fortgeschrittener Behandlung wieder aufgegriffen (177-178; 216), in dem Augenblick nämlich, als die zentrale Rolle der Beziehung zwischen D und K l klarer wird (193-194), deutet sich auch die Spur einer erotischen Beziehung zwischen D und V an, wobei von Freud das Argument einer unauflösbaren „Reaktionsverstärkung" gebraucht wird (214-215; 227-228). Dazu folgendes Schema: D

-Kl

V

— K2

Charakteristisch für diesen Typ von Neurose ist, dass solche Beziehungssysteme sich nicht entwickeln können: weder die Anziehung durch K l noch die ödipale Bindung zum Vater können zu einer Erfüllung führen: die Heilung liegt gerade in der Lösung von den beiden Bindungen, im Verlassen des Systems.

156 Was Dora mehrmals erprobt, ist hingegen die Mittelstellung, die K2 zwischen ihr und V einnimmt. Daraus ergibt sich das weitere Schema: D

G

V

Dieses Schema greift bei wenigstens zwei Gelegenheiten: im Zusammenhang mit der Gouvernante, die bei Dora in Ungnade fällt, als diese bemerkt, dass sie nicht ihr zugeneigt, sondern in V verliebt war; und bei der Denunzierung von K2, als Dora erkennt, dass die Bindung K2-V stärker ist als die Beziehung K2-D. In der Reihe D-K2-V sieht Freud eine Komponente von Homosexualität: deshalb müssen wir in dem oben dargestellten Viereck einen Pfeil D-K2 ergänzen; aus der Verdreifachung der Pfeile folgt die Bewegungslosigkeit. Nicht weiter auszuführen ist hingegen die Übertragungsbeziehung D und Freud, da diese Beziehung, wie Freud mit Bedauern in aller Offenheit feststellt (Bd. V, 272-273), im Verlauf der Therapie nicht vertieft werden konnte. In demselben obigen Viereck spielen sich auch die wichtigsten Ereignisse in Doras Geschichte ab. Auf einer vordergründigen, von Freud nicht vernachlässigten Ebene kann man sagen, dass jede von D ausgeführte oder unterlassene Handlung aus Eifersucht oder Rachsucht geschieht. Doras positive Einstellung zur Beziehung V-K2 soll nur die im Unbewussten ersehnte Beziehung D-Kl verdecken, gerade als Dora sich wegen der entsprechenden Werbung des Vaters zur Verteidigung ihrer eigenen Beziehung rächen will: daher die „Kußszene". In der „Szene am See" ist K zurückgewiesen worden, weil er dieselben Worte benutzt hatte, die er gerade gegenüber der Gouvernante gebraucht hatte, mit der er ein Verhältnis gehabt hatte; der Vater wird seinerseits aus Eifersucht gegenüber Frau K zum Objekt lodernder Hassgefühle. Aus Rache an K reaktiviert D den Ödipuskomplex; aus Rache gegen den Vater inszeniert sie den Selbstmord. Und immer noch aus Rache an K wird Dora ihre Therapie bei Freud unterbrechen, den sie damit durch eine Übertragungshandlung bestraft. 4. So entsteht der lineare Konflikt, dessen Schönheit Freud mit der bereits erwähnten Charakterisierung unterstreicht: ein „schöner poesiegerechter Konflikt" (Bd. V, 220). Aber dahinter steckt etwas ganz anderes: jetzt nicht mehr nur Psychoanalytisches, sondern auch Erzähltechnisches. Ich spiele damit auf einen Komplex kindlicher Situationen und Obsessionen an, wozu die sexuelle Versuchung in der

157 Person von K kommt. Das Ganze hat Freud auf wenigen Seiten zusammengedrängt (225f), auf denen er in synchronischer Form einen Teil des ersten Traums, mit dem Begriff „Bettnässen" im Mittelpunkt, deutet (234). In der Darstellung eines Venn-Diagramms überschneiden sich drei Begriffsbereiche (die, wie ich hinzufügen möchte, durch drei weitere Begriffe verbunden sind):

Onanie

Diese Situationen und Obsessionen arbeiten alle in Dora schon lange vor Beginn der Therapie: sie gehen also der Geschichte vorauf. Freuds Intervention liegt gerade in der Vergegenwärtigung ihrer Geschichtlichkeit, in der Rekonstruktion ihrer Entstehung und, wenn möglich, ihrer Unwirksammachung. Seine Arbeit folgt dem Beispiel, jener Forscher, welche so glücklich sind, die unschätzbaren wenn auch verstümmelten Reste des Altertums aus langer Begrabenheit an den Tag zu bringen". Freud sieht sich als derjenige, der „das Unvollständige [...] ergänzt, aber ebensowenig wie ein gewissenhafter Archäologe in jedem Fall anzugeben versäumt [hat], wo [dessen] Konstruktion an das Authentische ansetzt" (169-170). Ich habe Freud selbst zu Wort kommen lassen, der also seine Funktion erschöpfend definiert, indem er zum vorher ausgeführten Vergleich mit dem Romanschreiber nun denjenigen mit dem Archäologen hinzufugt. Das Auftauen einer gefrorenen Geschichtlichkeit ist genau das, was für Freud das Romanhafte ausmacht. Ein Roman folgt gewöhnlich dem Gang einer Geschichte: im Fall der Anamnese wird diese Geschichte gegenläufig rekonstruiert, ausgehend eher von deren mnestischen Spuren als von den äußeren Ereignissen. Das heißt nicht, dass die Ereignisse, wenn ihre Rekonstruktion abgeschlossen ist, nicht schließlich wieder ihre tatsächliche Abfolge annähmen, und dass die Motivationen,

158 gerade weil die Spuren relativ homogen sind, nicht Aufschluss über ihre Beziehungen zur Handlung gäben. Vom literarisch-künstlerischen Text ist ganz richtig gesagt worden, der Gesamt„sinn" werde gewissermaßen vom Ende her gesteuert: mehr noch als auf Funktionen und Verknüpfungen komme es auf die Richtung an, die sich abzeichnet, wenn die Geschichte zu Ende ist. Gilt das nicht auch für eine Krankengeschichte? Die abschließende Wiederherstellung der Chronologie fällt zusammen mit dem erfolgreichen Abschluss der Therapie, sie stimmt überein mit der Aufklärung und der Einordnung von Illusionen und Gedächtnislücken. Freud sagt selbst: „Wenn das praktische Ziel der Behandlung dahin geht, alle möglichen Symptome aufzuheben und durch bewusste Gedanken zu ersetzen, so kann man als ein anderes, theoretisches Ziel die Aufgabe aufstellen, alle Gedächtnisschäden des Kranken zu heilen. Die beiden Ziele fallen zusammen, wenn das eine erreicht ist, ist auch das andere gewonnen, der nämliche Weg fuhrt zu beiden" (Freud, Bd. V, 175).

Wie der Romanschriftsteller sich mitunter dazu berechtigt fühlt, Prolepsen (Vorgriffe auf später liegende Phasen) ebenso wie Analepsen (Rückwendungen auf früher liegende Phasen) vorzunehmen, verfährt eine Krankengeschichte zuerst regressiv, indem sie Vergangenes wieder heraufholt, dann progressiv, wenn sie Heraufgeholtes neu ordnet. Bemerkenswert ist in der Fallstudie Dora die Dialektik zwischen einem romanspezifischen Einsatz von Spannungsmomenten und einem Netz von internen Verweisen, das eine achronische Gesamtschau der Tatsachen erleichtert. Man könnte sagen, dass die Fußnoten der Ort dieser Achronie seien: indem sie auf andere Teile des Textes verweisen, machen sie diese kopräsent (z. B. Freud, Bd. V, 179, 1; 180,1; 187, 1; 196,1). Umgekehrt gibt es Textabschnitte, in denen der Erzähler die Neugier des Lesers weckt, aber ihre Befriedigung auf später verschiebt. „Nicht ganz im Einklang mit diesen Eröffnungen stand es, dass der Vater usw. usf. Ich hatte mir aber längst vorgenommen, mein Urteil über den wirklichen Sachverhalt aufzuschieben, bis ich auch den anderen Teil gehört hätte" (V, 184-195). „In der Diskussion über den zweiten Traum werden wir dann sowohl der Lösung dieses Rätsels als auch dem zunächst vergeblich gesuchten Selbstvorwurf begegnen" (206). „Indes hielt sie [Dora] noch längere Zeit an ihrem Widerspruche gegen meine Behauptung fest, bis gegen Ende der Analyse der entscheidende Beweis für deren Richtigkeit geliefert wurde" (220).

Man könnte meinen, ohne Anmerkungen gelesen, ähnelte der Text mehr einem Roman, mit Fußnoten mehr einer Abhandlung. Aber Fußnoten, wie Nr. 1 auf Seite 195, die ihrerseits Erwartungen wecken, zeigen, wie sehr Freud sich von der Poetik des Romans angezogen fühlte. Schließlich sorgt die Fußnote, wie Nr. 2 auf Seite 232, für die Unterscheidung zweier Erzählzeiten: derjenigen des Dialogs Freud-

159 Dora und derjenigen der gleichzeitigen Überlegungen Freuds, die der Patientin nicht mitgeteilt werden. 5. Die Handlungen einer jeden Fabel gruppieren sich sodann zu wenigen Sequenzen zusammen, die in der abstraktesten Form die Richtung oder den Gesamtsinn der Geschichte bilden und einem Wechselspiel, einem Rhythmus unterliegen. Auch dafür liefert Freud vorzügliche Beschreibungsinstrumente; man vergleiche den letzten Satz seines Textes, der die Quintessenz seiner Analyse im Fall Dora enthält: „Wie der erste Traum die Abwendung vom geliebten Manne zum Vater, also die Flucht aus dem Leben in die Krankheit bezeichnete, so verkündete ja dieser zweite Traum, daß sie sich vom Vater losreißen werde und dem Leben wiedergewonnen sei" (Freud, V, 286).

Daraus leitet sich das (auch für viele anderen Krankengeschichten gültige) Schema ab: Leben

Krankheit -» Leben

Im Auftreten der hysterischen Anfälle erkennt Freud folgenden Wechsel: Fern = Krank

Nah = Gesund

Die Anfälle sind bald in direkter, bald in symbolischer Form an die Abwesenheit der geliebten Person geknüpft (213), und der Wechsel Fern-Nah erfolgt ziemlich oft wegen der Reisen von Doras Vater, von der ganzen Familie, von K und dessen Familie sowie von Dora allein. 6. Nachdem bisher von Erzählung die Rede war, muss die Rede jetzt vom Erzähler sein - eine Instanz, die gerade in den letzten Jahren ins Rampenlicht gerückt worden ist. Der Erzähler muss in der erzählten Geschichte anwesend sein. Mag es seine Erfindung sein oder nicht, sein Werk erscheint nach dem Plan, nach dem er es erzählt, wobei die Autorpose variieren kann, teilnehmend, bis zur vorübergehenden Identifikation. Ihrerseits variieren die Beziehungen zwischen dem realen Autor und seiner Rolle als Erzähler: die Überlagerung beider, die nie vollständig ist, bringt viele verschiedene Typen hervor. Der Erzähler im Fall Dora ist Freud selbst, genauer gesagt: Prof. Freud, aber mit Einschränkungen und Erweiterungen, die eine Verwechslung mit dem realen Individuum ausschließen. Hier geht es nur um Freud in dem Zeitraum und den Augenblicken, in denen er sich als Therapeut, dann als Wissenschaftler und Autor mit dem Fall Dora beschäftigte. Andererseits wendet der Erzähler seine Aufmerksamkeit dem Text selbst zu und stellt sich die Wirkung (Verstehen und Überzeugung) vor, die er damit bei seinen Lesern erzielen will. Sofort erkennbar sind

160 einige Charakteristika, die mit dem Adressaten des Werks zu tun haben (der Autor, der Kontakt zum Leser sucht). Oft spricht Freud selbst von den Problemen der Anordnung im Verhältnis zu denen des Gedächtnisses: Möglichkeiten, Erinnerungen in ihrer tatsächlichen Abfolge unverfälscht und frisch zu erhalten. Es fehlt auch nicht am Bekenntnis von Gedächtnislücken: „und damit hängt wieder zusammen, dass meine Erinnerung die Reihenfolge der Erschließungen nicht überall gleich sicher bewahrt hat" (V, 257). „Ich werde also das Material, welches sich zur Analyse dieses Traumes einstellte, in der ziemlich bunten Ordnung, die sich in meiner Reproduktion ergibt, vorbringen" (257).

Ich möchte hier lediglich auf zwei Punkte eingehen, bei denen die Notwendigkeiten der Argumentation mit denen der Narration zusammenfallen. Im Nachwort (V, 275) hebt Freud die Auslassungen in seinem unverfälscht frischen Bericht hervor und erklärt, dass er diejenigen Analyseergebnisse weggelassen habe, die ihm beim Abbruch der Behandlung nicht als gesichert erschienen waren. Im Vorwort erklärt er Umstellungen in der Reihenfolge aus darstellerischen Gründen für absichtlich: „Es ist nichts anderes, was wesentlich wäre, in ihr [Niederschrift] verändert, als etwa an manchen Stellen die Reihenfolge der Aufklärungen, was ich dem Zusammenhange zuliebe tat" (V, 167).

Freud berührt damit ein Problem von großer Bedeutung für die Erzählforschung, mit dem ich mich an anderer Stelle auseinandergesetzt habe.4 Das ist das Problem des Leseprozesses mit der Informationsver(oder be-)arbeitung, sei es eines Textes, sei es einer Situation. Beim Lesen werden in unserem Kopf die kognitiven Daten gespeichert und rational umgeordnet. Diese Umordnung geht mit Ausschmückungen oder auch bewussten Veränderungen einher und dauert bis zum Ende des Leseprozesses. Deshalb ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, sich über die einzelnen Beobachtungen hinaus auch an ihre genaue Abfolge zu erinnern, stimmt diese doch normalerweise nicht mit der von Anfang an in unserem Kopf bevorzugten und angenommenen logischen oder paralogischen Anordnung überein. Es gibt also eine Reihenfolge der Ereignisse, welche die Chronologie der Beobachtungen im , Behandlungsverlauf' überlagert, und beide unterscheiden sich wieder von der Abfolge der Falldarstellung. Zuvor hatten die Beobachtungen im Behandlungsverlauf (Anamnesen und Deutungen) die Ereignisse in einer anderen Reihenfolge als der realen offenbart. Die Fallstudie Dorn könnte wie jede andere Krankengeschichte als ein Konflikt zwischen mehreren Typen von Chronologien

4

C. Segre: „Erzählforschung, narrative Logik und Zeit", Literarische Semiotik. DichtungZeichen-Geschichte. Hg. von H. Stammerjohann und übers, von K. Henschelmann, Stuttgart: Klett-Cotta 1980, 73-136.

161 gesehen werden; oder auch als eine komplexe Intrige aus dem anamnestischen Wissen der Patientin (172-173), das ein dischronisches Wissen ist, bei dem „die Zusammenhänge, auch die scheinbaren, meist zerrissen [sind, und] die Aufeinanderfolge verschiedener Begebenheiten unsicher [ist]" (174), und dem diagnostischen Wissen des Therapeuten. 7. In der Krankengeschichte Dora zeigt sich, dass der Sender die Schemata des Romans klar vor Augen hatte. Vielleicht könnte man gerade noch den Anfang der Fallstudie, die sich wie der Anfang eines traditionellen Romans ausnimmt, dem Bereich der Dokumentation zuordnen: „Der Familienkreis der 18jährigen Patientin umfasste außer ihrer Person das Elternpaar und einen um 1 54 Jahre älteren Bruder. Die dominierende Person war der Vater, sowohl durch seine Intelligenz und Charaktereigenschaften wie durch seine Lebensumstände" (V, 176).

Aber ganz und gar wie ein Roman liest sich der glückliche Ausgang mit der Heirat: „Das Mädchen hat sich seither verheiratet, und zwar mit jenem jungen Manne, wenn mich nicht alle Anzeichen trügen, den die Einfälle zu Beginn der Analyse des zweiten Traums erwähnten" (V, 286).

Sicher gefiel Freud dieses perfekte Viereck außerordentlich: der [erst im Kapitel zur zweiten Traumdeutung, V, 256f] flüchtig erwähnte „junge Ingenieur" schien ein guter Kandidat zu sein, um die Heilung Doras zu vollenden („es war leicht zu erraten, dass er vorhabe, seinerzeit, wenn sich seine Position gebessert, mit einer Werbung um Dora hervorzutreten", 258). Und so wurde er in dem Märchen verwandelt. Doch leider war dies, wie Freud später, in den Ausgaben nach 1909 mit einer Ehrlichkeit bekannte, die Enttäuschung verriet, „eine irrige Vermutung" (163f). Wie soll man zwischen Freud, dem Therapeuten, der in dem jungen Ingenieur den Retter Doras aus ihren Schwierigkeiten sieht, und Freud, dem Romancier, der ihm die Abschlussfunktion zuweist, unterscheiden? 8. Eines ist für die Definition einer Krankengeschichte entscheidend: der Erzähler ist auch der Therapeut. Diese Position macht aus dem Erzähler nicht nur den besten Kenner der Tatsachen, sondern auch denjenigen, der diese Fakten durch die Behandlung gedeutet hat und nun für den Leser noch einmal deutet. Daraus ergibt sich auch eine schwierige Bestimmung der Hauptrolle: Zwar steht für den Therapeuten der Patient aus der Krankengeschichte im Mittelpunkt, aber im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Lesers steht am Ende der Therapeut. An die Stelle des Erzählers als wichtigste erzählende Figur und des Erzählers als Zeugen tritt hier der Erzähler als Demiurg: ihm können doch wohl Ausflüge, Ausblicke, Vorgriffe in eine Zukunft übertragen werden, die er durch Aufklärung der Vergangenheit möglich gemacht zu haben glaubt und dem in der Tat auch die erdachten, mäanderartigen Ausflüge in den Bereich möglicher Lösungen vorbehalten sind,

162 falls die Behandlung in eine andere Richtung gegangen wäre (V, 275; 282; 284, Anm. 1) - Ausflüge, die oft schmerzvoll sind. Auf den Erzähler als Demiurgen gehen schließlich die „Arbeitshypothesen" zurück, deren Formulierung und Verifizierung sprudelnde Quellen für Spannungsmomente sind („Versuchen wir es bei dem Beispiele, das Dora uns bietet, zunächst mit der ersten Annahme usw.", 216). Therapie und Niederschrift folgen nicht nur zeitlich aufeinander. In unserem Fall liefert die Therapie dem Schriftsteller den Erzählstoff. Die Anamnese setzt sich in der Deutung fort und vollendet sich in der systematischen Darlegung der Tatsachen. Auch Romanschriftsteller müssen die - natürlich fiktive - Herkunft ihrer Stoffe darlegen, die diese mit der Wirklichkeit in Verbindung bringt. Da gibt es nicht nur die Fiktion des wiedergefundenen Manuskripts, die Legende oder die der empfangenen Neuigkeit. Der Romanschriftsteller tut so, als sei er bei den Geschehnissen Augenzeuge gewesen, als sei er irgendwie, eventuell durch eine Mittelsperson (oder eine Mittelsfigur) dabei gewesen, und meist erzählt er die Tatsachen sogar aus der Sicht derer, die daran beteiligt waren. „Modus" und „Stimme" sind Begriffe für den, der nach der Fiktion erzählt, oder den, der nach der Fiktion spricht. Die Anamnese der Personen (Dora, der Vater oder andere, von denen Dora berichtet) bildet die - in diesem Fall natürlich reale - Quelle dessen, was Freud erzählt: die spontan mitgeteilten Begebenheiten werden natürlich mit dem angereichert, was aus der Deutung der Symptome, der [semiotisch zu verstehenden] Indizien, der Träume und der Assoziationen ableitbar ist, angereichert. Der Erzähler greift dann ein, sei es rational ordnend, sei es hypothetisch oder logisch ergänzend. Über diese Quellen (vorzugsweise Dora) wird nicht aus gleichbleibender Distanz berichtet, wie das der Fall wäre, wenn der Reihe nach, und in direkter oder indirekter Form, die Ergebnisse der nachfolgenden Sitzungen wiedergegeben würden. Wie und mit welchen Variationen immer näher und schärfer herangegangen wird, hängt ausschließlich von Entscheidungen Freuds als Erzähler ab. Ich spezifiziere nicht, ob es Entscheidungen argumentativer oder künstlerischer Art sind, denn beide fallen zusammen. Selbstverständlich spielt die Vielfalt der Herangehensweisen auch eine Rolle bei dem Versuch, eine Geschichte neu zu strukturieren, die durch die Anamnese verworren und entstellt erschien („In Wirklichkeit sind die Kranken unfähig, derartige Berichte über sich zu geben", 175) 9. Im Text also werden die Beziehungen zu Dora aus verschiedenen Abständen dargestellt: der kleinste Abstand besteht bei der Wiedergabe der Dialoge, in denen die Stimme der Patientin und diejenige Freuds miteinander abwechseln, wobei die Patientin sich mehr Fakten entlocken lässt, die der Therapeut deutet und klärt, mitunter hartnäckig nachfragend. Wir erleben Professor Freud „in Aktion", manchmal richtiggehend dozierend (V, 214-215). Der größte Abstand besteht bei der theoretischen Rekonstruktion des Falls, die wiederum Freud vornimmt. Dazwischen liegen verschiedene Möglichkeiten: ein nur sinngemäß wiedergegebener Dialog höchstens mit Einsprengseln von direkter Rede; ein erzählender Bericht, in dem die Tatsachen in der rationalen Rekonstruktion Freuds neu geordnet erscheinen

163 (u.a. V, 243; 245; 251; 273, Anm. 1). Die mittleren Formen (Erzählung, Umarbeitung durch den Autor) überwiegen im ersten Kapitel (Kap. I. Der Krankheitszustand, 174ff), die Extreme hingegen in den beiden anderen, den Träumen gewidmeten (Kap. II, 225f; III, 256f). Da, wo die Lösung nahe scheint, will Freud (als Künstler) uns spüren lassen, wie das geschickte Verhör, die scharfsinnige theoretische Erfassung Wahrheiten zutage bringt; man sehe sich nur die zielsichere Analyse des zweiten Traums an, die mit einem siegreichen Dialog abschließt. In dem gegen Ende zunehmend kleiner werdenden Umfang der Kapitel liegt eine Klimax, indem die Intensität sich umgekehrt proportional zum Umfang verhält. Das Crescendo hin zur abschließenden Katharsis - Heilung für die Patientin, für den Therapeuten und den Leser vollkommenes Verständnis - verleiht dem Bericht ein hohes Maß an suspense. Wie im Film, in Rashomon-Manier, wird ein und dieselbe Szene, je tiefer die Analyse geht, in verschiedener Form und mit immer neuen Details dargestellt: zur „Szene am See", die zuerst summarisch vom Vater dargestellt wird (V, 186), folgt auf Seite 206 die Erwähnung der Ohrfeige, die Dora K. verpasst; und erst auf Seite 227-228 erfahrt man Einzelheiten über das anschließende Verhalten von K.; Seite 261-262 erscheinen die Annäherungsversuche K.s viel korrekter, und es werden die weiteren Schritte Doras bekannt. Das Ganze erscheint wie eine immer neue und immer schärfere Einstellung (mise ä feu). Die Erzähltextforscher sprechen dann auch von Fokussierung. Allgemein stellen wir fest, dass am Anfang die Perspektive von Doras Vater gegenüber derjenigen der Patientin im Vordergrund steht, die dann nach und nach immer mehr ihre, und zwar nicht nur um der Analyse willen, richtigere Sichtweise durchsetzt, bis der Therapeut in die scheinbare Kohärenz der Anamnese eingreift und sie aufbricht, um zu einer subtileren Logik zu gelangen. Wenn man in die Einzelheiten geht, fallt einem das komplexe Mosaik von Quellen, Feststellungen und Überlegungen sowie das breite Spektrum der Modalitäten auf. 5 Zum Beispiel erkennt man im Anfangsbild, dass die Quelle der Seiten 174ff Dora selbst ist, mit einem gewissen Anteil des Vaters; für die Seiten 184185 ist es der Vater, der in direkter oder indirekter Rede erscheint („,Ich bezweifle nicht', sagte der Vater"; „Der Vater berichtete mir, daß" usw.); Seite 186-188 ist wieder Dora die Quelle („Dora berichtete mir, daß" usw.); dann folgen Überlegungen von Freud mit Gesprächsfragmenten in indirekter Rede („Ich habe in der vorsichtigsten Weise bei der Patientin angefragt, ob" usw., 189); auf den Seiten 190-192 ist wieder Dora die Quelle, in die sich 194-195 Deutungen mischen; dann gewinnt die diagnostische Arbeit die Oberhand, durchzogen jedoch von indirekt erwähnten Gesprächsfragmenten, in direkter oder indirekter Rede „Als ich der Patientin diese Schlußfolgerung nannte, war sie nicht einverstanden. Plötzlich sagte sie, es stimmt, dass" usw. (194-195); „[...] als ich fragte: ,Wen kopieren Sie damit?', hatte ich es getroffen" (197); „ich fragte, welches die mittlere Zeitdauer dieser Anfälle gewesen war" (198); „Ich sei ganz überzeugt, [sie werde sofort gesund sein]" usw. (202);

5

Vgl. Beitrag III. 2. in diesem Band.

164 „Als ich weiter fragte, bejahte sie, und ich konnte fortsetzen, dann denke sie" usw. (207); diesen halbdialogischen Teil nennt Freud selbst „ein Stückchen Analyse" (207). Aber Freud trägt auch den Fokussierungsunterschieden Rechnung, die durch Perspektivenwechsel bedingt sind. Typisch die Seiten, auf denen die Beziehungen zwischen dem Vater und Frau K., einmal aus der Perspektive des Vaters (V, 183184), dann aus derjenigen Doras dargestellt werden (191-192). Im ersten Fall erscheinen sie völlig unschuldig, auch wegen der gesundheitlichen Anfälligkeit beider; die Frau wird als „die arme Frau" bezeichnet (184); im zweiten Fall wird die ehebrechende Natur dieser Beziehungen deutlich gemacht, und aus der Frau wird „die junge und schöne Frau" (190). Schließlich, kurz bevor sie sich ihrer homosexuellen Neigungen bewusst wird, preist Dora den „entzückend weißen Körper" (222) der Frau K.6 Weniger um Perspektivenwechsel als um verschiedene Optiken handelt es sich, wenn dieselben Szenen oder Situationen erst nach den Worten der Personen selbst und dann mit den Hintergrunderklärungen Freuds dargestellt werden: in der „Szene am See" die Verschiebungen der Empfindungen „vom Unterkörper auf den Oberkörper" (188); im Verhältnis zwischen dem Vater und Frau K. die nicht uneigennützige Doppelrolle Doras („Mitschuldige dieses Verhältnisses", 194). Und es kommt vor, dass der Erzähler sich den von der Patientin zurechtgelegten Roman zueigen macht und in eigener Regie nur ein paar Randbemerkungen hinzufugt (189ff). Denn das ist ganz deutlich: dass Freud sich als Romanautor auf die Erzählung der Patientin stützt. Die oben zitierten Seiten 189-190 stammen von Dora. Sie liefert die Details und berichtet in der Art eines zweitklassigen Romans von den Geschenken, die der Vater der Mutter gemacht hat, um so diejenigen an Frau K. zu kompensieren: von der plötzlichen, psychologisch bedingten Veränderung im Befinden von Frau K.; von dem markierten Husten des Vaters, um seine Reisen nach B zu begründen, von wo er, mit Frau K. vereint, die heitersten Briefe schreibt. Es sind ziemlich sensationelle Fälle. Denn Freud hat vor diese Passagen, in Rashomon-Manier, kein „Dora sagte", „der Vater sagte" usw. gesetzt. Offenbar will er genau von dem Punkt ausgehen, in dem sich die Protagonisten befinden und verlagert seine Deutungen auf eine eingehendere Analyse. Aber dieses Vorgehen, die Identifizierung, ist genau das von Romanschriftstellern. Die maximale Identifizierung von Perspektive der Romanfigur und Perspektive des Erzählers liegt in der erlebten Rede vor. Als Dora von der in ihren Vater verliebten Gouvernante spricht, lesen wir zuerst: „[Dora] merkte, daß das Fräulein in den Papa verliebt sei ... Das alles nahm ihr Dora noch nicht übel. Erbost wurde sie erst, als sie merkte, daß usw." (195). Aber am Ende heißt es:

6

Auch Freud benutzt an dieser Stelle Anführungszeichen, um den Ausdruck als direktes Zitat von Dora zu kennzeichnen.

165 „Während der Abwesenheit des Papas von der Fabrikstadt hatte das Fräulein keine Zeit für sie, wollte nicht mit ihr spazieren gehen, interessierte sich nicht für ihre Arbeiten. Kaum, dass der Papa von B zurückgekommen war, zeigte sie sich wieder zu allen Dienstund Hilfeleistungen bereit" (196) 7 D a spürt man die V e r s t i m m u n g v o n Dora, da sind die v i e l e n k l e i n e n und d o c h s c h m e r z l i c h e n Enttäuschungen, die Ironie bei der E r w ä h n u n g „aller Dienst- und Hilfeleistungen". U n d d o c h spricht, syntaktisch g e s e h e n der Erzähler, nicht Dora. N o c h deutlicher wird das an f o l g e n d e r Stelle: „Dabei hatte es so eigentümlich in den müden Mienen des Vaters gezuckt, und sie hatte verstanden, welche Gedanken er zu unterdrücken hatte. Der arme kranke Mann! Wer konnte wissen, wie lange Lebensdauer ihm noch beschieden war" (260). D i e A u s r u f e stehen natürlich zu Dora, d o c h o f f i z i e l l g e m a c h t w e r d e n sie v o m Erzähler. S o heißt später eine e m i n e n t e i n f ü h l s a m e , n ä m l i c h v o n Freud an Dora selbst gerichtete Passage: „In dem Moment, da Herr K. die Worte gebrauchte: Ich hab nichts an meiner Frau, die er auch zu dem Fräulein gesagt hatte, wurden neue Regungen in Ihnen wachgerufen, und die Waagschale kippte um. Sie sagten sich: Er wagt es, mich zu behandeln wie eine Gouvernante, eine dienende Person? Diese Hochmutskränkung zur Eifersucht und zu den bewußten besonnenen Motiven hinzu: das war endlich zu viel" (269). Wenn ich gesagt habe, dass G e d a n k e n u n d A u s r u f e z u D o r a gehören, s o heißt das aber nicht, dass Freud sie ihr v o n den Lippen a b g e l e s e n hätte. W i e jeder R o m a n schriftsteller hat Freud sich ( w e n n auch motiviert dazu) vorgestellt, sie s e i e n Dora durch den K o p f g e g a n g e n . Ein e x t r e m e s B e i s p i e l b e g e g n e t uns an e i n e m Punkt der ersten Traumdeutung, die a u s s c h l i e ß l i c h v o n Freud stammt: „Das Kind beschließt, mit seinem Vater zu flüchten; in Wirklichkeit flüchtet es sich in der Angst vor dem ihm nachstellenden Manne zu seinem Vater; es ruft eine infantile Neigung zum Vater wach, die es gegen die rezente zu dem Fremden schützen soll. An der gegenwärtigen Gefahr ist der Vater selbst mitschuldig, der sie wegen eigener Liebesinteressen dem fremden Manne ausgeliefert hat. Wie viel schöner war es doch, als derselbe Vater niemanden anderen lieber hatte als sie und sich bemühte, sie vor den Gefahren, die sie damals bedrohten, zu retten" (249). B e i der Rekonstruktion der G e d a n k e n f o l g e , w i e sie i m U n b e w u s s t e n v o n D o r a entstanden sein m u s s , macht der Erzähler sich die G e f ü h l s r e g u n g e n des M ä d c h e n s und s e i n e W ü n s c h e z u eigen.

Es wäre interessant, bis zu lexikalischen Besonderheiten hinabzusteigen und beispielsweise den Wechsel von vertraulichen und förmlichen Bezeichnungen (Papa/ Vater, Fräulein / Gouvernante usw.) zu untersuchen: die vertraulichen aus der Perspektive von Dora, die förmlichen aus der Sicht Freuds.

166 10. Bei dieser ständigen Verschiebung von der wissenschaftlichen Abhandlung hin zum Roman und vom Roman hin zur wissenschaftlichen Abhandlung könnte man auf den Gedanken kommen, Freud habe eine neue literarische Gattung zwischen Roman und Abhandlung begründet - eine plausible Schlussfolgerung, die aber der Vertiefung bedarf. Die von Freud begründete Theorie hat das Individuum zum Gegenstand. Sobald dieses in den Mittelpunkt nicht nur der Analyse, sondern auch einer umfassenden Deutung gerückt ist, die der Sender-Therapeut dem Empfanger-Wissenschaftler mitteilt, bieten sich die Kodes und Strukturen des Romans als schon bewährte und so gut wie unvermeidliche Schemata an. Die Gattung Roman löst sich bei einer so starken Beanspruchung nicht auf, sondern wird vielmehr um neue Möglichkeiten bereichert. Freud stellt sich vor, dass die im Innern ablaufenden Prozesse die bestehenden Beziehungen überlagern: „etwa wie Blumenfestons über Drahtgewinde, dass man ein andermal andere Gedankengänge zwischen den nämlichen Ausgangs- und Endpunkten eingeschaltet finden kann" (247);

und dieses Bild lässt sich auch auf eine Krankengeschichte übertragen: das feste Drahtgewinde, an dem sie sich Halt verschafft, ist die Struktur des Romans.

