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German Pages 495 Year 2015
Hansjörg Günther Umwege in eine achtsame Moderne
Hansjörg Günther
Umwege in eine achtsame Moderne Die Großstadt im Fokus von Soziologie, Stadtkritik und deutschem Katholizismus
Ferdinand Schöningh
Umschlagabbildung: Rudolf Schwarz, Stufenbau (um 1923/24), Pastell. Privatbesitz. © Maria Schwarz, Köln
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-77772-0
Meinen Eltern zur Goldenen Hochzeit
INHALT
VORWORT ..................................................................................................
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ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE.......... Großstadt, Moderne und Katholizismus im Paradigmenwechsel ........ Der Zusammenhang von Katholizismus und Moderne als Methodenfrage .................................................................................... Zum Forschungsstand ......................................................................... Zur Arbeit mit den Quellen .................................................................
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MODERNE, AMBIVALENZ UND AMBIVALENTE MODERNITÄT ............
33
2.1 Aus der Gründerzeit der deutschen Soziologie..........................
33
2.2 Einwirkungen der Kulturkritik auf die Grundlagen der deutschen Soziologie .................................................................
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2.3 Sozialwissenschaftliche Theoretisierungsversuche der Moderne ...............................................................................
47
2.3.1 Max WEBER (1864-1920) – Protestantische Ethik und Rationalisierung....................................................................... 2.3.2 Werner SOMBART (1863-1941) – Die Entwicklung des modernen Kapitalismus ........................................................... 2.3.3 Georg SIMMEL (1858-1918) – Formen der Vergesellschaftung und ihre Wechselwirkung ........................
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DAS WERDEN DER GROSSSTADT .......................................................
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3.1 Die mittelalterliche Stadt als Markt bei Max WEBER ................
62
3.2 Das Entstehen der kapitalistischen Stadt bei Werner SOMBART ................................................................
68
3.3 Phänomene der Verstädterung ................................................... 3.3.1 Bevölkerungswachstum ........................................................... 3.3.2 Wanderungsbewegungen ......................................................... 3.3.3 Städtewachstum, Eingemeindung und Citybildung .................
3.4 Spannungsfelder im Urbanisierungsprozess .............................. 3.4.1 Die Großstadt und ihre sozialen Probleme ..............................
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INHALT
3.4.2 Wohnungselend, Wohn(re)formen und Wohnungspolitik ....... 3.4.3 Stadtutopien, Gartenstadtbewegung und die Entwicklung des Massenverkehrs ...................................... 3.4.4 Pathographien der Großstadt .................................................... 3.4.5 Zur Entwicklung des Hygienegedankens ................................. 3.4.6 Großstadt erzeugt Vermassung und Entwurzelung ..................
4
104 109 114 120 124
DIE GROSSSTADT ZWISCHEN LABORATORIUM DER MODERNE UND SÜNDENBABEL .........................................................
129
4.1 Georg SIMMEL und das Geistesleben der Großstädte ................
129
4.2 Die Differenz von Image und städtischer Wirklichkeit .............
141
4.3 Stadtkritik als Kulturkritik .........................................................
146
4.4 Kulturkritische Grundlegungen bei RIEHL, TÖNNIES und SPENGLER ............................................................
153 4.4.1 Wilhelm Heinrich RIEHL (1823-1897) ..................................... 153 4.3.2 Ferdinand TÖNNIES (1855-1936) .............................................. 157 4.3.3 Oswald SPENGLER (1880-1936) ............................................... 161
5
DER DEUTSCHE KATHOLIZISMUS ZWISCHEN TRADITION UND AUFBRUCH ..............................................................
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5.1 Grundtendenzen des deutschen Katholizismus im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert....................................
165 5.1.1 Der Milieukatholizismus .......................................................... 165 5.1.2 Soziale und regionale Strukturen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ......................................... 5.1.3 Der politische Katholizismus ................................................... 5.1.4 Die sogenannte Inferiorität der Katholiken .............................. 5.1.5 Kulturkampf, Kulturkampfmentalität und die Dominanz des Ultramontanen ............................................ Exkurs: Zur Rolle des Klerus ................................................... 5.1.6 Der Reformkatholizismus und die Auseinandersetzung um den Modernismus .............................. 5.1.7 Die Katholikentage als Foren katholischer Vereine und Verbände.............................................................. 5.1.8 Der Katholizismus in der Weimarer Republik .........................
174 178 180 182 187 192 197 202
5.2 Sehnsucht nach Gemeinschaft als katholische Lebenspraxis ....
204
5.2.1 Die Rezeption von Ferdinand TÖNNIESʼ Gemeinschaft und Gesellschaft ................................................
204
INHALT
5.2.2 Rural-katholische Kulturkritik – Anton HEINEN (1869-1934) ..................................................... 5.2.3 Moderne Antimoderne – Carl SONNENSCHEIN (1876-1929) ............................................
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209 225
GROSSSTADT UND MODERNE IM URTEIL KATHOLISCHER KULTURZEITSCHRIFTEN ZWISCHEN 1848 UND 1933 ..........................
249
6.1 Zur Entstehung der katholischen Presse ....................................
249
6.2 Historisch-politische Blätter (1838-1923) ................................. Die katholisch-soziale Bewegung ....................................................... „Das moderne Heidenthum der civilisirten Barbarei“ ......................... Konservativer Antikapitalismus .......................................................... Berlin als Zentrum der Moderne ......................................................... Die Reize der Stadt.............................................................................. Religion und Kultur............................................................................. „Individualistische Emancipation“ ...................................................... „Stadtluft macht frei“ .......................................................................... Suizid und Geburtenrückgang ............................................................. Amerikanisierung des Wirtschaftslebens ............................................ 1914/1918: Endzeit .............................................................................
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6.3 Stimmen aus Maria Laach (1865/71-1914) und Stimmen der Zeit (ab 1914)........................................................
300
Haltungen des Christseins – Erich PRZYWARA und Max PRIBILLA .................................................. Großstadtmission................................................................................. Wohnen in der Großstadt – Heinrich PESCH und Oswald von NELL-BREUNING .............................
6.4 Hochland (1903-1941)............................................................... Kultureller Katholizismus mit völkisch-nationalen Zügen .................. Kulturkritik und Reformerwartungen .................................................. Der Einfluss von Max SCHELER auf einen intellektuellen Katholizismus .............................................................. Architektur und Städtebau ................................................................... Berlin als Versuchslokal der Moderne ................................................ Verstädtertes Landleben ...................................................................... Über die Seelennot des Großstadtmenschen – Hermann PLATZ ................................................................................... Der Zusammenhang von Wohnungselend und Bodenspekulation ......
302 305 309 317 319 325 328 332 334 335 337 343
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INHALT
6.5 Das Heilige Feuer (1913-1931) ................................................ Antimoderne Kultur- und Gesellschaftskritik – Ernst THRASOLT ........ Lebensreform und Jugendbewegung.................................................... Vaterland und Muttererde .................................................................... Bergende Gemeinschaft ....................................................................... Außenseiter gegen das Berufschristentum ........................................... Außenseiter par excellence – Waldemar GURIAN ................................
349 350 352 355 356 359 361
6.6 Die Schildgenossen (1920-1941) ...............................................
363
Die Frau in der modernen Industriegesellschaft – Helene HELMING .................................................................................. Warum sich Kirche und Großstadt fremd geworden sind – Josef EMONDS ...................................................................................... Katholizismus und Sozialismus – Walter DIRKS.................................. Ohne falsche Sicherheiten.................................................................... Lob der Technik – Theo BOGLER......................................................... Wohnkultur – Helene HELMING und Ludwig NEUNDÖRFER ................ Ergänzende Gegensätze – Romano GUARDINI ..................................... Stadtraum, Sakralraum, Gebet – Rudolf SCHWARZ..............................
370 373 381 383 386 389 393 398
SCHLUSS.....................................................................................................
411
ABBILDUNGEN UND TABELLEN..................................................................
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LITERATUR .................................................................................................
423
PERSONEN ..................................................................................................
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VORWORT
Die Großstadt mit ihrem Tempo, ihrer Aufgeregtheit, ihrem Glanz und ihren dunklen Seiten ist seit der Industrialisierung zur Chiffre der Moderne schlechthin geworden. Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ist sie ein Laboratorium für eine neue Zeit und einen neuen Menschentyp. Wie wird sie wahrgenommen und beschrieben, welche Zuschreibungen erfährt sie durch die Menschen, die sich wissenschaftlich mit ihr befassen oder in ihr leben? Der Anstoß zu dieser Untersuchung kam aus meiner eigenen Auseinandersetzung mit der Großstadt Berlin, in der ich als katholischer Priester lebe und arbeite. Wie christlicher Glaube in den rasanten Veränderungen unserer Zeit lebbar ist, war mir dabei immer eine wichtige Fragestellung. Als Berlin sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Weg machte, Weltstadt zu werden, veränderte das auch die Lage der Katholiken. In diesen Jahrzehnten bekam das heutige katholische Berlin sein Gesicht. In meiner Arbeit werden ganz unterschiedliche Wege vorgestellt, sich zu den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen zu verhalten. Sie wurde im WS 2012/13 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen WilhelmsUniversität in Münster als theologische Dissertation im Fach Christliche Sozialwissenschaften angenommen und für die Veröffentlichung überarbeitet. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Dr. Karl Gabriel, der das Entstehen der Dissertation mit großem Wohlwollen begleitet hat und Prof. Dr. Feiter, der die Zweitkorrektur übernommen hat. Zu großem Dank bin ich den beiden Erzbischöfen verpflichtet, die das Erzbistum Berlin in den letzten 25 Jahren prägten. Georg Kardinal Sterzinsky hat mich zum Soziologie-Studium und zum Beginn meiner Promotion ermutigt. Abgeschlossen wurde meine Arbeit in der Amtszeit von Dr. Rainer Maria Kardinal Woelki, der mit dem Erzbistum Berlin erste Schritte auf dem Weg zu einer erneuerten Kirche in den Veränderungen der Zeit gegangen ist. Ich danke meinen Eltern und meinem Bruder Olaf für die liebevolle und wichtige Unterstützung. Viele meiner Lehrenden, Kolleginnen und Kollegen, Weggefährten, Verwandten und Freunde haben diese Arbeit durch ihre Nachfragen und Anregungen begleitet. Besonders nennen möchte ich Matthias Goy, Achim Hoppe, Dr. Klaus Korfmacher, Dr. Meltem Kosan und Prof. Dr. Leo Langemeyer. Sr. Susanne König M. Id. danke ich für die mühsame Arbeit des Korrekturlesens, Dr. Johanna Wördemann und besonders StD Achim Hoppe danke ich zudem für ihr geistvolles Lektorat. Berlin, im Sommer 2015
Dr. Hansjörg Günther
1 ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
Großstadt, Moderne und Katholizismus im Paradigmenwechsel „Die Kirche rollt durch die neue Zeit dahin wie ein rohes Ei“1, schreibt Kurt TUCHOLSKY 1930 in einem der Briefe an eine Katholikin. Die Kirche erscheint ängstlich, empfindlich und ungelenk angesichts einer Moderne, die radikal mit den traditionellen Lebensformen der vorindustriellen Gesellschaft bricht. In den Geisteswissenschaften hat das Bild von der katholischen Kirche als „antimoderner Gegengesellschaft“2 seit einigen Jahren eine differenziertere Kontur bekommen, weil die Modernisierungstheorien inzwischen von einer Vielzahl von Facetten der Moderne ausgehen. In der Katholizismusforschung wurde schon seit geraumer Zeit geargwöhnt, ob die Vorstellung von einem neuzeitlich antimodernen Katholizismus nicht allzu vereinfachend sei. Handelt es sich nicht eher um eine Kirche, die aus der Spannung zwischen Tradition und Moderne einen eigenen achtsamen Weg in die Moderne gegangen ist – und sei es auf dem Weg einer „ungeplanten Modernität“3? Diesem Aspekt wird in der vorliegenden Arbeit nachgegangen. Dabei geht es um den Zusammenhang von Modernisierungsprozessen und deutschem Katholizismus in Deutschland zwischen 1848 und 1933.4 Am Beispiel Großstadt werden die Diskurse von Moderne und Katholizismus in den Diskussionen überregionaler katholischer Kulturzeitschriften untersucht – und zwar unter besonderer Beachtung der sich in Deutschland im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert konstituierenden Soziologie als Wissenschaft. Dabei wird insbesondere der Öffnung der Modernisierungstheorien Rechnung getragen. Deutschland entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem seit der Reichsgründung 1871, von einem rückständigen Agrarland zu einer Industrienation. Dieser extrem beschleunigte Modernisierungsprozess endete 1918 in einem bis dahin unvorstellbaren Niedergang. Nach dem Ersten Weltkrieg stand die katholische Kirche „als die einzig noch intakte geistige Ordnungsmacht da“5. Diese Ungleichzeitigkeit war auch eine Chance. Mit 1 2 3 4
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TUCHOLSKY, Kurt (1969), 27. Zuerst abgedruckt unter dem Pseudonym Ignaz WROBEL in: Die Weltbühne Nr. 6, (1930). MAUTNER, Josef P. (2005), 233. NIPPERDEY, Thomas (1988), 27. Das entspricht in etwa dem Zeitraum des „vermeintlich so geschlossenen“ (HUMMEL, KarlJoseph, 2003, 402) katholischen Milieus von ca. 1850 bis 1950. Vgl. GABRIEL, Karl (1998), 80ff. Vgl. RUSTER, Thomas (1997), 26ff. RUSTER, Thomas (1997), 16.
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herausragenden Theologen konnte sich die Kirche den exzeptionellen Herausforderungen in den Jahren der Weimarer Republik stellen. Der Untersuchungszeitraum wurde gewählt, weil sich in ihm quantitative und qualitative Aspekte der Großstadtentwicklung (Verstädterung und Urbanisierung) während der Frühindustrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland zwar langsam, aber doch wahrnehmbar auswirkten, während der Hochindustrialisierung nach 1870 zu ihrem Höhepunkt gelangten und sich in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts konsolidierten. In diesem Zeitraum wird das Phänomen Großstadt zum Gegenstand der noch jungen Soziologie. Mit dem Verhältnis von Moderne und Katholizismus hat sich vor allem die Katholizismusforschung beschäftigt. Ihr ging es zunächst und insbesondere um eine Auseinandersetzung mit dem ultramontanen Antimodernismus, der die katholische Kirche im 19. Jahrhundert zu einer vermeintlich „geschlossenen Gegenkultur“6 formierte und in Deutschland durch den Kulturkampf außerdem eine besondere Ausprägung erfuhr. Umfassend hat sich damit zuletzt Peter NEUNER (2009)7 auseinandergesetzt. Dem vorausgegangen waren wichtige Arbeiten, insbesondere von Hubert WOLF (1998)8 und Otto WEISS (1995)9. KAUFMANN konstatiert 1980, dass sich Wissenschaftler aus dem katholischen Umfeld vor allem auf meso- und mikrosoziologische Studien konzentrierten und unter anderem Kirchengemeinden, kirchliche Verhaltensweisen, religiöse Rollen und auch religiöse Einstellungen erforschten.10 Diese Untersuchungen dienten einem „dominierenden pastoralen Interesse einer empirisch-soziographischen Orientierung“11. Dagegen kämen „fachwissenschaftlich akzeptierte Beiträge zu Problemen der Institutionalisierung von Religion auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, zum Funktionswandel von Kirchen und Religion im Modernisierungsprozess“12 überwiegend von nichtkatholischen Wissenschaftlern. Die Wahrnehmung der deutschen Katholizismusforschung und ihrer Forschungsergebnisse außerhalb ihres Kreises ist begrenzt,13 da für sie, so TISCHNER, „immer noch das ‚catholica non leguntur‘ gilt“14, was sich auch
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NEUNER, Peter (2009), 11. Vgl. NEUNER, Peter (2009): Der Streit um den katholischen Modernismus. Vgl. WOLF, Hubert [Hrsg.] (1998): Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche. Vgl. WEISS, Otto (1995): Der Modernismus in Deutschland. Vgl. KAUFMANN, Franz-Xaver (1980), 9. Ebd. Ebd. TISCHNER vertritt die Auffassung, dass die seit den 1990er Jahren erschienene Vielzahl erfolgreicher Arbeiten vor allem im binnenkatholischen Raum zur Kenntnis genommen worden sind. Vgl. TISCHNER, Wolfgang, 2004, 199. Ebd., 199.
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am fachwissenschaftlichen Diskurs über die Entwicklung des Katholizismus im 19. Jahrhundert ablesen lässt.15 Einen Aufbruch erfährt die Katholizismusforschung auf geschichtswissenschaftlichem Feld in den 1990er Jahren.16 Damals wurde es für Historiker zunehmend interessant, nach dem Zusammenhang von Religion und Moderne zu fragen. Die erste und zugleich bahnbrechende Arbeit zu diesem Thema erschien 1988: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918 von Thomas NIPPERDEY17, der zu überraschenden Thesen gerade im Hinblick auf den deutschen Katholizismus kam: „Was die ultramontane Welt zementieren sollte, wurde auf Dauer Aufbruchs- und Neuerungskraft.“18 NIPPERDEY ging davon aus, dass die „Intensität der katholischen Subkultur, ja auch das befestigte Ghetto“19, nicht nur die Abgrenzung, sondern auch die „Selbstbehauptung als Volkskirche“ gestärkt und damit zur „Krisenresistenz“ der katholischen Kirche nach 1918 sowie nach 1933 beigetragen habe – gegen linke wie rechte Totalitarismen. Zwar habe es im Vereinskatholizismus als „Abgrenzungskatholizismus“ viel „Organisationsfetischismus“ gegeben, aber die „Intensität der katholischen Subkultur“ habe auch ein besonderes „Modernisierungspotential“20 generiert. NIPPERDEY vertrat die These von einer „ungeplante[n] Modernität“21, die gerade wegen ihrer Ungeplantheit verständlicherweise auch zu „Spannungen und Zielkonflikten“ innerhalb der katholischen Kirche22 geführt habe. Sein Buch Religion im Umbruch war Vorabdruck eines Kapitels aus dem ersten Band des dreibändigen Werks Deutsche Geschichte 1866-191823, 15
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TISCHNER nennt als Beispiel, dass die Neuausgabe des Handbuchs zur deutschen Geschichte, herausgegeben von Jürgen KOCKA, den „Milieubegriff fast völlig ignoriert und zum gesamten Bereich des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert nur Minderheitenpositionen vorstellt“ (ebd.). Vgl. ALTERMATT, Urs (2004), 169f., insbesondere Anm. 1 u. 2. NIPPERDEY, Thomas (1988). Zur Situation der Religiosität in den deutschen Großstädten vgl. vor allem ebd., 120ff. Ebd., 31. Ebd. Ebd. Ebd., 27. NIPPERDEY bezieht sich hier vor allem auf das Jahrzehnt vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Das habe den Modernisierungsvorgang jedoch nicht aufhalten können. GERLFALKOVITZ benutzt für die Nachkriegsjahre und ihre „Vielzahl religiöser Aufbrüche“ das Diktum „Ver sacrum catholicum“ (GERL-FALKOVITZ, Hanna-Barbara, 2003, 152). GERLFALKOVITZ und RUSTER benutzen diese emphatische Bezeichnung, um den Aufbruch des Katholizismus in der Weimarer Republik zu kennzeichnen. Sie führen sie auf Gertud von LE FORT zurück. Und hier insbesondere auch innerhalb des deutschen Katholizismus. Vgl. Kapitel 5 dieser Arbeit: Der deutsche Katholizismus zwischen Tradition und Aufbruch. Vgl. NIPPERDEY, Thomas (1990), 428ff. In den 1980er/90er Jahren entstand ein neuer Typus des geschichtswissenschaftlichen Schreibens. Es entstanden umfassende Entwürfe einer deutschen Nationalgeschichte. Dabei bekamen die Neuere Geschichte und Zeitgeschichte einen prominenten Platz. Eine neue westdeutsche Historikergeneration trat an die Öffentlichkeit, die die Zeit des Nationalsozialismus lediglich als Kind erlebt hatte und sich damit ‚unbelastet‘ der deutschen Geschichte in Gesamtdarstellungen näherte. Ihre Exponenten sind (bei differie-
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und so gab NIPPERDEY den Anstoß zu einer neuen Sichtweise für eine ganze Historikergeneration.24 Bis in die 1980er Jahre hatten Historiker und Soziologen etwaige Modernisierungspotentiale der katholischen Kirche kaum erwogen, geschweige denn zu einer Erkenntnisfrage gemacht.25 Das änderte sich mit dem als Cultural turn26 bekannt gewordenen Paradigmenwechsel27, der sich ab den 1990er Jahren in der universitären Forschung im westeuropäischen Raum endgültig etablierte. Wie konnte es zu dieser Neuausrichtung des Forschungsinteresses kommen? Eine neue Generation gerade unter Historikern und Soziologen kam zu der Erkenntnis, dass Religion als Teil der symbolischen Ordnung eine besondere Prägekraft über entscheidende gesellschaftliche Veränderungen hinweg bewahrt hatte. Religion wurde gerade im Augenblick des Verlusts ihrer realen Bedeutung28 als spezifischer Ort von Sinnstiftung entdeckt.29
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renden Ansätzen) Thomas NIPPERDEY, Hans-Ulrich WEHLER, Jürgen KOCKA und Wolfgang MOMMSEN. Vgl. insbesondere NIPPERDEY, Thomas (1986). In der deutschen Sozial- wie Strukturgeschichtsschreibung wurde der religiöse Faktor lange ignoriert. Das galt insbesondere für die Wahrnehmung der katholischen Kirche. Zur Diskussion über die Festschreibung der kirchennahen Geschichtsschreibung als moderneresistent vgl. HUMMEL, Karl-Joseph (2003), 398f. Vgl. ALTERMATT, Urs (2004), 170. Ich möchte hier lediglich auf folgende grundlegende Publikationen verweisen: MERGEL, Thomas [Hrsg.] (1997), BÖHME, Hartmut; MATUSSEK, Peter; MÜLLER, Lothar (2002), BACHMANN-MEDICK (2010). Der kulturwissenschaftliche Paradigmenwechsel erweiterte den Blick außerdem auf Wissenschaft als Ort der Produktion gesellschaftlich legitimierter Beschreibungssysteme, bedeutsam dabei vor allem die These von BERGER und LUCKMANN über die gesellschaftliche und kulturelle Konstruktion von Wirklichkeit. Vgl. im Rekurs auf Max WEBERs These von der „doppelten Konstituierung von Gesellschaft“ durch gesellschaftliche, ökonomische, politische Bedingungen und durch Sinndeutung (und Konstruktion) von Wirklichkeit das Standardwerk BERGER, Peter L.; LUCKMANN, Thomas (1967), 1. Aufl. (engl. Edition) und BERGER, Peter L.; LUCKMANN, Thomas (1969), 1. Aufl. (dt. Übersetzung). Hierzu ALTERMATT: „In verschiedenen westeuropäischen Ländern kam es zu einer paradoxen Situation: Während die Kirchen an Einfluß verloren, führte das neue religionsgeschichtliche Interesse der postmodernen Gesellschaft zu einem eigentlichen Publikationsboom.“ (ALTERMATT, Urs, 2004, 171). Unter Religion wird in der vorliegenden Arbeit die christliche Religion unter besonderer Berücksichtigung der katholischen Konfession westlicher Prägung verstanden. Einerseits umfasst der Begriff Religion in vorliegender Arbeit die kirchlich verfassten Sozial- und Strukturformen und andererseits das Verständnis als Sinn- und Deutungsmuster für die Lebenswelt des Individuums und seine Beziehungen im Kontext der gesellschaftspolitischen Strukturen und Entwicklungen. Zur Vielfalt der Deutungsansätze des Religionsbegriffs vgl. ZIEBERTZ, Hans-Georg (2010), 125. Die diversen Definitionen im nichtchristlichen Religionsverständnis, wie es vor NIPPERDEY bei Max WEBER oder eben in den 1980er Jahren bei Peter L. BERGER, Niklas LUHMANN u. a. der Fall ist, verstehen Religionen als „Prototypen der Ausprägung und Vermittlung von Sinn und Bedeutung. Dies gilt für jede der drei großen Dimensionen des Religionsbegriffs: für religiöse Normen und Lehren als kollektive Deutungssysteme, für die Kirchen als institutionalisierte Religionsgestalt und insbesondere auch für das individuelle Erleben religiös geprägten Sinns, also die Dimension der subjektiven Religiosität“ (HOCKERTS, Hans Günther, 2004, 233).
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In seinem Plädoyer für eine Kulturgeschichte des Katholizismus30 stellt ALTERMATT fest, dass es der „‚neuen‘ Religions-, Kirchen- und Kulturgeschichte in Westeuropa“ in den 1990er Jahren erstmals gelungen sei, „den religiösen Faktor aus der Tabuzone herauszulösen und zu einem anerkannten Gegenstand universitärer Forschung zu machen“31. Religion bekam endgültig als Gegenstand im Bereich symbolischer Ordnungssysteme – und zwar als kulturelles Sinn- und Deutungssystem – einen Platz im Wissenschaftsdiskurs. In eben diesem Sinn hatte bereits 1988 NIPPERDEY von Religion als „ein[em] Stück Deutungskultur“ gesprochen, welche „die ganze Wirklichkeit der Lebenswelt“ umfasst und „das Verhalten der Menschen und ihren Lebenshorizont, ihre Lebensinterpretationen prägt, gesellschaftliche Strukturen und Prozesse, ja auch Politik. Um das zu erkennen, muß man freilich [...] Religion in einem weiteren Sinne verstehen: als Orientierungsmacht der etablierten Kirchen gewiß, dann aber auch als Prägung gesellschaftlicher und politischer Strukturen und endlich als Gegenstand der wilden Negation oder des sanften Abbaus oder der säkularen Zivilreligion“32.
Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist Religion als Forschungsobjekt nicht mehr zu übersehen. Nicht nur in der Wissenschaft spricht man von der „Wiederkehr des Religiösen“33. Der Fortschrittsoptimismus einer an der Aufklärung orientierten geschichtsphilosophischen Ausrichtung der Erkenntnisse dominiert nicht mehr die Forschung,34 vielmehr werden die Widersprüchlichkeiten der Moderne zu einem bevorzugten Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung.35
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So der Titel des Aufsatzes von ALTERMATT, Urs (2004). Ebd., 171. NIPPERDEY, Thomas (1988), 7f. Vgl. POLLACK, Detlef (2000). Vgl. HOCKERTS: „Im Sog dieser Verschiebung des intellektuellen Koordinatensystems sind alle großen Zentraltheorien zerstoben, die den Anspruch erhoben hatten, die Geschichte aus einem Guß erklären zu können. Damit ist auch die Modernisierungstheorie ins Wanken geraten, jedenfalls in ihren allzu selbst- und siegesgewissen Varianten.“ (HOCKERTS, Hans Günther, 2004, 234). Deutlich wird diese Verschiebung mit dem nicht vorherzusehenden Erfolg der Studie Risikogesellschaft von BECK, Ulrich (1986). Im Zuge der Konstituierung der Kulturwissenschaften mit neuem fächerübergreifenden Gegenstand im Bereich symbolischer Ordnungen, zu denen neben Religion und Städtebau auch Alltagskultur (Mode usw.) zählen, erfahren deutsche Wissenschaftler wie Georg SIMMEL oder Max WEBER eine internationale Aufwertung. Cultural history (Robert DARNTON, Johan HUIZINGA) und Histoire de Mentalité (Ecole des Annales, Fernand BRAUDEL, Jacques le GOFF, Pierre NORA) werden im deutschsprachigen Raum zu Ideengeschichte als Sozialgeschichte oder Kulturanthropologie.
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Der Zusammenhang von Katholizismus und Moderne als Methodenfrage Der Diskurs des Katholizismus zu Großstadt und Moderne wird vor dem Hintergrund der sich um 1900 konstituierenden Soziologie in dieser Arbeit in einen Erkenntniszusammenhang gestellt. Beim Entstehen der städtischen Agglomerationen mit ihren neuen Freiräumen kam es zu Konflikten mit dem Selbstverständnis des Katholizismus im 19. Jahrhundert. Zwischen 1850 und 1950 führte die Kirche einen für sie entscheidenden Diskurs gegen die Auswirkungen der Moderne, an denen sie eine Zeitlang zu scheitern schien. Wenn diese Arbeit unter dem Titel Umwege in eine achtsame Moderne steht, soll damit gesagt sein, dass ich dank der Ergebnisse der Milieuforschung zu einem durch große Vielfalt geprägten Bild des Katholizismus, der keineswegs nur als geschlossene Trutzburg gesehen werden kann, komme.36 In der vorliegenden Arbeit wird die These vertreten, dass der deutsche Katholizismus im Untersuchungszeitraum, vermittelt durch moderne Kommunikationskanäle wie Presse und Katholikentage, nach außen ein geschlossenes Großgruppenmilieu darstellte, nach innen aber regionale, soziale und bildungsspezifische Differenzierungen aufwies. Ulrich von HEHL fasst den qualitativen Aufbruch in der neueren Katholizismusforschung wie folgt zusammen: „Nun lag und liegt die Erforschung des (deutschen) Katholizismus im Schnittpunkt verschiedener Wissenschaftsdisziplinen und ihrer Methoden: allgemeinhistorischer, politikwissenschaftlicher, soziologischer und kirchengeschichtlicher. Gerade die Zeitgeschichtsforschung hat zur Konvergenz der unterschiedlichen Ansätze, insbesondere der theologiegeleiteten Kirchengeschichte und der profangeschichtlichen Katholizismusforschung, beigetragen. Dies wird durch die [...] sozial- und mentalitätsgeschichtliche Blickerweiterung ergänzt. Über die schon bekannte politische und soziale Gestalt der katholischen Kirche hinaus tritt die gesellschafts- und alltagsprägende Kraft des ‚Religiösen‘ in den Blick, auch und gerade bezogen auf den gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß.“37
Hatten sich die Vertreter dieser Forschungsrichtung seit den 1960er Jahren mit der katholischen Kirche als politischer Kraft und dem Verhältnis von Staat und Kirche vor allem vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus auseinandergesetzt,38 sollte sich dies mit besagtem Cultural turn ändern.
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Hier schließe ich mich dem Ergebnis von HEHL an. Vgl. HEHL, Ulrich von (2004), 21. Ebd., 20f. Hier ist in erster Linie die Kommission für Zeitgeschichte zu nennen. Sie wurde 1962 gegründet. Die zeitgeschichtliche Katholizismusforschung setzte sich in den 1960er Jahren vor allem mit den Anfangsjahren nationalsozialistischer Herrschaft auseinander. 1965 erschien als erste Veröffentlichung der Quellenband ALBRECHT, Dieter [Hrsg.] (1965). Vgl. HEHL, Ulrich von (2004).
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ALTERMATT spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Selbstsäkularisierung“39 der Katholizismusforschung als einem wichtigen Schritt in Richtung wissenschaftlicher „Satisfaktionsfähigkeit“40. Durch die kulturgeschichtliche Ausweitung ihres Forschungsgegenstands sei es ihr gelungen, Teil des anerkannten universitären Diskurses zu werden.41 Durch die These vom Milieukatholizismus als besonderer Sozialform des 19. und 20. Jahrhunderts wurden Fragestellungen der Sozialgeschichte mit denen der Ideen- und Mentalitätsgeschichte verknüpft. Die „Trennung zwischen objektiven sozialen Strukturen und subjektiven Interpretationen der sozialen Realität“42 wurde durchlässiger. Das führte methodisch zu wichtigen, neuen Erkenntnissen. ALTERMATT zeigt, weshalb gerade die Katholizismusforschung geeignet war, diese Trennung zwischen objektiver Struktur und der Vermittlung von Sinn, Ideen und Werten aufzuheben und wie es ihr gelang, die Organisationsformen der Vereine mit den katholischen Lebenswelten als Sinn- und Wertevermittler in einen Forschungszusammenhang zu stellen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich der kulturgeschichtliche Ansatz der Katholizismusforschung nicht länger nur mit den sozialen und politischen Folgen der Organisationsstruktur seiner Institutionen auseinandersetzt, sondern auch mit der „Produktion und Verbreitung von Wissen und Ideen, von kulturellen Codes, Symbolen und Riten“43. Gerade diese Wechselwirkung der Ebenen, also den sogenannten Vermittlungszusammenhang zu erforschen,44 war bereits für die frühen Soziologen von besonderem Interesse. In dieser Arbeit werden neben SOMBART auch WEBER und SIMMEL als methodologische Referenz vorgestellt. Der kulturgeschichtliche Ansatz der Katholizismusforschung liegt dieser Arbeit zugrunde, um die Wechselwirkung zwischen katholischem Milieu und der Verstädterung als Teilprozess der Modernisierung zu erforschen. Dabei wird unter dem katholischen Milieu nicht nur die institutionelle Struktur mit speziellen Organisationsformen verstanden, sondern ein Sinn- und Deutungssystem, eine Quelle symbolischer Ordnung mit Riten und kulturellen Codes. Ein „einheitlicher komplexer Kommunikationszusammenhang der Milieuangehörigen“45 wurde im 19. Jahrhundert durch die lokale und überlokale ka39 40 41
42 43 44 45
ALTERMATT, Urs (2004), 170. KAUFMANN, Franz-Xaver (1980), 7. Vgl. ALTERMATT, Urs (2004), 172, Anm. 14 und 15. ALTERMATT spricht von einem regelrechten Publikationsboom, der viele Jahre zuvor mit Arbeiten von Rudolf MORSEY und Konrad REPGEN im Rahmen der Kommission für Zeitgeschichte begonnen hatte. Vgl. ebd., 171. Die Kommission für Zeitgeschichte hatte 1987 programmatisch für die Einbeziehung von Sozial- und Kulturgeschichte in die Erforschung katholischer Religiosität plädiert. ALTERMATT, Urs (2004), 173. Vgl. insbesondere VIERHAUS, Rudolf (1995). ALTERMATT, Urs (2004), 175. Zum Terminus Vermittlungszusammenhang vgl. vor allem Kapitel 2.3.3: Georg SIMMEL (1858-1918) – Formen der Vergesellschaftung und ihre Wechselwirkung. RAUH-KÜHNE, Cornelia (1991), 157.
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tholische Presse sichergestellt. Sie hatte zunächst eine „tiefgehende apologetische Grundtendenz“46, getragen von der kommunikationspsychologischen Situation, „von publizistisch übermächtigen Feinden umstellt zu sein“47. Die Historisch-politischen Blätter schreiben drei Jahre nach Beendigung des Kulturkampfs: „Wir Katholiken können in Wahrheit sagen: ‚Feinde ringsum‘, aber wir müssen auch sagen, ‚viel Feindʼ, viel Ehrʼ und – Wehr‘.“48. Da die Katholiken in den Kommunikationsforen anderer Sozialmilieus nicht zu Wort kamen, mussten sie – zum Teil auch von einigem Unwillen begleitet – ihre eigenen Zeitungen und Zeitschriften gründen: „Sie schufen ihre Zeitungen also nach der liberalistischen Presse-Ideologie, obwohl sie diese ablehnten.“49 In dieser Abgrenzung entstand ein katholisches Milieu, „in dem die persönlichen, religiösen und die wissenschaftlichen Kontakte durch katholische Verbände, Arbeitervereine, Schulen, Kindergärten, Sportvereine und Jugendgruppen auf den Binnenraum konzentriert und Kontakte nach außen auf ein Minimum beschränkt wurden. Die katholische Kirche organisierte sich als Kontrastgesellschaft zur neuzeitlichen Welt. In ihrem Innenraum erschien alles als plausibel. Kognitive Minderheiten, also Gruppierungen, in denen ein hohes Maß an gleichen Überzeugungen herrscht oder geschaffen wird und die sich von der Außenwelt abgrenzen, [...] sind stark und von außen nur schwer zu erschüttern“50.
Der Begriff der Moderne und Modernisierung soll hier mit Rückgriff auf soziologische Ansätze abgegrenzt und präzisiert werden, wie das in Kapitel 2: Moderne, Ambivalenz und ambivalente Modernität erfolgt. Dabei lassen sich einerseits Positionen von Bedeutungsverlust (WEBER) und einer starken Flexibilität und Dynamik (SIMMEL) von Religion aufzeigen.51 Gerade die frühen Soziologen hatten die Ambivalenzen der Moderne52, ihre janusköpfige Gestalt 46 47 48 49 50 51
52
WEICHLEIN, Siegfried (1996), 69. SCHMOLKE, Michael (1987), 100. CONFESSIONELLE STATISTIK (1890), 136. HAASE, Amine (1975), 46. NEUNER, Peter (2009), 24. Die dauerhafte Existenz von Religiosität wird bei SIMMEL durch das konstant bleibende religiöse Bedürfnis gewährleistet. Gleichwohl ist die Sozialform von Religion wandelbar und steht mit kulturspezifischen Rahmenbedingungen in stetem Vermittlungszusammenhang. Durch seine Einbeziehung sozialer Gruppen als „Ort der Entstehung und Sichtbarwerdung von Religion und Religiosität […] rückt er in eine Vermittlungsposition zwischen den stärker kollektiven Vorstellungen Durkheims und der individualistischeren Haltung Max Webers“ (PICKEL, Gert, 2011, 113). Zu SIMMELs Religionstheorie vgl. vor allem KRECH, Volkhard (1998). Zu SIMMELs weitreichendem Ansatz vgl. Kapitel 2.3.3 dieser Arbeit. Die Ambivalenz als „Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen“ (BAUMAN, Zygmunt, 1995, 13) und die Reflexion der Ordnung der Welt, des menschlichen Ursprungs und des menschlichen Selbst aus dem „Abscheu vor Ambivalenz“ (ebd., 28) sind Produkte der Moderne. Vgl. ebd., 30. Gerade bei den in dieser Arbeit behandelten soziologischen Theoriekonzepten WEBERs und SIMMELs werden sowohl der Versuch, das vielfältige Chaos der Welt zu systematisieren wie die ambivalenten Phänomene der Moderne aufzudecken, deutlich.
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zwischen den vielfältigen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik und der Frage nach den Überlebenschancen des Einzelnen herausgearbeitet und nicht nur in einem „normativen“ Sinn, in dem das Neue das Bessere war, beschrieben. Im Zuge der Modernisierung, verstanden als eine Neuordnung des Gesellschaftsgefüges, hat sich, so GABRIEL, eine „neue Sozialgestalt des Christentums“53 konstituiert. Um diese zu erkennen, „bedarf es [...] des methodischen, begrifflichen und theoretisch-konzeptionellen Rückgriffs auf die Soziologie“54, insbesondere auf Max WEBER und Georg SIMMEL.55 Christentumssoziologie im Sinne von Franz-Xaver KAUFMANN und Karl GABRIEL versucht, „das kirchlich verfaßte Christentum in seiner sozialen Faktizität zu erfassen und in seinen Verflechtungen zu den Strukturen der Gesellschaft und ihrer Modernisierung zu begreifen“56, schreibt HILPERT. Das schließt die kritische Wahrnehmung gesellschaftlicher Wirklichkeit ein: „Die christliche Theologie muß sich mit der Soziologie auf eine kritische Selbstvergewisserung jener Tendenzen einlassen, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit ihr jeweiliges Gepräge geben“57, so GABRIEL. KAUFMANN hatte schon 1980 von einer „Soziologie des Christentums“ gefordert, dass sie die „diachrone und synchrone Wechselbeziehung“ kirchlich verfasster Religion „mit anderen gesellschaftlichen Gegebenheiten“58 mit zu berücksichtigen habe. Eine in diesem Sinn kontextuelle Theologie, die sich „auf einen intensiven Dialog mit den anderen Wissenschaften einläßt und ebenso geistlich unterscheidend als auch prophetisch-kreativ tätig wird“59, ist insofern zukunftsfähig, als sie es mit den „Komplexitäten der Gegenwart oder gar den Ungewißheiten zukünftiger Dynamiken aufzunehmen“60 vermag. RÖMELT kommentiert dies wie folgt: „Christlicher Glaube muss sich in den ‚Text‘ des Ringens der modernen Lebenswirklichkeit auslegen. […] Die Theologie geht auf die Kulturwissenschaften zu, weil sich in ihnen das Bewusstsein um die Grenz- und Deutungsfragen komplexer Gesellschaft sammelt und zur Begegnung herausfordert.“61
Eine Soziologie des Christentums untersucht einerseits die Wirkung und Rückwirkung kirchlich verfasster Religion auf die Gesellschaft und umgekehrt. Andererseits lässt die Begegnung von kirchlich verfasster Religion mit und im Prozess der Modernisierung die bisherige Gestalt des Christentums nicht unberührt, neue Sozialgestalten des Christentums entstehen. Der christli53 54 55 56 57 58 59 60 61
GABRIEL, Karl (1998), 74. Ebd., 10. Ebd., 14. Vgl. auch KAUFMANN, Franz-Xaver (1980), 7ff. HILPERT, Konrad (1997), 128. GABRIEL, Karl (1999a), 8. KAUFMANN, Franz-Xaver (1980), 13. HÜNERMANN, Peter (1999), 52. KAUFMANN, Franz-Xaver (1999), 161. RÖMELT, Josef (2011), 50ff.
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che Glaube muss sich in irgendeiner Weise dazu verhalten, um dem eigenen Selbstverständnis gerecht zu werden. Um die synchronen und diachronen Wechselwirkungen zwischen Religion und Moderne zu untersuchen, folgt für GABRIEL, dass bei der Wiederaufnahme modernitätstheoretischer Fragestellungen an der Revision des Begriffs der Moderne angesetzt werden sollte. Er schreibt: „Das reformulierte Modernisierungsparadigma lenkt die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Modernisierungspfade. [...] Es rechnet mit vielfältigen Spannungen und Ungleichzeitigkeiten zwischen Modernisierungsprozessen auf der strukturellen, kulturellen und individuellen Ebene. Im Rahmen dieses Modernisierungskonzepts eröffnet sich die Möglichkeit, eine historisch identifizierbare Form der Verschränkung von traditionalen und modernen Elementen gesellschaftlichen Lebens [...] zu rekonstruieren.“62
So wie das Modernisierungsparadigma eine Vielfalt von Modernisierungspfaden umfasst, müsse auch Religion im steten Wandel einer sich ebenso wandelnden Gesellschaft begriffen werden, stellt HELLEMANS 2005 mit dem „religiösen Modernisierungsparadigma“63 fest. Er meint damit, dass die Moderne den gesellschaftlichen Kontext bildet, „in dem sich auch alle Religion notwendigerweise bewegen muss. Gegenüber den Verfechtern der religiösen Orthodoxie muss deshalb betont werden, dass unsere religiösen Gedanken und Handlungen aktuelle, aktiv-kreative Antworten darstellen auf die Möglichkeiten und Herausforderungen der Moderne. Anders gesagt, auch die Orthodoxen sind unwissentlich und unwillentlich Reformer, nur keine liberalen Reformer. Demgegenüber muss gegen die Reformer, die die Moderne als ein hohes Gut umarmen, angemerkt werden, dass die Moderne nicht länger nur als ein erstrebenswerter Idealzustand gelten kann, sondern aufzufassen ist als eine spezifische Gesellschaftsformation mit charakteristischen Struktureigenschaften, […] mit charakteristischen Idealen aber auch charakteristischen Entgleisungen.“64.
Entscheidend sei, dass „Modernisierung und Moderne nicht länger mit aufgeklärtem, liberalem oder fortschrittlichem Habitus gleichgesetzt werden“65. HELLEMANS kommt zu folgendem Schluss: „Orthodoxe, Konservative und Traditionalisten sind nicht weniger modern als Liberale und Progressive. Die ersten stehen ebenso in der Moderne, beurteilen diese nur ganz anders. So war und ist es auch mit der katholischen Kirche: in der Moderne stehend mit einem zugleich kritischen bis ablehnenden Urteil.“66 62
63 64 65 66
GABRIEL, Karl (1998), 16. Hierbei bezieht sich GABRIEL insbesondere auf den Begriff einer reflexiven Moderne bei BECK, Ulrich (1986) und den Begriff der Modernität bei KAUFMANN, Franz-Xaver (1989). HELLEMANS, Staf (2005), 21. Ebd., 18f. Ebd., 19. Ebd., 19f.
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HELLEMANS geht davon aus, dass sich „die katholische Kirche […] in den vergangenen beiden Jahrhunderten, mit Ausnahme der wenigen Jahre um das Zweite Vatikanum herum, unter anti-modernistischem Banner modernisierte“67. Unter diesem Aspekt sei es insbesondere KAUFMANN und GABRIEL gelungen, „die Christentumsgeschichte in systematischer Absicht neu zu interpretieren“68, indem sie durch methodischen Rückgriff auf LUHMANNs funktionale Differenzierungstheorie „das Verhältnis von Religion und Moderne inklusiv statt exklusiv“69 betrachten. Einige Jahre zuvor hatte ALTERMATT die These vom Katholizismus als „Antimodernismus mit modernen Mitteln“70 vertreten. HELLEMANS wolle GABRIEL und ALTERMATT insoweit „radikalisieren“, als er nachweise, dass der „Katholizismus und andere Religionen [...] in der Moderne nicht halb modern, sondern durch und durch modern“71 seien. Diesem Ansatz folgt die vorliegende Arbeit, hat sich doch der deutsche Katholizismus als sozialmoralisches Milieu nicht nur moderner Elemente bedient, sondern über den Konsens des Milieus hinaus, vor allem im Prozess des Abschmelzens seiner Versäulung, einen eigenen Weg in die Moderne beschritten. Innerhalb der Ansätze zur Untersuchung der Wechselbeziehung zwischen Religion und Moderne ist das Säkularisierungsparadigma zu nennen, das von einem stetigen Abbrechen der Tradition im Bereich von Religion und Christentum ausgeht. Im Unterschied dazu sieht GABRIEL gerade für das 19. und für den Übergang zum 20. Jahrhundert Tendenzen zur Wiederbelebung und Neubildung religiöser Traditionen, also ein Nebeneinander von Dechristianisierung72 und Rechristianisierung73. GABRIEL stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der Katholizismus nicht bereits 1850 oder 1870, sondern erst hundert Jahre später um 1970 seine bindende Kraft verloren habe. Daraus folgt für ihn, dass die These vom kontinuierlichen Verfall religiöser Lebenswelten im Modernisierungsprozess revidiert werden muss.74 Weiterhin habe sich die katholische Kirche trotz ihrer feudalen, vormodernen Struktur, insbesondere im ausgehenden 19. Jahrhundert, in eine „zentralisierte und mobilisationsfähige Massenorganisation“75 (mitsamt einer Vielzahl mobiler Substrukturen) transformieren können. Dies sei ebenfalls ein Beleg dafür, dass das Säkularisierungsparadigma ungeeignet sei, um Transformationspotentiale, gerade bei den 67 68 69 70 71 72 73 74 75
Ebd., 20. Ebd. Ebd. ALTERMATT, Urs (1989), 49ff. HELLEMANS, Staf (2005), 21. Zur Problemgeschichte des aus dem Französischen stammenden Begriffs vgl. GRAF, Friedrich Wilhelm (1997).Vgl. LEHMANN, Hartmut (1997). Vgl. LEHMANN, Hartmut (1997), 13. Vgl. BERGER, Peter L. (1971), 69ff. Vgl. RENDTORFF, Trutz (1962), 318ff. Vgl. HÖLSCHER, Lucian (1989), 190ff. Vgl. GABRIEL, Karl (1998), 14. HELLEMANS, Staf (2005), 13.
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institutionell etablierten Kirchen, auszumachen. Säkularisierung existiere, es existiere „aber auch mehr als Säkularisierung“76, schreibt HELLEMANS. Und die mal mehr und mal weniger offen ausgetragenen Spannungen in katholischen Binnen- wie Außenverhältnissen könnten eine Folge dieser Ungleichzeitigkeit sein. GABRIEL vertritt die These von einem Katholizismus, der seit Beginn der Moderne im 19. Jahrhundert ein „Amalgam aus Traditionalität und Modernität“77 darstellt. Dieser These wird grundsätzlich zugestimmt, gleichzeitig wird mit der Fragestellung des Themas nach den Umwegen in eine achtsame Moderne darüber hinaus in vorliegender Studie der Versuch unternommen, anhand der Auseinandersetzung des deutschen Katholizismus mit der Großstadt diesen spezifischen Modernepfad aufzuzeigen. Über die Wechselbeziehung zwischen Großstadt und Moderne ist ebenfalls in den letzten drei Jahrzehnten ausgiebig geforscht worden. Ergebnisse aus Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Stadtsoziologie wurden in einen Forschungszusammenhang gestellt und bekamen damit eine neue Relevanz.78 Verstädterung wird seitdem verstanden als „integrale[r] Bestandteil des höherrangigen Modernisierungsprozesses. […] Die Urbanisierung wird als ein Vorgang erklärt, der eine Aufspaltung ursprünglich weitgehend einheitlicher Lebensformen bewirkte, die dann neu funktionalisiert wurden“79.
Der quantitative Aspekt der Großstadtwerdung war gerade in Deutschland besonders gravierend und erhielt ihre besondere Sprengkraft durch die späte Einigung Deutschlands als Nationalstaat 1871. Mit diesen Phänomenen der Verstädterung setzt sich Kapitel 3: Das Werden der Großstadt auseinander. Im 19. Jahrhundert war der Unterschied zwischen ländlichem und großstädtischem Leben eklatant. Die Binnenwanderung nahm ungeahnte Formen an. Sie wurde durch den in diesen Jahren beschleunigten Ausbau des Eisenbahnnetzes in Deutschland befördert. Es war also nicht nur blanke Not, die zum Aufbruch in die Städte drängte. Gerade für junge Menschen repräsentierte die Stadt unvorhersehbar Neues, Freiheit, Zerstreuung und Abenteuer. Die städtische Lebensform war durch Beschleunigung, Anonymität und ein durchaus verführerisches Angebot bisher ungekannter Freiräume gekennzeichnet. Diese zunehmende Freiheit ging zugleich mit einem erfahrbaren oder nur befürchteten Verlust an Orientierung einher. Für die junge Wissenschaft Soziologie wurde die äußere und innere Unbehaustheit des Großstädters zu einem der zentralen Topoi ihres Erkenntnisinteresses. Ihre kulturkritische bis -pessimistische Aus76 77 78 79
Ebd., 14. GABRIEL, Karl (1998), 16. Vgl. BAHRDT, Hans-Paul (1961). Vgl. REULECKE, Jürgen (1985). Vgl. HÄUSSERMANN, Hartmut; SIEBEL, Walter (1987). Vgl. ZIMMERMANN, Clemens (1996). TEUTEBERG, Hans Jürgen (1990), 161f.
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formung wird insbesondere in Kapitel 4: Die Großstadt zwischen Laboratorium der Moderne und Sündenbabel dargestellt. In den Kapiteln 4.3: Stadtkritik als Kulturkritik und 4.4: Kulturkritische Grundlegungen bei RIEHL, TÖNNIES und SPENGLER geht es um die kulturkritischen Voraussetzungen bürgerlicher Stadtkritik. Diese Kapitel wurden angelegt, um die Wechselwirkung zwischen Kulturkritik und Großstadtkritik aufzuzeigen. Des Weiteren sollen zeitgenössische Deutungen außerkatholischer Zeitschriftenreihen und Texte aus der Quellenrecherche wie insbesondere in Kapitel 3.4.4: Pathographien der Großstadt und Kapitel 3.4.6: Großstadt als Verursacherin von Vermassung und Entwurzelung helfen, die Positionen des deutschen Katholizismus abzugrenzen. Die Verwerfungen von Image und städtischer Wirklichkeit werden in Kapitel 4.2 verdeutlicht. Auch die beiden großen Kirchen hatten bei ihrer Auseinandersetzung mit den neuen Agglomerationen, so TEUTEBERG, ihr Augenmerk vor allem auf die sittlich-moralischen „Schattenseiten der Urbanisierung“80 gerichtet. Sie bewegten sich dabei in Übereinstimmung mit der im wilhelminischen Bildungsbürgertum vorherrschenden „populären Großstadtfeindschaft und idyllisierenden Agrartümelei“81. Diese anti-urbane Haltung war bis zum Ende der Weimarer Republik in der Mitte der Gesellschaft tonangebend. TEUTEBERG schreibt: „Neue Einsichten in die seelisch-geistige Physiognomie des Großstädters, wie sie […] schon um die Jahrhundertwende vorgetragen wurden, sind offensichtlich in die öffentliche Kirchenmeinung kaum eingedrungen“82. Hier kommt die vorliegende Arbeit durch die Untersuchungen der Quellen zu einem wesentlich differenzierteren Urteil (vgl. Kapitel 6: Großstadt und Moderne im Urteil katholischer Kulturzeitschriften zwischen 1848 und 1933). Zuvor werden zwei exponierte wie unterschiedliche Theologen vorgestellt, die – bei allen Ansätzen von Kulturkritik – einen je eigenen, konstruktiven Weg im Umgang mit den Gegebenheiten der Zeit zu finden suchten: Anton HEINEN auf der einen Seite, der in einer Stärkung der Katholiken auf dem Land eine Lösung für die sozialen wie individuellen Konfliktlagen suchte (Kapitel 5.2.2). Auf der anderen Seite Carl SONNENSCHEIN, der in einer bewusst konstruktiven Konfrontation den Großstadtkatholizismus im Berlin der Zwischenkriegszeit prägen wollte (Kapitel 5.2.3). Letztlich ist ihr pastorales und literarisches Engagement der Versuch, die Sehnsucht nach Gemeinschaft als katholische Lebenspraxis (Kapitel 5.2) wachzuhalten.
80 81 82
TEUTEBERG, Hans Jürgen (1990), 194. Ebd. Ebd., 195.
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Zum Forschungsstand Im Folgenden nun ein kurzer Blick auf die Sekundärliteratur, die sich seit etwa 1965 dem Verhältnis von Katholizismus und Moderne beziehungsweise von Katholizismus und Großstadt widmete: Eine grundlegende Arbeit, die viele Jahre vor dem Forschungsboom der Milieugeschichtsschreibung erschienen ist, sei hier vor allem gewürdigt. Es ist die große monographische Arbeit von Norbert GREINACHER aus dem Jahr 1966: Die Kirche in der städtischen Gesellschaft. Soziologische und theologische Überlegungen zur Frage der Seelsorge in der Stadt.83 Der Autor orientiert sich in seiner Studie an Heinrich SWOBODA: Großstadtseelsorge. Eine pastoraltheologische Studie der katholisch-theologischen Fakultät der Wiener Universität von 1908.84 Der Wiener Pastoraltheologe SWOBODA zeichnete dort ein umfassendes Bild von der pastoralen Situation in den wichtigsten europäischen Großstädten um die Jahrhundertwende. Seine Sozialanalyse machte deutlich, wie wenig die katholische Kirche mit dem immensen Wachstum der Großstädte seit der Urbanisierungsphase Ende des 19. Jahrhunderts Schritt halten konnte. GREINACHER untersucht im historischen Rückblick den sozialen Wandel zur städtischen Gesellschaft und die damit verbundene städtische Lebensweise. Dabei schildert er in einem historischen Abriss das Verhältnis von Christentum und Urbanität. Diese groß angelegte Studie muss als eine erste Antwort auf die neuen gesellschaftlichen Erfordernisse vielfältiger Modernisierungserscheinungen verstanden werden. GREINACHER plädiert für die Gemeindekirche als die der modernen Gesellschaft angemessene Sozialform von Kirche in der Stadt. Von heute aus gesehen ist diese Untersuchung mitsamt den Vorschlägen für eine zeitgemäße Seelsorge in der Stadt zu früh erschienen, als dass sie zu ihrer Zeit hätte angemessen gewürdigt werden können.85 Berücksichtigt wurden die kurzen, prägnanten Aufsätze in Zwischen Babylon und Jerusalem. Beiträge zu einer Theologie der Stadt 86, die 1988 in Berlin erschienen sind und von Michael THEOBALD und Werner SIMON herausgege83 84 85
86
GREINACHER, Norbert (1966). SWOBODA, Heinrich (1911). Weitere Arbeiten zum Verhältnis von Christentum und Stadt erfolgten später, verstärkt mit Beginn der 1990er Jahre. Vgl. außer den in diesem Kapitel besprochenen Texte u. a. SUK, Walter (1967). Vgl. MÜLLER, Wolfgang (1974). Vgl. KREYSSIG, Peter; KUGLER, Georg (1976). Vgl. METTE, Norbert (1981). Vgl. LOHFINK, Norbert (1985). Vgl. SIEVERNICH, Michael (1988). Vgl. DAIBER, Karl-Fritz (1990). Vgl. METTE, Norbert; SCHÄFERS, Michael (1990). Vgl. SIEVERNICH, Michael (1990). Vgl. REULECKE, Jürgen (1991). Vgl. SIEVERNICH, Michael (1991). Vgl. JACOB, Heinrich (1992). Vgl. BÄUMLER, Christof (1993). Vgl. MEEKS, Wayne A. (1993). Vgl. JANSSEN, Hans-Gerd (1994). Vgl. ENGEL, Ulrich (1998). Vgl. JACOB, Heinrich (2001). Vgl. KARRER, Leo (2001). Vgl. VIETMEIER, Alfons (2001). Vgl. WIDL, Maria (2001). Vgl. RIEDENER, Sepp (2001). Vgl. RAVASI, Gianfranco (2003). Vgl. FEITER, Reinhard (2011). THEOBALD, Michael; SIMON, Werner [Hrsg.] (1988).
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ben wurden. Von besonderem Interesse für das Thema ist dabei der Aufsatz des Pastoraltheologen Paul ZULEHNER. Er beschreibt die Stadt als Projekt der Moderne. Sein Text zeigt die Versäumnisse der katholischen Kirche in der Zeit der Industrialisierung und Verstädterung. Es sei der Kirche nicht gelungen, die sozial mobile Bevölkerung „in einem neuen religiösen Gemeinschaftsgefüge aufzufangen“87. Wichtig erscheint mir auch der Text von Michael SIEVERNICH, der in Abwandlung von GUARDINIs Diktum eines Erwachens der Kirche in den Seelen88 formuliert, dass „die Kirche in den Städten erwacht“89. Beide Autoren knüpfen an die Situation von Berlin als Prototyp moderner Großstadt an, beide beziehen sich explizit auf gerade diese Stadt als einem Ort, der sich vor allem in den 1920er Jahren durch lebendige und zum Teil auch gelungene Großstadtseelsorge ausgezeichnet hat. Den Anstoß zu einer Reihe weiterer Veröffentlichungen ab den 1990er Jahren gab der Sammelband, den Kaspar ELM und Hans-Dietrich LOOCK 1990 herausgegeben haben: Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert90. Grundlage dieses Buches war die gleichnamige Konferenz von Evangelischem Bildungswerk und Katholischer Akademie Berlin in Verbindung mit der Historischen Kommission zu Berlin im Jahr 1987. Dabei zeigte der Beitrag von Hans-Jürgen TEUTEBERG Moderne Verstädterung und kirchliches Leben in Berlin bisherige Forschungsergebnisse und bestehende Forschungslücken auf.91 Was Max WEBER „in einer erhellenden Metapher mit der ‚Entzauberung der Welt‘ verglich“, eine Tatsache, die „von den Begriffen Säkularisation und Säkularismus zu scheiden“ sei, umfasse eine Reihe „höchst widersprüchlicher Befunde“92, schreibt er. Die ungenauen, schillernden Begriffe Entkirchlichung und Säkularisierung bedürften einer Klärung durch Fragen nach den „Auswirkungen der Urbanisierung auf das kirchliche Leben, aber auch umgekehrt den Beitrag der Kirche zur Ausbildung der verstädterten Kultur“93. Einen guten Überblick über den Forschungsstand hat gut zehn Jahre später Antonius LIEDHEGENER in Religion und Kirchen vor den Herausforderungen der Urbanisierung in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert gegeben.94 Der Text gibt Auskunft über die zunehmende interdisziplinäre Zusammenarbeit, die sich neben der Erforschung des katholischen Milieus im 19. Jahrhundert, der Erforschung der Geschichte der Kirche im Nationalsozialismus und ab 1989 vor allem der Diasporakirche in der DDR und einem 87 88 89 90 91 92 93 94
ZULEHNER, Paul, M. (1988), 40. Vgl. GUARDINI, Romano (1922). SIEVERNICH, Michael (1988), 97. ELM, Kaspar; LOOCK, Hans-Dietrich [Hrsg.] (1990). TEUTEBERG, Hans Jürgen (1990). Ebd., 197. Ebd., 200. Vgl. LIEDHEGENER, Antonius (2001). Vgl. auch LIEDHEGENER, Antonius (2002).
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deutsch-deutschen Vergleich widmet. LIEDHEGENER stellt das Thema Urbanisierung als Teilprozess der allgemeinen gesellschaftlichen Modernisierung ins Zentrum seines Interesses. Zentrale Frage der Katholizismusforschung bleibt die Frage nach Auflösung, Transformation oder Legitimationsverlust des vormals scheinbar so homogenen Milieus in der Gegenwart. Eine aktuelle und grundlegende Arbeit zu diesem Thema bietet auch die Veröffentlichung von Franz-Xaver KAUFMANN: Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?95 Grundlegend sind auch Untersuchungen zur Rolle der katholischen Eliten im internationalen Kommunikationsnetz der Intellektuellen, ihre Zeitschriften, ihre Gruppierungen und ihre Hochschulen96. Herausragendes Beispiel für die Untersuchung intellektueller katholischer Netzwerke ist ein Forschungsprojekt der Universität Metz. Eine für die vorliegende Arbeit zentrale Publikation der Ergebnisse dieses Forschungsvorhabens ist das von Michel GRUNEWALD und Uwe PUSCHNER herausgegebene, umfangreiche Buch Le Milieu Intellectuel Catholique en Allemagne, sa Presse et ses Réseaux (1871-1963).97 Es entstand in der Folge einer Tagung, die 2004 zum Abschluss der deutsch-französischen Forschungsarbeit an der Universität Paul Verlaine in Metz am Centre d’études germanique interculturelles de Lorraine stattfand. Dabei ging es um Hintergründe der Entwicklung „katholischer Identität“, insbesondere um den dem „deutschen Katholizismus eigene[n] Pluralismus“98. Die zentrale Ausgangsthese dieses Forschungsvorhabens lautet: „Mehr als andere gesellschaftliche Gruppen war das katholische Milieu von den politischen, gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen und Prozessen betroffen, die Deutschland zwischen 1870 und 1960 erlebte.“99 Es geht hier vor allem um katholische Intellektuelle100 und deren Netzwerke. An dieser Stelle ist die Habilitationsschrift von Thomas RUSTER über Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik zu nennen.101 RUSTER zeigt in seiner Arbeit an herausragenden katholischen Theologen, wie auf Umwegen ein Verhältnis zur modernen Lebenskultur hätte aussehen können oder anders gesagt: wie es der Kirche (auch) durch die historische Zäsur 1933 nicht gelungen ist, die „geistigen Leerräume der Weimarer Zeit mit eigenem 95
96 97
98 99 100 101
KAUFMANN, Franz-Xaver (2011). Es ist dies die 3. durchgesehene und erweitere Auflage von Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum aus dem Jahr 2000. Ergänzt um Partien, die auch anlässlich des „annus horribilis“ 2010 für die katholische Kirche in Deutschland verfasst wurden. Als Beispiele nenne ich hier nur die Rolle des Institut Catholique, Paris und die theologischen Fakultäten von Fribourg und Luzern in der Schweiz. Vgl. GRUNEWALD, Michel; PUSCHNER, Uwe [Hrsg.] (2006). Vorausgegangen waren Forschungsarbeiten zu den sozialistischen Intellektuellenmilieus (2002) wie auch den konservativen Intellektuellenmilieus (2003) in Deutschland. GRUNEWALD, Michel; PUSCHNER, Uwe [Hrsg.] (2006), 5. Ebd. Vgl. insbesondere LOTH, Wilfried (2006), 34. RUSTER, Thomas (1994).
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Material zu füllen“102, obwohl sie doch über ungewöhnlich gute Voraussetzungen verfügte. In der Theologie der Weimarer Zeit liege, so RUSTER, ein heute noch zündendes und zum Teil noch nicht geborgenes Material von ausnehmend hoher Qualität, das seine Brauchbarkeit für die Gegenwart nicht eingebüßt habe. Neben Namen wie GUARDINI und PRZYWARA tauchen Namen und Texte auf, die bis dahin mehr oder weniger vergessen waren. Vorgestellt werden u. a. Karl ADAM, Joseph WITTIG, Ernst MICHEL, Max PRIBILLA und Peter LIPPERT. 2009 erschien die von Hans-Rüdiger SCHWAB herausgegebene Publikation Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert103. Diese Porträts von zum Teil vergessenen „Vor-, manchmal GegenDenker[n], Leitfiguren und Außenseiter[n]“104 sind eine gründliche und zugleich anregende Bestandsaufnahme, die für die weitere Forschung grundlegendes Material zur Verfügung stellt. SCHWAB und RUSTER haben mit ihren Arbeiten den Blick für Randfiguren geschärft. In der vorliegenden Arbeit wurden ebenfalls Persönlichkeiten ausgewählt, die eher marginale Positionen einnahmen – im Sinne ihrer Bedeutung für die Hauptströmungen des deutschen Katholizismus –, um ihre Bedeutung für Wege des Katholizismus in die Moderne herauszuarbeiten. Für die Frage nach den Umwegen in eine achtsame Moderne werden in dieser Arbeit die Positionen des Architekten Rudolf SCHWARZ, des Romanisten Hermann PLATZ, der Pädagogin Helene HELMING oder des jungen Geistlichen Joseph EMONDS vorgestellt – allesamt aus dem engeren Mitarbeiter- und Freundeskreis GUARDINIs –, deren Auseinandersetzung mit der Moderne die ganze Vielfalt katholischer Positionen auf dem Weg in eine eigene Moderne widerspiegelt.105
Zur Arbeit mit den Quellen Die vorliegende Arbeit lehnt sich an den kulturgeschichtlichen Ansatz der Katholizismusforschung an und will im Rückgriff auf modernisierungs- und kulturtheoretische Konzepte und soziologische Forschungsmethodik sowie auf Ergebnisse der Stadtsoziologie einen Beitrag zur Sozialgestalt des Christentums in der Moderne leisten.
102 103 104 105
Ebd., 30. SCHWAB, Hans-Rüdiger [Hrsg.] (2009). Ebd., 24. Übrigens alles Personen, die in der Zeit des Nationalsozialismus standhaft blieben und bei der Gründung der Bundesrepublik 1945 eine wichtige Rolle gespielt haben. Man denke insbesondere an die deutsch-französischen Bemühungen um Völkerverständigung im Umfeld des Katholiken ADENAUER, welche die Grundlage der später erfolgten Gründung der Europäischen Gemeinschaft bildeten.
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ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
Es wurde dazu umfangreiche Sekundärliteratur rezipiert und verarbeitet, um sie schließlich an einem Korpus katholischer Quellen aus überregionalen Zeitschriften von 1848 bis 1933 anzuwenden. Eine vollständige Durchsicht der von Felix DIETRICH herausgegebenen Bibliographie der deutschen Zeitschriftenliteratur wurde von mir nach festgelegten Codeworten106 durchgeführt und hat mich zunächst auf die relevanten Zeitschriftenartikel (einschließlich Sammelwerke) nach 1896 und in ihren Ergänzungsbänden ab 1861 für den Bereich der stadtkritischen Positionen (Kapitel 3.4.4, 3.4.6 und 4.3), besonders aber für die Thematisierung der Phänomene des Verstädterungsprozesses (Kapitel 3.3) verwiesen. Grundlage für die Erschließung der Themenfelder bildeten die zeitgenössischen Quellen. Dieses Vorgehen erschien am geeignetsten, um den Stand der jeweiligen Diskussion im deutschen Katholizismus deutlich zu machen. Für den Bereich der katholischen Zeitschriften habe ich mich vor allem auf solche Publikationen gestützt, deren Zielgruppe eine breitere, gebildete Leserschaft war. Es wurden von mir also nicht die theologischen und pastoralen Fachzeitschriften für den Klerus sowie katholische Tageszeitungen oder Bistumszeitungen untersucht. Es stehen solche katholischen Zeitschriften im Fokus meiner Arbeit, die im weitesten Sinn die „Wiederbegegnung von Kirche und Kultur“107 zum Programm gemacht hatten und damit auch Fragen der Gegenwart ansprachen. Auf diesem Weg war am Anfang des 20. Jahrhunderts die Zeitschrift Hochland zunächst einzigartig und entsprechend auch programmatisch vorangegangen. Hier fanden die Auseinandersetzungen um Katholizismus und Moderne, Gemeinschaft und Gesellschaft statt; hier wurden die Phänomene der Verstädterung aufgezeigt, verworfen oder reflektiert; hier wurde Großstadt nicht stereotyp als „Moloch“108, sondern auch als „Laboratorium“109 für eine neue Zeit gesehen. Insofern kann man die Zeitschrift Hochland sowie die weiteren analysierten Zeitschriftenreihen auch als Zeitzeichen verstehen. Bei den analysierten Zeitschriftenreihen in Kapitel 6 handelt es sich um eine systematische Durchsicht der Zeitschriften Historisch-politischen Blätter (gegründet 1838), Stimmen aus Maria Laach (1865 bzw. 1871, ab 1914 dann Stimmen der Zeit), Hochland (1903) sowie die Zeitschriften der Bewegung: Das Heilige Feuer (1913) und Die Schildgenossen (1920). Kriterien der Auswahl waren, dass die Zeitschriften einen wesentlichen Teil des Untersuchungszeitraums berücksichtigen, überregional und auf einem bestimmten Re106
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Zu diesen Codewörten gehören u. a. Wanderung, Wohnen, Städtewachstum, Bevölkerungswachstum, Landflucht, Gartenstadt/Utopie, Stadtkritik, Hygiene, Stadt/Land, Industrialisierung, Katholizismus allgemein, Gesellschaft, Konfessionsstatistik, Sozialwissenschaften, Milieu/Wahrnehmung, soziale Frage und Presse. FUNK, Philipp (1927), 108f. Vgl. den Aufsatz KALKSCHMIDT, Eugen (1904). SRUBAR, Ilja (1992), 37.
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flexionsniveau die kulturellen zeitgenössischen Fragestellungen berücksichtigen sollten. Einzelne oder die bereits erwähnten sogenannten Außenseiter waren auf ihrer Suche nach Wegen zur modernen Welt „um eine eigenständige Neuformulierung christlicher Existenz in der Moderne“110 bemüht. Sie bewegten sich dabei entlang der großen gesellschaftlichen Konfliktlinien. Dabei war „ihre politische und kulturelle Ausrichtung [...] vielfältig. In dieser Vielfalt hatten sie Anteil am deutschen Weg in die Moderne. Sie erklärt ihre Prägekraft ebenso wie die Grenzen ihres Einflusses“111, schreibt LOTH. RUSTER ist überzeugt, dass die „Gründlichkeit und Intensität“, mit der sich Theologen in den Jahren der Weimarer Republik dem Verhältnis von Katholizismus und Moderne widmeten, bis heute von Bedeutung ist. Auch „ihre Beteuerung der ewigen und überzeitlichen Gültigkeit der kirchlichen Glaubenslehre“112 weise sie als Menschen ihrer Zeit aus. RUSTER schreibt: „Sie entwickelten modellhafte Verhältnisbestimmungen zwischen katholischem Glauben und moderner Lebenskultur, die zum Teil noch heute das Handeln der Kirche und das Denken vieler Katholiken prägen, die sich zum Teil auch aus Gründen, die darzulegen sind, überlebt haben. Was immer damals zum Thema Katholizismus und Moderne vorgedacht wurde, es ist erhellend für das gegenwärtige, prekäre Selbstverständnis der katholischen Kirche, das nach wie vor aus einer unsicheren und unaufgelösten Verhältnisbestimmung zur modernen Gesellschaft resultiert. Zu Unrecht meinen viele, vor den Problemen zum ersten Mal zu stehen.“113
Das Korpus der Historisch-politischen Blätter als der ältesten und besonders langlebigen Zeitschrift (1838-1923) ist dabei von großer Homogenität, es sind immer dieselben Argumente, Bilder, Argumentationsfiguren – und dann tauchen, wenn auch selten, erstaunliche Ausnahmen auf, die gerade wegen des vorherrschenden Unisono beachtlich sind. Ich habe mich angesichts des umfangreichen Quellenmaterials für eine Auswahl entschieden; ausgesucht wurden Artikel mit den Begriffen Stadt oder Großstadt im Titel sowie das Vorkommen weiterer Codeworte in Titel und Text.114
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LOTH, Wilfried (2006), 34. Zur Differenzierung katholischer Intellektueller in „Milieubauer“, „Stützen des Milieus“ und „Brückenbauer“ vgl. ebd. Ebd., 35. RUSTER, Thomas (1994), 17. Ebd. Unter anderem: Moderne, Philosophie, Kultur, Soziologie, Wohnen, Familie, Wanderung, Kapitalismus, Sozialismus, Kulturkampf, Lebensreform, katholische Jugendbewegung.
2 MODERNE, AMBIVALENZ UND AMBIVALENTE MODERNITÄT
2.1 Aus der Gründerzeit der deutschen Soziologie Die Konstituierung der modernen Sozialwissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert – und hier insbesondere in Frankreich1 und Deutschland – ist ohne den stürmischen Aufbruch der Gesellschaft in die Industrialisierung und die damit verbundene Fortschrittsidee nicht denkbar.2 Die Gesellschaft mit ihren sich beschleunigenden Veränderungen wurde von den Vertretern dieser entstehenden neuen Wissenschaft als Gesellschaft „in einem Zustand des Flusses, der Bewegung, des unablässigen Wechsels“3 erkannt und damit zum Gegenbild der sich als „ewig und unabänderlich“4 verstehenden vormodernen Gesellschaft erklärt. Wesentliche Phänomene der Moderne, vor allem im städtischen Lebenszusammenhang, hatten in der Mitte des 19. Jahrhunderts Charles BAUDELAIRE und Karl MARX, insbesondere am Beispiel von Paris und Manchester, eindrucksvoll beschrieben.5 MARX hat nach FRISBY in der Beschreibung der „Entfesselung der Produktivkräfte“ eine Darstellung der Produktionsverhältnisse und der sozialen Beziehungen im Allgemeinen geliefert. In der Folge dieser Beschreibungen ist ihm die Analyse der „internen Dynamik der Moderne“6 gelungen. Auch BAUDELAIREs literarisch „empfundene“ Moderne – Wahrnehmungen, die er vor allem in seinem bis heute berühmten Gedichtzyklus Les Fleurs du Mal und in den Prosagedichten Le Spleen de Paris7 als „das Vorübergehende, das Ent1
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Zu nennen ist vor allem Émile DURKHEIM (1858-1917) mit Les Règles de la Méthode Sociologique von 1895. Das Buch gilt als eines der bedeutendsten methodischen Grundlagenwerke für die Konstituierung der Soziologie als Wissenschaft in Frankreich, mit großer Wirkung über Frankreich hinaus. DURKHEIM spielt für Frankreich die Rolle im Wissenschaftsdiskurs, die Max WEBER und Georg SIMMEL für Deutschland einnehmen. RAMMSTEDT schreibt: „Durkheims ‚Suicide‘ (1897), Simmels ‚Philosophie des Geldes‘ (1900) und Webers ‚Protestantische Ethik‘ (1904/06) sind die großen Forschungsarbeiten, auf denen ihre später erstellten soziologischen Theoriekonstruktionen aufbauen.“ (RAMMSTEDT, Otthein, 1988, 288). Vgl. DAHME, Heinz-Jürgen; RAMMSTEDT, Otthein (1984), 466. FRISBY, David (1988), 199. Ebd. Vgl. ebd., 197ff. Ebd., 199. Charles BAUDELAIRE (1821-1867) ist der heute unbestrittene Vorläufer der europäischen Moderne in der Literatur, sein Gedichtzyklus Les Fleurs du Mal erschien erstmals 1857, posthum erschien 1868 Le Spleen de Paris. Auf die Modernität BAUDELAIREs aufmerksam machte vor allem der Philosoph und Literaturkritiker Walter BENJAMIN (1892-1940). Im Jahr 1923 erschien in seiner Übersetzung mit einem wichtigen Einleitungsessay Charles BAU-
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schwindende, das Zufällige“8 zu fassen versucht – gehören, so FRISBY, zur „Urgeschichte der Moderne“9. Wie Karl MARX hat auch Walter BENJAMIN, bezugnehmend auf Texte von Charles BAUDELAIRE, versucht, „die Hieroglyphen des Warenwerts zu entziffern“10. Schließlich wurde die moderne Gesellschaft in ihrer Tiefenstruktur durch die „Warenform [der] sozialen Beziehungen der Moderne“11 determiniert. Etwas Neues, und zwar in der Eigenschaft des Neuen, hob sich gegenüber dem Beständigen als das Aktuelle ab. RAMMSTEDT schreibt: „Im Anklingenlassen der zeitlichen Dimension, die in der binären Setzung Jetzt vs. Nicht-Jetzt mündet, wird Modernität als Teil des Ganzen faßbar; zugleich meint aber Modernität ein Eigenständiges innerhalb des Jetzt, eine spezifische Eigenschaft der Gegenwart, die gerade nicht historisch ableitbar ist, nämlich ein Neues.“12
Es hob sich „das Produzierte gegenüber dem Natürlichen, das Neue gegenüber dem Alten, das Plötzliche gegenüber dem Stetigen“13 ab. Die grundlegende monographische Arbeit von Hartmut ROSA Beschleunigung beginnt mit folgender Ausgangshypothese: „Die Erfahrung von Modernisierung ist eine Erfahrung der Beschleunigung.“14 In dieser Entwicklungsdynamik habe die Idee der Bewegung Vorrang vor der Beharrung bekommen.15 Seit HOBBES sei „Beharrung rechtfertigungspflichtig“16 geworden. Beschleunigung als Grunderfahrung der Moderne führte zur „Auflösung fester Räume“. Die Geburtstunde der Moderne, so ROSA, war „die Emanzipation der Zeit vom Raum“17, wobei „in der kapitalistischen Moderne alles Ständische und Stehende immer schon in Auflösung und Umwandlung begriffen ist, immer schon ‚verdampft‘“18. DELAIRE,
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Tableaux Parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers, französisch und deutsch. In seinen geschichtsphilosophischen Arbeiten, vor allem im als Fragment überlieferten sogenannten Passagen-Werk (1928-1929, 1934-1940), bezieht sich BENJAMIN immer wieder auf BAUDELAIRE als Vertreter einer ersten und grundsätzlichen Wahrnehmung der Moderne. FRISBY, David (1988), 197. Ebd. Ebd., 201. Ebd. RAMMSTEDT, Otthein (1988), 281. Ebd., 281f. ROSA, Hartmut (2005), 51. Hervorhebungen im Original. Vgl. ebd., 62, Anm. 101. RAMMSTEDT, Otthein (1975), 47ff.; zit. n. ROSA, Hartmut (2005), 62, Anm. 101. Mit HOBBES (und in der modernen Physik) gewinne das Prinzip der Bewegung, auch verstanden als das Prinzip der Freiheit, Vorrang vor der aristotelischen Ruhe. Vgl. ebd., 62. Ebd., 61. Hervorhebungen im Original. Ebd., 89. ROSA umschreibt die bekannte Formulierung aus dem Kommunistischen Manifest, wonach durch die fortwährende Umwälzung der Produktionsmittel und die radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Kapitalismus hervorbringe, alle „festgerosteten Verhältnisse und altehrwürdigen Vorstellungen aufgelöst, alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige entweiht“ (MARX, Karl; ENGELS, Friedrich, 1964, 465) werde.
MODERNE, AMBIVALENZ UND AMBIVALENTE MODERNITÄT
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Die Jahrzehnte zwischen 1880 und 1930 können mit PEUKERT als Phase der „klassischen Moderne“19 bezeichnet werden.20 „Die Soziologie wählte“, so FRISBY, in dieser Zeit und besonders um die Jahrhundertwende „zu ihrem Untersuchungsgegenstand häufig das Phänomen, dessen Produkt sie darstellte – die Moderne“21. Er schreibt: „Der vorübergehende Charakter des Neuen in den Konzepten der Moderne war mit entscheidenden Veränderungen im Zeitbewußtsein verknüpft. […] Dies implizierte unter anderem, die Gesellschaft und die sozialen Beziehungen in einem Zustand des Flusses, der Bewegung, des unablässigen Wechsels zu sehen.“22
In dieser Zeit ereignet sich gerade in Deutschland ein grundlegender Wandel der ökonomischen und damit auch der sozialen wie kulturellen Verhältnisse. Die Auflösung traditioneller Sozialstrukturen, „in denen sich eins ins andere fügt und in denen Veränderung letztlich nicht vorgesehen war“23, verlief zeitgleich mit dem Entstehen eines neuen Zeitbewusstseins in einer „Gesellschaft der Gegenwarten“24. NASSEHI skizziert das Zeitbewusstsein der Moderne als „den Wandel von der Emanzipation des Gegenwartsverständnisses, von einer übermächtigen Vergangenheit und von dem Vertrauen in die Verbesserung der Verhältnisse in der Zeit zu einem eher skeptischen, besorgten, alles andere als zukunftsgläubigen Gegenwartsverhältnis“25.
Dies lässt sich nach NASSEHI „nicht nur für das allgemeine kulturelle Selbstverständnis der Moderne feststellen, sondern auch für die Soziologie selbst“26. Das kulturelle Selbstverständnis der Moderne zeichnet sich deshalb nach NASSEHI durch eine grundlegende Ambivalenz aus. Demnach glaubt die moderne Gesellschaft an die Gestaltbarkeit der Welt durch den Menschen, und es kommt in diesem Prozess zu einer Ablösung der Bedeutung von Religion und Metaphysik durch Erkenntnis in Form wissenschaftlicher Rationalität. Gleichzeitig aber geht mit dem Fortschreiten eine fundamentale Verunsicherung einher. Der Verlust von Traditionen und die in vielen sozialen Zusammenhängen immer mehr als Bedrohung empfundene Rationalisierung tragen zur Unübersichtlichkeit der Lebensverhältnisse bei. Das Schlagwort von der Janusköpfigkeit der Moderne verweist darauf, dass der Moderne neben den Aufbruchsund Gestaltungsmöglichkeiten ein gleicherweise großes Zerstörungspotential inhärent ist. Insofern sind, so NASSEHI, auch die Theorien der Moderne von Ambivalenzen geprägt: „Der Begriff der Moderne scheint genauso ambivalent 19 20 21 22 23 24 25 26
PEUKERT, Detlev (1987), 90. Vgl. ebd., 166. Vgl. PEUKERT, Detlev (1989), 65. FRISBY, David (1988), 196. Ebd., 199. NASSEHI, Armin (2003), 134. Ebd., 159. Ebd., 137. Ebd.
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zu sein wie sein Gegenstand.“27 Die Irritationen, das heißt das Bewusstsein der Krisenhaftigkeit, sind radikal auf die Gleichzeitigkeit ihrer Systemprozesse verwiesen, „eine Gleichzeitigkeit, die einen hierarchischen oder kausalen Wirkungszusammenhang ausschließt. Dies ist eine Gesellschaft, die durch wechselseitige Intransparenz aufgehört hat, einer Zentralperspektive sich unterwerfen zu können“28.
Die Leitidee der gängigen Reflexionen über die Gesellschaft war bis dahin eng an die Kategorie des sozialen Fortschritts gebunden gewesen. Mit den gesellschaftlichen Begleitphänomenen der aufkommenden Industriegesellschaft gerieten auch deren analytische Kategorien zunehmend in die Krise. Die Soziologie musste sich unwiderruflich spätestens um die Wende zum 20. Jahrhundert – dem Fin de Siècle – die Frage nach der Haltbarkeit der Fortschrittskonzeptionen der älteren Soziologie stellen, und sie musste, wie oben beschrieben, grundlegende Fragen ihrer Konstitution als Wissenschaft thematisieren, wenn nicht gar problematisieren. Zygmunt BAUMAN hat sich gerade unter dem Aspekt der Ambivalenz programmatisch mit den Theoretisierungen der Moderne bei SIMMEL und WEBER befasst.29 An seiner Konzeption werde ich meine Überlegungen im Folgenden ausrichten. Von den jüngeren Soziologen arbeiten insbesondere Armin NASSEHI und Matthias JUNGE mit BAUMANs Ambivalenz-Begriff.30 Wie begründet nun die Soziologie, dass das kulturelle Selbstverständnis der Moderne von einer grundlegenden Ambivalenz gekennzeichnet ist? „Das Unbehagen in der Modernität“31 zeigt sich in der Gründerzeit der Soziologie als Wissenschaft in Themen wie der Technisierung der Arbeit, der Anonymität des bürokratischen Zentralstaates, der zunehmenden Differenzierung der Lebenswelten sowie der Großstadt als „Ort, an dem sich der Prozeß der bürgerlichen Gesellschaft vollzieht“32. Entsprechend befasste sich die Soziologie um die Jahrhundertwende mit dem Phänomen der Massen und damit auch mit dem Verhältnis von Masse und Individuum. Aus dem bis dahin vor allem phi-
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Ebd., 132. Ebd., 135. Hervorhebung im Original. Dass das Selbstverständnis der katholischen Kirche in einen fundamentalen Konflikt mit der Moderne geraten musste, ist naheliegend. Kann unter diesen Bedingungen die Kirche weiterhin Orientierung geben? Wie reagiert die katholische Kirche in Zeiten aufkommender Unübersichtlichkeit? Diese Fragen werden später in Kapitel 5 und 6 erörtert. Vgl. BAUMAN, Zygmunt (2005). Vgl. NASSEHI, Armin (2003). Vgl. JUNGE, Matthias (2000). Zum Ambivalenz-Begriff in Psychologie und Psychotherapie vgl. OTSCHERET, Elisabeth (1987). Zur Begriffsklärung vgl. NEDELMANN, Birgitta (1997) und BINDSEIL, Ilse (1976). Vgl. auch die Arbeit von LIOU, Wie-Gong (1999). Titel des Buches von BERGER, Peter L.; BERGER, Brigitte; KELLNER, Hansfried (1987). SOFSKY, Wolfgang (1986), 2.
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losophisch begründeten Subjekt wurde in diesem zunehmend neuen Theoretisierungsprozess das gesellschaftlich determinierte Individuum.33 Nach HABERMAS lässt sich die ästhetische Moderne „durch Einstellungen, die sich um den Fokus eines veränderten Zeitbewußtseins“34 bilden, kennzeichnen. Die Erforschung dieser Moderne ist in seinen Augen mit der Aufgabe eines „Kundschafters“ vergleichbar, der „in unbekanntes Gebiet vorstößt [und] sich den Risiken plötzlicher, schockierender Begegnungen aussetzt, […] also eine Richtung finden muss in einem noch nicht vermessenen Gelände“35. Das Phänomen Großstadt geriet dabei zwangsläufig in den Fokus der Soziologie: „Die Großstadt war quasi ein Laboratorium, in dem in vivo die Konstitutionsprozesse beobachtbar waren, durch welche aus heterogenen Elementen eine neue soziale Gestalt entstand.“36 Die neue Rolle der Soziologie bestand nach RAMMSTEDT nun nicht mehr darin, „Prophetin“ der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu sein, sondern deren „wissenschaftliche Deuterin“: „Das zunehmend chaotisch anmutende gesellschaftliche Wirrwarr soll nicht länger einer versöhnenden Apotheose zugeführt werden, sondern es soll so, wie es ist, als strukturiertes verstanden werden. Hierauf beruht der wissenschaftliche Anspruch der Soziologie, nämlich das die Gesellschaft Strukturierende – die sozialen Tatbestände, die Formen der Wechselwirkungen, das Offenbarwerden sozialen Handelns – im einengenden Sinne von Modernität wertfrei aufzuzeigen.“37
Das Besondere des wissenschaftlichen Anspruchs der Soziologie liegt nach WEBER in ihrer Werturteilsfreiheit, wobei WEBER sehr wohl die Werteproblematik thematisieren und zum Gegenstand soziologischer Diskussion machen wollte und lediglich Werturteile von der wissenschaftlichen Untersuchung selbst fernzuhalten suchte. Bei SIMMEL kommt nach FRISBY dessen „instinktive[s] Gespür für die Moderne“38 hinzu: Es „dürfte wenig zweifelhaft
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Vgl. vor allem Kapitel 2.3 vorliegender Arbeit. HABERMAS, Jürgen (1992), 35. Ebd. SRUBAR, Ilja (1992), 37. Für den soziologischen Blick auf die Großstadt, wie den der Chicagoer Schule unter Robert Ezra PARK, war die Feldforschung ein entscheidendes Instrument der Wissensaneignung. Vgl. LINDNER, Rolf, 1990, 117. Die von PARK vertretene Richtung der Großstadtforschung verdankt sich auch der Großstadtreportage, die im amerikanischen Journalismus des ausgehenden 19. Jahrhundert entstand und in den USA eine spezifische Tradition ausgebildet hat. Vgl. LINDNER, Rolf, 1990, 44ff. PARK orientiert sich vor allem an Georg SIMMEL, dessen Vorlesungen er in Berlin um die Jahrhundertwende hörte. Besonders den Begriff Wechselwirkung hat PARK in seine Arbeit übernommen. Methodisch war PARK allerdings ein rein empirisch verfahrender Soziologe: „Er maß dem unmittelbaren Erleben städtischer Ereignisse und dem direkten Kontakt mit Menschen jeden Typus einen hohen Stellenwert bei und regte die Studenten an, seinem Beispiel zu folgen und Straßenszenen zu beobachten sowie persönliche Lebensgeschichten aufzuzeichnen.“ (LEVINE, Donald N., 1984, 349). RAMMSTEDT, Otthein (1988), 282. FRISBY, David (1988), 208.
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sein, daß SIMMEL eine Theorie der Moderne des Fin de siècle vorgelegt hat, der seine Zeitgenossen nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten“39. Der Begriff Ambivalenz hatte einen zentralen Stellenwert innerhalb seines theoretischen Konzepts, wiewohl SIMMEL ihn explizit gar nicht verwendet hat.40 Um die Bedeutung von Ambivalenz bei SIMMEL beschreiben zu können, bezieht sich NEDELMANN auf Max WEBERs Typologie des sozialen Handelns in Wirtschaft und Gesellschaft.41 Obgleich WEBER davon ausgehe, dass soziales Handeln in der Wirklichkeit weniger durch eindeutige Orientierungen als vielmehr gemischt auftrete, mache er „durch eindeutige Kriterien der Orientierung“42 verursachtes soziales Handeln zum Ausgangspunkt seiner Begriffsbildung.43 Ganz im Unterschied zu SIMMEL, der nach NEDELMANN umgekehrt verfahre: „Für ihn ist die soziale Tatsache ‚gemischter‘ Handlungsorientierungen das Leitmotiv seiner Soziologie, wobei er sich aber im Gegensatz zu Weber der Mühe einer eindeutigen Begriffsdefinition entzieht.“44
Selbst bei einer eher oberflächlichen Lektüre der soziologischen Arbeiten von SIMMEL falle auf, „daß dieser immer wieder neue Wendungen findet, um den Leser auf sein Leitmotiv der ‚gemischten‘ Handlungsorientierungen einzustimmen, und daß er immer wieder neue Beispiele entdeckt, um zu zeigen, wie sich ambivalentes soziales Handeln in der sozialen Wirklichkeit niederschlägt“45.
Welche Begriffe SIMMEL auch zur Festlegung „gemischter Handlungen“ verwendet hat, immer habe er das „Leitmotiv der Ambivalenz“46 mit der Frage nach der gesellschaftlichen Vermittlung, von SIMMEL Wechselwirkung genannt, verbunden: „Wie aus so widerstreitenden Tendenzen, wie […] dem Bedürfnis nach Ruhe und Bewegung, der Kühle des Verstandes und der Wärme des Herzens, der Individualität und der Allgemeinheit, Natur und Geist, attraktiven und repulsiven
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Ebd. Vgl. JUNGE, Matthias (2000), 39. Vgl. NEDELMANN, Birgitta (1992), 36. Ebd. WEBER schreibt: „Sehr selten ist Handeln, insbesondere soziales Handeln, nur in der einen oder der andren Art orientiert. Ebenso sind diese Arten der Orientierung natürlich in gar keiner Weise erschöpfende Klassifikationen der Arten der Orientierung des Handelns, sondern für soziologische Zwecke geschaffene, begrifflich reine Typen, denen sich das reale Handeln mehr oder minder annähert oder aus denen es – noch häufiger – gemischt ist.“ (WEBER, Max, 1985, 13). Zur Vergrößerung der intellektuellen Einsicht durch eine Eindeutigkeit der Begriffe vgl. LEVINE, Donald N. (1988), 188. NEDELMANN, Birgitta (1992), 36. Ebd. NEDELMANN gibt überzeugende Beispiele dafür. Ebd., 37.
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Kräften, eine soziale Einheit entstehen oder die ‚verlorene Einheit‘ wiedergewonnen werden kann.“47
SIMMEL habe sich im Anschluss an seine weit verstreuten, unsystematischen Beobachtungen letztlich immer auch mit der „Universalität der Ambivalenz“ als übergreifendem Problem auseinandergesetzt.48 Einhundert Jahre später hat sich Zygmunt BAUMAN in Moderne und Ambivalenz49 grundlegend mit der Ambivalenz als Schlüsselkategorie von Vergesellschaftungsprozessen auseinandergesetzt. Er geht davon aus, dass Gesellschaft dem Funktionieren von Sprache strukturell ähnlich ist.50 BAUMAN erklärt das so: „Durch ihre Benennungs-/Klassifizierungsfunktion stellt sich die Sprache selbst zwischen eine fest gegründete, ordentliche Welt, die für Menschen bewohnbar ist, und eine kontingente Welt des Zufalls, in der menschliche Überlebenswaffen – Gedächtnis und Lernfähigkeit – nutzlos, wenn nicht geradezu selbstmörderisch wären.“51
Funktion der Sprache sei, die Ordnung aufrecht zu erhalten und Zufall und Kontingenz zu leugnen oder einzudämmen. BAUMANN schreibt: „Eine ordentliche Welt ist eine Welt, in der man ‚weiter weiß‘. […] Wegen unserer Lern- und Erinnerungsfähigkeit haben wir spezifische Interessen an der Aufrechterhaltung der Ordnung der Welt. Aus demselben Grunde erfahren wir Ambivalenz als Unbehagen und als eine Drohung. […] Es könnte sich erweisen, daß keines der erlernten Muster in einer ambivalenten Situation richtig ist. […] Die Konsequenzen der Handlung werden unvoraussagbar, während die Zufälligkeit, die doch eigentlich durch die Bemühung um Strukturierung aufgehoben sein sollte, ungebeten zurückzukehren scheint.“52
Und etwas später liefert BAUMAN ein gutes Beispiel für die Irritationen, die durch das Moment der Flüchtigkeit in der Moderne entstanden sind: „Wie alt die Moderne sei, ist eine umstrittene Frage. Es herrscht keinerlei Übereinstimmung in der Frage der Datierung. Es herrscht keinerlei Konsens in der Frage, was datiert werden soll. Und sobald einmal die Anstrengung der Datierung im Ernst beginnt, fängt der Gegenstand selbst an zu verschwinden. Die Moderne, wie alle anderen Quasi-Totalitäten, entzieht sich uns: Wir entdecken,
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Ebd. Hervorhebungen im Original. Vgl. ebd., 37f. BAUMAN, Zygmunt (2005). Eine mit den Jahrzehnten immer unübersichtlicher und hermetischer werdende Debatte, die als „Strukturalismus“ in der Mitte des 20. Jahrhunderts begonnen hat. Einer der bekanntesten Protagonisten ist Claude LEVI-STRAUSS mit einer strukturalen Anthropologie. Ich möchte hier nur auf die frühe Arbeit von Michel FOUCAULT Les Mots et les Choses verweisen. Vgl. FOUCAULT, Michel (1966). BAUMAN, Zygmunt (2005), 12. Ebd., 12f.
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daß der Begriff mit Vieldeutigkeit überladen ist, während sein Bezugsobjekt gleichzeitig im Innersten dunkelt und an den Rändern ausgefranst ist.“53
BAUMAN kommt zu folgendem, scheinbar absurden Schluss – es sei unwahrscheinlich, dass sich der Streit um die Datierung der Moderne lösen ließe: „Das die Moderne bestimmende Merkmal, das diesen Essays zugrundeliegt, ist selbst ein Bestandteil des Streits.“54 Die Ambivalenz als „Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen“ und die Reflexion der Ordnung der Welt, des menschlichen Ursprungs und des menschlichen Selbst aus dem „Abscheu vor Ambivalenz“55 sind für BAUMAN Produkte der Moderne und deshalb untrennbar mit dem Vergesellschaftungsprozess der Moderne verbunden: Ambivalenzen „können aufklärend wirken, eine expressive Ausdrucksform sein, dem Selbstschutz dienen“56. Sie haben ein inhärentes Kreativitätspotential, wenn die mehrdeutigen Handlungsorientierungen und Situationsbeschreibungen ausgehalten und überblickt werden. Gerade bei den in dieser Arbeit relevanten Theoriekonzepten von WEBER und SIMMEL werden sowohl der Versuch, das vielfältige Chaos der Welt durch Systematisierung zu beherrschen als auch die Ambivalenz der Phänomene in der Moderne aufzudecken, deutlich. ROSA schreibt: „Die Analysen der Klassiker von Marx bis Durkheim und von Weber zu Simmel oder Tönnies laufen darin zusammen, dass sie ihren Ausgang in der Beobachtung einer massiven Veränderung der Lebensbedingungen nehmen – was zu der Gegenüberstellung ‚archaischer‘ und ‚moderner‘ Gesellschaften geführt hat, die sich bei allen Gründervätern der Soziologie findet – und dass sie sich zutiefst beunruhigt zeigen über die tendenziellen Konsequenzen dieser Veränderungen für die menschliche Lebensführung: Entfremdung und Entzauberung bei Marx und Weber, Anomie, Gemeinschaftsverlust und das Verschwinden genuiner Individualität bei Durkheim, Tönnies und Simmel.“57
Ist Moderne als Prozess der „Entzauberung“58 (einschließlich „Wiederverzauberung“59) zu beschreiben, so muss für den gesamten Modernisierungsprozess der letzten beiden Jahrhunderte festgehalten werden, dass dieser nach DUBIEL „nicht mit einer eindimensionalen Aufklärung zu tun [hat], welche vorrationale Reste einfach beiseite schiebt, sondern mit dem komplexeren Phänomen sich überlagernder Prozesse von formaler Rationalisierung, Säkularisierung und kultureller Differenzierung zum einen und Prozessen von Traditionalisierung, Resakralisierung und Neuvereinheitlichung zum anderen“60. 53 54 55 56 57 58 59 60
Ebd., 14f. Ebd. Ebd., 28. JUNGE, Matthias (2000), 39. ROSA, Hartmut (2009), 25. Hervorhebungen im Original. WEBER, Max (1985), 308. KLINGER, Cornelia (1995), 8. DUBIEL, Helmut (1992), 747.
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Modernisierung und Traditionalisierung durchdringen sich nach GABRIEL gerade um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einem „Amalgam aus Tradition und Modernität“61. Demnach braucht nach LEPSIUS im Prozess der Modernisierung „keineswegs die gesamte Konfiguration der Traditionalität aufgehoben zu werden, wenn etwa die Wertvorstellungen erhalten bleiben trotz Veränderung der Organisationsformen und der Rollendefinitionen“62. Modernität und Traditionalität müssen sich demnach nicht ausschließen, sondern „Modernisierung in einem Bereich“ kann „zur Traditionalisierung in einem anderen führen“63. Die Ambivalenzen des Fortschritts sind im ausgehenden 19. Jahrhundert jedoch keine originäre Entdeckung der in dieser Zeit aufkommenden Soziologie als moderner Wissenschaft. Auch Literaten, Journalisten und Philosophen versuchen, die allgemeine Ernüchterung zu verarbeiten und zu erklären.64 Der sogenannte Fortschrittspessimismus ist seit Beginn der 1870er Jahre ein Phänomen, das vor allem im gebildeten Bürgertum einen Ort gefunden hat.65 Dazu schreibt DAHME: „Der bildungsbürgerliche Fortschrittspessimismus […] entstand als Reaktion auf den Materialismus und Optimismus der ‚Gründerzeit‘. Der zur Schau gestellte Prunk der Neureichen, der neuen aufstrebenden bürgerlichen Klasse, wie die Ansprüche der Arbeiter, am Aufschwung der Gründerjahre auch teilhaben zu wollen, wurden vom Bildungsbürgertum als Anzeichen gesellschaftlicher Unordnung oder zumindest eines besorgniserregenden Wandlungsprozesses wahrgenommen, der die Leistungen des einzelnen immer unbedeutender und die liberale Vorstellung von der autonomen, sittlichen Persönlichkeit fraglich erscheinen ließ. Materialismus, Hedonismus, Vermassung, Anspruchsinflation […] – und nicht ökonomische Absatzkrisen – ließen dem Bildungsbürgertum die Gegenwart nicht mehr als Fortschritt erscheinen, zumindest nicht mehr als linearen.“66
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GABRIEL, Karl (1991), 832. Vgl. auch GABRIEL, Karl (1991a), 3. LEPSIUS, M. Rainer (1977), 18. Ebd. Vgl. die Ausführungen zur Kulturkritik in Deutschland um 1900 in Kapitel 4.3 und 4.4 dieser Arbeit. Zur sozialen Stimmung in den Gründerjahren vgl. HAMANN, Richard (1971). Vgl. WEHLER, Hans-Ulrich (1981), 225ff. DAHME, Heinz-Jürgen (1988), 226f.
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2.2 Einwirkungen der Kulturkritik auf die Grundlagen der deutschen Soziologie Das Unbehagen an der Modernität und der Verlust des Fortschrittsglaubens beim Bildungsbürgertum entzündete und artikulierte sich vor allem am Phänomen der neuen Massen, wie sie vor allem in der Großstadt überwältigend in Erscheinung traten. Die Massen waren nur eines der offensichtlichsten Phänomene, an denen das Strukturmerkmal der Gegenwart sinnfällig wurde, „der zunehmende Rationalisierungsprozeß, der sich am offensichtlichsten am gerade prosperierenden Wirtschaftssystem der Gründerepoche wahrnehmen ließ. Hier fand man eine übergreifende Erklärung für den sich abzeichnenden Wertewandel und den Wandel in den sozialen Verkehrsformen, den der Bildungsbürger mit Skepsis, wenn nicht mit Ressentiment, beobachtete“67.
Der sich gegen die Mechanisierung der Gesellschaft richtende Pessimismus fühlte sich der neuen Zeit nicht nur ausgeliefert, sondern sann auf Abhilfe durch eine kulturpolitische Mission, zu der ganz selbstverständlich erzieherische Maßnahmen gehörten. DAHME resümiert: „Die pessimistische Fortschrittskritik ist weniger Gesellschaftskritik als vielmehr Kulturkritik. Den Krisenphänomenen meinte man mit Ethik, d. h. dem Nachweis allgemein gültiger, überpersönlicher Werte und Normen, begegnen zu können und damit eine ‚moralische Wende‘ gegenüber der Modernität einleiten zu können.“68
Hier treffen sich der Katholik und der Bildungsbürger in einem gemeinsamen Interesse. Beiden ist die Gegenwart fragwürdig geworden, aber gerade deswegen fühlen sie sich zu einer kulturpolitischen Mission berufen, die die Kosten der Moderne eindämmen soll. DAHME schreibt: „Der gesellschaftliche Rationalisierungsprozeß war aber durch Ethik auch nicht mehr zu stoppen, so daß ein Jahrzehnt später – in den 1890er Jahren – die sich allmählich etablierende Soziologie genau an demselben Problem noch einmal neu ansetzte, nur jetzt nicht mehr pessimistisch wertend, ein Unbehagen an der Moderne zum Ausdruck bringend, sondern man fragte jetzt, wie das mittlerweile Selbstverständliche und Triviale, nicht mehr Zurückschraubbare, die zunehmende Rationalisierung des sozialen Lebens, überhaupt möglich ist, und untersuchte die Bedingungen der Genese wie des Funktionierens dieses Phänomens.“69
BOLLENBECK fragt am Ende seiner Überlegungen zur Kulturkritik nach deren „stimulierender Funktion“ für die Grundlagen der deutschen Soziologie und richtet dabei seine Fragen u. a. an die theoretischen Konzepte von TÖNNIES, 67 68 69
DAHME, Heinz-Jürgen (1988), 227. Hervorhebungen im Original. Ebd., 228. Ebd., 232. Hervorhebungen im Original.
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SIMMEL und WEBER.70 Aus der Sicht BOLLENBECKs sind die Gründerväter der deutschen Soziologie „reflektierte Synkretisten, die entsprechend der eigenen Problemstellung heterogenes Fremdwissen und das Material anderer Disziplinen reformulieren und rekombinieren. In diesem Aneignungs- und Verarbeitungsprozess kommt der Kulturkritik eine prominente, bisher unterschätzte Rolle zu“71.
BOLLENBECK meint damit, dass die deutsche Soziologie dem zeitgenössischen kulturkritischen Denken, „seinem Repertoire, seiner motivierenden Ausgangslage und Problemkonfiguration verpflichtet“72 sei. Er beruft sich bei dieser Feststellung vor allem auf die These, dass die deutsche Soziologie bei ihrer Gründung „einen privilegierten Anspruch auf die Analyse der modernen Wirklichkeit“ erhebt: „Die allgemeine Ernüchterung nach dem Ende der liberalen Ära bildet ihren mentalen Ermöglichungszusammenhang.“73 Aus dieser Tatsache erkläre sich, dass ihre „Grundbegriffe häufig als Scharnierbegriffe in der breiteren Öffentlichkeit und in der entstehenden Fachöffentlichkeit kursieren“74. Für BOLLENBECK gehört aber die Kulturkritik nicht nur zum „Vorrat des soziologischen Denkens“, sie sei vielmehr auch in den „Bestand des disziplinär Durchdachten“75 gelangt. Seine These lautet: Die „Ausrichtung des neuen soziologischen Blicks auf die Ambiguitäten der Moderne“76 verdankt sich gerade dem besagten kulturkritischen Anteil innerhalb der deutschen Soziologie. BOLLENBECK argumentiert folgendermaßen: In der Zurückweisung der „geschichts- und gesellschaftsdeutenden Leitfunktion des Fortschrittsbegriffs“ stehe sie eher in der „Tradition von Nietzsches Nihilismusdiagnose“, somit bleibe die deutsche Soziologie – wie keine andere akademische Disziplin – dem „kulturkritischen Denken“77 verpflichtet. Auch wenn die „Soziologie als Handlungswissenschaft das Individuum in Handlungsakte theorietechnisch“ auflöse, bleibe unbeschadet dessen bei „Tönnies, Simmel und M. Weber das Individuum als Wertkategorie gegenüber dem Kollektiv und der Gesellschaft hochgeschätzt“78. Eine der Folgen dieser theoretischen Grundlage der deutschen Soziologie79 ist, so BOLLENBECK, dass sie nach den „Kosten der 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Vgl. BOLLENBECK, Georg (2007), 251ff. Ebd., 251f. Ebd., 252. Ebd. Ebd. Als Grundbegriffe sind z. B. Gesellschaft, Individuum, soziale Ordnung, Sinn, Kultur, Disziplin, Macht, Herrschaft und Moderne zu verstehen. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 252f. Dies im Unterschied zur sogenannten westlichen Soziologie der Moderne, damit meint BOLLENBECK die englische und französische Tradition, die bei ihrer Begründung (z. B. durch Herbert SPENCER oder Auguste COMTE) die gesellschaftliche Entwicklung an einen Fortschrittsbegriff gebunden hatte. Vgl. BOLLENBECK, Georg (2007), 252.
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gesellschaftlichen Entwicklung für das Individuum“ fragt und dies mit dem Anspruch auf eine „denkende Erfassung der Wirklichkeit“ und eine „Geschichtsdeutung“80 tut. BOLLENBECK verweist auf WEBERs Diktum von der Sozialwissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft: „Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits.“81
Dennoch bleibt in der frühen deutschen Soziologie die Wertfreiheit, deren Postulat niemand so sehr wie Max WEBER im Namen neutraler Wissenschaftlichkeit reklamiert hat – nach BOLLENBECK – „keine Floskel“. Wiewohl das „Individuum der Verwissenschaftlichung geopfert“ wurde, bleibe doch „im Banne des Deutungsmusters Bildung und Kultur die Sorge um seine Kultur [einschließlich der Sorge um das Individuum] wirksam“82. Dies impliziere, dass die deutsche Soziologie – wie gesagt im Unterschied zur englischen und französischen Tradition – mit ihrer „normativen Orientierung“ wie „historischen Sichtweise“ die bürgerliche Gesellschaft nicht als „naturgesetzliche Ordnung“83 festschreibt: „Von daher erklärt sich ihre reservatio mentalis gegenüber dem Industriekapitalismus, ihre Beschäftigung mit den Pathologiebegriffen ‚Verdinglichung‘, ‚Entpersönlichung‘ oder ‚Entfremdung‘, ihre Frage nach der ‚Kulturbedeutung des Kapitalismus‘ für das ‚Kulturmenschentum‘.“84
Anders als die Kulturkritik reagiere die Soziologie nicht affektiv oder „gefühlsmäßig-ästhetisierend“ auf die „Zumutungen der Moderne“, sondern „nüchtern und diszipliniert“85. Und BOLLENBECK folgert: „Damit verlieren […] kulturkritische Kompaktbegriffe ihren grenzunscharfen alarmistischen Charakter. Sie werden durch definitorische Merkmalszuweisungen und theoretisch-systematische Einbettungen terminologisiert“ – und zwar, „ohne ihre kulturkritische Herkunftsbedeutung zu verlieren“86. So könnten beispielsweise WEBER, TÖNNIES oder SIMMEL mit dem kulturkritischen Hinweis auf „Entfremdung“ – Entfremdung verstanden als umfassend strukturelles Phänomen der Moderne – nach den Folgen von „Rationalität, Rationalismus und Rationalisierung“ in den unterschiedlichen Bereichen von Politik, Ökonomie und Kultur fragen. Dabei kontrastieren sie den jeweili80 81 82 83 84 85 86
Ebd., 253. WEBER, Max (1968a), 170f.; zit. n. BOLLENBECK, Georg (2007), 253. BOLLENBECK, Georg (2007), 253. Ebd. Ebd. Ebd., 254. Ebd.
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gen Zustand der Vergesellschaftung mit „naturwüchsig-geschichtlichen Lebensformen, aus denen der Rationalisierungsprozess einerseits hervorgeht, die er andererseits aber auch zerstört“87. So entwickle beispielsweise TÖNNIES in Gemeinschaft und Gesellschaft den Begriff der Gemeinschaft als „normativen Oppositionsbegriff“, der damit eine „kontrastiv-kritische Funktion gegen den liberalen Fortschrittsbegriff und die industriekapitalistische Moderne“88 einnehme. Dennoch blicke TÖNNIES nicht derart starr wie der von ihm bewunderte RIEHL „auf vormoderne Sozialidyllen“, denn schließlich halte TÖNNIES „Neugründungen von Gemeinschaften“ für möglich, er tue dies jedoch ohne „geschichtsphilosophische Gewissheit, sondern nur [als] eine vage Erwartung“89. Man fände bei TÖNNIES aber durchaus auch „Vorstellungen vom möglichen […] Untergang der Zivilisation“90. Anders dagegen SIMMEL. Er unterscheidet sich nach BOLLENBECK von TÖNNIES durch die These von der Moderne als Ausdifferenzierungsprozess. SIMMEL geht davon aus, dass mit steigender Komplexität innerhalb der modernen Gesellschaft die Spielräume des Individuums vielfältiger werden. Aber SIMMEL befürchtet auch, dass der „soziale Differenzierungsprozess, der das Individuum freisetzt“91, es in einer vermeintlich paradoxalen Bewegung auch wieder zerstören könnte. Gemeint ist der Prozess, der für SIMMEL aus dem Zusammenhang von Geldwirtschaft und Großstadt entsteht. Dadurch würden die Großstädte zum produktiven Zentrum des Geisteslebens, das Lebensstile und zivilisatorische Erfolge generiere. Allerdings würden durch das Geld viele Dinge mit „unbarmherziger Objektivität“ bemessen, das Individuum bzw. die Gesamtpersönlichkeit könnte dabei auf der Strecke bleiben. In diesem Prozess stünden die „objektiven Gebilde“ dem Menschen immer wieder auch als „fremde Macht“92 gegenüber. Das mechanische Kalkül, das der durch die Geldwirtschaft geprägten Gesellschaft inhärent ist, steht bei TÖNNIES in einem Gegensatz zur vormodernen organischen Gemeinschaft, wenngleich er den Begriff Gemeinschaft wie den der Gesellschaft als soziologische Idealtypen und nicht als historische Entwicklungsstufen ansieht. Für WEBER ist die Moderne durch einen umfassenden Rationalisierungsprozess gekennzeichnet. Die moderne Gesellschaft ist für ihn eine Form,
87 88 89 90 91 92
Ebd. BOLLENBECK beruft sich in seiner Argumentation vor allem auf BREUER, Stefan (1996), der die Gemeinsamkeiten von WEBER, TÖNNIES und SIMMEL herausgearbeitet hat. Ebd., 255. Ebd. Ebd., 255f. Zum Zusammenhang vgl. Kapitel 4.3 und 5.2.1 dieser Arbeit. Ebd., 256. Ebd., 256f. Im Gegensatz zu TÖNNIES erwartet SIMMEL keine Lösungen von der Politik, vielmehr erwartet er von „höherer Kunst“ die „innerweltliche Erlösung von den Zwängen industriekapitalistischer Fragmentierung, Nivellierung und Mechanisierung“ (ebd., 257).
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„die den Menschen aus den Sicherheiten der gemeinschaftlichen Solidarität in die Kälte der gesellschaftlichen Rationalität entlasse – zu der es freilich keine Alternativen gebe, weder die Restituierung des Religiösen, noch so etwas wie ein Charisma der Vernunft“93.
Für Georg SIMMEL ist die Geldwirtschaft der maßgebliche Motor der Moderne. Sie führt zur Versachlichung der Beziehungen und lässt das Individuum hinter die Ansprüche der Gesellschaft zurücktreten. Dabei erscheinen gerade „Gemeinschaftsverlust und Sinnverlust dann als Voraussetzungen dafür, wie der Mensch seine individuellen Fertigkeiten erst voll entfalten kann. Vielleicht macht gerade diese Diagnose Simmels Theorie zur modernsten (sic!) aller klassischen Theorien der Moderne“94.
Nach RAMMSTEDT geht es bei WEBER und SIMMEL „jeweils […] um die Brüchigkeit des Wertsystems, um ihre Folgen für die Individuen und die soziale Ordnung“95. Diese wird greifbar als Zukunftsverlust, denn „der Verzicht auf den Glauben an den ökonomischen Fortschritt angesichts der ‚Great Depression‘ bezieht die Infragestellung des sozialen Fortschritts ein“ und „alle bisher als selbstverständlich geltenden Erwartungen lassen sich – ihrer Ansicht nach – nicht mehr als dauernd aufrecht erhalten“96. RAMMSTEDT schreibt: „In der sozialen Dimension gehen sie vom Zerbrechen der traditionellen Interaktionsgefüge aus.“97 So könne beispielsweise die Familie das „Gespräch zwischen den Generationen“98 nicht mehr gewährleisten und für die gesellschaftlich an Bedeutung verlierenden Stände gäbe es (noch) kein Äquivalent. „Die umfassende Routinisierung durch Arbeit greift nicht; die feststellbare ‚fieberhafte Betriebsamkeit‘ (Durkheim) verdeckt, daß der Zwang, ‚Berufsmensch’ (Weber) sein zu müssen, nicht verinnerlicht ist.“99 Das Unbehagen an der Moderne in der Zeit des tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandels zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland hat sich vor allem am Phänomen der Massen und damit auch der Großstadt entzündet. Dieser Ambivalenz der Moderne hat die Soziologie als Wissenschaft in diesen Jahren Rechnung getragen, und sie hat auch Impulse der damals aufkommenden kulturkritischen Ansätze aufgegriffen. In einem kurzen Überblick möchte ich darlegen, wie Max WEBER, Werner SOMBART und Georg SIMMEL die Moderne in einem Kontext nicht-linearer Vermittlungen und Wechselwirkungen wissenschaftlich zu begreifen versuchen. 93 94 95 96
97 98 99
NASSEHI, Armin (2003), 140. Ebd., 144. Hervorhebung im Original. RAMMSTEDT, Otthein (1988), 288. Ebd., 288f. Die durch den Börsenkrach von 1873 ausgelöste Große Depression führte zu einem lang anhaltenden Konjunkturabschwung zwischen 1873 und 1896. Vgl. ROSENBERG, Hans (1967). RAMMSTEDT, Otthein (1988), 289. Ebd. Ebd.
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2.3 Sozialwissenschaftliche Theoretisierungsversuche der Moderne 2.3.1 Max WEBER (1864-1920) – Protestantische Ethik und Rationalisierung In der Protestantischen Ethik untersucht WEBER die „Beziehungen zwischen der altprotestantischen Ethik und der Entwicklung des kapitalistischen Geistes“100. Zwischen beiden bestehen nach WEBER „Wahlverwandtschaften.“101 Dazu schreibt Hans-Richard REUTER: „Die Verbindung von harter Arbeit, innerweltlicher Askese und methodischrationaler Lebensführung geht auf den prägenden Einfluß des Calvinismus und die alltagsweltliche Deutung der calvinistischen Prädestinationslehre zurück. Denn diese verbinden die religiöse Aufwertung des weltlichen Berufs mit dem Gedanken, daß der Erfolg der Berufsarbeit Zeichen menschlichen Erwähltseins ist.“102
WEBER versuchte, so Ernst TROELTSCH, den „scharfsinnigen Analysen Sombarts über das Wesen des kapitalistischen Geistes“ nachzugehen und „nach den seelischen Vorbedingungen und Ursachen für die Entstehung dieses Geistes“103 zu suchen.104 Kapitalismus und Religion sind die zentralen Bereiche menschlicher Lebensführung. Hans-Peter MÜLLER schreibt: „Der Kapitalismus im Verein mit Wissenschaft und Technik, bürokratischer Organisation und dem Berufsmenschentum drückt seinen Stempel vor allem den modernen Gesellschaften der Gegenwart auf und trägt maßgeblich dazu bei, die Säkularisierung und Entzauberung der Welt voranzutreiben, indem das gesellschaftliche Leben in wachsendem Maße seiner technisch-instrumentellen Rationalität unterworfen wird.“105
Der von WEBER analysierte Rationalisierungsprozess hat nach MÜLLER drei wesentliche Konsequenzen: Religion wird als zentrale Wertsphäre in den Bereich des Irrationalen verdrängt, verliert im Alltagsleben der Menschen ihre herausragende Stellung und konkurriert auf der Ebene der Kultur zunehmend
100 101
102 103 104 105
WEBER, Max (1986), 80. WEBER, Max (1986), 82. Zum Geltungsproblem der Protestantismus-These WEBERs vgl. TAKEBAYASHI, Shiro (2003), 276ff. Zur Kritik an der WEBER-These vgl. auch EISENSTADT, Shmuel N. (1970), 1ff. REUTER, Hans-Richard (2004), 93. TROELTSCH, Ernst (1906), 43. Zur Polemik von Karl HOLL gegen die Thesen von TROELTSCH und WEBER vgl. u. a. EISENSTADT, Shmuel N. (1970), 4. MÜLLER, Hans-Peter (1992), 54.
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mit anderen Konzeptionen der Sinnstiftung.106 WEBER findet nach GIESING in der Religion selbst „die Keime der säkularisierten Moderne“107. Dabei gewährte der Calvinismus „der Eigengesetzlichkeit der wirtschaftlichen Welt, namentlich der beruflichen Welt, den weitestmöglichen Entfaltungsraum“108 und evozierte in seinem Einflussbereich die Verselbständigung und den „Umschlag der wirtschaftlichen Sphäre zur reinen Säkularität“109. Schon Ernst TROELTSCH hatte darauf hingewiesen, dass sich eine Verbindung zwischen kapitalistischem Geist und Calvinismus nicht in anderen Denominationen des Protestantismus aufweisen lasse: „Einen Impuls zu starker wirtschaftlicher Entwicklung hat die lutherische Frömmigkeit nie enthalten und bei der Verengung der deutschen Verhältnisse erst recht nicht entwickelt. Die ökonomischen Wirkungen des Luthertums erstrecken sich daher nur auf die Stärkung der Landesgewalt und damit indirekt des Merkantilismus.“110
Nach EISENSTADT war die Reformation zunächst keine Modernisierungsbewegung und zielte eigentlich auf „Errichtung einer neuen, reineren, ‚mittelalterlichen‘ gesellschaftspolitischen religiösen Ordnung“111. Durch die ausgeprägten „‚innerweltlichen‘ religiösen Impulse“112 war der Protestantismus jedoch „von Anfang an mit den hauptsächlichen gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandlungstrends verbunden, die in der europäischen Gesellschaft [...] vom Ende des 17. Jahrhunderts an vor sich gingen: der Entwicklung des Kapitalismus, der Entwicklung der Renaissancestaaten, dem Absolutismus und der folgenden allgemeinen Krise des 17. Jahrhunderts, der Krise zwischen ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft’, der Entwicklung einer weltlichen Orientierung und Wissenschaft“113.
EISENSTADT sieht die Bedeutung des Protestantismus „in seinem Beitrag zur Umstrukturierung der europäischen Gesellschaft, die sich als Ergebnis aller dieser Krisen entwickelte, sich jedoch wegen des Wandlungspotentials des Protestantismus nach der Gegenreformation in den protestantischen Ländern stärker auswirkte als in den katholischen“114.
106
107 108 109 110 111 112 113 114
Vgl. ebd., 54. In den Zwischenbetrachtungen differenziert WEBER intellektuelle, erotische und ästhetische Sphären. Vgl. Weber, Max (1963), 541ff. Vgl. MÜLLER, Hans-Peter (1992), 54. Zu den Zwischenbetrachtungen vgl. insbesondere KÜENZLEN, Gottfried (1980), 88ff. GIESING, Benedikt (2002), 165. Vgl. SCHLUCHTER, Wolfgang (1988), 106f. Ebd., 166. Ebd. TROELTSCH, Ernst (1963), 65. EISENSTADT, Shmuel N. (1970), 6. Ebd. Ebd. Ebd., 7.
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Über ein großes Wandlungspotential verfügt der Protestantismus nach EISENSTADT deshalb, weil er die „Saat der Autonomie und des Pluralismus aufnahm und an ihrer Verfestigung auf einer höheren Ebene der Differenzierung mitwirkte, während in katholischen Ländern wie in Spanien und Frankreich die potentiell pluralistische Einwirkung verschiedener modischer Trends, den Protestantismus eingeschlossen, durch die Bildung des katholischen Staates während der Gegenreformation gehemmt wurde.“115
Unterstützend bei der Ausbildung des Wandlungspotentials protestantischer Gruppen war – neben einer gewissen „‚Offenheit‘ gegenüber der umgebenden Sozialstruktur, die in ihrer ‚innerweltlichen‘ Orientierung wurzelte und nicht nur auf den ökonomischen Bereich begrenzt war“116, – vor allem die Kombination von Transzendenz und Innerweltlichkeit, „eine Kombination, die das individuelle Verhalten an Handlungen innerhalb dieser Welt orientiert, aber nicht eine von ihnen als Ziel religiöser Vollendung oder Würde durch eine rituelle Handlung weiht“117. Dabei kam nach EISENSTADT der Rolle des Unternehmers eine besondere Bedeutung zu, denn das Wandlungspotential des Protestantismus ermöglichte das Zustandekommen neuer autonomer Rollen und der sie begünstigenden organisatorischen Rahmenbedingungen: „Die Entwicklung zu einer organisatorischen Autonomie von Zielen, einer organisatorischen Struktur und Legitimation fand in den protestantischen Ländern und nicht in den katholischen statt.“118 Für den Menschen in der Moderne folgt daraus nach PEUKERT, dass „diese neue, rationalisierte, rastlos produktive Lebenseinstellung […] keineswegs heitere[n] Fortschrittsgeist, sondern jene ungeheuerliche Gewissensnot, die in einer noch ganz von religiösen Weltbildern bestimmten Zeit die Prädestinationslehre Calvins ‚in ihrer pathetischen Unmenschlichkeit‘ auslösen mußte. Niemand konnte des Heils gewiß sein, das allein Gottes unerforschlicher wie unwandelbarer Ratschluß des Auserwählten zuerkannt hatte. Das daraus folgende ‚Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums‘, dem ‚kein Prediger‘, ‚kein Sakrament‘, ‚keine Kirche‘, ‚endlich auch: kein Gott‘ bei der Gewinnung des Heils helfen konnte, schlug um in peinliche Selbstkontrolle, ruhelose Aktivität zur Herstellung einer gottgewollt rational geordneten Welt. Und selbst der sich dabei einstellende Erfolg konnte zwar als Zeichen gewertet werden, daß der Segen auf dem Arbeitenden ruhte, aber keine letzte Gewißheit verschaffen“119.
115 116 117 118 119
Ebd., 14. Ebd., 10. Ebd., 9. Ebd., 13. PEUKERT, Detlev (1989), 31.
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WEBERs Analyse des Modernisierungsprozesses widerspricht also der „Entwicklung hin zu einer ‚besseren‘ Welt […], da er – unter Sichtbarmachen der für das Individuum negativen Konsequenzen – diesen ausschließlich in der westlichen Welt verortete und daraus eben nicht ein universell gültiges Gesetz der menschlichen Geschichte abzuleiten gedachte“120.
Max WEBER lehnt die in der historischen Nationalökonomie verbreiteten Kulturstufentheorien ab121, wie es von ihm auch niemals „von irgendeinem zeitlichen oder sachlichen Gebiet jemals eine geschlossene geschichtliche Darstellung gegeben hat“122. Überhaupt ist WEBER zurückhaltend, wenn es innerhalb seiner Wissenschaftstheorie um die Bewertung historisch-empirischer Zusammenhänge geht. Vom Wissenschaftler fordert er in seinem Aufsatz über den Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften von 1917, dass er zwischen theoretischer Wertebeziehung und praktischer Wertung unterscheidet, der „Verbannung wertender, nicht: Werte suchender“123 Wissenschaft.124 Nach PEUKERT ist WEBERs „Anatomie des okzidentalen Rationalisierungsprozesses [...] auch die Pathogenese der Moderne“125, deshalb könne von einem kulturkritischen Ansatz bei WEBER ausgegangen werden: „Das ist die zweifache Paradoxie der Moderne: an ihrem Beginn stehen die unerhörte Vereinsamung und religiöse Not, die doch eine ungeahnte Steigerung von Diesseitigkeit, rationaler Weltbeherrschung und intellektueller Autonomie des Individuums hervorbringen helfen; an ihrem Ende könnte jene sinnentleerte routinisierte ‚Hörigkeit der Zukunft’ stehen, die die Dynamik und Expansionskraft der Rationalisierungsprozesse versteinern läßt. Beiden Prozessen gemein aber ist der wachsende Leidensdruck als Preis für den Zugewinn an Rationalität.“126
MÜLLER schreibt: „Der Säkularisierungs- und Entzauberungsprozess entwertet das kollektiv verbindliche religiöse Weltbild des Christentums als Prägein120 121 122
123 124
125 126
HARING, Sabine A. (2001), 6. Vgl. NIPPEL, Wilfried (1999), 8. WINCKELMANN, Johannes (1980), 18. Hervorhebung im Original. Auch für Georg SIMMEL ist die Geschichte „einerseits in sich ein so ungeheuer komplexes Gebilde, andererseits ein so unsicher und subjektiv begrenzter Ausschnitt aus dem kosmischen Geschehen, daß es keine einheitliche Formel für ihre Entwicklung als Ganzes geben kann“ (SIMMEL, Georg, 1992, 60). Vgl. auch SIMMEL, Georg (1989b), 418. SCHÖLLGEN, Gregor (1984), 60. WEBER führt aus, dass der Forschende „die Feststellung empirischer Tatsachen (einschließlich des von ihm festgestellten ‚wertenden‘ Verhaltens der von ihm untersuchten empirischen Menschen) und seine praktisch wertende, d. h. diese Tatsachen (einschließlich etwaiger, zum Objekt einer Untersuchung gemachter ‚Wertungen‘ von empirischen Menschen) als erfreulich oder unerfreulich beurteilende, in diesem Sinn, ‚bewertende‘ Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle“ (WEBER, Max, 1968b, 500, Hervorhebungen im Original). PEUKERT, Detlev (1989), 29. Ebd., 32.
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stanz individueller Lebensführung und setzt an seine Stelle eine fragmentierte Kultur, die Ausdruck der modernen Erfahrung sozialer Zerrissenheit ist.“127 Das Wissen oder der Glaube an die Möglichkeit der intellektuellen Durchdringung aller Lebensbereiche und der Einsicht, alle Ebenen durch Berechnen beherrschen zu können, führt zur „Entzauberung der Welt“128. Für WEBER hat der Rationalisierungsprozess gravierende Konsequenzen auf drei Ebenen:129 Erstens wird Religion auf institutioneller Ebene als zentrale Wertsphäre zunehmend ins Irrationale gedrängt und in der kognitiven Dimension durch Wissenschaft ersetzt: in der evaluativen Dimension treten anstelle religiöser Ethik und Moral rein weltliche Modelle. Zweitens verliert Religion auf der ideellen Ebene ihren Charakter als Lebensführungsmacht. Drittens auf der inter- und intrainstitutionellen Ebene „machen der Religion andere Kultur-Mächte als Sinnstifter heftig Konkurrenz. Wie Webers religionssoziologische Schriften zeigen, zieht die Rationalisierung der Lebensordnungen und die Säkularisierung der Ideale einen Rückgang der religiös bestimmten Lebensführung nach sich, und die religiöse Wertsphäre wird durch differenzierte Kultursphären ersetzt.“130
WEBER betrachtet die historische Entwicklung von sozialen Gruppen unter den Begriffen von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung131. Mit Blick auf das Mittelalter begreift er soziale Gruppen nicht nur im Sinne einer subjektiv gefühlten Zusammengehörigkeit (Vergemeinschaftung), sondern es gelingt ihm, den rationalen Kontrakt des Interessensausgleichs innerhalb der sozialen Beziehungen in den Vordergrund zu rücken (Vergesellschaftung).132 Das Konzept der Verbrüderung als besondere Form der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung hat Auswirkungen auf seine Theorie der Bildung sozialer Gruppen in der abendländischen Kultur.133 Geschichte wird nicht mehr als Geschichte von Ständen und Klassen gesehen, sondern als „Geschichte sozialer Gruppen im Prozeß des sozialen Handelns der Individuen“134 betrachtet. WEBER will „die spezifische Struktur verschiedener Gesellschaften und die Art 127 128 129 130 131
132 133 134
MÜLLER, Hans-Peter (1992), 55. WEBER, Max (1968), 594. Vgl. MÜLLER, Hans-Peter (2007), 251ff. Ebd., 253. Während Vergemeinschaftung eine soziale Beziehung bezeichnet, „wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns [...] auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht“, meint Vergesellschaftung, „wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessensausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht“ (WEBER, Max, 1985, 21. Hervorhebung im Original). In der Soziologie um die Jahrhundertwende wird der Begriff der Gesellschaft vielfach durch abstraktere Grundbegriffe ersetzt, die „das Substrat des sozialen Zusammenlebens besser zum Ausdruck bringen“ (DAHME, Heinz-Jürgen; RAMMSTEDT, Otthein, 1984, 457). Vgl. OEXLE, Otto Gerhard (1994), 134. Vgl. hierzu Kapitel 3.1. Vgl. OEXLE, Otto Gerhard (1994), 155.
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ihrer Veränderung in der Geschichte bestimmen im Blick auf die Formen der Bildung sozialer Gruppen und ihr Verhältnis zueinander“135. Für Max WEBER liegt beispielsweise die Modernität des Mittelalters in der Gruppenbildung der mittelalterlichen Gesellschaft begründet. Erst durch sie habe sie ihre ständischen Qualitäten ausbilden können.136 Von den Klassikern der Soziologie ist die Bedeutung Max WEBERs am nachhaltigsten. Das Spezifische seines Verfahrens liegt, so Dirk KAESLER, in der Bedeutung, die er dem Begriff Vermittlung einräumt: „Das spezifisch Soziologische liegt in seiner Vermittlung von ‚Individuum‘ und ‚Gesellschaft‘: Für Weber ist das eine ohne das andere nicht denkbar und erklärbar. Wir sehen im Werk Max Webers jene Vermittlung angelegt, die von einer gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit ausgeht, in der das Individuum zum einen einer ihm gegenüberstehenden ‚objektiven‘ Wirklichkeit begegnet, die es zum anderen ‚subjektiv‘ verändern und mitbestimmen kann [...]. Nach dieser Interpretation steht Weber als zentrale Gründerfigur jener zahlreichen gegenwärtigen soziologischen Ansätze da, die es sich zum erklärten Ziel gesetzt haben, in einer Verbindung von Mikro- und Makrosoziologie den einzigen Weg für eine fruchtbare Weiterentwicklung soziologischer Theorie und Empirie zu verfolgen.“137
2.3.2 Werner SOMBART (1863-1941) – Die Entwicklung des modernen Kapitalismus Werner SOMBARTs Hauptwerk Der moderne Kapitalismus ist in drei Bänden zwischen 1902 und 1927 erschienen. Es hat bei den Zeitgenossen viel Zustimmung aber auch Kritik hervorgerufen.138 Während WEBERs Protestantische Ethik nach SCHLUCHTER in methodologischer Hinsicht „als eine begriffstheoretische Kritik am historischen Materialismus“139 zu lesen ist und WEBER „dem Kapital weder unter logischen noch unter theoretischen Gesichtspunkten folgen“140 konnte, versteht SOMBART seine Arbeit über das Wirtschaftsleben in 135 136
137 138 139 140
Ebd. Vgl. ebd., 159. WEBERs Thema ist das „von wertrationalen wie von zweckrationalen Motiven geleitete soziale Handeln der Individuen in Gruppen nach selbstgesetzten Normen und zur Verwirklichung vereinbarter Ziele. Weber beobachtet dieses Handeln der Individuen in Gruppen in einer weitreichenden geschichtlichen Perspektive, die Antike, Mittelalter, frühe Neuzeit und Moderne des Okzidents miteinander verknüpft und außerdem andere Kulturen vergleichend einbezieht. Dieser Ansatz übertrifft nach Inhalt und Reichweite auch vergleichbare neue, derzeit diskutierte Ansätze der Erforschung sozialer Gruppen [...] erheblich“ (ebd., 158). KAESLER, Dirk (1995), 117. Vgl. den von Bernhard vom BROCKE herausgegebenen Materialband SOMBARTS ‚MODERNER KAPITALISMUS‘ (1987). SCHLUCHTER, Wolfgang (1988), 71. Ebd., 78. Hervorhebung im Original.
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den unterschiedlichen Phasen des Kapitalismus als Vollendung des MARXschen Werkes: „Was Marx sprach, war das stolze erste Wort über den Kapitalismus, in diesem Werk wird das bescheidene letzte Wort über dieses Wirtschaftssystem, soweit es rein ökonomisch in Betracht kommt, gesprochen.“141 SOMBART benennt eine Reihe von „seltsamen Fehlurteilen“142 bei MARX, etwa „die schrankenlose Steigerung der Produktivität, über die allgemeine ‚Konzentration‘ der Betriebe, über den notwendigen Zusammenbruch des Wirtschaftsgebäudes und vieles andere“143. Den Optimismus einer sich aus dem Kapitalismus heraus entwickelnden besseren Gesellschaft teilt SOMBART nicht und spricht von einer „Entzauberung“144 des MARXschen Werkes zugunsten einer stärkeren Verwissenschaftlichung.145 SOMBART versteht sich nicht als Kulturpessimist, wir Menschen brauchten „an der Zukunft der Menschen nicht zu verzweifeln“146. Er wirft dennoch einen kritischen Blick auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Weltgeschichte: „Aber wir müssen dann unsern Optimismus anderswoher als aus dem Ideenbereiche der kapitalistischen Welt heraus begründen [...]: wir können nicht mehr in derselben Richtung weiterblicken, in der sich die Weltgeschichte bewegt, nicht mehr an das glauben, was sich zwangsläufig aus dem Kapitalismus ergibt; wir können das Heil nur in einer Umkehr und Abkehr von ihm erblicken.“147
Das Gesicht der Klassiker und das „Evolutionsschema von MARX“148 waren „vorwärts gerichtet, das unsere schaut zurück“149. Einige Jahre später, in VIERKANDTs Handwörterbuch der Soziologie (1931), beurteilt Werner SOMBART die städtische Siedlungsweise als widernatürlich und begibt sich so auf die Ebene traditioneller Stadtkritik:150 „Städtisch oder stadthaft siedeln heißt Siedeln (Wohnen) gegen die Natur; heißt das Hineinprojizieren des Geistes in die Natur: heißt das von der Mutter Erde abgewandte, gegen die Naturvorgänge gleichgültige Wohnen in Gebäuden aus Stein und Eisen; in Gebäuden, die nicht mehr aus der Natur hervorwachsen, sondern der Natur aufgezwungen sind; und in einem weiteren Sinn: die Vergewaltigung der natürlichen Gegebenheiten der Umwelt.“151
141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151
SOMBART, Werner (1955b), XXII. Hervorhebungen im Original. Ebd., XX. Ebd. Ebd., XXII. Vgl. ebd. Ebd., XXI. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu Kapitel 3.4.6 und 4.3. SOMBART, Werner (1931), 527. Hervorhebung im Original.
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Die Verstädterung als „Ausdehnung der städtischen Siedlungsweise“ ist dabei „allgemeiner Ausdruck“ und „wichtigstes Beförderungsmittel“152 der Veränderungsprozesse der Gesamtgesellschaft. Zu ihnen gehören: Rationalisierung, Vergeistigung, Entseelung und Entwurzelung.153 Folgen des Auflösungsprozesses von Dorfgemeinschaft, Arbeitsgemeinschaft und Hausgemeinschaft sei die „Verwandlung ursprünglich seßhafter Bevölkerungsschichten in eine Masse hin- und herwogender Einzelpersonen“154, schreibt er 1934 in einer Studie über den deutschen Sozialismus. Hier konkretisiert SOMBART seine Kritik am „ökonomischen Zeitalter“155: Versachlichung setzt er mit Entseelung gleich. Beides führe zum Verlust von „Initiative, Freiheit und Selbstbestimmung“156 beim Menschen. Die Versachlichung als „Ausschaltung des Menschen aus dem Arbeitsprozeß“ ist für SOMBART gleichbedeutend mit „Mechanisierung, Maschinisierung, Apparatisierung“157. Ein weiteres Merkmal des ökonomischen Zeitalters sei die „Ausgleichung“, eine „Neigung zur Gleichförmigkeit, zur Vereinheitlichung aller unserer Lebensformen“158, wozu SOMBART die Verallgemeinerung der Verstädterung als „Ausgleichung zwischen Stadt und Land“ zählt. Der Mensch hat die „alte wohlgefügte Gesellschaftsordnung bis auf die Grundmauern abgetragen“159 und sich auch der Transzendenz beraubt: „Der schwerste Schlag, der den Menschen treffen konnte, war die Zerstörung seines Gottesglaubens und damit die Lösung seines irdischen Daseins von allen transzendenten Beziehungen. Wer diese Lösung vollzogen hat, hat damit schon die Sinnhaftigkeit seines Lebens verwirkt.“160
Letztlich hat sich der Mensch von der Natur getrennt: „Das Stadtkind weiß nichts mehr von den heimlichen Reizen, die die Natur dem Hirtenbuben in tausendfacher Weise bietet. Es kennt nicht mehr den Sang der Vögel, es hat nie ein Vogelnest ausgenommen. Es weiß nicht, was der Flug der Wolken am Himmel bedeutet, es vernimmt nicht mehr die Stimme des Sturmes oder des Donners. Es wächst nicht mehr mit den Tieren des Feldes auf und kennt ihre Gewohnheiten nicht mehr. Das Instinktmäßig-Sichere des Daseins geht ihm verloren. Wo der Landmensch natürlich Rat weiß, in tausend Wechselfällen des urwüchsigen Daseins, versagt das Urteil des Sohnes der Großstadt. So wächst ein Geschlecht von Menschen heran, dessen Lebens-Rhythmus nicht mehr bestimmt wird durch die ewigen Naturerscheinungen: Tag-Nacht, Sommer-Winter, die nimmt es nur noch in der Schule im Anschauungsunterricht durch. Dieses neue Geschlecht lebt ein künstliches Leben, das nicht mehr das urwüchsige Da152 153 154 155 156 157 158 159 160
Ebd. Vgl. ebd. SOMBART, Werner (1934), 16. Hervorhebungen im Original. Ebd., 1. Ebd., 17. Ebd., 19. Ebd., 20. Ebd., 14. Ebd., 32.
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sein ist, sondern ein verwickeltes Gemisch von Schulunterricht, Taschenuhren, Zeitungen, Regenschirmen, Büchern, Kanalisation, Politik und elektrischem Lichte. Mit der Abdrängung der Menschen in die Städte werden auch die besonderen Beziehungen zu einer bestimmten Natur zerstört, zu der, in der er als Kind gespielt, wo er seine Eltern begraben, seine Liebste gefreit, seinen Herd begründet hat: zu seiner Heimat.“161
Neben ökonomischen Erwägungen sind es für SOMBART vor allem auch außerwirtschaftliche Beweggründe, die den „Zug nach der Stadt“162 auslösen. Arbeit in der Stadt gilt als leichter verglichen mit Landwirtschaft, und die großstädtischen „Vergnügungen“ entsprechen „dem gemeinsten Geschmack“163 der Masse, „deren Geschmack naturgemäß immer auf der niedrigsten Stufe steht“164. Auch das „Bedürfnis nach individueller Freiheit“165 zählt SOMBART zur Triebfeder der Landflucht. Individuelle Freiheit als „Massenideal“ ist für ihn „nur die Freiheit ‚wovon‘, die Ungebundenheit, die Befreiung von dem Zwange der Nachbarschaft, der Familie, der Herrschaft“166. Die „Züge des kapitalistischen Geistes“167 haben sich erst in den Städten ausprägen können, für SOMBART sind das Intellektualismus, Rationalität und Rechenhaftigkeit168. Auf ihnen basiere der Massenindividualismus.169
2.3.3 Georg SIMMEL (1858-1918) – Formen der Vergesellschaftung und ihre Wechselwirkung Gesellschaft ist, so Georg SIMMEL, der Augenblick „wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten“170. Zu den Aufgaben der Soziologie gehört, die Bedingungen und Formen, unter denen sich diese Wechselwirkungen abspielen, zu untersuchen. In der Moderne werden diese Wechselwirkungen oder Formen der Beziehung offensichtlich immer funktionaler und damit auch abstrakter: „Die reine Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen [...] ist gegen alles Individuelle gleichgültig.“171 Deshalb spielt auch die Großstadt
161 162
163 164 165 166 167 168 169 170 171
Ebd. Vgl. den zeitgenössischen Aufsatz zur Landflucht von HOHMANN, Georg (1905); SOHNREY. Vgl. Heinrich (1906). Vgl. STRANTZ, Kurd von (1899). Zu den Wanderungsbewegungen vgl. Kapitel 3.3.2 dieser Arbeit. SOMBART, Werner (1955b), 420. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 421. Vgl. ebd. Vgl. ebd. SIMMEL, Georg (1992), 54. SIMMEL, Georg (1995), 118.
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als außergewöhnliche Form der Vergesellschaftung in der Soziologie SIMMELs eine entscheidende Rolle. Seine Theorie der Moderne hebt sich methodisch von den hier vorgestellten Klassikern der Soziologie ab. Allerdings erörtert SIMMEL wie auch WEBER und SOMBART seine Theorie am Gegenstand Großstadt, wobei SIMMEL „die Erfahrensweise der zeitgenössischen Gesellschaft“172 analysiert. Einen derartigen Zugang hatte es bis dahin nur im Bereich von Literatur und Kunst gegeben. Nach FRISBY wird „keines der von Simmel beschriebenen Phänomene [...] einer systematischen historischen Analyse unterzogen. Nicht nur, daß Simmel sogar auf der individuellen Ebene die historische Lokalisierung einzelner Gestalten als uninteressant ansah, sondern es fehlen in seinen Schriften auch fast völlig Verweise auf die Arbeiten früherer Autoren zu diesem Untersuchungsgebiet“173.
SIMMEL verfährt also jenseits akademischer Usancen, wenngleich er für die Soziologie den Rang einer neuen wissenschaftlichen Verfahrensweise beansprucht:174 „Nicht ihr Objekt, sondern ihre Betrachtungsweise, die besondere, von ihr vollzogene Abstraktion differenziert sie von den übrigen historischsozialen Wissenschaften.“175 In Längs- und Querschnittsuntersuchungen analysiert sie „die Funktion der Vergesellschaftung und ihrer unzähligen Formen und Erscheinungen als Sondergebiet“176. Der Schlüssel dafür liegt in SIMMELs Vorstellung von Wechselwirkung, das heißt „die historischen Erscheinungen aus dem Wechselwirken und dem Zusammenwirken der Einzelnen zu verstehen, aus der Summierung und Sublimierung unzähliger Einzelbeiträge, aus der Verkörperung der sozialen Energien in Gebilden, die jenseits des Individuums stehen und sich entwickeln“177. Wechselwirkung umgreift die wechselseitigen Relationen zwischen Individuen oder Gruppen, die prinzipielle Möglichkeit zirkulärer Kausalität jenseits eines bloßen Ursache-Folge-Schemas und verweist so auf ein dynamisches Prinzip.178 Da Gesellschaft als dynamischer Prozess dort existiert, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten,179 spricht SIMMEL – wie schon gesagt – von Vergesellschaftung.180 Relevant ist im Vergesellschaftungsprozess alles, „was in den Individuen, den unmittelbar kon172 173 174
175 176 177 178 179 180
FRISBY, David (1984), 69. Ebd., 18f. Aus dem Gesamt der Menschengeschichte arbeitet die Soziologie nach SIMMEL das Geschehen in der Gesellschaft heraus und betrachte das, „was an der Gesellschaft ‚Gesellschaft‘ ist“ (SIMMEL, Georg, 1992, 57). Einige Jahre zuvor vertrat er noch eine andere Position: In seiner Schrift Über sociale Differenzierung von 1892 bezeichnet er die Soziologie als Wissenschaft „sozusagen zweiter Potenz“ (SIMMEL, Georg, 1989a, 116). SIMMEL, Georg (1999), 23. SIMMEL, Georg (1992), 61. SIMMEL, Georg (1999), 15. Vgl. NEDELMANN, Birgitta (2000), 134. Vgl. SIMMEL, Georg (1992), 54. Vgl. SIMMEL, Georg (1999a), 69f.
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kreten Orten aller historischen Wirklichkeit, als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung derart vorhanden ist, daß daraus oder daran die Wirkung auf andere und das Empfangen ihrer Wechselwirkung entsteht“181. Zwei wesentliche Bereiche der Soziologie SIMMELs sind hier angesprochen: Der Tun-Erleidens-Zusammenhang der Wechselwirkung und die Trennung von Form und Inhalt. Es ist das einmalig Neue bei SIMMEL, dass er danach fragt, was mit den Menschen geschieht, die sich aktiv und passiv im Prozess der individuellen Wechselwirkung befinden:182 „In seinen konkreten soziologischen Untersuchungen geht er der Frage nach, welche Effekte Individuen von den durch sie geschaffenen Formen empfangen und wie sie diese mit der ‚Innenseite‘ ihrer Existenz ‚erleben‘.“183 Inhalt und Form bedingen sich wechselseitig, wobei „die gleiche Form der Vergesellschaftung an ganz verschiedenem Inhalt [...] auftritt, und umgekehrt, daß das gleiche inhaltliche Interesse sich in ganz verschiedenen Formen der Vergesellschaftung als seine Träger oder Verwirklichungsarten kleidet“184. SIMMELs Erkenntnisinteresse gilt den „Formen der Vergesellschaftung“185. Die Soziologie analysiert in diesem Zusammenhang das „Specifisch-Gesellschaftliche [...], die Form und Formen der Vergesellschaftung als solcher, in Absonderung von den einzelnen Interessen und Inhalten, die sich in und vermöge der Vergesellschaftung verwirklichen“186. SIMMEL hat dabei insbesondere – wie gesagt – die Innenseite der Vergesellschaftung betrachtet.187 Deshalb nennt ihn Birgitta NEDELMANN 181 182 183 184
185
186 187
SIMMEL, Georg (1999), 18. Vgl. auch SIMMEL, Georg (1999a), 103. Vgl. NEDELMANN, Birgitta (2000), 135. Ebd. SIMMEL, Georg (1999), 20f. Auch wenn Simmel eine analytische Trennung von Form und Inhalt vornimmt, um die Soziologie als eigene Wissenschaft zu etablieren, „verschlingen sich fortwährend“ (ebd., 30) die historischen Erscheinungen, die er auf drei Ebenen methodisch trennend zu reduzieren versucht: „Auf die individuellen Existenzen hin, die die realen Träger der Zustände sind; auf die formalen Wechselwirkungsformen, die sich freilich auch nur an individuellen Existenzen vollziehen, aber jetzt nicht vom Standpunkt dieser, sondern dem ihres Zusammen, ihres Miteinander und Füreinander betrachtet werden; auf die begrifflich formulierbaren Inhalte von Zuständen und Geschehnissen hin, bei denen [...] nach ihrer rein sachlichen Bedeutung, nach der Wirtschaft und der Technik, nach der Kunst und der Wissenschaft, nach den Rechtsnormen und den Produkten des Gefühlslebens“ (ebd.) gefragt wird. So der Untertitel seiner Soziologie von 1908 in SIMMEL, Georg (1999). „Soziologie [...] betrachtet die Form, durch die Materie überhaupt zu empirischen Körpern wird.“ (Ebd., 25). Formen sind für ihn etwa Über- und Unterordnung (vgl. ebd., 160-283), der Streit (vgl. ebd., 284-382) oder das Geheimnis (vgl. ebd., 383-455), die sich fast in jeder menschlichen Vergesellschaftung finden, die er aber in ihren einzelnen Arten betrachtet und auf die speziellen Formen ihrer Verwirklichung hin untersucht. Vgl. ebd., 25f. Zu den komplizierteren gesellschaftsformenden Verhältnissen zählt er etwa die „Kreuzung mannigfaltiger Kreise in einzelnen Persönlichkeiten“ (ebd., 27). Vgl. auch ebd., 456-511. Das Konzept der Form bildet nach LEVINE vielleicht sogar den Kernbegriff der Philosophie und Soziologie Simmels. Vgl. LEVINE, Donald N. (1988), 189f. Vgl. auch STEINHOFF, Maria (1990), 258. SIMMEL, Georg (1992), 54. Vgl. ebd., 57.
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einen „Emotionssoziologen“188, denn die gesellschaftliche Wirklichkeit der Moderne wird bei SIMMEL zu einem Teil der menschlichen Innenwelt: „Denn das Wesen der Moderne überhaupt ist Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unseres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüssige Element der Seele, aus der alle Substanz herausgeläutert ist, und deren Formen nur Formen von Bewegungen sind.“189
Am Beispiel der Plastiken RODINs – für SIMMEL Ausdruck „eines vorüberfliegenden Moments“190 – versucht er die moderne Seele zu erfassen. Sie sei „soviel labiler, in ihren Stimmungen und selbsterzeugten Schicksalen wechselnder“191 als zu früheren Zeiten. Aspekte wie Treue, Streit, die Sinne oder Dankbarkeit wählt Simmel daher zu Gegenständen seiner Überlegungen. Sie waren bis dahin für die Wissenschaft allenfalls eine Marginalie. SIMMEL nimmt dabei bevorzugt eine „ästhetische Perspektive“192 ein, um vom Fragment auf das Ganze schließen zu können. Das Bruchstückartige und damit die Unübersichtlichkeit der Wirklichkeit werden für SIMMEL zum Kernproblem des Lebens in der Moderne. Durch die zunehmende Komplexität sei das Individuum, dessen Autonomie und Freiheit, in Gefahr, „in einem gesellschaftlich-technischen Mechanismus nivelliert und verbraucht zu werden“193. Am Ende seines Essays Die Großstädte und das Geistesleben von 1903 verweist SIMMEL auf die Ambivalenz zwischen den sich ins Unermessliche steigernden objektiven Kulturerscheinungen und dem „Rückgang der Kultur der Individuen in Bezug auf Geistigkeit, Zartheit, Idealismus“194. Diese „Atrophie der individuellen durch die Hypertrophie der objektiven Kultur“195 stellt nach SIMMEL eine „Wachstumsdifferenz“196 dar, die sich auf der einen Seite durch „Bauten und Lehranstalten“197, durch die Wunder der „raumübergreifen188
189 190 191 192 193 194 195 196 197
NEDELMANN, Birgitta (1988), 27. SIMMEL weist den positiven Emotionen wie Liebe, Treue, Taktgefühl, Scham und den antagonistischen Gefühlen wie Neid, Mißgunst und Eifersucht den Stellenwert eines legitimen Forschungsgegenstandes der Soziologie zu, „sofern sie unter der nur der Soziologie eigenen Perspektive, nämlich der der Wechselwirkung zwischen Individuen analysiert werde“ (NEDELMANN, Birgitta, 1983, 174). Dagegen STEINHOFF: „Simmel hat als Philosoph und Psychologe das Psychische sehr in den Vordergrund gerückt, und da er noch keine sicher wirksame soziologische Methode sah, wurde ihm ganz von selbst die Psychologie Weg zur Analysierung der Beziehungen der Menschen.“ (STEINHOFF, Maria, 1990, 276). Zu Max WEBERs Kritik am „Psychologismus“ der Soziologie SIMMELs vgl. NEDELMANN, Birgitta (1988), 11ff. SIMMEL, Georg (1909), 194f. Ebd. Ebd. FRISBY, David (1984), 26. SIMMEL, Georg (1995), 116. Ebd., 129. Ebd., 130. Ebd., 129. Ebd., 130.
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den Technik“198 oder die „Sichtbaren Institutionen des Staates“199 nach außen zeigt. Die Errungenschaften der Moderne erleichtern einerseits das Leben, indem „Anregungen, Interessen, Ausfüllungen von Zeit und Bewußtsein sich ihr [der Persönlichkeit] von allen Seiten anbieten und sie wie in einem Strome tragen“200. Andererseits führen unpersönliche Inhalte zur Ausbildung subjektiver Sonderheiten, zu „spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums, deren Sinn gar nicht mehr in den Inhalten solchen Benehmens, sondern nur in seiner Form des Andersseins, des Sich-Heraushebens und dadurch Bemerklichwerdens liegt“201. Die Großstadt ist der Kampfplatz, auf dem die Freiheit des Individuums mit ihrer Einzigartigkeit im offenen Streit liegt. Die Gefahr, durch die gesellschaftlichen Mechanismen überfordert und verbraucht zu werden, erzeugt den Widerstand des Subjekts. Für das Individuum ergibt sich mit zunehmender Differenzierung ein Balanceakt, der zur „Doppeltragödie der Kultur wie der Gesellschaft“202 werden kann. Auf der einen Seite nehmen in der Gesellschaft die vom Subjekt initiierten kulturellen Errungenschaften zu, die ihm wiederum als überfordernde, objektive und entfremdete Kultur entgegentreten: „Die Pathologie der Kultur ist Ausdruck der unvermeidlichen Kristallisation des Lebens unter Bedingungen seiner selbst erzeugten Überforderung.“203 Mit der Unterscheidung von subjektiver und objektiver Kultur ist es SIMMEL gelungen, der Dialektik der Moderne eine begriffliche Grundlage zu geben. FRISBY weist darauf hin, dass sich „Simmels Analyse der Vorherrschaft der Mittel über die Zwecke und die damit einhergehende Selbstentfremdung des Individuums [...] in der zeitlich späteren Charakterisierung der Moderne durch Weber“204 wiederfindet, demonstriert aber auch die methodischen Unterschiede im Verstehen von moderner Gesellschaft: WEBER hat „eine der eindrucksvollsten, wenn auch unvollständigen Theorien der Modernisierung entwickelt [...], die um seine Darstellung der Entstehung des modernen okzidentalen Rationalismus und seiner Folgeerscheinungen, zu denen der moderne westliche Kapitalismus zählt, zentriert ist“205. SIMMELs Analyse der Moderne legt ihren Fokus dagegen auf die „kulturellen Dimensionen der Moderne“206 und nicht auf die „strukturellen Merkmale der Modernisierung. Sie will keine systematische Theorie sein, sondern vielmehr eine Erhellung der Fragmente der Moder198 199 200 201 202 203 204 205 206
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 128. DAHME, Heinz-Jürgen (1988), 242. HEIDBRINK, Ludger (1994), 140. Hervorhebungen im Original. FRISBY, David (1988a), 591. Ebd., 589. Ebd., 593.
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ne. Als solche erfordert sie auch keine Ausarbeitung der Begrifflichkeit zu einem systematischen Ganzen“207. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Georg SIMMEL wie auch Max WEBER dem Fortschrittsoptimismus ihrer Zeit eine radikale Absage erteilen. Sie argumentieren aber nicht auf der Ebene der überkommenen Stadt- und damit Kulturkritik. Gegenüber WEBERs Methode wird allerdings ein grundlegender Unterschied deutlich: SIMMEL interessiert sich mit Blick auf die vielgestaltigen Phänomene der Moderne „primär für die spezifisch modernen Interaktionsformen und -konstellationen und deren Konsequenzen für die Entstehung des modernen Individuums und seine Befindlichkeit“208, WEBER konzentriert sich dagegen auf die „Analyse der spezifisch modernen Institutionen und kulturellen Strukturen“209, während sich SOMBART, wie schon der Titel erkennen lässt (Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von den Anfängen bis zur Gegenwart) durch sein historiographisch-ökonomisch fundiertes Verfahren auf einem eher traditionelleren wissenschaftlichen Terrain bewegt und dabei auf den Gegensatz von Natur und Zivilisation rekurriert und schließlich auf Argumente einer kulturpessimistischen Stadtkritik zurückgreift.
207 208 209
Ebd. NEDELMANN, Birgitta (1980), 561. Ebd.
3 DAS WERDEN DER GROSSSTADT
Bis weit ins 19. Jahrhundert war der Stadtbegriff vor allem eine rechtliche Kategorie: Das Marktrecht war der Stadt vorbehalten, Gewerbe und Handel waren innerhalb der Bannmeile den Zünften und Gilden unterworfen und auf die Stadt beschränkt, Bürgerrecht war Voraussetzung für den Erwerb von Eigentum1. Die Stadt in ihrer rechtlichen Größe zu erfassen und gegenüber anderen Siedlungsformen abzugrenzen, wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch den Wegfall wichtiger Elemente des rechtlichen Stadtbegriffs immer schwieriger2. Um eine zeitgemäße Klassifizierung der unterschiedlichen Siedlungsformen zu erreichen, wurden statistische Merkmale3 der Siedlungsgröße erfasst: Seit einem Statistiker-Kongress 1887 wurde nunmehr jede Gemeinde mit mehr als 2.000 Einwohnern als Stadt bezeichnet.4 Diese Untergrenze städtischer Agglomeration hat für Deutschland bis heute Gültigkeit: Die amtliche Statistik der Bundesrepublik unterscheidet Landstädte (2.000-5.000 Einwohner) von Kleinstädten (5.000-20.000 Einwohner) und Mittelstädte (20.000100.000 Einwohner) von Großstädten (über 100.000 Einwohner).5 Eine rein statistisch-administrative Festsetzung wird allerdings weder dem historischen Wachstum der Städte noch dem internationalen statistischen Vergleich gerecht. So können nach OLBRICHT am Beginn des 17. Jahrhunderts Städte mit einer Einwohnerzahl von 15.000 Einwohnern, um 1790 mit 20.000 Einwohnern und 1840 mit 40.000 Einwohnern als Großstädte bezeichnet werden.6 Es 1 2
3
4 5 6
Zum rechtlichen Stadtbegriff vgl. MATZERATH, Horst (1974); zur Frage, welchen Anteil die Gilden an der Entstehung der deutschen Stadtverfassung hatten vgl. BELOW, Georg v. (1892). So existierten bereits 1849 in Preußen 71 Städte unter 1.000 Einwohnern, zahlreiche Landgemeinden hatten aber weit mehr als 1.000 Bewohner. 1910 existierten in Preußen sogar 288 Städte, die nach einer statistischen Mindestgrenze von 2.000 Einwohnern als Landgemeinde gelten mussten. Vgl. LANDSBERG, Otto (1912). Das erste statistische Amt wurde 1850 in Bremen gegründet. Vgl. DEUTSCHE STÄDTESTATISTIK (1903), 1. In Berlin wurde das statistische Amt 1865 gegründet. Insgesamt gab es 1903 im Deutschen Reich 31 Städte, die über eigene statistische Ämter verfügten. Vgl. ebd. Zum breiten Überblick über die Erfassung statistischer Daten im Deutschen Reich einschließlich der Veröffentlichungen bis 1903 vgl. ebd. Zu den Städtestatistiken allgemein vgl. FARYS, Simone; MISOCH, Sabina (1996). Internationale statistische Kongresse führten 1885 zur Errichtung eines Internationalen Statistischen Instituts in London. In Deutschland trat 1879 erstmals eine Konferenz der Direktoren Städtestatistischer Ämter zusammen, einem Vorläufer des heutigen Verbands Deutscher Städtestatistiker (VDSt). In der Folge wurde ab 1890 das Statistische Jahrbuch deutscher Städte herausgegeben. Vgl. PFEIL, Elisabeth (1972), 7. Vgl. HOFMEISTER, Burkhard (1997), 54. Diese statistische Differenzierung galt schon Ende des 19. Jahrhunderts. Vgl. OLBRICHT, Konrad: Die Bevölkerungsentwicklung der Groß- und Mittelstädte der Ostmark. Berlin, 1936, 22ff. Zit. nach PFEIL, Elisabeth (1972), 5. Im gegenwärtigen internationa-
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DAS WERDEN DER GROSSSTADT
müssen also neben rechtlichen und statistisch-administrativen Bestimmungen weitere Kategorien gefunden werden, um das Phänomen städtischer Siedlungen differenzierter zu bestimmen. So verbindet der geographische Stadtbegriff Merkmale wie die Geschlossenheit der Ortsform, eine gewisse Größe des Ortes, städtisches Leben innerhalb des Ortes und ein Mindestmaß an Zentralität mit behavioristischen, sozialökologischen und sozialraumanalytischen Ansätzen aus der soziologischen Forschung.7 Vor allem Max WEBER und Werner SOMBART haben sich in der Gründungsphase der deutschen Soziologie mit der Definition von Stadt auseinandergesetzt.