5. Literaturwissenschaft und Textualität

1. Die multimediale Kultur ist heute dabei, die Gesamtheit von Texten, die wir Literatur nennen, in kleinste Teilchen zu zerlegen. Eine ganze Nationalliteratur kann mit einer CD-Rom komprimiert werden, und das nach Auswahlkriterien, die einem Todesurteil für das gleichkommen, was ausgeschlossen würde. Einmal auf CD-Rom, kann ein Werk seinerseits atomisiert werden, und das zum großen Nutzen von lexikalischen Untersuchungen und intertextuellen Vergleichen, nur dass dabei Einheit und Individualität des Textes ausgelöscht werden. Zieht man die Kreise weiter, wird klar, dass das Internet eine Fülle, ja eine unübersehbare Flut von nicht belegten und nicht systematisierten Daten liefert. Mit der nötigen technischen Ausstattung kann man für seine Forschungszwecke die Rohdaten her-unterladen und dabei darf der Erkenntnisgewinn gewiss nicht verschwiegen werden. Man muss aber auch sagen, dass die Masse der Leser irgendwann müde wird und schließlich an der Unfähigkeit zu wählen verzweifelt. In Literaturwissenschaft und Philologie sind z.T. ähnliche Phänomene zu beobachten. Der trotz offensichtlicher Krise noch immer nicht überwundene Dekonstruktivismus akzeptiert, ja feiert als einziges Ergebnis literaturwissenschaftlicher Arbeit, dass sie den Diskurs des Schriftstellers durch den des Literaturwissenschaftlers ersetzt. Und da der Leser des Literaturwissenschaftlers seinerseits dessen Diskurs in seinen eigenen aufnimmt, ist der Diskurs des Schriftstellers dermaßen entrückt, dass ihm nur noch die Funktion bleibt, den Anlass gegeben zu haben. Ähnliche Überlegungen könnte man offensichtlich auch in bezug auf den moralischen und historischen Diskurs anstellen, und es wird verständlich, wieso sogar diese Diskurse irgendwann jede Wahrheit und jeden Grundsatz unter einer Staubwolke von Diskursen begraben. So kommt es, dass man denkt, mit Diskurs sei nicht viel mehr als Geschwätz und Geschwafel gemeint. Anders, aber in dieselbe Richtung geht die Katastrophe, die von der sogenannten New Philology droht. Allgemein kann man sagen, dass die New Philology versucht, die solidesten Grundlagen der Philologie aller Zeiten, von der Antike bis zur Gegenwart, zu beseitigen, ja überhaupt zu ignorieren: sprachliche Analyse, Logik und Induktion, die bei der Wiederherstellung eines Textes zusammenwirken. Insoweit ist vieles von der „neuen Philologie" eine bloße Tarnung der eigenen Inkompetenz. Bei der eigentlichen Textkritik aber finde ich es typisch, dass das Konzept der mouvance der Texte einen so großen Erfolg hat. Unter dem Etikett der mouvance

168 fasst man alle Varianten eines Textes zusammen, auf die man jede seriöse Textkritik stützen kann. Aber da, wo der echte Philologe anfängt, Glaubwürdigkeit, Kompatibilität und Bedeutungsanteil jeder Variante abzuwägen, um dann nach und nach und unter ständiger Überprüfung Zusammenhänge aufzuspüren, benutzt der „neue Philologe" den Unterschied zwischen den Varianten als Beweis einer unaufhaltbaren Tendenz zur Atomisierung und wählt den feigen, aber bequemen Weg der Kapitulation. Durchaus dieselben Beobachtungen ließen sich noch in anderen Bereichen machen, vom Journalismus bis zur Politik. Und man könnte daraus schließen, dass der moderne Mensch, nachdem er Väter und Meister, Religionen und Ideologien verworfen hat, sich mit einer Welt konfrontiert sieht, wo eine Nachricht so viel wert ist wie die andere, wo es keinerlei moralische Standpunkte mehr gibt und alles gleich viel und gleich wenig gilt, wo es keine Wahrheiten mehr gibt, sondern Meinungen, über die man beliebig diskutieren und streiten kann: eine Welt von Staub, den vielleicht der eine oder andere Scheinwerfer, wenn er richtig eingestellt ist, für kurze Zeit zum Funkeln bringen kann. Man denkt nicht darüber nach, dass das wahrscheinlich der Staub ist, zu dem wir zurückkehren werden: pulvis et umbra. So spät wie's geht. Lieber morgen als heute. 2. Die Literaturwissenschaft ist eine schwer zu klassifizierende Tätigkeit, gerade weil überaus facettenreich. Ich persönlich - und ich würde mir zutrauen, diesen Standpunkt auch theoretisch zu verteidigen - will vor allem den Literaturwissenschaftler ausschließen, den ich als Kuckuck bezeichnen möchte, der zu dem Autor, mit dem er sich beschäftigt, in Konkurrenz tritt und sich anmaßt, dessen Werk subtiler und kohärenter zu machen. Der Kuckucktyp ist ein verkappter Schriftsteller, neidisch auf den echten Schriftsteller und entschlossen, dessen Platz einzunehmen (d.h. dessen Werk durch sein eigenes Elaborat zu ersetzen). Damit verwandt ist der Pfauentyp, für den das Werk, jedes Werk abgewertet werden kann und muss, um als Vorwand für Schöpfungen zu dienen, in denen er mit den Farben seiner eigenen Phantasie brillieren kann. Ich übergehe auch den Chamäleontyp, der adäquat von einem Werk zu sprechen glaubt, wenn er dessen Stil und Darstellungsweise nachahmt - auch wenn man zugestehen muss, dass ein gewisses Maß an Anpassungsfähigkeit gegenüber dem Gegenstand der eigenen Forschung unvermeidlich ist, dass es nicht schadet und manchmal sogar von Nutzen ist. Überhaupt nicht beschäftigen möchte ich mich natürlich mit dem Schmetterlingstyp, dem Feuilletonkritiker, der die überaus nützliche Aufgabe hat, die Neuerscheinungen anzuzeigen und aus dem Stegreif zu beurteilen. Zeitdruck und Platzmangel machen eine angemessene Begründung des kurzlebigen Beitrags unmöglich. Ich wende mich also einer Beschäftigung mit Literatur zu, bei der es um Beschreibung, historische Einordnung und Bewertung des literarischen Werks geht, einer Literaturwissenschaft, die sich (wie auch die von mir beiseitegelassenen Formen) in Texten ausdrückt. In einer ersten Annäherung kann man sagen, dass es sich um Texte handelt, in denen von anderen Texten, den Werken der Literatur, die Rede ist. Der Status dieser Texte innerhalb einer Texttypologie ist nicht ganz

169 leicht zu bestimmen. Der Text des Literaturwissenschaftlers (ich nenne ihn lieber nicht den kritischen Text, weil er sonst mit der kritischen Ausgabe verwechselt werden könnte, die nach wohlbekannten Verfahren hergestellt wird) ist vom literarischen Text weit genug entfernt, um eine gewisse Autonomie zu erlangen, aber nicht so weit, dass er von dessen Existenz absehen könnte. Die Literaturwissenschaft teilt die Ergebnisse einer Lektüre des literarischen Textes mit und verfolgt dabei Absichten, die sich auf folgende grundlegende Alternative reduzieren lassen: 1) den Leser des literaturwissenschaftlichen Textes zur Lektüre des literarischen Textes selbst anleiten; 2) den Leser, wenn er den literarischen Text schon gelesen hat, zu einer anderen und gründlicheren Lektüre anregen, damit er seine Ergebnisse mit denen des Literaturwissenschaftlers vergleichen kann. Um eine Vorstellung von der Palette der Möglichkeiten zu geben, sage ich nur soviel, dass der Kommentar, der sich strikt an die Abfolge der Wörter und Sätze des literarischen Textes hält, diesem viel näher ist als der Text des Literaturwissenschaftlers. Mit Recht spricht Genette daher in bezug auf den Kommentar von einem Paratext. Der Text des Literaturwissenschaftlers bezieht sich auf den literarischen Text, ohne von diesem abzuhängen, es sei denn in dem Sinne, dass es ohne den literarischen Text auch den literaturwissenschaftlichen Text nicht gäbe. Diese Beziehung wird durch Vermittlung der Lektüre geklärt; der literaturwissenschaftliche Text impliziert, dass der Literaturwissenschaftler den Text, über den er spricht, gelesen hat. Dafür sind die vielen Zitate aus dem untersuchten Text symptomatisch, gewissermaßen um dem Leser die schönsten und typischsten Textstellen vor Augen zu halten, solche zu verschlingen und sich einzuverleiben. Die zu nichts verpflichtende Form der Lektüre und das Fehlen jeden Zwangs, aus dieser Lektüre ein literaturwissenschaftliches Werk abzuleiten, sind ein Indiz für die Unabhängigkeit des literaturwissenschaftlichen vom literarischen Text. Zusammenfassend kann man sagen: der literaturwissenschaftliche Text impliziert den literarischen Text, ohne von ihm abzuhängen und nimmt teilweise von ihm Besitz, während der literarische Text den literaturwissenschaftlichen Text nicht impliziert. Ich möchte unmittelbar eine von den Theoretikern vernachlässigte Beobachtung anschließen, die ich für ziemlich wichtig halte. Heute stellt man für gewöhnlich einer strukturelen Analyse, die sich am Text orientiert, eine reader-oriented-Interpretation gegenüber. Es geht mir nicht darum, bei der leserorientierten Interpretation den Anteil des Lesers oder der Leser gegen denjenigen des Textes abzuwägen. Ich möchte vielmehr betonen, dass, wer von einem Text spricht, von seiner eigenen Lektüre des Textes spricht. Ein Text ist ein rein graphisches Gebilde, solange er nicht Gegenstand der Interpretation eines Lesers geworden ist. Der Literaturwissenschaftler ist ein besonders qualifizierter Leser (jedenfalls glaubt er das), der seine eigene Lektüre und die daraus abgeleiteten Bedeutungen offen legt. Deshalb kann man sagen, dass jede literaturwissenschaftliche Tätigkeit schon eine Beziehung

170 Text-Leser einschließt und dass es so etwas wie eine „reine" Textanalyse nicht gibt. 3. Es geht hier nicht um die Frage, was unter einem literarisch-künstlerischen Text zu verstehen sei. Es lohnt sich jedoch, einige Eigenschaften des literarischkünstlerischen Textes im Kopf zu behalten, die die literaturwissenschaftliche Arbeit rechtfertigen - mindestens diese: 1) dass er Bedeutungen hat; 2) dass er dazu bestimmt ist, Lesern und Hörern seine Bedeutungen durch Formen der Veröffentlichung mitzuteilen; 3) dass er durch seine formale Gestaltung und durch das Fehlen unmittelbarer praktischer Nutzanwendungen als Kunstwerk anzusehen ist; 4) dass seine Lektüre Zustimmung oder Ablehnung oder auch Gefühle der Identifizierung auslösen kann. Der Literaturwissenschaftler nimmt beim Lesen des Textes im Kopf bzw. visuell lexikalische oder syntaktische, semantische oder symbolische Einheiten wahr; gleichzeitig bestimmt er die inhaltlichen Elemente, die, wenn es sich um einen narrativen Text handelt, zusammen genommen die Handlung oder, abstrakter, die Struktur des Textes ergeben. In einer zweiten Phase formuliert der Literaturwissenschaftler seinen eigenen Diskurs, indem er die zuvor gemäß seiner eigenen Interpretation gesammelten Daten wieder in eine Ordnung bringt. In dieser Phase stützt sich der Literaturwissenschaftler auf die erkannten Sinngebungen, macht die Ergebnisse sichtbar und ordnet sie neu - eine Dialektik von Text und Interpret, ohne die es keine Sinnerschließung gibt. Die beiden Phasen sind nur theoretisch gesprochen sukzessiv, denn der gute Literaturwissenschaftler hört nicht auf, seine eigene Rekonstruktion mit dem literarischen Text zu vergleichen und dem jeweils letzten Kenntnisstand anzupassen. Von diesen beiden Phasen ist die erste so etwas wie eine Dekomposition, die der Computer leisten könnte und z. T. auch schon leistet. Wären die Computer intelligenter, könnten die Operationen der ersten Phase noch weiter automatisiert werden; allerdings muss man eines klar und deutlich sagen: auch eine solche Dekomposition ist ein hermeneutischer Vorgang und kann somit nicht ganz an Maschinen abgegeben werden. Deshalb sind die etwaigen technologischen Hilfsmittel für die eigentlich literaturwissenschaftliche Arbeit, derjenigen der zweiten Phase, ohne Belang. Auch darf die erste Phase nicht aus dem Auge verloren werden, denn sie ist es, die für die Solidität und Glaubwürdigkeit des Textmaterials, an welchem die literaturwissenschaftliche Arbeit ansetzt, garantiert. Hinzu kommt, dass schon die Sammlung der Materialien in Funktion einer Arbeitshypothese geschieht: es gibt keine apriorische Norm, die die Suchoperationen steuern könnte; von Anfang an kommt es auf Sorgfalt und erfinderische Freiheit an. Es wäre bequem, aber falsch, zu behaupten, die zweite Phase beruhe ausschließlich auf erfinderischer Freiheit. Die zweite Phase ist diejenige, in der die

171 Arbeitshypothese ständig mit dem konkreten literarisch-künstlerischen Text als Bedeutungsstruktur verglichen wird und in der der Literaturwissenschafter nach und nach alle Hypothesen verwirft, die durch die gründliche Analyse des Textes widerlegt worden sind. Die Freiheit besteht in der unerschöpflichen Fülle von Darstellungsmöglichkeiten, in denen der Literaturwissenschaftler seine ganze Persönlichkeit zur Entfaltung bringen kann. Hier kann er sich für eine kalte und abgehobene oder für eine leidenschaftlich mitfühlende Darstellung entscheiden; er kann den literarisch-künstlerischen Text in einen engen Käfig sperren oder dessen eigene Verfahren, manchmal unmerklich, nachahmen. Der Text des Literaturwissenschaftlers wird vom Leser einer ganz ähnlichen Analyse unterzogen und das heißt einer mehr oder weniger weitgehenden Dekomposition. Auf diese folgt eine Rekomposition mit dem Ziel einer Gesamtinterpretation, in der im besten Fall die Interpretation des Literaturwissenschaftlers mit dem Verständnis des Lesers zusammenfallt. Auch in diesem Fall werden Arbeitshypothesen (des Lesers) und die Loyalität des Textes, des Textes des Literaturwissenschaftlers, gegeneinander abgewogen. Es kommt aber noch ein dritter, grundlegender, j a vorrangiger Bezugspunkt ins Spiel: der literarisch-künstlerische Text selbst. Die interpretatoriche Arbeit vollzieht sich damit nicht mehr intratextuell, sondern intertextuell. Und das Verständnis des literaturwissenschaftlichen Textes wird vom zeitgenössischen Verständnis oder einer zeitgenössischen Neubewertung des literarisch-künstlerischen Textes beeinflusst. An die Stelle der Zweierbeziehung Literaturwissenschaftler-Text tritt eine Dreierbeziehung Leser-Literaturwissenschaftler-Text. Was die Verhältnisse darüber hinaus geradezu fatal kompliziert, ist, dass in Wirklichkeit die semantischen Operationen, die in der Beziehung literarischer Text - Literaturwissenschaftler-als-Leser ausgeführt werden, mit denen abgeglichen werden, die aus der Beziehung literaturwissenschaftlicher Text - Leser und schließlich aus der Beziehung literarischer Text - Leser folgen. Man sagt, dass die Pferde, wenn sie an die Bewegungen ihrer Beine dächten, nicht mehr laufen könnten, von den Tausendfüßlern ganz zu schweigen. 4. Bei der Dekomposition eines literarischen Textes zu Analysezwecken entsteht nach Meinung einiger ein Intertext. Ich übernehme der Einfachheit halber diesen Terminus, obwohl mir klar ist, dass jeder Forscher ihn anders gebraucht. Auch die Terminologie ist im Begriff der Atomisierung. Von meiner Definition ausgehend, muss ich meinem Leser sogar einen noch komplizierteren Intertextbegriff vorschlagen: denjenigen, in dem der Intertext des literarischen Textes in den Intertext des literaturwissenschaftlichen Textes integriert wird. Auch wenn dies nicht ganz einfach darzustellen ist, erscheint es mir evident, dass jemand, der eine literaturwissenschaftliche Arbeit liest, sich in einem Raum bewegt, in dem sich sowohl Elemente des literarischen Werks, das der Literaturwissenschaftler untersucht, als auch Elemente des vom Literaturwissenschaftler selbst erstellten Textes befinden und dass am Ende dieser Prozesse ein Urteil steht, das ebenso sehr den Text des Litera-

172 turwissenschafitlers in seinem Verhältnis zum literarischen Text wie den literarischen Text in dialektischem Verhältnis zum Text des Literaturwissenschaftlers steht. Wohlbemerkt habe ich bisher vom literarischen Werk wie von einem Text gesprochen. Im allgemeinen akzeptiert die Literaturwissenschaft diese Definition, auch wenn sie über den Stellenwert biographischer, historischer, kontextueller usw. Art verschiedener Meinung ist: Für die einen sind diese Elemente in den Text eingegangen; für die andern ist Verstehen eines Textes nur im Lichte seiner extratextuellen Bedingungen möglich. Auf diese Diskussion gehe ich nicht ein, denn es erwartet uns eine viel gewichtigere Fragestellung. Seit ungefähr fünfzig Jahren gibt es in Italien, in Deutschland und in Frankreich seit ungefähr zwanzig Jahren einen neuen Typ von literaturwissenschaftlicher Forschung, die eine dynamische Sicht des literarischen Werks hat und dessen textuelle Verfassung in Frage stellt. Ich meine hier die Variantentheorie und die ,critique génétique'. Dabei gilt der Text als theoretisch nie abgeschlossenes Resultat einer unendlichen Folge von Transformationen. Dass die Kenntnis dieser Transformationen unser Verständnis bereichert, ist unbestritten, auch wenn Croce es sehr wohl bestritt. Andererseits kann man aus den vortextuellen Transformationen nicht zwingend schließen, dass das literarische Werk nur als dynamischer Prozess anzusehen sei. Vielmehr bin ich der Meinung, dass jede Entstehungsphase für sich einen Text bildet und dass die Textgeschichte eines Werks sich als Abfolge von Texten darstellt, von denen jeder für sich analysiert werden und der letzte nur deshalb als endgültig angesehen werden kann, weil nach ihm keine weiteren Fassungen kommen. Festzuhalten und weiter zu verfolgen ist davon meiner Meinung nach nur dies: dass es für das Verständnis eines Textes nützlich ist, seine früheren Fassungen zu kennen. Das veranlasst uns, den horizontalen Intertext, denjenigen des endgültigen Werks, durch den vertikalen Intertext, denjenigen seiner Entstehungsphasen, zu ergänzen. Nicht nur, dass die Existenz früherer Fassungen für den Text des literarischen Werks ohne Gefahr ist - man muss sogar gelten lassen, dass ihre Kenntnis dem Literaturwissenschaftler eine Hilfe sein kann, dass auf diese Weise ein hermeneutischer Zugriff entsteht. Jedes Produkt wird verständlicher, wenn man seine Produktion kennt. In bezug auf die Literatur können wir sagen, dass die früheren Fassungen, sei es von Teilen des Textes, sei es des ganzen Textes, die Richtung zu erkennen gibt, in der der Schriftsteller, möglicherweise auf Umwegen und unter Zweifeln, sich bewegt hat, um zu derjenigen Diktion oder Formulierung zu gelangen, die durch den Text in seiner endgültigen Fassung sanktioniert ist. Dabei implizieren Diktion und Formulierung immer auch Sinngebundenheit. So fördert und steuert der dynamische Prozess der Textproduktion auch die Dynamik der genetischen Interpretation. 5. Das eben Gesagte macht die Beschreibung des literaturwissenschaftlichen Diskurses, den ich skizziert habe, meines Erachtens nicht schwieriger. Es war die Rede von einem Intertext, auf den sich der hermeneutische Akt stützen müsse; wenn nun zum Intertext sozusagen die Zwischentexte aus den Entstehungsphasen hinzu-

173 kommen, werden die Werte und Bedeutungen schon ganz oder teilweise von den Dekodierungsoperationen freigelegt, die, wie ich ausgeführt habe, die vorgängigen Materialien des Schriftstellers nahe legen. Damit sind wir gewiss weit über das minimale Darstellungsschema hinausgegangen, das dem literarischen Text den Text des Literaturwissenschaftlers im Sinne der Klärung an die Seite stellte. Jetzt geht es darum, dass der Literaturwissenschaftler sich in den Prozess der Transformationen hineindenkt und selbst, nachdem er die Transformationen zu erfassen versucht hat, einen - die Transformationen im Auge - „offenen" Text schreibt. Dieses neuerdings gestiegene Interesse am Gedanken der Transformationen birgt noch nie erforschte, vielleicht noch nicht einmal erkannte Möglichkeiten. Um zu erklären, was ich meine, gehe ich aus von der verbreiteten Vorstellung vom literarischen Text als einer auf wundersame Weise zustande gekommene, naturgemäß intertextuell geprägte Einheit von Erfahrungen der Wirklichkeit einerseits, von Utopien und Visionen andererseits. Es ist eine Vorstellung, die, in knapper, vielleicht auch oberflächlicher, jedenfalls nützlicher Form der Beschreibung auf den Punkt bringt, dass sich ein großes oder kleines literarisches Werk aus einer Gesamtheit von Vorgängen entwickelt. Tatsache ist, dass die Erstellung eines Textes das Ergebnis einer Reihe von geistigen Prozessen ist, die Probleme der Welterschließung beinhalten, vielleicht auch zu ihrer Lösung beitragen wollen, Zukunftsentwürfe oder Zukunftsängste vorzeichnen. Kurzum, die Entstehungsphasen des Werkes weisen auch viele Züge jener geistigen Prozesse auf, die dann im endgültigen Text verfeinert oder verschwiegen werden. Das Studium der Textgenese liefert uns demnach wertvolle Anhaltspunkte, um die Verfahren, nach denen die Inhalte literarisiert worden sind, zu verstehen. Wir können uns so ein Bild davon machen, wie die genetische Analyse eines Werks eine raffinierte, aber überzeugende Art und Weise ist, um eine weder einseitig positivistisch noch abstrakt, weder inhaltliche noch formalistische Lesart eines literarischen Werks zu begründen. Auf einem der Dekonstruktion oder der Atomisierung genau entgegengesetzten Weg gelingt es uns, mit den Belegen der genetischen Literaturwissenschaft die ungeheure strukturelle Kompaktheit des literarischen Textes nachzuweisen, indem wir den unvoreingenommenen Beobachtern seine unverswechselbare Einzigartigkeit vor Augen fuhren, weisen aber gleichzeitig einen einseitigen Textualitätsbegrifif, seine Isolierung von der Wirklichkeit, seine Verabsolutierung, zurück. Symmetrisch zur Dynamik der Entstehungsphasen ist diejenige der Rezeptionsphasen. Ich denke hier an die Umarbeitung in eine andere Gattung oder einen Medienwechsel: Übergänge von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit und umgekehrt; Übergänge vom Roman zum Drama oder zum Film; von der literarischen Beschreibung zur visuellen Darstellung in Bild oder Skulptur; vom Wort zur Musik usw. In der multimedialen Welt sind die Möglichkeiten vervielfacht. Wer sich dieser schönen neuen Welt aussetzt, fragt gewöhnlich, was vom Original erhalten und was phantastisch übersteigert ist. Ich möchte hier nur betonen, dass auch diese Art von Fortleben eine Gelegenheit zu analytischen Übungen gibt. Jeder semantische Eingriff in die expliziten Bedeutungen des Textes stellt einen Ansatz,

174 eine Anregung zu tatsächlicher oder angenommener Klärung dar. Der Literaturwissenschaftler kann sich also auch in bezug auf dieses von Aktivität und Verschweigen getriebene Fortleben mit Gewinn betätigen. Und genau das ist der Ansatz der Rezeptionstheorie, die aber den Fehler begeht, sich ganz auf das Terrain der Verarbeitungen zu begeben, statt diese Verarbeitungen mit dem archetypischen Text zu vergleichen. Ihr stehen deshalb auch keine Vergleiche der Bearbeitungen untereinander zu, während sie für die Interpretation viel daraus ableiten kann. 6. Mit der Formulierung des Titels Literaturwissenschaft und Textualität wollte ich deutlich machen, um was für eine Art von Text es sich bei dem Text des Literaturwissenschaftlers handelt. Dabei sind wir auf Eigentümlichkeiten des literarischkünstlerischen Textes gestoßen, die über seine endgültige Gestalt, das Werk ne varietur, hinausgehen. So müssen wir wiederum über die Textualität des literarischen Textes nachdenken. Einige Ergebnisse können wir immerhin festhalten: Zum Beispiel, dass der Text seine Sinngebundenheit nur offenbart, wenn er gelesen wird. Aber selbst davon ausgehend, dass die Bedeutungen zwischen Text und Leser freigelegt werden, kann man nicht vom Autor absehen, dessen künstlerische Erfindung diese Bedeutungen hervorgebracht hat. Indem die Literaturwissenschaft sich, je nach Schwerpunkt ihres Interesses, dem Autor, dem Text oder dem Leser zugewandt hat, reduzierte sie ihren eigenen Forschungsradius, der doch nur in der Dreierbeziehung von Autor-Text-Leser liegen kann. Viele Schwächen literaturwissenschaftlicher Forschung kommen von dem oberflächlichen Verständnis dessen, was Bedeutungen und Hierarchie der Bedeutungen sind. Wenn der Leser den Text Phonem für Phonem, Syntagma für Syntagma, Äußerung für Äußerung liest, addiert er nach und nach immer größere Ketten von Bedeutungseinheiten, bis er die Gesamtbedeutung bzw. den Gesamtsinn des Werks erreicht. Das ist eine hermeneutische Tätigkeit, die sich zunehmend von der Literalität des Textes abhebt. Was ihn daran hindern könnte und daran hindern kann, sich freischwebend von seiner eigenen Phantasie ablenken zu lassen und sich der „wilden Deutung" hinzugeben, ist die ständige Rückversicherung am Buchstaben des Textes. Das geschieht zum Beispiel dadurch, dass er die nach dem ersten Lektüreabschnitt formulierten Annahmen als Arbeitshypothesen betrachtet, die beim Fortgang der Lektüre verifiziert werden müssen; dass er prüft, ob sie mit den semantischen und lexikalischen Feldern vereinbar sind, mit Klang und Rhythmus des Textes. Aber was ist mit dem Willen des Autors? Der Autor hat eine komplexe, mitunter gewaltige Konstruktion von Bedeutungen geschaffen - innerhalb der Parameter seiner Epoche. Wenn der Leser einer anderen Epoche oder einer anderen Kultur angehört, kann er diese Konstruktion u.U. aus unvorgesehenen und unvorhersehbaren Blickwinkeln durchforsten und deshalb auch vom Autor nicht bedachte Bedeutungen herausholen. Zeit und Raum steigern unsere Fähigkeit, Bedeutungen zu erfassen, ins Unermessliche. Wichtig ist es, die ersten, unmittelbar vom Text ausgehende Bedeutungskonstruktion nicht aus den Augen zu verlieren, ja, sie immer

175 besser zu kennen und jede Konjektur, die die Konstruktion in Frage stellt, zu verwerfen. Was die Literaturwissenschaftler und keineswegs nur die Dekonstruktivisten viel zu oft tun, ist, dass sie Diskurse über Diskurse und über Diskurse formulieren ohne jenen ständigen Rekurs auf den Text, der das erste Gebot für jede Art von Literaturwissenschaft sein müsste. Ich will hier keine Verteidigung des sensus litteralis unternehmen. Aber ich will hier doch an einen linguistischen Grundsatz erinnern, den viele vergessen. Nämlich, dass Signifikant und Signifikat untrennbar sind. Jedes Werk ist immer und zuallererst eine Folge von Signifikanten, die es konstituieren. Jede noch so kleine Veränderung auf der Ebene der Signifikanten würde es völlig verändern. Hätte Ariost seinen Text so belassen, wie er 1516 oder 1521 veröffentlicht worden ist, würden die Literaturwissenschaftler von einem ganz anderen Orlando furioso sprechen als von demjenigen, den sie heute vor sich haben; wenn Leopardi Del celeste confine statt Dell' ultimo orizzonte oder fra questa / Immensitade il mio pensier s'annega statt tra questa /Immensità s'annega ilpensier mio stehen gelassen hätte, müsste L'Infinito ganz anders interpretiert werden, als dies heute geschieht. Zugegeben, die Bedeutungen vermehren sich unaufhörlich, aber sie vermehren sich ausgehend von einem bestimmten Text, und nur von diesem. Man möge es mir nachsehen, wenn ich als Literaturwissenschaftler meine Forschungsinstrumente metaphorisch benutze, um abschließend das bisher Gesagte zu rekapitulieren. Wir können die Vermehrung der Bedeutungen als Verästelung ansehen, die vom literarischen Text ausgehend immer weiter zunimmt: als einen Baum, der immer breiter wird. Natürlich gib es auch dürre Äste oder Verwachsungen, die im Ernstfall zum Absterben führen. Dieser riesige Baum müsste zurückverfolgt werden bis zu seinen Wurzeln, zum ursprünglichen Text, bis zur Zeichenoberfläche, wie dies die Textkritik tut. Denn die Textkritik geht, nachdem sie die Genealogie der Handschriften rekonstruiert hat, schrittweise zu den wichtigsten Knotenpunkten der Überlieferung zurück, bis sie sich dem Archetyp nähert, wobei sie die falschen oder jedenfalls nicht authentischen Varianten streicht (jedoch als Dokumente der Rezeption gelten lässt). Am Ende gibt sie uns den Text zurück, vergilbt und manchmal nicht mehr einwandfrei überliefert, dennoch gerade dessentwillen ehrwürdig, weil er noch etwas von seinem ursprünglichen Aussehen bewahrt. Der Text ist unser höchstes Gut: keine noch so brillante oder beeindruckende Theorie kann mehr wert sein und mehr bedeuten als der Text in seiner Majestät. Diese Majestät fällt mit der Wahrheit zusammen, die im Text und überall zu suchen unsere Pflicht ist. Das könnte das erste Gebot einer Art hippokratischen Eids der Literaturwissenschaftler sein. Und es missfällt mir nicht, dass es im Medienrausch, im Triumph der Virtualität, in der ohrenbetäubenden Überlagerung von Stimmen und sinnentleerten Wörtern Disziplinen gibt, die nicht nur eine methodologische, sondern auch eine deontologische Lehre enthalten.

6. Hermeneutik und Textkritik

In den alten deutschen Handbüchern zur Philologie gilt die Hermeneutik als eines der wichtigsten Teilgebiete philologischer Arbeit. Diese Auffassung muss zuallererst wohl von Friedrich Schlegel vertreten worden sein, mit - damals nicht veröffentlichten - Thesen der Art: Die historische Kenntnis der Vergangenheit verlangt, dass Kritik und Auslegung schon abgeschlossen sind. Diese beiden Tätigkeiten der Philologie stehen in enger Verbindung zueinander. Oder: Als Kunst hat die Philologie keine spezifisch unterschiedenen Teilbereiche. Die Unterteilung in Kritik und Auslegung ergibt sich aus der historischen Zielsetzung. 1 Die Kopplung der beiden Richtungen Philologie und Hermeneutik wird schon deutlich im Titel des großen theoretischen Werks von Georg Friedrich Ast, einem Schlegel sehr nahestehenden klassischen Philologen und Piatonforscher: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik (Landshut: Thomann 1808). Auch Karl Ettmayer spricht in seinem Vademecum für Studierende der romanischen Philologie (Heidelberg: Winter 1919) von einer „stilistischen Hermeneutik" (Ettmayer, op. cit., 30; 38), die sich als Auslegung der herkömmlichen und individuellen Wortbedeutungen versteht, und weist, was die Literaturwissenschaft anbelangt, der „literarischen Hermeneutik" die Aufgabe zu, die historischen Bedingungen zu erforschen, unter denen ein literarischer Text entstanden ist (142). Natürlich wird die Hermeneutik in diesen Ansätzen als Wissenschaft von der Interpretation definiert, ausgehend von der richtigen Überzeugung, dass das Studium der altenTexte sinnlos wäre, wenn man sie nicht verstünde, also nicht deutete. Wilhelm Dilthey sagt dazu kurz und bündig: „Sie [sc. die hermeneutische Wissenschaft] ist die Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen". Auch ein Sprachwissenschaftler wie Heinrich Lausberg betont zu Beginn seiner Romanische[n] Sprachwissenschaft (Berlin: de Gruyter 1960): „Die zentrale Aufgabe der Philologie besteht in der sorgfältigen Erforschung der Bedeutung in Verbindung mit der Lektüre des Textes", auch in bezug auf den „Entwicklungsstand der Kultur (z.B. industrieller Fortschritt) bzw. der Sprache (z. B. Verschwinden von zuvor im Sprachgebrauch üblichen Wörtern)".

Die Notiz Zur Philologie, hier o.J., ist bibliographisch erfasst in Frammenti critici e scritti di estetica, hg. und übers, von V. Santoli: Firenze 1937, 1-16. Vgl. zu den Notizen, Fragmenten und Ideen von Friedrich Schlegel àie Kritische Ausgabe. Hg. vonH. Eichner. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). München: Fink 1967.

178 Er spricht in diesem Zusammenhang von „Interpretation" oder „Exegese" und zitiert dazu hermeneutische Werke wie die von Emilio Betti und Enrico Castello. Andererseits (und damit gehen wir von den Philologen zu den Hermeneutikern über) bezeichnet die Hermeneutik, wenn sie sich mit der wörtlichen Auslegung der Texte beschäftigt, als ihr Werkzeug die Philologie. So schreibt Walter Dilthey in Die Entstehung der Hermeneutik (1900), dass „die philologische Virtuosität aus dem Bedürfnis tiefen und allgemeingültigen Verstehens entstand". 2 Noch deutlicher fühlt sich Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975), in der Pflicht zu erklären, warum er von „literarischer Hermeneutik" statt von „philologischer Hermeneutik" sprechen will (Szondi, 13). Es scheint, als betrachte jede der beiden Disziplinen die andere als Teil von sich. Umso erstaunlicher ist es, dass Hermeneutik und Philologie sich jahrzehntelang praktisch ignoriert haben. Die Hermeneutik hatte sich in der Tat lange in einem Dämmerschlaf befunden, aus dem sie nach Heidegger unsanft geweckt worden ist. Und doch schwelten einige ihrer Ideen weiter, wie z. B. der „hermeneutische Zirkel", der wahrscheinlich erstmals von Matthias Flacius Illyricus 1567 erkannt worden ist („Denn bei dieser Behandlung wird alles klarer wegen der Ordnung [...], und weil die einen Teile oder Sätze zumeist für die anderen Durchsichtigkeit und Licht herbeiführen"). 3 Vom hermeneutischen Zirkel spricht oft Leo Spitzer in seinen Arbeiten zur Stilistik, und indirekte Bezugnahmen darauf gibt es auch bei den Strukturalisten, wie dies aus den Kongressakten zu Parts and Wholes (hrsg. von D. Lerner. New York und London: Free Press of Glencoe-Macmillan 1963) einschließlich des Beitrags von Roman Jakobson hervorgeht. Da die letzte Wiedergeburt der Hermeneutik vor allem philosophischer Art war, ist es verständlich, dass sie die Probleme des sensus litteralis gleichsam übersprungen hat, um sich sofort der Grundfrage des Verhältnisses zur Geschichte und der Möglichkeit zuzuwenden, den Abstand, der uns von der Vergangenheit trennt, zu überwinden. Viele Kritiker haben diese Möglichkeit von Grund auf verneint. Die Auslegung der mittelalterlichen Dichtung (Robert Guiette) als einer rein rhetorischen (und deshalb formalen) Dichtung, war sicher eine höchst anregende Idee, die das mittelalterliche Schrifttum dem modernen Geschmack näher brachte, verstärkte aber für jemand wie Paul Zumthor, nur den Eindruck ihrer grundlegenden Unverständlichkeit. Nicht weit davon entfernt steht Hans-Robert Jauss mit seinen Überlegungen und seinem Band zu Alterität und Modernität der mittelalterlichen

2

3

In: W. Dilthey: Gesammelte Schriften. V. Band. Stuttgart-Göttingen: B. G. Teubner / Vandenhoeck & Ruprecht 1957, 320. Clavis Scripturae Sacrae (1567), dann in: M. Flacius Illyricus: de ratione cognoscendi sacras litteras. Nachdruck der letzten Ausgabe der Clavis Scripturae Sacrae von J. Musaeus. Frankfurt und Leipzig 1719. Lateinisch-deutsche Parallelausgabe übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von L. Geldsetzer. Düsseldorf: Stern Verlag .Jansson & Co. 1968, 4 - 2 3 , hier 17.

179 Literatur.4 Man könnte als Beispiel für die Verquickung und den Widerstreit von Ideologien, wie sie das 20. Jh. bis hin zur heutigen Indifferenz kennzeichneten, zu bedenken geben, dass viele Aussagen über die Unverständlichkeit der Vergangenheit nahezu zeitgleich mit - mit und im Widerspruch zu - den historiografischen Fortschritten der Schule der Annales sind, die sich verstärkt mit der Enzyklopädie, der Alltagskultur, der anthropologischen Analyse usw. beschäftigte. Andererseits haben die Befürworter einer, wenn auch nicht vollständigen, Verständlichkeit alter Texte, selten zu hermeneutischen Methoden gegriffen. Es wäre sicherlich möglich, einen Schritt weiter zu kommen, wäre man sich darüber klar, dass Probleme der Auslegung sich weder in der richtigen Erfassung des sensus litteralis noch in der historischen Situierung, durch die natürlich Licht auf die alten Texte fallen kann, erschöpfen. Das sind unbedingt nützliche Möglichkeiten, um die zeitliche Kluft zu überwinden, aber sie greifen zu kurz. Andererseits kann der idealistische Ansatz für überwunden gelten, der die Existenz einer Kluft leugnet und sich dabei auf die Kontinuität des Geistes und folglich auf die Fähigkeit des Lesers, sich mit dem Autor zu identifizieren, beruft. Der Autor kann bei unseren Überlegungen bestenfalls als Garant der kommunikativen Absicht des Textes weiterfungieren. Meines Erachtens kann man sich, was den Begriff des Zeitabstands angeht, zumindest fürs erste, an Aussagen von Hans Georg Gadamer in Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1960) halten wie: „Der Zeitabstand ist daher nicht etwas, was überwunden werden muß. Das war vielmehr die naive Voraussetzung des Historismus, daß man sich in den Geist der Zeit versetzen, daß man in deren Begriffen und Vorstellungen denken solle und nicht in seinen eigenen und auf diese Weise zur historischen Objektivität vordringen könne. In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist nicht ein gefährdender Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt" (Gadamer 1960, 281).

Mit Begriffen wie „Überlieferung" und „Tradition", so scheint mir, bringt Gadamer uns direkt zur Textkritik. Denn die Textkritik (vielleicht sollte man wie die Slawisten besser von „Textologie" sprechen, die auch die gedruckten Abschriften einschließen würde) schlägt ihre Brücken zur Vergangenheit und stützt sie auf Abschriften, die wie Pfeiler über die Jahrhunderte verteilt sind. Die von den Philologen benutzten Dokumente tragen also an sich selbst die Konkretion der Vergangenheit, die man rekonstruieren will, ebenso wie Zeichen ihrer Abnutzung: verlorene Seiten, Abschreibfehler, alle Arten von Korruptelen. Sie bringen uns jedenfalls der Vergangenheit näher, zeugen vom grafischen und darstellerischen Geschmack der Epoche und zeigen uns die Systeme der Verschriftlichung und Techniken der Bewahrung.

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Vgl. H. R. Jauss: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. München: Fink 1977; it. Übers, (mit einem Vorwort von C. Segre): Torino: Bollati Boringhieri 1989.

180 Eines ist allerdings viel wichtiger. Außer etwaigen Beschädigungen haben die Texte Entstellungen erlitten, die auf décalages in den Fähigkeiten der Kopisten, die Texte selbst zu verstehen, zurückgehen. Der Textkritiker, kurz: der Philologe, hat eine Reihe von wohldefinierten Aufgaben. Ich nenne wenigstens drei: 1. die bei jedem Abschreiben verderbten Stellen ermitteln; 2. diese Stellen im Rahmen des Möglichen, nämlich durch Vergleich der Zeugnisse und unter Zugrundelegung des jeweils zuverlässigsten emendieren; 3. die durch solche Vergleiche nicht korrigierbaren Korruptelen emendieren. Die historisch-grammatische Ausrichtung der Hermeneutik erfasste bald auch die Textkritik. Schon Johann Martin Chladenius schrieb in seiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schrifften (Leipzig: Eurich 1742), die Dunkelheit entstehe, „manchmal aus einer verderbten Stelle; und diese Dunkelheit hebt der Criticus, wenn er den Text verbessert und ergänzt darstellet; oder sie entsteht aus einer nicht genungsamen Einsicht in die Sprache, worinnen das Buch abgefasset ist, und diese Dunckelheit muss der Sprach-Lehrer und Philologicus heben" (zit. nach Szondi 1975, 37). In unserer Zeit schrieb im Zusammenhang mit der Kontextinterpretation Szondi: „Der eigene Standort wird sich unschwer in die philologische Forschung selbst einschleichen können, indem er erstens darüber mit entscheidet, ob eine Stelle als verständlich oder als unverständlich, d. h. der Verbesserung bedürftig, erscheint; zweitens, falls die Notwendigkeit der Emendation, der Berichtigung, angenommen wird, wirkt der eigene Standpunkt bei der Konjektur mit" (Szondi 1975, 23). Es muss klar sein, dass die Feststellung von Fehlern oder Korruptelen auf der Basis nicht der modernen Sprache geschieht sondern einer möglichst gründlichen Kenntnis der alten Sprachstufe. Der Philologe muss also zuallererst das Forschungsinstrument des kommunikativen Umgangs mit alten Texten einsetzen. 5 Wenn man Abschreibfehler aufdeckt, versetzt man sich regelrecht in das Sprachsystem der Zeit, der die Handschrift entstammt, und die diasystematischen Unterschiede zwischen Originalsprache und Sprache der Handschrift oder derjenigen des einzelnen, nach Ort und Zeit bekannten Kopisten. 6 Die Entscheidung für diese statt jener Variante muss nicht und sollte auch nicht davon abhängen, dass unbedingt ein befriedigender Text hergestellt wird, es geht um viel mehr: Man wählt zwischen Möglichkeiten, die in der fraglichen Zeit tatsächlich bestanden und historisch alle

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Dazu vgl. K. Hurlebusch: „Zur Aufgabe und Methode der philologischen Forschung, verdeutlicht am Beispiel der historisch-kritischen Edition. Eine Auseinandersetzung mit Hermeneutik und Historismus", in: G. Martens und H. Zeller (eds.): Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. München: C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung 1971, 117-142. Vgl. C.Segre: „Critica testuale, teoria degli insiemi e diasistema", in: Semiotica filologica. Torino: Einaudi 1979, 53-70.

181 gleichermaßen interessant sind, unter Berücksichtigung von syntagmatischen, paradigmatischen und kontextuellen Überlegungen. In syntagmatischer Hinsicht ergeben sich aus der Kenntnis der alten Sprache und dem Rückgriff auf den usus scribendi des Autors und seiner Zeit Ubereinstimmungen, die zugleich als Auslegungshilfen dienen können. In paradigmatischer Hinsicht bedeutet das die Rekonstruktion des Sprachsystems und die Abgrenzung dessen, was damit vereinbar ist und was nicht; außerdem ist das Sprachsystem ein Spiegel des mentalen Systems. In kontextueller Hinsicht wird die Gesamtheit unserer Kenntnisse von den Lebensbedingungen und der Kultur der Zeit, dem Umfeld und dem Autor herangezogen. Fundamental sind dabei meines Erachtens die Querverbindungen zwischen diesen Kenntnissen, denn die unbestreitbaren Lücken in dem einen oder anderen Bereich können durch die Kohärenz des Gesamtsystems ausgeglichen werden. Eine besonders wichtige Erscheinung philologischer Praxis ist die Konjektur. Dabei stellen die Abschreibfehler ein Hindernis dar, zu dessen Überwindung nicht mehrere Varianten zur Auswahl stehen. Das Hindernis wird mit Hilfe der Intuition überwunden, was jedoch voraussetzt, dass Sprache der Zeit und Stil des Autors fast wie dem Autor selbst zur Hand sind. Intuition bedeutet also Sensibilität dafür, wie die Korruptele zu emendieren sind, welches Wort oder welcher Ausdruck der Autor an der Textstelle für angebracht gehalten hat. In diesem Zusammenhang ist an eine Überlegung von Dilthey zu denken: „Hinter solchen einzelnen Leistungen einer nachkonstruierenden philologischen Kunst lag für ihn [sc. Friedrich Schlegel] der Plan einer Wissenschaft der Kritik, eine ars critica, welche auf eine Theorie des produktiven literarischen Vermögens gegründet sein sollte" (Dilthey 1957 [1900], op. cit., 328). Den Gedanken umkehrend könnten wir sagen, dass der Philologe im Augenblick der Konjektur am dichterischen Schaffensprozess teilnimmt und den Prozess dort wiederholt, wo sein Ergebnis dunkel geworden ist. So erleben wir jene Horizontverschmelzung mit, in der nach Gadamer die Möglichkeit eines Verstehens zwischen uns und dem alten Text besteht. Allerdings ist die modernere Philologie sich darüber klar geworden, dass immer ein Rest von Text bleibt, der nicht zurückzuholen ist, ein vorüberhuschender Schatten, der unsere Lektüre mehr oder weniger verdunkelt. Deshalb gilt die totale Rekonstruktion eines Textes heute als unmöglich, und sogar der Begriff des Archetyps hat eine Relativierung erfahren.7 Hatte man früher die Illusion, einen Text perfekt rekonstruieren zu können, ist man heute geneigt, das Problem mit einem Variantenapparat zu lösen, der kritische Stellen und hypothetische Lösungen registriert und Entscheidungshilfen bereithält. Ich möchte dennoch zu bedenken geben, dass diese „Löcher" im Text die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart aparte subiecti verstärken, weil sich nämlich das Interesse am Text durch die Suche nach den Antworten, die noch fehlen, umso größer wird. Um dies bewusst mit einer gewissen Bosheit zu untermauern, möchte ich sogar behaupten, dass gerade die text-

Zu den theoretischen Problemen der modernen Textkritik vgl. C. Segre in: Due lezioni di ecdotica. Pisa: Scuola Normale Superiore 1991.

182 kritisch unbewanderten Philologen sich am leichtesten im Interpretationsgestrüpp verlieren und ihrer eigenen Phantasie zum Opfer fallen. Diesen Philologen ist die Faszination fremd, mit der die Textkritiker auf den Text schauen, aus dem sie seine ideale Gestalt hervorzaubern wollen. Wie selbstverständlich habe ich von Texten gesprochen, und die großen Hermeneutiker haben eingeräumt, dass unsere exegetische Praxis als primären Gegenstand nichts anderes haben kann als Texte. Die moderne Debatte ist einigermaßen gründlich der Frage nachgegangen, ob literarische Kommunikation zwischen Sender und Empfänger oder nur zwischen Text und Empfänger stattfindet. Ich möchte mich nicht auf den Irrgarten der Aporien einlassen. Lieber schlage ich einen einfacheren Weg ein. Bekanntlich stellte die traditionelle Hermeneutik dem sensus litteralis einen sensus spiritualis gegenüber, der im wesentlichen in der allegorischen Interpretation bestand. Da sich nun die Textkritik zuallererst auf den sensus litteralis konzentriert, stellt sich die Frage nach der Gesamtinterpretation, dem sensus spiritualis. Erhellend finde ich da einen Aphorismus von Schleiermacher, wonach gilt: „Alles wird verstanden, wenn nichts Unerklärbares mehr bleibt. Nichts wird verstanden, wenn es keine Gesetze und Regeln gibt". Nach dem ersten Satz zu schließen, ist Verstehen möglich durch philologische Praxis; aber der zweite Satz statuiert die Notwendigkeit einer umfassenden, transphrastischen Interpretation, die uns das Verstehen des Textes in seiner Ganzheit erlaubt. Zwischen beiden gibt es ein Hin und Her, was man als „hermeneutischen Zirkel" bezeichnet. Bekanntlich ist Verständnis um so leichter verifizierbar und umso sicherer, je mehr man sich an Einzelsätze hält. Richtiges Verständnis aber liegt erst in der Erfassung transphrastischer Zusammenhänge, wobei man gleichsam durch das Ganze des Kontextes hindurch aus den tiefen Bedeutungen des Werks schöpft. Man weiß auch, dass bei einem solchen umfassenderen Zugang zum Text die Gefahr von Umdeutungen und Missverständnissen größer ist, während es weniger Möglichkeiten gibt, Aussagen zu falsifizieren. Darin liegt das große Dilemma der Interpretation. Schließlich irritiert schon die Vielfalt der Bezeichnungen für diese transphrastischen Bedeutungen, die viel umfassender und komplexer sind als Allegorisierungen. Man spricht von Inhalt, Sinn, meaning, Archibedeutung, Äußerungsbedeutung, Meinung usw. Wenn ich aus den Bedeutungsbegriffen nur einen herausgreife, möchte ich sagen: Vermehrung des Sinns ist eine positive Folge von Veränderung, bisweilen auch Erweiterung der Sinnerschließungsmöglichkeiten des Empfängers. Nicht dass die bedeutungstragenden Strukturen selbst sich veränderten; es ist vielmehr der Beobachter, der neue Bezüge, neue Sehweisen innerhalb einer letzten Endes unerschöpflichen Vielfalt wahrnimmt. Wir dürfen uns nicht mehr das naive und unerreichbare Ziel setzen, wissen zu wollen, was der Autor wirklich sagen wollte. Aber wir können die Bedeutungszuwächse und -Verschiebungen historisch einordnen und ihre diachronischen Entwicklungen beobachten. Nach Ausschluss impressionistischer Interpretationsweisen bleiben also zwei wichtige Kontrollinstrumente: Kontrollen am Text, dem nie Gewalt angetan werden

183 darf, und Kontrollen in Bezug auf die Veränderung der Rezeptionsbedingungen und ihrer Gründe. Auch das Verhältnis zwischen literaler Bedeutung (sensus litteralis) und Sinn entwickelt sich nach den Prinzipien des hermeneutischen Zirkels. Wenn wir nun an das Phänomen der Sinnvermehrung im Ablauf der Zeit denken, können wir uns den hermeneutischen Zirkel zu einer Spirale verwandelt vorstellen, die sich mit jeder Drehung von der Literalität des Textes entfernt und den Raum des Sinns durchquert. Vielleicht lassen sich mit der hermeneutischen Spirale einige Probleme der literarischen Hermeneutik lösen.

7. Hermeneutik und Strukturen der Historie

Ein wirklich historisches Denken muss die eigene Geschichtlichkeit mitdenken. 1 Die Hermeneutik hat in Italien nie eine große Verbreitung gehabt, obwohl das heute wiederentdeckte Werk von Emilio Betti (Bruder des Dramatikers Ugo Betti) über L 'ermeneutica come metodica generale delle scienze dello spirito (Torino 1948; Id.: Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften. Tübingen 1962) wie ein Vorläufer wirkt: ein Werk von deutlich idealistischer Prägung, wie aus dem Titel und der Unmenge von Zitaten vor allem deutscher Philosophen hervorgeht. Heute gelangen nach dem schönen, aber ohne Echo gebliebenen Band von Peter Szondi die Ergebnisse der von den Neohermeneutikern entfachten Diskussion, die Arbeiten von Eric D. Hirsch und David Hoy, zu uns und in ihrem Gefolge erscheinen nicht wenige Publikationen auch in Italien. 2 Am Anfang der Hermeneutik als Wissenschaft stand die Auslegung religiöser und juristischer Texte. Ihre Aufgabe war es, Verfahren für das genaue Verständnis von heiligen Texten und von Gesetzen zu entwickeln. Ein erklärtes Ziel war dabei die Ermittlung der intentio auctoris, etwa des Willens des Gesetzgebers, wie er ihn kodifiziert hatte. Wenn es sich nicht um zeitgenössische Texte handelt, liegt das größte Hindernis, das dem Verständnis überlieferter Texte im Wege stand, in den sprachlichen Veränderungen, gewandelten Lebensbedingungen usw. Eine positive Folge war, dass Normen für die wörtliche Interpretation gefunden werden mussten; die umgekehrte Überzeugungsarbeit bestand darin, dass die zeitliche Kluft nur mit sorgfältigem Studium der eingetretenen Veränderungen zu überwinden war. Damit rückt das schon erkannte Problem des Zeitabstands ins Blickfeld, das auch für den Literaturwissenschaftler, wenn er sich mit Werken der Vergangenheit beschäftigt, fundamental ist.

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H. G Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr Siebeck 1993, [1960], 64. P. Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975; E. D. Hirsch: Validity in Interpretation. Chicago: The University of Chicago Press 1967; Id.: The Aims of Interpretation. Chicago: The University of Chicago Press 1976; D. C. Hoy: The Critical Circle, Literature, History an Philosophical Hermeneutics. Berkeley-Los Angeles: University of California Press 1978.

186 Die ersten Hermeneutiker haben sich um dieses Problem nicht viele Gedanken gemacht: sie glaubten, es mit der Unveränderlichkeit der menschlichen Natur oder mit einer schwer definierbaren Kategorie der Einfühlung lösen zu können. Die Schwierigkeiten sind später klarer geworden: Wenn es im allgemeinen auch verhältnismäßig einfach ist, die Bedeutung eines Satzes zu bestimmen, ist die Bedeutung von Satzfolgen, also das, was wir die transphrastische Bedeutung nennen, immer schwerer zu erfassen. Handelt es sich dann um literarische und poetische Texte, an die die Hermeneutik zunächst nicht gedacht hatte, so entstehen Zweifel, durch die diesen innewohnende Polysemie, ihre Fülle von konnotativen Elementen, ja, die mitunter gewollte Ambiguität, die eindeutige Erfassung der Gesamtbedeutungen und gar des Sinns fraglich erscheinen lassen. Und so zeichneten sich zwei neue Lösungen ab: eine konstruktive und eine destruktive. Die konstruktive besteht darin, dass nicht mehr nach der intentio auctoris, sondern nach der intentio operis gefragt wurde. Denn im Unterschied zum Verfasser, der sich mehr oder weniger entzieht, bleibt das Werk in seiner Integrität verfugbar und ist gleichzeitig einziger Anlass und Gegenstand unserer Aufmerksamkeit. Außerdem gewinnt das Werk gegenüber seinem Autor im Zuge der Entstehung immer mehr an Autonomie, erst recht, wenn es abgeschlossen ist. Die Intention des Autors ist gewiss wichtig als Ausgangspunkt und als genetische Instanz, aber das Werk nimmt ihn dann gleichsam bei der Hand, folgt den Zwängen seiner eigenen Struktur, wie dies viele Schriftsteller, von Pirandello bis Thomas Mann, eingestehen. 3 Hinzuzufügen ist schließlich, dass der Bedeutungsreichtum und die Sinnfulle des Werks, sukzessive, mit dem Lauf der Zeit und mit wachsender semantischer Kompetenz des Lesers, zunimmt: das ist auch genau der Grund dafür, dass die großen Texte zu immer neuen Interpretationen anregen und sich immer neue Bedeutungen erschließen. 4 Die destruktive Lösung dagegen liegt im (an sich unbestreitbaren) Eingeständnis, dass jedes Reden über ein Werk zugleich eine Form der Entfernung von dem Werk bedeutet: immer mehr Zeichen können sich in einem unaufhörlichen Prozess der Entropie übereinander schichten. Auf diese Weise schmilzt der historische Abstand, er geht auf Null oder nahezu Null zurück. Damit gewinnt die Aussage aus einem Brief von Tolstoij, der von Sklovskij zitiert wird, eine ganz besondere Bedeutung: „Wenn ich aber alles mit Worten sagen wollte, was ich in meinem Roman [Anna Karenina] ausdrücken wollte, müßte ich denselben Roman noch einmal schreiben, den ich geschrieben habe, und wenn die Kritiker das, was ich sagen will, jetzt schon verstehen und in einem Feuilleton ausdrücken können, dann gratuliere ich ihnen und kann kühn behaupten, qu'ils en saventplus long que moi".5 3

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Vgl. dazu die entsprechenden Belege in M. Corti: Principi della communicazione letteraria. Milano: Bompiani 1976, 121-125. Zu diesem verschiedentlich beobachteten Phänomen vgl. C. Segre: I Segni e la critica. Torino: Einaudi 1969. V. Sklovskij: Theorie der Prosa. [1925], Hrsg. und aus dem Russischen übers, von G. Drohla. Frankfurt am Main: S. Fischer 1966, 60.

187 Die Ursprünge dieser zweiten Lösung liegen bei dem, was Peirce die „unendliche Semiose" nennt, ein Begriff aus einer Mischung von Skzeptizismus und einer Portion Sophismus. Denn wir dürfen, wenn wir Literaturwissenschaft treiben wollen, nicht über „das Werk sprechen", wir müssen uns ihm in seiner Konkretion stellen und aus ihnen all jenes Wissen ableiten, ordnen und interpretieren, das uns bei dessen Verständnis helfen kann. Da ist kein kontinuierlicher und übergangsloser (unendlicher) Diskurs; es gibt einen Sender: den Autor; einen Empfanger: den Leser, und dazwischen die Botschaft, das Werk, vom Autor verbürgt und vom Leser unbedingt zu respektieren. Alle Strömungen innerhalb der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts könnten danach klassifiziert werden, wie sie nacheinander dem Autor, dem Werk oder dem Leser Priorität einräumen. Die postromantische Literaturwissenschaft hat im allgemeinen dem Autor Priorität eingeräumt. Dazu arbeitet sie entweder seine Biografie, ja seine Charakterzüge heraus, weil sie diese als für sein Werkschaffen entscheidend hält, oder aber sie verlässt sich auf Einfühlungsvermögen und Intersubjektivität, ihre Methode, um sich in den Autor hineinzuversetzen, an seinen Empfindungen teilzuhaben, von denen das Werk ein getreues Abbild sein soll. In diesem Fall gilt der historische Abstand als irrelevant. Zur Zeit der Formalisten und Strukturalisten tritt das Werk in den Vordergrund: das Werk mit seinen Konstruktionsmerkmalen wird zum einzigen zuverlässigen Bezugspunkt, während der Autor mit allen seinen Empfindungen vernachlässigt werden kann und der Leser sich ausschließlich mit der Dekodierung zu befassen hat. Diesmal wird der historische Abstand irrelevant, da das Werk in seiner Integrität unanfechtbar ist und die Zeit nur insofern von Belang ist, als sie die Erzeugnisse seiner Überlieferung materiell zerstören kann. In den letzten Jahrzehnten hat der Leser wieder angefangen, seine Ansprüche geltend zu machen - der einzige, der als Zeitgenosse, ob zu Recht oder nicht, aus der Folge von Buchstaben, Wörtern und Sätzen des Textes eine Bedeutung herausholen kann. Und da nun die Leser immer wieder andere sind, jeder mit seiner Geschichtlichkeit, ist das Problem des historischen Abstandes unausweichlich. Der Erfolg der Neohermeneutik, der dem Dekonstruktivismus zum Teil beigesprungen ist, ist besonders groß gewesen in Deutschland, wo mehrere Tagungen in Folge über „Poetik und Hermeneutik" stattfanden und die Beiträge in einer beeindruckenden Reihe von Bänden publiziert wurden, aber auch in den Vereinigten Staaten, dort besonders durch den Einfluss von Derrida und De Man, aber mit eigenen Entwicklungen. Es handelt sich um eine nicht-referentielle und antipositivistische Hermeneutik, eine Hermeneutik der Abwesenheit, eine Hermeneutik, die die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat aus den Angeln hebt, auf der doch all unsere Möglichkeit des Verstehens beruht. So gelangt man, wie Maurizio Ferrraris bemerkt hat, zu einer Hermeneutik des Nicht-Verstehens und der Missdeutung. 6 6

M. Ferraris: La svolta testuale. Il decostruzionismo: Derrida, Lyotard, gli 'Yale Critics'. Paris: Cooperativa Libraria Universitaria 1984.

188 Dieser „bösen" Hermeneutik möchte ich die „gute" Hermeneutik entgegensetzen: diejenige, die in Fortsetzung der alten theologischen und juristischen Hermeneutik und auf den Spuren von Rambach und Chladenius, Schleichermacher und Dilthey bis hin zu Gadamer reicht, der jedoch ein schwieriges Gleichgewicht zwischen den beiden Hermeneutiken sucht. Gadamer gibt die Möglichkeit einer objektiven Textbetrachtung ganz auf. Der Text ist seiner Geschichtlichkeit unterworfen und wir sind auch selbst im Schlepptau unserer eigenen Geschichtlichkeit. Es bleibt nur die Möglichkeit, von diesem Bewusstsein, dem „wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein", auszugehen. 7 Kontinuität und Diskontinuität sind der Sprache, ja, der sogenannten „Sprachlichkeit des hermeneutischen Geschehens", anvertraut. 8 Gadamers Denken ist so reich an Implikationen, dass sie von Theoretikern verschiedener Denkrichtung und in verschiedener historischer Ausrichtung aufgegriffen und weiterentwickelt worden sind. An dieser Stelle will ich nur auf den Gadamerschen Begriff der „Horizontverschmelzung" eingehen. Mit „Horizont" meint Gadamer so viel wie den Kontext oder die spezifische kognitive Situation des Autors eines Textes. Dieser Kontext ist deshalb auch dem Text selbst eingeprägt und vom Horizont des Nutzers oder Lesers verschieden. 9 Der Horizont verändert sich, in dem Maße wie die historische Situation sich verändert. Daher müsste es der Hermeneutik gelingen, den eigenen Horizont mit demjenigen des Textes zu verschmelzen und den historischen Abstand zu überwinden, ohne ihn aufzuheben. Gadamers Horizontbegriff erscheint mir akzeptabel, weil er dem, was Verstehen im Wege steht, ebenso Rechnung trägt wie der angestrengten Aufmerksamkeit, die dennoch Verstehen versucht. Nur müsste man m.E. stärker, als dies bisher geschehen ist, auf der Willensanspannung insistieren, die notwendig ist, um eine Annäherung oder Verschmelzung der Horizonte zu erreichen. Diese angestrengte Aufmerksamkeit ist dem Philologen wohlbekannt, der seine Aktivität auf die Verfeinerung seiner Interpretationsverfahren richtet; genauso kennt der Philologe auch die Hindernisse, auf die er immer wieder stößt, und die Lücken, die er gern schließen würde, aber nicht schließen kann. Jedenfalls hat eine Umkehrung in der Prioritätenordnung der Forschungsgegenstände stattgefunden. Während die alte Hermeneutik den Autor als Gesetzgeber in den Mittelpunkt rückte, räumt die moderne Hermeneutik dem Leser oder Rezipienten eine Schiedsrichterfunktion ein. Diese Umkehrung hat sich in vielen Bereichen vollzogen und ist jetzt auch in der Literaturtheorie sehr stark. Deshalb spricht man direkt von „leserorientierten Theorien". Vielleicht muss der Umkehrung eine triviale, aber dennoch wichtige empirische Feststellung vorausgeschickt werden: Da der Literaturwissenschaftler auch ein Leser ist, weiß er viel mehr über Lesen (und damit Rezeption) als über Schreiben (also Produktion), mehr über die Bedeutungen, die er aufzudecken vermag, als über diejenigen, die dem Werk inhärent sind.

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Gadamer, Wahrheit und Methode, 1993, 285. Gadamer, 1993, insb. 426. Gadamer, 286; 292-293; 559-560.

189 Wenn Gadamer sowohl von denen, die eine gewisse Objektivität bei der Textinterpretation anstreben, als auch von denen, die von vornherein deren Möglichkeit bestreiten, als Autorität benutzt werden konnte, so hat das mit den Wurzeln seines Denkens zu tun: er versucht, die Rechte der Auslegung für sich zurückzugewinnen, die insbesondere schon Dilthey postuliert hat, vermag sich aber gleichzeitig nicht ganz von der Faszination Heideggers zu lösen. Mit anderen Worten, der Gedanke der Geschichtlichkeit kann ein Beitrag zur Interpretation sein, wenn wir diesen auf das Werk beziehen, und davon ausgehen, dass dessen Geschichtlichkeit sich bis zu einem gewissen Grade zurückgewinnen lässt; umgekehrt kann sie aber auch den Anhängern der wilden Interpretation zur Rechtfertigung dienen, wenn wir sie auf die Leser beziehen, von denen jeder wieder seine eigene Historizität mitbringt, der er nicht entkommen kann, also auch nicht, um aus einer „anderen" Historizität, der Geschichtlichkeit des Werkes, zu schöpfen. Die philosophische Fragestellung verfolge ich hier, nicht nur aus Platzgründen, an dieser Stelle nicht weiter und möchte mich stattdessen kurz mit jener Position in der Literaturwissenschaft beschäftigen, die aus der Aufeinanderfolge von Interpretationen eine Methode abgeleitet hat: die „Rezeptionstheorie", die seit 1967 in Deutschland vorherrschend ist. Diese Theorie stützt sich auf die Interpretationsgeschichte im weitesten Sinne: von der Aufnahme eines Werks und den unmittelbaren Reaktionen bis zu seiner Wirkungsgeschichte, von den Nachahmungen bis zu den Parodien. Man verwendet größte Mühe auf die Erforschung der „Überlieferung", genauer gesagt, des „Fortlebens" des Werks. Dieser Versuch einer totalen Historisierung kann nicht ohne Wohlwollen gesehen werden. Zweifel kommen auf, wenn man nach dem ästhetischen Sinn fragt, nämlich von einer „Rezeptionstheorie" zu einer „Rezeptionsästhetik" übergeht. Es ist sattsam bekannt, dass sich Literaturwissenschaft auf vorherige Forschung stützt, sei es, dass sie sie weiterentwickelt oder vollendet, sei es, dass sie sie zurückweist. Wir können, wenn wir das wollen, auf die Tätigkeit einer Art interpretative comunity hoffen, wie es Stanley Fish sagt, der alle Interpreten im Dienste einer bestimmten interpretatorischen Strategie sieht.10 Aber wie soll man in den im Laufe der Zeit so verschiedenen Interpretationsstrategien eine bestimmte Richtung erkennen? Es ist auch schwierig, Gadamers Begriff vom „Erwartungshorizont" unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik anzuwenden. Denn der Erwartungshorizont würde gleichermaßen eine klassizistische Poetik (ein Werk ist um so höher einzuschätzen, je näher es dem Erwartungshorizont ist) wie eine avantgardistische Poetik (die Qualität des neuen Produkts steigt mit dem Abstand zum Erwartungshorizont) rechtfertigen. Die Anhänger der Rezeptionstheorie wählen die zweite Richtung und stützen sich auf formalistische Kriterien wie „Verfremdung" und „Destandardisierung". Wir wissen aber sehr wohl, dass keines der beiden Konzepte absolute Gültigkeit beanspruchen kann, da in künstlerisch bedeutenden Werken immer eine

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Vgl. S. Fish:/s Therea Text in This Class? The Authority of Interpretative Communities. Cambridge. Mass., usw.: Havard University Press 1980.

190 Dialektik zwischen Innovation und Kontinuität besteht, und Innovation an sich noch keine Garantie für die Qualität eines Textes ist. Vielleicht sollte man an dieser Stelle einen Schritt zurück gehen. Es wird immer klarer, dass der Rezeptionstheorie Begriffsbildungen des Prager Linguistenkreises vorausgegangen sind: darunter besonders von Jan Mukarovsky, Felix Vodcika und Yiri Levy. Ich beziehe mich hier besonders auf den Wortführer Mukarovsky und seine Studien Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten von 1936." Mukarovsky schreibt: „Ein und dasselbe Kunstwerk ist keineswegs eine konstante Größe: mit der Verlagerung in Zeit, Raum und sozialem Umfeld verändert sich die aktuelle künstlerische Oberlieferung, durch deren Prisma das Werk wahrgenommen wird; als Folge dieser Verlagerungen verändert sich auch der ästhetische Gegenstand, der im Bewusstsein der Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft dem materiellen Artefakt, dem vom Künstler geschaffenen Gegenstand entspricht." 12

Auf diesem Weg durch die Zeit gibt die ,Norm' die Orientierung an. Die Norm ist eine Unterklasse des ,Werts', verstanden als „Gebrauchsfähigkeit eines Gegenstandes für ein Ziel". 13 Der Wert ist zuallererst subjektiver Natur, denn er misst sich an den Interessen und Zielen eines Individuums. Aber: „von Norm im engeren Sinne kann man erst sprechen, wenn es um allgemein anerkannte Ziele geht, in bezug auf die der Wert als unabhängig vom Willensmäßigen und von der subjektiven Entscheidung des Individuums, mit anderen Worten als Faktum des so genannten Kollektivbewusstseins gesehen wird; darin liegt auch der ästhetische Wert, der das Maß für das ästhetische Wohlgefallen liefert".

Mukarovsky holt sehr weit aus, denn er berücksichtigt, was zu seiner Zeit noch gar nicht allgemein üblich war: dass der ästhetische Wert eines Werks nur eine seiner Funktionen ist und dass das Vorhandensein, das Nicht-Vorhandensein oder der Realisierungsgrad dieses Wertes sich bei ein und demselben Werk im Lauf der Zeit ändert. Bekanntlich wurden viele griechische und mittelalterliche Werke mit einer ursprünglich religiösen und allenfalls sekundären ästhetischen Funktion in Umlauf gebracht, während wir sie heute in einer ausschließlich ästhetischen Sicht lesen. Das Wichtige an der Norm ist nun, dass sie einerseits der Schlüssel für das Verständnis von Akzentverlagerungen bei der Lektüre der Texte ist, aber anderer-

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Vgl. J. M u k a f o v s k y : Schriften zur Ästhetik, Kunsttheorie und Poetik. Hrsg. und übers, von H. Siegel. Vorwort von Milos Sedmidubsky. Tübingen: Narr 1986. 12 J. Mukafovsky, Probleme des ästhetischen Werts. Handschriftlicher Fakultätsvortrag 1935-1936, 1-26; Probleme der ästhetischen Norm. Öffentlicher Vortrag, gedruckt nach der H a n d s c h r i f t . Z w e i t e Hälfte der dreißiger Jahre, 2 7 - 4 1 . Die deutschen Zitate erhalten im Unterschied zur italienischen Vorlage dort keine Seitenangabe, wo der Wortlaut nicht übereinstimmt [d.Ü.]. '3 J. M u k a f o v s k y 1986, 7.

191 seits unsere Fähigkeit sie zu verstehen nicht in Frage stellt. Wir sind uns der geltenden Normen bewusst, können uns aber auch in verfallene oder verblasste Normen hineindenken. Mukarovsky vertritt einen entschieden objektivistischen Standpunkt: „Es gibt in der objektiven Beschaffenheit der Sache (Trägerin der ästhetischen Funktion) bestimmte Voraussetzungen, die das ästhetische Wohlgefallen fordern. Die ästhetische Wirkkraft wohnt natürlich nicht dem Subjekt inne: damit die objektiven Voraussetzungen zur Geltung kommen können, müssen sie eine Antwort in der Wesensstruktur des Subjekts finden".