3.1 Die mittelalterliche Stadt als Markt bei Max WEBER Die Stadt8, eine Studie von Max WEBER, erschien posthum 1921, vermutlich wurde sie 1914 fertiggestellt.9 KAESLER hält diesen Text für methodisch besonders interessant, weil er „als eines der klarsten Anwendungsbeispiele des idealtypischen Vorgehens durch WEBER selbst angesehen werden kann“10.
7
8 9 10
len Vergleich reicht die Spannweite der Untergrenze der Einwohnerzahl städtischer Siedlungen von 200 Einwohnern in Spanien und Norwegen bis zu 50.000 Einwohnern in Japan. Vgl. LICHTENBERGER, Elisabeth (1998), 32. Vgl. STEWIG, Reinhard (1983), 36f. Zum sozialökologischen Ansatz vgl. ESSER, Hartmut (1988). Vgl. insbesondere SAUNDERS, Peter (1987), 55ff. Zur Stadtgeographie vgl. HOFMEISTER, Burkhard (1997). Vgl. HOFMEISTER, Burkhard (1984). Vgl. LICHTENBERGER, Elisabeth (1998). Vgl. HEINEBERG, Heinz (1983). Vgl. HEINEBERG, Heinz (2006). Vgl. ZEHNER, Klaus (2001). Zur Sozialraumanalyse vgl. das Lehrbuch RIEGE, Marlo; SCHUBERT, Herbert [Hrsg.] (2005). WEBER, Max (1999). NIPPEL, Wilfried (1999), 1. KAESLER, Dirk (1995), 69. Angeregt durch die breite ideengeschichtliche Diskussion über den Wissenschaftscharakter der Geschichte entwickelt WEBER seine idealtypische Methode, denn die „ungegliederte Mannigfaltigkeit der Fakta beweist doch nicht, daß wir unscharfe Begriffe bilden sollen, sondern umgekehrt: daß scharfe (‚idealtypisch‘) Begriffe richtig angewendet werden müssen“ (WEBER, Max, 1988, 280. Hervorhebungen im Original). Ziel ist der Nachweis, inwieweit sich der „Charakter einer Erscheinung [...] dem einen oder anderen ‚Idealtypus‘ annähert“ (ebd.). Im „Chaos des Weltgefüges“ sucht WEBER „Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Kulturbedeutung und ihrem kausalen Zusammenhang“ (WEBER, Max, 1968a, 174). Den „Wertbegriff“ (ebd., 175) Kultur definiert Weber als „ein[en] vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachte[n] endliche[n] Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ (ebd., 180). Klare Begriffe und die „Kenntnis von Gesetzen der Verursachung“ (ebd., 178) bieten zwar ein geeignetes Erkenntnismittel (vgl. ebd., 175), jedoch ist in den Kulturwissenschaften die „Erkenntnis des Generellen [...] nie um ihrer selbst willen wertvoll“ (ebd., 180), sondern an subjektive Voraussetzungen gebunden. Vgl. ebd., 182. Begriffe sind für ihn weder intuitiv eruierbar noch im Sinne der Abbildtheorie
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Leitfrage WEBERs ist, weshalb sich „trotz der Ubiquität des Phänomens Stadt nur im Okzident ein sich selbst verwaltendes städtisches Bürgertum herausgebildet habe“11. Methodisch kontrastiert er dabei die historische Entwicklung orientalischer Städte mit denen des okzidentalen Kulturkreises und innerhalb des Okzidents vor allem die mittelalterliche Stadt mit der Antike.12 Aus der historischen wie idealtypischen Bestimmung des Forschungsfelds Stadt13 folgert er, dass „weder der moderne Kapitalismus noch der moderne Staat auf dem Boden der antiken Städte gewachsen [sind], während die mittelalterliche Stadtentwicklung für beide zwar nicht die allein ausschlaggebende Vorstufe und gar nicht ihr Träger war, aber als ein höchst entscheidender Faktor ihrer Entstehung [...] nicht wegzudenken ist“14. WEBER ist an der Verknüpfung von Mittelalter und Moderne und weniger an ihrer kontrastierenden Gegenüberstellung interessiert:15 Sein „Thema ist [...] die Darstellung der Genese der okzidentalen Moderne in einer vom Mittelalter ausgehenden Perspektive“16. Im innerokzidentalen Vergleich war die mittelalterliche „bürgerliche gewerbliche Binnenstadt“17 hauptsächlich ökonomisch orientiert und die „politische Situation des mittelalterlichen Stadtbürgers wies ihn [den Bürger] auf den Weg, ein homo oeconomicus zu sein, während in der Antike sich die Polis
11 12 13 14 15 16 17
ein Spiegel der objektiven Wirklichkeit, sondern allein das wertgeprägte Erkenntnisinteresse des Betrachters bildet konstruierend das abstrakte Gedankenbild eines Idealtypus: „Er wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von [...] Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde.“ (Ebd., 191). WEBER bezeichnet den Idealtypus als Utopie (vgl. ebd.), die dem Chaos Orientierungspunkte verleiht und jedem in der Wirklichkeit auftretenden Ereignis oder Gegenstand ein widerspruchsloses Idealbild als Messlatte anbietet. Er ist eine „gedankliche Konstruktion zur Messung und systematischen Charakterisierung von individuellen, d. h. in ihrer Einzigartigkeit bedeutsamen Zusammenhängen“ (ebd.). Als genetischer Begriff (vgl. ebd., 194), der aus einer Vielfalt an Merkmalen die herausschält, die für die Entwicklung bestimmter Kulturbedeutungen als wesentlich und ursächlich betrachtet werden, will der Idealtypus der Hypothesenbildung die Richtung weisen, ohne selbst Hypothese zu sein. Vgl. ebd., 190. Der Idealtypus ist aus der Wirklichkeit abgeleitete und vom Betrachter kontrollierte Konstruktion, die als heuristisches Mittel der Ordnung unzähliger empirischer Daten auf einen gedachten Zusammenhang hin dient. Vgl. ebd., 192. Eine exakte Zuordnung der unterschiedlichen Typen zu einzelnen historischen Epochen vermeidet WEBER. Vgl. NIPPEL, Wilfried (1999), 11. Deshalb gelingt es ihm, ohne Dichotomien auszukommen und sich strikt an seinem eigenen erkenntnistheoretischen Prinzip der Werturteilsfreiheit, der Trennung von Tatsachenbehauptungen und Werturteilen, zu orientieren. Vgl. KEUTH, Herbert (1989). NIPPEL, Wilfried (1999), 1. Schon in früheren Arbeiten hat sich WEBER mit dem Phänomen Stadt auseinandergesetzt. Vgl. DEININGER, Jürgen (1989). Zur antiken Stadt als Typus bei Max WEBER vgl. ebd. Vgl. KAESLER, Dirk (1995), 62. WEBER, Max (1999), 233. Vgl. OEXLE, Otto Gerhard (1994), 132. Ebd., 133. WEBER, Max (1999), 274.
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während der Zeit ihrer Blüte ihren Charakter als des militärtechnisch höchststehenden Wehrverbandes bewahrte: Der antike Bürger war homo politicus“18.
SAUNDERS bezeichnet die Stadtstudie als „wesentliche Ergänzung zu Webers Werk über Die protestantische Ethik“19. Eine Typologie der Städte20 entwickelt WEBER, indem er sich dem Erkenntnisgegenstand Stadt aus drei Perspektiven nähert: soziologisch, ökonomisch und politisch-administrativ: Soziologisch ist die Stadt durch Anonymität gekennzeichnet. WEBER definiert sie als „große Ortschaft“, als „Siedlung in dicht aneinandergrenzenden Häusern, welche eine so umfangreiche zusammenhängende Ansiedelung darstellen, daß die sonst dem Nachbarverband spezifische, persönliche gegenseitige Bekanntschaft der Einwohner miteinander fehlt“21. Ökonomisch ist die Stadt als Markt gekennzeichnet, „wo die ortsansässige Bevölkerung einen ökonomisch wesentlichen Teil ihres Alltagsbedarfs [...] befriedigt, und zwar zu einem wesentlichen Teil durch Erzeugnisse, welche die ortsansässige und die Bevölkerung des nächsten Umlandes für den Absatz auf dem Markt erzeugt oder sonst erworben hat“22. Der Markt ist ökonomischer Mittelpunkt einer jeden Stadt und unterscheidet sich vom Versorgungssystem eines grundherrlichen Oikos dadurch, dass die Tauschenden als freie Wirtschaftssubjekte auch in ihrer Kontaktaufnahme beliebig sind.23 Der Markt ist also die „früheste Form einer Öffentlichkeit im soziologischen Sinn“24 und das Marktgeschehen ist „Quelle gesellschaftlicher Dynamik, Voraussetzung für die Entstehung sozialer Differenzierung und Schichtung“25. Die ökonomische Definition der Stadt ermöglicht die Unabhängigkeit von quantitativen Merkmalen, da auch große Siedlungen ohne Marktort oder mit nur unregelmäßig stattfindenden fliegenden Märkten im WEBERschen Sinn nicht als Städte gelten. Wenngleich „die empirischen Städte fast durchweg Mischtypen darstellen 18 19
20 21 22 23
24 25
WEBER, Max (1999), 275. Hervorhebungen im Original. Zur antiken Polis bei WEBER vgl. FINLEY, M[oses] I. (1977). SAUNDERS, Peter (1987), 40. Hervorhebungen im Original. Zur Beziehung zwischen Ethik und Kapitalismus bei WEBER vgl. SCHLUCHTER, Wolfgang (1995). Zur Religionssoziologie bei WEBER vgl. RILEY, Helene M. Kastinger (1991), 70ff. Vgl. auch BENDIX, Reinhard (1972). So der Untertitel des Stadt-Essays ab der 4. Auflage der von Johannes WINCKELMANN 1956 herausgegebenen Ausgabe von Wirtschaft und Gesellschaft. WEBER, Max (1999), 59. Hervorhebung im Original. Ebd., 61. Hervorhebung im Original. Vgl. BAHRDT, Hans Paul (1998), 83. WEBER grenzt das städtische Gefüge also nicht gegenüber dem Land ab, sondern entwickelt ein eigenes, an der Reichweite der Produktion orientiertes Gegensatzpaar: Während der Oikos als „Produktionsstätte eines Familienclans oder einer Sippschaft oder auch eines Herrscherhaushalts mit großem Gesinde“ (BERNDT, Heide, 1977, 171) für die eigenen Bedürfnisse seiner Mitglieder produziert, ist der Markt daran interessiert, neue Bedürfnisse erst zu wecken. Vgl. ebd. BAHRDT, Hans Paul (1998), 83. STEWIG, Reinhard (1983), 23.
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und daher nur nach ihren jeweils vorwiegenden ökonomischen Komponenten klassifiziert werden können“26, entwickelt WEBER eine differenzierte Typologie, in der die Konsumentenstadt der Produzentenstadt, der Gewerbestadt und der Händlerstadt gegenübergestellt wird.27 Zum modernen Stadttypus zählt WEBER die Metropolstädte und die sich parallel dazu entwickelnden Citystädte oder Citybezirke. Sie sind Sitz nationaler und internationaler Geldgeber und Großbanken, großer Aktiengesellschaften oder Kartellzentralen: „Überwiegende Teile der Gewinnste aus Betrieben fließen ja heute überhaupt, mehr wie je, an andere Orte als die, in denen der sie abwerfende Betrieb liegt. Und andererseits wieder werden stetig wachsende Teile von Gewinnsten von den Bezugsberechtigten nicht an dem großstädtischen Ort ihres geschäftlichen Sitzes konsumiert, sondern auswärts, teils in Villenvororten, teils aber und noch mehr in ländlichen Villeggiaturen, internationalen Hotels usw. verzehrt. Parallel damit entstehen die nur oder doch fast nur aus Geschäftshäusern bestehenden ‚Citystädte‘ oder (und meist) Stadtbezirke.“28
Die Typologie der Städte wird im weiteren Verlauf des Essays nicht weiter aufgegriffen, und es ist anzunehmen, dass sie allein der Erörterung seiner These von der umfassenden okzidentalen Rationalisierung dient. Auf der politisch-administrativen Ebene kann eine Ansiedlung auch dann als Stadt bezeichnet werden, wenn die ökonomischen Voraussetzungen fehlen. Sie hat demnach ein fest umgrenztes Stadtgebiet und geht historisch auf eine Festung zurück.29 Zur „orientalischen wie zur antik-mittelländischen Stadt und ebenso zum normalen mittelalterlichen Stadtbegriff [gehört] die Burg oder Mauer“30. In der Nähe einer Festung siedelte sich immer auch das Handwerk an, so dass sich militärischer Burgfriede und herrschaftlich garantierter Marktfriede parallel herausbilden konnten: „Die Frage der Beziehung zwischen der Garnison, der politischen Festungsbürgerschaft einerseits und der ökonomischen, bürgerlich erwerbenden Bevölkerung andererseits ist nun eine oft höchst komplizierte, immer aber entscheidend wichtige Grundfrage der städti26 27
28 29 30
WEBER, Max (1999), 65. Vgl. ebd. Für KAESLER stehen dagegen Konsumenten- versus Produzentenstadt und Gewerbe- versus Händlerstadt. Vgl. KAESLER, Dirk (1995), 63. Innerhalb der Konsumentenstädte ist die Kaufkraft bestimmter in ihr lebender Schichten entscheidend, um sie als Fürsten-, Beamten- oder Rentnerstadt zu typisieren. Vgl. WEBER, Max (1999), 63ff. Die Produzentenund Gewerbestädte versorgen die Konsumenten jenseits der eigenen Stadtgrenzen. Dabei beruht die Kaufkraft und das rasante Bevölkerungswachstum der Produzentenstädte darauf, dass in ihnen Fabriken, Manufakturen oder Heimarbeitsindustrien ansässig sind, während sich in Gewerbestädten vorwiegend Handwerk ansiedelt, auch wenn Weber die Produzentenstadt als modernen Typus und die Gewerbestadt als asiatischen, antiken und mittelalterlichen Typus bezeichnet. Vgl. WEBER, Max (199), 65. In den Händlerstädten beruht die Kaufkraft ihrer Großkonsumenten auf ihren überörtlichen Handelsbeziehungen. Vgl. WEBER, Max (1999), 65f. Ebd., 67. Vgl. ebd., 73. Ebd., 75.
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schen Verfassungsgeschichte.“31 Eine Festung oder Garnison sichert die politische Autonomie der Stadt, die im Hinblick auf die politische Dimension für WEBER ein Hauptkriterium darstellt.32 Neben der soziologischen, ökonomischen und politisch-administrativen Typologisierung führt WEBER das idealtypische Konzept der Stadtgemeinde ein, die als Massenerscheinung nur im Okzident bekannt war.33 Für eine Stadtgemeinde sind Merkmale ausschlaggebend, die zum Teil in den grundlegenden Typologisierungen schon eingeführt wurden. Zu ihnen gehören die Befestigung, der Markt, eine eigene Gerichtsbarkeit, Verbandscharakter und zumindest teilweise Autonomie und Autokephalie.34 Ein Hauptkennzeichen der idealtypischen okzidentalen Stadtgemeinde ist ihr Verbands- oder Verbrüderungscharakter.35 Für die mittelalterliche Stadt, im Unterschied zu orientalischen Städten,36 galt der „anstaltsmäßig vergesellschaftete“37 Verband von Bürgern im Sinne einer Verbrüderung religiös prinzipiell gleichberechtigter und nach außen solidarischer Individuen (coniuratio) als zentrale Kategorie.38 Besitz und Kultus waren Kennzeichen dieses Verbandes: „Die vollentwickelte antike und mittelalterliche Stadt [war] vor allem ein als Verbrüderung konstituierter oder so gedeuteter Verband, dem daher auch das entsprechende religiöse Symbol: ein Verbandskult der Bürger als solcher, also ein Stadtgott oder Stadtheiliger, der für die Bürger als solcher da ist, nicht zu fehlen pflegt.“39
Das Bestehen von Tischgemeinschaft ist dabei symbolischer Ausweis der Verbrüderung.40 Das Moderne an der mittelalterlichen coniuratio war ihre Abkehr von Sippenzwängen und Geschlechterabfolgen,41 wobei die Schutz- und 31 32 33 34 35 36 37
38 39 40 41
Ebd., 81. Hervorhebung im Original. Vgl. SAUNDERS, Peter (1987), 39. Vgl. WEBER, Max (1999), 84. Vgl. ebd. Vgl. NIPPEL, Wilfried (1999), 20. Aber auch in Abgrenzung zur antiken Polis. WEBER, Max (1999), 107. WEBER schreibt: „Die Stadt wurde eine, wenn auch in verschiedenem Maße, autonome und autokephale anstaltsmäßige Vergesellschaftung.“ (Ebd., 122 f.). Darunter versteht WEBER einen autonomen „politischen Gebietsverband und dessen rationale Vergesellschaftung zu einer anstaltsmäßigen Ordnung“, der am Ende des Prozesses der „Monopolisierung der legitimen Gewaltsamkeit“ (WEBER, Max, 1985, 516) steht. Vgl. NIPPEL, Wilfried (1994), 38f. WEBER, Max (1999), 108. Vgl. ebd., 110. Vgl. ebd., 119. Hier liegt auch die „Errungenschaft“ der mittelalterlichen Stadt gegenüber der antiken Polis: „Der Bürger trat wenigstens bei Neuschöpfungen [mittelalterlicher Stadtgründungen] als Einzelner in die Bürgerschaft ein. Als Einzelner schwur er den Bürgereid. Die persönliche Zugehörigkeit zum örtlichen Verband der Stadt, und nicht die Sippe oder der Stamm, garantierte ihm seine persönliche Rechtsstellung als Bürger.“ (WEBER, Max, 1999, 117f.).
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Ritusgemeinschaft auf den bewussten und willentlichen Zusammenschluss der Individuen übertragen wurde.42 Das Christentum schließlich „entwertete und zerbrach alle solche Sippenbande in ihrer religiösen Bedeutsamkeit endgültig. Die oft recht bedeutende Rolle, welche die kirchliche Gemeinde bei der verwaltungstechnischen Einrichtung der mittelalterlichen Städte gespielt hat, ist nur eines von vielen Symptomen für das starke Mitspielen dieser, die Sippenbande auflösenden und dadurch für die Bildung der mittelalterlichen Stadt grundlegend wichtigen Eigenschaften der christlichen Religion“43.
Die „Errungenschaften der Städte“44 des Mittelalters gegenüber der Antike fasst WEBER in sechs Punkten zusammen:45 Neben der politischen Selbständigkeit mit eigenem Militär und teilweise eigener Außenpolitik (1) die autonome Rechtssatzung der Stadt und ihrer Gilde und Zünfte (2). Zur Autokephalie eigener Gerichts- und Verwaltungsbehörden (3) die Steuergewalt über die nach außen zins- und steuerfreien Bürger (4). Neben einem Marktrecht, das autonome Handels- und Gewerbepolizei sowie monopolistische Banngewalt einschließt (5), als letzten Punkt das spezifische Verhalten zu den „nichtbürgerlichen Schichten“46 (6). Die Geburtsstunde des okzidentalen Bürgertums ist die Verbrüderung in den „coniurationes“ der mittelalterlichen Städte.47 Die „Konzeptionsstunde“ liegt nach WEBER allerdings viel früher, im sogenannten Tag von Antiochien, den er an exponierter Stelle immer wieder erwähnt.48 Für WEBER war dieses 42 43 44 45 46 47
48
Vgl. ebd., 135. Ebd., 114. Ebd., 234. Vgl. ebd., 234ff. WEBER, Max (1999), 245. Vgl. WEBER, Max (1963a), 40. Zur Auseinandersetzung um die Gildetheorie vgl. BELOW, Georg v. (1892). BELOW kritisiert die Gildetheorie und schreibt, dass die coniurationes zwar für Frankreich und die Niederlande, nicht aber für Deutschland eine bedeutende Rolle in der Entstehung der Stadtverfassung spielten. Vgl. ebd., 67. WEBER schreibt: „Der erste große Wendepunkt in der Entwicklung des Christentums war die in Antiochia zwischen Petrus und den unbeschnittenen Proselyten hergestellte Tischgemeinschaft, auf welche Paulus daher in seiner Polemik gegen Petrus das entscheidende Gewicht legt.“ (WEBER, Max, 1985, 265). Vgl. auch WEBER, Max (1963a), 39f. Im zweiten Galaterbrief widersetzt sich Paulus in Antiochien öffentlich dem Petrus, der mit den Heidenchristen Tischgemeinschaft pflegte, nach dem Eintreffen des Hauptes der Jerusalemer Christengemeinde, Jakobus, aber die Gemeinschaft verließ. Paulus nennt dieses Verhalten „hypokrísei“, Heuchelei, in die auch Barnabas hineingezogen wurde (Gal 2,13), und wirft Petrus vor, mit zweierlei Maß zu messen: „Wenn du als Jude nach Art der Heiden und nicht nach Art der Juden lebst, wie kannst du dann die Heiden zwingen, wie Juden zu leben?“ (Gal 2, 14). Zuvor war schon auf dem sogenannten Apostelkonzil in Jerusalem als Zeichen der Gemeinschaft das Apostelamt des Paulus anerkannt und sein Recht auf die Mission unter den Heiden bestätigt worden, ohne sie auf das jüdische Gesetz zu verpflichten. Vgl. Gal 2, 6-9. Vgl. Apg 15, 135. Da die Frage der Tischgemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen noch nicht geklärt war, konnte es zu Verwicklungen kommen, da die anfänglich freie Haltung des Petrus nicht von allen Judenchristen gebilligt wurde.
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„historisch denkwürdige“49 Ereignis, trotz der im Brief an die Galater erwähnten Unstimmigkeiten, der Durchbruch zur „Sprengung der rituellen Kommensalitäts-Schranken“50. Denn „die Abstreifung aller rituellen Geburts-Schranken für die Gemeinschaft der Eucharistie, wie sie in Antiochia vor sich ging, war auch – hingesehen auf die religiösen Vorbedingungen – die Konzeptionsstunde des ‚Bürgertums‘ des Occidents, [...] denn ohne Kommensalität, christlich gesprochen: ohne gemeinsames Abendmahl, war eine Eidbrüderschaft und ein mittelalterliches Stadtbürgertum gar nicht möglich“51.
Dennoch blieb die Stadt ein weltlicher Verband mit bestimmten Zulassungsbeschränkungen. SCHLUCHTER schreibt: „Auch in diesem Zusammenhang kann man auf die soziologisch gewendete These der relativen christlichen Einheitskultur zurückgreifen. [...] Wer keine kirchengemeindliche Vollwertigkeit hatte, wer nicht an der Eucharistie teilnahm oder teilnehmen durfte, konnte nicht die persönliche Rechtsstellung des Vollbürger erlangen.“52
3.2 Das Entstehen der kapitalistischen Stadt bei Werner SOMBART SOMBART versteht sein Werk auch als Konkretisierung der Gedanken von Ferdinand TÖNNIES.53 Die Stadt ist bei SOMBART „als Einheit gefaßte Gruppe von Menschen“ beschrieben, die „nach städtischen Grundsätzen siedeln“54. Er unterscheidet einen synthetischen, einen analytischen, einen dokumentarischinterpretatorischen55 und einen komplexen Stadtbegriff, wobei der synthetische und analytische Stadtbegriff für diese Arbeit nicht relevant sind.56 Wichtig ist hier nur die Bildung des Stadtbegriffs auf Grund unterschiedlicher „Erkenntniszwecke“57. 49 50 51 52 53 54 55
56 57
WEBER, Max (1999), 111. WEBER, Max (1963a), 39. Ebd., 40. SCHLUCHTER, Wolfgang (1988a), 469. Vgl. SOMBART, Werner (1955a), 1081. SOMBART, Werner (1931), 527. Vgl. ebd., 528. Dieser Begriff ist nach SOMBART aus der Interpretation historischer oder amtlicher Dokumente entstanden und wird von ihm auch als empirisch-historischer Stadtbegriff bezeichnet. Zu den Begriffen vgl. SOMBART, Werner (1955) 127. SOMBART, Werner (1931) 527. Während ein synthetischer Stadtbegriff durch spezielle Wissenschaften gebildet wird, ist der analytische Stadtbegriff dem allgemeinen Sprachgebrauch zuzuordnen. Vgl. SOMBART, Werner (1931), 527. Dieser Stadtbegriff muss interpretiert wer-
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Weiterhin erörtert SOMBART neben einem geographischen auch einen soziologischen Stadtbegriff, der eine Stadt als Siedlung bezeichnet, „in der sich die Einwohner nicht mehr untereinander kennen“58. Für sein eigenes Forschungsvorhaben, nämlich die Genese des Kapitalismus aufzuzeigen, arbeitet SOMBART mit einem ökonomischen Stadtbegriff: „Eine Stadt im ökonomischen Sinne ist eine größere Ansiedlung von Menschen, die für ihren Unterhalt auf die Erzeugnisse fremder landwirtschaftlicher Arbeit angewiesen ist.“59 SOMBART geht davon aus, „daß eine Stadt vom Überschuss des Landes lebt, ihre Lebensbedingungen, ihr Lebensspielraum also abhängig sind von dem Ausmaß dieses Überschußproduktes, das sie an sich zu ziehen vermag“60. Der komplexe Stadtbegriff stellt darüber hinaus einen Allgemeinbegriff (Typus) dar, „der so viele Merkmale enthält, daß der durch ihn bezeichnete Gegenstand [...] wirklich sein kann“61. Städtetypen als komplexe Stadtbegriffe stellen für SOMBART etwa die alt-orientalische Großstadt, die deutsche Stadt des 18. Jahrhunderts oder die amerikanische Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar.62 Für den vorherrschenden Städtetypus des 20. Jahrhunderts in Nordamerika und in einigen Regionen Westeuropas orientiert sich SOMBART an den von Pitirim SOROKIN (1889-1968)63 aufgestellten Kriterien: Beschäftigung der Einwohner in nicht landwirtschaftlichen Berufen, Isolierung von der Natur, Größe der Siedlungseinheit, größere Dichtigkeit der Bevölkerung, heterogene Zusammensetzung der Bevölkerung, größere Differenzierung und stärkere Schichtung, größere Beweglichkeit und häufigerer Kontakt der Einwohner untereinander.64 Den Städtetypen der mittelalterlichen Stadt bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, der Stadt im Frühkapitalismus bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und im Hochkapitalismus widmet SOMBART eine größere Auseinandersetzung.65 Wie Max WEBER unterscheidet auch Werner SOMBART die mittelalterliche Stadt in Konsumtions- und Produzentenstadt: „Eine Konsumtionsstadt nenne ich diejenige Stadt, die ihren Lebensunterhalt (soweit sie ihn von außerhalb
58 59 60 61 62 63 64 65
den, denn im Sprachgebrauch (zudem in unterschiedlichen Sprachen) existiert eine Fülle unterschiedlichster Merkmale. Die „Sprachverwirrung“ (SOMBART, Werner, 1931, 528), die er beim Vergleich unterschiedlicher Wörterbücher feststellt, versucht er zu ordnen, indem er den umgangssprachlichen analytischen Begriff mit einem dokumentarisch-interpretatorischen Begriff verbindet. Letzterer ist aus der Interpretation historischer oder amtlicher Dokumente entstanden und wird von SOMBART auch als empirisch-historischer Stadtbegriff bezeichnet. Vgl. SOMBART, Werner, 1931, 528. SOMBART, Werner (1931), 527. SOMBART, Werner (1955), 128. SOMBART, Werner (1907), 4. SOMBART, Werner (1955), 130. SOMBART, Werner (1931), 529f. Vgl. ebd., 530. Zu Leben und Werk des 1923 in die USA emigrierten russischen Soziologen vgl. BALLA, Bálint; SRUBAR, Ilja; ALBRECHT, Martin [Hrsg.] (2002). Vgl. SOMBART, Werner (1931), 530. Vgl. SOMBART, Werner (1907). Vgl. SOMBART, Werner (1955), 132. Vgl. ebd., 159.
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bezieht, also das Überschußprodukt der landwirtschaftlichen Arbeit) nicht mit eigenen Produkten bezahlt, weil sie es nicht nötig hat. Sie bezieht vielmehr diesen Lebensunterhalt auf Grund irgendeines Rechtstitels (Steuern, Rente oder dergleichen) ohne Gegenwert leisten zu müssen.“66 Die Konsumenten, weltliche oder geistliche Landes- oder Grundherren, sind die eigentlichen Städtegründer. Einen städtebildend wirkenden Konsumtionsfond bilden ebenso Kirchen und Klöster, aber auch geistliche Ritterorden, deren Kommenden ein beträchtliches Vermögen besaßen.67 Die überwiegende Anzahl der mittelalterlichen Städte waren nach SOMBART Konsumtionsstädte.68 Der „Zug nach der Stadt“69, die Landflucht, war bereits im Mittelalter treibende Kraft des Städtewachstums: „Aber ein sehr beträchtlicher Teil der städtischen Bevölkerung wurde doch, wie wir aus zahlreichen Anzeichen mit Sicherheit schließen dürfen, durch Einwanderung vom platten Land her gebildet.“70 Als Motivation für die Abwanderung in die Städte nennt SOMBART71: Die Unsicherheit durch plündernde Völkerschaften um das 10. Jahrhundert, das Bauernlegen, d. h. das Einziehen selbständiger Bauernstellen um das 12. Jahrhundert und allgemein der Bevölkerungsüberschuss zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert. Es war aber „vor allem die Möglichkeit, auch ohne Grundbesitz sich und seiner Familie einen Unterhalt zu verschaffen; war die Möglichkeit, sich eine sichere Existenz zu begründen. Und zwar im Stande der Freiheit“72. Die frühkapitalistische Epoche beginnt nach SOMBART „in dem Augenblick, in dem Massenerscheinungen kapitalistischen Wesens an irgendeiner Stelle Europas auftreten“73. Zum kapitalistischen Wirtschaftssystem gehören zwei wesentliche Faktoren: Zum einen, „daß fremde Willen wirtschaftlich tätiger Menschen durch das Zwischenmittel des Geldes einem Erwerbszwecke dienstbar gemacht werden“ und zum anderen, „daß mit dieser Abhängigmachung fremder Willen doch immer schon Ansätze zu einer Neuordnung der wirtschaftlichen Beziehungen im Sinne einer Rationalisierung des Wirtschaftslebens unter dem Gesichtspunkt höchstmöglicher Gewinnerzielung verbunden ist“74. Für die Charakterisierung der Gesellschaftsform, die sich seit dem Beginn des Frühkapitalismus abzeichnet, verwendet SOMBART im Anschluss an TÖNNIES den Begriff der Mechanisierung, möchte ihn aber durch
66 67 68 69 70 71 72 73 74
SOMBART, Werner (1955), 142. Vgl. ebd., 147ff. Vgl. ebd., 159. Vgl. den Titel des Aufsatzes von HOHMANN, Georg (1905). Ebd., 176. Vgl. ebd., 177ff. Ebd., 178. SOMBART, Werner (1955a), 7. Ebd., 5.
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die konkreteren Begriffe Versachlichung, Verbürgerlichung und Proletarisierung ersetzen.75 Auf allen Ebenen des frühkapitalistischen Wirtschaftssystems kommt es zu einer „Versachlichung oder Entpersönlichung der menschlichen Beziehungen“76. Diese werden ersetzt durch „ein System von Bestimmungen, Verordnungen, Festsetzungen, Abmachungen, in dem das Typische der zu knüpfenden Beziehungen festgelegt ist, und dessen sich nun die Menschen bedienen, um mit seiner Hilfe in einzelnen Fällen rascher und sicherer eine Beziehung zwischen zwei Personen herzustellen, die gleichsam nur in die vorbereitete Form hineintreten, ohne sie erst selbst herstellen zu müssen“77.
Die Schematisierung der versachlichten Beziehungen stellt er am Beispiel der „Taxametrisierung“78 des Personenverkehrs dar: „Die alte Beziehung zwischen Fuhrmann und Kundschaft ist die höchstpersönliche: die Bedingungen, zu denen die Fahrt unternommen wird, werden in persönlicher Aussprache von Fall zu Fall festgesetzt; bei der Entlohnung kommt in dem Schwanken der Beträge diese persönliche Prägung des Verhältnisses am deutlichsten zum Ausdruck. Befindet sich aber ein Taxameter auf dem Wagen, so ist alles Persönliche, alles Individuelle, alles Zufällige aus der Beziehung zwischen Kutscher und Fahrgast ausgeschaltet: dieser bezahlt jenen ohne ein Wort der Verhandlung stumm den vom Schrittmesser angezeigten Betrag.“79
Unter der äußeren Verbürgerlichung, die SOMBART von der innerlichen Verbürgerlichung als „Erfüllung des Bürgergeistes“80 absetzt, versteht er die Rationalisierung und Kontraktualisierung menschlicher Beziehungen.81 Die Rationalisierung des Wirtschaftslebens geht einher mit einer „Rationalisierung aller übrigen Gebiete des menschlichen Daseins“82 und wird als „fortschreitende Einrichtung unter dem Gesichtspunkte höchster Zweckmäßigkeit“83 definiert. Viel mehr jedoch trägt die Kontraktualisierung zu einer „Auflösung aller ursprünglichen Bindungen“84 bei. Die Verdrängung der „Liebes-, Bluts- und Ortsgemeinschaften“85 durch vertragsmäßige Ordnung lässt sich nach SOMBART auf dem Gebiet des Großhandels, der Gütererzeugung, aber auch in Bezug auf die Großstadtbildung nachweisen: 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85
Vgl. SOMBART, Werner (1955a), 1076ff. Ebd., 1077. Ebd., 1077f. Ebd., 1078. Vgl. ebd. Ebd., 1079. Vgl. ebd., 1079ff. Ebd., 1080. Ebd. Ebd. Ebd., 1081.
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„An die Stelle der in den alten Stadtgemeinden organisch verbundenen Gruppe tritt die über das Land zerstreute oder in den ersten Großstädten ‚agglomerierte’ Bevölkerung. Daß die Großstadtbildung wenigstens mit ihren Anfängen in das Zeitalter des Frühkapitalismus zurückreicht, ist ein weiterer Beleg dafür, daß in diesem bereits die Zersetzung der Gesellschaft beginnt. Denn nirgends so deutlich tritt die auf dem homo homini lupus-Prinzip beruhende Vertragsmäßigkeit der Beziehungen atomisierter Einzelmassen in die Erscheinung wie in den Großstädten.“86
Unter Proletarisierung, dem dritten Hauptmerkmal der Mechanisierung der Gesellschaft neben Versachlichung und Verbürgerlichung, versteht SOMBART „eine Ausleerung aller natürlichen Lebensinhalte“87. Proletarisierung sei im Frühkapitalismus lediglich in Ansätzen zu erkennen, bedeute aber letztlich eine „vollständige Zerkrümelung“, welcher der „Proletarier anheimfällt“88. Ansätze frühkapitalistischen Handels lassen sich im Italien des 13. Jahrhunderts identifizieren, die eigentliche Wende zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung markieren die Entdeckungen und Neuerungen am Ende des 15. Jahrhunderts: Etwa die Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Ostindien, die Entstehung der modernen Großstaaten und des modernen Heeres, aber auch Fortschritte technischer Entwicklung: Hochofen, Wasserhaltungsmaschinen, Amalgamverfahren.89 Der prägende Städtetyp dieser Epoche war die Handelsstadt, die SOMBART in vier verschiedene Typen (Niederlagsplätze, Umschlagsplätze, Dispositionsplätze und Bankierstädte) gliedert.90 Die hochkapitalistische Epoche beginnt Mitte des 18. Jahrhunderts in England und setzt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts im gesamten Europa durch. Merkmale dieser Epoche sind nach SOMBART u. a. ein vollentwickeltes Gewinnstreben bei vollständiger Durchrationalisierung des Wirtschaftslebens und die Versachlichung des Geschäfts und der Geschäftsführung.91 Im Hochkapitalismus haben vor allem die Dispositionsplätze an Zahl zugenommen: „Es sind diejenigen Städte, die vornehmlich vom Handelsprofit leben. Diese haben einen größeren Umfang einnehmen können in dem Maße, als die Mobilisierbarkeit und somit Mobilisierung der Güterwelt fortgeschritten ist.“92 Der Typus der Industriestadt, einer „mächtige[n] Anhäufung von Menschen, die der Initiative der kapitalistischen Industrie ihr Zusammenleben und ihren Unterhalt verdanken“93, hatte nach SOMBART erst mit dem Eintritt in die hochkapitalistische Epoche städtebildende Kraft.94 Vorher war die Industrie 86 87 88 89 90 91 92 93 94
Ebd., 1082. Hervorhebung im Original. Ebd., 1084. Ebd. Vgl. SOMBART, Werner (1955a), 10f. Vgl. ebd., 582ff. Vgl. ebd., 12f. SOMBART, Werner (1955b), 400. Hervorhebung im Original. Ebd., 401. Vgl. ebd., 402.
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entweder dezentralisiert oder galt der Bedarfsdeckung der jeweiligen Stadt selbst.95 Die mit der Dampftechnik entstehenden Großbetriebe, die Angliederung weiterer Industriezweige an bestehende Standorte und letztlich die rasche Steigerung der Produktion hatten zum Entstehen der primären Industriestadt maßgeblich beigetragen.96 Dabei lassen sich industrielle Teilstädte von industriellen Vollstädten unterscheiden: Die industrielle Teilstadt ist eine reine Arbeiterstadt, die selten über die Größe einer Mittelstadt hinauskommt. In ihr gelangt „der in ihr gewonnene Unternehmerprofit nicht zum Verzehr“97, d. h. die Stadt „trägt nicht zur Erhaltung ihrer eigenen Existenz bei, sondern ermöglicht die städtische Daseinsweise für andere“98. In der industriellen Vollstadt wird der Unternehmerprofit selbst angelegt, so dass sich um den industriellen Kern ein neuer Stadtring bildet, in dem die Lieferanten für die wohlhabende Bevölkerung leben. Weitere Stadtringe gliedern sich an: „Ist dann die Stadt erst groß genug, um Mittelpunkt für Staatsrentner, das heißt Beamte und Militär, und ferner für den Handels- und Kreditverkehr der Umgegend abzugeben, so wird das Schrittmaß ihrer Ausweitung ein immer rascheres: die aus kleinen Anfängen erwachsene primäre Industriestadt hat die Bahn der ‚Großstadt‘ beschritten.“99
Die Großstadt hat für SOMBART keine statistische, sondern eine ökonomische Dimension. Die Einwohnerzahl als bestimmende Größe zu verwenden, lehnt er ab mit dem Hinweis, dass nur an den „ganz großen Hauptstädten ganz großer Länder“ einwandfrei abzulesen ist, „was das ökonomische Wesen dieses eigenartigen, in seiner vollen Entwicklung nur im Zeitalter des Hochkapitalismus auftretenden Städtetypus ausmacht“100. Je zentralisierter eine Kultur nach SOMBART ist, desto weniger Großstädte existieren, was nicht bedeutet, dass Großstädte zugleich Sitz der Zentralverwaltung eines Staates sein müssen.101 An der Großstadt Berlin macht er deutlich, dass die Großstädte nur zum geringen Teil Industriestädte sind, da sie „in immer geringerem Umfang von ihrer gewerblichen Tätigkeit leben“102. Stärker städtebildende Kraft besitzen Handel und Verkehr. Letztlich sind Großstädte vor allem Konsumtionsstädte, das heißt, sie existieren durch „Anrechte auf Güterbezüge von auswärts, die auf andere Weise als durch produktive Tätigkeit in der Großstadt selbst erworben sind“103, etwa durch Kapitalprofit, Pensionen staatlicher Beamter und Einkommen von Fremden, die die Großstadt aufsuchen. 95 96 97 98 99 100 101 102 103
Vgl. ebd., 401. Vgl. ebd., 402f. Ebd., 407. Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd. Ebd., 408. Vgl. ebd. Ebd., 411. Ebd., 414.
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Im Vergleich zwischen WEBER und SOMBART wird deutlich, dass beide ihren Definitionen einen ökonomischen Stadtbegriff zugrunde legen. WEBER verfolgt über die Charakterisierung verschiedener Stadttypen den „über Jahrhunderte anhaltenden globalen gesellschaftlichen Prozeß, der in der Industrialisierung gipfelte, auch am Beispiel der Stadtentwicklung“104. Während für WEBER die mittelalterliche Stadt also durch ihre ökonomische Dimension als Markt gekennzeichnet ist, auf dem Waren getauscht werden, die von der ortsansässigen Bevölkerung oder den Bewohnern des direkten Umlands der Siedlung selbst erzeugt oder erworben werden, ist für SOMBARTs Stadtbegriff die Abhängigkeit des Stadtbewohners von Erzeugnissen fremder landwirtschaftlicher Arbeit ausschlaggebend. Die Stadt lebe überwiegend vom Überschuss des Landes, argumentiert SOMBART. WEBER geht es darum, „die Bedeutung der europäischen mittelalterlichen Stadt in der Entwicklung des westlichen Kapitalismus aufzuzeigen und zu demonstrieren, warum die Städte im Altertum und in anderen Teilen der Welt im Mittelalter diese Bedingungen nicht erfüllten“105. Ihn interessiert, welche Elemente einer spezifisch okzidentalen Rationalität die Entwicklung des modernen Kapitalismus ermöglicht haben. KRÄMER-BADONI schreibt: „Ein Rückgriff auf Max Weber kann sich weder auf seine historischen Analysen beziehen noch auf die Übernahme des Verfahrens der Idealtypenbildung beschränken. [...] Der entscheidende Begriff der theoretischen Analyse Webers ist der der ‚Rationalisierung‘ in universalhistorischer Perspektive.“106 Mit diesem Begriff unternimmt WEBER den Versuch, „die Rückwirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf den institutionellen Rahmen von Gesellschaften zu fassen, die in ‚Modernisierung’ begriffen sind“107. Sein Be104 105 106
107
REULECKE, Jürgen (1989), 25. SAUNDERS, Peter (1987), 40. KRÄMER-BADONI, Thomas (1992), 12. Es geht WEBER nicht um Rationalisierung im evolutionistischen Sinn, vielmehr „handelt es sich bei dem, was Weber für den komplexen Weg zum Rationalismus der Moderne ansah, um eine heterogene Mehrzahl in sich typisch diskontinuierlicher (teils schon in der Antike anlaufender) ‚Rationalisierungsprozesse‘“ (TYRELL, Hartmann, 1994, 397). HABERMAS, Jürgen (1972), 97. Die fortschreitende Rationalisierung hängt nach HABERMAS mit der „Institutionalisierung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts zusammen. In dem Maße, in dem Technik und Wissenschaft die institutionellen Bereiche der Gesellschaft durchdringen und dadurch die Institutionen selbst verwandeln, werden die alten Legitimationen abgebaut. Säkularisierung und ‚Entzauberung‘ der handlungsorientierenden Weltbilder, der kulturellen Überlieferung insgesamt, ist die Kehrseite einer wachsenden ‚Rationalität‘ des gesellschaftlichen Handelns“ (ebd., 89). WEBER ist gleichwohl „kein kategorischer, philosophischer Rationalist“ (DAHRENDORF, Ralf, 1988, 781), DAHRENDORF macht dies an der Dialektik der Rationalität in WEBERs Werk deutlich. Auch sein Begriff der Entzauberung ist nach DAHRENDORF vieldeutig: „Wenn Weber von der Entzauberung der modernen Welt spricht, verrät schon seine Wortwahl die Spaltung in seinen Gefühlen. Entzauberung ist nicht nur ein objektiver Prozeß der Entmystifizierung oder die subjektive Erfahrung der Desillusionierung, sondern bedeutet, daß das Magische aus dem Leben verschwunden ist, aller Zauber und emotionale Anziehungskraft. Diese Anziehungskraft liegt zum großen Teil auch Webers
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griff der Stadt als Idealtypus ist ein „individueller Typus und kann daher nicht als allgemeine Definition über alle Zeiten und Orte hinweg gelten“108. SAUNDERS schreibt: „Es wäre [...] verfehlt, sich von seiner Untersuchung eine Orientierung im Hinblick auf die Erforschung der modernen kapitalistischen Stadt zu erwarten, wie es widersinnig wäre, Webers Idealtypus des Calvinismus im 16. Jahrhundert auf eine Analyse der modernen religiösen Gemeinschaften anwenden zu wollen [...]. Was wir von Webers Essay über die Stadt lernen können, ist, daß die Stadt selbst nicht als eigenständiges Problem untersucht werden kann und es wenig Sinn hat, eine Theorie der Stadt per se zu entwickeln.“109
Die lineare Progression von Modernisierung und technischem Fortschritt als universale „Entwicklung hin zu einer ‚besseren’ Welt widerspricht WEBERs Analyse des Rationalisierungsprozesses, da er diesen – unter Sichtbarmachen der für das Individuum negativen Konsequenzen – ausschließlich in der westlichen Welt verortete und daraus eben nicht ein universell gültiges Gesetz der menschlichen Geschichte abzuleiten gedachte“110, schreibt HARING. WEBER ist vorsichtig, wenn es um die Bewertung historisch-empirischer Zusammenhänge geht. Vom Wissenschaftler fordert er in Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften von 1917, dass er „die Feststellung empirischer Tatsachen (einschließlich des von ihm festgestellten ‚wertenden‘ Verhaltens der von ihm untersuchten empirischen Menschen) und seine praktisch wertende, d. h. diese Tatsachen (einschließlich etwaiger, zum Objekt einer Untersuchung gemachter ‚Wertungen‘ von empirischen Menschen) als erfreulich oder unerfreulich beurteilende, in diesem Sinn: ‚bewertende‘ Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle“111.
Weder SOMBART noch WEBER haben die Eigenart städtischer Lebensweise zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht. Erst SIMMEL richtet darauf ein spezifisch soziologisches Interesse. WEBER untersucht die Stadt im Hinblick auf ihre historische Bedeutung für die Entwicklung des Kapitalismus. Die europäische Stadt des Mittelalters beschreibt WEBER als Ort der Emanzipation: Die Emanzipation des Wirtschaftsbürgers aus den geschlossenen Kreisläufen des ganzen Hauses hin zur offenen Organisation der Ökonomie als Marktwirtschaft und des politischen Bürgers als Citoyen, die Emanzipation aus feudalistischen Herrschaftsverhältnissen zur Selbstverwaltung einer Stadt-
108 109 110 111
[...] Faszination durch das Charisma zugrunde, das Ungewöhnliche, Unerwartete, Einzigartige, das allein die Rigidität der rationalen Welt aufbrechen kann. Denn Weber bezeichnet die Welt nicht nur als rational. Er führt auch jenes Gehäuse der Hörigkeit an, in dem der moderne Mensch sich wahrscheinlich wiederfinden wird, wenn er ausschließlich auf die Rationalität der Mittel baut.“ (Ebd., 781f.). SAUNDERS, Peter (1987), 40. Ebd. Hervorhebungen im Original. HARING, Sabine A. (2001), 6. WEBER, Max (1968b), 500. Hervorhebungen im Original.
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gemeinde freier Bürger. Die Stadt im Mittelalter war das Zentrum gesellschaftlicher Dynamik. Die europäische Stadt wurde so zum Ort der urbanen Lebensweise, die den Städter vom Landbewohner unterscheidet. Die Voraussetzung einer vormodernen Geschichte im Alltag des Städters ist das erste Merkmal der europäischen Urbanität.112 Der städtische Markt ist nach WEBER quasi Modell für Öffentlichkeit. Die Sphäre des Öffentlichen ist ein Ort der Anonymität, des stilisierten Verhaltens, der Distanziertheit, Gleichgültigkeit und Intellektualität des Großstädters. Das genau ist der Punkt, an dem WEBER auf SIMMEL trifft.
Abb. 1: LE CORBUSIER (1887-1965): Straßenkorridor
112
Vgl. SIEBEL, Walter (2004), 13.
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3.3 Phänomene der Verstädterung Der Prozess hin zur weitgehend verstädterten Gesellschaft erfolgte in mehreren historischen Stufen: Zwischen dem Ende des 15. Jahrhundert, dem ausgehenden Mittelalter und der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts verloren die mittelalterlichen Städtebünde an Bedeutung. Es kam zu neuen Stadtgründungen, den barocken Fürstenstädten. Die Städte entsprachen der absolutistischen Herrschaftsform.113 Ende des 18. Jahrhunderts begann das Schleifen der Stadtmauern, die bisher Stadt und Land voneinander trennten. Dies führte zur Stadterweiterung: „Grünanlagen und Parks, Promenaden und kleine Seen treten an die Stelle der ehemaligen Mauern und Festungsgürtel, der Wassergräben und vorgeschobenen Stellungen.“114 Die Zeit bis zum ausgehenden Mittelalter war vom Stadt-Land-Gegensatz geprägt. Das europäische Mittelalter knüpfte zum Teil an die Siedlungsformen des Römischen Reiches an.115 Kern dieser Traditionen war „die aus der Antike übernommene Funktion der Stadt, Bischofssitz und Sitz von Kultstätten zu sein“116. Dieser Siedlungsform, die auf die römische civitas zurückgeht, folgten germanische Fernhandelsmärkte (vici) mit ortsansässigen Kaufleuten und Handwerkern.117 Die mittelalterliche „geschlossene“ Stadt ist aus einer Burg weltlicher oder geistlicher Landesherren118 und dem außerhalb gelegenen portus oder suburbium, einer Händlersiedlung, entstanden: Es entwickelte sich so ein „topographisch-konstitutioneller Dualismus von offener Kaufleutesiedlung und befestigtem Herrensitz. Aus dieser Zweiheit entstanden in einem Verschmelzungsund Durchdringungsprozeß die mittelalterlichen nordwesteuropäischen Städte“119. Eine Stadtmauer machte die Bedeutung der mittelalterlichen deutschen Stadt als Wirtschafts- und Wehrverband auch äußerlich sichtbar:120 „Die Frage: Was ist eine Stadt? läßt sich für das Mittelalter scheinbar sehr leicht beantworten. Als kompakte Silhouette heben sich die mauerumgrünten, dichtge113 114 115
116 117 118 119 120
Vgl. SCHÄFERS, Bernhard (1977), 253ff. Ebd., 255. Vgl. HEICHELHEIM, Fritz Moritz (1956). Vgl. insbesondere ENNEN: „Die dramatische Sicht des Untergangs der Antike als einer Katastrophe [...] ist aufgegeben zugunsten der wohl allgemeinen Überzeugung eines allmählichen Übergangs. Insgesamt ergibt sich aber ein regional, zeitlich und funktionell außerordentlich differenziertes Bild der Kontinuität.“ (ENNEN, Edith, 1956, 780). Während etwa der Raum Nordgalliens als „Zone starker Verschüttung, aber nicht völliger Auslöschung des antiken Erbes“ (ebd.) gilt, konnten sich die südeuropäischen Länder urbane Traditionen weitgehend erhalten. Vgl. ebd. ENNEN, Edith (1991), 114. Vgl. ebd., 115. Insgesamt stellt die christliche Kirche für die Stadtgeschichte des Mittelalters eine „ungebrochen fortwirkende geistige Kraft dar“ (ENNEN, Edith, 1956, 781). ENNEN, Edith (1956), 781. Hervorhebungen im Original. Zum historisch-geographischen Stadtbegriff vgl. LICHTENBERGER, Elisabeth (1998), 30ff.
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bauten, von Türmen der Kirchen und Burgen überragten Städte aus dem sie umgebenden Land heraus [...]. Die Mauer macht die Stadt nicht nur zur Festung, sie markiert auch den Bereich eines besonderen Stadtrechtes [...].“121
Höhepunkt von Verstädterung und Urbanisierung in Deutschland ist die Phase der Hochindustrialisierung zwischen der Reichsgründung 1871 und 1910. In dieser Phase vollzog sich im Deutschen Reich der entscheidende Schritt vom Agrarstaat zum Industriestaat.122 Die gegenüber England und Frankreich zunächst strukturell verzögerte Industrialisierung setzte nach der Revolution von 1848/49, die in den großen Städten ihren Ausgang nahm,123 mit Nachdruck ein.124 Das politisch geschwächte liberale Bürgertum verlagerte sein Engagement verstärkt auf den wirtschaftlichen Bereich: „Bis in die vorrevolutionäre Zeit im wesentlichen in Staatspapieren, Hypotheken und Grundbesitz festgelegtes Kapital floss jetzt in steigendem Maße der Industrie zu.“125 Dass Industrialisierung über Technisierung hinaus einen gesamtgesellschaftlichen Strukturwandel zur Folge hat, zeigt der Blick auf die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts: Die Industrialisierung wird zur „endgültigen Auflösung der mittelalterlichen handwerklichagrarischen Sozialordnung führen“126. Dieser Prozess wurde zwischen 1890 und 1914 durch „das Hervortreten aller wesentlichen Merkmale einer auf der Trennung und dem Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit beruhenden Wirtschafts- und Sozialverfassung“127 abgeschlossen. Zu den Merkmalen des modernen Kapitalismus gehören nach JANTKE die „Verallgemeinerung der Tendenz zur Ausbildung fabrikindustrieller Produktionsformen und Arbeitsverfassungen einschließlich der um die Rohstoffzentren von Kohle und Stahl gravitierenden Großunternehmungen der Grundstoff- und Halbzeugindustrie mit den dazugehörigen industriestädtischen Agglomerationen, ferner die sozial belastenden, aber durch fortlaufend verstärkte sozialpolitische und sozialreformerische Leistungen relativ erleichterten Anpassungsprozesse
121 122 123 124
125 126
127
ENNEN, Edith (1972), 11. Zur Funktion der Stadt als Festung und den Beziehungen zum Umland im Spätmittelalter vgl. MACHALKA-FELSER, Rautgundis (1979), 333ff. Vgl. BERGMANN, Klaus (1970), 19. Vgl. BORKOWSKY, Ernst (1899), 96. Wird die Industrielle Revolution nicht im weiteren Sinn als radikaler Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft, sondern in einem engeren Sinn als technischer Wandel von Handarbeit und Heimindustrie in mechanisierte Fabrikproduktion verstanden, ereignet sich dieser in Deutschland schon 1784 mit der Gründung der ersten Maschinenspinnerei in Ratingen durch Gottfried BRÜGGELMANN. Vgl. HARDACH, Gerd (1991), 102. KÖLLMANN, Wolfgang (1963), 485. JANTKE, Carl (1963), 587. LAPEYRES sieht den Übergang vom Ackerbau- zum Industriestandort eines Landes dann als vollzogen an, wenn die Getreideeinfuhren höher als die Ausfuhren sind. Vgl. LAPEYRES, E. (1877), 8. Diesen Prozess habe England schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchlaufen. Vgl. ebd. JANTKE, Carl (1963), 587.
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breiter Schichten agrarisch-handwerklicher Herkunft an fabrikindustrielle Arbeit und städtisch-industrielle Daseinsbedingungen“128.
In der zweiten Jahrhunderthälfte entwickelten sich „die Städte dort am schnellsten, wo die industriellen Wachstumsraten am ausgeprägtesten waren“129. Ab 1840 kann in Preußen von einer Verbindung zwischen Verstädterung und Industrialisierung gesprochen werden, die in der Phase der Hochindustrialisierung zwischen 1871 und 1910 in Deutschland enger wurde.130 Als industrielle Teilstadt gliederte sich die industrielle Agglomeration entweder schon bestehenden offenen Bürgerstädten an,131 oder aber die industrielle Agglomeration entwickelte sich an bisher unbedeutenden Standpunkten zu einem völlig neuen Stadttypus: „Ein typisches Kennzeichen [der industriellen Agglomeration] war, daß meist in enger Nachbarschaft mehrere solcher Städte entstanden und sich so Städteballungen – ,Konurbationen‘ – bildeten. Die gewinnversprechenden Vorkommen von Kohle und Eisen, die Nähe zu Verkehrswegen, die den schnellen Abtrans128 129
130
131
JANTKE, Carl (1963), 587. ZIMMERMANN, Clemens (1996), 15. Ob allerdings die Industrialisierung aber als Initialzündung des Verstädterungsprozesses zu gelten hat oder ob nicht umgekehrt die Verstädterung als Voraussetzung für die beginnende Industrialisierung zu sehen ist, wird unterschiedlich interpretiert. Vgl. hierzu mit Literaturverweisen TEUTEBERG, Hans Jürgen (1983), 30f. TEUTEBERG spricht von bisher wenig berücksichtigten metaökonomischen Faktoren, durch die das Phänomen der Verstädterung entscheidend behindert oder gefördert wurde: „Die vielfach beobachtete Gründung von Doppel- und Konkurrenzstädten in nächster Nachbarschaft hatte wenig mit den ökonomischen Funktionen, dagegen viel mit natürlich-geographischen Verhältnissen und vor allem mit Grenzziehungen zu tun.“ (Ebd., 31). Dagegen schreibt etwa KÖLLMANN: „Erst die Industrialisierung gab den entscheidenden Anstoß zur Großstadtbildung in Deutschland, wie sie sich in der Jahrhundertmitte vollzog.“ (KÖLLMANN, Wolfgang, 1974, 106). Nach IPSEN folgen die Stadtgründungen der Standortwahl des Unternehmers. Im Anschluss an SOMBART bezeichnet er die Industrie als „Städtegründer“ (IPSEN, Gunther, 1956, 789). Vgl. ZIMMERMANN, Clemens (1996), 17. Nach KÖNIG ist der Zusammenhang zwischen Verstädterung und Industrialisierung häufig zu beobachten, lässt sich aber nicht für alle Kulturkreise verallgemeinern: Neben dem Umstand, dass in den modernen großstädtischen Agglomerationen die Industrialisierung allgemein kaum mehr die Hauptrolle spielt, erfolgt die Entstehung von Großstädten bei vielen wirtschaftlich schwach entwickelten Gesellschaften völlig ohne oder mit einem Minimum an Industrialisierung, „einem Minimum, das dann in keinerlei Verhältnis steht zum erreichten hohen Grad an Verstädterung, gemessen an der Zahl und Dichte der Bevölkerung“ (KÖNIG, René, 1977, 111). Zum Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Verstädterung im europäischen Kontext vgl. ZIMMERMANN, Clemens (1996), 14. ZIMMERMANN weist nach, dass der Zusammenhang beider Faktoren in Frankreich und Russland weniger ausgeprägt war als in Deutschland und England. Vgl. ebd. IPSEN bezeichnete die Stadt des frühen 19. Jahrhunderts als offene Bürgerstadt: „Die Ordnungen gesprengt, der einzelne seinem Ermessen überlassen, die ehemaligen Zunftbürger in ein Kleinunternehmertum verwandelt, das seinen Besitz in Anlagevermögen umsetzt. Vorstädte entstehen, die Bannmeile des alten Rechts wird aufgefüllt, die Stadtgemarkung überschritten. Die Schleifung der Mauern ist das räumliche Sinnbild dieser Öffnung.“ (IPSEN, Gunther, 1956, 788). Tatsächlich war das Schleifen der Stadtmauern die Folge eines schon im Absolutismus einsetzenden Prozesses. Vgl. SCHÄFERS, Bernhard (1996), 22.
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port der Produkte gewährleisteten, und das billige Gelände zur Errichtung von Zechen, Hüttenwerken und sonstigen Fabriken waren die ausschlaggebenden Faktoren solcher Agglomeration. Der Einseitigkeit der Gründungsmotive entsprach die Uniformität ihres äußeren Erscheinungsbildes und ihrer inneren Struktur. Abgesehen von eventuell noch vorhandenen winzigen dörflichen oder kleinstädtischen Kernen waren die industriellen Werke die Mittelpunkte von aus dem Boden gestampften Industriearbeitersiedlungen, deren Bewohner zunächst fast ausschließlich die Bevölkerung dieser Neugründungen ausmachten. Eine in den anderen Städten anzutreffende bürgerliche Mittel- und Oberschicht, die aus Handwerkern, kleinen und mittleren Kaufleuten, Beamten und freiberuflich Tätigen, Unternehmern und alteingesessenen Honoratiorenfamilien bestand, gab es hier kaum oder gar nicht, allenfalls einige wenige durch Verkauf von Grundstücken reich gewordene Bauern und ehemalige sogenannte Ackerbürger.“132
In seiner quantitativen Dimension lassen sich für den Verstädterungsprozess des 19. Jahrhunderts, in dessen Verlauf „sich die zentralen Prozesse der Modernisierung ausprägten und [...] zum Teil erst voll zur Geltung kamen“133 neben der Industrialisierung folgende Voraussetzungen festmachen:134 Erstens das rasche allgemeine Bevölkerungswachstum, resp. das Bevölkerungswachstum in den Städten und Städtewachstum (vgl. Kapitel 3.3.1), zweitens die Umschichtung von vorwiegend ländlicher auf primär städtische Bevölkerungskonzentrationen durch Wanderungsbewegungen (vgl. Kapitel 3.3.2) und drittens das Städtewachstum bezogen auf Stadterweiterungen durch Eingemeindung und der damit verbundenen Citybildung (vgl. Kapitel 3.3.3).
3.3.1 Bevölkerungswachstum Die quantitativen Merkmale Bevölkerungswachstum und -konzentration in den Städten sowie der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft stellen sich als komplexe Faktoren dar, deren Ursachen schon vor dem Industrialisierungsschub in der Mitte des 19. Jahrhunderts liegen. Sie hängen unter anderem mit einem allgemeinen Bevölkerungswachstum der Gesamtbevölkerung zusammen. Eine erste Bevölkerungswelle zeichnete sich nämlich schon vor dem Ende des 18. Jahrhunderts als Folge einer „Ausweitung des Nahrungsspielraums durch die merkantile Landesausbaupolitik und die Peuplierungspolitik der absolutistischen Herrscher“135 ab. Da eine höhere Bevölkerungszahl die eigene Macht des absolutistischen Staates repräsentierte, wurden Einwanderung und Familiengründungen gefördert.136 Die Sterblichkeit war indes bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in den Städten sehr hoch, was der Sta132 133 134 135 136
REULECKE, Jürgen (1985), 44. REULECKE, Jürgen (1977), 273. Vgl. TEUTEBERG, Hans Jürgen (1983), 31f. Vgl. auch HOFMEISTER, Burkhard (1984), 205. REULECKE, Jürgen (1977), 277. Vgl. KÖLLMANN, Wolfgang (1976), 9f.
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tistiker SÜSSMILCH schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf Sittenlaxheit, Alkoholismus, Überfluss an Nahrungsmitteln und Mangel an Bewegung, Enge und Kleinheit der Wohnungen und Straßen zurückführt: „Folglich ist es klar, daß der heimliche Schaden, den der Staat von den Städten erleidet, dem Schaden einer Pest fast gleich zu schätzen sey. [...] Städte sind daher ein wirklich Uebel für den Staat.“137 Die Reformgesetze zu Beginn des 19. Jahrhunderts liberalisierten die Lebensordnungen und führten „zur Freisetzung der Unterschichten zur ungehinderten Eheschließung und Fortpflanzung“138. Die hohe Fruchtbarkeit in der ersten Jahrhunderthälfte hatte sich, so MARSCHALCK, aus „dem Weiterwirken vorindustrieller Normen und Gewohnheiten in Bezug auf Familiengründung, Geburtenzahl und Geburtenabstände bei inzwischen veränderten sozialen und ökonomischen, aber auch gewandelten demographischen Verhältnissen ergeben. Die Anpassung an die neuen sozialen Strukturen, die nicht mehr auf dem Prinzip der Familienstelle begründet waren, setzte sich nur langsam durch“139.
Durch eine verbesserte Hygiene140 konnte zudem die Kinder- und Jugendlichensterblichkeit gesenkt werden, so dass sich die jährliche Zuwachsrate der Bevölkerungszahl zwischen 1816 und 1825 gegenüber dem vorausgegangenen Jahrhundert nahezu verdoppelte.141 Bis zum Beginn der Hochindustrialisierung (ab 1871) war das Bevölkerungswachstum in den östlichen Agrargebieten besonders hoch,142 vollzog sich aber bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Rahmen vorindustrieller Gegebenheiten. Auch kann bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts allenfalls von einer „Vorbereitungsphase der Urbanisierung“143 gesprochen werden, denn insgesamt entsprach in dieser Phase das Wachstum der städtischen Bevölkerung der Entwicklung der Gesamtbevölkerung.144 Die allgemeine Bevölkerungszunahme führte allerdings zu einer regional verschieden ausgeprägten ländlichen Überbevölkerungskrise.145 Der Bevölkerungsüberschuss setzte sich in Abwertung der einzelnen Arbeitsstellen um, „so daß die Eingliederung Überzähliger in den Arbeitsprozeß zur Unterbeschäftigung 137 138 139 140 141 142 143 144 145
SÜSSMILCH, Johann Peter (1988), 114f. REULECKE, Jürgen (1985), 21. MARSCHALCK, Peter (1984), 43. Zur Hygienebewegung im 19. Jhd. vgl. BERNDT, Heide (1987). Vgl. CASTELL RÜDENHAUSEN, Adelheid Gräfin zu; REULECKE, Jürgen (1990). Vgl. RODENSTEIN, Marianne (1992). Vgl. MARSCHALCK, Peter (1984), 27. Zur Statistik der Bevölkerung des Deutschen Reichs zwischen 1816 und 1890 vgl. BEVÖLKERUNG (1892), 282. Vgl. JANTKE, Carl (1955), 150. REULECKE, Jürgen (1985), 14. Vgl. ebd., 31. Im Nordosten Deutschland konnte der Bevölkerungsüberschuss durch die preußische Bauernbefreiung als „staatlich bewirkter Landesausbau“ (IPSEN, Gunther, 1972, 160) aufgefangen werden. Vgl. KÖLLMANN, Wolfgang (1974), 35f. Zur Entwicklung der Ehestatistik als Folge der Überbevölkerungskrise vgl. SCHEINMANN, M. (1891).
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führte und damit eine Verminderung des Arbeitseinkommens aller und eine Verstärkung der Verelendungstendenzen bedeutete“146. Der entstehende Pauperismus konnte durch die beginnende überseeische Auswanderung zwar entlastet, aber nicht aufgefangen werden, obwohl zwischen 1816 und 1844 über 300.000 Menschen Deutschland nach Übersee verließen.147 Erst die Industrialisierung bedeutete „Rettung [...] vor der Verelendung“148. War zuvor die agrarisch geprägte Gesellschaft nicht in der Lage, genügend Arbeitsplätze für die rasant wachsende Bevölkerung anzubieten, konnte der damit verbundene Pauperismus durch die neuen Arbeitsmöglichkeiten in der Industrie ab der Jahrhundertmitte aufgefangen werden.149 Für den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit können mit KÖLLMANN drei Phasen des als demographischer Übergang bezeichneten Prozesses beschrieben werden.150 In einer ersten Phase zwischen 1833 und 1872 waren Sterbe- und Geburtenziffer auf annähernd gleichem Niveau. Zwischen 1873 und 1901 (Hochindustrialisierung) sank die allgemeine Sterblichkeit bei annähernd gleicher Geburtenziffer. Dadurch erhöhte sich der Geburtenüberschuss151 auf 15 Prozent. Nach einem Anstieg der Geburten zwischen 1880 und 1900 sank die Geburtenziffer nach der Jahrhundertwende kontinuierlich, und auf dem Gebiet des Deutschen Reichs bis 1930, dem Ende der dritten Phase, reduzierte sich die Geburtenziffer um fast die Hälfte. Durch die generell sinkende Sterbeziffer wurde ein Sinken des Geburtenüberschusses zwar aufgefangen, betrug aber in dieser Zeit nur noch 5 Prozent.152 Der Fruchtbarkeitsrückgang153 war dabei bis zur Jahrhundertwende proportional zur Größe der Stadt.154 Ab 1900 war, so MARSCHALCK, „die Fruchtbarkeit in den Städten niedriger […] als auf dem Lande, in katholischen Ehen höher als in evangelischen, in der Arbeiterschaft höher als bei den Angestellten und damit allgemein in den primären und sekundären Sektoren der Wirtschaft höher als im tertiären, in reichen Wohnvierteln niedriger als in armen 146 147
148 149
150 151
152 153
154
KÖLLMANN, Wolfgang (1976), 13. Vgl. MARSCHALCK, Peter (1984), 177, Tabelle 5.1. Bis 1830 war das Ziel der überwiegend aus Württemberg und der Pfalz stammenden Auswanderer Südamerika, danach verlagerte sich das Hauptauswanderungsziel nach Nordamerika. Vgl. ebd. KÖLLMANN, Wolfgang (1974), 37. BERGMANN, Klaus (1970), 14f. Vgl. auch KÖLLMANN, Wolfgang (1976), 15. Der eigene Nahrungsmittelbedarf konnte nur durch Importe gedeckt werden. Vgl. FRANCKE, E. (1897), 214. Vgl. KÖLLMANN, Wolfgang (1977), 70f. Während die Geburtenziffer oder Geburtenrate die Anzahl der Lebendgeborenen je 1000 Einwohner umfasst, meint Geburtenüberschuss die Differenz zwischen der Anzahl der Lebendgeborenen und der Anzahl der Gestorbenen. Vgl. WINKLER, Wilhelm (1927), 227. Das Sinken der Sterbeziffer ist durch einen Anstieg der Lebenserwartung bedingt. Vgl. MARSCHALCK, Peter (1984), 41. Während der Fruchtbarkeitsrückgang die Veränderungen der Kinderzahl je Frau beschreibt, meint der Geburtenrückgang das Ergebnis der Veränderungen für die Gesamtbevölkerung. Vgl. MARSCHALCK, Peter (1984), 54. Vgl. ebd., 44.
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usw. In den Großstädten, aber auch in den Mittel- und Kleinstädten, in den nichtlandwirtschaftlichen Sektoren, aber auch in der Landwirtschaft war die Fruchtbarkeit bei den Angehörigen des ‚neuen Mittelstandes‘ der Beamten und Angestellten am geringsten, die der Arbeiterschaft durchweg am größten“155.
Besonders die Säuglingssterblichkeit konnte von 25,1 Prozent im Jahr 1872 auf 10,5 Prozent im Jahr 1925 gesenkt werden.156 Lebten um 1800 immerhin noch vier von fünf Deutschen auf dem Land,157 wuchs in der Zeit der Hochindustrialisierung die Zahl der Landstädte um 42 Prozent, die Zahl der Kleinstädte um etwa 100 Prozent, die Großstädte um das Sechsfache.158 Für Preußen lässt sich sowohl in der Früh- als auch in der Hochindustrialisierung ein West-Ost-Gefälle feststellen: Während der Osten in der Frühindustrialisierung „einen großen Anteil von Städten mit durchschnittlichem Wachstum aufwies und extremes Wachstum ebenso wie Bevölkerungsrückgang weitgehend fehlten, waren im Westen die Städte ausgerechnet in diesen Gruppen relativ stark vertreten“159. In der Phase der Hochindustrialisierung prägt sich dieser Gegensatz noch stärker aus: Die westlichen Städte wuchsen schneller als die östlichen und auch die Einwohnerdichte war höher.160 In der Zeit von 1871 bis 1925 stieg der Anteil der insgesamt in den Städten Wohnenden von 36,1 Prozent auf 64,4 Prozent.161 Die Zahl der Großstädter hatte sich mit 13,8 Millionen um das Siebenfache erhöht. Dabei hatten die Rheinprovinz, Westfalen und Sachsen mit über 60 Prozent den höchsten Verstädterungsgrad. Die größten Zuwachsraten erfuhren die späteren Großstädte des Ruhrgebiets, die sich im Zuge der Industrialisierung aus den Landund Kleinstädten entwickelten.162 Gab es auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches 1816 nur eine Großstadt von über 100.000 Einwohnern (Berlin163), kamen bis zur Jahrhundertmitte die Hansestadt Hamburg, München und 155 156
157 158 159 160
161 162 163
Ebd., 55. Vgl. WINKLER, Wilhelm (1927), 230. SCHLEGTENTAL weist nach, dass sich die Säuglingssterblichkeit in der Stadt zwischen 1876 und 1903 gegenüber dem Land erheblich verringert hat und fordert, dass „die Frauen [...] zur Natur zurückkehren müßten“ (SCHLEGTENDAL, 1905, 155). Durch eine längere Stillzeit und die Kontrolle durch staatlich beaufsichtigte Hebammen soll das Problem der Säuglingssterblichkeit weiter bekämpft werden. Vgl. ebd., 156. Vgl. TEUTEBERG, Hans Jürgen (1991), 67. Vgl. MARSCHALCK, Peter (1984), 50. Vgl. den Überblick nach der Volkszählung von 1890 in Preußen in PREUSSISCHE STADTGEMEINDEN (1891). MATZERATH, Horst (1984a), 79. Vgl. ebd., 90. Damit einhergehend war der Stadt-Land-Gegensatz im Osten größer als im Westen, was sich entwicklungshemmend auswirkte. Vgl. ebd., 95. Der Osten war „im Prozeß der Industrialisierung der eigentliche ‚Verlierer‘ gewesen“ (BORCHARDT, Knut, 1966, 339). Zum Wachstum der Großstädte im Deutschen Reich während der Hochindustrialisierung differenziert nach Seestädten bzw. Verkehrs- und Handelsstädten vgl. BRUHNS, B. (1908). KIRCHLICHES HANDBUCH (1928), 250. Vgl. MARSCHALCK, Peter (1984), 51. Zur Entwicklung der Wanderung in das Ruhrgebiet vgl. KORTE, Hermann (1979), 257. Zur politischen Entwicklung Berlins und der Provinz Brandenburg ab 1806 vgl. HERZFELD, Hans (1968).
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Breslau hinzu. 1871 gab es bereits acht (Berlin, Hamburg, Breslau, München, Dresden, Köln, Königsberg, Leipzig), 1910 achtundvierzig Großstädte im Deutschen Reich.164 1925 leben 26,2 Prozent der Bevölkerung des Deutschen Reichs in Großstädten mit über 100.000 Einwohnern.165 Die Bevölkerung stieg in der Hauptstadt Berlin von 826.000 in den Jahren 1870/71 auf 2.071.000 im Jahr 1910.166 Ende der zwanziger Jahre war Berlin mit fast 4 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt der Welt nach New York und London.167 Der Grad des Bevölkerungswachstums hing auch in dieser Zeit von der Stärke der Wanderungsbewegung ab, die wiederum an der ökonomischen Lage der Hauptstadt orientiert war.168 Konnte MOMBERT für die Jahrhundertwende eine negative Korrelation zwischen Geburtenhäufigkeit und sozialer Stellung nachweisen,169 ließ sich dieses als Wohlstandstheorie170 bezeichnete Phänomen für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr feststellen: „Bei einem zeitlichen Vergleich der Geburtenhäufigkeit Berlins zeigte sich, daß ein Zusammenhang zwischen sozialer Armut und Kinderreichtum zumindest für die Weimarer Zeit in Berlin nicht herstellbar war. Vielmehr konnte man eine allgemeine Tendenz zur Geburtenbeschränkung und zur Nivellierung der Geburtenziffer beobachten.“171
MOMBERT selbst relativiert die Wohlstandstheorie 1929 und nennt in seiner Bevölkerungslehre das wirtschaftlich rationale Denken als Hauptgrund des Geburtenrückgangs in den Großstädten.172 GRZYWATZ benennt als Hauptmovens der Angleichung der Geburtenhäufigkeit verschiedener sozialer Schichten die in den Großstädten früher einsetzende Kenntnis über die Geburtenregelung, die auch untere Schichten erreicht hatte:173 „Wenn im Reichsdurchschnitt die Geburtenrate höher lag als in Berlin oder auch anderen deutschen Großstädten, dann fand dieser Tatbestand seinen Grund in der stärkeren Geburtenhäufigkeit in ländlichen Gemeinden beziehungsweise kleinen und mittleren Städten, die die niedrigeren großstädtischen Geburtenziffern wie164 165 166 167
168
169 170 171 172 173
Vgl. MARSCHALCK, Peter (1984), 181, Tabelle 5.5. Vgl. auch REULECKE, Jürgen (1985), 203, Tabelle 3. Vgl. auch KÖLLMANN, Wolfgang (1992), 200f., Tabelle 1. Vgl. WINKLER, Wilhelm (1927), 166. Vgl. REULECKE, Jürgen (1985), 203, Tabelle 3. Vgl. WINKLER, Wilhelm (1927), 178. Die Zunahme war allerdings nicht die Folge eines Geburtenüberschusses, sondern das Resultat einer starken Zuwanderungsbewegung bei vergleichbar geringem Sterbeüberschuss. Vgl. GRZYWATZ, Berthold (1988), 207. Vgl. GRZYWATZ, Berthold (1988), 207. Das Bevölkerungswachstum Berlins war nicht auf „die natürliche Bevölkerungsbewegung zurückzuführen, sondern Ergebnis einer je nach der wirtschaftlichen Konjunkturlage fluktuierenden Zuwanderung“ (GRZYWATZ, Berthold, 1988, 219). Vgl. MOMBERT, Paul (1907), 149f. Vgl. GÜNTHER, Dietrich (1936). GRZYWATZ, Berthold (1988), 217. Vgl. MOMBERT, Paul (1929), 314. Vgl. GRZYWATZ, Berthold (1988), 215.
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der ausglichen. Bei einem Vergleich der Geburtenhäufigkeit in Gemeinden mit über 100000 Einwohnern im Jahre 1933 stand Berlin am Ende der Städte mit der niedrigsten Geburtenziffer.“174
Die durch den Ersten Weltkrieg noch verstärkte Tendenz eines allgemeinen Geburtenrückgangs hatte Einfluss auf den Altersaufbau der Bevölkerung: Die Anzahl der Altersgruppen unter 25 Jahren verringerte sich zwischen 1910 und 1925 um ca. 17 Prozent.175 Gleichzeitig stieg die Zahl der 45 bis 50-Jährigen um über 70 Prozent.176 Die Eheschließungsziffer – allerdings auch die Scheidungsrate – nahm in der Weimarer Republik kontinuierlich zu.177 Das Jahr 1910 gilt als Schwellenjahr der Stadt-Land-Differenz.178 Ab diesem Zeitpunkt lebte etwa die Hälfte der Bevölkerung in Städten mit über 5.000 Einwohnern. Bis 1914 ist die Phase der industriellen Verstädterung und Vergroßstädterung im Wesentlichen abgeschlossen.179 Im europäischen Vergleich entwickelte sich der Grad der Verstädterung zeitlich unterschiedlich. In England existierten um die Mitte des 19. Jahrhunderts schon neun Großstädte. Die Zahl der in ihnen lebenden Einwohner stieg bis 1911 auf ca. 35 Prozent der Gesamtbevölkerung.180 Der Anteil der Menschen, die in Städten mit über 5.000 Einwohnern lebten, stellt sich dabei für die einzelnen europäischen Regionen recht unterschiedlich dar: Der Grad der Verstädterung und Industrialisierung und die zeitliche Verschiebung lässt sich daran ablesen, dass in England und Frankreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts schon mehr Menschen in den Städten lebten als in Deutschland (vgl. Tabelle I). Wie rasch sich Deutschland ab 1850 industriell entwickeln konnte, lässt sich ebenfalls ablesen, es blieb jedoch im Verstädterungsgrad hinter England zurück.181
174 175 176 177
178 179 180 181
Ebd., 228. Vgl. ebd., 228. Vgl. ebd., 230. Die Zahl stieg von 7,8 Prozent im Jahre 1924 auf 10,9 Prozent im Jahr 1933. Vgl. ebd., 246, Tabelle V. Gleichzeitig stieg allerdings auch die Scheidungsrate und war in Berlin höher als im Reichsdurchschnitt. Vgl. ebd., 241. In den Kernbezirken Berlins war sie höher als in den Randbezirken.Vgl. ebd., 244. Vgl. SCHÄFERS, Bernhard (1996), 24. Vgl. SCHÄFERS, Bernhard (1977), 261. Vgl. ZIMMERMANN, Clemens (1996), 14. Für BELOCH sind die Städte ein „Barometer, von dem wir den Stand und die Bewegung der Volkswirtschaft ablesen können“ (BELOCH, Julius, 1898, 413). Ein rasches Städtewachstum ist für ihn ein Kennzeichen wirtschaftlichen Aufschwungs. Vgl. ebd.
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Tabelle I: Prozentualer Anteil der Bevölkerung in Städten über 5.000 Einwohner
Europa
England 23
Frankreich 12
Deutschland 9
Russland 6
1800
12
1850
19
45
19
15
7
1910
41
75
38
49
14
Quelle: ZIMMERMANN, Clemens (1996), 16.
Nach dem Ende der industriellen Verstädterung sinkt seit den 1920er Jahren die Einwohnerdichte der Großstädte kontinuierlich.182 Es kommt einerseits zu Suburbanisierungs- (Bevölkerungszunahme im Umland) und Desurbanisierungsphänomenen (Bevölkerungsabnahme im Verdichtungsraum),183 andererseits zur vermehrten Ansiedlung kommunikationsorientierter Dienstleistungsunternehmen. Dezentralisierungs- und Dekonzentrationstendenzen gehen Hand in Hand, wobei sich in Bezug auf die sozialräumliche Differenzierung Tendenzen der Fragmentierung und Segregation abzeichnen.184 Gegen Ende des Untersuchungszeitraums im Jahr 1928 wohnte fast ein Drittel der Bevölkerung Preußens in den Großstädten, wobei Berlin mit einem Wanderungsgewinn von über 20 Prozent an der Spitze der Großstädte mit überwiegendem Zuzug stand.185
3.3.2 Wanderungsbewegungen Trotz der Erleichterungen auf dem Arbeitsmarkt durch die neu entstehenden Industriestandorte, zog es ab der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr Menschen nach Übersee.186 Allein während der ersten großen Auswanderungswelle
182 183
184 185 186
Vgl. HÄUSSERMANN, Hartmut; KAPPHAN, Andreas (2000), 8. Vgl. GAEBE, Wolf (1987), 20. GRZYWATZ weist dieses Phänomen für die Hauptstadt Berlin zwischen 1910 und 1925 nach, in dem die Außenbezirke einen Zuwachs, die Innenbezirke eine Abnahme der Bevölkerung zu verzeichnen hatten. Vgl. GRZYWATZ, Berthold (1988), 206. Vgl. HÄUSSERMANN, Hartmut; KAPPHAN, Andreas (2000), 13. Vgl. BEVÖLKERUNGSBEWEGUNG (1930), 94. Zur Überseewanderung im europäischen Vergleich vgl. THISTLETHWAITE, Frank (1972). Zur Situation der nach Nordamerika eingewanderten Bevölkerungsteile vgl. SCHMIDT, Hans (1965).
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(1845-1858)187 verließen ca. 1,3 Millionen Menschen aus sozioökonomischen Gründen Deutschland:188 „Diese sozioökonomisch motivierte, aus der Überbevölkerungssituation entstandene Massenwanderung, die schon im 18. Jahrhundert eingesetzt hatte, bildete im 19. Jahrhundert den vorherrschenden Auswanderungstyp, neben dem Auswanderungen aus religiösen oder politischen Motiven nur noch eine untergeordnete Rolle spielten.“189
Die zweite bedeutsame Auswanderungswelle zwischen 1864 und 1873 macht deutlich, dass verstärkt Auswanderer aus Ostdeutschland nach Übersee auswanderten. Während der dritten und größten Auswanderungswelle zwischen 1880 und 1893 verließen ca. 1,8 Millionen Deutsche das Reichsgebiet. Danach kommt die „proletarische[n] Massenauswanderung“190 in die Neue Welt zum Erliegen: „Die deutsche Industrie war nun so weit entwickelt, daß sie das Gros der freien Arbeitskräfte aufnehmen konnte. Die Überbevölkerungskrisen des 19. Jahrhunderts, die durch Auswanderung eine nicht unerhebliche Entlastung erfahren hatten, sind durch die sozialen und ökonomischen Umstrukturierungen in der Phase der Hochindustrialisierung überwunden worden.“191
Zudem wurde in den USA, dem Hauptziel der meisten Auswanderer, die freie Landzuteilung von Staatsland eingeschränkt. Damit sank die Chance für die überwiegend aus dem ländlichen Bereich stammenden Auswanderer, in der Neuen Welt eine neue Existenz als Farmer aufzubauen.192 Durch den Konjunkturanstieg in den 1890er Jahren wurde das Kaiserreich dann auch seinerseits verstärkt das Ziel ausländischer Einwanderer. Sie kamen zur Hälfte aus den Ländern der österreichisch-ungarischen Monarchie und hielten sich teils dauerhaft, teils als Saisonarbeiter in Deutschland auf.193 Für das Verstädterungsphänomen interessanter als die Auswanderungen war die Binnenwanderungsbewegung, „die größte Massenbewegung in der deutschen Geschichte“194. Zwar hatte es physische und daraus erwachsende soziale Mobilität schon vor der Industrialisierung gegeben,195 Einzelwande187 188
189 190 191 192 193 194 195
Vgl. MARSCHALCK, Peter (1984), 46. Vgl. ebd., 177, Tabelle 5.1. Diese Wanderungsbewegung war regional verschieden ausgeprägt: die Ostprovinzen wurden erst nach 1860 während der zweiten großen Auswanderungswelle (1864-1873) davon erfasst. Vgl. ebd., 46. MARSCHALCK, Peter (1984), 32. Ebd., 47. Ebd. Vgl. BORN, Karl Erich (1985), 13. Vgl. ebd., 14. KÖLLMANN, Wolfgang (1974), 37. Bevor sich der Bevölkerungsüberschuss durch die Auswanderungswellen und den Zug in die Stadt Ventile schaffen konnte, galten vor allem die Kleineisengebiete des Bergischen Lands und des märkischen Sauerlands und die Textilgebiete des Wuppertals sowie das linke Niederrheinufer als Wanderungsziele. Vgl. REULECKE, Jürgen (1977), 277. Auch die Ostprovinzen
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rungen als Massenphänomen treten allerdings erst mit den neuen Arbeitsmöglichkeiten in der Industrie auf.196 Den größten Wanderungsgewinn erfuhren zwischen 1871 und 1910 nach Abebben der überseeischen Auswanderung die Hansestädte, Berlin-Brandenburg, Rheinland-Westfalen und Sachsen.197 Ihr Zuwachs überstieg bei weitem den der preußischen Ostprovinzen (Ostpreußen, Pommern, Westpreußen und Posen).198 Gleichzeitig war die Zahl der Städte und Großstädte im Osten geringer als im Westen: Existierten 1910 in den preußischen Ostprovinzen 10 Mittelstädte und nur vier Großstädte, gab es, abgesehen von der Region Berlin-Brandenburg (27 Mittelstädte und fünf Großstädte), in Rheinland-Westfalen 59 Mittelstädte und sogar 14 Großstädte. Bis in die 1880er Jahre hinein war die unterschiedlich motivierte Binnenwanderung199 „vor allem Nahwanderung aus dem Umland gewerblicher und industrieller Standorte [...], die zur Verstädterung älterer Gewerbelandschaften in Südwestdeutschland, im Rhein-Main-Gebiet, in Schlesien und Sachsen beigetragen hatte“200. 1907 lag die Zahl der Binnenzuwanderer im Deutschen Reich insgesamt bei 47 Prozent,201 wie die Herkunftsstruktur der Bevölkerung in Tabelle II zeigt. Die Großstädte bestanden zu ca. 55 Prozent aus Binnenzuwan-
196
197 198 199
200
201
hatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überdurchschnittliche Wanderungsbilanzen zu verzeichnen: Zwischen 1817 und 1825 suchten 226.000 Zuwanderer eine Arbeitsmöglichkeit im ländlichen Bereich, zwischen 1835 und 1843 gar 296.000. Demgegenüber lag die Zuwanderung nach Westfalen und in die Rheinprovinz bei 54.000 zwischen 1817 und 1825 und bei nur 46.000, zwischen 1835 und 1843. Vgl. MARSCHALCK, Peter (1984), 180, Tab. 5.4. Das Ruhrgebiet war also bis zur Jahrhundertmitte von dieser Mobilisierung noch nicht erfasst. Zur horizontalen (Migration) und vertikalen (sozialer Auf- und Abstieg) Mobilität vgl. ATTESLANDER, Peter (1955). Einzelwanderungen sind „ein Signum der Binnenwanderung in der Industriegesellschaft“ (LANGEWIESCHE, Dieter, 1977, 26), während Familienwanderungen als eine Mobilitätsform der agrarischen Bevölkerung gelten kann. Zum Folgenden vgl. KÖLLMANN, Wolfgang (1992), 204f. Vgl. MARSCHALCK, Peter (1984), 48. Vgl. ROHR (1891), 113. Zu den Wanderungsbewegungen in Ostpreußen vgl. GOLDING, Arthur (1930). Die Migrationsforschung unterscheidet pull- und push-Faktoren, um die persönliche Motivation der Binnenwanderer darzustellen: „Zu den letztgenannten werden Armut, anstrengende Landarbeit und dörfliche Sozialkontrolle gezählt, also Umstände, denen die Abwanderungsbereiten entkommen wollten; zu den ‚pull‘-Faktoren gehörte neben dem Arbeitsangebot und der höheren Entlohnung die Verlockung, die vom städtischen Freizeitangebot und den Individualisierungschancen in den Städten für einen Teil der – meist jüngeren – Zuwanderer vom Land ausging.“ (ZIMMERMANN, Clemens, 1996, 20). Migration dient so immer „der Verbesserung der Lebenslage des/der Migranten“ (HAMM, Bernd; NEUMANN, Ingo, 1996, 68. Hervorhebungen im Original). Vgl. Tabelle III dieser Arbeit. MARSCHALCK, Peter (1984), 48. Vgl. Adna Ferrin WEBER, die 1899 schreibt: „Migration is predominantly a short-distance movement, but the centers of attraction are the great cities, toward which currents of migration set in from the remotest countries.“ (WEBER, Adna Ferrin, 1965, 283). Vgl. MARSCHALCK, Peter (1984), 182, Tabelle 5.6.
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derern, Berlin sogar zu 57 Prozent.202 Zwar bestand die überwiegende Zahl im Reichsdurchschnitt aus Nahwanderungen desselben Landes oder derselben Provinz, nach Berlin zog es aber mit ca. 39 Prozent mehr Fernwanderer als aus der Umgebung der Großstadt (18 Prozent).203 Der hohe Anteil der Nahwanderer erklärt die saisonbedingte Wanderungsbewegung zwischen Stadt und Umland: „Es gab einen ständigen Bevölkerungsaustausch [...], in dem der städtische Mittelpunkt als Magnet wirkte und auch einen Teil der Zuwanderer festhielt, doch es existierte auch ein bislang kaum beachteter und noch wenig untersuchter Abwanderungsstrom zurück aufs Land bzw. in die kleineren Städte.“204
Besonders die Sommermonate brachten eine Entlastung des städtischen Arbeitsmarktes, weil die ursprünglich vom Land kommenden Zuwanderer Beschäftigungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft finden konnten. Tabelle II: Herkunftsstruktur der Bevölkerung im Deutschen Reich 1907
Bevölkerung in Tsd.
Deutsches Reich Großstädte Berlin 61721 11792 2005
Ortsgebürtige in %
50,8
42,4
40,5
Binnenzuwanderer in %
47,0
54,9
57,1
Nahwanderer in %
32,5
32,0
18,0
Fernwanderer in %
14,5
22,9
39,1
Quelle: MARSCHALCK, Peter (1984), 182, Tabelle 5.6.
Die Land-Stadt-Wanderung, wertend auch als Landflucht bezeichnet, nimmt in den Veröffentlichungen des Untersuchungszeitraums breiten Raum ein:205 1898 beklagt die Landwirtschaftskammer für die Provinz Schlesien den durch Abwanderung ausgelösten Arbeitermangel in den rechtselbischen Gebieten Preußens. Immerhin stellten die Provinzen West- und Ostpreußen, Posen und Schlesien insgesamt fast ein Viertel der Bergleute im Rheinland und in West202
203 204 205
Vgl. ebd. Zur Strukturveränderung Berlins im Industriezeitalter vgl. HOFMANN, Wolfgang (1978). Zu den Veränderungsprozessen bis 1850 vgl. THIENEL, Ingrid (1971). Vgl. hierzu auch WEIMANN, Karin (1971). Vgl. auch MATZERATH, Horst (1990). Vgl. MARSCHALCK, Peter (1984), 182, Tabelle 5.6. LANGEWIESCHE, Dieter (1977), 18. Vgl. den statistischen Überblick für Preußen zwischen 1819 und 1910 von QUANTE, Peter (1933), 309f. Vgl. umfassend HAINISCH, Michael (1924).
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falen.206 Als Gründe für die massenhafte Abwanderung und den „Zug nach der Stadt“207 werden „psychische und ethische“ Momente genannt, „welche die sociale Frage der Gegenwart überhaupt geschaffen“208 hätten: „Ein Zug nach erhöhter Unabhängigkeit gehe durch die Massen, ein Drang nach höherer socialer Stellung und Achtung der Persönlichkeit. Die Ideale, die früher Gemeingut nur der gebildeten Klassen gewesen, die Ideale der Freiheit und Menschenwürde, seien im Laufe dieses Jahrhunderts bis in die untersten Schichten durchgesickert, um hier freilich oft in roher Erscheinung zu treten.“209
Adna Ferrin WEBER stellt für das Jahr 1899 in Bezug auf die Anziehungskraft der großen Städte fest: „The larger the city, the greater is the power of attraction.“210 Friedrich von OERTZEN sieht 1891 als Hauptmotivation der Abwanderung in die großen Städte die „Lockung der großstädtischen Vergnügen“211 und höhere Löhne. Es entsteht ein Dilemma, da Großunternehmen der Zugbewegung in die Städte folgten: „Der Arbeiter drängt in die Großstadt wegen der höheren Löhne, die ihm nichts nützen, weil hier das Leben entsprechend teuerer ist als auf dem Lande – und wegen großstädtischer Vergnügungen, die durchgängig verderblich auf ihn wirken und ihm kein wirkliches Lebensglück zu bieten vermögen. Der gewerbliche Unternehmer sieht sich genötigt, den Arbeitern in die Großstadt nachzuziehen, um eine für seinen Zweck hinreichende Zahl zu finden, und produciert hier erheblich teuerer, als in einer Kleinstadt oder auf dem Lande möglich sein würde. Und, indem er dem Arbeiter in die Großstadt folgt, vermehrt er hier wieder die Arbeitsgelegenheiten und damit den Zudrang der Arbeiter vom Lande her, so daß ein circulus vitiosus besteht, der auf die gewerbliche Produktion ungünstig, auf die sociale Entwicklung aber geradezu verhängnisvoll einwirkt.“212
Von einer ausschließlichen Land-(Groß-)Stadt-Wanderung kann bei genauerem Blick allerdings keine Rede sein. Zu stark war die Fluktuation der Bevölkerung in unterschiedliche Richtungen, als dass von einer „Aufsaugung des Landes durch die Stadt“213 gesprochen werden kann. Immerhin betrug die Abwanderung aus den Groß- und Mittelstädten zwischen 1881 und 1912 in jedem Jahr ca. 80 Prozent der Zuwanderung.214 Georg v. MAYR weist 1897 darauf hin, dass der Wanderungsgewinn allein nicht ausreicht, um die Bruttowanderung zu erfassen. In ihrer Abhandlung Die Großstädte im Strome der Binnenwanderung (1937) untersuchen Rudolf HEBERLE und Fritz MEYER die Abhän206 207 208 209 210 211 212 213 214
Vgl. ZUGEZOGENE ARBEITER (1897), 150. Vgl. den Titel des Aufsatzes von HOHMANN, Georg (1905). ARBEITERNOT (1898), 298. Ebd. WEBER, Adna Ferrin (1965), 283. OERTZEN, Friedrich von (1891), 855. Ebd., 856. So die Überschrift eines Artikels von VANDERVELDE, Emil (1899). Vgl. auch VANDERVELDE, Emil (1903). LANGEWIESCHE, Dieter (1977), 5.
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gigkeit der Wanderungsbewegungen in die großen Städten vom Konjunkturverlauf und von der wirtschaftlich-sozialen Struktur der Stadt. Die Annahme, dass in Phasen wirtschaftlichen Aufschwungs die Städte einen Wanderungsgewinn und in Phasen des Abschwungs einen Wanderungsverlust verzeichnen, stellt sich nach ihrer Untersuchung differenzierter dar. Es zeigt sich, „daß jede Schwankung der Zuwanderung von einer gleichgerichteten, wenn auch verschieden starken Schwankung der Abwanderung begleitet zu sein pflegt, daß also der vermehrte Zuzug während eines wirtschaftlichen Aufschwungs zum Teil durch vermehrte Abwanderung wieder ausgeglichen wird. Wanderungsgewinne kommen daher in der Regel zustande durch ein Zurückbleiben der Abwanderung hinter der Zuwanderung“215.
Für die Untersuchung der Wanderungsbewegungen führte dies dazu, statt der Wanderungssalden den Mobilitätskoeffizienten, d. h. das Verhältnis der Summe der Zu- und Abwanderungen zur mittleren Bevölkerung der Städte, als Maßstab heranzuziehen: „Die Bedeutung des Verstädterungsvorganges für das Volksleben ist [...] größer als aus den Wanderungsgewinnen der Städte ersichtlich: die Menge der am Verstädterungsprozeß Beteiligten übertrifft den schließlichen Zuwachs der Stadtbevölkerung um ein Vielfaches. Anderseits sind infolgedessen auch die Grenzen zwischen Land- und Stadtbevölkerung und zwischen den Bevölkerungen der verschiedenen Städtegrößenklassen nicht starr, sondern fließend.“216
Zwischen 1881 und 1910 stieg das Mobilitätsvolumen (Zu- und Abwanderungen) um ca. 50 bis 60 Prozent. Im gleichen Zeitraum nahm der Anteil der großstädtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung aber nur um ca. 14 Prozent zu.217 Die Gründe für eine Abwanderung aus den Städten können nach HEBERLE und MEYER vielschichtig sein: Ein Hauptmotiv der Wanderung ist „fast immer die begründete Annahme oder die Hoffnung, durch den Wechsel des Wohnsitzes entweder eine Verbesserung der wirtschaftlichen Daseinsbedingungen oder sozialen Aufstiegsmöglichkeiten zu erreichen“218. Nun aber „wird ein Teil der neu Zugewanderten nicht die erhoffte Arbeitsgelegenheit finden, andere werden sich in der städtischen Erwerbstätigkeit nicht bewähren und wieder abwandern, sei es, daß sie zurück aufs Land gehen, sei es, daß sie in andere Städte weiterwandern; oft werden sich die von einer günstigen Beschäftigungslage in einer bestimmten Stadt angelockten Arbeiter und Angestellten von ihren Familien getrennt haben und bei Ausbreitung des Aufschwungs in die Heimat zurückkehren“219.
215 216 217 218 219
HEBERLE, Rudolf; MEYER, Fritz (1937), 11. Hervorhebung im Original. Ebd., 49f. LANGEWIESCHE, Dieter (1977), 6. HEBERLE, Rudolf; MEYER, Fritz (1937), 69. Ebd., 14.
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Der Ökonom Julius WOLF (1862-1937) nennt neben ökonomischen Faktoren, die für die West-Ost-Wanderung charakteristisch sind, psychologische Gründe für die Land-Stadt-Wanderung: „Die Stadt bietet mehr Anregung, ein abwechslungsreicheres, minder eintöniges Leben. [...] Sie bietet mehr Gelegenheit der Unterhaltung, der Annäherung beider Geschlechter, dabei ein Minus an Kontrolle, größere Ungezwungenheit und Ungebundenheit, größere Selbständigkeit.“220
Insgesamt waren sicherlich die Arbeitsmöglichkeiten in den industriellen Agglomerationen der Hauptmotor der Binnenwanderung, aber „dessen saisonale Differenzierung war in starkem Maße abhängig vom ländlichen Wirtschaftsrhythmus“221. Folgendermaßen lassen sich die unterschiedlichen Beweggründe der LandStadt-Wanderung gegenüberstellen: Tabelle III: Landseitige und stadtseitige Beweggründe der Land-Stadt-Wanderung
Landseitige Beweggründe (push factors)
Stadtseitige Beweggründe (pull factors)
ökonomisch motiviert Bodenverknappung Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit Mangel an qualifizierten Arbeitsplätzen niedriges Einkommens- und Lohnniveau schlechte Arbeitsbedingungen fehlende Aufstiegsmöglichkeiten begrenzte Möglichkeit der Familiengründung fehlende Ausbildungsplätze schlechte Wohnverhältnisse unzureichendes Angebot an Gütern und Dienstleistungen mangelhafte öffentliche Daseinsvorsorge
220 221
WOLF, Julius (1898b), 429. LANGEWIESCHE, Dieter (1977), 20.
Existenzaussichten Arbeitsplatzangebot vielseitige Arbeitsmöglichkeiten höheres Lohnniveau, bessere Gewinnchancen Angebot an leichterer Arbeit bessere Aufstiegschancen Zuverdienstmöglichkeiten für die Frau bessere Bildungseinrichtungen bessere Wohnverhältnisse vielseitiges Angebot an Gütern und Dienstleistungen ausreichende öffentliche Daseinsvorsorge
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sozial motiviert Eintönigkeit und Langeweile politische Isolierung niedere soziale Geltung soziale Kontrolle und Abhängigkeit unbefriedigendes kulturelles Angebot
vielseitige Unterhaltung Möglichkeit, am politischen Leben teilzunehmen höheres Sozialprestige Anonymität und Verhaltenspluralismus geistige Anregungen
Quelle: PLANCK, Ulrich; ZICHE, Joachim (1979), 68. Eigene Darstellung.
Die Gegenüberstellung zeigt zweierlei: Die Land-Stadt-Wanderungen waren unterschiedlich motiviert und hatten neben ökonomischen pull-Faktoren auch die städtische Lebensweise als Beweggrund. Des Weiteren macht der Vergleich deutlich, dass die Lebensverhältnisse auf dem Land keineswegs dem von der Stadtkritik generierten Image entsprachen.222 Die wichtigste Funktion der Binnenwanderung bestand darin, „den zwischenörtlichen Ausgleich zwischen Zonen des Bedarfs und des Überschusses an Arbeitskräften zu bewirken“223. Je größer und ökonomisch differenzierter eine Agglomeration, desto geringer die Wanderungsnotwendigkeit ihrer Bewohner,224 so dass die Mobilität mit sinkender Größe der Städte ansteigt. Die Wanderungsbewegungen zwischen den Großstädten war vergleichsweise gering: Für Berlin betrug 1890 der Anteil der Zuwanderer aus anderen Großstädten nur 5,8 Prozent der gesamten Zuwanderer.225 Umso größer war die innerstädtische Mobilität: „Der größere und vielfältigere Arbeitsmarkt in Großstädten bot leichter als in kleineren Orten die Möglichkeit, Arbeitsstellen innerhalb des Wohnorts zu wechseln oder den Verlust des Arbeitsplatzes am Ort zu kompensieren, ohne zur Abwanderung gezwungen zu sein.“226 Die Folge war eine hohe Fluktuation auf dem städtischen Wohnungsmarkt: „Die Bezugsdauer von städtischen Wohnungen, besonders in Arbeiterquartieren, war kurz, innerstädtische Mobilität erreichte ein erstaunliches Ausmaß, das pro 222 223 224
225 226
Zur Differenz von Image und städtischer Wirklichkeit vgl. Kapitel 4.2. HEBERLE, Rudolf; MEYER, Fritz (1937), 107. HEBERLE und MEYER formulieren dies in ihrem „Gesetz des inneren Ausgleichs“, das besagt, „daß die Binnenwanderung in ihrer ökonomischen Funktion von der kleinsten bis zur größten Gemeindeeinheit einem Wandel unterliegt, indem sie allmählich von der normalen und allgemeinen Ausgleichsfunktion der Tendenz nach nur mehr zum Spitzenausgleich erforderlich ist.“ (Ebd., 108). Vgl. LANGEWIESCHE, Dieter (1977), 21, Tabelle 8. Ebd., 10. Vgl. auch SCHWIPPE, Heinrich J.; ZEIDLER, Christian (1984), 234.
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Jahr ein Drittel bis ein Viertel der Großstadtbewohner erfaßte. Eine Gruppe von Höchstmobilen, vor allem niedrig qualifizierte junge Männer, wechselte als Untermieter und ‚Schlafgänger‘ ständig Arbeitsstelle und Wohnung, während Familien weniger häufig und meist nur innerhalb einzelner Viertel umzogen.“227
HEBERLE und MEYER hingegen wandten sich gegen das Vorurteil vom „Nomadentum der Großstadtbewohner“. Zwar sei die Sesshaftigkeit der Bewohner großer Städte eher gering, „anderseits finden wiederum die meisten Umzüge innerhalb desselben Stadtteils, ja innerhalb enger Nachbarschaftsbezirke statt, so daß doch mit einer ziemlich hohen Beständigkeit nachbarschaftlicher Beziehungen gerechnet und die Vorstellung vom Nomadentum der Großstädter auch von diesem Gesichtspunkt aus wieder etwas eingeschränkt werden muß“228.
Untersuchungen zeigen, dass der Mobilitätsradius der unterbürgerlichen Schichten229 relativ klein, deren Mobilitätsgrad aber hoch war: Der Anteil von Fernwanderern aus anderen Großstädten war unter dem Bürgertum höher als unter ungelernten Arbeitern, die überwiegend aus Klein- und Mittelstädten in der Nähe der Großstadt stammten.230 BLEEK weist nach, dass es neben einer hochmobilen Schicht zwischen dem 15. und dem 30. Lebensjahr einen breiten Kern sesshafter älterer Bewohner in den Großstädten des 19. Jahrhunderts gab.231 Hauptsächlich wanderten aus Berlin die ab, die kurz zuvor zugezogen waren: „Dies wird auch damit zusammenhängen, daß Berlin Durchgangsstation der Ost-West-Wanderung gewesen ist“232, schreibt BLEEK.
3.3.3 Städtewachstum, Eingemeindung und Citybildung Ein weiterer Teilaspekt des Verstädterungsprozesses ist Städtewachstum durch Stadterweiterung. Der Begriff Stadterweiterung „entstand im deutschen Sprachraum im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der administrativen 227
228 229 230 231 232
ZIMMERMANN, Clemens (1996), 20. Bei Familien der Mittel- und Oberschicht, die eine Anpassung der Wohnungsgröße an die Familiengröße auch finanziell verkraften konnten, lässt sich dagegen eine hohe innerstädtische Mobilität feststellen. Vgl. LANGEWIESCHE, Dieter (1977), 28f. Emil DITTMER schreibt 1906, dass unter den ca. 13.000 von der Stadt Berlin angestellten Arbeitern auch deshalb eine hohe Fluktuation herrscht, weil die städtische Verwaltung Entlassungen mit der allgemeinen wirtschaftlichen Lage begründet und so den saisonalen Arbeitskräftebedarf steuert. Vgl. DITTMER, Emil (1906), 9f. Bei zehnstündiger Arbeit ist der Verdienst so gering, dass nur durch Mitarbeit der Frau ein adäquater Unterhalt für die Familie erwirtschaftet werden kann. Vgl. ebd., 11. Gleichzeitig ist der Familienstand unter den Berliner Arbeitern „ein verhältnismäßig hoher“ (ebd., 17). HEBERLE, Rudolf; MEYER, Fritz (1937), 50f. Zum Begriff der unterbürgerlichen Schichten vgl. KASCHUBA, Wolfgang (1990). Vgl. LANGEWIESCHE, Dieter (1977), 39, Tabelle 16. Vgl. BLEEK, Stephan (1989), 15. Ebd., 20.
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Erweiterung von Städten im Zuge der Entfestigung der Altstädte, wobei außerhalb derselben gelegen Vorstädte eingemeindet wurden“233. Stadterweiterung meint vor allem das „Wachstum und den Ausbau des Siedlungskörpers“234. Nach MATZERATH gehören dazu „verschiedene Formen räumlichen Städtewachstums, die in Gebietsveränderungen ihren Abschluß finden. Dazu zählt die Vereinigung mehrerer Städte ebenso wie der Zusammenschluß mehrerer (industrieller) Gemeinden zu einer Stadt oder die Einverleibung von Vororten oder die Umgemeindung kleinerer Flächen“235.
Schon früh wurde zwischen der Stadt im rechtlichen Sinn und des für ihr wirtschaftliches Leben unabdingbaren Einzugsbereichs unterschieden: „Die Arbeitsstätte des zünftigen Handwerkers ist sein Wohnhaus, hier befindet sich zugleich die Wohnung der wenigen Gesellen und Lehrlinge, mit denen er arbeitet und die bei ihrem Meister in Wohnung und Kost sind. Diese Einheit ist in unseren modernen Betrieben zur seltenen Ausnahme geworden, die Betriebsstätte erscheint von der Wohnstätte des Unternehmers getrennt und die Wohnungen der Betriebsgehilfen liegen von der Wohnung ihres Arbeitgebers zum Teil weit entfernt.“236
Die Eingemeindung, die neben einem hohen Bevölkerungs- und Wanderungsüberschuss als ein dritter Faktor des Bevölkerungswachstums der Städte gelten kann,237 veränderte die Struktur der Städte: „Die frühere Stadt wurde zur Altstadt und teils zur City, während die ehemaligen Vororte in den Gesamtkörper der Stadt eingeschmolzen wurden.“238 Dieser Prozess wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts problematisiert: „Teilen wir das Stadtgebiet in einige konzentrische Bezirke, so nimmt der centrale Teil meist an Einwohnerzahl ab, das demselben benachbarte Gebiet zeigt sehr geringe Zunahme, die um so mehr steigt, je weiter wir uns vom Centrum entfernen, so daß an der Peripherie, im Gebiete der Vororte, die relative Zunahme am stärksten ist. Dies findet seine Erklärung dadurch, daß im centralen Teil, in dem unbebauter Raum kaum noch vorhanden, zur besseren Ausnutzung der höheren Grundrente eine Verwandlung der Wohnräume in Geschäftsräume u.
233 234 235
236 237
238
LICHTENBERGER, Elisabeth (1990), 17. MATZERATH, Horst (1980), 67. Ebd. Zur Unterscheidung der Begriffe Eingemeindung, Stadterweiterung, Vereinigung und Einverleibung vgl. LANDSBERG, Otto (1912). Hier findet sich auch ein Nachweis der von den Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern seit 1843 vorgenommenen Eingemeindungen. Vgl. ebd., 94ff. LANDSBERG, Otto (1912), 13. Vgl. MATZERATH, Horst (1980), 68. Nach einer Übergangsphase zwischen 1850 und 1885, in der sich die moderne Eingemeindung durchsetzte, war in der Zeit der Hochindustrialisierung nach 1885 die Eingemeindung als massenhaftes Phänomen gekennzeichnet. Vgl. ebd., 79ff. Groß-Berlin entstand erst 1920 durch den Zusammenschluss von 7 Städten, 56 Dörfern und 29 Gutsbezirken. Vgl. KÖLLMANN, Wolfgang (1992), 202. Ebd., 86.
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dergl. vor sich geht und hierdurch die Wohnbevölkerung nach der Peripherie verdrängt wird.“239
Eingemeindungen waren notwendig, so ROHR 1891, „weil bei einem derartigen Anwachsen der Vororte, das doch allein durch den Einfluß und die Anziehungskraft der alten Stadt hervorgerufen wurde, die Bedeutung der alten Stadt gegenüber den Vororten eine immer geringere geworden wäre, wenn diese selbständig geblieben wären“240. LICHTENBERGER zeigt an einem sozialökologischen Stadtmodell von Wien, dass der Sozialstatus im Stadtzentrum am höchsten ist und zur Peripherie hin abnimmt. Des Weiteren konnte sich die Altstadt ihre Wohnfunktion bewahren und ist nicht durch Slumgebiete, sondern von Wohnungen der Ober- und Mittelschicht umlagert.241 Dass demgegenüber SCHWIPPE und ZEIDLER für die Stadt Hamburg um die Jahrhundertwende für den Innenstadtbereich ein Überwiegen der sozial schwächeren Bevölkerung konstatieren, zeigt, dass die unterschiedlich gewachsenen Städte und Großstädte kaum vergleichbar sind. Der zentrale Geschäftsbezirk ist aber jeweils die dominante Zone; von ihr geht die nachhaltigste Wirkung aus. Unter City werden die „höchstrangigen Wirtschafts- wie Verwaltungsfunktionen“242 verstanden. Namensgeber war die City of Westminster mit ihrer Konzentration öffentlicher Einrichtungen.243 Als Folge der extrem stark einsetzenden Bodenpreisdifferenzierung in den Großstädten sanken die Einwohnerzahlen im Kernbereich der Stadt. Dieser in London zu Beginn, in den anderen europäischen Großstädten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Prozess244 der „Umwandlung der inneren Teile einer Großstadt aus Wohnvierteln in Geschäfts- und Verkehrsviertel“245 wird Citybildung genannt. Mit wenigen Ausnahmen (etwa Stuttgart und Magdeburg) decken sich die historische Altstadt mit ihrer Ummauerung und die City. Hatte man in der mittelalterlichen Stadt denjenigen vor die Mauern der Stadt verwiesen, der nicht würdig war, in den Verband der Bürger aufgenommen zu werden, so erlebt der Stadtrand nicht zuletzt durch die Gartenstadtbewegung eine soziale Aufwertung. Die Entwicklung zur Großstadt zieht eine „Veränderung in Größe und Funktion des Stadtkerns nach sich“246. Siegmund SCHOTT schreibt 1912:
239
240 241 242 243 244 245 246
ROHR (1891), 116. Zum Wachstum deutscher Großstädte und der Bevölkerungsdichte vom Stadtkern zur Peripherie vgl. SCHOTT, Sigmund (1904). SCHOTTs Untersuchungen bestätigen die Ergebnisse ROHRs prinzipiell, zeigen aber, dass „mit der Größe des Zentrums [...] auch die Fernwirkung [wächst]“ (ebd., 24). Durch Verteuerung des großstädtischen Lebens und günstige Verkehrsmittel wird das Wohnen an der Peripherie interessanter. Vgl. ebd. ROHR (1891), 116. Vgl. LICHTENBERGER, Elisabeth (1991), 76. HOFMEISTER, Burkhard (1997), 161. Vgl. ebd. Vgl. SOLDNER, Helmut (1968), 66f. SCHOTT, Sigmund (1912), 59. SOLDNER, Helmut (1968), 65.
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„Im Herzen der Stadt muß sich festsetzen, wer über einen lokalen Kundenkreis hinaus an die Klientel aus allen Stadtgegenden sich wendet, wer von der shopping gehenden gnädigen Frau einen Auftrag erhaschen und wer die hereinströmende Landbevölkerung versorgen möchte. Die Wohnung verschwindet, der Laden drängt sich ein. Unrast und Bewegung tritt überall an die Stelle von Ruhe und Behaglichkeit. Mehr und mehr laufen die Beziehungen von Mensch zu Mensch durch die City und verdrängen den dort seßhaften Menschen. Der Rückzug der Wohnbevölkerung geht dabei im ganzen allmählich vor sich: jetzt schmilzt dieses, dann jenes Teilchen zusammen; zuweilen wird aber auch eine große Anstalt von den gierigen Bodenpreisen aufgezehrt.“247
3.4 Spannungsfelder im Urbanisierungsprozess Die Begriffe Verstädterung und Urbanisierung bezeichnen unterschiedliche Aspekte städtischer Agglomerationsprozesse in der Epoche der Industrialisierung.248 Verstädterung meint stadtsoziologisch verstanden die „fortschreitende Konzentration der Bevölkerung eines Landes in städtischen Siedlungen“249 be247 248
249
SCHOTT, Sigmund (1912), 63. Oft werden sie in der Literatur synonym verwendet: So etwa TEUTEBERG, Hans Jürgen (1991), 67. LENGER bearbeitet die Auseinandersetzung bürgerlicher Eliten mit den Problemen der Urbanisierung und konstatiert für Deutschland und die Vereinigten Staaten eine größere Ähnlichkeit des Städtewachstums als innerhalb der europäischen Städte. Vgl. LENGER, Friedrich (1995), 314). Differenzierter bei LIEDHEGENER, der die Verstädterung als den quantitativen Aspekt der Urbanisierung bezeichnet. Vgl. LIEDHEGENER, Antonius (2001), 195. Für KAUFMANN birgt der Begriff Urbanisierung drei unterschiedliche Bedeutungsinhalte: 1) Zunahme des Anteils der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung eines Territoriums (statistisch-demographische Definition); 2) Ausbreitung städtischer Kultur- und Lebensformen auf nichtstädtische Siedlungsformen (soziokulturelle Urbanisierung); 3) Umstrukturierung und Erneuerung bestehender Siedlung (Urbanität). Vgl. KAUFMANN, Albert (1974), 275f. Roland BAUMANN definiert Urbanisierung als „allmähliche Verstadtlichung des Lebens der Menschen“ (BAUMANN, Roland, 1983, 55). Auf die unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten des angelsächsischen Begriffs urbanisation verweist HEINEBERG, Heinz (1983), 35. MATZERATH folgert daraus die Notwendigkeit, die unterschiedlichen Begriffe vorab zu operationalisieren. Vgl. MATZERATH, Horst (1989), 66. Zur Begriffsabgrenzung vgl. auch REULECKE, Jürgen (1977). ATTESLANDER differenziert den Begriff Verstädterung in eine aktive und passive Dimension: Bei der aktiven Verstädterung begibt sich der einzelne Mensch im Prozess der horizontalen Mobilität (Migration) „in eine ihm wesentlich neue und ungewohnte Umgebung [...], an deren Normen er sich aktiv anpassen muß, um überleben zu können“ (ATTESLANDER, Peter, 1955, 254). Dagegen: „Passive Verstädterung liegt vor, wo eine ganze Gruppe von Menschen, sei es die Bevölkerung einer Gegend, einer Gemeinde, sei es ein Berufsstand oder eine soziale Schicht u. a. m., gemeinsam eine Veränderung der allgemeinen Lebensweise durchmacht.“ (ATTESLANDER, Peter, 1955, 255. Hervorhebungen im Original). HAMM, Bernd (1982), 60.
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ziehungsweise die „reine Änderung der Quantität im vorgegebenen qualitativen Rahmen“250. Nach REULECKE setzt das Städtewachstum in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Phase der Verstädterung ein. In der zweiten Phase des Städtewachstums, das ist die Zeit zwischen etwa 1850 und 1871, geht mit dem Verstädterungsprozess – der sich in dieser zweiten Phase mit einem hohen Tempo von nicht einmal einer Generation vollzieht – ein Umstrukturierungsprozess von der bisherigen Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft einher.251 Dieser von der „Industrie angestoßene Agglomerationsprozeß“252 hat eine auch qualitative Änderung der städtischen Lebenswelt zur Folge. REULECKE nennt diesen Veränderungsprozess Urbanisierung. Der Anteil der in den Großstädten lebenden Menschen steigt von 4,8 Prozent im Jahr 1871 auf 21 Prozent im Jahr 1910 an. Der Zuzug in die großen Städte erfolgt immer weniger aus ökonomischen Beweggründen, vielmehr wird das urbane Leben in der Großstadt zusehends als spezifische, die Lebensqualität steigernde Existenzform wahrgenommen. REULECKE schreibt: „Das Zusammenspiel der Verstädterung, d. h. der starken räumlichen Verdichtung der Bevölkerung, mit einer Reihe weiterer miteinander verschränkter Prozesse wie der allgemeinen Mobilisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche, der Entstehung der Klassengesellschaft, der zunehmenden Bürokratisierung, Verrechtlichung, Partizipation, Alphabetisierung, Ausdehnung der Massenkommunikationsmittel usw. führte […] zu einer neuartigen städtischen Lebensform, zur Urbanität, die sich als wichtigstes Ergebnis, wenn auch nicht als unbedingte Konsequenz der Verstädterung charakterisieren läßt.“253
Zu den Faktoren, die TEUTEBERG die qualitativen Folgen des Verstädterungsprozesses nennt, gehören die Hygienebewegung, die Wohnungsfrage mit der Entwicklung stadtutopischer Ideen wie der Gartenstadtbewegung und die Entwicklung des Massenverkehrs. Diese Faktoren haben entscheidenden Einfluss auf die Lebensqualität der Großstädter. Die Frage des Wohnens und der durch die Wohnverhältnisse erzeugten Sozialbeziehungen waren besonders häufig Thema in den katholischen Periodika. Ohne die technischen Möglichkeiten horizontaler Mobilität und dem sich ausbildenden Massenverkehr wäre allerdings weder die Versorgung der Großstadt noch die Suche nach Alternativkonzepten wie der Gartenstadtidee denkbar gewesen. Man sprach in den Jahren zwischen 1870 und 1930 gern von der Großstadt als „Laboratorium der Moderne“254. Stadt wurde als offener Raum verstanden, in dem widersprüchliche Wahrnehmungs- bzw. Lebensweisen auf eine bisher ungekannte Weise zueinander in Beziehung geraten und bisher unbekannte 250 251 252 253 254
REULECKE, Jürgen (1985), 9f. Vgl. ebd., 10. Ebd. Ebd., 11. SRUBAR, Ilja (1992), 37.
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soziale Verhältnisse generieren. Es entstanden neue Kommunikations- und Ausdrucksformen, die erschreckend und faszinierend zugleich waren.
Abb. 2: Albert BIRKLE: Großstadthäuser (um 1924)
3.4.1 Die Großstadt und ihre sozialen Probleme Der Nationalökonom Adolf WEBER (1876-1963) hat in einer groß angelegten monographischen Studie von 1908 (Die Großstadt und ihre sozialen Proble-
100
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me) Widersprüchlichkeiten im Urbanisierungsprozess in Deutschland umfassend erörtert.255 Er untersucht die Bereiche Familienleben, Wohnen, Verkehrsproblem, Arbeitslosigkeit, Armut und Armenfürsorge, Volksbildung und Volksgeselligkeit. WEBER beschreibt in der Einleitung die Vorzüge des Großstadtlebens. In seinen Augen gehört dazu eine hohe Produktivität durch Arbeitsteilung und die sich daraus ergebende Reichtumskonzentration: „Wirtschaftlich hat unzweifelhaft die Großstadt gezeigt, daß sie ein Fortschritt bedeutet, und damit hat sie, das will mir scheinen, auch schon ihre Existenzberechtigung dargetan, trotz offenkundiger ideeller Nachteile.“256
WEBER fragt nach dem „geistig-sittlichen Fortschritt der Menschheit in den Großstädten“257. Er geht zwar davon aus, dass das „‚soziale Gewissen‘ in der Großstadt […] besonders feinfühlig“258 sei, diese Tatsache könne jedoch die „tiefwurzelnde soziale Unzufriedenheit und moralische Ungesundheit, das bedauernswerte tief geistige Niveau eines großen Teils des Großstadtvolkes nicht wett machen“259. In der Großstadt sei kein Platz für das Gemüt.260 Darunter leide die emotionale Bindung an Familie und Heimat. Kinder sieht er als die großen Verlierer des modernen Großstadtlebens. Mann und Frau seien in der Fabrik und die Kinder sich selbst überlassen. Er schreibt: „Und trotzdem lockt der städtische Qualm immer neue Scharen weg vom grünen Land. Herbeigezogen werden sie von den Kasernen, den Kaufhäusern und den Fabriken, geblendet von dem trügerischen Glanze, hinter dem für so viele hoffnungsfreudige Zuwanderer nur bitteres Elend steckt. Als Fremde plagen sie sich ab unter Fremden, fern von der Heimat losgelöst von dem Schönsten, was es neben Eltern- und Mutterliebe gibt, losgelöst vom Heimatgefühle.“261
Das wirtschaftliche Leben in der Großstadt ist, so WEBER, „weniger stabil“262, es kommt zu Arbeitslosigkeit. Aber weitaus schlimmer sei der „moralische Schmutz in den großstädtischen Straßen und Lokalen“263. Beleg ist für den Autor die Kriminalstatistik, außerdem Zahlen über Selbstmord, Geschlechtskrankheiten, Ehescheidung, Ehebruch und Statistiken zum Geburtenrückgang in Berlin zwischen 1899 und 1902. Damit geht nach WEBER der Verlust der 255
256 257 258 259 260 261 262 263
Vgl. WEBER, Adolf (1908). Nach LEES hat WEBER mit seinem Buch den besten Überblick über Schattenseiten wie Vorteile städtischen Wachstums in Deutschland gegeben. Vgl. LEES, Andrew (1992), 150, Anm. 44. WEBER, Adolf (1908), 9. Ebd., 10. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., 10f. Ebd., 11. Ebd.
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Religiosität einher. „Die moralische Ungesundheit wird nicht geringer, sondern größer“264, schreibt er. Die „geistige und sittliche Zukunft unseres Großstadtvolkes“265 dürfe nicht aus dem Blick geraten, dabei müsste vor allem der „Zerstörung des Familienlebens“266 Einhalt geboten werden. Das moderne Wirtschaftsleben sei gegen die Familie gerichtet.267 Aber auch nichtwirtschaftliche Gründe macht WEBER für den Verfall verantwortlich – und das seien „tieferliegende sittliche Gründe“268. Der Autor verweist auf den „Egoismus in der Großstadt“269. Für WEBER ist Familie der „Zusammenschluß zweier verschiedener Herrschaftsbereiche“. Zur Erläuterung zitiert er SCHILLERs Lied von der Glocke: „Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben“, doch „drinnen waltet die züchtige Hausfrau“270. Würde das Ideal von BEBEL und KAUTSKY verwirklicht, wäre die Gesellschaft die „Summe genußsüchtiger, egoistischer Vagabunden, deren Nervenunruhe und Überreizung die Mehrzahl zu Kandidaten von Irrenhäusern machen würde“271. Den Großstadtmenschen – gerade ihn und gerade dort, wo „der Massenwille dominiert“ – verlange es nach Raum für die eigene Persönlichkeit, und genau hier liege der Ort der Familie.272 Familie sei der „natürliche und weitaus wichtigste Mittelpunkt für die […] Menschenerziehung überhaupt“273. Für WEBER fehlt der modernen Gesellschaft Verantwortung durch Kontrolle. Keiner kümmere sich um den anderen und „die armen kleinen Kinder sind den Verführungen der Großstadt schutzlos preisgegeben“274. Die großstädtische Familie aller Stände müsse wieder eine „Pflanzstätte guter Sitten, ein mit Ehrfurcht gehüteter Schutzort für die Reinheit der Kinderseele“275 werden. Kinderarbeit sieht er als soziale Gefahr. Sie steht in direktem Zusammenhang mit dem Verbrechen. WEBER belegt dies mit Zahlen aus der Berliner Strafanstalt Plötzensee. „Zurück zur Familie“ heißt für ihn: „Heraus die Frau aus der Fabrik.“276 Dies wird nach WEBER aber noch geraume Zeit dauern:
264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276
Ebd., 14. Ebd., 20. Ebd., 22. Ebd., 23. WEBER meint die zum Teil drei Generationen umfassende, „um einen gemeinsamen Herd gruppierte“ (ebd.) Familie. Ebd. Ebd. Ebd., 25. Ebd., 25f. Vgl. ebd., 27. Ebd., 32. Hervorhebungen im Original. Ebd. Ebd., 34. Ebd., 35.
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„So wird also noch lange die großstädtische Familie ein Wrack sein und bleiben müssen. Man muß sich wenigstens bemühen, dieses Wrack durch Stützen, Anund Nebenbauten widerstandsfähiger zu machen.“277
WEBER meint damit in erster Linie öffentliche Fürsorgeerziehung. Die Familienfrage ist eng mit der Wohnungsfrage verknüpft.278 WEBER belegt durch Statistiken die soziale Problematik der Wohnungsnot. Sie machen deutlich, „daß die Wohnungsnot aus sozialökonomischen Gründen mindestens für eine ganze Klasse von Menschen als Übelstand in Erscheinung tritt“279. WEBER denkt darüber nach, wie der Mietpreis großstädtischer Wohnungen gesenkt werden kann und sieht eine Lösung in der Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus.280 Ein anderes zentrales Problem der Großstadt stellt die Arbeitslosigkeit dar: „Blindlings wälzen sich die Menschenmassen nach den Großstädten zu, ohne sich vorher eine passende Stellung zu verschaffen. Alle hoffen, daß sie dort in der Großstadt ihr Glück machen und halten es für selbstverständlich, daß man in der Großstadt bei größerer Ungebundenheit auch bessere Lebensbedingungen finden wird.“281
Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sei in der Großstadt „besonders gelockert“. Der Großunternehmer kümmere sich nicht um seine Arbeiter und lasse sie fallen, sobald er sie durch Maschinen ersetzen könne. Er entlasse vor allem die, die „nicht mehr so kräftig sind“282. WEBER folgert: „In der Großstadt wird die Arbeitslosigkeit am meisten empfunden, in der Großstadt ist sie am gefährlichsten, in der Großstadt ist sie weitaus am größten.“283 Er ist überzeugt, „daß das Problem der Arbeitslosigkeit als ganzes allerdings nicht gelöst werden kann, aber es kann doch insoweit gelöst werden, als die Arbeitslosigkeit heute allzuschwere Wunden zurückläßt […], daß diese Wunden rascher heilen und weniger schmerzhaft sind“284. In der Großstadt habe sich der „Begriff der Armut“ auf eine spezifische Weise erweitert. Eine Notlage, die der Mensch auf dem Land als „gar nicht so schlimm“ empfindet, könnte in der Großstadt unerträglich sein. Was „das großstädtische Armutsproblem so besonders schwierig und kompliziert gestaltet […] ist, daß in der Großstadt der Kontrast des Seins, der Gegensatz in dem Haben so außerordentlich hart empfunden wird. Ebenso offenbart sich in der Großstadt der Gegensatz im materiellen Werden so besonders scharf. In der
277 278 279 280 281 282 283 284
Ebd. Vgl. ebd., 39. Ebd., 41. Vgl. ebd., 53. Ebd., 87. Ebd. Ebd. Ebd.
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Großstadt ist ja die eigentliche Heimat des Spekulantentums, was zum größten Teile wieder eine Folge der rastlosen Sehnsucht ist, Reichtümer zu erwerben“285.
Eine Lösung sieht WEBER in der Verschränkung von öffentlicher, privater und kirchlicher Armenfürsorge. Kirchliche Fürsorge hat „in der Religion ein wunderbares Mittel, um Geber und Empfänger einander näher zu bringen, um den Geber anzuspornen, seinen edelsten Trieb mit höchster Opferwilligkeit in den Dienst der Armen zu stellen und anderseits um dem Empfänger ein geistiges Almosen zugänglich zu machen, das ihm oft noch notwendiger ist als das materielle Almosen“286.
Die öffentliche Armenfürsorge hat für ihn allerdings Vorrang, weil sie eine „einheitlich feste, von zeitlichen und persönlichen Zufälligkeiten unabhängige Organisation […] darstellt“287. Allein sie könne gewährleisten, dass jeder Stadtbewohner ohne Berücksichtigung seines Standes oder seiner Religionszugehörigkeit das erhält, was für den „notdürftigsten Unterhalt, mag die Armut verschuldet sein oder nicht“288, nötig ist. In der modernen Gesellschaft verlangt es den Notleidenden „in unseren Tagen mehr nach Rechten als nach milden Gaben“289. Dieses „im Kern gesunde Wollen“290 müsse auch die soziale Unterstützung berücksichtigen: „Die beste vorbeugende Armenfürsorge ist eine für Seele, Geist und Körper gesunde Jugenderziehung, die sich am besten auf Grundlage eines tadellosen Familienlebens gestaltet.“291 Als Ursachen sozialen Elends in der Großstadt führt WEBER neben der Arbeitslosigkeit vier weitere Hauptursachen an:292 1. Alkoholismus. Er ist der Grund für „Zerrüttung des Familienlebens, Verminderung des Erwerbes, Arbeitslosigkeit“293. Dem Alkoholismus ist durch Einwirkung auf den jeweils Einzelnen, durch Abstinenzvereine und durch geeignete Beschäftigung für die Abhängigen beizukommen. 2. Volkskrankheiten wie Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und Nervenkrankheiten. Maßnahmen gegen Geschlechtskrankheiten sind kaum durchzusetzen wegen des „Schlafgängerunwesens“ und der Prostitution. WEBER schlägt vor, die Bahnhofsmissionen einzubeziehen.
285 286 287 288 289 290 291 292 293
Ebd., 93. Ebd., 101. Ebd. Ebd., 102. Ebd., 109. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., 110ff. Ebd., 110.
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3. Mangelnde Haushaltsfürsorge. Haushaltskurse anstatt Fabrikarbeit für junge Frauen, die bei einer „ordentlichen Hausfrau kochen und Hausarbeit zu verrichten lernen“294. 4. Verfehlte Berufswahl. In den Städten gibt es freiwillige Erziehungsbeiräte und Vereine für Jugendfürsorge, die Eltern bei Problemen unterstützen. Diese Vereinigungen sollten an der Spitze der Armenfürsorge stehen. Vorbild könnte ein freiwilliger Erziehungsbeirat für schulentlassene Waisen sein. Ein „Herabsinken des Kindes unter den Stand der Eltern soll möglichst vermieden, ein unverhältnismäßiges Erheben über ihn nur in besonderen Ausnahmefällen gefördert werden“295. Rat und Hilfe bei der Berufswahl ist für WEBER nicht nur die beste Armenfürsorge, sondern auch Grundlage für die soziale Zukunft des Volkes: „Wer ein Kind vom Verbrechen rettet, der errettet ein Geschlecht.“296
3.4.2 Wohnungselend, Wohn(re)formen und Wohnungspolitik Mit dem Bevölkerungswachstum und den Arbeitsmöglichkeiten in den neuen Agglomerationen ist durch den plötzlichen Zuzug vieler Arbeitssuchender ein Wohnungsmangel besonders in den größeren Städten entstanden. TREMÖHLEN schreibt im Jahr 1911: „Eine Wohnungsfrage im eigentlichen Sinne des Wortes entstand erst mit dem siegreichen Einzug der Industrie. Die Gesellen verließen ihr Handwerk und strömten in die Fabriken, wo man ihnen bessere Löhne zahlte, und wo sie sich außerhalb der Arbeitszeit völliger Ungebundenheit erfreuen durften. Ihrem Beispiel folgten zahlreiche landwirtschaftliche Arbeiter: sie verließen den Pflug und eilten zur Maschine, von wo ihnen höhere Löhne entgegenwinkten.“297
In Mahnruf in der Wohnungsfrage (1890) nennt Gustav SCHMOLLER (18381917), einer der einflussreichsten Nationalökonomen in Deutschland, „unsere ganze Kulturgeschichte eine Geschichte der Wohnung“298. Dabei ist das urbane Wohnen ein relativ junges Phänomen, es ist so alt wie die industrielle Stadt. Bis zur Herausbildung funktionsgetrennter, nach hygienischen und sozialen Gesichtspunkten gebauten Wohneinheiten durchläuft die Geschichte des Wohnens etliche Stufen. SCHMOLLER gibt Beispiele aus den Arbeiterwohnquartieren der neuen Städte. 294 295 296 297 298
Ebd. Ebd. Ebd., 14. Hervorhebungen im Original. TREMÖHLEN, Ernst (1911), 2. Hier auch die Wohnungsnot in den Industrieregionen Westfalens. SCHMOLLER, Gustav (1890), 343. Vgl. auch die Monographie über die soziale Frage von SCHMOLLER, Gustav (1918).
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„Da wohnt eine Familie mit einem halben Dutzend Kinder in einem Raum, der für Speisen, Arbeiten und Schlafen zugleich dient, ein paar zerbrochene Stühle, ein oder zwei zerlumpte Betten, ein Tisch sind das einzige Gerät. Der Ofen raucht, die Thüren und Fenster schließen nicht. Und daneben sieht es noch schlimmer aus, da hausen noch fremde Schlafgänger mit der Familie im selben Raume, dort ist das Zimmer nur mit einem Kreidestrich für zwei Familien abgeteilt.“299
Die Problematik des „Schlafgängerwesens“, einer Untervermietung des schon knappen Wohnraums, versucht Werner SOMBART einige Jahre später zu belegen: „Was nun aber das Wohnungselend der ärmeren Bevölkerung, wenigstens aber in den Großstädten, auf das Höchste steigert, ist der Umstand, daß selbst in den engen Behausungen, die nicht mehr den Namen Wohnung verdienen, noch nicht einmal immer die Familie allein lebt, sondern noch fremde Personen, die Schlafgänger, dazwischen kampieren. Dieser jammervolle Zustand findet sich beispielsweise in Berlin bei 391 von 1.000 einzimmrigen Wohnungen, in Breslau bei 370, in Plauen i. V. bei 596, in München bei 572 aller ein- und zweizimmrigen Wohnungen usw. In München, über das wir durch eine Studie des Dr. Cahn besonders gut unterrichtet sind, beherbergen etwa 12.000 oder 15 % aller Wohnungen Schlafgänger, von denen über ein Viertel Weiber sind. Von diesen 12.000 Wohnungen waren 3.918 überfüllt im offiziellen Sinne und hatten nur 858 mehr als ein heizbares Zimmer.“300
Die „Wohnungsdichtigkeit“301 ist für NODER die Ursache für den Pauperismus in den Großstädten, nämlich „das Proletarierwesen und seine Folgen, den bei dem Schlafstellen- und Aftermiethwesen überhand nehmenden Geschlechtsverkehr, die Prostitution, die unehelichen Geburten, kurz die moralischen Gesundheitsschädigungen, welche zweifellos in den Städten überwiegender sind als auf dem platten Land“302.
Die Zahl der an einer Geschlechtskrankheit erkrankten Personen steigt mit der Größe der Stadt, wobei sich überwiegend ledige Männer mit Syphilis oder Gonorrhoe infizieren.303 SCHMOLLER fordert: „Wir müssen mehr kleine Wohnungen und bessere, gesundere kleine Wohnungen schaffen; wir müssen diese kleinen Wohnungen technisch und baulich so gestalten, daß sie das normale sittliche Familienleben fördern. Wir müssen Geschäftsformen und Unternehmensformen finden, welche nicht der Grundwertspekulation nachjagen, sondern zufrieden mit einer mittleren Verzinsung des
299 300 301 302 303
SCHMOLLER, Gustav (1890), 345. Zur Wohnungsnot vgl. die Monographie über die soziale Frage SCHMOLLER, Gustav (1918), 114ff. SOMBART, Werner (1906), 24. NODER, A. (1902), 278. Ebd. GESCHLECHTSKRANKHEITEN (1918), 42.
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Kapitals in anständiger dauernder Weise unter loyalen Mietverträgen das Vermietungsgeschäft für kleine Leute betreiben.“304
Grundübel des Geschäfts mit dem Wohnen ist die durch Bodenspekulation305 hervorgerufene dichte Bebauung großstädtischer Grundstücke, die zwischen 1860 und 1870 zu sogenannten Mietskasernen führt.306 Zeitgenössisch definiert als „die aus der modernen Bodenwirtschaft geborene, in ununterbrochenem Entwicklungsgange sich ausbreitende mehrstöckige Mietskaserne als ein hygienisches Mißgebilde und ein soziales ethisches Monstrum“307. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs war der Wohnungsbau überwiegend nach gewinnorientierten privatwirtschaftlichen Interessen organisiert. Überhöhte Mieten der Klein- und Kleinstwohnungen sicherten dem Besitzbürgertum des sogenannten alten Mittelstandes erhebliche Kapitalrenditen, wobei auf die „objektiven und/oder subjektiven Interessen der großen Mehrheit der Wohnungssuchenden so gut wie keine Rücksicht genommen“308 wurde. Neben der spekulativen Bautätigkeit führten Bauordnungen und kommunale Bebauungspläne zum Mietkasernenbau: „Miethäuser, die nach den Maßgaben der Berliner Bauordnung und des Berliner Bebauungsplans309 errichtet wurden, erreichten bis zu sechs Vollgeschosse, besaßen bis zu sechs Hinterhöfe, die untereinander nur mit Durchfahrten erschlossen wurden, und beherbergten teilweise einhundert und mehr Kleinwohnungen.“310 Der Wohnungsmangel, in der zeitgenössischen Literatur auch als Wohnungsnot311 bezeichnet, bewirkte eine 304 305 306
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SCHMOLLER, Gustav (1890), 355. Dass Einzimmerwohnungen allerdings als Familienwohnungen vermietet wurden, rief schon damals Kritik hervor. Vgl. FLESCH (1892), 432. Zur Bodenspekulation am Beispiel Dresdens vgl. MANGOLDT, Karl v. (1907), 155. Zur Terminologie vgl. ebd., 188ff. Vgl. ENTWICKLUNGSGESCHICHTE (1905), 156. Zur Diskussion in der Wohnungsreformbewegung vgl. TEUTEBERG, Hans Jürgen (1987). Zur Wohnungsreformbewegung vgl. auch ENGELI, Christian (1977), 295ff. WOHNUNGSFRAGE (1905), 162. WITT, Peter-Christian (1979), 387. Der ursprünglich als Fluchtlinienplan gedachte HOBRECHT-Plan, der die noch nicht bebauten Bereiche Berlins erschließen sollte, führte in Verbindung mit unzureichenden Baupolizeiverordnungen durch Bodenspekulation zu den berüchtigten Mietskasernen. Werner HEGEMANN (1881-1936) verurteil den HOBRECHT-Plan 1930 in seinem Buch Das steinerne Berlin. Der Plan hat die grüne Umgebung Berlins „für den Bau dichtgepackter großer Mietskasernen mit je zwei bis sechs schlecht beleuchteten Hinterhöfen amtlich“ hergerichtet „und vier Millionen künftiger Berliner zum Wohnen in Behausungen verdammt[e], wie sie sich weder der dümmste Teufel noch der fleißigste Berliner Geheimrat oder Bodenspekulant übler auszudenken vermochte“ (HEGEMANN, Werner, 1930, 295). Der HOBRECHT-Plan wird heute differenzierter beurteilt. Vgl. STROHMEYER, Klaus (2000). Vgl. BERNET, Claus (2004). KASTORFF-VIEHMANN, Renate (1979), 287. Zur Auswirkung der zeitgenössischen Bauordnungen auf die Entwicklung des Mietkasernenbaus vgl. SALDERN, Adelheid von (1979). Vgl. ARBEITERWOHNUNGSFRAGE (1899), 247. In den Großstädten fehlte es an kleinen, den hygienischen Grundbedürfnissen angepassten Wohnungen. Ein Hauptanliegen des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege war deshalb die „Beschaffung guter und gesunder Arbeiterwohnungen“ (ebd., 243). Selbst die berüchtigten Mietskasernen hatten gegenüber den Altbauten durchaus Vorzüge: „Wenn man diesen Ärmsten der Armen helfen will, darf man sich von
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stete Nachfrage und die Höhe des Mietpreisniveaus.312 Als „Politik der kleinen Mittel“313 konnten gemeinnützige Baugesellschaften und Baugenossenschaften für die ärmere Bevölkerung jedoch kaum Besserung erwirken.314 Auch die Baupolizeiordnungen für den Stadtkreis Berlin vom 15. Januar und 15. August 1897, durch die das Maß der Bebauungsfläche und die Höhe der Wohnhäuser eingeschränkt werden sollten, entschärften das Berliner „Mietkasernentum“315 nur wenig. Der Ruf nach einer Revision der Bauordnungen wurde lauter. Als Geschäftsführer des Vereins Reichs-Wohnungsgesetz mahnt Karl von MANGOLDT 1903 eine „durchgreifende Verbesserung der Wohnungs- und Ansiedlungsverhältnisse in Deutschland“316 an. Er fordert eine „Bekämpfung des Mietkasernensystems, Herbeiführung einer weiträumigen Bebauung, Begünstigung des Baues von Kleinhäusern durch erleichterte Bauvorschriften gegenüber den größeren Häusern und durch das alles indirekt auch Erleichterung der Erstellung kleiner Wohnungen, [...] mäßigender Einfluß auf die Bodenpreise [...], endlich namentlich Vorbereitung dezentralisierter gartenmäßiger Ansiedlung in den Außenbezirken der kleinen, in der Umgebung der großen Orte“317.
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vornherein das Ziel nicht zu hoch stecken, sondern muß zufrieden sein, wenn man ihnen wenigstens einigermaßen erträgliche Wohnungen verschafft, die dafür auch wirklich von ihnen benutzt werden können. Dies geschieht aber nur durch den Bau von großen Mietskasernen, und zwar nicht nur mit Zweizimmerwohnungen, sondern auch mit Wohnungen, die aus einem Zimmer nebst Küche, ja solchen, die aus einem einzigen Raum bestehen, der aber von vornherein als selbständige Wohnung eingerichtet ist.“ (Ebd., 249). Dies stellte schon einen Fortschritt gegenüber Wohnungen oder Zimmern dar, die eigentlich als Mansarde oder Dachboden dienten und von mehreren Personen bewohnt wurden. Vgl. ebd., 250. Zur Wohnungsfrage vgl. insbesondere ENGELS, Friedrich (1887). Zum Zusammenhang zwischen Wohnungsnot und Gewalt vgl. BRECKNER, Ingrid (1985). Vgl. KASTORFF-VIEHMANN, Renate (1979), 271. Adelheid von SALDERN weist allerdings nach, dass eine unsichere Rentabilität für den Bauherrn den weiteren Bau von Wohnungen behinderte. Vgl. SALDERN, Adelheid von (1979), 345. Gleichzeitig wird von leerstehenden Wohnungen berichtet, die für Berlin im Jahre 1904 insgesamt 1,17 Prozent aller Wohnungen ausmachte. Gründe wurden in den nicht mehr vermietbaren Altbauten gesehen. Vgl. LEERSTEHENDE WOHNUNGEN (1905), 172. ALBRECHT, H. (1903), 268. Auch wenn der Anteil der Genossenschaften am Bauvolumen bis zum Ersten Weltkrieg gering war, wurde mit ihrer Gründung ein wichtiger Schritt gegen die verbreitete Bodenspekulation unternommen, „nämlich daß Wohnungsbau mit seiner fast absoluten Sicherheit für das investierte Kapital nicht das Instrument sein kann, Gewinne aus diesem zu erzielen“ (KRÖNERT, Walter, 1979, 372). OEHMCKE, Th. (1904), 289. MANGOLDT, K. v. (1903), 112. Ebd., 117. Zur begünstigenden Entwicklung der großstädtischen Vororte durch den Ausbau des Nahverkehrsnetzes und verschiedener Baupolizei-Ordnungen vgl. OEHMCKE, Th., 1904, 284ff. Zur Wohnungssituation in den übrigen europäischen Staaten und den Forderungen nach einer einheitlichen staatlichen Wohnungsgesetzgebung vgl. LANDSBERGER (1908). Zu den Grundforderungen, vorgelegt auf dem 14. internationalen Kongress für Hygiene und Demographie 1907 vgl. ebd., 279ff.
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Besonders Reinhard BAUMEISTER (1838-1917) und Hermann Josef STÜBBEN (1845-1936) haben mit ihren Bemühungen um den „sozialreformerischen Städtebau“318 wichtige Impulse zur weiträumigeren Bebauung gegeben und damit zur Veränderung der Baugesetzgebung beigetragen. Waren die ab Mitte des 19. Jahrhunderts geregelten Bauordnungen vor allem an einer hohen Ausnutzung der Grundstücke orientiert, konnte sich, wenn auch spät, eine Veränderung der Bauordnungen zugunsten weiträumiger Bebauung durchsetzen: „Die Absichten der Städtebaureformer, des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege und anderer Gruppen, die den politischen Widerstand der Haus- und Grundbesitzer in den Städten durch ein Reichsgesetz zum Schutz gesunden Wohnens brechen wollten, um eine gesunde und vor allem den modernen Verkehrserfordernissen angepaßte Stadtentwicklung auf den Weg zu bringen, ließen sich bis 1918 nicht verwirklichen. In den letzten Kriegstagen jedoch wurde für Preußen das Wohnungsgesetz erlassen, in dem sich unter anderem die hygienisch motivierten Maßnahmen finden, die vor allem Baumeister viele Jahre propagiert hatte und die sich bis heute – wenn auch in abgewandelter Form – als Instrumente der Stadtplanung erhalten haben.“319
Nachdem „in der Zeit bis 1918 die Befriedigung des menschlichen Grundbedürfnisses Wohnen weder quantitativ noch qualitativ gelungen war“320, benennt die Weimarer Verfassung in Artikel 155 ausdrücklich den Wohnungsbau als staatliche Aufgabe:321 „Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen in einer Weise überwacht, die Mißbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern.“322
Es entstanden staatlich oder kommunal geförderte Wohnungsbaugesellschaften und auch Gartenstädte. In den 1920er Jahren setzte sich schließlich die abgeschlossene gegenüber der offenen Kleinwohnung durch: Die räumliche Offenheit, „indem zwischen den zu der Wohnung gehörenden Räumen offene Verbindungsräume, Flure und Korridore lagen, die von anderen Haushalten mitbenutzt wurden“323 und die soziale Offenheit der Haushalte, die oft mehrere zahlende Schlafgänger beherbergten, wurde zugunsten einer von den übrigen Einheiten abgetrennten Wohnweise aufgegeben. Es entstand dadurch „die abgetrennte oder abgeschlossene Kleinfamilie in einer abgeschlossenen Woh-
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RODENSTEIN, Marianne (1992), 156. Ebd., 160f. Zur Entwicklungsgeschichte des preußischen Wohnungsgesetzes von 1918 vgl. NIETHAMMER, Lutz (1979). WITT, Peter-Christian (1979), 386. VERFASSUNG (1919), Artikel 155. Ebd. ROSCHER, Volker (1996), 206.
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nung mit abgetrennten Funktionsraumeinheiten für unterschiedliche menschliche Verrichtungen“324. Gegen Ende des Untersuchungszeitraums hat sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt etwas entspannt, gerade für größere Haushalte waren die Wohnverhältnisse aber immer noch beengt: Ein Viertel der Kinder in kinderreichen Familien (vier und mehr Personen unter 18 Jahren) wuchs 1930 in Großstädten auf.325 Diese lebten immerhin zu 99 Prozent als Mieter in einer eigenen Wohnung, fast die Hälfte aller kinderreichen Familien wohnte aber in Wohnungen mit mehr als zwei Bewohnern je Raum (in der Gesamtbevölkerung lebten nur 10 Prozent in dieser Wohnungsdichte).326
3.4.3 Stadtutopien, Gartenstadtbewegung und die Entwicklung des Massenverkehrs Reformvorschläge zur Verbesserung der großstädtischen Situation ziehen sich durch alle Jahrzehnte des hier berücksichtigten Zeitraums. Die Notwendigkeit einer sogenannten inneren Kolonisation wurde im Untersuchungszeitraum immer wieder betont, um den starken Zuzug in die Großstädte zu beschränken.327 MAHLKE wendet in Die Grenzboten den Begriff im Jahr 1905 auf die Dezentralisation der Industrie an und versucht, durch eine Verlegung der Industriestandorte in vorindustrielle Zonen u. a. auch die Lebensstile der Großstädter zu verändern: Seiner Argumentation nach ist der allgemeine Geburtenrückgang eine Folge des Bevölkerungswachstums der Großstädte durch Zuzug. Dieser „Beeinträchtigung der Kraft und Gesundheit des gesamten Volkstums“328 möchte er durch Personalsteuern für Arbeitgeber begegnen, die je nach Größe der Stadt steigen sollten.329 Ziel ist die Verlagerung von Industriebetrieben in ländliche Regionen und Kleinstädte: „Wenn es gelänge, einen wesentlichen Teil der Industrie aus den Großstädten auf das Land zu verpflanzen, so würde die Arbeiterbevölkerung unter viel ge324 325 326 327
328 329
Ebd., 207. Vgl. WOHNWEISE (1930), 319. Vgl. ebd., 321. Ursprünglich sollte die innere Kolonisation eine Stärkung des Bauernstandes fördern: „Das Anwachsen der großen Güter hat die socialen Gegensätze herbeigeführt, welche heute in der Landflucht der Besitzlosen zu Tage treten; die auf zertrümmerten Bauerngütern zahlreich entstandenen Zwerggüter aber haben jene Gegensätze nicht nur nicht mindern helfen, sondern verschärft, weil sie an die Stelle von Angehörigen des Mittelstandes grundbesitzende Proletarier setzten. Heute gilt es, diese Entwicklung wieder zurückzubilden. Auf bisherigen Gutsflächen sind Bauerngemeinden zu schaffen, deren Kern aus selbständigen Wirten besteht, während Arbeiterstellen sich in beschränkter Zahl ergänzend angliedern.“ (SERING, Max, 1893, 269). MAHLKE, U. (1905), 187. Vgl. ebd., 188f.
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sundern Lebensbedingungen existieren können. Die Hunderttausende, die alljährlich aus den Kleinstädten und vom Lande in die Großstädte strömen, sind zu einem jähen Wechsel ihrer Lebensgewohnheiten gezwungen, der unbedingt sehr nachteilig wirken muß.“330
Die Großstädte würden durch die sogenannte innere Kolonisation erheblich Geld einsparen, die sie für die Erweiterung von Kanalisationsanlagen und Wasserleitungen ausgeben und stärker die schon länger ortsansässige Bevölkerung fördern könnten.331 Wie einfach sich MAHLKE eine Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände durch eine bloße Verlagerung des Industriestandorts vorstellt, zeigt die Überschätzung des Einflusses räumlichen Gegebenheiten und die Nichtberücksichtigung eines ganzen Geflechts an Gründen für die Veränderungen der allgemeinen Lebensumstände in der Moderne: „Auf dem Lande“, schreibt er, „würde es den Betrieben leichter werden, sich eine ständige Arbeiterschaft zu erhalten, und die Arbeiterbevölkerung würde überhaupt viel seßhafter sein“332. Bereits 1876 forderte BAUMEISTER, „die Stadt in Funktionsbereiche zu gliedern und auf dieser Grundlage zu gestalten. Er unterschied Flächenarten, auf deren weitere Differenzierung die Entwicklung aller Städte dränge“333. Und Karl von MANGOLDT mahnt noch 1928 eine von ihm so bezeichnete „Großstadtablenkung“334 an: Durch Intensivierung der Landwirtschaft und innere Kolonisation, durch industrielle und allgemeine Dezentralisation sollte die Großstadtbildung durch die dann eintretende Einschränkung des Zuzugs in die Großstadt abgemildert werden.335 Gleichzeitig fordert er eine innere Reform der Großstädte durch örtliche Gliederungen: „Dieses jetzige ungefüge und konzentrierte Ungetüm der Großstadt bedarf also aus den verschiedensten Gründen heraus einer sorgsamen Gliederung, welche nach aller Möglichkeit die Großstadt wieder in zahlreiche kleinere, in sich möglichst weitgehend selbständige Teile unterteilt.“336 Die einzelnen Stadtbezirke sollten möglichst voneinander getrennt und selbständig agieren können und ihren Bewohnern im eigenen Umfeld ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung stellen:337 „Gelingt es aber, in dieser Weise, siedlungsmäßig, wirtschaftlich und verwaltungsmäßig, allmählich wieder eine dauernde wahrhafte Gliederung der Großstadt in einzelne Teile mit starkem eigenen Leben und Bewußtsein zu erzielen, so wäre in der Tat ein ganz außerordentlicher Fortschritt zur Reform und Gesun330 331 332 333
334 335 336 337
Ebd., 189. Vgl. ebd., 191. Ebd., 190. WERNER, Frank (1976), 12. Zur innerstädtischen Differenzierung der Wohnbedingungen vgl. WISCHERMANN, Clemens (1987). Zur Konzeption der funktionalen Gliederung bei BAUMEISTER und STÜBBEN vgl. SCHWIPPE, Heinrich Johannes (1987), 196ff. MANGOLDT, Karl v. (1928), 34. Vgl. ebd., 46. Ebd., 49. Vgl. ebd.
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dung der Großstadt getan, und wir dürften dann in den Großstädten in viel höherem Grade auf Heimatgefühl, auf Gemeinschaftssinn, auf äußere und innere Sittlichkeit und auf politische Gesundung rechnen.“338
Der Vereinzelung und „moralischen Haltlosigkeit“ durch neue Siedlungs- und Gemeinschaftskonzepte zu begegnen, war das Anliegen der Stadtutopien und damit auch der Gartenstadtbewegung. In überschaubaren lokalen Einheiten sollte versucht werden, „die abgerissene Überlieferung haltgebender Sozialstruktur“339 nicht etwa völlig aus dem industriellen Wirtschaftsgefüge zu lösen, aber sozialverträglich zu gestalten. Der erste allgemeine Wohnungskongress, der vom 16. bis 19. Oktober 1904 in Frankfurt a. M. abgehalten wurde, formulierte als langfristiges Ziel der Wohnungsreform die Dezentralisation der Großstädte, ihre „Auflösung in einen Kranz von Gartenstädten, die mit ihrer wirtschaftlichen Existenz nach dem industriellen und kommerziellen Zentrum, der City, gravitieren, wie die Planeten zur Sonne“340. Im Dezember 1909 bezeichnet Erich LILIENTHAL den Kampf zwischen Stadt und Land als das „wichtigste sozialgeschichtliche Ereignis einer nahen Zukunft“341. Entschieden wird der Kampf zugunsten der Städte, wenn es ihnen gelingt, „aufs Land“ zu gehen: „Die Stadt muß aufs Land, muß Land werden mit grünen Bäumen und blühenden Gärten und keine Wüste aus Eisen und Stein.“342 In seiner Vision von der Stadt der Zukunft bilden sich um die City Vororte mit kleinen Häusern, Grünflächen und den nötigsten Geschäfts-, Verwaltungs- und Gemeinschaftsgebäuden. Er schreibt: „Jeder Landarbeiter wird später Stadtbewohner sein können, und daß er es wollen wird, wenn er es kann, das ist fraglos, trotz all des moralinhaltigen Geredes von der Lasterhaftigkeit der Städte und der Tugend des Landes.“343
Es war das Verdienst der Frühsozialisten, „die gegenseitige Abhängigkeit von Sozial- und Raumplanung aufgezeigt zu haben, wobei für sie die politischsozialen Überlegungen im Vordergrund standen“344. Die Gartenstadtidee selbst entstand um die Jahrhundertwende in Großbritannien. Ihr Konzept stand sehr wohl in der Tradition der Frühsozialisten, war jedoch pragmatischer orientiert:345 „Eine Gartenstadt ist eine Stadt, die für gesundes Leben und Arbeit geplant ist; groß genug, um ein volles gesellschaftliches Leben zu ermöglichen, aber nicht 338 339 340 341 342 343 344 345
Ebd., 50. OSWALD, Hans (1966), 68. WOHNUNGSFRAGE (1905), 163. LILIENTHAL, Erich (1909), 890. Ebd., 892. Zur Unterstützung der Gartenstadtidee durch die zeitgenössische Frauenbewegung vgl. SCHIRMACHER, Käthe (1904). LILIENTHAL, Erich (1909), 892. BÖHME, Helmut (1996), 74. Zum Frühsozialismus vgl. KOOL, Frits; KRAUSE, Werner [Hrsg.] (1972). Vgl. SOFSKY, Wolfgang (1986), 13.