Objektive Vorgaben einerseits, Reaktion des Subjekts andererseits, so kommen Werk und Geschichte zu ihrem Recht, aber auch das Subjekt, der Leser. Die Überlegungen von Mukarovsky helfen uns, so meine ich, zwischen Hermeneutik, Rezeptionstheorie und leserorientierter Literaturwissenschaft einen Weg zu finden. Der erste Punkt, auf den es mir anzukommen scheint, ist dieser: man muss zwischen ästhetischen Auswirkungen und den kognitiven (hermeneutischen) Auswirkungen des zeitlichen Abstands unterscheiden. Es ist klar, dass der historische Relativismus Mukarovskys nur die Ästhetik betrifft, während die Objektivität des literarisch-künstlerischen Werks als kommunikatives Phänomen davon unberührt bleibt. Beim ersten Punkt muss ich ihm recht geben: Interpretationen ändern sich mit dem Fortgang der Zeit, so wie sich auch die Geschmacksrichtungen und die kulturellen Voraussetzungen der Leser im allgemeinen verändern. Wenn die Geschichte nach dem Diktum Croces immer Zeitgeschichte ist, dann ist auch der Geschmack, mit dem man Werke der Literatur liest, immer der Zeitgeschmack. Zwar können wir Informationen über den Geschmack der Entstehungszeit sammeln, vielleicht auch des Autors, der das Werk geschrieben hat, aber es ist uns gewöhnlich nicht möglich, ihn uns zu eigen zu machen. Was hingegen das Verstehen (zweiter Punkt) angeht, so ist es sehr wohl möglich, wenn auch nur mit Einschränkung. Grundlage bildet hier sicherlich die „Sprachlichkeit" im Sinne von Gadamer. Die Sprache ist das festeste und am ehesten entwirrbare Band, das uns mit einem Werk aus der Vergangenheit verbindet, zumal dann, wenn es in der Sprache abgefasst ist, die wir noch sprechen. Bei Veränderungen der Sprache, die im Lauf der Zeit eintreten, aber auch durch jeden Schriftsteller verursacht werden, kommt uns jederzeit eine darauf spezialisierte Disziplin zu Hilfe, die Sprachgeschichte. Aber zu Hilfe kommt uns im Hinblick auf ein systematisches Werkverständnis auch die sonst so vielgescholtene strukturalistische Sicht. Sie ermöglicht es uns nämlich, ähnliche oder gegensätzliche Elemente einander gegenüberzustellen, innere Beziehungen herauszuarbeiten, die werkimmanenten Relationen zu bestimmen, die tragenden Strukturen und die Mikrostrukturen zu rekonstruieren, die jene in labilem Gleichgewicht widerspiegeln und miteinander verknüpfen. Der Vorwurf: „Aber ihr vertagt damit das Werturteil" bedeutet, dass die Analyse, je beharrlicher sie ist, zu einem umso volleren Verständnis führt, während die Werturteile historisch vergänglich sind. Als notwendige Krönung

192 seiner Analysen muss der Literaturwissenschaftler sie natürlich formulieren (wobei auch sie zeitbedingt sind), wenn er diesen Namen verdienen will; gleichzeitig weiß er, dass solche Urteile von seinem historischen Ort und von seinem Geschmack, der seinerseits historisch ist, abhängig sind. Man wird einwenden, das sprachliche Verstehen sei nicht alles. Aber es gibt wohlbekannte Verfahren, auch die kulturellen Bedingungen, die Denkrichtungen, die Poetiken, die sozialen Verhaltensweisen usw. aufzudecken. Manchmal stellen wir fest, dass wir bestens Bescheid wissen, dann wieder erkennen wir Lücken, die durch neu ans Licht gekommene Dokumente oder eine richtigere Lektüre der schon bekannten Quellen geschlossen werden können. Historiker und Philologen würden nicht weiterarbeiten, wenn sie das Gefühl hätten, einem Phantom nachzujagen. Auch Versuche, diese Forschungen zu vereinheitlichen, sind vielversprechend: ich denke hier besonders an die kulturwissenschaftliche Schule von Tartu, die dazu, wenigstens, was die russische Literatur anbelangt, erhellende Beispiele geliefert hat. Was nun die leserorientierte Literaturwissenschaft angeht, muss man sich darüber im klaren sein, dass sie sich in einem Teufelskreis bewegt. Wenn man dem Leser die ganze Verantwortung für den Sinn zuweist, sind subjektivistische Schlussfolgerungen unvermeidlich. Man findet sich auf der Bahn einer Zeitlichkeit ohne Umkehr wieder. Mein zweiter Vorschlag ist deshalb, den ganzen Kommunikationsverlauf Sender Nachricht Empfänger zu rekonstruieren. In dieser Trias bleibt der Leser derjenige, der aus dem Buchstaben des Textes einen Sinn ableitet; aber dieser Sinn darf nicht im Widerspruch zum Text selbst als kommunikativer Struktur stehen und darf auch nicht von der Tatsache abstrahieren, dass diese Struktur von einem Sender in einer bestimmten Situation und mit einer bestimmten kommunikativen Intention geschaffen worden ist. Der Autor ist es, der die kulturellen, epistemischen, literarischen und die Einzelexistenz betreffenden Elemente, die in der Textgestalt des Werks „verschlüsselt" sind, filtert, und zwar auf seine persönliche Weise. Der Autor ist es, der die, wie es in Bachtins Begrifflichkeit der Polyphonie heißt, im Text organisierten Stimmen zusammenhält, dialektisch aufeinander bezieht, steigert oder zurückdrängt. Auch die Textkritik hat uns nicht nur gezeigt, wie ein Werk „gemacht ist", sondern auch, wie es „gemacht worden ist". An und nur an diesem Punkt tritt der Autor hinter die Kulissen zurück und überlässt die Bühne dem Text. Es geht also nicht darum, zur intentio auctoris zurückzukehren. Aber die Kenntnis des Senders als verantwortlichen Schöpfers, wie auch des Adressaten des Werks trägt dazu bei, unsere Beobachtungen aus einem bestimmten Blickwinkel zu schärfen. Wie sich gezeigt hat, hat das Werk seine eigene strukturelle Autonomie gegenüber dem Autor, und sein Sinnpotential ist größer als ursprünglich hineingelegt. Dennoch gilt, dass die Erfassung der Bedingungen, unter denen die Botschaft entstanden ist, unabdingbar ist, wenn der Empfänger sie richtig aufnehmen soll.

193 Interessante Beobachtungen sind dazu von einigen Vertretern der Rezeptionstheorie gemacht worden, insbesondere von Harald Weinrich und Wolfgang Iser.14 Sie sprechen von „Instruktionen", die der Text selbst zur Erleichterung seines Verständnisses enthält, auch wenn Iser dann einige Jahre später das Interaktionskonzept der „Leerstellen" einfuhrt, weil solche Leerstellen, indem sie den Leser zwingen, sie zu schließen, um den Sinn zu vervollständigen, für seine Deutung offen bleiben. Solche Ansätze verdienen, vertieft zu werden, wenn man an der Objektivität des Textes festhalten will, ohne seinen Sinn als etwas Gegebenes oder ein für alle Mal Erschließbares anzusehen. Im übrigen bekräftigen sie eine Aussage aus berufener Hand: „Strukturen sind keine leblosen und stabilen Gegenstände. Sie treten in Erscheinung, sobald sich eine Beziehung zwischen Beobachter und Gegenstand aufgebaut hat. Sie erwachen als Antwort auf eine vorgängige Frage, und in Abhängigkeit von dieser an die Werke gestellten Frage entsteht eine bevorzugte Anordnung der in diesen entschlüsselten Elemente. Im Wechselspiel mit meiner Frage bilden sich die Strukturen und werden fassbar in einem Text, der vor langer Zeit auf einer Seite des Buches niedergelegt worden ist.".

Das Zitat ist von Jean Starobinski. 15 Es bleibt festzuhalten, dass die Phänomenologie der literarischen Kommunikation den Kommunikationsprozess in zwei Phasen teilt: Sender Nachricht und Nachricht Empfänger; 16 es gibt also nicht das Feedback, das für die richtige Dekodierung in der Alltagskommunikation so hilfreich ist. Allerdings haben Gesprächspartner eines Dialogs beide teil an der Situation, während der Text der literarischen Kommunikation, um diesen großen Mangel zu kompensieren, die Kommunikationssituation, in der er entstanden ist, selbst beinhaltet. Das gibt uns viele, wenn auch nicht alle Hilfsmittel, um uns auf den Text einzustellen oder ihn, wie man sagt, zu historisieren. Nicht alle messen der Geschichte heute so viel Bedeutung bei wie ich. Deshalb darf ich die epistemische Kluft nicht verschweigen, die zwischen dem Historizismus hegelianischer Prägung und den modernen Auffassungen von Historizismus entstanden ist. Erster hatte sozusagen einen eigenen Horizont, war gewissermaßen zielgerichtet und glorifizierend. Heute müssen wir uns an ein neues Geschichtsbewusstsein gewöhnen, das uns dem Lauf der Geschichte ausliefert und es uns überlässt, argumentativen Halt, Koordinaten und zeitweilige Landeplätze zu suchen. 14

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16

Vgl. H. Weinrich: „Für eine Literaturgeschichte des Lesers" [1967], in: Id.: Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft. Stuttgart usw. : Kohlhammer 1971, 23-34; W. Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink 1976; vgl. auch die Einleitung von C. Segre zu: L'atto della lettura. Una teoria della risposta estetica [1978]. Bologna: Il Mulino 1987. Zit. in C. Segre (ed.): Strutturalismo e critica [1965], Milano: Il Saggiatore 2 1985, 35. Vgl. C. Segre: Avviamento all'analisi del testo letterario. Torino: Einaudi 1984, 6 - 7 .

8. Körper und Grammatik

1. Um in Schönheit zu beginnen, wollen wir den berühmten ersten Satz aus Du côté de chez Swann von Marcel Proust an den Anfang stellen: Longtemps, je me suis couché de bonne heure} Auf den ersten Seiten spricht der Erzähler von Momenten des Wiederaufwachens, wobei mir eine Passage besonders bedeutsam erscheint: „Mon corps, trop engourdi pour remuer, cherchait, d'après la forme de sa fatigue, à repérer le position de ses membres pour en induire la direction du mur, la place des meubles, pour reconstruire et pour nommer la demeure où il se trouvait. Sa mémoire, la mémoire de ses côtes, de ses genoux, de ses épaules, lui présentait successivement plusieurs des chambres où il avait dormi, tandis qu'autour de lui les murs invisibles, changeant de place selon la forme de la pièce imaginée, tourbillonnaient dans les ténèbres".2

Im achten seiner erst spät entdeckten Tagebücher, in denen eine der ersten Aufzeichnungen von dieser Szene enthalten sind, wird minutiös die Rekonstruktion des topomnestischen Koordinatensystems beschrieben, in welchem Hals, Rumpf und Beine die wichtigsten Richtungen anzeigen.3 Wir begegnen hier dem Phänomen, dass das Beziehungsverhältnis zwischen unserem Körperbewusstsein und unserer unmittelbaren Umgebung von einem großen Schriftsteller festgehalten wird. Von der Körperwahrnehmung kommt man zur Beschreibung des Umfeldes und zum Orientierungssystem. 2. Wir können wohl niemals, auch in weniger anschaulicher Rede nicht, vom menschlichen Körper absehen. Die Psychologen haben uns mit größer Sorgfalt das „Zeigfeld" beschrieben, in welchem jede menschliche Rede ihren Platz hat. Insbesondere Karl Bühler schreibt in seiner Sprachtheorie-. „Das reine ,hier' fungiert als Positionssignal und das reine ,ich' als Individualsignal des Senders einer

1

2 3

A la recherche du temps perdu. Edition publiée sous la direction de J.-Y. Tadié. Paris: Gallimard 1987, 6. A'ia recherche, ibid., 12-13. Vgl. Cahiers Marcel Proust. Paris: Gallimard 1971.

196 sprachlichen Botschaft".4 Von diesen zwei fundamentalen Lokalisierungen her lässt sich die ganze Grammatik bestimmen. Aber die Grundbausteine zur Abgren-zung des Zeigfelds sind die Deiktika. Sie dienen unmittelbar als Zeigausdrücke, wirken als Zeiggeste, die auch tatsächlich mit diesen Wörtern einhergehen kann, oder sie zeigen in anaphorischer Weise, wenn das Zeigfeld schon abgegrenzt ist. Das „Zeigfeld" wird durch zwei Koordinaten, die sich senkrecht schneiden, bestimmt:

Der Schnittpunkt O, die Origo genannt, ist durch die drei Zeigausdrücke ich, hier undjetzt besetzt Damit erscheint „das Koordinatensysten der .subjektiven Orientierung', in welcher alle Verkehrspartner befangen sind und befangen bleiben. Jeder benimmt sich wohlorientiert in dem seinigen und versteht das Verhalten des anderen".5 Die sprachlichen Konventionen legen fest, ob bei den Äußerungen das Orientierungssystem des Sprechers oder das des Hörers gilt: das des Sprechers ist maßgeblich, wenn er auf sich selbst und auf seine Position schaut, das des Hörers „bei Kommandos an Soldaten oder vor einer Front von Turnern" („Vorwärts, Marsch, rechtsum, linksum") oder auch im Brief: „Ich werde nach Sevilla kommen" (und nicht: „fahren"), wenn der Briefschreiber, der sich in Mailand befindet, sich an einen Adressaten in Sevilla wendet. Im Spanischen hingegen heißt es puedo ir, ,ich kann kommen', aus der Sicht des Senders und nicht des Empfangers. In jedem Fall zeigt sich eine Art Perspektivenabhängigkeit, auf die wahrscheinlich das französische être là fur ,anwesend sein', also 'hier sein' zurückgeht, das zugleich auch ,dort sein' bedeuten kann. Das ständig wechselnde „Zeigfeld" erklärt, warum mit dem Adverb hier Mailand, Sevilla oder irgendein anderer Ort und mit ich dieselbe Person gemeint sein kann, die im dialogischen Wechsel mit du bezeichnet wird. Nur die dritte Person bleibt, wenn A und B feststehen, von dem Wechsel ausgenommen; sie kann sich insofern ändern, als A und B entscheiden, ob sie das Pronomen er oder sie gebrauchen und es nacheinander verschiedenen Personen zuweisen, auf die sie dann jedesmal zeigen oder die sie jedesmal nennen müssen. Bemerkenswert ist übrigens, dass das „Zeigfeld" in den verschiedenen Sprachen einen einzigen

4

5

K. Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. 2. unveränd. Aufl. Stuttgart: Gustav Fischer 1965, 95-96 [Jena >1934]. Bühler 1965,102-103.

197 Fokus (ich) oder zwei Brennpunkte (ich, du) haben kann. Im Toskanischen und in der literarischen Variante des Italienischen zum Beispiel verweisen questi, codesto und quegli Personen, die sich beim Sprecher bzw. Hörer oder keinem von beiden befinden. Dasselbe gilt für das Spanische mit este, ese und aquel, während es in den meisten Sprachen, auch im Standard-Italienischen, nur die eine Unterscheidung zwischen questi und quegli: ,dieser' und jener' gibt. In Anlehnung wahrscheinlich an das Modell von Bühler unterscheiden Alcina Franch und Blecua in ihrer Gramática española zwei Referenzbereiche (campos de referencia) und drei Diskursachsen:6

Dieses Schema erlaubt, sich eine Vorstellung von der Perspektivenabhängigkeit und deren feste Regeln zu machen: wichtig ist, ob der Sprecher die Sätze aus seiner eigenen Perspektive oder aus derjenigen seines Gesprächspartners äußert. 3. Bühler macht eine zweite, noch wichtigere Bemerkung. Auch wenn wir von fernen Gegenständen oder Ereignissen sprechen oder uns diese auch nur vorstellen, gehen wir immer von unserem „Körpertastbild" aus, wir merken z.B., dass unser ausgestreckter Arm als Wegweiser für etwas tatsächlich in der Ferne Befindliches oder für etwas Vorgestelltes dient. Unser präsentes Körpertastbild, so Bühler, verknüpft sich mit einer phantasierten optischen Szene; in analoger Weise vollzieht der Hörer eine ebensolche , Versetzung', wenn er mit unserem inneren Auge mitwandert.7

6 7

J. Alcina Franch / J. M. Blecua: Gramática Bühler 1965, 136-137.

española.

Barcelona: Ariel 1975, 593.

198 Die räumliche Orientierung am Subjekt ist derart vorherrschend, dass das hier zugleich den höchsten Allgemeinheitsgrad von in dieser Welt haben kann, wie das bei Petrarca geschieht: ,J)isciolta di quel velo / che quifece ombra alfior degli anni suoi" (Canzortiere XXLXVIII, 38-39): qui steht in diesem Vers für ,Erde', ,unsere Welt'; wie umgekehrt là und al di là auf ,das Totenreich' verweisen würden. 8 4. Die räumliche Orientierung spielt auch bei der Morphologie der Pronomina in vielen Sprachen eine Rolle. Im Französischen ist sie sogar obligatorisch (celui-ci, celui-là), in anderen Sprachen fakultativ (im Italienischen questo qui und quello là, die jedenfalls nach Ansicht von Fornaciari, nur dann gebraucht werden, wenn die dadurch angezeigte Sache uns materiell gegenwärtig ist"). 9 Das französische Pronominalsystem mit den Zusätzen ci und là ist ziemlich differenziert und betont den Bezug aufs „Zeigfeld". Ich denke an Ausdrücke wie cette-maison-ci, ce livre là-bas oder la maison que voici, les exemples ci-dessus; auch das Deutsche kennt einige analoge Ausdrücke wie das Buch dort. Zu dem eben Gesagten über die räumliche Orientierung gehört ein anderes Element der Körperlichkeit: die Gestik. Die Zusätze ci, là usw. sind ursprünglich Begleiter von Gesten, solche der Hand oder wenigstens der Augen. In diesem Zusammenhang verdienten Ausdrücke für „bis zu" der Aufmerksamkeit, denn sie werden vom Sprechenden aus geäußert. Zu denken wäre hier an italienische Dialektformen wie di qui a, ,bis zu', wo man die Geste des Sprechers geradezu sieht, mit der er den Punkt zeigt, von dem an die Entfernung zu messen ist.10 Und man kann auch an den Blick eines anderen appellieren, z.B. jedes Mal wenn man das lateinische ECCE durch .sieh mal! seht mal! ' ersetzt. Das deutlichste Beispiel dafür liefert das französische voici, wörtlich ,sieh hier', voilà, ,sieh dort', die im Altfranzösischen konjugierbar und trennbar waren: vez le ci, ,sieh es hier', veiz le là, ,seht es dort' usw. Auch im Altspanischen gibt es veis qui. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass altspanische Ausdrücke wie ferne, afeme, ,hier bin ich', afelo, afevos, ,hier ist er', ,hier seid ihr' usw., die später zu he, (heme, hete usw. wurden; man denke an den Anfang einer berühmten romance: „Helo, helo por do viene "), und ursprünglich für Ableitungen vom Verb VIDERE gehalten wurden. Juan de Valdés schreibt im Diálogo de la lengua: „Muchos dizen he aquí por véis aquí; yo no lo digo". 11 Erst Meyer-Lübke und dann Corominas haben nachgewiesen, dass fe und he arabischen Ursprungs sind (hâ zu hê, ,lesen').

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F. Petrarca: Canzoniere. Nach einer Interlinearversion von G. Gabor in deutsche Verse gebracht von E.-J. Dreyer. 2., verb. Aufl. Basel. Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1990, 705: „befreit von jenen Schleiern, | die ihrer Jahre Blüte hier beschattet". R. Fornaciari: Sintassi italiana dell'uso moderno. Firenze: Sansoni 1881; Nachdruck mit einer Einleitung von G. Nencioni. Firenze 1974, 252: „quando la cosa indicata è materialmente presente a noi". G. Rohlfs: Historische Grammatik der italienischen Sprache und ihrer Mundarten. III. Bern: Francke 1954, 110-111. Juan de Valdés: Dialogo de la lengua. Edición y notas por J. F. Montesinos., „La Lectura"

199 5. Bemerkenswerter ist, dass die räumliche Orientierung des „Zeigfelds" die Bewegung einschließt: die der Augen als Blick in Richtung Gegenstand oder auf den Gegenstand, aber auch die der Phantasie als Durchwandern des „Zeigfelds" und schließlich die vorgestellte oder tatsächliche Bewegung des menschlichen Körpers. Das bedeutet, dass das Subjekt, ich, sich unmittelbar im Raum orientiert, die Position der anderen Gegenstände oder Personen in bezug auf sich selbst, hinter, vor, neben sich usw., festlegt und sich tatsächlich oder in der Vorstellung auf sie zubewegt, also aus der Distanz zu ihnen hin, jedenfalls in bezug auf sie. Die dafür verwendeten Zeigausdrücke sind egozentrischer und topomnestischer Natur. Genau darauf bezieht sich Harald Weinrich mit seinem Aufsatz zur Anthropologie der italienischen Präpositionen. 12 Weinrich greift hier auf einen Artikel von Th. Luckmann zurück, in dessen Mittelpunkt der Gedanke vom menschlichen Körper als wesentlichem Ordnungssystem steht. 13 Weinrich geht es um eine allgemeine Definition des „Werts" von Präpositionen einer jeden Sprache, und zwar unabhängig von den vielen Bedeutungen, die in den Wörterbüchern für eine jede Präposition angegeben sind. Sein Ausgangspunkt ist die Kommunikationssituation mit einem Sprecher und einem Hörer face-to-face. Er sieht die Möglichkeit einer kommunikations-anthropologischen Betrachtung, bei der die ganze Vielfalt mimischer und expressiver Mittel der Körpersprache und der zugehörigen Ersatzformen behandelt werden, die notwendig sind, wenn zum Beispiel in der schriftlichen oder fernmündlichen Kommunikation die Köipersprache nicht zum kommunikativen Erfolg beitragen kann. Allgemein ausgedrückt vertritt Weinrich die Ansicht, dass die Präpositionen im Italienischen (aber dies gilt meines Erachtens für diese wie für jede beliebige Sprache) in ihren Bedeutungen auf „das leibliche Ordnungssystem der menschlichen Kommunikation" angelegt sind. 14 Weinrich geht bei all seinen Analysen von Ausdrücken aus, die am meisten an die conditio corporea gebunden sind: a destra di, ,rechts', ,rechterhand' und a sinistra di ,links von', ,linkerhand', gefolgt von den neutralisierenden Präpositionen der Seitigkeit accanto, ,neben' und difianco a, ,seitlich von'; schließlich im Sinn der Vorder- und Rückseite des menschlichen Körpers davanti ,vor' und dietro, ,hinter'. In diesen Zeigausdrücken sind auch schon Wertungen enthalten, insofern als der rechte Arm für stärker oder tüchtiger gilt im Vergleich zum linken, und als davanti,, vor' bezogen auf die Kommunikationsorgane eine größere Wahrnehmungsmöglichkeit impliziert als dietro,,hinter', das ,Schatten' suggeriert. Viel-

Madrid 1928, 109. In: Studi grammatica italiana 7 (1978). Vgl. auch Für eine Grammatik mit Augen und Ohren, Händen und Füßen - Am Beispiel der Präpositionen. Opladen: Westfälische Verlag 1976 (= Westfälische Akademie der Wissenschaft, Vorträge G 217), 1-27, gekürzt in: Id.: Sprache - das heißt Sprachen. Tübingen: Narr 2001, 45-57. 13 Th. Luckmann: „On the Rationality of Institutions in Modern Life". Archives Européennes de Sociologie 16 (1975) 3 - 1 5 . i" Weinrich 1976, 26-27. 12

200 fältiger sind die Aussagen zu sopra,, über' und sotto, ,unter'. Diese Präpositionen beziehen sich zuallererst auf die Kontiguität, aber auch auf die Opposition zwischen den komplexeren Kommunikationsorganen, diejenigen des Kopfes, und den einfacheren Funktionen, der Füße. Daraus leitet sich die Konnotation auch der moralischen Überlegenheit bei dem Begriff alto, ,oben' und die der Unterlegenheit oder Gemeinheit in basso,,unten' ab. Bei der Opposition oben / unten denkt man natürlich an die Oppositionen Himmel / Erde, Paradies / Hölle. Hinzu kommen Hand bzw. Hände als Kommunikationsorgan mit vielen Funktionen: dieses suggeriert in unserem Zusammenhang unmittelbaren Kontakt, die Eignung zum .Schöpfen'. Die Hände sind sodann entscheidend für die Bedeutung der Präposition in Besonders relevant ist die Anspielung auf die Hände in der spezifischen Bedeutung von in, die die elementare Vorstellung des ,In-sich-Enthaltens' weckt, als ursprüngliche, aber auch metaphorische Bedeutung; die Hände und Füße hingegen, die Interaktion durch Annäherung herstellen, sind für die Hauptbedeutungen von per maßgeblich. Im Spanischen wie auch im Französischen unterscheidet man auch die Richtung der Bewegung durch para und por bzw. par und pour angegeben. 6. Mit Überlegungen analog zu Weinrich zeigt Giorgio Raimondo Cardona nicht nur den Zusammenhang zwischen der körperlichen Orientierung im Raum und den Präpositionen, sondern weist in einem umfassenderen Sinne daraufhin, dass grundverschiedene Sprachen vom Semitischen von Ebla bis zum Ungarischen auf dieselbe Wurzel zurückgehen, um ,Brust', ,Vorderseite', ,Herkunft' oder auch ,Bauch', .Eingeweide',,Inneres'zu bezeichnen.' 5 Der interessanteste Anthropomorphismus, den es bei den Nomaden des Pamir ebenso wie bei den Beduinen Jordaniens gibt, bezieht sich auf das Haus: das Dach gilt als Kopf, der Eingang als Mund, die seitlichen Stützen als Füße oder Beine, das Innere als Bauch oder Eingeweide. Die huaztekischen Volksstämme Mexikos unterscheiden beim Haus einen Nacken (der Balken, der das Dach trägt), eine Nase (der Winkel jeder Wand) usw. Für andere, mexikanische und arabische Volksstämme gibt es im Haus einen männlichen und einen weiblichen Teil mit allen zugehörigen Organen, darunter einer Gebärmutter als ,Haus der Kinder'. Die Anthropomorphisierung erstreckt sich auf die Geomorphologie. So findet sich die Gleichsetzung Brust = Hügel in griech. mastos, frz. mamelon, rumän. mamaie und slov. brud wieder, während wir in Quechua ,Brustwarze' für E r h e bung' finden. Es gibt im Italienischen eine gola montuosa (wörtl. ,Gebirgskehle, dt. .Bergschlucht'), einen braccio di mare oder di flume (wörtl. .Meeres-' oder auch im Dt. .Flussarm'),,Berg-Füße' (in Italien die Landschaft Piemont und andere ,bergfußige' Gegenden), Land'zunge' oder der Meer'busen'. Vergleichsweise naheliegend ist es, dass es bei Naturvölkern Sprachen gibt, die im Baum einen Kopf, Arme, Bauch und Fuß sehen. Nicht zu zählen und in allen Sprachen vertreten sind

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G. R. Cardona: I sei lati del mondo. Bari: Laterza 1985, Kap. III: Il modello corporeo, aus dem ich die meisten Beispiele beziehe, zu denen ich jedoch andere hinzufuge.

201 Wörter für ,Kopf', die Befehl, Anfang oder Ende, Hauptteil usw. bedeuten. Ich erinnere hier nur an das Spanische: dar cabo a una cosa, llegar a cabo, cabo de la madeja, en el ultimo cabo del mundo, las cabezas de un puente; aber im Italienischen und im Französischen auch capo dello Stato, del governo, le chef de l 'Etat, du gouvernement, usw. wie im Spanischen cabecilla (,Volksführer') und capataz (, Mannschaftsführer'). Dasselbe gilt für Artefakte. Auch wir sprechen vom Hals oder Bauch einer Flasche, von Tisch- oder Stuhlbeinen. Naturvölker sehen Teile des menschlichen Körpers sogar in Netzen, Schiffen, Booten, Waffen. In anderen Fällen stammen die Vergleiche von einem tierischen Körper: wiederum wird beim metaphorischen Gebrauch der Köper eines Tieres: schon bei den Griechen waren Schiffe so geformt, dass sie an Kopf, Schwanz oder andere Körperteile von bösen, furchterregenden Tieren denken ließen. Dass Zeitangaben oft räumlich-körperlichen nachgebildet sind, ist nichts Neues: Was noch kommen soll, liegt, metaphorisch gesprochen, vor uns, was vergangen ist, liegt hinter uns. Deshalb haben vor und hinter, zuerst und danach räumliche und zeitliche Bedeutung. Während nun in den meisten Sprachen ,vor' die Zukunft, den Weg meint, der noch vor einem liegt, und ,hinter' die Vergangenheit betrifft, die man schon durchquert hat, sehen interessanterweise die Indios von Perú es genau umgekehrt: adelante ,vorn' steht für die Vergangenheit, weil sie bekannt ist, und atrás ,dahinter' die Zukunft, da sie uns noch unbekannt ist. Besonders charakteristisch ist auch die Bezeichnung der nahen Zukunft mit Hilfe eines Bewegungsverbs. Am bekanntesten ist der Fall des französischen Verbs aller, ,gehen' in Sätzen wie Vous allez vous ruiner, si vous continuez h jouer (wörtl.: ,Sie gehen sich ruinieren, wenn Sie weiterspielen'). Im Italienischen kommen analog Ausdrücke vor wie andiamo a cominciare, sind aber nicht elegant. Auch in bestimmten spanischen Ausdrücken wie voy oder va a salir wird das Verb ir mit dem Infinitiv gebraucht, aber wirklich verbreitet ist der Gebrauch im Portugiesischen: eu vá dar toda esta amizade, vou ter um commando e dentro em pouco serei almirante. Symmetrisch dazu kann die Konstruktion mit venir eine Handlung in der nahen Vergangenheit angeben, z.B. je viens de corriger les épreuves, ,ich habe die Fahnen korrigiert', was sich kaum analog im Spanischen formulieren ließe mit veno da corregere le bozze (,ich komme vom Korrigieren der Fahnen'). Noch verbreiteter ist in den romanischen Sprachen der Gebrauch solcher Bewegungsverben wie andaré, arrivare usw. mit einem Gerundium, wobei, zumindest ursprünglich, das handelndes Subjekt in Bewegung gesehen wird: llegó cantando, iba cantando, siguió hablando usw., wie schon im Lateinischen venit cantando. 7. Der Mensch ist für seine eigene Sprache verantwortlich, und mit ihr bezeichnet er die Wirklichkeit. Deshalb hat er das Recht zu behaupten, der Mensch sei das Maß aller Dinge (panton tön pragmaton metron ho anthropos). Was die Maßeinheiten angeht, so weiß man heute, dass die Längenmaße ursprünglich vom menschlichen Körper abgeleitet waren: der Fuß, die Elle, der Arm usw. Auch im griech-

202 ischen Maßsystem finden wir den daktylos,,Finger', kölon, den ,Fuß', das Glied, so auch den Vers akephalos, ,ohne K o p f ' und in der Grammatik begegnet uns z.B. der .Artikel' als , Gliedchen' (gr. arthron, lat. articulus von artus). Selbst im Ganzen der Rede beschwört Piaton (Phaidros, 264c) das Ideal des menschlichen Proportionssystems: „Jede Rede muss gebaut sein wie ein lebendiges Wesen, mit seinem Körper, dem weder Kopf noch Füße fehlen, und sie soll einen Rumpf, aber auch Gliedmaßen aufweisen, so dass die Teile so geschrieben sind, dass sie zueinander passen, aber zugleich jedes Teil zum Ganzen".

Auch in der Anthropomorphisierung der Welt ist der Schatten der menschlichen Gestalt erkennbar. Schon Vitruv sagte in seinem Traktat De architectura libri decem (ca. 33-14 v. Chr.), der menschliche Körper bestehe aus einem vielgliedrigen System der Symmetrie, das auf einem Grundmaß (modulus) beruhe, ein ausgeklügeltes und harmonisches Proprtionssystem, von dem auch die Maler und Bildhauer sich anregen lassen. 16 Deshalb haben Finger, Palm, Fuß, Elle usw. die Grundlage für die Maße geliefert, und genau deshalb ist die Zahl 10 vollkommen, die derjenigen der Finger beider Hände entspricht. Zur Theorie der Architektur, seinem eigentlichen Spezialgebiet, schreibt Vitruv: „[In ähnlicher Weise] müssen auch die Glieder der Tempel eine Symmetrie haben, die von ihren einzelnen Teilen her der Gesamtsumme der ganzen Größe genau entspricht. [...] Ferner ist natürlicherweise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur des Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgestreckten Hände an, so wird sich die gleiche Breite und Höhe ergeben wie bei den Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind".

Diese Textpassagen von Vitruv hatten über Jahrhunderte nachgewirkt. 17 Sie enthalten einen analytischen Teil (der menschliche Körper, nach Grundmaßen gegliedert, die auch in der bildenden Kunst eingehalten werden sollten) ebenso wie einen synthetischen Teil (die menschliche Gestalt beruht auf zwei Grundfiguren der Geometrie; dem Kreis, und dem Quadrat). Dieses Prinzip findet seinen vollkommensten grafischen Ausdruck in einer berühmten Zeichnung von Leonardo da Vinci. Im Mittelalter erscheint die „vitruvianische Figur" im Liber divinorum operum simplicis hominis der Hildegard von Bingen (1098-1179) wieder, wo sie davon

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Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. Lat.-dt. Ausg. hrsg. von. C. Fensterbusch. Darmstadt 1964, Buch III, I. 3., 138f. Vgl. H.-W. Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. Kap. 1. Vitruv und die Architekturlehre der Antike. Dritte, durchgesehene und ergänzte Aufl. Studienausgabe. München: Beck 1999, 20ff.

203 spricht, dass die den Maßen der menschlichen Gestalt gesehene Quadratform in der Mitte der Erdenrundung sich mit der Rundung des Firmaments deckt, das nach Länge und Breite in gleichem Maße erbaut ist.18 Andere kosmologische Vorstellungen finden sich im Liber pontificalis (Ende des 12. Jh.) in einer Darstellung des Aer, in welcher die vier Himmelsrichtungen mit den dazugehörigen Winden (Südwind, Nordwind usw.) den gespreizten Armen und Beinen des menschlichen Körpers entsprechen. 8. Schon seit der griechischen Philosophie hat man eine Spiegelbildlichkeit zwischen Mensch und Welt angenommen. Der Mensch ist eine kleine Welt (Mikrokosmos) im Vergleich zur großen Welt, in der wir leben (Makrokosmos). 19 Oder, wie später Macrobius in Ciceros Sommnium Scipionis, den Gegensatz pointierend, sagen wird: „Physici mundum magnum hominem et hominem brevem mundum dixerunf (Somn. Scip. II, 12). Es war dann Isidor von Sevilla, der mit seiner Schrift De natura rerum die Bilder vom Mikrokosmos und Makrokosmos allgemein bekannt machte. Ein anderer wichtiger Traktat über den Mikrokosmos stammt von dem arabischen Juden Joseph ibn Sadik (12. Jh.) zurück, der übrigens, hätte er drei Jahrhunderte später gelebt, wie andere Araber seiner Schule getötet oder aus Spanien vertrieben worden wäre. Schon in Piatons Timaios (41^42) sieht man, wie der Demiurg die Seelen in die Gestirne sät und diese den Menschen ähnlich macht, während die menschliche Gestalt aus allen vier Elementen, aus denen die natürliche Welt besteht, geschaffen wird. Sogar die Hirnschale, unser göttlichster Teil, spiegelt die sphärische Gestalt des Kosmos wider. In Piatons Politeia (439) finden die drei Teile der Seele sich in den geometrischen Grundformen einer planvoll erbauten Stadt wieder. Die Hermetiker werden die Analogien fortsetzen; zum Beispiel sehen sie im Himmel den Kopf, in Sonne und Mond die Augen, in Schultern und Brust die Luft, im Bauch die Erde usw. Und die arabischen „Ehrlichen Brüder" (Ikhwan as Safä) werden im 1 O.Jahrhundert die Knochen mit Bergen, das Gehirn mit einem Bergwerk, den Bauch mit dem Meer, die Eingeweide mit Flüssen usw. vergleichen. Andererseits entspricht jeder Körperteil einer Konstellation, welche die Grundlage für künftige Horoskope liefert. Auch die Vorstellung, dass der Mensch das Scharnier zwischen Himmel und Erde sei, also etwas wie eine „dritte Welt", sei, hat es gegeben, verbinde er doch die Welt des Geistes mit derjenigen der Materie (so Giovanni Scoto). Schon Augustin kennt den ersten Mikrokosmos in Adam, dessen

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19

Vgl. J.-P. Migne: Patrilogiae cursus completus. ser.lat. Bd. CXCVII. Paris 1882, Liber Divinorum Operum, col. 739f; Schriften der Hildegard von Bingen. Ausgewählt und übertragen von J. Bühler. Leipzig: Insel 1922, Teil 1 - 3 , Des einfältigen Menschen Buch von den göttlichen Werken, 254-300. Vgl. dazu insb. M.-Th. d'Alverny: „L'homme comme Symbole. Le microcosme", Settimane di Studio del Centro Italiano di Studio sull'Alto-Medioevo, 23. Simboli e simbologie nell'Alto-Medioevo, 3 - 9 aprile 1975, Spoleto 1976, 123-195 (ich entnehme daraus sämtliche hier benutzten Quellenhinweise).

204 Name bereits nach Aussage der Sibyllinischen Weissagungen aus den Buchstaben für die vier Weltteile abgeleitet sei: A[natole] (,Osten'), D[ysis] (, Westen'), Afrktos] (,Norden') und Mfesembria] (,Süden'). Als es zur Erschaffung kam, hatte, der Legende zufolge, ein Engel Gott aus den vier Weltteilen die Erde gebracht. An der Schwelle zur Renaissance entwickelt Antonio Filarete in seinem Trattato di architettura (1461-1464) den Ansatz von Vitruv in anthropologischem Sinne weiter. Er geht bis auf Adams Urhütte zurück und meint, dass schon sie nach Maßen des menschlichen Körpers gebaut worden sei; entsprechen; aus den Stützteilen der Hütte haben sich später die Säulen entwickelt, deren Proportionen ihrerseits vom menschlichen Körper abgeleitet seien. Jede architekturtheoretische Ordnung beruhe auf einem Vielfachen des Kopfmaßes. Auch die organische Vorstellung der Architektur und vom Städtebau, wie sie Filarete fast schon im Vorgriff auf Le Corbusier vertritt, ist mit einer Analogie zum menschlichen Körper verknüpft. Jedes Bauwerk, sagt Filarete, ist wie ein Mensch: es wird wiedergeboren, ernährt sich, wird krank und stirbt. Der Bauherr ist sein Vater, der Architekt seine Mutter. Darüber geht Francesco di Giorgio (1439-1501) in seinen Trattati di architettura, ingegneria e arte militare, und zwar in deren erster unveröffentlichter Fassung, hinaus. In einerweiteren Entwicklung der körperlichen Analogien spricht Francesco di Giorgio vom „Körper der Stadt" und entwirft befestigte Städte, die menschliche Proportionen haben mit der Festung als Kopf, der der „erhabenste Körperteil" des Menschen ist (die Vorstellung stammt aus dem Timaios-Kommentar des Calcidius). Er glaubt nicht nur, wie Filarete, in den Säulen die Proportionen des menschlichen Körpers wiederzufinden, sondern auch im Gebälk (was mitten im 16. Jahrhundert bei Vignola wiederkehrte) die Maße von Kopf, Nase, Stirn usw. einarbeiten zu können; es gelingt ihm sogar, einmal eine Kirchenfassade nach dem Schema der menschlichen Figur als tragendes System (anthropometrische Fassade) zu gestalten. Luca Pacioli (ca. 1445-1509) wird in seinem Traktat De divinaproportione (1509) viel von diesen Gedanken wiederaufnehmen und seinerseits und seinerseits die Entsprechung zwischen dem menschlichen Gesicht und dem gleichseitigem Dreieck hinzufügen. 1567 verteidigt Pietro Cataneo in L 'architettura das „lateinische Kreuz", in welchem er den perfekten Grundriss für die architektonische Umsetzung des Kruzifixes sah. 9. Den Bogen, den ich hier auf der Grundlage von Krufts Architekturgeschichte skizziert habe, führt uns in die Nähe philosophisch-architekturtheoretischer Überlegungen. In Wirklichkeit ist die Tendenz zur Anthropomorphisierung der Welt und der Dinge schon bei den Naturvölkern ausgeprägt, wie schon bei Giorgio Raimondo Cardona zu lesen war. 20 Auch er geht von der vitruvianisch-leonardischen Figur aus und fügt ein Zitat von Leonardo hinzu: „Jeder Mensch befindet sich in der Mitte der Welt, unter dem Mittelpunkt seiner Hemisphäre und unter

20

Cardona op. cit.

205 dem Mittelpunkt dieser Welt" der Mensch füllt mit anderen Worten in seiner aufrechten Gestalt alle räumlichen Dimensionen aus. Dieser riesige Mensch, der mit seinen Abmessungen den ganzen Weltraum ausfüllt, ist, wie schon ausgeführt, nach den Verfassern mittelalterlicher Traktate, in unserem Vater Adam verkörpert. Das bedeutet auch nach diesen Autoren, dass dieser fast vergöttlichte Mensch ein Akteur oder Werkzeug Gottes sei. Und Adam wird nach der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 2, 20) auch die Erfindung der Sprache zugeschrieben: „Appellavitque Adam nominibus suis cuncta animantia et universa volatilia caeli et omnes bestias terrae " („Und der Mensch gab einem jeglichen Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen"). Angesichts dieses Mikrokosmos, der sich ausdehnt, bis er mit dem Makrokosmos zusammenfallt, angesichts dieses Menschen, der einem Demiurgen oder einem göttlichen Boten ähnlich wird, vor dem einigen arabischen Mystikern zufolge auch die Engel sich verneigen, stellt sich schließlich unausweichlich die Frage nach der Beziehung Gott und Mensch. Die Antwort der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1, 26) ist bekannt: Faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram („Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei"). Aber wir wissen auch, dass die Urvölker sich nach dem Bild des menschlichen Körpers Götter schufen. Die Bibel verurteilt hingegen von Anfang an den Götzendienst. Dass aber hinter den Götzen die menschliche Gestalt selbst steht, vermittelt eindrucksvoll ein Psalm Davids (115, 4-8): „simulacra gentium argentum et aurum, opera manuum hominum. Os habent et non loquentur, oculos habent et non videbunt, aures habent et non audient, manus habent et non palpabunt, pedes habent et non ambulabunt, non clamabunt in gutture suo. 'Similes illis fiant qui faciunt ea'". „Ihre Götzen sind Silber und Gold, das Machwerk von Menschenhänden. Sie haben einen Mund und können nicht reden, haben Augen und können nicht sehen. Sie haben Ohren und können nicht hören, eine Nase und können nicht riechen. Mit ihren Händen können sie nicht tasten, mit ihren Füßen können sie nicht gehen. Sie geben keinen Laut mit ihren Kehlen. Ihnen gleich sollen werden, die sie verfertigten, jeder, der auf sie vertraut" (Psalm 115, 4-8).

Doch immer spiegelt der Mensch sich selbst in Gott, z.B. in Charakterzügen oder Leidenschaften. Es ist der Mensch, der sich einen Gott erdacht hat, ihm see-

206 lisch ähnlich ist und der von denselben Regungen (und Launen) getrieben wird eine unbezwingbare Hybris unseres Körpers bis in die Schöpfungen unserer Phantasie hinein. Zu schwer ist es, sich anders als nach Menschenbild denjenigen vorzustellen (die Schöpfungsgeschichte muss umgekehrt werden), der in seiner Anwesenheit abwesend, in seiner Abwesenheit anwesend ist.

9. Vom Chronotopos zum Rolandslied

Wir wissen alle, dass Neologismen manchmal unumgänglich sind, und ebenso, dass ihre Inflation besonders in den Geisteswissenschaften die Verständigung erschweren oder unmöglich machen kann. Wir wissen auch, dass Neologismen nicht unbedingt auf Neubildung beruhen, dass sie durch Übertragung von einer Disziplin zu einer anderen, durch Metaphorisierung oder Rückführung auf die Etymologie entstehen können. Wir wissen schließlich auch, dass ein und derselbe Neologismus von einem oder zwei Wissenschaftlern unterschiedlich gebraucht werden kann, bis eine Präzisierung von der Art ,im Sinne von X ' notwendig wird. Die kurze Anekdote, die ich hier erzählen will, handelt von einem Neologismus, der eine doppelte Genese hatte, und ich entschuldige mich, wenn auch ich in der Anekdote vorkomme, aber das hat wenigstens (und das kann ich zu meiner Rechtfertigung vorbringen) den Vorteil, dass ich so einige Stationen der Geschichte weiter verfolgen kann. Zum Abschluss einer Untersuchung Zwischen Strukturalismus und Semiotik (Strutturalismo e criticä), die ich zu einem Zeitpunkt durchgeführt habe, als der literaturwissenschafitliche Strukturalismus für Italien erst auf der Ebene des Metaphorischen lag, also ganz am Anfang stand - die Sprachwissenschaft war im Vergleich dazu schon weiter fortgeschritten - , schrieb ich: 1 „Während wir uns das Kunstwerk als dreidimensionalen Raum vorstellen, könnten wir sagen, dass die verschiedenen literaturwissenschaftlichen Ansätze sich gerne mit zwei Dimensionen begnügen und in durchaus legitimer Beschränkung nur Flächen und Linien des Werks erfasst haben. Der Strukturalismus kann dank organischer Konzeptualisierung eine dreidimensionale Analyse angehen oder jedenfalls irgendwie das Werk in seiner Ganzheit zu erfassen suchen. Die Relativitätstheorie hat jedoch zu den drei Dimensionen der euklidischen Geometrie eine vierte, die Zeit, hinzugefugt. Jetzt könnte man (und dafür hat die historistische Forschung ihre unübertroffenen Gewährsleute) eine Werkanalyse fordern die außer den traditionellen drei Dimensionen auch die neue, vierte einschließt. Das bedeutet, dass die Zeit (die Geschichte) berücksichtigt wird, aber als immanente Dimension des Werks, mit anderen Worten: das Kunstwerk wird als Chronotopos verstanden".

1

Casa Editrice II Saggiatore: Catalogo generale 1958-65. Milano 1965, pp. LXXIILXXXV, insbes. S. L X X X V (die Arbeit ist von 1963); wieder in: C. Segre: I segni e la critica. Torino: Einaudi 1969, 17-28, insb. 28; Id., „Zwischen Strukturalismus und Semiotik", Id.: literarische Semiotik, 1980, 47-72.

208 In einem späteren Artikel sprach ich von der Historizität (Individualgeschichte und Sozialgeschichte), die sich im literarischen Werk in narrativen oder poetischen Raum verwandelt, und das in einer Radikalität, die an die Verknüpfung von Zeit und Raum in der Physik Einsteins denken lässt.2 Ich kam damals zu dem Schluss, dass diese Einmischung von Zeit in Raum Ausdruck für den Zyklus AnalyseSynthese-Analyse-(Synthese) sei, wie er schrittweise vom Schriftsteller durchlaufen wird, welcher die analytischen Elemente seiner Inspiration auf der Ausdrucksebene synthetisiert, aber auch vom Leser, welcher den Text auf eine neue Synthese hin analysiert, die interpretative: „So könnte das Kunstwerk metaphorisch als Chronotopos bezeichnet werden: der Zyklus Zeit-Raum-Zeit-(Raum) ist eine Pause des eingangs erwähnten Zyklus Analyse-SyntheseAnalyse-(Synthese)". 3

Dass diese Vorstellungen und das Wort Chronotopos selbst mit der Relativitätstheorie zusammenhängen, schien mir klar zu sein. Unter den nächstliegenden Nachschlagewerken widmet die Enciclopedia Italiana (XXIX, 18) dem cronòtopo unter dem Stichwort relatività einen ganzen Abschnitt, während II Lessico Universale Italiano anders als die Enciclopedia Italiana den Begriff cronòtopo nicht nur als eigenes Lemma (V, 672-673) aufführt („In der Physik: geometrische Darstellung, auf H. Minkowski (1908) zurückgehend, wonach die Raum- und Zeitachsen im Sinne der Relativitätstheorie eine Verbindung eingehen")4, sondern unter relatività eine weitergehende Erklärung liefert:5 „Die Beziehung zwischen Raum- und Zeitbestimmungen in der Relativitätstheorie kann in einem Diagramm, das auf Minkowski ( 1908) zurückgeht, veranschaulicht werden. Da ein Ereignis durch vier Koordinaten, drei räumliche und eine zeitliche, bestimmt ist, kann es geometrisch von einem Punkt im Raum in vier Dimensionen, der sogenannten Raumzeit oder dem Chronotopos, dargestellt werden. Dass der Chronotopos wie jeder Raum von mehr als drei Dimensionen über unsere normale Raumvorstellung hinausgeht und sich deshalb nicht visualisieren lässt, nimmt ihm nichts von seiner Leistungsfähigkeit".

2

3 4

5

C. Segre: „La synthèse stylistique", Social Science Information 6 (1967) 161-167; Id.: I segni et la critica, op. cit., 29-35. Segre 1969, 35. Cronòtopo: „In fisica, rappresentazione geometrica, suggerita da H. Minkowski ( 1908), atta a mettere in luce il legame fra le misure di spazio e di tempo stabilite dalla teoria della relatività". Lessico Universale Italiano, V, 672-673. Relatività: „11 legame fra le misure di spazio e di tempo stabilito dalla relatività può essere messo in luce mediante un'espressiva rappresentazione geometrica, dovuta a H. Minkovski (1908). Poiché un evento è individuabile mediante quattro coordinate, tre spaziali e una temporale, esso può essere geometricamente rappresentato da un punto di uno spazio a quattro dimensioni detto lo spazio-tempo o cronotopo. Il fatto che il cronotopo, come ogni spazio a più di tre dimensioni, uscendo fuori del nostro spazio ordinario non sia suscettibile di rappresentazioni visive, nulla toglie all'efficacia del suo uso". Lessico Universale Italiano, loc. cit.

209 M a n beachte, dass die Arbeit v o n M i n k o w s k i , e i n e s Einstein-Lehrers, die mathem a t i s c h e n Grundlagen für die Relativitätstheorie g e l e g t hat. 6 D i e Urheberschaft an d e m N e o l o g i s m u s w u r d e j e d o c h mir z u g e s c h r i e b e n ( e i n hübscher B e l e g dafür, dass e s die Kluft z w i s c h e n den „ z w e i Kulturen" tatsächlich gibt). U n d i m G e f o l g e d i e s e s N e o l o g i s m u s entstand ein zweiter, wahrscheinlich eine unbeabsichtigte R e etymologisierung: „le texte organise dans son propre espace poétique des tendances idéologiques ambiantes: par rapport à elles, il constitue ce que l'on a nommé un chronotope [ici nota: 'Segre 1967, p. 166 und 1969a, p. 28; cfr. Genette 1966a, pp. 101-8'] ; lieu de confluence et de transmutation globale des éléments d'une culture: sociaux, intellectuels, esthétiques, technologiques mêmes en tant qu'ils déterminent le mode de transmission des textes, tous facteurs qui, conditionnant le poème, sont en même temps dénaturés par lui". 7 Wahrscheinlich w u s s t e M i n k o w s k i nicht, dass die b e i d e n g r i e c h i s c h e n Wörter chrónos

und topos s c h o n mehr als ein Jahrhundert früher in p h i l o s o p h i s c h e m Zu-

s a m m e n h a n g v o n V i n c e n z o Gioberti gebraucht waren. 8 D a s ist n a c h z u l e s e n im Grande

Dizionario

della Lingua

Italiana

unter d e m Stichwort cronòtopo

mit der

D e f i n i t i o n : „ G e i s t i g e und m e t a p h y s i s c h e Einheit v o n R a u m u n d Zeit" und d e m f o l g e n d e n Beispiel: „ S o war am allerersten A n f a n g der italischen Schule der Dualism u s d e s dorischen T h e o k o s m o s w i e i m N a h e n O s t e n derjenige des iranischen und c h a l d ä i s c h e n Chronotopos". 9 D i e s e s Zitat vermittelt j e d o c h k e i n e n Eindruck v o n der zentralen B e d e u t u n g d e s B e g r i f f s , C h r o n o t o p o s ' bei Gioberti. D i e w e n i g e n Stichproben, die ich vor allem in der p o s t h u m e n Protologia

g e m a c h t habe, 1 0 er-

lauben mir die A u s s a g e , dass der B e g r i f f D u t z e n d e v o n M a l e n v o r k o m m t , u n d

6

7 8

9

10

Die mathematische Symbolik des Raum-Zeit-Kontinuums hatte schon ihren Vorläufer in dem Mathematiker H. Poincaré: „Sur la dynamique de l'électron", Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo 21 (1906) 129-175, was im übrigen Minkowski selbst in seinem posthumen Artikel „Das Relativitätsprinzip", Annalen der Physik 4 , 4 7 (1915) 9 2 7 - 9 3 8 anerkennt. Vgl. dazu auch E. Giannetto: „Henri Poincaré and the Rise of Special Relativity", Hadronic Journal Supplement 10 (1995) 365-433. Diesen Hinweis verdanke ich meinem Kollegen Giannetto. P. Zumthor: Essai de poétique médiévale. Paris: Poétique 1972, 24. Das eben Gesagte steht jedoch schon bei R. Marcolongo: Relatività. Messina: Principato 2 1923, der zur Protologia stichwortartig vermerkt (p. 104): „Konkret bedeutet Chronotopos: in zeitlicher Hinsicht gedankliche Einheit (Geist); in räumlicher Hinsicht Ausdehnung (Materie); hinsichtlich der Synthese von beiden und der Einheitlichkeit des Chronotopos: Bewegung". V. Gioberti: Del primato morale e civile degli Italiani [1843], ed. G. Balsamo-Crivelli. 3 voi. Torino 1946, hier Vol. II, 181. Das Stichwort cronòtopo gibt es auch im Dizionario di filosofia von N. Abbagnano. Gioberti: Della Protologia, ed. G. Massari. 2 voi. Torino-Paris 1857. Über den Zustand der Manuskripte und über die Editionskriterien von Massari, vgl. Id.: Protologia, revidierte Auszüge über die Manuskripte von G. Balsamo-Crivelli, mit Einleitung und Erläuterungen von S. Caramella. Torino o. J. Aber ich zitiere aus der Edition von Massari, wo der Text vollständig vorliegt.

210 i h m sogar ein g a n z e s Kapitel - das z w e i t e der dritten A b h a n d l u n g - g e w i d m e t ist." Der zitierte Satz könnte darauf s c h l i e ß e n lassen, dass der B e g r i f f d e m histori s c h e n K o n t e x t entstammt, in d e m er v e r w e n d e t wird, dass das nicht s o ist, lässt sich e i n e m anderen Passus entnehmen, der auf eine andere Herkunft weist: „Piatons L o g o s , die göttliche Arithmetik, der Chronotopos der Pythagoräer usw." 12 Übrigens hat Gioberti v i e l e N e o l o g i s m e n geprägt, und statt cronötopo dest einmal,

gebraucht er, z u m i n -

topocrono."

W i e w i c h t i g der B e g r i f f für Gioberti ist, sieht m a n daran, w i e die e b e n zitierte Stelle z u einer ausfuhrlichen historischen S k i z z e ausgebaut wird: „Chronotopos und Logos sind zwei Facetten ein und desselben Begriffs, und die eine setzt die andere voraus [...] Chronotopos und Logos umfassen in gleicher Weise die Einheit und die Vielheit, da ja jener den Begriff der Zahl impliziert und dieser die Vielfalt der Ideen. Sie enthalten somit gleichzeitig ein Prinzip der Gleichsetzung und der Trennung. Wie lassen sich nun beide miteinander vereinbaren? Mithilfe der Formel: Logos und Chronotopos wurzeln zusammen im schöpferischen Akt, sind auf der Mitte zwischen Substanz und Existenz, sind beiden Extremen zugeordnet". 14 Idee und Schöpfungsakt können nicht v o n den Kategorien R a u m und Zeit abstrahieren, deshalb s p i e l e n d i e s e eine n o c h entscheidendere R o l l e als bei Kant, a u f den Gioberti sich beruft: „Der Chronotopos ist Idee und Sache zugleich. Als Idee ist er die unendliche Möglichkeit der Welt. Als Sache ist er der Verstand, der diese Möglichkeit denkt. In dem Maße wie der Chronotopos Idee ist, gehört er zur reinen Geistigkeit. Er hat seinen Sitz im Denken und nicht außerhalb von ihm. Das Denken umfasst den Chronotopos. Der Geist schließt den Raum ein, und nicht der Raum den Geist, wie Augustinus sagt [...]. Die Unteilbarkeit von Chronotopos und Denken hatte Kant begriffen, der daraus zwei Formen des Geistes machte. Aber Kant irrte, als er sie der subjektiven Vernunft zuordnete, nicht der objektiven Vernunft Gottes. Sie haben ihren Sitz in der objektiven Vernunft, weil sie notwendig und weil sie unendlich sind". 15 Letztlich fällt der B e g r i f f C h r o n o t o p o s sogar mit d e m B e g r i f f Gott z u s a m m e n : „Wir haben eine intuitive Vorstellung von dem Schöpfungsakt in derjenigen von Raum und Zeit als solchen. Der reine Chronotopos ist ein Akt und eine unendliche Möglichkeit. Er ist ein Mögliches, ein unendliches Reales, das möglich ist. Darin liegt das Geheimnisvolle des Chronotopos, das die Metaphysiker so in Streit bringt. Der eine sagt, es gibt ihn, der andere sagt, es gibt ihn nicht. Beide haben Recht. Der Chronotopos ist real als Möglichkeitsbedingung, er ist nicht real, wie sonst etwas real ist, insofern das Reale

11

Vgl. Gioberti. Vol. I. der Ausgabe Massari. '2 Gioberti, ibid., 386. 13 Gioberti, ibid., 404. 14 Gioberti, ibid., 386. '5 Gioberti, ibid., 406.

211 immer das Mögliche ausschließt. Der reine Chronotopos, das heißt das Kontinuum, ist Gott". 16

Zu den zentralen theoretischen Problemen im Denken von Gioberti gehört dasjenige des Diskreten und des Kontinuierlichen, ein Problem, das unweigerlich zur Betrachtung von Raum und Zeit führt und das innerhalb des monogenetischen Ansatzes von Gioberti dasjenige des Schöpfungsakts betrifft: „Im Chronotopos ist der Schöpfungsakt so viel wie das Intervall oder Diasystem zwischen Punkt und Punkt, Augenblick und Augenblick. Nun ist aber das Intervall das Unendliche und das Kontinuum. Also manifestiert sich der Schöpfungsakt in Raum und Zeit als Kontinuum. Das Kontinuum befindet sich aber in einer organischen Beziehung zum Diskreten in dem Sinne, dass es dieses auch erzeugt. Das Kontinuum ist also in Wahrheit der Schöpfungsakt des Diskreten und das dialektische Bindeglied zwischen einem Teil dieses Diskreten und einem anderen". 17

Nachdem wir von der Relativitätstheorie ausgegangen sind, mag es durchaus sinnvoll sein, einen kurzen Blick auf Giobertis Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Raum und Zeit zu werfen, in denen er ihre Um- und Austauschbarkeit erkannt zu haben scheint: „Bei den Griechen steht Chrönos für die Zeit, obwohl das Wort, etymologisch betrachtet, auf den Raum hindeutet. Der Vorrang der Zeit vor dem Raum, der in der Zahl begründet ist, macht die Logik des Chronotopos aus. Der Raum geht aus der Zahl hervor, nicht umgekehrt. So braucht die Geometrie die Zahl und die Arithmetik, nicht umgekehrt". 18 „Krong ist im Slawischen der ,Himmel-Gott', und entspricht dem griechischen Chronos. Chronos ist die Zeit, doch geht die Etymologie eigentlich auf Corona zurück und bezieht sich gleichzeitig auf den Raum. Daran wird deutlich, dass Chrönos (wie Filesa Zeruane Acherene der Zen-Bücher) Zeit und Raum zugleich umfasst und die Einheit des Chronotopos ausdrückt. Nun umfasst aber die Einheit des Chronotopos nicht nur das Diskrete, sondern auch das Kontinuierliche, also Gott"."

Der Begriff Chronotopos, der wahrscheinlich von Gioberti selbst erfunden worden ist, wurde später für ihn zu einer ganz selbstverständlichen Größe, zu einem ständigen theoretischen Bezugspunkt, der vielleicht einer gesonderten Untersuchung wert wäre. Als ich die eingangs zitierten Zeilen niederschrieb, wusste ich noch nicht, dass Minkowski in Gioberti einen Vorläufer gehabt hatte; aber ich wusste selbstverständlich auch nicht, dass 1937/38 Michail Bachtin eine großartige Untersuchung über „Formi vremeni i xronotopa v romane: ocherki po istoricheskoj poetiki" ge-

16 17

19

Gioberti. Vol. I. der Ausgabe Massari, 353. Gioberti, ibid., 362. Gioberti, ibid., 390. Gioberti, ibid., 394. Über die Vorstellungen von Raum und Zeit bei Gioberti vgl. B. Spaventa: Scritti filosofici. Napoli 1900, 155-184, und S. Caramella: Introduzione, op. cit.

212 schrieben hatte, die er 1973 abschloss und die erst posthum als Aufsatz-Band von Voprosy literatury i estetiki (Moskau 1975, 234-407) erschien.20 Auch Bachtin bezieht sich auf Einsteins Relativitätstheorie, erwähnt aber nicht Minkowski; möglicherweise verrät die erste Fußnote in seiner Studie durch wen er auf den Terminus Chronotopos gekommen war: „Im Sommer 1925 hatten wir Gelegenheit, einen Vortrag von A. A. Uchtomskij über den Chronotopos in der Biologie zu hören, in dem auch Fragen der Ästhetik berührt wurden". 2 1

Sehen wir uns jetzt die Definition des literarischen Chronotopos und seine Begründung bei Bachtin an: „Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos (,Raumzeit' müßte die wörtliche Übersetzung lauten) bezeichnen. Dieser Terminus wird in der mathematischen Naturwissenschaft verwendet; als man ihn einführte und begründete, stützte man sich dabei auf die Einsteinsche Relativitätstheorie. Der spezielle Sinn, den dieser Terminus innerhalb der Relativitätstheorie erhalten hat, ist für uns hier jedoch nicht von Relevanz; wir übertragen ihn auf die Literaturwissenschaft fast (wenn auch nicht ganz) wie eine Metapher. Für uns ist wichtig, daß sich in ihm der untrennbare Zusammenhang von Zeit und Raum (die Zeit als vierte Dimension des Raumes) ausdrückt. Wir verstehen den Chronotopos als eine Form-Inhalt-Kategorie der Literatur (den Chronotopos in anderen Bereichen der Kultur werden wir hier nicht behandeln)."

Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte, hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. Diese Überschneidung der Ebenen und dieses Verschmelzen der Merkmale sind charakteristisch für den künstlerischen Chronotopos".22 Bachtins Auffassung vom Chronotopos lässt sich (über die relativitätstheoretischen Bezüge hinaus) besonders deutlich aus folgender Fußnote zu seinen Ausführungen entnehmen: „In seiner Transzendentalen Ästhetik (einem Hauptabschnitt der Kritik der reinen Vernunft) hat Immanuel Kant Raum und Zeit als notwendige Formen jeglicher Erkenntnis,

20

21 22

Ich stütze mich auf die italienische Übersetzung von C. S. Javanovic, Estetica e romanzo. Torino: Einaudi 1979. Das Kapitel über den Chronotopos (ibid. 231-245) ist in einer teilweisen Übersetzung unter dem Titel „The Forms of Time and the Chronotopos in the Novel." auch erschienen in der Zs. PTL 3 (1978) 493-528. Bachtin 1989, 7 Bachtin 1989, 7.8

213 angefangen bei den elementaren Wahrnehmungen und Vorstellungen, definiert. Wir können seiner Einschätzung zur Bedeutung dieser Formen im Erkenntnisprozess zustimmen, begreifen diese Formen jedoch - im Unterschied zu Kant - nicht als ,transzendentale', sondern als Formen der realen Wirklichkeit selbst. Wir wollen versuchen, darzustellen, welche Rolle diese Formen im Prozeß der konkreten künstlerischen Erkenntnis (des künstlerischen Schaffens) unter Bedingungen, die dem Romangenre eignen, spielen". 23

Damit sind wir auf einem völlig anderen Weg wieder beim Chronotopos Giobertis, den dieser auf denselben Grundlagen Kants entwickelt hatte. Minkowski und Einstein waren natürlich nicht umsonst. Aber wenn auch Bachtin bei seiner meisterhaften Durchleuchtung von Texten mit dem Begriff Chronotopos (kantianisch) die Koexistenz von Raum- und Zeitbestimmungen meint, betont er damit nicht nur die wechselseitige Bedingtheit der beiden Dimensionen, sondern er benutzt und überwindet damit zugleich die Analyse der Motive (oder der Funktionen), wie sie die formalistische Schule praktiziert hatte. In seinen abschließenden Überlegungen zu Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman (erschienen 1973) verweist Bachtin (1989,191 f) auch allzu flüchtig auf Betrachtungen von Lessing (Laokoon) über die Dimension der Zeit im literarischen Text: dazu gehört m.E., dass man die Polarität akzeptiert, die Lessing zwischen Künsten mit überwiegend räumlicher und solchen mit überwiegend zeitlicher Dimension behauptet hat (ein Gedanke, der in der modernen Forschung weiterentwickelt wurde). Und er geht so weit, sogar die Sprache als chronotopisch zu bezeichnen. Ein solche chronotopische Betrachtung ist nicht, wie man erwarten könnte, auf die Gleichzeitigkeit von (räumlich darstellbarer und dargestellter) Linearität und Zeitdauer gerichtet. Bachtin spielt vielmehr auf den Schatz von sprachlichen Bildern an, womit er nicht weit entfernt ist von der Tartuer Schule. Interessant nicht ungewöhnlich - ist, dass in diesem Gedankengang der Begriff der Schöpfung wieder auftaucht, natürlich nicht im Sinne Giobertis als Kosmogenese, sondern in dem uns vertrauteren der literarischen Schöpfung: „Welcher Art diese Sinnbildungen auch sein mögen, um in unsere Erfahrung (und zwar die soziale Erfahrung) einzugehen, müssen sie eine zeitlichräumliche Ausdrucksform annehmen, d.h. eine Zeicheniovm, die wir hören und sehen können (eine Hieroglyphe, eine mathematische Formel, einen Ausdruck durch Sprache, eine Zeichnung u.a.). Ohne eine solche zeitlich-räumliche Ausdrucksform ist nicht einmal ein in höchstem Grade abstraktes Denken möglich. Mithin kann die Sphäre der Sinnbildungen nur durch die Pforte der Chronotopoi betreten werdem". 2 4

Durch diese zweite Parallelität bei der Übernahme eines naturwissenschaftlichen und philosophischen Begriffs habe ich mich ganz unverdientermaßen in der Nähe von Bachtin wiedergefunden. Bei dessen Größe ist es eigentlich ganz selbstver-

"

24

Bachtin 1989, 8. Bachtin 1989, 209.

214 ständlich, dass der Chronotopos sich im letzten Kapitel seiner Studie von 1973 über Formy vremeny y xronotopa y romane: ocherki po istoricheskoj poetiki (Bachtin 1989: Schlußbemerkungen, 191-204) als dermaßen fruchtbarer analytischer Begriff erwiesen hat. Man sollte noch hinzufügen, dass Bachtin in dem Begriff,Chronotopos' nicht nur die Koexistenz und die Beziehung zwischen Raum und Zeit in ihrer Anwendung auf das literarische Kunstwerk gesehen hat. Vor allem in den Schlussbemerkungen kam es ihm auf den Chronotopos als Verdichtung der historischen Zeit an, auf das Wechselspiel zwischen der realen Raumzeit und ihrer fiktionalen Darstellung im künstlerischen Text, auf „alle Momente der den Text .erschaffenden' Welt: die im Text widergespiegelte Wirklichkeit, die den Text erschaffenden Autoren, die (falls vorhanden) den Text interpretierenden Künstler und schließlich die Zuhörer und Leser, die den Text wiedererschaffen und ihn in dieser Wiedererschaffung erneuern - an der Erschaffung der im Text dargestellten Welt gleichermaßen beteiligt". 25 Zusammengefasst stellt er fest: „Aus den realen Chronotopoi dieser darstellenden Welt gehen dann die widergespiegelten und .erschaffenen' Chronotopoi der im Werk (im Text) dargestellten Welt hervor". 26

Dieser Prozess wird gleich anschließend mit Hilfe einer anderen naturwissenschaftlichen Metapher beschrieben, derjenigen des Metabolismus (Stoffwechsel), die mir in unmittelbarer Nähe zu liegen scheint zum Zyklus Analyse-Synthese-Analyse(Synthese), mit dem ich die Beziehungen zwischen der Geschichte, wie sie vom Schriftsteller assimiliert und erlebt wird, und der strukturierten Räumlichkeit des Textes hatte darstellen wollen; zwischen dem Text und der Geschichtlichkeit, deren Ausdruck der Leser ist, der dann in seinem Gedächtnis das Ergebnis seiner AnalyseLektüre zur Synthese bringt. Bachtin schreibt dazu: „Das Werk und die in ihm dargestellte Welt gehen in die reale Welt ein und bereichern sie, und reale Welt geht in das Werk und in die in ihm dargestellte Welt ein, und zwar im Schaffensprozeß wie auch im Prozeß seines späteren Lebens, in dem sich das Werk in der schöpferischen Wahrnehmung durch Hörer und Leser ständig erneuert. Dieser Austauschprozeß ist natürlich selbst chronotopisch: Er vollzieht sich vor allem in der sich historisch entwickelnden sozialen Welt, wobei er sich jedoch gleichfalls nicht von dem sich wandelnden historischen Raum löst. Man kann sogar auch von einem besonderen schöpferischen' Chronotopos sprechen, in dem dieser Austausch [Metabolismus] zwischen Werk und Leben vor sich geht und in dem sich das besondere Leben des Werkes abspielt". 27

25 26 27

Bachtin 1989, 204. Bachtin 1989, 204. Bachtin 1989, 205: Die deutsche wie die englische Übersetzung aus dem Russischen (Baxtin 1978, 524-525) verwendet hier im Gegensatz zum it. metabolismo nicht den biologischen und medizinischen Terminus dt. Metabolismus, engl, metabolism op. cit., sondern verallgemeinernd den Ausdruck Austausch bzw. exchange, der erst durch den weiteren Kontext determiniert wird [d.O.],

215 Es ist wirklich schwierig, irgendein Copyright für Wörter und erst recht für Begriffe zu beanspruchen. Wörter und Begriffe haben ihre eigene Bedeutungskapazität, die die Grenzen überschreitet, die ihnen explizit oder implizit von dem gesetzt wurden, der sie in Umlauf gebracht hat. Es ist Aufgabe des Sprachbenutzers, damit die größtmögliche Wirkung zu erzielen, was sicherlich dem großen Literaturtheoretiker Bachtin gelungen ist. Als Beispiel für den analytischen Nutzen des Begriffs Chronotopos kann ich nichts Geringeres als das Rolandslied {Chanson de Roland, 1070?; 1100?) anführen.28 Vorweg sei gesagt, dass das Rolandslied (ein vollendetes Kunstwerk), ganz und gar keinen realistischen, sondern eher einen mythischen Charakter hat. Die Krieger tauschen gewaltige Schläge aus, die Zahl der getöteten Sarazenen (100.000) ist riesig, verglichen mit der (nicht weniger unrealistisch) niedrigen Zahl der Nachhut der Franken (20.000 Mann), und die Könige haben ein biblisches Lebensalter. Das Übernatürliche ist mit großer Selbstverständlichkeit im ganzen Epos gegenwärtig: das Schwert Durandart ist Karl dem Großen direkt von Gott gesandt, und Karl hat es Roland geschenkt. Karl erhält Botschaften Gottes durch den Engel Gabriel, der ihn begleiten und stärken soll; Gabriel geleitet zusammen mit Michael und einem Cherulin die Seele Rolands im Paradies, nachdem Gabriel dem sterbenden Roland das feudale Symbol des Handschuhs abgenommen hatte; die Vernichtung der Sarazenen nach der Rückkehr Karls nach Roncesvalles wird durch ein ähnliches Wunder herbeigeführt, wie demjenigen Josuas (Josua 10, 12-14): Gott hält die Sonne an, und Karl hat seine Rache an dem heidnischen Heer nehmen können. Im übrigen hat die ganze Geschichte einen biblisch-neutestamentlichen Tenor: Roland ist Jesus gleich, der dem Verrat von Judas (Ganelon) zum Opfer fällt; seine Pairs, die ihn begleiten, sind zwölf an der Zahl wie die Jünger, und sein Tod wird durch Wunder (Sturm, Erdbeben, Verfinsterung des Tages, Einstürzen der Mauern), ähnlich denen in der Todesstunde Jesu (Matthäus 27, 50-52), angezeigt. Karl hat die Weissagung Gottes, und wie er greift er nicht in den Ablauf der Ereignisse ein: Das Verhältnis zwischen Roland und Karl ist vergleichbar mit dem zwischen Jesus und Gott: vielleicht mit Anspielung auf die Legende, wonach Roland, offiziell ein Neffe, in Wirklichkeit ein blutschänderisch gezeugter Sohn von Karl gewesen sein soll. Die Maße des Mythos sind nicht diejenigen unserer vertrauten Welt; andererseits ermöglichen sie unwahrscheinliche Zufälle und Zusammenhänge. Man denke zum Beispiel an die Art und Weise, wie die ganze Handlung des Rolandslieds, sich auf sechs Tage der Woche verteilt (da der letzte der Ruhe und dem Gebet vorbehalten ist).29 Erster Tag: Beratung bei Marsilius, dem Sarazenenkönig, in Saragossa (Spani-

28

29

Ich ergänze hier Beobachtungen aus meiner Einführung: La canzone di Orlando, ed. M. Bensì. Milano: Rizzoli 1985, 5-27, insb. 19-20. Einige Rolandforscher sprechen von sieben statt von sechs Tagen, aber das ändert nichts an meiner Argumentation. Ich verweise hier im besonderen auf meine kritische Ausgabe des Rolandslieds: La Chanson de Roland, übers, von M. Tyssens. Vol. II. Genève: Droz 1989, 384.