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größer; umgeben von einem Gürtel (landwirtschaftlich genutzten) Landes, die Böden des gesamten Stadtgebietes befinden sich in öffentlicher Hand oder werden von einer Gesellschaft für die Gemeinschaft der Einwohner verwaltet.“346
Mit dieser Definition aus dem Jahr 1919 der Garden City and Town Planning Association hat Ebenezer HOWARD (1850-1928) die Gartenstadtidee maßgeblich geprägt. Sie sollte in gewisser Weise Abkehr von der Großstadt sein: „Aber nicht im Sinne ihrer vollständigen Auflösung, sondern in der Entwicklung neuer, kleinerer, überschaubarerer Städte, in denen die Mängel der bestehenden Großstädte von vornherein vermieden sind.“347 In Deutschland vertrat Theodor FRITSCH mit Die Stadt der Zukunft348 (1896) ähnliche Vorstellungen wie HOWARD. Seine völkisch-nationale und antisemitische Schrift wurde allerdings kaum rezipiert. 1902 wurde die Deutsche Gartenstadtgesellschaft349 gegründet. Sie war „Sammelbecken für alle Großstadtgegner“350. Es ging ihnen um ein sich ausbreitendes System von Gartenstädten, sie strebten ein Stadt-Land-Gleichgewicht an, wollten ländliche Regionen fördern und das Städtewachstum kontrollieren. Aber auch dort, wo es nicht um eigene Gartenstadtsiedlungen ging, wurde der Wert des eigenen Grund und Bodens hervorgehoben. Johannes UDE nennt 1930 die Schrebergartensiedlungen einen positiven Anfang, er fordert auf Dauer „Eigenheim und Eigenland für jede Familie“351. Um das Ziel einer Dezentralisierung zu erreichen, musste das „Verkehrsmittel-Problem der modernen Großstadt“352 gelöst werden: „Nur in Ermangelung moderner Schnellverkehrsmittel ist es für das Proletariat bis heute unerhört geblieben, abseits der Tätigkeitssphäre zu hausen“353, schreibt BRODA 1909. Die Entwicklung in den Ballungsräumen Englands, Amerikas und Australiens werden vom Autor als zukunftweisend dargestellt: In der Londoner City wohnen „nur wenige Menschen, und des Abends sind die Straßen wie ausgestorben. Alles ist hinausgeeilt in die grünen Vororte oder doch wenigstens [in] die Vorstadt mit ihren niedrigen Häusern, die allmählich in die Einfamilienhäuser des Vorortes übergehen“354. Dabei war in Deutschland um die Jahrhundertwende eigentlich der „Durchbruch zum modernen Massenverkehr geschafft“355. Allein zwischen 1840 und 1870 stieg die Zahl der Bahnlinien in Preußen von 128 auf 9878 Kilometer.356 Die Verbesserungen auf dem Gebiet 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356
HOWARD, Ebenezer (1968), 179. ALBERS, Gerd (1996), 60f. FRITSCH, Theodor (1886). Vgl. HARTMANN, Kristina (1976), 27ff. BÖHME, Helmut (1996), 74. UDE, Johannes (1930), 24. Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von BRODA, Rudolf (1909). Ebd., 637. Ebd., 639. TEUTEBERG, Hans Jürgen (1991), 76. Hervorhebung im Original. Vgl. SCHMOLLER, Gustav (1890a), 18.
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des Verkehrswesens eröffneten u. a. neue Möglichkeiten des städtischen Massenkonsums. Die zunehmende Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz und die beschriebene Citybildung führten zur sozialen Segregation der städtischen Wohnbevölkerung:357 Neben den Villenkolonien außerhalb der City entstanden die Massenwohnquartiere. Für Gustav SCHMOLLER hängt ein „großer Teil der berechtigten Bedenken, die man gegen unsere ganze Zeit aussprechen kann, [...] direkt oder indirekt mit unseren modernen Verkehrsmitteln zusammen“358. Auch für Adolf WEBER ist die Wohnungsfrage letztlich eine Verkehrsfrage.359 Bei angemessenen Verkehrsmitteln könnte ein Teil der Wohnungssuchenden außerhalb der Stadt wohnen. WEBER verweist auf Erfolge im Ausland. In Berichten aus Belgien heißt es: „Wo sonst viele Schlafgänger die Woche in sehr mißlichen Zuständen durchbrachten, um nur am Sonntag in ihrer Heimat bzw. in ihrer Familie zu verbleiben, hat die bedeutende Ermäßigung der Preise auf den Staatseisenbahnen ein tägliches Hin- und Zurückfahren ermöglicht -, auf den Bahnen nach den größeren Städten und industriellen Gegenden fahren morgens und abends spezielle Arbeiterzüge mit vielen kleinen Haltestellen, um täglich hunderttausende Arbeiter zu befördern und um ihren Familien den Aufenthalt auf dem Lande mit billigen und gesunden Wohnungs- und Ernährungsverhältnissen zu gestatten. Elektrische Tram- und Kleinbahngesellschaften treffen entsprechende Einrichtungen.“360
Auf diese Weise konnte man „zugleich Parzellenpächter und städtischer Fabrikarbeiter“361 sein. Auch in Amerika, in London oder Paris sei man erfolgreich. Insgesamt keine leichte Aufgabe, „diese gewaltigen Menschenmassen rasch und sicher innerhalb der Stadt und von der Stadt nach den Vororten zu befördern; ohne die glänzenden technischen
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358 359 360 361
Eine Untersuchung der sozialen Segregation von SCHWIPPE in Hamburg und Berlin während der Hochindustrialisierung kommt zu folgendem Ergebnis: „Während auf der einen Seite Prozesse ablaufen, die mittelfristig auf eine Trennung der verschiedenen Funktionen abzielen, entfernen sich gleichzeitig die in der städtischen Gesellschaft existierenden verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen zunehmend räumlich voneinander. Die Standorte des produzierenden Sektors bewegen sich auf die Peripherie des entstehenden Agglomerationsraumes zu, im Stadtzentrum konzentrieren sich die Standorte des Handels, der Verwaltungen und anderer Dienstleistungseinrichtungen und verdrängen die bisher an diesen Standorten wohnende Bevölkerung in die an der Peripherie entstehenden Wohnquartiere. Die Trennung der Gewerbe- und Dienstleistungsstandorte wird überlagert von der Trennung der beiden Funktionsbereiche Wohnen und Arbeiten. Voraussetzung und Bedingung ist ein leistungsfähiger und preisgünstiger öffentlicher Personennahverkehr.“ (SCHWIPPE, Heinrich Johannes, 1987, 223f.). SCHMOLLER, Gustav (1890a), 31. Vgl. WEBER, Adolf (1908), 59. Ebd. Ebd.
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Fortschritte, die auf dem Gebiete des Lokalverkehrswesens in den letzten Jahren gemacht wurden, würde es eine Unmöglichkeit sein“362.
Dem Massenverkehr der Gegenwart sei die Bahn nicht mehr gewachsen. Probleme der Großstadt – vor allem auf dem Gebiet des Verkehrs und der Wohnungsnot – wären weniger durch Gesetzgebung als durch Technik zu lösen.363 WEBER erwähnt auch die „Dezentralisierung der großstädtischen Bevölkerung“364 durch die Gartenstadt. Dabei sind für ihn selbständige Gartenstädte eine Utopie, denn „auch unter den günstigsten Verhältnissen würde die Gartenstadt als Klein- oder Mittelstadt der verlassenen Großstadt technisch und wirtschaftlich nicht gewachsen sein“365. WEBER spricht deshalb eher von Gartenvorstädten.366 Vor allem Ökonomen und Mediziner haben sich mit den sozialen Problemen der Großstadt im Allgemeinen auseinandergesetzt. Sie sahen die Probleme, die durch die Sozialgesetzgebung BISMARCKs und durch das Anwachsen der Sozialdemokratie zumindest in ihren schlimmsten Auswüchsen einzudämmen schienen.
3.4.4 Pathographien der Großstadt Seit Mitte des 19. Jahrhunderts existierte eine empirische Großstadtforschung als eine Art früher Gesundheitsforschung: „Da Seuchen, hohe Sterblichkeit und zahlreiche körperliche Entwicklungsschäden mit dem Wachstum der frühkapitalistischen Städte verbunden waren, wurde die stadtkritische Bewegung hauptsächlich von Medizinern geführt.“367
Dabei stützte man sich auf Berichte von Leichenbeschauern und Ärzten, in denen das Elend in den Mietskasernen der Industrieansiedlungen Schlesiens, des Ruhrgebiets oder Berlins erstmals festgehalten wurde.368 Um die Jahrhundertwende versuchte man in Deutschland angesichts des raschen Übergangs in eine industrialisiert verstädterte Gesellschaft, „die Ursachen und Folgen des Urbanisierungsprozesses zu verstehen. Zwar gab es Stimmen, die die Großstadt ganz einfach ablehnten, in der Wissenschaftsgeschichte dürfen sie jedoch keinen zentralen Platz beanspruchen. Typisch war vielmehr die Bereitwilligkeit, sorgfältig sowohl die Nach- als auch die Vorteile städtischen Wachstums zu überprüfen und der Wunsch, an zeitgemäßen Lösun362 363 364 365 366 367 368
Ebd., 64. Ebd., 77. Ebd. Ebd., 78. Ebd. HÄUSSERMANN, Hartmut; SIEBEL, Walter (2004), 13. Vgl. ebd.
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gen für moderne Probleme mitzuwirken. […] Überall in Europa drückte sich der biologisch-demographische Albtraum aus, es gebe in den Großstädten sowohl zu viele psychische Krankheiten und Schwächen als auch eine gefährliche Gleichgewichtsstörung zwischen Geburts- und Sterberaten“369.
Derartige Befürchtungen, die der amerikanische Historiker Andrew LEES beschreibt, hatte es bereits einige Jahre früher in England und Frankreich gegeben. Dort sprach man von Städtewachstum im Kontext von „Entartung“ und „Entvölkerung“370. In Deutschland waren Vertreter dieser Befunde Georg HANSEN und Otto AMMON. LEES nennt deren Thesen „propagandistische[r] Untergangsprophezeiungen großstadtfeindlicher Sozialbiologen“371. Sie lieferten die wichtigen Bestandteile in der antiurbanen Argumentation.372 Biologistische Auffassungen waren ein Ausdruck der Erschütterungen des Bürgertums nach dem Ersten Weltkrieg, die sich als weitverbreiteter Kulturpessimismus äußerten, und die nur wenige Jahrzehnte darauf dem Rassismus der Nationalsozialisten als eines der zentralen Argumente dienten. William MORRIS, Begründer der art and craft-Bewegung in England, schreibt 1883:
369 370 371 372
LEES, Andrew (1992), 140ff. Vgl. ebd., 144. Ebd. RÖSE befindet sich in der Tradition einer mit Otto AMMON und Georg HANSEN beginnenden sozialbiologischen Verstädterungstheorie, die „Siebung“ und „Auslese“ für die Stadt-LandUnterschiede verantwortlich machte. Vgl. BERGMANN, Klaus (1970), 50ff. Die Degeneration der Stadtbevölkerung, die gegenüber der Landbevölkerung „rassische Besonderheiten“ aufwies, führte AMMON zur Forderung, den Bauernstand zu erhalten, weil „ohne ihn die Ideale der Menschheit im Fabrikrauch ersticken; weil ohne ihn die umstürzlerischen Bestrebungen überhitzter Köpfe keinen Widerpart mehr finden und der Staat nicht fortbestehen kann; weil ohne ihn die Menschheit nicht körperlich und seelisch gesund bleibt und in der Verkommenheit dahinsiechen muß“ (AMMON, Otto: Die Bedeutung des Bauernstandes für den Staat und die Gesellschaft. Berlin, 1894; zit. nach BERGMANN, Klaus, 1970, 61). Die biologistische Verstädterungstheorie hatte nachhaltige Auswirkungen auf die nationalsozialistische Blutund-Boden-Ideologie, aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde deren Diktion in sozialanthropologischen Studien aufgegriffen: K. V. MÜLLER schreibt noch 1963: „Wir zeigten deutlich, daß [...] das Land in den Zeiten der Auffüllung unserer städtischen und industriellen Bezirke ausgelaugt, abgerahmt wurde, so daß es heute in der Begabungsgliederung seiner Kinder deutlich jener der Stadtbürtigen nachsteht“ (MÜLLER, K. V., 1963, 647). Der letzte Abschnitt seines Aufsatzes belegt, wie sehr MÜLLER allein schon sprachlich im Gedankenfeld biologistischer Überlegungen steht: „Mag es sich nun dabei auch um eine Mischung von Siebung (im wesentlich wohl Selbstauslese) und günstige Umweltbedingungen handeln: Diese Betrachtung zeigt, daß es keineswegs hoffnungslos ist, in unserer industriellen Gesellschaft soziale Bedingungen aufzufinden, die auf eine auslesegerechte, generative Gestaltung unseres Volkslebens hinwirken, und deren sorgfältiges Studium wertvolle Hinweise für eine auch in dieser Hinsicht Erfolg verheißende Bevölkerungspolitik geben kann.“ (MÜLLER, K. V., 1963, 652). Vgl. auch die anthropologische Untersuchung der Stadt-Land-Differenz bei WALTER, Hubert (1963).
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„Not only are London and our other great commercial cities mere masses of sordidness, filth, and squalor, embroidered with patches of pompous and vulgar hideousness, no less revolting to the eye and the mind.“373
Vor allem attackierte Julius LANGBEHN Berlin als „Sitz des Rationalismus“374. LANGBEHN war einer der populärsten und einflussreichsten Kulturkritiker des wilhelminischen Deutschlands.375 Für ihn war die größte deutsche Großstadt die „widerwärtigste Erscheinung“ der Moderne. LEES untersucht diese Formen von Argumentationen bzw. Affekten gegen die Stadt. Man ging damals davon aus, dass die Stadt der Provinz die geistig-intellektuellen Potenzen entziehe, das heißt Verlust von Menschen, die „befruchtend auf das ländliche und kleinstädtische Kulturleben hätten wirken können und die in den Großstädten durch die „Überfülle von Intelligenz“, die es den Einzelnen erschwere, „sich geltend zu machen“376. So habe die Großstadt bisher keinen „großen Mann“ hervorgebracht, sie sei allenfalls „Stätte seines Wirkens“377, nicht aber seines Werdens. LEES zitiert als Beispiel die Überzeugung eines Geistlichen, die Großstadt „untergrabe die Überwachung des Einzelnen“378 und fördere folglich „Selbstsucht, Verbrechen und andere Formen antisozialen Verhaltens, etwa Trunksucht und Prostitution“379. Außerdem sei der Großstädter durch psychische Isolierung gefährdet. Das Ende der Gemeinschaft führe zu Entfremdung, gegenseitiger Abneigung und Misstrauen. Dies alles seien Charakteristika urbanen Lebens. Schließlich entwickele sich beim Großstädter eine „besondere Vorliebe für extreme Anschauungen zumal in radikaler Richtung“380, befürchtet der deutschnationale Historiker Dietrich SCHÄFER im Jahr 1903.
373 374 375
376 377 378 379 380
Vortrag vom 7.11.1883 beim Russell Club der Universität College Hall, Oxford, erstmals veröffentlich 1884 in der Zeitung Today; zit. nach LEES, Andrew (1992), 144. LANGBEHN, Julius (1890), 117. Julius LANGBEHN (1851-1907), Schriftsteller und Kulturkritiker. 1890 erschien zunächst anonym sein Buch Rembrandt als Erzieher (LANGBEHN, Julius, 1890), ein antimoderner Bestseller. Innerhalb von zwei Jahren erfuhr das Buch 39 Auflagen und machte den Autor mit dem 30 Jahre später erschienenen Der Untergang des Abendlandes von Oswald SPENGLER zu einem der meistgelesenen Autoren im deutschen Bürgertum. 1900 konvertierte LANGBEHN zum Katholizismus und tat sich in der Kirche als Kämpfer gegen den Modernismus hervor. Der Herausgeber von Hochland, Karl MUTH, ein Freund und Verehrer LANGBEHNs, stellte ihm die Zeitschrift als Forum zur Verfügung. LANGBEHNs Thesen bewegen sich auf der Ebene kulturkritischer Stereotypen seiner Zeit. Vgl. RUSTER, Thomas (1994), 62f. Vgl. DÜLMEN, Richard van (1974), 255ff. Vgl. BOLLENBECK, Georg (1999), 84ff. LEES, Andrew (1992), 145. Ebd. Ebd. Ebd. SCHÄFER, Dietrich (1903), 258. SCHÄFER (1845-1929) war ein völkisch-antisemitischer und deutschnationaler Historiker. Die Nationalsozialisten reklamierten ihn als Vorläufer. Er hat durch sein Gutachten 1908 die Berufung von SIMMEL an die Universität Heidelberg verhindert. Vgl. hierzu LIEBESCHÜTZ, Hans (1970), 106ff.
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1927 veranstaltete die Fichte-Gesellschaft eine Tagung zum Thema Nationalerziehung. Dabei ging es auch um die Auseinandersetzung mit der großstädtischen Lebensweise:381 In einem Vortrag über die Charakterentwicklung des Großstädters stellt der ostpreußische Geograph Siegfried PASSARGE „primäre Fundamentalcharaktere“382 gegenüber, den Naturmenschen (Landbewohner) dem Kulturmenschen (Stadtbewohner). Landbewohner seien durch den Kampf mit den Naturgewalten mit einem „persönlichen Mut“ ausgestattet. Sie seien kräftig, gesund, willensstark und stolz, zeigten vornehme Gesinnung und ritterliches Ehrgefühl.383 Beim Naturmenschen stehe das Gefühlsleben im Vordergrund, er sei „wandelnde Religion“384. In der Stadt herrsche dagegen das „Verstandesleben“ vor. Der Städter brauche „Schlauheit, Gerissenheit, Geistesgegenwart, die Fähigkeit sich zu bücken und zu biegen, wenn ein Sturm kommt, jede Gelegenheit wahrzunehmen, seinen Vorteil zu erwischen“385. Landbewohner, die in die Stadt ziehen, verlieren, so PASSARGE, ihre primären Fundamentalcharaktere und erfahren eine Umwandlung („Sartoidisierung“386) zum Städter, für PASSARGE eine „Demoralisation“ und „Verfallserscheinung“387. Aus Stolz werde Hochmut, vornehme Gesinnung degeneriere zu Protzentum, ritterliches Ehrgefühl zu Eitelkeit.388 Im „Moloch“ Stadt „sterben die Familien aus“ und die „moralische Widerstandsfähigkeit“ gehe zugrunde: „Die Menschen sinken herab und sterben entweder überhaupt aus, oder gehen in das Proletariat über.“389 Für den körperlichen Verfall des Städters macht PASSARGE das Schulsystem verantwortlich: „Tag für Tag, so und so viele Stunden in der Schule sitzen zu müssen, bei völlig ungenügender Bewegung, muß den jugendlichen Körper ruinieren.“390 Neben dieser „einseitige[n] Züchtung auf das Gehirn“391 kommt es zu „nervösem Zerfall“, zu Neurasthenie, sexueller Perversion und Mystizismus.392 Okkultismus und Spiritismus träten an die Stelle einer aus dem Gleichgewicht geratenen Verbindung zwischen religiösem Gefühlsleben und wissenschaftlichem Verstandesleben.393 Da die Volksmasse aber ohne Religion nicht zu zügeln sei, „weil die Religion [...] die Grundlage für die Moral des Menschen“ ist, drohe am Ende dieser Verfallser-
381 382 383 384 385 386 387 388 389 390 391 392 393
Vgl. PASSARGE, Siegfried (o. J.) [1927]. Ebd., 31. Vgl. ebd. Ebd., 34. Ebd. Ebd. Ebd., 36. Vgl. ebd., 37. Ebd., 39. Ebd., 42. Ebd. Vgl. ebd., 44f. Vgl. ebd., 46.
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scheinung der Bolschewismus: „Bei uns wird es noch viel entsetzlicher werden als es in Rußland war“394, schreibt PASSARGE. In der zeitgenössischen Literatur häufen sich die Darstellungen von Nervenkrankheiten bzw. Neurasthenie als Begleiterscheinung großstädtischen Lebens. A. WERNICH beschreibt 1888 die „Mißstände des großstädtischen Gedrängtlebens: die nervenaufregende, gehirnsconsumirende Erwerbsconcurrenz, die Ursachen zu Herzüberanstrengung“395. Und Th. OEMCKE geht davon aus, dass „nicht wenige städtische Berufe [...] ausschließlich eine Ermüdung des Gehirnes und des Nervensystems [erzeugen]. Der Städter hat seinen Beruf meist in genau einzuhaltenden Arbeitszeiten oft in fliegender Hast oder mit spekulativer Tätigkeit verbunden, zu erledigen, während der Landmann seinem allerdings schweren Berufe großenteils mit mehr Gemächlichkeit nachgeht“396.
Der Großstadtliterat sei nervös, mehr „schriftstellend als dichtend“397, so schreibt der Jesuit und Publizist Friedrich MUCKERMANN 1927. Für den Mediziner Albert EULENBURG ist die Großstadtbevölkerung den Bewohnern kleinerer Städte zwar intellektuell überlegen, ausgestattet „mit ganz andern Weltund Lebensanschauungen, mit viel weiteren Horizonten, weiter gesteckten Zwecken und Zielen und vor allem mit weiter reichenden Mitteln zu ihrer erfolgreichen Durchführung“398, gleichzeitig sei sie nervenschädigenden Einflüssen ausgesetzt.399 In seinem Aufsatz von 1902 nennt er Faktoren der „Großstadtschädigungen“400: die „dem Großstadtleben eigene ungeheuerliche Konzentration, durch die mit gesteigerter Annäherung und Dichtigkeit nicht mehr in arithmetischer, sondern in geometrischer Progression wachsende Zahl und Menge gegenseitiger Berührungen“401 besonders im zunehmenden Verkehr der Großstädte, das beschleunigte Arbeitstempo und die Gefährdung durch Alkoholismus und Prostitution.402 Warnend fügt er hinzu: „Die Motte wird sich immer am Licht verbrennen – und der auf Genuß Erpichte an den ‚Freuden der Großstadt‘, die ihm nur zu oft zu recht bitteren Leidensursprüngen werden.“403 Räumliche Beweglichkeit sei charakteristisch für den Großstädter, schreibt der Nervenarzt Friedrich KÜNKEL im Jahr 1927. Dies habe durchaus Auswirkungen auf seine Psyche: „Er hat ein ständig wechselndes Publikum und darf
394 395 396 397 398 399 400 401 402 403
Ebd., 48. WERNICH, A. (1888), 397. OEHMCKE, Th. (1904), 261. Vgl. MUCKERMANN, Friedrich (o. J.) [1927], 10. EULENBURG, Albert (1902), 371. Vgl. ebd., 372. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., 443. Ebd.
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es wagen, immer wieder dieselben Bluffs und dieselben Masken anzuwenden.“404 Erste Selbstmordstatistiken mit auffallend zunehmenden Zahlen unterstreichen den Befund. So registriert MEYER in den Jahren der Hochindustrialisierung: „Bei beiden Geschlechtern hat in den letzten Jahren die Zahl der Selbstmorde zugenommen. Erhängen und Ertrinken bilden noch, neben Erschießen und Vergiftung durch Kohlenoxydgas, die beliebtesten Todesmittel.“405 Neben krankmachenden psychischen Einflüssen des Großstadtlebens auf den Menschen verweisen die Großstadtkritiker auf die generelle Schädigung der Gesundheit durch die städtische Lebensweise. Die ostdeutsche Monatsschrift für Volkstum und Kunst, Der KYNAST, schreibt um die Jahrhundertwende: „Wer also in einer Großstadt und zugleich einer Industriestadt lebt, büßt unzweifelhaft eine ganze Reihe von günstigen Lebensbedingungen ein: die Reinheit der Luft, die frischbewegte Luft und viele sonnenhelle Tage.“406 In den geschlossenen Raum der Stadt kann der Wind nur abgeschwächt eindringen, die Stadtluft ist staubhaltig und es fehlen „riechende Stoffe in feinster Verteilung“407, die im Wald oder den Bergen die „Lust zum Atmen heben“408. Hohe Häuser und enge Straßenführungen „entziehen hier dem Bewohner sehr häufig die ihm nöthige Menge des Tageslichtes, und sitzende, in Bureau, Läden, Kellern und Fabrikräumen sich abspielende Berufsthätigkeit verhindert auch, außerhalb der Wohnung das Licht zu suchen und zu genießen, wie es dem Landbewohner schon in Folge seiner vielfachen Beschäftigung im Freien in reicherem Maaße zu Theil wird“409.
Die Unreinheit der Straßen, „Staub und Ausdünstungen von sich zersetzenden Stoffen sowie endlich der Rauch der Wohnhäuser und Fabriken“410, werden als Hauptursache für das Fehlen von Ozon in der Wohnungsluft angesehen.411 Der graue Himmel, vermehrter Nebel und weniger Sonnenschein machen die ungünstigen Verhältnisse in der Stadt gegenüber dem Land deutlich.412 Der Lichtverlust kann in der Stadt viermal so groß sein als auf dem Land und selbst das Licht des Vollmonds ist zu zwei Fünftel herabgesetzt, wie der Bakteriologe und ehemalige Mitarbeiter Robert KOCHs, Ferdinand HUEPPE, im Jahr 1905 schreibt.413 Die Abschwächung des Sonnenlichts durch die Staubbil404 405 406 407 408 409 410 411 412 413
KÜNKEL, Friedrich (o. J.) [1927], 50. MEYER, Moritz (1879), 307. SCHÄDIGUNG (1899), 240. Hervorhebung im Original. Ebd., 239. Ebd. NODER, A. (1902), 258. HYGIENE (1886), 50. Vgl. ebd. Vgl. SCHÄDIGUNG (1899), 239. Vgl. HUEPPE, Ferdinand (1905), 719.
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dung in den Wintermonaten wirke „auf den Menschen physisch ganz außerordentlich deprimierend“414. NODER formuliert im Jahr 1902 wie zusammenfassend die negativen gesundheitlichen Auswirkungen eines Lebens in der Stadt, „was zurückzuführen ist auf die Dichtigkeit der Bevölkerung, die Luft- und Bodenverunreinigung, die Gefahren des Verkehrs und die grössere und schnellere Verbreitungsfähigkeit ansteckender Krankheiten, sowie auf die socialen Verschiedenheiten beider Vergleichsobjekte“415.
3.4.5 Zur Entwicklung des Hygienegedankens Der funktionale Städtebau war, so Heide BERNDT, „entscheidend von der Hygienevorstellung des 19. Jahrhunderts bestimmt“416. Die Entwicklung des Hygienegedankens zeichnet REULECKE in mehreren Stufen nach:417 Auf einer ersten Stufe wurde die Hygienethematik durch bürgerliche Sozialreformer publik gemacht: „Es ging darum, die insgesamt von den wuchernden Unterschichten ausgehenden politischen Bedrohungen durch gezielte Maßnahmen zu deren ‚Hebung‘ zu entschärfen und zugleich ein gesundes und leistungsfähiges Arbeitskräftepotential zu erhalten.“418 So sollten vermeidbare volkswirtschaftliche Schäden erkannt und beseitigt werden: „Nicht philanthropische Rücksichten verschafften den Hygienikern politisch Gehör, sondern statistisch belegbare Nachweise über vermeidbare Verluste an Menschenleben oder Arbeitskräften.“419 Als Begründer der wissenschaftlichen Hygiene in Deutschland gilt Max von PETTENKOFER (1818-1901), der in seinen seit 1854 vorgenommenen Untersuchungen über die Cholera420 die Bedeutung einer ausreichenden Belüftung der Wohnungen thematisierte.421 Zwar wurde seine These von der Bodenluft, die Krankheitskeime in die Häuser und Wohnungen tragen würde, durch die Entdeckung der Choleravibrionen 1884 durch Robert KOCH widerlegt,422 Untersuchungen über die Beschaffenheit von Luft und Wasser und die Bedeutung des natürlichen Sonnenlichts beschäftigten aber weiterhin den wissenschaftlichen Diskurs.423 Eine zweite Stufe in der Phase der Frühindustrialisierung war von der steigenden Steuerung der Hygienepolitik vor allem durch die Kommunalverwal414 415 416 417 418 419 420 421 422 423
Ebd. NODER, A. (1902), 292. BERNDT, Heide (1987), 140. Vgl. REULECKE, Jürgen (1990). Ebd., 15. BERNDT, Heide (1987), 143. Vgl. OLFERS, U. B. von (1909), 67. Vgl. RODENSTEIN, Marianne (1992), 154. Vgl. BERNDT, Heide (1987), 145. Vgl. NODER, A. (1902).
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tungen geprägt.424 Das Auftreten mehrerer Cholera- und Typhusepidemien forderte zahlreiche Menschenleben. Allein in Preußen starben zwischen 1831 und 1873 fast 380.000 Menschen.425 Dabei war die Bevölkerung großer Städte besonders betroffen.426 Dem entgegenwirken sollte die Städtetechnik ab Mitte des 19. Jahrhunderts.427 Neben einem Ausbau der Kanalisationsanlagen setzte sich Ende der 1860er Jahre die Erkenntnis durch, „daß auch die Wasserversorgung ein der Kanalisation gleichwertiger Aufgabenbereich der Stadthygiene war und in besonderem Maße Einfluß auf die Zurückdrängung der Typhussterblichkeit hatte“428. Wasserwerke wurden in städtische Regie übernommen. Als Berliner Stadtverordneter setzte sich Rudolf VIRCHOW für die Schaffung eines Kanalisationssystems in Berlin ein. Seine Empfehlungen auch hinsichtlich einer Ableitung der Abwässer auf Rieselfelder – statt in die Spree – wurden ab 1874 von der Stadtverwaltung akzeptiert.429 Neben dem Aufbau der kommunalen Leistungsverwaltung seit den 1870er Jahren mit ihrem Wandel zur modernen Sozialhilfe, der Arbeitslosenversicherung und dem Ausbau des Schulwesens, die als Errungenschaften der größer werdenden Städte gelten können,430 führte die allgemeine Verbesserung hygienischer Verhältnisse um die Jahrhundertwende zu einem Sinken der Infektionskrankheiten und einer Abnahme der Kindersterblichkeit.431 Nach der Jahrhundertwende „verlagerten sich die eigentlichen Gesundheitsgefährdungen tendenziell von den Infektionskrankheiten auf die Zivilisationskrankheiten, d. h. auf Herz- und Kreislauf-, Krebs- und Nervenerkrankungen“432. In der Frühindustrialisierung war die allgemeine Mortalitätsziffer in den Städten Preußens höher als in den ländlichen Regionen.433 Besonders in den Sommermonaten kam es in den Großstädten zu erhöhter Sterblichkeit. NODER schreibt: „Die höchste Sterblichkeit fällt also in der Großstadt auf den Sommer, wo die städtischen Wohnungen und Strassen nicht mehr erwärmt, wo die Ventilation der bewohnten Räume und Gebiete nicht mehr genügend vorgenommen werden kann, wo gastrische und Infectionskrankheiten durch Zersetzungsvorgänge in 424 425 426 427 428 429 430
431 432 433
Vgl. CASTELL RÜDENHAUSEN, Adelheid Gräfin zu; REULECKE, Jürgen (1990), 62. Vgl. WITZLER, Beate (1995), 34. Vgl. ebd., 44. Vgl. CASTELL RÜDENHAUSEN, Adelheid Gräfin zu; REULECKE, Jürgen (1990), 62. REULECKE, Jürgen (1990), 20. Vgl. BERNDT, Heide (1987), 144. Vgl. TEUTEBERG, Hans Jürgen (1991), 72ff. Für die Stadt Berlin z. B. bedeutete der Ausbau von Gas-, Wasser- und Kanalisationsanlagen eine „nicht unbeträchtliche Schuldenlast“ (LOENING, E., 1892, 128). Zu den Finanzverhältnissen europäischer Großstädte zwischen 1877 und 1886 vgl. EHEBERG, K. Th. (1892). Zum Aufbau der Leistungsverwaltung Berlins vgl. THIENEL, Ingrid (1977), 71ff. Vgl. WITZLER, Beate (1995), 38. Die großen Epidemien wurden gar als „Polizei der Natur“ (OLFERS, U. B. von, 1909, 67) bezeichnet. WITZLER, Beate (1995), 38. NODER, A. (1902), 280f.
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den Nahrungsmitteln und im Boden leichter auftreten und wo überhaupt die Widerstandskraft der städtischen Bevölkerung gegen Krankheiten noch in höherem Grade als sonst verringert ist.“434
In der Zeit zwischen 1875 und 1920 zeigte die Mortalitätsziffer in den Städten des Deutschen Reichs eine fallende Tendenz und war gegenüber dem Land nur leicht erhöht. SIMON betont, dass „die Sterblichkeit zwischen Stadt und Land, getrennt nach Regierungsbezirken, die ganze Berichtzeit hindurch nicht sehr verschieden war“435. Zwischen 1891 und 1914 war die Sterblichkeit auf dem Land sogar etwas höher als in der Stadt. Nach dem Ersten Weltkrieg war sie in den Städten, „wo die Bevölkerung stärker unter den Lasten der Zeitverhältnisse zu leiden hatte“436, wieder erhöht, wie SIMON schreibt. Je größer die Stadt, desto niedriger war in der Phase der Hochindustrialisierung die Sterblichkeit. SIMON führte das auf die bessere medizinische Versorgung zurück.437 Dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland einsetzenden Geburtenrückgang folgt die Suche nach den Ursachen. Es herrschte die Sorge vor dem „Schwinden der Volkskraft“438. Arthur DIX, der die räumliche Erweiterung durch Kolonien rechtfertigt, schreibt in einem Artikel: „Ohne Bevölkerungsvermehrung keine Weltmachtpolitik.“439 Nachdem sich die These des englischen Sozialphilosophen MALTHUS440 von der „Unausweichlichkeit der Überbevölkerungstendenz“441 durch eine Überwindung der Überbevölkerungskrise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr halten ließ, entwickelten sich biologisch-physiologische Theorien, die eine unterschiedli434
435 436 437 438 439 440 441
Ebd., 287. Der Statistiker Georg v. MAYR weist allerdings darauf hin, dass die absoluten Sterbeziffern für einen Stadt-Land-Vergleich unzureichend sind. Erst eine Differenzierung nach Altersklassen macht deutlich, dass die Sterbegefahr für Erwachsene bis zum sechzigsten Lebensjahr in den Großstädten erhöht ist, wogegen über Sechzigjährige überwiegend außerhalb der Großstädte leben. Die erhöhte Sterbeziffer dieser Altersklasse außerhalb der Großstädte relativiert die Gesamtstatistik zugunsten der Großstädte. Andererseits verweist sie auf den Zuzug eher jüngerer Altersklassen in die Großstädte. Vgl. MAYR, Georg v. (1903), 132ff. Zur höheren Geburtenziffer und Sterbeziffer der Berliner Arbeiter im Vergleich zur bürgerlichen Bevölkerung vgl. STERBLICHKEIT (1898). Dass die Sterblichkeit unter den ledigen Großstadtbewohnern im Vergleich zu den verheirateten erhöht ist, weist eine Studie von 1898 nach: Demnach habe ein geregeltes Familienleben einen positiven Einfluss auf die Lebenserwartung, im Gegensatz zum unregelmäßigen Leben des Junggesellen: „Hierher gehört vor allem die nach der Erfahrung der Gothaer Lebensversicherungsbank vorhandene größere Sterblichkeit der katholischen Geistlichen im Verhältnis zu den evangelischen, die nicht durch die Eigentümlichkeit der Berufsthätigkeit, sondern durch Lebensgewohnheiten, die mit dem Cölibat zusammenhängen, bedingt sind.“ (STERBLICHKEIT, 1898b, 775). Zur Sterblichkeit in den preußischen Bergbaubezirken vgl. STERBLICHKEIT (1898c). Zum Verhältnis von Mortalität und Natalität in Amsterdam vgl. KOHLBRUGGE, J. H. F. (1909), 636ff. SIMON (1924), 23. Ebd., 9. Vgl. ebd., 17. LÖSUNG (1899), 36. DIX, Arthur (1899), 239. Vgl. WINKLER, Helmut (1996). MARSCHALCK Peter (1984), 57. Zum Folgenden vgl. ebd., 57ff.
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che Fruchtbarkeitsziffer verschiedener Schichten mit einer Degeneration der europäischen Bevölkerung und hier besonders der Bevölkerung der Großstädte in Verbindung brachten. Von einer „entschiedenen Ueberlegenheit des Landes in biologischer Hinsicht“442 wurde beispielsweise auf dem 14. internationalen Kongress für Hygiene und Demographie in Berlin (September 1907) gesprochen. Diskutiert wurde in diesen Jahren, ob eine verbesserte Hygiene nicht den „natürlichen Ausleseprozess“ verhindern und zur „Entartung“443 des gesamten Volkes führen würde. Wurde auf der einen Seite die Steigerung des allgemeinen Wohlstands zur Erklärung des Geburtenrückgangs herangezogen, war es auf der anderen Seite ganz sicher ein Problem der Armut, da auch untere Schichten davon betroffen waren. Auch mit dem Verlust traditioneller Werte wie dem Funktionsverlust der Familie zugunsten materialistischer und liberaler Anschauungen wurde argumentiert.444 Die Großstadt könne sich selbst nicht regenerieren, sie sei auf ständigen Zufluss vom Land abhängig, was wiederum zur „‚Verblutung‘ des platten Landes durch Abwanderung in die Städte“445 führe, so OPPENHEIMER. Wegen der ungesunden städtischen Lebensverhältnisse komme es zu einem Begabungsschwund. Zum Ausgleich zögen die begabtesten Landbewohner in die Städte, um schließlich dort selbst zu entarten. Nach wie vor wird die erhöhte Selbstmordrate in den Städten als Beleg angeführt.446 Auf Dauer degeneriere das gesamte Volk. In einer Abhandlung über das Verhältnis von Militärtauglichkeit und Beruf, 1905 unter dem Titel Die Großstadt als Grab der Bevölkerung erschienen, bemerkt Carl RÖSE: „Schon mancher Agrarier hat von der körperlichen Entartung der Industriebevölkerung gesprochen und meinte damit die Stadtbevölkerung. Und umgekehrt spricht mancher von den kräftigen Fäusten der Industriearbeiter und meint damit die Landbevölkerung des gröberen Handwerks und Bauerngewerbes. Außer den Schädigungen des Berufs spielen in der Stadt noch verschiedene andere schädliche Ursachen eine große Rolle, vor allen Dingen der größere Alkoholgenuß, schlechte Zähne, überfeinerte Lebensweise u. s. w. Ferner haben die meisten deutschen Großstädte ein viel kalkärmeres Trinkwasser als das umgebende Land, und auch die ganze sonstige Ernährungsweise der Stadtbevölkerung steht deutlich unter dem Zeichen des Kalkmangels. In den großen Städten leidet schon die Jugend unter dem Stubenluftelend. Schließlich dürfen auch die frühzeitigen Ausschweifungen der städtischen Bevölkerung nicht außer acht gelassen werden.“447
RÖSE spricht von „körperlicher Entartung der städtischen Bevölkerung“448 und beschreibt den städtischen Rekruten als „lange, dürre Hopfenstange, mit hän442 443 444 445 446 447 448
BALLOD, C. (1908), 1070. DRIESMANS, H. (1904), 354. Vgl. MARSCHALCK Peter (1984), 58. OPPENHEIMER, Franz (1899), 565. Vgl. KALKSCHMIDT, Eugen (1904), 88. RÖSE (1905), 259. Ebd.
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genden Schultern und eingefallener Brust“449. Die Ansprüche ans Leben würden bei den Nachkommen der vom Land in die Stadt Gezogenen steigen, die körperliche und geistige Spannkraft aber sinken. Die Folge davon seien Kindermangel und schließlich ein „Aussterben der städtischen Bevölkerung vorwiegend in den Großstädten“450. Die „Kreuzzüge nach den großen Städten“451 seien „Raubbau an der geistigen und körperlichen Kraft der Landbevölkerung“452, denn die großen Städte entzögen „der Landbevölkerung gerade ihre besten Köpfe auf Nimmerwiedersehen“453. RÖSE lässt einen Landschullehrer zu Wort kommen: „Nur die dummen Familien bleiben auf dem Lande zurück, alle gescheiten ziehen in die Städte.“454 Dort jedoch komme es zu Vereinzelung, Vermassung und Versachlichung der Beziehungen.
3.4.6 Großstadt erzeugt Vermassung und Entwurzelung 1844 klagt der Staatswissenschaftler und Nationalökonom Johann Friedrich EISELEN (1785-1865): „In der That aber glauben wir, daß die großen Städte als die vorzüglichsten Erzeugerinnen und Pflegerinnen der Unsittlichkeit betrachtet werden müssen.“455 Seine Ansicht stützt er u. a. auf die erhöhte Zahl unehelicher Geburten in Paris, Wien und Berlin.456 Friedrich ENGELS beschreibt 1845 mit Blick auf die Metropole London die „Auflösung der Menschheit in Monaden, deren jede ein apartes Lebensprinzip und einen aparten Zweck hat, die Welt der Atome ist hier auf die höchste Spitze getrieben“457. Die Trennung von den gewachsenen ländlichen Bindungen an die Familie, die Nachbarschaft und das Dorf führe bei den in die Großstädte ziehenden Menschen zu Entwurzelung und Einsamkeit. In der Großstadt gebe es keine echten Bindungen: „Man kann nirgends so einsam, so von aller Welt unbeachtet leben als in einer Großstadt“458, schreibt Ernst BARTH Ende des 19. Jahrhunderts im Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik. Er schreibt: „Die Gefahren der Großstadt liegen [...] in der Beziehungslosigkeit der Einwohner zueinander. Ein charakteristisches Bild hierzu liefert der großstädtische Villenbesitzer. Mitten im Geräusch der Stadt, noch lieber an der Peripherie derselben, hat er sich durch eiserne Stakete und hohe Gartenmauern von der Außenwelt abgeschlossen. Er ist ja nicht ohne Beziehung, aber diese sind in der Regel 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458
Ebd. Ebd., 251. Ebd., 260. Ebd. Ebd. Ebd. EISELEN, Johann Friedrich (1844), 427. Vgl. ebd., 433. ENGELS, Friedrich (1972), 90. BARTH, Ernst (1894), 253.
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auf einen kleinen festbestimmten Kreis beschränkt. Was über denselben hinausreicht, kommt nur über das Lokalblatt an ihn heran. Aber auch der minderbemittelte Großstädter hat die Neigung, sich abzuschließen. Er liebt Mietlogis ohne ‚Saalnachbarn‘. Man will sich eben um andere Nachbarn nicht kümmern und wehrt so viel als möglich jeden Verkehr, selbst mit seinen Hausgenossen ab. So kommt mitten unter einer nach Hunderttausenden zählenden Bevölkerung der ausgeprägteste Individualismus zum Vorschein, das gerade Gegenteil von dem, was die christliche Religion fordert: ein vom Heiligen Geiste durchdrungenes Gemeinschaftsleben.“459
Die niederen Bevölkerungsschichten sind nach BARTH sich selbst überlassen, außer Steuerboten und Gerichtsvollzieher komme niemand mehr zu ihnen.460 Die „Kirchenglocken rufen zur Andacht, zum Gebet, aber es kommt niemand, weil niemand vorher zu ihnen gekommen ist“461. Gustav SCHMOLLER schreibt am Ende des 19. Jahrhunderts über die Sittenlosigkeit, die Nivellierung und den Verlust der Nachbarschaft: „Diese sittigenden Einflüsse treten in den großen Städten aber und bei einer fortwährend fluktuierenden Bevölkerung ganz zurück. Wer kennt sich in der großen Stadt noch, auf was nimmt man da noch Rücksicht. Durch was kann man sich in dem Strudel der Großstädte noch auszeichnen, als durch äußeren Glanz, durch augenfälligen Luxus. Mit dem Tanz um das goldene Kalb, mit der Vergötterung des äußeren Erfolgs an der Börse, mit der Anerkennung jedes, gleichviel auf welche Weise gewonnenen Reichtums muß die Achtung vor wahrer Tugend und Würde sinken, müssen die innersten Motive, die die ganze Gesellschaft leiten, andere werden. In den untersten Klassen zeigt sich dies Verschwinden des kontrollierenden Nachbarverbandes in dem massenhaften Verbrecher- und Rowdytum, in der Zügellosigkeit und Rohheit der Arbeiter, die zunimmt trotz aller Bemühungen, welche man gerade in den großen Städten macht, sie zu heben, zu bessern, zu belehren. Wenn in Berlin über 100.000 Arbeiter jährlich einwandern, gegen 100.000 aber auch jährlich wieder wegziehen, so giebt das eine Vorstellung von der Beweglichkeit der heutigen Arbeiterklasse.“462
1927 schreibt Friedrich KÜNKEL, dass der Großstädter von niemandem abhängig sei, „infolgedessen kann er sich auf niemanden verlassen“463. Mit Auflösung der ständischen Gesellschaftsordnung komme es zu einer Divergenz zwischen einer konformen Masse der Arbeiterschaft und dem reichen Unternehmertum. „Wahrhaft menschliche Beziehungen zu Leuten seinesgleichen, die ihm in schwierigen Momenten beistehen würden, oder zu Höherstehenden, die sittigend auf ihn einwirken, – wie der Arbeiter solche auf dem Lande oder in der Kleinstadt unter seinen Nachbarn besessen hat, – fallen fort“464, schreibt 459 460 461 462 463 464
Ebd., 254. Vgl. ebd. Ebd., 254. SCHMOLLER, Gustav (1890a), 31f. KÜNKEL, Friedrich (o. J.) [1927], 51. OERTZEN, Friedrich von (1891), 854.
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OERTZEN. Im Gegensatz zum „bodenständigen“ Menschen sind die Kennzeichen des Großstädters „Unverantwortlichkeit und Verlassenheit“465. Er sei nicht in die Volksgemeinschaft eingebettet, sondern als „Personalatom“466 isoliert. Selbst die Mutterliebe folge egozentrischen Privatinteressen: „Sie liebkost ihr Kind, um ihren eigenen Stolz, ihr eigenes Zärtlichkeitsbedürfnis zu befriedigen.“467 Vereinzelte Individuen, die nicht in einen sinnvollen Arbeitsprozess integriert seien und an den Maschinen geistlose Arbeit verrichteten, degenerierten zur manipulierbaren Masse, die der Propaganda ausgeliefert seien.468 Der „Industrie- und Handelsstaat zerreibt“, so fasst FRANCKE 1897 die vielen zeitgenössischen Auffassungen zusammen, „sozial tragfähige Schichten der Gesellschaft und er beeinträchtigt die Volksgesundheit und damit die Wehrhaftigkeit der Nation [...]. Der Mittelstand gehe zugrunde; auf der einen Seite ein Anwachsen der Riesenvermögen, auf der anderen Seite ein unruhiges, unzufriedenes Proletariat in breiten, dunklen Massen, so wird geklagt“469.
Der an eigennützigen Zwecken orientierte Großstädter pflegt sachliche und unpersönliche Beziehungen. Sie sind segmentiert und dienen den eigenen Zwecken. „Isolierte, heimatlose, friedlose Proletarier“470 erliegen den „Versuchungen zu Trunk und Liederlichkeit“471. Ein geordnetes Familienleben ist durch die desolate Wohnsituation kaum möglich, so die Konservative Monatsschrift im Jahr 1891. In den großstädtischen Massengemeinden gehe zusehends der „Zusammenhang mit der Kirche und ihren Organen“472 verloren. 1928 schreibt Karl von MANGOLDT, dass die Großstadt „der Platz der ausgeprägten Verstandesherrschaft und einer auf die Spitze getriebenen persönlichen Freiheit und Unabhängigkeit ist. Das Übermaß in dieser 465 466 467
468
469
470 471 472
KÜNKEL, Friedrich (o. J.) [1927], 51. Ebd., 59. Ebd., 53. Die sogenannte Affenliebe ist dagegen für den Ökonomen Julius WOLF eher Kennzeichen für weite Teile der Landbevölkerung, die ihre Kinder über Maßen verwöhnen, „ihnen ‚jeglichen Willen lässt‘, ihre ‚Unarten entschuldigt‘, sie nicht selten zu ‚Götzen‘ macht“ (WOLF, Julius, 1898a, 722). Vgl. auch WOLF, Julius (1898). Zur Entwicklung des soziologischen Begriffs der Masse vgl. DE MAN, Hendrik (1951), 41ff. DE MAN unterscheidet Masse von Vermassung: Kennzeichen der Masse ist „der Mangel an individueller Differenzierung, an Initiative, Originalität und Bewußtsein“ (ebd., 46). Da ein entscheidendes Merkmal der Masse „reaktives Verhalten“ (ebd., 47) ist, lässt sie sich leicht beeinflussen. Vermassung ist dann „ein Zustand, in dem das gesellschaftliche und historische Geschehen vom Verhalten der Massen bestimmt ist“ (ebd., 46). FRANCKE, E. (1897), 222. Er selbst entkräftet aber diese negative Kritik an der Industrialisierung: Auf die Gesamtbevölkerung gesehen bilden die Massen „das unerschöpfliche Reservoir, aus dem ständig die oberen Klassen aufgefrischt werden“ (ebd., 222). Es gibt so etwas wie die „Elite des Vierten Standes“ (ebd.), schreibt er. OERTZEN, Friedrich von (1891), 854. Ebd. Ebd.
DAS WERDEN DER GROSSSTADT
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Richtung führt aber zur Gemüts- und Herzenskälte und zu Zügellosigkeit und sittlichem Verfall und wirkt volkszerstörend“473.
Die Großstadtbewohner neigen zu Egoismus, „stumpfen ab“474. MANGOLDT spricht in diesem Zusammenhang von „Unterernährung des Großstadtmenschen“475. Dass die soziale Kontrolle im dörflichen oder kleinstädtischen Kontext erheblich höher ist als im großstädtischen Lebenszusammenhang, formuliert OEHMCKE: „Das Verhältnis der Menschen zur äußeren Sitte und auch zur Sittlichkeit wird merklich durch den Umstand beeinflußt werden, daß die Bewohner auf dem Lande und in kleinen Städten in geschlossenen Kreisen von geringem Umfange leben, innerhalb deren einer den anderen genau kennt und einer sich von dem Urteil und Beifall des anderen auf Schritt und Tritt bestimmen läßt, während dieser Umstand bei den Großstadtbewohnern viel mehr zurücktritt, die sich meist leicht der Beobachtung und der Beeinflussung durch ihre Nachbarn usw. entziehen können.“476
473 474 475
476
MANGOLDT, Karl v. (1928), 51. Ebd., 23. Ebd., 22. In der gleichen Abhandlung kommt von MANGOLDT allerdings zu deutlichen Reformvorschlägen und einem ausgewogenen Großstadtbild: „Für das Gemeinwohl hat die Großstadt sowohl Gutes wie Schlechtes, und was den Einzelnen angeht, so wird es doch in hohem Grade darauf ankommen, wie dieser letztere selber ist.“ (MANGOLDT, Karl v., 1928, 28). OEHMCKE, Th. (1904), 263.
4 DIE GROSSSTADT ZWISCHEN LABORATORIUM DER MODERNE UND SÜNDENBABEL
4.1 Georg SIMMEL und das Geistesleben der Großstädte In welchen Formen treten die Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen der Urbanität im Alltag auf? Von wem werden sie beschrieben, eingeordnet und bewertet? Auf diese Fragen hat als erster Georg SIMMEL Antworten gegeben. SIMMELs im Rückblick legendärer Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben1 erschien im Rahmen der ersten deutschen Städte-Ausstellung zu Dresden 1903. Der Text wird über den deutschsprachigen Raum hinaus als erste analytisch-begriffliche Auseinandersetzung mit den neuen urbanen Lebensformen angesehen und gilt heute als Grundlage einer systematisch verfahrenden „stadtsoziologischen Theoriebildung“2. Das unterscheidet ihn von den zeitgenössischen kulturpessimistischen Positionen der konservativen Stadtkritik, die den Untergang des Persönlichen, den Verlust der Seele in der Massenkultur der Großstadt beklagen. In diesem stark ideologisierten Umfeld hat SIMMEL erstmals einen distanzierten Blick auf die Großstadt als neuer sozialer Tatsache gerichtet und so zu einer „Theorie der Urbanität“3 beigetragen. „Für Simmel führt die Großstadtbildung nicht zum Untergang der Zivilisation, sondern zu deren Weiterentwicklung“4, formulieren die Stadtsoziologen HÄUSSERMANN und SIEBEL. Der Essay ist aber nicht nur Schlüsseltext der Stadtsoziologie, er ist immer wieder auch als ein erster Entwurf zu einer „allgemeinen Soziologie der Moderne“5 begriffen worden. Für SIMMEL ist die Großstadt der Schauplatz der Moderne schlechthin. Deren Lebensform ist das urbane Leben: „Seine Theorie der Moderne ist vom Bild der Großstadt nicht zu trennen. Die Signa der Großstadt sind bei ihm die Signa der Moderne.“6
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3 4 5 6
SIMMEL, Georg (1903). HÄUSSERMANN, Harmut; SIEBEL, Walter (2004), 35. Louis WIRTH, einer der Begründer der Chicago School of Sociology, erkennt die Bedeutung bereits 1925 und nennt den Essay „the most important single article on the city from the sociological standpoint“ (WIRTH, Louis, 1925, 219). Vgl. hierzu den Sammelband MIEG, Harald A. [Hrsg.] (2011). HÄUSSERMANN, Harmut; SIEBEL, Walter (2004), 37. Ebd., 36. LINDNER, Rolf (2004), 175. BECKER, Sabina (1993), 41.
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DIE GROSSSTADT ZWISCHEN LABORATORIUM UND SÜNDENBABEL
Existiert in der Kleinstadt nur ein spärlicher Tauschverkehr, sind die Großstädte nun „Sitze der Geldwirtschaft“7. Das Geld ist zum „Generalnenner aller Werte“8 avanciert. Das Geld ist bei SIMMEL, wie David FRISBY formuliert, die „Spinne, die das gesellschaftliche Netz webt“9. Dieser „fürchterlichste Nivellierer [...] höhlt den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus“10, schreibt SIMMEL. Nach RAMMSTEDT ist er der erste, „der die soziale Bedingtheit des Wertes des Geldes betont hat“11. Zygmunt BAUMAN sieht bei SIMMEL möglicherweise eine besondere Disposition, die ihn für Phänomene von Urbanität und Moderne sensibilisiert haben könnte: „Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war es evident geworden, daß das Vorrücken der Juden innerhalb des bestehenden deutschen Gemeinwesens seine Grenzen hatte und daß ökonomische und erzieherische Fortschritte von einzelnen nicht schon an sich politische Gleichheit, soziale Anerkennung und Freiheit von Vorurteil und Diskriminierung garantierten.“12
Durch die „historische Rolle des Assimilationskontexts“ – nach BAUMAN ist Assimilation eine spezifische Sozialtechnik der Moderne13 – sei Deutschland in diesen Jahren für Juden eine gute „Plattform“ gewesen, „von der aus der tiefste Einblick in die moderne condition humaine gewonnen werden könnte: als jene soziale Lage, innerhalb deren das Problem, das später universal, durch das Ganze der modernen Gesellschaft hindurch, erfahren werden sollte, zuerst an einer ausgewählten Minorität durchexerziert wurde und sie dabei zu intensiver Selbstreflexion und Analyse zwang“14.
Ihre Außenseiterrolle habe „die Empfindlichsten“ unter ihnen befähigt, „Geheimnisse und Mysterien der gesellschaftlichen Existenz zu durchschauen, die den unbetroffenen und ungestörten ‚Einheimischen‘ unsichtbar“15 hätten bleiben müssen.16 „Eine solche Belastung – eine solche Chance – muß dort, wo die Umstände eine sonst unerreichte Komplexität bekommen, ungewöhnlich
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SIMMEL, Georg (1995), 118. Ebd., 12. Zur Werttheorie bei SIMMEL vgl. CAVALLI, Alessandro (1993). FRISBY, David (1984), 51. SIMMEL, Georg (1995), 122. RAMMSTEDT, Otthein (1993), 15. BAUMAN, Zygmunt (2005), 234f. BAUMAN weist darauf hin, dass 1893 so gut wie kein nichtgetaufter Jude mehr auf den Bänken der deutschen bürgerlichen und konservativen Parteien im Reichstag gesessen habe. Vgl. ebd., 235. Vgl. ebd., 226ff. Ebd., 239. Hervorhebung im Original. Ebd. Zu den Außenseiterrollen in der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft als Leitfiguren der Grenzüberschreitung vgl. MAYER, Hans (1975). Das Buch ist 2007 anlässlich des 100. Geburtstags von MAYER neu aufgelegt worden.
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tief gewesen sein.“17 Hier, vermutet BAUMAN, könnte der Grund liegen für den „spektakulären jüdischen Durchbruch in die moderne Kultur“18. So hätte eine bestimmte Generation „gerade assimilierter bzw. sich assimilierender Juden“19 sich zu besonders luziden Spezialisten der Ambivalenz in einer Welt im Umbruch entwickeln können.20 BAUMAN sieht hier auch den Grund gegen die Berufung von SIMMEL an die Universität. Man hielt „Simmels Bindung an die Soziologie: die Ansicht, daß die Gesellschaft statt Staat und Kirche die Hauptformungskraft der menschlichen Gemeinschaft sei“, für SIMMELs „jüdischsten Zug“21. BAUMAN fährt fort: „Wenn man Simmels reiches Schrifttum mit dem von Weber [und] Sombart […] in den entstehenden deutschen Sozialwissenschaften vergleicht, ist man erstaunt darüber, wie wenig Aufmerksamkeit Simmel dem Staat, der Kirche und anderen ‚Vordergrundmächten‘ widmet“22. SIMMEL beschäftigt sich mit eher scheinbar marginalen Sachverhalten. Sogar die Kategorie Gesellschaft spielt in seiner Soziologie nur eine Nebenrolle: „Gesellschaft ist nur eine unbeständige, zerbrechliche und ständig wechselnde Form, die von dem endlosen Prozeß der Vergesellschaftung abgelagert wird.“23 SIMMEL fragt nach Auswirkungen auf das seelische Empfinden des Großstadtbewohners: Die Großstadt endet nach SIMMEL nicht an ihren Stadtgrenzen, deren „Innenleben“ erstreckt sich in „Wellenzügen über einen weiten nationalen oder internationalen Bezirk“ und umgreift eine „funktionelle[n] Größe jenseits ihrer physischen Grenzen“24. Für SIMMEL liegt das Spezifische großstädtischen Lebens in der Reizüberflutung und der daraus resultierenden „Steigerung des Nervenlebens“: „Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. Der Mensch ist ein Unterschiedswesen, d. h. sein Bewußtsein wird durch den Unterschied des augenblicklichen Eindrucks gegen den vorhergehenden angeregt; beharrende Eindrücke, Geringfügigkeit ihrer Differenzen, gewohnte Regelmäßigkeit ihres Ablaufs und ihrer Gegensätze verbrauchen sozusagen weniger Bewußtsein, als die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfaßt, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen.“25
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BAUMAN, Zygmunt (2005), 239. Ebd. Ebd. Man denke an die Rolle u. a. von Sigmund FREUD oder Walter BENJAMIN. BAUMAN, Zygmunt (2005), 266f. Ebd., 267. Ebd., 267f. Hervorhebung im Original. SIMMEL, Georg (1995), 127. Ebd., 116. Hervorhebung im Original.
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SIMMEL nennt hier die wesentlichen Kategorien urbaner Wahrnehmung durch großstädtische Reizüberflutung: Das sind die permanent und chocartig26 auf den Menschen eindringenden Bilder und Szenen, die jedoch nur kurz wahrgenommen werden und dabei eine Flut von Bildern in ständiger Bewegung erzeugen. Gegen diese „Steigerung des Nervenlebens“ schützt sich der Großstadtbewohner durch den spezifisch „intellektualistischen Charakter des großstädtischen Seelenlebens“, er nutzt diese „Verstandesmäßigkeit […] als Präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigungen der Großstadt“27. Wie funktioniert dieser Reizschutz im Detail? Als Berliner kennt SIMMEL das großstädtische Leben: „Das Berliner Milieu der Jahrhundertwende beeinflußt Simmels Denken, seinen Lebensstil und sein öffentliches Engagement maßgeblich“28, formuliert NEDELMANN. SIMMEL beschreibt sein analytisches Verfahren, das für die Untersuchung des „Innenlebens“ einer jeden Großstadt taugt: „Daß sich von jedem Punkt an der Oberfläche des Daseins, so sehr er nur in und aus dieser erwachsen scheint, ein Senkblei in die Tiefe der Seelen schicken läßt, daß alle banalsten Äußerlichkeiten schließlich durch Richtungslinien mit den letzten Entscheidungen über den Sinn und Stil des Lebens verbunden sind.“29
Der kurze Text Die Großstädte und das Geistesleben ist mit einer sprachlichen Leichtigkeit verfasst, die fälschlicherweise immer wieder auch mit gedanklicher „Leichtgewichtigkeit“ gleichgesetzt worden ist.30 SIMMEL benennt die Ambivalenzen einer Vergrößerung des sozialen Kreises und der Entwicklung der Individualität in Bezug auf das Wachsen der Stadt:31 Kleine Kreise sind durch „strenge Grenzsetzung und zentripetale Einheit“32 gekennzeichnet und räumen dem Individuum „keine Freiheit und Besonderheit innerer und äußerer Entwicklung“33 ein. Durch die Vergrößerung des sozialen Kreises gewinnt das Individuum Bewegungsfreiheit und steht mit anderen in Wechselbeziehung.34 So sind die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Kleinstadt auf der Ebene des Gemüts angesiedelt.35 Die Menschen kennen sich, sie haben ein positives Verhältnis zueinander,36 sie pflegen lang 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Durch das Choc-Erlebnis gewinnt der Flaneur eine eigene Ästhetik der Moderne. Vgl. KEIDEL, Matthias (2006), 18. SIMMEL, Georg (1995), 118. NEDELMANN, Birgitta (2000), 127. SIMMEL, Georg (1995), 120. David FRISBY spricht noch Ende der 1980er Jahre vom „ästhetischen Feuilletonismus“ (FRISBY, David, 1988a, 581) SIMMELs. NEDELMANN nennt SIMMEL einen „Klassiker soziologischer Ambivalenzanalyse“ (NEDELMANN, Birgitta, 1997, 153). SIMMEL, Georg (1995), 124. Ebd., 124. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 117. Vgl. ebd., 122.
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andauernde37 und „gefühlsmäßige Beziehungen“38. Das Leben in der Kleinstadt ist von der „Beaufsichtigung des Bürgers durch den Bürger“39 und von einengenden „Kleinlichkeiten und Präjudizierungen“40 geprägt. Der enge „Zusammenschluß in sich selbst“ geht einher mit einer Abgrenzung gegen „benachbarte, fremde oder irgendwie antagonistische Kreise“41. In der Kleinstadt bestimmen „irrationale, instinktive und souveräne Lebenszüge und Impulse“42 den langsamen, gleichmäßig fließenden Rhythmus eines Lebens, das sich bis auf wenige hervorstechende Einzelpersönlichkeiten in „unschematischer Eigenartigkeit“43 zeigt. Ganz anders im vergrößerten sozialen Kreis der Großstadt: Hier herrschen Intellektualismus, reine Sachlichkeit und rücksichtslose Härte im Umgang miteinander vor.44 Die raschen und gegensätzlichen Einflüsse und Reize der Großstadt werden von ihrem Bewohner mit dem Verstand verarbeitet.45 Wie ein „Schutzorgan gegen die Entwurzelung“46 wirkt der Intellekt, der im Tempo der Großstadt seinem Besitzer Pünktlichkeit und Exaktheit abfordert.47 Die Taschenuhr wird zur Chiffre für die Unzweideutigkeit und Präzision zwischenmenschlicher Beziehungen, die kurz, selten und pointiert ausfallen.48 Nachbarn kennt der Großstädter nicht einmal vom Sehen, sein soziales Verhalten ist eher reserviert. Seine Unfähigkeit, auf äußere Reize angemessen zu reagieren, lässt ihn einerseits blasiert wirken, scheinbar abgestumpft gegen „die Unterschiede der Sinne“49. Andererseits spricht SIMMEL von „Steigerung des Nervenlebens“50: Idiosynkrasien werden entwickelt, um sich selbst wahrnehmen zu können.51 Sie nehmen mit der Größe der Stadt zu, bei gleichzeitiger Verkümmerung der Persönlichkeit: Das Individuum ist dem Überwuchern der objektiven Kultur nicht mehr gewachsen.52 Es gehört zu den Ambivalenzen der Moderne, dass sich die Erweiterung der Gruppe in einem ersten Vergrößerungsstadium positiv auf die Entwicklung des Individuums und seines Selbststandes 37 38 39 40 41 42 43 44 45
46 47 48 49 50 51 52
Vgl. ebd., 129. Ebd., 117. Ebd., 124. Ebd., 126. Ebd., 124. Ebd., 120. Ebd. Vgl. ebd., 117f. Der Verstand ist für SIMMEL im Gegensatz zum Gemüt weniger empfindlich und das den „Tiefen der Persönlichkeit am weitesten abstehende psychische Organ“ (SIMMEL, Georg, 1995, 117). Ebd. Vgl. ebd., 117ff. Vgl. ebd., 119ff. Ebd., 121. Ebd., 116. Hervorhebungen im Original. Vgl. ebd., 130. Vgl. ebd., 128f.
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auswirkt, was jedoch im größer werdenden Kreis der Individualisierungsprozesse in einen Nivellierungsprozess umschlägt. Die Persönlichkeit ist nach SIMMEL umgeben von einer „unbestimmte[n] Zahl konzentrischer Gebilde“53. Da der Mensch „nie bloßes Kollektivwesen [ist], wie er nie bloßes Individualwesen ist“54, existieren verschiedene Ebenen der Zugehörigkeit zu sozialen Kreisen. Für SIMMEL bedeutet die Konstruktion konzentrischer Kreise, die das Individuum als erweiterte Lebenszusammenhänge umgeben, bloß eine „historische Zwischenstufe“55 zur Kreuzung sozialer Kreise. Die Großstadt ist dadurch gekennzeichnet, dass sich mit zunehmender Größe „der Gesichtskreis, die wirtschaftlichen, persönlichen, geistigen Beziehungen der Stadt, ihr ideelles Weichbild, wie in geometrischer Progression [steigert], sobald erst einmal eine gewisse Grenze überschritten ist; jede gewonnene dynamische Ausdehnung ihrer wird zur Staffel, nicht für eine gleiche, sondern für eine größere nächste Ausdehnung, an jeden Faden, der sich von ihr aus spinnt, wachsen dann wie von selbst immer neue an“56.
Das Individuum knüpft im vergrößerten sozialen Kreis immer neue und weitere Netzwerke und tritt mit unterschiedlichen Personen in differenzierte und spezialisierte Wechselbeziehungen. Für die Ausbildung der Individualität ist es nach SIMMEL entscheidend, dass sich das Individuum aus der Klammer der ihn konzentrisch umgebenden sozialen Kreise löst, die ihm „keine besonders individuelle Stelle anweisen, weil der engste derselben ganz von selbst die Teilhaberschaft an den weiteren bedeutet“57. Mittelalterliche Existenz war nach SIMMEL ganz eingebunden in die sie umschließenden Kreise, zugeschriebene askriptive Merkmale wie Geschlecht, Alter etc., die aufeinander aufbauten und die Individualität dem Gesamtgefüge unterordneten. Je weniger dagegen „das Teilhaben an dem einen Kreise von selbst Anweisungen gibt auf das Teilhaben an einem andern, desto bestimmter wird die Person dadurch bezeichnet, daß sie in dem Schnittpunkt beider steht“58. Dadurch, dass dieselbe Person in den unterschiedlichen, nebeneinanderliegenden Kreisen unterschiedliche Stellungen einnehmen kann, wächst die Möglichkeit der Individualisierung ins Unermessliche.59 Während eine Person in dem einen Kreis nur eine periphere Stellung innehat oder geringes Ansehen genießt, kann sie in einem anderen Zusammenhang durchaus Führungspositionen besetzen. Aber auch innerhalb einer einzigen Gruppe kann es zu Kreuzungen kommen: Der Kaufmann steht am Schnittpunkt zwischen der Wahrung eigener Berufsinteressen 53 54 55 56 57 58 59
SIMMEL, Georg (1999c), 806. Ebd., 802. SIMMEL, Georg (1999b), 474. SIMMEL, Georg (1995), 126. SIMMEL, Georg (1999b), 472. Ebd., 474. Vgl. ebd., 476.
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nach außen und der Konkurrenz nach innen: „Eine unermeßliche Möglichkeit von individualisierenden Kombinationen tut sich dadurch auf, daß der Einzelne einer Mannigfaltigkeit von Kreisen angehört, in denen das Verhältnis von Konkurrenz und Zusammenschluß stark variiert.“60 Da es dem Individuum in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft möglich ist, sich in freier Wahl einem anderen sozialen Kreis einzugliedern, kann es das Verhältnis konkurrenzträchtiger und konkurrenzloser Zusammenschlüsse selbst bestimmen und das Gesamtgefüge ausgleichen. Nun gibt es aber entgegengesetzte Gruppeninteressen, denen sich das Individuum nicht ohne weiteres völlig entziehen kann, die ihm aber innerhalb eines gewissen Spielraums Koalitionen mit Teilbereichen entgegengesetzter Parteiungen erlauben: „Da liegt es denn auf der Hand, daß der Einzelne, der sich nicht vollkommen in den Bann der Partei geben will, sich etwa mit seiner ästhetischen oder religiösen Überzeugung einer Gruppierung anschließen will, die mit seinen politischen Gegnern amalgamiert ist. Er wird im Schnittpunkt zweier Gruppen stehen, die sich sonst als einander entgegengesetzte bewußt sind.“61
Als Beispiel nennt SIMMEL die Religionszugehörigkeit: Nachdem sich die enge Verknüpfung von Religion und anderen Lebenszusammenhängen gelöst und sich, nach SIMMEL zunächst im Protestantismus, eine „eminent individualistische“62 religiöse Verfasstheit gebildet hat, schlägt die auf die individuelle Seele und ihre Verantwortlichkeit begrenzte Religiosität „wie aus dieser heraus die Brücke zu andern, nur in dieser, aber vielleicht in keiner andern Hinsicht Gleichqualifizierten“63. Diesem Umstand verdanke das Christentum seine rasche Verbreitung durch nationale und lokale Gruppierungen hindurch, und dieser ermöglicht es dem einzelnen Christen, seinen Glauben in den unterschiedlichsten, auch areligiösen Kontexten zu leben:64 „Die Abweisung aller soziologischen Bindung, wie sie sich in der tieferen Religiosität findet, ermöglicht dem Individuum die Berührung seines religiösen Interessenkreises mit allen möglichen andern Kreisen, deren Mitglieder jene sonstigen Gemeinsamkeitsinhalte nicht mit ihm teilen; und die so entstehenden Kreuzungen dienen wiederum zur soziologischen Heraushebung und Determinierung der Individuen wie der religiösen Gruppen.“65
Das aus den früheren engen Bindungen gelöste Individuum findet durch die vielfachen Kreise einen „Ausgleich jener Vereinsamung der Persönlichkeit“66. Individualisierung führt zu neuer Vergemeinschaftung und umgekehrt: „Aus 60 61 62 63 64 65 66
Ebd., 479. Ebd., 480. Ebd., 481. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., 482. Ebd., 485.
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Individuen entsteht die Gesellschaft, aus Gesellschaften entsteht das Individuum.“67 Die Ausbildung eines spezifischen Ehrbegriffs fördert hierbei den inneren Zusammenhalt des jeweiligen sozialen Kreises.68 Eine bemerkenswerte These SIMMELs ist, dass das Individuum bestrebt ist, einen Ausgleich zwischen Freiheit und Bindung herbeizuführen. Belege werden von ihm nach allen Seiten hin angeführt: So führt eine repressive, alle öffentlichen Angelegenheiten des Bürgers regelnde und kontrollierende Staatsführung zu einer individuellen Ausgestaltung der Privatsphäre, die sogar, SIMMEL belegt dies an der griechischen Tyrannis, Selbstherrlichkeit und Zügellosigkeit im nicht-öffentlichen Bereich bewirkte. In umgekehrter Richtung, in der „die Persönlichkeit als Ganzes befreit wird, sucht sie auch für ihre einzelnen Seiten sozialen Zusammenschluss und beschränkt freiwillig die individualistische Willkür, in der sie sonst einen Ersatz für die undifferenzierte Fesselung an eine Kollektivmacht findet. […] Mit einem Wort, Freiheit und Bindung verteilen sich gleichmäßiger, wenn die Sozialisierung, statt die heterogenen Bestandteile der Persönlichkeit in einen einheitlichen Kreis zu zwingen, vielmehr die Möglichkeit gewährt, daß das Homogene aus heterogenen Kreisen sich zusammenschließt“69.
An die Stelle eines „äußerlichen Zusammenseins“ treten durch die Kreuzung sozialer Kreise in einer arbeitsteilig organisierten und zunehmend differenzierteren Gesellschaft „inhaltliche Beziehungen“, die zur Ausbildung der Individualität, der Wahlfreiheit in Bezug auf die Gruppenzugehörigkeit und einer Abschwächung der sozialen Kontrolle führt. Zwar ist letztere etwa durch die Ausbildung einer Standesehre immer noch vorhanden, es bleibt aber eine „Sache der Freiheit, an wen man gebunden ist“70. Für SIMMEL ist die Anzahl der sozialen Kreise, mit denen das Individuum verbunden ist, ein Gradmesser der Kultur.71 Das entscheidende Merkmal im Übergang von mittelalterlicher Einung zu moderner Gruppenbildung ist die Entwicklung der Individualität, denn die Zunftgemeinschaften und Hansen des Mittelalters lösten den Einzelnen zwar aus seinem festen Bezug zur jeweiligen Stadtbürgerschaft, um ihn einem entfernteren Interessenskreis einzugliedern, beließen ihn aber als Gleichen unter Gleichen: „Als Korporationsmitglieder waren sie einander gleich und nur insofern sie dies waren, nicht insofern sie außerdem individuell differenziert waren, galt das Bündnis.“72 Das Egalitätsprinzip gestattete dem Individuum im Mittelalter keine Inkorporation in andere soziale Kreise. Erst die Moderne ermöglicht die freie Wahl der Zugehörigkeit zu mehreren sozialen Kreisen: 67 68 69 70 71 72
Ebd. Vgl. ebd., 486f. Ebd., 488f. Ebd., 458. Vgl. ebd. Ebd., 466.
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„Die enge und strenge Bindung früherer Zustände, in denen die soziale Gruppe als Ganzes [...] das Tun und Lassen des Einzelnen nach den verschiedensten Richtungen hin reguliert, beschränkt ihre Regulative mehr und mehr auf die notwendigen Interessen der Allgemeinheit; die Freiheit des Individuums gewinnt mehr und mehr Gebiete für sich. Diese werden von neuen Gruppenbildungen besetzt, aber so, daß die Interessen des Einzelnen frei entscheiden, zu welcher er gehören will.“73
Die Schwierigkeiten, die dem Individuum durch konfligierende Gruppeninteressen erwachsen, fordern eine hohe Ambiguitätstoleranz, die letztlich zum Wachsen des Identitätsbewusstseins beiträgt,74 denn „um so entschiedener wird das Ich sich seiner Einheit bewußt“75. In der Großstadt, „Sitz des Kosmopolitismus“, spielen „Vorurteile und Philistrositäten“76 keine zentrale Rolle mehr. Gleichzeitig – auch dies ein ambivalentes Verhalten des Großstädters – geht die Reserviertheit im Verhalten „mit dem Oberton versteckter Aversion“ einher, sind die Beziehungen durch „gegenseitige Fremdheit und Abstoßung“77 gekennzeichnet. Im Alltag der Großstadt ist es besser, sich nicht zu nahe zu kommen, denn „in dem Augenblick einer Berührung“78, also bei Nichteinhalten der Distanz, könnte dies gegebenenfalls in Hass oder Kampf umschlagen. Sowohl der Kleinstädter als auch der Großstädter scheinen dem Fremden gegenüber auf den ersten Blick verschlossen. Ein Exkurs innerhalb des neunten Kapitels der Soziologie SIMMELs von 1908 macht aber die wichtige Bedeutung des Fremden deutlich, der zu einer bestehenden Gruppe hinzutritt und ihren Gruppenhorizont erweitert.79 Der Fremde wird beschrieben als der, „der heute kommt und morgen bleibt“80. Er kommt von außen und wird zu einem dauerhaften Teil der Gruppe. Dabei trägt er neue Qualitäten in die bestehende Gruppe hinein und steht den anderen Mitgliedern in besonderer Objektivität gegenüber, „die nicht etwa einen bloßen Abstand und Unbeteiligtheit bedeutet, sondern ein besonderes Gebilde aus Ferne und Nähe, Gleichgiltigkeit [sic!] und Engagiertheit ist“81. Die Objektivität des Fremden bedeutet demnach keine Teilnahmslosigkeit, sondern die „Freiheit, die den Fremden auch das Nahverhältnis wie aus der Vogelperspektive erleben und behandeln läßt“82. In dieser Freiheit ist er „durch keinerlei Festgelegtheiten gebunden, die ihm seine Aufnahme, sein Verständnis, seine Abwägung des Gegebenen präjudizieren 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82
Ebd., 487. Vgl. SIMMEL, Georg (1999b), 468. Ebd. SIMMEL, Georg (1995), 127. Ebd., 123. Ebd. Vgl. SIMMEL, Georg (1999f), 764ff. Ebd., 764. Ebd., 766. Ebd., 767.
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könnten“83. Der Fremde ist „der Freiere, praktisch und theoretisch, er übersieht die Verhältnisse vorurteilsloser, mißt sie an allgemeineren, objektiveren Idealen und ist in seiner Aktion nicht durch Gewöhnung, Pietät, Antezedentien gebunden“84. Gleichzeitig ist der Fremde immer auch Gefährdungen ausgesetzt: „Von jeher wird bei Aufständen aller Art von der angegriffenen Partei behauptet, es hätte eine Aufreizung von außen her, durch fremde Sendlinge und Hetzer stattgefunden.“85 Intellektualisierung, Blasiertheit und Reserviertheit sind nach SIMMEL die Besonderheiten der Urbanität, die das Leben den Großstädtern abverlangt, um als Schutzmechanismus die Zumutungen der modernen Vergesellschaftungsform ertragen zu können. „Die prekäre Balance, die durch Distanz ermöglicht und aufrechterhalten wird, ist zugleich die Bedingung von persönlicher Freiheit.“86 SIMMEL arbeitet nach HÄUSSERMANN und SIEBEL die „Ambivalenz der Urbanisierung heraus: Arbeitsteilung und Marktdifferenzierung nötigen zwar den Einzelnen, seine Besonderheit und Eigenart zu betonen. Dieser Prozess der Individualisierung fände ohne die typische Reserviertheit und Distanz der städtischen Lebensweise in der Dichte der Großstadt keinen sozialen Raum. In dem Maße, in dem die Großstadt Ort von Blasiertheit, Reserviertheit und Intellektualisierung ist, ist sie aber auch der Ort der Emanzipation aus engen sozialen Kontrollen und Ort der Individualisierung. Größe, Anonymität und Einsamkeit in der Großstadt sind zugleich die Voraussetzungen der Freiheit“87.
Individuelle Freiheit wird nicht nur negativ durch fehlende soziale Kontrollen von Dorf oder Kleinstadt möglich, vielmehr wird durch die hohe Differenziertheit der Arbeitsteilung wie auch der Marktangebote Spielraum für individualisierte Lebensformen geboten, „was dann schließlich zu den tendenziösesten Wunderlichkeiten verführt, zu den spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums, deren Sinn gar nicht mehr in den Inhalten solchen Benehmens, sondern nur in einer Form des Andersseins, des Sich-Heraushebens und dadurch Bemerklichwerdens liegt“88.
Lothar MÜLLER benennt in einer subtilen (und bisweilen kryptischen) Formulierung den „bedeutsamen Umschlagpunkt der Großstadtreflexion“89 durch SIMMEL in mehrfacher Hinsicht: SIMMEL sei es gelungen, sich aus der Perspektive einer „Physiologie des modernen Lebens, wie sie im zeitdiagnostischen Räsonnement des 19. Jahrhunderts die diskursive Vorherrschaft hatte“90, 83 84 85 86 87 88 89 90
Ebd. Ebd. Ebd. HÄUSSERMANN, Hartmut; SIEBEL, Walter (2004), 40. Ebd., 41 SIMMEL, Georg (1995), 128. MÜLLER, Lothar (1988), 14. Ebd.
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zu lösen. Er habe „im ‚Körper‘ der Stadt die Feinstruktur immaterieller Vergesellschaftungsprozesse als seine ‚Seele‘ entdeckt“ und habe so den zeitgenössischen einflussreichen „Pathographien der Moderne“ einen „strukturell ambivalente[n] Reflexionstyp entgegengesetzt, der die polare Spannung von Kulturkritik und Apologie der Großstadt in sich aufnimmt“ und – wie MÜLLER hervorhebt – „doch zugleich auf ihre Auflösung verzichtet“91. Trägt vielleicht gerade dieses „Offenhalten“ dazu bei, dass SIMMEL den Punkt beschreiben kann, wo dem „leicht erregbaren, chronisch überforderten Gemüt der beweglichere, anpassungsfähigere und unempfindlichere Verstand“92 zur Hilfe kommt und das Individuum vor Erschütterung und Entwurzelung sozusagen rettet? Erschien die Großstadt dem Großstädter zunächst als „undurchschaubare, verwirrend-verworrene Welt der äußeren Bewegung und plötzlichen Eindrücke“, wird Großstadt als Gegenstand analytischer Betrachtung bei SIMMEL ein „diffiziles Gewebe äußerst fein abgestimmter und auf Berechenbarkeit angelegter ‚Wechselwirkungen‘ zwischen den Individuen, die zwar noch Sinnenwesen sind, ihre wesentlichen Bestimmungen jedoch als Kreuzungspunkte der immateriellen, unsichtbaren Vergesellschaftungsformen erfahren“93, schreibt MÜLLER. Dabei spielt sicher die theoretische Offenheit bzw. Unabgeschlossenheit dieser Wechselwirkungen für den Erkenntnisgewinn in SIMMELs Konzept eine entscheidende Rolle.
91 92 93
Ebd. Hervorhebungen im Original. Ebd., 16. Ebd., 17.
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Abb. 3: Rudolf SCHWARZ: Kirche mit 1428 Meter hohem Turm (um 1924/25)
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4.2 Die Differenz von Image und städtischer Wirklichkeit Die Unterscheidung zwischen Stadt und Land, zwischen städtischer und ländlicher Lebensweise, ist für den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit deshalb von Bedeutung, weil im Prozess der Entstehung der modernen Großstadt die scheinbar heile Welt des ländlichen und kleinstädtischen Lebens der in jeglicher Hinsicht maßlosen Wucherung großstädtische Agglomerationen gegenübergestellt wurde. Nach HAMM scheint für die Großstadtkritik in Deutschland zweierlei prägend zu sein: Zum einen wird „das ideale Gegenbild zur Großstadt […] von einer romantisierten und idealisierten Vorstellung der mittelalterlichen Stadt bezogen“94, andererseits „schreibt man die ja oft sehr treffend benannten Übel, denen man in der Stadt der industriellen Revolution auf Schritt und Tritt begegnen konnte […] der Stadt selbst als ihrer Ursache zu und nicht etwa jenen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, von denen aus die Stadt abhängig war“95. Die dichotomen Begriffe Stadt und Land mündeten in ideologische Denkfiguren. Heide BERNDT nennt dies „zu Wunschbildern ästhetisierte gesellschaftliche Ordnungsverhältnisse“96. An ihren Zuschreibungen lassen sich gut unterschiedliche Werthaltungen, Tendenzen von Bewahrung und Versuche der Erneuerung, ablesen. Großstädte sind im Untersuchungszeitraum reale Gebilde innerhalb eines rasanten Modernisierungsprozesses, an die sich spezifische Images knüpfen. Zwischen der Realität, ihrer Vermittlung und der Vorstellung über einen bestimmten Sachverhalt gibt es Verwerfungen,97 d. h. bestimmte Bereiche der Realität können verdrängt, andere über Maßen zu klischeehaften Images generieren. Images oder Phantasmagorien umfassen „die Gesamtheit aller Wahrnehmungen, Vorstellungen, Ideen und Bewertungen, die ein Subjekt von einem Objekt besitzt“98. Sie sind das Ergebnis von Wahrnehmungsvorgängen und wirken gleichzeitig wieder als Ausgangspunkt neuer Wahrnehmungen: „So induzieren normativ verfestigte Vorstellungen über einen Meinungsgegenstand ganz bestimmte Erwartungshaltungen, die die Aufmerksamkeit [...] von vornherein in vorgezeichnete Bahnen lenkt.“99 Lewis MUMFORD schreibt Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts – rückblickend auf die Megalopolis: „Die Industriestadt war keine Repräsentantin schöpferischer Kulturwerte. Sie war eine neue Form der Barbarei.“100 94 95 96 97 98 99 100
HAMM, Bernd (1982), 15. Ebd., 16. BERNDT, Heide (1968), 56. Vgl. BRUNN, Gerhard (1989), 3. Ebd. RUHL, Gernot (1971), 27. MUMFORD, Lewis (1951), 20.
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Kritik an der großen Stadt gab es seit den Anfängen der Industrialisierung. SOFSKY beschreibt den Rückzug LUDWIG XIV. von Paris nach Versailles: Finanzminister COLBERT hatte den König vor dem ausufernden Wachstum der Metropole gewarnt, in Paris braue sich Unheil zusammen, man müsse der Landflucht Einhalt gebieten, denn die Stadt zerstöre das natürliche Gleichgewicht der Nation, sie entvölkere das Land und bedrohe die politische Ordnung.101 Für den Philosophen und Pädagogen Jean-Jacques ROUSSEAU (17121778) war Paris nach SOFSKY ein „Zentrum des zivilisatorischen Verfalls, ein[en] Ort der Niedertracht, Hochstapelei und Selbstsucht. Die Gier nach Beifall, Ansehen und Ruhm trete an die Stelle der Tugend. Das ausgeklügelte Rollenspiel und die gefällige Selbstdarstellung überdecke jede aufrichtige Begegnung der Menschen. Anstatt sich selbst wahrhaftig und authentisch zum Ausdruck zu bringen, frönten sie dem Müßiggang und beließen es bei unverbindlichen Kontakten“102.
In der Zeit zunehmender Industrialisierung wird Großstadtkritik immer mehr zur Ideologie. Wenngleich die Fehlformen des Großstadtlebens nicht zu übersehen sind, werden sie doch übersteigert wahrgenommen, beschrieben und bewertet. SCHUBERT schreibt: „Dem ökonomisch bedingten Verstädterungsprozeß stellt die Großstadtkritik rückwärts gerichtet die Scheinalternative des vorindustriellen ländlichen Lebens und Arbeitens gegenüber. Indem die Großstadtkritik zwar Probleme teilweise korrekt benennt, aber verzerrt […] interpretiert, wird sie zur Ideologie.“103
Großstadt als räumliche Größe wird pauschal für gesellschaftliche Probleme verantwortlich gemacht.104 Die Gesellschaft gerät in den „Widerspruch zwischen einer fortgeschrittenen Gesellschaft und ihrem rückwärtsgewandten Bewußtsein über sich selbst“105. Dichotomien sind dort besonders frappant, wo ideologische Denkmuster argumentativ reflektiert werden. So profilieren sich großstadtkritische Positionen häufig durch Überhöhung des Landlebens.106 SENGLE beurteilt das so: „Je mehr das Dorf aus einem Teil der Gesellschaft zum ‚naiven‘, ‚volkstümlichen‘, ‚realistischen‘ Stoff einer anspruchsvollen Dichtung wurde, umso leichter war es auch, den Bauern zu einer ewigen Größe, zum Inbegriff des Menschen zu machen, ihn zu mythisieren. Auf diese Weise schlossen die konservative Ideolo-
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Vgl. SOFSKY, Wolfgang (1986), 3. Ebd., 4. SCHUBERT, Dirk (1986), 23. Vgl. ebd., 24. FREISFELD, Andreas (1982), 63f. Vgl. SENGLE, Friedrich (1963), 627.
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gie und die ästhetisch begründete Bauerndichtung im Laufe der Zeit einen immer innigeren Bund.“107
Im Gegensatz zum Dorf ist Stadt in diesem Sinne unorganisch und künstlich. Landschaft hingegen zeichnet sich durch das „Gesetzmäßige, das Logische, das Motivierte“, als „naturgemäße Schönheit“108 aus. In einen Brief an den Städter schreibt der österreichische Dorfschriftsteller Peter ROSEGGER: „Wenn Sie gesund und zufrieden werden wollen, so kehren Sie zurück zur ländlichen Natur, um dort als gebildeter Mensch Körper und Geist in richtigem Ebenmaße zu beschäftigen.“109 Die moderne Großstadt aber, „mit ihrem G’schnas und ihren giftvollen Genüssen“ sei „Entartung und Untergang, nur verlangsamt durch beständigen Zufluß ländlicher Kräfte“110. Die Großstädte entsprechen nicht mehr dem Naturzustand, sie sind „das Unglück der Menschheit“, die in ihnen lebenden Städter sind umhüllt von der „Süßigkeit städtischer Verweichlichung“, sie werden seelisch krank durch Überfluss, „eigenliebiger Körperverzärtelung und unfruchtbarer Geistesüberbürdung“111. Seinen Briefpartner direkt ansprechend: „Sie sind genußhungrig, ohne herzhaft genießen zu können, ruhelos, ohne eigentlich zu wissen, was sie erjagen wollen, unzufrieden mit sich selbst und doch zu mutlos, um Tüchtigkeit und Zufriedenheit anzustreben.“112 In der organisch gewachsenen Natur sei der Mensch dagegen seinem Innersten nah: „Die Liebe zur Natur war zugleich tiefste Andacht“113, schreibt Paul DEHN. Der Wohlstand und die gesicherte Weltstellung des deutschen Volkes bewirkten, „da es seine angeborenen Triebe wieder hegen und ausbilden kann“114, dass „die Liebe zur Natur wieder kräftiger hervortreten“115 könne. Selbst, wenn die Großstädte als „vielclassige und nutzbringende Lehranstalten“116 bezeichnet werden und Verner von HEIDENSTAM im Jahr 1899 aufruft: „Lernet in den Städten Eure menschliche Aufgabe, in das Leben Eurer Zeit einzugreifen, anstatt in den Scheunen zu sammeln oder Sonnenuntergänge zu
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Ebd., 625. Bereits aus der spätmittelalterlichen Ständeliteratur ist das sogenannte Bauernlob bekannt: „In dieser Literatur werden die mannigfaltigen Bedrückungen, denen die Bauern in Wirklichkeit ausgesetzt waren, offen ausgesprochen, aber das geschieht aus der Einsicht, daß durch allzu große Ausbeutung des Bauern der Bestand der ständischen Gesellschaft gefährdet wird.“ (JANOTA, Johannes, 1979, 239). RICHTER, E. (1897), 236. ROSEGGER, Peter (1899), 227. Ebd. Ebd. Ebd. DEHN, Paul (1900), 268. Ebd., 273. Ebd. HEIDENSTAM, Verner von (1899), 319.
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betrachten“117, dann nur mit dem Hinweis, letztlich aufs Land zurückzukehren, denn „ein Heim gibt es nur auf dem Lande“118. Da der Geburtenrückgang in den Städten stärker als auf dem Land ausgeprägt war und „es kaum einen Ansatzpunkt für eine rationale Begründung der Differenzierung der Fruchtbarkeit zwischen Stadt und Land gab“119, wurde die Landbevölkerung von einer Agrarromantik und schließlich einer Blut-undBoden-Ideologie120 als Lebensquelle des Volkes betrachtet.121 Die in die Städte wandernde Landbevölkerung veränderte das Gesicht der urbanen Agglomeration:122 „Die Stadt [...] wurde in diesem Prozeß zugleich der Ort, in der sich die vornehmlich durch sachliche Beziehungen innerhalb eines Leistungszusammenhangs bedingte industrielle Gesellschaftsordnung neu formierte. Dieser Neubildung ging ein Prozeß der Desintegration der ‚bürgerlich-ständischen‘ Gesellschaftsordnung, wie sie in den Städten des frühen 19. Jahrhunderts trotz aller liberalen Reformen im Wesentlichen noch bestanden hatte, notwendig voran.“123
In ein und derselben Bewegung trennten sich die Zuwanderer von ihrer festen Dorfgemeinschaft und oft auch von ihrem familiären Gefüge. Die Teilhabe an kulturellen Gütern und die Möglichkeit der materiellen Verbesserung bedeutete für sie eine gewisse Sonderstellung um den Preis der Aufgabe früherer sozialer Bindungen. Es kam für die meisten zu einer völligen Neuorientierung der eigenen Lebensbezüge, für manche zu einer „Umwertung der eigenen Persönlichkeit“124. Die Großstadt bot „eine größere Freiheit, die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und zu beweisen, der Zuwanderer aber bezahlte dafür mit der ‚größeren Verlassenheit des Einzelnen‘“125, schreibt KÖLLMANN. Gängige Großstadtkritik beschreibt dieses Phänomen als Entwurzelung, es bezeichnet damit „jene durch keine sozialpolitischen Maßnahmen korrigierba117 118 119 120
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Ebd. Ebd., 320. JÜRGENS, Hans W. (1963), 507. Vgl. das einschlägige Werk von Walter DARRÉ Neuadel aus Blut und Boden (1930), in dem er rassehygienische Gedanken mit agrar- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen verknüpft. Vgl. DARRÉ, Walter (1930) Vgl. vor allem das Hauptwerk des Chefideologen der NSDAP Alfred ROSENBERG (1930), Mythus des XX. Jahrhunderts. Die als Agrarier bezeichneten Vertreter der wirtschaftspolitischen Interessen der deutschen Landwirte, die sich 1893 zum Bund deutscher Landwirte zusammenschlossen, kämpften für Schutzzölle und eine Subventionierung des Großgrundbesitzes. Vgl. BIRNBAUM, K. (1879). BIRNBAUM schreibt: „Das, was unsere Agrarier erstreben, muß zum Rückschritt auf allen Gebieten, insbesondere aber auch in der Landwirthschaft selbst führen und den kann Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr vertragen. Es muß den Uebergangsproceß vom Ackerbau- zum Industriestaat vollenden, wenn es seine Machtstellung behaupten will.“ (BIRNBAUM, K., 1879, 85). Vgl. FRANK, Hartmut; SCHUBERT, Dirk [Hrsg.] (1983), 20. KÖLLMANN, Wolfgang (1960), 34. KÖLLMANN, Wolfgang (1956), 265. Ebd., 266.
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re Tatsache, daß der Mensch aus einer heimatlichen Welt dinglicher, rechtlicher, moralischer und religiöser Bindungen zu einem ihm selber unbekannten Ziel aufgebrochen war“126. Wird unter Heimat „die seit frühester Kindheit bestehende Vertrautheit mit einer bestimmten kulturellen und sozialen Struktur und dem dazugehörigen Ort“127 verstanden, stellt die Entbindung aus dem gewohnten „sozial-kulturellen Symbol“128 Heimat eine Krise dar, insofern die Großstadt keine sozialen Auffangnetze bietet: „Was den Abwandernden mit der Heimat verlorenging, war [...] weder allein die ‚äußere‘ noch die ‚innere‘ Welt, sondern eine Ordnung und ein Sinnbezug des Daseins – jene unbezweifelbare Kraft zur Bewältigung einer Wirklichkeit, in der sich Natürliches und Seelisches gleichermaßen durchdringen.“129
Es vermischen sich in den Argumenten der Großstadtkritik Realität mit den Bildern von Großstadt: Die Darstellung und Beurteilung der Folgen der Verstädterung werden vielfach losgelöst von der Ausbildung diffuser Ängste und radikaler Niedergangsprophetien betrachtet. Dass auf Seiten der Land-StadtWanderer ebenfalls reale und imaginierte Bilder existierten, hat Wolfgang KROMER herausgestellt:130 Die Land-Stadt-Wanderungen beruhen demnach „auf dem Wirken von ‚Propagandisten der Großstadt‘ [...], die ‚Bilder‘ bzw. Informationen über ‚ihre‘ Großstadt in ihren ländlichen Heimatorten verbreiteten und dadurch Abwanderungen anregten“131. Die Abwanderung vom Land wurde nicht nur durch reale Verhältnisbeschreibungen des großstädtischen Lebens ausgelöst. Auch „die Interpretation der Realität gewinnt im historischen Prozeß eigenes Gewicht und wirkt auf diesen zurück, verselbständigt sich als ‚Bild‘ von der Stadt, das – Symbol eines anderen, besseren Lebens – selbst Migrationen initiiert und damit auch im gesamten Faktorengeflecht der Wanderungsbedingungen seinen Platz finden muß“132.
Die konservative Großstadtkritik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist blind für die Ursachen der Großstadtmisere, sie wird es bleiben und in der Ideologie des Nationalsozialismus manche Übereinstimmung feststellen oder gar in ihr aufgehen. BÖHME schreibt: 126 127 128 129 130 131
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JANTKE, Carl (1955), 182. BERTELS, Lothar (1997), 67. Ebd., 68. JANTKE, Carl (1955), 183. Vgl. KROMER, Wolfgang (1985). Ebd., 203. Ein gutes Beispiel liefert Oskar SCHWINDRAZHEIM: Ein jüngerer Kleinstadtbewohner wird von seinem nach Berlin verzogenen Vetter gedrängt, ebenfalls in die Großstadt mit ihren Genüssen zu ziehen „und dem ‚traurigen Nest‘ den Rücken zu kehren [...]. Ihm, Vetter Richard in Berlin, könne es ja egal sein, so schloß der Brief, wenn es ihm denn Spaß mache, so möge er eben ‚versauern und verkommen‘ in dem ‚blödsinnigen‘ Nest, in seiner ‚lieben Vaterstadt‘!“ (SCHWINDRAZHEIM, Oskar, 1907, 533). KROMER, Wolfgang (1985), 49.
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„Schuld an der Zerstörung der Gesellschaft war in ihren Augen nicht die Industrialisierung im Rahmen des kapitalistischen Wirtschaftssystems, die die tiefen sozialen Konflikte und Wandlungsprozesse auslöste, sondern schlicht die Großstadt selbst mit ihrer unmäßigen Zusammenballung von Menschen aus verschiedenen Schichten, die Elend, Krankheit, Kriminalität und Aufruhr provozierte. Für sie hieß die Lösung des Problems deswegen Rückkehr zu einer ständisch gegliederten agrarisch geprägten, sozial heil gewünschten Gesellschaft und die Auflösung der Großstadt.“133
4.3 Stadtkritik als Kulturkritik „Das gemeinsame Wachsen von Städten und Sittenkritik“134 registriert der Historiker Gustav SEIBT als Phänomen seit dem Mittelalter bis in die frühe Neuzeit. Solche Kritik hat einen auf „einfachere Umstände zugeschnittenen Habitus gegen die Versuchungen und Pathologien einer aufblühenden Zivilisation [verteidigt]. Hier gedeihen dann neue Niedergangsvorstellungen, und zugleich schärft sich der Blick für Verhalten und Sitten der Mitmenschen“135.
Die historischen Entwicklungsbedingungen von Städten basieren auf der Tauschwirtschaft, deren Grundlage Handwerk und Handel waren. Das heißt, dass Städte vom „Überschuß des Landes“136 lebten. Reichtum und damit Luxus treten seit jeher hier konzentriert auf und mit den großen Menschenansammlungen vermehren sich zugleich die „Gelegenheiten für Müßiggang, Unterhaltung, Betrug und erotische Promiskuität, aber auch für Menschenbeobachtung und Psychologie, am Ende für Soziologie und politische Experimente“137. Mit den Beschleunigungen infolge der Verhaltensänderungen in der Moderne verschärft sich auch die Moral- und Sittenkritik, wie auch der Blick für Verhalten und Sitten der Mitmenschen geschärft wird. Stadt- und Sittenkritik entstehen und wachsen gemeinsam in ein und demselben Prozess.138 133 134 135 136 137 138
BÖHME, Helmut (1996), 72. SEIBT, Gustav (2001), 189. Ebd., 187f. Ebd., 187. Ebd. Was wir heute Kulturkritik nennen, entsteht nach SEIBT mit der Aufklärung, in ihrem Selbstverständnis begriffen als „fortschrittlicher Prozeß, der aus dunklen, unfreien Frühzeiten in die Helle und Angstfreiheit eines von der Vernunft bestimmten Lebens führte“ (ebd., 189). Dass Kulturkritik auch missbraucht werden kann, um mit unversöhnlichen Gegensätzen zu polarisieren, hat vor allem die Geschichte der Moderne und hier vor allem das frühe 20. Jahrhunderts gezeigt.
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Kulturkritik, und gerade die besondere Spielart des kulturkritischen Antimodernismus, hat in Europa ihre jeweils besondere Tradition. Der Kulturphilosoph Ralf KONERSMANN nennt einige spektakuläre Vertreter: „Sie läßt die Kulturkritik als geistiges Sammelbecken für alles Abwegige und Überzogene, als Spielart jenes Antimodernismus erscheinen, der sich – von de Maistre und Matthew Arnold über fragwürdige Figuren wie Moeller van den Bruck, Klages und Spengler bis hin zu Dostojewski und Hofmannsthal – dem Publikum einst als ‚konservative Revolution‘ empfahl.“139
Gerade die deutsche Kulturkritik ist durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Verruf geraten.140 Den Ruf lädiert haben vor allem die so populären wie simplifizierenden Schriften von Paul Anton LAGARDE (Deutsche Schriften, 1878-1886), Julius LANGBEHN (Rembrandt als Erzieher, 1890), aber durchaus auch der wesentlich anspruchsvollere Oswald SPENGLER (Der Untergang des Abendlandes, 1918/1922). Diese Variante antimoderner Kulturkritik hatte die Diagnose auf dichotome Denkschablonen reduziert. Komplexe Sachverhalte wurden auf Freund-FeindGegensätze reduziert, die Zivilisation des Westens wurde immer wieder mittels Technikfeindlichkeit dämonisiert, während der Zustand einer ursprünglich unschuldigen, zumeist ruralen Gesellschaft verklärt wurde.141 Mit ihrer Polemik beförderten sie eine Ideologie, „die nicht nur dem Nationalsozialismus ähnlich ist, sondern sogar von den Nationalsozialisten selbst als wesentlicher Bestandteil ihres politisch-kulturellen Erbes anerkannt wurde“142, so der Historiker Fritz STERN in dem zu diesem Thema wohl bekanntesten Buch Kulturpessimismus als politische Gefahr von 1963. Die kulturkritischen Angriffe bekamen einen zunehmend schärferen Klang. Begriffe wie Entartung, die um die Jahrhundertwende schillernde Untergangsbilder ausmalten, bekommen in der Weimarer Republik einen „beunruhigenden Erfahrungsgehalt“143. Was sich schon bei LAGARDE und LANGBEHN als Klagen über Kommerzialisierung, Mechanisierung, Nivellierung und Vermassung artikuliert hatte, verstärkt sich in der Weimarer Republik zu Vorstellungen eines „lärmenden, pöbelhaften Zeitalters voller Chaos und Uniformität […]. Man verachtete die Masse und fühlt sich zugleich von ihr bedroht“144.
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KONERSMANN, Ralf (2001), 16. Vgl. STERN, Fritz (1963). KONERSMANN schreibt: „Antirepublikanische Affekte, Sektierertum und Frömmelei, Verachtung der Masse und der Frau, Dünkel, nicht selten gepaart mit blindem Glauben an Autorität und Bindung – es ist einfach, die Fehlhaltungen dieser Art Kulturkritik, ihre intellektuellen Verstiegenheiten und die Selbstbegründung aus der Animosität überlebt und lächerlich zu finden.“ (KONERSMANN, Ralf, 2001, 17). STERN, Fritz (1963), 5. BOLLENBECK, Georg (1999), 221. Ebd.
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Diese Bedrohungsgefühle waren real mit dem Anwachsen pauperisierter Massen in der Hochphase der Industrialisierung in Deutschland entstanden. Die rapide Verstädterung ging einher mit einer Politisierung der Massen (Sozialdemokratie, Kommunismus), die das Vertrauen in den Liberalismus und in dessen Grundlagen, die Aufklärung, schwinden ließen.145 Mit dem Ende der liberalen Ära rücken die fortschrittsoptimistischen Maximen der Aufklärung in das „pejorative Begriffsfeld ‚Rationalismus-Westen-Utilitarismus-Zivilisation‘ ein“146. NIETZSCHE vollzieht in seiner Kritik der Aufklärung einen Schritt, der die neue „Mentalität der Enttäuschung in ein Denken überführt, das hier als lebensphilosophische Kulturkritik mit gespaltener Sehkraft“147 formuliert ist. BOLLENBECK nennt diese Position NIETZSCHEs „auf eine ganz eigene Art modern und antimodern“148. NIETZSCHE steht als bedeutender Philosoph149 und zugleich als Außenseiter des akademisch etablierten Milieus mit großem Abstand an der Spitze der neuen kulturkritischen Strömungen, die die geistige Signatur der 1890er Jahre maßgeblich kennzeichnen.150 Zur Signatur dieser Zeit gehört insbesondere die 145
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Die Polemik gegen Liberalismus und Aufklärung rührt aus der „Einsicht in ideengeschichtliche Gemeinsamkeiten“ (BOLLENBECK, Georg, 2007, 155), wobei der deutsche Liberalismus immer auch vom „Trauma der französischen Revolution gezeichnet bleibt“ (ebd.). Ebd. Ebd. Ebd., 157. BOLLENBECK begründet diese Einschätzung NIETZSCHEs als moderner Antimoderner wie folgt: „Nietzsche ist keiner, der zurück will in die vermeintlich heile Welt organischer Sozialformen. Er kritisiert die liberale Gesellschaft, und er legitimiert zugleich mit seinem ‚Pathos der Distanz‘ die Kluft zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘, zwischen ‚Herren‘ und ‚Sklaven‘. Seine Kulturkritik zeichnet sich durch eine diagnostische Kraft, philosophische Fundierung und stilistische Brillanz aus, die man in den kulturkritischen Arbeiten der Zeitgenossen Paul Anton Lagarde und Julius Langbehn nicht findet. Gegen kulturnationalistische Autostereotypen wird er nach anfänglichen wagnernahen, antisemitischen Deutschtümeleien rasch resistent. Also keine Hoffnung, wie bei Lagarde oder Langbehn, auf eine nationale Erneuerung des Volksbewusstseins und der deutschen Kultur, keine Polemik gegen den übergroßen ‚gallischen Einfluß‘, stattdessen ein Bekenntnis zur europäischen, insbesondere französischen Kultur. Auch wenn er den philosophischen Idealismus kritisiert, bleibt er doch idealistischen Auffassungen verpflichtet. Gesellschaftliche Probleme erscheinen ihm vorrangig als geistige Probleme. Seine Kulturkritik ist blind gegenüber den Strukturen, aber hellsichtig gegenüber den Folgen von ‚Wirtschaft und Gesellschaft‘.“ (Ebd.). BOLLENBECK begründet in seiner profunden Auseinandersetzung mit kulturkritischem Denken seit der Aufklärung, warum er NIETZSCHE – nach ROUSSEAU und SCHILLER – für den bedeutendsten und in jeder Hinsicht einflussreichsten Kulturkritiker des 20. Jahrhunderts hält. Vgl. ebd. Dass NIETZSCHE inzwischen nicht mehr als schillernder „kulturkritischer Literat“ gilt, ist nach BOLLENBECK Martin HEIDEGGER zu verdanken. Er habe NIETZSCHE aus dem Nachgeschmack modischen Zeitgeists gelöst, indem er ihn textphilologisch (und durchaus im Gefühl geistiger Verwandtschaft) zum letzten Vertreter einen abendländischen Metaphysik machte. Er zeigt die Nähe von SCHOPENHAUER und NIETZSCHE, die sich gegen die akademische Philosophie ihrer Zeit polemisch wenden. Vgl. BOLLENBECK, Georg (1999), 160f. Vgl. ebd. Ernst TROELTSCH sprach in diesem Zusammenhang von einer „geistigen“ und „künstlerischen Revolution“ innerhalb der Kulturkritik der Jahrhundertwende, deren „Geist“
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allmähliche Durchsetzung der ästhetisch-literarischen Moderne in Deutschland und die mit ihr einhergehende Intensivierung der NIETZSCHE-Rezeption innerhalb einer breiteren Öffentlichkeit. In den mit ihnen verbundenen kulturkritischen Bestrebungen kamen ein prinzipieller Kulturpessimismus und ein spezifisches Modernitätsbewusstsein zum Ausdruck, die sich nicht mehr ohne Weiteres mit dem noch aus der Gründerzeit stammenden allgemeinen Fortschrittsoptimismus und der Repräsentationskultur des Wilhelminismus zur Deckung bringen ließen. Diese ästhetische und kulturkritische Opposition gegenüber der Moderne war im übrigen so schillernd wie die Epoche um 1900 insgesamt, denn sie umfasste unter anderem so unterschiedliche künstlerische und literarische Bewegungen wie den Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus, Jugendstil sowie den Expressionismus. Eine der Gemeinsamkeiten zwischen diesen verschiedenen Stilrichtungen ist dagegen eine mehr oder weniger vorausliegende NIETZSCHE-Rezeption in diesen Strömungen, welche sein Werk als ein bevorzugtes Medium der kulturellen Selbstverständigung der ästhetisch-literarischen Moderne in Deutschland kennzeichnet. Seine Schriften wurden im Umkreis einer künstlerisch-literarisch geprägten Intelligenz früh in die weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Jahrhundertwende einbezogen. Trotz eines aristokratischen Radikalismus151 der Kulturund Moralkritik NIETZSCHEs wurde immer auch der moderne Charakter seiner Schriften betont. Die von NIETZSCHE vertretene kulturrevolutionäre Umwertung aller Werte wurde als Ausdruck einer zutiefst individualistischen Weltanschauung angesehen, die sich zum einen bewusst gegen die sozialistischen Bestrebungen dieser Epoche richteten, zum anderen mit dem modernen Sozialismus jedoch zugleich das Ziel einer radikalen Umgestaltung der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft teilten. Ernst TROELTSCH urteilt in einer frühen Bestandsaufnahme dieser Jahre: „Das Uebermaß der Intellektualisierung alles Lebens, verbunden mit der Unübersichtlichkeit und Zersplitterung der spezialisierten Wissenschaft, die relativistische Gebrochenheit eines alles historisierenden und psychologisierenden und damit die eigene Produktivkraft lähmenden Triebes der Selbsterklärung, vor allem aber die ungeheure Mechanisierung des Lebens durch den Kapitalismus und den modernen Riesenstaat: all das hat gegen Ende des Jahrhunderts eine Bewegung zu Innerlichkeit, Einheit und Produktionskraft, zum vertieften Individualismus und gleichzeitig zu einer verinnerlichten und verstärkten Gemeinsamkeit hervorgerufen, in der der eigentliche Geist des Jahrhunderts erst zu seinem
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im Wesentlichen durch die Rezeption des Werkes von Nietzsche geprägt gewesen sei. Vgl. Troeltsch, Ernst (1925), 641ff. Zur ausführlichen Analyse der Aufbruchstimmung der Generation von 1890, die dabei nicht nur ein auf das deutsche Kaiserreich beschränktes kulturelles Phänomen darstellte, sondern auch in anderen europäischen Ländern mit ähnlichen Vorzeichen anzutreffen war, vgl. MEIER-GRAEFE, Julius (1904). Zur Kulturkritik in dieser Zeit vgl. FISCHER, Jens Malte (1978), 50ff. Vgl. NIPPERDEY, Thomas (1988a). Vgl. den Untertitel eines Aufsatzes über NIETZSCHE von Georg BRANDES aus dem Jahr 1888: Abhandlung über aristokratischen Radicalismus. Vgl. BRANDES, Georg (2004).
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vollen Ausdruck kommt. Ähnlich wie Rousseau, der Neuhumanismus, die Romantik und der Nationalstaat die Reaktion gegen den Geist und die Kultur der Aufklärung und des ihr entsprechenden utilitaristischen Absolutismus waren, so folgt der Entwicklung des demokratisch-kapitalistischen-imperialistisch-technischen Jahrhunderts die Kulturkritik.“152
TROELTSCH sieht die Kulturkritik seiner Zeit in einem Traditionszusammenhang mit Romantik und Neuhumanismus (HUMBOLDTsche Bildungsreform), aber für ihn entscheidend ist die kritische Wendung gegen die „Mechanisierung des Lebens“153. Führender Geist dieser Richtung ist für TROELTSCH uneingeschränkt Friedrich NIETZSCHE. Scharf kritisiert NIETZSCHE eine „eigensüchtige, staatenlose Geldaristokratie“154. In der ihm eigenen apodiktischen Art ist das Urteil: „Im Geschäft fleißig, – aber im Geiste faul, mit eurer Dürftigkeit zufrieden und die Schürze der Pflicht über diese Zufriedenheit gehängt.“155 Nicht weniger hart als die Kritik des Bürgertums ist NIETZSCHEs Kritik der Massen. Damit meint er nicht das Proletariat, sondern den modernen „Herdenmenschen“156. Ziel der „Maschinen-Cultur“ sei eine „Verwerkzeugung“157 der Menschheit: „Die Fabrik herrscht. Der Mensch wird Schraube.“158 Und allein in der Bildung sieht er das Bollwerk gegen die Ansprüche der großen Masse. Er erklärt Bildung zu einem Privileg der Auserlesenen (Geistesaristokratie). Mit der Demokratisierung von Bildung rechnet er kulturkritisch als Verfallserscheinung der Moderne ab. Für NIETZSCHE steht fest: Je stärker das ökonomische Kapital das Leben der Menschen bestimmt, desto stärker sinkt auch das Bildungskapital. Er schreibt: „Aber Geld ist Macht, Ruhm, Würde, Vorrang, Einfluß; Geld macht jetzt das grosse oder kleine moralische Vorurtheil für einen Menschen, je nachdem er davon hat!“159 Schäbiges Zentrum dieser Moderne sei die Großstadt. BOLLENBECK fasst die Großstadtkritik in den kulturkritischen Schriften NIETZSCHEs wie folgt zusammen. Großstadt erscheine nicht „wie etwa bei Victor Hugo, Charles Baudelaire oder später Georg Simmel, als ambivalentes Faszinosum, sondern als Ort würdeloser Hast, falscher Bedürfnisse und des Selbstbetrugs, als Inkarnation der ‚abgeirrten Cultur‘. Großstädte sind ‚Schlachthäuser und Garküchen des Geistes‘, welche aus den Seelen ‚schlaffe schmutzige Lumpen‘ machen; hier findet sich ‚alles Anbrüchige, Anrüchige, Lüsterne, Düsterne, Übermürbe‘; hier schäumt der ‚Abschaum‘ zusammen. Und 152 153 154 155 156 157 158 159
TROELTSCH, Ernst (1925), 641. Ebd. Zit. n. EBERSBACH, Volker (2006), 126, Anm. 14. NIETZSCHE, Friedrich (1999), 160. Dieses Wort gehört zu den Schlagworten NIETZSCHEs, es taucht beständig in seinen Texten etwa seit Jenseits von Gut und Böse (1886) auf. NIETZSCHE, Friedrich (1999), 167. Ebd., 298. Ebd., 179.
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vor allem: Die Großstädte erscheinen als Orte der Nervosität und der Arbeitshetze, des flüchtigen Moments, der wechselnden Meinungen und Moden“160.
Aber für NIETZSCHE ist das eigentliche Kennzeichen der zerstörerischen Moderne die Beschleunigung – im Sinne von technischer Beschleunigung, aber auch der Beschleunigung des sozialen Wandels wie der des Lebens.161 „‚Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet‘“, zitiert BOLLENBECK. Man lebe wie ein Mensch, „der fortwährend etwas versäumen könnte“162. So singulär die Kulturkritik NIETZSCHEs an der Welt des Bürgertums auch wirken mag, nach BOLLENBECK zeige sie doch eine Tendenz an, die später Teil des universalen Bewussteins der Gebildeten werden würde: den Übergang vom Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts zur These von der entzauberten Moderne im Sinne einer allgemeinen Ernüchterung: „Von nun an werden die Schattenseiten der Moderne deutlicher. Die Krisenerfahrungen des Kapitalismus, die Zumutungen der Technisierung und Industrialisierung, die Diskrepanzen zwischen wissenschaftlicher Naturbeherrschung und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen – all dies schmälert den Glauben an die ‚Welt als Werkstätte des Vernünftigen und Guten‘.“163
Allerdings geschehe diese Ernüchterung nicht durch eine Wendung vom Optimismus zum Pessimismus, das „Zeitbewusstsein weist – zwischen Fin-desiècle und Belle Epoque – verschiedene Strömungen auf“164. BOLLENBECK führt als Gegenüberstellung auf: Wissenschaftspositivismus und Irrationalismus, Verfallsdenken und lebensphilosophischer Vitalismus, Progressismus und Pessimismus, Materialismus und Neuidealismus.165 BOLLENBECK beschließt die Einführung in das Kapitel Die entzauberte Moderne seiner Geschichte der Kulturkritik mit einem Blick auf das kulturkritische Repertoire, das auf die „Erosion der Ausgangslage“ verweist: „Bezeichnenderweise ist der Begriff ‚Moderne‘ keineswegs pejorativ festgelegt, verweisen verbreitete Neubildungen wie ‚ästhetische Kultur‘, ‚harmonische Kultur‘ oder ‚neuer Stil‘ auf die lebensreformerische Suche nach einer anderen Moderne. Dennoch lassen sich entscheidende Umschichtungen im mentalen Haushalt der gebildeten Welt beobachten. Mit der entzauberten Moderne verdüstert sich der Erwartungshorizont. Und damit erhalten die Verlusterfahrungen gedeu-
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BOLLENBECK, Georg (2007), 179f. BOLLENBECK verweist auf ROSA, Hartmut (2005). ROSA generalisiere die Beschleunigung zum dominanten Grundprinzip der Moderne und dabei führe er NIETZSCHE als Gewährsmann seiner These an. Vgl. BOLLENBECK, Georg (2007), 180. Ebd. Ebd., 202. Ebd. Vgl. ebd.
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tet als Folgen der ‚Mechanisierung‘, ‚Rationalisierung‘ oder ‚Verdinglichung‘ eine neuartige, wirkungsmächtige und verstörende Plausibilität.“166
Der Kulturkritik dient die Stadt als eine der Projektionsflächen der Moderne. Im Fokus der Kritik stand in Deutschland vor allem Berlin, die Hauptstadt des neugegründeten Deutschen Reichs. Die Stadt wurde zum Zentrum für die kulturelle Moderne. Die drittgrößte Stadt der Welt war Experimentierfeld einer explodierenden Kreativität in Literatur, Kunst und Architektur, in Theater, Film und Revue. Hier mischte sich auf legendäre Weise Avantgardekunst mit einer populären Kultur für die Massen. Berlin hatte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten europäischen Großstädte entwickelt. Diese größte deutsche Stadt sollte zum Inbegriff des 20. Jahrhunderts werden: Berlin wurde die Stadt der Moderne.167 Verglichen mit anderen europäischen Metropolen war Berlin eine junge und damit auch geschichts- und traditionslose Stadt. Werte wie Bodenständigkeit oder Heimatgefühl bzw. -verbundenheit waren in der Bevölkerung wenig verankert, mit andern Worten: Berlin war „offen“ – auch für die Strömungen der Moderne. Berlin orientierte sich – viel stärker als etwa die Metropole Paris – an den USA.168 Und Amerikas Kultur- und Lebensstil prägten das kulturelle Klima, vor allem im neu entstehenden modernen Westen der Stadt. Technischer Fortschritt, moderne Architektur, das Auto und die Revue standen für den amerikanischen way of life. Im elektrifizierten Berlin wurde die Nacht zum Tage. Und gerade diese Verlängerung des Tages durch künstliches Licht war wesentlicher Bestandteil des neuen urbanen Bewusstseins der Stadt. Neben Künstlichkeit war Tempo oder Beschleunigung ein Kennzeichen der modernen Großstadt: Neue Verkehrstechnik und der Ausbau des Verkehrsnetzes erhöhten das Tempo der Stadt, Rationalisierung zum Beispiel durch die Technik des Fließbandes, durch Telefon und Telegramm beschleunigten die Arbeit wie den Lebensstil und intensivierten beide Bereiche. Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Spuren der preußischen Residenzstadt bis auf einige Baudenkmäler und Wohnhäuser ausgelöscht. Und da Berlin nicht nur unbekümmert die Einflüsse aus den USA aufnahm, sondern von Osten aus gesehen die erste große Stadt im Westen war, musste man sich in Berlin zwangsläufig immer auch mit der jungen Sowjetunion auseinandersetzen.169 Berlin galt als „rot“, seine Bewohner wurden für tendenziell demokratischer beziehungsweise republikanischer gehalten als die anderer Regionen Deutschlands. Die Mehrheit der Deutschen betrachtete die neue Metropole Berlin mit Skepsis, und eine latente Republikfeindlichkeit war identisch mit der Ablehnung der 166 167
168 169
BOLLENBECK, Georg (2007), 202. Der Literatur-, Film- und Theaterkritiker Hans SAHL schrieb: „Berlin war das zwanzigste Jahrhundert, in Paris gab man sich mit Genuß dem Ende des 19. Jahrhunderts hin.“ (SAHL, Hans, 1983, 116). Vgl. JAZBINSEK, Dietmar; THIES, Ralf (1999). Vgl. MIERAU, Fritz [Hrsg.] (1987).
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Hauptstadt. Berlin wurde in den 1920er Jahren zum Inbegriff von Modernität und Freizügigkeit und damit zu einer besonderen Herausforderung auch für die katholische Kirche in Deutschland. Als Exponenten großstadtkritischer Positionen im Rahmen einer umfassenden Kulturkritik im 19. und 20. Jahrhundert werden im Folgenden Wilhelm Heinrich RIEHL, Ferdinand TÖNNIES und Oswald SPENGLER in ihren Positionen vorgestellt.
4.4 Kulturkritische Grundlegungen bei RIEHL, TÖNNIES und SPENGLER 4.4.1 Wilhelm Heinrich RIEHL (1823-1897) Eine prominente Position nimmt die Stadtkritik als kohärenter, intellektueller Antiurbanismus erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts in den Schriften von Wilhelm Heinrich RIEHL ein.170 Zunächst als Kulturhistoriker vor allem journalistisch tätig, wurde RIEHL 1885 zum Direktor des Bayerischen Nationalmuseums und Generalkonservator der Kunstdenkmäler und Altertümer Bayerns ernannt. Auch als Hochschullehrer war RIEHL erfolgreich. Seine Vorlesungen zu Volks-, Kultur- und Sozialgeschichte, die er seit den 1860er Jahren in München hielt, waren renommiert. Seine zahlreichen Veröffentlichungen waren Vorläufer von Volks- und Sozialkunde. Als der „wohl bedeutsamste Antipode seiner Zeitgenossen Marx und Engels in Deutschland“171 war sein konservatives Denken vor allem durch die Erfahrungen der Revolution von 1848 geprägt. „He depicted cities as both symbols and sources of the worst aspects oft the modern world“172, bemerkt LEES. Städtische Entwicklung war für RIEHL gleichbedeutend mit dem Verlust der spezifisch nationalen Eigenschaften, in deren Folge es zwangsläufig zu psychischer, sozialer und politischer Instabilität komme, damit einher gehe eine kulturelle Schwäche. Nach dem Vorbild Versailles hätten deutsche Herrscherhäuser ihre Residenzen gebaut, so dass 170
171 172
Zu RIEHLs bekanntesten Arbeiten zählt: Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik, darin Bd. 1: Land und Leute (1853), Bd. 2: Die bürgerliche Gesellschaft (1851), Bd. 3: Die Familie (1854), Bd. 4: Das Wanderbuch (1869). Die Bücher erschienen in mehreren Auflagen und wurden vom deutschen Bildungsbürgertum mit großer Identifikation rezipiert. Das lag auch daran, weil sich RIEHL vom Fachgelehrtentum ganz bewusst zugunsten eines narrativen Stils distanzierte. BERGMANN, Klaus (1970), 40. LEES, Andrew (2002), 25.
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deutsche Städte im 19. Jahrhundert eher Paris oder London ähnelten und nicht in der Tradition deutscher Städte stünden. Das Spezifische deutscher Stadtkultur sei in einem nivellierenden Kosmopolitismus verschwunden.173 RIEHL knüpfte an die historisch-philologischen Forschungen einer zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstehenden deutschen Volkskunde an.174 Zu dieser emphatisch gestimmten Forschung gehörten auch besondere Erkenntnisschritte, mit denen sich RIEHL vom „Buchwissen“ abwandte und sich als induktiv empirisch verfahrender „Wander-Forscher“ verstand. RIEHL nennt sein Verfahren „naturgeschichtlich analytische Untersuchung“175 und ging so auf forschende Wanderschaft: „Diese Erwägung trieb mich seit Jahren hinaus, die schönen deutschen Gauen zu durchstreifen, um im unmittelbaren Verkehr mit dem Volke diejenige Ergänzung meiner historischen, staatswissenschaftlichen und volkswirthschaftlichen Studien zu suchen, die ich in den Büchern nicht finden konnte.“176
Als einer der „letzten großen Vertreter des alten, ständischen Europas“177 sieht RIEHL im Vierten Stand eine Gefahr für das „organische Leben der Gesellschaft“. Er schreibt: „Die übrigen Stände [Bauern, Aristokratie, Bürgertum] stellen das gesellschaftlich organisierte Behagen dar, der vierte Stand das gesellschaftlich organisierte Mißbehagen. Die ersteren wollen die historische Gesellschaft erhalten, der vierte Stand will sie zerstören. Seine Philosophie ist die jenes Mannes, der sein Haus in Brand steckte, um das darin nistende Ungeziefer gründlich zu vernichten, die Philosophie des Kommunismus.“178
Das schnelle Wachstum der Großstädte vernachlässige die Kleinstädte und Landstädte, deren Verödung führe direkt in eine europäische Krise,179 die RIEHL vor allem für England und Frankreich registriert: „Die Herrschaft der großen Städte über das Land ist eine der socialen Kernfragen unserer Zeit. Sie erschüttert gegenwärtig den hundertjährigen Bestand von 173 174
175 176 177 178 179
Vgl. RIEHL, Wilhelm Heinrich (1861), 94. Die deutsche Volkskunde entstand in den frühen Anfängen der Moderne in Deutschland. Sie erhielt ihre Prägung als Wissenschaft vor allem ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Romantik und deren Vertreter, die Gebrüder GRIMM, August Wilhelm SCHLEGEL, Achim von ARNIM oder etwa Clemens von BRENTANO. Diese nutzten die theoretischen Überlegungen und Begrifflichkeiten von Johann Gottfried HERDER. Gegenstand ihrer Forschungen und Sammlungen waren die vom Verlust bedrohten Mythen, Märchen und Volkslieder. Die Volkskultur galt ihnen als zu bewahrender, verlässlicher Bestand in einer von Beschleunigung bedrohten Gegenwart. RIEHL setzte sich einige Jahre später mit Nachdruck für die Anerkennung der Volkskunde als Wissenschaft ein und gilt als einer ihrer Begründer. Vgl. BAUSINGER, Hermann u.a. (1999). RIEHL, Wilhelm Heinrich (1861), Vorwort zur ersten Auflage, o. S. Ebd. BERGMANN, Klaus (1979), 49. RIEHL Wilhelm Heinrich (1926), 140. Vgl. RIEHL, Wilhelm Heinrich (1861), 81.
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Englands gesellschaftlich-politischen Institutionen, sie schlägt die frischeste Kraft des französischen Volksthumes in Banden, sie ist das dunkle Gespenst der deutschen socialen Zukunft.“180
Die durch neue Verkehrswege und Industrieansiedlung wachsenden „künstlichen Städte“181 hält RIEHL nicht zuletzt für eine Folge der Kleinstaaterei in Deutschland, „denn beide haben gleiche Ursache, sich vor jeder naturgemäßen Reform unserer nationalen Zustände zu fürchten“182. Beispielsweise hätten Karlsruhe, Stuttgart, Darmstadt und Wiesbaden sich mit staatlicher Unterstützung zu künstlichen Gebilden entwickelt: „Die Regierungen lockten in manchen Staaten besitzlose Massen durch allerlei Vergunst in die künstlichen Hauptstädte, um die kleinliche Eitelkeit einer möglichst hohen Einwohnerziffer zu befriedigen. Daß dadurch nebenbei die Vollkraft der Bürgerschaft gebrochen und die Blüthe der Arbeit geknickt wurde, schien man zu übersehen. In den letzten Jahren aber ließ sich’s nicht mehr übersehen, daß gerade dieses von Regierungswegen künstlich erzeugte Proletariat das gesunkenste und zügelloseste von allen sey.“183
Die Bildung neuer, künstlicher Städte und das Anwachsen der alten Städte zu Großstädten sind für RIEHL „Symptome der Widernatur: Europa wird krank an der Größe seiner Großstädte. Die gesunde Eigenart Altenglands wird in London begraben, Paris ist das ewig eiternde Geschwür Frankreichs“184. Die „Riesenstädte zerstören die kleinen [...] mit des Dampfes Kraft und Eile.“185 Sie sind „die Wasserköpfe der modernen Civilisation. Wasserköpfe bekunden bekanntlich nicht selten ein frühreifes und äußerst erregtes Seelenleben. Man wird aber doch daraus nicht folgern wollen, daß die dicksten Köpfe allemal die gescheitesten und lebensfähigsten seyen“186. Nicht durch einen Geburtenüberschuss lässt sich das rasche Anwachsen der Städte erklären, so RIEHL, sondern durch einen Überschuss an Einwanderungen.187 Menschen ohne festen Beruf verlassen die ländliche Lebensweise, strömen in die Großstädte, um sie nach einiger Zeit glücklos wieder zu verlassen: „Es ist ihnen daheim zu langsam vorwärts gegangen, in der großen Stadt aber hoffen sie ernten zu können, ohne gesät zu haben. Sicher finden nur Wenige dieses geträumte Glück, die Mehrzahl dagegen strömt nach einiger Zeit wieder ab; dafür treten aber wieder ebenso viele und noch mehr Nachströmende ein, die ebenso rasch wieder verschwinden. Nicht durch die seßhafte, sondern durch die 180 181 182 183 184 185 186 187
Ebd., 82. Ebd., 109. Ebd., 111. Ebd., 112. Ebd., 118. Ebd., 82. Ebd., 119. Vgl. ebd., 119.
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fluthende und schwebende Bevölkerung werden unsere Großstädte so ungeheuerlich.“188
RIEHL setzt die Herrschaft der Großstadt über das Land ineins mit der Herrschaft des Proletariats.189 Ein „kurzlebiges Luxusgewerbe“190 bedient die Massen, auf der anderen Seite blüht aber auch das Kunsthandwerk in den großen Städten.191 Wenn RIEHL an einigen Stellen positive Seiten großstädtischen Lebens anführt, dann nur, um seiner Polemik stärkeres Gewicht zu verleihen, denn letztlich ist der „Gehalt des Künstlerthumes zur Magd der Technik erniedrigt“192. An anderer Stelle wird dies deutlich, wenn er die Hypertrophie der Großstädte beschreibt: Jede Großstadt hat den Hang, zur Weltstadt anzuwachsen und „das unterscheidende Gepräge der Nationalität“193 abzustreifen. Dort wohne ein ausgleichendes Weltbürgertum, das keine natürlichen Unterschiede gesellschaftlicher Gruppen geschweige denn Ständeordnungen kennt.194 Mehr noch: „Die Weltstädte sind riesige Encyklopädien der Sitte wie der Kunst und des Gewerbefleißes des ganzen civilisirten Europas.“195 Jedoch: „Wer in der Welt wie in einer Encyklopädie herumstöbert, der gewinnt, was er nicht errungen hat, darum wird er von dem Gewonnenen wenig behalten.“196 Der „Geist des Encyklopädismus“197 verhindere das schrittweise Erfahren der Welt: „Man schickt junge Leute in die Großstädte, damit sie die Welt kennen lernen. Allein den Rausch, die Verwirrung und – das Mißbehagen des Encyklopädismus werden die meisten zurückbringen, nicht reife Studien. Wer alles auf einmal sieht, der sieht nichts.“198 Große Künstler und Wissenschaftler stammen überwiegend aus Kleinstädten oder vom Land, behauptet RIEHL. Die „hervorragenden Talente“199 werden in ihren Einflussbereich gezogen, dort würden sie in eine „Art geistigen Pensionsstandes“200 versetzt. Der Soziologe Hans-Paul BARTH macht deutlich, dass RIEHL diese Großstadtkritik zu einer Zeit verfasste, zu der es in Deutschland noch gar keine Großstadt gab, die mit London oder Paris hätte verglichen werden können.201 Aber er häufte nicht nur Vorurteile aneinander, sondern sei ein genauer Beobachter gewesen. Seine Prognosen habe er jedoch nur als Verluste deuten 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201
Ebd. Vgl. ebd., 120. Ebd., 119. Vgl. ebd., 125. Ebd., 125. Ebd., 122. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., 123. Ebd., 122. Ebd., 123. Ebd. Ebd. Vgl. BAHRDT, Hans-Paul (1961), 60.
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können. Ein Erkennen der neuen, im Entstehen begriffenen Sozialformen sei ihm, wie den meisten seiner Zeitgenossen, verwehrt geblieben. Mit der Revolution von 1848 sah er das Ende der Ständegesellschaft kommen. Die „Mächte sozialen Beharrens“ machte er auf dem Land und die der „sozialen Bewegung“ in den Städten aus. RIEHL ist somit ein früher Vertreter eines kulturkritischen Konservatismus. Für die Soziologen HÄUSSERMANN und SIEBEL hat er das Fundament gelegt für eine dichotomische Stadtkritik, die fast ein Jahrhundert wirksam bleiben sollte: „Die Großstadt erschien ihm als Sammelbecken eines geschichts- und traditionslosen Proletariats […]. Damit war schon Mitte des 19. Jahrhunderts der Grundton der konservativen Großstadtkritik angeschlagen: Ein Murmeln von ‚Tiefe‘ und ‚Seele‘, von einer dunklen Wesenhaftigkeit, verbunden mit Geschichte und Natur. Intellektualität, Technik und Rationalität schienen geradewegs der Hölle entstiegen zu sein.“202
RIEHL versorgte ein nationalkonservatives Bürgertum mit dem idealisierten Bild eines intakten Bauerntums.
4.3.2 Ferdinand TÖNNIES (1855-1936) Weniger starr dichotomisch und antimodern als RIEHL reagierte der ihn bewundernde, eine Generation jüngere Soziologe Ferdinand TÖNNIES in seinem 1887 erschienenen Werk Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie203. TÖNNIES argumentierte kulturkritisch, jedoch ohne Rückzug in vormoderne Sozialidyllen. Der Titel des Buchs sollte für die sich später nach Gemeinschaft sehnende deutsche Jugendbewegung zu einer identifikatorischen Größe werden. TÖNNIES geht von der These aus, dass sowohl Gemeinschaft als auch Gesellschaft auf Willensbeziehungen von Individuen beruhen. Gemeinschaft meint die durch Abstammung und Geschlecht verbundenen Menschen, die sich gegenseitig bejahen.204 Für TÖNNIES zählen dazu die Mutter-KindBeziehung, die Beziehung von Mann und Frau oder die von Geschwistern.205 Als lebendiger Organismus sei Gemeinschaft auf die Vergangenheit bezogen und umgreife dauerndes und echtes Zusammenleben.206 TÖNNIES meint damit die Blutgemeinschaft, aus der sich die Gemeinschaft des Ortes und des Geistes entwickelt. TÖNNIES spezifiziert dies näher, wenn er Verwandtschaft (Ge202 203 204 205 206
HÄUSSERMANN, Hartmut; SIEBEL, Walter (2004), 26. Georg HANSEN „radikalisierte 40 Jahre nach RIEHL dessen Gedanken zu einer reaktionären Agrarromantik“ (ebd.). TÖNNIES, Ferdinand (1963). Es ist das Hauptwerk des Autors und die erste wissenschaftliche Arbeit der deutschen Soziologie. Es gilt bis heute als eines ihrer Grundlagenwerke. Vgl. ebd., 8. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 4f.
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meinschaft des Blutes), Nachbarschaft (Gemeinschaft des Ortes) und Freundschaft (Gemeinschaft des Geistes) betrachtet. Sie beruhten auf „wesensverbundenen Gesellungsformen“207. Unter Nachbarschaft versteht TÖNNIES das dörfliche Zusammenleben.208 Dort leben und arbeiten die Menschen eng zusammen, haben sich aneinander gewöhnt und besitzen vertraute Kenntnis voneinander. Nachbarschaft überdauert auch (etwas schwächer als die Verwandtschaft) kurzfristige räumliche Distanz, muss aber in der Regel durch bestimmte Rituale (Gewohnheiten der Zusammenkunft, Bräuche) gepflegt werden. In der Stadt ist für TÖNNIES die Gemeinschaftsform der Freundschaft am ausgeprägtesten: Menschen mit ähnlichem Beruf oder ähnlicher Denkrichtung knüpfen das Band der Freundschaft durch leichte und häufige Vereinigung. Auch sie müsse gepflegt werden. In der Stadt gibt es nach TÖNNIES zwar auch Nachbarschaften, geistige Freundschaft sei jedoch unabhängiger vom Ort und bilde „eine Art von unsichtbarer Ortschaft, eine mystische Stadt und Versammlung, die gleichsam durch eine künstlerische Intuition, einen schöpferischen Willen lebendig ist“209. Freundschaften sind seiner Meinung nach weniger instinktiv und unabhängiger von Gewohnheiten als Nachbarschaften.210 Sie sind „mentaler Natur“ und beruhen „auf Zufall oder auf freier Wahl“211. Geordnetes und durch „religiösen Kultus gestütztes Zusammenleben, Zusammenwohnen und Zusammenwesen“212 sei Merkmal der mittelalterlichen Gemeinschaft gewesen, die ökonomisch auf einer „Wirtschaft der Bedarfsdeckung“213 beruhte. Im Dorf und in der kleinen Stadt empfindet der Mensch „Ruhe, Würde, Sinnigkeit und gar viel von der stillen Schönheit“214. Im Katholizismus herrscht, so TÖNNIES, diese mittelalterliche Weltanschauung vor.215 Der Protestantismus als Bekenntnis, insbesondere in der Form des städtisch bürgerlichen Pietismus calvinistischer Prägung,216 der mit dem „großen Grundbesitz“ und dem „großen Kapital“217 eine innige Verbindung eingegangen sei, kennzeichne die Neuzeit. Sie weist nach TÖNNIES die Charakteristika der Gesellschaft auf und schließlich sei mit ihr die kapitalistische Produktionsund Verkehrsweise entstanden.218
207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218
Ebd., 5. Vgl. ebd., 15. Ebd., 16. Vgl. ebd. Ebd. TÖNNIES, Ferdinand (1926), 61f. Ebd., 82. Ebd., 34. Vgl. ebd., 62. Vgl. ebd., 21f. Ebd., 73. Vgl. ebd., 82.
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Gesellschaft ist nach TÖNNIES ein „mechanisches Aggregat und Artefact“219, in dem die Menschen lediglich vorübergehend oder nur scheinbar zusammenleben können.220 Im Gegensatz zur Gemeinschaft ist die Gesellschaft ein Phänomen der Moderne.221 Die Menschen lebten zwar auch friedlich miteinander, seien „aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt [...], und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleibend trotz aller Verbundenheiten“222. Ein jeder ist in der Gesellschaft „für sich alleine, und im Zustande der Spannung gegen alle übrigen. Die Gebiete ihrer Tätigkeit und ihrer Macht sind mit Schärfe gegeneinander abgegrenzt, so dass jeder dem anderen Berührungen und Eintritt verwehrt, als welche gleich Feindseligkeiten geachtet werden“223. Die „Tendenz der Besonderung, zur Differenzierung und Individualisierung“224 und der Kapitalismus sind nach TÖNNIES Kennzeichen für den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.225 Der Individualismus würden dabei zum Träger der Gesellschaft.226 Er schreibt: „Der individuelle Mensch steht also im Schnittpunkte der zwei Diagonalen, die wir denken mögen als Anfangs- und Endpunkte einer Kulturentwicklung verbindend: er geht hervor aus Gemeinschaft, er gestaltet Gesellschaft. Gemeinschaft ist ihrem Wesen nach begrenzt und tendiert zur Intensität. Gesellschaft ist ihrem Wesen nach grenzenlos und tendiert zur Extension.“227
Wie in einem Hohlspiegel stelle sich die Natur der Gesellschaft im internationalen und nationalen Börsen- und Marktverkehr mit all ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten wie Tausch228, Handelskonkurrenz und konventionelle Geselligkeit dar. Letztere ist, so der Autor, nach den Regeln der Höflichkeit ein „Austausch von Worten und Gefälligkeiten, in welchem jeder für alle da zu sein, alle jeden als ihres gleichen zu schätzen scheinen, in Wahrheit jeder an sich selber denkt und im Gegensatze zu allen übrigen seine Bedeutung und seine Vorteile durchzusetzen bemüht ist“229. Der Vergesellschaftungsprozess stellt sich, ökonomisch betrachtet, als „Übergang von allgemeiner Hauswirtschaft zu allgemeiner Handelswirtschaft, und im engsten Zusammenhange damit: von vorherrschendem Ackerbau zu vorherrschender Industrie“230 dar. 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230
TÖNNIES, Ferdinand (1963), 5. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 4. Ebd., 40. Ebd. TÖNNIES, Ferdinand (1926), 5. Vgl. ebd., 60. Vgl. ebd., 10. Ebd., 26. Hier nimmt TÖNNIES die Annahme SIMMELs vorweg, nach der der Tausch eine soziale Beziehung sui generis ist. Vgl. FRISBY, David (1988), 203. TÖNNIES, Ferdinand (1963), 54. Ebd.
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Während für TÖNNIES die Kleinstadt an sich ein „gemeinschaftlich lebender Organismus“231 ist – an anderer Stelle spricht er von Stadt als „großer Familie“232, die durch Religion und Kirche geprägt ist233 – zerbricht das Gemeinschaftsgefüge in der Großstadt und wird zur Siedlungsform der Gesellschaft: „Erst wenn die Stadt sich zur Großstadt entwickelt, verliert sie diese [lokale Struktur von Dorf und Stadt im Gegensatz zur familialen Struktur des Hauses] fast gänzlich, die vereinzelten Personen oder doch Familien stehen einander gegenüber und haben ihren gemeinsamen Ort nur als zufällige und gewählte Wohnstätte.“234
In der Großstadt herrschen Vertragsverhältnisse, die mit innerer Feindseligkeit aufgrund antagonistischer Interessen einhergehen: „Während daher das gemeine städtische Leben durchaus innerhalb der Gemeinschaft des Familienlebens und des Landes beharrend, wohl auch dem Ackerbau, aber besonders der in diesen natürlichen Bedürfnissen und Anschauungen beruhenden Kunst und dem Handwerk sich hingibt, so hebt seine Steigerung zur Großstadt sich scharf dagegen ab, um jene ihre Basis nur noch als Mittel und Werkzeug für ihre Zwecke zu erkennen, zu gebrauchen. Die Großstadt ist typisch für die Gesellschaft schlechthin. Sie ist daher wesentlich Handelsstadt und, insofern der Handel die produktive Arbeit darin beherrscht, Fabrikstadt. Ihr Reichtum ist Reichtum an Kapital, welches in Gestalt von Handels-, Wucheroder Industriekapital durch seine Anwendung sich vermehrenden Geldes ist; Mittel zur Aneignung von Arbeitsprodukten oder zur Ausbeutung von Arbeitskräften.“235
Im „Mischkessel“ Großstadt „verdampfen“ gerade junge und gesunde Menschen, ihre Stimmung wirkt „gedämpft, trüb und oft gedrückt“236. Sie ist die „erlesene Stätte der ganzen ungeheuren Häßlichkeiten des modernen Lebens“, gezeichnet durch „atemlose Geschäftigkeit“, „Getöse und Aufregung“, „Fremdheit“ und „Wurzellosigkeit“, „Individualismus und Egoismus“, „Genußsucht“ und „Gewinnsucht“237. Die familiäre Haushaltung, typisch für Dorf und Stadt, gehe in der Großstadt verloren. Sie wird „steril, eng, nichtig, und geht unter in den Begriff einer bloßen Wohnstätte, dergleichen überall, für beliebige Fristen um Geld zu haben ist; nicht anders als eine Herberge auf Reisen, in der Welt“238. Eine Steigerung dieses Großstadtbildes stellt nach TÖNNIES die Weltstadt dar, in der „Geld und Kapital unendlich und allmächtig“239 231 232 233 234 235 236 237 238 239
Ebd., 36. Ebd., 247. Vgl. ebd., 251. Ebd., 246. Ebd., 246f. Hervorhebungen im Original. TÖNNIES, Ferdinand (1926), 97. Ebd., 99f. TÖNNIES, Ferdinand (1963), 159f. Ebd., 247.
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sind. Sie kann sich wegen der geringeren Fruchtbarkeit ihrer Bewohner nur mittels Zuwanderung halten und sei im Grunde ein „Grab der Menschheit“240. Das Familienleben zerfalle in der Großstadt und Weltstadt in einem Maße, dass die noch existierenden familialen Reste einen beinahe zufälligen Eindruck machen, „denn nur wenige gehen hier mit der Kraft ihres Willens in einem so engen Kreise auf. Alle werden durch Geschäfte, Interessen, Vergnügungen nach außen und auseinander gezogen“241. Die Leerstelle, die sich durch geschwundene Sitte und Religion aufgetan habe, werde lediglich durch Konvention geschlossen: „Konvention will wenigstens den Schein der Sittlichkeit bewahren.“242 Großstadt und Gesellschaft sind nach TÖNNIES „das Verderben und der Tod des Volkes, welches umsonst sich bemüht, durch seine Menge mächtig zu werden, und, wie ihm dünket, seine Macht nur zum Aufruhr gebrauchen kann, wenn es seines Unglücks ledig werden will“243. Die moderne Kultur, schreibt er 1926, sei „in einem unaufhaltsamen Zersetzungsprozeß begriffen. Ihr Fortschritt ist ihr Untergang“244. Die Gebilde der Neuzeit sind mechanisch und haben nur Wert in Bezug auf ihren Zweck, den äußeren Vorteil.245 TÖNNIES ist ein Fortschrittsskeptiker, aber kein Kulturpessimist wie Oswald SPENGLER. Nach TÖNNIES hat die Neuzeit das „Gedankenleben und dadurch unser Gemütsleben mit ungeheuren Spannungen erfüllt, die uns über alles Alltägliche, und sogar über den Genuß des Schönen und Guten, hinausheben, weil wir den großen intellektuellen Genuß haben, weiter zu schauen, als je ein Zeitalter vor uns vermochte, unsere Wißbegierde und Neugier immer neu zu befriedigen, weil wir uns glücklich preisen, die Ursachen und Wirkungen der Dinge zu erkennen und der Welt in allen ihren schönen und häßlichen Erscheinungen mit Bewunderung, in einigem Maße auch mit Verständnis gegenüber zu stehen“246.
4.3.3 Oswald SPENGLER (1880-1936) Ein Bestseller der Kulturkritik war Der Untergang des Abendlandes247 von Oswald SPENGLER. Das Buch erschien kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs, das Manuskript existierte aber bereits vor dessen Beginn in einer ersten Fas-
240 241 242 243 244 245 246 247
TÖNNIES, Ferdinand (1926), 54. TÖNNIES, Ferdinand (1963), 248. Ebd., 249. Hervorhebung im Original. Ebd., 250. TÖNNIES, Ferdinand (1926), 35. Vgl. ebd., 34. Ebd., 35. SPENGLER, Oswald (1920).
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sung.248 „Schon der Titel klingt wie eine Fanfare kommenden Unheils“249, schreibt BOLLENBECK. Mit SPENGLER setzten sich Schriftsteller, Historiker, Philosophen und Soziologen auseinander, darunter Thomas MANN, Robert MUSIL und Martin HEIDEGGER. Das Buch passte in die Stimmung der Nachkriegszeit nach 1918 und „längerfristig zum Bewusstsein der entzauberten Moderne“250. Es verschärft, so BOLLENBECK, „die Angst vor der kulturellen Enteignung durch die Moderne, die Enttäuschung über die nationale Enteignung durch Versailles und die Vorbehalte gegenüber Großstadt und Geldherrschaft, gegen die Aufklärung, die westliche Zivilisation, den Liberalismus und die Massen“251.
Die Menschen leben in der Großstadt inmitten von „Staub und fremdartigem Lärm“252, sie „hausen darin“253 wie „intellektuelle Nomaden“254. Den Großstädter bezeichnet er als „weltstädtischen Gehirnmenschen“255 mit einer „blasierten Intelligenz“256. Er bedient sich der Presse als „Machtmittel der herrschenden Stadt“257 und schreibt dem Land die öffentliche Meinung vor. Demgegenüber nährt der Bauer als „die immer fließende Quelle des Blutes“258 den Städter mit Brot,259 nun aber „saugt die Riesenstadt das Land aus, unersättlich, immer neue Ströme von Menschen fordernd und verschlingend, bis sie inmitten einer kaum noch bevölkerten Wüste ermattet und stirbt“260. SPENGLER expliziert seine These von der biologischen Selbstzerstörung als Kritik an der Stadt:
248
249 250 251 252 253 254 255 256 257 258 259 260
Vgl. SPENGLER, Oswald (1920), Vorwort, o. S. Inwiefern das Buch vom Krieg geprägt ist und damit von einer radikalisierten, „forciert antihuman“ sich gebenden Nachkriegsgeneration, wird von BOLLENBECK thematisiert: „Auch wenn ein großer Teil des Werks in einer ersten Niederschrift bereits vor 1914 vorliegt, so ist es doch, während des Krieges nochmals überarbeitet, vom Krieg geprägt. Spenglers ‚Untergang des Abendlandes‘ zeigt, dass die ‚Ideen von 1914‘, die Rechtfertigung des Krieges als Kampf der deutschen Kultur gegen die westliche Zivilisation, ja dass der Krieg überhaupt als eine ‚Maschine zur Brutalisierung der Welt‘ (Eric Hobsbawm), auch die Kulturkritik erfasst [sic!]. Ohne die Goldmarksekuritäten, verunsichert durch Krieg und Revolution, findet eine Radikalisierung und Politisierung statt, angesichts derer die apolitische Lebensreform der Vorkriegszeit, die Berufung auf den ‚Rembrandtdeutschen‘ und die ‚Seelenrevolution‘ zunehmend unzeitgemäß wirken. Vorstellungen einer Gesellschaftsreform als Reform der Kultur oder des Lebens sinken im Kurs.“ (BOLLENBECK, Georg, 2007, 216). BOLLENBECK, Georg (2007), 215. Ebd., 217. Ebd. SPENGLER, Oswald (1922), 111. Ebd. Ebd., 118. SPENGLER, Oswald (1920), 49. Ebd., 159. SPENGLER, Oswald (1922), 112. Ebd., 113. Vgl. ebd., 111. Ebd., 120.
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„Auf dieser Stufe beginnt in allen Zivilisationen das mehrhundertjährige Stadium einer entsetzlichen Entvölkerung. Die ganze Pyramide des kulturfähigen Menschentums verschwindet. Sie wird von der Spitze herab abgebaut, zuerst die Weltstädte, dann die Provinzstädte, endlich das Land, das durch die über alles Maß anwachsende Landflucht seiner besten Bevölkerung eine Zeitlang das Leerwerden der Städte verzögert. Nur das primitive Blut bleibt zuletzt übrig, aber seiner starken und zukunftsreichen Elemente beraubt. Es entsteht der Typus des Fellachen.“261
Dörfer fügen sich noch organisch in das Landschaftsbild ein, die Seele des in ihnen lebenden Menschen „schwingt ein in das prägende Landschaftsbild“262. Je deutlicher sich das Städtische ausprägt, desto stärker hebt es sich von der Umgebung ab, verneint die Natur und führt als Weltstadt zur „Vernichtungsarbeit am Landschaftsbilde“263. Die Merkmale der Verstädterung und Urbanisierung werden von SPENGLER durchgehend negativ konnotiert: die Wanderungsbewegungen bezeichnet er als „Landflucht“264, das Phänomen der überseeischen Auswanderung entspringt der gigantischen „Verneinung eines noch irgendwie begrenzten Heimatgefühls“265, dem „tiefen Bedürfnis, allein zu bleiben“266, dem „unbändige[n] Wunsch nach Freiheit, Einsamkeit, ungemessener Selbständigkeit“267. Es ist das Lebensgefühl des faustischen Menschen der Zivilisation, der im Gegensatz zum apollinischen der Vorzeit alles wagt,268 den Anderen hinsichtlich seiner Tätigkeit, nicht seines Seins, wahrnimmt,269 der einen „Wille[n] zur Macht“270 entwickelt. Nach BOLLENBECK ist SPENGLERs „‚Untergang des Abendlandes‘ […] ein Werk, das nahezu alle Motive der zeitgenössischen Kulturkritik verarbeitete und zu einer umfassenden Synthese verband“271. Dabei präsentierte SPENGLER sich „bewusst als akademisch randständiger Denker und […] erhebt den Anspruch einer privilegierten Schau, einer ebenso umfassenden wie rücksichtslosen Weltdeutung“272. BOLLENBECK kommt zu folgendem Schluss: Das Buch biete genügend Stoff für „Kritik und Ridikülisierung“273, damit sei aber seine Resonanz noch nicht geklärt. Sie resultiere aus einem „Weltanschauungsangebot mit Breitbandsemantik“, dessen Attraktivität sich erst erschließe, wenn man in den Blick nähme, wie SPENGLER „kulturkri261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273
Ebd., 125. Hervorhebung im Original. Ebd., 111. Ebd. SPENGLER, Oswald (1920), 68. Ebd., 463. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., 438. Vgl. ebd., 427. Ebd., 421. BOLLENBECK, Georg (2007), 220. Ebd. Ebd., 219f.
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DIE GROSSSTADT ZWISCHEN LABORATORIUM UND SÜNDENBABEL
tische Befunde integriert und präsentiert“274 habe. Diese Form der Großstadtkritik habe nur dermaßen erfolgreich sein können, weil es genügend Anschauung für apokalyptische Gesellschaftsvisionen gab. Die Wohnverhältnisse, die Bedingungen, unter denen Kinder aufwuchsen, die Mobilität, der Schmutz, der Lärm: „Stabile soziale Beziehungen blieben undenkbar, solange sich keine Sesshaftigkeit in der Großstadt herausbildete – und dies alles fand vor dem Hintergrund der früheren ländlich-agrarischen Existenz statt!“275 Für BOLLENBECK gehört der Untergang des Abendlandes zum „Standardrepertoire einer antimodernen Argumentationsweise gegen die kulturelle Moderne, die das Fremde und Neue ausgrenzen will“276. Die Kritik gegenüber den Zumutungen der Moderne gibt es also seit dem Fortschrittsdiskurs der Aufklärung. Mit den Auswirkungen des Industriezeitalters präsentierte sich dieser Diskurs, wie aufgezeigt werden konnte, in immer zugespitzteren Formen affektgeladener Verlustgeschichten. Gerade in Deutschland wurde diese Art Kulturkritik – angefangen mit NIETZSCHE und dann im Niveau über KLAGES, SPENGLER zu LANGBEHN sinkend – ab dem Fin de Siècle zum herrschenden Zeitgeist des Bürger- und Kleinbürgertums. Auf der Ebene der Kritik der Großstadt konnte sie sich wortreich, affektiv und kaum reflexiv artikulieren und fand dort ihr Objekt sui generis. Mit dem herrschenden Zeitgeist des Bürger- und Kleinbürgertums stimmten auch die deutschen Katholiken größtenteils überein. Der Historiker Heinrich LUTZ schildert bereits 1963 auf luzide Weise das geistige Mittelmaß der Katholiken, das „weithin von Unsicherheit, Ängstlichkeit und Inferioritätsgefühl geprägt war“277. Die deutschen Katholiken wollten nach dem Ende des Kulturkampfs mehr sein als nur eine Randgruppe im Deutschen Reich: „Episkopat, Klerus und Laien [hatten] die Neigung zu einer Praxis weitgehender Konformität mit der staatlichen Gewalt. [...] Die Gesamtatmosphäre war stickig und selbstgenügsam geblieben. Man kam aus dem kulturellen Ghetto nicht wirklich heraus [...]. Die Anpassung an die Talmi-Kultur des wilhelminischen Zeitalters [...] bestimmte auch weiterhin den Tenor des innerkatholischen Lebens. Man hatte im Kulturkampf die Kirche als Volkskirche bewahrt; aber man hatte dann die herbe Kraft der Opposition hingegeben, ohne mehr dafür einzuhandeln als eine tolerierte Existenz als ‚Untermieter‘ im Gebäude des Reiches.“278
Der Blick ist in den folgenden beiden Kapiteln auf die langen, schwierigen und vielfältigen Auseinandersetzungen des deutschen Katholizismus mit der Moderne gerichtet und zwar von deren Anfängen in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik. 274 275 276 277 278
Ebd., 220. HÄUSSERMANN, Hartmut; SIEBEL, Walter (2004), 28. BOLLENBECK, Georg (2007), 222. LUTZ, Heinrich (1963), 20. Ebd., 19f.
5 DER DEUTSCHE KATHOLIZISMUS ZWISCHEN TRADITION UND AUFBRUCH
5.1 Grundtendenzen des deutschen Katholizismus im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert 5.1.1 Der Milieukatholizismus Wenn im Folgenden zunächst der Begriff katholisches Milieu1 diskutiert wird, so ist damit nach Karl GABRIEL „ein abgrenzender und ausgrenzender katholisch-konfessioneller Gruppenzusammenhang mit einem gewissen Wir-Gefühl gemeint, der über eine eigene ‚Welt-Anschauung‘, eigene Institutionen und eigene Alltagsrituale verfügt“2. Émile DURKHEIM hatte darauf hingewiesen, dass innerhalb des „sozialen Milieu[s]“3 ein „Korpus moralischer Regeln“4 1
2 3
Angeregt durch Carl AMÉRYs Katholizismus-Aufsatz von 1963 hat der Milieubegriff durch den Soziologen Mario Rainer LEPSIUS Eingang in die historisch orientierte Sozialforschung gefunden. Vgl. AMÉRY, Carl (1963). Vgl LEPSIUS, M. Rainer (1963). LEPSIUS hatte diesen Begriff 1963 mit seiner Untersuchung über die soziokulturellen Implikationen des Wahlverhaltens in der Zeit zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik in die deutschsprachige Diskussion eingeführt. Er greift dabei auf einen Milieubegriff zurück, wie ihn die Sozialwissenschaften schon zuvor verwendet haben, nämlich als Gesamtheit der natürlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten, in deren Mitte (au milieu de) sich das Individuum bewegt. Eine lange Tradition hat dieser Begriff in den französischen Sozialwissenschaften vor allem in der DURKHEIM-Schule und in der phänomenologischen Soziologie. Zur phänomenologischen Soziologie als Methode vgl. SCHÜTZ, Alfred; LUCKMANN, Thomas (1988). Zur historischen Entwicklung des Milieubegriffs vgl. HRADIL, Stefan (1987). Vor allem im Bereich Sozialgeschichte hat dieser Begriff seit den 1980er Jahren Konjunktur. Vgl. NIPPERDEY, Thomas (1988). Für die Katholizismusforschung wird der Milieubegriff ebenfalls seit den 1980er Jahren geradezu zum Forschungsparadigma. Zum gegenwärtigen Stand der Katholizismusforschung vgl. den Literaturbericht bei LÖNNE, Karl-Egon (2000). Ob und inwiefern von einem protestantischen Milieu die Rede sein kann, wird ausführlich diskutiert im Sammelband BLASCHKE, Olaf; KUHLEMANN, Frank Michael (1996). Zu den sozialen und kulturellen Transformationen des Protestantismus im Anschluss an die Milieudefinition von LEPSIUS vgl. auch die Habilitationsschrift REEKEN, Dietmar von (1999) Zur Differenzierung der protestantischen Gemeindemilieus vgl. BRAKELMANN, Günter (1990). Wie sehr die Vereinsbildung zur Stabilisierung des protestantischen, des liberal-bürgerlichen und des ostelbisch-konservativen Sozialmilieus beitragen konnte, macht Claudia LEPP in ihrer Studie über den Deutschen Protestantenverein deutlich, der sich ab 1863 um eine Vermittlung zwischen protestantischer Kirche, vielmehr dem kirchlich-liberalen Protestantismus und der modernen Industriegesellschaft bemühte. Vgl. LEPP, Claudia, 1996. GABRIEL, Karl (1992), 96. DURKHEIM, Émile (1988), 56. Vgl. ebd., 305. Zu den verschiedenen Milieudimensionen und ihrer ideengeschichtlichen Entwicklung vgl. KEIM, K. Dieter (1979), 27ff.
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DER DEUTSCHE KATHOLIZISMUS ZWISCHEN TRADITION UND AUFBRUCH
existiert, welcher interne Reibungsflächen verringern, aber auch Zwangscharakter annehmen kann.5 In gesellschaftlichen Großgruppen überwinden Verkehrs- und Kommunikationskanäle die Entfernungen im physischen und sozialen Raum. Die Soziologie hat nach DURKHEIM die Aufgabe, „die verschiedenen Eigentümlichkeiten dieses Milieus, die auf den Ablauf der sozialen Phänomene einzuwirken vermögen, zu entdecken“6. Ihr Analysefeld sind „soziologische Tatbestände“ (im Original „fait social“, in deutscher Übersetzung überwiegend „soziale Tatsache“ genannt).7 Sie umfassen auch Meinungsströmungen, die das Handeln des Individuums beeinflussen und sich zum Kollektivgeist verdichten können.8 DURKHEIM schreibt: „Daß sich die Bevölkerung in den Städten zusammendrängt, anstatt sich über das Land zu verstreuen, geschieht, weil es eine Meinungsströmung und einen kollektiven Drang gibt, der den Einzelnen eine solche Konzentration auferlegt.“9
Schon bei DURKHEIM wird deutlich, wie sich in großen, arbeitsteilig organisierten sozialen Milieus kollektive Wahrnehmungsmuster über Kommunikationskanäle verbreiten. Milieus sind – anders gewendet – „verdichtete Räume sozialer Kommunikation“10, die gemeinsame Deutungsmuster der Wirklichkeit auf der Ebene des Denkens, Empfindens und Handelns herausbilden.11 Dabei ist die „konfessionelle Publizistik […] zugleich ein aussagekräftiges Indiz für die Nähe oder Ferne der Kirche zu den Veränderungen in der Gesellschaft“12. LEPSIUS spricht von „sozialen Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionaler Tradition, wirtschaftlicher Lage, kultureller Orientierung, schichtspezifischer Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet werden“13. Er definiert dabei den deutschen Katholizismus als „höchst geschlossenes, regional gegliedertes und hierarchisch
4 5
6 7
8 9 10 11 12 13
DURKHEIM, Émile (1988), 56. Vgl. ebd. DURKHEIM schreibt: „Sobald im Schoß einer politischen Gesellschaft eine bestimmte Anzahl von Individuen Ideen, Interessen, Gefühle und Beschäftigungen gemeinsam haben, die der Rest der Bevölkerung nicht mit ihnen teilt, ist es unvermeidlich, daß sie sich unter dem Einfluß dieser Gleichartigkeit wechselseitig angezogen fühlen, daß sie sich suchen, in Verbindung treten, sich vereinen und auf diese Weise nach und nach eine engere Gruppe bilden, die ihre eigene Physiognomie innerhalb der allgemeinen Gesellschaft besitzt.“ (DURKHEIM, Émile, 1988, 55). Ebd., 195. „Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt.“ (DURKHEIM, Émile, 1965, 114). Vgl. ebd., 105. Ebd., 113. KÖSTERS, Christoph; LIEDHEGENER, Antonius (2001), 24. Vgl. die Definition historischer Mentalitäten bei DINZELBACHER, Peter [Hrsg.] (1993), XXI. SÖSEMANN, Bernd (1990), 412. LEPSIUS, M. Rainer (1966), 383. Vgl. auch LEPSIUS, M. Rainer (1973), 68.
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aufgebautes [...] Sozialmilieu“14 und unterscheidet dabei insgesamt vier verschiedene Sozialmilieus, die die deutsche Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts segmentieren: das katholische, das liberal-bürgerliche, das ostelbisch-konservative und das sozialistische Milieu.15 Zwei dieser Großmilieus erreichten nach GABRIEL mit „einer ‚negativen Integration‘ in die Gesellschaft […] eine hohe interne Bindungswirkung und Konsistenz“16. Bei Gründung des Deutschen Reichs durch BISMARCK existierten zwei Milieus, die sich nicht integrieren ließen und deshalb zu „Reichsfeinden“17 erklärt werden mussten: zum einen das sozialistische Milieu, das sich auf Basis der gemeinsamen Klassenlage definierte, zum anderen große Teile der katholischen Bevölkerung, die durch Konfessionszugehörigkeit ein starkes Milieu bildeten. Im Unterschied zum sozialistischen Arbeitermilieu war das katholische Milieu nach GABRIEL „ein klassenübergreifendes Milieu, das ländlich-bäuerliche, handwerkliche, in geringem Maß auch bürgerliche Schichten und Teile des Adels, aber auch katholische Arbeiter umfaßte“18. Die soziale Struktur des katholischen Milieus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war überaus komplex. Neben der Konfession aber hatten die Katholiken vor allem eines gemeinsam: „Sie waren alle eher negativ betroffen vom staatlich forcierten und von einer Koalition aus Bürgertum und Adel getragenen Modernisierungsprozeß in Wirtschaft und Gesellschaft und suchten nach Schutz und eigenen Wegen im Umbauprozeß des Gesellschaftssystems. Auf dieser Grundlage kam es zu einem Schulterschluß zwischen der um eine eigenständige Existenz kämpfenden katholischen Kirche und denjenigen Bevölkerungsgruppen, die im Festhalten an der Tradition und in der Praktizierung volksreligiöser Frömmigkeit Halt und Sicherheit vor der Infragestellung und Auflösung ihrer Lebenswelt und in neuen, für sie bisher unbekannten Lebenssituationen suchten.“19
Die bäuerlich ländlichen Katholiken also suchten im katholischen Milieu Schutz vor der Bedrohung ihrer Lebenswelt durch die sich überstürzende In14 15 16 17
18
19
Ebd., 69. Vgl. ebd. GABRIEL, Karl (1998), 96. BOLLENBECK, Georg (1999), 185. BOLLENBECK schreibt: „Die Gesellschaft bleibt eine autoritär geprägte Klassengesellschaft, mit einer großen Bereitschaft, ‚Reichsfeinde‘, mag es sich um Polen, Juden, Katholiken oder Sozialdemokraten handeln, zu stigmatisieren.“ (Ebd., 184f.). GABRIEL, Karl (1998), 97. Der Begriff sozial-moralisches Milieu (zur Verknüpfung von Werten und Tugendvorstellungen mit dem katholischen Milieu vgl. AMERY, Carl, 1963, 20ff.) hat dabei einen weiteren Bezugsrahmen als der Klassenbegriff, zumal bis auf das sozialistische Arbeitermilieu die übrigen Sozial-Milieus keine strenge Klassenhomogenität aufwiesen. Vgl. LEPSIUS, M. Rainer (1966), 38. Vgl. auch LEPSIUS, M. Rainer (1973), 68. Schichtenheterogene gesellschaftliche Großgruppen wie der Katholizismus lassen sich als Sozialmilieu begrifflich fassen, schichtenhomogene Großgruppen wie die sozialistische Arbeiterschaft als Milieus im engeren Sinne. Vgl. WEICHLEIN, Siegfried (1995), 75. GABRIEL, Karl (1998), 97.
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dustrialisierung bzw. Verstädterung. Katholische Arbeiter sahen im protestantischen Industriellen den Verantwortlichen für die Verelendung ihrer Existenz in den neuen urbanen Agglomerationen. Den katholischen Bürger schützte das Milieu vor Inferioritätsgefühlen angesichts der protestantisch geprägten kulturellen Hegemonie. Der Adel schließlich hoffte auf die Wahrung seiner Privilegien im katholischen Ordnungsgefüge. Im Gegensatz zu einer differenzierten Ein-Milieu-These sieht Wilfried LOTH im deutschen Katholizismus „mehrere, sozial unterschiedliche Milieus“20 verbunden und definiert Sozialmilieus mit stärkerem Blick auf sozioökonomische Faktoren als „eine soziale Einheit [...], die sich durch eine relativ gleichartige Form materieller Subsistenzbegründung und zugleich durch ein Bündel gemeinsamer Werthaltungen, kultureller Deutungsangebote, politischer Regeln, historischer Traditionen und lebenspraktischer Erfahrungen von anderen Einheiten unterscheidet“21.
Um seine These verschiedener katholischer Milieus zu bestärken, bezeichnet er die Sozialgestalt der Kirche im 19. Jahrhundert mit Urs ALTERMATT als „katholische Subgesellschaft“22, die in einem eminent sozialgeschichtlichen Zusammenhang steht: „Milieus sind ohne kulturelle Orientierungen, die sich im kollektiven Verhalten niederschlagen, nicht denkbar; hierin zeigt sich zuerst das Spezifikum eines jeden Milieus, das es von anderen Milieus unterscheidet. [...] Es stellt eine Form der Vergesellschaftung dar, die auf gemeinsamen oder gleichartigen Erfahrungen, Interessen und geteilten Überzeugungen beruht und folglich von Traditionen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lagern geprägt wird. Diese Vergesellschaftung führt zur Ausbildung einer gemeinsamen Lebensweise, die affektiv besetzt ist und wesentlich zur Tradierung der Deutungskultur des Milieus beiträgt.“23
ALTERMATT versteht unter Subgesellschaft ein „nationales Subsystem“24 von Menschen, die durch eine gemeinsame Subkultur (Wertvorstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen) und eine gemeinsame Substruktur (soziale Beziehun20 21 22
23
24
LOTH, Wilfried (2001), 80. LOTH, Wilfried (1984), 35. So der Titel des Aufsatzes von ALTERMATT, Urs (1980). An anderer Stelle spricht LOTH von „unterschiedlichen Teilmilieus innerhalb des ultramontanen Milieus“ (LOTH, Wilfried, 1991, 267). LOTH, Wilfried (2001), 90. LOTH entwickelt seinen Begriff der Subgesellschaft gegen die Ausblendung des Sozialen und der alltäglichen Lebenswelt in der Definition von BLASCHKE und KUHLEMANN. Sie verstehen unter einem religiösen Milieu einen „sozialen Kreis, in dem zahlreiche Strukturdimensionen koinzidieren, ein Kreis, der gleichzeitig die Divergenz sozioökonomischer Interessenlagen aushält, weil er im Kern konfessionell bestimmt ist, von dort aus durch Sozialisationsprozesse und Institutionen seine Geltung auf viele, im Idealfall alle Lebenssphären ausdehnt und so ein gesellschaftliches Konstrukt in der oder gegen die Moderne darstellt“ (BLASCHKE, Olaf; KUHLEMANN, Frank-Michael, 1996, 53). ALTERMATT, Urs (1980), 147.
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gen und Organisationen) miteinander verbunden sind.25 Erst beide Aspekte zusammen genommen stiften die ideologisierte Identität der jeweiligen Subgesellschaft.26 Auf den untersuchten Schweizer Katholizismus angewandt, den ALTERMATT wie etwa auch die Sozialdemokratie als „weltanschaulichen Block“ bezeichnet, wird deutlich, daß nur solche Katholiken der katholischen Subgesellschaft zuzurechnen sind, die kulturelle und strukturelle Elemente zu integrieren vermochten: „Die kirchentreuen und für die katholische Sache öffentlich einstehenden Katholiken konstituierten auf diese Weise im Endeffekt eine eigene Sondergesellschaft in der schweizerischen Gesellschaft.“27 ALTERMATTs Ansatz ist auf die Situation des deutschen Katholizismus übertragbar, denn auch in Deutschland führten Konfliktlinien, etwa zwischen katholischer Kirche und protestantischem Staat, zu einer Festigung des katholischen Milieus. Für die Schweiz stellt ALTERMATT fest: „Diese Konflikte führten dazu, daß sich die kirchentreuen Katholiken mit der Kirchenhierarchie an der Spitze in eine abgesonderte Teilgesellschaft zurückzogen und dort abkapselten, um sich in der geschützten Defensivstellung gegen den als bedrohlich empfundenen Zeitgeist und seine Propagandisten abzuschirmen und die althergebrachten Wertvorstellungen und Normen der von der Kirche verkündeten Weltanschauung und Sittenlehre zu verteidigen.“28
Nach Karl GABRIEL weisen Milieus als „sozial vermittelte alltägliche und selbstverständliche Umwelt des Individuums bzw. sozialer Gruppen“29 drei Dimensionen auf:30 Erstens gemeinsame Standards der Sinnkonstruktion (Werte und Normen),31 zweitens ein gemeinsames institutionelles Netzwerk und drittens die miteinander geteilte Ritualisierung des Alltags. 25 26
27 28 29 30
31
Vgl. ebd. Die Begriffe Säule (Niederlande), spirituelle Familie (Belgien und Frankreich), Lager (Österreich) oder Weltanschauungspartei (Schweiz und Deutschland) verwendet ALTERMATT synonym. ALTERMATT, Urs (1980), 151. Ebd., 159. GABRIEL, Karl (1990), 242. Vgl. GABRIEL, Karl (1998a), Spalte 253. Vgl. schon früher KÜHR, Herbert (1985). Zur Restauration der Sozialmilieus nach 1945 vgl. QUINK, Cornelia (1987). Im Anschluss an Herbert KÜHR greift sie die drei Dimensionen des katholischen Milieus auf, benennt die durch Industrialisierung, wachsende Mobilität und soziale Differenzierung hervorgerufenen „Auszehrungs- und Schrumpfungserscheinungen“ (ebd., 314) seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und charakterisiert die Unionsparteien nach 1945 „wahlsoziologisch als Parteien des katholischen Milieus“ (ebd., 321). Zur Kritik, die Ritualisierung des Alltagslebens zu einem eigenständigen Kriterium der Milieuanalyse zu machen vgl. BLASCHKE, Olaf; KUHLEMANN, FrankMichael (1996), 33f. Milieus können „als durch kollektive Sinndeutung organisierte gesellschaftliche Großgruppen“ (KÖSTERS, Christoph; LIEDHEGENER, Antonius, 2001, 24) bezeichnet werden. Vgl. die Definition des Arbeitskreises für Katholizismusforschung: „Ein Milieu ist als eine sozial abgrenzbare Personengruppe Träger kollektiver Sinndeutung und Wirklichkeit. Es prägt reale Verhaltensmuster aus, die sich an einem Werte- und Normenkomplex orientieren, hier als Mi-
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Innerhalb der ersten Dimension, der Weltanschauungs- oder kulturellen Dimension32, unterscheidet GABRIEL eine kognitive, eine affektive und eine alltagsmoralische Subdimension:33 „In der kognitiven Dimension enthält das Milieu die in sozialer Interaktion hergestellten und bestätigten grundlegenden Definitionen von Wirklichkeit. In der affektiven Dimension strukturiert das Milieu als selbstverständlich gegeben betrachtete Interessenlagen vor. In der moralischen Dimension stellt es selbstverständlich verfügbare Bewertungskriterien und Achtungsbedingungen für Personen, Handlungen und Sachverhalte zur Verfügung.“34
Wilfried LOTH stellt mit Verweis auf neuere Arbeiten aus dem Bereich der Katholizismusforschung fest, „dass die innere Vielfalt des deutschen Katholizismus schon (und selbst) in der Zeit des intensiven ‚Kulturkampfs‘ beträchtlich war“35 und dass folglich „der Katholizismus als Gesamtphänomen nicht mehr unter dem Milieubegriff“36 zu fassen sei: „Man wird nicht behaupten wollen, dass katholische Bildungsbürger und katholische Bergarbeiter gleich lebten, dass der Tag der schlesischen Magnaten und Bauern im Hunsrück gleich strukturiert war.“37 Folgt man dagegen der Auffassung Stefan HRADILs, dass Makromilieus, die „alle Menschen mit ‚ähnlichem‘ Lebensstil“38 umfas-
32
33 34 35 36 37 38
lieustandard bezeichnet. Institutionen führen in den Milieustandard ein und stützen ihn.“ (ARBEITSKREIS, 1993, 606). In einer katholischen Weltanschauung, verstanden als kulturelles Element und einer vereinsund parteimäßigen Organisation als strukturelle Ebene, spielt bei der Formierung des katholischen Milieus ein drittes Element – nämlich die Ebene des religiösen Verhaltens – eine wichtige Rolle. Da symbolische Sinnwelten einen „legitimierenden Bezug zu den alltagsweltlichen Sinnelementen“ (GABRIEL, Karl, 1980, 218f.) behalten müssen, tragen neben einer theologischen Fundierung gerade auch ritualisierte Frömmigkeitsformen zur „sondergesellschaftlichen Formierung“ (ebd., 218) des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert bei. Der Begriff sondergesellschaftliche Formierung stellt dabei einen weiteren Bezugsrahmen dar als der Terminus der Subkultur im Sinne ALTERMATTs, da er „nicht an ausgeprägte Minderheitensituationen gebunden ist und auch dem Selbstverständnis der katholischen Bevölkerungsteile eher entsprechen dürfte“ (ebd., 219, Anm. 39). Vgl. GABRIEL, Karl (1998), 81. GABRIEL, Karl (1990), 242. LOTH, Wilfried (2006), 27. Ebd., 25. Ebd. HRADIL, Stefan (1987), 168. Dass sich in sozialen Milieus auch gemeinsame Lebensstile ausbilden, wird in der deutschen Soziologie seit den 1980er Jahren besonders innerhalb der Sozialstrukturanalyse betont. Stefan HRADIL versteht unter Milieu „eine Gruppe von Menschen [...], die solche äußeren Lebensbedingungen und/oder inneren Haltungen aufweisen, aus denen sich gemeinsame Lebensstile herausbilden“ (HRADIL, Stefan, 1987, 165. Hervorhebungen im Original). HRADIL grenzt seinen Milieubegriff vom Begriff der sozialen Lage ab, der darauf gründet, „daß bestimmte Lebensbedingungen ‚objektive‘ Auswirkungen auf die Handlungschancen von Individuen und die Befriedigung intersubjektiv definierter Lebensziele haben“ (ebd., 158). Objektive und subjektive Parameter spielen bei der Realisierung von Lebenszielen und der sozialen Ungleichheit eine wechselseitige Rolle. Dabei kommt den subjektiven Faktoren in fortgeschrittenen Gesellschaften ein immer größeres Gewicht zu: „Denn die relative Autonomie von Einstellungen, Mentalitäten und Standards entscheidet mit dar-
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sen, „auch wenn sie ganz unterschiedlichen Kontaktkreisen angehören“39, ein Ensemble an Grundorientierungen und allgemeine Verhaltenstendenzen aufweisen, dann wird mit Blick auf die „veröffentlichte Mentalität“40 des Makromilieus die These vom einen Sozialmilieu des deutschen Katholizismus in dieser Arbeit aufrecht erhalten. Dessen ungeachtet weist das katholische Deutschland im Untersuchungszeitraum unterschiedlich dichte Vergesellschaftungsformen und regionale Differenzierungen auf. LOTH schreibt: „Diese Vergesellschaftung führt zur Ausbildung einer gemeinsamen Lebensweise, die affektiv besetzt ist und wesentlich zur Tradierung der Deutungskultur des Milieus beiträgt. [...] Die Vergesellschaftungen reichen auch unterschiedlich weit und die Prägungen durch das Milieu erreichen unterschiedliche Dichte. [...] Als lebensweltliche Zusammenhänge und Sozialagenturen wurzeln Milieus stets in lokalen und/oder personalen Bezügen.“41
Im folgenden Kapitel werden die Regionalisierung und unterschiedliche Dichte des katholischen deutschen Milieus im Untersuchungszeitraum erörtert.
Regionale Differenzierungen Der ARBEITSKREIS für kirchliche Zeitgeschichte in Münster kommt nach einer Analyse unterschiedlicher regionaler Milieustudien, die auf Basisindikatoren aus der kirchlichen Statistik zurückgreift, zu einer Erweiterung des RIGHARTschen Modells der Versäulung42: Durch die Zahl der Osterkommunikanten – als „durch den Milieustandard gesetzte Mindestverpflichtung“43 – messen sie die maximale soziale Reichweite von Kirchlichkeit und Milieubildung. Das Ergebnis zeigt, dass der Katholizismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts
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über, welche der ‚allgemein anerkannten Lebensziele‘ Priorität besitzen.“ (Ebd., 161). Als „subjektive intervenierende Faktoren“ kommen den Einstellungen und Mentalitäten eine vermittelnde Rolle zwischen der jeweiligen sozialen Lage und der individuellen Auseinandersetzung mit ihr zu. Vgl. ebd., 162. Sie gleichen sich in „Prozessen gegenseitiger Auseinandersetzung und Anpassung“ (ebd., 163) einander an: Es entstehen in sozialen Beziehungen gemeinsame Deutungsmuster der Wirklichkeit, die zu ähnlichen Lebensstilen verschmelzen. Das Milieukonzept bietet gegenüber dem Konzept der sozialen Lage den Vorteil, dass neben den objektiven Voraussetzungen und Folgen menschlichen Handelns die subjektiven Motive und Ziele der Akteure stärker in den Blick kommen. Dabei wirken Milieus als „eigenständige Gestalter“ (ebd., 167), als „Produzenten ungleicher Lebensbedingungen für andere Mitglieder der Gesellschaft. Milieus produzieren Ehrerbietung und Verachtung, Ausschluß und Integration, Privilegien und Diskriminierungen, Vertrauen und Vorurteile“ (ebd.). Ebd., 168. BLASCHKE, Olaf (1996), 128. LOTH, Wilfried (2006), 24. Vgl. RIGHART, Hans (1986). Zum Begriff Versäulung innerhalb der niederländischen Gesellschaft vgl. HAK, Durk (2001), 63ff. Vgl. auch LUYKX, Paul (1996). ARBEITSKREIS (2001), 105. Hier auch umfangreiches Literaturverzeichnis zu deutschen Regionalstudien.
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keine monolithische Einheit darstellt. Die Vielfalt lässt sich jedoch auf drei historische Vergesellschaftungsformen eingrenzen: Hohe Osterkommunionziffern mit stark ritualisierter Alltagsfrömmigkeit weisen vor allem ländliche Gebiete auf (etwa Passau und Freising), die daher als traditionale Lebenswelten (1) definiert werden.44 Nicht-kirchliche Regionen (2) wie die Großstädte in der Diaspora weisen dagegen kaum ausgeprägte kirchliche Strukturen auf (Berlin, Hannover, Braunschweig). Hier ist die Zahl der Oster- und auch der Jahreskommunionen verhältnismäßig gering. Katholiken in großen Städten haben keinen Zugang zu städtischen Eliten und die pastorale Versorgung ist unzureichend. Insgesamt lässt sich hier eine Desintegration der Katholiken feststellen: „Der Assimilationsdruck ließ ein ausgebildetes katholisches Milieu allenfalls in Ansätzen und dann nur für eine Minderheit der katholischen Bevölkerung entstehen.“45 Das katholische Milieu (3) hat sich, so der ARBEITSKREIS, vor allem in solchen Regionen ausgebildet, wo „eine Verbindung von starker Kirchenbindung mit einem hohen Grad an kirchlich-religiöser Lebenspraxis feststellen läßt: Ein dichtes Vereinswesen, eine große Zentrumsbindung, ein ausgebautes konfessionelles Pressewesen und eine dichte pastorale Versorgung verweisen auf einen stark mobilisierten, zum Milieu verdichteten Katholizismus“46.
Unterschieden werden ländliche Regionen (Fulda, Münsterland, Emsland) von Industriezentren (Ruhrgebiet, Saarland). Das katholische Milieu in den Industrieregionen ist eine Antwort auf die Phänomene der Moderne, Industrialisierung und Verstädterung. Für die ländlichen Regionen lässt sich dies allerdings nicht feststellen: „Weder das Emsland noch die niederrheinischen Kreise Geldern und Kempen oder die alte Bischofsstadt Münster waren Zentren der gesellschaftlichen Modernisierung.“47 Eine Erklärung dieses Phänomens bietet GABRIEL mit seiner These von der Mischung aus Tradition und Moderne in der entstehenden Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts. Das „Amalgam von Tradition und Modernität“48 lässt sich anhand von vier Hauptkonfliktlinien (Cleavages) herausstellen, die zum Teil als vorindustriell, zum Teil als Produkte der Industrialisierung identifiziert werden können.49 Zu den im Prozess der Industrialisierung entstandenen Konfliktlinien gehören erstens der Stadt-Land-Konflikt und zweitens der Arbeit-Kapital-Konflikt. 44 45 46 47 48 49
Vgl. ebd., 109ff. Ebd., 109. Ebd., 109f. Ebd., 114. GABRIEL, Karl (1998), 76. Vgl. ARBEITSKREIS (2001), 114ff. Soziale Konfliktlinien spielten für die Entstehung und Wandlung europäischer Parteiensysteme insgesamt eine große Rolle. Zu den vier gravierenden Cleavages, die zur Entstehung der nationalen Parteiensysteme in Europa beigetragen haben vgl. LIPSET, Seymour Martin; ROKKAN, Stein (1967), 1ff.
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Der Stadt-Land-Konflikt bezeichnet das Spannungsverhältnis zwischen „den wirtschaftlichen und politischen Interessen im primären und sekundären Sektor (besonders Schutzzoll), d. h. Konflikte zwischen den Vertretern agrarischer Besitz-, Produktions- und Lebensweisen und der aufstrebenden städtischindustriellen Unternehmerschaft“50. Zum Arbeit-Kapital-Konflikt gehören Auseinandersetzungen zwischen Kapitalbesitzern und Industriearbeiterschaft. Zu den vorindustriellen Konfliktlinien wiederum gehören drittens der Zentrum-Peripherie-Konflikt und viertens der Staat-Kirche-Konflikt. Ersterer bezieht sich auf „Konflikte zwischen der dominanten, in den Hauptstädten verankerten Kultur der (entstehenden) Nationalstaaten und den von dort beherrschten peripheren Regionen mit den in ihnen vorherrschenden Wertvorstellungen“51. Dieser meint die Konflikte zwischen den neuen kulturellen und organisatorischen Herrschaftsansprüchen der Nationalstaaten und den überkommenen Rechten, Institutionen und Traditionen der katholischen Kirche.52 Konstitutiv für die eigentliche Milieubildung, so die These des ARBEITSKREISes, sind zwei entscheidende Faktoren: Zum einen brauchte es eine „kritische Masse“, einen ausreichenden Anteil von Katholiken an der Gesamtbevölkerung (ca. 15-20 Prozent). Des Weiteren war die Milieubildung daran gebunden, dass zum „Faktor Konfession noch mindestens eine weitere gesellschaftliche Hauptkonfliktlinie wirksam wurde“53. Dort, wo sich keine Überlagerungen feststellen ließen (nicht-kirchliche Regionen und traditionale Lebenswelten), kam es nicht zur Bildung eines katholischen Milieus. Für die vorliegende Arbeit ist die Feststellung bedeutsam, dass sich die Stadt-Land-Konfliktlinie in keiner der untersuchten Fälle mit der katholischen Konfessionszugehörigkeit überlagerte.54 Der ARBEITSKREIS deutet dies als innerkatholische Konfliktlinie, „da das katholische Deutschland als ganzes gerade nicht ausschließlich agrarisch-ländlich geprägt war“55. Durch die Differenzierung der regionalen Ausprägung des katholischen Sozialmilieus legt der ARBEITSKREIS eine plausible, empirisch fassbare Bestimmung des katholischen Milieus auf der Mesoebene vor. Dass es ein katholisches nationales Milieu nicht nur als Summe der regionalen Milieus gab, betont aber auch der ARBEITSKREIS:56 „Solche Strukturen werden erkennbar in der Existenz der Deutschen Zentrumspartei und den Ansätzen einer professionalisierten nationalen Parteiorganisation 50 51 52 53 54 55 56
ARBEITSKREIS (2001), 116. Vgl. auch die Statistik ebd., 118. Ebd., 116. Vgl. ebd. Ebd., 127. Vgl. ebd., 118. Ebd., 121, Anm. 54. Auch Wilfried LOTH spricht von „regional und sozial unterschiedlich akzentuierten Sozialmilieus“ [...], die zum ultramontanen Verbund zusammenwuchsen“ oder von „unterschiedlichen Teilmilieus innerhalb des ultramontanen Milieus“ (LOTH, Wilfried, 1991, 282).
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im späten Kaiserreich sowie dem Volksverein für das katholische Deutschland. Mit diesen organisatorischen Verdichtungen entstanden nationale katholische Eliten in Politik und parteigebundener Publizistik, die im Interesse ihrer eigenen katholischen Organisation einen konsensorientierten Diskurs führen mußten.“57
5.1.2 Soziale und regionale Strukturen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bis ins 20. Jahrhundert hinein gab es in den Regionen Altbayerns und der Oberpfalz, im Allgäu, in Teilen des Hochschwarzwalds, in Oberschwaben und dem Norden Westfalens „Reservaträume vorkapitalistischer und vorindustrieller Wirtschaft“58 mit deutlich ausgeprägter ständischer Gliederung in Kleinstadt und Dorf des agrarischen Raums. Andere überwiegend katholische Gebiete gehörten dagegen zu den industriellen Hochburgen, etwa RheinlandWestfalen und Oberschlesien. Eine katholische Unternehmerschicht fehlte fast durchgehend, wogegen der alte wie neue Mittelstand, handwerkliche und kaufmännische Berufe, eine wichtige Bedeutung für den katholischen Raum darstellten: „Die Bevölkerung der Städte in den geschlossenen katholischen Gebieten gehört zum gewerblichen und kaufmännischen Mittelstand.“59 Insgesamt waren die Katholiken in den Städten mit über 10.000 Einwohnern unterrepräsentiert: „Mit steigender Gemeindegröße wächst der zahlenmäßige Abstand der Konfessionen zuungunsten der Katholiken.“60 Dies lässt sich nach der Berufszählung vom 12. Juni 1907 für das gesamte Deutsche Reich belegen:61 Die Großstadtbevölkerung ist überwiegend protestantisch und auch in den übrigen Städten mit katholischer Mehrheit ist die soziale Stellung der protestantischen Bewohner höher als die der Katholiken.62 ROST schreibt: „Die Städte sind die Brennpunkte von Intelligenz und Wirtschaftlichkeit. Seit der Reformation aber besitzen die Protestanten in einer Reihe solcher Städte mit stark ausgeprägtem gewerblichem und kaufmännischem Charakter solche wirtschaftlich und geistig fruchtbaren Zentralen. Man denke z. B. an Nürnberg. Auch muß man einräumen, daß in katholischen Städten mit starker protestantischer Minderheit die Protestanten an manchen Orten, z. B. in Augsburg, die sozial und wirtschaftlich höherstehenden kaufmännischen Schichten des Bürgertums repräsentieren.“63
57 58 59 60 61 62 63
ARBEITSKREIS (2001), 128. BAUER, Clemens (1964), 34. Ebd., 36. MAIER, Hans (1980), 58. Vgl. ROST, Hans (1911). Vgl. ebd., 148. Ebd., 154. Hervorhebung im Original.
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In den Stadtverwaltungen der Großstädte „mit ihrem gewaltigen Beamtenapparat und ihren riesigen wirtschaftlichen Unternehmungen und Betrieben, mit ihren Millionenetats und ihrer tief einschneidenden wirtschaftlichen Bedeutung für die erwerbenden und arbeitenden Kreise einer Stadt“64, aber auch in den Landratsämtern sind die Katholiken ebenfalls unterrepräsentiert:65 „Bis zur Stunde aber bildet die Imparität in den städtischen Verwaltungskörpern eine wesentliche Ursache der sogenannten Inferiorität der deutschen Katholiken“66, schreibt Hans ROST im Jahr 1911.67 Es ist ein Erfolg der christlichen Gewerkschaftsbewegung, dass bis zum Ersten Weltkrieg die Zahl ungelernter Arbeiter unter den Katholiken erheblich reduziert werden konnte, wenngleich Katholiken nach 1871 nachweislich einen deutlichen Ausbildungsrückstand im Bereich der Hochschulen sowie der Berufsfach- und Fachschulen gegenüber der nichtkatholischen Bevölkerung aufwiesen.68 Neben der Landwirtschaft arbeiteten Katholiken überproportional im Bergbau, dem Hütten- und Salinenwesen, der Torfgräberei und im Baugewerbe.69 Noch in den Jahren bis 1907 waren Katholiken in fast keiner Berufsart von Handel und Verkehr annähernd an die prozentuale Zahl ihres Konfessionsdurchschnitts herangerückt.70 Um die Zeit des Ersten Weltkriegs herum bildeten die Katholiken jedoch einen großen Anteil der Arbeiterschaft: „In der rheinisch-westfälischen Industriezone, die 22 Prozent aller Beschäftigten des Reichsgebietes beherbergt, macht der katholische Anteil der Bevölkerung 50 Prozent für Westfalen und 70 Prozent für das Rheinland aus; im oberschlesischen Revier überwiegt ebenfalls die katholische Bevölkerung.“71
Besonders nachhaltig in dieser Phase war „die Zuwendung der Katholiken zur Angestelltenschicht sowohl im öffentlichen Sektor wie in der privaten Wirt64 65 66 67
68 69 70 71
Ebd., 171. Vgl. ebd., 163ff. Ebd., 171. Der autodidaktische Pionier der Sozialforschung Hans ROST, zu seiner Zeit ein streitbarer und bis heute ein umstrittener Katholik, wandte sich, veranlasst durch die soziale Not seiner Zeit, aus persönlichem Antrieb vor allem den Themen Wohnungsnot und Suizid zu. Er veröffentlichte seine Beobachtungen in erster Linie in den Historisch-politischen Blättern. Er wurde einer der ersten über das katholische Milieu hinaus bekannten Suizidforscher und wurde auch einer der ersten Demographen. Seine detaillierten Statistiken sind, zumindest was das katholische Umfeld angeht, exzeptionell und bahnbrechend. Auf die Schattenseiten seiner Forschung, seine wiederholten antisemitischen Äußerungen, weist Olaf BLASCHKE hin. Vgl. BLASCHKE, Olaf (1997). So lobt ROST im Jahr 1907, dass die Jesuiten selbst in fünfter „Generationenmischung“ keine Mitglieder jüdischer Herkunft akzeptierten (vgl. ebd., 243) und fordert an anderer Stelle, dass Juden vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden sollten. Vgl. ebd., 98. Vgl. MAIER, Hans (1980), 58. Diese Diskrepanz tritt sogar verstärkt in geschlossenkatholischen Gebieten auf. Vgl. ebd. Vgl. ROST, Hans (1911), 38. Vgl. ebd., 62, Tabelle 9. BAUER, Clemens (1964), 39f.
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schaft [...], wie auch der starke Anteil dieser Schicht an der katholischen Diaspora Berlins zeigt“72. Kennzeichnend für das katholische Sozialmilieu war „konfessionelle Homogenität bei gleichzeitiger sozialer Heterogenität“73. Nach einem Rückgang der Katholikenzahl im Deutschen Reich von 36,2 Prozent im Jahr 1871 auf 35,76 im Jahr 1890 stieg der prozentuale Anteil an der Gesamtbevölkerung auf 36,5 Prozent im Jahr 1907. Im gleichen Zeitraum ist der prozentuale Anteil der Protestanten dagegen stetig gesunken und betrug 1907 62,1 Prozent (gegenüber 63,99 Prozent im Jahre 1858).74 Die Auswanderungen von Katholiken, besonders aus Baden und Elsaß-Lothringen, wurde im Reichsdurchschnitt zahlenmäßig durch die starke Einwanderung aus Österreich-Ungarn, Polen und Italien ausgeglichen oder übertroffen. Hans ROST wertet diesen Zugewinn im Jahr 1911 negativ: „Die aus dem Osten Deutschlands ins Innere des Reiches einsickernde polnische Bevölkerung, ferner die ausländischen Polen, Österreicher, Italiener gehören zum größten Teil sozial niederstehenden Schichten an, welche außer ihrer Arbeitskraft und einer starken Familie nur wenig materielle und kulturelle Güter ihr eigen nennen.“75
Neben der Einwanderung gibt ROST als weiteren Grund für die Stärkung der katholischen Bevölkerung die Geburtenziffer an: „Im Durchschnitt hat ein katholisches Ehepaar ein Kind mehr als ein protestantisches oder jüdisches.“76 In der Großstadt Berlin hat sich die Zahl der Katholiken zwischen 1817 und 1910 von 3,4 auf fast 11 Prozent mehr als verdreifacht.77
72 73
74 75 76 77
Ebd., 42. WEICHLEIN, Siegfried (1996), 122. Dass die Sozialstruktur regional sehr unterschiedlich geprägt war, hat Klaus-Michael MALLMANN am Beispiel des Saarreviers herausgestellt: „Im Vergleich zu anderen Gegenden zeichnete es sich insbesondere durch ein Defizit an Bürgerlichkeit und Urbanität aus, die es weit monolithischer machten als seine Pendants in den meisten anderen Regionen.“ (MALLMANN, Klaus-Michael, 1991, 83). Es war „sozial überaus homogen zusammengesetzt. Im Wesentlichen war es die proletarische Enklave in der bürgerlichen Gesellschaft“ (ebd.). Vgl. ROST, Hans (1911), 125. Zu den regionalen Unterschieden und dem Sinken der Katholikenzahlen in Westfalen, Rheinland, Baden und Bayern vgl. ebd., 126ff. Ebd., 139. Ebd., 142. Zur gleichen Zeit lag der Prozentsatz der Katholiken in der Großstadt Hamburg bei ca. 5 Prozent. Vgl. WINKLER, Wilhelm (1927), 671. HÖHLE schreibt: „In der übrigen Provinz Brandenburg waren von der Gesamtbevölkerung nur 5% katholisch, in Pommern 3%.“ (HÖHLE, Michael, 1996, 62).
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Tabelle IV: Prozentzahl der katholischen und evangelischen Bevölkerung in Berlin
Jahr 1817 1858 1871 1880 1890 1900 1910
Protestanten 94,99 91,94 88,63 87,54 85,67 84,18 83,09
Katholiken 3,44 4,16 6,23 7,18 8,58 9,98 10,98
Quelle: ROST, Hans (1911), 128.
Einen großen Anteil der Berliner Bevölkerung stellten die Schlesier und Zuwanderer aus den polnischsprachigen Ostgebieten Preußens. Für die Seelsorge ergaben sich allein organisatorisch erhebliche Probleme:78 „Wie kaum eine andere deutsche Großstadt setzte sich die katholische Gemeinschaft in Berlin aus Mitgliedern unterschiedlicher regionaler Herkunft zusammen.“79 Durch die erhebliche Mobilisierung der Bevölkerung im Zuge der Binnenwanderung des 19. Jahrhunderts entstand ein bisher unbekanntes Phänomen: „Das Heraustreten aus alten kulturellen Bindungen und sozialen Verflechtungen und der Einfluß einer ungläubigen, antikirchlichen oder indifferenten Umwelt förderten ebenso wie die schweren Belastungen im Berufsleben die religiöse Gleichgültigkeit und die Entfremdung vieler zugewanderter Katholiken von der Kirche.“80
Die „Kirchen- und Priesternot“81 war seit der Industrialisierung ein durchgängiges Problem Berlins.82 Standen im Jahr 1912 in Berlin (Berlin, Charlottenburg und Neukölln) gut 416.000 Katholiken in vierzig Gemeinden 117 Priester und 14 Ordensgeistlichen gegenüber,83 waren es 1929 achtzig Pfarreien bei knapp 459.000 Katholiken in Berlin. Während im Reichsdurchschnitt ein Geistlicher ca. 1.200 Gemeindeglieder seelsorglich zu betreuen hatte, kamen in Berlin 1929 auf einen Geistlichen 4.000 Katholiken im Osten Berlins und ca. 3.000 im Westen der Stadt.84 Auch die Geistlichen kamen nicht aus dem Delegaturbezirk, sondern aus Schlesien oder dem Westen des Reiches.85 Der 78 79 80 81 82 83 84 85
Vgl. MATZERATH, Horst (1990), 215. ASCHOFF, Hans-Georg (1990), 225. Ebd., 224. ESCHER, Felix (1990), 273. Vgl. HÖHLE, Michael (1996), 42ff. Zur Situation der Katholiken und Protestanten in der Zeit bis 1874 vgl. besonders den Aufsatz KIRCHEN (1874) in den Historisch-politischen-Blättern. Vgl. HÖHLE, Michael (1996), 61. Vgl. WENDLAND, Walter (1935), 48. Vgl. ASCHOFF, Hans-Georg (1990), 226.
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1773 erbauten Hedwigskirche und der Invalidenhauskapelle, der späteren Sebastianskirche, folgte erst 1854 eine Kapelle des Hedwigskrankenhauses.86 Erst 1861 wurde als neue Kirche St. Michael geweiht. Ab 1893 beginnt eine Periode des katholischen Kirchenbaus. WENDLAND kann 1935 sagen: „Die Kirchennot ist überwunden.“87 Neben zahlreichen Ordensniederlassungen gab es etliche katholische Vereine. 1932 zählt WENDLAND sechzehn verschiedene Jugendorganisationen in Berlin.88
5.1.3 Der politische Katholizismus Politisch haben verschiedene Ereignisse die Formierung des katholischen Milieus befördert: Nachdem der Krieg 1866 zugunsten der kleindeutschen preußischen Position entschieden und in der „Konfessionspolemik die ‚Kulturkampf-Stimmung‘“89 vorweggenommen hatte, wird mit dem Verlust der politischen Macht des Papstes auf der einen und der Stärkung seiner geistlichen Autorität auf der anderen Seite ab 1870 die Römische Frage durch die Zentrumspartei90 zum deutschen Thema. Dass sich katholische Parteien formierten, war durch die Gefährdung der 1848 verbürgten kirchlichen Freiheitsrechte ausgelöst worden. Im preußischen Abgeordnetenhaus hatten sich bereits 1870 katholische Abgeordnete zusammengeschlossen. Im folgenden Jahr (1871) wurde im Reichstag die Zentrumspartei gegründet. Die katholischen Parteien anderer Bundesstaaten mit einem hohen Anteil katholischer Bevölkerung folgten einige Jahre später. Im Reichstag bildete die Zentrumspartei neben den Nationalliberalen die stärkste Fraktion. GATZ schreibt: „Sie betonte ihren allgemeinpolitischen und überkonfessionellen Charakter und beschränkte sich keineswegs auf kirchenpolitische Anliegen. Unter dem Druck des Kulturkampfes wurde sie jedoch faktisch zur katholischen Partei, wobei ihr stets auch Nichtkatholiken angehörten.“91
Bis zum Ende der Weimarer Republik, in der dem Zentrum eine gewisse Schlüsselfunktion im republikanischen Koalitionsspektrum zukam,92 war die Partei des politischen Katholizismus „Weltanschauungs- und Gesinnungspar86 87 88 89 90
91 92
Zu Kirchenbau und der Entwicklung der Berliner Pfarreien vgl. JABLONSKI, Leo (1929), 246ff. WENDLAND, Walter (1935), 49. Ebd., 52. RICHTER, Reinhard (2000), 24. Zum Folgenden vgl. ebd., 24ff. Die Patriotenpartei von Bayern wurde 1887 in Zentrum umbenannt, es folgten Hessen (1887), Baden (1888) und Württemberg (1894). Zur Vorgeschichte des Zentrums vgl. VOLKERT, Wilhelm (2008). GATZ, Erwin (2009), 47. Vgl. MORSEY, Rudolf (1981a), 110.
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tei, fundiert auf einer religiös orientierten Weltordnung und geprägt von einem spezifisch katholischen Sozialmilieu“93. Das Zentrum war in der katholischen Bevölkerung ausgesprochen populär. GATZ schreibt: „Dazu trugen unter anderem die große Zahl geistlicher Mitglieder und Abgeordneter bei, die zugleich wichtige Positionen in der Kirche und den katholischen Vereinen innehatten. Von den 478 Zentrumsabgeordneten im Deutschen Reichstag von 1871 bis 1918 waren 91 (19 Prozent) Geistliche [...]. Dem Klerus gelang eine bis dahin unbekannte Massenmobilisierung und organisatorische Erfassung breiter Bevölkerungskreise.“94
Der politische Katholizismus wurde „gleichsam der Transmissionsriemen der Kirche in den politischen Raum“95. Zwischen 1890 und 1912 war das Zentrum stärkste Fraktion im Reichstag. Die Wähler kamen aus allen Schichten der Gesellschaft. „Dabei erwies sich die Klammer der Konfession nach wie vor als verlässlich.“96 In den 1890er Jahren wurde aus der Oppositionspartei zusehends eine berechenbare Stütze der Reichsregierung, das betraf auch deren Neigung zu Nationalismus, Militarismus und Großmachtdenken. „Die Partei wollte sich endgültig vom Vorwurf der Reichsfeindschaft und nationalen Unabhängigkeit freimachen und zugleich die Rückstellung dezidierter Katholiken im Staatsdienst und an den Universitäten aufbrechen.“97 Aber es gelang den Katholiken nicht, die Nachwehen der Kulturkampfstimmung, das heißt Diskriminierung und Ausgrenzung speziell in den norddeutschen Ländern, zu beseitigen. „Trotz seiner Zusammenarbeit mit der Reichsleitung versagte das Zentrum sich dem übersteigerten Nationalismus und dem Antisemitismus und setzte in der Nachfolge Windthorsts seine Politik des Minderheitenschutzes und die Ablehnung jeder Art von Ausnahmegesetzgebung fort.“98
Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs nahm der Stimmenanteil der Partei kontinuierlich ab und in den Großstädten und rheinisch-westfälischen Industriegebieten konnte die Partei sich nur schwer halten.99 Hier bestand ein „Zusammenhang zwischen der Stärke der christlichen Gewerkschaften und der Stimmabgabe für das Zentrum. Der starken sozialpolitischen Aktivität seiner Reichstagsfraktion fiel in zunehmendem Maße die Aufgabe zu, die katholischindustrielle Arbeiterschaft vor einem Abgleiten in das sozialistische Lager zu bewahren“100.
93 94 95 96 97 98 99 100
Ebd. GATZ, Erwin (2009), 48. QUINK, Cornelia (1987), 310. GATZ, Erwin (2009), 48. Ebd., 48f. Ebd., 49. Vgl. MORSEY, Rudolf (1981a), 126. Ebd., 128.
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Vollzog sich auch in der Weimarer Republik ein zunehmender Schrumpfungsprozess der Partei, so gelang es dem Zentrum vor seiner Selbstauflösung am 5. Juli 1933, den verbliebenen Teil seiner Wähler so zu motivieren, „daß sich nur diese Partei gegenüber allen Verlockungen des Nationalsozialismus bis hin zur letzten Wahl vom 5. März 1933, als widerstandsfähig erwies. Dadurch ist es der Hitler-Bewegung in den mehrheitlich katholisch besiedelten Gebieten des Reiches nicht gelungen, die relative oder gar absolute Mehrheit der Wähler zu gewinnen“101.
5.1.4 Die sogenannte Inferiorität der Katholiken Die Formierung des katholischen Milieus ist besonders dort erfolgreich, wo sich die katholische Minderheit einer Nationalgesellschaft gegenübersah, deren klein-deutsche protestantische Variante eine Integration in die Gesamtgesellschaft nicht zuließ.102 Nach ANDERSON „lebten die deutschen Katholiken in einer Atmosphäre dauernder konfessioneller Herausforderung, weil sie eine Minderheit innerhalb der Bevölkerung darstellten. [...] Dieses Kulturklima [...] reizte zu einem intensiven konfessionellen Bewußtsein“103.
In der zeitgenössischen Literatur wird ausgiebig die sogenannte Inferiorität104, die „Zurückgebliebenheit der deutschen Katholiken“105, diskutiert. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die größtenteils auf dem Land lebenden Katholiken erschwerten Zugang zu den Bildungseinrichtungen hatten. Dieses „schulgeographische Moment“106 hat sich seit der Säkularisation nicht durchgehend verbessert.107 Der Zentrumspolitiker Georg von HERTLING108, Gründungsmitglied 101 102
103 104 105 106 107
Ebd., 150. Vgl. GABRIEL, Karl (1990), 245. Vgl. BLASCHKE, Olaf (2001), 69. Vgl. den guten Überblick über die Zeit bis 1918 von RICHTER, Reinhard (2000), 21ff. Im Schweizer Katholizismus gab es ähnliche Tendenzen der Milieustabilisierung durch äußere Diskriminierung: „Der mit diesen Benachteiligungen verbundene Druck verstärkte nach innen die Kohäsion und die Solidarität der katholisch-konservativen Minorität. Als Reaktion entwickelten die Schweizer Katholiken ein kollektives Gruppenbewußtsein und begannen, die kulturelle Eigenart gegenüber der herrschenden Umwelt zu betonen. Sie fingen an, sich nach außen abzuschließen, indem sie sich intern organisierten.“ (ALTERMATT, Urs, 1980, 160). ANDERSON, Margaret Lavinia (1997), 220f. Zu Parität und katholischer Inferiorität vgl. besonders BAUMEISTER, Martin (1987). ROST, Hans (1911), 2. Ebd., 178. Hervorhebung im Original. Während die Zahl der katholischen Schüler an den Gymnasien nach der Jahrhundertwende annähernd ihrem Bevölkerungsprozentsatz entsprach, waren sie an den Realanstalten unterrepräsentiert: „Unter den christlichen Abiturienten des Jahres 1909 befanden sich [...] an den humanistischen Gymnasien 36,4 Prozent Katholiken und 63,5 Prozent Protestanten, an den Realanstalten 12,6 Prozent Katholiken und 87,5 Prozent Protestanten. Wenn man berücksichtigt, daß es in Preußen am 1. Dezember 1905 35,8 Prozent Katholiken gab, so ist der Anteil
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der Görres-Gesellschaft109 und zeitweise Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident, macht für die Inferiorität der Katholiken die Säkularisation von 1803 verantwortlich.110 Durch die aufgelösten Abteien und Klöster seien zahlreiche Bildungsangebote für die Kinder der umliegenden Bevölkerung verloren gegangen: „Kann man sich hiernach wundern“, schreibt er 1897, „wenn nach Ablauf eines Jahrhunderts die Katholiken in Deutschland zurückgedrängt sind, wenn sie in wissenschaftlicher Betätigung, in der Bewerbung um die höheren Staatsämter, im Besuch der Bildungsanstalten hinter den Protestanten zurückbleiben?“111
Nachdem die ländlichen Unterschichten lange Zeit den „passiven Resonanzboden des Ultramontanismus“112 darstellten, emanzipierten sie sich zunehmend „unter der Führung eines neuen Typs politischer Volkstribunen“113 zu einer populistischen Bewegung, „die sich gegen das Vordringen liberaler und obrigkeitsstaatlicher Maßnahmen in ihre Lebenswelt richtete“114. Auch wenn „antiliberale, antisemitische und antimodernistische Affekte“115 überwogen, lässt sich eine „Mischung aus rückwärts gewandten und modernen, antiliberalen und elementar-demokratischen Elementen“116 feststellen. Bei aller regionalen Verschiedenheit weist der ländliche Populismus ein deutliches Werteprofil auf. Ganz gleich, ob sich der bäuerliche Protest gegen Aristokraten, gegen die liberale Oberschicht oder wie in Bayern auch gegen den katholischen Klerus richtete, oder ob sich der Protest gemeinsam mit der regionalen Aristokratie gegen die Kräfte der Industriegesellschaft wandte, wie das in Westfalen, in Schlesien und im Rheinland der Fall war – es herrschten gemeinsame „Grundemotionen“117 vor: „gegen alles, was für diese Entwicklung verantwortlich schien oder ihr zumindest nicht deutlich genug entgegengewirkt hatte: gegen das ‚freie Spiel der Kräfte‘ des Liberalismus, das sie unter Druck setzte; gegen moderne Wissenschaft und Technik, die ihre Kenntnisse entwerteten; gegen Industrieherren, Börsenjobber und Bankiers, die von der Entwicklung profitierten, unter der sie zu leiden hatten; gegen Juden, die unter den Nutznießern des kapitalistischen Systems
108 109 110 111 112 113 114 115 116 117
der Realanstaltsabiturienten mit nur einem Drittel des katholischen Bevölkerungsanteils unerfreulicherweise ziemlich klein.“ (ROST, Hans, 1911, 102). Vgl. BECKER, Winfried (1993). Vgl. MORSEY, Rudolf (2009), 46ff. Vgl. MORSEY, Rudolf (2001a). Vgl. auch MORSEY, Rudolf (2009). Neuere Untersuchungen bestätigen die Folgen für die Bildungssituation in den katholischen Landesteilen durch die Aufhebung der Klosterschulen. Vgl. RÖSENER, Werner (1992), 114f. HERTLING, Georg von (1897), 569. LOTH, Wilfried (1991), 271. Zur Ultramontanismus-Forschung vgl. FLECKENSTEIN, Gisela; SCHMIEDL, Joachim (2005). LOTH, Wilfried (1991), 271. GABRIEL, Karl (1998), 98. LOTH, Wilfried (1991), 273. Ebd., 271. LOTH, Wilfried (1991a), 290.
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eine prominente Rolle spielten; gegen Bürokratie und Aristokratie, die, statt das ‚Volk‘ gegen die Kräfte des modernen Industriekapitalismus zu schützen, sich offensichtlich mit ihnen verbündet hatten; gegen Honoratioren in Verbänden, Parteien und Parlamenten, die sich als unfähig erwiesen hatten, sie vor dem wirtschaftlichen und sozialen Abstieg zu schützen“118.
5.1.5 Kulturkampf, Kulturkampfmentalität und die Dominanz des Ultramontanen Der von BISMARCK bald nach Reichsgründung entfesselte Kulturkampf hatte bewusstseins- oder gar identitätsbildenden Einfluss auf die Katholiken in Deutschland. Auch als der Kulturkampf längst beigelegt und die meisten Kulturkampfgesetze wieder aufgehoben waren (1887), blieb die Kulturkampfmentalität erhalten, mehr noch: durch sie erhielt das katholische Milieu seine prägende Kraft. Das öffentliche Leben des 19. Jahrhunderts erlebten die Katholiken als eine Welt, die in eine geistliche und eine weltliche Macht geteilt war.119 Das ultramontane Milieu wurde in den Jahren des Kulturkampfs tonangebend. War der Ultramontanismus vorher vor allem in bäuerlich-ländlichen und kleinbürgerlichen Milieus angesiedelt gewesen, wurde er nun zum hegemonialen Faktor, der auch die bürgerlichen Schichten erreichte. Im 19. Jahrhundert gelang es der Kirche, Volksfrömmigkeit und kirchliche Religiosität zu verbinden. Diese Verkirchlichung von Volksreligion120 trug ebenso wie die theologische Reflexion im Zeichen der Neuscholastik erheblich zur Milieubildung des Katholizismus bei. Die Wende zur Neuscholastik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist für Karl GABRIEL eine „notwendige [...] Bedingung für den Erfolg des Katholizismus als Sozialform“121. GABRIEL schreibt: „Im Bildungsprozeß des Katholizismus als Sozialform in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts [...] kam der spezifischen, kirchlich-theologischen Akzentuierung der christlichen Tradition eine konstitutive Bedeutung zu. Die christliche Tradition erhielt im Katholizismus die Form eines geschlossenen Glaubenssystems, das darauf ausgerichtet war, die Distanz der Kirche zur modernen Welt zu zementieren, der Kirche eine autonome Existenz gegenüber den Souveränitätsansprüchen des Staates zu sichern und die unendliche Überlegenheit der katholischen Weltanschauung gegenüber allen konkurrierenden modernen Ideologien zu behaupten. Diese Grundintentionen wirkten selektiv auf alles, was dann noch 118 119
120 121
Ebd. NELL-BREUNING schreibt: „Nur ausgesprochen ‚liberale‘ Katholiken machten das nicht mit, der Großteil der Katholiken übernahm vom Klerus diese geistige Haltung.“ (NELLBREUNING, Oswald von, 1980, 29ff.). Vgl. GABRIEL, Karl (1998), 93ff. Ebd., 84.
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als kirchliches und theologisches Denken möglich war, führten zur Monopolstellung der Neuscholastik in der kirchlichen Theologie und Philosophie und zur Unterdrückung konkurrierender theologischer Traditionen und Interpretationsversuche bis in die unmittelbare Vorkonziliarszeit hinein.“122
Dem „Wunsch nach scharf umrissener Identität“123 folgte auch die in dieser Zeit einsetzende Zentralisierung und Bürokratisierung kirchlicher Organisationsstrukturen bei deren gleichzeitiger Sakralisierung. GABRIEL scheibt: „War die katholische Kirche bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend Teil des traditionellen feudalen Herrschaftssystems, so entwickelte sie im Laufe des 19. Jahrhunderts eine eigenständige hierarchisch-bürokratische Organisationsstruktur. Die neu entstandene Organisationsform wurde gleichzeitig mit einer sakralen Legitimierung ausgestattet.“124
Die Verbindung von rationaler Bürokratie bei gleichzeitiger Überhöhung durch Sakralisierung stattete die katholische Kirche mit der Aura „triumphale[r] Gegenwart Gottes in einer gottlosen, satanischen Welt“125 aus. Bereits während des Pontifikats PIUS IX. (1846-1878) war es zu weitreichenden Festschreibungen des Ultramontanismus gekommen: In der Enzyklika Quanta cura vom 8. Dezember 1864 und dem ihr beigefügten Syllabus errorum werden „Irrtümer der Zeit“ – unter ihnen Pantheismus, Rationalismus und Indifferentismus – in Bezug auf das Gesellschaftsgefüge Sozialismus und Kommunismus verurteilt. Schließlich wurde auf dem Ersten Vatikanum der Universalepiskopat und die päpstliche Unfehlbarkeit bei Entscheidungen „ex cathedra“ in der dogmatischen Konstitution Pastor aeternus am 18. Juli 1870 definiert.126 Aber auch im Blick auf das Verhältnis von Kirche und Staat gibt es weitreichende Forderungen: So wird im Syllabus verworfen, die Rechte der Kirche durch bürgerliche Gewaltenteilung festzuschreiben.127 122
123 124
125 126 127
GABRIEL, Karl (1998), 175. Im Hinblick auf das Zweite Vatikanum schreibt GABRIEL: „Die Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils und sein Verlauf führen gerade bei den für die Bildung des Katholizismus als Sozialform konstitutiven Eckpfeilern kirchlichtheologischen Denkens zwischen 1850 und 1950 zu einer tiefgreifenden ‚Umcodierung‘ der Glaubenstradition. Ohne sich an irgendeiner Stelle über definierte katholische Lehrinhalte hinwegzusetzen, codiert das Konzilsdenken von ‚Dissoziation‘ auf ‚Dialog‘ um. Es sucht einen eigenen Standort für die Kirche in der modernen Welt [...]. Unbestreitbar delegitimiert aber das Konzil den über ein Jahrhundert herrschenden kirchlichen Triumphalismus, die scharfe Abgrenzung gegenüber der modernen Welt und ihre pauschale Abwertung als ‚Betriebsunfall‘ der (Heils-) Geschichte.“ (Ebd., 175f.). Ebd., 84. Nach GABRIEL lässt sich „im Anschluß an Max Weber […] dieser Umbau als Modernisierung im Sinne der Beseitigung feudaler Herrschaftsmuster zugunsten hierarchischbürokratischer Strukturen begreifen [...]. Die Annäherung der formellen Organisationsstrukturen der katholischen Kirche an das moderne Strukturmuster der Bürokratie ist erst ein Werk des 19. Jahrhunderts“ (ebd., 88). Ebd., 90f. Vgl. DENZINGER, Heinrich (2005), 3074. Vgl. ebd., 2919.
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Auch unter dem Pontifikat PIUS X. (1903-1914) kam es zu einem „tendenziellen Rückzug aus den Angelegenheiten der Welt“128 bei gleichzeitiger Ausformung religiöser Eigenwelten. BLASCHKE schreibt: „Im Katholizismus [...] manifestierte sich die Traditionalisierung in der Wiederbelebung weiträumig vergessener Frömmigkeitspraktiken, im Marien- und HerzJesu-Kult, in der Reorganisation des Wallfahrtswesens, in der Neoscholastik und tendenziell in der Neogotik oder in der Bonifatius-Renaissance.“129
Die zentrale Autorität der Kirche wurde für die Neuscholastiker zum zentralen Topos.130 GABRIEL schreibt: „In nicht überbietbarer Perfektion hat die ultramontane Ekklesiologie des 19. Jahrhunderts diese ‚Charismatisierung‘ der empirischen, amtsmäßig verfaßten Kirche ausgearbeitet [...]. Zum alles überstrahlenden Fixpunkt der Sakralisierung der Kirchenstrukturen wurde das Papsttum.“131
Nachdem im Dekret Lamentabili, dem ersten päpstlichen Lehrschreiben gegen die Modernisten, Schriften von Alfred LOISY132, Edouard LE ROY, Ernest DIMNET und Albert HOUTIN verurteilt wurden,133 werden in der Enzyklika Pascendi dominici gregis vom 8. September 1907 die inhaltlichen Bestimmungen des Modernismus zurückgewiesen134 und im Motu Proprio Sacrorum antistitum vom 1. September 1910 die kirchlichen Funktionsträger im Antimodernisteneid auf die kirchliche Lehre verpflichtet.135 In der Enzyklika ging es vor allem um den Agnostizismus und die „religiöse Immanenz“136. Es heißt: „Das religiöse Gefühl, das durch vitale Immanenz aus den Schlupfwinkeln des Unterbewußtseins hervorbricht, ist also der Keim der ganzen Religion und zugleich der Grund von allem, was in jedweder Religion war oder sein wird.“137 Daneben werden die Anwendung der historisch-kritischen Methode, der theo-
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130 131 132 133 134 135 136 137
LOTH, Wilfried (1991), 268. BLASCHKE, Olaf (2001), 39. Im Anschluss an den herrschaftstheoretischen Ansatz von Max WEBER und Georg SIMMEL formuliert Michael EBERTZ die These, dass unter analytischem Aspekt drei Weisen der Stabilisierung katholisch-geistlicher Herrschaft im 19. Jahrhundert unterschieden werden können: Disziplinierung-Bürokratisierung, Traditionalisierung und Charismatisierung. Vgl. EBERTZ, Michael N. (1980), 96ff. Vgl. GABRIEL, Karl (1998), 84f. GABRIEL, Karl (1998), 91. Ihr Deutungsmonopol für die Gesamtgesellschaft hatte die Kirche zu diesem Zeitpunkt freilich schon verloren. Vgl. ARNOLD, Claus (2007), 52ff. Vgl. DENZINGER, Heinrich (2005), 3401-3466. Vgl. ebd., 3475-3500. Vgl. ebd., 3537-3550. Ebd., 3477. Ebd., 3481. Hervorhebungen im Original.
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logische Symbolismus und die evolutive Auffassung vom kirchlichdogmatischen System verurteilt.138 Für GABRIEL stellt die Neuausrichtung der Theologie mit diesem „Rückgriff auf die ‚Vorzeit‘ [...] dem historischen Bewußtsein der Epoche die Wiederkehr des Alten als Ausweis der Überzeitlichkeit entgegen“139. Die „strukturell vorangetriebene Differenz zwischen Kirche und Gesellschaft wurde zur Differenz zwischen Heil und Unheil, zwischen gut und böse, zwischen Rettung und Verdammnis stilisiert“140. Die katholische Kirche in Deutschland tritt also seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Institution entschlossen der Krisenhaftigkeit der Industriegesellschaft mit ihren Auflösungserscheinungen entgegen und ist in ihrem Selbstverständnis programmatisch antimodern. Wolfram PYTA spricht von einer „antimodernistische[n] Selbstbehauptung des katholischen Milieus“141. Der Ultramontanismus hat in Deutschland neben einer politischen Dimension im Sinne von Abgrenzung gegenüber dem protestantischen Staatskirchentum auch eine religiöse Innenseite. Hier dominieren etliche Formen der Volksfrömmigkeit. NIPPERDEY schreibt: „Kult und Ritus rangieren vor der Rede; also Lebensorientierung und Lebenshalt, die die Kirche gewähren, sind vor allem symbolisch in den Formen und Beschwörungen des Ritus präsent. Das Überlieferte dauert, ja intensiviert sich: die täglichen Messen, die Andachten, das Rosenkranz-Beten, die Prozessionen, die Feste. Die neuen Verkehrsmöglichkeiten machen den Bischof durch Reisen zu Firmung und Fest präsent wie nie zuvor, auch die Wallfahrten erreichen Rekorde [...].“142
Neben Wallfahrten und Rosenkranz gehören zu den neuen zeittypischen Frömmigkeitsformen die Marienverehrung, die Herz-Jesu-Frömmigkeit sowie eine intensive Heiligenverehrung vor allem populärer Gestalten wie des heiligen ANTONIUS und des heiligen JOSEPH. Die BONIFATIUS-Verehrung war etwa für den Fuldaer Katholizismus „zentraler Bestandteil der binnenkirchlichen Homogenisierung“ und stellte „das Bindeglied zwischen dem lokalen und dem nationalen Katholizismus her“143. Eine zunehmende Sentimentalisierung der Glaubensformen prägt das katholische Lebensgefühl im 19. Jahrhundert. Dazu passt das vermehrte Auftreten weiblicher Adepten und Visionärinnen. Ein Zeitgenosse, er nennt sich
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139 140 141 142 143
Wegen seiner Kritik an der Enzyklika wurde George TYRELL (1861-1909), einer der Schlüsselfiguren des Modernismus, von Papst PIUS X. exkommuniziert. Vgl. NEUNER, Peter (2009), 91ff. Zu den Texten von TYRELL vgl. ebd., 264ff. Vgl. ARNOLD, Claus, 2007, 69ff. GABRIEL, Karl (1998), 84. Ebd., 91. PYTA, Wolfram (2009), 1. NIPPERDEY, Thomas (1988), 18. WEICHLEIN, Siegfried (1995a), 464.
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selbst ein „gewöhnlicher Priester“ – „alt und erfahren“ – schreibt 1898 unter dem Pseudonym KASSANDRUS: „Die verschiedenen Andachtsformen, die mit jedem Jahre sich vermehren, streifen zuweilen recht nahe an Aberglauben. Schuld daran u. a. sind die Einflüsse, die aus deutschen und besonders aus französischen Klöstern kommen. [...] Ein Blick auf den Büchermarkt zeigt uns u. a. eine großartige Überschwemmung mit Gebets- und Andachtsbüchern aller Art, worunter gar manche, welche trotz Approbation das unvernünftigste und ungereimteste Zeug enthalten. Die Herstellung von solchen Andachtsbüchern scheint ganz fabrikmäßig zu geschehen, und es wird dabei meistens auf die breiten unteren Volksschichten spekuliert, bei denen überhaupt solche mystischen Erzeugnisse Anklang finden. Je ungewöhnlicher, je sonderbarer und bizarrer die dargebotenen Andachtsformen sind, desto leichter finden sie Zugang beim Volke, besonders wenn sie noch dazu von manchen kurzsichtigen Geistlichen empfohlen werden.“144
Die Vorliebe für das Wunderbare werde durch die „geradezu künstliche Züchtung von sogen. Gnadenorten“ gefördert, so dass „der moderne übertriebene subjektive Devotionalismus sonderbare Blüthen zeitigt“145. Modern ist auch die eucharistische Frömmigkeit und das Bild eines demonstrativ herrschaftlichen Christuskönig als Sinnbild einer Ecclesia thriumphans. Mehr noch wird Kirche selbst zum Gegenstand neuer Frömmigkeitsformen. Dazu gehört die verstärkte Hinwendung zur Person des Papstes nach dem Untergang des Kirchenstaats in Form von Peterspfennig, Romreisen, Papstbildern – insbesondere von LEO XIII. (1878-1903). KASSANDRUS kritisiert die Veräußerlichung der Gebetsformen und fordert die Geistlichen auf, darauf hinzuweisen, „daß die bloß mechanische, sportmäßige Bethätigung jener Andachtsformen zur sog. Betschwesterei führt, die immer einen üblen Beigeschmack hat“146. Ultramontane Frömmigkeit appellierte einerseits stark an die Gefühle der Gläubigen, das heißt an eine subjektive, individuelle Frömmigkeit, andererseits waren sie über geregelte Formen in die Gruppenfrömmigkeit eingebettet. NIPPERDEY schreibt: „Solche Objektivität [...] hatte durchaus eine sozial integrative Wirkung, täglich präsent waren sie Stützen des Selbstseins in einer feindlichen Welt.“147 Der Historiker Otto WEISS sieht dieses Zusammenspiel von Wunderglauben und Rationalität im Kontext des Paradigmenwechsels um 1850: „Die von mir früher als ultramontan herausgestellte Frömmigkeitshaltung, die stark von der Volksfrömmigkeit, dazu von Wundersucht, von einem übertriebenen Heiligen- und Marienkult und ähnlichem geprägt war, war nicht unbedingt
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KASSANDRUS (1898), 4. Ebd., 5. Ebd., 35. NIPPERDEY, Thomas (1988), 20.
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allen Personen eigen, deren Kirchenpolitik und Theologie man als ‚ultramontan‘ bezeichnen könnte.“148
WEISS führt in diesem Zusammenhang aus, dass „die jesuitische, neusuarezianische, und molinistische Neuscholastik, die von der römischen Theologenschule vertreten wurde, sehr viel mit der allgemeinen Wende hin zu Positivismus und Rationalismus zu tun hatte, und dies war nicht zuletzt der Grund, warum die universalistischen sogenannten katholischen Romantiker, Baader und Görres, Friedrich Schlegel und Günther, nach 1850 in Ungnade fielen, und Clemens Brentano mit seinen Emmerickvisionen um ein Haar der kirchlichen Zensur verfallen wäre. Zu den frühen, oft wundersüchtigen Ultramontanen [...] kamen jetzt die nahezu rationalistischen Neuscholastiker. [...] Es gab jesuitische Theologen, an der Spitze Joseph Kleutgen, die der menschlichen Vernunft fast alles, sogar eine unmittelbare Erkenntnis Gottes und der Übernatur zutrauten, und die sich gleichzeitig in merkwürdiger Gespaltenheit einer geistlichen Leitung durch eine zweifelhafte Mystikerin [gemeint ist Anna Katharina EMMERICK] unterwarfen“149.
Jenseits der etablierten Kampfbegriffe – hier liberaler, dort ultramontaner Katholizismus – scheint dem Kirchenhistoriker Victor CONZEMIUS im Rückblick auf seine Biographie als Wissenschaftler „gerade die ultramontane Richtung mit ihrer quasi bedingungslosen Anlehnung an die römische Generallinie weit schöpferischer zu sein als der liberale Katholizismus, der auf Eliten, Intellektuelle und vereinzelte Theologen beschränkt blieb. Inzwischen war mir die Bindekraft des Ultramontanismus in seinen Zusammenhängen mit Volksfrömmigkeit und Alltagsgeschichte und seinen gesellschaftlichen Auswirkungen stärker bewusst geworden. Für das Angehen der sozialen Frage und die Entstehung einer in den gesellschaftlichen Raum vordringenden katholischen Bewegung, auch für die Bildung des politischen Katholizismus, war er schicksalhafter als sein liberaler Gegenpart“150.
Exkurs: Zur Rolle des Klerus Der Kulturkampf hatte die Solidarität der deutschen Katholiken mit dem Klerus gefördert und „hob die moralische Autorität und die Popularität der Geist148 149 150
WEISS, Otto (2005), 65. Ebd. CONZEMIUS, Victor (2005), 41. Zur gesellschaftspolitischen Bedeutung von Volksfrömmigkeit schreibt CONZEMIUS mit Blick auf das 20. Jahrhundert: „Auf ultramontaner Seite ließen sich diese Optionen bis zu Erzbischof Helder Camara und Mutter Theresa von Kalkutta im 20. Jahrhundert veranschaulichen. [...] Das Beispiel Polen, d. h. die allmähliche und friedliche Herauslösung des Landes aus dem sowjetischen Block, führte einer staunenden Welt die Widerstandsfähigkeit eines als naiv und vormodern belächelten Volkskatholizismus vor Augen, dem der Übergang aus der Diktatur zu demokratischen Regierungsformen ohne Blutvergießen gelang.“ (Ebd.).
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lichen zu nie gewesener Höhe“151. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wandelte sich die Herkunft des Klerus. Kam der priesterliche Nachwuchs zu Beginn des 19. Jahrhunderts überwiegend aus der städtischen Bevölkerung, entstammte er gegen Ende des 19. Jahrhunderts eher aus ländlichen oder kleinstädtischen Bevölkerungskreisen:152 „Die sakrale Absonderung von der Welt vertrieb die städtischen und bürgerlichen Interessenten für den Priesterberuf und ersetzte sie durch Kandidaten mit ländlich-kleinbürgerlicher Herkunft“153, schreibt GABRIEL. OLENHUSEN formuliert: „Urbanisierung und Industrialisierung ließen den Priesternachwuchs versiegen – dieser entstammte fast nur noch traditionalistischen Milieus.“154 Die erklärt antimoderne Haltung der katholischen Kirche wirkte sich also direkt auf das soziale wie geistig-mentale Profil des Klerus aus. Katholische Geistliche waren außerdem im Vergleich zu ihren protestantischen Amtsbrüdern erheblich schlechter besoldet, für Hans ROST deutlicher Ausdruck der Imparität der Katholiken besonders in Preußen: „Die Masse der katholischen Pfarrer erhält insgesamt nicht einmal die Hälfte der Bezüge der protestantischen Pfarrer, wobei ironischerweise der katholische Klerus das Höchstgehalt erst nach dem 70., der protestantische bereits nach dem 55. Lebensjahre bekommt. In den übrigen Staaten sind die Gehaltsbezüge der katholischen Pfarrer entweder gar nicht oder nur unvollkommen geregelt, oder sie erhalten gar nichts.“155
Noch deutlicher schreibt ROST: „Der preußische Pfarrer steht an Einkommen tiefer als selbst mancher Unterbeamte mit Elementarschulbildung, tiefer als viele junge Handelsgehülfen und Handwerker mit qualifizierter Arbeit, z. B. als Monteure.“156 Für ANDERSON stellt der Wandel des Herkunftsmilieus katholischer Geistlicher eine „Illustration ökonomischer Binsenwahrheiten“157 dar: „Mit der Vermehrung von Karrieremöglichkeiten sollte man erwarten, daß gerade die Söhne des städtischen Bürgertums jetzt ihr Glück in Berufen suchen würden, die weniger Selbstverleugnung verlangten als die Priesterschaft.“158 151 152 153 154
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ANDERSON, Margaret Lavinia (1997), 218. Vgl. OLENHUSEN, Irmtraud Götz v. (1991), 50. GABRIEL, Karl (1998), 91. OLENHUSEN, Irmtraud Götz v. (1991), 50. Gleichzeitig war nach Hans ROST die Gesamtzahl der katholischen Geistlichen höher als die der evangelischen, „obwohl die katholische Bevölkerung in Deutschland nur etwas über ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmacht. Dieses für die Protestanten ungünstige Verhältnis ist eine Folge der ständig sinkenden Zahl der Theologiestudierenden, während bei den Katholiken das Umgekehrte der Fall ist“ (ROST, Hans, 1911, 74). Ebd., 177. Hervorhebungen im Original. Ebd., 176. ANDERSON, Margaret Lavinia (1997), 211. Ebd., 211f.
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Die gewandelte Sozialstruktur des Klerus, die Polemik gegen die Universitätsausbildung und der dadurch forcierte Rückzug der Priesterausbildung in die bischöflichen Priesterseminare waren ausschlaggebend für die Formierung eines neuen Priestertypus im Zeichen von Ultramontanisierung wie Sakralisierung: „Gefragt war nun nicht mehr ein der Welt zugewandter gebildeter Geistlicher, der selbstverständlich auch die Sakramente verwaltete, sondern in erster Linie wieder der katholische Priester nach den Vorschriften des Tridentinischen Konzils. Der Ultramontanismus mit seiner neuscholastischen Theologie, der Wiederanknüpfung an mittelalterlichen Frömmigkeitsformen und dem Primat der Tradition gegenüber der Vernunft bestimmte auch das Priesterbild. Klerikalisierung, Sakralisierung und Hierarchisierung des Katholizismus waren die Folge.“159
Die Ausbildung in den Priesterseminaren wurde favorisiert, „um den Einfluß des Staates innerhalb der Kirche zu beseitigen“160. Die Priesterausbildung vollzog sich unter Bedingungen, die alles andere als wissenschaftlich war. „Priesterausbildung unter der Glasglocke“161, heißt es bei NIPPERDEY. Er schreibt: „Es kam nicht auf gelehrte, sondern auf fromme und gehorsame Priester an [...], die Atmosphäre der bischöflichen Konvikte (oder für die Elite, die der Institutionen in Rom), in denen die Studenten lebten, war prägender als die Wissenschaft.“162
KASSANDRUS rechnet so anschaulich wie scharf mit dem Typus des ultramontanen Priesters ab. Ein wesentlicher Grund für die „Inferiorität der Katholiken“ liege vor allem am „Mangel eines wissenschaftlich und bürgerlich vollgebildeten Klerus“163: Er schreibt: „Viele empfangen die Priesterweihe, und werden hinausgesendet in die Welt, und es fehlt ihnen oft jene allseitige Bildung, die doch so notwendig ist, um dem Klerus in allen Schichten der Gesellschaft eine achtunggebietende Stellung und einen segensreichen Einfluß zu sichern. Persönliche Frömmigkeit allein reicht noch lange nicht aus, [...] man muß auch ein kluger Seelenführer sein, welcher fern von Rigorismus und Laxismus, fern von Pedanterie und Herrschsucht seine Pastoralpflichten erfüllt. Der Priester in unserer bewegten Zeit muß ferner auch in weltlichen Dingen so bewandert sein, daß er in jeder gebildeten Gesellschaft mitsprechen kann [...] ohne sich und den Stand zu blamieren.“164
KASSANDRUS spricht in diesem Zusammenhang vom Mangel an Weltkenntnis und Welterfahrung,165 von Sonderlingen, die inferior, engherzig, ängstlich, pedantisch sind. Ein weiterer Übelstand ist für KASSANDRUS der 159 160 161 162 163 164 165
OLENHUSEN, Irmtraud Götz v. (1991), 52. GARHAMMER, Erich (1989), 211. NIPPERDEY, Thomas (1988), 14. Ebd. KASSANDRUS (1898), 15. Ebd., 19. Vgl. ebd., 30ff.
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„sogen. Officialismus, jene Art des Auftretens wodurch sich die Geistlichen angewöhnen, immer den Schild ihrer priesterlichen Würde und ihres kirchlichen Amtes zum Schutze ihrer Person vor sich zu halten. Das Amt soll decken und ersetzen, was der Person an Geist und Bildung, an Gründen und Umgangsformen, an Geduld und Liebe mangelt. Gerade eifrige Priester wollen immer von oben herab sprechen, sind unfähig einen Widerspruch zu ertragen, oft ganz ungeeignet eine Sache objektiv zu behandeln“166.
Hauptgrund solcher Verhaltensweisen seien „Unfehlbarkeitsdünkel, versteckter Hochmut, sogenannter ‚Pfaffenstolz‘“167, wie ANDERSON bemerkt. KASSANDRUS schreibt: „Bei einer solchen Art des Auftretens werden Viele, besonders die Gebildeten, abgestoßen, und der geistliche Stand wird verächtlich gemacht.“168 Anders als die evangelischen Pfarrer war der ultramontan geprägte Klerus also das Gegenteil von akademisch-intellektuell oder bildungsbürgerlich und „insofern freilich dem einfachen Volk näher“169. Dass der Klerus nun überwiegend aus ländlichen Verhältnissen stammte, hat eigentlich weniger die Ultramontanisierung des Klerus befördert als vielmehr Klerus und Laien stärker miteinander verbunden: „In einer Zeit, da die meisten Deutschen, wenn sie vom Volk sprachen, immer noch an eine ländliche und kleinstädtische Bevölkerung dachten, [...] überzeugte die soziale Herkunft der Priester sie selbst davon, daß diese unter sämtlichen deutschen Honoratioren am getreulichsten das Volk widerspiegelten.“170
So konnte zumindest der niedere Klerus zum Sprachrohr für die beschriebene populistische Emanzipationsbewegung der ländlichen Unterschicht und in der Gestalt der „roten Kapläne“171 für das Teilmilieu der katholischen Arbeiterbewegung avancieren.172 „Von wenigen Ausnahmen wie etwa Bischof Ketteler abgesehen, war beim höheren Klerus das Interesse für die soziale Frage nicht sehr ausgeprägt. Vor allem der niedere Klerus, die sogenannten ‚roten Kapläne‘, die die Folgen der Industrialisierung für die Arbeiterschaft direkt miterlebten, entfaltete ein beachtliches soziales Engagement. Sie regten seit den 1860er Jahren Vereinsgründungen an bzw. begleiteten sie wohlwollend. Mit dem Anwachsen der Sozialdemokratie wurden diese Bemühungen vor Ort verstärkt und mit dem Aufruf des Amberger Katholikentags 1884 und der Sozialenzyklika ‚Rerum Novarum‘ 1891 auch von
166 167 168 169 170 171 172
Ebd., 34. ANDERSON, Margaret Lavinia (1997), 212. KASSANDRUS (1898), 34. Ebd., 15. ANDERSON, Margaret Lavinia (1997), 212. Hervorhebungen im Original. Vgl. ANDERL, Ludwig (1963). Vgl. GABRIEL, Karl (1998), 98.
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den Laieneliten des katholischen Deutschlands und dem höheren Klerus öffentlich gebilligt.“173
Als „Milieumanager“174 wirkten katholische Geistliche nach Olaf BLASCHKE auf vier Ebenen: Kirche, Zentrumspartei, Literatur und Presse und Vereine. Auf der Ebene kirchlicher Hierarchie sei dem Klerus durch Beichte und Predigt eine gewisse „Exklusivität der Seelenlenkung“175 zugekommen. Zwar war der Einfluss des Klerus in der Zentrumspartei weniger augenfällig als auf der Ebene der Vereine oder der Kirche insgesamt,176 durch eine massive Unterstützung und intensive Wahlpropaganda mit zunehmender Vermischung der seelsorglichen und politischen Ebene stellte sich das Zentrum nach BLASCHKE aber als eine klerikale Partei dar.177 Auch in den Vereinen kam dem Klerus eine Schlüsselrolle zu: „Das gesamte Vereinsleben, die Statuten, die Vorträge und das Programm, alles war maßgeblich von den Geistlichen geprägt.“178 Als Beleg führt BLASCHKE die Präsidesverfassung an, die den Geistlichen als geborenen Leiter der meisten Vereine vorsah.179 Nach Ansicht OLENHUSENs ist das sozialmoralische Milieu „hauptsächlich durch den katholischen Klerus ‚erzeugt‘“180 worden. Diese Ansicht verkennt jedoch die milieubildenden Einflüsse katholischer Laien, die sich insbesondere auf den Katholikentagen zeigten. Letztlich fungierten sicherlich alle Akteure der katholischen Teilmilieus in regional unterschiedlicher Ausprägung als Milieubildner. So argumentiert der ARBEITSKREIS gegen eine Überschätzung der klerikalen Milieuerzeugung: „Je nach den vor Ort wirksamen Hauptkonfliktlinien spielten der katholische Adel, die Bauern, das Bürgertum oder die katholische Arbeiterschaft eine maßgebliche Rolle. Milieus werden demnach [...] nicht ausschließlich, ja nicht einmal vornehmlich von oben gemacht oder gesteuert, sondern orientieren sich in erster Linie an den Bedürfnissen sozialer Gruppen in der sich auflösenden bzw. stark transformierenden Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.“181
173 174 175 176 177 178 179 180
181
ARBEITSKREIS (2001), 124f. BLASCHKE, Olaf (1996), 95. Ebd., 109. Vgl. ebd., 111. Vgl. ebd., 110. Ebd., 130. Vgl. ebd. OLENHUSEN, Irmtraud Götz v. (1991), 46. Vgl. auch Hans RIGHARTs These, dass der niedere Klerus als Hauptmotor die Versäulung „von oben“ in Belgien, Österreich, Schweiz und den Niederlanden vorangetrieben hatte: „In allen vier Ländern ist die Versäulung, kurz formuliert, eine kirchliche Strategie gegen die Säkularisierung gewesen. Es war der niedere Klerus, der während der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts einsah, daß die Kirche [,] um die Modernisierung der Gesellschaft zu überleben, sich der Entwicklung der Gesellschaft anzupassen habe. Es ging um Beschützung durch Anpassung.“ (RIGHART, Hans, 1986, 347; zit. n. ARBEITSKREIS, 2001, 100). ARBEITSKREIS (2001), 125.
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5.1.6 Der Reformkatholizismus und die Auseinandersetzung um den Modernismus Das ultramontane Milieu hatte bei aller äußeren Traditionsverbundenheit auch sein Modernisierungspotential. Dazu konnte es sich außerdem auf das Volk berufen. Der katholischen Kirche war es gelungen, mit einem Geflecht aus institutionalisierter Sinnvermittlung, gemeinschaftsbildender Vernetzung und karitativer Hilfe,182 eine „Symbiose zwischen Unterschichten und Katholizismus“183 herzustellen. Das machte den Ultramontanismus sakrosankt. Um die Jahrhundertwende änderte sich das binnenkatholische Klima im westlichen Teil Europas. In Frankreich, England, Italien und auch in Deutschland kam es zu einer Bewegung, die von einem intellektuell liberalen Katholizismus geprägt und getragen war. Der sogenannte Reformkatholizismus war der Vorstoß einer kleinen Minderheit mit dem Ziel, die Kirche zur Welt hin zu öffnen – ein Versuch, der erst mit dem Zweiten Vatikanum realisiert werden konnte.184 Das Kulturkampfbewusstsein hatte sich bei den gebildeten Katholiken zum Bewusstsein ihrer Inferiorität überformt, sie fühlten sich als Verlierer angesichts eines im Glanz des Protestantismus erstarkten Deutschlands. Das katholische Bürgertum entwickelt im ausgehenden 19. Jahrhundert eine „offensive Kritik an der Rückwärtsgewandtheit des bisherigen Katholizismus und ein lautstarkes Bekenntnis zu den Errungenschaften des modernen Industriestaates“185. Der Wirtschaftsordnung des Kapitalismus, der Wissenschaft und Technik und der Vereins- und Parteibildung wurden durchaus positive Aspekte entnommen. Im Reformkatholizismus sollte die Öffnung zur Moderne vorangetrieben werden: „Damit setzt eine langsame Pluralisierung des Katholizismus ein, die von aufreibenden Richtungskämpfen innerlich begleitet ist (Zentrumsstreit, Gewerkschaftsstreit, Literaturstreit).“186 182 183 184
185 186
Vgl. MALLMANN, Klaus-Michael (1991), 81f. Ebd., 81. Zum positiven Zusammenhang zwischen Modernismus und Zweitem Vatikanischen Konzil Vgl. WOLF, Hubert (1998), 22. Vgl. besonders WEISS, Otto (1995), 594ff. Vgl. GUASCO, Maurilio (1991). Auf die Differenzierung zwischen modern und modernistisch weist WOLF hin: „Die katholische Sozialgeschichtsschreibung hat überzeugend nachgewiesen, daß das Konzil als Kind seiner Zeit Werte der Moderne durchaus rezipiert hat, etwa den Fortschrittsoptimismus, wie er sich in Gaudium et spes findet. Da die sogenannten Modernisten diesen nicht geteilt haben, war das Konzil hier zwar modern, aber durchaus nicht modernistisch.“ (WOLF, Hubert, 1998a, 37. Hervorhebung im Original). LOTH, Wilfried (1991), 269. RICHTER, Reinhard (2000), 26. Zum Zentrumsstreit, dem innerparteilichen Konflikt um den Charakter des Zentrums vgl. ANDERSON, Margaret Lavinia (1988). Zum Gewerkschaftsstreit, der innerkatholischen Auseinandersetzung um die Legitimität christlicher Gewerkschaften vgl. LOTH, Wilfried (1984), 85ff. Vgl. auch NELL-BREUNING, Oswald von (1967). Vgl. auch BRACK, Rudolf (1976). Zum Literaturstreit vgl. WEITLAUFF, Manfred (1988). Vgl. auch OSINSKI, Jutta (1993), 373ff. Vgl. auch PFENEBERGER, Josef (1910) Vgl. auch FROBERGER, Josef (1919).
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In Deutschland war der Würzburger Theologieprofessor Herman SCHELL (1850-1906) Exponent des Reformkatholizismus. Seine entscheidende Schrift Der Katholicismus als Princip des Fortschritts187 erschien erstmals 1897. Sie traf derart den Nerv gebildeter Katholiken, dass sie bereits 1899 in siebter Auflage vorlag. „Schell ist die Stimme der Zukunft“188, schreibt der Priester Josef MÜLLER. „Es bedurfte der gewichtigen Stimme des Würzburger Rektors, um ein größeres Publikum für die Bewegung zu interessieren.“189 GATZ schreibt: „Obwohl kein eigentlicher Modernist“, plädierte er „entschieden gegen den Ausschließlichkeitsanspruch der Neuscholastik und für eine Versöhnung von Katholizismus und moderner Welt.“190 Er kritisierte am zeitgenössischen Katholizismus generell die Bildungsdefizite und insbesondere die geistige Insuffizienz der Kleriker. So sei der anfänglich konfessionelle Gegensatz inzwischen zu einem kulturellen Gegensatz geworden. „Es handelt sich darum, ob der Katholizismus noch fähig ist Kulturträger zu sein“191, stellt MÜLLER fest. SCHELL greift das Problem der Inferiorität auf und fragt: „Wie kommt es, daß der Katholicismus vielfach die Stütze des Laientums in dem Maße verliert, als die katholischen Laien in höhere Stellungen und Kreise aufsteigen, während der Protestantismus damit fast überall Förderung gewinnt?“192 Er fordert eine „grundsätzlich dem Ideal des allgemeinen Priestertums entsprechende Bewertung des katholischen Laientums und die stärkere Berücksichtigung der gebildeten Stände“193 und tritt für eine „freiere Entwicklung der theologischen Wissenschaft“194 ein: „Der Katholicismus muß als Princip des Fortschritts und der fortschreitenden Denkarbeit geltend gemacht werden; sonst bleiben wir naturnotwendig zurück und werden zu Nutznießern der außerkirchlichen Wissenschaft.“195 SCHELL schreibt: „Die Gefahr der Verführung, mit welcher das Weltliche die geistlichen und kirchlichen Interessen bedroht, wird viel mehr ins Auge gefaßt als der Wert, den die Pflege der weltlichen Beziehungen und Kulturaufgaben für die Religion in sich birgt.“196
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SCHELL, Herman (1897). MÜLLER, Josef (1899), VI. Ebd. GATZ, Erwin (2009), 51. MÜLLER, Josef (1899), 63. SCHELL, Herman (1897), 9. Ebd., 91. Hervorhebungen im Original. Ebd. Ebd., 92. Hervorhebungen im Original. Ebd., 19. Wie sehr die Dichotomie von Religion und Kultur bzw. Gesellschaft auch gegen Ende des Untersuchungszeitraums hervortritt, zeigt eine Schrift von Gottfried HASENKAMP aus dem Jahre 1926: Infolge einer geistigen Inflation in den Jahren der Nachkriegszeit sieht er Anzeichen einer religiösen Erneuerung in Deutschland. Vgl. HASENKAMP, Gottfried (1926), 15. Die deutschen Katholiken hätten dementsprechend in erster Linie eine religiöse Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, weniger eine kulturelle. Religion steht über der Kultur:
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SCHELL wendet sich dagegen, ein mittelalterliches Welt- und Kirchenbild in der Neuzeit aufrecht zu halten und propagiert einen die nationalen Eigenheiten anerkennenden Katholizismus jenseits der Dichotomien von konservativ und fortschrittlich.197 Das Verbindende beider Elemente liege nicht in einem alles Neue abwehrenden Konservatismus: „Dieser Konservatismus ist der Vertreter alles Alten gegenüber allem Neuen, auch des Veralteten gegenüber dem Aufstrebenden.“198 Aber auch in der Tendenz des „Auflösens und Abtragens aller überlieferten Werte durch Freisinn und Fortschritt“199 sieht er keine Lösung. Das verbindende Element zwischen konservativer und fortschrittlicher Geistesrichtung liegt für ihn im gemeinsamen Willen zum Aufbau: „Konservativ im höhern und unbedingt guten Sinne ist alles, was erbauende, schaffende, hervorbringende Absicht hat [...]. Der wahre Freisinn und Fortschritt liegt darum nicht so sehr im Fragestellen und Verzweifeln, Auflösen und Abtragen des Bestehenden selber, sondern vielmehr im Aufbau der vollkommenen Erkenntnis und Rechtsordnung“200. Wichtiges Element einer allgemeinen Bewusstseinsänderung ist für ihn die Reform der Priesterausbildung: „Das System, wie es gegenwärtig nahezu herrschend ist, bedeutet nichts anderes als das stille Zugeständnis, daß die theologische Bildung eigentlich nur in der sichern Abgeschlossenheit von seminaristischen Fachschulen oder höchstens von exklusiv katholischen Hochschulen erfolgreich gedeihen könne; man traut ihr die Widerstandskraft nicht zu, um den freien Luftzug der großen Mittelpunkte des nationalen, internationalen und interkonfessionellen Geisteslebens siegreich aushalten oder günstig beeinflussen zu können.“201
Demgegenüber fordert SCHELL eine, wenn auch begrenzte Zeit des Studiums an katholisch-theologischen Fakultäten202 und schließt sich inhaltlich dem katholischen Erzbischof von Westminster, Henry Edward Kardinal MANNING
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„Nicht die katholische Wissenschaft oder die katholische Kunst wird dem deutschen Volke die Wiedervereinigung im Glauben bringen, sondern [...] allein der katholische Glaube.“ (Ebd., 19. Hervorhebungen im Original). Für die Kirche in der „räderschnurrende[n]“ (ebd., 28) modernen Welt ist es eine besondere Aufgabe, die „Wiedererschließung dieses Verhältnisses von Religion und Kultur für das Bewußtsein des deutschen Katholizismus“ zu erreichen. Wie sehr HASENKAMP in den klassischen Abgrenzungsterminologien des katholischen Milieus denkt, wird an seiner Beschreibung der inneren Lage des Katholizismus deutlich: „Die immer weitere Kreise erfassende Erziehung an den Hochschulen, deren protestantisch-liberale Tendenz nicht zu bestreiten ist, trieb einen unseligen Zwiespalt in die gebildeten katholischen Kreise, die ihre im bildungsfähigsten Alter stehende Jugend diesem Einfluß Aussetzen mußten. Blieb diese auch ihrem Glauben treu, so gab sie doch in der Folge einem unverkennbaren Unterlegenheitsgefühl gegenüber der kulturellen Leistung im nichtkatholischen Lager Raum.“ (Ebd., 17). Vgl. SCHELL, Herman (1897), 61. Ebd., 50. Hervorhebungen im Original. Ebd., 55. Ebd., 54f. Hervorhebungen im Original. Ebd., 22f. Vgl. ebd., 23.
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(1808-1892)203 an, der mehrere Hindernisse auf dem Weg des Katholizismus in die moderne Gesellschaft beschreibt: Ein erstes Hindernis ist für MANNING ein wissenschaftlich und bürgerlich nicht ausreichend gebildeter Klerus, der für die Leitung des öffentlichen Lebens nicht befähigt sei.204 SCHELL schreibt: „Eine innere Entfremdung und Unfähigkeit für die Aufgaben des modernen Staats- und Volkslebens ergibt sich, wenn man sich gewöhnt, in ganz ungeschichtlicher Weise das Ideal christlicher Staatswesen in der mittelalterlichen Vergangenheit zu suchen und die Umgestaltung zu den modernen Verhältnissen als eine fortschreitende Abschwächung des christlichen Einflusses anzusehen. Wer so denkt, ist natürlich unfähig, die moderne Civilisation zu fördern, weil er sie nicht versteht.“205
Er fordert dazu auf, an gemeinsame Traditionslinien mit dem Protestantismus anzuknüpfen: „Infolgedessen wird kein Gegner dadurch gewonnen oder überwunden, daß man ihn und sein System nach den verschiedenen Richtungen in offenen Widersinn ausbaut und ihm das dann unterschiebt, sondern nur dadurch, daß man an das Gemeinsame anknüpft, sei es sachlich oder grundsätzlich.“206
Nicht nur dem Protestantismus, auch dem Staat, der Wissenschaft, dem Kulturfortschritt und der „Entwicklung der volkswirtschaftlichen und industriellen Kräfte“207 soll der Katholik „offen und bereitwillig zu Anerkennung alles Wahren und Guten, was sich bei den Gegnern findet“208 und „frei von Vorurteilen und hemmenden Ängsten und Schranken“209 sein.210 Eine Ausdrucksform des liberalen Katholizismus war der sogenannte Modernismus.211 Hier wurde nach beginnender Diskussion in den 1970er Jahren in jüngerer Zeit eine Forschungslücke geschlossen.212 Die Bandbreite dessen, was 203 204 205 206 207 208 209 210
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Zum interessanten Vergleich zwischen den Konvertiten MANNING und NEWMAN vgl. LÜCHINGER, Adrian (2001). Vgl. SCHELL, Hermann (1897), 69f. Ebd., 70. Ebd., 14. Ebd., 19. Ebd., 18. Hervorhebungen im Original. Ebd. Hervorhebungen im Original. Es war nicht schwer, SCHELL des Protestantismus zu bezichtigen. Infolge von Denunziation gerieten seine Schriften auf den Index. SCHELL hat sich „aus Treue zur Kirche“ dem Urteil der Indexkongregation sofort unterworfen, ohne jedoch seine Ansichten zu widerrufen. Aber das Verhältnis zwischen ihm und den kirchlichen Behörden blieb bis zu seinem frühen Tod unversöhnt. Die Bedeutung von Herman SCHELL wurde erst im Vorfeld des Zweiten Vatikanums erkannt. Vgl. NEUNER, Peter (2009), 41 u. 174. Vgl. WEISS, Otto (1998), 57. Für Rom besteht nach WEISS zwischen dem Reformkatholizismus und dem theologischen Modernismus „kein Unterschied“ (WEISS, Otto, 1998a, 112). Vgl. den Sammelband SCHWAIGER, Georg (1976). Zu den kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus vgl. TRIPPEN, Norbert (1977). Vgl. hierzu besonders die Rezension SCHWEDT, Herman H. (1978) Vgl. LOOME, Thomas Michael (1979) und hierzu besonders WEITLAUFF, Manfred (1982). Vgl. besonders WEISS, Otto (1995). Vgl. den Sammelband
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als Modernismus213 bezeichnet werden kann, reicht von der explizit thematischen Erfassung durch die Enzyklika Pascendi bis zur Zusammenfassung aller Versuche, Theologie und Moderne in Verbindung zu bringen.214 Peter NEUNER formuliert innerhalb seines erweiterten Modernismus-Begriffs dessen „unerledigtes Erbe“. Dazu gehören: „Das Ernstnehmen der Geschichte und die historische Betrachtung der Schrift und der kirchenamtlichen Dokumente; die Betonung subjektiver Frömmigkeit und Erfahrung als theologische Erkenntnisquellen; eine bei der Sehnsucht des Menschen ansetzende Glaubensbegründung; die Kritik an einem Kirchenbild, das Kirche als hierarchische Pyramide zeichnet und Laien zu passiven und hörenden Gliedern der Kirche macht; die Verantwortung der Kirche für die Welt und die Gesellschaft und ein umfassender Begriff der Katholizität, der sich auch für die Ökumene öffnet.“215
Otto WEISS formuliert ähnlich, indem er die Kontinuität modernistischen Denkens innerhalb der katholischen Theologie betont: „Es gab die Kontinuität des Antimodernismus, der überall dort ‚Modernisten‘ aufspürte, wo Theologen nicht der Neuscholastik und dem römischen rationalistischen Objektivismus folgten. Es gab aber auch die Kontinuität einer im weitesten Sinne modernen oder modernistischen Theologie, die der ‚religiösen Verinnerlichung‘ den Vorrang vor allen dogmatischen Festlegungen oder öffentlichpolitischen Selbstdarstellungen des Katholizismus gewährte.“216
Ein weiteres öffentliches Forum des Katholizismus in Deutschland waren die Katholikentage. Die Geschichte der deutschen Katholikentage217 ist seit ihrem Beginn im Jahr 1848 in Mainz „eine Geschichte ihres Wandels, eines Wandels, der die Veränderungen in Kirche und Gesellschaft reflektiert“218.
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217 218
WOLF, Hubert (1998) und jüngst den Tagungsbericht WOLF, HUBERT; SCHEPERS, Judith [Hrsg.] (2009). Vgl. NEUNER, Peter (2009). Zur Begriffsgeschichte vgl. GRAF, Friedrich Wilhelm (1998), 70ff. Vgl. auch WEISS, Otto (1998a), 108ff. Zu den unterschiedlichen Positionen vgl. WOLF, Hubert (1998), 27ff. Zum engeren oder weiteren Modernismus-Begriff vgl. den Aufsatz von GRAF, Friedrich Wilhelm (1998). NEUNER, Peter (2009), 161. WEISS, Otto (1998), 62. WEISS sieht in der Nouvelle Théologie und im Rheinischen Reformkreis inhaltliche Bezüge zum Modernismus der Jahrhundertwende. Vgl. ebd. Aber auch in einem Teil der analysierten Aufsätze dieser Arbeit im Umfeld von Schildgenossen und Hochland wird deutlich, wie sehr man bei der Formulierung einer „religiösen Verinnerlichung“ auf die dogmatisch-theologische Verknüpfung bedacht war. Die Bezeichnung Katholikentage wird im Folgenden synonym für alle Generalversammlungen seit 1848 verwendet. HÜRTEN, Heinz (1999), 59.
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5.1.7 Die Katholikentage als Foren katholischer Vereine und Verbände Bis zum Jahr 1932, dem letzten Katholikentag auf deutschem Boden vor der sogenannten Machtergreifung, fanden insgesamt einundsiebzig Katholikentage im Jahresrhythmus statt, wobei die Unterbrechung zwischen 1914 und 1920 eine Zäsur darstellte. Als „Heerschau der politischen Kraft der deutschen Katholiken“219 begann die wechselvolle Geschichte zunächst als Generalversammlung des Katholischen Vereins Deutschlands, der von Mitgliedern der Piusvereine gegründet wurde. Als Dachverband aller kirchlichen Vereine hatte er sich die Verwirklichung der kirchlichen Freiheit zum Ziel gesetzt. Der Priester und spätere Zentrumspolitiker Christoph MOUFANG (1817-1890)220 fasste zu Beginn der Generalversammlung von 1849 in Breslau die Hauptzwecke der zunächst im kleinen Kreis stattfindenden Beratungen zusammen: Sie dienten der Erreichung der kirchlichen Freiheit, der Bildung und der Behebung der sozialen Not.221 Gleichzeitig sollten sie ganz im Sinne einer Formierung des katholischen Milieus eine gemeinsame Öffentlichkeit herstellen: „Es ist nöthig, daß wir eine öffentliche katholische Meinung bilden, denn, wenn man bisher bei allen Maßregeln der Regierung nicht darnach fragte: was sagt das katholische Volk dazu? – so liegt der Grund darin, weil wir keine öffentliche katholische Meinung hatten, und diese können wir nur erreichen durch öffentliche Versammlungen.“222
Der Bildung der Piusvereine und des Katholischen Vereins vorausgegangen waren die Krisenphasen der Säkularisation und des Kölner Ereignisses (oder der „Kölner Wirren“223) von 1837, der Verhaftung des Kölner Erzbischofs Clemens August von DROSTE-VISCHERING auf Veranlassung der preußischen Regierung.224 Nach diesem „Höhepunkt im Kampf der katholischen Kirche um Befreiung von der staatskirchlichen Bevormundung in Preußen“225, die sich an unterschiedlichen Positionen in Fragen der Mischehenpraxis226 und des Her219 220 221
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REICHERT, Burkhard (1992), 251. Zur Einordnung seiner Tätigkeit als Moraltheologe vgl. KLOSE, Martin (2003). Vgl. GENERALVERSAMMLUNG II (1849), 24ff. Vgl. auch die Satzung des Katholischen Vereins von 1848, die sieben Aufgaben des Vereins aufzählt: Verwirklichung der Freiheit der Kirche, Freiheit des Unterrichts und der Erziehung, geistige und sittliche Bildung des Volkes, Behebung der sozialen Mißstände, schließlich Sorge um den Erhalt katholischer Stiftungen und Verteidigung des Rechts auf freie Assoziation. Vgl. GENERALVERSAMMLUNG III, 139f. Zur Erziehungsfrage als Themenkreis auf den Katholikentagen im 19. Jahrhundert vgl. GÖTTE, Franz Josef (1966). GENERALVERSAMMLUNG II (1849), 25. SCHRÖRS, Heinrich (1927). Vgl. HEGEL, Eduard (1961) Ebd., 394. Während in der staatlichen Mischehengesetzgebung die Kinder in der Konfession des Vaters erzogen werden sollten, traten Kirchenvertreter wie der Erzbischof von Köln, Freiherr Klemens von DROSTE-VISCHERING dafür ein, dass Kinder aus gemischt konfessionellen Ehen katholisch erzogen werden sollen: „Durch die Versetzung protestantischer Beamter aus dem
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mesianismus227 entzündeten, wurde im Zuge der mit der Revolution von 1848 gelockerten Vereinsgesetzgebung am 23. März 1848 der erste Piusverein für religiöse Freiheit durch den Mainzer Domkapitular Adam Franz LENNIG (1803-1866) gegründet.228 Die Katholikentage haben immer wieder zur Gründung neuer Vereine aufgerufen und unterstützten so etwa die Bildung von karitativ tätigen Vinzenz- und Elisabethvereinen, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts rasch über ganz Deutschland ausbreiteten.229 Als „kirchlich gebundene private Wohltätigkeitsbewegung im Gegenüber zur öffentlichen Armenhilfe“230 bildeten sie bis zum Höhepunkt des katholischen Vereinswesens im Jahre 1912 einen wichtigen Teil in der sich entwickelnden Vereinsstruktur des deutschen Katholizismus.231 Zunächst waren Vereinsgründungen ein städtisches Phänomen. WEICHLEIN weist etwa für den Regierungsbezirk Kassel eine verzögerte Vereinsgründungswelle nach und stellt dies in den Zusammenhang mit einer verspäteten Urbanisierung und Industrialisierung dieser Region.232 Gründe liegen demnach in einer zunehmenden Differenzierung des Alltags in Arbeitszeit und Freizeit: „Nur wer außerhalb der Arbeitszeit über hinreichend freie Zeit verfügte, hatte die Möglichkeit am Vereinsleben teilzunehmen.“233 Das Netzwerk der katholischen Vereine, ihre innere Selbstvergewisserung und ihr Wirken nach außen in den gesellschaftlichen Raum hinein wurde auf den Katholikentagen reflektiert und zeigte sich als tragendes Element eines Milieukatholizismus, der als „kollektiver Schutzraum“234 insgesamt diese beiden Funktionen verfolgte: Interessenvertretung nach außen und gemeinsame Identitätssicherung nach innen.235 Ab 1858 wurde der veränderten vereinspolitischen Situation in Köln dadurch Rechnung getragen, dass die Zusammenkünfte nunmehr Verhandlungen der Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands hießen.236 Der „Kampf für die freie Bewegung der katholischen Kirche im Staate“237 trat bis zur erneuten Auseinandersetzung im Kulturkampf eher in den Hintergrund zugunsten einer stärkeren Fokussierung auf soziale Themen. Die
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Osten Preußens in die westlichen überwiegend katholischen Gebiete und durch deren Verheiratung mit den Einheimischen hoffte er [FRIEDRICH WILHELM III.] den Protestantismus zu verbreiten und zur Staatsklammer Preußens zu machen.“ (GELLER, Helmut, 1980, 75). Zu Person und Theologie von Georg HERMES vgl. FLIETHMANN, Thomas (1997). Vgl. BUCHHEIM, Karl (1961), 69. Dabei kann, so Siegfried WEICHLEIN, heuristisch nach schichtenspezifischen berufsständischen und schichtenübergreifenden Organisationen differenziert werden. Vgl. WEICHLEIN, Siegfried (1996), 65f. GABRIEL, Karl (1999), 106. Vgl. ebd., 105. Vgl. WEICHLEIN, Siegfried (1996), 59. Ebd. DAMBERG, Wilhelm (1999), 136. Vgl. WEICHLEIN, Siegfried (1996), 58. Vgl. GENERALVERSAMMLUNG X (1858). Ebd., 10.
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soziale Frage war dabei mit unterschiedlichen Akzentuierungen durchgehendes Thema auf allen Katholikentagen. In vier Abteilungen (Missionswesen, christliche Barmherzigkeit, christliche Kunst, Wissenschaft und Presse)238 sollten fortan „die Errungenschaften der letzen Jahre auf allen Gebieten des socialen Lebens möglichst fruchtbar“239 gemacht werden. Dabei wurde vielfach kirchliches Handeln als einzige Möglichkeit zur Behebung der sozialen Not hervorgehoben.240 Die Zeit des Kulturkampfs zwischen 1871 (Aufhebung der katholischen Abteilung im preußischen Kultusministerium) und 1887 (LEO XIII. erklärt den Kulturkampf für beendet)241 bedeutete auch für die Katholikentage eine Erweiterung ihres Themenfeldes: Mit der Reichsgründung stand nun der Kampf gegen den antichristlichen Liberalismus der kirchenfeindlichen Politik BISMARCKs im Vordergrund. Bis 1879 durften zudem die politisierteren Verhandlungen nicht in Preußen abgehalten werden.242 MORSEY schreibt: „Abwehr und Protest der Katholikentage richteten sich aber nicht nur gegen staatlichen Absolutismus und Staatsomnipotenz, sondern, im Zeichen der Gründerjahre und des Gründerschwindels, ebenso gegen Mammonismus, Materialismus und unbeschränkten Freihandel, schließlich – und zunehmend stärker – gegen den sich rasch ausbreitenden revolutionären Sozialismus.“243
Ab 1872 wurden die Verhandlungen unter der Bezeichnung Generalversammlung der Katholiken Deutschlands244 geführt, um keine vereinsgesetzliche Handhabe zum Verbot der Versammlungen im Zuge des Kulturkampfs zu bieten. Gleichzeitig wird der Wille nach Repräsentanz der Gesamtheit der deutschen Katholiken durch die neue Namensgebung zum Ausdruck gebracht.245 In der Zeit nach dem Kulturkampf brachte die Enzyklika Rerum novarum die soziale Frage in verstärktem Maße auf die Tagesordnung.246 STEGMANN schreibt: „Mit dem Nein zum ‚Klassenkampf‘ und dem grundsätzlichen Ja zum freien und gerechten Lohnvertrag sprach sich ‚Rerum novarum‘ in der Frage, ob totale Reform des bestehenden Gesellschaftssystems nach ständischem Vorbild oder partielle Sozialpolitik innerhalb dieser Ordnung, für den sozialpolitischen Weg aus.“247
Der 1890 gegründete Volksverein für das katholische Deutschland bestimmte mit seiner „antisozialistischen Zielsetzung und Bejahung der industriellen Ge238 239 240 241 242 243 244 245 246 247
Vgl. ebd., 12. Ebd., 10. Hervorhebung im Original. Vgl. GRENNER, Karl Heinz (1968), 19. Zu den einzelnen Phasen des Kulturkampfs vgl. MORSEY, Rudolf (1981). Vgl. MORSEY, Rudolf (1985), 17. Ebd., 18. GENERALVERSAMMLUNG XXII (1872). Vgl. HÜRTEN, Heinz (1999), 64. Vgl. FILTHAUT, E[phrem Maria] (1960). Zur Enzyklika vgl. MÜLLER, Franz H. (1971), 114ff. STEGMANN, Franz Josef (1995), 52.
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sellschaft“248 zunehmend die Richtung der Verhandlungen und trug „zur Aussöhnung mit der bestehenden Staats- und Wirtschaftsordnung bei“249. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Binnendifferenzierung des deutschen Katholizismus zugenommen: „Sie ergab ein zwiespältiges Neben- und Ineinander von Frontstellung gegen die Moderne und Eingewöhnung in sie.“250 Mit der an die deutschen Bischöfe gerichteten Enzyklika Singulari quadam aus dem Jahr 1912 äußerte sich Papst PIUS X. nach langjährigen binnenkirchlichen Auseinandersetzungen im Gewerkschaftsstreit zur Frage der Mitarbeit von Katholiken in interkonfessionellen Gewerkschaften. Zwar lobt PIUS X. die Arbeit der katholischen Arbeitervereine, machte aber eine Mitarbeit katholischer Arbeiter in den nun geduldeten interkonfessionellen Gewerkschaften von einer gleichzeitigen Zugehörigkeit zu den katholischen Arbeitervereinen abhängig. Allein von ihrer Struktur her sind die Katholikentage milieustabilisierend angelegt: Sie bieten eine öffentlichkeitswirksame Interessenvertretung nach außen und die gemeinsame Identitätssicherung nach innen. Nach Rudolf MORSEY standen in einer ersten Epoche bis 1870 bei durchgängiger Thematisierung der Sozialen Frage vor allem religiös-christliche Fragen wie die „Wiederverchristlichung“ oder die „Wiedergewinnung der im Glauben getrennten Brüder“251 bei gleichzeitig politischer Zurückhaltung im Vordergrund. Nach dem Ende des Kulturkampfs und dem Erscheinen der Enzyklika von LEO XIII. wurde die soziale Frage neu aufgeworfen. Auch hatte sich die katholische Minorität „in das preußisch-kleindeutsche Kaiserreich unter protestantischer Führung eingelebt. Bei unverminderter religiös-kirchlicher Zielsetzung und ungeschmälertem Bekenntnis zum christlichen Universalismus leisteten manche Generalversammlungen ein Übersoll an staatsbürgerlicher Loyalität und Reichspatriotismus“252.
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MORSEY, Rudolf (1985), 19. Der Volksverein wurde auf Initiative des Textilunternehmers Franz BRANT, des Priesters wie Sozialpolitikers Franz HITZE (1851-1921) und des Vorsitzenden der Zentrumspartei Ludwig WINDTHORST gegründet. Als interdiözesane Organisation wurde der Volksverein – neben der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland – zum „stärksten Motor des ‚Bildungskatholizismus‘“ (RICHTER, Reinhard, 2000, 27. Hervorhebung im Original). Zum Volksverein vgl. KLEIN, Gotthard (1996) Vgl. LOTH, Wilfried (1997). Vgl. GROTHMANN, Detlef (2001). Zu Franz HITZE vgl. PFEIFFER, Wolfram (1998). Vgl. auch MORSEY, Rudolf (2001). Zur Görres-Gesellschaft vgl. die Festschrift zum 25jährigen Bestehen CARDAUNS, Hermann (1901). Vgl. auch MORSEY, Rudolf (2001a) Vgl. besonders die erste umfassende Gesamtdarstellung MORSEY, Rudolf (2009). MORSEY, Rudolf (1985), 19. MALLMANN, Klaus-Michael (1991), 85. MORSEY, Rudolf (1985), 15. Ebd., 19.
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In einer dritten Epoche von 1921-1932 musste der deutsche Katholizismus sich „mühsam in die neue Republik“253 einleben. Vordringlich ging es bei den Katholikentagen, an denen nun auch Frauen als Rednerinnen (und zudem als dritte Vizepräsidentin) mitwirken konnten, darum, „einer zunehmenden Säkularisierung und Entchristlichung öffentlichen Lebens entgegenzuwirken“254. Außerdem waren Reichsminister, Ministerpräsidenten oder Staatsminister im Präsidium mit beteiligt, und auch der Apostolische Nuntius Eugenio PACELLI war bis 1929 ständiger Gast der Versammlungen. Vom 31. August bis zum 4. September 1932 fand nach 26 Jahren wieder ein Katholikentag in Essen statt. Ab Mitte der zwanziger Jahre wurde jeder der Katholikentage unter eine Thematik gestellt.255 Das Leitwort für die 71. Generalversammlung der deutschen Katholiken hieß Christus in der Großstadt. Im Begleitheft, das zum Katholikentag erschienen ist, wird die dezidiert westeuropäische Blickrichtung mit ihrer idealisierten Programmatik deutlich: „Denn ‚Großstadt‘ bedeutet uns nicht nur die neuzeitliche Form des Zusammenwohnens, sondern das Wort ist uns Symbol für die Art menschlichen Lebens und Wirkens überhaupt, wie sie Gott, der Herr der neuen Zeit, unserer Epoche des westeuropäischen Kulturraums als besondere Aufgabe gesetzt hat. Wir wollen unter Gottes Beistand zu ergründen suchen, wie nach seinem Willen das moderne Großstadtleben aufgebaut sein soll und anschließend entsprechende Richtlinien für die Zukunft aufreißen.“256
Der Essener Katholikentag war straffer konzipiert und durchdachter als frühere Versammlungen, und in allen Aussagen sollte sich das positive Verhältnis des katholischen Glaubens zu den wichtigsten Bereichen des modernen Lebens artikulieren. Die relative Offenheit gegenüber dem modernen Leben konfrontierte aber den Katholizismus auch mit dem Pluralismus der Meinungen in den eigenen Reihen. Politisch war die geschlossene parteipolitische Vertretung der Katholiken nicht mehr unbestritten. Um all diese Bereiche gab es lebhafte Diskussionen in den nichtöffentlichen Sitzungen des Vertretertags, der erst einige Jahre zuvor installiert worden waren. Sowohl die öffentlichen Versammlungen als auch die Debatten des nichtöffentlichen Vertretertages widmeten sich in neun Einheiten dem gemeinsamen Thema. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematisierung von Moderne und Großstadt auf den deutschen Katholikentagen bildet bislang ein Forschungsdesiderat.
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Ebd., 20. Ebd. Vgl. ebd. KATHOLIKENTAG (1932), 16.
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5.1.8 Der Katholizismus in der Weimarer Republik Die Bedingungen für den deutschen Katholizismus waren nach dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang des Kaiserreichs günstig. In einer Zeit, in der viele der tradierten Übereinkünfte durch die Zerstörung der bürgerlichen Welt fragwürdig geworden waren, bot die katholische Kirche mit ihren auch formalen Prinzipien in der religiösen Praxis letzte Gewissheiten und Halt. Die spezifisch katholische Ungleichzeitigkeit versprach gerade Künstlern und Intellektuellen Wege zum Heil.257 Katholische Ordnung und Werte, die lange als vormodern galten, „bekamen auf einmal Konjunktur. War nicht das Scheitern der antikatholischen, liberalen und aufgeklärten Kultur durch den Krieg unübersehbar geworden? Rief nicht alles nach einer neuen geistigen Einheit der Volksgemeinschaft – und wer sollte diese herstellen wenn nicht die katholische Kirche, die die moralische Katastrophe des Krieges unbeschadet überstanden hatte?“258
Aber es gab eben auch die Verluste und Verständigungsprobleme, die aus dem bewussten Rückzug der Kirche im 19. Jahrhundert resultierten. Katholischen Kriegsheimkehrern und katholischer Jugend stand in diesen wirren Jahren des Zusammenbruchs weder nach dem biederen katholischen Vereinswesen noch nach dem politisierten Katholizismus des Zentrums der Sinn. Sie wurden stattdessen vom „Wahrhaftigkeitspathos und Authentizitätsdrang“259 der katholischen Jugendbewegung angesprochen, und so hatte der Quickborn seinen entscheidenden Durchbruch erst am Ende des Kaiserreichs. Was für Architektur, Kunst und Literatur in Deutschland gelten kann, die Republik habe „lediglich bereits Vorhandenes befreit“, lässt sich mit WEISS ebenso auch vom Katholizismus sagen: „Gewiß hatte das Erlebnis des Krieges viele Verlogenheiten und Verkrustungen der Gründerzeit und der Wilhelminischen Ära beseitigt. Aber das Neue, was da aufbrach und was mit den Schlagwörtern ‚Vitalismus‘, Naturverbundenheit, Jugendbewegung, Streben nach Echtheit umschrieben wurde, […] knüpfte an die Aufbruchszeit der ‚Crise du fin de siècle‘ an. Auch in der Theologie.“260
Der Aufbruch im deutschen Katholizismus kündigte sich also schon vor dem Ersten Weltkrieg an. Jetzt bot die Weimarer Republik dem Katholizismus sowohl Chancengleichheit für den politischen Katholizismus der Zentrumspartei als auch neue Möglichkeiten für eine pluriforme Auseinandersetzung mit der 257
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So lässt sich ein regelrechter Boom von Konversionen gerade und vor allem unter gebildeten Großstädtern verzeichnen: Hugo BALL, Max SCHELER, Gertrud von LE FORT, Edith STEIN u.v.m. Vgl. die große Arbeit über Konversionen im 20. Jahrhundert von HEIDRICH, Christian (2002). RUSTER, Thomas (1994), 16f. Ebd., 38. WEISS, Otto (1995), 503.
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Moderne: „Die katholische Sonderwelt hatte ihre Isolierung aufgegeben, der Katholizismus war involviert.“261 Herausragende katholische Theologen versuchten, sich auf eine bisher nicht dagewesene Weise den Herausforderungen ihrer Zeit zu stellen. GRAF hinterfragt, ob die auch in dieser Arbeit behandelten Theologen der 1920er Jahre als Modernisten zu bezeichnen sind, da sie „sich ausdrücklich von modernistischen Theologen der Vorkriegszeit abgrenzten und gegen den befürchteten modernistischen ‚Subjektivismus‘ eine neue Bindung an Dogma und päpstliche Autorität einklagten“262. Er schreibt: „Die Theologie und liberalismuskritischen Kulturkonzepte der meisten Weimarer jungkatholischen Intellektuellen waren von der entschiedenen Absage an den bürgerlichen ‚Kulturkatholizismus‘ jener ‚Modernisten‘ bestimmt, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg katholische Modernität hatten definieren wollen. Gegen den Subjektivismus und Relativismus der Wilhelminer setzten sie auf dezisionistisches Offenbarungspathos und tiefen Glaubensernst. […] Nicht irgendeine Anpassung der Kirche an die Welt war ihr Thema, sondern eine Erneuerung wahrer Katholizität aus dem unbedingten Ergriffensein durch die übergeschichtliche Offenbarungswahrheit und eine damit notwendig verbundene Revolution der Kultur aus dem Geiste katholischen Formwillens.“263
Selbst das Aufkommen neuscholastischer Theologien versteht GRAF als „eine Geschichte interner konzeptioneller Modernisierung theologischer Reflexion“264 und fordert eine Begrifflichkeit, „die Mischungsverhältnisse und Paradoxien zu beschreiben erlaubt, also beispielsweise dabei hilft, Elemente traditionalistischer Sozialromantik bei den Modernisten und modernisierende Denkformen bei den Konservativen zu identifizieren“265.
Ein großer Teil der in dieser Arbeit analysierten Zeitschriften-Aufsätze stammt aus den 1920er Jahren. In ihnen lassen sich unterschiedliche Autoren als Brückenbauer zwischen Katholizismus und Moderne identifizieren. Auch hier waren die Zugänge und Annäherungen so vielfältig wie die Moderne selbst. RUSTER ist überzeugt, dass die „Gründlichkeit und Intensität“, mit der sich Theologen in den Jahren der Weimarer Republik dem Verhältnis von Katholizismus und Moderne widmeten, bis heute von Bedeutung ist. Auch „ihre Beteuerung der ewigen und überzeitlichen Gültigkeit der kirchlichen Glaubenslehre“266 weise sie als Menschen ihrer Zeit aus. RUSTER schreibt:
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RUSTER, Thomas (1994), 278. GRAF, Friedrich Wilhelm (1998), 70. Ebd., 102f. Ebd., 83. Ebd. RUSTER, Thomas (1994), 17.
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„Sie entwickelten modellhafte Verhältnisbestimmungen zwischen katholischem Glauben und moderner Lebenskultur, die zum Teil noch heute das Handeln der Kirche und das Denken vieler Katholiken prägen, die sich zum Teil auch aus Gründen, die darzulegen sind, überlebt haben. Was immer damals zum Thema Katholizismus und Moderne vorgedacht wurde, es ist erhellend für das gegenwärtige, prekäre Selbstverständnis der katholischen Kirche, das nach wie vor aus einer unsicheren und unaufgelösten Verhältnisbestimmung zur modernen Gesellschaft resultiert. Zu Unrecht meinen viele, vor den Problemen zum ersten Mal zu stehen.“267
5.2 Sehnsucht nach Gemeinschaft als katholische Lebenspraxis 5.2.1 Die Rezeption von Ferdinand TÖNNIESʼ Gemeinschaft und Gesellschaft Eine emphatische Steigerung erfuhr der Gemeinschaftsgedanke in den katholischen Aufbruchsbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Wort Gemeinschaft bekam dabei einen hohen sittlichen und appellativen Wert. In den 1920/30er Jahren erlebte TÖNNIESʼ Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft rasch aufeinanderfolgende Neuauflagen und lässt auf große Beachtung dieses Werks auch im außerwissenschaftlichen Zusammenhang schließen. Vor allem ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in den nach 1848 erstarkenden Kreisen des gebildeten Bürgertums (Pfarrer, Ärzte, Lehrer, Professoren, Gelehrte im weiteren Sinn) allgemein befürchtet, mit der Verstädterung Deutschlands würden die gemeinschaftlichen Formen des Zusammenlebens untergehen und damit auch die überkommenen Wertvorstellungen. „Was die konservative Großstadtkritik populistisch verbreitete, fand auch in der Wissenschaft Widerhall.“268 Die Verstädterung wird als Folge der Industrialisierung und verbunden mit Verlusten des gesellschaftlichen Lebens gesehen: Menschen würden zu einem Leben in der Anonymität der Großstadt gezwungen, ein Leben in der Masse würde sie von den traditionellen Wurzeln 267
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Ebd. RUSTER beruft sich mit dieser Einschätzung auf ein Urteil von SCHILSON, Arno (1987) und schließt sich folgender Einschätzung an: „Ohne eine solide Vergewisserung über die allerersten Anzeichen solch tiefgreifender Wandlungen in der frühen Theologie des 20. Jahrhunderts wird auf die Dauer eine zufriedenstellende Erfassung des gegenwärtigen Problemstandes unmöglich sein und bleiben.“ (SCHILSON, Arno, 1987, 22; zit. nach RUSTER, Thomas, 1994, 17). Dabei halte SCHILSON eine theologiegeschichtliche Erforschung der Epoche zwischen den Weltkriegen für eines der dringendsten Desiderate. Vgl. ebd., Anm. 12. HÄUSSERMANN, Hartmut; SIEBEL, Walter (2004), 104.
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ihrer Herkunft entfernen. Sie würden dadurch ihrer sozialen Bindungen ledig, die ihnen als Teil einer Gemeinschaft Orientierung und Halt gegeben hätten. Durch Fremdheit, Verunsicherung und Vereinzelung in der Masse wachse die Gefährdung der Stadtbewohner an Leib und Seele. Kriminalität, Verwahrlosung und sittliche Verwilderung seien die Folge. Städtisches Leben wurde gleichgesetzt mit dem Verlust von Gemeinschaft. HÄUSSERMANN und SIEBEL schreiben: „Sowohl in der politisch reaktionären Großstadtkritik als auch in der Sozialwissenschaft wurden bis zum Ersten Weltkrieg überwiegend eine Parallelität und eine kausale Verknüpfung zwischen gemeinschaftlichen Lebensformen mit dem Land und gesellschaftlichen Lebensformen und der Großstadt gesehen.“269
Innerhalb der Sozialtheorie steht TÖNNIESʼ Begriffspaar Gemeinschaft/Gesellschaft für die dichotomische Unterscheidung zweier konträrer Lebensweisen: Für Gemeinschaft stehen ritualisierte Gewohnheit und kollektives Gedächtnis im Vordergrund, während Gesellschaft von Zweckrationalismus beherrscht zu sein scheint. Das Entscheidende für eine Gemeinschaft sei „die besondere soziale Kraft und Sympathie, die Menschen als Glieder eines Ganzen zusammenhält“270. Gegenseitiges Verständnis und gegenseitige Übereinkunft bestimmen die Gemeinschaft. Dagegen zeichne sich die Gesellschaft durch ein Verschwinden der Tradition aus, die sozialen Beziehungen folgten einem rationalen Kalkül, die Lebensverhältnisse seien von Warenförmigkeit geprägt, eine Tendenz, die aus kaufmännischem Denken und Verhaltensweisen resultiere. In der Gemeinschaft seien Menschen „wesentlich“ und damit dauerhaft miteinander verbunden, in der Gesellschaft regle dagegen der Vertrag den gegenseitigen Austausch, als von außen gesteuerte Ratio, die sich über die menschlichen Bedürfnisse hinwegsetze. Die Gemeinschaftsidee zu Beginn des 19. Jahrhunderts war unter anderem von einem universalistischen Impuls getragen, der als Epochenbezeichnung später Romantik genannt wurde. Es war der romantische Protest gegen die Französische Revolution und die sich in ersten und noch vagen Zügen abzeichnende moderne Gesellschaft. Diese Zeit wurde als eine Art Renaissance des Katholischen gerade unter den Gebildeten erlebt. Man neigte zu einem Vergleich der Jahre nach den Napoleonischen Kriegen mit der Nachkriegszeit nach 1918.271 269 270 271
Ebd. TÖNNIES, Ferdinand (1963), 20. Zum Zusammenspiel von Rückbesinnung auf die Romantik mit einem Aufbruch der Gemeinschaftsidee vgl. SONTHEIMER, Kurt (1963). SONTHEIMER sieht im romantischen Gemeinschaftsgedanken einen Grundzug des politischen und gesellschaftlichen Katholizismus seit Beginn des 19. Jahrhunderts: „Der romantische Protest gegen die Ideen der Französischen Revolution und die moderne Gesellschaft, wie ihn Adam Müller und Franz von Baader zu Beginn des 19. Jahrhunderts formuliert hatten, blieb ein Grundzug des katholischen Denkens bis in die Gegenwart. Österreichs einflussreicher Ständestaattheoretiker Othmar SPANN war
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Die organische Gemeinschaftsidee geht von einer prästabilen Harmonie (LEIBNIZ) aus. Gesellschaft wird hier verstanden als in sich ruhender Kosmos, als geordnetes Inneres im Sinne ständischer Gesellschaftsordnung, ein schöpferisches Prinzip als über das Individuum hinausgehendes Ganzes.272 BAUMGARTNER schreibt: „Die Zeit von 1918 bis 1933 war, wenn man sie nicht statisch sieht, sondern nach ihren vorherrschenden Tendenzen befragt, nicht mehr die Zeit der Verbände, sondern die Zeit der Bewegungen. Jugendbewegung, Bibelbewegung und liturgische Bewegung fanden in der katholischen Bevölkerung vor allem bei den jüngeren Jahrgängen und der schmalen Schicht der Gebildeten Resonanz. Dem traditionellen Verbandskatholizismus stand man in diesen Kreisen reserviert und fremd gegenüber. Ihr Ideal hieß Gesinnungsgemeinschaft; die christliche, aus dem Vollzug der Liturgie lebende Gemeinde wurde als zentrale Idee wiederentdeckt. Gemessen an den neuen Idealen erschienen das herkömmliche Vereinsleben und die vornehmlich auf Interessenvertretung zielende Vereinsarbeit als äußerliche, am Kern christlicher Gemeinschaft vorbeigehende Geschäftigkeit. Daß ein Teil des jüngeren Klerus diese Auffassung teilte und sich der Vereinsarbeit entzog, bedeutete mehr als eine Schwächung der auf die Mitarbeit der Geistlichkeit angewiesenen Verbände. […] Der Volksverein, der nach außen immer noch als der Repräsentant des Verbandskatholizismus galt, hatte darunter besonders zu leiden. Diese allgemeine Lage des Volksvereins nach dem Ersten Weltkrieg ist mitzubedenken, um die geistige Neuorientierung verstehen und richtig einordnen zu können, die sich nach 1920 in der sozialen Bildungsarbeit des Verbands vollzog. […] Personifiziert wurde die neue Richtung durch zwei altgediente Männer der Mönchengladbacher Zentrale, durch August Pieper und Anton Heinen.“273
272
273
nur ein besonders glühender Erneuerer dieses katholischen Romantizismus. Mochte sein Universalismus mit dem Solidarismus der offiziellen katholischen Position nicht voll identisch sein, so bewegte er sich doch auf einer Linie mit den vorherrschenden Tendenzen im geistigen Katholizismus.“ (Ebd., XXII). Othmar SPANN ist der bekannteste Vertreter einer neuromantischen Bewegung, die mit vielen ideologischen Facetten u. a. als Vorläufer des Nationalsozialismus verortet wird. Jakob HOMMES kritisiert 1933 bei SPANN dessen universalistische Auffassung von völkischer Gemeinschaft: „Spanns überspitzte Ganzheitssoziologie kommt der übersteigert antiliberalen Zeitströmung entgegen. Nun liegt es uns fern, für den in seinen Grundlagen erschütterten Liberalismus eine Lanze zu brechen. […] Wenn wir einmal die Segnungen des völkischen Kollektivismus und seiner ‚Volksstaats‘-Omnipotenz werden erfahren haben, dann wird vielleicht ein neuer Liberalismus notwendig sein, um uns davon zu befreien, […] eine schlichte Besinnung auf die wahre Volkheit und volkhaft gegliederte Selbstbindung und Selbstverwaltung des einzelnen. Um der Sinnerfüllung des Menschseins, um der christlichen Humanität willen, ist heute eine entschiedene Absage an unechten Universalismus und Totalismus notwendig.“ (HOMMES, Jakob, 1933, 182f.). Das Buch Gemeinschaft und Gesellschaft erschien erstmals 1887. Seine erste Fassung von 1880/81 wurde nicht veröffentlicht. 1912 erschien es in neuer Überarbeitung, nach 1918 wurden in schneller Folge sechs Auflagen publiziert, die auf das Denken der 1920/30er Jahre ausstrahlten. Es stand im Zusammenhang einer emotional wertenden Rezeption, die polarisierte: pro Gemeinschaft/contra Gesellschaft wurde zum Begriffsdualismus umgedeutet. Vgl. auch BERNDT, Heide (1968), 24ff. BAUMGARTNER, Alois (1977), 92f.
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Die organische Gemeinschaft avancierte zum gesellschaftlichen Leitbild als ein „Leitbild, dessen Verwirklichung man nicht zuerst von der Erneuerung der sozialen Ordnung, sondern von einem durchgreifenden Gesinnungswandel erwartete“274. Es ging nicht mehr um die Befähigung zu sozialpraktischer Arbeit und Politik, sondern um die „Weckung von Gemeinsinn und Gemeinschaftsgeist“ – um eine „Gesinnungsreform“275. Unter den Autoren des Sozialkatholizismus der Nachkriegsjahre gilt Ferdinand TÖNNIES als Stichwortgeber.276 Man versuchte zum Beispiel die TÖNNIESschen Begriffe „mit der scholastischen Unterscheidung natürlichnotwendiger und freier Gesellschaften in Verbindung zu bringen“277. Das Selbstverständnis des katholischen Gesellschaftsideals jener Jahre fand geeignete Orientierung am TÖNNIESschen Gemeinschaftsbegriff. BAUMGARTNER schreibt: „Sozialreform hieß Rückkehr zu organischer Lebensgemeinschaft, hieß Wiederbesinnung auf die gemeinschaftsfördernden Ideen und Kräfte. Zumal das nach Krieg und Revolution darniederliegende Deutschland sollte in der Gemeinschaftsidee die Chance seines inneren und äußeren Wiederaufbaus erkennen.“278
Denn, so beschreibt August PIEPER den Gesellschaftsentwurf von Anton HEINEN, „die soziale und staatliche Volksgemeinschaft ist organische, vom Schöpfer gewollte Lebensgemeinschaft und Schicksalsverbundenheit, nicht willkürlich von Menschen gemachte Zweck- und Interessengesellschaft. Erstere lebt aus irrationalen Kräften, aus tiefster Ergriffenheit von einer als Lebensaufgabe zu verwirklichenden Idee; letztere wird mit Wissen und Können gemacht. Den großen Unterschied beider besagen die Worte: Organismus und Organisation“279.
Die „dichotomische Begriffsreihe“280, die HEINENs Denken von Gesellschaft versus Gemeinschaft impliziert und derweise ein geschlossenes, dualistisches System voraussetzt, wirkt in dieser Argumentationsform auf Dauer zunehmend stereotyp und formelhaft. Es heißt dort: Gesellschaft verfolgt äußere Zwecke und Ziele, sie ist mechanistisch, sie ist „gemacht“; dagegen ist „wirkliche“ Gemeinschaft Sinnstiftung. Gemeinschaft erschließt sich durch „ideelles Schauen“ und nicht durch begriffliches Denken, folgt der „Intuition und nicht der Definition, dem Herzen und nicht dem Verstand“281. Gemeinschaft
274 275 276 277 278 279 280 281
Ebd., 93. Ebd., 94. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Anm. 35. Vgl. etwa den Aufsatz RÜTHER, Josef (1922). Ebd., 95. PIEPER, August (1920), 3; zit. n. BAUMGARTNER, Alois (1977), 95. BAUMGARTNER, Alois (1977), 96. Ebd.
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„erwächst aus selbstloser Hingabe“, beruht also „auf Liebe“, Gesellschaft dagegen auf „berechnendem Interesse“, anders ausgedrückt „auf Egoismus“282. Zu dieser dichotomischen Denkweise gehört in diesen Jahren der krisenhaft erlebten Moderne die grundlegende, oppositive Gegenüberstellung von Land und Stadt bzw. die Dichotomie von Kultur und Zivilisation. Sprachlich werden Wendungen aus der Lebensphilosophie übernommen: „geworden und gemacht, gewachsen und konstruiert, lebendig und erstarrt, fruchtbar und unfruchtbar, schöpferisch und steril“283. Gemeinschaft wird begriffen „als von Gott gewollt“, Gesellschaft hingegen „als von Menschen geplant, Gemeinschaft als ewig und unveränderlich, Gesellschaft als vorübergehend und wandelbar, Gemeinschaft als heilig, Gesellschaft als profan“284. BAUMGARTNER schreibt: „Der zentrale Begriff, um den bei August Pieper und Anton Heinen die Aussagen über das wahre Wesen allen Gemeinschaftslebens kreisen, und der zugleich Richtung und Ziel ihres sozialreformerischen Bemühens zusammenfaßt, ist der Begriff der organischen Lebensgemeinschaft. Gesellschaft und Staat, in der Sprache Piepers und Heinens die soziale und staatsbürgerliche Volksgemeinschaft, seien ihrem Wesen und ihrer Bestimmung nach Lebensgemeinschaften.“285
Die Vorliebe für die Denkformen der Lebensphilosophie und damit für die Übernahme organizistischer Begrifflichkeit in die Beschreibung gesellschaftlicher Zustände teilt HEINEN mit den Zeitschriften Das Heilige Feuer beziehungsweise Großdeutsche Jugend.286 Diese berufen sich bei ihrer Anleihe hin und wieder auf TÖNNIES, ignorieren aber dessen idealtypisch heuristische Begrifflichkeit. Stärker als die katholische Jugendbewegung orientierte sich HEINEN am sozialen Leitbild Familie. Für ihn war die Familienhaftigkeit der Lebensgemeinschaft mit einer religiösen Bedeutung konnotiert. So kann HEINEN auf eine gottgewollte und von Gott gegebene soziale Verbundenheit, die aus den Kräften des Glaubens und der Liebe lebt, rekurrieren.287 Der Gemeinschaftsgedanke hatte in den geistigen Auseinandersetzungen in Deutschland nach dem Krieg Konjunktur. Es waren gerade sozial engagierte Kreise und gebildete Katholiken, die in unterschiedlichen Kategorien und Schattierungen den Gemeinschaftsgedanken in ihre Reformkonzepte aufnahmen, ohne dabei dessen Begrifflichkeit zu reflektieren. So folgten sie also mehr oder weniger dem Zeitgeist – wahrscheinlich mehr, als ihnen bewusst war. 282 283 284 285 286 287
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 98. Hervorhebungen im Original. Vgl. Kapitel 6.5 dieser Arbeit. Vgl. HEINEN, Anton (1922a), 18ff.
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5.2.2 Rural-katholische Kulturkritik – Anton HEINEN (1869-1934) Katholische Volks- und Erwachsenenbildung ist ohne ihren Initiator und Wortführer Anton HEINEN nicht denkbar. Ähnlich wie bei SONNENSCHEIN und auf eine ganz andere Weise bei GUARDINI, sind HEINENs Aufbrüche, Neuerungen, Erfolge – sie schlugen sich bei allen drei Priestern immer auch in einer reichen Textproduktion nieder – eng an die Person gebunden, weshalb zunächst ein Blick auf HEINENs Vita gerichtet werden soll.288 Im Rückblick auf sein Leben schreibt HEINEN hinsichtlich seiner Berufung zum Priester: „Du sollst dem Volke, das in der Dumpfheit seiner Alltagssorge und Not dahindämmert, die Frohbotschaft von seiner Gotteskindschaft künden und ihm helfen, daß es die Gotteskindschaft verwirkliche. Da war mein Beruf als Seelsorger, aber auch als Volksbildner entschieden.“289
Aufgewachsen war HEINEN im geschlossenen bäuerlichen Lebenszusammenhang – „als Junge vom Lande, der an einem ganz kleinen Gymnasium eine Abgangsprüfung gemacht hatte und viereinhalb Jahre nichts anderes als Theologie studiert hatte“290, fand sich der junge Kaplan in der Großstadtpfarrei in Mühlheim in eine ihm fremde Welt gestellt: „unter entwurzelten Arbeitern mitten in den Auswüchsen stürmischer industrieller Großstadtentwicklung“291. Er war mit praktischer Seelsorge betraut, war für den Religionsunterricht und als Präses für den Gesellenverein der Pfarrei zuständig.292 An letzterem waren bereits zwei Priester gescheitert.293 1896 begann HEINEN damit, ein aus genauer Beobachtung entstandenes, sozialpädagogisch ausgerichtetes Bildungskonzept umzusetzen. Mit neuen Formen und Themen bezog er sich dabei auf die unmittelbare Lebenswirklichkeit der jungen Männer des Gesellenvereins. 1913 wird HEINEN die Grundlagen seines Konzepts folgendermaßen beschreiben: „Wird es möglich sein, die Arbeit des Städters mit christlichen Kulturelementen zu durchsetzen, die christliche Veredelung der Arbeit zu erreichen, aus der ‚verdammten Notwendigkeit‘, dem radikalisierenden Fabrikbetrieb wiederum kulturschaffende, d. h. veredelnde, den Menschen über sich hinaushebende Arbeit zu machen? Wird es gelingen, die Menschen wiederum persönlich an ihrer Arbeit zu interessieren, das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeiter, von Vorgesetzten und Untergebenen von jenem gehässigen Radikalismus zu befreien, der es heute noch vergiftet und den Klassenkampf nicht selten geradezu brutale Formen an288 289 290 291 292 293
Zur Vita HEINENs vgl. SCHMIDT, Konrad (1995), 47. Vgl. RUSTER, Thomas (1994), 330, Anm. 665. Zit. n. BOZEK, Karl (1963), 20. HEINEN, Anton (1923), 28. BOZEK, Karl (1963), 20. Vgl. HEINEN, Anton (1923), 28. Vgl. BOZEK, Karl (1963), 21.
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nehmen läßt? Auch hier hat die Schule eine sehr wichtige Vorarbeit zu leisten. Sie muß Lebensschule werden.“294
HEINEN hat eine Vorstellung davon, wie der gesellschaftlich bedingten Brutalität und Gewalt mit einer Verbindung aus Religion und Volkstum begegnet werden könnte: „Der Staat verkörpert Gewalt und Intellektualismus; aus der Gewalt entstanden, bedarf er der Gewalt, die schreckt; das Volkstum ist das Beseelte, das Familienhafte, das Ausgleichende, das lebendig Hegende und Pflegende. […] Daher ist auch die Verbindung von Religion und Volkstum erst die natürliche Verbindung für die Religion.“295
1898 wechselte HEINEN als Lehrer an eine höhere Mädchenschule in der Eifel, eine Ordensschule, deren Rektor er bald werden sollte. Seine Pädagogik hatte er in praxi ausgebildet, sie hatte sich auch dort bewährt. Außerdem trat er zusehends als begabter Autor hervor, der dem fragenden Menschen zugewandt war. Seine volkserzieherischen Ideen hatten den Ton besinnlicher Plaudereien. Er sprach die Menschen an, und zwar direkt in der anschaulichen Form fiktiver Dialoge. Dieses Talent blieb den Mitarbeitern des Volksvereins für das Katholische Deutschland nicht verborgen. Deutlich wird die Begabung direkter Zugewandtheit in Briefe an einen Landlehrer, die ab 1922 in hoher Auflage im Volksverein-Verlag erschienenen sind. HEINEN schreibt: „Aus Ihrem letzten Briefe spricht eine gewisse schmerzliche Enttäuschung über die Verwahrlosung in der Denkart und Lebensführung mancher Eingesessener in der dortigen Gemeinde. Sie beklagen sich […], daß mehrere junge Burschen Ihres Dorfes in der Großstadt dem Radikalismus anheimgefallen sind, und nun auch in der Heimat jede Gelegenheit nutzen, den Radikalismus zu schüren und radikale Broschüren und Flugblätter einzuschmuggeln; daß nach dem Zeugnisse der Polizei mehrere von dort abgewanderte junge Mädchen im großstädtischen Bordell gelandet sind, daß Sie schon ein paarmal Schulkindern Erzeugnisse der Schundschriftstellerei und sogar geradezu unglaublich gemeine Schmutzbilder abgenommen haben; daß in Ihrem Dorf von einem blühenden Gemeinschaftsleben, von einem Zusammenhalten, von einer kräftigen, zielbewußten Gemeinschaftsarbeit, wie Sie dieselbe als junger Mensch in der Großstadt wenigstens im Rahmen der sozialen Vereine zu beobachten Gelegenheit hatten, gar nicht die Rede sein kann. […] Hatten Sie nicht in ihrem ersten Schreiben gemeint, das Schicksal hätte Sie aufs Dorf verschlagen, fernab von aller städtischen Kultur? Und jetzt haben Sie mit Händen greifbar die Probe, welch starke Wellen die moderne städtische ‚Kultur‘ auch in Ihrem weltfernen Dorf schlägt, und wie viel Schaum und Schmutz sie daselbst ablagert.“296
294 295 296
HEINEN, Anton (1913), 23. Hervorhebungen im Original. HEINEN, Anton (1919), 92. Hervorhebungen im Original. HEINEN, Anton (1922), 89f.
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HEINEN kennt das Land wie die Stadt aus eigener Anschauung, und nach einer Beschreibung des „geschlossenen Kulturkreise[s]“297, in dem die Kirche den Mittelpunkt bildet – eine religiös geordnete „Kleinwelt“298 – beschreibt er die Verstädterung des Landes mit kritischem Unterton: „Heute ist das Leben auf dem Lande wesentlich anders. Der neuzeitliche Verkehr hat auch das letzte Dorf in enge Verbindung mit der großen Welt gebracht. Der Name manches weltfremden Dorfes, nach dem ehedem kein Hahn krähte, steht heute im Reichskursbuch direkt neben Berlin, London, Paris und St. Petersburg – ein Zeichen dafür, daß es heute abgeschlossene Kulturstätten sozusagen nicht mehr gibt. Damit ist naturgemäß die Verbindung zwischen Stadt und Land viel enger und reger geworden, als man es sich früher auch nur hätte träumen lassen. Das Landkind kommt in Berührung mit der Stadt, sei es, daß es den Sonntagnachmittag bei städtischen Verwandten oder auch auf dem städtischen Straßenpflaster, in der städtischen Wirtschaft oder im städtischen Tingeltangel verbringt, sei es, daß er tagtäglich in die Stadt zur Arbeit fährt oder auch seinen Wohnsitz ganz oder für längere Zeit, für die Woche, für die Saison in die Stadt verlegt. Die Stadt kommt heraus aufs Land, sei es, daß die zurückkehrenden Landkinder Erzeugnisse der Stadtkultur, Literatur, Modeartikel, Ideen und Anschauungen u. dgl. mit in die Heimat bringen, sei es, daß die städtische Bevölkerung, die politische Organisation, der Turnverein, der Fußball- oder Radlerklub ihren Ausflug aufs Land machen oder bei der ländlichen Kirchweihe städtische Tingeltangelsänger und Sängerinnen, Schießbuden und Karussells samt ihren Leuten, ausgeleerte städtische Filme ihren Weg ins Dorf hinausfinden.“299
In der Stadt, das sieht HEINEN deutlich, sind „die Kreise der einzelnen Menschen schier von unübersehbarer Mannigfaltigkeit, und infolgedessen auch die Lebensanschauungen und Kulturbedürfnisse“300. Und er erkennt, dass die Öffentlichkeit ein entscheidendes Kriterium für Urbanität ist, wenngleich er dies vor seinem Hintergrund kritisiert: „Weil das Leben des Stadtmenschen aus der beschränkten Mietwohnung hinausdrängt an die Öffentlichkeit, deshalb veräußerlicht es.“301 Dem gegenüber traten zudem „in der ländlichen Kultur […] die individuellen Merkmale des Charakters zurück“302. Von 1909 bis 1932 war HEINEN Dezernent für Erwachsenenbildung in der Zentrale des Volksvereins in Mönchengladbach („apologetische Abteilung“), ab 1924 leitete er das Franz-Hitze-Haus in Paderborn, einer dem Volksverein zugehörigen Heimvolkshochschule und sammelte „junge Menschen aus den verschiedenen Berufs- und Lebensständen, Lehrer und Lehrerinnen, Seelsor-
297 298 299 300 301 302
Ebd., 99. Ebd., 100. Ebd., 107. HEINEN, Anton (1913), 7. Ebd., 12. Ebd., 7.
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ger und Fürsorgerinnen, Arbeiter und Bauern zu wirklicher Arbeits- und Lebensgemeinschaft um sich“303. Seine eigentliche Wirkung entfaltete HEINEN in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. In diesen Jahren schrieb er unermüdlich, hielt Kurse, war einer der gesuchtesten Redner des Volksvereins und lieferte regelmäßig Beiträge für diverse katholische Blätter und Zeitungen,304 aber er war auch Mitarbeiter pädagogischer Zeitschriften, schrieb Artikel für Lexika und Handbücher.305 Er wurde zum führenden Vertreter einer intensiv-organischen Volksbildung,306 die wie oben beschrieben Religion und Volkstum verbinden wollte. Anders als die übrigen im 19. Jahrhundert entstandenen sozialen Organisationen der Kirche, die für ihn reine Zweckverbände darstellten, bot ihm der Gesellenverein ein Bild der „organische[n] Bildungen“307. HEINEN schreibt: „Hier hat sich eine Seele einen Leib geschaffen ganz ähnlich wie in den alten Orden, hier ist eine lebendige, von den Mitgliedern getragene Überlieferung.“308 Die Idee des Organischen – und zwar der Begriff wie auch das Bild – war in der theologischen Diskussion ein gängiger wie beliebter Topos:309 „Begriff und Bild des Organischen waren ebenso dazu angetan, die innere und natürliche Einheit der Kirche gegen ihre Kritiker zu verteidigen, wie auch der Zeit eine Vision von wahrer Gemeinschaft entgegenzuhalten, die man in der von Zersetzung geprägten Gegenwart vermißte“310,
schreibt RUSTER und sieht hinter dem Organischen den Versuch, aus Gesellschaft wieder Gemeinschaft zu formen, eine Erklärung auch für die „vereinzelte Annäherung zwischen Katholizismus und Sozialismus“311. HEINEN schreibt: „Der Kapitalismus, der so auf dem Individualismus und der einseitigen Wertung der intellektuellen Fähigkeiten aufgebaut war, mußte naturgemäß zu einer Zersetzung des alten organischen Volkstums führen.“312 Dem Zerfallen des Organischen widerstand nach HEINEN der Katholizismus – zunächst: „Die katholische Kirche widerstand diesem Einfluß erfolgreicher, weil sie von der ‚Gnadensonne‘ des Neufeudalismus jahrzehntelang so gut wie ausgeschlos303 304 305 306 307 308 309
310 311 312
HEINEN, Anton (1954), 35. So hatte er z. B. eine Sonntagskolumne in der Westdeutsche Arbeiterzeitung, einer Zeitung der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB). So in Herders Lexikon der Pädagogik und im Staatslexikon der Görresgesellschaft. Vgl. KLEIN, Gotthard (1996), 141ff. Vgl. RUSTER, Thomas (1994), 328ff. HEINEN, Anton (1923), 5. Ebd. Er „hatte die Theologie aus der romantischen Ekklesiologie des 19. Jahrhunderts übernommen und für ihre Zwecke weiterentwickelt“ (RUSTER, Thomas, 1994, 139). RUSTER verweist auf die Rezeption von Johann Adam MÖHLER (1796-1838) durch Karl ESCHWEILER. Vgl. ebd. RUSTER, Thomas (1994), 138. Ebd., 140. HEINEN Anton (1919), 39. Hervorhebung im Original.
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sen war, weil ihr die andere Konfession der meisten Unternehmer keinen Zwang in sozialer (nicht caritativer) Betätigung auferlegte, weil viele in die Industrie abwandernde Katholiken wenigstens das religiöse Volkstum wiederfanden, in das sie auf dem Lande hereingewachsen waren, weil die Katholiken in jahrelangem Abwehrkampfe Schulter an Schulter gestanden hatten, und endlich, weil ihre Geistlichen vielfach einer ländlichen Mittelschicht entstammten, in der sich auch heute noch trotz mancherlei Trübungen durch den Krieg echtes Volkstum bewahrt hat. Je mehr diese Voraussetzungen schwanden, desto größer wurde auch für die Katholiken die Gefahr, dem modernen Lebensmechanismus zu erliegen.“313
Die Katholiken haben nach HEINEN demnach keine schlechten „Voraussetzungen“, dem Zeitgeist zu widerstehen. Daran hätten die Erfahrungen des Kulturkampfs auch ihren Anteil: „Für die deutschen Katholiken war der Kulturkampf ein mächtiges Mittel zu idealem Zusammenschluß, zu neuer Gemeinschaftsbildung. Das brach mit Urgewalt aus dem katholischen Volkstum heraus als wahrhaft volkstümliche Bewegung, als Besinnen, als ein Zusammenstehen und Zusammenstreiten der in Jahrhunderten gewachsenen Schicksalsgemeinschaft. […] Daneben aber bildete sich, um den gegebenen Mittelpunkt, den Geistlichen, sich scharend, eine Reihe volkstümlicher Organisationen: Jugendvereine, Gesellenvereine, Arbeitervereine, kaufmännische Vereine, Lehrervereine, Frauenorganisationen. In ihnen lebte der Geist religiös durchdrungener Lebensgemeinschaft fort. […] Ihre Grundidee war und blieb die alte christliche Gemeinschaftsidee.“314
HEINEN geht davon aus, dass der „Mammonismus“ nicht durch äußere Gewalt bezwungen werden kann: „Da der Mammonismus Gesinnung ist, überwindet er sich überhaupt nicht mit äußerlichen Gewaltmitteln […] aber auch nicht in der parteipolitischen Versammlung und im Wahllokal, endlich nicht im Debattierklub des Parlamentes, sondern im Innern der Seele. […] Der Mammonismus hört in demselben Augenblick auf, böse zu sein, da er seine beherrschende Macht über die Seele verliert, da er aufhört, brutal, selbstsüchtig, gewalttätig zu sein […].“315
Für HEINEN ist die „letzte und höchste Auswirkung mammonistischen Geistes eine ‚Gesellschaft‘, aber nicht eine lebendige Gemeinschaft“316. Auch die modernen Organisationen sind für HEINEN ein Gegenbild zur Gemeinschaft:
313
314 315 316
Ebd., 39. Unter Neufeudalismus versteht HEINEN gewissenlose „Parvenüs“, gemeint sind „adlige Nichtstuer“, Beamte, Angehörige des Militärs und Unternehmer. Vgl. HEINEN, Anton (1919), 19f. Er schreibt: „Je tiefer herunter, desto bizarrere Formen nahm der Neufeudalismus in der Bürgerwelt sowohl wie in der Welt der Beamten und des Militärs an; desto mehr kleines, armes Strebertum, Prunken mit äußerlichen Kulturgütern, Neid, Gehässigkeit, Fachtüchtigkeit, aber kulturelle Hohlheit.“ (Ebd., 42). Ebd., 79. Hervorhebungen im Original. Ebd., 68f. Hervorhebungen im Original. Ebd., 57.
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„Wir Deutschen – nein, wir Westeuropäer sind seit dem Beginn des Industriezeitalters in eine gewaltige Ruhe- und Rastlosigkeit hineingetrieben worden. Mit der Entwicklung der Großstadt und des Großbetriebes standen wir eines Tages vor dem Problem der Masse. Die alten, naturgewachsenen Lebensbedingungen waren zersprengt. Die mechanische ‚Organisation‘, d. h. jene Bindung von Menschen, die nicht auf Blutsverwandtschaft, nicht auf einem Familiengefühl, nicht auf naturhafter Zusammengehörigkeit basierte, […] griff Platz im Arbeitsleben, im bürgerlichen Leben, im staatlichen Leben.“317
Und aus deshalb wirkt sich, so HEINEN, das Mechanische, die Rationalisierung auf das Leben der Menschen aus: „Das ist der springende Punkt, daß in der Stadt das ganze Leben zur Rationalisierung drängt; daß in dem kalten Arbeitslohn selbst schon nichts anderes als das Rechenexempel steckt; daß jetzt natürlich auch das ganze Leben sich in ein kaltes Rechenexempel auflöst. Ein Rechenexempel die Wohnung, die Kleidung, die Ernährung, ein Rechenexemplar die Mietskaserne und das ganze Arbeiterviertel, und schließlich das Kind und die mütterliche Hingebung nichts anderes als ein Rechenexempel. In den Mittelpunkt dieses Rechenexempels aber drängt sich das Ich, das Individuum, das in den Jahren der Entwicklung alle zehn Tage Lohn bekommt, das vom Leben und seiner Arbeit nicht angeleitet wird, teleologisch zu denken, Vorsorge für die Zukunft zu treffen […] dem sich keine ernsten Gedanken und Sorgen auf die Seele legen, das mit seinen Arbeitskolleginnen, die zum guten Teil Jugendliche sind, wie es selbst, sich über Oberflächendinge, über Kleidung, Vergnügen, Abenteuer unterhält; das die zarte weibliche Scheu bald abgestreift und damit den größten, stärksten Schutz jungfräulicher Unversehrtheit verliert […]. Dann wird die Familie zum Gefängnis, das Kind zur Last, und die Berechnung stellt sich darauf ein, die Zahl der Kinder zu beschränken.“318
Auf die Dauer wird der Mensch des Mechanisch-Zweckhaften überdrüssig, schreibt HEINEN. Anders verhält es sich seiner Ansicht nach im Hinblick auf das Organische, „weil das in seiner Natur wurzelt“319. Und im Gegensatz dazu steht das Bild der Großstadt als Inbegriff des „Entseelten“. HEINEN schreibt: „Die moderne Großstadt ist nicht natürlich gewachsen und geworden, sondern künstlich aus dem Boden gestampft. Die Straßen, die öffentlichen Plätze, selbst die Denkmäler sehen einander in ihrer Langeweile verzweifelt ähnlich. Da ist nichts, was uns an diese Stadt fesseln, uns mit ihr verwachsen lassen könnte. Die Häuser sind Mache sowohl in ihrer Außendekoration, ihren griechischen Säulen und Zementverzierungen als auch in ihrem innern Ausbau. Die monumentale Kunst ist nicht aus der Seele des Volkes herausgewachsen und gibt auch deshalb der Volksseele nichts. Das Arbeiterviertel ältern Genres aber entbehrt erst recht jeder Intimität und Wohnlichkeit. Trotz Straßenbeleuchtung und Straßenpflaster wirkt es geradezu verödend auf die Seele ein.“320
317 318 319 320
HEINEN, Anton (1923), 7. HEINEN, Anton (1954), 129. HEINEN, Anton (1923), 8. HEINEN, Anton (1913), 5. Hervorhebungen im Original.