216 en). Blancandrin überbringt Karl dem Großen, der gerade die spanische Stadt Cordoba eingenommen hat, die Botschaft von Marsilius: dieser bietet ihm fürstliche Geschenke und Geiseln an, wenn Karl nur Spanien verlasse. Zweiter Tag: Beratung bei den Franken. Ganelon wird als Boschafter zu Marsilius geschickt, um Bedingungen für den Frieden auszuhandeln; auf dem Weg dorthin wird er von Blancandrin überredet, Karl zu verraten. Zusammentreffen und verräterischer Pakt zwischen Marsilius und Ganelon: dieser wird Roland in die Nachhut einteilen lassen, die dem Verrat an die Heiden zum Opfer fallen wird. Dritter Tag: Ganelon trifft in der Morgenfrühe im christlichen Lager ein, das inzwischen in Valterne ist, da das Heer der Franken schon auf dem Rückweg nach Frankreich ist. Vierter Tag: Beratung bei den Franken, Roland wird auf Vorschlag Ganelons zur Nachhut eingeteilt: er wird vom Heer Marsilius' überfallen und fällt zusammen mit seinen Pairs. Inzwischen flieht Marsilius, von Roland verwundet und verstümmelt, er sucht in Saragossa Schutz. Karl kehrt mit dem Rest der Truppen nach Roncesvalles zurück, doch zu spät, um Roland zu helfen; die wunderbare Verlängerung des Tages ermöglicht es ihm, den Grossteil des Sarazenenheers zu vernichten. Fünfter Tag: während Karl sich um die Bestattung seiner Helden kümmert, kommt Baligant, der Emir von Babylon (Kairo), mit seiner Flotte, die die ganze Nacht auf See war, nach Saragossa, um Marsilius zu helfen. Noch am selben Tag findet die entscheidende Schlacht zwischen Karl und Baligant in der Ebene des Ebro statt: die Christen siegen und besetzen sofort Saragossa. Sechster Tag: Das Heer stößt vor in Richtung Narbonne, Bordeaux und Bleye bis zur Hauptstadt der Franken, wo Ganelon wegen Hochverrat der Prozeß gemacht wird und er hingerichtet wird. Eine perfekte Konstruktion, geniale Synchronismen. Aber völlig jenseits jeder realistischen Möglichkeit. Der Ritt von Blancandrin vom Palast des Sarazenenkönigs Marsilius bis zum Sitz Karls dauert nur einen Tag, worauf dann noch die Überreichung der Botschaft folgt; zwischen Saragossa und Cordoba (wenn mit Cordres wirklich wie in vielen anderen Texten diese Stadt gemeint ist) liegen über 500 km Luftlinie. Als Roland am Nachmittag des vierten Tages, als die Nachhut schon fast geschlagen ist, ins Horn stößt, dringt sein Schall durch die Täler, über die Berge und hallt noch über 30 Meilen (über 130 km) weit entfernt wider, wo Karl ihn (den Schall) hört und sofort richtig deutet; in rasender Wut legt er 30 Meilen zurück, bis das Frankenheer zum Sonnenuntergang in Roncesvalles eintrifft, (auch wenn die Stunden auf wunderbare Weise verlängert werden) gerade noch rechtzeitig, um das heidnische Heer zu vernichten und die Überlebenden bis zum Ebro zu verfolgen, 100 Kilometer Luftlinie entfernt. Diese letzte Entfernung war schon am Ende des vorhergehenden Tages von dem tödlich verwundeten Marsilius zurückgelegt worden. Baligants Flotte, deren Bildung gut sechs Jahre gebraucht hatte, ist blitzschnell, um in einer Nacht den Ebro hinaufzufahren: es sind ungefähr 150 Kilometer Luftlinie, und die Flotte umfasst 4000 Schiffe. Der Rückzug des Frankenheers von Saragossa nach Aachen, das ganz Frankreich durchquert und dabei eine Entfernung von über 1000 Kilometer Luftlinie zurücklegt, findet an einem einzigen Tag statt und lässt sogar noch Raum für den Prozess gegen Ganelon, für die Verurteilung und dessen Hinrichtung.

217 Sicher weiß der Autor der Chanson de Roland nur wenig von Spanien, so dass er fast alle Ortsnamen bis zur Unkenntlichkeit entstellt, aber von Frankreich müsste er mehr gewusst haben, und doch findet der völlig unrealistische Marsch von Saragossa nach Aachen weitgehend in Frankreich statt. Man hat da den Eindruck, die äußerste Komprimierung des Raumes habe mit geografischer Unkenntnis nichts zu tun, sondern habe vielmehr künstlerische Motive - dies um so mehr, als der Autor andere Male genau so übertriebene Verlängerungen der Zeit vornimmt. Zum Beispiel wird Karls Spanienfeldzug, der weniger als ein Jahr gedauert hat, in der Chanson de Roland über sieben Jahre hingezogen. Die Komprimierung der Entfernungen zielt offenbar darauf ab, die Zeiten zu verkürzen, so dass das Geschehen überaus schnell und damit kompakt erscheint und der Mechanismus der Synchronisierungen wie geschmiert laufen kann. Vor allem werden dadurch die Kausalbeziehungen (z.B. Ins-Horn-Stoßen, Rückkehr Karls) sichtbar, es entsteht der Eindruck von Kontinuität, was alles sonst unmöglich wäre (die Niederlage von Baligants Heiden wird auf den Tag nach der Vernichtung des Marsilius-Heeres gelegt), es macht absurde Einzelheiten wahrscheinlich (dass der völlig verstümmelte Marsilius in seinen Palast in Saragossa zurückkehrt, und das in kürzester Zeit statt der Tage, die dazu in Wirklichkeit nötig gewesen wären. Die so verkürzte Zeit ist nicht so „kurz" wie ihre Wahrnehmung. Es ist ja eine mythische und symbolische Zeit, in der die Personen ins Riesenhafte wachsen und in der es die wechselseitigen Beziehungen sind, was zählt, es ist nicht die Ordnung der Logik, der Gesetze der Wahrscheinlichkeit, wie sie auf dem Schachbrett gelten, es ist eine eschatologische Zeit, die die Welt verändert, indem sie den Helden der Christenheit opfert, aber daraufhin sofort die heidnischen Heere, die eine Bedrohung des Abendlands und seines Glaubens darstellen, vernichtet; die das biblische Alter Karls heraushebt, aber über eine kleine Zeit die Zerstörung von Marsilius' Herrschaft und sogar von Baligants Reich herbeiführt, woraus vor allem die Einheit des christlichen Reiches gestärkt hervorgeht. Roland gehört mit seinen Pairs zur sakralen Ebene, die der Zeit enthoben ist, oder richtiger: welche die Zeit symbolisch „darstellt" und deshalb von der Wirklichkeit und von ihrem zufälligen Zeitmaß absehen kann. Diese wenigen Hinweise genügen, um Bachtins Aussage zum literarischen Chronotopos zu illustrieren: „Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen zeitliche und räumliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen"30 - auch um einen anderen Satz von ihm zu bestätigen, nämlich: „Der Chronotopos bestimmt die künstlerische Einheit des literarischen Werkes in dessen Verhältnis zur realen Wirklichkeit".31 Man beachte jedoch, dass die Typologie der Chronotopoi von Bachtin (zum Glück) eine offene Taxonomie darstellt, denn, wenn die Seiten von Bachtins Aufsatz Ähnlichkeiten mit den vorliegenden Betrachtungen aufweisen, ist auch zu bedenken, dass diese nur außerhalb eines Kontextes gelten.

30 Bachtin 1989, 8. 31 Bachtin 1989, 191.

218 Bachtin kennt das romanische Epos nicht und deshalb auch nicht den relativen Chronotopos, den ich hier zu charakterisieren versucht habe. Beobachtungen zur Folklore der Welt oder solche zum Ritterroman („Im Ritterroman wird auch die Zeit als solche bis zu einem gewissen Grade wunderbar. Eine märchenhafte Hyperbolie der Zeit tritt zutage: Stunden werden auseinandergezogen, Tage zu Augenblicken zusammengerafft, und die Zeit selbst kann verzaubert werden") 32 stehen in der Untersuchung des russischen Literaturtheoretikers im Gegensatz zu anderen Beobachtungen zum selben Chronotopos - Zeichen dafür, dass jeder Chronotopos global bestimmt werden muss. Und so dienen, genau wie Bachtin postulierte, die Eigenschaften jedes Chronotopos dazu, das Werk selbst (oder sogar dessen Genre), also worin dieser umgesetzt wird, zu definieren.

32

Bachtin 1989, 88.

10. Nicht nur Dekonstruktivisten: drei amerikanische Literaturwissenschaftler

Die Literaturwissenschaft kommt nicht zur Ruhe. Strukturalismus und Semiotik waren noch im Aufschwung begriffen, da kündigte sich schon die nächste Mode an, der „Dekonstruktivismus", der in den 1970er Jahren Amerika eroberte. Von den zahlreichen Amerikaaufenthalten von Derrida, dem Begründer der Richtung, abgesehen, wurde die neue Losung von dem renommierten Französisch-Institut der Yale University, an dem Paul de Man wirkte, ausgegeben. Mittlerweile ist der amerikanische Dekonstruktivismus so stark, dass Überblicksdarstellungen notwendig geworden sind: Jonathan Culler: On Deconstruction: Theory and Criticism After Structuralism. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press 1982 {Die Dekonstruktion, Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988 oder Maurizio Ferraris: La svolta testuale. Pavia: Coop. Libraria Universitaria 1984. Die Wurzeln des Dekonstruktivismus sind eher in der Philosophie als in der Literatur zu suchen. Wo es wenige philosophische Traditionen gab wie in Amerika, hat er sich als literaturwissenschaftliche Richtung getarnt, um einen vielleicht quälenden Durst nach Theorie stillen zu können. So ist es auf abenteuerliche Weise gelungen, Hegel und Nietzsche und Heidegger auf einen Kontinent zu verpflanzen, wo sie bis dahin wenig Echo gefunden hatten; er hat Spezialisten für Literatur, besonders französische, zu Meistern des Paradoxons gemacht, die alles auf den Kopf stellen und entmythisieren. Da ist sogar Frankreich mit seiner großen Neigung zur Mythenbildung weit übertroffen worden. Es ist schwer, kurz und knapp zu sagen, was Dekonstruktivismus ist. Man könnte ihn vielleicht als letzten Ableger des subjektiven Idealismus betrachten. Er leugnet die Möglichkeit, Wirklichkeit zu erfassen und folglich auch, zu Wahrheiten zu gelangen. Was wir Deuten nennen, heißt, Diskurse aussenden, die sich übereinanderlegen, ad inflnitum, weil jeder Diskurs nur durch einen anderen Diskurs erklärt werden kann. Literatur und Philosophie sind nicht mehr zu trennen, ja, Philosophie soll wie Literatur betrachtet werden und umgekehrt. Es geht darum, die Beziehungen zwischen Welt und Wort aufzulösen (zu „dekonstruieren"), ebenso wie die Hierarchien der verschiedenen Diskurstypen, die nur als historische Konkretionen entstanden seien. Der Dekonstruktivismus ist demnach auf der Suche nach Widersprüchen, Schwachstellen, an denen er mit der ihm eigenen sophistischen Logik ansetzt, um

220 sämtliche Axiome des herkömmlichen Denkens auf den Kopf zu stellen. So wird beispielsweise das Kausalitätsprinzip in Zweifel gezogen, weil wir eine Ursache von ihrer Wirkung her definieren. Insofern wäre die Wirkung das, was eine Ursache zur Ursache macht; genauso wäre eine Erzählung von ihrem Ende her zu erklären, weil erst das Ende den vorangehenden Handlungen ihre Begründung verleiht. Damit habe ich nur ein Beispiel für eine Denkweise gegeben, die auch für Moral und Praxis besorgniserregende Folgen haben kann. Nicht weniger nachhaltig können die Folgen für die Literaturwissenschaft sein. Die Dekonstruktivisten gehen mit Recht davon aus, dass keine Methode sich selbst rechtfertigen kann. Außerdem betonen sie, dass die Lektüre Missverständnissen der einen oder anderen Art unterliegt, von denen deshalb auch die Deutung nicht frei ist. Das eine Problem lässt sich epistemologisch, das andere historisch-empirisch angehen - zwei Lösungen, die ein Dekonstruktivist nicht akzeptieren kann, weil sie die Rollenverteilung und die Hierarchisierung der geistigen Tätigkeiten beibehalten. So entsteht einerseits ein endloses Hin und Her zwischen dem, was ein Werk zu sagen scheint, und seinen verborgenen Absichten oder den Deutungen der Literaturwissenschaftler; andererseits zeigt sich, daß die richtigen Deutungen, jedenfalls solche, die sich nicht von dem erstellten Urteil abheben, nur eine Unterart der falschen Deutungen sind. Ziel der Dekonstruktivisten ist es also, die Schwierigkeiten zu vervielfachen, statt sie aus dem Weg zu räumen: das Gegenteil dessen zu sagen, was ein Autor zu sagen scheint oder was über ihn gesagt worden ist, und sich dabei auf eine immer neue Ebene der Spekulation zu begeben; Zweifel zu streuen und gleich dazu zu sagen, dass es das beste sei, mit neuen Zweifeln darauf zu reagieren, womöglich mit umgekehrtem Vorzeichen. Um mit Culler (1982, 165) zu sprechen: es gilt, den Ast abzusägen, auf dem man sitzt; gelingt es einem, den Ast abzusägen, ohne herunter zu fallen, hat man den Beweis eines zumindest verbalen Balanceakts erbracht, worin die Dekonstruktivisten Meister sind. Geht man die literaturwissenschaftlichen Positionen der letzten Jahrzehnte durch, hat man den Eindruck, von einem Extrem ins andere zu fallen. Zuerst wurde der Text über alles gestellt, er wurde vorwärts und rückwärts analysiert und bis in seine letzten strukturellen Feinheiten durchleuchtet. Heute ist die Überbewertung des Lesens an der Reihe, die übrigens weniger als Erlebnis und Bereicherung denn als Textersatz betrachtet zu werden scheint: als neuer Text, der die Bedeutungen des ursprünglichen leugnet. Das scheinen die letzten verblendeten Pirouetten auf einem Weg zu sein, der ursprünglich von der Hoffnung überstrahlt war, mithilfe der Struktur- und Funktionsanalyse könne man die literarische Interpretation auf wissenschaftliche Grundlagen stellen. Die Dinge stehen aber anders. Bei Literaturtheoretikern wie Barthes und Foucault, die einen großen Anteil am Strukturalismus gehabt haben, sind hinter Glaubensbekenntnissen und scheinrationalen Operationen schon die ersten Anzeichen dieser Entwicklungen zu erkennen. Barthes ersetzte den Autor durch die Sprache und lauschte ihrem unerschöpflichen kreativen Diskurs, innerhalb dessen der Text

221 und seine Lektüren aufeinanderfolgende und homologe Phasen bildeten. FürFoucault war die Geschichte ein einziger Text, eine Sphäre von Wörtern und von Wörtern über Wörter. Der Diskurs wird also nicht als Kommunikationsakt mit wohldefinierten Verantwortlichen (im Falle der literarischen Kommunikation der Autor) gesehen, sondern verwandelt sich in einen autonomen Sprachfluss, der von Natur aus unbestimmt ist. Die ideologischen Gewährsleute waren die schon oben erwähnten Philosophen; aber statt von Idealismus müsste man von Irrationalismus sprechen. In Italien gibt es immerhin einige philosophische Traditionen, deshalb sind wir vor den Verführungskünsten des Dekonstruktivismus bewahrt geblieben. Indem er den Begriff „Hierarchie" ablehnt, etwa hinsichtlich der Beziehungen zwischen semantischen und stilistischen Ebenen, gibt der Dekonstruktivismus sich libertär, und nicht zufällig verbündet er sich mit einem gewissen extremen Feminismus. Die Philosophen sprechen da etwas gelassener von „Unterschieden". Und genau auf das „distinguo" berief sich Descartes, der heute natürlich unbeliebt ist. Es kann beispielsweise für die Literaturwissenschaft heilsam sein, sich aufs Handwerkliche zu beschränken und ihre Methoden ebenso wie ihre Beschreibungsverfahren weiterzuentwickeln; die Grundlagen und theoretischen Rückbindungen der verschiedenen Ansätze bedürfen in jedem Fall ständiger Überprüfung, aber auf der Basis solider Arbeitshypothesen. Diese Hypothesen sind vergänglich wie all unser Denken, aber sie müssen sich an Bedürfnissen und Paradigmen orientieren. Das ist viel besser als ein sophistischer Rundumschlag, der allenfalls die Spitzfindigkeit seines Urhebers verherrlicht. Wer sagt, dass die Literaturwissenschaft die Aufgabe hat, die Bedeutungen des literarischen Werks so vollständig wie möglich zu entschlüsseln, scheint ihr bescheidene Ziele zu setzen. Aber die Bescheidenheit der Ziele hängt mit der Anerkennung des Kunstwerks als Wert, manchmal als sehr hoher Wert zusammen, der uns von den besten Interpreten der menschlichen Erfahrung enthüllt wird. Der „bescheidene" Literaturwissenschaftler reflektiert das Licht, das von den großen Texten ausgesendet wird, und verstärkt es vielleicht - der unbescheidene lässt uns nur an dem Schauspiel seiner Selbstdarstellung teilhaben. Stanley Fish, Professor an der Duke University, hat bedeutende Aufsätze über John Skelton, Milton und George Herbert geschrieben. Sein Name wäre nicht über die Fachwelt hinausgedrungen, hätte er nicht auch eine Reihe von literaturtheoretischen Beiträgen geschrieben, die seit 1977 viel Zündstoff geliefert und selbst in wichtigen amerikanischen Zeitschriften eine endlose Debatte entfacht haben. Endlos ist die Debatte schon deshalb, weil Fish selbst dauernd seine Einstellung zum Thema ändert und es versteht, die verschiedensten literarischen Milieus in Aufruhr zu versetzen, mitunter dieselben, denen er zuvor angehört hat. Ein gutes Beispiel für diese Sprunghaftigkeit ist das Buch Is There a Text in This Class? TheAuthority of Interpretative Communities (1980), die C. Di Girolamo für das italienische Publikum herausgegeben hat ( C ' é u n testo in questa classe? Torino: Einaudi 1987). Vielleicht stand dahinter die Absicht, die amerikanische Debatte nach Italien zu

222 tragen, was bisher nicht gelungen ist. Die Zeiten sind nicht besonders empfänglich für Ansätze der literaturwissenschaftlichen Avantgarde, zudem ist unsere Kultur so, dass sie zwar Meinungsvielfalt zulässt, aber nicht Meinungslosigkeit. Der Titel geht auf eine Anekdote zurück. Es ist die Frage, die eine Studentin der Johns Hopkins University einem Professor stellte, als gleichzeitig auch Fish dort lehrte: Die Frage nach dem zugrunde gelegten Lehrbuch (Is There a Text in This Class?) schien eine Informationsfrage zu sein [engl, „text bedeutet auch „Lehrbuch"]; stattdessen war sie eine Anspielung auf den Dekonstruktivismus oder ihm nahestehende Theorien, denen Fish anhing, und nach denen gilt: „Die Bedeutung eines Textes ist ungreifbar" und „anhand dessen, was einer schreibt, kann man nie wissen, was er sagen will". Die Studentin wollte wissen, ob der Kurs des Professors von Vertrauen oder Misstrauen in die kommunikative Funktion des Textes handelte. Die Anekdote ist aus wenigstens zwei Gründen bemerkenswert. Der eine, charakterologische Grund liegt in der Selbstgefälligkeit, mit der Fish die Frage der Studentin auf sich bezieht, so dass er sie zum Titel eines Kapitels und sogar des ganzen Buches macht. Der zweite, theoretische Grund liegt im linguistischen Interesse an Diskursen (Texten, wie es nicht zufällig in der Textlinguistik heißt): Fish zeigt viele Kapitel hindurch, wie die Bedeutung eines Satzes durch die Situation, in welcher der Satz geäußert worden ist, beeinflusst, j a bestimmt wird - Beobachtungen, die nicht falsch sind, aber für die moderne Linguistik, die sich besonders intensiv um die Klärung des Verhältnisses zwischen Bedeutung und Diskurs bemüht, absolut trivial. Nicht trivial, sondern falsch sind die Schlussfolgerungen, die daraus für die Literatur gezogen wurden. Denn die Ambiguität eines Satzes wird nicht nur durch den Kontext des Diskurses, sondern auch durch den literarischen Kontext aufgehoben. Die verbleibenden Mehrdeutigkeiten können zu einem Teil durch eine systematische Analyse (z.B. durch den Vergleich mit ähnlichen Ausdrücken oder Aussagen) aufgelöst werden, während der andere Teil den Polysemien zuzurechnen ist, welche, dem Autor bewusst oder nicht, die Widersprüche der Wirklichkeit oder unserer Vorstellungen widerspiegeln. Anders gesagt, die Schwierigkeit, einem Diskurssegment eine bestimmte Bedeutung zuzuordnen, erlaubt nicht den Schluss, dass ein Text keinen Sinn habe: dass es müßig sei, ihn verstehen zu wollen. Aber dieser Meinung ist Fish selbst nicht immer, wenn man z.B. seine Überlegungen zum Zeitfaktor bei der Lektüre bedenkt: welche Rolle er für den Leser spielt, der sich zunächst in eine Richtung, dann in eine ganz andere gewiesen sieht. Jeder Satz ist also nicht einfach eine Aussage, sondern ein Ereignis: ein Ereignis für den Leser, wohlgemerkt. Man kann nicht von Bedeutung reden, sondern genauer von Erfahrung. Dazu ein sehr einfaches Beispiel aus dem Gedicht Lycidas von John Milton (Vv. 42-44):

223 The willows and the hazel copses green Shall now no more be seen, Fanning their joyous leaves to thy soft lays.

Am Ende von Vers 43 glaubt der Leser, so Fish, dass der Schmerz über den Tod von Lycidas zum Tod von Weiden und von Haselnnusssträuchern fuhrt. Vers 44 hingegen klärt ihn darüber auf, dass Weiden und Haselnusssträucher nicht mehr von der Musik Lycidas' liebkost sein werden, aber dennoch weiter leben. Ein unbefangener Leser, also einer, der sich nicht von Fish umgarnen lässt, würde sagen, dass es da nicht viel zu rätseln gibt: Die Bedeutung ist die, welche sich ergibt, wenn man am Punkt angekommen ist, während diejenige, zu der man am Ende von Vers 43 kommt, falsch ist, weil die Lektüre noch nicht zu Ende ist. Wer syntaktisch weniger einfache Sprachen als das Englische kennt, fände diese Erklärung trivial. Im Deutschen sieht beispielsweise ein Satz so lange affirmativ aus, wie keine Negationspartikel kommt, ebenso kann ein Prädikat solange mehrere Lesarten zulassen, bis das trennbare Präfix am Satzende entscheidet, welche richtig ist. Fish hingegen spricht von Überlagerung zweier Erfahrungen, nämlich der Erfahrung der vorläufigen Bedeutung und derjenigen der endgültigen Bedeutung, und lässt auch die erste, vorläufige Interpretation, die durch die nächste widerlegt wird, als Erfahrungsbestandteil gelten. Unser unbefangener Leser wird sagen, dass man nur in seiner Lektüre zurückzugehen brauche, um das, was im ersten Augenblick zweideutig war, zu verstehen, aber Fish doziert, dass das Zurückgehen genau das sei, was einer Analyse nach Handlungen und Ereignissen nicht gelänge. Kurzum, das Experiment funktioniert nur unter den von Fish vorgegebenen Bedingungen, als Kontrapunkt zum konventionellen Lesen, das Pausen, Zurückblättern, Innehalten und vorläufige Zusammenfassungen einschließt. Was sollen diese Spitzfindigkeiten über das Lesen? Das expliziteste Ziel ist die Widerlegung des Strukturalismus, der sich zu seinem Unglück für die Bedeutungen interessiert, die sich aus der Lektüre ergeben, und nicht für falsche Fährten und enttäuschte Erwartungen - mit anderen Worten: für hieb- und stichfeste Ergebnisse und nicht für rasend wechselnde Eindrücke eines fiebrig hechelnden Lesers. Ein implizites Ziel, bewusst oder nicht, ist eine empirische, eigentlich psychologische Analyse der Lektüre, wie man an der ständigen Berufung auf I. A. Richards sieht. Und natürlich gehört zur Erfahrung des Lesens als psychischer Prozess die Wahrnehmung von Missverständnissen, die Fish thematisiert. Aber niemand kann uns zwingen, sie alle auf derselben Ebene anzusiedeln: als Bestandteile der Bedeutung oder auch, wenn einem das besser gefällt, der Abwesenheit von Bedeutung. Nun muss man sagen, dass Fish kein großer Kenner des Strukturalismus ist. Zum Beispiel zitiert er Jakobson und Lévi-Strauss nur nach Riffaterre, auf dessen Werk er, wie er sagt, erst vor kurzem aufmerksam geworden ist (das betreffende Kapitel stammt von 1970/71). Etwas Nachhilfe in Strukturalismus würde ihm also gut anstehen. Man nehme etwa seine Analyse des Sonetts Wheri I Consider How My Light Is Spent von John Milton. Fish stellt sich die Frage, ob der letzte

224 Vers noch zum Diskurs der Patience, der mit V. 9 beginnt, gehört oder ob er dem Ich der Verse 1 - 9 in den Mund zu legen ist. Nun, der Parallelismus zwischen V. 11 und V. 14 „they serve him best"; „they also serve", der Chiasmus der beiden Subjekte von serve („who best / bear"; „who only stand", Vv. 10-11 und 14), und schließlich die identische Wiederaufnahme von „To serve" in V. 5 sprechen für die erste Hypothese. Alles in allem würde ich sagen, dass Fish, sowohl was seine Kritik (beispielsweise am Strukturalismus) als auch was seinen Umgang mit linguistischen Verfahren angeht, keinen festen Boden unter den Füßen hat. Von der Diskursanalyse war schon die Rede. Genauso falsch sind seine Bezugnahmen auf Chomsky, den er ebenfalls aus zweiter Hand zitiert, wobei er die Beziehung zwischen Oberflächenstrukturen und Tiefenstrukturen nicht als präzise semantische Entsprechungen zwischen dem Komplexesten und dem Einfachsten begreift, sondern als Pluralität von verschieden interpretierbaren Verbalisierungen - genau das Gegenteil dessen, was der Begründer der Generativen Grammatik sagt. Später hat sich Fish dann vom Lektüreakt ab- und der Aktivität der Leser zugewandt und sich damit in die Nähe der Rezeptionsästhetik begeben. Er entwickelt das Konzept der Interpretative Community. Jede Deutungsgemeinschaft besteht aus den Personen, die aus Gründen der gemeinsamen Kulturzugehörigkeit einige theoretische Prämissen teilen und deshalb dieselben Deutungsstrategien anwenden. Wenn damit gesagt sein soll, dass die Zugehörigkeit zu ein und derselben literarischen Strömung, das Bekenntnis zu ein und derselben Poetik, zu konvergenten Deutungen führen können, so ist das wahrscheinlich richtig, aber banal. Jedenfalls sind die Deutungsgemeinschaften kein Weg, die Deutungsvielfalt zu rationalisieren, noch ist anzunehmen, daß sich damit in die von den verschiedenen Lesern gewählten hermeneutischen Herangehensweisen Ordnung bringen läßt; damit läßt sich bestenfalls die Existenz dieser Herangehensweisen erklären. Diese Herangehensweisen haben jedoch einen gemeinsamen Ausgangspunkt; ihr Vergleich kann es ermöglichen, die individuellen Anteile herauszustellen und die Merkmale zur Geltung zu bringen, die in je verschiedener Kombination zur Gesamtbedeutung beitragen. Bedeutungskonstitution beteiligt sind. Das Problem, das Fish besonders auf den Nägeln brennt, ist also das Problem der Bedeutung; das verbindet ihn mit der amerikanischen Hermeneutik, die ihrerseits umstritten ist. Sein Irrtum liegt darin, dass er um jeden Preis die Abwesenheit oder Widersprüchlichkeit derjenigen Bedeutungen nachweisen will, die sich am leichtesten angeben lassen, der wörtlichen, und sich viel weniger mit den Gesamtbedeutungen beschäftigt, der Bedeutungsmächtigkeit für deren Angabe fehlen in der Tat definierbare Kriterien, jedenfalls für ihren Nachweis. Wenn Fish darauf hinweist, dass es von Miltons Samson Agonistes oder Blakes The Tyger miteinander völlig unvereinbare Gesamtdeutungen gibt, sagt er etwas mehr als Richtiges, was sich mit Deutungen jedes beliebigen Autors der Weltliteratur belegen ließe. Und es stimmt ja, dass die moderne Literaturwissenschaft sich für dieses theoretische Problem nicht sehr interessiert hat, obgleich sie um Deutungsvorschläge nicht verlegen war.

225 Über dieses Problem muss, wenigstens in der Theorie, unvoreingenommen gearbeitet werden - und historisch, indem man die Sinnschichten zurückverfolgt, die die mittelalterliche Poetik noch zu erkennen gewusst hatte. Jedenfalls ist es die Geschichte, welche die ersten und wichtigsten Anhaltspunkte liefert, denn Bedeutungen existieren nur innerhalb der Geschichte. Wenn Fish seinen Studenten eine Reihe von Familiennamen vorlegt, die er eigentlich für andere Studenten an die Tafel geschrieben hatte, und behauptet, dabei handele es sich um ein sakrales Gedicht und sie zur Deutung auffordert, verstößt er sowohl gegen die Geschichte als auch gegen das Vertrauen, das seine Studenten ihm entgegenbringen. In geschichtlicher Hinsicht handelt es sich bei der Namensliste um eine bibliographische Notiz, nicht um einen literarischen Text, schon gar nicht um einen sakralen Text. Die Studenten, die daraus einen Sinn herausgeholt haben, haben Spitzfindigkeit bewiesen, aber auch Mangel an historischer Sensibilität, denn als sakrales Gedicht existiert der Text nicht und könnte er nicht existieren. Man kann nicht die Abwesenheit von Sinn nachweisen wollen, indem man angestrengte und etwas dümmliche Versuche macht, einen bestimmten Typ von Bedeutungen zu finden, wo es um ganz andere geht. Derartige Versuche berechtigen keineswegs zu der Behauptung, dass es j a immer wir sind, die dem Schatz von Bedeutungen, der zu unserem Glück und jeglichem semantischen Nihilismus zum Trotz in den Texten verborgen ruht, einen Sinn geben. Es scheint ein Jahrhundert zu sein, dabei sind keine zwanzig Jahre vergangen, seitdem literaturtheoretische Neuerscheinungen noch Aufsehen erregten; die Werke von Jakobson, Barthes, Genette und Todorov fanden damals reißenderen Absatz als Romane; Zeitungen und Zeitschriften ergriffen leidenschaftlich für oder gegen die neuen Methoden Partei und stießen heiße Debatten an. Strukturalistische oder marxistische Literaturwissenschaft? Semiotik oder Psychoanalyse? Einen Augenblick lang sah es so aus, als könnte die semiotische Literaturwissenschaft die anderen Richtungen gewissermaßen subsumieren, es kam zu Versöhnungen und Bekehrungen. Dann nichts mehr. Normalerweise löst eine Mode die andere, eine Methode die andere ab. Hier nicht: der Sieger, die Semiotik, dreht sich angezählt im Ring und droht zu Boden zu gehen. Die dekonstruktivistischen Übergriffe auf Italien bleiben ohne durchschlagenden Erfolg; auch handelt es sich dabei nicht um eine neue literaturwissenschaftliche Methode, sondern um eine spitzfindige und elegante Sabotage jeder Möglichkeit von Literaturwissenschaft überhaupt. In dieser Situation erscheint ein Buch wie das von Robert Alter mit dem Titel The Pleasures of Reading (New York usw.: Simon & Schuster 1989) höchst vielversprechend - umso mehr, als es für eine Lektüre plädiert, die sich aus der Knechtschaft der Theoretisierungen befreit hat, die terminologischen Nebel vertreibt und zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten (Werbung, Feuilleton usw.) unterscheidet. Sowohl in seinen negativen Teilen (in denen Beispiele moderner Literaturtheorie zu Recht an den Pranger gestellt werden) als auch in seinen positiven Teilen ist die Wirkung des Buches nicht zu leugnen.

226 Alter fordert uns einfach nur auf, die Texte zu lesen. Statt einer Theorie liefert er uns Beispiele einer Lektüre, die das Besondere der Texte erfasst und uns die Lust daran vermittelt. Kein Zweifel, dass Alter mit dieser Propaganda für einen unvoreingenommenen und einfühlsamen Umgang mit den literarischen Werken Erfolg hat. Dabei kommt ihm vermutlich seine Lehrerfahrung mit Undergraduate-Studenten zugute. So erklärt sich auch die große Vielfalt von Autoren, die von der Bibel, für die er ein anerkannter Fachmann ist, weit entfernt liegen: Homer, Madame de La Fayette, Shakespeare, Dickens und Flaubert, Melville und Faulkner und Fielding, Wordsworth und John Crowe Ransom. Immer wird ein Auszug - Prosa oder Lyrik - abgedruckt, an dem dann die Verfahren der Autoren erklärt werden. Man könnte an eine Art vulgarisierter Mimesis von Auerbach denken, nur dass Alter keine allgemeine These aufstellen oder ein historisches Muster nachweisen will, sondern sich darauf beschränkt, seine Leseproben nach großen Kategorien zu ordnen: Personen, Stil, Querverbindungen, Struktur, Perspektive, um mit der ewigen Frage der Vielfalt möglicher Deutungen, über die er eine vernünftige Meinung hat, zu schließen. Natürlich fragt man sich, was Alter anderes und Besseres zu bieten hat als die Literaturwissenschaft sonst. Muss nicht auch er einen theoretischen Ausgangspunkt haben? Um zu lesen oder das Lesen zu lehren, reicht es nicht aus, immer nur an den gesunden Menschenverstand zu appellieren; ein bisschen gesunder Menschenverstand schadet ja nicht, einverstanden, aber das ist keine Methode. Nun ist Alters Trick ziemlich leicht zu durchschauen: er wendet eine Methode an, ohne deren Sprachgebrauch zu übernehmen, oder doch höchstens in homöopathischen Mengen. Noch leichter ist es, diese Methode zu bestimmen. Dazu genügt es, die ganz wenigen Literaturtheoretiker aufzuzählen, die er immer wieder zitiert: Iser, Genette und Chatman. Das ist nicht alles. Aus den Danksagungen am Ende seines Buches geht hervor, dass Alter von Benjamin Hrushovski, Ziva BenOrat und wiederum Seymour Chatman Anregungen bekommen hat. Wir befinden uns also zwischen der Schule von Berkeley und derjenigen von Tel Aviv, wo eine historisch reflektierte, von Abstraktionen freie Literatursemiotik im Entstehen ist. Ein Sprachrohr dieser Kreise ist die erstklassige literaturtheoretische Zeitschrift Poetics Today. So kommt man dahinter, dass Alter ein, wenn auch gemäßigter, Anhänger der semiotischen Literaturwissenschaft ist und deren Vitalität, die zweifelhaft geworden zu sein schien, bestätigt. Was wie ein Rundumschlag gegen die moderne Literaturtheorie aussieht, richtet sich in Wahrheit gegen den Dekonstruktivismus, der in Amerika vor allem im Kreis der Yale University wütet, ferner gegen den Soziologismus und gegen diejenigen französischen Strukturalisten, die universale Strukturen postulieren: Strukturen, die verschiedenen Wissensgebieten gemeinsam sind und deshalb ohne qualitative Unterscheidungen auch die Literatur einschließen. Umgekehrt nimmt Alter den ganzen Erkenntnisgewinn der modernen Literaturwissenschaft auf und verbreitet ihn weiter. Es ließe sich leicht zeigen, wie bestimmten einfachen, geradezu bescheidenen Aussagen Alters Entdeckungen und Formulie-

227 rungen von Jakobson, Bachtin oder Genette zugrunde liegen. Und wenn Alter die italienische Literaturwissenschaft kennte, müsste er viele Berührungspunkte mit ihr sehen. Sieht man von den oft hervorragenden Leseproben ab, fragt sich, was von Alters Kampagne bleibt. Es bleibt vor allem seine Ablehnung der terminologischen Auswüchse. Sie erscheint mir nun allerdings zu weit zu gehen, wenn ich auch nicht leugne, dass einige Schulen sich hinter einer sprachlichen Ritualisierung verschanzt haben, die Laien (und erst recht Anhänger anderer Schulen) abschreckt. Zwar ist Literaturwissenschaft keine Naturwissenschaft, aber man darf ihr nicht die Möglichkeit bestreiten, zu aufschlussreichen Verallgemeinerungen zu gelangen. Literaturtheorie ist möglich, ja, sie blüht und gedeiht. Eine Theorie kommt ohne Terminologie nicht aus, sie kann nicht jedes Mal zu langen und ungenauen Umschreibungen greifen, wenn sie ein Phänomen, eine Eigenschaft oder ein Verfahren mit einem bestimmten Terminus bezeichnen kann. Natürlich gibt es auch einen mystifizierenden Gebrauch von Terminologie: das „Latinorum" des Don Abbondio oder der zopfige Zitat-Diskurs des Winkeladvokaten Dottor Azzeccagarbugli [Figuren aus Manzonis Promessi sposi, Kap. II und III] sind sprichwörtliche Beispiele. Aber auf einem Konzil ist der Gebrauch von Latein nicht nur angebracht, sondern obligatorisch, so, wie etwa Richter sich nicht besprechen könnten, ohne auf das Gesetzbuch und juristische Ausdrücke zurückzugreifen. Oder der unseriöse Arzt kann, um noch ein Beispiel zu geben, seinen Patienten mit seinen Fremdwörtern verwirren oder einschüchtern, aber auf einem medizinischen Kongress sind dieselben Termini unerlässlich, wenn die Diskussion nicht sinnlos werden soll. Deshalb mag Alter seine Studenten ruhig mit einer einfachen Sprache locken und zur Literatur verfuhren. Aber er kann nicht verlangen, dass jemand, der sich beruflich mit Literatur beschäftigt, womöglich mit dem Ziel, zu theoretischen Erkenntnissen zu gelangen oder Beschreibungstechniken zu entwickeln und Gesetzmäßigkeiten zwischen verschiedenen Texten aufzudecken, dieselbe einfache Sprache benutzt. Alles hat seine Zeit: die einfache Sprache und die Sprache der Experten, die Freude am Lesen und die Freude an der theoretischen Reflexion.