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Deshalb ist es notwendig, „daß wiederum Gemeinschaft werde; daß das Organisatorische vom Organischen, der Ersatz vom Wesensechten überwunden werde“321. Nach KLEIN wird der idealtypische Gemeinschaftsbegriff in den Texten von HEINEN und auch PIEPER „religiös überhöht als die von Gott gewollte soziale Verbundenheit verstanden, die am Ideal der Familie orientiert bleibt“322. Aber auch dieses Ideal ist bei HEINEN gefährdet. Er schreibt: „Die ländliche und kleinstädtische Kultur war Familienkultur. Ihre Einzelglieder waren nicht die Individuen, die Einzelmenschen, sondern die Familien. […] In der Stadt sind die Verhältnisse anders. Da ist der Mensch Individuum. Die Wohnung ist die Etage des Miethauses, nicht selten ein paar Zimmer der Mietskaserne. […] Der heranwachsende Mensch drängt aus der Enge der Familie hinaus. Ein ungezügeltes Freiheitsgefühl läßt ihn den Verband der Familie als Last empfinden, und nicht selten sehen die Eltern sein Ausscheiden gern, weil die Wohnungsnot die Familie derart einengt, daß auch den einfachen Forderungen von Hygiene und Sittlichkeit nicht entsprochen werden kann. Der Fremde ist Kostgänger, Schlafbursche; er hat mit der Familie, in der er Unterkommen findet, keinen engeren Zusammenhang als den des kurzfristigen Vertrags. […] Zwischen den einzelnen städtischen Familien gibt es auch keinen gesellschaftlichen Zusammenhang mehr. Das alte Nachbarschaftsverhältnis kann sich nicht entwickeln wegen der Fluktuation der Bevölkerung, die sozialen Unterschiede stoßen im selben Hause hart aneinander. […] Wir sehen: auch hier Isolierung, Entfremdung.“323
Allein auf dem Fundament des Katholizismus kann es gelingen, in diesem Wirrwarr von Entfremdung und Isolation die Familienkultur zu erneuern. Dabei „bedarf vor allem auch das Wohnungsproblem der intensivsten Aufmerksamkeit“324. HEINEN führt aus: „Wenn wir von Erneuerung der Familienkultur reden, so wird uns sofort klar, welche Bedeutung das städtische Wohnungsproblem für die Familie hat, und wie eng mit demselben die Erneuerung einer christlichen Kultur in der modernen Stadt zusammenhängt. [...] Es gilt also für uns Katholiken, jene Bestrebungen tatkräftig zu unterstützen und zu fördern, welche auf eine Reform des Wohnungswesens abzielen. [...] Aber auch die geistige Familienkultur gilt es zu erneuern, den Sinn für die Gemütlichkeit des Heims, für eine schlichte, anspruchslose Schönheit der Ausstattung sowohl wie der Lebenshaltung. [...] Warum zeigt und erklärt man dem Volke nicht das schlichte Schöne [...]. Heute sind doch gute Reproduktionen so billig, und gute, gediegene Möbel werden in mancher Schreinerwerkstätte hergestellt, daß wirklich nichts weiter bedarf als einer tatkräftigen Aufklärungsarbeit, um über die banale Geschmacklosigkeit allmählich Herr zu werden.“325
321 322 323 324 325
HEINEN, Anton (1929), 70. KLEIN, Gotthard (1996), 143. HEINEN, Anton (1913), 5f. Hervorhebung im Original. Ebd., 21. Ebd., 21f. Hervorhebungen im Original.
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Die organische Gemeinschaft sollte den gesellschaftlichen Krisenerscheinungen – der soziale und gesellschaftliche Umbruch in Form von Massengesellschaft, Verstädterung, der die soziale wie geistige Entwurzelung und den Zerfall bäuerlicher organischer Lebenswelten zur Folge hatte – als neue Identität entgegengesetzt werden. KLEIN schreibt: „Diese zeittypischen Elemente sozialethischen Denkens wurden von Pieper und Heinen in eine geschichtsphilosophische Perspektive gerückt. Sie deuteten das krisenhafte Erscheinungsbild der deutschen Gesellschaft in den zwanziger Jahren als den geistigen Zusammenbruch der Volksgemeinschaft. […] Allenfalls im ‚bodenfesten Landvolk‘ vermochten sie noch authentische, von den Überfremdungen der modernen Massengesellschaft weitgehend unberührte Gemeinschaftskräfte zu erkennen.“326
Hier setzte vor allem die intensive Volksbildung des Volksvereins unter HEINEN an. Die Kurse fanden überwiegend im Franz-Hitze-Haus in Paderborn statt, dort leitete HEINEN von 1923-1932, zusammen mit August PIEPER und Johannes HATZFELD, ein Schulungshaus des Volksvereins. Neben die im Volksverein bisher üblichen sozialpädagogisch gestalteten Kurse zu Volkswirtschaft und Staatsbürgerkunde traten nun die „neuartigen ‚Arbeitsgemeinschaften‘ für Jungbauern und Bauern, Buchhändler, Kaufleute und Handwerker, Gymnasiasten, Abiturienten und Studenten, Geistliche, Gewerkschaftler, Parlamentarier und Zeitungsredakteure“327. Nach KLEIN sollte diese Neuausrichtung unter der Leitung HEINENs den Mitgliederverlust des Volksvereins in den 1920er Jahren kompensieren: „Der Widerspruch zwischen dem auf Massenmobilisierung zugeschnittenen Verein […] und der neuen ‚intensiven Elitebildung‘ ließ sich nicht länger verdecken.“328 HEINEN und PIEPER hatten gehofft, mit ihrer Arbeit dazu beizutragen, dass die Volksbewegung eine ähnliche Strahlkraft wie die Jugendbewegung bekäme. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht.329 In der Bewahrung und Wiedergewinnung des Organischen ist HEINENs dichotomisches Denken angesiedelt. Kaum ein kulturkritischer Text HEINENs kommt ohne die Begriffsdichotomien Stadt versus Land aus, Außen versus Innen, Erscheinung versus Wesen, Oberfläche versus Tiefe, Intellekt bzw. Geist versus Seele, Gesellschaft versus Gemeinschaft, Individualismus versus Organisches (letzteres schließt nach HEINEN Volkstum ein): „Der Kapitalismus, der so auf dem Individualismus und der einseitigen Wertung der intellektuellen Fähigkeiten aufgebaut war, mußte naturgemäß zu einer Zersetzung des alten
326 327 328 329
KLEIN, Gotthard (1996), 145. Ebd., 150. Ebd., 155. Vgl. ebd.
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organischen Volkstums führen.“330 Die Wurzeln des modernen Kapitalismus liegen für HEINEN in Amerika: „Von dort aus sind zur Zeit der großen Revolutionen die Menschenrechte und die persönliche Freiheit des Individuums, der wirtschaftliche Individualismus nach Europa gekommen. […] Aber die Revolution, die ganz Westeuropa überflutete, trieb aus dem niedern Volk eine Menge von Menschen empor, die keine sittliche Überlieferung, kein Gefühl für Gemeinschaftsleben, kein Bewußtsein der Verantwortlichkeit besaßen und besitzen konnten, so weit ein solches über persönliche oder Familieninteressen hinausgeht.“331
Der american way of live passt nach HEINEN nicht zu den Innenwerten deutscher Kultur. Auch hier spielen die Dichotomien von Innen und Außen, inneren Werten und banaler Oberflächlichkeit, Seele gegen materiellen Gewinn die entscheidende Rolle in der Argumentation: „Die ‚freie Konkurrenz‘ machte gerade solchen Elementen Luft, die eine einseitige intellektualistischrechnerische Anlage mit auf die Welt brachten.“332 Es bildet sich eine „Kultur der neuen Herrenkaste“333 aus: „Die einseitig intellektualistische Begabung und Geistesrichtung der neuen Herrenkaste ließ für die feinern Innenwerte deutscher Kultur ein tieferes Verständnis nicht aufkommen.“334 Dieser „Tatsache“ der modernen Gesellschaft liege ein historischer Prozess zugrunde. In ihm „demokratisierte“ sich die Gesellschaft zur „Massengesellschaft“, und derweise „von unten“ kommend, „vulgarisierte“ sie sich auch. Entsprechend dieser Einschätzung romantisiert HEINEN die gesellschaftliche Rolle des Adels: „Der alte Adel mit seinen heldenhaft-mystischen Instinkten, mit seinem heroischen Lebensgefühl wäre nie imstande gewesen, ein kapitalistisches Zeitalter zu schaffen. Ihm galt der klug rechnende, kalkulierende, spekulierende Händler als ein Mensch niederer Art […]. Es muß also eine andere Bevölkerungsschicht den Kapitalismus ‚geboren‘ haben.“335
Welche Rolle in diesem zunehmenden „Vulgarisierungsprozess“ die Stadt spielt, erklärt HEINEN wie folgt: „Besonders aber die Städtegründung bringt das neue Element zur Geltung. Es ist immer eine Wechselbeziehung zwischen Volkszuwachs, Stadtgründung, Handel und Kapitalismus. Je mehr die Bedeutung der Städte wächst, desto mehr kommt selbstverständlich das Bürgertum zur Geltung, das infolge seines organisatorischen Talentes, infolge seiner ‚mammonistischen‘ Veranlagung die Führung an 330 331 332
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HEINEN, Heinen (1919), 39. Hervorhebung im Original. Ebd., 14f. Ebd., 18f. Die „intellektualistisch-rechnerischer Anlage“ bezieht HEINEN in fataler Weise auf Juden, ohne dass sich in seinem Werk antisemitische Äußerungen systematisch aufzeigen ließen. Ebd., 20. Ebd. Ebd., 10f.
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sich reißt. […] Was die heroisch-ritterliche Lebensanschauung überwindet und allmählich aufzehrt, ist die intellektualistisch-mechanische Lebensauffassung, die von unten her kommt.“336
Diese „intellektualistisch-mechanische Lebensauffassung“ wirke sich inzwischen auch auf die Landwirtschaft aus: „Die Bedeutung der Scholle hat sich wesentlich nach der Seite kapitalistischer Betrachtungsweise verschoben. […] Es hat sich eine innere Angleichung seelischer Empfindungs- und Betrachtungsweise der ‚Agrarier‘ an die Großindustriellen vollzogen, die Landwirtschaft ist immer mehr den Gesetzen privatkaptialistischer Wirtschaft gefolgt. […] Grund und Boden ist aus der ‚Heiligen Scholle‘ zu einem recht profanen Spekulationsobjekt geworden.“337
HEINEN folgt hier der Argumentation der konservativen Kulturkritik.338 Den Zersetzungserscheinungen durch die Moderne habe demnach die katholische Kirche durch ihre jahrzehntelange Minderheitenposition im Wilhelminischen Deutschland erfolgreicher als andere gesellschaftliche Gruppen widerstehen können. Die milieubildende Kraft, über welche die Katholiken im Kulturkampf noch verfügten, sieht HEINEN aber nun bedroht. Dabei bot „die Rede vom Organischen noch einmal die Möglichkeit, die Legitimität des Katholizismus und zugleich seine Abgrenzung gegen die Zustände der modernen Gesellschaft darzulegen. Man konnte damit an die unmittelbare Evidenz des Naturwüchsigen anknüpfen und im Bild des organischen Wachstums jene innere Sinnhaftigkeit behaupten, die dem bloß Zweckgerichteten und Mechanischen abgeht. Anton Heinen wurde nicht müde, das zu tun“339.
Das moderne Industriezeitalter konnte HEINEN nur als Auflösung des alten Bauerntums begreifen: „Diese Verbindung zwischen Stadt und Land übt selbstverständlich auf das ländliche Kulturleben, auf die Seele des Landes ihre aufpeitschende, revolutionierende Wirkung aus. Das Bauernkind in seiner Einfalt, in seiner natürlichen Unbefangenheit, mit seinen geringen Ansprüchen und seinem unentwickelten Geschmack, mit seiner naturhaften Freude am Massiven und Derben, mit seinem nur wenig entwickelten Können ist in Gefahr, nicht etwa mit den gesunden und edlen, die Seele bereichernden Erzeugnissen der städtischen Kultur in nähere Berührung zu kommen, sondern mit dem Unechten, Flitterhaften, Äußerlichen, Herabziehenden. […] So stoßen denn heute auf dem Lande zwei einander entgegengesetzte Welten, die altbäuerliche, konservative und die modern städtische, die radikale, sozusagen unvermittelt aufeinander und zerstören die alte Lebenseinheit in der Seele des einzelnen so gut wie im Bilde der Gemeinschaft.“340 336 337 338 339 340
Ebd., 12f. Hervorhebung im Original. Ebd., 29. Vgl. etwa die Zeitschrift Das Heilige Feuer, die sich auf die populären Texte von SPENGLER, LAGARDE und LANGBEHN bezieht. Vgl. Kapitel 6.4 und 6.5 dieser Arbeit. RUSTER, Thomas (1994), 139. HEINEN, Anton (1922), 107f.
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Das Landvolk, seinen Gemeinschaftssinn und die lebendige Tradition zu schützen, ist für HEINEN erklärtes Ziel: „Der geistige Gesichtskreis der Dorfbewohner ist naturgemäß eng und beschränkt; […] sie haben sich […] aus Gottesdienst und Kirchweihfest ihre eigene seelische Welt gebaut. Die genügt ihnen. Darin sind sie zu Haus, sie gibt ihnen auch das seelische Gepränge. In der Stadt lacht man über das dumme, einfältige Bauernvolk, sucht es stets zu übertölpeln. Das Bauernvolk aber rächt sich dafür durch Verachtung der städtischen ‚Hungerleider‘, Spansenmacher, Pfefferlecker, Kaffeesäcke und wie die Ehrentitel heißen mögen. So hat der Bauer kein Bedürfnis nach städtischer Bildung, städtischer Mode, städtischem Vergnügen, städtischem Fortschritt. Sein ganzes Leben, sein Arbeitsleben so gut wie sein Kulturleben verläuft in den Bahnen einer hundertjährigen Überlieferung.“341
Und wenn aber der Dorfbewohner in ein städtisches Umfeld gerät, dann sind es die derberen Späße und Vergnügen, von denen er sich angezogen fühlt: „Das Varieté liegt ihm näher als das klassische Schauspiel, der Ringkampf zwischen zwei Kraftmenschen näher als der Volksbildungsabend, Kino und Orchestrion näher als das Künstlerkonzert, der billige Ausverkauf im Warenhause näher als die guten Erzeugnisse der Schneiderei, das platt-geschmacklose, schreiende Schundbüchlein näher als das ernst-künstlerische Erzeugnis der Literatur, die radikal verneinende Phrase näher als die ernst wissenschaftliche Behandlung irgendeiner schwierig zu lösenden Frage der Welt- und Lebensauffassung, mit einem Worte gesagt: all das, was sich an gefühlsmäßige Instinkte wendet, näher als das, was zum Nachdenken, zum selbständigen Schaffen und zum zielbewußten Handeln herausfordert.“342
HEINEN entwickelte als Konsequenz aus seinen Beobachtungen Vorstellungen von einer neuen Kultur, die auf der Grundlage des Katholizismus das moderne Leben insbesondere in den Städten prägen sollte. Darin sah er eine wesentliche Aufgabe des Volksvereins: „Die sozialethische Neuorientierung der Vereinsarbeit ist das Werk von August Pieper und Anton Heinen“343, schreibt KLEIN. Sie „prägte[n] maßgeblich die geistige Ausrichtung des Volksvereins in den zwanziger Jahren“344. Beachtlich ist der realistische Blick HEINENs auf die Unumkehrbarkeit der städtischen Entwicklung: „Aber es entwickeln sich in der Stadt allmählich neue Ansätze zur Kultur, zur Bindung des Menschen an Menschen. [...] Das alte, fest geschlossene bäuerliche und kleinstädtische Volkstum […] läßt sich auf die moderne Stadt nicht übertragen. […] Aber ein neues lebendigeres, beweglicheres Volkstum entwickelt sich in unseren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Organisationen, ein Volkstum, das ähnlich auf dem Prinzip der Arbeitsteilung beruht wie das moderne Leben überhaupt. Für die Katholiken unserer Großstädte haben die an diesem neu341 342 343 344
Ebd., 102f. Ebd., 107f. KLEIN, Gotthard (1996), 139. Ebd.
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en Volkstum arbeitenden Bildungs- und Erziehungsorganisationen einen religiösen Ausgangspunkt genommen.“345
Für HEINEN bedeutet dies, den in die Städte Abwandernden neue, wiedererkennbare Heimat zu schaffen, eine Art zumindest geistig-geschlossenes Milieu, nämlich „die Geschlossenheit der katholischen Glaubenslehre, die verpflichtende Kraft katholischer Kirchengebote, der öffentlich-soziale Charakter des Lebens der Kirche, die überall gleiche Feier ihrer Geheimnisse“346. Dem Priester komme dabei eine neue, komplexe Rolle zu: „So entwickelt sich also in der Stadt eine stark differenzierte neue Kultur auf ständischer Grundlage. Wir als Priester haben ihr das wichtigste zu geben: den religiösen und ethischen Geist. Diesen Geist in den Seelen zu wecken [...]. Wir sind die Seelsorger der neuen Kultur, die mahnenden, warnenden, aufmunternden Helfer und Berater.“347
Es gilt, „die Besten zu gewinnen, die Aufstrebenden, Wissens- und Könnensdürstigen, die Wahrheitssucher, und in ihnen Propagatoren katholischen Denkens und Lebens, das ist unsere Aufgabe“348. Und dabei sei die Öffnung in die moderne „Außenwelt“ ebenso unerlässlich wie das Festhalten am „katholischen Optimismus“. Eine bemerkenswerte Einsicht HEINENs ist: „Wir müssen uns von der Vorstellung freimachen, daß es religiös förderlich sei, der Gesamtkultur einen aufdringlichen religiösen Stempel gleichsam mit Gewalt aufzuprägen.“349 Er schreibt: „Nicht sie und uns abzusperren von der Welt, sondern gerade durch sie der Welt den Einschlag von Wärme, von Idealismus, von innerer Schaffensfreudigkeit zuzuleiten, den die moderne Welt mit ihrem aufsteigenden Pessimismus und ihrer beginnenden Kulturmüdigkeit so notwendig hat. Das ist ja, was der modernen Kultur fehlt, nicht daß sie Kultur ist, sondern daß sie keine höhern Gesichtspunkte, keine ethische Orientierung hat. [...] Deshalb dürfen auch diese Kulturorganisationen nicht etwa gegen die Außenwelt und ihre Aufgaben abgeschlossen werden. […] Die Expansionskraft des katholischen Gedankens muß zu durchschlagender Wirksamkeit kommen [...] wo wir das Wort der frohen Botschaft nicht anbringen können, da können wir doch wenigstens das Werk der frohen Botschaft tun, da können wir doch unseren katholischen Optimismus, die in uns aufgespeicherte sittliche Kraft, die Freudigkeit unserer Glaubensüberzeugung für die Welt wirksam machen in Werken der Gemeinschaftsarbeit und der Caritas.“350
Der Pädagoge soll nach HEINEN eine Person sein, so schreibt er später, der „die Bereitschaft zur Hilfe die große Selbstverständlichkeit ist; der nicht ‚ma345 346 347 348 349 350
HEINEN, Anton (1913), 13. Hervorhebungen im Original. Ebd. Ebd., 15. Hervorhebungen im Original. Ebd., 15f. Ebd., 15 HEINEN, Anton (1913), 16.
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chen‘ will, der keine Organisation aufzieht, der keine politischen Aspirationen hat, der nicht unter irgendeinem Deckmantel einen Posten sucht“351. Der Pädagoge hat die Aufgabe, Nachbarschaft als geistigen „Rückhalt der Familie“352 wiederherzustellen und in den Menschen, „die durch die mechanische Organisation hindurchgegangen und rationalisiert sind, eine ganz große Hemmung zu überwinden“353. Der Pädagoge ist für HEINEN der Führer, der sich zuallererst selbst „entmassen“354 soll, dem, jenseits von Elitebildung und Ästhetizismus, „die Augen für die Lebenswirklichkeit aufgegangen sein [müssen] und für die Not der Zeit“355. Beachtung fanden in diesem Zusammenhang HEINENs kulturkritische Schriften, die im Verlag des Volksvereins erschienen: Mammonismus und seine Überwindung (1919), Wie gelangen wir zur Volksgemeinschaft? (1922), Wie bekämpfen wir die schwarmgeistigen Strömungen der Gegenwart? (1923), Wie gewinnen wir ein Führergeschlecht für die Massen? (1923). Populärer als diese programmatischen Texte waren HEINENs Erbauungs- und Ermahnungsbüchlein.356 Sie erreichten hohe Auflagen.357 Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit sind jedoch vor allem die programmatisch kulturkritischen Texte, in denen es überwiegend um das Verhältnis von Stadt und Land geht, relevant. Das Gegenbild zur „guten alten Zeit“ war für HEINEN, schreibt RUSTER, das „moderne Industriezeitalter, genauer das Leben in den Industriesiedlungen der Städte, das er auch aus eigener Anschauung kannte. Heinens Wirkungskreis lag in den Industrierevieren an Rhein und Ruhr, und er selbst zog es vor, in einer Arbeitersiedlung am Rande von Mönchengladbach zu wohnen, um dort zu sein, wo es not tut“358.
Die vorindustrielle Welt zumindest in der Kultur zu bewahren, war sozusagen der Schlüssel zu HEINENs Lebensprojekt. HEINENs kulturkritischen Texten liegt dessen pädagogisch-sozialethische Grundhaltung zugrunde. In seiner Kri351 352 353 354 355 356
357 358
HEINEN, Anton (1934), 62. Ebd., 64. Ebd. HEINEN, Anton (1922a), 34. HEINEN, Anton (1923), 27. Die meisten Schriften HEINENs richteten sich an junge Frauen. Zeitgenossen nannten ihn einen „Pädagogen der Mütterlichkeit und der Mutterschule“, die „Verkörperung des weiblichmütterlichen Prinzips“, er habe mit „gläubigem Herzen den echten Lebensquellen in Familie, Heimat und Volk“ (BERGMANN, Bernhard, 1954, 11f.) gedient. Die Wahl seiner Buchtitel macht dies deutlich: Das Schwalbenbüchlein. Wie eine Mutter ihr Heim belebt (1920), Lebensführung. Eine Anleitung zur Selbsterziehung für die weibliche Jugend (1918), Mütterlichkeit als Beruf und Lebensinhalt der Frau (1915/22), Feierabende. Plaudereien mit jungen Staatsbürgern (1921/22), Jungbauer erwache! Ein Büchlein der Lebenskunde für jeden Bauern, der noch ein junges Herz im Leibe hat (1924). Beispielsweise hatte die Schrift Lebensführung. Eine Anleitung zur Selbsterziehung für die weibliche Jugend (1918) bereits 1921 eine Auflage von 50.000 Exemplaren. RUSTER, Thomas (1994), 331.
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tik an der Moderne steht HEINEN in der konservativ-antikapitalistischen Tradition des rural-katholischen Milieus des 19. Jahrhunderts. In seinem Rekurs auf ein ganzheitlich bäuerliches Leben erinnert er an die Texte RIEHLs und ist mental mit dem Weltbild der deutschen Romantik verbunden. Das Dorf als heile wie heilende Gegenwelt zu den Verwirrungen, in welche die Moderne den Menschen gestürzt hat, finden wir in der Literatur eines Jean PAUL (17631825), sie reicht, um mit Peter ROSEGGER (1843-1918) einen weiteren Schriftsteller zu nennen, weit ins 20. Jahrhundert hinein. Das rurale Prinzip, basierend auf der Wertschätzung des Konkreten, hatte der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich PESTALOZZI359 im ausgehenden 18. Jahrhundert zur Grundlage seines aufklärungspädagogischen Ansatzes gemacht. Wir finden auch bei HEINEN immer wieder einen romantisch hausväterlichen, gefühlvollen Ton: „Es ist für den Menschen noch lange nicht gleichgültig, ob er in einer Stadt daheim ist, die ein bestimmtes Gepräge als Ganzes hat, oder in dem Wirrwarr, wo sich Mietskaserne an Mietskaserne reiht, wo man vergebens nach etwas Schönem, nach etwas Erhabenem sucht. In einem solchen Wirrwarr kann man eigentlich mit der Seele nicht Wurzeln schlagen, da kann man nicht so recht daheim sein. Da findet man sich so schwer zum Ganzen.“360
RICHTER nennt HEINEN einen unzeitgemäßen, unabhängigen Geist. Er schreibt: „Trotz der Einbindung in die Volksbildungsarbeit des Volksvereins bleibt Heinen ein unabhängiger Geist, fremd allen Systemzwängen. Gemäß seinen pädagogischen Vorbildern Johann Heinrich Pestalozzi, der vor seiner Bildungsarbeit Landwirt war, und Friedrich Wilhelm Foerster versteht Heinen ‚Bildung‘ als ein ‚Wecken der geistigen und seelischen Kräfte der Person‘.“361
Das Denken HEINENs geht jedoch über seinen pädagogisch voluntaristischen Ansatz hinaus. Diesen Zusammenhang stellt der Historiker Gotthard KLEIN in seiner umfassenden wie detaillierten Arbeit über den Volksverein dar. Dabei expliziert KLEIN zunächst einige Hintergründe der binnenkatholischen Kritik am Vereinswesen, die nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere in den Jahren 1921 bis 1924, laut wurde: „Nicht nur der klassische Verein als Träger moder-
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360 361
PESTALOZZI, Johann Heinrich (1746-1827), Schweizer Pädagoge, Philanthrop, Sozialreformer. Mit seinem ganzheitlichen bzw. organischen Erziehungskonzept wollte er die geistigen, sittlich-religiösen und handwerklichen Kräfte der Kinder fördern. Angefangen mit seiner Pädagogik in Armen- und Waisenhäusern, gründete er in der Schweiz eigene pädagogische Institute. PESTALOZZIs Ansatz wurde zu einer der Grundlagen kindgemäßer Pädagogik des 20. Jahrhunderts (z. B. Montessoripädagogik). Zum Zusammenhang vgl. LÜPKE, Friedemann (2004). HEINEN, Anton (1954), 200. RICHTER, Reinhard (2000), 226f.
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ner Massenkultur, sondern auch der katholische Vereinstypus geriet in den Sog ‚antiindividualistischer Modernitätskritik‘.“362 Einer der prominentesten Gegner des katholischen Vereinswesens war Joseph WITTIG363. An dieser Diskussion nahm vonseiten des Volksvereins vor allem August PIEPER teil.364 HEINEN wie PIEPER sahen die deutschen Katholiken vor die Aufgabe gestellt, „das nach Krieg und Revolution depressiv gestimmte deutsche Volk ‚seelisch wiederaufzurichten‘ und zur wahren Gemeinschaft zu führen“365. Die Institutionalisierung der Soziologie als Wissenschaft in Deutschland hatte maßgeblichen Anteil an der sozialethischen Neuorientierung des Volksvereins.366 Die Rezeption der Lebensphilosophie in der Zwischenkriegszeit hatte auch im intellektuellen Umfeld des Katholizismus, allerdings und vor allem unter den jüngeren der gebildeten Katholiken seine Anhänger gefunden und damit nicht unerheblichen Einfluss. HEINEN war die Frage nach Führung wichtig.367 Dies sei nicht unbedingt der Gebildete, denn zum Führer-Sein bedürfe es „katholischer Bildungswerte“368. HEINEN nennt in diesem Zusammenhang Formen und Rituale der Kirche in Kirchenjahr und Liturgie, in den Sakramenten wie in den Dogmen. Wer sich an diesen Vorgaben orientiere, besitze die „Legitimation und das geistige Rüstzeug zum Führertum“369. RUSTER schreibt: „Indem katholischerseits die Ausrichtung auf die Größen ‚Volk‘, ‚Volksgemeinschaft‘ und ‚Volksbildung‘ seit Beginn des Jahrzehnts kritiklos geteilt wurde – der späteren totalitären Verwendung dieser Begriffe hatte man dann nichts mehr entgegenzusetzen –, wirkte man mit an der Heranbildung einer Weltanschauung, in der sich das Prinzip des Organischen voll zur Geltung bringen ließ. Wer damals, in den ersten Jahren der Weimarer Republik, von ‚Volk‘ sprach, hatte damit ebensosehr das Pathos des Neuen auf seiner Seite – die Abkehr von ‚einem als westlerisch und altmodisch-steril empfundenen Begriff von Staat und Verfassung‘, vom bürokratischen Obrigkeitsstaat und seinem unverbindlichen Liberalismus und die Hinwendung zu einer aus echtem, gemeinsamen Erleben geborenen Gemeinschaft – wie auch die Dignität des Alten und Bewährten, des Volks362 363
364
365 366 367 368 369
KLEIN, Gotthard (1996), 90. Joseph WITTIG (1879-1949), Priesterweihe 1903, ein in seiner Zeit über das katholische Milieu hinaus bekannter Gelehrter und Schriftsteller, Professor für Alte Kirchengeschichte in Breslau. 1925 wurden mehrere seiner Schriften indiziert, 1926 wurde er exkommuniziert und emeritiert, Rekonziliation 1946. Vgl. RUSTER, Thomas (1994), 208ff. August PIEPER (1866-1942), Priesterweihe 1890, war von 1892-1919 Generalsekretär bzw. Generaldirektor des Volksvereins und von 1905-1922 dessen Geschäftsführer. Vgl. KLEIN, Gotthard (1996), 24, Anm. 22. KLEIN, Gotthard (1996), 140. Vgl. auch BAUMGARTNER, Alois (1977). Vgl. KLEIN, Gotthard (1996), 142f. Zur akademischen Soziologie in der Weimarer Republik vgl. STÖLTING, Erhard (1986). Vgl. RUSTER, Thomas (1994), 335f. Ebd., 335. Ebd.
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tümlichen und Ursprünglichen, der Tradition, die noch nicht von der Zivilisation angekränkelt war. In diesem offenen, mit hohen Erwartungen aufgeladenen Feld vermochte das katholische Denken mit seinem aus dem Kirchenverständnis gewonnenen organologischen Denken zu brillieren. In seiner konkreten gesellschaftsbezogenen Anwendung auf die berufsständische Ordnung und den christlichen Ständestaat […] war es ohne Zweifel rückwärtsgewandt und gab sich als Alternative zu einer auf die Gleichberechtigung aller gerichteten modernen Gesellschaft. Aber die hierin geforderte Unterordnung des ‚Jeder in seinem Stand und Beruf‘ war doch zugleich eingebettet in eine Verheißung von Einheit und Erlebnisgemeinschaft, die als Vision einer besseren Zukunft vorgeführt werden konnte. Einheit durch Eingefügtsein: das war das Modell des Organismus, das am naturwüchsigen Wesen abgelesen war, an der Kirche exemplifiziert wurde und auf die Gesellschaft übertragen werden sollte.“370
HEINEN habe offenbar früher als seine meisten Mitstreiter im Volksverein erkannt, dass sich hier eine Möglichkeit bot, „katholisches Gedankengut einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln und einfließen zu lassen in die allgemeinen Bemühungen um die ‚Bildung der Gesellschaft zur Gemeinschaft‘“371. Auf diese Weise veränderte der Volksverein seine ursprünglich ausschließlich apologetische Ausrichtung zu einer „konstruktiven Arbeit für eine christliche Ordnung der Gesellschaft“372. Das hatte zur Folge, „von der weltanschaulichen Neutralität des früheren positivistischen Bildungsideals abzurücken und auch den Wert des Religiösen in der Bildungsarbeit zu bejahen“373. Diesen Kurswechsel macht die neuere Forschung explizit an der Person HEINENs wie PIEPERs fest. RUSTER stellt in einem Resümee fest: „Heinen hat sie also auch, die katholische Objektivität, die in der Kirche gegeben ist. Sie dient ihm dazu, die Rückkehr zu den katholischen Werten der Familie und des Bauerntums unter der geistigen Führerschaft der katholischen und allgemeingültigen Bildungswerte ins Werk setzen zu können. Wer immer den Verdacht äußern wollte, bei seinem Bildungsprogramm handele es sich nur um die nostalgische Repristinierung seiner Jugenderinnerungen, wird von ihm an die Objektivität des Katholischen verwiesen. Denn für Heinen traf es sich so, daß die katholischen Bildungswerte genau identisch waren mit den Werten der vergangenen und zurückgewünschten Zeit.“374
Und entsprechend sah er auch die „familienhafte Gemeinschaft“ als „geschaffen“ an, die sich „nicht von außen nach mechanischen Gesetzen künstlich zusammenfügen, organisieren, machen“375 lasse. Nach HEINEN ist katholische Gemeinschaft letztlich immer Geschenk und Gnade, die werden und wachsen
370 371 372 373 374 375
Ebd., 141. Ebd., 330. Ebd. Ebd., 329. Ebd., 335f. PIEPER, August (1920), 215.
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will. So liege Erneuerung nicht nur im Ermessen des Menschen.376 Notwendig seien nicht „Macher“ oder „Funktionäre“, sondern „Lebensführer“, die „bodenstämmig“ aus der Mitte des „unverbildeten, schlichten Volkes“ kommen, und nicht etwa „Pharisäer“ oder „Schriftgelehrte“377. Das liest sich wie eine Selbstzuschreibung oder Selbstlegitimierung Anton HEINENs, der am historischen Wendepunkt der Erfolgsgeschichte des katholischen Vereinswesens steht.
5.2.3 Moderne Antimoderne – Carl SONNENSCHEIN (1876-1929) Eine andere wegweisende, charismatische Figur ist der Priester Carl SONNENSCHEIN (1876-1929). Er hat sich sowohl seelsorglich-praktisch wie mittels dynamischer Texte, die einer effektvollen Dramaturgie unterliegen, mit den Modernisierungserscheinungen seiner Zeit und deren Folgen auseinandergesetzt. Im November 1918 kam er als Mitarbeiter des Volksvereins für das katholische Deutschland und Studentenseelsorger in das Berlin der Nachkriegswirren und der Novemberrevolution. 1908 hatte SONNENSCHEIN das Sekretariat Sozialer Studentenarbeit (SSS) in Mönchengladbach gegründet;378 es war als selbständige Einrichtung an den Volksverein angebunden. Er reiste mit Vorträgen von Universität zu Universität,379 gründete die Flugschriften des Sekretariats sozialer Studentenarbeit380 und schrieb für Zeitschriften und Kirchenzeitungen. Ziel seiner rastlosen Arbeit war, die künftigen Akademiker auf sozialpolitische Fragen und Probleme aufmerksam zu machen. Die katholische Jugendbewegung, wie sie sich unter anderem um die Person GUARDINIs sammelte, sowie die Liturgische Bewegung blieben ihm dabei zeitlebens fremd.381 Er hatte „weder Raum noch Bedürfnis, für sein Wirken neue Kraft oder neuen An376 377 378 379 380
381
HEINEN, Anton (1922a), 207, Anm. 626. Ebd. Vgl. THRASOLT, Ernst (1930), 106ff. Vgl. die Eigendarstellung in SONNENSCHEIN, Carl (1921), 556. Später Soziale Studentenblätter. Der Biograph SONNENSCHEINs, Ernst THRASOLT, schreibt: „In größeren Artikeln und noch mehr in kleineren Berichten, Notizen und Hinweisen wurde die ganze soziale Welt herangebracht in den Gesichts- und Herzkreis der sozialen Studentenschaft.“ (THRASOLT, Ernst, 1930, 124). Vgl. NOPPEL, Constantin (1931), 385. Vgl. auch KUMPF, Alfred (1980), 68. In den Notizen schreibt SONNENSCHEIN: „Eine Gruppe Jugendlicher erhebt gegen diese Einheit [von Volk und Kirche] ihre Stimme. Konstituiert einen ‚Reichsausschuß der katholischen Jugend zum Schutze des siebenten Gebotes gegen die Fürsten‘. Jugendliche! Hinter ihnen steht die ‚Jugendbewegung‘. Diese seltsame, in vielem prachtvolle, in manchem verirrte, deutsche Jugendbewegung. Ist Jugend ihr eigenes Gesetz? Sind Dinge wahr, weil Jugend sie proklamiert? Oder ist Jugend der lebendigere, entzündetere, mutigere Dienst an den ewigen Werten? Ueber jeder Jugend steht die Wahrheit! Steht das Dogma!“ (SONNENSCHEIN, Carl, N5, 1927, 16).
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trieb zu gewinnen“382, heißt es in Stimmen der Zeit. SONNENSCHEINs Charisma lag nicht im Bereich religiöser Innerlichkeit und deren Erneuerung, sondern in einem religiös-sozialpolitischen Pragmatismus. Entscheidend für die Prägung SONNENSCHEINs war die Begegnung mit Romolo MURRI (1870-1944) während seines Studiums in Rom an der Gregoriana. MURRI gab die Zeitschriften Vita Nuova und Cultura Sociale heraus und war, als SONNENSCHEIN in Rom studierte, Seelsorger an der staatlichen Universität. Wegen seiner Ideen einer „christlichen Demokratie“ zählte er zu den Modernisten und wurde 1907 als Priester suspendiert. 1909 erfolgte die Exkommunikation.383 Mit den Vorstellungen einer „inneren Erneuerung der katholischen Kirche, die sich in besonderer Weise um die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft wie auch aller sozial Benachteiligter kümmern sollte, [wurde er] zum entscheidenden Lehrmeister Sonnenscheins“384. SONNENSCHEIN veröffentlichte einige Artikel in Cultura Sociale, beispielsweise über die Sozialgesetzgebung und bereits 1900 zur Gewerkschaftsfrage oder über die Beziehungen zwischen christlichen Parteien und Kirche. Seine Berichte veröffentlichte er unter dem Pseudonym Lujo SAALENSTEIN385. Außerdem organisierte er 1900 in Rom den ersten internationalen Studentenkongress, bei dem auch über Fragen christlicher Demokratie debattiert wurde – „damals eine ungeheure Kühnheit“386. Im Oktober 1900 wurde SONNENSCHEIN zum Priester geweiht. Auf seinem Primizbild stand programmatisch Evangelizare pauperibus. Seine erste Kaplanstelle führte ihn nach Aachen. Zwischen 1902 und 1904 wurde er dreimal versetzt (!) und wechselte 1906 zum Volksverein nach Mönchengladbach. Dort entdeckte er in der Akademikerarbeit „ein noch wenig beackertes Feld des Volksvereins“387. Er gab ihr eine neue Wendung, indem er forderte, man „müsse den Studenten sozial ‚erwecken‘“, bei den „fertigen Philistern“388 sei dies zu spät. Der Entfremdung zwischen der „handarbeitenden Klasse“, wie er sie nannte, und dem Bildungs- und Besitzbürgertum müsse entgegengearbeitet werden.389 Und dies sollte jenseits revolutionärer Änderungen erreicht werden: „alles das ist dröhnend, aber auch vorübergehend“390. Er war, wie ein früher
382 383 384 385
386 387 388 389 390
NOPPEL, Constantin (1931), 385. Vgl. NEUNER, Peter (2009), 133ff. PESCH, Winfried (2002), 190. Das Pseudonym war für SONNENSCHEIN Erinnerung an sein Vorbild Hermann Graf von STAINLAIN-SAALENSTEIN, der mit 32 Jahren starb und dessen kurzes Leben er unter den Leitsatz gestellt hatte, es möge der Menschheit nützlich sein. LÖHR, Wolfgang (1980), 94. Ebd., 96. Ebd. Vgl. ebd. SONNENSCHEIN, Carl (1911), 7.
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Mitarbeiter, Rudolf AMELUNXEN391, sagt, eher „sozialpolitischer Evolutionär“392. Seine Vorstellung einer christlichen Gewerkschaft beschreibt SONNENSCHEIN 1911 so: „Die christliche Gewerkschaftsbewegung appelliert stärker als andere an den ruhig messenden Verstand und die abwägende Vernunft. Je entwickelter die Einsicht, um so unmöglicher der Putsch, die revolutionäre Revolte und der Sinn für marxistisches Dogma und bebelsche Prophezeiung.“393
Zu seinen Zielen gehört die umfassende Bildung des Arbeiters.394 Ein Jahr vor seinem Tod schreibt er: „Gewerkschaftsarbeit ist Anwendung von praktischem Christentum auf reales Leben […], bewußte Anwendung christlicher Grundsätze auf die Neuzeit!“395 Der Erste Weltkrieg war für SONNENSCHEIN „der große Erzieher zum sozialstudentischen Ideal, kämpften doch Arbeiter und Studenten Schulter an Schulter“396. Wie viele andere war auch SONNENSCHEIN vom „Geist von 1914“ ergriffen, übte aber stets Kritik an der bürgerlich-feudalen Gesellschaft des wilhelminischen Deutschlands. Schon 1910 hatte der Fürstbischof von Breslau, Georg von KOPP397, ein Predigtverbot über SONNENSCHEIN für sein Bistum verhängt.398 Das war nicht aufgehoben, als SONNENSCHEIN seinen ersten großen öffentlichen Auftritt am 1. Januar 1919 im Zirkus Busch hatte,399 dem ersten großen Massenereignis für die Berliner Katholiken in dieser Form.400 Sie waren hingerissen, da traf einer den richtigen Ton. THRASOLT schreibt mit großer Emphase über dieses Ereignis: „Er sprach, wie nie einer in Berlin gesprochen hat und noch sprechen wird: Es war wie ein Zug durchs Rote Meer und wie um die Mauern Jerichos, als die Katholiken durch Berlin zogen und die Häuser und die Herzen und die alten antikatholischen Zwingbasteien Preußens vor dem ‚Großer Gott, wir loben dich‘ der vielen Tausende zitterten und wankten.“401
SONNENSCHEIN hatte, bevor er als Priester nach Berlin kam, bis auf eine kurze Zeit in einer Gemeinde in Elberfeld, in überwiegend bzw. ausschließlich von Katholiken bewohnten Gegenden gearbeitet. Nun traf er in der preußischen 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401
Rudolf AMELUNXEN (1888-1969), Zentrumspolitiker, Justizminister und erster Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. AMELUNXEN, Rudolf (1958), 8. SONNENSCHEIN, Carl (1911), 8. Vgl. SONNENSCHEIN, Carl (1910), 3ff. SONNENSCHEIN, Carl, N10 (1929), 49ff. Ebd., 99. Georg von KOPP (1837-1914), Bischof von Breslau 1887-1914, 1893 von LEO XIII. zum Kardinal ernannt. Vgl. KREBBER, Werner (1996), 21. Vgl. LÖHR, Wolfgang (1980), 98. Vgl. THRASOLT, Ernst (1930), 218. Zu den Märkischen Katholikentagen vgl. ROSAL, Heribert (1990). Vgl. auch HÖHLE, Michael (1996), 142f. THRASOLT, Ernst (1930), 218.
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Metropole auf ihm fremde Diasporabedingungen mit ganz spezifischem Legitimationsdruck gegenüber dem säkularen Umfeld. Hinzu kam die explosive Dynamik des Jahres 1918. Der Berliner Katholizismus bekam in der Nachkriegszeit viel Anerkennung, weckte Interesse, weil er Antwort auf die Zerrissenheit der Menschen geben konnte. Und in diesen wirren Zeiten, die zugleich Aufbruchszeiten waren, war SONNENSCHEIN wie aus dem Nichts in Berlin aufgetaucht, „niemand hatte ihn gesandt, keine Behörde ihn gerufen“402. Wie berauscht von der Dynamik der Großstadt schreibt 1913 Carl SONNENSCHEIN im ersten Heft von Das Heilige Feuer, dem Sprachrohr der katholischen Jugendbewegung: „Die Großstadt atmet und speit wie ein Riese erdrückend, faszinierend, schlürfend, saugend, überwältigend, betäubend ihren Hauch über mich. Was ist in ihr der einzelne? Diese Abendbeleuchtung, diese Massenwohnungen, diese gigantische Organisation, dieses Schieben und Rasen! […] Die Großstadt wird zum Schlachthof der Einzelcharaktere. […] Diese Straße ist ein Stapelplatz von Möglichkeiten. Zu Großmutters Zeiten, in der Kleinstadt, auf dem Dorf heute noch ist die Straße kein Stapelplatz, sondern eine mathematische Linie. Die schnellste und langweiligste Verbindung zwischen zwei Orten. […] Der Weg zwischen Heim und Hobelbank, den das Großstadtkind, das Geld verdient, geht, ist ein anderer Weg: Buchhandlung, Schaufenster, Warenhaus, Postanstalt, Briefkasten, postlagernde Briefe, Straßenecke, Litfaßsäulen, Kinotheater, Varieté, Orchestrion, Freunde, helle gelbe elektrische Lampen, zauberhaftes Chaos der Straßen, der faszinierende Odem der Großstadt, berückende Toiletten, schwankende Reiherfedern, flutender Samt, schillernde Pelze, Linie und Lichter und traumhafte Lockung.“403
Der deutsche Katholizismus bekommt durch Carl SONNENSCHEIN eine unverkennbar eigene, expressive Stimme. Resonanzraum sind die neuen Zeitschriften Hochland und Das Heilige Feuer. Für SONNENSCHEIN sind folgende Konsequenzen der Kirche mit Blick auf die Erfordernisse der Zeit zu ziehen: Die Kirche muss ihre genuinen Kampfplätze auf dem Terrain der Moderne erkennen. Zentraler Kampfplatz – und hier muss die Kirche bei ihrer ureigensten Aufgabe bleiben – sind die Religion und damit die Seele des Menschen. Ihre Anfänge, ihre Grundlagen liegen im Lokalen und Biographischen oder, wie es in der markanten Sprache SONNENSCHEINs heißt, auf dem „Schlachtfeld des Heimatlichen und Elternhaften“, „Schlachtfeld des Charakters und der Einzelpersönlichkeit“, dem „Schlachtfeld der Zielsetzung und des religiösen Innenlebens“404. SONNENSCHEIN trifft genau das zentrale Moment des Widerspruchs, in den der moderne Mensch geraten ist:
402 403 404
HOEBER, Karl (1930), 120. SONNENSCHEIN [Carl] (1913), 24ff. Ebd., 22.
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„Heimatlichkeit und Elternhaus. Um die geht heute der Kampf der Großstadtjugend. […] Es ist eine Kluft gerissen worden durch die Umwelt und eine tiefere durch die Innenwelt der Familie, unter deren Dach die Großstadtjugend wohnt. […] Wer legt seine weiche Hand auf dieses fiebernde Hirn, in dem es zuckt wie in der Telephonzentrale der Großstadt selbst, ruhelos und vergeßlich. Durch die Heimatlichkeit der Großstadtjugend ist ein Riß gezogen von oben bis unten.“405
Letztlich sind für SONNENSCHEIN gesellschaftliche Fragen nicht von religiösen zu trennen: „Der […] Kampfplatz senkt sich in die tiefsten Schluchten des Inneren, dort, wo der Mensch mit seiner Seele und seinen Sternen allein ist, […] das stille Herrschergebiet des religiösen Gedankens und des religiösen Lebens. […] So führt der Kampf um die Ideale der Großstadtjugend mit unerbittlicher Konsequenz auch zum religiösen Problem.“406
Als SONNENSCHEIN dies 1913 in der ersten Ausgabe von Das Heilige Feuer schreibt, ist er noch Mitarbeiter des Volksvereins in Mönchengladbach. Erst fünf Jahre später wird seine Stimme in Berlin zu hören sein und sehr schnell auch Gehör finden. Solche religiösen Stimmen des Aufbruchs und deren publizistische Foren wie Hochland, Das Heilige Feuer und Die Schildgenossen fanden erst nach dem Ersten Weltkrieg bei der katholischen Jugend und den Eliten Gehör. Der Genussmensch, der „Schiebertypus“, die Profiteure der Nachkriegswirren, diese Inkarnate der Großstadt, hätten unübersehbar die gesellschaftliche Bühne betreten. Und einen Weg zurück gäbe es vielleicht gar nicht mehr. Dass dies auch die Katholiken anerkennen sollten, haben sich die vielen Zeitschriften, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts und gerade im kulturellen Bereich entstanden sind, zum Programm gemacht. Und es ist in diesen Jahren nicht schlecht um den deutschen Katholizismus bestellt. Nicht von ungefähr spricht man vom Nachkriegskatholizismus als „ver sacrum catholicum“407. SONNENSCHEIN passte mit seiner rhapsodischen Sprache gut in die aufgewühlte Atmosphäre der Stadt. In den katholischen Massenversammlungen – für Diasporakatholiken ein Augenblick der Selbstdarstellung und des Solidaritätsgefühls – war SONNENSCHEIN eine regelrechte Attraktion. Er wurde in kürzester Zeit weit über das katholische Milieu hinaus bekannt. Von nun an verlagerte er sein Aufgabenfeld von der sozialstudentischen und gewerkschaftspolitischen Arbeit hin zum Großstadtapostolat. THRASOLT nannte dies die „Berliner Wende“: „Er übt keine Kritik, keinen Widerspruch mehr. Alle Probleme um Reformen und Fortschritt in Verwaltung und Disziplin, um Anpassung der Kirche an moderne Verhältnisse und modernes Denken, an die Mündigkeit und Großjährigkeit 405 406 407
Ebd., 22f. Ebd., 27. RUSTER, Thomas, 1993, 72.
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der Menschen existieren für ihn nicht mehr. Nur mehr in der Defensive […] nicht mehr in der Offensive greift er zu dem Distinguo, dem ‚Es muß unterschieden werden‘, diesem großen scholastisch-katholischen Macht- und Zauberwort, das zwischen allen Szyllen und Charybden, allen Gegensätzlichkeiten unversehrt katholisch hindurchhilft und alle Gegensätze ausgleicht.“408
Richtig daran ist, so KOTOWSKI, „daß er seine Kräfte nun auf Aufgaben konzentrierte, bei denen er unmittelbar wirken konnte […], dem Aufbau einer karitativen Zentralstelle in Berlin und der Durchsetzung des Katholizismus in der Reichshauptstadt als anerkannte geistige Macht“409. Als Mann der Tat wurde SONNENSCHEIN wegweisend für eine neue Form der Großstadtseelsorge: „Wer mit modernen Menschen über Christentum reden will, wer in einer Weltstadt für Christus werben will, hat die Seelsorgerpflicht, gütig zu sein und die Wahrheit überall anzuerkennen“410, schreibt er. Das heißt im Sinne SONNENSCHEINs, er darf keine Scheuklappen vor der Berührung mit der Wirklichkeit haben. SONNENSCHEIN wusste beinahe instinktiv, dass Kirche in der modernen Großstadt in Konkurrenz zu anderen sinnstiftenden Angeboten steht und dass Kirche auf der Verliererseite stünde, würde sie es gerade in diesem Zusammenhang unterlassen, sich ihrer Glaubensformen und Traditionen reflektierend bewusst zu sein: „Stil wollen wir. Für den Berliner Katholizismus ist solcher Wille Lebensfrage.“411 SONNENSCHEIN kümmerte sich persönlich um die Randexistenzen der Stadt, „großstädtischsozial“412 wollte er sein. Organisatorischer Stützpunkt war die Georgenstraße 44 nahe der Friedrichstraße. Die Adresse war so legendär wie seine Person.413 Hier empfing er täglich um die 50 Personen, die er in schwierigen Lebenslagen, geistiger oder materieller Art, „beriet, beschenkte oder weiterempfahl“414. Für jedes soziale Problem gründete er eine eigene Organisation: Neben dem Sekretariat sozialer Studentenarbeit (SSS) existierte das Akademische Arbeits-Amt (AAA), eine Reaktion auf die hohe Akademikerarbeitslosigkeit nach 1918, die Akademische Vinzenzkonferenz (AVK), die Akademische Bonifaziuskonferenz (ABK), der Kreis Katholischer Künstler (KKK) und eine Katholische Volkshochschule (gegründet 1922). Nach einem Jahr sind an der Volkshochschule 2.400 Zuhörer eingeschrieben, 1929 sind es bereits 10.000. Er gründet 1925 die Akademische Lesehalle, die durch Geld-
408 409 410 411 412 413 414
THRASOLT, Ernst (1930), 244f. Hervorhebung im Original. KOTOWSKI, Georg (1990), 301. SONNENSCHEIN, Carl, N2 (1926), 5. SONNENSCHEIN, Carl, N1 (1926), 47f. SONNENSCHEIN, Carl, N7 (1927), 35. Vgl. KLEIN, M. (1929), 330. KOTOWSKI, Georg (1990), 302.
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spenden finanziert wird. Weiter gehören zu seinen Gründungen der Märkische Wassersport415 und der Märkische Geschichtsverein (1927). SONNENSCHEINs Texte erschienen derweil an allen wichtigen katholischen Publikationsorten. Seine Notizen. Weltstadtbetrachtungen von Dr. Carl Sonnenschein416 waren katholische Bestseller, die immer wieder neu aufgelegt wurden und von denen bis 1930 insgesamt 130.000 Exemplare erschienen sind.417 Vor allem seine Artikel über Berlin und das Großstadtleben wurden in überregionalen Zeitungen nachgedruckt. Die Notizen wurden als wöchentliche Kolumne im Katholischen Kirchenblatt der Fürstbischöflichen Delegatur für Berlin, Brandenburg und Pommern veröffentlicht. Nachdem SONNENSCHEIN die Redaktion „an sich gerissen hatte“418, stieg die Auflage im Jahr 1928 auf 55.000 Exemplare. Der vor allem für katholische Kreise ungewöhnliche Stil mit seiner expressionistischen Dynamik – kurze Sätze, sogenannter Telegrammstil, Reihung, Ausrufezeichen – haben sicherlich zur Popularität der Texte gerade außerhalb kirchlicher Kreise beigetragen. Friedrich FUCHS schreibt: „Berliner auch im Telegrammstil dieser Satzfragmentchen à la Kerr. Pointillismus. Das flimmert nervös auf wie Film. Wie Lichtreklame auf Potsdamer Platz. Ein Berliner den Berlinern. Denen vom Kurfürstendamm. Denen vom Wedding. […] Die klare große Linie – um die ist’s ihm zu tun. […] Nicht als ob Sonnenschein kein Ohr hätte für Differenziertheiten; aber er weiß: da bin ich nicht der rechte Mann, gehen Sie zu Guardini, gehen Sie zu Lippert.“419
Auch Protestanten lasen SONNENSCHEIN.420 Er war seinerzeit für das katholische Milieu der Berlin- bzw. Großstadt-Experte. Er lieferte und festigte mit seinen subjektiven Schilderungen das Bild von der Großstadt. Er ging mit 415
416 417 418
419 420
SONNENSCHEIN begründete dies folgendermaßen: „Eine Großstadt, wie Berlin, bejaht, aus ihrem Wesen heraus, den Wassersport. Wird er, ernste Naturhaftigkeit, zur heidnischen Kultur umgebogen, so haben wir gefehlt. Also gehört der Berliner Katholizismus hierher! An die Ränder der märkischen Seen!“ (SONNENSCHEIN, Carl, N5, 1927, 32). SONNENSCHEIN, Carl, N1 (1926) bis SONNENSCHEIN, Carl, N10 (1929). Vgl. THRASOLT, Ernst (1930), 294ff. Vgl. eine eindrückliche Schilderung dieser Usurpation bei THRASOLT, Ernst (1930), 290ff. ESCHENBURG schreibt: „1924 übernahm Sonnenschein die Redaktion des katholischen Kirchenblattes. Er eroberte sie durch einen Handstreich. In solchen Dingen war er nicht zimperlich.“ (ESCHENBURG, Theodor, 1963, 354). FUCHS, Friedrich (1926), 599f. Peter LIPPERT SJ (1879-1936) war seinerzeit u. a. ein bekannter Rundfunkprediger in München. Vgl. RUSTER, Thomas (1994), 320ff. Theodor ESCHENBURG, Politikwissenschaftler und Publizist, schreibt: „Aber seitdem er es herausgab, wurde es gelesen, nicht nur von den Katholiken. Wer von uns Studenten interessierte sich damals schon für ein Kirchenblatt? Aber zu dem Sonnenscheinschen griffen wir, die literarisch sehr verwöhnt waren, begierig, eben wegen der Artikel und Glossen, die mit C. S. gezeichnet waren. Der Journalist interessierte allerdings mehr als der Priester. Für uns war Sonnenschein ein großer Autor; was er schrieb war Literatur. Das Kirchenblatt regte an, reizte geradezu, ihn selber zu sehen und seine Reden zu hören.“ (ESCHENBURG, Theodor, 1963, 354f.).
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prominenten Zeitgenossen ebenso souverän um wie mit den Ausgestoßenen, die er immer wieder auch in ihren Elendsbehausungen aufsuchte. Und selbst die Kreise liberaler und linker Intellektueller im Umkreis der Weltbühne, die der katholischen Kirche sonst mit Abstand begegneten, schätzten SONNENSCHEIN.421 SCHMIDTMANN schreibt: „Wegen seines großen Erfolgs ist anzunehmen, daß Sonnenscheins Sichtweise an die mentale Disposition vieler Katholiken anknüpfte, er eine latent vorhandene kollektive Weltsicht verbalisierte und seine Person als Schnittpunkt von im Katholizismus verbreiteten mentalen Linien angesehen werden kann.“422
Insofern habe SONNENSCHEIN in seinen Berliner Jahren „sinnstiftende Funktion“ gehabt, indem er möglicherweise „als Brille der Wahrnehmung ihrer eigenen Umgebung gedient haben“423 könnte. SCHMIDTMANN nennt SONNENSCHEIN den „Bilder-Bildner“424, er meint damit: „Die Rolle Sonnenscheins als Produzent und Vermittler von Berlin-Bildern“, die für den katholischen Raum kaum zu überschätzen sei. „Wiederholt unternahm er ausgedehnte Vortragsreisen und berichtete in diesem Rahmen oft vor über tausend Zuhörern über seine Erfahrungen mit der Stadt.“425 SONNENSCHEIN schreibt: „Wenn man von Pankow in die Schönhauser Allee einbiegt, steht das Massiv der Häuser wie eine Alpenlandschaft vor dir. Du jagst im Wagen an den Fronten vorbei. Schaust zu den Kuppen der Türme auf. Tastest mit schnellem Blick den Stramin der Fensterreihen ab. An der Gleimstraße schaust du nach rechts. Die Fronten wachsen ins Unendliche. Das ist eine Riesenstadt. Was für eine Seele mag in ihr schlummern?“426
Dies ist der Tonfall SONNENSCHEINs: „Wer diese Dinge erlebt, braucht keine Besinnung auf Caritaspflicht. Sie springt ihm aus der Wirklichkeit entgegen“427, so lässt er sich auf dem Katholikentag 1927 in Dortmund vernehmen. Berlin war nach London und New York die drittgrößte Stadt der Welt und im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten jung. Wie in einem Laboratorium der Moderne konnte man die modernen Zeiten in Berlin mit allen Sinnen erleben. SONNENSCHEIN schreibt: „In dieser Stadt reicht die Kanzel nicht. In dieser Stadt reicht der Religionsunterricht nicht. In dieser Stadt reicht die Seelsorge nicht. Ueber ihre Grenzen hinaus müssen Presse, Buch, Flugblatt gehen.“428
421 422 423 424 425 426 427 428
PANTER, Peter [TUCHOLSKY, Kurt, Pseudonym] (1931), 17. SCHMIDTMANN, Christian (1998), 133. Ebd. Ebd., 130. Ebd. SONNENSCHEIN, Carl, N2 (1926), 22f. SONNENSCHEIN, Carl (1927), 123. Hervorhebung im Original. SONNENSCHEIN, Carl, N4 (1926), 19.
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Denn: „Der Atem der Gesundheit und des Christentums weht nicht um Hinterhäuser und Quergebäude. […] Aus dem Glauben heraus kann man diese Gesellschaftsordnung nicht ertragen.“429
Über das Berlin der frühen zwanziger Jahre schreibt SONNENSCHEIN: „So schnell versinken Menschen in dieser Stadt. Die mit frischem Atem und mit gläubigen Augen nach Berlin kommen. Ihr rettet sie nur durch Entschiedenheit. Erarbeitet sich der Berliner Katholizismus seinen Stil, stellt er sich mit all seinen Konsequenzen mutig in dieses Schlachtgelände, dann erobert er. Jeder Kompromiß ist eine Niederlage, jedes Bekenntnis ist ein Sieg.“430
SONNENSCHEINs spezifischer Blick auf Berlin resultiert zum einen aus seiner großen Distanz zur Stadt und andererseits aus seinem Stil, dieser ihm eigenen Dynamik. In ihr spricht die auch bestehende Affinität des Priesters zum Rhythmus der Stadt eine nicht zu überhörende Sprache. Nur „Wirrwarr“ – konstatiert SONNENSCHEIN angesichts der brodelnden Großstadt: „Zu alldem braucht man Zeit. Bis der Wirrwarr sich entwirrt und die Scheinwerfer der Reklame den Geist nicht mehr verwirren. Ich erinnere mich deutlich des ersten Males. […] Dieser ganze erste Tag war Traum, Wirrwarr, Babylon! Alles erdrückend. Alles ins Ungeheure und Unbekannte und Ferne gehend! Alles Masse! Alles Tanz! Alles Sturm! Für den Berliner ist diese Haltung ‚Provinz‘. So wie der Pariser von den Provinzialen spricht. Von ihrer Biederkeit. Ihrem Unbeholfensein. Ihrem Staunen. […] Man braucht Jahre, ehe sich dieser faszinierende Wirrwarr, ehe sich der Zauber und die Drohung und die Wucht und der Schrei und das Jauchzen und die Hypnose dieses Kolosses entwirrt. Ehe der Zugewanderte festen Boden unter die Füße bekommt.“431
Alles ist künstlich in dieser Stadt,432 in ihr herrscht „babylonische[s] Durcheinander“433, sie „überströmt unser Gehirn mit tausend Dingen“434, sie hetzt, ohne zur Besinnung kommen zu lassen.435 Auf ihre Bewohner übt sie einen negativen Einfluss aus: „Du verzärtelter, du von der Zentralheizung deiner Gemächer, von der Farbentönung deiner Innenausstattung, von der Seidenweichheit deines Pyjamas verwöhnter Großstadtmensch!“436 Aus der „Melancholie dieser Heimatlosigkeit wachsen ganze Kulturen von Bitterkeit, Perversität, von Verbrechen“437, schreibt SONNENSCHEIN. Er kritisiert die „Ueberschwemmung 429 430 431 432 433 434 435 436 437
Aus: Der Ruf der Stunde (1922); zit. nach THRASOLT, Ernst (1930), 241f. SONNENSCHEIN, Carl, N1 (1926), 47ff. SONNENSCHEIN, Carl, N3 (1926), 39. Vgl. SONNENSCHEIN, Carl, N2 (1926), 41. Ebd., 48. SONNENSCHEIN, Carl, N7 (1927), 3. Vgl. ebd. SONNENSCHEIN, Carl, N3 (1926), 57. Ebd., 7f.
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erotischer Sensationen“438, Sexualaufklärung und Homosexualität: „Das alles sind furchtbare Dinge. Die es früher nicht gab. […] Aber es muß ein Ende haben. Sonst ist der ‚Untergang des Abendlandes‘ rettungslos.“439 Und: „Die ganze Stadt und jede Einzelgemeinde sind wie Dünensand. […] Vom Sturme oft aus weitester Ferne zusammengeweht. Sand ist individualistisch.“440 Die unhaltbaren Zustände auf dem Wohnungsmarkt, so SONNENSCHEIN, befördern die sittliche Depravierung. Eine Familie mit Kindern findet in Berlin nur schwer eine Mietwohnung: „Kann man eine Zeit, die so baut und die so denkt, christlich nennen?“441, fragt er. An mehreren Stellen thematisiert SONNENSCHEIN die Wohnverhältnisse.442 1913 erörtert er die studentische Wohnungsfrage und fordert deren Reform auf den Gebieten der Wohnungsvermittlung und der Bereitstellung studentischer Wohnungsheime, die nicht nur Nachtlager, sondern auch Lebensräume für Studenten und Nichtstudenten sein könnten.443 Mietskasernen bezeichnet er als „Schandflecken der Kultur!“444 Typisch für SONNENSCHEIN ist dessen bewundernde Haltung gegenüber neuesten technischen Erfindungen. Aber er denkt zugleich auch daran, was diese in der Seele des Menschen anrichten: „Werden wir, in sich, den modernen Menschen fassen? Den neuen Typ?“, fragt er in seinen Weltstadtbetrachtungen und schildert in teilnehmender Beobachtung: „Ich bin am Sonntag, als der graue Morgen die Sonne des Nachmittags noch nicht erwarten ließ, mit langsamer Beobachtung durch die Stadt gegangen und habe mir die Konturen der Verkehrstypen ins Notizbuch gezeichnet.“445 An anderer Stelle: „Ich setze mich ganz abseits der Straße. Horche auf das Rollen der Räder. Schaue auf den Schlag der Brandung. Lausche auf das Rauschen der Maschinen. […] Ich sehe Technik, Leben, Antrieb aus der Fülle! Von unten! Real!“446 Und bei einem Vortrag in Ettal:
438 439
440 441 442 443 444 445 446
SONNENSCHEIN, Carl, N9 (1928), 32. Ebd., 33. 1926 schreibt SONNENSCHEIN: „Grundsatztreue liegt der Kirche. Ist geradezu ihr Charakteristikum. Ob sie die Unauflösbarkeit der Ehe, ob sie die Sündhaftigkeit der Abtreibung, ob sie die Ablehnung der Feuerbestattung, ob sie das Verbot des Duells, ob sie das Unrecht des Selbstmordes statuiert.“ (Ebd., N5, 1927, 17). Zur Unauflöslichkeit der Ehe vgl. ebd., N1 (1926), 56. Vgl. auch ebd., N3 (1926), 46. Zum hierarchischen System der Kirche vgl. ebd., N4 (1926), 70f. Zum Selbstmord vgl. ebd., N6 (1927), 69. Zur Abtreibung vgl. ebd., N7 (1927), 25. „Du stößt dich am Dogma!“, schreibt SONNENSCHEIN, „Laß diese Säulen stehen. Sonst bricht das ganze Firmament zusammen.“ (Ebd., N6, 1927, 36). Vgl. auch seinen Essay Die katholische Weltanschauung in ebd., N9 (1928), 25ff. SONNENSCHEIN, Carl, N3 (1926), 9. SONNENSCHEIN, Carl, N1 (1926), 8. Allerdings auch „Der Wohntyp Berlins hat kein Kämmerchen für alte Leute.“ (Ebd., N10, 1929, 17). Vgl. auch ebd., N9 (1928), 61. Zuerst in SONNENSCHEIN, Carl (1911a). Vgl. auch ebd., N5, 39. SONNENSCHEIN, Carl (1913a), 14ff. SONNENSCHEIN, Carl (1927), 126. SONNENSCHEIN, Carl, N7 (1927), 58. SONNENSCHEIN, Carl, N5 (1927), 64.
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„Denn diese Dinge begreift nur, wer notvoll in sie hineingestellt wird. Man muß schon, arbeitsuchend, mittellos, verweint, in diesen Straßen am Abend gestanden haben. […] Erst der begreift das Gesetz dieser Weltstadt und die Selbstverständlichkeit ihres chaotischen Hasses. Begreift diese Menschen.“447
Im Duktus dieser „Werktagswirklichkeit“448 äußert SONNENSCHEIN sein Faible für Geschwindigkeit und Technik: „Die Kirche geht der Technik nicht aus dem Wege. Es gibt Weihegebete. Neues Formular. Für Untergrundbahnen! Für Flugzeuge! Für Automobile! […] Aber Technik ist nur Bahn. Inhalt ist die Mission selber.“449 Er schreibt dies 1927. Zu dieser von ihm angestrebten „bewußte[n] Einheit der heutigen Technik und der ewigen Religion“450 gelangt er, weil die Moderne grundsätzlich nicht an den Fundamenten der Religion zu rütteln vermag: „Kein Flugzeug ändert die metaphysischen Probleme. Kein Bubenkopf die Struktur der Frauenfrage. Keine äußere Mode die Welt des inneren Menschen.“451 Die Zeitläufte sind, wie sie sind: „Das Schicksal will es, daß unsere Schlote rauchen und daß die Menschen in den Sälen drunten die menschliche Arbeit tun.“452 Letzter Sinn der Technik aber „ist doch nur Dienst. Keine Technik löst das Problem. Alle Räder jagen in unerforschte Zukunft. […] Der technische Mensch ist nicht die Erfüllung. Der religiöse Mensch ist das Letzte“453. Das „christlichsoziale Programm“ verlangt „Erfüllung dieser Technik mit dem Geiste Christi“454. FRANZ VON ASSISI ist für ihn Vorbild: „Er ist im Aufspüren der modernen Zeiten ein Moderner. Er leugnet nicht Technik. Nicht Wissenschaft. Nicht Statistik. Nicht Politik. Nicht Sozialreform. Das alles ist notwendig. Um, in Deutschland, Menschen leben zu lassen.“455 Gleichzeitig habe die Kirche „nie ein Bündnis mit der Zivilisation der Welt abgeschlossen“456. Dies scheint für SONNENSCHEIN die Gratwanderung der Kirche in der Moderne zu sein, der Technik und ihren Errungenschaften nicht ablehnend gegenüberzustehen und gleichzeitig der Moderne einen Gegenentwurf zu bieten: „Die Kirche lebt nicht hinter den Gittern der Sakristei! Dogma, Ethik und Kultur sind nicht nur innerreligiöse Angelegenheit. Nicht nur Sorge einer Konfession! Die für sich selber lebt. Die Gitter am Sakristeifenster haben nie bestanden.“457 Im Katholizismus scheint für ihn sogar „die Erfüllung der Bedürfnisse des modernen 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457
SONNENSCHEIN, Carl, N10 (1929), 41. SONNENSCHEIN, Carl, N8 (1928), 6. SONNENSCHEIN, Carl, N7 (1927), 60. Ebd., 58. Ebd. SONNENSCHEIN, Carl, N1 (1926), 18. SONNENSCHEIN, Carl, N4 (1926), 57. SONNENSCHEIN, Carl, N10 (1929), 19. SONNENSCHEIN, Carl, N5 (1927), 77. Vgl. auch die Gedanken zur Flugzeugweihe in SONNENSCHEIN, Carl, N10 (1929), 11f. Ebd., 36. SONNENSCHEIN, Carl, N5 (1927), 55.
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Menschen möglich“458. Selbst die Massen sind in ihrem religiösen Bedürfnis von der Kirche erfüllt, der „elastischen Kirche, die die Weltgeschichte kennt“459, für die es sich andererseits lohnt, antimodern zu sein: „Für ihre Ewigkeit. Laßt uns, wenn es nötig ist, mit unserer Kirche ‚antimodern‘ sein. […] Es gibt Dinge, in denen wir bewußt ‚antimodern‘ sein wollen.“460 SONNENSCHEIN hat durchaus ökumenisch gedacht,461 hat aber dabei immer auf dem dogmatischen Fundament der römisch-katholischen Kirche argumentiert. Er schreibt 1927: „Diese römische Kirche ist doch ein Wunder der Geschichte. Sie ist unsterblich. Keine Fäulnis reicht bis an ihre Seele.“462 An anderer Stelle: „Die Kirche ist autoritär! Sie biegt sich nicht vor den Winden.“463 Denn: „In Zeiten des Kampfes rettet kein Kompromiß. Nur der scharfe Schnitt. Nur die rücksichtslose Energie. Nur der Wille zu Eigenem.“464 SONNENSCHEIN gründete eine Vielzahl katholischer Einrichtungen und setzte sich nicht nur für das katholische Leben in der Großstadt sondern auch für die Politik des Zentrum ein. Seine Grundhaltung war „christlichsozial“465 und politisch demokratisch: „Die prachtvollste Manifestation der katholischen Kirche liegt schließlich in der vornehmen Demokratie, zu der sie erzieht. […] Eine Kirche, welche die Menschen verpflichtend jeden Sonntag in den gleichen gottesdienstlichen Raum stellt, physisch nebeneinander stellt, in dem Atem des Nachbarn, alle Stände, alle Bildungsschichten, erzieht zur Kastenwehr und zur Klassenüberbrückung. […] Diese Gleichheit hemmt in katholischem Milieu kapitalistischen Geist. So ungebrochen, wie er im Egoismus agrarischer Herrenschicht oder liberaler Bourgeoisie sich breit machen kann, wächst er hier nicht.“466
Die Weimarer Verfassung hatte der Kirche Bewegungsfreiheit verschafft. SONNENSCHEIN vermerkt: „Ist das Traum, daß wir 1926, sieben Jahre nach der Weimarer Verfassung, zwölf Jahre nach dem Marsch zu den Fronten, hier in amerikanischer Freiheit tagen?“467 Er benennt die „Gefahr des faschistischen Italien!“468 ebenso wie er in sozialkatholischer Tradition schreibt: „Wir sind
458 459 460 461
462 463 464 465 466 467 468
SONNENSCHEIN, Carl, N8 (1928), 73. Ebd. SONNENSCHEIN, Carl, N5 (1927), 55. Auf dem Katholikentag 1927 in Dortmund sagt er: „Im Caritativen gibt es kein Monopol. […] Evangelisches Christentum ist reich an caritativem Willen. In sozialistischen Organisationen brennt, oft genug, das ernste Feuer christlicher Nächstenliebe. […] Die jüdischen Hilfsorganisationen gerne erwähnt.“ (SONNENSCHEIN, Carl, 1927, 124. Hervorhebung im Original). SONNENSCHEIN, Carl, N6 (1927), 56. SONNENSCHEIN, Carl, N7 (1927), 41. SONNENSCHEIN, Carl, N1 (1926), 47. SONNENSCHEIN, Carl, N4 (1926), 38. SONNENSCHEIN, Carl, N3 (1926), 37f. SONNENSCHEIN, Carl, N5 (1927), 46. SONNENSCHEIN, Carl, N8 (1928), 10.
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antisozialistisch, wie wir antikapitalistisch sind. Auf beiden Fronten, mit letzter Hingabe, für das Programm der Kirche.“469 SONNENSCHEIN äußert sich zur Reichstagswahl am 20. Mai 1928.470 Der Katholizismus könne sich nicht „in das Schneckenhaus der Sakristei“471 zurückziehen. „Wir leben in der Temperatur dieser Stadt“472: „Das katholische Berlin zählt 400000 Menschen. Davon dreifünftel wahlberechtigt: 240000 ungefähr. Vielleicht mehr! Davon haben 80000 für die Mitte gestimmt. Ich rechne 10000 für die Rechte. Ich rechne 100000 für die Linke. Das läßt sich statistisch natürlich nicht erweisen. Aber ich habe viele Menschen gefragt. Menschen der Kirche! Menschen der Gemeinde! Menschen des Volkslebens! Kenner Berlins! Die stimmen zu! Also wo stehen wir? […] Eine Kirche, deren Massen, in dieser Stadt, den Rubikon der Mitte überschritten haben, ist christlichsozial, oder sie zerbricht. […] Ihre Ueberwindung ist nur die christlichsoziale Kirche. […] Es muß schon so sein, daß das katholische Berlin bis in die tiefste Seele volknahe ist! Daß wir die Psychologie der ‚Eingeengten‘ dieser Stadt verstehen. Daß wir ihnen nachgehen. Daß wir mit der Heilsarmee und den Edelsozialisten wetteifern in der Hingabe an das Volk. Daß wir in der vordersten Reihe stehen. Wo die Achtung, wo die Sorge für Kinder, für Schwangere, für Mütter, die Menschheit bewegt. Wir dürfen uns nicht auf die Parlamente verlassen. Aus dem Boden des katholischen Berlin selber müssen die Triebkräfte wachsen. Unsere Hilfe in der Fürsorge! Unsere Mitarbeit in den Bezirksämtern! Unser Wetteifer im Pädagogischen! Unsere Initiative im Wohnungswesen! Unsere Hingabe an die Schulentlassenen. Der neue Aufbau der Familie. Es gibt einen Sieg nicht nur der demonstrierenden Masse. Es gibt auch einen Sieg der überzeugenden Arbeit!“473
Als SONNENSCHEIN mit nur 52 Jahren starb, „sein Leichnam [wurde] am 25. Februar 1929 zu Grabe getragen […], folgten annähernd zwölftausend Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung in langer Prozession dem Sarg. Die Predigt im Rahmen des Trauergottesdienstes in St. Hedwig wurde im Rundfunk übertragen“474. SONNENSCHEINs Leben und Wirken wurde gerade wegen seiner Singularität immer wieder legendenhaft überformt. Zwar wurden etliche Schriften über ihn veröffentlicht, eine fundierte Auseinandersetzung zu Wir-
469 470
471 472 473 474
SONNENSCHEIN, Carl, N9 (1928), 64. Ihr vorangegangen waren Auseinandersetzungen zwischen den Parteien der bürgerlichen Koalition über den Entwurf eines neuen Schulgesetzes, das, vorgelegt vom Zentrum, eine Gleichstellung der Konfessions- mit den Gemeinschaftsschulen vorsah. Nach dem Scheitern der Vorlage und dem Bruch der Koalition wurden Neuwahlen angesetzt. Die Wahl mit niedriger Wahlbeteiligung endete mit starken Verlusten der bürgerlichen Parteien zugunsten von Sozialdemokraten und Kommunisten. Das Zentrum erlitt einen leichten Stimmenrückgang. SONNENSCHEIN, Carl, N9 (1928), 71. Ebd. Ebd., 71f. PESCH, Winfried (2002), 188.
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ken und Person SONNENSCHEINs hat erst 1998 Christian SCHMIDTMANN an der Universität Münster vorgelegt.475 Unumstritten war der „geniale Manager der Religion“476 freilich nie: Ein „unbequemer, ein fanatischer Einzelgänger von bestürzendem Eigenwillen“477, „unruhiges Temperament“478, ein „Reklamefachmann Gottes“479, mehr Politiker denn Theologe, „skurril“480, sanguinisch und herrisch. „Da ist öftere Unbeherrschtheit, da ist eine zuweilen gräßliche Formlosigkeit und Unmanier, eine hanebüchende Unästhetik, eine appetitverderbende Art des Essens und Hinunterschlingens ohne die geringste Achtung darauf, was er verzehrt“481, schreibt Karl RAUCH in einem sonst positiven Lebensbild. Keine „kontemplative, sondern eine extrem aktive Natur“482 mit einer „unorthodoxen bis chaotischen Form von Sozialarbeit“483. Von Linken und Rechten angefeindet, als Modernist in integralistischen Kreisen regelrecht verfemt und selbst von Zeit zu Zeit bekennender Antimoderner.484 SONNENSCHEIN schreibt: „Nur eines wissen wir. Darum hat die Kirche den Modernismus verurteilt. […] Es gibt eine Objektivität des religiösen Erkennens. Kein naturwissenschaftliches System wirft sie aus den Geleisen […] Die Religion ist mehr als Märchen für Kinder und als Trost für Frauen. Sie ist Wahrheit!“485
SONNENSCHEIN war also eine höchst widersprüchliche Erscheinung. Und deshalb auch nicht nur anerkannt und bewundert, vielmehr war er vor allem we475
476 477 478 479 480 481 482 483 484 485
Der leider nicht veröffentlichten Arbeit von SCHMIDTMANN, Christian (1998) gelingt es, am Beispiel SONNENSCHEINs das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne auszuloten. Die Hausarbeit für das Staatsexamen im Fach Katholische Theologie an der Universität Münster/Westf. ist mit ihrem umfangreichen Quellenstudium (gründliche Archivarbeiten in Berlin, Köln und Bonn) einen ersten wichtigen Schritt auf diesem Weg gegangen. SCHMIDTMANN stellt fest, dass eine kritische Überprüfung der Quellen oder eine Einordnung SONNENSCHEINs in historische und politische Zusammenhänge fehlt. Fast alle Auseinandersetzungen bezögen sich auf die bereits 1930 erschienene Biographie von Ernst THRASOLT. Vgl. THRASOLT, Ernst (1930). Sie ist aus sehr persönlicher Perspektive geschrieben, aber ist so umfangreich und liefert unschätzbares Material, jenseits von Stereotypen scheint sie der spannungsreichen, widersprüchlichen Gestalt SONNENSCHEINs gerecht zu werden. Alle späteren Auseinandersetzungen mit SONNENSCHEIN gehen implizit oder explizit auf THRASOLT zurück. Daneben erschien im gleichen Jahr die dagegen nüchterne Lebensbeschreibung HOEBER, Karl (1930). Vgl. die Lebensbeschreibung seiner Berliner Mitarbeiterin in: GROTE, Maria (1947). Nach Abschluß vorliegender Dissertation ist die Arbeit von Friedel DOÉRT zu Leben und Wirken von Carl SONNENSCHEIN erschienen. Vgl. DOÉRT, Friedel (2012). LUBEK, Rolf (1980), 8. SACKARNDT, Paul (1956), 17. NIELEN, Josef Maria (1966), 16. SACKARNDT, Paul (1956), 18. Ebd. RAUCH, Karl (1934), 132. KNAPP, Otto (1931), 77. PESCH, Winfried (2002), 195. Vgl. LÖHR, Wolfgang (1980), 98. SONNENSCHEIN, Carl, N9 (1928), 27.
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gen seines autokratischen Arbeitsstils ebenso umstritten. Hermann PLATZ schreibt in einem frühen Porträt von 1922 in Großstadt und Menschentum: „Sonnenschein ist nicht eingestellt auf Psychologie und organisches Wirken. Er ist eine willensmäßige, impulsive, fast möchte ich sagen eine elementare Natur […], die die Hörer gewaltsam mit sich fortreißt, ohne sich vielleicht liebend in sie hineinzuversenken […], die, ohne es recht zu wissen und zu wollen, das Werk, das sie tut, nicht nur als sachliche Leistung […] sondern auch als Selbstbefreiung, als Durchbruch drangvoller Kräfte, als Erlösung von lastendem Wesen tut. Was ihm fehlt an stillem Wachsen und Wachsenlassen im eigenen Schatten, das will er zwingen durch die Organisation, der er sich mit geduldigster, nüchternster, aufreibendster Kleinarbeit widmet […]. Er ist eine Mischung zwischen katholischem und preußischem Stil.“486
THRASOLT kommt in seiner Erinnerung an SONNENSCHEIN zu folgendem Schluss: „Sonnenscheins Werk und Vermächtnis ist er selbst, ist das Bild seiner Persönlichkeit“, die „schillernd, umstritten, unorthodox und erzkonservativ zugleich“ ist und die Probleme seiner Zeit „unter den Umständen seiner Zeit und doch zeitlos – verkörpert“487. Bereits zu Lebzeiten nannte man ihn den „Großstadtapostel“488. Die Dichterin Else LASKER-SCHÜLER schrieb in einem Nachruf: „Wir nannten ihn alle […], ob Juden oder Christen, heimlich, den Bischof von Berlin.“489 In Hochland erscheint 1931 ein differenzierender Nachruf: „Es gab, so hören wir, Leute, die […] seine Religiosität anzweifelten: auch ein Zeichen der Zeit, daß manche das Gefühl für die katholische Spannungsweite verloren haben und das Christsein nur noch in engeren Frömmigkeitsformen begreifen.“490 Gleichzeitig aber, gegen das soziale Engagement SONNENSCHEINs gerichtet, schreibt Hochland, er habe das „Studentenproblem, indem er es von der demokratischsozialen Seite her aufrollte, falsch angefaßt. […] Man darf nicht, wäre es auch aus christlichem Erbarmen, den Klassenneid legalisieren und dann von den Führerschichten erwarten, daß sie, um ihn zu schonen, sich verleugnen und jede Distanz aufgeben.“491 Im Jahr 1927 schreibt SONNENSCHEIN: „Die Götter der Tradition sind nicht mit in die Großstädte gewandert. Die neue Generation steht, dort, völlig auf sich selbst. Ohne den Schutz der Atmosphäre! Ohne die Bindung der Überlieferung! Sie fängt sich in dem Netz der grauen Straßen. Sie muß alles, schon die Jugend, aus sich schaffen! Bis zur nächsten Straßenecke, nein, bis zur nächsten Hausnummer, reicht nicht der Ruf des Va486 487 488
489 490 491
PLATZ, Hermann (1924), 164. THRASOLT, Ernst (1930), 8f. Für THRASOLT sind die Bezeichnungen Großstadtseelsorger, Großstadtapostel und Weltstadtapostel aus mehreren Gründen unzureichend, viel lieber möchte er ihn den „Weltstadterwecker“ nennen: „Er weckt die katholischen Menschen wie früher Deutschlands, so jetzt vor allem Berlins auf zur Besinnung auf das Christentum.“ (THRASOLT, Ernst, 1930, 284f.). LASKER-SCHÜLER, Else (1929), 119. KNAPP, Otto (1931), 77. Ebd., 78.
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ters. Nicht der Blick der Mutter. […] Die Großstadt peitscht die Menschen. Jagt sie vom Wochenanfang zu Wochenende. […] Die Zeit ist ganz ‚Revue‘ geworden! Ganz Jazzmusik! Ganz Fliegertempo! Auch keine Zeit mehr zum Sterben! Ganz unversehens. […] Der Mensch wird Maschine. Er lehnt sich schon fast nicht mehr dagegen auf. […] Das ist das Schicksal der neuen Zeit. Ueber ihr stehen nicht mehr, wie einst, die Sterne der Heimat […].“492
SONNENSCHEIN war ein Wanderer zwischen den Welten. Sein Großstadtbild erfand er in gewisser Weise genauso wie seine Idyllen vom Leben auf dem Land: „Der Mensch in der Großstadt. Ich sehe ihn. Sehe den ganzen Gegensatz zur Stadt der Väter. Zur Altstadt. Zum Flecken. An allen fünf Ecken zerreißt die Großstadt heimatliches Gewebe und väterliche Art. Sie ist so dunkel. So entzündet. So rasend. So heimatlos.“493 An Berlin gerichtet: Die Stadt ist für viele „die letzte Hoffnung“494, ein „Asyl der Fliehenden“495, „entschleiert“ und „nüchtern“ und „kalt“496. Sie ist verzehrend, aber auch „metaphysisch“: „Hinter dem großen Aufschrei eines enttäuschten Lebens steht die Transzendenz. An den Rändern der Stadt und mitten in ihren Arbeitsburgen bauen sie, Stein um Stein, doch den Altar. Den Altar, den die Athener zwischen den Areopag gestellt. ‚Dem unbekannten Gotte.‘“497 Auf dem Land finden sich „gläubige Menschen“498, Familiensinn und Fleiß.499 „Alte katholische Erinnerung“500 werde dort wach. Sehr blumenreich erzählt er von Ausflügen mit Stadtkindern in das Berliner Umland.501 Seine eigenen vielfachen Ausflüge in ländliche Gegenden und Kleinstädte beschreibt er durchweg positiv. „Alle Gassen führen zum Dom“, schreibt er über Freiburg, „das ist wie in Bernau! Wie in Fürstenwalde! Wie in Gransee! Die Mysterienkirche ist der Zentralpunkt der Stadt. Zu ihr pilgert man. In Wonne! In Not! Im Jubel! Alle Wege gehen zu ihr!“502 Und SONNENSCHEIN bekennt, Seelenkitsch nicht fürchtend: „Denn wir sind vom Lande! Ganz tief, in den Kellerräumen unserer Seele, wachsen immer noch die blassen Blumen unserer dörflichen Heimat. So stehen wir hier unter den Kastanien und erleben eigene Vergangenheit und eigenes Wesen!“503 Dagegen: „Wenn man an den Rändern Berlins wohnt, wo die Kirchen so weit liegen, und die Atmosphäre so arm ist an Glockenton und an Weihnachtszauber, wo das 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503
SONNENSCHEIN, Carl (1927), 125f. Hervorhebungen im Original. SONNENSCHEIN, Carl, N5 (1927), 57. Vgl. auch ebd., 8. SONNENSCHEIN, Carl, N7 (1927), 18. Ebd., 20. Ebd., 21. Ebd., 22. SONNENSCHEIN, Carl, N2 (1926), 40. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. SONNENSCHEIN, Carl, N5 (1927), 28f. SONNENSCHEIN, Carl, N7 (1927), 47. SONNENSCHEIN, Carl, N10 (1929), 3.
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Land keinen Stil hat. Und die Menschen wie Sand durcheinanderrieseln und nebeneinander liegen, seelisch nicht verbunden und verästelt, wo es keine Nachbarschaft gibt und kein gemeinsames Gefühl, wird Heimat wach. Buchenbeschattete Heimat. An Lenne und an Ruhr! Dort lebt sichs anders! Hier die Jugend verworren! Hier die Selbstverständlichkeiten umgestülpt! […] Doch wir wollen Berlin nicht schelten. Es ist schwerer hier als anderswo, den Pfad zu gehen. Den Ausblick auf die Sterne offen zu halten.“504
SONNENSCHEIN verstand etwas von der Janusköpfigkeit der Großstadt: „Die Unübersichtlichkeit dieser Stadt und ihre Fremdheit sind etwas Wunderbares. Die im Grunde gütige, aber oft lästige, spießige, moralisierende Nachbarschaft existiert nicht. […] Aber das Incognito ist auch die Tragik dieser Stadt. Man kann hier einsam leben. Man kann hier aber auch verlassen sterben. Im gleichen Hause. Von niemand gekannt.“505
Er kennt beide Seiten gut, sonst könnte er sie nicht so effektvoll in einer solchen Kürze skizzieren. „Die Kleinstadt hat ihre Tugenden, wie die Großstadt! Die Kleinstadt schaut, wenn ein Auto kommt. Die Großstadt kümmert sich nicht darum, ob auf dem Speicher ein Selbstmord passiert. […] Die Kleinstadt interessiert das Kleine ungeheuerlich. Die Großstadt rührt sich blasiert auch über das Erschütternde nicht. Ich verstehe, daß manchen, den die Kleinstadt drückte, der Gedanke schreckt, nun in der Großstadt das Spießertum, dem er glücklich entronnen ist, wiederzufinden.“506
Er versucht, den Leser zu bewegen, indem er direkt und emotionalisiert zu ihm spricht. Er schildert die Anziehungskräfte der Großstadt auf die naiven, schüchternen Landbewohner: „Sie zogen, der Vater, die Mutter, in frühen Tagen aus der schmalen Heimat in die lockende Zukunft der Großstadt. Mit ihrer dörflichen, kleinstädtischen, religiösen Innenstruktur. Fuhren mit einem hölzernen Wagen voller Porzellan durch die Tore der Weltstadt auf die Avus der schreienden Automobile. […] Du brachtest Dich selbst mit. Deine Gotik, Deine zerbrechliche, scheue, liturgische Feinheit. Das leichte Erröten Deiner noch unverfärbten Wangen. Als Du in die Großstadt zogst, errötetest Du noch.“507
SONNENSCHEIN nennt drei unterschiedliche Charaktertypen, die von der Großstadt angezogen werden. So „strömen drei Kategorien hierher. Die ganz Tüchtigen. (Die großen Radius ihres Schaffens brauchen. Größere Möglichkeiten ihres Wissens und ihrer Kinder Erziehung.) Die ganz Armen. (Denen nur noch dieses letzte Licht leuchtet. Die schmale Hoffnung, im Riesengewirre dieser Stadt eine Zukunft zu finden.) Die 504 505 506 507
SONNENSCHEIN, Carl, N3 (1926), 7. Ebd. Ebd., 11. Ebd., 7.
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ganz Schlimmen. (Denen der Boden daheim zu heiß wird. Die zwischen Scholle und Gerichtssaal untergehen würden.) Jeder Tag bringt einen Eisenbahnzug. Dieser drei Klassen“508.
Er präzisiert: „Wirtschaftliche Notwendigkeiten treiben Zehntausende von Menschen in diese Stadt. Sie würden tausend Gelegenheiten verpassen, wollten sie im Allgäu, im Ermland, im Oldenburgischen bleiben. Die Sehnsucht ihrer Berge, ihrer Heide, ihres Waldes bleibt ihnen. Sie kommen nicht gerne. Die Wirtschaft zwingt sie zu wandern. Die Erwerbsmöglichkeit. Die Bildungsmöglichkeit.“509
Abb. 4: Rudolf SCHWARZ: Ex libris (um 1920)
Die Katholiken Berlins sind „zusammengeweht. Sie kommen aus aller Herren Länder“510. Und: „Diese Weltstadt überschattet den Zuwandernden mit dem Staunen vor den technischen Dingen.“511 Die Stadt-Land-Dichotomie ist für seine Texte argumentativ prägend: Die Kleinstadt hält die „Zügel der nachbarlichen Kontrolle“512 und ihr „Laster […] 508 509 510 511 512
Ebd., 9. SONNENSCHEIN, Carl, N3 (1926), 40. SONNENSCHEIN, Carl, N4 (1926), 31. SONNENSCHEIN, Carl, N7 (1927), 4. Ebd., 8.
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ist Klatschsucht“513. An anderer Stelle schreibt er: „Laster des Dorfes ist Neugierde. Der tantenhafte Blick in den beweglichen Spion. Der durch Gardinen gereckte Kopf. Die behagliche Breite nachbarlicher Besprechung. Gegenwart und Vergangenheit werden geknetet. Zukunft wird ausgelugt.“514 Dagegen ist die Großstadt „nachbarlose Stadt“, hier lebt man „ohne Rücksicht auf Konventionen“515. Das Laster der Großstadt ist „liebeleere Wurstigkeit“516. Hier ist alles Leben in Anonymität gehüllt und „die Hemmungen fallen“517. Die Großstadt „stellt tausend Versuchungen an tausend Straßenecken. Wirbt mit lockenden Gesten und mit insinuierender Schmeichelei“518. Dagegen hilft die Kleinstadt die „Treue wahren. Sie war fürsorglich in ihrer Obacht. Sie hemmte die Abwegigkeit. Den Seitensprung“519. Es zieht die „Defekten“ nach Berlin, „vielleicht mit dem Willen, in der Großstadt der Leidenschaft ungehemmt zu frönen. Diese Großstadt ist anonym. Ist unübersichtlich. Ist dunkel“520. Dagegen sind „draußen im Lande […] die Dinge sichtbar. Stehen unter Kontrolle. Jede üble Neigung. Jedes bestrafte Verbrechen. Jede böse Tat“521, auf dem Land „ist die Schlechtigkeit zerstreut“522. Berlin hat dagegen „nur Platz für Gegenwart. […] Heute gilt! Gestern und vorgestern sind außer Gefecht. […] Kein Platz für träumende, sinnende, alternde Menschen. Hier gilt Kraft! Hier gilt Leistung! Hier gilt Konkurrenz!“523 Die „furchtbare Stadt“524 ist „spießbürgerlichen Geistes frei“525, aber der Kampf ist „rascher, radikaler, bitterer“526 als auf dem Land. „Wohin bist du, o Gott, geflohen?“527 Als Gegenbild zum Sündenbabel Berlin beschwört SONNENSCHEIN eine christlich-katholische Kultur des Mittelalters, dies jedoch vor allem, und hier mit HEINEN übereinstimmend, in der stilisierten Form des „katholischen Frühlings“ der Spätromantik.528 Er schreibt: „Wir Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts und der steinernen Großstadt tragen Heimweh in uns nach diesen Zeiten. Die uns wie Märchen, wie Mythus
513 514 515 516 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528
Ebd. SONNENSCHEIN, Carl, N6 (1927), 15. Ebd., 10. Ebd., 8. Ebd., 9. Ebd., 8f. Ebd., 8. SONNENSCHEIN, Carl, N3 (1926), 41. Ebd., 40f. Ebd., 41. SONNENSCHEIN, Carl, N6 (1927), 16. SONNENSCHEIN, Carl, N8 (1928), 67. SONNENSCHEIN, Carl, N7 (1927), 36. SONNENSCHEIN, Carl, N3 (1926), 69. SONNENSCHEIN, Carl, N6 (1927), 58. Allerdings ist das von der Romantik geprägte Bild eines katholischen Mittelalters typisch für die Sehnsucht der katholischen Aufbruchsbewegung nach authentischer Frömmigkeit.
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klingen. Wir haben sie technisch überholt. Auch innerlich? Auch im Letzten und Tiefsten?“529
Und dann argumentiert er wieder sehr diesseitig: „Wir müssen Konkurrenz schlagen! Auch wenn sie feinere Instrumente spielt. Das gilt vom Standesamt. Das gilt von der Jugendweihe. Das gilt von der Feuerbestattung. Zu grundsätzlicher Entschlossenheit muß organisatorische Tatkraft hinzutreten.“530
Erfolgreich seien vor allem die Bodenständigen, die „Unkomplizierten“, diejenigen, denen die Richtung klar zu sein scheint: „Die Seele der Großstadtmenschen muß zurecht gebogen werden. Das Allerselbstverständliche oft wieder eingeprägt werden. So brauchen wir standhafte, gerade, unkomplizierte Menschen, um wieder gesund zu werden. Missionare ohne Problematik. Menschen, die Ja sagen. Ohne Umschweife.“531
Organisatorisch meint im bildhaften Duktus SONNENSCHEINs: „Leuchttürme müssen stehen über dieser Stadt! […] Glocken müssen läuten, den verirrten Wanderern die Wege weisend.“532 Die Großstadt sei dermaßen „künstlich“ und darum müsse alles dafür getan werden, in Berlin den Himmel „offen“ zu halten: „Wir wollen uns nicht in den Schlaf einlullen lassen. […] In dieser Stadt, in der alles bis zum Föhn und bis zur Höhensonne künstlich ist! Auch das soll ein Ruhmestitel der katholischen Kirche sein, unter den schwelenden Wolken des Existenzkampfes dem Großstädter bewußt den Ausblick zu den Gezelten des Himmels offen gehalten zu haben. Nicht wahr? Es ist etwas Fabelhaftes, um eine ‚Aussetzung‘ in der Liebfrauenkirche an der Wrangelstraße […]. Wie wunderbar ist die Liebfrauenkirche! Ganz echt und ganz tief an religiösem Leben. […] Warum können wir diesen Stil nicht auch in unsere Gemeinschaft, außer der Kirche, übertragen? Das Problem ist schwer. Wir alle sind befleckt von der Weltstadt und leiden an ihrer Künstlichkeit. […] Der Berliner Katholizismus hat mit Mächten zu kämpfen, von denen drüben in Bayern niemand eine Ahnung hat. […] Wüssten die, in welchem Chaos wir hier stehen, fühlten sie die Voltspannung unseres Rhythmus, sie würden uns helfen. So leben sie für sich, und wir ersticken und erwürgen in unserer Atmosphäre.“533
Ziel SONNENSCHEINs ist es, in der „familienzerrüttenden“534 Stadt Heimat zu schaffen: „Zusammengewehtes Menschentum“ soll „Heimat“535 bekommen. Kann die katholische Kirche in der „Großstadtmaschine“, wenn sie ihr schon 529 530 531 532 533 534 535
SONNENSCHEIN, Carl, N2 (1926), 18. SONNENSCHEIN, Carl, N6 (1927), 8. SONNENSCHEIN, Carl, N3 (1926), 63. SONNENSCHEIN, Carl, N7 (1927), 3. SONNENSCHEIN, Carl, N1 (1926), 73. SONNENSCHEIN, Carl, N6 (1927), 17. Ebd.
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nicht Einhalt gebieten kann, so doch in diesem seelenlosen Getriebe, in dem Traditionen bedeutungslos geworden sind, Schutz gewähren? „Berlin muß an den Gürteln und im Innern, im Vereinsleben, im Gemeindeleben, im Familienleben, katholische Landschaft haben. Die wieder zündet, wieder belebt, wieder prägt. Wo aber kein Milieu erwächst, muß der Mensch selber größer sein als die Landschaft.“536
Zur Lösung der Wohnungsfrage sollte die Caritas „in den Rahmen der staatspolitischen und sozialreformerischen Kräfte“537 eingebunden werden: „Besser ein starkes Siedlungsgesetz und zwanzigtausend gesunde Wohnungen, als die Flickarbeit der Miethülfe für die unmöglichen Zimmer des Hinterhauses. Unser Ziel ist nicht, feuchte Wände mit caritativer Tapete zu bekleben.“538 Von SONNENSCHEIN stammt die Devise „Baut das katholische Dorf!“539 Entsprechend engagiert er sich bei den Siedlervereinen, um katholischen Familien am Rand Berlins gutes Wohnen zu ermöglichen: SONNENSCHEIN förderte die Entstehung der St. Josephs-Siedlung in Berlin-Tegel und der Siedlung Mariengarten in Berlin-Marienfelde.540 SONNENSCHEIN war vor allem ein Pragmatiker. Er hatte als antimoderner Moderner ein feines Gespür für die Verlierer des Modernisierungsprozesses, einen Blick für die Brüche und Verwerfungen, die die Moderne in den Menschen auslöste: „Hinter jedem Katholikentag stehen tausend Augen. Glänzende, zweifelnde, bittende, glaubende, verweinte Augen. Steht die Not der Zeit. Stehen die Städte, über die sich Käthe Kollwitzens Bilder erschütternd recken. Stehen Paläste und Mietskasernen. Steht das Meer der steinernen Häuser. Stehen der Fluch, der Taumel, das Gebet der Massen und der Millionen. Stehen die trauernden Türme der Vergangenheit und die ragenden Giebel der Neuzeit. Steht ein im Nebellicht umrissener Bau. Die katholische Kirche. Sie ist in die Zeit hineingebaut. Sie steht zwischen den Häusern. Neben den Schenklokalen. An den Straßenfronten. Über dem Hasten und Jagen und Schreien der Gassen und Plätze. Steht zwischen Freunden und Feinden. Ist ihrer Zeit innerlich geschenkt und innerlich verbunden.“541
Für SONNENSCHEIN war Gemeindebildung das geeignete Mittel, um gegen Individualisierung und Heimatlosigkeit anzugehen: „‚Gemeinde‘ bedingt Miterleben, Mitsorgen, Mitarbeiten! ‚Gemeinde‘ heißt Verbundensein! Heißt Interessiertsein! Heißt Verwachsensein! ‚Gemeinde‘ bedeutet Not, Hoffnung, Freude, Leid, Probleme gemeinsam tragen. ‚Gemeinde‘ ist Heimat.“542 Die 536 537 538 539 540 541 542
SONNENSCHEIN, Carl, N2 (1926), 7. SONNENSCHEIN, Carl (1927), 123. Ebd. Hervorhebung im Original. THRASOLT, Ernst (1930), 323. Vgl. ebd., 322f. SONNENSCHEIN, Carl, N2 (1926), 59. SONNENSCHEIN, Carl, N3 (1926), 8.
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gemeinschaftstiftende Form des Gottesdienstes ist klassenübergreifend:543 „Daß sich Gruppen bilden vor der Kirche nach dem Gottesdienst, vor dem Pfarrsaal nach der Versammlung, vor dem Festplatz nach dem Aufmarsch, ist schon Beginn. Daß man sich die Hände schüttelt! Daß man mit diesem, mit jenem, auch mit dem Fremden redet!“544 Letztlich soll Gemeinde ein Schutzraum mit starkem Fokus nach innen sein: „Halte die Treue! Die Kleinodien der Erziehung, der Kultur, der Weltanschauung, die die Jugend dir mitgab, sollen gehütet sein. Du sollst im Wüstenwind der Weltstadt stille Hecken um sie bauen. Du sollst in Berlin die Waffen suchen und schmieden, die die Eingänge zu ihrem heimlichen Schloß verteidigen.“545
Gemeindebildung kann durchaus auch Rückzug meinen: „In dieser Stadt müssen wir die Luken der Sinne schließen und uns selber die Atmosphäre des dominikanischen Gebetes aufbauen. Wie ein Filmdorf an dem Kalksee!“546 SONNENSCHEIN fordert: Distinktion durch „Stil“ und „Kultur“ des Katholizismus, die im Rückgriff auf Traditionen der Oberflächlichkeit der Moderne etwas entgegensetzen kann: „Wie viel beste Kultur trägt der Berliner Katholizismus […] in seinen Händen. Wieviel helle Augen! Wie unbefangene Unschuld! Wieviel entzückende menschliche, seelische, innere Feinheit! Diese Schätze dürfen nicht ausgeliefert werden. Unsere Feste müssen ihren eigenen Stil haben. Ihre Stimmung darf nicht Berliner ‚Stimmung‘ werden […], in ihrem Schnitt nicht Ausschnitte aus einer Tanzrevue im Admiralspalast. […] An uns frißt die Weltstadt Berlin. Ihr Gift spritzt bis in unsere Reihen, ihr Puder bis auf unsere Wangen und ihre Unsittlichkeit bis in unsere Seelen. […] Es steht Kultur gegen Kultur. Es steht Hetärentum gegen Madonnenkult. Es stehen Annette Droste und Clemens von Brentano gegen Couplet und Sketch. […] Goldglanz gotischer Fenster gegen die Farben des Lunaparks und des Tanzpalais.“547
Festen Boden liefert nach Ansicht von SONNENSCHEIN allein die katholische Kirche. Weniger pastoral, eher journalistisch beschreibt er die Unterschiede des Gemeindelebens in Großstadt und Provinz: „Was gebe ich für die große Proklamation der Gemeinschaft, wenn sie nicht an Ort und Stelle gebaut wird! Der Katholizismus von Berlin wird Ereignis, und nur durch seine 53 Gemeinden. […] Jede horizontale Seelsorge, so wichtig sie ist, für Studenten, für Akademiker, für Kaufleute, für Ausländer, für Künstler, kurz für eine horizontale Schicht, erreicht dieses eine nicht. […] Wir brauchen die Kleinarbeit der Nähe. Sie läßt sich tun, ohne die Kleinigkeiten der kleinstädtischen Nachbarschaft. Ich verstehe, daß man die Gemeinden daheim, in Deutschlissa, in Oberehingen, in Goarshausen, in Papenburg, in Ochsenfurt, 543 544 545 546 547
Vgl. ebd., 9. Ebd., 10. SONNENSCHEIN, Carl, N7 (1927), 46. Ebd., 67. SONNENSCHEIN, Carl, N1 (1926), 49.
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nicht allseitig ideal findet. Mein Gott! Die Kleinstadt hat ihre Tugenden, wie die Großstadt! Die Kleinstadt schaut, wenn ein Auto kommt. Die Großstadt kümmert sich nicht darum, ob auf dem Speicher ein Selbstmord passiert. […] Die Kleinstadt interessiert das Kleine ungeheuerlich. Die Großstadt rührt sich blasiert auch über das Erschütternde nicht. […] Worauf es ankommt, ist, die Großstadt braucht dringender als der Heimatbezirk, aus dem wir kommen, ‚Gemeinde‘, und das schwere Werk muß hier an Ort und Stelle, in deiner Nähe, in deiner Gemeinde mit dem zusammengewehten Menschentum deiner Pfarrei, geschafft werden.“548
SONNENSCHEINs Vorstellung von Gemeinde war modern, aber sein Kirchenbild war das des 19. Jahrhunderts. Da galt Kirche als die einzige Institution, die Sicherheit bot in einer Zeit ständiger Umbrüche. Religiöse Bildung und Missionierung waren in seinen Augen die geeigneten Mittel, um sich in der Gegenwart gegen den Zeitgeist behaupten zu können. Dazu dienten auch seine umtriebigen Organisationsversuche, so chaotisch sie auch gewesen sein mochten. Denn es war vor allem die soziale Tat, die das Christentum in der modernen Gesellschaft legitimierte: „Die Fremdheit in Berlin, die Sonnenschein immer wieder zum Ausdruck brachte und seine mentale ‚Ungleichzeitigkeit‘ zu der sich modernisierenden Umgebung, die aus seiner Biographie resultierte, waren ebenso seine Chance. Dadurch, daß er die ‚Höhe der Zeit‘ im wesentlichen mied, konnte der Priester ihre Abgründigkeit in besonderem Maße wahrnehmen.“549
SONNENSCHEIN setzte auf die überzeugende Kraft katholischer Tradition und des „eigenen überlegenen ‚Stils‘“: „Deswegen trat der Priester hier für eine rigorose kulturelle Abgrenzung ein. Eine Modernisierung des Katholizismus hätte für ihn den Verlust der eigenen Identität und der Überlegenheit gegenüber anderen umfassenden oder partiellen Deutungssystemen von Wirklichkeit zur Folge gehabt.“550
Kirche ist für SONNENSCHEIN der natürliche Garant und Bewahrer einer homogenen Ordnung. Einheit und Geschlossenheit garantieren diese Autorität. Leitbild ist die organische Volksgemeinschaft.551 SONNENSCHEINs Wahrnehmungen der Großstadt Berlin mit ihren unübersehbaren Modernisierungsfolgen sind zwar voller Dynamik, haben aber dennoch eine großstadtkritische Grundierung. SONNENSCHEIN nimmt den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess weniger als dialektischen Wandel denn als Verfallsgeschichte wahr. Diese wenig differenzierende Sichtweise sieht die katholische Kirche ausschließlich als selbstbewusste Bastion gegen die Zerrissenheit der Zeit.
548 549 550 551
SONNENSCHEIN, Carl, N3 (1926), 10f. SCHMIDTMANN, Christian (1998), 215. Ebd., 162. Vgl. ebd., 168.
6 GROSSSTADT UND MODERNE IM URTEIL KATHOLISCHER KULTURZEITSCHRIFTEN ZWISCHEN 1848 UND 1933
6.1 Zur Entstehung der katholischen Presse Zentral für die vorliegende Arbeit ist, welche Rolle katholische Intellektuelle beziehungsweise die Protagonisten eines akademisch gebildeten, sich formierenden modernen katholischen Bürgertums im Modernisierungsprozess spielten; wobei bürgerliche Katholiken eher weniger in das katholische Milieu integriert waren bzw. sich integrieren wollten, „selbst dann nicht, wenn sie für die ultramontane Sache Partei ergriffen“1. GRUNEWALD und PUSCHNER beschreiben den Konstituierungsprozess des katholischen Bürgertums, das im Kulturkampf sowohl aristokratisch-konservative Positionen als auch das Aufbegehren von Bildungsbürgern und Intellektuellen gegen ihre gesellschaftliche Subordination integrieren konnte: „C’est sous l’influence de l’évolution provoquée par Bismarck [hier: Kulturkampf, H. G.] que la bourgeoisie allemande se fractionna et que se constitua une bourgeoisie catholique […]. Le processus de formation d’une société catholique décrit ici impliquera également les aristocrats de confession catholique soucieux de defender les structures traditionelles ainsi que les intellectuels catholiques qui luttaient contre la discrimination qui les frappait, sans oublier la hiérarchie catholique qui, elle, n’était intégrée à aucun milieu.“2
Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert bestärkten die Angriffe von außen den Selbstbehauptungswillen der Katholiken. So hat zum Beispiel der Kulturkampf auch dazu beigetragen, dass die „hiérarchie catholique“ zwischen Laien und der kirchlichen Obrigkeit aufgebrochen werden konnte: „Il [der Kulturkampf] incita les catholiques à resserer les rangs et favorisa un rapprochement entre les laïcs catholiques et institution ecclésiale. Le climat conflictuel qui regnait en Allemagne pendant les années 1870 et 1880 profita à la presse catholique qui connut une réelle extension pour atteindre son apogée au début du XX. Siècle.“3
Wilfried LOTH beschreibt die unterschiedlichen Rollen katholischer Intellektueller im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit, er unterscheidet drei Typen:4 1 2 3 4
LOTH, Wilfried (2006), 31. GRUNEWALD, Michel; PUSCHNER, Uwe [Hrsg.] (2006), 7. Ebd., 9. Vgl. LOTH, Wilfried (2006), 34f.
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GROSSSTADT UND MODERNE IM URTEIL KATHOLISCHER ZEITSCHRIFTEN
die „Milieubauer“ als Interpreten und Wortführer, „die den Konfliktlagen jene Deutung gaben, die zur Milieubildung führte“5. Diese unterscheiden sich vom zweiten Typ, den LOTH „Stützen des Milieus“ nennt: „Intellektuelle, die sich in einem Milieuzusammenhang engagierten und damit zu seiner Tradierung beitrugen.“6 Beide Typen traten bei der „Formierung des ultramontanen Katholizismus und bei dem bürgerlichen Aufbruch ‚moderner‘ Katholiken an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in Erscheinung“7. Den dritten Typus katholischer Intellektualität nennt LOTH den „Brückenbauer“8. Darunter versteht er diejenigen, die Brücken zu „Welten außerhalb des katholischen Deutschlands“ bauten und sich auf den Weg zum „modernen Nationalismus, zum völkischen Aufbruch, zur konservativen Revolution, zum Nationalsozialismus, zur liberalen Demokratie und zur sozialistischen Arbeiterbewegung“9 machten und somit zu den nach Orientierung Suchenden gehörten, die dem Aufbruch in die Moderne ihre Stimme gaben. „Unruhige Wanderer zwischen den Welten standen neben Erneuerern der katholischen Welt und Abtrünnigen, die sich mit der Zeit ganz von ihr entfernten“10, schreibt LOTH und fügt im Rahmen seiner erweiterten Milieu-These an:11 „Die katholischen Intellektuellen bildeten also ebenso wenig ein einheitliches Milieu wie das katholische Deutschland insgesamt. [...] In dieser Vielfalt hatten sie Anteil am deutschen Weg in die Moderne. Sie erklärt ihre Prägekraft ebenso wie die Grenzen ihres Einflusses.“12
In den katholischen Publikationen kamen sie zu Wort und waren an der Entstehung der katholischen Presse maßgeblich beteiligt. Dennoch wurde im 19. Jahrhundert ein „einheitlicher komplexer Kommunikationszusammenhang der Milieuangehörigen“13 durch die lokale und überlokale katholische Presse sichergestellt. Sie hatte zunächst eine „tiefgehende apologetische Grundtendenz“14, getragen von der kommunikationspsychologischen Situation, „von publizistisch übermächtigen Feinden umstellt zu sein“15. Die Historisch-politischen Blätter schreiben drei Jahre nach Beendigung des Kulturkampfs: „Wir Katholiken können in Wahrheit sagen: ‚Feinde ringsum‘, aber wir müssen auch sagen, ‚viel Feindʼ, viel Ehrʼ und – Wehr‘.“16 Da die Katholiken in den Kommunikationsformen anderer Sozialmilieus nicht zu 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Ebd., 34. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 35. Vgl. Kapitel 5.1.1 dieser Arbeit. LOTH, Wilfried (2006), 35. RAUH-KÜHNE, Cornelia (1991), 157. WEICHLEIN, Siegfried (1996), 69. SCHMOLKE, Michael (1987), 100. CONFESSIONELLE STATISTIK (1890), 136.
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Wort kamen, mussten sie mit einigem Unwillen ihre eigenen Zeitungen gründen: „Sie schufen ihre Zeitungen also nach der liberalistischen PresseIdeologie, obwohl sie diese ablehnten.“17 In einem 1861 verfassten Überblick über die zeitgenössische Presse heißt es: „Die Kirche wird die Presse immer als ein Mittel zweiter Ordnung zur Erreichung ihrer Bestimmung betrachten und sie dem lebendigen Wort und der praktischen Caritas unterordnen. Das Viellesen ist nicht vom Guten, es verflacht vielmehr die Generation.“18
Zu einer ersten Gründungswelle katholischer Zeitungen und Zeitschriften war es zwischen 1835 und 1847 im sogenannten Vormärz gekommen. Publikationen mit überregionaler Bedeutung waren Der Katholik19 (1821-1918) und die Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland (1838-1923) (im Folgenden: Blätter). Außerdem entstanden viele kleinere Zeitschriften, die eine ausschließlich regionale Bedeutung hatten. Der Katholik und die Blätter waren durch eine „anwachsende Tendenz zur Politisierung“20 gekennzeichnet. Sie wurden nach der Revolution von 1848 zu Foren auch gesellschaftspolitischer Diskussionen eines nicht länger zu ignorierenden Modernisierungsprozesses, der unter antikapitalistischen und antiliberalen Vorzeichen kritisiert wurde. Die Blätter schreiben 1861, dass es die katholische Presse nicht geben würde, „wenn die christliche Gesellschaft im normalen Zustand wäre“21. Sie betonen, wie fremd dem Katholizismus das moderne Pressewesen sei: „Wir können nicht wahrhaft heimisch werden auf diesem Gebiete, das ursprünglich nicht unser ist.“22 Auf der anderen Seite schreiben die Blätter schon 1847: „Wer in unseren Tagen nicht auf dem öffentlichen Markte mitspricht, wessen Stimme in der Presse nicht gehört wird, der wird auch nicht mitgezählt; über seinen Glauben, über seine Rechte, über seinen Besitz wird von dem das große
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22
HAASE, Amine (1975), 46. NIEDERMEYER, Andreas (1861), 3. Der Katholik erschien zwischen 1822 und 1827 in Straßburg, Mitarbeiter waren u. a. Joseph GÖRRES und Clemens von BRENTANO. Die Zeitschrift war strikt ultramontan und wollte den Papst im Kampf gegen die Entchristlichung der Welt durch die Moderne unterstützen. Später plädierte sie im Zeichen nationaler Erneuerung für die Einheit von Glaube und Patriotismus. Vgl. ALEXANDRE, Philippe (2006), 135. SCHULZ, Jürgen Michael (2006), 43. KATHOLISCHE PRESSE (1861), 85. Im selben Jahrgang wird die missionarische Reichweite der katholischen Presse nüchtern betrachtet und von neuen Zeitungsgründungen abgeraten: „Bekehrungen zur katholischen Kirche wird unsere Publicistik nicht allzu viele erreicht haben; auch würde die möglichste Ausdehnung derselben unser Gewicht in der politischen Waagschale schwerlich vermehren. Dagegen ist Eines gewiß: daß nämlich trotz oder vielleicht gar wegen der verschiedenen publicistischen Strebnisse die politisch-sociale Einigkeit unter uns seit zwölf Jahren keineswegs gewachsen ist“ (ZEITLÄUFE, 1861, 548). KATHOLISCHE PRESSE (1861), 84.
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Wort führenden Gegner verfügt, und er selbst bei der allgemeinen Erbtheilung todtgetheilt.“23
An der zeitgenössischen Diskussion um die publizistische Tätigkeit der deutschen Katholiken wird nach Michael SCHMOLKE folgende Frage deutlich: „Wie ‚öffentlich‘ im säkularen Sinne, wie ‚gesellschaftlich‘ darf, soll, kann die Kirche sein, und was bedeutet das für das öffentliche und gesellschaftliche Engagement ihrer Mitglieder?“24 Leitidee der katholischen Publizistik war bis ins 20. Jahrhundert hinein eine prinzipielle Abwehrhaltung: „Deutschlands Katholiken waren im 19. Jahrhundert und auch noch im 20. Jahrhundert einer Reihe von kirchenpolitischen und kulturpolitischen Angriffen, insbesondere aber einer fast geschlossenen Front kulturkritischer Angreifer auf weltanschaulicher Basis ausgesetzt. 1837 wurde man sich der in der zeitgenössischen Publizistik auch vorher angesprochenen Bedrängnis als Gemeinschaft bewußt, und es entstand ein ‚apologetisches Einheitsbewußtsein‘.“25
Die katholische Presse hatte gerade in den Phasen erhöhten Außendrucks ihre stärksten Entwicklungsimpulse.26 Die apologetische Grundtendenz wurde zwar im Rahmen der Inferioritäts- und Modernismusdiskussion durch mehrere Autoren kritisiert, beschränkte sich aber auf den engen Kreis gebildeter Eliten und hatte keine Auswirkungen auf die katholische Tagespresse.27 Neben der Apologetik nach außen wurde innerkatholisch die Presse als „die andere Kanzel“28 verstanden, man wollte auf diese Weise das katholische Milieu nach innen festigen. In den Jahren des Kulturkampfs kam es zu einer weiteren Gründungswelle katholischer Zeitungen und Zeitschriften. Gerade in den Neugründungen wie der Tageszeitung Germania reagierten „Preßkapläne wie Majunke“29 so radikal wie polemisch auf die Angriffe von Protestanten und Liberalen. Der Tonfall änderte sich erst nach dem Ausklingen des Kulturkampfes. „Es waren vor allem der höhere Klerus und Teile der Zentrumseliten, die sich vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen und gewandelter Interessen im neuen Staat an einem Ende der Spannungen interessiert zeigten.“30 In diesen Jahren wird
23 24 25 26
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KATHOLISCHE JOURNALISTIK (1847), 53. SCHMOLKE, Michael (1987), 93. SCHMOLKE, Michael (1971), 299. Nach Michael SCHMOLKE folgten nach gesellschafts- und kirchenpolitischen Herausforderungen immer auch praktische Phasen der Gründung neuer publizistischer Organe: So wurden durch das Kölner Ereignis, den Kampf gegen die Zensur und schließlich Pressefreiheit, den italienischen Krieg und seine Folgen, den Kulturkampf, die Inferioritätsdiskussion und durch den Ersten Weltkrieg immer auch katholisch-publizistische Diskussionen angeregt, die auch zur Bildung neuer Zeitschriften führte. Vgl. SCHMOLKE, Michael (1971), 37f. Vgl. ebd., 302f. Ebd., 310. SCHULZ, Jürgen Michael (2006), 43. Ebd., 46.
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der Katholizismus, so GRUNEWALD und PUSCHNER, zu einem festen Bestandteil öffentlichen Lebens: „Le catholicisme allemande constituait un facteur de la vie publique que personne ne pouvait négliger. La diversité du catholicisme allemande avec qu’on peut appeler une ‚gauche‘ et une ‚droite‘ ne fut uniquement le fait de la société catholique prise dans son ensemble.“31
Das gesamte Feld katholischer Medien kann hier nicht erschöpfend berücksichtigt werden. Denn neben dem Zeitschriftenwesen gehört dazu das Verlagswesen und seine reichen Literaturveröffentlichungen, das Büchereiwesen etwa des Borromäus-Vereins oder des St. Michaelbundes, die Verbandspresse mit ihren an die eigenen Mitglieder gerichteten Schriften und nicht zuletzt die katholischen Tages- und Kirchenzeitungen.32 SCHMOLKE nennt die Jahre zwischen 1878 und 1933 die „Konsolidierungsphase der katholischen Presse“33. In dieser Phase ereignen sich auch die Neugründungen der im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Zeitschriften. Fokus sind katholische Zeitschriften, die die „Wiederbegegnung von Kirche und Kultur“34 zum Ziel hatten. Hier fanden die Auseinandersetzungen um Katholizismus und Moderne, Gemeinschaft und Gesellschaft statt, wurden die Phänomene der Verstädterung aufgezeigt und reflektiert, wurde Großstadt nicht nur als „Sündenbabel“, sondern auch als Laboratorium der Moderne gedacht. Insofern sind diese Zeitschriften auch als Zeitzeichen zu verstehen. Auf diesem Weg war Hochland programmatisch vorangegangen. 1903 erscheint die erste Ausgabe. Dagegen hatten Die Schildgenossen seit ihrer Erstausgabe 1920 eine wesentlich geringere Auflage. Sie ergänzten auf hohem Niveau die Vielfalt der existierenden Foren katholischer Intellektualität und nahmen im Rahmen der hier analysierten Zeitschriften die avancierteste Position in der Auseinandersetzung mit der Moderne ein. In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen Zeitschriften in einem Überblick vorgestellt und im Hinblick auf ihre Wahrnehmung von Großstadt bzw. Moderne untersucht. Es handelt sich um eine systematische Durchsicht der Zeitschriften Historisch-politischen Blätter (gegründet 1838) in Kapitel 6.2, Stimmen aus Maria Laach (1865 bzw. 1871, ab 1914 dann Stimmen der 31 32
33 34
GRUNEWALD, Michel; PUSCHNER, Uwe [Hrsg.] (2006), 9. Zu den Traditionshäusern KÖSEL, JUNFERMANN, HERDER etc. vgl. SCHMOLKE, Michael (1987), 102ff. Der Verlag Ferdinand SCHÖNINGH wude 1847 gegründet. Zum Büchereiwesen als Volksbildungsarbeit vgl. ebd., 107ff. Berlin nahm in Bezug auf die katholische Presse eine herausragende Bedeutung ein: Hier erschienen die Märkische Volkszeitung (1889-1939), die Katholische Volkszeitung (1891-1921), die Nordische Volkszeitung für die nordischen Missionen (1897-1929) und die dem Zentrum nahe stehende Germania. Vgl. KÖSTERS, Christoph (1997), 182. „In Berlin wurden damit ebenso viele katholische Tageszeitungen publiziert, wie in der Preußischen Provinz Sachsen und Thüringen; zwei weitere erschienen in Brandenburg, je eine in der Grenzmark und im Freistaat Sachsen.“ (Ebd.). SCHMOLKE, Michael (1971), 38. FUNK, Philipp (1927), 108f.
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Zeit) in Kapitel 6.3, Hochland (1903) in Kapitel 6.4 sowie um die Zeitschriften der Bewegung Das Heilige Feuer (1913) in Kapitel 6.5 und Die Schildgenossen (1920) in Kapitel 6.6. Ich habe mich auch hier auf eine Auswahl beschränkt, welche die Hauptlinien des katholischen Milieus oder den Grundtenor der jeweiligen Zeitschrift bzw. gerade deren interessantesten Ausbrüche aus dem Mainstream repräsentieren.35
6.2 Historisch-politische Blätter (1838-1923) Angestoßen von den Kölner Wirren36, erschien am 1. April 1838 die erste Ausgabe der Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland (im Folgenden: Blätter). Die Zeitschrift hatte eine überragende Bedeutung für die Herausbildung des katholischen Milieus in Deutschland. Sie vertrat den katholischen Standpunkt mit Nachdruck und gab der großdeutsch-antipreußischen Position eine nicht zu überhörende katholische Stimme.37 Gegründet und herausgegeben wurde sie von Joseph GÖRRES (1776-1848). Die Blätter waren zeitweise das „wohl einflußreichste Organ eines intellektuellen Katholizismus“38 und hatten „maßgeblichen Anteil an der Ausbildung des politischen Katholizismus“39. Der Historiker und Publizist Joseph von GÖRRES hatte zunächst mit den republikanischen Ideen aus Frankreich sympathisiert, trat aber dann unter dem Eindruck der napoleonischen Kriege für ein vereintes Deutschland ein. Zwischen 1814 und 1816 gab er die Zeitung Rheinischer Merkur heraus. Er hatte Verbindungen zu Freiherr vom STEIN, Ludwig und Wilhelm GRIMM und Friedrich Karl von SAVIGNY. Sein Eintreten für die nationale Freiheit und eine freiheitliche Verfassung hatte ein Verbot des Rheinischen Merkur zur Folge. Die Verhaftung des Kölner Erzbischofs Clemens August Freiherr von DROSTE ZU VISCHERING 1837 im Mischehenstreit zwischen katholischer Kirche und preußischem Staat war für GÖRRES 1838 Anlass, in die politische Auseinan35
36 37
38 39
Der Schwerpunkt liegt vor allem auf dem eher qualitativen Aspekt der Urbanisierung und seiner Rezeption durch den deutschen Katholizismus. Die eher quantitativen Verstädterungsaspekte werden von allen hier vorgestellten Publikationen durchaus wahrgenommen und reflektiert. Der Kölner Mischehenstreit zwischen der katholischen Kirche und dem preußischen Staat wurde 1840 beigelegt. Vgl. vor allem WACKER, Annekatrin (1972). Vgl. RAAB, Heribert (1987). Vgl. WEISS, Dieter (2003). Vgl. KRAUS, Hans-Christof (2006). Mit dem wichtigen Thema soziale Frage in den Blättern befasst sich STEGMANN, Franz Josef (1965). WEISS, Dieter (2003), 86. Ebd., 98.
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dersetzung einzugreifen. Hierdurch erst bekamen die Kölner Wirren ihre Resonanz in der Öffentlichkeit.40 Dass die Zeitschrift ihren Charakter als „Kampforgan“41 beibehielt, liegt vor allem an ihren historischen Entstehungsbedingungen. Die Auseinandersetzungsbereitschaft der Blätter gehörte in ihren jeweils unterschiedlichen historischen Ausprägungen zur Mentalität der Zeitschrift wie zu deren Mitarbeitern. Diesen Ton behielt sie bis zu ihrem Ende im Jahr 1923 bei. KRAUS schreibt: „Die Tatsache, daß diese Zeitschrift als ein ausgeprägt parteiergreifendes kirchlich-konfessionelles Kampforgan in einer historischen Zeit entstanden war, in der sich die katholische Kirche in einer harten Auseinandersetzung mit dem Staat befand, hat diese Zeitschrift und ihre Mitarbeiter besonders nachhaltig und dauerhaft geprägt; man wird vielleicht sogar von einer mentalitätsbildenden Wirkung sprechen können,“42
Für die Redaktion der zweimal monatlich erscheinenden Zeitschrift waren Georg PHILLIPS und Guido GÖRRES, der Sohn von Joseph GÖRRES, zuständig. Zu ihren engsten Mitarbeitern gehörte Karl Ernst JARCKE. PHILLIPS und JARCKE waren Konvertiten preußisch-protestantischer Herkunft und vertraten „den extrem konservativen, streng kurialistischen Flügel des GörresKreises“43. Zwar gab es innerhalb des GÖRRES-Kreises unterschiedliche Strömungen, in den Veröffentlichungen der Blätter, die bis 1890 ohne Nennung des Verfassers erschienen, setzte sich aber der kämpferische Stil JARCKEs durch. Er war ein „unbedingter Befürworter des mittelalterlich-ständischen Staates und ein entschiedener Gegner des modernen Konstitutionalismus, der Volkssouveränität und der Volksvertretung“44. Nachfolger von GÖRRES war ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der begabte Publizist des politischen Katholizismus Joseph Edmund JÖRG (18191901). Hatte die Zeitschrift zuvor eine katholisch-antipreußische, großdeutsch orientierte Position vertreten, gehörte sie mit Beginn des Kulturkampfs zu einem der wichtigsten „Verteidigungsorgan[e] der angegriffenen Kirche und ihrer politischen Vorfeldorganisationen, vor allem der Zentrumspartei“45. Angesichts der analytischen Schärfe wie Eloquenz sind die Beiträge JÖRGs bis heute aussagekräftig. Liest man die Zeitläufe-Rubriken Joseph Edmund JÖRGs, wird aus dem historischen Abstand ersichtlich, dass er weitsichtig durchschaut 40 41 42 43 44
45
Vgl. HÜRTEN, Heinz (1986), 62ff. KRAUS, Hans-Christof (2006), 87. Ebd. Hervorhebungen im Original. WACKER, Annekatrin (1972), 145. Ebd., 146. Die Blätter schreiben 1847: „Wir glauben zwar an keine Volkssouveränität, weil dies ein Unding ist, aber auch an keine absolute Despotie und was mit ihr zusammenhängt, sondern an einen naturwüchsigen, organischen Staat.“ (PATRIOTISCHE PHANTASIEN, 1847, 607). KRAUS, Hans-Christof (2006), 88.
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hatte, in welcher Form BISMARCK das Verhältnis von Staat und Kirche zu regeln gedachte.46 Deutlich erkennen JÖRG und dessen Mitarbeiter, dass auch die evangelische Kirche von manchen dieser Eingriffe in Mitleidenschaft gezogen werden würde, und so wurde nichts unterlassen, auch die protestantischkonservativen Kreise anzusprechen.47 Ebenso vorhergesehen hatte JÖRG, dass im Kulturkampf – dem „Reichskrieg gegen Rom“48 – mit der Niederlage des Reichs und nicht mit einer Niederlage der Katholiken zu rechnen war. 1874 schrieb JÖRG, dass es BISMARCK nicht gelingen werde „die Kirche zur willenlosen Magd des absolutistischen Militärstaats [zu] machen“49. Der verbindende Faden zwischen Staat und Kirche ist „derart abgerissen“50, dass amerikanische Verhältnisse drohen. Die Kirche werde sich aber vom Staat emanzipieren und dabei eine umfassend innere Erneuerung erfahren. Diesen Prozess des organisatorischen wie geistig-kulturellen katholischen Auftriebs haben die Blätter in den kommenden Jahren aufmerksam begleitet und kommentiert.51 Die Blätter hatten ihre große Zeit in den 1870er Jahren. In dieser Phase des Kulturkampfs waren sie die wichtigste politische Zeitschrift in der Auseinandersetzung mit der Politik Otto von BISMARCKs. In München beheimatet, wurde die Zeitschrift überdies zu einem Forum für eine „geistige[n] und organisatorische[n] Neuformierung des deutschen Katholizismus [...] bis weit über die reichsdeutschen Grenzen hinaus“52. Wichtige Hintergründe lieferte die Zeitschrift den in der Zentrumspartei „weit verbreiteten antiliberalen und antikapitalistischen Orientierungen“53. Die Positionen, die in den Blättern eingenommen und diskutiert wurden, zählen gemeinhin zur Vorgeschichte der katholischen Zentrumspartei. Die Blätter hatten außerdem großen Anteil daran, dass die Gründung der GÖRRES-Gesellschaft54 1876 außergewöhnlichen Zuspruch fand, indem sie den 46 47 48 49 50 51
52 53 54
Vgl. etwa ZEITLÄUFE (1872). Vgl. ZEITLÄUFE (1873). Vgl. ZEITLÄUFE (1874). Vgl. ZEITLÄUFE (1872), 480ff. Ebd., 477. Hervorhebungen im Original. ZEITLÄUFE (1874), 815f. Ebd., 816. WEISS schreibt: „Enge Verbindungslinien liefen von den Historisch-politischen Blättern zur Bayerischen Patriotenpartei und ab 1887 zum Zentrum in Bayern. […] Nach der Revolution geriet die im November 1918 gegründete Bayerische Volkspartei in die Kritik, insoweit sich ihre Vertreter mit Revolution und Republik arrangierten. Auch die Wendung des Zentrum von 1917 zu einem Bündnis mit Liberalen und SPD […] wurden scharf mißbilligt. Während der Anfangsjahre der Weimarer Republik vertraten die Blätter damit eine politische Linie, wie sie allenfalls von einigen hochkonservativen Abgeordneten der Volkspartei oder im monarchistisch-legitimistischen Lager vertreten wurde.“ (WEISS, Dieter J., 2003, 101). KRAUS, Hans-Christof (2006), 107. Ebd. Die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft gehört zu den ältesten nichtstaatlichen Wissenschaftsgesellschaften in Deutschland. Sie wurde 1876 als Laienorganisation von katholischen Wissenschaftlern und Publizisten – zunächst als Defensivverband während des Kulturkampfs – gegründet. Sie war ein wesentlicher Ort für gebildete Katholiken, sich mit
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wissenschaftlichen Aufbruch des katholischen Deutschlands über Jahrzehnte publizistisch begleiteten. Der Gründungspräsident der Gesellschaft, Georg Graf von HERTLING, sorgte für Aufsehen mit seiner Rede auf der Generalversammlung der GÖRRES-Gesellschaft in Konstanz 1896:55 Die Wertschätzung der „profanen Wissenschaften“ unter den gebildeten Katholiken sei notwendige Voraussetzung für die Teilnahme am modernen Wissenschaftsleben: „Mag hier noch so viel auf Rechnung der ungünstigen Zeitverhältnisse, des Cliquenwesens an den Universitäten und der Abneigung liberaler Regierungen gegen glaubenstreue Katholiken gesetzt werden, es muß gesagt werden, daß […] ein Mangel richtiger Werthschätzung der Profanwissenschaften und ihrer Vertreter, wie er sich bei vielen social höher stehenden Katholiken findet, hiezu beigetragen hat.“56
HERTLING beschreibt den Gewinn solcher Teilhabe: „Je umfassender und energischer gläubige Katholiken an diesen Aufgaben der modernen Cultur und der modernen Wissenschaft mitarbeiten, desto mehr schwindet die Gefahr, daß die Errungenschaften der einen wie der andern in einem der katholischen Kirche feindlichen Sinne ausgebeutet und verwerthet werden können. Desto mehr schwindet insbesondere auch die Gefahr, daß die Söhne christlicher Familien, wenn ihr Studium sie diesen Gebieten zuführt, darum, weil sie so selten den Spuren von Katholiken in ihnen begegnen, der Kirche entfremdet werden. […] Ein einziger Gelehrter, der erfolgreich in die Forschung eingreift […] und der sich zugleich in seinem Leben als treuer Sohn der Kirche bewährt hat, wiegt ganze Bände Apologetik auf.“57
Als die preußische Regierung 1878 begann, sich aus dem Kulturkampf zurückzuziehen, wurde dies von den Blättern genau beobachtet. Folglich endete auch die grundlegend oppositionelle Haltung der Zeitschrift gegenüber Preußen. JÖRG schreibt: „Geläugnet soll nicht werden, daß das Centrum unter dem Drucke dieser Verhältnisse in eine systematische Opposition hineingerieth, die ein natürliches Ende in dem Maße finden wird, als jener Druck aufhört.“58 Die Audienz des preußischen Kronprinzen bei Papst LEO XIII. wertete JÖRG als Geste der Sühne für all jene Kränkungen, die die Katholiken „im Reich bis da erleiden mußten“59. Die Inferioritätserfahrungen waren auch im neuen deutschen Kaiserreich noch so präsent, dass die Wunden nicht qua veränderter Gesetze heilten. Da vor allem die Liberalen auf der Seite von BISMARCKs Kulturkampfpolitik standen, gehörte es gewissermaßen zur Nebenfolge des preußisch-deutschen
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den Anforderungen der Moderne an den Katholizismus auseinanderzusetzen. Vgl. MORSEY, Rudolf (2001a). Vgl. MORSEY, Rudolf (2009). Vgl. WEITLAUFF, Manfred (1988), 121. HERTLING, Georg von (1897a), 909. Ebd., 917. ZEITLÄUFE (1878), 422. NEUJAHR (1884), 13.
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Kulturkampfs, daß die reformorientierten, sich dem politischen Liberalismus wenigstens annähernden Strömungen innerhalb des deutschen Katholizismus seit Ende der 1870er Jahre, deutlich in den Hintergrund gerieten und fortan weder geistesgeschichtlich noch politisch eine ernstzunehmende Rolle gespielt haben. KRAUS schreibt: „Gleichberechtigt neben den Kampf gegen den politischen und kulturellen Liberalismus trat nun ebenfalls der Kampf gegen den Wirtschaftsliberalismus dieser Zeit.“60 An dieser Stelle setzte der katholische Antikapitalismus der Blätter an: JÖRG sprach von „moderne[r] Sclaverei des Capitalismus“61. Der Kapitalismus wurde als Ursache für den Verfall der sittlich-moralischen Werte identifiziert. Im Sozialismus sah man – bei aller Gegnerschaft – eine durchaus verständliche Reaktion auf die Exzesse des Kapitalismus, die in der Folge der Industrialisierung die bisher existierenden Lebensund Arbeitsformen außer Kraft setzten. Neben dem politischen und kulturellen Liberalismus bekämpften die Blätter auch den Wirtschaftsliberalismus der Gründerzeit.62 Dennoch schlossen sie eine Annäherung schon an die politische Mitte, geschweige denn an die Sozialdemokratie, als „unkatholisch“ und politisch gefährlich aus. Man sah ausschließlich die Kirche für die Lösung politisch-sozialer Fragen zuständig.63 Auch nach dem Tod von Karl Ernst JARCKE und Guido GÖRRES 1852 blieben die Grundlinien unter der Herausgeberschaft von Edmund JÖRG (bis 1901) erhalten. Die Blätter stellen die katholische und die evangelische Grundposition zur Lösung der sozialen Frage schlagwortartig gegenüber: „Die Kirche allein kann helfen“64 war die katholische, „der Staat allein habe zu helfen“65 die evangelische Parole. Dabei vertraten die Blätter eine ständisch-konservative, antiliberale Grundposition.66 Nach Beendigung des Krimkriegs67 1856 verlagerte sich der Schwerpunkt von außenpolitischen Themen auf die soziale Frage. JÖRG stand dafür ein, dass in Abgrenzung zum Sozialismus wie auch zur Sozialpolitik BISMARCKs die spezifisch katholischen Vorstellungen des Mittelwegs in der sozialen Frage propagiert wurden: „Wir waren immer der Meinung, daß es gelte und Alles darauf ankomme, zwischen den abstrakten Theorien der Selbsthülfe und der Staatshülfe die richtige Mitte zu treffen, Gesetze zu beseitigen, welche diesen mittleren Weg ungangbar 60 61 62 63 64 65 66 67
KRAUS, Hans-Christof (2006), 93. ZEITLÄUFE (1881), 215. Vgl. STEGMANN, Franz Josef (1965), 75ff. Vgl. WACKER, Annekatrin (1972), 146. ZEITLÄUFE (1890), 611. Ebd. Vgl. WACKER, Annekatrin (1972), 149. Vgl. Treue, Wilhelm (1980). Vgl. Nipperdey, Thomas (1994), 687ff. Der Krimkrieg (18531856) hatte den Verlust der Vormachstellung Österreichs im Deutschen Bund zugunsten des wirtschaftlich und politisch erstarkenden preußischen Königreichs zur Folge. Der Krimkrieg gilt als erster Krieg der Moderne, weil er der erste industrielle Krieg war, in dem allein die materielle Überlegenheit zählte. Vgl. WERTH, German (1992).
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machen, und Gesetze zu machen, welche das Fortschreiten auf demselben befördern. Der schrankenlose Individualismus im Erwerbsleben ist ebenso verderblich wie die Ertödtung der persönlichen Initiative und die bevormundende Einmischung des Staats.“68
JÖRG plädierte – und ging dabei von einer Übereinstimmung mit der Mehrheit der politisch denkenden Katholiken aus – für die „Wiederbelebung des Corporationswesens“69. KRAUS schreibt: „Um 1900 schließlich boten die Blätter den Autoren der katholischen Soziallehre ein häufig genutztes Forum, um die Grundideen einer spezifisch katholischen Sozialpolitik zu propagieren.“70 Jedoch war man gegen eine Annäherung des politischen Katholizismus an die politische Mitte, denn auch eine christliche Demokratie galt als unkatholisch.71 Anders sah es bei den Blättern auf kulturell-wissenschaftlichem Gebiet aus. Dies war die Ebene, auf der für eine Öffnung des Katholizismus mit deutlichen Worten plädiert wurde. 1897 schrieb Georg von HERTLING, er gehörte zu den damals bekanntesten katholischen deutschen Gelehrten, über den Zusammenhang von moderner Wissenschaft und Katholizismus: „Nun ist ja gewiß, daß alle jene Errungenschaften sich sehr wohl mit kirchlicher Gesinnung in Einklang bringen lassen und diese Weltanschauung nicht im Widerspruche steht mit der katholischen Lehre […]. Je umfassender und je energischer gläubige Katholiken an diesen Aufgaben der modernen Cultur und der modernen Wissenschaft mitarbeiten, desto mehr schwindet die Gefahr, daß die Errungenschaften der einen wie der anderen in einem der katholischen Kirche feindlichen Sinne ausgebeutet und verwerthet werden könnten.“72
Für von HERTLING waren die Gefahren offensichtlich, die aus der Neigung der deutschen Katholiken zu „Selbstgenügsamkeit“ und „Isolation“ in geistiger wie politischer Hinsicht entstanden. Innenpolitische Themen wurden in den Blättern nach dem Kulturkampf entsprechend rarer, dafür nahmen zwischen 1880 und 1900 historische und allgemein kulturelle Themen zu. 68 69 70
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ZEITLÄUFE (1881), 460; zit. nach KRAUS, Hans-Christof (2006), 94. Ebd. KRAUS, Hans-Christof (2006), 94. Zur Ideengeschichte des Sozialkatholizismus vgl. HOFMANN, Werner (1971). Zur Vorgeschichte der katholisch-sozialen Bewegung vgl. SCHRÖDER, Wolfgang (1992), 39ff. Zum Sozialkatholizismus im ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. STOLL, Christoph (1978). Vgl. LOTH, Wilfried (1991a). Vgl. hierzu auch LOTH, Wilfried (1997a). Vgl. STEGMANN, Franz Josef (1995). Der Begriff Christliche Demokratie ist in den Blättern erstmals 1896 zu lesen. Vgl. CHRISTLICHE DEMOKRATIE (1896). Der nicht genannte Verfasser warnt vor der demokratischen Auflösung der Gesellschaft, empfiehlt aber der Kirche, auf das Wort christliche Demokratie der Missverständnisse wegen zu verzichten. „Den Freunden aber möchten wir rathen, auf das Wort von der christlichen Demokratie lieber zu verzichten, trotzdem es, wie zugegeben wurde, einen guten Sinn haben kann, der Mißverständnisse wegen, die es zu leicht bei seinen gutgläubigen Anhängern hervorruft. Christliche Politik ist weder monarchisch noch demokratisch, weil sie je nachdem beides sein kann. Sie ist überall da vorhanden, wo das Recht auf göttliche Ordnung zurückgeführt […] wird.“ (CHRISTLICHE DEMOKRATIE, 1896, 489). HERTLING, Georg von (1897a), 917. Vgl. auch HERTLING, Georg von (1899).
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Nach 1900 kam schließlich Bewegung in die publizistische Landschaft des deutschen Katholizismus. Die Blätter, vormals einziges intellektuelles Forum, bekamen durch die Stimmen aus Maria Laach, Hochland und die Süddeutschen Monatshefte73 Konkurrenz. Eine neue Generation von Katholiken war aufgewachsen unter dem Vorzeichen von Integration in den nationalen Staat.74 Diese historisch-politischen Veränderungen konnten von den Mitarbeitern der Blätter nicht mehr nachvollzogen werden. Sie verblieben politisch auf der Ebene der Kulturkampfmentalität. Mit dem deutschen Nationalstaat begannen sich JÖRGs redaktionelle Nachfolger abzufinden, nicht jedoch mit dem modernen Nationalismus. Das hatte weniger politische denn religiöse Gründe. Übertriebener Nationalismus, mithin Chauvinismus, wurden sowohl als antichristlich wie antikirchlich eingestuft.75 Vielmehr ging es dem konservativen Katholizismus darum, „daß die wahre Bedeutung des übernationalen, aber keineswegs antinationalen Geistes der römisch-katholischen Weltkirche von den wirklichen Politikern [...] unserer Tage“ mehr und mehr gewürdigt werde, „zumal in einer Zeit, die entweder dem Chauvinismus oder dem Anarchismus zum Opfer zu fallen und in den sozialen Nöten auf rein-staatliche Hilfe vergebliche Hoffnungen gesetzt zu haben scheint“76.
Die Blätter vertraten zusehends innerhalb des politischen Katholizismus einen entschieden konservativen Flügel.77 Damit kultivierten sie ebenfalls jene „Rückzugsmentalität, die es dem politischen Katholizismus später so schwer machen sollte, aus dem ‚Zentrumsturm‘ tatsächlich wieder herauszukommen“78. Erster Weltkrieg und die Nachkriegszeit wurden als säkulare Katastrophen empfunden.79 Diese Rigorosität des Konservativen ließ die Blätter per se Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus als grundsätzliche Gefahr für eine christliche Lebensauffassung einordnen. In dieser antimodernen Grundhaltung hatte die Zeitschrift einer neuen Generation von Katholiken nur wenig zu sagen. Die Zeitschrift stellte 1923 ihr Erscheinen ein.80
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Die Süddeutschen Monatshefte waren eine kulturkonservative Zeitschrift mit einer spezifisch süddeutschen politischen wie kulturellen Identität. Sie erschienen erstmals 1904 und traten entschieden gegen die „Vorherrschaft Berlins“ an, standen aber „fest zum Reich“ (KRAUS, Hans-Christof, 2003, 21). Vgl. MORSEY, Rudolf (1997), 158ff. Vgl. NESSLER, N. (1900). ULTRAMONTANE BETRACHTUNGEN (1906), 88. Vgl. LÖFFLER, Bernhard (1996), 96f. KRAUS, Hans-Christof (2006), 99. WEISS schreibt: „Der Gedanke, daß die Kriegsnot beten lehre, tauchte bald öfter auf und wird als positive Nebenerscheinung des Krieges gewertet.“ (WEISS, Dieter J., 2003, 102). Wie beschrieben hatten bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Blätter ihre einflussreiche Rolle verloren und an andere Zeitschriften und Zeitungen abgegeben.
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Die katholisch-soziale Bewegung Die Entwicklungen eines sich in kürzester Zeit verändernden sozialen Gefüges verschärften ab Mitte des 19. Jahrhunderts die soziale Frage. Zu ihrem Problemkreis gehört nach STEGMANN neben der Entfremdung des Arbeiters von der eigenen Arbeit, das „rücksichtslose Streben nach voller Ausnützung der Leistungskapazität“81, die proletarische Lebenslage und schließlich das durch die Verstädterung entstandene Wohnungselend.82 Zur Herausbildung einer katholisch-sozialen Bewegung kam es im „Ringen um die Bewältigung dieser neuartigen Probleme und in jahrzehntelangen Auseinandersetzungen mit ständischem Konservativismus, Liberalismus/Kapitalismus und Sozialismus/Marxismus“83. Lösungsansätze reichten von einer Sozialreform nach ständischkorporativem Vorbild bis zur partiellen Sozialpolitik innerhalb der bestehenden Wirtschaftsordnung.84 Die Enzyklika Rerum novarum von 1891 verlieh schließlich „dem „Sozialengagement innerhalb der bestehenden Ordnung Priorität“85. Bereits Wilhelm Emmanuel v. KETTELER hatte durch „seine Betonung des überzeitlichen Naturrechts den sozialen Katholizismus davor bewahrt, sich auf ein bestimmtes Gesellschaftssystem“86 festzulegen. STEGMANN und LANGHORST kommen dabei zu dem Ergebnis: „Die starke Befangenheit großer Teile des sozialen Katholizismus in überkommenen konservativen Ideen, die zu einer gewissen Wirklichkeitsfremdheit der Lösungsvorschläge für die soziale Frage geführt hatten, wich einer pragmatischen gegenwartsorientierten Sichtweise. Man sah nun die wesentlichste Aufgabe darin, Mängel und Auswüchse der kapitalistischen Produktionsweise zu beseitigen.“87
Im 19. Jahrhundert waren es auf katholischer Seite vor allem die Blätter, die sich programmatisch mit der sozialen Frage befassten. Als führendes „Organ der katholisch-sozialen Bewegung“88 waren sie zunächst an einer ständischen Neuordnung der Gesellschaft orientiert89 und setzten die soziale Frage „noch weitgehend dem Problem der Armut gleich“90. So heißt ein Beitrag des ersten Jahrgangs der Blätter: Über Armuth, Armenwesen und Armengesetze91. Hier wird über die Unwägbarkeiten der Verarmung angesichts industrieller Entwicklung berichtetet, und zwar vor allem am Beispiel England, weil „in dem 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91
STEGMANN, Franz Josef (1965), 47. Vgl. ebd. Ebd., 45. Zur romantischen Sozialkritik vgl. STEGMANN, Franz Josef; LANGHORST, Peter (2005), 618f. Ebd., 660. Zur Sozialenzyklika vgl. auch STEGMANN, Franz Josef (1995). STEGMANN, Franz Josef; LANGHORST, Peter (2005), 665. Ebd. RITTER, Emil (1954), 61. Vgl. vor allem STEGMANN, Franz Josef (1965), 16ff. STEGMANN, Franz Josef; LANGHORST, Peter (2005), 628. ARMUTH (1838).
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großen Reiche der Industrie […] das Verhältnis von Reichthum und Armuth ohne Zweifel das bei weitem ungünstigste und gegenwärtig sicherlich das gefährlichste“92 ist. Die Blätter schreiben über den Hungertod, über ausgesetzte Kinder auf Londons Straßen und von den Aufständen in Europas großen Städten als Folge der Verarmung, dem „Alp des Pauperismus“93. Die Schere zwischen Arm und Reich sei in Deutschland jedoch weniger groß, weil die Landwirtschaft noch relativ intakt sei und es in Deutschland keine übermäßig großen Städte gäbe.94 Warnend fügen die Blätter hinzu: „Zu welchem Fluche aber auch bei uns, bei einem sonst gutmüthigen Volke, die Armuth, wenn gegründete Beschwerden sie erbittern und falsche Propheten der Freiheit sie fanatisiren, werden kann, davon haben auch wir in Deutschland an den Bauernkriegen ein ewig denkwürdiges und warnendes Beispiel.“95
Die Blätter verstehen sich als Forum von Erfahrungsaustausch und Lösungsvorschlägen angesichts der zunehmenden sozialen Probleme. Zwar galt zu dieser Zeit die allgemeine katholische Gegenwartsauffassung, daß dem sozialen Elend nur durch eine Rechristianisierung96 und durch kirchlich-karitatives Handeln beizukommen sei, am Ende des Beitrags über die Armut heißt es dagegen weiter: „Neben der christlichen Armenpflege sollen alsdann der philanthropischpolizeiliche Gesichtspunkt der neueren Zeit und die Wirksamkeit der aus ihm hervorgegangenen Gesetze und Anstalten ihre ausführlichere Beurtheilung finden.“97
Diese Position ist Mitte des 19. Jahrhunderts für den deutschen Katholizismus ungewöhnlich weitreichend; hier dürfte die Gefahrenabwehr und die Angst vor einem Übergreifen der sozialen Mißstände auf andere Gegenden Europas im Vordergrund stehen. In einem Beitrag von 1838 heißt es zum Zusammenhang von Großstadt, sozialer Frage und Aufruhr mit Blick auf England und Frankreich: „Das Princip einer Alles nivellirenden Gleichheit“ findet in den Städten „seine Verfechter“98. Inbegriff von Großstadt ist neben London Paris. Aber die Blätter erkennen auch früh den Aufstieg Berlins zur Metropole Preußens und wollen diese Entwicklung mit Blick auf die Früherkennung der künftigen sozialen Konflikte im Auge behalten, „um […] die Despotie, welche die Städte bei der Ent-
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Ebd., 155. ZEITLÄUFTE (1851), 643. Vgl. ARMUTH (1838), 161. Ebd. Vgl. ARMENNOTH (1851), 127. ARMUTH (1838), 162. BRIEFE (1838), 366.
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scheidung des Schicksals ganzer Länder ungestört ausüben, ihrem Geiste nach näher kennen zu lernen“99. Es heißt: „Berlin ist eine Stadt. Es konnte daher auch nicht fehlen, daß Alles, was die Schwester-Hauptstädte zur Realisirung ihrer Begriffe von Freiheit thaten, bei den Berlinern eine nicht geringe Sympathie fand.“100
Der verderbliche Einfluss von Paris greife möglicherweise auch auf Brüssel und Lüttich über, da „unter der Leitung einer solchen revolutionären städtischen Oligarchie Belgien sich schnell in einen Vulkan der Revolution umwandeln würde, der Europa beständig mit einem allgemeinen Brande bedrohte. Nur der ruhige, gesunde, religiöse Sinn des Landes, der dort herrschende Einfluß der Geistlichkeit und eines Adels, der durch Erziehung und Interesse an Gesetzlichkeit und Ordnung geknüpft ist, haben Belgien und Europa vor diesem Unglück bisher bewahrt“101.
„In welcher Zeit leben wir?“, fragt Alexander zu HOHENLOHE-WALDENBURGSCHILLINGSFÜRST in einem Schreiben an die katholischen Geistlichen, abgedruckt in den Blättern: „Seit fünfzig Jahren ging eine große Macht der Verführung, von Frankreich kommend, nach Deutschland über. Die französische Revolution hat einen furchtbaren Traum geträumt. Die Folgen des Traumes in der Wirklichkeit waren einförmige Bildung, der Staat wurde Religion, und sie gebar eine Constitution für ideale Menschen, nicht für die in der Wirklichkeit Lebenden. Sie setzte das Haben dem moralischen Seyn voran und brachte den Indifferentismus ins Leben wie zuvor noch nie.“102
Worauf basieren die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse? Die in der Phase der Industrialisierung vollzogene Umschichtung von gewerblicher Heimarbeit in kapitalistisch organisierte Fabrikarbeit hatte nicht nur das Proletariat hervorgebracht, sondern zur Pauperisierung breiter Bevölkerungskreise beigetragen. Auf die immer größer werdende Schere zwischen Reich und Arm weisen die Blätter immer wieder hin,103 „zu keiner Zeit waren Capital und Arbeit gesellschaftlich getrennt wie in unsern Tagen“104, schreiben die Blätter 1863, „und du findest nur noch zwei Ordnungen in der modernen Gesellschaft, sie heißen reich und arm, Besitzende und Besitzlose“105. Daher auch die antikapi-
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104 105
Ebd., 364. Ebd., 371. Ebd., 370. HOHENLOHE, Alexander Fürst (1845), 561f. Hervorhebungen im Original. Für die Blätter ist dies nicht nur ein Problem der Städte, auch auf dem Land sehen sie ein „Lockerung und Auflösung der alten sittlich-politischen Organisationen“ (PLUTOKRATIE, 1855, 395). BRIEFE (1863), 678. Ebd.
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talistische Grundhaltung des katholischen Konservativismus wie ihn die Blätter vertreten: „Dieser Grundsatz von der sittlichen Schranken- und Verpflichtungslosigkeit des Eigenthums paßt vortrefflich für Advokaten und Kapitalisten oder solche, die es zu werden gedenken, aber sehr schlecht fürʼs Volk, welches bei seiner praktischen Durchführung im Leben fast nothwendig der socialen Tyrannis einer oligarchischen Geldherrschaft unterliegt.“106
Der industrielle Fortschritt wird dabei von den Blättern prinzipiell bejaht, bei der „Einführung des Maschinenwesens“ wird ein behutsamer Übergang angemahnt, um Radikalisierungen vorzubeugen: „Wir haben nichts gegen die Erfindungen der Neuzeit noch auch gegen den durch die Einführung des Maschinenwesens bedingten Uebergang der kleinern Industrie in die große, weil uns derselbe an sich eine nothwendige und dem Heil und Wohl der Menschheit im Ganzen ersprießliche Entwickelung zu seyn scheint: nur gegen die Art dieses Uebergangs, gegen die Weise, wie das Maschinenwesen in die Industrie eingeführt und in immer größeren Maßstäben durchgeführt wird, sprechen wir das Bedenken aus, daß diese Umgestaltung der Industrie und der industriellen Verhältnisse auf bloßer rohen Gewalt, der des Geldes nämlich, beruhe, und an und in sich selbst revolutionärer Natur sei.“107
Wird der industrielle Fortschritt durch die Blätter sogar „zeitweise beinahe zu hoch gepriesen“108, lehnten sie Kernbereiche des klassischen Wirtschaftsliberalismus wie die Auffassung vom „absoluten Vorrang des Selbstinteresses im freien wirtschaftlichen Wettbewerb und die sittliche Bindungslosigkeit im wirtschaftlichen Tun ab“109. Prinzipien des Liberalismus wie den „deterministischen Naturalismus, das Prinzip der schrankenlosen Freiheit und die Idee vom absoluten Fortschritt“110 wurden regelmäßig angeprangert. Hatten in der vorindustriellen Gesellschaft ständische Ordnungsprinzipien für Schutz und Halt in Augenblicken der Not gesorgt, gehörte nun die existentielle Unsicherheit zur Lebensform des Arbeiters.111 Massenarmut und Verelendung hatten gefährliche gesellschaftliche Auflösungserscheinungen (Unruhen, Epidemien und Verwahrlosung) zur Folge, die sowohl zu physischer als auch geistig-seelischer Not führten. Im Rückblick auf die früheren gemeinschaftlichen Formen gesellschaftlichen Lebens beschreiben die Blätter das Ideal ständischer Gesellschaftsordnung:
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LÄNDLICHE PLUTOKRATIE (1855), 498. PLUTOKRATIE (1855), 400. Hervorhebung im Original. STEGMANN, Franz Josef (1965), 80. Ebd. Ebd., 78. Gleichwohl gab es auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine soziale Frage, die eher durch das Fehlen von Industrie verschärft wurde und zu einem Mangel an Arbeitsplätzen führte. Vgl. STEGMANN, Franz Josef (1965), 26.
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„Die Städte waren Schutzmauern der Sicherheit und Ordnung. Den Kern und die ungeheure Mehrzahl der Städtebevölkerung bildete der ‚Burger‘, die ‚Burgerschaft‘. Ruhe, Gesetzlichkeit und Ordnung war das Band, welches sie zusammenhielt.“112
Die Monarchie war, so die Blätter, die Garantin von Gesetzlichkeit und Ordnung, „Hand in Hand“113 mit dem Bürgertum. Kennzeichen und Ursachen der veränderten Gegenwart, der „Wehen unserer Zeit“114 liegen „in der veränderten politischen, socialen und sittlich religiösen Haltung der Städte“115. Für die Blätter steht spätestens nach der Revolution von 1848 fest, „daß in den Städten der Sitz der politischen und socialen Revolution aufgeschlagen ist“116. Die Städte sind „die Erzeugerinnen des Proletariats und eine beständige offene Freistätte des Communismus“117. Und appellativ: „Ja Ihr Alle, die Ihr Euch grämt über die Wehen der Zeit, tretet hinein in unsere modernen kolossalen Städte, Ihr werdet da ihre Ursachen finden.“118 Wird der Kommunismus zu dieser Zeit als Gefahr erkannt, hegen die Blätter für den Sozialismus LASSALLEscher Prägung durchaus Sympathie, sahen sie in ihm doch eine „Entlarvung des Liberalismus und seiner Prinzipien“119. Eine sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung lehnten die Blätter freilich ab.120 Waren die Städte in der frühen Neuzeit Orte der Zivilisiertheit und Kultur, werde das aufstrebende gebildete Bürgertum nun Opfer seiner selbst. Die Blätter schreiben 1848: „Von den großen Städten und ihren Einwohnern ging das Signal zu der großartigen Bewegung aus, welche nun die meisten europäischen Staaten ergriffen und den historischen Rechtszustand daselbst mehr oder minder umgestürzt hat.“121
Aus dem Bürgertum kommt der „Schwarm von Literaten“122, gemeint ist damit eine bürgerliche Öffentlichkeit, die sich seit der Aufklärung im Westen Europas durch einen mit Bildung verbundenen Aufstieg auszeichnete. Die bürgerliche Presse nahm eine neue und dabei wesentliche Rolle ein: „Uebermuth des Reichthums, Streben nach größerer politischer Geltung, oder mit anderen Worten, politische Selbst- und Herrschsucht, andererseits auch Neid gegen die an Luxus mit ihm wetteifernden, durch ihre bevorzugte politische Stellung, ihn überragenden, höhern Stände, trieben ihn […] zu einer Handlungswei112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122
GRUNDÜBEL (1848), 686f. Ebd., 687. Ebd., 685. Ebd. Hervorhebungen im Original. Ebd., 686. Ebd., 689. Ebd. STEGMANN, Franz Josef (1965), 101. Vgl. ebd., 105ff. STEGMANN, Franz Josef; LANGHORST, Peter (2005), 687. GRUNDÜBEL (1848), 688.