11. Kanon und Kulturwissenschaft

Von Zeit zu Zeit gehen durch die Zeitungen leidenschaftliche Stellungnahmen gegen einen Kritiker, der eine Rangliste der Schriftsteller vorgeschlagen hat - mit den Besten eines Jahrzehnts, eines Jahrhunderts oder unserer ganzen Literatur. Die Diskussionen darüber sind unersprießlich, denn jeder Kritiker hat seine Vorlieben, und sie können ja wohl auch schwerlich mit denen aller anderen übereinstimmen. Ein weiterer Beweis (wenn es eines solchen überhaupt noch bedurft hätte) für den hohen Anteil an Subjektivität ästhetischer Urteile, zumal wenn sie auf einen Vergleich hinauslaufen. Rangordnungen vorzunehmen, ist dennoch nicht ohne Belang. Hauptsache, man interpretiert sie richtig. Schon die Vorlieben eines Kritikers, zumal eines renommierten, zu kennen, verdient Aufmerksamkeit. Derartige Ranglisten haben ihren Sinn, wenn sie in einem zeitlichen Rahmen stehen. In einer als Bilanz verstandenen Rangliste schlägt sich ein Urteil über die literarische Produktion eines bestimmten Zeitabschnitts nieder: ein Urteil, das dann analytisch-argumentativ begründet und selbstverständlich diskutiert werden kann. Wenn die Rangliste eine Vorausschau ist, lässt sich ablesen, welche Bedeutung bestimmte Autoren oder Werke im Bewusstsein der künftigen Leser haben werden. Im einen wie im andern Fall hängt die Auswahl von Autoren oder Titeln natürlich vom jeweiligen Begriff von Literatur und ihrem Verhältnis zum gesellschaftlichen Leben und zur Kultur ab; sie hängt außerdem von der Poetik ab, die der Kritiker selbst vertritt und ganz allgemein von ideologischen Faktoren, einschließlich der Ablehnung von Ideologie. Wenn man die Rangliste eines Kritikers ablehnt, dann tut man das aus einer anderen Subjektivität heraus, der Subjektivität dessen, der nein sagt; sie wiegt nicht mehr als die Subjektivität dessen, der die Rangliste vorgeschlagen hat, immer vorausgesetzt, es geht bei dem Nein nicht um mehr oder weniger Prestige. Beide Kontrahenten beanspruchen eine Objektivität, die natürlich nicht zu erreichen ist und eigentlich überhaupt nie erreichbar ist. Unsere Frage geht also dahin: Gibt es Ranglisten, die sich als objektiv bezeichnen lassen? Wir gehen zunächst einen Schritt zurück, was nicht nur eine Frage der Terminologie ist. Harold Bloom hat unter dem Titel The Western Canon: The Books & Schools of the Ages ein Buch veröffentlicht, das weitergehende und ernster zu nehmende Reaktionen als die üblichen in der Feuilleton-Presse verbreiteten Ranglisten gehabt hat. Bloom erhebt sich selbst zum Maßstab, um über den Einfluss

230 der Werke großer Schriftsteller auf die westliche Kultur zu urteilen. Ich will mich nicht auf diese Polemik einlassen mit Vorwürfen von der Art, man hätte aber Petrarcas Canzoniere oder Leopardis Canti vergessen. 1 Was mich interessiert, ist der Begriff Kanon als solcher. Der Kanon versteht sich, und davon sollten wir ausgehen, als ,Liste der heiligen, von Gott inspirierten Bücher der Bibel'. In diesem Fall ist es also eine religiöse Autorität, die aus einer Gruppe von Texten die ,von Gott inspirierten Bücher' auswählt; der Kanon besitzt deshalb Verbindlichkeit. Dieselbe Autorität hat entschieden, dass andere Bücher nicht von Gott inspiriert sind. So umfasst der katholische Kanon des Alten Testaments acht Bücher mehr als der jüdische Kanon oder die Lutherbibel: Das Buch Tobit, Das Buch Judit, Erstes und Zweites Buch der Makkabäer, Das Buch der Weisheit, Das Buch Jesus Sirach (Ecclesiasticus) und andere Apokryphen. Die Verbindlichkeit des Kanons kann auch von anderer Art sein. Ich denke da an folgendes Verständnis: ,Alle musterbildenden Autoren oder Werke'. Jetzt ist es nicht eine Autorität, die den Maßstab setzt, sondern die Institution Literatur, die sie von Zeit zu Zeit auswählt, so dass der Kanon vorübergehend verbindlich ist, und zwar immer nur für die Mitglieder der Institution, und nur diejenigen Autoren, die sich evtl. im Widerspruch zur Institution befinden, können auf eine Änderung des Kanons hinwirken und andere Vorbilder heranziehen. Zu bedenken ist jedoch, dass der Terminus, den schon die alexandrinische Kultur kannte, zwei Gebrauchsweisen hatte: die erste beinhaltet, Auswahl', und daraufhabe ich mich bisher bezogen, aber die zweite, für andere Autoren derselben Zeit maßgebliche bedeutet so viel wie , Verzeichnis', ,Katalog', wonach ,Kanon' in diesem Sinne alle Werke der griechischen Literatur, die bis dahin erhalten geblieben waren, umfasst. Das heißt, es stehen uns zwei Begriffe für ,Kanon' zur Verfügung: Verzeichnis dessen, was bis dahin erhalten geblieben ist, und Kanon, sei es als Paradigma in dem oben erwähnten Sinne (Kanon 1), oder als Kriterium für die Zuordnung einer bestimmten Anzahl von Werken, die entsprechende paradigmatische Eigenschaften aufweisen, zur Nationalliteratur (Kanon 2). Der Terminus , Verzeichnis' ist objektiv und ändert sich nur, wenn sich Verluste einstellen oder, was unvermeidlich ist, neue Titel aufgenommen werden; auch der zweite Begriff ist, wenn es um Kanon 2 geht, objektiv, während für Kanon 1 teils Instruktion oder Verbindlichkeit maßgeblich sind, aber auch Veränderlichkeit, in Abhängigkeit vom Zeitgeschmack.

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Zur amerikanischen Diskussion über den Kanon vgl. C. Altieri: „An Idea an Ideal of a Literary Canon", Critical Inquiry 10 (1983) 37-60; B. Herrstein-Smith: „Contingencies of Value", ibid., 1-35; H. Adams: „Canons: Literary Criteria / Power Criteria", ibid., 14 (1988) 748-764; R. Sheffy: „The Concept of Canonicity in Polysystem Theory", Poetics today 11,(1990) 511-522. Einen Überblick über diese und ähnlich einschlägige Beiträge liefert: M. Pozuelo Yvancos: „El canon en la teoria literaria contemporanea", Eutopias 2" epoca 108 (1995) mit Hinweisen auf den Russischen Formalismus und neuere Entwicklungen. Pozuelos vorzüglicher Arbeit habe ich viele Anregungen entnommen, wofür ich ihm meinen Dank und meine Bewunderung ausspreche.

231 Jetzt kann es schneller weitergehen, auch wenn noch weitere Präzisierungen notwendig sind. Eine mögliche Ausgangsbasis kann das Verzeichnis sein, von dem gesagt worden ist, dass es einen objektiven Charakter habe, was aber eine Definition von .literarischem Werk' voraussetzt, denn, wer eine Erhebung macht, muss wissen, was er erhebt. Nun, der Begriff literarisches Werk' ist dem Wandel unterworfen. Es gibt Epochen, in denen mündlich Überliefertes nicht dazugerechnet wird, und andere, in denen wissenschaftliche, ökonomische usw. Schriften ausgeschlossen werden. Heute neigt man dazu, Kinder- und Jugendliteratur herauszunehmen, so dass man sich lange Zeit in Italien, nicht einmal der Autor selbst, hätte vorstellen können, dass Collodis Pinocchio zum literarischen Werk avancieren würde; heutzutage hat das Werk einen Ehrenplatz im Kanon. Noch ein Beispiel: einen gewissen Konsens darüber, dass die sog. Trivialliteratur, nicht zum literarischen Kanon gehört. Man stelle sich einmal vor, welche gewaltigen Auswirkungen es für die Literaturgeschichte und besonders den Literaturkanon hätte, kanonisierte man die Trivialliteratur, auf die schon Gramsci die Aufmerksamkeit gelenkt hatte. Nur in einer Diktatur kann man sich eine Autorität vorstellen, die entscheidet, was zum Kanon gehört und was nicht; maßgeblich wären Kriterien, die dem Interesse des Regimes dienen. Sonst ist für derartige Entscheidungen so etwas wie eine communis opinio über Zeitgeschmack und maßgebliche Autoren zuständig. Das ist eine nahezu unfassbare Instanz, über die man aber mit den nötigen kulturwissenschaftlichen Grundlagen mehr Klarheit herstellen könnte. Wir müssen später darauf zurückkommen. Weniger unverständlich ist es, dass innerhalb des Kanons bestimmte Texte herausragen, entweder weil sie für die Kultur eines Landes oder die Sprache, der sie angehören, typisch sind (Kanon 2) oder weil sie für die Abfassung von Texten desselben Typs die entsprechenden paradigmatischen Eigenschaften haben (Kanon 1). Diese beiden Möglichkeiten (kulturelle Bedeutung, paradigmatische Funktion) müssen nicht immer zusammenfallen. Denn während die kulturelle Bedeutung damit zusammenhängt, dass Kultur sich als Sediment aufbaut, das den geschichtlichen, nur induktiv erfassbaren Bedingungen unterliegt, welche von Zeit zu Zeit die Zu- und Abgänge innerhalb des Kanons bestimmen, basiert die paradigmatische Funktion auf einer expliziten und explizierten Norm: derjenigen der herrschenden Poetiken. Die paradigmatische Funktion ist wandelbar, denn sie unterliegt auch kurzfristigeren Veränderungen; die kulturelle Bedeutung ist beständiger, und gilt aus der Sicht der Gemeinschaft für endgültig; natürlich hat ein Werk, wenn es einmal aus dem Kanon herausgefallen ist, kaum eine Chance, wieder hineingenommen zu werden. Die fortlaufende Erfassung der paradigmatischen Texte von Epoche zu Epoche ist ziemlich einfach. Es gibt ganz spektakuläre Fälle wie das geringe Interesse für die Divina Commedia im 17. und 18. Jh. ebenso wie bis hinein ins 20. Jh. für den Orlando innamorato von Boiardo, der, wenn überhaupt, nur in der Bearbeitung von Berni gelesen wurde, oder auch in Spanien die über lange Zeit dauernde Missachtung des Sonettdichters Luis de Göngora, Missachtung, gefolgt von über-

232 Steigerter Bewunderung Anfang des 20. Jahrhunderts; Verdrängung von Metastasio aus seiner Vorbildfunktion für die Lyriker bis Leopardi, systematische Abwertung der Gedichte von Carducci, unumgänglicher Musterautor für das gebildete Publikum Ende des 19. Jh., ebenso für Pascoli und D'Annunzio, vielleicht auch noch für Montale. Jemand hat vorgeschlagen, man solle eine Statistik der Autoren anlegen, nach denen im ganzen Land Straßen benannt sind. Man kann sich vorstellen, dass dabei fast alle kanonischen Autoren herauskämen, aber auch Autoren, die nur vorübergehend berühmt waren und sofort von irgendeinem enthusiastischen Bürokraten hochgejubelt würden, oder Provinzschriftsteller. Diese beiden Gruppen würden aus einer nationalen Rangliste wieder herausfallen. Auch wenn die Bedeutung von Texten (Kanon 2) von niemandem festgesetzt wird, gibt es doch zahlreiche Anhaltspunkte, sie zu messen. Da ist zunächst der schulische Anhaltspunkt: Werke, die als Pflichtlektüre gelten, stehen sicherlich im Kanon obenan. Die Langlebigkeit einiger lateinischer Texte, vor allem von Caesar bis Vergil, oder (bei uns in Italien) von der Commedia bis zu den Promessi sposi ist durch ihren Status als Pflichtlektüre begünstigt. Das müsste denen zu denken geben, die Lehrpläne erstellen: in gewisser Weise sind sie für Perpetuierung des Kanons verantwortlich. Viele andere Anhaltspunkte sind eine Frage der Rezeptionstheorie. Für einen der wichtigsten halte ich das Kriterium der Intertextualität (Textkosmos). Man denke hier nur daran, dass Dutzende von konventionalisierten Ausdrücken aus der Commedia bezogen worden sind (La bocca sollevò dal fiero guasto, amor eh 'a nullo amato amar perdona, vituperio de le genti, tu seil lo mio maestro e il mio autore, usw.). Wenn jeder von uns nur die Geflügelten Worte nennen würde, die er behalten hat, dann wäre praktisch das Verzeichnis komplett. Die Intertextualität spielt auch bei den Zitaten oder Anspielungen, die von anderen Autoren genutzt worden sind, einschließlich der Parodien eine Rolle. Einen drittklassigen Text imitiert man wohl kaum, man spielt nicht auf einen Text an, den nur wenige kennen, und eine Parodie verfehlt ihre Wirkung, wenn das Vorbild unbekannt ist. Als besonders guter Gradmesser für die Zugehörigkeit zum Kanon galt in früheren Zeiten, als man noch auswendiglernte, die Zugehörigkeit eines Textes zur Pflichtlektüre. Ein weiterer Anhaltspunkt für die Zugehörigkeit zum Kanon ist die Zahl der Aufgaben und noch mehr der Kommentare; denn jeder kann jeden Text kommentieren, aber selten dürfte ein nichtkanonischer Text mehrmals kommentiert werden, auch deshalb, weil die Verleger wissen, dass sie damit in den Sand gebaut hätten. Was nun die genaue Bestimmung der Kanonelemente angeht, so könnte der Begriff kultureller Text sich als hilfreich erweisen. Er ist von der Tartuer Schule mit ihrem wissenschaftlichen Anliegen einer „semiotischen Erforschung der Kultur", also der Beschreibung von „Struktur und Typologie der Kultur" in Umlauf gebracht worden. Auf diesen Forscherkreis greifen wir nun zurück, um unser Thema zu vertiefen. Lotman, der Begründer der Tartuer Schule und ihrer „Kulturologie", gibt folgende Definition: „Notwendige Eigenschaft des kulturellen Textes ist seine Universalität: das Weltbild steht in Korrelation zur ganzen Welt und enthält im

233 Prinzip alles. Zu fragen, was sich jenseits seiner Grenzen befindet, ist vom Standpunkt der gegebenen Kultur ebenso sinnlos, wie die gleiche Frage in bezug auf das Universum". 2 Mit anderen Worten, das literarische Höhenkammwerk ist gleichsam eine Monade, in der sich die Welt widerspiegelt - eine Widerspiegelung, die auch Kritik oder Prophetie ist und zugleich als Beschreibung der Wirklichkeit wie als Korrektur dieser Wirklichkeit verstanden wird. Der kulturelle Text ist also ein modellbildendes „Zeichensystem" von der Welt, wobei Modell so viel heißt wie Symbol für Systeme und Verknüpfungen in bezug auf ein Objekt, in diesem Fall also die Welt. Die Tartuer Schule definiert die Bedeutung des Ausdrucks Modell nirgends expliziter als eben angedeutet; klar ist, dass, wenn ein Text ein Modell von der Welt ist, hat er auch die Funktion eines Orientierungsmaßstabs und muss dann auch im alltagssprachlichen Sinn des Wortes als „Modell" fungieren können. An diesem Punkt lohnt es sich, zu fragen, was für eine Art von Kulturbegriff einer Semiotik der Kultur zugrunde liegt. Vorauszuschicken ist: Kultur wird jedenfalls von vornherein aus einer subjektiven Sicht betrachtet, als Kultur, die innerhalb eines bestimmten Landes und eines bestimmten Zeitraums gilt. Kultur befindet sich in einem dialektischen Verhältnis zu dem, was nicht zu ihr gezählt wird, also der „Nicht-Kultur", den „außerkulturellen Räumen", die zu keinem Zeitpunkt still stehen. Die beiden vorgeschlagenen Abgrenzungskriterien sind folgende: die Kultur ist ein „Informationsspeicher" der menschlichen Gemeinschaften, Ergebnis der Thesaurierung von Texten und Kenntnissen, die vom kollektiven Gedächtnis für funktional notwendig gehalten werden. Anders gesagt: Kultur ist „ein Mechanismus, der eine Gesamtheit von Texten hervorbringt", der, indem er die in der vorherigen Periode erfassten Materialien des Informationsspeichers verarbeitet, neue Texte und neue Kenntnisse hervorbringt. Die beiden Aspekte der Kultur beziehen sich auf verschiedene Facetten ein und derselben Tätigkeit, wie aus den folgenden Bemerkungen hervorgeht: „Die Kultur kann als eine Hierarchie spezieller semiotischer Systeme betrachtet werden, als Summe von Texten und einer mit ihnen korrelierten Anzahl von Funktionen bzw. als ein bestimmter Mechanismus, der diese Texte hervorbringt. Betrachtet man ein Kollektiv als ein etwas komplizierter angelegtes Individuum, so ließe sich die Kultur als Analogie zum individuellen Mechanismus des Gedächtnisses als kollektives Gebilde zur Speicherung und Verarbeitung von Informationen beschreiben. Die semiotische Struktur der Kultur und die semiotische Struktur des Gedächtnisses sind Phänomene des funktional gleichen Typs, die auf verschiedenen Ebenen operieren. Diese These widerspricht nicht der Dynamik der Kultur: Da sie im Prinzip die Fixierung vergangener Erfahrung ist, kann sie auch als Programm und Instruktion für die Schaffung neuer Texte in Erscheinung treten". 3

2

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J. M. Lotman: „Die Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen" [1969]. Id.: Ansätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kunst. Kronberg/Ts.: Scriptor 1974, 338-377, insb. 344. J.M. Lotman, B. Uspenskij, V. V. Ivanov et al.: „Thesen zur semiotischen Erforschung der Kultur". Semiotica Sovietica. Sowjetische Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu sekundären Zeichensystemen (1962-1973). 2 Bde. Hg. K Eimermacher. Aachen

234 An diese Textstelle lassen sich viele Bemerkungen anschließen. Grundlegend ist vor allem die Symmetrie zwischen dem Verhalten des Einzelnen und demjenigen der Gemeinschaft gegenüber der Kultur: so ist es möglich, etwas so Flüchtiges wie die Kultur aus der eigenen Erfahrung zu bestimmen. Sodann ist die systemnotwendige Funktion des Gedächtnisses bei der Konstituierung der Kultur wichtig. Ohne geschichtliches Gedächtnis, ohne Textgedächtnis und ohne Sprachgedächtnis ließe sich keine Kultur hervorbringen. Aber die Operationen des Gedächtnisses (jedes Einzelnen) machen es möglich, jenen Teil der Kultur, in dem literarische und nichtliterarische Fakten abgelegt werden, zu synthetisieren - ein funktional notwendiger, wenn auch gewissermaßen passiver Fundus. Denn nur auf dieser Grundlage kann der Einzelne bzw. die Gemeinschaft, dadurch dass sie die eigenen Mechanismen in Aktion setzen, neue Kultur hervorbringen. Eben erinnerte Erfahrung fixieren und neue schaffen. Daraus ergibt sich eine Praxis in zwei Richtungen: die eine geht in Richtung Vergangenheit, die Gesamtheit des Überlieferten in der Kultur; die andere in Richtung Zukunft, Kultur als Prozess. 4 Wenn die Tartuer Schule von Texten spricht, dann sind damit nicht nur literarische Texte gemeint, sondern „jeder beliebige Träger einer einheitlichen (Text-) Bedeutung und einer einheitlichen Funktion, also auch ein Ritus, ein Werk der Bildenden Kunst, ein Musikstück usw.". 5 Kultur ist ja nicht nur literarische Kultur. Man wird mir aber erlauben, dass ich mich hier auf den literarischen Diskurs beschränke, denn 1) die Literatur nimmt in der Kultur einen wichtigen Platz ein, auch wenn sie mit ihr per definitionem nicht identisch ist; 2) Kultur steht ihrer funktionalen Beschreibung nach zu literarischen Texten in einem analogen Verhältnis wie zu anderen Texten. Die beiden Vorgänge - Aufbewahrung von Texten und Schaffung neuer Texte sind in ständiger Bewegung. Einerseits sondert Kultur im Laufe der Zeit Texte aus oder lässt sie am Ende fallen, das heißt zunächst Herunterstufung, dann Entfernung, wobei aus dem vorhandenen Repertoire Textexemplare ausrangiert oder welche zerstört werden. Es geht dabei um eine geradezu physische Art, für neu entstandene Texte Platz zu schaffen. Diese neuen Texte füllen ihrerseits die Speicher der Kultur, die sich durch diese zwei komplementären Vorgänge immer flexibel auf der Höhe des herrschenden Geschmacks halten kann. So haben Lotman und Uspenskij, auch wenn sie selbst den Begriff nicht verwendet haben, die Art

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1986, 85-118, insb. 103. Der Herausgeber dieser Arbeiten Karl Eimermacher weist daraufhin, dass die Thesen auf das Ms. von B. Uspenskij zurückgehen und nach vielfältiger Diskussion unter den Autoren auch von diesem endredigiert wurden. Zur Urheberschaft von Ivanov (Ivanovs Thesen, Hervorhebung von C.S.) vgl. ibid., 55, Anm. 19 [d.Ü.]. J. M. Lotman, B.Uspenskij: „Zum semiotischen Mechanismus der Kultur". Semiotica Sovietica. Bd. 2. 1986, 853-880 Semiotica, Bd. 1, 1986, 101-102.

235 und Weise, wie sich der Kanon ständig verändert, vorzüglich auf den Punkt gebracht. Aber diese funktionale Beschreibung passt auch bestens auf Kanon 2, den Kanon der Werke, denen ein paradigmatischer Wert zukommt. Denn Lotman und Uspenskij vertreten die Ansicht: „jede neue Richtung in der Kunst hebt die Autorität der Texte auf, an denen sich die vorhergehenden Epochen orientiert hatten, indem sie sie in die Kategorien von Nicht-Texten überführt, in Texte eines anderen Niveaus". 6 Praktisch sind die Poetiken oder, noch richtiger, der herrschende Geschmack dafür verantwortlich, zu entscheiden, ob ein Text zu den Mustertexten gehört. Es fehlt auch nicht an weiterführenden Überlegungen zur Definition von Kanon 1, dem Kanon der Schlüsselwerke einer Kultur. Man denke nur an den Begriff der „Wirkungsdauer", der in folgender Weise mit der Hierarchie der Werte zusammenhängt: „Für am wertvollsten können die nach Standpunkt und Maß der entsprechenden Kultur sehr langlebigen oder panchronischen Texte gelten". 7 Betrachten wir einen Augenblick solche Texte mit der größten Wirkungsdauer und die zeitübergreifenden Texte, so stellt sich leicht die Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass ein Text sich über Jahrhunderte im Kanon hält oder sogar „zeitlos" werden kann, in dem Sinne, dass seine Wertschätzung von Raum und Zeit unabhängig wird. Die Antwort ist einfach: Langlebigkeit ist ein Zeichen dafür, dass die von diesem Text überlieferten Werte nicht an bestimmte Situationen oder Vorstellungen gebunden sind, ihnen liegen Werte zugrunde, die, wie man so zu sagen pflegt, „universal" sind. Zur Kanonizität eines Textes kommt es dann auf folgende Weise: Zuerst wird ein Text von der Kultur aufgenommen, weil er ein dieser Kultur gemäßes oder ihr wünschenswert erscheinendes „Weltbild" aufweist. Dann behält der Text seine Stellung, auch wenn die Übereinstimmungen mit dem Kanon schon schwächer geworden sind, weil der Text ein Weltbild aufbaut, das über die gegenwärtigen Bedingungen hinausgeht, das menschliche Wünsche und Ideale, die bis heute gelten, in sich vereinigt. Es lassen sich also hypothetisch Modellierungen der Welt annehmen, die temporäre Aspekte dieser Welt überschreiten und die zum Menschsein gehörende, deswegen zeitübergreifend gültige Aspekte in den Vordergrund stellen. Natürlich könnte auch deren Gültigkeit in der Zukunft einmal fraglich werden, da wir den Menschen künftiger Erfahrung nicht kennen. Es ist auch eine hermeneutische Definition von solchen langlebigen, wenn nicht ewigen Texten versucht worden. Langlebigkeit hängt nach Kermode von „Universalbedeutung" ab, also davon, ob ein Text sich so präsentiert, dass er im Rahmen einer historischen Pluralität von Lesarten interpretierbar ist, mit anderen Worten, dass er von semantischer Plastizität ist.8 Die Literatur einer bestimmten Epoche kann auch als Gesamtheit von Texten beschrieben werden, die in dem Sinn ein System bilden, dass sie alle in einem

6 1 8

Semiolica, Bd. 2, 1986, 859. Semiotica, ibid., 858. Vgl. F. Kermode: Forms of Attention

Chicago: University of Chicago Press 1985.

236 Netz von Beziehungen stehen, ohne die die einzelnen Texte nicht wirklich verstanden werden können. Auch der Kanon ist durch ein so verstandenes System bedingt, das heißt, ob ein Text dazu gehört oder nicht, kann von Eigenschaften abhängen, die diesen einen Text mit den anderen irgendwie verknüpfen. Den deutlichsten Fall eines literarischen Systems stellen vielleicht die Gattungen dar. Zwischen den Gattungen bestehen hierarchische Unterschiede von der Art kultisch vs. profan, lyrisch vs. narrativ, metrisch vs. prosaisch, dialogisch vs. nichtdialogisch usw. In jeder Epoche gibt es eine Gattung, die als dominant angesehen werden kann: es handelt sich dabei um diejenige, in der sie sich am unmittelbarsten wiedererkennt. Im 20. Jahrhundert ist zum Beispiel der Roman die dominante Gattung, mag es auch zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten (etwa im Italien der Zwischenkriegszeit) eine vorübergehende Vorherrschaft der Lyrik gegeben haben. Die Transformationsprozesse des literarischen Systems, wie sie Jurij Tynjanov und seine Gruppe besonders überzeugend beschrieben hat, lassen möglicherweise auch Schlüsse über den internen Entwicklungsprozess der Kultur zu. 9 Nach Tynjanov sind die formalen Potentiale, die in jeder Gattung mehr oder weniger sichtbar vorhanden sind, ständigen Verschiebungen unterworfen. Was zuvor sekundäre Merkmale oder sogar Abweichungen waren, kann sich auf Kosten anderer, die zuvor als funktional notwendig galten, durchsetzen und sogar negativ auf das ganze Gattungssystem zurückwirken - es können auch innerhalb des Systems bestimmte Gattungen (z.B. Lyrik, Roman oder Drama) den Primat erlangen: auf diese Weise kann sich dann das G e f ü g e der Gattungen insgesamt verschieben, indem die eine Gattung mehr Prestige erhält bzw. verliert oder eine die andere auf einen tieferen Rang verweist. Es erscheint jedenfalls leichter, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Text in den Kanon a u f g e n o m m e n wird, der einer gerade dominanten Gattung angehört. Zu den Beziehungen zwischen Kultursystem und literarischem System ist noch ein weiterer Gedanke hinzuzufügen. Vor allem ist das Werk als Teil des Gedächtnisspeichers einer Gemeinschaft, mit Slawinsky gesprochen, nicht nur mit seiner Sprache verbunden (ähnliches haben auch Lotman und seine Schule betont), sondern es ist auch über die rhetorisch-stilistischen Mittel einer entsprechenden Tradition mit dessen Sprache verknüpft; 1 0 diese Mittel sind wiederum der Kontrolle der gültigen „literarischen N o r m " unterworfen. Nicht weniger wichtig ist der Gedanke, dass die Texte, die den Kanon bilden, historisch verschieden alt sind: sie

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Bei dem Titel von Tynjanov handelt es sich nach bisheriger Recherche (Hinweis von K. Eimermacher) vermutlich um eine Sammlung von Aufsätzen mit dem Originaltitel Archaisty I Novatory (Archaisten und Neuerer), datiert mit 1929, die (zus. mit R. Jakobson) nicht veröffentlicht wurden. Das italienische Original stützt sich auf eine it. Ü. der Aufzeichnungen von J. N. Tynjanov : Avanguardia e tradizione. Introduzione di V. Sklovskij [1929]. Bari: Dedalo 1968, 45-60. Zu Tynjanov vgl. J. Striedter: Texte der russischen Formalisten. I. München 1969, 432-461 [d.O.], Vgl. J. Slawinski: „Sincronia e diacronia nel processo storico-letterario". C. Prevignano (ed.): La semiotica nei paesi slavi, op. cit., 593-605.

237 existieren innerhalb einer Kultur synchron nebeneinander, weisen aber die thematischen und formalen Spuren ihres verschiedenen historischen Alters auf. Daraus folgt innerhalb ein und derselben Kultur eine Simultaneität, die so viel heißt wie Koexistenz rhetorisch-stilistischer Mittel innerhalb des Kanons. Das bedeutet zum Zeitpunkt der Produktion von Texten eine diatopische Vielfalt, die den Standard fur den Schriftsteller erweitert. Die Folge davon ist eine Schichtung, innerhalb deren die einzelnen Schichten eine bald größere, bald kleinere Geltung erhalten können. Von etwas so Banalem und Feuilletonistischem wie Ranglisten der wichtigsten Werke und dergleichen sind wir zu der überaus ernst zu nehmenden Frage des Kanons gelangt. Jetzt wissen wir wenigstens in großen Zügen, wie sich der Literaturbestand eines Landes herausbildet und wie der Kanon (Typ 1 und 2) zustande kommt. Das Problem des Kanons ist vielleicht noch gewichtiger, als gemeinhin angenommen wird. Das will ich kurz an einem anderen Grundbegriff der Tartuer Schule zeigen. In den berühmten Tartuer Thesen zur semiotischen Erforschung der Kultur heißt es: „Ein wichtiger Mechanismus, der den verschiedenen Ebenen und Subsystemen der Kultur Einheit verleiht, ist das Modell, das sie von sich selbst entwirft, der Mythos der Kultur von sich selbst, der in einer bestimmten Etappe entsteht"." Dieser Mechanismus der Vereinheitlichung von Kultur wird von der Tartuer Forschergruppe als Selbstmodell [„Modell der Kultur von sich selbst"] bezeichnet, und die Beispiele dazu werden Selbstcharakteristiken genannt, d.h. Texte, die in gewissem Sinne die literarische Tätigkeit eines Zeitabschnitts regulieren, wie z.B. der Metatext Art poétique von Boileau im französischen Grand Siècle.12 Das Selbstmodell wird Fokus für die dem literarischen System inhärenten Entwicklungen, so dass sie alle auf denselben Punkt zulaufen: es ist also ein hochwirksamer subjektiver Faktor der Entwicklung von Kultur. Ich glaube, dass sich das Selbstmodell einer Kultur, besser als durch Selbstcharakteristika, wie das die Tartuer Forschergruppe in ihren Thesen gesehen hat, mit Hilfe des Kanonbegriffs bestimmen lässt. Die Gesamtheit der für eine Kultur als funktional notwendig geltenden Texte stellt nämlich das Grundgerüst dar, von dem her sich eine Kultur definiert. Außerdem ist der Kanon ein System, ein organisches Ganzes und deshalb der richtige Schlüssel, um die gesamte Vielfalt der Leistungen, welche die Kultur hervorgebracht hat, unter deren Signum zu erfassen. Dass die Literatur sich im ständigen Wechsel befindet, widerspricht nicht der Autorität des Kanons, im Gegenteil. Im Kanon selbst vollziehen sich, wie oben dargestellt, stufenweise Ab- und Aufwertungen,

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Semiotica, Bd. 1, 114. Ein den semiotischen Ausdrücken AutoFunktion, Autokommunikation usw. nachempfundener, aber mißverständlicher Terminus wie Auto-Modell wird in der deutschen Übersetzung vermieden, zumal der aus dem Russischen übersetzte Kontext (Selbstcharakteristiken) die Komposition mit Selbst- nahelegt. [d.O.].

238 auch neue Werte werden ergänzt. Die Bewegungen innerhalb des Kanons zeigen uns die Eigenart, nämlich die Dynamik des Selbstmodells der Kultur. Wenn wir jetzt die Kanons verschiedener literarischer Perioden miteinander vergleichen, können wir diese Perioden besser als mit jedem anderen Beschreibungsverfahren charakterisieren. Was in bezug auf die Kultur Selbstmodell ist, wird in diachronischer Beschreibung ein typologisches Modell, was für die Historiographie eine große Aussagekraft besitzt. Künftige Literaturgeschichten können dann einfach einen Kanon nach dem anderen aufblättern und Kanonveränderungen als strukturelle Veränderungen der Kultur erklären.

Literatur Eimermacher, K. (1986) (ed.): Semiotica Societica. Sowjetische Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen (1962-1973). 2 Bde. - Aachen: Rader 1986. Kermode, F. (1985): Forms of Attention. - Chicago: University of Chicago Press Lotman, J. M. (1974): „Zur Metasprache typologischer Kulturbeschreibungen". Id .'.Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. - Kronberg Ts., 338-377 (russ. Original Tartu 1969). Lotman, J. M., Uspenskij, B., Ivanov, V. et al. (1986): „Thesen zur semiotischen Erforschung der Kultur (in Anwendung auf slavische Texte)" [1973]. - Semiotica Sovietica. Bd. 1, 85-115 (russ. Original Warschau 1973, 9-32; engl. „Structure of Texts and Semiotics of Culture". The Hague 1973, 1-28). Lotman, J. M., Uspenskij, B. (1986): „Zum semiotischen Mechanismus der Kultur" [1971], Semiotica Sovietica. Bd. 2, 853-880.