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se, welche das Grab seiner eigenen Interessen wurde. – Mit ihm arbeitete zu gleichem Zwecke […] der Schwarm von Literaten, der in jeder größeren Stadt sich eingenistet hat. Dieser bemächtigte sich der Presse, schuf sich damit in den Städten bald eine öffentliche Meinung in seinem Sinne und wirkte unheilvoll selbst bis aufs Land, namentlich die kleineren Provinzstädte, größeren Dörfer, überhaupt überall hin, wohin das Gift seiner wühlerischen Schriftstellerei zu dringen vermochte.“123
Die Rechte „der Kirche, der Monarchie und des Adels“ habe das Bürgertum durch Prinzipien der Demokratie leichtfertig „zertrümmert“124. Hauptsächlicher Ort dieses Werteverfalls sei die Großstadt. Ihre und die Kennzeichen der Moderne sind: „centralisirende Bureaukratie, schrankenlos dominirende Presse und die Macht des Geldes“125. Die Blätter spezifizieren den Feind von Sitte und Ordnung – es ist nicht nur das gebildete Bürgertum, sondern eine neue Geldaristokratie, ihr Repräsentant ist der Parvenu, die „gesammte Handels-, Speculanten- und Krämerwelt einer ganzen Nation“126. Welten trennten sie vom Geburtsadel wie auch vom Bildungsbürger. In „dem lächerlichen Hochmuth der Spießbürgerei beten diese Menschen den Reichthum an und verehren demüthig die Gewalt“127, schreiben die Blätter 1863. Die neuen Arbeitsmöglichkeiten begünstigen die Landflucht: „Mit dem Handel conzentrirte sich in den Städten auch das Fabrikwesen. Das ist wohl eine der Hauptursachen der Wehen unserer Zeit. Die Aussicht auf einen leichten Erwerb lockte Tausende und abermals Tausende vom Lande in die Städte hinein; es entstand so in den Fabrikarbeitern eine neue Kaste von Einwohnern, welche, so zu sagen, Tag für Tag nur von der Hand in den Mund leben und bei der geringsten commerziellen Stockung brodlos in die Straße hinausgeworfen werden; es entstund so das Proletariat mit seiner großartigen Grundlage in den Städten.“128
Die sozialen Folgen für das Familienleben erregen „Schauder für Jeden“129. Nicht verwundere, dass „der Proletarier beim Hinblick auf seine kümmerliche, unsichere Existenz und die Mühen eines freudenlosen Lebens, beim Anblick sittenloser Schwelgerei [...] aufgehetzt und aufgestachelt […] auf Umsturz und auf Aenderung seiner Lage, gleichviel auf welchem Wege sinnt“130.
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GRUNDÜBEL (1848), 688. Ebd. Ebd., 783. Ebd., 690. BRIEFE (1863), 677. GRUNDÜBEL (1848), 691. Ebd., 692. Ebd., 693.
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Wie stellen sich die Blätter im Revolutionsjahr die Konsequenzen vor? Eine „Kräftigung des Gewerbestandes“131, eine „lebendige Entfaltung des Gemeindewesen“132 und eine „bessere Bildung der Landbevölkerung“133, denn die Landbevölkerung sei von „Eigendünkel, Egoismus und Herrschsucht frei“, und habe „sittliche Kraft“134. Zum Regenten blickt die Landbevölkerung „mit Ehrfurcht und Gehorsam“135 auf und ist so die „wichtigste Potenz […] im Staate“136. Deutlich wird, dass die Blätter über die Betrachtung der sozialen Frage als rein karitatives Problem hinaus gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren als Ursache problematisieren:137 Die Blätter führten „die Ansätze der Romantik weiter und bemühten sich neben der Gesinnungs- auch um eine Zuständereform“138. Dies im Jahr 1848 allerdings noch zaghaft: Dichotome Aufwertung des Landes gegenüber der Stadt, antikommunistisch und antikapitalistisch, monarchistisch und hilflos blicken die Blätter im Jahre 1848 auf eine sich verändernde Gegenwart. Diskutierte Lösungen wie eine „weitgreifende Colonisation“139, indem „das Proletariat dadurch, daß es in einem anderen Welttheile Besitz und Eigenthum erwirbt [und] in diesem erstirbt“140 oder der Ruf nach „Einschränkung des Niederlassungsrechtes in den Städten“141 unterstreichen die Hilflosigkeit und werden von den Blättern selbst für unzureichend erklärt. Vielleicht ist „unsere Zeit [...] die, wo der Herr zu Gericht sitzt“142, schreiben die Blätter. In früheren Zeiten gab es in den Städten die „rührenden Denkmale des frommen Sinnes ihrer ehemaligen Bewohner“143, heutige Städte sind „Sitz jener religiösen Aufklärerei, oder richtiger, irreligiö131 132 133 134 135 136 137
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139 140 141 142 143
Ebd., 789. Ebd. Ebd., 791. Ebd., 784. Ebd., 787. Ebd., 784. Im Heiligen Feuer heißt es noch 1928: „Großstadt und Karitas gehören zusammen in untrennbarer Schicksalsgemeinschaft. Denn in der modernen Großstadt wurde die Karitas geboren. In der Großstadt, wo Not und Elend der Proletarier den dunkeln Hintergrund bilden, auf dem das Wohlleben und der Luxus der Besitzbürger grell sich abhebt, da ist auch zuerst das Problem einer organisierten Nothilfe lebendig geworden. Paris, London, New York, Berlin, Wien, die typischen Großstädte der Gegenwart mit ihren beiden sozialen Polen: Dem SavoyHotel und dem Obdachlosenasyl, dem Kurfürstendamm und dem Scheunenviertel, mit ihren Rummelplätzen und den Arbeitervierteln lassen das christliche Gewissen nicht zur Ruhe kommen, sondern legen ihm immer wieder die Urfrage der Menschheit vor: ‚Kain, wo ist dein Bruder Abel?‘“ (LAIENAPOSTOLAT, 1928, 85). STEGMANN, Franz Josef; LANGHORST, Peter (2005), 629. Hervorhebung im Original. Sittenverbesserung und Strukturreform sind auch die Beweggründe der Bildung „Christlicher Fabriken“ gewesen, einer „unter Leitung eines Ordens stehenden Produkivassociation oder Fabrik“ (SOCIALE FRAGE, 1868, 332). GRUNDÜBEL (1848), 779. Ebd., 780. Ebd., 783. Ebd., 695. Ebd., 694.
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ser Gleichgültigkeit […], welche das ganze Christenthum als veralteten Aberglauben über Bord wirft“144. Die ganze Hoffnung liegt beim Landvolk: „Dieses ist […] noch der gesundeste, lebenskräftigste, Kirche und Thron am wenigstens gefährliche. In ihm liegt die Rettung der Zeit; sie in ihm zu suchen, ist die Aufgabe der Staaten, sie zu fördern, höchstes Gebot der Staatsklugheit.“145
Für die Blätter ist „der ächte Natursohn edleren Gefühlen zugänglicher und für das Höhere ungleich empfänglicher […] als der verbildete und verzärtelte Sohn der Mode und des Fortschritts“146. Sie schreiben: „So suchtet ihr auch das ‚eigentliche Volk‘ vergebens unter dem buntfarbigen und gezierten Gewoge der Städter, bei denen Verfeinerung und Rohheit, Halbbildung und Unwissenheit in einem seltsamen Gemische geeint sich finden, das rein Natürliche entstellt und bis zur Unnatur verzerrt erscheint, und fast alle specifisch nationalen Elemente mehr und mehr untergegangen, oder doch zurückgedrängt und verdunkelt sind; unter dem Landvolke ist allein noch der gesunde Kern der Nationen, das ächte Volk zu finden.“147
Aber die Gefahr des Verlusts sittlicher Kraft ist groß, denn „ganz anders zeigt sich das Landvolk da, wo die verpestete Luft des städtischen Treibens es umweht, wo die alten einfachen Sitten den neuen weichen mußten, wo Rohheit und Verwilderung, starke und ungebändigte Leidenschaften, namentlich Hang zum Trunk und Spiel, zu Raufereien und zur Blutrache, zur Wollust und zum Sinnengenuß die schönste Blüthen geknickt haben, […] und es wird den Verführern der Masse nicht schwer, die Leidenschaften, diese stärksten Verbündeten des Unglaubens, in der rohen Masse aufzustacheln, sie zu berauschen mit dem wildesten politischen Fanatismus […] zu entflammen“148.
Die Blätter sehen 1851 die Hauptursache der „Armennoth“ in einer „Abirrung von den Lehren und Vorschriften des Christentums“149. Eine Lösung bzw. eine „Rettung vor gänzlichem Untergang“ scheint „nur durch die Rückkehr zum Christenthum, die getreue praktische Befolgung seiner Lehren und Gebote“150 gewährleistet zu sein. Das „Grundübel unser Zeit“ und ein entscheidender Grund für deren „Unheilbarkeit“ machen die Blätter an der seit 1848 veränderten politischen Grundsituation fest: „Nicht die Entchristlichung der Massen – denn sie sind nicht schlimmer als sie auch schon früher waren […] – wohl aber die Entchristlichung des Staates ist ei-
144 145 146 147 148 149 150
Ebd. Ebd., 793. Hervorhebungen im Original. ENTCHRISTLICHUNG (1851), 545. Ebd. Ebd., 547. ARMENNOTH (1851), 127. Ebd.
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ne Hauptursache der Armennoth, eines der großen Gebrechen, die uns mit einem allgemeinen socialen Ruin bedrohen.“151
Der „moderne Constitutionalismus“ stehe dem gewachsenen Volksleben entgegen und sei Folge eines tiefgreifenden Verfalls: „Das christliche Bewußtsein muß schon in einem ziemlichen Theile der Nation, namentlich unter der intelligenteren Bevölkerung umdüstert seyn, ehe in der Verfassung das widerchristliche Prinzip eine rechtliche Gestaltung zu gewinnen vermag.“152
Das Proletariat sei zu einem Massenphänomen geworden: es überhaupt zum sogenannten Vierten Stand zu erklären, sei ein Fehler der Zeit, schreiben die Blätter 1852: „Also gänzliche Beseitigung des Proletariats ist das einzige Heilmittel!“153 Auflösung und Inkorporierung in die übrigen Stände. Ab 1853 begannen sich die Blätter von altständischen Vorstellungen zu lösen und stärker ständisch-genossenschaftlich zu argumentieren.154 Die Blätter schreiben 1863: „Volkswirthschaftlich ist es Thatsache, daß der moderne Industrialismus das kleine Handwerk verschlingt und zur Verarmung führt; […] daß der Industrialismus in seinen letzten Folgen nur Reiche und Arme schafft. Kann nun die Association diese Folgen beseitigen, ohne die Segnungen des Industrialismus, seine Fortschritte, sowie seine große Produktion, die Wohlfeilheit seiner Erzeugnisse u. s. w als Opfer zu fordern? Sie vermag es!“155
Im Jahr 1872 zeichnen die Blätter ein düsteres Bild der Sittenlosigkeit und des sozialen Elends der Stadt Berlin, einer Großstadt mit nunmehr 800.000 Einwohnern. Berlin habe „keine Ideale“ und erkenne „keine Autoritäten“156 an, was die Blätter auf den niedrigeren Altersdurchschnitt zurückführen. Prostitution, die kaum mehr gesellschaftlich geächtet werde, ein Überhang an unverheirateter und ein Zunehmen der fluktuierenden Bevölkerung und die „große Masse der dienenden Frauen und Dienstboten“ kennzeichnen das „sociale Deficit“157. Die Fabrikarbeit der Frauen, „verbunden mit dem praktischen Materialismus, der in unseren niederen Classen ganz zweifellos immer mehr an Verbreitung gewinnt“158, führe leicht in die Prostitution: „Der Individualismus, dieses Kennzeichen des 19. Jahrhunderts und die schrankenlos gesteigerte Leichtigkeit der Communikation tragen dazu bei, alljährlich eine Summe alleinstehender Frauenzimmer von allen Gegenden Deutschlands 151 152 153 154 155 156 157 158
Ebd., 133. Hervorhebungen im Original. ENTCHRISTLICHUNG (1851), 535. SOCIAL-POLITISCHES (1852), 774. Vgl. STEGMANN, Franz Josef; LANGHORST, Peter (2005), 637. ASSOCIATION (1863), 834. SITTENLOSIGKEIT (1872), 130. Hervorhebungen im Original. Ebd. Ebd.
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nach Berlin zu führen. […] Die in früherer Zeit unbekannten, das Treiben des Individuums verbergenden, die Gelegenheit zur Entsittlichung aber nach allen Seiten hin vermehrenden Einwirkungen der Großstadt thun alsdann das Ihrige, um einen beträchtlichen Theil der unverheirateten Frauenzimmer, welche sich in Berlin ganz ohne genügenden Erwerb aufhalten oder arbeitssuchend nach Berlin kommen, der Prostitution in die Arme zu treiben.“159
Im Jahr 1904 rezensiert Remigius STÖLZLE in den Blättern eine kleine Schrift von Samuel KELLER über Naturtrieb und Sittlichkeit160. Beklagt wird darin die Zunahme von Geschlechtskrankheiten in den Großstädten, den „Ansteckungsherde[n] fürs ganze Volk“161. Die soziale Not sei dabei nicht der Grund, seien doch eher Personen der oberen Kreise betroffen. Bei der Lösung schließt sich STÖLZLE dem Autor an: „Mit dem Hinweis auf Christus hat er das einzige wirkliche Rettungsmittel für den Kampf gegen Sinnlichkeit und Unsittlichkeit angegeben. Nur die religiösen Motive sind in dem Sturm der Sinnlichkeit ausreichend, alle anderen versagen. Und so führt auch die sexuelle Frage, wie soviele andere Fragen heutzutage letzten Grundes zurück zur religiösen Frage.“162
„Die Massen sind verweltlicht“, schreiben die Blätter 1874, sie sind in „Gleichgültigkeit, Glaubens- und selbst Gottlosigkeit versunken“163. Dieser Einstellung bleiben sich die Blätter treu, wenn sie 1909 klagen: „Wir haben keine ständisch und korporativ organisierte Gesellschaft mehr, sondern zum Teil sich feindlich gegenüberstehende Massen und Klassen, die natürliche Folge des modernen Individualismus. Und die Massen- und Klassenbildung hat die Massen-Suggestion, wenn auch nicht erzeugt, so doch unangemessen gefördert.“164
Die „Übersuggestibilität der Massen“165 hat dabei auch die sozialen Massenvereine erreicht. Die Blätter behaupten noch 1921: „Entweder die historische, ständisch gegliederte Gesellschaft oder die kommunistische und bolschewistische Masse. Ein Drittes gibt es nicht.“166 In den 1880er Jahren – der Zeit der nationalen und wirtschaftlich-sozialen Konsolidierung des Deutschen Reichs – werden unter BISMARCK die Sozialgesetzgebungen167 verabschiedet; die soziale Frage verliert damit ihre erdrü-
159 160 161 162 163 164 165 166 167
Ebd. STÖLZLE, Remigius (1904). Ebd., 616. Ebd. Hervorhebung im Original. KIRCHEN (1874), 623. WANDLUNGEN (1914), 776. Ebd., 777. HOERMANN, F. X. (1921), 17. Zur Sozialpolitik und den Sozialgesetzgebungen BISMARCKs vgl. HENTSCHEL, Volker (1983), 9ff.
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ckende Brisanz. Soziale Mißstände werden künftig zu Angelegenheiten von Sozialpolitik. STEGEMANN und LANGHORST schreiben: „In der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Ständeidee, dem Wirtschaftliberalismus und dem Staatssozialismus traten die Konturen einer eigenständigen ‚katholischen‘ Antwort auf die sozialen Probleme in Deutschland immer deutlicher hervor. Ein wesentlicher Teil dieser Antwort lautete: Überwindung der Mißstände auf dem Wege der staatlichen Sozialpolitik. Man forderte keinen ständischen Neubau der Gesellschaft mehr, sondern bejahte das bestehende Wirtschaftssystem und fand sich auch in den zunehmend geordneten Staat hinein.“168
Dabei hatte sich die katholisch-soziale Bewegung hauptsächlich durch Verbände und Organisationen leitende Laien profiliert: „Die Selbständigkeit und innerkirchliche Unabhängigkeit dieser Laien war auch der Grund dafür, daß sich die antimodernistischen oder integralistischen Tendenzen innerhalb der katholischen Kirche nicht durchzusetzen vermochten und der Anschluß an die moderne Gesellschaft erfolgen konnte.“169
In der Weimarer Republik setzte sich die Haltung des deutschen Sozialkatholizismus fort, neben einer Bejahung der geltenden Wirtschaftsordnung ihre Auswüchse durch staatliche Sozialpolitik zu beseitigen. Zwar gab es immer wieder sozialromantische Bewegungen, insgesamt aber „hielt der deutsche Sozialkatholizismus […] Marktwirtschaft, Privateigentum und Wettbewerb für unerlässlich“170. STEGMANN und LANGHORST sprechen von einem „katholischsozialen Pluralismus in der Weimarer Zeit“171. Eine ganze Reihe an Veröffentlichungen widmete sich der sozialen Frage: So die Schriftenreihe Soziale Tagesfragen, die zwischen 1899 und 1928 vom Volksverein für das katholische Deutschland herausgegeben wurde. In dieser Reihe erschien 1903 in zweiter Auflage die Schrift von Otto THISSEN: Soziale Tätigkeit der Gemeinden172. Detailliert geht THISSEN auf die Aufgabenfelder kommunaler Sozialpolitik als Ergänzung zu staatlichen und kirchlichen Trägern sozialer Reformen und organisierter Selbsthilfe ein. In der vierten Auflage von 1910 hebt THISSEN die Fortschritte im Bereich der Wohnungsfürsorge hervor: „Begünstigung bei Errichtung von Arbeiterwohnungen, […] durch Minimalvorschriften für die Beschaffenheit von Wohnungen und Beschränkung der Zahl der Insassen, durch Errichtung eines Wohnungsinspektorats, […] durch Erbauung
168 169 170 171 172
STEGMANN, Franz Josef; LANGHORST, Peter (2005), 687. Ebd., 712. STEGMANN, Franz Josef (1965), 58. STEGMANN, Franz Josef; LANGHORST, Peter (2005), 713. THISSEN, Otto (1910).
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eigner Häuser für die städtischen Arbeiter und kleinen Angestellten, durch Beteiligung an gemeinnützigen Baugesellschaften.“173
Die Zeitschrift Arbeiterwohl des Verbandes Katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde, die zwischen 1881 und 1904 erschienen ist, sowie deren Nachfolgerin, Soziale Kultur, die bis 1928 aufgelegt wurde, widmeten sich unter Redigierung von Franz HITZE174 allen Bereichen des sozialen Lebens. Über das Selbstverständnis heißt es in der ersten Ausgabe von Soziale Kultur: „Nicht eine atheistische, keine kommunistische oder sozialistische, auch nicht die der Geld-, Blut- oder Beamtenaristokratie, noch die individuelle der Uebermenschen, eine soziale Kultur im besten, den Schöpfer und Herrn suchenden und menschenbrüderlichen Sinne, der dem Worte sozial eignet, das ist das Ideal dieser Zeitschrift.“175
Die Flugschriften der Stimmen der Zeit erscheinen monatlich von 1919 bis 1923 und befassen sich mit einer „brennenden Frage“, die vom „Standpunkt der katholischen Weltanschauung erörtert wird“176. Herausgegeben werden sie von der Redaktion der Stimmen der Zeit, deren Autoren hier längere Abhandlungen verfassen. So behandelt Heft 19 aus dem Jahr 1920 das Thema Großstadt-Elend und Rettung der Elendsten177 von Bernhard DUHR, in welchem über die Arbeit der Heilsarmee in England berichtet wird. In Heft 15 bearbeitet Constantin NOPPEL 1920 den Themenkreis deutscher Auswanderungen.178 Die Flugschriften des Sekretariats Sozialer Studentenarbeit aus Mönchengladbach schreiben in den beiden Jahren ihres Erscheinens 1913 bis 1914 über Großstadtelend179, über Industrie und Arbeiterseele180 und über studentisches Wohnen181. Die Präsides-Korrespondenz182 des Volksvereins, erschienen zwischen 1901 und 1921, schreibt unter Autorenschaft des Arbeiterseelsorgers Ludwig NIEDER183 über Großstadtprobleme184. 173 174
175 176 177 178 179 180 181 182
THISSEN, Otto (1910), 10f. Zu Franz HITZE vgl. den Sammelband GABRIEL, Karl; GROSSE KRACHT, Hermann-Josef [Hrsg.] (2006). Franz HITZE (1851-1921), zweites Kind einer Bauernfamilie aus dem Sauerland. Theologe und Politiker, war der erste Hochschullehrer für christliche Soziallehre in Deutschland an der Universität Münster. Mitbegründer des Volksvereins für das katholische Deutschland. Bedeutender Sozialpolitiker, Mitbegründer des deutschen Sozialversicherungssystems im Deutschen Reich unter BISMARCK, Abgeordneter des preußischen Abgeordnetenhauses sowie später des Reichstags, Mitglied der verfassungsgebenden Weimarer Nationalversammlung. HOHN, Wilhelm (1905), 1. Vgl. das Editorial der Flugschriften. DUHR, Bernhard (1920). NOPPEL, Constantin (1920). AMELUNXEN, Rudolf (1913). JOOS, Joseph (1913). SONNENSCHEIN, Carl (1913a). Als Nachfolgerin der Kölner Korrespondenz für die geistlichen Präsides katholischer Vereinigungen der arbeitenden Stände, die seit 1888 erschienen war.
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Nach STEGEMANN zählen zu einem erweiterten Themenkreis der sozialen Frage neben „wirtschaftlich-sozialen Störungen“ auch „andere, ähnlich aktuelle Probleme wie die Wohnungs-, Frauen-, Jugend- und Familienfrage sowie die Schwierigkeiten in den übrigen Bereichen menschlichen Zusammenlebens der Gegenwart“185.
„Das moderne Heidenthum der civilisirten Barbarei“ In den Augen des Bürgertums und der Kirchen war neben der sozialen Frage die „Sittenlosigkeit“ in den aufstrebenden Fabrikstädten „das Grundübel unserer Zeit“186: „Unsere modernen Städte dürfen in mancher Beziehung, namentlich hinsichtlich des Luxus und der Sittenlosigkeit mit den Städten der Römerwelt zur Zeit ihrer Entnervung und ihres Absterbens verglichen werden.“187
Auf die Frage, was die „modernen Städte“ auszeichnet, kommen die Blätter zu folgendem Schluss: „Sind sie es nicht, wo hauptsächlich der Sitz jener religiösen Aufklärerei, oder richtiger, irreligiösen Gleichgültigkeit ist, welche das ganze Christenthum als veralteten Aberglauben über Bord wirft?“188 Sie tun dies, indem sie „durch Wegläugnen von Gott und Unsterblichkeit den Menschen zu einem reißenden Thiere der Selbstsucht machen. […] Das moderne Heidenthum der civilisirten Barbarei allein wagt es, Gott und Unsterblichkeit zu läugnen. Für dieses wuchernde Unkraut haben frivoles Leben und eine, alle religiösen Keime erstickende, Genußsucht schon längst einen fetten Boden. Die Aufklärung ist das Fundament, der ‚fette Boden‘, auf dem die Lasterhaftigkeit der Großstadt gedeiht: in den Städten vorbereitet“189.
Die meisten großen Städte seien „Pfützen der Liederlichkeit und Sittenlosigkeit, mit einem Worte Stappelplätze der Verdorbenheit unserer Zeit“190. Für die Blätter sind dies die Folgen der Aufklärung, deren Sieg den Hintergrund für das „moderne Heidenthum der civilisierten Barbarei“191 schaffe.
183 184 185 186 187 188 189 190 191
Vgl. MOCKENHAUPT, Hubert (1990). NIEDER, Ludwig (1916). STEGMANN, Franz Josef (1965), 22. GRUNDÜBEL (1848), 691. Ebd. Ebd., 694. Ebd., 695. Ebd. Ebd.
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Konservativer Antikapitalismus Zum Sittenverfall habe auch der bisher ungekannte Luxus eines neuen aufstrebenden Bürgertums in den expandierenden Städten beigetragen. Die Blätter sprechen vom Entstehen einer neuen Geldaristokratie: „Die Reichen der Erde sind in unseren Tagen die Handelsleute und Speculanten; die Reichthümer, welche der Adel noch besitzt, sind Trümmer von dem, was er früher besaß, Schatten im Vergleich zu den Vermögenskolossen einer schachernden Handelswelt.“192
Die mit dem Unternehmertum entstandene „parvenühafte Protzerei“ einer neuen gesellschaftlichen Schicht sind den Blättern über Jahrzehnte Zielscheibe moralisierender Invektiven: „Diese Anhäufung des Vermögens in den Händen Einzelner, verbunden mit dessen Concentration an einem einzelnen Punkte“193 habe auch die Kluft „zwischen den Besitzenden und der großen Masse der Besitzlosen gegraben“194. Diese gefährliche Ungleichheit, die zur Entstehung eines städtischen Proletariats beigetragen habe, habe ihren „Ursprung in den socialen Verhältnissen der Städte, in dem Uebergewicht der Handelswelt, der Geldaristokratie“195. Das Erscheinungsjahr lässt darauf schließen, dass diese Feststellungen im Vorfeld der Revolution von 1848 entstanden sind und somit auch die politische Brisanz der veränderten sozialen Situation in den Blick geraten ist: „Die Herrschaft in den Städten führt die Handelswelt mit dem Literaten- und Arbeiterproletariat; diese haben es als einen Glaubensartikel unserer Zeit aufgestellt, daß Handel, Industrie, Speculation, Fabriken es sind, welche das Glück und Wohl der Nationen begründen, zugleich den Maßstab des Höhegrades ihrer Cultur liefern.“196
Die Ausführungen schließen mit dem Verweis auch auf die „sogenannte gebildete Bourgeoisie“197, die – sittlich und religiös tief gesunken – für das moderne Unheil verantwortlich sei: „Das Grundübel unserer Zeit liegt in der verderblichen, politischen, socialen und religiösen Richtung eines großen Theils der Städtebevölkerungen, und dem überwiegenden, verderblichen Einfluße der großen Städte auf das öffentliche Leben.“198
Das Übel der Stadt sind also Geist und Geld. Anders hingegen stellt sich die Situation der Landbevölkerung dar: „Während in den Städten ein neues Hei192 193 194 195 196 197 198
Ebd., 773. Ebd. Ebd., 774. Ebd. Ebd., 782. Ebd., 783. Ebd., 793.
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denthum seine Kanzel aufschlägt, lebt in dem Landvolke der alte Christusglaube noch fort.“199 1851 heißt es in den Blättern: „So suchet ihr auch das ‚eigentliche Volk‘ vergebens unter dem buntfarbigen und gezierten Gewoge der Städter, bei denen Verfeinerung und Rohheit, Halbbildung und Unwissenheit in einem seltsamen Gemische geeint sich finden, das rein Natürliche entstellt und oft bis zur Unnatur verzerrt erscheint, und fast alle specifisch nationalen Elemente mehr und mehr untergegangen, oder doch zurückgedrängt und verdunkelt sind; unter dem Landvolke ist allein noch der gesunde Kern der Nationen, das ächte Volk zu finden.“200
Aber wehe dieser „gesunde Kern“ gerate in den Einflussbereich der Städte, dann nämlich verkehre sich die „Gesundheit“ in ihr Gegenteil: „Aber ganz anders zeigt sich das Landvolk da, wo die verpestete Luft des städtischen Treibens es umweht, wo die alten einfachen Sitten den neuen weichen mußten, wo Rohheit und Verwilderung, starke und ungebändigte Leidenschaften, namentlich Hang zum Trunk und Spiel, zu Raufereien und zur Blutrache, zur Wollust und zum Sinnengenuß die schönsten Blüthen geknickt haben.“201
Berlin als Zentrum der Moderne 1872 publizieren die Blätter einen mehrteiligen Beitrag von knapp vierzig Seiten mit dem Titel Berlins öffentliche Sittenlosigkeit und sociales Elend202. Im Zentrum der Kritik steht der sich in scheinbar anarchischer Regellosigkeit ausbreitende Industriekapitalismus, in dessen Folge ein rücksichtsloses Gewinnstreben gesellschaftlich die Oberhand bekommen werde, was zum Bedeutungsverlust von Religion und Kirche, zu einer „Geringschätzung der Religion“203 zu führen drohe:204 „Wir werfen zunächst noch einen Blick auf das sociale Leben Berlins, wie es durch seinen Charakter als Stadt der Großindustrie, der sich etwa 68 Proc. der Gesammtbevölkerung widmen, bestimmt wird.“205
Hellsichtig beschreiben sie das Funktionieren des modernen Industriekapitalismus und dessen anonymes Machtzentrum, die Geldwirtschaft: „Das Wesen der industriellen Gesellschaft [...] besteht kurz gesagt in der Herrschaft des Capitals über sämmtliche Bewegungen des Güterlebens. Das Geldca199 200 201 202 203 204 205
Ebd., 784. ENTCHRISTLICHUNG (1851), 545. Ebd., 546f. SITTENLOSIGKEIT (1872). Ebd., 190. Auf dieser Ebene der Argumentation bewegen sich die Blätter, mit wenigen bemerkenswerten Ausnahmen, bis zu ihrem Ende 1923. SITTENLOSIGKEIT (1872), 190.
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pital ist zwar zunächst aus der Arbeit hervorgegangen, tritt aber im Laufe der Entwicklung bald in einen eigenthümlichen und wichtigen Gegensatz zur Arbeit. Dieses hat seinen Grund in dem Umstande, daß das Capital ein arbeitsloses Einkommen gewährt [...], es degradirt die Arbeit in gewissem Grade [...], es vernichtet den Mittelstand und beschleunigt das Entstehen großer Häuser.“206
Am Beispiel des modernen Berlin wird aufgezeigt, wie sich diese gesellschaftliche Grundlage auf das Leben der Menschen auswirkt: „In Berlin hat niemand Zeit. [...] Das Leben der Großstadt ist Schein – Schein – Schein! Glanz von Außen, Hohlheit von Innen und Armseligkeit ohne Ende […]. Die Genüsse, welche sie nur das Capital gewährt, werden zum Maßstab menschlicher Glückseligkeit, die Zahlen der Nullen bestimmen den inneren und äußeren Werth des Menschen, [...] alles wird käuflich, schließlich der Mensch selbst.“207
Die Merkantilisierung erfasst sämtliche Lebensbereiche des Menschen, wodurch er selbst zur Ware wird. Das Leben in der Großstadt lässt die gesellschaftlichen Verhältnisse früher und auch deutlicher erkennen als andere gesellschaftliche Verkehrsformen. Bei der Frage nach den Ursachen dieser schwer zu begreifenden, neuen Verhältnisse, wird schnell auf das stereotype Feindbild vom „schachernden Juden“ zurückgegriffen. Durch die neue Gesetzgebung seit Gründung des Kaiserreichs 1871 war den Juden in Deutschland ein gesellschaftlicher Aufstieg ermöglicht worden, der sich insbesondere in Handel und Bankwesen und im Laufe der Jahre auch in bestimmten Industriezweigen sowie im Verlags- und Pressewesen – und speziell in der zusehends glamourös werdenden Hauptstadt Berlin – ereignete.208 Die Blätter schreiben: „Der Materialismus ist zum Losungswort der guten Gesellschaft geworden. Diese sogenannte ‚gute Gesellschaft‘ wird durch den in Berlin herrschend gewordenen corrosiven, alles verätzenden Judengeist bestimmt.“209
Vergleichbar der konservativen Stadtkritik sahen die Vertreter eines ultramontanen Katholizismus in der Großstadt die Ursache für die gesellschaftlichen Auswüchse. Ihr zivilisationspessimistischer Topos vom „menschenfressenden Moloch“210 Stadt, der „Parasitopolis“211, war eigentlich kaum zu unterscheiden von den Einschätzungen des Stadtkritikers RIEHL. Wie er forderten auch die Katholiken die „Abschaffung“ der großen Städte und die Rückführung der Menschen aufs Land. Die Katholiken kritisierten diese Entwicklungen einer modernen Gesellschaft jedoch vor allem im Hinblick auf den damit einhergehenden Ansehensverlust der Kirche. 206 207 208 209 210 211
Ebd. Ebd., 191f. Zu dieser Fragestellung vgl. BLASCHKE, Olaf (1997). SITTENLOSIGKEIT (1872), 192. REULECKE, Jürgen (1989a), 50. Ebd.
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Die Reize der Stadt Gegen die großstädtische Lebensweise konnte man jedoch nach der Konsolidierung im binnenkatholischen Raum nicht mehr so einfach Front machen, zumindest nicht auf der Ebene einer gebildeten katholischen Leserschaft. Die Reize der Stadt waren einfach zu offensichtlich geworden, sodass Vergnügen nicht länger mit sündhaftem Leben gleichgesetzt werden konnte. Das hatten auch katholische Autoren angemerkt. So schreibt etwa Georg GRUPP212: „Man soll den Leuten auch ein bißchen Vergnügen gönnen, das Mittelalter war hierin weitherziger als die Neuzeit. Mit dem ewigen Schelten und Verbieten erreicht man nur, daß das Land immer mehr entvölkert wird. Wenn der Bauernbursche nicht mehr tanzen darf, zieht er in die Stadt und läuft den Tingeltangel und Ballsälen nach.“213
Großstadtleben bedeutet, so GRUPP, nicht länger nur Zerstreuung, sondern die spezifischen Qualitäten einer urbanen Lebensform kommen dem sozialen Aufstieg zugute: „Schon jetzt leben die Massen in großen Städten billiger und genießen jedenfalls mehr Vergnügen als auf dem Lande, und gerade darin liegt der Ansporn für Viele, in die Stadt zu ziehen. In den Kasernen der großen Städte – und man häuft ja mit Vorliebe in den großen Städten die Soldaten an – lernt der junge Dorfbursche die Reize des Stadtlebens kennen. Wenn er nach ein paar Jahren zurückkommt, wundert man sich wohl, wie anstellig und geweckt er geworden, [...] daß er zu gut für das Dorf oder den Hofacker sei und eben geschaffen für das Leben in der Stadt. [...] Was von den Burschen gilt, das gilt auch von dem Mädchen: kaum war es ein oder ein paar Jahre in städtischem Dienste, so kommt es, in die neueste Mode gekleidet. [...] Für immer kehrte sie ebensowenig wie der junge Mann zurück, der Arbeiter geworden, sie können es auf dem Lande nicht mehr aushalten.“214
Aber es gibt in Deutschland immer noch Regionen, vor allem in Ostdeutschland, wo der Zuzug zur Stadt weiterhin Landflucht bedeutete: „Viele treiben wirkliche Noth und unhaltbare Zustände fort, und für die Landflucht in den ostelbischen Gebieten mögen diese Gründe sogar vorwiegen, da die Rücksichtslosigkeit der Großgrundbesitzer den Landarbeitern das Leben verleidet. Allgemein aber, auch für süddeutsche und westdeutsche Verhältnisse, mag man wohl zugeben, daß das Leben auf dem Lande gegen früher zu reizlos geworden ist.“215 212
213 214 215
Georg GRUPP (1861-1922), Priester, Bibliothekar und Kunsthistoriker, war einer der Ausnahmen im ultramontanen Umfeld, der sich mit der Philosophie NIETZSCHES auseinandergesetzt hatte. GRUPP wollte der bürgerlichen Krisenphilosophie eine Alternative im Geist des katholischen Triumphalismus entgegensetzen. Vgl. KÖSTER, Peter (1998), 42ff. GRUPP, Georg (1902), 337. Ebd., 338. Ebd., 339.
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Zunehmend zeigen die Blätter Verständnis für Menschen, die großstädtisches Leben als Gewinn betrachten. Um welchen Preis dieser Gewinn erlangt wird, bleibt jedoch nicht unerwähnt: „Die Großstädte saugen ebenso alle finanziellen wie intellektuellen und physischen Kräfte des Landes auf […]. Dorthin drängt alles Talent, leibliche und geistige Begabung, Schönheit und Genie, Muth, Geist und Witz. Aus dem Lande entflieht mehr und mehr nicht nur die literarische und technische Arbeit, sondern auch Geselligkeit und Kunst.“216
Auf diesem Wege kämen letztlich, so GRUPP, „die Fortschritte der Zeit, namentlich das riesig gesteigerte Verkehrswesen und die Technik dem Kapital zu gut, und zwar in einem Grade, daß die Großbetriebe in den großen Städten alles aufsaugen, daß dem Handwerk und der Landwirthschaft nahezu der Untergang droht und sich das Land immer mehr entvölkert“217.
Mit dem Untergang von Handwerk und Landwirtschaft dürfe man sich nicht abfinden, schließlich gehe es nicht nur um soziale Lage der Arbeiter und ihrer Familien in der Stadt, sondern auch darum, „auf dem Lande bessere allgemeine Verhältnisse zu schaffen, der Bauernnoth entgegen zu wirken, Bauernfürsorge, Bauernschutz zu treiben, nicht nur Arbeiterschutz“218.
Religion und Kultur Um die Jahrhundertwende hatte sich die moderne Gesellschaft, beziehungsweise deren Niederschlag in der Großstadt, in gewisser Weise konsolidiert. Der Kulturkampf endete, die Katholiken gingen mit gestärktem Selbstbewusstsein daraus hervor. 1890 wurde in Mönchengladbach der Volksverein für das katholische Deutschland gegründet und die katholischen Vereine hatten ihre große Zeit. Die Sozialgesetzgebung BISMARCKs und ein dichtes Netz kirchlich-karitativer Einrichtungen konnten die schlimmsten Auswüchse des Modernisierungsprozesses auffangen. Neben dem antipreußisch-antiprotestantischen Tenor demonstrieren die Blätter geradezu das Erstarken des katholischen Milieus in der Diaspora: „Es ist landläufige Redensart, in der neuen Kaiserstadt sei es mit dem Christenthum gar nicht besonders gut gestellt. […] Berlin ist hierin nicht besser als alle anderen Groß- und Weltstädte, aber wohl kaum schlechter. Die Massen sind verweltlicht, in Gleichgültigkeit, Glaubens- und selbst Gottlosigkeit versunken,
216 217 218
Ebd., 335. Ebd., 337. Ebd.
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aber das religiöse Bedürfniß läßt sich überall wahrnehmen, [...] neben der großen Masse gibt es auch Kreise in denen kirchliches Leben blüht.“219
Und wie die Vertreter der Stadtkritik nahmen auch die Katholiken die neue Metropole Berlin ins Visier. Berlin als Hauptstadt der Moderne war unübertroffen im Hinblick auf den technisch-industriellen Fortschritt wie auch als Hauptstadt des Vergnügens und damit des Lasters, aber Berlin war auch Hauptstadt des sozialen Elends und damit gesellschaftlicher Spannungen, die sich in einer zunehmenden Politisierung äußerten. Die Blätter machten in immer wieder neuen Vorstößen – und durch diese Gleichförmigkeit auch monoton – ihre Verwerfungen der Gegenwart am preußisch-protestantischen Berlin fest, zumal in den Jahren des Kulturkampfs. Die Blätter sind seitdem endgültig zum ultramontanen Kampfblatt gegen jegliche Veränderung, gegen das Moderne, das sie umstandslos gleichsetzen mit Preußentum und Protestantismus respektive der Hauptstadt Berlin, avanciert. 1902 erscheint in den Blättern aber ein Beitrag (ohne Nennung des Autors), der eine auffallend differenzierte Position zu den gesellschaftlichen Veränderungen mitsamt ihren Folgen für Kirche und Glauben bezeugt. In Religion und Kultur220 wird festgestellt, dass im Zuge des Modernisierungsprozesses im 19. Jahrhundert in Kreisen des gebildeten Bürgertums eine Haltung des Indifferentismus der Kirche gegenüber gewachsen sei. Nun seien aber im Übergang zum 20. Jahrhundert „Schriften und Gegenschriften über Catholicismus und Kultur“221 erschienen. Gemeint sind insbesondere die Schriften des Reformkatholiken Hermann SCHELL, die auf dem Index standen und dennoch im ultramontanen Kontext der Blätter erwähnt und wie folgt bewertet werden: „Ein recht mäßiger Optimismus darf wohl Platz greifen, wenn man das lebhafte Interesse beobachtet, welches die Schriften Ehrhards und Schells in weiten Kreisen hervorgerufen haben. Schon die ernste Behandlung und die lebhafte Diskussion der Frage, wie die fast unübersteigbare Kluft zwischen Religion und Cultur überbrückt werden solle, ist ein Fortschritt.“222
An dieser Stelle sei nicht weiter auf den Zusammenhang eingegangen, in dem diese Neupositionierung steht. Entscheidend für den Zusammenhang dieser Arbeit ist die positiv bewertete Hinwendung zu den Fragen der Gegenwart, durch welche die „unübersteigbare Kluft zwischen Religion und Cultur überbrückt werden solle“223. Schließlich ist im Laufe des beschleunigten Veränderungsprozesses unübersehbar geworden, dass die Menschen durch den Materialismus in einen Zustand innerer Leere geraten, der bisher ungekannte Leiden verursachte: 219 220 221 222 223
KIRCHEN (1874), 623. RELIGION UND KULTUR (1902). Ebd., 375. Ebd. Ebd.
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„Die modernen Menschen sind in ihrem Hasten und Jagen nach Cultur und Culturgütern ruhelos und ziellos geworden, aber auch unzufrieden und skeptisch. Sie suchen und suchen und finden nicht, was sie suchen. Ist denn nicht der weit verbreitete Pessimismus ein Beweis dafür, daß die modernen Menschen auch mitten in den Culturgenüssen verhungern.“224
Hieraus könnten der Kirche ungekannte, neue pastorale Aufgaben erwachsen: „Die modernen Menschen, die beim Suchen der Culturschätze unter die Räuber gefallen sind, brauchen einen barmherzigen Samariter, welcher sie aufhebt und ihnen Heilmittel gibt. Nicht hermetischer Abschluß gegen die modernen Menschen und die Strömungen der neuen Zeit, sondern ein theilnehmendes Auge und ein hilfsbereites Herz für ihre geistigen Bedürfnisse und Nöthe, der höhere Samariterdienst bleibt die Aufgabe der Kirche für die kommende Zeit.“225
Um diesen „höhere[n] Samariterdienst“ aber überhaupt ausüben zu können, bedarf es einer neuen Wertschätzung des Zusammenhangs von Religion und Kultur: „Die modernen Menschen möchten die Religion in der ihnen verständlichen Sprache und in anziehender Form lesen und hören. Darum erscheint mir das zähe Festhalten an der mittelalterlichen Philosophie und Theologie namentlich in formeller Beziehung als ein Hinderniß des Verständnisses [...]. Die Versöhnung von Religion und Cultur hängt hauptsächlich von der richtigen Werthschätzung und Kenntniß der Religion und der richtigen Werthung der Cultur ab.“226
Dass sich die Blätter mit dem Verhältnis von Katholizismus und Kultur auseinandersetzen, bleibt eine Ausnahme, ist aber durchaus als Hinweis auf neue Herausforderungen zu verstehen, denen sich Hochland später programmatisch zuwenden wird.
„Individualistische Emancipation“ Entsprechend ihrem für den ultramontanen Katholizismus dieser Jahre spezifischen Antikapitalismus versuchen die Blätter den ökonomischen Grundlagen der Moderne auf den Grund zu gehen. Bemerkenswert ist die fast fünfzig Seiten umfassende Auseinandersetzung mit dem nur ein Jahr zuvor erschienenen zweibändigen Werk von Werner SOMBART Der moderne Kapitalismus. Die
224 225 226
Ebd. Ebd., 376. Ebd., 376f. In der Zeitschrift Hochland wird 1912 ein Beitrag von Hermann PLATZ zum Thema Großstadt und Moderne abgedruckt: Um die Seele des Großstadtmenschen. Vgl. PLATZ, Hermann (1912).
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Auseinandersetzung mit SOMBARTs „realistische[r] Geschichtsauffassung“227 führt in den Blättern der Moraltheologe Franz X. WALTER.228 Die Zeitdiagnose SOMBARTs vom Sieg des Kapitalismus in der modernen Gesellschaft teilt WALTER: „Die ökonomische Revolution des gewerblichen Lebens, die vor mehr als einem halben Jahrtausend in Westeuropa einsetzte, ist damit zu einem Abschlusse gelangt: die handwerksmäßige Produktionsweise hat aufgehört, dem Wirthschaftsleben ihren Stempel aufzudrücken, der Kapitalismus ist auf der ganzen Linie zur Herrschaft gelangt.“229
Um dies zu belegen, referiert WALTER Genese und Entwicklung des Kapitalismus bei SOMBART. Im zweiten Teil seines Beitrags erörtert er SOMBARTs Folgerungen im Hinblick auf den Kapitalismus und dessen Auswirkung auf die Gesellschaftsform. Über das Phänomen Beschleunigung, das besondere Kennzeichen dieser Phase der Moderne, heißt es: „Damit geht Hand in Hand das wachsende Bedürfniß einer immer zahlreicheren Menschengruppe nach beschleunigter Lebensführung. Aus dieser folgt das Bedürfniß nach steter Abwechslung der Reizungsqualitäten. Das wichtigste aber im Stil des Lebens ist die unausgesetzte Umschichtung der Gesellschaft […]. Die moderne rationell betriebene Landwirthschaft bedurfte intelligenterer Arbeiter, die für das Zusammenleben in den alten patriarchalischen Gemeinschaften nicht mehr geeigenschaftet waren. Der gesteigerte Austausch zwischen Stadt und Land führt auch zu einem Wechsel der Anschauungen und Sitten.“230
Ein Beispiel dafür sind, so WALTER, SOMBARTs Ausführungen zur neuen Großstadtkultur: „In dem Maße, wie sich Dank dem Fortschreiten des Kapitalismus der Schwerpunkt der Cultur in die modernen Städte verlegt, wird ein neues Persönlichkeitsideal, wird ein neuer Maßstab für Wohlbehagen und Lebensfreude geschaffen, der nun unwiderstehlich auch in die fernsten Alpenthäler seinen Einzug hält und in dem Maße an Geltung zunimmt, wie die Entwicklung der Verkehrsmittel den Contact zwischen den Städten und Ländern häufiger macht.“231
Und es überrascht nicht, dass WALTER die Einschätzung bzw. Bewertung dieses Maßstabs von SOMBART übernimmt: „Ist es heute nicht schon mit Händen zu greifen, daß Religion und Sitte, Staatsform und geselliges Leben, Literatur und Kunst, kurz unser gesammtes inneres wie äußeres Leben auf einen neuen Boden gestellt ist, daß eine neue Cultur, die 227 228
229 230 231
WALTER, F. (1903), 74. Franz X. WALTER (1870-1950), Priesterweihe 1894, Professor für Moraltheologe in Straßburg, Prag und von 1904-1924 an der Universität München. WALTER, der außer Theologie auch Jura studiert hatte, war Mitarbeiter des Staatslexikons der Görresgesellschaft. WALTER, F. (1903), 77. Ebd., 105ff. SOMBART, Werner (1902), 145; zit. n. WALTER, F. (1903), 107.
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Asphaltcultur (!), begonnen hat, und damit dem einen der Anfang vom Ende aller menschlichen Gesittung, dem andern erst die Morgenröthe eines verfeinerten Culturdaseins, einer menschenwürdigen Existenz angebrochen scheint.“232
SOMBART unterscheidet zwischen ökonomischen und nicht-ökonomischen Beweggründen, die die Menschen in die großen Städte aufbrechen lassen: „Vor allem ist es also ein ökonomisches Moment, das den ‚Zug in die Stadt‘ erklärt. Erst hernach darf man vorsichtig auch nicht ökonomische Motive heranziehen. Wenn wirklich der Tingeltangel an allem Schuld ist, wie seit Bismarcks Vorgang die gemeine Meinung es annimmt, so frage ich denn doch erst einmal: wo ist der Tingeltangel in den rauchigen, gräßlichen Arbeiterstädten? [...] Und warum haben die vermeintlichen Reize der Großstadt erst so spät ihre Wirkungen ausgeübt, da sie doch schon Jahrhunderte lang bekannt waren?“233
WALTER plädiert für eine tiefergreifende Erklärung: Was die Stadt derart reizvoll mache, sei „die veränderte Lebensführung des Städters“, die „individualistische Emancipation“234. Er zitiert SOMBART: „Die Freiheit, die früher auf den Bergen wohnte, ist heute in die Städte verzogen, und ihr ziehen die Massen nach.“235 WALTER kommentiert: „Es ist die Freiheit nicht nur im Sinn der sittlichen Ungebundenheit, auf die der Landbewohner geradesogut Ansprüche geltend macht“236, und er zitiert wieder SOMBART, dass es um „die Befreiung von dem Zwange der Sippe, der Nachbarschaft, der Herrschaft“237 geht. WALTER kommt zu dem Schluss: „Und da ist es die moderne Verkehrsentwicklung, welche das Ideal der Freiheit in den Massen verbreitet.“238 Mit dem analytischen Instrumentarium aus SOMBARTs – wie sich später herausstellen wird – prominentesten Werk heben sich die Blätter in ungewohnter Weise vom Diskussionsstand der katholischen Eliten ab. Dies bleibt im binnenkatholischen Kontext ein singuläres Ereignis und – folgenlos. Wiewohl doch die antikapitalistische Haltung zu den Grundhaltungen des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert gehörte. Zur neuen Kultur der Moderne gehöre auch, dass „technische Kultur und Kunst im Kriege miteinander“239 liegen, schreibt WALTER. Zwar existiere ein rasch wachsendes, sehr wohlhabendes Großbürgertum, eigenartig sei jedoch, dass der „moderne Feingeschmack“ von „Unruhe und Wechselhaftigkeit“240 gekennzeichnet sei. „Zunehmende Cultur“, das impliziere „zunehmende Ner-
232 233 234 235 236 237 238 239 240
SOMBART, Werner (1902), 190f.; zit. n. WALTER, F. (1903), 109. Hervorhebung im Original. SOMBART, Werner (1902), 237; zit. n. WALTER, F. (1903), 111. WALTER, F. (1903), 111. SOMBART, Werner (1902), 238; zit. n. WALTER, F. (1903), 111. WALTER, F. (1903), 111. SOMBART, Werner (1902), 238; zit. nach WALTER, F. (1903), 111. WALTER, F. (1903), 111. Ebd., 114. Ebd., 115f.
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vosität“241. Zur Instabilität als einem besonderen Merkmal des modernen Lebensgefühls tragen, so WALTER respektive SOMBART, auch die besonderen städtischen Wohnverhältnisse bei: „Die Miethswohnung hat das moderne Nomadentum geschaffen und damit den Sinn fürs Stabile verringert. Mit den Veränderungen in der Technik und in den äußeren Lebensbedingungen ist auch ein neues Geschlecht von Menschen herangewachsen, Menschen, die die Rastlosigkeit und Unstetigkeit ihres inneren Wesens auch in der äußeren Gestaltung des Daseins zum Ausdruck zu bringen trachten. Wir wollen den Wechsel unserer Gebrauchsgegenstände […]. Neben der freien Entschließung steht noch der Zwang der Gewohnheit und Sitte. Der Wechsel ist damit aus einer individuellen eine sociale Thatsache geworden.“242
SOMBART kommt zu dieser Feststellung im Rahmen einer „Theorie der Mode“243. Die „freie Concurrenz“, die „Beschleunigung“ fände seine Entsprechung im modernen Unternehmergeist: „Nur der kapitalistische Unternehmer kann dem fortwährenden Wandel des Geschmacks Rechnung tragen. Nichts wird dem Handwerker schwerer als der beständige Wechsel. Dem Wesen des Handwerks entspricht die Schwerfälligkeit, die Langsamkeit der Anpassung.“244 WALTER bzw. SOMBART exemplifiziert dies am Sozialverhalten, das neuerdings dem Arbeiter eigen sei: „In dem Maße, wie sich sein proletarisches Klassenbewßtsein entwickelt, werden ihm die Reste patriarchalischen Wesens, die dem Handwerk immer noch anhaften: der Duzfuß, auf dem der Meister zu ihm steht, die Beaufsichtigung seines privaten Lebenswandels, wohl gar noch die Eingliederung in die Familie des Meisters zur unerträglichen Fessel.“245
Außerdem weise SOMBART auf etwas hin, was sonst, so WALTER, zu wenig Beachtung findet, „daß neben dem zu geringen Verdienst des Mannes die steigende Grundrente und die damit sich fortwährend verkleinernde Proletarierwohnung der Frau den Lebensinhalt nehmen“246.
„Stadtluft macht frei“ Die Blätter publizieren 1903 wiederum einen aufschlussreichen Text zur Situation der Gegenwart und zwar explizit zum Thema Großstadt. Es ist dies eine große, diskursive Rezension zu Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung in Dresden247 (1903). Derartige Auseinandersetzungen sind 241 242 243 244 245 246 247
Ebd. Ebd., 116. Vgl. ebd., 116ff. Ebd., 120f. SOMBART, Werner (1902), 450; zit. nach WALTER, F. (1903), 122. Ebd., 124. GEHE-STIFTUNG [Hrsg.] (1903).
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die Ausnahme in der Publikationsgeschichte der Blätter. Der elf Seiten umfassende Beitrag ist mit Dr. RODY gezeichnet.248 Der Rezensent unterscheidet alte und neue Städte, wobei letztere „neue soziale Gebilde“ seien, denen eine neue „kulturelle Mission“ obliege: „Diese Großstädte sind die eigentlichen Schauplätze der Kultur. Hier bietet sich in Bauten und Lehranstalten, in den Wundern und Komforts der raumüberwindenden Technik, in den Formungen des Gemeinschaftslebens und in den sichtbaren Institutionen des Staates eine so überwältigende Fülle kristallisierten Geistes dar, daß die Persönlichkeit sozusagen dagegen nicht halten kann.“249
RODY führt die Fülle der kulturellen Möglichkeiten und Perspektiven auf, nicht ohne Hinweis auf die Überforderungen, die diese Fülle für den Menschen bedeute. Das Leben würde „unendlich leicht gemacht, indem Anregungen, Interessen, Ausfüllungen von Zeit und Bewußtsein sich ihr von allen Seiten anbieten und sie wie in einem Strom tragen, in dem es kaum noch einiger Schwimmbewegungen bedarf“250.
Man dürfe dabei nicht übersehen, „daß die großen Städte einen erhöhten Einfluß auf das geistige Leben, den Bildungsstand der Länder gewonnen haben“251. Und außerdem begünstige „die Schnelligkeit und Leichtigkeit des modernen Reisens […] diese Entwicklung ungeheuer“252. Die unschätzbaren Vorteile städtischen Lebens dürften jedoch nicht blind machen angesichts der Gefahren für das „leibliche und geistige Wohl“253: „Das Stadtproblem harrt seiner Lösung. […] Es besteht darin, den ständig anwachsenden Millionen großstädtischer Bevölkerung die Bedingungen für die Wahrung voller physischer Kraft und geistig-sittlicher Wohlfahrt zu schaffen, um ihre Entartung zu verhindern.“254
248
249 250 251 252 253 254
Heinrich RODY (1841-1905) muss ein bemerkenswerter Priester gewesen sein. Es ist kaum Genaueres über ihn in Erfahrung zu bringen. Er wird als energischer und äußerst gebildeter Theologe beschrieben. In der Chronik der Frankfurter Pfarrei St. Josef ist über ihn am 23. September 1877, dem Tag der Benediktion des ersten Kirchenneubaus in Frankfurt nach der Reformation, zu lesen: „Pfarrer Dr. Heinrich Rody konnte diesen Tag nicht mit seiner Gemeinde feiern. Eine kulturkämpferische Obrigkeit hatte den aufrechten Kirchenmann für drei Strafmonate im Kloster Eberbach, das als Gefängnis in dieser Zeit diente, festgesetzt. Nach seiner Rückkehr, so berichtet die Chronik, predigt er als erstes über das Thema: ‚Für die Wahrheit schreibe ich, für die Wahrheit leide ich, für die Wahrheit stehe ich‘.“ (CHRONIK, 1877). RODY, Heinrich (1904), 434. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 435ff. Ebd., 435.
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Die kommunale Sozialpolitik entwickle sich neuerdings vielversprechend. Die Vorurteile gegenüber der Stadt würden dadurch immer weniger relevant bzw. immer unhaltbarer: „Stadtluft macht frei – hieß es im Mittelalter. Das Wort gilt auch heute wieder von der Großstadt, in anderer Bedeutung freilich. Denn was zieht die Leute magisch in ihren Bann? Die Aussicht auf wirtschaftliche Erfolge, daneben die Hoffnung auf ungekannte Genüsse. [...] Sodann aber auch das Bedürfnis nach individueller Freiheit, das Sehnen nach ungebundener Betätigung der Persönlichkeit, nach Unabhängigkeit von der Sippe, Nachbarschaft und Herrschaft.“255
Ausgehend von der Entwicklung der Persönlichkeit durch die großstädtische Lebensweise kommt RODY zu folgendem Fazit: „Kein Zweifel, die Großstadt erzeugt neue Menschen, Wesen, deren hervorstechender Charakterzug höchste geistige Wachheit, dessen Daseinsprinzip größte Lebensintensität in Arbeit und Genuß geworden ist.“256
Die Verschiebungen innerhalb der Geschlechterdifferenz von Mann und Frau. hinterfragt RODY: „Und wäre die heutige Frauenemanzipation ohne die Großstadt auch nur denkbar? Wie schnell vergißt die Großstadt – ein Glück für jene, die ein neues Leben beginnen wollen. Selbst vor den Geschlechtern macht ihre nivellierende Kraft nicht halt. Und wie sie dem ungefügen Manne den feingeschnittenen Kopf mit dem sinnenden Blicke, den beweglichen Leib mit den schmalen nervösen Händen verlieh, schuf sie ein selbstbewußtes Weib mit der fast männlichen Figur, dem energischen Munde und den etwas kühlen und doch so klugen und wissenden Augen.“257
RODY warnt vor NIETZSCHE – dem Vertreter einer Philosophie des Zeitgeists – und dessen Unterscheidung von zwei Arten der Moral: Einmal die Moral der „Herrenmenschen“, sie handeln nach „Gutdünken und nach ihrem eigenen Herzen, jedenfalls jenseits von gut und böse“. Dieser Herrenmoral stelle NIETZSCHE die sogenannte Sklavenmoral gegenüber, die durch das Christentum verbreitet werde.258 RODY schreibt: „Nicht leicht konnte jemand sich bei dem modernen Genußmenschen besser einführen als mit der Theorie, welche in der Stadt einen guten Nährboden findet. Selbstsucht, Verachtung Gottes, Rennen und Jagen nach Geld und Gut, nach sinnlichen Vergnügen, das ist die Signatur der Zeit, der Stadt insbesondere. Es fehlt nicht an Gelehrten, welches dieses ohne Gott sich abspielende Treiben der Welt in ein wissenschaftliches kleiden.“259
255 256 257 258 259
Ebd., 436. Ebd., 437. Ebd. Vgl. ebd., 438. Ebd.
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Die Selbstgewissheit und Selbstsicherheit, mit der der „neue Mensch“ im städtischen Alltag wie in der modernen Großstadtkultur auftritt, lässt alles Nichtgroßstädtische rückständig erscheinen: „Der Aufenthalt in der Stadt macht auf den unerfahrenen Provinzler den Eindruck, als ob tausend Stimmen ihm zuriefen: ‚Die draußen auf dem Lande sind weit zurück, daß sie noch frommgläubig alles hinnehmen, was ihnen gepredigt wird.‘ Die Journale behandeln den Sieg der modernen Weltanschauung als ausgemacht und selbstverständlich [...], arbeitet das Theater, wenigstens das zweiter oder dritter Qualität, unausgesetzt daran, dem Laster die Häßlichkeit zu nehmen, den Gläubigen als Tölpel, den Ungläubigen als auf der Höhe der Zeit stehenden Weltmann hinzustellen. Die Gerichtsverhandlungen endlich bieten die praktische Anschauung dazu, auf der Bahn des Verbrechens mit der nötigen Vorsicht zu Werke zu gehen.“260
RODY macht darauf aufmerksam, eingeengt durch den Rahmen der zeitgenössischen Stadtkritik, vielleicht etwas gänzlich Neues nicht erkennen zu können: Gerade in der Großstadt berührten sich die „Gegensätze unmittelbar“, dass „ausgeprägter Atheismus auf der einen, völlige Hingabe an die Sache Gottes und der Kirche auf der anderen Seite“261 nebeneinander existierten. Und dann gerät RODY doch noch auf die Bahn der üblichen Schmähung: „Nicht genug, daß die Großstädte in dem gewaltigen Geisterkampf sich vielfach gegen Gott und sein Reich erklärten, sie übertragen auch den Keim geistigen Todes auf ihr Hinterland. Ein Pesthauch des Unglaubens und der Irreligiosität geht von der modernen Großstadt aus, und das Land leidet unter diesen korrumpierenden Einflüssen.“262
Und da die Großstadt inzwischen tonangebend sei, verlange sie auch die ungeteilte Aufmerksamkeit – vonseiten der Gläubigen wie auch vonseiten der Kirche: „Die Stadt spricht immer das entscheidende Wort z. B. bei den Wahlen und bei der Gesetzesfabrikation, in der Mode, wie in der Presse. Was in der Stadt als Parole ausgerufen wird, findet auf dem Lande ein beifälliges Echo. Welterfahrene Männer, die es wissen können, versichern daher, daß die im Dunstkreise unserer Hauptstädte gelegenen kleineren Städte womöglich noch verlotterter seien, als jene. Wie die Klöster den Duft der Frömmigkeit ausatmen, gehen von den Städten die Miasmen der Gottlosigkeit und Immoralität aus.“263
Und unter Berufung auf BISMARCK („Die großen Städte müssen vom Erdboden vertilgt werden.“) wie auf den „theologisch-politisch bekannten“ Abbé de LAMENAIS („Die Städte sind Brennpunkte der Zerrüttung und Anarchie.“) folgert RODY: 260 261 262 263
Ebd., 437f. Ebd., 438. Ebd. Ebd.
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„Das wäre die große Aufgabe der Gegenwart, der städtischen Bevölkerung das Christentum wieder näher zu bringen, damit die Werke des Glaubens wieder lindernd, ausgleichend und helfend wirken können. Allein bei dem Mangel an Kirchen und ordnungsgemäßer Seelsorge, der mehr oder weniger in allen Städten sich fühlbar macht, wird dieser Wunsch noch lange auf Erfüllung warten können. Und doch hängt das Heil von Millionen davon ab. Dermalen ist es für den Städter ein leichtes, sich jeder pastoralen Einwirkung zu entziehen, ungezählte Tausende bewegen sich in den Großstädten dem Seelsorger unbekannt und verkommen in religiöser Beziehung.“264
In einem Beitrag der Blätter zum Thema Der Katholizismus im Deutschen Reich geht es 1907 um die für die Katholiken des 19. Jahrhunderts entscheidende Frage, nämlich nach der kulturellen und damit politischen Vormachtstellung des Protestantismus im Kaiserreich. Das Land, die Nation sei „gerade in ihrem tiefsten geistigen Leben und in ihrem wärmsten Fühlen innerlich uneins, gespalten. Denn das katholische Denken, Fühlen und Wollen ist ein durchaus anderes als das national-protestantische“265. Hier wird noch einmal der Versuch gemacht, den alten Feind, der in den Schlachten von gestern so klar auszumachen war, wiederzubeleben. Aber zugleich wird gesehen, dass der Blick zurück nicht ausreicht: katholische Identität ja, aber nicht mehr um den Preis von Weltläufigkeit. Die Insuffizienzgefühle, die das katholische Milieu des 19. Jahrhunderts trotzig ertragen half, sind nicht völlig vergessen. WURM schreibt: „Vor allem werden wir die katholischen Elemente unserer seelischen Gesamtexistenz immer tiefer zu erfassen, immer mehr zu verinnerlichen, immer intensiver zu einem notwendigen und lebendigen Stück unserer ganzen Persönlichkeit zu machen haben. Zugleich aber müssen wir es – und das ist das zweite – in allen weltlichen Dingen, in Kunst, Wissenschaft, Literatur, Technik, Wirtschaft und Politik unter Aneignung aller modernen Mittel zu einer intensiv gesteigerten Hochkultur bringen, die der Kultur eines jeden protestantischen Reichsteiles völlig ebenbürtig ist.“266
Zu diesem Appell an eine verstärkte Hinwendung zur Welt passt, dass einige Seiten vorher die Blätter sich auf ein neues Phänomen innerhalb des Katholizismus beziehen. Es ist einer der ersten Versuche des konservativen Katholizismus, sich die Notwendigkeit von Reformen einzugestehen, da viele Laien sich in Aktion und Organisation auch unabhängig vom Klerus zusammenschließen.267 Eine stärkere Einbindung von Laien sei, so die Blätter, für die Gründung der Zeitschrift Hochland programmatisch. Es ist dies eine der ersten Erwähnungen der Zeitschrift, die bisher vonseiten der Blätter eher ignoriert
264 265 266 267
Ebd., 441. WURM, Alois (1907), 600. Ebd. Vgl. AUFSTEIGEN (1907), 435ff.
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worden war, weil sie ihr Anliegen nicht primär in einem ausgewiesen katholischen Selbstverständnis äußerte: „Im Hochland ist ein Organ entstanden, das die katholische Intelligenz in den Dienst einer freieren Auffassung und Beurteilung aller Dinge stellen will als man es in den streng konservativ-kirchlichen Kreisen gewohnt ist. Es ist wesentlich die Intelligenz des katholischen Laientums, die hier die christliche Weltanschauung vertritt – die katholische in den Vordergrund zu stellen, lag von Anfang an nicht in der Absicht der Zeitschrift.“268
Bleibt die Frage, so ist in den Blättern zu lesen, was passiere, „wenn die katholische Intelligenz sich mehr von der modernen Kultur ‚durchsäuern‘ würde, als es für die Kirche heilsam ist“269. Hätte man dann die geeigneten Mittel, einer eventuellen Ausweitung auf breite katholische Kreise Einhalt zu gebieten?270 Der Autor MATHIES271 lässt in einem Beitrag von 1908 mit dem Titel Kulturkritizismus im Ton des überzeugten Antimodernisten wissen, dass der überzeugte Christ nicht anders als kulturkritisch sein könne.272 Folgender Schluss wird in Erwägung gezogen: „Wir haben immer die Losung empfohlen: ‚Zurück zur Autorität!‘ Unser Ruf verhallt. Die Modernen werden ihn aber verstehen, wenn – etwas noch Moderneres über sie kommt. Und das kommt über Europa. Die ‚Histor.-polit. Blätter‘ werden es, so Gott will, registrieren, wenn es bereits Weltgeschichte geworden ist.“273
Suizid und Geburtenrückgang 1908 erscheint in den Blättern ein Beitrag von Hans ROST274. Es ist dies einer der ersten Texte des Autors zum Thema Suizid. ROST gehört in Deutschland zu den Pionieren, die sich dieses Themas systematisch und detailliert angenommen haben. Damit wurde er weit über katholische Kreise hinaus bekannt. ROST benennt die Errungenschaften der Moderne, gerade auf kulturellem Sektor: „Alle Welt spricht von Kultur und Bildung. Wir sind berauscht von der Fülle der ästhetischen Genüsse, der hygienischen Einrichtungen, der sozialen erfüllten und
268 269 270 271 272 273 274
Ebd., 435. Ebd., 436. Vgl. ebd. Mit wenigen Ausnahmen nannten die Blätter keine Autorennamen. Dies wird sich zusehends ändern. Vgl. MATHIES (1908), 524. Ebd., 529. Zur umstrittenen Rolle von Hans ROST vgl. BLASCHKE, Olaf (1997), 152. Vgl. ebd., 206f.
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angestrebten Forderungen, welche uns Wissenschaft, Kunst und Praxis vermittelt haben.“275
Für diese Errungenschaft habe der moderne Mensch einen „seelischen Preis“ zu zahlen: „So viel ist gewiß, daß wir trotz Theater und Vergnügungen jeglicher Art an Freude ärmer, an innerer Lebensbejahung schwächer, an Lebensüberdruß stärker geworden sind. Die moderne Kultur, welche […] unser ganzes Dasein differenzierter, empfindlicher und raffinierter gemacht hat, hat auch das Nervensystem stärker aufgerüttelt, den Drang nach Genuß lebhafter entwickelt, die Begriffe und Forderungen höchstmöglicher Einfachheit und Zufriedenheit bei Seite geschoben.“276
ROST geht es hier vor allem um den Einzelnen und wie ihm bei seelischen Nöten geholfen werden kann, beispielsweise im Rahmen einer Suizidprävention durch die Einrichtung von „Antiselbstmordbureaus“277 in den Städten. 1913 nimmt sich ROST des Geburtenrückgangs in Deutschland im internationalen Vergleich an. Er nennt Zahlen aus den Großstädten ÖsterreichUngarns, Frankreichs, Belgiens, Englands, der Schweiz, Italiens, Spaniens, der skandinavischen Länder und Russlands. Erwähnt werden einige außereuropäische Großstädte (u. a. Kairo, Tokio, Sidney) sowie nord- und südamerikanische Großstädte. Die weltweit niedrigste Geburtenziffer habe 1899 bzw. 1907 Chicago.278 ROST erklärt den Zusammenhang von Geburtenrückgang und Großstadtkultur wie folgt: „Unsere Großstadtkultur muß recht bedenkliche Schattenseiten aufweisen, da die Geburtenziffern in den Großstädten allgemein so erhebliche Entwicklungen nach rückwärts zeigt. Es ist eine Ironie ohnegleichen, daß der stolze Kulturmensch des 20. Jahrhunderts, der auf seine wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften und materiellen Erfolge pocht, vor einem kräftig pulsierenden Leben in Gestalt eines reichen Kindersegens bangt. In den Großstädten ist sehr viel Reichtum, Wohlhabenheit, Luxus aufgestapelt. Allein eben diese Eigenschaften haben es mit sich gebracht, daß die Schichten der oberen Zehntausend am stärksten dem Zweikindersystem huldigen und zahlreiche Nachkommen unterschlagen, denen sie materielle Sorglosigkeit und höhere Kultur vermitteln könnten.“279
Der Geburtenrückgang lasse sich aber auch bei der „mittleren und unteren Bevölkerung“280 beobachten. Hier resultiere er zu einem Teil aus einer Notsituation: „Das Wohnungselend der Großstädte ist grauenhaft. Die Nahrungsmittel sind teuer, die lohn- und die Einkommensverhältnisse reichen für viele Tau275 276 277 278 279 280
ROST, Hans (1908), 432. Ebd., 424. Ebd., 428. Vgl. ROST, Hans (1913), 284. Ebd., 284. Ebd.
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sende von Großstadtbewohnern knapp zur Fristung der notwendigen Bedürfnisse.“281 Allerdings sind dies nach ROST lediglich äußere Gründe. Viel gewichtiger als die äußere Not sei hingegen der Einfluss einer spezifischen Großstadtkultur „wie sie an allen Straßenecken sich breit macht, in allen Zeitungen und Versammlungen sich Zugang in die Herzen abertausender von Menschen verschafft. Der Großstadtmensch ist weniger sorglos als der Landbewohner; er rechnet und grübelt mehr. ‚Rationalisierung des Lebens‘ hat Prof. Wolf diese Erscheinung sehr zutreffend genannt. Diese Gedanken sind auch in das Sexualleben eingedrungen. Das war in den Großstädten umso leichter ermöglicht, als der sogen. Aufklärung hinsichtlich des sexuellen Präventivverkehrs tausend Wege offen stehen. Inserate in den Zeitungen, Reclametafeln und Propaganda für diese Verhütungsmittel in allen Friseurläden, Drogerien usw. Belehrung durch Boschüren, Vorträge – diese und andere Mittel wirken seit Jahrzehnten zusammen, daß die Großstadtbevölkerung dem Neomalthusianismus im immer stärkeren Maße fröhnt“282.
Geburtenregelung sei gerade in den Großstädten so selbstverständlich geworden, weil die dort herrschende Permissivität durch das Nachlassen kirchlicher Bindung begünstigt werde. ROST schreibt: „Dazu kommt noch, daß religiöse und konfessionelle Gegenvorstellungen in Anbetracht des Unglaubens und der religiösen Gleichgültigkeit unserer Großstadtbewohner nur in geringem Grade Hemmungen dieser Unsitten und Laster hervorrufen. Die internationale Sozialdemokratie hat sich in der Propaganda für die Ideen des Neomalthusianismus besonders tatkräftig hervorgetan und sie hat es verschuldet, daß die Kenntnis dieser Praxis der Conceptionsverhütung auch in die unteren Volkschichten eingedrungen ist. Wir sind heute soweit, daß in Paris, Berlin und Wien allein im Vergleiche zu den Verhältnissen der 80er Jahre alljährlich mehr Geburten künstlich verhindert werden, als z. B. in der ganzen Schweiz überhaupt Kinder geboren werden.“283
Wiewohl also die Bedeutung von Religion und Konfession in den Städten abnehme, sei die Geburtenrate bei Katholiken immer noch höher als die anderer Konfessionen. „Der Katholizismus ist bisher ein starker Damm gegen diese moderne Zeitströmung gewesen.“284 Auch der „positiv-gläubige Protestantismus“ lasse einen etwas stärkeren Widerstand erkennen, „doch lange nicht in dem Maße wie der Katholizismus“285. Positive Beispiele sind für ROST insbesondere die italienischen Großstädte und die irische Großstadt Dublin.
281 282 283 284 285
Ebd. Ebd., 284f. Ebd., 285. Ebd. Ebd., 286.
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Amerikanisierung des Wirtschaftslebens Mit einem größeren Beitrag von über zwanzig Seiten unterziehen die Blätter 1911 die Gegenwart einer umfassenden Kritik.286 Der Autor bleibt ungenannt. Grundlage der Argumentation ist die Kapitalismuskritik von SOMBART und MARX. Zunächst aber wird ein Zusammenhang zwischen der Gegenwart und der Philosophie der Aufklärung im 18. Jahrhundert hergestellt. Die vom Liberalismus geprägte säkulare Gegenwart mit ihrem individualistischen Freiheitsstreben sei auf den Glauben an die Kraft der Vernunft zurückzuführen. Dieser rationalistische Glaube sei die Grundlage eines umfassenden westeuropäischen Intellektualisierungsprozesses gewesen, mit weitreichenden Folgen: „Das neunzehnte Jahrhundert hat uns, als Frucht der Aufklärung des achtzehnten [...], die Weltanschauung des Materialismus beschert. Der Materialismus ist aus einem Glaubensabfall zu einer Wissenschaft, zu einer Disziplin unserer Hochschulen geworden. […] Der Materialismus des Lebens, die Konzentration der Geistes- und Verstandeskräfte auf das sicht- und greifbare Diesseits hat in einer der ersten Linien die Nüchternheit unseres Tageslebens erzeugt. Materialismus und Gemütslosigkeit gehen [...] wie Unglaube und innerer Unfriede Hand in Hand.“287
Das „Bleigewicht unserer Sorgen und Interessen“ lässt nicht zu, länger zum „Lichte des Himmels“288 schauen. Die Folge dieses Transzendenzverlusts: „Wir sind nüchtern und frostig geworden.“289 Den neuen Materialismus der Moderne macht der ungenannte Autor auf drei Ebenen in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Kultur aus, eine kulturelle Moderne, die, so sie rein technisch geprägt sei, selbst vor der Kirche nicht haltmache: „Wir haben erstens den Materialismus des Erwerbes, der sich heute als Kapitalismus, in des Wortes weitester Bedeutung, und einen Materialismus der staatlichen und der Parteipolitik, der nicht selten mit der materialistischen Wirtschaftspolitik liiert ist; wir besitzen zweitens einen durch die moderne, rein technische Kultur getragenen und geförderten Materialismus, der am abstoßendsten in der Seelenlosigkeit unseres Gesellschaftslebens zutage tritt; wir beachten drittens eine intensive Beeinflussung unseres religiösen Lebens durch den materialistischen Geist der Zeit, der selbst vor den geheiligten Toren der Kirche und dem Kleide ihrer Diener nicht Halt macht.“290
Der Autor beruft sich auf SOMBART: Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert. Das Buch war 1909 in Berlin erschienen. Wer sich dem Zeitgeist des Materialismus zuwende, der würde „den sozialen Geist unserer christlichen Vorfahren verständnislos ablehnen und den ideallosen Geist des moder286 287 288 289 290
Vgl. MATERIALISMUS (1911). Ebd., 518f. Ebd. Ebd. Ebd., 519f.
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nen Geldmenschen liebevoll adoptieren“291. Als Beleg für solche Veränderungen wird nicht auf die Großstadt, sondern ausnahmsweise auf das Landleben verwiesen: „Wer sich im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte die Mühe genommen hat, den Gesprächsstoff unserer ländlichen und bäuerlichen Kreise kritisch zu beachten, der wird die teilweise rapide Abnahme des idealen und die Zunahme des materiellen Sinnes nicht in Abrede stellen können.“292
Den neuen materialistischen Geist, also den „Geist der Geldwirtschaft“, nennen die Blätter mit Verweis auf SOMBART „Amerikanisierung des Wirtschaftslebens“293 und bezeichnen ihn als Inkarnation des „praktischen Judengeists“294: „Amerika ist in hundert Dingen auch für Europa vorbildlich geworden; ‚das unsympathischste aller Lebenssysteme‘ und die Herrschaft des Dollars haben auch bei uns Fuß gefaßt und einen Bundesgenossen in dem die christlichen Völker des Abendlandes immer mehr infizierenden ‚praktischen Judengeist‘ vorgefunden. ‚Der praktische Judengeist ist‘, sagt einer der größten Juden, den das 19. Jahrhundert hervorgebracht, Karl Marx, ‚zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden‘. ‚Das reale Wesen des Juden hat sich in der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht‘, mit anderen Worten: moderne, kapitalistische Wirtschaft sind nach Marx ‚identische Begriffe‘.“295
Dass damit zugleich eine Kritik des Parlamentarismus einhergeht, gehört zum antidemokratisch-konservativen Argumentationszusammenhang: „Wie das kapitalistische System der Organisator und Träger des modernen Erwerbslebens ist, so ist der Konstitutionalismus und der mit diesem einhergehende neuzeitliche Parlamentarismus die Voraussetzung und die Unterlage des staats- und parteipolitischen Lebens.“296
Dass Demokratie und kultureller Niedergang in dieser Perspektive zusammengehören, wird mit einem Zitat von SOMBART unterstrichen: „Man wird 291 292 293 294
295 296
Ebd., 522. Ebd., 523. Ebd., 524. Diese Form eines landläufig stereotypen Antisemitismus ist für diese Zeit und gerade in bürgerlichen Kreisen nicht ungewöhnlich. So heißt es beispielsweise in den Blättern von 1912 in einem Beitrag über Großmacht Presse (PRESSE, 1912), diese sei durch und durch korrumpiert, sie sei freisinnig, liberal, jüdisch, amerikanisiert: „In Amerika ist heute der Typus des bloßen Geschäftsblattes der schlechthin herrschende. Dort dominiert die sogenannte gelbe Presse, deren Tiefstand kaum noch zu überbieten ist. Die Presse der übrigen Länder wird allgemach amerikanisiert.“ (Ebd., 598). Weiterhin: „Das Judentum übt durch die Presse einen zersetzenden Einfluß aus, denn das Wesen des modernen jüdischen Geistes ist die Negation. Dazu kommt der ätzende Witz des Judentums.“ (Ebd., 600). Fazit der Blätter: „Einstweilen kann unsere Aufgabe und Pflicht nur Kampf heißen.“ (Ebd., 601). Zur Thematik vgl. BLASCHKE, Olaf (1997), 206f. MATERIALISMUS (1911), 525. Ebd., 526.
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nicht fehl gehen, wenn man behauptet, daß unser Geistesleben in dem Maße flacher geworden ist, wie es breiter wurde.“297 Niemals sei Kultur derart gering geschätzt worden, „so dominiert in unseren modernen Tagen die technische oder materielle Kultur. [...] Das Kunstverständnis und Kunstempfinden des Volkes befand sich in keinem Jahrhundert in einem derartigen Tiefstande wie im abgelaufenen neunzehnten; die auf kein Vielwissen und keine direkte Verwertbarkeit abzielende, rein geistige Bildung und Übung, wurde noch niemals so gering bewertet wie heute“298.
Die durch ihren materiellen Charakter beherrschte Kultur der Moderne – „im Zeichen des Eisens und des Stoffes“299 – habe zur Beschleunigung als dem Kennzeichen der Moderne schlechthin beigetragen. Eine grundsätzliche Folge des „hochentwickelte[n] Verkehrswesen[s]“ sei die Entwurzelung des Menschen im weitesten Sinn, die Entfremdung von Heimat und Kirche inbegriffen: „Es hat die Menschen, Länder und ihre Güter einander näher gebracht, es hat eine neue Völkerwanderung erzeugt, eine Reiselust und Fluktuierung der modernen Menschheit, welche jene der alten Nomadenstämme weit überbietet. Unsere Großstädte und unsere großen Bahnhöfe, unsere vielbesuchten Alpengebiete und unsere sommerlichen Erholungsorte [...], die nervöse Hast und fieberhafte Unruhe unserer Geld- und Bildungskreise: das fruchtlose Streben und Jagen, das Glück nicht am häuslichen Herde, in der Heimat und ihrer religiösen Weihe, sondern im Strome der weiten Welt zu finden.“300
Als Teil der veräußerlichten Lebensweise gelten dabei auch die neuen Statussymbole einer sich durch materiellen Reichtum legitimierenden Oberschicht: „Luxus und Verschwendung, denen sich auch das heutige, zu einer Landplage gewordene Sportswesen anschließt, haben alle höheren Klassen ergriffen und sich von dort herab wie ein alles zersetzendes Gift, in die materialistisch gesinnten Volkskreise. [...] Mit dem Luxus und der Verschwendung verbindet sich die Vergnügungssucht.“301
Diese kulturpessimistische Sichtweise wird durch den Hinweis auf den Kölner Weihbischof SCHMITZ mit einer Warnung von 1894 vor moderner „Weltlust“ autoritativ unterstützt: „Die Vergnügungssucht und Weltlust hat in der Gegenwart die Geister in allen Schichten der Gesellschaft ergriffen. Sie redet die Sprache der Sinnlichkeit in den Romanen und Theatern, sie feiert Triumphe in den Salons, sie spricht durch die Presse, sie kündigt sich an in den Litfaßsäulen der großen Städte, [...] sie ist
297 298 299 300 301
Ebd., 528. Ebd., 529. Ebd., 530. Ebd., 530f. Ebd., 535f.
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hineingedrungen in unsere Vereine, sie hat von den Fronten unserer katholischen Vereinshäuser den Ernst gewischt, der dort bei aller Ruhe wohnen sollte.“302
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs veröffentlichen die Blätter in der ihnen eigenen ultramontanen Sichtweise eine umfassende Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Sie wenden sich in ihrer antikapitalistischen Grundhaltung gegen den nationalen Geist der Gegenwart, die „neudeutsche Gesinnung“303, gegen das alles beherrschende industrielle Fabrikwesen. Der Autor des Beitrags bleibt ungenannt: „Die kapitalistisch-technische Entwicklung unserer Zeit hat den alten Mittelstand zum großen Teile vernichtet. [...] Neben dem neuen und antisozialen Mittelstandsbegriff haben sich, als Folge der Trennung von Kapital und Arbeit, die früher unbekannten Begriffe und Auffassungen ‚Arbeitgeber‘ und ‚Arbeitnehmer‘ eingebürgert. Der Arbeitnehmer oder der Nur-Arbeiter ist ein Ergebnis unserer kapitalistischen Wirtschaftsepoche mit ihren immer und immer größer werdenden Betrieben. […] Indeß das Wort und der Begriff ‚Geselle‘ schwindet immer mehr, auch im Handwerksbetriebe kennt man bald trotz gesetzlicher Gesellenprüfung, nur mehr den ‚Arbeiter‘. [...] Wir haben keine ständisch und korporativ organisierte Gesellschaft mehr, sondern zum Teil sich feindlich gegenüberstehende Massen und Klassen, die natürliche Folge des modernen Individualismus. Und die Massen- und Klassenbildung hat die Massen-Suggestion, wenn auch nicht erzeugt, so doch ungemessen gefördert.“304
Statt absolutistischer Könige sei die „moderne demokratisierte Menschheit […] der Despotie der Masse und ihrem Evangelium unterworfen“305. Es folgt eine entschiedene Kritik am Liberalismus der „führenden Kreise“ der katholischen Kirche in Deutschland: „Man hat sich heute in der Mehrzahl der christlichen und katholischen, der führenden Kreise mit dem kapitalistischen Systeme versöhnt; man betrachtet es als ein notwendiges Ergebnis der mehrhundertjährigen ökonomischen Entwicklung und sucht ihm eine Definition zu geben, welche die alten katholische Sozialpolitiker nicht kannten, man bekämpft nicht mehr den Kapitalismus als solchen, sondern nur dessen ‚Auswüchse‘ und geht zugleich prinzipiellen Fehden auf dem Wirtschaftsfelde und der Aufrollung von Moralgründen möglichst aus dem Wege. Als wir vor zwei Jahren eine größere sozialethische Studie über den Mittelstand veröffentlichten, dessen Erhaltung und Neuschaffung ohne Bekämpfung des kapitalistischen Wirtschaftssystemes undenkbar ist, da wurden wir von einem norddeutschen katholischen Blatte förmlich mit Hohn überschüttet.“306
Durchgesetzt habe sich endgültig im herrschenden Bürgertum ein „praktisch angewandter Relativismus oder amerikanischer Pragmatismus“ mit „Hinnei302 303 304 305 306
Ebd. WANDLUNGEN (1914). Ebd., 775f. Ebd., 777. Ebd., 778.
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gung zu dem extremen Realismus des modernen materialistischen Zeitgeistes“307. Dieser Zeitgeist „verneint oder kennt nicht die stets neu bestätigte Erfahrung, daß das Leben eine Auswirkung von Grundsätzen und Gedanken ist. […] Optimismus ist heute Pflicht, eine notwendige und anziehende Eigenschaft, Pessimismus dagegen eine abstoßende geistige Krankheitserscheinung des modernen bzw. unmodernen Menschen geworden“308.
Die folgenschwerste geistige Umwandlung, welche sich im neunzehnten und am Beginn des zwanzigsten Jahrhundert vollzogen habe, zeige sich im „Sinken der Ewigkeitswerte und in dem Steigen der Diesseitswerte […], daß die Lehre von den letzten Dingen, Tod, Gericht, Himmel, Hölle, auf einen nicht geringen Teil der Katholiken nicht mehr dieselbe Eindruckskraft besitzt. Der moderne Mensch hat es verlernt sich zu begeistern und es kommen ihm keine Wunder mehr, weil er unfähig geworden ist, sie aufzunehmen. Der Kult der Kirche, die sakramentale Handlung berührt ihn persönlich nicht mehr. Es ist ihm nicht mehr möglich, sich über die Flachheit des profanierten Denkens und der zur Denkunfähigkeit erziehenden Zeitungslektüre zu erheben“309.
Es ist die Abrechnung mit einer Epoche des Katholizismus, in der die Kirche in Würde ihres angestammten Platzes und ihres Traditionsbestandes sicher sein konnte und in Formen von Alltagsfrömmigkeit weitestgehend akzeptiert wurde: „Überkommene katholische Lehren, aber auch Haltungen und Lebensweisen büßten zunehmend an Plausibilität ein“310, schreibt RUSTER. In wuchtiger Setzung endet der Beitrag mit einem fulminanten Abgesang auf die zuendegehende Epoche. Der Autor kann nicht wissen, dass das von ihm entworfene Bild von Verlust und Zerstörung bald Realität werden sollte: „Das Wort ‚konservativ‘ hat im Leben, in der Partei- und Sozialpolitik und auf religiösem Felde seine ehemalige Bedeutung verloren und ist zur Ironie geworden. Nur die auf dem von Gott gelegten, unzerstörbaren Granit, nur die auf Christus gegründete Kirche hat sich als der feste Punkt innerhalb der Brandungen, Zerstörungen und der morschen Neubildungen der modernen Tage erwiesen. [...] Stat crux dum volvitur orbis.“311
307 308 309 310 311
Ebd., 781. Ebd., 781f. Ebd., 785f. RUSTER, Thomas (1994), 53. WANDLUNGEN (1914), 789.
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1914/1918: Endzeit 1916, der Erste Weltkrieg ist inzwischen auch im deutschen Alltag spürbar, gibt Franz Xaver HOERMANN (1860-1935), der bayerische Publizist, Studienprofessor in Rosenheim und Ortsgruppenleiter des Reichs- und Heimatbundes deutscher Katholiken, in den Blättern Folgendes unter dem Titel Die Entstellung des Landes zu bedenken: „Der gegenwärtige Krieg hat das Antlitz der europäischen Erde verwüstet, wie es außer den Verheerungen der Völkerwanderung kaum andere große Kriege jemals bewirkten.“312 Es ist Hans ROST, der im darauf folgenden Jahr auf die verschärften sozialen Probleme der Deutschen in Kriegszeiten aufmerksam macht: „Der Geburtenrückgang ist heute zum sozialen Problem geworden“313, schreibt er. Es folgen weitere Beobachtungen einer offensichtlich prekärer werdenden Gegenwart: „Zusammenhänge zwischen industrieller Arbeiterfrage und Bevölkerungsfrage, das Bevölkerungsproblem auf dem Lande, die Lohn- und Wohnfrage, Steuer-, Besoldungs- und Versicherungsfragen, die Frauenfrage, Säuglings- und Mutterschutz, die Fürsorge für uneheliche Kinder, den Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten, gegen die öffentliche Unsittlichkeit, gegen die Alkoholschäden – verschärft unter den besonderen Bedingungen der Kriegszeit.“314
Mit warnender Stimme und nicht ohne Dramatik sieht er das, was früher Bollwerk war, unmittelbar vor dem Einsturz: „Der Feind pocht mächtig an unsere Tore, und in unseren städtischen Mauern klaffen bereits starke Risse und Einbrüche.“315 HOERMANN unternimmt 1918 einen größeren, nüchternen Versuch, auf die zerstörerische Kraft der modernen Industriegesellschaft samt ihrer Strukturen aufmerksam zu machen. In Der Industriegeist und die Kehrseite der Industrie von 1918 schreibt er: „Die beiden realen Mächte, welche unsere heutige Gesellschaft mit fast despotischer Gewalt beherrschen und die ihr das eigentümliche Gepräge aufgedrückt haben, sind das mobile Kapital und die entwickelte Technik. Technik und Kapital haben die mittelständische Organisation und Wirtschaftsordnung vernichtet und die folgenschwere Umbildung der Agrarstaaten in die Industriestaaten vollzogen.“316
Es ist der bei den Blättern vertraute kapitalismuskritische Ton. Hier artikuliert sich noch einmal die Sehnsucht nach einer ständischen Gesellschaft, die so anheimelnd allerdings nie gewesen ist. Der „Abbruch der mittelständisch312 313 314 315 316
HOERMANN, F. X. (1916), 389. ROST, Hans (1917), 533. Ebd., 533f. Ebd., 536. HOERMANN, F. X. (1918), 389.
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mittel-alterlichen Wirtschaft“317 habe sich 1851 ereignet, schreibt HOERMANN. Bis zu diesem Jahr war die Welt in Ordnung: „Das Leben war einfach und bedürfnislos, aber es war anheimelnd und schön. Und schön, unentstellt waren auch Stadt und Land.“318 Im Gegenzug habe heute durch „Verkehrswesen und Industrie“ eine „Vermögensvervielfachung stattgefunden [...] wie sie in dieser Höhe das alte Leih- und Wucherkapital nicht kannte“319. HOERMANN argumentiert unter Verweis auf SOMBART: „In einer Weise, wie noch nie, ergriff der Taumel die gesamte Kulturwelt Europas.“320 Und nun habe sich während des Krieges auch noch „der Ruf nach neuen und größeren industriellen Unternehmungen vermehrt und verstärkt“321. Der Autor beruft sich bei seiner Kritik auf den englischen Sozialphilosophen und Reformer John RUSKIN, um seiner sozial-ethischen Gegenposition argumentatives Gewicht zu verleihen. Es bleibt bei einem letzten moralischen Appell. Die Geschichte scheint über die Blätter hinweggegangen zu sein, aber sie waren es schließlich – und sie waren viele Jahre auf diesem Terrain die einzigen mit einem weiten Wirkungsradius – die mit Beginn der Industrialisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von katholischer Seite die Gegenwart deutlich ins Visier genommen hatten und zwar mit kämpferischem Sinn für die Belange und Widersprüche der Zeit: „Es ist hohe Zeit, den Eroberungszug der Industrie, der im Großen in Deutschland vor sechs Dezennien begann, auch von seiner negativen Seite zu betrachten und neben dem Gewinne auch die Verluste und Verwüstungen zu buchen.“322 Noch einmal sind es die Blätter, die nach dem KAPP-Putsch im März 1920 zu den gesellschaftlichen und politischen Dilemmata der Gegenwart lebhaft Position beziehen: Sie gehen auf die Revolution von 1918, auf die Rolle der Sozialdemokratie ein, sie wenden sich gegen das „Dogma vom Klassenkampf“, den Generalstreik nach dem KAPP-Putsch, und sie stellen fest: „Die trostlose Lage, in welche das Deutsche Reich nach dem verlorenen Kriege durch die Experimente der Regierungskunst der Sozialdemokratie unter Mithilfe des neuen Zentrums und der Deutsch-demokratischen Partei geraten ist, entwickelt sich zur unaufhaltsamen Katastrophe.“323
Der in der Erbschuld befangene Mensch sei untergegangen im Strudel einer entseelten Gesellschaft; am Beginn des Untergangs stand die Aufklärung mit ihren Koordinaten rationalistischer Wissenschaft, in denen sich der Mensch verfangen hat. Nach dem Verlust von Geist und Seele bleibt nach Ansicht der Blätter allein der Ausblick auf eine Art gesellschaftlicher Endzeit: 317 318 319 320 321 322 323
Ebd., 393. Ebd., 392. Hervorhebung im Original. Ebd., 389. Ebd., 394. Ebd., 390. Ebd. KRISIS (1920), 496.
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„Die Erbneigung zum Materialismus, die in jedem Menschen steckt, ist hervorgebrochen und überschwemmt das ganze Volk. Theoretisch ist er schon längst besiegt und erledigt. Die philosophische Erkenntnislehre setzt ihm schwer zu, die moderne exakte Psychologie hat ihm den Todesstoß versetzt, die Geschichtsforschung lehnt ihn ab. [...] Die Seele wird zu einem Stoff oder zur Funktion eines Stoffes, die Geschichte zu einem Verlauf von Wirtschaftsfragen, die Erziehung zur Dressur mit Zuckerbrot und Peitsche. [...] Das Geistige wird annuliert. Das Fleischliche dominiert. [...] Der Mittelstand verschwindet, die Rentner verhungern, dafür entsteht der neue Schiebermittelstand.“324
Zur Situation der Moderne im nicht zu übersehenden Niedergang sieht HOERMANN – er ist mit ROST der eifernste unter den Gegenwarts- bzw. Endzeitdiagnostikern der Blätter in den Krisenjahren – die einzige Chance zur Heilung dieser versehrten Welt in deren „Wiederverchristlichung“ und einer Rückbesinnung, durch die allein es gelingen könnte, die Solidarität der mittelalterlichen Ständegesellschaft wiederzubeleben: „Aber diese Neubelebung der erkalteten Nächstenliebe setzt eine innere Umwandlung: eine tiefgehende Wiederverchristlichung unseres am Egoismus totkranken Geschlechtes voraus. Nur [...] in der religiösen Blütezeit des Mittelalters […] ist eine Solidarität der Stände denkbar.“325
324 325
Ebd., 497f. HOERMANN, F. X. (1921), 310f.
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Abb. 5: Albert BIRKLE: Kreuzigung (1922)
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6.3 Stimmen aus Maria Laach (1865/71-1914) und Stimmen der Zeit (ab 1914) Stimmen der Zeit, die 1865 vom Jesuitenorden gegründete Kulturzeitschrift, hieß zunächst Stimmen aus Maria Laach (im Folgenden auch: Stimmen). Sie war in ihren Anfängen stark durch den Kulturkampf und hier vor allem durch das Jesuitengesetz326 von 1872 geprägt, das Niederlassungen des Ordens auf dem Gebiet des Deutschen Reiches verbot. Darauf folgte für die Redaktion ein Exil mit immer wieder wechselnden Aufenthaltsorten.327 Zunächst ging die Redaktion nach Belgien, dann Holland, gefolgt von Luxemburg und wiederum Holland, bis die Zeitschrift 1914 ihren festen Ort in München bekam, noch heute erscheint sie dort.328 1863 kaufen die Jesuiten der Oberdeutschen Provinz die ehemalige Abtei Maria Laach329, die bis zur Säkularisierung im Jahr 1802 eines der traditionsreichsten deutschen Benediktinerklöster war. Die Errichtung eines Studienhauses des Ordens in Maria Laach war als Neubeginn gedacht, nachdem die Jesuiten 1849 nach Deutschland zurückgekehrt waren. 1872 musste der Orden jedoch aufgrund des „Jesuitengesetzes“ sämtliche Niederlassungen in Deutschland aufgeben.330 Bereits 1864 wurde das Erscheinen einer Zeitschrift für die gesamte Ordensprovinz beschlossen. HUBERT schreibt: „Es sollte kein reines Gelehrtenperiodikum werden, sondern eine Publikation, die den wissenschaftlichen Stoff in allgemein verständlicher Weise darbieten sollte […]. Die wissenschaftlichen Beiträge sollten durch Notizen, Rezensionen, kirchliche Nachrichten und kirchliche Aktenstücke ergänzt werden.“331
Trotz eines detaillierten Programms erschien die Zeitschrift in den Jahren zwischen 1865 und 1870 noch nicht als Periodikum, sondern in lockerer Folge. Diese Verzögerung war der Enzyklika Quanta cura und dem damit verbundenen Syllabus errorum (1864) geschuldet. Die Redaktion der Stimmen aus Maria Laach entschied, zunächst einmal beide Texte ausführlich zu kommentieren: „Die ersten zwölf Hefte von 1865-1869 nahmen zu den wichtigen Themenkreisen der Enzyklika und des Syllabus Stellung, die nächste Serie befaßt sich in den 326 327 328 329 330 331
Vgl. NIPPERDEY, Thomas (1992), 374. Vgl. HUBERT, Marianne (1999), 21ff. Heft 1 des 45. Jahrgangs erschien 1914 unter dem neuen Titel: Stimmen der Zeit. Katholische Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart. Band 88 von Stimmen aus Maria Laach. Die Anfänge der Abtei reichen bis ins Jahr 1093 zurück, gegründet als Hauskloster und Grabstätte des Hauses LUXEMBURG-SALM. Vgl. HUBERT, Marianne (1999), 21. NIPPERDEY, Thomas (1992), 374. HUBERT, Marianne (1999), 26.
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Jahren von 1869-1871 mit den Vorbereitungen, dem Verlauf und den wichtigsten Entscheidungen des Ersten Vatikanischen Konzils.“332
Mit der Vertagung des Konzils besann sich die Redaktion des ursprünglichen Plans der Zeitschrift. Die erste Ausgabe der Stimmen aus Maria Laach erschien ausgerechnet mit Beginn des Kulturkampfs.333 Aber es ging auch um den innerkatholischen Disput, der mit der Auseinandersetzung um den Syllabus verbunden war. Die Zeitschrift sah ihre Aufgabe darin, die „ultramontane[n] päpstliche[n] Position“334 zu verteidigen. Die nun monatlich erscheinende Zeitschrift öffnete sich bald von einem spezifisch theologischen Ordensorgan einem breiteren Kreis gebildeter Laien. SCHMIEDL resümiert die erste Phase der Zeitschrift als Spannung zwischen Integralismus und Reformkatholizismus und zwischen Zeitoffenheit und Zeitkritik.335 Im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte seit dem ersten Erscheinen der Stimmen aus Maria Laach heißt es in der ersten Ausgabe von 1914, der nun in München erscheinenden Stimmen der Zeit: „Die fruchtbaren Wahrheiten der Vernunft und Christi Glaubens- und Sittenlehre waren ihr Grundboden, der Dienst der Kirche und ihres Oberhauptes der Trieb ihrer Lebenskraft. Das war der Geist, der sie schuf und trug, ihre Richtung und ihr Ziel. Von diesem Standpunkt aus beurteilte sie die wechselnden Strömungen im Geistesleben der Gegenwart. […] Ihr Programm war Forschen nach den Ewigkeitswerten im Schoß der wandelbaren Zeit, war treues Hüten des unvergänglichen Besitzstandes christlicher Überlieferung, war Fortschreiten mit allem wirklich Erarbeiteten und Erkämpften auf dem Gesamtgebiet der höheren Kultur. Der Zeit wollte sie dienen, ohne ihr zu gehorchen, aus ihrer Zeit, für ihre Zeit, zeitgemäß und zeitlos zugleich.“336
Hatte die Zeitschrift vor allem in ihrer Auseinandersetzung mit Hochland337 ein äußerst antimodernistisches Profil, wurde sie in den Jahren der Weimarer Republik zu einer angesehenen katholischen Kulturzeitschrift. Es folgte, trotz der politischen Erschütterungen in Deutschland, für die Redaktion eine Zeit relativer Stabilität unter Federführung von P. Heinrich SIERP SJ, der die Redaktion von 1918 bis 1925 leitete. Der „gelehrte Sierp“338, Naturwissenschaftler und politischer Denker, war seiner Zeit zugewandt, ein Zeichen dafür sind seine Freundschaften mit Außenminister STRESEMANN und
332 333 334 335 336 337
338
Ebd., 27. Vgl. ebd., 28. SCHMIEDL, Joachim (2006), 231. Vgl. ebd., 232. STIMMEN (1915), 2. Vgl. HUBERT, Marianne (1999), 33, Anm. 48. HUBERT erwähnt die äußerst kritische Haltung gegenüber Hochland, den „unguten Eindruck, als ob der blanke Konkurrenzneid die Skriptoren leitete“ (ebd.). BONNERY, Bernard (1978), 31.
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Nuntius PACELLI, dem späteren Papst Pius XII.339 In diesem „kulturellreligiösen Transformationsprozess“340 nahmen die Stimmen eine prominente Rolle ein. Die thematischen Beiträge sind umfangreich und bis 1928 ausschließlich von Mitgliedern der Gesellschaft Jesu verfasst. Die Zeitschrift galt als Übungsfeld des wissenschaftlichen Nachwuchses des Ordens.341
Haltungen des Christseins – Erich PRZYWARA und Max PRIBILLA Erich PRZYWARA (1889-1972) war von 1922 bis zum Verbot der Zeitschrift (1941) als bedeutender Theologe und Religionsphilosoph der führende Kopf der Redaktion.342 Er führte Dialoge sowohl mit der zeitgenössischen Philosophie von HUSSERL und SCHELER als auch mit den führenden protestantischen Theologen Karl BARTH und Paul TILLICH. Er machte John Henry NEWMAN und Sören KIERKEGAARD in Deutschland bekannt. PRZYWARA schreibt, der „echte Katholik [ist] geradezu innerlich gebunden, im Antlitz jeder Zeit nach ihren positiven Zügen zu suchen, weil in diesen Zügen ihm gleichzeitig das besondere Antlitz der Kirche in ‚dieser‘ Zeit aufleuchtet.“343 RUSTER schreibt: „Katholischer Vergangenheitsschwärmerei erteilte er von daher eine Absage und ordnete sie jenem Krisenphänomenen zu, das er bei vielen neuen religiösen Strömungen entdeckte: dem ‚Eschatologismus‘. […] Gegen solche weltverneinenden, nur angeblich weltüberwindenden Fluchttendenzen war Przywara gefeit.“344
PRZYWARA wuchs in einer traditionsbewussten katholischen Familie im oberschlesischen Kattowitz auf und trat bereits mit 18 Jahren in den Jesuitenorden ein. Er fiel durch seine asketische Lebensform wie durch seine Belesenheit auf sowohl in den theologischen und philosophischen Traditionsbeständen als auch in den Texten und Diskussionen der Gegenwart, einschließlich der protestantischen Theologie. RUSTER schreibt: „Przywara war ein durchaus konservativ gesonnener Mensch, der die Präsumption auf die in Gott gegründete Einheit aller Wirklichkeit niemals aufgab. Auf der 339 340 341
342
343 344
Zu Papst Pius XII. vgl. FELDKAMP, Michael F. (2000). Zu einer europäischen Einigung vgl. den Aufsatz SIERP, Heinrich (1929). SCHMIEDL, Joachim (2006), 238. Vgl. ebd., 239. SCHMIEDL schreibt: „Die Abteilung der Buchbesprechungen und damit die Bewertungshoheit über die philosophischen, theologischen und geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen blieb also während der Zwischenkriegszeit in jesuitischer Hand.“ (Ebd.) Zu PRZYWARA vgl. die kurze Einführung von FABER, Eva-Maria (1993). Zur Theologie vgl. LÜNING, Peter (2007). Vgl. FABER, Eva-Maria (2005). Vgl. FABER, Eva-Maria (2005a). Vgl. SCHUMACHER, Thomas (2003). Vgl. WIESEMANN, Karl-Heinz (1999). PRZYWARA, Erich (1929), 141. RUSTER, Thomas (1994), 273. PRZYWARA entdeckt diesen Eschatologismus sowohl in Teilen der liturgischen Bewegung als auch u. a. in der Religionsphilosophie Max SCHELERs. Vgl. ebd.
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anderen Seite hat er sich weit in die moderne Wirklichkeitserfahrung hineingedacht, weiter als die meisten seiner katholischen Zeitgenossen. Fast möchte man ihn einen ersten ‚Postmodernen‘ nennen: die Einheitlichkeit der Erfahrung war ihm verloren gegangen, die Wahrnehmung der Wirklichkeit – Reflex seiner ausgiebigen Lektüre – in eine Vielzahl von Widersprüchlichkeiten zerfallen.“345
Und weiter: „Unter der Voraussetzung seiner Denk- und Wahrnehmungsstruktur konnte sich Przywara nicht in die Phalanx der gängigen katholisch-konservativen Kritik an der Neuzeit und Moderne einreihen.“346
Seine existentiell bewegte Sprache, sein „Ringen um die Möglichkeit christlicher Mystik“347, sind nach RUSTER der Hinweis auf ein „immer lebendiges Interesse an den Problemen christlichen Existierens in der modernen Welt“348. Es ging ihm letztlich um Haltungen des Christseins in der Moderne, um ein Ringen der Gegenwart349. PRZYWARA war jedoch skeptisch gegenüber den mystischen Bewegungen seiner Zeit, wenn dabei unter Mystik die seinshafte Vereinigung mit Gott oder das Verschmelzen mit Christus gemeint war. Er beschreibt die Tendenzen seiner unmittelbaren Gegenwart ausführlich in der Zeitschrift Das Heilige Feuer unter dem Titel Katholischer Radikalismus?350 Heutzutage stehe die „Reinheit des Urchristentums“ gegenüber dem „Mischcharakter späterer Epochen“, stehe ein „religiöser Gnadenkatholizismus gegenüber einem philosophischen Verstandeskatholizismus […] oder weltlichen Tatkatholizismus“351. Für PRZYWARA heißt dagegen Katholischsein: „Gott und Mensch, Gnade und Verdienst, Gebet und Arbeit, Mystik und Aszese, Verklärung und Ringen. Darum zeigt die Geschichte aller katholischen Erneuerungsbewegungen ein Stadium, in dem ihr Radikalismus überwunden werden mußte zu echt katholischer Besonnenheit und Nüchternheit […], nicht gradaus voranstürzt, sondern nach allen Seiten abwägt.“352
Großen Einfluss hatte PRZYWARA auf führende Theologen des Zweiten Vatikanums wie Hans Urs von BALTHASAR und Karl RAHNER. Zur geringen Wirkung des Theologen PRZYWARA – gemessen an der Bedeutung seines Denkens für die Moderne bis in die nachkonziliare Zeit – schreibt BALTHASAR: „Erich Przywaras ungeheurer theologischer Auftrag – an Tiefgang und Breite mit keinem andern dieser Zeit vergleichbar – hätte das entscheidende Heilmittel für unser christliches Denken heute werden können. Die Zeit hat den leichteren 345 346 347 348 349 350 351 352
RUSTER, Thomas (1994), 278. Ebd., 272. Ebd., 278. Ebd. So der Titel seines Aufsatzes in PRZYWARA, Erich (1929). PRZYWARA, Erich (1925). Ebd., 466. Ebd., 470. Hervorhebungen im Original.
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Weg gewählt, sich nicht mit ihm auseinanderzusetzen. Und er selbst ist nicht schuldlos daran. […] Wohl als einziger besaß er die Sprache, in der das Wort ‚Gott‘ ohne die leichte Übelkeit anhörbar ist, die das laue Gerede unserer Durchschnittstheologie verursacht.“353
Seine hochabstrakte Theorie sei sicher auch immer eine Verführung gewesen, sich mit ihr als lediglich intellektueller Herausforderung auseinanderzusetzen. Den intellektuellen Aufwand, den PRZYWARA verfolgte, habe er im Dienst einer Aufgabe für alle Gläubigen wahrgenommen, um „die Möglichkeit christlichen Existierens in der in ihrer Widersprüchlichkeit voll akzeptierten Moderne im Einklang mit dem Dogma der Kirche aufzuzeigen“354. Sein Anspruch war an den „einen und heiligen, souveränen und weltüberlegenen Gott“355 gebunden, der nicht von der „vieldeutigen, dialektischen, relativistischen Wirklichkeitserfahrung verschlungen“356 wird. Insofern habe PRZYWARA das „Problem der Religion in der Moderne an der Wurzel gefaßt“357. Folgende Einschätzung der Moderne gibt der Jesuit und Redakteur Max PRIBILLA in seinem Beitrag Kulturwende und Katholizismus im Jahr 1924: „Es ist eine wirre, entwurzelte Zeit, in die wir gestellt sind. Die schroffsten Gegensätze stehen unvermittelt nebeneinander: ausgelassenste Vergnügungsgier und bitterste Armut, zarteste Gewissenhaftigkeit und tierische Verrohung, wärmste Nächstenliebe und kälteste Selbstsucht, kristallklarer Verstand und verschwommenster Mystizismus, blindester Wunderglaube und plattester Materialismus. Aber aus allen Erscheinungen der Gegenwart spricht tiefe Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und Ratlosigkeit über das, was werden soll. Es ist weithin ein Dämmerzustand zwischen Wissen und Glauben eingetreten, den viele etwas voreilig als Erwachen religiösen Geistes ausgeben und preisen, während er doch wesentlich die Enttäuschung über versunkene Ideale widerspiegelt und höchstens Sehnsucht nach einem besseren Ersatz verrät. Die Kulturkrisis schleicht durch ganz Europa, aber sie hat zweifellos in Deutschland ihre schärfste Form angenommen.“358
PRIBILLA gehörte wie PRZYWARA seit 1921 zu den bedeutenden Mitarbeitern der Zeitschrift und hatte sich angesichts der Geistes- und Kulturkrise in der „wirren, entwurzelten Zeit“ des Themas Katholisches Autoritätswesen und moderne Denkfreiheit359 „ausdrücklich angenommen“360. PRIBILLA, in Köln 1874 geboren, war seit 1897 Mitglied der Gesellschaft Jesu und am Jesuitenkolleg in Valkenburg (Holland) seit 1909 als Dozent für Ethik tätig. Im Ersten 353 354 355 356 357 358 359 360
BALTHASAR, Hans Urs von (1966), 354f. Ebd. RUSTER, Thomas (1994), 288. Ebd. Ebd. PRIBILLA, Max (1924), 259. So der Titel seines Aufsatzes. Vgl. PRIBILLA, Max (1923). RUSTER, Thomas (1994), 304.
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Weltkrieg war er Feldgeistlicher an der Front. In der Ambivalenz von katholischer Gebundenheit und moderner Denkfreiheit sah PRIBILLA die Grundproblematik des katholischen Denkens der Moderne und ihrer Zuspitzung in der Weimarer Republik. Er sah vor allem nach 1918 „Scharen Enttäuschter in seelischer Not nach neuen Zufluchtsstätten“361 drängen. Und er sah, dass die „Selbstsicherheit der modernen Weltweisheit erschüttert war und einer müden skeptischen Zurückhaltung, ja stellenweise einer höhnischen Abweisung aller Wissenschaft Platz“362 gemacht habe. Die Hallen der Fabriken erschienen ihm „wie Riesensärge, in denen die Seelen der in ihnen Begrabenen vermodern, während die ragenden Schlote mit ihren Feuergarben gleich großen Totenkerzen dastehen“363. Dennoch sieht PRIBILLA keine Lösung in einem Rückzug in antimoderne Mentalitäten. Der moderne Mensch ist trotz aller technischen Errungenschaften „ein geistig Notleidender“364, der nach seelischer Erhebung verlange, aber der Weg zur katholischen Wahrheit sei ihm durch „vielfache, oft wunderliche Mißverständnisse und Vorurteile versperrt“365. Für die katholischen Theologen bestehe die Pflicht, „diese Hindernisse wegzuräumen“366. PRIBILLA schreibt: „Vielleicht haben wir Katholiken in den letzten Jahrzehnten zu stark und einseitig nur den Gegensatz zum modernen Denken hervorgekehrt und darüber die Herstellung der großen Synthese vernachlässigt, die mit offenem Blick alle wertvollen Bestandteile der Zeitwissenschaft und Zeitkultur aufzunehmen bereit ist. […] Was wir brauchen ist nicht eine Gelehrsamkeit, die unnützen Ballast früherer Jahrhunderte weiterschleppt und vor gelangweilten Schülern gleichgültige Erkenntnisse ausbreitet, sondern eine Wissenschaft, die auf die stillen Fragen der heutigen Menschen unaufgefordert Antwort gibt.“367
Großstadtmission Unter dem Titel Entstehung und Wachstum der Großstadt heißt es 1904: „Angesichts des ganz ungeahnten, einzig dastehenden Anschwellens der Städte hat sich in den letzten Jahrzehnten das Schlagwort gebildet vom ungesunden Wachstum der Großstadt. Wir möchten dies Wachsen an und für sich nicht ungesund nennen, wenn wir es in seinem Wesen und seinen Ursachen betrachten. Es ist eben eine naturgemäße Folge der Entwicklung des heutigen Wirtschaftsle-
361 362 363 364 365 366 367
PRIBILLA, Max (1924), 259. Ebd. Ebd. Ebd., 269. Ebd. Ebd. Ebd., 269ff.
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bens zum Vorherrschen der Industrie. […] Die Industrie entspricht den heutigen Verhältnissen, namentlich in populationistischer Hinsicht.“368
Der Autor KOCH erwähnt, wie sehr sich die Lebensbedingungen auf dem Land inzwischen gebessert haben: „Private Anregung und Organisation wie staatliche Maßnahmen arbeiten nun neuerdings immer mehr darauf hin, die wirtschaftliche und die soziale Lage der Landbewohner zu heben, insbesondere Lohnbedingungen und Wohnungswesen besser zu gestalten, und den Landleuten mehr und mehr jene Vorteile und Genüsse zu verschaffen, die moderne gesellige und Wohlfahrts-Einrichtungen der Stadt bieten. Zweifelsohne werden derartige Bestrebungen einer Entvölkerung des flachen Landes Einhalt tun.“369
Und eigentlich gehe es auch nicht wirklich um die Alternative Stadt oder Land. Eine derart beengte Sichtweise verkenne den Motor der Gegenwart: „Die Industrie und auch die Großindustrie hat für die heutige Menschheit und namentlich für unser deutsches Volk eine wahrhaft providentielle Bedeutung. Sie darf daher nicht einfachhin verurteilt werden, ebensowenig aber auch ihre naturgemäße Folge, die Großstadt.“370
Die Ambivalenz der Großstadt, ihre Schattenseiten und Abgründe werden dabei genau benannt, nämlich, „daß in dem Großstadtbilde dunkle Schatten sich abheben, daß in dem Gefolge der Großstadt unangenehme und häßliche Begleiterscheinungen auftreten, die unsere Zeit gegenüber früheren Jahrhunderten in ein trübes Licht rücken. In der heißen Arena des städtischen Erwerbslebens erliegen nach verzweifeltem Kampfe so viele, die es nicht verdient, und reißen andere mit sich. Andere, die sich mit knapper Not erhalten, fristen ein unsäglich trauriges Leben, oder lassen sich in ihrer Verbitterung verleiten, den sozialen Klassenkampf mitzukämpfen. Am meisten beklagenswert aber ist es, daß Unzählige im Großstadtgewühl ihren sittlichen und religiösen Halt gänzlich verlieren“371.
Und, fragt der Autor: „Ist an allem diesem die Großstadt, die Menschenanhäufung als solche schuld?“372 Sind es nicht eher die Menschen selbst, die „in echt liberaler Zeitauffassung die Dinge sich entwickeln ließen, wie sie kamen?“373 Es sind also nicht die Verhältnisse, die die Gesellschaft prägen, vielmehr hat nach Ansicht des Autors der Mensch selbst die Verantwortung, ob er sich von der „freien, optimistischen Zeitanschauung“374 mitreißen lässt oder nicht. Der
368 369 370 371 372 373 374
KOCH, H. (1904), 57. Hervorhebungen im Original. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 58. Ebd. Ebd.
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Beitrag schließt mit folgender Aussicht: „Unser Wunsch kann nur sein, daß dieser Erkenntnis jetzt eine kräftige, umfassende Reform folge.“375 Der Jesuit Constantin NOPPEL (1883-1945) beschreibt das Verhältnis von proletarisierter Masse und Kirche. Er versucht, die Ursachen aufzuzeigen, die zunehmend zum Verlust der Bindekräfte des Christentums führen könnten, wenn der Sozialismus die Religion als Heilslehre der Moderne ersetzen würde: „Fragen wir, wo liegen die Ursachen dieses Zurücksinkens, dieses Abfalls vom Christentum, so ist es nicht möglich, mit ein paar Sätzen erschöpfend zu antworten. Gewiß, die Vorbedingung ist für viele, wenn nicht die meisten, gegeben durch die Entwurzelung vom Heimatboden, durch ihr unsicheres, proletarisiertes Dasein, durch das Zusammendrängen der Massen, in die nun fast ohne Hemmung allen Glauben zersetzende Strömungen materialistischen Denkens hineinfluten. Aber es handelt sich nicht nur um ein Zurücksinken vom Glauben, nicht nur um ein Erschlaffen kirchlichen Lebens. Wäre es nur dieses, so könnten wir hoffen, ohne besondere Mühe die Schläfer wieder aufzurütteln, könnte sich vor allem der Glaube ungehindert in die Familien Eingang verschaffen, an alle die herantreten, die von Natur aus schon Sinn für das Edle und Hohe haben, ohne daß erst eine positive Gegenwehr zu überwinden wäre. Dem ist aber, besonders auch bei uns in Deutschland, nicht so. Massen, auch katholischer Industriearbeiter, stehen nicht nur außerhalb des katholischen Lebens, sie stehen auch bewußt innerhalb einer neuen Weltanschauung, die ihnen vielfach die Religion ersetzen soll. […] Diese neue Lehre ist der Sozialismus, der heute mehr als zuvor ein vollabgerundetes geistiges System zu werden sucht, neben dem für eine Religion kein Platz mehr ist.“376
NOPPEL verweist auf Entwicklungen in Holland und Frankreich. Auch dort bemühe sich die Kirche um die „unmittelbare Rückgewinnung jeder einzelnen Arbeiterseele. Hier versagen unsere kirchlichen Einrichtungen von heute in weitem Umfang. Es gibt Gemeinden, die selbst große Arbeitervereine besitzen, wo dennoch der Abfall unter der Arbeiterschaft erschreckend ist. […] Die beste soziale Organisation wird nichts helfen, wenn das solide Fundament der Seelsorge fehlt. Auch in Holland läßt sich heute wie bei uns eine Vereinsmüdigkeit deutlich erkennen, und auch dort geht das geflügelte Wort um: ‚wir organisieren uns zu Tode‘“377.
NOPPELs Hoffnung sind die neuen Formen der Religiosität und missioniarisches Wirken: „Um so mehr aber haben die eucharistische Bewegung, der Zug nach Vertiefung des religiösen Lebens durch Exerzitien und in enger Verbindung damit auch der apostolische Drang nach Ausbreitung des Glaubens. […] Aber viel größer noch war bis in jüngste Zeit und ist zum Teil heute noch die Seelsorgenot in den teils 375 376 377
Ebd. NOPPEL, Constantin (1925), 185. Ebd., 191.
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übergroßen Großstadtpfarreien und den vielen verödeten Kirchen. Nur langsam kann hier Schritt für Schritt der Aufstieg einsetzen. Diese Seelsorgetätigkeit muß sich gründen auf die Wiedererweckung der religiösen Familie. Ohne sie bleiben alle unsere Vereine nur haltloser Überbau.“378
Folgendes müsse die katholische Kirche bei Überlegungen zu einem neuen Selbstverständnis im Auge behalten: „Parteipolitische Betrachtung schleicht sich unvermerkt hier und dort ein und zieht Gräben und wirft Wälle auf, wo wir Brücken und Straßen bauen sollten. Wir sehen in den glaubenslosen oder doch an ihrem Glauben am schwersten bedrohten Massen unserer Städte und Gaue viel zu sehr nur den politischen Gegner, viel zu wenig den irrenden, der heiligsten Güter beraubten Bruder. Hätten wir stets diese einzig christliche Einstellung, […] so müßte von selbst all das fallen, was uns ohne Not den Weg zu ihm erschwert. Unsere Politik würde frei von einseitigen Interessen, unser Leben tief christlich und wahr. Wir würden wieder in Wahrheit in Gott und mit Gott ringen um die Seele des Arbeiters.“379
Es sind nicht nur die Zeitschriften der „Bewegung“ wie Die Schildgenossen der Das Heilige Feuer, die in den bürgerlich-katholischen Kreisen den Ruf haben, Foren des Aufbruchs mit antibürgerlichen Neigungen zu sein. Nach dem Krieg und dem damit verbundenen Zusammenbruch des bürgerlichen Wertekanons wird auch die Zeitschrift Stimmen der Zeit gegenwartsbezogener. Zum Thema Laienhilfe in der Seelsorge380 schreibt 1927 der Jesuit Raimund HAAS angesichts von Großpfarreien in Industrieregionen. Er beginnt mit einem effektvollen Zitat aus Hermann PLATZs Großstadt und Menschentum: „Die Kirche ist der Menschen Heim zwischen Gott und dem Abgrund.“381 Der Autor beschreibt das zu beobachtende Nachlassen des Gemeinschaftsbewusstseins und die Beziehung zwischen Priestern und Gemeindemitgliedern in den großstädtischen Pfarreien: „Nun zeigen gerade die letzten Jahrzehnte, insbesondere die Großpfarreien der Industriegebiete und großen Städte, eine mehr und mehr um sich greifende Erschütterung dieses Gemeinschaftsbewußtseins, eine bedenkliche Lockerung des Kontaktes zwischen Seelsorger und Pfarrangehörigen. Die Folgen sind Entfremdung, Verkümmerung des religiösen Mitlebens mit der Kirche und ein allmähliches Erlöschen des religiösen Pflichtgefühls und des seelischen Zusammenhalts mit der kirchlichen Gemeinschaft überhaupt. […] Familiengeist, Solidaritätsgefühl, praktische Caritas müssen erneut und in verstärktem Maß in unseren Großstadt- und Industriegemeinden wieder lebendig werden.“382
378 379 380 381 382
Ebd. Ebd., 192. HAAS, Raimund (1927). PLATZ, Hermann (1924), 250; zit. nach HAAS, Raimund (1927), 68. Ebd., 68.
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Als mögliche Lösung erscheint HAAS, dass, um der „Verkümmerung des religiösen Mitlebens“ Herr zu werden, es „die bewußte und planmäßige Mithilfe der Laien“383 brauche. Es fehlten für die Seelsorge in den Großpfarreien „Laien aus allen Ständen, die aus der Reihe der bloß Passiv-Rezeptiven heraus an die Seite der aktiven Seelsorge treten“, die allerdings „in Unterordnung unter dieselbe, unter Führung derselben, vorbereitende, begleitende, ergänzende Hilfsarbeit zu leisten bereit und berechtigt sind“384.
Wohnen in der Großstadt – Heinrich PESCH und Oswald von NELL-BREUNING Dass sich eine Zeitschrift wie die Stimmen mit dem Thema Wohnen befasst, verwundert. Ihr Blick auf dieses Thema ist allerdings beachtlich weitreichend. Der Jesuit Heinrich PESCH385 analysiert die Zeitphänomene und fragt am Beginn des Jahrhunderts, in welchem Verhältnis Landwirtschaft und Industrie stehen müssten, um international wettbewerbsfähig zu sein. Dabei gilt für ihn grundsätzlich, dass nur dort, wo „der weltwirtschaftliche Verkehr den Zwecken der ganzen Volkswirtschaft dient, zu ihrem Vorteile, zu ihrer Stärkung gereicht, […] seine Ausdehnung ein Fortschritt [ist], andernfalls aber ein Verderben“386. Ein reiner Agrarstaat entspräche nicht mehr den gesellschaftlichen Gegebenheiten: Die „überlieferte[n] Scheidung zwischen Stadt und Land“ sei „längst verschwunden und durch die neuzeitliche Entwicklung des internationalen Verkehrs und des auswärtigen Handels“387 obsolet geworden. Gleichzeitig tritt er aber für eine „Mäßigung der industriestaatlichen Entwicklung“ ein, „nicht als ob der Agrarstaat und vor allem der reine Agrarstaat ein absolutes Ideal, das unter allen Umständen allein Richtige sei und bleibe, sondern weil wir gerade in den obwaltenden Verhältnissen und mit Rücksicht auf die Eigenart der deutschen Volkswirtschaft den Zusammenbruch der einheimischen Landwirtschaft als das größte Unglück, das unsere Nation treffen könnte, bezeichnen müssen“388.
383 384 385
386 387 388
Ebd. Hervorhebungen im Original. Ebd. Heinrich PESCH SJ (1854-1926), Theologe, Nationalökonom, Sozialphilosoph, gehört zu den Begründern des Solidaritätsprinzips der katholischen Soziallehre. Er war Lehrer und Mentor von Oswald von NELL-BREUNING SJ (1890-1991), der wie sein Lehrer PESCH Theologe, Nationalökonom, Sozialphilosoph und der bekannteste Repräsentant der Katholischen Soziallehre nach 1945 war sowie jahrzehntelang Ansprechpartner im wissenschaftlichen Beirat von Ministerien zu Fragen von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Vgl. RAUSCHER, Anton (2001). Vgl. GROSSE KRACHT, Hermann-Josef; KARCHER, Tobias; SPIESS, Christian [Hrsg.] (2007). PESCH, Heinrich (1901), 347. Ebd., 345. Ebd., 482.
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Zum Thema Wohnen schreibt er zwei Jahre später ebenso analytisch treffsicher: „Neu ist gerade die Wohnungsfrage nicht, sogar theoretisch ‚gelöst‘; praktisch aber – eine offene Wunde!“389 Das Thema Wohnungsnot war dabei zu allen Zeiten virulent, das „besondere Merkmal der heutigen Wohnungsnot [ist] ihr Massencharakter“390. PESCH sieht als Hauptursache den „vorherrschenden Individualismus“391: Er schreibt: „Für die private Bautätigkeit aber war in einer Zeit, wo gesellschaftliche Solidarität ein leerer Begriff geworden, nicht das Wohl der Gesamtheit, die Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses, insbesondere der niederen Klassen, sondern der persönliche Vorteil, der zu erwartende Gewinn, ausschließlich maßgebend.“392
Und den HOBRECHT-Plan393 kritisierend: „In Berlin ist die Entwicklung am schlimmsten zur Geltung gekommen. Zwar hat der Schöpfer des Berliner Bebauungsplanes, Hobrecht, das Massenmiethaus als System dadurch zu rechtfertigen versucht, daß er auf die erhoffende soziale Mischung der Bevölkerung im Vorderhause und in der Hofwohnung hinwies. Allein in der Wirklichkeit stehen sich die Bewohner der Mietkasernen völlig fremd gegenüber.“394
PESCH flankiert seinen Aufsatz mit umfangreichem statistischen Material und fasst zusammen: „Zu wenig kleinere Wohnungen, mangelhafter Zustand der vorhandenen Wohnungen, ein übermäßig hoher Mietpreis, das sind […] die konstitutiven Elemente der Wohnungsnot der ärmeren Klassen.“395 Der Autor beurteilt die Auswirkungen der Wohnungsnot auf die unteren Schichten nicht moralisch, vielmehr rückt er die sozialpolitischen Fragestellungen in den Vordergrund: „Man hat die Überfüllung der Wohnungen, das Schlafgängerwesen usw. eine ‚wirtschaftliche Notwendigkeit‘ für die unteren Klassen genannt. Leider ist dieses Wort nur zu wahr! Das Elend ist in der Tat für einen großen Teil unseres Volkes zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit geworden.“396
Folglich richtet sich das Augenmerk der Jesuiten zunehmend auf eigentumspolitische Fragen der Grundrente sowie der Boden- und Hausspekulation.397 Gerichtet gegen einen „Wohnungsfeudalismus“, der, da er keine Fürsorgepflicht kenne, „drückender sei als der Feudalismus vergangener Zeiten“398. 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398
PESCH, Heinrich (1903), 524. Ebd., 527. Hervorhebungen im Original. Ebd., 528. Hervorhebungen im Original. Ebd., 529. Zum HOBRECHT-Plan vgl. Kapitel 3.4.2 dieser Arbeit, insbes. Anm. 309. Ebd., 530f. Ebd., 536. Ebd., 534. Vgl. ebd., 536ff. PESCH, Heinrich (1903), 544.
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Im gleichen Jahr hat PESCH unter dem programmatischen Titel Reform des Wohnungswesens399 die „Beseitigung schlechter“ und die „Beschaffung guter, preiswürdiger Wohnungen in ausreichender Zahl“400 gefordert. Für die Lösung der Wohnungsfrage ist „das Wirken der Gemeinnützigkeit“ ausschlaggebend, „mag sie selbständig vorgehen oder, was noch besser, die Selbsthilfe der Wohner im Kleinwohnungsbau fördern und ergänzen“401. Die Zukunft auf diesem Gebiete gehöre „weniger den Veranstaltungen fürsorglichen Charakters (Gesellschaften, Stiftungen) als den von den Wohnungsbedürftigen selbst organisierten Baugenossenschaften“402. Nach PESCH muß die „spekulative Umklammerung der Städte“ gelöst werden, „der Gürtel, den die Bodenspekulation um das Stadtinnere gelegt“403 hat. Sie schrecken dabei vor Zwangsenteignung nicht zurück und schließen sich inhaltlich Karl BÜCHER404 Forderung nach weitgehendem Enteignungsrecht an.405 Aber es gibt bei PESCH auch weniger radikale Vorstellungen zur Lösung des Wohnungselends. Erwähnung findet die kommunale „Erschließung eines zweckmäßigen und billigen Vorortverkehrs […] zur Dezentralisation der städtischen Ansiedlung“406. 1908 hatten die Stimmen im Gartenstadtprojekt eine praktikable Lösung des Wohnungsproblems gesehen.407 Auf zwanzig Seiten wird die Entstehungsgeschichte der Gartenstadtbewegung referiert und ihre Vorzüge „in gesundheitli-
399 400 401 402 403 404
405 406 407
PESCH, Heinrich (1903a). Ebd. 251. Ebd. 255. Ebd. 256. Hervorhebung im Original. Ebd. 263. Der Nationalökonom Karl BÜCHER (1847-1930) erwähnt im Sammelband der GEHE-Stiftung, in dem auch Georg SIMMEL seine Abhandlung über die Großstädte und das Geistesleben veröffentlicht hat, daß der Großstadtmensch „ja schon eine besondere Species der Gattung homo sapiens“ bildet, der in der „Unruhe und Hast seines Daseins nur selten einmal Zeit und Luft [hat], sich auf sich selber zu besinnen und aus dem drängenden Gewühl und Lärm des Tages sich auf einen stillen überschauenden Standpunkt zu retten“ (BÜCHER, Karl, 1903, 4). Dennoch stellt die moderne Stadt „der freigewählten Arbeit“ (ebd., 30) eine „höhere Form des sozialen Daseins“ (ebd.) dar als frühere Städteformen. Mit Zuversicht blickt er auf die künftige Entwicklung der Großstädte, denen es gelingen werde, „die Elemente des Verfalls und der Zersetzung, die zweifellos in ihrem Innern vorhanden sind, zu überwinden“ (ebd.). Auch in einem Aufsatz von 1922 weist er der Stadt positive Auswirkungen zu: Die neuen Agglomerationen unterscheiden sich von den historischen Städten durch eine „Veränderung ihrer kulturellen Mission“ (BÜCHER, Karl, 1922, 389. Hervorhebung im Original). Sie sind „auf dem Untergrunde staatsbürgerlicher Freiheit erwachsen, und ihr Anspruch, beim Siegeszuge der modernen Kultur die Fahne vorauszutragen [...]. Das Großstadtleben hat „ungeahnte Kräfte der Nation entbunden, auf dem Gebiete der Technik, der Wissenschaft, der Kunst, der sozialen Wohlfahrtspflege“ (ebd., 391f.). Zur positiven Wahrnehmung der Großstadt durch BÜCHER vgl. insbesondere LEES, Andrew (1979). Vgl. BÜCHER, Karl (1898), 16. Vgl. PESCH, Heinrich (1903a), 264ff. Ebd., 262f. Vgl. KROSE, H. U. (1908).
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cher, sittlicher und ästhetischer Beziehung“408 hervorgehoben: Die Gartenstadt soll zu einem selbständigen Gemeinwesen ausgebaut werden, allen Klassen offenstehen und die Vorzüge städtischen Lebens bieten: „Wer einmal diese und andere Vorzüge des Stadtlebens genossen hat, wird sie ungern entbehren. Wir sehen daher ja auch, daß die Stadtbewohner, trotz der vielen Übelstände, die sie in der Stadt mit in den Kauf nehmen müssen, diese nicht verlassen, sondern daß im Gegenteil immer neue Massen vom Lande in die Städte strömen. Nur wenn es gelingt, eine neue Art von Gemeinwesen zu schaffen, welche die Vorteile von Stadt- und Landleben miteinander vereinigt, ist Aussicht vorhanden, daß der steten Vergrößerung der bestehenden Städte Einhalt geschieht, ja daß allmählich eine teilweise Rückwanderung aus dem ungesunden, überfüllten Häusermeere unserer modernen Großstädte stattfindet.“409
Letztlich würde das Familienleben „durch die nahe Verbindung von Wohnung und Arbeitsstätte ohne Zweifel außerordentlich gewinnen“410. Die Aufbruchstimmung im deutschen Katholizismus der Nachkriegszeit hatte nicht getragen, sie verblasste nach kurzer Zeit angesichts der Weltwirtschaftskrise von 1929. Mehr Relevanz hatten vielleicht die soziale wie ökonomische, ordnungspolitische wie pastorale Fragen umfassenden Analysen des Jesuiten Oswald von NELL-BREUNING (1890-1991), die vor allem in Stimmen der Zeit abgedruckt wurden. Die Beiträge sind immer umfangreich und trotz ihres analytisch-begrifflichen Charakters auch für eine interessierte Öffentlichkeit verständlich und lesbar. NELL-BREUNING will in seinem Aufsatz Wohnheimstätten ein Kampffeld der Weltanschauungen411 von 1930 am Inbegriff moderner Architektur, dem kommunalen, austromarxistischen Wiener Wohnungsbau, der überall in Europa – bei Sozialpolitikern, Stadtplanern und Architekten – großes Aufsehen erregt hatte, zeigen, „was Wohnsiedlungsgestaltung und Weltanschauung miteinander zu tun haben. […] Nicht alles ist schlecht an ihr und nicht jede abfällige Beurteilung darf uns als vertrauenswürdig gelten“412. Er präzisiert: „Rein technisch gesehen, die Wohnungen lediglich als Konsumartikel betrachtet, als ‚Wohnmaschine‘, die man gleich Nähmaschine, Fahrrad usw. unter Ausschluß der kulturellen Gesichtspunkte rein zweckrational in Hinordnung auf einen technischen Zweck wertet, sind die Wiener Gemeindewohnungen gut.“413
Von ihrer Konzeption her jedoch, so NELL-BREUNING, beanspruchen die Wiener Gemeindebauten, dass sie mehr sein wollen
408 409 410 411 412 413
Ebd., 409. Ebd., 262. Ebd., 267. NELL-BREUNING, Oswald v. (1930a). Ebd., 46. Ebd., 47.
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„als bloß ‚Wohnmaschinen‘, und sie sind mehr. […] Nicht gesiedelt hat man die Menschen, sondern mit bewußter Absicht kaserniert. […] Nicht bloß hunderte, sondern in dem Heiligenstädter Mammutbau bis 2000 Wohnungen werden neben- und übereinander geschichtet, bis sechs und ausnahmsweise selbst bis acht Stockwerke hoch“414.
NELL-BREUNING beurteilt den Komfort dieses modernen großstädtischen Wohnungsbaus positiv: Der Arbeiter kommt in den Genuss moderner Technik, aus dem Privileg der Reichen ist ein Massenkonsumartikel für alle geworden. Allerdings unter Preisgabe wesentlicher Teile einer „organische[n] Lebensauffassung“415. Bindungen – sei es Familie, sei es Heimat, Erinnerung, Religion – würden bald „überflüssig“, dies sei eine „weltanschauliche und kulturpolitische“416 Folge der großstädtischen Lebensweise im Massenmietshaus. Im Zusammenhang mit dem in diesen Jahren sozialpolitisch wie wirtschaftlich entscheidenden Thema Arbeitslosigkeit befasst sich NELL-BREUNING 1931 auch mit ländlichen und städtischen Siedlungsformen: „Nicht minder als die ländliche ist auch die städtische Siedlung arbeitsmarktpolitisch von allergrößter Bedeutung, […] daß der Zusammenhang des Gesamtvolkes mit der Landwirtschaft, wie er für eine richtige Eingliederung der Landwirtschaft in den Gesamtorganismus der Volkswirtschaft gefordert wird, einen allmählichen, verbindenden Übergang zwischen Land und Stadt in Form der halbund vorstädtischen Siedlung erfordert.“417
Das Neue dieses Ansatzes in der Stadt-Land-Debatte ist, dass NELLBREUNING unter volkswirtschaftlichem Aspekt den Zwischenraum zwischen Stadt und Land thematisiert und bewertet. Der Autor hat dabei vor allem sozialpolitische Perspektiven im Auge, die zwei Seiten zugleich befrieden könnten: zum einen mit Blick auf die Folgen der dramatisch zunehmenden Arbeitslosigkeit und mögliche Entlastungen auf dem Arbeitsmarkt, zum anderen die Rückbesinnung auf traditionale Familienstrukturen: „Unmittelbar arbeitsmarktpolitisch wirkt sich die Gestaltung des städtischen (einschließlich halb- und vorstädtischen) Wohnungssiedlungswesens dadurch aus, daß sie die Frau sowohl aus dem Hause hinaus und auf den Arbeitsmarkt drängen als auch ihr die Möglichkeit des wirtschaftlich ersprießlichen Wirkens und damit des Bleibens im Hause schaffen und so die Frau vom Arbeitsmarkt fernhalten, den Arbeitsmarkt vom Angebot der Frauenarbeit weitgehend entlasten kann.“418
Im gleichen Jahr schreibt NELL-BREUNING über den Katholischen Siedlungsdienst419 und positioniert sich zwischen „rückschrittliche[m] Romantizismus“ 414 415 416 417 418 419
Ebd., 47f. Ebd., 49. Ebd. NELL-BREUNING, Oswald v. (1931), 66. Ebd., 66f. NELL-BREUNING, Oswald v. (1931a).
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und „aufklärerische[m] Fortschrittstaumel“420. Christliche Sozialphilosophie und Industriekapitalismus sind auf begrifflicher Ebene nicht vergleichbar: „Führende Köpfe, allen voran Franz Hitze und Heinrich Pesch, haben jederzeit rückschrittlichen Romantizismus wie aufklärerischen Fortschrittstaumel gleicherweise bekämpft. Weil die ungewohnte Neuerscheinung des kapitalistischen Industrialismus so überaus schwer der begrifflichen Fassung sich zugänglich erwies, gelang es auch nicht so leicht, sie an den Maßstäben christlicher Sozialphilosophie zu messen. Aber eben dies genügte, um sich einer gewissen Inkommensurabilität dauernd bewußt zu bleiben.“421
Gerade die Siedlung könne den Menschen aus seinem Versorgungsdenken führen und ihn zur Eigenverantwortlichkeit erziehen: „Gegenüber einer geradezu krankhaften Überspannung des Berechtigungs- und Versorgungswesens, gegenüber staatssozialistischen Entwicklungstendenzen, denen unsere Sozialpolitik im herkömmlichen Sinne je länger je mehr zu erliegen droht, sehen wir in der Siedlung Menschen, die unter eigener Verantwortung mit dem Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit ihr eigenes und ihrer Familienangehörigen Lebensschicksal gestalten.“422
Was der Mensch zu leisten in der Lage sei, solle ihm kein gesellschaftlicher Verband abnehmen, dieser solle vielmehr ergänzend und helfend zur Seite stehen, darauf basiert die „Subsidiarität der Kollektivitäten“: „Dabei sei nicht zu übersehen, daß die ländliche Siedlung […] zahlreiche andere selbständige Existenzen schafft oder doch ermöglicht, namentlich von Handwerkern und anderen kleinen Gewerbetreibenden, daß auch der Inhaber einer Landarbeiterstelle, wenn auch nicht wirtschaftliche völlig selbständig, so doch aus der proletarischen Lebenslage herausgehoben ist. Gegenüber der Proletarisierung einerseits, der Vermassung und Kollektivierung der Menschen andererseits führt also die Siedlung zur selbständigen und selbstverantwortlichen menschlichen Persönlichkeit. Hier erscheint die menschliche Persönlichkeit als Individualität gesellschafts- und wirtschaftspolitisch wieder in die ihr zukommende Stellung eingesetzt und ein grundlegendes Prinzip christlicher Sozialphilosophie, nämlich die Subsidiarität der Kollektivitäten, wieder hergestellt.“423
Die „atomistisch-liberalistische Gesellschaftsauffassung“ habe das Prinzip der Subsidiarität mehr oder weniger „vergessen“. Der „liberale, zentralistischomnipotente Staat“ habe derart zuwidergehandelt, dass er sogar vom „kollektivistischen Zentralismus sozialistischer Prägung“424 überboten worden sei: „Siedlung bedeutet Abwendung von dieser Irrlehre und Rückkehr zur organischen Gesellschaftsauffassung. Der höchste gesellschaftliche Verband, der Staat, 420 421 422 423 424
Ebd., 42. Ebd., 42f. Ebd., 48. Ebd. Ebd.
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schafft durch wirtschaftspolitische Maßnahmen die Möglichkeiten, aus denen die Selbsthilfe der Siedler wie ein Gemeindeleben echter Selbstverwaltung. […] Siedlergemeinde und Siedlergenossenschaft sind die Kernzellen wahrer Demokratie. Nicht von der Großstadt, nicht von der Menschenvermassung im Industrierevier, sondern vom Dorfe, von der Siedlergemeinde her baut der neue christlich-germanische Genossenschaftsstaat sich auf.“425
Anton KOCH folgert unter dem Titel Großstadtdämmerung426 anlässlich einer Besprechung des 1932 erschienen Buches Stadt und Land als organischer Lebensraum427 von Konrad Werner SCHULZE, dass der Zwischenraum „Stadtland“ zu einer der wesentlichen Aufgaben künftiger Stadtplanung gehören müsse: „Stadtland als organischer Zwischenraum zwischen Stadt und Land: das Zusammen- und Ineinandergreifen der beiden heute noch getrennten Sphären Stadt und Land in einer lebendig und sinnvoll gegliederten Einheit, in der die Stadt im wesentlichen nur noch die kulturell, wirtschaftlich und sozial notwendigen zentralen Anlagen wie Regierungs- und Staatsgebäude, Hochschulen, Bibliotheken, Museen, Krankenhäuser u. ä. umfaßt, während die Stätten der Arbeit je nach der Natur der Produktionsgrundlagen ins Stadtland verlegt und die Wohnplätze an den weit ausstrahlenden Stadträndern verteilt werden. […] Wenn einmal Schnelltriebwagen die entlegenen Gebiete […] verbinden […], wenn automatischer Fernruf-Selbstanschluß der ganzen Stadtlandregion, Rundfunk usw. den Zusammenschluß auch großer Landschaftsteile vollenden, so ist nicht einzusehen, was den Städter noch abhalten sollte, die unwohnliche Steinwüste der Großstadt alten Stils mit der Siedlung im näheren oder ferneren Umkreis der Stadt zu vertauschen.“428
Der Großstadt alten Stils entsprechen seiner Ansicht nach die Verirrungen der Moderne; KOCH ordnet diese kritisierend „geistesgeschichtlichen Kräften“ zu. Sie sieht er als Verursacher von Urbanität, „die einst eruptiv den heute zur Steinwüste erstarrten Lavastrom großstädtischer Siedlungsweise aus sich hervorgetrieben haben: Liberalismus, Positivismus, ökonomischer Rationalismus, der ‚repräsentative‘, zu deutsch: im Schein schwelgende Lebensstil, kurz alle Irrungen des seinen naturhaften Bindungen entlaufenen abendländischen Geistes“429.
Stadtplanung müsse der „Naturwüchsigkeit“ des gesellschaftlichen „Wildwuchses“ Einhalt gebieten, aber mit Blick auf die Sowjetunion sind ihm auch die Gefahren bewusst, die einem Gesellschaftsplan zugrundeliegen: „Sowjetrußland lebt heute im Rausch der Planung seiner Mammutbetriebe und Riesenstädte; es hat sicher den einen Nachweis erbracht, daß der Siedlungspla425 426 427 428 429
Ebd., 48f. KOCH, Anton (1933). SCHULZE, Konrad Werner (1932). KOCH, Anton (1933), 197f. Hervorhebung im Original. Ebd., 197.
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nung mit Hilfe der Technik heute nichts mehr unmöglich ist […]. Dort steht alles unter der Tyrannei nackt wirtschaftlicher Berechnungen – der Mensch ist Nebensache (also genau unter dem Fehlansatz, der bei uns am stärksten den Mißwuchs des Großstadtgebildes auf dem Gewissen hat).“430
Die Ratlosigkeit auch der klugen Kommentatoren der Stimmen ist nicht zu übersehen angesichts der sich dramatisch zuspitzenden Krise der westlichen Industriegesellschaften durch die Weltwirtschaftskrise von 1929. Die vielfältigen wie unterschiedlichen intellektuellen Möglichkeiten der Mitarbeiter der Zeitschrift ließen eine breite Auseinandersetzung mit kirchlichen und außerkirchlichen Themen zu. Die Stimmen konnten so zu einer der profiliertesten theologischen und geisteswissenschaftlichen Publikationen der Weimarer Republik werden.431 Der Kreis der Autoren hatte durch seine Ordenszugehörigkeit eine große Homogenität, auch wenn immer wieder Experten zu bestimmten Themen eingeladen wurden, blieb die innere Kohärenz einer „binnenkatholische[n] Orientierung“432 gewahrt. Durch die enge Verbindung zum akademischen Milieu des deutschen Katholizismus waren die Autoren eher weniger dem integralistisch konservativen Flügel zuzurechnen. SCHMIEDL schreibt: „Sie zeigen Wege auf, wie sich der Katholizismus gleichzeitig kirchen- und papsttreu, aber auch zeitoffen und mit einer gewissen theologischen Liberalität präsentieren konnte.“433 Anders als die Zeitschriften Die Schildgenossen oder Das Heilige Feuer, die sich als Sympathisanten, wenn nicht gar als Ausdruck der Jugendbewegung verstanden und damit konträr zur Mehrheit der deutschen Katholiken standen, nahmen die Stimmen der Zeit auch hier eine Mittelstellung ein. Was die Stimmen nicht mit diesen Zeitschriften der Bewegung teilten, war nach BONNERY „la renaissance d’un sentiment populaire et la nostalgie d’une communauté populaire rappelant le romantisme […] Contrairement à la majorité des revues catholiques, qui n’acceptent pas le rejet de l’autorité et de la tradition manifesté par cette jeunesse, les StdZ […] à un degrée moindre, soutinennent ce movement; les jésuites se placent même souvent à leur tete, pour mieux les guider d’ailleurs dans la voie qui leur convient et qui se caractérise surtout par la sagesse et la fidélité aux principes de l’Eglise“434.
Sie teilen nicht die bisweilen völkische Romantisierung und Infragestellung hierarchischer Strukturen der Bewegung und äußern sich traditioneller als etwa Hochland:
430 431 432 433 434
Ebd., 198. Vgl. SCHMIEDL, Joachim (2006), 241. Ebd., 251. Ebd. BONNERY, Bernard (1978), 283f.
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„Toutefois, malgré ce soutien du renouveau les StdZ […] s’avèrent plus traditionalistes et plus dogmatiques que Hochland […] à la recherche d’une religiosité basée sur de nouveaux principes.“435
Es gelang Stimmen der Zeit gerade durch die Vielzahl ihrer Autoren – und darin durchaus mit Hochland vergleichbar – kirchlichen wie außerkirchlichen Strömungen Gehör zu verschaffen. Dadurch gelang es, „dass die Stimmen zu einer der besten theologischen und geisteswissenschaftlichen Organe der Weimarer Republik wurden, zum Mittelpunkt des intellektuellen Teils des katholischen Milieus“436. Hier gab es auch in diesen Jahren immer noch gegenüber dem Protestantismus Insuffizienzgefühle, „doch konnten die Stimmen wegen ihrer thematischen Weite ein gutes Beispiel dafür abgeben, wozu katholische Intellektuelle fähig waren“437. Die Stimmen der Zeit, schreibt SCHMIEDL, sind „im besten Sinn Teil der Intellektuellengeschichte der Weimarer Republik – gestaltend für den Bereich des katholischen Milieus, analysierend für die anderen konfessionellen und gesellschaftlichen Teilmilieus“438. Die von Karl MUTH im Jahr 1903 gegründete Zeitschrift Hochland wurde auch als „eines der Organe des Reformkatholizismus“439 bezeichnet, der „nach der Isolation und ultramontaner Orientierung der Katholiken im Kulturkampf ihre politische und kulturelle Reintegration in die deutsche Nation vorantreibt und eine Neudefinition katholischer Kultur und Kunst vom Standpunkt des sog. ‚Modernismus‘ aus versucht“440 schreibt HEYDEBRAND. Im folgenden Kapitel wird diese auch in der wissenschaftlichen Literatur lange Zeit gängige Position kritisch reflektiert.
6.4 Hochland (1903-1941) Die Auseinandersetzungen zwischen Ultramontanen und Reformern waren so erbittert wie unversöhnlich. Auch wenn die zumeist akademisch gebildeten Reformer eine verschwindende Minderheit unter den Katholiken repräsentierten, darf ihre Resonanz nicht unterschätzt werden: Sie hatten beinahe die ganze katholische Öffentlichkeit gegen sich. Die Aufbruchsjahre des Katholizis435 436 437 438 439 440
Ebd. SCHMIEDL, Joachim (2006), 251. Ebd. Ebd. HEYDEBRAND, Renate von (1988), 69. Ebd.
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mus, vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sind ohne die Reformbereitschaft eines zunehmend erstarkenden katholischen Bildungsbürgertums nicht zu erklären. Neben den Reformkatholiken, die auf gesellschaftliche Anerkennung und Arriviertheit in der modernen Gegenwart des wilhelminischen Deutschlands drängten, gab es eine weitere Gruppierung, die sich vor allem einer Öffnung zur modernen Kultur verschrieben hatte. Sie sammelte sich um die Zeitschrift Hochland und dessen Herausgeber Karl MUTH. Die Zeitschrift wurde zum Forum kulturell-katholischer Auseinandersetzung mit den Krisengefühlen, die mit der Moderne einhergingen und sich in Phänomenen wie Nietzschekult und Lebensphilosophie in Literatur und Philosophie wirkungsvoll und zum Teil auch spektakulär artikulierten. Das Hochland, so Otto WEISS, „unterschied sich […] auch von kirchenkritischen Zeitschriften der Reformkatholiken vor allem dadurch, daß es an die Stelle von Kritik neue positive Ansätze zu stellen wußte. So fanden in dem Blatt alle jene gebildeten Katholiken ein Heimatrecht, die sich danach sehnten, daß die Bastionen, welche ihnen den Zugang zur modernen Welt und Kultur der Zeit verschlossen hatten und sie zu zweitklassigen Deutschen machten, endlich geschleift würden“441.
Mit seiner „weite[n] Bandbreite“442 deckte die Zeitschrift den intellektuellen Anspruch der damaligen deutschen Bildungskatholiken weitgehend ab.443 Gerade aufgrund seiner kulturspezifischen Ausrichtung erregte Hochland schnell Aufmerksamkeit, denn die antimodernistischen Kräfte der römischen Kurie sahen ihren „eigentlichen Feind [im] praktischen, politischen und literarischen Modernismus“ und „dieser sei schwerer zu erkennen als die offene Häresie und ihn gelte es zu entlarven“444, schreibt NEUNER. Man kämpfte mit Pressekampagnen und tendenziösen Informationen: „Dabei war Deutschland ein Schwerpunkt von BENIGNIs Aktivitäten. [...] Vor allem die Zeitschrift Hochland machte [er] als modernistisch aus.“445 Die sogenannten Integralisten setzten alles daran, Hochland „zu vernichten und starteten dazu eine wahre Hetzkampagne, wobei die Konkurrenzorgane, der Gral und die Stimmen aus Maria Laach, sie nach Kräften unterstützen“446. Die Kampagne hatte Erfolg: „Im Juni 1911 wurde, wie Muth schon länger be-
441 442 443
444 445 446
WEISS, Otto (1995), 461. Ebd. Und so „rechneten die deutschen Reformkatholiken Carl Muth, abgesehen von wenigen Meinungsverschiedenheiten, grundsätzlich zu den ihrigen“ (ebd., 462). Für WEISS steht jedoch fest: „Auch der ‚Hochland-Katholizismus‘ hatte seine Grenzen. Sie lagen in der Versuchung zur Flucht ins Ästhetisch-Elitäre. Aber ohne ihn wäre es den Katholiken kaum gelungen, aus der ‚Inferiorität‘ und einem einseitigen ‚Romanismus‘ herauszutreten.“ (Ebd., 473). NEUNER, Peter (2009), 108. Ebd., 109. Ebd., 131. Vgl. WEISS, Otto (1995), 463f.
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fürchtet hatte, das Hochland auf den Index der verbotenen Schriften gesetzt.“447 Hochland, hohen Geistes Land – Sinn dem Höchsten zugewandt, dieses Motto zierte als Titelvignette die Ausgaben der Anfangsjahre. Der Name war Programm. Jahrzehntelang war Hochland die führende katholische Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, so die Zeitschrift im Untertitel. Wie die Historisch-politischen Blätter ebenfalls in München angesiedelt, wirkte Hochland „mit seinen essayistischen Artikeln, seinen kurzen und bündigen Literaturbesprechungen, mit den Teildrucken ebenso niveauvoller wie kurzweiliger Novellen, Romane und Erzählungen, den eingestreuten Bildern und Illustrationen schwungvoller, lebendiger, offener, gegenwartsbezogen, auch laizistischer und mehr interdisziplinär als das andere, sehr historisch ausgerichtete, politisch ambitioniertere, noch stark von geistlichen Federn zehrende Münchener Organ“448.
Hochland unterschied sich von den bestehenden konservativ-katholischen Publikationen wie den Historisch-politischen Blättern und den Stimmen aus Maria Laach durch einen schon in der Gestaltung der Zeitschrift erkennbar modernen Stil. WEISS schreibt: „Bewußt wurde das vertraute geschlossene katholische Milieu überschritten.“449
Kultureller Katholizismus mit völkisch-nationalen Zügen Der in Worms geborene Karl MUTH (1867-1944)450 wollte, angeregt durch Kardinal de LAVIGERIE, Erzbischof von Algier und Gründer der Missionsgesellschaft der Afrikamissionare, in den Orden der Weißen Väter eintreten. Er besuchte deren Missionsschulen in Steyl und Algier (1884/85), entschied sich dann aber gegen das Ordensleben und absolvierte stattdessen ein Studium generale u. a. in Berlin, Rom und Paris. Gerade in Paris erlebte er, was es heißt, wenn sich Katholiken geistig frei unter den Eliten ihres Landes bewegen können, und er wünschte, auch deutsche Katholiken hätten die Möglichkeit, ihre „kulturelle Katakombe“451 zu verlassen, schreibt Franz Josef SCHÖNINGH452.
447
448 449 450 451
Ebd., 132. NEUNER fährt fort: „Erst 1927 erwähnte der Osservatore Romano in einer erneuten Kontroverse um die Zeitschrift ganz beiläufig, daß das Hochland bereits seit mehr als fünfzehn Jahren auf dem Index stand. Weder die Herausgeber noch die Autoren oder die Leser hatten davon gewußt. Das kirchliche Mißtrauen allerdings blieb bis zum Verbot der Zeitschrift durch das NS-Regime 1941.“ (Ebd.). BECKER, Winfried (2009), 34. WEISS, Otto (1995), 461. Zur Biographie vgl. BECKER, Winfried (2009), 29ff. Vgl. auch den Nachruf von SCHÖNINGH, Franz Josef (1946). SCHÖNINGH, Franz Josef (1946), 3.
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An diesem Schritt ins Offene hat MUTH mit der Zeitschrift Hochland wesentlichen Anteil. Er bricht sein Studium ab und wechselt zum Journalismus. Zunächst arbeitet er bei der katholischen Tageszeitung Germania453, vor allem als Übersetzer von Beiträgen aus dem Französischen, 1894 geht er nach Straßburg zur Tageszeitung Der Elsässer. 1903 gründet er, zusammen Paul HUBER (18751911) aus dem Verlag Kösel, die katholische Kulturzeitschrift Hochland. Ihre Aufgabe sahen Verleger und Herausgeber in der Versöhnung des deutschen Katholizismus mit der Kultur der Moderne. MUTH hatte einen untrüglichen Sinn für Qualität. Das hatte sowohl mit seiner frühen Begegnung mit französischer Kultur als auch mit dem Elternhaus zu tun, sein Vater Ludwig MUTH war ein in Worms anerkannter Kunstmaler und später Direktor der Kunstgewerbeschule. Einig waren sich MUTH und HUBER, dass die Zeitschrift auf keinen Fall programmatisch zu eng gefasst sein dürfte. Mitarbeiter wie Autoren kamen sowohl aus konservativen als auch reformorientierten Kreisen. Hochland galt als „zukunftgewandtes Forum für Kunst und Literatur“454 und wurde, schreibt RIES, „in den nachfolgenden Jahrzehnten für gebildete Katholiken zur Orientierung, welche die Enge überwinden half und den Erneuerungsbewegungen der zwanziger Jahre vorarbeitete. Zum Erfolg wurde das Unternehmen nicht allein wegen des angestrebten anspruchsvollen Niveaus und wegen der Zeitumstände, aus denen es geboren war, sondern vor allem auch wegen der als befreiend empfundenen Weite, die allein schon der Autorenkreis eindrücklich unter Beweis stellte: Versammelt waren Beiträge in einer überaus breiten Fächerung aus der Theologie und der Philosophie ebenso wie aus der Geschichte, der Medizin, der Kunstkritik und der Literatur“455.
MUTH öffnete das Feld für einen bis dahin beispiellosen kulturellen Katholizismus. Die deutschen Bildungskatholiken widerlegten die ihnen seit Jahrzehnten – zuletzt hatte es im Zeichen der Romantik (NOVALIS, SCHLEGEL, BRENTANO, EICHENDORFF, DROSTE-HÜLSHOFF) Vergleichbares zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegeben – zugeschriebene Verfasstheit geistiger Insuffizienz. MUTH gelang es, die führenden katholischen Intellektuellen seiner Zeit – dazu gehörten Max SCHELER, Romano GUARDINI, Theodor HAECKER, Alois DEMPF, Ernst R. CURTIUS, Carl SCHMITT – zur regelmäßigen Mitarbeit zu bewegen. Die Qualität der Zeitschrift war auch außerhalb des katholischen
452
453 454 455
Franz Josef SCHÖNINGH (1902-1960), Publizist, Enkel des Verlags- und Zeitungsgründers Ferdinand SCHÖNINGH, war ab 1935 Redakteur und ab 1939 Hauptschriftleiter von Hochland. 1945 wurde er Gründungsherausgeber der Süddeutschen Zeitung. Zu Germania vgl. CARLÉ, Wilhelm (1931), 104ff. RIES, Markus (1998), 288. Ebd.
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Milieus dauerhaft anerkannt.456 Für den konservativen Breslauer Bischof Georg von KOPP hingegen gehörte Hochland von Beginn ihres Erscheinens an zu den „inneren Gefahren der Kirche“457. Hochland konnte sich jedoch behaupten und erreichte vor dem Ersten Weltkrieg ungeachtet aller Querelen die beachtliche Auflage von 10.000 Exemplaren.458 Seine eigentliche Wirkung wie Aktualität erlangte Hochland jedoch erst nach dem Krieg, in der Weimarer Republik. In diesen Jahren der Orientierungssuche erfuhr der Katholizismus gerade unter Gebildeten eine überraschende Renaissance. In der Literatur werden diese Jahre als die nach der Romantik zweite Emanzipationsbewegung des deutschen Katholizismus in der Neuzeit beschrieben.459 MUTH war weder ein politischer Kopf noch war er Theologe, er hatte in erster Linie literarisches Interesse.460 Daher rührt möglicherweise auch seine Sensibilität für die Krisengefühle seiner Zeit, die er durch einen sich der Moderne öffnenden wiewohl deren Extreme meidenden Katholizismus aufgreift. MUTH schreibt: „Daß wir ein Unbehagen im Hinblick auf gewisse Zustände im Gebiet des religiösen und kirchlichen Lebens der Katholiken empfanden, ist gewiß. Wir gewahrten, wie sich Inhalt und Form darin sehr häufig widersprachen; wir litten unter dem Mangel an Aufgeschlossenheit gegen die allein freimachende Wahrheit; wir fühlten uns schmerzlich berührt von so mancher Stillosigkeit im öffentlichen Kultus, von der Mechanisierung des Andachtswesens, von der nicht ge456 457 458 459 460
Vgl. HACKELSBERGER, N. Luise (2003), 104. Bis zu ihrem Verbot 1941 war Hochland nach 1933 ein Forum und damit ein Beispiel für Möglichkeiten und Grenzen innerer Emigration. NIPPERDEY, Thomas (1988), 37. Ebd. Vgl. DÜLMEN, Richard van (1974), 254f. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um die sog. Inferiorität der Katholiken entfachte Karl MUTH den Katholischen Literaturstreit. In seiner Schrift Steht die Katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit. Eine literarische Gewissenfrage (VEREMUNDUS [Karl MUTH, Pseudonym], 1898) ruft er, gegen die mittelmäßige Romanliteratur in den katholischen Familienblättern, zur Lektüre qualitativ hochwertiger Literatur auf. MUTHs Analyse war „sachlich, schonungslos, zuweilen polemisch, verließ aber nicht den damals üblichen Rahmen konfessioneller Solidarität“ (BECKER, Winfried, 2009, 30). Gegen das Eingeständnis literarischer Rückständigkeit opponierte insbesondere Richard von KRALIK (1852-1934), der Herausgeber der Zeitschrift Der Gral (1906-1937). Er bestreitet gegen MUTH die Inferioritätsthese und glaubte, „noch auf einen Fundus tradierter katholisch beeinflusster Literalität zurückgreifen zu können“ (BECKER, Winfried, 2009, 33). In der Ausgabe von 1914 heißt es: „Diese Grundschuld der ungerechten Zurücksetzung, des Aschenbrödeldaseins, des Ungekanntseins katholischer Literatur hat […] das Märchen von der Inferiorität der katholischen Literatur zur Welt gebracht und […] damit den ‚Literaturstreit‘ uns geschenkt.“ (WARUM?, 1914, 563). KRALIK selbst sieht seinen Standpunkt „weder in der modernen Weltanschauung noch in dem religionsfreien Betrieb der Kunst und Wissenschaft“ (KRALIK, Richard v., 1908, 5.) verortet. Vielmehr: „Eine Versöhnung der Prinzipien der Kirche mit den sogenannten modernen Prinzipien erweist sich immer mehr als unmöglich. [...] Der moderne Relativismus widerspricht logisch dem Idealismus der Kirche. […] Wollen wir aber wirklich etwas als Katholiken erreichen, so müssen wir als Katholiken imponieren.“ (KRALIK, Richard v., 1908, 6).
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nügenden Schätzung des aktiven Tugendlebens, von der Überschätzung der äußerlichen Vereinsorganisation, von der Lieblosigkeit und dem Mißtrauen gegen andersdenkende Glaubensgenossen, von der parteimäßigen Haltung gegenüber Religion und Kirche, von der Verquickung von äußeren, geschäftlichen, beruflichen, ständischen, politischen Interessen mit kirchlichen Aufgaben, von gewissen apologetischen Kampfmethoden.“461
Dies war ein besonderer, ein einmaliger Weg, der Persönlichkeit MUTHs geschuldet, der die Zeichen der Zeit zu verstehen suchte:462 „Er hat sich niemals für einen Denker im eigentlichen Sinne, wohl aber für einen nahen Freund der Denker gehalten, den jenes ‚Grundgefühl‘, jene elementare Liebe zum Geist vorwärtstrieb. Gerade dies war seine Stärke, weil es ihn hinderte, je einer ‚Richtung‘ zu verfallen, eine bestimmte Schule zu vertreten; weil es ihn fähig machte, stets das Allgemeine, das Katholische im ursprünglichen und vollen Sinne im Auge zu behalten.“463
Was ihn besonders kennzeichnete und ihn zu einem erfolgreichen und anerkannten Herausgeber machte, „war sein starkes kulturelles Sendungsbewußtsein und seine Fähigkeit, gebildete, sich von der klerikalen Bevormundung emanzipierende Laien […] zu einer ‚Wiederbegegnung von Kultur und Kirche in Deutschland‘ zu aktivieren“464. MUTH führte die Zeitschrift von 1903 bis zu ihrem Verbot 1941. Das erklärt auch die Kontinuität in der grundsätzlichen Haltung – bei gleichzeitiger Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Ansätze in den jeweiligen Beiträgen. Im Vorwort zur ersten Ausgabe von 1903 heißt es programmatisch: „Unsere Kulturarbeit soll in erster Linie positiv sein, hauptsächlich dahinzielend, das Bestehende ordnend umzubilden, mit unserm Geiste zu durchdringen, zu erobern. Nur wo ein positiv gerichteter Sinn sich mit der Kritik verbindet, kann auch die letztere kräftig und fruchtbar ihres Amtes walten. Und dies Recht soll ihr in ‚Hochland‘ nicht verkümmert werden. Wie stolz und selbstbewußt auch immer die ‚moderne Kultur‘ auftreten und sich brüsten mag, wir werden gegen ihre Schwächen nicht blind erscheinen. Je mehr sie, ihren Zweck nur in sich selbst sehend, sich mit Erdenschwere belastet, je mehr sie der idealgerichteten Selbstlosigkeit menschlichen Mühens und Kämpfens die Ichsucht eines geistig verfeinerten Genußlebens verdrängend entgegensetzt, umso mehr werden wir bemüht sein, die relative Bedeutung allen Kulturstrebens zur Anerkennung zu bringen und auf die geschichtliche Wahrheit hinzuweisen, daß wahrhaft große Kulturen noch stets auf religiösem Boden gewachsen sind, daß eine Kultur ohne 461 462
463 464
MUTH, Karl (1922), 8. Vgl. DIRSCH, Felix (2003), 49ff. DIRSCH spricht von „kulturintegrativem katholischem Konservatismus“ (ebd., 49). Als Beispiel für den im Grunde konservativen Literaturgeschmack MUTHs wertet DIRSCH die Tatsache, dass in Hochland keine Gedichte von BAUDELAIRE abgedruckt wurden, wiewohl dieser damals zu den prominentesten Autoren der Moderne zählte. Vgl. DIRSCH, Felix, 2003, 53. SCHÖNINGH, Franz Josef (1946), 4f. DÜLMEN, Richard van (1974), 256.
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religiöse Grundlage sich überhaupt noch niemals vor rascher Entartung zu bewahren vermochte.“465
Die Schaffung einer christlich-katholischen Kultur, die zugleich nationalvölkische Züge trägt, ist für Hochland und MUTH programmatisch für das anbrechende neue Jahrhundert. Richard van DÜLMEN schreibt: „Dabei partizipierte das Hochland durchaus an allen neuen Formen der Zeit, es fühlte sich ‚jung‘, neigte mehr den modischen irrationalen, nationalen, völkischen und großdeutschen Ideen zu als rationalen, kritischen und demokratischen Kräften. Unter Ablehnung von Intellektualismus, Kapitalismus und Liberalismus als ‚Lebensform‘ forderte es einen christlichen Sozialismus als Inbegriff eines christlichen Konservatismus. Im politischen Kräftespiel der Zeit stand es vor allem, veranlaßt durch den Krieg und die Revolution, ohne sich allerdings dessen genau bewußt zu sein, auf Seiten der politischen Rechten, nicht die Stärkung der Demokratie als solcher, sondern die Förderung einer christlich-nationalen Weltanschauung stand auf seinem Programm. Es ging ihm nach dem Zusammenbruch und der Revolution nicht um ein neues demokratisches Deutschland auf der Grundlage einer die gesellschaftlichen Spannungen ausgleichenden Ideologie, sondern ausschließlich um ein starkes Deutschland der Macht und des Geistes auf religiösem Fundament.“466
Zwar schreibt MUTH selbst 1926, „die Monarchien in Deutschland sind zu Grabe getragen und die Republik ist Tatsache“467, denn die Republik hat es den Katholiken leicht gemacht, „ihr mit Vertrauen zu begegnen. Hat sie doch nicht bloß mit allen Kulturkampfresten aufgeräumt; sie hat auch verfassungsmäßige Freiheiten gegeben, die den kirchlichen Gemeinschaften größere Entfaltung und unghemmte Bewegung im Bereich des Religiösen und Seelsorglichen ermöglichen“468.
Zukünftig wird die Demokratie nach MUTH „entweder christlich sein oder sie wird nicht sein“469. MUTH versteht darunter eine „Soziale Demokratie“ jenseits von Liberalismus und parteipolitischem Konservatismus, in Form einer ständisch-organischen Ordnung, durchaus mit Sympathie für die Linke (bei radikaler Ablehnung des marxistischen Sozialismus) als „Verwirklichung des Geistes der Gerechtigkeit, der Nächstenliebe, der willigen Ein- und Unterordnung im Dienste des Ganzen, der Verantwortung, der Rücksichtnahme“470. An diesem Punkt setzt die Arbeit von Maria Christina GIACOMIN an, indem sie die Zeitschrift Hochland in den „gesamtgesellschaftlichen Kontext der Jahrhundertwende [stellt], [Hochland] zeigt auf, wie MUTH von (universal-) katholischen Prämissen ausgehend den 465 466 467 468 469 470
VORWORT (1903), 4f. DÜLMEN, Richard van (1973), 261. MUTH, Karl (1926), 2. Ebd., 6. MUTH, Karl (1922), 13. Ebd.
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Anschluss an den zeitgenössischen bildungsbürgerlichen Diskurs über die ‚deutsche Kunst‘ finden konnte“471.
Dabei vertritt GIACOMIN die These, daß MUTH in Hochland „im Zeichen der Kontinuität mit der Milieutradition ‚Antimodernismus mit modernen Mitteln‘ [betreibt]“472. Die Autorin belegt dies vor allem mit MUTHs immer wieder vorgenommenen Rekursen auf August Julius LANGBEHN und Friedrich LIENHARD: „Beide glaubten wie Muth an die Möglichkeit der kulturellen Wiedergeburt Deutschlands. Aus ihren Werken schöpfte der spätere Hochland-Herausgeber die Stichworte, die ihm ermöglichen, zwischen katholischer Milieutradition und bürgerlichem Kunstverständnis eine Brücke zu schlagen.“473
Hochland setzte sich durch sein „religiöses Fundament“ jedoch von den gängigen Formen des Konservatismus ab, war sich mit diesen aber darin in seiner Gegnerschaft zum marxistischen Sozialismus einig. Richard van DÜLMEN schreibt: „Hochlands Konservatismus als Antwort auf die verfehlte Vergangenheit und auf den an Bedeutung zunehmenden atheistischen Sozialismus verstand sich allerdings nicht parteipolitisch, sondern ideologisch. Die Zeitschrift zeigte sich ganz und gar traditionsbewußt, aber so sehr das Mittelalter und die Romantik noch im Bewußtsein lebendig waren und als Leitbild dienten, als solche sogar aktualisiert wurden, erstrebte Muth doch keine Restauration und Reaktion. Jedenfalls bestritt er dies des öfteren heftig. Er wollte die konfessionellideologische Politik durch eine Politik aus ‚religiösem Bewußtsein‘ ersetzen.“474
Der französische Kulturwissenschaftler und Germanist MERLIO vergleicht diese besondere Position von Hochland mit dem Ordnungsgefüge eines Klassizismus, der auf der Harmonie von Form und Inhalt basierte: „Pour lui, l’idéal catholique devait être le classicisme défini comme l’harmonie entre le fond et la forme, le sentiment et la raison, le sensible et le spirituel. Ce goût pour l’ordre classique se retrouva dans ses positions politiques.“475
Und DIRSCH spricht im Kontext seiner Untersuchung konservativer Zeitschriften zwischen 1871 und 1933 im Hinblick auf Hochland von einem „kulturintegrativ-katholische[n] Konservatismus“476. Für MUTH waren religiöses und nationales Anliegen nicht voneinander zu trennen. Diese programmatische Verknüpfung von Religion, Kunst, Volk und Nation ist für eine kurze Zeit jenseits des politischen Freund-Feind-Schemas mög471 472 473 474 475 476
GIACOMIN, Maria Christina (2009), 21. Ebd. Ebd., 91ff. DÜLMEN, Richard van (1973), 262. MERLIO, Gilbert (2006), 193. DIRSCH, Felix (2003), 54.
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lich. Der bildungsbürgerliche Konsens schafft es in diesen Jahren noch, politische Differenzen ein Stück weit zu neutralisieren.477 Die kulturelle Hegemonie des Bildungsbürgertums erscheint schon vor 1914 hier und da geschwächt, aber das sind Ausnahmen, die nicht auf eine Gefährdung der Hegemonie verweisen.478 Die integrative Kraft der deutschen Kultur zeigt der Beginn des Ersten Weltkriegs, auch als sogenanntes Augusterlebnis479 in die Literatur eingegangen. Das Bildungsbürgertum – ob Künstler, Studenten oder Professoren – ist vom Krieg als Ende von Dekadenz und Entartung begeistert. Hier konvergieren die unterschiedlichsten Positionen miteinander, so beispielsweise Stefan GEORGE, Robert MUSIL oder Georg TOLLER. Wie sie haben viele andere diesen Krieg regelrecht herbeigesehnt.480 MUTHs Sinn für die geordnete klassische Form gibt sich jedoch nicht retrospektiv, sondern ist aufgrund seiner immer auch künstlerischen Gerichtetheit mit einer hohen Sensibilität für das Neue in der Kultur ausgestattet. Ungeachtet der Kulturkritik ist Deutschland auch ein dynamisches Land. Zwischen Fin de Siècle und Belle Epoque existiert ein großes Spektrum zeitgenössischer Strömungen: Wissenschaftspositivismus und Irrationalismus, Verfallsdenken und lebensphilosophischer Vitalismus, Fortschrittsgläubigkeit und Kulturkritik. In den Diskussionen kursiert ein Begriff, der das Bedürfnis nach Deutung und universeller Sinnhaftigkeit ausdrückt: die Weltanschauung.481 Die allgemeine kulturelle Desorientierung der Jahre vor dem Krieg ist auch einer der Gründe für die zunehmende Konversion gerade unter Gebildeten zum Katholizismus.
Kulturkritik und Reformerwartungen Zum kulturellen Anspruch trat in der Zeitschrift ab 1914 ein gesellschaftspolitischer Aspekt hinzu, „eröffnete doch erst der Kriegsanfang und dann die Re477
478
479 480 481
BOLLENBECK schreibt: „Die Eliten verstehen sich, vielleicht abgesehen vom Militär, als Gebildete. Im deutschen Reichstag sitzen Vertreter verfeindeter Parteien und unterschiedlicher Berufe, wenn aber über die deutsche Kunst debattiert wird, dann eint sie als Gebildete eine gemeinsame Kunstsemantik. Diese ‚Einheit der gebildeten Welt‘ jenseits von ‚Parteienhader‘, unterschiedlichen Weltanschauungen und Wohlstandsniveaus wird gerade in den zwanziger Jahren von den Zeitgenossen wehmütig beschworen.“ (BOLLENBECK, Georg, 1999, 182). Vgl. etwa die zeitgenössische Einordnung der Musik Arnold SCHÖNBERGs aus dem Jahr 1907 „Tuts niemandem mehr weh, daß gerade hier die pöbelhaftesten Manieren, Lärm zu machen, heimisch geworden sind? Er [SCHÖNBERG] macht wilde, ungepflegte Demokratengeräusche, die kein vornehmer Mensch mit Musik verwechseln kann.“ (Zit. n. FREITAG, Eberhard, 1973, 40). Vgl. BOLLENBECK, Georg (1999), 183. Vgl. ANZ, Thomas (1996), 235. Vgl. besonders MOMMSEN, Wolfgang J. (1996). Man denke an die Bezeichnung Religionsphilosophie und katholische Weltanschauung des künftigen Lehrstuhls GUARDINIs an der Berliner Universität.
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volution die Möglichkeit eines Neubeginns wie der gewünschten Emanzipation der Katholiken“482. Hochland galt als die Zeitschrift des modernen Katholizismus, „die selbstbewußt Anspruch auf gesellschaftspolitische Mitgestaltung eines neuen Deutschland erhob“483. Reformerischer Optimismus bei gleichzeitiger Kulturkritik geht in Hochland eine exzeptionelle Verbindung ein. Gilbert MERLIO – ausgewiesener Kenner der speziell im deutschen Bildungsbürgertum populären Kulturkritik,484 mit einem ersten Höhepunkt im ausgehenden 19. Jahrhundert und einer neuen Blüte in der Zwischenkriegszeit – schreibt, daß der gemäßigte Modernismus von Hochland im Kontext des französischen Renouveau catholique485 verstanden werden muss. Des Weiteren sei MUTHs Position im Kontext der nationalistischen Kulturkritik im Umfeld LANGBEHNs zu verorten: „Il faut se garder d’exagérer le modernisme de ‚conversatisme visant à l’intégration culturelle du catholicisme’. […] Il doit etre mis en relation avec le ‚Renouveau catholique’ français, dont les protagonistes comme Léon Bloy, J. K. Huysmans, Charles Péguy et Paul Claudel etc. s’efforcent certes de réhabiliter les valeurs chrétiennes en littérature mais ont un point de vue très critiques sur l’esprit (mammonisme!) et les structures politiques et sociales de la société moderne. L’action de Muth s’inscrit d’autre part dans le contexte de la Kulturkritik nationaliste de la fin du XIV. siècle, représentée notamment par Julius Langbehn.“486
Neben dem Vorbild Frankreich bleibt die Konzeption von Hochland also unverständlich ohne Berücksichtigung der gerade vom gebildeten Bürgertum rezipierten spezifisch deutschen Kulturkritik. Zu Bestsellern wurden Oswald SPENGLERs Der Untergang des Abendlandes von 1918 und Rembrandt als Er-
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DÜLMEN, Richard van (1973), 259. Ebd., 260. Vgl. MERLIO, Gilbert (1982). Aber auch Lebensphilosophie und Nietzscherezeption waren Phänomene der Zeit. So schreibt BOLLENBECK: „Nietzsches universaler kulturkritischer Deutungsanspruch [...], seine Kritik an der ‚Industrie-Cultur‘, an der Geldherrschaft, an der Großstadt, am Bildungsphilister, am Liberalismus und an der überständigen Moral gehen in den mentalen Haushalt einer Intelligenz ein, die Distanz zur Welt der bürgerlichen Zweckrationalität wahrt. Deren Unbehagen an der Moderne findet ihren Ausdruck in einer Kulturkritik, die sich in einer sich radikalisierenden Steigerungslogik gegen die Aufklärungsideale, die liberale Gesellschaft, die Massenkultur und die sozialistische Utopie wendet. Nietzsches lebensphilosophische Kulturkritik [...] sensibilisiert und desorientiert mit ihrer gespaltenen Sehkraft die Intelligenz.“ (BOLLENBECK, Georg, 2007, 198). Vgl. MERLIO, Gilbert (2006), 193. Zum Renouveau catholique vgl. FUSS, Albert (1986). Vgl. SAVART, Claude (1975). Vgl. RIES, Markus (1998), 289ff. Immer noch aufschlussreich ist die 1918 erschienene Essaysammlung in CURTIUS, Ernst Robert (1994). MERLIO, Gilbert (2006), 193f. Diese spezifische Haltung zwischen Moderne und Konservatismus ist ohne den Verweis auf den Renouveau catholique, bei dem Laien eine wichtige Rolle einnahmen und dessen Repräsentanten MUTH in Paris kennen gelernt hatte, nicht zu verstehen.
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zieher487 von Julius LANGBEHN aus dem Jahr 1890. Richard van DÜLMEN schreibt: „Die Begegnung mit dem reaktionären christlich-nationalen Werk J. Langbehns in Berlin und dem Renouveau Catholique in Paris vermittelten ihm im Reflex auf die Abkehr von der säkularisierten Kultur und Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Erkenntnis von der Sittlichkeit als Quelle geistigen und literarischen Schaffens und die Bedeutung und Wertschätzung einer volksnahen Literatur. Es gab für Muth nur einen Weg aus dem materialistischen und liberal geprägten geistigen Leben, nämlich den der Pflege und Intensivierung einer christlich-nationalen Kultur. Die Entdeckung des Emotionalen, Religiösen und Nationalen bildete die Grundlage des neuen Kulturbewußtseins, an dem auch Muth teilnahm und das er mit seinem katholischen Verständnis verband.“488
Dichotome Begriffe wie kollektiv und individuell hatten für die konservative Kulturkritik bis in die 1960er Jahre große Relevanz (etwa Karl JASPERS, Martin HEIDEGGER, Arnold GEHLEN, Ortega y GASSET). Dem „abendländischen Menschen“ drohen nach LINDEMANN im Hochland „zwei gleich gefährliche Formen des Massenmenschentums, nämlich der Bolschewismus und der Amerikanismus, die auf getrennten Wegen demselben Ziele zustreben: der Züchtung eines seelenfremden, geistesbaren, gesichtslosen Typus Mensch, der Mechanisierung und Nivellierung aller individuellen Menschlichkeit. Tatsächlich herrscht heute schon fast ausschließlich das Massenmenschentum“489.
Man begegnet nach LINDEMANN im öffentlichen Leben immer seltener Persönlichkeiten, stattdessen Vertretern „von irgendetwas Kollektivem, das mit dem lebendigen Gemeinschaftsgeist vergangener Zeiten nichts gemein hat und im Grunde nur als Maske für das erbärmliche ‚Behagen‘ dem widerlichen Persönlichkeitskultus des weiland liberalen Bürgertums dient“490. Zum Verständnis der Zeitschrift Hochland müssen drei Phasen unterschieden werden: In den Anfangsjahren von 1903 bis 1914 geht es MUTH hauptsächlich um eine literarische, philosophische und religiöse Fragestellung – „Sans renier pour autant les fondement traditionnels de la doctrine [...] un aggiornamento culturel catholique, notamment sur le plan littéraire.“491 Hochland setzte sich in diesen Jahren explizit mit der Moderne auseinander und besetzte das avancierteste Terrain dieses Kultur-Katholizismus. 487
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So hatte etwa LANGBEHNs Rembrandtdeutscher (LANGBEHN, Julius, 1890) seinerzeit eine Auflage von 70.000 Exemplaren. LANGBEHN konvertierte 1900 zum Katholizismus. Er hatte starken Einfluss auf den Antiintellektualismus und Antisemitismus in der deutschen Jugendbewegung. Seine Schriften erleben in der in Zeit des Nationalsozialismus eine Renaissance. Vgl. ZUMBINI, Massimo Ferrari (2003), 350ff. DÜLMEN, Richard van (1973), 257. LINDEMANN, Reinhold (1929), 373. Ebd. MERLIO, Gilbert (2006), 193.
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Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wandte sich die Zeitschrift zunehmend gesellschaftspolitischen Themen zu. „La revue ne peut rester à l’écart de la ‚guerre des esprits‘ qui se déclare en 1914.“492 Der Krieg und die „sichtbare Bewährung der katholischen Bevölkerung als treue Söhne und Töchter des Reiches machten eine weitere Stigmatisierung als Reichsfeinde unmöglich“493. Die konfessionellen Gegensätze des „fast dichotomisch zu nennenden Verhältnisses von katholischer Geisteswelt und moderner, primär nationalprotestantisch dominierter Kultur“494 verloren ihre bis dahin uneingeschränkte Bedeutung. In den Vordergrund der Zeitschrift traten, nachdem MUTH nun seltener im Hochland schrieb, andere Autoren unterschiedlichster Prägung,495 „doch einheitlich in ihrer Gesinnung, die für die Qualität der Zeitschrift bürgten“496. „L’adhésion aux idées de 1914 reste modérée“497 – dank Karl MUTH fassten weder ein extremer Nationalismus noch anderes hegemoniales Denken Fuß: „Ostentativer Nationalismus, ob gewollt oder nicht, wie bei nicht wenigen Vertretern des Reformkatholizismus praktiziert“498, waren ihm fremd. Dennoch waren „bei Muth […] Reserven gegen westliche Traditionen offensichtlich. So lehnte er zwar jeden Nationalismus ab, ebenso aber auch den nivellierenden ‚Kosmopolitismus‘“499. Das betraf die immer ausufernde Massenkultur sowie die Neigung zu Grenzüberschreitungen in der kulturellen Moderne: „Anklänge an die konservative Kulturkritik sind unüberhörbar.“500
Der Einfluss von Max SCHELER auf einen intellektuellen Katholizismus Vor allem brachte beginnend mit den Kriegsjahren der Philosoph Max SCHELER Hochland auf einen neuen Weg: Der nach der ersten Euphorie des Neuen 492 493 494
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Ebd., 194. DIRSCH, Felix (2003), 57. Ebd. DIRSCH führt als Beispiel die Debatte an, die während des Ersten Weltkriegs das intellektuelle Deutschland bewegt hatte und die in den letzten Jahren in der Forschung eine neue Bewertung erfahren hat. DIRSCH verweist in diesem Zusammenhang auf VERHEY, Jeffrey (2000), FLASCH, Kurt (2000), BESSLICH, Barbara (2000) und ROHKRÄMER, Thomas (1999). Vgl. DÜLMEN, Richard van (1973), 260. Wichtige Vertreter sind etwa Max SCHELER, Peter WUST, Romano GUARDINI, Ernst R. CURTIUS, Theodor HAECKER, Hermann BAHR, Franz-X. KIEFL, Jakob STRIEDER, die Juristen und Nationalökonomen Carl SCHMITT und Eugen ROSENSTOCK sowie Martin SPAHN und Alois DEMPF, außerdem die christlichen Schriftsteller Gertud von le FORT, Hugo BALL, Sigrid UNDSET und Ernst WIECHERT. Vgl. ebd. Ebd. MERLIO, Gilbert (2006), 195. DIRSCH, Felix (2003), 56. Ebd., 61. Ebd. Zur Formierung einer in sich gefestigten Gegenkultur der französischen Katholiken gegen den laizistischen Staat und die moderne Massenkultur vgl. MIDDENDORF, Stefanie (2009), 127ff.
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erfahrene Zusammenbruch der alten Welt führte zu einer neuen Ernsthaftigkeit, die mit einer religiösen Neubesinnung einherging. Ab 1915 sollte SCHELER regelmäßig in Hochland schreiben. Als Phänomenologe und Wissenssoziologe war er breiteren Kreisen durch seine publizistische Tätigkeit bekannt.501 Durch seine Schriften zur Religion erschloss er „den durch den Kulturkampf nach der Reichsgründung geprägten Katholizismus, der seit Jahrzehnten einem engen Neuthomismus und Lagerdenken verhaftet war und den Anschluß an die aktuellen geistigen Diskussionen verloren hatte, der philosophischen Avantgarde“502.
Obwohl er selbst nur kurze Zeit praktizierender Katholik war und sich 1923 von der katholischen Kirche lossagte, haben durch ihn z. B. Edith STEIN, seine zweite Frau Märit FURTWÄNGLER, Peter WUST und Otto KLEMPERER den Anstoß zu ihrer Konversion bekommen.503 Die „Entwicklung des deutschen Katholizismus nach dem Kriege ist ohne Scheler einfach nicht zu denken“504, schrieb Heinrich GETZENY in einem Nachruf von 1928. Dazu MERLIO: „L’itinéraire de l’un des collaborateur de la revue au cour de cette période, le philosophe Max Scheler, qui fut d’abord chantre de la ‚guerre allemande‘ (Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, 1915) avant de devenir le partisan d’une Europe chrétienne, paraît à cet égard significatif.“505
Zunächst von der allgemeinen Kriegseuphorie ergriffen, distanzierte er sich: „Alle kriegführenden Staaten müssten sich aufgrund des Krieges den Aufgaben der Läuterung, der Reue und Umkehr, der geistigen Erneuerung stellen.“506 In seinem Hochland-Aufsatz von 1915/16, Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Krieg507, machte SCHELER die internationale bürgerliche Gesellschaft sowie den Kapitalismus, vor allem in dessen angelsächsischer Ausprägung, für den Krieg verantwortlich. SCHELER stellt sich den Katholizismus als einigendes Bindeglied in einer europäischsolidarischen Gemeinschaft vor: „Le catholicisme doit devenir le moteur d’une communauté européenne solidaire, rejetant le socialisme collectiviste 501
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Max SCHELER (1874-1928), konvertierte als protestantisch getaufter Jude zum Katholizismus und war einer der wichtigsten Vertreter eines deutschen Katholizismus, der die antiintellektuellen Vorurteile durchbrach. BRÖCKLING schreibt: „Der Einfluß, den Scheler nicht nur mit seinen philosophischen Arbeiten, sondern auch durch seine politischen und soziologischen Stellungnahmen auf die katholische Intelligenz ausübte, ist kaum zu überschätzen.“ (BRÖCKLING, 1993, 30). Zur Bedeutung SCHELERs im sozialwissenschaftlichen Diskurs der Weimarer Republik vgl. HÜBINGER, Gangolf (2007). Vgl. unter wissenssoziologischem Aspekt ebd., 206ff. SANDER, Angelika (2009), 70. Vgl. ebd., 72. GETZENY, Heinrich (1928), 555. MERLIO, Gilbert (2006), 195. SANDER, Angelika (2009), 78. SCHELER, Max (1915) und SCHELER, Max (1916).
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mais aussi débarassée de l’esprit du capitalism et soudée par l’amour“508, schreibt MERLIO. SCHELER entwickelte die Idee eines christlichen Sozialismus als Antikapitalismus. Seine Kernthese war, „dass der kapitalistische Geist die Ursache der kapitalistischen Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung sei und nicht umgekehrt das kapitalistische System der ökonomischen Besitzverteilung die Ursache des kapitalistischen Denkens. Kapitalismus verkörperte für ihn an erster Stelle ein Lebens- und Kultursystem und erst an zweiter Stelle eine Form der ökonomischen Besitzverhältnisse. Im christlichen Sozialismus, in dessen Zentrum der Gedanke der wechselseitigen Solidarität aller für alle zu stehen habe, sah Scheler einen dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Da er den Protestantismus als zu sehr mit dem Geist des Kapitalismus verflochten verstand, war die katholische Kirche dazu berufen, diese Aufgabe zu leisten“509.
SCHELER sah für Deutschlands Katholiken eine wichtige Rolle in einem neuen (Nachkriegs)-Deutschland. Van DÜLMEN schreibt: „Aus dem ‚reinen‘ Philosophen macht der Krieg einen (zeitweiligen) Katholiken und einen Gesellschaftsphilosophen und Soziologen, als der er nicht weniger Wirkung ausübte als als Phänomenologe.“510 Leben und Werk SCHELERs machen deutlich, „wie weit im geistigen Bereich nun tatsächlich der Katholizismus in der Lage war, die Gesellschaft der Zeit zu bestimmen“511. Van DÜLMEN schreibt: „Unter dem Eindruck des Kriegsbeginns war aus dem bekannten Vertreter der ‚metaphysikfreundlichen‘ phänomenologischen Schule nicht nur ein Anhänger der katholischen Kirche geworden, sondern – was nicht weniger von Interesse ist – der Krieg hatte ihn nach der ‚Auswertungsmöglichkeit religiöser Ideen und religiöser Energien für die Gestaltung gesellschaftlichen Daseins‘ zu fragen veranlaßt.“512
Nach dem inneren wie äußeren Zusammenbruch der internationalen Gesellschaft des britischen Empire bleiben nach SCHELER allein die Mittelmächte als Kern eines echten Europas übrig. Die Einheit dieses anderen Europas stifte weniger das Kapital als die Liebesidee, die eine kulturell-geistige Solidarität ermögliche, die von den Mittelmächten ausgehen werde. Auch der deutsche Katholizismus werde eine Erneuerung erleben. Denn während und nach der Ghettozeit des Kulturkampfs habe sich kein religiöser, sondern ein politischer Katholizismus herausgebildet. Wenn er sich dabei des Modernismus enthalten habe, sei dies nicht Stärke, sondern ein Zeichen der Abschottung und der Stagnation gewesen und vor allem des „Fehlen[s] jener gesteigerten geistig-
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MERLIO, Gilbert (2006), 195. SANDER, Angelika (2009), 79. DÜLMEN, Richard van (1973), 264. Ebd., 270. Ebd., 263f.
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religiösen Lebendigkeit, wie sie dem französischen Katholizismus zu eigen war“513. Van DÜLMEN schreibt: „Der von Schelers Engagement ausgehende Optimismus blieb eine Konstante in Hochland, er hatte vor allem Peter Wust, einen Schüler und Freund Schelers so erfaßt, daß dieser als Verkünder der ‚Rückkehr zur Metaphysik‘ im katholischen Deutschland gewisserweise die Nachfolge von Scheler antreten konnte.“514
Weiter ist bei van DÜLMEN zu lesen: „So skeptisch auch der engere Hochlandkreis Scheler gegenüberstand, nachdem dieser sich von der Kirche wieder getrennt hatte, so darf nicht vergessen werden, daß er dessen Programm im Sinne eines christlichen Sozialismus entscheidend geprägt hatte. Der Gedanke einer Neuorientierung aus dem religiösen Bewußtsein, den Muth andeutungsweise bereits vor dem Krieg vertrat, wurde durch Scheler so erheblich vertieft, daß alle nachfolgenden Diskussionen zu diesem Thema ohne seine Wirkung nicht mehr zu denken waren.“515
Man denke dabei an die damals aufkommenden Bewegungen, die erstmals von der Jugend getragen und eine starke Nähe zur Lebensreform aufwiesen – dazu gehört später auch die Liturgische Bewegung516. Die Begriffe Kultur, Leben, Seele lieferten nicht nur ambivalente Sinnangebote und -deutungen, sie boten auch eine Perspektive. Denn in der Kulturkritik lag zugleich der Versuch, auf die Zumutungen der Moderne (Mechanisierung, Arbeitsteilung, Umweltzerstörung, Landflucht) zu reagieren, um einige Themen der neuen Bewegungen zu nennen.517 Es waren Versuche einer anderen Moderne.518 Der Kulturtheoretiker BOLLENBECK spricht von einem charakteristischen „Miteinander von Kulturkritik und Reformerwartungen“519. Typisches Beispiel dafür ist seiner Meinung nach der 1907 gegründete Deutsche Werkbund:
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Ebd., 266. Ebd., 268. Ebd., 269f. In Deutschland waren die Jugendverbände Neudeutschland und Quickborn sowie die Theologen Romano GUARDINI und Pius PARSCH neben den Klöstern Maria Laach, Beuron und Neuburg maßgeblich an der Entfaltung der Liturgischen Bewegung beteiligt. Als Teil der Jugendbewegung und der Erneuerungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts versuchte sie eine stärkere Beteiligung der Gläubigen an der Liturgie und ein tieferes Verständnis ihrer Zeichenhaftigkeit zu erreichen. Vgl. MAAS-EWERD, Theodor (1993). Vgl. ISERLOH, Erwin (1985). Vgl. ANGENENDT, Arnold (2001). In zahlreichen Flucht- und Schutzbewegungen wie Lebensreform, ästhetischer Opposition, Jugendbewegung. Dazu gehört auch der katholische Aufbruch der Jugend im Umfeld von Romano GUARDINI, Quickborn. Hier formierten sich Perspektiven der Daseinsbewältigung. Es handelt sich dabei nicht nur um eine reaktionäre, technikfeindliche und antiurbane Rückwärtsgewandtheit, sondern um die Suche nach „naturgemäßer“ Weltordnung, in der die Orientierung am Menschen eine neue Bedeutung erfährt angesichts ökologischer und gesellschaftlicher Risiken. BOLLENBECK, Georg (1999), 187.
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„Der Werkbund ist im Vergleich mit den Avantgarden der zwanziger Jahre politisch eher konform. Gestaltkonzeptionell aber ist er revolutionär. Denn er wertet gegen die mächtige Tradition einer kunstzentrierten Ästhetik die industrielle Gestaltung und die industrielle Gestaltung und die Gebrauchsgegenstände ästhetisch auf, formuliert mit Blick auf die bedrohlich angewachsene Sozialdemokratie sozialreformerische Integrationskonzepte, und er bleibt doch den drei Bezugsgrößen Staat, Nation und bürgerliche Werthaltung verbunden.“520
Auch bei der Zeitschrift Hochland liegt das charakteristische Miteinander von Kulturkritik und Reformerwartungen vor. Auf diesem Hintergrund muss man die Verschränktheit von Politikferne und Kunstintensität begreifen. Für die gebildete Welt waren Kulturfragen wichtiger als Verfassungsfragen.521
Architektur und Städtebau Für Georg PANZER zählt allein, so schreibt er in Hochland, „gesundes Volkstum“, das „wiedererweckt“ werden müsse: „Der Krieg hat unser Volk im besten Sinne des Wortes entseelt.“522 Solche Entseelung nennt er die „Nachkriegspsychose“ eines in seinem Grund gesunden Volkes. „Dekadenz in unserem Volkstum“ sei möglich geworden, weil an die Stelle einer „gesunden Lebensfreude“ ein „krampfhafter Lebenstrieb“ getreten sei, anstelle von Liebe sei „Sinnlichkeit. An Stelle des kraftvollen Volksbewußtseins ist das internationale Herdenbewußtsein getreten“523. Die „Zersetzung des Volkstums“ habe weit über die Großstadt hinaus sich der Deutschen bemächtigt: „Unsere sonst in ihrem politischen Urteil so gereifte Arbeiterschaft verließ die bisher bewährten Führer und lieh rasse- und landfremden Auchpolitikern ihr Ohr. […] Die Zersetzung unseres Volkstums, die Zermürbung unseres Volkstums zieht immer weitere Kreise; vor zehn Jahren war sie noch auf die Großstadt beschränkt. […] Heute haben sich bereits die mittleren und kleineren Städte zu Bazillenherden entwickelt, die langsam und zielbewußt auch die im Landvolk noch aufgespeicherte Volkskraft angreifen. […] Die Symptome sind: Politik, Kino, Grammophon, Tingeltangelchansons, eine ungezügelte Lebensgier, eine stets weiter fortschreitende Herabwürdigung der Frau, das Verschwinden der Religion.“524
PANZER sieht in der Abwendung von der modernen Lebensweise die einzige Lösung: 520 521 522 523 524
Ebd. Vgl. Thomas MANNs Diktum von der machtgeschützten Innerlichkeit (MANN, Thomas, 1974, 419). PANZER, Georg (1919), 235. Ebd. Ebd., 235f.
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„Müssen wir nicht […] darnach trachten, daß unser im Kern doch gesundes Volk wieder Heimatboden unter den Füßen findet? […] Daß die blasierte Lebensgenußtheorie ersetzt wird durch gesunde Freude an Kunst und Natur? […] Unser Ziel muß sein: Mitarbeiten an der Wiederverwurzelung unseres Volkes auf heimatlichem Boden, Zurückführung zur Natur und echten, wahren Kunst.“525
Solche stadtkritischen Positionen findet man in Hochland eher selten, häufiger sind Texte zu finden, die eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Großstadt abbilden. So setzte sich Kunsthistoriker Eugen KALKSCHMIDT526 1926 in Hochland mit den seinerzeit avanciertesten Positionen zum modernen Städtebau auseinander: Vom Blockhaus zum Wolkenkratzer527 von Lewis MUMFORD (18951990) aus dem Jahr 1925 und Amerikanische Architektur und Stadtbaukunst528 von Werner HEGEMANN (1881-1936), ebenfalls 1925. Beide Werke unterzogen den amerikanischen Städtebau einer kritischen Betrachtung. KALKSCHMIDT schreibt: „Ein großes Unbehagen hat sich all derer bemächtigt, die nicht blindlings in den Tag hineinleben, eine Sehnsucht nach etwas, das sie oft selber nicht zu nennen wissen. Man kann es wohl ‚Heimat‘ nennen, eine Zuflucht der Seele in Stunden der Einkehr. Für diesen gemischten Komplex von Gedanken, Gefühlen, Stimmungen und Erinnerungen ist die modernere Großstadt ein unfruchtbarer Boden. […] Dennoch hat gerade die Großstadt […] mit öffentlichen und privaten Mitteln versucht, dem Einzelnen den Mangel an seelischer Heimat mit geistigen Mitteln zu ersetzen. […] Alle die zahlreichen Bestrebungen für Volksunterhaltung, Volksbildung und -belehrung sind ja nichts anderes als Ersatzversuche für jenes schwer definierbare Etwas, was wir als ‚Mangel an Seele‘ im Häusermeer empfinden.“529
KALKSCHMIDT kommt dabei zu einem Fazit, das auf begrifflicher Ebene versucht, der Ambivalenz der Moderne Rechnung zu tragen: „Der tiefere Grund für diesen Mangel aber lag darin, daß die Stadterweiterungen nach vorausgegangener schematisch-bürokratischer Vorbereitung im ausgesprochen kapitalistischen, und zwar im privatkapitalistischen Geiste vollzogen wurden. […] Die ganze Schilderung zeigt packend anschaulich den Anbruch einer neuen Zeit, und die großstädtisch gewandelten, die modernisierten Städte waren ihr Ausdruck und ihr Monument zugleich.“530
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Ebd., 237. Eugen KALKSCHMIDT (1874-1962), Kunsthistoriker und Schriftsteller, veröffentlichte bereits 1906 in Großstadtgedanken Aufsätze zum Thema Großstadt und gehörte dabei zu den wenigen, die sie verteidigten. Vgl. KALKSCHMIDT, Eugen (1906). MUMFORD, Lewis (1925). HEGEMANN, Werner (1925). KALKSCHMIDT, Eugen (1926), 706ff. Ebd., 711.
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Den „Mangel an Seele“ kann man empfinden, kann ihn auch beklagen, man kann ihn aber nicht durch Gesinnungs- und Gemeinschaftspathos „rückgängig“ machen, und das macht KALKSCHMIDT deutlich: dieser Mangel ist seiner Ansicht nach Ergebnis des Vergesellschaftungsprozesses der Moderne.
Berlin als Versuchslokal der Moderne Einige Jahre später erscheint 1930 in Hochland ein längerer Text mit der provozierenden These: „Berlin ist nichts anderes als der vorgeschobenste Posten, das modernst ausgestattete Versuchslokal zur Erprobung, ob und wie der deutsche Mensch der letzten zivilisatorischen Entwicklung innerlich gewachsen ist.“531 Geschrieben hat ihn Josef RÄUSCHER532 unter dem Titel Berlin. Seit 1920 als Journalist in Berlin, kennt er nach nunmehr zehn Jahren Höhen und Tiefen der Stadt. Er stellt gleich zu Beginn seines Textes fest, „daß in Berlin alle Verhältnisse des Reichs verschärft zum Ausdruck kommen“533. RÄUSCHER bringt zum Ausdruck: „In Berlin sind alle Störungen gehäuft und konzentriert, die der heutige technische und soziale Stand der Weltzivilisation dem inneren menschlichen Wachstum gegenüber bereithält.“534 Dieser Gegenwart gegenüber gelte es, sich zu wappnen, da sie unausweichlich sei: „Glaube keiner, diesen Störungen durch die Flucht, sei es auch nur durch die gedankliche Flucht ins Ältere, Ländlichere, Behütetere, kulturell Eindeutige, entrinnen zu können.“535 Er beschreibt die Stadt so unausweichlich wie ein Naturereignis, dem man sich nicht entziehen kann: „Und wie der erste Siedler in der Wildnis nicht Zeit und Gedankenruhe hat, um planvoll an künftiges zu denken, […] so ist Berlin im großen gesehen, wie ein riesenhafter Notbau entstanden und ganz in diesem Stile weitergewachsen.“536
Berlin ist „durch Addition vermehrt, nicht durch Generation. Eine Stadt, deren koloniales Wesen sich erhalten hat seit der Zeit, in der das Slawenland östlich der Elbe erobert wurde. Eine Stadt, die immer von neuem durch deutsche Scharen erobert wird – und erobert werden muß, wenn sie nicht einschrumpfen soll“537. 531 532
533 534 535 536 537
RÄUSCHER, Josef (1930), 25. RÄUSCHER, Josef (1889-1937) war Journalist und Politiker des Zentrums. Gebürtiger Österreicher, kam er 1920 nach Berlin. Er hatte in der bekannten österreichischen Kulturzeitschrift Der Brenner publiziert, arbeitete beim Berliner Börsen-Courier und bei der katholischen Tageszeitung Germania. RÄUSCHER, Josef (1930), 18. Ebd., 25. Ebd. Ebd., 19. Ebd., 18.
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Wie zwischen Naturgeschichte und zivilisatorischem Prozess eingespannt, gerät die von der Großstadt angezogene Masse in eine Modernisierungsspirale, bei der nichts mehr bleibt wie es war. Und hier liegt, so RÄUSCHER, auch eine Chance für den Einzelnen: „Wenn die Riesenpumpe, die jährlich eine ganze Großstadt nach Berlin einsaugt, solche Neuen nicht wieder ausspeit, dann ist der Amalgamierungsprozeß schon entschieden. Die typischen Eigenschaften des heutigen Berliners entstammen keiner Überlieferung, [es handelt sich] um Zwangsanpassung, um einen geradezu naturgeschichtlichen Vorgang. […] Wohl keine Wohn- und Arbeitsstätte bestimmt so wenig über das Innerste eines Menschen wie Berlin. Diese Stadt läßt rein menschlich alle Möglichkeiten offen.“538
Die übliche wie stereotype Kritik an Berlin übersehe den Sinn „der ununterbrochenen Umschaufelung des Volkssandes“539. Auf diesem Weg würden nämlich gerade in dieser Traditions- und Haltlosigkeit aus den Zugewanderten „im neuen Sinne sehr rasch Berliner; in der Lebensform, im Arbeitstempo, selbst im Jargon“540. Für RÄUSCHER ist Berlin das „Versuchslokal Deutschlands“, und „deshalb ist es Schicksal und Aufgabe, in Berlin zu leben und zu arbeiten“541. Er beschreibt exakt die Ambivalenzerfahrungen der Moderne, wenn er auf die „entfremdende Nähe“542 im öffentlichen Raum der für Berlin typischen Großgaststätten verweist: „Nirgends ist man einsamer als in den lauten Großgaststätten Berlins, wo, verkleinerte Wiederholung der Stadt selbst, Tische und Stühle so eng beieinanderstehen, daß die Nachbarschaft zum körperlichen Druck wird, die seelische Distanz erweitert, statt sie zu überbrücken.“543
RÄUSCHER beschreibt anschaulich am Beispiel der damals explosiven Weltstadt Berlin die abstrakten gesellschaftlichen Prozesse von Entfremdung, Zwangsanpassung, Amalgamierungen, die aus der Dialektik von Nähe und Ferne resultieren. Es gelingt ihm, die unterschwellige Bedrohung darzustellen, die aus der Mischung von zivilisatorischer „Wildnis“ und „riesenhaftem Notbau“ menschliche Maßstäbe sprengen könnte.
Verstädtertes Landleben Die Stimmung unter den Katholiken hatte sich um die Mitte der 1920er Jahre zusehends verändert. Ihr selbstbewusster Aufbruch nach dem Krieg war ent538 539 540 541 542 543
Ebd., 22. Ebd., 17. Ebd. Ebd., 26. Ebd., 15. Ebd.
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weder einer pragmatischeren Haltung gewichen oder von zunehmenden Rückzugstendenzen gekennzeichnet. Die sich verändernden Verhältnisse wurden an der abnehmenden Mitgliederzahl und damit der Bedeutung des Volksvereins für das Katholische Deutschland in den 1920er Jahre deutlich.544 Auch spricht der Katholikentag von 1931 eine deutliche Sprache. GETZENY, Landessekretär des Volksvereins in Württemberg, nennt einige Themenbereiche in seinem Bericht in Hochland545 und erwähnt die Gefährdungen des „kirchlichkatholischen Innenraums“ und seiner Strukturen, von denen auf dem Katholikentag die Rede war: „Die Gefahren, die heute drohen, liegen ganz anderswo als früher, kommen nicht mehr so sehr vom politischen Gegner außen, als von den Wandlungen im Innern des ganzen Volkslebens, dem auch die Katholiken eingegliedert sind, von der Auflösung der Volksordnung, von der Zersetzung der Familie, der Wirtschaft, des gesamten gesellschaftlichen und geistigen Lebens.“546
Nicht zu übersehen ist die Beschäftigung der Katholiken mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Modernitätskrise. Angesichts der Erschütterungen durch die Weltwirtschaftskrise von 1929 waren auch Katholiken zunehmend Desorientierung und Ratlosigkeit ausgesetzt. Die Auswirkungen reichten, wie GETZENY feststellt, bis in den kirchlichen Binnenraum. Was geht in unserem Bauerntum vor?547, fragt GETZENY 1929. Er thematisiert die Auswirkungen einer zunehmenden Verstädterung auf die bäuerliche Lebensweise. Dabei arbeitet er mit Dichotomien und stellt den Typus des traditionellen Bauern dem des modernen „verstädterten Landwirts“548 gegenüber und kontrastiert die unterschiedlichen Wert- und Lebensauffassungen: Der Bauer hat in „seiner engen Verbindung mit der Natur, in der größeren Ruhe und Einfachheit der ländlichen Verhältnisse einen wirksamen Schutz vor allzu jähem seelischem Umsturz“549, der Landwirt neueren Typs lebt aus nüchterner Berechnung und kluger Spekulation: „Wie viele Kinder lohnt es sich in der Familie großzuziehen?“550 Das Dorf ist „sittlich-lebendige Einheit“551, in der sich verändernden Kultur des Landes führt der „Zerfall der Nachbarschaft […] zum Zerfall der politischen und kirchlichen Gemeinde“552. GETZENY sieht sehr deutlich die Ambivalenzen der Moderne, die radikalen Umwälzungen müssen „klar erkannt“553 werden, schreibt er. Wo liegen die Ge544 545 546 547 548 549 550 551 552 553
Vgl. RICHTER, Reinhard (2000), 224. GETZENY, Heinrich (1931), 80. Ebd. GETZENY, Heinrich (1929). Ebd., 20. Ebd. Ebd., 21. Ebd., 24. Ebd. Ebd., 20.
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fahren? Die Rationalisierung der Landwirtschaft, die zum neuen Typus des „verstädterten Landwirts“ führt, ist eine noch nie da gewesene Umwälzung bisheriger Lebensformen auf dem Land. Andererseits ist die Modernisierung nicht aufzuhalten und enthält durchaus positive Implikationen: „Wir müssen offen und freudig auch das Gute anerkennen, das die neue Zeit für den Bauen bringt. Es ist doch ein Segen, daß die technischen Hilfsmittel, daß Motorkraft und Elektrizität nicht wie bisher nur dem Städter zugute kommen, sondern auch dem Bauern und ihm und vor allem der überlasteten Bauernfrau Zeit und Arbeit sparen. Und wenn die Härte bäuerlicher Familienzucht etwas gemildert wird, wenn künftig nicht mehr bloß nach Acker und Wiese geheiratet wird, wenn der nicht seltene Pharisäismus der Dorfsitte verschwindet, so ist das auch kein Fehler.“554
Doch die Abwanderung in die großen Städte ist nach wie vor problematisch. Es gehört zu künftiger Siedlungspolitik, die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem Land zu verbessern: „Es ist immer schwerer, auf dem Lande die nötigen Arbeitskräfte zu bekommen, weil die Landflucht in die Stadt sehr groß ist. Diese Landflucht enthüllt sich aber bei näherem Zusehen vielmehr als ein Mangel an Unterkunftsmöglichkeit auf dem Lande. Es ist dem strebsamen nachgeborenen Bauernsohn nicht zu verdenken, daß er in die Stadt abwandert, wenn er auf dem Lande nur die Aussicht hat, sein Leben lang Knecht zu bleiben, keine eigene Familie gründen zu können, nicht selber Haus und Hof zu bekommen. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß viel jugendlicher Nachwuchs auf dem Land bleiben würde, wenn neben guter Behandlung, an der es auch nicht selten fehlt, der junge Knecht Aussicht hätte, nach einigen Jahren tüchtiger Dienstarbeit sich selbständig zu machen. Hier liegt die große Aufgabe der Siedlungspolitik.“555
Über die Seelennot des Großstadtmenschen – Hermann PLATZ 1912 erscheint in der Zeitschrift Hochland der erste größere Beitrag zum Thema Großstadt: Die Seele des Großstadtmenschen556. Es ist einer der frühen Texte von Hermann PLATZ (1880-1945). Dieser Text wird 1924 in der Aufsatzsammlung Großstadt und Menschentum unter dem Titel Großstadt als Heimat abgedruckt.557 PLATZ geht es um die Seelenlage des modernen Großstadtmenschen, sein Schreibgestus zeichnet sich durch Empathie aus:
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Ebd., 27. Ebd., 19. PLATZ, Hermann (1912). Dem Aufsatz liegt eine Geburtstagsrede auf Kaiser Wilhelm II. zugrunde. Vgl. PLATZ, Hermann (1924), Vorrede VII.
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„Die Großstadt packt die Menschen nicht bloß von außen, indem sie ihnen z. B. nie gekannte Möglichkeiten des Emporkommens und Genießens bietet, indem sie ihnen aber auch unbarmherzig so manches versagt, was sie auf dem Lande mit gedankenloser Selbstverständlichkeit genossen; sie reckt immer drohender ihre Fangarme nach unserer Kultur selbst, sie greift tief hinein in die Seelen, deren Schicksalsgestaltung sie in die Hand genommen hat, sie schafft sie um und weckt neue Gefühle und Stimmungen, die als Niederschlag der neuen Eindrücke und Erlebnisse fortan die Eigenart des Großstädters ausmachen.“558
Abb. 6: Ausschnitt aus Hochland (1912)
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PLATZ, Hermann (1912), 386f.
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PLATZ äußert sich mit pastoralem Impetus. Er will das Neue begreifen und dies auch der Kirche begreiflich machen, damit sie einen Weg in die Moderne finde, ohne sich ihr auszuliefern: „Jeder, der sich versenkt in die Problemfülle, die mit der modernen Großstadt erwachsen ist, wird in der Tiefe die Wogen der Verständnislosigkeit und des Hasses rauschen hören, die gischtsprühend an die Kulturformen, in denen wir alle groß geworden sind, herantosen. Wer zum ersten Male die dumpfe Wucht des Gegensatzes, der gerade in den Großstädten zwischen Bourgeoisie und Proletariat lebendig geworden ist, ermißt, wer sich weder durch Wohltätigkeitsbasare und Blumentage, in denen der soziale Geist ins Groteske verzerrt wird, noch durch die Fortschritte der Wissenschaft und der sozialen Gesetzgebung einlullen läßt, dessen Seele erstarrt ob all der Katastrophen, die unbedachter Genuß und Menschenausnutzung auf der einen und frevelhafte Verhetzung auf der anderen Seite der Menschheit von heute als Morgengabe geschenkt haben. Und nicht nur das. Die Seele selbst hat sich, des lauten Getriebes müde, in Dämmerschatten gehüllt.“559
PLATZ gelingt es, die Ambivalenzen der modernen Großstadt wahrzunehmen – ohne vorschnell zu urteilen: „Ob wir sie nun lieben oder hassen, ob wir mit ihr oder gegen sie arbeiten, eines müssen wir alle, uns mit ihr und ihrer Eigenart auseinandersetzen. Sie ist herausfordernd in ihrem Sein, zu gewichtig, zu bedeutungsvoll, zu überragend in ihrem Schaffen, als daß wir ihr nicht Rede stehen müssen.“560
Bisher habe man sich der Stadt immer nur „von außen“ und immer nur mit Abwehr genähert: „Die Wissenschaft konstatiert die Tatsache, erklärt das Wesen, deutet die Zukunft der Großstadt; sie ersinnt Mittel über Mittel, um den düsteren Spuk, der ihre schönsten Siege verdunkelt, zu bannen. Das aber ist die Schicksalsfrage unserer Zeit: Wer schafft die verknüpfenden Gefühle und den großen Willen, die Brücken wieder aufzurichten zwischen den entfremdeten Gemütern unseres Großstadtvolkes? Wer gibt ihm die Seele wieder, die es verloren hat? Wer macht die Sklaven wieder zu Herren ihrer Arbeit?“561
Er plädiert für einen neuen Zugang zur Großstadt, der die Seelenlage des Großstädters in den Blick nimmt. Die Seelennot, die mit der Moderne über die Menschen gekommen sei, müsse die Kirche verstehend anerkennen und sich auch pastoral ihrer annehmen: „Allgemein darf wohl festgestellt werden, daß das Großstadtphänomen, das bisher nur auf dem Wege des Wirtschaftens und Technischen in das Bewußtsein der Zeitgenossen getreten ist, gegenwärtig seinen Einzug in die Ethik, die Pädago-
559 560 561
Ebd., 388. Ebd., 385. PLATZ, Hermann (1924), 34. Hervorhebungen im Original.
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gik, die Kunst und die Pastoraltheologie hält, wo durch neuorientierte Seelenarbeit die Todesnöte der Zivilisationskultur ausgeglichen werden soll.“562
Hermann PLATZ arbeitete als junger Studienrat für Französisch in Düsseldorf und Bonn. Er gehörte zu einem Kreis katholischer Intellektueller im Umkreis der Reformkatholiken SCHELL (Würzburg) und ABELE (Straßburg).563 Mit dem Studienfreund ABELE studierte PLATZ bei Hermann SCHELL in Würzburg Theologie: „Platz empfing von Schell grundlegende und für seine späteren kulturphilosophischen Gedankengänge bedeutende Ideen: In Geschichte und Gegenwart muß sich die Strenge zu erkennender objektiver Seinsformen mit der intuitiven Fülle schöpferischer Ideenschau vereinigen.“564
Mit dieser Auffassung war für PLATZ das „Verhältnis von Tradition und Aufbruch nur aus einer inneren Einheit, nicht dagegen aus dem Antagonismus [zu] verstehen“565. Der rheinische Katholik suchte schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Formen der Erneuerung religiösen Lebens durch Anstöße des französischen Renouveau catholique. PLATZ erwarb sich seine theologische Grundhaltung bei SCHELL, wechselte aber später an die Universität Straßburg in die Romanistik. Straßburg gehörte nach dem Krieg von 1870/71 wieder zu Deutschland, die Stadt war immer eine Brücke zwischen deutscher und französischer Kultur gewesen. PLATZ sollte später ein Wegbereiter für den jumelage francoallemand werden und mit den führenden Köpfen des französischen Katholizismus ausgedehnte Briefwechsel führen.566 Zunächst aber sammelten sich dort im Rahmen einer katholischen Studentenverbindung junge Akademiker, die nach einem Ausweg aus dem erstarrten Ultramontanismus und nach Erfahrungen eines lebendigen Glaubens suchten. Anregungen kamen aus den sogenannten Reformklöstern Solemnes in Frankreich und Maredsous in Belgien. Zu diesem Kreis gehörten Robert SCHUMAN (später französischer Ministerpräsident und Außenminister), Heinrich BRÜNING (Zentrumspolitiker und später Reichskanzler), der Benediktiner Ildefons HERWEGEN (später Abt von Maria-
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564 565 566
Ebd. Zu diesem Kreis gehörten auch der spätere Reichskanzler Heinrich BRÜNING und der spätere französische Außenminister Robert SCHUMAN. Man orientierte sich außerdem an Marc SAGNIER und dessen Bewegung SILLON. 1910 wurde diese von Papst Pius X. verurteilt. PLATZ folgte dem Urteil. Vgl. BOCK, Hans Manfred (2006), 340f. Vgl. NEUNER, Peter (2009), 31ff. Vgl. ebd., 39ff. BERNING, Vincent (1980), 14. Ebd. Dazu gehören die Schriftsteller Jacques MARITAIN, Paul CLAUDEL und Charles PEGUY wie Abbé Henri BREMOND (Histoire littéraire du sentiment religieuse, 1916, Prière et poésie, 1927) oder die Dominikaner P. Antonin-Gilbert SERTILLANGES und P. Réginald GARRIGOULAGRANGE.
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Laach), Alois DEMPF (Philosoph, Mitarbeiter der Zeitschrift Abendland567, die zum „Motor übernationaler Verständigung, vor allem der Versöhnung mit Frankreich“568 werden sollte). Es war PLATZ, der den jungen Bonner Privatdozenten GUARDINI einlud, an den Treffen des Quickborn auf der Burg Rothenfels teilzunehmen. Auf dem Hintergrund seiner kulturkonservativen Skepsis gegenüber der Moderne als Verursacherin „geistiger, moralischer und politischer Not der Gegenwart“569 war er nicht nur Karl MUTHs Hochland, sondern, auch jenseits des katholischen Milieus, dem weltläufigen, hochgebildeten Romanisten und Essayisten Ernst Robert CURTIUS verbunden.570 Kulturkonservativ war dessen Insistieren auf einem europäischen Christentum und seiner Bedeutung für die Gegenwart. PLATZ war vor allem nach dem Ersten Weltkrieg vom Gedanken der Versöhnung aus dem Geist des Christentums getragen. Diese Haltung sollte gerade in diesen Jahren zum kulturkonservativen Schlagwort vom Abendland571 gegen die Geschichtsvergessenheit der Moderne werden. PLATZ, dessen Familie einen „bäuerlich-winzerischen“ Hintergrund hatte, war in der Nähe von Speyer aufgewachsen, die Nähe zu Frankreich wirkte tief in die Familie hinein. Sie vereinte in sich den „bäuerlichen Ursprung“ mit der „Weite europäischer Kultur“572. PLATZ teilt mit dem später wesentlich bekannteren GUARDINI die Einsicht, dass Kirche um der Lebendigkeit des Glaubens willen der Hinwendung zu Kultur und Kunst der Gegenwart bedürfe – und zwar zum wechselseitigen Vorteil: „Auch diesen Kulturnöten wird die Religion als erste und tatkräftigste Helferin nahen. Sie ist ja ihrem Wesen nach Seelenkultur. Wer hätte dem Haß eine gleich große Macht der Liebe, der Friedlosigkeit einen gleich seligen Frieden entgegenzusetzen als sie!“573
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571 572 573
PLATZ gründete unter Einwirkung von Alois DEMPF 1925 die Zeitschrift Abendland. Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik und Wirtschaft, die bis 1930 bestand. Vgl. BECKER, Werner (1998), 14, Anm. 7. HÜRTEN, Heinz (1992), 152. BOCK, Hans Manfred (2006), 343f. CURTIUS und PLATZ setzten sich später erfolgreich für eine Verbesserung der deutschfranzösischen Beziehungen sowohl auf geistesgeschichtlicher Grundlage als auch im Bemühen um praktische Politik ein. Insofern sind sie die Vorläufer der Politik ADENAUERs. PLATZ veröffentliche vor allem in den Kriegsjahren Analysen über die Situation Frankreichs, die später in dem Sammelband Geistige Kämpfe im modernen Frankreich, München 1922, erschienen sind. Von 1924 bis zum Verbot durch die Nationalsozialisten 1935 lehrte PLATZ als Honorarprofessor für Romanistik an der Universität Bonn. Zum Begriff Abendland und seiner Bedeutung unter katholischen Intellektuellen vgl. PÖPPING, Dagmar (2002). BERNING, Vincent (1980), 12. PLATZ, Hermann (1924), 34.
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Die Kunst, so schreibt Platz 1912, wird „der Religion schwesterliche Hilfe“, indem „sie sich ergreifen läßt von den sozialen Wirklichkeiten, die in der Großstadt lebendig sind, indem sie die neuen Schönheiten empfindet und darstellt, indem sie Sinn und Ziel hineinbringt in die in Haß und Liebe durcheinanderwogenden Großstadtkräfte und all das Verworrene klärt, das Abgerissene wieder verknüpft, das Verdorrte in neues Erdreich pflanzt“574.
RUSTER nennt PLATZ „einen der älteren und besonnenen Teilnehmer“575 der jugendbewegten Quickborn-Tagung 1920 mit ihren über 1.000 Teilnehmern auf der Burg Rothenfels.576 PLATZ habe dort mehr als deutlich machen können, wie sehr für ihn bereits vor dem Ersten Weltkrieg „eine[r] Lösung [vorgezeichnet war], die dann der Weltkrieg brachte. Heute ist jeder, der die Weltkriegsnot gespürt hat, gezwungen, aus anderer Tiefe zu schöpfen und anderer Höhe zuzustreben“577. PLATZ erhoffte von einer Reform der Kirche durch die Liturgische Bewegung, dass christlicher Glaube eine Antwort auf die Krise der Zeit werden könnte. „In diesem wogenden Meer von Sehnsucht, Triebunsicherheit und Zielumdunklung das Ewige, das Absolute zur Geltung bringen, damit dieses über uns herrsche […] und nicht der Fortschritt, den die Modernen erfunden haben.“578
Obwohl PLATZ, so ist Heinz Robert SCHLETTE zuzustimmen, „sehr pointiert das Ewige und Bleibend-Wahre des Christlichen festzuhalten und weiterzugeben bestrebt war, stellte für ihn der Glaube keineswegs eine welt- und zeitlose Angelegenheit dar. […] Dieses Verhältnis zu Zeit oder Welt hat für Platz niemals etwas mit Konzession oder gar Anbiederung zu tun, vielmehr ergibt sich für ihn umgekehrt aus dem Glauben die Verpflichtung, Antworten zu geben auf die Probleme, die in einer Zeit um so virulenter werden, je weniger diese sich an der christlichen Heilswahrheit orientiert“579.
PLATZ beruft sich dabei vor allem auf die heilsgeschichtliche Wirkung christlich-kirchlicher Traditionen und damit die „welthaft-öffentliche Dimension des Christlichen“580.
574 575 576 577 578 579 580
PLATZ, Hermann (1912), 388f. RUSTER, Thomas (1994) 84. Vgl. LUTZ, Heinrich (1963). PLATZ, Hermann (1920), 30f.; zit. nach SCHLETTE, Heinz Robert (1980), 34. SCHLETTE, Heinz Robert (1980), 32. Ebd., 34. Ebd., 35.
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Der Zusammenhang von Wohnungselend und Bodenspekulation In einem für Karl Muth ungewohnt politischen Ton nimmt der Herausgeber von Hochland 1931 zum Verhältnis von Grundbesitz und herrschendem Wohnungselend überdeutlich Stellung: „Sechs Jahre vor Ausbruch des Weltkriegs habe ich in diesen Heften einen großen Aufsatz von Dr. J. Jaeger veröffentlicht, der die Frage ‚Wie unser Volk wohnt‘ in geradezu erschreckender Weise beantwortete. Mit Staunen habe ich ihn nach 23 Jahren wieder gelesen. Was dieser mutige und weitblickende pfälzische Sozialpolitiker damals dem deutschen Bürgertum und den verantwortlichen Staatsmännern ins Gewissen redete und vor allem die Schärfe, mit der er diese Dinge in jener saturierten Zeit zu sagen sich getraute, ist heute noch so wahr und berechtigt. [...] Man muß sich das klar vorzustellen suchen, um einerseits den Heroismus zu bewundern, mit dem Millionen dieser elend behausten Menschen 1914 in den Krieg zogen, aber auch um ihre Enttäuschung zu verstehen, mit der sie die in vor kriegerischen Verwüstungen zwar äußerlich bewahrte Heimat zurückkehrten, aber den inneren Verwüstungen mit nur umso größerem Grauen sich gegenüber sahen.“581
Dies ist einer der raren Texte, in denen in Hochland auf das Geschehen von Krieg und Zerstörung explizit Bezug genommen wird. MUTH spricht hier direkt die „innere Verwüstung“, das „Grauen“ an, von denen die Menschen durch ihre Kriegserlebnisse gezeichnet sind: „Und dies alles aus keinem anderen Grunde, als weil der Boden der Heimat, den sie mit ihrem Blute und mit unersetzlichen Verlusten des Lebens anderer verteidigt hatten, für die allermeisten von ihnen gesperrt und nach wie vor ein Gegenstand des Reichtums von Wenigen geblieben war.“582
MUTH fragt nach den Gründen für die „Überfüllung“ deutscher Großstädte, indem er die gängigen stadtkritischen Argumente der Landflucht erwähnt: Hang zu Ungebundenheit und Freiheit, von den Motten und dem Licht, von „Arbeitsscheu“ vor schwerer Landarbeit: „Alles das sind erbärmliche und nichtswürdige Versuche, die eigentlichen Ursachen zu verschleiern. Dass beispielsweise Berlin einen jährlichen Zuzug von 90.000 Menschen hat, ist tiefer begründet als Vergnügungssucht und Liederlichkeit.“583
Vielmehr sei im 19. Jahrhundert – und hier vor allem in den preußischen Provinzen östlich der Elbe – „Bauernland an den Großgrundbesitz verloren“ gegangen. MUTH nennt diesen Tatbestand unverblümt, was er ist: nämlich „Bodenfrevel“584: 581 582 583 584
MUTH, Karl (1931), 123. Ebd. Ebd., 125. Ebd.
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„Wenn unsere Großstädte heute zu Massengräbern der Volksgesundheit und -sittlichkeit geworden sind, so liegen die tiefsten Wurzeln dieses Unheils in dem Bodenfrevel jener Schicksalsjahre.“585
Er nennt Zahlen aus der Reichswohnungszählung von 1927. Danach lebte jeder zehnte Städter in einer überfüllten Wohnung. Laut Wohnungszählung in Berlin von 1916 hatten ca. 25.000 Wohnungen kein beheizbares Zimmer und ca. 393.506 nur ein einziges: „Diese statistischen Elendsbilder könnte man lange aufreihen und insbesondere dadurch noch sprechender machen, daß man die Ausstattung dieser oft mehr Höhlen als menschlichen Wohnungen ähnlichen Behausungen schilderte und die Frage nach der Zahl der verfüg- und stellbaren Betten anschnitte – der Reichausschuß der Jugendverbände hat festgestellt, daß unter 200.000 erwerbstätigen Jugendlichen jeder fünfte Jugendliche in Deutschland kein eigenes Bett hat.“586
MUTH macht den Versuch, die Mechanismen der Bodenspekulation dem Leser anschaulich zu machen. Er räumt dabei ein, man möge sich davor hüten, „in demagogischer Weise die Schuld dafür auf bestimmte Schichten, auf Bodenschlächter, Spekulanten und Terraingesellschaften einseitig abzuwälzen. Auch wenn noch so krasse und empörende Fälle von sozialwidrigem Handeln Einzelner ruchbar werden – und die Liste solcher Fälle ist erschreckend groß“587.
Es bleibe jedoch „wahr und richtig“, was Adolf DAMASCHKE – einer der Initiatoren und Vorsitzender der deutschen Bodenreformbewegung, er war selbst in einer Berliner Mietskaserne aufgewachsen – gesagt hat: „Wir machen keinem einzelnen persönlich einen Vorwurf aus solcher Tätigkeit. Wir alle tragen die Verantwortung, daß unser Recht das erlaubt, ja fördert.“588 MUTH folgert – um Distanz bemüht und dennoch unmissverständlich: „Aber wenn wir schon den Satz De mortuis nil nisi bene aus Höflichkeit gegen die Mitlebenden umkehren und an diejenigen den Vorwurf richten, die in der Vergangenheit diese Gesetze geschaffen haben, es ist trotzdem unsozial im höchsten Maße, wenn sich Zeitgenossen Gesetzeslücken, aus denen solches Unheil quillt, zunutze machen.“589
MUTH benennt sodann in der darauf folgenden Passage die Gesetzmäßigkeiten der Bodenspekulation – für Hochland ungewohnt radikal: „Nicht nur der Gesetzgeber indessen, auch manche unserer Volkswirte sind mitschuldig an diesen wirtschaftlichen Mißständen. Wer in dem spekulierenden Verhalten sowohl einzelner Bodenverkäufer als auch ganzer Terraingesellschaften eine ‚volkswirtschaftlich wertvolle Funktion‘ sieht und bei diesen Geschäften 585 586 587 588 589
Ebd., 126. Ebd., 127. Ebd. Zit. n. MUTH, Karl (1931), 127f. Ebd., 128.
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von einer ‚Wertproduktion‘ spricht, trägt, mag es sich hierbei auch um Abstraktionen des reinen Wirtschaftsdenkens handeln, doch dem konkreten sozialen Leben gegenüber eine Verantwortung, der man sich durch keine Trennung von Wissenschaft und Leben entziehen kann.“590
Das sind deutliche Worte in diesem doch eigentlich kulturkonservativen und eher „schöngeistigen“ Kontext, in dem sich die Zeitschrift seit ihrer Gründung und in ihrem Selbstverständnis bewegt. Weiter zitiert MUTH den Nationalökonomen Adolf WEBER, der schon früh die Widersprüchlichkeit im Urbanisierungsprozess untersucht hatte.591 Außerdem bezieht sich MUTH auf das ein Jahr zuvor erschienene und heute legendäre Buch von Werner HEGEMANN Das steinerne Berlin (1930), eine Auseinandersetzung mit der Baugeschichte der modernen Großstadt Berlin: „[Der] auch weiteren Kreisen bekannt gewordene Architekt und gründliche Kenner des Städtebauwesens hat in seinem Riesenwerk ‚Das steinerne Berlin‘ auf die Gepflogenheiten des Berliner Grundstückmarktes einige Lichter fallen lassen, die höchst traurige Vorgänge erhellen.“592
HEGEMANN wurde zu seiner Zeit als linksliberaler Außenseiter überwiegend von Außenseitern wie Joseph ROTH, Carl von OSSIETZKY oder Walter BENJAMIN geschätzt. MUTH entnimmt dieser – später dann und noch heute anerkannten – damals so ungewöhnlichen Sichtweise die entscheidenden Informationen: „Warum wir heute auf diesen großstädtischen durch Spekulation wertmäßig aufgeblähten Bodenflächen die vier- bis fünfstöckigen Mietskasernen mit ihren luftlosen Hinterhäusern haben. [...] Die Bauverordnungen dementsprechend dem Privatinteresse dienstbar und gefügig zu machen, wird dann die raffinierteste Dialektik im Dienste angeblichen Volkswohles aufgeboten.“593
MUTH verdeutlicht diesen Vorwurf an einem skandalösen Beispiel, das sich um die Jahrhundertwende ereignet hatte. Er bezieht sich auf HEGEMANNs Darstellung der Vorgänge auf dem Gelände des Tempelhofer Felds, das der preußische Kriegsminister „für 72 Millionen der Ausschlachtung zum Bau von Mietskasernen überließ“, statt einen „neuen Truppenübungsplatz von den angrenzenden Gemeinden [zu] fordern“594. Der Kriegsminister, MUTH zitiert hier HEGEMANN, habe „schon seit 1904 allerlei Verwandten hoher preußischer Verwaltungsbeamter Gelegenheit [gegeben], es zu ihrem privaten Vorteil von den Bauern und Ziegeleibesitzern aufzukaufen, ähnlich wie vorher beim Bau des Teltow-Kanals von einflußreichen und rechtzeitig eingeweihten Personen Millionen auf Kosten des 590 591 592 593 594
Ebd. Vgl. MUTH, Karl (1931), 128. MUTH, Karl (1931), 129. Ebd., 130 Ebd., 129.
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Staates [...] verdient worden waren. Obgleich die bäuerliche Bevölkerung, auf deren Rücken diese Riesengewinne gemacht wurden, sehr arm und von sehr hohen Steuern belastet war und obgleich sie rechtzeitig Anstrengungen für die Inkraftsetzung der neugeschaffenen Wertzuwachssteuer machte, gelang es den einflußreichen Zwischenkäufern, die Verzögerung des Erlasses um einige entscheidende Tage zu bewirken und dann die rückwirkende Kraft der neuen Steuerverordnung ausdrücklich verbieten zu lassen. So konnten die Zwischenkäufer bei der Weitergabe ihrer Beute an den Staat bis zu vierhundertprozentige Zwischengewinne ins Trockene bringen und obendrein die Gemeinden um etwa 1 Million Wertzuwachssteuer schädigen“595.
Nun habe die neue Reichverfassung der Weimarer Republik von 1919 als Grundrecht des deutschen Volkes in Artikel 155 der Verfassung festgeschrieben, dass „jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern“596 sei. Dieser Artikel, nütze aber nur, so man „unermüdlich dafür“ kämpfe. Daraus schließt MUTH: „Nur ein neues Bodenrecht, das unserem Volk wieder wirtschaftliche Selbständigkeit und Freiheit verleiht, wird die Vorbedingung sein zu einem neuen sozialen Aufstieg.“597
Er plädiert für ein „klares Enteignungsgesetz“, das anders sein müsste als das preußische, das „vollständige Entschädigung verlangt“ und damit die Siedlungspolitik weiterhin einschränke. MUTH hat dabei vor allem die großen Güter im deutschen Osten jenseits der Elbe im Blick. „Die Bodenreformbewegung, der das deutsche Volk den Artikel 155 der Reichsverfassung verdankt, ist seit nahezu vierzig Jahren dahin gerichtet, unser Volk wieder bodenständig zu machen nach schrecklichen Jahrzehnten eines schamlosen Bodenwuchers.“598
MUTH erwähnt noch einmal mit Nachdruck Adolf DAMASCHKE, ohne dessen Leistung „gingen wir jedenfalls viel trost- und hoffnungsloser in die nächste Zukunft hinein“599. Voraussetzung für eine hoffnungsvolle Zukunft ist für MUTH die Berücksichtigung und Inangriffnahme der Siedlungsfrage – „bereits während des Krieges von weitblickenden Männern aufgeworfen, sollte sie heute von allen als die schicksalsschwerste Frage empfunden werden, die dem deutschen Volke zu lösen aufgegeben ist“600. Die Siedlungsfrage sei aufs engste mit der „Bevölkerungsfrage und der Geburtenfähigkeit“ verknüpft: „Unsere Großstädte sind molochartige glühende Essen, in denen die vom Lande immer 595 596 597 598 599 600
HEGEMANN, Werner (1930), 450ff.; zit. n. MUTH, Karl (1931), 129f. Ebd., 131. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 133.
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neu zuströmende Volkskraft verbrennt. Sie sterben von innen heraus ab. Ihr Geburtendefizit wird von Jahr zu Jahr größer.“601 MUTH folgert aus dieser Tatsache: „Alle seelsorglichen Bemühungen um die natürliche Fruchtbarkeit der Ehen scheitern an den Wohnzuständen unserer Städte. Und nicht minder die Bekämpfung von Krankheiten, Alkoholismus und Verbrechen.“602
Er verweist auf die tiefgreifenden Krisen, denen nach dem Zusammenbruch des Weltwirtschaftssystems 1929 sämtliche hochindustrialisierte Länder ausgesetzt sind und „die auf die Notwendigkeit großer Strukturveränderungen im wirtschaftlichen Aufbau dieser Länder gebieterisch hinweisen“603. Am Beispiel England, dort sei man seiner Zeit in der Entwicklung der Industriegesellschaft immer ein Stück voraus, zeigt MUTH: „Die lahmgelegten Industriestaaten stehen daher heute vor dem Problem, wie sie den Überschuß ihrer [arbeitslosen] Bevölkerung entweder durch Abwanderung oder, wo dies nicht möglich ist, durch Ansiedlung auf dem Boden des eigenen Landes beseitigen.“604
In England habe man schon vor dem Krieg „darauf hingearbeitet, unterstützungsbedürftige Kinder in Siedlungsgebieten zu erziehen“ und zur „frühzeitige[n] Anpassung an die bäuerliche Lebensweise“ habe man deshalb „agrarische Erziehungskolonien“605 gegründet. MUTH glaubt, dass das „dem Boden entfremdete großstädtische Proletariat [...] zu Siedlungszwecken untauglich“606 geworden sei. Daran werde möglicherweise auch ein Teil der neuen Siedlungspläne der Regierung scheitern. In dieser fundamentalen Krise der Industriegesellschaft sei der Versuch einer „vernünftigen Reagrarisierung“607 eine der vordringlichen Aufgaben in der perspektivlosen Zeit der Gegenwart. MUTH schreibt dies 1931, als ahne er das Ende der Weimarer Republik. Welch ein Niedergang mit der Wahl von Hitler 1933 verbunden sein sollte, darüber machten sich MUTH und die Redaktion von Hochland keine Illusionen: „Aber so sehr es [Hochland] die nationalsozialistische Herrschaft als Beginn einer antichristlichen Ära bekämpfte, trauerte es allerdings der Republik nicht nach. [...] Da man das Scheitern der Republik als ein Versagen des Bürgertums begriff, zu dem man selbst zählte, machte sich im Hochland eine fast resignierende Haltung breit.“608 601 602 603 604 605 606 607 608
Ebd. Ebd. Ebd., 135. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 136. DÜLMEN, Richard van (1973), 301.
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Aus geistesgeschichtlicher Perspektive gesehen gab es thematisch (weniger jedoch in der Richtung der Argumentation) durchaus Berührungspunkte: „Bezüglich der kulturkritisch-konservativen Thematik sowie der Ablehnung der urban geprägten Massengesellschaft, gab es durchaus Konvergenzen mit dem zivilisationskritischen Impetus des Nationalsozialismus.“609
Trotz dieser Nähe übte das „neue Deutschland“ keine Anziehungskraft auf sie aus: „Meist flüchteten die Autoren sich in den geschichtlichen Kontext, um von da aus Hinweise auf die Gegenwart einfließen zu lassen.“610 Hochland wurde zu einem geschätzten wie geschützten Ort innerer Emigration, was jedoch 1941 mit dem Verbot der Zeitschrift ein Ende fand. 1926 schrieb Karl MUTH in einem seiner Grundsatzessays, die er im Abstand von Jahren verfasste und als jeweilige Positionsbestimmung verstand: „Wenn nicht alles täuscht, stehen wir zur Zeit an der Schwelle einer ebenso großen inneren Krise unseres Staats- und Gesellschaftslebens, als da uns gleich nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung das Chaos den Untergang zu bereiten drohte.“611
Gilbert MERLIO kommt schließlich zu einem positiven Urteil: MUTH habe in den Jahren absoluter Anfechtung ein Forum für christlich-humanes Denken bereitet: „Il [Karl Muth] aura eu le mérite de maintenir à flot aussi longtemps que possible une arche de a pensée chrétienne et humaniste au cours d’une période de totale apostasie.“612
Und WEITLAUFF resümiert im Hinblick auf den Stellenwert von Hochland im deutschen Katholizismus, Karl Muth habe „als tiefgläubiger, gleichwohl weltoffener katholischer Laie ungeachtet innerkirchlicher Pressionen und Hindernisse durch seine Zeitschrift ‚Hochland‘ […] über Jahrzehnte hin ein hochqualifiziertes, unabhängiges Forum offener geistiger Auseinandersetzung und christlichen Dialogs geschaffen, welches für viele gebildete, aber unter der Enge und Unbeweglichkeit des damaligen kirchlichen Systems leidende Katholiken mit Blick auf ihre Kirche und deren zukünftige Entwicklung zu einem Zeichen der Hoffnung und Ermutigung wurde“613.
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DIRSCH, Felix (2003), 85. Ebd., 93f. MUTH, Karl (1926), 1. MERLIO, Gilbert (2006), 204. WEITLAUFF, Manfred (1988), 171.
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6.5 Das Heilige Feuer (1913-1931) Ist Hochland unter den Journalen ambitioniert und zugleich populär, nimmt die Zeitschrift Das Heilige Feuer unter den katholischen Kulturzeitschriften eine Sonderstellung ein, denn hier verbindet sich ganz offensichtlich Katholisches mit Deutsch-Völkischem.614 Die Forschung bestätigt, dass zwischen Katholiken und Rassetheorie, wie sie explizit von der völkischen Bewegung des Kaiserreiches propagiert wurde, „eine ‚eklatante Kluft‘ bestanden habe, die nur in Einzelfällen über einen rassisch argumentierten Antisemitismus von katholischer Seite überbrückt wurde“615. Gründer und Herausgeber der Zeitschrift war der Trierer Priester Ernst THRASOLT616. Der „Priesterdichter“617 war von 1913 bis 1915 maßgeblich für das Programm sowie für die in diesen Jahren abgedruckten Texte verantwortlich.618 Trug die Zeitschrift im ersten Jahr den Untertitel Religiös katholische Monatsschrift, so änderte THRASOLT diesen im darauffolgenden Jahr in Monatszeitschrift für naturgemäße, deutsch-völkische und christliche Kultur und Volkspflege. THRASOLT gab die Herausgeberschaft nach dem zweiten Jahrgang an den „publizistisch unerfahrenen Bernard Michael Steinmetz“619 ab. In den Jahren des Ersten Weltkriegs „veränderte sich […] die inhaltliche Ausrichtung des Blattes kaum, zumal zwischen THRASOLT und Steinmetz weiterhin ein enger Kontakt bestand“620. Nach THRASOLT war Das Heilige Feuer als „religiöse 614
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Vgl. die Einschätzung des völkischen Jugendführers Otger GRÄFF, der der Zeitschrift einen deutsch-völkischen Charakter zuspricht, wenngleich mit „kirchlich-katholischer Begrenzung“ (HUFENREUTER, Gregor, 2006, 169). Zur völkischen Bewegung vgl. PUSCHNER, Uwe (2001). Vgl. auch BREUER, Stefan (2004). HUFENREUTER, Gregor (2006), 170. Zum Verhältnis von Katholizismus und moderner Rassentheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. vor allem BLASCHKE, Olaf (1997). THRASOLT, Ernst (1878-1945), Pseudonym für Matthias Josef Franz TRESSEL. THRASOLT war sein gängiges Pseudonym, mit dem er sich einen Namen gemacht hat. Er hatte aber noch weitere, vielsagende Pseudonyme wie GOTTSCHALK, Adam CHRIST, Hans HEILER, Michael HÖLLERING, Christian IMBODEN, Wolf SELBHERR, Michael OBERSTOFFEL und EMERITA. Vgl. KLEIN, Gotthard (1996), 132. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören neben zwei umfangreichen Biographien zu Carl SONNENSCHEIN (1930) und Missionsvikar Eduard MÜLLER (1930) De profundis (1908), Stille Menschen (1909), Witterungen der Seele (1911), Gotteslieder eines Gläubigen (1921) und Heiliges Land (1930). THRASOLT galt lange Zeit als „Erneuerer der religiösen Lyrik Deutschlands“ und als „der bedeutendste religiöse Lyriker unter den modernen Dichtern katholischer Konfession“ (PERSCH, Martin, 1996, 1508). THRASOLT war eher ein Initiator und Autor denn kontinuierlicher Mitarbeiter. Er war maßgeblich an mindestens zwei weiteren Zeitschriften beteiligt: Efeuranken, dort war er von 1908 bis 1913 Mitarbeiter. 1921 gründete er die Zeitschrift Vom frohen Leben, die 1933 von den Nationalsozialisten verboten wurde. HUFENREUTER, Gregor (2006), 171. Ebd.
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Zeitschrift für die gebildete Familie“621 konzipiert. Die Zeitschrift erschien in einer Auflage von 5.000 Exemplaren und stellte sich selbstbewusst neben führende katholische Zeitschriften wie Hochland und Gral.622
Antimoderne Kultur- und Gesellschaftskritik – Ernst THRASOLT THRASOLT formuliert in der ersten Ausgabe der Zeitschrift 1913 prägnant folgende Leitlinien: „Das Heilige Feuer will die Erneuerung der menschlichen Gemeinschaft in Christus und dem Geiste Jesu Christi, und in alter deutscher Art und Sitte; es will 1. Tiefe, innerliche, einfach, gesunde, lebendige und tätige Religiosität, Selbstüberwindung und Charakterstärke pflanzen, und zwar zumeist durch Anregung zum Mitleben des kirchlich-religiösen Lebens, durch Führung zur Pfarrkirche, Liturgie und Kirchenjahr, diesen besten Quellen der Religiosität und Sittlichkeit geistiger Kultur. 2. Gesellschaftskritik üben und Gesellschafts- und Lebensreform treiben, vor allem durch Erziehung zur Vernunft, Zweckhaftigkeit, Häuslichkeit, Einfachheit und Sparsamkeit in allen Dingen. 3. Es will Geschmack und Kultur fördern durch energische Aufnahme der ästhetischen Erziehung zur Kunst […] im weitesten Umfange, will die Natur- und Heimatschutzbewegung als Erhaltung und Förderung deutschen Volkstums unterstützen.“623
THRASOLT verstand Das Heilige Feuer als eine „ganz neue und eine zur christlichen und deutschen Erneuerung unserer Nation notwendige Zeitschrift, […] ein praktisches, universales und zentrales Kulturorgan“624. Und er schließt das knappe zweiseitige Editorial pathetisch: „Ich weiß, die Zeitschrift ist eine Herausforderung – sie ist gegen den weichlichen und sinnlichen Geist der Zeit gerichtet und verlangt Opfer; aber nur auf dem Wege mit diesen Grundsätzen und Mitteln werden wir der sittlichen und nationalen Entartung und dem Verfall entgehen, werden wir zu einer christlichen und deutschen Kultur kommen.“625
Die Zeitschrift entsprach in Sprache und Stil dem Geist der Bündischen Jugend.626 Neben religiöser Lyrik und Heiligenlegenden wurden vor allem programmatische Texte gegen den religiös und sittlichen „Bankrott unserer Zeit und Gesellschaft“627 abgedruckt. THRASOLT schreibt: „Da wollen wir keine große erstklassische Revue sein, wir wollen nicht mit solchen Blättern verglichen werden; wir wollen keine Blender und wissenschaftli621 622 623 624 625 626 627
THRASOLT, Ernst (1913a), 135. Vgl. HUFENREUTER, Gregor (2006), 173. ARBEITSZIELE (1913), 1f. Ebd., 2. Ebd. Vgl. HUFENREUTER, Gregor (2006), 173. THRASOLT, Ernst (1913). 4.
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che Großtaten hier bringen, sondern alltäglich hausbacken brauchbare Sächlein; […] aber in jeder Zeile, die wir schreiben, in jedem Schritt, den wir tun, wollen wir ganz christlich, fromm, ganz einfach und bescheiden und klein, ganz schön und kultiviert sein.“628
Die Moderne und die aus ihr hervorgehende „Abwendung von Christus“629 trage „schuld an dem Verfall, der die einzelnen und die Gesellschaft täglich immer beängstigt, der von oben aus und durch das Beispiel und die Schuld der sozial besseren Kreise allgemein und endemisch geworden ist. […] Die Vergnügungs-, Luxus- und Modesucht, […] der Gelderwerb und das bloße Bequemlichkeitsprinzip, die aus all dem entspringende Geburtenabnahme, die Unsittlichkeit, die sich an die Oeffentlichkeit wagt“630.
Dies sind für THRASOLT die Phänomene, in denen sich der Bankrott der Gesellschaft zu erkennen gibt. Er schreibt weiter: „Trotz aller Maschinen und allen Kulturraffinements – oder gerade durch sie – wird die Menschheit nicht satt, sondern unersättlich oder übersättigt bis zum Ekel an sich selbst und aller Kultur und wird in den Zentren der Kultur […] unzufrieden, totunglücklich, wurzellos und haltlos bis zu Morphium und Kokain, bis zu Irrsinn und Selbstmord.“631
Diese von THRASOLT im Ton antimoderner Ressentiments verfasste Kulturund Gesellschaftskritik wurde durch Beiträge anderer Mitarbeiter der Zeitschrift ergänzt. Das Heilige Feuer hatte den Charakter eines „Kampforgans“632. Der Großteil der Mitarbeiter waren vor allem Priester und Lehrer, die THRASOLT aus den Jahren seiner Zuständigkeit für die Zeitschrift Die Efeuranken kannte.633 Die Beiträge kamen aus dem lebens- und gesellschaftsreformerischen Spektrum der Jugendbewegung und füllten den größten Teil der Ausgaben. Im völkisch-nationalen Tenor der Zeit wurde über Tier-, Heimat- und Naturschutz diskutiert. Es ging es um Sprachreinigung und Ernährung, um Kleidungs-, Wohnungs- und Bodenreform, um die Wiederentdeckung alter Bräuche und Volkslieder und unermüdlich gegen „Schund und Schmutz“634.
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THRASOLT, Ernst (1913a), 135. THRASOLT, Ernst (1913), 4. Ebd. Ebd. HUFENREUTER, Gregor (2006), 175. Vgl. REINECKE, Thomas (1996), 165f. Bereits im Kaiserreich gab es eine bürgerlich breit geführte Auseinandersetzung über „neue“, im Zuge der Moderne erscheinende „unsittliche“ Schriften, Bilder, Theaterstücke und Filme, die schließlich 1926 zur Verabschiedung des „Gesetzes zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“ (REICHSGESETZBLATT, 1926, 505) führten. Vgl. WEYER, Johannes (1928).
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Die Jugendbewegung sei Beweis, so THRASOLT, dass in der modernen Gesellschaft trotz ihrer „Selbst- und Habsucht“ die „Sehnsucht nach etwas Höherem, Uebersinnlichem und Unvergänglichem, nach Religion erwacht“635. An diese Sehnsucht wollte die Zeitschrift anknüpfen: „Christus ist das heilige Feuer, und dieses heilige Feuer wollen wir weitertragen, es auf den Bergen anzünden und in den Tälern; als heilige Brandstifter wollen wir kommen in die Städte und in die Dörfer, in die Hallen der Wissenschaft und die Stätten der Kunst, in Schulen und Hochschulen, in Handel und Gewerbe, an die Orte der Erholung und in die Familien, vor allem in die Familien und ihrem Herde heiliges, christliches Feuer bringen, in ihre Speisestuben und Schlafkammern und Kinderzimmer. Eine heilige Feuersbrunst wollen wir stiften und alles Heidnische und Lüsterne, alle Schwachheit und Halbheit und Weichlichkeit in Brand stecken, alles Unnatürliche und Undeutsche, alles, was in der häuslichen und gesellschaftlichen Lebensführung Abfall von Christus und von der Nation ist.“636
THRASOLT war, bevor er Das Heilige Feuer gegründet und zu seinem Anliegen gemacht hatte, im katholischen Milieu kein Unbekannter. Als Matthias Josef Franz TRESSEL war THRASOLT 1878 in eine kinderreiche, bäuerlichhandwerkliche Familie in Beurig an der Saar geboren und studierte nach dem Abitur 1899 katholische Theologie in Trier. 1904 wurde er zum Priester des Bistums Trier geweiht und hatte dort mehrere Kaplanstellen inne.637 Während seiner Arbeit in der Redaktion Die Efeuranken, herausgegeben durch den Volksverein für das katholische Deutschland, erhielt die Zeitschrift „unter Thrasolts Ägide eine stark lebensreformerische und jugendbewegte Prägung“638, weshalb sie auch zu den „frühesten Wurzeln einer katholischen Jugendbewegung gezählt wird“639 Carl SONNENSCHEIN nannte THRASOLT den „ungekrönten König der Jugendbewegung“640.
Lebensreform und Jugendbewegung Neben Autoren aus dem vorwiegend katholischen Umfeld publizierten in den ersten Erscheinungsjahren des Heiligen Feuers jedoch auch zwei als Antise635 636 637
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THRASOLT, Ernst (1913), 5. Ebd., 7. Der Personalchef des Bistums, Carl KAMMER, schreibt in einer Notiz: „Seine urwüchsige Art ließ ihn nicht gut in Gesellschaft auskommen, daher seine vielen Kaplanstellen.“ (Zit. n. PERSCH, Martin, 1996, 1504). HUFENREUTER, Gregor (2006), 172. HENRICH, Franz (1968), 24. HÖHLE, Michael (1996), 136. Zum Verhältnis von SONNENSCHEIN und THRASOLT vgl. KLEIN, Gotthard (1996), 132. SONNENSCHEIN holte THRASOLT schon bald nach seiner eigenen Ankunft 1918 in der Hauptstadt nach Berlin und vermittelte ihm in Berlin-Weißensee eine Stelle als Hausgeistlicher.
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miten bekannte deutschvölkische Autoren, nämlich Heinrich PUDOR641 und Philipp STAUFF642. HUFENREUTER kommentiert: „Die Leichtigkeit des Eindringens völkischer Autoren in eine katholische Zeitschrift mag verwundern, doch deckten sich die Ansichten und Argumente in bemerkenswerter Weise und die katholischen Beiträger standen Pudors lebensreformerischen Ansätzen in nichts nach. Auch Stauffs antisemitische Ausfälle entsprachen Thrasolts Sichtweise, der mehr als einmal die ‚Talmikultur‘ Deutschlands und die ‚Verjudung‘ der Presse, selbst katholischer Organe angeprangert hatte.“643
Hatten in den Anfängen die obengenannten Antisemiten ihren selbstverständlichen Platz in der Zeitschrift, waren auch die völkischen Vordenker, die eher der Lebensreform nahestanden wie Paul SCHULTZE-NAUMBURG, Paul de LAGARDE und Julius LANGBEHN, durch „streckenweise mehrere Seiten [füllende] Zitatweisheiten“644 präsent. THRASOLT hatte bereits in der zweiten Ausgabe der Zeitschrift im Jahr 1914 angesichts des geänderten Untertitels der Zeitschrift von Religiös katholische Monatsschrift in Monatszeitschrift für naturgemäße, deutsch-völkische und christliche Kultur und Volkspflege angemerkt, der neue Untertitel habe lediglich in einem kleinen Kreis Zustimmung gefunden.645 HUFENREUTER kommt bei der Beurteilung des Verhältnisses von Katholizismus und völkischer Bewegung in Das Heilige Feuer zu folgendem Schluss: „Das Heilige Feuer diente der völkischen Bewegung in erster Linie als Brückenkopf in die Kreise gebildeter Katholiken und zur dortigen Platzierung ihrer Weltanschauung, […], eine bislang einzigartige Möglichkeit, […] waren die Völkischen doch zumeist auf protestantisch dominierte Gebiete beschränkt ge-
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PUDOR, Heinrich (1865-1943) veröffentlichte vor allem im eigenen Verlag (München, Berlin, später Leipzig) ausschließlich eigene Texte, vor allem Gedichtbände und Erbauungsschriften zur Lebensreform, z. B. Nackende Menschen. Jauchzen der Zukunft (1893), das erste bekannte Buch zu Freikörperkultur und Vegetarismus. PUDOR versuchte sich vergeblich außerdem als Maler, Bildhauer und Musiker. Ab 1912 veröffentlichte er überwiegend antisemitische Schriften, am bekanntesten davon Antisemitisches Rüstzeug des Deutschen Volksrats (1915). 1933 wurde PUDORs Zeitschrift Hakenkreuz verboten, in ihr hatte er den Führerkult, die Parteidiktatur und die Lebensweise bzw. Herkunft führender Politiker (u. a. HITLER und GOEBBELS) kritisiert. Vgl. ADAM, Thomas (1999). STAUFF, Philipp (1876-1923) war ein in Berlin lebender völkischer Schriftsteller und Funktionär, der den Semi-Kürschner herausgab, ein biographisches Lexikon, in dem in Gesellschaft und Kultur einflussreiche Juden aufgeführt waren. 1910 gründete STAUFF einen deutschvölkischen Schriftstellerverein. Die katholische Kölnische Volkszeitung empfahl beispielsweise STAUFFs Aufsatz im Heiligen Feuer „in Verbindung mit den Werken der katholischen Antisemiten Hans Rost und Joseph Eberle“ (HUFENREUTER, Gregor, 2006, 177). HUFENREUTER, Gregor (2006), 177. Zum katholischen Antisemitismus vgl. BLASCHKE, Olaf (1997). HUFENREUTER, Gregor (2006), 178. Vgl. ebd.
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blieben und hatten nur wenige Anschlussmöglichkeiten im katholischen Milieu des Kaiserreichs gefunden.“646
HUFENREUTER weist darauf hin, dass sich die katholische Presse zum Heiligen Feuer auffallend auf Distanz hielt, möglicherweise „wird die Nähe zur völkischen Bewegung mit ein Grund gewesen sein“647. HUFENREUTER schreibt: „Auch wenn Thrasolt in seiner Funktion als Pfarrer, ‚Priesterdichter‘ und Schriftleiter katholischer Zeitschriften fest im katholischen Milieu integriert war, wurden seine Avancen gegenüber den Völkischen von katholischer Seite ignoriert und fanden keine nennenswerte Rezeption. Ob die Zeitschrift die Erosion am rechten Rand des katholischen Milieus verstärkte und damit schwächte ist fraglich, gleichwohl anzunehmen ist, dass der sich stärker formierende Rechtskatholizismus im Kaiserreich von Zeitschriften wie dem Heiligen Feuer profitierte. Thrasolt blieb auch nach der Herausgabe des Heiligen Feuer ein fundamentaler und radikaler Kritiker seiner Zeit im Allgemeinen und des katholischen Milieus im Besonderen und verfocht seine Ansichten und Forderungen weiterhin in unvermittelter Deutlichkeit. Damit war Thrasolt nicht nur eine dauernde politische und intellektuelle Herausforderung für das katholische Milieu, sondern auch eine der treibenden Persönlichkeiten bei dessen Erneuerung zu einer gesellschaftlich und politisch ambitionierten Kraft.“648
Nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich die Zeitschrift vom völkischnationalen Gedanken zusehends ab, „wenngleich schrille nationalistische Töne und Zitate Lagardes und Langbehns weiterhin präsent blieben“649. Bis etwa in das Jahr 1923 „vollzog die Zeitschrift schließlich eine Wendung in ein gemäßigtes zentrumskritisches, pazifistisches, linkskatholisches Spektrum“650. THRASOLT hatte sich 1917 als Kriegsfreiwilliger zum Sanitätsdienst gemeldet, außerdem betrieb er im Baltikum eine fahrende Bücherei.651 Als Pazifist kehrte er aus dem Krieg zurück und wurde wie auch sein Mitstreiter in der katholischen Jugendbewegung, Nikolaus EHLEN652, Mitglied im Friedensbund Deutscher Katholiken, beide wurden zu dessen „radikalsten Anhängern“653. 646 647 648 649 650 651 652
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Ebd., 183. Ebd., 179. Ebd., 187. Ebd., 184. Ebd. Vgl. auch KLÖNNE, Arno (1997), 153. Vgl. PERSCH, Martin (1996), 1506. EHLEN, Nikolaus (1886-1965), Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift Großdeutsche Jugend, enger Mitstreiter von THRASOLT. Nach Verlassen des Trierer Priesterseminars nach zwei Semestern nimmt EHLEN in Münster ein Studium der Mathematik, Physik und Chemie auf und wird 1919 Studienrat in Velbert. Er nimmt am Ersten Weltkrieg teil und wird wegen seines späteren Pazifismus 1933 verhaftet und mit Schreibverbot belegt. Später wird EHLEN bekannt als Pionier des Selbsthilfe-Siedlungsbaus, vor allem im Wohnungsbau der Jahre nach 1945. Vgl. Brüne, Rolf (2002). HUFENREUTER, Gregor (2006), 185. THRASOLT war außerdem Vorstandsmitglied der Internationale der Kriegsdienstgegner, 1920 gründete er in der Uckermark die Siedlung Christusfrieden, die Geschichte dieser Siedlung ist ein Desiderat der Forschung. Vgl. ebd.
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Vaterland und Muttererde EHLEN hatte ab 1915 Großdeutsche Jugend, eine in loser Folge erscheinende Beilage von Das Heilige Feuer, herausgegeben. Der Zeitschrift standen, orientiert am Quickborn, als Organisation Heilige-Feuer-Gruppen zur Seite, aus ihnen sollte später Die Großdeutsche Jugend entstehen.654 Programmatisch hieß es 1919 in Arbeitsziele und Arbeitsplan der Großdeutschen Jugend:655 „Wir sehen ihn [den deutschen Gedanken] und die deutsche Lebensreform, die Förderung des Deutschtums nicht im Industriellen und Gelderwerbsleistungen, sondern in der Erhaltung deutschen Blutes, deutschen Geistes, deutschen Volkstums und Stammestums in Lied, Gebräuchen, Spielen, Hausrat, Trachten usw. In der Pflege des echten, großen deutschen Idealismus, der vor allem jede innere Fremd- und Schandherrschaft abwirft in Handel und Wandel, Presse und Kunst und Theater, und der Deutschland und die Welt erobert, aber fern sich hält von allem niedrigen Krämertum, das nur auf Geld, Bequemlichkeit, Genuß und Luxus abzielt. Treudeutsch allewege!“656
An zweiter Stelle erst folgt das Bekenntnis zur Kirche: „Wir stehen auf dem Boden des Katholizismus. Wir wollen die Wurzel unserer Jugend und unseres Menschentums wie in Natur und deutschem Volkstum in Gott haben; aus ihm, aus wahrer Religiosität und Gottseligkeit, wie sie unter der Hand der Kirche gewachsen sind in langen deutschen Jahrhunderten […] wollen wir herauswachsen. Irreligiosität ist höchste Entartung und Grund der Unfruchtbarkeit, Verkümmerung und Verkrüppelung.“657
1926 kam es zum Konflikt zwischen den deutschen Bischöfen und dem Laien Nikolaus EHLEN, weil die Bischöfe in den katholischen Jugendbünden und Jugendverbänden einen geistlichen Leiter forderten, für EHLEN ein Widerspruch zum Selbstverständnis der Großdeutschen Jugend.658 Diese begriff sich bewusst nicht als ein Verband, sondern als Teil der katholischen Jugendbewegung, mit nicht unerheblicher Wirkung: „Auch wenn die Großdeutsche Jugend eine überschaubare Anzahl von 200 bis 300 Jugendlichen hauptsächlich im Rheinland und in Westfalen erreicht, ist ihr Einfluß auf die katholische Jugendbewegung nicht zu unterschätzen.“659
Dort herrschte eine strenge Verpflichtung zur Disziplin, bei der Katholischsein und Selbsterziehung identisch waren. Angestrebt wurde ein am Bauerntum orientiertes Menschenbild. Mit seinem sozialreformerischen Ansatz wollte 654 655 656 657 658 659
Vgl. ebd., 174. Im Untertitel heißt es: Selbsterziehungs- und Arbeitsgemeinschaft für deutsche Lebens- und Volksaufartung. Vgl. ARBEITSZIELE (1919), 33. ARBEITSZIELE (1919), 34. Ebd., 35. Hervorhebung im Original. Vgl. RICHTER, Reinhard (2000), 181. Ebd.
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EHLEN den „Menschen in der Gemeinschaft wieder an die Natur binden, denn durch den Kapitalismus sei jener heimat- und orientierungslos geworden“660, wie RICHTER schreibt. In der Zeitschrift heißt es: „Durch die industrielle Entwicklung haben Millionen Menschen die natürliche Verbindung mit der heimatlichen Scholle verloren, sie sind zum Proletariat geworden und ihre Erlösung ist nur möglich, indem sie wieder mit der Scholle verwurzelt werden. Wir müssen auch Sorge tragen, daß den heimatlosen Proletarierfamilien der ihnen nach göttlichem Gesetz zustehende Anteil am Vaterland und der Muttererde zurückgegeben wird.“661
RICHTER folgert, dass sich von diesem antikapitalistisch lebensreformerischen Umfeld sowohl „katholische Sozialisten“662 angezogen fühlten als auch die deutsch-nationale Volksgemeinschaft.663 Dass völkische Ideologie sowie kämpferischer Pazifismus eine Zeitschrift wie Das Heilige Feuer prägten, ist im Bereich katholischer Publikationen exzeptionell, diese Ausnahme ist der „rastlosen Suche nach Alternativen der, von ihm [THRASOLT] zu weiten Teilen abgelehnten Moderne“664 geschuldet, schreibt HUFENREUTER.
Bergende Gemeinschaft Dass eine Rückkehr zur Ursprünglichkeit bäuerlichen Lebens nicht die einzige Lösung der Probleme der Gegenwart sein kann, beschreibt auf anschauliche Weise Anna THOEMES im Brief aus der Großstadt665 im Jahre 1919. Zunächst schildert sie ihr eigenes Ringen in der Großstadt: „Was ich in den ersten zwei Jahren [in der Großstadt] an Einsamkeiten, Fremdgefühl und unerfüllter Sehnsucht durchlitten habe, ich zweifle, daß Deine Erlebnisse im Ausland meine Gefühle an Grausamkeit übertreffen. […] Einen Erstickungstod unbeschreiblicher Art zu erleiden.“666
Die Autorin weiß, dass die Großstadt den Jüngeren etwas zu bieten hat und dass sie es durchaus mit der Natur aufnehmen kann, man solle die Großstadt als „Schauplatz des modernen Lebens“ nicht vorschnell unterschätzen: 660 661 662
663 664 665 666
Ebd. ERLÖSUNG (1924), 26. RICHTER, Reinhard (2000), 181. Für KLÖNNE ist Das Heilige Feuer Teil einer „spezifischen Subkultur im damaligen Katholizismus der Paderborner Region“ (KLÖNNE, Arno, 1997, 151) der 20er Jahre. KLÖNNEs These: Der katholische Flügel der Jugendbewegung war – und dies im deutlichen Unterschied zur freien bürgerlichen Jugendbewegung – gesellschaftspolitisch engagiert. Im „Heiligen Feuer aber wurde Position bezogen: für die demokratische Republik gegen die ‚Gefahr von rechts‘“ (ebd., 152). Vgl. RICHTER, Reinhard (2000), 182. HUFENREUTER, Gregor (2006), 187. THOEMES, Anna (1919). Ebd., 185. Vgl. auch ihren Aufsatz zu Stadt und Land in THOEMES, Anna (1916).
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„Wer von außen in die Großstadt kommt, wird nie eine Heimat dort haben, wenn vielleicht auch ein Heim. […] und nun reizt mich ein neues, anderes Leben. […] Und kann mir dieses Häusermeer keine Heimat sein und werden, so ist es mir der interessante Schauplatz unseres modernen Lebens, die Konzentration aller geistigen, künstlerischen, technischen, wirtschaftlichen Kräfte, […] die Großstadt zu einem unentwirrbaren Bild unseres Daseins gestalten. […] Mir will die Großstadt als eine einzige vielstimmige Sehnsucht erscheinen, eine Sehnsucht nach Wahrem und Schönem, das den suchenden Geist und das darbende Herz erfülle.“667
Sie beschließt ihren Brief mit dem Plädoyer für ein kluges Maß an Modernität: „So lebe ich nun meine Tage in der Großstadt, und ich liebe sie, liebe an ihr eigentlich mehr das, was sie sein kann, als das, was sie ist. Wenn die Großstadt in gleicher Weise sich mit der Natur […] verbünden wollte, wie ich dem Land ein kluges Maß von moderner Kultur wünsche.“668
Der „warme Mutterboden“, der gegen „Parkett und Asphalt“ eingetauscht worden ist, und damit den „gesunden Kern“ von Volk und Nation ignoriert, auf diese Dichotomien der Werte von Innen und Außen, von Gemeinschaft und Gesellschaft rekurriert 1924 der Pädagoge und Schriftsteller Joseph FEITEN669: „Da ist der unsoziale Mensch, der nur sich und seine Kaste schätzt, der kein Herz hat für die nächste Not, keinen Sinn für die schlichte Art der anderen. Da ist der Großstadttyp, hoch oder niedrig, der den warmen Mutterboden des Landes eingetauscht hat gegen Parkett und Asphalt und Estrich, das Quellwasser gegen Sekt und Absinth, den Apfel gegen die Schleckerei, […] der veriridischte Mensch, […] der Eintagsmensch, […] der Verstandesmensch.“670
In der großstädtischen Lebensweise sieht FEITEN die Ursache für den Niedergang des Menschen in der Moderne: „Das Emporschießen der großstädtischen Siedlungsform barg für breiteste Volksschichten einen beängstigenden Niedergang der Menschenkraft, Familienkraft, Volkskraft in sich.“671 In organisch ganzheitlicher Orientierung soll der Mensch durch die Pflege von Tradition und Kultur in der Familien-, Natur- und Gottesgemeinschaft sein „Seelengut“ wachsen lassen und hüten. FEITEN schreibt: „Zwei Aufgabengebiete heben sich mit besonderer Deutlichkeit ab. Einmal, den großstädtischen Lebenskreis so zu gestalten, durch Umbau und Ausbau, daß hier 667 668 669
670 671
THOEMES, Anna (1919), 187. Hervorhebungen im Original. Ebd., 188. Hervorhebungen im Original. FEITEN, Joseph (1888-1957), Sohn eines Lehrers aus der Eifel, studierte Germanistik, Geschichte und Romanistik in München, Lyon, Straßburg und Bonn. Er gehörte wie Ernst THRASOLT, mit dessen Schwester er verheiratet war, zum lebensreformerisch geprägten Teil der katholischen Jugendbewegung. Heimatverbunden, schrieb er seine Texte u. a. auch in moselfränkischer Mundart. Vgl. REINECKE, Thomas (1996). FEITEN, Joseph (1924), 234. FEITEN, Joseph (1926), 207.
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Leben wurzeln, gedeihen, und in Sitte und Kultur aufblühen kann. Zum zweiten, das heranwachsende Geschlecht behütend und anleitend eine wirkliche Heimat finden zu lassen. […] Mit Familiensinn, Familienglück, mit Naturgemeinschaft, mit Garten, Pflanze und Tier, mit dem Gemütsreichtum an Überlieferung und Kunst, mit dem Seelengut der Gottesgemeinschaft.“672
Die Zeitschrift Das Heilige Feuer war unter den jugendbewegten katholischen Zeitschriften diejenige, die dem Thema Großstadt und Moderne mit dem größten Vorbehalt begegnete. 1927 schreibt der spätere Europa-Historiker Albert MIRGELER (1901-1979) in einem Text über die Gesichtslosigkeit der Gegenwart673: „Wenn wir heute in eine beliebige Großstadt verschlagen werden, so ist das erste und selbstverständliche, was uns umgibt, der Bahnhof, das Auto, die Elektrische, das Hotel, […] die beleuchteten Geschäftshäuser, irgendwelche langweiligen und beengenden Häuserreihen, irgendwelche aufdringlichen und protzigen Repräsentationsbauten, eine Anzahl Fabriken, die Vorstadt- und Villenviertel. […] So ist für uns Heutige allenthalben das Gesicht der Landschaft, die uns begegnet, verwaschen und seiner charakteristischen Züge beraubt. Es ist überwachsen von einer stereotypen, lärmenden Alltäglichkeit. […] Und diese Gesichtslosigkeit der Landschaft ist eines der deutlichsten Zeichen des Schicksals, das uns im 19. Jahrhundert getroffen hat, gemeint ist der Verfall aller bindenden und gestaltenden Kräfte.“674
In Verfall und Chaos sei die Gegenwart vor allem durch die Kultur des 19. Jahrhunderts geraten, egal wohin man schaue. Ein Text von 1928 aus Das Heilige Feuer versteht die Radikalität des „ganz neuen Lebens“ als Kritik am „bürgerlichen Pragmatismus“: „Niedergang? Wir kommen nicht daran vorbei, Chaos-Probleme, Problemlösungen und Vorschläge. Ein Gewimmel von Ratlosigkeit. Theoretische Lösungen sind alle klar, – aber die ungelöste Frage: Wie kommen wir dazu, daß wir sie tun? […] Es steigt für uns jetzt ein ganz neues Leben herauf. Die Ägypter, Hellenen, Inder mit ihren hohen, edlen Kulturen gingen unter, – starben sie? Nein sie leben noch heute, denn ihr ganzes Werk und Leben ist die Wurzel und Grundlage unserer Kultur. […] Sehen wir vor uns das Leben! Nicht das alte und seine vergehenden Formen, sondern ganz neue aufsteigende. Dann reden wir nicht vom ‚Niedergang‘, obwohl wir klar sehen, daß unsere Zivilisation zu Ende geht, wir trauern ihr nicht nach und suchen sie nicht festzuhalten und zu erneuern, – sondern wir reden vom Aufgang eines ganz neuen Lebens!“675
Bergende Gemeinschaftsgefühle sollen Schutz bieten vor der „kalten“ Zweckrationalität der bürgerlichen Gesellschaft. Lebensphilosophische Begriffe wie Kultur, Seele, Leben gaben diesen Gegenentwürfen eine gewisse intellektuelle 672 673 674 675
Ebd. Vgl. seinen Aufsatz Die Gesichtslosigkeit unserer Landschaft in MIRGELER, Albert (1927). MIRGELER, Albert (1927), 287. NIEDERGANG? (1928), 140f.
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Orientierung. Außerdem waren diese Begriffe offen genug, um sie nach den Ernüchterungserfahrungen einer entzauberten Moderne (Max WEBER) mit dem zu füllen, was an der Moderne missfiel. „Ganzheitlichkeit“ wurde gegen die „dissoziierte“ Persönlichkeit ins Feld geführt. „Die Zeit von 1918 bis 1933 war, wenn man sie […] nach ihren vorherrschenden Tendenzen befragt, nicht mehr die Zeit der Verbände, sondern die Zeit der Bewegungen. Jugendbewegung, Bibelbewegung und liturgische Bewegung fanden in der katholischen Bevölkerung vor allem bei den jüngeren Jahrgängen und der schmalen Schicht der Gebildeten Resonanz. […] Ihr Ideal hieß Gesinnungsgemeinschaft.“676
Gesinnungsgemeinschaft wurde lebendig und unmittelbar erfahrbar in der christlichen, aus dem Vollzug der Liturgie lebenden Gemeinde. Dieser Gedanke war eines der Fundamente, aus denen die Liturgische Bewegung ihre Legitimität und Stärke bezog. Dieses Fundament reichte gerade bei der Jugend wie unter den Gebildeten weit über die sonstigen Sinnangebote hinaus. Religion lieferte diesem Aufbruchswillen, der vor allem eine Aufbruchssehnsucht war,677 ein wichtiges Ferment für seelische Vergemeinschaftung.
Außenseiter gegen das Berufschristentum 1928 hieß es in Das Heilige Feuer unter dem Titel Das Laienapostolat in der Großstadt678 (ohne Namensnennung des Autors) zu Kirchenferne von Großstadtbewohnern in sarkastischem Ton: „Der echte Christ kann an der St. Niemandspfarrei nicht vorüber gehen, die sich in jeder einigermaßen größeren Stadt findet und einen beträchtlichen Zulauf hat! Es sind doch unsere Brüder, die da wohnen und das Brot des Lebens entbehren. Es sind hungrige Menschenseelen, die meist nicht einmal wissen, daß der Tisch des Lebensbrotes auch für sie gedeckt bereit steht. Wie groß ist die St. Niemandspfarrei in einer mittleren Großstadt?“679
Beispielsweise Frankfurt: von seinen rund 500.000 Einwohnern seien etwa 162.000 Katholiken. Am kirchlich katholischen Leben beteiligte sich jedoch nur die Hälfte. „Die übrigen fast 80.000 Katholiken gehören zur katholischen St. Niemandspfarrei Frankfurts. Die Hauptmasse dieser 80.000 getaufter Katholiken, die von der Seelsorge überhaupt nicht erfaßt werden, ist nicht etwa kirchenfeindlich eingestellt, sondern ist einfach unkirchlich, ohne direkt un- oder antireligiös oder un676 677 678 679
BAUMGARTNER, Alois (1977), 92. Vgl. dazu den Titel von BAUMGARTNER, Alois (1977): Sehnsucht nach Gemeinschaft. Ideen und Strömungen im Sozialkatholizismus der Weimarer Republik. LAIENAPOSTOLAT (1928). Ebd., 85.
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gläubig zu sein. Dazu kommt, daß die breite Masse der rund 85.000 kirchlichen Katholiken noch viele Taufscheinchristen unter sich zählen, sogenannte Mitläufer, das die breite Masse dieser Kirchenchristen nur sogenannte Durchschnittschristen mit stark passiver Einstellung sind.“680
Stellt sich die Frage, woher diese Indifferenz gegenüber Glauben und Kirche kommt. Zwei Ebenen geraten ins Blickfeld: Zunächst die wirtschaftlichen Nöte der Arbeiter und ihrer Familien. Es existiere eine Form „sozialer Erniedrigung, die für das Religiöse einfach kein Organ mehr hat, und eine wirtschaftliche Enge, die ihm keinen Raum mehr läßt. So sind die sozial und wirtschaftlich gedrückten Schichten des Katholizismus, die katholischen Industriearbeiter bis auf kleine Reste der Kirche entglitten“681.
In diesem Fall begegne man dem „Glaubensbeamten“ mit Skepsis und frage sich: „Was helfen mir eure guten Lehren und eure Vertröstungen auf eine andere Welt, wenn ihr mich in dieser Welt mit Weib und Kind in Hunger und Not darben laßt. Das Wort allein: Nur das Christentum kann Rettung bringen, hilft nichts.“682
Der anonyme Autor registriert einen auch bei Katholiken zunehmenden „christlichen Individualismus“, vor allem unter den Bewohnern großer Städte: „In dem sorgsam abgezirkelten Bereich des wohltemperierten christlichen Individualismus unserer Tage gehört es zum guten Ton, über die obwaltenden Nöte der draußen und drunten Stehenden nicht einmal zu reden, geschweige denn zu ihrer Abstellung kräftig zuzupacken. Fürchtet man doch, seine so saubere Seele könnte dadurch verunreinigt werden.“683
Solch zunehmenden „christlichen Individualismus“ könne man auch einen kleinlichen „christlichen Frömmigkeitsegoismus“684 nennen. Die „Großstadtseelennot“ der Gegenwart aber mache deutlich, woran es der Kirche der Moderne mangele – und damit wird auch der Titel Das Laienapostolat in der Großstadt verständlich: „Für unser modernes Christentum ist es ein Fluch geworden, daß man immer nur nach dem Amte, nach den Funktionären ruft. Wir sind die Letzten, die das Priesteramt verkleinern und hintansetzen wollen. Aber was soll aus dem Christenvolke werden, wenn jede christliche Initiative immer nur dem Geistlichen, dem Pfarrer vorbehalten bleibt aus Angst, es könnte sonst nicht recht gemacht werden! Das Kirchenvolk hat vielfach verlernt, daß die Sorge um die Kirche, um die Ausbreitung des Reiches Gottes um die Seelengewinnung für Christus, nicht lediglich Sache des Amtes, sondern Sache jedes Einzelnen ist. Das Kirchenvolk 680 681 682 683 684
Ebd. Ebd., 86. Ebd. Ebd. Ebd., 87.
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wurde daran gewohnt, nicht mehr an die andern zu denken, sondern das alles dem Amte zu überlassen. Der Geist der ersten Zeit war ein anderer. […] Unsere heutige Großstadtseelennot hat das eine große Gute gezeitigt, daß das soziale Gewissen in der Christengemeinde wieder mehr sich zu regen beginnt. Nicht alles darf dem kirchlichen Amte vorbehalten werden.“685
Die Überlastung des Seelsorgers sei eine der Folgen solchen Amtsverständnisses. Die „ungesunde Überlastung des Seelsorgeamtes“ ließe sich gerade in den Großstädten beobachten: „Nur ist es ein falsches Vorgehen des Amtes, wenn die Aufgaben, die es dem Kirchenvolk in der Laienhilfe überlassen soll und muß, als ‚das Abwerfen alles sekundären Ballastes‘ bezeichnet. Damit ist die Aufgabe der Laienhilfe von vorne herein mit dem Stigma der Minderwertigkeit gekennzeichnet. […] Eine solche Haltung entspringt einerseits einer unbewußten Überschätzung der Führerstellung, die demütiger Dienst am Ganzen, nicht verkrampfter Herrenstandpunkt sein sollte. Andererseits entquillt diese Haltung einer völligen Verkennung der wesentlichen Aufgabe des Christenvolkes, die nur infolge eines falschen Individualismus, zeitweise dem Amt allein überlassen wurde. Das brachte jene Überlastung des Seelsorgsamtes, wie sie jetzt vor allem in der Großstadt sich zeigt. Eine solche ungesunde Überlastung des Seelsorgeamtes vor aller Welt offenbar zu machen, ist eine Sendungsaufgabe unserer Großstädte.“686
Für den Autor hat Kirche in der Großstadt nur dann Zukunft, wenn „in der Kirchengemeinde der Initiative der Laien wieder viel größerer Raum gegeben“687 werde. Der antihierarchische Impuls entspricht durchaus dem Selbstverständnis der katholischen Jugendbewegung, aber in Das Heilige Feuer ist er noch nicht auf derart nüchterne Weise formuliert worden.
Außenseiter par excellence – Waldemar GURIAN Nachdem die Aufbruchstimmung im Katholizismus der Nachkriegszeit sich als nicht tragfähig erwiesen hatte und die Organisationen und Verbände um ihre Legitimation kämpfen müssen, ist der Text von Waldemar GURIAN688 – Eine 685 686 687 688
Ebd. Ebd. Ebd. Waldemar GURIAN (1902-1954) war in mancher Hinsicht ein Außenseiter und zwar in Deutschland als auch in der katholischen Kirche. 1902 in St. Petersburg in eine jüdisch armenische Familie geboren, kommt er als Kind mit seiner Mutter nach Deutschland. Hier konvertiert die Mutter und lässt den Sohn taufen. Später wird er Schüler von Max SCHELER. Zunächst von Carl SCHMITT geprägt, von dem er sich später distanziert, gehört er zum Kreis von Abendland um Hermann PLATZ und Richard COUDENHOVE-KALERGI und verfügt wie diese über gute Verbindungen nach Frankreich. Vgl. RICHTER, Reinhard (2000), 154f. Als Publizist nimmt er eine markante Position bei den Auseinandersetzungen innerhalb und um den Katholizismus in der Zwischenkriegszeit ein. Er ist eine zwar marginale Stimme – aber nach Hannah ARENDT eine vielleicht umso wichtigere für die Ortsbestimmung der Kirche in der Welt
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Gefahr für den deutschen Katholizismus, 1930 abgedruckt in Das Heilige Feuer – ähnlich weitsichtig wie die Anmerkungen von DIRKS zu KRACAUERs Die Angestellten. GURIAN geht von der These aus: „Es ist unstreitig wahr, daß im deutschen Katholizismus der Gegenwart der Geist unterschätzt wird, daß er nur als Mittel für Organisationen, für soziale und politische Arbeit […] gewertet wird. […] Der Geist ist heute fragwürdig geworden, weil er durch die Herrschaft des Liberalismus zu einer freischwebenden Angelegenheit geworden war.689
Der Autor lässt den Leser wissen, wie er sich die Gegenwart des Geistes in der Kirche vorzustellen hat: „Das geistige Leben kann in einer katholischen Gemeinschaft sich nicht in einem freischwebenden Bezirke neben den anderen Realitäten abspielen. […] Er [der Geist] ist nicht Produkt individueller Wünsche und Launen, er bestimmt nicht die Kirche, er wird von der Kirche bestimmt.“690
Es sind seiner Meinung nach die Außenseiter, die über die fragwürdig gewordenen Organisationen hinweg, an den Fragen der Gegenwart teilhaben: „Da gilt es, aktiv an allen Fragen der Gegenwart teilzunehmen; es genügt nicht mehr, sie organisatorisch lösen zu wollen. Gerade die Organisationen sind fragwürdig geworden, und soll da der Katholizismus sich der Gefahr ausliefern, als eine bestimmte sozial und traditionell bedingte Gemeinschaft neben anderen zu erscheinen? […] An Stelle korrekter Mittelmäßigkeit müssen zwar nicht immer politisch brauchbare, aber geistig selbständige Außenseiter mehr Einfluß erhalten als bisher. Und vor allem: Man soll auf radikalste Ehrlichkeit sehen. […] Wir wollen keine Wunschbilder mehr – wir wollen Wirklichkeit.“691
Hannah ARENDT schrieb 1954 einen Nachruf auf ihren Freund und Kollegen, der in der von GURIAN gegründeten und herausgegebenen Zeitschrift The Review of Politics erschien. 692 ARENDT attestiert ihm dabei eine unabhängige Urteilsfähigkeit,
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des Politischen. Vgl. ARENDT, Hannah (1989), 318. GURIAN nimmt im Deutschland der 1920er Jahre die antiparlamentarischen Strömungen ernst, wagt sich hier weit vor, indem er sich mit Bolschewismus und Nationalismus auseinandersetzt und fühlt sich eine Zeitlang der Action Française um MAURRAS verbunden. 1934 flüchtet er nach dem RÖHM-Putsch in die Schweiz. Seine politischen Analysen liefern politische Orientierung in den Jahren zunehmender Orientierungslosigkeit, zum Beispiel durch die mit Otto KNAB aus dem Schweizer Exil in Luzern herausgegebenen Informationsblätter Deutsche Briefe über Kirchenverfolgung und den Widerstand der Kirche. Später geht GURIAN in die USA und wird eine wichtige Stimme der jüdischen Emigranten in den Staaten, arbeitete als Politikwissenschaftler und Publizist und war Rektor der katholischen Universität Notre Dame (South Bend, Indiana). Vgl. THÜMMLER, Ellen (2011). GURIAN, Waldemar (1930), 17. Ebd., 18. Ebd., 19. Vgl. HÜRTEN, Heinz (1972).
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„den unfehlbaren Sinn für Qualität und Relevanz. [...] In den nicht häufigen Fällen, in denen Menschen diesen Sinn besaßen und sich entschlossen, ihn nicht gegen leichter erkennbare und annehmbare Werte einzutauschen, hat er sie untrüglich weit getragen, über die Konventionen und etablierten gesellschaftlichen Normen hinaus und direkt hinein in die Gefahren eines Lebens, das nicht mehr von den Mauern der Objekte und den Stützpfeilern objektiver Wertungen geschützt wird“693.
6.6 Die Schildgenossen (1920-1941) Schildgenossen nannte man im frühen Mittelalter eine Kampfgemeinschaft, die unter dem Schutz eines einzigen, gemeinsamen Schildes stand. „Treu zusammen zu stehen einer für den anderen“694, heißt es im Editorial des ersten Heftes von 1920. Und programmatisch lautet es in einem Tagungsbericht von der zweiten deutschen Quickborntagung695: „Nicht mehr Jugendbewegung, sondern Kulturbewegung!“696 Ursprünglich ein reiner Abstinenzverein schlesischer Gymnasiasten (Abstinenz von Tabak und Alkohol), sollte der Quickborn Ausgangsort wie Stimulans für eine katholisch-kulturelle Aufbruchsbewegung werden. Bei der zweiten Jahrestagung des Jugendverbandes 1920 wurde auch die Gründung einer Zeitschrift beschlossen. Die Schildgenossen erschienen im Zweimonats-Rhythmus bis sie 1941 von den Nationalsozialisten verboten wurden. In diesen 20 Jahren entwickelte sich die Zeitschrift zusehends zu einer „anspruchsvollen Diskussionsplattform für junge katholische Akademiker“697. Zunächst aber waren Die Schildgenossen überwiegend durch die Jugendbewegung geprägt. Bis etwa 1923 dauerte die Phase „nach innen gerichteter Diskussion“698, die von einem oft überaus persönlich gehaltenen Ton der Selbstfindung und naiver Lyrismen getragen wurde und vom Niveau einer Kulturzeitschrift noch weit entfernt war. Rolf AMMANN, der die Zweimonats-
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ARENDT, Hannah (1989), 318. AMMANN, Rolf (1920), 2. Mit „Kampfgenossen“ war außerdem das Bündnis von „werktätiger Jugend“ und „Hochschülern“ gemeint, damit sie „zusammenhalten und gemeinsam kämpfen lernen“ (ebd.). Ein solches Bündnis war in Akademikerkreisen nicht selbstverständlich und im Sinne christlicher Brüderlichkeit auch der Aufbruchstimmung in der Jugendbewegung geschuldet. Zur Geschichte des Quickborn vgl. GERL, Hanna-Barbara (1985) 153ff. Vgl. RUPPERT, Godehard (1999). Vgl. HENRICH, Franz (1968). Vgl. MOGGE, Wilhelm (1979). STEIDLE, Robert (1920), 19. MARMETSCHKE, Katja (2006), 282. Ebd., 294.
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schrift im Auftrag der Quickborner und Hochländer herausgab,699 schreibt 1920: „So laßt uns Hand anlegen an unser Beginnen, ohne Schwärmerei, ohne falsche Romantik, als wahre Kämpfer. An nichts anderes wollen wir denken, als an unser Ziel, nicht mit dem Schein prunken, nein einfach, aber umso zielbewußter wollen wir uns unseren Wert erst erkämpfen. Wenn wir etwas schreiben, so wollen wir zu unseren Brüdern und Schwestern sprechen und wie sollte es auch anders möglich sein, aus seinem Innersten zu geben. Sollte einmal ein Literatentum einzureißen drohen, so hoffe ich gibt es genug, die mit starker Hand mir helfen, dieses Unding zu zerschlagen.“700
Die katholische Jugend sollte stattdessen zu bewusstem Leben aufgerufen werden: „Die Kräfte wecken, die Anlagen ausbilden, seelisch reich werden durch klares Erfassen der Wirklichkeit, durch starkes Wollen, durch tiefes Empfinden, das ist die heiße Sehnsucht jeder gesunden Jugend. Das ist auch das Gebot der Stunde. Zu lange haben wir fruchtbares Seelenland brach liegen lassen. […] Die da untätig dahinträumen, die mit stumpfer Gleichgültigkeit ihre Tagesarbeit erledigen, die noch im dumpfen Bann des selbstsüchtigen Begierdelebens stehen, sich ohne Erröten nur um ihr, ach so kostbares Ich drehen, die im schnellen Aufstieg zur nächst höheren Rangstufe oder in den Abwechslungen der ‚Saison‘ oder im glänzenden Geschäftsgang des Lebens Würze und Gehalt sehen, sie alle gehören im wahrsten Sinne zu den Toten, die noch nicht erwacht sind. Laßt uns lebendig werden! Wir hungern nach Leben, nach neuem, immer schönerem, höherem, nach unvergänglichem Leben! Am Feuer entzündet sich Feuer. […] Katholische Jugend, werde dir deiner hohen Aufgabe bewußt! Vor dir steht das Leben mit seinen Rätselaugen.“701
Dass die Kulturbewegung katholischer Intellektueller nach tiefgreifenden – auch politischen – Folgen verlangte, hat Hermann PLATZ bereits 1920, dem Gründungsjahr der Schildgenossen, im Rückblick auf das erste Quickborntreffen festgehalten: „Der Krieg und die Ereignisse der Nachkriegszeit haben die Eiterbeule, die in der Großstadt gereift ist, aufbrechen lassen. Das Geld gewinnt im heutigen Schieber-, Wucher- und Protzentum die letzte Bedeutung, die ihm als Symbol der vergangenen Kulturentartung zukommt. Die schicksalshafte Verflochtenheit mit all diesen Dingen ist unser tiefes Leid und das Ziel unserer heimlichen Sehnsucht ist es, irgendwo an das andere Ufer zu gelangen, wo das neue Seelentum zu sprießen beginnt. […] Hier [auf der Burg Rothenfels] bereiten sich ganze Menschen zu ganzen Taten. Die Welt hat genug der Halbheit. […] Wir sind in 699
700 701
Wie der Quickborn war der Hochland-Verband 1917 entstanden. Auch die Hochländer waren stark von GUARDINI geprägt. Hochland nannten sich innerhalb des Quickborn die studentischen Gruppierungen. Jungborn hießen die Gymnasiasten, die Älteren nannten sich Großquickborn. AMMANN, Rolf (1920), 3. STREHLER, B. (1920), 8.
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die Wüste geführt und den Urgewalten des Lebens gegenübergestellt. Aller Ersatz ist verworfen. Wir graben unterhalb der Kulturschichten ins Unbedingte.“702
Die Zeitschrift wurde ab Mitte der 1920er Jahre durch Romano GUARDINI geprägt, der 1924 neben Josef AUSSEM Mitherausgeber wurde und dies bis zum Verbot von 1941 blieb. In der Redaktion der Zeitschrift gab es, bis GUARDINI die Verantwortung übernahm, viele Wechsel. Außer ihm gehörten zum Herausgeberkreis neben Josef AUSSEM auch Rudolf SCHWARZ, Heinrich KAHLEFELD und als einzige Frau die Montessori-Pädagogin und Leiterin einer Fachschule für die Ausbildung von Erzieherinnen, Helene HELMING. „Die thematischen Zuständigkeiten im Herausgeberteam orientierten sich entlang der fachlichen Kompetenzen. Alle Herausgeber publizierten mit großer Regelmäßigkeit in der Zeitschrift“703. Zu den Autoren gehörten u. a. Peter WUST, der Tübinger Dogmatiker Karl ADAM, der Soziologe Eugen ROSENSTOCK, Ida Friederike COUDENHOVE, Heinrich GETZENY und Walter DIRKS. Die regelmäßige Mitarbeit bei den Schildgenossen schloss „keineswegs aus, dass der gleiche Autor mit derselben Regelmäßigkeit auch in anderen Organen (wie z. B. Hochland oder Abendland) publizierte“704. Aber spätestens mit GUARDINIs Übernahme der Herausgeberschaft 1924 löste sich die Zeitschrift aus dem engeren Umfeld des Quickborn. Und ab 1923/24 führte sie den signifikanten Untertitel Zeitschrift aus der katholischen Lebensbewegung. Als geistiger Leiter lag es nun vor allem an GUARDINI, dass der Quickborn in der Zwischenkriegszeit zu der „eigenartigen Mischung aus Lebensreformbewegung, Jugendbewegung und Liturgischer Bewegung“705 avancierte. Katja MARMETSCHKE schreibt: „Vor allem aus den Reihen der Amtskirche erhoben sich nun vermehrt kritische Stimmen gegen den jugendbewegten Quickborn, der in den Augen einiger Katholiken einen geradezu revolutionären Anstrich hatte.“706 Die Zeitschrift wurde zusehends mit der Zeitschrift Hochland verglichen und durch diesen Vergleich selbstverständlich aufgewertet, galt Hochland doch inzwischen als etablierte Zeitschrift einer katholisch-kulturellen Elite. Josef AUSSEM, in diesen Jahren des Aufbruchs verantwortlicher Redakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift, schreibt 1923 im Editorial von Die Schildgenossen:
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PLATZ, Hermann (1920), 30f. MARMETSCHKE, Katja (2006), 298. Ebd., 299. MOGGE, Wilhelm (1979), 55. Der Quickborn wurde zum Inbegriff des katholischen Wandervogel und damit zu einer Facette der Jugendbewegung der Nachkriegszeit, deren Verbindung zum bündischen Leben jedoch immer weiter abnahm und mit der geistigen Vertiefung durch die Liturgische Bewegung zur Vorläuferin der Liturgiereform des Zweiten Vatikanums wurde. Vgl. MARMETSCHKE, Katja (2006), 282ff. MARMETSCHKE, Katja (2006), 287.
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„Zwar werden in Hochland, Stimmen der Zeit, Gral, Heiligem Feuer, um nur einige zu nennen, wertvolle Güter katholischen Lebens gezeigt oder von katholischer Warte die aufspringenden Gedanken selbständig schaffender Köpfe vorgetragen. Sie sind [...] Spiegel des Vielerlei und des Mannigfaltigen der Zeit, [...] sie sind Orientierung und Schau. [...] Wir verlangen und suchen mehr. Es geht um unser Leben selbst. Von diesem Leben, von uns, vom Menschen müssen wir ausgehen. Nicht vom Gedanken, noch der Idee, noch dem Dogma. [...] Wir sehen einen großen Teil unseres kirchlich-religiösen und völkisch-staatlichen Lebens in der Luft schweben, in subjektiver Gläubigkeit, das dann, verknüpft mit dem Dogma und Sakrament oder mit Partei und Staat den Schein des ins Objektive vorgestoßenen Persönlichen erhält und vor uns selbst zu sakrosanter Unantastbarkeit erstarrt.“707
Die Schildgenossen wirkten in vielerlei Hinsicht moderner als die anderen katholischen Zeitschriften, das betraf sowohl die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Moderne als auch das äußere Erscheinungsbild.708 Daran hatte Rudolf SCHWARZ wesentlichen Anteil.709 Der Architekt, vom Dessauer Bauhaus und vor allem von Mies van der ROHE geprägt, gehörte von 1926 bis 1941 zu den Mitherausgebern der Zeitschrift. Er machte sie zu einem Forum einer gemäßigten Moderne und zwar mit besonderer Neigung zu moderner Sakralkunst und hier vor allem der Sakralarchitektur.710 Modernes Bauen und Wohnen in der Moderne sind in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wiederkehrende Themen der Auseinandersetzung. Ein Brief von SCHWARZ ist ein gutes Beispiel: „Meinerseits schlage ich vor, für eines der nächsten Hefte Mies van der Rohe in Empfehlung zu bringen. Er kann sich über Großstadt äußern und hierzu Bilder aus seinen Beständen liefern oder auch was Neues zusammenzeichnen. Ich könnte mir denken, daß man diese Angelegenheit groß aufmachen könnte und mit viel Grundrissen und Bildern versehen. Der Mann ist eine unserer wertvollsten Bekanntschaften und wie alle anständigen Katholiken innerhalb des katholischen Kulturkreises so gut wie unbekannt, während ihn die anderen sehr schätzen.“711
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AUSSEM, Josef (1923/1924), 3. Hervorhebung im Original. Vgl. GERL, Hanna-Barbara (1985), 194f. SCHWARZ, Rudolf (1897-1962) selbst kam nicht aus der bündischen Jugend, er hatte GUARDINI 1923 in Berlin kennengelernt. Aus diesen Jahren datiert auch die Freundschaft. SCHWARZ wurde Burgbaumeister der Burg Rothenfels (ab 1925) und sollte später vor allem durch seine unverwechselbaren Sakralbauten berühmt werden. Vgl. GERL, Hanna-Barbara (1985), 215ff. Zur Architektur von SCHWARZ vgl. PEHNT, Wolfgang (1997). Vgl. vor allem HASLER, Thomas (2000). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde SCHWARZ u. a. mit dem Wiederaufbau Kölns beauftragt. Die ersten Abbildungen und Besprechungen der Kirchen von Dominikus BÖHM und Ludwig MIES VAN DER ROHE erschienen in Die Schildgenossen. Rudolf SCHWARZ in einem Brief an Werner BECKER vom 1.5.1929; zit. n. GERL, HannaBarbara (1985), 195, Anm. 97.
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In den Jahrgängen der 1920/30er Jahre werden Themenfelder wie Kirchenmusik, Großstadt und Architektur aufgegriffen, außerdem geht es den Verantwortlichen um die programmatische Neuerschließung geistiger Größen für die Gegenwart.712 Dazu gehören auch Versuche der Neugewinnung von Grundhaltungen des Glaubens, die vor allem durch Arbeiten von GUARDINI thematisiert werden. Es gibt nur wenige Ausgaben ohne von ihm verfasste, zumeist längere Aufsätze. In einem „Werbetext“ für Die Schildgenossen aus der Mitte der zwanziger Jahre schreibt er: „Die Schildgenossen sind eine Zeitschrift junger katholischer Christen, die sich verbindlicher Gegenwartsarbeit verpflichtet wissen. Wir glauben an die innere Allumfassung der sichtbaren Kirche. Wir suchen rein, ohne Zweck und Absichten, aus der lebendigen Wahrheit dieser Kirche zu sprechen und sind überzeugt, daß ein solches Wort eher das Ohr auch der nicht katholischen Menschen findet, als es irgendeine apologetische Bemühung vermag. Zu uns rechnen wir alle, die sich und die Zeit im Umbruch sehen und darin einen Gegensatz zum selbstsicheren Denken der Vorkriegszeit empfinden: die ein Gefühl dafür haben, daß die Fragen auf einmal wieder offen sind. Alle jene, die dankbar sind, ‚in dieser Zeit geboren zu sein‘, aber wissen, daß es ihnen in die Hand gegeben ist, was aus dieser Zeit wird. Und – wir fügen es als eine Warnung an uns selbst hinzu – daß nicht Literatentum und unverbindliches Gerede schaffend sind, sondern nur wirkliche Überzeugung und ehrliches Tun. [...] Aus den Kräften der Zeitenwende und aus dem Heiligen Geist, der in Gottes Kirche wirkt, wollen wir sorgsame Arbeit tun. […] Nüchtern, aber in Zuversicht.“713
GUARDINI verweist immer wieder auf die Ambivalenz der Gegenwart: Das „Hochkommen der Masse, die sich im Geistigen wie im Wirtschaftlichen als steigende Produktion, sei es von Büchern, sei es von Gebrauchsartikeln“714 ausdrückt. Für GUARDINI bedeutet dies „einen Verlust der Rangordnung sowie eine Typisierung und damit ein Sinken der Qualität“715. Er sieht solche Entwicklung auf einer Ebene mit den Folgen von Demokratisierung und der „Nivellierung alles Geistigen“716. Umso erstaunlicher ist, dass er in einem prospektiven Lösungsversuch dann wiederum entschieden feststellt: „Wir wollen kein Zurück, sondern ein festes Ja sprechen zum Heute. Uns fest hineinstellen in unsere Zeit. Wir müssen hineingehen in Industrie und Technik.“717 Hier wird GUARDINIs Denken aus dem Gegensatz deutlich: „Ein Hinausgehen aus 712 713 714 715 716 717
Etwa durch eine neue Annäherung an AUGUSTINUS, HÖLDERLIN, STIFTER und DOSTOJEWSKI. Archiv Burg Rothenfels; zit. n. GERL, Hanna-Barbara (1985), 195f. GERL, Hanna-Barbara (1985), 185. Ebd. Ebd. Zit. n. GERL, Hanna-Barbara (1985), 181. GERL zitiert an dieser Stelle aus den Tagebuchnotizen von Katharina KAPPES, einer damals 19jährigen Studentin, die die Quickborntagung von 1924 beschreibt. Auf dieser Tagung sollte sich die Jugendbewegung programmatisch zur Kulturbewegung ausweiten.
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der Zeit, um dann desto fester darin zu stehen.“718 GERL gelingt es, den fragilen Charakter des „ganz Neuen“ bei GUARDINI zu umreißen: „Es ist bewegend zu sehen, wie er auch persönlich, trotz aller warnenden Widerstände gegen jenes unbekannte Kommende, dessen Anläufe eher zerstörend als aufbauend erschienen, sich zu einer Zustimmung entschließt. Jene Bereitschaft zur Zukunft war ein Zug, der gewiß nicht gefühlsmäßig, sondern reflexiv bestimmt war, gerade die Jugend aber vor einer Flucht in eine unhaltbare romantische Position bewahrte.“719
Es kam immer wieder zu Auseinandersetzungen über die Ausrichtung der Zeitschrift, vor allem zwischen GUARDINI und SCHWARZ. Hinzu kamen auch Finanzierungsprobleme durch die zum Teil sehr geringe Abonnentenzahl.720 Nach Meinung von SCHWARZ hielten sich Die Schildgenossen zu sehr im Gedanklichen, in „Ewigkeitsansprüche[n]“ auf, er dagegen wollte gegenwartsund „tatbezogener“ denken. „Es geht einfach nicht, die zeitschrift in einer zeitentrückten idealität weiterblühen zu lassen. [...] die wirklichen fragen der wirklichen menschen bleiben aber nach wie vor unbekannt und nachher staunt die welt über die offenbarungen des herrn muth in seinem hochland, die wir doch wirklich besser und netter geben könnten. [...] es wäre aber viel da, wenn wir weniger starke ewigkeitsansprüche stellten.“721
Andererseits verstanden beide ihr Engagement nicht als ein vordergründig politisches. GUARDINI selbst war „kein politischer Mensch im engeren Sinne. Für ihn war die Burg wie auch die Zeitschrift […] ein Ort des Fragens, des Zuhörens, der Klärung“722. GUARDINIs „Form des Katholisch-Seins ist geistigpersonal und nicht politisch-öffentlich“723. Es war ein „Katholischsein als geistige Form“724. Und auch SCHWARZ lag das Politische nicht, wiewohl er verbal für einen stärkeren politischen Bezug eintrat.725 Sowohl SCHWARZ als auch GUARDINI wussten gleichwohl zu schätzen, was gerade ihre Unterschiedlich-
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GERL, Hanna-Barbara (1985), 185. Ebd. Es sollen mitunter nur etwa 800 Abonnenten gewesen sein. Vgl. GERL, Hanna-Barbara (1985), 196. Brief von SCHWARZ an GUARDINI vom 2.11.1930; zit. n. GERL, Hanna-Barbara (1985), 198. Hervorhebung im Original. MARMETSCHKE, Katja (2006), 309. Sie schreibt: „Guardinis vorpolitisches, im religiöskulturellen Bereich verhaftendes Reformprogramm bot sowohl politisch links als auch rechts stehenden Kräften Anknüpfungspunkte, […] die von zwei so unterschiedlichen Intellektuellen wie Carl Schmitt und Ernst Michel aufgegriffen wurden [beide hatten u. a. in Schildgenossen publiziert], die in ihren politischen Optionen die beiden Extreme dessen repräsentierten, was im Rahmen des katholischen Denkens der Weimarer Republik möglich war.“ (Ebd.). RUSTER, Thomas (1997), 195. Ebd., 390. Vgl. GERL, Hanna-Barbara (1985), 202.
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keit für das Profil der Zeitschrift bedeutete. „Sie trafen sich immer wieder auch auf der Grundlage eines beidseitigen Humors.“726 Die Schildgenossen haben immer wieder versucht, moderne Ansätze aufzugreifen, mit denen die institutionellen Ordnungen von Familie, Beruf und Gemeinwesen neu gedacht werden können. Josef AUSSEM schreibt: „Wir glauben in der Kirche zu stehen mit aller die Seligkeit des Geborgenseins ahnenden Fülle. Wir stehen aber auch in ihr mit aller für die Haltung der Kirche mitverantwortlichen Unruhe. Und diese Unruhe kann uns niemand abnehmen.“727
Abb. 7: Titelblatt von Die Schildgenossen (1928)
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GERL, Hanna-Barbara (1985), 199. AUSSEM, Josef (1923/1924), 5.
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Die Frau in der modernen Industriegesellschaft – Helene HELMING Helene HELMING728 gehörte zu den wenigen Frauen, die sich in den zwanziger Jahren, also den Jahren der Reformbewegungen, in der katholischen Kirche als gut ausgebildete Frauen Gehör verschaffen konnten. Es erstaunt nicht, dass gerade die Schildgenossen den Frauen eine Plattform boten.729 Wie die meisten klugen und gebildeten Frauen ihrer Zeit kommt HELMING aus einem bildungsbürgerlichen Elternhaus und wird zunächst Lehrerin. Früh stößt sie auf GUARDINI und den Quickborn. Sie wird sich ganz ihrer Arbeit widmen und einen für die einflussreichen Frauen dieser Zeit typischen Weg einschlagen: sie bleibt ledig, baut das Montessoriinstitut für Erzieherinnenausbildung in Aachen auf und wird dessen Leiterin. Anfällig für Mussolinis Faschismus, ist sie entschieden gegen den Nationalsozialismus.730 HELMING stellt einen gedanklichen Zusammenhang her zwischen Kapitalismus als Wirtschaftsform, Massengesellschaft, Frauenfrage und Christentum. In ihrem Aufsatz von 1923 Proletarier und Staat731 geht sie von diesem Hintergrund aus – die Weimarer Republik ist noch jung und radikal zugespitzte politische Polarisierungen sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen: „So haben sich die Massen organisiert, um ihren Raum in Volk, Staat und Menschenheimat mit Machtmitteln zu erkämpfen als Klasse gegen die Klasse der Besitzenden.“732 Dass ausgerechnet eine Frau und Katholikin dem Klassenkampf eine historisch-gesellschaftliche Plausibilität zugesteht, ist außergewöhnlich. HELMING schreibt weiter: „In dem Bürger der Neuzeit hat der Kapitalismus eine immer mehr veräußerlichte Machtgier entwickelt, und übersteigerte geistige Einflüsse von Renaissance und Reformation haben ihn innerlich aus Glaube und Gemeinschaft gehoben und auf sein Ich gestellt.“733 728
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HELMING, Helene (1888-1977), das älteste von 13 Kindern einer katholischen Familie aus dem Münsterland, war zunächst Lehrerin, arbeitete zudem als Publizistin, engagierte sich im Katholischen Frauenbund, wurde in Aachen Direktorin eines Mädchengymnasiums, später übernahm sie die Leitung eines Seminars für die Ausbildung von Kindergärtnerinnen und Jugendgruppenleiterinnen. In diesen Jahren lernte sie GUARDINI und die katholische Jugendorganisation Quickborn kennen. Sie reflektierte insbesondere die neue Stellung der Frau in der Moderne und die Bedeutung von Bildung gerade für Frauen. Sie ist die Nestorin der Montessori-Pädagogik in Deutschland. Nach 1945 gründet sie die Montessori-Vereinigung für katholische Erziehung. 1946 wurde sie Professorin und Direktorin der neu gegründeten Pädagogischen Hochschule in Essen. Vgl. BERGER, Manfred (2002). So etwa auch Maria SCHLÜTER-HERMKES, Edith STEIN, Ida von GÖRRES, Gertrud von LE FORT, Elisabeth LANGGÄSSER u. a. Zur Modernität von MUSSOLINIs funktionalistischer Stadtarchitektur und gerade im Unterschied zur Ästhetik der NS-Architektur vgl. die umfangreiche Recherche des Berliner Soziologen und Bauhistorikers BODENSCHATZ, Harald (2011). HELMING, Helene (1923), Ebd., 130. Ebd.
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Das Erstarken „veräußerlichter Machtgier“ im aufstrebenden Bürgertum der Frühen Neuzeit ist für HELMING nicht die einzige Determinante: „Der Geist der Neuzeit ist einseitig vom verbürgerlichten Manne bestimmt. Kapitalistische Machtgier sowohl wie das überstarke Ichbewußtsein des Renaissance-Menschen haben die weiblichen Kräfte in der Gemeinschaft immer mehr zerstört oder verdrängt und der Verkümmerung anheimgegeben.“734
Die bürgerliche Gesellschaft hat den Raum der Frau zunehmend eingeschränkt und damit zur Einseitigkeit der Entwicklung beigetragen. Der rationaltechnischen Seite der Moderne könnte nach HELMING durch spezifisch weibliche Eigenschaften eine Alternative als Ergänzung zur Männlichkeit moderner Kultur entgegengesetzt werden: „Weil aber fast überall ein Ineinanderwirken männlicher und weiblicher Kräfte fehlt, deshalb ist der Mensch als Geschlechtswesen gerade in unserer Zeit der entwickelten Intelligenz roh und verbildet. […] Die Frau unserer Vortage schaffte in Haus und Hof, Garten und Gestallung. […] Sie stand im weiten Bereich all der Dinge und menschlichen Beziehungen eines Hauses, das nicht dem Heute allein, sondern auch dem Gestern wie dem Morgen angehörte. Das Haus des Mitbürgers lag nachbarlich dem ihren.“735
Die Autorin stellt fest, dass in der modernen Industriegesellschaft diese Form geschlechtsspezifischer Arbeit ihre Grundlage verloren hat: „Die Frau unseres Tages hat kein solches Haus mehr. Ihr Leben ist ins ‚öffentliche Leben‘ derartig hineingezogen, daß es Romantik und Mißachtung wäre, sie heute einfach ins Haus verweisen zu wollen. […] Heute nun sind wir zu sehr herausgelöst aus aller Bindung, Einzelne geworden. Und wir können nicht einfach zurück zum früheren Organismus der Gemeinschaft.“736
Soweit die gesellschaftliche Analyse moderner Lebens- und Machtverhältnisse. HELMING richtet am Ende ihres kurzen, bündigen Textes einen Blick auf neue Notwendigkeiten, auf den Bereich des „Dazwischen“, sie meint damit: zwischen „alter oder neuer Weise“. Sie sieht eine neue Basis in der christlichen Jugendbewegung, die durch ihre Gemeinschaft „im Brudertum des Menschseins“737 unterschiedliche Begabungen und Interessen vereinen könnte: „Der eine Weg bleibt; Gegenpole fordern sich: Wir, die den Wert der Person überbetont hatten, müssen uns finden in schlichtester Gemeinschaft, im Brudertum des Menschseins. Dies bedeutet nicht eine Verneinung irgendwelcher andern Werte, wird vielmehr ihnen dienen, ihnen Freiheit neuen Lebens geben. Wenn wir erfahren, was es um diese beiden Endwerte ist: Person sein und Bruder sein, so wird vielleicht, wie schon oben gesagt, der weite Bereich des Lebens, der dazwischen liegt, wieder erwachen irgendwie, in alter oder neuer Wei734 735 736 737
Ebd. Ebd., 131f. Ebd. Ebd., 131.
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se. Erwachen für uns oder andere, für unser Volk oder ein nachkommendes der Geschichte.“738
Es geht aber nicht nur um den spezifischen „Universalismus“ der Frauen, sondern vor allem um den Universalismus, der dem Christentum inhärent ist. HELMING schreibt: „In der Jugendbewegung, deren Menschen wie eine Not das elementare Spüren junger Menschengemeinschaft erfuhren, stehen wir als Christen. Können dies Erfahren tief in uns eindringen lassen in unseren Glauben hinein. Das Wort vom Bruder ist durch Christus für uns alle, für Mann und Frau, Bürger und Proletarier das Wort des Christen geworden. Es birgt in sich allen Reichtum des Lebens, wir müssen damit auch in das politische Leben hineingehen, und das blutleere Wort des Sozialismus damit zu füllen suchen. So mögen wir helfen, daß jeder mithineingenommen werde in den Staat, und ihn in Freiheit bejahe.“739
HELMING sah in der Universalität christlicher Werte einen Weg, um die Integration verschiedener gesellschaftlicher Kräfte und Positionen zu einem gesellschaftlichen Konsens zu fördern und Partizipation sowie Grundrechte zu gewährleisten. Neben dieser Analyse der damaligen Lebens- und Machtverhältnisse wurde auch der Übergang von der Monarchie zur Republik publizistisch begleitet. Mit zunehmender Ernüchterung über den Parlamentarismus der Weimarer Republik wurde „der Vorrang der Ordnung und Autorität vor der Freiheit und dem demokratischen Kräftespiel immer nachdrücklicher auch im Bewußtsein der katholischen Elite betont“740. Für GERL-FALKOVITZ lässt sich in den Schildgenossen ein „mangelndes Grundempfinden für die Demokratie mit ihren ausgeprägten Schwächen erkennen, denen ein völkisches Bewußtsein oder besser der Neuaufbau des Volkes entgegengesetzt werden sollte“741. Sie verweist auf die überwiegend generelle Reserviertheit des Quickborn gegenüber bestehenden politischen Organisationen. Und diese Linie versucht auch die Zeitschrift durchzuhalten. Als zwischen 1922/23 die Zentrumspartei über den Weg der Windthorstbünde den Quickborn zur Zusammenarbeit aufforderte, verhielt man sich dort abwartend bis ablehnend.742 Im Quickborn heißt es: „Unsere geistig seelische Haltung biegt sich heute mit keiner Linie dem geschichtlich überkommenen Gebilde zu, das man Partei nennt. Auch die Partei, die uns weltanschauungsgemäß am nächsten stehen soll, betrachten wir nicht als eine ewige Kategorie. […] Wir glauben nicht an die völkische Heilkraft des vom
738 739 740 741 742
HELMING, Helene (1923), 131. Ebd. GERL, Hanna-Barbara (1985), 201. GERL-FALKOVITZ, Hanna-Barbara (2010), 141. Vgl. GERL, Hanna-Barbara (1985), 200f.