Semiotiker, Literat und Demokrat: Cesare Segre

I. Semiotiker Die italienische Semiotik 1 wird international gemeinhin vor allem mit drei führenden Namen und Forscherpersönlichkeiten verbunden: Umberto Eco, Maria Corti und eben Cesare Segre, und diese drei Namen werden mit zwei unterschiedlichen Orten verbunden: Bologna und Pavia, wobei Corti und Segre lange Zeit zusammen die semiotische ,Schule' von Pavia geprägt haben 2 und diese Schule von Pavia mit der renommierten, von Segre mitherausgegebenen semiotischen Zeitschrift Strumenti critici und einer Grundlegung im russischen Formalismus assoziiert wird. Die Rezeption des Literaturtheoretikers Eco, der emblematisch für die philosophische' Semiotikerschule von Bologna steht, ist im deutschen Sprachraum von seinem bei Suhrkamp 1973 edierten Offenen Kunstwerk3 bis hin zu den von Hanser 1992 verlegten Grenzen der Interpretation* zwar zunächst mit einiger Verspätung - das Offene Kunstwerk stammt ursprünglich aus dem Jahre 1962 dann aber unmittelbar - die Grenzen der Interpretation erschienen zwei Jahre nach ihrer italienischen Erstausgabe - und insgesamt durchaus breit verlaufen, was zumindest in der jüngeren Vergangenheit nicht unmaßgeblich auch durch die Konjunktur des Romanciers Eco befördert worden sein dürfte. Im Gegensatz zu der Fortüne Ecos werden Corti und Segre zwar immer als die maßgeblichen Referenzen genannt, wenn von italienischer Semiotik die Rede ist, aber recht eigentlich bekannt sind

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Zu einem exemplarischen Überblick über die wichtigsten Vertreter vgl. die Anthologie von Volker Kapp, Aspekte objektiver Literaturwissenschaft. Die italienische Literaturwissenschaft zwischen Formalismus, Strukturalismus und Semiotik, Heidelberg: Quelle & Meyer 1973, wo Texte von Agosti, Avalle, Contini, Corti, Eco, Pagnini, Rossi, Segre und Valesio in deutscher Übersetzung zusammengestellt sind. Zu einer diskurshistorischen Darstellung der Entwicklung der italienischen Semiotik(en) vgl. grundlegend Gerhard Regn, „Tendenzen der Semiotik in Italien", in: Zeitschrift fiir Semiotik 3 (1981), 55-78, sowie Dörte Schultze-Seehof, Italienische Literatursemiotik. Von Avalle bis Eco, Tübingen: Gunter Narr 2001. Zur Zusammenarbeit von Corti und Segre vgl. z.B. den programmatischen Sammelband I metodi attuali della critica in Italia, Torino: ERI 1970. Ital. Orig.: Umberto Eco, Opera aperta. Forma e indeterminazione nelle poetiche contemporanee, Milano: Bompiani 1962. Ital. Orig.: Umberto Eco, I limiti dell'interpretazione, Milano: Bompiani 1990.

240 sie über die Grenzen der romanischen, vor allem der italienischen Philologie hinaus wenig, und auch in diesem engeren Bereich findet sich nur eine einzige wissenschaftliche Monographie zum Themenbereich.5 Das mag im Falle Maria Cortis daran liegen, dass sie ein spezifisch romanistisches, ja italianistisches Profil hatte, und sich so vielleicht weniger Berührungspunkte mit anderen Philologien und Disziplinen der Kulturwissenschaften ergaben. In Hinblick auf die angewandte Semiotik des 1928 geborenen Segre ist die Sachlage indes anders. Segre, dessen Schriften in ihrer Anwendungsorientierung und Klarheit einen Kontrast etwa zu manchen „terminologisch-argumentativen Labyrinthen" 6 der Semiotik des vorgenannten Eco darstellen, hat nicht nur gegen den rigiden Strukturalismus der sechziger Jahre entschieden die Inhaltsdimension von Texten zur Voraussetzung einer „sinnvollen, funktionalen Beschreibung der Ausdrucksebene" 7 gemacht. Segre ist auch ausgesprochener Komparatist und in allen großen europäischen Literaturen intellektuell gleichermaßen zuhause, mehr noch: er verankert seine semiotische Tätigkeit in breiteren Kontexten von zumeist allgemeiner historischer und gesellschaftlicher Relevanz. Insbesondere die Kulturanthropologie des Mittelalters oder die Psychoanalyse der Moderne sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Diese Archäologie europäischer Geistesgeschichte, die sich nie im Vagen verliert, sondern immer ihren Ausgang von konkreten Texten nimmt und so anschaulich und plausibel ist, soll die vorliegende Auswahl von Aufsätzen vorfuhren und einem breiteren Leserkreis im deutschen Sprachraum eröffnen. Berücksichtigt sind nur Beiträge Segres seit den achtziger Jahren. Für den Segre der sechziger und siebziger Jahre, der mitunter weitaus abstrakter agiert als der Segre der vorliegenden Studien, deren theoretische Fundierung vielfach zunehmend implizit, dabei aber keinesfalls weniger elaboriert ist, sei auf die monographische Aus wahlpublikation Literarische Semiotik. Dichtung - Zeichen - Geschichte von 1987 verwiesen, mit welcher der Herausgeber Harro Stammerjohann Segre erstmals dem deutschsprachigen Publikum umfassend zugänglich gemacht hat.8 Die für Segre typische Verschränkung von ausgefeilter semiotischer Theoriebildung, textinterpretatorischer Pragmatik, bei der immer wieder seine Affinität zur Linguistik und seine souveräne Beherrschung von Sprachgeschichte und Stilistik deutlich wird9, und dem Bestreben der Situierung literarischer Einzeltexte in einem epistemischen Kontext ist indes auch

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Dörte Schultze-Seehof, op. cit. So Gerhard Regn, op. cit., 63, zu Ecos La struttura assente. Introduzione alla ricerca semiologica (1968) und A Theory of Semiotics (1976). Gerhard Regn, op. cit., 59. Cesare Segre, Literarische Semiotik. Dichtung - Zeichen — Geschichte. Aus dem Italienischen übersetzt von Käthe Henschelmann. Herausgegeben von Harro Stammerjohann, Stuttgart: Klett-Cotta 1980. Zur Segres historischer Herkunft aus der Philologie vgl. Harro Stammerjohann, „Einleitung des Herausgebers", in: Cesare Segre, Literarische Semiotik, op. cit., 7-18, hier 9f., sowie allgemein Dörte Schultze-Seehof, op. cit., 21-55, spezifisch zu Segre 128f.

241 heute, in Zeiten einer gewissen theoretischen Stagnation - zumindest im Vergleich mit den theoriebegeisterten siebziger und achtziger Jahren - und in Zeiten einer mitunter zunehmend beliebig anmutenden kulturwissenschaftlichen Absorption der letzten kritischen Theorie, des französischen Postrukturalismus, von ungebrochener Aktualität. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Auswahl auch als Modell literaturwissenschaftlicher Praxis, die es vermag, eine stimulierende Verbindung von philologischer Nähe am Text, präziser Historisierung und ausgreifender theoretischer und kulturhistorischer Reflexion herzustellen. Frappant ist in diesem Zusammenhang, dass Segre keinesfalls ein rigides Methodenverständnis an den Tag legt, sondern mit seiner sozusagen eklektizistischen Kombinatorik und seinem Eingehen auf die Eigentümlichkeiten der je unterschiedlichen Texte eine Sonderstellung im Bereich der italienischen Literatursemiotik einnimmt und so einen methodischen Pluralismus und eine systematische Offenheit praktiziert, die freilich nicht in ein anything goes münden, sondern durch die philologische Seriosität Segres dem Prinzip sinnvoller Gegenstandsadäquanz folgen. Insbesondere zwei Konstanten in Segres Analysen, die Historisierung von Texten, die sich entschieden gegen strukturalistische und poststrukturalistische Synchronisierungsbestrebungen stellt, und die immer rekonstruierbare Textarbeit garantieren die unhintergehbare Überzeugungskraft seiner Studien10 und illustrieren, wie eine zeitgemäß reflektierte Hermeneutik aussehen kann, die gleichermaßen variabel und undogmatisch wie konsequent gegenstandsbezogen und nachvollziehbar ist. Bei der Auswahl der hier präsentierten Studien wurden Schwerpunkte gesetzt, die gleichermaßen den Forschungsbereichen Segres als auch den vorrangigen Interessengebieten eines nicht nur romanistischen Publikums, sondern eines allgemein an Semiotik und philologisch fundierter Kulturwissenschaft interessierten deutschsprachigen Rezipientenkreises entsprechen sollten. Dabei ergeben sich vor allem drei Schwerpunkte: erstens Segres Studien zu Literatur und Kultur des Mittelalters, die schon seit jeher und vor der insbesondere durch die Bachtin-Renaissance und die New Philology stimulierten neuen Mediävistik einen Kernpunkt in seinem Werk darstellen, zweitens theatersemiotische Studien, die auf frappante Weise dem aktuellen, herkunftsmäßig theaterwissenschaftlichen Paradigma d e r p e r f o r m ativity entgegenkommen und dieses theoretisch wie praktisch ergänzen und auch korrigieren, sowie drittens Überlegungen zu dem Platz semiotischer Forschung im aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskurs und Anwendungsbeispiele der genuin Segreschen Semiotik auf literarische Texte der Moderne. Im Rahmen seiner Studien zum Mittelalter gelingt es Segre, eine semiologische Hermeneutik zu entwickeln, die der Alterität mittelalterlicher Texte auf zweifache Weise gerecht wird:

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Vgl. in diesem Kontext auch Dörte Schultze-Seehof, op. cit., 152, die Segres analytische Praxis folgendermaßen charakterisiert: „[...] thematisch und zeitlich variierende Rezeptionsbewegungen [treten] in funktionale Interdependenz zur Interpretation. [...] Was Segre charakterisiert, ist nicht eine bestimmte Methode, sondern ein bestimmter Modus der Auseinandersetzung mit Literaturtheorie: ein Theorieverständnis, in dem methodische Ansätze, die zum Tragen kommen, nie über den Texte gestellt werden."

242 zum einen bedenkt Segre, u.a. in kritischer Auseinandersetzung mit Bachtin, die spezifische Historizität mittelalterlicher Texte bei seinem Lektüremodell mit, und zum anderen erhellt er kulturhistorisch und poetologisch aussagekräftige Formen der Alterität innerhalb der mittelalterlichen Weltmodellierung, wenn er konstitutive Heterotopien auf ihre epistemischen, archetypischen und historischen Besonderheiten hin untersucht oder aber ausgehend von Foucault Kodifizierungen von Wahnsinn für die mittelalterliche Diskurslandschaft spezifiziert. Weniger historisch ausgerichtet ist der Bereich der Theatersemiotik, geht es Segre hier doch um das Herausarbeiten struktureller Charakteristika des Theaters, die er für heuristische Prinzipien der Theaterinterpretation fruchtbar macht. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei u.a. die narratologische Analyse theatraler Schreibweise und Performanz ein, die er gleichermaßen an zwei so grundlegenden Autoren wie Shakespeare und Pirandello vorfuhrt. Thematisch und systematisch breiter ausgefächert ist der dritte Abschnitt des Bandes, in dem theoretische Erwägungen und konkrete Analysen präsentiert werden, welche das Anwendungspotential von Literatursemiotik in modernen und gegenwärtigen Diskurssystemen belegen. Im theoretischen Bereich setzt sich Segre mit dem Dekonstruktivismus auseinander, reflektiert die Aktualität einer semiotisch fundierten Hermeneutik, unternimmt eine wissenschaftsgeschichtliche Verortung der Stilistik als Disziplin, spezifiziert narratologische Kategorien wie die Polyphonie oder die Chronotopie, greift aus der Perspektive des russischen Formalismus - und dies ist ungewöhnlich in der Debatte, die derzeit erhebliche kulturwissenschaftliche Konjunktur hat" - in die Diskussion über Kanonbildung ein oder beleuchtet ausgehend von Bühlers Sprachtheorie die Körperlichkeit von Sprache und Grammatik - allesamt Sujets, die von einer gleichermaßen verblüffenden wie unabweislichen Aktualität für den kulturwissenschaftlichen Betrieb im deutschsprachigen Raum sind. Ebenfalls auf eine deutschsprachige Publikation zugeschnitten sind aus dem breiten Feld der interpretatorischen Praxis Segres zwei Anwendungsbeispiele der Moderne: Kafka, mit dem sich Segre immer wieder beschäftigt und dessen Alterität auch in anderen Beiträgen des Bandes zur Sprache kommt, und Freud, dessen Werk Segre nicht nur sehr gut kennt, sondern in der vorliegenden Studie narratologisch untersucht und damit eine meist unterbelichtete, aber eminent relevante Facette Freuds in den Vordergrund stellt, indem er die argumentative Verankerung des Wiener Diskursbegründers in dem literarischen und nicht dem medizinischen oder philosophischen Feld aufzeigt. Die gedankliche Komplexität von Segres Studien erhellt aus diesen knappen Argumenta. In diesem Kontext sei die Bemerkung erlaubt, dass Segres Texte auch

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Vgl. zu der gegenwärtigen Kanondebatte, wie sie in ihrem ganzen Umfang seit Harold Blooms kontroversem Buch The Western Canon. The books and school of the ages, New York: Harcourt Brace 1995, gefuhrt wird, die Anthologie von Enric Sullá (Hg.), El canon literario, Madrid: Arco/Libros 1998, sowie für den deutschsprachigen Raum den komparatistischen Sammelband von Maria Moog-Grünewald (Hg.), Kanon und Theorie, Heidelberg: Winter 1997.

243 sprachlich schwierig sind. Jede Übersetzung ist nur eine Annäherung an ihre Vorlage, und das gilt auch für Sachtexte, zumal wenn sie aus einer so differenzierten Feder wie derjenigen Cesare Segres stammen. Aber nicht nur die Eigentümlichkeiten eines persönlichen Stils erschweren die übersetzerische Vermittlung, es gibt auch eine Reihe genereller Differenzen bei der Präsentation italienischer Literaturwissenschaft im deutschen Sprachraum. Auf ein allgemeines und nicht immer lösbares Übersetzungsproblem sei an dieser Stelle hingewiesen: Nur das Deutsche unterscheidet zwischen LiteraturWissenschaft, die an der Universität betrieben wird, und Literaturkritik, die im Feuilleton steht. Das Gleiche gilt für die Begriffe des Literaturwissenschaftlers des -kritikers. Als Wissenschaft bezeichnet man in anderen Sprachen nur Naturwissenschaft, und eine scienza della letteratura etwa wäre im Italienischen unvorstellbar. Im Italienischen, und so auch bei Segre, gibt es nur den Ausdruck critica letteraria o.ä., und der bezeichnet jeden sekundären Umgang mit Literatur. Bei der Übersetzung von critica ins Deutsche muss man sich aber zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik entscheiden, und diese Unterscheidung ist mitunter eigentlich nicht zu treffen. Im Falle Segres ist diese sprachliche Verwebung des streng universitären und des öffentlichen Kulturbetriebs freilich nicht nur eine Frage der Nomenklatur, sie ist vielmehr Essenz seiner Tätigkeit. Wie Segres Literaturwissenschaft' Außenwirkungen entfaltet, die auch von Segres Selbstverständnis her grundsätzlich komplementär zu seiner w i s s e n s c h a f t lichen' Arbeit sind, möchte ich als Ergänzung der vorliegenden Aufsatzauswahl skizzieren. Dabei soll die Rede sein von Segres eigener literarischer Tätigkeit und von seinem politischen Engagement.

II. Literat Cesare Segre, Ehrenpräsident der Association for Semiotic Studies und der Société Rencesvals pour l'Etude de l'Epopée Romane, ist freilich nicht nur ein weltberühmter Philologe, der sowohl das theoretische Rüstzeug für die literaturwissenschaftliche Analyse von Texten bereitstellt als auch durch konkrete Interpretationen und Verortungen von Texten in j e spezifischen kulturellen Räumen literatur- und kulturwissenschaftliche Geschichte schreibt. Segre ist darüber hinaus - und hierin kommt sein genuiner Zugang zur Literatur auf ganz eigene Weise zum Ausdruck - selbst Literat, wenn er nämlich im Jahre 1999 seine im italienischen Raum weithin akklamierte Autobiographie Per curiosità bei Einaudi in der renommierten Reihe „Gli struzzi" veröffentlicht. 1 2 Dieser Autobiographie hat Segre eine „Giustificazione", eine „Rechtfertigung", für die Darstellung seiner selbst vorangestellt, in der er letztlich die Exemplarität seines Lebens und die Mitteilungswürdigkeit seiner Lebenserfahrung als zentrale Beweg- und Legitimationsgründe seiner Selbstdarstel-

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Cesare Segre, Per curiosità. Una specie di autobiografia, Torino: Einaudi 1999.

244 lung anfuhrt. Aber Segre präsentiert keine pedantischen und plakativ moraldidaktischen Memoiren, ganz im Gegenteil. Im Untertitel signalisiert er bereits die Literarizität seines Werks, wenn er es als eine „Art Autobiographie" bezeichnet, und in der Tat ist Segres Autobiographie kein schlichter Tatsachenbericht, sondern ein literarisches Experiment. So spielt Segre - nicht kontextuell zweckfrei, sondern bedeutungsstiftend - mit Wechseln zwischen Erzählperspektiven in der ersten Person und der dritten Person, oder er erprobt in eruditer varietas ganz unterschiedliche Erzählmodelle, indem er Kapitel als Dialog, als Novelle, als Interview oder als Traumdiskurs modelliert. Darüber hinaus ist das Buch gesättigt mit intertextuellen Verweisen; diese reichen von Zitaten in Kapitelüberschriften über eingewobene Gedichte mit und ohne Angabe der Autoren - das Spektrum umfasst Texte von Paul Celan bis Vincenzo Cardarelli - und zahlreiche Bezugnahmen auf Positionen literarischer Autoren von Vittorio Alfieri bis Primo Levi bis hin zu unmarkierten Anspielungen auf Schlüsselpassagen und auch entlegene Passus der europäischen Literaturen vom Mittelalter zur Moderne. Trotz dieser elaborierten Konstruktion des Textes und trotz des exemplarischen Charakters, den die Autobiographie hat, erzählt und berichtet Segre freilich - und dies ist ein ebenso auffälliger Zug an dem Buch - in einer Haltung bewundernswerter Bescheidenheit. Segre beginnt seine Autobiographie selbstironisch und im Modus des literarischen Zitats, indem er sich durch einen unmarkierten Verweis auf eine bekannte Manzoni-Passage als Gelehrten inszeniert, dessen „latinorum" den Leser nur langweilen könne: „Mi dispiace d'incominciare il racconto come il solito professore col suo solito latinorum." 13 Diese solchermaßen spielerisch exponierte Gelehrsamkeit besteht darin, dass er zum einen auf die Nennungen seines piemontesischen Heimatortes Saluzzo bei Boccaccio und bei Petrarca verweist, somit also die Literatur als Kunstfertigkeit und als Fiktion seiner Autobiographie programmatisch voranstellt, und dass er zum anderen eine Genealogie seiner Familie aufmacht, die vom Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts an in Saluzzo nachweisbar ist und sich einer Überlieferung zufolge auf den katalanischen Fluss Segre zurückfuhren lässt, von wo aus die Vorfahren Segres als Juden nach Verfolgungen in das tolerantere Piemont geflohen sein sollen. Plausibler sei indes, so Segre, die These der Herkunft aus der französischen Stadt Segre im Anjou, was für die Familie nun nicht mehr eine spanisch-sephardische Herkunft bedeutete, sondern eine ungarisch-deutsche und sodann französisch-zentraleuropäische, wobei die französischen Judenverfolgungen des vierzehnten Jahrhunderts die Familie nach Savoyen und dann ins Piemont getrieben hätten. Segre lässt indes die Frage unter dem Hinweis auf das lite-

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Cesare Segre, Per curiosità, op. cit., 9, dt.: „Es tut mir leid, die Erzählung wie der übliche Professor mit seinem üblichen latinorum zu beginnen" (Ü. D.N.). Segre zitiert hier implizit das zweite Kapitel aus Alessandro Manzonis Roman Ipromessi sposi, wo der jugendliche Protagonist mit dem Begriff in gleichermaßen ignoranter wie despektierlicher Haltung das Latein des Dorfpfarrers bezeichnet. Unmarkierte Verweise dieser Art sind typisch für Segres écriture und finden sich in überbordender Fülle.

245 rarisch-ästhetische Faszinosum der spanisch-mittelalterlichen „leggenda" offen, und es kommt ihm auch gar nicht genau auf die Faktizität seiner Genealogie an. Mit der eröffnenden Verwebung von Literatur und dem in jedem Fall durch Judenverfolgungen wechselvollen Geschick seiner Familie in der Historie verschiedener europäischer Länder signalisiert Segre nämlich in besonders markanter Weise die beiden Angelpunkte seiner Autobiographie: die Rolle der Literatur für seine Lebenstätigkeit und die Rolle seiner jüdischen Herkunft für seine Lebensführung. Folgerichtig beginnt die eigentliche Erzählung seinerVita erst nach dieser einführenden Rahmung und reicht von seiner Geburt 1928 in einem bürgerlichen Ambiente über die Jahre der faschistischen, später nationalsozialistischen Verfolgung und der Ermordung vieler seiner engen Verwandten, Jahre, die er nur durch sein Versteck in einem Internat der Salesianer überlebte, über die glücklicheren Jahre der akademischen Karriere bis in die Gegenwart. Diese Gegenwart, das Italien der ersten Ära Berlusconi, wird von Segre zunehmend privat und damit in gewissem Maße deutlich evasiv in Szene gesetzt. Das vorletzte Kapitel ist mit „Senilità" überschrieben, behandelt das eigene Altern sowie die Position des Ich gegenüber dem Tod, und distanziert sich damit in seiner Introspektion und seiner philosophischen cura sui auffällig von den gesellschaftlichen Gegebenheiten des berlusconianischen Italien, deren Beschaffenheit Segre in vorigen Kapiteln scharf kritisiert hatte. Charakteristisch für Segres dennoch immer mitgedachte Bezugnahme auf die äußeren Verhältnisse ist dabei trotz der Entkonkretisierung und der Allgemeingültigkeit seiner existentiellen Reflexionen die Kapitelüberschrift, zitiert sie doch Italo Svevos Roman Senilità, einen Roman, der sozusagen parallel zu Segres Autobiographie nicht nur von einem Autor mit jüdischen Wurzeln geschrieben wurde, in dessen Werk die Implikate seiner Herkunft eine wichtige Rolle spielen, sondern der auch an einer Jahrhundertwende - der Wende zum 20. Jahrhundert - entstanden ist, und in dem es gar nicht um das Altern im konkreten Sinne geht - der Protagonist erkennt und behauptet bereits als Fünfunddreissigjähriger seine „senilità" - , sondern in dem allegorisch die Hinfälligkeit eines ganzen sozialen Systems inszeniert wird. Und damit mündet auch Segres Autobiographie in eine literarisch überhöhte Anklage gesamtgesellschaftlicher Phänomene. Ganz in dieser Zielrichtung repliziert das letzte Kapitel intertextuell auf einen Dialog des romantisch-pessimistischen poeta doctus Giacomo Leopardi. So ist Segres „Dialogo di Tristano e di un amico" nach dem Modell des gleichnamigen leopardianischen Dialogs modelliert. Segre übernimmt nicht nur den Titel, sondern zitiert aus Leopardis Dialog wörtlich die ersten acht Sätze und schreibt seinen Dialog insgesamt als Pastiche des Leopardischen Dialogstils. Die Dialogpartner Tristano und sein Amico vertreten in rhetorischer Antithetik zwei unterschiedliche Haltungen: während der Amico als weltkundiger, desillusionierter Moralist auftritt - Moralist im Sinne der Schreibweise des achtzehnten Jahrhunderts - , liefert Tristano erstaunte und optimistische Antworten auf die sarkastischen Ausfuhrungen des Amico. Auf die bittere Kritik des Amico an gesellschaftspolitischen Zuständen des zeitgenössischen Italien folgt der pessimistische Entwurf des Untergangs der globalisierten Welt, den der Literat

246 Tristano gleich in Bezug zur Johannesapokalypse setzt. Nur scheinbar wieder eingeholt wird dieses Szenario durch das von Tristano im Modus aufklärerischer Ironie gesprochene Schlussbild des Buchs: „Ich ziehe es vor, Eure Reden als großen, systematischen und scherzhaften Versuch der Verängstigung zu werten, und ich bin überzeugt, dass die Welt, von dem unmittelbar bevorstehenden Jahr 2000 an, schleunigst vollständigen Frieden herstellen wird, dass die Regierenden weise sein werden, die Menschen durchdrungen von leidenschaftlichem Gerechtigkeitssinn, von gegenseitiger Liebe entflammt, dass sie nach Schönheit und nach den Künsten streben werden und sich dem Umweltschutz widmen. Und sagt nicht, dass es nun meine Worte sind, denen man Sarkasmus vorwerfen könnte."14

III. Demokrat Aus der trotz aller stilistischen Versatilität und trotz aller deutlich erkennbaren Lust am literarischen Fabulieren überaus ernsthaften Anlage seiner Autobiographie erhellt schließlich ein letzter Aspekt des Wirkens von Cesare Segre, auf den ich im vorliegenden Kontext aufmerksam machen möchte: Segre ist nicht nur überaus breit ausgewiesener Philologe, er ist nicht nur Literat, der die verschiedensten stilistischen Register italienischer und europäischer Narrativik virtuos für sein autobiographisches Schreiben anzueignen versteht, er ist auch ein Intellektueller in dem klassisch-modernen Sinne, dass er aktiv in gesellschaftspolitische Fragen eingreift und dies, wie im französischen Bereich paradigmatisch etwa der Semiologe Roland Barthes15, auf der Basis einer auch in Italien noch vorhandenen, in Deutschland eher abhanden gekommenen oder vielleicht nie da gewesenen kulturpolitischen Relevanz der Schlüsselfiguren des kulturellen und geistigen Lebens. Dieses Engagement Segres hat sich über seine Tätigkeit für den Corriere della Sera hinaus in unterschiedlicher Weise geäußert und stellt eine Konstante in seinem Schaffen dar. Ich möchte nur einen rezenten und ungebrochen virulenten Aspekt herausgreifen: So gehört Segre zu den maßgeblichen Initiatoren und ersten Unterzeichnern des „Manifeste Democratico 1994", das sich nach dem durch die Aufdeckung zahlreicher Korruptionsskandale erfolgten Zusammenbruch der italienischen, linken wie rechten, Großparteien gegen die vielschichtige Dominanz der neu entstandenen, rechtsgerichteten Alleanza Nazionale wendete. Aus dem konkret-

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Cesare Segre, Per curiosità, op. cit., 280f.: „Preferisco prendere i vostri discorsi come un grande, sistematico esercizio scherzoso di spaurimento, e restare convinto che il mondo, a partire dal 2000 ormai imminente, saprà raggiungere presto una condizione di pace perfetta; che i governanti saranno saggi e gli uomini pervasi dalla passione della giustizia, accesi di amore reciproco, votati alla bellezza, alle arti, al rispetto della natura. E non ditemi che ora sono le parole mie che rischiano d'essere imputate di sarcasmo." Vgl. hierzu Ottmar Ette, Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998.

247 en Anlass der Änderung des Wahlsystems durch die ,Neue Rechte' unter Silvio Berlusconi benennt das „Manifeste Democratico" zehn Punkte, die für den demokratischen Selbsterhält Italiens in der Staatengemeinschaft unabdingbar seien 16 und die Unterzeichner gefährdet und durch einen neuen Totalitarismus bedroht sehen. 17 Segre hat sein Engagement für dieses Manifest kommentiert 18 , und er verweist in Hinblick auf seine Beweggründe auf seine persönliche Lebenserfahrung, wenn er angesichts des Bündelung der medialen Macht in den Händen des capo deI governo oder angesichts eines beschönigenden Umgangs mit der faschistischen Geschichte durch die neue Regierung als nur eines Zeichens für die Gefährdung demokratischer Prinzipien von einer „tragischen Wiederkehr" eines geistigen Klimas spricht, das der mühsam erkämpften Demokratie antithetisch entgegenstehe." Ausdrücklich beklagt er, dass das demokratische Nachkriegsitalien bis zum Zusammenbruch der Großparteien das Erbe der antifaschistischen Widerstandbewegungen allein rhetorisch verwaltet und es deswegen nicht geschafft habe, den heranwachsenden Generationen pädagogisch Abwehrmechanismen gegen die Bedrohungen eines Regimes zu vermitteln, das seine Macht, so Segre pointiert, der Kontrolle über Fernsehen und dem Fußball zu verdanken habe. 20 Zu den Kernargumenten des Manifests, dessen Unterzeichner sich wie ein Who Is Who der geistigen und künstlerischen Elite Italiens lesen, zählen die Herleitung der italienischen Demokratie aus dem antifaschistischen Kampf der Resistenza, das Festhalten an der demokratischen Selbstbestimmung des Individuums, die Grundlage aller Freiheit in der Freiheit des gesprochenen und geschriebenen Wortes, die Gewaltentrennung, der Schutz von Minderheiten und minderheitlichen Meinungen, der Kampf gegen die Mafia, die Definition der Aufgabe des Staates als Aufrechterhaltung der Menschenrechte, die pädagogische Vermittlung fundamentaler Größen wie Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und nicht zuletzt kultureller Werte, sowie schließlich ein ausdrückliches Verantwortungsbewusstsein gegenüber den kommenden Generationen.

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„In questo momento grave di svolta della Repubblica italiana, ì sottoscritti intendono ribadire alcuni punti non rinunciabili perché la comunità nazionale possa mantenere le sue prerogative di Stato libero e democratico nel concerto dei paesi civili", zit. n. Cesare Segre, „11 Manifesto democratico 1994. Motivazioni e programmi", in: Belfagor. Rassegna di varia umanità, IL (1994), 885-695, 691. Vgl. Cesare Segre, „Manifesto", op. cit., 691. Vgl. z.B. Cesare Segre, „Manifesto", op. cit. Vgl. Cesare Segre, „Manifesto", op. cit., 685: „A chi di noi aveva trascorso infanzia e giovinezza sotto l'oppressione fascista, appariva tragico ritornare a vivere nello stesso clima, cosi antitetico alla democrazia per la quale i migliori di noi avevano combattuto o erano morti." Vgl. Cesare Segre, „Manifesto", op. cit., 690: „Ad altri il giudizio ponderato sulla ,prima Repubblica'; per ora mi accontento di addossarle la gravissima responsabilità di aver gestito in modo più retorico che pedagogico l'eredità antifascista e resistenziale, e di aver lasciato dietro di sé una gioventù priva di difese organiche contro la minaccia di un regime telecratico e calciocratico."

248 Diese Punkte zeigen nicht nur Segres entschlossenen Standort in der politischen Semiose des zeitgenössischen Italien, sie zeigen auch, wie Segre prinzipiell Kultur und Historie produktiv und pädagogisch anzueignen und zu analysieren sucht. Nicht von ungefähr figuriert die Weitergabe kultureller Werte als unverzichtbare Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft zentral in dem „Manifesto", ja sie wird zusammen mit Toleranz und Rechtsstaatlichkeit in einem dezidierten Plädoyer für die Kultur in einer zunehmend utilitaristischen und pragmatischen Gesellschaft als Grundlage von Humanität und menschlicher Würde bestimmt. 21 In diesem Sinne eines verantwortungsvollen Umgangs und Bewahrens von Kultur hört Segre nie auf, mahnend in der italienischen Öffentlichkeit gegen politische Gefahren aufzutreten, und auch in diesem Zusammenhang stellt er in einer konsequenten und couragierten Übertragung seiner philologischen Semiotik auf die Lebens welt der Gegenwart die Historisierung diskursiver Phänomene in das Zentrum seiner Überlegungen. Durch Segres Luzidität in Sachen Redeformationen, Kommunikationssituationen und historischen Filiationen erlangen seine politischen Analysen und Warnungen ein demaskierendes Potential, das der Prägnanz seiner literaturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Praxis in nichts nachsteht. Zugespitzt könnte man sagen: die semiotische Historisierung literarischer und kultureller Fakten stellt für Segre die Basis für ein profundes lebensweltlich-politisches Engagement für eine integre Demokratie dar, ein Engagement, in dem die Tätigkeit des Philologen und des Literaten, dessen Autobiographie in diesem Kontext als exemplum im humanistischen Sinne fungieren kann, ihre eigentliche Erfüllung findet. Gründlage für diese Konvergenz von wissenschaftlichem und politischem Ethos ist Segres prononcierte Rationalität, die die hier versammelten Studien durch ihre Textnähe und stringente Argumentation allesamt kennzeichnet und Segres wissenschaftliche Tätigkeit von Anfang an mit einer aufklärerischen Zivilcourage verbindet. Schon als jungen Studenten irritierte Segre die romantische Literaturkritik Francesco de Sanctis 22 , und so bemühte er sich von Anfang an nicht nur um wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit durch eine rational objektivierbare Hermeneutik, sondern verstand, wie er in seiner Autobiographie deutlich macht, geisteswissenschaftliche Rationalität auch als lebenspraktisches Gegenmodell zu Nationalismus und Intole-

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Vgl. Segre, „Manifesto", op.cit., 693f.: „E occorre far riscoprire a chi li ignora e far accettare a chi li mortifica i valori concreti della cultura: i quali, insieme con i precedenti [i.e. tolleranza, aiuto reciproco, rispetto dei diritti e dei doveri], sono fondamento della nostra umanità e della dignità di vita. [ . . . ] Chiunque si trovi inserito nei processi produttivi deve rivendicare il diritto e il dovere di non contribuire all'imbarbarimento, di fare invece cultura, di essere titolare della proprio vita." Vgl. Cesare Segre, Per curiosila, op. cit., 47, der die Einfiihlsamkeit des romantischen Kritikers in mögliche Gefühlswelten der Autoren als Hindernis für das Werkverständnis erkennt: „Poi venni in p o s s e s s o di qualche saggio critico di D e Sanctis, e c o n f e s s o che non mi conquistò, al contrario. Mi pareva che tanta insistenza sui sentimenti dello scrittore ottundesse l'attenzione alle qualità dell'opera."

249 ranz. 23 In diesem Horizont der Überführung von literarischer Semiotik in eine kulturwissenschaftlich fundierte politische Ethik stehen mittelbar auch die Analysen dieses Bandes. Die Anregung, Cesare Segre durch eine neue Auswahl von Aufsätzen in Deutschland näher bekannt zu machen, geht auf Harro Stammerjohann zurück, den Herausgeber der ersten Auswahl von 1980. Harro Stammerjohann hat darüber hinaus nicht nur die Vorbereitung des vorliegenden Bandes mit wertvollem Rat unterstützt, er hat auch das Secretariato Europeo per le Pubblicazioni Scientifiche dafür gewonnen, die neue Übersetzung zu finanzieren, und den Max Niemeyer Verlag, Tübingen, dafür, den Band in seine renommierte Reihe „Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft" aufzunehmen. Allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

David Nel ting

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Vgl. Cesare Segre, Per curiosità, op. cit., 48, wo Segre im Anschluss an seine Kritik an romantischer Literaturexegese erklärt, angesichts des Zusammenhangs von Intoleranz, Nationalismus und Irrationalität könne und solle das Irrationale zwar nicht negiert werden, müsse aber immer durch die ratio eingeholt werden: „E l'irrazionale non può certo essere negato, semmai quella che va razionalizzata è l'analisi che se ne fa. A me basta pensare che l'intolleranza e nazionalismo appartengono all'area dell'irrazionale, per comprendere che solo aggrappandoci alla ragione possiamo trovare un equilibrio accettabile con l'irrazionale."