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liberalen Westen geerbten Parlamentarismus, selbst dann nicht, wenn er sich in den Flittermantel einer formal sauberen Demokratie hüllt.“743
Albert WISSLER744 stellt 1926 unter dem Titel Demokratie und Massenstaat fest, weshalb die „Biologisierung des Menschen“ in den Konzepten organischer Ganzheitlichkeit ein Trugschluss bleiben müsse: „Die Gesellschaft ist so lange in der Krise, wie sie nicht das Problem der Masse löst: ein Grundproblem der politischen Selbsterziehung. […] Die Massen haben die Loslösung der modernen Gesellschaft aus den alten Gemeinschaftsbindungen bewirkt. Eine Rückkehr zu diesen Bindungen, zu den ‚organisch gegliederten‘ Staatsgebieten des Mittelalters ist einfach unmöglich. […] Diese alten Bindungen sind endgültig vorbei und wir empfinden jeden Versuch, der wieder zu organischen Gebilden zurückführen will, als eine unklare Sache und eine Biologisierung des Menschen, die sich von selbst richtet.“745
Die Lösung, so WISSLER, könne nur politisch sein: „So bleibt als wirkliche Lösung nur der Weg zur Demokratie; aber einer Demokratie, in welcher der innere Aufbau der Gesellschaft dem äußeren demokratischen Gesicht entspricht; in der das Problem der Masse eine wirkliche Lösung gefunden hat; in der die Freiheit des einzelnen, die politische und soziale, wirklich unangetastet besteht.“746
Warum sich Kirche und Großstadt fremd geworden sind – Josef EMONDS Folgende Überlegungen stammen von Josef EMONDS (1898-1975), einem jungen Priester vom Niederrhein, 1922 in Köln geweiht und ab 1924 Kaplan in Aachen, danach in Köln und Essen. Er macht seine ersten Erfahrungen als Großstadtseelsorger in einer von Massenarmut und Nachkriegsbesatzung747 geprägten Zeit. 1927 verfasst er unter dem Titel Proletarier und Religion748 in Die Schildgenossen einen für die Kirche in der Moderne wichtigen Text: „Die Proletarierviertel haben Kirchenbauten, auch Pfarrhäuser, gerade so wie die anderen Stadtteile. Die Kirchenbauten sind dem Viertel aufgedrängt worden von einer namenlosen, tätigen Macht, deren äußere Organisation man sieht. Wenn ein Seelsorgebezirk über die Grenze seiner Tausende hinausgewachsen ist, dann teilt er sich und beschenkt das neue Gebiet mit einem Kirchenbau und den dazugehörigen beamteten Religionsdienern. Wenn sich allerdings die Menschen eine 743 744
745 746 747 748
LUTZ, Heinrich (1963), 114; zit. n. GERL, Hanna-Barbara (1985), 201. WISSLER, Albert (geb. 1904), Wirtschaftswissenschaftler, insb. nach 1945 Konjunkturforschung, gehört zu den Mitbegründern des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). WISSLER, Albert (1926), 356. Ebd., 363f. Französische Truppen besetzten ab 1923 das Ruhrgebiet und das Rheinland, um die Einhaltung der Reparationsleistungen der Deutschen nach dem Weltkrieg zu gewährleisten. EMONDS, Josef (1927).
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Kirche selber bauen sollten, würde der Platz leer bleiben, den die Stadt im Bebauungsplan vorgesehen hat, und wenn aus eigener Kraft, aus Bedürfnis und Verlangen der Menschen gebaut würde, dann würde ein Saal oder ein Sälchen entstehen, und das würde genügen.“749
Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die heutige Großstadt für Kirche buchstäblich keinen Platz mehr habe: „Wider die Stadt des großstädtischen Lebens ist, Platz für eine Kirche zu haben. […] Das Fassadenhafte der entstandenen Kirche durchschaut der Proletarier, darum geht er nicht hinein. […] Gas und Wasser werden abgenommen: die Botschaft der Kirche wird nicht abgenommen. […] Der Proletarier hat keine Religion und er macht auch keinen Hehl daraus. […] Wo die menschliche Gemeinschaft zerrüttet ist, da ist Volksfrömmigkeit und Kirchenbau unmöglich geworden. […] Die durch die bestehende Macht in Staat und Gesellschaft gehaltene Kirche übermittelt Gedankengänge und geschichtliche Überlieferungen der Religion.“750
Seine Erfahrungen fasst er ebenfalls 1927 in einem Text mit dem Titel Großstadtvolk751 zusammen. Zu Beginn fordert er den klaren Blick des Beobachters jenseits vorgefasster Meinungen: „Um die Großstadt und ihr Volk zu sehen, müssen die Augen einer gründlichen Reinigung unterworfen werden. Der Staub in den Straßen, der Dunst über den Steinhaufen, darin die Menschen ihre Tage ableben, sind nichts im Vergleich zu der Staub- und Dunstschicht, die das Sehvermögen überfallen hat, wenn es sich um die Großstadt handelt. Staub und Dunst von vorgefassten Urteilen und Meinungen […] versperren die Aussicht auf die große Stadt.“752
Illusionslos und überdeutlich reagiert der junge Priester EMONDS auf das, was er sieht: „Das die Kirchen füllende Volk der Großstadt ist bis auf Ausnahmen von der eigentlichen Großstadt frei. […] Die eigentliche Großstadt ist ebenso bis auf die Ausnahmen, von der Kirche, und dazu von der Kultur frei. […] Es sind in der Tat zwei Völker nebeneinander; das eine ist Großstadt, das andere lebt zwar von der Großstadt; aber ist noch so gestellt, daß es der Großstadt fremde Dinge verzehrt, die von irgendwo – gleichsam ungesetzlich – in die Struktur des großstädtischen Lebens eingeschmuggelt worden sind und darauf warten, aufgezehrt zu werden.“753
EMONDS thematisiert, wie fremd sich Großstadt und Kirche geworden sind. Diejenigen, die als Großstädter – noch – Kirchgänger sind, brauchen nur das auf, was sie aus nichtstädtischen, dörflichen Lebenszusammenhängen sozusa749 750 751 752 753
Ebd., 238. Ebd., 238ff. EMONDS, Josef (1927a). Ebd., 316. Ebd. Hervorhebung im Original.
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gen als Wegzehrung mitgebracht haben; sei diese aufgebraucht, werde für den Großstadtbewohner die Kirche kaum noch eine Rolle spielen. „Diese Großstadt lebt an der Kirche vorbei. […] Wir sind nämlich gewohnt, den Gang kirchlich religiösen Lebens eingebettet zu finden in den Rhythmus organischer Natur; darüber haben wir vergessen, daß auch in diesen guten Zeiten nur wenige aus eigener Entscheidung gingen. Sie ließen sich tragen von der Gewohnheit, in gewissen Zeiten von lebendiger Sitte.“754
EMONDS meint, die Kirche habe bisher versäumt, das Spezifische des Großstädters zur Kenntnis zu nehmen, und außerdem überschätze sie das „Gewohnheitschristentum“ früherer Zeiten. Angesichts der neuen Fragen „verstummt der Volksverein“. Er schreibt: „Sie beschäftigen sich nicht mit ihr, und über den Abstand hat man bisher nicht hinüberzubauen versucht. Man würde auch blaue Wunder erleben; die da drüben – jenseits der Bindungen – würden mit Unverständnis stehen vor dem ganzen ausgekramten Kulturgut; sie würden die Unempfindlichkeit als Panzer anziehen und wortlos von dem Ständer des Krams fortgehen; sie würden sich nicht einmal wehren, sie sind immun, geschützt, imprägniert gegen solche Einflüsse. Sie würden allerdings die aufdringliche Flut von gutgemeinten Worten mit müdem Lächeln abtun und um ihr Dasein den seltsam schützenden Mantel der Blasiertheit (so sagt man) mit einem eben unterdrückten Gähnen schlagen.“755
Gerade die mögliche Indifferenz treffe die Kirche mehr als vehemente Ablehnung. Die katholische Kirche habe bisher daran festgehalten, der „Masse als Masse Heil und Sorge angedeihen zu lassen. Nur kommt sie an die großstädtische Masse nicht heran. Sie vermag dort nicht, oder noch nicht, Sitte zu schaffen“756. EMONDS nennt einen der Gründe für die Fehleinschätzungen des deutschen Katholizismus: „Den Großstädter als ein bemitleidenswertes Produkt der Großstadt anzusehen, war so lange möglich, als man sich auf die organische Verflochtenheit des Lebens etwas zugute tat. Nachdem diese Verflochtenheit sich gelöst hat, erscheint der Großstädter als der Mensch, der in der Zeit steht, als der geschichtliche, der nämlich, an dem etwas geschehen kann.“757
Bisher sei es der Kirche nicht gelungen, den Großstadtmenschen, als neue „historische Tatsache“, als mit nichts zu vergleichende „Erscheinung“ unter dem Vergesellschaftungsaspekt der Moderne wahrzunehmen. Dies sei eine derart unausweichliche Entwicklung, mit der die Kirche rechnen müsse, sonst bleibe jede noch so gut gemeinte „Überzeugungsarbeit“ wirkungslos. EMONDS entwickelt in analytischen Argumentationsschritten seine Sicht auf die moderne Gesellschaft: 754 755 756 757
Ebd. Ebd., 316. Ebd., 318. Ebd., 319.
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„Der Großstädter ist tatsächlich in seinem Dasein ein sozialisierter Mensch. Ob er das weiß, tut nichts zur Sache. Ihm bleiben nur wenige Augenblicke der freien Entscheidung, die er meist verpaßt. Von diesen Augenblicken abgesehen, geht sein Dasein seinen Gang. Der Individualismus, mag er sich noch so oft und nachdrücklich regen wollen, er bringt es nicht über das Wollen hinaus. Die Regelung ist so lückenlos und so souverän-unbekümmert, daß sie sich nicht beiseite setzen läßt. Aus dem Getriebe steigt manchmal der Individualismus empor als Ruf, Schrei oder geschämige Bemäntelung der tatsächlichen Ablaufrichtigkeit. Wie ein ohnmächtiges Widersprechen gerade die Herrschaft der widersprochenen Macht zeigt.“758
EMONDS beschreibt den Mechanismus des modernen Vergesellschaftungsprozesses in seiner Dialektik: „Wir machen uns gemeinhin kein Bild von der Lückenlosigkeit des Systems, das den Großstädter am Dasein hält. […] Man hat bislang manche Klagelieder über die tote, mechanische Abwicklung des Daseins vernommen; die kommen nicht aus der Großstadt. […] Das lückenlose System der Versorgung arbeitet, von Krisen und Störungen abgesehen, reibungslos, und darin liegt ein Moment der Sicherung für den Versorgten. Er ist durchdrungen, daß es so sein muß. Eine große Portion Kraft wird durch das reibungslose Funktionieren des Systems erspart. Damit hängt allerdings zusammen, daß die Ersparnis auf Kosten der Verarmung der Seele geht. […] Man muß bloß in den Kreis hineingekommen sein. Wenn das fehlgeht öffnet sich der Abgrund, in dem der Mensch über die kümmerlichen Bewegungen des Leibes und der Seele im System hinauswächst. […] Die soziale Versorgung ist ein Sonderfall der durchgängigen Versorgung, und dem System wird letzten Endes doch Kniefall und Tribut gezollt. Hier sind sich die schlimmsten Gegner einig, Käufer und Verkäufer von Arbeitskraft; sie sind einig, daß das System der Versorgung zur Daseinsfristung des Menschen das richtige ist, und sie glauben daran, weil das System den Beweis des Funktionierens für sich hat.“759
Wie lückenlos das neue Gesellschaftssystem funktioniert, wie es um den Preis der seelischen Verarmung funktioniert, zeigt EMONDS überzeugend am Beispiel der katholischen Jugendbewegung: „Einen individuellen Rhythmus des Daseins gibt es nicht. […] Wir erleben es – und die Jugendbewegung ist Paradebeispiel dafür – daß die Versuche eines individuellen Rhythmus in der Großstadt scheitern.“760
Gleichgültig, wie sehr die neue Zeit das aus Tradition herausgelöste „Neue“, das „Eigene“, die „Persönlichkeit“ als Aufbruch reklamiert, EMONDS macht sich auch hier keine Illusionen. Wie bereits gesagt: „Der Individualismus, mag er sich noch so oft und nachdrücklich regen wollen, er bringt es nicht über das Wollen hinaus. Die Regelung ist so lückenlos und so souverän-unbekümmert, 758 759 760
Ebd., 316. Hervorhebungen im Original. Ebd., 317. Ebd.
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daß sie sich nicht beiseite setzen läßt.“761 EMONDS bezweifelt, ob die „organischen“ Ganzheitlichkeitsvorstellungen mitsamt ihrer lebensphilosophischen Begrifflichkeit in der Lage sind, das Funktionieren zu begreifen: „GroßstadtRhythmus [ist] nicht mit den Maßen organischer Natur, sondern mit den eigenen Maßen technischer Form zu messen.“762 Und EMONDS folgert in einer Hauptthese seines Aufsatzes, die bei der Rezeption seines Textes als begrifflich-analytischer Hintergrund immer mitgedacht werden muss: „Die Gefährdung steigt, aber die Gefährdung selbst ist Ansatz der Befreiung. Es gibt Jagdhunde, die das Wild treiben und zu dem großen Sprung der Befreiung stellen und zwingen.“763 Dann wendet sich EMONDS der kleinsten Einheit der Gesellschaft, der Familie, zu und ihrer Funktion im „lückenlosen System“. Familie als „lebenswerte[r] Kleinkreis, in dem ein Ausschwingen und Ruhen des ganzen Menschen geschieht“764. Die Familie der Vormoderne war ein Refugium emotionaler „Fülle“, dieser kleine Kreis habe aus einem „Maß von innen“765 schöpfen können. In der Gegenwart habe sich dies grundlegend geändert. Dem Großstädter sei der „kleine, intime, begrenzte Lebenskreis genommen, und was ihm gegeben ist an so etwas Ähnlichem wie begrenzter Lebenskreis, hat den Gehalt und den Lebenswert des intimen Kreises nicht mehr in sich. Es ist künstlich. […] Es ist etwas Konzessioniertes, ein Inselchen, das vom Meer der Sachlichkeit noch nicht gefressen ist und den Eindruck erweckt, daß es des Fressens nicht wert ist, denn es hängt von seinem Bestand von der Herrscherlaune des Moloch ab, es ist in seinen Fängen wie die Maus in den Fängen der Katze“766.
Für EMONDS ist die moralische Rigidität der Kirche im Hinblick auf die scheinbar „sexuelle Losgelassenheit“ der Großstädter nicht länger angemessen. Denn: „Die Familie der Großstadt ist entleert ihres eigenen Sinnes, und da sie von dem Herd ihres Daseins vertrieben ist, hat sie sich in den äußerlichen Bezirken ansiedeln müssen. Im Grunde stände nichts jener Vorausschau entgegen, die da sagt, daß der gewaltige, monotone Rhythmus der Sachlichkeit über die Lebenskreise der Familie hinweggehend durch Sozialisierung der Fortpflanzung das nackte Dasein weitertreiben werde. Man tut sicherlich Unrecht, eine sexuelle Losgelassenheit dafür verantwortlich zu machen. So einfach stellt man den Verbrecher nicht.“767
761 762 763 764 765 766 767
Ebd., 318. Ebd., 317. Ebd., 319. Ebd. Ebd., 320. Ebd. Ebd. Hervorhebungen im Original.
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EMONDS schreibt über die Familie als „sich selber verzehrender Institution“: „Von den Kindern einiger Volksschulklassen waren nur einige Ausnahmekinder in der christlichen Ehe legitim gezeugt. Die anderen waren vor der Ehe gezeugt oder geboren. Wohlgemerkt: das ist die Regel. Was für ein Licht wirft diese Tatsache über die Verhältnisse, wenn man noch hinzufügt, was einer sagte: Seien wir froh, daß sie Kinder vor der Ehe zeugen, nachher werden sie keine Kinder haben. Wenn wir abrechnen, was auf die Rechnung des unglücklichen Wartens auf eine Wohnung kommt, dann bleibt doch der größte Teil übrig, der durch ein Unglück die Menschen in der Ehe zusammenführt.“768
Hier ist die in diesen Jahren wahrscheinlich größtmögliche Offenheit, mit der drängende gesellschaftliche Probleme benannt werden, erreicht. Ein direkter, genauer Blick auf die Situation im Binnenraum Kirche einerseits – andererseits im Hinblick auf die politischen Gegebenheiten der ersten deutschen Republik: „Die Täuschung! Die demokratische Fassade gibt allen Ernstes jedem einen Zettel in die Hand, und allen Ernstes nimmt ihn jeder aus der Menge. Hinter all dem Ernst aber grinst der Hohn. Ehrlich wäre es, die Masse als Masse anzureden und das Teilglied der Masse als eben solches zu nehmen. Stattdessen täuscht man die Selbsttätigkeit vor. […] Vermutlich werden sie alsdann, wenn ihnen die Augen für die große Täuschung der Freiheit aufgehen, ihre Rechte und wie sonst die gewichtlosen Gesten heißen, auf einen Haufen werfen, den sie als Freudenfeuer abwerfen für ihren Befreier. Es ist so, daß heute die Lebensnotwendigkeit, die mit Essen und Trinken verwandt ist, und die da heißt, Wert und Würde des Menschen, mit dem dümmsten Aufguß zu knapper Not befriedigt wird, mit dem Gebrauch gegenstandsloser Rechte und allgemeiner, d. h. nebelhafter Freiheiten.“769
Wenn man bedenkt, was ab 1933 in Deutschland seinen Lauf nehmen wird! „Da läuft alles an ein Ende und dann, wenn Ordnung, Stil des Lebens sich durchgesetzt hat, verschwinden die Spukgestalten der ausgeklügelten Freiheiten, dann erst tut sich ein Abgrund auf, der den einen verschlingt und den andern auf den Grund führt. Dann stürzt der Wahn, der sich jetzt Altäre baut und Lohndiener im Solde hält, daß das Leben gemeinsam zu erreichen ist, daß Gott im Verein ist, daß die Einsamkeit nicht mehr der Annäherungsweg zum Sinn des Lebens sei.“770
Zuvor hatte EMONDS den Blick auf die „sakramentale Kirche“ gerichtet und sie von der „politisch-rechtlichen Kirche“ unterschieden. Die theoretische Begründung dieser Unterscheidung sei die eine Sache, mit ihr sollten sich „die Gelehrten beschäftigen“. EMONDS plädiert hingegen für „die Wirksamkeit kirchlich-religiöser Arbeit“771 gegen die namenlose Gesellschaft: „Es müßte die sakramentale Macht, Geist und Liebe als Machterweis des Ewigen in das 768 769 770 771
Ebd., 320f. Ebd., 320. Hervorhebung im Original. Ebd., 321. Ebd., 318.
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Elend hineinwirken, um über die Dämme des grauen Elends Herr zu werden.“772 EMONDS betrachtet die institutionalisierte Form des Katholizismus kritisch, das Laienapostolat ist hier für ihn ein Beispiel „für die Kraftlosigkeit kirchlicher Einwirkung“773. Das Herz sei überdeckt von einer Ebene des Öffentlichen: „Drum geht’s über Organisation nicht hinaus. Eine Aufweckung, ein Vordringen bis zum Herzen, ein Gewinnen geschieht nicht, weil die Schicht des Offiziellen hemmt.“774 Hier hat für EMONDS die Jugendbewegung entschieden neue Wege des Aufbruchs beschritten: „Wenn ich mich nicht täusche, ist in der Jugend ein Durchbrechen des einfachen, nicht offiziellen, christlichen Geistes, wenigstens hier und da zu merken. Sie denken nicht daran, irgendwie als Amtsträger, irgendwie als letzte oder vorletzte Stelle in der Amtsreihe aufzutreten; sie sind nur lebendige Glieder der Kirche, nur Gläubige, nur Bruder und Schwester; sie können durch Lohn und Stelle nicht gewonnen, durch Verkennung und Mißachtung nicht abgestoßen werden. Auch unter jüngeren, und manchen durch das Leben milden älteren Priester gewinnt diese Haltung Raum; die Mittelschicht steckt fast ganz in der schützen sollenden Organisation, im Mißtrauen, statt im Vertrauen.“775
Welche Kräfte und Möglichkeiten hat die Großstadtkirche seiner Meinung nach, um als Kirche wirksam werden zu können? Immerhin sieht er Wege, die mit dem Aufbruch der Jugend möglicherweise gebahnt sind. Dem Großstädter „bleiben nur wenige Augenblicke der freien Entscheidung, die er meist verpaßt“776, schreibt er. Eine Hauptthese seines Aufsatzes lautet, wie beschrieben: „Die Gefährdung steigt, aber die Gefährdung selbst ist Ansatz der Befreiung. Es gibt Jagdhunde, die das Wild treiben und zu dem großen Sprung der Befreiung stellen und zwingen.“777 In dieser Dialektik von Gefährdung und befreiendem Sprung könnte, wie auch BOGLER und HELMING erkannt haben, moderne Technik zugleich Gefahr wie auch Befreiung sein: „Ein Stück des Menschen reicht eben in die Welt hinein, die technisiert ist und die dabei nichts verliert, wenn sie technisiert wird. [...] Nur ist die Technisierung am Menschen nicht der ganze Mensch, und was jenseits der Technisierung liegt, ist von ihr nicht zu erreichen, wird aber erst frei und entdeckbar, somit lebbar, sobald die mögliche Technisierung in ihr Recht eingesetzt ist.“778
Der Großstädter lebt aus dem Augenblick. Dies ist zunächst bedenklich, „wenn man von den Gütern der Gemeinschaft her sieht, sie ist vielfach ein 772 773 774 775 776 777 778
Ebd., 318f. Ebd., 319. Ebd. Ebd. Ebd., 316. Ebd., 319. Ebd., 318.
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kurzes steriles Nett-sein“779. Andererseits bietet der Augenblick eine große Chance: „Das Leben aus dem Augenblick rührt auch an die Stelle, wo der Augenblick von dem Ewigen getragen ist. […] Das ist ein Licht über der Großstadt und eine klare Linie in ihren Menschen. Die dumpfe Selbstverständlichkeit des Sichbindens an unpersönliche Mächte ist abgetan.“780
In dieser Auffassung liegt sicher auch ein gewisser philosophisch-theologischer Überschwang, aber EMONDS gelingt es, auf diese Weise ein Beispiel für seine Sichtweise auf die Ambivalenzen in der Moderne zu geben. Er merkt an, diese Ambivalenzen seien mit großer „Gefährdung geladen“. Er zeigt sie am Beispiel des modernen Frauenbilds: „Die aus der dumpfen Nur-Mütterlichkeit herausgewachsene Frau, die in der Weiblichkeit nicht aufgeht, sondern die Weiblichkeit in das Gesamtbild der tätigen Frau einfügt – ist als Typ etwas Frisches und Klares, und auch etwas Reines: trotz der Legion der ‚netten‘ Übergangswesen. Drum verhallt die sozial-gefüllte ‚Wirklichkeits’erziehung. Die einen können sie nicht hören, die andern wollen sie nicht hören. Die Letzten aber erfüllen die Sozialaufgabe echt und voll, nachdem sie sich auf sich selbst gestellt haben. Das heißt, nachdem sie in der augenblickshaften Einsamkeit den Ruf der heiligfordernden Besinnung aufgenommen haben. Im Großstadt-Volk sind die, denen das Heil von neuem am nächsten ist.“781
Was meint EMONDS mit der „augenblickshaften Einsamkeit“, in der man den Ruf der „heiligfordernden Besinnung“ wahrnehme? Warum sollte Religion unbedingt einen Ort jenseits vom Nutzwert der modernen Gesellschaft einnehmen? Letzteres beschreibt EMONDS im anfangs zitierten Aufsatz von 1927 Proletarier und Religion: „Wir dürfen nicht vergessen, daß das Grunderlebnis des Proletariers die Solidarität aller ist, die in Fron stehen, und daß Religion dieses Grunderlebnis aufgreifen muß, will sie nicht eine unverbindliche Zufügung zum Proletarier bedeuten. […] Die Religion kann nicht von außen her ihm zugebracht werden, […] es muß die Seite seines Wesens geweckt werden, die unter der Herrschaft des bloßen Nutzwertes der Menschenkraft vernachlässigt wurde.“782
Und noch deutlicher heißt es: „Die Religion sollte sich eingestehen, daß sie nicht zur Änderung der Zustände berufen ist. Sie kann Änderung bringen, aber nicht als ein erreichtes Ziel, sondern als ein dazu gegebenes Geschenk, […] die Seite der freien Gnade Gottes und der alleinigen Heilssorge.“783 779 780 781 782 783
Ebd., 321. Ebd., 321f. Ebd., 322. Hervorhebungen im Original. EMONDS, Josef (1927), 240. Ebd., 240f.
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EMONDS hat den seelischen Bereich, der im „monotonen Rhythmus der Sachlichkeit“ des großstädtischen Lebens zu verkümmern droht, dem Binnenraum Kirche bewusst gemacht – und das verbindet ihn mit den Absichten von GUARDINI. Darüber hinaus hat er den Bereich der Seele und ihre Nöte auf präzise und nüchterne Weise dargelegt, die ihm durch seine praktische Großstadtseelsorge zukommt. Er hat sie mit den Herausforderungen großstädtischer Lebensweise in Verbindung gebracht und aufgezeigt, wie ein sinnstiftendes Angebot von kirchlicher Seite die Spannung des modernen Lebens, die bis in das persönliche Leben hineingreift, auffangen kann.
Katholizismus und Sozialismus – Walter DIRKS Ausgehend von der sozialen Frage, die im gesellschaftlichen Elend der Nachkriegsjahre bis in die bürgerlichen Schichten reichte und sich am linken wie rechten Rand radikalisierte, setzte sich die Zeitschrift immer wieder auch mit dem Verhältnis von Katholizismus und Sozialismus auseinander.784 Hellsichtig im Blick auf die Radikalisierung des rechtskonservativen Spektrums in der Weimarer Republk sei hier beispielhaft der junge Walter DIRKS785 mit einem ausführlichen Text über die seinerzeit bahnbrechende Arbeit Siegfried KRACAUERs genannt: Die Angestellten. Aus dem neuen Deutschland (1930). DIRKS schreibt: „Der Großstadtseelsorger sollte deshalb, wie er im Allgemeinen schon die Besonderheit des proletarischen Seelsorgproblems erkannt hat, auch die Besonderheit des Angestellten-Seelsorgproblems erkennen. Er muß zum Beispiel wissen, daß in den wirklichen Kleinbürgern seiner Gemeinde, in Handwerkern und Kaufleuten, trotz ihrer ökonomisch und kulturell defensiven Situation die bürgerliche Bewußtseins- und Wertewelt noch einen sehr viel realeren Ansatzpunkt und echten Charakter haben wird, als in den Angestellten, die diese Welt nur noch ideologisch, nur noch durch Tradition konserviert haben; seine Haltung und seine Rede im Beichtstuhl wird oft, wenn diese Dinge hineinspielen, verschieden 784 785
Vgl. die Beiträge Katholik und sozialistische Bewegung (MICHEL, Ernst, 1928) und Die Position des katholischen Sozialisten (MERTENS, Heinrich, 1928). DIRKS, Walter (1901-1991), politisch engagierter, katholischer Journalist und Publizist. Zunächst Sekretär GUARDINIs in Berlin, hatte er eine leitende Stellung im Quickborn. Später arbeitete er als Redakteur bei der linkskatholischen Rhein-Mainischen Volkszeitung, nach deren Verbot durch die Nationalsozialisten ging er zur Frankfurter Zeitung. Er erhielt 1943 Schreibverbot und wechselte zum Verlag Herder. Bekannt wurde er nach 1945 als Gründer und Herausgeber der Frankfurter Hefte (zusammen mit Eugen KOGON), die zu einer der wichtigsten Zeitschriften im Nachkriegsdeutschland wurden. Als Mitarbeiter beim Frankfurter Institut für Sozialforschung gab er mit Theodor W. ADORNO die Frankfurter Beiträge zur Soziologie heraus. DIRKS gehörte zu den Begründern des Bensberger Kreises (1966 aus der Pax-Christi-Bewegung entstanden). Zu Walter DIRKS vgl. die ausführliche und sehr differenzierte Würdigung von BRÖCKLING, Ulrich (1993). Vgl. BRÖCKLING, Ulrich (2009). Zu den Frankfurter Heften vgl. den Aufsatz von GRUNEWALD, Michel (2006).
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sein müssen. [...] Der Politiker wird ebenso wissen müssen, daß er an eine Täuschung appelliert, wenn er bei den Angestelltenmassen an ihr Bürgertum appelliert, und daß die Folgen dieser Täuschung nicht ausbleiben können. [...] Diese Aufgabe stellt sich heute besonders dringend angesichts der nationalsozialistischen Bewegung, in der viele Angestellte (vor allem die Abgebauten und unmittelbar Bedrohten), die Aktion sehen, in die sie hinein ihre soziale Beunruhigung entladen können.“786
KRACAUER war es – vergleichbar mit Walter BENJAMIN, Max SCHELER oder auch Rudolf SCHWARZ – gelungen, Mechanismen und Strukturen über die Gegenständlichkeit von Phänomenen zu begreifen und darzustellen. Er galt als Linker, ohne jedoch Marxist zu sein. Er war ein Denker der kleinen Form, wurde daher nicht als Theoretiker, sondern eher als Mann des Feuilletons wahrgenommen und erst nach dem Zweiten Weltkrieg angemessen gewürdigt. Dass der sich selbst als „linker Katholik“ verstehende DIRKS sich kurz nach Erscheinen von Die Angestellten sich derart ausführlich dem Werk in den Schildgenossen zuwendet, ist im katholischen Kontext ungewöhnlich, im Zusammenhang mit eben dieser Zeitschrift jedoch auch wieder nicht. DIRKS schreibt: „Vor allem weist Kracauer immer wieder nach, daß der Vordergrund der Großstadt, etwa das, was der dem Provinzler als ‚moderne Welt‘ begegnet: Vergnügungslokale, Filmwesen, Sport, Mode, Wochenend, Illustrierte, Zeitungen und Magazine, in seinem überwiegenden Teil nicht nur von Angestellten sondern auch für Angestellte gemacht ist, [...] daß diese Dinge nicht nur als einfache Inhalte des Lebens der Angestellten existieren, sondern oft […] die Funktion des Ersatzes, des Traumes, der Betäubung [haben], eine rauschhafte Ersatzkompensation der unbefriedigenden sozialen Existenz.“787
Bisher sei das Großstadtproblem vor allem als Problem der Unterschichten, des Proletariats, gesehen worden, es sei aber zu einem guten Teil ein Angestelltenproblem: „Was wir inhaltlich als kulturelles Großstadtproblem verstehen, Vermassung, Verkitschung, Entseelung, Vergnügungsindustrie, Zerfall der Familie, Entwurzelung, [hängt] mit dieser eigentümlichen Situation der Angestellten zusammen: der Heimatlosigkeit des Angestellten zwischen Proletariat und Bürgertum. Krise der Pfarrei.“788
DIRKS hält fest, dass nach KRACAUER „sich die Kulturkrise zu einem beträchtlichen Teil als Angestelltenkrise konkretisieren läßt […], daß sich ähnlich das Großstadtproblem mit noch mehr Recht als Angestelltenproblem konkretisiert“789. Er schreibt: 786 787 788 789
DIRKS, Walter (1931), 251f. Hervorhebungen im Original. Ebd., 247. Hervorhebung im Original. Ebd., 246. Ebd., 250.
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„Dieser Vorgang des Kulturzerfalls selbst ist von der Sünde und den bösen Mächten der Zerstörung aus nicht in seiner spezifischen Struktur [zu erfassen], eine dieser Konkretisierungen (des immer angeklagten ‚bösen Geistes‘ der modernen Zeit) ergibt die Analyse der Angestelltensituation.“790
DIRKS spricht von „Konsequenzen […] für den Seelsorger“; es sei unbedingt zu beachten, wie sehr „hier ein spezifisch religiöses Problem“791 vorliege: „Der Großstadtseelsorger sollte deshalb, wie er im allgemeinen schon die Besonderheit des proletarischen Seelsorgproblems erkannt hat, auch die Besonderheit des Angestellten-Seelsorgproblems erkennen.“792
Dieser Aspekt einer vor allem seelisch depravierten Mittelschicht blieb ein singulärer Hinweis und konnte damals in katholischen Kreisen noch nicht in seiner Bedeutung für eine moderne Gesellschaft erkannt werden. Auch die Kirchengeschichte zeige, schreibt Walter DIRKS in den Schildgenossen „daß jede große ‚Kulturkrise‘ des Abendlandes auch eine innerkirchliche Krise war“793. Phänomene der Krise sind, so DIRKS, die „Vergrößerung der Wirtschaft und Lebensräume [durch] Verkehr, die Technisierung Europas, die Technisierung der asiatischen Kulturvölker, das Erwachen der primitiven Völker“794. Und weiter: „Unser ‚Lebensgefühl‘ ist in einer starken Wandlung begriffen. Ein bedeutender Teil der Ordnungen und Wertungen, die einige Jahrhunderte lang unbestritten waren, hat sein Fundament verloren. […] Es geht nicht anders, daß auch die Christenheit in diese Verwirrung mit hineingezogen wird.“795
Ohne falsche Sicherheiten In der Zwischenkriegszeit herrscht überall in Westeuropa jugendbewegte Aufbruchstimmung, die radikal mit dem alten, bürgerlichen Leben als Verursacherin der Weltkriegskatastrophe brechen will. Auch die Katholiken werden von dem Aufbruch nicht nur der Jugend erfasst, sie profitieren regelrecht von der Niederlage des bürgerlichen Deutschlands. Die ersten Ausgaben der Schildgenossen belegen dies mehr als deutlich: „Wir wollen das Alte, Häßliche nicht mitmachen, weil es Verderben bringt und unser nicht würdig ist – wir wollen das Neue, Reine, Schlichte suchen und wirken.“796 Das „Alte, Hässliche“ habe Deutschland in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs getrieben. Die Katholi790 791 792 793 794 795 796
Ebd., 251. Ebd. Ebd., 252. DIRKS, Walter (1927), 538. Ebd. Ebd. LIEDL, Maria (1920), 13.
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ken können sich vom wilhelminischen Bürgertum distanzieren, weil sie es mit dem preußisch-protestantischen Staat gleichsetzen, mit dessen nun brüchig gewordener Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit, mit dessen Patriotismus.797 Erinnert sei an den schon zitierten Hermann PLATZ, der 1920 nach dem zweiten überregionalen Treffen des Quickborn auf der Burg Rothenfels feststellt: „Dumpf trieb alles einer Lösung zu, die dann der Weltkrieg brachte.“798 Die Schildgenossen zeigten zunächst einen großstadtkritischen Ton. Gerade nach dem Krieg erscheint der Jugend das Leben auf dem Land durchaus als Alternative. Die Schildgenossen liefern dafür etliche Beispiele: „Zurück zur Natürlichkeit im Denken und Empfinden, im Reden und Handeln! […] Schreibt da so ein junger Großstadtquickborner: ‚Drum lieb ich sie nicht, die dunkle Stadt/Drum haß ich ihr Angesicht/Sie machte mich meines Lebens satt/Sie gab mir nicht Sonne, nicht Licht.‘“799
In derselben Ausgabe der Schildgenossen von 1921 heißt es weiter unter dem Titel Hochlandbauer: „Habt ihr dann eine Neigung zum Bauerberuf gefunden, so rauft euch nicht lange mit dem Gedanken ab, der Landmann könnte vielleicht weniger Kultur und Bildung haben als der Städter und ihr könntet die durch eure Erziehung erworbenen geistigen Fähigkeiten verlieren und ‚verbauern‘. Packt euer Bündel und sucht irgendwo weit weg von der Stadt und Eisenbahn auf irgendeinem kleinen Bauerngute als Dienstbub unterzukommen […] und lebe mit den Menschen, dann wird es dir später […] leicht fallen auch als Gebildeter, dich mit den Einfachen gut zu vertragen. […] Leider haben wir nur zu oft die unsinnige Auffassung, daß wir mit etwas Körperdurchbildung und ein wenig Bücherweisheit den alterfahrenen Bauern weit überlegen sind.“800
Sich an die Heimat zu binden, das sei das beste Mittel gegen die Entwurzelungstendenzen der Moderne. Deshalb solle Heimat zum Gegenstand einer neuen Form von „Heimatforschung“ werden, meint Ludwig NEUNDÖRFER: „Anzusetzen ist zunächst da, wo man die lebendige Wechselwirkung von Umwelt und Mensch spürt, beim Bauern, beim Gebirgsbewohner, beim Fischer. […] Ähnliche Beobachtungen müssen an Arbeitern der Großstadt, an Kindern angestellt werden. Dabei wird sehr viel Negatives zu Tage kommen, sofern die Ergreifung der Umwelt nicht stattgefunden hat. Aber sie sind nicht zu entbehren, will man dem beikommen, was Großstadt = Heimat ist, ja sie werden ein Gradmesser dafür sein, in welchem Maße Großstadt Heimat wird.“801
Über Heimat reden – dies müsse auch geschehen „in der Weise der Wissenschaft“ – aber vor allem wegen der „großen Aufgabe wie die Verwurzelung 797 798 799 800 801
Vgl. RUSTER, Thomas (1994a), 105. PLATZ, Hermann (1920), 31. JAROSCHEK (1921), 151. STEIDLE, Luitpold (1921), 140. NEUNDÖRFER, Ludwig (1926), 123.
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des Großstadtproletariers“802. Vor allem der gebildete Großstädter solle dies als seine besondere Mission und auch als gesellschaftlichen Auftrag verstehen. Die Schildgenossen drucken 1928 praktische Anleitungen zu einem solchen „Auftrag“ ab. Darin heißt es über den Großstädter: „Er schläft bis in den Mittag hinein, fühlt sich dumpf und faul, liest ein wenig herum, geht ein wenig spazieren, raucht und langweilt sich oder ergibt sich den Zerstreuungen.“803 Und auch nach dem Mittagessen sei der Großstädter nicht zu gebrauchen. „Was braucht der Großstädter, um für den gewöhnlichen Tagesverlauf seines Arbeitsjahres in der Freizeit die wirklich notwendige und heilsame Ergänzung zu finden […], gewissermaßen Gegengift gegen den gewöhnlichen großstädtischen Tagesablauf? […] In unserem Heim versucht man aus diesem Grunde das Frühaufstehen zu kultivieren.“804 Mit Disziplinierungsmaßnahmen, die stark an die Arbeitsdisziplin in der Fabrik erinnern, soll der Großstädter erzogen werden. Sorge soll man tragen für die „Beschäftigung mit den Restbeständen geistiger Gestaltungswünsche […] am Vormittage nach wohlgelungenem Nachtschlaf, […] nur kurze intensive Mittagsruhe erfrischt, […] am Nachmittage [kann er] sich dann in die strenge Gemeinschaftsarbeit einfügen. […] Die Abende bleiben in der Regel frei. […] Denn bei der Gestaltungsarbeit des Vormittags ist frühes Aufstehen und genügender Nachtschlaf nötig. So bekommen die von der Berufsarbeit ermüdeten Menschen die Tage ihrer freien Zeit voll und ganz in die Hand“805.
Solche Konkretionen sind in den „bewegten“ katholischen Zeitschriften dieser Zeit eher die Ausnahme, passen aber zu den experimentierfreudigen jungen, gebildeten Katholiken des Quickborn und ihrer Zeitschrift Die Schildgenossen. Diese Zeitschrift zeigt die größte Bereitschaft zu immer wieder neuen, auch ungesicherten Herangehensweisen und damit auch zur kritischen Reflexion eigener Positionen.806 1928 schreibt in einem redaktionellen Nachwort der damals verantwortliche Redakteur, der Architekt Rudolf SCHWARZ, dass sich Die Schildgenossen durch „Unfertigkeit“ auszeichnen, um „Dinge zu sagen und zu versuchen, […] in Bewegung zu bringen, der vielleicht einmal Dinge entspringen, über die sich Theorien machen lassen“807.
802 803 804 805 806
807
Ebd., 111. KLATT, Fritz (1928), 251. Ebd., 250. Ebd., 254. Vgl. LUTZ, Heinrich (1963), 91ff. LUTZ bemerkt: „Für den Rückschauenden ist gerade die Kraft der Selbstkritik ein Ausdruck der Vitalität jener katholischen Erneuerungsbewegung.“ (Ebd., 92). SCHWARZ, Rudolf (1928a), 265.
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Lob der Technik – Theo BOGLER Einen anderen Zugang zur Gegenwart findet der kurze Zeit nach der Veröffentlichung in Maria Laach in den Benediktinerorden eintretende Theo BOGLER.808 Er nimmt eine für die „bewegte“ Leserschaft von Die Schildgenossen ungewöhnliche Sichtweise auf die moderne Technik ein, sie erklärt sich auch auf dem Hintergrund seiner bisherigen Berufstätigkeit, unter anderem beim Bauhaus in Weimar: „Mir scheint, daß wir das ‚Zeitalter der Technik‘ hinter uns haben. […] Technik ist ein Produkt menschlicher Schöpferkraft, menschlichen Erfindungs- und Erhaltungstriebes, wie Kunst und Wissenschaft es auch sind, die Technik besonders das, wodurch es dem Menschen gelang, seine Herrschaft über den Erdball, zu erringen, sich Lebens- und Naturkräfte, Lebewesen, organische und anorganische Natur dienstbar zu machen, an sich also etwas Großes.“809
BOGLER stellt den Zusammenhang von technischer und gesellschaftlicher Entwicklung sinnfällig dar: „Man muß sich also jetzt erst vergegenwärtigen, in welche Stellung wir, die heutigen Menschen, durch diese rapide Entwicklung der Technik geraten sind, […] so sind wir alle willenlose Werkzeuge eines großen technischen Apparates geworden. Wir sind von den Beförderungsmitteln abhängig, von Untergrundbahn, Auto, Straßenbahnen, ohne die wir unsere Arbeitsstelle nicht erreichen; wir sind von Telefon, Telegraf, Schreibmaschine, Stenogramm abhängig, ohne die wir nicht arbeiten können; wir sind vom Licht abhängig, von der Fernheizung, ohne die unsere Wohnungen dunkel und kalt sind; wir sind von der Presse abhängig, von der wir unsere Nachrichten (Meinungen) erhalten, vom Kino, vom Grammophon, an denen wir uns erholen. Ein neues Scherzwort heißt: Berlin ist nur noch ein großer Rangierbahnhof; wir alle werden darin hin- und hergeschoben. Man hat von der Staats-‚Maschine‘ gesprochen, die ohne den Beamten-‚apparat‘ nicht funktionieren kann, wir alle wissen, wie sehr wir bis in unsere persönlichsten Verhältnisse von diesen Faktoren abhängig sind.“810
BOGLER beschreibt die Sehnsüchte, die sich in den Gegenbewegungen vor allem nach dem Krieg als Flucht vor der Moderne formulierten: „Wo die Seele vergewaltigt wurde, floh sie in das Uebersinnliche, wie es sich in Okkultismus und Theosophie zeigt. Sektenbildung war die Folge. Aus Flucht vor
808
809 810
BOGLER, Theodor (1897-1968), Benediktiner und Keramiker. Als junger Soldat diente er im Ersten Weltkrieg, studierte zunächst Architektur und dann in den Keramikwerkstätten in Dornburg des Weimarer Bauhauses. Seine Lehrer sind Johannes ITTEN und Lyonel FEININGER. 1925 konvertiert er zum Katholizismus und tritt 1927 in die Abtei Maria Laach ein. Dort leitet er bis zu seinem Tod die Kunstwerkstätten und den Verlag Ars Liturgica. Vgl. WEBER, Klaus (1989). BOGLER, Theo (1924), 283. Ebd.
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Technik und Zivilisation wurde ein Bedürfnis nach Wiedererweckung vergangener Kulturepochen.“811
BOGLER spricht von einem neuen „Seelen-Bewußtsein“: „Man kann diese Bewegung, langsam einsetzend, schon seit längerem verfolgen: in der ganzen Jugendbewegung, in der Kunst mit der Annäherung an das Handwerk, in der Metaphysik in dem Suchen nach Religion und Kirche. All diese Bewegungen sind heute so allgemein und anerkannt, daß man sich kaum mehr denken kann, daß sie bei ihrem Entstehen als romantisch verschrien waren. Und so sehr sie es manchmal in Auswüchsen noch zu sein scheinen, ihr tiefer Sinn ist die Gegenbewegung gegen die Technik als Selbstzweck, das Erwachen der Seele.“812
Der Autor zeigt genau den Punkt, an dem das eigentlich Positive der Technik in Verarmung der Menschheit umschlägt, dass „der Prozeß des technischen Werdens, also des Zuendedenkens der Maschine, eine Ueberbelastung des menschlichen Geistes mit Technik war, wodurch allerdings diese technische Entwicklung nur möglich wurde. Es wird aber auch sinnfällig geworden sein, daß das technische Denken eine Würdigung der menschlichen Werte nur in Ausnahmefällen zuläßt, und diese Ausnahmefälle gehen meist mehr auf Kosten der Sentimentalität eines trotzdem-noch-Menschen statt auf einer bewußten Einschaltung der menschlichen Forderungen in den technischen Apparat. Soziale und kulturelle Notwendigkeiten und Bedürfnisse sind also, von der Technik aus gesehen, unberechtigt, Kunst, Wissenschaft, Religion unrentable Werte“813.
Und als Reaktion auf diese Majorisierung durch Technik in der jüngsten, katastrophischen Geschichte Deutschlands mit Krieg und Revolution: „Die Revolution als die Forderung technischen Proletariats nach menschlichen Rechten zerbrach, weil die Führer technisch-mechanistisch dachten, aber von anderer Seite begann eine Evolution der geistigen Freiheit. […] Ueberall spürt man jetzt eine starke Sehnsucht und Forderung nach geistigem, unmittelbarem Erleben und Leben, nach dem Urquell, der geistigen Schöpferkraft zur Gestaltung von Person, Form, Kultur, Gemeinschaft. Hieraus resultiert als Ganzes genommen eine Aufwertung der geistigen Werte, längst vergessene und vermeintlich überwundene Geistesrichtungen und Lebensformen erhalten neuen Sinn, füllen sich mit neuem Leben. Ein Verständnis für den Menschen und die Forderungen von Seele und Leib, eine Würdigung des Nächsten sind die Folge, wo die Technik rücksichtsloses Uebergehen menschlicher Werte aufgerichtet hatte, werden dem Empfinden Rechte eingeräumt, die nicht mehr in der Sentimentalität eines mitleidigen Vorgesetzten ihren Grund haben.“814
811 812 813 814
Ebd., 285. Ebd. Ebd., 284. Ebd., 285.
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Folgende Möglichkeiten könnten nach BOGLER wegweisend sein: Die neue Technik werde vor allem im Bereich der Kultur unerwartete Folgen haben. BOGLER hat Vorstellungen von kulturellen Praktiken, die mit einer durch Technik bedingten spezifischen, neuen Ästhetik einhergehen:815 „Für eine technische Kultur sind also ganz neue Aufgaben da und die technischen Möglichkeiten müssen nur erst einmal kulturell gewertet werden. Es ist sicher, daß Kino und Radio ihre besonderen Möglichkeiten haben, die nicht in gefunktem Konzert oder fotografiertem Theater bestehen, daß das vervielfältigt hergestellte Ding eine besondere, ästhetisch befriedigende Form haben kann, die der Vervielfältigungstechnik angepaßt, Norm, Typ, Standard sein und doch besonders gelöst sein kann, sodaß den Bedürfnissen des Einzelnen Rechnung getragen wird.“816
Für BOGLER ist industriell gefertigte Massenware nicht unbedingt identisch mit Kulturverlust. Er bleibt nicht in den üblichen unversöhnlichen Dichotomien stecken, vielmehr lässt er die Bedingungen der neuen Zeit erkennen, wenn er von der „Durchblutung der Technik mit Geist“ spricht: „Und ich glaube feststellen zu können, daß der Weg zu einer neuen Kultur ganz tastend anfängt beschritten zu werden, wenn wir entdecken, daß Massenware und Einzelstück (Industrie- und Handwerkserzeugnis), das eine als lebenswichtiges Ding im Sinne des Massenverbrauchs, unter diesem Gesichtspunkte hergestellt und gestaltet, das andere als individuelles Erzeugnis, seelisch bedingt, im Sinne z. B. des Kultgerätes, nicht Gegensätze sind, sondern notwendige Ergänzungen darstellen wie Gemeinschaft und Persönlichkeit, so ist der erste Schritt schon getan. Und auch in der Praxis sind erste Anfänge schon gemacht, aber fast Alles ist noch zu tun. In der Durchblutung der Technik mit Geist liegt der Weg zu unserer technischen Kultur. […] Ueberwindung der Technik heißt nicht, daß wir uns von ihr wenden, um primitiver zu werden, sondern, daß wir sie kennen lernen, zu werten verstehen und nutzen, wo wir nur können. Wir müssen Herren der Technik werden, jetzt sind wir noch ihre Diener. Nicht Techniker und Ingenieure brauchen wir, wie Spengler das fordert, ein Stand von geistigen und geistlichen Menschen muß gebildet werden. Der Geist der Technik hat die Welt erobert, aber wir haben mit der technischen Eroberung eine ungeheure Verantwortung auf uns geladen, für die man Rechenschaft fordern wird, wenn wir nicht geistige Werte von höchsten Ausmaßen überall da einsetzen, wo Technik und technische Eroberung Werte zertrümmerte.“817
815
816 817
Vgl. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von BENJAMIN, Walter (1996). BENJAMIN schrieb seinen legendären Aufsatz 1935 im Pariser Exil. 1936 wurde er in gekürzter Fassung und ins Französische übersetzt in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht. BOGLER, Theo (1924), 286. Ebd., 286f. Hervorhebungen im Original.
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„Wir müssen Herren der Technik werden.“818 Diese Forderung entspricht auch der von Rudolf SCHWARZ. Aber auch andere Autoren wie HELMING und NEUNDÖRFER fordern, technische Errungenschaften positiv zu integrieren.
Wohnkultur – Helene HELMING und Ludwig NEUNDÖRFER Zum Thema Alltag beziehungsweise Wohnen äußert sich immer wieder in exponierter Position eine der wenigen Autorinnen, Helene HELMING. Sie verweist auf die neuen Möglichkeiten, die sich aus den technischen Neuerungen vor allem für Frauen ergeben. Mit ihrem Beharren auf einer guten Bildung für Mädchen und Frauen erkennt sie die Chance von Technik als Entlastung, welche Frauen neue Freiräume eröffnet. HELMING sieht aber auch die Ambivalenz dieser Entwicklung, und gerade Frauen sollten dazu eine eigene und durch konkrete Erfahrung gegebene Position einnehmen: „Es sind Maschinen da, die Arbeit abnehmen. Es brauchen keine Kohlen geschleppt zu werden. Nahrungsmittel werden in die Küche hineingeliefert. […] Der Frau ist die Kraft, mit der sie früher in der Küche schaffte, zurückgegeben. […] Sonst war sie frei nur in ihrem Inneren.“819
In der Moderne lasse „Technik Raum für ein Spiel des Leibes“820. Auf diese Weise könnten „Technik und Methode […] zu größerer Freiheit führen; bei der Maschine kann ein edles, schönes Wohnen sein“821. Es gilt „zu lernen, die Linien der Technik ins Wohnen hinüber zu nehmen“822. Helene HELMING und Ludwig NEUNDÖRFER823 reflektieren in Die Schildgenossen im Jahr 1930 die Wohnkultur in der Gegenwart in einer bis dahin in katholischen Kreisen nicht gekannten Modernität. NEUNDÖRFER geht von folgender Prämisse aus: „Ein paar Versuche für Kleinstwohnungen müssen mehr als Beruhigung der Gewissen denn als wirkliche Hilfe gewertet werden.“824 Und HELMING avisiert eine grundlegende Neuordnung der Wohnverhältnisse in der modernen Industriegesellschaft:
818 819 820 821 822 823
824
Ebd., 287. HELMING, Helene (1927), 312f. Ebd., 313. Ebd., 315. HELMING, Helene (1927), 310. NEUNDÖRFER, Ludwig (1901-1975) kam aus der katholischen Jugendbewegung und war seit 1925 verantwortlicher Redakteur bei Die Schildgenossen. Untersuchungen zur sozioökonomischen Situation Jugendlicher in der Weimarer Republik, einflussreich nach 1945 als Berater bei den Sozialreformen der ADENAUER-Regierung. Insbesondere in den Bereichen der Sozial-, Familien- und Wohnungsbaupolitik. Vgl. KIPPERT, Klaus [Hrsg.] (1967). Vgl. HEISIG, Michael (1998). NEUNDÖRFER, Ludwig (1930), 252.
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„Wo die Wohnverhältnisse sich derartig geändert haben, wie im Milieu der Großstädte, da genügt nicht sentimentale halbe Bereitschaft, es im ‚Heim‘ ‚gemütlich‘ zu machen, sondern es geht darum, Grundordnung zu klären und sicher zu stellen. […] Es ist dem Menschen Schicksal und Aufgabe, daß er in eben seiner Zeit lebt, ihr Stil ist der Seine.“825
Unabdingbare Voraussetzung dafür ist das Erkennen des Spezifischen der neuen Zeit und damit auch des neuen Stils: „Es gilt Einsicht zu nehmen in die gewesenen Zustände und in das beginnende Andere, um die richtige Haltung haben zu können. Man muß hinsehen, um einzusehen.“826 Die Veränderungen denken zu können, setze voraus, dass man nicht einer Dichotomie von Tradition und Moderne verhaftet bleibe. Der Katholik sei in Traditionen verankert und argumentiere aus ihnen heraus. Um die neue Zeit denken zu können, müssten allerdings auch die der Moderne inhärenten Ambivalenzen erkannt werden. Diese müssten auch von katholischer Seite als Tatsache anerkannt und als Wirklichkeit gestaltet werden. Für HELMING ist Wohnen etwas „Elementarmenschliches“827. Hier wird deutlich, wie sehr die Großstadt und ihre Teilphänomene als Chiffre für die Moderne stehen. HELMING schreibt: „Soll das Wohnen neu werden, so darf man auch nicht zu viel belastende Tradition mit hinübernehmen.“828 Sie grenzt die bisherige Art des Wohnens von den Bedürfnissen des modernen Menschen ab: „Der Mensch erträgt die Art seines bisherigen Wohnens nicht mehr.“829 Die Enge und Abgeschlossenheit der alten Wohnung qualifiziert sie als bürgerlich: „Zu fest, zu ängstlich, zu sehr sich anklammernd an sein kleines Haus hatte man sich niedergelassen. […] Aus dem Bürger wurde der Spießbürger, […] kleinbürgerliche Gemütlichkeit oder eine gemüthafte Auffassung familienhaften Wohnens.“830 Von dieser Wohnform habe sich der moderne Mensch inzwischen gelöst, habe sich aber „noch nicht verpflichtet für das Neue“831. Es reicht nicht aus, „das alt und gebrechlich gewordene Haus neu auszustatten“832. Als sekundäre Dinge bezeichnet sie die „Aufhübschung“ der Wohnung im „neuen Stil“833, eine Befreiung zum „echten Wohnen“ befreit von Überflüssigem und fordert auf, „daß man sich im Notwendigen, Wesentlichen binde, darin Gemeinschaft begründe“834. Der gemeinsame Wohnraum ist nicht „gefüllt vom runden Tisch mit Sofa und Stühlen; sondern was einladet, ist der freie Raum, das geöffnete Fenster, das helle Licht; Einladung zu Bewegung, […] zu 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834
HELMING, Helene (1927), 308f. Ebd., 309. HELMING, Helene (1930), 359. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 361. Ebd., 359. Ebd. Ebd., 361.
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Gemeinschaft“835. Das neue Wohnen zeichne sich durch Einfachheit und Armut aus, „aber sie gibt dadurch wieder Möglichkeiten, sie hindert nicht. Sie schließt nicht ab. Sie hält nicht so fest. So braucht sich der Einzelne nicht zu scheuen in sie einzutreten“836. Das heutige Wohnen fordere „Offenheit, Ehrlichkeit, Echtheit“837. SCHWARZ argumentiert ähnlich, wenn er vom Wohnen jenseits „verfälschter Natur mit belanglosen Dekorationen“838 aber auch jenseits „formalistischer Magerkeit“839 spricht. Für HELMING ist die Suche, der Weg zum zeitgemäßen Wohnen ein Übergang, der nach Balance verlangt, weil die gewohnten Sicherheiten abhanden gekommen sind. Geistigkeit und Gemeinschaft sind die Schlagworte der jungen bewegten Katholiken und stellen die Fundamente des Neuen dar. Neue Siedlungen sind ein Beleg dafür, daß „Geld allein […] noch keine Kultur“840 hervorbringt, wie NEUNDÖRFER schreibt: „Wohnkultur besagt, daß alles zum Wohnen Gehörige aus einem Geist ist.“841 Helene HELMING differenziert einige Jahre später diese Einschätzung etwas ernüchterter: „Das Haus Mies van der Rohes zeugt von gutem Wissen um heutiges Wohnen; aber die Forderung ist groß. Es ist etwas Ernstes darum, sich so im Offenen bewegen zu sollen. Gut ist’s, daß an unser Wohnen wieder die Mahnung kommt, es selbst zu schaffen in einer neuen großen Grundform strengen Hausbaus, daß uns das Halbe und Kleine nicht mehr erlaubt. Aber auch neue Gefahren sind dabei, wenn die neue Forderung nicht ganz verstanden wird. Es könnte einer bei Luft und Sonne, die das Haus durchfluten, bei dem gegebenen unverstellten Raum in einen Idealismus, in einen Traum des Wohnens hineingeraten, in eine ästhetische Willkür, in eine zu große Eigenmächtigkeit. Es könnte einer auch naturalistisch in Körperkultur stecken bleiben.“842
Bei all den Neuerungen dürfe eine bindend-verbindliche Mitte nicht vergessen bzw. außer Acht gelassen werden: „Im gut gebauten Haus alter Zeit gab das Herdfeuer die Mitte und das Zeichen des Wohnens. Wo finden wir neue Mitte, in der wir uns halten, von der wir uns auferbauen? Werden wir durch die Beweglichkeit, die das Haus uns heute ermöglicht, die Mitte in uns selbst finden, daß wir von da auch des anderen Menschen Sein richtig treffen und mit ihm wohnen können? Wird die moderne Form des Hauses mit ihrer besonderen Geistigkeit, die bei aller Herbheit des Materials zart anmuten kann, uns zur Vergeistigung unseres Daseins führen, zur Beschwingtheit unseres Schrittes, so daß wir den Weg leichter ins wirklich Freie finden? Wird die ‚edle Abgeschlossenheit‘, die, wie Mies van der Rohe in sei835 836 837 838 839 840 841 842
Ebd., 360. Ebd. Ebd. SCHWARZ, Rudolf (1927), 301. Ebd. NEUNDÖRFER, Ludwig (1930), 252. Ebd., 250. HELMING, Helene (1935), 172.
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nem Begleitwort sagt, ‚bei aller Freiheit der offenen Raumform‘ doch da ist, den Menschen finden, der ihr entspricht? Diese Bauform bringt Sonne, Fluß, Blume und Baum dem Menschen nahe, aber die im Zeitalter hoher Technik gebundene Form ist nicht naturhaft, sondern fordert auf, die Spannung zu beseitigen von hoch entwickelter Form zum Gewachsenen und aus ihr intensivere Freude an letzterem zu gewinnen. Die Spannung will die Leibwerdung des Menschen voller ermöglichen, will ihn aber nicht unter seine Menschenfreiheit in ‚Natur‘ absinken oder in schönes Menschentum ästhetisch abirren lassen.“843
Und HELMING schließt: „Es bleibt eine Frage, daß das Herdfeuer fehlt, und auch der Tisch, an dem man ißt, nicht so einfach wie früher deutlich wird.“844 Auf andere Weise emphatisch bindet NEUNDÖRFER seine Frage nach neuer Wohnkultur an den Lauf der Geschichte und die darin jeweils tonangebenden gesellschaftlichen Gruppen. Nach einer einheitlichen, durch den Adel geprägten Kultur im Barock und der bürgerlichen Kultur des Biedermeier entstehe, so NEUNDÖRFER, in der neuen Schicht der Arbeitenden eine neue kulturbildende Kraft.845 Arbeitende definiert er als „Menschen ohne Vermögen […], die von ihrer Arbeitsleistung“846 leben. Zu ihnen gehören nach seinem Verständnis qualifizierte Arbeiter, Handwerker, Angestellte und Beamte. Dabei wird „Erziehung und ständiges Wachhalten […] Pflicht kollektiver Formungen, die die Massen ergreifen“847. Für NEUNDÖRFER heißt das für die Zukunft: „Zellen müssen sich da und dort bilden und in ihrem Kreise handeln, bis das Wirken der Vielen zu einer Sitte wird, und auch die Abseitigstehenden ergreift.“848 Die neue Wohnkultur könne weder durch ein „Diktat von oben“849 noch durch die Kreativität einzelner geschaffen werden: Die „tragende Schicht des Volkes [die Arbeitenden] muß die Wohnsitte schaffen, die dem Einzelnen die Gewohnheit rechten Wohnens gibt“850. Tradition und Moderne schließen sich für NEUNDÖRFER nicht aus. Die Tradition hemmt „in keiner Weise ein Weiterschreiten und Verbessern“851. Sie bewahrt aber vor Moden, erlaubt keine Experimente und beschränkt zum Beispiel die „Formphantasie des Künstlers“852. Mode, Stile und Neuheiten sind für ihn nur „periphere Neuerungen“, weil ihnen die „materiellen und geistigen Voraussetzungen“853 fehlen, um eine neue Wohnkultur fruchtbar werden zu lassen. Als Beispiel nennt NEUNDÖRFER das Bauhaus: „Ihm kommt das Ver843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853
Ebd. Ebd. Vgl. NEUNDÖRFER, Ludwig (1930), 250f. Ebd., 251. Ebd. Ebd., 255. Ebd., 250. Ebd., 255. Ebd., 252. Ebd. Ebd.
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dienst zu, den neuen Wohnideen Form gegeben zu haben.“854 Als sich das Bauhaus aus einer „Zeit der Manifeste der Gesamtkunst“855 hin „zu ehrlichem Handwerk aus dem Geist der Zeit heraus“ zur „Läuterung der Form“ entwickelt, wurde es ein Begriff „für die Wohnideen unserer Zeit“856. Für NEUNDÖRFER gilt als Maß für das neue Bauen „allein der Mensch“857. Die neuen Häuser sind „zweckmäßig, hell, in ihren Ausmaßen auf den Menschen zugeschnitten“858. Sie haben „Raum zum Ausschreiten. […] Die Form wird aus dem Gegenstand entwickelt, materialecht, knapp, eine anliegende Hülle“859. Dieser geläuterten Form im Bauhaus stellt er den Bauhausstil gegenüber: „Einfach wird mit plump verwechselt, eine neue Ornamentik mit Extravaganzen. Der ernsteren Arbeit des Bauhauses kann man keinen schlechteren Dienst erweisen als sie so zu verallgemeinern.“860 Jenseits kurzlebiger Moden ist für NEUNDÖRFER Wohnen „lebendiges Tun“: Die Räume „sollen geöffnet sein, Sonne und Grün sollen hereinkommen. Das Draußen soll ein Teil des Raumes sein“861. Wohnen wird „einbezogen in den Rhythmus der Zeit, es wird Bewegung, […] Wohnen ist beschwingter geworden, wie unser Schritt beschwingter ist. Alle Vorteile der Technik und rationellen Arbeit können genutzt werden. Manche Arbeit wird aus dem Hause hinausverlegt werden. Der Haushalt wird dadurch nicht mechanisiert, im Gegenteil, Kräfte werden frei für das eigentlich Kulturelle, die Gestaltung im schlichten Tun“862.
Auch NEUNDÖRFER vertritt hier, vergleichbar mit SCHWARZ, EMONDS oder PLATZ eine achtsame Moderne, die sich von den Avantgardismen des 20. Jahrhunderts mit ihren Neigungen zu und Versuchungen durch Extravaganzen, Extreme und Totalitarismen unterscheidet.863
Ergänzende Gegensätze – Romano GUARDINI Romano GUARDINI kam 1923 von Bonn nach Berlin auf den Lehrstuhl für Religionsphilosophie und katholische Weltanschauung an der Friedrich-Wil854 855 856 857 858 859 860 861 862 863
Ebd., 254. Ebd. Ebd., 255. Ebd., 253. Ebd., 254. Ebd. Ebd., 255. Ebd. Ebd., 256. RUSTER thematisiert im Vorwort zur 2. Auflage seines Buches von 1994, dass die „antimoderne Grundoption des Katholizismus“ eine „sehr große Spannweite“ in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg aufweise und geradezu „avantgardistisch im Hinblick auf die moderne, totale Religion des Marktes, des Konsums und des Kapitals“ (RUSTER, Thomas, 1997, 12) sei.
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helms-Universität und erlangte bald große Popularität weit über das katholische Milieu hinaus.864 1918 war Vom Geist der Liturgie und 1922 Vom Sinn der Kirche erschienen, die Bücher setzten einen wichtigen Maßstab für den Aufbruch der katholischen Kirche im Deutschland der Nachkriegszeit. 1920 war GUARDINI erstmals Gast des Quickborn auf der Burg Rothenfels gewesen. In den Jahren 1926 bis etwa 1929 war es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen GUARDINI und den beiden jüngeren Mitarbeitern EMONDS und vor allem SCHWARZ gekommen, wenn es um die redaktionelle Ausrichtung der Schildgenossen ging. SCHWARZ war mit EMONDS der Überzeugung, dass die Zeitschrift zu vergeistigt und damit zu wenig in die widersprüchlichen Auseinandersetzungen der Gegenwart eingebunden sei.865 Anlässlich einer Redaktionskonferenz im Sommer 1926 wurde Kritik an GUARDINI laut, die er in einem Brief an den Mitherausgeber und Burgkaplan Josef AUSSEM folgendermaßen zusammenfasste: „Es komme heute nicht so sehr darauf an, gegenständlich Richtiges und Wertvolles zu sagen, sondern das Sagen müsse aus einem Tun kommen, oder doch aus der erlebten Notwendigkeit eines solchen und auf ein Tun führen.“866
SCHWARZ habe in seiner „zeitweisen harten Kritik jene Unmittelbarkeit“867 an ihm vermisst, die politische Folgen einbezieht. SCHWARZ und EMONDS unterschätzten ganz sicher nicht den Wert und die Qualität der religiösen Essays GUARDINIs für die Zeitschrift, aber ihnen war klar, dass „Gemeinschaftlichkeit“ nicht unbedingt zur „geistigen Struktur Romanos“868 passe. Gerade die Unterschiedlichkeit von SCHWARZ und GUARDINI hat das geistig-gedankliche bzw. intellektuelle Format der Schildgenossen geprägt.869 Grundhaltungen des Glaubens in einer theologisch-philosophischen Zusammenschau von Tradition und Neuem zu sehen, verdankt die Zeitschrift vor allem GUARDINI, der Vorabdrucke aus seinen Büchern, Vorträge und Aufsätze vorwiegend der Zeitschrift überließ.870 GUARDINI hatte die einmalige Gabe, sein Denken und Schreiben aus der Gegenwart heraus mit Vergangenem und, 864 865 866 867 868 869 870
Vgl. HÖHLE, Michael (2010/2011), 49ff. Vgl. GERL, Hanna-Barbara (1985), 196f. Brief von GUARDINI an Josef Aussem vom 12.3.1928 (Archiv Burg Rothenfels); zit. n. GERL, Hanna-Barbara (1985), 197, Anm. 104. GERL, Hanna-Barbara (1985), 197. Brief von SCHWARZ an AUSSEM vom Dezember 1927 (Archiv Burg Rothenfels); zit. n. GERL, Hanna-Barbara (1985), 197. GERL merkt an, dass beider Begabung zu Humor zum Verständnis – bei allen Unterschieden – nicht unwesentlich beitrug. Vgl. GERL, Hanna-Barbara (1985), 199. GUARDINI und SCHWARZ dachten nach 1945 daran, die Schildgenossen neu zu beleben. In diesem Zusammenhang schreibt GUARDINI an SCHWARZ am 1.5.1947: „Deine Formulierung, wir sollten die Zeitschrift wiederum auf eine absichtlose Christlichkeit stellen‘, trifft genau das, worauf es ankommt. [...] Jene Wesentlichkeit zum Sprechen zu bringen, die nicht nur aus dem Heute, sondern auch aus dem Gestern und aus dem Ewigen redet.“ (Zit. n. GERL, HannaBarbara, 1985, 203.).
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wie er sagt, dem Ewigen zu verbinden. Vielleicht ist es das, was dazu führte, dass ein großer Teil seiner Texte bis heute trägt und Leser auf immer wieder neue Weise anzuregen in der Lage ist. RUSTER zitiert zum Beleg für diese Nachhaltigkeit aus einem Aufsatz GUARDINIs von 1930 Folgendes: „Je mehr deutlich wird, dass die Welt endlich ist, je tiefer sie entzaubert wird; je nackter die Weltwirklichkeit hervortritt, [...] desto mehr wird der Glaube wirklich Glaube; nackter Glaube.“871 RUSTER schreibt in einem Kommentar über die radikale Botschaft vom „nackten Glauben in nackter Weltwirklichkeit“: „Guardini ist zu einem christlichen Denker in einer religionslosen Zeit geworden, ein Denker der Moderne. Die Verinnerlichung der Kirche, die er zur Rettung ihrer Autorität und ihrer Bedeutung für die Menschen statuiert hatte, führte ihn zu dem, wovon Kirche lebt: zum Glauben. [...] Der innere Glaubensbereich, in dem die Seele erwacht, wird neu entdeckt; er steckt voll tiefer Bedeutungen. Was immer sonst geschieht, ist ohne Belang. Es bedurfte eines Mannes vom Format Guardinis, um diesen Ansatz bis zu seinem Ende durchzudenken. Statt der Kirche war nun der Glaube in den Seelen erwacht.“872
Antipodisch, um nicht zu sagen feindlich gegenüber GUARDINI, verhielt sich in diesen Berliner Jahren ganz besonders Carl SONNENSCHEIN. Bei seinen Angriffen auf die Person GUARDINIs ging es wahrscheinlich eher um Angriffe auf die Jugendbewegung, als deren Repräsentant ihn SONNENSCHEIN sah. Für ihn war er nach THRASOLT „Haupträdelsführer der Jugend“, der „Urheber der blassen Intellektualisierung, der alles ‚problematisch‘“ ist, die sich einen „Sport aus ‚Zerrissenheit‘ und ‚moderner Kompliziertheit‘ machen“873. Für GUARDINI hingegen resultierte die strikte Haltung SONNENSCHEINs aus dessen Fremdheit gegenüber der modernen Gesellschaft und ihrer Brüchigkeit. SONNENSCHEIN könne nur mit ehernem Standpunkt auf die Situation der Katholiken in der Stadt Berlin reagieren: „Wir sind in einer belagerten Stadt darin gibt es keine Probleme, sondern nur Parolen“874, lautet nach GUARDINI die Formel SONNENSCHEINs. GUARDINI hält sie für falsch: „Man kann Probleme nicht verabschieden; wer sie empfindet, muß sich ihnen stellen, besonders wenn er für das Geistige verantwortlich ist.“875 Mit seinen italienischen Wurzeln und als sensibler Einzelgänger war und blieb ihm der Berliner Katholizismus erklärtermaßen fremd.876 GERL stellt heraus, was bei GUARDINI unter „Katholischsein als geistige Form“877, als Raum geistig-religiöser Sinnstiftung zu verstehen ist: „Daß die Kirche alle Vorläufigkeiten des ‚Erlebens‘ immer erst
871 872 873 874 875 876 877
GUARDINI, Romano (1930), 497f.; zit. n. Ruster, Thomas (1997), 196. RUSTER, Thomas (1997), 196f. THRASOLT, Ernst (1930), 336. Zit. n. GERL, Hanna-Barbara (1985), 295. Ebd. Vgl. HÖHLE, Michael (2010/2011), 52ff. RUSTER, Thomas (1997), 390.
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durch die freimachende Form übersteige, verhinderte religiöse Übertreibungen und sektiererische Neigungen.“878 Im Zusammenhang mit einer Aussprache über das Verhältnis von „Jugend und Autorität“879 innerhalb der katholischen Jugendbewegung, antwortet GUARDINI: die Frage nach der „gefährdeten Autorität sei nur zu einem kleinen Teil Frage der unbotmäßigen Jugend, zum größeren Teil sei sie die Frage der Autorität, die ihre Autorität mißbrauche“880. GUARDINI sollte es damals gelingen – gerade durch seine Wertschätzung von „Erziehung zur Form, zur objektiven Institution und ihren erprobten Überlieferungen“881 – den starken Gefühlsaufbruch, der dieser Bewegung eigen war und ihr diese Sprengkraft verlieh, in katholischen Bahnen zu halten, sie sozusagen zu „katholisieren“882. Das gelang ihm vielleicht eher intuitiv und weniger auf intellektuellem Weg oder mit strategischer Absicht. Die Burg Rothenfels und der Berliner Lehrstuhl hatten ihm eine institutionelle Grundlage verschafft, die ihm Gestaltungsfreiheit ließ. Von einem kleinen Kreis enger Vertrauter unterstützt, versuchte GUARDINI im Berlin der Zwischenkriegszeit eine neue, ungewohnte Balance im spannungsgeladenen Verhältnis von Alt und Neu im Katholizismus auszuloten. RUSTER bringt dieses Bemühen auf den Punkt, wenn er feststellt, dass es GUARDINI gelang, die „Erstarrung der überkommenen Kirchlichkeit aufzubrechen und dennoch katholisch zu bleiben“883. Auf der Burg Rothenfels hatte GUARDINI eine Jugend kennengelernt, die auf der Suche nach Selbstbestimmung und innerer Wahrhaftigkeit war. Gerade mit Blick auf die Sehnsüchte dieser aufbrechenden Jugend hatte er über den Autoritätsgedanken im Katholizismus nachgedacht. Dies war GUARDINIs Reaktion auf den zunehmenden Subjektivismus in der modernen Gesellschaft. Hier hatte gerade die katholische Kirche etwas gegen eine zunehmende Selbst-Überforderung zu bieten. Mit seinem Wirken fand GUARDINI eher bei Laien als bei Kirchenoberen Zuspruch und Anerkennung.884 Letztere argwöhnten, er könne das Christentum intellektualisieren und dabei möglicherweise auf eine Art Kulturphilosophie reduzieren. Schon 1922 war einer der berühmtesten und für die kommenden 878 879
880 881 882 883 884
GERL, Hanna-Barbara (1985), 176. Es ging um eine Auseinandersetzung um die Broschüre Das katholische Berlin, die Redaktion lag in den Händen SONNENSCHEINs. Es fehlten in der Ausgabe der Dominikaner Franziskus STRATMANN, Repräsentant des katholischen Pazifismus in Deutschland, und GUARDINI mit seinem Berliner Lehrstuhl für katholische Weltanschauung, beide waren weit über Berlin hinaus bekannt. Wahrscheinlich passte SONNENSCHEIN „die ganze Richtung“ nicht und möglicherweise befürchtete er auch Konkurrenz im Berliner Katholizismus. Vgl. THRASOLT, Ernst (1930), 335f. Ebd., 336. GERL, Hanna-Barbara (1985), 176. Vgl. RUSTER, Thomas (1997), 85. RUSTER schreibt genauer: sie zu „‚katholisieren‘ und ihr dennoch die Aufbruchsstimmung zu erhalten“ (ebd.). RUSTER, Thomas (1997), 185. Vgl. RUSTER, Thomas (1997), 186, Anm. 19.
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Aufbruchsjahre programmatisch wirkenden Aufsätze GUARDINIs in Hochland erschienen: Das Erwachen der Kirche in der Seele885. Der Text beginnt mit einem für die damalige Zeit spektakulären Satz: „Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen.“886 Seit Beginn der Neuzeit, so GUARDINI, gehöre Religion zunehmend in den „Bereich des Subjektiven“887. GUARDINI nennt seine Zeit eine Zeit des Aufwachens zur Wirklichkeit und fügt hinzu: „auch zur metaphysischen Wirklichkeit“888. Darunter versteht er Folgendes: „Ich glaube, keiner, der nicht eine bereits früher eingenommene Stellung halten will, keiner, der in der Zeit steht oder ihr vorauslebt, zweifelt mehr im Ernsten an der Wirklichkeit der Seele. [...] Und ebenso selbstverständlich ist Gott. Die ganze okkultistische und anthroposophische Strömung – an sich so unerfreulich – ist ein Beweis, wie stark dies metaphysische Wirklichkeitsbewußtsein bereits ist. Ihr gegenüber haben wir sogar die Aufgabe, die Anschauungen von Seele und Gott in reinlicher Geistigkeit zu halten und anderseits den erfahrbaren Dingen ihr Recht zu lassen.“889
Die Kirche spiele dabei eine wesentliche Rolle, die ihr in diesem Ausmaß vielleicht gar nicht bewusst sei: Sie sei es, die der Entgrenzung subjektiven Empfindens Einhalt gebieten könnte. Die „religiöse Gegenständlichkeit, die Kirche, war für den einzelnen vor allem die Regelung dieses eigentlichen religiösen Gebietes, eine Sicherung gegen die Unzulänglichkeiten der Subjektivität“890. Sie, die Kirche, sei in diesem Sinn mit Beginn der Neuzeit der „große Wellenbrecher im Strom geistiger Moden“891 gewesen und müsse dies auch bleiben, ohne deshalb antimodern zu sein oder sich ausschließlich auf Tradiertes zu berufen. GUARDINI hat nach GERL die Kirche in diesen Jahren „als den unvermuteten Garant der gesuchten Freiheit, als unglaubliches Vermitteln, als spannungsgeladenen Reichtum entfernter Pole“892 gesehen. Kirche sei „in seiner Erfahrung jener Ort, wo die Autorität zur Freiheit heranbildet und der Gehorsam zur Selbständigkeit führt: zwei verwandte Paradoxe, die er in seiner Sprache ‚ergänzenden Gegensätze‘ nennt“893. GUARDINI versteht darunter: „Mit
885 886 887 888 889 890 891 892 893
GUARDINI, Romano (1922). Ebd., 257. GUARDINI versteht dies in Differenz zum Mittelalter. Mit der Neuzeit trete „das gesamte Leben in die Reflexion, auch das Leben des Glaubens“ (GUARDINI, Romano, 1928, 216). GUARDINI, Romano (1922), 260. Ebd. Ebd., 257. GUARDINI, Romano (1922a), 67. GERL-FALKOVITZ, Hanna-Barbara (2010), 125. Ebd.
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Kraft das eine zu ergreifen heißt, unerwartet das andere als Geschenk (nicht als Forderung) mitzuerhalten.“894 Für HÖHLE resultiert GUARDINIs Denken aus dessen „Zwischendasein“895, gemeint ist ein besonderes Verhältnis zwischen Wissenschaft und Leben. GUARDINI schreibt: „Und mir scheint, meine Aufgabe sei, zu denken und zu leben zugleich; beiden zugewandt, beides verstehend, und zwischen beiden zu vermitteln.“896 Seine Vorlesungen waren eine „lebendige Zwiesprache mit christlichen Gestalten oder mit Gestalten, die am Rande des Christentums standen“897. So wurden DANTE, MONTAIGNE, PASCAL, KIERKEGAARD, HÖLDERLIN und RILKE, „in diesen Jahren lebendig“, weil aus „Räumen gesichtet, die hinter dem Akademischen liegen“898, schreibt GERL. „Katholizität und Weltoffenheit schlossen sich nicht mehr aus“899, sondern sind vermittelt durch einen reflektierten Glauben, „dessen ständige Leistung darin besteht, im Tragen von Zweifeln auszuhalten“900, und zwar „aus einer sehr modernen Katholizität heraus“901. Der Glaube in der modernen Gesellschaft, der durch Verlusterfahrungen gekennzeichnet ist, muss subjektiv als Sinnstiftung im seelischen Bereich angesprochen und vermittelt werden. Das gelingt durch das spezifisch Katholische – dessen geistige Form, die über einen einmaligen Formenreichtum mit großer Tradition und ausgeprägter Symbolik verfügt. Deren moderne, „nackte Form“ – das meint ohne historisierendes noch zeitgeistiges Beiwerk – sollten im Sinne GUARDINIs „als sichtbare Zeichen unsichtbarer Gnade“902 verstanden werden.
Stadtraum, Sakralraum, Gebet – Rudolf SCHWARZ Der Blick von Rudolf SCHWARZ (1897-1961)903 auf die Stadt ist für die Zeit seines Wirkens ähnlich singulär wie der von EMONDS. SCHWARZ ist seit 1926, zusammen mit GUARDINI und Joseph AUSSEM, Herausgeber von Die Schild894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
Ebd. HÖHLE, Michael (2010/2011), 40. Aus dem Brief GUARDINIs an Josef WEIGER v. 24. 10. 1913; zit. n. HÖHLE, Michael (2010/2011), 40. GERL, Hanna-Barbara (1985), 290. Ebd. GERL-FALKOVITZ, Hanna-Barbara (2010), 125. GERL, Hanna-Barbara (1985), 290. GERL-FALKOVITZ, Hanna-Barbara (2010), 125. GUARDINI, Romano (1933), 6. SCHWARZ, Rudolf wurde 1897 in eine Familie aus dem Rheinland, die in Straßburg lebte, geboren. Der Vater war dort Direktor des humanistischen Gymnasiums. Nach dem Krieg leitete SCHWARZ die Generalplanung beim Wiederaufbau der Stadt Köln, er war u. a. der verantwortliche Architekt für den Wiederaufbau des Wallfraff-Richartz-Museums und des Gürzenich. Eine weitere bekannte Arbeit von SCHWARZ ist der Wiederaufbau der Paulskirche in Frankfurt am Main.
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genossen. Nach seiner Promotion an der Technischen Hochschule BerlinCharlottenburg im Jahr 1923 wurde SCHWARZ Meisterschüler des Architekten Hans POELZIG.904 Erschüttert vom Ersten Weltkrieg hatte SCHWARZ zunächst ein Studium der katholischen Theologie begonnen, war zwar nach einem Jahr zur Architektur gewechselt, blieb jedoch Gasthörer an der Philosophischen Fakultät. Von 1925 bis 1927 arbeitete er in einer Ateliergemeinschaft mit dem Kirchenbaumeister Dominikus BÖHM905 und war von 1927 bis 1934 Direktor der Aachener Handwerks- und Kunstgewerbeschule, von 1931 bis 1934 gehörte er zum Vorstand des Deutschen Werkbundes. Zu seiner Zeit und vor allem nach 1945 als erklärter Einzelgänger bisweilen unterschätzt, ist SCHWARZ heute als Architekt einer anderen Moderne906 anerkannt. Es ist für seine Arbeit nicht unerheblich, dass er offensichtlich ein sehr religiöser Mensch war. SCHWARZ baute bis 1945 drei Kirchen,907 nach 1946 hat er 28 Kirchen entworfen und die Bauten selbst ausgeführt.908 Die erste Kirche, die er 1930 baute, war St. Fronleichnam in Aachen, mit ihr wurde SCHWARZ als Architekt schlagartig berühmt: „Dieser strenge Bau in einem Aachener Arbeiterviertel, bestimmt für großstädtisches Gottesvolk auf seinem einsamen Weg […] sei das ‚Kompromißloseste, was es zur Zeit gibt‘“909, zitiert BECKER. 1928 veröffentlicht er in Die Schildgenossen neben einigen Modellen einen kurzen Text zum Entwurf einer kreisrunden Pfarrkirche910. Dabei steht „der Altar […] genau im Mittelpunkt des umzirkten Raums. Um die Priester und Diakonen steht das Volk in […] konzentrischen Ringen […]. Durch diese ringförmige Stellung wird Gott geehrt, der mtten im Volk ist und im Herzen der Welt, also der nahe Gott. Es ist das eine besondere Art, Gott zu sehen in der Mitte von Dingen, die konzentrisch um ihn herumliegen; sie hat früher zu den großen Kuppelbauten Veranlassung gegeben, die aber wohl für uns kein rechtes
904
905
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909 910
Hans POELZIG (1869-1936), angesiedelt zwischen neuem Bauen und Heimatstil, gehört neben Walter GROPIUS, Bruno TAUT und Ludwig MIES VAN DER ROHE zu den Großen der klassischen Moderne in der Architektur. Bekannte Gebäude sind in Berlin das Haus des Rundfunks in der Masurenallee und das Wohnhaus in der Weißenhofsiedlung, Stuttgart. Vgl. SCHIRREN, Matthias [Hrsg.] (1998). Dominikus BÖHM (1880-1955), 17 Jahre älter als Rudolf SCHWARZ, gehört mit SCHWARZ zu den renommiertesten Vertretern einer gemäßigten Moderne in der Architektur weit über Deutschland hinaus. Vergleichbar mit SCHWARZ waren auch BÖHMs Sakralbauten inspiriert von der Liturgischen Bewegung. Berühmt sind die sog. Notkirchen, im und um den Ersten Weltkrieg erbaut. Bekannt sind u. a. die niederländische Benediktinerabtei bei Vaals (1921/23) und St. Engelbert in Köln (1930/32). Vgl. VOIGT, Wolfgang; FLAGGE, Ingeborg [Hrsg.] (2005). Vgl. den Untertitel von PEHNT, Wolfgang (1997). Vgl. BECKER, Karin (1981), 157. Nach seinem unerwartet frühen Tod 1961 hat seine Witwe Maria SCHWARZ weitere Entwürfe von Kirchbauten ausgeführt bzw. vollendet. Dazu gehörte u. a. auch die Kirche St. Raphael in Berlin-Gatow, die fatalerweise im Jahr 2005 abgerissen wurde. BECKER, Karin (1981), 157. SCHWARZ, Rudolf (1928b).
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Sinnbild sein können, weil sie das andere, die ‚Transzendenz‘, nicht kennen. Hier in diesem Entwurf wird also versucht, beides miteinander zu vereinigen“911.
Abb. 8: Rudolf SCHWARZ: Heiliger Ring (1938)
Einige Jahre später stellt er die Idee einer kreisrunden Anordnung des Kirchenvolkes um den in der Mitte stehenden Altar in seinem Buch Vom der Bau der Kirche ausführlich dar.912 Man könne heute nicht mehr mittelalterlich bauen, schreibt SCHWARZ: „Wir wissen tief im Herzen, was die feierlichen Worte der alten Dome bedeuten, und es gelingt uns doch nicht mehr als das, was es war.“913 Kirchenneubauten sollen schlicht sein und die Menschen darin werden zu einer ihrer Baustoffe. Der ganze Bau „geht vom Altar aus. Christus ist in der Mitte und die Menschen ‚stehen darum‘. Auch das Licht müßte von dort 911 912
913
Ebd., 263. Das Buch erschien zuerst im Jahr 1938 und liegt hier in der zweiten Auflage von 1947 vor. GUARDINI schreibt über das Buch: „So ist es nicht leicht zu lesen. Vielleicht irre ich mich aber auch.“ (GUARDINI, Romano, 1947, o. S.). SCHWARZ, Rudolf (1947), 5.
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ausgehen“914. Die Gläubigen sind in diesem Entwurf vernetzt, sie sehen einander und doch ist ihr Blick immer auf den Altar konzentriert: „Die Blicke, die an sich überallhin gerichtet werden können, sammeln sich in dem Altar als in dem allen gemeinsamen Blickpunkt. Das Netz zieht sich nach der Mitte zusammen und verformt sich zum Stern.“915 Sein theologisches Programm verortet Christus inmitten der feiernden Geminde: „Wenn er verspricht, er wolle der Menschen Mitte sein, dann sagt er, er wolle sie schon ganz vorher versammeln, er wolle ihren Ring binden, er wolle ihnen eine heilige Heimat bezirken, und das Licht wolle er sein, das jeden Menschen erleuchtet, der in dieser Welt ist. Er wolle das Land segnen und eine neue Welt über ihm gründen und sie als neue Sonne bis an die äußersten Grenzen erhellen.“916
Für SCHWARZ wird dieser Zentralbau von einer Kuppel umwölbt, die sich von den nichtchristlichen Zentralbauten unterscheidet: „Für den weltlichen Bau ist die Kuppel das Ende, die dritte Gewalt, die von außen die Welt begrenzt und bewirkt; für den christlichen ist sie Gottes anderer Ort. Denn Gott ist auch so, wie die Kuppel ihn zeigt: Endgültig entzogen, ungreifbar, unendlich außerhalb, vollendete Hohlform, der Morgen der heiligen Welt und ihr Abend, Aufgang und Untergang, ihr Tag und ihre Nacht, Ursprung und Tod.“917
Der Spiegel schreibt 1953 in einem Artikel zum modernen Kirchenbau, dass es „seit den Anfängen der christlichen Baukunst keinen Kirchenbaumeister von Rang [gibt], der in seinem Leben nicht wenigstens einmal am Zentralbau gescheitert wäre“918 und bescheinigt dem Buch von SCHWARZ nur begrenzte Breitenwirkung. Es ist also nicht erstaunlich, dass er in der Auseinandersetzung von Kirche und Moderne in den binnenkatholischen Debatten eine herausragende, wenngleich auch die Rolle eines Außenseiters eingenommen hat. Wie viele andere Architekten dieser Umbruchsjahre war auch SCHWARZ ein schreibender Architekt.919 Der Architektur- und Kunsthistoriker Wolfgang PEHNT merkt an, dass SCHWARZ mit dem Beginn seiner Freundschaft zu Romano GUARDINI zum Architekturschriftsteller wurde.920 Seine Schriften hatten allerdings – auch 914 915 916 917 918 919
920
Ebd., 23. Ebd., 25. Ebd., 36. Ebd., 38. GEOMETRIE (1953), 34. SCHWARZ gehört als Architekt zur Generation von Otto BARTNING, Egon EIERMANN, Hans SCHWIPPERT, Dominikus BÖHM; zu seinen Lehrern gehörten die Architekten Heinrich TESSENOW, Hermann MUTHESIUS, Hans POELZIG. Schreibende Architekten waren außerdem u. a. Walter GROPIUS, Bruno TAUT und Ludwig MIES VAN DER ROHE. Vgl. PEHNT, Wolfgang (1997), 44. Demnach sollen sowohl die Entwürfe von Kirchen als auch von Sakralgegenständen durch Texte GUARDINIs angeregt worden sein. PEHNT spricht von einer „Umsetzung von Guardinis Vorstellungen“ (ebd., 47).
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bei gebildeten Katholiken – wenig Resonanz. PEHNT, der sich seit vielen Jahren für eine Einordnung von SCHWARZ in die Architekturgeschichte der Moderne einsetzt, schreibt: „Schwarz verfügte über einen besonderen Ton.“921 Seine Sprache sei nur „scheinbar einfach“ gewesen, sie sei „vielmehr anspruchsvolle Rede. Der Autor weiß sich in der Verantwortung. Seine Maßstäbe nimmt er aus einem im weiteren und im wörtlichen Sinne religiösen Denken. Er ist auf eine Ordnung der Werte bezogen, die für Schwarz selbstverständlich war, auch wenn er wußte, daß sie es für andere nicht ist. Die metaphysische Dimension drückt sich in der Sprache aus. Er benutzt sie geradezu als Erkenntnismittel, indem er ihren Wurzeln nachgeht, ihren Wörtern einen anderen Sinn abfragt, als sie im alltäglichen Gebrauch bieten. […] Zusammen mit der Geste der Zuwendung an den Leser entsteht der Eindruck eines fast pastoralen Sprechens. Einer, der von Ahnungen in den Gang der Dinge erfüllt ist, teilt seine Vermutungen und Hoffnungen seiner vorgestellten Gemeinde mit“922.
1927 erscheint in Die Schildgenossen unter dem Titel Großstadt als Tatsache und Aufgabe923 erstmals ein Text von SCHWARZ zum Thema Stadt:924 „Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Großstadt gesehen werden müßte, wenn ihre Neuformung und damit eine Überwindung des gegenwärtigen Notstands gelingen soll. Soll Stadt als Aufgabe bewältigt werden, so muß sie zuerst als Tatsache anerkannt sein. Das ist sie heute meistens nicht.“925
Sein Aufsatz enthält wichtige, zu dieser Zeit einzigartige Thesen für die Wahrnehmung der Moderne aus katholischer Sicht. Mit seiner Position bewegt er sich zwischen einer radikalen Moderne – die zum Beispiel beim modernen Städtebau die Form absolut setzt und Traditionen negiert – und den romantisierenden Vorstellungen von einer organischen Stadt, die das irritierend Neue mit alten Formeln beschwört, Verwurzeltes konserviert und Phänomene der Krise durch dekorative Zutaten verkleinert. SCHWARZ nennt dies „Humanisierungsversuche“, die das „wahre Gesicht der Großstädte“, deren technische Konstruktion wie proletarische Massen durch „aufgedonnerte Fassaden und Grünplätze“926 verdecken wollen. SCHWARZ meint hingegen, die Großstadt müsse, „ganz allgemein gesprochen, ein Werk“ genannt werden: „Das heißt, sie verfestigt sich aus menschlicher Zeugungskraft.“927 Aus ihrer Werknatur resultiere ihr besonderer Charakter, nämlich, daß sie künstlich und nicht natürlich sei. „Man macht ihr das oft zum Vorwurf“928, schreibt er: 921 922 923 924 925 926 927 928
PEHNT, Wolfgang (1997), 10. Ebd. SCHWARZ, Rudolf (1927). Der erste Text, den SCHWARZ in Die Schildgenossen veröffentlichte, erschien 1923/24 unter dem Titel Über Baukunst. SCHWARZ, Rudolf (1927), 301. Ebd., 305. Ebd., 301. Ebd.
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„Wer aber einer Großstadt vorwirft, sie sei unnatürlich oder unorganisch, dem ist sie überhaupt noch nicht Tatsache; versucht er sie zu ändern, so verdirbt er sie zu verfälschter Natur mit belanglosen kleinen Dekorationen (‚Heimatkunst‘). Kategorien, die die Tatsache wahrhaft begreifen, müssen Werkkategorien sein, die Methoden, die die Aufgabe meistern, müssen produktive Methoden sein.“929
Heimatkunst und Heimatschutz sind für SCHWARZ indessen lediglich unglückliche Versuche, „das bedenklich Neue durch alte Formeln zu beschwören. ‚Heimatschutz‘ will die alte, ehemals tief verwurzelte Heimat mit Hilfe der Polizei konservieren oder Hochhäuser sollen geweiht werden, indem man ihnen einen gotisch sakralen Mantel umhängt oder Tempelgiebel und Gesims“930.
Das sind harsche Urteile über das Bemühen, das Technische der modernen Bauweise mitsamt der neuen Materialien Beton, Metall, Glas zu kaschieren. Lediglich „Beschwörung“ nennt SCHWARZ die „humanistischen“ Versuche, „das wahre Gesicht der Großstädte, technische Konstruktionen und proletarische Massen, durch aufgedonnerte Fassaden und Grünplätze zu verdecken und die Stadt zum Bourgeois zu machen, der unangenehme Dinge hinter der geeigneten Ideologie verbirgt“931.
Zum Werkcharakter von Stadt gehöre, so SCHWARZ, vielmehr das Begreifen, dass „Großstadt Ganzheit“932 sei: „Ihre Teile sind aufeinander bezogen und können für sich allein nicht bestehen. Hierher kommt auch das Mißverständnis, sie sei Organismus. Freilich führt der Vergleich weit, hat sie doch mit dem Organismus gemeinsam den Aufbau aus Zellen und Adern, vorab auch die Bildung eines Hauptes, den Stadtkern. Mit ihm hat sie gemeinsam, daß sie von einem Leben durchströmt ist. Denn das einheitliche Werk ist Ausdruck der Gemeinde als überpersönlicher Einheit. Man kann in diesem Sinne von der Seele einer Stadt sprechen.“933
Verständlich wird, wie unmittelbar SCHWARZ die Stadt als lebendigen Organismus versteht, wenn er von ihrem Werkcharakter spricht. Und SCHWARZ nähert sich im Folgenden der Stadt noch unmittelbarer, beinahe persönlich: „Nun ergibt sich leicht, wie man es anfangen muß, um Stadt als Tatsache zu gewahren. Man muß sie als Ganzes, sozusagen mit einem einzigen liebenden Blick umfassen. Man müßte die große Stadt so anschauen, wie man einen Freund betrachtet, oder doch so, wie der gute Arzt oder Seelsorger seinen Kranken. Dazu gehört natürlich eine genaue Kenntnisnahme der Einzelheiten, seien es Wohnformen oder Industrien, Handels oder Bildungsstätten, Geschichte oder Wachs-
929 930 931 932 933
Ebd., 305. Ebd. Ebd. Ebd., 302. Ebd.
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tumstendenz, doch müssen die Einzelheiten in das Gesamtbild eingehen und sozusagen vergessen werden.“934
SCHWARZ geht es stets um Maß und Ordnung, er versucht, grundlegend zu sein. Sein Denken in Gegensätzen ist seiner Freundschaft zu GUARDINI zu verdanken. BECKER schreibt: „Er denkt in Ganzheiten, innerhalb derer er antithetisch verfährt. Das Gegensätzliche ist ihm Mittel, verschiedene Seiten oder Möglichkeiten einer Sache oder eines Problems gegeneinander abzugrenzen und einzuordnen, nicht aber auszuschließen. Die Ordnung von Gegebenheiten, ihr Stellenwert in der Gesamtheit, ist für ihn wichtiger, als eine eigene Position zu vertreten. Das heißt aber keineswegs, daß Schwarz auf Neutralität bedacht ist. Er hat vielmehr die Vorstellung, daß zur Realität viele Aspekte, oft widersprüchlicher Natur, gehören, die man nicht leugnen, wohl aber in eine Ordnung zueinander setzen kann. In seiner letzten Konsequenz ist dieses Denken ein hierarchisches. Für Schwarz ist die Welt sinnvoll geordnet und gestuft, wobei die Grenzen der Ordnungsstufen eingehalten werden müssen.“935
SCHWARZ beschäftigt sich in den 1920er Jahren mit dem Gegenstand Technik. Er sieht Technik in einen kosmischen Bezug als ein Teil der Ganzheit. Denn schließlich umfasst Technik in seinen Augen das ganze Leben – und meint „Kunst, Mensch und Ding“ zugleich: „Es ist viel darüber gesprochen worden, wie verschieden die lebensvolle Begegnung, sei es Welt oder Person, sein kann. Alles das gilt auch für die Begegnung mit der großen Stadt. Es gibt eine ganz oberflächliche Kenntnisnahme auf Grund von Plänen und statistischen Erhebungen; sie übersieht die Wirklichkeit der Stadt. Macht man sie zur Grundlage einer Formung, so bleibt das ein ganz äußerliches Denken von Bedürfnissen der Wohnung, der Erholung, des Verkehrs, eine Arbeit, die dem Bedarf, der irgendwoher kommt, einfach nachläuft und dabei nicht verhindern kann, daß die Stadt in ihrer Wirklichkeit entartet und untergeht.“936
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Ebd. BECKER, Karin (1981), 41f. Vgl. auch SCHWARZ in einem Text von 1924 in Die Schildgenossen: „Die Schau, die das Lebendige im Geformten wahrnimmt, wird wegen ihrer eigenartigen Tiefe leicht für das letzte Erlebnis gehalten, das dem Beseelten gegenüber möglich ist. Aber das ist sie noch nicht; Intuition ist noch keine Wesensschöpfung. Die Dinge sind unergründlich tief geschichtet und je mehr wir selbst aus Tiefen leben, desto mehr Tiefen antworten aus den Dingen. Das Maß der Schau richtet sich nach der Größe der Bereitschaft. Ein ganz großer Durchbruch zur Tiefe sei genannt: Der zur Schau, ob ein Ding gut oder böse sei, ob darin Gott oder Satan wohne; zur Schau wie sie sich dem Heiligen auftut. Doch auch hier sind die Welten geschichtet und beschlossen. ‚Vita beatifica‘ und ‚Vita beata‘ sind ins Unendliche gestufte Möglichkeiten des Lebens in Gott. Hier liegt auch der Sinn der großen sakramentalen Scheiden: Taufe, Geistempfängnis, Ehe, Weihe des Priesters, nämlich: solche Weiten zu öffnen. Gütige Weisheit der Heilsordnung bewahrt unreifes Leben, daß es nicht vor der Zeit in Tiefen dringe. […] Das Gesetz der Scheiden antasten heißt, das Leben gefährden.“ (SCHWARZ, Rudolf, 1924, 424. Hervorhebungen im Original). SCHWARZ, Rudolf (1927), 302.
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Würde eine Großstadt nur von außen betrachtet werden, wäre sie lediglich ein Bild des Schreckens, ihre Geschichte eine regelrechte Leidensgeschichte: „Mit klarem Blick gesehen, haben die großen Städte oft ein furchtbares Gesicht, aus dem untermenschliches, brutales, tierisches, mitunter ein dämonenhaftelementares, ein diabolisches Leben spricht, selten ein frohes, edles oder gar heiliges. Dazu sind die meisten Städte krank. Es gibt Städte, die geradezu physisch leiden, deren Geschichte ein einziges langes Siechtum ist, Städte mit parasitischen Auswüchsen, mit merkwürdigen Zerfalls- und Entartungserscheinungen.“937
Was den Menschen aus dieser Situation zum Handeln bewege, sei angesichts dieser Zerfalls- und Entartungserscheinungen pures Mitleid. Unter Mitleid versteht SCHWARZ aber nicht die „kleine Angelegenheit gerührter Philanthropen“, sondern „eine gewaltige, wahrhaft schöpferische Bewegung zur Welt hin, ein liebendes Hinabneigen zu einer Welt, deren Bosheiten und Krankheiten ohne Illusion gesehen werden. Wir denken hierbei auch nicht an jene berechtigten, aber engen Wehklagen darüber, daß in den Städten die Armen Not leiden; das Erbarmen mit der Seele der Stadt umfaßt freilich auch die Not der Dürftigen“938.
SCHWARZ geht davon aus, dass ein neues „Großstadtwesen“ entstanden ist, er nennt es die „moderne Verkehrsstadt“. Sie sei ein „neues, bewegliches und bewegtes Gebilde. […] Und die Stadt bewegt sich wirklich. Die Straßen werden zum Bett reißender Ströme, die ihre Ufer sprengen, sie werden breit und mehrgeschossig. Das Haus selbst wird bewegtes Gebilde mit Leitungen, Fluren und Aufzügen. Zugleich scheint eine merkwürdige Wandlung im Menschenbild selbst vorzugehen: die Serienwohnung wird Wirklichkeit und das ist doch wohl der Ausdruck dafür, daß etwas im Menschen Masse wurde“939.
Nun erleichtere der „offizielle Städtebau“ den Verkehr, er fördere Siedlung und Industrie, „eine ebenso praktische wie letztlich belanglose Arbeit, die mit wirklicher hoher Baukunst nichts zu tun hat. […] Über den Zeitschriften und Kongressen dieser Städtebauer liegt die ideenlose Langeweile des optimistischen Rationalismus“940. Grundlegender, weil nämlich die gesamte Stadt betrachtend, seien die „großen Versuche, die Stadt von Grund auf zu formen“941. SCHWARZ meint damit die Arbeiten von CORBUSIER, GROPIUS, NEUTRA und MAY, also die absolute Moderne der Gegenwartsarchitektur beziehungsweise des Städtebaus. Darunter versteht SCHWARZ: das „Bild der Maschine in guter Form“ zu verwirkli937 938 939 940 941
Ebd. Ebd. Ebd., 304. Ebd., 305. Ebd.
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chen oder die „Einzelzelle der Wohnung wie das Verkehrsbett der Straße“942 in Augenschein zu nehmen. Aber, so kritisiert SCHWARZ: „Mit der neuen Form allein ist noch kein Inhalt gegeben und auch kein Inhalt kritisiert; gerade die Inhalte, die Seele einer Stadt, wechseln aber erfahrungsgemäß schnell und unaufhaltbar. Diese formalistische Magerkeit äußert sich oft selber in der Sprache der Manifeste und Diskussionen dieser Richtung. Sie zeigen oft eine groteske Unterschätzung der europäischen Denkgewohnheit und werden dazu in der Sprache der Komintern geführt.“943
„Formalistische Magerkeit“ – SCHWARZ lässt also auch diese Lösungsversuche nicht gelten, er nennt sie die „gewagtesten und geistvollsten Experimente unserer Zeit“944, jedoch entsprächen sie einer Auffassung von Stadt als Ganzheit eher als die oben genannten Versuche, Neues hinter Fassaden des Alten zu verbergen. Ein Fehler sei und bleibe dennoch die „rein formale Einstellung dieser Richtung“945. Und SCHWARZ erwähnt außer den genannten Formalen noch die Modernen, die „in hübschen Utopien darauf hinwiesen, daß das Wesen der Stadt selbst einer Bekehrung bedürfe“946. Er denkt dabei wahrscheinlich an Bruno TAUTs Aufruf zum Bau einer Kathedrale.947 Das Unbehagen von SCHWARZ angesichts von Technokraten, Formalisten und Utopisten der Moderne ist, von heute aus gesehen, mehr als weitsichtig. Am ehesten ist SCHWARZ in diesen Jahren von der Lebensbewegung wegen ihrer Ernsthaftigkeit überzeugt; diese Lebensbewegung, die „ja auch Umkehr und Einkehr forderte und Menschen und Gemeinde von Grund auf ändern wollte. Sie hat sich zwar mit der Großstadt wenig befaßt, und wo sie es tat, da war es Gericht und Verurteilung“948. Die Lebensbewegung habe dadurch, dass sie „eine gewisse Rangordnung der Werte wieder einführte, die herrschenden Mächte einer scharfen Kritik unterzog und ihnen das Ende voraussagt, [...] doch wohl indirekt auf den Städtebau viel tiefer eingewirkt als man glauben möchte. Gerade die hoffnungsvollen städtebaulichen Versuche stehen oft unter dem heimlichen Wunschbild einer kommenden großen Bildung und Baukunst“949.
SCHWARZ weiß, wovon er spricht, denn er ist nicht der Autor, der Maßstäbe nur schreibend formuliert und begründet. SCHWARZ wird 1924 Burgbaumeister der Burg Rothenfels und wird dies bis 1940 bleiben. Das bedeutet für den Architekten oder Baumeister (diese Bezeichnung ist ihm die liebste): Er nähert
942 943 944 945 946 947 948 949
Ebd. Ebd., 306. Ebd., 305. Ebd. Ebd. Die gotische Kathedrale war erklärtermaßen Vorbild für Bruno TAUTs Stadtkrone. Ebd., 306. Ebd.
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sich seinem Wunschbild stofflich bzw. erprobt es realiter.950 Das macht die Arbeiten von SCHWARZ bis in unsere Zeit reizvoll. Seine Vorschläge und Lösungen gehen immer wieder von idealisierten Bildern aus und bleiben dennoch im Gegenständlichen, Stofflichen gebunden: „Es gibt aber auch Formen der Erkenntnis, die den Gegenstand wirklich durchschauen, Blicke, vor denen auch das Gewohnteste dasteht, als käme es das erste Mal zu Gesicht.“951 Das erinnert an die Kategorie des Augenblicks bei EMONDS.952 „Nun fragen wir, was zu tun sei? Was wirklich Not tut, das läßt sich noch nicht proklamieren. Denn erst müßten wir ja das zugleich quälende und berauschende Ereignis der neuen Großstadt in seiner Wirklichkeit sehen können. Wo aber sind die Hellsichtigen, die Lautern, die Unbeirrten, die Propheten?“953
Wer nach einer Lösung sucht, der müsse erkennen, wem die Großstadt in ihrer modernen Gestalt diene, „an wen sie glaubt, wem sie ihren Kult widmet“954. Schnell, zu schnell würde geurteilt. Zum Beispiel: „Die Wirtschaft habe sich an die Stelle Gottes und der Könige gesetzt, aber es ist zu bezweifeln, daß das stimmt. Zwar sind ja tatsächlich die Häuser im Stadtkern der Wirtschaft geweiht, doch was ist denn schließlich Wirtschaft? Ist das nicht auch Teil eines Größeren, das nachkommt? Trägt sie nicht Züge, die uns auf anderen Gebieten ganz unerwartet aufs Neue begegnen?“955
Die moderne Großstadt sei eigentlich ein Rätsel – denn sie strebe einem „ganz neuen Bild“ zu, und das sei „das Bild der Maschine“: „Man kann eine solche Stadt als einen einzigen, erschreckend unkomplizierten Motor betrachten, und diese Betrachtung hat in ihrer elementaren Einfachheit etwas Großartiges, aber auch etwas Unmenschliches an sich.“956
SCHWARZ spricht von „niedern Geistern“, „dunkeln Gewalten“; „neuen Despoten“, die in den „Greueln des letzten Krieges losgelassen waren“957. Die Großstadt erwecke den Eindruck, als ob „hier alle guten und schlechten Mäch-
950 951 952 953 954 955 956 957
Bis in unsere Gegenwart überzeugt die von SCHWARZ auf der Burg Rothenfels errichtete Burgkapelle. Ebd., 302. Vgl. EMONDS, Josef (1927a), 321. SCHWARZ, Rudolf (1927), 306. Ebd. Ebd. Ebd., 304. Ebd., 307. SCHWARZ kehrte mit einem, vom Charakter her eher philosophisch-mystischen Manuskript aus zweijähriger Kriegsgefangenschaft zurück, und entsprechend düster ist sein Blick auf die Geschichte, die eine Antwort auf „weltenerbauende“ und „weltenvernichtende Bitten“ gibt. „Das Böse läßt sich entwerfen und darf sein und dürfte doch nicht. Daß es sich aber mehrt und mit ihm die unendliche Sorge muß bedenken, wer die Erde entwerfen will, denn es gehört zu ihrer Wirklichkeit und er muß die Sorge auf sich nehmen.“ (SCHWARZ, Rudolf, 1949, 242).
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te in Streit geraten sind“958. Um zu begreifen, was genau er mit diesem Bild meint, muss man die SCHWARZsche Grundauffassung von „Werden und Vergehen“ in Betracht ziehen. „Die Struktur steht leer und die Inhalte kämpfen um ihren Besitz. Neben der Einsicht fehlt uns aber – und das ist viel schlimmer – die Tatkraft, jene Wirksamkeit in höherem Sinne, die Fähigkeit zur gründlichen Arbeit.“959
SCHWARZ fragt nach den Möglichkeiten zu – auch innerweltlicher – Errettung des Menschen. Er sieht in ihm ein Geschöpf Gottes mit einer zum Guten entwicklungsfähigen Substanz. SCHWARZ geht zugleich auch von der Existenz des Bösen in der Welt aus. Sehr konkret, beinahe befremdlich direkt, geht er mit Gut und Böse um. Wenn der Mensch, wie SCHWARZ meint, bildungsfähig ist, dann müsste auch Geschichte sinnvoll sein. Aber was heißt das angesichts der historischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs und einer zerrissenen katastrophalen Nachkriegsgeschichte – so die konkret erlebte Gegenwart von SCHWARZ? Der Zeitgenosse SCHWARZ ist souverän, ist modern, ist konservativ, ist Handwerker, ist Schriftsteller, ist Prediger, ist Beter960. Das zeigen seine Architekturauffassung wie die Form seiner Entwürfe, – mit der Einschränkung, dass seine Texte vordergründig zunächst einfach wirken – geht ihr prophetischer Gestus einher. SCHWARZ ist aber hin und wieder auch skeptisch: die Worte Krise und Zerstörung sind Worte aus Sprache und Bildern seiner Zeit, ihnen setzt SCHWARZ einen neuen (positiven) Begriff von Ordnung entgegen. Darum auch seine Polemik gegen den Historismus wie gegen den Brutalismus bzw. Nihilismus des Bauhauses. Sie missbrauchten Technik auch in einem ästhetischen Sinn. Die Neue Sachlichkeit, so SCHWARZ, verabsolutiere Technik mit einer Neigung zur Unmenschlichkeit. SCHWARZ hingegen will „retten“. Dies sei der Ort für die Verantwortlichkeit des Menschen. PEHNT schreibt: „Schwarz hat die Moderne anders verstanden als viele seiner avantgardistischen Zeitgenossen. Für sein Bauen hat er Begründungen gefunden, die es verdienen, neu gelesen und neu diskutiert zu werden. Er, der das Wort von der Neuen Sachlichkeit am liebsten durch den Begriff einer Neuen Dinglichkeit ersetzt hätte, suchte das Bauen von den Sachen her mit einem Bauen vom Denken und vom Schauen her zu verbinden. Das Wort seines Freundes Mies van der Rohe, die Architektur müsse nicht jeden Montag neu erfunden werden, war ihm aus der Seele gesprochen. Schwarz wollte eine Architektur, die Dauer hat und nicht der Mode folgt.“961
958 959 960 961
Ebd. Ebd., 307. Vgl. seine Werklehre des Gebets in SCHWARZ, Rudolf (1928). PEHNT, Wolfgang (1997), 8.
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SCHWARZ verkündet keine Wahrheiten. Er stellt Fragen, die auf Antworten warten. Seine religiöse Bindung läßt Spielraum. Sie ist ein Horizont, ein Vertrauen im letzten, vor dem die Suche nach dem rechten Tun stattfindet. SCHWARZ schließt seinen Text über die Großstadt: „Nüchtern und tatkräftig zu werden, die großen Aufgaben der Zeit groß und als Aufgaben zu sehen und, soweit es in unserer Kraft steht, zu sorgen, daß der Wille des Herrn geschehe.“962 Später nennt er, ebenfalls in Die Schildgenossen, unter dem Titel Werk in Not, die Großstadt „das größte Werk unserer Zeit“963. Er schreibt: „Gewiß entstand sie als ein Gebilde der Arbeit, und noch heute repräsentiert sie sich in ihren Turmhäusern. Konzerne, deren Aufgabe die wirtschaftliche Wohlfahrt zu sein scheint. Aber dieses Gebilde hat eine Entwicklung genommen, die durchaus nicht mehr wirtschaftlich ist und auch nicht mehr mit den Kategorien der Arbeit gedeutet werden kann. Die Gebäude und die Straßen wurden dynamische Gebilde, und die Menschen scheinen schließlich nicht viel mehr als irgendeine Substanz zu sein, die in diesen bewegt wird, eine Art von Blut, das durch die Adern des Verkehrs nach dem Stadtkern hinströmt und zu anderen Zeiten in die Wohnzellen zurückfließt. Scheint es nicht, als wüchse die ganze neue Stadt zu einer sehr einfachen Maschine aus, die nur mehr ein Ausdruck des Wunsches nach großen Maßen und Geschwindigkeiten wäre, zu einer zwecklosen Gestalt, deren überrationale Absicht einfach dahin ginge, in großer Bewegung zu sein? Zugleich mit dem neuen Gebilde wächst eine neue Angst, zeigt es doch bedenkliche und sehr unheimliche Gewalten offen am Werk, die eine große Katastrophe vorzubereiten scheinen. Man versucht ihrer durch ein neues Arbeitsethos und durch Rationalisierung des Unvernünftigen Herr zu werden, wo doch eine Art von ritterlicher Sitte nötig wäre, die lehrte, wie man groß sein kann und zu Macht und Ehre kommt, ohne sich zu verfehlen.“964
Was SCHWARZ unter dem Wunsch des Menschen nach „großen Maßen und Geschwindigkeiten“ versteht, sein Begriff von der „zwecklosen Gestalt“, die eine neue Art Schönheit verspricht, zugleich aber auch bisher ungekannte Ängste auslöst, hat er in dem ungewöhnlichen Buch Wegweisung der Technik965 von 1928 darzustellen versucht. Über seine Versuche, auf eine Moderne zu reagieren, mit Blick auf eine Bewegung von „Werden und Vergehen“, mit dem Bewusstsein von der Ankunft des Neuen in der Gegenwart, in der die „große geistige Überlieferung“ nicht ignoriert werden kann und auch nicht ignoriert werden darf, schreibt der Architekturhistoriker Winfried NERDINGER mit Blick auf Rudolf SCHWARZ im Jahr 2005:
962 963 964 965
SCHWARZ, Rudolf (1927), 307. Hervorhebung im Original. SCHWARZ, Rudolf (1930), 442. Ebd. Hervorhebungen im Original. SCHWARZ, Rudolf (1928c).
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„Der Versuch, die Moderne mit der Tradition zu verknüpfen, kam zu früh, die Zeit für eine Diskussion über dieses ebenso brisante wie problematische Thema war noch nicht reif.“966
Abb. 9: Rudolf SCHWARZ: Taufbrunnen Fronleichnamskirche Aachen (1930)
966
NERDINGER, Winfried (2005), 22.
SCHLUSS
Der Blick auf die fünf großen, überregionalen katholischen Kulturzeitschriften hat die Vielfalt des Katholizismus von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933 sehr deutlich zur Geltung gebracht. In ihrer Zeitgenossenschaft wurden Stimmen der katholischen Kirche vorgestellt, die ein unerwartetes Spektrum von Haltungen erkennen lassen: von ständisch-antikapitalistisch über kulturkonservativ-antidemokratisch, von völkisch-jugendbewegt bis bildungsbürgerlichjugendbewegt oder maßvoll modern. Die Älteste unter den Zeitschriften, Historisch-politische Blätter (18381923), folgt zunächst nicht ohne Anstrengungen und oft auch widerstrebend dem bürgerlich konservativen Konsens jener Zeit. Als Grundlinie dominiert ein konservativer Antikapitalismus, dazu gehören die Sehnsucht nach ständischer Gesellschaft und eine antidemokratische Grundhaltung, die ihren Hauptfeind in der modernen Massengesellschaft sieht. Der Katholizismus erscheint aus diesem Blickwinkel als „antimoderne Gegengesellschaft“1. Der Ultramontanismus hat die Kirche zu einer starken Bastion vereinheitlicht und Mauern gegen die Gefahren der Großstadt errichtet, die die „bergenden Sitten der Geburtswelt“ und die „religiös-soziale Kontrolle“2 zu lockern, wenn nicht aufzulösen drohen. Im Kulturkampf wird die „Kirchenloyalität auch der Halbliberalen wieder intensiviert“3. Es bildet sich ein katholisches Milieu heraus, das nach NIPPERDEY im preußisch-protestantisch dominierten Deutschen Reich Züge einer „katholischen Subkultur“4 trug, die sich durch Dichte und Intensität auszeichnete. Nach innen zeigt sich die Kirche vor allem autoritär, nach außen präsentierte sie sich zuweilen prächtig. Der historisierende Kirchenneubau im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den expandierenden Städten und neu entstehenden Industrieregionen ist nach Jahren des Kulturkampfs beeindruckend. In allen Dezennien des Modernisierungsprozesses sind es immer wieder Einzelne, die sich aus dem antimodernen Konsens zu lösen versuchen. Heute längst vergessene Außenseiter wie Franz X. WALTER, Heinrich RODY und Georg GRUPP, Autoren der Blätter, sehen die Ambivalenz moderner Kulturund Großstadtentwicklung. Gerade in der Großstadt berührten sich die „Gegensätze unmittelbar“, dass „ausgeprägter Atheismus auf der einen, völlige Hingabe an die Sache Gottes und der Kirche auf der anderen Seite“5 nebenei1 2 3 4 5
MAUTNER, Josef P. (2005), 233. NIPPERDEY, Thomas (1988), 22. Ebd., 23. Ebd. RODY, Heinrich (1904), 438.
412
SCHLUSS
nander existierten, schreibt RODY. Die Texte einiger dieser – wenn auch weniger – Autoren der Blätter füllen die Leerstelle, die entstand, als der antimoderne Konsens im deutschen Katholizismus am Ende des Kulturkampfs brüchig geworden war. Es sind vor allem gebildete Katholiken, die sich aus dem Konsens des Milieus lösen wollen, weil für sie Modernisierung nicht unbedingt ein Verfallsprozess bedeutet. Sie werden zu ersten Brückenbauern in die Moderne. Anton HEINEN und Carl SONNENSCHEIN, die hier vorgestellt wurden, stellen wichtige Persönlichkeiten im deutschen Katholizismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar. Sie geben mit ihrem Leben und Wirken eine katholische Antwort auf die Bedrängungen der Moderne und auf die sozio-kulturellen wie politisch-gesellschaftlichen Herausforderungen jener Jahre, gerade in den entstehenden Großstädten und dem damit einhergehenden Prozess der Urbanisierung. Für HEINEN steht vor allem die Bildung der Jugend mitsamt einem Verständnis für deren Wünsche und Nöte im Zentrum seiner Seelsorge und Schriften. Als Erwachsenenpädagoge schreibt er viel und populär zur Situation der Familie in Zeiten des Umbruchs. SONNENSCHEIN, man kann ihn eine Gestalt des Übergangs nennen, zeichnet sich durch eine besonders zeitgemäße Medienkompetenz aus, die man aus heutiger Sicht unter Agitation und Propaganda verbuchen könnte. Er ist dem Tempo und der Lautstärke in der Großstadt wie vermutlich kein anderer Mann der Kirche gewachsen. Er wird zur omnipräsenten Identifikationsfigur des Glaubens und dessen genialer Organisator, der in Berlin Stadien füllt. HEINEN und SONNENSCHEIN, beide Priester, haben ihre Wurzeln im Rheinland, sind auf jeweils eigene Weise großherzig und weltläufig und können auf die Nöte der Zeit und der Menschen direkt reagieren. Beide haben noch einmal das Milieu zu festigen versucht, der eine in Berlin, der andere im gerade entstehenden Ruhrgebiet. Die Jesuiten PRIBILLA und PRZYWARA (Stimmen der Zeit) reagieren sehr viel subtiler auf die Krisenhaftigkeit ihrer Zeit, sie sehen eine Lösung weniger in der Stärkung einer gefährdeten Glaubensbastion, sondern im Erkennen der Ambivalenz katholischer Gebundenheit und moderner Denkfreiheit. Sie gehen davon aus, dass der moderne Mensch allen technischen Errungenschaften zum Trotz ein „geistig Notleidender“6 ist. Sie suchen nach Ansätzen geistiger Wiedererweckung – ohne die alle Vereine „haltloser Überbau“7 bleiben würden, schreibt der Jesuit NOPPEL in den Stimmen. Angesichts der zunehmenden Zuspitzung durch die sich radikalisierenden gesellschaftlichen Gruppierungen in der Weimarer Republik setzen sie sich mit Nachdruck für katholische Besonnenheit und Nüchternheit ein. Mit „offenem Blick alle wertvollen Bestandteile der Zeitwissenschaft und Zeitkultur“ wahrzunehmen und eine theologische Sprache zu entwickeln, die „auf die stillen Fragen der heutigen Menschen un6 7
PRIBILLA, Max (1924), 269. NOPPEL, Constantin (1925), 119.
SCHLUSS
413
aufgefordert Antwort gibt“8, ist für PRIBILLA der adäquate Weg der Kirche in die Moderne. Einen anderen Weg mit demselben Ziel geht die Zeitschrift Hochland. Der verantwortliche Herausgeber Karl MUTH wird zwar dem Ende der Weimarer Republik keine Träne nachgeweint haben, er spürt jedoch, dass der Katholizismus des 19. Jahrhunderts dabei ist, vor allem in den expandierenden Städten, seine Überzeugungskraft aufs Spiel zu setzen. Seine über Jahrhunderte tradierte Zentralperspektive „funktioniert“ bei zunehmender gesellschaftlicher Unübersichtlichkeit nicht mehr. Diese Sichtweise deckt sich mit der des wilhelminischen Bürgertums. Künstler sind im ausgehenden 19. Jahrhundert die ersten, die in vieler Hinsicht hier neue Wege ausprobieren. Anders als in Stimmen der Zeit – mit intellektuellen, manchmal hoch komplex argumentierenden Autoren wie PRIBILLA und PRZYWARA – wird in Hochland zwar anspruchsvoll, aber doch für Nichttheologen geschrieben. Programmatisch für die Ausrichtung der Zeitschrift durch Karl MUTH ist die bestrebte Annäherung von Kirche und Kultur. Es werden neue Fragen gestellt, zum Beispiel danach, wie die Kirche in Zeiten aufkommender Unübersichtlichkeit reagieren und wie sie unter den Bedingungen der Moderne weiterhin Orientierung sein kann. Der Romanist Hermann PLATZ ist einer der profiliertesten Autoren der Zeitschrift. Er gehört zu einem Kreis katholischer Intellektueller, die als weltoffene Konservative nach Wegen aus der kulturellen und politischen Krise suchen, wie sie vor allem im Ersten Weltkrieg deutlich geworden ist. PLATZ, SCHELER und später GUARDINI stehen für eine kleine Elite gebildeter Katholiken, die Wege in die Moderne suchen, ohne sich ihr auszuliefern. Sie treten gerade in den Jahren übersteigerter Nationalismen für ein europäisches Christentum ein und beziehen sich insbesondere auf die deutschfranzösische Geschichte und Kultur (gerade nach 1914/18 wie auch nach 1945). Die Kirche braucht die Annäherung an die Kultur – gerade in Zeiten zunehmender Zerrissenheit und gerade um der Lebendigkeit des Glaubens Willen. An der Auseinandersetzung mit dem Modernephänomen Großstadt und damit an den soziologischen Parametern der Gesellschaft kommt die Kirche nicht vorbei: „Ob wir sie [die Großstadt] nun lieben oder hassen, ob wir mit ihr oder gegen sie arbeiten, eines müssen wir alle, uns mit ihr und ihrer Eigenart auseinandersetzen.“9 Die Stimmen intellektueller katholischer Randfiguren finden nur mühsam Gehör und Anerkennung im Mainstream des katholischen Milieus und gehören doch zu seiner inneren Vielfalt. Auf die Mitstreiter von Die Schildgenossen um Romano GUARDINI trifft genau dies zu. Ob EMONDS, GETZENY, SCHWARZ oder HELMING – ihre Beiträge zeigen die Begrenztheit des Milieus als Sackgasse der Selbstmarginalisierung des deutschen Katholizsmus. Sie 8 9
PRIBILLA, Max (1924), 269. PLATZ, Hermann (1912), 385.
414
SCHLUSS
sind intellektuell anspruchsvoll und halten damit auch nicht hinter dem Berg. Ihre Haltung wird mit Skepsis betrachtet. Sie sind Außenseiter. Aber GUARDINI hat die Jugendbewegung mit ihren immer wieder auch egalitären Umgangsformen auf eine ihm eigene Weise kirchlich katholisch einbinden können. Für seine Mitstreiter hat die Krisenhaftigkeit durchaus auch Aspekte neuer Freiheiten, zu denen ein Mehr an innerer Freiheit gehören könnte. Sie stellen Erleichterungen durch Technisierung fest, Kraftersparnis und Entlastung von mühseliger Handhabung des Alltags, die neue innere Räume öffnen können. Technik hat nach Helene HELMING „das Gesetzhafte, das Nichtpersönliche, aufgesogen, vom Persönlichen abgelöst […] mit unangenehmer Forderung, ja brutaler Herrschsucht. Gerade Straßen, Autos, Lichtanlegen, in allen bestimmt das allgemeine Gesetz“10. Für HELMING beinhaltet Technik aber auch „die Ablösung des Gesetzhaften vom Persönlichen“11. Naturgewalten würden vom Menschen beherrschbar: „überall gestaltet der Mensch“, er „beherrscht die Erde nüchtern bewußt, aber er gewinnt zugleich Weiten unsentimentaler, romantischer Freiheit. Technik und Methode können zu größerer Freiheit führen“12. Ausgerechnet eine der wenigen Frauen unter den publizierenden gebildeten Katholiken, die Pädagogin und Sozialwissenschaftlerin HELMING, setzt sich für moderne Technik ein – eine für die damalige Zeit extravagante Mischung aus Nüchternheit und Gefühlsbestimmtheit, nicht nur im Katholizismus. Der überwiegende Teil der hier analysierten Zeitschriftenaufsätze wurde in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts und besonders in den 1920er Jahren verfasst. In diesen Texten habe ich neben den bekannten Protagonisten GUARDINI und SONNENSCHEIN noch weitere Autoren mit unterschiedlichem Hintergrund und Vorstellungen als Brückenbauer, also Vermittler zwischen Katholizismus und der Welt der Moderne ausmachen können. Dazu zählen BOGLER, PLATZ, HELMING, EMONDS, PRZYWARA, GURIAN oder SCHWARZ. Die meisten von ihnen sind Randfiguren des deutschen Katholizismus, die einen neuen Homo religiosus repräsentierten: „Wenn man von religiösen Dingen spricht“, schreibt Rudolf SCHWARZ 1928, „kann man es tun als Theoretiker oder als Weggenosse“13. Beide Weisen des Sprechens haben ihre Berechtigung. Die erste dient der Erbauung eines Lehrgebäudes, der „Verfestigung“. Die andere ist eine „brüderliche Form der Rede“. SCHWARZ schreibt: „Bei ihr schließen sich die Worte nicht, sondern sie öffnen sich, bei ihr werden die Dinge nicht verfestigt, sondern aufgeschlossen.“14 Diese neue Weise des Sprechens von Glaube und Gott soll „selbst ein Stück vollzogenes Leben sein, das weiß, daß es allein niemals fertig werden kann und daß der 10 11 12 13 14
HELMING, Helene (1927), 311. Ebd., 312. Ebd., 315. SCHWARZ, Rudolf (1928a), 264. Ebd.
SCHLUSS
415
Weg zu einem Ziel noch weit ist“15. SCHWARZ, der Baumeister und Architekturtheoretiker, spricht in seinem kurzen Text aus dem Jahr 1928 von einem neuen, achtsamen Umgang mit der Moderne: „Vielleicht ist das heute die beste Form, von Dingen der Religion zu sprechen, da unser bester Teil heute doch wohl nicht der Besitz, sondern die Hoffnung ist.“16 Unter Achtsamkeit verstehe ich eine Haltung, die sich von Erwartungen gelöst hat, die nicht (mehr) erfüllbar sind und die den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. Achtsamkeit ereignet sich absichtslos und nicht wertend. Sie reflektiert den Glauben im Rahmen der sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse. Der amerikanische Soziologe Richard SENNETT plädiert für eine Kultur der Achtsamkeit, der Sorgfalt und des geduldigen Miteinanders. In seinem Buch Zusammenarbeit beschreibt er Kooperation als „Austausch, von dem alle Beteiligten profitieren“17. Die durchaus „anspruchsvolle und schwierige Art von Kooperation“ versucht, „Menschen zusammenzubringen, die unterschiedliche oder gegensätzliche Interessen verfolgen, die kein gutes Bild voneinander haben, verschieden sind oder einander einfach nicht verstehen. Die Herausforderung besteht darin, auf andere Menschen nach deren eigenen Bedingungen einzugehen“18. Schwierig ist diese Art der Kooperation deshalb, weil sie nicht nur auf die bezogen ist, die einander eh verstehen. Sie mündet in Dialogfähigkeit, bedarf der Kompetenzen des gutes Zuhören, des taktvollen Verhaltens und des reflexiven, selbstkritischen Denkens.19 Eine Grundlage der Entwicklung der Dialogfähigkeit ist die Achtsamkeit gegenüber anderen. SENNETT warnt dabei vor allzu großer „Identifikation mit dem Gesprächspartner“20 und differenziert Achtsamkeit in die Kategorien Sympathie und Empathie: „Sympathie überwindet Unterschiede durch eine in der Vorstellung vollzogene Identifikation. Empathie geht auf den anderen nach dessen eigenen Bedingungen ein.“21 Ein achtsamer Dialog, also eine auf Empathie beruhende Kooperation, ordnet die eigene Position nicht der des Gesprächspartners unter oder identifiziert sich mit ihr emotional, sondern schenkt dem Dialogpartner in einer rationaleren Form Aufmerksamkeit: „Es gibt […] Situationen, in denen wir anderen Menschen gerade dann helfen, wenn wir uns nicht vorstellen, wie sie zu sein, etwa wenn wir einen trauernden Menschen sprechen lassen und nicht vorgeben, wir wüssten, was er durchmacht.“22
15 16 17 18 19 20 21 22
Ebd Ebd. SENNETT, Richard (2012), 17. Ebd., 18. Vgl. ebd., 27. Ebd., 37. Ebd., 38. Ebd., 39.
416
SCHLUSS
Auch ein achtsamer Dialog zwischen Kirche und Moderne oder Postmoderne kann nur gelingen, wenn er nicht auf der Ebene emotionaler Identifikation sondern in der Weise verstehender Aufmerksamkeit geführt wird. Dazu gehört sicherlich das Kennen und Leben der eigenen Traditionen, aber auch der reflektierte Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Menschen in ihrer jeweiligen Zeit leben. Nur so kann auch eine Sprachfähigkeit entwickelt werden, die Grundlage eines wirklichen Dialogs ist. Mit Blick auf den interreligiösen Dialog formuliert Papst Franziskus in Evangelii gaudium eine solche Haltung: „Die wahre Offenheit schließt ein, mit einer klaren und frohen Identität in den eigenen tiefsten Überzeugungen fest zu stehen, aber ‚offen (zu) sein, um die des anderen zu verstehen‘, ‚im Wissen darum, dass der Dialog jeden bereichern kann‘. Eine diplomatische Offenheit, die zu allem Ja sagt, um Probleme zu vermeiden, nützt uns nicht […].“23 Um den Menschen in der Welt von Heute verstehen zu können, „muss man viel zuhören, das Leben der Leute teilen und ihm gerne Aufmerksamkeit widmen“24. Erst dann, so Papst FRANZISKUS, kann ein Sprachstil kirchlicher Verkündigung entwickelt werden, den „die Adressaten verstehen“25. An anderer Stelle spricht er von der „stets respektvollen und freundlichen Verkündigung“26. Vom Glaubwürdigkeitsverlust der Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg hat vor allem die katholische Kirche profitiert: Gerade Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle konvertierten. Das Besondere dieser Aufbruchsbewegung war die Sehnsucht nach Neuem wozu auch die Wiederentdeckung vergessener Traditionen gehörte. Beide Bestrebungen gingen einzigartige Amalgamierungen ein, die bei GUARDINI, EMONDS, HELMING oder bei SCHWARZ eine eigene Stimme hervorbrachten: „Es kam ein neuer Ton in das innerkatholische Gespräch: unbürgerlich, weitgreifend, oft unklar und pathetisch. Dieser Ton hatte mehr von Spätexpressionismus als von der neuen Sachlichkeit. Er entfernte sich manchmal von der Redlichkeit des Formalen“27, so LUTZ. Die Weite dieses Tons bei gleichzeitig kirchlicher Gebundenheit führte aber zu einer Großzügigkeit und Gelassenheit, die weder Gegner oder Zuspruch von der falschen Seite fürchtete. Anhand der Lektüre und Analyse der katholischen Kulturzeitschriften zum Thema Großstadt und Moderne treten die Konturen dieser neuen Stimme im Katholizismus deutlich hervor. Ihr Ton zeichnet sich durch eine Distanz – besser: Differenz – zur Vorkriegskultur des deutschen Katholizismus aus, der sich vorwiegend aus Quellen einer Tradition speiste, die, wie in dieser Arbeit ausgeführt, teilweise im 19. Jahrhundert erfunden worden war. Anders gewendet: 23 24 25 26 27
EVANGELII GAUDIUM (2013), 251. Ebd., 158. Ebd. Ebd., 128. LUTZ, Heinrich (1963), 94.
SCHLUSS
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gerade nach 1918 gelang es einer neuen Generation engagierter (und oft auch gebildeter) Katholiken, Tradiertes von historisierenden Überformungen freizulegen. Der Aufbruch des deutschen Katholizismus in den Anfängen der Weimarer Republik war ausschlaggebend für den kulturell-religiösen Wandel, der hier so entschieden Form bekam. Es entsteht in den Jahren des Umbruchs ein neuer Phänotyp des modernen Katholizismus. Er zeichnet sich durch eine Haltung der Achtsamkeit gegenüber den Ambivalenzen der Gesellschaft aus, und es spielt dabei zunächst kaum eine Rolle, ob diese Haltung intendiert ist oder nicht. Dass dies aus der Mitte des deutschen Katholizismus heraus auf neue, unbefangene Weise gelingen konnte, lag zum einen an dem historischen Bruch, der aufgrund der tiefen Krisenerfahrung, die sich nicht mehr nur in einem diffusen Unbehagen an der Moderne artikulierte, sondern von den Erschütterungen durch den Weltkrieg, die Verletzbarkeit des Menschen und die Brüchigkeit der früher geglaubten Sicherheiten erkennen ließ. Zum anderen war es auch eine Sache der Bildung. Damit neue Vermittler oder Brückenbauer die vergessenen Traditionen wieder entdecken konnten, bedurfte es auch eines gebildeten Laienkatholizismus, einer jungen katholischen Elite. SCHWAB beschreibt in Eigensinn und Bindung diesen Typus katholischer Intellektualität, der die Ambivalenzen des gesellschaftlichen Umbruchs durchaus wahrnimmt: „Er trägt sie aus, hält Zweifel offen, den Sinn für Verluste. Was seinesgleichen im Speziellen auszeichnen mag, ist eine Gebrochenheit, die mit dem Spätzeitlichen einhergeht.“28 Kennzeichen dieser Intellektualität ist der feste innere Glaube und der sensible und redliche Blick auf die Kirche. Eine Intellektualität also, „die sich weder in das Konstrukt einer intakten Vergangenheit zurückschwindelt, noch forsch auf zeitgemäß trimmt“29. Die Errungenschaften der Moderne werden anerkannt, „aber nicht zum Fetisch erhoben, sowie ihre Kehrseiten und Ver(w)irrungen, ihr Macht- und Kontrollanspruch [werden] nicht hingenommen“30. Dieser Weg einer nüchternen Reflexion von Modernisierungspfaden nimmt einerseits die Pluralität differenzierter Gesellschaftsprozesse sowie deren individuellen Freiheitszuwachs wahr, aber auch „Mechanismen der anonymen Steuerung, Domestizierung und Uniformierung“31. Katholische Intellektualität würde sich so als „ein komplexes Differenzierungsprogramm“ erweisen. „Ihre Vertreter wären wesentlich Anwälte einer besonnenen Moderne.“32 Mit GUARDINI gesprochen sind es sich ergänzende Gegensätze, die sich nicht notwendig ausschließen, sondern eine behutsame Annäherung an bestehende Ambivalenzen und Aporien der Moderne ermöglichen. Diese Erkennt28 29 30 31 32
SCHWAB, Hans-Rüdiger (2009), 21. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 23.
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nis gelingt erst, seit der Katholizismus nicht mehr nur als gegenkulturelles Projekt zur Moderne gesehen wird. Die katholische Kirche neigt im 19. Jahrhundert dazu, aus Angst vor drohendem Traditionsverlust, die historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse zu ignorieren und reagierte dabei immer wieder empfindlich bis ängstlich auf Veränderungen. Zur selben Zeit beginnt sich die katholische Kirche als Institution (Schulen, Hochschulen, Krankenhäuser, Vereine, Parteien, Verlage mit Büchern, Zeitungen und Zeitschriften) zu etablieren und damit durch die Adaption moderner Organisationsformen und deren Öffentlichkeitsstrukturen vor allem einer praktischen Modernisierung Rechnung zu tragen. In der vorliegenden Arbeit wird Modernisierung als Suchprozess verstanden, der durch Amalgamierung von vormodernen, traditionalen und modernen Strukturen geprägt ist. Mit solcher vorausgesetzten Ungleichzeitigkeit wird den Spannungen des Modernisierungsprozesses Rechnung getragen. Charakteristisch für die Moderne sind nicht nur die Industrialisierung und damit auch die Technisierung vieler Lebensbereiche, die sich besonders im 19. Jahrhundert durchsetzten, sondern in ihrer Folge auch eine komplexer werdende Gesellschaft samt neuer Formen der Vergesellschaftung. Dazu gehören Verstädterung und Urbanisierung und damit die sich verändernde Rolle des Individuums in der modernen Gesellschaft. Gerade die Freisetzung des Individuums aus den bisher festen Beziehungen und Traditionen führt zu neuen Fragen der Sinnstiftung im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft. Aus den Spannungen von Neuem und Altem resultiert die Zerrissenheit des modernen Menschen. Bei BOGLER, EMONDS und SCHWARZ, um hier nur einige der in der Arbeit vorgestellten Vertreter einer achtsamen Moderne zu nennen, wird der Großstadtmensch in seiner Ambivalenz erkannt, der sich in erster Linie als heimatloser, kulturloser und der Technik und Schnelllebigkeit ergebener Charakter präsentiert. Dagegen setzen u. a. EMONDS und SCHWARZ das Konzept eines in erster Linie geistig verfassten Menschen, der dadurch seine Mündigkeit und sein Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Herausforderungen der modernen Zeit bewahrt. Die Kategorie des Augenblickes setzt EMONDS gegen Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit der modernen Lebensweise, die er gerade in der Großstadt konstatiert. Den Moment, der gelebt wird, intensiv und zutiefst zu vergegenwärtigen und ganzheitlich mit Gedanken, Herz und Vernunft aufzunehmen, umschreibt er mit dem Einbruch des Ewigen. Bei aller Aufbruchseuphorie der Nachkriegsjugend nach 1918 erkennen GUARDINI, SCHWARZ, EMONDS und HELMING die Zerbrechlichkeit des modernen Ichs und dessen Überforderung durch Selbstverwirklichung. Der alte Ordnungsgedanke des katholischen Milieus greift nicht mehr. Neue Wege des katholischen Milieus in die Moderne und als ein konkreter Ausdruck dessen – in die Großstadt – müssen gefunden werden.
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Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt sich nach einer Phase der „Kontinuität und Restauration der katholischen Gruppenkultur innerhalb der fünfziger Jahre“33, in den 1960er Jahren die Verflechtung von funktionaler Differenzierung und gleichzeitiger Versäulung der Gesellschaft aufzulösen. Die in diesen Kontext einer eingeschränkten Modernität eingebundenen sozial-moralischen Milieus beginnen abzuschmelzen: „Es kommt zu einer Krise des kirchlich verfaßten Christentums als Teil der sich auflösenden bürgerlich-modernen Industriegesellschaft.“34 Parallel zum „Abschmelzen“35 des sozialistischen Arbeitermilieus erfolgt eine Auflösung des kirchlichen Sozialmilieus mit einem Individualisierungsschub, der als Vergesellschaftungsmodus „statt bei kollektiven Größen beim Individuum ansetzt“36. Gleichzeitig „löst sich die Entfaltungsdynamik des kulturellen Codes personaler Entwicklung aus der institutionellen Struktur des Lebenslaufs, und an ihre Stelle treten die selbstkonstituierte Biographie und die permanente, durch Überforderung stets gefährdete Arbeit an ihr. Die Entsäulung der Milieus bringt eine „Freigabe der Entscheidung des Einzelnen und die prinzipielle Teilnahmechance aller an allen Teilsystemen“37 hervor. An die Stelle einer „weitreichenden symbolischen Kontrolle und moralgeprägten Formierung der alltäglichen Lebensführung“38, die der institutionell verfassten christlichen Religion bis in die Neuzeit eine Monopolstellung innerhalb fest definierter Grenzen ihres Zuständigkeits- und Machtbereichs ermöglichte, sind stärker „persönlich-subjektive, erlebnis- und erfahrungsbezogene“39 religiöse Formen getreten. Die gesellschaftlichen Veränderungen wahrzunehmen und ihnen in Achtsamkeit zu begegnen, ist ein Weg, der zum Aggiornamento eines zukunftsweisenden Zweiten Vatikanischen Konzils führte. Dieser Lernprozess ist nicht umkehrbar. Heute bewertet auch die postmoderne Gesellschaft mit Blick auf eine unsichere Zukunft und eine unübersichtliche Gegenwart Traditionen und kulturelle Überlieferung neu. Bei aller Verbundenheit mit Traditionen hat die Kirche mit auffallender Besonnenheit auf die gesellschaftliche Komplexität reagiert: ihr geht es nicht um eine Anpassung an die Moderne um jeden Preis, sondern um „kritische Zeitgenossenschaft“40. Papst FRANZISKUS, selbst Großstädter, steht für einen faszinierenden Erneuerungsprozess der römisch-katholischen Kirche. Er schreibt:
33 34 35 36 37 38 39 40
GABRIEL, Karl (1998), 105. Zu den 1950er Jahren als Sattelzeit des Umbruchs vgl. besonders ebd., 104ff. Ebd., 122. Ebd., 124ff. Ebd., 138. GABRIEL, Karl (1988), 34. Vgl. GABRIEL, Karl (1996b), 14. Vgl. ebd., 17. KAUFMANN, Franz-Xaver (2011), 102.
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„Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient.“41
In seinem Blick auf Kirche und Gesellschaft knüpft der Papst an das letzte Konzil und an die Aufbruchsbewegungen vor allem der zwanziger Jahre an, indem er zunächst die gesellschaftliche und kirchliche Situation in all ihrer Ambivalenz wahrnimmt. Vor allem die „Stadt erzeugt eine Art ständiger Ambivalenz. Während sie nämlich ihren Bürgern unendlich viele Möglichkeiten bietet, erscheinen auch zahlreiche Schwierigkeiten für die volle Lebensentfaltung vieler“42. In einer auch wissenschaftlich abgesicherten Analyse der Gegenwart wird diese „nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt“43. Ausdrücklich warnt er vor einem unzufriedenen und ernüchterten Pessimismus „mit düsterem Gesicht“44 und bezeichnet einen starren und einheitlichen Evangelisierungsstil als Handlungsoption „für diese Wirklicheit nicht angemessen“45. Die Kirche in der Moderne muss – sich immer auch selbst erneuernd – auf die neuen Areopage gehen und dort in der jeweils angemessenen Sprache von der Wahrheit Zeugnis geben: „Es ist notwendig, dorthin zu gelangen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen und mit dem Wort Jesu den innersten Kern der Seele der Städte zu erreichen.“46
41 42 43 44 45 46
EVANGELII GAUDIUM (2013), 27. Ebd., 74. Ebd., 71. Ebd., 85. Ebd., 75. Ebd., 74.
ABBILDUNGEN UND TABELLEN
Abbildungen Abb. Umschlag Vorderseite: Rudolf SCHWARZ: Stufenbau (um 1923/24), Pastell. Privatbesitz. ©Maria Schwarz, Köln. Aus: PEHNT, Wolfgang (1997): Rudolf Schwarz (1897-1961). Architekt einer anderen Moderne. Werkverzeichnis von Hilde Strohl. Ostfildern bei Stuttgart, 30. Abb. 1, S. 76: LE CORBUSIER: Straßenkorridor, o. J., Zeichnung. ©FLC/VG BildKunst, Bonn 2015. Aus: BENEVOLO, Leonardo (2000): Die Geschichte der Stadt. Aus dem Italienischen von Jürgen HUMBURG, 8. Auflage. Frankfurt, New York, 814. Abb. 2, S. 99: Albert BIRKLE: Großstadthäuser, o. J. (um 1924), Öl/Karton. Sammlung Joseph HIERLING, Tutzing, Deutschland. ©VG Bild-Kunst, Bonn 2015. Aus: Hochland, 24. Jahrgang, Okt.-Mär. 1926/27, vor S. 1. Abb. 3, S. 140: Rudolf SCHWARZ: Kirche mit 1428 Meter hohem Turm (um 1924/25), Federzeichnung. Privatbesitz. ©Maria SCHWARZ, Köln. Aus: PEHNT, Wolfgang (1997): Rudolf Schwarz (1897-1961). Architekt einer anderen Moderne. Werkverzeichnis von Hilde STROHL. Ostfildern bei Stuttgart, 33. Abb. 4, S. 242: Rudolf SCHWARZ: Ex Libris (um 1920), Bleistift. Privatbesitz. ©Maria Schwarz, Köln. Aus: PEHNT, Wolfgang (1997): Rudolf Schwarz (1897-1961). Architekt einer anderen Moderne. Werkverzeichnis von Hilde STROHL. Ostfildern bei Stuttgart, 28. Abb. 5, S. 299: Albert BIRKLE: Kreuzigung (1922), Öl auf Leinwand. Privatbesitz. ©VG Bild-Kunst, Bonn 2015. Aus: Hochland, 24. Jahrgang, Okt.-Mär. 1926/27, vor 97. Abb. 6, S. 338: Ausschnitt aus Hochland (1912), 9. Jahrgang, 2. Band, Apr.-Sep. 1912, 385. Abb. 7, S. 369: Titelblatt von Die Schildgenossen (1928), 8. Jahrgang. Abb. 8, S. 400: Rudolf SCHWARZ: Heiliger Ring (1938). ©Maria Schwarz, Köln. Aus: DERS. (1947): Vom Bau der Kirche. 2. Auflage. Heidelberg, 22. Abb. 9, S. 410: Rudolf SCHWARZ: Taufbrunnen Fronleichnamskirche Aachen (1930). ©Foto Klaus KINOLD, München.
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– (1999): Städtische Medien auf dem Land. Zeitung und Kino von 1900 bis zu den 1930er Jahren. In: REULECKE, Jürgen; ZIMMERMANN, Clemens [Hrsg.]: Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquelle? Wahrnehmungen und Wirkungen der Großstädte um 1900. Basel u. a., 141164. ZIMMERMANN, F. W. R. (1898): Der 9. internationale Kongreß für Hygiene und Demographie zu Madrid, 10. bis 17. April 1898. In: Zeitschrift für Socialwissenschaft, 1. Jahrgang, 450-454. ZOLL, Ralf; BINDER, Hans-Jörg (1971): Die soziale Gruppe. Grundformen menschlichen Zusammenlebens. 4. Aufl. Frankfurt am Main u. a. ZORN, Wolfgang (1976): Sozialgeschichte 1918-1970. In: DERS. [Hrsg.]: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Band 2, Stuttgart, 876-925. ZUGEZOGENE ARBEITER (1897): ZUGEZOGENE ARBEITER IM RHEINISCH-WESTFÄLISCHEN BERGBAU. In: Der Katholische Seelsorger, Jg. 9, H. 3, 150-151. ZULEHNER, Paul, M. (1988): Stadt ohne Gott? Zur Theologie der Stadt. In: THEOBALD, Michael; SIMON, Werner [Hrsg.], Zwischen Babylon und Jerusalem. Beiträge zu einer Theologie der Stadt. Berlin, 40-51. ZUMBINI, Massimo Ferrari (2003): Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus. Von der Bimarckzeit zu Hitler. Frankfurt a. M. ZURÜCKFÜHRUNG (1933): ZUR ZURÜCKFÜHRUNG DES ERWERBSLOSEN INDUSTRIEARBEITERS AUF DAS LAND. In: Die Dorfkirche, Jg. 26, H. 2, 63.
PERSONEN
ALTERMATT, Urs 15ff., 19, 23, 168f., 180 ARENDT, Hannah 362f. AUSSEM, Josef 365f., 369, 395, 399 BAHRDT, Hans-Paul 24, 64, 156 BALTHASAR, Hans Urs von 303f. BAUDELAIRE, Charles 33f., 150, 322 BAUMAN, Zygmunt 20, 36, 39f., 130f. BAUMEISTER, Reinhard 107, 108, 110 BEBEL, August 101, 227 BELOCH, Julius 85 BELOW, Georg v. 61, 67 BENJAMIN, Walter 33f., 131, 345, 382, 388 BERGER, Peter L. 16, 23, 36 BISMARCK, Otto von 114, 167, 182, 199, 249, 256, 258, 270, 272, 278, 282, 286 BOGLER, Theo 380, 386ff., 418 BÖHM, Dominikus, 366, 399, 401 BOLLENBECK, Georg 42ff., 116, 147f., 150ff., 162ff., 167, 325f., 331 BRENTANO, Clemens von 154, 187, 247, 251, 320 BRÜNING, Heinrich 340f. BÜCHER, Karl 311 CARDAUNS, Hermann 200 CARLÉ, Wilhelm 320 CURTIUS, Ernst Robert 321, 326, 328, 341 DANTE 398 DEMPF, Alois 321, 328, 341 DIRKS, Walter 362, 365, 381ff. DIX, Arthur 122 DROSTE-HÜLSHOFF, Annette von 247, 320 DROSTE-VISCHERING, Clemens August von 197, 254 DUHR, Bernhard 272 DURKHEIM, Émile 33, 40, 46, 165f. EHLEN, Nikolaus 354f. EICHENDORFF, Joseph von 320 EMMERICK, Anna Katharina 187 EMONDS, Josef 29, 373-381, 393f., 398, 407, 413f., 416, 418 ENGELS, Friedrich 34, 107, 124, 153 EULENBURG, Albert 118 FOERSTER, Erich 222 FOUCAULT, Michel 39 FRANCKE, E. 82, 126 FRANZISKUS, Papst 416, 419 FRITSCH, Theodor 112
FROBERGER, Josef 192 FUCHS, Friedrich 231 FUNK, Philipp 30, 39, 253 FURTWÄNGLER, Märit 329 GABRIEL, Karl 13, 21-24, 41, 165, 167, 169f., 172, 180-185, 188, 190, 198, 272, 419 GEORGE, Stefan 325 GERL-FALKOVITZ, Hanna-Barbara 15, 363, 368ff., 372, 372, 395-399 GETZENY, Heinrich 329, 336, 365, 413 GÖRRES, Guido 255, 258 Görres, Ida von 370 GÖRRES, Joseph 187, 251, 254f GRIMM, Ludwig und Wilhelm 154, 254 GROPIUS, Walter 399, 402, 405 GROTE, Maria 238 GRUPP, Georg 277f., 411 GUARDINI, Romano 27, 29, 202, 209, 231, 320, 328, 331, 341f., 363-369, 381, 393-401, 402, 404, 413f., 416ff. GURIAN, Waldemar 361f., 414 HABERMAS, Jürgen 37, 74 HASENKAMP, Gottfried 193 HÄUSSERMANN, Hartmut 24, 86, 114, 129, 138, 157, 164, 204f. HEGEMANN, Werner 106, 333, 345f. HEICHELHEIM, Fritz Moritz 77 HEIDEGGER, Martin 148, 162, 327 HEIDENSTAM, Verner von 143 HEINEN, Anton 25, 206-225, 244, 412 HELMING, Helene 29, 365, 370-373, 379, 389-393, 413f., 416, 418 HERTLING, Georg von 180f., 257, 259 HERWEGEN, Idefons 341 HITZE, Franz 199, 211, 216, 272, 313 HOBBES, Thomas 34 HOBRECHT, James 106, 310 HOEBER, Karl 228, 238 HOERMANN, F. X. 270, 296ff. HOHENLOHE-WALDENBURGSCHILLINGSFÜRST, Alexander zu 263 HOHMANN, Georg 55, 70, 90 HOHN, Wilhelm 272 HÖLDERLIN, Friedrich 367, 398 HOMMES, Jakob 205 HOWARD, Ebenezer 112 HUEPPE, Ferdinand 119 HUSSERL, Edmund 302
494 JARCKE, Karl Ernst 255, 258 JASPERS, Karl 327 JOOS, Joseph 272 JÖRG, Joseph Edmund 255-259 KALKSCHMIDT, Eugen 30, 123, 333f. KASSANDRUS 185f., 189f. KELLER, Franz 270 KETTELER, Wilhelm Emmanuel v. 190, 261 KIERKEGAARD, Søren Aabye 302, 398 KLAGES, Ludwig 147, 164 KOCH, Anton 305f., 314f. KOCH, Robert 120 KOHLBRUGGE, J. H. F. 122 KÖLLMANN, Wolfgang 78-82, 84, 87f., 95, 144 KOPP, Georg von 227, 321 KRACAUER, Siegfried 362, 381f. KRALIK, Richard v. 321 KÜNKEL, Friedrich 118, 125 LAGARDE, Paul de 147f., 218, 354 LAMENAIS, Abbé de 286 LANDSBERG, Otto 61, 95 LANGBEHN, August Julius 116, 147f., 164, 218, 324, 326f., 354 LANGGÄSSER, Elisabeth 370 LASKER-SCHÜLER, Else 239 LAVIGERIE, Kardinal de 319 LE CORBUSIER 405 LE ROY, Edouard 184 LENNIG, Adam Franz 197 LEO XIII., Papst 186, 199, 227, 257 LEPSIUS, M. Rainer 41, 165ff. LOENING, E. 121 LOISY, Alfred 184 LOTH, Wilfried 28, 31, 168, 170ff., 181, 184, 192, 200, 249f., 259 LUCKMANN, Thomas 16, 165 LUDWIG XIV 142 MALTHUS, Thomas Robert 122 MANGOLDT, Karl v. 106f., 110, 126f. MANN, Thomas 332 MANNING, Henry Edward Kardinal 194 MARSCHALCK, Peter 81ff., 87ff., 122f. MARX, Karl 33f., 40, 53, 153, 291f. MATZERATH, Horst 61, 83, 89, 95, 97, 177 MAYR, Georg v. 90, 121f. MICHEL, Ernst 29, 369, 381 MIRGELER, Albert 358f. MOMBERT, Paul 84 MONTAIGNE, Michel Eyquem de 398 MORSEY, Rudolf 19, 178f., 181, 199f., 257, 260 MOUFANG, Christoph 197
PERSONEN
MUCKERMANN, Friedrich 118 MUMFORD, Lewis 141, 333 MURRI, Romolo 226 MUSIL, Robert 162, 325 MUTH, Karl 116, 317-328, 331, 343-349, 413 NELL-BREUNING, Oswald von 182, 192, 309-313 NEUNDÖRFER, Ludwig 384, 389, 391-393 NEUNER, Peter 14, 20, 184, 195f., 226, 317ff., 340 NEWMAN, John Henry 194, 302 NIEDER, Ludwig 272 NIEDERMEYER, Andreas 251 NIETZSCHE, Friedrich 148-151, 164, 285 NIPPERDEY, Thomas 13, 15ff., 149, 165, 185ff., 189, 258, 300, 321, 411 NODER, A. 105, 119ff. NOPPEL, Constantin 225f., 272, 306f., 412 NOVALIS 320 OERTZEN, Friedrich von 90, 125f. OPPENHEIMER, Franz 123 OSSIETZKY, Carl von 345 PACELLI, Eugenio 201, 302 PANTER, Peter [Kurt TUCHOLSKY, Pseudonym] 232 PANZER, Georg 332 PASCAL, Blaise 398 PASSARGE, Siegfried 117 PESCH, Heinrich 309f., 313 PESTALOZZI, Johann Heinrich 222 PETTENKOFER, Max von 120 PHILLIPS, Georg 255 PIEPER, August 206ff., 215f., 219, 223, 225 PIUS IX., Papst 183 PIUS X., Papst 184, 200, 340 PIUS XII., Papst 301 PLATZ, Hermann 29, 239, 280, 308, 337343, 364, 384, 393, 413f. POELZIG, Hans 399, 401 PRIBILLA, Max 29, 302, 304f., 412f. PRZYWARA, Erich 29, 302ff., 412ff. PUDOR, Heinrich 353 RAHNER, Karl 303 RÄUSCHER, Josef 334f. REULECKE, Jürgen 24, 26, 74, 80f., 84, 87, 97f., 120f. RIEHL, Wilhelm Heinrich 25, 45, 153-157, 276 RILKE, Rainer Maria 398 RODY, Heinrich 284ff., 411 RÖSE 115, 123 ROSEGGER, Peter 143, 222 ROSENBERG, Hans 46, 144
PERSONEN
ROSENSTOCK, Eugen 328, 365 ROST, Hans 174-181, 188, 288ff., 296, 298, 353 ROUSSEAU, Jean-Jacques 142, 148f. RUSKIN, John 297 RUSTER, Thomas 13, 15, 28f., 31, 116, 202ff., 209, 212, 218, 221ff., 229, 231, 295, 302ff., 342, 368, 384, 395ff. SAVIGNY, Friedrich Karl von 254 SCHELER, Max 202, 302, 320,328-332, 362, 382, 413 SCHELL, Hermann 192-195, 279, 340 SCHLEGEL, August Wilhelm 154 SCHLEGEL, Friedrich 187, 320 SCHLÜTER-HERMKES, Maria 370 SCHMOLLER, Gustav 104f., 112f., 125 SCHÖNINGH, Ferdinand 253, 320 SCHÖNINGH, Franz Josef 319, 320, 322 SCHULTZE-NAUMBURG, Paul 354 SCHWARZ, Rudolf 29, 202, 364, 366ff., 382, 385, 389, 391, 393f., 398-409, 413f., 416, 418 SIEBEL, Walter 24, 76, 114, 129, 138, 157, 164, 204f. SIERP, Heinrich 301 SIMMEL, Georg 17, 19ff., 33, 36-40, 4347, 50, 55-60, 75, 116, 129-139, 150, 184 SOHNREY, Heinrich 55, 70, 90 SOMBART, Werner 19, 47, 52-56, 60, 6275, 79, 105, 131, 280-283, 291ff., 297 SONNENSCHEIN, Carl 25, 119, 209, 225248, 272, 334, 349, 352, 395f., 412f. SOROKIN, Pitirim 69
495
SPENGLER, Oswald 25, 116, 147, 153, 161-164, 218, 388 STEIN, Edith 202, 329, 370 STEIN, Heinrich Freiherr vom 254 STRESEMANN, Gustav 301 STÜBBEN, Hermann Josef 107, 110 SÜSSMILCH, Johann Peter 81 SWOBODA, Heinrich 26 TAUT, Bruno 399, 401 TEUTEBERG, Hans Jürgen 24f., 27, 79f., 83, 97f., 106, 112, 121 THRASOLT, Ernst [Matthias Josef Franz TRESSEL, Pseudonym] 225, 227, 230f., 233, 238f., 245, 349-357, 397f. TÖNNIES, Ferdinand 25, 40-45, 68, 70, 153, 157-161, 204-208 TRESSEL, Matthias Josef Franz 349, 352 TROELTSCH, Ernst 47f., 148ff. TUCHOLSKY, Kurt 13, 232 TYRELL, Hartmann 74, 184 VANDERVELDE, Emil 90 VEREMUNDUS [Karl MUTH, Pseudonym] 321 VIRCHOW, Rudolf 121 WALTER, Franz Xaver 281ff., 291, 411 WEBER, Adna Ferrin 88, 90 WEBER, Adolf 99-104, 113f., 345 WEBER, Max 16f., 19ff., 27, 33, 36ff., 4048, 50-53, 56, 59-69, 74ff., 131, 183f., 358, 370 WIESE, Leopold von 337 WINTER, Ernst Karl 55 WIRTH, Louis 129 WOLF, Hubert 14, 192, 195f., 317